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Die Chroniken von Khad-Arza - Die Herrscher der Geisterwinde

von

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Prolog

Die stärkste Erinnerung, die ich an meine Mutter habe, ist die an ihr Lächeln.
 

Es war so kühl und gleichzeitig doch so voller Gefühle, ihr Gesicht war so jung und dennoch so voller Weisheit, als hätte sie viele Zeitalter lang das Dahinsiechen unserer sterblichen Welt beobachtet. Sie war alles, was eine Herrscherin über die Geister sein sollte, der Inbegriff einer guten und gleichzeitig entsetzlichen Königin.
 

Viele Namen hat man ihr gegeben… Nalani, Tochter des Kandaya-Clans, Herrin über Nacht und Schatten, Königin der Schamanen.

Für mich war sie nichts von all dem. Für mich war sie eine lichte Flamme umrandet von Finsternis, die niemals ausging; ein Hoffnungsschimmer, an den ich mich klammerte, wenn alle anderen Lichter erloschen waren.
 


 

Erster Teil: Lyrien
 


 

Die Stimme des Schamanen war dunkel, aber durchdringend, als er sprach und seine hellen Augen dabei zu brennen schienen. Es war ein bösartiges Feuer der Dunkelheit, aber voller Macht, dass es den anderen den Atem verschlug, als sie es nur wagten, ihn anzusehen.

„Die Narren aus Anthurien werden sich wundern!“ sprach er laut, „Und sie werden uns fürchten, sie werden uns mehr fürchten als Vater Himmels Zorn oder Mutter Erdes Finsternis, weil sie so dumm waren, sich mit Dokahsan anzulegen, dem Reich der Geisterjäger, dem Land des Nordens! Sie nennen uns Dämonen und Barbaren, weil wir im Gegensatz zu ihnen wissen, wie man mit den Geistern spricht! Ich sage, sie sind die Barbaren, wenn sie feige unsere Dörfer überfallen und die Frauen und Kinder abschlachten, statt sich uns offen entgegenzustellen! Mein Vater, Beksem Lyra, der ein großer Herr der geisterwinde war, hat bis zu seinem Tode das Land unter brennendem Himmel verteidigt und aus den bauerntölpeln hier eine Armee aus Kriegern gemacht! Wir werden ihn ehren, solange wir leben! Wir werden diesen Krieg beenden und die Männer aus Anthurien zerfetzen! Dann werden uns die Menschen ebenfalls ehren, uns als Herrscher der Schamanen, als Herrscher Dokahsans!“ Er machte eine Pause und ließ den Blick wieder über seine kleine Zuhörerschar schweifen, ehe er fortfuhr. „Der Himmel wird bald wieder brennen unter den Feuern des Krieges! Es wird das letzte Mal sein, dass er es tun wird. Ich werde an meines Vaters Stelle die Armee führen als Herr der Geister, und an seiner Stelle werde ich der Herrscher sein über das Land, das uns gebührt, und den Respekt und die Ehre bekommen, die uns gebühren, uns, dem Clan der Lyras! Dem ältesten Schamanenclan mit den mächtigsten Rufern und Sehern, die Tharr, unsere Welt, je erlebt hat! Und es ist der Lyra-Clan, der den höchsten Respekt von den Geistern des Himmels und der Erde bekommt, nicht der Chimalis-Clan oder der Kohdar-Clan oder der Kandaya-Clan! Wir sind die obersten Vertreter der Geister des Himmels und der Erde! Sobald der Winter vorbei ist und am Himmel das Sonnenfeuer brennt, werde ich die Menschen von Dokahsan, dem Nordland, Respekt und Ehre lehren! Und sie werden lernen, dass sie Glück haben, dass der Himmel mit uns auf ihrer Seite ist!“
 

Damit beendete er seine imposante Rede und das Funkeln der Macht in seinen Augen wurde schwächer, als er verstummte und in die großen Augen seiner beiden kleinen Söhne blickte, die auf den Knien auf dem edlen Teppich der Stube hockten und zu ihrem Vater hinauf starrten. Tabari, der ältere von ihnen, hatte alle Bewunderung in sein hübsches Gesicht geschoben, die er hatte, und strahlte voller Stolz hinauf zu seinem Vater, dem Herrn der Geister, dem Oberhaupt des mächtigen Lyra-Clans.

„Wir werden sie aus Dokahsan verjagen, die Männer aus Anthurien, Vater!“ stimmte er stolz zu. Kelar Lyra grinste zufrieden auf den Erstgeborenen herunter.

„Ja, mein Sohn! Und eines Tages, wenn meine Zeit als Herrscher abgelaufen ist, wirst du der neue König und Herr der Geister sein, der Führer des Schamanenvolkes, Tabari! Das ist eine ehrenwerte Aufgabe, die die Geister uns zugeteilt haben, du solltest sie respektieren, mehr als alles andere!“

„Das werde ich, Vater!“ sagte Tabari aufgeregt und strahlte, „Eines Tages, wenn ich ein Mann bin, werde ich wie du ein Geisterjäger sein, Vater! Ich werde dir und der Familie Ehre erweisen, so gut ich kann!“

„Das ist mein Junge,“ machte der Vater darauf zufrieden nickend.

„Was werde ich, Onkel?“ fragte Tabaris Cousine Kadija, die neben ihm auf dem roten Teppich saß, die blonden Haare zu einem strammen Zopf geflochten. Kelar Lyra verengte die Augen.

„Du wirst Heilerin, Kadija, wie deine Mutter, die meine Schwester ist, und wie dein Vater! Heiler sind keine Geisterjäger. Du wirst eine andere Geschichte haben als dein Cousin Tabari. Und sieh mir nicht so respektlos in die Augen, du bist letzten Endes nur ein Mädchen!“ Sie keuchte beschämt und senkte scheu den Kopf.

„E-entschuldigt, Onkel…“ Wie hatte sie das vergessen können? Als Mädchen war es ihr nicht erlaubt, einen Mann einfach anzustarren, erst recht nicht, wenn er in der Rangliste weit über ihr war; Kelar Lyra war das Clanoberhaupt und der mächtigste Schamane der Welt. Und sie war ein Mädchen, das mit elf Sommern noch nicht mal erwachsen war.

„Sei zufrieden,“ tröstete Tabari seine ältere Cousine amüsiert, „Du wirst einmal heiraten, Kinder kriegen und darfst sie säugen, das ist auch ehrenhaft.“ Kadija sagte nichts, hätte ihn aber gerne geschlagen für den bissigen Kommentar. Er war zwar jünger als sie, aber er war der Sohn des Oberhaupts, deswegen hatte sie vor dem kleinen Jungen auch nicht den Mund aufzutun. Täte sie es, würde sie ihre Eltern entehren, die sie nicht gut genug erzogen hatten, um sie zum Schweigen zu bringen.

„Ihr Kinder solltet längst zu Bett sein,“ warf Tabaris Mutter ein, sah zuerst auf ihren ältesten Sohn, dann auf Kadija und am Ende auf den jüngeren Sohn, Kiuk, der an ihrem Rockzipfel hing und bereits halb eingeschlafen war. Sie gab dem Kleinen einen sanften Schubs, sodass er fast nach vorne umgekippt wäre, sich aber noch am Bein seiner Mutter festhielt, die auf einem aufwendig verzierten Sessel saß.

„Ich bin müde…“ murmelte er benommen, und die Mutter lächelte.

„Ich bringe dich jetzt zu Bett. Tabari, mach, dass du auch hochkommst, es ist schon spät.“ Sie erhob sich, fing einen emotionslosen Blick von ihrem Mann Kelar und hob den kleinen Kiuk hoch, um mit ihm die Stube zu verlassen. Tabari trottete artig hinter ihr her, während auch Kadija von ihren Eltern aufgefordert wurde, hinaufzugehen.
 

Ihre Mutter, Kelar Lyras Schwester, erhob sich aus ihrem Sessel.

„Du spricht unwürdig, kleiner Bruder, schnauze meine Tochter nicht immer an, als wäre sie nichts wert,“ sagte sie ernst, „Auch Heiler haben ihren Wert. Ohne die Heiler wären die Geisterjäger nur halb so wertvoll, weil ja niemand da wäre, der ihre Wunden und Krankheiten heilen könnte…“

„Wage es nicht, deine Zunge zu lockern, Pet…“ brummte Kelar Lyra argwöhnisch, „Ich dulde dich netterweise mit deinem unfähigen Heilermann in meinem Anwesen, du solltest meine Barmherzigkeit nicht überstrapazieren.“

„Dieses Anwesen ist auch das Anwesen meiner Vorfahren, Kelar,“ sagte sie perplex, „Wieso nimmst du es für dich in Anspruch, ich habe genauso ein Recht, hier zu leben, wie du.“

„Nein, weil dein Mann kein großartiges Haus hat, seid ihr hier die Kuckuckskinder,“ zischte der Bruder lauernd, „Ich warne dich, Pet. Zügle deiner vorwitzigen Tochter die Zunge oder eher die Augen, sie starren in Richtungen, die mir nicht gefallen wollen! Du magst meine Schwester sein, aber letzte Endes bin ich der Herr der Geister und der Erbe des Clans, nicht du.“

„Wie kannst du…?!“ keuchte Pet, aber sie wurden unterbrochen, als Kelars Frau zurück in die Stube kehrte – wie so oft kam sie rechtzeitig, um einen Streit zu schlichten.

„Wollt ihr, dass die Kinder eure bösartigen Zungen hören und übernehmen?“ fragte sie, im Türbogen stehend, „Mir gefällt nicht, wie Tabari mit anderen Kindern spricht, und das liegt an eurem ewigen Gezanke. Einigt euch oder reißt euch zusammen wie erwachsene Menschen.“ Sie sah besonders ihren Mann eine Weile energisch an, bis er den Kopf wegdrehte und sie innerlich lächelte. Sie rühmte sich unbemerkt damit, die einzige Person zu sein, deren Blicken er niemals standhalten würde… sie war die Einzige, vor der er den Kopf wegdrehte. Und sie beide und auch Pet und ihr Mann wussten, dass es so war… und, dass es Kelar Lyra ärgerte, er aber nie wagen würde, den Mund aufzutun.
 

„Wir gehen zu Bett,“ meldete Pet dann mit einer höflichen Kopfneigung, bevor sie ging und ihr Mann ihr mit der gleichen Kopfneigung folgte.

Die beiden letzten im Raum standen eine Weile schweigend da. Dann sprach Kelar.

„Morgen schmeiße ich sie raus,“ schnaubte er. „Morgen tue ich es, wie ich es mir vor Zeiten schon vorgenommen habe, Salihah! Sie machen mich wahnsinnig und Pets Mann ist offenbar unfähig, zu sprechen!“

„Er hütet nur seine Zunge. Reg dich nicht auf. Sie ist deine Schwester.“

„Pff, ja, und sie macht mich wahnsinnig und tut, als müsste sie mich erziehen!“

„Das haben große Geschwister so an sich.“

„Morgen schmeiße ich sie raus, sie, ihren dämlichen Mann und ihre dumme Tochter!“ Er schnaubte und sah seine Frau wütend an, als sie vor ihm stand und den Kragen seines Hemdes zurecht rückte.

„Shhh… nicht morgen, Liebster. Mach es, wenn der Winter vorbei ist, wenn du es dann immer noch so sehr möchtest. Aber nicht morgen. Lass uns zu Bett gehen.“ Er brummte und ließ zu, dass sie weiterhin seinen Kragen bearbeitete, dann seufzte er.

„Von mir aus. Wenn der Winter vorbei ist. Aber dann wirklich.“

Sie ließ ihn los und sagte nichts, sah lange stumm geradeaus und irgendwie durch ihn hindurch.

„Was siehst du, Frau…?“ fragte er sie düster, ergriff ihr Kinn und sah sie von oben herab an, als sie ihr Gesicht ihm zuwenden musste, ihn aber dennoch nicht ansah, weil ihr blauen Augen ins Leere gingen. Er kannte diesen Blick bei ihr… diesen Blick, den sie hatte, wenn sie unsichtbare Dinge sah. „Siehst du das Ende des Krieges immer noch, so wie gestern? Siehst du, dass das Land unser Land sein wird, Salihah?“

Aus ihrer Kehle kam ein heiseres Keuchen, als ihr Blick sich änderte und sie ihn jetzt anstarrte.

„Ich sehe das Ende des Krieges…“ sprach sie monoton, „Aber es ist noch fern…“

„Und das Land?“

„Das Ende des Krieges wird dir Macht und Ehrfurcht des Volkes bringen…“ prophezeite sie ihm langsam, „Aber es wird… Hand in Hand gehen mit dem Fall des Clans.“ Er fuhr zurück und sah sie plötzlich angewidert an, als hätte sie sich in eine Pestbeule verwandelt.

„Was?!“ fauchte er, „Wie kann sowas sein?! Was redest du von Macht und dem Fall des Clans, Salihah, es kann nur eins geben!“

„Ich sehe, was ich sehe!“ schnappte sie und sah ihn aus funkelnden Augen an, ehe sie sich abwandte. „Ich würde nicht wagen, dich anzulügen.“ Sie ging und er sah ihr mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen nach. Er zischte, dabei bleckte er wie ein hungriges Raubtier seine ungewöhnlich spitzen Eckzähne.

„Ich würde dich auch töten, würdest du es tun, Salihah…“
 


 

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wuhuu, Prolog XD Vergesst Pet, Kadija und den kerl (er heißt Dohna^^), die sind unwichtig... wollte sie nur mal erwähnt haben XD

Land der Schatten

Es dauerte drei Jahre und drei Monde, bis das Ende des Krieges kam. Und Kelar sagte, seine Frau hätte sich geirrt; denn mit dem Ende des Krieges kamen zwar die Macht und die Ehre für die Familie, aber nicht der Untergang, der Fall, von dem sie gesprochen hatte.

Die Menschen aus der an Dokahsan angrenzenden Provinz Anthurien zogen sich aus dem Norden zurück und gaben es auf, zu versuchen, die Magier des Nordens zu bezwingen. Der Statthalter von Anthurien hatte die Macht der Schamanen gefürchtet und hatte dafür sorgen wollen, dass sie zumindest reduziert wurden, aber jetzt fürchtete er, dass seine eigenen Armeen reduziert werden würden, würde er weiter kämpfen. Und ein großer Teil des Sieges in Dokahsan war der Verdienst des Lyra-Clans gewesen.

„Ehren wir den Clan der Lyras, der Könige der Geisterjäger!“ riefen die Menschen, und sie zollten Kelar Lyra und seiner Familie den Respekt, der ihnen Kelars Meinung nach gebührte.

„Wir haben euch zusammengebracht! Wir haben euch den Sieg und den Frieden gebracht! Ehrt uns!“ sagte er dazu in befehlendem Ton, Und dann senkte er den Kopf und ein dämonisches Lächeln schlich auf seine Lippen, als seine Augen einen seltsamen Glanz annahmen. „Unterwerft euch und seht hinauf zu uns wie zu Königen, und ich werde dafür sorgen, dass ihr es gut habt! Vater Himmel ist in meinen Händen und ich werde ihn so lenken, wie ihr es wollt! Mutter Erde bebt unter meinen Füßen, wenn ich es ihr befehle! Unterwerft euch der Macht der Himmelsgeister, und sie werden jeden einzelnen von euch schützen. Ich werde als Herrscher aus diesem verbrannten Land des Krieges ein gutes, reiches Land machen, vor dessen Größe die Menschen des Südens sich fürchten und verneigen werden, wenn wir sie zwingen! Wir zeigen ihnen, dass wir uns nicht ihrem nichtsnutzigen König unterwerfen!“

„Ja!“ riefen die Menschen, und ein bloßer, herrischer Blick des Geisterjägers zwang die Armee vor ihm in die Knie. Sie warfen sich vor der Familie auf den Boden an dem Tag, an dem Kelar das Ende des Krieges verkündete in der Hauptstadt der Provinz, Yiara. Hinter ihm standen seine Frau und die beiden Söhne, Tabari begeistert, der kleine Kiuk hinter seiner Mutter versteckt. Salihah rührte sich nicht und sah beunruhigt dem Verneigen der Menschenmassen in Yiara zu. Das war das erste Mal, dass Kelar das Wort unterwerfen auf diese Art benutzte.

„Ab heute soll dieses Land, unser Land, einen neuen Namen tragen!“ verkündete Kelar Lyra laut und stierte die sich vor seine Füße werfenden Leute herrisch an, als wollte er sie daran hindern, jemals wieder aufzustehen. Sie hatten den Respekt, den sie ihm schuldeten. Es war gut… er würde sie nicht vergessen lassen, wer die wahren Herren der Geister wahren, egal, was immer geschehen würde. „Durch meinen Mund und meinen geist sprechen die Mächte der Schöpfung,“ sagte der Mann kalt, „Lyrien werden wir es nennen, das Reich des Lyra-Clans! Sollen die Barbaren im Süden uns fürchten, hah! Wir im Norden überstehen harte Winter und die längsten Hungermonde, die längsten Dunkelheiten! Das soll uns mal einer nachmachen, heh! Ehrt das Land, das euch geboren hat und das euch schützt! Unterwerft euch, und die Mächte der Schöpfung werden auch euch beistehen! Der Krieg… ist ab heute vorüber!“ Die Menschen erhoben sich wieder und begannen laut zu reden, während der Mann sich triumphierend abdrehte. Nicht weit von ihm entfernt beobachtete ihn eine kleine Gruppe Männer, die Hälfte von ihnen trug schwarze, lange Umhänge. Sie sprachen nicht und sie verneigten sich auch nicht, aber sie sahen hinauf zu dem Herrn der Geister auf dem Podest.

„Was ist?!“ zischte er an sie gewandt, „Wollt ihr eure Gesichter nicht neigen, Geisterjäger – Kollegen? Ihr seid mir zu Dank verpflichtet, weil ich für Frieden gesorgt und die Häute eurer Frauen und Kinder gerettet habe! Und ihr Senatoren solltet es besser auch tun!“

„Du brauchst nicht zornig zu werden, Kelar,“ sagte einer der Männer mit den schwarzen Umhängen mit einer höflichen Kopfneigung. „Wir werden dir gebührenden Dank und Respekt zollen, aber du solltest nicht nur dir selbst diese Ehre erweisen… denn nicht du allein hast die Schlachten gegen Anthurien geführt und gewonnen.“

„Halt den Rand, Nomboh…“ zischte Kelar Lyra grantig, „Die Schweine aus Anthurien sind wir los! Und ich schwöre dir, ich sorge dafür, dass jedes Schwein mit dem Tode bezahlt, das sich hier unter uns aufhalten sollte… wenn du verstehst, was ich meine!“ Die Männer mit den Umhängen sahen sich kurz an. Der, der gesprochen hatte, blinzelte, und der neben ihm war völlig gefühlstot, als er sprach:

„Willst du… uns drohen, Kelar? Wir sind Geisterjäger wie du, nur, weil du als Herr der Geister unser Anführer bist, hast du nicht das Recht, über uns zu richten. Tu es und die Mächte der Schöpfung werden dich hart bestrafen… du kennst… die Gesetze.“

Kelar Lyra verengte die Augen zu Schlitzen.

„Ab heute bin ich das Gesetz, Chimalis.“
 

Er kehrte den Männern den Rücken und sah zu seiner Frau und seinen Kindern, die immer noch da standen und sich nicht rührten. Salihah sah ihn einfach nur an und sprach nicht. Ihr Mann grinste.

„Du hast gesagt, der Clan würde fallen!“ lachte er schnippisch, „Dummes Weib. Wir haben Respekt, wir haben Ehre, wir haben Frieden. Was wollen wir mehr?“

„Wir haben keinen Frieden…“ murrte sie kalt, „Wir haben eine Diktatur, wenn es läuft, wie du es wünschst.“ Sein Blick wurde kälter, aber er erwiderte nichts. Dann ging er an ihr vorbei und verließ das Podest. Tabari war der erste, der ihm eilig folgte.

Der Clan fiel nicht, er stieg hinauf. Das war das erste Mal, dass Salihahs Visionen sich getäuscht hatten.

Dachte Kelar in dem Moment.
 

Jetzt, wo der Krieg vorbei war, hatte der Herr der Geister und Herrscher über Dokahsan, das jetzt Lyrien hieß, Zeit, sich um seine Familie zu kümmern. Und das erste, was getan werden musste, war eine Braut für seinen ältesten Sohn zu wählen. Tabari war zwölfeinhalb Jahre alt, als sich die Familie im Sommer auf den Weg machte zur Familie des Mädchens, das für ihn gewählt worden war. Es war ein Mädchen von hohem Rang unter den Schamanen, die Tochter eines Geisterjägers und Kollegen von Tabaris Vater. In Dokahsan war es üblich, besonders in den höheren Rängen, die Kinder früh miteinander zu verloben – richtig heiraten würden sie erst, sobald beide Beteiligten erwachsen genug dafür wären. Meistens hatten sich die Kinder vor ihrer Verlobung kein einziges Mal gesehen und kannten sich nicht einmal. Das war egal, es ging nicht um Gefühle, es ging um Erben für die Familien. Und da Tabari einmal Kelar Lyras Nachfolger werden sollte, waren diese Erben besonders wichtig und die Wahl der Frau, die sie austragen dürfte, bekam eine besondere Aufmerksamkeit.
 

Die Sonne war bereits aufgegangen. Die ganze Familie saß in einer Kutsche auf dem Weg zum Anwesen der Kandayas; der Familie, zu der das Mädchen gehörte. Die ganze Familie beschränkte sich auf Kelar, Salihah, Tabari und Kiuk; wie er versprochen hatte, hatte der Mann seine Schwester und deren Familie nach dem Winter vor einigen Jahren aus seinem Haus verbannt, obwohl seine Frau versucht hatte, ihn davon abzubringen.

Tabari war etwas lustlos auf der Reise durch halb Dokahsan zum Anwesen seiner zukünftigen Frau. Er hatte gar keine Lust darauf, jemanden zu heiraten, obwohl er natürlich wusste, dass es wichtig für die Familie war und er dem Clan und vor allem ihrer Familie Schande machen würde, würde er es wagen, sie abzulehnen. Dabei war er viel mehr damit beschäftigt, ein guter Magier zu werden und fleißig zu üben, um seinen Vater stolz zu machen. Wenn er eines Tages Geisterjäger oder gar Herr der Geister werden wollte, hatte der blonde Junge noch viel vor sich.

„Du solltest stolz ein,“ rief sein Vater dem Jungen da gerade ins Gedächtnis, und Tabari sah zu ihm hin. „Der Kandaya-Clan ist einer der besten Schamanenclans überhaupt, sie haben eine beinahe genauso lange Tradition wie wir und gelten unter den Geisterjägern als die Herrscher der Schatten. Das Mädchen, das du kriegst, ist die Tochter von Thono Kandaya, dem Oberhaupt des Clans. Sie ist so ziemlich die beste, die du kriegen kannst, Tabari, und die Söhne, die sie dir schenken wird, werden stark sein. Das ist eine sehr vorteilhafte Partie, verstanden?“

„Ja, Vater,“ sagte Tabari artig und neigte lächelnd den Kopf.

Sein kleiner Bruder, der jetzt neun war, war etwas unbeholfener.

„Muss Tabari ein Mädchen aus einem Geisterjägerclan heiraten?“ fragte er. Es war selten, dass er mit seinem Vater sprach, und deswegen sahen ihn alle verwundert an, vor allem Kelar. Kiuk war, anders als Tabari, Telepath und kein Schwarzmagier. Deswegen hatte der Vater kein Interesse an ihm oder seiner Zukunft – er würde keine mächtigen Schwarzmagiersöhne zeugen, die den Clan erweitern würden, das war die Aufgabe von Tabari. Kiuk war nutzlos in Vaters Augen, und Kiuk wusste genau, dass sein Vater sich nicht für ihn interessierte. Aber er interessierte sich auch nicht für seinen Vater… er hatte ja seine Mutter.

„Es ist das Klügste und Sinnvollste,“ antwortete Kelar Lyra trocken auf die dumme Frage des Kleinen. „Er ist der Sohn einer mächtigen Familie, da sollte er eine Braut haben, die auch aus einer guten Familie stammt. Ihre Kinder werden dann besonders gutes, magisches Blut haben.“

„Das ist ja fast wie bei der Pferdezucht,“ kommentierte Kiuk das, und sein Vater starrte ihn an, während Salihah sich einmischte.

„Ja, so in etwa. Die Schamanen, besonders die Geisterjäger, glauben manchmal, ihre Clans genauso züchten zu müssen. Lerne, damit zu leben, Kiuk. So ist es hier schon seit Ewigkeiten gewesen.“

„Wie kannst du es wagen, so respektlos zu sprechen?!“ zischte der Vater missgelaunt und stierte das Kind wütend an. „Du vergleichst die Fortsetzung der Familie mit der Pferdezucht, ich glaube, ich spinne! Halt in Zukunft den Mund, Kiuk, wenn du keine Ahnung hast, wovon du sprichst!“

„Streitet nicht,“ machte Salihah wie immer schlichtend und sah ihren Mann flüchtig an. „Wie soll er Ahnung haben, er ist erst neun. Erzähl lieber etwas über die anderen, großen Clans der Schamanen, damit er eine Vorstellung hat, was eine gute Familie ist und was nicht.“ Kiuk war zwar noch etwas verschüchtert durch den Tadel des Vaters, hob aber jetzt interessiert den Kopf. Kelar Lyra brummte.

„So sei es dann. Es gibt viele Clans, Sohn. Es gibt Heilerclans, Telepathenclans und auch Schwarzmagierclans, jede Gruppe hat ihre besten Familien. Wir sind die älteste und mächtigste Familie der Schwarzmagier. Die anderen Geisterjäger stammen auch alle aus alten, großen Clans mit viel Einfluss. Der Kandaya-Clan, zu dem wir fahren, ist der Clan der Schattenherrscher. Der Kohdar-Clan ist sehr entfernt mit uns verwandt, wir haben denselben Urvater; sie sind Meistermagier des Feuers und es heißt, sie hätten den Menschen das Feuer gebracht vor langer Zeit, als es noch keine Städte gab. Der Chimalis-Clan ist der Clan der Kondorgeister. Vor langer Zeit haben die Schamanen dieser Familie einen Pakt mit den Geistern der Kondore geschlossen und bekommen seitdem Unterstützung von den Geistern der Todesvögel. Es gibt noch ein paar wichtige Namen, aber diese, die ich genannt habe, sind die Wichtigsten unter den Schwarzmagiern. Merke sie dir gut, Sohn! Du wirst sie sicher öfter hören.“ Kiuk blinzelte.

„Was ist mit den besten Telepathenclans?“

„Der Ekala-Clan, aus dem deine Mutter stammt, gehört auf jeden Fall zur obersten Reihe,“ meinte der Vater und sah dabei seine Frau an, die stumm nickte. „Der einzige andere, der mir einfällt, ist der Thala-Clan, aber die Telepathen sind auch nicht so interessant, Kiuk.“

„Aber für mich schon, weil ich auch einer bin,“ schmollte das Kind. Seine Mutter tätschelte ihm lächelnd den Kopf.

„Du wirst ein guter Seelenmagier, mein Kleiner. Keine Sorge.“

Tabari langweilte sich und hörte dem Gerede über Clans nicht weiter zu. Er würde die restliche Zeit der Fahrt lieber nutzen, um sich zu überlegen, was er den Rest seines Lebens mit irgendeinem blöden Mädchen machen sollte, das bei ihm sein würde und das er heiraten müsste, obwohl er keine Lust hatte. Aber Gesetz war Gesetz…
 

Das Anwesen von Thono Kandaya lag nördlicher als das Lyra-Anwesen in der Nähe der Kleinstadt Shay. Das Gebäude war auch um einiges kleiner als Kelar Lyras Anwesen. Vom Kandaya-Clan waren kaum noch Mitglieder übrig. Offenbar waren die Kandaya-Frauen nicht sehr gebärfreudig gewesen und so war Thono Kandaya der letzte männliche Nachkomme des Clans, der noch am Leben war, und er hatte keinen Sohn, sondern nur seine Tochter Nalani, die jetzt Tabaris Verlobte werden sollte.

„Wenn seine Frau zu dumm ist, um ihm Söhne zu schenken, wieso sucht er sich nicht einfach eine Neue?“ hatte Kelar Lyra sich einmal gefragt, und seine Frau Salihah hatte lachend den Kopf geschüttelt.

„Weil er Haki sehr liebt und keine andere Frau möchte, falls dir diese Vorstellung zu seltsam erscheint… es gibt tatsächlich Menschen, die heiraten, weil sie lieben, und nicht wegen der Erben. Und die beiden haben ja oft versucht, noch ein Kind zu bekommen, aber die Früchte sind nie lebend aus Hakis Bauch herausgekommen…“
 

Als die Kutsche der Lyra-Familie Thono Kandayas Anwesen erreichte, wartete bereits die ganze kleine Familie auf den hohen Besuch. Nacheinander stiegen die vier aus der Kutsche, Kelar zuerst, danach die Kinder und zuletzt Salihah, die darauf achtete, dass Kiuk nicht von der Stufe fiel, die aus der Kutsche führte.

„Es ist mir die größte Ehre, Euch und Eure ehrenwerte Familie in meinem bescheidenen Häuschen willkommen heißen zu dürfen, Herr,“ begrüßte der Geisterjäger Thono Kandaya Kelar Lyra mit einer tiefen Verneigung. Seine Frau und das Mädchen, die hinter ihm standen, taten es ihm artig gleich. „Wir sind geehrt durch Eure Mühe, den langen Weg von Vikhara hierher auf Euch genommen zu haben… und noch mehr dadurch, dass meine Tochter die Gemahlin Eures Sohnes werden darf.“

„Nein, nicht doch,“ machte Kelar Lyra abwinkend, aber jeder der Beteiligten wusste, dass er es definitiv nicht geduldet hätte, wäre der Mann nicht so unterwürfig aufgetreten. „Es ist mir eine Ehre, meinem Erben eine Braut aus einer großen, guten Familie geben zu können. – Ich möchte ihn euch vorstellen, Thono. Das ist Tabari, mein ältester und klügster Sohn, den deine Tochter zum Mann nehmen wird.“ In seinen Worten lag absolut kein Zweifel, dass es so sein würde – er duldete keinerlei Widerrede. Ob Tabari oder das Mädchen wollten oder nicht, sie würden eines Tages verheiratet werden.

Tabari machte eine höfliche Verneigung, aber nicht zu tief – der Mann war Geisterjäger und eine Respektsperson, aber er selbst war der Sohn des Herrschers von Lyrien… er kniete vor niemandem.

„Ich bin sehr erfreut über Eure Bekanntschaft,“ sagte der Blonde brav zu Thono Kandaya, der verzerrt lächelte.

„Meine Frau, Salihah, kennst du ja,“ fuhr Kelar Lyra etwas gelangweilt fort und machte eine Handbewegung zu der Frau, die den Kopf neigte, aber aufrecht stehen blieb. „Und das ist unser zweiter Sohn, Kiuk.“ Zu Kiuk wurde nichts weiter gesagt und der Kleine sagte auch nichts, verneigte sich nur stumm.

„Meine Frau Haki,“ stellte jetzt wiederum Thono Kandaya seine Verwandtschaft vor, und die Frau hinter ihm lächelte etwas unsicher und verbeugte sich auch. Kelar Lyra sah sie eine Weile an und sie wich dem Blick aus, als sie das Gefühl hatte, er würde ihr mit einem bloßen Blick den Geist aus dem Körper saugen wollen. Dabei griff sie unwillkürlich nach der Hand ihrer kleinen Tochter, die neben ihr stand in ihrem hübschesten Kleid, die schulterlangen, pechschwarzen Haare aufwendig zusammengesteckt. „Und das ist unsere Tochter, Nalani.“
 

Nalani Kandaya war neun, genauso alt wie Kiuk. Sie war ideal gebaut, weder zu klein noch zu groß, weder fett noch zu dürr, sie hatte ein wohlgeformtes, blasses Gesicht und himmelblaue Augen, die jetzt auf dem Besuch ruhten. Ihr erster Blick galt dem Vater, Kelar, der sie jetzt eindringlich musterte wie ein Stück Fleisch, das er kaufen wollte. Als ihre Blicke sich begegneten, wandte sich das Kind nicht ab, sondern starrte nur in die hellen Schlitze im Gesicht des großen Mannes. Die Augen hatten etwas bösartiges, das Nalani sich nicht erklären und nicht benennen konnte, aber es war da und sie spürte seine Bosheit mit jeder Faser ihres Körpers, je länger sie ihn anstarrte und er zurücksah wie ein giftiges Insekt, das bereit war, zuzustechen und jeden zu töten, der es wagen würde, ihm seine Herrschaft streitig zu machen. Ein gefährliches Insekt, das schnell zerquetscht werden sollte, bevor es eine große Seuche auslösen könnte…

„Nalani!“ zischte ihr Vater plötzlich erbost, „Verneig dich, du stehst vor dem Herrn der Geister und dem Mann, der den Krieg beendet hat! Du solltest Respekt und Ehrfurcht haben, vor ihm, seiner Familie und auch deinem zukünftigen Mann!“

„Entschuldige, Vater,“ sagte die Kleine gehorsam und verneigte sich. „Ich… ich war in Gedanken, es war mein Fehler.“ Der Vater seufzte nachsichtig. Er könnte seiner kleinen Prinzessin nie lange böse sein. Sie war sein einziges Kind… ihn schmerzte der Gedanke genug, sie bald nicht mehr im Haus zu haben.
 

Nalanis nächster Blick galt Tabari, ihrem zukünftigen Verlobten. Als sich die Blicke der beiden zum ersten Mal trafen, lag in beider Augen pure Gleichgültigkeit. Tabari konnte nichts anfangen mit dem kleinen Mädchen, das seinen Vater so unverschämt angestarrt hatte. Und Nalani fragte sich, ob der Junge mit dem eingebildeten Blick wohl einen Besen verschluckt hatte, dass er so gerade und steif neben seinem Vater stand mit Augen so kalt wie ein frischer Frühlingsmorgen. Das Kind klammerte sich etwas fester an die Hand seiner Mutter und ließ den blonden Jungen nicht aus den Augen, als die Familie näher auf sie zukam.

„Trete ein,“ lud ihr Vater die Gäste ein, „Mein Haus ist Euer haus, Herr. Die Reise war sicher anstrengend… ruht Euch aus.“

„Sehr großzügig, Thono,“ entgegnete Kelar Lyra kurz angebunden und ging zusammen mit dem Mann voraus, ihm folgte der ganze Rest der Versammlung. Haki Kandaya und ihre Tochter gingen zuletzt hinein.

„Der Mann hat garstige Augen, Mutter,“ flüsterte Nalani gedämpft aus Angst, er würde sie hören können. „Und der Junge hat tote Augen und gar keinen eigenen Geist, spürst du es auch?“

„Shhh, Nalanichen…“ wisperte die Frau noch leiser und strich der Kleinen hastig über den Kopf, „Sprich nicht. Sprich bitte nicht so garstige Worte… du irrst dich sicher. Sie sind… gute Menschen.“ Nalani zweifelte genauso sehr an den Worten ihrer Mutter wie diese selbst.
 

Während die Eltern in der Stube der Kandayas saßen, Tee tranken und sich unterhielten, wurden die Kinder hinausgeschickt, um sich alleine zu beschäftigen. Tabari hatte protestiert, er wäre zu groß, um mit den Kleinen zu spielen, aber seine Eltern hatten darauf bestanden, dass er sich mit Nalani beschäftigte – sie würden einmal heiraten, da war es gut, wenn sie sich kennenlernten.

„Ich zeige euch das Haus,“ schlug Nalani den beiden Jungen vor. Kiuk nickte und Tabari zuckte nur teilnahmslos mit den Schultern. So ging das Mädchen voraus und zeigte den beiden die meisten Räume, abgesehen von den Schlafzimmern, weil es sich nicht gehörte, Besucher einfach so ins Schlafzimmer zu führen. Schlafzimmer waren private Räume und ihre Eltern würden nicht wollen, dass sie mit den Jungen dort hinging. Sie sprachen nicht, außer dass Nalani ihnen die Namen der Räume sagte. Als sie alles angesehen hatten und wieder auf der Veranda standen, wusste niemand, was sie tun könnten. Kiuk überwand sich als erstes, zu sprechen.

„Und du bist… auch Schwarzmagierin, Nalani? So wie mein Bruder und mein Vater?“ Nalani sah ihn an und nickte.

„Ja.“ Sie überlegte kurz. „Du bist Telepath, hmm?“

„ja,“ machte er und wirkte irgendwie bedrückt, „So ist es wohl.“

„Warum schaust du so, ist das schlimm?“ wunderte sich das Mädchen, „Telepathen sind sehr mächtige Magier, sie können teleportieren und Dinge bewegen, ohne sie anzufassen, das können Schwarzmagie nicht. Und sie können Barrieren erstellen, die sie schützen können. Sie sind sowas wie eine Mischung aus Heilern und Schwarzmagiern, weil sie sowohl offensiv als auch defensiv zaubern können.“ Kiuk sah sie perplex an und Tabari zog eine Braue hoch.

„Echt?!“ staunte der Kleine da, „S-sowas Tolles hat noch niemand über Telepathen gesagt! Bei uns zu Hause bin ich immer nur ein Klotz am Bein und mein Vater sieht mich nicht mal mit dem Rücken an…“

„Das ist aber nicht sehr höflich,“ bemerkte Nalani. Tabari schnaubte.

„Was bildest du dir ein, du undankbarer Knilch?!“ tadelte er seinen Bruder und schlug ihm auf den Hinterkopf, „Du solltest froh sein, dass Vater dich überhaupt leben lässt und dich nicht als Säugling erstickt hat! Dass du nutzlos bist, hat nichts damit zu tun, dass du Telepath bist, Mutter ist auch eine Telepathin und nicht nutzlos. Aber du bist einfach nur kindisch, pff!“ Er wurde von den beiden Jüngeren angestarrt. Kiuk sah aus, als wollte er zu heulen anfangen, und Nalani war plötzlich wütend.

„Was bildest du dir ein, redet bei euch jeder so mit seinem Bruder?!“ machte sie entsetzt, „Und so einen soll ich heiraten?! Du garstiger Kerl!“ Sie nahm den schniefenden Kiuk an der Hand und ging mit ihm ins Haus hinein. Tabari blieb stehen, sah ihr nach und spuckte wütend auf den Boden.

„Respektloses Drecksgesindel!“ schimpfte er beleidigt. Das würde er seinem Vater erzählen, der würde dieser Zicke schon Beine machen.
 

Sie blieben über Nacht im Anwesen der Kandayas, man hatte ihnen großzügig die besten Zimmer als Gästezimmer hergerichtet, eines für die Eltern und eines für die beiden Kinder.

„Meine Frau und ich werden alles vorbereiten für Nalanis Abreise,“ versprach Thono Kandaya abends, als er vor dem Gästezimmer und Salihah Lyra stand, die ihre Söhne zu Bett gebracht hatte und jetzt darauf wartete, dass ihr Mann wieder auftauchte, der im allgemeinen Gewusel des Schlafengehens verschwunden war. Sie hatte kein gutes Gefühl dabei, denn wen ihr Mann spurlos verschwand, passierte etwas Schlimmes. Sie wusste nicht, was es war… aber sie wusste, dass dies der Anfang des Falls sein würde, den sie prophezeit hatte.

Die Herrschaft über Dokahsan geht auf und wird schneller wieder untergehen, als Kelar das lieb sein wird… und er selbst ist es, der den Clan ins Verderben reitet…

„Macht euch nicht so viel Mühe unseretwegen, Thono,“ sprach sie dann lächelnd und neigte den Kopf. „Ich bin dir und Haki sehr, sehr dankbar und teile den Schmerz eures Opfers, eure einzige Tochter in unsere Familie zu schicken. Ich werde dafür sorgen, dass ihr sie regelmäßig besuchen dürft. Nur am Anfang ist es besser, wenn ihr fern bleibt, damit sie sich loslösen kann und sich einlebt bei uns.“

„Besuchen? Das wäre das Schönste der Welt,“ seufzte der Mann traurig, „Haki weint jede Nacht, seit wir zugestimmt haben, sie Tabari zur Frau zu geben. Es ist der Lauf der Dinge, eines Tages wäre sie ja ohnehin eine Braut geworden… aber irgendwie ist es doch schwer für uns.“

„Ich weiß,“ sagte die schwarzhaarige Frau sanft, „Ich verspreche dir, dass ich sie hüten und erziehen werde, wie ihr es getan hättet, und sie wie meine Tochter behandeln werde. Sprich vor Kelar nicht von den Besuchen, ich bin mir nicht sicher, ob er dafür wäre.“

„Du kannst es doch nicht gegen seinen Willen durchsetzen…“ stammelte der Mann unsicher, „Ich meine… selbst ich, und ich bin Geisterjäger und kein feiger Mann, fürchte mich vor deinem Mann, Salihah… seine Augen haben etwas Lauerndes, etwas, das mich beunruhigt…“

„Sei unbesorgt. Bei mir ist das anders. Mich beunruhigt gerade viel mehr seine Abwesenheit…“

„Was?“ machte der Mann verblüfft, und sie erhob sich langsam und sah in Richtung des Fensters.

Ein bösartiger Schatten zog über das Tal, den nur sie sah. Ein Schatten, dessen Namen sie nicht nennen könnte und dessen Heraufziehen selbst sie erzittern ließ.

Hütet euch vor dem Zorn des Himmels, Geisterjäger…
 

„Es gibt keinen Weg, dass ich einen anderen Mann heiraten kann, Mutter?“

Die Frage der kleinen Nalani ließ Haki Kandaya aufsehen und sie wirkte erschrocken. Die Frau war mit ihrer Tochter in ihrem Ankleidezimmer, um ihr Nachthemd anzuziehen, bevor sie zu Bett gehen würde.

„Nalani!“ keuchte sie, „Sprich nicht so… die Geister könnten deine Worte hören und sie gegen dich wenden… Tabari Lyra und du, ihr werdet euch sicher eines Tages vertragen. Du solltest längst im Bett sein…“ Sie verstummte, als das kleine Mädchen plötzlich an ihren Beinen klebte, und sie sah hinunter zu ihr. „Nalani…“

„Ich möchte nicht fort,“ flüsterte Nalani traurig, „Ich möchte nicht mit ihnen gehen, Mutter. Sie sind garstig, zumindest einige von ihnen. Die Geister warnen mich, von ihnen fern zu bleiben, sie wollen, dass ich weggehe von den Lyras! Letzte Nacht hatte ich einen fürchterlichen Traum… ich… habe gesehen, dass…“ Ihre Mutter hockte sich vor sie und hielt ihr sanft einen Finger auf die Lippen.

„Nicht aussprechen,“ sagte sie sanft lächelnd. „Sprich schlimme Dinge nicht aus, Nalani, sonst hören dich die bösen Geister und lassen es Wirklichkeit werden. – Es war nur ein Traum, meine Kleine. Natürlich hast du Angst, wegzugehen… Vater und ich haben auch Angst. Aber es gibt nur diesen einen Weg. Morgen packen wir deine Sachen und du wirst mit ihnen fahren.“ Nalani sah sie groß an, als die Mutter ihr über sie Wangen streichelte. Dann senkte das Kind den Kopf.

„Sag ehrlich, Mutter… glaubst du, Kelar Lyra ist ein guter Mensch?“

Haki Kandaya hielt inne und starrte sie eine Weile an. Dann senkte auch sie weit den Kopf, so weit, dass Nalani ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte. Sie sprach.

„Nein… das glaube ich nicht, mein Kind. Du wirst dich vor ihm hüten müssen.“
 

Sie hörten Schritte auf dem Flur, die auf das Zimmer zukamen. In einer plötzlich aufkommenden Ahnung und Panik erhob Haki Kandaya sich rasch und schob das Kind zurück und in den riesigen Kleiderschrank.

„geh da rein!“ keuchte sie, „Und mach keinen Mucks, Nalani!“

„Aber-…?!“ machte das Kind perplex, da wurde es schon in den Schrank geschoben und die Mutter schloss die Tür, sodass Nalani im Dunkeln saß. Durch das Schlüsselloch des Schranks fiel ein spärlicher Lichtstrahl aus dem Raum herein und Nalani kniete sich hin, um zu beobachten, was geschehen würde.

Im Nachhinein wünschte sie sich, es nicht getan zu haben.
 

Die Tür ging auf und Kelar Lyra betrat unaufgefordert den Raum, worauf Haki Kandaya einen Schritt nach hinten machte.

„Na, hört mal,“ sagte sie vorwurfsvoll, „Dies ist mein Ankleidezimmer, hier einfach hereinzuplatzen ist nicht gerade die feine Art, Herr der Geister hüh oder hott!“

„Ihr habt eine lockere Zunge, werte Dame,“ erwiderte er gelassen, „Mir gegenüber den Mund ungefragt aufzutun ist schon allerhand. Hat dein Mann dir nicht beigebracht, in Gegenwart anderer Männer den Mund zu halten, Weib?“ Haki Kandaya seufzte, obwohl sie vor Wut zitterte bei den beschämenden Worten.

„Was wollt Ihr von mir?“ fragte sie ernst. „Was immer es sein mag, Ihr bekommt schon meine Tochter. Das muss reichen.“

„reichen?“ Der Mann kicherte plötzlich, was sie verwirrte. Dann war er plötzlich mit einem Satz direkt vor ihr, die Tür hinter sich schließend, und packte sie an den Schultern, um sie gegen die Wand des Zimmers zu stoßen. Haki stieß ein schmerzerfülltes Keuchen aus und riss entsetzt die Augen auf beim Anblick des Mannes vor sich. Groß und dunkel wie eine Sturmwolke baute er sich vor ihr auf und sie spürte einen kalten Schauer der Angst über sich laufen. „Du hast keine Ahnung, Weib. Ich hoffe, deine Tochter ist gebärfähiger als du und schenkt meinem Sohn viele, gute Söhne! Etwas, das dir nicht gegönnt wurde…“

„Es kann noch kommen,“ widersprach die Frau etwas unsicher und versuchte zaghaft, ihn von sich wegzudrücken, „L-lasst mich los!“

„Oh nein, es wird nicht mehr kommen. Dafür werde ich sorgen, dann wird mir der Clan deines Mannes in Zukunft nicht mehr im Weg stehen. Denn ich… bin der Herrscher von Lyrien und ich dulde nicht, dass ihr anderen Geisterjäger mir bei meinen Plänen in die Quere kommt!“

„Pläne?“ keuchte sie, und er drückte sie fester gegen die Wand, als sie sich zu wehren versuchte – und sie erstarrte, als er sie plötzlich aus seinen giftigen Augen voller Bosheit anstarrte und ihr die Farbe aus dem Gesicht saugte mit dem bloßen Blick. „Nein… w-was habt Ihr vor?! Ihr könnt nicht die ganze Welt beherrschen, sie ist zu groß für einen Mann.“

„Still, du Nutte!“ Er schlug ihr ins Gesicht und sie schrie auf, dann wurde ihr der Mund zugehalten, was ihren Schrei dämpfte. „Der Respekt und die Ehre gebühren meiner Familie, mir, Haki, und mir haben sie es zu verdanken, die anderen Dreckschweine hier in Dokahsan, dass sie Frieden haben, dass sie Land haben und unser Land nicht jetzt Anthurien heißt! Denkst du, ich merke nicht, dass du meinen Blicken ausweichst? Dass das alle der Geisterjäger tun, dein Mann ebenso wie die übrigen Arschkriecher? Und sie tuscheln hinter meinem Rücken und behaupten, mein Tun wäre unrecht… ist es unrecht, sag es mir, Haki…“

„Nein… b-bitte!“ japste sie, als er die Hand an ihren Hals hob und ihre Kehle zupresste. Sie hustete erstickt. „I-ich weiß von nichts, ich schwöre es! Ich bin schließlich keine Geisterjägerin, ich weiß nicht, was mein Mann mit den anderen beredet! Sicher hat er nie ein schlechtes Wort verloren über Euch oder Euren Clan… lasst mich gehen…“

Kelar Lyra sah sie herablassend an, die wimmernde, zappelnde Frau, die er gegen die Wand drückte, deren Kehle er zuschnürte, sodass sie heftig nach Luft schnappte und langsam blau anlief. Auf sein Gesicht schlich ein diabolisches Grinsen voll von abgrundtiefer Bosheit und Finsternis. Haki Kandaya erstarrte, als sie seinen Blick erneut fing… zum letzten Mal.

„Nein…“ raunte er ihr ins Ohr und drückte fester zu, „Niemals. Du wirst als erste sterben, Schlampe… dann dein Mann… dann nach und nach die anderen großen Clans, bis nur noch der Lyra-Clan übrig ist, als einziger fähig, das Chaos… zu beherrschen! Ihr werdet mir eines Tages dankbar sein… ihr Narren!“

Und er presste die Hand mit aller Kraft gegen ihre Kehle, ohne Gnade und ohne die Absicht, sie am Leben zu lassen.
 

Der Schatten der Nacht verhüllte die Gesichter der beiden Monde Ghia und Zuyya, als Salihah am Fenster stand und hinaus starrte. Sie konnte die Lichtquellen, die Positionen der Monde, nur erahnen in der Dunkelheit. Als ihr Mann, der lange verschwunden gewesen war, das Zimmer betrat, blieb sie, wo sie war. Aber sie spürte den Schatten über dem Haus dunkler werden, genau wie den in ihrem Herzen.

„Du bist zurück,“ bemerkte sie nach einer Weile des Schweigens, und er trat direkt hinter sie ans Fenster, durch das sie hinaus sah.

„Du bist wach, wie ich sehe,“ entgegnete er mit einem kalten Lächeln, hob seine Hände und berührte ihre Schultern. Sie schwieg. „Das ist gut, Salihah… die Verbindung unserer Familie mit den Kandayas wird gut sein, glaub mir. Tabari und das Mädchen mit den scharfen Augen mögen sich nicht, aber sie werden schon zurecht kommen. Es ist egal, ob sie sich mögen. Wir sind auch auf den Wunsch meiner Eltern hin verheiratet worden.“

„Aber wir mochten uns,“ meinte sie dumpf. Ihre Stimme war hohl und klang, als wäre sie müde, worauf er im Berühren ihrer Schultern innehielt. Lange sah er sie einfach nur von hinten an, dann ließ er die Arme sinken.

„Hattest du eine Vision, Frau?“ fragte er sie knapp. „Was hast du… gesehen? Etwas Gutes für die Zukunft?“

Salihah antwortete ihm nicht. Sie drehte sich jetzt zu ihm um und sah ihm ins Gesicht, das unverändert war Als wäre nichts passiert.

Als würde niemals etwas passieren.

Beim Blick in ihr Gesicht stutzte er kurz. Sie sah anders aus als sonst, wenn sie Visionen gesehen hatte – genauso distanziert, aber anders als sonst. Etwas in ihrem hübschen Gesicht war beunruhigend, er konnte nur nicht sagen, was es war. Ihre blauen Augen fixierten seine, ihr Blick ging aber durch ihn hindurch ins Nichts. Sie fragte:

„Wo… bist du so lange gewesen…?“, obwohl sie die Antwort längst gesehen hatte.
 

Haki Kandaya war tot. Ihr Mann war entsetzt über den plötzlichen Schlag, ebenso wie die Kinder, obwohl Nalani apathisch wirkte, während sie gemeinsam mit ihrem Vater vor dem toten Körper ihrer Mutter stand, hinter ihr die Lyras, abgesehen von Kiuk, den hatte Salihah auf dem Flur gelassen, um ihm den Anblick zu ersparen. Es gab kein Blut; aber der Anblick einer Toten war dennoch keiner, den ein Kind verdiente.

„Ich verstehe das nicht!“ keuchte Thono Kandaya, „Gestern hat sie noch gelebt! Als sie nachts wegblieb, glaubte ich, sie wäre bei Nalani… war sie bei dir, Liebling…?“ Nalani zitterte und brachte kein Wort heraus.

Nein… sie wusste genau, was geschehen war. Sie hatte alles gesehen. Sie wusste, wer ihre Mutter getötet hatte, und sie hasste den Mann, der hinter ihr stand, bis auf den Tod für das, was er getan hatte. Ihn und seinen dämlichen Sohn, den sie heiraten müsste. Sie würden ihnen niemals vergeben.

„Das ist ein Jammer…“ meinte Kelar Lyra mit gespieltem Mitleid, und seine Frau sah ihn ungläubig an. „Ich meine – was wird jetzt aus deiner Familie? Du hast keine Söhne… und ohne deine Frau wirst auch nie welche haben…“

„Die Söhne sind mir jetzt egal!“ schnappte der Mann verbittert und schluchzte, „I-ich will meine Frau zurück… ich… will nicht, dass sie tot ist!“

„Aber das kannst du nicht ändern, so leid es mir tut…“ Hinter dem Rücken des Mannes zeigte er ein schelmisches Grinsen, und Salihah stieß ihn unauffällig an. Ihr Blick warnte ihn, nicht zu weit zu gehen. Thono Kandaya kniete sich zitternd auf den Boden vor seine tote Frau und senkte den Kopf herab auf ihren Bauch.

„M-meine Haki… meine geliebte Haki…“ wimmerte er, und die Lyras im Hintergrund sahen sich an. Nalani hockte sich stumm neben ihren Vater, und er nahm sie weinend in den Arm. Das Mädchen umarmte seinen Vater auch, zitterte aber nur stumm weiter, ohne etwas zu sagen oder zu weinen.

„Was für ein garstiges Kind,“ brummte Tabari schnippisch, „Sie weint nicht mal um ihre Mutter. Wie pietätlos.“ Kelar Lyra kommentierte das nicht weiter. Da hob der Geisterjäger vor ihnen den Kopf wieder, die Kleine an sich drückend.

„Ich bitte Euch… ich weiß, es ist… ehrlos von mir, das zu verlangen… aber… kann ich meine Tochter nicht noch so lange hier behalten, bis sie eine Frau geworden ist? Ich möchte für sie sorgen und außer ihr habe ich doch jetzt niemanden mehr… seid großzügig, Herr…“ Er sah zu Kelar Lyra, und der Mann sah ihn empört über diese Forderung an, während sich in Nalani ein Hoffnungsschimmer regte – sie müsste nicht zu den Lyras!

Erstaunlicherweise war es Salihah, die diesen Plan vereitelte.

„Nein, Thono. Sie muss heute mit uns kommen, je eher, desto leichter wird es ihr fallen. Ich habe dir mein Wort gegeben, das werde ich halten.“

„Was für ein Wort, Frau, hinter meinem Rücken?“ zischte Kelar verärgert, war aber vor allem perplex, dass Salihah dafür sorgte, das Mädchen aus den Armen des trauernden Vaters zu reißen. Das war definitiv nicht ihre Art und viel zu herzlos für sie… was hatte die denn vor?

„Mein Wort darauf, dass ich Nalani beschützen werde,“ erklärte seine Frau ihm ruhig und sachlich. „Sind ihre Sachen gepackt? Wir brechen so schnell wie möglich auf.“

„Wartet – darf sie nicht einmal die Beisetzung ihrer eigenen Mutter begleiten?“ keuchte Thono Kandaya, „Wir wollen meiner Frau die letzte Ehre erweisen, ich möchte, dass Nalani dabei ist.“ Salihah sah ihn an und schien zu überlegen, was sie sagen sollte. Sie entschied sich für ein Kopfnicken.

„Einverstanden. Wenn die Zeremonie jetzt sofort stattfindet. Je eher wir fort kommen, desto besser, denn für meine Kinder halte ich es nicht für sehr angebracht, länger in einem Haus zu wohnen, in dem jemand ermordet worden ist.“

Dann ging sie aus dem Raum und ließ eine perplexe Gemeinschaft zurück. Tabari kratzte sich planlos am Kopf und murmelte kleinlaut:

„E-ermordet?“
 

Es war ein sehr kleiner Kreis, der Haki Kandayas Trauerfeier beiwohnte. Die Kinder sammelten Holz, das auf einen Haufen gelegt wurde. Die Frau wurde in ihre besten Kleider gehüllt und bekam ihre wichtigsten Gegenstände zu sich, ehe sie auf den Holzstapel gelegt wurde, ihr Mann sie mit Öl übergoss und sie anzündete. Verbrennung war eine ehrenvolle Bestattungsart, bei der das Feuer den Geist der Toten rasch in die Luft und ins Reich der Geister bringen würde. Trotz allem würde Thono Kandaya fünf Tage und fünf Nächte nicht von dem Scheiterhaufen weichen, um aufzupassen, dass der Geist seiner Frau wirklich gut ankam. Während das Feuer brannte, standen er und Nalani davor und starrte hinauf, bei ihnen die paar Bediensteten des Haushaltes, die Lyras im Hintergrund.

„Wer hat sie umgebracht?“ wollte der kleine Kiuk bekümmert wissen, der an der Hand seiner Mutter stand, und sie sagte nichts.

„Wenn wir das wüssten, hätten wir ihn ja erledigt, du Depp,“ meinte Tabari zuversichtlich.

„Sei lieber vorsichtig mit dem, was du sagst,“ mahnte sein Vater ihn argwöhnisch, was Tabari verwunderte, „Der Kerl könnte ja noch hier lauern und als nächstes ich auf dem Kieker haben, wer weiß…“ Tabari verstummte. Der Gedanke war durchaus beunruhigend.
 

Das Feuer war so gut wie heruntergebrannt, als Salihah sich überwand, die kleine Nalani an der Hand zu nehmen, worauf sie hochschreckte.

„Es ist besser, wenn wir jetzt gehen, Nalani,“ sagte sie ernst. „Lass deine Mutter in Frieden ruhen. Es tut… mir so leid, was passiert ist. Deine Sachen sind alle in die Kutsche gebracht worden, es ist zeit.“ Nalani sah sie ungläubig an.

„Wie soll meine Mutter in Frieden ruhen, wenn der Mörder noch frei und lebend herumläuft?“ fragte sie.

„Geh mit ihnen, Nalani…“ murmelte ihr Vater neben ihr, und sie fuhr zu ihm herum. Er stand da, geistesabwesend, und starrte auf den glühenden Holzhaufen. „Ich bin nicht fähig, alleine für dich zu sorgen. Du wirst es gut haben bei ihnen… ich komme dich… mal besuchen.“ Salihah sah den Mann schweigend an und senkte ehrfürchtig den Kopf. Nalani zauderte, als die Frau sie am Arm nahm und sanft hinter sich herzog, wem vom Feuer.

„Nein, halt!“ schrie sie panisch, „I-ich möchte nicht! Bitte, Vater! Bitte schick mich nicht fort! S-sag ihnen, sie sollen sich eine andere Braut suchen… bitte!“ Aber er sagte nichts und senkte nur reuig den Kopf, und Salihah, die sie zog, hielt nicht inne und zeigte keinerlei Barmherzigkeit. Wieso sprach ihr Vater nicht? War ihm egal, was aus ihr wurde? Dass sie mit ganzem Herzen diese grauenhafte Familie hasste, zu der sie fortan gehören sollte?

Sie würde es niemals erfahren.
 

Sie wollte sich umdrehen und erzitterte am ganzen Körper vor Schmerz, Wut auf die Lyras, Sehnsucht nach ihren Eltern und Verständnislosigkeit über das Verhalten ihres Vaters, aber Salihah hielt sie sanft fest und zwang sie, wieder geradeaus zu sehen.

„Dreh dich nicht um, Nalani,“ flüsterte sie erstaunlich sanft, von der vorherigen Kälte war nichts mehr zu hören. 2Hier gibt es nichts mehr für dich, kleines Mädchen.“
 


 

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booyah o_o mami tot, und der Vati folgt sogleich! XD harr harr harr... arme Nalani uû tabari ey, ich würde ihm gerne eine knallen XDD aber verzeiht ihm, er ist auch nur ein Opfer^^'

Das Ende des Kandaya-Clans

Das Mädchen starrte empor an den hohen, festen Mauern des Lyra-Schlosses, als sie ankamen. Es war ein sehr altes Gebäude, aber gut in Schuss gehalten, und seine mächtige und imposante Erscheinung spiegelte auf den ersten Blick den hohen Status der Familie wider, die darin lebte. Nalani war überrascht, dass sie das Schloss schön fand, obwohl sie den Gedanken hasste, fortan hier leben zu müssen bei diesen Leuten, die sie aus den Armen ihrer Eltern gerissen hatten. Das Schloss hatte nicht das Pompöse, Heimtückische, das Kelar Lyras Augen hatten oder Tabaris fahles Gesicht, nicht die Gnadenlosigkeit der Stimme von Salihah. Es sah aus, als könnte es Schutz und Wärme spenden, etwas, das Nalani hier am wenigsten zu finden glaubte.

Die Heimreise war bedrückend gewesen, niemand hatte auch nur ein Wort gesprochen. Nalani hatte sich gezwungen, nicht zu weinen, obwohl sie den Tod ihrer Mutter noch nicht überwunden hatte und der grußlose Abschied von ihrem Vater schmerzte. Auch, wenn die Welt um sie herum schwarz und grauenhaft geworden war, so war sie eine Tochter eines Geisterjägers, ein stolzes Kind, das den bösartigen Lyras keine Gelegenheit geben würde, sie zu tadeln, sie würde sie beschämen.
 

„Ich kümmere mich darum, dass sie ein eigenes Zimmer bekommt,“ verkündete Salihah, als sie aus der Kutsche gestiegen waren. Tabari murrte über die lange Fahrt und rieb sich genervt den schmerzenden Rücken, Kiuk sprach nicht und hielt sich unauffällig am Rock seiner Mutter fest. Nalani stand neben ihm und starrte distanziert ins Nichts. Sie wollte keinen von ihnen ansehen, sie wollte sie niemals in ihre Seele blicken lassen. Sollten sie versuchen, was sie wollten, sie würde hart und erbarmungslos schweigen wie ein toter Stein.

„Tu, was du für richtig hältst,“ machte Kelar knapp, ohne seine Frau eines Blickes zu würdigen. „Ich muss ohnehin noch einmal weg mit dem Wagen. – Kutscher, bleib da oben, du kannst gleich weiterfahren, ich habe zu tun!“

„Wollt Ihr Euch nicht einmal ausruhen?“ wunderte sich der Kutscher, und er erntete einen wütenden Blick des Herrn der Geister, der ihn schaudern und erbleichen ließ. „E-entschuldigt, mein Fehler! Ich hätte nicht fragen dürfen, es s-stand mir nicht zu, Herr!“

„Hoch mit dir, du Nichtsnutz!“ schnaubte Kelar Lyra erbarmungslos und stieg gleich wieder in die Kutsche. Salihah sah langsam zu ihm hin und sie spürte, wie der Schatten sich ihrer Seele bemächtigte und sie zittern ließ.

„Wohin fährst du?“ fragte sie dumpf. Kelar Lyra schnaubte abermals und schlug die Kutschentür zu.

„Nach Tuhuli. Politik, Weib. Bleib bei den Kindern.“ Dann setzte sich die Kutsche auch schon wieder in Bewegung und rollte den Sandweg, der zum Schloss auf den Hügel führte, wieder hinab in Richtung Straße. Salihah sah dem Wagen nach und sie spürte, dass Kiuks Griff an ihrem Rock sich leicht verfesterte.

„Mutter, was ist?“ flüsterte der Junge nervös, „Du bist unruhig…“

„Schatten…“ war alles, was Salihah sagte, und sie strich dem Kleinen flüchtig über den Kopf und durch die braunen Haare, „Sie sind in meinem Geist und lassen… nicht los.“

Wie in der Nacht, bevor Haki Kandaya starb… die Geister des Himmels starren wachsam auf uns herunter und werden alles sehen, was geschieht… Sie sah in Gedanken versunken auf Nalani, die noch immer stocksteif da stand. So wie die Augen dieses Mädchens den Tod seiner Mutter gesehen haben.
 

Sie gingen endlich ins Anwesen und während die beiden Jungen sich mit sich selbst beschäftigten zeigte Salihah Nalani ihr zukünftiges Zimmer. Es war groß und schön, größer als ihr altes bei ihren Eltern. Das Mädchen bedankte sich dennoch nur knapp, weil sie sich nicht freuen konnte. Und sie fragte sich, wo der bösartige Dämon von Mann wohl hingefahren war. Ob er wirklich nach Tuhuli gefahren war, die wichtigste Stadt des Kreises Vikhara? Irgendeine innere Stimme hatte ihr gesagt, dass er log. Was war das für ein Mann, der seine eigene Frau anlog? Ob Tabari sie auch belügen würde?

„Ich möchte dir etwas sagen, Nalani,“ riss Salihah Lyra sie da aus ihren Gedanken, und sie schrak hoch – Moment, diese Frau war Telepathin… dann konnte sie sicher ihre Gedanken lesen… jetzt würde sie sie sicher bestrafen dafür, dass sie schlecht über ihren Mann gedacht hatte…

Salihah kannte die Gedanken des Kindes tatsächlich.

„Ja, ich sehe alles, was du denkst,“ sagte sie ruhig. „Und nein, ich werde dich nicht bestrafen, denn was du denkst, ist die Wahrheit. Ein Dämon… das ist es in der Tat, was meinen Mann neuerdings am besten beschreibt.“

„Ihr sprecht schlecht über Euren eigenen Gemahl?“ fragte Nalani verwirrt. Und sie hatte gedacht, die beiden wären auf derselben – bösen – Seite.

„Ich spreche die Wahrheit, das ist alles, sei es gut oder schlecht. Lerne, dass gut und schlecht sehr subjektiv sind, das heißt, betrachtet man sie aus einer anderen Perspektive, erscheinen sie einem plötzlich falsch herum. Nicht alles, was du als gut empfindest, empfinden andere Leute auch als gut, und nicht alles, was andere schlecht nennen, muss auch für dich schlecht sein, Nalani.“

„Ist es das, was Ihr mir sagen wolltet?“ fragte die Kleine langsam, und Salihah lächelte sanft.

„Nein… ich möchte dir dies sagen: du musst mich nicht fürchten. Ich werde dir kein Leid zufügen und ich habe deinem Vater versprochen, für dich zu sorgen wie für meine eigenen Kinder.“

„Aber Ihr habt mich aus den Armen meines Vaters gerissen!“ keuchte das Kind und trat erbost zurück, „Ihr habt dafür gesorgt, dass ich herkomme, weil Ihr auf keinen Fall wolltet, dass ich länger bei ihm bleibe!“

„Du wirst noch lernen, dass es zu deinem Schutz war. Ich sehe unsichtbare Dinge und höre die Stimmen der Geister lauter als mein Mann oder alle Geisterjäger. Sie gaben mir einst den Namen Seherin… und ich habe gesehen, dass es dein Tod wäre, würdest du länger bei deinem Vater bleiben. – Ich weiß, du denkst, ich lüge, damit du Ruhe gibst. Aber eines Tages wirst du wissen, dass ich die Wahrheit gesagt habe, Nalani.“ Nalani senkte schweigend den Kopf, sodass ihre pechschwarzen, glatten Haare in ihr Gesicht fielen. Salihah fuhr bedacht fort und musterte sie dabei eine Weile. „Du weißt etwas über den Tod deiner Mutter… du hast es gesehen. Du würdest es deinem Vater erzählen… und dann würdest du sterben, weil du es weißt.“ Die Kleine sah sie plötzlich erschrocken an und erbleichte. Sie wusste, dass sie das beobachtet hatte? Natürlich wusste sie es… sie war Telepathin. Nalanis Augen wurden matt.

„Ich hasse diese Familie,“ gestand sie dumpf, die Frau vor sich anblickend. Salihah nickte, bevor sie ihr sanft über den Kopf strich.

„Ja. Das kann ich dir nicht verübeln. Das täte ich an deiner Stelle auch.“
 

In der Nacht träumte Nalani von ihrer Mutter. Sie hatte schon einmal von ihrem Tod geträumt, bevor sie gestorben war. Sie fragte sich im Stillen, ob das eine Warnung der Geister gewesen war… aber sie bekam keine Antwort, sie sah nur wieder die grässlichen Bilder, wie Kelar Lyra ihre Mutter erwürgte, wie er sie zu Boden stieß und auf sie spuckte, als wäre sie ein schändliches Stück Dreck gewesen. Und wieder hörte sie seine abwertenden Worte:

„Du wirst als erste sterben, Schlampe… dann dein Mann… dann nach und nach die anderen großen Clans, bis nur noch der Lyra-Clan übrig ist, als einziger Fähig, das Chaos… zu beherrschen!“

Als letztes sah sie das Gesicht ihres Vaters und wie er sie fassungslos anstarrte… dann stürzte ein blutiger Himmel auf ihn herab und das Bild ihres Traums ertrank in Dunkelheit.

Nalani schrak aus dem Schlaf hoch und keuchte heftig, als sie ihren Puls noch immer vor Schreck rasen spürte. Dann erst registrierte sie ihre Umgebung und erinnerte sich, dass sie nicht mehr bei ihren Eltern lebte, sondern bei den Lyras. Sie lag in dem großen Bett in ihrem Zimmer und atmete heftig ein und aus. Ihr Kopf schmerzte und als sie sich aufsetzte, wurde ihr schwindelig. Draußen regnete es in Strömen und der Wind peitschte die Tropfen gegen die dünnen Glasscheiben des Fensters.

Es war nur ein Traum… redete die Kleine sich unglücklich ein, um sich zu beruhigen, Nur ein böser Traum. Die Geister meinen es nicht gut mit mir…

Sie erhob sich langsam, taumelte erst einmal und schlich dann benommen aus dem Zimmer hinunter in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Als sie gerade das Glas geholt und mit dem leichten Wasserzauber Alara das Getränk hinein gezaubert hatte, stellte sie verdutzt fest, dass sie nicht als einzige wach war.

Tabari saß in der Ecke der Küche auf einem Stuhl am Fenster und starrte jetzt erstaunt zu ihr herüber, wie sie da mit ihrem Wasserglas stand. Er hatte auch ein Glas.

„Was machst du denn hier?“ fragte er sie und klang nicht halb so abwertend, wie er es gerne gehabt hätte – irgendwie konnte er nicht so imposant reden wie sein Vater. Er hasste das… wenn er versuchte, sich Respekt zu verschaffen, machte er sich bloß lächerlich.

„Ich konnte nicht schlafen und wollte etwas trinken,“ antwortete Nalani prompt und wunderte sich über die dämliche Frage. „Das siehst du doch. Also geht es mir genau wie dir.“ Er schwieg, sah sie erst an und drehte dann den Blick wieder zum Fenster. Was wollte die Göre jetzt hier` Er wollte seine Ruhe. Er wartete darauf, dass sein Vater zurückkam… nach dem beunruhigenden Traum, den er gehabt hatte, war ihm schlecht gewesen und er konnte seit Stunden nicht mehr einschlafen.

Jetzt, wo er über den Traum nachdachte, fragte er sich, wieso Nalani hier war.

„Hast du schlecht geträumt?“ fragte er sie unverhofft, und sie blinzelte, nahm einen Schluck Wasser und nickte.

„Ja. Ich habe von… meinem Vater geträumt.“ Sie ließ den Teil mit ihrer Mutter bewusst aus, weil sie sich an Salihahs Worte erinnerte. Vielleicht war es nicht gut, wenn jemand wusste, was sie gesehen hatte. Tabari sah sie an.

Von ihrem Vater?

Sein ungläubiger Blick schien nach einer Erläuterung zu suchen und das Mädchen senkte den Kopf. Sie erzitterte.

„Ich sah… seinen Tod…“
 

Der Junge erhob sich perplex.

„Das kann nicht sein!“ schnappte er, „Du kannst unmöglich das gleiche geträumt haben wie ich…“ Jetzt war sie es, die perplex war. Sie hielt inne und starrte zurück.

„Du hast – das auch gesehen?“ flüsterte sie tonlos und erzitterte, während sie beide einander nur entsetzt anstarrten. Dann ließ sie plötzlich das Glas fallen und schlug keuchend die Hände vor den Mund. Der Schwindel kehrte mit aller Macht zurück und ließ sie taumeln.

„Mein Vater… e-er ist tot!“ keuchte sie aufgelöst, „Niemals haben zwei Menschen gleichzeitig den gleichen Traum, wenn es bedeutungslos ist-…!“ Sie taumelte rückwärts und Tabari streckte schon alarmiert die Hand nach ihr aus, weil sie blass wurde und aussah, als würde sie ihn Ohnmacht fallen; jemand kam ihm damit zuvor, sie aufzufangen.

„Mutter…“

Salihah war hinter der Kleinen aufgetaucht und hatte sie festgehalten, ihren Sohn sah sie verwundert an.

„Was ist denn hier los?“ fragte sie, „Feier in der Küche mitten in der Nacht?“

„Wir haben beide denselben Traum geträumt,“ berichtete Tabari verwirrt, „Ist das nicht ein seltsames Zeichen?“ Salihah runzelte die Stirn. Nalani in ihren Armen zitterte am ganzen Körper, drehte sich plötzlich um und vergrub wimmernd das Gesicht in Salihahs Nachthemd, ungeachtet der Tatsache, dass sie keinem traute, der Lyra hieß; es war instinktiv.

„Vater!“ stammelte sie neben sich, „I-ich will zu meinem Vater…“

„Shhh…“ machte die Frau und strich ihr über den Kopf, „Still jetzt. Ihr geht jetzt beide wieder ins Bett, ihr solltet nicht wach sein. Ja, du auch, Tabari, jetzt gleich.“

Sie ging mit Nalani wieder nach oben, die völlig aufgelöst war, während Tabari noch immer verwirrt in sein Zimmer zurück schlurfte. Wieso, verdammt, konnte seine Mutter nicht einmal einfach antworten, statt um den heißen Brei herumzureden? Aber er hatte ihr nichts zu sagen, er war nur ein Kind. Und das ärgerte ihn.

Unerwarteterweise kam sie nach einer längeren Zeit, die er wach in seinem Zimmer gesessen hatte, zu ihm. Er sah sie blöd an.

„Was ist?“

„Was hast du gesehen, Tabari?“ fragte sie zurück. Er brummte.

„Thono Kandayas Tod… ich weiß nicht, wieso ich sowas sehe, was tangiert mich das?“

„Und du hattest einen Krampf dabei?“ murmelte sie dann. Der Junge nickte zögernd.

„Was… bedeutet das, Mutter?“ Sie verließ das Zimmer. An der Tür hielt sie noch einmal inne.

„Dass deine zukünftige Frau eine außergewöhnlich starke Sehensgabe besitzt.“
 

Als Kelar Lyra zurück zum Anwesen kehrte, war die Sonne längst aufgegangen. Im Sommer dauerte der lichte Tag ziemlich lange in Dokahsan. Vor dem Schloss traf er unerwartet auf seine Frau Salihah, die am Tor stand mit einem Botschafter zu Pferd. Der Botschafter peste samt Gaul davon, als der Herr der Geister am Tor eintraf, und er sah erst dem Pferd und der Staubwolke im Sonnenlicht nach und dann zu seiner Frau.

„Was war das denn für ein Fratz?!“ fragte er sie scharf, „Was war das für eine Botschaft, die du geschickt hast?“

„Die Zählungen für die Senatoren in Yiara,“ sagte sie prompt und sah ihn verwundert über die Frage an, „Du magst dich Herrscher von Lyrien nennen, de facto allerdings sind wir zuständig für den Bereich Vikhara und den Schutz der Menschen hier.“

„Und de facto erlaube ich nicht, dass eine Frau hinter meinem Rücken meine Politik betreibt!“ zischte er grantig, „Nennen? Nennen?! Ich nenne mich nicht so, Weib, und den Senat werde ich aus Yiara vertreiben, so viel ist sicher. Als ob die irgendwas unter Kontrolle hätten! Wegen des dämlichen Senats und den schwafelnden alten Männern kam doch der Krieg!“

„Nein, das war ein Kultur- und Rassenproblem, nicht das des Senats,“ bemerkte Salihah trocken. „Willkommen zurück übrigens. Wieso hast du in Tuhuli übernachtet?“

Sie bezweifelte stark, dass er in Tuhuli gewesen war. Und sie wusste, dass sie sich auf dünnes Eis begab, als sie fortfuhr; andererseits gab es keinen anderen Weg.

„Was ist mit Thono Kandaya passiert? Ich habe keine angenehmen Dinge gesehen, nur Tod und Schatten. Tabari und Nalani haben heute Nacht beide von Thonos Tod geträumt. Findest du das nicht auch beunruhigend?“
 

Kelar Lyra zog eine Braue hoch.

„Ich finde es beunruhigend, dass die Kinder Visionen haben, die ich nicht habe!“ bemerkte er nach einer langen Pause – zu lang für Salihahs Geschmack, und sie verengte kaum merklich die Augen.

Dann ist es so, wie ich befürchtet habe. Dann war es also richtig, die Botschaft nach Tuhuli zu schicken und den übrigen Geisterjägern zu berichten, was hier vor sich geht…

„Du glaubst, mit Thono wäre etwas geschehen, Salihah? Deine Augen haben sich schon einmal geirrt.“

„Wann das?“ lachte sie, ihm den Rücken zukehrend, und er packte ihren Arm und zerrte sie zurück zu sich und dem Tor, ehe sie weggehen konnte.

„kehre mir ja nicht den Rücken!“ warnte er sie verärgert, „Du hast gesagt, der Clan würde fallen, und er tut es nicht.“

„Pff,“ machte sie kaltblütig, „Noch nicht, Kelar. Und lass mich los… du kannst mir keine Angst einjagen. Darin warst du schon immer grottenschlecht.“ Sie zeigte ein warmherziges, nostalgisches Lächeln, ehe sie sich aus seinem Griff befreite und dabei sanft mit den Fingern über seine Hand strich. Er rührte sich nicht und sie ging ins Schloss hinein.

„Wir sollten Tabari und Nalani offiziell verloben, bevor was Schlimmeres passiert,“ sagte er entrüstet, „Irgendjemand hat es offenbar auf Geisterjäger und ihre Familien abgesehen…“
 

Nalani saß auf einem Stuhl am Fenster ihres neuen Zimmers und sah hinaus. Von hier aus hatte sie einen Blick auf den Sandweg, der zum Anwesen führte. Es lag auf einem Hügel und daher hatte sie aus ihrem Zimmer einen wunderschönen Ausblick auf die Landschaft. In der Ferne sah sie kleine Dörfer und ganz schwach den Rauch von Kochfeuern. Sie fragte sich, was das für Menschen waren in den Dörfern hier. Ob sie sich nicht bedroht fühlten von dem großen Schloss hier oben?

Kiuk kam zu ihr.

„Warum sitzt du hier ganz alleine?“ fragte er sie scheu, und sie sah weiter aus dem Fenster.

„Ich warte auf meinen Vater.“

„Aber… denkst du nicht, dass es etwas dauert, bis der hier mal vorbeikommt?“ wunderte sich der Junge etwas verwirrt, und sie senkte den Kopf.

„Mein Vater ist tot.“

Kiuk erschrak und fuhr zurück.

„Was?! – Wie kannst du das wissen? – Ich meine, warum…?“

„Ich habe es in einem Traum gesehen… und ich glaube, es war nicht bloß ein Alptraum.“

„Du meinst, du kannst Dinge sehen, die unsichtbar sind?“ Der Kleine war erstaunt, „So wie meine Mutter? Sie sagt, normalerweise ist man älter, wenn man anfängt, Dinge zu sehen, und nicht alle Schamanen können es gleich gut.“

„Ich weiß es nicht,“ meinte Nalani unglücklich. „Ich werde hier sitzen und warten.“ Kiuk schwieg eine Weile etwas bedrückt.

„Und… wie lange willst du das tun? Wenn er tot ist… kann er doch gar nicht kommen.“

Sie hatte keine Gelegenheit, etwas zu antworten. Wieder einmal war es Salihah, die das Gespräch unterbrach, als sie zur Tür herein kam.

„Nalani, komm bitte mit mir. Ich werde mit dir zu deinem Vater fahren, jetzt gleich. Kiuk, du bleibst hier.“

„Jetzt gleich?“ fragte Nalani perplex und drehte sich langsam um, und die Frau nahm sie an der Hand und zog sie mit sich.

„Rasch. Keine Zeit zu verlieren.“ Kiuk wunderte sich über die Wortkargheit seiner Mutter, während diese mit der kleinen Nalani die Treppe hinab eilte und das Anwesen verließ. Draußen fuhr eine Kutsche vor, in die die beiden einstiegen, wie der Junge aus dem Fenster verfolgen konnte. Als der Wagen weg war, brüllte Kiuks Vater durch das Schloss.

„Wo ist meine Frau?!“ empörte er sich wutentbrannt unten in der Halle, eines der Putzmädchen am Kragen packend und schüttelnd. Das Mädchen schrie vor Angst und wagte nicht, zu antworten. „Wo ist sie, du Nutte, eben war sie noch da!“

„I-ich weiß es nicht, Herr! D-die Herrin ging h-hinauf, das ist alles, was ich weiß! B-bitte tötet mich nicht…“

„Ach, bah!“ schimpfte Kelar Lyra wütend, warf die Frau zu Boden und sie knallte schreiend mit dem Kopf gegen die steinerne Wand. Der Mann fuhr herum zur Treppe, auf der seine beiden Söhne jetzt verwirrt über den Lärm standen und ihn ansahen.

„Kiuk! Du Nichtsnutz, wo ist deine Mutter?! Sonst hängst du doch immer an ihrem Rock!“

„Sie ist fort mit Nalani…“ meldete Kiuk verwundert, „Hat sie dir das denn nicht selbst gesagt? U-und Nalanis Vater ist tot!“

„Ist mir doch egal! Du Stück Dreck, wohin ist sie und wieso mit der Göre?!“ Er stampfte die Treppen schneller hinauf als die Kinder zurückweichen konnten, und ehe Kiuk Zeit hatte, wegzulaufen, bekam er einen mächtigen Schlag ins Gesicht und stürzte hustend zu Boden. Tabari erbleichte und trat sicherheitshalber zurück, auch wenn er von seinem Vater bisher nie Schläge kassiert hatte – so wütend hatte er ihn noch nie erlebt…

„I-ich… s-sie wollten… z-zu Nalanis Vater… g-glaube ich…“ wimmerte der kleine Bruder am Boden, und sein Vater schlug ihn erneut.

„Geh in dein Zimmer und lass dich nicht wieder blicken, bis ich es dir erlaube! LOS, SOFORT!“ Ungeachtet der blutenden Nase rannte das Kind verängstigt davon. Kelar schnaubte und sah zu Tabari, der schockiert seinem Bruder nachsah – aber jetzt sofort ein kaltes, zustimmendes Gesicht machte, als Vater ihn anblickte.

„So ist es recht, der kleine Stinker hat nichts anderes verdient, Vater!“ sagte er gehorsam. Kelar Lyra schnaubte.

„Spar dir die Schleimerei!“ blaffte er den Ältesten an, „Wenn deine Mutter nach Hause kommt, kann sie was erleben… du solltest dich innerlich von ihr verabschieden, Tabari. Ich ziehe ernsthaft in Erwägung, sie zu töten für ihren Verrat!“
 

Salihah wusste genau, was sie erwarten würde, wenn sie nach Hause kehrte – ohne die Zustimmung ihres Mannes wegzufahren war unerhört und ihr Ungehorsam entehrte ihren Mann über alle Maßen. Aber das war ihr gleichgültig, denn es standen viel schlimmere Dinge auf dem Spiel. Als sie nach langer Fahrt mit Nalani das Anwesen von deren Eltern erreichte, fanden die beiden Frauen davor vier Männer stehen, die in schwarze Umhänge gehüllt waren. Neben ihnen lag eine notdürftig aus Holz gebastelte Bahre, auf der Nalanis Vater lag, die Augen in den Himmel gerichtet.

„Vater! Vater!“ schrie das Mädchen außer sich und stürzte kopflos voran, sobald es die Kutsche verlassen hatte, warf sich über die Leiche ihres Vaters und fing an zu weinen. „Warum passiert das alles?! Ich möchte nicht, dass sowas passiert…“

„Oh nein… du liebe Güte,“ machte einer der Männer zutiefst bedrückt, die anderen drei sahen sich ratlos an. Salihah stieß zu ihnen.

„Dann hat Nomboh die Botschaft also brav weitergeleitet, die ich ihm geschickt habe,“ erkannte sie richtig, „Die Botschaft von Thonos Tod… und ihr seid alle gekommen, Geisterjäger. Ich danke euch für eure Mühe.“

„Die Geister spielen uns böse Streiche,“ sagte einer der Männer beunruhigt. „Von uns hatte keiner eine Ahnung.“

„Kelar… wird das Glück seiner Geister bald schon verlieren,“ bemerkte sie dumpf und so leise, dass Nalani es nicht hören konnte, die noch bei ihrem Vater kauerte. „Wir alle können uns denken, wer für Thonos und Hakis Tod verantwortlich ist.“

„Ja, und es ist beunruhigend,“ murmelte ein anderer Mann und linste auf den toten Mann und seine Tochter, „Es ist nicht so, dass der Kandaya-Clan unbedeutend gewesen wäre, sie waren mächtig. Und jetzt werden sie sterben, denn dieses Mädchen ist die letzte Kandaya – die bald Lyra heißen wird.“

„Kelar ist besessen von bösen Geistern,“ orakelte ein dritter Mann und nahm jetzt erst die schwarze Kapuze ab, die er getragen hatte, sodass seine schwarzen Haare zum Vorschein kamen. „Du solltest ihn besser unter deiner Fuchtel halten, Salihah, sonst müssen wir bald alle um unsere Frauen und Kinder bangen! Wir sehen zu, wie der Mann, der uns anführen soll als Herr der Geister, zum Monster mutiert.“

„Das ist er schon lange, Zoras… und ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch festhalten kann.“

Diese Nachricht war ernüchternd.

„Dabei bist du die einzige, auf die er je gehört hat,“ machte der angesprochene Zoras Chimalis stirnrunzelnd, „Ein Jammer, Salihahchen.“

„Nicht in dem Ton, ich bin älter als du,“ sagte sie knapp. „Ich bin gegen Kelars Willen und ohne sein Wissen gekommen, weil ich möchte, dass ihr euch das Mädchen anseht. Sie ist Schwarzmagierin – oder wird eine sein, genau wie ihr Vater. Ihre Sehensgabe ist erstaunlich groß.“

„Du kommst gegen Kelars Willen hierher?“ fragte einer der Geisterjäger erschrocken, „Oh weh, du wirst uns alle umbringen!“

„Halt die Klappe, Nomboh,“ machte Zoras Chimalis grantig. Sein jüngerer Bruder Nomboh raufte sich schnaubend die braunen Haare.

„Ich wette, er plant jetzt, den Rest von uns auch noch die Radieschen von unten wachsen sehen zu lassen und dann die Macht über ganz Dokahsan – ah, Lyrien, entschuldigt – an sich zu reißen!“

„Hör auf, zu wetten, das nervt.“

„Aber er hat immer recht,“ bemerkte der dritte Mann, Hakopa aus dem Kohdar-Clan, „Hat Nomboh je eine Wette verloren, Zoras?“

„Erinner ihn nicht daran, sonst erzählt er uns wieder stundenlang, wie er früher immer sein Taschengeld an seinen Bruder und seine Wetten verloren hat.“ Der vierte und älteste Geisterjäger, Minar Emo, ein Mann mit schwarzen Haaren und schmalen, blauen Augen, sah jetzt zu Salihah. „Dann wollen wir Thono angemessen bestatten und uns danach seine Tochter ansehen. Wenn du schon sagst, ihre Sehensgabe ist groß, muss sie gewaltig sein… du bist hier diejenige, die mit fünf Jahren die Zukunft sehen konnte, obwohl du nicht einmal Schwarzmagierin bist.“
 

Sie bauten den Scheiterhaufen für Nalanis Vater direkt neben dem seiner Frau auf. Als das Feuer brannte und die fünf Erwachsenen und das Kind davor standen, schwiegen alle andächtig. Nalani zitterte, aber Salihah hielt sie sanft an den Schultern fest, damit sie nicht umfiel.

„Wieso lebe ich, während meine Eltern tot sind?“ fragte sie leise, „Ich wäre lieber auch tot… dann wäre ich wieder bei ihnen und nicht in dieser grausigen Welt…“

„So darfst du nicht sprechen,“ mahnte Salihah sie, „Du wirst sehen, das Leben hat auch seine sonnigen Tage. Wir alle erleben Dinge, die trübe sind. Als ich meine Eltern verlor, war ich noch kleiner als du. Es war Krieg und viele Kinder haben ihre Eltern verloren. Das macht es nicht weniger schlimm… aber du bist nicht die einzige, die dieses Leid erfahren musste. Ich wünschte, ich hätte es dir ersparen können…“ Sie ließ sie überraschend los und Nalani drehte sich schaudernd zu ihr und den vier Geisterjägern um, die sie eine Weile musterten. „Jetzt erzähl uns ganz genau von deinem Traum der letzten Nacht, Nalani. Und ich möchte alles hören, du wirst nichts auslassen. – Auch nicht den Tod deiner Mutter.“

Das Kind erstarrte und die Männer sahen sich an.

„I-ihr wusstet, dass ich von meiner Mutter geträumt habe?“ keuchte sie perplex.

„Gewöhn dich dran, Salihah weiß alles,“ bemerkte Nomboh Chimalis amüsiert. Nalani schnappte verwirrt nach Luft. Ja, sie war Telepathin… aber… sie hatte gewusst, dass ihr Mann Haki Kandaya getötet hatte? Wenn sie das wusste, wieso wollte sie, dass sie es erzählte? Sie tat es dann einfach. Sie hörte auf den Instinkt in ihr, der ihr sagte, sie sollte es tun. So berichtete sie von jedem Detail ihres Traumes. Die Männer und Salihah hörten ihr aufmerksam zu und warteten geduldig, wenn die Kleine in der Mitte stockte und sich überwinden musste, weiterzusprechen. Als sie alles erzählt hatte, fühlte sie sich plötzlich leichter… als hätte sie einen Sack mit schweren Steinen auf dem Rücken getragen und hätte ihn endlich ablegen dürfen.

„Euer Mann… war gestern nie in Tuhuli… nicht wahr?“ fragte sie am Schluss, „Und Ihr wusstet, dass er hierher fahren würde, um meinen Vater zu töten…“

„Ich wusste es nicht, Nalani. Ich hatte nur eine böse Vorahnung, ich wusste nicht genau, was er vorhatte.“

„Ihr wusstet, dass er meine Mutter getötet hat… ich habe es gesehen… jetzt hat er auch meinen Vater getötet.“

„Dass er es bei deinem Vater war, kann niemand beweisen,“ meinte Nomboh Chimalis langsam, „Das ist ja das Problem. Und du solltest dafür sorgen, dass er nie erfährt, was du gesehen hast… wenn er das erfährt, wird er dich umbringen und das wäre ein Jammer. Das Ende des Kandaya-Clans ist eine Tragödie.“

„In ihrem Alter bereits Vorahnungen zu haben ist ungewöhnlich,“ meldete Zoras murmelnd, „Das Mädchen muss in der Tat ein überdurchschnittliches Sehvermögen haben. Hast du schon früher Dinge gesehen im Traum, die wahr geworden sind?“

Nalani senkte den Kopf.

„Ja…“ machte sie leise, „Den… Tod meiner Mutter habe ich auch gesehen. Ich… hielt es für einen Alptraum. Aber ich sah einen Dämon hinter ihr, einen Dämon mit Reißzähnen und bösen Augen. Ich erkannte den Dämon in dem Herrn der Geister wieder… das war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, etwas zu ahnen.“

„Die inneren Augen sind eine sehr starke und gefährliche Waffe der Schamanen,“ meinte der schwarzhaarige Mann ernst, „Achte gut auf das, was du siehst, Nalani Kandaya, und lerne Ahnung von Lüge zu unterscheiden. Niemand wird dir das besser beibringen können als Salihah.“ Er sah zu der Frau und sie zeigte ein kurzes Lächeln, ehe sie sich zu Nalani herunterbeugte. Das Kind wich ihrem Blick störrisch aus.

„Ich vertraue niemandem!“ verkündete sie, „Schon gar nicht Euch! Auf welcher Seite seid Ihr eigentlich? Mal seid Ihr nett zu mir, mal reißt Ihr mich aus Vaters Armen, dann deckt Ihr Euren Mann, der meine Mutter ermordet hat, dann tut Ihr aber Sachen gegen seinen Willen…!“

„Das Leben spaltet sich nicht in zwei Seiten, in gut und böse, Nalani,“ belehrte die Frau sie. „Und oftmals ist es sehr viel komplizierter, auf einer Seite zu stehen, als es sich anhört. Ich verlange nicht, dass du mir jetzt vertraust, Nalani. Aber eines Tages wirst du es müssen, denn es gibt niemanden anderes, der mit deinem Vertrauen sorgsam umgehen würde. Klarstellen möchte ich hier, dass ich nicht Dienerin meines Mannes bin. Ich diene nur Vater Himmel und Mutter Erde und sie sagen mir, was ich tun muss. So haben sie mir gesagt, dass ich dich aus diesem Haus holen muss… so haben sie mir gesagt, ich solle alle benachrichtigen, sich vor Kelar in acht zu nehmen, denn er ist gefährlich und vor allem unberechenbar.“

Nalani sah sie nur an und war unglücklich. Sie wusste nicht, was sie tun sollte… wem sie trauen sollte. Ihr Instinkt bestätigte ihr zwar, dass Salihah ihr nichts Böses wollte, aber wer wusste das schon genau…?

Die Frau wandte sich von ihr ab und den Männern zu.

„Gebt acht,“ sagte sie dumpf, „Ich tue mein Bestes, um die Bestie in ihm… unter Kontrolle zu halten. Aber es wird immer schwerer, weil sie stärker wird und… der Mensch in ihm, der er einmal war, immer schwächer. Und wir müssen dafür sorgen, dass er nicht die Senatoren erwischt, die wird er sich als nächstes vornehmen wollen.“

„Yiara ist Hakopas Aufgabe,“ meinte Nomboh Chimalis, „Du kümmerst dich um den Senat.“

„Und wer kümmert sich um meine Frau und meine Söhne?“

„Die schickst du zu uns,“ entgegnete der Mann, „Das Haus ist groß genug, da passen alle rein. – Wie alt sind die beiden eigentlich jetzt?“

„Barak ist sieben und Tare fünf, aber sie haben beide in etwa zwei Monden Geburtstag. – Wir haben jetzt keine Zeit für Kaffeeklatsch.“

„Hach, wie schnell die groß werden. Wir müssen uns ranhalten, Minar ist schon Opa und unsere sind alle noch so klein.“ Minar Emo verdrehte die Augen.

„Du hast Nerven, ich bin ja auch etwas älter als ihr.“ Er drehte sich zu Salihah und verneigte sich artig. „Wir werden sehen, was zu tun ist, und solange die Augen offen halten. Du wendest dich sofort an die Chimalis-Brüder, wenn etwas passiert, sie sind bei euch am dichtesten dran und außerdem haben sie die Botschaftsfedern.“

„Achte auf das Mädchen,“ riet Zoras Chimalis der Frau dumpf, „Sie hat einen starken Geist… und eine mächtige Sehensgabe. Sie wird einmal eine mächtige Magierin sein, wenn du dafür sorgst, dass sie es werden kann.“

„Ich danke euch,“ machte die Frau noch mit einer artigen Verneigung, bevor sich die Versammlung langsam auflöste. Minar Emo blieb zurück.

„Ich werde die fünftägige Totenwache halten für Thono,“ versprach er, „Er war ein guter Mann. Und Salihah, lass dich nicht aufspießen von deinem Mann dafür, dass du unerlaubt hergekommen bist… du bist doch die einzige Vernünftige da…“ Sie musste leise lachen, nickte dann und schickte sich mit Nalani ebenfalls zum Gehen.
 

Es war tiefste Nacht, als sie das Anwesen der Lyras erreichten. Die ganze Fahrt über hatten sie geschwiegen. Nalani wollte mit niemandem reden, weder mit Salihah noch mit sonst jemandem. Sie dachte an ihre Eltern, die sie nie wiedersehen würde, und sie dachte an Kelar, den Mann, der sie getötet hatte. Und sie hasste ihn dafür, sie hasste ihn so sehr, dass es schmerzte und ihr schlecht wurde, wenn sie nur an ihn dachte.

Eines Tages werde ich dich auch töten! Schwor sie sich verbittert, Eines Tages wirst du bluten für das, was du getan hast… du bist kein weiser Mann, der ein Herr der Geister sein sollte, du bist eine größenwahnsinnige Bestie!

Salihah sah die Gedanken des Mädchens, sagte aber nichts dazu, das wäre jetzt unklug gewesen. Sie schob sie sanft vor sich her hinein ins Anwesen. In der Halle brannte Licht. In einer Tür stand Kelar und schien bereits darauf geartet zu haben, dass die beiden zurückkehrten.

„Nalani… geh rasch nach oben und ins Bett,“ sagte Salihah dumpf, „Es ist spät geworden.“ Zum Glück ging die Kleine ohne Widerrede hinauf, während Kelars Gesicht bedrohlich finster wurde. Er verschränkte die Arme und stierte seine Frau an, die nur da stand und zurück sah, bis Nalani oben verschwunden war und die Zimmertür geschlossen war. Dann ging die Frau an ihrem Mann vorbei in die Stube, schweigend.

„Spät geworden ist es, in der Tat,“ zischte er, als sie an ihm vorbei ging, bevor er ihr folgte und die Tür hinter sich schloss. Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um, während er sich wutentbrannt vor ihr aufbäumte. Dann schlug er ihr mit solcher Kraft ins Gesicht, dass sie rückwärts taumelte, aber sie konnte sich auf den Beinen halten und keuchte, als ein grauenhafter Schmerz in ihrem Gesicht aufflammte.

„Du dreckige Hure erledigst nicht nur meine Politik hinter meinem Rücken!“ spuckte er sie wütend an und seine Augen bohrten sich nur so in ihr hübsches Gesicht. Sie zeigte keinerlei Regung, fasste nur leicht benommen nach ihrer blutenden Lippe. „Du verlässt ohne meine Erlaubnis das Anwesen, Salihah, weil du wusstest, ich würde nicht zulassen, dass du mit der Göre wegfährst – sieh mich an, du dreckige Schlampe!“ Er schlug sie erneut mit der flachen Hand, dass es laut klatschte. Dieses Mal packte sie sein Handgelenk und starrte grimmig in sein Gesicht zurück.

„Tu, was du nicht lassen kannst,“ zischte sie, „Aber wage es ja nicht wieder, mich eine Hure zu nennen, Kelar! Du kannst nicht mit mir umgehen wie mit einer billigen Sklavin, ich bin deine Frau.“

„Das ist mir gleich, du Verräterin! Was treibst du mit der Göre, ohne mich einzuweihen?!“

„Du treibst doch viel mehr ohne mich einzuweihen…“ erwiderte sie prompt, und er starrte sie an. „Wir sind zu ihrem Vater gefahren, um ihn zu bestatten. Er ist tot, falls es dir entgangen ist. Rein zufällig, versteht sich.“

„Ja, ich hab eine Feder von Chimalis bekommen, bevor du wiederkamst,“ knurrte Kelar Lyra und riss sich aus ihrem Griff los, sein Hemd zurecht rückend. „Na, um so besser, tss.“

„Verlauf mich nicht für dumm, Kelar,“ warnte sie ihn düster, „Ich weiß, dass du nicht in Tuhuli gewesen bist… dir passt es doch ganz gut, ein Clan weniger, der dir Konkurrenz machen könnte bei deinem Ego-Trip.“ Sie hätte fast noch einen Schlag kassiert, aber er riss sich zusammen und hielt mit der Hand kurz vor ihrem Gesicht inne, ergriff nach ihre Haare auf dem Kopf und zerrte sie dichter an sich heran, um sie wütend anzustarren. Sie keuchte vor Schmerz und starrte ihn ebenfalls an, packte dann mit ihren Händen seine Hand auf ihrem Kopf, um sie herunterzudrücken und den Schmerz zu verringern.

„Du wagst es, so mit mir zu sprechen…?!“ zischte er zornig, „Nimm das Gör von Thono Kandaya nicht zu sehr in Schutz, meine Liebe, sie ist nichts weiter als Tabaris Verlobte. – Zukünftige Verlobte. Wir sollten die Zeremonie bald machen, bevor das dumme Ding auf die Idee kommt, wegzulaufen! Das würde sie teuer bezahlen, das schwöre ich dir.“ Salihah schnaubte.

„Lass mich los, was ist in dich gefahren?! Erinnere dich zur Abwechslung mal daran, dass du nur ein Mensch bist, Kelar, und kein Gott!“

„Dreh dich um!“ befahl er ihr grantig und schob sie an der Schulter bereits herum, bis sie ihm freiwillig den Rücken kehrte und sich schnaubend an der Kommode vor sich abstützte, als er sich von hinten gegen sie drückte und verärgert an ihrem Kleid zu nesteln begann.

„Warum können wir nicht wie früher wie normale Menschen miteinander sprechen?“ murmelte sie lustlos, während er verärgert an dem edlen Stoff des Kleides zerrte und das Aufknoten dann aufgab und einfach ihren Rock hochzerrte und über ihren Rücken warf.

„Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für deine Psychotherapien!“ fauchte er, „Und wieso kannst du nicht was anziehen, das ein normaler Mann aufkriegt?!“

„Wenn selbst ich minderwertige Frau das schaffe…“ stöhnte sie sarkastisch und keuchte dann, als er sie nach vorn schob und seine Hände nach ihren Brüsten fassten.

„Du solltest dankbar sein, dass du noch am Leben bist…“ raunte er ihr ins Ohr und sie blinzelte, ein Schauer überkam sie beim rauhen Klang seiner Stimme direkt neben ihrem Gesicht. „Du regelst hinter meinem Rücken Dinge und hetzt die Leute gegen mich auf, weil es dir Spaß macht, mich am Boden zu sehen, du gestörte Sadistin!“ Er fasste fester nach ihren Brüsten und sie stöhnte leise.

„Wer tötet denn aus reiner Machtgier Menschen und fühlt sich dabei großartig…? Wer ist der gestörte Sadist von uns, hm?“

Er ließ sich nicht mehr zu einem Kommentar herab und stieß sie gewaltsam gegen die Kommode, ehe seine Hände ihre Brust verließen und über ihren Rücken hinab glitten.

„Du wirst deine Dankbarkeit schon noch zeigen, Salihah…“ zischte er dann grantig, indem er ihre Unterwäsche nach unten schob, „Und du solltest nicht an der Richtigkeit meines Tuns zweifeln“

Oh doch, das tat sie. Und sie würde es immer tun, das wusste sie in diesem Moment zum ersten Mal sicher. Und zum ersten Mal wusste sie sicher, dass es keine Hoffnung dafür gab, dass er den Wahnsinn je wieder los würde, mit dem die Geister bereits ihre Strafe für seine Vergehen begonnen hatten…
 


 

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muahaha XD kelar ist so ein arschkeks XDDD

Vertrauen

Weil Nalani sich nicht mit den Menschen auseinandersetzen wollte, beschäftigte sie sich intensiv mit dem Schloss. Bald kannte sie alle Räume auswendig außer denen, die sie nicht betreten durfte, wie Tabaris Zimmer oder das Schlafzimmer seiner Eltern. Im Keller gab es auch eine kleine Kammer, die abgeschlossen war, in die offenbar niemand hinein durfte und von der niemand wusste, was wirklich darin war.

„Als ich klein war, habe ich gedacht, da wäre ein großartiger Schatz drin,“ erzählte Kiuk ihr einmal, „Aber mein Bruder hat erzählt, da wären nur aufgespießte, blutige, verfaulte Köpfe und zerhackstückelte Leichen drin, Leichen von Barbaren und Dieben oder so. Mutter sagt, Tabari lügt. Aber was wirklich drin ist, hat sie uns auch nicht gesagt.“ Nalani seufzte.

„Eigentlich ist es ja auch egal,“ meinte sie. Mit Kiuk sprach sie am meisten. Er war in ihrem Alter, misstraute seiner Familie genauso wie sie und sie konnte ihm vertrauen.

Tabari und sie waren inzwischen offiziell verlobt worden. Sie würden heiraten, sobald sie zur Frau herangereift war und das Blutritual empfangen hatte, das Ritual der Öffnung, das die Kinder zu Erwachsenen machte. Und Kiuk war, obgleich es sein Bruder war, mit dem sie verlobt war, derjenige, mit dem sie am meisten Kontakt hatte. Tabari kümmerte sich nicht um sie. Er war damit beschäftigt, so ein Scheusal wie sein Vater zu werden. Nachdem er im Wintermond dreizehn geworden war, galt die größte Aufmerksamkeit der Familie der Vorbereitung darauf, dem Ältesten die obere Schwarzmagie beizubringen.

Normalerweise wurden die jungen Schwarzmagier dafür extra für ein Jahr isoliert und zu einem Lehrmeister geschickt, der sie in die Tiefgründigkeit der Geister einführen sollte. Aber Tabari war der Spross des Lyra-Clans, der brauchte natürlich eine Extrawurst.

„Soweit kommt es noch, dass ich ihn zu dem Spinner Nomboh nach Tuhuli schicke!“ fauchte Kelar Lyra eines Abends, als sie alle gemeinsam am Esstisch saßen und zwei Diener artig diverse Mahlzeiten servierten. „Lasst den Braten da stehen, ihr Idioten, zerteilen tue ich ihn selbst, wie immer!“ Er erhob sich mürrisch, während die Diener ehrfürchtig mit geneigten Köpfen zurück huschten.

„Nomboh ist ein Lehrmeister der Schwarzmagie,“ sagte Salihah zu ihrem Mann, die am anderen Ende der langen Tafel saß und Weintrauben von ihrem Teller pflückte. Die Trauben waren einen weiten Weg aus dem Süden des Landes gekommen, denn im Frühjahr gab es in Dokahsan noch keine Trauben. „Natürlich wird Tabari ein Jahr da hingehen. Wer soll ihn denn sonst unterrichten?“

„Ich werde es selbst tun!“ schnappt der Mann und begann, an dem Braten auf dem Tisch herum zu schneiden, um ihn aufzuteilen. Das größte und beste Stück bekam Tabari, weil er der Hoffnungsträger der Familie war. Nalani bekam das weiche, zarte Brustfleisch, und als er es ihr auf den Teller hob, sah Kelar sie kurz grimmig an.

„Das Brustfleisch für die bald neue Frau, damit auch Milch in ihren Brüsten sein wird und sie die Erben des Clans ernähren kann!“ kommentierte er sein Tun, und Nalani erwiderte stumm den giftigen Blick.

„Dann solltet Ihr Eurem Sohn vielleicht lieber den Mannknochen des Beutetieres geben, damit in ihm auch einmal die Milch des Lebens sein wird, sonst bringt mir meine Milch nämlich wenig!“ sagte sie schnippisch, und alle starrten sie an. Tabari hustete und verschluckte sich vor Schreck, Salihah fing ungehalten an zu lachen und Kiuk keuchte und sah entsetzt zu seinem Vater, der erstarrt war. Das war nicht gut… wie hatte sie so etwas Unverschämtes sagen können? Er würde sie totschlagen…

„W-was zum-… was fällt dir ein, Mädchen, was weißt du denn über Mannknochen und Lebensmilch?!“ fauchte Tabari über und über errötend und drehte hastig sein Gesicht vom Tisch weg. „Mutter, hör auf zu lachen, das ist peinlich! Du solltest meine Frau besser erziehen, damit sie mich nicht noch mal so beschämt!“ Salihah lachte nur weiter und ignorierte seine Wut.

„Aber sie hat recht…“ grinste sie dann gehässig, und Tabari wurde jetzt statt rot weiß und senkte sein Gesicht so weit wie möglich vor Scham.

„K-könnt ihr aufhören, so über mich zu reden…?!“

„Weib, halt deinen Mund!“ blaffte Kelar Lyra wütend und warf ihr ein kleines, mageres Stück Fleisch auf den Teller, sie anstarrend. „Du bekommst das kleine Dreckstück für deine Unverschämtheit!“ Kiuk blinzelte.

„Was denn, ich bekomme nicht das mieseste Stück?“ wunderte er sich murmelnd – sein Vater hatte ihn dummerweise gehört.

„Du kriegst die Knochen!“ machte er und warf dem Kind Knochen mit rötlichen Fetzen entgegen, „Nag sie ab wie ein räudiger Dieb und wage nicht mehr, deinen schmutzigen Mund aufzutun, verstanden?!“

„Ja, Vater,“ machte der Kleine leise und sah deprimiert auf die Knochen vor sich. Nalani halbierte ihre Ration und gab ihm die Hälfte ab, worauf er sie groß ansah. Sie seufzte.

„Jetzt fließt in deiner Brust auch bald Milch, pass auf,“ scherzte sie sarkastisch, und Salihah beherrschte sich dieses Mal, nicht wieder loszulachen. Tabari schnaubte verächtlich und begann verdrossen zu essen, Kiuk räusperte sich kleinlaut und dankte Nalani für das großzügige Teilen. Sonst teilte nur seine Mutter mit ihm Fleisch. Diese kam jetzt nach einer Pause wieder zum Ausgangspunkt zurück.

„Du kannst Tabari nicht selbst unterweisen, Kelar. Du bist kein Lehrer und hier hat er keine Isolation.“

„Ich werde mit ihm weggehen,“ erklärte der Herr der Geister, „Da du ja ohnehin meinen Kram hinter meinem Rücken erledigst, kannst du mich solange hier vertreten.“ Salihah zog die Brauen hoch.

„Das ist doch nicht dein Ernst. Du verstehst die Tiefen nicht auf dieselbe Art wie Nomboh, Nomboh kann es ihm viel besser erklären und beibringen!“

„Aber Nomboh ist ein Trottel, dem würde ich nicht meinen Sohn anvertrauen! Tabari wird einmal der Führer des Lyra-Clans und Herrscher des Landes sein, er braucht die bestmögliche Ausbildung.“

„Ja… du denkst also, du könntest ihn besser unterweisen als Nomboh, der sich offiziell Lehrmeister nennen darf?“ wunderte sich Salihah perplex.

„Was Nomboh kann ist mir egal, ich traue ihm nicht! Er redet hinter meinem Rücken über mich, wie auch die anderen Geisterjäger, diese Dreckschweine, diese Verräter… vor mir tun sie so, als wären sie loyal und ergeben, aber sobald ich mich umdrehe, spüre ich ihr Misstrauen. Das gilt sowohl für deinen Kumpel Nomboh wie auch für seinen Bruder – den ganz besonders,“ Er sah dabei seine Frau grantig an, „Und auch für Hakopa und Minar, diesen Besserwisser! Keinem von denen würde ich die Zukunft meines Sohnes in die Hände geben, verstanden?! Und versuch ja nicht, meine Meinung zu ändern, Weib, ich bin der Herr der Geister! Du hast mir gar nichts zu befehlen!“ Salihah sagte nichts und sah zu Tabari, der nur wieder arrogant schnaubte und niemanden eines Blickes würdigte.

„Einen guten Appetit wünsche ich euch,“ sagte die Mutter dann mit einer so eiskalten, grauenhaften Stimme, dass die drei Kinder alle zusammenfuhren, selbst Tabari, und Kelar setzte sich beleidigt und nahm den Rest vom Fleisch. Sie aßen schweigend. Alle spürten die Spannung zwischen den Eltern, die nur darauf wartete, sich mit einer gewaltigen Explosion zu entladen. Aber es geschah nichts…
 

Nalani fand den Gedanken, Kelar und Tabari ein Jahr los zu sein, großartig. Ja, besser konnte es doch nicht gehen. Sobald die beiden Schreckschrauben aus dem Haus waren, würde sie verschwinden und niemals wiederkommen. Es war ihr gleich, wen sie damit alles entehrte, sie würde niemals Tabaris Frau sein und Dienerin dieser grausamen, kaltblütigen Familie. Sie war die letzte Tochter des Kandaya-Clans, des Clans der Schattenherrscher. Sie durfte sich nicht unterkriegen lassen! Auch wenn es ihr um Kiuk leid tat, den sie bei den Irren zurücklassen musste. Er war ein guter Mensch… bei Salihah war sie sich nicht so sicher. Diese Frau war unberechenbar. Selbst mit der besten Gabe des Sehens konnte niemand sagen, was sie dachte oder was sie als nächstes tun würde. Das Mädchen fürchtete sie in gewisser Weise ebenso sehr wie es die tiefe Bindung zu ihr spürte, was sie verwirrte.
 

Während des ganzen kommenden Jahres beschäftigte sie sich mit den Fluchtplänen, so lange hatte sie Zeit, bis Tabari mit dem Beginn des Kälbermondes, mehr als ein Vierteljahr nach seinem vierzehnten Geburtstag, die Reise mit seinem Vater antreten würde. Sie vertrieb sich die übrige Zeit damit, zu lernen. Keines der Kinder ging auf eine öffentliche Schule, es kamen Privatlehrer ins Schloss, vier Vormittage in der Woche. Tabari hatte seine Schulausbildung fertig und brauchte keinen Lehrer mehr, Kiuk und Nalani bekamen gemeinsam Unterricht, da sie gleich alt und etwa auf demselben Niveau waren, was das Lernen anging. Inzwischen beide zehn Jahre alt, würde es nicht mehr lange dauern, bis auch ihre Ausbildung abgeschlossen wäre. Nalani sprach mit Kiuk nicht über ihre Fluchtpläne. Sie fragte sich, ob er ihre Gedanken lesen konnte… wenn ja, sagte er jedenfalls kein Wort.
 

Salihah hatte ganz andere Sorgen.

Sie saß in ihrem Schlafzimmer auf der Bettkante im Nachthemd und kämmte ihre langen, schwarzen Haare, während sie beunruhigt zum Fenster sah. Ihr Mann lief hinter ihr wild fluchend und schimpfend auf und ab und regte sich über die dummen Senatoren von Yiara auf, die irgendwelche Abkommen und Vereinbarungen mit dem König des Landes trafen, ohne die Geisterjäger überhaupt einzuweihen.

„Ich zermalme sie!“ schnaubte er entrüstet, „Sie werden bluten und kriechen, die Würmer, dass sie es wagen, meine Autorität zu untergraben!“ Er sah zu seiner Frau, die sich kämmte, stampfte zu ihr und schlug ihr wütend den Kamm aus der Hand. „Sieh mich an und ignorier mich nicht andauernd, du Nutte!“

Sie gab ihm eine schallende Ohrfeige und erhob sich verärgert.

„Sprich nicht in diesem Ton mit mir!“ fauchte sie, und er war verwundert über ihren Zorn. Salihah war selten zornig, sie war nur kaltblütig und kehrte ihm den Rücken, wenn sie verärgert war… aber nie schrie sie ihn an.

Und sie wagte es, ihn zu schlagen…

Er fasste benommen nach seiner Wange und sie stierte ihn grimmig an.

„Mir ist es genug mit deinem elenden Gemecker!“ rief sie, „Deine Anwesenheit geht mir auf den Geist, deine Intrigen machen mich krank! Denkst du auch mal an uns und nicht nur an dich?!“ Er zischte lauernd, ehe er ihre Oberarme packte und sie nieder ins Bett drückte, bevor er sich über sie beugte und sie wütend anstarrte. Da lag sie dann eine Weile unter ihm und sah ihn an, jetzt wieder etwas ruhiger, und langsam regulierte sich beider Atem wieder. Kelar rührte sich nicht und blieb über ihr liegen. „Was soll ich machen, wenn Nalani während eurer Abwesenheit ihre Regel bekommt?“ fragte sie, „Wer soll denn ihr Ritual machen, etwa Kiuk? Der ist selbst noch kein Mann.“

„Denkst du, sie bekommt das Mondblut ausgerechnet dieses Jahr?“ murrte ihr Mann, erhob sich dann von ihr und rückte seine Kleidung zurecht. „Zieh dich aus. Jetzt gleich.“

„Du bist so unromantisch,“ murmelte sie beleidigt, stand aber auf und tat wie ihr geheißen – es war auf die Dauer gesünder, ihm bis zu einem gewissen Grad zu gehorchen. Und sie achtete sehr sorgsam darauf, diesen Grad nicht zu überschreiten. „Nein, ich habe es nicht gesehen, die Geister schweigen in der letzten Zeit. Aber es könnte ja sein. Sie wird bereits elf im Sommer.“

„Von wem sie ihr Blutritual bekommt ist mir egal, heiraten wird sie Tabari sowieso,“ murrte er vor ihr und sah ihr lauernd dabei zu, wie sie sich ihres Nachthemdes entledigte. Dann warf er sie um auf das Bett und sie keuchte, als er sich abermals über sie beugte. „Und erzieh sie endlich, diese Wachtel, die es wagt, sich über mich lustig zu machen!“

„Oh ja,“ stöhnte sie, „Wehe mir, wenn ich versage.“ Er zischte und schlug nach ihr für ihren Sarkasmus, aber sie erwischte sein Handgelenk und hielt ihn fest, ehe sie ihm ins Gesicht sah und er für einen Moment innehielt. Sie schwiegen beide. Dann sprach sie wieder, jetzt ruhiger und leiser. „Wenn ich dich von weitem sehe, sehe ich den Mann, den ich einst geheiratet habe…“ wisperte sie benommen, „Den großen Krieger, dem ich zwei Söhne geboren habe… aber wenn ich dann in dein Gesicht sehe… wenn ich jetzt… in diesem Moment in dein Gesicht sehe…“ Sie ließ seine Hand los und griff nach seiner Wange, um sie flüchtig zu berühren, während sie ihm groß in die Augen sah, „Dann sehe ich ihn nicht mehr… sag mir… wo hast du meinen Mann versteckt, Schattengeist?“

Kelar Lyra sah auf sie herunter, wie sie nackt unter ihm im Bett lag, in ihren Augen war ein angenehmer und doch schmerzhafter Blick, den er nicht länger ertragen konnte, so drehte er das Gesicht von ihrer Hand und ihrem Gesicht weg und brummte.

„Ich bin dein Mann, dummes Weib,“ erklärte er, „Wenn du glaubst, einen anderen geheiratet zu haben, hast du dich geirrt, Salihah.“
 

Am Neumondstag des Kälbermondes machten sich Kelar und Tabari auf den Weg. Sie würden ein Jahr lang weg sein, solange hatte Nalani Zeit, wegzukommen. Die zwei, vor allem Kelar, waren nämlich das größte Hindernis an ihrer Flucht, davon war sie überzeugt. Vermutlich würde dieser wahnsinnige Kerl ihr den Kopf abreißen, wenn er sie erwischte… nein, dazu würde ihm jetzt keine Gelegenheit mehr bleiben. Sie hatte alle ihre wichtigsten Sachen gepackt, gleich in dieser Nacht würde sie auch aufbrechen, irgendwo hin, wohin ihr niemand folgen würde.

„Gebt acht auf euch,“ verabschiedete Salihah ihren Mann und ihren Sohn förmlich und rückte noch mütterlich Tabaris Hemdkragen zurecht, worauf er nur die Augen verdrehte.

„Ich bin fast ein Mann, Mutter, lass das.“

„Eben fast,“ konterte sie, „Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, darf ich das, wann immer ich will, mein Kind.“

„Jetzt bin ich auch noch ein Kind,“ grummelte Tabari und wurde leicht rosa im Gesicht, was seine Mutter schmunzeln ließ. Es freute sie zu sehen, dass wenigstens in ihm noch Menschlichkeit zu sein schien, im Gegensatz zu seinem Vater, den sie darauf ansah. Es gab keine Worte des Abschieds zwischen ihnen, sie nickten nur dumpf einander zu.

„Legt nicht alles in Schutt und Asche, während wir fort sind,“ sagte Kelar noch grimmig und linste Kiuk und Nalani an, „Ich behalte euch Bratzen im Auge, auch wenn ich weg bin! Kapiert?!“ Kiuk nickte hastig, Nalani bewegte sich keinen Zoll. Tabari trat vor sie und betrachtete sie ausgiebig.

„Na ja,“ war sein Kommentar, „Wenn wir zurück sind, wird es nicht mehr lange dauern, bis du meine Frau werden wirst, Nalani. Ähm… mach… meiner Familie also keine Schande, okay?“ Das war alles, was er sagte, dann ging er zusammen mit seinem Vater nach einem kurzen Abschiedswinken an seinen Bruder davon. Nalani schnaubte verächtlich.

Wenn du zurückkehrst, werde ich aber nicht mehr hier sein! Es kann dir also völlig egal sein, du eingebildeter Mistkerl.

Mit diesen Gedanken ging sie zurück ins Schloss. Sie würde bis zur Nacht warten, bevor sie aufbrach.
 

Als die Dunkelheit sich über das Land legte, auf das sie aus ihrem Zimmer aus blicken konnte, nahm Nalani ihre Tasche mit allen wichtigen Sachen; Sachen, die sie noch aus ihrem Elternhaus hatte, ihr wichtigstes Erbstück war der aufwendig verzierte Dolch ihres Vaters, ein altes Familienschwert des Kandaya-Clans, soweit sie wusste.

„Kadhúrem wird mich beschützen, wenn ich fort bin,“ murmelte sie dumpf, indem sie den Dolch eine Weile ansah und seinen Namen nannte, Kadhúrem. Schattenklinge bedeutete es auf einer alten Sprache längst toter Völker, hatte ihr Vater ihr einst erzählt. Jetzt steckte sie ihren Dolch zurück in die Scheide und band sie sich sorgsam um den Bauch, ehe sie samt Tasche ihr Zimmer verließ, so leise wie möglich, um niemanden zu wecken. Es war tiefste Nacht und im Schloss herrschte Stille. Rasch eilte die Kleine die Treppe hinab, zur Tür hinaus und über den Hof zum Tor, das sie mit enormem Kraftaufwand aufdrückte, so weit, dass sie hindurch passte. Das Tor quietschte laut, als sie daran schob, und erschrocken hielt sie inne aus Angst, sie könnte jemanden geweckt haben. Als nichts sich tat, atmete sie auf und rannte davon, den Sandweg hinunter in Richtung der kleinen Dörfer in der Gegend. Sie musste rasch weit laufen, um Vikhara und ganz Lyrien hinter sich zu lassen…

Sie wurde aufgehalten, als sie den Sandweg halb hinuntergerannt war, weil ihr plötzlich ein Mensch im Weg stand, der aus heiterem Himmel aus dem Nichts aufgetaucht war. Nalani erschrak so sehr, dass sie rückwärts taumelte und aufschrie, dann wurde sie sanft, aber energisch an den Schultern festgehalten. Das Licht der Monde enthüllte jetzt Salihah Lyras blasses Gesicht.

„Du dachtest wohl, ich würde nicht merken, was du planst, Nalani?“ war die Begrüßung, „Ich verstehe deine Wut und deinen Hass auf uns… aber ich kann nicht zulassen, dass du fliehst, so leid es mir tut. Hier endet dein kleiner Ausflug, Mädchen.“

Nalani starrte sie aus geweiteten Augen an. Gegen ihren Willen füllten sie sich mit Tränen und sie bebte am ganzen Körper, dann erst versuchte sie verzweifelt, sich loszureißen.

„Ich möchte nicht länger!“ schrie sie dann aus Leibeskräften, „Ich will fort! Ich hasse Eure Familie, ihr alle seid widerlich zu mir! Ich hasse Euren Mann, er hat meine Eltern ermordet! Er ist ein Scheusal und seine Augen sind voller Garstigkeit! Und Tabari, der mein Mann werden soll, ist ein Kleinformat Eures Mannes, er wird genauso ein Monster! Ich… ich will nicht bei Euch wohnen! Ich will fort und irgendwo alleine sterben, wenn es sein muss, jedenfalls eher, als Tabaris Frau zu werden! Bitte… lasst mich gehen!“

Salihah seufzte leise und sah sie an.

„Nein… das kann ich nicht, Nalani,“ meinte sie, und das Mädchen fing bitterlich zu weinen an. Salihah ließ sie behutsam los und die Kleine vergrub weinend das Gesicht in den Händen. Dann hockte die Frau sich vor sie und schloss sie mütterlich in die Arme, worauf Nalani kurz stockte. Es war rein instinktiv, dass sie die Umarmung plötzlich zuließ, sie sogar erwiderte und schluchzend und zitternd das Gesicht in Salihahs Schulter vergrub.

„Ich vermisse meine Eltern so sehr…“ weinte sie unglücklich, „Ich lebe tagein, tagaus bei Euch in einem Gefängnis der Angst, als Nächste von Eurem Mann aufgespießt zu werden… wie soll ich so leben? Lohnt sich das…?“

„Weine nicht… beruhige dich, Nalani,“ machte Salihah sanft und strich ihr über die schwarzen Haare, „Es wird besser werden, du wirst sehen. Vertrau mir. Wenn ich dir je Unrecht angetan habe, Nalani, dann tut es mir leid. Ich will nur das Beste für dich, auch wenn du das sicher im Moment anders sehen wirst.“ Sie ließ sie lockerer und sah ihr ins Gesicht, als die Kleine zu weinen aufhörte. Nalani sah sie auch an und bemerkte zum ersten Mal die Müdigkeit und Erschöpfung in Salihahs sonst so hübschem Gesicht. „Lass uns… uns unterhalten, ja, Nalani?“ Das Kind nickte dumpf.

„Worüber?“

„Über die Familie, derer du jetzt auch ein Teil bist. Sie sind nicht alle so grausam, wie du sagst. Was Kelar getan hat, ist unverzeihlich, dass er deine Eltern getötet hat, war unrecht. Und du magst recht haben… er ist ein Monster. Böse Geister ergreifen mehr und mehr von seiner Seele Besitz, ich sehe es jeden Tag und kann nichts mehr dagegen tun, so sehr ich es mir wünsche. Er war nicht immer so wie jetzt. Ich möchte nicht, dass du ihn verstehst oder magst, das wirst du niemals können. Aber ich möchte dir trotzdem davon erzählen.“ Sie seufzte leise und fuhr dann fort. „Ich bin zu den Lyras gekommen, da war ich fünf Jahre alt. Es herrschte Krieg zwischen Dokahsan und Anthurien. Kelars Vater, Beksem, war ein großer Mann, ein großer Anführer der Kriegsarmeen des Nordens, viele Schlachten hat er für uns entschieden. Beksem war anders als Kelar es jetzt ist, ganz anders. Er war gutmütig, weise und trotzdem stark, er war ein großer Herr der Geister. Damals im Krieg wurde meine Mutter bei einem Angriff getötet und mein Vater tödlich verwundet. Er schaffte es, mich zu Beksem zu bringen, und vertraute ihm mein Leben an. Ich wurde Beksem sozusagen geschenkt als Zeichen der Dankbarkeit für seinen Schutz und, weil es nach Vaters Tod niemanden gegeben hätte, der sich um mich gekümmert hätte. Dann war ich ein Teil der Lyra-Familie, und weil wir praktischerweise im selben Altern waren, wurde ich kurzfristig mit Beksems Sohn Kelar verlobt.“ Nalani blinzelte.

„Er hat Euch ihm einfach geschenkt? Das klingt aber garstig.“

„Es ist anders, als es klingt,“ lächelte Salihah, „Die Geister haben mich mit einer ungeheuer mächtigen Sehensgabe beschenkt, die ich seit meiner Geburt hatte. Obwohl ich noch so klein war, konnte ich unsichtbare Dinge sehen, ich bin so eine Art Kriegs-Orakel für die Führer der Armee geworden, weil ich sehen konnte, was der Feind plant und vorhat, dadurch konnten wir großen Schaden und viele Opfer verhindern. Ich war… nie wirklich ein Kind, Nalani… ich war ein Orakel, ich war an der Front und musste Dinge vorhersagen, ich habe Dinge gesehen, die grauenhafter sind als alles, was du je erleben wirst, wie ich hoffe…“ Sie machte eine Pause. „Kelar war ganz anders damals. Obwohl wir zwangsverlobt worden waren, mochten wir uns. Als er alt genug war, kam er mit seinem Vater in den Krieg, um zu helfen, er war schon früh ein guter Magier, wie eigentlich alle des Lyra-Clans. Sein größter Wunsch war das, was sich jeder Sohn wünscht, seinen Vater stolz zu machen, seinen Respekt zu erlangen. Dasselbe empfindet Tabari jetzt für seinen Vater, er will, dass sein Vater stolz auf ihn ist. Kelar macht es den Kindern da nicht sehr leicht, Tabari hat den Erstgeborenenvorteil, weil er der Erbe des Clans ist, aber du siehst ja, wie Kelar mit Kiuk umgeht.“

„Ihr mochtet euch?“ murmelte Nalani langsam, „Aber ihr seid immer so kalt zueinander… ganz anders als meine Eltern, die mochten sich wirklich!“ Salihah lachte kurz.

„Ja, ob du es glaubst oder nicht, Kelar und ich haben uns einmal richtig geliebt. Ich war überglücklich und stolz, als ich ihm den ersten Sohn geboren habe, seinen Tabari, den er verhätschelt und den er zu seinem perfekten Ebenbild zu machen versucht. Kelar war lange der Einzige, bei dem ich etwas anderes als ein Orakel war. Bei ihm konnte ich eine Frau sein, eine Geliebte und schließlich eine Mutter seines Sohnes. Und bei mir konnte er etwas anderes sein als seines Vaters treuer Nachfolger, der alles richtig und perfekt machte. Beksem war zwar gütig, aber auch perfektionistisch, und Kelar hatte immer das Gefühl, sich keinen Fehler leisten zu können – ich denke bis heute, sein Vater hätte ihn nicht umgebracht für einen Fehler, aber er war da stur. Auf Kelars Erziehung wurde immer streng geachtet, er wurde viel getadelt und zurechtgewiesen, es war alles zu seinem Besten gedacht, war aber nicht einfach für ihn als Kind. Seine Schwester durfte alles machen, was sie wollte, sie ist Heilerin und demzufolge kein Erbe des Clans, was aus ihr wurde, war egal, aber Kelar musste perfekt sein, um den Clan perfekt zu repräsentieren. – Mit der Zeit und vor allem seit dem Tod seines Vaters ist das zwischen Kelar und mir immer mehr abgekühlt. Heute würde ich es nicht mehr Liebe nennen… und vielleicht doch, wir empfinden immer noch in gewisser Weise eine tiefe Verbundenheit, so wie Pflanzen sich nach der Sonne drehen, weil sie spüren, dass sie verbunden sind, dass sie das Licht brauchen. Wir brauchen uns auch gegenseitig, es ist eine Sache des Geistes, nicht des Fleisches. Und deswegen bin ich bis heute die Einzige, die Kelar jemals etwas befehlen konnte. Lange konnte ich die bösen Wahnsinnsgeiste in ihm kontrollieren, aber sie werden immer stärker und es fällt mir immer schwerer, zum letzten Hauch seiner menschlichen Seele vorzudringen.“ Sie schwiegen und Nalani sah sie besorgt an.

„Dann ist es mehr so, dass du jetzt auf ihn aufpasst, statt seine Frau zu sein und ihn zu lieben?“

„So ungefähr. Als Frau des Herrn der Geister ist es nicht einfach, das Richtige zu tun. Ich bin verantwortlich für den Bereich Vikhara, oder Kelar ist es, aber er wird immer unzurechnungsfähiger und deswegen muss ich mich darum kümmern, dass es den Menschen hier gut geht. Kelar ist das nämlich egal, er will nur noch Macht und dass sich alle unterwerfen und seine Füße küssen. Und er sieht langsam nicht mehr, dass die Realität anders aussieht. So ist es jetzt meine Aufgabe, mit den Geisterjägern zu kooperieren und mit den Senatoren in Yiara, die sozusagen der uns übergeordnete Rang sind, denn sie sind für alle Bereiche der ganzen Provinz zuständig und verlassen sich auf die Arbeit der einzelnen Gouverneure. Dann hab ich noch meine Familie, die ich versorgen und beschützen möchte. Es ist nicht immer leicht, das Richtige zu tun, das, was getan werden muss. Deswegen mag es dir komisch erscheinen, dass ich mal tue, was Kelar sagt, und mal nicht. Grundsätzlich wähle ich das, was das Beste für das Volk ist, das Volk von Vikhara. Du, Nalani… gehörst jetzt zu meiner Familie, und ich werde dich beschützen wie meine eigenen Kinder. Draußen und alleine bist du verloren, du bist noch ein Kind und kannst dich nicht wehren. Ich kann dir vieles beibringen, wenn du es zulässt.“ Nalani blinzelte und Salihah erhob sich jetzt wieder. „Du bist Schwarzmagierin. Eines Tages wirst du wie Tabari die Lehre der Schwarzmagie bekommen. Bis du soweit bist, musst du noch einiges lernen.“ Nalani nickte langsam. Ihr fiel auf, dass sie immer noch auf dem Sandweg standen, es war mitten in der Nacht und sie trug noch immer die schwere Tasche mit Sachen mit sich herum. Den Plan, zu fliehen, hatte sie jetzt verdrängt. Jetzt, wo Kelar und Tabari fort waren, wurde es vielleicht angenehmer… sie konnte die Zwickmühle der Frau vor sich plötzlich verstehen nach allem, was sie ihr erzählt hatte. Zum ersten Mal zweifelte sie nicht mehr an Salihahs Worten von früher:

Du musst mich nicht fürchten. Ich werde dir nichts Böses tun.

„Wenn du bereit bist, mir zu vertrauen, Nalani…“ begann Salihah dann, und das Kind sah hoch in ihr Gesicht, „Dann bringe ich dir alles bei, was ich weiß. Ich sehe in dir großes Potential… ein Potential, das jedes übersteigt, das ich je gesehen habe…“ Sie brach unschlüssig ab und behielt den Rest ihrer Gedanken lieber für sich.

Ein Potential, das mich ahnen lässt, dass du eines Tages vielleicht meine Rolle als diejenige, die Kelar befehlen kann, einnehmen wirst… und du wirst es besser können als ich…

„Ich vertraue dir,“ sagte das Mädchen ernsthaft, und Salihah lächelte, allein weil die Kleine sie nicht mehr im Plural ansprach. In Nalanis Fall drückte die Anrede im Plural nicht Höflichkeit oder Respekt aus, sondern viel mehr Distanz und Abstand zur angesprochenen Person. Die Frau nickte.

„Gut. Lass uns heim gehen… es ist spät und ich bin so müde, dass ich auf der Stelle sterben könnte.“
 

Jetzt, wo Kelar weg war, war es Salihahs Aufgabe, sich ab und zu mal mit den anderen Geisterjägern zusammenzusetzen, um alles zu besprechen, was anlag. Wenn sie gerade nicht mit der Politik ihres Mannes beschäftigt war, unterrichtete sie Nalani, zuerst im Fechten, weil sie der Meinung war, dass auch Frauen sich wehren können müssten. Es war im Regenmond, als Salihah zum ersten Mal Zeit fand, nach Tuhuli zum Anwesen der Chimalis-Familie zu fahren. Die Chimalis-Brüder lebten beide dort mit ihren Familien und waren unter den Geisterjägern wegen der geringen Entfernung nach Tuhuli Salihahs erste Ansprechpartner unter ihres Mannes Kollegen. Kiuk und Nalani ließ sie getrost für eine Weile im Schloss alleine; sie waren alt genug, mal einen Tag lang alleine zu bleiben.
 

„Wie war das?“ machte Zoras Chimalis und starrte die Frau vor sich an, „Kelar latscht einfach so mit Tabari durch die Pampa und tut so, als würde er ihm eine Lehre machen? So einen hirnverbrannten Unsinn habe ich ja lange nicht gehört!“

„Er vertraut euch nicht,“ meinte Salihah, „Ich habe mein bestes gegeben, aber ich konnte ihn nicht überzeugen… es tut mir leid. Ich hoffe, aus meinem Jungen wird trotzdem ein anständiger Magier.“

„Das wird er schon, es liegt ihm im Blut, er ist ein Lyra,“ sagte Nomboh beleidigt, der im Flur vorbei marschierte, in dem die beiden standen, „Aber er wäre ein besserer geworden, hätte er eine vernünftige Lehre gekriegt! Was weiß Kelar denn von der Theorie? Vielleicht kann ich die Theorie bei Tabari ja nachholen…“ Zoras schnaubte.

„Das wirst du garantiert nicht, Bruder!“ mahnte er ihn grantig, „Es sei denn, Kelar kriecht auf Knien vor dir und bettelt dich an, es zu tun, wir haben auch unseren Stolz, ich krieche garantiert keinem in den Arsch, der beschützen mit unterwerfen verwechselt!“

„Reg dich nicht auf, die Kinder werden uns hören,“ murmelte Salihah beschwichtigend und griff nach seinem Arm, und er drehte sich zu ihr um und schenkte ihr einen bedeutenden und doch nichtssagenden Blick.

„Das ist beschämend und entwürdigend, was er tut, und vor allem kümmert er sich einen Dreck um die Politik,“ fuhr der Schwarzhaarige kaltherzig fort, „Er ist der Herr der Geister, er sollte uns führen, aber wie sollen wir uns führen lassen von einem, der nicht da ist?“

„Ich werde ihn vertreten nach bester Möglichkeit,“ versprach Salihah ernst, „Ich bin zwar keine Schwarzmagierin, aber vielleicht kann ich trotzdem helfen.“

„Sicherlich kannst du das. Aber entschuldige die Mühe, die du hast, weil dein Mann so ein schräger Vogel ist,“ seufzte der Mann vor ihr und sah sie erneut an. „Ich wünschte, wir könnten dir den Ärger ersparen, Salihahchen.“ Sie drehte den Kopf weg.

„Nenn mich nicht so,“ murmelte sie gedämpft, „Und sieh mich bitte nicht so an.“ Sie ging an ihm vorbei und er lächelte kurz, als sie verschwunden war in Richtung Stube.

„Selbstbeherrscht wie eh und je, unsere Schneeknöigin,“ seufzte er, ehe er ihr folgte. Dabei wusste er sehr genau, dass sie auch anders konnte.
 

Hakopa Kohdar war in Yiara damit beschäftigt, auf die Senatoren aufzupassen; jetzt, wo niemand genau sagen konnte, wo Kelar gerade war mit seinem Sohn, war die Gefahr größer denn je, das er einfach hereinschneien und die Politiker abstechen könnte. Kohdars Frau und seine zwei kleinen Söhne waren solange im Haus der Chimalis-Familie untergebracht worden. Während der jüngere der beiden Kohdar-Jungen und Nombohs einziger Sohn Meoran sich gegenseitig grölend durch das Haus jagten, saß der ältere der Kohdar-Brüder kopfschüttelnd in der Stube und las in einem Buch, das er auf dem Schoß hatte. Sämtliche Erwachsene des Haushaltes saßen um denselben Tisch herum.

„Jungs, tobt nicht so hier drinnen!“ mahnte Nomboh sein Kind und den kleinen Tare Kohdar, „Ihr werft noch irgendwas-…“ Es krachte im selben Moment und alle fuhren herum, als eine große Vase, die an der Wand gestanden hatte, umgeworfen wurde und in viele Scherben zersprang. Nombohs Frau jammerte.

„Das war meine Lieblingsvase! Jungs, geht wo anders fangen spielen!“

„Ja, genau, bevor ihr auch noch ihre zweite Lieblingsvase zertrümmert,“ addierte Nomboh Chimalis, musste aber glucksen, als seine Frau sich so aufregte und die kleinen Jungen verlegen die Stube verließen und im Flur weiter tobten. Zoras seufzte.

„Ich mochte deine Vase nie, Keisha,“ gestand er, „Sie war potthässlich.“ Keisha, Nombohs Frau, starrte ihn an, und alle schwiegen. Dann meckerte die Frau los:

„Liebster, dein Bruder ärgert mich und diskriminiert meine Vasen!“

„Ja… lass ihn, so ist er nun mal.“

„Wie bitte, lass ihn?! Der Kerl, der es nicht mal fertig bringt, einen Sohn und Erben für eure Familie zu zeugen, soll mir gegenüber nicht den Mund auftun, ich habe nämlich einen Sohn geboren, hah!“ Nomboh verdrehte die Augen. Ja, jetzt gingen ihr die Argumente aus. Hakopa Kohdars Frau schrie.

„Seid ihr verrückt, sowas vor den Kindern!“ Sie hielt ihrem Ältesten, der neben ihr mit seinem Buch saß, entsetzt die Ohren zu. Barak Kohdar, der kleine Junge, schnaubte.

„Lass das, Mutti, ich will lesen…“

„Wir kommen vom Problem ab,“ meldete Salihah sich stirnrunzelnd zu Wort, sie wollte gar nicht die Diskussionen über die Erbfolge zu hören bekommen… zu spät.

„Was nicht ist, kann ja noch werden, Keisha,“ rechtfertigte sich Zoras Chimalis und räusperte sich verhalten, „Und wenn nicht, ist es doch egal, dann wird eben Meoran der nächste Clanführer, mir soll’s recht sein!“

„Tehya ist unfähig, Söhne zu gebären, sie hat es nur zu einer Tochter gebracht,“ maulte Keisha, „Ich verlange mehr Respekt von euch Rüpeln!“

„Wie ungerecht,“ stammelte Zoras‘ Frau unglücklich, die ihre kleine Tochter Enola auf dem Schoß hatte. Das Kind knabberte sich selbst an der Unterlippe herum und sah mehr oder minder interessiert auf dem Tisch herum.

„Hey, beleidige meine Frau nicht…“

„Du beleidigst ja auch meine Vase.“

„Oh, du vergleichst deine Vase mit meiner Frau?!“ fragte Zoras empört, und Keisha maulte. Nomboh machte alles schlimmer.

„Na ja, die Vase ist kurviger.“

„Jetzt reicht‘s aber! – Barak, Enola, geht bitte raus, das ist nichts für eure Ohren – außerdem haben wir Erwachsenen jetzt wichtiges zu bereden!“ Gehorsam stand Barak samt seinem Buch auf und trottete zur Tür, die kleine Enola rutschte von Mutters Schoß und tappte ihm kichernd hinterher. Kurz herrschte Stille, nur Keisha maulte vor sich hin und beschwerte sich über den Tod ihrer Vase und dass niemand sie respektierte, wie sie fand. Salihah zog die Brauen hoch.

„Habt ihr's?“ fragte sie. Plötzlich schalteten alle auf ernst um, als hätte jemand an einem hebel gezogen. Nomboh Chimalis ergriff das Wort.

„Unser Freund Kelar,“ Hier räusperte er sich kurz, „Scheint immer mehr vom Verbündeten zur Gefahr zu mutieren, das ist nicht gut. Was denkt der Mann sich, einfach wegzulaufen und die Fürsorge für sein Land links liegen zu lassen? Und das für ein ganzes Jahr. Hat er sowas wie einen Stellvertreter?“

„Mich,“ meldete Salihah, „Zwar eher inoffiziell, aber habe ich eine Wahl?“

„Bedauernswert,“ meldete Nomboh seufzend, „Wir unterstützen dich, wo wir können, du weißt das. Und was machen wir, wenn wir Geisterjäger uns treffen müssen, wie wir es hin und wieder tun sollten? Was, wenn irgendein Vogel ankommt und die Prüfung machen will, wenn einer Geisterjäger werden will?“

„Das traut sich eh‘ keiner mehr nach den letzten beiden, die Kelar abserviert hat, bevor sie überhaupt ihre Namen gesagt haben,“ machte Zoras zu seinem Bruder, „Du wirst sehen, die Geisterjäger sterben aus, Kelar ist Schuld und die Himmelsgeister werden einen gewaltigen Zorn über die Welt bringen. Es würde mich wundern, wenn Kelar unsere eigenen Kinder zur Prüfung zulassen würde. Die Welt wird untergehen.“

„In deinen Träumen geht die Welt doch immer unter,“ murmelte Keisha noch immer etwas eingeschnappt, wurde aber ignoriert.

„Noch beunruhigender ist, dass Salihah die Kontrolle über ihn und sein inneres Monster verliert,“ fügte Zoras noch hinzu und Salihah senkte den Kopf.

„Ich bin offenbar unfähig, verzeiht bitte.“

„Nicht doch!“ schnaubte Nomboh, „Dich trifft keine Schuld! Es ist ein Wunder, dass er immer noch auf dich hört – oder es getan hat, Auf uns hört er schon seit Jahren nicht mehr. Nicht mal auf Minar Emo, obwohl der älter ist als Kelar und demzufolge eigentlich die Respektsperson schlechthin sein müsste.“

„Ich werde tun, was ich kann,“ versprach Salihah mit einer Kopfneigung. Zoras musterte sie eine Weile.

„Wie geht es eigentlich der kleinen Nalani jetzt?“ fragte er dann, „Kommt sie klar? Wir haben uns nach Thonos Tod echt Sorgen gemacht, ausgerechnet bei euch im Schloss…“

„Sie hat sich zum Glück gut gefangen,“ erklärte die Frau nickend, „Ich war auch in Sorge, Kelar behandelt sie nicht wirklich liebevoll, aber das war ja auch keine Überraschung.“

„Haltet ihr es wirklich für richtig, sie mit Tabari zu verheiraten?“ fragte Nomboh sie stirnrunzelnd, „Ich meine, Tabari, der versucht, seinem Vater nachzueifern…?“

„In Tabari ist viel mehr Gutes als in Kelar,“ seufzte Salihah, „Ich hoffe, dass die Geister des Himmels und der Erde ihm früh genug die Augen öffnen… er hätte so viel an Nalani. Die beiden empfinden nichts füreinander, aber ich bin zuversichtlich… die Geister haben bestimmt, dass Kelar gerade Nalani für Tabari auswählt. Sie ergänzen sich perfekt.“

„Tun sie das?“ fragte Zoras sie perplex.

„So wie Himmel und Erde einander ergänzen und nur zusammen das Gleichgewicht halten… so wird es bei ihnen beiden sein. Nalani ist am Tag der Sommersonnenwende geboren, am hellsten Tag des Jahres, an dem die Sonne und der Himmel am stärksten über uns gebieten. Der Himmel, der Aktivität, Licht und Männlichkeit repräsentiert, den wir unseren Vater nennen. Nalani ist am Tag des Himmels geboren… und Tabari ist am Tag der Erde geboren, am Tag der Wintersonnenwende.“

„Tatsache?“ machten die beiden Geisterjäger im Chor und auch die Frauen sahen jetzt verblüfft auf.

„So ein merkwürdiger Zufall…“ sagte Keisha, und Zoras‘ Frau Tehya keuchte.

„Das ist kein Zufall, es ist Wille der Geister! Sie lassen ein Mädchen am Tag des Himmels geboren werden, am Tag des Mannes, und einen Jungen am Tag der Dunkelheit, am Tag der Mutter Erde und der Passivität, wie seltsam.“

„Deshalb werde ich dafür sorgen, dass die beiden miteinander klar kommen,“ versprach Salihah ernst und erhob sich, „Es tut mir leid, mich entschuldigen zu müssen, aber ich würde jetzt gerne aufbrechen. Die Kinder sind alleine im Anwesen und ich habe noch einiges an Weg vor mir…“ Sie verneigte sich lächelnd und die anderen neigten höflich die Köpfe. Zoras erhob sich ebenfalls.

„Ich bring dich zur Straße. Ich bin es, der sich im Namen des Clans bedankt für deine Mühe, Salihah, und für deine Kooperation.“ Sie nickte höflich, bevor sie zusammen den Raum verließen, im Flur an allen spielenden Kindern vorbei stolperten und es schließlich zur Straße schafften. Die Diener im Vorhof des Anwesend bereiteten rasch die Kutsche vor, die Salihah nach Hause bringen würde.

„Du kannst es nicht lassen, oder?“ gab sie leise von sich, während sie auf die Kutsche warteten und da standen. Die Sonne ging bereits unter.

„Was kann ich nicht lassen?“ fragte er erstaunt und wendete sich zwischendurch an die Diener hinter sich: „Hey, macht mal hin da hinten, die Dame hat noch einen weiten Weg hinunter zu ihrem Schloss!“ Salihah sah ihn nicht an.

„Du tust immer, als wäre… alles wie früher, Zoras,“ antwortete sie dumpf, als sie wusste, dass er sie wieder ansah.

„Habe ich mich denn so sehr verändert, Salihahchen?“ neckte er sie, klang aber nicht halb so spaßig, wie es gemeint war. Sie zog die Schultern hoch.

„Nein… du nicht. Aber ich habe mich verändert.“ In dem Moment rollte die Kutsche auch schon heran und sie drehte sich um, um einzusteigen. Sie streifte dennoch flüchtig seine Hand im Vorbeigehen und er zuckte kurz ob der sanften, distanzierten und doch so vertrauten Berührung ihrer kleinen Finger. Als sie eingestiegen war und noch zu ihm heraus blickte, lächelte er nostalgisch.

„Ja, das hast du… früher hast du häufiger gelacht.“
 

Nalani wusste, dass die Sonne auf und unterging, dass der Mond zunahm und wieder abnahm, dass ein Neumond nach dem anderen verstrich… aber sie sah es nicht wirklich, sie merkte es immer erst dann, wenn es vorbei war. Zu seh war sie damit beschäftigt, zu lernen; für den Unterricht mit dem Privatlehrer und, was sie noch lieber tat, von Salihah selbst Dinge erklärt zu bekommen, die wichtig waren. Sie übte gemeinsam mit Kiuk die Grundzauber, die alle Schamanen beherrschen konnten, einfache Elementarzauber. Ihr liebster Zauber war der Wasserzauber Alara, es war auch zugleich ihr stärkster. Kiuk fürchtete sich etwas vor ihr, seit sie ihn bei einer Übung mit einer einzigen Alara in einem Wasserstrudel durch den ganzen Hof geschleudert hatte; zum Glück hatte er sich nicht ernsthaft verletzt.

„Mutter, ihre Alara ist umwerfend,“ hatte er einmal zu Salihah gesagt, „Ich würde das nicht mal annähernd so schaffen…“

„Jeder Schamane hat eine andere Natur,“ hatte sie erwidert, „Und jeder hat ein Element, das ihm besonders liegt. Bei deinem Bruder und deinem Vater ist es Wind, also Katura, und bei Nalani ist es Wasser, also Alara. Bei Schwarzmagiern ist das besonders ausgeprägt… wir Telepathen haben später nichts mehr mit Elementarmagie zu tun, deswegen verlangt unser geist gar nicht erst von uns, ein Element besonders gut zu beherrschen oder auch nicht.“

„Und wer bestimmt, wer welches Element kann?“

„Die Geister natürlich,“ Salihah hatte ihm lachend den Kopf getätschelt, „Du kannst aber auch Fragen stellen!“
 

Eines von Salihahs wichtigsten Anliegen war es, Nalani die Kunst des Schwertkampfes beizubringen. Sie lernte zuerst mit einem Schwert umzugehen, am Ende des Sommers lernte sie den Umgang mit zwei Schwertern zugleich, was nicht ganz einfach war. Salihah arbeitete selbst schon seit Jahren mit dieser Technik und konnte daher gut vermitteln, worauf es ankam.

„Es ist wichtig, dass du lernst, mit sterblichen Waffen umzugehen,“ sagte sie Nalani einmal, „Sterbliche Waffen nennen wir alles aus Stahl, Holz oder anderem Material, was nicht zum Zaubern dient. Es werden Momente kommen, Nalani, in denen du mit Magie nicht weiterkommst, und dafür ist es dann gut, mit Waffen umgehen zu können. Viele Männer sind der Ansicht, Waffen wären eine Sache der Männer und nicht der Frauen, ich bin anderer Meinung. Frauen können genauso angegriffen werden wie Männer, wieso sollen sie sich nicht wehren dürfen?“ Nalani stimmte dem nickend zu.

„Ich werde lernen, was du mich lehrst,“ versprach sie, „Wenn die Geister entschieden haben, dass ich Tabaris Frau werden soll, dann sei es so… aber niemals werde ich mich ihm unterwerfen und seine dreckige Wäsche hinter ihm hertragen. Soll er sehen, wo er bleibt.“ Salihah musste schmunzeln über den Stolz des Mädchens. Nein… Nalani war nicht zum Unterwerfen geboren worden. Sie war geboren worden, um eine Königin zu sein…
 

Der Mond des neuen Frühlings war gekommen. Der Winter ohne Kelar und Tabari war mild und warm für die Verhältnisse gewesen; in Dokahsan herrschten im Winter oft Temperaturen, die weit unter dem Gefrierpunkt von Wasser lagen, bei denen selbst die Erde mehrere Zoll tief gefroren war. Aber im vergangenen Winter hatte es wenig Frost gegeben, dafür aber viel Regen und Schnee. Die Reste der weißen Masse lagen noch draußen auf den Hügeln, als der Frühlingsmond anbrach. Salihah, Kiuk und Nalani halfen gemeinsam mit allen Dienern, den Schnee aus dem Hof und vom Sandweg zu schieben. Es war keine angenehme Arbeit, da der Schnee vom Antauen schwer und nass geworden war und sich schwer schippen ließ, außerdem waren sie nach kurzer Zeit im Schnee nass bis auf die Knochen.

„Wenigstens geht es so schneller, wenn alle gemeinsam helfen,“ seufzte Nalani und sah auf ihre nassen Füße, ehe sie sich daran machte, weiter zu schippen. Es gab nicht genug Schneeschieber für alle, daher hatte man Besen und Spaten aus dem Keller hinzu genommen.

„Jetzt, wo der Frühling kommt, wird es bald wieder Wild geben,“ erklärte Kiuk erfreut, „Dann gibt es endlich mal was anderes zu essen als die eingelegten Wintervorräte.“

„Sei Mutter Erde dankbar für die Konserven, mit denen wir gut durch den Hungermond gekommen sind,“ meinte seine Mutter tadelnd, und Kiuk seufzte.

„Entschuldige… ich weiß doch…“

Nalani lächelte nur über die beiden, die ihr eine richtige Familie geworden waren. Salihah eine Mutter und Kiuk ein Bruder, mit dem sie viel Spaß hatte. Sie war gerade dabei, eine Schippe voll Schnee weg zu hieven, als ein Schatten über sie fiel. Sie blickte verwundert hinauf und erstarrte.

Vor ihr standen Tabari und Kelar. Auch die anderen hielten inne und sahen auf beim lange entbehrten Anblick des Schlossherren und seines ältesten Sohnes, die da in der Sonne standen und auf das Gefolge herabblickten.

„Wieso schippt meine Frau draußen mit den anderen Schnee?“ war das erste, was Tabari von sich gab, und Nalani erschrak sich beinahe zu Tode – seine Stimme hatte sich vollkommen verändert und war plötzlich die eines Mannes. Als sie ihn betrachtete, fiel ihr auf, dass auch sein Körper nicht mehr der eines kleinen Jungen war. Er war gewachsen und etwas kräftiger geworden, und offensichtlich sehr gesund und munter, obgleich er noch denselben, herrischen Blick hatte, den sie von ihm kannte, mit dem er sie jetzt musterte. „Du… bist groß geworden, Nalani… aber du schaust noch genauso kaltblütig wie vor einem Jahr.“

„Ihr seid also zurück,“ war Nalanis eisiger Kommentar. Sie erhob sich und reckte das Kinn in die Höhe. „Wenn du erwartest, dass ich dir zur Begrüßung die Füße küsse, täuschst du dich, Tabari. Und noch bin ich nicht deine Frau, ich schippe Schnee, wann und mit wem ich will.“

„Das ist Aufgabe der Sklaven, nicht Aufgabe der Frauen,“ erwiderte er verwirrt und irgendwie verließ ihn seine herrische Aura prompt, als hätte ihr Kommentar ihn aus dem Konzept gebracht. „Ich meine… diese Diener werden dafür bezahlt, dass sie arbeiten, warum machst du, äh, einfach mit? Und Mutter und Kiuk auch?“

„Weil es schneller geht, wenn wir zusammen arbeiten, darum,“ antwortete Salihah ihm und sah zu ihrem Mann, der sie großkotzig anstarrte aus seinen verengten, bösartigen Augen. „Dumme Fragen stellen kannst du also genauso gut wie früher, Tabari. – Willkommen zurück, ihr beiden. Bist du jetzt tatsächlich ein Schwarzmagier?“ Tabari grinste jetzt plötzlich wie ein Kind, das einen Kuchen bekam.

„Du würdest dich wundern!“ strahlte er, „Vater hat mir unglaubliche Sachen gezeigt!“ Und er begann, ausschweifend von seinen Erlebnissen zu erzählen, während Nalani ihn erstaunt über seinen Enthusiasmus ansah. Das war eine Seite an ihm, die sie nicht kannte, die sie nie zuvor gesehen hatte. Er freute sich – er war emotional und freute sich tatsächlich, als er wild gestikulierend redete und redete und plötzlich ein ganz anderer Mensch zu sein schien. Nalani war verwirrt über sein Verhalten und diese warmherzige, gutmütige Ader, die offenbar in ihm war, die sie bisher nicht gekannt hatte. Zum ersten Mal, seit sie seine Verlobte war, kam er ihr nur halb so abstoßend vor wie sonst, und das verwirrte und ärgerte sie. Sie sah grimmig auf ihren Schneeschieber und hatte plötzlich ungeheure Lust, ihn Tabari einfach mit voller Wucht über den Kopf zu ziehen, damit er die Klappe hielt und aufhörte, ein guter Mensch zu sein.

Einem, der nur böse war, konnte sie getrost auch einfach böse sein… aber nicht einem, der irgendwo innen auch ein guter Mensch war.
 


 

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o.o ja äh... viel zeit überbrückt mit dem kapi XDD

Wintermond

Nalani ärgerte sich über ihren Verlobten. Sie verstand ihn einfach nicht, egal, wie sehr sie es versuchte. Sie hatte ganz genau gesehen, dass er innen auch ein guter Mensch sein konnte, er konnte sich freuen und glücklich sein und sogar ehrlich lachen – aber irgendwie versteckte er diese Seite hinter seiner arroganten Hülle. Vielleicht, um so seinem noch arroganteren, grausamen Vater besser zu gefallen, Nalani wusste es nicht. Und wenn es so war, bei allem Eifer und bei aller kindlichen Pietät, wie konnte man sein eigenes Wesen verbergen oder verändern, nur, um den Vater stolz zu machen? Die Geister schenkten jedem Menschen bei der Geburt einen Lebensgeist, ein Wesen, das man ehren sollte und nicht verstecken. Sie verstand einfach nicht, wie dieser Kerl alles aufgeben konnte nur für den abartigen Wunsch seines Vaters, dass er auch einmal ein Mistkerl wie er werden sollte?

Überdies hatte sie aber auf Tabaris Verhalten oder Entwicklung wenig Einfluss, eigentlich gar keinen. Meistens war ihr Verlobter nicht zu Hause. Entweder war er mit seinem Vater irgendwo unterwegs, oder auch oft ohne ihn, vermutlich um den Umgang mit der schwereren Magie noch mehr zu üben, oder er ging auf die Jagd. Darin war er gar nicht so ungeschickt, hatte das Mädchen einst feststellen müssen. Jagen war eine Sache der Geschicklichkeit und der Ausdauer, Geduld hatte sie ihm gar nicht zugetraut, wo er doch versuchte, wie sein doch relativ jähzorniger Vater zu sein. Vielleicht war es auch ein Zeichen, dass Tabari Kelar weniger ähnelte, als er gerne wollte.
 

Kelar kümmerte sich plötzlich mit übergroßem Eifer um die Politik seines Reiches, wie er es nannte, was Salihah beunruhigte. Ihr Mann hatte eine sehr viel abartigere Art entdeckt, wie er den Senat in Yiara loswerden konnte – die Senatoren waren die Einzigen, die ihm zur ranghöchsten Spitze Dokahsans im Weg standen, sie bekamen ihre Aufträge direkt vom König des Landes und waren für das ganze Volk von Dokahsan zuständig. Die meisten Bewohner der Provinz waren Schamanen, aber nicht alle. Der König von Kisara akzeptierte keine alleinige Herrschaft von Magiern, in keiner der Provinzen, und obgleich Dokahsan, der Norden des Landes, als kulturelle Wiege des Schamanenvolkes galt, auch dort nicht. Irgendwann hatten die Menschen und die Magier sich geeinigt, sich die Verwaltung von Dokahsan zu teilen, daher saßen im Senat die Nichtmagier, die aber nichts ohne die Zustimmung des Rates der Geisterjäger reformieren konnten, ebenso wenig konnten die Geisterjäger ohne den Senat etwas ändern.

Kelar Lyra hatte es schon so weit geschafft, dass er den Rat der anderen Geisterjäger umgehen konnte, jetzt arbeitete der Senat nur noch mit ihm als Herrn der Geister zusammen, obgleich die Senatoren sich fragten, ob das für die vier anderen Geisterjäger in Ordnung war, einfach so übergangen zu werden.

Es war definitiv nicht recht so, das wussten die Geisterjäger, das wusste Kelar und das wusste Salihah, die meistens als Vermittlerin zwischen ihrem Mann und seinen übergangenen Kollegen fungierte.
 

„Dein Mann verliert langsam den Verstand,“ schnarrte Zoras Chimalis einmal zutiefst verärgert, als die Frau sich mit den vier Geisterjägern traf, um sie über Kelars eigenartige Schachzüge zu informieren. „Jetzt tut er, als wären wir Luft, und was ist mit dem Rat?“

„Der rat wurde, so hat Kelar gesagt, offiziell aufgelöst,“ meldete Salihah, „Und, passt auf, er sagt, es läge daran, dass jeder sein eigenes Süppchen kocht und es deswegen kaum noch ein Rat wäre, deswegen übernimmt er jetzt die alleinige Verantwortung für das Volk, weil er als Herr der Geister ja am meisten Ahnung hat.“ Sie wurde von acht Augen fassungslos angestarrt.

„A-aufgelöst?!“ keuchte Nomboh, „Das ist nicht dein Ernst!“ Sein Bruder warf die Arme in die Luft.

„Sein eigenes Süppchen!“ schnaubte er, „Der Einzige von uns, der nicht am selben Strang zieht, ist Kelar! Außerdem habe ich immer mehr das Gefühl, dass er aus Prinzip gegen alles ist, was wir sagen, so eine kleinkindliche Trotzphase, wenn wir A sagen, sagt er garantiert B, dann wird nicht darüber beraten, nein, dann wird der Rat aufgelöst und einfach das gemacht, was er sagt! Das ist doch… das ist doch… mir fehlen die Worte!“

„Das entwickelt sich in eine sehr falsche, üble Richtung,“ bemerkte Minar Emo ebenfalls beunruhigt, „Was hat er vor, Salihah? Das endet nicht nur in einer Diktatur, das endet in einer Katastrophe.“

„Als nächstes ist der Senat dran, ich wette,“ machte Nomboh. Salihah seufzte.

„Wette gewonnen, natürlich ist der Senat dran. Die alten Männer haben keine Ahnung. Ich weiß noch nicht genau, wie er es macht, aber irgendwie hintergeht er die Senatoren jetzt schon, tut vor ihnen so, als würde er sich freiwillig fügen und alles befürworten, was sie tun, und hinter ihrem Rücken macht er dann sein eigenes Ding. Im Volk ist es unruhig, die Menschen sind nicht zufrieden, selbst die dümmsten Bauern merken, dass die Verwaltung chaotisch ist und kein System mehr hat, dass alle gegeneinander arbeiten und die Menschen darunter leiden müssen.“

„Ich habe auch so einiges gehört in den letzten Monden in Yiara,“ bemerkte Hakopa Kohdar dumpf, „Ich weiß nicht, ob Kelar die Leute gegen die Senatoren und Nichtmagier aufhetzt oder ob sie es von selbst tun, jedenfalls höre ich viele böse Worte gegen den Senat. Da fallen Sprüche wie ‚Dokahsan ist das Reich der Magier gewesen, die Menschen haben kein Recht, es uns zu nehmen und uns in ihre dumme Politik einzugliedern, wir haben nicht entschieden, in das Land Kisara eingegliedert zu werden, die Menschen sollen verschwinden und uns in Ruhe lassen…‘ und so fort.“

„Es sind alles die Bastarde aus Anthurien Schuld,“ murrte Zoras Chimalis, „Die uns angegriffen haben und versucht haben, uns aus Dokahsan zu vertreiben, da war es genau andersrum, da hieß es ‚Verjagt die Magier, sie sind uns gruselig, Kisara ist ein Reich der Menschen!‘ . Vor diesem Krieg gab es überhaupt kein Problem hier und wir und die Nichtmagier konnten friedlich nebeneinander leben, aber jetzt denken die Narren hier, alle Menschen wären darauf aus, Dokahsan Magierfrei zu machen, das ist wahrlich ein Problem.“

„Die Senatoren und Gouverneure von Anthurien haben auch ihr eigenes Süppchen gekocht damals,“ seufzte Minar Emo, der als Ältester der Geisterjäger am meisten mitbekommen hatte von den Kriegen, „Das war nicht Schuld oder Sache des Königs oder Viallas, das waren allein die Leute aus Anthurien. Der Spinner, der da ganz oben gesessen hat damals, muss auch etwa so ein merkwürdiger typ gewesen sein wie Kelar.“

„Das ist beunruhigend,“ murmelte Nomboh, „Unser Herr der Geister mutiert zu einem Diktatoren von Anthurien.“

„Was ist eigentlich mit Tabari?“ wechselte Hakopa Kohdar dann unverblümt das Thema, „Wird der nicht auch Geisterjäger? Oder ist er noch nicht soweit?“

„Er wird siebzehn,“ meinte Salihah, „Nein, er ist noch lange nicht bereit für die Prüfung. Erstaunlicherweise hat er sich ganz gut gemacht, obwohl sein Vater kein offizieller Lehrer ist. Das liegt sicher weniger an Kelar als daran, dass Tabari eben einen gesunden Menschenverstand hat. Er ist ein Mensch des Geistes, er versteht es von Natur aus, mit den geistern eins zu sein und die Natur zu verstehen. Bei seinem Vater bin ich mir inzwischen nicht mehr so sicher.“

„Tabari ist letzten Endes ja auch dein Sohn,“ seufzte Zoras Chimalis, „Wie könnte ein Sohn von dir ein schlechter Magier sein?“

„Auf jeden Fall müssen wir verhindern, dass Kelar den Senat umwirft,“ meinte Hakopa Kohdar ernst, „Wenn er das schafft, ist er quasi tatsächlich Alleinherrscher über ganz Dokahsan und wir alle wissen, was dann passiert, das wäre ein Graus!“

„Ich werde tun, was ich kann,“ meinte Salihah dumpf, „Er redet nicht mehr mit mir in letzter Zeit, er vertraut mir nicht.“ Nomboh seufzte.

„Hat er das je getan?“
 

Im Wintermond des Jahres machten die Mondgeister Nalani zur Frau. Es waren einige Jahre vergangen, seit sie zu den Lyras gekommen war. Das Vergießen ihres Mondblutes war eine wichtige Sache, denn dass sie jetzt eine Frau war, bedeutete, dass Tabari und sie endlich heiraten konnten. Am begeistertsten war davon Kelar, die Freude der anderen hielt sich in Grenzen.

„Muss das jetzt sein?“ fragte Tabari an dem Morgen, an dem seine Mutter in die Küche zum Frühstück kam und verkündete, was geschehen war. „Ich hoffe, ihr wartet mit dem Blutritual, bis sie ihre Blutzeit beendet hat, sonst ist das echt widerlich.“

„Wenigstens rutscht es dann,“ schnaubte sein Vater, während Salihah sich räusperte, „Sei nicht so undankbar. Es wurde Zeit, dass sie endlich ihre Mundblutung bekommt! Wir verbinden eure Hochzeit mit dem Öffnungsritual, das du ihr geben wirst! Und wenn du dich anstrengst, zeugst du dabei auch gleich den Erben für den Clan, dann schlagen wir drei Fliegen mit einer Klappe!“ Tabari errötete und wagte nicht zu widersprechen. Aber so wirklich aufregend fand er den Gedanken nicht, das störrische Mädchen zu schwängern, das ihn sowieso hasste. Nalani sah ihn nicht mal mit dem Rücken an und wenn sie tatsächlich einmal miteinander sprachen, dann waren es böse, giftige Worte – nicht nur von ihr, musste er zugeben, er war auch nicht besonders nett gewesen. Und wenn er etwas wusste, das absolut nicht erregend war, dann der Gedanke daran, mit ausgerechnet diesem bockigen, beschämenden Mädchen das Bett zu teilen.

Aber was sollte er machen… sie war seine Verlobte, er hatte ja keine Wahl. Öfter als nötig würde er es jedenfalls nicht tun, am besten nur so lange, bis sie einen Sohn geboren hatte, dann war sein Vater stolz und zufrieden und er brauchte nicht mehr zu arbeiten.

„Muss ich auch so ein Ritual machen?“ fragte Kiuk verlegen, und seine Mutter lachte.

„Natürlich musst du das, alle Schamanen bekommen so ein Blutritual. In früheren Zeiten gab es das nur bei jungen Mädchen, irgendwann haben sie es auch bei Jungen eingeführt. Damals hieß es, man sollte die Jungen für ihr erstes Mal zu einer erfahrenen Frau schicken, damit die ihnen beibrachte, wie man es richtig macht. Sowas war schließlich wichtig, um Nachkommen zu zeugen, um die Menschheit zu vergrößern.“ Kiuk errötete.

„Aber das ist alles so peinlich, Mutter.“

„Kann Kiuk nicht mit Nalani das Ritual machen?“ fragte Tabari blinzelnd, „Dann bekommen sie es gleichzeitig und wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe!“ Er fand seine Idee gut…

Sein Vater nicht so.

„Du spinnst wohl, damit sie nachher von deinem dummen, unfähigen Bruder schwanger wird?! Außerdem ist er noch ein Junge, sie darf das Ritual nur von einem erwachsenen Mann bekommen, du Dummkopf! Du hörst wohl nie zu!“ Tabari wurde noch röter und räusperte sich sichtlich beschämt über Vaters harten Tadel. Er hasste es, von Vater getadelt zu werden… das war verletzend, er wollte ihn doch stolz machen und nicht ärgern…

„Dein Vater hat recht,“ stimmte seine Mutter ihrem Mann zur Abwechslung mal zu, „Das wird wohl an dir bleiben, Tabari. Da du sowieso ihr Mann sein wirst, ist es das Logischste, das wir tun können. Ich würde mir wünschen, dass du nach oben zu ihr gehst und mit ihr sprichst. Ihr werdet bald heiraten und du hast dich nicht mal bemüht, dich um sie zu kümmern.“

„Sie kümmert sich ja auch nicht um mich,“ brummte Tabari, „Es kann nicht jede Zwangshochzeit so laufen wie bei euch, die ihr euch freiwillig mochtet.“

„Du wirst als Mann für sie verantwortlich sein und dafür, dass sie es gut hat,“ sagte seine Mutter streng, „Bislang war ich für sie da, habe sie erzogen und mich gekümmert als Schwiegermutter, in ein paar Tagen wird meine Aufgabe beendet sein, Tabari. Gewöhne dich an den Gedanken, sie an deiner Seite zu haben, es ist der Wille der Mächte der Schöpfung.“

Tabari erhob sich rasch und schnaubte nur, bevor er den Raum verließ, nicht ohne vorher die Nase hochzuwerfen. Kiuk verdrehte nur die Augen, Salihah sagte nichts und Kelar brummte.

„Mir egal, ob die sich mögen, Hauptsache, es gibt viele Söhne, und zwar bald.“

„Nun mal langsam,“ mahnte seine Frau ihn, „Wir müssen die Hochzeitszeremonie und das Ritual vorbereiten, also hör auf zu reden und komm in die Hufe.“
 

Nalani war unglücklich. Sie wollte keine Frau werden und schon gar nicht Tabaris. Sie hatte Angst vor dem Ritual, das ihr bevorstand, Angst vor dem Zerreißen, wenn sie das erste Mal von einem Mann berührt werden würde. Die Geister würden sie sicher mit Schmerzen strafen. Sie hatte vor einigen Monden, als sie geahnt hatte, dass es bald soweit sein würde, versucht, die Mondgeister zu verfluchen, ihren Körper nie zu dem einer Frau werden zu lassen. Und sie hatten nicht auf sie gehört, das machte sie wütend und unglücklich. Sie stand in ihrem Zimmer vor dem Spiegel und betrachtete verärgert ihren nackten Körper. Sie hatte Brüste, verdammt. Sie wollte keine Brüste, sie wollte keine Mondblutung, sie wollte kein Ritual, sie wollte keinen Mann! Aber was sollte sie dagegen tun? Das Blutritual war seit Ewigkeiten Tradition unter den Schamanen, es zu verweigern beleidigte sämtliche Geister. Sie würden sie hart bestrafen, würde sie es wagen, wegzurennen, sich zu verstecken oder sonst wie das Ritual verweigern.

Es klopfte an der Tür und sie schrak hoch, als sie plötzlich Tabaris Stimme hörte.

„Äh, Nalani? Können wir mal reden?“

„Komm nicht rein!“ fauchte sie, und er blinzelte draußen, blieb aber, wo er war, während sie sich rasch anzog und dann grimmig die Tür öffnete. Er sah sie verdutzt an. „Was willst du?“ fragte sie kaltherzig, und er fragte sich erneut, wie er ihr ein Ritual bescheren sollte. Er räusperte sich sichtlich verwirrt.

„Wir werden in ein paar Tagen heiraten,“ sagte er dann diplomatisch und zwang sich, kalt zu sprechen, „Du solltest nicht so kaltherzig zu mir sein, Nalani.“

„Du bist es doch auch,“ machte sie schnippisch. Darauf schien ihm nichts mehr einzufallen, er sagte jedenfalls lange nichts. „Nun, ich denke… mögen werden wir uns vielleicht nie, Nalani, du hasst mich und mir bist du egal-…“ fing er dann an, und sie starrte ihn an.

Wenn sie ihn vorher gehasst hatte, hasste sie ihn jetzt erst recht. Sie war ihm egal? Und das sagte er ihr einfach ins Gesicht? Na toll, was für ein Charmeur. Ihr Gesicht verfinsterte sich deutlich und Tabari fragte sich beunruhigt, ob er jetzt etwas völlig falsches getan hatte – er sprach doch die Wahrheit und wollte sie nicht anlügen… das gehörte sich schließlich nicht.

„Also…“ machte er irritiert weiter, von ihrem bösen Blick völlig aus der Bahn geworfen, „Ich, ähm… meine… wir sollten uns wenigstens… also, äh, normal miteinander reden können ohne uns mit Blicken zu töten. Denkst du nicht? Ich kann nichts dafür, das wir heiraten, das war nicht meine Wahl. Wir sollten aufgrund unserer Lage kooperieren, Nalani.“

Kooperieren?“ zischte sie, „Ich werde deine Frau und du redest mit mir wie mit einem Militär! Ich bin nicht dein General, Tabari!“

„Entschuldige, wenn dir ein besseres Wort für kooperieren einfällt, bereichere mich, Gnädigste!“ schnaubte er jetzt auch erzürnt. Wie konnte man so dermaßen unkooperativ sein? Sein Vater hatte ihn gelehrt, dass man manchmal auch mit dem Feind – Tabari nannte es lieber Leuten, die man nicht mochte – kooperieren musste, wenn man den Frieden erhalten wollte.

„Dein Ton gefällt mir nicht,“ gab sie kalt zu hören, er schnaubte und es reizte ihn allmählich, ihr eine saftige Ohrfeige zu geben für ihre Frechheit. Wie konnte sie es wagen, so mit ihm zu sprechen? Er war diesen Ton höchstens von seiner Mutter gewohnt, aber die war ja auch seine Mutter und obwohl sie eine Frau war eine Respektsperson in seinen Augen, die sich anmaßen durfte, ihre Kinder zu tadeln. Aber Nalani war noch nicht mal vor dem Gesetz eine Frau. Er beherrschte seine Hände zum Glück und atmete verärgert ein und aus.

„Du machst es dir selbst sehr schwer mit deinem Verhalten,“ sagte er zornig, „Was hat meine Mutter aus dir gemacht? Eine undankbare, aufmüpfige Wachtel, wie mein Vater dich gerne nennt, und ich denke, er hat recht!“ Nalani keuchte. Jetzt platzte ihr langsam der Kragen. Was bildete der sich ein?

„Undankbar?!“ schrie sie ihn wutentbrannt an, „Soll ich dem Riesenarschloch von deinem Vater etwa auch noch dankbar dafür sein, dass er verdammt noch mal meine Eltern ermordet hat?!“
 

Sie schrak unmittelbar nachdem sie es ausgesprochen hatte zurück und fragte sich, was über sie gekommen war. Das hätte sie nicht sagen dürfen… auf gar keinen Fall hätte sie es sagen dürfen! Wenn Kelar erfuhr, dass sie es wusste, würde er sie töten…

Sie hatte Tabaris Loyalität vergessen.

Jetzt rutschte ihm tatsächlich die Hand aus und er schlug ihre Wange, dass es laut knallte. Nalani schnappte nach Luft und sah ihn verbittert an, während er wütend auf sie herab starrte.

„Dich haben wohl alle guten Geister verlassen!“ bellte er sie an, „Wie kannst du… wie kannst du es wagen, so etwas auch nur zu denken?! Was maßt du dir an, so eine… so eine grausame Lüge zu erzählen, du Miststück! Du bist es, die an allem Schuld ist, du entzweist die Familie, wahrscheinlich hast du meiner Mutter auch schon diesen Mist erzählt und deswegen sind sie und Vater jetzt so kalt zueinander! Und seit du da bist wird selbst mein Bruder frech! Du… du bist eine Zerstörerin, ein bösartiger Todesgeist, der Schatten über meine Familie bringt!“

„Das ist nicht wahr!“ rief sie, „Ich lüge nicht, ich habe es selbst gesehen!“ Zumindest was ihre Mutter anging.

„Und sie lügt einfach weiter, die Dämonenbraut!“ zischte er aufgebracht und trat zurück, worauf sie keuchte. Würde er es jetzt seinem Vater erzählen? Das war nicht gut. Aber seine Worte verletzten und verwirrten sie, deshalb konnte sie nichts entgegnen, so blieb sie zitternd stehen, als er sich umdrehte und davon stampfte. Sie senkte langsam den Kopf und murmelte noch, bevor er ging:

„Du siehst durch einen rosa Nebel, Tabari, der dir alles schön zu reden versucht… aber die Welt hinter dem Nebel ist manchmal grausam und widerwärtig.“
 

Tabari entschied sich dagegen, einem Vater direkt zu sagen, was Nalani ihm unterstellte. Es war eine Frechheit, die das Mädchen sich herausnahm, und er würde seinen Vater nicht entehren, es war einfach zu beschämend. Wie konnte sie so etwas Furchtbares behaupten? Das hatte sie sich nur ausgedacht, weil sie seinen Vater so hasste, weil der sie aus ihrer Familie geholt hatte.

Er dachte an Nalanis Worte.

„Du siehst durch einen rosa Nebel…“

Sie lügt, entschied er grimmig, SIE sieht durch einen schwarzen Nebel voller Hass und Schatten, das ist es!

„Die neue Frau entehrt dich und erzählt Lügen!“ petzte er seinem Vater entrüstet, „Sie ist ein Unglücksbringer, ich kann sie nicht heiraten! D-das würde alle Geister der Ahnen entehren! Es wird den Lyra-Clan in den Untergang jagen, Vater!“

Kelar Lyra sah seinen Sohn missgelaunt an. Dass er wegen der Hochzeit so ein Theater machte, nervte den Herrn der Geister extrem. Er sollte die blöde Wachtel einfach schwängern und basta. Aber jetzt wurde er plötzlich aufmerksam… Untergang des Lyra-Clans?

Das hatte er schon einmal gehört nach Ende des Krieges.

„Das Ende des Krieges wird dir Macht und Ehrfurcht des Volkes bringen… aber es wird… Hand in Hand gehen mit dem Fall des Clans.“

Wenn Salihah doch recht gehabt hatte und das Mädchen der Schlüssel war? Wenn sie wirklich Unglück brachte, wäre es tatsächlich verhängnisvoll, sie Tabari zur Frau zu geben – vielleicht würden ihre Söhne missgebildete Krüppel werden, unfähig zu herrschen!

Andererseits hätten die Geister ihn dann gewarnt. Er war der Herr der Geister, sie würden ihm so etwas nicht verschweigen, das würden sie nicht wagen. Selbst die Geister zitterten vor seiner Macht, er wusste es genau… die Senatoren waren so gut wie erledigt, bald würde er die Kontrolle über Dokahsan haben. Verdammt, selbst wenn Nalani ein Dämonenkind wäre, ein Unglücksbringer, er würde sie schon erledigen, wenn sich das herausstellte. Sie war eine Tochter von mächtigen Magiern, in ihren Adern floss das beste Blut, das er sich wünschen konnte für Tabari und dessen Söhne. Wenn es Krüppelkinder wären, könnte er sie immer noch von der Klippe werfen, Nalani gleich mit und Tabari eine neue Frau suchen. Was war eigentlich mit Zoras Chimalis‘ Tochter Enola…?

Nein. Definitiv nicht. Er würde niemals Kinder von Zoras Chimalis mit seinen verheiraten. Und nicht nur deshalb, weil er den Chimalis-Clan ohnehin nicht mochte, weil sie die stärkste Konkurrenz zu seiner eigenen Familie waren, gegen den Clanführer Zoras hatte er eine persönliche Abneigung. Er dachte verärgert an seine Frau. Was dachte sie eigentlich, wie dumm und blind er war? Sein Kollege und seine Frau sprachen zu vertraut miteinander, sahen sich zu lange an…

Basta, er würde Nalani zu Tabaris Frau machen, egal, wer was dagegen hatte. Das sagte er seinem Sohn, und Tabari seufzte resigniert. Er würde nicht wagen, seinem Vater zu widersprechen, außerdem schien er zornig zu sein.

„Was machen wir, wenn es doch stimmt, Vater?“ fragte er kleinlaut, und Kelar Lyra lachte grantig.

„Na, da wirst du ja wohl mit ihr fertig werden, du bist mein Sohn, der zukünftige Herr von Lyrien! Von dir erwarte ich natürlich, mit einer blöden Frau fertig zu werden… du wirst mich nicht enttäuschen, keine Sorge.“ Das war keine Prophezeiung, das war eine Drohung, die Tabari sehr gut verstand.

„Und wenn nicht, reiße ich dich in Stücke…“ sagten die Augen seines Vaters dazu, und der Blonde schluckte ratlos. Er hoffte inständig, die Hochzeit und das Blutritual zu überleben… Nalani würde ihn töten, da war er sicher.
 

In etwa mit denselben Gedanken trat der arme Kerl dann einige Tage später die Hochzeitszeremonie an. Normalerweise kamen enge Verwandte oder Freunde zu so einem Anlass, doch weil Kelar Lyra keine Lust auf Leute in seinem Schloss hatte, hielten sie es im kleinstmöglichen Kreis, es kam niemand.

In Städten gab es extra einen Menschen, der dafür zuständig war, Paare zu trauen, in Dörfern verheiratete stets das Dorfoberhaupt. Bei den Lyras verheiratete Kelar, denn er war das Clanoberhaupt und außerdem der Herr von Lyrien.

Die Diener hatten das Schloss fein herausgeputzt und auch jedes Familienmitglied zog sein prächtigstes Gewand an. Nalani als Braut wurde besonders hübsch zurecht gemacht, obwohl Kelar das egal gewesen war, aber Salihah hatte darauf bestanden, dass man der Braut die Ehre der Schönheit erwies. Wobei dazu nicht viel Mühe nötig war, Nalani war eine sehr schöne junge Frau. Sie hatte ein gut proportioniertes Gesicht und einen schlanken, aber nicht dürren Körper.

„Nach der Zeremonie wirst du die Erfahrung des Öffnungsrituals bekommen,“ sagte Salihah zu Nalani, während sie im Ankleidezimmer der Schlossherrin standen und die Dienerinnen die Braut für die Hochzeit zurecht machten. Nalani sah konfus an sich herunter. Ihre Haut war mit rituellen Mustern bemalt worden und sie glänzte von der öligen Farbe wie ein neugeborenes Baby. Der Stoff, den sie trug, war sicher überaus edel und wertvoll, das Gewand war gut gearbeitet und angenehm zu tragen. Eine Dienerin zupfte eifrig an dem Kleid, eine andere machte Nalanis lange, schwarze Haare zu einer aufwendigen Hochsteckfrisur.

„Warum werde ich so fein herausgeputzt, wenn sich der heutige Tag nur darum dreht, dass Tabari mich gleich wieder auszieht?“ fragte sie, und Salihah lächelte leicht.

„Ja, deswegen ist es verhältnismäßig schlicht für ein Brautkostüm. Das Ausziehen würde ja länger dauern als das Ritual, wenn ich da an mein Kleid damals denke…“ Nalani zog eine Braue hoch.

Das war schlicht? Na gut…

„Hattest du dein Ritual auch bei der Hochzeit, Salihah?“ fragte sie dann dumpf, und Salihah schüttelte den Kopf.

„Ich war jünger als du, als ich mein erstes Mondblut bekam, Kelars Mutter hielt mich noch nicht für fähig, Kinder zu empfangen oder gar zu gebären, deshalb haben wir erst später geheiratet. Die Männer sagen gerne, dass es die größte Aufgabe einer Frau ist, sobald sie geheiratet hat, schwanger zu werden und Kinder zu erziehen.“

„Die Männer sagen das? Dann teilst du diese Ansicht nicht?“ murmelte die Braut und sah der Dienerin konfus zu, wie sie weiter an dem Gewand herum tüdelte. Es war ein dünner Stoff und sie spürte, dass sie langsam fror. Hoffentlich dauerte die Zeremonie nicht so lange und sie konnte sich bald etwas Wärmeres anziehen; es war immer noch Winter.

„Sehe ich so aus, als würde ich mich seit meiner Hochzeit nur mit dem Erziehen von Kindern befassen?“ fragte die schwarzhaarige Frau erstaunt, „Oh nein, Nalani… und du wirst bestimmt erfahren, dass die Frau für ihren Mann sehr viel mehr ist als nur eine Gebärmaschine. Die Männer sind ohne Frauen aufgeschmissen, und nicht nur, weil sie ihnen ihre großartigen Erben gebären… so, sie ist jetzt fertig, danke, ihr beiden.“ Das letzte galt den Dienerinnen, die sich tief verneigten und dann aus dem Raum eilten. Nalani sah an sich herunter und die Frau vor ihr betrachtete sie auch eine Weile lächelnd. „Du siehst wunderschön aus.“

Nalani seufzte leise und drehte den Kopf zur Seite.

„Alles hat seinen Nutzen bei euch, denke ich immer,“ murmelte sie, „Man heiratet, weil es nützlich ist, alles tut man oder lässt man, weil es einen oder keinen Nutzen hat. Ihr denkt alle so pragmatisch, gibt es eigentlich so etwas wie… Gefühle bei euch?“
 

Die Schwiegermutter in spe sah sie kurz an, bevor sie den Kopf etwas senkte und bitter lächelte.

„Würde ich nach Gefühlen entscheiden, Nalani, würde ich dieses Land mit meinen eigenen Händen ins Chaos stürzen… und das wäre sehr viel grausamer als das, was Kelar momentan so tut.“

Das Mädchen erwiderte nichts. Sie stellte nur bedrückt fest, dass egal, wie viel Salihah ihr schon von sich erzählt und ihr beigebracht haben mochte, sie die Frau noch immer kaum mehr kannte als am ersten Tag.
 

Es dämmerte, als sie mit der Zeremonie begannen. Im Winter dämmerte es früh. Die Sonne schickte ihre letzten, kaum wärmenden Strahlen durch das Fenster der fein hergerichteten Stube und erhellte den Raum dadurch spärlich, in dem ansonsten nur diverse Kerzen angezündet worden waren.

Kelar Lyra stand imposant vor der uralten Kommode mit dem wahren Blick eines Herrschers, der über Leben und Tod bestimmen konnte, vor ihm standen Tabari und Nalani, einander gegenüber, sich irgendwie ansehend und auch nicht ansehend. Tabari war ein Stück größer als seine Verlobte und konnte so getrost über sie hinweg sehen; er würde ihr sicher nicht in die Augen sehen, damit sie ihm nachher mit ihrem Mörderblick die Seele aus dem Leib saugte. Nalani ihrerseits wollte sein verblendetes Gesicht hinter dem rosa Nebel auch nicht sehen. An der Seite und halb vom Schatten des dunklen Raumes verborgen standen Salihah und Kiuk.

„Wir versammeln uns heute hier im Angesicht der Geister, vor den Augen Vater Himmels und Mutter Erdes, um die Vereinigung des Fleisches und des Blutes zweier Menschen zu vollziehen!“ begann Kelar Lyra mit dunkler, bedrohlicher Stimme seine Rede, und die Anwesenden erschauderten. Seine Stimme war zum Fürchten, wenn er es darauf anlegte. „Die Himmelsgeister sollen meine Worte hören, wenn ich sage, dass Tabari und Nalani ab heute Mann und Frau sein werden. – Bist du bereit, Tabari, die Verantwortung für diese Frau Nalani zu übernehmen und für sie zu sorgen?“

Tabari sah zu seinem Vater und fragte sich, ob das eine ernst gemeinte Frage war. Vermutlich nicht.

„Ja, Vater,“ sagte er deshalb kühl. Nalani überlegte sich noch, ob ihr etwas richtig Freches zum Antworten einfallen würde, aber da wurde sie auch schon gefragt:

„Sprich, Frau! Bist du bereit, diesen Mann Tabari als deinen Mann anzusehen, ihm treu zu sein ihn zu ehren nach dem Willen der Himmelsgeister?“ Nalani hütete sich, ihm ins Gesicht zu sagen, dass es so ziemlich das Demütigendste war ihr gegenüber, dass er sie zu Gehorsam und Ehrerbietung zwang aber von Tabari mit keinem Wort verlangte, sie zu ehren – denn normalerweise wurde der Mann auch gefragt, ob er seine Frau ehren würde, da war sie sich sehr sicher.

Die Tatsache, so abgestempelt zu werden, machte sie so wütend, dass sie zu zittern begann. Sie blickte hinauf in Kelars Gesicht und lange starrten sie einander feindselig an. Sie wusste genau, dass er nur darauf wartete, dass sie widersprach, dass sie sich aufregte und sich widersetzte, und vermutlich freute er sich schon diebisch darauf, irgendein Ass aus seinem Ärmel ziehen zu können, würde sie es wagen, Nein zu sagen.

Den Gefallen würde sie ihm sicher nicht tun. Oh nein… sie würde die Frau seines verblendeten Sohnes werden und sowohl ihn als auch seinen Vater den Rest ihres Lebens lang bereuen lassen, sie zu dem gemacht zu haben, was sie jetzt war. Nalani hob ihr stolzes Gesicht und Kelar ließ sich nichts anmerken, als ihn ihr kalter Blick traf.

„Ja,“ sagte sie dann, „Das bin ich.“
 

Die Hälfte der anderen war von ihrer prompten Einwilligung überrascht, und zwar die deutlich jüngere Hälfte. Tabari hatte erwartet, sie würde ihn jetzt ermorden oder etwas anderes Schlimmes vorhaben und Kiuk hatte gedacht, sie würde wenigstens versuchen, Widerstand zu leisten, wie es doch sonst ihre Art war. Salihah und Kelar hatten nicht daran gezweifelt, dass die Hochzeit stattfinden würde.

Dass alles danach reibungslos laufen würde, hatte niemand behauptet.

„Dann vereine ich euch beide hier im Angesicht der Geister zu Mann und Frau,“ schloss Kelar Lyra seine Rede und in seiner Stimme schwang mehr Drohung als Feierlichkeit mit, und zu Tabaris Entsetzen galt der Blick nicht nur Nalani, sondern auch ihm selbst.

„Mach mir keine Schande und erfüll deine Pflicht!“ sagte der Blick seines Vaters, und Tabari gab ein Keuchen von sich und nahm hastig Nalanis Hand in seine als Zeichen der Vereinigung. Sie wehrte sich nicht, erwiderte seinen Griff aber auch nicht und stand still neben ihm, als sich beide zu Kelar umdrehten.

„Und die Geister sind Zeugen dieser Vereinigung,“ belehrte der Herr der Geister die zwei finster, „Ehrt sie… und ihr werdet Glück und Ehre finden.“

Nalani bezweifelte das. Aber wenn Kelar von den Geistern sprach, meinte er sowieso sich selbst oder zumindest seinen Clan. Behauptete dieser wahnsinnige Mann vor ihr tatsächlich, sich mit den Geistern vergleichen zu können? In diesem Moment spürte sie zum ersten Mal den Schatten, der sich langsam über dem ganzen Land verbreitete. Ein bösartiger Schatten, der vom Machthunger dieses einen Mannes ausging, der sich selbst für einen Gott hielt, unsterblich und unbezwingbar. Sie hörte in dem Moment, in dem sie da stand und in dem Tabari ihre Hand hielt, eine Stimme der Vergangenheit in ihrem Kopf, die zu ihr sprach:
 

„Seine Macht und sein Wahnsinn werden… Hand in Hand gehen mit dem Fall des Clans.“
 

Nach der sehr kurzen Zeremonie wurden die beiden getrennt, damit alle Vorbereitungen für das so wichtige Ritual im Anschluss getroffen werden konnten. Salihah brachte die Braut in das dafür hergerichtete Zimmer oben im Schlossturm, abgeschieden von den anderen Räumen. Sie waren hoch oben; aber je höher, desto besser, denn desto näher war man den heiligen Geistern, die für das Wohlergehen der neuen Frau und für ihre zukünftige Fruchtbarkeit sorgen sollten.

In dem Raum war es düster bis auf das Licht einer einzigen kleinen Schale, in der Fett brannte. Obwohl es Winter war und es im Turm meistens zugig war, war der Raum warm. Es roch merkwürdig, aber angenehm nach einer Mischung aus dem brennenden Fett und verschiedenen Kräutern. Nalani erschauderte kurz, als sie mit ihrer Schwiegermutter in dem Zimmer stand, und die ältere Frau legte ihr die Hände auf die Schultern.

„Du musst dich nicht fürchten, Nalani. Es ist weniger körperlich als du denkst, es ist eine Sache des Geistes, das Blutritual; dummerweise wird heutzutage die rituelle Bedeutung nicht mehr mit demselben Respekt betrachtet wie früher, zu den Zeiten vor den Städten, als die Menschen noch in Stämmen lebten. Trotzdem muss das Blutritual keine niveaulose Orgie sein.“ Nalani schauderte.

„Wäre es eine rein körperliche Sache, hätte ich weniger Angst…“ murmelte sie beklommen, „Um körperliche Dinge muss… ich mir keine Gedanken machen.“

Salihah sah sie eine Weile stumm an und nickte dann verständnisvoll. Sie ließ sie los und kehrte zurück zur Tür.

„Du wartest hier. Die Blutgeister werden dich auf diesem Schlaflager zur neuen Frau machen, Nalani. Und du… musst dir keine Gedanken machen.“ Dann neigte sie höflich den Kopf und ging, die Tür hinter sich schließend.

Nalani fröstelte, obwohl ihr nicht wirklich kalt war, als sie sich auf das ordentlich hergerichtete Schlaflager niederließ, das eigentlich nur aus einer großen Matratze und vielen Tüchern bestand. Ja, sie verehrte die Geister und sie würde sie nicht beschämen, indem sie das Ritual verweigerte; würde sie das tun, würde sie nie eine Frau sein und war aber auch kein Mädchen mehr, dann war sie ein Nichts… ein Nichts, das es nicht würdig war, die Himmelsgeister zu befehligen.

„Du bist Schwarzmagierin. Eines Tages wirst du wie Tabari die Lehre der Schwarzmagie bekommen,“ hatte Salihah einst zu ihr gesagt, es schien ihr ewig her zu sein… „Ich sehe in dir großes Potential…“
 

Du hast eine mächtige Sehensgabe… du kannst eines Tages ebenso Geisterjäger sein wie dein Mann, Nalani… und wie dein Vater.
 

„Vater…“ wisperte sie und senkte weit den Kopf, während sie erneut erschauderte bei dem Gedanken an das Kommende. Ihr war schwindelig vor Unbehagen. „Vater, sei stolz auf deine tapfere Tochter… sie fürchtet weder Tod noch Schatten. Und dieses Mädchen, deine tapfere Tochter, wird die Blindheit ihres neuen Mannes nicht in ihren Geist dringen lassen.“

Sie hatte die Schritte nicht gehört und schrak deshalb gehörig zusammen, als die Tür plötzlich aufging und bei dem Windzug das Feuer in der Schale flackerte. Als Nalani hochsah, stand Tabari vor ihr. Er hatte sich umgezogen und jetzt war seine Haut genau wie ihre eingeölt und bemalt mit Mustern, die die Geister sanftmütig stimmen sollten. In seinen Händen war ein großer Becher aus Ton, den er ihr hinhielt.

„Die neue Frau muss das rituelle Geistergetränk trinken,“ sagte er zu ihr, und sie nahm erstaunt das seltsame Gefäß an sich. Seine Stimme klang fremd und belegt, als wäre er in einem Trancezustand und nicht richtig anwesend. Nalani erinnerte sich an Salihahs Worte… es war eine Sache des Geistes. Dazu musste er mit den Geistern sprechen und sie bitten, die neue Frau zu öffnen und zu einer richtigen Frau zu machen. Sie hob das Getränk an ihre Lippen und verzog das Gesicht. Es roch unangenehm nach Blut gemischt mit dem Saft aus gegorenen Beeren. Widerwillig trank sie von dem Gebräu und schüttelte sich darauf unwillkürlich beim grauenhaften Geschmack. Sie gab Tabari den Becher zurück und als hätte er seit Wochen kein Wasser gesehen nahm er selbst noch einen kräftigen Schluck, ehe er den Becher zu Boden stellte und sich ebenfalls schüttelte. Dafür, dass es eklig schmeckte, war er ganz schön gierig, stellte sie benommen fest, als das Getränk ihr langsam zu Kopf stieg und eine eigenartige, abartige Wärme durch ihren Körper zu fließen begann. Es war fast, als hätte das Gebräu ihr Blut erwärmt und sie rutschte keuchend vor Tabari rückwärts, weiter nach hinten auf das Schlaflager, als er sich zu ihr hockte, bis er direkt vor ihr kniete.

„Wie können die Geister einer Vereinigung zwischen uns zustimmen, wenn ich doch so ein Unglücksbringer bin?“ fragte sie ihn dumpf, und er schnaubte kurz.

„Bin ich etwa ein Geist? Ich weiß nicht, was die Geister sich dabei denken.“

„Sollst du nicht Geisterjäger werden?“ machte sie und blieb vor ihm sitzen, obwohl ihr leicht schwindelig wurde. Das Gebräu war wirklich widerlich gewesen… die Wärme im Raum schien zuzunehmen und die Luft dichter zu werden. „Dann solltest du den Willen der Geister doch verstehen… dachte ich.“

„Spotte nicht über mich, Frau,“ tadelte er sie, „Das, was zwischen uns geschehen wird, ist keine Sache zwischen dir und mir. Ich werde mich nur im Körper mit dir vereinigen, mein Geist wird so lange eine Reise machen, damit die Blutgeister durch meinen Körper deinen berühren und dich zur Frau machen können.“

„Das weiß ich,“ behauptete sie dumpf und atmete unregelmäßig ein und aus wegen der stickigen Luft, als er die Hände hob und nach dem seltsamen Hochzeitsgewand griff, das sie noch trug. Nalani war erstaunt darüber, wie einfach und schnell es zu öffnen war, wo die Dienerinnen so ewig gebraucht hatten, um es ihr anzuziehen. Jedenfalls glitt es ihr nach wenigen Handgriffen von ihm von den Schultern und an ihrem Körper hinab auf die Matratze.

Unter dem Gewand war sie nackt. Im ersten Moment war es kalt, als sie so vor ihm saß, aber die Kälte verflog, als sie ihn ansah und stutzte bei der Art, mit der er sie plötzlich anstarrte und die sie an ein Beute witterndes Raubtier erinnerte. Sie hatte ja gelehrt bekommen, dass Männer wie Tiere sein konnten, wenn es um Frauen ging, besonders bei Vereinigungen, aber es wirklich zu erleben war etwas anderes, und es jagte ihr einen Schauer über den Rücken und ließ sie leise keuchen.

Sie spürte ihren Puls rasen, vermutlich noch eine Wirkung des abscheulichen Getränks, und sie spürte seine Augen über jeden Zoll ihrer nackten Haut gleiten, die Flamme seines seltsamen, fremdartigen Blickes auf ihren kleinen Brüsten, ihren Oberschenkeln… etwas in ihm hatte sich verändert, obwohl sie es nicht benennen konnte, aber sie wusste es, sobald sie ihn ansah und sein Blick wieder hoch in ihr Gesicht fuhr.

„Ich wünschte…“ murmelte er heiser und sie erschrak über seine eigenartig belegte Stimme, die noch seltsamer klang als vorher, „Ich müsste das hier nicht tun… aber wir alle müssen uns dem Willen der Geister beugen.“ Ehe sie Zeit bekam, seine Worte zu verstehen, ergriff er plötzlich ihre Handgelenke und drückte sie nieder auf die Matratze, ehe er sich über sie beugte und ihre Lippen mit seinen verschloss.
 

Nalani bekam keine Luft. Sie rührte sich nicht, zitterte aber innerlich mit jeder Faser bei dem seltsamen, fremden und erdrückenden Gefühl des Kusses, den er ihr gab, während sie auf dem Rücken unter ihm lag. Die Laken und Kissen unter ihre waren weich, aber wie er ihre Handgelenke fest umklammerte und sie damit herunterdrückte war dennoch schmerzhaft, so dass ihr ein wimmernder Ton entrann und er sich mit einem heftigen Keuchen von ihr löste.

„Du tust mir weh…“ murmelte sie japsend und schnappte nach Luft. Auf ihrem Gesicht wurde es merkwürdig warm, obwohl sie nicht wusste, warum. Tabari ließ ihre Handgelenke los und kniete sich über sie, sah auf sie herab und schnappte auch verzweifelt nach Luft. Der Anblick des nackten Mädchens unter ihm ließ eine grauenhafte, treibende Hitze in ihm wach werden, und es wurde schlimmer, je länger er sie ansah. Er empfand nichts für diese Frau, die jetzt seine Frau war, höchstens fürchtete er sich davor, dass sie Unheil über seine Familie bringen würde. Aber der starke Alkoholgehalt des rituellen Getränkes aus Blut und gegorenem Beerensaft ließ ihn diese Angst plötzlich vergessen…

Ob sie Unheil brachte oder nicht, sie war eine Frau und er war ein Mann.

„Sprich nicht,“ befahl er ihr dumpf, „Und es wird noch mehr Schmerzen geben, gewöhn dich daran, neue Frau.“ Das war eine Ansage. Nalani atmete heftig ein und aus und ihr schwindelte erneut, obwohl sie bereits lag, als seine Hände begannen, auf sanfte und dennoch energische Weise über ihren eingeölten, nackten Körper zu streichen. Wo er sie berührte, hinterließ er seine Spur aus Feuer, als würde er mit einem seltsamen Zauber ihre Haut in Brand stecken. Man konnte es nicht sehen, aber sie spürte es deutlich, und es wurde schlimmer, als seine Finger über ihre Brüste und danach weiter hinab wanderten, über ihren bebenden Bauch hin zu ihren Hüften. Sie sah ihm flackernd ins Gesicht in dem Moment, als er auch den Kopf hob, und ihre Blicke trafen sich.

Tabari erschauderte bei dem Blick in ihren Augen, beim unregelmäßigen, nervösen Zittern ihres nackten Körpers unter sich, dessen bloßer Anblick ihn erregte und das Feuer in seinem Unterkörper schürte. In seinem Kopf pochte es. Verdammt, er hatte einfach zu viel von dem Beerensaft geschluckt, er würde morgen grausame Kopfschmerzen haben, das wusste er schon jetzt. Aber wie sonst hätte er seinen Körper unterwerfen können, um das Schattenmädchen zu wollen wie eine Frau – wie seine Frau, die sie jetzt war?

Es war nicht sein erstes Mal, er hatte natürlich auch ein Blutritual gehabt während der einjährigen Reise durch das Land, mit einer Frau, deren Namen er nicht kannte, die sein Vater dafür auserkoren hatte, ihn zum Mann zu machen. Es war keineswegs unangenehm gewesen, aber das hier war anders. Was, wenn er nicht gut genug dafür war, die Blutgeister zu ihr zu bringen? Würden sie ihr dann die Ehre verwehren, eine Frau zu werden? Vielleicht würde sie nie Kinder bekommen… das würde seinen Vater äußerst erzürnen…

Er konnte nicht länger über all den nützlichen Kram oder die Zukunft nachdenken, als er wieder hinunter sah auf Nalani, sie heftig atmete, wobei sich ihr Brustkorb hob und senkte und er mit den Augen wachsam das Zittern ihrer Brüste verfolgte. Es musste geschehen, und er musste es tun. Es war der Wille der Geister.

Das Pochen in seinem Kopf und das entsetzte Lufteinziehen des Mädchens unter sich ignorierend schob er die Hand zwischen ihre Schenkel, um das weiche, heiße Fleisch seiner Frau zum ersten Mal zu berühren. Sie lehnte den Kopf zurück und stöhnte auf, während auch er kurz erzitterte, als die Anspannung mit der Erregung wuchs. Unter ihm lag nicht das bockige, Unheil bringende Kind, das vor Jahren zu ihnen gekommen war, das seinen Vater einen Mörder schimpfte… Nalani war kein Kind mehr. Sie war eine Frau mit dem Körper einer Frau, und egal, wie sehr sie sich sträuben mochte, ihr Körper entriss sich genauso ihrer Kontrolle wie sein eigener.

„Shh… schrei nicht, Nalani… es ist ein Zauber,“ murmelte Tabari und fuhr mit den Augen jede Kurve ihres glänzenden Körpers nach, „Es ist ein Zauber der Geister, der dich zur Frau machen wird.“

„Ich fürchte mich… vor den Geistern…“ keuchte sie atemlos und starrte benebelt zu ihm hinauf, als seine freie Hand über ihre Hüften zu ihrem Oberschenkel rutschte und ihn sanft etwas nach oben zog, damit sie die Beine weiter spreizte. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte. Abscheu, weil sie ihn nicht mochte…? Oder viel mehr, weil ihr eigener Körper ihr nicht mehr gehorchte und reagierte auf die Berührungen, die so seltsam waren. Die Geister herrschten über sie, sie waren mit dem Getränk in ihren Körper eingedrungen und beherrschten ihren Körper, zwangen sie, sich willig zu fügen. Sie keuchte leise und spürte die Hitze im Raum so dicht werden, dass sie glaubte, sie demnächst greifen zu können… bis zu dem Moment, wo er von ihrem Fleisch abließ und sich leicht erhob. Sie sah in verzweifelter Sehnsucht und gleichzeitiger Abneigung gegen ihren eigenen Körper und seinen Ungehorsam in Tabaris Gesicht. Sein Blick war so fern und so eigenartig, das war nicht Tabari, der über ihr lag… es war eine Hülle der Geister, und die Blutgeister starrten aus Tabaris grünen Augen auf die junge Frau herab, während er an seinem eigenen Gewand zu nesteln begann.

„Du sollst dich nicht fürchten,“ sagte er, „Du bist ein Mensch des Geistes, ein Schamane. Ein Schamane, der die Geister fürchtet, wäre ja erbärmlich…“ Dann löste er seine Kleidung, sodass sie an seinem auch eingeölten Körper hinab rutschte auf das Lager, und er nahm sie und warf sie zur Seite, damit sie nicht länger im Weg war. Dann beugte er sich wieder über die Frau, und Nalani erschauderte.

Wenn sie auch als Kind mal ihren Vater beim Baden nackt gesehen hatte, war dieser nackte Mann vor ihr doch etwas anderes. Unwillkürlich zog sie die Luft ein und versuchte, ihren Blick von ihm loszureißen. Er half ihr in dem Moment dabei, indem er mit dem Finger ihr Kinn hochzog und sie somit zwang, ihm ins Gesicht zu sehen, während er sich zwischen ihre Schenkel legte und sie keuchen hörte.

„D-die Geister…“ stammelte sie langsam und sah in seine Augen, die nicht wirklich seine zu sein schienen. Es waren Geisteraugen, Augen des Zaubers, der sie berühren würde. Zitternd hob sie in einer instinktiven Abwehrreaktion die Hände und drückte sie sanft gegen Tabaris Brust. Sie zuckte zusammen und stöhnte, als sie die Hitze seines Mannknochens zwischen ihren Beinen spüren konnte und wie ihr Körper bei der bloßen Berührung in Flammen aufzugehen schien. Als sie schrie, verschloss er abermals ihren Mund mit seinen Lippen und küsste sie heftig.

„Nein!“ stöhnte er ebenfalls und erschauderte, als er sie wieder ansah, „Schrei nicht… füge dich dem Willen der Blutgeister, neue Frau.“ Sie keuchte nur entsetzt, während er die Hitze seiner eigenen Erregung kaum noch zu bändigen vermochte, als er sich über ihr bewegte und ihr dann den ersten Schmerz brachte, als er langsam in sie eindrang. Nalani stieß ein kurzes, aber dennoch lautes Schreien aus und erstarrte, und er keuchte ebenfalls beim Gefühl ihres weichen Fleisches.

Nalani spürte den Schmerz nicht lange. Um sie herum war nur Hitze, die sie verschlang, und in ihr der Zauber der Geister, der sie berührte, der ihren Körper verbrennen wollte so lange, bis sie wieder schrie und Tabari sie abermals küsste. Als wäre er ein Fels mitten im Meer umklammerte sie plötzlich heftig seinen Nacken und zerrte ihn stöhnend an sich heran, da einzig Menschliche, das sie im Moment finden konnte, umgeben von Geistern, Feuer und der Hitze, die ihren Körper einnahm und sie sich keuchend gegen die Quelle des Feuers bewegen ließ, als würde sie sterben, täte sie es nicht. Sie verfluchte die Geister, sie verfluchte alle Mächte der Schöpfung, die ihren Körper zu Ungehorsam angeleitet hatten, die ihr Fleisch so willig machten und ihrer Seele nicht erlaubten, sich gänzlich zu fügen… sie durfte sich nicht fügen… sie war eine Tochter der Geister, sie würde sie beherrschen und sie zwingen, es enden zu lassen… aber je länger sie daran dachte, je größer die Hitze wurde, desto weniger schändlich erschien es ihr, wie sie sich fügte… sie spürte Tabaris Hitze über sich, in sich, und sie hörte, wie er heftig keuchte, als sie ihn wieder herunter zerrte und ihre Brüste seinen nackten Oberkörper berührten. Dann spürte sie, wie er über ihr erstarrte und sie heftig atmend ansah, ehe er sich mit einem letzten, heftigen Stoß in ihr ergoss. Sie keuchte und klammerte sich zitternd an seinen Oberkörper, bis er sich aus ihr zurückzog und sich keuchend neben ihr auf das Lager fallen ließ. Sie war noch benommen nach der Vereinigung und spürte noch immer die Hitze zwischen ihren Schenkeln, als sie jetzt zitternd die Beine anzog und eines der Laken über sich warf, um sich zuzudecken. Dann umfing sie eine lange Dunkelheit aus Wärme und einem eigenartigen kribbeln, und das erste, das sie nach langer Zeit in völliger Stille wieder spürte, waren Kopfschmerzen.
 

Der Hungermond brachte viel Regen. Obwohl Tabari ein so begabter Jäger war, gab es wenig Wild und die Vorräte wurden knapp. Kelar Lyra war verärgert.

„Um jeden kleinsten Scheiß muss man sich selber kümmern!“ schnappte er fuchsteufelswild an einem Tag, als sein Sohn abermals mit quasi leeren Händen nach Hause kam. Quasi hieß, er hatte ein kleines Kaninchen auftreiben können. Sein Vater warf die Beute achtlos auf den Fußboden. „Bah! Frauenfleisch!“ spuckte er, und Tabari seufzte.

„Es tut mir leid Vater, aber es ist einfach nichts da, nicht mal ein Aas ist irgendwo! Die Wildherden sind über den Winter weggezogen, sie werden erst im Frühjahr wiederkommen.“

„Bah!“ machte sein Vater abermals. Salihah, die aus der Stube kam, runzelte die Stirn bei der Szene.

„Tabari hat recht, sie werden mit dem Frühlingsmond zurückkommen, Kelar. Und wirf nicht Mutter Erdes Gaben so achtlos auf die Erde! Wir müssen ihr danken dafür, dass sie uns wenigstens Frauenfleisch, wie du es nennst, gewährt! Wir lassen es uns hier ziemlich gut gehen, ich glaube kaum, dass wir das eigentlich verdienen, dieses Kaninchen!“

„Schweig still!“ fuhr ihr Mann sie an, „Dieses Kleinvieh ist Dreck, da ist ja nichts dran! Und es entehrt jeden Mann, Frauenfleisch zu essen, das solltest du wissen!“ Seine Frau hob seufzend das tote Kaninchen auf und klopfte den Dreck vom blutverschmierten Fell, bevor sie es ordentlich glatt strich, als wäre es ein Hut.

„Dann werden Nalani und ich es uns eben teilen, wenn ihr euch dafür zu fein seid, und ihr kriegt solange vergammeltes Obst aus dem Keller,“ war ihre Antwort, dann kehrte sie ihm den Rücken und ging in die Küche. Tabari seufzte resigniert und versuchte, seinen Vater gnädig zu stimmen.

„Sei nicht wütend, das Wild wird zurückkehren.“

„Nein, du gibst dir nicht genug Mühe!“ schnaubte er, „Daran liegt es! Und deine Frau ist immer noch nicht schwanger! Wenn du mir beweisen willst, dass du der Ehre, die ich dir zuteil werden lasse, würdig bist, schwängere endlich diese verfluchte Wachtel und bring was Ordentliches von der Jagd mit!“

„Vater, wir sind erst seit fast einem Mond verheiratet, so schnell geht das eben nicht!“ meinte Tabari ratlos und wich vor dem wütenden Vater zurück, als der plötzlich nach ihm schlug.

„Rechtfertige dich nicht, du gibst dir nicht genug Mühe! Du hast doch ein Ritual bekommen, dir wurde doch beigebracht, wie man eine Frau nimmt, oder nicht?! Dann tu es, verflucht!“ Tabari errötete verlegen, weil sein Vater so laut über so intime Themen im Schloss herumbrüllte, dass es jeder gehört haben musste, und er räusperte sich und neigte gehorsam den Kopf.

„E-es tut mir leid, Vater. Ich werde mir nächstes Mal mehr Mühe geben… sowohl beim Jagen, als auch bei meiner Frau.“

„Das rate ich dir, ich habe üble Laune!“ Kelar Lyra sah seinem Sohn mürrisch nach, als der machte, dass er weg kam, dann stampfte er zu Salihah in die Küche.
 

Das Küchenmädchen nahm gerade das Kaninchen aus, während Salihah am Tisch stand, in ihrer Hand ein Messingteller, auf dem vier verschrumpelte Trauben lagen. An einer fünften lutschte sie gerade, spuckte sie dann aber wieder auf den Teller und hüstelte gekünstelt, als ihr Mann zu ihr kam.

„Die Trauben sind längst schlecht,“ verkündete sie, „Wieso stehen die hier und niemand isst sie?“

„Woher soll ich das wissen?!“ fauchte er sie an, „Die Vorratskammern sind beinahe leer! Tabari ist ein Nichtsnutz, verdammt!“

„Das liegt nicht an Tabari, es ist Hungermond, der verdient seinen Namen,“ meinte die Frau, „Im ganzen Land jammern und hungern die Leute. Das Volk von Vikhara wendet sich schon an uns, wir als Verwalter müssen dafür sorgen, dass alle einigermaßen durch den Winter kommen.“

„Hast du dann etwa den blöden Bauern unser gepökeltes Fleisch gegeben?!“ schnaubte Kelar, „Das würdest nicht mal du wagen, du bist eine verwöhnte Nutte!“ Das Küchenmädchen stieß ein erschrockenes Piepsen aus bei dem Schimpfwort, und Salihah drehte den Kopf zu ihr hin.

„Lass uns bitte einen Moment allein,“ bat sie höflich, und mit rotem Kopf verschwand das Küchenmädchen. „Nein, Kelar, ich habe niemandem unsere Vorräte gegeben, das haben wir selbst aufgegessen! Bei der Hochzeit im Wintermond ist viel draufgegangen für das Festgelage, dass du hier veranstaltet hast zu Ehren der Blutgeister, während Tabari Nalani oben zur Frau gemacht hat…“

„Jetzt bin ich noch Schuld! Und sie ist eine unfruchtbare Frau, sie hat kein Kind in ihrem Bauch!“

„Sie wird noch eins bekommen, sei nicht so ungeduldig! Kümmere dich um das Wohlergehen der Menschen, das ist unsere Pflicht. Du bist doch so gerne ein großer Herrscher, ein guter Herrscher lässt sein Volk nicht verhungern!“ Kelar brummte verärgert.

„Halt mir nicht schon wieder deine grausamen Moralpredigten, Salihah! Was scheren mich die Menschen, das ist ja nicht mein Verdienst, sondern der des Senats, dass hier keine Ordnung herrscht! Ich werde den Senat bald kontrollieren und auflösen, das schwöre ich dir… wenn es erst mal keinen Senat in Yiara mehr gibt, wird das Land blühen und es wird keine fleischlosen Winter mehr geben! Die Menschen werden mir zu Füßen liegen, weil ich als Herr der Geister den Seelen der Tiere befehlen werde, sie werden nach meinem Willen kommen und gehen…“ Er stellte sich hinter sie und sie verengte die Augen zu Schlitzen, als er sich gegen sie nach vorn lehnte und sie seine Stimme neben ihrem Ohr hören konnte. „Es wird ein glorreiches Zeitalter sein, Weib, und du wirst mir dankbar sein für alles, was ich getan habe und tue.“ Sie keuchte, als seine Hände nach vorn auf ihren Bauch fassten und über ihrem Samtkleid hinauf zu ihren Brüsten fuhren, die er energisch ergriff und drückte.

„Nicht in der Küche,“ murmelte sie, „Hier wollen noch Menschen Essen zubereiten…“

„Du hast mich betrogen, Salihah… viele Male, habe ich recht? Und ich meine nicht nur körperlich…“ Sie rührte sich nicht, als er bedrohlich leise weitersprach. „Du verrätst mich die ganze Zeit, dein Blick sagt es mir, deine Haltung sagt es mir… du undankbare, schmutze Hure… ich weiß, dass du hinter meinem Rücken mit den Geisterjägern Räte abhältst und sie gegen mich aufstachelst… oder du von ihnen gegen mich aufgestachelt wirst… aber weißt du was…? Egal, was du mir angetan hast, ich werde dich verschonen… ich vergebe dir, Salihah, wenn du dich mir vom heutigen Tage an beugst und dich… vor mir auf die Knie wirfst und um Vergebung bettelst, dann werde ich sie dir geben! Sag, meine Teure, meine wunderschöne, kalte Salihah… bin ich nicht barmherzig?“

Sie erschauderte bei seinen grausamen Worten, die so viel Gift enthielten wie nicht alle seine Gräueltaten zusammen es je getan hatten. Tief in ihrem Inneren spürte sie das Gift wirken und ihr wehtun… sie schnappte unwillkürlich nach Luft und reckte den Kopf in die Höhe, als er ihre Brüste losließ, aber hinter ihr blieb, und sie bebte. Dann drehte sie sich langsam zu ihm um und richtete sich zu voller Größe auf, ehe sie ihn ansah mit dem Stolz einer gefangenen Königin, deren Mann vom Feind getötet und deren Kinder ihr weggenommen worden waren.

„Niemals werde ich deine Sklavin sein, Kelar Lyra,“ sprach sie kühl und voller Verachtung, „Dann… wirst du mir nicht vergeben.“
 

Er trat zurück und lächelte grausam, ehe er sie diabolisch ansah.

„Ah… auch gut. Du hast… dich entschieden. Und du wirst es bereuen, nicht gebettelt zu haben… meine Barmherzigkeit kennt Grenzen. Du wirst es bitter bezahlen und ebenso all deine verräterischen Freunde unter meinen ehemaligen Kollegen…“ Er trat zur Tür und Salihah erstarrte, als er erneut den Kopf drehte und jetzt ohne die gespielte Freundlichkeit unverblümt fortfuhr.

„Ist sich Zoras Chimalis nie gedemütigt vorgekommen, wenn er zwischen deinen Schenkeln lag, weil du inzwischen so glatt und weit wie ein Lederbeutel bist… du sadistische, unersättliche Schlampe?“

Das war alles, was er sagte, dann ging er und ließ sie zurück in der Küche mit vor Scham und Demut flammendem Gesicht, das sie heftig keuchend in ihren Händen verbarg, als das Küchenmädchen hereinkam und sie besorgt fragte, was los wäre.
 


 


 

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muaaaahahaha ist Kelar nicht ein vulgärer Mistarsch? XDD boah ist er scheiße im Kopf XDD lol^^ und wow, wie die zeit vergeht o.o

Schwindende Sonne

Das Wetter im Winter war düster, ebenso wie die Stimmung im Anwesen der Lyras. Der einzige, der bis dahin gute Laune gehabt hatte, war Kiuk, und der traute sich jetzt auch nicht mehr, etwas zu sagen.

Seine Eltern schwiegen sich eisern an und warfen sich tötende Blicke zu, Kelar mehr als Salihah. Aber auch in seiner Mutter war etwas passiert, sie war so kalt und unnahbar, dass er das Gefühl hatte, einen kalten Hauch zu spüren, wenn er ihr zu nahe kam. Tabari war genervt, weil er erfolglos beim Jagen und bei seiner Frau war, und Nalani war mit ihrem kompletten Leben unzufrieden und völlig verbiestert, weil sie jetzt Tabari Frau war und damit direkt unter seinem Befehl stand, wenn man so wollte. Nicht, dass sie auf ihn hören würde.

Und Nalani war es, die sich als erste mit Kiuk zusammensetzte, da es kein anderer tat. Die Eltern waren sehr viel unterwegs in der Zeit, wo genau wusste niemand, weil weder Kelar noch Salihah noch sagte, wohin es gehen sollte; vermutlich ging es um die Politik, um das Land, die Geisterjäger oder sonst so etwas. Wobei Tabari sich vernachlässigt und hintergangen fühlte, weil sein Vater sonst immer mit ihm darüber gesprochen hatte, was das Land anbetraf.
 

„Es ist, als wäre ein bösartiger Geist im Schloss und ergreife Besitz von allen hier,“ beschwerte Kiuk sich bei seiner Schwägerin, als sie eines Tages zu ihm kam, während er verdrossen in der Stube saß und sich selbst einen halb verfaulten Apfel in Stücke schnitt, den er im Keller gefunden hatte. Es wurde Zeit, dass der Frühling kam. „Sie sind kalt und tot in ihrem Inneren,“ fuhr der Junge fort, „Na, bei Vater und Tabari war ich das ja schon beinahe gewohnt, aber was ist mit Mutter? Sie redet nicht mal mehr mit mir, dabei habe ich ihr gar nichts getan.“

„Ich glaube nicht, dass es an dir liegt,“ meinte Nalani, „Ich spüre es genauso, dieser Argwohn hier. Ich glaube, es liegt daran, dass deine Eltern sich momentan offenbar sehr streiten. Sie sind nicht so, wie ein Paar zueinander sein sollte… also, das waren sie noch nie, solange ich sie kenne, aber jetzt wird es noch schlimmer.“

„So, wie du und Tabari auch kein Paar seid, wie es sein sollte?“ fragte er verdrossen und steckte sich widerwillig ein Stück Apfel in den Mund. Er konnte das inzwischen ganz gut… an etwas Leckeres denken, etwas Gutes, und ignorieren, dass man verfaultes, widerliches Zeug aß. Da er von seinem Vater, der das Essen verteilte, ja immer benachteiligt worden war, war er auch gewohnt, immer der Erste zu sein, der den Müll essen musste. Nalani ging es da vermutlich nur deshalb besser, weil sein Vater hoffte, dass sie bald schwanger und seinen tollen Erben gebären würde.

Die schwarzhaarige junge Frau senkte seufzend den Kopf.

„Sprich nie mehr davon,“ warnte sie ihn dumpf, „Das, was zwischen ihm und mir ist, sollte verboten werden, es sollte niemand darüber sprechen. Die Geister sind zornig und unruhig, ich höre sie in der Nacht oft in meinen Träumen zu mir flüstern. Das Land ist im Wandel… und nicht nur das Land, die ganze Welt.“ Kiuk sah sie groß an.

„Du träumst richtige Visionen?“ fragte er sie, „Die Geister sprechen richtig mit dir? Es wird Zeit, dass du auch eine Lehre der oberen Magie bekommst, wie Tabari… du bist schließlich auch Schwarzmagierin.“

Sie blinzelte überrascht.

„Ja… was ist mit dir? Haben Telepathen keine solche Lehre?“

„Die geht anders als bei Schwarzmagiern,“ sagte der Junge, „Meine Mutter wollte mich unterweisen. Sie hat im Herbst gesagt, nach Neujahr fangen wir an, aber jetzt ist sie so kalt und unbarmherzig, dass ich mich nicht traue, sie danach zu fragen…“ Seine Schwägerin erhob sich.

„Dann gehe ich mit dir zusammen zu ihr, wenn sie zurück kommt. Einverstanden, Kiuk?“ Er errötete und sah verlegen auf seinen halben, gammligen Apfel.

„Du bist so lieb… ich bin so ein Dummkopf, ich traue mich nicht, zu meiner eigenen Mutter zu gehen, wie peinlich… und mit einer Frau an meiner Seite fühle ich mich stärker? Na, wenn das mein Vater hört, kriege ich aber Dresche.“

„Du bist kein Dummkopf,“ lächelte sie ihn wohlwollend an, „Und auch nicht peinlich. Du bist der einzige hier, der eine Seele hat, habe ich das Gefühl.“
 

„Was ist denn hier los?“ fragte der kleine Meoran Chimalis verwirrt, der um die Ecke in den Salon des Anwesens lugte, hinter ihm hüpfte seine blonde Cousine Enola im Gang auf und ab und zählte dabei, so weit sie konnte – sie war gerade bei fünfhundertsiebenunddreißig. Im Salon standen sein Vater, seine Mutter und sein Onkel Zoras und auf einem Hocker saß die Frau des Herrn der Geister und trank aus einem Glas irgendein merkwürdiges Zeug, das sicher ein Erwachsenengetränk war.

„Geht spielen!“ mahnte Meorans Mutter den elfjährigen Jungen und seine Cousine. „Wir haben zu tun, Meoran, bitte.“

„Fünfhundertachtunddreißig… fünfhundertneununddreißig…“ johlte Enola im Gang und hopste weiter. Meoran ignorierte das Augenrollen seiner genervten Mutter, weil die Männer viel interessanter waren.

„Du solltest umgehend die beiden anderen benachrichtigen, langsam läuft das aus dem Ruder, Nomboh,“ sagte sein Onkel gerade, und er klang angespannt. „Wer weiß, wo Kelar jetzt wieder hin ist und wer als nächstes dran glauben muss.“

„Noch nicht…“ stöhnte Salihah im Hintergrund und sah mit eigenartig flammendem Blick zu den Männern und der Frau empor. Sie griff die Flasche auf dem Tisch und goss sich ein weiteres Glas mit der seltsamen Flüssigkeit voll. „Er wird nichts anstellen… ich habe… nichts gesehen. Ich wollte nur weg, ich will euch gar nicht weiter stören. Bitte… lasst mich nur einen Moment bei euch ausruhen, ich muss nachher ja doch wieder heim. Zu meinen Kindern.“

„Du liebe Güte,“ murmelte Keisha ihrem Mann Nomboh beunruhigt zu, „Welche Dämonen besitzen sie, sich dermaßen zu betrinken? So habe ich die Gute ja noch nie erlebt.“

„Shh, geh mit den Kindern runter,“ bat Nomboh sie dumpf und sah zu seinem vorwitzigen Sohn, „Ich sehe dich ganz genau, Meoran, und dass du Dinge siehst und hörst, die nicht für deine Augen und Ohren bestimmt sind!“

„Was habe ich euch gesagt? Und Enola, hör auf, zu zählen, du machst mich noch verrückt! Wo ist deine Mutter, warum erzieht sie dich nicht?“ So murrend schob Keisha ihren Sohn aus dem Raum und ging mit den Kindern die Treppe hinunter, während Nomboh die Salontür zuschob.

„Was ist denn nun mit Kelar?“ wollte Zoras Chimalis wissen, der sich vor Salihah auf den Boden hockte, „Wo ist er hin?“

„Das weiß der Geier!“ fluchte sie zornig, „Langsam bin ich seiner überdrüssig! Er schimpft und flucht und will Macht, Macht, Macht! Er betrügt und hintergeht mich, demütigt und beschämt mich auf das allerniederste Niveau, irgendwann zerbricht daran selbst mein Geist!“

„Das tut mir so leid,“ war alles, was Nomboh unbeholfen dazu einfiel, „Sag, wie können wir dir helfen, Salihah?“

„Ach,“ klagte sie, trank ihr Glas aus und zitterte plötzlich am ganzen Köper, „Ach, ich garstige, grausame Frau habe es vielleicht verdient! Ich wollte nur einmal mit jemandem darüber sprechen, das ist alles. Ich kann doch nicht vor meinen Söhnen und meiner Schwiegertochter jammern, wie arm ich altes Mütterchen doch dran bin, weil mein Mann mich eine Hure nennt und sich hinter meinem Rücken fröhlich das Bett mit einer anderen teilt… ach, ich will einfach nur trinken und danach schweigen!“ Damit griff sie zur Flasche, aber Zoras zog sie ihr behutsam aus der Hand und stellte sie weg.

„Du hast erst mal genug getrunken,“ seufzte er, „Das Zeug ätzt dir den Magen weg, wenn du davon zu viel trinkst, das ist nicht gesund. Du bist ja schon völlig dusselig.“ Sie schwankte tatsächlich, obwohl sie saß, und sah ihn schnaubend an.

„Er ist ein Idiot!“ rief sie dann, „Er denkt wohl, ich würde nichts sehen! Ich wäre blind, meint er, ach! Und mich nennt er Hure!“

„Liebe Zeit, Salihah, du weißt, dass du keine bist, ich weiß es, wir alle wissen es,“ versuchte Zoras sie zu beruhigen, „Gräm dich doch nicht so. Was immer er demütigendes zu dir gesagt haben mag, es war sicher unrecht und ich verstehe deinen Zorn. Aber lass… uns das angehen wie erwachsene Menschen. Wir müssen versuchen, ihn zu stoppen, wenn er wirklich vorhat, den Senat zu übernehmen und aufzulösen, das darf auf keinen Fall passieren. – Nomboh, hole bitte endlich Minar und Hakopa hierher, ich will, dass alle versammelt sind und sich beraten!“

„Ist gut,“ sagte der jüngere Bruder, „Kommt ihr beide allein klar?“ Zoras Chimalis zögerte kurz. Dann nickte er und sah wieder zu der schwankenden Frau vor sich, die plötzlich zu summen begonnen hatte, als wäre sie gerade verrückt geworden.

„Ich… ja, ich glaube schon. Lass uns allein und schick niemanden hoch, bis die anderen beiden hier sind.“

Nomboh ging und schloss die Tür hinter sich wieder.
 

Salihah hörte auf zu summen und fing aus heiterem Himmel an zu weinen.

„Ich will das nicht mehr!“ schluchzte sie aufgelöst, „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch kann, ich bin am Ende meiner Kräfte und meines Verstandes… es ist, als würde sein Wahnsinn auf mich übergehen, als würden die bösen Geister, die ihn verfluchen, nun auch mich packen! Ich habe so grauenhafte Kopfschmerzen gehabt in den letzten Tagen, dass ich glaubte, Vater Himmel wolle mich bestrafen für irgendetwas Schlimmes, das ich getan habe…“

„Du hast nichts Schlimmes getan,“ sagte er ruhig und legte nach einer Weile die Hände sanft auf ihre Schultern, „Sieh mich an, Salihahchen.“ Sie tat es und eine Träne rann über ihre Wange. Er seufzte. „Du hast nichts Schlimmes getan… du kämpfst gegen seinen Dämon an und zähmst ihn seit Jahren, du bist die einzige, die das je konnte, auf die er je gehört hat. Du hast Dokahsan, unser Land, vor Schlimmerem bewahrt, wärst du nicht gewesen, wäre der Senat vielleicht längst Geschichte.“

„Ich hätte ihn töten sollen…“ keuchte sie, und er starrte sie an, als ihre Augen seltsam glasig wurden. Der Alkohol machte sie verrückt, er fragte sich, ob das, was sie redete, überhaupt sinnvoll war. „Ich hätte ihn töten sollen, als ich geahnt habe, dass der Dämon des Wahnsinns ihn greifen würde, bevor es zu spät war… aber ich hänge an ihm, mein Geist hängt an ihm… liebt ihn immer noch, obwohl ich mich dafür… so sehr hasse, ihn noch zu lieben… den Menschen in ihm, der immer mehr stirbt… und während er stirbt, stirbt auch ein Teil von mir… ich hätte nicht egoistisch sein dürfen, ich hätte ihn töten sollen, dann wäre alles gut! Und jetzt ist es zu spät, meine Macht schwindet, mein Einfluss ist dahin…“

„Du hättest ihn nicht töten können,“ machte der Geisterjäger, „Und natürlich liebst du ihn, er ist dein Mann.“ Sie schwankte und kippte nach vorne in seine Arme, er fing sie auf und hielt sie fest, als sie ihr Gesicht stöhnend in seiner Schulter vergrub.

„Ich bin eine scheußliche Frau!“ wimmerte sie, „Ich bin garstig und bösartig! Ich habe mit dir geschlafen… ich habe so oft mit dir geschlafen, und verdammt, es war so gut, es war so angenehm, ich habe es keinen Moment bereut, ich habe es verdammt noch mal genossen, wenn du mich geliebt hast, ja! Liebe Güte, i-ich bin eine Nymphomanin!“

„Du bist noch lange keine Nymphomanin, wenn du Spaß an Sex hast,“ murmelte er leise, zog sie sanft von ihrem Hocker in seine Arme und hielt sie weiterhin fest, jetzt mit ihr am Boden sitzend.

„Doch, weil ich nur deswegen gekommen bin, weil Kelar mir damals den Rücken kehrte und ich es einfach nur nötig hatte! Ich bin abscheulich.“

„Alle Menschen haben Bedürfnisse, Salihah… du bist nicht abscheulich. Hör auf damit, du tust dir nur weh.“

„Ich habe meinen Mann betrogen und du sagst, es wäre nicht abscheulich? Na, du hattest deine Frau damals ja noch nicht…“

„Kelar ist schwierig, und außerdem ist er nicht besser, er hat dich doch auch betrogen, denke ich.“

„Ich hasse ihn…“ stöhnte sie und klammerte sich verzweifelt an seinen Oberkörper, „Ich hasse ihn und mich selbst und den Himmel und die Erde! Ich hasse die Geister, weil sie mir diese scheußliche Gabe gegeben haben, alles zu sehen, alles zu wissen! Ich wollte, ich wäre blind und dumm und hätte das alles nie erfahren, dann könnte ich sagen, ich wusste es nicht, es ist nicht meine Schuld… aber ich wusste es… ich wusste, er würde wahnsinnig werden, ich wusste, er würde Kandayas töten, den Senat auflösen wollen, und ich hätte etwas tun sollen… ich hätte etwas tun sollen, aber ich war zu stolz und wollte den Funken seiner Seele in mir verschließen, ihn behalten wie ein… ein egoistisches Kind, das seinen angelutschten Bonbon nicht hergeben mag! Bah!“

„Zürne nicht den Geistern oder Himmel und Erde, Salihah,“ machte er ruhig und strich ihr zärtlich durch die schwarzen Haare, „Du sagst so viel Schlechtes, als wärst du der Tod bringende Seelenfänger oder etwas Schlimmeres. Ich war auch egoistisch, ich habe dich gewollt, obwohl ich wusste, dass du verheiratet bist und ich dich nicht begehren dürfte. Ich hätte dich zurückweisen sollen, habe es aber nicht. Also sind wir wenigstens beide abscheulich.“

„Ich will nicht mehr, ich will, dass es aufhört!“ Sie fing wieder zu weinen an und drückte sich keuchend gegen ihn, „Ich will sterben! Töte mich, Zoras… von deiner Hand wäre es mir eine Ehre… du wärst ein weit besserer Herr der Geister gewesen als Kelar.“

„Die Geister haben es aber anders entschieden,“ meinte er, „Sie haben ihn nun mal zum Führer gemacht und nicht mich.“

„Die Geister sind launisch und grausam!“ schrie sie und riss den Kopf verzweifelt hoch, „Und ich verfluche sie für alles, was sie uns Menschen antun auf dieser-…!“

Sie kam nicht weiter, weil er mit einer Hand ihr Gesicht hochzerrte und sie heftig küsste.
 

Sie erstarrte und riss die blauen Augen weit auf, als sie seine Lippen auf ihren spürte und wie er sanft, aber energisch mit der Zunge in ihren Mund drang. Wie lange hatte sie das nicht gespürt? Viele Jahre lang nicht… sehr lange nicht… und es fühlte sich immer noch gut an… obwohl es unrecht war.

Er löste sich von ihr und räusperte sich, während sie noch wie erstarrt da hockte.

„Verzeih mir,“ murmelte er verlegen, „Das hätte nicht geschehen dürfen, Salihah. Vergib mir, Seherin.“

Sie löste ihre Starre und sah ihn sanft an, als er das Gesicht wieder hob, und sie erschauderte.

„Nenn mich nicht Seherin…“ wisperte sie, „Bitte nicht jetzt.“ Dann packte sie den Kragen seines Hemdes, zog ihn zu sich heran und küsste ihn noch einmal. Sie intensivierten ihren Kuss schnell und sie begann flüchtig mit den Händen über seine Brust und seine Seiten zu streichen, am ganzen Leibe zitternd, bis sie spürte, wie er ebenfalls die Hände hob und ihre Taille umschlang, sie dichter an sich heran ziehend. Leise stöhnend löste sie sich aus dem Kuss und sah mit flammendem Gesicht auf ihren Schoß. „Jetzt bin ich wirklich eine Hure…“ seufzte sie, „Kaum beschämt mein Mann mich, werfe ich mich in die Arme eines anderen.“

„Und ich küsse fremd, Tehya wird mich vermöbeln,“ sagte er kleinlaut, und Salihah runzelte die Stirn.

„Sowas tut sie? Sie ist doch so nett und brav?“

„Oh, der Eindruck täuscht, stille Wasser sind tief… was glaubst du denn, nachdem ich gerade dich so begehrt habe, dass ich eine brave Maus heirate?“ Sie sagte nichts, musste aber jetzt etwas besserer Dinge leicht lächeln.

„Ach, so ist das…“ Er seufzte auch und strich ihr abermals über die schwarzen Haare, ehe er ihr noch einen sanften Kuss auf den Mundwinkel gab, der sie kurz zucken ließ.

„Aber lass mich dir eines sagen, Salihahchen… was immer zwischen uns geschehen ist… ich bereue keinen einzigen Moment.“
 

Zoras und der Rest des Chimalis-Clans hielten es für besser, die geräderte Frau in ihrem angetrunkenen Zustand über Nacht in Tuhuli zu behalten. Nomboh musste Tabari eine Feder schicken mit der Botschaft, seine Mutter käme erst am nächsten Morgen zurück. Tabari fühlte sich extrem veräppelt.

„Wieso macht hier eigentlich jeder, was er will?!“ schimpfte er mit seiner Frau und seinem Bruder, die er unten in der Stube gefunden hatte, was ihm übrigens auch nicht gepasst hatte – was wollte seine Frau eigentlich dauernd bei Kiuk? „Vater ist ständig weg, Mutter übernachtet auch noch in Tuhuli, u-und was sollen wir hier machen?!“

„Das gleiche wie jeden Tag,“ machte Nalani kühl, „Uns alle gegenseitig angiften und streiten. Hast du etwas anderes erwartet?“ Ihre gnadenlose Antwort riss ihn aus dem Konzept und er starrte sie eine Weile völlig belämmert an, ehe er sich maulend umdrehte und die Stube wieder verließ.

Kiuk seufzte.

„Spielen wir ´ne Partie Schach?“
 

Als Salihah am nächsten Tag zurück zum Anwesen kehrte, wurde sie von ihrem jüngeren Sohn und ihrer Schwiegertochter sehr pietätvoll am Tor empfangen.

„Ich habe gewusst, du würdest bald kommen, deswegen sind wir schon mal hinaus gegangen,“ erklärte Kiuk, als sie fragte, warum sie so eifrig auf ihre Ankunft gewartet haben mochten. Sie ging hinein und die beiden folgten ihr wie ein Schatten. Kelar war nicht daheim und von Tabari war auch keine Spur. In der Halle fegte ein Dienstmädchen den Boden.

„Mutter…“ begann Kiuk dann kleinlaut, als Nalani ihn aufmunternd anstieß, „Ähm… i-ist alles in Ordnung mit dir? Ich… wir… ähm, wir haben uns Sorgen gemacht in letzter Zeit.“

„Tatsache?“ fragte seine Mutter und drehte sich verblüfft zu ihm und Nalani um. Er senkte beschämt den Kopf und Nalani rührte sich nicht. „Das… wäre doch gar nicht nötig gewesen, Kiuk. Ich danke dir dennoch… euch beiden, dass ihr euch sorgt. Mir geht es gut, keine Angst. Ich bin nur beschäftigt.“

„Wir wollten noch etwas fragen,“ warf Nalani ein, „Was ist mit der Magielehre für Kiuk? Er sagt, du hättest vorgehabt, ihn zu unterweisen.“

Salihah fasste nach ihrem Kopf. Ach, du liebe Güte.

„Oh weh,“ seufzte sie leise, „Oh weh, das habe ich… in meinem Eifer vollkommen verdrängt! Vergib mir, Kiuk… es war nicht mein Wille, dich zu vernachlässigen… entschuldige bitte… ich mache es wieder gut, versprochen. Natürlich lehre ich dich die Seelenmagie.“ Der Junge hob strahlend den Kopf, während Nalani zufrieden lächelte.

„Ehrlich?!“ rief Kiuk begeistert, „Heute noch?“ Seine Mutter musste lachen, seufzte dann aber.

„Oh, nein, heute besser nicht. Ich habe grauenhafte Kopfschmerzen, ich werde mich lieber hinlegen. Verzeih, Kiuk, aber ich kann… dir nur mit freiem Kopf Magie beibringen, fürchte ich.“ Kiuk nickte heftig und kam sich dumm vor wegen seiner vorigen Begeisterung. Was hatte er sich gedacht, so schnell ging das doch nicht. „Morgen…“ seufzte sie da und ging bereits zur Treppe, um hinauf ins Bett zu gehen, „Morgen fangen wir damit an.“
 

Nalani wünschte sich den Frühling zurück. Der Winter ärgerte sie, die Kälte in Dokahsan zwang sie, das Anwesen kaum zu verlassen, denn schon ein kurzer Aufenthalt an der eisigen Luft war unangenehm. Die Menschen, die hinaus mussten, waren dick eingepackt in alle Mäntel, Schals und Hüte, die sie finden konnten, und trugen Stoff vor den Gesichtern, nur einen schmalen Schlitz für die Augen frei lassend, damit ihnen die Nasen nicht abfroren.

Und den ganzen Tag im Anwesen zu sitzen war furchtbar. Jetzt, wo Kiuk seine Lehre bekam und beschäftigt war, hatte sie niemanden mehr, zu dem sie gehen konnte… und das hieß, sie musste mehr Zeit mit ihrem Mann verbringen, obwohl sie ihm so oft wie möglich aus dem Weg ging. Tabari war anstrengend. Er bildete sich ein, sie herumkommandieren zu können oder sie zu kontrollieren, was er beides einfach nicht tat, das wusste er auch genauso gut wie sie. Sie würde ihm niemals den Gefallen tun, ihn sie beherrschen zu lassen.

Und genau das war sein größtes Problem.

„Nalani… du weißt, dass du nicht darum herum kommst!“ sagte er energisch zu ihr und versuchte, einschüchternd zu wirkten, während er sich in voller Größe vor dem Bett aufbaute, auf dem sie an einem Abend lag und störrisch in sein Gesicht sah, nicht die Spur eingeschüchtert. Wenn er versuchte, sie Respekt zu lehren, machte er sich ohnehin meistens lächerlich. Nalani hatte schnell begriffen, was er für einer war; er versuchte sein Leben lang wie sein Vater zu werden, aber dazu fehlte ihm das Entscheidende: seines Vaters Grausamkeit und sein Egoismus. Tabari konnte sich noch so viel einreden oder versuchen, imposant zu wirken, er war es einfach nicht und egoistisch war er auch nicht. Und schon gar nicht grausam.

Seine beinahe fast ein wenig und irgendwie doch nicht beeindruckende Erscheinung, wie er da vor dem Bett stand und sie gekünstelt herrisch anstarrte, bröckelte in dem Moment und brach ganz zusammen, als er fortfuhr:

„Ich meine… du musst nur einen einzigen Sohn gebären, danach lasse ich dich für immer in Ruhe! Wenn du einen gesunden Sohn geboren hast, rühre ich dich nie wieder an, wirklich!“

„Nein,“ sagte Nalani dreist. Keine Frau in Dokahsan durfte sich erlauben, zu ihrem Mann in diesem Ton Nein zu sagen. Selbst Salihah wäre vermutlich von Kelar geschlagen worden. Aber Tabari schlug sie nicht, das wusste sie, deswegen wusste sie auch, dass sie viel weiter gehen konnte als jede andere Frau.

„Wie, nein?!“ schnappte ihr Mann jetzt langsam verzweifelt – was sollte er denn nur machen? Lange könnte er vor seinem Vater nicht mehr mit der Ausrede stehen, so etwas bräuchte ja seine Zeit… seit dem Blutritual im Wintermond waren bereits zwei Monde vergangen und er hatte seitdem kein einziges Mal bei ihr als Mann gelegen. Hatte er gewagt, es zu versuchen, hatte sie gedroht, ihn zu töten und so lange wild um sich geschlagen, bis er es aufgegeben hatte aus Angst, sie würde ihm mit einem Kinnhaken das Genick brechen. Seinem Vater sagte er, wenn der nachfragte, er würde sich immer fleißig Mühe geben… aber das war nicht so einfach. Er versuchte es seit einigen Wochen auf die diplomatische Weise zu lösen. „Du kannst nicht Nein zu mir sagen, Nalani!“

„Wie du siehst, kann ich das,“ machte sie unverblümt, „Ich werde nicht deine Gebärmaschine sein! Oder wohl eher die deines Vaters, denn dir ist es doch egal, ob du Kinder bekommst oder nicht, du willst nur deinen Vater glücklich machen.“

„Du bist doch paranoid, vergiss endlich meinen Vater!“ schnaubte er, „Wir sind verheiratet, alle verheirateten Paare haben Kinder! Du bist eine Frau, du lebst allein zu diesem Zweck, Kinder zu gebären! Du musst das doch instinktiv wollen…“
 

Er hatte die dumme Angewohnheit, erst dann zu merken, dass er in ein Fettnäpfchen getreten war, wenn seine Füße bereits klebten.

Nalani schoss aus dem Bett hoch und starrte ihn fassungslos an.

„Wie war das?!“ keuchte sie, „Ich höre wohl nicht recht, ich bin – ich lebe nur für diesen Zweck?! Zweck?! Sag mal, hat bei dir alles seinen Zweck?! Welchen Zweck hat deine erbarmungslose, grausame Dummheit?!“ Ehe er eine Chance hatte, etwas zu antworten, stürmte sie an ihm vorbei aus dem Schlafzimmer und knallte mit Wucht die Tür hinter sich zu.

Zweck! Sagte sie sich wutentbrannt, während sie durch das Schloss stampfte und sich überlegte, welche Foltermethode am qualvollsten wäre für diesen Vollidioten. Ich habe also den Zweck, Söhne zu werfen! Pah! Der kann was erleben!

Und das Schlimmste war, dass sie ihm nie richtig böse sein konnte… er konnte eigentlich nichts dafür, das alles war nicht seine Entscheidung gewesen. Er war nur furchtbar dumm und sagte dauernd was Falsches, aber nur, weil er es nicht besser wusste. Er konnte eben nur seinen Vater nachplappern… wenn er selbst etwas sagen sollte, fiel ihm nichts ein.

Irgendwie war Tabari ein bedauernswerter Mann, fiel Nalani auf, und plötzlich bemitleidete sie ihn sogar im Voraus für den Tag, an dem ihm endlich jemand die Augen öffnete und ihm beibrachte, was für einen grausamen Mörder er sich zum Vorbild gemacht hatte.
 

Davon, die Augen zu öffnen, war Tabari weit entfernt.

So, wie es lief, konnte es nicht weitergehen. Wenn Nalani sich weigerte, mit ihm das Bett zu teilen, konnte sie nicht schwanger werden, und wenn sie keine Söhne zur Welt brachte, würde sein Vater fuchsteufelswild werden. Es gab jetzt mehrere Optionen für ihn: entweder, er ließ die bockige Nalani links liegen, nahm sich eine zweite Frau und machte der einen anständigen Sohn – denn einer von einer schlechteren Frau als Nalani war besser als keiner, dachte er sich. Oder er ging zu seinem Vater, klagte ihm sein Leid und bekam vielleicht einen guten ratschlag, wie er es besser machen könnte. Letztere Option war nicht ganz angenehm, denn sein Vater würde es nicht gerne hören, dass Nalani bockig war… aber vielleicht war das noch einfacher als sich erst eine neue Frau zu suchen, mit der Kelar letzten Endes vielleicht nicht mal einverstanden wäre. Wobei Tabari sich fragte, wie Nalani die perfekte Mutter für die Clanerben sein konnte, wo sie so stur, egoistisch und ein Unglücksbringer war.
 

„Sie gehorcht mir nicht und weigert sich, schwanger zu werden!“ erzählte Tabari seinem Vater also unglücklich, und dieser stierte ihn nur grimmig an. „I-ich habe doch gesagt, dass sie eine Dämonenbraut ist! Wenn schon ein Kindeskeim in ihrem Bauch war, hat sie ihn vielleicht mit einem bösartigen Fluch entsorgt, und das alles nur, um unseren Clan zu vernichten! Wir müssen sie loswerden, all das Unglück ist ihre Schuld, Vater!“

Kelar Lyra war nicht ganz so naiv, wie Tabari gehofft hatte.

„Oder die deiner Unfähigkeit, Sohn!“ entgegnete er schnaubend, und Tabari verletzte es, dass sein Vater offenbar das Vertrauen in ihn verlor. War er nicht sonst immer sein perfekter Mustersohn gewesen? Und plötzlich schien alles, was er tat, falsch und dumm zu sein, er verärgerte sowohl Nalani als auch seinen Vater, egal, was er machte oder sagte.

„Meiner Unfähigkeit?“ jammerte er jetzt gekränkt, „Vater, ich tue alles so, wie du es mich gelehrt hast! Wie kann ich da unfähig sein?“

„Weil du nichts zu Stande bringst momentan!“ schnaubte der Vater, „Deine Frau ist nicht schwanger, deine Jagdfähigkeiten lassen nach und meine Erwartungen, die ich in dich als meinen Nachfolger hatte, werden offenbar auch enttäuscht! Du musst lernen, dich durchzusetzen, wenn du je Herrscher von Lyrien sein willst! So tanzen dir die dummen Bauern ja auf der Nase herum!“

„Ich versuche es doch, es geht einfach nicht, sie hört nicht auf mich…“

„Dann zwinge sie, verdammt noch mal!“ Kelar funkelte seinen Sohn ärgerlich an, „Schlag sie, verprügel sie, mach sie dir mit Gewalt hörig, wenn sie sich nicht fügen will! Sie ist nur eine Frau, verflucht, sie wurde geboren, um deine Kinder zu gebären, sie sollte glücklich sein, bei uns so behütet leben zu können!“

„Was würdest du an meiner Stelle tun?“ murmelte der Blonde, und sein Vater zischte.

„Sie mit Gewalt nehmen, von mir aus so lange, bis sie blutet, Hauptsache, sie hat endlich ihren Kindeskeim! Merke dir, sie hat dir zu gehorchen, tut sie es nicht, musst du sie bestrafen! Du bist ein Lyra, du sollst einmal Herrscher sein, Tabari! Wenn du schon bei einer Frau versagst, wie willst du dann ein ganzes Volk kontrollieren?!“ Der Sohn senkte beschämt den Kopf und nickte dann artig.

„Ich werde tun, was dich stolz macht, Vater. Ich verspreche dir, du bekommst deinen Enkelsohn.“ Kelar wollte schon davon gehen, als sie lange schwiegen, dann fuhr Tabari fort: „Hast du… Mutter jemals vergewaltigen müssen, weil sie nicht hörig war?“

Er drehte sich in der Tür um und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen.

Er, Salihah vergewaltigen? Nein, gewehrt hatte sie sich nie…

„Deine Mutter war mir immer hörig,“ versetzte er dann kalt. „Aber würde sie es wagen, würde ich sie mit Gewalt nehmen, ja.“

Damit ging er. Tabari blieb zurück und fragte sich, ob er das über sich bringen würde.
 

Salihah hatte es in Kelars Augen mehr als nur gewagt, ihn herauszufordern, ihm ungehorsam zu sein mit allem, was sie getan und gesagt hatte. Aber ihm war die Lust danach, sie zu nehmen, gehörig vergangen, ihr Anblick reizte ihn höchstens noch, sie zu erschlagen, ihr den Hals umzudrehen oder ihr die Augen auszustechen. Aber er konnte sich beherrschen… er würde sie auf viel dezentere Weise foltern, schleichender, grausamer, als sie einfach nur zu schlagen. Sie hatte mehr Grausamkeit verdient für alles, was sie getan hatte… und es ging längst nicht nur um ihr Verhältnis mit seinem ewigen größten Konkurrenten Zoras Chimalis. Sie stachelte die Leute gegen ihn auf, sie versuchte, seine Herrschaft zu unterbinden… das war Hochverrat. Eigentlich verdiente sie den Tod, aber der Gedanke, sie zu quälen, bis sie um den Tod bettelte, gefiel ihm besser.

Sie sprachen nicht mehr miteinander. Inzwischen sahen sie sich kaum noch einmal an. Umso perplexer war Kelar, als er ins verdunkelte Schlafzimmer kam, wo seine Frau wie seit Tagen so oft mit Migräne im Bett lag, und sie plötzlich mit ihm zu sprechen begann.
 

„Was hast du da unten mit Tabari geschimpft…?“

Kelar sah sie erst konfus an und brauchte etwas, um sich an die Dunkelheit im Raum zu gewöhnen und sie hinter den dünnen Vorhängen des Bettes überhaupt zu entdecken. Dann brummte er, ging zum Fenster und riss die Gardinen auf, sodass das gräuliche, helle Licht des Tages hereinströmte. Salihah drehte keuchend den Kopf weg, als der Schmerz in ihrem Kopf beim Licht zunahm und sie beunruhigende Lichter vor ihren Augen tanzen und flackern sah.

„Bitte mach sie wieder zu…“ stöhnte sie, „Das Licht schmerzt mich gerade…“

„Ach, stell dich nicht so an, du Simulantin!“ schnappte er und öffnete das Fenster, sodass es jetzt auch noch kalt im Zimmer wurde. „Du mit deinen Kopfschmerzen! Trink dein Laudanum und sei friedlich, Weib!“ Sie seufzte leise vor Schmerzen, versuchte aber, sich zusammenzureißen, um ihm nicht den Gefallen zu tun, vor ihm zu wimmern. Sie wusste, wie gierig er auf einen Moment wartete, sie am Boden zu sehen, zu sehen, dass ihre Kraft am Ende war, dass sie vor ihm am Boden kroch… nein, diesen Moment würde sie ihm nicht gönnen. Solange noch Leben in ihr war, würde sie kämpfen.

Er antwortete prompt auf ihre Frage.

„Tabari ist unfähig, die Wachtel zu schwängern,“ beklagte er sich, „Du hast sie falsch erzogen, Weib. Oder hast du ihr beigebracht, wie man ungeborene Früchte im Leib tötet?“

„Nein… und es liegt sicher nicht an meiner Erziehung, dass sie nicht schwanger wird, jetzt drehst du völlig durch. Sie ist fruchtbar, an ihr kann es nicht liegen.“

„Dann liegt es an Tabari, oder was?!“ keuchte ihr Mann und erbleichte, „Willst du sagen, er kann keine Söhne zeugen?!“

„Das weiß ich nicht, ich bin keine Heilerin!“ knirschte Salihah und schloss bebend die Augen. Seine laute Stimme tat grausam weh… er wusste das sicher und sprach absichtlich laut.

„Ich denke, es liegt nur daran, dass er zu weich ist und sich nicht durchsetzt! Ich habe ihm gesagt, er soll sie mit Gewalt nehmen, wenn sie sich wehrt! Dass sie nicht spurt, ist wohl Schuld deiner Erziehung, du spurst ja auch nicht so, wie ich will!“

„Weil ich eine Frau bin, Kelar, und keine Kutsche, die du nach deinem Willen lenken kannst, wohin du willst! Für Nalani gilt dasselbe, sie ist ein Mensch und keine Maschine. Ich spure nicht, sagst du, pff… undankbar bist du, ohne mich wärst du längst tot, vergiss das nicht.“

„Falsch,“ sagte er kalt, „Ohne deine Vorhersagen wäre ich vielleicht tot, ohne deine Sehkraft… aber das liegt nicht an dir, das hätte jede andere Frau mit unglaublichen Visionen auch geschafft. Du bedeutest mir gar nichts.“

Sie unterdrückte ein schmerzhaftes Stöhnen. Auch, wenn es nicht neu war, es schmerzte dennoch, wenn er es aussprach. Es war einmal anders gewesen… früher, vor Ewigkeiten, wie es ihr erschien. Aber daran erinnerte sich sein wahnsinniger Geist nicht mehr, der nur noch Macht sah… Macht, Herrschaft… sie musste sich zwingen, weiter zu sprechen, obwohl die Kopfschmerzen sie beinahe blendeten.

„Und doch hast du mich nie vergewaltigt…“ seufzte sie, „Weil du genau weißt… dass du an meinen geist gebunden bist… wir mögen uns jetzt hassen, aber ohne einander können wir nicht… du weißt das genauso gut wie ich, Kelar.“

„Unterschätze nicht meine Unbarmherzigkeit,“ zischte er grantig, „Ich hätte dich vergewaltigt, ich fürchtete nur, du würdest nie wieder Vorhersagen machen, und das wäre ungünstig gewesen!“

„Oh, natürlich.“ Sie drehte den Kopf mühsam zu ihm hin und sah ihn diabolisch an, sodass er kurz zuckte. Er kannte diesen Blick… einen Blick an ihr, den er immer gefürchtet hatte.

Oh, war sie grausam… sie war nicht weniger grausam als er.

„Natürlich, Kelar… du hast mich niemals besessen oder Macht über mich gehabt… wenn hier jemals jemand vergewaltigt worden wäre, dann wärst du es von mir.“

„Ich vergaß, dass du eine sadistische, unersättliche Nymphomanin bist,“ räumte er kaltherzig ein, als sie ihren diabolischen Blick von ihm abwandte. Salihah rief nach dem Dienstmädchen, und es kam mit unterwürfig geneigtem Kopf ins Zimmer.

„Ja, Herrin? Was kann ich tun?“

„Sei so gut und bring mir mein Laudanum für meine Schmerzen. Und beeile dich etwas…“ Das Mädchen nickte hastig und verließ sofort wieder das Zimmer, als Kelar sie anlinste. Kaum war sie weg, ging er auch zur Tür. Die Gardinen und das Fenster ließ er offen.

„Ich weiß, was du vorhast,“ sagte er unverblümt, „Aber ich werde den Senat kontrollieren und stürzen, du kannst nichts dagegen tun. Schon gar nicht, wenn du mit deiner Migräne hier herumliegst, mach dir also keine Hoffnungen. Und mir ist es gleich, wie viele Armeen du gegen mich hetzt… du kannst mir die rechtmäßige Herrschaft über dieses Land, für dessen Freiheit ich gekämpft habe gegen Anthurien, nicht nehmen! Und ich werde dafür sorgen, dass du das einsiehst, ehe deine Zeit gekommen ist.“ Dann ging er aus dem Raum und schloss die Tür.

In der Halle traf er auf das Dienstmädchen, das auf einem kleinen Tablett die Flasche mit Laudanum und ein Wasserglas trug. Er hielt sie an und griff nach der Flasche mit dem Schmerzmittel.

„Statt das alles mit nach oben zu schleppen, kannst du das auch gleich verdünnen und ihr nur das Glas bringen, du dämliches Stück,“ sagte er grantig, öffnete die Flasche und kippte mit Schwung die Medizin in das Glas. Das Mädchen keuchte.

„H-Herr! A-aber so viel könnte Eurer Frau schaden…“

„Willst du mir vorschreiben, wa ich meiner Frau geben und was nicht?!“ blaffte er sie gedämpft an, „kennst du dich mit Medizin aus? Bist du Heilerin?“

„N-nein, Herr…“

„Na also, du hast keine Ahnung. Du siehst doch, die Frau hat grässliche Schmerzen, da braucht sie eine stärkere Dosis, du dummes Drecksstück! Zweifel nie wieder an meinen Taten, oder ich lasse dich im Keller einsperren und verhungern!“

Mit einer ehrfürchtigen Verneigung lief das Mädchen samt dem Tablett die Treppe hinauf und wagte nicht, zu widersprechen. Er sah ihr schnaubend nach.

Ja, trink nur dein Laudanum, es wird dich nicht gesund, sondern kränker machen… versprach er seiner Frau in Gedanken, Bald wirst du nicht mehr ohne können und eine erbärmliche, süchtige Made sein… ich werde die Schmerzgeister zwingen, dich zu zerstören, langsam und von innen heraus, sodass es lange und grausam wehtut, Salihah… oh, du wirst deine Strafe bekommen für deinen Ungehorsam, das schwöre ich!
 

Obwohl die Gardinen noch immer offen waren, weil Salihah vergessen hatte, das Mädchen zu bitten, sie zuzuziehen, umfing sie Dunkelheit. Die Wirkung der Medizin war wie eine Mauer aus Dunkelheit und Stille, die sich um sie schloss und sie von der Welt wegschloss… plötzlich war es so angenehm ruhig und sie Schmerzen waren weit, weit weg irgendwo hinter der Mauer. Trotz der beruhigenden Wirkung des Laudanums machte sie sich Sorgen. Sorgen um ihre Familie, um das Volk, das Kelar in eine Tyrannei trieb, um die Zukunft der Welt… es war düster und unheilvoll gewesen in ihren letzten Träumen. Mit Entsetzen hatte die Frau feststellen müssen, dass ihre Sehkraft immer mehr schwand. Es war, als würde das, was ihr diese Kraft verlieh, waren es Geister, Mutter Erde, Vater Himmel oder was auch immer, seine Kraft nach und nach verlieren und sie damit auch schwächen. Zum ersten Mal erlebte Salihah es, nicht genau vorhersagen zu können, was geschehen würde. Als hätte sich ein dicker Nebel vor ihre Augen gelegt, nicht zulassend, dass sie weiterhin so viel sah und wusste… und das war schlecht, denn wenn sie nicht alles wusste, was Kelar tat, verlor sie die Kontrolle über ihn komplett.

Sie verfluchte die Schmerzgeister in ihrem Kopf und ihre eigene Schwäche, die mit jedem Tag größer wurde, ihre Unfähigkeit, ihre Arbeit zu tun und ihren Mann zu kontrollieren, dann zog sie sich in die Benommenheit des tiefen, dunklen und traumlosen Schlafes unter dem berauschenden Laudanum zurück, um der Welt für eine Weile den Rücken zu kehren. Vielleicht fand sie ja auf der Reise durch die Geisterwelt im Traum ihre Sehensgabe wieder…
 

So wie die Schwarzmagier mit den Geisterjägern ihren Rat der Mächtigsten unter ihnen hatten, hatten auch die Telepathen und Heiler ihre Räte. Früher einmal hatten Schwarzmagier, Telepathen und Heiler alle zusammen gearbeitet, inzwischen teilte sich das Volk der Schamanen in die drei Unterarten auf. Von der Regierung und Verwaltung waren die Telepathen und Heiler vor Zeiten ausgeschlossen worden, weil die Geisterjäger den Anspruch darauf erhoben hatten, für die ganze Schamanenschaft zu sprechen, denn der Herr der Geister war ja von allen der Mächtigste, daher hatten die anderen nichts zu sagen. Der Senat in Yiara besprach sich mit dem Rat der Geisterjäger, hatte aber zu den Telepathen und Heilern keinerlei wichtigeren Kontakt in der Politik.

„Das Volk ist entzweit,“ sagte Hakopa Kohdar, als die vier Geisterjäger ohne Kelar, aber dafür mit Salihah, die ihre Kopfschmerzen vorübergehend los geworden war, wie es aussah, eine weitere Krisensitzung abhielten in Tuhuli. Der Frühling war gekommen. „Entweder sie verfluchen den Senat oder sie sind loyal. In Yiara sind sie grauenhaft geworden, die Menschen. Sie misstrauen sich alle gegenseitig und meckern über die andere Seite, über alle, die anderer Meinung sind als sie. Ich frage mich, wo die Toleranz geblieben ist.“

„Toleranz?“ brummte Zoras Chimalis, „So etwas gibt es nicht mehr, seit Kelar das Land Lyrien nennt und denkt, ihm würde das alles zu Füßen liegen müssen! Dieser Mann glaubt, es wäre Wille der Geister, dass er über alle alleiniger Herrscher wird! Das ist doch lächerlich.“

„Nein, es ist schlimmer,“ machte Salihah, „Ich glaube, er glaubt, den geistern seinen Willen aufzwingen zu können – bald wird nichts mehr Wille der Geister sondern nur noch sein Wille sein, sagt er.“ Sie wurde von den vier Männern verblüfft angestarrt.

„Das ist nicht dein Ernst!“ keuchte Minar Emo, „Das erklärt auch, dass die Geister immer zorniger und bösartiger werden… die Visionen in meinem Kopf verheißen nichts Angenehmes.“

„Ich habe noch nie eine angenehme Vision gehabt seit Kelar Herr der Geister wurde, mein Guter,“ stöhnte Zoras und sah dann zu Hakopa, „Aber ich verstehe, was Hakopa sagen will, wir sollten versuchen, das Volk zumindest zu einen, sonst bricht das ganze System nämlich zusammen wie ein instabiles Kartenhaus!“ Er erntete eifriges Nicken. „Salihahchen…“ Er drehte sich zu der Frau um, die den Kopf senkte. „Du bist als begnadete Seelenmagierin Mitglied des Rates der Seelenmagier. Kannst du dich mit denen mal zusammensetzen und sie bitten, sich mit uns zusammenzutun? Wenn wir alle drei Räte vereinen und vor allem wenn alle Bescheid wissen, können wir den Sturz des Senats vielleicht besser verhindern. Dass die Telepathen und Heiler von der Politik ausgeschlossen werden ist ohnehin eine Schnapsidee, sie sind genauso Schamanen wie wir und ihr Anteil ist nicht minder wichtig als der unsere. Du biste s sicher leid, Vermittlerin zu spielen, Salihahchen, ich bedaure es sehr, aber… würdest du uns diesen Gefallen trotzdem tun?“

„Natürlich,“ murmelte sie, „Als Mitglied des TO ist es meine Pflicht, mit ihnen zu beraten. Ich werde auch versuchen, mich an die Heiler zu wenden, wenn ihr wollt. Wir haben keine Zeit zu verlieren, am besten breche ich noch heute auf.“

„Des… TO?“ wunderte sich Nomboh, und sie erhob sich.

„Tele-Orden. Wir nennen den Rat so, weil wir Seelenmagier auf Dinge wie Telekinese, Telepathie und Teleport spezialisiert sind.“

„Unser Rat hat gar keinen Namen,“ meinte Nomboh darauf, „Hey, wir sollten uns mal einen ausdenken.“

„Ich hab schon einen,“ brummte sein Bruder, der sich auch erhob, da die Sitzung fürs erste zu vertagen war, „Runde der Narren, die statt sich zu beraten lieber darüber streiten, wessen Clan der Größte ist! So war es schon immer und daran scheitert jetzt die gesamte Politik Dokahsans.“ Er wurde von allen groß angesehen, und Nomboh zog eine Augenbraue hoch.

„Das ist mir zu lang… denk dir was Kürzeres aus!“
 

Nalani freute sich über den Frühling. Jetzt konnte sie draußen sein und musste nicht den ganzen Tag bei ihrem Mann verbringen, der sich ohnehin jetzt darauf konzentrierte, den Umgang der höheren Magie zu trainieren, damit er eines Tages wie sein Vater Geisterjäger werden konnte.

An Magie dachte sie auch öfter, aber Gelegenheiten, damit zu üben, hatte sie selten, daher beschränkte sie sich darauf, den Schwertkampf weiter zu üben mit allen Techniken, die Salihah sie einst gelehrt hatte. Manchmal kam sie dazu, ihre Fertigkeiten im Zaubern zu trainieren; dabei war Kiuk ihr eine große Hilfe und sie ihm gleichzeitig auch. Er als Telepath musste üben, Barrieren zu erstellen, die ihn schützen konnten, dabei war es perfekt, wenn Nalani ihn mit Zaubern bewarf und er versuchte, sie abzuwehren.
 

„Du musst schneller werden!“ mahnte Nalani Kiuk, als eine weitere seiner Barrieren von dem harten Wasserstrahl aus ihren Händen durchbohrt wurde und er schreiend zur Seite stolperte, um nicht auch durchbohrt zu werden. Er stolperte über einen Stein auf der Wiese und fiel keuchend zu Boden.

„Au…“ stöhnte er, „Ja, ich probiere es ja… du bist eben zu schnell für mich…“

„Umso besser, dann kannst du üben,“ sagte sie dazu und warf ihre schwarzen Haare nach hinten, die ihr ins Gesicht gefallen waren. Seit Kiuk begonnen hatte, mit seiner Mutter zu trainieren, um ein richtiger Seelenmagier zu werden, waren schon drei Monde vergangen. Der Sommer rückte mit dem Kirschmond langsam näher.

Nalani mochte den Kirschmond, in dem sie unten beim Dorf die vielen Kirschbäume rosa blühen sehen konnte. Es war eine schöne, angenehm warme Jahreszeit. In Dokahsan wurde es nicht extrem warm im Sommer, da die Provinz ganz im Norden war. Aber wenn man die eisigen Winter gewohnt war, freute man sich über jedes bisschen Wärme.

Kiuk rappelte sich auf und putzte sich das Gras von der Hose, ehe er seine Hände ausschüttelte.

„Deine Zauber sind zu hart für meine Popelbarriere,“ stöhnte er und raufte sich die braunen Haare. Inzwischen vierzehn geworden war er etwas gewachsen und jetzt sogar größer als Nalani. Nalani war für eine Frau nicht gerade klein, während sie und Kiuk als Kinder etwa gleich groß gewesen waren, war sie früher in die Höhe geschossen als er und hatte ihn einige Zeit überragt; er war froh, wenigstens jetzt nicht mehr der Kleinste in der Familie zu sein.

„Dann musst du an deiner Popelbarriere arbeiten,“ sagte Nalani zu ihm und ging in einiger Entfernung auf und ab, darauf wartend, dass es weiterging. „Deshalb sind wir hier, während deine Mutter wegen der Politik unterwegs ist und dich nicht unterweisen kann. Sie hat mich gebeten, mit dir zu üben, und genau das tue ich. Also jammere nicht und mach weiter!“

Sie war eine strenge Trainerin, fand Kiuk beklommen, während er seine Hände ausschüttelte und sich wieder zu konzentrieren begann, um mit Hilfe seiner Geisteskontrolle eine Barriere vor sich zu bauen. Nalani drehte sich um und riss die Hände ebenfalls hoch, um zwischen ihren Handflächen einen Wasserstrudel entstehen zu lassen, den sie sich drehen ließ, schneller und schneller, dabei verformte sich das Wasser zwischen ihren Händen langsam zu einer gigantischen Speerspitze.

„Bist du bereit?“ fragte sie düster, und Kiuk starrte sie und ihren mächtigen Wasserzauber an. Er nickte heftig.

„Ja, hau rein!“

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Macht der Magie, die durch ihren Körper floss, aus ihren Händen strömte und das Wasser schuf, es verhärtete und verformte, wie sie es befahl. Sie spürte, wie der Strom stärker wurde, mächtiger, und ihr Körper erzitterte. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie vor sich ihren Wasserzauber, größer und beeindruckender denn je, und sie bebte mit jeder Faser ihres Körpers, als wäre es Mutter Erde selbst, die ihr das Wasser brachte, sie ihren Geist beherrschte und diesen mächtigen Zauber erschuf.

„Ihr Geister!“ keuchte sie fassungslos über das Ausmaß ihres eigenen Zaubers, und sie starrte zu Kiuk, der seine Barriere vor sich erschaffen hatte und darauf wartete, dass sie das Wasser auf ihn schmetterte. „Nein… das ist zu viel!“ japste sie, „Es ist zu groß, es wird ihn töten!“ Sie spürte in dem Moment, wie ihr die Kontrolle über die gewaltige Macht entrann, und sie schrie auf und fuhr herum, als sie das Wasser in ihren Händen nicht länger halten konnte. Aus dem Himmel ertönte ein langes, düsteres Grollen und es wurde schwarz. „KIUK, HAU AB DA, SCHNELL!“ brüllte sie noch, ehe der Wasserspeer sich ihren Händen entriss und sie ihn damit ungewollt auf ihren Schwager schmetterte.
 

Kiuk vergaß seine Barriere und ließ sich instinktiv zur Seite fallen, als das Wasser mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zukam. Es rauschte an ihm vorbei und traf den Boden hinter ihm, worauf es die Erde mit einem lauten Krachen und einem grellen Blitzen in Stücke schmetterte. Erdbrocken flogen durch die Luft und der Boden erzitterte, sodass Kiuk hochgeworfen wurde und wieder landete, worauf er hustend liegen blieb. Neben ihm war ein kleiner, aber tiefer Krater entstanden, wo sich das Wasser durch die Erde gebohrt hatte wie ein richtiger, scharfer Speer, den Tabari zum Jagen hätte nehmen können. Der Junge setzte sich keuchend auf und starrte auf das Loch neben ihm, bevor er sich zu Nalani umdrehte… und erstarrte.

Das Mädchen lag am Boden und zuckte in ungesunder Heftigkeit, als hätte sie irgendeinen grauenhaften Krampf.

„Nalani!“ schrie er und stürzte panisch zu ihr herüber, um nach ihr zu greifen. Aber sie wand sich auf dem Erdboden und schrie und schlug seine Hand weg.

„Nicht anfassen! Ich… spüre sie noch, die Macht in mir… s-sie ist zu groß, ich könnte dich verletzen… geh weg, rasch!“

„nein, ich lasse dich hier nicht alleine liegen!“ rief er verzweifelt. Was sollte er tun? Sie zuckte erneut und keuchte mit verdrehten Augen. „H-hast du Schmerzen?“

„Es brennt…!“ stöhnte Nalani, „E-es ist, als w-wollten die Geister… mich zerreißen… i-ich weiß nicht, wieso das plötzlich passiert ist-…!“

„Oh nein, was soll ich denn machen?!“
 

Seine Frage beantwortete sich, als urplötzlich seine Mutter neben ihm aus dem Nichts auftauchte. Kiuk schrie vor Schreck und machte einen Satz rückwärts.

„Mutter?! W-wo kommst du denn her?“

„Mein Augenlicht scheint doch noch zu funktionieren, wenn die Geister mich warnen, dass ich zurückkehren sollte, ehe der Vollmond kommt,“ war ihre Begrüßung, sie schob ihn zur Seite und beugte sich hastig über Nalani, die sich wand und keuchte und versuchte, die brennenden Schmerzen in ihrem Inneren zu bekämpfen. „Sieh mich an, Nalani!“ befahl sie streng, „Komm, sieh mich an! Alles ist gut, ich bin da. Ich mache, dass es aufhört.“

„Die Geister werden mich in Stücke reißen!“ schrie das schwarzhaarige Mädchen hysterisch. Salihah packte ihre Handgelenke und hielt sie fest, richtete ihren strengen Blick genau auf die Augen des Mädchens.

„Nein, das werden sie nicht!“ rief sie lauter, und Nalani erstarrte plötzlich. Kiuk sah gebannt zu, wie das Zucken aufhörte und wie das Mädchen plötzlich schlaff und erschöpft auf dem Boden lag. Salihah lockerte jetzt beruhigt den Griff um ihre Handgelenke und seufzte tief. „Es ist vorüber,“ sagte sie sanft. „Alles ist gut, keine Angst. Ich habe deinen Geist beruhigt.“ Nach einer Weile, in der sie keuchend da gelegen hatte, setzte Nalani sich auf und fasste nach ihrem pochenden Schädel.

„Was ist mit mir passiert, Salihah? Wir haben nur trainiert… aber der Wasserzauber, den ich gemacht habe, war so unglaublich groß… er war so mächtig, er ist mir entflohen und hätte Kiuk beinahe aufgespießt… ich weiß nicht, wieso das p-passiert…“ Die Ahnungslosigkeit machte sie panisch, und als sie zitterte und leise schluchzte, schloss Salihah sie zärtlich in ihre Arme, um sie zu beruhigen. Kiuk kam jetzt auch wieder näher.

„Ja, sie hat da hinten ein riesiges Loch gemacht!“ bestätigte er, und Salihah brauchte nicht nachzusehen, um zu wissen, was passiert war.

„Es ist deine Macht, Nalani,“ sagte sie dumpf, „Du bist ein Kind des mächtigen Kandaya-Clans, einer Familie mit Wurzeln, die fast so alt sind wie die der Lyras. Aber dein Körper und dein Geist sind der Macht nicht gewachsen… du bist zu stark für dich selbst, Nalani. Diesen Punkt… erreichen einige Schwarzmagier, vor allem in höheren Kreisen…“

„Aber das passiert nicht noch mal, oder?“ fragte Kiuk perplex. Salihah seufzte.

„Doch, es wird wieder passieren, wenn du deinen Körper und Geist nicht stärkst und dich bereit machst dafür, diese Macht zu beherrschen, sie zu kontrollieren.“

„Und wie mache ich das?“

„Indem… du die Lehre der oberen Magie bekommst. Es ist Zeit für dich, das eine Jahr in der Isolation zu verbringen und alles zu lernen darüber, wie du deinen Geist und auch die Geisterwinde beherrschen kannst. Das ist die schwierigste und mächtigste Aufgabe der Schamanen, die nur die Schwarzmagier erlernen können.“ Die Frau erhob sich und zog Nalani dabei vorsichtig auf die Beine. „Ich werde dich im Sommer zu Nomboh Chimalis nach Tuhuli schicken.“
 


 

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buahaha XD eigentlich wollte ich in diesem kapi Sukutai einbringen... die musste verschoben werden, der andere Laberkram hat so lange gedauert uû' ziemlicher Salihah-Fokus war das... aber ich mag Salihah, sie ist sone Poserin^^

Laudanum kennen alle?^^ Lösung aus Opium und Alkohol, war früher sehr populär als Schmerz- und Beruhigungsmittel^^

Schlüssel

Wenn Salihah geglaubt hatte, Nalani einfach so in die Lehre schicken zu können, hatte sie sich geirrt.

„Wir bitte?!“ fauchte Kelar auf die Botschaft hin, seine Schwiegertochter sollte für ein ganzes Jahr nach Tuhuli, „Das kommt überhaupt nicht in Frage! Sie bleibt hier!“ Die Familie saß seit langer Zeit einmal wieder gemeinsam beim Abendessen und wie üblich zerteilte der Hausherr den Braten. Jetzt gab es wenigstens wieder Wild zu jagen. Tabari, der das Wild erlegt hatte, gebührte die Ehre, die Innereien des Tieres zu bekommen, das zarteste und beste Fleisch, wie es hieß. Tabari war froh, dass sein Vater ihm gegenüber offenbar nicht mehr feindselig war; zumindest hatte er nicht mehr gemeckert, seit es wieder Essen gab im Land.

„Du hast das nicht zu bestimmen, Kelar,“ warf Salihah ein, „Und sei nicht albern, sie ist Schwarzmagierin, natürlich kriegt sie eine Lehre.“

„Damit sie lernt, zu zaubern, und womöglich noch Geisterjägerin wird?!“ schnappte er, „Niemals, sie ist hier, um eine Frau zu sein und endlich Söhne zu gebären, nicht, um Magierin zu sein! Ich erlaube es nicht, und aus ist!“

„Das kannst du nicht machen!“ zischte Nalani verärgert, und er stierte sie wütend über den Tisch hinweg an, als sie kaltblütig den Kopf hob. „Das entehrt sämtliche Geister! Wir haben Pflichten und Gesetze, die die Geister uns auferlegen im Gegenzug dafür, dass wir sie beherrschen dürfen! Wir müssen uns an diese Gesetze halten!“

„Schweig!“ blaffte er sie an, „Wie kannst du es wagen, unerlaubt mit mir zu sprechen, du Wachtel?! Und dann so respektlos, tss! Dein Vater war offenbar ein Versager darin, dich zu erziehen und die Manieren beizubringen! Die Geister, Regeln, pah! Ich stelle hier die Regeln, ich bin der Herr der Geister, verdammt! Und ich dulde es nicht, dass eine minderwertige Frau, die nicht mal fähig ist, Kinder zu gebären, so mit mir spricht!“

„Nalani,“ sagte Salihah auch ruhig, als die Schwarzhaarige von ihrem Platz aufsprang und ihrem Schwiegervater einen tötenden Blick zuwarf.

„Und du wage es nie wieder, über meinen Vater zu sprechen und sein Andenken zu beschmutzen! Mein Vater war ein sehr viel besserer Mann als du es bist, Kelar! Ich fürchte dich nicht und du kannst mir nicht verbieten, diese Lehre zu machen!“

„Du irrst dich, Nalani!“ zischte er grimmig und umklammerte das Messer, mit dem er den Braten teilte, unwillkürlich etwas fester. „Hier, auf meinem Land, in meinem Schloss, tue ich, was immer ich will! Ich werde nicht zulassen, dass du eine Magierin wirst!“

„Huh,“ machte sie und schnappte nach Luft, „Warum? Weil du Angst hast, ich könnte dir gefährlich werden, wenn ich stärker werde?“
 

Kelar ließ sein Messer sinken und stierte sie jetzt mit einem bohrenden Blick voller Hass und Grausamkeit an. Salihah drehte beunruhigt den Kopf.

„Nalani, setz dich bitte hin,“ sagte sie etwas energischer, aber das Mädchen hörte nicht auf sie.

„Das ist alles, um das es geht, nicht wahr?“ schnappte sie kalt, „Macht… wer dir in die Quere kommen könnte dabei, der Beste zu sein, wird eiskalt… umgenietet. Wie der Senat, wie die Geisterjäger, die du nicht mehr zu Rate ziehst…“

Wie meine Eltern… addierte sie in Gedanken, sprach es aber nicht aus. Und dennoch war die grausame Wahrheit in diesem Moment so zum Greifen nahe, so buchstäblich in der Luft, dass Salihah fürchtete, die Lage würde eskalieren, so erhob sie sich prompt.

„Nalani, setz dich bitte hin!“ rief sie energisch, „Und Kelar, sei nicht verrückt, sie muss die Lehre bekommen. Wenn nicht, werden die Geister ihren Körper zertrümmern und dann wird sie erst recht keine Erben gebären, wenn es dir so rum besser passt.“

„Gar nichts passt mir, Weib!“ schnappte er wütend und griff wieder nach dem Messer, „Und wage es ja nicht, mir weiter zu widersprechen! Du bist so geistig anwesend, hast du heute noch nicht dein Laudanum getrunken?“ Sie starrte ihn an und er zeigte ihr ein verhohlenes, diabolisches Grinsen, worauf sie den Kopf senkte und dann den Rest des Essens schwieg. Kiuk beobachtete das Verhalten seiner Eltern mit großer Sorge und auch Tabari war irritiert von so viel Feindseligkeit. Irgendwie war es kaum zu glauben, dass die beiden es geschafft hatten, zwei Kinder zu bekommen, so, wie sie sich jetzt angifteten.

„Ich… hasse dich,“ sagte Salihah dann, als sie aufgegessen hatte, erhob sich schweigend und verließ den Raum, worauf ihr alle verunsichert nachsahen, ausgenommen Kelar, der seelenruhig weiter aß und sich insgeheim diebisch darüber freute, dass sie klein beigab… sie ging, weil sie seine Gegenwart nicht ertrug, der Gedanken gefiel ihm. Und wenn sie gedacht hatte, sein grausames Spiel mit dem Laudanum wäre alles, was er ihr antun könnte, dann hatte sie sich getäuscht. Oh nein… ihm würde noch viel mehr einfallen, um sie auf die Knie zu zwingen.
 

Als Tabari an dem Abend zu seiner Frau ins Schlafzimmer kam, lief Nalani aufgewühlt auf und ab und schimpfte murmelnd vor sich hin. Er schloss die Tür.

„Du bist wütend wegen der Lehre, hmm?“ fragte er dann perplex, und sie fuhr herum und fauchte:

„Sprich nicht mit mir, wenn ich verärgert bin!“ Er zog eine Braue hoch.

„Du liebe Güte. Ich kann nichts dafür, dass mein Vater das nicht will.“

„Du bist mein Mann, du bestimmst darüber, ob ich gehen darf oder nicht,“ bemerkte sie und blieb stehen, bevor sie tief ein und aus atmete. Das war nicht gut. Das bewegte sich in eine falsche Richtung, die sie verabscheute…

Langsam dachte sie genauso pragmatisch wie der Rest dieser Familie. Und das widerte sie an… und dennoch konnte sie nichts dagegen tun, dass sie auf ihren Mann zutrat und eine Hand nach seiner Brust ausstreckte. Verwirrt von dieser völlig fremden Geste ihrerseits fuhr er zurück.

„W-was…?“

„Lass mich die Lehre machen,“ murmelte sie und sah ihn nicht an, „Wenn du versprichst… dass ich es tun darf… dann schlafe ich mit dir. Vielleicht entsteht dabei ja dein toller Erbe, auf den du und dein Vater so vergeblich wartet…“

Tabari starrte sie an.

„Das ist dein Ernst?“ machte er verblüfft, und sie linste ihn an.

„Würde ich es sonst sagen? Warst du nicht derjenige, der gesagt hat, manchmal muss man mit dem Feind kooperieren, um ans Ziel zu kommen?“ Er errötete. Ja, das hatte er einmal zu ihr gesagt… jetzt kam es ihm dumm vor, denn sie war seine Frau und kein Soldat, dem er etwas beizubringen hatte.

„Ich versuche, mit meinem Vater zu reden!“ machte er prompt, und sie zuckte kurz mit den Mundwinkeln. Verdammt – sein Vater würde schon einsehen, dass die Chance darauf, dass sie schwanger wurde, wichtiger war als sie von ihrer Lehre abzuhalten… sollte sie doch eine machen, wenn sie es sich so sehr wünschte, ihm war das gleich. Und tatsächlich… er war ihr Mann, er konnte über ihren Verbleib bestimmen.

Er ging zu ihr herüber und fasste bereits nach ihren Hüften, um ihr Angebot anzunehmen, da schob sie ihn zurück und schüttelte den Kopf.

„Ah, ah, ah, nicht so hastig, mein Guter,“ kam es kalt von ihr, „Ich sagte nicht, dass ich jetzt mit dir schlafe. Wer sagt mir dann, ob du dich an unsere Abmachung hältst?“ Tabari schnaubte und ließ sie wieder los.

„Wer sagt mir, dass du es tust?!“ konterte er empört, „Das war kein faires Angebot, Nalani! Du hättest sofort das Kleingedruckte auf den Tisch legen müssen.“

„Wenn du einfach Ja sagst, bevor ich es tue…“ seufzte sie, „Du hast mein Wort, ich halte mein Versprechen. Ich verlange, dass du deines auch hältst. Ist mir völlig egal, wie du es anstellst, aber ich will diese Lehre. Und wenn du nur so dazu beiträgst, dass du dich mir nicht in den Weg stellen wirst.“

„Du nimmst dir ganz schön viel heraus,“ knurrte er verbiestert, „Meine Barmherzigkeit kennt Grenzen, Weib.“

Sie kehrte ihm den Rücken.

„Ja,“ machte sie unverblümt, „Meine auch, Tabari.“
 

Kelar Lyra war sehr zufrieden mit seinem Erfolg bei seiner Frau. Er drückte sie zu Boden, jeden Tag ein Stückchen weiter, und sei es nur dadurch, dass er ihr ihre Unfähigkeit mit einem tadelnden Blick vor die Nase hielt, dass er sie nur ansah voller Verachtung und sie genau spüren ließ, jeden Moment, den sie gemeinsam im selben Raum waren, dass er sie strafen würde für alles, was sie tat… und getan hatte. Nein… er würde das Land beherrschen, er würde den Senat auflösen und keine Frau würde das verhindern, weder Salihah noch Nalani, deren Entwicklung ihm gar nicht in den Kram passte. Er wusste nicht, was es war, aber ein instinktives Gefühl der Warnung kam in ihm auf, als er an sie dachte… und an Tabaris Worte vor Monden, als er sie hatte heiraten sollen.

„Sie ist ein Unglücksbringer, Vater! S-sie will den Clan vernichten, sie ist eine Dämonenbraut!“

Und wenn es doch stimmte? Wenn, wie Salihah einst prophezeit hatte, der Clan fallen würde… würde es dann Nalanis Schuld sein? Er musste um jeden Preis verhindern, dass aus ihr eine Magierin wurde, sie durfte die Lehre nicht bekommen. Wenn sie nicht lernte, mit den Geistern und ihren Mächten umzugehen, wäre sie keine Gefahr. Wer wusste, ob sie es nach der Lehre wäre? Ihr Vater war immerhin ein Geisterjäger gewesen und der Kandaya-Clan hatte einen ansehnlichen Ruf und viel Ehrerbietung genossen, ehe er, Kelar, dem ein Ende bereitet hatte.

Er grinste gehässig.

„Oh ja… ihr seht jetzt zu, Thono und Haki, und ihr versucht, eure dumme, dreiste Wachteltochter zu beschützen, die ich zur Waise gemacht habe… aber ihr jagt mir keine Angst ein! Ihr nicht… ihr seid tot. Über die Toten herrsche ich als Herr der Geister, hah! Besser als ihr, Kandayas, Schattenherrscher, besser als Kohdars, die Zähmer des Feuers, besser als Emos, die unsichtbaren Krieger, und besser als die Bastarde des Chimalis-Clans, die den Pakt mit den Todesvögeln schlossen und zwischen den Welten wandeln! Hah!“ Er sah zum Fenster und starrte grimmig hinaus in die Dunkelheit der Nacht. „Ihr Geister!“ rief er dann wütend, „Seht mich an! Ich bin Kelar, Beksems Sohn, Erbe und Herr des Lyra-Clans, des mächtigsten aller Clans! Ihr werdet knien vor meinem Angesicht, ihr werdet knien und stolz sein, meine Diener sein zu dürfen! Ihr… und Vater Himmel und Mutter Erde! Und wehe denen, die es wagen sollten, sich mir in de Weg zu stellen, mir, dem diese Herrschaft zusteht, nach allem, was meine Vorfahren für dieses Land getan haben! Bluten werden sie, und kriechen… in kleinen Stücken!“

Und er breitete die Arme aus und fing lauthals an zu lachen, ungeachtet der Tatsache, dass er im Flur stand und jeden hätte wecken können mit seinem Gebrüll. Er war der Herr des Landes… der Herr der Geister, des Himmels und der Erde!

Fallen? Warum sollte sein Clan fallen? Er würde nicht fallen, dafür würde Kelar sorgen. Ihn ergriff eine plötzliche Wut auf seine Frau, die so viel Unglück prophezeit hatte, und er stürmte ins Schlafzimmer, wo sie wach lag und zusammenfuhr, als er die Tür aufriss und hereinplatzte.

„Salihah!“ bellte er sie an, „Sieh für mich unsichtbare Dinge! Du hast gelogen, als du gesagt hast, der Clan würde fallen! Sieh es jetzt und sag mir, ob ich meine Herrschaft bekommen werde! Und wehe, du wagst es, mich anzulügen, dann reiße ich dir mit bloßen Händen deine gespaltene Zunge heraus!“

Sie setzte sich stöhnend im Bett auf. Die Kopfschmerzen kamen zurück bei seinem Geschrei, und sie erzitterte.

„Sprich nicht so mit mir…“ keuchte sie verärgert, „Und wie willst du sagen, ich würde lügen? Nur, weil ich dir nicht das gesagt habe, was du gern gehört hättest? Ich sehe, was ich sehe.“

„Dann sieh für mich!“ verlangte er und baute sich direkt vor ihr und dem Bett auf, „Jetzt sofort, sag es mir! Was sagen dir die Geister über die Zukunft von Lyrien?“

„Ich werde dir gar nichts mehr sagen,“ erklärte sie, „Mit welchem Recht verlangst du, dass ich dir jetzt noch diene, Kelar?“

„Ganz einfach, du bist eine Frau und ich dein Mann. Du hast zu tun, was ich dir sage.“ Er sah sie an, wie sie erzitterte und wie ihre Augen unruhig hin und her wanderten, als wüsste sie nicht, wohin sie sehen sollte. Er grinste wissend, ging herum zum kleinen Schränkchen neben ihrem Bett und griff nach einem Glas und der Flasche Laudanum, um ihr einzuschenken und die Medizin mit dem Wasserzauber Alara zu verdünnen. „Aah, ich weiß schon, du hast wieder Schmerzen, hm?“ machte er heuchlerisch und hielt ihr das Glas unter die Nase, „Trink schon, es wird dir gut tun…“ Sie drehte stöhnend das Gesicht weg.

„Nimm es weg!“ zischte sie, „Ich werde kein Laudanum mehr nehmen, das Zeug macht mich krank!“

„Ach, Medizin muss bitter schmecken… nimm schon…“ Er grinste diabolisch und hielt ihr weiterhin das Glas vor die Nase, beobachtend, wie sie zuckte und wie sie mit sich kämpfte, es nicht anzunehmen. Er wusste, dass sie danach verlangte und sich zu sträuben versuchte… er würde so lange energisch bleiben, bis sie aufgab. Er wollte sie in die Knie zwingen, seine schöne, stolze Frau, die er inzwischen so sehr hasste für ihren unverhohlenen Widerstand gegen ihn. „Die Schmerzgeister verwirren deinen Geist, Salihah…“ raunte er, „Sie machen dich aufmüpfig und störrisch und dumm, nicht auf mich zu hören. Du weißt, dass es gut sein wird, wenn das Land uns gehört. Uns, nicht allein mir, ist das nicht ein Angebot?“

„Angebot?“ zischte sie, „Bleib mir fern, wir sind geschiedene Leute, das weißt du. Ich werde nicht dein Orakel sein, nicht mehr jetzt. Nicht nach dem, was du alles getan hast, Mörder.“

Er blieb energisch.

„Aah, Mörder… wie ungezügelt von dir…“ machte er leise mit lauernder Stimme, und sie stöhnte leise, als die Schmerzen in ihrem Kopf wieder zunahmen. „Und hast du etwa niemals jemanden getötet, Salihah? Du bist eine grausame Frau und eine schreckliche Lügnerin, die Geister strafen so etwas, weißt du?... Du versuchst, dich gegen mich zu wehren, weil du denkst, damit könntest du vertuschen, wie grausam du bist… aber du bist es… eine grausame, gestörte Sadistin bist du, und du weißt es…“

„Hör auf!“ verlangte sie energisch und verärgert, „Wer ist gestört von uns beiden? Wer ist sadistisch, mir dieses… abscheuliche Zeug vor die Nase zu halten und auf mich einzureden, mich selbst damit zu vergiften?!“

„Verlierst du deine kühle Hülle, Salihah…?“ grinste er amüsiert und sehr zufrieden mit sich, und sie fuhr zu ihm herum und starrte ihn funkelnd an aus Augen voller Hass und Abscheu, voller Schmerz und Erniedrigung. Ihre Stimme bebte, als sie sprach.

„Du bist eine grausame, verabscheuungswürdige Kreatur, Kelar! Du ernährst dich von der Demütigung anderer Menschen, und mich nennst du grausam! Ja, ich habe auch Menschen getötet im Krieg gegen Anthurien, und ich habe Verräter ermordet, die versucht haben, Anthurien Informationen zu bringen, ja, ich bin grausam und ein schlechter Mensch…“

„Nicht nur die Verräter…“ grinste er gehässig und sein Grinsen wurde breiter, als er triumphierend mit ansah, wie sie zusammenfuhr und ihn anstarrte, als er weitersprach. „Du hast sie nicht nur getötet, die Überläufer, die dachten, in Anthurien hätten sie bessere Chancen, du hast dir ihre Frauen und Kinder geschnappt und den Männern gedroht, sie zu schlachten, wenn sie es wagen sollten, uns zu verraten…“

„Hör auf!“ schrie sie jetzt lauter und starrte ihn an, und er badete in seinem Triumph.

„Und du hast sie getötet… du hast Frauen und Kinder getötet, obwohl die Männer um Gnade gefleht haben… oh, wie kaltblütig, grausam und gnadenlos bist du, Seherin… hier, trink deine Medizin. Vielleicht lässt sie dich vergessen…“
 

Das war der Moment, in dem ihr Widerstand brach. Sie riss ihm das Glas aus der Hand und kippte sich den Inhalt in den Hals, und sie keuchte benebelt, als das Gift ihren Hals hinunter rann und sie bereits spürte, wie die Schmerzen dumpfer wurden und sich zurückzogen. Kelar lachte zufrieden und nahm ihr behutsam das leere Glas ab, während sie stöhnend ins Bett zurück sank und sich heftig atmend im Kopfkissen vergrub.

„Ich hasse dich…!“ wimmerte sie, „Du bist garstig, Kelar! D-du bist wahnsinnig…“

Und sie war unfähig, ihn weiter zu kontrollieren, das wusste sie. Und es schmerzte mehr als alles andere, einzusehen, dass sie zu schwach war, um es weiter mit seinen Wahnsinnsgeistern aufnehmen zu können.

Sie war schwach… die Geister straften sie mit dieser grauenhaften Schwäche für jeden, den sie je getötet hatte im Krieg… sie konnte ihn nicht länger beherrschen. Die Schmerzen flauten ab und die Mauer der Medizin baute sich in ihr auf, während sie noch immer heftig keuchend da lag und Kelar auf sie herab sah. Ihm gefiel er Anblick seiner Frau am Ende ihres geistigen Verstandes, am Ende ihrer Kräfte, Und ganz gleich, was sie getan hatte, der Anblick erregte ihn. Er schnaubte, ehe er sich über sie kniete und sie sich stöhnend auf den Rücken drehte, als er nach ihren Hüften fasste und sie herumzerrte, sodass sie ihn benebelt von der Droge ansehen musste.

„Du furchtbarer Dämon…“ wisperte sie, „Lass mich bitte in Frieden, Kelar…“

„Nicht, bevor du mir Befriedigung verschafft hast, du dreckige Hure!“ knurrte er sie an, und sie schnappte unwillkürlich nach Luft, als er sich über sie beugte und ihr in den Hals biss, während seine Hände unter ihr leichtes, dünnes Nachthemd glitten, um sie zu berühren. Sie stöhnte, als sie seine Hände spüren konnte, und mit flammendem Blick starrte sie zu ihm hoch. Er hatte erwartet, sie würde sich wehren, aber was sie sagte, war etwas völlig anderes.

„Ich werde dich umbringen…!“ schwor sie düster und ihr Blick wurde zu einer grauenhaften Grimasse, einer Fratze, die er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte, und er hob interessiert den Kopf, als sie die Hände hob und sie auf seine Schultern legte. „Ich töte dich, Dämon, und wenn es das letzte ist, das ich tue… weder werde ich mich dem Schmerz, noch dir, noch deinem Dämon des Wahnsinns unterwerfen, denn das bin ich denen schuldig, die ich ermordet habe!“

„Du sprichst unter Drogen,“ sagte Kelar unbeeindruckt und legte sich auf sie, als sie überraschenderweise freiwillig die Beine spreizte, „Morgen wirst du wieder Schmerzen haben und dich nicht mehr erinnern.“

Sie antwortete nicht und schlang die Beine um seinen Rumpf, um ihn gegen sich zu drücken. Durch die Mauer aus Stille und Dunkelheit spürte sie dumpf die Hitze und die Schmerzen wieder aufflammen.
 

„Was… machst du da?“ fragte Tabari das Dienstmädchen verwirrt, das durch das Schloss lief und eilig braune Fläschchen von überall her brachte und in einen Eimer warf, der in der Halle stand. Das ging schon eine ganze Zeit so und der Blonde fragte sich, was hier los war – Frühjahrsputz? Etwas spät, es war schon Kirschmond. Er bückte sich und hob eines der halb vollen Fläschchen aus dem Eimer. „Laudanum?!“ machte er, „Wieso… schmeißt du das in den Eimer?!“

„Die Herrin hat befohlen, ich soll alle Vorräte an Laudanum vernichten, ich sammele die Flaschen und werde sie entsorgen.“ Tabari runzelte die Stirn.

„Meine Mutter? Aber sie braucht das doch für ihre Schmerzen?“

„Sie hat es befohlen, und sie ist sehr wütend, glaube ich,“ murmelte das Dienstmädchen verschüchtert, „Seht lieber nicht nach ihr, junger Herr, als ich aus dem Schlafgemach ging, fluchte und schimpfte sie in einem fort.“ Tabari war immer verwirrter. Er wollte gerade etwas sagen, da unterbrach ihn die Erscheinung seiner Mutter, die gerade die Treppe herunter kam. Sie trug ein aufwendiges Kleid und ihren Mantel.

„M-Mutter!“ machte der Sohn perplex, „Du, ähm… gehst weg?“

„Ja, ich muss mich mit dem Rat der Seelenmagier treffen, es ist wichtig. Dein Vater ist außer Haus, bitte sorge bis zu seiner oder meiner Rückkehr für deinen Bruder und deine Frau.“ Tabari sah zu dem Eimer mit Laudanum-Flaschen.

„Ähm… hast du keine Schmerzen mehr?“ wunderte er sich, und sie zischte.

„Doch, bis zum Anschlag, aber ich werde damit leben müssen, dieses Laudanum macht mich krank und vernebelt meine Sicht, mir entgehen wichtige Visionen. Außerdem macht es einen abscheulichen Menschen aus einem, wenn man es zu viel trinkt.“

„Abscheulich, warum?“ fragte er entsetzt.

„Das geht dich nichts an, Sohn. Bitte tu, was ich verlangt habe, in Ordnung?“ Sie ging an ihm vorbei und würdigte das Laudanum keines Blickes. Tabari sah ihr nach. Als sie bei der Tür war, rang er sich dazu durch, etwas Sinnvolles zu sagen.

„Mutter… ich wollte noch… ähm, ich wollte sagen… wenn Nalani wirklich eine Lehre machen soll… hast du mein Einverständnis.“

Salihah sah ihn jetzt doch an und zog eine Braue hoch. Was denn, Sinneswandel? Frontenwechsel? Sie wollte sich keine weiteren Gedanken darüber machen – noch nicht jetzt. So nickte sie nur mit dem Kopf.

„Wenigstens das, ich danke dir für deine Einsicht, Tabari. Hör auf deinen Geist, du weißt genau wie ich – und auch dein Vater – dass es nötig ist. Die Geister verlangen diese Lehre und Nalani wird sie bekommen. Sprich mit Klar nicht darüber… ich werde sie schon zu ihrer Lehre bringen, mit oder ohne seiner Zustimmung.“

Dann ging sie aus dem Haus.
 

Die Existenz des Senats in Yiara stand auf Messers Schneide.

Hakopa Kohdar, der mit seiner Familie in Yiara lebte und daher den besten Überblick über die dortigen Geschehnisse hatte, brachte schlechte Nachrichten mit nach Tuhuli, als sich die vier Geisterjäger und Salihah ein weiteres Mal im Anwesen der Chimalis‘ trafen.

„Sie haben schon mitbekommen, dass sie Kelar nicht trauen können,“ erzählte der Mann, „Und sie haben angefangen, ohne seine Zustimmung Politik zu betreiben, was durchaus sinnvoll sein mag, aber Kelar hat das offenbar gar nicht so komisch gefunden… und jetzt fängt er wieder an, das Volk aufzuhetzen und herumzuerzählen, die Senatoren wollten nur ihre eigene Regierung aufbauen und die Schamanen unterdrücken, weil sie sich ja nicht mit dem Herrn der Geister besprechen…“

„Das heißt, egal, was der Senat tut, irgendwer ist immer dagegen,“ murmelte Minar Emo, „Das ist ja großartig. Dabei ist der Senat dafür da, um vor der Regierung des Landes – letztlich ist Dokahsan, oder Lyrien, oder Schießmichtot, nur eine Provinz des Landes Kisara – für unser Volk zu sprechen, das heißt, wir sind nur ein Stück des großen Kuchens.“

„Und ein Krümel namens Kelar macht einen Riesenaufstand,“ addierte Nomboh Chimalis stirnrunzelnd.

„Der Senat kann nicht vernünftig für das Volk sprechen, weil das Volk gespalten ist und sich von Kelars wahnwitzigen Reden beeindrucken lässt!“ schnaubte sein Bruder missgelaunt und verschränkte die Arme, „Den einen mag er mehr Land und Größe versprechen, den anderen weniger Nichtmagier oder weiß der Geier. Was ist denn aus unserem tollen Plan geworden, die Räte zu vereinen? Salihahchen?“ Er sah zu der Frau, die vor ihm auf dem Sessel saß und sich die Schläfen rieb. Ihre zunehmenden Kopfschmerzen beunruhigten ihn… irgendwas war mit ihr nicht in Ordnung. Ob daran auch Kelar Schuld war…? Er hütete sich, es zu direkt zu denken, denn Salihah las seine Gedanken, wie er wusste, aber dass dieser Mann seine Frau und ihre Würde derartig mit Füßen trat war einfach abscheulich. Salihah war eine wunderbare, starke Frau, sie hatte besseres verdient als das… früher einmal war ihr Mann ein ansehnlicher Mensch gewesen. Kelar hatte Zoras im Kampf um den Titel des Herrn der Geister geschlagen und der Jüngere hatte sich gerne gebeugt und die größere Macht des Lyras anerkannt, weil er ihn für einen guten Herrn der Geister gehalten hatte; die Geister hatten letztlich entschieden, dass Kelar sie vertreten sollte, da würde er schon geeignet sein. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher, ob die Geister tatsächlich unfehlbar waren. Warum sollten sie zulassen, dass so ein Monster so viel Macht erlangte, damit er seine Frau schänden und demütigen und das ganze Volk unterjochen konnte?
 

Salihah seufzte leise.

„Ich habe mich mit dem TO getroffen, ich denke, ich könnte euch mal zusammen bringen, sie sind bereit, zuzuhören und sie wissen ja, das ich Bescheid weiß, weil ich die Frau eines Geisterjägers bin. Die Heiler stellen sich quer und wollten nicht mit mir reden. Der Sprecher des Rates hat mich eine Lügnerin mit gespaltener Zunge genannt und meinte, man könne mir nicht vertrauen und es sei ihm egal, was mit den Schwarzmagiern wäre, sie wären letztlich alles nur Mörder und Hexer.“ Sie wurde groß angestarrt und Zoras hinter ihr schnaubte ungehalten.

„Welcher Dämon hat es gewagt, so mit dir zu sprechen, sind die noch ganz gar im Kopf?! Mörder, tss, ja, wir alle haben im Krieg Menschen aus Anthurien getötet, aber nur, wenn es nötig war, sie haben uns schließlich angegriffen!“

„Die Heiler sind Pazifisten, gewöhn dich daran,“ machte Minar Emo, „Heiler und Schwarzmagier waren sich noch nie grün.“

„Ich habe eine Heilerin geheiratet,“ protestierte Nomboh, der an seinem Daumen herumpulte wie ein gelangweiltes Kind.

„Keisha ist ja auch kein Mitglied des Heilerrates,“ meinte Salihah, „Die Leute da drin sind allesamt bockig und konservativ.“

„Wir lassen Nomboh mit ihnen reden,“ seufzte Zoras Chimalis hinter ihr und stützte sich an ihrer Sessellehne ab, und sein Bruder hob den Kopf.

„Was?“ machte er perplex.

„Ja, du hast so etwas an dir, das alle dir zuhören, du kannst die Leute einfach überzeugen. Zumindest besser als wir, vor uns haben sie Angst.“

„Du bist aber auch furchteinflößend,“ grinste Hakopa Kohdar ihn an, und der Schwarzhaarige brummte.

„Nomboh redet mit dem Heilerrat und Hakopa behält den Senat im Auge. Vielleicht schaffen wir es ja, alle Räte in Tuhuli zu versammeln, und das noch vor dem Sommer, wenn es geht.“

„Hier in Tuhuli?“ machte Nomboh, „Denkst du nicht, dass Kelar das leichter mitkriegt? Das Anwesen der Lyra-Familie ist nicht weit von unserem.“

„Aber er meidet uns, als hätten wir Pestbeulen,“ meinte der ältere Bruder, „Es wird gut sein hier in Tuhuli.“ Nomboh erhob sich.

„Von mir aus, dann gehe ich besser gleich mal los und schicke ein paar Federn, damit die Damen und Herren des Rates Bescheid wissen…“ Er wurde von Salihah aufgehalten, die auch aufstand und erst ihn, dann Zoras kurz ansah.

„Ich muss mit euch beiden noch kurz alleine sprechen,“ sagte sie dumpf, „Würdet ihr zwei,“ sie meinte Hakopa und Minar, „Uns kurz entschuldigen?“

„Selbstverständlich, es ist sowieso am besten, wenn ich umgehend nach Yiara zurückkehre, ich lasse dann den Wagen draußen vorbereiten.“ Die beiden Geisterjäger verließen den Raum und die drei übrigen sahen sich kurz an, als die Tür zugeschoben war.

„Nun, Salihahchen?“

„Es geht um Nalani,“ machte die Frau dumpf, „Sie wird am Himmelstag vierzehn und sie ist bereit für die Lehre. Es wird höchste Zeit.“

„Na, prima, schick sie her und ich tue, was ich kann,“ erwiderte Nomboh Chimalis grinsend, „Welche Ehre, die letzte Tochter des Kandaya-Clans unterweisen zu dürfen.“

„Ich bin diejenige, die sich geehrt fühlt, ihre Schwiegertochter zu dir schicken zu können,“ wehrte Salihah das höflich mit einer Verneigung ab. „Es gibt ein großes Problem bei der Sache, ich werde vermutlich eure Hilfe brauchen… Kelar ist nicht damit einverstanden, dass sie die Lehre bekommt. Wenn ich sie nach Tuhuli schaffe im Sommer, wird es heimlich geschehen müssen.“

„Pff…“ machte Zoras und linste sie unauffällig an, „Er fürchtet sich vor Nalanis Macht… sie ist ein Kind des Schattenclans, Kelar sollte sich auch fürchten. Ich habe das Mädchen einst in meinen Träumen gesehen. Sie hat unglaubliches Potential, die Geister sind sehr gnädig zu ihr.“

„Ich weiß,“ sagte die Frau, „Es wäre eine Beleidigung der Geister, Nalani die Lehre zu verwehren. Sie ist eine geborene Geisterjägerin, das sage ich euch.“

„Tatsache?“ staunte Nomboh, „Na, dann bringen wir sie heimlich her, ich kann dir entgegen kommen, Salihah, und dir das Mädchen abnehmen. Wenn sie erst mal hier in Tuhuli ist, wird Kelar es nicht wagen, unser Anwesen anzugreifen oder sowas. Das würde zumindest seinem Ruf als großer Herrscher enorm schaden und das will seine Majestät bestimmt nicht…“ Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören und Salihah musste lächeln. Diese Leute waren wirklich ausgefuchst und kamen um jedes Hindernis herum.

„Ich kümmere mich schon um Kelar,“ versprach Zoras dann auch dumpf und beobachtete Salihah, die sich zu ihm umdrehte, aber seinem Blick auswich. „Mach dir keine Sorgen. Nalani wird ihre Lehre bekommen, dafür sorge ich, und wenn es das Letzte ist, das ich tue.“ Auf seine bitterernsten Worte folgte eisernes Schweigen. Dann ging Nomboh zuerst zur Tür.

„Ich beeile mich dann mal mit den Federn – oh, jemine, und Hakopa und Minar verabschieden werde ich!“ Weg war er und ließ die Tür offen.
 

Salihah wollte ihm nach einer höflichen Verneigung vor dem Clanführer der Chimalis‘ folgen, doch Zoras stellte sich ihr in den Weg und schloss die Tür vor ihrer Nase wieder.

„Einen Augenblick,“ machte er, „Du weißt, ich habe immer gemerkt, wenn du mir ausweichst, Salihahchen. Was ist los mit dir? Du bist krank, das sehe ich dir an, es ist nicht gut, wie sich das bei euch entwickelt.“

„Bitte lass das meine Sorge sein,“ versuchte sich, ihn abzuwimmeln, „Ich kann nicht mit dir über meine Sorgen reden, Zoras. Nicht mehr jetzt. Es geht mir gut… ich bin nur müde und habe Kopfschmerzen.“ Sie versuchte, sich an ihm vorbei zu drängeln, aber er blieb energisch stehen, bis sie verärgert an seinem schwarzen Umhang zerrte. „Willst du mich hier einsperren, Narr?!“ fauchte sie, „Lass mich raus!“

„Nicht, bevor du mir Rede und Antwort gestanden hast!“ schnaubte er zurück, „Ich will dich doch nicht ärgern… ich will dir nur helfen. Du weißt das, Salihahchen… sieh mich an. Du weichst mir aus, und mir mehr als jedem anderen.“

„Nenn mich nicht mehr so…“ murmelte sie benommen und drehte das Gesicht weg, um ihm ja nicht in die Augen sehen zu müssen. „Und du weißt ganz genau, warum ich dir ausweiche. Das zwischen uns damals im Neujahrsmond hätte nicht passieren dürfen, Zoras.“ Er runzelte die Stirn.

„Es war bloß ein Kuss, davon geht die Welt nicht unter. Und wenn die Geister jemanden bestrafen wollen, dann sollen sie mich nehmen, denn es war meine Schuld, ich habe es Hals über Kopf getan und du konntest nichts dafür.“

„Beim ersten Kuss,“ erinnerte sie ihn grimmig, „Den zweiten gab ich dir.“

„Du warst betrunken.“

„Zoras!“ fuhr sie auf und ließ endlich seinen Umhang los, ehe sie vor ihm einmal im Kreis ging, „Du… verdammt, du kannst mich nicht immer verteidigen! Egal, was ich tue, dir fällt bestimmt etwas ein, um mein Tun zu rechtfertigen! Ich bin nicht unschuldig, Zoras, ich bin grausam, kaltblütig und unbarmherzig! Und du weißt es… du weißt, dass manche Dinge, die ich getan habe, unverzeihlich sind.“

„Ja, das sind sie,“ entgegnete er, ohne sie zu rechtfertigen, und sein Ausdruck wurde jetzt auch ernster. „Das sind sie und es gibt nichts, was das rechtfertigen oder wieder gut machen kann. Aber du hältst deinen Kopf immer zu tief ins verseuchte Wasser, meine Liebe. Bin ich denn etwa nicht grausam und unbarmherzig gewesen? Bin ich denn nicht grausam genug, jemanden wie dich zu lieben, Salihahchen?“
 

Sie sah zu ihm hoch und ihr Gesicht ging unwillkürlich in Flammen auf, ein leises Keuchen entrann ihrer Kehle.

„Sag sowas nicht…“ flüsterte sie bebend, „Bitte nicht. Du hast Tehya… und deine Tochter, Enola. Sie verdienen es nicht, dass du so grausam bist…“ Er nahm ihre Handgelenke und hielt sie fest, als sie sich wieder abwenden wollte.

„Sprich mit mir,“ verlangte er leise. „Was tut Kelar dir an…? Du siehst grauenhaft aus, ausgemergelt wie eine Sterbenskranke. Das… bist nicht du, Salihah… sag es mir.“

Sie erzitterte in seinem Griff und senkte keuchend den Kopf zu Boden.

„Er bringt mich um…“ stöhnte sie, und er starrte sie an. Sie war so verzweifelt, sie war am Ende… und dieser Bastard von ihrem Mann war schuld daran. „Ich sterbe… jeden Tag, den ich ihn länger ertragen muss, stirbt mein Geist weiter… ich komme mir vor wie eine leere Hülle… ein Körper ohne Seele… er muss mich nur ansehen und saugt damit meinen Geist aus mir heraus… er ist so voller Hass, so voller Grausamkeit…“ Zoras sagte nichts und sie erzitterte abermals. „Ich bin schwach geworden, Zoras… ich habe… nicht mehr die Kraft, ihn festzuhalten, und ich habe Angst, dass sein Wahnsinn mich eines Tages auch beherrscht… ich weiß nicht, was ich tun soll…“ Jetzt hob sie zitternd den Kopf wieder und sah ihm doch ins Gesicht, und lange standen sie so einander gegenüber und starrten sich nur an. „Sag es mir…“ keuchte sie, und er sprach nicht, sondern sah sie nur weiterhin an. Dann sagte er doch etwas.

„Du bist… nicht schwach, Salihah… niemand von uns hätte ihn so lange zu bändigen vermocht wie du es hast. Ich… möchte nicht zulassen, dass deine Seele seinetwegen stirbt.“

Salihah konnte nicht sagen, wessen Schuld es dieses Mal war… sie wollte gar nicht darüber nachdenken. Sie wollte gar nicht mehr denken und ihre Kopfschmerzen vergessen. Ihre Schwäche, ihre Unfähigkeit. Und sie überwanden den Abstand zwischen ihren Gesichtern mit überraschender Plötzlichkeit, bis sie ihre Lippen wieder aufeinander pressten und sich küssten.

Wenn die Welt vorher dunkel gewesen war, war sein inniger Kuss das Licht. Sie drückte sich mit einem leisen Seufzen gegen seine Brust, während sie den Mund öffnete und zuließ, dass er sie mit seiner Zunge berührte. Es war nostalgisch und beschämend, als sie daran dachte, wie oft sie früher, vor vielen Jahren einmal, solche Küsse geteilt hatten… und obwohl es falsch war, es wieder zu tun, fühlte es sich gut und richtig an. Sie legte stöhnend die Arme um seinen Hals und intensivierte den Kuss, als seine Hände um ihre schlanke Taille fassten und sie dichter an sich heranzogen. Als sie spürte, wie er herunter glitt und auf ihren Hintern fasste, löste sie sich aus dem Kuss und presste den Kopf gegen seine Brust.

„Nicht!“ keuchte sie, „Nicht, wir sollten das nicht…“

„Ich weiß…“ seufzte er und senkte ebenfalls verlegen den Kopf, „Ich weiß, aber… es bringt dich wieder zum Leben…“

Sie sah wieder auf und erstarrte entsetzt, als er sie wieder ansah, ehe er sich herunterbeugte und sie abermals küsste. Als sie rückwärts trat, stieß sie mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür und lehnte sich seufzend dagegen beim wohligen Gefühl seiner Lippen auf ihren. Es war falsch… und nicht um ihretwillen…

„Tu es nicht für mich!“ keuchte sie heftig, als sie einen weiteren Kuss beendeten, und er hob seine Hände wieder höher, zog sie nach vorn und legte sie auf ihre Hüften, um daran auf und ab zu fahren. Er zitterte. „Tu es nicht für mich, Liebster… du hast eine Frau, ich verdiene diese Ehre nicht! Ich bin zu grausam gewesen und zu egoistisch…“

„Dann lass mich auch einmal in meinem Leben egoistisch sein,“ entgegnete er und hielt weiterhin ihre Hüften fest, als sie den Kopf zu seinem Gesicht hob, sich dabei heftig atmend gegen die Tür drückend. „Dann tue ich es nicht für dich, sondern für mich.“ Sie sah ihn an. Kurz kam ihr der Gedanke, dass sie gehen sollte. Sie sollte gehen, ihm den Rücken kehren, ehe sie dem Verlangen in sich verfiel, wieder seine Geliebte zu sein wie früher, ehe sie ihn zu lange ansah… sie hatte keine Schuldgefühl wegen ihres Mannes, der sie verachtete und der sie umbringen wollte, aber wegen seiner Frau, die sich vermutlich hintergangen fühlen würde, würde sie das je erfahren. Tehya war eine gutmütige Seele und eine wundervolle Mutter, besser als Keisha und besser als sie selbst, Salihah, es je gewesen war.

Sie dachte zu lange nach. In dem Moment hatte sie ihn bereits zu lange angesehen… und in dem Moment war es, in dem sie ihre Gedanken bei Seite schob, sich von der Tür löste und die Arme heftig um seinen Nacken schlang, um ihn ihrerseits zu küssen.

Es war ein intensiver, tiefer Kuss, und ihr entrann ein verlangendes Stöhnen, als seine Hände über ihren Bauch fuhren und weiter hinauf, bis sie ihre Brüste erfassten. Zu lange war es her, dass er dass getan hatte… als Kelar sie vor einigen Tagen genommen hatte, war es anders gewesen, es war gewaltsam und schmerzhaft gewesen, als er nach ihren Brüsten gefasst hatte; früher hatte er sie anders berührt… wie Zoras es jetzt tat war wie eine Erinnerung an alte, längst verflossene Zeiten. Sie umschlang fest seinen Nacken mit beiden Armen und erzitterte, als er sie berührte und von ihren Lippen abließ, um ihren Hals zu küssen. Was immer er sagte, er hatte recht… es gab ihr Leben, wenn er sie liebte.

Er gab ihr Leben… und es tat gut, zu spüren, dass sie noch lebte und noch keine geistlose Hülle geworden war.

„Mehr…“ stöhnte sie unwillkürlich und er hob den Kopf perplex von dem feuerroten Fleck auf ihrem Hals, den er verursacht hatte, um sie anzusehen, während ihre Hände hastig über seinen Rücken und auf seine Seiten fuhren, „Ich will mehr… es… ist angenehm…“

„Shhh…“ beruhigte er sie, zog ihr Kinn herum, sodass sie ihn ansehen musste, und sie errötete, ehe sie einen weiteren, heftigen Kuss teilten. Sie wurden schnell wieder inniger miteinander und als er begann, an den Schnüren ihres Kleides auf der Brust zu nesteln, und ihre Hände unter sein Hemd glitten, lösten sie sich plötzlich wie auf Knopfdruck voneinander und keuchten heftig, ehe sie die Blicke voneinander abwandten und Zoras ihr Kleid losließ.

„Entschuldige…“ keuchte sie erhitzt und wagte nicht, ihn anzusehen, „Das war schlampig von mir, ich hätte nicht danach verlangen dürfen, niemals.“

„Vielleicht… ist es besser, wenn du gehst,“ murmelte er auch und rückte sein Hemd zurecht, als sie die Hände darunter hervorzog. „Ich weiß nicht, ob ich lange an mich halten kann, wenn du länger bleibst.“ Sie drehte ihm jetzt beschämt den Rücken zu und räusperte sich nach einer Weile des betretenen Schweigens, in dem sie nur ihrer beschleunigten Atmung gelauscht hatten.

„Laufen wir jetzt wieder drei Monde lang aneinander vorbei und sehen uns nicht an…?“ murmelte sie dann benommen, und er senkte den Kopf.

„Nein… ich will nicht zulassen, dass aus dir eine seelenlose Hülle wird, Salihahchen…“
 

Es war Kiuk, der etwa eine Woche später am Tor des Anwesens eine kuriose Bekanntschaft machte. Er war auf dem Weg hinaus, weil er trainieren wollte – ohne Nalani, denn der Gefahr, wieder so zusammenzubrechen wie zuvor, wollte er sie nicht aussetzen – da stand vor dem Tor, als er es mit Hilfe von Telekinese, was er inzwischen ganz gut beherrschte, geöffnet hatte, ein junges Mädchen mit braunen Locken in einem schicken rosa Sommerkleidchen, weißen Söckchen und schwarzen Schuhen. Um den Kopf trug sie ein violettes Haarband. Sie war offenbar erschrocken, als sich das Tor öffnete, und fuhr entsetzt zurück bei Kiuks Anblick.

„Ach du liebe Zeit!“ rief sie, und das dreimal hintereinander, und Kiuk fuhr ebenfalls entsetzt zurück, weil er nicht erwartet hatte, vor dem Tor könnte jemand stehen.

„Huch!“ machte er auch, „E-entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken…“ Er sah verwirrt auf die Kleine, die sich plötzlich am laufenden Band verneigte und dabei immer noch heftig atmete vor Schreck.

„Nein, es tut mir leid, ich bin einfach so herein geplatzt! Und ich habe meinem Vater gesagt, er solle mich heraufbringen, weil es doch seltsam aussieht, wenn ich kleines, dummes Mädchen einfach so vor dem Tore stehe, aber er wollte ja nicht auf mich hören und hat gesagt, er müsse schnell weiter und hätte keine Zeit und es würde schon in Ordnung sein! Und, jemine, jetzt stand ich hier und fragte mich, ob ich rufen oder klopfen sollte oder ob die Herrin vielleicht einfach so herauskäme, und Bumms, da ging mit einem Male die Türe auf und heraus kamt Ihr! Ich bitte vielmals um Verzeihung für mein ungehorsames Auftreten!“

Kiuk war so geplättet von ihrer hochgestochenen Rede und vor allem von der Menge ihrer Worte, dass ihm zunächst gar nichts einfiel.

„Ähm… aber… d-du bist doch gar nicht herein geplatzt, du bist doch noch draußen…“ war dann nach einer Weile, in der sein Hirn auf Hochtouren gearbeitet hatte, alles, was er hervorbrachte.

„Ich bitte vielmals um Vergebung – oh, Himmel und Erde, ich ungezogenes, garstiges Mädchen, ich habe völlig vergessen vor lauter Aufregung, mich vorzustellen!“ Kiuk hielt entsetzt die Luft an, als sie wieder wie ein Wasserfall zu reden begann und gar nicht aufhören wollte, da verneigte sie sich sehr tief vor ihm und er errötete vor so viel Höflichkeit – vor ihm hatte sich noch nie jemand verneigt… warum auch, er war ja nur der dumme Telepathensohn des Herrn der Geister… „Mein Name ist Sukutai Dotai!“ stellte sich das Mädchen vor, „Ich bin zwölf Sommer alt und ich komme von meinem Vater, Herrn Dotai, weil ich bei der Herrin Salihah eine Lehre bekommen soll, und sie hätte gesagt – also, oh nein, jemine, jetzt habe ich mich vertüdelt…“ Sie wedelte aufgeregt mit den Händen. Kiuk witterte eine Chance, sie zu unterbrechen, und holte gerade Luft, da war die Chance schon vorbei und sie redete weiter: „Also, mein Herr Vater hat gesagt, die Herrin Salihah hätte gesagt, ich solle dann am Nachmittage vorbeikommen und mich unterweisen lassen, und es würde dafür gesorgt, dass ich mit dem Sonnenuntergang wieder heim käme in das Dorf Tasdyna, wo das Haus meiner Familie liegt. Es ist nicht weit von hier und mein Herr Vater hat gemeint, die Herrin hätte gesagt, wenn ich nur am Tage hier wäre, wäre es schon in Ordnung, aber sie hätte-…“ Jetzt wurde es dem Jungen langsam zu viel.

„Halt, Moment mal, halt mal die Luft an!“ keuchte er, und sie gehorchte sofort und verneigte sich noch hundertmal mit ehrfürchtigen Entschuldigungen. „Verzeihung, äh, Sukutai, aber du redest ja ohne Punkt und Komma! – Atmest du zwischendurch auch?“ Er sah sie ungläubig an und sie schien zu überlegen.

„Ab und zu, ja, aber ich kann ganz lange die Luft anhalten, darin habe ich immer meine Schwestern geschlagen, wenn-…“ Er unterbrach sie erneut.

„Ist ja gut, ist ja gut, erzähl das später! – Also, ähm… mein Name ist Kiuk, Salihah ist meine Mutter. Du möchtest also zu ihr, nehme ich an? – Komm doch erst mal herein…“ Er trat zur Seite und ließ sie das Tor passieren, worauf sie sich abermals zu verneigen begann und es ihm langsam unangenehm war, so höflich behandelt zu werden – das war er definitiv nicht gewohnt. Kiuk schloss das Tor hinter sich wieder und musterte die Kleine vor sich wieder, die artig schwieg. Sie hatte die Hände in ihrem Schoß gefaltet und stand ganz brav auf demselben Fleck, als wartete sie auf eine Einladung. Kiuk seufzte.

„In Ordnung, ich… werde meine Mutter mal rufen und-… ah, da kommt sie ja schon.“ Sukutai drehte sich erstaunt um, als plötzlich die Tür des Schlosses aufging und Salihah bereits herauskam, gefolgt von Nalani, mit der sie gerade in der Küche dabei gewesen war, dem Küchenmädchen zu helfen. Sie hatten Früchte für einen Kuchen entkernt und Nalanis Hände waren noch blutrot vom Saft der Beeren. Salihah war so vorausahnend gewesen, die Hände vorher zu waschen.

„Ah, entschuldige, dass ich nicht eher gekommen bin,“ machte sie mit einer Kopfneigung, „Sukutai, es freut mich, dass du heil angekommen bist. Und das ganz allein. Ich bin Salihah, Frau von Kelar Lyra und für die nächste Zeit deine Lehrmeisterin, aber das weißt du ja, wie ich sehe.“ Nalani lugte auch neugierig auf das fremde Mädchen und sah dann zu Kiuk, der immer noch verwirrt daneben stand.

„Ja, es ist mir eine außerordentliche Ehre, Eure Schülerin sein zu dürfen!“ meldete Sukutai mit weiteren hundert Verneigungen, „Mein Herr Vater hat daheim immer viel erzählt, Ihr wärt die größte Seherin Tharrs und Ihr wärt die beste Seelenmagierin, und er hat mir gesagt, ich solle artig sein und Euch den allergrößten Respekt erweisen, weil Ihr Eure kostbare Zeit dafür opfert, mir nutzlosem Mädchen etwas Sinnvolles beizubringen!“

„Nun mal langsam,“ bremste Salihah sie aus, „Und hör auf, dich zu verneigen, dir wird schwindelig werden.“ Tatsächlich taumelte die Kleine jetzt kurz, als sie sich aufrichtete. „Meinen jüngeren Sohn Kiuk hast du vermutlich kennengelernt,“ Sie zeigte auf Kiuk, „Und das hier ist meine Schwiegertochter, die Frau meines älteren Sohnes, Nalani.“ Nalani neigte höflich den Kopf und Sukutai tat es ihr gleich. Salihah wandte sich an Nalani und Kiuk: „Sukutai ist die Tochter eines… Kollegen von mir sozusagen, ihr Vater ist Mitglied des Rates der Telepathen und er bat mich, seine Tochter zu unterweisen. Deine Lehre ist auch noch nicht ganz fertig, Kiuk, aber ihr werdet dann ja hervorragend gemeinsam üben können, vor allem, wenn Nalani in Tuhuli sein wird.“ Sukutai strahlte.

„Oh, was für eine Ehre!“ rief sie aus, und Kiuk räusperte sich perplex. Es war eine Ehre, mit ihm üben zu dürfen? Das waren wirklich ungewohnte Töne für ihn.

„Und, Sukutai… nenn mich nicht mit so respektvollen Namen, ich habe an Macht verloren und bin garantiert nicht mehr die beste Telepathin Tharrs. Aber es wird wohl noch ausreichen, um dir und meinem Sohn alles beizubringen, was ihr wissen müsst, wenn ihr gute Seelenmagier sein wollt.“
 

Sukutai war ein sehr fleißiges, artiges Mädchen und lernte schnell. Kiuk bekam nach einigen Übungsstunden, die sie absolviert hatte, schon Angst, sie würde ihn einholen, obwohl er schon sehr viel länger lernte und außerdem ein Jahr älter war als sie. Unverschämtheit, und dabei konnte er der kleinen Sukutai nicht mal böse sein, weil sie so höflich und immer freundlich war.

Kelar Lyra beobachtete die Lehre der Telepathenkinder mit Missgunst, unternahm aber nichts, letztlich war es ihm egal, ob Kiuk etwas lernte oder nicht. Dass dieses Mädchen, die Tochter des Ratsvorsitzenden Dotai, jetzt jeden Tag bei ihnen war, kostete ihn zwar Nerven, vor allem, da dieses Gör ununterbrochen quasselte und nie den Mund hielt, aber sie rauszuschmeißen wäre nicht sehr klug gewesen. Die Dotai-Familie war reich, sie besaßen Massen an Steinen, die als Zahlungsmittel herhielten auf Tharr, zu ihnen als Sponsoren einen guten Draht zu bewahren erschien ihm als äußerst praktisch.

„Sie scheint sich ja wieder gefangen zu haben…“ murmelte der Mann düster, als er eines Tages auf dem kleinen Balkon am Hauptturm des Schlosses stand, von dem aus er beinahe den ganzen Landkreis überblicken konnte. In der Ferne unten auf der Wiese übten Kiuk und Sukutai Teleportieren unter Salihahs Beobachtung. Neben Kelar stand Tabari auf dem Balkon.

„Wovon sprichst du, Vater?“ fragte er verwundert.

„Deiner Mutter. Zumindest ist sie fit genug, um kleinen Kindern Seelenmagie beizubringen. Ich gebe dir einen Rat, Sohn. Höre nicht auf deine Mutter, sie ist wie eine Schlange und windet sich mal hierhin, mal dorthin, wie es ihr passt! Ihre Zunge verbreitet böse Worte und Lügen im Land, sie hat mich verraten, obwohl sie als meine Frau an meiner Rechten sein sollte. Traue niemals einer Frau zu sehr, Tabari, von Grund auf sind sie die dunkle Seite der Gesellschaft.“

„Die dunkle Seite?“ schnaubte Tabari, „Das klingt etwas sehr übertrieben.“

„Nein, es ist logisch und wahr!“ blaffte Kelar ihn an, „Es gibt Vater Himmel und Mutter Erde. Vater Himmel repräsentiert den Mann, das Oben, das Licht! Und Mutter Erde repräsentiert die Frau, das Unten und die Finsternis! Dummer Junge, du bist alt genug, um diese Lehre zu verstehen!“

„Ja, entschuldige, Vater…“ murmelte Tabari verlegen und wandte das Gesicht von seinem mürrischen Vater ab. Sein Vater war ihm unheimlich geworden. Früher hatte er ohne Zweifel und ohne darüber nachzudenken einfach aufgesehen zu ihm und seine Worte wie goldene Regeln befolgt. Er war schließlich sein Vater, jeder Vater wollte das Beste für seine Kinder und kein normales Kind würde eher die Regeln seines eigenen Vaters bezweifeln als die eines anderen Mannes. Aber sein Vater wurde immer griesgrämiger und verbitterter… und der üble Streit zwischen ihm und seiner Mutter schmerzte Tabari genau wie Kiuk, auch wenn er es besser zu verstecken wusste als der jüngere Bruder. Welche Kinder befürworteten schon einen Streit ihrer Eltern?

In dem Moment wurde Tabari zum ersten Mal klar, dass der Streit seiner Eltern sehr viel tiefer ging und sehr viel grausamer war, als er angenommen hatte. Sie stritten sich nicht wegen Firlefanz, sie verabscheuten sich abgrundtief, demütigten sich gegenseitig und schlichen umeinander herum wie kämpfende Raubtiere, nur darauf lauernd, dass der Gegner eine Schwachstelle entblößen würde und sie zuschlagen könnten. Es war unheimlich, zu beobachten, wie sich die Gesichter seiner Eltern in furchteinflößende Grimassen verwandelten, sobald sie im selben Raum waren, wie ihre Augen vor Abscheu und Zorn funkelten und wie die Temperatur im Raum dann auch gleich merklich sank, so hatte der Blonde immer das Gefühl.
 

Er fragte sich, ob er und Nalani auch einmal so ein Paar sein würden, das sich gegenseitig umschlich und auf einen Angriffspunkt lauerte. Aber was zwischen ihm und seiner Frau war, war anders… seine Eltern hatten sich einst gemocht, Nalani und er hatten sich nie gemocht. Irgendwie gefiel ihm die Beziehung überhaupt nicht. Seine Frau war ihm gleichgültig, alles, was er in ihr sah, war die perfekte Schwiegertochter seines Vaters, alles, was er über sie dachte, war pragmatisch und drehte sich nur um seine Stellung in des Vaters Rangliste. Würde er endlich einen Sohn mit Nalani zeugen, wäre sein Vater stolz und würde ihm große Ehre zukommen lassen. Aber irgendwie war das nicht die Art von Beziehung, die sich der Mann von einer Ehe versprochen hatte… irgendwie war es nicht das, was es sein sollte.

In Dokahsan war es üblich, Kinder früh miteinander zu verloben, meistens ging es dabei um Bindungen bestimmter Familien, um Gute Partien. Seine Eltern waren auch auf diese Weise verheiratet worden, alle, die er kannte, waren so verheiratet worden, und bei manchen anderen, die er auf seiner Lehrreise getroffen hatte, war es nur rein körperlich; manche Männer kauften sich Frauen billig auf Viehmärkten, um eine Matratze und Putzmagd in einem zu haben. Solche schmutzigen Geschäfte gab es in höheren Kreisen wie dem, aus dem die Lyras kamen, nicht, aber ihm war auf der Reise aufgefallen, dass die niederen Bauern in den verkommensten Dörfern tatsächlich noch mit Menschen handelten und Frauen gegen Mehlsäcke oder Hühner tauschten. Manche hatten sogar mehrere Frauen.

„Vor dem Gesetz in Kisara ist es erlaubt, so viele Frauen zu haben, wie man möchte,“ hatte seine Mutter ihm einmal erklärt, „Unter der Bedingung, dass man für alle gleichmäßig sorgen kann und sie nicht wie Sklavinnen oder Tiere gehalten werden. In den Städten gibt es tatsächlich Leute, deren Arbeit es ist, das zu kontrollieren und Statistiken aufzustellen, aber in den Dörfern geht das meistens so einher und niemand kontrolliert, wer da wie viele Frauen hat und ob auch alle gesund sind. In unseren Kreisen ist es eher unüblich, mehrere Frauen zu haben, zumindest heutzutage. Vor einigen hundert Jahren war es vor allem für die reichen Männer Gang und Gebe, neben ihrer Hauptfrau noch diverse Nebenfrauen zu haben, um am besten mit jeder ein Dutzend Erben zu zeugen, die den Clan erweitern. In der Zeit vor den Städten galt ein Kerl, der viele Frauen hatte, als ganz toller Hecht, heute wird man mit mehr als zwei Frauen schon seltsam angesehen…“

Aber Tabari fragte sich missgelaunt, wie sich das zwischen ihm und Nalani mal entwickeln sollte. Wenn sie zur Lehre ging, würde er sie ein Jahr nicht sehen… Sinn der Isolation war, für dieses Jahr von Familie und Heimat getrennt zu sein, wobei die Bedeutung dieses Wortes sich in den Jahrhunderten verändert hatte. Früher war der Schüler ein Jahr lang komplett alleine mit seinem Meister irgendwo in der Einöde gewesen, ein Jahr lang, und hatte keinen Menschen außer seinem Meister zu sehen bekommen, um zu lernen, eins mit den Geistern zu sein. Da es inzwischen so viele Menschen gab, war das schwer, daher hatte man das Wort zweckentfremdet. Ob sich seine Frau in dem einen Jahr in Tuhuli verändern würde? Es ärgerte ihn, dass ihnen so ein Jahr genommen wurde, in dem sie ihre Differenzen beheben könnten; sie würde ihn noch genauso hassen wie jetzt, wenn sie zurückkam. Und sie würde ihm noch genauso egal sein wie sie es jetzt war.
 

Sein Vater riss ihn aus seinen Gedanken.

„Was deine Wachtel angeht,“ schnarrte er ganz plötzlich, „Hast du sie inzwischen mal gezüchtigt und gehorcht sie dir jetzt?“ Tabari hustete vor Schreck und starrte ihn an, und Kelar Lyra hob bei der heftigen Reaktion die Brauen.

Also offenbar nicht. Was war sein Sohn für ein Waschlappen?

„Ich, wir… wir haben, ähm… diskutiert,“ machte der Blonde dann nervös – sein Vater durfte auf keinen Fall erfahren, dass er sich seit ihrem Blutritual kein einziges Mal das Bett mit ihr geteilt hatte… „Wir einigen uns schon, meine ich. Du kriegst noch deinen Erben, sei unbesorgt!“ Kelar Lyra verengte die Augen ungläubig zu Schlitzen.

„Einigen?!“ schnaubte er fassungslos, und Tabari räumte hustend ein:

„Also, wenn sie sich sträubt, schlage ich sie blutig und mache sie mir hörig, meine ich! Keine Sorge!“ Sein Vater spuckte ihm vor die Füße.

„Jetzt sieh dich mal an, du Jammerlappen! Kein Wunder, dass dir die Wachtel auf der Nase herumtanzt! Du musst ihr zeigen, wer der Mann ist, verflucht, du sollst dich nicht einigen mit ihr! Es ist doch egal, was sie will, Hauptsache, sie spurt!“ Tabari senkte gehorsam den Kopf, vor allem deshalb, weil er den strengen Blick des Vaters inzwischen fürchten gelernt hatte. Er war nicht mehr das unfehlbare Musterkind, das immer gelobt wurde… inzwischen wurde er sogar mehr getadelt als Kiuk, hatte er das Gefühl. Es war wie bei seinem Vater, wie seine Mutter ihm einst erzählt hatte. Was aus Kelars Schwester Pet wurde, war allen egal gewesen, und auf Kelars Erziehung hatten sie streng geachtet. Genauso war es allen egal, was aus Kiuk wurde, der war ja kein Hoffnungsträger des Clans.

Aber er, Tabari, war das… und er musste perfekt sein.

Und das war etwas, das er nie gekonnt hatte und nie können würde.

In dem Moment hatte Tabari das Gefühl, dass egal was er tat, seinem Vater nie ein perfekter Erbe sein würde, seiner Mutter sie ein liebevoller Sohn, Kiuk niemals ein vorbildlicher Bruder und am wenigsten Nalani ein guter Ehemann…
 

Kiuk und Sukutai verstanden sich prächtig und konnten hervorragend gemeinsam trainieren, um ihre Fertigkeiten mit der Seelenmagie zu optimieren. Salihah sah mit Verwunderung, dass sich das Mädchen offenbar trotz der eisigen Stimmung wohl fühlte bei ihnen. Und sie redete in einem fort.

„Ich bedanke mich sehr für Euer Lob wegen der Fortschritte, Herrin, es ist mir wahrlich eine Ehre, aus Eurem Mund Lob zu vernehmen. Und mein Vater lässt ausrichten, dass er Euch auch zu tiefstem Dank verpflichtet sei, weil Ihr Eure kostbare Zeit und Kraft für mich hergebt,“ plapperte sie, als sie zwischendurch Pause machten und gemeinsam mit Salihah auf einer Wolldecke im Gras saßen und kurz etwas tranken. Es war warm geworden, der Sommer kam. Der Sommer, in dem Nalani nach Tuhuli kommen würde, dachte Salihah bei sich, wusste ihre Gedanken aber vor den Kindern zu verschließen; Telepathen konnten Gedanken lesen, aber auch dafür sorgen, dass ihre eigenen nicht gelesen werden konnten, wenn sie es nicht wollten. Das Lesen konnten sie von Geburt an mehr oder minder gut, das Verschließen war eine langwierige Übungssache, die sie mit den beiden später angehen würde.

„Du sollst aufhören, dich zu bedanken, Sukutai,“ seufzte die Frau dann kopfschüttelnd, „Bedanke dich am Ende, wenn du ausgebildet bist, bevor ich es mir anders überlege.“

„Entschuldigt bitte vielmals, ich war ungehorsam,“ machte das Mädchen kleinlaut und senkte den Kopf, worauf ihre braunen Zöpfe über ihre Schultern rutschten. „Mein Herr Vater beschwert sich auch immer, ich würde zu viel reden, ich komme mir scheußlich vor, ich falle bestimmt allen auf die Nerven!“

„So habe ich das nicht gemeint,“ meinte Salihah und musste kurz lächeln, „Mach dir keine Gedanken. Du bist sehr wohlerzogen. Deine Eltern können stolz auf dich sein.“

„Vielen Dank – äh, ich meine, entschuldigt, ich wollte ja nicht mehr…“ Kiuk musste kichern.

„Statt deinen Hofknicks zu üben solltest du lieber lernen, dich anständig zu teleportieren!“ neckte er sie grinsend, „Sonst holst du mich ja nie ein!“

„Ach!“ Sie sprang auf und er tat es ihr gleich, und die Frau beobachtete die Kinder stirnrunzelnd, als sie anfingen, sich durch die Gegend zu teleportieren und sich zwischendurch wie kleine Kätzchen zu jagen, „Und ich dachte, du ärgerst dich, wenn ich dich einhole?“

„Schaffst du ja doch nicht.“

„Ach so, na warte, ich zeig’s dir!“ rief sie lachend, und die Jagd ging weiter. Salihah seufzte tief und rieb sich stöhnend die Schläfen. Die Kopfschmerzen waren mal da und mal nicht, aber auch mit der Entsorgung sämtlichen Laudanums im Anwesen war nichts besser geworden. Weder waren die Schmerzen ganz weg noch war ihre Sehkraft wieder besser geworden. Sie wusste nicht, woran es lag… sie sollte dringend einen Heiler aufsuchen, das hatte selbst Nalani ihr geraten, aber bei den wirklich begabten Heilern hatte sie vorerst verspielt; die hatte sie sich mit ihrem Gerede im rat nicht gerade zu Freunden gemacht, zumindest war der Ratsvorsitzende davon überzeugt, sie wäre eine Schlange mit gespaltener Zunge und eine Lügnerin. Bevor diese Leute sie heilten, vergifteten sie sie eher, fürchtete sie. Sie würde also alleine zurecht kommen müssen… sie konnte sich nicht jedes Mal, wenn sie sich nicht wohl fühlte, in Zoras Chimalis‘ Arme werfen, nur, weil ihr der Kopf danach stand und ihr Geist es sogar noch mehr verlangte als ihr Körper.

Es wird gut sein, wenn Nalani die Lehre bekommt… wenn sie zurückkehrt als Erwachsene, als ausgebildete Schwarzmagierin, wird sie eine bessere Fessel für Kelars Dämon sein als ich… sie ist mehr als nur eine geborene Geisterjägerin… sie ist die geborene Königin.

Die Mächte der Schöpfung gingen mitunter seltsame Wege, um das Gleichgewicht der Welt zu erhalten. Sie dachte stirnrunzelnd an die Vision, die sie vor langer zeit gehabt hatte, vom Fall des Clans, die Schreckensnachricht, die sie Kelar gebracht hatte.

Sie fragte sich, ob ihr Sehvermögen damals schon gefehlt hatte… ob sie sich tatsächlich damals schon zum ersten Mal geirrt hatte. Bisher waren alle ihre Prophezeiungen wahr geworden. Nur diese eine nicht. Es war ihr innerster Instinkt, der ihr sagte, dass auch Nalani ein Schlüssel zur Lösung dieses Traumes sein musste… in der Nacht, in der sie den Traum gehabt hatte, hatte sie Nalani gesehen, obwohl sie sie damals noch gar nicht gekannt hatte. Und dennoch hatte sie gewusst, wer die Frau in ihrem Traum gewesen war… sie war ein wichtiger Schlüssel.

Ob ich mich geirrt habe oder nicht… der Clan wird fallen, egal durch wessen Hände. Wenn Kelar die Macht über ganz Dokahsan bekommt und mit seinem Dämon alle wahnsinnig macht… werden wir alle sterben. Mit allem, was ich bin, werde ich das verhindern… und wenn es das Letzte ist, das ich jemals tue.

Mit diesen düsteren Gedanken hob sie den Kopf gen Himmel und beobachtete die kleinen, weißen Wolken in dem sanften Türkis.

„Ihr Ahnen, ihr Geister… seid barmherzig mit dem Mädchen des Schattenclans…“ murmelte sie apathisch, „Sie ist zu weit Größerem bestimmt, als sie annehmen mag.“
 


 

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XD ja, wow, nichts tolles passiert... außer dass Sukutai endlich aufgetaucht ist (wie angenehm, mal was lustiges zu schreiben zwischen all dem Drama hier uû), Tabari zu denken lernt und Salihah immer böser wird. oô

Der Clan der Kondorgeister

Der Tag, an dem der Sommer endgültig nach Lyrien kam, war der Tag für Nalanis Reise nach Tuhuli. Das Mädchen wusste es schon in der Nacht davor, weil sie von der Stadt träumte. Und sie wachte im Morgengrauen auf und der Sommer war plötzlich da. In einem heißen, glühend roten feuer ergoss er sich hell über den blassgrünen Himmel des Morgens in der Richtung der aufgehenden Sonne, und das Sommerlicht überflutete das Hügelland und die Wiesen von Vikhara, der Region von Lyrien, in der das Schloss stand. Nalani setzte sich im Bett auf und starrte mit großen, blauen Augen zum Fenster und direkt in das Licht des Sommertages.

Es ist soweit. Heute ist der Tag gekommen!

Neben ihr im Bett drehte ihr Mann sich verpennt auf den Rücken, zuvor hatte er ihr den Rücken gekehrt. Er wagte nicht, sie nachts anzusehen, während er neben ihr lag, aus Angst, er könnte auf die Idee kommen, mit ihr zu schlafen, denn dann würde sie ihn beim bloßen Versuch eigenhändig erwürgen oder Schlimmeres. Jetzt schlug er blinzelnd die Augen auf und sah seine hübsche Frau neben sich im Bett sitzen und hinaus starren.

„Was ist los?“ nuschelte er, „Wieso bist du schon auf?“ Sie antwortete ihm nicht – das tat sie selten, er war es gewohnt, dass sie nicht mit ihm sprach. Er sah auch aus dem Fenster in der Hoffnung, sie verstehen zu können. Das Licht draußen war hell und flammend. „Es wird heiß werden heute…“ erklärte er langsam, „Der Sommer ist da!“

„Ja…“ sagte Nalani jetzt, und er sah sie blinzelnd an, als sie sich aus dem Bett schälte und statt sich umzuziehen einen Sack unter ihrem Kopfkissen hervorzog, in den sie Dinge zu stopfen begann. Kleider, Haarnadeln… Tabari setzte sich auf und kratzte sich am Kopf.

„Was… soll das?“ wunderte er sich. Sie hielt inne, als sie gerade das Erbstück ihrer Familie gegriffen hatte, den Dolch Kadhúrem, den sie gut verwahrt hatte. Dann drehte sie sich zu ihm um.

„Heute ist der erste Sommertag,“ meinte sie, „Der Tag, an dem ich nach Tuhuli gehen werde.“ Er sah sie verblüfft an und sein Blick wanderte auf ihren Dolch.

„Du bist dir so sicher, dass du tatsächlich gehen wirst?“ fragte er, „Ich werde mich dir nicht in den Weg stellen, aber mein Vater garantiert.“ Sie warf ihm einen kalten Blick zu und stopfte dann den Dolch in den Sack.

„Wenn ich nach Tuhuli gehen will, werde ich gehen,“ erklärte sie kühl. „Dieser Dolch ist ein Erbstück meiner Familie, des Kandaya-Clans, sie nannten ihn Kadhúrem. Es ist eine Ehre für mich, ihn tragen zu dürfen, und ich will dieser Ehre würdig sein und eine gute Magierin werden. Genau wie du möchte ich, dass mein Vater im Geisterreich stolz auf mich ist.“ Er starrte sie an, als sie sich umdrehte und jetzt damit begann, ihr Nachthemd auszuziehen und sich ein schlichtes Kleid für den Tag anzuziehen. Sie hatte keine Probleme, sich vor ihm umzuziehen; er hatte mit ihr geschlafen beim Blutritual, er kannte sie nackt, warum sollte sie sich schämen?

Tabari senkte verlegen den Kopf weg und sah ihr nicht weiter beim Umziehen zu. Er konnte sich ja beherrschen, aber er kam sich albern und widerlich vor, sie dabei so anzugaffen, als wäre sie eine Attraktion im Zirkus. Und Zirkus war ein grausames Spiel, um die Leute in Städten zu unterhalten, hatte er gelernt auf seiner Reise.

Sie wollte ihre Eltern stolz machen… im Grunde waren sie und er gar nicht so verschieden. Warum verabscheuten sie sich dann gegenseitig, fragte er sich… das Schicksal hatte sie nicht auf besonders gutem Wege zusammen geführt. Plötzlich fiel ihm auf, dass er gar keine Abscheu oder Panik vor Unheil in ihrer Nähe empfand, und wie sie so mit ihm sprach und wie sie unbedingt diese Lehre wollte, war irgendwie rührend und so ganz anders als die kalte Nalani, die sonst immer bei ihm war. Er konnte verstehen, warum sie kalt war… niemand außer vielleicht seiner Mutter oder Kiuk war besonders nett zu ihr gewesen, weder er noch sein Vater, der schon gar nicht. Sie hatte ihre Eltern früh verloren und hatte damals keine zeit zum Trauern bekommen… Zeit, die man aber brauchte, wenn man so klein war, Zeit um zu begreifen, was geschehen war. Mit einem Mal fühlte er sich grausam und mies, weil er sie mit Füßen getreten hatte und weil er darüber nachgedacht hatte, sie mit Gewalt zu nehmen, wie sein Vater es ihm geraten hatte. Sie war ein Mensch und kein Spielzeug, mit dem er tun und lassen konnte, was er wollte… und das war etwas, was sein Vater ihm nicht beigebracht hatte. Man musste die Lebensgeister respektieren, in höchstem Maße. Nalani hatte einen Lebensgeist, einen Namen, sie war ein Mensch, der lebte, und kein Ding. Es war eine Offenbarung gewesen, die die Himmelsgeister ihm einst beschert hatten, und er war etwas verwirrt gewesen, dass sein Vater darüber nie gesprochen hatte während der Lehre. Sein Vater mochte viel recht haben, aber die Geister irrten sich auf keinen Fall.

„Wir werden uns lange nicht sehen, Tabari,“ bemerkte Nalani dann, als sie angezogen war und sich wieder zu ihm umdrehte, und er hob langsam den Kopf. Er hätte gerne etwas zu ihr gesagt… aber ihm fiel nichts Passendes ein.

Es gab nichts passendes, was man ihr sagen konnte.
 

Es war eine stumme Absprache zwischen Salihah und Nalani gewesen, dass sie am ersten Tag des Sommers – am ersten heißen Tag des Jahres – nach Tuhuli gehen würde. Sie hatten nie darüber gesprochen, weil Kelars Ohren überall sein konnten. Sie mussten schnell und plötzlich handeln, wenn sie ihn austricksen wollten, bevor er eine Chance hatte, sich etwas Grausames auszudenken, um die Reise nach Tuhuli zu verhindern. Salihah hatte sich mit Nomboh Chimalis nur kurz darüber beraten und er würde ihnen entgegen kommen und Nalani abholen. Er war Geisterjäger, Salihah hatte keine Zweifel, dass das Mädchen bei ihm in Sicherheit wäre.

Nalani nutzte am Nachmittag die Gelegenheit, dass Salihah ihren Mann mit Diskussionen beschäftigte, um sich von Kiuk und Sukutai zu verabschieden, die gemeinsam trainierten. Sie kannte sich zu wenig aus mit der Seelenmagie, um das fair beurteilen zu können, aber sie glaubte, die beiden würden gute Fortschritte machen.

„Ihr geht fort, junge Herrin? Oh je, hättet Ihr früher etwas gesagt, hätte ich einen Kuchen gebacken für Euch zum Abschied! Ich backe unheimlich gern Kuchen, meine Frau Mutter hat mir viel beigebracht in Tasdyna und-…“ Sie plapperte schon wieder und Nalani starrte sie entsetzt an – wenn sie so viel redete, würde Kelar es doch noch mitbekommen!

Kiuk begriff zum Glück und hielt seiner Trainingspartnerin etwas unsanft die Hand auf den Mund, worauf sie sich schüttelte und zurückfuhr, ihn erschrocken anstarrend.

„Du liebe Zeit, Kiuk, so weit sind wir aber noch nicht, dass du mir auf den Mund fassen solltest, du Schlingelchen!“ Er hustete und errötete über und über, bevor er verlegen zischte:

„S-so war das doch gar nicht gemeint! D-du sollst nur still sein, bitte… verzeih mir, aber mein Vater darf nicht wissen, dass Nalani fort geht! – Warum redest du mich eigentlich nicht im Plural an als Einzigen hier?“ Sie sah ihn aus ihren grünen Augen an und schien einen Moment lang völlig aus der Bahn gerissen – dann lächelte sie glücklich.

„Na, deine Eltern sind Respektspersonen und dein Bruder ist auch als Erbe deines Vaters ein hohes Tier, ebenso seine Frau – aber wir beide sind doch Freunde, die duzen sich doch, oder?“ Jetzt hatte sie ihn komplett rot anlaufen lassen und mit einem hastigen keuchen drehte er sich um, um ihr Lächeln nicht länger sehen zu müssen. Nalani musste leise kichern über das Verhalten der beiden, während Sukutai energisch versuchte, Kiuk wieder umzudrehen, aber er wollte sie weder ansehen noch weiter reden. Das braunhaarige Telepathenmädchen hatte offenbar keine Ahnung und Kiuk war zu schüchtern, um es zuzugeben, aber Nalani wusste genau, was sich aus den beiden offensichtlich entwickeln würde, wenn das so weiterging.

„Ich wollte mich also ganz inoffiziell von euch verabschieden,“ unterbrach sie die beiden Turteltäubchen dann, worauf beide sie wieder ansahen, wobei Kiuk sein flammendes Gesicht zu verbergen versuchte und Sukutai strahlte und überhaupt nichts kapierte. „Mach dir nicht so viele Gedanken, Sukutai, auch wenn du deine Lehre sicher vor meiner fertig hast werden wir uns garantiert wiedersehen, dann kannst du mir ja immer noch einen Kuchen backen.“

„Wirklich? Ihr würdet einen haben wollen von mir, Herrin? Das ist eine überaus große Ehre für mich, die ich doch…“

„Ja, ja, schon gut,“ wimmelte die Schwarzhaarige sie mit verdrehten Augen ab. „natürlich würde ich einen haben wollen, es würde mich ehren. Für mich hat noch niemand einen Kuchen gebacken. Und hör bitte auf, Herrin zu mir zu sagen, ich bin bloß ein Jahr älter als du und keine Königin.“

„Ich werde versuchen, es zu berücksichtigen, und verzeiht bitte, wenn ich Euch auf die Nerven fallen, He-… ähm, ich meine, Nalani,“ machte Sukutai mit tausend Verneigungen, und Nalani musste kurz grinsen. Dieses Mädchen war unverbesserlich.

„Ich wünsche dir alles Gute,“ murmelte Kiuk noch immer etwas verlegen und lächelte auch, „Du wirst mir fehlen, Schwester.“ Nalani lächelte gerührt zurück.

Schwester…

„Ich danke dir, Kiuk,“ flüsterte sie, „Du… bist für mich auch wie ein Bruder.“
 

Es dämmerte, als Nalani in ihrem Schlafzimmer saß, auf ihrem Schoß der Beutel mit ihren gepackten Sachen. Sie sah aus dem Fenster in das Licht des Abends, das den Himmel stärker noch als am Morgen in Flammen setzte. Es sah wunderschön aus und Nalani betrachtete gern den Himmel in seinem Farbfeuer. Es war, als wären es die Himmelsgeister, die die Farbschlieren über den Himmel zogen… so musste es sein! Ja, sie konnte sie sehen, wie sie flogen in dieser Welt zwischen den Lebenden und den Toten…

Es war in diesem Moment, dass Salihah zu ihr ins Zimmer kam. Sie war sehr in Eile.

„Rasch, auf!“ forderte sie und zog das Mädchen auf die Beine, „Wir brechen umgehend auf. Ich bringe dich bis Zur Straße von Danril, dort wird Nomboh auf uns warten und dich abholen. Rasche, beeil dich!“

„Was ist mit Kelar?“ keuchte Nalani und nahm ihre Sachen, bevor sie sich einen Umhang überwarf und sie die Treppen hinab und zum Tor eilten. Salihah trug einen schwarzen Mantel mit Kapuze, die sie sich jetzt überschlug. Im Hof vor dem Haupttor hatten die Diener zwei Pferde vorbereitet.

„Der schläft, ich habe ihm Schlafpulver in den Wein gekippt beim Abendbrot, ich bin mir aber sicher, dass es nicht allzu lange halten wird, weil Schlafmittel bei ihm noch nie wirklich gewirkt haben,“ entgegnete die Frau prompt, und Nalani hustete. „Aber es wird uns einen annehmbaren Vorsprung verschaffen. Rasch, steig auf!“ Damit sprang sie behände auf eines der Pferde und Nalani nahm das andere, ehe ihre Schwiegermutter mit einer Handbewegung mittels Telekinese das Tor öffnete. Sie ließ Nalani vor sich reiten, folgte ihr und schloss das Tor hinter sich wieder. Dann galoppierten sie den Weg hinab bis zur Straße, die nach Tuhuli führte. Auf der Straße waren sie zwar leicht zu finden, aber es war der schnellste Weg bis nach Danril.

„Du nimmst ein zu großes Risiko auf ich, wenn Kelar weiß, dass du mir dabei hilfst, Salihah!“ keuchte Nalani und sah über die Schulter, „Er wird dich töten dafür!“

„Besser mich als dich!“ zischte die Frau hinter ihr, und Nalani starrte sie an – das konnte sie doch nicht ernst meinen…

„K-kehr um! Ich finde den Weg nach Danril schon alleine, es geht doch immer nur geradeaus! Wenn du jetzt umkehrst, kann ich noch sagen, ich wäre alleine abgehauen…“

„Das wird Kelar nie glauben, er weiß, dass ich dich wegbringe,“ machte Salihah, „Er mag wahnsinnig sein, aber dumm ist er deshalb noch lange nicht. Und er kennt mich… quasi mein Leben lang, er weiß ganz genau, was ich wagen würde und was nicht. Ich werde dich nicht alleine lassen, denn wenn er wach wird, wird er uns beide töten wollen, wenn ich bei dir bin, kann ich zumindest dein Leben vor ihm beschützen. – Mach dir keine Sorgen, so weit wird es nicht kommen.“ Sie sah in den Himmel und plötzlich schlich ein seltsames Lächeln in ihr Gesicht, das von der Kapuze halb verborgen wurde. „Sieh… es wird dunkel.“
 

Nalani war verschwunden. Tabari, der noch in der Küche seine Jagdmesser geschliffen hatte, kam ins Schlafzimmer und fand es leer vor.

Dann ist sie jetzt also weg… und was ist mit Vater?

Er drehte sich hastig um, als er plötzlich wütendes Gezeter von unten hörte, es folgte lautes Poltern und dann kreischte ein Dienstmädchen. Tabari riss entsetzt die Augen auf und stürzte zur Treppe, um hinunter zu sehen. Er sah seinen Vater, der in der Halle stand und leicht taumelte, vor ihm am Boden lag das Küchenmädchen, aus ihrer Nase rann Blut.

„B-bitte, Herr! S-seid gnädig, ich weiß wirklich nichts!“

„Du dreckige Hure!“ brüllte Kelar wutentbrannt und trat nach der Frau, die aufschrie und sich wie ein Wurm zusammenkrümmte, „Du Schlampe, wo ist meine Frau?! Wo ist sie?! Sie ist mit der Wachtel fort nach Tuhuli, du hättest sie nicht gehen lassen dürfen! Niemand hätte sie gehen lassen dürfen! Verdammt, warum finde ich mich wie betrunken auf dem Sofa in der Stube und erinnere mich an nichts?! JETZT ANTWORTE, du mieses Stück Dreck!“ Er trat abermals nach der Frau und sie schrie und wimmerte, als er immer wütender wurde, bis er mit dem Fuß unter ihr Kinn trat und ihr Kopf mit einem Ruck zurückgeworfen wurde. Es knackte unschön und das Mädchen lag leblos am Boden. Tabari hechtete jetzt entsetzt die Treppe hinab, während hinter ihm Kiuk auftauchte, der sich aber hütete, in die Nähe des tobenden Vaters zu kommen.

„Vater!“ schrie der Blonde, „W-was hast du getan, du hast das Küchenmädchen getötet!“

„Geh aus dem Weg, du Nichtsnutz!“ brüllte Kelar ihn an, und Tabari, der noch sinnloserweise nach dem Puls der Frau fasste, erhob sich sehr schnell wieder, weil er fürchtete, sein Genick würde als nächstes brechen, würde er am Boden hocken bleiben.

„Was ist in dich gefahren, Vater? Woher soll das Mädchen denn wissen, wo Mutter und Nalani sein mögen?!“ Kelar schnappte nach Luft und Kiuk oben traute seinen Ohren nicht – was tat sein Bruder da?

Er tadelte den Vater? Seit wann denn das?

Kelars Ausdruck wurde grimmiger, als er schnaubend den blonden Sohn fixierte und seine Hände wutentbrannt zu Fäusten ballte.

„Du…“ keuchte er bebend vor Zorn, „Du hast deine Frau ziehen lassen… du warst einverstanden… habe ich recht?! Und lüg mich nicht an, wage es ja nicht, Tabari… es wäre das Letzte, das du tust…!“ Tabari keuchte und starrte ihn an – aber ehe er sich eine Ausrede überlegen konnte, wechselte sein Vater prompt das Thema und sprach plötzlich mit sich selbst: „Oh, Salihah, du Närrin, du elende Verräterin… was immer du mir für eine Droge ins Essen gemischt haben magst, du wirst dafür bezahlen… das ist dein Werk, ich spüre es mit jeder Faser meines Körpers! Und vorhin in der Stube hast du scheinheilig getan, du Schlange, du widerwärtige Sadistin…! Das wirst du bitter bezahlen!“

„Vater, warte…!“ keuchte Tabari und trat zurück, da fuhr Kelar plötzlich wütend zu ihm herum und schlug nach ihm – der Sohn war flink genug, auszuweichen und sprang zurück in Richtung Treppe. Nun nicht mehr in des Vaters Weg stürmte dieser fluchend aus der Tür, hinaus aus dem Schloss. Als die Tür ins Schloss knallte, standen die beiden Söhne heftig atmend einfach nur da.

Dann sprach Kiuk.

„W-was ist hier nur los?! Ist er jetzt wirklich nur wegen Nalanis Lehre so außer sich?! W-was machen wir denn jetzt?! Er wird in seinem Wahnsinn das Schloss in Brand stecken oder so…“

„Fasel nicht, Kiuk!“ blaffte Tabari den Jüngeren an, „Entsorg die Leiche, ich versuche, ihn zu beruhigen!“

„Was, du?! Du kannst das nicht!“ schrie Kiuk panisch, als der ältere Bruder aus der Tür und dem Vater nachjagte, „Tabari, nicht! E-er bringt dich um!“ Doch Tabari war bereits weg und Kiuk sank am oberen Treppenende stöhnend zu Boden. Er zitterte und fühlte sich plötzlich erschöpft, als wäre er den ganzen Tag gerannt.

Ein Schatten der Dunkelheit wehte über das Land.
 

Salihah spürte die Warnung der Geister wie einen kaum merklichen Stich in ihrem Kopf, und sie fuhr herum, während sie das Dorf Gahti passierten und weiter nach Norden rannten.

Kelar ist hinter uns her… das hat ja noch kürzer gewirkt als ich gedacht habe… verflucht!

„Rascher!“ befahl sie Nalani vor sich, „Beeil dich, wir müssen Nomboh bei Danril erreichen, bevor Kelar uns einholt!“

„Er ist schon hinter uns her?!“ fragte die Jüngere entsetzt und gab dem Pferd die Sporen. Sie rasten so schnell die Pferde sie tragen konnten über das nächtliche Land und die leere Straße. Sie hatten Gahti hinter sich gelassen, da war es noch etwas anderes, was Salihah wahrnahm. Plötzlich verringerte sie das Tempo etwas und Nalani bremste ebenfalls und sah sie verwirrt an.

„Was ist?“

„Ich weiß es nicht genau…“ murmelte die Frau, „Aber irgendwie… scheinen die Geister dieser Nacht es gut mit uns zu meinen…“

„Was meinst du?!“

„Irgendetwas hat Kelar gerade angehalten.“
 

Der Herr der Geister stoppte in eben diesem Moment einige Meilen weiter südlich, als er gerade den Weg nach Norden eingeschlagen hatte und ihm direkt vor dem kleinen Wäldchen, das die Straße durchquerte, plötzlich der Weg versperrt wurde. Kelar Lyra schnaubte wütend und hob herrisch den Kopf, als er sein gegenüber schließlich erkannte.

„Das hätte ich mir wohl denken sollen, oder wie? Geh mir aus dem Weg, oder ich reiße dich in Stücke, Chimalis.“

Zoras Chimalis fürchtete sich nicht im Geringsten vor dem Älteren.

„Ich weiß, was du vorhast… aber deine abenteuerliche Reise endet hier. Da wirst du mich wohl… in Stücke reißen müssen, wenn du deiner Frau nachjagen willst!“ Kelar Lyra schnaubte wütend und hob drohend den Speer, den er mitgenommen hatte, während das Pferd, auf dem er saß, unruhig hin und her tänzelte.

„Du forderst mich offen heraus, Chimalis? Das ist entweder sehr mutig oder sehr dumm! Du kennst diesen goldenen Speer, er hat dich… schon einmal beinahe getötet! Ich könnte es wieder tun und es dieses Mal beenden…“

„Ja, das könntest du,“ machte der andere kalt, „Das hier ist kein Wettkampf um den Titel des Herrn der Geister, Kelar. Ich fürchte weder Tod noch Schmerz, das solltest du aber langsam mal wissen!“

„Du elender…! Du wagst es, dich über mich lustig zu machen…“ zischte der Herr der Geister, „Du solltest vor mir knien, Zoras Chimalis, du solltest dich verneigen und knien vor dem Herrscher Lyriens, du Made…“ Zoras Chimalis seufzte.

„Mit dem Knien hab ich's nicht so, ich hab's momentan mit dem Rücken, weißt du…?“

„Eigentlich gehörst du sogar gevierteilt für deine Frechheit… für die Schweinereien, die du mit meiner Frau getrieben hast, du elender Dreckshund…“

„Wir können auch um das Recht auf Salihah kämpfen, wenn dir das lieber ist, aber ich glaube nicht, dass die Gute das gerne sehen würde…“

„ICH ZERFLEISCHE DICH, CHIMALIS!“ brüllte der Mann und wollte gerade sein Pferd antreiben, um den Mann vor sich einfach umzunieten, da ertönte ein Schrei hinter ihm und er fuhr schnaubend herum. Tabari tauchte bei ihnen auf, der den Hügel herab gerannt war.

„Vater, halt ein mit dem Wahnsinn!“ keuchte er, „Wir können das doch friedlich klä-… Zoras Chimalis?!“

„Geh mir aus dem Weg!“ warnte Kelar seinen Kollegen, „Ein letztes Mal sage ich das jetzt! Oder ich schicke dich gemeinsam mit deiner Hure und der Wachtel in die ewigen Jagdgründe!“

„Du kannst Nalanis Lehre nicht verhindern, sieh es ein,“ entgegnete der Geisterjäger ungerührt und zog seelenruhig eine schwarze Feder aus seiner Tasche, „Es ist zu spät, du weißt das selbst. Und du weißt, wer sie ist… sie ist Thono Kandayas Tochter, das Kind eines Geisterjägers! Du fürchtest dich davor, sie könnte mehr Macht erlangen als du, wenn sie sich fortbilden darf… du kannst es nicht verhindern.“

„Niemand hat mehr Macht als ich!“ brüllte der Mann zornig und riss den goldenen Speer wütend in die Luft. Mit einem Krachen aus dem dunklen Himmel schlug ein gleißender Blitz in die Spitze ein und es entstand eine grell leuchtende Kugel aus wirbelnder Energie. „Niemand beherrscht mich, Chimalis! Weder diese Wachtel… noch meine Frau… und am wenigsten du!“

„VATER, NICHT!“ brüllte Tabari fassungslos über die Tatsache, dass er offenbar wirklich seinen Kollegen angreifen wollte – aber Zoras war schneller und ehe Kelars Blitzkugel die Stelle krachend erreichte, wo er eben noch gestanden hatte, war der Mann plötzlich hinter Kelars Pferd und hob seine Feder in die Höhe. Der Himmel grollte.

„Nalani wird nach Tuhuli kommen… und wenn du es wagen solltest, meiner Familie zu nahe zu kommen, Kelar, du grausamer Dämon… dann wirst du es sein, der kniet und um Gnade winselt, das schwöre ich dir! Denn ich kann grausamer sein, als du dir vorstellen magst… ich bin der Clanführer des Chimalis-Clans, der Herr über die Geister der Todesvögel! Und du solltest mich fürchten lernen, wenn du nicht vollkommen dumm sein willst… und das sage ich auch nur einmal, Kelar.“
 

An der Kreuzung der Hauptstraße mit dem kleinen Sandweg, der zum Dorf Danril führte, wartete Nomboh mit einer kleinen Kutsche bewaffnet, als Salihah und Nalani ankamen. Die Ältere zog sich rasch die Kapuze vom Kopf, um sich zu erkennen zu geben, als der Geisterjäger aus der Kutsche kletterte.

„Ihr seid pünktlich, alle Achtung,“ meinte er nickend, doch Salihah hatte keine Zeit für Späße.

„Nalani, rasch, steig in den Wagen. Nomboh wird dich auf schnellstem Weg nach Tuhuli bringen, ich werde zurückgehen und versuchen, Kelar davon abzuhalten, alles nördlich unseres Schlosses in Brand zu stecken.“

„Pass bitte auf dich auf!“ machte Nalani besorgt, die brav von ihrem Pferd sprang und Nomboh sie in die Kutsche schob.

„Ja, tu das, das Volk hat schon genug Ärger,“ machte er dabei zu Salihah, „Was Kelar so treibt, ist sicher nicht die Arbeit eines Gouverneurs sondern eher die eines Tyrannen.“

„Ich dachte, er hätte angehalten…?“ murmelte das Mädchen in der Kutsche, und Salihah setzte die Kapuze wieder auf und wendete ihr Pferd, Nalanis nun reiterloses Tier nahm sie am Zügel.

„Ja, aber ich traue der Ruhe nicht… irgendetwas passiert, ich habe ein ungutes Gefühl. – Nomboh, beeil dich! Ich überlasse dir Nalani reinen Gewissens… gib gut auf sie acht, wehe, ihr fehlt ein Körperteil, wenn ich sie nächstes Mal sehe.“ Das waren die letzten Worte der Seherin an das Mädchen, und sie wandte sich ab und trieb das Pferd zurück in die Finsternis. Nalani blickte ihr heftig atmend nach, ehe Nomboh sich zu ihr in die Kutsche setzte und der Wagen rasch losfuhr. Lange starrte Nalani noch immer etwas nervös aus dem Fenster der Kutsche hinaus in die Dunkelheit. Nomboh neben ihr lehnte sich zurück und gluckste.

„Keine Bange, jetzt bist du quasi gerettet,“ erklärte er ihr zuversichtlich, „Entschuldige meine Unhöflichkeit, wir waren zeitlich leicht angespannt. Du weißt ja ohnehin, wer ich bin, aber nur zur Sicherheit, mein Name ist Nomboh Chimalis. Ich werde dich bis zum kommenden Sommer unterweisen, Nalani. Solange wirst du im Anwesen meiner Familie in Tuhuli wohnen.“

„Ja, Meister,“ sagte sie gehorsam und riss sich jetzt erst vom Fenster los, um ihn sich genauer anzusehen. Nomboh grinste.

„Du denkst an deine Schwiegermutter, hmm? Hab keine Angst… du wirst sie wiedersehen.“

„Wie könnt Ihr das wissen? Kelar ist ein böser Geist, ich traue ihm das Schlimmste zu.“

„Ich weiß, das tun wir alle. Die Geister würden mich nicht anlügen und mir verschweigen, wenn etwas passieren würde. Und Salihah ist… eine sehr starke Frau.“ Das Mädchen sah wieder aus dem Fenster.

„Wie stark?“ murmelte sie dumpf, und der Geisterjäger klopfte ihr kameradschaftlich auf den Rücken.

„Stark genug, kleine Nalani.“
 

Salihah war sich definitiv nicht sicher, ob sie stark genug war für das, was ihr bevorstand, als sie zum Schloss zurückkehrte. Sie war Kelar nicht begegnet; entweder hatte er einen anderen Weg genommen oder er war umgekehrt… ihre Augen verweigerten ihren Dienst, wie es aussah. Im Anwesen war es düster und ruhig. Salihah zündete kein Licht an, als sie in der Halle stand und eine Weile einfach schweigend da blieb und sich nicht rührte.

Auf dem Boden waren kleine Blutflecken. Sie fragte sich gerade, was hier geschehen war, da hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme direkt hinter sich.

„Ah, du kommst also freiwillig zurück, statt dich zu deinem Liebhaber nach Tuhuli zu verkriechen, Salihah… wie aufmerksam von dir.“

Sie fuhr zu ihrem Mann herum, der plötzlich hinter ihr stand, dann schlug er ihr mit solcher Kraft ins Gesicht, dass sie zu Boden stürzte. Sie hustete und spürte, dass etwas in ihrem Mund zu bluten begann, bevor sie keuchend vor Schmerz zu Kelar hinaufsah. Da stand er, mit seinem schwarzen Geisterjägerumhang und dem goldenen Speer in der Hand war er eine imposante und grauenhaft furchteinflößende Erscheinung, wie er mit Augen voller Wahnsinn und Zorn auf sie herunter starrte, bereit, sie umzubringen.

„Du hast deine Grenze weit überschritten, Weibsbild…“ zischte der Herr der Geister und trat langsam auf sie zu, „Nicht nur, dass du wie eine Hure die Betten wechselst und mich verrätst… du widersetzt dich meinem Willen absichtlich und du hast versucht, mich umzubringen… nenn mir einen… Grund, dich am Leben zu lassen, du notgeile Schlampe…“ Er spuckte vor ihr auf den Boden und schlug dann mit dem stumpfen Ende des Speers nach ihr, dem sie im letzten Moment noch auswich, ehe sie sich keuchend auf die Beine rappelte.

„Es war ein harmloses Schlafmittel, ich habe nicht versucht, dich umzubringen,“ korrigierte sie ihn kühl und widerstand der Versuchung, nach ihrem brennend schmerzenden Gesicht zu fassen. Ihre Nase blutete ebenfalls und sie spürte es warm über ihre Lippen rennen und bekam den widerlichen, salzigen Geschmack in den Mund. „Und ich handle so, wie die Geister es mir sagen, Kelar. Du kannst mich töten, wenn du willst, du wirst nicht die ganze Welt beherrschen.“

Er gab ihr eine schallende Ohrfeige und hätte sie mit der Schlagkraft beinahe gegen die Wand geschleudert. Sie schrie nicht. Sie schrie nie, wenn er sie schlug, und in dem Moment ärgerte es ihn enorm. Er wollte, dass sie schrie und wimmerte und um Gnade bettelte… aber sie stand kaltherzig vor ihm wie eine Statue und rührte sich nicht, zeigte mit keinem einzigen Zucken, dass sie Schmerzen hatte.

„Dass du es überhaupt wagst, mir ins Gesicht zu sehen, du verfluchte, elende…!“ brüllte er sie wutentbrannt an, „Ich bringe dich um für deinen Verrat! Ich habe verboten, dass die Wachtel diese Lehre bekommt, und du schmuggelst sie hinter meinem Rücken hinaus! Und nicht nur das… deine verräterischen Kumpels, die Chimalis‘, werden genauso dafür bezahlen wie du… jeder einzelne von ihnen wird bluten und bitter bezahlen für diese Schande… du sagst, du handelst im Sinne der Geister, pah! Ich bin der Sinn der Geister, Salihah! SIEH MICH AN, DU HURE!“ Er schlug sie erneut, dann stieß er mit dem stumpfen Ende des Speers in ihre Seite und schlug sie abermals zu Boden, und sie wich keuchend zurück, als er wütend nach ihr trat und ihr damit um ein Haar das Genick gebrochen hätte. Während seiner wütenden Rede war er immer lauter und zorniger geworden und jetzt tobte er wie eine Sturmwolke vor ihr und stierte auf sie herab, als könnten seine Augen Blitze verteilen und sie in Flammen aufgehen lassen. „Dein Liebling Chimalis hat tapfer versucht, mich aufzuhalten, damit du in Ruhe die Wachtel nach Tuhuli schaffen kannst… es ist wahrlich ein Jammer… dass er es gewagt hat, sich mir in den Weg zu stellen, dieser Narr…“
 

Salihah erstarrte bei seinen Worten.

Zoras war da gewesen? Wieso hatte sie nichts davon gesehen?

Dann ist er deshalb aufgehalten worden…?! Und was ist dann mit…?!

Sie starrte jetzt fassungslos zu ihm hoch und wagte nicht mehr, sich zu rühren, als er zornig seinen Speer erhob und die Spitze auf sie richtete.

„Hast du ihn getötet?!“ japste sie und wurde weiß, ihn anstarrend. Kelar Lyra hielt inne und sah auf sie herunter, badete in seiner Überlegenheit und ihrer Panik, der Blässe in ihrem Gesicht. Er antwortete nicht. „Ist er tot, Kelar?!“ wiederholte sie lauter und energischer, und er lehnte lachend den Kopf in den Nacken. Sein Lachen wurde immer lauter und dämonischer, bis er mit einem Mal den Kopf herunter riss und damit auch den Speer herabstieß. Sie kniff zwar die Augen zu, schrie aber nicht und verdarb ihm damit seine Freude, während der Speer den untersten saum ihres Kleides durchbohrte und es neben ihrem Fuß an den Boden pinnte, ohne sie zu verletzen. Als Salihah die Augen öffnete, stützte er sich schnaubend auf seinen Speer und funkelte sie diabolisch an.

„Nein…“ raunte er, „Ich werde ihn nur töten, wenn du zusiehst, wie er stirbt… und wenn der Tag gekommen ist, werde ich dich zwingen, hinzusehen… wie das wohl ist, hmm? Zuzusehen, wie dein Geliebter brutal geschlachtet wird? Das ist… der wahre Wille der Geister! Das Blut der Verräter wird fließen… und du wirst knien und meine Sklavin sein… du bist mir zu schade zum Töten… noch.“ Damit zog er seinen Speer aus ihrem Kleid und sie keuchte heftig, während er jetzt wieder ruhig ein paar Schritte zurücktrat, um sie zu betrachten, seine stolze, kalte Frau, wie sie am Boden vor ihm lag. Das Bild gefiel ihm und ihr hasserfüllter Blick erregte ihn, sodass er zischte und sich dagegen sträuben musste, als ihn plötzlich das Verlangen überkam, sie hier und jetzt auf eine brutale und für sie schmerzhafte Weise zu nehmen, dass sie schrie und wimmerte und ihn anflehte, aufzuhören… aber er konnte sich beherrschen und auf abstruse Weise widerte es ihn plötzlich an, daran gedacht zu haben. Er kehrte ihr wütend auf sie und sich selbst den Rücken. „Nein, Salihah,“ knurrte er, „Du wirst leben und dir wünschen, ich hätte dich getötet. Du wirst leben und leiden und ich werde… Spaß daran haben, dass du Schmerzen hast.“ Dann stampfte er davon und aus der Tür hinaus.
 

Salihah setzte sich zitternd auf und fasste als erstes stöhnend nach ihrer höllisch schmerzenden Seite, die er geschlagen hatte mit seinem Speer. Er musste ihr mindestens eine Rippe gebrochen haben, da war sie sicher. Keuchend rappelte sie sich langsam auf; dann kamen Tabari und Kiuk aus der Küche.

„Du bist wohlauf…“ seufzte der jüngere erleichtert, „Ich hatte Angst, er würde dich töten, a-aber Tabari hat gesagt, er würde es nicht tun und wir sollten warten, bis er weg ist…“

„Das war klug…“ stöhnte sie und hielt sich japsend die Seite, „Wäret ihr gekommen, hätte Kelar euch vielleicht mit aufgespießt… ah…“

„Bist du verletzt?“ wollte Tabari besorgt wissen, und sie stützte sich an der Wand ab, als der Schmerz sie schwindelig machte.

„Es geht schon… ich werde es überleben…“

„Ich habe versucht, Vater aufzuhalten, als er weggerannt ist,“ berichtete der Blonde dann murmelnd, „Zoras Chimalis ist mir zuvor gekommen, aber im Nachhinein denke ich auch, ich hätte ohnehin weniger Chancen gehabt… Vater war außer sich vor Wut, ich habe ihn nicht mehr wiedererkannt…“

„Dann kennst du ja jetzt… das wahre Wesen deines Vaters, Tabari…“ keuchte sie, „Es tut mir leid… dass ihr beide da hineingezogen werdet… ich wünschte, ich… hätte das vermeiden können. Wenn du deinem Vater je gegenüberstehen können willst, Tabari, musst du noch viel lernen…“ Der Sohn senkte den Kopf und tat plötzlich etwas, was Salihah ihn nie zuvor tun gesehen hatte – er verneigte sich vor ihr.

„Ich werde in diesem Jahr, in dem meine Frau fort ist, nach dem wahren Wesen der Geister suchen… ich werde stärker werden und würdig sein, Lyra zu heißen, würdig sein, Nalanis Mann zu sein, Mutter! Noch einmal wird es nicht geschehen, dass ist nutzlos daneben stehe, während andere Probleme haben.“ Sie blickte ihn verblüfft an und auch Kiuk war überrascht.

„Das tu,“ stimmte die Mutter ihm dann dumpf zu, „Alles, was dein Vater dir nicht hat beibringen können, wirst du jetzt selbst lernen müssen. Du willst es wirklich auf dich nehmen?“

„Das bin ich denen schuldig, denen ich Unrecht getan habe…“ murmelte er, und Salihah seufzte schmerzhaft.

„Auch, wenn dein Vater… nie zufrieden war mit dir… ich… meinerseits bin gerade ziemlich stolz auf meinen ältesten Sohn, der offenbar langsam wirklich zum Mann heranreift.“
 

Nalani bekam von der Stadt Tuhuli bei der Ankunft nichts mit, weil es dunkel war. Das Anwesen des Chimalis-Clans lag am Rand der Kleinstadt. Es war kleiner als das Lyra-Schloss und hatte auch keine Türme, dafür aber einen großen Garten, das war das erste, was Nalani auffiel, als sie nach einer unruhigen ersten Nacht in dem fremden Haus umgeben von fremden Leuten in dem Zimmer aufwachte, das man ihr hergerichtet hatte. Von ihrem Zimmerfenster aus hatte sie einen schönen Blick auf den Garten und auf die Klippen in einiger Entfernung, unter denen das Meer rauschte. Da Dokahsan eine Halbinsel war, war man eigentlich überall von Meer umgeben, auch vom Lyra-Schloss aus konnte man das Meer sehen, sogar noch besser, es lag näher an den Klippen.

Nalani zog sich rasch um und fragte sich, ob sie jemand wecken würde oder ob man erwartete, dass sie von alleine aus ihrem Zimmer kam. Es geschah irgendwie beides, denn als sie sich gerade entschloss, das Zimmer zu verlassen und Nomboh zu suchen, öffnete sich die Tür einen kleinen Spalt weit und Nalani erkannte erst ein Paar Augen in dem Spalt, dann tauchte noch ein zweites darüber auf.

„Oh, sie ist schon auf!“ wurde sie dann grölend begrüßt und ehe sie sich versah, war die Tür ganz aufgeschoben und vor ihr hüpfte ein blondes Mädchen auf und ab und versuchte offenbar, wenigstens im Hüpfen auf ihrer Augenhöhe zu sein. Hinter dem Mädchen war ein etwas älterer Junge aufgekreuzt, der die Kleine energisch an den Schultern griff.

„Du sollst die Schülerin nicht nerven, Enola!“ tadelte er es dabei wichtigtuerisch, „Du solltest auf das hören, was meine Mutter dir gesagt hat!“

„Guten Morgen,“ grüßte Nalani die beiden Kinder vor sich perplex, und das Mädchen hörte auf zu hüpfen und beide sahen sie groß an.

„Guten Morgen!“ grinste der Junge sie dann an und neigte höflich den Kopf, „Du bist also Nalani! Mein Vater hat schon viel von dir erzählt, du bist die Frau aus Onkels Traum!“

„Onkels Traum?“ fragte Nalani verdutzt und fragte sich, was er meinte, da fuhr er fort:

„Wir sind uns noch gar nicht vorgestellt worden, ich bin Meoran, Nombohs Sohn. Das hier ist meine Cousine Enola, die Tochter des Bruders meines Vaters!“

„Ich bin neun!“ erklärte die Kleine stolz und zeigte neun Finger mit ihren Händen. „Und ich werde noch zehn am Ende des Sommers!“

„Tatsache?“ machte Nalani mehr oder minder beeindruckt, dann lächelte sie und neigte auch den Kopf. „Ja, ich bin Nalani, das ist wohl wahr. Freut mich, euch kennenzulernen, Meoran und Enola.“

„Stimmt es, dass du schon eine Braut bist?“ strahlte Enola sie an, und Nalani zog eine Braue hoch.

„Ich habe einen Ehemann, ja. Er heißt Tabari, aber ihr kennt ihn doch bestimmt.“

„Zumindest seinen Namen,“ bestätigte Meoran, „Richtig kennen tun wir ihn eigentlich nicht. Onkel sagt, der Herr der Geister und sein Sohn hätten Besseres zu tun, als sich mit uns Gesindel abzugeben.“

„Tatsache…?“ machte Nalani jetzt perplex und war erstaunt darüber, dass sich die Leute des Chimalis-Clans selbst als Gesindel bezeichneten – sie waren doch ein sehr anerkannter und mächtiger Clan!

In dem Moment tauchte in der Tür der Onkel auf, von dem alle sprach, Zoras. Er musterte Nalani wortlos und sagte dann zu Meoran:

„Das mit dem Gesindel war Ironie, du Depp. Du sprichst das falsch aus, so verstehen es alle falsch. Und statt die Frau mit Fragen zu überschütten, hättet ihr sie einfach hinunter bringen können, deine Mutter ist fuchsteufelswild, weil niemand ihr Frühstück isst, sie hat mit einer Teekanne nach mir geworfen und ich habe die Nase voll.“ Während seiner für den Inhalt verhältnismäßig gelassenen Rede weitete Nalani immer mehr die Augen. Fliegende Teekannen? Fuchsteufelswild?

Sie kam nicht dazu, weiter zudenken, weil der Clanführer seine Tochter und seinen Neffen aus der Tür schob und Nalani aufforderte, mitzukommen.

„Wir sind uns gestern nicht richtig begegnet,“ sagte er, „Willkommen in Tuhuli, Nalani. deine Reise hierher war ja etwas umständlich, aber da alle noch leben ist ja alles gut.“

„Ihr seid Zoras Chimalis…“ murmelte Nalani und sah ihn eine Weile an, „Salihah spricht ab und zu von Euch.“

„Nichts Gutes, hoffe ich doch,“ grinste er verhalten, sagte aber nichts weiter dazu, als sie ihn verwirrt ansah. Sie kamen jetzt hinunter in die Küche. Dort waren die Kinder und auch Nomboh, der sich offenbar prächtig amüsierte, während zwei Frauen auf dem Boden hockten und eine Lache aus Tee aufwischten und Scherben einsammelten. Eine dritte frau rannte wild schreiend und meckernd im Kreis.

„Aah, da sind ja alle!“ grüßte Nomboh die beiden letzten, die hereinkamen, „Keisha, hör auf zu toben, benimm dich vor der Frau des Lyra-Prinzen Tabari!“

„Ach, du!“ meckerte Keisha und schnappte dem Hausmädchen den Lappen voller Tee aus der Hand, um ihm ihrem Mann auf den Kopf zu klatschen. Die Kinder fingen laut an zu lachen und Nomboh hustete. „Du sitzt da und lachst dich scheckig, Nomboh, während der Tee auf dem Boden liegt!“

„Na, wer hat denn mit der Teekanne geworfen?“ fragte Zoras sie, „Hättest du nicht versucht, mir mit der guten Kanne den Kopf zu zerdeppern, würde ich mich jetzt auch scheckig lachen!“

„Barbarenbande!“ jammerte Nombohs Frau und raufte sich die Haare, „Das war die Kanne meiner Mutter!“

„Wenn du damit wirfst…“ wiederholte der Mann nur ratlos, und sie stampfte fluchend und jammernd aus der Küche. „Erzieh deine Frau mal, Nomboh, am frühen Morgen dieses Gezeter lässt meine Ohren klingeln, ich bin schon fast taub.“

„Frag mich mal, sie liegt nachts in meinem Bett und ist da nicht leiser.“

„Keine schmutzigen Geschichten beim Frühstück…“
 

Nalani hatte sich die Szene entzückt und empört gleichzeitig angesehen und stand jetzt da, während das Hausmädchen und die zweite Frau ihre Putzaktion beendeten, erstere aus der Küche eilte und zweitere sich an den Tisch zu den anderen setzte. Nomboh bot Nalani einen Stuhl an.

„Setz dich! Iss was, und halt dich nicht zurück, sonst fällst du mir vom Fleisch und du wirst Kraft brauchen für dein Training.“

„Guten Morgen im übrigen,“ machte Nalani höflich und setzte sich hin. Man gab ihr von den Speisen auf dem Tisch und der kleine Meoran, der neben ihr saß, grinste sie an:

„Sag ja nichts Falsches über das Essen, das hat meine Mutter gemacht! Wenn man ihr sagt, dass sie nicht kochen kann, wird sie sauer, und so schlecht ist es auch gar nicht…“

„Oh… danke…“ murmelte die Schwarzhaarige verwirrt und sah auf ihren Teller, auf dem lauter eigenartige Dinge waren, die sie nie gesehen hatte. In der Küche war ein seltsamer, aber angenehmer Geruch, den Nalani nicht kannte.

„Frag auch lieber nicht, was das ist…“ murmelte Nomboh verhalten und spießte mit der Gabel ein seltsames Röllchen aus gelb-brauner Masse auf, um es ausgiebig zu betrachten, „Es sieht aus wie ein Eierröllchen, ist aber irgendetwas anderes…“ Nalani blinzelte. Zoras wandte sich zu ihr, griff dabei eine heile Kanne vom Tisch und schenkte sich selbst daraus einen seltsamen Tee in eine Tasse. Es war der Tee, nach dem es roch, fiel dem Mädchen verdutzt auf.

„Die Furie, die eben hinaus gerauscht ist, ist Keisha, sie ist Nombohs Frau und Meorans Mutter,“ erklärte der Schwarzhaarige ihr dann. „In Wahrheit ist sie die Herrin des Hauses, du wirst sehen, denn alle haben Angst vor ihr. Dies wiederum,“ Er zeigte auf die übrige Frau, die lächelnd am Tisch saß, „Ist meine Frau, Tehya, Enolas Mutter. Das wären fürs Erste alle, die du kennen solltest, Nalani. Lass dich nicht erschrecken von unserem Umgang miteinander, bei dir daheim geht es anders zu, ich weiß.“

„Ja… kälter irgendwie,“ machte Nalani dumpf und dachte an das Lyra-Schloss und an die verbissenen, stummen Essen mit der Familie, bei denen Kelar den Braten teilte und alle anderen sich mit dem zufriedengeben mussten, was sie bekamen. Hier nahm sich jeder, was er wollte. Enola legte ein angebissenes Röllchen zurück in die Mitte, weil sie es nicht mochte, aber da wurde ihre Mutter energisch und erklärte ihr, dass man angebissenes nicht zurücklegen durfte.

Nalani schwieg während des Essens; sie war es erstens gewohnt und zweitens prasselten so viele neue Eindrücke und Personen auf sie ein, dass es ihr die Sprache verschlug. Die Leute vom Chimalis-Clan verstanden das offenbar und nötigten sie nicht zum Sprechen, sie unterhielten sich miteinander und boten dem Mädchen von allen Seiten ab und zu Essen an. Sie war ihnen sehr dankbar für das Verständnis.
 

Die beiden Kinder waren offensichtlich extrem begeistert von Nalanis Aufenthalt in Tuhuli. Sie wollten sie gleich nach dem Frühstück beschlagnahmen und ihr das Anwesen zeigen, doch Meorans Vater machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Schließlich war Nalani nicht zum Spaß hier, sie hatte viel zu tun. Und so begann er ohne große Umschweife nach dem Essen damit, sie zu unterweisen. Die erste Übung, die Nalani in Tuhuli machte, verwirrte sie zutiefst.

„Was soll ich hier machen?“ fragte sie ihren Meister perplex und sah auf das schmale Holzbrett, auf dem sie stand, das wiederum auf zwei Steinen lag, einer stützte es in der Mitte und einer am rechten Ende. Nomboh, der vor ihr stand, warf ihr einen Apfel in die Hände.

„Leg dir den auf den Kopf,“ verlangte er grinsend, „Und wenn er runterfällt, hast du verloren!“ Das Mädchen zog eine Braue hoch, betrachtete den Apfel und tat dann seufzend, wie ihr geheißen, obwohl sie nicht verstand, was das bringen sollte. Sie stand ganz ruhig und der Apfel bewegte sich nicht auf ihrem Kopf.

„Und was soll… WAAH!“ Sie schrie entsetzt auf, als der Mann plötzlich den äußeren Stein mit dem Fuß unter dem Brett wegschob, worauf das Brett plötzlich mächtig zu schwanken begann wie eine Wippe, Nalani ruderte mit den Armen und verlor das Gleichgewicht. Der Apfel kullerte gefolgt von dem Mädchen auf den Boden vor Nombohs Füße. Keuchend rappelte sich die Schwarzhaarige auf und sah ihren Lehrmeister empört und verwirrt zugleich an, während er gluckste und sich offenbar sehr amüsierte. „Das… ist nicht witzig, bei allem Respekt, meister!“ schnappte sie dann gezwungen gefasst, und er kicherte.

„Nein, in der Tat nicht! Entschuldige, Nalani. Gleichgewicht, verstehst du? Du wirst als allererstes lernen, dein Gleichgewicht zu halten, du wirst sogar auf einem Bein auf dem Wackelbrett stehen können mit zwei Äpfeln auf dem Kopf.“

„Ich wollte aber keine Ausbildung zur Akrobatin…“ murmelte sie und sah zu dem Brett.

„Darum geht es auch nicht. Um die Geister beherrschen zu können, brauchst du inneres Gleichgewicht, Nalani. Und wenn du nicht einmal körperliches Gleichgewicht hast… kannst du auch keine Geister lenken! Reg dich niemals auf, Wut zerstört alles. Sei ganz ruhig… konzentrier dich auf deinen Geist, Nalani, bring die Wellen ins Gleichgewicht.“ Er hob den Apfel auf und hielt ihn ihr hin, und sie sah ihn kurz an.

„Könnt Ihr auf einem Bein zwei Äpfel auf dem Kopf balancieren?“ fragte sie dann, und Nomboh grinste. Er kletterte wortlos auf das Wackelbrett und brachte es in kurzer Zeit dazu, auf dem halb runden Stein ganz ruhig zu liegen, bevor er ein Bein anhob und sich den Apfel auf den Kopf legte; dabei wackelte er kein bisschen und Nalani beobachtete fasziniert, wie er einen zweiten Apfel aus seiner Manteltasche zog und ihn auf den ersten Apfel legte, sodass er jetzt ein kleines Türmchen auf seinem Kopf trug. Da stand er dann seelenruhig und sah wieder zu seiner Schülerin.

„Überzeugt, Nalani?“
 

Und sie übte. Sie übte tagelang, aber egal, wie sehr sie sich zu konzentrieren versuchte, nach einer Weile fiel sie immer wieder herunter oder verlor zumindest den Apfel vom Kopf. Nomboh Chimalis beobachtete sie wochenlang stumm beim Üben und Nalani ärgerte sich ein wenig, dass er ihr nicht irgendeinen Trick verriet oder ihr sagte, was sie besser machen konnte – er stand oder saß einfach nur da und sagte gar nichts. Wenigstens beölte er sich nicht mehr, wenn sie das Gleichgewicht wieder verlor.

Zoras kam zu seinem Bruder und leistete ihm beim Beobachten des Mädchens Gesellschaft, das sich immer noch mürrisch mit dem Wackelbrett auseinandersetzte.

„Sie ist aufgewühlt,“ machte er dumpf und verengte nachdenklich die Augen. „Wie lange übt sie schon daran?“

„Überdurchschnittlich lange,“ murmelte Nomboh ebenfalls nachdenklich. „Ihre geistige Kraft ist zu groß für sie, viel zu groß, deswegen kann sie sie noch nicht kontrollieren… vielleicht sollte ich versuchen, ihr zuerst die unerschütterliche Seele beizubringen, obwohl das eigentlich nie als erstes kommt, es wird nicht leicht.“

„Aber es ist das einzige, was du machen kannst,“ entgegnete der Bruder, „Zu viele Gefühle in ihr, Nomboh. Schalt sie ab, mach sie kalt und dumpf, dann wird sie ihr Gleichgewicht finden. Sie ärgert sich über Kelar, vielleicht auch über Tabari, sie sorgt sich um Salihah und Kiuk. Sie muss sich mehr konzentrieren und alles äußere liegen lassen.“

„Ja, ich weiß… ich werde es einfach versuchen. – Nalani!“ rief er sie und erhob sich von dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte. Nalani fiel gerade wieder vom Brett und kam dann keuchend zu ihm und Zoras herüber, wo sie artig den Kopf neigte.

„Ja, Meister? Ich bemühe mich nach allen Kräften, aber es funktioniert einfach nicht… vielleicht bin ich unfähiger, als man glaubt.“

„Nein, dein Problem ist ein anderes, du bist zu fähig,“ korrigierte Zoras sie und musterte sie, „Du hast jetzt am Anfang Probleme mit dem inneren Gleichgewicht – aber glaub mir, sobald du das geschafft hast, wird alles andere für dich ein Kinderspiel sein. Elementare Zerstörer kannst du schon, wie ich gehört habe.“ Sie starrte ihn an und dachte flüchtig an den Tag, an dem sie mit Kiuk geübt und ihn beinahe ermordet hatte. Sie senkte den Kopf.

„Wieso… schenken die Geister mir so mächtige Gaben, wenn ich sie nicht beherrschen kann…?“

„Dazu bist du ja hier,“ munterte der Meister sie auf und lächelte, „Ich zeige dir, wie du sie kontrollieren kannst, und du wirst es können, besser als ich, besser als Zoras… vielleicht sogar besser als Kelar, wer weiß?“ Dann nahm er sie zur Seite und begann, zu erklären, während sie ihn ansah. „Um die Schwarzmagie anwenden zu können, brauchst du dreierlei Dinge. Zum einen einen Körper, der stark genug ist, die gewaltige Macht der Geisterwinde zu tragen und zu lenken. An deinem Körper müssen wir kaum arbeiten, ich werde dich mit Meoran Laufen schicken, das trainiert deine Ausdauer ungemein und Meoran ist in zwei Jahren auch dran mit der Lehre, der kann sich also auch schon mal nützlich machen. Zum zweiten bedarf es tadellosen Instinkten. Instinkte sind das, was wir Schamanen den meisten Menschen voraus haben, der sogenannte sechste Sinn, der uns Gefahren oder diverses andere spüren und vorhersagen lässt. Die mächtigsten Instinkte sind die seltenen Sehensgaben und das Talent des Rufens. Du weißt ja, dass Salihah eine mächtige Sehensgabe besitzt, die Telepathen sind allgemein meistens gut im Sehen. Aber wir Schwarzmagier können beides haben, sowohl das Sehen als auch das Rufen. Deine Instinkte brauchen wir nicht groß zu testen, ich weiß, dass sie tadellos funktionieren. Du hattest als Kind bereits Visionen vom Tode deiner Eltern, das ist ungewöhnlich früh für solche Träume.“ Nalani nickte langsam, um zu zeigen, dass sie registrierte, was er sagte. „Und als drittes brauchst du eine unerschütterliche, starke Seele… und an der hapert es im Moment, das ist dein Problem.“

„Unerschütterliche Seele?“ fragte sie jetzt.

„Ja, genau. Das bedeutet, dass du deine Emotionen verschließen musst. Wenn du den Trancezustand halten willst, und den brauchst du für die mächtigen Zauber, musst du alle Gefühle verschließen können, sei es Zorn, Trauer oder Freude oder etwas anderes. Ein Schamane, der sich von seinen Gefühlen überschwemmen lässt, hat sich selbst nicht unter Kontrolle. Im Rausch der Gefühle tut der Körper nicht immer das, was er soll und der Geist verliert deutlich an Ausdauer und Stärke. Und Voraussetzung für das Gelingen eines Zaubers ist ein perfektes Zusammenspiel von Körper und Geist. Der Geist wird sich auf den Körper konzentrieren und der Körper sich auf den Geist, mit dieser Einheit hast du die perfekte Kontrolle und das nennen wir Trance. Aber dafür darfst du dich nicht deinen Gefühlen hingeben.“ Nalani blinzelte. Nomboh sah sie eine Weile an und fuhr fort: „Das ist die schwerste Lektion der Schwarzmagie… und die meisten Schüler, die ich hatte, haben sich damit am schwersten getan. Aber wenn man es beherrscht, kann einen weder Hass noch Liebe noch Schmerz beeindrucken. Das gilt nur für den Moment, in dem du Magie benutzen willst… diese Lehre soll nicht heißen, du dürftest nicht fühlen, Nalani. Natürlich sollst du das und bis zu einem gewissen Grad kann es den Instinkten sogar helfen, auf seine Gefühle zu hören… solange du dich nicht einnehmen lässt. Wir werden jetzt zuerst daran arbeiten.“

Das Mädchen schwieg. Alle Gefühle loswerden? Sie fragte sich, ob das ging.

„Versuch es!“ forderte der Mann sie auf und machte eine Handbewegung, „Befrei deinen Geist von allen Gefühlen. Schließ die Augen und versuche, an nichts zu denken. An gar nichts, konzentriere dich einzig und allein auf deinen Geist. Er muss so frei sein, dass du denkst, du würdest davonfliegen in ein Land der Träume.“ Sie tat wie ihr geheißen und schloss die Augen, versuchte, sich aller Gedanken und Emotionen zu entledigen. Es dauerte eine Weile, bis sich tatsächlich eine seltsame Stille in ihr ausbreitete und sie spürte, wie der Ärger von ihr abließ, wie die Sorge um Salihah verschwand… und mit einem mal spürte sie ihren eigenen Geist, ihren Lebensgeist, der in ihr war und existierte… und nur das.

„Du kannst es, Nalani,“ kommentierte Nomboh vor ihr ihr Tun, aber sie hörte ihm nicht zu… sie war plötzlich nicht mehr in Tuhuli, sondern flog gemeinsam mit den Geistern über die farbenfrohen Schlieren des morgendlichen Sommerhimmels, sie spürte ihre Gegenwart… sie war ein Teil von ihnen…

Plötzlich wurde sie von Nomboh gepackt und zurück auf die Erde gerissen, und sie öffnete keuchend die Augen und starrte ihn an mit einem fernen, apathischen Blick aus ihren blauen Augen, sodass der Mann ein verdutztes Gesicht machte und ebenfalls keuchte.

„Du liebe Zeit!“ machte er, „Sie hat das Gesicht, Bruder… es ist, wie du gesagt hast… komm zu dir, Nalani, um Himmels Willen.“ Er rüttelte das Mädchen und der seltsame Blick in ihrem Gesicht verflüchtigte sich, als sie plötzlich heftig zu atmen begann und Nomboh verwirrt ansah.

„W-was ist geschehen?“ fragte sie. Nur langsam registrierte sie ihre Umgebung wieder und fand sich im Garten des Chimalis-Anwesens. Zoras im Hintergrund sah zu ihnen herüber, sagte aber kein Wort.

„Du machst das… ähm… sehr gut mit der unerschütterlichen Seele!“ keuchte Nomboh, „Du hast deinen geist tatsächlich befreit, du… warst völlig weg, es war eine richtige Trance…“

„Kann ich jetzt auf dem Brett stehen?“ wunderte Nalani sich. Nomboh sah seinen Bruder ratlos an, der sich immer noch nicht bewegte und nur das Mädchen musterte.

„Ihre Instinkte sind unglaublich,“ murmelte er dann doch nach einer langen Pause und fuhr sich mit den Fingern nachdenklich durch die schwarzen Haare, „Sie hat es instinktiv richtig gemacht, ohne wirklich zu wissen, wie und warum. Deine Gaben sind wahrlich groß, Tochter des Kandaya-Clans.“

„Jetzt… musst du nur noch lernen, sie aktiv zu beherrschen… du wirst es nicht mehr instinktiv machen, sondern aus freiem Willen heraus,“ bemerkte Nomboh, „Versuch noch einmal, den Apfel zu balancieren.“

Sie tat es. Und sie konzentrierte sich erneut auf ihren Geist, darauf, nichts anderes zu spüren oder zu denken. Dann stand sie auf zwei Beinen, das Brett unter ihr war ganz ruhig, ebenso wie jede Faser ihres Körpers, ausgeglichen, und auf ihrem Kopf trug sie ohne das kleinste Wackeln den Apfel.
 

Die Lehre umfasste noch sehr viel mehr als nur zu lernen, inneres Gleichgewicht und die perfekte Einheit von Körper und Geist zu beherrschen, stellte Nalani im Laufe der Monde fest. Je öfter sie es übte, desto weniger Zeit brauchte sie, um es zu schaffen. Nach einem Mond konnte sie auf einem Bein stehen, nach einem weiteren konnte sie wie Nomboh zwei Äpfel balancieren. Es war wie eine Gewohnheit, die man nie wieder verlernte, wenn man es einmal beherrschte, das innere Gleichgewicht, die Vorstufe zum richtigen Trancezustand. Es war wie Laufen lernen – konnte man es einmal, verlernte man es nie wieder und tat es, ohne darüber nachdenken zu müssen. Genauso war es für sie mit der perfekten Einheit. Es war, wenn sie es tat, als würde sie die passende Arbeitskleidung anziehen und erst danach richtig arbeiten können, denn für alles, was sie übte, brauchte sie diese Übung.
 

Der Sommer war vorüber. In Dokahsan waren die Sommer kurz und die Winter lang und hart. Jetzt ging es wieder auf die Dunkelheit zu. Obwohl sie es gewohnt waren, fürchteten die Menschen in Dokahsan die Winter und ihre lange Dunkelheit. Im Wintermond kam die Sonne sogar einige Tage lang gar nicht zum Vorschein, um den Erdtag herum, den Tag der Wintersonnenwende. Aber dieser Winter würde besonders hart werden, die Geisterjäger spürten das schon lange vor seiner Ankunft im Land. Und es lag nicht am Wetter.

„Das Land ist im Aufruhr,“ bemerkte Nomboh dumpf, als er eines Tages im Mond der Stürme im Salon stand mit seinem Bruder und Minar Emo, der aus Emdyn angereist war. Bei ihm war sein kleiner Enkelsohn, den er nach dem Tod seines Sohnes und seiner Schwiegertochter jetzt erzog. Das Kind klammerte sich an die Hand seines Großvaters und drückte schweigend das Gesicht gegen sein Bein, als hätte es Angst, Nomboh und Zoras zu lange anzusehen. „Ich habe von Salihah lange nichts gehört, aber ich fürchte mit unserer Aktion wegen Nalanis Lehre haben wir den Dämon in Kelar komplett entfesselt. Die Ernte war grauenhaft dieses Jahr, die Menschen hungern bereits überall und ich habe von Bauern aus den Dörfern jenseits des Flusses gehört, dass Kelar inzwischen überall Angst und Schrecken verbreitet.“

„Das hören wir sogar oben in Emdyn,“ bestätigte Minar Emo beunruhigt, „Er versucht jetzt nicht mehr, sie von sich und seinem Recht auf Herrschaft zu überzeugen, er bedroht sie jetzt und sagt, er würde Unheil und Tod über das Land schicken, wenn die Leute ihn nicht ehren würden, und er würden die Himmelsgeister jeden köpfen lassen, der sich widersetzt. Und das alles läuft zurück in den Senat von Yiara, denen wird dann alles in die Schuhe geschoben. Ich fürchte, wir haben verloren, Freunde… inzwischen erscheint es tatsächlich sinnvoller, den Senat aufzulösen, denn er hat keinerlei Einfluss mehr und wird nur noch gehasst.“

„Nein!“ zischte Zoras Chimalis ungewohnt heftig und begann, nervös hin und her zu gehen, „Wir dürfen das nicht zulassen, Minar! Wir können nicht zulassen, dass Kelar die Macht über das ganze Land an sich reißt! Er… er zerstört doch alles, dieser Wahnsinnige! Er wird noch die Menschheit ausrotten oder so!“

„Ich weiß, was du meinst,“ machte Minar Emo langsam, „Aber denk doch…“

„Hast du das von Enmoria nicht gehört, dem Dorf knapp südlich des Lyra-Schlosses am Fluss?!“ fragte Zoras ihn und funkelte ihn beunruhigt an. Der andere zog die Brauen hoch und sein kleiner Enkel versteckte sich jetzt komplett hinter seinem Großvater und dessen schwarzem Umhang.

„Was war in Enmoria?“

„Da haben die Leute, alles einfache Bauern und Handwerker, ihm widersprochen, weil er ihnen ihre Ziegenherden beschlagnahmen wollte. Du… kannst dir ja denken, was geschehen ist, es war grauenhaft.“ Minar Emo erstarrte und Nomboh wandte den Blick ebenfalls an.

„Du warst dort…?“ fragte der Älteste, und Zoras nickte.

„Ich komme viel herum, das weißt du. Die Geister warnten mich vor dem Drama, aber ich war zu spät… es war keiner mehr am Leben, und auch keine Ziege. Nicht mal ein Zicklein, das Dorf war wie ausgerottet.“

„Es sterben wieder alle, oder, Großvater?“ fragte der kleine Enkel hinter Minar Emo, und der Großvater sah auf ihn herunter.

„Shhh, misch dich nicht ein.“ Er wandte sich wieder an Zoras. „Das ist furchtbar, ich wusste nichts davon.“

„Verstehst du, wenn er erst mal offiziell die Gewalt über Dokahsan hat, wird es nur noch solche Massaker geben,“ murmelte er, „Wir müssen mit allen Mitteln versuchen, ihn aufzuhalten. Was zum Geier ist eigentlich mit den Heilern geworden, Nomboh?! Schon den ganzen Sommer rennst du doch hinter denen her, haben sie mal was Nützliches gesagt, damit wir die drei Räte versammeln können?!“ Nomboh schnaubte.

„Ich habe mich mit zweien von denen mal unterhalten. Der eine sagte mir, ich müsse mit dem Ratsvorsitzenden sprechen, dann habe ich das getan und der hat mir gesagt, er würde mit antworten, sobald er etwas arrangiert hätte… und das war vor drei Monden!“

„Diese Heiler,“ brummte Zoras, „Unzuverlässige, naive Bande, pah! Denen ist das offenbar egal, wer noch alles seinen Kopf verlieren muss, weil wir uns nicht einigen können! – Wir müssen irgendwie probieren, den Senat wieder zu stärken… ich will, dass du am besten samt deiner Familie nach Yiara zu Hakopa gehst, Minar, er kann sich nicht länger alleine um den Kram kümmern, es eskaliert langsam wirklich. Wenigstens für die Zeit, bis das alles wieder im Lot ist, meinst du, du schaffst das?“

„Das werden wir schon schaukeln,“ machte der Ältere und nickte, „Schickt Hakopa eine Nachricht, dass ich vorbeikomme, wir brechen sofort auf.“

„Du wirst dich noch mal mit diesem Heilerspasti treffen, Nomboh,“ zischte Zoras seinem Bruder mürrisch zu, „Nimm deine Frau mit, sie ist selbst Heilerin und ihr wagt niemand nicht zuzuhören. Es ist wichtig, Nalanis Unterricht kann ich auch solange beobachten. – Warte, Minar, ich lasse euch einen Wagen fertig machen.“
 

Nalani hatte schlechte Träume in der Zeit. Wenn sie aufwachte, atmete sie heftig und spürte noch das Grauen aus ihrem Traum in ihrem Nacken sitzen. Sie träumte von Blut und Tod, sie sah wieder die Morde an ihren Eltern vor ihren Augen, die Morde an anderen Menschen, die sie nicht kannte, sie sah brennende Dörfer und einen Himmel der vor Zorn grollte.

Die Geister sind wütend… etwas Schreckliches geschieht… fuhr es ihr durch den Kopf, als sie nach einem weiteren Alptraum mitten in der Nacht erwachte. Sie spürte ihr Herz noch vor Schreck rasen. Als sie versuchte, wieder einzuschlafen, konnte sie nicht, und nachdem sie lange wach gelegen hatte, beschloss sie, in die Küche zu gehen, um etwas zu trinken. Inzwischen war sie fast ein halbes Jahr in Tuhuli und kannte sowohl das Anwesen als auch die Stadt ganz gut. Mit dem Training ging es gut voran. Aber auch, wenn sie ihren eigenen Geist inzwischen sehr gut unter Kontrolle hatte, war sie doch immer noch aufgewühlt nach den grausamen Träumen, die die Geister ihr bescherten.

Als sie die Küche erreichte, war sie erstaunt, als dort Licht brannte. Zuerst fragte sie sich, wieso, doch dann erkannte sie in der Ecke auf der Bank Zoras Chimalis sitzen, die Beine überschlagen und mit einer Tasse in der Hand. Er trank diesen merkwürdigen Tee, es roch in der Küche wieder danach.

„Ihr seid auf…?“ begrüßte sie ihn verhalten und neigte den Kopf, und Zoras blinzelte.

„Na, du doch auch!“ entgegnete er und seufzte dann. „Du hast schlecht geträumt, Nalani…“

„Darf ich mich hinsetzen?“ fragte sie dumpf, und er nickte und bot ihr einen Stuhl an.

„Natürlich. Willst du was trinken? Nimm dir, was du möchtest.“ Sie überlegte und sah zu ihm herüber.

„Was ist das für ein seltsamer Tee, den Ihr trinkt? Er riecht ganz anders als normaler Tee.“ Zoras lachte leise.

„Das ist auch kein Tee,“ erwiderte er, „Dieses Getränk wird aus braunen Bohnen einer merkwürdigen Pflanze und Wasser gemacht, es kommt aus dem Süden Tharrs. Sie nennen es Kaffee, ich habe es zum ersten Mal im Reich Fann gesehen. Inzwischen hat sich das aber bis nach Vialla verbreitet, von dort habe ich inzwischen das Pulver. Willst du mal probieren?“

„Ja, gern,“ machte sie überrascht, und er erhob sich, um ihr eine Tasse zu holen und ihr ein wenig aus der Kanne einzuschenken. Sie probierte das warme Getränk. Es schmeckte ein wenig bitter, aber angenehm. Sie nickte anerkennend. „Das ist ein sehr gutes Getränk. Wie kommt es, dass Ihr in Fann gewesen seid? Das ist ja beinahe am anderen Ende der Welt!“

„Ja, in der Tat. Na ja, ich reise viel durch die Gegend und mache mich über den Rest der Welt schlau. Ich war schon in vielen Ländern und habe seltsame Dinge gesehen. Natürlich nicht die ganze Welt… aber ich denke, es macht einen klüger, herumzukommen und neue Länder und Menschen kennenzulernen. Die Menschen in Fann sind anders als hier, das ganze System läuft anders.“ Nalani nickte. Eine Weile saßen sie stumm da und tranken ihren Kaffee. „Nomboh ist übrigens abgereist für ein paar Tage,“ fiel Zoras dann ein, und das Mädchen sah ihn groß an.

„Wie? Warum?“

„Es passieren schlimme Dinge, Keisha und er müssen sich mit dem Vorstand des Heilerrates treffen. Während er weg ist, übst du das, was er dir gezeigt hat, ich werde dich im Auge behalten.“ Nalani stockte und dachte an ihre Alpträume. Sie erzitterte plötzlich und er schien zu wissen, was sie bedrückte. „Was… hast du geträumt, Nalani?“

Sie stellte die leere Tasse weg.

„Ich träume vom Ende der Welt,“ murmelte sie, „Ich sehe Tod und Schatten und einen brennenden Himmel… was… was ist es, das hier im Land passiert? Es ist wie eine Klaue, dieser Traum, die mich nicht loslässt… ich muss immerzu daran denken…“

Der Geisterjäger seufzte.

„Dein Blick reicht sehr weit für dein Alter,“ murmelte er, „Auch ich träume oft vom Ende der Welt. Es sieht nicht gut aus für das Land und das Volk im Moment. Wir… haben Probleme mit deinem Schwiegervater, das weißt du ja sicher.“ Nalani stand abrupt auf.

„Hat er etwas angerichtet?!“ wollte sie panisch wissen, „Ist er Schuld an allem Übel?“

„Sicher nicht an allem Übel der Welt,“ machte Zoras perplex, „Aber an allem Übel im Dokahsan zumindest, nehme ich an. Er ist ein Dämon, ein alles vernichtendes Monster lauert in ihm, und jetzt ist es dabei, auszubrechen. Seine Wahnsinnsgeister, wie Salihah es nennt… ich weiß nicht, was er abgekriegt hat, aber irgendetwas ist in seinem Kopf kaputt gegangen, fürchte ich… oder es ist eine Krankheit, die sich erst jetzt bemerkbar macht, niemand weiß es. Du musst vorsichtig sein, wenn du ihm wieder begegnest, ich habe ein ungutes Gefühl bei allem, was hier geschieht.“

„Er hat meine Eltern getötet…“ murmelte sie, und er sah sie groß an, als sie verbittert den Kopf senkte und die Fäuste fest ballte. Er spürte ihren Zorn, der wie ein Schatten über ihr Gesicht huschte, und er verengte nachdenklich die Augen zu Schlitzen.

Sie ist eine Tochter des Schattenclans Kandaya… und ihre Aura ist mächtiger als die ihres Vaters, soweit ich mich entsinnen kann… sie ist wahrlich ein Kind der Geister.

„Er hat sie getötet und ich hasse ihn dafür… ich werde ihm niemals vergeben. Wenn ihr irgendetwas gegen ihn tun wollt, zählt auf meine Unterstützung, sofern ihr sie gebrauchen könnt. Wenn ich erst mal ausgebildet bin, werde ich diesem Kerl zeigen, wo die Musik spielt.“

„Nicht so hastig,“ warf er ein und sah sie energisch an, „Kelar Lyra ist kein ungefährlicher Gegner, ich weiß, wovon ich spreche. Von allen Geisterjägern war ich immer derjenige, der noch die besten Chancen gegen ihn hatte, und auch mich hätte er einmal beinahe getötet. Sein Geisterspeer ist eine tödliche Waffe und er ist wahnsinnig mächtig damit. Du kannst nicht einfach auf ihn zu rennen und ihn umnieten wollen, Nalani.“

„Ein Speer?“ fragte sie verblüfft, „Und… er hätte Euch fast getötet?“

Die Nachricht war ernüchternd. Natürlich war es erschreckend genug, dass Kelar ihren Vater hatte töten können, der auch Geisterjäger gewesen war… aber von Zoras hätte sie das nicht erwartet.

„Ja, er besitzt einen goldenen Speer, mit dem er den Wind und die Himmelsgeister vom Himmel ziehen und lenken kann,“ erklärte der Mann. Als der alte Herr der Geister, sein Vater, gestorben ist, mussten wir übrigen um den Titel des neuen kämpfen, jeder gegen jeden, und wer die meisten besiegen konnte, sollte der neue Herr der Geister sein.“ Er sah, wie Nalani die Augen weitete. „Sein Speer durchbohrte meine Schulter… ich habe es Nombohs Frau Keisha zu verdanken, dass ich nicht am Blutverlust verreckt bin. Du verstehst also, dass ich vor ihr den Hut ziehe, weil ich ihr mein Leben verdanke… sie mag eine Furie sein, aber sie ist eine gute Heilerin.“ Das Mädchen senkte den Kopf.

„Kelar ist grausam,“ meinte sie dumpf, „Er hätte niemanden mit dem Speer durchbohren müssen, um zu gewinnen, oder?“

„Nein, aber er hat, ähm, eine persönliche Abneigung gegen mich. Dieses Knobeln um den Titel des Herrn der Geister gibt es alle fünf Jahre, es sei denn, der Herr der Geister stirbt. Wenn er nicht gestorben ist, wird durch diese Kämpfe alle fünf Jahre getestet, ob er es wirklich noch würdig ist, als höchster Vertreter der Geister zu amtieren, oder ob einer der anderen inzwischen stärker ist als er, es geht also normalerweise darum, den amtierenden Herrn der Geister zu besiegen. Seit Kelar an seines Vaters Stelle getreten ist, sind acht Jahre vergangen, es gab also noch einmal so eine Auseinandersetzung, bei der hat er mich allerdings nicht beinahe getötet. Aber beide Male, die ich je gegen ihm gekämpft habe, ist er bei mir komplett durchgedreht.“

„Was hat er denn für ein Problem?“ wollte Nalani wissen, und er räusperte sich.

„Das ist nicht weiter wichtig für dich zu wissen, glaub mir. – Überdies ist es besser, wenn du jetzt wieder zu Bett gehst… oder machen dich die Träume noch fertig?“

„Ich bin nicht müde…“

„Na ja, das liegt am Kaffee, aber das wird schon, sobald du im Bett liegst. Zwing deinen Geist, zu schlafen, da kannst du gleich üben, dich zu kontrollieren. Morgen wird weiter trainiert, glaub ja nicht, du hättest Urlaub, nur, weil mein Bruder weg ist.“

„Nein, sicher nicht,“ entgegnete sie artig, verneigte sich und ging zur Tür, „Ich… danke für das Gespräch. Gute Nacht, Herr.“

„Gute Nacht, Nalani. Und sag nicht Herr.“

„Was denn sonst, Herrin vielleicht?“ scherzte sie, und er musste unverhofft lachen.

„Untersteh dich, geh nicht zu weit…“
 

Nomboh und Keisha kamen nicht zurück.

Die anderen im Anwesen sorgten sich, als sie nach fünf Tagen immer noch fort waren und nicht mal eine Nachricht gekommen war. Meoran tat so, als wäre er tapfer und hätte keine Angst um seine Eltern. Er war schließlich schon zwölf und durfte nicht wie ein kleiner Junge nach seiner Mutter weinen, sagte er selbst, aber sein Onkel und seine Tante und auch Nalani merkten dem Jungen deutlich an, dass er große Angst hatte. Nicht mal seine so unbeschwerte kleine Cousine konnte ihn aufmuntern.

„Spiel mit mir, Meoran, bitte!“ nölte sie am frühen Abend, als er in der Stube vor dem Kamin saß und ins Feuer starrte.

„Nicht jetzt,“ wimmelte er sie nervös ab, „Ich denke gerade nach.“

„Das machst du schon den ganzen Tag! Manno, Vati, sag ihm, er soll mit mir spielen!“

„Lass ihn, Enola,“ sagte ihr Vater zu ihrer Enttäuschung, der auf einem Sessel saß und auch ins Feuer starrte, als gäbe es dort etwas Spannendes. Seine Frau und Nalani saßen auf dem Sofa. Enola schmollte und Meoran warf dem Onkel einen dankbaren Blick zu. Er hatte seine Cousine wirklich gern, aber er war einfach zu nervös und hatte keine Lust, zu spielen. Nalani verstand seine Sorge nur zu gut und seufzte leise, während Enola sich schmollend in den Schoß ihrer Mutter kuschelte.

Es war der Erdtag, der Tag der Wintersonnenwende. Die Sonne war den ganzen Tag nicht aufgegangen. Enola mochte die Dunkelheit nicht und war den ganzen Tag schon maulig. Nalani dachte plötzlich an Tabari, der heute Geburtstag hatte. Er war jetzt achtzehn geworden. Sie fragte sich kurz, was er wohl machte. Seinem Vater nachrennen und versuchen, ein so großer Mistkerl zu werden wie er? Aber vor ihrer Abreise hatte Tabaris Verhalten sie leicht verwundert; plötzlich war er ihr gar nicht mehr so widerlich vorgekommen, das hatte sie verwirrt.

Plötzlich klopfte es an der Tür und die ganze Familie schreckte hoch.

„Vater und Mutter!“ keuchte Meoran und sprang auf die Beine, sein Onkel erhob sich. Das Hausmädchen eilte schon aus der Küche zur Tür, man hörte in der Stube ein überraschtes „Oh!“, und alle sahen sich an. Doch ehe sie sich fragen konnten, was das wohl zu bedeuten hatte, war Meoran zur Stubentür gerannt, um nachzusehen, und war verwundert; denn im Flur standen gar nicht seine Eltern, sondern Salihah, und sie war offenbar sehr in Eile.

„Dein Onkel!“ verlangte sie keuchend, „Rasch, Meoran!“

„Wa-… was…?“ stammelte der Junge verwirrt, zum Glück kam Zoras gefolgt von allen anderen schon von selbst an.

„Was ist passiert?“ war seine Begrüßung, und sie schnappte nach Luft.

„Wir können uns das Treffen der Räte an den Hut stecken!“ meldete sie, „Kelar muss irgendwie davon erfahren haben, jedenfalls hat er jetzt erfolgreich dafür gesorgt dass der Heilerrat keinem Schwarzmagier mehr zuhören und schon gar nicht vertrauen wird. Nomboh und Keisha werden gleich zurückkommen und dasselbe erzählen. Kelar ist spurlos verschwunden und ich fürchtete, er würde hierher kommen und alles plattwalzen wie in Enmoria…“

„Meinen Eltern geht es gut?“ freute sich Meoran, und Zoras bat Salihah herein und nahm ihr ihren Mantel und ihren Schal ab, ehe er sie mit den anderen wieder in die Stube schickte.

„Ja, deine Eltern sind wohlauf. – Schick die Kinder rauf, Tehya, jetzt gleich.“ Tehya, Zoras‘ Frau, nickte erschrocken mit dem Kopf, ehe sie Enola und Meoran zur Tür schob.

„geht hinauf!“ verlangte sie leise, „Wir müssen wichtige Sachen besprechen.“

„Aber was ist mit meinen Eltern?!“ nölte Meoran, aber seine Tante schob energisch die Tür vor seiner Nase zu. Energisch blieb er samt Enola vor der Tür stehen und bewegte sich nicht, während die Erwachsenen drinnen sprachen.

„Ich habe plötzlich unsichtbare Dinge gesehen,“ erzählte Salihah, „Er hat den Vorstand des Heilerrates samt seiner gesamten Familie in deren Anwesen getötet. Die anderen Heiler wissen, dass er es war, es war ein Blutbad wie in Enmoria, grauenhaft. Selbst die kleinen Kinder hat es erwischt. Den anderen Ratsmännern hat er gedroht, ihren Familien dasselbe anzutun, wenn sie sich nicht unterwerfen, die ganzen heiler sind also raus. Und es wird so weitergehen, wenn wir nicht aufpassen… ich bin unfähig, ihn weiter festzuhalten, der Dämon ist zu stark.“

„Salihah, Salihah…“ unterbrach Zoras sie keuchend, „Das ist nicht deine Schuld, es war abzusehen, dass es so kommen würde…“

„E-er hat die ganze Familie getötet?!“ japste Tehya, und Nalani erbleichte. „Wie grauenhaft…“

„Er verhindert gezielt, dass wir uns gegen ihn versammeln oder den Senat stützen können,“ schnaubte ihr Mann grantig, „Dieser Mistkerl, die Geister sollen ihn bestrafen! Was ist mit Nomboh und Keisha? Mich schweigen die Geister an, ich habe nichts gesehen…“

„Sie waren da, aber erst, als Kelar längst weg war. Ich habe Federn gesehen… vermutlich haben sie versucht, euch Botschaften zu senden… Kelar beherrscht den Wind, er hat die Feder vielleicht abgefangen…“

„Und wohin ist er jetzt?“ fragte Nalani entsetzt, „Können wir nicht irgendetwas tun?“

„Solange wir nicht wissen, wo er ist, nicht…“ seufzte Salihah und sah sie kurz an. „Ich habe keine Ahnung.“

„Und was wird aus Nomboh und-…?!“ fing Tehya an, in dem Moment flog die Stubentür wieder auf und Nomboh und Keisha standen gemantelt und gestiefelt in der Stube.

„Du liebe Güte!“ schrie Keisha los, „E-er ist tot und die ganze Familie! Die ganzen Heiler halten uns jetzt für grausame Massenmörder und sie haben, sie haben, du liebe Zeit! Sie haben eine Mistgabel auf uns geworfen!“

„Eine Mistgabel!“ empörte Nomboh sich ebenfalls, „Die fette Frau des einen Ratsherren der Heiler, den wir aufgesucht haben, hat wirklich eine Mistgabel nach uns geworfen! Kelar, dieser grauenhafte, scheußliche Dämon, wenn ich den erwische, reiße ich ihn in tausende und abertausende Stücke! Ich wette, er hat meine Federn in der Luft zerfetzt, die ich geschickt habe, tse!“ Er geriet richtig in Rage und Nalani war entsetzt; der sonst so freundliche Mann war noch nie so zornig gewesen, solange sie ihn kannte.

„Was ist geschehen?“ fragte Zoras seinen Bruder knapp, „Rasch, Nomboh! Wir wissen von dem Tod des Mannes. Was war, als ihr bei dem Haus ankamt?“

„Das ganze Anwesen stank nach Blut und Tod, auf den Boden lagen Hände und Füße in allen Größen! Ich, entsetzt, sofort mit Keisha wieder hinaus, es war unverkennbar Kelars Werk, irgendein Dämon muss ihm von unserem Plan mit den Räten erzählt haben. Ich habe die erste Feder zu euch geschickt mit der Nachricht, dass wir noch zu den anderen Ratsmännern gehen um sie zu warnen… aber Kelar war wohl vor uns da, er muss sie bedroht haben, und sie denken, wir alle würden am selben Strang ziehen und genauso krank im Kopf sein wie Kelar, er ist schließlich unser Anführer, rein theoretisch. Da habe ich die zweite Feder geschickt, weil wir die Heiler lieber in Ruhe gelassen haben und ich eigentlich umgehend nach Yiara wollte, aber auf halbem Weg sind wir umgekehrt, weil keine Antwort von euch kam und ich das Gefühl hatte, da wäre was faul mit der Post!“

„Du liebe Güte!“ machte Tehya, „Was machen wir jetzt?“

„Kelar ist… ein Dämon,“ bemerkte Salihah da, und alle drehten sich zu ihr um. Sie sah verbittert auf den Boden und plötzlich wurde es still in der Stube, als sie alle ansahen. Nalani bemerkte beunruhigt den bitteren Klang ihrer Stimme. Sie sah müde aus, als hätte sie Wochenlang nicht geschlafen. Es war lange her, seit sie Salihah zum letzten Mal gesehen hatte… gebessert hatte sich offenbar nichts, seit sie in Tuhuli war. „Er ist ein Gegner, gegen den ihr nichts ausrichten könnt.“
 

Die anderen sahen sie bedrückt schweigend an. Nomboh und Keisha zogen jetzt auch endlich ihre Mäntel und Schuhe aus und beruhigten sich allmählich wieder, obwohl Keisha noch eine Weile über die Mistgabel schimpfte.

„Eine Mistgabel, Nomboh! Ich bin eine Frau von Rang und Würde, und man bewirft mich mit einer dreckigen Mistgabel, mit der diese fette Schlampe in ihrem Schweinescheiß rumgewühlt hat! Pfui!“ meckerte sie immer wieder und sparte dabei auch nicht an obszönen Flüchen und Beschimpfungen, was Nalani verwunderte, wo sie doch eine Frau von Rang und Würde sein wollte.

„Was ist mit Tabari und Kiuk?“ wollte Nomboh von Salihah wissen, und sie seufzte erschöpft.

„Sie sind daheim, Kelar wird ihnen schon nichts tun, ich machte mir um euch oder die Leute in Yiara mehr Sorgen.“

„Hakopa und Minar bewachen den Senat,“ erklärte Zoras ihr dumpf, „Heute Nacht in dieser Finsternis werden wir nichts erreichen, wenn wir kopflos losrennen und ihn fangen wollen. Bleibst du heute Nacht hier, Salihah? Vielleicht sagen dir die Träume… wo er ist.“ Er sah die Frau an und sie erstarrte für einen Moment, als sich ihre Blicke trafen, ehe sie sich wieder abwandte. Er durfte sie nicht so ansehen… verdammt, seine Frau war im selben Raum! Sie zwang ihren Geist mit aller Macht, sie jetzt nicht verräterisch erröten zu lassen, und murmelte:

„Nein, ich sollte besser gehen…“

Es war Nomboh, der ihr nichtsahnend einen Strich durch die Rechnung machte.

„Quatsch, du bleibst,“ entschied er, „Zoras hat recht, wenn wir gemeinsam was unternehmen wollen morgen, ist es sinnvoll, wenn du bleibst! Ich kann ja versuchen, Tabari eine Nachricht zu schicken, damit er sich nicht sorgt, vielleicht kommt sie ja mal an.“

„Auf keinen Fall, wenn Kelar sie doch abfängt und weiß, dass Salihah hier ist, wird er ganz Tuhuli dem Erdboden gleich machen!“ machte sein Bruder entsetzt. Salihah lachte bitter.

„Ach… als ob der nicht wüsste, dass ich hier bin, wenn ich nicht zu Hause bin. Wo sollte ich sonst sein, etwa in Yiara bei Hakopa? Ich bin hier mehr eine Gefahr für euch als eine Hilfe. Außerdem sollte Nalani ihre Isolation behalten, ich bin Teil ihrer Familie, sie dürfte mich jetzt gar nicht sehen.“ Nalani drehte wie auf Knopfdruck den Kopf weg, als würde das es ungeschehen machen.

„Ich bitte dich aber,“ machte Nomboh murmelnd, und sie sah ihn eine Weile an, während Zoras sich raushielt. Salihah hätte sich gerne etwas einfallen lassen, um nicht bleiben zu müssen… sie konnte hier nicht übernachten, das war nicht gut. Aber etwas in ihr sträubte sich auch, Nein zu sagen… etwas in ihr weigerte sich, zu gehen, erst recht jetzt, wo man sie bat, zu bleiben.

Was sollte sie zu Hause? Da war es kalt… hier war es wärmer bei den Menschen, die sie im Gegensatz zu ihrem Mann nicht verabscheuten und die sie nicht verletzen würden…

Sie hatte es so satt, verletzt zu werden… sie konnte das nicht mehr länger.

„Ist gut…“ murmelte sie dann und gab sich geschlagen, „Ich bleibe. Aber nur eine Nacht… ich werde sowieso kein Auge zutun.“

„Wir alle werden nach den Träumen jagen, die uns sagen, was wir wissen wollen,“ meinte Zoras und kehrte ihr und dem Rest der Versammlung den Rücken, „Wir sollten zu Bett gehen, dann sind wir morgen früher auf den Beinen. Ich kümmere mich um Kelars Auftauchen… Nomboh, du kümmerst dich um deine Schülerin, wenn ich morgen gehe.“ Ohne eine Antwort abzuwarten ging er aus der Stube, seine Frau folgte ihm verwundert und in größter Eile. Nomboh seufzte tief und sein Blick schweifte von Salihah zu Nalani, die schweigend auf dem Sofa saß.

„Ah,“ machte er nickend, „Verzeih diesen Ärger, Nalani. Ab morgen bin ich wieder für dich da – jetzt gehe ich erst mal schlafen und träume von Mistgabeln, wetten.“
 

Es wurde still im Anwesen. Salihah blieb als Letzte in der Stube sitzen und starrte in die Reste des herunter gebrannten Feuers im Kamin, obwohl das Hausmädchen ihr extra ein kleines Gästezimmer vorbereitet hatte, wollte sie nicht hinaufgehen. Sie würde kein Auge zudrücken, das wusste sie, daher konnte sie auch unten sitzen bleiben.

Vor dem Kamin lag das Fell eines Bären, auf dem sie saß und sich an der Glut wärmte, dabei schloss sie die Augen und versuchte, die Dinge zu sehen, die sie sehen musste. Doch alles, was sie wahrnahm, war ein Schatten, ein bösartiges Unheil, das über dem Land schwebte wie ein Schwarm Bienen. Und sie sah das Blut jener, die ihr Mann ermordet hatte, wie es auf dem Erdboden klebte und in Mutter Erdes Fleisch sickerte. Mutter Erde bebte vor Zorn und Vater Himmel grollte über ihr, und die beiden Monde Ghia und Zuyya strahlten bedrohlich in der Finsternis; es war kein hoffnungsvolles, schönes Licht, es war kalt und grausam und tat ihr in den Augen weh, als sie es ansah, aber sie konnte sich nicht abwenden vom grünlichen Schimmer der Ghia, der näher und näher kam, während unter ihr die Erde mit einem Brüllen aus der Tiefe aufbrach und sie zu verschlingen drohte. Sie sah Kelars Gesicht vor der untergehenden Sonne, und er hatte den Kopf in den Nacken und die Arme in den Himmel geworfen.

„Fürchtet die Geisterwinde, die meiner Macht gehorchen! Sie kommen und gehen mit den Worten und Befehlen dieses Mannes!“ rief er laut, und seine Stimme klang grausam und hart, härter als sie sie kannte. „Vater Himmel und Mutter Erde knien vor mir… ihr Toren solltet es ebenso tun!“

Dann riss er die Arme herunter, fuhr zu ihr herum und starrte sie aus blitzenden, bestialischen Augen an, packte seinen goldenen Speer und stieß ihn mit aller Macht in die Erde unter sich. Und Mutter Erde blutete und ihr Blut ergoss sich wie eine Flutwelle über das Land…

Salihah wurde aus ihrer Finsternis gezerrt und sah sich gegenüber plötzlich ein Gesicht, während sie geschüttelt wurde und ihr Kopf plötzlich höllisch zu schmerzen begann. Zuerst glaubte sie, es wäre ein Geist, der sie anstarrte und zu ihr sprach… war sie gerade gestorben? War sie in der Geisterwelt…? Dann erkannte sie plötzlich Zoras Chimalis, der vor ihr am Boden hockte und sie energisch rüttelte.

„Verdammt, komm zu dir!“ keuchte er, „Kannst du mich hören, Salihah?!“

Sie hielt inne, als er aufhörte, sie zu schütteln, und wusste plötzlich wieder, wo sie war. Sie war auf dem Bärenfell vor dem Kamin in der Stube von Chimalis‘ Anwesen… die Geisterbilder, die sie gesehen hatte, hatten sie wohl völlig eingenommen. In ihrem Kopf pochte und schmerzte es. Sie stöhnte erschöpft und versuchte, sich aus Zoras‘ Griff zu befreien, aber sie hatte nicht genug Kraft, sank in sich zusammen und fiel ihm in die Arme. Er seufzte erleichtert darüber, dass sie wieder bei Bewusstsein war.

„Ich kam noch einmal herunter und hörte dich seltsame Geräusche machen, ich dachte, du verreckst oder so, du lagst auf dem Boden und hast dich wie ein Fisch im Netz hin und her geworfen, da habe ich dich aus der Traumwelt gerissen…“ erklärte er, „Hast du etwas Spannendes gesehen? Wo ist Kelar?“

„Quäl mich nicht mit diesen Dingen…“ murmelte sie zu seiner Überraschung, und er sah sie an, als sie keuchend den Kopf hob und ihn aus glasigen Augen ansah. Sie sah nicht gut aus, er machte sich jedes Mal mehr Sorgen, wenn er sie sah. „Ich will… nicht an Kelar denken…“ stöhnte sie da weiter, „Ich… er ist wahnsinnig, Zoras…“ Sie verzog schmerzhaft das Gesicht und fasste japsend nach ihren Schläfen, als das Pochen so laut wurde, dass sie seine Stimme nicht hörte, als er sprach.

„Du liebe Güte, hast du Schmerzen?! Soll ich dir was holen…? Himmel…“ Er schnappte rasch ein weiches Kissen vom Sofa, legte es auf das Fell und Salihahs Kopf darauf, ehe er aufstand und den Raum verließ.

Sie lag da mit dem Kopf auf dem Kissen in dem schwach erleuchteten Zimmer und konnte eine Weile nicht oben von unten unterscheiden. Sie nahm nur das spärliche Licht wahr und den Schmerz, der in ihrem Kopf hämmerte und ihren Kopf zerplatzen lassen wollte. Jede Bewegung, selbst das Atmen schmerzte, und sie keuchte leise, als Zoras plötzlich wieder neben ihr war, sie vorsichtig aufsetzte und ihr ein Glas an die Lippen hielt.

„Trink, rasch,“ machte er, „Das wird deine Schmerzen verjagen.“

„Nein… nein…!“ japste sie, „Ich kann… ich werde krank von Laudanum…“

„Das ist kein Laudanum,“ beruhigte er sie, „Es ist ein Heilmittel, das Keisha erfunden hat, sie ist Heilerin, vergessen? Trink, es wirkt Wunder.“ Nach dieser Ansage trank sie. Und wie er versprochen hatte wirkte es Wunder; schon eine kurze Weile später spürte sie den Schmerz bereits abflauen.
 

Als sie wieder klar denken konnte, lag sie in seinen Armen auf dem Fell, er hatte sich nicht gerührt. Sie sah ihm ins Gesicht und setzte sich leicht errötend auf, als ihr klar wurde, was sie da tat.

„Entschuldige,“ machte sie verhalten und kehrte ihm dann den Rücken, indem sie sich auf dem Fell herum schob, „Ich bereite euch nur Ärger, Zoras. Du kannst jetzt wieder schlafen gehen… Tehya wartet sicher schon…“ Er schob das leere Glas weg und krabbelte wieder zu ihr herüber, bis er sie von der Seite ansehen konnte.

„Tehya schläft schon,“ sagte er, „Ich wollte nach Träumen jagen, nach Geisterstimmen, die mir sagen, was ich tun soll, wenn alles schlimmer wird. Sie erwartet nicht, dass ich vor dem Morgengrauen zurückkehre. Bevor du mir wieder halb ohnmächtig hier herumliegst, bleibe ich besser hier, Salihahchen.“ Sie hatte wieder genug Energie, um schnaubend den Kopf wegzudrehen.

„Da ist schon wieder dieses Salihahchen,“ zischte sie, „Zoras, bitte… du weißt genau, dass wir das… nicht sollten.“ Ihre Stimme wurde immer leiser, als sie unsicherer wurde. Wenn sie mit ihm alleine war, spielten ihr ihre Gefühle immerzu Streiche und sie war machtlos gegen die Wellen aus Wärme, die plötzlich in ihr empor stiegen. Ein Gefühl, das sie bei Kelar seit Jahren nicht mehr verspürte…

Er war plötzlich direkt hinter ihr und sie spürte, wie er den Kopf vorbeugte und mit dem Gesicht neben ihrem rechten Ohr innehielt.

„Dann hältst du mich für einen notgeilen Sack, hmm?“ flüsterte er, und sie errötete abermals und senkte das Gesicht. „Du sträubst dich dagegen…“

„Einer von uns muss es ja versuchen…“ murmelte sie ebenfalls gedämpft, als hätte sie Angst, jemand könnte sie hören. „Wenn ich nicht gegen meine Gefühle ankämpfen würde, würde ich jetzt über dich herfallen wie ein wildes Tier…“ Er musste lächeln.

„Ach… tatsächlich?“

Salihah drehte sich abrupt zu ihm um und sah ihn eine Weile an… und in ihren Augen war dieser eine Blick, den er lange nicht gesehen hatte bei ihr, ein Blick, der ihn kurz erstarren ließ. Dann erwiderte er ihren Blick… aber nur für eine kurze Weile.

Sie schnellte nach vorne, ergriff plötzlich seine Wangen und küsste ihn. Er gab sofort nach und drückte seine Lippen ebenfalls energisch gegen ihre, als sie den Kuss intensivierte und mit der Zunge in seinen Mund eindrang, um nach seiner Zunge zu suchen. Als sie sich keuchend voneinander lösten, fasste er heftig atmend nach ihren Hüften, während sie sich vor ihm hinkniete, die Hände noch immer an seinen warmen Wangen.

„Ich liebe dich!“ stöhnte sie und sah ihm ins Gesicht, „Immer noch… und ich träume nachts von dir, wenn ich alleine bin…“ Er starrte sie an und sie erzitterte, während ihre Hände hastig über sein Gesicht zu streicheln begannen. Er packte ihre Hüften fester und zog sie an sich heran, bis sie ihm wieder halbwegs in den Armen lag und ihre Gesichter kaum einen Zoll voneinander entfernt waren.

„Shh…“ murmelte er dann, und sie schloss zitternd die Augen. „Sprich nicht, Salihahchen…“

„Nenn… mich nicht so…“ Das war ihr letzter Versuch, sich zu wehren. Als er sie dann wieder leidenschaftlich küsste, gab sie es auf.

Sie zog sich selbst dichter an seinen Körper heran und setzte sich schließlich auf seinen Schoß. Ihre Zungen umspielten einander und sie spürte, wie er mit den Händen von ihren Hüften abließ und ihr stattdessen über den Rücken und durch die langen, schwarzen Haare strich. Salihah erschauderte und fuhr mit den Händen über seine Brust, ihre Finger öffneten behände die Knöpfe seines Oberteils. Keuchend beendeten sie einen weiteren Kuss und er lehnte sich leicht zurück, als sie sein Hemd ganz geöffnet hatte und es ihm sanft von den Schultern streifte. Dann sah er ihr ins Gesicht und zog die Hände langsam über ihre Schultern nach vorn, strich mit den Fingern über ihr Schlüsselbein und wanderte danach hinab zu ihren Brüsten.

„Ich sollte das nicht begehren, Liebster…“ stöhnte sie und lehnte den Kopf in den Nacken, als sie ein Schauer aus Hitze überkam beim Gefühl seiner Hände, die ihren Busen berührten. „Ich bin egoistisch…“

„Wir sind es beide…“ korrigierte er sie, beugte sich wieder vor und biss ihr sanft in den Hals, um danach mit der Zunge über ihre Haut zu fahren bis hin zu ihrem Dekolletee. Sie stöhnte jetzt lauter und schloss hingebungsvoll die Augen, bebend glitten ihre Finger in geübten Bewegungen über seinen nackten Oberkörper, weiter hinab bis hin zum Bund seiner Hose. Indessen hatten seine Hände begonnen, ihr Kleid auf ihrem Rücken aufzuschnüren. Als es locker von ihren Schultern und ihrer Brust rutschte, hob er den Kopf und betrachtete sie. Ihm entfuhr ein verlangendes Keuchen beim Anblick ihres darunter nackten Oberkörpers. Als sie den Blick zu seinem Gesicht wandte, ließ sie kurz lächelnd von seiner Brust ab und nahm seine Unterarme, um seine Hände wieder nach vorne auf ihre Brüste zu legen.

„Berühr mich, Liebster…“ keuchte sie erregt, und er stöhnte und kam ihrer Forderung umgehend nach, legte seine Hände auf ihr weibliches Fleisch und streichelte sie. Und sie warf den Kopf abermals mit einem enthusiastischen Stöhnen in den Nacken und bewegte sich in vertrauten, kreisenden Bewegungen auf seinem Schoß, während er fester zudrückte und spürte, wie ihr bloßer Anblick das Feuer in seinen Lenden stärker und heißer machte. Das Feuer, das er auch in ihrem Körper entzündet hatte… er spürte es, er spürte es in jeder Ader ihres schönen, blassen Körpers pulsieren, das Feuer des Verlangens, des Lebens, das sie so lange nicht mehr gehabt hatte…

Er würde sie leben lassen, seine schöne geliebte, er würde sie wieder zum Leben bringen, nachdem ihr Mann sie beinahe getötet hatte…

Mit einem fordernden Lächeln hob er den Kopf, ließ ihre Brüste los und zog sie näher an sich heran, bis ihre Oberkörper sich gegeneinander drückten und sie stöhnend wieder herunter in sein Gesicht blickte.

„Komm, küss mich,“ verlangte er sanft, und sie keuchte, ehe sie sich willig herabbeugte und seinem Befehl mit größter Hingabe nachkam und sich ihrem eigenen Verlangen gänzlich hingab.
 

Nalani fuhr aus dem Schlaf hoch.

Es war mitten in der Nacht. Das Mädchen fragte sich, warum sie aufgewacht war… sie konnte sich an keinen beängstigenden Traum erinnern, der sie hatte aufschrecken lassen… das war normalerweise der Grund für ihr nächtliches Aufwachen, daher war sie verwirrt, dass es jetzt etwas anderes gewesen war. Sie setzte sich auf und lauschte; aber es war kein Geräusch zu hören.

Mach dich nicht verrückt… schalt sie sich genervt und legte sich wieder hin, um weiterzuschlafen. Dann dachte sie plötzlich an Kelar; was, wenn er nach Tuhuli kam? Was, wenn er vorhatte, das Anwesen zu vernichten mit allen, die darin waren?

Jetzt reiß dich zusammen…

Doch egal, wie sehr sie sich bemühte, sie bekam die Gedanken nicht mehr aus dem Kopf, bis sie aufstand und sich mit klopfendem Herzen ans Fenster stellte. Draußen war alles ruhig und sie spürte auch beim besten Willen kein Übel über der Stadt.

Kelar ist nicht in Tuhuli… warum mache ich mich so nervös? fragte sie sich dumpf, schob den Vorhang wieder zu und beschloss dann, sich ein Glas Wasser zu machen. Vielleicht konnte sie danach besser einschlafen… oder sie fand wieder Zoras in der Küche und erfuhr eigenartige Sachen von ihm.

Zoras war nicht in der Küche. Da war niemand, als das Mädchen sich ein Glas mit Wasser füllte und trank. Aus der Stube hörte sie leise Stimmen und verwirrt horchte sie auf. Es war doch noch jemand wach? Das Glas zurückgestellt schlich sie lautlos wieder in den Flur und in Richtung der zugeschobenen Stubentür, um einige Fuß davor stehen zubleiben. Drinnen brannte Licht und warf Schatten auf das dünne Papier der Schiebetür. Im flackernden Schein des Feuers nahm sie die Schatten zweier Menschen auf dem Boden wahr, und mehr an den Stimmen als an den schemenhaften Schatten auf der Tür erkannte sie Zoras und Salihah. Er lag auf dem Boden und sie saß über ihm und bewegte sich, als würde sie auf ihm tanzen. Nalani errötete unwillkürlich, als sie an ihr Blutritual dachte, während sie Salihah beobachtete, sie den Kopf in den Nacken warf und den Rücken dabei nach hinten bog, während die Hände des Mannes unter ihr nach ihren fliegenden, langen Haaren angelten. Das Mädchen räusperte sich verhalten und kehrte der Tür dann den Rücken, während sie plötzlich wusste, was Zoras damit gemeint hatte, dass Kelar eine persönliche Abneigung gegen ihn hatte. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass sie so etwas zu sehen bekäme, nur, weil sie zur Stube gegangen war. Sie beschloss weise, nie darüber zu sprechen… es wäre für alle Beteiligten besser, wenn niemand wüsste, was sie wusste.
 

Salihah spürte das Feuer in ihrem Inneren und es verbrannte sie. Es war schmerzhaft und gleichzeitig aufregend, und sie wusste, dass sie das Gefühl vermisst hatte. Sie stöhnte laut und bewegte sich auf ihm, sich mit den Händen zitternd an seinem Bauch abstützend, und seine Hände fuhren hastig durch ihre Haare und legten sich dann auf ihre Oberschenkel, mit denen sie seinen Rumpf in die Zange nahm.

„Du hast gelogen…“ stöhnte Zoras unter ihr und lehnte keuchend den Kopf zurück auf das Fell, auf dem er lag, während er sich mit ihr bewegte und ihre Hitze über sich spürte, die Flamme ihres Körpers, die nicht nur sie verbrennen wollte. Seine Hände fuhren auf ihren weichen Schenkeln auf und ab und er spürte, wie sie vor Ekstase erbebte und hörte sie wieder stöhnen. Dann riss sie plötzlich in ihrem rausch den Kopf herunter und starrte ihn an mit einem Blick voller Wildheit, voller Lust und voller Feuer, dass er ebenfalls stöhnte, als ihre Visage alleine seine Erregung steigerte. Keuchend warf sie sich mit einer Hand energisch ein paar Haare aus dem Gesicht.

„Gelogen?“ zischte sie ihn an, „Warum?“

„Du hast gesagt, du hättest dich verändert…“ seufzte er und grinste triumphierend, „Aber das hast du nicht… du bist immer noch so ungezügelt wie damals…“ Sie stützte sich wieder an seinem Oberkörper ab, ehe sie sich herunterbeugte und mit der Zunge über seine Brust fuhr, worauf er zusammenfuhr und ebenfalls lauter stöhnte.

„Hast du damit ein Problem?“ fragte sie dann, setzte sich wieder auf und begann, sich heftiger zu bewegen. Sie drängte ihn ungeduldig, schneller zu machen, und er folgte ihrer Forderung artig, er packte ihre Hüften und stieß tief in sie hinein, worauf sie schrie und den Kopf wieder zurückwarf. Ihre Haare tanzten in der warmen Luft des Zimmers, als sie sich noch intensiver bewegte.

„Ich liebe es…“ raunte er dann, und jetzt senkte sie das Gesicht abermals, um ihn mit einem diabolischen Grinsen anzusehen in dem Moment, in dem die Flamme in ihrem Unterleib erneut ausschlug und ihren Körper erzittern ließ. Und sie tanzten ihren wilden, leidenschaftlichen Tanz auf dem Bärenfell vor dem Kamin, bis sie die andere Seite des Himmels erreichten, ehe Salihah keuchend und völlig benebelt von der berauschenden Welle der Erfüllung auf ihm zusammensank. Er hielt sie stöhnend in seinen Armen und atmete tief ihren angenehmen Geruch ein, spürte ihr leichtes, wohliges Zittern über sich, noch immer mit ihr vereint, als ihr Kopf auf seiner Brust lag. Sie war erstaunt, dass sie nicht erschöpf war von der Vereinigung, sondern mehr belebt, als hätte er sie mit dem Tanz, der Leben machen konnte, tatsächlich zum Leben erweckt. Als sie zu Atem gekommen war, erhob sie sich vorsichtig von ihm und rollte sich dann von ihm herunter, um sich neben ihn zu setzen. Mit einer Hand strich sie über seinen Kopf und durch seine schwarzen Haare, als wäre er ein Kind, das sie ins Bett brachte.

Er rollte sich mit einem zufriedenen Seufzen auf die Seite in ihre Richtung und fuhr sich ein paar Mal mit den Händen über das verschwitzte Gesicht.

„Nein… du hast dich tatsächlich kaum verändert,“ machte er dann und betrachtete sie, als sie begann, sich gedankenverloren durch die schwarzen Haare zu streichen.

„Du musst es ja wissen, Liebster,“ neckte sie ihn verhalten lächelnd und senkte das Gesicht in liebevoller Weise. Er streckte eine Hand nach ihr aus und berührte zärtlich ihren rechten Oberschenkel, an den er am einfachsten herankam.

„Du bist wunderschön, Salihahchen…“
 

Nalani sparte sich einen Kommentar und zwang sich, sich keine weiteren Gedanken zu machen, wenn Salihah öfter nach Tuhuli kam – und das tat sie tatsächlich, obwohl sie sich eigentlich nicht sehen sollten. Aber es gab wichtige Dinge zu besprechen, die mit dem Land zu tun hatten, das konnte die Frau nicht einfach ignorieren. Nalani konnte nicht ignorieren, dass ihre Schwiegermutter mit Zoras Chimalis vermutlich in der Nacht ganz andere wichtige Dinge zu besprechen hatte. Ihr sollte es gleich sein; dass Kelar ein liebevoller mann war, konnte sie sich nicht vorstellen, sie konnte es also, so glaubte sie, verstehen; sie fragte sich aber, ob Zoras‘ Frau Tehya das gar nicht mitbekam. Aber offenbar ging es entweder wirklich an ihr vorbei oder sie nahm es lächelnd hin, sie beschwerte sich zumindest nicht.
 

„Wegen des ganzen Ärgers um Kelar und der Mistgabeln hat sich dein Unterricht verzögert,“ sagte Nomboh eines Tages am Ende des Hungermondes bedauernd, „Aber das, was ich mit dir vorhabe, Nalani, wird kaum Kraft in Anspruch nehmen, davon bin ich überzeugt.“

Nalani sah ihn erstaunt an, in der Küche sitzend mit einer Tasse Kaffee – seit sei das komische Getränk einmal probiert hatte, war sie ihm verfallen und Zoras Chimalis freute sich diebisch, einen Mittrinker gefunden zu haben, weil eine Restfamilie nur Tee trank.

„Und was soll das sein, Meister?“

Nomboh hob theatralisch einen Zeigefinger.

„Das einzig materielle unserer höheren Magie… die elementaren Zerstörer!“
 

Das Mädchen war ganz und gar hellhörig, als sie wieder mit ihm im Garten stand. Es war eiskalt und sie waren dick eingepackt in Mäntel, Schals und Mützen. Obwohl er mit dem Schal vor dem Gesicht etwas nuschelte, verstand sie ihn sehr gut.

„Ich betone elementare Zerstörer, weil es auch nicht-elementare gibt,“ erklärte der Meister, „Mit den geisterwinden, den höchsten Mächten des Himmels und der Erde, kann ein Schamane auch sehr viel zerstören, und das hat mit den Elementen nichts zu tun. – An Elementen gibt es beinahe alles, was du greifen oder zumindest benennen kannst. Ich habe gehört, du wärst sehr gut mit dem Wasser.“

„Ja, ich denke schon,“ nickte sie langsam und leicht bescheiden.

„Bei diesem Klima hast du mit Wasser ein ganz großes Problem,“ grinste Nomboh sie an, allerdings sah sie das Grinsen unter seinem Schal nicht. „Denn sobald du versuchst, Alara zu zaubern, passiert wenn du dich nicht anstrengst das hier…“ Er machte eine unscheinbare Handbewegung und ließ in seiner Hand einen kleinen Wasserstrudel entstehen, der augenblicklich zu Eis gefror und zu Boden stürzte, wo er zerschellte. Nalani zog eine Braue hoch.

„Und wenn ich mich anstrenge, geht es?“ wunderte sie sich.

„Inneres Gleichgewicht,“ riet er ihr nickend, „Gleich die Temperatur der Energie an die Außentemperatur an. Du wirst mehr Wärme investieren müssen, um eine nicht gefrierende Alara zu zaubern… siehst du?“ Er wiederholte seinen Zauber und dieses Mal blieb das Wasser in seiner Hand Wasser, bis er es verschwinden ließ und Nalani wieder ansah. „Ich kann das nicht so lange, Wasser ist nicht unbedingt meine stärkste Seite und Wärme auch nicht wirklich,“ lachte er, „Die meisten Schwarzmagier haben von Geburt an ein Element, das ihnen am meisten zusagt, das sie am besten beherrschen. Das zeigt sich meistens schon bei den ersten Grundzaubern, denn das stärkste Element beherrschen sie dann natürlich am besten. Wichtig ist bei den Elementen, sich auf die Umgebung einzustellen! Dann zeig mir mal… deine Alara!“
 

Während Nalani und Nomboh draußen trainierten, stand Meoran drinnen und sah gespannt dabei zu, wie Nalani einen gewaltigen, donnernden Wasserstrudel erschuf und seinen Vater damit beinahe aufspießte, der sich aber mit Hilfe einer unscheinbaren schwarzen Feder zu wehren wusste.

„Nalani ist ein sehr guter Schamane, habe ich recht, Onkel?“ fragte er Zoras perplex, der neben ihm stand und ebenfalls hinaus starrte.

„Sie ist grandios,“ bestätigte Zoras murmelnd. Sie brauchte in der Tat wenig Übung, um einen richtigen, gefährlichen Zerstörer zu rufen, in ihrem Falle ein gigantischer Wasserzauber, der jeden durchbohren würde, auf den sie ihn losließe.

Und die elementaren Zerstörer sind nie die mächtigste Waffe eines Geisterjägers… sie beherrscht ihre eigene Technik noch nicht, das Erbe ihres Clans, Kadhúrem… wenn sie mit der Schattenklinge umgehen kann, sollte sie besser sein als Nomboh, sogar besser als ich… sie ist ein Naturtalent, größer als ihr Vater… mit der Schattenmagie könnte sie unsere einzige Hoffnung sein… Kelar zu erledigen.

Alle dachten es, aber keiner wagte, es auszusprechen. Die Geister könnten die Hoffnungen hören und sie gegen die Menschen verwenden, man sprach Dinge, die passieren sollten, nie aus, ob sie schlecht oder gut waren.

Zoras dachte unwillkürlich an Salihah, mit der er oft über das schwarzhaarige Mädchen des Kandaya-Clans sprach. Dass Kelar ausgerechnet sie als Braut für Tabari gewählt hatte war ein Geschenk der Geister gewesen, da waren beide sich einig. Und Kelar hatte sich damit selbst abgeschossen, ohne es zu wissen – oder er ahnte es inzwischen und würde mit allen Mitteln zu unterbinden versuchen, dass sie mehr Macht bekam. Aber dieses Mädchen war ein Geisterkind, sie war von den Geistern des Schicksals erwählt worden, Herrin über Nacht und Schatten zu werden. Das letzte Kind des Kandaya-Clans…

Er beobachtete angestrengt, wie das Mädchen erneut einen riesigen Strudel aus spritzendem Wasser heraufbeschwor und ihn zwischen ihren Händen hielt, während Nomboh vor ihr herumging mit seiner Feder und ihr Anweisungen zu geben schien.

Das dauert zu lange… das kostet alles zu viel Zeit… Zeit, die wir nicht haben! fuhr es dem Oberhaupt mürrisch durch den Kopf, und kurzer Hand schob er seinen Neffen zur Seite und riss die Terrassentür auf, als Nalani ihren Zerstörer mit aller Kraft nach ihrem Meister warf, wie er ihr befohlen hatte. In dem Moment, in dem Zoras aus der Tür hechtete, ertönte von oben ein düsteres Grollen.

„Hört auf, jetzt gleich!“ brüllte der Schwarzhaarige gegen das Donnern an, und Nomboh reagierte perplex, aber umgehend, zückte seine Feder und ließ Nalanis Wasserstrudel mit einem lauten Krachen in tausende Tropfen zerspringen. Sie keuchte und fuhr herum während Nomboh seinen Bruder verwundert ansah.

„Was ist denn jetzt los?!“ wollte er wissen.

„Das verschwendet nur Zeit, sie kann die Zerstörer mit links,“ entgegnete Zoras und sah Nalani skeptisch an, „Sie soll ihren Dolch holen, jetzt sofort. Ich will ihr zeigen, wie sie damit umzugehen hat… je eher sie es lernt, desto besser ist es.“

„Das ist zu früh!“ entschied der Lehrmeister nicht ganz überzeugt, „Sie kann noch nicht mal die Winde rufen, wie soll sie da Kadhúrem beherrschen?“

„Was ist mit dem Dolch?“ fragte Nalani, „Was ist denn überhaupt los?“

„Gar nichts,“ machte Nomboh und linste seinen Bruder an, „Ich bin ihr Lehrmeister, Zoras, und nicht du. Wir machen das erst mit der Frühlingssonne.“

„Und ich bin Clanoberhaupt,“ widersprach Zoras ihm prompt, „Hol dein Kadhúrem, Nalani! Jetzt sofort!“ Nalani machte unsicher einen Schritt auf ihn zu; wieso stritten die zwei sich jetzt wegen des Dolches…?

„Was soll ich damit machen…?“ fragte sie dann, und Nomboh gab sich offenbar geschlagen und seufzte, während Zoras den Kopf hob und sie auf eine merkwürdig zufriedene Art angrinste.

„Du wirst versuchen, mich damit umzubringen!“
 


 

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booyah o.o langes Kapi o.o Kelar ist böse und yay, es gab Tote, auch wenn sie unwichtig waren... XD UND es gab Kaffee XDD Irgendwo muss alles seinen Anfang haben <3

Schattenklinge

„Ich soll was?“ Nalani stand samt ihrem Dolch, Kadhúrem, in der Hand vor den beiden Geisterjägern und sah von einem zum anderen, konnte nicht glauben, was man ihr erzählte. Nomboh wich ihrem Blick aus und schien sich aus der Sache raushalten zu wollen. Sein älterer Bruder dagegen war Feuer und Flamme.

„Dein Kadhúrem ist eine gefährliche Klinge, sie kommt der Macht von Kelars Geisterspeer durchaus nahe, würde ich meinen,“ sagte er zu ihr, „Du wirst mich damit angreifen und versuchen, mich zu töten. Ich werde dir zeigen, wie du mit dem Erbstück deiner Familie umgehen musst.“

„Ich kann Euch nicht töten!“ lachte Nalani verächtlich, „Ich bin nicht mal ganz ausgebildet!“

„Ich habe dir gesagt, es ist zu früh dafür!“ murmelte Nomboh kopfschüttelnd, „Du wirst deine zeit verschwenden, Bruder, sie ist noch nicht soweit.“

„Ich denke, sie ist es,“ widersprach Zoras ihm grantig, „Nalani, du hörst mir nicht zu, ich sagte, du wirst versuchen, mich zu töten, ich beabsichtige nicht, dass du es schaffst, mach dir keine Sorgen.“ Sie blickte unsicher auf ihren Dolch. Sie wusste, dass es ein wertvolles Erbstück und eine starke Waffe war… aber was genau sie mit dem Dolch machen könnte, wusste sie nicht. Was es war, was er ihr beizubringen versuchte, wusste sie nicht, sie hatte keinen blassen Schimmer.

Meoran erklärte ihr den Sachverhalt der Dinge, bevor er mit ihr zu üben begann, erklärte ihr, worauf es ankam und warum das so war, daher wartete das Mädchen auch jetzt auf eine Erläuterung, dass Zoras ihr erklärte, was er meinte. Umso verwunderter war sie, als er plötzlich aus seinem Umhang eine schwarze Feder hervorzog und ein paar Schritte auf sie zu trat.

„Und du solltest es schnell versuchen, sonst versuche ich es nämlich!“ sagte er kalt, und bevor sie Zeit bekam, zu antworten oder sich zu rühren, griff er sie plötzlich an.

Es war mehr aus Reflex, dass sie den Dolch hochriss, aber es nützte ihr wenig, als seine bloße Aura sie plötzlich erfasste und er sie mit einer einzigen Bewegung seiner Feder in die Luft warf und zurück quer durch den Garten schmetterte, wo sie mit einem Krachen des Zaubers zu Boden stürzte und sich überschlug.

Nomboh schnappte nach Luft.

„B-bist du verrückt?!“ schrie er, „Doch nicht so doll…! Ich glaube, du hast sie umgebracht…“

„Weißt du, wie man bockigen Kindern am leichtesten das Schwimmen beibringt?“ entgegnete sein Bruder nur und Nomboh fragte sich, was das damit zu tun haben sollte. „Man wirft sie in hohem Bogen ins kalte Wasser, dann schaltet sich ihr Instinkt automatisch ein und lässt sie lernen. Zumindest hat Vater mir auf diese Weise das Schwimmen beigebracht und es hat funktioniert.“

„Das heißt nicht, dass es bei jedem funktioniert!“ keuchte Nomboh und sah mit Erleichterung, dass Nalani sich stöhnend aufrappelte. „Du kannst nicht alles, was für dich gilt, auf sie übertragen…“

„Ihre Instinkte sind dreimal so gut wie meine und viermal so gut wie deine!“ entgegnete der Ältere scharf, „Du hast doch gesehen, wie sie damals von null auf hundert die unzerstörbare Seele beherrscht hat, sie kann es, verdammt, und ich werde sie zwingen, wenn ich muss!“ Er schnappte seine Feder und fuhr zu der Schülerin herum, die sich wieder aufgerappelt hatte und näher gekommen war. Sie umklammerte jetzt entschlossener ihre Waffe.

„Wenn Ihr mir erklärtet, was ich tun soll, wäre alles leichter!“ bemerkte sie, und er reckte den Kopf in die Höhe.

„Hör auf dein Herz!“ riet er ihr kalt, „Dann wirst du wissen, was du tun musst, sagen werde ich gar nichts! Du musst lernen, auf deinen Geist zu hören, er wird dich niemals anlügen! Menschen lügen, Geister nicht! Also komm jetzt und greif mich an, tu es, Nalani!“
 

Sie folgte dieses Mal seinem Befehl und sprang mutig samt ihrem Dolch nach vorne auf ihn zu. Dieses Mal schmetterte sie ihre Waffe der Aura seiner Feder entgegen und zwang sich mit aller Macht, standzuhalten. Sie spürte den Druck, als ihre Energiewellen gegeneinander knallten und es gab ein lautes Krachen aus dem Himmel über ihnen, das sie erschaudern ließ. Keuchend stemmte sich das Mädchen gegen die Übermacht ihres Gegners. Wie schaffte er es, sie bloß mit einer Feder aufzuhalten? Sie hatte schon bei ihrem Lehrmeister oft Federn gesehen, es waren meistens Kondorfedern oder Krähenfedern, aber wie genau sie sich damit wehren konnten war ihr ein Rätsel. Es musste ein Erbe des Chimalis-Clans sein. Als sie probierte, ihn mit der Kunst des Schwertkämpfens auszutricksen, dem Druck nachgab und nach ihm schlagen wollte, riss die Macht seiner Aura sie wieder von den Beinen und warf sie zu Boden, dieses Mal aber nicht so weit weg wie zuvor.

„Du sollst nicht fechten, es ist eine Sache des Geistes!“ sagte Zoras zu ihr und ließ die Aura verschwinden, „Das war schon besser als eben. Wir sind Schamanen, wir kämpfen nicht mit sterblichen Waffen, sondern mit dem Geist gegeneinander. Vergiss, dass Kadhúrem ein Dolch ist, Kadhúrem ist dein Geist, deine Seele!“

Sie rappelte sich abermals auf und sah nachdenklich auf den Dolch in ihrer Hand. Dann hob sie den Kopf und nickte kurz, bereit, es ein drittes Mal zu versuchen. Sie ignorierte gekonnt ihren schmerzenden Rücken, als sie sich abermals gegen seine Aura warf und den Dolch mit einem Krachen gegen die Feder schmetterte, die offenbar hart wie Stahl war… bei genauerem Hinsehen fiel Nalani auf, dass nicht die Feder hart, sondern die geistige Macht, die Aura, die sie umgab, extrem stark war.

Was ich besiegen muss, ich nicht die Feder oder der Mann, es ist sein Geist, den ich zur Strecke bringen muss!

Sie schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf ihr eigenes Inneres. Sie hörte die Stimmen der Geister in sich murmeln, sie sprachen will durcheinander und sie konnte die Worte nicht entziffern.

Was sagt ihr, Himmelsgeister? Was flüstert ihr, Erdgeister?!

Doch so sehr sie sich bemühte, sie verstand die Stimmen nicht.

Was soll ich tun, verdammt?!

In dem Moment spürte sie einen plötzlichen, harten Schmerz in ihrem Rücken und sie riss keuchend die Augen auf und fand sich auf dem Erdboden liegend. Zoras stand noch vor ihr und ließ seine Feder sinken, ehe e auf sie herunter sah. Der Dolch war ihr aus der Hand geschlagen worden und lag neben ihr im Gras. Sie erzitterte und spürte ihre Finger nicht mehr vor Kälte.

„Du zweifelst…“ machte der Schwarzhaarige langsam und sah sie an, während sie sich tapfer aufrappelte und keuchend nach dem Dolch angelte.

„Was ist passiert…? Ich war weg…“

„Kontrolle,“ war alles, was er zunächst von sich gab. Nomboh eilte jetzt zu ihnen. „Du musst deinen Geist kontrollieren, kontrolliere ihn bis auf das letzte Stück, dann kontrollierst du auch Kadhúrem!“ Sie schnappte erschöpft nach Luft. Als sie die Waffe wieder gegen ihn heben wollte, strauchelte sie, und Nomboh hielt sie behutsam am Oberarm fest.

„Wir gehen rein, das reicht für heute,“ entschied er mit Blick auf seinen energischen Bruder, „Du wirst sie umbringen, wenn du es zu sehr erzwingst, ein Geist braucht seine Zeit.“

„Sie muss es lernen und sie wird!“ machte der Ältere seelenruhig und fixierte dabei Nalani, „Sie kann es, sie wird es nächstes Mal schaffen. Sie wird es üben.“ Zu Nalani sagte er: „Das war nicht schlecht… du warst in Trance, deswegen warst du weg. Das ist der richtige Weg. Denk darüber nach, finde den Geist von Kadhúrem und mach ihn dir hörig. Wenn du das kannst, Nalani… wird es für dich ein Kinderspiel sein, die Geisterwinde zu rufen.“ Damit neigte er höflich den Kopf und ging wieder ins Anwesen. Nomboh zog Nalani mit sich und folgte ihm.

Drinnen tauten Nalanis Finger langsam wieder auf, als sie ihre Schuhe, ihren Mantel und Mütze und Schal auszog und den Dolch auf einen Schemel neben der Tür legte. Meoran hatte das Spektakel vom Fenster aus verfolgt und war völlig aus dem Häuschen.

„Das war wirklich beeindruckend, was ihr gemacht habt!“ strahlte er begeistert, „Lerne ich sowas auch, Onkel?!“

„Nein, du hast kein Kadhúrem,“ meinte Zoras zu ihm, der sich die ebenfalls leicht kalt gewordenen Finger rieb. „Dummkopf, du bist ein Sohn des Chimalis-Clans, du hast ganz andere Techniken.“

„Dann lerne ich das was du kannst?“ machte der Junge aufgeregt, „Vater, wann kriege ich denn meine Lehre?“

„In zwei Jahren, Söhnchen, und bis dahin kannst du noch fleißig trainieren, damit die Geister deinen Körper auch würdigen!“ grinste der Vater, „Also werd nicht faul!“ Meoran schmollte.

„Ich war doch gar nicht faul, Vater…“

„Was nicht ist, kann noch werden, also hör besser auf ihn, Meoran,“ riet Zoras ihm neckisch, und der Junge brummte.

„Ihr veräppelt mich!“
 

Salihah war erstaunt.

„Du willst Nalani Kadhúrem kontrollieren lassen?“ fragte sie perplex nach und sah ihren Geliebten stirnrunzelnd an, während er bei ihr im Bett lag und sie sich an seine warme Brust schmiegte. Sie kam seit dem Wintereinbruch so oft nach Tuhuli und übernachtete in dem Gästezimmer, dass sie bereits aufgegeben hatte, sich dagegen zu sträuben, wenn er in der Nacht zu ihr kam. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich danach sehnte und es verlangte, dass er zu ihr kam, und sie sich nur der Höflichkeit zuliebe gewehrt hatte, weil sie nicht unmoralisch hatte sein wollen. Aber sie war froh, wenn er kam, wenn sie sich mit ihm ins Bett legte und sich auf ihn setzte, um die Hitze seines Fleisches tief in ihrem Inneren zu spüren und sich dem Rausch hinzugeben, der sie in den Himmel jagte, getrieben von den Flammen ihrer und seiner Lenden. Und jedes Mal spürte sie das Leben, das noch in ihr war, das zurückkehrte, jedes Mal ein Stück mehr, wenn er sie berührte, wenn er sie nur küsste oder ihre Haare streichelte.

Sie hatten sich vereint und sich intensiv geliebt, und die Frau spürte noch immer die wohlige Hitze in ihrem Inneren, als sie sich jetzt gegen ihn drückte und sanft mit der Hand über seinen Oberkörper fuhr.

„Natürlich will ich das,“ antwortete er leise, beugte ich vor und küsste sie kurz, aber liebevoll auf die Lippen, sodass sie leise seufzte. „Du weißt, dass sie es lernen muss. Ich tue, was ich kann, um ihr die Tür zu zeigen… durchgehen muss sie alleine.“

„Auch, wenn Nalanis Potential unser größter Schatz ist und sie der Schlüssel zu einem neuen, besseren Zeitalter sein mag… zum Fall von Lyrien, wie ich glaube… dürfen wir nicht vergessen, dass sie ein Mensch ist, sie hat Grenzen. Sie ist kein Teppich, den man nach Belieben weiter weben kann, bis er perfekt ist… vielleicht ist es wirklich zu früh für sie.“

„Ich folge den Anweisungen der Geister des Vater Himmel,“ entgegnete er dumpf, „Sie lügen nicht, sie irren sich nicht. Sie wird es schaffen, vertrau mir, Salihahchen.“

„Das tue ich ja, Liebster…“ seufzte sie dumpf und wollte den Kopf senken, aber er verhinderte das, indem er zwei Finger unter ihr Kinn legte, es hochzog und sie abermals sanft küsste. Sie erwiderte seinen Kuss und schloss die Augen. „Du solltest das mit Kadhúrem auf keinen Fall überstürzen und noch weniger unterschätzen…“ fuhr sie fort, als sie den Kuss beendeten, und sie rutschte etwas dichter an ihn heran und begann mit den Händen über seinen nackten Körper zu streicheln, als die Hitze und das Begehren wieder erwachten durch den innigen Kuss. „Kadhúrem ist eine Schattenklinge, ein mächtiges und gefährliches Medium, du weißt, was Thono mit dieser Waffe hat machen können.“

„Ja, und seine Tochter wird es noch besser können,“ orakelte der Geisterjäger zuversichtlich, während er sich mit ihr herum auf den Rücken rollte und sie jetzt auf ihm lag. Salihah strich sich die offenen Haare hinter die Ohren und setzte ich auf, als er bereits wieder vor Erregung keuchend nach ihren Oberschenkeln griff und sie energisch zu streicheln begann. „Du zweifelst viel in der letzten Zeit, geliebte Salihah,“ stöhnte er dann, als sie sich auf seinen Unterkörper setzte und sich langsam auf ihm zu bewegen begann, sodass die Hitze stärker wurde. „Mach dich nicht verrückt…“ Sie lehnte mit einem wohligen Seufzen den Kopf in den Nacken und stützte sie wie so oft an seinem Bauch ab.

„Ich bin eine Seherin, Liebster,“ entgegnete sie und keuchte heftig, als sie sich leicht nach vorn beugte und spürte, wie er sie berührte, „Ich bin schon mein ganzes Leben lang verrückt durch die Dinge, die ich sehe, die ich höre…“

„Dann schließ die Augen…“ murmelte er lächelnd und tat es darauf selbst, ehe er mit den Händen sanft nach ihren runden Hüften fasste und sie festhielt. Salihah schloss die Augen. Sie wollte keine Geisterbilder sehen, keine Stimmen hören… sie wollte es nicht mehr, sie wollte nicht mehr unsichtbare Dinge sehen, die ihr Leben zerstören würden, wie es fast alles getan hatte, was sie je prophezeit hatte. Sie spürte, wie seine Hitze sie ausfüllte, und die Geister hielten sich fern. Sie war ein Vulkan, in dem flüssiges Feuer brodelte, und sie schrie vor Ekstase auf und warf sich über ihren Liebhaber, jede Faser ihres Körper erbebte im Rausch ihres Höhepunktes, als Zoras sie packte und sie fester gegen sich presste.

„Nein, nie wieder!“ stöhnte sie und meinte die Geisterstimmen, „Ich bin nicht Sprachrohr für die Geister von Himmel und Erde… nicht jetzt. Nicht mehr!“ Sie spürte das Feuer in sich, wie es sie verbrannte und wie es ihr die Luft aus den Lungen presste, als sie sich mit einem wilden Schreien wieder zurückwarf und den Kopf so weit zurücklehnte, dass sie hinauf sehen konnte. Und über ihr war Feuer, das Himmelsfeuer, das sowohl Tod als auch Leben bringen konnte. Und jetzt brachte es ihr Leben, als der Vulkan ausbrach und sie erfüllte auf eine Weise, die ihre Seele bis in die Tiefe erschütterte. Als sie wieder atmen konnte und das Himmelsfeuer vor ihren Augen verblasste, ebbte die Flut aus Hitze in ihr allmählich ab und sie spürte das Leben, das er gerade noch in sie ergossen hatte, wieder zurückwich, und sie sank stöhnend auf seiner Brust zusammen und blieb eine Weile heftig atmend liegen, noch immer mit ihm vereint.

Er seufzte müde und strich ihr über den zitternden Rücken und ihre schwarzen Haare.

„Du verlangst zu viel von dir,“ murmelte er und lächelte leicht, als sie sich seufzend wieder aufsetzte, um sich dann vorsichtig zu erheben und sich wieder neben ihn in Bett zu kuscheln. Er schlug die Decke über sie beide und sie stöhnte leise und hielt sich an seinem nackten Oberkörper fest.

„Ich muss das…“ meinte sie dumpf, „Verlange ich es nicht, verlangt es niemand…“

„Du bist so perfektionistisch,“ seufzte er darauf, drehte sich zu ihr um und schloss sie liebevoll in seine Arme, um ihr schützende Wärme zu geben. „Das sind wir beide, Salihahchen… aber du bist es noch mehr als ich, fürchte ich.“ Sie lächelte und küsste zärtlich seine Brust.

„Sprich nicht mehr, mein Liebster…“ flüsterte sie dabei, „Wenn du Nalani den Umgang mit Kadhúrem zeigen willst, solltest du jetzt gut schlafen… du hast dir viel vorgenommen…“
 

Nalani kämpfte nicht gegen Zoras oder seine Feder, nicht mal gegen seinen Willen. Sie kämpfte gegen den Geist des Dolches, den sie sich gefügig machen würde, das hatte sie sich fest vorgenommen.

Sie würde die Waffe beherrschen, wie sie ihren eigenen Geist beherrschte… sie würde die Geisterwinde beherrschen, wie Zoras es gesagt hatte.

Vater! Mutter! rief sie ihre Eltern in Gedanken an, Seht mir zu und seid stolz! Ich werde euch nicht enttäuschen, ich werde stark sein wie ihr es wart!

Dann packte sie den Dolch und schwang ihn geschickt herum, um erneut gegen Zoras‘ schwarze Feder zu docken und wieder zu Boden geschleudert zu werden, als der Mann die Hand bewegte.

„Zu verbissen,“ tadelte er sie streng, „Vergiss deine Emotionen, vergiss deinen Stolz, vergiss alles, Nalani! Nur der Geist Kadhúrems und du, das ist alles, worum es geht!“ Sie rappelte sich keuchend vom Boden auf. Ihre Finger waren halb gefroren und sie war kaum noch fähig, sie zu bewegen. Seit Stunden übten sie draußen im Garten. Über Nacht hatte es geschneit und ihre Kleider waren bereits durchnässt vom Schnee, weil sie so oft zu Boden geworfen worden war. Meoran und Enola bauten in einiger Entfernung einen Schneemann im Garten. Der Junge war allerdings so gefesselt von Nalani Training, dass er gar keine Zeit für den Schneemann hatte, bis seine Cousine ihm meckernd den Eimer auf den Kopf setzte, der eigentlich auf den Kopf des Schneemanns sollte.

„Spiel endlich mal mit, Meoran!“

„Hey, nimm sofort diesen Eimer von meinem Kopf!“

Nalani sah keuchend wieder zu Zoras, als sie ihren Dolch aufgehoben hatte und sich mit übriger Kraft an den Griff klammerte.

„Ich werde das schaffen!“ schwor sie bitter, „Ich werde erst aufhören, wenn ich es geschafft habe, ich werde ihn beherrschen! Für meine Eltern… die Kelar getötet hat, und er wird sich wünschen, es nicht getan zu haben!“

Zoras verengte langsam die Augen zu Schlitzen.

„Voller Zorn bist du heute,“ sagte er, „Voller grimmiger Entschlossenheit, mit dem Willen eines Berserkers, aber ohne Geist, pff!“ Sie erstarrte.

„Was?“ machte sie verwirrt, weil er sie ohne Zweifel tadelte, als hätte sie sich verschlechtert und nicht gebessert. „W-was meint Ihr?“

„Wir Schamanen,“ begann er mit finsterer Stimme, „Sind Egoisten, wir tun Dinge für uns selbst und verstecken uns hinter der Beschönigung, es für das Volk, den Stamm, die Welt, wen auch immer zu tun. Du sagst, du tust das für deine Eltern, das ist ein Fehler. Du solltest es für dich tun, für deinen eigenen Geist, nicht für sie und schon gar nicht für irgendwelche Rachegedanken bezüglich Kelar! Rache bringt einen nicht weiter. Wenn du das hier nur lernen willst, um Kelar zu töten, hast du den Sinn der Lehre nicht verstanden, dann hast du nicht verstanden, was es bedeutet, Schamane zu sein… Geisterjäger zu sein!“ Sie erzitterte unter seinen brutalen Worten. Aber noch schneidender als seine ärgerliche Stimme war, dass er recht hatte. Sie senkte den Kopf und Zoras‘ Ausdruck wurde wieder milder. Er seufzte und ließ die Arme sinken. „Wenn du ihn umbringst aus Hass, bist du nicht besser als er,“ versuchte er, ihr zu erklären, „Was Kelar tut, ist frevelhaft und grausam. Die Aufgabe der Schamanen ist es nicht, Menschen zu beherrschen und zu versklaven, und schon gar nicht sie zu töten. Leider gab es in der Geschichte oft solche Tyrannen wie Kelar, die ihre große Macht und ihre Verbindung mit den geistern ausgenutzt haben, um ihren eigenen Vorteil herauszuschlagen. Und Kelars Macht ist gewaltig, ich habe dir ja von seinem Geisterspeer erzählt. Nalani, unsere Aufgabe ist es, mit den Geistern zu kommunizieren und der Welt nützlich zu sein, indem wir ihr den Willen der Geister mitteilen und mit ihnen verhandeln. Was du mit deiner Verbissenheit gerade tust ist nicht die unerschütterliche Seele, die du zu haben gelernt hast. Verdräng deine Gefühle, deinen Zorn, deinen Hass auf Kelar, auf dich selbst, weil du es nicht schaffst… jeder fängt mal klein an, oder denkst du, Nomboh und ich hätten unsere Federn beim ersten Versuch beherrschen können?“ Das Mädchen schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Nein… sicher nicht.“

„Bis ich damit richtig umgehen konnte, hab ich mir zwei Beine und fünf Rippen gebrochen,“ meinte er grübelnd, „Natürlich nicht auf einmal… aber es hat sehr viele Schmerzen gebracht, das zu lernen, und es hat lange gedauert. Du brauchst Ruhe, um zu lernen, Nalani, und du musst deinen Geist festhalten, wenn du Kadhúrem beherrschen willst. Du darfst es nicht mit Wut oder Zwang tun, dann wird es nichts! Befrei dich einfach von allem Irdischen, sei eins mit den Himmelsgeistern. – Ich bin kein Lehrmeister, ich kann das nicht so gut erklären… du wirst es selbst probieren müssen.“ Sie hob ihren Kopf wieder und nickte jetzt.

„Ich versuche es noch einmal,“ beschloss sie, „Und ich werde tun, was Ihr verlangt. Wenn es jetzt wieder nichts wird, mache ich für heute Pause.“

„Oh ja, das ist gut, du wirst dir in den nassen Sachen bei der Kälte den Tod holen! – Enola?!“ Enola sah auf, als ihr Vater sie rief.

„Ja, Vati?“

„Geh rasch hinein und sag Bescheid, dass man für Nalani ein Bad fertigmacht, sonst erfriert sie uns nämlich gleich!“

„Kann ich noch den Schneemann zu Ende-…?“

Jetzt gleich, Enola!“ rief er mit Nachdruck, und das Mädchen gehorchte murrend.
 

Nalani hob den Dolch erneut und fixierte dabei ihr Gegenüber, als Zoras seine Feder wieder zog und sie nach vorn streckte.

„Ganz ruhig,“ erinnerte er sie, „Hör auf dein Innerstes, die Geister lügen nie. Beherrsche Kadhúrems Seele, Nalani! Du kannst das, ich weiß, dass du es kannst!“

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich, ließ ihren Geist frei fliegen… sie hörte Zoras‘ Stimme vor sich nicht mehr. Es war still und dunkel um sie herum… dann spürte sie plötzlich den Geist Kadhúrems. Sie spürte ihn in ihren Händen und wie er sich bewegte, wie er sich wand wie ein Fisch, der nicht gefangen werden wollte und versuchte, zurück ins Wasser zu flüchten. Sie packte ihn fester. Vor ihren Augen tanzten Geisterlichter und sie hörte ein Wispern in ihrem Kopf. Es war eine fremde Sprache, die sie nicht verstand und nie gehört hatte. Doch je länger sie ihr lauschte, je greller die Lichter vor ihr wurden, desto mehr verstand sie die Worte plötzlich… es waren Geister, die zu ihr sprachen, und ihre Sprache war eine Geistersprache.

„Du kannst Kadhúrem nicht beherrschen, Nalani Kandaya!“ sagten sie, „Du darfst keine Zweifel haben, um es zu tun… erweise dich als würdig, Kadhúrems Meisterin zu sein, eine Tochter der Schatten zu sein… dann wird Kadhúrem dir folgen!“

Sie antwortete den geistern laut.

„Ich bin die Tochter von Thono Kandaya! Ich bin das letzte Schattenkind und als einzige fähig, Kadhúrem zu führen! Ihr werdet mich anerkennen als eure Meisterin und ihr werdet mir dienen, Geister der Dunkelheit, Geister von Kadhúrem! Schattenklinge!“

Ihre Worte schienen Wunder zu wirken, denn plötzlich veränderte sich das Licht vor ihr, plötzlich änderte sich das Gefühl in ihren Händen. Sie spürte den Geist des Dolches und wie er sich mit ihrer Seele vereinte zu einem großen Geist, einer mächtigen, fürchterlichen Waffe, fähig, alles zu zerstören, was Nalani wollte. Und sie riss die Waffe empor, als die Geister sie dazu aufforderten, um sie herum flackerte wildes Feuer aus purer Dunkelheit. Und das Mädchen tanzte im Feuer und drehte sich, schwang den Dolch herum. Sie war eins mit dem Geist von Kadhúrem, sie war ein Geistermädchen! Und sie führte die Geister, wohin sie es wollte, sie hörte es um sich herum laut donnern. Die Geister sprachen mit der Stimme des Himmelsdonners, die erzitterten mit der Haut von Mutter Erde. Das Erdbeben riss sie von den Beinen und sie spürte plötzlich Schmerz in ihren Knien, als sie zu Boden stürzte. Dann riss der Schleier aus Feuer und Schatten vor ihren Augen plötzlich auf und sie war wieder auf dem Erdboden, die Geister verschwunden. Vor ihr lag Kadhúrem am Boden, an der Klinge klebte Blut. Nalani fand sich auf allen Vieren am Boden und sie hustete, als der Rückschlag der Macht sie so heftig traf, dass sie plötzlich das Verlangen hatte, sich zu übergeben.

„W-was… was ist…?!“ stöhnte sie und sah das Bild vor ihren Augen flimmern. Das nächste, was sie sah, war knapp fünf Zoll vor Kadhúrem; die schwarze Kondorfeder, die in zwei Hälften gespalten war.
 

Nalani riss fassungslos den Kopf hoch. Zoras stand vor ihr, sein Gesicht war aschfahl und er hielt sich verkrampft die linke Hand fest.

„Du Ungeheuer…“ stöhnte er, „Was hast du gemacht…? Deine Kraft ist noch viel erstaunlicher, als ich dachte…!“ Er strauchelte. Meoran hinten beim Schneemann hatte sich erschrocken erhoben.

„Was ist passiert?!“ rief der Junge und sah zum Himmel. Es war stockfinster geworden, obwohl es noch nicht Abend war…

„Rasch!“ keuchte sein Onkel, „Hol deine Mutter, sofort! Mit neun Fingern kann ich mir meinen Job an den Hut stecken, beeil dich!“

„W-was…?!“ schrie Nalani und fuhr auf, „Was habe ich gemacht?!“ Meoran folgte dem Befehl sofort und stürzte ins Anwesen. Zoras grinste seine Schülerin zufrieden an.

„Du kannst es…“ lobte er sie, „Du beherrschst Kadhúrem, ohne Zweifel… du hast meine Feder zerschmettert und meinen linken Daumen gleich mit abgehackt, gut, dass Keisha Heilerin ist…“ Er keuchte und umklammerte seine verwundete Hand etwas fester, um zu viel Blutverlust zu verhindern. „Du… m-musst nur noch lernen, dich selbst dabei mehr zu kontrollieren… du tust die Dinge noch unbewusst, du tust es instinktiv, was mir zeigt, was für einen… perfekten Instinkt du hast… aber du musst sie aus deinem Willen heraus tun… und ich glaube nicht, dass du beabsichtigt hast, mir den Finger abzuschlagen…“ Nalani erbleichte. Jetzt war ihr richtig übel und sie taumelte fassungslos. Das hatte sie getan? Wieso hatte sie das nicht gemerkt?

In dem Moment kam Keisha gefolgt von Mann und Sohn aus der Tür gestürzt. Sie kreischte.

„Zoras! Immer muss ich dich retten, ich werde noch wahnsinnig hier! Wieso lässt du Vollidiot dir dauernd irgendwas abhacken?! – Rein, schnell, hier draußen gefriert das ja, bevor ich fertig bin!“ Sie zerrte ihn ins Anwesen, während er ihr stolz erzählte, dass Nalani Fortschritte gemacht hatte, und Meoran dackelte den beiden aufgeregt hinterher. Nomboh indessen hielt Nalani fest, die beinahe umgefallen wäre. Er hob Kadhúrem auf und reichte es ihr.

„Ganz ruhig,“ meinte er, „Dann kannst du es also tatsächlich. Du hast den Himmel verdunkelt, siehst du…?“ Nalani sah auf, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie war zu verwirrt; was hatte sie getan? Und warum war niemand wütend auf sie?

„I-ich… ich wollte nicht… ich konnte nicht… p-plötzlich war Feuer da und Schatten, d-die Geister haben…!“ stammelte sie, und ihr Lehrer seufzte und strich ihr beruhigend über den Rücken, als sie sich zitternd an ihn klammerte. Sie erzählte ihm, was sie gesehen hatte, was sie gespürt hatte, und er hörte ihr in aller Ruhe zu und führte sie behutsam nach drinnen, weil es wirklich kalt wurde und ihre nassen Kleider bereits steif gefroren waren.

„Das ist völlig normal,“ sagte er dann, „Du warst in Trance, du musst lernen, auch in der Trance deinen Geist zu beherrschen. Das werde ich dir beibringen, keine Angst. Es ist ja nichts passiert. Keisha wird meinen Bruder schon wieder zusammenflicken, das hat sie schon oft getan!“ Doch Nalani war überhaupt nicht beruhigt, als er sie in die Stube brachte und sie hinsetzte. Dem Hausmädchen befahl er, Nalani einen Tee zu machen. Doch sobald sie die Teetasse in den Händen hielt, fing sie plötzlich an zu weinen, als der Schock von ihr abfiel wie angetauter Schnee von den Bäumen. Nomboh und das Hausmädchen sahen sich ratlos und besorgt an und schließlich fasste der Mann behutsam nach Nalanis Schultern.

„Du musst nicht weinen… es ist alles gut. Du hast es gut gemacht, du solltest stolz sein!“

„Ich habe nicht mal gemerkt, dass ich etwas Böses tue!“ schrie das Mädchen verzweifelt, „Ich bin grausam! Ich bin scheußlich…“ Nomboh seufzte und versuchte, sie zu beruhigen, aber sie kriegte sich gar nicht wieder ein. Erst nach einer Weile hörte sie zu weinen auf. Sie zitterte am ganzen Körper. „E-es ist so kalt…“ stöhnte sie bibbernd, und der Mann riss die Augen auf.

„Ach du Schreck! Du solltest ja baden, stimmt! – Rasch, bring sie ins Bad, sie muss sofort raus aus den nassen Sachen! Wir reden später weiter, Nalani… erst mal wärmst du dich auf, sonst töten die Frostgeister dich!“
 

„Jetzt hör doch mal auf, hier herum zu gestikulieren!“ fauchte Keisha verärgert und gab ihrem Schwager einen energischen Klaps auf den Hinterkopf, „Es reicht ja schon, dass du redest und redest, als hättest du einen Mückenstich, während ich versuche, deinen blöden Daumen anzukleben! – Meoran, nimm den Gesicht aus dem Licht, ich sehe ja gar nichts!“ Meoran zog den Kopf zurück und beobachtete interessiert, wie seine Mutter mit einigen Handbewegungen und mit Hilfe ihrer Heilerkräfte versuchte, Zoras‘ Daumen wieder anwachsen zu lassen. Dabei hielt die das Stück mit einer Hand an seine Hand. Unter ihrer anderen Hand, die sie auf die blutende Wunde presste, leuchtete schwaches Licht.

„Sie ist großartig, sie ist perfekt!“ redete Zoras Chimalis und war völlig aus dem Häuschen, während er mit seiner gesunden Hand in der Luft herum wedelte, „Ich habe gewusst, sie würde es schaffen! Kadhúrem ist eine mächtige Waffe und Nalani eine mächtige Frau! Tabari sollte sich stolz schätzen, ihr Mann sein zu dürfen, eigentlich hat Kelars kleiner Jawohl-Mann so eine gute Frau gar nicht verdient… na ja, ich will nicht unrecht sprechen, aber auf mich hat er nun mal nie einen besonders hellen Eindruck ge-… aua, Keisha, mach das doch zärtlicher!“

„Ich geb dir gleich zärtlich!“ schnappte die Frau streng und schlug ihn erneut, „Sei still und rede nicht die ganze Zeit!“

„Hast du keine Schmerzen, Onkel?“ fragte Meoran fasziniert davon, dass dieser Mann laberte und laberte, obwohl er gerade einen Finger verloren hatte.

„Doch, und wie,“ machte Zoras unbeeindruckt, „Kämpfe gegen die Schmerzgeister, Meoran, das ist alles, was dir hilft, denn du bist ja auch kein Heiler! Ohne deine Mutter wäre ich schon hundertmal gestorben, ich stehe wirklich in ihrer Schuld…“

„Wenn du nicht gleich aufhörst, zu faseln, klebe ich dir deinen Daumen an den Hintern!“ drohte Keisha ihm, und er räusperte sich.

„Oh nein, bitte nicht… das sieht doch affig aus…“
 

Nalani war völlig in sich gekehrt, während sie im heißen Wasser saß. Das Anwesen war in der Nähe einer unterirdischen heißen Quelle erbaut worden und die nutzte man auch als Bad. Ihr war wieder warm und ihre Finger und Zehen waren zum Glück noch nicht erfroren gewesen, stellte sie fest. Aber innerlich war ihr kalt… sie fühlte sich nicht wohl.

Sie dachte an den Moment der Trance und wie sie sich der Vereinigung mit den Geistern komplett hingegeben hatte, mit Leib und Seele… sie war selbst ein Geist gewesen, sie war nicht Nalani gewesen, sondern ein Geistermädchen. Und ihre Umwelt war verschwunden gewesen… sie hatte nichts gewusst, was sie tat, die Geister hatten es getan, Kadhúrem hatte es getan… sie fühlte sich furchtbar, als sie sich an das Blut im Schnee erinnerte, an Zoras Chimalis leichenblassen Gesicht, wie er seine blutende Hand gehalten hatte. Er hatte tapfer gelächelt, aber er hatte Schmerzen gehabt, und das war ihre Schuld…

Sie drehte apathisch und unglücklich den Kopf, als die Badezimmertür sich aufschob. Herein kam ihre Schwiegermutter, voll bekleidet in einem ihrer edlen, aufwendigen Gewänder, von denen eines schöner war als das andere. Normalerweise kam man höchstens im Handtuch ins Bad, ihr Erscheinen war also höchst ungewöhnlich.

Nalani drehte den Kopf weg.

„Wir sollten uns nicht sehen,“ murmelte sie, „Ich bin in der Isolation.“

„Ja, das bist du,“ meinte Salihah, die sich einen Schemel nahm und sich nahe des Badebeckens darauf setzte, „Nomboh hat mich gebeten, mit dir zu sprechen, er als Mann kann nicht einfach hier rein, wenn eine nackte Frau außer seiner eigenen hier badet.“ Nalani schwieg.

„Wann bist du zurückgekommen?“ fragte sie dann. „Du bist heute Morgen weggefahren…“

„Ja, ich war daheim und habe mit Sukutai geübt. Zukünftig werde ich zu ihrem Elternhaus nach Tasdyna fahren und sie dort unterrichten, jetzt wo Kiuk alles weiß, was ich ihm beibringen kann. Es tut nicht länger Not, dass sie zu uns kommt, und ich halte sie gerne fern von Kelar.“

„Dann ist das Monster zur Abwechslung mal wieder im Haus?“ murmelte das Mädchen düster. Salihah seufzte.

„Ja, momentan ist er wieder zu Hause.“

„Warum bist du dann hier? Was ist mit Kiuk?“

„Kelar wird Kiuk nichts antun, Tabari auch nicht,“ seufzte die Frau, „Tabari ist schließlich sein Erbe und Kiuk ist ihm nicht einmal zu töten wert, hab keine Sorge um ihn. Und meine Söhne sind alt genug, auch mal einen Abend ohne ihre Mutter zu überleben. Kiuk wird schlau sein und seinem Vater aus dem Weg gehen. Wenn ich im Schloss bin, bin ich rastlos… hier finde ich Ruhe. Aber ich bin nicht gekommen, um über mich zu sprechen.“ Sie fixierte das Mädchen eine Weile, das ihr noch immer den Rücken kehrte. Dann sprach Nalani ganz leise.

„Geht es Zoras wieder gut? Ist die Wunde schlimm?“

„Unsinn, sein Finger ist wieder an der Hand und völlig gesund, nur eine kleine Narbe ist geblieben. Keisha ist eine gute Heilerin.“

„Warum ist keiner von ihnen wütend auf mich?!“ platzte es dann aus Nalani heraus, und sie drehte sich um, sodass das Wasser spritzte. „Warum sieht mich niemand böse an?! Ich war grausam, ich habe… ich habe einen Menschen verletzt und habe es nicht mal gemerkt! Wieso schelten sie mich nicht und sagen mir, wie furchtbar und grauenhaft ich bin?!“

„Weil du das nicht bist, ganz einfach,“ war die sanfte, ruhige Antwort. „Du bist aufgewühlt deswegen… du musst es nicht sein. Es war ein Unfall, es ist nicht deine Schuld und es ist nichts geschehen, alle sind gesund.“

„Aber… es hätte schlimmer kommen können!“ schrie Nalani entsetzt, „Was, wenn ich statt seinem Daumen seinen Kopf abgeschlagen hätte?! Hätte Keisha den auch einfach wieder ankleben können?! Ich hätte ihn töten können, ohne es zu merken, ohne es zu wollen!“ Sie wollte zu weinen beginnen, aber Salihah griff plötzlich ins Wasser und nahm ihre Hände in ihre eigenen. Nalani schluchzte.

„Sieh mich an,“ befahl die Schwiegermutter ernst, „Das ist der Grund, warum du nicht grausam bist… du wolltest es nicht. Hättest du es gewollt, wärst du grausam. Es ist passiert, weil du deinen eigenen Geist in der Trance noch nicht genug festhältst. Nomboh wird dir das beibringen, du wirst es lernen. Du musst dir keine Vorwürfe machen, Zoras Chimalis hat einiges Schlimmeres erlebt als einen abgehackten Daumen!“

Das Mädchen senkte den Kopf und erzitterte.

„Du sprichst von dem goldenen Speer, den Kelar ihm in die Schulter gerammt hat…?“

Salihah seufzte.

„Du weißt davon?“

„Er hat es mir erzählt.“

„Es war ein glückliches Eingreifen der Geister, dass Kelar nur seine Schulter traf… ich bin mir bis heute sicher, dass er auf sein Herz gezielt hat.“

„Warum tut Kelar so grausliche Dinge? Das alles nur, weil er und Zoras sich nicht mögen?“

„Kelar… ist besitzergreifend,“ antwortete die Frau langsam. „Er hat große Macht und großen Einfluss auf die Geister. Er war schon immer ein begnadeter Magier und es war schon von Geburt an seine Bestimmung, Herr der Geister zu sein. Und jeder, der ihm diese Bestimmung auch nur annähernd streitig machen konnte, musste beseitig werden… und Zoras war da sein größter Dorn im Auge. Von allen Geisterjägern ist Zoras derjenige, der es am ehesten mit Kelar aufnehmen kann. Die Macht des Chimalis-Clans ist sehr groß und uralt, genauso alt wie die Macht der Lyras.“ Nalani senkte den Kopf. Sie überlegte eine Weile.

„Zoras Chimalis und du, ihr… ihr beide seid… als Mann und Frau zusammen gewesen… und Kelar weiß es und hasst ihn deswegen… oder nicht?“

Ihre Schwiegermutter ließ ihre Hände abrupt los und setzte sich aufrecht hin, ehe sie sprach. Dabei drehte sie den Kopf wohlwissend von Nalani weg.

„Das, was zwischen Zoras und mir war, ist eine seltsame Sache.“

„Das, was ist, meinst du,“ korrigierte das Mädchen scharf, „Ich habe euch in der Stube gesehen, während ihr euch geliebt habt.“ Sie sah, wie die Frau leicht errötete, und sie errötete ebenfalls, weil sie es ausgesprochen hatte. Es war nicht ihre Absicht gewesen, sie zu beschämen, aber sie wollte nicht angelogen werden. Salihah seufzte leise.

„Wenn das so ist, kann ich dir wohl nichts vormachen,“ meinte sie, „Vor vielen Jahren war ich es, die Zoras zum Mann gemacht hat. Ich habe sein Blutritual gemacht. Ich bin die Seherin, viele Väter von jungen Söhnen haben mich gebeten, ihre Jungen zu Männern zu machen, es war ein Ritual wie viele andere, die ich gemacht habe. Und doch war etwas anders… er war anders. Und er hat mich verändert. Ich war damals längst Kelars Frau und Tabari war sogar schon auf der Welt, aber es war Krieg und ich war oft alleine mit dem Baby. Ich bin damals oft hier im Anwesen gewesen, wo Zoras als Erstgeborener die Führung und Verantwortung hatte, während sein Vater im Krieg war. Zoras hat auf seinen Bruder Nomboh, auf seine Mutter und die Angestellten aufgepasst, und Kelars Eltern haben auch mich und das Kind zum Schutz hier gelassen. Und in jener Zeit haben Zoras und ich… Dinge getan, die wir nie hätten tun dürfen. Wir waren jung und ungezügelt und haben ziemlich ausgelassen herumgetollt, während im Krieg Menschen starben, während mein Mann und sein Vater tapfer kämpften hatte ich nichts Besseres zu tun, als mit einem gerade eben ausgewachsenen Jungen das Bett zu teilen. Die Geister strafen mich schon seit Jahren dafür… und sie werden es bis zu meinem Tod tun. Aber es war angenehm und es war die Strafe wert.“ Sie blickte zu Nalani, die sie interessiert ansah, und räusperte sich. „Nimm dir kein Beispiel an mir furchtbarer Frau,“ murmelte sie dann lächelnd, „Mein Leben lang wurde ich benutzt und musste Orakel sein, musste klug und perfekt sein, ich wollte einmal in meinem Leben etwas genießen, es war egoistisch und das ist es auch heute. Aber… ich bin nur ein Mensch, Menschen sind nicht perfekt.“

„Wie hat Kelar davon erfahren?“ wunderte sich Nalani, „Haben die Geister euch verraten?“

„Vielleicht… ich weiß es nicht. Er ist nicht dumm und wir waren ziemlich unvorsichtig, es ist nicht schwer gewesen, es zu merken, glaube ich. Als ich wieder zurück zu Kelars Familie kam, haben wir uns lange nicht gesehen… ich gebar einige Jahre später Kiuk, aber je länger ich lebte, je länger ich Kelars Frau war, desto kälter wurde er, er hatte viel zu tun, er wollte den Sieg für das Land, das Ende des Krieges… es war kurz nach Kiuks Geburt, dass es immer schlimmer wurde, er kehrte mir den Rücken, sprach nicht und ich war ihm egal. Es war in der Zeit, dass ich Zoras wieder begegnete, weil er die Prüfung bestand und dem Rat der Geisterjäger beitrat. Und als wir trotz des Krieges und trotz der Spannungen im Volk einmal zu zweit waren, kam eins aufs andere. Zoras musste zwar selbst mit im Krieg kämpfen, aber er wurde öfter nach Hause geschickt als Kelar, er war von allen Geisterjägern der Jüngste und sein Leben wurde besonders beschützt, weil er der Hoffnungsträger der Chimalis‘ war… so kamen wir oft zusammen und er half mir damit, mich um meine kleinen Söhne zu kümmern, deren Vater dafür keine Zeit fand. Wenn ich darüber nachdenke, so ist Zoras Kiuk als Baby mehr Vater gewesen als Kelar es in seinem ganzen Leben war. Und er war ein wunderbarer Vater, ich war damals sehr glücklich, wenn wir zusammen waren, anders als es mit Kelar war.“

„Wissen Kiuk und Tabari davon? Ich meine, Tabari muss das doch mitbekommen haben…“

„Tabari war noch sehr klein… sicher hat er mitbekommen, dass Onkel Zoras oft da war oder wir nach Tuhuli gefahren sind, aber er hat doch nicht verstanden, was vorging… wir haben schließlich nicht vor seinen Augen Sex gehabt oder so…“ Salihah fuhr sich langsam durch die Haare. „Ich habe später nie wieder mit den Kindern über diese Zeit gesprochen.“

Nalani schwieg eine Weile. Dann sprach die Frau weiter.

„Tu mir bitte den Gefallen und sprich nicht darüber, Nalani… auch, wenn Kelar es weiß, es ihm noch einmal vor Augen zu halten würde ihn vermutlich veranlassen, das ganze Land zu sprengen…“ Sie stand auf und das Mädchen sah zu ihr hinauf. „Mach dir bitte keine Vorwürfe mehr wegen dieses Unfalls. Du wirst lernen, dich zu kontrollieren, Nalani, dann wird es nicht wieder geschehen. Vertrau mir.“

„Ich vertraue dir ja…“ meinte die Schwarzhaarige dumpf, und Salihah blickte sie stumm an. „Aber mir selbst nicht wirklich…“
 

Am nächsten Morgen war Nalani die Letzte, die zum Frühstück in die Küche kam. Die ganze Familie und Salihah saßen schon am Tisch und sahen einer nach dem anderen auf, sobald das Mädchen hereinkam. Enola hatte ein halbes Brot aus dem Mund hängen und weil sie so damit beschäftigt war, Nalani anzugucken, tropfte der Honig vom Brot langsam auf ihr hübsches Kleidchen. Dann schrie ihre Mutter plötzlich entsetzt darüber auf, riss der Tochter das Brot aus dem Mund und schimpfte über das ruinierte Kleid. Plötzlich war der Fokus des Raumes auf Enola und Tehya und Nalani fühlte sich, als könnte sie nach dem gnadenlosen Starren endlich wieder atmen. Sie blieb stehen.

„Guten Morgen,“ sagte sie höflich, während Tehya und die hysterische Keisha über Enolas Kleid jammerten, Meoran sich halb tot lachte und Zoras seiner Tochter einen sanften Klaps auf den Hinterkopf gab.

„Im Süden, in Dobanjan, sagt man, Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen,“ kommentierte er das, „Lerne also, nachzudenken und das Honigbrot nächstes Mal einfach hinzulegen, bevor du erstarrst!“ Er seufzte. „Außerdem gehört es sich nicht, jemanden so anzustarren, das könnte demjenigen die Seele aussaugen!“

„Vati erzählt immer so gruselige Geschichten, Mutti!“ nölte Enola.

„Guten Morgen, Nalani,“ grüßte Salihah zurück und neigte den Kopf. Nomboh grinste das Mädchen an, als es vor ihn trat und sich tief verneigte.

„Ich wollte mich entschuldigen für das gestern,“ sagte sie dumpf, „Ich wollte nicht, dass so etwas passiert, es war falsch und dumm von mir. Ich will lernen, es richtig zu machen, und das werde ich mit allergrößter Mühe tun, Meister! Ich werde lernen, meinen geist zu kontrollieren.“

„Ich habe auch nichts anderes erwartet,“ machte der Mann lächelnd, nahm ihre Entschuldigung aber nickend an, „Du solltest besser mit meinem Bruder reden, dem hast schließlich den Finger abgehackt und nicht mir. Wenn du bereit bist, können wir nachher mit dem Training beginnen, Nalani.“

„Ich wäre hoch erfreut, Meister.“

„So förmlich heute,“ murmelte Salihah kopfschüttelnd und nahm einen Schluck Tee, während Nomboh sie glucksend ansah. „Wenn sie so weitermacht, mutiert sie bald zu einer zweiten Sukutai.“

Zoras war damit beschäftigt, seine Tochter zu unterweisen.

„Geschichten, sagt sie!“ spottete er mit verschränkten Armen, „Ich erzähle Geschichten, sagt das freche Mädchen! Du glaubst mir wohl nicht?“

„Ich bin zu groß für Märchen!“ machte Enola trotzig, „Ich bin schon zehn!“

„Schlagen die Väter in Dobanjan ihre Kinder immer auf den Kopf?“ fragte Meoran erstaunt, und sein Onkel schnaubte.

„Ja, in der Tat, die Kinder in Dobanjan haben es längst nicht so gut wie ihr! Und weil sie so viel geschlagen werden, sind ihre Schädel hart wie weiße Edelsteine, die kriegt nichts kaputt, glaub mir!“

„Kann man einen Stein auf sie werfen und er zerschellt an ihrem Kopf?“ fragte Meoran perplex.

„Probier es lieber nicht aus, sie gehen vielleicht nicht kaputt von einem Stein, aber gesund ist es gewiss nicht…“

„Jetzt reicht es aber!“ meckerte Keisha und stand auf, „Zoras, hör sofort auf, meinem Sohn Flausen in den Kopf zu setzen! Dobanjan, Steine, Köpfe, tss! Dobanjan ist weit weg, am anderen Ende des Landes, da sind die Winter so warm wie bei uns die Sommer! Komm, Enola, wir suchen dir ein neues Kleid und waschen den Honig aus dem Rock, so kannst du ja nicht herumlaufen! Und Meoran, hör auf, zu lachen!“ Meoran amüsierte sich aber köstlich über die Geschichte mit den Köpfen.

„Wenn die Sommer dort noch wärmer sind als bei uns – wenn die Winter schon so warm sind – dann sind die Köpfe der Kinder wohl so verbrüht worden in der Sonne, dass sie ihre Härte auch brauchen, um nicht zu schmelzen!“ orakelte er lachend, und jetzt fing auch sein Vater an zu lachen.

„Ja, das wird es sein!“

Während des Trubels fand Nalani Gelegenheit, zu Zoras zu gehen und sich auch vor ihm zu verneigen und sich zu entschuldigen.

„Ich hoffe, Euer Daumen ist wieder gesund…?“ murmelte sie darauf, und er bewegte demonstrativ den Daumen, dem man nichts ansah, abgesehen von einer feinen Narbe an der Stelle, wo sie ihn abgetrennt hatte.

„Wie du siehst,“ sagte er dazu, „Setz dich hin, Nalani. Mach dir keine Vorwürfe, niemand ist tot, alles ist gut! Es war abzusehen, dass sowas passiert, ehrlich gesagt, ich hätte das wissen und besser blocken müssen. Ich bin also selbst Schuld.“

„Das sagt Ihr nur, weil Ihr wollt, dass ich mich nicht schuldig fühle…“ meinte sie bedrückt, „Ich stehe vor Euch in größter Demut, es war mein Fehler; ich hätte mich kontrollieren sollen.“

„Du liebe Güte,“ stöhnte er, „Was kann ich tun, damit du aufhörst mit den Schuldgefühlen?“ Sie sah ihn kurz an. Dann seufzte sie und beugte den Kopf zu ihm herab, da er saß und sie stand.

„Schlagt mir auf den Hinterkopf, vielleicht lerne ich dann auch besser zu denken!“
 

Mit dem Frühling kehrte die Sonne zurück nach Dokahsan. Wenn der Winter vorbei war, bekamen die Menschen neue Hoffnungen, das Wild kehrte zurück und nach den harten Monden des Hungers gab es wieder genügend zu essen. Aber die Bedrohung von Kelars Tyranneien des Winters und die Angst der einfachen Leute, so zu enden wie das Dorf Enmoria, das völlig ausgebrannt war, schwebte wie ein düsterer Schatten über dem Land und verbreitete Panik. Nicht nur im Kreis Vikhara, den die Lyra-Familie einst beschützen sollte, sondern auch in den anderen Kreisen verbreiteten sich die Schreckensbotschaften von blutigen Morden und Hetzerei. Und es wurde schlimmer, je weiter der Frühling Fortschritt und je näher der Sommer kam. Lyra war ein Name, den man hinter vorgehaltener Hand aussprach, ein Name des Grauens und des Todes, und die Menschen fürchteten ihn so sehr wie den Namen des Seelenfängers, der den Tod brachte und die Geister einsammelte, um sie ins Totenreich zu befördern. Von Schutz oder Ruhm dieser Familie konnte keine Rede mehr sein, und bald war der Name in allen Ecken Dokahsans gefürchtet wie eine Unheil bringende Pest. Und nicht nur die nichtmagischen Menschen fürchteten sich, selbst die Schamanen sprachen nur verhalten über den Namen, wenn überhaupt.

Während Nalanis Lehre sich ihrem Ende neigte und sie ihre Fähigkeiten in der Geistkontrolle mit jedem Tag verbesserte unter Nombohs ständiger Beobachtung, sorgten sich die anderen um den Verbleib des Landes.

„Die Menschen leben in ständiger Angst, als nächste wegen ein paar Ziegen geschlachtet zu werden wie die aus Enmoria,“ berichtete Salihah, die einmal wieder nach Tuhuli zum rat gekommen war, Minar Emo war ebenfalls aus Yiara gekommen. Hakopa Kohdar würde vorsichtshalber in der Hauptstadt der Provinz bleiben und den Senat überwachen, damit nichts Dummes geschah, sobald er den unschuldigen, ratlosen Männern einmal den Rücken kehrte. „Kelars Psychospiel geht wunderbar auf, er macht ihnen Angst und sie unterwerfen sich, um am Leben zu bleiben. Und solange wir ihn nicht stoppen, können wir nichts dagegen tun. Im Süden, in Yanghar unten, nenne sie meine Familie ein Dämonenpack und von bösen Geistern besessen, jenseits des Flusses fürchten sie, Kelar würde grausame geister auf sie hetzen, wenn sie es wagen sollten, sich aufzulehnen.“

„Da ist das Problem, er macht ihnen solche Angst dass sie gar nicht auf die Idee kommen, sich zusammenzutun und sich zu widersetzen,“ brummte Zoras und stützte den Kopf auf die Hände, während er auf der Terrasse am Tisch saß mit Salihah und Minar Emo. Im Garten übte Nomboh fleißig mit Nalani. „Die Angst verbreitet sich in ganz Dokahsan wie eine verfluchte Pest, selbst die begabteren Magier würden nicht wagen, zu widersprechen.“

„Wie lange wollen wir noch unser Kaffeekränzchen halten und abwarten, was schlimmeres kommt?“ seufzte Minar Emo beunruhigt, „Wir sind Geisterjäger. Wenn wir alle vier uns zusammentun, können wir vielleicht dem Wahnsinn Einhalt gebieten, und das am besten, bevor Kelar seinem Erben Tabari dieselben Flausen in den Kopf setzt und wir gleich zwei solche Vögel gegen uns haben.“

„Tabari ist weit davon entfernt, in seines Vaters Fußstapfen zu treten,“ bemerkte Salihah langsam. „Ich sehe ihn selten, wenn ich daheim bin, aber ich glaube, in diesem Punkt könnt ihr meinen Instinkten noch vertrauen, obwohl sie nicht immer meinem Willen gehorchen in der letzten Zeit.“ Ja, ihre Sichtweite hatte sich wirklich verschlechtert. Sie fragte sich, ob es eine Strafe der Geister für all ihre Gräueltaten war oder ob es der Einfluss von Kelars bösartiger Aura sein mochte.

„Na, wenigstens das,“ murmelte Zoras Chimalis und beobachtete nachdenklich seinen Bruder und Nalani in einiger Entfernung. „Was Minar sagt, erscheint nicht dumm, wenn einer den Anfang macht und versucht, das Unheil dieses Mannes zu beseitigen, wird das Volk aufmüpfig und die Unterwerfung ist dahin.“

„Wir können nicht einfach hinlaufen und ihn umbringen…“ meinte Salihah dumpf, „Niemand von uns vermag das und auch nicht alle zusammen würden wir das schaffen. Kelar ist mächtig und grausam, seine Instinkte sind tadellos und er würde vorher wissen, was ihm blüht, dann würde er zu einem noch fürchterlicheren Monster werden als er es schon ist.“ Zoras Chimalis drehte den Kopf in Minars Richtung.

„Was tut der Senat in Yiara?“

„Sie stehen am Rand einer Klippe und sind kurz davor, zu springen,“ erzählte der Mann, „Da Kelar noch immer so tut, als arbeite er mit dem Senat zusammen, fällt der ganze Hass der Menschen auf die Politiker zurück. Der Senat hat keinerlei Einfluss mehr und wie es aussieht kommt auch nichts Gescheites von weiter oben – die Senatoren sind dafür zuständig, das was hier abgeht nach Vialla zu tragen, also zum König des ganzen Landes, aber der mischt sich nach dem Kram mit Anthurien damals ja ungern in Dokahsans Politik ein. Das heißt, wir müssen die Suppe alleine auslöffeln.“

„Der König fürchtet den Namen Lyra genauso sehr wie das Volk hier,“ sagte Salihah kalt, und alle sahen sich erstaunt an.

„Der König?“ machte Minar perplex, „Warum das, was hatte der je mit euch zu tun?“

„Den Krieg gegen Anthurien hat damals der Gouverneur von Anthurien angezettelt, ohne sich mit dem König oder dem Rat in Vialla auseinanderzusetzen. Aber der König hat ihn nicht aufgehalten, als er mit seiner Armee unser Land verbrannte und unsere Frauen und Kinder mordete… es war ihm womöglich ganz recht, wenn jemand anderes für ihn die Drecksarbeit erledigte.“

„Drecksarbeit?“ machte Minar beunruhigt. Zoras linste die Frau unauffällig an, als er ahnte, in welche Richtung sich das entwickelte.

„Die Magier aus der Welt zu schaffen,“ sprach sie da schon weiter, und die Männer sahen sich kurz an. „Den Menschen ist alles suspekt, was sie nicht verstehen, was sie nicht beherrschen. Seien es wir Schamanen oder die Lianer, beide Magierrassen werden seit jeher geehrt, gefürchtet oder gehasst von den Menschen des Landes. Und nicht nur hier in Kisara, hier ist es noch verhältnismäßig glimpflich abgelaufen.“

„In der Tat,“ murmelte Zoras und raufte sich die Haare. „Im Osten von Fann wirst du sofort gepfählt, wenn du da als Magier hinkommst, und das ist kein Schauermärchen, das Ostvolk ist in Fann berüchtigt für seine übermenschliche Grausamkeit und Bestialität. Aber sie sollen die mächtigsten Kämpfer des Kontinenten sein, habe ich mir sagen lassen, sie werden quasi für den Kampf geboren und leben nur dafür, um auf dem Schlachtfeld einen ehrenhaften Tod zu finden. Merkwürdige Gesellen, als ich in Fann war, habe ich mich natürlich gehütet, den Osten zu bereisen, Geisterjäger hin oder her, die hätten mich gepfählt und zerstückelt und meinen Kopf als Trophäe vor ihrem Rathaus aufgehängt…“

„Ich bin noch nicht schlauer als vorher,“ warf Minar ein und sah Salihah an, „Warum fürchtet der König die Lyra-Familie, wenn er damit einverstanden war, dass Anthuriens Führer uns erledigt?“

„Weil das nicht funktioniert hat,“ grinste Salihah, „Weil ich diesen verräterischen, heuchlerischen Bastard von Gouverneur bei lebendigem Leibe in heißem Öl gekocht habe und der König das erfahren hat… und ich eine Frau des Lyra-Clans bin!“
 

Minar Emo zog eine Braue hoch und Zoras sah niemanden an.

„Du hast ihn in Öl gekocht?“ fragte der Mann verblüfft, „War das sinnbildlich…?“

„Es war so, wie ich es gesagt habe, gemeint…“ meinte sie erstaunlich kalt und ich diabolischer Blick machte dem Mann beinahe Angst. Sie war zwar auf ihrer Seite… aber sie war durchaus kaum weniger grausam als ihr Mann Kelar, dachte Minar Emo in dem Moment. Was für ein Duo infernale. „Sicherlich nichts, auf das ich stolz bin, aber ich bereue es auch nicht… es war seine eigene Schuld und es hat einen Krieg beendet. Es gibt keinen Grund, jetzt weiter darüber zu reden… aber der König kennt unseren Namen und verachtet und fürchtet ihn wie die Pest.“

„Deswegen wird sich der garantiert nicht einmischen in alles, was hier oben passiert,“ addierte Zoras mit Blick auf Minar Emo, der immer noch verwundert war, „Das ist eine Sache von Dokahsan – Lyrien, wie Kelar es nennt.“

„In Öl gekocht, ich fasse es nicht,“ murmelte Minar traumatisiert, „Wo hattest du so viel Öl her?“

„Es war billiges Öl aus Intario, die Händler ließen gut mit sich feilschen.“

„Und die Händler aus Intario kamen zufällig vorbei in der Stadt Pinhu?“

„Ja, sie lieferten das Öl zufällig an den Hof des Gouverneurs, am Abend sollte es ein Festessen mit fünfzig Gängen geben, sie brauchten in der Küche Öl für gebratene Hummer.“

„Hummer?!“

„Könnt ihr nachher weiter über Hummer diskutieren?“ machte Zoras plötzlich und unterbrach damit das Gespräch, die zwei anderen sahen ihn wieder an und schlagartig wurde es wieder ernst am Tisch. „Wir müssen dem Senat seinen Einfluss zurück verschaffen, egal auf welche Weise, solange wir Kelar nicht einfach aus dem Weg räumen können. Wenn wir ihn nicht direkt angreifen können, tun wir es indirekt und mit seinen eigenen Waffen.“

„Das heißt, wir trennen den Senat vom Rat und lassen die Senatoren öffentlich verkünden, dass es nicht länger eine Kooperation geben wird zwischen ihnen und den Schamanenräten,“ meinte Salihah, die seine Gedanken kannte und ihn darauf perplex ansah. „Das ist ein offensiver Zug, vielleicht zu offensiv.“

„Es geht aber nicht anders,“ stöhnte ihr heimlicher Geliebter und senkte den Kopf, „Denn wenn wir das tun, hat der Rat keine politische Entscheidungsmacht mehr, weder wir noch Kelar. Wenn er dann also etwas tut, tut er es gegen das Gesetz und wenn der Gesetzesbruch Überhand nimmt, können die Politiker des Landes nicht anders als sich einzuschalten. Das heißt, über kurz oder lang wird alles eskalieren und das ganze Land wird Kopf stehen, aber es wird nur kurz sein, danach ist es vorüber.“ Die zwei anderen sahen ihn und sich gegenseitig nachdenklich an. Im Hintergrund hörten sie Nomboh auf Nalani einreden, die mit ihrem Dolch herum hantierte. Salihah ließ den Blick zu ihnen schweifen.

„Sie ist stark und erwachsen geworden in dem einen Jahr, das bald herum ist,“ bemerkte sie nach langer Pause. „Thono und Haki im Geisterreich müssen sehr stolz auf ihr Mädchen sein.“

„Das Mädchen ist jetzt eine Frau,“ meinte Zoras auch und sah zu Nalani und Nomboh, „Tabari soll nett zu ihr sein, sie ist viel zu wertvoll um als Matratze und Gebärmaschine herzuhalten…“

„So wie ich sie kenne wird sie das auch nicht aus sich machen lassen,“ meinte Salihah und musste grinsen, „Tabari hat es, so glaube ich, ziemlich schwer gehabt bei ihr vor ihrer Lehre, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Da kann er einem ja beinahe leid tun…“

„Leid tun?“ machte Salihah ungläubig, „Er sollte sich geehrt fühlen, sie zur Frau haben zu können… ihre Bestimmung ist die einer Königin… und es wird nicht mehr lange dauern, dann wird sie eine sein. An dem Tag, an dem sie die Winde rufen kann.“
 

Der Regenmond machte seinem Namen alle Ehre. Nomboh war aber knallhart und trainierte auch im strömenden Regen mit dem Mädchen im Garten, obwohl seine Frau meckerte, Nalani würde sich eine Erkältung holen, weil er mit ihr im Regen herumtanzen musste.

„Jetzt pfusch mir nicht in meine Arbeit,“ hatte er eiskalt zu Keisha gesagt, und Nalani war verblüfft über seine plötzliche Härte gewesen, wo er doch sonst immer so fröhlich war. „Uns rennt die Zeit davon und ich werde das Mädchen so unterweisen, dass es was lernt, ich werde sie sich schon nicht die Pest holen lassen, Himmel und Erde.“

„Ja, ja, Himmel und Erde, fluch du nur!“ hatte die Frau beleidigt genölt, „Ich sitze dann so lange hier in der Küche und trinke Tee, wenn dein Bruder mich nicht wieder mit seinem Kaffee verrückt macht!“

„Du solltest den Kaffee ehren,“ Zoras Chimalis hatte theatralisch den Finger durch die Luft geschwungen, „Er macht Müde morgens munter, sogar Nalani weiß das zu schätzen.“

„Ach, gingest du früher ins Bett, bräuchtest du auch keinen wach machenden Kaffee zu trinken!“
 

„Meine Frau ist mitunter etwas anstrengend,“ lachte Nomboh, als er mit Nalani im Regen stand, „Sie schreit viel herum, aber sie meint es nur gut mit allen, ehrlich. Sie schätzt dich übrigens sehr, deswegen will sie nicht, dass du krank wirst.“

„Es ist mir eine Ehre,“ erwiderte Nalani und zog Kadhúrem aus der Scheide, die sie am Gürtel trug, „Ich hoffe, sie sorgt sich nicht zu sehr.“ Ihr meister kam ohne viele Umschweife wegen des Regens schnell zur Sache.

„Jetzt, Nalani, werde ich dir eine letzte Lektion beibringen. Du hast viel und fleißig gelernt und unser Jahr hier ist beinahe herum. Das letzte, was ich dir zeigen kann und werde, ist das Rufen der Geisterwinde.“

Nalani sah ihn gespannt an, als er langsam die Arme hob und dabei weiter redete.

„Die Geisterwinde sind mächtige Geister des Himmels. Wir nennen sie auch manchmal Die Söhne des Vater Himmel. Als mächtiger Schwarzmagier bist du in der Lage, sie zu rufen, als Geisterjäger bist du fähig, sie zu rufen und zu beherrschen… darum nennen wir stärksten Schwarzmagier uns Geisterjäger, Jäger der Geisterwinde. Sie gehorchen unserem Willen und wir können vieles mit ihnen tun… sei es, das Wetter zu kontrollieren oder Menschen zu verfluchen oder gar zu töten. Eine gefährliche und starke Waffe sind sie, wenn man sie beherrschen kann. Das Beherrschen, Nalani… ist etwa, das dir kein Lehrer der Welt zeigen kann. Du musst es alleine lernen… alles, was ich tun kann, ist dir die Tür zu öffnen. Hindurchgehen wirst du selbst.“ Sie nickte ehrfürchtig, als er die Arme in den Himmel streckte und ein düsteres Grollen aus dem Himmel folgte, das die Erde unter Nalanis Füßen beben ließ. Der Mann warf den Kopf in den Nacken und das Mädchen beobachtete ihn fasziniert, als das Donnern über ihnen lauter wurde. „Himmelsgeister!“ rief er dann laut und Nalani war verblüfft über seine plötzlich so herrische und laute Stimme – eine Stimme, der garantiert jeder geist folgen würde, so dachte sie, dem zu widersprechen sollten die erst mal wagen… „Himmelsgeister, kommt herab und lasst mich euch führen! Kommt!“ Es gab ein neues Krachen direkt über dem Garten und Nalani zuckte unwillkürlich zusammen, als Nomboh den Kopf wieder zu ihr drehte und sie die magische Aura erkennen konnte, die ihn umgab wie ein blitzendes Lichtfeld. Es bündelte sich zwischen seinen Händen und mit einem Blitzen aus dem Himmel bildete sich ein mächtiger Wirbel auch Macht in der Luft über ihm, dessen Anblick Nalani die Augen weiten ließ.

Gewaltig… die Macht der Geisterwinde, ich kann sie spüren, obwohl ich viele Fuß davon entfernt stehe…

Nomboh breitete die Arme aus und plötzlich verschwanden das Leuchten und der Wirbel. Das Grollen verzog sich und mit einem Mal erschien ihnen der Regen lautlos.

„Das nur zur Demonstration,“ meinte er glucksend und raufte sich die Haare, als hätte er sich im Sand gewälzt, „Nicht alle Formen der Geisterwinde kann man sehen, Nalani. Manche… spürst du nur, wie sie deinen Körper besitzen und wie du über sie gebieten kannst. Die, mit denen wir Regen rufen können, sind solche, die man nicht sieht. Merk dir… die mächtigsten Zauber sind die, die man nicht sehen kann. Das hier hat nichts mit den elementaren Zerstörern zu tun, die man sehen und begreifen kann… deshalb gibt es so wenige Geisterjäger. Die wenigsten können die Geisterwinde und ihre sowohl wundersame als auch grausame Macht begreifen. Letztlich, Nalani… sind die Geisterwinde nichts anderes als das, was wir Natur nennen. Und die Natur ist gleichzeitig unser Verbündeter und der grausamste Feind. Sie ist erbarmungslos und hält doch ein empfindliches Gleichgewicht. Wir Menschen müssen lernen, das zu achten und sorgsam damit umzugehen… genau das ist unsere Aufgabe als Schamanen. Wir können die Natur manipulieren und beherrschen, aber wenn wir es übertreiben und das Gleichgewicht stören, wird sie uns hart bestrafen und vielleicht alle vernichten.“ Bei den ernsten Worten senkte er den Kopf. Nalani dachte automatisch an Kelar. Ob seine Gräueltaten schon so eine Strafe bewirkt hatten, die unweigerlich käme?

Nomboh riss sie aus ihren Gedanken.

„Jetzt versuch du es. Horch auf dein Innerstes und beherrsche deine Seele noch besser als sonst. Steck Kadhúrem weg, das wirst du heute nicht brauchen.“ Sie tat wie ihr geheißen, holte tief Luft und begann gehorsam, sich zu konzentrieren. Wie er zuvor riss sie die Arme empor und lehnte den Kopf zurück. Sobald sie die Augen schloss, spürte sie, wie die Macht aus der Erde und aus dem Himmel durch ihren Körper strömte, wie die Geisterstimmen in ihrem Kopf flüsterten.

„Geister des Himmels und der Erde!“ rief sie laut und öffnete die Augen. Aber sie sah nicht mehr den Himmel über sich, auch nicht den Regen, sie sah die schwebenden Lichter der Geister, die sich sammelten und einander umkreisten. Über ihnen zog ein düsterer Schatten herauf und sie spürte, wie er sie einhüllte und die Welt ins Dunkel zu tauchen drohte. Der Himmel über ihr grollte und Nalani fühlte das Zittern der Erde unter ihren Füßen, als die Macht der Geister durch ihre Arme in ihre Hände strömte und sie das blendende Licht sah, das sich dazwischen bündelte. Das Licht schmerzte ihr in den Augen. „Vater Himmel, sprich durch mich!“ wisperte sie ergeben und senkte den Kopf wieder, um Nomboh vor sich anzusehen, der die Augen weitete. „Mutter Erde, tanze durch mich! Ich bin ein Geisterkind und ihr werdet meinem Befehl folgen!“ Sie spürte, wie ihr Körper bebte und wie die Macht der Geister über ihr sie umzureißen versuchte wie ein sehr heftiger Wirbelsturm. Sie versuchte dagegen anzukämpfen, aber es war nicht leicht.

Nomboh kam ihr zu Hilfe, indem er eine Hand mit seiner Feder ausstreckte und mit einem lauten Krachen die Geister aus Nalanis Körper und über ihr vertrieb. Das Mädchen taumelte, als es plötzlich wieder die Wirklichkeit um sich herum spürte und die Trance vorüber war. Die Macht war verschwunden.

„Beeindruckend…“ murmelte Nomboh und sah in den düster gewordenen Himmel. Es regnete noch immer, aber die Schwärze des Himmels kam nicht von den Regenwolken. „Du bist wahrlich… ein Kind des Schattenclans Kandaya…“

Nalani schnappte nach Luft und sah auch empor.

„Was hat das zu bedeuten…?“ fragte sie, „War ich das?“

„Deine Gaben sind sehr mächtig,“ antwortete der Lehrer nachdenklich, „Du hast es beim ersten Versuch sofort geschafft, die Winde zu rufen… du beherrschst sie noch nicht komplett, deshalb strauchelst du; das ist das, was du alleine lernen musst. So wie das, was du mit Kadhúrem tust, das ist auch eine Art der Geisterkontrolle. Die Geister reagieren stark auf dich und auf deinen Ruf, Nalani… das hat nichts anderes zu bedeuten als dass du sehr talentiert bist.“ Nalani sah ihn groß an und war fasziniert.

„Ich fühle mich wirklich geehrt von Euren Worten, Meister…“ Nomboh lachte.

„Ach, nicht doch, Nalani. Du hast ein großes Schicksal, wenn du in den Visionen meines Bruders auftauchst… ich bin es, der sich geehrt fühlt, dich unterrichtet zu haben.“ Er kehrte ihr den Rücken und schüttelte sich, während die Finsternis des Himmels langsam verblasste. „Meine Güte, bin ich nass, lass uns reingehen! Bald ist Sommer, Nalani. Im Sommer wirst du zurück zu den Lyras kehren.“ Nalani folgte ihm artig, senkte aber verhalten den Kopf bei den Gedanken an die Rückkehr.

„Mögen die Geister jenem Tag zürnen…“
 

Der Sommer wurde schwül und ruhig. Sehr ruhig, es war wie die Stille vor einem gewaltigen Unwetter, das drohte, als würde das Land die Luft anhalten, bevor es einen brüllenden Schrei des Zorns und des Verderbens von sich stoßen würde. Die drückende Luft schien selbst den Himmel auf die Erde herabdrücken zu wollen. Böse und unheilschwanger hing er in einem seltsamen, gelblich-grünen Ton über dem Land. Am Horizont braute sich ein gewaltiger Wolkenturm auf wie ein unheilvoller Berg einer grausamen Macht.

Tabari Lyra lag auf dem Rücken um Gras und starrte in den beunruhigenden Himmel. Es würde bald Regen geben. Die Sturmwolken am Horizont kamen in beängstigender Geschwindigkeit näher, vermutlich würde es ein heftiges Unwetter werden. Mutter Erde unter ihm war unruhig, das Unheil aus dem Himmel über ihr ließ ihre Fasern ganz leicht erzittern, so leicht, dass es niemand bemerkte. Abgesehen von Tabari, der einfach nur da lag und dem jedes Beben der Mutter Erde auffiel. Als die untergehende Sonne einen gefährlichen gelben Schein auf den Wolkenberg warf, hob der junge Mann den Kopf.

„Es sieht aus wie ein Himmelsfeuer…“ murmelte er zu sich selbst und beobachtete die tanzenden Lichter. „Was zürnt ihr, Himmelsgeister? Macht ihr jetzt diesem Land und diesen Menschen ein Ende, die euch mit Füßen treten?“

„Staub und Schatten werden kommen,“ antworteten die Geister ihm grimmig. Er setzte sich langsam auf und runzelte beunruhigt die Stirn.

Staub und Schatten?

Plötzlich spürte er, dass sich ihm etwas von hinten näherte. Blitzschnell war er auf den Beinen und packte seinen Speer vom Boden, mit dem er oft auf die Jagd ging, um ihm dem Untier, das sich an ihn anzuschleichen versuchte, grimmig an die Kehle zu halten – und er erstarrte, als er sein Gegenüber erkannte.

„Die Instinkte eines Jägers hast du, Tabari, und du bist beeindruckend schnell. Zumindest auf den Beinen.“

Er weitete erstaunt die Augen und ließ augenblicklich seine Waffe sinken. Dann musterte er sein Gegenüber von oben bis unten, bis er ihm wieder ins Gesicht blickte und die Stirn runzelte.

„Und du schleichst dich geräuschlos an wie ein Panther… wolltest du mich umbringen, Nalani?“
 


 

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äh - jah XD wow, Nalani ist wieder zu Hause XD ich geh auf den abschied von tuhuli nochmal ein, keine sorge, kommt nur aufn ersten blick komisch rüber mit em letzten absatz^^

Winddämon

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Zuneigung

Nalani wollte Kelar nicht den Spaß gönnen, sich über ihren Ärger zu amüsieren, deshalb schwieg sie. Sie erzählte niemandem von dem, was im Keller geschehen war – wirklich etwas geschehen war ja auch nichts, sagte sie sich dann, um sich selbst zu beruhigen. Aber im Inneren kochte sie vor Zorn und Hass auf ihren Schwiegervater und die Widerwärtigkeit, die er besessen hatte, allein an so etwas zu denken. Dann schalt sie sich selbst, es wäre ihre eigene Schuld, sie hätte Kelar das zutrauen können, sie hätte wissen müssen, dass er das versuchen würde.

Sie fragte sich, was sie tun würde, wenn er sie noch einmal alleine erwischen und an die Wand nageln würde. Dann würde er gewappnet sein und ihre Zauber würden ihr nichts mehr nützen. Und wenn er es schaffte und sie schwanger wurde…? Schwanger mit einem Bastard, einem Monster gezeugt vom Vater ihres eigenen Mannes?

Die Gedanken erschafften ihr eine dermaßene Übelkeit, dass sie sich beinahe übergeben hätte, während sie im Bett neben ihrem Mann lag und ihm wohlweißlich den Rücken kehrte. Sie setzte sich rasch auf, als sie das Gefühl bekam, der Brechreiz würde sie übermannen; aber sobald sie saß, wurde es ein wenig besser und sie fasste nur keuchend nach ihrem Mund.

„Was hast du? Bist du krank?“ fragte Tabari sie, der sich auch aufgesetzt hatte und sie von hinten anblickte.

„Nein… mir geht es gut,“ murrte sie nach einer Pause und senkte den Kopf, sodass ihr die schwarzen Haare über die Schultern fielen. Tabari war nicht überzeugt. Vorsichtig, weil er Angst hatte, sie würde ihn vermöbeln, streckte er eine Hand nach ihr aus. Sie reagierte heftiger als erwartet und zuckte zusammen, als er sie sanft an der Schulter fasste.

„Du zitterst ja…“

„Fass mich nicht an!“ schrie sie urplötzlich und sprang aus dem Bett, und erschrocken riss er die Hand zurück und blinzelte.

„Ich wollte dir doch nicht wehtun!“ empörte er sich, „Übertreib mal nicht, Nalani, wenn es dir doch gut geht, wieso machst du dann so einen Firlefanz?!“

Sie schnappte nach Luft. Würde bewahren. Er durfte auf keinen Fall erfahren, was sie bedrückte.

„Du bist widerlich, das ist alles!“ fauchte sie deshalb, und er starrte sie an. Dann schnappte er kurz nach Luft, legte sich wieder hin und drehte ihr den Rücken zu.

„Ist gut, ich habe verstanden. Nacht,“ knurrte er, und sie blinzelte überrascht.

„Was denn, kränkt dich das?“ wunderte sie sich. Tabari sagte kein Wort mehr. Offenbar war er wirklich beleidigt. Nalani legte sich wieder mit genügend Abstand neben ihn ins Bett und kehrte ihm abermals den Rücken. Schließlich sprach er zuerst wieder.

„Wir haben uns lange nicht mehr richtig das Bett geteilt, Nalani… denkst du nicht, dass es mal wieder Zeit ist?“ Sie erschauderte. Ja, es war die Zeit im Monat, in der zu sehr großer Wahrscheinlichkeit kein Leben in ihr entstehen würde, wenn sie es taten… normalerweise empfand sie nichts, auch nicht, wenn sie darüber sprachen, es war ihr gleich und sie tat es nur, damit er Ruhe gab; aber jetzt fuhr sie bei dem Gedanken an die Vereinigung unwillkürlich zusammen und dachte nicht an Tabari, sondern an seinen widerlichen Vater, der sie befummelt hatte. Alleine die Vorstellung, was gewesen wäre, hätte er es geschafft…

„Nein, nicht!“ keuchte sie entsetzt, als Tabari es wagte, sich zu ihr umzudrehen und sie noch nicht mal angefasst hatte. Sie rückte von ihm weg. „Nicht heute Nacht!“

„Wann denn?!“ knurrte er verbiestert, „Du regst mich auf mit deinem ewigen Hinhalten, heute nicht, morgen nicht, übermorgen nicht, wenn denn, an meinem Geburtstag vielleicht mal, oder was?!“

„Du bist widerwärtig!“ schnappte sie, „Du denkst ja nur an das Eine! Ist das alles, was ich dir bedeute?! Bin ich wirklich nicht mehr als deine Matratze und Kindergebärmaschine?! Vergiss es, Tabari!“ Damit war das Thema für sie erledigt. Tabari zog eine Braue hoch und seufzte resigniert. Bei ihrer Laune verging ihm die Lust sowieso.

„Und ich?“ murmelte er dann dumpf, während er sich wieder umdrehte und an die Wand des dunklen Zimmers sah, „Bin ich für dich etwa mehr als der nervende Idiot, den du nur an dich ran lässt, damit er die Klappe hält? Wenn ich widerwärtig bin, bist du es genauso, Nalani.“

Das waren seine letzten Worte, den Rest der Zeit, bis sie einschliefen, schwiegen sie.
 

Tabari ärgerte sich über seine Frau, die ihm schweigend den Rücken kehrte. Wie sollte er denn so seinem Vater endlich seinen Thronerben zeugen, wenn diese störrische Frau sich weigerte, mit ihm zu schlafen? Und er ärgerte sich darüber, dass sie ihn für so dumm hielt, nicht zu merken, dass sie es nur zuließ, wenn überhaupt, damit er Ruhe gab und sie nicht weiter belästigte. Sehr befriedigend war das wirklich nicht, zu wissen, dass man so ungewollt war. Und je länger sie sich von ihm abwandte, desto geringer wurde in ihm die Lust, überhaupt je wieder mit ihr das Bett zu teilen. Er sollte mit seinem Vater sprechen und eine neue Frau nehmen, eine, die ihm gehorchte, ihn nicht grün und blau schlug und die vor allem einfach schwanger wurde und einen gesunden Sohn gebar. Sollte Nalani doch zum Mond fliegen, ihm war es gleich. Am besten wäre, wenn er seinen Vater einfach davon überzeugen könnte, dass sie doch Unglück brachte und ein Dämonenkind war. Jetzt musste er nur noch einen Fehler an ihr finden, etwas, das sie unwiderruflich als Dämon ausweisen könnte.

Er würde ihnen nur beiden einen Gefallen tun, wenn er Kelar davon überzeugte, dass es zwecklos war; sie wollte ihn nicht und er sie auch nicht. Sein Vater würde sicher grummeln, aber der Rest der Welt würde wenigstens einmal denken, dass er, Tabari, etwas richtig gemacht hatte…
 

In den nächsten Tagen kühlte das Wetter erheblich ab. Auf den Holzmond folgte der Mond der Stürme, der seinem Namen wenig Ehre machte, er brachte keinen Sturm, aber Regen. Regen in Massen.

Nalani hasste den Dauerregen, der die Wiesen überflutete, der sie zwang, die meiste Zeit im Schloss zu verbringen. Sie schaffte es zwar den größten Teil des Tages, den anderen aus dem Weg zu gehen, aber draußen wäre es noch viel leichter gewesen als im Schloss. Sie wollte ihre Ruhe, sie wollte niemanden sehen. Erst recht nicht Kelar oder Tabari, aber sie fürchtete auch, Salihah und Kiuk könnten ihre Gedanken lesen, wenn sie zu viel bei ihnen war, und herausfinden, was passiert war. Es in sich hinein zu fressen war falsch und schwer, das wusste sie… aber um es mit den anderen zu teilen war sie zu stolz, zu sehr beschämte sie diese abscheuliche Schande.

Und der Schmutz war noch immer da, egal, wie oft sie sich wusch, egal, wie viel Seife sie benutzte, er war immer noch da. Und es fühlte sich scheußlich an und brachte sie zum Zittern, wenn sie daran dachte. Sie saß in einem der kleinen Turmzimmer am winzigen Fenster und starrte hinaus in die trübe Landschaft Lyriens. Der Wind fegte den Regen über die Wiesen und von oben sah das Gras aus wie grünes Wasser, das der Wind streifte und das damit Wellen schlug.

Wasser… fiel es ihr ein, und sie überlegte sich, dass sie die Zeit mit Üben totschlagen könnte. Wenn sie ihre Eltern stolz machen und Geisterjägerin werden wollte, müsste sie noch viel lernen. Ihren geist zu beherrschen, die geisterwinde zu lenken… die Dinge, die Nomboh ihr nicht hätte beibringen können. Manche Dinge, die schwersten Dinge im Aufgabenbereich der Schamanen, musste ein jeder alleine lernen, kein Mensch konnte ihm dabei helfen.

Sie hob im Sitzen die Hände und ließ einen kleinen Wasserzauber darin entstehen, den sie hin und her schwenkte und allmählich wachsen ließ. Das Gefühl der Energie des Wassers, die durch ihren Körper floss, tat ihr gut und lenkte sie von ihren Sorgen ab. Das Wasser war schön… es war gut.

Es ließ sie vergessen…

Sie beschloss tapfer, bis zum Ende des Winters das Element perfekt und tadellos zu beherrschen. Damit vertrieb sie sie übrige Zeit und sie konnte vergessen… vielleicht könnte sie dann einmal wieder schlafen, ohne vom Ende der Welt oder von Kelars Händen zu träumen, die sie berührten und schändeten.
 

„Ich bring‘ ihn um… eines Tages bring‘ ich ihn um!“ schwor Salihah grantig und warf theatralisch ihre schwarzen Haare nach hinten, während sie bei Chimalis‘ in der oberen Stube auf einem Sessel saß. „Wenn mich meine Kopfschmerzen nicht vorher umbringen, versteht sich, haha!“ Sie lachte dämlich und sah hinauf zu Zoras und Keisha, die mit gerunzelter Stirn vor ihr standen.

„Ich kann versuchen, mit den Heilern zu sprechen, meine Kräfte reichen nicht aus, um deine Kopfschmerzen für immer zu beseitigen, wie es scheint…“ murmelte Keisha besorgt, und Salihah winkte ab.

„Die hassen mich, die bringen mich noch eher um als die Kopfschmerzen! Ich habe ja Medizin, ich komme ja zurecht, macht euch keine Sorgen!“

„Du solltest nicht so viel trinken, sonst hast du morgen noch mehr Schmerzen…“ machte Zoras verunsichert, als sie energisch nach der Flasche auf dem Tisch griff und sich großzügig einschenkte. Ihre Hand zitterte dabei so heftig, dass sie die Hälfte daneben goss und darauf halblaute Entschuldigungen vor sich hin murmelte.

„Du liebe Zeit, ich bin wirklich erbärmlich, entschuldigt mich… ich schäme mich ja für mich selbst fast so sehr wie für meinen wahnsinnigen Gemahl…!“ stöhnte sie, während Zoras kam und mit einem Taschentuch den verschütteten Schnaps aufwischte.

„Reiß dich zusammen, Salihahchen,“ zischte er ihr streng zu, als er vor ihrem Gesicht kurz innehielt, „Ich kann verstehen, dass du wütend bist, aber jetzt übertreibst du.“

„Übertreiben!“ fauchte sie, „Ich will ihn umbringen, er ist widerwärtig und ich hasse ihn, ihn und sein verfluchtes Laudanum! Dieser elende Schweinehund, dieser verfluchte Mistkerl, wenn ich heimkehre, werde ich ihn zerfetzen! Aus seiner Haut mache ich einen Bettvorleger und seine Eingeweide verfüttere ich an die Schweine aus den Dörfern! Nichts soll übrig bleiben, damit sein Geist ja nicht-…!“

Zoras hielt ihr die Hand auf den Mund, ehe sie weiter sprechen konnte.

„Sprich es nicht aus,“ sagte er streng, „Die Geister werden dich hören und es gegen dich drehen. Komm jetzt, du solltest ins Bett gehen. Du bist sturzbetrunken und redest Schwachsinn, Salihah.“

„Ich bin nicht betrunken!“ nölte sie und trank ihr Glas hastig aus, „Mir geht es blendend!“ Er schüttelte nur den Kopf und gab Keisha ein Zeichen, ihm zu helfen, und zu zweit schafften sie die verwirrte Frau in ihr Gästezimmer und ins Bett. Plötzlich hörte Salihah auf, zu protestieren, und sank wie ohnmächtig ins Bett, als der Alkohol wohl seine Wirkung verstärkte.

„Wir werden alle sterben…“ keuchte sie und fing plötzlich an zu weinen, „W-wir werden alle untergehen und ich bin Schuld, weil ich Kelar nicht bändigen konnte! Und Kelar ist Schuld, weil sein Geist wahnsinnig geworden ist… ich sollte nicht hier sein, ich sollte wo anders sein…“

„Ich kümmere mich um sie…“ seufzte Zoras Chimalis besorgt mit Blick auf die Frau, dann blickte er zu Keisha, die in der Tür stand. Seine Schwägerin senkte den Kopf.

„Du kümmerst dich ein bisschen viel um sie in der letzten Zeit, oder?“ wagte sie, es anzusprechen, und der Schwarzhaarige sah sie stumm an. „Zoras, Nomboh und ich werden uns da nicht einmischen, aber…“

„Dann mischt euch auch nicht ein,“ erwiderte er kalt, „Ich weiß, was ich tue, zweifelst du daran?“

„Nein.“

„Siehst du. Hab keine Sorge. Richte Tehya aus, sie solle nicht auf mich warten, das hier dauert.“

„Soll ich ihr sagen, du kümmerst dich um Salihahs Krankheit oder dass du mit ihr ins Bett gehst?“ brummte Keisha schnippisch, und Zoras räusperte sich.

„Gar nichts von beidem, sondern genau das, was ich dir gesagt habe.“
 

Mitten in der Nacht wachte Salihah auf und ihr Kopf fühlte sich an, als wollte er platzen vor Schmerzen. Sie stöhnte und fasste unwillkürlich nach ihren Schläfen. Sie fand sich in dem Bett, in dem sie in Tuhuli immer schlief, obwohl sie sich weder daran erinnerte, sich hingelegt zu haben, noch, sich ein Nachthemd angezogen zu haben. Die Antwort auf ihre Fragen fand sie, als sie Zoras am Fußende ihres Bettes sitzen sah.

„Hast du mich hergebracht?“ murmelte sie benommen, und er seufzte.

„Hätte ich dich etwa in der Stube im Sessel schlafen lassen sollen? Wie geht es dir?“

„Scheußlich,“ brummte sie, „Mein Kopf fühlt sich an, als würde er explodieren.“

„Willst du mir erzählen, was Kelar dir angetan hat, dass du so tief sinkst und dich halb tot säufst? Das ist doch gar nicht deine Art…“ Sie setzte sich mühsam auf, aber er drückte sie sanft wieder ins Bett und legte sich dann neben sie. „Bleib liegen, das tut deinem Kopf sicher besser. Also, ich höre.“

„Ach, dieser grausame Mann,“ keuchte sie, drehte sich zu ihm um und vergrub sich unversehens in seiner Brust, worauf er sie perplex ansah. „Er ist widerwärtig, das ist alles… viel schlimmer ist, dass ich ihm gegenüber so machtlos bin… ich bin an dieses Geschöpf gebunden, ob ich es will oder nicht. Er ist mein Mann… und ich verabscheue mich dafür, seine Frau zu sein… neulich habe ich die Sklavin aus Kelenth getötet, und obwohl ich ihr einen Gefallen getan habe, sitzt es mir immer noch im Nacken… und dann kam dieser Bastard mit seinem Laudanum, er weiß genau, dass ich es nicht vertrage und… dass ich verrückt werde, wenn ich es vor der Nase habe und…“

„Zu viel Laudanum soll durchaus ungesund sein,“ bestätigte er murmelnd und begann vorsichtig, durch ihre Haare zu streicheln, um sie zu beruhigen, während sie sich an seinem Hemd festkrallte und das Gesicht gegen seine warme Brust drückte.

„Und es macht Menschen zu Widerlingen, wenn sie dadurch in Trance geraten,“ brummte sie, „Ich erinnere mich nicht an alles, weil ich so berauscht war von der Medizin, aber wir haben es getrieben wie wilde Tiere, es war abscheulich.“ Zoras räusperte sich.

„Er ist dein Mann, war es wirklich abscheulich? Jede Frau schläft mit ihrem Mann, oder?“

„Kelar ist ein Monster und kein Mann,“ stöhnte sie, „Wenn ich mich von einer Bestie besteigen lasse und zulasse, dass sie mich nach Strich und Faden durchnimmt, ist das widerlich. Verflucht, ich komme mir vor, als hätte ich mit einem Tier geschlafen.“ Er konnte das nachvollziehen angesichts Kelars wirklich nicht mehr sehr menschlichem Verhalten, ersparte sich aber einen Kommentar dazu.

„Gräm dich nicht,“ flüsterte er dann nur, „Es ist nicht deine Schuld, was hier vor sich geht, Salihahchen. Du bist eine starke und wunderbare Frau, du weißt das genauso gut wie ich. Dass du ihn nicht mehr bändigen kannst ist nicht deine Schwäche, es war Bestimmung der Geister. Und du wusstest es doch… oder nicht? Du wusstest von Anfang an, seit du ihn zum ersten Mal gesehen hast, dass er wahnsinnig werden würde… dass du ihn lange festhalten könntest, aber dass die Leine eines Tages reißen würde. Nicht wahr?“

Sie drückte sich etwas fester gegen ihn und sagte lange nichts, was er als Bestätigung seiner Worte auffasste.

„Schlaf mit mir,“ bat sie dann leise, und er löste sich verwundert von ihr und sah ihr ins Gesicht. Sie sah erschöpft aus und nicht gesund. Und mehr noch als an den Kopfschmerzen lag es an der seelischen Belastung, die Kelar ihr war. Ihr Geist war genau wie ihr Körper am Ende seiner Kräfte. Er fragte sich, wie lange sie das noch durchhalten würde, und er verfluchte ihren Mann innerlich erzürnt darüber, dass er es dazu hatte kommen lassen. Wie konnte ein Mann seiner Frau sowas antun? Wie konnte man Salihah sowas antun? Er richtete seine Frau wissentlich zu Grunde und lachte darüber. Was für ein abscheulicher Mann er doch war… Kelar verdiente Schlimmeres als den Tod.

Aber davon waren sie weit entfernt… und je länger sie versuchten, ihn einzuholen und zu fangen, desto größer wurde Kelars Macht…

„Hast du nicht Kopfschmerzen, Liebste?“ murmelte Zoras verunsichert, als sie sich streckte und begann, sein Gesicht zu küssen. Ihre Hände schnürten langsam sein Hemd auf und berührten dann seine nackte Brust darunter, was ihn erschaudern ließ.

„Doch… aber wenn du es jetzt tust, erinnere ich mich vielleicht wieder daran, wie es ist, mit einem Mann zu schlafen, und nicht mit einem Monster… dann vergesse ich meine scheußlichen Gedanken und dann werden die Schmerzen weniger…“

„Lässt du zu, dass Keisha versucht, einen guten Heiler aufzutreiben, damit er sich mal deinen Kopf ansieht?“ verlangte er als Gegenleistung, obwohl seine Hände bereits begannen, ihr leichtes Hemd hochzuschieben und ihren nackten Körper darunter zu streicheln. Sie stöhnte leise und schloss die Augen, als seine Hände zwischen ihre Schenkel glitten.

„Denkst du… wirklich, jemand von denen traut sich, mich zu behandeln? Ich habe Anthuriens Gouverneur in Öl gekocht, die Menschen haben Angst vor mir.“

„Solange man dich nicht wissentlich hintergeht, muss man sich nicht vor dir fürchten,“ grinste er, „Dieser Depp aus Anthurien hatte seinen Tod verdient, er hat dich doch belogen und dich unterschätzt, weil du eine Frau bist. Und du hast mit seinem Tod den Krieg beendet, es war recht so. Keisha ist selbst Heilerin, sie kann mit den Leuten reden. Salihah, ich mache mir Sorgen um dich, das ist alles. Ich würde mich wohler fühlen, wenn du das zuließest.“

„Dann sei es so,“ gab sie schließlich seufzend nach und streifte ihm dabei sanft das Hemd von den Schultern, ehe sie ihn aufforderte, sich auf sie zu legen, als sie sich vorsichtig auf den Rücken drehte. Normalerweise saß sie oben, aber sie fürchtete, ihr Kopf würde platzen, wenn sie sich jetzt hinsetzte. Er rollte sich über sie und keuchte heftig, als ihre Hände an seiner Hose zu nesteln begannen.

„Dann fällt mir ja wenigstens ein Stein vom Herzen,“ murmelte er dabei, „Wenn deine Schmerzen fort sind, gewinnst du deine Kraft sicher zurück…“

„Sprich nicht mehr von Schmerzen, Liebster,“ seufzte sie wohlig, während sie ihn sanft zu sich herunter zog und sie einen leidenschaftlichen Kuss teilten, sie ihre Lenden erhitzte. Als sie sich lösten, senkte sie keuchend den Kopf. „Sei… bitte zärtlich…“ murmelte sie dann etwas verlegen über ihre Empfindsamkeit in dem Moment, „Ich will mich ausnahmsweise mal nicht wie ein Tier paaren…“ Er musste lächeln, beugte sich herunter und küsste kurz, aber zärtlich ihre Lippen. Danach hielt er mit dem Gesicht ganz dicht vor ihrem einen Moment inne, bevor er leise flüsterte:

„Ich liebe dich, Salihahchen…“

Sie brauchte darauf nichts mehr zu sagen. Sie schlang nur liebevoll die Arme um ihn und zog ihn herunter in einen weiteren, innigen Kuss, während er sich vorsichtig auf sie legte.
 

Der Regen hatte aufgehört. Zumindest draußen, nicht in den Gemütern der Menschen.

Nalani fragte sich, ob Tabari wütend auf sie war, weil sie ihn widerlich genannt hatte. Er sprach jedenfalls nicht mehr mit ihr, was sie verwunderte, vor allem, als er am Ende des Mondes der Stürme nicht mal versuchte, mit ihr zu schlafen, obwohl die richtige Zeit im Monat jetzt wieder gekommen war. Nicht, dass es sie störte, aber irgendwie kam ihr die Ruhe trügerisch vor. Er machte das doch sicher nicht, um ihr den Gefallen zu tun, weil er merkte, dass sie nicht bereit war, mit ihm das Bett zu teilen… oder hatte er jetzt etwa aufgegeben?

Sie war ihm zwar heimlich dankbar dafür, dass er sie in Ruhe ließ, aber irgendetwas störte sie an dem Gedanken dennoch, obwohl sie nicht erklären konnte, was es war. Jetzt, wo der Winter fast da war und sie fast nur noch drinnen waren, lief sie ihrem blonden Mann oft über den Weg, er grüßte sie nicht und sah sie nicht an, und irgendwie bekam sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie nachts schweigend neben ihm im Bett lag und sie sich verbissen gegenseitig den Rücken kehrten. Sie beschloss tapfer, einen kleinen Schritt auf ihn zuzugehen.

„Tabari?“

Er sah auf, während er dabei war, in der Stube auf einem Sessel sitzend auf seinen unterschlagenen Beinen einen Stapel Bücher aufzuhäufen, die er offenbar studieren wollte.

„Was ist?“ sprach er tatsächlich mit ihr, aber er war offenbar arg beschäftigt und schenkte ihr keine große Beachtung.

„Kommst du mit Kiuk und mir nach Tasdyna? Die Reparaturen des Dorfes sind seit dem Feuer im Sommer immer noch nicht ganz fertig und jetzt im Winter wird es schwer mit abgedeckten Dächern, wir wollen ihnen beim Bauen helfen.“ Sie fand sich sehr großzügig, ihn darum zu bitten, mitzukommen; davon abgesehen, dass jede helfende Hand gebraucht wurde und es auch für Tasdyna gut wäre, zeigte sie zum ersten Mal seit sie ihn kannte Interesse ans einer Anwesenheit; der sollte gefälligst stolz auf sie sein…

Tabari war weder stolz noch interessiert an ihrem Angebot.

„Ich hab keine Zeit für Tasdyna,“ murrte er, „Ich versuche, Geisterjäger zu werden. Wieso helft ihr da mit, Sukutais Vater hat doch sicher genug Geld, um Sklaven zu kaufen, die das machen…“ Nalani brummte und bereute es schon wieder, ihn angesprochen zu haben.

„Hast du mal von sowas wie Hilfsbereitschaft gehört?“ fragte sie ihn kalt, „Menschen helfen in Not einander. Aber dir ist sowas vermutlich fremd, dein Vater würde ja auch niemandem helfen, warum solltest du es also tun, Prinz Lyra?“ Damit kehrte sie ihm den Rücken und ging davon. Tabari hob den Kopf und sah ihr schweigend hinterher.
 

In Tasdyna war der Bär los. Offenbar hatten die Dorfbewohner alle viele Leute von außerhalb mitbringen können, die beim Abdecken der Dächer helfen würden. Kiuk und Nalani wurden von einer fröhlichen Sukutai begrüßt, die beiden stürmisch um den Hals fiel (Kiuk etwas heftiger).

„Ich bin euch sehr, sehr dankbar für eure Hilfe!“ plapperte sie los, „Herr Vater hat uns alle losgeschickt und jeder sollte in den Nachbardörfern Freunde oder andere Bekannte oder wen auch immer bitten, mitzuhelfen, denn jetzt im Winter wird es echt schwer mit zu wenigen Häusern! Zwei Häuser von großen Familien sind immer noch unbewohnbar, das heißt, das eine war es bis gestern, aber bei dem Regen ist das provisorische neue Dach heruntergekommen und es hat hinein geregnet…“

„Sukutai…“ versuchte Kiuk verhalten, sie auszubremsen, aber sie redete ausgelassen weiter.

„Und außerdem ist der Viehstall der Noh-Familie zusammengebrochen, überall rannten Hühner und Gänse durch das Dorf, das hättet ihr sehen sollen! Mein Herr Vater kam gestern Abend mit einer Kutsche heim ins Dorf und da sprang eine Ente dem Kutscher auf den Schoß und hackte wie verrückt, sie hätte ihn fast tot gehackt, aber er hat sie verscheucht und vor Schreck hat die Ente ihm ein Ei auf den Schoß gelegt…“

„Habt ihr denn die Hühner, Gänse und Enten wieder eingefangen?“ fragte Nalani beunruhigt.

„Zumindest die meisten, Kadim hat sich richtig aufgeregt, weil ihm sein Geflügel abhanden kommt. Wenn ihr irgendwo draußen also ein Huhn oder eine Gans seht, fangt das Tier bitte ein! Das war ein Affentheater gestern deshalb, Kadim hat gebrüllt ‚Meine Hühner! Meine Gänse! Verflixt und zugenäht, meine Hühner! Meine Gänse!‘ , seine beiden kleinen Töchter haben geschrien, weil sie Rührei wollten und die Hühner gackerte und gockelten durch das ganze Dorf, und mittendrin mein Herr Vater in seiner Kutsche und der Kutscher mit dem Ei auf dem Schoß…“ Kiuk fasste Sukutai an den Schultern und sie hörte auf zu reden.

„Sukutai – erzähl das doch später, wir müssen jetzt alle zusammen die Häuser reparieren, den Stall von Kadim dann vermutlich auch, oder?“

„Sicherlich, jetzt hat Kadims Frau die Hühner und Gänse in die Küche geholt, damit sie nicht weglaufen, das ist ein ziemlicher Tiermist in der Küche. Und eine von den Töchtern wollte so gern eine Gans mit ins Bett nehmen-… ach, du hast recht, das erzähle ich ein andermal. Nun, also die Familien, deren Häuser nicht bewohnbar sind wegen der Dächer, wohnen jetzt verteilt in anderen Häusern, Naminah, die Frau des Schmieds, wohnt zum Beispiel mit ihren beiden Babys bei uns im Haus, der kleine Sohn ist auch mit dabei, der kann jetzt sogar laufen, fällt aber alle Nas‘ lang um. Der Schmied ist mit vieren der älteren Kinder bei unseren Nachbarn, die drei Ältesten haben wir bei den Tahiks untergebracht. Ihr seht also, es besteht wirklich leichter Platzmangel…“

„Moment,“ fiel Nalani ihr ins Wort, „Der Schmied hat zehn Kinder?! Zehn?!“

„Ja, bis vor drei Monden waren es noch acht, Naminah hat Zwillinge bekommen, zwei kleine Mädchen!“

„Du liebe Güte,“ murmelte die Schwarzhaarige irritiert. Sukutai kicherte über ihre Verwirrung, ehe sie endlich ins Dorf gingen und damit begannen, gemeinsam das Dach des Hauses jenes Schmieds zu reparieren. Das ganze Dorf war auf Achse, um mitzuhelfen.

„Überhaupt, hatte Tabari keine Zeit?“ fiel Sukutai dann ein, und Nalani fragte sich, wieso sie vom Thema viele Kinder auf Tabari zu sprechen kam. Sie dachte an Tabari und ihre Laune verschlechterte sich sofort.

„Ach, der!“ schnappte sie so nur, „Der hat offenbar besseres zu tun, als würde der je von seinem Ross herabsteigen, um mit uns im Dreck zu wühlen!“ Sukutai hörte ihr zu und warf Kiuk einen verhaltenen Blick zu, der nur den Kopf schüttelte. Tabari und Nalani waren wirklich kein Bilderbuchpaar; aber niemand verübelte es ihnen, da sie sich schließlich nicht ausgesucht hatten, zu heiraten. Dennoch war es unangenehm, Menschen dabei zusehen zu müssen, wie sie gezwungen waren, miteinander auszukommen und es nicht auf die Reihe kriegten…
 

Sie reparierten den Stall der Familie Noh und der Mann namens Kadim war sehr erfreut, dass er sein Geflügel nicht mehr in seiner Küche halten musste. Die Dächer der zerstörten Häuser richtig winterfest abzudecken war eine langwierigere Sache und nicht so leicht, wie man sich das vorgestellt hatte.

„Wahrscheinlich pfuschen die in den Städten mit dem Material,“ beschwerte sich ein Tischler aus einem der umliegenden Dörfer, „Ich hab’s ja gesagt, Herr, wir hätten das Holz aus unserem Dorf nehmen sollten, es ist viel stabiler und wasserdicht!“

„Wie kann Holz wasserdicht sein?“ wunderte sich Sukutais Vater, Telepathenratsoberhaupt Dotai, aber der Tischler sagte nur noch ‚Ich hab's ja gesagt, ich hab's ja gesagt!‘ . „Nun, wie dem auch sei, wir werden wohl morgen weiterarbeiten müssen, es wird schon dunkel und im Dunkeln lässt es sich schwer arbeiten. Ich bedanke mich sehr herzlich bei allen Helfern, es ist sehr großzügig von euch allen, das für unser Dorf zu tun. Ich verzeihe jedem, der morgen nicht noch mal die Zeit und die Kraft hat, herzukommen, aber ich verneige mich vor denen, die es tun werden. Ihr tut vor allem den Menschen, die in diesen Häusern wohnen sollen, einen riesigen Gefallen. Die Ernte war schlecht dieses Jahr, da wäre es von Vorteil, wenigstens ein warmes Haus zu haben.“ Alle stimmten dem Ratsvorstand nickend zu.

„Dann dürft ihr jetzt heimgehen, wer helfen möchte soll morgen bei Sonnenaufgang hier sein, damit wir morgen fertig werden!“ Murmelnd löste die Traube der Menschen sich auf. Der Ratsvorstand zitierte Kiuk und Nalani noch einmal zu sich, während die anderen schon in ihre Heimatdörfer zurückkehrten. Sukutai stand an Kiuks Seite und wiegte sich fröhlich hin und her. „Und dieser Winter wird ein Desaster,“ sagte ihr Vater zu Kiuk und sah ihn verhalten an, „Ich hoffe, wir kriegen alle Babys und alten Leute durch den Winter, aber mit den Vorräten sieht es übel aus. – Was ich dich fragen wollte, Kiuk, was macht deine Mutter? Ich habe lange nichts von ihr oder den Geisterjägern gehört, ist sie mit denen noch in Kontakt?“

„Ja, durchaus,“ machte Kiuk, „Sie ist oft in Tuhuli und trifft sich mit ihnen. Soll ich ihr ausrichten, dass sie sich bei Euch melden soll, Herr?“

„Nicht so förmlich,“ schnaubte Sukutais Vater und rückte seinen Kragen zurecht, „Du bist schließlich der Sohn des selbsternannten Königs dieses Landes…“ Nalani grinste in sich hinein. Ihr gefiel der spöttische Unterton, mit dem der Mann über Kelar sprach. Kiuk verneigte sich tief und höflich.

„Ach, überhaupt nicht, ich bin ja sowieso Luft für meinen Vater. Ich lege mich vor Eure Füße, Herr, wenn ich als Seelenmagier einmal auch Eurem Rat beizuwohnen wünsche, steht Ihr weit über mir.“

„Nun, wenn das so ist, Kiuk – ja, richte deiner Mutter aus, sie solle sich bei mir oder dem Rest unseres Ordens melden und Bericht erstatten. Bei der Herbstsitzung hat sie gefehlt, ist etwas Schlimmes geschehen?“

„Nein… sie wollte hingehen, aber sie war sehr krank,“ meinte Kiuk noch immer mit geneigtem Oberkörper, „Sie hatte grausame Kopfschmerzen, ich entschuldige mich hiermit schon mal an ihrer Stelle für ihr Fehlen.“

„Nicht doch, wenn du sagst, sie war krank, erklärt das ja alles. Ich hoffe doch, es geht ihr besser. Ja, weil sie von uns im Orden die einzige ist, die so viel mit dem Rat der Geisterjäger zu schaffen hat und die ja doch größten Teils für die Politik zuständig sind, sind ihre Berichte von diesen Räten immer sehr wichtig für uns. – Nun, das war es eigentlich auch schon. Ihr könnt jetzt auch gehen. Und Sukutai, komm bitte mit mir mit, du wirst dir hier draußen noch einen Schnupfen holen.“ Er streckte die Hand nach der Tochter aus und sie nahm sie mit einer höflichen Verneigung entgegen, ehe sie sich strahlend zu Kiuk und Nalani umdrehte.

„Bis morgen, ihr zwei, kommt gut heim!“
 

Tabari fragte sich, ob er mit Nalani nach Tasdyna hätte gehen sollen. Als sie am späteren Abend mit seinem Bruder heimkam, war er wie Luft für sie, sie würdigte ihn keines Blickes und unterhielt sich mit Kiuk, als wäre er gar nicht da. Es ärgerte ihn, dass sie so abweisend war, aber er hielt sich zurück und sagte nichts dazu, während er beobachtete, wie sie mit Kiuk in der Stube verschwand. Wie machte Kiuk das, dass er sich so gut mit Nalani verstand? Mit Kiuk kam sie ja wunderbar klar, aber zu ihm war sie immer hässlich – na ja, er musste zugeben, dass er auch nicht besonders nett zu ihr gewesen war. Aber wieso war sie jetzt wütend, nur weil er nicht mit nach Tasdyna gewollt hatte? Er musste üben, er musste den Respekt seines Vaters wiedergewinnen, den zu verlieren er seit Jahren dabei war – Nalani verstand ihn einfach nicht. Sie hasste seinen Vater, vermutlich wollte sie gar nicht verstehen, dass er versuchte, ihn stolz zu machen. Aber so einfach war es eben nicht… er war der Stammhalter des Lyra-Clans, sein Vater erwartete von ihm, einmal Familienoberhaupt zu sein. Und Kelar würde ihn nun einmal nur dann akzeptieren, wenn er sich genauso benahm wie er. Und Nalani erwartete von ihm, dass er sich seine eigenen Gedanken machte, womit er aber seinen Vater verärgern würde. Sollte er sich jetzt etwa zwischen der Pietät gegenüber seinem Vater und der Loyalität zu seiner Frau entscheiden? Allmählich wuchs ihm die Zerrüttung der Familie über den Kopf und er ärgerte sich darüber, dass alle Dinge von ihm erwarteten und er für alle den Hampelmann spielen sollte.

Zeug einen Sohn hier, hab deinen eigenen Geist da, werd Geisterjäger hier, hab Respekt vor mir da.

Er konnte es nicht mehr hören, er wollte raus aus diesem verdammten Schloss, aus dieser Familie, wo sich alle gegenseitig an die Gurgel sprangen, weg von seinen Eltern, die sich gegenseitig den Tod wünschten und die beide nie zufrieden mit ihm waren… sein Vater wollte, dass er so wurde wie er, seine Mutter wollte das Gegenteil. Konnten sie nicht einfach nur einen Sohn in ihm sehen, verdammt? Keinen Erben irgendeines ohnehin zu Grunde gehenden Landes, kein Spiegelbild eines mächtigen Mannes, der Angst und Schrecken auf der Welt verbreitete? Waren seine Eltern eigentlich jemals liebevoll zu ihm gewesen wie andere Eltern zu ihren Kindern? Er erinnerte sich kaum noch an seine frühe Kindheit. Alles, was er wusste, war, dass sein Vater wollte, dass er perfekt war, dass sein Vater ihn von klein auf erzogen und gelehrt hatte. Er war streng gewesen, hatte selten gelobt und oft getadelt, aber liebevoll war er niemals gewesen. Und seine Mutter hatte derweil seinen kleinen Bruder betüdelt und lieb gehabt. Kiuk hatte sie auf den Arm genommen, wenn er geweint hatte, sie hatte ihm Schlaflieder gesungen, wenn er nicht hatte schlafen können, sie hatte ihn getröstet, wenn er Angst gehabt hatte.

Und bei ihm hatte es geheißen:

„Sei ein tapferer Junge, mein Sohn.“

Das war alles.
 

Und eine schwere Aufgabe stand ihm noch bevor, wenn er seinen Vater davon überzeugen wollte, ihn und Nalani zu trennen. Dem Vater eine Bitte zu stellen war etwas sehr schwieriges und Tabari vermied es grundsätzlich, denn der Vater erfüllte selten Wünsche, eigentlich nie. Er beschloss tapfer, es einmal mit Neugierde zu versuchen, als er in des Vaters Arbeitszimmer trat an jenem Abend.

„Wieso ausgerechnet Nalani, Vater?“

Kelar Lyra war damit beschäftigt, auf einer Landkarte die Dörfer schwarz anzumalen, die er dem Erdboden gleich gemacht oder versklavt hatte, weil sie nicht hatten knien wollen.

„Wie bitte?“ brummte er deshalb nur, während e um Enmoria einen schwarzen Kohlekreis zog.

„Warum sollte ausgerechnet Nalani meine Frau werden? Sie wird nicht schwanger, sie ist aufmüpfig, was an ihr macht sie zu einer guten Frau?“ Sein Vater durchschaute ihn sofort.

„Du willst eine neue, was?!“ Tabari erstarrte und Kelar sah grummelig von seiner Karte auf. „Ich werde dir sagen, warum sie. Du bist mein Sohn, ein Erbe des Clans. Du sollst starke Söhne zeugen, Söhne mit mächtigen, magischen Blut, das dem Namen Lyra gebührt! Und sie ist die Tochter eines Geisterjägers, die Tochter eines uralten, mächtigen Clans. Eure Kinder werden das Blut des Lyra-Clans und das Blut des Kandaya-Clans in sich vereinen, das ist eine mächtige Kombination. Von den anderen Geisterjägern hat niemand sonst eine Tochter, die ich dir hätte geben können, außer Zoras Chimalis, aber…“ Sein Blick wurde jetzt zornig. „Die kleine Bratze dieses Bastardes wäre dir niemals ebenbürtig, du verdienst dieses Dreckstück nicht. Deshalb Nalani. Wenn sie dich nicht ranlässt, nimm dir ´ne Schlampe aus ´nem Dorf oder ich kauf dir ´ne Sklavin, aber meine Erben sollen Nalanis Söhne sein, nicht die einer namenlosen Schlampe.“ Tabari schluckte, aber es fiel ihm schwer, weil er einen unangenehmen Kloß im Hals hatte. Das klang nicht danach, als hätte er eine Chance, sein Vorhaben durchzusetzen.

„Muss es denn unbedingt eine Geisterjägertochter sein?“ murmelte er und senkte den Kopf, „Ich meine, deine Frau ist doch auch nur Telepathin und deine Mutter war sogar bloß Heilerin, solange wenigstens eines ihrer Gene schwarzmagisch ist, ist es doch-…“

„Nein, ist es nicht!“ fluchte der Vater und warf mit dem Kohlestift nach Tabari. „Du dummer Junge, verdammt, wenn nur die Hälfte ihrer Gene schwarz ist, besteht auch nur zu fünfzig Prozent die Chance, dass euer Sohn auch ein Schwarzmagier mit zwei schwarzen Genen wird! Salihah hat Glück gehabt und meine Mutter auch, aber eben auch nur einmal, meine Schwester ist Heilerin und dein Bruder ist Telepath! Dieser Mischmasch reicht mir schon, in Zukunft hat diese Familie nur noch Schwarzmagier zu heiraten und zu gebären, wie es früher einmal war! Es gab reine Schwarzmagierfamilien, reine Heilerfamilien und reine Telepathenfamilien, heute hat irgendwie jeder mit jedem, das vermischt das Blut und das ist nicht nur für uns Schwarzmagier schlecht, die Heiler sind ja auch besser, wenn sie zwei weiße Gene haben, obwohl die wenigstens im Gegensatz zu uns mit einem Gen ihrer Farbe schon Heiler sein können, um richtiger Schwarzmagier zu sein, brauchst du aber zwei schwarze, weil die Schwarzmagie höher, gefährlicher und mächtiger ist als die Seelenmagie und die Weißmagie!“

„I-ich weiß doch, Vater…“ stammelte der Sohn unterwürfig, „Ist gut, ich habe verstanden. Ich dachte nur, es erspare vielleicht Zeit und Ärger ohne Nalani.“

„Fauler Sack!“ tadelte sein Vater ihn wütend, „Die Familie gebührend zu ehren erfordert eben Arbeit! Und tss, du nennst es Arbeit, einen Sohn zu zeugen, was bist du denn für ein Mann? Es liegt an deinem dämlichen Geburtstag, du hättest eigentlich ein Mädchen werden sollen!“ Er lachte gehässig und Tabari errötete vor Scham, als er fortfuhr: „Der Tag der Erde, der Tag der Wintersonnenwende ist der Tag der Weiblichkeit und Passivität! Wenn an diesem Tag ein Junge geboren wird, wird er weibisch, dumm und schwach! Und deine Frau ist ausgerechnet am Himmelstag geboren, kein Wunder, dass du sie nicht beherrschen kannst, sie ist sicher maskuliner als du, du Jammerlappen! Grundgütiger, wieso habe ich das bei deiner Geburt übersehen? Ich hätte dich aussetzen sollen im Hungermond, dann wäre mir die Schande eines Sohnes, der seine Frau nicht mal schwängern kann, erspart geblieben!“

Tabari brannte vor Scham über diese üblen Beleidigungen, senkte tief sein Haupt und verließ dann mit einer artigen Verneigung wortlos den Raum.
 

Wenn es etwas gab, was einen Mann schwerer verletzte als dass sein Vater ihm keinen Respekt erwies, dann, dass sein Vater ihn weibisch nannte. Verdammt, er war nicht weibisch! Der Tadel seines Vaters nagte mächtig an ihm, als er in der Nacht ins Schlafzimmer kam. Nalani lag bereits umgezogen im Bett und sah nicht einmal auf, als er hereinkam, obwohl er genau wusste, dass sie wach war. Dass sie ihn ignorierte, machte ihn noch wütender und er fühlte sich veräppelt von der ganzen Welt, weil kein Mensch ihn auch nur ansatzweise respektierte.

„Ich weiß, dass du wach bist,“ schnauzte er seine Frau so unverhofft an, um seiner Wut Luft zu machen, während er um das Ehebett herum auf seine Seite ging und anfing, sich auszuziehen. „Du könntest mich wenigstens grüßen, wenn ich reinkomme, du undankbares Biest!“

„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“ brummte Nalani, die ihm seinen Zorn durchaus anmerkte. Es war ein anderer Zorn als der, den er hatte, wenn sie ihn widerlich nannte oder sonst wie beleidigte; es war heftiger. Irgendetwas musste geschehen sein, dass er so stinksauer war. Aber es war ihr gleich, sie würde sich sicherlich nicht um seine Probleme kümmern. Ihm waren die Menschen in Tasdyna schließlich auch egal.

Du läufst mir über die Leber!“ fuhr er sie an und warf wutentbrannt mit seinem Hemd nach ihr, „Du siehst mich nicht an und redest nicht mit mir, verdammt, du bist meine Frau und mir zu Gehorsam verpflichtet!“ Sie setzte sich auf und riss sich sein Hemd vom Kopf, um es wütend auf ihn zurück zu werfen.

„Hast du sie noch alle, schrei mich nicht so an, ich habe dir nichts getan!“

„Du ignorierst mich!“ fauchte er, „Und du wirst nicht schwanger, du machst das mit Absicht, oder nicht?! Entweder du tötest die Früchte in deinem Leib oder du machst etwas anderes, dass du immer noch nicht schwanger bist! Ich habe keine Lust mehr auf deine Mimoserei, entweder du machst jetzt freiwillig die Beine breit und wirst endlich schwanger, oder ich werde dich zwingen, und glaub mir, das kann ich, ich bin verdammt noch mal ein Mann!“ Er regte sich richtig auf und wurde immer lauter und Nalani starrte ihn konfus an. Was war denn in ihn gefahren, dass er so ausrastete? Sie hatte ihn noch nie so erlebt. Als sie in sein Gesicht sah, fuhr sie zurück, denn von seiner üblichen Dummheit oder Naivität war nichts übrig. Er war wütend und sein Gesicht war plötzlich eine furchtbare Grimasse, die selbst Nalani einen Schauer über den Rücken jagte – ehe sie weiter denken konnte, stürzte er sich plötzlich auf sie und warf sie um auf das Bett, um sich wütend über sie zu knien und ihre Hände am Bett festzupinnen. „Hast du mich verstanden, Wachtel?!“ fuhr er sie immer noch zornig an und riss wütend an ihrem Nachthemd, „Zieh dich aus, na los!“

„Lass mich los, du perverses Schwein!“ schrie sie entsetzt und schlug wütend nach ihm und zappelte, als er versuchte, sie mit Gewalt auszuziehen, aber er wich ihren Händen geschickt aus und seine Hände griffen energisch und immer noch wütend nach ihren Brüsten, um sie zu drücken, bis es ihr schmerzte und sie keuchte.

Er war ein Monster – er war doch so wie sein Vater! Unwillkürlich dachte sie wieder an den Keller und an Kelars Hände, ehe sie wieder in Tabaris Gesicht sah; und plötzlich war es nicht mehr Tabaris, sondern Kelars Gesicht, und er grinste sie gehässig an mit seinen spitzen Eckzähnen, die denen eines Raubtieres glichen.

Sie schrie vor Angst laut auf und Tabari zog umgehend vor Schreck seine Hände zurück und starrte sie an. Plötzlich wand sie sich unter ihm und wimmerte, sie wollte sich panisch von ihm losreißen und sich wegdrehen.

„Fass mich nicht an!“ schrie sie dabei hysterisch, „Lass mich endlich in Ruhe!“

Tabari war völlig entsetzt über ihre Reaktion und sie schaffte es, ihn von sich herunter zu schubsen, sodass er auch ins Bett fiel. Sie sprang auf und rannte im Nachthemd wie sie war aus dem Schlafzimmer, die Tür hinter sich zu knallend.

„Was zum Geier habe ich denn jetzt gemacht…?!“ keuchte Tabari völlig perplex und lag immer noch benommen auf dem Bett, nachdem Nalani schon längst weg war. Er hatte sie doch kaum angefasst – ja, er war nicht sehr sanft gewesen, und plötzlich tat es ihm unglaublich leid, er hatte ihr sicher wehgetan. Oh nein, jetzt würde sie ihn erst recht nicht mehr an sich heran lassen; wie sollte er denn so seinen blöden Erben zeugen?

Ihm kam der Gedanke, dass er Nalani suchen müsste. Sie war sicher im Schloss geblieben, sie war fast nackt und draußen war es saukalt. Aber sie war seinetwegen weggerannt, es war seine Pflicht, sie zu beruhigen und ins Bett zu bringen… er wollte nicht Schuld daran sein, dass sie schrie und Angst hatte, obwohl er nicht verstand, wieso sie sich vor ihm fürchtete. Seit wann hatte sie vor ihm Angst? Hatte überhaupt jemand vor ihm Angst? Nicht einmal Kiuk hatte Angst vor ihm… unsicher setzte der Blonde sich auf und zog sein Hemd wieder an, um seine Frau zu suchen; dann verwarf er den Gedanken doch wieder. Wenn sie ihn fürchtete, war er sicherlich der Letzte, den sie sehen wollte…

Verflucht, was sollte er denn jetzt machen? Immer, wenn er versuchte, etwas hinzubiegen, machte er es schlimmer, als es vorher gewesen war…
 

Als er am nächsten Tag aufwachte, war es schon hell. Nalani war nicht da und der junge Mann setzte sich brummend im Bett auf und fuhr sich verpennt mit den Händen über das Gesicht. Nalani stand immer sehr früh auf und dabei wachte er dann auf, das war in sofern gut, dass er definitiv nicht vor Mittag von selbst aufwachte, wenn sie mal nicht da war. Er war noch nie ein Morgenmensch gewesen und er fragte sich insgeheim, wie Nalani so verrückt sein konnte, freiwillig so früh aufzuwachen; er tat es dann nur, damit sein Vater ihn keinen Faulpelz schimpfte und er den Tag sinnvoll nutzen konnte.

Wenn er einmal seinen Vater ablösen und Familienoberhaupt sein würde, ging es endlich mal nach ihm und das erste, was er einführen würde, war die Regel, dass es vor Mittag kein Frühstück zu geben hatte…

Während er sich fertig anzog und sich im Bad Gesicht und Hände wusch und versuchte, seine zotteligen blonden Haare etwas zu bändigen, fiel ihm seine Frau wieder ein, die verschwunden war. Plötzlich bekam er Panik; was, wenn sie doch weggerannt war?

„Nalani?!“ brüllte er so durch das ganze Schloss und gab es kurzfristig auf, seine Haare zu richten. Sie antwortete nicht, niemand sagte etwas. Er hastete hinunter in die Küche, in die Stube, in die Halle und suchte sie überall. Natürlich antwortete sie nicht, sie antwortete ihm nie; vermutlich wollte sie ihn nicht sehen und er konnte es ihr nicht verübeln. Was genau er in der Nacht falsch gemacht hatte verstand er zwar immer noch nicht, aber er wusste, dass er sie verärgert hatte. Und sie war sehr nachtragend, das hatte er in den Jahren, die sie nun schon bei ihm war, gelernt. Er wollte irgendetwas tun, um sie gütig zu stimmen; sein Vorhaben, sie loszuwerden und eine neue Frau zu nehmen, war jedenfalls dahin, sein Vater hatte klar und deutlich seinen Standpunkt erklärt. Er würde nur Kinder aus Nalanis Bauch akzeptieren… das hieß, er musste den Rest seines Lebens mit dieser Frau zurechtkommen. Da war es von Vorteil, zu kooperieren, wie er es einst genannt hatte; er schämte sich inzwischen für die unglückliche Wortwahl.

Kooperieren, welche Frau würde mit einem Mann kooperieren?!“ murmelte er jetzt verärgert über seine eigene Idiotie, „Verdammt, ich habe so viel falsches gesagt und es vermutlich letzte Nacht – womit auch immer – komplett vermasselt, was mache ich denn jetzt nur?! Vater wird mich häuten und braten, wenn ich nicht bald ein Kind in Nalanis Bauch gepflanzt habe…“

Er seufzte theatralisch und bemitleidete sich kurz selbst für sein Unglück. Dann setzte er die Suche nach seiner Frau fort und lief wieder hinauf, um jedes Zimmer zu durchstöbern.

„Nalani! Bitte komm zu mir, ich… will doch nur mit dir sprechen!“ Was Besseres fiel ihm nicht ein, großartig. Niemand antwortete ihm und er grummelte. Er musste etwas finden, womit er sie erfreuen könnte, dann käme sie vielleicht…

Er bekam eine Idee.

„Ich komme mit dir nach Tasdyna, wenn du willst, und Kiuk, und wem sonst noch!“ Jetzt bekam er eine Antwort, aber nicht von seiner Frau.

„Nach Tasdyna? Da bist du aber zu spät, Tabari, Nalani und Kiuk sind schon vor Sonnenaufgang nach Tasdyna gegangen.“
 

Tabari sah erschrocken hinauf. Am oberen Ende der Treppe stand seine Mutter. Als er sie ansah, dachte er kurz an Nalanis Sorge um sie und stellte auch fest, dass sie blass im Gesicht war; blasser als normal, sie war eine Frau von hohem Rang und adelig, alle Adeligen waren blass, weil sie im Gegensatz zu den Bauern nicht den ganzen Sommer über in der sengenden Sonne arbeiten mussten.

„W-was?“ war sein verwirrter Kommentar, weil er sich mehr auf die ungesunde Blässe seiner Mutter als auf deren Worte konzentrierte. Salihah kam die Treppe zu ihm herunter und blieb vor ihm stehen.

„Ich sagte, Nalani und Kiuk sind längst in Tasdyna. Du bist spät auf, Tabari, du hast verschlafen.“ Er sah nur verwirrt zu ihr herunter. Ja, das wusste er selbst… Sie schwiegen eine Weile. „Du bist groß geworden,“ murmelte Salihah plötzlich und fasste nach seinem Oberarm, und er senkte den Kopf.

„Du redest, als hättest du mich Jahre nicht gesehen, Mutter.“

„Mir kommt es auch vor, als wäre dem so…“ gestand sie leise, „Du bist viel fort, ich bin viel fort… wann habe ich zum letzten Mal so vor dir gestanden und war einfach nur deine Mutter? Und wann standest du zum letzten Mal so vor mir und warst einfach nur mein erstgeborener Sohn…? Du warst garantiert kleiner als ich, als es so war, da bin ich sicher.“ Tabari sagte nichts. Das bedrückte ihn; sie sprachen tatsächlich wenig miteinander. Dass er gestern noch gedacht hatte, seine Mutter hätte ihn nie geliebt, kam ihm jetzt schäbig und pietätlos vor.

„Dass ich kleiner war als du ist schon her…“ murmelte er dann benommen, und Salihah lachte kalt.

„Ja, das meine ich ja. Dein Bruder ist jetzt auch so groß wie ich, ihr überholt mich noch alle. Dabei bin ich für eine Frau gar nicht so klein.“

„Nalani wird sicher nicht größer als du,“ vertröstete er sie lächelnd, und sie lächelte auch. Dieses Mal war es ein warmes Lächeln.

„Es geht gar nicht darum, er wie groß ist, Tabari. Ich möchte mich bei dir entschuldigen, dass ich so wenig Zeit hatte… in den letzten Jahren hatte ich die weder für dich noch für Kiuk noch für Nalani.“

„Das ist in Ordnung, du hast selbst viel Ärger,“ meinte er, und sie sah verblüfft auf. Was wusste er denn von ihrem Ärger? Und er überraschte sie erneut, als er weiter sprach: „Hast du… immer noch Kopfschmerzen, Mutter?“

Salihah blinzelte.

Kopfschmerzen?

Ach ja, Kopfschmerzen.

„Im Moment nicht,“ sagte sie, „Sie kommen und gehen, wie sie wollen. Sorge dich nicht, Tabari… ich habe noch zu viel Verantwortung auf dieser Welt, um mich von Schmerzgeistern begraben zu lassen.“ Sie lächelte erneut und strich ihm motivierend über die Wange, ehe sie an ihm vorbei ging und hinunter in die Stube. „Ach,“ fiel ihr dann noch ein, als sie fast weg war, und ihr Sohn sah verwirrt über die Schulter, „Was deinen Streit mit Nalani angeht… das ist jetzt deine eigene Sache, du bist ein Mann und selbst verantwortlich für die Dinge, die du tust und sagst. Zeig ihr, dass du das weißt…“
 

Die Arbeiten in Tasdyna waren am Abend abgeschlossen und das ganze Dorf jubelte. Zur größten Freude des Dorfvorstandes und auch Telepathenratsvorstand Dotais waren fast alle Helfer des vergangenen Tages erneut gekommen, gemeinsam mit den Bewohnern von Tasdyna waren alle Häuser wieder bewohnbar gemacht worden. Telepathenratsvorstand Dotai belohnte die gesamte Helferarmee mit einem verhältnismäßig großen Festmahl, zu dem er alle einlud, natürlich auch das gesamte Dorf. Selbst die Reichen wie die Dotais sparten an Nahrung, da die Ernte schlecht gewesen war, daher hätte sich keiner an den Speisen tot essen können, aber das ganze Dorf und noch die Hälfte aus allen möglichen Nachbardörfern zu bewirten war sehr großzügig. Nalani und Kiuk waren natürlich auch eingeladen und dank Sukutai saßen sie bei ihr und ihrer Familie am Tisch.

„Und Tabari hielt es wieder nicht für nötig, auch zu kommen?“ fragte Sukutais Vater an Kiuk und Nalani gewendet, „Na ja, dann verpasst er das Essen, hat er selbst Schuld.“

„Ach, der,“ machte Nalani kaltherzig, „Ich habe ihn nicht mehr gefragt heute, er wäre ja ohnehin nicht mitgekommen. Ich verschwende meinen Atem nicht, um ihn jemals wieder um etwas zu bitten, ich habe aus gestern eindeutig gelernt. Ich entschuldige mich für die Unhöflichkeit und die Arroganz meines Mannes, Herr.“ Sie neigte den Kopf und Sukutais Vater seufzte.

„Das musst du nicht, ich habe nichts anderes erwartet. Er schlägt wohl nach seinem Vater, ihr und Salihah tut mir wirklich leid, wenn ihr jetzt zwei von diesen Verrückten am Hals habt.“ Nalani lachte kaltherzig auf und freute sich diebisch über die Worte des Mannes. Endlich jemand, der es richtig sah. Sie schätzte den Mann wirklich. Erstaunlicherweise war es Kiuk, der widersprach.

„Mein Bruder ist nicht wie mein Vater, er ist ganz anders,“ versuchte er, zu erklären, „Wenn mein Vater lange Zeit nicht zu Hause ist, merkt man es, dann kommt plötzlich Tabaris wahrer Geist zum Vorschein, nur ein bisschen, aber immerhin. Er versucht sein Leben lang verbissen, wie Vater zu sein, aber er kann es nicht und das frustriert ihn. Ich muss wissen, dass Tabari nicht wie Vater ist…“ Er seufzte kurz und schien zu überlegen, ob er weitersprechen sollte, dann tat er es: „Denn mein Bruder hat mich nie verprügelt, wenn er über irgendetwas wütend war…“
 

Als sich die Runde langsam auflöste am späten Abend, waren Nalani und Kiuk unter den Letzten, die gingen. Sukutai bot ihnen fröhlich an, doch über Nacht zu bleiben, aber die beiden hielten es für besser, heimzukehren, bevor Kelar oder womöglich Tabari vor Wut über ihre Abwesenheit Tasdyna verbrennen würde; das betraf zwar mehr Nalanis Abwesenheit als Kiuks, denn der war allen egal, wie er selbst sagte, aber er fühlte sich Nalani gegenüber ungerecht, wenn er sich die Freiheit nahm, einfach in Tasdyna zu bleiben und die Frau alleine zurück ins Schloss zu schicken, wo doch alle wussten, wie sehr Nalani das Schloss und den Rest der Familie – ausgenommen Salihah – verabscheute.

Sukutai begleitete die beiden höflich zum Zaun des Dorfes, der auch wieder hergerichtet worden war.

„Vielen Dank für die Einladung und für eure Mühe, Sukutai,“ sagte Nalani artig und verneigte sich, Sukutai tat es ihr sofort gleich.

„Nicht der Rede wert, für euch ist das doch selbstverständlich!“ Sie strahlte und Nalani musste lächeln. Sie war wirklich ein liebes Mädchen. Kiuk sah nur errötet zu Boden und schien nichts sagen zu wollen. Sie standen kurz alle drei schweigend da, dann wandte Nalani sich wissend von den beiden ab.

„Ich beeile mich besser und gehe vor,“ meinte sie, „Es ist wirklich kalt geworden.“ Ohne einen Kommentar abzuwarten ging sie los und Kiuk keuchte entsetzt, Sukutai blinzelte.

„Habe ich sie verärgert?“ wollte das Mädchen beunruhigt wissen, „Habe ich etwas Schlimmes gesagt, Kiuk?“ Sie sah ihn an und er spürte sein Gesicht abermals in Flammen aufgehen bei ihrem hübschen Anblick. Oh nein, sie hatte Nalani gewiss nicht verärgert. Und er würde seine Schwägerin später tadeln sie so unverfroren offensichtlich zu zweit zu lassen.

„Dumme Sukutai,“ seufzte er darum nur über ihre Naivität, den Rest seiner Gedanken sprach er nicht aus; sie war Telepathin, sie würde wissen, was er meinte, ohne dass er es sagen musste. Das war das Angenehme daran, mit einem Seelenmagier zu sprechen… man brauchte gar keine Worte.

Das Mädchen senkte ebenfalls leicht verlegen mit einem rosa Schimmer auf den Wangen den Kopf.

„Ich bin nicht dumm,“ nuschelte sie lächelnd, „Ich mache mir nur immer zu viele Sorgen, ob ich höflich genug bin.“

„Das bist du,“ meinte er ehrlich, trat auf sie zu und strich ihr eine Haarsträhne hinter die Ohren, worauf sie strahlend den Kopf hob und verliebt zu ihm hochsah. Er schnappte nach Luft. „Und d-du… bist wunderschön…“

Sukutai sagte nichts, sondern streckte sich vorsichtig und küsste ihn sanft auf die Lippen.
 

Nalani linste im Gehen über die Schulter und drehte sich gehorsam, aber grinsend wieder ab, als sie sah, dass die beiden sich innig küssten und dass das Mädchen energisch die Arme um seinen Nacken geschlungen hatte und ihn fest an sich heranzog. Sie freute sich für die beiden und ihr Glück, ohne darüber nachzudenken, dass sie dieses Glück der unschuldigen, zärtlichen Liebe niemals erfahren würde; jedenfalls nicht mit Tabari. Und auch, wenn sie ihn nicht mochte, war sie eine ehrenhafte Frau, sie würde nicht auf den Gedanken kommen, ihn zu betrügen. Selbst dann nicht, wenn er es täte… sie würde immer besser sein als er, sie würde nicht zulassen, mit ihm gleichgestellt zu sein. Nein, da waren ihr Stolz und Ehre wichtiger als die Erfahrung zu machen, jemanden aus tiefstem Herzen zu lieben.
 

Das Neujahr stand bevor. Schon zu Beginn des Wintermondes, in dem die Sonne kaum noch aufging, in dem es beinahe durchgehend dunkel war in Dokahsan, hatte es heftig zu schneien begonnen. Jetzt, am Ende des Mondes und auch des Jahres, lag wieder so viel Schnee, dass jeden Tag geschippt werden musste, um die Wege passierbar zu halten. In den Dörfern spielten die kleinen Kinder ausgelassen im Schnee herum. Nalani beobachtete die Dorfleute aus der Nähe gern, vor allem die Kinder, wie sie vergnügt johlend im Schnee spielten. Nalani freute sich ausnahmsweise mal über den Schnee, denn er half ihr dabei, das Wasser im Zaubern besser zu beherrschen. Schnee war genau genommen auch nur Wasser und sie konnte die weiße Masse dafür benutzen, das Zaubern zu üben. Das war das einzige, womit sie sich beschäftigte, während der Winter auf seinen Höhepunkt zuging, als der Hungermond vor der Tür stand.

Es dämmerte schon wieder, nachdem die Sonne ganz kurz geschienen hatte an dem Tag, als Nalani sich schwer atmend und erschöpft vom vielen Üben in den Schnee fallen ließ und da einfach eine Weile lag, Arme und Beine von sich gestreckt und in den dunklen Himmel starrend. Es war so still… das Lachen der Dorfkinder aus der Nähe verstummte jetzt langsam, weil ihre Eltern sie nach Hause holten. An dem Tag war Nalani südlich vom Schloss auf eine Schneewiese in der Nähe der Dörfer gegangen zum Üben.

Plötzlich beugte sich etwas Kleines über sie und sie sah blinzelnd in das Gesicht eines sehr kleinen, schwarzhaarigen Mädchens.

„Du die Schneefrau?“

Nalani setzte sich konfus auf, worauf das kleine Kind zurücktrat und sich seinen Schal ins Gesicht zog.

„W-was? Schneefrau?“ machte sie perplex. Sie sah in einiger Entfernung noch ein etwas größeres Mädchen und eine Frau auf sich zukommen, offenbar die Mutter. Die Frau hatte einen sehr dicken Babybauch.

„Entschuldigt meine kleine Tochter bitte,“ sagte die Frau und verbeugte sich verlegen, „Sie hat gestern das Märchen von der Schneefrau vorgelesen bekommen und nennt seitdem alle Frauen, die im Schnee liegen, Schneefrau… sie hat es nicht böse gemeint.“

„Ist doch schon gut,“ meinte Nalani und rappelte sich hoch, während das kleine Mädchen kichernd zu seiner Mutter rannte und ihre Hand nahm. Das größere Mädchen nahm die andere Hand der Frau. „Sie hat doch nichts Böses getan.“ Diese Dorffrau war sehr höflich und scheu, dachte sie bei sich.

„Wieso liegst denn im Schnee, du da?“ fragte das ältere Mädchen jetzt neugierig, und die Mutter schalt es:

„Sag nicht Du da zu einer fremden Frau von höherem Rang, Tuwa! Das gehört sich nicht und nicht alle sind so freundlich wie diese Frau hier, manche werden zornig und stecken dich dafür in einen Kochtopf!“ Nalani runzelte die Stirn.

„Ich kenne niemanden, der ein kleines Kind wegen so etwas kochen würde,“ meinte sie verblüfft.

„Aber tot gemacht, Kopfi ab,“ machte die ältere Tochter wichtig nickend. Die Mutter keuchte.

„Um Himmels Willen. Hat dein Vater dir das erzählt?!“

„Vati hat gesagt, der König macht bei Leuten Kopfi ab, wenn sie nicht brav sind!“ Nalani hustete. Na, das war aber ein umsichtiger Vater. Die schwarzhaarige Mutter verbeugte sich förmlich.

„Entschuldigt bitte, dass meine Tochter eine so lockere Zunge hat.“

„Ist doch schon gut,“ meinte Nalani und lächelte, „Wer einem kleinen Kind wegen so etwas zürnt, ist doch nicht ganz gar im Kopf, bei allem Respekt.“ Jetzt lächelte die Mutter auch und hielt sich kurz ihren runden Bauch.

„So etwas höre ich selten von den edlen Leuten. Wie erfreulich. Kommt jetzt, ihr zwei, es wird schon duster, wir müssen heim! Vater fragt sich bestimmt schon, wo wir sind, und ihr seid ganz nass vom Herumtollen im Schnee!“

„Gehst du auch heim, Frau?“ strahlte das Mädchen Nalani an, und Nalani lachte.

„Ja… muss ich wohl. Ich möchte nicht, aber ich muss trotzdem.“

„Wieso willst du nicht?“ fragte das Kind, und die Mutter seufzte. Diese Fragerei! Nalani seufzte kurz.

„Weil… mein Mann ein Idiot ist und ich keine Lust habe, zu ihm zu gehen.“ Das Mädchen verstand das nicht richtig, die Mutter schon eher, und sie seufzte traurig. Wie gut, dass es unter den ärmeren Leuten nicht so verbreitet war, Leute zwangsmäßig zu verheiraten.

„Das tut mir leid,“ sagte sie daher, und das kleine Mädchen plapperte munter weiter:

„Wieso ist er ein Idiot? Hat er Doofe Kuh zu dir gesagt? Akritok hat zu mir Doofe Kuh gesagt, ich hab ihn gehauen!“ Nalani musste unwillkürlich lachen und die Mutter hustete.

Oh ja, gehauen hatte sie Tabari auch…

„Nein, er hat nicht Doofe Kuh gesagt… das ist schwer zu erklären. Er möchte, dass ich ein Baby bekomme, aber ich möchte keins.“ Die Mutter sah so mitleidig aus, dass Nalani fürchtete, sie würde zu weinen anfangen. Diese Frau war so nett, Nalani hätte sie gerne umarmt, das kam ihr dann aber doch unpassend vor.

„Mutti hat ein Baby!“ sagte die Kleine stolz und zeigte auf den Bauch ihrer Mutter, „Im Frühling kommt es!“ Nalani lächelte. Ja, das sah sie.

„Viel Glück Euch und Eurer Familie,“ sagte sie höflich, und die Frau starrte sie erschrocken über so viel Höflichkeit an.

„Der Himmel möge Euch mehr Glück bringen,“ murmelte sie dann überwältigt und Nalani lächelte.

„Es wird schon. Jetzt kommt rasch heim, bevor Euer Mann sich sorgt, Frau. Alles Gute, auch den beiden Mädchen.“ Sie lächelte den beiden Kleinen zu und die Ältere winkte fröhlich, als Nalani sich auf den Heimweg machte.
 

Der König machte also denen den Kopf ab, die nicht brav waren. Ja, das sah Kelar ähnlich, dem selbsternannten König von Lyrien, dachte Nalani sich grantig, als sie zurück ins Schloss gekehrt war und sich in ihrem Schlafzimmer für das Bett fertig machte. Tabari war noch nicht da. Sie beide gingen sich aus dem Weg seit der Sache mit Tasdyna. Kiuk und Sukutai ließ Nalani in letzter Zeit etwas unter sich; die beiden sollten ihre Beziehung genießen und sich in Ruhe lieb haben, sie wollte sich nicht dazwischen drängen, auch wenn sie sicher war, dass keiner von beiden sie als störend empfunden hätte. Sie drei verstanden sich sehr gut. Aber sie hatte ohnehin momentan keine Lust, mit ihren beiden Freunden etwas zu machen, ihre Gedanken hingen viel mehr an ihren Wasserzaubern oder an ihrem merkwürdigen Mann.

Tabari war sehr in sich gekehrt gewesen im vergangenen Mond. Er hatte kaum mit ihr gesprochen, hatte sie aber auch nicht böse angesehen oder ihr sonst wie signalisiert, dass er wütend wäre. Und wenn er wütend auf sie wäre, wäre es ihr gleich. Er kümmerte sich ohnehin nicht um sie, sein Vater und dessen Anerkennung waren ihm ja viel wichtiger.

Was scherte es sie, um was er sich kümmerte? Er war ihr auch egal… er war seltsam und sie verstand ihn nicht. Sie hatte es lange versucht, aber inzwischen war sie auf dem Weg, es aufzugeben. Sie würde wohl bis ans Ende ihres Lebens seine Frau und Mutter seiner Missgeburten sein, wenn sie es denn tatsächlich dazu kommen lassen müsste…

Unwillkürlich dachte sie schaudernd an Kelar zurück und an den grauenhaften Moment im Keller.

„Wenn Tabari zu dumm dafür ist, dich mit Leben zu füllen, werde ich es selbst tun…“

Sie erstarrte.

Nein! dachte sie panisch und sprang mit einem Satz auf, als sie ihr Nachthemd noch in den Händen hielt und nackt im Schlafzimmer stand. Wenn sie nicht schwanger wurde, würde er wiederkommen… und dafür sorgen, dass sie nicht mehr entkam, bis er hatte, was er wollte, dessen war sie sicher. Und er war der Herr der Geister – um ihn zu besiegen, fehlte es ihr definitiv an Erfahrung, egal, wie talentiert man sie nannte. Wenn er wieder käme, wäre sie verloren…
 

Plötzlich ging die Tür auf und Nalani fuhr panisch herum in der Befürchtung, es wäre Kelar; sie war erleichtert, als es nur Tabari war, der endlich mal im Schlafzimmer auftauchte.

„Oh,“ machte Tabari und sah sie verblüfft an, in der Tür stehen bleibend, „Ich dachte, du schläfst bereits.“ In den letzten Wochen waren sie sich nie abends begegnet; Nalani war früh schlafen gegangen und wenn Tabari gekommen war, hatte sie schon im Bett gelegen. Jetzt stand sie davor, splitternackt, in den Händen hielt sie das Nachthemd, das sie anziehen wollte. Er erwischte sich dabei, sie etwas länger als nötig anzustarren und mit den Blicken die sanften Konturen ihres weiblichen Körpers nachzufahren. Verdammt… genau deswegen kam er doch immer spät genug, um sie abends nicht mehr wach erleben zu müssen. Nachdem sie bei seinem letzten Versuch vor über einem Monat, seinen Erben zu zeugen, so ausgerastet und panisch geflüchtet war, hatte er es nicht einmal gewagt, sie anzusehen, während sie sich umzog. Mochte ihre Seele noch so kaltherzig sein, ihr Körper war der einer Frau und wenn er schon nie auf seine Kosten kam bei ihr wusste er nicht, wie lange er an sich halten konnte, wenn er zu viel von ihr sah… und er wollte sie nicht verletzen.

Er schloss hastig die Tür hinter sich und wandte ihr errötend den Rücken zu, während sie sich das Nachthemd überzog und sich ebenfalls von ihm weg drehte.

„Wäre dir wohl lieber gewesen, wäre ich schon zu Bett gewesen?“ fragte sie dann kalt, und ein Schauer fuhr ihm über den Rücken beim Klang ihrer Stimme.

„Du verstehst das falsch. Ich dachte, du willst mich sowieso nicht sehen, da erspare ich mir das Du bist widerwärtig von dir, wenn ich erst komme, wenn du schläfst,“ murmelte er verlegen und spürte, wie sein Körper unruhig wurde, als er sich an den Anblick seiner nackten Frau erinnerte, und er schloss bebend die Augen, um sich zu beherrschen.

Er sah so nicht, wie sie erzitterte.

„Ist mir auch gleich,“ murmelte sie, „Gute Nacht, Tabari.“ Mit diesen Worten legte sie sich ins Bett und löschte die Talglampe auf dem Nachttisch. Es wurde duster im Zimmer. Tabari stand noch eine ziemlich lange Weile an derselben Stelle und bewegte sich nicht, bis Nalani ihn dazu aufforderte. „Wolltest du wie ein Storch im Stehen schlafen?“

Er räusperte sich und beeilte sich dann, auf seine Bettseite zu kommen und damit anzufangen, sich auszuziehen. Seine Frau sagte nichts mehr. Im Dunkeln erkannte er nur schwach die Umrisse ihres Körpers im Bett, wie sie da lag und ihm wie gewohnt den Rücken kehrte. Er schnappte unwillkürlich nach Luft, als er wieder an ihren hübschen Körper denken musste. Verdammt… dass er sie zum letzten Mal berührt hatte, war zwei Monde her…

Als die Nervosität zu groß wurde, während er eine Weile schweigend neben ihr gelegen hatte, entschloss er sich tapfer, sie anzusprechen.

„Sag mal… meinst du eigentlich nicht, dass wir… lange nicht beieinander gelegen haben, Nalani…?“ Er wurde immer leiser, als er sah, wie sie bei seinen Worten zusammenfuhr. Tabari wunderte sich. Irgendetwas war mit ihr geschehen, früher hätte sie ihn schon beim Ansetzen des Satzes geschlagen und gefaucht, wie er auf die Idee käme, sie würde sich von ihm besteigen lassen, jetzt… bekam sie Furcht, wenn er das Thema ansprach…

„Hmm,“ machte Nalani nur und antwortete damit weder mit Ja noch mit Nein. Ihr Mann rutschte vorsichtig ein Stück dichter.

„Ich meine damit, ich will mit dir schlafen,“ machte er es leicht gereizt etwas deutlicher, und Nalani bewegte sich nicht, Hmmte wieder nur. Er sah sie ungeduldig von hinten an. Konnte sie nicht wenigstens vernünftig antworten? Sie sagte zwar nicht Ja, aber Nein sagte sie auch nicht… „Ich meine jetzt, heute Nacht,“ sagte er dann und rutschte noch ein Stück dichter. Jetzt bewegte sie sich und rutschte etwas weg.

Aha, das war ja wenigstens das gewohnte Nein.

„Ich möchte heute nicht,“ kam es dann doch von ihr. Tabari schnaubte.

„Ich finde, du strapazierst meine Geduld ein wenig über, Frau,“ knurrte er, „Seit zwei Monden haben wir es kein Mal getan, ich habe mich bis heute niemals beschwert. Ich war sehr geduldig mit dir und habe dich sehr lange in Frieden gelassen, weil ich ja weiß, dass du mich nicht willst, ich finde, du bist mir was schuldig!“

„Von wegen schuldig, bei dir piept’s wohl,“ brummte sie. „Geh weg, nicht heute, Tabari.“ Er dachte nicht daran.

„Du bist eine Frau und stehst in der Gesellschaft unter mir,“ sagte er kalt, „Dafür nimmst du dir ganz schön viel heraus, ehrlich gesagt. Ich richte mich schon unser ganzes Eheleben lang nach dir und deinen Bedürfnissen – na ja, eher Nichtbedürfnissen in diesem Fall – und von dir kommt nicht ein einziger Schritt zurück, findest du das gerecht?“

„Es ist die Zeit des Mondblutes,“ log sie grantig in der Hoffnung, ihn sich damit vom Hals zu halten, das zog eigentlich immer. Aber Tabari schien plötzlich intelligenter geworden zu sein.

„Garantiert nicht, die hattest du vor über einer Woche schon, verkauf mich nicht für dumm,“ erwiderte er und rutschte wieder ein Stück näher, „Ich habe keine Lust mehr auf deine Ausreden, verflucht, es ist so schon unbefriedigend genug, mit dir zu schlafen, wenn man weiß, dass du das nur über dich ergehen lässt, damit ich die Klappe halte! Ich sage das jetzt zum letzten Mal auf die freundliche Art, Nalani, dreh dich um, bitte.“ Nalani drehte sich tatsächlich um, aber nicht, um zuzulassen, dass er sie nahm, sondern um einen schnippischen Kommentar zu liefern:

„Ach, und wenn ich jetzt nicht spure, vergewaltigst du mich, du großer Held?“

„Provozierst du mich?“

„Ich hab keine Angst vor dir, Tabari,“ schnaubte sie, „Du kannst mir gar nichts, du Jammerlappen.“
 

Tabari richtete sich halb auf und starrte sie an.

Jammerlappen. Das hatte er schon mal gehört… schon öfter.

„Kein Wunder, dass du sie nicht beherrschen kannst, sie ist sicher maskuliner als du, du Jammerlappen! Grundgütiger, wieso habe ich das bei deiner Geburt übersehen? Ich hätte dich aussetzen sollen im Hungermond, dann wäre mir die Schande eines Sohnes, der seine Frau nicht mal schwängern kann, erspart geblieben!“

Er biss sich wütend auf die Oberlippe bei dem Gedanken. Verdammt, er war weder weibisch noch ein Jammerlappen! Er sah in Nalanis Augen und sah den Spott darin, ihre ganze Verachtung ihm gegenüber, und es machte ihn plötzlich derartig wütend, dass er zornig zischte und sich dann plötzlich über sie rollte, gewaltsam ihre Hände packte und sie ans Bett pinnte, damit sie ihn nicht schlagen konnte.

„Wage es nicht, in diesem Ton mit mir zu sprechen!“ brüllte er sie wutentbrannt an, „Und du solltest mich besser fürchten, verdammt noch mal, ich bin stinksauer und ich werde nicht länger Rücksicht auf deinen Firlefanz nehmen!“ Nalani keuchte und starrte ihn fassungslos vor Schreck an, ehe er sich wütend herunter beugte und in ihren Hals biss. Sie zappelte und versuchte, ihn von sich herunter zu schubsen, aber er hielt sie fest.

„Aufhören!“ kreischte sie und zappelte heftiger, als sie spürte, wie seine Zunge ihre Haut streichelte, und ein grausiger Schauer durchfuhr ihren ganzen Körper.

Da war er wieder, der Keller. Und über ihr das blutrünstige Monster, das gewaltsam versuchte, sie zu nehmen, ihr wehzutun. Sie stieß einen panischen Schrei aus und riss mit aller Kraft ihre Hände aus seinem Griff los, bevor sie ihm eine schallende Ohrfeige verpasste mit solcher Wucht, dass sie ihn glatt von sich herunter warf. Tabari hustete und starrte sie verblüfft an, als sie aus dem Bett sprang und panisch vor ihm zurückwich.

Da war sie wieder, ihre Furcht, und er war genauso entsetzt wie beim letzten Mal, während er nach seiner brennenden Wange fasste. Was war mit ihr los?

„Scher dich weg!“ kreischte sie vollkommen außer sich und rannte hysterisch zur Tür, „Verschwinde endlich, lass mich endlich in Frieden! Ich hasse dich, ich will dich nie wieder sehen, du abscheuliche Bestie!“ Tabari erhob sich langsam und sah sie fassungslos an. In diesem Moment war es, dass ihm aufging, dass sie gar nicht mit ihm sprach. Sie meinte irgendwen anderes, irgendwen, den sie fürchtete.

Und plötzlich machte es mehr Sinn.
 

Er packte ihre Arme, als sie im Begriff war, aus dem Zimmer zu stürzen, und sie fuhr zu ihm herum und starrte ihn wie wahnsinnig an, als er sie energisch festhielt. Sein Zorn war verflogen und Nalani war entsetzt, als es plötzlich Sorge war, die sie in seinen Augen sah.

„Um Himmels Willen, Nalani,“ keuchte er, „Wer hat dir was angetan?! Wer hat dich verletzt, dass du ihn jetzt fürchten musst?! Sag es mir und ich sorge dafür, dass er seine Strafe bekommt… dass er es wagt, meine Frau anzurühren!“ Nalani schnappte nach Luft.

Was sagte er da?

War das Tabari, der das zu ihr sagte? Der bereit war, für sie etwas zu tun?

„Wer bist du und was hast du mit meinem egoistischen Mann gemacht?“
 

Tabari zog sie vorsichtig wieder ins Zimmer. Sie erschauderte, als er sie plötzlich in seine Arme zog. Mit Schrecken stellte sie fest, dass es angenehm warm an seiner Brust war, und sie ließ zu, dass er sie umarmte, während sie zitternd die Stirn gegen seinen Oberkörper lehnte. Mit einem Mal wich ihre Panik einer tiefen Verzweiflung und Traurigkeit, und sie musste sich beherrschen, um nicht zu weinen anzufangen. Sie wollte nicht vor ihm weinen, sie wollte stark sein… sie durfte keine Schwäche zeigen und ihm zeigen, dass er fähig war, sie zu beherrschen… das durfte er nicht glauben, niemals!

„Lass mich los,“ murmelte sie, „Es geht mir gut, es ist alles in Ordnung.“

„Nichts ist in Ordnung,“ widersprach er und ließ sie nicht los. „Du verschweigst mir etwas, sprich. Was ist passiert? Ich merke doch, dass du dich verändert hast… du hast nicht vor mir Angst, Nalani, aber dennoch läufst du davon, wenn ich dir zu nahe komme.“

„Sowas merkst du…?“ murmelte sie schnippisch, ohne das Gesicht von seiner Brust zu heben. Er seufzte und senkte den Kopf, um ihn leicht auf ihren zu legen.

„Sprich mit mir,“ flüsterte er, „Hat dir jemand wehgetan?“ Sie erzitterte.

Ja, dein verdammter Vater, du Arsch, dachte sie, aber sie schluckte den Satz noch herunter und hütete sich, ihn auszusprechen. Wer wusste, was geschah, wenn sie es ihm sagte? Er würde ihr vielleicht nicht glauben, weil er wusste, dass sie ihn gegen Kelar aufbringen wollte. Und wenn es ihm tatsächlich endlich die Augen öffnen würde, wäre es auf eine brutale Weise. Nein… sie hatte auch ihre Würde. Sie würde nie darüber sprechen, denn täte sie es, würde sie Kelar nur einen widerwärtigen Gefallen tun, wenn er mitbekam, dass sie an seiner Grausamkeit zerbrach. Sie würde ihm diesen Gefallen niemals tun und er würde sich ärgern, dass sie es einfach wegsteckte.

„Es ist schon gut,“ meinte sie daher nur dumpf. „Es hat mir niemand wehgetan. Ich bin stark, mir tut nichts weh.“

„Du lügst…“ Tabari lachte bitter, und sie errötete unwillkürlich, als er sie etwas fester an sich drückte und mit der Hand flüchtig durch ihre schwarzen Haare streichelte. „Aber wenn du es um keinen Preis sagen möchtest, akzeptiere ich das.“ Er ließ sie jetzt los und schob sie etwas weg, um ihr ins Gesicht zu sehen. „Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich habe mich eben wie ein Idiot benommen, ich hätte dir nie wehtun dürfen. Vergib mir, meine Frau.“ Und dann verneigte er sich tatsächlich vor ihr und sie starrte ihn ungläubig und noch benommen von der angenehmen Wärme seines Körpers an. Was war hier los?
 

Ihr kam die Welt verkehrt vor, als sie sich beide wieder ins Bett legten und Nalani ihm jetzt nicht den Rücken kehrte. Sie empfand plötzlich keinen Groll mehr gegen ihn, er war wie ausgewechselt und sie war es irgendwie auch… ihr Trotz und ihr Starrsinn hatten sich verabschiedet, sie wusste nur nich, wohin. Sie sah ihren Mann an, der dicht neben ihr lag und sie ebenfalls schweigend und ganz in Ruhe ansah.

„Was ist nur los mit uns?“ murmelte Nalani dann dumpf und betrachtete ihn eine Weile. „Wieso hassen wir uns so und… wieso tun wir es jetzt gerade nicht…?“

„Ich hasse dich nicht,“ sagte er leise und senkte irgendwie verlegen seinen Blick. Nalani verstand sein Verhalten nicht und Tabari spürte eine unangenehme Röte in sein Gesicht kriechen. Nein, er hasste sie nicht. Und im Moment war sie ihm nicht mal lästig und er spürte das seltene Bedürfnis, sie einfach zu umarmen und zärtlich zu ihr zu sein. Wenn er sie sonst berührt hatte, war er nicht sonderlich zärtlich oder gar liebevoll gewesen, weil sie sowieso nicht füreinander empfanden; sie beide hatten es eben über sich gebracht und fertig.

Aber jetzt war die Welt verkehrt.
 

Er rutschte zu ihr heran und zog sie vorsichtig in seine Arme, obwohl er etwas erstaunt war, dass sie es tatsächlich zuließ. Und nicht nur das, seine Frau hob das Gesicht zu seinem und legte sanft ihre weichen Lippen auf seine, um ihn zu küssen. Das war eine Sensation – sie küsste ihn freiwillig, das hatte sie noch nie getan. Er spürte einen eigenartigen Schauer über sich kommen, als er ihren zärtlichen Kuss erwiderte und seine Hände begannen, sanft über ihre Schultern und ihre Oberarme zu streicheln. Erstaunlicherweise drückte sie sich plötzlich sanft gegen seinen Körper und hob ein Bein, um es über seine Beine zu legen, und er löste sich leise keuchend aus dem Kuss.

„D-du hast es dir anders überlegt…?“ stammelte er, denn diese Geste war mehr als eindeutig gewesen, während ihre Unterkörper sich kurz streiften, als sie sich noch etwas dichter an ihn zog. Sie drehte errötend das Gesicht nach unten.

Schaudernd dachte sie wieder an ihren Schwiegervater. Wenn sie nicht bald schwanger wurde, würde er wieder kommen… sie konnte sich jetzt entscheiden, ob sie ein Kind von Tabari empfangen würde oder einen Bastard dieses Monsters, wenn er die Geduld mit ihr verlor. Die Wahl war nicht schwer… zumindest nicht in dem Moment.

„Ich war auch ungerecht,“ gab sie dumpf zu hören und er schluckte. „Im Moment bin ich kein bisschen wütend auf dich… ich weiß nicht, wann das wieder vorkommen wird, also sollten wir diese Nacht ausnutzen. Lass uns… noch mal probieren, ein Kind zu bekommen.“

Es war merkwürdig und ungewohnt und ein Schwall von seltsamen Empfindungen durchströmte sie beide, als sie sich ein weiteres Mal küssten. Nalani legte sich auf den Rücken und zog ihren Mann auch sich, wo er sich mit den Armen am Bett abstützte. Ihre Hände fuhren langsam und so sanft wie noch nie über seinen Bauch und seine Brust, strichen langsam das dünne Oberteil seines Schlafanzugs nach oben. Sie lösten sich kurz voneinander, damit er sich das Oberteil ausziehen konnte, und Nalani keuchte kurz, als er sich aufsetzte und ihr Nachthemd nach oben schob, um mit geweiteten Augen ihren nackten Körper darunter zu betrachten, als sehe er sie zum ersten Mal.

„Ich habe… dir glaube ich nie gesagt, dass du schön bist, Nalani…“ murmelte er benommen, als sie sich mit etwas Mühe selbst ganz aus ihrem Hemd schälte und es achtlos auf den Boden warf.

„Sprich nicht,“ bat sie leise und legte die Arme um seinen nackten Oberkörper. Ungeahnt energisch zerrte sie ihn zu sich herunter und zog ihn in einen weiteren, innigen Zungenkuss, hörte ihn über sich verblüfft keuchen, während ihre Lippen sich sanft und doch auf seltsame Art verlangend gegeneinander pressten. Nalanis Hände fuhren über seinen Rücken zu seinen Seiten, dann weiter hinunter zum Bund seiner Hose, als sie den Kuss beendeten und er sich über ihren Busen beugte, um mit der Zunge über ihre Brüste zu fahren. Sie stöhnte leise und spürte eine Welle aus Hitze über ihren Körper schwappen, als seine Hände ihre Haut berührten und sie begann, seine Hose nach unten zu zerren. Er ließ kurz von ihr ab, um sich selbst ganz auszuziehen und Zeit zu sparen, ehe er sich wieder auf sie legte. Sie reckte vorsichtig den Kopf und fuhr mit der Zunge über seine Brust, als seine Hände ihre Hüften und ihren Bauch streichelten, als würde er den Kindeskeim durch Beschwörung in ihren Bauch bekommen. Sie seufzte leise und erzitterte unter seinen Berührungen, als sie den Kopf wieder zurück ins Kissen lehnte und zuließ, dass er sich zwischen ihre Schenkel legte. Er war hart und heiß zwischen ihren Beinen wie eine Metallstange, die man ins Feuer gehalten hatte, und Nalani stöhnte, als sie sich fühlte, als würde er ihren Unterleib ebenfalls verbrennen. Keuchend klammerte sie sich an ihn und zog ihn energisch an sich heran, damit er den letzten Abstand zwischen ihnen überwand und sie langsam ausfüllte, wie er es oft getan hatte; aber dieses mal war es anders. Zum ersten Mal ärgerte Nalani sich nicht darüber, dass ihr Körper nach der Vereinigung verlangte, und sie ließ zu, dass sie Hitze empfand, als sie sich heftig miteinander zu bewegen begannen. Sie presste sich heftig atmend gegen ihn und er strich mit den Händen über ihren nackten Körper und hinterließ dabei Spuren aus Feuer auf ihrer Haut, sodass sie schrie. Er erstickte ihren Schrei mit einem Kuss, während er sich weiter bewegte, und hielt sie fest, als sie ob des mächtigen Feuers wild um sich schlug und schließlich mit den Beinen seinen Rumpf umschlang, ihn an sich heran zerrend. Er war sehr positiv überrascht von der Intensität, mit der sie plötzlich mitging, und es steigerte seine Erregung, dass sie zum ersten Mal tatsächlich Feuer zu spüren schien, wenn er mit ihr schlief. Und er brachte ihr Feuer, als er sich tiefer bewegte und sie unter ihm laut stöhnend zusammenfuhr in dem Moment, in dem er sich in ihr ergoss. Sie spürte einen Schauer aus purer Hitze über sich kommen und krallte sich japsend an Tabaris Rücken fest, als sie mit einem Mal ein ungewohnt angenehmes Gefühl der Euphorie umfing, einem so mächtigen Glücksgefühl, wie sie es noch nie zuvor empfunden hatte. Es trieb sie hoch in den Himmel und sie hatte das Gefühl, nach den Sternen greifen zu können, bis die Hitze in ihr langsam abebbte und sie erschöpft und glücklich zurück ins Bett fiel, wo sie keuchend liegen blieb. Tabari rollte sich stöhnend von ihr herunter und sie lagen eine Weile heftig atmend einfach nur da, ohne zu sprechen oder sich anzusehen. Dann griff Tabari seufzend nach der Bettdecke und schlug sie über sich und seine Frau, während sie sich zum ersten Mal, seit sie verheiratet waren, zu ihm drehte und sich vorsichtig gegen ihn kuschelte, als sie zusammen nackt unter der Decke lagen. Zum ersten Mal hatte sie etwas empfunden dabei… zum ersten Mal hatte sie das Bedürfnis, in seinen Armen einzuschlafen. Seine Brust war immer noch so angenehm warm…

„Stört es dich, wenn ich so schlafe?“ fragte sie leise, und er sah sie verblüfft an.

„Stören? Was? Unsinn… es ist… bleib ruhig da.“ Er räusperte sich ebenfalls etwas außer Atem und rutschte dann noch ein Stück dichter zu ihr hin, als sie den Kopf sanft gegen seine Brust lehnte. Er fühlte sich auch wohl; zum ersten Mal hatte er das Gefühl, bei Nalani etwas nicht falsch gemacht zu haben…

Die Welt stand eben Kopf.
 

Der Schnee blieb liegen, als der Hungermond und der Neujahrsmond längst vorbei waren und eigentlich der Frühling kommen sollte. Die Geister dachten sich wohl, den Frühling in dem Jahr ausfallen zu lassen und statt der lang ersehnten ersten Wärme des Jahres kam nur ein neuer Kälteeinbruch, der den Boden bis diverse Zoll hinunter gefrieren ließ. Besonders auswirken tat sich der lange, harte Winter auf die Bevölkerungszahl in Lyrien. Dank der vorausgegangenen grausigen Ernte hatte die Nahrungsknappheit das Volk so stark reduziert wie es bisher kein in den Annalen notierter Winter geschafft hatte. Die unruhigen und verängstigten Menschen sammelten sich zornig zu neuen Aufständen, weil sie meinten, die neue Regierung und die Auflösung des Senats wären Schuld am Unglück.

„Selbst unter dem verkorksten Haufen alter Männer, die nur geredet haben, ging es uns besser!“ schimpften die Bauern, „Aber jetzt sterben unsere Kinder und Alten und hunderte von Säuglingen mussten ausgesetzt werden im Hungermond, damit sie den Frauen nicht das Leben aus den Brüsten saugen! Findet ihr das gerecht? Ist das euer großes, neues Land?!“

Kelar Lyra hatte überhaupt keine Probleme damit, den Spieß einfach umzudrehen und so alle schuld von sich zu weisen.

„Wenn die Kinder, Alten und Säuglinge sterben mussten, dann waren sie zu schwach für das Land, für das Leben, das noch sehr viel härter werden wird als es dieser harmlose Winter war! Wer jetzt schon versagt, kann eben einpacken, es ist der Wille der Geister! Und ihr werdet ja wohl nicht wagen, euch den Geistern zu widersetzen…?“ Die Bauern waren darauf noch verängstigter und wagten nicht mehr zu sprechen. „Nein, die Geister zürnen nur denjenigen, die nicht mit ganzem Herzen hinter dem – meinem – Land stehen wollen, die innerlich zaudern, sich zu unterwerfen! Ich bin barmherzig… ich könnte euch alle samt mit dem Tode bestrafen für eure Gedanken, für eure widerwärtigen Aufstände, die mir nichts anhaben können… aber ich werde es nicht tun…“ Er reckte herrisch grinsend den Kopf und die Männer mit den Mistgabeln fuhren erbleichend zurück, als er seine diabolischen Eckzähne bleckte und sein mörderischer Blick sie beinahe aufzuspießen schien.

Er war nicht nur ein sehr mächtiger Herr der Geister, er war definitiv ein Monster.

„Ich werde nur verlangen, dass ihr kniet!“
 

Und sie knieten.

Wer nicht kniete, bezahlte mit seinem Leben oder schlimmerem. Kelar genoss seine Macht, während er oft in Yiara war, um sein Land zu verwalten, wie er es nannte – aber mit wirklicher Verwaltung hatte das, was er tat, wenig zu tun. Und mehr denn je ärgerte er sich darüber, so auf seine Frau angewiesen zu sein, obwohl er sie verabscheute und nur wegen ihrer Sehkraft überhaupt noch mit ihr sprach. Und er brauchte ihre Visionen, die besser und deutlicher waren als seine eigenen, obwohl er der Herr der Geister war, der mächtigste Schamane Tharrs; das ärgerte ihn zusätzlich, aber diesen Umstand war er schon so gewohnt, das er das tapfer schlucken konnte. Salihah war immer die bessere Seherin von ihnen beiden gewesen und ihre Sehkraft war besser als die aller Geisterjäger, die Kelar je getroffen hatte, zusammen. Obwohl er das Gefühl hatte, dass seine immer noch wunderschöne und kaltherzige Frau langsam zu schwächeln begann, ihr Blick reichte nicht mehr so weit wie früher, als hätte sich ein Schleier vor ihre Augen gelegt.

Und Salihah konnte genauso wenig ohne ihn wie er ohne sie. Zu lange waren sie aneinander gebunden gewesen, als dass sie das Band jetzt mit Gewalt hätten lösen können… und sie überwachte bei der Gelegenheit Kelars Arbeit in Yiara oder eher seine nicht vorhandene Arbeit; ein letzter, krampfhafter Versuch, die Bestie in Ketten zu legen, bevor sie alles in Schutt und Asche legen könnte wie ein bösartiger Waldbrand, den niemand zu löschen vermochte.
 

„Die Bevölkerung nimmt nicht zu, sondern ab,“ behauptete Salihah am Ende des Frühlingsmondes genervt, als sie im ehemaligen Senat von Yiara bei ihrem Mann am Schreibtisch stand und unter ihren linken Arm einen Haufen Papierrollen klemmte. Ein Pergament hatte sie in den Händen, die aktuellste Auswertung der Volkszählung, für die einige der treuen (knienden) Untertanen durch das ganze Land geschickt worden waren. „Im Vergleich zum letzten Frühjahr ist das ganze Volk beinahe um ein Drittel geschrumpft.“ Kelar saß vor ihr an seinem Schreibtisch und malte auf einer neuen Landkarte weitere ausgerottete Dörfer schwarz an.

„Na und?“ brummte er. Salihah schnaubte.

„Das heißt, das ist schlecht, du Narr,“ meinte sie, „Ein Herrscher, unter dem das Volk nicht wächst und gedeiht sondern schrumpft, kann doch kein guter Herrscher sein, geht denn das nicht in deinen stählernen Schädel?“

„Pff, Volk!“ schnaubte er ebenfalls und malte ein weiteres Dorf grantig an, bevor er leise zu lachen begann. Salihah beunruhigte sein irres Lachen. „Was schert mich das Volk, was scheren mich die Tattergreise und die nutzlosen Windelkinder, die verreckt sind?! Sie waren eben zu schwach, in Zukunft werden Frauen aus Lyrien nur noch starke Kinder gebären, die solche Winter durchhalten! Tun sie es nicht, ist es doch nicht mein Problem!“

„Doch, das ist es, denn in fünfzehn Jahren werden dir diese Kinder als Arbeiter fehlen,“ schnarrte seine Frau, legte die Papierrollen unsanft auf seinen Schreibtisch und zog die oberste Schublade heraus, aus der sie die Augen verdrehend eine kleine Flasche mit Laudanum holte. „Ich kriege Kopfschmerzen von deiner Torheit, Kelar, du kannst dich nicht hier hinsetzen und deine Macht genießen, du musst schon etwas tun, damit das alles funktioniert! Die Brötchen des Bäckers backen sich schließlich auch nicht alleine!“

„Nimm deine blöden Papiere von meiner Karte und vergleiche mich nicht mit einem Bäcker, du Hure,“ zischte er verärgert, während sie aus einem Schrank an der Wand ein Weinglas schnappte und sich Laudanum einschenkte, das sie mit einem Wasserzauber verdünnte und sich dann in den Hals kippte. Sie seufzte zufrieden, als das angenehm taube Gefühl der Schmerzlosigkeit ihren Kopf durchströmte und Kelars Stimme plötzlich nicht mehr so schneidend und schmerzend klang. Er seinerseits lehnte sich in seinem Sessel zurück und grinste sie gehässig an. „Meine Güte, bist du tief gesunken, Salihah, langsam bist du auf deine Medizin ja geiler als auf deinen Liebling Chimalis, was?!“ Sie sah ihn mit trüben Augen und benommen vom Rausch der Droge an, und ein ebenso diabolisches Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

„Erst treibst du mich mit dem verfluchten Laudanum in den Wahnsinn, indem du es mir vor die Nase stellst, und dann wunderst du dich, dass ich darüber herfalle? Du bist gut… ich bin nicht geil auf die Medizin, ich versuche nur, klar zu denken, weil du es schon nicht tust und weil ich es mit den verdammten Kopfschmerzen nicht kann.“ Kelar schnaubte und malte weiter in aller Ruhe auf seiner Karte herum. „Nun, die abnehmende Bevölkerung ist eine Sache, die zweite und dringendere ist die Außenpolitik,“ fuhr die Frau dann fort, ging wieder zum Tisch und stützte sich an der Platte ab. „Dein Lyrien ist kein eigenes Land, de facto sind wir eine Provinz des Landes Kisara und sind dem König von Kisara untergeordnet und zu gehorsam verpflichtet. Ich weiß, das passt dir nicht, aber versuch gar nicht erst, Lyrien von Kisara zu trennen oder unabhängig zu machen! Es würde blutig enden, das sage ich dir, denn dieser König kann die Armeen von acht Provinzen auf unsere eine Provinz hetzen, wenn ihm nicht passt, was du treibst. Bei aller Euphorie über deine Macht über diese Provinz solltest du daran denken, dich mit dem König gut zu stellen, und genau dafür waren die Senatoren da, die du getötet hast. Der König in Vialla erwartet von uns Berichte über die Verwaltung Dokahsans, kommenden Mond findet in der Hauptstadt unten eine Ratsversammlung der Senatoren statt, bei der aus allen Provinzen Männer ins Schloss des Königs kommen und besprochen wird, was zu tun ist und was wo los ist.“

Kelar Lyra sah stirnrunzelnd von seiner Karte auf.

„Na und?!“ fluchte er abermals.

„Wir haben keinen Senat, wir haben niemanden, der da hingehen könnte, also musst du es selbst tun als selbsternannter Herrscher dieser Provinz. Du musst nach Vialla gehen und dem König Bericht erstatten.“ Ihr Mann schnaubte.

„Der König ist nicht mein König!“ zischte er grantig, und Salihah verengte die Augen. Das hatte sie befürchtet… das war nicht gut. „Der König kann mich mal kreuzweise und was diese Senatoren der anderen Länder machen geht mir am Arsch vorbei! Provinz, du nennst mein Land, das Vaterland und die Wiege der Schamanen, also eine Provinz! Wir sind zu besserem, höherem bestimmt als dazu, eine verdammte Provinz eines dämlichen Landes zu sein, das auch noch on einem Nichtmagier reagiert wird! Oh nein, ich werde garantiert nichts dazu beitragen, dass der König glaubt, ich würde mich ihm zu Füßen legen, niemals! Soll er doch kommen mit seinen acht Armeen, die Menschen fürchten uns, hah! Sie fürchten sogar dich, eine harmlose Frau, nachdem du den Gouverneur von Anthurien gebraten hast, die können uns nichts! Mit uns ist die Macht der Geister, die Macht der Mächte der Schöpfung! Du glaubst doch nicht, dass eine Armee hirnloser Affen die Mächte des Himmels und der Erde bezwingen kann!“ Er lachte laut auf und sie schnaubte.

„Spiel nicht mit deinen Gaben, Kelar,“ warnte sie ihn, „das ist ein sehr böses Spiel, das du gerade im Kopf hast, denk nicht einmal daran! Wir können Dokahsan nicht von Kisara abspalten, wir haben einen uralten Vertrag geschlossen mit den Menschen von Kisara und sind unabänderlich ein Teil dieses Landes, der König mag uns fürchten und respektieren, wie es die Gesetze verlangen, aber er wird uns nicht schaden, solange wir ihm auch nicht schaden, so sind wir einander nützlich!“

„Pah!“ brüllte er und erhob sich, „Unabänderlich? Das werden wir ja sehen, wenn ich in diesem Misthaufen von Senatshaus diesen Vertrag gefunden habe, zerreiße ich ihn vor des Königs Augen in Stücke, da soll er sehen, was er mit mir macht! Ich ordne mich diesem Schwachkopf nicht unter, er hat immerhin zugesehen, wie der Wichser aus Anthurien versucht hat, uns auszurotten! Das war dem Scheißkerl recht, dafür wird er bluten, von wegen sie tun uns nichts, wenn wir ihnen nichts tun, diese Leute in Vialla sind eingebildete Schnösel und Rassisten und du weißt das genauso gut wie ich! Nicht nur wir Schamanen, die Lianer haben da auch drunter zu leiden, die schieben sie zwischen Kisara und Janami hin und her, ich werde mich sicher nicht diesen Schweinen unterwerfen!“

„Das ist Wahnsinn, nicht alle Menschen sind so und wir sollten darüber stehen als von den Geistern bevorzugtes Volk, denn uns verleihen sie Kräfte, die sie den Menschen nicht geben! Die Menschen beneiden uns und verachten uns deshalb, weil wir besser sind als sie, und wir sollten nachsichtig sein und keinen Krieg vom Zaun brechen. Die Menschen haben uns die gaben gegeben, damit wir Gerechtigkeit schaffen und die Natur im Gleichgewicht halten, nicht, um andere zu unterwerfen.“

„Heh, du sprichst weise, Seherin!“ schnarrte er und kam ihr gefährlich nahe, sie blieb, wo sie war, als er sein Gesicht so dicht vor ihres hielt, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. „Weise und dennoch dumm und veraltet. Mit Pazifismus kommen wir heutzutage nicht mehr weit bei dem Gesindel! Und zum allerletzten Mal… ich werde mich einen feuchten Dreck um den König und seine dämlichen Senatoren kümmern! Sollen die sehen, wo sie bleiben, und es wird ihnen eines Tages leid tun, dass sie uns ausnutzen und unterdrücken wollten… die Menschen sind grausam, sie wollen alles und jeden beherrschen! Dafür werden sie bluten, das schwöre ich!“

Salihah seufzte nur, als er ihr den Rücken kehrte, und sie behielt ihre Gedanken wohlwissend für sich.

Dann bist du den Menschen, die du verurteilst, doch gar nicht so unähnlich…
 

Der Frühling ließ auf sich warten. Noch immer lag Schnee, als der Kälbermond anbrach, obwohl die weiße Decke auf dem Land schon dünner geworden war und die Donne sich jeden Tag etwas länger über den Horizont wagte.

„Die Himmelsgeister verfluchen uns,“ nörgelte Nalani, während sie in der Küche am Tisch saß und vor sich eine Tasse Kaffee stehen hatte. Zoras hatte Salihah bei ihrem letzten Besuch in Tuhuli eine Dose mit dem eigenartigen Pulver mitgegeben, worüber Nalani sich sehr gefreut hatte. Sie hatte das seltsame fremdländische Getränk wirklich vermisst, und irgendwie besserte es ihre miserable Laune tatsächlich etwas.

„Tun sie das wirklich, Herrin?“ fragte der Esel züchtende Küchenjunge verblüfft, der den Abwasch machte. Nalani brummte.

„Sie schicken uns keinen Frühling, das ist Fluch genug, oder nicht? Ich habe es so satt, hier meine Zeit totzuschlagen, wo ja ohnehin jeder kommt und geht wann er Lust hat! – Verzeih, dass ich dir die Ohren volljammern muss, aber mein Mann hört mir ja nicht zu und alle anderen sind ebenfalls weg.“

„Oh, nicht doch, Herrin, jammert mir die Ohren voll, ich bitte Euch darum,“ lachte der Küchenjunge, „Es ist mir eine Ehre, wenn Ihr mich als Zuhörer wählt.“ Er meinte seine Worte völlig ernst und Nalani seufzte und trank einen Schluck Kaffee.

„Ich möchte einen Kuchen backen,“ behauptete sie plötzlich, „Ich möchte einen Kuchen mit frischen Beeren backen, aber es gibt keine verdammten Beeren und das ärgert mich.“

„Ja, das ärgert mich auch, ich hätte auch längst mal einen Kuchen gebacken.“

„Aber es gibt ja keine verdammten Beeren!“ schimpfte die junge Frau weiterhin, und der Küchenjunge wusste darauf nichts Neues zu sagen, so lächelte er nur verwirrt.

Nalani ärgerte sich gar nicht wirklich über den Kuchen, fiel ihr auf, was wollte sie plötzlich mit einem Kuchen? Sie war mit der Gesamtsituation unzufrieden. Das Land verschlechterte sich mit Kelars merkwürdiger Herrschaft, das Volk hungerte und starb dahin und niemand kümmerte sich darum, hatte sie das Gefühl. Tabari war nicht zu Hause, weil sein Vater ihn mit nach Yiara geschleppt hatte, damit er etwas über die Politik und die Herrschaft über Lyrien lernte; Nalani hatte ihn beinahe ausgelacht, als er ihr erzählt hatte, weswegen er nach Yiara ging.

„Du lernst, wie dein Vater Politik betreibt? Das kann dir jeder Bauer sagen, ich kann es auch! Knie nieder oder ab mit dem Kopf!“ Tabari hatte ihr ihren Tadel an seinem Vater wie immer sehr übel genommen, hatte sie als Lügnerin beschimpft und war dann gegangen, seitdem war er in Yiara und sie war wieder einmal froh, ihn nicht sehen oder seine grausame Dumm- und Blindheit ertragen zu müssen. Wie konnte man nur mit solchen Scheuklappen durch das Leben wandeln, ohne zu stolpern? Sie fragte sich, ob Tabari wirklich nicht wusste, was sein Vater für ein Verbrecher war, oder ob er einfach nur pietätvoll war und seinen Vater eben ehrte, wie ein Sohn es normalerweise tat? Aber wie konnte man jemanden reinen Gewissens ehren?

Außerdem war sie froh, dass Kelar und Tabari eine Weile weg waren, weil jetzt niemand darüber meckerte, dass sie immer noch nicht schwanger war. Ihr Mondblut kam unglaublich unregelmäßig seit dem grausamen Winter, aber es kam, des beste Zeichen dafür, dass sie nicht schwanger war. Wenn Kelar das nächste Mal ins Schloss kam und erfuhr, dass sie immer noch Mondblut vergoss, wer wusste, was er dann tun würde? Sie erschauderte bei den Gedanken und trank ungeduldig ihren Kaffee aus.

In dem Moment tauchte Salihah in der Küche auf, eingehüllt in einen schweren und aufwendig verzierten Wintermantel, als wollte sie aufbrechen.

„Wo ist Kiuk?“ fragte sie ihre Schwiegertochter und rieb sich ungeduldig die Schläfen, „Wieso ist er nicht da, wenn man ihn braucht?“ Nalani blinzelte.

„Er ist bei Sukutais Familie in Tasdyna. Ich dachte, das wüsstest du, was ist los? Willst du ausgehen?“ Salihah seufzte, rieb sich hastiger die Schläfen und ging dann eilig durch die Küche an dem Jungen vorbei zum kleinen Küchenschränkchen an der Wand. Nach reichlichem Wühlen in den Schubladen fand sie ein braunes Fläschchen mit Laudanum. Nalani sah ihr konfus zu, wie sie sich mit zitternden Händen ein Glas schnappte und das Schmerzmittel mit Wasser mischte, um sich das Getränk hastig in den Hals zu kippen. „Was ist los, bist du krank…?“

„Es wird schon,“ stöhnte die Frau und atmete tief ein und aus, um die Medizin wirken zu lassen. Dann steckte sie das wieder geschlossene Fläschchen murmelnd in ihre Manteltasche. „Ist ja beinahe leer, Küchenjunge, besorge mir neues Laudanum, die Vorräte gehen zur Neige.“

„Schon wieder?“ machte Nalani verblüfft, ehe der Küchenjunge etwas sagen konnte, „Du nimmst das Zeug viel zu oft, das kann doch nicht gesund sein! Und was wolltest du jetzt von Kiuk?“

„Himmel,“ seufzte sie und schüttelte sich kurz, „Ich muss sofort nach Tuhuli und mit dem Chimalis-Clan sehr wichtiges besprechen. Ich wollte Kiuk mitnehmen, weil Tabari nicht da ist und ich einen von euch brauchen werde, wenn-… ist auch in Ordnung, dann kommst du mit, Nalani. Ich hoffe, es ist in Ordnung für dich, aber bitte begleite mich, es ist von äußerster Dringlichkeit und wenn mein Sohn lieber mit seiner Freundin turtelt, hat er eben Pech gehabt, so sehr ich seine Liebe zur kleinen Sukutai auch befürworte, an allererster Stelle steht immer das Volk.“ Nalani war verwundert. Ihre Schwiegermutter war wirklich aufgewühlt, sie fragte sich, was geschehen sein mochte, dass sie so nervös war. Es war besser, sich zu beeilen.

„Ich hole schnell meinen Mantel, dann kann es sofort losgehen, Mutter.“
 

Nalani war eine ziemlich lange Zeit nicht mehr in Tuhuli gewesen, fiel ihr auf, als sie mit der Kutsche die Straßen passierten und auf das Anwesen der Chimalis‘ zufuhren. Die Stadt hatte sich verändert, auch hier hatten der Winter und der Hunger gewütet. Wo sonst von Leben und Lachen erfüllte Straßen gewesen waren, herrschte jetzt Stille.

Im Anwesen war die Stimmung etwas gereizt. Keisha schenkte am laufenden Band allen Tee ein, selbst dann, wenn die Tassen noch halb voll waren und es nicht nötig gewesen wäre, während alle um den Stubentisch saßen, abgesehen von Tehya und Enola.

„Dann will der Schwachkopf also wirklich dem König die Stirn bieten?“ fragte Zoras Chimalis grantig, als Salihah berichtet hatte, was Kelar zu den Ratsversammlungen gesagt hatte. Nalani war entsetzt – dann war die Politik, die Kelar betrieb, noch schlimmer als sie gedacht hatte. Wie gut, dass sie mitgekommen war, so erfuhr sie gleich alles Wichtige. Selbst der dreizehnjährige Meoran nahm an der Besprechung der Erwachsenen teil. „Das ist ja großartig, unser Land hungert so vor sich hin und der denkt sich, den Vertrag zu verbrennen!“ Der Mann fuhr sich verärgert durch die schwarzen Haare, die ihm ungewöhnlich unordentlich vom Kopf abstanden, als wäre er gerade erst aus dem Bett gefallen. „Als hätten wir nicht genug Ärger.“

„Dann müssen wir auf alle Fälle verhindern, dass er den Vertrag findet,“ meinte Nomboh und aß einen Keks vom Stubentisch, „Wenn er das wirklich tut, haben wir die Soldaten von acht Ländern am Hals und das wird sehr viel ungemütlicher als das mit Anthurien.“

„Das wird er nicht tun, vertrau mir,“ meinte Salihah, „Den Vertrag habe ich schon gefunden und nach Yatoret gebracht, die Stadt ist am südlichsten in Dokahsan und Kelar wird da sicherlich nicht hingehen, und zum Niederbrennen wegen irgendwelcher Aufstände ist Yatoret zu groß. Ich wollte den Vertrag zuerst zu uns ins Schloss bringen, aber ich hielt das Risiko für zu groß, dass Kelar ihn dort zufällig findet. In Yatoret ist der Vertrag erst mal sicher.“

„So ein kleines Stück Pergament bewahrt uns den Frieden…?“ seufzte Nomboh und nahm noch einen Keks. Nalani nahm unwirsch ebenfalls einen Keks und wünschte sich innerlich eine Tomate dazu, die sie um diese Jahreszeit niemals bekommen würde. Nichts hatte sie da von dem, was sie sich wünschte, weder Beeren für einen Kuchen noch eine schöne, rote, reife Tomate zu ihrem Keks!

„Ein Ärger ist das mit den Tomaten,“ murmelte sie zu sich, und Keisha, die neben ihr saß, sah sie blöd an.

„W-wie war das?“

„Ach, schon gut. Ich habe nur laut gedacht, verzeiht bitte.“

„Du liebe Güte,“ stöhnte Zoras Chimalis und fuhr sich nervös durch die Haare, „Der Vertrag, ja, ja, schön, gut, und… ich meine… was machen wir jetzt mit der Ratssitzung? Wir haben keinen Senat mehr, öffentlich bekannt ist das nicht, das heißt, jeder in Vialla wird erwarten, dass jemand von hier kommt.“

„Das ist ein Problem,“ erwiderte Salihah und beobachtete ihn, während sie sprach, wie er sich immer noch nervös über das Gesicht fuhr und dann wieder seine Haare raufte. „Und noch ein größeres Problem wäre, wenn sie herausfänden, dass wir den Senat aufgelöst haben und vor allem, dass unser selbsternannter König keine Ahnung von der Verwaltung hat. Wenn sie diese politische Schwäche bemerken, werden sie wie die Hornissen in Dokahsan einfallen und es wird ein zweites Anthurien geben, wenn nicht schlimmer. Ich werde am besten selbst nach Vialla fahren und dort vor den Rat treten.“

„Das ist völlig unmöglich, Salihahchen – entschuldige, dass ich so dazwischen fahre,“ mischte Zoras sich ein, „Du bist eine Frau, diese allerhöchsten Ratssitzungen der Senatoren vor dem König sind nur Männern zugängig, es gibt keine weiblichen Senatoren und niemand wird dir erlauben, zu sprechen. Außerdem kennen die deine Geschichte mit dem Ölbad in Pinhu, das ist keine gute Idee.“ Salihah blinzelte. Ja, das war irgendwie wahr.

„Und was machen wir dann?“ fragte sie unverblümt. Zoras seufzte.

„Ich werde gehen…“ schlug er vor, „Wir werden zusammen gehen, Salihah. Ich bin kein Politiker und kein guter Redner, du kannst das sehr viel besser als ich. Ich weiß nicht, was Sache ist, und wie ich mit diesen Leuten zu reden habe, du musst mir dabei helfen. Aber du kannst nicht vor den Rat des Königs treten, das werde ich tun müssen.“

„Dann geht ihr beide nach Vialla ohne Kelars Erlaubnis?“ fragte Nomboh, „Er wird euch am Spieß braten, alle beide, und niemand darf diese Provinz verlassen… Kelar wird es erfahren und alles dafür tun, dass ihr nicht hinaus kommt…“ Sein Bruder lachte.

„Entschuldige, aber ich bin auch Geisterjäger! Ich wäre beinahe Herr der Geister geworden, ich denke, ich habe das Zeug dazu, hinter Kelars Rücken hinaus zu gelangen. Die nächste Frage wäre aber, wenn ich da ankomme, werde ich mich wohl als Senator ausgeben müssen; wir Schamanen haben uns nicht in die Politik der Menschen einzumischen und kein Schamane ist jemals Senator gewesen, das ist vor dem Gesetz dieses Landes Kisara gar nicht möglich. Die Leute außerhalb Dokahsans werden wissen, dass Kelar der neue Herrscher des Landes ist, aber sie denken, dass es zusätzlich noch einen Senat gibt, der für die Verwaltung mit zuständig ist. Wenn wir sie nicht wissen lassen dürfen, dass wir in Wahrheit keinen Senat, sondern bloß einen Tyrann haben, werden wir ein Lügenmärchen beginnen müssen und das wird übel.“

„Wir müssen nicht lügen, die Senatoren sind korrupt,“ behauptete Salihah, „Wir kaufen sie uns alle und sie werden schweigen, dafür sorge ich.“

„Man kann nicht jeden Politiker kaufen, meine Liebe,“ machte Zoras Chimalis etwas skeptisch, und sie lehnte sich mit einem eigenartigen Grinsen zurück.

„Man nicht, aber ich kann es. Diese Leute werden uns aus der Hand fressen.“ Nalani zog eine Braue hoch und Nomboh räusperte sich gekünstelt. Salihahs Verhandlungsmethoden waren extrem fraglich, das waren sie schon damals beim Gouverneur von Anthurien gewesen; aber sie funktionierten, wenn nötig mit Nachhilfe.

„Dann ist es beschlossene Sache,“ gab der Führer des Chimalis-Clans sich geschlagen und erhob sich, „Wir haben keine Zeit zu verlieren, wir sollten umgehend aufbrechen, der Weg nach Vialla ist weit. Auf dem Weg nach Süden kommen wir an eurem Schloss vorbei, Salihahchen, dann packst du deine Sachen und wir sind sofort weg. Ich bin sofort wieder da, du und Nalani wartet am besten im Wagen.“
 

„Wie lange werdet ihr fort sein?“ fragte Nalani, als sie auf dem Weg zurück zum Schloss waren.

„Sicher einen halben Mond,“ machte Zoras Chimalis, der gleich mitgekommen war, „Wenn wir uns beeilen und mit ein wenig Hilfe von Salihahs Teleport können wir in fünf Tagen in Vialla sein, bis alles geregelt ist vergehen gewiss einige Tage und dann noch mal fünf Tage zurück.“

„Wieso teleportierst du euch nicht direkt hin?“ wundert Nalani sich an Salihah gewendet, und die frau seufzte.

„Das kann ich natürlich rein theoretisch… aber da die Strecke sehr weit ist, erfordert er eine Menge Kraft; das größte Problem ist, dass Kelar es bemerken würde, wenn ich so viel Macht auf einen Schlag benutze. Er wird sofort wissen, dass es dafür wäre, nach Vialla zu kommen, und wer weiß, was er dann anstellt. Nalani, gib gut acht, während ich weg bin. Beobachte Kelar und pass auf deinen Mann auf, sobald er zurückkommt. Tabari mag unter Kelars Fittichen stehen, er ist aber kein böser Mensch. Ich ärgere mich, weil ich Wochenlang nicht alles kontrollieren und beobachten kann, was Kelar tut… du wirst das jetzt tun müssen, Kiuk wird dir helfen.“

„Was genau sollen wir tun?“

„Gar nichts,“ mischte Zoras sich ein, „Ihn beobachten und einfach nur aufpassen, dass er das Land während unserer Abwesenheit nicht in Schutt und Asche legt.“

„Ich werde mir die größte Mühe geben, ihr beide habt mein Wort.“ Sie verneigte sich und er lachte.

„Du bist so förmlich, immer noch, hör doch endlich damit auf, Nalani.“

„Was ist mit Tehya und Enola? Kommen sie denn ohne Euch zurecht?“

„Natürlich, ich bin viel weg, die kennen das. Nomboh wird auf alle aufpassen, während ich außer Landes bin. Wobei mir das jetzt gerade nicht richtig passt, die beiden alleine zu lassen… Enola hat letzte Nacht zum ersten Mal das Frauenblut vergossen, sie war völlig verzweifelt und hat geglaubt, sie müsste sterben, es hat uns die ganze Nacht und viel Mühe gekostet, sie zu beruhigen; deswegen bin ich auch so unausgeschlafen heute, verzeiht das, ihr beiden.“

„Sie vergießt das Mondblut?“ machte Nalani verdutzt, „Müsst Ihr als ihr Vater Euch dann nicht um das Blutritual kümmern?“

„Ja, aber diese Sache ist noch wichtiger, deswegen hab ich diese meine Verantwortung in die Hände meiner Frau gelegt. Sie wird für Enola einen Mann suchen, der sie zur Frau macht.“

Nalani sah betrübt aus dem Fenster. Bei dem ganzen Gerede von Mondblut spürte sie auch ihren eigenen Unterleib plötzlich leicht unangenehm ziehen und sie strich sich flüchtig über den Bauch. Offenbar bekam sie ihre Blutzeit jetzt auch. Den letzten Mond hatte das Mondblut ausgelassen bei ihr, was sie entsetzt hatte; dass es jetzt wieder kam, war eigenartig, beruhigend und doch aufwühlend zugleich.

Jedenfalls war sie nicht schwanger.
 


 

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So... eigentlich gehörten dieses und das nächste Kapi zusammen, aber... es war so lang, dass ichs geteilt habe x__x' also... jah. o.o das nächste Kapi kommt dann in ein paar Tagen oder so^^'

Blindheit

Das Mondblut kam nicht, aber ihr Unterleib schmerzte trotzdem. Nalani war verwirrt und verärgert darüber, während Salihah fort war und sie nur Kiuk hatte, mit dem sie reden konnte. Als er am Abend zurückkehrte und erfuhr, dass seine Mutter mit Zoras Chimalis nach Vialla fuhr, war er erschrocken.

„Du liebe Güte,“ machte er dabei und fuhr sich genauso wie Zoras am Morgen nervös durch die Haare, „Und wenn Vater das erfährt? Der wird uns lynchen…“

„Solange er und Tabari noch in Yiara sind, haben wir hier wenigstens Ruhe,“ meinte seine Schwägerin, „Wieso wühlst du dir die ganze Zeit in den Haaren herum, bist du nervös?“ Er seufzte.

„Natürlich bin ich nervös, wenn meine Mutter hier ist, fürchte ich Vaters Zorn nicht so, aber wenn sie fort ist…“

„Jetzt sei mal ein Mann,“ Nalani schlug ihm motivierend auf die Schulter, „Du bist fast sechzehn, du kannst dich doch nicht ewig hinter Salihah verkriechen. Was soll deine Freundin Sukutai denn denken?“ Kiuk errötete.

„I-ich verkrieche mich doch gar nicht… also… und… ach, was soll‘s…“ Die Schwarzhaarige verdrehte innerlich lächelnd die Augen. Sobald man Sukutais Namen aussprach, wurde er ganz hibbelig und verlegen, es war ein wirklich amüsierender Anblick. Und Nalanis einziger Lichtblick, wenn sie an die düstere Zeit dachte, die ihnen bevorstand. Salihah war die Einzige, die es je geschafft hatte, Kelar festzuhalten, und Zoras war von allen Geisterjägern der Mächtigste… und jetzt, wo beide fort waren, wer sollte das Monster bändigen, wenn es aufwachte…?
 

Die Nächte waren unruhig, obwohl weder Kelar noch Tabari daheim war. Nalani träumte von brennenden Himmeln, deren Flammen das Land zu zerstören drohten. Das Feuer wechselte seine Farbe von rot über blau zu grün, während die Erde unter ihren Füßen aufbrach und Mutter Erde mit einem tiefen, bösartigen Brüllen ihre Zorn kundtat. Im Inferno des Weltuntergangs hörte Nalani Kelars dreckiges Gelächter.

„Wenn Tabari zu dumm dafür ist, dich mit Leben zu füllen, werde ich es selbst tun…“

In dem Moment wachte sie auf und weinte vor Furcht und ob der grausamen Schmerzen, die sie plötzlich in ihrem Bauch spürte. Sie lag allein im Bett, weil Tabari in Yiara war, und sie rollte sich keuchend auf die Seite und fasste zitternd nach ihrem Unterleib. Was war denn los mit ihr? Sie fühlte sich plötzlich einsam in dem großen Bett ohne ihren idiotischen Mann. Wie gern hätte sie sich jetzt an ihn geschmust wie in jener Nacht, in der sie zum allerersten Mal etwas empfunden hatte, als er es mit ihr getan hatte… sie fühlte sich schutzlos und ihren grausamen Träumen ausgeliefert, genau wie sie Kelar ausgeliefert gewesen war im Keller…

Die Tür öffnete sich leise und Nalani fuhr erschrocken hoch. Zuerst glaubte sie, Tabari wäre zurück, und sie hatte plötzlich das Bedürfnis, sich in seine Arme zu werfen; aber es war nicht Tabari, sondern Kiuk, der völlig konfus ins Zimmer sah.

„Ist alles in Ordnung?“ keuchte er, und als er seine Schwägerin schluchzen hörte, eilte er an ihr Bett und fasste sanft nach ihrem Kopf. „Shh, Nalanichen… w-was ist passiert?“

„Es war nur ein Traum…“ wisperte sie und drehte beschämt über ihren Ausfall den Kopf von ihm weg, „Ich… ich träume böse Dinge, Kiuk… es sieht schlecht aus und… ich… ach, ist schon gut. Mach dir bitte keine Sorgen um mich…“

„Ich habe dich weinen gehört…“ murmelte er bedrückt, „Ist wirklich alles gut? Ich würde dir nur gern helfen, wenn ich es könnte…“ Sie schniefte.

„Es wird schon wieder, ich…“ Sie brach ab und schluckte jetzt ihre Tränen hinunter. Dann senkte sie weit den Kopf, als er sich auf die Bettkante setzte und ihr tröstend über die Haare strich. „Kannst du bei mir bleiben…?“ verlangte sie dann kleinlaut, „Dein Bruder ist nicht da und das macht mich wütend, i-ich würde mich jetzt so gerne von ihm in den Arm nehmen lassen… dieser verfluchte Idiot, was sitzt der in Yiara, während ich weine?! Ich hasse ihn, ich bin stinksauer!“ Kiuk war verwirrt über ihre Stimmungsschwankungen, und er legte sich seufzend zu ihr ins Bett und umarmte sie.

„Ist doch schon gut,“ meinte er, „Reg dich nicht auf, Tabari kann doch auch nichts dafür. Soll ich heute hier schlafen, damit es dir besser geht?“

„Das wäre sehr lieb…“ nuschelte sie und plötzlich schämte sie sich, dass sie so schwächelte und Schutz in den Armen eines Mannes suchte. Aber die Schmerzen klangen ab, als sie friedlich nebeneinander lagen. Als Nalani wieder einschlief, kam kein Traum mehr, um sie zu verfolgen.
 

Kelar hatte keine Ahnung. Er bekam tatsächlich erst als er zum Schloss zurückkehrte mit, dass seine Frau verschwunden war, und zu dieser Zeit war Salihah mit Zoras längst in Vialla. Der Mann tobte und wütete wie ein zorniger Stier und der Rest seiner Familie suchte panisch das Weite, als er plötzlich anfing, mit Möbeln zu werfen und mit seinem Geisterspeer Dinge zu zerstören. Kiuk rettete den Küchenjungen und ein paar andere Bedienstete in den Garten aus Angst, der Vater könnte vor Wut wieder unschuldige Arbeiter umbringen. Tabari, der mit Kelar zurückgekommen war, tat nichts Besseres als schweigend am Rand zu stehen und seinen Vater beim Toben zu beobachten, so war es an der extrem missgelaunten Nalani, sich dazwischen zu stellen.

„Verdammt noch mal, du bist wohl von allen guten Geistern verlassen!“ herrschte sie ihren Schwiegervater an, „Lass die Möbel heil!“ Kelar fluchte und fuhr wutentbrannt zu ihr herum, um mit dem Speer nach ihr zu schlagen, aber die junge Frau wich geschickt aus.

„Wie kannst du es wagen, Wachtel?!“ brüllte er, „Du stellst dich mir in den Weg, das ist etwas, was sich nicht mal Salihah noch traut, und du hast keine Angst?! Ich reiße dich in Stücke, du bist doch Salihahs kleines Mädchen, huh?! Du würdest ihr dienen, du würdest eher dieser gestörten Sadistin dienen, die Männer in Öl badet, nachdem sie sie durchgenommen hat, als vor mir zu knien, habe ich recht?!“

„Ich würde eher zum Himmelsdonner gehen als jemals zu knien!“ brüllte sie, und Kelar war von dieser Antwort so perplex, dass er kurz sprachlos war. Tabari weitete jetzt ebenfalls die Augen.

„Du willst also nicht knien…?“ raunte Kelar dann bedrohlich, „Oh, welche Beleidigung der Himmelsgeister, eine Frau, die nicht knien will… und eine Ehefrau, die nicht gehorcht…!“ Seine letzten Worte galten mehr Tabari, denn er schenkte seinem Sohn einen bösen Blick. „Du erziehst dein Weibsbild nicht richtig, Tabari!“ tadelte er ihn dann, und Tabari erbleichte. Nalani schnappte wütend nach Luft. Der Zorn war so mächtig in ihr, dass ihr schlecht wurde, als sie Kelar länger ansah. „Wieso lehnt sich deine Frau gegen mich auf und du tust nichts dagegen?!“ fauchte der Mann dann weiter, „Komm her, Tabari, jetzt sofort! Komm zu mir!“

„Vater, i-ich tue doch, was ich kann…“ jammerte der Blonde und kam mit unterwürfig geneigtem Kopf brav neben ihn, und er kassierte von seinem Vater eine Kopfnuss.

„Tatsache?!“ herrschte er ihn an und zerrte Tabari am Kragen, dann deutete er mit dem Speer auf Nalani. „Dann schlag sie! Schlag sie für ihren Ungehorsam, wie es deine Pflicht ist als ihr Mann, du Narr!“ Er schubste seinen Sohn zu Nalani und Tabari starrte ihn an.

„Was?! Wieso, sie wollte doch nur die Möbel be-…“

„Die Möbel, verdammt, schlag deine verfluchte Hure, Tabari!“ brüllte Kelar wutentbrannt, „Oder ich werde es selbst tun, wenn du zu dumm dafür bist!“ Nalani keuchte.

„Wenn Tabari zu dumm dafür ist, dich mit Leben zu füllen, werde ich es selbst tun…“

N-nein…! Sie strauchelte und starrte auf ihren Mann, der sich jetzt heftig atmend zu ihr umdrehte und sie mit entsetzten grünen Augen anstarrte. Er konnte sie doch nicht schlagen! Jetzt, wo es gerade halbwegs gut war zwischen ihnen… was verlangte sein Vater von ihm?

„Tu es!“ zischte der ihm da ins Ohr, und Tabari japste, als Kelar ihn mit seinem Speer in den Rücken piekte. „Los, schlag sie, oder ich tu es für dich und zeige dir, wie man mit einer ungehorsamen Frau umgeht…“ Tabari rührte sich nicht. „Ah, gut… das sehe ich dann mal als Nein an…“ Damit schritt er an Tabari vorbei und holte bereits aus, als der Sohn plötzlich schrie und ihn am Ärmel riss.

„Nein, halt! Ich mache es, Vater! Geh zur Seite!“ Kelar grinste gehässig mit erhobenem Arm und trat zur Seite, bevor Tabari sich bösartig wie eine Sturmwolke vor seiner erbleichten Frau aufbäumte. Sie war unfähig, sich zu bewegen.

„Tabari…!“ japste sie leise, und es tat ihm in der Seele weh, wie sie ihn ansah. Er hatte noch nie so viel Entsetzen in ihren Augen gesehen…

Er war ein grauenhafter Mann. Er würde sich später selbst schlagen für das, was er tat.

„Du solltest wissen, wo deine Grenzen sind, Nalani,“ sagte er kaltblütig zu ihr, dann schlug er ihr so hart ins Gesicht, dass sie zu Boden sank.
 

Der Vater verschwand wutentbrannt aus dem Schloss, nahm sich ein Pferd und galoppierte davon; wohin er wollte, wusste niemand, und es war auch allen egal. Kiuk verstand seinen Bruder nicht. Während Nalani auf der Treppe hockte und ihre blutende Nase mit dem Eiszauber Yira kühlte, nahm der Junge Tabari in die Mangel.

„Du mutierst wirklich zu demselben Mistkerl, der Vater auch ist!“ fuhr er seinen älteren Bruder an, und Tabari schnaubte.

„Du hältst dein Maul, du bist jünger als ich und solltest mir Respekt zollen, Bruder!“

„Das hat nichts damit zu tun, dass du deine Frau schlägst und denkst, es wäre in Ordnung! Nur, weil Vater Frauen schlägt, ist das noch lange nicht recht!“

„Früher haben alle Männer ihre Frauen geschlagen, so viel wie unsere Mutter sich Männern gegenüber herausnimmt konnte sich vor hundert Jahren nicht mal eine Königin wagen! Außerdem habe ich Nalani nur beschützen wollen, was denkst du denn, was Vater mit ihr gemacht hätte?! Ich hatte die Wahl, sie selber zu schlagen oder sie von ihm schlagen zu lassen, und jetzt rate mal, was mehr weh tut!“ Kiuk schnaubte und Nalani, deren Nasenbluten aufgehört hatte, erhob sich jetzt.

„Schluss jetzt, ihr Streithähne!“ fauchte sie, zog Kiuk am Arm und warf ihrem Mann einen grantigen Blick zu. „Deine Gedanken sind zumindest ehrenhafter als ich gedacht habe, Tabari, aber denkst du nicht, dass es noch andere Lösungen gegeben hätte?“

„Es tut mir leid, Nalani,“ machte Tabari unglücklich, „Glaub mir, mein Vater hätte dich grün und blau gehauen, du solltest mir danken…“

„Danken werde ich den Geistern des Himmels und der Erde, wenn sie dir endlich die Augen öffnen!“ zischte sie grantig, nahm Kiuk an der Hand und verschwand mit ihm die Treppe hinauf. „Und ich hoffe, du versuchst wenigstens, mit uns zu kooperieren – war doch dein Lieblingswort? – während deine Mutter nicht hier ist, um deinen Vater zu bändigen!“
 

„Was verschafft uns denn diese außergewöhnliche Ehre?“ Nomboh Chimalis‘ Gesicht drückte nicht die geringste Freude oder Höflichkeit aus, als er an der Tür seines Anwesens stand und ihm gegenüber ein vor Zorn schnaubender Kelar. Hinter Nomboh tauchte Keisha im Flur auf und erstarrte beim Anblick des wirklich sehr seltenen Gastes.

„Wo ist dein verdammter Bruder, dieser Schweinehund, der nicht den Anstand hat, seine eigene Frau zu poppen und stattdessen meine nimmt?!“ fauchte der Herr der Geister, „Und du sagst es mir besser sofort, Nomboh, oder ich zerreiße dich und deine Schlampe da hinten in kleine Fetzen!“

„Keinen Schritt in mein Haus,“ warnte Nomboh ihn kalt und stellte sich ihm in den Weg, als er sich Zutritt verschaffen wollte, „Und nenn meine Frau noch einmal eine Schlampe und ich zerreiße dich in Fetzen, Kelar! Ich warne dich, übertreib es nicht! Was willst du von Zoras?“

„Ihm den Hals umdrehen für die Ferkeleien, die er mit meiner verdammten Frau anstellt!“ Er reckte herrisch den Kopf. „So, ich nehme an, er ist nicht hier, wenn du schon zur Türe kommst?! Wo ist er also? Nicht zufällig mit meiner Frau in Vialla, um hinter meinem Rücken mein Land zu verunstalten?!“

„Ich weiß nicht, wo er ist,“ log Nomboh, „Er ist viel unterwegs, und Salihah war lange nicht hier!“

„Verdammt, dann bring mir seine Frau!“ verlangte der Geisterjäger vor ihm garstig, und Nomboh zog eine Braue hoch.

„Tehya? Was willst du denn von Tehya? Wollet ihr, mein Bruder und du, jetzt Frauen tauschen?“

„Ich werde sie vierteilen, bring sie her! Wenn du mir nicht antwortest, wird sie es tun…“

„Das bezweifle ich,“ kam eine Stimme von drinnen, und als alle sich umdrehten, stand Tehya plötzlich auch im Flur. An ihrer Hand klammerte die etwas bleiche Enola.

„Tehya…“ machte Nomboh perplex, und die Frau seines Bruders ging zur Tür, ließ Enola bei Keisha und schob ihren Schwager zur Seite, um sich in voller Größe und mit einer unglaublichen Würde vor dem Herrn der Geister aufzubauen.

„Ihr wollt von mir hören, wo mein Mann ist, nehme ich an?“ fragte sie gefasst, und Kelar schnaubte sie grantig an.

„Du reckst deine Nase ganz schön in die Luft, Tehya,“ feixte er, „Willst du mit Stolz hinnehmen, dass dein mann dich nachts alleine im Bett lässt, um mit meiner Frau zu schlafen?“

„Ich liebe meinen Mann und was er tut, ist recht,“ sagte die Frau erstaunlicherweise, „Ihr könnt sagen, was Ihr wollt, ich werde nicht verraten, wo mein Mann ist!“

„Du wagst es, mir Antworten zu verweigern, du Hure?!“ zischte der Mann und stierte wütend auf sie herunter. Tehya blieb standfest.

„Im Gegensatz zu Salihah habe ich einen ehrbaren Gemahl, der sich um das Wohl der Menschen sorgt, ich bemitleide sie für ihre Last mit Euch. Und Euch sage ich gar nichts, solange mein Mann es nicht von mir verlangt, und der ist nicht hier. Ich werde mit Stolz hier stehen und schweigen, bis er zurückkehrt, wenn es sein muss!“

„Deinen Mann nennst du ehrbar, der meine Frau dir vorzieht? Was bist du denn für eine gestörte Ratte?“

„Kelar, reiß dich zusammen!“ fuhr Nomboh wieder dazwischen, aber Tehya hielt ihn zurück und schnaubte.

„Schert Euch fort aus Tuhuli!“ zischte sie, „Schert Euch fort und wehe Euch, wenn ihr wiederkehrt! Ich vertrete meinen geliebten Mann hier und er hätte dasselbe zu Euch gesagt! Und ich werde sicher nichts tun, das Euch hilft, meinen Mann zu finden und ihm Ärger zu machen, und genauso wenig was Eure Frau angeht! Also seht zu, dass Ihr Land gewinnt!“ Kelar starrte sie fassungslos über diese Frechheit an und auch Nomboh und Keisha schienen erschrocken, während die jüngere Frau sich nicht einschüchtern ließ.

„Das… das ist eine Beleidigung der Geister, was du da von dir gibst, Tehya…“ knurrte Kelar lauernd und er erzitterte vor Zorn, er musste sich wirklich beherrschen, um dieser Frau nicht auf der Stelle den Kopf abzureißen. „Ich überlege mir gerade, ob ich dafür zuerst dir, deiner Tochter oder deinem Mann die Eingeweide herausreiße und sie den Schweinen zum Fressen vorwerfe! Du wirst deine Worte bitter bezahlen, Tehya, und dein Mann wird schlimmeres als nur das tun für seine bloße Existenz, bah!“ Er trat zurück und spuckte zornig vor Tehyas Füße. „Ich verfluche euch, alle samt, ihr dämlichen Chimalis‘, möget ihr zum Himmelsdonner fahren und elendig verrecken! Der Himmel wird euch zürnen und die Erde euch verschlingen, verdammt sollt ihr sein!“ Er schenkte den dreien noch einen angewiderten Blick, ehe er sich mit wehendem Umhang abwandte und auf sein Pferd sprang, um davon zu galoppieren.

„Na, ob das klug war?!“ keuchte Nomboh zweifelnd und sah auf Tehya. Mit demselben Stolz, den auch ihr Mann trug, drehte sich die kleine Frau um und verschränkte die Arme.

„Die Geister werden sich genau überlegen, wen sie strafen werden, wenn er seine Todesurteile so laut durch die Gegend krakeelt!“
 

Nalani ärgerte sich über Tabari. Wenn er nicht da war, vermisste sie ihn, und wenn er dann da war, wollte sie, dass er wieder ging, es war doch zum Verrückt werden. Jetzt, wo er aus Yiara zurück war, wollte sie ihm wieder aus dem Weg gehen und beschäftigte sich lieber mit Kiuk und Sukutai, wenn sie auch mal ins Schloss kam. Die beiden waren ihr sehr ans Herz gewachsen und Sukutai schien sich auch zu freuen, wenn sie zu dritt saßen und Tee tranken. Sie konnten zusammen lachen und sich trotz der schlechten Umstände im Land ihres Lebens erfreuen. Kelar war nur sporadisch anwesend, er kam und ging, wie er Lust hatte, aber etwas Schlimmes anzustellen schien er nicht, was Nalani beruhigte. Es schien ihn wirklich sehr wütend zu machen, dass Salihah und Zoras ohne dass er es gemerkt hatte hatten verschwinden können… die zwei müssten auch bald zurückkommen, fiel Nalani auf.

Tabari seinerseits gefiel es nicht, dass seine Frau sich mehr mit seinem Bruder beschäftigte als mit ihm. Er beherrschte sich und ließ über sich ergehen, dass Kiuk ihm vorgezogen wurde und dass Nalani entweder mit ihm in der Stube hockte und Tee trank oder draußen herumtollte oder sie zusammen nach Tasdyna zu Sukutai gingen. Aber je mehr Tage vergingen, in denen seine Frau nicht mit ihm sprach und stattdessen den ganzen Tag mit seinem Bruder herumlief, desto mehr Wut staute sich in ihm auf, bis ihm eines Nachts, als er mit ihr im Bett lag, einmal der Kragen platzte.

„Du bist meine Frau, du solltest mich ansehen und nicht meinen Bruder!“ meckerte er, während er sich über sie beugte und versuchte, sie zu erregen, um ein weiteres Mal zu versuchen, endlich einen Lebenskeim in sie zu pflanzen. Was war mit dieser Frau kaputt, dass sie immer noch nicht schwanger war?

„Was ist mit dir denn los?“ brummte Nalani unter ihm missgelaunt, und sie zischte und schlug seine Hände weg, die nach ihren Brüsten fassten. „Du tust mir weh, nicht so doll!“

„Ich mache das wie immer, was bist du so empfindlich neuerdings?!“

„Ich bin eine Frau und kein Tonklumpen, den du kneten kannst!“ schnaubte sie und schloss die Augen, um zu versuchen, sich auf die Vereinigung einzustellen. Sie hatte keine Lust. Und sein Gemecker ärgerte sie. Tabari war noch nicht fertig mit seiner Standpauke.

„Du kannst nicht dein Leben lang so tun, als wäre es egal, dass ich dein Mann bin, du gehorchst mir nicht und das seit Jahren. Und was gibt es mit Kiuk so viel zu bereden?! Und was wollt ihr dauernd in Tasdyna?“

„Das kann dir doch egal sein,“ erwiderte seine Frau unter ihm, als er sich ungeduldig und mürrisch zwischen ihre Beine legte, „Du bist doch mit deinem Training verheiratet, du bist doch sowieso beschäftigt, soll ich den lieben langen Tag hier herumsitzen und stricken, bis du kommst?! Vergiss es, Tabari.“

„Tss!“ schmollte er und küsste etwas lieblos ihre Schulter und ihr Schlüsselbein, „Du solltest auch trainieren, wenn du jemals Geisterjägerin werden willst; ich dachte, du willst deinen Vater stolz machen? Wenn mein Vater mich zur Prüfung zulassen soll, muss ich eben viel üben. Du machst zu wenig, sieh dich an, du wirst schon dick!“ Er zwickte sie sanft in den Bauch und sie keuchte.

„Lass das! Und du hast mich geschlagen, schon vergessen? Tu nicht so, als wärst du lieb wie ein Lämmlein, ich mag deinen Bruder eben mehr als dich, der ist nämlich nicht so ein Depp wie du!“

Das tat weh. Tabari ließ augenblicklich von ihr ab und rollte sich von ihr herunter, ehe er ihr einen verletzten Blick zuwarf und ihr dann den Rücken kehrte. Na, die Lust war ihm jetzt auch vergangen.

„Vielen Dank, ich habe verstanden,“ sagte er kalt, und Nalani war völlig perplex über ihren Triumph; was denn, so leicht wurde man ihn los? Das war aber nicht normal, war er krank?

„Jetzt heul nicht,“ murmelte sie verwirrt, und Tabari brummte.

„Gute Nacht, Frau,“ war alles, was er noch von sich gab, und Nalani drehte ihm seufzend auch den Rücken zu, um zu schlafen.

Tabari lag wach und starrte verbiestert an die dunkle Wand. Kiuk, Kiuk, immer ging es um seinen Bruder! Er spürte einen mächtigen Groll auf seinen Bruder in sich entstehen. Dabei hatte Kiuk doch gar nichts getan… er verstand sich selbst nicht mehr und auch nicht, wieso es ihn so unglaublich wütend machte, wenn Nalani sich mit anderen Menschen beschäftigte; oder ging es nur um andere Männer?

Verdammt, reiß dich zusammen… sie hasst mich doch sowieso, werd jetzt nicht sentimental…

Er spürte, dass er errötete, als er an seine hübsche Frau dachte. Als sie vor einigen Monden so zerbrechlich und lieb in seinen Armen gelegen hatte, hatte er sie richtig gemocht, plötzlich hatte er das Gefühl gehabt, nützlich zu sein und etwas richtig zu machen. Er wollte sie beschützen, wie ein Mann seine Frau beschützen sollte, aber Nalani war zu stark für ihn…

Sie brauchte seinen Schutz gar nicht und das verletzte seinen männlichen Stolz.

Und wenn sein Vater recht hatte und es an seinem Geburtstag lag, dem Erdtag, dem Tag der Weiblichkeit? Er biss sich verkrampft auf die Unterlippe. Oh nein, er war nicht weibisch, verdammt, und er würde endlich einen Sohn in Nalanis Bauch pflanzen… aber das war das Problem. Sie wollte ihn nicht und er konnte und wollte sie nicht mehr verletzen. Ihr Anblick voller Panik und Entsetzen vor einigen Monden war zu viel für ihn gewesen, die Erinnerung an diesen Moment saß ihm noch fest im Nacken. Er wollte sie nie wieder so erleben… aber es war schwer, es ihr recht zu machen, wenn sie es nicht zuließ. Tabari seufzte kaum hörbar und grub sich etwas tiefer in seine Decke, um versuchen, zu schlafen.
 

Am Ende des Kälbermondes war der Frühling da. Nalani freute sich, weil sie jetzt, wo es endlich schneefrei und wärmer war, wieder besser trainieren könnte draußen; Tabari hatte recht gehabt, auch wenn sie es ungern zugab, sie machte wirklich wenig. Aber der lange Winter hatte ihr schlechte Laune gemacht und ihr immer noch unregelmäßiges Mondblut machte ihr Sorgen. Tabari war offenbar beleidigt, er kümmerte sich wenig um sie, so verbrachte sie ihre Zeit jetzt draußen mit Kiuk und Sukutai, die ihr auch beim Trainieren helfen konnten. Der Kälbermond war so gut wie vorbei, als Salihah zurück nach Dokahsan kehrte.

Erstaunlicherweise war Tabari der einzige, den die Frau im Schloss von ihrer Familie antraf, und das auf eine sehr eigenartige Art und Weise. Ihr Sohn hing kopfüber von einem Sessel in der Stube und hatte die Füße auf die Lehne gelegt, und er sah aus, als würde er schlafen. Aber er öffnete die Augen, sobald er Schritte auf die Stube zukommen hörte, und sah seine Mutter verkehrt herum in der Tür stehen.

„Du bist zurück,“ sagte er, „Willkommen, Mutter.“

„Darf ich mich erkundigen, was im Namen von allem, das heilig ist, du da machst, Sohn?“ war Salihahs Begrüßung. Tabari zog sich auf den Sessel und setzte sich richtig hin, dabei versuchte er als erstes hüstelnd, seine zerzausten Haare zu richten.

„Ich konzentriere mich auf mein Innerstes,“ erklärte er.

„Kopfüber? Wie bist du denn auf so einen Schwachsinn gekommen?“

„Das ist vollkommen logisch, du wirst sehen,“ er war völlig von sich überzeugt und fuhr sich immer noch durch die Haare, bis seine Mutter seufzend zu ihm herüber trat und an seiner Stelle begann, durch seine Haare zu streicheln, als wäre er ein kleines Kind, das sie kämmen musste. „Ich muss als Geisterjäger fähig sein, in jeder noch so blöden Situation Konzentration zu erlangen, auch kopfüber, das ist also eine ziemlich nützliche Übung… die leider etwas Kopfweh bereitet…“

„Oh, gut, ich hoffe, der Küchenjunge hat neues Laudanum besorgt,“ fiel ihr dazu ein, und Tabari schnaubte konfus.

„Ich habe Kopfschmerzen und du redest von deinen Drogen?“

„Etwas mehr Respekt bitte, Sohn. Wo sind die anderen?“ Seine Reaktion war heftiger, als sie erwartet hatte, als er sich schnaubend aufrichtete und empört die Arme verschränkte.

„Vater sitzt in seinem Arbeitszimmer und will seine Ruhe und Nalani ist irgendwo mit Kiuk unterwegs, weiß der Geier, was die wieder machen, ich will es auch gar nicht wissen, was diese undankbare Wachtel mit meinem Bruder zu schaffen hat!“ Salihah zog eine Braue hoch. Was waren das denn für Töne?

„Was soll ich schon mit ihm zu schaffen haben? Wir trainieren, ist das verboten?“ hörten sie plötzlich Nalanis kalte Stimme hinter sich, und beide drehten sich um, Tabari hastiger, weil Salihah bereits innerlich gesehen hatte, dass die Schwiegertochter mit Kiuk herein gekommen war.

„Ah, du redest mit mir, wie gütig,“ zischte Tabari und drehte sich sofort wieder ab, „Welche Ehre.“ Nalani sah ihn nur verständnislos an. Was war mit dem denn wieder los? Sein Verhalten war in den letzten Wochen komischer denn je gewesen. Er war beleidigt, aber wenn sie ihn fragte, was das Problem wäre, gab er keine Antwort und schnaubte nur. Sie würde ihm sicher nicht aus der Nase ziehen, was er hatte, es war ihr gleich, was er hatte; es ärgerte sie nur, dass er seinen Zorn an ihr und Kiuk ausließ. Jetzt ignorierte sie ihn jedenfalls und neigte vor Salihah den Kopf.

„Wir haben gar nicht gemerkt, dass du wieder da bist,“ gestand sie leicht außer Atem, „Wir waren draußen und… war die Reise erfolgreich?“

„Es gab wenig Erfolg zu erwarten, wir haben gerettet, was zu retten war, ich denke, für‘s erste sind wir sicher, Zoras hat seine Sache sehr überzeugend gemacht mit nur wenig Beihilfe.“ Nalani blinzelte und stützte sich immer noch keuchend und müde vom Training an den eigenen Knien ab.

Beihilfe heißt gekaufte Politiker, oder was?“

„Du fängst ja schon an zu denken wie ich, wie grausam, Nalani…“ Salihah lächelte; aber ihr Lächeln erstarb, als Nalani mit einem Mal erbleichte und strauchelte. „Was ist los?“ fragte die Schwiegermutter und Kiuk und Tabari sahen jetzt ebenfalls erschrocken auf. Nalani keuchte.

„Ich bin nur etwas müde vom Training… entschuldigt die Um-… huch…?“ Sie wollte zurücktreten, verlor dabei aber urplötzlich das Gleichgewicht und stolperte zu Boden, wo Kiuk sie gerade noch auffangen konnte.

„Du liebe Zeit, Nalani!“ rief er, „Was hast du denn, ist dir nicht gut?!“

„M-mir ist nur etwas schlecht, es… es ist vielleicht z-zu viel auf einmal ge…wesen…?“ Die junge Frau japste nach Luft, als die Übelkeit in ihr stärker wurde, und sie klammerte sich an Kiuk, der verzweifelt zu den zwei anderen sah. Salihah hockte sich sofort zu ihnen herunter und fasste nach Nalanis Puls und auf ihre Stirn.

„Vielleicht der Kreislauf,“ riet sie, „Rasch, Kiuk, bring sie in ihr Bett. Nalani, leg dich hin und zieh das Korsett aus, das schnürt dir ja die Luft aus den Lungen. Ich hole ein Glas Wasser… rasch, auf, Kiuk!“ Kiuk nahm seine Schwägerin tapfer auf die arme und eilte mit ihr hinauf, Tabari schnaubte.

„Hey, und ich?!“ empörte er sich, als alle davon liefen, und er setzte Kiuk und Nalani nach.
 

Salihah scheuchte ihre Söhne unhöflich aus dem Schlafzimmer, bevor sie Nalani beim Ausziehen half und die Jüngere sich provisorisch ein Nachthemd überzog, als sie sich ins Bett legte und Salihah ihr Wasser gab und abermals Stirn und Hals befühlte.

„Es geht schon besser…“ meinte Nalani verdutzt, „Vielleicht war das Korsett einfach zu eng für das Training…“

„Fühlst du dich seltsam?“ fragte Salihah sie dumpf, „Warst du krank, während ich weg war?“

„Nein… es geht mir gut, ich hatte nur manchmal Bauchschmerzen, als würde ich das Mondblut bekommen, aber es ist nicht gekommen…“ Sie sah bedrückt zur Seite, als sie es zum ersten Mal aussprach. Plötzlich hatte sie Angst; was, wenn doch etwas mit ihr nicht stimmte? Salihah fasste nach Nalanis Unterleib, das Nachthemd hochziehend.

„Wie war das, du vergießt kein Mondblut mehr?“ fragte sie verblüfft, „Wie lange schon nicht mehr?“

„Na ja, es war sehr unregelmäßig seit dem Winter, aber… jetzt war es irgendwie schon lange gar nicht mehr da-… w-was meinst du, bin ich ernsthaft krank?!“

„Du dumme Frau,“ tadelte Salihah sie perplex, „Ich bin zwar keine Heilerin, aber wenn eine Frau aufhört, Mondblut zu vergießen, ist das das deutlichste Zeichen für einen Kindeskeim in ihrem Bauch!“
 

Nalani keuchte. Für einen Moment war sie sprachlos, während die ältere Frau weiter ihren Bauch betastete.

„Du meine Güte, ja, sieh dich an,“ murmelte sie dabei, „Dein Bauch wird schon rund, ich kann es beinahe fühlen! Du trägst neues Leben und merkst es nicht mal?“

„Ich bin… ich bin schwanger?!“ kam es dann von Nalani, und sie erbleichte. Salihah ließ von ihrem Bauch ab. Moment, ja, Tabari hatte auch gesagt, sie würde dick werden… das konnte doch nicht sein, wieso hatte sie das die ganze Zeit ignoriert? Das erklärte auch, wieso sie ständig gereizt war, wieso ihre Brüste sich seltsam anfühlten und ihr Rücken schmerzte…

„So, wie ich das sehe, schon eine ganze Weile,“ meinte Salihah jetzt, „Lass uns die tage mal zu Keisha nach Tuhuli fahren, sie als Heilerin wird dir genau sagen können, wie lange es noch dauern wird, und sie sollte auch gleich mal sehen, ob mit dem neuen Leben alles in Ordnung ist… wenn du hart trainiert und deinen Körper strapaziert hast, ist das eventuell nicht gut für das Baby. Kein Wunder, dass du zusammenbrichst.“ Sie erhob sich und Nalani keuchte abermals und setzte sich plötzlich zitternd auf.

„W-warte… geh bitte nicht fort, was… was… ich… das verwirrt mich…“ Die Schwarzhaarige beugte sich zu ihr herunter und strich ihr über den Kopf. Sie lächelte sanft.

„Hab keine Angst. Wenn du endlich neues Leben trägst, ist es gut! Kelar wird endlich Ruhe geben und niemand wird mehr sagen, du wärst ein Unglücksbringer, wenn du ein gesundes, männliches Baby zur Welt bringst. Ob das so sein wird, wissen wir leider jetzt noch nicht… ruh dich aus, Nalani, bleib heute hier liegen, du bist erschöpft. Ich lasse ein Mädchen dir etwas zu essen bringen. Soll ich Tabari davon erzählen oder tust du es lieber selbst?“ Nalani schnappte nach Luft.

Tabari, oh weh. Ja, es war sein Kind, das in ihr wuchs… was würde er sagen? Wäre er glücklich, endlich ein Kind gezeugt zu haben? Sie hatte Angst vor seiner Reaktion, ohne zu wissen, wieso, und sie erschauderte und ihre Stimme versagte ihr vor Nervosität.

„I-ich… nein… ich tue es selbst-… irgendwie. Bitte sag es niemandem…“ Salihah lächelte immer noch, richtete sich auf und ging dann zur Tür.

„Ist gut, wie du möchtest. Entspann dich, alles ist gut. Schlaf jetzt… ruh dich aus. Danach geht es dir sicher besser.“ Nalani bezweifelte das.
 

Vor der Schlafzimmertür fand Salihah ihre nervösen und besorgten Söhne vor.

„Und?!“ machten beide im Chor und sahen sich perplex an, Tabari schnaubte grantig.

„Misch dich nicht ein, Nalani ist meine Frau! – Mutter, sag, wie geht es ihr? Ist sie krank?“ Kiuk war verwirrt, dass Tabari ihn so anfuhr, wehrte sich aber nicht, und Salihah ging seufzend an den beiden vorbei.

„Sie wird es überleben, glaubt mir. Es geht ihr besser, aber am besten lasst ihr sie heute in Ruhe, alle beide. Ja, du auch, Tabari, deine Frau braucht jetzt vor allem Ruhe und sicher niemanden, der sie löchert, was los sei! Wenn ihr ihr helfen wollt, lasst sie heute in Frieden. Kiuk, du kommst bitte mit mir, ich muss mich ohnehin mit dir unterhalten“ Die beiden gingen und ließen den entsetzten Tabari im Flur stehen. Der Blonde pustete sich wütend einige Haarsträhnen aus der Stirn.

„Und ich?!“ empörte er sich abermals, „Diese-…! Was bilden die sich ein, mich die ganze Zeit zu ignorieren?! Gibt es hier überhaupt jemanden, der mich nicht ignoriert…?“
 

Alles ist gut, hatte Salihah gesagt. Aber nichts war gut und Nalani lag eine Zeit lang schweigend in ihrem Bett auf der Seite und blickte auf Tabaris Betthälfte, die jetzt leer war.

Sie fasste zitternd nach ihrem wenig gerundeten Bauch. Sie trug einen Lebenskeim in sich… Tabaris Kind, auf das er und sein Vater so lange hofften und vor dem sie sich wie vor nichts anderem fürchtete. Die Frau erschauderte und vergrub zitternd das Gesicht in ihrer Bettdecke. Sie wollte kein Kind, sie wollte nicht Tabaris Frau sein, sie wollte weg, sie wollte zu ihren Eltern! Mehr denn je wünschte sie sich, die Zeit umdrehen zu können, etwas rückgängig machen zu können… nein, nicht nur etwas, sondern alles. Aber sie konnte es nicht… sie musste hier liegen und ein Kind bekommen, das sie nicht wollte…

Und es war nicht die Schuld des Kindes, dass sie es nicht wollte, sondern die seines Vaters und dessen Vaters. Wie konnte sie so grausam sein, ein Kind in diese furchtbare Familie zu gebären? Das, was ein Kind brauchte, konnte sie ihm hier niemals geben… eine heile, liebende Familie. Schon bei den Eltern fing es an; Tabari und sie waren kein Liebespaar, sie waren eine Zweckbeziehung, aus der auch nur Tabari einen Nutzen zog, und der wuchs gerade in Nalanis Bauch heran.

Sie schauderte. Nein, wie konnte sie nur denken, dieses arme, unschuldige Leben in sich als Nutzen zu bezeichnen? Das war grausam… aber es war Tabaris und vor allem Kelars Denkweise. Wenn es ein Junge würde, war die nächste Frage. Würde es ein Mädchen… Nalani wollte gar nicht denken, was dann geschehen würde. Sie fühlte sich erschöpft und miserabel und umklammerte mit der Hand schluchzend die Decke, als ihr plötzlich die Tränen kamen.

Ein Kind… ich kann keinem Kind so eine Familie antun wie diese hier! dachte sie aufgelöst, Mit einem Vater, der in ihm nicht mehr als einen Erben sieht, und einem Großvater, der ein Monster ist! Das unschuldige Kind verdient diese Strafe nicht… wenn ich das zulasse, werde ich mich mein Leben lang grämen…

Sie setzte sich keuchend auf und sah zum Fenster. Die Sonne ging bereits unter. Solange Salihah es noch niemandem gesagt hatte, hatte sie eine Chance… es wäre zwar schmerzhaft für sie und das nicht nur körperlich… aber sie wollte lieber kurz Schmerzen haben als ewig mit dem Schuldgefühl zu leben, einem Kind diesen grauenhaften Clan voller Bestien und Mörder anzutun. In Tuhuli hatte sie in einem von Keishas Heilkundebüchern von einem Tee aus bestimmten Kräutern gelesen, der die Arbeit für sie erledigen würde. Und der Vorrat an getrockneten Kräutern war im Stubenschrank in der kleinen Stube oben… Salihah würde es natürlich bemerken, aber sie würde sie sicher nicht verraten… Salihah würde sie verstehen.
 

Es war auch nicht Salihah, sondern Kiuk, der sie davon abhielt, den Tee zu trinken, als sie ihn schon fertig gekocht hatte und gerade dabei war, das Getränk zitternd in eine Tasse zu gießen. Der Küchenjunge stand hinter ihr und war verwirrt, weil er eigentlich den Tee für sie hatte machen wollen, er war immerhin Diener, aber Nalani hatte energisch darauf bestanden, ihren Tee alleine zu machen. Nicht, dass er bei aller Nettigkeit aus lauter Unwissen etwas falsch machte. Als Kiuk in die Küche kam und verwundert zwischen beiden hin und her sah, kratzte der Eselzüchter sich am Kopf.

„D-die Herrin hat darauf bestanden, ihren Tee selbst zuzubereiten, ich wollte es ja tun, aber sie hat mich nicht gelassen…“ Offenbar glaubte er, er bekäme jetzt Ärger, weil er nicht arbeitete, aber Kiuk interessierte das gar nicht.

„Du bist wieder auf?“ fragte er Nalani, „Wie geht’s dir? Meine Mutter hat mir von Vialla berichtet und-… was ist das für ein seltsamer Tee?“ Er sah auf die Tasse in ihren Händen, und Nalani drehte sich zu ihm um, so gefasst wie sie sein konnte. Er erstarrte beim Anblick ihres bleichen Gesichts. Sie hatte geweint, ihre Augen waren noch gerötet… und sie zitterte so sehr, dass der Tee über den Rand der Tasse schwappte und ihr Kleid, das sie wieder angezogen hatte, ruinierte. Der Küchenjunge war auch besorgt.

„Herrin… g-geht es Euch gut?!“

„Lass uns allein,“ sagte Kiuk plötzlich und schnappte nach Luft, „Rasch. Und Nalani, stell die Tasse weg, du wirst noch den ganzen Tee verschütten, setz dich hin.“ Der Eselzüchter verließ eilig die Küche und Kiuk sah seine Schwägerin besorgt an, als sie sich nicht rührte und nur zitternd auf ihren Tee starrte.

Sie musste trinken. Sie musste trinken und das Kind in ihrem Leib abtöten, wenn es dafür nicht zu spät war; das Leben war schon relativ weit fortgeschritten… wenn es so nicht ging, müsste sie… sie zuckte. Nein! Sie konnte das nicht, sie konnte es nicht umbringen… verdammt, es war ihr Kind, es war ihr eigen Fleisch und Blut…

Aber vielleicht würde es ein Monster werden und die Familie, die es bekommen würde, wäre ihm nie eine Familie… sondern nur ein Rudel Bestien, die sich gegenseitig die Kehlen aufschlitzen wollten…

Nalani hatte vergessen, dass Kiuk Gedanken lesen konnte. Plötzlich war er genau vor ihr und starrte sie an, vorsichtig ihr Kinn hochziehend, damit sie ihn ansah.

„Du bist schwanger… und der Tee ist…? I-ist das dein Ernst?!“
 

Klirrend ließ Nalani die Teetasse fallen, als der Wille und die Kraft sie verließen. Sie konnte das nicht trinken… was tat sie nur? Sie senkte hastig keuchend den Kopf und begann, zu weinen, ehe Kiuk etwas Weiteres hätte sagen können.

„Ich will das nicht!“ schrie sie ihn an, „Ich kann und will das nicht ertragen! Was bin ich für eine Frau, wenn ich das zulasse, Kiuk?! Das Kind hätte keine Familie und keine Eltern, die zusammenhalten! Ich will meinem Kind nicht das antun müssen, was eure Eltern dir und Tabari antun, sie hassen sich und sie sind keine liebevollen Eltern für euch beide! Und Tabari und ich werden genauso enden, genauso scheußlich, ich weiß es! I-ich kann… ich möchte das keinem Kind antun, auch nicht diesem in meinem Bauch… v-versteh das doch, es… e-es ist… aber… ich bin so grauenhaft, ich… ich bringe es nicht über‘s Herz! Ich kann den Tee nicht… trinken…!“ Sie brach abermals in Tränen aus und Kiuk fing sie behutsam auf, als sie in seinen Armen zusammenbrach. Der Braunhaarige seufzte bestürzt.

„Nein, Nalanichen, du-… du bist nicht grauenhaft, du wärst es, wenn du trinken würdest! In deinem Bauch ist ein Leben, die Lebensgeister sind wertvoll, wir müssen sie in höchsten Maßen ehren… sie abzutöten ist schandhaft und… denkst du nicht, dass du dich viel mehr grämen würdest, wenn du es tötest…? Du würdest es dein Leben lang bereuen, es… es ist dein Kind…“

„Aber was kann ich ihm bieten in dieser grässlichen, dunklen Welt?!“ keuchte sie und drückte sich zitternd an seine Brust, „Was, außer einer zerrütteten Familie? Sag es mir… hat dein Vater euch beide jemals geliebt? Er sieht in Tabari nur einen Erben und in dir nicht einmal das…“

„Aber Tabari ist nicht wie mein Vater,“ versuchte Kiuk es ratlos, „Er ist vielleicht verpeilt, aber er… ihr beide könntet doch einfach versuchen, euch zusammenzureißen, Nalani… ihr macht es euch gegenseitig schwer, Sukutai ist auch der Meinung, und das… ist nicht nur Tabaris, sondern auch deine Schuld! So gern ich dich habe, Nalani… ich verstehe dich doch, ich weiß doch, wieso du so gehässig bist, aber… Tabari ist mein Bruder und ich kann ihn nicht einfach hassen. Meinst du nicht, dass du ihm eine Chance geben solltest?“
 

Tabari war genervt, weil ihn alle ignorierten. Er hatte versucht, seine Mutter auszuquetschen, was Nalani hatte und was sie mit Kiuk zu besprechen gehabt hatte – mit Kiuk und nicht mit ihm, hieß das – aber sie hatte ihm überhaupt nicht weitergeholfen und er fragte sich jetzt, ob sie wegen irgendetwas wütend auf ihn war. Hatte er etwas falsch gemacht? Wäre ja nichts Neues… oh, Himmel, er hatte diese Familie so satt. Keinem konnte man es recht machen, egal, was er tat, irgendetwas war sicherlich falsch daran und irgendjemand verärgert.

Auf dem Flur traf er auf den Küchenjungen.

„Wo willst du denn hin?!“ murrte er ihn an, „Wieso bist du nicht in der Küche?“

„Herr, verzeiht, ich wurde hinaus geschickt, aber wenn ich Euch dienen kann…“ Tabari seufzte. Was schnauzte er den armen Kerl an? Der konnte doch auch nichts dafür…

„Verzeih,“ murmelte er, „Schon gut. Geh, wo immer du hin willst, ich… mach mir ´nen Tee.“ Er fuhr sich brummend durch die Haare und ging weiter in Richtung Küche. Er sorgte sich um seine Frau. Seine Mutter hatte ihm um keinen Preis sagen wollen, was sie hatte, was ihn beunruhigte, War es so schlimm, dass sie nicht wagte, es ihm zu sagen…?

Kurz bevor er die Küche erreichte, hielt er inne, als er plötzlich Nalanis Stimme von dort hörte. Moment – war sie nicht im Bett?

„Eine Chance geben ist nicht das, was hier nötig ist!“ keuchte sie, „Wenn ich Mutter werde, will ich eine Familie für das Kind, ich möchte, dass mein Kind Eltern hat, die sich lieben! Und ich liebe Tabari nicht, es funktioniert nicht!“

Tabari erstarrte. In dem Moment war es, als würde sich alles andere abschalten; in seinem Kopf blieb nur ihr einer Satz hängen, dieser Satz, der ihn eigentlich nicht überraschte und der trotzdem grausam schmerzte, sodass er erbleichte.

Ich liebe Tabari nicht. Es funktioniert nicht.

Der Stich, den ihm dieser Satz verpasste, war so heftig, dass er keuchend die letzten Schritte zur Küchentür stampfte und dann im Rahmen abermals erstarrte, als er seine Frau am Hals seines Bruders hängen sah.

Der Schmerz schlug in einen unglaublichen Zorn auf die beiden um und er spuckte angewidert auf den Boden, worauf beide erschrocken zu ihm herumfuhren.

„T-Tabari?!“ machte Kiuk, und sein Bruder warf ihm einen tötenden Blick zu.

„Wie… könnt ihr es wagen, so… dermaßen schamlos zu sein, ihr… widerwärtigen, abscheulichen Ekelpakete?!“ brüllte er dann unverhofft los, als die ganze angestaute Wut und alles Frust aus ihm heraus platzten, und Nalani keuchte entsetzt über seinen ungebändigten Zorn.

„W-wovon redest du?!“ machte sie, „Was ist denn in dich gefahren?!“

„Du Heuchlerin, bah, von wegen!“ schrie er sie an, „Und du, Kiuk, von dir hätte ich auch mehr Rückgrat erwartet, reicht dir deine kleine Ziege aus Tasdyna nicht, nein, musst du auch noch meine Frau nehmen?! Ihr… ihr… fahrt doch zum Himmelsdonner, alle beide!“ Er spuckte abermals aus und stürmte dann wutentbrannt aus dem Raum, ließ die beiden völlig verdutzt zurück. Kiuk japste.

„E-er… Moment mal, denkt er, wir beide hätten was miteinander?!“

„Oh nein…!“ Nalani ließ ihn sofort los und stürzte ihrem Mann hinterher, plötzlich hatte sie das Baby vergessen. Das hier lief schiefer als es jemals hätte laufen dürfen. „Er hat das gehört… d-das hätte nie passieren dürfen!“
 

Sie suchte ihren Mann verzweifelt in der Hoffnung, ihm erklären zu können, was er gerade extrem missverstanden hatte; ihre Hoffnungen wurden mit einem Schlag heftig wie ein Donner zunichte gemacht, denn noch vor Tabari fand sie seinen Vater, der sich plötzlich in der Halle wie ein gewaltiger Schrank voller Bosheit vor ihr aufbäumte und sie zwang, innezuhalten.

„Kelar…?!“ keuchte sie entsetzt, und Kelar Lyra sah mit so viel Abscheu auf sie herunter, dass ihr beinahe übel wurde vor Entsetzen. Was war in dieses Monster gefahren? Seine blauen Augen durchbohrten ihren Körper und ihre Seele und sie trat unwillkürlich rückwärts. Es war ein Instinkt in ihr, ihr Leben zu schützen, den sie normalerweise ignorierte – aber nicht, wenn sie ein Kind in ihrem Bauch trug. Das Kind, das sie vor kurzem noch hatte töten wollen, wollte sie jetzt vor dieser Bestie schützen.

„Tu nicht… so unschuldig, du verfluchte, dreckige Schlampe!“ platzte er mit einem Mal heraus, und sie starrte ihn noch verblüfft an, da schlug er ihr so heftig ins Gesicht, dass sie zu Boden stürzte. „Du widerliche Ratte, du und Kiuk, ihr habt euch wohl lieber als ihr solltet, hm?! Wie kannst du es wagen, mich, Tabari und selbst deine Vorfahren so zu entehren, du verfluchte, dreckige-…?!“ Er schimpfte und tobte und wurde immer wütender, während er rasend vor Zorn nach der Frau schlug und trat, als wäre sie ein Strohsack, an dem er seine Wut auslassen konnte. Nalani schrie erschrocken und schützte mit aller Macht ihren Bauch und das Kind, krümmte sich zusammen und spürte einen regen aus grauenhaften Schmerzen über sich kommen, der sie beinahe ohnmächtig werden ließ.

„I-ich habe… überhaupt nichts Derartiges mit Kiuk zu schaffen!“ keuchte sie benommen, als er kurz von ihr abließ und sie Zeit hatte, sich mühsam aufzurappeln, „Ich bin Tabaris Frau, wenn ich ihn nicht liebe, heißt… das nicht, ich wäre untreu! Ich habe mit keinem einzigen Moment irgendjemanden entehrt!“ Kelar fluchte ungehalten die übelsten Schimpfworte in ihre Richtung, die ihm einfielen, und schlug sie abermals wutentbrannt zu Boden.

„LÜG MICH NICHT AN!“ brüllte er, „Tabari hat mir von deinen Machenschaften in der Küche berichtet, du dreckige Hure gehörst gevierteilt für deine Unverschämtheit!“ Nalani starrte ihn an und spuckte keuchend Blut aus ihrem Mund. Der Schmerz war so grauenhaft… Tabari hatte sich also bei seinem Vater ausgeheult und jetzt wurde sie wegen seiner dämlichen Blindheit getötet?

Sie hörte Schritte hinter sich und wie Kiuk schrie. Tabari war auch angekommen.

„Um Himmels Willen, Vater!“ schrie er entsetzt, „W-was machst du mit meiner Frau?!“

„Bist du verrückt geworden?!“ schrie Kiuk auch, und hinter ihnen kam noch der Küchenjunge tapfer mit einer Bratpfanne bewaffnet dazu.

„Haltet euch raus, du besonders, Kiuk, du schändlicher Bastard!“ fauchte Kelar und er funkelte seinen jüngeren Sohn wutentbrannt an, während er nach Nalani schlug, die sich aufzurappeln versuchte. „Ich will verdammt noch mal keine Kinder von dir in ihrem Bauch haben, und wenn du es gewagt hast, die Frau deines Bruders anzurühren, du wertloser, dreckiger kleiner Scheißkerl…!“

„Ich habe Nalani nie angerührt!“ empörte Kiuk sich auch wütend, „Lass sie in Ruhe, oder du wirst es bereuen!“ Ehe er sich richtig konzentrieren konnte, war sein Vater plötzlich direkt vor ihm und er kassierte ebenfalls einen mächtigen Schlag ins Gesicht. Tabari japste, als Kiuk mit blutender Nase zu Boden ging.

„V-Vater, d-du übertreibst es! I-ich habe nicht gewollt, dass du sie halb tot schlägst!“

„Sieh gut hin!“ brüllte sein Vater ihn an und sein Gesicht war verzerrt vor Hass und Wahnsinn, sodass der Sohn erbleichend zurücktrat. Wer war das vor ihm?

Das war doch nicht sein Vater…
 

Das war ein Monster.
 

„Sieh gut hin, deine hurige Frau hat es nicht besser verdient! Du hattest recht, sie bringt Unglück und nichts als Schande über diesen Clan… dieses ganze Land, genau wie ihre verfluchten Eltern! Clan der Schatten, heh, ja, Schatten ist Dunkelheit und mit Dunkelheit verbindet man Unglück und Tod! Ich bringe… dich um, du vermaledeite Göre, Nalani!“ Nalani stöhnte kraftlos vor Schmerzen und versuchte mit aller Macht, sich hochzurappeln, aber es gelang ihr nicht. Sie zitterte und spuckte abermals Blut, ehe sie es schaffte, in Kelars Gesicht zu blicken, ihre Augen waren mit demselben Hass gefüllt wie seine.

„Töte mich doch… tu es, Kelar, ich wäre froh darüber, euch los zu sein! Dich vor allem, du grauenhafter Mann! Töte mich, wie du es mit meinen Eltern getan hast! Ich werde dich auch als geist verfluchen, Kelar Lyra, dich und alle deine verdammten Nachkommen, wie den, der in meinem Bauch wächst, den du gerade zu töten versuchst!“

Tabari erstarrte.

In ihrem Bauch ist ein Kind?!

Kelar hatte es entweder nicht gehört oder es war ihm verblüffenderweise egal, denn er schlug nur erneut nach ihr und fluchte, das Gesicht rot vor Zorn.

„Ja, ich bringe dich verfluchte Schlampe um, genau wie deine Eltern! Deine Mutter war eine nutzlose Hure, die gewimmert hat, als ich sie in jener Nacht erdrosselt habe… und dein Vater hat ebenfalls geschrien wie eine Frau! Wie ehrlos… tss… du wirst genauso jämmerlich sterben wie sie, zu meinen Füßen röchelnd!“ Nalani keuchte und riss den Kopf herunter, als der Mann vor ihr ausholte und jetzt mit einem lauten Krachen eine blitzende Kugel Magie in seiner Hand entstehen ließ, die grell leuchtete.

Dieser Kerl war komplett wahnsinnig! Sie erschauderte und erwartete bereits den Moment, in dem sie ihre Eltern in der Geisterwelt treffen würde…

Mit einem Mal hörte sie dann ein weiteres Krachen und spürte, wie irgendetwas sie nach hinten stieß. Als sie die Augen wieder aufriss und benommen vor Schmerzen den Kopf hob, stand ihr Mann zwischen ihr und seinem wütenden Vater, die Arme ausgebreitet. Kelars Blitz war verschwunden und obwohl sie im Schloss waren zog es mit einem Mal, dann war die Brise wieder weg.

„Hier muss ein Fenster aufgeflogen sein,“ meinte der Küchenjunge, der Kiuk die Bratpfanne gegeben hatte und sich um dessen Nase kümmerte. Kiuk seufzte.

„Du Idiot, mein Bruder ist Windmagier.“

Nalani war unfähig, sich zu rühren, immer noch am Boden liegend, und Tabari keuchte.

„Rühr meine Frau… noch ein einziges Mal an… oder wage es, ihr auch nur ein Haar zu krümmen… dann bist du des Todes!“ zischte Tabari vor ihr ungewohnt grantig, „Du hast völlig den Verstand verloren, Vater! Ich werde weder zulassen, dass du sie umbringst, noch mein Kind in ihrem Bauch! Oder überhaupt jemanden aus… meiner Familie, du Bestie!“
 

Schweigen. Am oberen Ende der Treppe tauchte – reichlich spät – eine leicht torkelnde Salihah auf, die von einem Dienstmädchen gestützt wurde.

„Um Himmels Willen,“ keuchte sie nur benommen. Nalani setzte sich mühsam und zitternd auf. In ihrem Mund und ihrer Nase blutete es und jede Bewegung schmerzte, als sie zu Tabari hinauf sah voller Entsetzen und Verblüffung… und Zuneigung. Zum allerersten Mal, seit sie diesen Mann kannte, empfand sie plötzlich Bewunderung und Zuneigung für ihn…

Er hatte sich gegen seinen Vater gestellt, und das, um sie zu beschützen. Und er hatte ihn ein Monster genannt… dann hatte ihm irgendetwas endlich die Augen geöffnet?

Nicht irgendetwas, dachte sie sich und fasste zitternd nach ihrem Bauch. Es war das Kind… sein Kind, das ihm die Augen geöffnet hat. Es ist ein mächtiges Kind, schon vor seiner Geburt…

„Was sagst du da zu mir, Tabari?“ raunte Kelar bedrohlich und reckte herrisch den Kopf in die Höhe, sah auf seinen ältesten Sohn herunter mit derselben Abscheu, mit der er zuvor Nalani angestarrt hatte. „Wie kannst du es wagen?!“

„Wie kannst du es wagen?!“ zischte der Sohn zurück, „Ich habe Fehler gemacht, grauenhafte Fehler, die vermutlich schwer zu verzeihen sind! Aber du… du hast unschuldige Menschen getötet, Massen von ihnen, du hast Nalanis Eltern ermordet, das waren ehrenwerte Leute! Und ich wollte es nicht glauben… Jahrelang hast du mir vorgemacht, es wäre alles recht, was wir tun, was du tust! Aber die Fehler, die du begangen hast, sind unverzeihlich!“ Die Worte prallten hart in Kelar Lyras Gesicht, und die Grimasse verschwand, als er mit einem Mal wusste, dass er seinen treuesten Anhänger jetzt auch endgültig verloren hatte.

Und Schuld war diese Frau, diese Wachtel, die seine Familie aus seiner Kontrolle gerissen hatte, einen nach dem anderen. Erst seine Frau, dann Kiuk, dann seinen Sohn… und dafür würde er sie töten, das schwor er innerlich, als er langsam zurücktrat. Ein grausames Lächeln schlich auf sein Gesicht.

„Nein, Tabari… das waren keine Fehler, was ich getan habe. Und ich bereue nichts von all dem! Und von dir, mein Sohn, bin ich sehr enttäuscht. Du schlägst dich also auf ihre Seite?“

„Ich schlage mich auf gar keine Seite,“ sagte Tabari kalt, „Ich gehe den richtigen Weg. Und tut mir leid für deinen Sohn, wenn er dich enttäuscht hat… aber einen Mann, der wahllos und aus purer Machtgier Menschen ermordet, kann ich… nicht meinen Vater nennen!“

Mehr sagte er nicht. Er drehte sich um, Kelar tat es ihm gleich und verließ wortlos und mit krachender Tür das Schloss.
 

Tabari hockte sie zu seiner Frau und Kiuk, der Küchenjunge und Salihah mit ihrer Dienerin eilten ebenfalls herbei.

„S-sie ist sicher verwundet!“ stammelte Kiuk, „Dieses Untier hat sie richtig zusammengeschlagen-…“

„Und das Kind?“ keuchte Nalani und hielt sich den schmerzenden Bauch, „W-was ist mit dem Leben in meinem Bauch? Ist es verletzt worden?!“

„Rasch, lauf hinaus und lass eine Kutsche fertig machen,“ befahl Salihah der Dienerin, „Wir fahren sofort nach Tuhuli zu Keisha, sie wird sich kümmern. Tabari, Kiuk, ihr beide kommt mit uns.“ Die Söhne nickten besorgt und Tabari nahm seine zitternde Frau auf die Arme, als Salihah sich erhob. Sie taumelte kurz und Kiuk hielt sie am Arm fest.

„Was ist mit dir? Du gehst so eigenartig.“

„Die Medizin macht mich wirr im Kopf…“ murmelte sie gedämpft, „Ich sehe durch einen dicken Nebel und kann mich kaum auf den Beinen halten, aber es wird schon gehen, Nalani ist jetzt wichtiger. Rasch, eilt euch!“ Nalani wurde von Tabari getragen. Als sie auf seinen Armen lag, lehnte sie erschöpft den Kopf gegen seine Schulter.

„Wieso hast du das für mich getan?“ flüsterte sie, „Du hast gehört, was ich in der Küche gesagt habe… ich wollte es dir erklären… aber du warst schneller und hast es deinem Vater gesagt-…“

„Shhh, nicht,“ flüsterte er zurück, „Wir reden, wenn es dir besser geht.“

„Antworte…“ verlangte sie keuchend, „Wieso, Tabari…?“ Er seufzte und rückte ihr Gewicht auf seinen Armen zurecht.

„Weil du meine Frau und die Mutter meines zukünftigen Kindes bist… und weil du mir sehr am Herzen liegst, dumme Frau. Und jetzt sprich nicht mehr…“
 

Mit dem Kind war alles in Ordnung und Nalani hatte verblüffenderweise keine schweren inneren Verletzungen. Keisha begründete es damit, dass sie ihre empfindlichen Punkte offenbar instinktiv sehr gut geschützt hatte. Sie bereitete Nalani ein Schmerzmittel, das auch das Baby vertragen würde, nachdem sie die inneren Blutergüsse mit etwas leichter Weißmagie behoben hatte. Die anderen im Chimalis-Anwesen waren völlig außer sich, als sie hörten, was Kelar getan hatte. Zoras war kurz davor, hinaus zu stürmen und den Mann zu suchen und ihm dafür den Hals umzudrehen.

„Schlägt eine schwangere Frau zusammen, der hat wohl den Schuss nicht gehört!“ empörte er sich fuchsteufelswild, als Salihah ihn gerade noch davon abhalten konnte, Kelar zu jagen. „Ich bringe ihn um, eines Tages bringe ich ihn um, dieses grauenhaften, wahnsinnigen, verfluchten…! Argh! Ich könnte jetzt die grausigsten Schimpfworte erfinden für diesen Mann, wenn die Geister sich die Ohren zuhalten würden!“

„Du musst dich nicht meinetwegen so aufregen,“ meinte Nalani dumpf, „Dass er wahnsinnig ist, wissen wir doch alle. Neuerdings wirklich alle,“ Sie sah zu Tabari, der etwas abseits von allen mit Kiuk sprach, aber so leise, dass sie es nicht hören konnte. „Ich danke dir, Keisha, es geht schon besser. Ich bin sehr froh, dass es meinem Kind gut geht. Ich hatte Angst…“

„Das freut mich sehr für euch,“ gab Keisha zu hören und lächelte, „Wir alle haben uns schon gefragt, wann denn das erste Kind in deinem Bauch wachsen würde. Es ist schon ziemlich weit fortgeschritten, im Herbst wird es soweit sein. In fünf oder sechs Monden, nehme ich an.“

„Und ich habe es bis heute nicht bemerkt,“ seufzte die Schwarzhaarige beschämt, und Keisha musste kichern.

„Ach, beim ersten Mal hat man doch auch noch keine Ahnung. Als ich Meoran im Bauch hatte, habe ich es erst gemerkt, da war ich fast doppelt so weit wie du jetzt, und das, obwohl ich Heilerin bin. Und Zoras hat sich tagelang über mich lustig gemacht, dabei hatte der doch noch weniger Ahnung von runden Bäuchen, er hat so getan, als wäre er der totale Kenner, der alte Angeber…“

„Das habe ich genau gehört!“ empörte Zoras sich und zog seine Schwägerin neckisch am Ohr, „Sei artig, oder ich rufe dich ab heute wieder Besenstiel!“

„Na warte, du Flegel! – Nomboh! Dein Bruder ärgert mich!“

Während die anderen lauthals diskutierten, sprach Tabari mit Kiuk. Er entschuldigte sich sehr verhalten für sein dummes Verhalten in der Küche.

„Ich… war einfach wütend und habe plötzlich überall Bosheit gesehen, in mir hat sich so viel Zorn angestaut und der Anblick meiner Frau an deinem hals hat einfach das Fass zum Überlaufen gebracht… verzeih, Kiuk, das war nicht recht. Und dass ich zu Vater gerannt bin, ich… hätte erst denken sollen… ich wollte nicht, dass er Nalani etwas antut, ich wusste nicht, dass er so weit gehen würde!“

„Denken solltest du wirklich öfter,“ tadelte Kiuk ihn, lächelte aber verzerrt. „Aber Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Ich schwöre dir, dass Nalani und ich nur wie Geschwister zueinander sind, nicht mehr, niemals. Ich habe doch Sukutai, ich würde nie eine zweite Frau wollen.“ Tabari seufzte.

„Ja, Sukutai. Du bist echt verknallt in sie, oder?“

„So wie du in Nalani…“ Tabari errötete und schnaubte.

„H-hey, es ist nicht so… ich meine… natürlich liebe ich meine Frau-…“

„Ach, mach mir nichts vor. Ich kenne dich, Bruder, und du verhältst dich komisch seit einigen Monden, vor allem ihr gegenüber. Ich als Telepath weiß sowas… ich sehe sowas. Du empfindest was für sie… sonst hätte es dich doch nicht so wütend gemacht, dass sie mich umarmt hat.“ Das war wohl wahr und Tabari brummelte nur etwas vor sich hin, was Kiuk als Geständnis anerkannte. Der jüngere Bruder schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. „Sei lieb zu ihr. Zeig ihr, dass du sie magst, sie braucht das, glaub mir. Sei ihr… ein guter Mann und vor allem deinem Kind ein guter Vater. Nalani wünscht sich, dass das Kind Eltern hat, die zusammenhalten… das hat sie mir gesagt. Wenn ihr beide euch bemüht, könnt ihr vielleicht… endlich mal aufeinander zugehen.“
 

Aber es war leichter gesagt als getan, für beide Beteiligten, stellten sie wiederum fest, als sie wieder daheim im Schloss waren. Es war längst dunkel und Nalani und Tabari lagen nebeneinander im Bett. Beide sahen schweigend an die Decke.

„Hast du noch Schmerzen?“ fragte Tabari dann irgendwann kleinlaut. Seine Frau schnaubte leise.

„Wird schon. Ich bin nicht aus Zucker.“

„Nicht aus Zucker, mein Vater hat dich halb tot geprügelt!“ keuchte er und setzte sich besorgt auf, „Ich bin froh, dass du nicht ernsthaft verletzt warst und dass es Keisha gibt!“

„Wenn du so froh darüber bist, wieso… zum Geier hast du dann deinem Vater gesagt, ich hätte was mit Kiuk?“ Sie drehte benommen den Kopf zu ihm hin und er senkte verlegen und tiefrot anlaufend den Blick.

„Das ist… etwas, für das ich mich den Rest meines Lebens schämen werde,“ murmelte er leise. „Ich war kopflos, ich war so wütend und habe nicht richtig gesehen… und meine Beine trugen mich schneller als ich wollte, mein Mund sprach Worte, ehe ich begreifen konnte, was ich da tat… ich habe nicht gewollt, dass er dir das antut, niemals hätte ich das gewollt, Nalani! Ich weiß, du… glaubst mir kein Wort… aber ich kann es dir nicht beweisen. Ich kann nur beteuern, dass ich die Wahrheit spreche. Ich war… wütend auf dich, weil du mich ignoriert hast, weil du immer alles mit Kiuk gemacht hast, es… es erschien mir logisch in dem Moment in der Küche, dass ihr beide… na ja…“ Nalani sah ihn kurz an.

„Aber dir ist schon klar, dass das absoluter Mist ist?“ machte sie, „Kiuk und ich sind nie, hörst du, nie auf diese Art zusammen gewesen. Ich habe dich ignoriert, weil du komisch warst, ich habe dich nicht verstanden und du hast es mir auch nicht leicht gemacht, Tabari. Mit Kiuk kann ich reden, er hört mir zu und versucht, mich zu verstehen…“ Sie machte eine kurze Pause. „Du hast dich heute zwischen deinen Vater und mich gestellt und du hast tatsächlich etwas… für mich getan. Ich muss sagen… heute habe ich dich zum ersten Mal bewundert… zum ersten Mal seit du beim Feuer von Tasdyna damals den Wind gerufen hast war ich beeindruckt von deinem Anblick. Was ist los mit uns, Tabari…? Wieso müssen wir… uns rechtfertigen dafür… dass wir einander auf gewisse, seltsame Weise mögen? Wir suchen Entschuldigungen dafür… aber ich frage mich, brauchen wir Gründe, um jemanden zu mögen?“

„Ich brauche die nicht,“ machte er dumpf und legte sich wieder hin, sich zu ihr drehend. Nalani rutschte ein Stück dichter an ihn heran.

„Wir beide haben Fehler gemacht und uns wie Idioten benommen,“ gestand sie überraschenderweise, worauf er sie groß ansah. „Ich habe dich verabscheut, weil du so ein unglaublicher Dummvogel warst und nicht einsehen wolltest, was dein Vater tut, und… ich war nicht sehr gerecht zu dir, weil ich wütend auf deine Blindheit war…“ Und sie tat etwas noch erstaunlicheres, als sie vor ihm den Kopf neigte, so weit, bis ihre Stirn seine Brust berührte und sie mit den Händen vorsichtig nach seinem Oberkörper angelte. „Vergib mir, Tabari.“ Tabari seufzte und zog sie zärtlich in seine Arme. Sie war so angenehm warm…

„Ich vergebe dir, wenn du mir auch vergibst,“ erwiderte er leise und küsste zärtlich ihr linkes Ohr, worauf sie leicht errötete. „Er ist mein Vater… es ist nicht so einfach für mich, ihn zu hassen, wie es für dich sein mag. Könntest du deinen Vater von heute auf morgen hassen, wenn dir jemand erzählte, er wäre ein Monster?“ Sie schüttelte schweigend den Kopf. „Du warst doch nicht die einzige, die das gesagt hat, Nalani. Viele sagen es, mein Vater verbreitet Angst und Schrecken im ganzen Land und ich wusste es… schon lange, glaub mir.“

„Wieso hast du dann trotzdem zu ihm gehalten?“

„Weil ich genau wie die tausend Bauern Angst hatte…“ meinte er, und sie hob den Kopf und sah ihn verdutzt an. „Und mich zu entscheiden hat mich einige Kopfschmerzen gekostet, glaub mir… aber jetzt, wo ich es… einmal getan habe, fühlt es sich gut an… jedenfalls besser als vorher.“

Nalani lächelte kurz.

„Das hätte ich dir sagen können, du Trottel.“ Dann streckte sie sich, um ihn auf die Lippen zu küssen. Tabari legte seufzend die Arme um sie und erwiderte ihren sanften Kuss, während sie sich an seinen Körper schmiegte.

Ja… er war wohl wirklich ein Trottel. Und ein Glückspilz, denn er hatte die klügste und schönste Frau der Welt.
 

Salihah befürchtete, Kelar würde in seinem Zorn über Tabaris Entscheidung das ganze Land in Brand stecken, so machte sie es zu ihrer Aufgabe, ihn zu beruhigen. Und obwohl ihre Macht nachgelassen hatte und die dauernde Einnahme des Laudanums auch keine besonders guten Auswirkungen auf ihren körperlichen Zustand hatte, war sie ziemlich zuversichtlich, dass sie ihn dieses Mal beruhigen könnte. Sie ließ sich Zeit damit und Kelar ließ sich Wochenlang nicht blicken im Schloss, bis Salihah zum Ende des Regenmondes, als der Sommer schon da war, nach Yiara fuhr, um nach ihm zu sehen.

Kelar stellte das gesamte Senatsgebäude auf den Kopf, als sie es betrat. Irgendwelche fleißigen Untertanen sammelten hinter ihm die Spur der Verwüstung wieder ein und versuchten, Ordnung zu schaffen. Salihah wunderte sich, dass sie nie Denmor Emo bei ihrem Mann sah, der doch eigentlich wohl sein treuster Gehilfe war; aber die Emos konnten sich gut unbemerkbar machen, vermutlich versteckte er sich irgendwo und beobachtete sie aus der Ferne, was sie sowohl Kelar aus auch Denmor durchaus zutrauen würde. Na, solange er sie nicht beim Baden beobachtete konnte es ihr egal sein… und wenn sie diesen Stinkefinger dabei erwischen würde, würde der sich aber wundern, was sie mit ihm anstellen konnte.

„Was machst du da, Kelar?“ war ihre Begrüßung, als sie ihrem Mann und den Fetzensammlern ins Hauptbüro gefolgt war, und Kelar schnaubte und warf mit Pergamenten um sich.

„Wo ist dieser verfluchte Vertrag?! Er muss hier irgendwo sein, er kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben! Ich werde ihn finden und zerfetzen! – Ach, eigentlich könnte ich diesen Hirnis in Vialla auch ohne den Vertrag den Kopf abreißen, oder? Wenn ich es einfach tue, wird der Pakt hinfällig, haha.“

„Sicherlich, aber wenn du erst einen Krieg anfängst und dann den Vertrag zerstörst, werden sie wütender und gefährlicher,“ spielte sie die Strategin und er sah sie schnaubend an.

„Willst du mir etwa auf einmal helfen dabei, mich von Kisara zu lösen?!“

„Sicherlich nicht, aber wenn du schon Dummheiten machst, dann mach sie ordentlich. Und musst du alles zerfetzen, weil du den dämlichen Vertrag suchst?“

„Ich bin wütend, deshalb zerfetze ich Dinge!“ erklärte er laut.

„Wie destruktiv. Du bist zornig, weil Tabari dir nicht mehr die Füße küsst? Er ist erwachsen geworden und denkt alleine, du solltest stolz auf ihn sein. Hast du wirklich gedacht, er würde dir ewig die Stange halten?“

„Du falsche Hure!“ blaffte er sie an und warf Pergamente nach ihr, sie duckte sich rechtzeitig. „Du hast ihn mir entfremdet, diese verfluchte Frau hat es auch getan, Nalani! Verdammt, hätte ich nur eine andere für ihn ausgesucht! Sie hat deine Seele vergrault, sodass du mir den Rücken gekehrt hast, und jetzt hat sie auch Tabari verschandelt!“ Seine Frau lachte unwillkürlich lauthals los und Kelar starrte sie verblüfft an. Als sie sich wieder einkriegte und den Kopf zu ihm drehte, sah sie ihn mit einem üblen Mörderblick an und voller Spott.

„Du elender Narr, Kelar… ich habe dir schon lange vor Nalanis Ankunft den Rücken gekehrt.“

Kelar Lyra verengte die Augen zu schmalen Schlitzen beim Anblick seiner grausam grinsenden Frau. Sie war eine verdammte Sadistin, sie war grausam und hatte Spaß daran, ihn zu erniedrigen… und nicht nur ihn, da war er sicher. Er verabscheute und begehrte sie gleichzeitig in diesem Moment, dass es ihn selbst anwiderte. Er spuckte aus und schnaubte dann verächtlich.

„Ja, natürlich hast du das. Während ich im Krieg war und du mit Chimalis deine widerlichen Bettspielchen getrieben hast! Wenn ich nicht mit Gewissheit wüsste, dass du erst nach Tabaris Geburt sein Ritual gemacht hast, würde ich daran zweifeln, dass ich überhaupt auch nur einen Sohn mit dir habe!“ Salihah lachte kalt.

„Kiuk ist auch dein Sohn, das habe ich dir schon oft gesagt. Er hat deine Haare, du Idiot, wie könnte er Zoras‘ Sohn sein? Ich habe zwei Söhne geboren, die beide von deinem Blut sind, das schwöre ich vor den Augen aller Geister, Kelar.“

„Tss, du könntest heute tausend Söhne von tausend verschiedenen Männern haben!“ spuckte er, „Weißt du was? Ich habe neulich ein interessantes Gespräch verfolgt, es ging um eine Spinnenart, bei der die Weibchen sich nur mit Männchen paaren, um Eier legen zu können, und sie danach auffressen. Ich glaube, du bist auch so eine Spinne!“ Sie kicherte.

„Ja, von dieser Spinnenart habe ich auch gehört. Du wirst lachen, und das ausgerechnet von deinem besten Freund Zoras Chimalis. Er hat welche gesehen, in Fann.“

„Fann ist ein Land der Dämonen, diese verfluchten Widerlinge essen ihre Toten!“

„Reg dich ab, Kelar, wir sprechen jetzt über Tabari und nicht über Fann. Ob er dir die Stange hält oder nicht ist er dein erstgeborener Sohn und rechtmäßiger Erbe. Und er wird Vater, das sollte für dich ein Grund zum Jubeln sein.“ Kelar brummte, schien sich aber tatsächlich zu beruhigen. Sie hatte ja gewusst, was zog.

„Wenn ein männliches Kind aus Nalanis Bauch kommt, will ich es gutheißen,“ verkündete er grimmig, „Wir werden meine Vorfahren ehren, indem wir dem Kind einen ihrer Namen geben. Aber wenn es ein Mädchen wird, werde ich es ersäufen und die Mutter gleich mit, denn dann ist bewiesen, dass sie nichts als Schande und Unheil bringt! Ich brauche keine Mädchen, ich brauche Erben, Söhne, Enkelsöhne! Und die Wachtel tut gut daran, einen Sohn zu gebären, und wehe er ist schwach oder verkrüppelt, dann ersäufe ich ihn auch!“

„Was habe ich dir vor Jahren gesagt, Kelar…?“ murmelte sie lächelnd, und er sah sie verdutzt an. Ihr Lächeln gefiel ihm nicht, es war nicht von dieser Welt. „Du wirst Macht und Ruhm haben, aber sie werden Hand in Hand gehen mit dem Untergang des Clans.“ Er erstarrte.

Der Untergang des Clans…?

„Nein!“ brüllte er dann heftig und stierte sie wutentbrannt an, bevor er mit dem Finger auf sie zeigte, „Ich werde es nicht zulassen, du wirst sehen, Salihah! Weder Nalani, noch du, noch sonst jemand wird mir… meinen Clan ruinieren! Und mir ist egal, über wie viele Leichen ich dafür gehen muss!“
 

Der Sommer war verblüffend warm und lang in dem Jahr. Aber dieses Mal gab es zwischendurch Regen und die Ernte fiel sehr viel besser aus. Kelar begründete das bei öffentlichen Reden in Yiara damit, dass jetzt endlich alle brav knieten und die Geister deshalb ihren Zorn besänftigt hätten. Obwohl er den Vertrag aus Vialla nicht fand, den er auch nicht finden konnte, weil er in Yatoret war, war der Herrscher von Lyrien erstaunlich friedlich in jenem Sommer.

„Keine Sorge, der ist nur brav, weil Nalani bald ihr Kind bekommt, danach tobt er weiter,“ vertröstete Salihah die Geisterjäger schon völlig sarkastisch, wenn sie sich mit ihnen zur Besprechung traf. „Wir sollten beten, dass es ein Junge wird, denn dann wird das Toben vielleicht weniger heftig weitergehen.“

„Oder noch schlimmer, weil er seinem neuen Erben beweisen muss, dass alle anderen Würmer sind,“ murmelte Zoras Chimalis darauf, „Mir erzählen die Windgeister vom Ende der Welt, es wird ein grausames Ende geben.“

„Du träumst schon seit du denken kannst vom Ende der Welt, Bruder…“

„Nein, nicht wirklich,“ widersprach Zoras Nomboh dumpf, „Erst, seit Kelar zum Herrn der Geister wurde.“
 

Der Mond der Irrlichter, der normalerweise schon das Laub an den Bäumen färbte und es abkühlen ließ, brachte nur ein sehr verhaltenes Ende des Sommers. Es war immer noch warm und die Blätter noch grün, als Salihah einmal wieder nach Tuhuli fuhr, um sich mit den Geisterjägern zu besprechen. Nalani hatte darum gebeten, sie begleiten zu dürfen, aber sie hatte es ihr verboten.

„Dein Bauch ist schon sehr groß. Es ist vielleicht nicht so angenehm, wenn du jetzt unnötig viel mit der Kutsche fährst, nachher bekommst du auf dem Weg die Wehen. Bleib lieber hier, ich verspreche dir, dass ich euch alles berichten werde.“

„Und, hat Kelar etwas ausgefressen?“ war wie üblich die erste Frage, die die Runde eröffnete, heute kam sie von Nomboh, der auf seinem Sessel hing und an einem Keks lutschte.

„Müssen wir die Liste der ausgerotteten Dörfer erweitern?“ war die obligatorische Erweiterung dieser Frage von Hakopa Kohdar, und Salihah verdrehte die Augen.

„Ihr werdet albern, es ist sehr ernst, was hier läuft. Aber nein, keine neuen Dörfer.“

„Was wir unbedingt machen sollten, immer noch die drei Räte der Schamanen vereinen, wenigstens zweimal im Jahr oder so,“ sprach Minar Emo ein ernsteres Thema an, „Ich meine, wir vier und du, Salihah, sind ja schon quasi eine Untergrund-Organisation… du solltest deinen Tele-Orden oder wir er heißt auch mal nach Tuhuli zitieren, damit wir mal alle vor Ort haben. Die Heiler weigern sich sicher immer noch, aber wenn wir etwas Überzeugungsarbeit leisten…“

„Wir lassen Salihah mit ihnen verhandeln,“ scherzte Nomboh, worauf sein Bruder ihn empört ansah, „Salihah kann das.“ Salihah hüstelte.

„Momentan ist mein Bedarf an Verhandlungen gedeckt nach der Reise nach Vialla im Frühjahr.“

„Oh, oh, hört, hört.“

„Weißt du das eigentlich, Seherin?“ fragte Hakopa Kohdar plötzlich verdutzt, „Dass Kelar sich neulich tatsächlich mit uns zusammengesetzt hat?“ Salihahs ah auf. Nein, das hatte sie nicht gewusst. Die Geister verschwiegen ihr also schon Dinge, das war beunruhigend. Sie schob die Schuld auf das verfluchte Laudanum und zog bei dem Gedanken gleich mal ihre Flasche aus der Tasche, um sich einen Schuss Medizin in ihr Glas auf dem Tisch einzuschenken.

„Hat er das?“ fragte sie nach, während sie das Glas kurz schwenkte, um das Laudanum mit dem Wasser zu mischen, „Was gab es denn?“

„Es ging um Tabari,“ meinte Zoras auch, „Genauer gesagt um seine Geisterjägerprüfung. Ich war ganz baff, dass Kelar ihn die Prüfung doch machen lässt. Ich dachte nach dem Drama mit Nalani damals, dass Kelar Tabari die Ehre verweigern würde. Offenbar hat er seinem Sohn aber verziehen… ich wusste gar nicht, dass er das kann, verzeihen.“

„Tabari soll die Prüfung machen?“ staunte Salihah, „Wann? Mir sagt niemand etwas!“

„In einer Woche, darauf haben wir uns geeinigt. Das heißt, in einer Woche wird er für drei Tage isoliert und danach werden wir sehen, ob er das Zeug hat, einen von uns zu besiegen und Geisterjäger zu werden.“

„Kelar hat wohl eingesehen, dass Tabari, Nalani hin oder her, sein Erbe ist und da ist ihm wohl eingefallen, dass es ehrbarer wäre, wenn der Geisterjäger würde,“ orakelte Nomboh, „Wetten?“

„Hör mit deinen Wetten auf!“

„Und was passiert, wenn Tabari verliert?“ machte Minar Emo, „Geht Kelar dann an die Decke?“ Zoras lachte laut.

„Hast du Schiss?“ höhnte er grinsend, „Wenn es auf mich fällt, werde ich sicherlich keine Gnade zeigen und ihn gewonnen lassen, nur weil er der Sohn des Herrn der Geister ist! Tabari ist zu jung und nicht reif genug für die Prüfung, ich glaube, er verliert.“

„Woher willst du das wissen?“ machte Nomboh, „Tabari ist immerhin aus dem Lyra-Clan.“

„Und nicht jeder Lyra ist automatisch begabter als wir es sind,“ meinte der Schwarzhaarige verblüfft, „Also ich verliere nicht gegen Tabari, darauf nimm mal bitte Gift. Ich habe auch meinen Stolz, entschuldige, aber der Junge ist nicht mal zwanzig!“

„Wir werden ja sehen,“ machte Hakopa Kohdar, „Wir haben uns nie sonderlich mit Tabari beschäftigt… Salihah, hat er irgendwelche sonderbaren Eigenarten an sich, was das Zaubern angeht?“ Salihah runzelte die Stirn.

„Er ist Windmagier wie fast alle seine Vorfahren väterlicherseits,“ meinte sie und grübelte, „Aber… das ist auch schon alles, ehrlich gesagt. Ich weiß… gar nicht, was ich erwarten würde… aber Tabari ist ein guter Beobachter, stille Wasser sind tief. Unterschätzen… solltet ihr ihn jedenfalls nicht, und das sage ich nicht als seine Mutter.“ Sie sah dabei vor allem Zoras stirnrunzelnd an, und der seufzte nur.

„Dann bin ich gespannt,“ murmelte er dann, „Bisher haben wir von jedem, der kam und der je eine Chance hatte in der Prüfung, eine Ahnung, was uns erwartet. Was Nalani angeht zum Beispiel, sie hat Kadhúrem. Das ist ihre Spezialität und nur ihre, wenn sie mit dem Ding in die Prüfung geht eines Tages – was ich doch wohl sehr hoffen will, bei ihrem Talent – wissen wir, was uns blüht, und es wird nicht einfach werden. Du hast recht, ich kann Tabari nicht beurteilen… ich habe ihn nur als verzogenen Bengel in Erinnerung, der mit seiner Katura angegeben hat, als er acht war…“ Um das zu untermalen zauberte Zoras selbst flüchtig den Windzauber Katura aus dem kleinen Finger und ließ den kleinen Wirbel kurz darauf verschwinden.

„Aber er ist nicht mehr acht,“ grinste Nomboh, „Ich bin gespannt, was uns erwartet.“
 

Als der Tag der Prüfung kam, war Tabari etwas hin und her gerissen.

„Ich werde dich drei Tage verlassen müssen,“ sagte er zu seiner Frau am Morgen, „Und, äh, danach gibt es dann den zweiten Teil der Prüfung, der noch viel anstrengender werden wird. Es tut mir leid, dich ausgerechnet jetzt alleine zu lassen, weil… ich meine…“ Er sah verlegen auf Nalanis sehr runden Bauch und streichelte kurz darüber. Die schwarzhaarige Frau hatte sich zur Feier des Tages sehr hübsch gemacht, obwohl ihr Mann bald fortgehen würde. Jetzt stemmte sie die Hände in den Rücken.

„Ich werde es überleben, Tabari,“ seufzte sie, „Es ist wichtig, dass du gehst! Ich werde die Geister rufen und ihnen sagen, das Kind soll erst kommen, wenn sein Vater zurück ist. Keisha hat gesagt, es würde nicht vor dem Holzmond kommen und wir haben noch nicht Holzmond. Also mach dir nicht ins Hemd. Mach lieber deine Sache gut, Tabari.“ Er seufzte.

„Du bist mir nicht böse, dass ich weggehe?“ Sie schnaubte.

„So wichtig bist du mir nun echt nicht.“ Er starrte sie an und als sie sein gekränktes Gesicht sah, musste sie leise lachen. Dann beugte sie sich zu ihm herüber, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. „Nein, du Idiot… ich vermisse dich erst heute Nacht, wenn ich alleine im Bett liege.“ Tabari hustete und kratzte sich blöd lachend am Kopf.

„Du liebe Zeit!“ Sie schüttelte lächelnd den Kopf über ihn, während sie auch mit den Händen über ihren Bauch fuhr. Das Kind strampelte drinnen. Bald wäre es soweit… sie war schon aufgeregt und fürchtete und erwartete den Tag gleichzeitig, an dem das Kind endlich ihren Bauch verlassen würde.

Unten im Hof standen alle Geisterjäger und auch Kelar in ihren typischen schwarzen Umhängen. Jeder von ihnen trug den Anstecker mit dem Pentagramm, dem Symbol der Geisterjäger. Wenn Tabari seine Prüfungen bestand, würde er ebenfalls einen Umhang und einen Anstecker tragen. Nalani hatte feierlich und ohne Tabaris Wissen beschlossen, während seiner dreitägigen Abwesenheit seinen Umhang zu nähen.

„Und wenn er es gar nicht schafft?“ hatte Kiuk blöd gefragt, und sie hatte ihn ausgelacht.

„Wird er. Wenn nicht, habe ich ihm gedroht, ihn zu verprügeln, deswegen wird er sich hüten!“

Jetzt waren auch Nalani, Kiuk, Salihah und Sukutai im Hof bei den Geisterjägern und Tabari, als sie die Prüfung eröffneten. Im Hintergrund tummelten sich alle Angestellten.

„Eigentlich erfüllst du die Voraussetzungen zur Prüfung nicht,“ begann Zoras Chimalis kalt, und Tabari starrte ihn an, ebenso alle anderen.

„Was?“ machte Kiuk. Kelar schnaubte.

„Chimalis, reiß dich zusammen, du bist hier in mein Grundstück eingedrungen…!“ Der Jüngere sparte sich einen niveaulosen Kommentar, der ihm so auf die Zunge kam beim Wort eingedrungen, und er hütete sich, in Kelars Anwesenheit nach Salihah zu linsen, obwohl er wusste, dass sie spüren würde, dass er innerlich zu ihr blickte.

„Tabari hat keine offizielle Lehre gemacht,“ erläuterte er dann seine Worte, „Du bist kein Lehrmeister, Kelar!“

„Ich bin der Herr der Geister, ich darf das, hüte deine Zunge, du notgeiler Bock.“

„Moment, soll das heißen, ich darf nicht?!“ japste Tabari entsetzt. Zoras brummte.

„Wenn wir das wollten, hätten wir uns das überlegt, bevor wir alle hier angetanzt sind. Nein, wir lassen es ausnahmsweise mal mehrheitlich entschlossen durchgehen… weil dein Vater als Herr der Geister…“ Er musste sich sehr überwinden um weiter zu sprechen, „Ja Ahnung davon haben muss. Also, Tabari, du wirst dieses Grundstück verlassen und drei Tage alleine und entfernt von Menschen durch die Wildnis laufen, wohin ist egal. Heute in drei Tagen wirst du dann in Tuhuli die zweite Prüfung ablegen, wir treffen uns dort wieder.“ Tabari nickte.

„Ich soll… einfach nur vor mich hin vegetieren drei Tage lang?“

„Du sollst isoliert sein, fern von Menschen oder Zivilisation,“ meinte Nomboh, „Wieso, wirst du auf deiner Reise selbst herausfinden. Aber es ist seit Jahrhunderten Tradition unter den Schamanen und sehr wichtig, wenn du die Prüfung bestehen willst. Verstanden?“ Wieder nickte der Blonde sehr ernsthaft. Sein Vater hob herrisch den Kopf.

„Dann geh!“ verlangte er und zeigte zum Tor, „Und ich erwarte, dass du deine Sache gut machst, Tabari! Ich hoffe, du enttäuschst mich nicht in drei Tagen.“ Tabari ging zum Tor und linste seinen Vater einen Moment an.

„Werde ich nicht. Dieses eine Mal nicht, verdammt.“
 

Nalani vertrieb sich die drei Tage damit, Tabaris Umhang zu nähen. Sie war keine geschickte Schneiderin und musste sich zwischendurch von Sukutai helfen lassen, die sehr geübt war im Nähen, aber sie gab sich die größte Mühe. Dabei summte sie sanfte Melodien für ihr strampelndes Kind, als würde sie es in ihrem Bauch in den Schlaf wiegen, während sie nähte.

Sie hatte sich überlegt, was wohl passieren würde, wenn sie eine Tochter bekäme. Kelar würde nicht einverstanden sein und vielleicht sogar versuchen, sie ihr wegzunehmen; sie würde das verhindern, egal, was sie tun müsste, sie würde verhindern, dass man ihr das Kind wegnahm, egal, welches Geschlecht es haben mochte.

Die Geister verschwiegen ihr, was es werden sollte. Sie versuchte, auf ihr Inneres zu hören und den Geist des Babys zu erreichen.

„Bist du ein Junge oder ein Mädchen, ungeborenes Kind von Tabari und Nalani?“

Aber das Kind antwortete ihr nicht. Niemand antwortete und es machte sie nervös.

Nachts träumte sie von einem Kind ohne Gesicht, das durch die Dunkelheit tanzte. Sie konnte nicht erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, denn sie sah es nur verschwommen hin und her laufen. Und plötzlich sprach es, aber mit verzerrter Stimme:

„Die Welt wird sterben.“
 

Sie fuhr keuchend aus dem Schlaf hoch. Der Morgen graute. Sie ließ sich seufzend wieder ins Kissen zurück fallen und fuhr sich zitternd mit den Händen über das Gesicht.

Nur ein Traum… wieso fürchte ich mich noch immer vor Träumen…? Ich sollte es langsam gewohnt sein…

Sie war Schwarzmagierin. Alle Schwarzmagier hatten mehr oder weniger ausführliche Träume und Visionen, je größer ihre Begabung zur Magie war, desto ausführlicher und weitreichender waren die Träume.

Unten hörte sie Schritte und großen Radau. Sie erhob sich, zog sich rasch an und verließ das Schlafzimmer. In der Halle fand sie Salihah, Kiuk und Sukutai, die über Nacht hier geblieben war, die sich zum Aufbruch bereit machten. Und es fiel ihr wieder ein; ach ja, die drei Tage waren um. Sie würden nach Tuhuli fahren und der zweiten Prüfung beiwohnen.

„Und niemand weckt mich?“ empörte sich die junge Frau und hielt sich den Rücken, „Wartet doch, ich mache mich fertig und komme auch mit.“ Salihah seufzte.

„Genau deswegen haben wir dich schlafen lassen, du bleibst hier,“ entschied sie, „Es tut mir leid, aber ich habe dir doch neulich schon gesagt, wieso du nicht mit der Kutsche fahren solltest. Die Straße nach Tuhuli ist uneben und völlig durchlöchert, es ist nicht angenehm für dich und für dein Kind schon gar nicht.“ Nalani starrte sie an.

„Ihr wollt mich einfach hier lassen?!“ rief sie entsetzt, „Tabari ist mein Mann, ich will mir das ansehen! Dann gehe ich zu Fuß nach Tuhuli!“

„Bis du zu Fuß da bist, ist es vorbei,“ seufzte die Schwiegermutter und machte eins schuldbewusstes Gesicht, „Vergib mir, ich hätte nicht einfach abhauen wollen dürfen… Kiuk wird bei dir bleiben, er will nur schnell Sukutai nach Tasdyna bringen, weil sie ihrem Vater versprochen hat, vor Mittag dort zu sein. Tu mir bitte den Gefallen und bleib im Schloss, Nalanichen. Ich würde mir sonst Sorgen um dich machen.“ Nalani schnaubte.

„Ist ja nicht so, dass ich platzen könnte!“ zischte sie dennoch verärgert, gab aber nach und sah zu Kiuk. „Dann begleite ich euch beide nach Tasdyna. Es sei denn, deine Mutter hält selbst das für zu gefährlich.“ Kiuk blinzelte und Salihah sah Nalani eine Weile schweigend an.

„Es war nicht recht von mir, dich einfach abzuservieren, das gebe ich zu,“ sagte sie und verneigte sich, „Aber es war nie meine Absicht, dich zu verärgern, glaub mir.“ Nalani seufzte.

„Das will ich auch hoffe,“ murrte sie beleidigt, hatte ihrer Schwiegermutter aber innerlich schon verziehen, als diese das Schloss verließ und Nalani sich fertig machte, um Sukutai mit Kiuk nach Tasdyna zu bringen.

„Meine Mutter meint es nicht böse, sie sorgt sich nur um dich,“ erklärte Kiuk auf dem Weg zu Sukutais Elternhaus. „Der Mond der Irrlichter ist beinahe vorbei, es kann nicht mehr lange dauern, bis dein Baby kommt. Und auf dem Weg oder während der Prüfung wäre es echt ungünstig. Nicht nur für dich, für Tabari ja auch, weil sie dann abbrechen müssten, um dein Baby zur Welt zu bringen, und Tabari müsste den ganzen Kram noch mal machen.“

„Die behandeln mich als wäre ich krank,“ seufzte Nalani, „Ich bin bloß schwanger.“

„Aber es ist dein erstes Kind und weil es für die Familie ein wichtiges Kind ist, sind alle vorsichtig,“ versuchte Sukutai es, „Mein Herr Vater war mit meiner Frau Mutter viel strenger, als sie mich erwartete, sie durfte kaum das Haus verlassen, es könnte ja etwas passieren.“

„Ist das nicht etwas übertrieben?“

„Natürlich ist es das, aber er wollte sie ja nur beschützen. Männer werden, wenn ihre Frauen Kinder erwarten, manchmal völlig idiotisch und müssen plötzlich betonen, was für tolle Beschützer sie sind, wir Frauen müssen ihnen das nachsehen.“ Kiuk schnaubte und Nalani erinnerte sich daran, wie Tabari so besorgt gewesen war, als er für drei Tage hatte weggehen müssen. Ja, an Sukutais Worten war etwas dran.

Sie dachte an Tabari. Ob die Prüfung schon angefangen hatte? Wohl kaum, Salihah konnte inzwischen kaum in Tuhuli angekommen sein. Sie ärgerte sich wieder darüber, es nicht sehen zu können; so hätte sie wenigstens erfahren, wie so eine Prüfung ablief, und wäre für ihre eigene vorbereitet. Wobei sie auch nicht wusste, wann sie dazu käme, diese Prüfung zu machen; erst mal hatte sie bald ein Kind, um das sie sich kümmern müsste. Da konnte sie nicht einfach drei Tage weg bleiben…
 

Sie verbrachte den Tag damit, den Umhang fertig zu nähen; eigentlich war er schon fertig gewesen, aber sie vertrieb sich die Zeit damit, kleine Verbesserungen vorzunehmen, die eigentlich so gut wie überflüssig waren. Am Nachmittag machte sie mit Kiuk und den gesamten Bediensteten ein Teekränzchen, bei dem der Küchenjunge heiter die Vor- und Nachteile der Eselzucht erörterte und das dumme Stallmädchen von Kiuk beigebracht bekam, ihren Namen zu schreiben. Eine etwas ältere Dienerin erzählte Nalani über das Kinderkriegen.

„Es ist schmerzhaft, dass man glaubt, man würde zerreißen… aber wenn das Kind auf der Welt ist, ist das der schönste Augenblick im ganzen Leben. So ein kleines, schreiendes, zappelndes Ding auf dem Arm zu halten und zu wissen, das ist mein Kind, das habe ich auf die Welt gebracht, das ist unbeschreiblich schön, Herrin. Ich hoffe sehr, dass Ihr es auch bald so empfindet werdet.“

„Ich danke dir,“ meinte Nalani darauf lächelnd, „ich hoffe es auch.“

Als Tabari mit seinen Eltern zurück ins Schloss kehrte, dämmerte es schon. Sobald sie Schritte und Stimmen hörten, eilten Nalani und Kiuk gefolgt von dem Küchenjungen und dem jetzt seinen Namen schreiben könnenden Mädchen in die Halle, um die Restfamilie zu begrüßen.

„Und?“ machte Kiuk verdutzt, als er erst seinen wie immer herrischen Vater und dann seine ebenso kalte Mutter erblickte und dann seinen Bruder, der völlig gerädert durch die Tür stolperte. „Du liebe Zeit.“

„Was ist denn hier für ein Zirkus?!“ pflaumte Kelar Lyra die Bediensteten an, „Macht, dass ihr verschwindet, und wieso steht das Abendessen noch nicht auf dem Tisch?! Wir haben ein ausgiebiges Festmahl zu halten zu Ehren von Tabaris Prüfung, ihr Lumpen!“

Nalani blinzelte, während Tabari hinter sich die Tür schloss und sich durch die zerzausten Haare fuhr.

„Dann hast du es geschafft?“

Ihr Mann seufzte, lehnte sich gegen die Tür und zog mit einer Hand etwas kleines aus seiner Manteltasche, das er ihr vor die Füße warf, weil er unfähig war, die Hand lange ausgestreckt zu halten. Nalani erkannte den goldenen Pentagramm-Anstecker.

„Was dachtest du denn…? Dass ich mich von dir verhauen lasse, Nalanichen…?“ Er grinste jetzt breit. „Ich komme mir vor wie ein gegrillter Fleischspieß, aber… ich hab's geschafft!“
 

Während die Diener hurtig das große Essen vorbereiteten und die Familie schließlich am Tisch saß, um Tabaris Erfolg gebührend zu feiern, musste der arme Kerl in aller Ausführlichkeit berichten, was er erlebt hatte. Er erzählte von den drei Tagen in der Wildnis und von der viel schwereren zweiten Prüfung in Tuhuli. Vor allem Nalani war völlig fasziniert von dem, was er erzählte.

„Wenn du Geisterjäger werden willst, musst du ja mit den anderen auf einer Stufe sein, deswegen musst du einen von ihnen besiegen oder wenigstens ein Unentschieden schaffen. Und die nehmen keine Rücksicht, die sind knallhart. Und Hakopa Kohdar war ein ziemlich harter Brocken, glaube ich, jedenfalls hat er es mir echt schwer gemacht.“

„Du hast gegen Hakopa Kohdar gekämpft?“ machte Kiuk perplex. „Und gewonnen?“

„Ziemlich knapp, aber ja,“ gluckste Tabari, „Aber es war nicht einfach, ich bin Windmagier und die Kohdars sind von Natur aus Feuermagier, und mit Wind fache ich das Feuer eher an…“

„Wer bestimmt, wer dein Gegner ist?“ kam es von Nalani.

„Die losen das aus. Abgesehen vom Herrn der Geister hätte ich jeden erwischen können; der Herr der Geister steht ja noch eine Stufe über den anderen, dass ich meinen Vater also heute hätte schlagen können ist völlig ausgeschlossen.“

„Du liebe Zeit, und jetzt erzähl, wie hast du es geschafft, ihn fertig zu machen?“ staunte Kiuk, und während Tabari erzählte, holte Nalani ihren Umhang, den sie ihrem Mann dann feierlich um den Hals hängte, während er noch bei Tisch saß. Er sah verblüff zu ihr hoch und dann auf den schwarzen Stoff, während sie ein seltenes, liebevolles Lächeln zeigte.

„Nanu?“ machte er, „Du hast das für mich gemacht?“

„Nein, der lag zufällig auf dem Komposthaufen herum und da dachte ich, nimm ihn mal mit…“ war ihre schnippische Antwort, und er musste lachen, erhob sich und drückte ihr vor versammelter Mannschaft einen Kuss auf den Mund.

„Du kriegst wirklich jedes Wort in den falschen Hals,“ seufzte er dann, „Das ehrt mich sehr, Nalani, ich danke dir.“ Er zupfte vergnügt an seinem neuen Umhang und lächelte. Sie seufzte auch und rückte das schwarze Stück auf seinen Schultern zurecht, weil er es schief gezupft hatte.

„Von wegen falscher Hals, das ist Ironie, du Depp.“

„Und Respekt hat sie immer noch nicht,“ schnaubte Kelar am anderen Tischende und schwenkte empört sein halb volles Weinglas, „Spricht man so mit einem Mann, noch dazu mit einem Geisterjäger?“

„Du solltest sie nicht zu viel tadeln, sonst bringt sie dir keinen gesunden Enkelsohn zur Welt,“ machte Salihah prompt, und Kelar verschluckte sich an seinem Wein und hustete. Oh, nein, das war nicht gut. Er linste Nalani an, die mit Tabari über den Umhang diskutierte, und sah auf ihren sehr runden, großen Babybauch.

Ich warne dich, Wachtel… wenn dein Kind verkrüppelt ist oder hässlich, oder schwach oder ein Weibchen, dann werde ich es mit eigenen Händen töten… egal, was du dagegen haben magst!
 

Jetzt, wo Tabari Geisterjäger war, schien wenigstens Kelars Zorn sich etwas gelegt zu haben. Oder er war nervös, weil die Geburt des ersten Enkelkindes kurz bevor stand.

Nalani träumte wieder von dem Kind ohne Gesicht. Es lief durch die Dunkelheit und sie erkannte nur seine Umrisse, während es sprach:

„Die Welt wird sterben.“

Die junge Frau wachte auf und ihr Bauch schmerzte unangenehm. Stöhnend drehte sie sich auf die Seite, weg von ihrem mann, der neben ihr schlief und dabei leise vor sich hin schnarchte. Der Schmerz war vorüber, als sie auf der Seite lag, und benommen versuchte sie, wieder einzuschlafen. Aber sie konnte nicht… was wollte dieser Traum ihr sagen? Wieso hatte das Kind kein Gesicht?

War ihr Kind etwa doch ein Krüppel?

Sie keuchte – in dem Moment kehrte der Schmerz mit ungeahnter Heftigkeit zurück. Jetzt setzte sie sich vorsichtig auf und fasste keuchend nach ihrem runden Bauch. Nichts rührte sich, aber es schmerzte. Sie erhob sich murrend und beschloss, sich unten aus der Küche ein Glas Wasser zu holen. Doch auf dem Weg in die Küche halfen ihr plötzlich die Erdgeister, die Situation zu begreifen.

Die Schmerzen sind Wehen. Dein Kind wird jetzt auf die Welt kommen!

Nalani blieb auf halber Treppe stehen. Das Kind kam? Keuchend fuhr sie herum und starrte zum Fenster des Flurs. Draußen sah sie den bereits wieder abnehmenden Mond des Holzmondes. Der Vollmond war fast zwei Tage vorbei.

Es ist Zeit, Nalani, sagten die Geister. Das neue Leben wird jetzt kommen.

Sie ging ohne Wasser zurück ins Schlafzimmer und weckte Tabari.

„Wach auf, du Penner, das Kind kommt jetzt!“ Tabari setzte sich erschrocken blinzelnd auf.

„W-was?“ gähnte er, „W-wovon redest du… weißt du, dass es mitten in der Nacht ist?!“

„Das ist dem Kind in meinem Bauch egal, du Honk,“ machte sie verblüfft und zischte, als wieder ein Schmerz durch ihren Unterleib schoss. Tabari merkte, dass sie es ernst meinte, und er erhob sich entsetzt.

„W-was zum… leg dich hin, i-ich wecke meine Mutter!“ Nalani seufzte, während er aus dem Zimmer stürzte, als gäbe es kein Morgen. Sie ihrerseits verfrachtete sämtliche Decken und Kissen als Rückenstütze ans Kopfende des Bettes. Mist, sie bräuchte eine Unterlage, so eine Geburt machte sicher Dreck; wie sollten sie in einem versifften Bett noch schlafen? Sie zog in aller Ruhe den Bettvorleger vom Boden und klopfte ihn kurz aus; es war das Fell eines Panthers, den Tabari irgendwann vor Jahren mal erlegt hatte, worauf er sehr stolz gewesen war. Dann legte sie das Fell auf das Bett und sich selbst darauf, in dem Moment kam Salihah mit ein paar Dienstmädchen herein. Tabari folgte ihnen und schrie.

„Moment, w-was macht denn das Pantherfell auf dem Bett?!“

„Das ist meine Unterlage, das wird das Blut aufsaugen,“ verkündete seine Frau kalt, die es sich gemütlich machte, und Tabari keuchte.

„Was?! Bist du verrückt, dieses Fell ist eine Jagdtrophäe, ich bin sehr stolz darauf!“

„Du kannst auch stolz darauf sein, denn dieses Fell wird das erste sein, was dein Kind auf dieser Welt spüren wird. Ist das keine Ehre?“

„Frauenblut auf meinem Pantherfell!“ jammerte er – da wurde er plötzlich von seiner Mutter am Kragen gepackt und zur Tür geschoben.

„Ihr Männer sie Nichtsnutze, wenn wir Frauen Schmerzen haben, also bleib draußen, hier drinnen machst du uns nur wahnsinnig! Schließ die Tür, Tabari!“

„W-was, aber, Moment…“ Unter Protest wurde er hinaus geschoben und Salihah schloss selbst die Tür, öffnete dafür aber das Fenster, wobei ein kalter Wind ins Zimmer pustete.

„Keine Sorge, Nalani, noch geht es dir wohl gut… die Schmerzen werden noch kommen.“
 

Tabari fuhr auf dem Flur zusammen, als er seine Frau schreien hörte. Sein Vater und Kiuk waren inzwischen auch herbei geeilt.

„Wieso lassen die mich nicht rein?!“ jammerte der Blonde, „Ich bin schließlich der Vater!“

„Was willst du da drinnen?“ brummte Kelar Lyra reichlich gelassen, „Das ist Frauensache, es wird nur Schmerzen, Blut und Geschrei geben, du verpasst nichts, glaub mir. Außerdem gehört es sich für Männer nicht, einer Geburt beizuwohnen.“

„Aber ich sorge mich…“

„Jammere nicht,“ knurrte sein Vater scharf, „Wenn dein Sohn seinen Vater gleich als Waschlappen kennenlernt, ist es keine große Ehre für unsere Vorfahren, tse!“ Sie hörten Nalani erneut schreien und Tabari raufte sich nervös ein und aus atmend die blonden Haare.

„Du kannst gar nicht wissen, ob es ein Sohn wird, Vater,“ machte Kiuk schnippisch, und Kelar spuckte aus.

„Wenn es keiner wird, wird es ersäuft, also ist es egal! Entweder es wird ein Sohn oder es wird sterben!“
 

„Streng dich an!“

Salihahs Stimme war kalt und schneidend wie ein frischer Frühlingswind, und Nalani keuchte. Die Schmerzen waren grauenhaft und hatten sich extrem gehäuft, während auf dem Bett lag und presste, um das Kind zwischen ihren Schenkeln hervor zu zwängen. In ihr saß die Angst vor dem Traum, den sie oft geträumt hatte, dem Traum mit dem Kind ohne Gesicht. Wenn das ein Zeichen der Geister gewesen war…?

Salihahs Hand war kalt, als sie über Nalanis verschwitzte Stirn strich.

„Denk nicht an Geister,“ riet die ältere Frau ihr leise. „Konzentriere dich auf diese Geburt deines Kindes, alles andere, Träume, sind jetzt egal. Pressen, Nalani!“

„Aber ich fürchte mich…“ stöhnte Nalani und lehnte keuchend vor Schmerzen den Kopf zurück. „I-ich hatte einen seltsamen Traum…!“

„Sprich nicht von Visionen, während du ein Leben gebärst!“ zischte Salihah, „Nachher bewahrheiten sich schlimme Ahnungen, Nalani! – Mädchen, haltet sie fest,“ Sie sah zu den Dienerinnen, die Nalanis Arme festhielten, dann wieder zu Nalani, ehe sie sich zwischen ihre Schenkel hockte und nach dem Kind sah. „Es wird sich noch ziehen, du musst durchhalten.“

„I-ich möchte etwas trinken…“ stöhnte die Jüngere erschöpft, und Salihah zitierte eine weitere Dienerin aus dem Raum, um ein Glas Wasser zu bringen.

Der Morgen graute.
 

Es war beinahe Mittag, als die Dienerin zum dritten Mal hinaus eilte, um Wasser zu holen. Wenn sie die Tür öffnete, versuchte Tabari erschrocken, einen Blick hinein zu werfen, aber die Tür war immer so schnell wieder zu, dass er nichts zu sehen bekam.

„Ist das Kind da?!“ fragte er die Dienerin aufgeregt, und sie rannte an ihm und den zwei anderen vorbei.

„Nein!“ machte sie nur.

„Das dauert aber lange,“ bemerkte Kiuk ebenfalls kleinlaut, der am Boden saß. Kelar ging jetzt auch etwas nervöser als in der Nacht auf und ab.

„Das gehört so, deine Mutter hat fast einen ganzen Tag gebraucht, um Tabari zu gebären!“ schnaubte er dabei empört. „Wenn es lange dauert, heißt es, das Kind hat einen starken Geist und wehrt sich! Das ist ein besseres Zeichen als wenn es einfach da ist!“

„Wenn du das sagst,“ schnaubte der Sohn nur mäßig beeindruckt. Wenn es lange dauerte, bedeutete das mehr Schmerzen für die arme Nalani, das war alles, was ihm dazu einfiel; was Kelar natürlich egal war. Die Dienerin kam mit dem Wasser zurück und schlüpfte ins Zimmer. Nalani schrie laut auf, als die Tür aufging, und Tabari fuhr vor Schreck zusammen, als er sie schreien hörte.

„Was ist denn da drinnen?!“ jammerte er, „G-geht es Nalani gut?!“ Aber ihm wurde abermals die Tür vor der Nase zugeknallt. Tabari fluchte. „Ich gehe da rein!“ schwor er entsetzt, „Ich habe Angst, verdammt, ich will da rein!“

„Du entehrst die Geburtsgeister, du bleibst hier!“ pflaumte sein Vater ihn an funkelnd an, „Untersteh dich!“ Tabari fiel es schwer, aber er gehorchte gezwungenermaßen.
 

Nalani presste mit aller Kraft, dass sie das Gefühl hatte, ihr Unterleib würde zerreißen. Eine Dienerin flößte ihr vorsichtig frisches Wasser ein, eine von denen neben ihr strich ihr über die Stirn.

„Strengt Euch an, Herrin, Ihr schafft es!“

„Es ist gleich soweit,“ motivierte Salihah sie auch und fuhr mit den Händen über Nalanis gespannten Bauch, „Pressen!“ Und sie presste und schrie dabei, als der Schmerz plötzlich in einem grausamen Höhepunkt gipfelte in dem Moment, als sie den Kopf ihres Babys zwischen ihren Schenkeln hervor presste… dann spürte sie plötzlich, dass der Schmerz nachließ und wie es warm zwischen ihren Schenkeln heraus floss, als die Fruchtblase erst jetzt sprang und das Fruchtwasser sich über das Pantherfell unter ihr ergoss. Nalani ließ sich stöhnend zurück ins Bett sinken vor Erschöpfung, und Salihah machte ein überraschend erfreutes Geräusch.

„Seht, schnell!“ rief sie, und die Dienerinnen lugten auf das Fell, auch Nalani hob trotz ihrer Erschöpfung neugierig den Kopf. Im selben Moment sprang die Tür auf und Tabari kam gefolgt von Kiuk und Kelar auch herein geplatzt.

„Ist es da, ist es da?!“ rief der Blonde aufgeregt, und Nalani starrte auf das Neugeborene zwischen ihren Beinen, das auf dem Fell zappelte, und sie keuchte.

Die Fruchtblase war noch auf dem Kopf des Kindes und verhüllte sein kleines Gesicht, sodass sie es nicht erkennen konnte. Plötzlich verstand sie ihren Traum – in dem Moment griff Salihah lachend nach dem Kind und streifte zärtlich und behände die weißliche Haut von dem kleinen Körper.

„Es hat eine Glückshaube!“ erklärte sie, „Alte Legenden sagen, Kinder, die mit der Fruchtblase auf dem Kopf zur Welt kommen, haben besondere Sehensgaben und werden sehr talentiert… na, so ein Glück! Jetzt schrei schon, Kleiner…“ Sie gab dem Baby einen Klaps und es fing aus vollen Lungen an zu schreien. Tabari schrie vor Schreck ebenfalls und Nalani ließ sich wieder in die Kissen fallen vor Erschöpfung, aber sie strahlte, als sie zum ersten Mal ihren gesunden kleinen Sohn betrachten konnte, wie er auf den Armen seiner Großmutter lag und strampelte und schrie.

„Ein Junge!“ freute Kiuk sich erleichtert, „Siehst du, Vater, alles gut!“

„D-das ist mein Sohn…“ japste Tabari, während Kelar nichts sagte, und der Blonde taumelte zum Bett und seiner Frau, „Unser Sohn, Nalanichen!“ Er strahlte sie glücklich an und sah zu, wie seine Mutter das Baby auf Nalanis Bauch legte, damit sie es auch zum ersten Mal selbst halten konnte. Nalani weinte vor Freude, als sie das kleine Wesen berühren und halten konnte, und sie spürte, wie Tabari ihren Kopf zu streicheln begann und ihre Wange küsste. „Ich bin stolz auf dich, Frau… das hast du gut gemacht!“

„Sieh ihn dir an…“ wimmerte Nalani glücklich, „Ist es nicht das wunderschönste Baby auf der Welt, Tabari?“

„Das ist es wirklich!“ strahlte er sie an. Salihah seufzte.

„Tut mir leid, euch so auseinander reißen zu müssen, aber wir sind noch nicht fertig. Ich muss die Nabelschnur trennen und das Kind muss gewaschen und eingewickelt werden, das Bett und Nalani müssen gesäubert werden – Tabari, hilf deiner Frau beim Waschen, Kiuk, hol neues Bettzeug und Laken.“ Die Söhne folgten den Befehlen artig und Kelar hielt sich hier für überflüssig und verließ den Raum, während alles vorbereitet wurde.
 

Als endlich alle sauber und frisch angezogen waren und das Bett frisch bezogen, versammelte sich die Familie wieder um das Bett, in dem Nalani an mehrere dicke Polster gelehnt halb aufrecht saß und den kleinen Jungen an ihre Brust gelegt hatte. Das Kind saugte zufrieden und die Mutter hielt es glückseelig in ihren Armen, während Tabari am Fußende des Bettes saß und gerührt zusah, wie sie den Kleinen stillte.

„Es wird Zeit, dem neuen Kind einen Lebensgeist zu geben,“ sagte Kelar Lyra dann feierlich, worauf alle zu ihm sahen, abgesehen von dem Baby, das weiter trank. „Ihr solltet eurem Sohn einen Namen geben, der ihm gebührt, er ist immerhin der zukünftige Erbe des Lyra-Clans!“ Nalani sah ihn an und ihre Augen verengten sich. Ihr gefiel der Ton nicht, in dem der Großvater über den Enkel sprach. Da war es wieder, das Objektive; ihr Baby war für ihn nicht mehr als ein Erbe, kein Mensch! Unwillkürlich drückte sie das Kind etwas dichter an sich und es stieß ein abgehacktes Wimmern aus, als müsste es protestieren, weil es gedrückt wurde. Sie strich mit der Hand über den Flaum dunkler Haare auf dem kleinen Köpfchen.

Tabari sah erst zu seinem Vater, dann zu seiner Frau, und als er ihren verengten Blick sah, wurde ihm kalt ums Herz. Ja, er wusste es auch… sein Vater erwartete von ihm, das Kind jetzt nach irgendwelchen seiner Vorfahren zu benennen, am besten vermutlich nach Kelars Vater Beksem, um dessen Geist zurück in die Welt der Lebenden zu holen. Er war der Vater des Jungen, es war seine Aufgabe, den Namen zu wählen und damit das Leben des Kindes zu gewähren. Erst der Name gab einem Kind einen Lebensgeist und machte es zu einem Menschen, so sagte man schon seit Jahrhunderten.

Verdammt.. dieses Kind ist ein Kind und nicht bloß ein Erbe, nicht bloß eine Züchtung des Lyra-Clans…

Der Blonde sah auf seine Frau und schnappte nach Luft.

„Ich… lasse meine Frau Nalani dem Kind einen Namen geben und damit einen Lebensgeist!“
 

Alle starrten ihn an, besonders sein Vater. Tabari wusste, dass er ihn jetzt vergrault hatte; es war ihm egal. Es war sein Sohn und nicht Kelars, er entschied, wie das Kind heißen sollte! Und er hatte entschieden, Nalani entscheiden zu lassen.

Kelar schnaubte.

„Du entehrst also unsere Vorfahren, indem du ihnen verweigerst, zurück in diese Welt zu kehren?!“ zischte er, und Tabari senkte den Kopf.

„Es ist meine Entscheidung als Vater, nicht deine. Du hast bei Kiuk und mir deine Vorfahren geehrt, Nalani soll auch eine Chance haben, ihre Vorfahren zu ehren, denn nach ihr wird es vielleicht niemand mehr tun, wenn der Kandaya-Clan einst vergessen ist! Und ich werde mit Stolz jeden Namen annehmen, den meine Frau auswählen mag!“ Er sah zu Nalani und Kelar schnaubte abermals. Salihah seufzte.

„In Ordnung. Nun, Nalani, welchen deiner Vorfahren wirst du ehren und seinen Namen deinem Sohn geben?“ Die junge Mutter sah auf das Kind und schwieg lange. Als sie sprach, sah sie vor allem Tabari an.

„Ich werde gar keinen Namen irgendeines toten Mannes nehmen,“ verkündete sie, und jetzt starrte der Herr der Geister sie komplett entsetzt an. Wie bitte, gar keinen? Was für eine Beleidigung aller Geister! „Ich möchte dem Kind einen eigenen Namen geben, den keiner unserer Vorfahren hatte, denn ich möchte, dass mein Sohn einen eigenen geist hat! Einen eigenen, starken Geist, der nicht von den Einflüssen irgendwelcher toter Vorfahren abhängig ist!“ Tabari sah sie ungläubig an, auch Salihah und Kiuk waren erstaunt. Dann lächelte Salihah.

„Das klingt gut und vernünftig!“ gestand sie, „Sag uns deinen Namen, den du ihm geben möchtest!“

„Tss, so eine Ketzerei!“ zischte Kelar und wandte sich kopfschüttelnd und erbost ab. Nalani ließ sich nicht beirren und streichelte ihr Baby.

„Ich möchte ihn Puran nennen,“ verkündete sie lächelnd, „Ich habe ihn angesehen und gedacht, so muss er heißen. Es ist, als hätten die Geister selbst es mir zugeflüstert.“ Jetzt sahen alle außer Kelar erwartungsvoll zu Tabari. Der Blonde erhob sich feierlich.

„Dann sei es so,“ bestimmte er ernst. „Dann nehme ich, Tabari Lyra, das Leben meines Sohnes Puran jetzt an… so, wie meine Frau es sich wünscht!“
 

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so, ging fix, ich weiß úû' extra für Kimi die nicht länger warten wollte XD Und äh, yay, Tabari war lieb, und doppelyay, Puranchen ist da XD

Schattengeist

Mit der Geburt des kleinen Sohnes von Nalani und Tabari schien sich alles zum Guten zu wenden. Selbst Kelar war plötzlich vollkommen friedlich, wenn er im Schloss war, und es war schon lange niemand mehr hingerichtet worden, weil er nicht kniete oder sonst wie aufsässig gewesen war. Und nicht nur das, er setzte sich sogar scheinbar friedlich mit den anderen Geisterjägern zusammen, um seit Jahren die erste Pseudo-Ratssitzung mit ihnen abzuhalten. Auch, wenn der dauerskeptische Zoras nicht daran glauben wollte, dass Kelar den Rat wieder einsetzen würde.

„Der spielt jetzt Wolf im Schafspelz, weil er sich über seinen Enkel freut,“ erklärte er einmal mürrisch, „Wahrscheinlich will er uns nur auch endlich zum Knien zwingen und versucht uns auf die diplomatische Art zu unterdrücken. Er kann machen, was er will, ich traue seinem Frieden nicht, es sei denn, die Geister bestätigen es mir, und das tun sie nicht, in meinen Träumen brennt immer noch der Himmel.“

Was immer Kelar vorhaben mochte, die anderen ließen sich auf sein Spielchen ein und hielten dennoch wachsam die Augen offen, um im richtigen Moment genau wie er die Zähne fletschen zu können.
 

Nalani war das alles gleichgültig. Sie hatte keine Zeit, sich um Kelar oder seine Tyrannei zu kümmern, sie hatte auch keine Zeit, sich um das Wohl des Landes zu sorgen. Ihre ganze Aufmerksamkeit und Liebe gehörte jetzt ihrem kleinen Puran, und das Tag und Nacht. Tabari war ab und zu mit den anderen Geisterjägern unterwegs oder auf den eigenartigen Ratssitzungen, die offiziell gar keine waren, aber wenn er zu Hause war, erfreute er sich der Gesellschaft seiner hübschen Frau und seines kleinen Kindes. Er hatte Nalani noch nie, seit er sie kannte, so glücklich erlebt. Sie strahlte, wenn er sie ansah, und sie summte, während sie ihren Sohn an der Brust hielt und ihn ausgiebig Milch trinken ließ. Der Blonde war völlig entzückt und erstaunt, dass ein so kleines Wesen wie dieses Baby, das weder laufen noch sprechen noch sonst etwas konnte, seine kalte, mürrische Nalani so von Kopf bis Fuß verändern konnte. Sie war wie eine Knospe, die ewig geschlossen gewesen war und jetzt plötzlich in voller Schönheit erblüht war; und ein Ende der Blütezeit schien niemals zu kommen.
 

„Kiuk, was ist eigentlich mit dir und Sukutai?“ fragte Nalani ihren Schwager eines Tages, während sie zusammen in der Stube saßen und Tee tranken. Tabari und Kelar waren wieder einmal auf einer der ominösen Sitzungen und Salihah war in der Provinz unterwegs, um nach dem Rechten zu sehen, nicht, dass ihnen ein verkohltes Dorf entgangen war oder andere Schweinereien hinter ihrem Rücken geschahen.

Kiuk hustete.

„W-was meinst du?“ fragte er verwirrt, und Nalani wiegte sanft ihr Kind in ihren Armen hin und her. Der Kleine lag vor sich hin dösend da und hatte die Augen geschlossen. Sukutai hatte nach seiner Geburt hübsche Kleider für das Baby genäht und sie strahlend vor Stolz den jungen Eltern geschenkt, jetzt trug das Kind Sukutais Geschenk.

„Na, wann heiratet ihr endlich mal und bekommt auch Kinder?“ lachte Nalani und grinste, als er errötete und hastig einen Schluck Tee trank. „Jetzt tu nicht so verlegen, ihr schlaft doch sowieso miteinander! Ob dabei nun ein Kind entsteht oder nicht ist doch kein großer Unterschied.“

„Du liebe Zeit,“ hüstelte der Schwager nur und sah mit flammendem Kopf auf seinen Schoß. „A-also, ich meine, wir haben noch nie darüber gesprochen, ich weiß gar nicht, ob ihr Vater damit einverstanden wäre, wenn wir heiraten…“

„Wenn er was dagegen hätte, hätte er ihr längst verboten, dich zu treffen,“ Nalani schnaubte entrüstet, „Alle warten nur darauf, dass du sie endlich fragst, ob sie dich heiraten will, du Torfkopf, also halt dich ran!“

„D-das ist doch nicht wahr…“ stöhnte Kiuk, „Hey, ich, ähm… das ist nicht so einfach, ihr wurdet ja einfach so verheiratet, aber ich kann Sukutai das doch nicht fragen!“

„Natürlich, außer dir kann es niemand,“ lachte sie, „Sie als Frau hat nicht das Recht, dich zu fragen, du wirst es tun müssen. Es sei denn, du willst sie gar nicht heiraten?“ Kiuk seufzte.

„Doch, also… ich liebe sie sehr, natürlich würde ich sie heiraten, aber… ich komme mir doof vor, sie zu fragen… oder gar ihren Vater… er ist ein netter Mann und höflich, aber ich… fürchte mich davor, dass er Nein sagt…“

„Wieso sollte er?“ Die Schwarzhaarige verdrehte die Augen und verlagerte das Gewicht des Kindes auf die andere Armbeuge. Dabei wachte der Kleine auf und fing an, zu quengeln. Sie lächelte und hob das unglückliche Baby hoch, um das kleine Gesichtchen genau vor ihres zu halten. „Was ist denn, hmm? Habe ich dich aufgeweckt, mein süßer Schatz? Mein kleiner Liebling, hmm…? Tut mir leid, Puranchen, nicht weinen.“ Kiuk beobachtete voller Bewunderung, wie Nalani mit dem Baby sprach und es zärtlich beruhigte. Sie küsste den Kleinen auf den Kopf und legte ihn wieder in ihre Armbeuge, um ihn sanft hin und her zu wiegen, dabei wurde sein Jammern tatsächlich leiser und er schloss blinzelnd die Augen wieder. „Er hat Tabaris Augen,“ erklärte Nalani Kiuk da lächelnd, „Meistens hat er sie ja zu, weil er schläft, aber wenn er sie mal aufmacht, möchte ich ewig seine Augen ansehen, sie sind wunderschön.“ Kiuk lächelte auch.

„Glaube ich dir gern…“ Sie strahlte.

„Ah, aber nicht vom Thema ablenken,“ fiel ihr dann ein und Kiuk verdrehte seufzend die Augen, worauf sie wieder lachte. Jetzt legte sie ihren Sohn vorsichtig in den kleinen Tragekorb, der auf dem Sofa stand und der mit weichen Decken und Kissen gefüllt war. In diesem Korb trug sie das Kind manchmal durch das Schloss; sie ließ es niemals aus den Augen, nie verließ sie ohne das Kind den Raum und das Schloss schon gar nicht. Wenn sie baden wollte, badete sie das Baby auch. Manchmal badeten sie und Tabari und das Baby zusammen, was sehr angenehm war. Plötzlich sehnte sie sich nach ihrem Mann, als sie so an ihn dachte, und sie seufzte leise. „Also, Kiuk, mach Sukutai endlich einen Antrag, und wenn sie Ja sagt, fragst du ihren Vater! Ich bin sehr sicher, dass beide einverstanden sein werden. Sukutai und du, ihr seid so lange zusammen, ihr wart doch schon zusammen, bevor ich schwanger wurde, und Puran lebt schon fast drei Monde!“

„Aber… ich wüsste nicht mal, was ich sagen soll, ich kann mich doch nicht einfach hinstellen und fragen Hey, Sukutai, willst du meine Frau werden? Ja? Toll, lass uns deinen Vater fragen!

„Stell dich nicht blöder als du bist, du verstehst ja wohl mehr von Romantik als dein Bruder, du kriegst das schon hin! Versprich mir, dass du darüber nachdenkst! Stell dir vor, wenn ihr zwei heiratet, wohnt Sukutai bei uns, und wenn ihr Kinder bekommt, hat mein Sohn später jemanden zum Spielen.“ Kiuk musste verlegen lachen.

„Na ja, wir werden ja sehen… versprechen tu ich's dir nicht, Nalani, ich würde mich schämen, wenn ich zu feige wäre, es zu halten.“ Die Frau grinste.

„Dann sei eben mutig…“
 

Als Tabari am Abend alleine heim kam, weil Kelar in Yiara geblieben war, war Nalani schon mit dem Kind im Schlafzimmer. Der Kleine schrie, als sein Vater ins Zimmer kam.

„Na, da komme ich wohl gerade ungelegen,“ grinste der Blonde und schloss die Schlafzimmertür, während Nalani zur Wiege eilte, das Kind hoch nahm und es leise summend auf ihren Armen zu wiegen begann.

„Nein, er hat Hunger,“ belehrte sie ihren Mann, als sie zu ihm ging und ihm zur Begrüßung einen zärtlichen Kuss gab. „Zeit für dein Abendbrot, mein kleiner Liebling, hmm?“

„Du verwöhnst ihn zu sehr,“ lachte Tabari und nahm seinen schwarzen Umhang ab, während sie sich summend auf das Bett setzte, ihre Bluse aufschnürte und dem Baby ihre linke Brust hinhielt. Der Kleine begann sofort gierig zu saugen und streckte die winzigen Händchen nach dem Busen der Mutter aus. „Er wird noch ganz verzogen, weil du immer sofort zur Stelle bist, wenn er plärrt.“

„Soll ich ihn etwa schreien lassen?“ fragte sie verblüfft, und Tabari gluckste.

„Nimm nicht alles so ernst, was ich sage, Hübsche.“ Er raufte sich ein paar Mal die Haare und setzte sich schließlich dicht neben sie auf das Bett, um mit einer Hand durch ihre Haare zu streicheln und dabei lächelnd auf seinen kleinen Sohn zu blicken, der glücklich trank und sich nicht stören ließ. Dann hob Tabari seine andere Hand und strich dem Kind über das Köpfchen und die dunklen Haare. Als es satt war, gab es ein zufriedenes Schmatzen von sich und löste sich von Nalanis Brust. Sie nahm den Kleinen hoch und legte ihn dann unerwartet in Tabaris Arme.

„Halt ihn mal,“ verlangte sie, „Er ist ganz leicht.“

„Nein, jetzt sicher noch zwei Tonnen schwerer, weil sein Bauch jetzt voller Milch ist,“ lachte Tabari, nahm sein Söhnchen aber liebevoll auf die Arme und sah in das hübsche kleine Gesicht. Das Kind hatte die grünen Augen vor Staunen weit aufgerissen, als sehe es seinen Vater zum ersten Mal. „Na? Hast du mich schon vergessen, Puran? Ich bin dein Vater!“ Er hielt ihm seine Hand vor die Nase und stutzte, als der Kleine mit dem Händchen nach Tabaris Finger griff. Nalani hatte sich erhob und begonnen, ihre Frisur zu lösen, als sie zu ihrem Mann und dem Baby sah und lächeln musste. Tabari war ganz entzückt, weil der Kleine sich an seinen Finger klammerte. „S-sieh ihn dir an, Nalani… sieh, wie er sich festhält…“ Sie senkte immer noch gerührt lächelnd den Kopf.

„Ja, als wolle er sagen… Geh nicht fort, Vatilein, bleib bei mir! ...“
 

Als der Kleine müde war, legte Nalani ihn in seine Wiege und sich selbst dann mit ihrem Mann ins Bett. Er rollte sich sofort auf sie und begann, sie zu küssen, während sie die Arme um seinen Nacken schlang und ihn zu sich herunter zog.

„Ich hab dich vermisst, als ich in Yiara war,“ murmelte Tabari dann, als sie den innigen Kuss beendeten und sie seufzend begann, sein Hemd nach oben zu streifen. Seine Hände fuhren sanft unter ihr Nachthemd und sie sog scharf die Luft ein, als seine Finger ihre Brüste erreichten und sie sanft streichelten. Oh ja, sie hatte ihn irgendwie auch vermisst. Sie würde es sich nie eingestehen und es ihm auch niemals sagen, aber er wusste es auch ohne dass sie es sagte. „Ich habe dich… jede Nacht vermisst, meine Hübsche… meine Nalani…“ seufzte er dann weiter und begann zärtlich, ihren Hals hinab zu küssen, während er ihr Nachthemd ganz hoch schob und somit ihre nackten Brüste entblößte, die er jetzt sanft erfasste. „Die Politik langweilt mich, ich würde lieber den ganzen Tag mit dir und unserem Baby verbringen…“

Nalani schob sein Gesicht murrend von ihrem Hals weg und sah ihn mit einem Blick an, der an sich keiner weiteren Worte bedurfte – und sie sprach doch:

„Ich rede erst wieder mit dir, wenn du nackt bist! Also beweg dich, Tabari!“
 

Er war artig und gehorchte. Nalani wurde sehr ungestüm und grantig, wenn sie länger getrennt gewesen waren, was Tabari beim ersten Mal vollkommen entsetzt hatte – war das die Frau, die ihm Jahrelang den Rücken gekehrt hatte? Und als sie zum ersten Mal so eine Laune gehabt hatte, hatte sie ihm in ihrem Eifer beinahe die Arme gebrochen und zudem seinen Oberkörper in ein Schlachtfeld aus Kratzern verwandelt, seitdem hütete er sich, sie herauszufordern, obwohl es ihn irgendwie erregte, wenn sie so hitzköpfig war, seine sonst so kaltblütige, selbstbeherrschte Frau.

Als er sich ausgezogen hatte und sich erneut auf sie legte, zerrte sie ihn unruhig an sich heran und zog ihn in einen tiefen, verlangenden Kuss. Während sie einander fest umschlangen und sich gegenseitig die Zungen in de Hals schoben, stieß Nalani ihn um und rollte sich über ihn, ehe sie sich keuchend von ihm löste und sich rasch aufsetzte. Tabari stöhnte.

„Du willst mich wohl um jeden Preis untergraben, was…?“

„Hör auf, zu quatschen, du Idiot, und tu, was du tu sollst!“ Sie nahm seine Hände und legte sie ungeduldig auf ihre Hüften, während sie den Kopf zurücklehnte und die Augen schloss.

Jetzt spürte sie das Feuer… das Feuer, das sie damals zwischen Salihah und Zoras Chimalis gesehen hatte, von dem sie geglaubt hatte, es niemals besitzen zu können. Und irgendwie ärgerte es sie noch immer ein wenig, sich selbst eingestehen zu müssen, dass Tabari sie glücklich machte im Bett; mehr als nur das. Sie war zu stolz, um ihm das jemals zu zeigen und tat so, als würde es sie nicht weiter scheren, aber ihr Mann beschwerte sich nie, e grinste dann nur wissend und sie wusste, dass er genau in ihr Herz sah und genau wusste, was sie empfand. Sie mussten nicht reden, um einander zu verstehen.

Erst als sie fertig waren und zufrieden beieinander lagen fragte Nalani ihren Mann nach den Ereignissen in Yiara.

„Mein Vater tut zumindest nichts, was er nicht tun sollte, ich frage mich auch, was er vorhat,“ berichtete Tabari, „Es ist so still im Land…“

„Zu still,“ meinte Nalani und strich dabei gedankenverloren über seine verschwitzte Brust, „Ich befürchte, dass es nur die Ruhe vor einem gewaltigen Sturm sein wird.“

„Hattest du unruhige Träume?“ wunderte er sich, und sie hielt kurz inne.

„Nein. Das ist es, was mich beunruhigt.“

„Ich habe auch nichts gesehen, die Geister schweigen mich an. Die Stille kommt daher, dass es keine Aufstände mehr gibt. Das Land kniet vor dem Monster und es wagt kein Mensch, sich aufzulehnen. Seine Angstmacherei scheint durchaus zu ziehen.“

„Das ist beunruhigend,“ war Nalanis Kommentar, und sie schmuste sich an seinen Körper und begann, ihn etwas intensiver zu streicheln, worauf er sich zu ihr auf die Seite rollte. „Wir müssen in jedem Fall die Augen offen halten, ich rede mit Kiuk, dass er Bescheid weiß.“

„Und wir sollten Vater auf keinen Fall nerven…“ murmelte Tabari und küsste sanft ihre Brust, worauf sie leise seufzte. „Ich meine, wenn er sich bedroht fühlt, greift er an wie ein eingeengtes Tier, das könnte schlimm enden. Wir müssen ihn in Ruhe beobachten und einen Punkt finden, an dem wir ihn… eines Tages festnageln können.“ Dann küsste er seine Frau, die ihn sanft wieder an sich zog. Er wollte sich gerade wieder über sie rollen, da unterbrach sie mitten im schönsten Moment das Wimmern des Babys.

Nalani schob ihren Mann sehr pflichtbewusst von sich, obwohl es ihr etwas leid tat.

„Weine nicht, mein kleiner Liebling. Muttilein kommt ja,“ flüsterte sie und lächelte, während Tabari sich seufzend wieder auf den Rücken legte und sich ein wenig enttäuscht durch die Haare fuhr.

So war das eben, wenn man ein Kind hatte. Er freute sich schon darauf, wenn sein Söhnchen älter war und nicht mehr jede Nacht irgendwann weinte.

Nalani kam mit dem quengelnden Puran zurück ins Bett und legte ihn zärtlich an ihre nackte Brust. Dabei summte sie leise und strich beruhigend über die wuschigen Haare des kleinen Babys. Offenbar vererbten sich Tabaris Wuschelhaare, denn die seines Sohnes standen auch in alle Richtungen ab. Das Kind begann sofort hungrig zu saugen und Tabari musste lächeln bei dem Bild seiner stillenden Frau; so konnte er dem Kleinen wirklich nicht böse sein. Er rutschte etwas dichter an die beiden heran und küsste Nalanis Ohr.

„Dieses Kind hat aber auch einen Appetit,“ grinste er, und Nalani lachte leise.

„Ja, aber er muss ja auch noch viel wachsen.“ Dann summte sie ruhig weiter ihr Lied für das Baby, während das Kind eifrig trank und Tabari müde den Kopf auf ihrer Schulter ablegte.

„Er ist das schönste Kind der Welt,“ murmelte er und betrachtete stolz seinen hübschen Sohn. Puran war wirklich ein sehr niedliches Baby, sehr wohlgeformt, nur ein kleines bisschen kleiner als ein durchschnittlicher Junge seines Alters. Aber daran störte sich niemand… das Kind wurde von allen Familienmitgliedern geliebt und verhätschelt.
 

Sogar der Großvater Kelar. Das einzige, was ihn ärgerte, war der Name des Kindes, und er hatte Tabari und Nalani noch nicht verziehen, dass sie seine Vorfahren dermaßen entehrt hatten und ihrem Sohn einen ehrwürdigen Namen verehrt hatten. Jetzt war der jüngste Erbe des Clans ein namloser Schatten, wie unwürdig. Aber der Herr der Geister schluckte seinen Zorn tapfer hinunter und schaffte es tatsächlich, ab und zu als sorgsamer Großvater aufzukreuzen, was Nalani nur skeptisch beobachtete. Sie würde ihr Baby niemals mit Kelar allein lassen; ihr war schon klar, dass er in ihm nur einen Erben sah, ein Objekt, nicht mehr. Und sie bezweifelte, dass sein Auftreten als netter Großvater ernst zu nehmen war. Aber er brachte aus Yiara die schönsten und wertvollsten Dinge für den Kleinen mit, sei es Kleidung, Babyspielzeug, oder irgendetwas anderes, aber alles vom Feinsten. Nalani beschwerte sich nicht darüber, auch wenn es ihr nicht richtig vorkam, von dem Monster Geschenke anzunehmen; aber das Baby hatte es dadurch gut, wieso sollte sie ihm schöne Sachen verwehren? Dabei versuchte sie manchmal, aus Kelar seine wahren Absichten heraus zu kitzeln.

„Natürlich muss der kleinste Erbe deines tollen Clans die besten, teuersten und schönsten Sachen bekommen,“ sagte sie in aller Höflichkeit, aber mit einem kaum verborgenen sarkastischen Unterton zu ihrem Schwiegervater, als er eines Tages wieder aus Yiara kam und neues Bettzeug für die Wiege mitgebracht hatte. Es war sehr fein und gut verarbeitet und aus der besten Seide des Landes.

„Ach was, Erbe,“ schnaubte Kelar, „Du solltest dankbar sein, Wachtel, statt mir Dinge zu unterstellen! Dieser Junge ist mein Enkel, darf ein Großvater ihm keine liebevollen Geschenke machen?“

„Liebevoll? Du und liebevoll?“ schnarrte die Schwarzhaarige und erhob sich, um sich vor dem größeren Mann aufzubäumen. Kelar lächelte bloß und drehte den Kopf von ihr weg, als ihre blauen Augen ihn förmlich durchbohrten. Das Baby lag in einem seiner feinen Strampelanzüge auf dem Sofa und bewegte ab und zu etwas träge sein Beinchen.

„Glaubst du mir nicht?“ machte der Großvater, „Tss, törichte Frau, und undankbar obendrein. Du denkst wohl, dein Söhnchen hätte die schönen Sachen nicht verdient?“

„Sicherlich nicht,“ Nalani lachte kalt, „Aber du wirst mir mein Kind nicht abkaufen, verlass dich drauf. Und wenn du ihm ganze Länder oder Welten aus purem Gold zu Füßen lägest, ich schwöre es dir, Kelar.“

„Sei nicht garstig, ich habe dich nicht angegriffen und es auch nicht vor,“ zischte der Mann nur, „Du bist eine paranoide Missgeburt, Nalani. Menschen ändern sich durch Kinder, zumindest oft.“ Er dachte schon, er hätte es ihr gegeben, weil sie erst nichts sagte, und zufrieden wollte er gehen, dann sprach sie doch und lächelte dabei.

„Armer Kelar. Ja, Menschen tun das vielleicht… aber du bist ein Monster…“
 

Der erste Winter, den der kleine Puran erlebte, war im Gegensatz zum letzten mild und kurz. Der Frühling war bereits im Frühlingsmond da, was für Dokahsan selten war. Die ganze Familie – ausgenommen Kelar, der mal wieder beschäftigt damit war, sein Reich zu regieren – fuhr nach Tuhuli, dem den Chimalis‘ mal wieder einen Besuch abzustatten. Nalani schämte sich, weil sie seit Purans Geburt nur einmal dort gewesen war, und das eigentlich auch nur, um Keisha einmal das Kind untersuchen zu lassen, ob es gesund war. Umso mehr freute sie sich auf ein Wiedersehen mit der Familie, die sie so lieb gewonnen hatte während ihres Lehrjahres. Selbst Sukutai kam mit.
 

Meoran und Enola waren zutiefst beleidigt über Nalani seltene Besuche in den letzten Monden und die junge Frau ließ ein kurzes Geschimpfe über sich ergehen, als sie angekommen waren; aber dann waren die beiden jüngsten Sprösslinge des Chimalis-Clans auch wieder guter Dinge, sobald sie einen Blick auf Nalanis Baby erhascht hatten, das sie in einer Tragebinde vor ihrem Bauch trug.

„Er ist so ein hübsches und süßes Baby!“ seufzte Enola immer wieder entzückt, „Bitte, Nalani, lass ihn mich mal auf den Arm nehmen…“

„Hey, ich zuerst, ich bin ein Mann und habe das Vorrecht,“ maulte Meoran unglücklich, und seine blonde Cousine schnaubte.

„Aber Babys sind Frauensache, du Torfkopf.“

„Wenn ihr streitet, dürft ihr ihn gar nicht halten,“ bestimmte Nalani und kam sich vor, als müsste sie sich schlagende Kleinkinder auseinander reißen. Sofort waren die beiden vor ihr ganz artig und strahlten sie an, sodass sie lachend das Kind aus der Tragebinde hob und es Enola in die Arme legte – sie hatte zuerst gefragt.

Während sie alle in der Stube saßen und das Hausmädchen allen Tee einschenkte (außer Zoras, der hatte seinen Kaffee), wandte Keisha sich an Nalani:

„Du musst Enola verzeihen, sie ist momentan etwas anstrengend. Sie wird dieses Jahr dreizehn, ein Mädchen in diesem Alter ist meistens anstrengend. Oh, nein, eine Frau, entschuldige; ich vergesse immer noch, dass Enola kein Kind mehr ist…“ Beide Frauen sahen zu Enola, die das Baby in ihren Armen wiegte und überglücklich war, während Meoran beleidigt neben ihr saß und sie drängte, ihm auch mal das Baby zu geben. Tatsächlich, langsam reifte Zoras‘ Tochter auch äußerlich zur Frau heran, sie hatte schon kleine Brüste.

„Das freut mich,“ machte Nalani, „Sie sieht mit Puran auf dem Arm schon aus wie eine echte Mutter!“ Keisha seufzte.

„Sag so etwas bitte nicht!“ jammerte sie und die Schwarzhaarige wunderte sich über den bedrückten Tonfall der Heilerin, „Enola findet es, sagen wir… ziemlich lustig, eine Frau zu sein, wenn du verstehst, was ich meine. Sie rennt oft in die Stadt und tut Dinge mit jungen Männern, die sie nicht tun sollte als wohlerzogenes Mädchen…“ Sie sprach das ganz leise aus, damit Enola es nicht mitbekam, „Zoras und Tehya sind wahnsinnig wütend auf ihre Spielereien, sie solle sich etwas Ernstes suchen und die Liebe sei kein Kinderkram, außerdem sei ihr Verhalten absolut unangemessen und so weiter. Jetzt hatte das Kind Hausaarest und deswegen war sie unausstehlich…“

„So ein Chaos,“ machte Nalani, und die Heilerin seufzte.

„Es geht ja noch weiter. Tehya ist seit vielen Tagen krank und liegt im Bett, und weil Zoras damit beschäftigt war, sie zu versorgen, hat Enola ihre Chance genutzt und ist ausgebüchst, du glaubst nicht, was das für einen Ärger gegeben hat, und mit ihren Eltern redet sie momentan gar nicht mehr, es ist zum Heulen.“ Jetzt machte Nalani ein besorgtes Gesicht. Das klang ja so gar nicht nach der sonst so unbeschwerten Familie. Dafür, dass so viel los war, schienen sie sich aber sehr zusammenzureißen, vor allem Enola schien doch glücklich. Ihr Vater dagegen brachte nicht so ganz eindeutig herüber, dass er so tat, als wäre alles in Ordnung. Mit verbiestertem Gesicht saß er am Teetisch und trank unruhig seinen Kaffee.

„Habt ihr unseren besten Freund Kelar gar nicht mitgebracht?“ scherzte Nomboh da und riss so alle Aufmerksamkeit auf sich.

„War der eingeladen?“ machte Kiuk verständnislos, der mit Sukutai auf einem Sofa saß. Nomboh grinste.

„Du hast uns zumindest offiziell noch nicht deine Begleitung vorgestellt, Kiuk… wer ist die schöne Frau neben dir?“ gluckste Nomboh weiter und Kiuk errötete, Sukutai verneigte sich sehr höflich und strahlte.

„Oh, wie überaus freundlich, aber ich bin wirklich vollkommen hässlich, Herr! Bitte sagt nicht so nette Sachen zu mir, das kommt mir dann übertrieben vor und das ist…“ Kiuk stieß sie an, als sie wieder anfing, ohne Punkt und Komma zu reden, und sie verbeugte sich noch tiefer. „mein Name ist Sukutai Dotai, ich bin Tochter des Ratsoberhauptes des Seelenmagier-Ordens aus Tasdyna.“

„Sie ist sowas wie Kiuk So-gut-wie-Verlobte,“ kommentierte Tabari und Kiuk flammte erneut rot auf und schnaubte.

„W-wie bitte, seit wann entscheidest du denn sowas?! Sag nicht so peinliche Sachen, Tabari!“ Die anderen kicherten amüsiert. Enola gab Meoran das Baby.

„Und was ist mit dir, Cousin?“ neckte sie ihn, „Willst du nicht auch langsam mal jemanden heiraten und Kinder machen, die ich dann tragen kann?“

„Vergiss es, mach dir deine eigenen Kinder!“ machte Meoran, „Ich bin noch nicht mal fünfzehn, ich will jetzt keine Kinder.“

„Und ich darf keine,“ nörgelte seine Cousine, worauf ihr Vater sie schnaubend ansah.

„Du machst deine Mutter krank mit deinem Gehampel!“ tadelte er sie wütend, „Sieh mich bitte nicht so an, Tochter, du hast immer noch Hausarrest, egal, wie unschuldig du guckst.“ Er trank hastig seinen Kaffee aus und marschierte kurzer Hand aus der Stube.
 

Nalani bedrückte es, dass die Stimmung schlechter als gewöhnlich war in Tuhuli, aber sie beschwerte sich nicht. Nach einer langen Zeit, in der ihr Sohn einmal die Runde gemacht hatte und bei jedem einmal auf dem Schoß gelegen hatte, bekam sie ihn endlich zurück und nahm ihn glücklich auf den Arm. Irgendwie hatte etwas gefehlt ohne das Gewicht des Kindes auf ihr, es beunruhigte und verwirrte sie, ihr Baby für eine Weile nicht bei sich zu haben. Puran hatte das ewige Herumreichen stumm über sich ergehen lassen, aber jetzt, wo er bei seiner Mutter war, wurde er wach und begann sich leicht zu bewegen, als müsste er verkünden, dass er jetzt auch aufgewacht war.

„Jetzt zappelt er,“ grinste Meoran, „Als ich ihn hatte, hat er nur gepennt.“

„Guten Morgen, kleiner Mann,“ grüßte Nomboh ihn ebenfalls glucksend, „Etwas spät zum Aufstehen!“

„Ach, er kommt wohl nach seinem Vater, der kommt auch nicht freiwillig aus den Federn, ehe die Sonne den höchsten Stand erreicht hat,“ machte Nalani, und alle lachten, außer Tabari, der leicht errötete und sich räusperte.

„Hey, schlafen ist gut für die Gesundheit… und wer viel schläft, ist weniger wach und macht weniger Dummheiten.“

„Eine Weisheit von Tabari Lyra,“ addierte Kiuk, „Auf ihn trifft das sicherlich zu.“

„Einige andere sollten sich daran vielleicht auch ein Beispiel nehmen,“ bemerkte Salihah trocken und meinte damit Kelar, was alle wussten, obwohl sie es nicht aussprach.

Plötzlich wurden sie still, als sie Schritte im Flur hörten und kurz darauf Tehya in der Stube erschien. Sie war blass und sah nicht gut aus, aber sie hatte sich hübsch gemacht für den Besuch und strahlte glücklich, so gut sie konnte.

„Entschuldigt, dass ich spät komme,“ sagte sie schwach, „Ich war etwas krank und… aber jetzt bin ich da!“ Keisha sprang auf.

„Du solltest lieber ins Bett gehen!“ sagte sie streng, „Du bist noch nicht gesund genug, um mit uns Tee zu trinken!“ Tehya keuchte und hielt sich zitternd am Türrahmen fest, als auch die anderen sich besorgte Blicke zuwarfen. Wo war Zoras denn geblieben?

„M-mir geht es besser…“ seufzte die Kranke leise, „Ich möchte nicht sinnlos oben herum liegen… entschuldigt, Salihah, Tabari, Nalani und alle anderen… und ich… wollte doch auch das Baby sehen…“ Jetzt lächelte sie wieder und fuhr sich bebend mit den Händen über das weiße Gesicht. Nalani erhob sich mit dem Kind und setzte Puran kurzer Hand auf den Schoß seines Vaters.

„Du siehst grausam aus,“ bemerkte sie an Tehya gewendet, „Keisha hat recht, es ist sicher besser, wenn du dich hinlegst. Bitte sei mir nicht böse, wenn ich dir Puran jetzt nicht gebe, aber… wenn er sich ansteckt, wäre es schlimm, so ein Baby stirbt schnell an einer einfachen Krankheit.“

„Ich verstehe,“ machte Tehya nickend, „Würde ich an deiner Stelle auch machen, dann betrachte ich ihn aus der Ferne!“ Sie lachte. „Ein wunderschöner Junge, den du da hast… du kannst stolz sein, Nalani.“ Nalani sagte nichts. Auch, wenn Tehya nichts sagte, irgendwie spürten sie alle den zaghaften Wunsch in ihrem Hinterkopf, ihrem Mann doch noch einen Sohn zu schenken. Er hatte zwar gesagt, dass er sehr glücklich über seine Tochter Enola war, aber welche Frau wünschte sich nicht, ihrem Mann ein männliches Kind zu gebären? Als die Frau plötzlich taumelte, eilte Keisha an ihre Seite und fing sie gerade noch auf. Tehya keuchte.

„E-es ist nichts, es geht schon… mir war nur kurz schwindelig…“

„Nichts da, ich bringe dich wieder hoch. – Verzeiht uns bitte, Nomboh, lass neuen Tee bringen!“ Sie ging mit der zitternden Tehya zur Stubentür und Nalani folgte ihnen eilig.

„Ich helfe dir, warte,“ meinte sie und half dann, Tehya zu stützen, während Nomboh verwirrt durch den Raum blickte.

„Wollt ihr neuen Tee…?“
 

Tehya fieberte. Keisha gab ihr Fiebersenkende Kräuter zum Kauen und machte ihr Wadenwickel. Zoras‘ kleine Frau machte wirklich keinen guten Eindruck und Nalani besorgte zudem Keishas außergewöhnliche Ernsthaftigkeit.

„Was ist es denn, was sie hat?“ fragte sie die Heilerin murmelnd, während Keisha ihre Schwägerin ordentlich zudeckte und sie dann ratlos ansah.

„Ich weiß es nicht genau… ich…“ Sie brach ab, als sie zur Tür sah, in der plötzlich auch Zoras wieder aufgetaucht war. Er raufte sich unglücklich die Haare.

„Es geht ihr also wieder schlechter?“ murmelte er dumpf, und Keisha senkte den Kopf. Nalani seufzte.

„Sie kam gerade runter zum Tee, aber offenbar ist sie noch nicht ganz gesund. Ist sie schon lange krank?“

„Länger als jede Erkältung dauern würde,“ machte Zoras und er sah Keisha an, „Was ist mit dir? Kannst du immer noch nicht sagen, was sie krank macht?“ Die Heilerin seufzte tief, fühlte noch einmal nach Tehyas Stirn und ging dann zur Tür.

„Kommt mit raus,“ verlangte sie tonlos. Das klang beunruhigend und Nalani sah Zoras vor Entsetzen erbleichen. Sie folgte den beiden eilig und schloss die Schlafzimmertür, um die arme Tehya schlafen zu lassen. Keisha führte sie in die obere Stube und schloss auch hier die Tür, ehe sie begann, ihre Hände zu kneten.

„Was ist?“ fragte Zoras alarmiert, „Dein Verhalten macht mit gerade Todesangst, das weißt du, oder?!“

„Ich kann dir nicht sagen, was sie hat, ich weiß es nicht,“ machte die Frau und sah zu ihm hinauf, „Die Sache ist die, sie…“ Sie holte Luft, senkte den Kopf und hob ihn dann wieder, ehe sie fortfuhr: „Ich möchte nicht, dass ihr das jemandem sagt, auch nicht Tehya selbst. Sie… trägt ein Kind in ihrem Bauch…“ Zoras erstarrte.

„W-was?“ japste er jetzt und musste sich erst mal setzen. Da versuchten sie seit Jahren, noch ein Kind zu bekommen, und jetzt, nach zwölf Jahren, die Enola schon lebte, wurde seine Frau noch einmal schwanger? Was war denn das für eine Veräppelung der Geister? Nalani blinzelte ebenfalls.

„Ich… hör mir zu, Zoras, bitte,“ redete Nombohs Frau da unglücklich eiter, „Es sieht… nicht gut aus für das neue Leben, das ihr gemacht habt. Ich weiß nicht, was los ist, und kann nichts machen, aber ich fürchte, es ist der Embryo, der sie krank macht, der selbst beschädigt ist, wie es scheint-… wenn wir… das Kind in ihrem Bauch… entfernen, wird sie vielleicht wieder gesund… deshalb wollte ich nicht, dass sie es erfährt, wenn sie weiß, dass sie schwanger ist, wird sie doch auf keinen Fall zulassen, das Kind zu verlieren, sie wünscht es sich doch so sehr! Zoras, bitte, sieh mich an… ich habe ein sehr, sehr grauenhaftes Gefühl und es tut mir wahnsinnig leid…“

„Was redest du da?“ murmelte Zoras und sah sie verwirrt an, „W-wie kann denn ein Baby meine Frau umbringen?“

„Das heißt, wenn sie es behält, wird sie… sterben?!“ keuchte Nalani ebenfalls entsetzt. Sie dachte daran, wie sie beinahe einen Tee getrunken hätte, um ihr Baby loszuwerden, das sie jetzt so liebte, und ihr wurde schlecht. Sie setzte sich ebenfalls und Zoras fuhr sich stöhnend mit den Händen über das Gesicht.

„D-das kann ich nicht entscheiden!“ seufzte er dann, „Das… ich möchte das nicht hinter Tehyas Rücken tun, Keisha…“

„Wenn du es ihr sagst, wird sie eher sterben als das Kind loszuwerden!“ jammerte Keisha, „Willst du das? Wenn wir es loswerden, schafft sie es vielleicht – ich, ich weiß es ja nicht, ich weiß doch nicht mal sicher, ob es an dem Kind liegt…“

„Und dann willst du, dass… ich es los werde?!“

Alle drei fuhren auf, als die Tür plötzlich aufflog und Tehya keuchend wieder aufgestanden war und jetzt empört in die Runde sah. Zoras erhob sich und taumelte.

„Tehya, geh ins Bett, du bist krank!“ schnappte er. Sie klammerte sich an die Tür und fing an, zu weinen.

„Du hast mir verschwiegen, das ich ein Baby trage?!“ tadelte sie Keisha, die erbleichte, „D-du willst nur, dass ich keine Chance habe, einen Sohn zu bekommen, der dann vor Meoran der rechtmäßige Erbe des Clans wäre, d-du Besenstiel!“ Keisha quiekte vor Entsetzen über diese Anschuldigung und Zoras schnaubte und hielt seine kranke Frau energisch an den Armen fest.

„Jetzt spinnst du, du hast Fieber,“ sagte er kalt, „Du weißt genauso gut wie ich, dass Keisha das niemals tun würde! Und wieso lauschst du Gesprächen, zu denen du nicht zugelassen bist?!“ Sie schniefte.

„I-ich hab deine Stimme vorhin gehört und ich hab dich vermisst… ich… ich habe wirklich ein Baby in meinem Bauch?“ Er seufzte nur schweigend und Nalani sah zu der jetzt ebenfalls blassen Keisha. Die Situation schien sich zu beruhigen und die Heilerin fuhr sich zitternd über das Gesicht.

„Es ist noch relativ klein und deswegen kaum als Baby erwähnenswert-… Tehya, d-du unterstellst mir ernsthaft, ich würde das alles nur wegen der Erbschaft tun…?!“

„Lass sie, Keisha, sie spricht im Fieber und weiß selbst ganz genau, dass das Humbug ist,“ erwiderte Zoras da, Keisha in Schutz nehmend, und er schob seine immer noch wimmernde Frau langsam zurück zum Schlafzimmer. „Du legst dich hin, so wirst du nicht gesund, indem du hier herum rennst! Und ich werde Keisha tun lassen, was das Wichtigste für dein Leben ist, dein Leben ist mir nämlich tausendmal wichtiger als alle Babys, die du mir jemals gebären könntest! Wenn sie also sagt, wenn wir es nicht entfernen, bringt es dich um, steht meine Entscheidung fest. Und mein Wort als Mann zählt zweimal so viel wie deins, Weib.“ Nalani zog eine Braue hoch. Es war ungewohnt, dass er so hart mit ihr sprach und eigentlich war er kein großer Verfechter der Unterbutterung der Frauen, er behandelte sowohl seine eigene Frau als auch andere mit Respekt; aber sie verstand, dass Tehya auf die sanfte Tour nicht mitmachen würde… sie fragte sich, was sie an Tehyas Stelle tun würde.

Die Frau jedenfalls war sehr energisch und sie schnaubte aufgelöst, als sie ins Bett geschoben wurde.

„Und ich werde nicht zulassen, dass ihr es umbringt, ihr könnt machen, was ihr wollt, und sagen, was ihr wollte, Liebster! Hältst du mich… für so schwach, dass ich mich von einem Baby töten ließe…?“

Zoras senkte den Kopf und sah sie dann aus verengten Augen an.

„Nein…“

„Solange Keisha nicht beweisen kann, dass das Leben in meinem Bauch Schuld an meiner Krankheit ist, lasse ich niemanden an meinen Unterleib,“ schwor Tehya grimmig, „Und ich verlange, dass jeder Tee oder alles an Mahlzeiten vor meinen Augen zubereitet wird, nicht, dass ihr mir Kräuter unterschmuggelt!“ Zoras sah verzweifelt zu Keisha, die nur entsetzt die Augen weitete, während Nalani nur seufzen konnte.

Der Frieden im Land täuschte offenbar.
 

Als die drei zurück in die Stube kehrten und Tehya mit neuen Wadenwickeln schlafen ließen, herrschte unten reges Treiben. Tabari war dabei, wichtigtuerisch zu erklären, worauf man achten musste, wenn man ein Kind hatte, sein aufmerksames Publikum bestand aus Meoran und Enola, die vor ihm am Boden saßen und gespannt zu ihm aufsahen. Er hatte Puran auf dem Arm und das Baby riss mit großem Vergnügen und offenbar hellwach an den blonden Haarsträhnen seines Vaters, die ihm wild ins Gesicht hingen.

„Und jede Nacht schreit so ein Baby und möchte gefüttert werden, ich sage euch, das ist eine Plage! Ihr solltet euch das gut überlegen, echt jetzt – aua, verdammt!“ Enola musste kichern, als der Geisterjäger sich unterbrach, weil das Kin schon wieder an seinen Haaren zog. Er sah sein Söhnchen vorwurfsvoll an. „Sei artig, Knirps, so etwas macht man nicht!“ Er versuchte, einen ernsthaften, tadelnden Tonfall aufzusetzen, was ihm gehörig missglückte. Das Kind sah ihn aus riesig geweiteten grünen Augen unschuldig an und schließlich drehte Tabari resigniert seufzend das Gesicht ab. „Na gut, du hast gewonnen, wenn du weiter so niedlich bist, muss ich weinen… i-ich kann nicht böse auf ihn sein, Mutter, tu doch was!“ Salihah grinste nur und lehnte sich zurück.

„Freut mich zu sehen, dass du anders bist als dein Vater; wobei er als du so klein warst ab und zu sogar gelächelt hat, und ich meine nicht das Hurra-ich-habe-einen-Erben-Lächeln.“ Sie sah zur Tür, weil Zoras, Nalani und Keisha zurückgekehrt waren. Augenblicklich verstummten alle und sahen zu den Neuankömmlingen.

„Wie geht es ihr?“ fragte Nomboh dumpf und Zoras schnappte ratlos nach Luft. Und noch mal. Und noch einmal, dann raufte er sich verzweifelt die Haare.

„Schlecht… die Zeiten sind übel geworden und ich habe kein gutes Gefühl, was die Zukunft angeht. Der Schatten… ist zurück und dieses Mal… scheint er über unserem Haus Urlaub machen zu wollen.“
 

Als sie zurück zum Lyra-Schloss fuhren, schwiegen sie. Schlechte Zeichen beunruhigten alle und noch mehr, dass niemand eindeutig sagen konnte, was denn schlecht war. Es war genau wie bei Tehyas Krankheit; alle wussten, dass sie krank war, aber nicht, wieso.

„Die Geister heißen Kelars Tyrannei nicht so gut, wie er glaubt,“ war Salihahs Kommentar, als sie beinahe angekommen waren, und die anderen Insaßen der Kutsche sahen sie schweigend an. Das Bab schlief in Nalanis Armen.

„Ach, Geister,“ schnaubte Kiuk und lehnte sich zurück, „Vater hält sich selbst für den Willen der Geister, wer würde das gut heißen? Soll das heißen, die Welt geht jetzt unter, weil Vater ein Idiot ist und das Land ins Chaos wirtschaftet?“

„Ganz Dokahsan wirft sich vor ihm auf den Boden,“ erwiderte die Mutter und strich sich langsam durch die schwarzen Haare. „Abgesehen von einer Handvoll Leute, die die Augen offen halten, so wie wir oder Chimalis‘, meine ich. Meine Augen sind schlecht geworden… ich vermag in der Ferne keine Zukunft mehr zu sehen. Ich sehe nur Schleier aus Schatten und das sind schlechte Zeichen. Die Geister schweigen und verschwören sich gegen die Menschen, wie wir es verdienen für unsere Torheit.“

„Unsere Torheit?!“ schnappte Nalani, „Kelars Torheit! All das Übel ist seine Schuld, vielleicht sogar die bösen Krankheitsgeister in Tehyas Körper! Wenn wir diesem Schlamassel nicht bald ein Ende setzen, wird es nicht nur Dokahsan oder Kisara, sondern ganz Tharr zerstören, da bin ich sicher!“

„Das Problem ist, dass wir blind und taub sind und keinen Schimmer haben, was Kelar tut!“ machte Salihah kalt, „Ich kann ihn nicht mehr sehen in meinen Träumen und er spricht nicht mit mir. Auf der anderen Seite wird er sehr gut über das ganze Land Bescheid wissen. Er hat Denmor Emo, die Emos können sich quasi unsichtbar machen und unbemerkt alles Mögliche tun, ich wette, er benutzt Denmor als Spion.“

„Dann nehmen wir eben Minar,“ machte Tabari verblüfft, „Der ist das Oberhaupt der Emos, der wird das ja wohl noch besser können als sein Neffe Denmor! Ich meine, Denmor ist kein Geisterjäger!“

„Denmor ist wie ein Hund,“ belehrte Kiuk alle und hob theatralisch den Zeigefinger. „Ich habe mir sagen lassen, im Süden von Tharr gibt es Menschen, die Hunde zähmen können und das tun sie, indem sie sie mit Knochen und Fleisch locken. Wer dem Hund den größten Knochen und das leckerste Fleisch bietet, dem wird das Tier folgen, es ist ganz einfach.“

„Sollen wir jetzt Vater seinen Spion abkaufen?“ Tabari lachte laut auf, „Da kommt er sich sicher veräppelt vor und wird wütend.“

„Davon abgesehen, dass wir keinen größeren Knochen zu bieten haben als er,“ machte Salihah, „Wenn er von Kelar einen großen Preis versprochen bekommen hat und deshalb sogar seinen eigenen Clan verrät, ist er ohnehin gewissenlos und hat kein Rückgrat. Statt mit einem Hund solltet ihr ihn lieber mit einem Regenwurm vergleichen, der hat nämlich auch keine Wirbelsäule.“

„Ja,“ machte Nalani grimmig und sah aus dem Fenster der Kutsche, während das Baby sich im Schlaf gegen ihre Brust kuschelte. „Und er windet sich hierhin und dorthin, wo immer es Regen gibt und es ihm gefällt.“
 

Aber Denmor war zurzeit nicht das größte Problem, deswegen wurde Kelars Handlanger vorerst ignoriert. Als der Sommer kam, blühte das Land auf. Im Vergleich zum Vorjahr war die Bevölkerung auch wieder gestiegen, den milden Winter hatten offenbar alle überlebt. Salihah wunderte sich darüber, dass lange kein Dorf mehr zu Hackfleisch gemacht worden war; es war, wie sie gesagt hatte, das ganze Land kniete und lag auf dem Boden. Kelar verstand es durchaus, die Menschen für sich zu gewinnen und musste gar nicht viel tun. Wer hörig war und Verräter anprangerte, wurde belohnt, die Verräter wurden inzwischen in aller Stille fein säuberlich entfernt.

„Ich will nicht wissen, wie viele Leichen er unter dem Fundament des Senatsgebäudes vergraben hat,“ schnaubte Nalani manchmal schnippisch, die damit beschäftigt war, sich um ihren Sohn zu kümmern, der schon über ein halbes Jahr alt war; aber so viel sie ihr Baby auch liebte und sich kümmerte, hielt sie dennoch immer die Augen offen für das, was um sie herum geschah.

„Und irgendwer manipuliert die Zahlen,“ grübelte Tabari, „Es verschwinden in manchen Dörfern Menschen spurlos und dennoch verändern sich die Zahlen der Bevölkerung nicht. Etwas ist definitiv komisch und nicht so, wie es sein soll.“

„Es wird schlimmeres kommen als verschollene Bauern,“ schnarrte Nalani und sah auf ihr Kind, das auf einem Fell am Boden der Stube lag und mit einem Beißring herumspielte. „Und ich fürchte mich jeden Tag davor… weil unser Sohn einmal dieses grausame Land erben wird, wenn es nach deinem Vater geht…“ Tabari seufzte und strich seiner Frau zärtlich über den Kopf.

„Ja… schlimmer werden wird es… solange Vater lebt, wird es schlimmer werden. Erst danach gibt es vielleicht Ruhe.“
 

Und es wurde schlimmer. In der Vollmondnacht des Regenmondes wurde Tehyas Krankheit plötzlich schlimmer. Sie weckte ihren Mann neben sich und wimmerte, während sie nach ihrem inzwischen sogar ein wenig gerundeten Bauch fasste.

„E-es tut so weh, mein Bauch tut so weh, i-ich weiß nicht, was m-mit mir passiert…!“ schluchzte sie und Zoras fuhr alarmiert auf, als sie plötzlich neben ihm im Bett zusammensank, sich auf die Seite rollte und sich mit einem keuchen auf den Boden übergab.

„Verdammt, ich habe gesagt, du hättest auf Keisha und mich hören sollen, du-… verdammt, Tehya…“ Er erstarrte, als sie sich zitternd wieder auf den Rücken drehte und die Decke von ihrem Körper rutschte. Zwischen ihren Beinen floss Blut hervor. Sie japste und fasste immer noch nach ihrem Bauch, als ein weiterer, übler Schmerz sie durchfuhr.

„E-es tut weh!“ wimmerte sie, „M-mein Baby, was wird mit meinem Baby?! D-das können doch keine Wehen sein, es ist noch viel zu klein und… ich glaube, d-das ist schlecht!“

„Scheiße…“ war alles, was er hervor brachte, ehe er aus dem Bett hastete und sie plötzlich laut aufschrie vor Schmerzen. Er erstarrte erneut und sah sie fassungslos an, als sie sich krümmte und wieder in Tränen ausbrach. In diesem Moment flog die Tür auf und Enola kam hereingestürzt, sie schrie auch.

„Was ist mit Mutter?!“ heulte das Mädchen aufgelöst, „W-wieso schreit sie?! W-wieso, o-oh mein Himmel, ist das Blut?!“

„Enola, rasch!“ fuhr Zoras sie plötzlich an und schob sie hinaus, „Geh und hol Keisha, sofort! Ich kümmere mich um Mutter, geh schon!“ Dass das Kind dieses Drama miterlebte und das Blut im Bett sah war sicherlich nicht gut, es war besser, sie hinaus zu jagen. Enola gehorchte zum Glück und rannte wieder hinaus, während in der Nähe noch eine Tür aufging und Meoran ebenfalls herauskam.

„W-was ist denn hier los mitten in der Nacht?“ machte er entsetzt. Tehya schrie und Enola, die an ihrem Cousin vorbei rannte, schrie auch:

„I-ich weiß es doch nicht! Meine Mutter schreit!“ Sie rannte weiter, stieß die Tür zum nächsten Schlafzimmer auf und rief völlig panisch nach Keisha.

„Tante, komm schnell! Meine Mutter stirbt!“
 

Keisha war sofort auf den Beinen und Nomboh richtete sich verpennt auf.

„W-was zum-…?“

„Oh nein, verdammt!“ rief die Heilerin und zog sich schnell etwas an, ehe sie der Nichte hinaus und zum Schlafzimmer folgte. Kaum bei der Tür angekommen, wurde Enola von Zoras wieder hinaus geschoben.

„W-was soll dass, Vater, i-ich habe Angst! Ich will wissen, was sie hat!“ schrie das Mädchen und fing an zu weinen, und Zoras schob sie energisch weiter.

„Meoran, pass auf sie auf!“ befahl er seinem Neffen grob, der leichenblass im Flur stand, „Das ist nichts für dich, Enola! Wir werden Mutter schon helfen können, Tante Keisha weiß Bescheid! Geht in die Stube und lasst euch Tee machen, alle beide.“

„A-aber…!“ heulte Enola, aber Meoran war sehr gewissenhaft und gehorchte seinem Onkel, indem er sie am Arm hinter sich her zur Stube zog. Und er ließ sie nicht los, obwohl sie zappelte und zu schreien anfing. Plötzlich drehte er sich zu ihr um und sah sie grimmig an.

„Hör mal auf, hier Panik zu schieben, Enola!“ tadelte er sie, „Niemand sagt, dass deine Mutter sterben muss, meine Mutter kriegt sie wieder hin! Wir sollten lieber die Geister bitten, gnädig zu sein, statt kopflos herum zu flennen! Die Erwachsenen tun doch dasselbe, dummes Mädchen. Also beruhige dich.“ Sie schniefte und klammerte sich dann an ihn.

„A-aber…woher wollen wir das wissen…?“

„Hab Vertrauen, kleine Cousine.“ Er nahm sie tröstend in die Arme und sie drückte sich wieder gegen ihn und begann erneut zu weinen.
 

Tehya ging es schlecht. Während Zoras Nomboh zu den Kindern geschickt und die Tür geschlossen hatte, saß Keisha bei ihrer Schwägerin am Bett und kühlte ihre glühende Stirn mit dem Eiszauber Yira. Mit der freien Hand, mit der sie nicht Tehyas Stirn kühlte, untersuchte sie zitternd den für das Stadium der Schwangerschaft ungewöhnlich gespannten Bauch.

„E-es ist schwer, ich weiß überhaupt nicht, was-… verdammt, Zoras, komm und übernimm den Yira-Part, ich brauche beide Hände!“ Tehya schrie wieder und warf sich im Bett hin und her, als die Schmerzen stärker wurden.

„Bitte, Keisha!“ weinte sie und klammerte sie an den Arm der Heilerin, als Zoras auch wieder ins Bett kam und jetzt ihre Stirn zu kühlen begann. „Bitte, egal, was du tust… b-bitte beschütze das Kind in meinem Bauch! Ich möchte nicht, dass es stirbt!“

„Aber mit dem Kind stimmt etwas nicht, es ist kaputt, es ist krank und macht auch deinen Körper krank!“ rief Keisha verzweifelt, die jetzt sorgsam den Bauch untersuchte. „Es wird dich umbringen, es bringt dir Schmerzen! Wir können es nicht schützen, ich als Heilerin bin verpflichtet, die schon Lebenden den Ungeborenen vorzuziehen! Du kannst doch neue Kinder bekommen, Tehya, ich bitte dich!“

„Wenn du es umbringst… dann hasse ich dich…“ stöhnte die Jüngere kraftlos und Keisha und Zoras erstarrten. Der Schwarzhaarige zischte.

„Tehya, reiß dich zusammen, das erlaube ich nicht!“ machte er verärgert und Keisha sah ihn verblüfft an. Als sein Blick ihren traf, erkannte sie darin zu ihrem Erstaunen aber keinen Ärgern, sondern nur panische Angst.

Tehya würde sterben, wenn sie nicht endlich dieses Unheil aus ihrem Bauch entfernten. Entweder der Embryo oder beide.

„Hör nicht auf Tehya,“ war also Zoras‘ Bemerkung zu Keisha, worauf Tehya wieder aufschrie und wild zu zappeln begann, dass er sie festhalten musste. „Hol es raus, dann kann meine Frau leben!“

„Ich fürchte, diese Entscheidung fällen wir ohnehin zu spät…“ murmelte Keisha und senkte keuchend den Kopf, als plötzlich noch ein Schwall Blut zwischen den Beinen der jüngeren Frau hervor kam und die Heilerin die Hände fester auf den Bauch presste. „Ich… kann den Lebensgeist des Babys nicht mehr spüren… e-es…“

„Was?“ japste Tehya und erstarrte, Zoras keuchte.

„Du meinst, es ist…?“

„Es tut… mir so leid… Tehya…“
 

Tehya schrie nur noch einmal, dann war sie stumm, während der blutige Rest ihrer Fehlgeburt zwischen ihren Schenkeln hervor kam und das Bett besudelte. Zoras sah das seelenlose tote Fleisch nicht an und drehte demonstrativ den Kopf weg, damit das Unheil, das in dem Ding wohnte, nicht auf ihn überging, während Keisha ohne viel hinzusehen ein Tuch nahm und die Reste rasch entsorgte. Ihre Schwägerin stöhnte kraftlos und ließ sich zitternd und keuchend ins Kopfkissen sinken.

„Es ist tot… nicht wahr… Liebster…?“ wisperte sie, und Zoras drehte langsam und schweigend den Kopf zu ihrem Gesicht. Sie war aschfahl und sah mehr tot als lebendig aus, als sie seinen Blick aus leeren Augen erwiderte. „Es ist… tot, oder…? Unser Baby…“ Es schmerzte ihn, sie anzusehen, und er seufzte tief und nahm ihre Hand.

„Du wirst noch eins bekommen,“ sagte er heiser, „I-ich verspreche es dir, Tehya! E-es wäre kein gutes Kind gewesen, es war ein böser Geist und er hat dich krank gemacht…“

„Aber es wäre… unser Baby gewesen…“ wisperte sie und drückte sanft seine Hand. Ihre Finger waren kalt und sie zitterte, sodass er provisorisch die Decke über sie legte. Er senkte den Kopf.

„Denk nicht mehr daran, es… ist der Wille der Geister, darauf haben wir keinen Einfluss. Wie fühlst du dich, Liebes…?“ Tehya sah ihn an und ihre Augen waren trübe. Ihre Hand ließ seine langsam los, bevor sie sprach.

„Leer…“
 

Die Nacht wurde schlimm.

Das Fieber sank nicht, stattdessen stieg es und Tehyas Zustand wurde zunehmend schlechter. Keisha und Zoras wuschen sie zusammen, zogen sie um und brachten sie dann erst mal in ein Gästezimmer, weil das Bett voller Blut war, darin konnte sie nicht liegen. Sie wurde fest mit zwei Decken zugedeckt und zitterte dennoch, obwohl ihre Stirn glühte. Die Blutung hatte aufgehört, aber obwohl das kranke, seelenlose Kind nicht mehr in ihrem Leib war, hatte Tehya starke Schmerzen und sie wurden schlimmer, je länger sie da lag und grausam vor sich hin fieberte. Zoras saß wie ein Stein an ihrem Bett und kühlte verbohrt ihre Stirn, er redete nicht und ließ sich auch nicht ablösen, obwohl Nomboh, Keisha und selbst Meoran desöfteren anboten, eine Weile zu übernehmen, denn die ganze Zeit mit der Hand ausgestreckt dort zu sitzen und dabei auch noch dauernd zu zaubern war nicht leicht, auch, wenn Yira ein einfacher Grundzauber war, kostete es Energie.

„Ich lasse meine Frau nicht sterben!“ fauchte das Oberhaupt dann irgendwann doch und die anderen fuhren zurück, selbst Enola, die in der Tür stand und von Keisha an den Schultern festgehalten wurde. Das Mädchen weinte vor Angst.

„W-wird Mutter wieder gesund, Tante Keisha?!“ fiepte sie tonlos und Keisha schnappte unwillkürlich nach Luft.

„Das wird sie!“ schnaubte Zoras, ehe sie antworten konnte, „Verdammt, ich bin Oberhaupt des Chimalis-Clans! Ich trage die Paktfeder, ich diene den Todesvögeln und sie dienen mir, ich werde nicht zulassen, dass sie mir Tehya wegnehmen!“

„Aber das Fieber steigt immer weiter, obwohl das unheilvolle tote Kind weg ist!“ machte Nomboh perplex, „W-was sollen wir tun, Keisha? Keisha, so sag doch was, du bist doch die Heilerin!“

Plötzlich fing seine Frau auch an zu weinen und Enola in ihrem Griff erschauderte.

„I-ich kann doch nicht!“ heulte Keisha und schnappte nach Luft, „Ich weiß doch nicht, was ich tun soll! Ich habe alles getan, was ich konnte, ich habe ihr Tees und Kräuter gegeben, ich habe den Fieber senkenden Zauber angewendet, aber selbst der hilft nur für eine Weile, dann steigt es wieder!“

„Dann mach es noch mal, mach es öfter hintereinander!“ machte Zoras und keuchte, als ihm plötzlich schwindelig wurde. Verdammt, wie lange saß er schon hier und machte Yira über Tehyas Stirn. Sie murmelte im Fieberwahn vor sich hin und ihre Lider zuckten ab und zu, ansonsten rührte sich seine kranke Frau nicht. „VERFLUCHT, TU WAS, KEISHA! Ich bitte dich, ich flehe dich an!“

„Ich habe nicht so viel Kraft wie du!“ schrie die Frau und erzitterte, als sie von ihren Tränen durchgeschüttelt wurde. „Ich kann nicht… die ganze Nacht hier sitzen und diesen Zauber anwenden…“

„Heißt das, meine Mutter wird sterben?“ fragte Enola zitternd und klammerte sich an Keisha.

„Niemals!“ fauchte ihr Vater energisch, ehe er herumfuhr und den Yira-Zauber verstärkte, um Tehyas Stirn mehr zu kühlen. Die Heilerin schob Enola in Nombohs Obhut, ehe sie sich wieder ans Bett hockte und erneut tapfer versuchte, das Fieber mit ihrem Zauber zu senken. Als es wie erwartet etwas sank, öffnete Tehya müde die Augen.

„Alle sind da…“ murmelte sie und sah in die Runde. Enola heulte und Zoras sah sie unglücklich an. Als sie lächelte, hellte sein Gesicht sich auf. „Mir ist… nicht mehr so kalt…“

„Dir geht es besser?“ fragte Zoras sie, und sie hob sogar eine Hand und strich ihm über den Arm.

„Das Baby…“ wisperte sie, und er starrte sie fassungslos an, als sie das Gesicht langsam zu ihm drehte. Sie lächelte, aber in ihren Augen stand das Fieber. „Wo ist es, Liebster? Hast du es… zu Bett gebracht? Ich habe geträumt, es wäre gestorben bei der Geburt…“

Den anderen blieb beinahe das Herz stehen. Enola bekam Angst und sie vergrub weinend das Gesicht in Nombohs Arm, an dem sie sich klammerte, während Meoran abermals erbleichte und Keisha zitternd inne hielt. Zoras schnappte nach Luft und er senkte das Gesicht.

„Ja…“ murmelte er dann, „Es geht… dem Baby gut, Tehya. Ruh dich aus… schlaf. Morgen wirst du wieder gesünder sein!“ Er wollte seinen Arm bewegen, aber sie hielt ihn fest und wimmerte plötzlich, ehe sie heftig ein und aus zu atmen begann.

„Bitte geh nicht fort…“ machte sie, „Es ist dunkel hier drinnen… und ich fürchte mich doch vor Schatten…“ Zoras erzitterte. Er sagte nichts und sie blinzelte kurz. „Kannst du unser Baby holen? Ich möchte es halten und… ich möchte es hier haben…“

„Das… geht nicht…“ brachte er gepresst hervor, „Es… es schläft. Ich möchte es… nicht wecken, Tehya. Komm, ruh dich aus. Du bist immer noch krank… morgen wird es besser… sicher!“ Seine Stimme brach am Ende seiner Rede und er keuchte heftig, die anderen tauschten einen bestürzten Blick. Enola wollte nichts sehen und hören, sie klammerte sich nur heulend an Nombohs Arm.

„Morgen…“ wisperte Tehya und ihre Augen weiteten sich für einen Moment, als Zoras den Kopf weiter senkte und Keisha verzweifelt ein weiteres Mal ihren Zauber versuchte.

„Geister des Himmels,“ keuchte Nomboh im Hintergrund, „Und Geister der Mutter Erde! Ich bitte euch…“ Er strich dabei seiner Nichte über die blonden Haare, als sie sich fester an ihn drückte und erneut aufheulte.

„Ja, morgen… vielleicht geht es mir morgen so gut, dass ich mich selbst um mein Kind kümmern kann… mir ist… plötzlich wieder kalt, Liebster… ist das Fenster zu?“

„Es ist zu, ja…“

Tehya drehte apathisch den Kopf und sah ihn aus leeren Augen an, ehe sie leise einatmete.

„Zoras… i-ich kann dich nicht sehen… ich kann… dich nicht mehr sehen, wo bist du?“

„Ich bin direkt neben dir!“ machte er und drückte ihre Hand, ehe er aufhörte, ihre Stirn zu kühlen, weil seine Kraft jetzt am Ende angelangt war. Er wollte nicht hier sein, er wollte weg… er wollte das nicht…

„Das Fieber sinkt nicht mehr… i-ich kann… nichts mehr machen!“ jammerte Keisha da und sie schlug wimmernd die Hände vor ihr Gesicht. „D-das ist alles Kelars Schuld, er hat sie verflucht, er hat uns alle verflucht, er hat dieses ganze, verdammte Land getötet! D-dieser Wahnsinnige, dieser verdammte, grausame-…!“ Zoras starrte sie aus geweiteten Augen an.

„Er hat was…?!“ Er kam nicht dazu, weiter daran zu denken, weil er spürte, wie Tehyas Hand aus seiner glitt, und er starrte sie fassungslos wieder an. Sie atmete heftig und ungleichmäßig, als sie bebend die Augen schloss und am ganzen Körper erzitterte.

„Mir ist… so kalt… Liebling…“ flüsterte sie schwach, „D-die Krankheitsgeister sind stark, oder…?“

„Du bist stärker, verdammt, Tehya, sieh mich an!“ schrie er auf, sprang hoch und packte fest ihre eiskalten Hände. Sie versuchte krampfhaft, die Augen zu öffnen, und keuchte schwer. „D-du wirst wieder gesund, du schaffst das! Reiß dich zusammen…“

„Ich möchte…“ wisperte seine Frau kraftlos, und er erstarrte, als ihr Atmen wieder ruhiger wurde. „Ich möchte doch… so gerne… noch einmal mein Baby auf dem Arm halten… ist es… ein Junge, Zoras, Liebster…?“ Er keuchte abermals und war erst unfähig, zu sprechen. Als er es dann tat, war es kaum mehr als ein heiseres Wispern, das aus seiner Kehle kam.

„Ja… ein Sohn, genau… wie du es dir gewünscht hast… meine geliebte Frau.“ Sie lächelte warm und schaffte es ganz kurz, die Augen zu öffnen. Als sie ihm ins Gesicht sah, fand er in ihren Augen trotz ihrer Schmerzen Freude und Stolz.
 

„Hmm…“ machte sie leise und schloss die Augen lächelnd wieder. „Dann bin ich glücklich…“
 

Das waren Tehyas letzte Worte.
 

Nalani saß mit dem Kind auf dem Arm in der Stube auf dem Sofa und starrte hinaus in das trübe Wetter des nächsten Nachmittags.

„Es wird Regen geben,“ orakelte sie. Tabari stand hinter dem Sofa am anderen Fenster und sah ebenfalls hinaus.

„Ja,“ meinte er, „Ich habe ein schlechtes Gefühl. Ich weiß nicht, wieso, aber etwas Schlechtes geht vor sich. Die Geister sind unruhig, seit Vater wieder aus dem Haus ist.“

„Vielleicht findet der scheinbare Frieden ein jähes Ende,“ machte seine schwarzhaarige Frau dumpf. Das Baby begann zu quengeln und sie schnürte ihre Bluse etwas auseinander, um ihr Söhnchen an ihre Brust zu legen. In dem Moment ging die Tür auf und eines der Dienstmädchen kam herein.

„Junger Herr, Nomboh Chimalis ist gekommen und möchte Euch unverzüglich sprechen.“ Tabari sah verblüfft auf. Nomboh? Nalani verengte die Augen und erhob sich samt Baby.

„Es muss was Schlimmes passiert sein,“ ahnte sie es und hastete aus der Stube, Tabari folgte ihr sofort mit einem gemurmelten Danke an das Dienstmädchen.

In der Halle stand Nomboh seelenruhig, aber todernst, als die zwei ankamen. Von oben kamen auch Kiuk und Salihah herunter, die dabei gewesen waren, alte Dokumente und Stammbäume der Familie zu sortieren.

„Was ist denn hier los?“ machte Kiuk verwirrt und Salihah schenkte Nomboh einen nichts sagenden Blick. „Schickst du nicht sonst Federn, Nomboh, wenn etwas Wichtiges ist?“

„Es erschien mir unangemessen, das mit einer Feder zu verbreiten,“ sagte er, „Ich wollte früher kommen, aber ich war den Morgen über damit beschäftigt, meinen Bruder zur Ruhe zu bringen,“ Er erntete ungläubige Blicke und senkte dann betreten den Kopf.

„Wieso zur Ruhe bringen?“ wollte Tabari wissen, „Was ist passiert, Nomboh?“ Der Mann seufzte erneut.

„Tehya… ist heute Nacht gestorben.“
 

Diese Neuigkeit war niederschmetternd. Nalani war so fassungslos, dass sie beinahe ihr Baby fallen gelassen hätte, sie erinnerte sich zum Glück rechtzeitig daran, dass sie den Kleinen immer noch trug. Während Nomboh alles berichtete, was geschehen war, wurde er von den Augen der vier vor sich nur so durchbohrt mit Blicken voller Entsetzen und Unglauben.

Vor kurzem hatte sie doch noch gelebt… und so plötzlich nicht mehr?

Das war absurd.

„Das tut mir schrecklich leid,“ machte Tabari dann bedrückt, „Können… wir irgendetwas tun für euch?“

„Ich weiß nicht,“ entgegnete Nomboh dumpf, „Enola weint schon seit der Nacht, Keisha gibt sich selbst die Schuld und hält sich für unfähig und Zoras, ach, ich weiß auch nicht… heute morgen war er zornig und hat die halbe Welt verflucht, jetzt hat er sich beruhigt, ist aber jetzt aus dem Anwesen abgehauen und ich habe keine Ahnung, wohin er ist.“

„Er wird zurück kommen,“ meinte Salihah zuversichtlich, „Er ist ein pflichtbewusster Mensch und er hat noch seine Tochter, um die er sich jetzt kümmern muss. Zur Bestattung wird er wieder da sein, spätestens.“ Nomboh seufzte unglücklich.

„Wenn ihr es wünscht, könnt ihr gern kommen und euch von Tehya verabschieden. Mein Bruder ist sicher dankbar, wenn ihr da seid… du vor allem,“ Er sah kurz zu Salihah, die den Kopf senkte.

„Das werden wir, wenn ihr es so wollt. Es tut mir aufrichtig leid… ich weiß, dass dein Bruder das von mir nicht hören will, sag es ihm also nicht. Er weiß auch so, dass es mir leid tut…“
 

Als sie zwei Tage später die Bestattung abhielten, war Zoras natürlich wieder da. Abgesehen von Kelar natürlich, den auch niemand da haben wollte, waren alle Lyras gekommen. Nalani erinnerte sich schaudernd an die Bestattung ihrer Mutter vor vielen Jahren. Genau wie sie hatten sie Tehya fein angezogen und ihre liebsten Gegenstände mit auf den Scheiterhaufen gelegt. Enola hatte Hortensien gepflückt und ihrer Mutter in die Hände gedrückt.

Sie hatten den Kreis sehr klein gehalten, abgesehen von der Lyra-Schar war niemand gekommen.

„Ich werde hier keinen Hokuspokus anzetteln wegen des Todes meiner Frau,“ erklärte Zoras kalt, der vor der Trauergemeinschaft stand, in seinen schwarzen Geisterjägerumhang gehüllt, „Das hätte Tehya sich nicht gewünscht. Ich möchte an dieser Stelle klar stellen, dass… meine Tochter und ich von niemandem Mitleid wollen. Dass ihr heute hier seid, zeigt mir kein Mitleid, sondern, dass ihr Tehya noch eine letzte Ehre erweisen wollt. Dafür bin ich jedem hier sehr, sehr dankbar…“ Damit verneigte er sich vor seiner eigenen Familie und den anderen. Puran fing auf Nalanis Armen an zu jammern, die anderen sahen nur bedrückt auf die Erde. Es wehte kein Wind. Das Oberhaupt des Chimalis-Clans kehrte den anderen den Rücken zu, ehe er mit einer schlichten Handbewegung den Scheiterhaufen mit seiner toten Frau in Flammen aufgehen ließ.

„Und der Schatten wird so lange bleiben… bis dieses Chaos im Land vorüber ist…“ murmelte Nalani apathisch, die wiegend ihr Baby beruhigte, das sich wimmernd an sie klammerte. Sie schlug das Wolltuch, in das sie ihren Sohn gewickelt hatte, leicht über sein Gesicht, weil ihm der Rauch des Feuers in Nase und Augen biss. Das Holz war vom vergangenen Regen der letzten Tage noch feucht und deswegen qualmte es stark, Nalani selbst stiegen ebenfalls vor Brennen die Tränen in die Augen. Sie drehte das Gesicht weg und sah zu Enola, die vor Keisha stand und schniefte, während ihre Tante sie festhielt und ihr tröstend durch die Haare strich, obwohl Keisha selbst leichenblass war und zitterte. Als Zoras wieder sprach, lenkte er wieder alle Aufmerksamkeit auf sich.

„Ihr Himmelsgeister!“ rief er laut und riss die Arme in die Luft, den Kopf zurück werfend, „Hört mich an und nehmt die Seele von dieser Frau Tehya in euer Reich auf! Das Feuer wird ihren Geist von ihrem Körper trennen und ihn zu euch bringen.“ Der Himmel grollte und die Flammen auf dem Scheiterhaufen schlugen für einen Moment höher aus, bevor sie die tote Frau ganz verhüllten und die anderen nichts mehr als Feuer sehen konnten. Als Zoras die Arme sinken ließ und sich zu den anderen in die Reihe stellte, stand er zwischen Keisha und Salihah. Salihah sagte nichts und sah auch nicht auf, und er tat es ihr gleich.

Als sie alle schweigend vor dem flammenden Haufen standen, bekamen sie unerwarteten Besuch.

„Die ganze Familie fährt weg und mir sagt keiner Bescheid, dass jemand gestorben ist? Wie dramatisch…“

Alle fuhren erschrocken über die plötzliche Stimme herum und Salihah erstarrte.

„Kelar!“

Kelar Lyra stand da in seinem Umhang und machte ein konfuses Gesicht. Die anderen tauschten einen entsetzten Blick; dass der hier auftauchte, war sicherlich nicht Tehyas Wunsch; und Zoras‘ schon gar nicht. Der Geisterjäger schnaubte.

„Verschwinde von meinem Grundstück und aus Tuhuli, und zwar ganz schnell, Kelar!“ fuhr er ihn an, „Wie kannst du es wagen, hier aufzukreuzen, ohne eingeladen zu sein, und die Bestattungszeremonie meiner Frau zu entehren?!“

„Ach, Tehya ist tot?“ machte Kelar und ein süffisantes Grinsen schlich auf sein Gesicht. Nalani schnaubte auch, während Nomboh seinen Bruder am Kragen packte, weil der aussah, als würde er gleich vor Zorn explodieren.

„Als ob du das nicht wüsstest!“ schnappte die Schwarzhaarige und drückte ihr Kind an sich, „Du hast doch deinen Superspion, der alles für dich erfährt, oder was?“

„So viel Undankbarkeit, habe ich euch kürzlich irgendwas angetan?“ machte Kelar grinsend, „Wieso bist du denn so hasserfüllt, Chimalis…? Für Tehya ist es vielleicht besser so, da muss sie die Schmach nicht länger ertragen, dass du sie betrügst…“

„Was?“ machte Tabari verdutzt, der keine Ahnung hatte, aber niemand ging darauf ein, weil es jetzt Keisha war, die losschrie:

„Du Ungeheuer hast sie umgebracht, ich weiß es! Als sie dich von unserem Anwesen vertrieben hat, hast du uns alle grausam verflucht und die Geister haben deinem Willen wohl gehorcht, ihr das anzutun! Du bist eine grausame, abscheuliche Bestie, Kelar, wenn ich nicht um das Leben meines Sohnes fürchten müsste, würde ich dir die Augen auskratzen oder dir sonst wie wehtun, du Bastard!“

„Keisha!“ brüllte Nomboh dazwischen, und Zoras versuchte wutentbrannt, sich loszureißen.

„Lass mich los, Nomboh! ICH BRINGE DICH UM, DU AASGEIER, Kelar! Du verdammter, verfluchter… ich koche dich nicht nur in Öl, sondern in Salzsäure, du Schweinehund!“

„Ich habe Tehya nichts angetan, verdammt, kriegt euch wieder ein,“ machte der Herr der Geister und sein Blick verfinsterte sich bedrohlich, als er in Zoras‘ Richtung sah. „Und was entehrt deine dumme Frau daran, wenn ich komme und euch mein Beileid ausspreche…? Undankbares Gesindel, Chimalis, tss… und die Geister haben wohl recht daran getan, sie zu töten, es war ihre eigene Entscheidung… so, wie sich jeder für sein eigenes Schicksal entscheiden kann.“

„SCHER DICH WEG, bevor ich dich in Stücke reiße!“ bellte Zoras ihn an, „Scher dich weg von hier, ich warne dich, Kelar! Und ich bin noch nicht fertig mit dir, das schwöre ich dir! Ich werde dich zu Fall bringen, egal, was es kostet, ich werde dich mit bloßen Füßen zum Himmelsdonner treten, wenn es sein muss, aber du wirst blutend am Boden liegen und dir wünschen, es nicht getan zu haben! – Verdammt, Nomboh, lass mich los, ich bringe ihn um, diesen verfluchten Bastard, der es wagt, meine Frau erst umzubringen und dann noch zu entehren!“

„Dann forderst du mich offen heraus, Chimalis?!“ Kelar Lyra verengte die Augen zu schmalen, gefährlichen Schlitzen und er packte unruhig seinen goldenen Speer, als Zoras zischte und ebenfalls die Augen verengte. Dann spuckte er Kelar vor die Füße und riss sich mit aller Macht von Nomboh los; aber statt sich jetzt auf den älteren Mann zu stürzen rückte er seinen Kragen zurecht und blieb vor Zorn bebend stehen, Kelar einen Blick voller Hass und Abscheu schenkend.

„Sicherlich nicht auf dem direkten Weg,“ sagte er dann kalt, „So, wie du Tehya nicht auf dem direkten Weg getötet hast! Aber ich schwöre es dir… ich reiße dich in Stücke, Kelar, in tausende Stücke!“ Die anderen hielten die Luft an und Enola schlug bleich und keuchend die Hände vor das Gesicht. Dann fungierte Salihah wie so oft als Streitschlichterin:

„Beherrscht euch, wenn ihr hier Morddrohungen ausruft, entehrt das die arme Tehya nur noch mehr! Geh nach Hause, Kelar, ich denke nicht, dass Tehya dich hier gern gesehen hätte, und das weißt du selbst. Und was Zoras angeht, du hast ihn ja gehört.“

„Gut…“ sagte der Herr der Geister und hob herrisch den Kopf, schenkte seiner verhassten und dennoch immer noch begehrten Frau einen mordenden Blick und wandte sich dann wieder an Zoras. „Ich merke mir das, Chimalis… wir werden ja sehen, wer zuerst in tausende Stücke zerrissen wird. Mach, was du willst… du kannst mich nicht töten, Chimalis.“

„Das können nur die Geister,“ bestätigte Zoras Chimalis kalt und schnaubte erneut, „Und sie werden dir nicht auf ewig zu Füßen liegen, großer Herrscher! Eines Tages werden sie dir genau wie wir alle den Rücken kehren! Dann… wird der Schatten fallen und du wirst sterben.“

Kelar lachte nur amüsiert, ohne noch etwas zu sagen. Dann ging er mit wehendem Umhang davon.
 


 

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Random! XD Alle lieben baby-Puran und die arme Tehya ist tot, haha XD hey, aber es war egal wann sie stirbt, weil... sie war nicht wiklich wichtig oô... auch wenn sie mir leid tut, aber so einen Drama-Tod hatte die gar nicht verdient oô''

Und ein getötetes Baby für die Sammlung <3

Königin der Schamanen

„Nalani!“

Tabari stand in der Halle und rief nach seiner Frau, die aber nicht antwortete. Der blonde Mann verdrehte nach einer Weile die Augen. Irgendwie war sie mitunter taub für seine Stimme. Er rief sie noch einmal, jetzt lauter, ehe er leicht gereizt an seinem schwarzen Umhang zupfte, bis er oben plötzlich Schritte hörte.

„Du brauchst nicht zu schreien, Tabari, ich höre dich sehr gut!“ Das war seine Frau, und er seufzte, immerhin kam sie. Sie erschien am oberen Ende der Treppe, an ihrer Hand hielt sie ihren drei Jahre alten Sohn, der offenbar gerade versuchte, seine eigene Hand zu essen, jedenfalls stopfte er sie so weit wie möglich in seinen Mund.

„Na endlich,“ war Tabaris Begrüßung, als seine Frau langsam Stufe für Stufe mit dem Kleinen hinunter kam. Puran konnte noch nicht besonders schnell Treppen gehen, daher dauerte es, bis sie endlich unten waren. „Ich fahre nach Yiara, wir haben Ratssitzung. Ich habe mir etwas überlegt und wollte das erst mit dir besprechen, bevor ich damit vor den Rat trete.“

„Ich mag auch Yiara gehen, Vati!“ verkündete sein Sohn und als Tabari ihn verblüfft ansah, versteckte das Kind sich kichernd unter Nalanis Rock.

„Komm da raus, Puranchen…“ machte Nalani lachend und schob ihn wieder etwas von sich weg, „Nein, du bleibst hier, du kannst nicht nach Yiara. Dafür bist du noch viel zu klein.“ Sie sah zu Tabari. „Was wolltest du besprechen?“

„Als ich letztes Mal oben in Tuhuli war, hat Nomboh mich gefragt, ob du denn nicht endlich mal deine Geisterjäger-Prüfung machen willst,“ offenbarte er ihr, „Du hast einmal zu mir gesagt, du machst es, sobald Puran groß genug ist, um drei Tage ohne dich zu überleben. Ich denke, das wird er, meinst du nicht?“ Nalani sah auf ihren Sohn, der immer noch ihre Hand hielt und mit der freien Hand am Treppengeländer neben sich herumzupulen begann.

„Er ist erst drei,“ meinte sie, „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“

„Jedes Kind kann in dem Alter drei Tage ohne Mutter überleben, er hat ja noch mich und Kiuk und Sukutai oder meine Mutter! Du verhätschelst ihn viel zu sehr, es wird Zeit, dass er lernt, sich zu lösen. Und ich denke, es wird Zeit, dass du den Geistern die Ehre erweist und zeigst, wozu du fähig bist.“

„Und das muss jetzt sofort sein?“

„Wenn du eigentlich fähig bist, diese Prüfung zu bestehen, und das warst du schon vor Jahren, wenn ich Nomboh da richtig verstanden habe, und sie verweigerst, beleidigst du die Geister,“ erklärte er, „Es wird Zeit, Nalani. Puran wird es auch bei uns gut haben, es sind nur drei Tage, die du isoliert sein musst.“

„Sind die Geister böse, Mutti?“ fragte der Kleine und sah mit großen Augen hinauf. Nalani seufzte und hob ihn sanft hoch, um ihn auf ihre Arme zu setzen. Sie lächelte und rieb ihre Nase an seiner, worauf er kicherte.

„Nein, sind sie nicht. Keine Angst.“

„Fahren wir jetzt nach Yiara?“

„Nein, mein Sohn, Vati wird alleine fahren. Wir bleiben hier.“ Sie sah zu Tabari und wippte den Kleinen auf ihren Armen sanft auf und ab. „Ist gut, du hast vermutlich recht. Dann sag dem Rat, wenn sie einverstanden sind, mache ich die Prüfung. Muss dein Vater das nicht absegnen? Der wird das sicherlich nicht gut heißen.“

„Wenn alle anderen einstimmig dafür sind, und dessen bin ich recht überzeugt, hat Vater nichts zu melden. Er mag Herr der Geister sein, aber er kann sich nicht dem ganzen rat widersetzen. Oder sagen wir, wenn er es kann, können wir es auch, wenn er Nein sagt, machen wir es trotzdem.“ Nalani zog eine Braue hoch und er grinste. „Keine Sorge, das Schiff schaukeln wir schon irgendwie!“

„Irgendwie?“ schnaubte sie, „Tabari, so geht das nicht, es funktioniert nicht alles irgendwie.“

„Irgendwie, irgendwo, irgendwann, irgendwas, irgendwer…“ plapperte Puran und lachte dabei blöd vor sich hin. „Ich mag auch irgendwie, Mutti!“

„Ja, war mir klar, du magst das alles,“ machte sie leicht entrüstet, und Tabari wandte sich um Gehen.

„Dann werde ich das dem Rat ausrichten. Wenn ich zurückkomme, sage ich dir Bescheid, wann es losgeht. Und, Puranchen?“ Er sah grinsend zu seinem Sohn, und Puran strahlte.

„Jaahaa?“

„Pass brav auf deine Mutter auf, wenn ich weg bin, hörst du?“ Nalani lachte leise, dann verließ ihr Mann das Schloss.
 

Der Mond der Stürme war angebrochen, der Winter stand vor der Tür. In Dokahsan war es kalt geworden und es hatte sogar schon den ersten Schnee gegeben. Nalani hatte zusammen mit ihrem Kind und Sukutai viele Schneemänner im Garten gebaut, Puran zuliebe, weil er so gern im Schnee hatte spielen wollen; dann hatte er allen Schneemännern Namen gegeben und eine Schneefamilie daraus gemacht:

„Das ist Mutti und das Vati, der da ist Onkel Kiuk und das ist Tante Sukutai. Der kleine bin ich und das hier ist Großmutter.“

„Und was ist mit dem?“ hatte Sukutai gelacht und auf einen übrigen Schneemann gezeigt, „Das ist dann Großvater, den hast du vergessen.“ Puran hatte sich unter Nalani Rock versteckt, als hätte seine Tante ihn geschlagen.

„Das ist nicht Großvater! Ich mag nicht, ich hab Angst vor dem!“
 

Das war das erste Mal gewesen, dass er das offenbart hatte, obwohl es offensichtlich war, wenn Kelar im Schloss war. In einer großen Familie war es schwer zu vermeiden, dass einer dem anderen begegnete, aber wenn Kelar in einen Raum kam, in dem das Kind war, versteckte Puran sich wie automatisch bei oder hinter seiner Mutter, meistens unter ihrem Rock, denn da sah ihn keiner, Mutti trug nämlich nur lange Röcke bis zum Fußboden. Nalani verübelte ihrem Kind nicht, dass es Kelar fürchtete, obwohl Kelar wirklich erstaunlich nett und höflich zu Puran war und ihm immer noch Spielsachen schenkte. Sie hatte Puran beigebracht, dass er ihr immer alles erst zeigen musste, was er geschenkt bekam, und sie fragen musste, ob er es behalten durfte; nicht, dass Kelar ihm irgendwas gab, was er nicht haben sollte. Und wenn die Mutter ein Geschenk für überflüssig oder nutzlos hielt, verwehrte sie es ihrem Sohn.

„Nein,“ sagte sie dann streng, „Das darfst du nicht haben, das ist Firlefanz, Puran. Das brauchst du nicht, du hast genug!“ Das Kind gehorchte sehr artig und schmollte nie, wenn es etwas nicht behalten durfte.
 

Am Ende des Sommers hatte Kiuk sich endlich getraut, bei Sukutais Vater um ihre Hand anzuhalten. Wie Nalani es prophezeit hatte, waren sowohl Sukutai als auch ihr Vater einverstanden gewesen, letzterer hatte sich geehrt gefühlt, seinen bescheidenen Clan mit dem Sohn der mächtigen Seherin Salihah verbinden zu können, womit er sowohl Salihah als auch Kiuk sehr geschmeichelt und seine eigene Familie höflich wie eh und je hinunter gestuft hatte. Die Hochzeit war abgehalten worden im etwas größeren Kreis als Tabaris und Nalanis; immerhin war Sukutais Familie dabei gewesen und da sie in Tasdyna gefeiert hatte auch das ganze Dorf. Sukutais Familie war in Tasdyna sehr beliebt und dort mochte jeder jeden. Und die einfachen Dorfmenschen waren stolz gewesen, die Hochzeit von so wichtigen Persönlichkeiten miterleben zu können. Kelar war nicht dabei gewesen. Kiuk interessierte ihn nicht und Sukutai erst recht nicht.

„Undankbarer Schweinehund,“ hatte Nalani über ihn geschimpft, „Wie kann man seinen eigenen Sohn nur so hassen?!“

„Ach, dann verpasst er eben das gute Essen,“ hatte Tabari erwidert, „Hat er Pech gehabt!“

Fast unmittelbar nach der Hochzeit, seit der Sukutai auch im Lyra-Schloss lebte, waren sowohl sie als auch Kiuk dem Tele-Orden, dem obersten Rat der Seelenmagier, beigetreten. Tabari war völlig verwirrt gewesen.

„Wieso können die da einfach mitmachen und bei uns Geisterjägern muss man voll die anstrengende Prüfung machen und um Leben und Tod kämpfen?“

„Telepathen sind keine Schwarzmagier, bei uns ist das eben anders,“ hatte Salihah gemeint, „Es muss auch nicht, anders als bei euch, unbedingt der besten und mächtigste Magier der Ratsvorstand sein, jeder, der vom versammelten Rat mehrheitlich gewählt wird, kann Vorstand werden. Und wenn jemand zutreten will, wird abgestimmt, und wenn alle einverstanden sind, ist das erledigt.“

„Ihr Telepathen seid ja voll die Diplomaten,“ hatte Tabari gebrummt, „Und wir müssen immer diesen mühseligen Quatsch mit Ehre und Stolz machen…“

„Entehre nicht die Geister, du Unhold!“ hatte Nalani sich empört und ihm auf den Kopf gehauen, Salihah hatte gelacht. Puran hatte eine Mutter unterstützt:

„Vati ist ein Unhold, Großmutter!“

Leider war kurz nach dem Beitritt in den Rat der beiden Jüngeren Telepathenratsoberhaupt Dotai, Sukutais Vater, verstorben. Dabei war er gar nicht so alt gewesen, das hatte alle ziemlich mitgenommen, vor allem natürlich die arme Sukutai. Aber sie war sehr tapfer. Jetzt, wo der Winter da und ihr Vater schon ein Vierteljahr tot war, musste sie sich mit ihren Schwestern und ihrer Mutter mit dem Erbe auseinander setzen, was sie extrem aufregte und ärgerte.
 

„Einer muss Oberhaupt der Familie werden und wir sind aber nur Frauen, es kann also bloß eine Oberhäuptin geben – gibt es so ein Wort überhaupt, frage ich mich? Nun, wie dem auch sei, jedenfalls einigen sie sich nicht, die ältere meiner jüngeren Schwestern müsste jetzt das Anwesen verwalten, weil ich verheiratet bin und damit raus aus der Verantwortung, und meine Mutter ist so tüdelig im Kopf, die kann keine Familie führen! Aber meine Schwester ist erst sechzehn und vor allem, das Schlimme ist, sie kann mit dem Vermögen meines Vaters nicht umgehen, sie denkt gerade, sie könne jetzt umher laufen und das Geld sinnlos verschwenden, sie kauft sich Zigaretten und Kleider und – hört euch das an, es ist so grauenhaft – sie hat sich einen Sklaven aus Yatoret gekauft, der ihr jetzt die Fußnägel lackiert, und er spricht nicht mal unsere Sprache, das ist irgend so ein Spaßvogel aus Kadoh, der ist auf einem Berg aufgewachsen und kann nichts außer Fußnägel lackieren, und dafür gibt sie Geld aus, und…“

„Sukutai!“ fiel Kiuk ihr jetzt endlich ins Wort – alle hatten, verblüfft am Abendbrottisch sitzend, nur darauf gewartet, dass jemand diesen Redefluss unterbrach, und im Chor atmeten Nalani, Salihah und selbst der Esel züchtende Küchenjunge im Hintergrund auf, als die junge Frau schwieg. Puran rümpfte theatralisch die kleine Nase.

„Ich hab kein Wort verstanden, was du quasselst!“ sagte er, und Kiuk hustete entrüstet, Nalani gab dem Kind einen leichten Klaps.

„Sowas sagt man nicht, Puran.“

„Das sagt Vati auch immer,“ sagte Puran unschuldig. Nalani entschuldigte sich bei Kiuk und Sukutai.

„Ja, er zitiert neuerdings gern seinen Vater. Tabari hat einen schlechten Einfluss auf sein Mundwerk, ich sollte dem mal die Zunge zähmen.“

„Ist doch schon gut!“ strahlte Sukutai jedoch, „Ich finde es niedlich, wenn er so ehrlich ist! Er hat ja recht, ich rede zu viel, aber ich rege mich gerade so über diese verplanten Menschen in Tasdyna auf, ich bin wohl durch eure zwanghafte Ordnung hier verwöhnt worden – ach, jemine, ich fange ja schon wieder an!“ Alle lachten leicht und die Braunhaarige kratzte sich verwirrt kichernd am Kopf. Dann klopfte sie sich sanft auf den Bauch. „Das liegt sicher alles an dem Kind in meinem Bauch, das macht mich ganz hibbelig.“

Sukutai erwartete ihr erstes Kind im kommenden Sommer. Über die Nachricht ihrer Schwangerschaft waren alle glücklich gewesen, vor allem so kurz nach dem Tod ihres Vaters war das ein gutes Zeichen. Kiuk hatte ihr versprochen, wenn es ein Junge würde, würden sie es nach ihrem Vater benennen, den er im Übrigen hoch verehrt und geschätzt hatte. Sukutai hatte darauf nur gesagt:

„Das wird sicherlich ein Mädchen! In meiner Familie gebären alle Frauen nur Mädchen, meine Mutter hat drei Mädchen bekommen, ihre Mutter zwei, ihre Schwester hat auch zwei Mädchen! Ich bekomme sicher auch ein Mädchen, du wirst sehen.“

„Was immer es wird,“ hatte er entgegnet, „Ich werde mit Stolz sein Vater sein und es lieben bis zu dem Tag, an dem meine Seele im Wind wehen wird.“

„Und wer wird jetzt Familienoberhaupt?“ fragte Nalani dann verblüfft, und die Schwägerin blinzelte.

„Ja, keine Ahnung!“ war die erstaunlich kurze Antwort, „Vermutlich der Fußnägellackierer aus Kadoh, haha!“

„Macht es doch wie im Telepathenrat und stimmt einfach ab,“ feixte Nalani weiter, und Sukutai machte ein erstauntes Gesicht.

„Was sollen wir da abstimmen, wer Clanoberhaupt wird? Wenn es doch so einfach wäre mit meiner tüdeligen Mutter, meine Schwester, die sich einen Sklaven zum Fußnägel lackieren kauft und meiner anderen Schwester, die noch zu jung ist, um überhaupt Ahnung zu haben, was ein Familienoberhaupt für eine Verantwortung hat… eigentlich müsste nur jemand meine Schwester erziehen, also die größere der beiden, damit sie sorgsam spart und sich nicht aufführt wie die Königin von Intario!“

„Die Königin von Intario?“ gackerte Puran, „Wer ist denn das?!“ Sukutai sah ihn lächelnd an.

„Was, das weißt du nicht? Vor langer Zeit gab es im Land Intario eine Königin, die hat immer gemacht, was sie wollte und wozu sie Lust hatte, bis der König sie eines Tages bestraft hat, sie hat riesigen Ärger bekommen. Wenn man immer nur das tut, wozu man Lust hat, tanzen einem die Leute auf der Nase herum!“ Nalani nickte dankbar für die Lektion – wenn das Kind das früh lernte, umso besser.

„War das noch mehr lange her als, als gestern?“ grübelte das Kind, und Kiuk fing an zu lachen.

„Sehr viel länger her!“

„Noch länger her als du alt bist,“ lachte Nalani auch, „Diese Königin hat vor mehreren hundert Jahren gelebt, mein Schatz.“ Puran konnte nicht zählen und hatte keine Vorstellung für Zeiten, die so lange her waren. Er verstand also kaum etwas von dem, was man ihm sagte, aber er merkte sich immer gewissenhaft, was seine Mutter ihm sagte.
 

Tabari langweilte der Weg nach Yiara inzwischen. Er war so oft in seinem Leben dort hin geritten und von dort zurück geritten, dass er die halbe Strecke schlafend auf dem Rücken des Pferdes verbrachte und das Tier ihn dennoch zielstrebig in die Hauptstadt der Provinz Dokahsan brachte. Wenn er schon sonst nie zum Schlafen kam, weil entweder sein Vater oder die anderen Geisterjäger irgendetwas von ihm wollten oder seine Frau mit seinem Kind irgendetwas von ihm wollte…

Die Stadt hatte sich nicht verändert, was er auch nicht anders erwartet hatte. Die Menschen wichen dem Pferd ehrfürchtig aus und neigten demütig die Köpfe, wenn er durch das Tor kam, wenn er durch die Straßen ritt und am Senatsgebäude ankam. Er fragte sich manchmal, was sein Vater diesem Volk eingebläut hatte, dass sie selbst vor ihm als Kelars Sohn so demütig waren. Außerdem wunderte ihn, dass sein Vater ihn nicht schlecht gemacht hatte vor dem Volk, wo er sich doch einst vor Nalani gestellt und sie und ihr ungeborenes Kind beschützt hatte… sein Vater war eigenartig.

Der Verein der Geisterjäger hatte im Senatsgebäude einen eigenen Tagungsraum von Kelar geliehen bekommen, wieder Herr der Geister es nannte, was an sich schon eine große Ehre war. Als Tabari den Raum betrat, waren schon alle da und sahen jetzt mehr oder minder geschlossen zu ihm auf, als er sich räusperte und die Tür schloss.

„Du bist zu spät,“ war die Begrüßung seines Vaters, „Wo hast du gesteckt, Tabari?“ Er kratzte sich am Kopf.

„Da war ein großes Loch in der Straße und ich musste Meilen darum herum gehen, das hat Zeit gekostet…“ Die anderen sahen ihn verwundert an und niemand sagte etwas zu seiner dämlichen Ausrede. Tabari hielt sich nicht länger an Förmlichkeiten auf und setzte sich zu den anderen an den Tisch, an dessen Stirnseite natürlich Kelar saß. Der Rat der Geisterjäger war im vergangenen Jahr gleich um zwei Mitglieder gewachsen, denn Hakopa Kohdars Söhne hatten alle beide kurz hintereinander die Prüfung bestanden. Tare, der jüngere der Kohdar-Söhne, war mit seinen damals fünfzehn Jahren der jüngste Mann gewesen, der jemals diese Prüfung bestanden hatte, was alle sehr gefreut und sowohl Tare als auch seinen Vater sehr stolz gemacht hatte. Jetzt sechzehn Jahre alt, saß der Junge neben seinem zwei Jahre älteren Bruder Barak, strahlte in die Runde und sagte kein Wort.

„Jetzt haben wir drei Kohdars im Rat, zwei Lyras, und zwei Chimalis‘, Minar, du musst dich ranhalten und deinen Clan fördern,“ hatte Nomboh einmal gescherzt, und der alte Minar Emo hatte bloß die Augen verdreht.

„Im Ernst,“ begann Tabari in dem Moment und erhob sich, obwohl er sich gerade erst gesetzt hatte, „Ich habe daheim mit meiner Frau gesprochen.“ Jetzt wurden alle hellhörig und sahen geschlossen zu ihm hin. Kelar verengte unmerklich die Augen. Tabari seufzte, ehe er die Männer vor sich ansah. „Ihr habt von mir erwartet, dass ich das tue, also tue ich es hier und jetzt… und bitte den versammelten Rat, Nalani die Zulassung zur Geisterjägerprüfung zu gewähren. Sie ist jetzt bereit, sie anzutreten und unseren Sohn für eine Weile in der Obhut der Restfamilie zu lassen.“
 

Er erntete zunächst Schweigen. Kelar erhob sich langsam und schien etwas sagen zu wollen, aber Nomboh fiel ihm lachend ins Wort:

„Na endlich! Das wird ja auch Zeit, hätte sie nicht das Baby bekommen, wäre sie längst Geisterjägerin, wetten?“

„Lass deine Wetten,“ machte Zoras knapp, der in seiner Kaffeetasse herum rührte.

„Machen wir das jetzt sofort?“ wollte das Nesthäkchen Tare fröhlich wissen, und sein Bruder verdrehte die Augen.

„Du kannst nie warten, du Schafskopf. Eine Woche dauert das sicher.“

„Halt, Moment!“ empört unterbrach der Herr der Geister die angeregte Diskussion. Sofort verstummten alle brav, nur Zoras rührte unbeirrt weiter in seiner Tasse, wobei der Löffel darin klimperte. Kelar beachtete seinen größten Rivalen gar nicht. Er sah düster zu Tabari und dann zu Nomboh. „Das habt ihr euch so gedacht, dass die Wachtel Geisterjägerin wird?! Tss, Geisterjägerin?! Es gib keine weiblichen Geisterjäger, das hat es noch nie gegeben!“

„Schmarrn,“ behauptete Zoras ungeniert, und Tabari brummte auch.

„Kiuk hat mir was anderes aus unserem Stammbaum erzählt, es gab sogar mal einen weiblichen Clanführer!“ Sein Vater schnaubte.

„Das ist mir egal, das waren andere Zeiten, jetzt ist jetzt und nicht damals. Mir egal, wer alles Clanführer oder Geisterjäger gewesen sein mag! Ich erlaube nicht, dass die Wachtel Geisterjägerin wird, sie ist eine Frau und sie bricht die regeln, wie sie Lust hat, sie hat keinen Respekt vor der Macht der Geister. Sie kann die Prüfung nicht bestehen und wird es auch nicht.“

„Wollen wir wetten?“

„Halt die Klappe, Nomboh!“

„Was für Regeln bricht sie?“ fragte Tabari kalt, „Deine Regeln, Vater?“ Kelar stierte ihn nur grimmig an, während die anderen wieder verstummten. „Nur, weil du sie nicht leiden kannst, ist das kein Grund, sie nicht zuzulassen. Die Mehrheit des Rates wird entscheiden, Vater!“

„Der Rat kann mich mal, ich bin der Rat!“ brüllte Kelar Lyra zornig und schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Ein Rat besteht logischerweise immer aus mehreren Personen, denn alleine kann man sich ja schlecht beratschlagen,“ behauptete Barak Kohdar und zog die Augenbrauen hoch.

„Ich bin der Vorsitzende dieses Rates, danke für deine Klugscheißerei, Barak, und wenn ich Nein sage, gilt für alle hier Nein,“ erwiderte Kelar kalt. Barak ließ sich nicht einschüchtern.

„Das ist dann aber irgendwie auch kein richtiger Rat, wenn wir Euch zwar raten, Herr, aber Ihr unseren rat gar nicht berücksichtigt, das ist ja, als würde man einem Bäcker sagen, er solle mehr Zucker in seinen Kuchen mischen, und er nimmt Salz, weil ihm Zucker nicht in den Kram passt.“

„Was für hirnrissige Vergleiche!“ fluchte Kelar.

„Also, ich hab jetzt Hunger,“ meinte Nomboh und kratzte sich am Kopf. „Ist außer Kelar jemand dagegen, dass Nalani die Prüfung macht? Stimmt, Frauen als Geisterjäger gibt es so extrem selten, dass es verschwindend ist… aber umso besser, das mal zu ändern, oder? Und so, wie ich sie einschätze, hat sie ein enormes Potential. Ich habe sie gelehrt, ich weiß, wovon ich rede, und vergesst nicht, dass sie Thono Kandayas Tochter ist.“ Zustimmendes Murmeln von allen Seiten. Kelar schnaubte.

„Vergesst es, niemals.“

„Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten,“ mischte Zoras sich dann seelenruhig ein und hielt einen Zeigefinger hoch, „Nummer eins, Kelar sagt, er ist dagegen, alle anderen werden offenbar dafür sein und wir machen die Prüfung ohne Kelar, das gibt viel Ärger und Genörgel oder ein paar zerfetzte Dörfer, das wäre unschön.“ Kelar starrte ihn fassungslos über diese Schamlosigkeit an und auch Tabari fragte sich manchmal, ob der Schwarzhaarige nach dem Tod seiner Frau den Verstand verloren hatte, denn er nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, Kelars Regime zu kritisieren, selbst auf offener Straße nicht.

Zoras hob einen zweiten Finger.

„Nummer zwei, Kelar sagt Na gut, mal schauen, was wird, und wir sparen uns die zerfetzten Dörfer. Du hast die Wahl, großer durchlauchter Herrscher von Lyrien,“ Hier kam eine dermaßen spöttische Verneigung, dass die anderen schon erschauderten. Kelar blieb kalt. „Du weißt genauso gut wie ich und jeder andere hier, dass es Nalanis Schicksal ist. Das war es seit ihrer Geburt, nein, schon davor. Und du sträubst dich dagegen, weil du weißt, dass ich recht habe, weil du Nalanis Macht mehr als alles andere fürchtest…“ Die Versammlung hielt plötzlich den Atem an, als Zoras sich erhob und Kelar genau gegenüber stand. Die beiden sahen sich feindselig an und einen Moment schien es, als würde selbst die Luft gefrieren wollen. „Sie trägt Kadhúrems Klinge, Kelar, und sie wird Geisterjägerin sein, ob es dir gefällt oder nicht, da bin ich sicher. Wir machen die Prüfung in einer Woche. Hast du noch etwas zu sagen?“ Alle sahen gespannt zu Kelar, der eine eiserne Miene aufsetzte und erst mal gar nichts tat. Dann schnappte er nach Luft und ballte zornig die Fäuste, ehe er an Zoras vorbei zur Tür schritt.

„Wir werden ja sehen. Dein höhnisches Gerede wird dir noch vergehen, Chimalis, das schwöre ich dir. An dem Tag, an dem Nalani nach Tuhuli zur Prüfung kommt, rechnen wir ab.“ Er warf einen letzten, grausamen Mörderblick über die Schulter zurück und verließ dann den Raum. Die Tür krachte ins Schloss.

„Dem habt Ihr es aber gegeben,“ lobte Tare Kohdar vorwitzig und grinste zufrieden. Zoras Chimalis ging nicht darauf ein.

„Ist die Sache damit geklärt oder hat noch jemand etwas zu melden?“ fragte er in die Runde – und plötzlich fiel die Kälte, die er Kelar gegenüber aufsetzte, von ihm ab, und er setzte sich fröhlich wieder hin und trank rasch seinen Kaffee aus. „Ich habe heute gute Laune,“ erklärte er sein Verhalten den ungläubigen Gesichtern, „Ich habe hier in Yiara einen Laden gefunden, der Kaffee verkauft, ich liebe diese Menschen, ich würde sie am liebsten behalten. – Nun, da unser selbsternannter Ratsvorsitzender, auch bekannt als Tyrann Kelar Lyra von Lyrien, es nicht für nötig zu halten scheint, die Sitzung zu Ende zu führen, setzen wir das ohne ihn fort. Also, schießt los, habt ihr was Lustiges zu erzählen?“
 

Nalani war aufgeregt. In der Nacht vor der Prüfung ließ sie Puran zwischen Tabari und sich im Bett schlafen. Sie hatte zwar am Abend versucht, ihm sanft beizubringen, dass sie drei Tage in Folge fort sein würde, aber er hatte es nicht so richtig kapiert und kuschelte sich jetzt glücklich zwischen sie und seinen Vater, während beide Eltern zärtlich je einen Arm um das Kind legten.

„Wenn ich weg bin, wird er anfangs vielleicht unausstehlich sein,“ warnte Nalani ihren Mann.

„ja, aber er wird überleben,“ entgegnete er seufzend, „Es wird wirklich Zeit, dass du ihn loslässt… dass er dich nicht loslassen kann liegt mit daran, dass du immer bei ihm bist, dass er nie erfahren hat, wie es ohne Mutti ist. Wie soll er so selbstständig werden, Nalani…?“

Sie reagierte wie erwartet.

„Ich bin seine Mutter, ich weiß, was ich zu tun habe. Ich erziehe ihn so, wie ich es für richtig halte, Mann.“ Tabari sagte nichts. Ja, er hätte es wissen müssen… wenn er es wagte, an ihrer Erziehungsmethode zu meckern, stieß er grundsätzlich auf taube Ohren. Er schwieg also und beendete das Gespräch damit. „Gute Nacht, Tabari,“ sagte Nalani dann noch etwas zärtlicher. „Und gute Nacht, Puranchen.“

„Gute Nacht,“ kam von den beiden im Chor, und sie musste lächeln, ehe sie die Augen schloss und Stille herrschte.

Der Gedanke, drei Tage ohne ihren kleinen Sohn zu verbringen, erschien ihr unerträglich. Sie liebte das Kind, sie würde für dieses Kind ihr eigenes Leben hergeben. Innerlich wusste sie ja, dass Tabari recht hatte… sie musste ihn loslassen. Sie konnte ihn nicht ewig bemuttern, eines Tages würde er ein mann sein müssen. Vor dem Tag graute ihr jetzt schon… sie wollte so gerne, dass er für immer ihr kleiner, geliebter Junge blieb, der sie genauso bedingungslos liebte wie sie ihn.

Puran kuschelte sich etwas dichter an sie und begann nach einer Weile, an ihrem Nachthemd über der Brust zu knabbern, als wollte er es aufessen. Sie kannte die Geste sehr gut und wusste, was er wollte, so öffnete sie geduldig drei der Knöpfe, um ihre Brüste frei zu legen, damit das kleine Kind schweigend ihre Brustwarze in den Mund nehmen und trinken konnte. Sie strich ihm zärtlich über die wuscheligen Haare, während er sich sanft an sie klammerte und glücklich Milch trank. Tabari merkte ganz genau, was neben ihm vor sich ging, und er öffnete noch einmal die Augen und schüttelte bei dem Anblick den Kopf.

„Ich sag es ja,“ murmelte er leise, „Lass ihn los. Er ist jetzt drei und du säugst ihn immer noch, Nalani… er hätte schon seit Jahren keine Milch mehr bekommen dürfen.“

„Könntest du Nein zu ihm sagen?“ schnarrte sie ebenso leise, um das schläfrig saugende Kind nicht zu stören, „Wie könnte ich es ihm verwehren? Er ist noch klein, er liebt es eben.“

„Auch, wenn er noch so klein und süß ist, musst du lernen, Nein zu ihm zu sagen!“ widersprach Tabari gedämpft. „Gerade in seinem Alter ist es wichtig, dass er schnallt, dass er nicht immer alles bekommt, was er gerne hätte, Nalani.“

„Shht jetzt…“ brach sie die Diskussion murrend ab, und Tabari seufzte. Sie blockte. Wie immer, wenn er versuchte, sie zu belehren.

Herrin Nalani, stolze Tochter des Kandaya-Clans und seine geliebte Frau, war unfehlbar. Sie hatte unweigerlich recht und er war der Idiot, der nickend und grinsend neben ihr stehen konnte.

Wenn sie die drei Tage weg war, würde er gewissenhaft damit beginnen, seinen verwöhnten Sohn zu erziehen, wie es sich gehörte.
 

Das hatte der blonde Mann sich definitiv leichter vorgestellt, als es war. Das merkte er schon als Nalani am nächsten Morgen das Schloss verließ unter Aufsicht der anderen Geisterjäger, die allesamt gekommen waren und ihr jetzt vom Tor aus nachsahen, wie sie allein in die Wildnis hinaus marschierte. In drei Tagen würde sie nach Tuhuli kommen; dort würde der zweite Teil der Prüfung stattfinden.

„Wohin geht Mutti?“ fragte der Kleine unruhig und trat dabei von einem Fuß auf den anderen, während er neben seinem Vater zwischen allen möglichen fremden Männern in schwarzen Umhängen stand.

„In die Wildnis,“ antwortete Tabari ernst.

„Ich mag auch gehen!“ verkündete Puran und wollte schon losmarschieren, da war es aber Tare Kohdar, der neben ihm stand, der ihn festhielt. Völlig entsetzt, dass ihn ein wildfremder Mann anfasste, starrte Puran ihn an.

„Du bleibst hier bei deinem Vater,“ erklärte Tare blinzelnd, „Deine Mutter muss für drei Tage alleine sein, du kannst jetzt nicht zu ihr. Sie kommt aber bald zurück, du musst keine Angst haben.“

„Ich mag aber zu Mutti gehen!“ rief der Kleine lauter, „Ich mag jetzt sofort, Vati!“ Tabari antwortete nicht und das Kind addierte unglücklich: „Bitte!“ Mutti hatte ihm nämlich beigebracht, dass man Bitte sagen musste, wenn man etwas wollte. Und er war gewohnt, nach einem artigen Bitte das auch zu bekommen…

Tabari blieb kalt.

„Nein, Puran. Du bleibst hier.“

Das hätte er besser nicht so hart gesagt, sagte er sich darauf, als das Kind neben ihm plötzlich herzergreifend zu weinen begann. Tare Kohdar machte ein völlig bestürztes Gesicht und hatte keine Ahnung, was man jetzt am besten tun sollte.

„Ich mag aber jetzt zu Mutti gehen, ich mag nicht hier bleiben!“ heulte der Kleine außer sich, „Ich mag nicht, ich mag nicht!“

„Sei jetzt ja hart,“ riet Zoras Tabari ungefragt, „Sonst merkt er sich nie, dass er nicht alles haben kann, was er möchte! Und wenn er noch so niedlich plärrt, irgendwo musst du eine Grenze ziehen; das ist etwas, was Nalani durchaus versäumt hat!“ Tabari machte auch schon ein ganz unglückliches Gesicht.

„Aber ich möchte nicht, dass er mich hasst und meinetwegen weint…“

„Was glaubst du, wie oft meine Tochter mich gehasst hat?“ fragte Zoras ihn perplex, „Zwischendurch hassen sie einen mal, aber sie kommen immer wieder an und lieben einen trotzdem noch. Immer nur Mitleid zeigen ist nicht gut… ich will dich nicht belehren, Tabari, ich habe bei Enola auch Fehler gemacht, besonders nach Tehyas Tod…“ Er senkte kurz den Kopf und die anderen schwiegen verdrossen. Tabari erinnerte sich an das Theater, das es in Tuhuli wegen Enola gegeben hatte. Nach dem Tod ihrer Mutter vor jetzt mehr als zwei Jahren hatte das Mädchen angefangen, sich von ihrer Familie zu distanzieren. Ihr Vater war zu sehr damit beschäftigt gewesen, um seine Frau zu trauern, und hatte sie ohne es zu wollen vernachlässigt, wofür er sich inzwischen hasste, und Enola hatte ihn in dem Moment auch gehasst und nur um ihn zu ärgern ihre Spielereien mit den jungen Männern in der Stadt weiter getrieben, was alle empört hatte. Es war etwas über ein Jahr her, dass sie Hals über Kopf einen komischen Vogel namens Kotori Kipu geheiratet hatte, mit dem sie die Stadt in Richtung Westen verlassen hatte. Vor einem halben Jahr war ein höflicher, liebevoller Brief mit dem Siegel der Stadt Sinami gekommen, den Enola an ihren Vater geschrieben hatte. Sie hatte eine gesunde Tochter geboren, der sie den Namen Pakuna gegeben hatte, und sie hatte sich für ihr unverschämtes Verhalten entschuldigt und angekündigt, einmal mit ihrem Mann, bei dem sie es sehr gut hatte, und ihrem Baby nach Tuhuli zu Besuch zu kommen. Seitdem war nichts weiter gekommen und man wartete schon sehnsüchtig darauf, Zoras‘ einzige Tochter wieder in Tuhuli zu sehen.

„Habt ihr von Enola inzwischen noch was gehört?“ fiel Hakopa Kohdar dazu ein, während Puran weiter plärrte und Tabari versuchte, standfest zu bleiben.

„Nein, Puran, du bleibst hier, das ist mein letztes Wort,“ sagte er und klang nicht ganz so kalt, wie er es geplant hatte; das heulende Kind, dem schon der Rotz aus Mund und Nase rann, war einfach zu Mitleid erregend… er verstand jetzt, wieso Nalani nie Nein sagte…

„Ich mag aber nicht, ich mag aber nicht!“ brüllte das Söhnchen und fing an, sich auf den Boden zu werfen und mit Sand und Kieseln um sich zu werfen. „Ich mag jetzt zu Mutti, ich mag jetzt zu Mutti!“

„Nein, Enola hat sich nicht gemeldet,“ antwortete Zoras verdrossen auf Hakopas Frage, „Aber ich werde heute nach Sinami fahren und nach ihr suchen, ich wollte sowieso noch aufbrechen. Ihr solltet das auch schleunigst tun, ihr wisst, was wir noch zu tun haben. Kelar wird sich wundern, wenn Nalani nach Tuhuli kommt. Nomboh, beweg dich, wir gehen jetzt. Tabari, bis in drei Tagen und alles Gute für dich und den Knirps.“ Tabari verneigte sich höflich, als die Geisterjäger sich jetzt nach und nach zum Gehen schickten. Kiuk und Sukutai waren noch bei ihm im Hof und Letztere versuchte gerade, den schreienden und strampelnden Puran vom Erdboden aufzuheben, weil er sich ganz schmutzig machte in den Kieseln. Aber das Kind zappelte wütend weiter und schlug nach ihr und wollte sich gar nicht beruhigen.

„Sturer Bock,“ brummte Tabari schließlich, als der immer noch verwirrte Tare Kohdar als letzter winkend ging, dann schnappte er mit einem schnellen Griff seinen Sohn und warf ihn sich prompt über die Schulter. Puran war so geschockt, plötzlich hoch genommen worden zu sein, dass er sich an seiner Spucke verschluckte und wie verrückt zu husten begann, dabei versuchte er irgendwie weiter zu heulen, was dazu führte, dass er keine Luft mehr bekam und wieder hustete. „Nichts da, du bleibst fein hier. Und jetzt kommst du erst mal in die Badewanne, du bist hast doch jetzt Tonnen von Sand in der Hose. Mutti wird erst in drei Tage wieder kommen, bis dahin passen Onkel Kiuk, Tante Sukutai, Großmutter und ich auf dich auf, Puran. Du wirst sehen, es ist gar nicht so schlimm.“
 

Die beste Medizin hieß Ablenkung, war das erste, was Tabari lernte.

Solange man den Kleinen beschäftigte, mit ihm spielte oder ihm irgendwas Spannendes beibrachte oder zeigte, war er so eingenommen, dass er die Sehnsucht nach seiner Mutter für eine Weile vergaß. Und die ganze Familie beschäftigte sich drei Tage lang sehr intensiv mit dem Kind. Kelar war nicht da, Salihah war auch neuerdings arg beschäftigt und selten im Schloss; nach dem Ableben von Sukutais Vater war die Arbeit des Vorstandes des Telepathenrates an sie übergegangen, obwohl sie zuerst hatte ablehnen wollen. Eine Frau als Vorsitzende eines Rates hatte es noch nie gegeben, aber die Mitglieder des Rates waren einstimmig dafür gewesen, weil sie definitiv die begabteste Seelenmagiern Dokahsans oder sogar ganz Tharrs war, niemand würde jemals ihrem Sehvermögen das Wasser reichen können. Außerdem war sie die geborene Politikerin und Rednerin, daher war der Posten wie für sie gemacht und sie hatte sich dem eifrigen Drängen der Ratsmitglieder schlussendlich gebeugt.

„Obwohl das zu viel der Ehre ist für mich und ich Euren Respekt nicht im entferntesten verdiene,“ hatte sie unterwürfig zum Rat gesagt und sich tief verneigt, was sonst nicht ihre Art war, „Meine Augen sind nicht mehr das, was sie einmal waren… aber wenn Ihr so darauf besteht, werde ich mit Stolz und größtmöglicher Mühe versuchen, diesem Rat vorzusitzen.“

Wenn Salihah dann einmal im Schloss war, half sie den Jüngeren eifrig dabei, das Kind zu beschäftigen. Meistens, indem sie Puran Geschichten vorlas, und er hörte dann aufmerksam zu, bis sie das Buch zu klappte, nie unterbrach er sie oder nörgelte dazwischen, sondern saß immer artig und fasziniert neben ihr auf dem Sofa oder vor ihr auf einem Sitzpolster.
 

Kiuk war meistens dafür zuständig, mit dem Kind umher zu toben. Dabei blieben sie fast nur im Schloss, weil es draußen sehr kalt geworden war, und wenn er mit seinem Neffen doch hinaus ging, damit der Kleine mal frische Luft bekam, zog er ihm vorher wie Nalani es sonst tat drei Schichten von Kleidung über, damit er ja nicht fror. Und dann spielte er mit ihm Fangen, wobei er natürlich absichtlich langsam ging, damit der Kleine ihn immer fing und sich diebisch freute, oder Verstecken, wobei der Onkel sich absichtlich doof stellte und sich so versteckte, dass der Kleine ihn ohne größere Frustration finden konnte. Manchmal musste Kiuk als Pferd herhalten und auf allen Vieren durch das Schloss staksen, dabei saß Puran johlend auf seinem Rücken.

„Hüah, Pferdi, Hüah!“ rief er dann und trat seinen armen Onkel mit den Hacken, „Schneller, Pferdi!“

„Ich kann nicht mehr, lass uns Pause machen…“ stöhnte Kiuk unter ihm, der ihn durch die Halle trug, und Sukutai, die gerade die Treppe hinab kam, hielt sich prustend die Hände vor den Mund und beherrschte sich mit aller Macht, um nicht laut aufzulachen bei dem komischen Anblick.

„Nein, Pferdi, ich hab nicht Brrr gesagt! Ich mag noch nicht aufhören, Pferdi!“

„Ich bin jetzt nicht mehr Pferdi, ich bin jetzt wieder Onkel Kiuk,“ sagte der Mann seufzend, zog das Kind von seinem Rücken und stand auf. Puran protestierte.

„Aber ich mag doch noch weiter spielen, bitte, Onkel Kiuk!“

„Nein, jetzt ist mal Pause,“ widersprach Kiuk beharrlich. Puran verzog das Gesicht und ihm stiegen schon die Tränen in die Augen. „Hör mal, meine Knie tun schrecklich weh vom Pferd spielen, ich kann kaum noch laufen! Tante Sukutai spielt mit dir etwas anders, und vielleicht, wenn du jetzt nicht weinst, spielen wir später noch mal kurz Pferd.“ Puran kaute unzufrieden an seiner Hand herum und schluckte die Tränen mit großer Mühe wieder hinunter. Als doch eine Träne über seine Wange kullerte, wischte er sie hastig weg und nuschelte:

„Ich hab nicht geweint, echt nicht.“ Kiuk musste leise lachen. Er war schon ein niedlicher kleiner Fratz. Aber seine Knie waren dennoch grün und blau…
 

Sukutai nahm Puran an der Hand, um ihn weiter zu beschäftigen. Wenn Nalani da war, konnte er sich übrigens auch eine Weile allein beschäftigen und brauchte nicht den ganzen Tag durchgehend Gesellschaft der Erwachsenen. Aber man versuchte ja, ihn von Nalanis Abwesenheit abzulenken. Sukutai konnte nicht mit ihm herumtoben, davon abgesehen, dass Toben nicht in ihrer Natur lag war sie schwanger und würde nicht unnötig viel Unsinn treiben. Zuerst versuchte sie, das Kind dazu zu bringen, kreativ zu sein. Sie malten Bilder mit Farben, die man mit wenig Wasser anrühren konnte. Puran konnte keine Pinsel halten, deswegen malten sie mit den Händen auf einem großen Pergament herum. Allerdings war das Kind nicht besonders kreativ und machte immer nur das nach, was Sukutai ihm zeigte. Sie malte mit dem Zeigefinger einen roten Strich und er tat es ihr gleich, sie dabei beobachtend.

„So, jetzt machst du mir mal was vor und ich mach es nach!“ schlug sie dann vor, um mal seine linke Hirnhälfte zu fördern, und Puran sah sie blöd an. Dann malte er den gleichen Strich noch mal, den er ihr eben nachgemalt hatte, und sah sie dann fordernd an. „Aber das haben wir doch gerade eben gemalt, mal doch, mh, einen Kringel, oder so, versuch mal!“ Puran runzelte angestrengt die Stirn. Nach langer Überlegung zog er dann einen sehr langen Strich über das Pergament, der sich abgesehen von seiner Länge nicht von den vorigen unterschied. Sukutai seufzte und malte ihm einen Kringel, und er malte ihr fröhlich nach. Na ja, kreativ war der Junge nicht unbedingt, aber das könnte ja noch werden, wenn er älter war, sagte Sukutai sich. Vielleicht erwartete sie zu viel von ihm, er war erst drei.

Irgendwann gab sie das Malen mit ihm auf, wusch ihm gründlich die Finger und das Gesicht, weil alles voller Farbe war (er hatte sich ab und zu mit den Händen über das Gesicht gewischt und dabei die Farbe auf seinen Wangen, seiner Nase und einer Stirn verteilt), und ging mit ihm wieder hinunter in die Küche. Und dort war der Küchenjunge, der Geschirr spülte.

„Ah, Besuch,“ grüßte er Sukutai grinsend und sah dann zum kleinen Puran, „Na, schon Teezeit, kleiner Herr?“

„Was machst du da?“ fragte Puran neugierig und stellte sich auf die Zehenspitzen, um in die Spülschüssel auf dem Hocker sehen zu können.

„Ich wasche die Teller, Tassen, Gläser und das Besteck, damit es schön fein sauber ist heute Abend.“

„Ich mag auch Tellerchen sauber machen.“

„Was denn, du?“ lachte Sukutai ihn aus, „Das ist doch gar nicht deine Arbeit, Puranchen.“

„Ich mag aber auch so eine große Schale haben und Tellerchen waschen!“ erklärte er und zeigte strahlend auf die Spülschüssel.

„Das ist eine Schüssel und keine Schale,“ korrigierte seine Tante lachend, „Na ja, gut, wenn du das magst, machen wir das zusammen, ja? Warte, wir hatten doch… ah, da!“ Sie zog aus einem Schrank eine etwas kleinere Schüssel heraus, die sie vor Puran hinstellte und mit Hilfe des Zaubers Alara mit Wasser füllte. Sukutai nahm einen Lappen und ließ sich von dem grinsenden Küchenjungen zwei Teller und zwei kleine Tassen reichen, die sie in die kleine Schüssel umfüllte. Puran klatschte begeistert in die kleinen Hände.

„Oh ja, oh ja, ich mag auch Tellerchen und Becherchen abwaschen!“ johlte er, ehe er sich von seiner Tante geduldig zeigen ließ, wie man vorsichtig den Teller mit dem Lappen im Wasser abwischte. Der Küchenjunge lachte.

„Wenn er so weiter macht, nimmt er mir bald meine Arbeit, fürchte ich, Herrin!“

„Ach,“ machte Sukutai, während der Kleine jetzt fröhlich mit den Händen im Wasser herum plantschte und versuchte, die Teller zu waschen, „Das Arbeiten wird ihnen immer früher leid, als uns lieb sein mag.“
 

Tabari seinerseits versuchte, sein Versprechen an sich selbst zu halten und seinen Sohn daran zu gewöhnen, Nein zu akzeptieren. Es war nicht einfach, aber erstaunlicherweise machte sich der Kleine ganz gut. Manchmal fing er zwar erst mal an zu plärren, gab es aber schnell wieder auf, wenn man mit etwas Spannenderem kam, das ihn ablenkte. Das einzige, was nicht funktionierte ohne Nalani, war das Schlafen.

Das Kind heulte und weinte in seinem Bettchen so lange, bis Tabari kam und ihn auf den Arm nahm, versuchend, den Kleinen zu beruhigen.

„Mutti ist ja bald wieder da,“ versprach er Puran dabei, während er versuchte, ihn auf die Weise, wie Nalani es tat, hin und her zu wiegen. Puran schniefte und war absolut unglücklich.

„Ich mag aber jetzt bei Mutti sein!“ erklärte er weinend, „Ich mag nicht alleine schlafen…“ Tabari seufzte. Was machte er denn jetzt? Was würde Nalani tun?

„Möchtest du lieber bei mir schlafen? Ich passe so lange auf dich auf, bis Mutti zurück ist. Versprochen!“ Das Kind sah ihn groß an. Dann hellte sich sein kleines Gesicht ein wenig auf und er kuschelte sich an seinen Vater, der ihn immer noch auf den Armen trug.

„Ja…“

So nahm Tabari ihn mit in sein Bett, wo der Kleine auf Nalanis Bettseite schlafen durfte. Bei Vati im Bett war es angenehm, es roch nach Mutti… er kuschelte sich in das große Kopfkissen und angelte dann vorsichtig nach der Hand seines Vaters, der neben ihm lag und ihn ansah.

„Du…?“ nuschelte Puran, und Tabari musste leise lachen.

„Was ist denn, mein Sohn?“

„Ich… hab dich lieb, Vati…“
 

Die drei Tage ohne Nalani überlebte das Kind besser als man erwartet hatte; aber dank des vielen Spielens und Beschäftigens des kleinen Jungen war die ganze Familie froh, als die Tage herum waren und sie gemeinsam nach Tuhuli aufbrachen, um den zweiten Teil der Prüfung anzusehen. Das hieß, Kiuk fuhr mit Sukutai, Puran und Salihah, denn die Geisterjäger hatten ohnehin vorher dort sein müssen, um Nalani zu empfangen und vor allem um festzulegen, gegen wen Nalani antreten müsste, ehe sie tatsächlich in die Runde der Geisterjäger aufgenommen werden könnte. Das Wetter war trüb.

„Es wird Regen geben,“ orakelte Salihah apathisch und starrte aus dem Fenster, während sie ihren Enkel auf dem Schoß hatte, der an ihrem feinen Kleid herumpulte und sich langweilte.

„Wann sind wir da, Onkel Kiuk?“ kam alle paar Momente. Jetzt auch gleich wieder.

„Bald,“ antwortete Kiuk, dem die Fragerei gehörig auf die Nerven ging, aber er war geduldig. Puran war ja noch klein. Er fragte sich nur, wieso man das Kind mitgenommen hatte, seiner Meinung nach wäre er besser daheim geblieben. Er hatte Sukutai gebeten, mit dem Kind zu Hause zu bleiben, aber sie war sehr stur gewesen.

„Ich bleibe sicherlich nicht als Einzige hier, während alle die vermutlich wichtigste und aufregendste Veranstaltung des Jahres verfolgen! Das ist keine Familiensache, das ist Politik, mein lieber Mann, mehr als es aussieht.“ Das hatte er einsehen müssen; das war es tatsächlich, wenn man bedachte, dass es das ganze Land bewegen könnte, wenn Nalani gegen Kelars Willen Geisterjägerin wurde. Schade war nur, dass außer den Familien der übrigen Geisterjäger kaum jemand dabei sein würde. Und da niemand von ihnen bereit gewesen war, im Schloss auf das Kind aufzupassen, hatten sie Puran eben mitgenommen.

„Er wird Nalani nicht besuchen können, bis die Zeremonie vorbei ist,“ sagte Kiuk seufzend und sah zu seinem Neffen, der anfing, auf Großmutters Schoß mit den Beinen zu baumeln. „Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee ist, wenn er sie von weitem sieht aber nicht zu ihr darf.“

„Was willst du machen?“ murmelte Sukutai neben ihm, „Ihn in Chimalis‘ Anwesen einsperren, während wir draußen im Regen stehen? Oh je, haben wir überhaupt einen Schirm? Warte, Kiuk, sage dem Kutscher, er soll in Gahti anhalten und einen Schirm besorgen! Wir werden sicher länger da stehen und wenn wir alle nass werden, erkälten wir uns!“ Das war wahr; und da Sukutai schwanger war, wollte niemand riskieren, dass sie unnötig krank wurde. Während Kiuk also nach vorne zum Kutscher rief, er solle im Dorf Gahti einen Schirm für seine Frau kaufen („Für meine Frau?“ fragte der Kutscher verpeilt, und Kiuk entgegnete empört: „Meine Frau, nicht deine, du Trottel!“), wendete die Frau sich an ihre Schwiegermutter. „Sag, Salihah, wie entscheiden die Geisterjäger, gegen wen Nalani wird kämpfen müssen? Stimmen die ab, so wie wir es mit allem tun im TO?“ Salihah seufzte.

„Nein… sie ziehen Streichhölzer.“
 

„Kommt, Leute, mehr Begeisterung,“ Nomboh Chimalis grinste bester Laune in die Runde aus Geisterjägern vor sich, während er einen wunderschönen Strauß aus Streichhölzern in seiner Hand hielt. Der Himmel grollte und von der Hälfte der Anwesenden, die vor dem Anwesen des Chimalis-Clans in Tuhuli herum standen, kam ein missmutiges Murren.

„Nalani ist noch gar nicht da,“ bemerkte Barak Kohdar, der völlig vertieft in das Buch war, das er in den Händen hielt. „Wozu müssen wir jetzt schon festlegen, wer das machen muss?“

„Muss? Muss? Beleidige nicht die Geister, du dummer Junge, das ist eine ehrenvolle Aufgabe, ein neues Ratsmitglied zu weihen!“

„Es wird kein neues Mitglied geben!“ empörte Kelar Lyra sich, der im Hintergrund stand; da er als Herr der Geister ohnehin von höherem rang war, kam er nicht in die Auswahl der Streichholzzieher.

„Ehre, ah, da haben wir ja einen Freiwilligen,“ machte Tabari grinsend zu Nomboh, „Wieso machen wir es nicht wie die Telepathen und stimmen ab? Wer ist für Nomboh?“

„Was habt ihr eigentlich heute für Hemmungen?“ wunderte sich der Streichholzträger verblüfft, „Nur, weil es regnet?“

„Nein, eher deshalb, weil niemand von Nalanis Kadhúrem aufgespießt werden möchte, wir haben Angst vor ihr,“ erklärte Tare Kohdar verlegen lachend, und Nomboh zog eine Braue hoch. Daran hatte er gar nicht gedacht.

Sein Bruder Zoras nahm ihm das Denken ab und zog blind ein Streichholz.

„Ich hoffe, es hat einen Kopf,“ sagte er dabei, „Ich muss nämlich dringend eine rauchen und habe nach all dem Hin und her wirklich keine Lust, das mit der Hand zu machen. – Ah, Glück gehabt. Männer, stellt euch nicht so feige an, sie hat mir auch schon einmal einen Finger abgehackt, wir haben ja die liebe Keisha, die flickt alle wieder zusammen.“ Damit schenkte er Keisha, die in der Nähe stand, einen Blick, während er das Streichholz mit einem Schwung an einem Pfeiler neben sich zum Brennen brachte. Aus der Manteltasche zog er eine Zigarette und zündete sie mit dem brennenden Streichholz an. Keisha verdrehte die Augen.

„Durch dich verbreiten sich immer alle schlechten Kults aus Vialla hier oben,“ schimpfte sie und wedelte mit der Hand vor ihrer Nase herum, und Zoras brummte.

„Die Zigaretten? Die kannte man schon lange hier in Dokahsan, ich habe sie ja aus Sinami. Die Leute da kauft man mit Zigaretten, wenn du eine Auskunft willst, schenk den Leuten Zigaretten, das macht sie glücklich. Ich habe es einer Stange Zigaretten zu verdanken, dass ich meine Tochter gefunden habe und sie jetzt hier ist, du solltest diese hässlichen Dinger ebenfalls ehren.“ Die Heilerin seufzte.

Hässlich, ja, vergiss dabei nicht stinkend, mein Lieber.“

Sie unterbrach sich, weil Meoran und seine Cousine Enola mit Schirmen bewaffnet aus dem Anwesen traten. Enola war jetzt fünfzehn und sah inzwischen auch aus wie eine Frau. Vor ihrem Bauch trug sie in einer Tragetasche ihre kleine Tochter, auf deren Kopf ein Flaum schwarzer Haare wuchs.

„Da seid ihr ja,“ machte Keisha und winkte ihren Sohn und Enola zu sich, „Wir sollten gehen, gebt mir die Schirme. Obwohl, Meoran, mach dich nützlich und halte Ausschau nach Nalani. Die Herren der Schöpfung da drüben,“ Sie meinte die Geisterjäger, „Sind ja noch mit ihren Streichhölzern beschäftigt.“

Meoran war kaum verschwunden, da war das Streichholzziehen beendet und jeder suchte an seinem Holz nach dem Kopf – einer würde das ohne Kopf haben und wäre der glückliche Gewinner – oder Verlierer, wie man es nehmen wollte.

„Und?“ machte Nomboh und tätschelte seinem Streichholz den Kopf, „Wer ist es? Wer ist es?“ Die anderen tauschten einen nichts sagenden Blick.

„Das Schicksal spielt… seltsame Spielchen mit uns,“ murmelte Minar Emo poetisch und betrachtete gedankenverloren das Holz mit Kopf in seiner Hand, ehe er den Blick zum mehr oder weniger glücklichen Gewinner schweifen ließ, der das Streichholz ohne Kopf gezogen hatte.
 

Kiuk war erstaunt, als die Kutsche Tuhuli erreichte und auf dem Platz, auf dem in der letzten Zeit immer die Geisterjägerprüfungen abgehalten worden waren, in der Nähe von Chimalis‘ Anwesen, Massen von Menschen erblickte.

„Was ist hier denn los?“ machte er perplex, als er zusammen mit Sukutai unter dem in Gahti gekauften Schirm am Rand des Platzes stand. Er hielt den Schirm, während seine Frau Puran an der Hand hielt. Salihah hatte ihren eigenen Schirm. „Zirkus hier? Was sollen die ganzen Menschen?“

„Propaganda.“

Kiuk fuhr mit aller Wucht herum vor Schreck, als plötzlich jemand hinter ihm sprach, und mit Erleichterung erkannte er Zoras Chimalis hinter sich stehen. Hinter ihm tauchten in der Menschenmenge auch Keisha und Enola auf, die jede einen Schirm hielten. Es hatte begonnen, stärker zu regnen.

„Hast du mich erschreckt!“ stöhnte Kiuk, „Was schleichst du dich denn so an?“

„Verzeihung, ich wusste nicht, dass du so schreckhaft bist,“ machte der Mann, „Diese ganzen Leute hier kommen aus ganz Dokahsan verteilt. Wir – das heißt, die anderen Geisterjäger und ich – haben während Nalanis Abwesenheit dafür gesorgt, hier eine ordentliche Menge anzusammeln. Ihr hättet Kelars Gesicht sehen müssen.“

„Die wollen alle zusehen?“ machte Sukutai, und Salihah seufzte leise, ohne einen Kommentar zu liefern. „Was hast du denen denn bitte erzählt, Zoras, dass sie alle gekommen sind?“ Der Geisterjäger hatte noch zu tun und wandte sich deswegen schon wieder ab. Im gehen drehte er noch einmal den Kopf und sah über die Schulter zu ihr zurück.

„Dass das Zeitalter von Kelars Herrschaft ab diesem Tag zerfallen und sterben wird…“
 

Als Nalani den vereinbarten Ort in der Nähe des Platzes erreichte, war sie nicht minder überrascht über die Massen an Menschen. Sie erinnerte sich an das vergangene Jahr, in dem sie auch einmal mit dem Kind hier gewesen war, als Tare Kohdar die Prüfung gemacht hatte, um schon einmal zu sehen, wie das ablief. Damals waren eigentlich nur die Geisterjäger und Teile ihrer Familien da gewesen, jetzt schien ganz Tuhuli hier zu sein.

„Die Leute sind eben neugierig,“ sagte Hakopa Kohdar dazu, „Dass eine Frau die Prüfung macht, gab es ewig nicht mehr, so weit ich mich entsinne nicht seit Kelars Großtante, du kannst dir vorstellen, wie lang das her ist.“ Nalani zog eine Braue hoch.

„Wie auch immer,“ unterbrach Zoras die Diskussion, die noch gar nicht begonnen hatte, und er musterte Nalani. „Bist du bereit? Du hast ja schon einmal zugesehen und weißt, wie es funktioniert. Wir haben entschlossen, dass Minar den Schiedsrichter spielen wird, er ist der Älteste und muss respektiert werden. Normalerweise macht das der Herr der Geister, aber da Kelar mit dir verschwägert ist, geht das nicht. Um die Prüfung zu bestehen, musst du deinen Gegner schlagen oder wenigstens ein Unentschieden schaffen. Wenn Minar sagt, der Kampf ist vorbei, dann ist er vorbei. – Minar, hast du zugehört?“ Minar Emo lachte kurz und nickte dann. Bei ihm war auch wieder sein Enkel Henac, der etwas gewachsen war.

„Sicherlich habe ich zugehört.“

„Wo ist Nomboh?“ fragte Barak, „Wieso ist der nie da, wenn alle da sein sollen?“

„Was erwartest du, es steht ein Kampf aus,“ entgegnete Zoras, „Der wuselt irgendwo herum und schließt Wetten ab, wer gewinnt. Und nicht nur das, Meoran habe ich vorhin auch herum huschen sehen, diese beiden Ganoven, echt.“ Zoras Chimalis wandte sich an Nalani, die ihre langen, schwarzen Haare hinter ihrem Kopf zusammenband, damit sie ihr nicht im Weg herum hängen konnten. Währenddessen sah sie sich suchend in der Menge nach ihrer Familie und vor allem ihrem Sohn um, bis sie ihn plötzlich bei Sukutai und Kiuk unter einem Schirm erblickte. Nichts hatte ihr mehr gefehlt in den letzten drei Tagen und Nächten als ihr kleines Kind. Es war ungewohnt gewesen ohne ihn… sie freute sich plötzlich mehr als je zuvor darauf, ihn in ihre Arme schließen zu können.

Zoras vor ihr riss sie aus ihren sehnsüchtigen Gedanken an ihr Kind und sie sah, wie die Geisterjäger und auch Kelar jetzt zur Seite traten und ihr den Weg in die Mitte des Platzes freigaben. Augenblicklich verstummte die Menge und Nalani hielt die Luft an.

„Geh jetzt, Nalani. Nachdem wir deine Instinkte und deine Einheit mit den Himmelsgeistern getestet haben, bist du jetzt an der Reihe, uns dein praktisches Können zu zeigen.“ Nalani senkte den Kopf, als sie spürte, wie sie von allen angestarrt wurde.

„Gegen wen soll ich kämpfen?“ fragte sie dumpf, und die Geisterjäger sahen sich an. Kelars Blick verfinsterte sich, aber gleichzeitig schlich ein grausames Lächeln auf seine Lippen, was Nalani nicht sah, die ihm den Rücken kehrte. Dann sprach Zoras weiter.

„Dein Gegner ist Tabari.“
 

Auf dem Platz war es still, als Nalani jetzt ihrem Mann gegenüber stand, den sie drei Tage lang nicht gesehen hatte. Die Augen der Leute ruhten auf den beiden und keiner wagte, etwas zu sagen. Es schien für einen Moment, als würde die ganze Stadt die Luft anhalten.

Am Rand der großen Kampffläche stand Minar Emo, um alles beobachten zu können.

„Also, fangt an,“ machte er und hob eine Hand, „Wann der Kampf zu Ende ist, entscheide ich. Um bestehen zu können, muss Nalani wenigstens ein Unentschieden schaffen. Aber bringt euch nicht um, wenn es zu gefährlich wird, brechen wir ab.“ Weder Nalani noch Tabari antwortete ihm. Sie sahen sich nur schweigend an. Nalani blickte kurz zum düster grollenden Himmel über ihr, aus dem der Regen auf sie herunter prasselte und sie bereits durchnässt hatte, obwohl sie erst kurz hier waren.

Es ist erst Mittag… es wird früh dunkel werden heute, wir haben Winter.
 

„Was ist los?“ fragte Sukutai perplex, die mit der Familie und den übrigen Geisterjägern, die dazu gestoßen waren, auf ihrer Anhöhe stand. „Wieso fangen die nicht an?“

„Wenn sie es nicht bald tun, sind wir alle erfroren, bevor wi erfahren, was wird,“ murrte Keisha neben ihr, die sich in eine Decke gehüllt hatte, „Es ist saukalt und es regnet, als würden die Geister verhindern wollen, dass Nalani Geisterjägerin wird…“ Kelar schnaubte darauf und keiner wagte es, ihn anzusehen. Abgesehen von Zoras, der sich eine neue Zigarette angesteckt hatte und seelenruhig den Blick über die Menschen schweifen ließ.

„Es ist gut, dass die vielen Leute hier sind, ich habe mich geirrt,“ erklärte der Herr der Geister mit einem lauernden Grinsen auf den Lippen, „Die Geister scheinen… wirklich dagegen zu sein, Chimalis, du kannst es nicht leugnen. Es regnet, das erschwert jeden Kampf, und ihr Gegner ist mein Sohn. Ich bin tatsächlich gespannt… ich kann es kaum erwarten zu sehen, wie er sie vor den Augen des halben Volkes quasi in Stücke reißt… sie ist nur eine Frau.“

„Hast du nicht vor kurzem selbst noch über Tabaris Ungehorsam geschimpft?“ erwiderte der Schwarzhaarige dumpf, „Auf einmal bist du wieder stolz auf ihn? Warte ab, alter Mann, bevor du anfängst, dich selbst lobzupreisen.“

„Tabari ist ein Lyra, ungehorsam hin oder her, er stammt von meinem Blut. Du weißt, dass wir ihn alle gelegentlich unterschätzen, weil alle denken, er wäre verpeilt und niemand genau weiß, was er kann. Er hat Hakopa besiegt, er wird auch Nalani besiegen, wenn er nicht unseren Clan in Schande ertränken will.“

„Schande…“ seufzte Zoras und pustete den Rauch seiner Zigarette in die kalte Luft. „Bei dir dreht sich alles um Ehre und Schande. Gibt es eigentlich nichts dazwischen?“
 

Tabari bewegte sich und ging zwei Schritte zur Seite. Er hasste es. Er hasste die Geister für einen Moment, weil sie ihn zu Nalanis Gegner gemacht hatten. Er wollte nicht gegen sie kämpfen, und nicht, weil er sie fürchtete, sondern weil sie seine Frau war. Es war falsch, wenn er sie attackierte, sie war die Mutter seines kleinen Sohnes – der von dem Anblick der kämpfenden Eltern sicherlich nicht begeistert sein würde. Dummerweise würden die Geister ihn eher aufspießen als zuzulassen, dass er den Kampf verweigerte. Nalani einfach um der Liebe Willen gewinnen zu lassen wäre eine Beleidigung aller Himmelsgeister, das würde vermutlich nicht nur seinen Vater erzürnen.

„Ich freue mich, zu sehen, dass du wohlauf bist, Frau,“ begrüßte er Nalani etwas unsicher und trat noch einen Schritt zur Seite. „Es war nicht meine Entscheidung, dass wir uns auf so eine Art begegnen müssen, ich wünschte, ich könnte es ändern.“

„Willst du kneifen?“ staunte die Frau und hob die Arme. Es verwunderte ihn ein wenig, dass sie ihr Kadhúrem nicht zog… war das nicht ihre großartige Waffe? Oder hielt sie ihn wirklich für so einen Versager? „Wir sind hier, um die Geister der Mächte der Schöpfung zu ehren, Tabari, also beweg dich! Ich werde nicht ehrlos Geisterjägerin werden, weil du zu feige warst, um mich anzugreifen.“

„Wieso beleidigst du mich, ich hab dir nichts getan!“ empörte er sich, und sie spuckte aus und starrte ihn funkelnd an.

„Das ist das Problem, Waschlappen! Ich hoffe, du hast mir meinen Sohn nicht verzogen, während ich weg war! Und jetzt komm und hol dir, was du verdient hast!“ Er keuchte. Was war denn in sie gefahren?

„Wieso bist du jetzt wütend?“ fragte er verwirrt, und Nalani hob die Arme höher. Er blinzelte, als sie zwischen ihren Händen mit einem Blitzen einen Wasserstrudel entstehen ließ. Ihr Gesicht war kalt und erbost, wie er es schon oft gesehen hatte… und dennoch war etwas anders. Etwas, das er nicht erklären konnte.

Was war los mit ihr?

„Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich zugelassen habe… dass mein Kind drei Tage mit einem Jammerlappen wie dir alleine war!“ schrie sie zornig, ehe sie ihren Wasserstrudel auf ihren Mann schmetterte. Die Menge hielt die Luft an und Tabari keuchte.

Irgendetwas musste er verpasst haben.

„Wie… du willst, Weib!“ zischte er jetzt grimmig und riss die Arme ebenfalls hoch. Ein Wirbel aus Luft zerschmetterte Nalanis Wasserzauber in tausende Tropfen, die sich mit dem Regen vermischten und auseinander stoben wie eine Herde fliehender Tiere. Nalani reckte herrisch das Gesicht in die Luft, als sich ihre Blicke trafen und sie Tabaris jetzt ebenfalls wütend werden sah. „Dein Sohn… ist verdammt noch mal auch mein Sohn!“

Dann stürzte er sich auf sie, während der Himmel über ihnen grollte.
 

„Mutti!“ rief der kleine Puran an Sukutais Hand oben und begann, aufgeregt auf und ab zu hüpfen. „Ich mag jetzt zu Mutti gehen, Tante Sukutai! Darf ich?“

„Nein, du bleibst hier!“ mahnte ihn Kiuk, weil Sukutais schockiert hinunter starrte und nicht antworten konnte.

„Was ist los, wieso streiten sie?“ fragte sie verwirrt, und es war Salihah, die ihr antwortete.

„Weil sie müssen… weil Tabari ein gutes Herz hat und nie freiwillig ernsthaft gegen sie kämpfen würde. Nalani weiß das, Sukutai. Und wenn er nicht will, muss… man ihn eben zwingen.“
 

Nalani sprang zurück und schlug den Windstoß, den Tabari nach ihr schleuderte, mit einer Wasserwelle zurück. Die Zauber trafen krachend aufeinander und die Welle zersprang, als wäre sie aus Glas. Er war sofort wieder hinter ihr und Nalani musste abermals mit einem Sprung zur Seite ausweichen, als er ihr nachjagte und sie mit Windzaubern bewarf, als wäre sie ein wildes Reh. Wenigstens hatte sie ihn wütend gemacht, sie war zufrieden mit sich. Sie hatte ihn für langsamer gehalten und sie zischte und fuhr herum, als er abermals einen Zauber nach ihr warf und ihre Rock damit etwa um die Hälfte verkürzte, indem er mit seinem Wind das Unterteil abschnitt.

„Was wird das hier, machst du das so lange, bis ich nackt bin?“ feixte sie und drehte sich grinsend zu ihm um, als er keuchend stehen blieb. Tabari schnaubte.

„Verarsch mich nicht, Frau! Erst sagst du, ich soll kommen, dann läufst du weg!“ Er schlug wütend nach ihr und sie wich abermals zurück. „Bleib stehen und kämpfe, Nalani! Wer ist hier feige?!“

„Wenn du mich nicht erwischst…“ seufzte sie, hatte noch Zeit ihren halben Rock zurecht zu zupfen und sprang in die Luft, als wieder eine Klinge aus Wind auf sie zugesaust kam. Mit einer simplen Handbewegung zerschmetterte sie Tabaris zauber abermals mit einem mächtigen Wasserwirbel. Er schnaubte wütend und riss die Arme hoch, um einen größeren Wirbel auf sie zu schleudern. Nalani rettete sich mit einem gekonnten Sprung auf eine kleine Anhöhe und der Wirbel zerfetzte das Gras des Hügels, ehe er die Erde darunter zerschmetterte und ein tiefes Loch in die Anhöhe grub. Der mann blieb keuchend vor dem Loch stehen und sah zu Nalani, die oben stand und keinen Kratzer abbekommen hatte.

Was machte sie mit ihm? Wieso floh sie von einem Ort zum Nächsten, statt ihn endlich anzugreifen?

Ganz ruhig… sie versucht nur, mich zu nerven, damit ich Dummheiten mache und sie gewinnt… sie ist clever, es wird nicht leicht werden. Wichtig ist nicht, sie früh zu zerfetzen, sondern zu sehen, ob sie eins sein kann mit den Geistern. Wir… habend en ganzen Tag Zeit.
 

„Darf ich jetzt zu Mutti?“ jammerte das Kind und schmiegte sich unglücklich an Sukutais langen Mantel. Die Tante streichelte ihm zärtlich über den Kopf.

„Nein, mein Kleiner… tut mir leid, du wirst dich noch ein wenig gedulden müssen. Nicht weinen, du kannst solange mit mir kuscheln.“

„Ich mag aber lieber mit Mutti kuscheln…“ nölte Puran und versteckte sich dann Schutz suchend in dem Mantel der Frau, „Und ich hab Hunger, Tante Sukutai…“ Sukutai sah seufzend zu ihrem Mann, der den Schirm in die andere Hand wechselte.

„Meoran,“ rief Keisha nach ihrem Sohn, „Geh und hol warme Milch und Kekse für den Kleinen, wir werden offenbar noch länger hier stehen.“

„Wieso bin immer ich der Depp, der laufen muss?!“ meckerte Meoran, tat aber gehorsam wie ihm geheißen und trottete davon. Zum Glück war das Anwesen nicht weit weg, beider Gelegenheit könnte er sich auch gleich einen anderen Mantel holen, weil der, den er trug, vom Regen schon ganz nass und kalt geworden war.
 

„Komm runter!“ brüllte Tabari, als Nalani zum wiederholten Mal auf der durchlöcherten Anhöhe landete und seine Attacke ins Leere ging. Er fragte sich, wie lange er schon so hinter ihr her jagte. Wütend starrte er in den grauen Himmel, aus dem immer noch der kalte Regen fiel. Langsam wurde es unangenehm in den nassen Kleidern, obwohl ihm von rennen warm wurde, würde er sich garantiert mächtig erkälten, weil er so lange nass durch die Gegend lief. Er riss sich wütend seinen schweren, klitschnassen Umhang vom Leib und warf ihn an den Rand des großen Platzes zu Minar Emo. „Komm runter, Nalani!“ brüllte er, „Wie lange soll ich noch hinter dir her jagen?! Du ziehst das seit Ewigkeiten durch, es ist schon Nachmittag!“

„Komm du doch rauf, wenn du dich traust,“ seufzte sie und wrang ihre nassen Haare aus. Normalerweise mochte sie ihre langen Haare, aber jetzt verfluchte sie sie. Sie waren schwer, wenn sie nass waren, und behinderten sie enorm beim Weglaufen. Tabari schnaubte unter ihr und sie sah ebenfalls heftig atmend gen Himmel.

Nachmittag.

Verdammt, das dauerte zu lange.

Plötzlich musste sie zur Seite hechten, weil Tabari in die Luft sprang und wütend ein weiteres Windmesser nach ihr schmetterte. Sie stolperte über einen Erdklumpen am Boden und riss noch im Fallen die Arme empor, um einen Wasserstrudel auf Tabari zu werfen. Weil der Wasserzauber durch ihr Fallen aus einer unerwarteten Richtung kam, fuhr Tabari zu spät herum, ehe der Wirbel ihn mit voller Wucht erwischte, ihn durch die Luft und diverse Fuß weit nach hinten zu Boden schmetterte. Er keuchte, als er hart auf dem Boden aufschlug, während Nalani die Anhöhe herunter stürzte und sich gerade noch geschickt abrollen konnte, um nicht ungünstig aufzukommen. Sie blieb in einer Matschpfütze liegen, hustete und rappelte sich keuchend wieder auf, jetzt endgültig bis auf die Knochen nass und voller Schlamm.

„Ich bin unten!“ brüllte sie, „Ganz wie du wolltest, Tabari! Steh auf, verflucht!“ Er rappelte sich stöhnend auf und rieb sich den Rücken, den ein unangenehmer Schmerz durchbohrte. Auf seinen Kleidern war schmutziges Gras vom Boden und es rieselte auch aus seinen nassen Haaren, als er auf den Beinen war und seiner Frau wieder japsend gegenüber stand.

„Und…?“ stöhnte er und fuhr sich durch die nassen Haare, „Bringen wir es jetzt zu Ende, Nalani…?“

„Versuch es.“

Mit diesen Worten schleuderte sie unverhofft einen weiteren gewaltigen Strudel aus Wasser auf ihn. Er sprang zurück und wusste sich nicht weiter zu helfen als abermals den Wind zu lenken. Mit einem lauten Donnern krachten die Zauber gegeneinander wie elementare Druckwellen, bis sie mit einem noch lauteren Knall explodierten und beide Magier von den Beinen warfen.
 

„Himmel!“ stöhnte Kelar Lyra oben genervt, „Wie lange soll das noch so weitergehen?! Wieso macht er sie nicht einfach zur Schnecke und gut ist?!“

„Offenbar ist dein großartiger Erbe nicht so großartig, wie du dachtest,“ spottete Keisha und schnaubte, worauf Kelar Nomboh wütend ansah.

„Stopf deiner hässlichen Frau mal das Maul, Nomboh! Dass die es wagt, so mit einem Mann zu sprechen, kein Wunder, dass du so vertrottelt bist bei so einem Weib!“

„Ja, ja, schon klar,“ machte Nomboh unbeeindruckt, während der Herr der Geister wütend seine eigene Frau anstierte, die neben ihm stand mit dem Kutscher, der ihr wie ein Sklave den Schirm hielt. „Und du stehst da so unbeeindruckt, Salihah, sprich! Was hast du Tabari ins Frühstück gemischt, dass er so dümmlich hinter ihr her rennt, als versuche er, ein Karnickel zu jagen?! Karnickel sind Frauenfleisch, bah!“ Salihah rümpfte die Nase und würdigte ihren Mann keines Blickes.

„Warum hätte ich sowas tun sollen? Wusste ich, dass Tabari das kürzere Holz ziehen würde?“

„Natürlich wusstest du das!“ fauchte er und packte sie unsanft am Oberarm, den Kutscher dabei zur Seite schiebend. Er zerrte sie an sich heran und zischte: „Du weißt das alles, du hast das hier schon vor Jahren gewusst, Salihah, lüg mich nicht an! Ich dulde nicht, dass du mir auf diese Art den Rücken kehrst, Weib, du gehörst immer noch zu mir und du weißt das.“

„Das ist nicht der richtige Ort für solche Gespräche, das verschieben wir besser auf heute Nacht,“ sagte sie kaltherzig und Kelar drückte ihren Arm so fest, dass es schmerzte und sie kurz zuckte.

„Tabari ist mein Sohn, Weib, er wird mein Erbe und König über dieses Land sein! Und Nalani ist nur eine Frau, tss! Dieser Kampf ist absolut lächerlich.“ Salihah drehte jetzt das Gesicht zu ihm um und ihre Lippen zierte ein sadistisches Lächeln. Er sah in ihren alles sehenden Augen einen grausamen Blick, eine Nuance, die er nur selten zu Gesicht bekommen hatte, die ihm aber immer noch Schauer über den Rücken jagte.

Seine Frau war ein furchtbarer Mensch… vielleicht furchtbarer als er selbst.

„Und Nalani ist Tabaris Frau… und ist in jedem Punkt, den du nennen magst… seine Königin.“
 

Das Kind hatte von Meoran einen Becher warme Milch und ein Stück Kuchen bekommen. Jetzt war es zwar satt, sehnte sich aber mehr als je zuvor nach der Mutter, denn Muttis Milch war viel besser als die aus dem Becher.

„Puranchen, komm da raus…“ seufzte Sukutai beunruhigt, als das Kind sich heulend unter ihrem Rock versteckte und sie seit einer Weile erfolglos versuchte, ihn wieder ans Tageslicht zu befördern. „Ich weiß, du bist sicher müde… ein bisschen müssen wir noch hier bleiben, ein Kleiner.“

„Ich mag jetzt zu meiner Mutti!“ weinte der Kleine unter ihrem Rock, „Jetzt gleich!“

„Das geht aber gerade nicht…“ seufzte seine Tante und sah verzweifelt zu ihrem Mann, der nur mit den Achseln zuckte und sich auch keinen Rat wusste. Verdammt, wenn wenigstens Tabari hier wäre, um sein Kind zu beruhigen, aber nein, die Geister hatten ja gerade ihn wählen müssen, um Nalanis Prüfung zu machen… so konnte Kiuk nichts weiter tun als schweigend und den Schirm haltend hinunter zu sehen auf seinen Bruder und seine Schwägerin, während sein kleiner Neffe lauthals nach seiner Mutter zu schreien und zu plärren begann.
 

Nalani in der Mulde, die der Platz füllte, hörte das Kind schreien. Sie fuhr herum und sah besorgt in die Richtung, in der die Familie stand, konnte Puran aber nicht sehen, weil er unter Sukutais Rock hockte. Ihre Mutterinstinkte versetzten ihr automatisch einen Stich, als sie das Kind schreien hörte, und am liebsten wäre sie jetzt zu ihm gelaufen, um ihn zu trösten… Tabari machte ihr einen Strich durch die Rechnung.

„Pass auf deine Umwelt auf, Weib!“ fauchte er sie an, bevor er plötzlich hinter ihr auftauchte und sie noch herumfuhr, um einen seiner Windzauber abzukriegen, der sie zu Boden schleuderte und den Rest ihres Rockes ebenfalls so weit aufschlitzte, dass sie eher Fetzen trug als einen Rock. Sie keuchte und fasste nach ihren Beinen, die ebenfalls blutige Schnitte bekommen hatten von den Windmessern ihres Mannes, ehe sie sich aufrappelte und sofort wieder ausweichen musste, weil er abermals auf sie zu stürzte und einen Windstoß nach ihr warf. „Was ist, Nalani?!“ rief er wütend, „Wollten wir es nicht beenden?! Bleib stehen, verdammt!“ Der Zauber ging abermals ins Leere, als sie sich auf den Boden warf, dann wieder hochsprang und abermals Wasser auf ihn schmetterte.

Das dauerte zu lange… es wurde schon dunkel. Aber es ging zu langsam… Nalani keuchte und zog kurzer Hand endlich ihren Dolch aus dem Gürtel. Während sie hier herum hüpfte, weinte ihr Kind nach ihr, das war nicht gut. Es war gut, es schnell zu beenden… zumindest schneller, als sie geplant hatte.

„Ach, jetzt macht sie ernst,“ schnaubte der Blonde und pustete sich ein paar Regentropfen von der Nase, ehe er die Hände abermals hochriss und Nalani stehen blieb, den Dolch empor reißend. „Wurde aber auch Zeit. Zeig mir, dass du es überhaupt wert bist, Geisterjägerin zu sein, Nalani!“ Seine Frau spuckte aus.

„Du wirst dir noch wünschen, ich hätte es nicht getan!“

Ihre Augen bekamen einen seltsamen Schimmer, als es aus dem Himmel krachte und Kadhúrem in ihrer Hand zu glimmen begann, als hätte sie aus dem Himmel einen Blitz eingefangen, der die Klinge erleuchten ließ. Tabari schnappte nach Luft, ehe er die Arme in den Himmel riss.

„Wind!“ keuchte er und warf den Kopf in den Nacken, während er hinter sich die Menschen zu murmeln beginnen hörte. „Ich bin ein Kind des Lyra-Clans! Du wirst meinem Ruf folgen, Windgeist, und ich werde dir befehlen als Meister der Geisterwinde! Komm, Geist, und lass dich beherrschen!“ Die Menschen raunten, während Nalani nichts sagte und Kelar oben auf der Anhöhe die Augen gehässig verengte.

Ja, Sohn… zeig ihnen, wer die Macht über die Himmelsgeister hat! Nicht die Kandayas, nicht die Chimalis‘ oder die Kohdars, sondern die Lyras sind es, die die Herrschaft über Himmel und Erde fordern können! Es ist auch deine Macht, Tabari… du solltest es begreifen, statt mir den Rücken zu kehren… ob du willst oder nicht, bist du mein Sohn und ein Bluterbe dieses Clans… des mächtigsten und besten aller Schamanenclans!
 

Aus dem düsteren Himmel ertönte ein zorniges Grollen, während Tabari einen beeindruckenden Anblick bot, wie es sein Vater normalerweise tat, wenn er die mächtigen Geisterwinde beschwor. Nalani stand wie angewurzelt an derselben Stelle wie zuvor, noch immer den Dolch in den Himmel erhoben.

„Komm, Tabari,“ sagte sie kalt, „Komm und versuche, mich zu töten… ich bin gespannt, was du kannst.“ Er riss das Gesicht wieder herunter und stierte sie an mit einem Blick, den sie nie bei ihm gesehen hatte. Seine grünen Augen durchbohrten sie voller Kälte, voller bösartiger Macht des Himmelszorns, und die Frau runzelte die Stirn, als sie erkannte.

Das war die grausame Macht, die die Lyras besaßen. Die grausame Gewalt über die Geister, die sie nach ihrem Willen rufen, lenken und beherrschen konnten.
 

Und Tabari konnte es nicht minder als sein grässlicher Vater.
 

„Du solltest nicht so respektlos sein, Nalani. Das würde dir mehr wehtun als mir!“ Das waren seine Worte, ehe er die Arme wieder herum riss und mit einem Krachen einen gigantischen, blitzenden Wirbel aus purer Macht auf sie schleuderte. Sie reckte das Gesicht hoch, ohne sich sonst zu bewegen, und fixierte schweigend den Zauber, der auf sie zu kam und bereit war, sie in Stücke zu reißen.

Du magst tausendmal ein Lyra sein, Tabari… du bist mein Mann. Letzten Endes… bin ich diejenige, die dich beherrscht. Komm, Schatten! Kadhúrem, Schattenklinge, folge meinem Willen!

„Auch dein Wind, Tabari…“ sagte sie kalt, als der Himmel sich plötzlich schwarz färbte über ihnen und die Menschen erschrocken zusammenfuhren, als ein lautes, donnerndes Grollen ertönte. Nalani riss Kadhúrem nach vorne, genau auf Tabaris Wirbel zu, während ihr Mann sie anstierte und sie seinen kaltblütigen Blick erbarmungslos erwiderte. „Auch dein Wind hat seinen Schatten, Tabari! Und ich beuge mich deinem Clan nicht!“

Sie hatte gerade ausgesprochen, da traf der Wirbel auf die Klinge ihres Dolches. Es ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen und die Druckwelle, die beide Mächte beim Aufeinanderprallen erzeugten, warf nicht nur die Kämpfer zu Boden, sondern auch die ersten Reihen der Zuschauer am Rand, selbst Minar Emo musste sich bemühen, auf den Beinen zu bleiben, als das markerschütternde Donnern ihn erschauern ließ.

Unglaublich, diese Mächte… als würden Vater Himmel und Mutter Erde selbst gegeneinander kämpfen wollen… Der Schiedsrichter sah verunsichert hinauf zu seinen Kollegen gegenüber, die ebenfalls gespannt hinab starrten, selbst Kelar war inzwischen beeindruckt.

Noch beeindruckender war, was mit den Zaubern geschah, als Nalani sich aufrappelte und ihr Kadhúrem schnappte, während Tabari hustete und ebenfalls auf die Beine kam. Sein Wind war verschwunden. Er hatte sich einfach in Luft aufgelöst, so schien es… wie war das möglich?

Dieser Angriff hätte einen Baum in Stücke gerissen… machte der Blonde innerlich, W-wie hat sie es geschafft, ihn verschwinden zu lassen?! Diese Waffe ist grausam…

Er kam kaum dazu, weiter zu denken. Nalani warf einen Blick in den schwarzen Himmel, den sie verdunkelt hatte. Es wurde Zeit, das zu beenden. Kurzer Hand schnappte sie ihren Dolch und stürzte sich unerwartet auf Tabari, der noch verpeilt da stand. Sie warf ihn glatt um und zu Boden und er keuchte, als sie plötzlich über ihm war und mit der Waffe nach ihm schlug.

„Verdammt, bring mich nicht um!“ schrie er entsetzt und riss den Kopf gerade noch zur Seite, ehe er sie von sich schubste und sich aufzurappeln versuchte. Sie war schneller auf den Beinen und der Dolch schnitt ihm quer über den Oberarm, worauf er kurz schrie und nach der blutenden Wunde fasste, als seine Frau auf die Beine kam.

„Steh auf!“ fuhr sie ihn an und er keuchte, „Steh auf, oder soll ich mit der Schande leben, einen Wurm als Ehemann zu haben?! Ich lasse mir meine Ehre nicht vom Schlamm auf dem Boden stehlen, Tabari!“ Er rappelte sich schnaubend auf und sah sie an, als sie ihren Dolch wieder hob. Er hörte die Menschen um sich herum lauter zu murmeln beginnen, von irgendwo her ertönten Rufe.

„Dann versuch es, Nalani…“ zischte er grimmig, „Ich habe auch meinen Stolz, Frau.“ Dann riss er die Arme wieder hoch und sie fuhr zurück, als er abermals einen Wirbel nach ihr schleuderte, den sie mit einer Handbewegung mittels des Dolches zerschmetterte – doch er war schneller als sie geahnt hatte, sobald sie Kadhúrem sinken ließ und sich zu ihm herum drehte, war er plötzlich wieder vor ihr und hatte die Arme in den Himmel gerissen. „Und ich habe nicht vor, dir leichtes Spiel zu machen, nur weil du meine Frau bist!“ Sie schnaubte und riss noch Kadhúrem nach vorne, in dem Moment kam sein Angriff plötzlich unerwartet von hinten. Es war ein mächtiger Windstoß, der sie zu Boden schleuderte und sie verlor den Dolch aus der Hand, als sie erneut im Schlamm landete, während der Windzauber ihr nachjagte und sie einen grausam schneidenden Schmerz spürte, der ihre Arme und ihren Oberkörper zu zerreißen drohte. Sie keuchte und als sie nach ihrem Dolch angeln wollte, kam Tabari ihr zuvor und trat ihn zur Seite, damit sie nicht heran kam. „Ich… fürchte dich nicht, Nalani!“ verkündete er und sie schnaubte, bevor sie einem weiteren Windzauber ausweichen musste.

„Du solltest auch nicht mich fürchten…“ sagte sie ruhig, während sie langsam aufstand, obwohl ihr der Rücken schmerzte. Sie hob die Arme in den Himmel und schenkte ihrem Mann einen bohrenden, herrischen Blick, worauf er für einen Moment erstarrte. „Du solltest die Schattengeister fürchten, die mir dienen, Tabari!“ Mit einer Bewegung ihrer Arme verdunkelte sie den Himmel erneut und Tabari starrte hinauf. Es grollte, aber der Regen wurde weniger, als würde Vater Himmel verstummen und sich lauernd knurrend in eine Ecke legen wie ein umzingeltes Beutetier. Tabari hörte die Menschen um den Platz herum die Luft einziehen und ebenfalls verstummen. Selbst das Kind hatte zu wimmern aufgehört. Plötzlich war es ganz still, es wurde nur dunkel.
 

Es war, als hätte Nalanis Schatten die Sonne komplett verschluckt…
 

Das macht sie ohne Kadhúrem…? fragte Tabari sich verblüfft und starrte sie an, wie sie da stand mit erhobenen Armen und allein ihr Anblick ihn die Luft anhalten ließ. Sie war schön und gefährlich, seine kaltherzige Frau… als ihr Blick ihn traf, hatte er das Bedürfnis, auf die Knie zu sinken, obwohl sie sich keinen Zoll bewegte. Sie stand nur da und starrte ihn an aus blauen Augen voller Dunkelheit.

„Komm!“ zischte sie, „Oder willst du aufgeben, Tabari? Wie ehrlos… dafür, dass du aus einem so großartigen Clan stammst!“
 

Er riss die Arme in den Himmel und stierte sie grimmig an, um ihrer Forderung nachzukommen.

Der letzte Schlag… jetzt werden wir sehen, ob du fähig bist, mit uns mitzuhalten… ob die Geister dir gehorchen und du dich Geisterjägerin nennen kannst!

„Vater Himmel!“ brüllte er dann, abermals den Kopf in den Nacken werfend, sodass der Regen in sein Gesicht prasselte. Ein grollendes Donnern aus dem schwarzen Himmel untermalte das Bild der beiden Menschen, wie sie da standen mit erhobenen Armen. „Vater Himmel, schick mir Wind, schick mir Sturm! Zeig mir deinen Zorn und ich werde deine Windkinder beherrschen! Komm, Windgeist!“ Es gab ein lautes Krachen, während er zwischen seinen Händen wieder einen gigantisch großen Wirbel aus Winden balancierte, die aus dem Himmel herab stießen und sich seiner Macht und seinen bloßen Worten unterwarfen. Nalani bewegte unmerklich die Hände und schloss seelenruhig die Augen, während sie die Macht der Geisterwinde vor sich spüren konnte, eine entsetzliche Kraft, die Tabari gleich auf sie schleudern würde wie seinen Speer beim Jagen auf ein argloses Reh.

Warte.

Tabari riss den Kopf wieder herunter und starrte sie erneut an, die Arme ausbreitend, während er selbst erzitterte unter der Macht der Windgeister in seinen Händen, die bereit waren, alles zu zerstören, auf das er sie lenken würde.

„Jetzt zeig es mir, Nalani!“ brüllte er gegen das Donnern des Sturms an, „Zeig mir, dass es wert bist!“

Sie rührte sich nicht, als er herumfuhr und dann die Arme zurückließ, um die Macht des Sturms, den er beschworen hatte, erbarmungslos auf sie loszulassen. Nalani ließ ihre Augen geschlossen. Die Menschen am Rand des Platzes traten ehrfürchtig zurück aus Angst vor dem gewaltigen Wirbelsturm, der auf die Erde zwischen Tabari und Nalani donnerte und ein gewaltiges Erdloch grub, ehe er begann, auf die Frau zu zu rasen.

Warte bis zum letzten Augenblick.

„Schatten!“ war alles, was sie im Befehlston über die Lippen bracht, in dem Moment öffnete sie die Augen und breitete die Arme zur Seite aus, als wollte sie das Verderben im Sturm vor sich umarmen, das auf sie zu donnerte. Sie sah empor zu der Säule aus Macht, und mit einem mal merkte sie, wie klein sie war…

Wie klein sie alle waren.

Die Mächte der Schöpfung sind… so gewaltig groß… zu groß, um jemals komplett beherrscht zu werden. Nicht einmal der mächtigste Herr der Geister aller Zeiten könnte sie grenzenlos kontrollieren.
 

Nur für einen winzigen Moment vermögen wir Menschen uns anzumaßen, einen Teil der Naturgewalten für unsere Zwecke zu benutzen…
 

„Schattengeist… ich rufe dich! Ich… bin Nalani Kandaya, Tochter von Thono, Herrin über die Geister der Finsternis, Gebieterin über das Schwert Kadhúrem! Ich fordere deinen Gehorsam, Dunkelheit!“

Und die Geister der Schatten gehorchten ihr.

Es gab einen lauten Knall in dem Moment, in dem Tabaris Wirbelwind Nalani hätte zerfetzen müssen. Doch im selben Moment war die Frau plötzlich verschwunden und Tabari sah zu, wie aus dem Nichts ein gähnend leeres Loch aus purer Schwärze entstand, das seinen Wind verschlang wie ein kleines Stück Fleisch. Von einem Moment auf den nächsten war das Grollen vorüber, der Wind verschwunden und das Loch der Dunkelheit verblasst. Der Schatten hatte seine Macht gefressen und Tabari fuhr herum, als Nalani mit einem mal rechts von ihm war und Kadhúrem aufgesammelt hatte. Er hatte damit gerechnet, dass es nicht so leicht werden würde, und er gluckste amüsiert.

„Nicht schlecht…“ sagte er gespielt unbeeindruckt zu seiner Frau, „Aber nicht schnell genug, Nalani.“ Dann schwang er den linken Arm einmal herum und als hätte er etwas aufgescheucht fuhr mit einem Mal wieder der Wind auf, erst sanft, dann sehr schnell heftiger, bis er laut heulte wie ein gefährliches Raubtier und mit einer bloßen Handbewegung von Tabari wieder einen gewaltigen Wirbel formte, der abermals auf die Frau zu donnerte. Nalani wirbelte herum und riss Kadhúrem in die Richtung des Wirbels, ehe sie den gesamten Zauber mit der Klinge mit ausgestrecktem Arm aufspießte. Es gab ein neues, ohrenbetäubendes Krachen und eine neue Druckwelle, die Tabari rückwärts zu Boden schleuderte, als die Wirbel auseinander stoben, in den Himmel hinauffuhren und sich dann wie ein Regen aus düsterer Macht über das Land ergossen, gemeinsam mit einem Schwall aus mächtigem Regen aus dem Himmel. Tabari rollte über den Boden, als der sich über das Land ergießende Schatten ihn traf und ihn noch weiter zurück schleuderte, bis er auf dem Rücken stöhnend vor Schmerzen liegen blieb und spürte, wie sich die Dunkelheit fest und eisig kalt um ihn zurrte und drohte, ihn zu ersticken.

Dann tauchte Nalanis bildhübsches Gesicht über ihm auf, während sie über ihm stand und die Klinge ihres Dolches an seine Kehle drückte.

„Schatten… ist Bosheit, Tabari…“ belehrte sie ihn, „Alles kann Schatten sein, Gefühle können Schatten sein, alle was lebt, hat einen Schatten. Es schmerzt, habe ich recht…?“ Er keuchte und sah panisch zu ihr hinauf, als er spürte, wie die Dunkelheit ihn blendete und wie sie schmerzhaft seine Lungen zusammen zurrte. Er hustete. „Soll ich machen, dass es aufhört…?“ fragte sie dumpf und richtete sich auf, mit dem Dolch weiterhin auf ihn zeigend, und Tabari japste und fasste nach seiner schmerzenden Brust.

„Ja, v-verdammt…!“

„Bitte mich, Lyra,“ zischte sie, „Bitte mich und ich werde es tun!“ Sie sah aus dem Augenwinkel, wie Minar Emo herbei gerannt kam. Sie wusste, dass der Kampf vorbei war. Tabari nickte japsend.

„Ja, ich bitte dich!“ stöhnte er, „Ich flehe dich an, hör d-damit auf!“ Nalani hörte die Menschen hinter sich raunen und murmeln, sie ignorierte das plötzlich lauter werdende Tuscheln. Minar Emo erreichte sie und Tabari, als sie mit einer schnellen Handbewegung mit dem Dolch den Schatten auflöste, der sich verbreitet hatte. Sofort spürte ihr Mann die grausamen Schmerzen in seinem Inneren abflauen und er ließ erschöpft keuchend den Kopf zu Boden sinken, plötzlich erleichtert.

Es war vorbei… er war am Boden.

Minar Emo hob die Hände in den Himmel.

„Nalani ist die Siegerin!“ verkündete er überflüssigerweise. „Mit dem heutigen Tag nehmen wir sie auf in den Rat der Geisterjäger.“ Er drehte sich zu Nalani und klopfte ihr lächelnd auf die Schulter, als sie den Dolch wegsteckte und sich keuchend durch die Haare fuhr. „Du warst tapfer, Tochter des Kandaya-Clans. Und du bist… allem Anschein nach wirklich die Tochter deines Vaters… er wäre stolz auf dich.“ Nalani verneigte sich tief.

„Ich danke Euch in aller Demut,“ sagte sie wohlerzogen. Der mann lachte leise, bis sein lachen in dem lauter werdenden Rufen der Menschen um sie herum unterging. Als sie beide sich erhoben und sich umsahen, rief und jubelte das ganze Volk, das versammelt worden war. Sie riefen Nalanis Namen, rangen die Hände und jubelten begeistert, als hätte sie gerade die Welt gerettet. Minar Emo trat von ihr weg.

„Das ist für dich, Nalani…“ sagte er zu ihr, „Sie jubeln dir zu ehren… weil sie gesehen haben, dass auch die Lyras nicht unverwundbar sind… dass selbst sie nur Menschen wie wir alle sind. Dieser Tag ist wichtig für dich, Nalani… aber auch für ganz Dokahsan, das ab heute… vielleicht anfängt, das Laufen wieder zu lernen, nachdem es über Jahre nur gekniet hat.“
 

Kelar Lyra spuckte wutentbrannt aus, ehe er den tobenden und rufenden Menschen den Rücken kehrte. Sein Blick fiel auf den zufrieden grinsenden Zoras Chimalis und er konnte seinen Zorn nicht mehr beherrschen, als er herüber stürmte, den jüngeren Mann brüllend am Kragen packte und ihn wild schüttelte.

„ICH BRINGE DICH UM!“ brüllte er, „Ich schlitze dich auf, ich zerschneide und koche dich, Chimalis, dass du es wagst, das ganze, verdammte Volk auf so eine bestialische Weise gegen mich aufzubringen! Du hast das alles inszeniert, hab ich recht?! Du hast dafür gesorgt, dass die alle zusehen, weil du wusstest, Nalani würde gewinnen, weil du wusstest, sie würden das als Anstoß nehmen, sich gegen meine Herrschaft aufzulehnen! Du abscheulicher, intriganter Scheißkerl, dass du es überhaupt wagst, meine Luft zu atmen…!“ Er schlug wütend die Arme von Hakopa, Nomboh und seiner Frau Salihah weg, die nach ihm griffen und versuchten, ihn festzuhalten, während Zoras triumphierend schnaubte.

„Ja, ich bekenne mich, großer König!“ erwiderte er sarkastisch, „Ich habe dir geschworen, dich zu Fall zu bringen, als du die Bestattung meiner Frau entehrt hast, Kelar, und ich halte mein Wort! Was denn, wieso so zornig? Muss doch langweilig sein, wenn sich dir niemand widersetzt! Und wenn ich es mir recht überlege, sollte ich deine bezaubernde Frau mal wieder zu uns zum Tee einladen, was meinst du, Salihahchen, hast du Lust?“ Salihah verdrehte die Augen und Kelar schlug ihm ohne Vorwarnung wütend ins Gesicht, sodass er zu Boden stürzte und sich die blutende Nase hielt. Dabei lachte er erstaunlicherweise irre auf, von Kelars unglaublicher Wut belustigt, die er dadurch nur noch steigerte. Jetzt schafften Nomboh, Hakopa und Salihah es zu dritt, den Herrn der Geister festzuhalten, obwohl er wütend fauchte und versuchte, sich loszureißen.

„Wie könnt ihr es wagen, ihr erbärmlichen, grauenhaften Bastarde?! Ich werde euch alle braten, ich mache Spieße aus euch! Meine Rache wird kommen, Chimalis, und sie wird grauenhafter sein als alles, was du jemals erlebt hast! Du verfluchter, abscheulicher Schweinehund! Deine Linie wird zu Grunde gehen, das schwöre ich dir! Ich werde dafür sorgen, dass sie versiegt wie Wasser in Sand, deine Schlampe von Tochter wird niemals, niemals ein männliches Kind gebären, das deinen Clan erben könnte, und Meoran, dieser schwächliche Dummkopf von deinem Neffen, wird niemals einen Sohn zeugen, bah! Euer ganzer, verdammter Clan wird vernichtet werden, dafür sorge ich, und wenn ich den allerletzten von euch verfluchten Barbaren töten muss!“ Er beruhigte sich offenbar, sodass die anderen ihn losließen und der Mann wütend davon stampfen konnte, die immer noch tobende Menge keines Blickes mehr würdigend.

Zoras rappelte sich hustend vom Boden auf und startete einen erbärmlichen Versuch, mit dem einfachen Heilzauber Lira, den selbst Schwarzmagier beherrschten, seine blutende Nase zu heilen.

„Oh nein, Kelar… deine Augen sind geblendet von deinem Wahnsinn…“ murmelte er dabei seelenruhig, „Der Lyra-Clan wird fallen und deine Herrschaft steht auf Messers Schneide. Mag nur ein wenig vom Weg abkommen, und sie… wird scheitern. Die Geister, zu denen ich spreche… lügen nicht, alter Mann.“
 


 

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booyah >///< Nalani ist Geisterjägerin, surprise! XD Klein Puran ist doch voll Zucker wa? XDD haha^^

Purans 'Jaaha' am Anfang war übrigens eine Hommage an meine liebe Izzy und ihr tolles KdW ^////^ daher kommt das nämlich, muaha... aber ich konnts mir nicht verkneifen, ey xDD

Dunkelheit

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Staub und Flammen

Der Himmel und die Welt standen in Flammen. Tabari sah es überall, wohin er sich auch drehte. Die Flammen blendeten ihn, im Gegensatz dazu überzog der Rauch des Todes die Welt mit Dunkelheit.

„Ihr werdet knien, und wenn ich euch die Beine abschneiden muss!“ hörte er im Geiste die Stimme seines tobenden Vaters. Aus den Flammen vor ihm tauchte Kelars wutverzerrtes, wahnsinniges Gesicht auf, zuerst hätte er ihn beinahe nicht erkannt… war das sein Vater oder eine Menschen fressende Bestie? „Lyrien ist mein, mein und das meines Clans! Ihr Würmer, ihr elenden, dreckigen Nichtsnutze, ich versklave jeden Einzelnen von euch… ihr solltet die Mächte der Geister ehren… und die besitze ich allein!“ Die Flammen sanken zu Boden unter Kelars ausgebreiteten Armen und Tabari wich ebenfalls unwillkürlich zurück in den Schatten des Traums. „Die Mächte der Schöpfung knien vor mir… die Geister knien vor mir und schenken mir großzügig ihre Macht! Und ihr Sterblichen, ihr erbärmlichen Maden, werdet knien… und wenn es in Stücken sein muss!“ Damit schlug er die Flammen mit einer bloßen Handbewegung auf den Boden, als würde das Feuer sich vor ihm verneigen. Die Finsternis senkte sich auch zu Boden wie die großen Flügel eines Muttervogels, der sein Nest beschützen musste. „Sie alle werden knien…“ schwor Kelar grimmig, „Keiner wird es mehr wagen, sich meiner Macht zu widersetzen… und wer es tut, der soll brennen im Feuer des Himmelszorns!“
 

„Tabari!“

Der Blonde riss keuchend den Kopf hoch, als er spürte, wie Nomboh Chimalis ihn unsanft an der Schulter rüttelte.

„Tabari, hoch, wir sind gleich da! Da vorne lichtet sich der Wald!“ Tabari schnappte nach Luft und sah nach vorne.

„Mein Vater, ich habe meinen Vater gesehen, ich fürchte, er wird uns alle töten wollen…“

„Das will er sowieso,“ machte Nomboh, der neben ihm ritt, und gab seinem Pferd die Sporen, „Beeilen wir uns, hinter dem Wald ist der Kreis Rodril. Ich frage mich, was hier passiert…“ Ein Kreischen aus der Luft ließ die beiden Männer hochfahren, Zoras, der ihnen voraus ritt, riss ebenfalls das Gesicht empor, als eine schwarze Krähe über sie hinweg nach Süden flog, in die Richtung, in die sie ritten.

„Ein guter Tag für die Krähen, wie es scheint,“ machte Zoras und bremste plötzlich sein Pferd, sodass die zwei anderen es ihm gleich taten. Der Schwarzhaarige zerrte das Tier herum und starrte argwöhnisch dem schwarzen Vogel nach, der den Wald hinter sich ließ. Der Morgen graute. Sie waren die ganze Nacht beinahe durch geritten, um so schnell wie möglich Salihahs Anweisung folgend Rodril zu erreichen. Tabari fragte sich kurz, wie es ihr wohl ging, er hoffte besser… ob Sukutais Kind geboren war?

In dem Moment ging die Sonne auf und schob sich rot flammend über den Horizont, sie schickte ihre Strahlen durch die Stämme der Bäume des Waldes, sodass sie die Reiter streifte. Zoras drehte langsam den Kopf nach Osten und starrte eine Weile wie hypnotisiert genau in die roten Lichtstrahlen des Auges von Vater Himmel.

„Eine rote Sonne schiebt sich über den Rand von Mutter Erde,“ keuchte er stimmlos und riss plötzlich sein Pferd wieder herum nach Süden, „Getränkt von Blut… es hat viele Tote gegeben heute Nacht! Beeilen wir uns, vielleicht können wir noch etwas retten!“ Er trieb das Tier voran und Nomboh folgte ihm sofort. Tabari zerrte das wiehernde Pferd auch herum und stutzte, als er mit einem Mal die Geister sprechen hörte.

„Staub und Flammen, Tabari… die sich abwenden von der Sonne und in den Schatten stürzen…“

Für einen Moment flackerte das Bild eines einzelnen, kahlen Baumes inmitten von verbranntem, schwarzem Land. Doch ehe er es richtig betrachten konnte, verschwand das Bild im rötlichen Licht der aufgehenden Sonne. Er keuchte und beeilte sich, den anderen beiden nachzusetzen.
 

Sie waren zu spät. Fassungslos von dem Anblick, der sich ihnen bot, standen die drei im Licht der jetzt fast aufgegangenen Sonne auf einem Hügel in Rodril, vor ihnen nichts als verbranntes Gras, nichts als Tod. Sie hatten das Dorf Samold in Rodril erreicht; oder das, was von ihm übrig war. Das, was vor ihnen lag, war kein Dorf, sondern ein Haufen Asche. Mit viel Fantasie waren die Reste des Zaunes und einiger Häuser zu erkennen. Balken brannten immer noch und rauch stieg auf und verpestete die Luft. Es roch nach Verderben und Tod.

„Bei Himmel und Erde,“ war alles, was Zoras herausbrachte, „Enmoria, Kelenth und die anderen waren Schall und Rauch gegen das hier… sehr ihr die Rauchsäulen am Horizont? Dieses Dorf ist nicht das einzige in Rodril, das es erwischt hat. Gehen wir runter und sehen nach, ob irgendjemand am Leben ist…“

„Denkst du, das ist nötig?“ murmelte Tabari und sah sich apathisch um. Das war ein Desaster. Und daran war sein Vater Schuld? Er schämte sich plötzlich, Lyra zu heißen, der Sohn dieses grausamen Mannes zu sein, der es fertig brachte, so etwas zu tun. „Denkst du, irgendjemand hätte das überlebt?“

„Die Geister wollen manchmal… seltsame Dinge,“ antwortete Nomboh ihm und starrte hinab. Im verkohlten Dorf bewegte sich tatsächlich etwas. Die drei ritten rasch den Hügel hinab auf die Trümmer zu. Beim Näherkommen erkannten sie, dass es ein Kind war, das allein durch das menschenleere Dorf tappte.

„Du liebe Zeit!“ keuchte Tabari, sprang vom Pferd und fing das kleine Kind auf, das auf sie zu taumelte und gerade in seinen Armen keuchend zusammenbrach, „Sucht nach Überlebenden, schnell! Bist du verletzt, Kleiner?“ Die Frage war mehr rhetorisch und das Kind sah ihn aus runden, glasigen Augen apathisch an. Es war blutverschmiert und schwarz von Ruß am ganzen Körper, die Haare waren zum Teil versengt. Ein Arm war ungesund verrenkt wenn nicht sogar gebrochen und Tabari fasste in nasses, warmes Blut, als er das Kind am Rücken festhielt.

Zoras Chimalis kam neben ihn, während sein Bruder loslief, um die Trümmer zu durchsuchen.

„Was ist geschehen und wie lange ist es her?“ war alles, was der Schwarzhaarige zu sagen hatte, und Tabari sah ihn ungläubig an.

„Verdammt, der Junge braucht Medizin und du fragst ihn aus…?!“ schnappte er verblüfft und begann notdürftig, mit Lira die Wunde auf dem Rücken zu heilen, was nicht wirklich Erfolg zu haben schien. Das Kind stöhnte und seine Lider zuckten.

„Der Himmelsdonner…“ wisperte es, „Der Himmel war zornig. Aus dem Schatten der Nacht kam Feuer, es war überall… und mit dem Feuer kam die Bestie…“

„Die Bestie?“ fragte Zoras Chimalis kalt, und das Kind drehte heftig atmend den Kopf zu ihm und erzitterte.

„Ja… der Himmelsdämon. Alle sind tot, nur ich nicht. Ich habe überlebt…“ Zoras senkte den Blick, als das Kind die Augen schloss, ehe sein Kopf nach hinten kippte und es in Tabaris Armen erstarrte. Der Blonde schnappte nach Luft und Zoras schloss kurz die Augen, die Geister stumm bittend, die Seele des Kindes wohlbehalten ins Geisterreich aufzunehmen.
 

Nomboh kehrte zurück, als Tabari das tote Kind betrübt auf die Erde legte, sodass seine Augen in den Himmel sahen.

„Niemand,“ meinte er und parierte sein Pferd durch, „Im ganzen Dorf ist keine einzige Leiche, nicht mal ein Körperteil. So schnell können doch alle Dorfbewohner nicht einfach verbrannt sein, wenn es heute Nacht passiert ist! Wo hat dieser Wahnsinnige die Leichen hin geschafft?“

„Keine Ahnung,“ machte Zoras, „Das Kind nannte ihn Himmelsdämon, Kelar verdient sich grausame Namen, wie es scheint.“

„Samold ist nicht zu retten, wir sollten weiter nach Shyom oder Bedyn, wenn da auch Rauchsäulen waren, vielleicht hat er ganz Rodril in Brand gesteckt,“ murmelte Tabari, „Was für eine Schande.“

„Was für ein Drama, würde ich eher sagen,“ meinte Nomboh, als die zwei anderen wieder aufstiegen und sie den Schutthaufen Samold verließen, um weiter nach Westen zu reiten.

Die Dörfer Shyom und Bedyn sahen kaum anders aus als Samold. Sie waren verbrannt und verlassen, nicht ein toter Mensch war auffindbar. Befremdet über die seltsamerweise verschwundenen Leichen ritten sie voran nach Emash, das noch etwas weiter im Westen lag. Schon von weitem sahen sie die Rauchsäule über dem Dorf aufsteigen und beeilten sich, hin zu kommen. Es war schon nach Mittag, als sie das Dorf erreichten.

Was Kelar dazu getrieben haben mochte, gleich vier Dörfer und alle dazwischen gelegenen Höfe und Siedlungen, die so klein waren, dass sie keinen Namen verdienten, auf einmal auszurotten, wusste niemand. Wo er hin war, wusste auch niemand, weit und breit war vom Herrn der Geister keine Spur. In Emash fanden sie am noch fast nicht verbrannten Zaun die erste Leiche und blieben davor abrupt stehen. Spätestens jetzt war bewiesen, dass es Kelars Werk war, denn er hatte mit Blut (vermutlich dem des armen Mannes, der kopflos am Zaun aufgehängt worden war) eine Warnung in den Sand geschrieben und unterzeichnet.

„Das Dorf Emash sowie die umliegenden Gemeinden wurden im Sommermond wegen Treulosigkeit, Entehrung der Geister und Volksverhetzung beseitigt,“ las Zoras erstaunlich gefasst die grausame Botschaft vor, die im Sand stand. „Für all jene, die sich diesen Schändern zugehörig fühlen mögen, sei der Weg ins Geisterreich versperrt und ihre Seelen werden auf ewig verwirrt zwischen den Welten wandeln. Hütet euch.“ Der Schwarzhaarige holte Luft und fuhr fort: „Er unterzeichnet mit seinem Namen, Kelar Lyra, Herr von Lyrien. Na, jetzt wissen wir ja, was uns blüht.“

„Wie furchtbar,“ machte Nomboh erschüttert.

„Das heißt, die Leute haben versucht, einen Aufstand anzuzetteln und er hat sie dafür bluten lassen?“ machte Tabari dumpf, „Der, der da hängt, war sicher der Dorfchef oder der Führer des Aufstands. Er versucht, sie wieder in die Knie zu zwingen… seit Nalanis Prüfung trauen sich die Leute, den Mund aufzutun. Verdammt, wir müssen doch irgendetwas tun können, um ihnen zu helfen, das Volk zu schützen! Dazu sind wir doch da, oder nicht?!“

„Natürlich sind wir das,“ entgegnete Zoras und sah sich um, „Ich frage mich, wieso die Geister uns anschweigen… ob sie tatsächlich vor Kelar kuschen und ihn nicht verraten wollen, bis es zu spät ist? Ich werde sie jagen, bis sie mir Rede und Antwort stehen, das schwöre ich.“ Die beiden anderen stimmten ihm zu, ehe sie auch Emash nach Lebenden oder zumindest Toten durchsuchten; wieder Fehlanzeige.

„Das gibt’s doch nicht!“ keuchte Nomboh, „Wo hat er die ganzen Leichen hingeschafft, zu Pulver verarbeitet und in den Wind geworfen?!“ Tabari seufzte und drehte den Kopf.

„Staub und Flammen, Tabari… die sich abwenden von der Sonne und in den Schatten stürzen…“

Er erinnerte sich plötzlich an den kurzen Traum am Waldrand und den kahlen Baum auf dem schwarzen Land.

„Westen,“ murmelte er nur, „Der Sonne den Rücken kehren heißt Westen!“ Ohne den anderen zu erklären, was er meinte, sprang er auf sein Pferd und galoppierte mitten durch Emash nach Westen.

„Warte!“ rief Nomboh, als die beiden Brüder ihm folgten. Und am westlichen Tor von Emash fanden sie die Leichen. Mitten auf dem verkohlten Gras stand ein vereinzelter, großer Baum, und wie skurrile Skulpturen waren sämtliche Leichen auf Äste gehängt und gespießt worden, der ganze Baum war voll von ihnen. Die drei Männer unten starrten fassungslos über diese Abscheulichkeit und Entehrung sämtlicher Lebensgeister hinauf auf den Baum der Toten.

„Das hat er nicht wirklich getan…“ keuchte Nomboh und wurde blass, „Das ist… das ist Abschaum…“

„Ich dachte, dieser Mann hätte kein Gewissen…“ überlegte sein älterer Bruder dumpf, indem er den abartigen Baum eine Weile betrachtete und dann beschämt über die Grausamkeit, die diesen Menschen angetan worden war, den Kopf zu Boden drehte. „Jetzt denke ich, dieser Mann hat keine Seele, so etwas Furchtbares tun zu können.“
 

Als Kelar Lyra nach langer Abwesenheit zurück in sein Schloss kehrte, hatte er Gefangene aus Rodril mitgebracht. Er kam einen Tag nachdem Tabari zurückgekehrt war und fand seine Familie geschlossen am Esstisch vor – abgesehen von Sukutai, die noch im Wochenbett lag, und ihrer Tochter Alona.

„Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, du wärst über Nacht Vater geworden, Kiuk?“ war Kelars gehässig grinsende Begrüßung, als er die drei jungen Mädchen, die Sklavinnen, vor sich her in die Küche schubste und sie dabei keuchend und wimmernd zu Boden stürzten. „Aufstehen, ihr Missgeburten, ihr dreckigen Schlampen! Ihr zwei könnt hier arbeiten, du da gehörst jetzt mir!“ Die anderen am Tisch sahen verblüfft zu, wie die drei Mädchen sich zitternd aufrappelten und zwei von ihnen in Richtung des Küchenjungen gingen, der einen Servierteller mit Kartoffeln trug und wie erfroren stehen geblieben war, sobald Kelar aufgekreuzt war. Die dritte Sklavin erhob sich auch japsend und rührte sich nicht mehr, als er sie an den Schultern packte und dabei seine Frau Salihah lauernd angrinste, die schweigend am Tisch saß und zu ihm und dem Mädchen hinüber sah. „Glückwunsch, Kiuk, zu deinem neugeborenen Nichtsnutz. Und ein anderes Vögelchen hat mir gezwitschert, du wärst in Rodril gewesen, Tabari…? Du warst wohl zu spät!“

„Du grausamer Mörder!“ zischte Nalani und spuckte ihm vor die Füße. Natürlich hatte Tabari von dem Grauen in Rodril berichtet. „Du stehst hier und lachst darüber, abscheuliche Kreatur!“ Sie zog ihren kleinen Sohn schützend dichter an sich heran, der neben ihr saß und mit vor Schreck geweiteten Augen auf seinen Großvater und die Sklavin starrte.

„Tabari, bring deiner Wachtel endlich mal bei, ihre Zunge zu hüten in meiner Gegenwart, sonst endet sie genauso wie diese Schweine aus Rodril… wie diese Narren, die geglaubt haben, sie könnten es mit der Macht der Geister aufnehmen…“ Er tätschelte dem blassen Mädchen vor sich den Kopf. „Nur du warst artig, nicht wahr? Du hast gekniet, als ich es verlangt habe…“ Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe und eine der anderen Sklavinnen schrie empört:

„Das hat sie getan, weil sie ihre Familie beschützen wollte, und du hast sie trotzdem ermordet, du Monster!“ Kelar riss die Hand hoch und warf einen kleinen Zauber nach der jungen Frau, der sie durch die Luft und gegen die Wand schleuderte, wo sie schreiend aufprallte und dann benommen zu Boden rutschte. Ihre Kameradin, die neben dem Küchenjungen gestanden hatte, bemühte sich weinend um sie.

Salihah erhob sich. Das Fieber war gesunken und obwohl sie noch nicht wieder ganz fit war, war sie immerhin gesund genug, um sich auf den Beinen halten zu können.

„Das reicht, wenn du die Gören schikanierst, können sie nicht mehr arbeiten,“ schnauzte sie ihren Mann grimmig an, „Küchenjunge, stell endlich die Kartoffeln her und zeig den beiden Neuen das Schloss. Nur das Untergeschoss und die Schlafzimmer der Diener natürlich. Jetzt sofort.“

„J-jawohl, Herrin!“ keuchte der Junge und tat wie ihm geheißen, die beiden Mädchen hinter sich her ziehend. Das dritte Mädchen blieb schweigend und bleich vor Kelar stehen, als Salihah um den Tisch herum ging und dann vor ihnen stand.

„Was wird das hier? Deine Privatmasseurin?“ war die sarkastische frage, und Kelar grinste zufrieden.

„Meine neue Frau,“ korrigierte er sie, und sie zog scheinbar unbeeindruckt eine Braue hoch. Die anderen hinten am Tisch fuhren geschlossen herum.

„Was?!“ spuckte Tabari.

„Vati hat Erbsen auf den Tisch gespuckt,“ petzte Klein-Puran verdrossen, aber er wurde ignoriert.

„Ah,“ war Salihahs eiskalter Kommentar, „Dir ist schon klar, dass du mich so einfach nicht los wirst? Die Geister von Himmel und Erde waren Zeugen, als zwischen uns das Band gebunden wurde, das uns zu Mann und Frau macht.“

„Ich beherrsche die Geister von Himmel und Erde!“ zischte er sie an und packte das Mädchen fester, das darauf aufkeuchte und versuchte, sich loszureißen. „Ich werde mich niemandem beugen und dir schon gar nicht, Salihah… ich habe dir die Wahl gelassen, du konntest wählen zwischen mir und deinem Verderben, und du hast dich für deinen Tod entschieden, Weib! Und ich werde dich töten, verlass dich drauf! Egal, auf welche Weise es geschehen mag, ich werde dich töten!“

„Fein,“ seufzte sie und ging kaltherzig an ihm vorbei, ohne ihn oder seine von ihm ernannte Verlobte eines Blickes zu würdigen, „Aber ihr treibt es in der Besenkammer, im Bett schlafe immer noch ich und du wirst schon schwerere Geschütze auffahren müssen, um mich von dort zu vertreiben!“ Sie warf noch einen blutrünstigen Blick über die Schulter auf ihren Mann, der ihr verdutzt nachschaute, einen Blick so voller Abscheu und Verachtung, dass er kurz glaubte, ein kalter Schauer würde ihn überkommen… dann fasste er sich wieder und schnaubte.

„Sieh mich nicht so an! Oder soll ich mich vor einer todkranken Irren fürchten, die jeden Tag mehr ihren Verstand verliert?“ Er sah mit Zufriedenheit, wie Salihah auf der Treppe kurz anhielt, dann verschwand sie ohne ein weiteres Wort.

„Das hättest du auch über dich selbst sagen können, von wegen Irre!“ schnaubte Nalani nach einer langen Pause und erhob sich. Kelar sah sie grimmig an.

„Wage es nicht, mich so anzusehen, Wachtel, du stehst weit unter mir in der Fresskette unserer Gesellschaft!“

„Nur ein wenig, ich bin Geisterjägerin und ich stehe dir in nichts nach!“ zischte sie zurück, „Und ich werde meine Familie beschützen, verlass dich darauf!“

„Deine Familie?“ Kelar lachte. „So weit ich mich entsinne ist Salihah meine Frau, am Tisch sitzen meine Söhne und mein Enkel, hab ich wen vergessen? Oh, Sukutai, ja, die gehört dir, die ist mir egal. Ihr Kind auch, was ist es eigentlich?“

„Wie kannst du es wagen…?!“ Nalani erboste richtig und riss schon wütend die Hände hoch, da sprang Tabari dazwischen und hielt sie auf. Puran versteckte sich ängstlich unter dem Tisch und kuschelte sich an Kiuks Beine.

„Schluss jetzt, alle beide!“ machte der Blonde mürrisch, „Nalani, reiß dich am Riemen. Kiuks Kind ist ein gesundes Mädchen, du kannst stolz sein, Vater.“

„Stolz auf ein Mädchen?“ brummte der Mann und packte das junge Mädchen vor sich unsanft an den Hüften, um sie herum und zur Tür hinaus zu schubsen. „Mädchen sind unwürdig, auf Mädchen bin ich nicht stolz. Aber überdies… ist es mir egal. Du… hast mir ja einen Enkel gezeugt, braver Tabari.“ Er grinste in Richtung Tisch und fixierte Purans grüne Augen, die dort aus dem Schatten hervor lugten und sofort weg sahen, sobald sie Großvaters Blick trafen. Nalani riss sich wütend aus Tabaris Griff los.

„Starr mein Kind nicht so an, du abscheulicher Widerling!“ keifte sie aufgebracht.

„Nalani, Schluss!“ bellte Tabari, und Kelar lachte gehässig, ehe er die Küche verließ und nach der Sklavin trat.

„Vorwärts, du Nutte!“ schnauzte er sie an, „Ich mache dich jetzt zu meiner Frau, du solltest den Geistern für diese Ehre danken! Und du wirst mir gehören und mir zu Füßen liegen, wie es sich für eine Frau gehört!“
 

Nalani war über Kelars Benehmen wütender als Salihah, obwohl es wohl mehr darum ging, die zu verärgern als die Schwiegertochter.

„Natürlich bist du wütend,“ machte Salihah ungerührt dazu, als Nalani sie einige Wochen später fragte, ob ihr das nicht gegen den Strich ginge. „Du hast Angst um dein Kind und bist deshalb schon in Alarmbereitschaft, wenn Kelar den Mund auftut. Ich muss keine Angst um meine Söhne haben, die können sich wehren.“

„Aber es ist entwürdigend und demütigend, ich würde Tabari den Hals umdrehen, wenn er das mit mir machen würde!“ schnaubte die Schwarzhaarige und begann, vor ihr auf und ab zu gehen. Salihah saß in aller Ruhe auf der Couch in der Stube und las ein dickes, verstaubtes Buch. Das tat sie oft in den letzten Wochen, war Nalani aufgefallen.

„Das ist etwas völlig anderes. Es geht nicht darum, mich neidisch zu machen, Kelar weiß, dass es mich nicht kratzt, was er mit dieser Hure macht, und heiraten wird er sie auch nicht.“

„Nicht?“ Nalani blieb stehen und war verwirrt. Salihah blätterte geschäftig ihr Buch um und Staub rieselte von der Seite auf den Boden. „W-was soll der Humbug dann?“

„Ich war die Einzige, die Kelar jemals befehlen konnte nach dem Tod seines Vaters; ich konnte es auch vorher schon, aber da musste ich mir diesen Posten mit Beksem teilen. Kelar hasst diesen Zustand und nichts wünscht er sich mehr, als mich loszuwerden. Dummerweise ist das nicht so leicht… die Geister verbinden uns über ein seelisches Band, dass es uns unmöglich macht, einander zu sehr zu schaden. Auf eine perverse und komische Weise… bin ich an dieses Geschöpf gebunden, mein Leben hängt von seinem ab. Und er ist genauso von mir abhängig, ohne dass es einer von uns noch wollen würde…“ Nalani sah sie nur beunruhigt an, als sie sich wieder in ihr Staubbuch vertiefte und der Schwiegertochter offenbar keine Beachtung mehr schenkte. „Es ist eine seelische Sache… eine Sache de Geistes. Was Kelar will, ist dieses Band zu trennen, auf irgendeine Weise, egal wie. Wenn er das schafft, verschwindet die Abhängigkeit…“

„Das ist logisch, wie ein gefangener Wolf, der an der Kette zerrt,“ machte Nalani, „Aber wieso ist dir das so egal? Wer weiß, was passiert, wenn er die Bindung zu dir zerstört? Was er dann tun wi-…“ Sie wurde von ihrer Schwiegermutter unterbrochen, die eine Hand hob, ohne von ihrem Buch aufzusehen.

„Du verstehst mich… nicht, Nalani. Soll er versuchen, die Kette zu zerreißen… ich werde ihm eine Schere dafür geben, und zwar mit Freude.“

„Was liest du da eigentlich die ganze Zeit für ein komisches Buch?“ fragte Nalani nach einer Pause. Die Schwiegermutter seufzte.

„Ein altes Buch. Ich habe es einst von einem Onkel zweiten oder dritten Grades von mir vermacht bekommen; ich bin keineswegs die Letzte des Ekala-Clans… ich habe nur keinen Kontakt mehr zum Rest der weit verstreuten Familie.“

„Und was ist das für ein Buch?“ wollte die Jüngere ungeduldig wissen, und Salihah hob jetzt doch den Kopf und sah sie mit einem seltsam fernen und doch aufmerksamen Blick kühl an.

„Ein Buch über Seelenkontrolle.“
 

Der Schatten war mit aller Macht zurückgekehrt. Und nicht nur, weil es Winter wurde und die Tage duster wurden. War mit Nalanis Prüfung ein kleiner Hoffnungsschimmer über das Volk gekommen, so hatte Kelar ihn im Keim erstickt oder versuchte es zumindest. Mit aller Kraft zwang er jeden, der es wagte, sich zu erheben, zurück in die Knie. Die Steuern wurden verdoppelt und von dem Geld finanzierte Kelar die vielen Hinrichtungen landesweit; wer seine Steuern nicht zahlen konnte, musste seine Familie Stück für Stück verpfänden und bekam sie vielleicht lebend wieder, wenn er das Geld aufgebracht hatte; meistens war die Summe aber unmöglich aufzubringen und nachdem die Frauen und Kinder abgeschleppt worden waren, wurden auch die Männer ins Gefängnis geworfen. In Yiara gab es ein relativ kleines Gefängnis, von dem bislang kaum Gebrauch gemacht worden war; jetzt quoll das Gebäude vor Häftlingen über. Kelars Methode, das Gefängnis leer zu kriegen, war ganz leicht; er erfand irgendwelche Vorwände, die Leute hinrichten zu lassen, dann war wieder Platz. Am Ende des Jahres hatte sich das Volk wieder verkleinert, wo es in den letzten Jahren wieder gewachsen war. Die Grausamkeit des Herrschers hatte offenbar einen Höhepunkt erreicht und die Lage in Dokahsan einen gewaltigen Tiefpunkt. Wohin Kelar im Land auch kam, gab es garantiert Leichen. Die Menschen dachten sich, dass das Grauen von Rodril nur der Anfang einer riesigen Katastrophe sein würde.
 

Vater Himmel war zornig und grollte böse über dem düsteren, verschneiten Land.

„Der Hungermond ist gekommen und das Essen wird knapp,“ berichtete Nalani unwirsch, während sie in der Stube mit einer Tasse Kaffee saß, neben ihr ihr Söhnchen, das aufmerksam seine Tante Sukutai beobachtete, wie sie auf dem Sessel gegenüber saß und ihre Tochter Alona stillte. Das Baby war gewachsen und hatte inzwischen auch einen Flaum brauner Haare auf dem Kopf. Puran mochte seine kleine Cousine sehr, obwohl er wenig mit ihr anfangen konnte, weil sie noch so klein war. Aber Nalani hatte positiv überrascht festgestellt, dass er plötzlich kaum noch ein Problem damit hatte, wenn sie mal nicht bei ihm war, denn dann setzte er sich zu Tante Sukutai und Cousinchen Alona.

„In der Tat,“ räumte Sukutai gerade ein und sah ihre Schwägerin verdrossen an, „Kelar ist schon ein ziemlicher Torfkopf, alle Bauern hinrichten zu lassen, wer bestellt dann die Felder? Irgendwann haben wir kein Gemüse und keine Kartoffeln mehr, wir geben jetzt schon einen Batzen Geld aus für die Ernte aus Anthurien oder dem Hochland! Und denk doch an all die, die viel ärmer sind als wir, haben die überhaupt eine Chance, durch den Winter zu kommen?“

„Im Kerker ist es vermutlich wärmer als in den Dörfern,“ machte Nalani sarkastisch. Alona war jetzt satt und ließ von der Brust ihrer Mutter ab, worauf diese ihre Bluse zu schnürte und einen verhaltenen Blick ihres kleinen Neffen fing, der sich jetzt an Nalani schmiegte und nichts sagte.

„Was ist mit dir denn?“ lächelte sie darauf, „Was starrst du denn so befremdlich, Puranchen?“ Nalani wurde auch auf das Kind aufmerksam und Puran drückte nur kopfschüttelnd das Gesicht in ihre Seite.

„Tut immer so scheu, wenn man ihn anspricht,“ sagte die Mutter und strich ihm über den Kopf, „Kleiner Schlingel du.“

„Bin ich gar nicht…“ nuschelte Puran verlegen, die Frauen kicherten.

„Sicher nicht,“ grinste Nalani nur, ehe sie sich erhob, um sich in der Küche neuen Kaffee zu machen. „Bleib hier, Schatz, ich bin gleich zurück.“

„Ja,“ machte Puran artig, als sie ging. Dann saßen er und Sukutai da und schwiegen sich eine Weile an, bis die Frau ihn ansprach.

„Willst du gar nicht spielen? Ist das nicht langweilig bei uns alten Tanten herum zu hocken?“

„M-mh,“ schüttelte er den Kopf und setzte dann rasch nach: „Nein, Tante.“ Nalani hatte ihm beigebracht, mit Worten und nicht mit Lauten zu antworten. Insgeheim antwortete er lieber ohne Worte, aber er bemühte sich, zu tun, was Mutti ihn lehrte, denn Mutti hatte sicher recht.

„Na, wie du magst,“ lachte Sukutai, „Dann trinkst du mit uns fein Tee.“ Der Kleine verknotete seine Finger und senkte den Kopf.

„Ich mag gar keinen Tee, Tante,“ sagte er dann leise, und sie seufzte lächelnd.

„Natürlich, du bekommst dann etwas anderes. Was hättest du denn gern?“ Sie strahlte ihn an und er kam zu ihr herüber, setzte sich dicht neben sie und strich vorsichtig seiner Cousine über den Kopf. Dabei schmiegte er sich an seine Tante, als wäre sie seine Mutter. „Nanu?“ machte Sukutai lachend und strich ihm durch die braunen Haare. Baby Alona gab auf ihren Armen undefinierbare Geräusche von sich und machte Blasen mit dem Mund.

„Tante…?“ nuschelte der Kleine dann verlegen und schmuste sich weiter an ihre Seite. Offenbar war er nicht sicher, ob er fortfahren sollte, er zögerte lange. Sukutai wollte gerade den Umstand nutzen, Telepathin zu sein, und seine Gedanken lesen, da rückte er schon von selbst mit der Sprache raus. „Darf ich… bei dir trinken?“

Sie sah ihn verblüfft an. Eine Blase vor Alonas Mund platzte mit einem leisen Plopp.

„W-was?“ fragte die Frau verwirrt und verlagerte das Gewicht des Babys, „Puranchen, dafür… bist du doch längst zu groß!“

„Das sagt Mutti auch,“ gab er beschämt zu und drückte das Gesicht an ihren Bauch, „Mutti sagt, ich darf nicht mehr…“

„Dann solltest du auf Mutti hören,“ erwiderte Sukutai, „Die Milch in meiner Brust ist für mein Baby… so, wie deine Mutter früher Milch für dich hatte, als du ein Baby warst. Jetzt bist du groß und brauchst das nicht mehr.“ So ein ausgefuchster Schlingel – jetzt kapierte sie, wieso er so an ihr und Alona hing. Ob Nalani das ahnte? Wie lange brauchte die für ihren Kaffee? Sukutai wünschte sich, sie käme zurück, um ihren Sohn selbst zurechtzuweisen… wie er sie jetzt aus riesigen Augen ansah, tat es ihr im Herzen weh, ihm seinen Wunsch zu verwehren, aber sie wollte auch nichts tun, was Nalani verboten hatte, wo blieb da die Konsequenz? Es war gut, wenn er sich ganz abgewöhnte, Milch aus der Brust zu trinken, wo er doch bei Nalani schon seit fast einem Jahr nicht mehr trinken durfte. Jetzt, wo sie Alona hatte und er täglich sehen musste, wie seine Cousine Milch bekam, war die Sehnsucht nach dieser einst so geliebten Nähe einfach wiedergekommen.

„Bitte…“ nuschelte das Kind deprimiert, „Nur ganz kurz!“

„Wenn Mutti sagt, du sollst nicht, dann sollst du nicht… möchtest du deine Mutter wütend machen?“ versuchte sie es ratlos. Er ignorierte ihre Frage.

„Nur ganz kurz…“ nuschelte er bedrückt. Die Tante errötete und seufzte abermals. Das konnte sie doch nicht… das war nicht ihr Kind, es erschien ihr falsch, einem anderen Kind die Brust anzubieten. Aber er wünschte es sich so sehr…

Sie legte das Baby neben sich auf die Couch und setzte den Kleinen auf ihren Schoß.

„Ganz kurz,“ wiederholte sie und sah, wie er strahlte – verdammt, was sollte sie denn machen? Er war nur ein Kind… „Und das ist das einzige Mal, Puran. Das einzige Mal, hörst du?“

„M-hmm,“ machte er und addierte schnell: „Ja, Tante!“, ehe er artig darauf wartete, dass sie ihre Bluse wieder aufgeschnürt hatte, und er sich dann glücklich über ihre Brust beugte, um seit Langem einmal wieder die warme Muttermilch zu trinken.

„So, ganz kurz ist vorbei,“ mahnte Sukutai ihn dann nach einem kurzen Moment und schob ihn sanft von sich weg, worauf er enttäuscht maulte. In dem Augenblick kehrte Nalani zurück in die Stube. Sie musste erst mal verstehen, was ihr Sohn auf Sukutais Schoß zu suchen hatte und wieso ihre Bluse offen war, aber das ging ganz schnell.

„Was ist hier los?“ kam etwas heftiger als geplant, und Puran fuhr herum, Sukutai errötete und schnürte die Bluse wieder zu.

„E-es war nur ganz, ganz kurz, ich konnte doch nicht einfach Nein sagen, so, wie er mich angesehen hat… ich hab ihm gesagt, dass es nur ein einziges Mal ist, vergib mir, Schwester…“

„Komm runter, Puran,“ sagte Nalani erstaunlich hartherzig und Sukutai sah versorgt auf das Kind. Wenn Nalani ihn Puran nannte, war sie wütend; normalerweise war er Schatz oder Puranchen, seinen richtigen Namen benutzte sie ihm gegenüber nur, wenn es wirklich ernst wurde. „Auf der Stelle, meine ich,“ addierte sie da noch etwas strenger. Puran gehorchte und kam zu ihr, klammerte sich an ihren Rock und fing sich einen sehr sanften Klaps auf den Kopf. Sie würde ihn niemals schlagen. Schlagen war Kelars Niveau; ob Salihah ihre Söhne auch geschlagen hatte, wusste sie nicht, sie wagte nicht, danach zu fragen, und Tabari hatte zumindest nichts davon erzählt. „Was habe ich dir gesagt? Was sollst du nicht mehr?“

„Nalani…“ versuchte Sukutai, sie zu beschwichtigen, aber die Schwarzhaarige fiel ihr mürrisch ins Wort.

„Erzieh du dein eigenes Kind! – Was habe ich dir verboten, Puran?“

„Ich soll keine Milch trinken…“ nuschelte das Kind verhalten.

„Du darfst Milch aus dem Glas trinken, aber nicht aus der Brust,“ korrigierte seine Mutter ihn, strich dabei aber schon wieder tröstend über seinen Kopf, während er sich stark bemühte, nicht in Tränen auszubrechen, das merkte sie an seinem Zittern. „Das ist nur für kleine Babys gedacht, du bist dafür zu groß. Entschuldige dich bitte bei Tante Sukutai, dass du sie so beschämt hast.“ Sie drehte den Kleinen sanft zur Couch um.

„Nalani, du musst nicht…“ flüsterte Sukutai verlegen, dass der arme Kleine ihretwegen ausgeschimpft wurde.

„Entschuldige, Tante,“ sagte der Junge artig und sah zu ihr hin, dann drehte er sich rasch wieder um und versteckte sich scheu unter Nalanis Rock. Die Mutter seufzte und ließ es gut sein. Er hatte verstanden, worum es ihr ging, er würde seine Tante nicht wieder damit belästigen, da war sie sicher.

„Ist schon gut,“ sagte sie so zu ihrem Rock, „Komm wieder raus, ich bin nicht mehr böse, Schatz.“ Er kroch unter ihrem Rock hervor und kuschelte sich an ihr Bein.

„Ich hab dich lieb, Mutti,“ erklärte er feierlich. Nalani lächelte sanft.

„Ich dich doch auch, mein kleiner Liebling.“
 

Das Band war unzerstörbar. Kelar ärgerte sich schwarz darüber und in einer Nacht zu Beginn des neuen Frühlings gipfelte sein Zorn in einem gewaltigen Höhepunkt.

„Ich hasse dich! Mit meiner ganzen Seele hasse ich dich, wieso erlauben die Geister mir nicht, das Band zu zerreißen?!“ brüllte er seine neue Verlobte, die er nach einem dreiviertel Jahr immer noch nicht geheiratet hatte, an; und er meinte nicht sie, sondern seine erste Frau, die im Bad war, während er sich mit dem arglosen Mädchen zu vergnügen versuchte; die kleine Schlampe brachte ihm keine Befriedigung und Vergnügen schon gar nicht. Sie wimmerte unter ihm und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Er schlug ihr ins Gesicht. „Sieh mich an, du blöde Hure, wie kannst du es wagen, dich abwenden zu wollen, solange ich es nicht erlaubt habe?!“

„V-vergebt mir!“ heulte das Mädchen unglücklich, „Ich werde tun, was Ihr verlangt, werde ich, ja!“ Das waren Versprechen der Verzweiflung in der Hoffnung, wenigstens am Leben zu bleiben; wobei sich das Leben nicht mehr lohnte, seit sie aus Rodril entführt worden war.

Kelar beachtete sie nicht. Er stierte zornig auf sie herunter und sah in ihr plötzlich nicht mehr das Mädchen aus Rodril, sondern Salihah… seine schöne, kalte Salihah, die er einst geliebt, dann gefürchtet hatte und jetzt hasste.

Seine Salihah… die nie sein gewesen war… eher war er ihr gewesen.

Plötzlich packte ihn der Hass auf seine Frau so unverhofft heftig, dass er wutentbrannt auf das unschuldige Mädchen unter sich eindrosch, bis sie blutete und schrie. Sie flehte ihn an, aufzuhören, aber er machte immer weiter und schlug sie, bis sie nach diversen Schlägen das Bewusstsein verlor. Angewidert von ihrer Nutzlosigkeit zog er sich aus ihr zurück und setzte ihrem Leben mit einem heftigen Schlag ins Genick ein Ende, ehe er sie zornig schimpfend aus dem Bett schleuderte.

„Du abscheuliche Frau!“ brüllte er wütend und drehte den Kopf in Richtung Tür herum. „Wo bist du, Salihah, du verfluchte Drecksschlampe?! Du manipulierst das, ich weiß es genau, du sorgst dafür, dass das Band nicht reißen kann! Du bist Schuld an allem Übel, verfluchte Hexe! Ich bringe dich um! Ich bringe dich verdammt noch mal um, Salihah, und wenn ich dafür die ganze Welt zerstören muss!“ Im Rausch seines Zorns fast blind sprang er aus dem Bett, warf sich einen dünnen Stoffmantel über, um nicht nackt das Zimmer verlassen zu müssen, bevor er hinaus und ins Badezimmer zu seiner Frau stürzte. An seinen Händen klebte noch das Blut des Mädchens, als er mit einem lauten Knallen eine grell blitzende Lichtkugel darin entstehen ließ und den Zauber wütend in Richtung seiner Frau hielt, die in der Badewanne saß und jetzt emotionslos zu ihm hinauf sah. In ihrer Hand hielt sie ein Glas mit Wasser; oder vermutlich eher Laudanum, wie Kelar sich dachte. Ihr Blick war vernebelt von der Droge.

„Tu es doch…“ raunte sie und ein diabolisches Lächeln schlich auf ihre Lippen, als sie ihn an aber irgendwie auch durch ihn hindurch sah, während der Blitz in seiner Hand wild flackerte und Kelars Gesicht vor Zorn zu einer fürchterlichen Grimasse verzerrt war. „Versuch es, töte mich. Du wirst es nicht über dich bringen, Kelar, mein Lieber.“

„Nenn… mich nicht so, du Hure!“ spuckte er und riss den Arm zitternd vor Anspannung in die Luft. „Ich bin nicht dein Lieber, ich liebe dich nicht und du liebst mich nicht! Ich töte dich, ich schwöre es dir, Salihah!“

„Schwüre sind mächtig, gib acht…“ seufzte sie, „Du kannst mich nicht töten, solange du die Verbindung unserer Geister nicht zerstört hast.“

„Das werde ich!“ schnaufte er, „Ich zerstöre alle Verbindungen, die es je zwischen uns gegeben hat! Von dir wird nichts übrig bleiben, nicht einmal Staub, Salihah, ich vernichte dich mit Leib und Seele! Deine Existenz widert mich an… dein Anblick macht mich zornig, du stiehlst mir die Luft zum Atmen, die Kraft zum Leben, du Hure! Du bist Schuld an allem, du verhinderst, dass ich die komplette Macht besitze, die ich habe könnte, und du weißt, dass ich sie haben könnte… ich habe die Macht, Vater Himmel und Mutter Erde in die Knie zu zwingen, nur du… stehst dazwischen!“

Salihah trank den Rest aus ihrem Glas aus, ehe sie es auf den Boden neben die Wanne stellte und sich dann langsam aus dem Wasser erhob. Ihr nackter Körper glänzte ob der Nässe und ihre langen, schwarzen Haare klebten auf ihrer Haut. Kelar ignorierte ihre tödliche Schönheit mit aller Macht und erzitterte dabei am ganzen Körper. Er hasste sie. Er hasste sie und sich selbst dafür, dass er sie noch immer begehrte, sobald er sie nackt sehen musste. Und jetzt hätte er sich am liebsten verflucht dafür, als er spürte, wie sich sein Glied regte, nur weil sie nackt und schön wie sie war vor ihm stand, trotz ihres Rausches noch bei Sinnen. In ihren Augen spiegelte sich der Schatten seiner grausamen Seele wider und langsam senkte er die Hand. Die Blitzkugel erlosch und er schnappte zornig nach Luft, Salihah anstarrend.

Sie stieg aus der Badewanne und begann seelenruhig, sich abzutrocknen, als wäre er gar nicht da. Sie spürte seine Blicke über ihre Haut gleiten und sie wusste genau, dass er sie jetzt wollte, dass er sie am liebsten sofort an der Wand genommen hätte, aber sie ignorierte ihn gekonnt. Sie war es gewohnt, mehr zu wissen als nötig war und die Hälfte davon geflissentlich zu ignorieren.

„Siehst du,“ sagte sie trocken, „Du bringst es nicht über dich. Das Band ist noch da. Hast du gedacht, du könntest es loswerden, indem du irgendein Flittchen vom Land heiratest? Du hast sie umgebracht, die ganze Aktion war reine Zeitverschwendung.“

„Sprich nicht so respektlos, du Schlampe!“ fuhr er sie an, als sie sich, jetzt abgetrocknet, auch in einen Morgenmantel hüllte und ihm dann gegenüber stand. Sie sahen einander kaltherzig an. Salihah bedauerte es nicht mehr, dass ihre Beziehung zerstört war; vor einem Jahr vielleicht noch hätte sie sich in so einem Augenblick nach den alten Zeiten gesehnt, in denen ihre Augen Feuer gefangen hatten, wenn sie einander angesehen hatten. Einst waren es Flammen der Liebe und der Hitze gewesen, jetzt waren es höchstens welche des Hasses. Früher hatte es sie deprimiert, daran zu denken, dass die alten Zeiten vorbei waren… jetzt war es ihr gleich. Ihr Geist war genauso erkaltet wie seiner, sie empfand nichts mehr für diesen Mann; nichts abgesehen von Scham, so ein gestörtes Monster zum Mann zu haben. Sie schämte sich für ihre und seine Vorfahren gleichermaßen, dass sie zulassen musste, dass er die Familie so entehrte und den Ruf seines mächtigen und einst verehrten Clans ruinierte. Die Menschen fürchteten den Namen Lyra, sie begannen zu tuscheln und verwünschten die Familie heimlich, wenn sie glaubten, niemand würde es merken. Salihah verübelte es ihnen nicht… Kelar nahm ihnen alles weg, natürlich hassten sie ihn. Es musste ein Ende finden, und zwar schnell.

Kelar war wütend auf seine Unfähigkeit. Wieso konnte er sie nicht einfach erschlagen? Wieso konnte er sie nicht zerfetzen? Wenn sie endlich tot war, hätte er endlich die Macht, die ihm zustand, die die Geister ihm verwehrten… er fragte sich, ob er ihr ihre Sehensgabe rauben könnte, wenn er sie tötete… Das Verlangen nach dieser unerreichbaren Macht wurde stärker in ihm, und von ungebändigtem Zorn getrieben fuhr er plötzlich nach vorne, packte seine Frau und stieß sie mit Gewalt gegen die Wand. Er griff ihren Hals und schnürte ihr mit den Händen wütend die Kehle zu, während sie keuchte und ihn anstarrte.

„Ich sage es dir!“ zischte er, „Ich schwöre es, Salihah… entweder, du beugst dich mir… du wirst mein… oder du wirst brennen, ich zerstöre dich! Unterwerfe dich, Weib, dann verschone ich dich… dann verschone ich vielleicht sogar deinen Liebling Chimalis, hmm…?“ Er grinste gehässig und Salihah schnaubte.

„Ich lasse mich nicht kaufen. Und noch weniger werde ich mich jemals deinem Wahnsinn beugen!“

„Dann… hast du soeben dein Todesurteil unterzeichnet!“ knurrte er und drückte fester zu. Sie gab einen erstickten Laut von sich, rührte sich aber ansonsten nicht. Sie sah ihn nur aus ihren benommenen, vernebelten Augen an, während sie den Schmerz zunehmen spürte. Er blendete sie und machte sie taub und stumm, gleichzeitig spürte sie, wie ihr die Luft wegblieb.

Da war der Schatten, sie konnte ihn deutlich sehen… er würde sie alle verschlingen.
 

Zurück bleiben würden Staub und Flammen.
 

Die Tür flog auf und Kelar spürte, wie er von hinten gepackt und zurück gezerrt wurde.

„Was ist hier eigentlich los?!“ fauchte Tabari, der gekommen war und seinen Vater jetzt davon abhielt, seine Mutter zu erwürgen. Kelar fauchte auch und fuhr wütend herum, Salihah lehnte sich stöhnend gegen die Wand. „Seid ihr verrückt geworden?!“ fragte Tabari erbost, „Vater, bist du von Sinnen, was sollte das werden?!“

„Lass, Tabari…“ seufzte seine Mutter beschwichtigend und griff nach ihrem schmerzenden Hals. Kelar riss sich los und schlug nach Tabari, aber der Blonde war geschickt genug, auszuweichen.

„Wage es nicht, dich mir in den Weg zu stellen!“ warnte er den Sohn, „Ich bringe euch alle verdammt noch mal um! Ich schwöre es dir, Weibsbild… egal wie, ich bekomme meine Macht, und wenn ich dich in Stücke reißen muss!“
 

Salihahs Kopfschmerzen kehrte mit dem Schatten zurück über das Land, und wie der Schatten düsterer wurde, wurden ihre Augen schlechter, wurde ihr Kopf schwerer und schmerzerfüllter. Und es kam schlimmer, als die Hinrichtungen sich wieder häuften und die Steuern abermals erhöht wurden, inzwischen war es den wenigsten möglich, diese Summe an grünen Edelsteinen regulär zu zahlen. Kelar Lyra ließ an der südlichen Grenze, die die Halbinsel Lyrien von Anthurien und Kadoh trennte, einen Wall errichten, damit niemand es wagte, ins Land herein oder aus dem Land hinaus zu kommen. Im Sommer war es dann soweit, dass die Unruhen in Dokahsan bis in die Hauptstadt Vialla vordrangen, und das war übel, wo Zoras und Salihah sich doch bemüht hatten, ihr Senatoren-Spielchen beim Rat des Königs aufrecht zu halten. Was in der Provinz Dokahsan vor sich ging, wollte dem König von Kisara gar nicht gefallen. Kelar verhinderte erfolgreich, dass Salihah oder der Rat der Geisterjäger mit dem König Kontakt aufnehmen oder ihn beschwichtigen konnten; sollte der alte Kauz in Vialla doch toben, sollte er kommen und seine Armeen schicken, um Ordnung in seine Provinz zu bringen! Sie alle würden sich dem Willen der Mächte der Schöpfung unterwerfen müssen!

„Dieses Land ist keine Provinz von Kisara!“ verkündete der Herr der Geister grimmig, „Dieser Vertrag kann mir gestohlen bleiben! Ich bin der Herr über Vater Himmel und Mutter Erde! Sollen wir Angst haben vor einem Idioten aus Vialla?! Ich sage Nein! Sollen wir Angst haben vor einer Armada im Süden?! Ich sage Nein! Wir haben Anthurien geschlagen, wir werden alle schlagen, die es wagen sollten, den Wall zu überqueren!“
 

Salihah war nicht dabei gewesen, während Kelar in Yiara vor dem Senatsgebäude wie immer das Volk gegen den Rest des Landes aufgehetzt hatte. Aber sie wusste, was er gesagt hatte, wie sie es immer wusste, während sie im Schloss am Stubenfenster stand und apathisch hinaus starrte. Der Himmel grollte seit Tagen böse über dem Land. Es war duster draußen, obwohl es Sommer geworden war.

Wenn das so weiter geht, werden wir alle sterben… waren die Gedanken der Frau, und sie lauschte stumm dem Grollen des Himmels. Sie bemühte sich nach Kräften, ihr altes Buch über Seelenkontrolle zu studieren, aber je länger sie es tat, desto schwerer fiel es ihr. Die Geister machten es ihr nicht leicht… sie schwächelte, wenn Kelar daheim war, ihre Kopfschmerzen kamen und gingen, aber sie gingen seltener als sie kamen. Keisha hatte ihr Tabletten aus Yiara besorgt, die angeblich dabei helfen sollten, sie von dem Laudanum weg zu bringen; bislang hatte die Frau kaum eine Wirkung bemerkt, aber sie war geduldig.

Wenn ich das hier… hinter mich bringen will… muss ich kämpfen. Wenn ich das hier hinter mich bringen will, muss… ich standhaft bleiben. Ich darf nicht zusammenbrechen, egal um welchen Preis. Letzten Endes… ist das mein Schicksal. Sie sah etwas höher in den Himmel und verengte die blauen Augen zu Schlitzen. Ich bin die Seherin… und ich wurde für diese Aufgabe geboren. Nur für diese Aufgabe haben… die Geister mir diese Sehensgabe verliehen… diese Macht, die niemand außer mir beherrschen können wird. Niemand auf ganz Tharr.
 

Draußen war es schwül. Die Luft war heiß und drückend unter dem dunklen, grollenden Himmel. Die Familie war im Garten. Der kleine Puran, jetzt über viereinhalb Jahre alt, versuchte sehr energisch, seiner kleinen Cousine das Laufen beizubringen. Alona war jetzt ein Jahr alt. Sie konnte stehen, aber nur, solange sie sich irgendwo festhalten konnte. Zum Laufen war sie offenbar nicht sehr motiviert. Der Cousin schob sie und zog sie quer durch den Garten, wobei Alona erst wie instinktiv tatsächlich ganz schnell die Füßchen tapsig voran bewegte, aber weil er viel zu schnell war, fiel sie schnell um und wurde dann johlend durch den Garten geschleift.

„Puran, langsamer!“ mahnte Tabari ihn empört, während der Kleine seine strampelnde Cousine hinter sich her schleifte.

„Sie geht nicht richtig!“ empörte Puran sich und schleifte sie weiter, „Sie fällt immer um, sie lässt sich dauernd ziehen!“

„Nein, das ist, weil du zu schnell gehst!“ machte sein Vater. Der Kleine zog seine Cousine vorbei an der lachenden Sukutai und vorbei an Nalani und Kiuk, die gemeinsam über den tausend Pergamenten voller Stammbäume hockten und versuchten, die Annalen der Familie zu vervollständigen.

„Latscht bitte nicht über die Zettel, hörst du, Puran?“ keuchte Kiuk entsetzt, Nalani schüttelte seufzend den Kopf.

„Das würde er nicht wagen,“ sagte sie, und Kiuk kratzte sich am Kopf. Das war eine langwierige und komplizierte, aber spannende Arbeit, die er sich vorgenommen hatte, Nalani hatte sich vor einigen Wochen entschlossen, ihn dabei zu unterstützen, weil sie sich auch für die Ahnenforschung interessierte. Auf dem Tisch fanden die vielen Manuskripte keinen Platz, daher hatten sie alles auf dem Boden der Terrasse ausgebreitet.

Die Kinder johlten und Puran zog seine kleine Cousine amüsiert weiter durch den Garten, einmal im Kreis herum, bis er am Weg ankam, der an der Seite des Schlosses entlang nach vorn zum Tor führte, dort hielt er unvermittelt an, als sich ihm plötzlich ein Berg in den Weg stellte. Die Kinder verstummten, Tabari erhob sich.

„Vater,“ grüßte er Kelar, der da am Seitengang stand und gerade angekommen war. Der Herr der Geister warf einen herrischen Blick in die Runde, zuletzt blickte er auf seinen Enkel, der stocksteif vor Schreck, plötzlich vor dem gefürchteten Großvater zu stehen, da stand und Alona vor Schreck losließ. Kelars Blick wurde seltsam mild.

„Du schaust aber erschrocken, kleiner Mann!“ sagte er, „Ich tue dir schon nichts! Ich bin doch dein Großvater, ich hab dich doch gern!“ Puran biss sich auf die Oberlippe und sagte kein Wort, er wich dem starren Blick aus den hellen Augen unterwürfig aus und machte einen Schritt rückwärts. Nalani im Hintergrund stand jetzt alarmiert auf. Sie beobachtete die Szene wie eine wachsame Löwin, die nichtlassen würde, dass ihrem Jungen etwas zustieß.

Wage es, Kelar! zischte sie innerlich kochend vor Zorn, Wage es und sieh mein Kind nur an auf eine Art, die mir missfällt, und ich drehe dir deinen dreckigen Hals um…

Kelar tat nichts, was verboten gewesen wäre. Er tätschelte dem kleinen Puran behutsam das Köpfchen.

„Du bist artig, mein Junge,“ lobte er das Kind grinsend. „Bald bist du groß genug, dass ich dich mal mit hinaus auf die Jagd nehmen kann, die Söhne unserer Familie haben alle schon von Kindesbeinen an gelernt, wie man Wild erlegt, es ist ein wichtiges Nahrungsmittel für uns Menschen. Was denn, Tabari, er ist schon fast fünf, du solltest wirklich damit anfangen, ihn einzuweisen, oder?“ Tabari seufzte.

„Er ist noch viel zu klein, um einen Speer tragen zu können, Vater. Er wird es erst theoretisch lernen.“

„Pff,“ machte Kelar und schritt an seinem Sohn vorbei ins Schloss, „Theoretisch, sagst du! Ja, ja, das ist der Grund, wieso nie jemand vorankommt hier. Alles geht theoretisch. Wo bleibt die Praxis, frage ich mich?“
 

„Du willst also wirklich dem König gegenüber in die Offensive gehen?“

„Versuch nicht, mir dumme Ratschläge zu geben, Weib. Diese Idioten aus dem Hochland können mir nichts, Salihah! Ich… beherrsche die Geister! Ich beherrsche die Mächte der Schöpfung!“ Salihah sah ihren Mann skeptisch an. Obwohl sie sich hassten, teilten sie sich immer noch das Bett im Schlafzimmer. Manchmal vereinten sie sich auch; aber dann war es kein zärtliches Liebesspiel, sondern nur eine wilde Auslebung tierischer Triebe. Jetzt lagen sie nach einer dieser Auslebungen nackt beieinander, ihre Atmung war noch leicht unregelmäßig. Salihah war benommen von ihrer Medizin und vom Wein, von dem sie beim Essen wohl etwas zu viel getrunken hatte, wie sie sich jetzt dachte, als sie versuchte, ihren pochenden Schädel zu ignorieren. Eigentlich war sie eine gute Trinkerin und hatte zumindest früher einmal mehr vertragen als ihr Mann; wenn Kelar sturzbetrunken und singend am Boden gelegen hatte, war sie noch klaren Verstandes gewesen, aber die Zeiten hatten sich geändert. Ihr Körper war am Ende seiner Kräfte und würde über kurz oder lang zerfallen, das wusste sie… und das war das einzige, woran sie im Rausch ihrer Betrunkenheit und ihrer Befriedigung denken konnte, während sie den Kopf stöhnend zurücklehnte und zuließ, dass ihr verhasster Mann, diese Bestie, ihren Hals biss und mit der Zunge über ihren Körper fuhr. Sie sah ihn nicht, weil es um sie herum duster geworden war. Sie hörte seine Stimme kaum, weil alle Töne dumpf und weit entfernt klangen, als wäre sie in Trance, um einen schwierigen Zauber auszuführen.

„Ich habe dir prophezeit, Kelar, dass dein Clan untergehen würde… und er wird es tun, ich sehe den Schatten noch immer am Horizont. Wenn du jetzt aufhörst und dich vor diesem König verneigst… erspart das uns allen viel Ärger, vor allem dir. Ich warne dich nur einmal… du weißt, wann du auf mich hören solltest, Kelar.“

Er brummte missbilligend, ehe er sich über sie rollte und sie verärgert anstierte. Er wollte sie schlagen, er wollte sie tot schlagen wie die Sklavin vor einigen Monden, er wollte, dass es ihm egal war… aber es war nicht egal. Wenn er die Hand hob, schaffte er es nie, sie wieder zu senken und seine Frau damit zu erschlagen. Bisher.

Ihr Geister des Himmels und der Erde! Ihr werdet knien vor mir und ich werde euch zwingen, zu tun, was ich verlange… ihr werdet dieses Band lösen, dazu werde ich euch zwingen! Und wenn ich euch dafür eigenhändig in Stücke reißen muss… ihr werdet zulassen, dass ich sie töte, und zwar schon… sehr bald.

Damit setzte er sich auf, jetzt über ihr kniend, und sie seufzte und schloss die Augen, als die Kopfschmerzen ihr beinahe das Bewusstsein raubten.

„Dumme Nuss,“ tadelte Kelar sie, „Du hast zu viel getrunken. Irgendwie bist du erbärmlich, wenn du so sternhagelvoll unter mir im Bett liegst wie eine besoffene Nutte.“

„Der Wein war nur ein seltsam energischer Jahrgang,“ seufzte sie und rieb sich die Schläfen.

„Jetzt ist noch der teure Wein Schuld, der kommt aus Dobanjan, du solltest stolz sein, sowas edles trinken zu dürfen, du notgeile Nymphe.“

„Dobanjan…?“ stöhnte Salihah und öffnete blinzelnd die Augen, während er zum Nachttisch langte und das Glas und die Laudanumflasche holte, um ihr ein Glas Wasser mit Medizin zuzubereiten. „Das Zeug aus Dobanjan ist die Hölle, der Wein aus Janami ist viel besser. Zu dem Schmodder aus Dobanjan kannst du auch gleich Schnaps sagen, das Zeug hat mehr Alkohol als es haben sollte. Kein Wunder, dass ich so daneben bin…“

„Ach, du bist eine Frau und hast von Wein keine Ahnung!“ schnauzte er sie an, ehe er im Bett hinter sich in seiner Hemdtasche herum wühlte, bis er eine kleine, flache Dose fand. Sie beinhaltete ein wenig weißen Pulvers, das er jetzt achtlos in das Medizinglas kippte und jenes leicht hin und her schwenkte, bis sich das Pulver aufgelöst hatte. „Hier…“ Er hielt es ihr hin und zog sie hoch, bis sie halbwegs saß. „Trink, Weib, deine Drogen gegen Kopfschmerzen. Ich kann dich nicht gebrauchen, wenn du so nutzlos und krank bist!“

„Huh…“ Salihah murrte, nahm aber zitternd das Glas. Ihre Augen waren glasig, als sie zu ihm blickte, und er dachte für einen Moment, sie wäre vielleicht erblindet, weil sie ihn überhaupt nicht ansah, obwohl ihre Augen offen waren. Ein Lächeln schlich auf seine Lippen.

Bald werden deine Augen mir gehören, Salihah… alles an dir wird mir gehören… so, wie mir Himmel und Erde gehören!

Er strich ihr gespielt zärtlich über die heiße Stirn. Sie bekam wieder Fieber, wie es aussah… sollte sie doch. Es war ihm gleich. Sie hob keuchend das Glas an ihre Lippen und er beobachtete sie angespannt.

„Trink endlich, verdammt! Du befriedigst mich nicht, wenn du so daneben bist, ich will, dass du bei Verstand bist, wenn ich dich nehme, und ich bin noch nicht fertig mit dir!“

„Der Herr hat ziemlich hohe Ansprüche…“ murmelte seine Frau und ihr Blick wurde kalt, obwohl sie immer noch ins Nichts sah. „Ich… sehe Schatten… in der Dunkelheit, Kelar… ich sehe überall… Tod.“ Damit kippte sie sich die grausame Medizin mit dem Pulver, von dem sie nichts wusste, in den Hals, im selben Moment grinste ihr Mann zufrieden. Sie sank zurück in die Kissen und keuchte plötzlich schwer, als sie die Lider senkte und zu zittern begann.

„Ja…“ sagte er, „Ich sehe auch nur Tod, Salihah. Schlaf gut, meine schöne Frau… es wird dein letzter Schlaf sein.“

„W-was… was hast du mir… da angedreht…?!“ keuchte sie und ließ das Glas fallen. Es rollte aus dem Bett und zerschellte klirrend. „Was war das für ein Höllenzeug, Kelar…?“ Ihr schwindelte und die Dunkelheit um sie herum nahm drastisch zu. Sie spürte, das es ihr schwer fiel, sich zu rühren, als ihre Lider ganz zu fielen und sie kaum mehr zu sprechen vermochte. Der bittere Geschmack der seltsamen Medizin war noch in ihrem Mund. Ihr wurde übel. „Schlafpulver…“ keuchte sie benommen, „Oder Schlim…mer…es…“

Dann sagte sie nichts mehr.

Kelar stieg zufrieden von ihr herunter und fühlte ihre heiße Stirn. Das Fieber musste hoch sein, zusammen mit dem Alkohol, der Droge und dem Schlafmittel dürften die Auswirkungen allein schon beinahe tödlich genug sein; aber das war nicht die Art Tod, die er für sie wollte. Sie war sein größtes Problem, sie brauchte einen angemessen grausamen Tod, einfach einschlafen war nicht spektakulär genug. Er wollte, dass die Welt erfuhr, dass er sie tötete, und er würde es tun… er würde die Geister dazu zwingen. Und wenn nicht hatte er immer noch einen Zeiten Plan… dieses Mal würde er sie endlich los werden.

Er stieg aus dem Bett und zog sich seelenruhig an. Salihah zog er immerhin ihre Unterwäsche an, dann nahm er sie auf seine Arme und trug sie aus dem Schlafzimmer.

Draußen zirpte irgendwo eine Grille.
 

Ein lautes Donnergrollen riss Nalani aus ihrem unruhigen Schlaf. Keuchend setzte sie sich in ihrem Ehebett auf und fuhr sich über das verschwitzte Gesicht.

Staub und Flammen, Nalani, zischten die Geister in ihrem Kopf noch immer, und noch immer sah sie die blitzenden Flammen über der Stadt aus ihrem Traum.

Tabari neben ihr regte sich ebenfalls und öffnete schlaftrunken die Augen. Er sah seine Frau aufrecht im Bett sitzen und drehte sich verwirrt zu ihr.

„Was hast du?!“ wollte er wissen, „Hast du was Schlimmes gesehen?“ In dem Moment hörte er draußen ein lautes Donnergrollen, das ihm durch Mark und Bein ging, als wäre es die zornige Stimme des Vater Himmel selbst. Er schrak auch hoch, in dem Moment sprang Nalani in Windeseile aus dem Bett und zog sich an.

„Rasch!“ rief sie, „Irgendetwas passiert, die Geister warnen mich! Weck Kiuk und Sukutai!“ Tabari keuchte, als sie schon aus dem Zimmer rauschte. Draußen blies ein mächtiger Sturm um das Schloss und es gewitterte.

„Was für ein Himmelszorn,“ stöhnte der Blonde beunruhigt und fing auch schnell an, sich anzuziehen, um seinen Bruder zu wecken. Nalani sah in Visionen meistens mehr und deutlicher als er, ihre Sehensgabe war stärker als seine, das war sie immer gewesen. Wenn sie sich so aufregte, hatte das seinen Grund.

Nalani holte ihren Sohn aus seinem Bettchen. Das Gewitter hatte Puran schon aufgeweckt und er kauerte verängstigt in der Ecke des Bettes, als sie ihn holte. Mit vor Schreck weit aufgerissenen grünen Augen starrte er seine Mutter apathisch an, als sie ihn auf den Armen eilig durch das Schloss trug.

„Böse Dinge kommen!“ keuchte er wieder, wie damals bei Alonas Geburt. „D-die Geister, sie machen Feuer, Mutti!“ Nalani keuchte.

„Ich weiß!“ machte sie, ehe sie zum Schlafzimmer ihrer Schwiegereltern rannte, um Salihah zu holen – die Tür stand offen. Verwirrt blieb die junge Frau stehen und spähte hinein. Niemand war dort. „Salihah?!“ schrie sie laut, aber niemand antwortete ihr. Sie erbleichte. Was war hier los? Wo war sie, und wo war Kelar? „Salihah, wo bist du?!“ schrie sie erneut. Puran klammerte sich unsicher an seine Mutter und sah über ihre Schulter, wie sein Vater, Onkel Kiuk und Tante Sukutai mit Alona ankamen.

„Was ist los?“ fragte Sukutai hysterisch.

„Salihah ist weg und Kelar auch, die Tür stand offen, wo mögen sie hin sein?“

„Was, weg?!“ rief Tabari und überzeugte sich selbst. „Was hast du gesehen in deinem Traum, Nalani?“ Nalani keuchte abermals.

„Staub und Flammen,“ sagte sie dumpf, „ Feuer über Yiara und dem Senatsgebäude. Ich weiß nicht, was die Geister mir sagen wollen, aber wir sollten uns beeilen und nach Yiara gehen! Kelar wird sicher irgendwas Dummes anstellen-…“ Sie unterbrach sich, als ihr plötzlich wie durch eine Eingabe der Himmelsgeister einfiel, was sie die ganze Nacht über beschäftigt hatte.

„Die Geister verbinden uns über ein seelisches Band, dass es uns unmöglich macht, einander zu sehr zu schaden. Und Kelar… versucht mit aller Macht, dieses Band zu zerreißen.“
 

„Zerreißen?!“ machte die Frau und riss den Kopf herum, Puran erschrak sich auf ihren Armen und schrie auch, worauf die anderen zurückfuhren. Die Frau sah Kiuk an. „Rasch! Wir brauchen Teleport, um schnell genug nach Yiara zu kommen! Ich fürchte Schlimmes, w-wir müssen in Tuhuli stoppen und Zoras und Nomboh mitnehmen, wir müssen irgendetwas tun!“

„Was denn tun?! Was passiert, Nalani?!“ japste Kiuk, seinen Worten folgte ein lautes Grollen aus dem schwarzen Nachthimmel. Tabari sah seine Frau auch ernst an, und sie senkte kalt den Blick.

„Wenn wir nicht schnell genug sind und alle benachrichtigen… dann wirst du deine Mutter vielleicht nicht lebend wiedersehen, Tabari.“
 

Sie ließen die Kinder bei Sukutai zu Hause. Sie mitzunehmen wäre allen nur eine Belastung gewesen, vor allem Kiuk, denn je mehr Menschen er teleportieren musste, desto schwerer war es. Aber sich selbst mit Tabari und Nalani nach Tuhuli zu Chimalis‘ zu teleportieren war kein großes Problem. Letzten Endes war er der Sohn seiner Mutter und seine Fähigkeiten in der Kunst der Seelenmagie waren sehr groß.

„Nach Yiara?!“ keuchte Nomboh, als Nalani von ihrem beunruhigenden Traum berichtete und von ihrem Vorhaben, nach Yiara zu gehen. „Was hat dieser Wahnsinnige denn jetzt vor, das Senatsgebäude zertrümmern? Und das im Morgengrauen…?“ Vom Morgengrauen war kaum etwas zu sehen. Der Himmel war schwarz von den Gewitterwolken und der Sturm fegte über die Stadt, während alle vor der Tür des Anwesens standen.

„Wenn Kelar in Yiara ist und Salihah verschwunden ist, ist das übel,“ war Zoras Chimalis‘ Kommentar, und er schob seinen Bruder zu den Lyras und zerrte Keisha hinter sich her. „Meoran, du bleibst hier, Keisha kommt mit. Kriegst du uns so alle nach Yiara, Kiuk?“

„Sicher,“ machte der Braunhaarige und schüttelte seine Hände aus.

„Wenn Kelar Salihah was antut, wird es vielleicht nie wieder Morgengrauen geben,“ addierte Zoras noch grantig, Tabari schnappte entsetzt nach Luft und Nalani drehte den Kopf zu dem Schwarzhaarigen.

„Dann wird es vielleicht nie wieder irgendwas geben. Benachrichtigt die anderen Geisterjäger, zumindest Kohdars, die sowieso in Yiara sind. Kiuk, bring uns rauf, und zwar schnell!“
 

Das Donnergrollen erfüllte den frühen Morgen in der Stadt Yiara. Als Salihah die Augen benommen öffnete, war das erste, das sie wahrnahm, grauenhafte Schmerzen, und verblüffenderweise nicht nur im Kopf, sondern auch am Rumpf und in den Armen. Sie blinzelte und sah zunächst nur verschwommene Silhouetten um sich herum, die sich in Finsternis auflösten. Flüsternde Schatten schwirrten um sie herum, versuchten, sich ihrer zu bemächtigen und wollten in ihren Körper eindringen. Sie wand sich stöhnend oder versuchte es, unfähig, sich groß zu bewegen. Irgendetwas berührte ihre Arme, die über ihren Kopf erhoben waren, glitt dann hinab über ihren Oberkörper, ihre Brüste und zu ihren Hüften, wo es plötzlich verschwand. Sie öffnete abermals heftig keuchend die Augen und nahm jetzt mit pochendem Schädel ihren Mann direkt vor sich wahr. Sie stand aufrecht, irgendetwas hielt ihren Rumpf fest und schnürte ihre Taille zusammen.

„Aah…“ machte Kelar erkennend und grinste sie an, „Du bist wach, Salihah… wie schön, dann kannst du selbst miterleben, wie ich… dich töte!“

Sie schnappte benommen und noch immer wie betäubt vom Schlafmittel und von der Wirkung der Drogen nach Luft. Jetzt sah sie langsam klarer und erkannte eine Stadt hinter Kelar, der grinsend vor ihr stand.

„Wo sind wir…?!“ japste sie und versuchte, sich zu bewegen. Als sie an sich herab sah, erkannte sie die Ursache für ihre Schmerzen um die Taille, weil sie an eine Säule oder etwas Ähnliches gefesselt worden war, die Arme über ihrem Kopf ebenfalls zusammengeschnürt und an das Ding hinter ihr gebunden. Sie wollte Kelars Stimme nicht hören und versuchte, die Antwort in seinem Gesicht selbst zu lesen, aber es war unmöglich. Sie hatte keine Kraft, sich auf Magie zu konzentrieren, sie konnte kaum die Augen offen halten. Diese Drogen brachten sie um…

„In Yiara,“ antwortete er ihr netterweise und trat zurück, „Am Fahnenmast vor dem Senatsgebäude. Dein Tod wird total symbolisch, ich hab das Banner von Kisara gehisst, das wird gleich mit dir sterben. Und ganz Yiara… wird zusehen und ich werde endlich die Macht haben, die mir gebührt!“ Sie keuchte und sah flackernd zu ihm herüber. Tatsächlich sah sie jetzt aus den Gassen um den Platz vor dem Senat herum vereinzelt Menschen kommen, die murmelnd stehen blieben und das Spektakel betrachteten. Wann band der selbsternannte König schon eine Frau an den Fahnenmast am frühen Morgen? Auf diesem Platz hatten viele Hinrichtungen stattgefunden, aber normalerweise ließ Kelar eine Guillotine oder einen Galgen aufstellen, wenn wieder jemand aus dem Gefängnis dran war. Das hier war anders. Salihah sah, wie Mütter ihre Kinder wieder zurück in die Häuser schickten und wie Fensterläden geschlossen wurden.

„Du Monster…“ stöhnte sie und schloss bebend die Augen, „Ich bin ja gespannt, wie weit du kommst. Du kannst mich nicht töten, Kelar.“

„Oh doch, ich kann das,“ widersprach er ihr grimmig und hob vom Boden einen Kanister auf, mit dem er auf sie zu kam. Sie spuckte und hustete, als er amüsiert den ganzen Kanister Öl über seine Frau goss und sie triefnass und fettig am Mast stand und bitterböse zu ihm hinauf starrte. Er beugte sich über ihr glänzendes Gesicht und strich ihr kichernd durch die öligen Haare, die ihr jetzt über die Schultern hingen. „Fürchtest du dich, Salihah, meine Schöne…? Oh, es ist gut… es ist gut, dich einmal… ein einziges Mal als meine Sklavin zu haben, gefesselt und unfähig, dich zu wehren… so gefällst du mir, wunderschöne Salihah…“ Sie spuckte ihm ins Gesicht.

„Tu es, versuch es!“ verlangte sie, „Wie ironisch, mich mit Öl zu übergießen und mich anzuzünden. Man könnte beinahe sagen, du machst mich nach!“ Er strich ihr über das Gesicht und beugte sich näher zu ihr, dass er sie beinahe geküsst hätte.

„Shh… du wirst wütend… die Leute werden gerne wütend, wenn sie Angst haben… du fürchtest dich, weil du weißt, dass ich es tun werde… weil du weißt, dass ich es kann… ich zerstöre das ewige Band zwischen uns, ich befehle es den Himmelsgeistern! Und du wirst brennen… genau wie die Flagge von Kisara, lichterloh werdet ihr beide brennen und die Leute erden wissen, dass meine größte… Widersacherin… die hübsche Führerin des Telepathen-Ordens… durch meine Hände gestorben ist! Wie dumm, dann müssen die Telepathen ja schon wieder diskutieren, wer neues Oberhaupt wird! Ihr Diplomaten seid so lächerlich…“ Er lachte markerschütternd und entfernte sich von seiner Frau. Sie keuchte und erzitterte, während sie ihm erzürnt nachsah.

„Die Geister werden dich strafen, Kelar… ich habe keine Angst vor dir!“ zischte sie. „Ich werde stolz hier stehen und dich im Moment meines Todes verfluchen, falls er eines Tages kommen sollte… du wirst es nicht tun!“

Kelar drehte sich erstaunlich guter Laune zu ihr um.

„Hmm… mag sein. Und wenn das der Fall ist, habe ich noch eine zweite Hand, die es für mich tun wird.“

Er ließ den Blick nach links schweifen und Salihah sah nur schemenhaft vor ihren inneren Augen den alten Wachturm, der einige Fuß neben dem Senatsgebäude von Yiara stand. Sie nahm für den Bruchteil eines Moments einen Schatten eines Mannes auf dem Dach des Turmes wahr, und obwohl sie ihn nicht richtig gesehen hatte, wusste sie bescheid. Ein Lächeln schlich auf ihre Lippen.

„Klug, Kelarchen,“ sagte sie, als spräche sie mit einem Kind, „Denmor auf den Wachturm zu setzen, hmm? Und ich lehne mich mal ganz weit aus dem Fenster und nehme an, er wird den Part des Anzündens für dich übernehmen, wenn du es nicht schaffst…“

„Du hast… ja keine Ahnung,“ schnarrte ihr Mann gehässig und verengte die Augen zu lauernden Schlitzen, den leeren Ölkanister zu Boden werfend.

Inzwischen hatte sich eine richtige Traube von Menschen um den Platz gebildet, die mit gehörigem Abstand leise und ehrfürchtig murmelnd da standen und verdutzt auf das seltsame Schauspiel starrten, das sich ihnen bot.

„Was macht er denn mit dem Fahnenmast?“ fragten einige verhalten, oder:

„Ist das nicht seine Frau, die er da fesselt?!“ Kelar fuhr zur Menge herum und die Menschen schraken keuchend zurück.

„Seht sie euch an, diese Hexe, diese elende Verräterin!“ rief er laut und riss unter seinem Umhang eine Fackel hervor, die er hoch in die Luft schwang. „Sie entehrt die Geister von Himmel und Erde mit ihrer schändlichen Perversität! Sie ist Schuld an allem Unheil, an Vater Himmels ewigem Zorn!“ Der Himmel krachte laut über ihm und die Leute fuhren hoch, als der Herr der Geister seine Fackel wieder herunter riss und die freie Hand hob, darin mit dem Feuerzauber Vaira eine große Flamme entstehen lassend. „Tod, sage ich!“ schrie er energisch, „Hier und jetzt wirst du sterben, Salihah, ich schwöre es im Angesicht von Himmel und Erde! Es gibt… kein Band zwischen uns!“ Die Leute keuchten vereinzelt, als er die Flamme in seiner Hand auf die Fackel übertrug und der Stab zu brennen begann. Der Mann drehte sich zu seiner Frau um und betrachtete sie. Selbst gefesselt, halb nackt und mit Öl übergossen war sie noch schön, war sie noch anmutig und so voller Stolz, als sie das Gesicht hob und schweigend zu ihm hinauf sah. „Heute ist der Tag, an dem der Zorn von Himmel und Erde… verfliegen wird!“ zischte Kelar Lyra energisch, während er seiner Frau in das schöne, blasse Gesicht sah.

„Nein…“ machte sie kalt, „Heute ist der Tag, an dem der Zorn erst beginnen wird, Kelar.“
 

Er zögerte.

Er stand direkt vor ihr, er müsste nur die Fackel in ihre Richtung halten, sobald das Öl Feuer fing, würde die ganze Frau in Flammen stehen. Aber er stand da und sie schauten wortlos einander an, während die Einwohner von Yiara hinter ihnen die Luft anhielten.

Tu es! befahl er sich selbst verbissen, Ihr Geister! Ihr habt mir zu Füßen zu liegen! Ihr habt mir zu gehorchen, ich bin euer Meister! Löst das Band, lasst zu, dass ich es tue! Das ist ein Befehl!

Salihah war so gütig, nicht zu sticheln. Sie hob das Gesicht herrisch in den Himmel, während vor ihren Augen die Flammen der Fackel tanzten, die Flammen, die ihr den Tod bringen sollten.

Das Band ist noch da… du bist wahrlich ein Dummkopf, Kelar. Du kannst das Band nicht auf diese Art lösen… es ist keine Sache der Himmelsgeister, sondern deiner eigenen Seele.

Er keuchte und schnappte angestrengt nach Luft. Seine Hand mit der brennenden Fackel zitterte. Allmählich begannen die Menschen wieder zu murmeln und wunderte sich, wieso er so lange wartete. Was war denn?

„Ich habe es geschworen!“ zischte der Mann dann mehr zu sich selbst, „Sei mein oder brenne, Salihah! Und du hast dich für… das Brennen entschieden!“ Mit aller geistigen Kraft riss er die Fackel hoch in die Luft, stockte aber erneut, als er sie auf seine Frau werfen wollte. Er keuchte schwer, als müsste er mächtig gegen eine innere Übermacht ankämpfen, gegen den Teil von ihm, der nicht fähig war, sie zu töten. Er wollte sie verbrennen, er wollte nichts von ihr übrig lassen!

„Ihr… werdet… alle knien!“ brüllte er plötzlich außer sich vor Zorn über seine Unfähigkeit, ehe er wütend zum Wachturm herumfuhr, „Ihr werdet knien, die Mächte der Schöpfung werden mir zu Füßen liegen! Und wer nicht kniet, wird einen qualvollen Tod erleiden!“ Damit zog er die Fackel noch etwas höher und startete gerade einen weiteren Versuch, sich durchzuringen, da ertönte plötzlich ein lautes Krachen direkt über ihm aus dem Himmel und er hörte hinter sich lautes Schreien.

„Halt ein mit dem Unfug, Kelar, du Bestie!“

Der Mann fuhr noch herum, da sauste schon ein Schwert direkt auf ihn zu und hätte ihn beinahe an der Kehle getroffen, hätte er nicht instinktiv die Fackel herum geschwungen und damit den Hieb abgeblockt. Zoras Chimalis durchschlug die Fackel mit einem sauberen Schlag und das brennende Stück fiel zu Boden, wo es in eine Schlammpfütze rollte und erlosch.
 

„Du Wahnsinniger stellst dich mir also tatsächlich offen in die Quere…!“ schnarrte Kelar erbost, und hinter Zoras tauchten jetzt auch Tabari, Nalani, Nomboh und Hakopa Kohdar auf.

„Wer ist hier wahnsinnig?!“ fuhr Nalani wütend auf und zog Kadhúrem, „Du kannst uns nicht alle auf einmal ummähen, Kelar, das ist das Ende!“ Die Leute redeten laut und aufgeregt durcheinander, entsetzt über das Chaos. Kiuk und Keisha eilten solange zu Salihah, die noch immer gefesselt am Fahnenmast stand. Zoras hob sein Schwert an Kelars Hals und piekste ihn mit der Spitze.

„Du wirst nicht mit uns allen zugleich fertig, das sage ich dir. Du hast die Wahl, mein Guter.“

„Soll ich jetzt vor die am Boden kriechen, Chimalis?“ spottete der Herr der Geister und hob herrisch das Gesicht. „Wage es ja nicht… du würdest es bereuen, Chimalis.“ Plötzlich grinste der Mann und linste in Richtung des Turms. Tabari fuhr hoch und schrie.

„D-der Wachturm?!“

Salihah drehte den Kopf in Richtung Wachturm und sie erkannte Denmor Emo darauf stehen, in seinen Händen Pfeil und Bogen, bereit, den brennenden Pfeil auf sie zu schießen und es zu beenden. Die Frau rührte sich nicht und sah ihn nur an, fand genau in all dem Schatten der Dämmerung unter dem grollenden Himmel seine hellen Augen.

Tu es, Denmor… versuch es. Du wirst es nicht schaffen… du hast nicht die Kraft, meinem Geist zu überliegen…
 

Jämmerlich.
 

„Schieß, du verdammter Nichtsnutz!“ brüllte Kelar wutentbrannt, dann wurde er von den anderen Geisterjägern gepackt und zu Boden gestoßen, worauf er laut fluchend verssuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Während Tabari, Nomboh und Hakopa Kohdar den Mann festhielten und Zoras weiterhin mit dem gehobenen Schwert da stand, starrte Nalani hinauf auf den Wachturm, wo Denmor sich keinen Zoll rührte.

Denmor Emo war kein großartiger Magier, er war ein einfacher Mann. Er erschauderte, als er den Blick der Frau unten am Mast fing, als sie ihn kaltblütig anstarrte, als würde sie einen Speer auf ihn werfen, der sein Herz durchstieß und ihn zu Fall brachte. Der brennende Pfeil, den er eingespannt hatte, bebte in seiner zitternden Hand, die es nicht wagte, ihn loszulassen. Es war, als wollte Salihahs Blick seine Finger an den Federn des Pfeils festschweißen, um jeden Preis verhindern, dass er losließ.

Verflucht… i-ich muss loslassen! Ich muss schießen… es ist der Befehl des Herrn, wenn ich nicht gehorche, ist das übel…!

Doch der Blick der Frau unten durchbohrte ihn und machte es ihm unmöglich, sich zu bewegen. Es war, als würde sie seinen Geist zwingen, zu gehorchen… er ließ zitternd den Bogen samt Pfeil sinken, Stück für Stück, obwohl er sich nach Kräften bemühte, standhaft zu bleiben. Die Kälte und die Schärfe des Geistes dieser Frau zwangen ihn zu Boden. In dem Moment, in dem er den Bogen fallen ließ, wurde er mit einem Mal von hinten um den Hals gepackt und zurückgezerrt, gleichzeitig bekam er plötzlich eine glühende Klinge vor die Nase gehalten, dann wurde das bissen Licht vor ihm vom Schatten eines Mannes verdunkelt, der plötzlich vor ihm auftauchte.

„Rühr dich nicht, Denmor, oder ich werde dir extrem wehtun,“ warnte Tare Kohdar den älteren Mann, während er ihm kaltblütig sein glühendes Schwert vor das Gesicht hielt, das er mit einem Feuerzauber belegt hatte. Sein Bruder Barak hatte Denmor gepackt und stieß ihn jetzt gewaltsam zu Boden, sodass der Schwarzhaarige keuchte.

„Ihr seid ja nur halbe Portionen!“ schnaubte er, „Nimm dein Schwert runter, Tare, du siehst komisch aus, wenn du erwachsen tust.“ Er bekam einen harten Schlag auf den Kopf von Barak, der ihm mit einem Buch eins überbriet.

„Sprich nicht so mit meinem Bruder, du Arschkriecher!“ rief er darauf entrüstet, zu seinem jüngeren Bruder sagte er: „Bleib da, Tare, lass dich von dem nicht veräppeln, der kann uns gar nichts.“

„Das Spiel ist aus, Denmor,“ erklärte Tare feierlich, ohne sich oder sein Schwert zu rühren, und starrte ernst auf Denmor herunter. Der Mann grinste, dann riss er sich so plötzlich aus Baraks Griff los, dass er den Jüngeren dabei zu Boden stieß, und er wollte schon davon rennen, als Tare entsetzt zurückfuhr.

„Stehen bleiben, du Hund!“ schnappte Barak am Boden, griff sein Buch und warf es Denmor mit solcher Wucht an den Kopf, dass der Mann zu Boden stürzte und keuchend liegen blieb. Das Buch fiel zu Boden. Tare Kohdar steckte sein Schwert verdutzt weg und half dem Bruder, aufzustehen.

„Das schöne Buch!“ jammerte er dabei, „J-jetzt sind bestimmt die Seiten geknickt!“

„Ja, Denmor sollte es mir unbedingt ersetzen,“ sagte Barak und rückte empört seinen schwarzen Kragen zurecht, ehe er sein Buch aufhob und den Schmutz vom Umschlag putzte. Tare indessen zog den halb bewusstlosen Denmor hoch und warf ihn sich mit etwas Mühe über die Schultern. „Hinunter mit ihm zu Vater und den anderen,“ kommandierte Barak seufzend, „Das Buch ist zwar beschädigt, hat uns aber treue Dienste erwiesen, Bruder. Ich gehe vor, dann fange ich dich auf, falls du mit dem Gewicht hinfällst.“

„Sehr großzügig,“ machte Tare und ließ den Älteren voran die Wendeltreppe hinab steigen, ehe er den Mann hinterher hinunter trug.
 

Das Grollen hielt an, aber die Menschenmenge löste sich auf, der Knoten war geplatzt. Kiuk hatte Salihah vom Mast abgebunden und nachdem sie ihm noch immer halb ohnmächtig von den Drogen in die Arme gefallen war, war Keisha jetzt auf der Treppe zum Senatsgebäude dabei, mit ihren Heilkräften nachzuhelfen, um die Frau wieder auf die Beine zu bringen. Kiuk saß dabei und hielt den Kopf seiner benommenen Mutter auf dem Schoß. Die übrigen waren damit beschäftigt, Kelar festzuhalten, und damit er nicht weglief banden Barak und Tare Denmor an den Fahnenmast. Der Schwarzhaarige war wieder zu sich gekommen und fand sich gefesselt am Mast wieder.

„Ihr Rüpel!“ schimpfte der die Kohdar-Brüder, die ihn bewachten, „Ihr seid ein schandhaftes Pack, ihr werdet noch sehen, was geschieht. Euch dem Herrn der Geister zu widersetzen ist eine Entehrung der Mächte der Schöpfung… sie haben ihn schließlich dazu gemacht, oder? Ihr solltet Vater Himmels Wahl respektieren.“

„Sicher hat Vater Himmel nicht beabsichtigt, dass sein höchster Vertreter in Massen Menschen schlachtet,“ erwiderte Barak kühl und las seelenruhig sein Buch weiter. Aus der kleinen Menge an Menschen, die noch geblieben waren, kam seine Frau Pinhi, die in einer Tragebinde vor ihrem Bauch ihre wenige Monde alte Tochter trug. Sie hängte sich verzweifelt an Baraks Hals, dabei aufpassend, dass sie das Baby zwischen ihnen nicht erdrückte.

„Ich fürchtete, dir würde etwas zustoßen da oben…“ machte sie, „Ich bin froh, dass du heil wieder unten bist von dem Turm…“

„Hab keine Sorge, so dämlich, mich von so einem Spaltzüngler wie Denmor erschlagen zu lassen, bin ich auch wieder nicht,“ war Baraks Kommentar, und er und seine Frau teilten einen kurzen Kuss zur Begrüßung, ehe der Mann seiner kleinen Tochter sanft über den Kopf streichelte. „Du solltest mit der Kleinen heim gehen, Pinhi. Wir werden nicht mehr lange brauchen… denke ich. Das Schlimmste ist vorüber.“ Er sah zum Himmel hinauf. Das Dunkel lichtete sich ein wenig und hinter den massigen Wolken kam tatsächlich die Sonne hervor.

„Wartet nur,“ seufzte Denmor beleidigt, „Von wegen Spaltzüngler, ich weiß, was ich tue. Ihr Geisterjäger seid alle verblendet und haltet euch für die gerechten Ritter des Landes, ja, ja.“ Tare Kohdar gab dem Gefangenen eine Kopfnuss.

„Halt dein Maul, du Schlange!“

Kelar sah schweigend und grimmig auf die anderen Geisterjäger, die jetzt geschlossen (abgesehen von Barak und Tare) vor ihm standen. Zoras hielt ihm immer noch das Schwert an die Kehle, rührte sich aber nicht. Als er die Waffe jetzt endlich sinken ließ, hob der Herr der Geister herrisch den Kopf.

„Wie weich von dir,“ schnarrte er gehässig grinsend und trat zurück, „Du verschonst mich? Ich hätte gedacht, du wärst Manns genug, um das… zu tun!“

„Ein Mann ist nicht deswegen ein Mann, weil er andere töten kann,“ knurrte der Jüngere und steckte die Waffe zurück in die Scheide an seinem Gürtel, „Ich bin nicht wie du, Kelar. Dein Tod liegt nicht in meinen Händen, sondern in denen der Geister! Sie haben dich zu dem gemacht, was du bist… sie haben dir die Macht gegeben und ich warte geduldig auf den Tag, an dem sie sie dir wieder nehmen. Für heute ist Schluss, alter Mann, verschwinde von hier, und zwar ganz schnell, bevor meine Barmherzigkeit sich auflöst!“ Kelar lachte höhnisch.

„Die Geister sollen mir die Macht nehmen?! Hast du geschlafen, ich bin der Herrscher über die Geister, Chimalis! Ich befehle ihnen, sie können mich nicht entmachten, heh! Ich bin König, die Geister sind meine Generäle, und du weißt das!“ Zoras lachte ebenfalls kalt auf.

„Und können sich nicht etwa alle Generäle gegen den König verschwören und ihn stürzen?“

„Das würden sie nicht wagen,“ grinste sein Gegenüber und trat weiter zurück, „Und wenn doch, bezahlen sie es mit abgetrennten Köpfen und in Stücke gerissenen Leibern!“

„Vorsichtig jetzt, großer Herrscher von Lyrien,“ Zoras‘ Stimme wurde lauernd und er verengte die Augen, als müsste er etwas Kleines in der Ferne erkennen, „Spotte nicht über die Mächte der Schöpfung. Sie hören jedes Wort, das du sprichst…“

Die anderen standen schweigend hinter ihm und sahen sich jetzt beunruhigt über die harschen Tonfälle der beiden Rivalen an. Tabari runzelte mit gesenktem Kopf die Stirn. Kelar durchbrach die angespannte Stille und fuhr plötzlich herum, sah in Denmors Richtung und schnaubte.

„Nichtsnutz!“ fluchte er, „Hättest du geschossen, wäre alles bestens gewesen, du Pfeife! Ihr Emos seid ein niederträchtiger Misthaufen von unfähigen Trotteln, die sich einbilden, sich mit den Kandayas gleichstellen zu können! Aber letztlich seid ihr nur ein alter Zweig, der sich als Versagerzweig herausgestellt hat, heh! Ich verfluche euch, ihr dreckigen Bastarde, euch alle zusammen! Was könnt ihr anderes als anderen zu Füßen zu liegen und ihnen die Schleppe zu tragen?!“

„V-vergebt mir!“ keuchte Denmor und starrte ihn entsetzt an, Kelar spuckte auf den Erdboden. „Herr, es war nicht meine Schuld! Eure Frau ist eine Hexe, sie hat mich gezwungen, den Bogen fallen zu lassen… ich wollte schießen, ich schwöre!“

„Ach, bah!“ machte Kelar und ließ den Blick kurz zu Salihah schweifen, die jetzt wieder einigermaßen erholt auf der Treppe saß mit Keisha und Kiuk. „Niemals seid ihr irgendwo zugehörig, tss! Du sagst, du dienst mir, und verrätst mich, andere sagen, sie dienen anderen und verraten sie! Ihr Emos seid alle gleich und so wird es bis zum Ende aller Zeiten sein! Dein Onkel Minar sollte sich ruhig was darauf einbilden, Geisterjäger zu sein, und das sogar ohne jemanden hintergangen oder verraten zu haben… dieser Kerl verdient tatsächlich fast so etwas wie Respekt! Aber ihr anderen seid nichts als Sandwürmer!“ Dann machte er Keht und rauschte mit wehendem Umhang davon.

Der Himmel grollte, als die übrigen am Platz stehen blieben. Es begann lautlos zu regnen.
 


 

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booyah XD kaum was passiert, und schwupp, wieder ein Jahr rum XD Wir haben jetzt Juli/August 964^^ so zum Überblick, weil man schnell verpeilt welches Jahr ist...^^'

Lyriens Fall

Obwohl der Schatten über dem Land dunkler wurde denn je, als der nächste Winter kam, wurde es ruhig im Schloss der Lyras. Die Jüngeren hatten befürchtet, jetzt alle paar Tage einen Mordversuch von Kelar an seiner Frau aufhalten zu müssen, aber er hatte sein Scheitern scheinbar eingesehen und seit dem Fehlschlag am Fahnenmast nichts weiter versucht. Die beiden lebten in getrennten Welten, so schien es. Sie gingen sich gezielt aus dem Weg und teilten sich nur nachts noch immer das Schlafzimmer oder gar das Bett. Kelar war tagsüber oft außer Haus, entweder wegen seiner Politik in der Provinz unterwegs oder auf der Jagd; offenbar hatte er das Gefühl, sich an arglosen Tieren abreagieren zu müssen, indem er mit seinem Speer nach ihnen warf. Im Mond der Stürme hatte die Familie wenigstens dank seines neuen alten Hobbys mehr als genug Wild zu essen und Tabari hatte kaum zu tun; normalerweise war er für die Jagd zuständig, weil der Vater ja als Herrscher genug um die Ohren hatte.

Dafür hatte der Blonde jetzt mehr Zeit, sich um seinen kleinen Sohn zu kümmern. Puran war im Holzmond fünf geworden und jetzt war es an der Zeit, langsam damit zu beginnen, ihn mit dem Grundwissen über das Jagen vertraut zu machen. In Dokahsan war ein Mann, der nicht jagen konnte, kein echter Mann, es war unwürdig. Seit alters her war es Aufgabe der Männer, ihre Frauen und Kinder mit Nahrung zu versorgen. Die Frauen bereiteten Essen und erzogen die Kinder, dafür wurden sie von ihrem Mann beschützt und verpflegt. Wenn ein Mann nicht jagen konnte, konnte er keine Familie ernähren und war deshalb unfähig. Das war wie ein Schaf, das keine Wolle trug. Daher wurden alle Söhne von ihren Vätern unterrichtet, am besten so früh wie möglich.

Puran war ein aufmerksamer Zuhörer. Er sagte nichts, wenn sein Vater mit ihm über das Fleisch redete, das sie aßen, welche Teile am besten und wertvollsten für die Menschen waren und was man mit dem erlegten Tier machen konnte.

„Die Tiere gehören Mutter Erde, sie sind ihre Kinder, so wie die Geister Vater Himmels Kinder sind. Wenn wir ein Tier erlegen, dann nehmen wir Mutter Erde etwas weg, deswegen beten wir zu ihr und danken ihr für das Opfer. Wir Menschen sind auch Mutter Erdes Kinder.

„Und alle Kinder essen sich gegenseitig auf?“ fragte Puran, als der Vater eine Pause machte und offenbar darauf wartete, dass er etwas sagte.

„Es ist in Ordnung, aber nur, wenn wir nicht übertreiben. Mutter Erde wird zornig, wenn wir mehr jagen, als nötig ist. Wir dürfen nur so viel erlegen, wie wir verwerten können, und nicht nur das Beste herausschneiden und den Rest verschwenden. Das beleidigt die Lebensgeister des Tieres und sie werden kommen und uns verfolgen, bis wir bestraft sind. Wenn wir ein Tier erlegen, müssen wir alles von ihm verwenden, nicht nur das Fleisch, auch die Haut und das Fell sind nützlich, die Knochen, sogar die Sehnen.“

„Das ist ja toll!“ staunte das Kind begeistert und klatschte in die Hände. Tabari tätschelte seinem Sohn zufrieden den Kopf.

„Allerdings. Du wirst bald lernen, was man woraus machen kann, mein Sohn. Und wenn du älter bist, zeige ich dir, wie es funktioniert.“

„Hurra!“ machte der Kleine klatschend, „Das ist sehr toll von dir, Vati!“
 

Während Kelar sich mit dem Wild auseinandersetzte und Tabari seinen Sohn erzog, verkroch Salihah sich schweigend in ihren Seelenmagiebüchern. Wenn man sie fragte, wonach sie eigentlich darin suchte, antwortete sie nicht, sie saß nur tagein, tagaus in der Stube oder in einem der kleineren Zimmer oben und studierte.

So lebten sie schweigend vor sich hin, während die Misere im Land sich verschlimmerte. Am Mittwintertag war das Wild in Dokahsan verschwunden. Selbst Kelar, der sonst sehr geschickt im jagen war, kam am Ende des Wintermondes jeden Tag mit leeren Händen heim.

„Das ist übel,“ kommentierte Tabari das, „Die Herden sind weggezogen, wir können nur hoffen, dass sie im Frühling zurückkehren! Wir müssen sparsamer sein mit den eingelegten Vorräten.“

„Ach, Vorräte!“ schnaubte der Vater, der vor ihm auf und ab schritt und ihn wütend musterte, „Diese Bauern aus den Dörfern fressen uns die Haare vom Kopf!“

„Wie bitte?“ erwiderte Tabari verblüfft und glaubte, sich verhört zu haben.

„Diese Barbaren, die hier vor sich hin wohnen, die haben ein Dutzend Bälger und die fressen unser Fleisch auf!“

„Als ich das letzte Mal durch den Süden von Vikhara gereist bin, waren die Menschen in den Dörfern am Verhungern!“ platzte der Sohn heraus, „Nein, die waren das sicherlich nicht! Aber du hast letzten Mond ganz schön viel hier angeschleppt, Vater, von dem, was wir im Keller haben, könnte ein ganzes Dorf versorgt werden!“ Kelar sah ihn funkelnd an.

„Willst du etwa unser gepökeltes Fleisch an diese Ratten und Würmer verschwenden? Die verdienen das Leben nicht, tse! Wir brauchen die Vorräte jetzt ja, wie du siehst, ich habe vorausschauend gehandelt!“

„Das war zu viel auf einmal, deswegen sind jetzt keine Herden mehr übrig! Mutter Erde ist zornig, Vater, vielleicht verzeiht sie uns, wenn wir den anderen etwas abge-…“ Kelar schlug ihm ins Gesicht und der Jüngere taumelte keuchend rückwärts. In seinem Mund begann etwas zu bluten und er spuckte hustend auf den Boden.

„Wie kannst du es wagen?!“ schrie der Herr der Geister, „Fleisch für die Maden! Du bist es, der Mutter Erdes Zorn weckt, Tabari!“

In dem Moment kam Nalani aus der Stube, weil sie das Gezeter in der Halle gehört hatte. Die Männer sahen zu ihr hin und während Tabari sich keuchend die Lippen hielt und den Kopf wegdrehte sah Kelar sie eiskalt an. „Ich werde sie büßen lassen für ihren Frevel, diese Narren,“ zischte der Herr der Geister und wusste dabei selbst nicht, ob er es Nalani, Tabari oder sich selbst sagte. „Sie werden sehen, was geschieht, wenn sie Mutter Erde erzürnen.“ Er wollte sich gerade abdrehen, da kam Nalani hinterher aus der Stube der kleine Puran gelaufen. Als er den Großvater erblickte, erstarrte er zunächst und beeilte sich dann, sich hinter Nalani zu verstecken und sich an ihren Rock zu klammern.

„Was ist hier eigentlich los?“ fragte die Frau unwirsch und sah dabei Tabari und Kelar abwechselnd an. Der Schwiegervater hatte nur Augen für seinen kleinen Enkel und lächelte jetzt wohlwollend, bis Nalani seinen Blick ebenfalls fing und sich etwas mehr vor das Kind schob. Kelars wohlwollender Blick war falsch, sie wollte gar nicht wissen, was er mit ihrem Kind vorhatte; es war nichts Gutes, das sagten ihr ihre Instinkte. „Was starrst du so, Kelar?“ fragte sie kalt, „Willst du meinem Jungen die Seele aussaugen?“

„Nicht doch, Wachtel,“ lachte er amüsiert, „Wie könnte ich meinem Enkelchen etwas tun?“

„Wolf im Schafspelz,“ grummelte Tabari verhalten und war froh, dass ihn offenbar keiner gehört hatte, denn er wurde gekonnt ignoriert.

Nalani sparte sich einen Kommentar. Vor dem Kleinen wollte sie keinen Streit vom Zaun brechen, er war ohnehin verängstigt genug.

„Hüte dich,“ sagte sie deswegen nur leise, ehe sie Kelar grimmig ins Gesicht starrte, bevor sie sich abdrehte und mit dem Kind die Halle in Richtung Stube verließ.
 

Mit dem Neujahr kam der Frost über das Land. Das Volk hungerte, Kelar war das egal. War die Bevölkerung in den letzten Jahren trotz der massigen Hinrichtungen gewachsen, so schrumpfte sie jetzt wieder enorm. Der Himmel hing dunkel und böse grollend über Dokahsan und die Erde war erfüllt von unruhiger Spannung, als müsste sie jeden Moment aufplatzen und ihr schwarzes Erdblut über das Land ergießen. Oder über die Menschen, die sie erzürnten.

Während Kelar dem Schrumpfen der Bevölkerung weiterhin nachhalf – dann wären weniger Leute da, die ihm die Haare vom Kopf fräßen – überließ er seinem Sohn wieder die Jagd, obwohl die alles andere als erfolgreich ausfiel.

„Das ist alles?“ fragte Sukutai nervös, als Tabari an einem Tag im Hungermond, der seinem Namen in dem Jahr alle Ehre machte, von der Jagd zurückkam und tatsächlich einen kleinen Vogel mitgebracht hatte. Tabari schüttelte sich.

„Es ist scheißkalt da draußen, mir frieren die Finger beinahe ab, wenn ich es wage, da draußen kurz zum Zaubern den Handschuh auszuziehen, ich bin nass bis auf die Knochen, und ja, das ist alles,“ verkündete er dumpf, „Es ist nichts da, Sukutai, kein Aas hat was zu essen hier in diesem Land der zornigen Geister!“

„Ja, vermutlich gehen selbst die Aasfresser leer aus diesen Winter, es gibt nicht mal Aas,“ seufzte die Frau, „Langsam werden selbst unsere großen Vorräte knapp, Tabari… was hat dein Vater mit dem Wild gemacht, dass es verschwunden ist?“ Der Mann ging an ihr vorbei, um die spärliche Beute in die Küche zu bringen, ehe er noch einmal über die Schulter sah.

„Ich habe keinen Schimmer. Die Tiergeister sind wütend und ich weiß nicht, was wir Menschen tun können, um sie zu besänftigen… da mein Vater glaubt, er würde allen befehlen, macht er es nur schlimmer. Langsam vergisst er offenbar, dass auch er nur ein Sterblicher ist wie wir alle.“

„Ja, Sterblicher,“ grummelte die braunhaarige Frau, und er sah sie verblüfft an, als sie sich abdrehte, um in die Stube zurückzukehren. „Ich wünschte, er würde dieser Bezeichnung mehr Ehre erweisen!“
 

Die kleine Alona war krank. Kiuk und Sukutai waren vor wenigen Tagen mit ihr bei Keisha in Tuhuli gewesen; an sich war es eine harmlose Erkältung, aber dem kleinen, eineinhalb Jahre alten Mädchen machte sie schwer zu schaffen. Und die knappe Nahrung machte es nur schlimmer. Aus Angst vor dem Zorn der Erdgeister hüteten sie sich, mehr Holz für die Kamine zu schlagen als nötig, so wurde tagsüber nur in der Küche und in der Stube wirklich viel geheizt, sodass sie das kleine Mädchen in das warme Wohnzimmer gebracht hatten, wo es jetzt fiebernd auf der Couch lag, in alle Wolldecken eingehüllt, die man hatte finden können. Nalani war in der Familie diejenige, die sich am besten mit Medizin auskannte, weil sie in ihrem Jahr in Tuhuli viel von Keisha gelernt und in deren Büchern gelesen hatte, so saß die Tante jetzt bei der kleinen Alona auf dem Sofa und versuchte, ihr Markbrühe einzuflößen.

„Ein grausamer Winter ist das,“ murmelte Kiuk, der auf einem Sessel saß und besorgt zu seiner Tochter und Nalani blickte. Er hatte vor sich auf einem Tisch wieder seine Ahnentafeln und Manuskripte ausgebreitet und war an sich dabei, den Stammbaum weiter zu studieren. Das kleine Kind hatte keinen Appetit auf Markbrühe, wie es schien, es drehte wimmernd da Köpfchen vor dem Holzlöffel weg. „Wenn wir das hier alleine nicht hinkriegen, müssen wir sie nach Tuhuli bringen und so lange bei Keisha lassen, bis sie gesund ist…“

„Das wird nichts bringen,“ nahm Nalani ihm den Wind aus den Segeln, und alle sahen sie an. Sogar Salihah, die in ihrer Ecke mit ihrem Buch saß und bis dahin geschwiegen hatte. „Wir haben Medizin bekommen von Keisha, mehr kann sie nicht für Alona tun im Moment. Das Kind muss Flüssigkeit zu sich nehmen, wegen des Fiebers schwitzt sie. In Tuhuli hungern sie genauso wie überall in ganz Dokahsan, wenn die Kleine nur essen würde, würde es sicher schnell besser werden.“ Sie sah besorgt zu ihrer Nichte. „Alonachen, komm. Du musst Suppe essen, damit du gesund wirst!“ Alona schüttelte erschöpft den Kopf und kniff demonstrativ die Lippen zusammen. „Wenn du den Mund nicht aufmachst, zwinge ich dich,“ drohte die Tante ihr düster, „Und dann tue ich dir weh, das möchte ich nicht! Also mach endlich deinen Mund auf!“ Das Kind ließ sich nicht einschüchtern. Es schüttelte abermals den Kopf.

„Dann zwing sie,“ befahl Sukutai ihrer Schwägerin plötzlich, die wieder in den Raum gekommen war, und jetzt war sie es, die angestarrt wurde. „I-ich… ich kann das nicht, Nalani, es bricht mir das Herz, sie so zu sehen, wie soll ich mich da durchsetzen? Bitte… tu es für mich. Egal wie, sie muss Essen, sie braucht es!“ Verzweifelt ließ Sukutai sich neben ihrem Mann auf einen Schemel sinken und vergrub erschöpft vor Hunger und Sorge das hübsche Gesicht in den Händen. Kiuk versuchte, sie zu trösten, indem er ihr über den Kopf streichelte, während Nalani den Suppenteller auf den Tisch neben sich stellte und Alona auf ihren Schoß nahm. Das Kind jammerte und wehrte sich zappelnd, bis die Tante mit einer Hand ihren Mund aufzwang, sie festhielt und mit der anderen Hand den Löffel in ihren Mund schob. Dann hielt sie der Kleinen den Mund energisch zu und sah sie empört an.

„Iss!“ befahl sie harsch, „Tu es, oder du wirst nicht gesund werden! Ich lasse dich erst los, wenn du gegessen hast!“ Alona jammerte, schluckte dann aber artig, worauf Nalani sie wieder losließ. „Siehst du,“ knurrte sie, „Du lebst noch, so schlimm war es ja nicht. Also, noch mal. Iss fein, die Suppe wird dir gut tun, Alonachen.“ Zur Belohnung, dass sie geschluckt hatte, strich Nalani ihr über den kleinen Kopf. Der nächste Löffel bedurfte weniger Gewalt, um in Alonas Mund zu gelangen, und nach ein paar Löffeln machte die Kleine auch freiwillig den Mund auf und zu.

Der kleine Puran stand am Fenster, bewegte sich nicht und sah schweigend hinaus. Er sprach wenig in der letzten Zeit; auch für ihn war der Winter hart und grausam. Als Alona gegessen hatte, kam Nalani zu ihm und hockte sich hinter ihn, um mit den Händen sanft seine Haare und Schultern zu streicheln.

„Was siehst du, mein Schatz?“ flüsterte sie leise, und er lehnte sich vorsichtig rückwärts gegen sie und ließ sich von ihr festhalten.

„Es ist dunkel,“ nuschelte er zur Antwort und sah jetzt in den düsteren Himmel.

„Ja… das ist es wirklich.“

„Werden böse Geister kommen, Mutti?“

„Ich kann es dir nicht sagen, mein Liebling…“ Sie seufzte und strich ihm erneut durch die weichen Haare. Die Geister waren unruhig und grimmig, das spürte sie, wenn sie schlief ebenso wie wenn sie wach war. Und sie wusste, dass ihr kluger kleine Junge es genauso spürte, nur im Gegensatz zu ihr konnte er das ungute Gefühl nicht benennen oder beschreiben. „Der Schatten wird bleiben…“ murmelte Nalani mehr zu sich selbst und merkte gar nicht, dass der Kleine jedes Wort von ihr mit anhörte. „Bis einer dieses Ungeheuer getötet hat und es endlich wieder Frieden im Land geben wird!“

In diesem Moment kam Tabari zu ihnen in die Stube, der sich trockene Sachen angezogen hatte.

„Hier ist es gleich viel angenehmer,“ erklärte er grinsend und wurde vom Rest der Familie kurz betrachtet. Nalani nahm Puran auf den Schoß und setzte sich mit ihm zur kleinen Alona, wobei sie ihren Sohn aber Abstand halten ließ, nicht, dass er sich noch ansteckte. „Das Land draußen ist wie tot, ich sag es euch. Kein Vieh weit und breit, und die Menschen werden auch weniger… unten in den Dörfern verstecken sich alle, wenn man dem Zaun näher kommt, ich fürchte, sie halten uns endgültig für grausame Massenmörder.“

„Wie furchtbar,“ seufzte Sukutai besorgt. „Dein Vater macht alles kaputt!“

„Dein Vater hat einen Hackenschuss,“ addierte Nalani grummelnd, und Tabari seufzte auch, ehe er sich zu Kiuk stellte und ihm eine Weile mehr oder minder interessiert in die Stammbäume sah.

„Na, ist das nicht langsam langweilig, diese längst toten Deppen in Reih‘ und Glied aufzuschreiben?“ wunderte er sich, und der jüngere Bruder war ganz verwirrt.

„Wie bitte, langweilig? Wenn du wüsstest, was diese Familie alles durchlebt hat, ich sag’s dir, du würdest es auch nicht langweilig finden! Wusstest du, dass der erste Tabari in diesem Stammbaum fast genau zweihundert Jahre vor dir geboren wurde?“

„Nein…“ machte Tabari gedehnt.

„Und sein Vater hieß Kiuk, du wirst lachen.“

„Du bist mein Vater?“ jetzt musste der Blonde tatsächlich lachen, „Das wüsste ich aber, Alter!“

„Und wann gab es den ersten Kiuk?“ wollte Sukutai neugierig wissen. Kiuk durchwühlte eine Weile seine Zettel.

„Mh… noch hundertzehn Jahr vor dem ersten Tabari. Unsere Namen wurden oft wiederverwendet, der erste Tabari und der erste Kiuk müssen ziemlich großartige Männer gewesen sein, deren Namen man noch nach dreihundert Jahren ehrt…“

„In der Tat,“ sagte Sukutai verblüfft, „Wie aufregend! Gab es denn auch einen Kelar vor unserem?“

„Nein, komischer Weise nicht; aber Nalani zum Beispiel hat ihrem Sohn ja auch keinen Namen aus dem Stammbaum gegeben, offenbar hat unsere Großmutter das bei ihren Kindern auch nicht getan.“

„Gibt es nur einen Puran?“ fragte der kleine Puran erstaunt, „Bin ich kein toller längst toter Mann?“ Nalani lachte.

„Nein, du bist ein lebender, viel tollerer Junge und wirst der beste aller Männer sein,“ sagte sie, worauf die anderen glucksten, ehe Nalani sich erhob und den Raum verließ, um die leere Suppenschüssel wegzubringen.

„Kelar wird wohl auch der einzige Kelar im Stammbaum bleiben,“ gab Salihah plötzlich aus ihrer Ecke zu hören, worauf alle verstummten und sie ansahen. Sie sah nicht auf. „Sein Name hat dem Clan statt Ehre nur Schande gebracht, niemand wird seinen Sohn nach ihm benennen wollen. Sieh dir den Stammbaum an, Kiuk, da gibt es mehrere, deren Namen nie wieder auftauchten, und wir können uns anhand der anderen Daten vorstellen, wieso. Warst du schon bei Ulan Lyra, der den Clan beinahe zu Grunde gerichtet hätte?“

„Woher weißt du das denn?“ fragte Tabari unverblümt, „Kennst du den Stammbaum heimlich auswendig oder wie?“

„Ich habe in diese Familie eingeheiratet,“ erwiderte sie, „Dein Großvater Beksem hat ganze Wochen damit zugebracht, mich in die Geschichte seiner Familie einzuführen, damit ich Bescheid weiß, dabei habe ich so einige seltsame Geschichten gehört.“

„Ich hab einen Ulan gefunden in den Manuskripten,“ fiel Kiuk ein, „Aber der hat doch vor fast sechshundert Jahren gelebt, was hat der denn so schlimmes gemacht, Mutter?“

„Stehen in dem Stammbaum nicht die Gene? Der Mann war Schwarzmagier, er hatte erst eine Affäre mit seiner eigenen Schwester und mit ihr ein Kind gezeugt, das geflissentlich ermordet wurde als Blutschande; und dann hat dieser Vollidiot eine Nichtmagierin geheiratet und mit ihr lauter Halbschamanen gezeugt, zum Glück hat einer der Söhne dann eine Schwarzmagierin geheiratet und damit den Clan wieder gerettet; aber es war für die Zeit eine unglaubliche Schande, die reinen schwarzen Gene zu verwaschen mit nichtmagischem Blut, heutzutage sieht man das ja nicht mehr so eng… und in der Generation von Ulans Kindern war dann also ein Halbschamane Oberhaupt des mächtigsten Magierclans Dokahsans, ihr könnt euch denken, wie albern das gewesen sein muss. Deswegen hütet sich heute noch jeder, der davon weiß, diesen Namen zu verwenden, weil er Schande bringen und nur Unheil anrichten würde.“ Die anderen hatten ihrer Geschichte gespannt gelauscht, sogar der kleine Puran, und jetzt sahen sich alle stumm an.

„Dann gehört der Kerl sicher zu den bösartigen Geistern, die den Winter so hart machen,“ kommentierte Tabari das, als Nalani auch zurückkam und sich wieder zu ihrem Kind und Alona setzte. „Und ich will nicht wissen, was mein Vater noch alles treibt, bis die Geister ihren Zorn auf uns herabregnen lassen… es wird nicht mehr lange dauern, ich spüre es ganz genau…“

„Kommen dann wieder böse Dinge, Vati?“ nuschelte der Sohn und kuschelte sich scheu an seine Mutter, die sanft einen Arm um ihn legte. Tabari sah seine Frau und sein Kind nur kurz an, ehe er seufzte und wieder aus dem Fenster starrte.

„Böse Dinge werden sicherlich kommen. Ich weiß nur noch nicht, wann und wie viele…“
 

Nachts grollte der Himmel lauter. Der kleine Puran fürchtete sich vor dem Donner und kam zu seinen Eltern ins Bett gekrabbelt, wo sie ihn zwischen sich schlafen ließen. Das Kind schlief, seine Eltern aber weniger, als sie schweigend im Bett lagen, versuchten, der realen Welt den Rücken zu kehren und feststellten, dass die Geister es ihnen nicht erlauben wollten.

Nalani war unruhig und sie spürte, dass Tabari sich genauso fühlte wie sie. Sie legte müde und ganz vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, einen Arm um ihren kleinen Sohn.

„Die Geister schweigen,“ murmelte Tabari neben ihr dumpf. Sie seufzte.

„Ja. Es ist aber ein falsches Schweigen, ein unangenehmes Schweigen. Es fühlt sich an wie diese Gewissheit, dass etwas anders sein wird, dass etwas geschehen wird, aber ohne zu ahnen, was es sein mag. Tabari… diese innere Unruhe hält seit Tagen an und lässt mich nicht los. Es ist wie ein Fluch, und er ist grausam.“

„Die Geister sind gerne grausam,“ gähnte ihr Mann, ehe er ihr verpennt den Rücken kehrte und auf ein Neues probierte, einzuschlafen.

Er musste eingeschlafen sein, denn er wachte im Morgengrauen von einem zornigen, warnenden Grollen aus dem Himmel auf: Das nächste, das er wahrnahm, als er benommen die Augen öffnete, war eine völlig verzweifelte Sukutai, die im Nachthemd an seinem Bett stand und aufgelöst an seiner Frau rüttelte. Nalani wachte ebenfalls auf und der kleine Puran saß mit einem Mal kerzengerade im Bett zwischen seinen Eltern.

„Vater Himmel ist böse, Vati!“ keuchte er nur, und Tabari setzte sich benommen auf.

„Nalani, schnell, du musst mitkommen!“ rief Sukutai verzweifelt und hörte gar nicht auf, ihre Schwägerin zu schütteln, obwohl die längst wach war, „Alona geht es wieder schlecht, über Nacht muss das Fieber wieder gestiegen sein! Ich habe solche Angst, bitte tu irgendwas… d-du kennst dich im heilen besser aus als ich!“

„Oh nein,“ japste die Schwarzhaarige und hechtete aus dem Bett, „Ich versuche mein Bestes, wenn ich nichts tun kann, müssen wir sofort nach Tuhuli mit ihr, Keisha kennt sich immer noch besser aus als ich…“

„Geh nicht fort, Mutti!“ jammerte Puran, aber Nalani konnte ihm gerade keine Beachtung schenken, immerhin lag seine kleine Cousine im Sterben. Tabari würde schon auf ihn aufpassen.

Tabari war ein schlechter Aufpasser, den wenige Momente später war er samt Puran bei den Frauen und Kiuk an Alonas Kinderbettchen. Das Mädchen fieberte heftiger als zuvor und wimmerte leise im Halbschlaf. Nalani kühlte mit Yira ihre Stirn und ordnete Kiuk nebenbei an, was für Kräuter er in den Tee tun sollte, den er als Medizin bereiten sollte. Kiuk hatte eine ganze Kiste voller Dosen und Schachteln voll mit Medikamenten und Kräutern aus dem Ankleidezimmer seiner Mutter entführt und folgte nervös Nalanis Anweisungen.

„S-sie wird doch wieder gesund, oder?“ schniefte die hysterische Sukutai im Hintergrund, die aufgeregt auf und ab lief, „Was machen wir denn nur, wenn das nicht hilft?!“

„Nimm nicht so viel davon, Kiuk, das ist für ein kleines Kind sonst viel zu stark, es wird sie eher töten als heilen,“ redete Nalani kaltblütig dazwischen, während der kleine Puran völlig verängstigt durch die allgemeine Aufregung an ihrem Nachthemd zerrte und wimmerte, sie sollte doch wieder mitkommen.

„Wo ist Mutter überhaupt, hat die das nicht bemerkt hier?“ wunderte sich Tabari nebenbei.

„Keine Ahnung, im Schlafzimmer war sie nicht,“ schaffte Kiuk neben seiner Beschäftigung zu erklären, „Ist das so gut, Nalani?!“

„Noch weniger, wir können einem kleinen Kind nicht so viel-… Puran, jetzt lass mich bitte mal los! Ich muss hier arbeiten, ich habe gerade keine Zeit für dich, so leid es mir tut! Deine Cousine ist krank, deshalb kümmere ich mich um sie!“ Nalani sah ihren Sohn kurz streng an und er ließ sie augenblicklich erbleichend los. Sie war angesäuert, das merkte er genau, und er wusste, wann es besser war, sie in Frieden zu lassen. So schnappte er nur ein paar Mal ratlos nach Luft und starrte sie an.

„Geh in die Küche, der Küchenjunge spielt solange mit dir,“ sagte Tabari zu ihm und schob ihn behutsam aus dem Kinderzimmer der Cousine, „Du findest den Weg allein, Kleiner. Sei artig, nachher haben wir mehr Zeit.“ Er strich dem Kind lächelnd über den Kopf und Puran schmollte, als er so hinaus geschoben wurde. Er sah ja ein, dass Alona krank war, aber er hasste es, weggeschoben zu werden, wieso durfte er nicht bei allen anderen bleiben? Tabari schloss energisch die Tür und dem Kind blieb nichts anderes übrig, als alleine den Weg zur Küche anzutreten.

Natürlich fand er den Weg alleine, er war schon fünf. Aber wenn niemand da war, war es groß, dunkel und unheimlich im Korridor und auf der Treppe… er war gerade die letzte Stufe hinab gestiegen, da merkte er einmal wieder, wieso es unheimlich war, alleine hinunter zu gehen.

„Sieh an, du ganz allein hier unten, mein Kleiner? Was ist dir denn passiert, hm?“ Puran schrak hoch beim Klang der vertrauten und dennoch gefürchteten Stimme seines Großvaters, der plötzlich in der Schlosstür aufgetaucht war. Am liebsten wäre er sofort wieder nach oben zu seinen Eltern gelaufen, hinter denen er sich sonst versteckte, sobald Kelar Lyra den Raum betrat. Aber er stand wie angewurzelt da und konnte sich nicht bewegen, als hätte der Großvater ihn festgenagelt. Draußen grummelte der zornige Himmel.

„I-ich… m-möchte in… die Küche…“ stammelte der Kleine dann tapfer und sah zu Boden, um ja nicht des Großvaters merkwürdig kaltes Lächeln zu sehen. Er sah ihn oft lächeln und sein Lächeln war ihm noch unheimlicher als die Treppe. Etwas war falsch an diesem Lächeln, etwas daran machte alle Himmelsgeister zornig, er konnte es genau spüren, wusste aber nicht, wieso.

„In die Küche?“ machte Kelar, „Zum essen?“ Das wäre aber seltsam, sonst ließ Nalani ihr Kind doch nie aus den Augen… der Herr der Geister war vor kurzem wieder nach Hause gekommen, hatte niemanden vorgefunden bis auf seinen Enkel jetzt.

„N-nein, ich… soll den Jungen fragen, o-ob er mit mir spielt…“ gestand jener in dem Moment, und Kelar zog eine Braue hoch.

„Den Küchenjungen? Ach, tss, der hat doch keine Ahnung. Haben deine Eltern zu tun? Keiner hat Zeit für dich? Das ist aber nicht sehr höflich von ihnen, du solltest immerhin… an erster Stelle stehen, oder nicht? Du bist doch der kleine Prinz unseres Clans…“ Ehe Puran hätte wegrennen können, hatte der Großvater sich vor ihn gehockt und ihn hochgehoben, um ihn sich auf das angewinkelte Bein zu setzen. Das Kind erstarrte und wagte nicht, sich zu wehren. „Was könnte denn wichtiger sein, als sich mit dir zu beschäftigen…?“

„Alonachen… ist sehr krank, s-sie pflegen sie,“ entschuldigte Puran seine Eltern höflich. Kelar lachte spöttisch.

„Ach, ernsthaft?! Sie ist ein Mädchen, sie ist unwichtig. Sie sollten sich schämen, dich weg zu scheuchen.“

„Aber wenn sie Alonachen nicht pflegen, stirbt sie vielleicht,“ entgegnete Puran entsetzt, „Mutti kennt sich mit Medizin aus, sie wird ihr helfen.“

„Geschwätz,“ brummte der Großvater, stand auf und nahm den Jungen dabei auf den Arm, „Komm mit mir, Puran. Wenn die alle beschäftigt sind… habe ich Zeit für dich. Du bist schließlich mein Lieblingsenkel.“

„Ich… bin ja auch dein einziger Enkel…“ murmelte Puran verunsichert; Alona war schließlich eine Enkelin, das war anders.

„Und zu wertvoll, um dich einfach dir selbst zu überlassen,“ addierte Kelar grinsend und wuschelte ihm väterlich durch die Haare, „Dein Vater erklärt dir sonst immer Dinge vom Jagen, nicht wahr? – Das tut er doch?“ Wenn nicht, würde er Tabari Beine machen, das Jagen war im Land Tradition…

„Ja,“ sagte Puran zu seinem Glück artig. Der Mann trug das Kind hinaus aus dem Schloss. Im Hof setzte er ihn auf ein Pferd und sich selbst dahinter, ehe er einem Stallknecht anwies, das Tor zu öffnen.

„Aber hat er dir je gezeigt, wie das… wirklich funktioniert, das Jagen? Sicherlich nicht…“

„Nein…“

„Was, er war noch nie mit dir draußen und hat es dir gezeigt?“ Kelar seufzte, als das Tor geöffnet wurde und er mit einem spöttischen Grinsen samt Kind hinaus ritt. Was für ein wunderbarer Tag, da ließ Nalani ihr Kind tatsächlich mal alleine; und er hätte jetzt den Rest des Tages Zeit, mit seinem Enkel herum zu reiten und ihn mehr und mehr aus den Fängen der Wachtel zu befreien. Eines Tages würde Puran ihm gehören… er würde lernen, ohne seine Mutter zu leben, aber nicht ohne seinen Großvater. Und so würde er eines Tages genau so über Lyrien herrschen wie sein Großvater es tat. „Das ändern wir, Puranchen. Halt dich fest, wir reiten in den Wald. Ich zeige dir, wie man auf die Jagd geht.“

Puran war verdutzt.

„Gibt es nicht… kein Wild mehr hier?“ fiel ihm ein.

„Dummer Junge, das Wild kommt, wenn ich es befehle. Die Tiergeister folgen alle meinem Befehl… wenn ich sie rufe, werden sie kommen. Das wirst du auch eines Tages lernen, und deine Familie wird nie Hunger leiden müssen.“

„Wieso hast du sie dann nicht vorher gerufen?“

„Deine Mutter ist Schuld,“ erklärte er kalt, „Sie erzürnt mich… sag ihr, sie soll mich nie wieder wütend machen, dann werde ich dafür sorgen, dass die Geister zurück in dieses Land kommen. Deine Mutter ist eine bösartige Hexe und sie hasst mich… das ist ein Fehler gewesen… ihr Hass hat die Geister aus dem Land vertrieben und ihretwegen mussten tausende Menschen verhungern. Schämst du dich für deine Mutter, mein Kleiner?“

Puran antwortete nicht. Er war nur verwirrt und starrte fassungslos in den grauen Himmel über ihm, der ihn auch anzustarren schien. Und der Himmel sprach:
 

„Menschen lügen, um ihre Macht behalten zu können… sieh in sein Herz, dann wirst du es wissen.“
 

Es war nicht leicht gewesen, dem Mädchen das bittere Getränk einzuflößen, aber Nalani hatte es geschafft. Sukutai und Kiuk blieben bei ihr und Nalani machte sich daran, sich um ihr eigenes Kind zu kümmern. Als der Küchenjunge in der Küche nichts davon wusste, dass Puran zu ihm hatte kommen sollen, dachte sie noch, er wäre vielleicht lieber in sein Zimmer gegangen, weil sie wusste, dass er die Treppe nicht mochte und ungern allein hinab ging. Als er aber auch oben nirgends zu finden war, machte sie sich Sorgen.

„Wo ist der Junge?!“ fauchte sie Tabari an, „Wieso bist du Vollidiot nicht bei ihm geblieben?!“

„Ich habe doch nicht ahnen können, dass er gleich verschwindet, wenn wir ihn kurz aus den Augen lassen!“ empörte der Blonde sich, als sie das ganze Schloss erfolglos abgesucht hatten. Nalani wies vorbei kommende Diener an, nach dem Kind zu suchen, je mehr halfen desto besser. „Wieso hat er nicht auf mich gehört und ist in die Küche gegangen?!“

„Du setzt dich doch bei niemandem durch, ich würde auch nicht auf dich hören!“ rief sie erzürnt und er schnappte nach Luft.

„Wie bitte?! Wie redest du mit mir, du tust, als hätte ich ihn versteckt oder entführt!“

„Du hättest besser auf ihn aufpassen sollen!“ Mit diesen Worten rauschte sie an ihm vorbei die Treppe hinunter, laut nach ihrem Sohn rufend. Puran antwortete nicht. Tabari sah seiner Frau grimmig nach. Was dachte die sich, jetzt war er Schuld?

Reg dich ab, sagte er sich dann und seufzte, Sie hat eben Angst, wenn Menschen Angst haben, reden sie dummes Zeug.

Er war gerade dabei, ihr zu folgen, als die Schlosstür aufflog und eines der Dienstmädchen herein gerannt kam.

„Herrin, das Kind ist nicht mehr im Schloss! Der Knecht draußen hat gesagt, Herr Kelar wäre vor einer Weile mit dem Kind hinaus geritten, sie wollten auf die Jagd oder so!“

Nalani, gerade unten angekommen und jetzt von Tabari flankiert, erbleichte.

„Kelar?!“ keuchte sie, „Ausgerechnet der, und mich fragt keiner um Erlaubnis?! Ihr nichtsnutzigen, einfältigen, dämlichen-…! – TABARI!“ Sie fuhr außer sich vor Zorn herum und starrte ihren Mann boshaft an, dass er keuchend zurück trat. Was war das denn jetzt?

„W-was zum-…?!“

„Geh und finde die beiden!“ befahl sie harsch, „Ich würde es selbst tun, aber Alona ist noch nicht über den Berg… ich will, dass unser Kind so schnell wie möglich wieder hier ist, was immer Kelar mit ihm vorhat, es ist sicher nichts Gutes! Dieser Aasgeier starrt Puran doch schon immer gierig an, als wäre er ein Stück Fleisch, ich weiß es genau!“ Tabari japste. Ja, das wusste er… das sah er genau wie sie auch. Nalani war noch nicht fertig. Sie kam zu ihm und packte ihn wütend am Kragen, zerrte ihn an sich heran und sah ihm grimmig ins Gesicht. Er schwieg. „Und ich sage es dir, Tabari, wenn er meinem Sohn auch nur ein Haar gekrümmt hat, dann bringe ich ihn eigenhändig um! Wenn meinem Kleinen auch nur eine Wimper fehlt, dann röste ich deinen verfluchten, grausamen Vater und mache dieser Schreckensherrschaft ein Ende! Und du weißt, dass ich recht habe mit dem, was ich sage…“ Plötzlich verflog ihre Wut und sie senkte dumpf den Kopf, worauf ihre schwarzen Haare in ihr Gesicht fielen. „Du weißt es genau wie ich auch.“ Tabari seufzte. Dann strich er ihr behutsam durch die Haare, ohne sie richtig anzusehen.

„Ja… das Reich Lyrien, das mein Vater zu regieren versucht… steht auf Messers Schneide. Und unweigerlich wird es fallen, noch ehe der Winter vorbei ist. Das… flüstern die Geister im Wind, wenn ich versuche, zu schlafen.“

Er ließ von ihr ab, um ohne weitere Worte ihrem Befehl zu folgen, sich ein Pferd zu schnappen und sich auf die Suche nach seinem Vater und seinem Sohn zu machen.
 

Der Großvater hatte gelogen. Es gab in ganz Lyrien kein Wild mehr, da war der Junge sich sicher, nachdem sie eine halbe Ewigkeit auf dem Pferd durch Vikhara geritten waren. Sie hatten den Fluss überquert und ritten jetzt durch den östlichen Wald von Garor. Es war dunkel im Nadelwald und irgendwo über den Wipfeln der Fichten, Tannen und Kiefern grummelte der behangene Himmel vor sich hin. Mutter Erde war nervös unter den Hufen des Pferdes.

Puran fragte sich, ob der Großvater ihn wieder heim bringen würde; er fürchtete plötzlich, er würde verschleppt werden und in irgendeiner dunklen Höhle im Wald versteckt werden; in dem Moment wurden seine Gedanken von etwas anderem abgelenkt, denn sie fanden mit einem Mal doch Beute; oder auch nicht, denn bei dem kleinen, mageren Reh war ihnen schon jemand zuvor gekommen.

Kelar Lyra hielt das Pferd an, das laut wieherte, stieg und sich dann schnaubend im Kreis drehte, während der Mann finster auf den kleinen, schwarzhaarigen jungen vor sich starrte, der mit fassungslos geweiteten Augen zu ihm hinauf starrte, am Boden kauernd und das erlegte Reh an sich drückend.

„Sieh an!“ schnarrte der Herr der Geister und hielt den kleinen Puran vor sich fest, der ebenfalls auf das fremde Kind hinunter sah und nur nach Luft schnappte. Beinahe hätten sie den Jungen überrannt, er hatte ihn selbst erst im letzten Moment bemerkt. „Sieh an!“ wiederholte Kelar Lyra, „Was sage ich, Enkelchen? Diese Bauern fressen uns die Haare vom Kopf! Da siehst du es, sogar die kleinen Jungen werden zu Räubern und Gesindel!“ Er schnappte seinen goldenen Speer, den er immer bei sich trug, und richtete ihn auf den vor Angst keuchenden Jungen am Boden. „Gib mir das Reh, Knirps! Es gehört mir.“

„W-was?!“ brachte der Junge mit vor Schreck piepsiger Stimme hervor. Er mochte nicht älter als Puran sein. „A-aber ich habe das Reh doch alleine erlegt, w-wieso gehört es dann Euch?!“

„Du Narr!“ Der mann spuckte ihm vor die Füße, „Du darfst hier nicht jagen, alle Tiere gehören hier mir und meiner Familie! Weißt du nicht, wer vor dir steht, du unwürdiger kleiner Mehlwurm?! – Sieh gut hin, Puran, das da unten ist ein dreckiger Wurm, der es gar nicht wert ist, hier in unserem guten Land zu leben!“ Dabei schüttelte er den erstarrten Puran vor sich wieder. „/Und der macht noch die Klappe auf, hat dir deine Mutter nicht beigebracht, wie man sich in Gegenwart von Königen zu benehmen hat?!“

Der schwarzhaarige Junge am Boden erbleichte und machte einen Schritt rückwärts. Noch immer drückte er das Reh an sich.

„I-ihr seid der Herr der Geister, ja…“ kam die Erkenntnis, „I-ich, bitte lasst mir das Reh! Ich habe noch fünf Geschwister und wenn wir nicht essen, werden wir verhungern…“

„Wen schert das?!“ lachte Kelar Lyra, „Glaubst du, das kratzt mich, ob eine Würmerfamilie mehr oder weniger hier lebt?! Ich kenne dich, ich kenne dein Gesicht ganz genau, du bist einer von den Derrans, die sich wie Heuschrecken verbreiten, eine Plage für das Land und eine Schande, weil sie schlechte Magier sind! Ihr seid nicht würdig, dieses Reh zu verspeisen. Gib es mir, bevor ich dich gleich mit als Beute nehme!“ Er drehte den Speer um und stieß den Jungen mit dem stumpfen Ende zu Boden, worauf er samt Reh umfiel und das Tier fallen ließ. Als der Mann die Beute mit dem Speer aufspießen wollte, warf sich der kleine Junge schreiend darüber, als müsste er das tote Reh schützen.

„Nicht!“ schrie er gellend, „Bitte, w-wir müssen doch auch essen, g-genau wie Ihr auch!“

„Das ist mir gleich, gib mir das Fleisch, du darfst hier nicht jagen, tust es dennoch und verweigerst mir meine rechtmäßige Beute?! Was bildest du dir ein, wer du bist, du abscheulicher Wurm?!“ Er wollte zustechen und das arglose Kind töten, das ihm im Weg stand… in dem Moment ertönte neben ihnen plötzlich ein lautes Krachen und der Speer wurde von einem gleißend hellen Blitz erfasst, dem Mann aus der Hand gerissen und zu Boden geschleudert. Sowohl Kelar und Puran als auch der kleine Junge am Boden sahen erschrocken in die Richtung, aus der der Blitz gekommen war. Einen Moment später kämpfte sich Tabari samt Pferd zwischen den nadeligen Zweigen hervor. Purans Herz machte vor Erleichterung, seinen Vater zu sehen, einen kleinen Luftsprung. Endlich nicht mehr mit dem unheimlichen Großvater alleine…

Der kleine Junge am Boden schnappte sein Reh und rappelte sich vor Angst kreidebleich im Gesicht wieder auf, als jetzt zwei Männer zu Pferd vor ihm standen. Der Blonde wandte sich dem älteren zu.

„Das reicht jetzt – Vater!“ mahnte er ihn zornig, „Bist du verrückt geworden, das kleine Kind anzugreifen?!“ Er wandte sich dem Kleinen am Boden zu. „Geh, Junge! Nimm das Reh, es gehört dir. Du darfst es behalten. Lass dich nicht von einem alten Verrückten einschüchtern, der dir das Grüne vom Himmel herunter lügt!“ Kelar Lyra schnaubte entrüstet.

„Wie kannst du es wagen, Tabari…?! Halt jetzt bloß deine Zunge fest, oder ich vergesse mich eventuell!“

„Du hast hier genug angerichtet!“ fuhr Tabari ihn ungewohnt zornig an und selbst Puran schrak zurück. Sein Vater war nie wütend… ihn jetzt so zu erleben war beängstigend, obwohl er wusste, dass die Wut dem Großvater galt und nicht ihm. „Du bist nicht der König der ganzen Welt, Vater!“ schnappte der Blonde weiterhin und riss die Zügel seines Pferdes herum, um es dichter an Kelar zu lenken. Der Kleine mit dem Reh wagte nicht, sich zu bewegen, und erzitterte bloß.

„A-aber-... ... das Reh...?“ wunderte er sich heiser, und der junge Mann seufzte.

„Es gehört dir! Geh schon, lauf. Ihr dürft hier jagen, so viel ihr wollt! Denn die Rehe gehören Mutter Erde, genau wie alle anderen Tiere! Kein Mensch darf es wagen, alle Rehe für sich zu beanspruchen!“ Er sah seinen Vater wieder grimmig an. „Das ist eine Beleidigung der Geister! – Und warum zum Geier hast du Puran mit auf die Jagd genommen?! Er ist noch viel zu klein zum Jagen!“ Der Alte brummte missgelaunt.

„Während ihr alle damit beschäftigt wart, dem unwürdigen Mädchen zu helfen, habe ich mich fürsorglich um meinen Enkel gekümmert, ist das falsch, du Narr?!“ Er schüttelte den Jungen wieder, und dieser hustete bloß.

„I-i-ich will heim zu Mutti-... ...“ stammelte er, und Tabari murrte entnervt.

„Du machst ihm Angst, Vater, merkst du das gar nicht? Du machst allen Angst mit deinem blöden Geschwätz!“ Er bemerkte erst jetzt, dass der kleine Junge immer noch am Boden kauerte. „Junge,“ sagte er ruhig, „Lauf schon. Niemand wird dir ein Leid tun, du darfst dein Reh mitnehmen.“ Das Kind wich zurück und sah die Männer und den Jungen verwirrt an.

„U-und-... ... Ihr werdet mich ganz sicher nicht töten...?“ Er erntete ein Kichern von dem jungen Mann vor ihm.

„Natürlich nicht! Du hast mein Wort. Behalt das Reh und lauf schnell, kleiner Junge. – Und mein kleiner Junge kommt jetzt gefälligst zu mir, bevor mein närrischer Vater ihm den Kopf verdreht!“ Er streckte die Hand nach seinem Sohn aus. „Komm, Puran. Wir gehen nach Hause. Hör nicht auf das, was dein Großvater Kelar sagt. Er ist nicht mehr ganz schussecht.“

Der schwarzhaarige Junge machte, dass er davon kam, und Kelar sah ihm bebend vor Zorn hinterher, während Tabari Puran vor sich auf sein eigenes Pferd setzte. Das Kind war völlig verschreckt und starrte apathisch in die Luft, ehe sein Vater noch einmal zu Kelar sah.

„Es ist vorbei, Vater,“ knurrte er, „Ich werde nicht länger mit ansehen, dass du unser Land in den Ruin reitest und die Geister dermaßen erzürnst! Du hast viel Grausames getan, aber jetzt gehst du zu weit! Vater Himmel und Mutter Erde werden dich strafen für deine Habgier und deinen Machthunger! – Komm, Puran. Lass uns heim gehen.“ Damit kehrte er seinem Vater bitter den Rücken, trieb das Pferd an und machte sich mit dem erstarrten Kind vor sich sitzend auf den Weg zum Schloss.
 

Kelar Lyra fluchte und schimpfte, sobald Tabari und Puran weg waren. Er sammelte seinen Speer wieder auf und jagte dann schnaubend vor Wut dem kleinen Dorfkind mit dem Reh hinterher.

„Denen werde ich es zeigen!“ schwor er, „Die einzige Beleidigung der Geister bist du, Tabari, der du pietätlos deinem eigenen Vater den Rücken kehrst! Und die vermaledeite Wachtel, die deine Frau ist, die alles zerstört, was ich aufgebaut habe! Ich bringe sie um, ich zerfetzte sie und tanze in ihrer Haut, und bis ich wieder zufrieden bin mit dem Land wird es Blut regnen, hah!“ Vor sich sah er den Jungen wieder auftauchen, der in Richtung Fluss rannte. Als er merkte, dass er verfolgt wurde, rannte er schneller, aber es half nichts. Kelar holte ihn ein, stieß ihn abermals mit brutaler Gewalt mit dem stumpfen Speerende zu Boden und entriss ihm jetzt das erbeutete Reh. Er legte es vor sich auf den Rücken des Pferdes und sah zornig auf den kleinen Jungen herunter, der sich den schmerzenden Rücken hielt und heftig keuchte.

„Hast du das wirklich geglaubt?!“ spottete er, „Dass du das Reh behalten kannst?! Die Tiergeister folgen dem, der sie beherrscht, Derran-Balg! Und ihr, du und deine schmutzige, blutschändliche Familie, beherrscht nicht mal ein Staubkorn!“ Er lachte laut auf und spuckte dann gehässig auf das wimmernde Kind herunter, ehe er ihm den Rücken kehrte und mit der Beute davon ritt. Der Junge blieb mit schmerzverzerrtem Gesicht halb ohnmächtig am Waldboden liegen und sah verschwommen, wie das Pferd mit dem Alten und seiner überlebenswichtigen Beute davon peste.

„Ihr seid Lügner…“ stöhnte er noch benommen, „Ihr gabt mir Euer Wort, Mann vom Lyra-Clan… das ver-…zeihe ich… Euch nie!“ Dann schloss er die Augen und verlor das Bewusstsein.
 

Nalani verfluchte ihren Schwiegervater innerlich, hütete sich aber, viel dazu zu sagen, um die Geister nicht noch zorniger zu machen, sobald sie ihren kleinen Sohn wieder hatte. Sie nahm das zitternde, blasse Kind auf den Arm und drückte es zärtlich an sich heran. Nachdem der Kleine seinen Schrecken los geworden war, erwiderte er die Umarmung auch etwas.

„Wie kann er unserem Kind sowas antun?!“ fragte die Mutter Tabari, „Er ist ja völlig verkühlt und außerdem sitzt ihm der Schreck ja völlig im Nacken!“

„Es ist ein seltsamer Tag,“ war alles, was Tabari murmelnd von sich gab, und sie sah ihn schräg an, weil er ihr offenbar nicht mal zugehört hatte, er zog nur seinen Wintermantel aus und gab ihm einem Diener, der ihn zum Trocknen in die Küche hängen würde. „Himmel und Erde sind unruhig, Nalani…“

„Dann geh und frag die Geister, was wir tun sollen,“ riet sie ihm ruhiger als zuvor. Am oberen Treppenende erschienen Kiuk und Sukutai. Der kleinen Alona ging es offenbar etwas besser. „Ich werde das Kind baden, bevor es auch krank wird wie seine Cousine. Wo ist dein Vater hin, Tabari?“

„Ich weiß nicht,“ machte Tabari ratlos, „Er rennt jetzt schmollend durch den Wald, nehme ich an. Habt ihr eigentlich inzwischen von meiner Mutter ein Lebenszeichen gefunden oder ist die auch vom Winde verweht?“

„Sie hat sich nicht blicken lassen, nein,“ sagte Kiuk oben, „Na, wenigstens Puranchen ist wieder daheim.“ Er grinste müde und strich dem Neffen über den Kopf, als Nalani mit ihm auf dem Arm hinauf kam, um ihn ins Bad zu bringen.

Ein Bad fertig zu machen dauerte immer etwas. Für die Kinder war das Badebecken zu groß, darum hatten sie eine Zinkwanne, in der sie die Kleinen dann badeten. Jetzt im Winter musste das Wasser mit viel Mühe erhitzt werden. Zum Glück gab es dafür den Feuerzauber Vaira.

„Wieso nennt Großvater andere Menschen Würmer?“ fragte Puran verwirrt, als seine Mutter ihn in die Zinkwanne gehoben hatte und sich daneben hockte, um mit einem Lappen sanft seine kleinen Ärmchen zu waschen. Nalani hielt kurz mit dem Waschen inne und sah ihn groß an.

„Dein Großvater ist ein garstiger Mann,“ sagte sie dann langsam. „Würmer sind keine sehr ehrbaren Tiere. Ehrbare Tiere sind vielleicht Bären, Löwen und Hirsche oder Adler. Wenn Großvater zu Menschen Würmer sagt, meint er, sie wären nicht ehrbar. Das ist gelogen, jeder Mensch ist ehrbar auf seine Weise und alle sind geliebte Kinder von Himmel und Erde. Das gilt auch für alle Tiere, sogar für Würmer und Ameisen.“

„Wieso sind die anderen Menschen bei Großvater weniger ehrbar als wir, Mutti?“ fragte der Kleine weiter und schnaubte kurz, als sie mit dem nassen, warmen Lappen über sein hübsches Gesicht fuhr. „Nicht im Gesicht, Mutti, ich mag das nicht…“

„Mach die Augen zu, dann bekommst du auch kein Wasser hinein,“ riet sie ruhig. „Nun, es gibt viele Schamanen hier in Kisara. Manche Familien können sehr gut zaubern und andere nicht so gut. So, wie einige Menschen gut malen können und andere nicht. Unsere Familie ist eine sehr alte Familie und wir sin sehr gute Magier. Dein Großvater ist der Herr der Geister, der Anführer der Geisterjäger. Und du weißt ja, was Geisterjäger sind?“

„Die besten Schwarzmagier der Welt?“ machte er, stolz, das zu wissen, und sie lächelte und nickte.

„Genau. Und es gibt auch Familien, die nicht so begabt sind in Magie. Sie können aber nichts dafür und können dafür vielleicht etwas anderes besser. Jedenfalls ist es falsch und schandhaft, sie nur deshalb Würmer zu nennen. Ich möchte, dass du dir das merkst. Sage niemals Wurm zu einem Menschen, denn es ist ein böses Schimpfwort.“

„Ich merke es mir, Mutti,“ versprach er, jetzt offenbar wieder besserer Dinge. Das warme Wasser taute ihn wieder auf und Mutters Gegenwart vertrieb die Angst vor dem schrecklichen Großvater. Dann begann er zu grübeln: „Wir haben im Wald einen Jungen gesehen, Großvater hat gesagt, seine Familie wäre wie eine Heuschrecken-Plage. Das war sicher auch ein Schimpfwort.“

„Natürlich,“ entgegnete Nalani. „Heuschrecken ärgern uns Menschen manchmal, weil sie kommen und die Ernte wegfressen. Und wenn sie kommen, dann kommen sie mit sehr, sehr vielen. Wenn Großvater zu einer Familie Heuschrecken sagt, heißt das, dass diese Familie sehr viele Menschen hat, sie ist sehr groß.“

„Sind wir auch Heuschrecken?“

„Unsinn, wir sind nicht so viele. Die Bauernfamilien in den Dörfern haben oft sehr viele Kinder. Wir haben hier im Schloss nur zwei Kinder. Manche Bauern haben über zehn Kinder.“

„So viele?!“ staunte ihr Sohn, „Auch manchmal zwanzig oder hundert?“ Nalani lachte.

„Na ja, das wohl eher nicht. Wenn ein Mann mehrere Frauen hat, könnten zwanzig schon mal sein, aber hundert gewiss nicht. Aber die Bauern brauchen auch all ihre Kinder, damit sie ihnen beim Arbeiten helfen. Sie bestellen die Felder, säen, ernten und hüten Vieh, Hühner oder Schweine. Die Bauern haben, anders als wir, nicht genug Geld, um sich Diener leisten zu können, die für sie arbeiten. Wir haben es hier sehr gut, wir müssen Himmel und Erde jeden Tag für das Wohlhaben danken, dass sie uns geben. Viele Menschen sind viel ärmer als wir.“

„Und wieso?“ Die Frau seufzte tief. Er fragte viel…

„Das weiß ich nicht, mein Sohn. Die Geister bestimmen, dass es so ist. Gerecht ist es nicht… wir müssen die Geister in höchstem Maße ehren und fürchten. Sie können uns das Leben retten, aber auch sehr, sehr grausam sein.“
 

„Vater ist also jetzt auch wie vom Erdboden verschluckt?“ fragte Kiuk, als er später gemeinsam mit seiner Frau, Nalani und dem kleinen Puran in der oberen, kleinen Stube saß. Alona schlief jetzt offenbar ruhiger und konnte für eine Weile allein gelassen werden. Sukutai sah aber regelmäßig nach ihrer Tochter.

„Scheint so,“ war Nalanis Antwort und Kiuk seufzte. „Mir gefällt es auch nicht, die Geister zürnen immer noch und Mutter Erdes Haut ist gespannt wie der Bauch einer schwangeren Frau.“

„Wenn dein Vater frei herumläuft, fürchte ich um mein Kind und meine Familie,“ stammelte Sukutai bedrückt und sah unglücklich zu Kiuk herüber, „Wir alle wissen, dass er ein grausamer Mann ist, aber jetzt wird er unberechenbar, wenn er sogar den kleinen Puran entführt!“

„Alona wird er nichts tun, die ist ja unwichtig für ihn,“ sagte Nalani kaltherzig, ohne es böse zu meinen, und Sukutai senkte unglücklich den Kopf.

In dem Moment öffnete sich die Tür und als schon alle in einer plötzlichen Paranoia befürchteten, Kelar würde kommen, war es nur Tabari, der den Raum betrat und von allen verdutzt angesehen wurde.

„Wo hast du denn gesteckt?“ war die Begrüßung seiner Frau. Tabari sagte nichts und das an sich war schon außergewöhnlich; normalerweise erwiderte er irgendetwas Sinnloses, wenn sie so etwas sagte. Nalani zog verwundert über seine Ernsthaftigkeit die Brauen zusammen. Tabari sah einen Moment lang in die Runde.

„Ich werde dem Geisterzorn ein Ende bereiten,“ erklärte er dann todernst, „Das habe ich beschlossen.“

„Ein Ende?“ machte Sukutai, „W-was meinst du?“

„Ich werde meinen Vater finden und seinem Regime ein Ende setzen, meine ich damit,“ entgegnete der Blonde. „Kiuk wird mitkommen.“ In seinen Worten war keine Bitte oder Aufforderung an seinen Bruder, es war eine sachliche Feststellung, als wäre es unumstößlich. Kiuk erhob sich und sah ihn ebenfalls leicht verunsichert an. „Wir sind die Familie und die Erben dieses Mannes, der das Land in ein Chaos voller Tod und Verderben gestürzt hat,“ fuhr der ältere Bruder fort, „Es ist unsere Pflicht, das zu tun; oder meine zumindest als ältester Sohn. Die Geister haben mit mir gesprochen und mir gesagt, dass es so sein muss. Das ist unser Schicksal… mein Schicksal, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“

„Du willst dich ihm alleine stellen?“ fragte Nalani ungläubig, „Du hast gegen mich verloren und er ist der Herr der Geister…“

„Du hast mich gehört!“ fuhr er sie ungewohnt scharf an und sie weitete kurz die Augen, als er sie fest ansah und in seinen Augen kein bisschen Zweifel an seinem Vorhaben zu sehen war. Er meinte es ernst… er hatte lange darüber nachgedacht.

Tabari seufzte und grinste dann mit einem Mal, während Kiuk immer noch da stand.

„Ich hasse Kämpfen und habe keine Lust darauf…“ gestand er, „Das ist einfach nicht meine Natur, ich hab mich nie gerne geprügelt oder so. Aber das hier ist anders, Nalani. Das ist der Wille der Geister. Sie werden mich so lange zwingen, es zu tun, bis es vorüber ist. – Kiuk! Komm, ich brauche deinen Teleport, mit dem Pferd zu reiten dauert zu lange!“

„Du weißt plötzlich, wo er ist?“ wunderte sich Kiuk.

„Nein,“ lachte sein Bruder, „Aber die Geister werden uns schon da hin bringen, wohin wir wollen!“

„Wenn du das sagst,“ schnaubte Nalani skeptisch und nahm ihren Sohn auf den Schoß, der verblüfft auf seinen Vater und seinen Onkel sah, die sich zum Gehen wandten.

„Vertrau mir,“ erwiderte ihr Mann, „Das wird schon irgendwie.“ Die Männer verließen die Stube und Sukutai sprang von plötzlicher Panik ergriffen auf.

„Das könnt ihr nicht!“ schrie sie entsetzt, „K-Kelar wird euch beide töten! Nalani, tu doch was…“ Nalani jedoch machte keinerlei Anstalten, sich zu rühren, und blieb sitzen, ins Kaminfeuer starrend. Puran wackelte auf ihrem Schoß sitzend mit den Beinchen.

„Ach,“ sagte die Schwarzhaarige und strich ihrem Sohn zärtlich über den Kopf, „Ich hasse dieses Irgendwie. Und wenn er nicht heim kommt, kann der Mann aber was erleben, das sage ich dir!“
 

Kelar Lyra war nicht weit weg vom Schloss seiner Vorfahren. Er war nach Süden geritten, hatte im Wald etwas Reisig zusammen gesammelt und briet jetzt mitten in der kargen Pampa sitzend das Reh, das er dem kleinen Bauernjungen abgenommen hatte. Er würde es nie alleine aufessen können, aber was scherte es ihn. Seine Familie verriet ihn und selbst Tabari wagte es inzwischen, sich ihm in den Weg zu stellen, das machte ihn zornig. Diese Bastarde verdienten die Gaben Mutter Erdes nicht!

„Oh, der Zorn wird noch größer werden!“ zischte er grantig, während er die gebratenen Stücke Fleisch von den Stöcken riss, an denen er sie über das Feuer gehalten hatte. „Der Zorn der Himmelsgeister! Unwürdige Maden, kriechen werden sie, bis sie blutend im Schlamm liegen und ich sie alle ins Feuer des Himmelsdonners schicken kann!“ So fluchte der Mann, riss mit den spitzen Zähnen das Fleisch entzwei und kaute grimmig darauf herum. In der Nähe krächzte eine Krähe und der Mann schnaubte. Vögel. Er hasste Vögel und vor allem Krähen, denn alle Aas fressenden Vögel waren Schutztiere des Chimalis-Clans. Der Chimalis-Clan war der Clan der Todesvögel, denn einst hatten die Vorfahren dieser Familie einen Pakt mit den Kondorgeistern geschlossen, der ihnen eine grausame und unheimliche Macht verliehen hatte. Mit plötzlicher Wut auf die arglose Krähe packte der Herr der Geister einen Stein und schleuderte ihn nach dem Tier.

„Unwürdiges Stück Aas!“ fluchte er, „Ihr verfolgt mich, Chimalis, ich sehe es ganz genau! Ich bringe euch alle um, dich, deinen dämlichen, Wetten gewinnenden Bruder, deine Schlampe von Tochter und deinen Neffen, der genauso dämlich ist wie sein Vater! Ich werde euch jagen, bis ihr um den Tod betteln werdet, den ihr an sich beherrschen solltet!“

Der Stein verfehlte den Vogel und krächzend flatterte das Tier empor und segelte in Richtung Norden. Kelar saß einen Moment schweigend da und starrte dem Tier nach, als hätte es ihm die Sprache verschlagen, es nicht erwischt zu haben. Es waren schlechte Zeichen.

Als er spürte, wie der Wind hinter ihm auffuhr und ihm die Haare ins Gesicht wehte, erhob er sich, gerade zur rechten Zeit, um aus dem Nichts seine beiden Söhne vor sich auftauchen zu sehen, Tabari vorne und Kiuk mit gekreuzten Armen dahinter.

„So eine Überraschung,“ sprach der Vater kalt. „Kommt ihr zum Festmahl des Rehfleisches? Etwas spät, es ist schon mehr als gar.“

„Garer als du im Kopf zumindest,“ war Tabaris Erwiderung. Der Himmel grollte über ihnen und Kelar sah ihn höhnisch an, als der Sohn zwei Schritte auf ihn zu trat. „Die Geister haben mich zu dir geführt, Vater. Du weißt, wieso ich gekommen bin, wieso wir beide jetzt hier sind… nicht wahr? Du hast davon geträumt, genau wie ich, und es hat dich ebenso rastlos gemacht.“ Kiuk blieb hinten und sah nur verunsichert hin und her zwischen den beiden. Was immer hier gleich laufen würde, er würde seinen Bruder nicht im Stich lassen; Nalani würde ihn häuten, ließe er zu, dass Tabari etwas zustieß.

Kelar sagte lange nichts; dann begann er plötzlich lauthals zu lachen. Tabari wartete seelenruhig darauf, dass er sich ausgelacht hatte. Als Kelar sich beruhigte, riss er plötzlich seinen Speer hoch und hielt ihn seinem Sohn angriffslustig grinsend entgegen.

„Du willst mich herausfordern?!“ spottete er, „Du kannst mich nicht töten, Tabari.“

„Ich will dich nicht töten, ich werde deine Tyrannei ein für alle Mal beenden. Töten kann dich wer will, ich werde es nicht sein.“

„Du kannst mich auch nicht besiegen!“ lachte der Vater, „das spürst du auch, wenn du auf dein Herz hörst, huh? Wir sind… vom gleichen Fleisch und Blut, die Geister haben nicht bestimmt, dass Menschen vom selben Blut sich gegenseitig töten sollen. Oder bekämpfen. Das ist nicht die Natur, Tabari!“

„Was weißt du… von den Geistern, Vater?“ war Tabaris kaltherzige Antwort, „Die du versklaven willst, die du zu beherrschen glaubst… dabei haben sie dir schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt. Die Geister… dienen nicht einem Menschenmörder, der es wagt, Herrschaft über die Mächte der Schöpfung, Vater Himmel und Mutter Erde zu beanspruchen!“ Er sah auf des Vaters Speer, als mit einem lauten Krachen plötzlich ein Blitz aus dem Himmel in die Waffe einschlug und Kelar den Speer samt gleißender Blitzkugel empor riss, das Gesicht wahnsinnig verzerrt zu einer Furcht einflößenden Grimasse.

„Du irrst dich, Tabari!“ krächzte er lachend, „Die Geister fürchten sich vor mir und würden nie wagen, mich zu verraten… im Gegensatz zu meiner sterblichen Familie!“

Dann stürzte er sich, Speer voran, auf seinen eigenen Sohn.
 

Tabari riss ein Schwert aus seinem Gürtel und blockte damit rechtzeitig den Speer. Kelar schnaubte.

„So kommst du mir nicht davon! Wenn du es wagst, mich angreifen zu wollen, Sohn, dann stell dich mir wie ein Mann! Und ich werde keine Gnade zeigen…“ Damit riss er den Speer zurück und griff von der anderen Seite an. Tabari sprang zurück und wehrte den zweiten Angriff wieder mit seinem einfachen Schwert ab, so gut er konnte. Er duckte sich unter dem vorbei sausenden Blitz hinweg und ein weiteres Donnern aus dem Himmel ließ ihn zurückfahren, als Kelar wütend seinen Speer herum schwang und ihn wieder angriff.

„Pass auf!“ schrie Kiuk im Hintergrund entsetzt und riss schon alarmiert die Arme empor, um seinen Bruder zur Not weg zu teleportieren und ihn vor dem tödlichen Angriff zu bewahren. Aber der Blonde wusste sich schon selbst zu helfen, wich einem weiteren Speerschlag aus und blockte die goldene Waffe ein neues Mal.

„Tse!“ spuckte Kelar, „Du kannst nur weglaufen, schon bei Nalani bist du immer nur weggelaufen! Was bist du bloß für ein Waschlappen?! Du glaubst ernsthaft, die Macht der Geister wäre mit jemandem wie dir?!“

„Ich kann auch anders,“ machte Tabari, „Ich habe nur keine Lust!“

„Wie kannst du es wagen…?!“ Der Mann blieb stehen und riss seinen Speer in den Himmel. Tabari blieb auch stehen, leicht außer Atem vom hastigen Ausweichen, und fixierte seinen Vater mit einem stummen Blick. „Wie kannst du es wagen, die Geister und mich so zu entwürdigen, Tabari?!“ brüllte Kelar ihn zornig an, „Kämpfe! Oder ich werde mich bis ans Ende allen Lichts und aller Finsternis schämen, dein Vater zu sein!“

Tabari seinerseits hob den Kopf und tat etwas Verblüffendes, als sein Vater sich rasend vor Wut auf ihn stürzte.

Er grinste mitleidig.
 

„Du bist nicht mein Vater. Du bist ein irrer Geist voller Bosheit, der meinen Vater schon vor langer Zeit gefressen hat.“
 

Kelar erreichte seinen Sohn nicht. Als er ihn mit dem Speer aufspießen wollte, und die Macht des Stoßes hätte einen wilden Keiler aufgespießt, schwang Tabari in aller Ruhe sein Schwert herum und von einer unsichtbaren Macht wurde der Gegner durch die Luft geschleudert und zu Boden geworfen. Keuchend rappelte Kelar sich auf und starrte fassungslos auf seinen Sohn.

Wind…?! Hat er gerade aus dem puren Nichts… Wind beschworen?!

Kiuk war ebenfalls verwundert, sagte aber nichts und blieb im Hintergrund. Das war Tabaris Kampf, nicht seiner. Er würde die Geister nur beleidigen, würde er sich unnötig einmischen.

Kelar war aufgestanden und packte seine Waffe von Neuem.

„Dann verleugnest du mich also?“ fragte er kühl, sein Sohn wurde jetzt auch ernster und hob lauernd das Schwert höher.

„Ich verleugne nicht meinen Vater, sondern das, was die Wahnsinnsgeister aus ihm gemacht haben! Das ist eine Krankheit in deinem Kopf und sie breitet sich aus, je länger du lebst befällt sie dich mehr. Du… bist nicht länger Herr der Geister, Kelar. Du wirst das Amt abgeben, um den Zorn der Himmelsgeister zu besänftigen.“

„Einen Dreck werde ich!“ spuckte das gegenüber und stürzte sich brüllend wieder nach vorn, „Ich habe hier die Macht, Tabari! Du wirst kriechen, und wenn ich dich in Stücke reißen muss!“ Schneller als Kiuk gucken und Tabari reagieren konnte war er über ihm und schlug mit voller Wucht mit dem Speer nach ihm. Tabari riss in letztem Moment das Schwert hoch und blockte den gleißenden Blitz ab, den Kelar nach ihm schmetterte, es gab ein ohrenbetäubendes Krachen und von einer gewaltigen Druckwelle aus Macht wurde Tabari zu Boden geschleudert, das Schwert wurde ihm aus den Händen gerissen. Als er keuchend den Kopf hoch riss, war sein Vater über ihm samt Speer, an dessen Spitze das glühende, tödliche Licht erlosch.

„Was zum…?!“ japste Kiuk und trat unwillkürlich zurück, während die Farbe aus seinem Gesicht wich. Tabaris Schwert war nicht mehr zu sehen; an seiner Stelle lagen Metallstücke wie Krümel im verdorrten Gras.

„Die Geister liegen mir zu Füßen…“ zischte der Herr der Geister grimmig, als er den Speer auf Tabari richtete und der japsend die Augen schloss, als die Spitze seine pochende Kehle berührte.

Er würde ihn töten.

Er würde ihn aufspießen und ihm die Haut abziehen, da war er sicher.

Geister des Himmels und der Erde! Rief er die Mächte der Schöpfung in seinem Inneren, Hört mir zu… dieses eine Mal, hört mir zu…

„Und du, Tabari… wirst mir ebenfalls… zu Füßen liegen!“ schnappte der Mann über ihm in diesem Moment, und er holte aus, um mit der Waffe zuzustechen. Kiuk schrie; in dem Augenblick öffnete Tabari die Augen wieder und in dem sonst so friedlichen Grün flammte jetzt der Zorn von Mutter Erde auf, auf der er lag. Er riss blitzartig beide Hände empor und abermals schmetterte er den Vater samt Speer durch die Luft und zurück auf den Boden, wo er sich überschlug und hustend liegen blieb. Der Windstoß erfasste Kelars Lagerfeuer und ließ die Flammen einen bösartigen Tanz tanzen. Der Blonde rappelte sich auf die Beine und keuchte kurz, bis Kelar sich auch wieder aufgestellt hatte, fest den Speer umklammernd und bebend vor Zorn und Hass auf die ganze Welt, die ihn verraten hatte, die seine Macht nicht akzeptierte.

Er würde es ihnen zeigen… er würde sie alle vernichten und sie unterwerfen.

„Mutter Erde wird dich strafen dafür, dass du unschuldiges Blut auf ihrer Haut vergossen hast!“ zischte der Jüngere, „Und Vater Himmel wird dich strafen, weil in seiner Luft der Gestank von Tod und Grauen ist, seit du dich König über dieses Land nennst! Dieses Land, das du Lyrien nennst… sein Name ist Dokahsan! Und hier und heute werde ich… ihm diesen Namen wiedergeben!“

„Und deine Familie für alle Zeiten… entehren!“ raunte der andere und hob die Waffe, um mit einem weiteren Grollen und einem mächtigen Windstoß einen gigantischen Wirbel aus Sturm und Macht an der Spitze des Speers entstehen zu lassen. „Ihr Geister des Windes, Geister des Sturmes, die ihr meine Familie beschützt!“ brüllte er dabei mit in den Nacken gelegtem Kopf, „Zeigt diesen Verrätern, dieser Schande, diesem Abschaum euren Zorn! Vernichtet ihn, diesen abscheulichen Käfer, der es gewagt hat… eure Ehre in Frage zu stellen!“ Er riss den Kopf wieder herab und funkelte Tabari boshaft aus seinen zu Schlitzen verengten Augen an. Tabari sah zurück und für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Stumm sahen sie einfach nur einander an und Tabari erkannte, dass in den Augen seines Vaters nichts mehr war… da war keine Seele, kein Geist.
 

Nur Wahnsinn.
 

„Vergebt mir, Geister allen Lebens,“ murmelte Tabari nur, in dem Moment schleuderte sein Vater seinen Tod bringenden, mächtigen Wirbel auf ihn. Kiuk fuhr zusammen bei dem lauten Krachen und das darauf folgende Beben der Erde warf den Mann von den Beinen. Er sah seinen Bruder, der dieses Mal nicht mehr auswich; stattdessen breitete er die Arme aus, als wollte er den Tod, der unweigerlich auf ihn zu kam, umarmen.

„TABARI, NEIN!“ schrie er, in dem Moment gab es ein weiteres, grauenhaftes Donnergrollen, das aus Himmel und Erde zugleich zu kommen schien, als Kelars Zauber Tabari traf und ihn in den Wirbel einhüllte. Kiuk hustete und rappelte sich trotz des plötzlich aufkommenden Schwindelgefühls auf, als er mit ansehen musste, wie sein älterer Bruder von der furchtbaren Macht der zornigen geister erfasst und verschlungen wurde. Er würde den Augenblick nie vergessen, in dem er wirklich geglaubt hatte, er hätte seinen Bruder verloren.

Doch dann brach der Wirbel mit einem Mal mit einem gleißenden Licht auf und hob sich in den Himmel. Tabari hatte die Macht mit bloßen Händen gefangen und hielt sie fest, die Arme in den Himmel erhoben und jetzt wieder zu seinem Vater starrend, der das Schauspiel ebenfalls entgeistert verfolgte.

Er fing seinen Zerstörer. Er fing die Macht des Sturms mit bloßen Händen. Kein Sterblicher hätte so einen Angriff überlebt, nicht einmal Zoras Chimalis wäre lebendig davon gekommen; als er einmal die größte Macht des Lyra-Clans auf seinen ewigen Rivalen entfesselt hatte, hatte er leider nur seine Schulter erwischt und ihn nicht ganz getroffen…

„Wer bist du…?!“ japste er mit einem Mal erbleichend und starrte auf Tabari, „Wer bist du, Geist, dass du den Wind fangen kannst, als wäre er ein Heuballen…?!“

Tabari reckte den Kopf in die Luft und sah schweigend zu ihm herüber, die gewaltige Macht bebend in seinen Händen haltend.

„Ein Windgeist, Vater,“ sprach er dann, „Und der Erbe des Lyra-Stammes, der in einer späteren Zeit… wieder zu Ehre und Ansehen kommen soll, da du nicht mehr sein wirst.“

Damit schleuderte er die Macht des Sturms zurück auf den Vater, der wie angewurzelt da stand und keine Anstalten machte, auszuweichen. Als der Wind ihn mit voller Wucht erwischte und Tabari die Hände mit einem Ruck zurück zog, erlosch das Licht und der Wirbel verschwand. Der Herr der Geister lag am Boden, vom Zauber war seine Haut blutig zerfetzt und er keuchte schwer. Seine Brust zierten zwei tiefe Schnitte, aus denen dunkles, heißes Blut sickerte und seinen schwarzen Umhang durchnässte.

Kiuk kam herbei gerannt.

„Himmel, Tod!“ rief er nach Luft schnappend, „W-was hast du getan? W-was ist das hier, Tabari…?!“

„Es ist vorüber,“ war Tabaris einziger Kommentar, und er ging in aller Ruhe zu seinem Vater, der am Boden lag, getroffen von der Macht, die er zu beherrschen geglaubt hatte.

Er hatte sich offenbar geirrt. Er hatte die Sturmgeister nie beherrscht… Tabari hingegen tat es mit jeder Faser seines Körpers. Er war ein perfekter Meister der Windmagie.

„Du…!“ war alles, was er röchelnd herausbrachte, als er bebend aus blutunterlaufenen Augen zu seinem ältesten Sohn hinauf sah. Kiuk kam auch dazu, wurde aber nicht beachtet. „Du hast… von den Windgeistern geträumt… die du maßlos… beherrschen kannst… und du hast… gewusst, dass du heute… hier sein würdest mit mir. Dass du… mich… töten würdest, Tabari. Du hast es… schon lange gewusst…“

„Du hast es auch gewusst,“ sagte der Sohn leise. „Aber ich habe dich nicht getötet. Ich habe den Wind erlöschen lassen, bevor er dich zerreißen konnte. Im Namen des versammelten Rates, der mir da zustimmen wird, nehme ich dir den Rang des Geisterjägers. Du bist verstoßen vom Rat und wirst des Landes verbannt für immer und ewig. Setzt du jemals wieder einen Fuß nach Dokahsan, wirst du sterben. Und jetzt sag…“ Er hockte sich hinunter und nahm Kelar mit aller Sorgfalt den Pentagramm-Anstecker ab, den er in seine Tasche steckte, „Bin ich nicht barmherzig, Vater? Du hast keine Gnade verdient, so viele, wie du getötet hast… aber ich bin nicht wie du. Ich kann… dich nicht töten. Erhole dich und verlasse das Land.“ Damit erhob er sich wieder und nahm den Speer seines Vaters an sich, und keuchend versuchte Kelar, sich aufzurappeln, schaffte es aber nicht. Blut spuckend blieb er auf der Erde liegen, als Tabari sich gefolgt von Kiuk von ihm entfernte.

„Das wagst du nicht…“ stöhnte er, „Du kannst mich nicht verbannen…“

„Doch,“ seufzte Tabari und sah noch einmal über die Schulter, „Da du deines Amtes enthoben bist, bin ich als dein Sohn der Erbe deines Reiches Lyrien. Das heißt, ich habe das Sagen. Lebe wohl… Kelar.“

Er gab seinem Bruder ein Zeichen, worauf der ihn artig zurück zum Schloss teleportierte. Kelar blieb allein in der Einöde zurück, schwer verwundet und unbewaffnet den bösartigen Mächten der Natur ausgesetzt.
 

Aus dem Himmel kam ein dunkles, langgezogenes Grummeln, als in der Stube der kleine Puran plötzlich den Kopf drehte und orakelte:

„Vati und Onkel Kiuk kommen zurück!“

Nalani stand auf, sie hatte es ebenfalls gespürt. Die Unruhe der Geister hatte sich verändert… sie konnte nicht sagen, ob zum Guten oder zum Schlechten. Aber dass Tabari zurück kam, war ein gutes Zeichen. In dem Augenblick erschienen er und sein Bruder aus dem Nichts in der Stube, worauf Sukutai auch aufsprang.

„Hallo Vati!“ grüßte Puran Tabari guter Laune und froh darüber, dass er zurück war; er verstand selbst nicht, was ihn beunruhigt hatte, aber mit dem Verschwinden der beiden Männer war die Nervosität der Geister gewachsen. Tabari grinste ihn an.

„Hallo, mein Söhnchen!“

„Wo ist dein Vater?“ wollte Sukutai wissen und war sich nicht sicher, ob die Frage Kiuk oder Tabari galt.

„Mein Vater ist da!“ behauptete Puran und Nalani erklärte ihm behutsam:

„Der war auch nicht gemeint. Sei bitte still, das ist sehr wichtig für uns.“ Sie sah auch zu Tabari und ihr Blick wurde kalt, als er nichts sagte und den Kopf weit senkte, allen Blicken ausweichend.

„Weg,“ war dann alles, was er von sich gab. „Es ist vorüber.“

„Dann hast du ihn getötet?“

„Nein,“ schnaubte der Blonde, „Das überlasse ich den Schicksalsgeistern. Er ist keine Gefahr mehr, seine Macht ist dahin und er weiß es. Ich habe seinen verfluchten Speer… sei stolz, Nalani!“ Er war plötzlich grimmig, als er wieder zu ihr sah, ehe er ihr achtlos die Waffe seines Vaters vor die Füße warf. Sukutai fuhr erschrocken zurück und Kiuk keuchte. Er nahm seine Frau an der Hand.

„Gehen wir,“ murmelte er, „Ich möchte nach Alonachen sehen. Geht es ihr besser? – Komm mit, Puran, wir besuchen deine Cousine.“ Ohne auf die Einwilligung des Jungen zu warten nahm Kiuk ihn an der anderen Hand und ging mit ihm und Sukutai hinaus. Er hatte keine Ahnung, was das zwischen seinem Bruder und seiner Schwägerin gerade war, aber sein Gefühl sagte ihm, es wäre besser, zu gehen.

Nalani sah stumm auf den goldenen Speer zu ihren Füßen, als die Tür ins Schloss gefallen war.

„Du weißt, dass ich dich nicht anlügen würde,“ zischte Tabari und fing an, grantig vor seiner Frau auf und ab zu gehen. Sie sah wieder hinauf und ihre Blicke trafen sich mit einem angespannten Funkeln von beiden Seiten.

„Du sagst, die Gefahr ist gebannt, aber ist das gewiss?“ antwortete sie kalt, „Er ist noch am Leben und kann auch ohne Speer Unheil stiften.“

„Das ist nicht meine Aufgabe, du weißt das genauso gut wie ich!“ fuhr er sie empört an, „Was verlangst du da von mir?! Ich tue, was die Geister mir befehlen, Nalani, nicht mehr oder weniger!“ Sie verengte die Augen zu Schlitzen, als er auf sie zu kam und dann direkt vor ihr stehen blieb, sodass sie ein klein wenig den Kopf recken musste. Für eine Frau war sie ziemlich groß und daher nicht sehr viel kleiner als ihr Mann. „Ich bringe dir des Monsters Speer, das bestialische Ding, mit dem er Tausende von Menschen getötet hat, Nalani. Du… solltest stolz sein.“

„Es war Wille der Geister, was du getan hast, darauf muss nicht ich stolz sein,“ seufzte sie und wollte sich abdrehen, aber er packte unsanft ihren Arm.

„Ich habe das nicht für die Geister getan oder für das Land Dokahsan!“ schnappte er, „Ich habe es für dich getan, Nalani!“

Sie sah ihn an und weitete die Augen wieder, als er von ihr zurück trat und den Blick auf den goldenen Speer senkte.

„Der goldene Speer ist ein Geschenk der Geister an die Königin der Geisterjäger,“ erklärte er todernst und sie blinzelte. Königin? „Du solltest ihn verstecken oder für immer wegsperren, damit niemand mehr heran kommt.“ Sie würdigte das Geschenk keines Blickes, sondern sah zu ihm hinüber. Als sie sprach, war ihre Stimme leise und anders als er sie kannte.

„Wenn das Geschenk von den Geistern kommt… was bist dann du, der es mir gebracht hat?“

Tabari grinste jetzt.

„Unwürdig, dich zu besitzen, wenn ich dich nicht beeindrucken kann, denke ich…“ Sie schnappte nach Luft und starrte ihn an. Dann schlug sie ihm ohne Vorwarnung ins Gesicht und schubste ihn dadurch ein Stück zurück. Er hustete. „W-wofür war das denn bitte?!“

„Du bist ein absoluter Hornochse!“ schrie sie aufgewühlt, „Du sagst so einen Unfug und merkst über Jahre hinweg nicht, dass ich stolz auf dich bin, du Idiot! Muss man Euch alles unter die Nase reiben, Herr Tabari, seid Ihr etwa immer noch blind?! Zumindest blind für meine Gefühle, die ich für Euch habe, wie es aussieht, ja, unwürdig, in der Tat!“

„W-was?“ stammelte ihr Mann perplex über ihren Ausbruch, und sie gab ihm noch eine Ohrfeige und schubste ihn entrüstet an die Wand, sodass er keuchte.

„Ich würdige das, was du tust, was du getan hast, und ich könnte mich schon wieder dafür vierteilen, dass ich für einen solchen Deppen Gefühle habe, der nicht mal merkt, dass es so ist! Elender Blindfisch, ich verdresche dich jetzt so lange, bis die Blindheitsgeister aus dir geflohen sind, sie werden mich fürchten lernen!“ Damit packte sie ihn unsanft am Kragen und er schnappte nach Luft.

„Ja, tu das!“ verlangte er plötzlich enthusiastisch, ehe er sich von ihr gegen die Wand stoßen ließ und ihr Kinn packte, um ihr Gesicht zu seinem zu zerren und sie heftig zu küssen.
 

Es dämmerte. Eine unheimliche Dunkelheit schlich über das Land; jetzt, im Hungermond, wurde es früh dunkel und spät hell, eigentlich ging die Sonne nur auf, um danach sofort wieder unterzugehen. Kelar Lyra lag noch immer mitten in trockenem Gras am Boden und starrte heftig atmend hinauf in den sich verdunkelnden Himmel. Die Wolken zogen rasch vorüber, der Wind kam aus dem Osten und trieb sie nach Westen, hinüber nach Aledyn oder dem Rest von Rodril, der noch übrig war.

Ein Krähen erfüllte die Luft und als der Mann weiterhin in den Himmel sah, erkannte er die Krähe von zuvor wieder, die zurück kehrte und sich auf einem kahlen Strauch in der Nähe niederließ.

Er startete einen neuen Versuch, sich aufzurappeln, als er plötzlich ein Geräusch hinter sich hörte. Seine Instinkte versagten und verrieten ihm nicht, was er zu hören glaubte oder ob er sich in acht nehmen sollte. Keuchend stützte er sich auf die zitternden Ellenbogen und die Wunden auf seinem Oberkörper schmerzten. Dann fiel mit einem Mal ein Schatten über ihn und er wusste, dass jemand hinter ihm stand.

„Du musst nicht aufstehen,“ sagte eine vertraute Stimme und er keuchte und spuckte vor Verblüffung Blut. „Bleib liegen, du wirst noch verbluten.“ Der Schatten beugte sich mit einem zärtlichen Lächeln über ihn und als er die Augen verdrehte und hinauf starrte, schnappte er röchelnd nach Luft und versuchte nur energischer, aufzustehen.

„Wieso… habe ich dich nicht kommen gesehen…?! Wieso haben mir… die Geister verschwiegen… dass du kommen würdest?“

„Weil deine Macht dahin ist, mein Lieber,“ war die ruhige Antwort und er spürte eine Hand über seine Haare gleiten. Er schnaubte, hustete und schaffte es, sich aufzusetzen, um den Kopf richtig herumdrehen zu können. „Die Geister kehren… dir den Rücken. Das tun sie schon lange und tief in dir hast du gewusst, dass es so kommen würde. Und es wurde dir wiederholt gesagt… zuhören wolltest du noch nie sonderlich gern, ich weiß.“

„Warum bist du hier?!“ schnaufte der Mann und fasste bebend nach seiner verwundeten Brust, „Wo… wo ist Tabari?! Was… hat diese Wachtel mit ihm gemacht, dass er…?!“

„Shhh… reg dich doch nicht auf, das verschlimmert die Schmerzen. Tabari ist bei seiner Frau. Und er hat recht getan und hätte es früher tun sollen, es war keine leichte Aufgabe. Lyrien… ist gefallen. So… wie ich es vor Jahren schon prophezeit habe. Habe ich nicht recht, mein lieber Gatte, Kelar?“

Er sah Salihah aus verengten Augen grimmig und hasserfüllt an, wie sie vor ihm stand, erhobenen Hauptes. Sie war alt geworden… das waren sie beide. Gemeinsam und dennoch getrennt waren sie das. Und sie sah krank und erschöpft aus, und auf seltsame Weise dennoch noch so schön, wie sie immer gewesen war. Und sie war so ziemlich die Letzte, die er jetzt sehen wollte.

„Warum bist du… gekommen, Weib?“ raunte er und keuchte, als die Schmerzen wieder zunahmen. Sie setzte sich in aller Ruhe neben ihn auf den Boden und rückte ihren Mantel zurecht.

„Das weißt du nicht?“ wunderte sie sich, „Oh, wie furchtbar. Ich habe die letzten Wochen und Monde damit verbracht, zu studieren und ich bin jetzt am Ende meines Studiums angekommen. Die Geister erzählten mir von dem, was hier vorgefallen ist, da kam ich auf schnellstem Wege hierher.“

„Ich hätte gedacht, du würdest Chimalis auf mich hetzen, damit er mir den Hals umdreht,“ knurrte er, „Ich stelle fest… dass ich dich nicht mehr verstehe, Salihah. Ich habe keine Ahnung, was du hier machst und was du denkst. Das ärgert mich. Ich sitze hier am Boden und… bin ein Nichts, ich habe keine Waffe, keine Kraft und in Kürze wohl auch keinen Lebensgeist mehr, es sei denn, du wärst gekommen, um das zu verhindern, und das, so weit kenne ich dich noch, ist nicht deine Natur.“ Sie lachte leise und zog aus ihrer Manteltasche ihre Laudanumflasche. Sie hatte sogar ein Schnapsglas dabei, füllte es mit etwas Medizin und Wasser und stellte es ins Gras, ehe sie noch ein zweites Glas füllte.

„Du sagst, du verstehst mich nicht mehr?“ seufzte sie, „Nein, das hast du noch nie getan. Hier, trink das. Das hilft gegen die Schmerzen.“

„Ich trinke dein Höllenzeug nicht!“ empörte er sich und bereute es darauf, so laut gesprochen zu haben, als der Schmerz heftiger wurde und er zurück zu Boden kippte. Er hustete und Salihah nahm mit aller mütterlichen Sorgfalt, die sie besaß, seinen Kopf auf den Schoß, strich ihm über die Wange und nahm das Glas hoch.

„Du wirst es trinken,“ befahl sie streng, „Medizin schmeckt immer scheußlich.“ Sie hob das zweite Glas auch und leerte es selbst, bevor sie Kelars Kopf mit sanfter Gewalt anhob und ihm das Laudanum in den Mund goss. Er hustete und wollte es ausspucken, aber sie hielt seinen Mund solange zu, bis er geschluckt hatte. Er wollte sich aufsetzen und wütend nach ihr schlagen, aber plötzlich benebelte das grausame Getränk seine Sinne und ihm schindelte.

„Himmelsdonner!“ zischte er und hustete, „D-du sollst zum Himmelsdonner fahren, Salihah! Abartiges Gesöff…“

„Du solltest mir lieber dankbar sein,“ flötete sie und zwang ihn, sich wieder hinzulegen. „Ich bin keine Heilerin, aber die Medizin wird die Schmerzen lindern. Es muss grausam wehtun, ich gebe dir lieber noch ein Glas…“

„Nein!“ rief er empört, riss ihr das Glas mit mobilisierter Kraft aus der Hand und schleuderte es fort. Salihah hielt inne und ihr Lächeln verschwand. Ihm wurde beinahe schwarz vor Augen vor Benommenheit und die Geräusche um ihn wurden dumpf. Er fühlte sich plötzlich wie in einer anderen Welt gefangen, und durch eine hauchzarte Glasscheibe war er von der realen Welt getrennt, in der seine verhasste und dennoch begehrte Frau saß und jetzt kalt und herzlos auf ihn herab blickte.

Es war in diesem Moment, dass die Geister ihn zum letzten Mal ihre Stimmen hören ließen.
 

„Der Clan wird fallen… Lyrien ist am Ende, genau wie sein König. Jetzt… kommt Schatten über deine Welt, Herr von Lyrien, blutrünstiger Dämon.“
 

Du wirst sterben.
 

Er keuchte und sah fassungslos in das Gesicht seiner Frau, blass und kühl und mit der Erhabenheit einer wahren Königin, als sie die Lider senkte und arrogant zu ihm herunter sah.

„Du… kannst… das nicht, Salihah…“ keuchte er und riss die Augen auf, „Du kannst das Band… g-genau so wenig zerstören wie ich es… konnte!“

„Was, denkst du, habe ich studiert?“ fragte sie und lächelte plötzlich wieder; aber es war ein anderes Lächeln, ein falsches, blutrünstiges Lächeln, voller Triumph und voller Gier, wie ein Raubtier, das unermüdlich fressen musste und nie genug bekam. „Pilzkunde? Wohl kaum. Du bist unfähig, das Band zu zerreißen, weil du Schwarzmagier bist. Bänder sind seelisch, Kelar, keine Kontrolle über tausende von geistern und Winden könnte sie zerstören. Aber die Kontrolle einer Seele vermag es… und Ahnen aus meinem Clan können es. Es gibt eine seltene Technik zur Kontrolle einer Seele, die einer Seele befiehlt… eigentlich basiert die Idee auf der Magie der Zuyyaner, die können damit ein ganzes Volk manipulieren, Gehirne waschen und Unterbewusstsein und Veränderungen auslöschen oder verändern, wie sie wollen. Auf diese Weise vermögen wir Schamanen diese Kraft nicht nachzuahmen, aber ich habe einen Weg gefunden, meine eigene Seele auf dieselbe Weise zu kontrollieren… ihr zu befehlen. Und jetzt rate mal, was ich mir befohlen habe, zu tun…“ Sie holte die Laudanumflasche wieder hervor und Kelar starrte sie verschwommen an, versuchte schwindelig, sich aufzurichten, was ihm abermals misslang.

„D-du Monster… d-du bist… eine so furchtbare Sadistin, Salihah, du bist krank, pervers und abartig…!“

„Natürlich,“ sagte sie in aller Ruhe, „Ich habe meinem geist befohlen… das Band zu zerreißen. Und genau das… tut er in diesem Moment. Wenn du das Glas nicht willst, trinkst du eben aus der Flasche, das macht auch nichts. Sturer Bock…“ Er schnappte nach Luft und drehte den Kopf weg, als sie ihm das abscheuliche zeug direkt aus der Flasche in den Rachen kippen wollte.

„Das kannst du nicht!“ wiederholte er japsend, und sie seufzte und ergriff sein Kinn, um sein Gesicht wieder festzuhalten.

„Na, na, na,“ tadelte sie ihn wie ein unartiges Kind, „Du solltest deine Medizin schon trinken, ich bin gnädiger zu dir als du verdienst… mein Lieber.“ Er starrte sie benommen an, da setzte sie sich die Flasche selbst an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck der Medizin in den Mund. Kelar war unfähig, sich zu rühren, als sie die Flasche absetzte und sich dann über ihn beugte; mit beiden Händen erfasste sie seine Wangen und hielt ihn fest, bevor sie ihn leidenschaftlich küsste. Dabei flößte sie ihm das pure Laudanum ein und Kelar versuchte sie keuchend loszureißen, fand aber die nötige Kraft nicht. Sie ließ von ihm ab, als er nicht anders konnte als zu schlucken und darauf leise keuchend zurück zu Boden sank, nachdem sie sich aufgerichtet hatte. Die Benommenheit wurde stärker und das Licht um ihn immer dunkler, wie ein grauer Vorhang, der sich vor seine Augen zog. Er konnte sich nicht mehr bewegen, gelähmt von der Macht des Opiums und geblendet von der Dunkelheit, sie nach ihm angelte mit langen, dünnen Armen. Er wehrte sich mit aller geistigen Kraft, die er noch übrig hatte, aber der Seelenfänger, das Geschöpf, das die Geister der Toten sammelte und ins Geisterreich brachte, war schon über ihm und versperrte ihm den Weg.

„Nein…!“ stöhnte er kraftlos, als Salihah sich ruhig erhob, „Du elende… du Hure… ich verfluche dich…!“

„Wie romantisch,“ seufzte sie theatralisch. „Eigentlich wollte ich dich zusammen mit dem Rest deines Rehs in Öl braten, aber das erschien mir stillos und überholt. Aber wer in der Geisterwelt wird schon behaupten können, zu Tode geküsst worden zu sein? Du bist und bleibst eben etwas Besonderes… Kelar.“ Damit kehrte sie ihm den Rücken. Er streckte keuchend und zitternd die Hand nach ihr aus und stöhnte, als die Benommenheit und die Dunkelheit zunahmen.

„D-das wagst… du… nicht!“ schnappte er, „Nein, Salihah! Du… nicht!“ Sie drehte noch einmal den Kopf und ihre hellen, müden Augen trafen seine. Das letzte, was er im Leben von seiner schönen Frau sah, war ihr lächelndes Gesicht.

„Ich muss gehen, ehe meine Seelenbeherrschung sich auflöst,“ sagte sie. Lächelnd wandte sie sich wieder ab und bevor sie sich davon teleportierte sprach sie noch: „Vergib mir, mein Lieber.“

Sobald sie weg war, flatterte die Krähe nach Norden davon.
 

Die Dunkelheit umfing ihn, als es plötzlich ganz still war. Er keuchte und schnappte nach Luft, was zunehmend schwerer fiel, während er spürte, wie ihn das pure Gift aus der bösartigen Flasche lähmte. Verschwommen sah er blitzende Lichter über den Himmel tanzen und er fragte sich, ob es wirklich war oder nur eine Halluzination, die ihm das Laudanum vorgaukelte. Die Lichter tanzten oben am Himmel und wechselten die Farben. Zitternd versuchte er sich auf die Seite zu rollen, was aber erfolglos blieb. Es wurde wieder dunkler und als die tanzenden Lichter vor seinen Augen fast verblasst waren, hörte er die Stimme des Tod bringenden Seelenfängers, während er mit dem Tod kämpfte.

„Ich bekomme deine Seele… jetzt gleich,“ sagte die Schattengestalt. „Du wirst sie mir geben, wenn ich dich zwinge… Kelar.“

„Nein!“ zischte er benommen und schüttelte mit aller Macht den Kopf, als er spürte, wie der Tod nach ihm griff, „Ich bin noch nicht tot, ich kämpfe! Verschwinde, Seelenfänger, ich bin allmächtig! Ich werde auch dich bezwingen!“ Doch die kalten, eisigen Klauen des Seelenfängers packten sein Gesicht und er spürte, wie sie ihn berührten, zuckte zusammen und starrte hinauf in die verschwommen tanzenden Lichter, die greller geworden waren. Dann erkannte er über sich das Gesicht eines Jungen, der ihn rüttelte.

„Ihr seid verletzt, Herr, kann i-ich Euch helfen?“

Der Mann keuchte und starrte den Jungen an, für einen Moment sah er wieder klar und kämpfte mit aller Kraft gegen die Übermacht des Giftes, das seinen Körper immer mehr lähmte und tötete.

„W-was zum…?!“ röchelte er, „Was bist du denn für ein Knirps?!“

„Ich komme vom Dorf Canulo im Süden, i-ich sollte nach Wurzeln graben, wir haben nichts zu essen… da fand ich Euch hier liegen!“ erklärte der Junge und versuchte, den älteren Mann aufzusetzen; es war nicht ganz einfach und nach einigen Versuchen gab er es keuchend auf und raufte sich die mausbraunen Haare. Kelar schnaubte. Ein Wurzeln sammelndes Kind kam, um ihm zu helfen, war ja großartig.

„Hau ab!“ raunte er, „Ich brauche keine… Hilfe!“ Er röchelte und hustete plötzlich und schaffte es mit plötzlichem Schwung, sich zur Seite zu rollen und weiter schwer nach Luft zu schnappen. Jetzt wurde die Dunkelheit wieder tiefer um ihn herum und er fasste nach seinem Hals, als ihm mit einem Mal die Luft wegblieb.

„I-ihr sterbt, von wegen keine Hilfe!“ schrie der Junge entsetzt und sprang auf die Beine, „Ich hole Leute aus dem Dorf, bleibt, wo Ihr seid!“ Kelar fand die Kraft, ihm röchelnd zu antworten.

„Wie kannst du es wagen, mir zu… befehlen…?! Weißt du nicht, mit wem… du hier redest?!“ Er stierte das Bauernkind vernichtend an und der Kleine riss perplex du ahnungslos den Mund auf, um zurück zu starren; in diesem Moment hielt Kelar plötzlich wie versteinert inne, als er im Mund des Jungen die eigenartig spitzen Eckzähne erkannte.

„Warte… Junge…“ keuchte er und hustete. Das Kind rührte sich nicht von der Stelle und Kelar starrte ihn perplex an, so weit er konnte. Seine Sicht wurde schlecht und er sah das Bild des Jungen verschwinden vor seinen Augen. „Aus Canulo kommst du…?!“ Der Junge nickte verwirrt, als sich das Gesicht es verletzten Mannes plötzlich veränderte. Er begann zu lachen, sofern er das konnte, sein Gesicht verzog sich zu einer furchtbaren, grinsenden Grimasse.

„W-was… was habt Ihr…?“ fragte er entsetzt über diesen Ausbruch und hustend hob Kelar plötzlich den Kopf und schaffte es trotz der jetzt kompletten Finsternis um ihn herum, die Hand zu heben und sie nach dem Kind auszustrecken.

„Du hast… komische Eckzähne…“ raunte er dabei, „Hat einer deiner Eltern die auch…? Würde mich nicht wundern…“

„Meine Mutter,“ sagte der Junge verwirrt, „Aber was hat das damit zu tun…?“

„Viel,“ entgegnete Kelar und öffnete die Augen, die bereits glasig und trübe geworden waren, als das Gift begann, ihn endgültig umzubringen. Er verfluchte seine Frau innerlich und ihr verseuchtes Laudanum; er hatte sie davon abhängig gemacht und nun hatte ihn das selbst getötet.

Wie dumm.

„Ja, viel…“ wiederholte er sich und grinste höhnisch, „Und jetzt stirb, dummes Dorfkind.“ Mit diesen letzten Worten, die er jemals von sich gab, schleuderte er aus der Hand einen Blitz auf das Kind, der es am Kopf kraft und zu Boden riss. Das Kind schrie auf und zappelte, versuchte, den Blitz abzuschütteln und sich gegen die Schmerzen zu wehren, bis aus seiner Nase und seinen Ohren Blut rann und es schließlich mit halb geschlossenen Augen am Boden liegen blieb, mehr tot als lebendig.

Kelar ließ die Hand zu Boden fallen, als er keuchte und heftig nach Luft schnappte, zum Himmel hinauf sehend mit erblindeten Augen. Gelähmt vom Gift und jetzt endgültig in die Dunkelheit übergleitend zeigte er dem Seelenfänger vor sich ein hämisches Grinsen.

Du… bekommst meine Seele nicht… Todesgott! Du hast dich geirrt, Salihah, wenn du dachtest, mich… getötet zu haben!

Dann lähmte das Laudanum seine Lunge. Als Kelar Lyra zu atmen aufhörte, zuckte der kleine Finger des Kindes für einen Moment, ehe auch es erstarrte.
 

Nalani hob keuchend den Kopf in dem Moment, als ihre Instinkte sich mit einem Stich in ihrem Kopf meldeten. Tabari schnappte unter ihr auf der Couch liegend ebenfalls nach Luft und blinzelte, als sie auf ihm sitzend inne hielt.

„Es gibt eine Veränderung,“ murmelte seine Frau und fuhr sich durch die jetzt offenen Haare, „Die Geister sind nervös…“

„Ich spüre es auch,“ entgegnete er und keuchte kurz, als er sich mit ihr auf dem Schoß aufsetzte und sie dann etwas zurück schob. „Rasch, Nalani. Was auch immer hier passiert, mein Vater ist Schuld und wir sollten ihn so schnell wie möglich finden!“ Er erhob sich schnell und fing in Windeseile an, sich anzuziehen, sodass Nalani sich schnaubend ebenfalls aufrichtete und ihre zerzausten Haare zurückwarf.

„Was du nicht sagst, kommandiere mich nicht herum!“

Kiuk und Sukutai kamen ihnen schon entgegen, als sie halbwegs zurechtgemacht aus dem Zimmer kamen.

„Was ist passiert?!“ fragte Letztere entsetzt und Kiuk räusperte sich beim Anblick seiner Schwägerin und seines Bruders, die sich offenbar beeilt hatten, die Stube zu verlassen.

„Ist Kelar aufgetaucht?“ fragte Nalani zurück und Sukutai blinzelte, „Oder wenigstens Salihah?“

„Weder noch,“ antwortete die Schwägerin perplex. „W-wartet, wo wollt ihr hin?!“

„Vater suchen!“ Mit diesem Worten rannte Tabari voraus zur Treppe, gefolgt von seiner Frau und seinem Bruder, der Sukutai zurief:

„Pass auf die Kinder auf!“

„W-was, ich alleine?! – Puran, bleib hier!“

„Wieso gehen immer alle ohne mich fort?!“ meckerte der Kleine entrüstet, als seine Tante ihn festhielt, bevor er Nalani und seinem Vater folgen konnte. Die beiden und Kiuk verließen das Schloss, die Tür krachte.

„Wir bleiben fein daheim bei Alona,“ erklärte Sukutai ihm ernst, „Deine Eltern und Kiuk haben zu tun.“

„Und…“ Puran wurde jetzt still und sah mit einem Mal verdrossen zu Boden, „Und die bösen Dinge, Tante…?“ Sukutai sah auf ihn herunter.

„Haben die Geister… mit dir gesprochen?“ Das Kind sagte nichts. Die Tante versteifte sich und verengte vorsichtig die Augen zu schmalen Schlitzen.

„Was haben sie zu dir gesagt?“ Erst sagte er nichts, erst als Sukutai ihn weiterhin ansah, hob er den Kopf und sah ihr ins Gesicht. Als er sprach, waren seine grünen Augen vor Verwirrung geweitet und die Augen seiner Tante taten es ihnen gleich.
 

Das Monster war tot.

Nalani, Tabari und Kiuk standen vor dem toten Körper des Mannes, der im Gras lag, fast an derselben Stelle, an der Tabari ihn zurückgelassen hatte.

„Was ist denn das hier für ein Junge?!“ fragte Tabari verdutzt und zeigte auf den Dorfjungen, der knapp neben dem Herrn der Geister am Boden lag, vermutlich genauso tot. „Scheiße, der Kleine ist verwundet, hat er mit seinem letzten Atemzug noch ein Kind umgebracht…?!“ Nalani beugte sich rasch zu dem Jungen, untersuchte die Wunde und fühlte seinen Puls.

„Er lebt noch!“ rief sie und begann mit ihren dürftigen Lira-Künsten, das Gröbste zu verschließen, damit nicht noch mehr Blut austrat. „So geht das nicht, wir müssen ihn mit ins Schloss nehmen, er braucht Verbände und Medizin…“

„Dann rasch,“ machte Kiuk und winkte seine Schwägerin zu sich herüber, die das Kind hoch nahm, dabei aufpassend, dass die Wunde nicht größer wurde. Tabari rührte sich nicht, auf seinen Vater herunter sehend. Der Himmel war duster geworden, die Nacht war gekommen.

.„Ich frage mich, ob er an den Wunden gestorben ist…“ murmelte er kleinlaut.

„Komm!“ machte seine Frau, „Der Junge braucht Arznei, und zwar schnell… wir sollten Kelar mitnehmen, wir können ihn hier nicht liegen lassen… nachher wacht er wieder auf…“

„Das würde ich nicht mal dem zutrauen,“ murmelte Kiuk, „Aber du hast wohl recht, Nalani. – Tabari?“ Tabari hob den Kopf und sah leicht apathisch hinüber.

„W-was?“ stammelte er. Nalanis Gesicht wurde kalt.

„Nimm ihn mit, komm,“ forderte sie ernst. Er sah in ihr schönes Gesicht und schlug dann wie um den Befehl anzunehmen die Lider nieder, ehe er ihrer Forderung nachkam und den Leichnam hochnahm, ihn sich über die Schulter werfend.

„Gehen wir,“ erklärte der Blonde dann und Nalani hielt Abstand von ihm und vor allem von seinem Vater, dem sie selbst wenn er tot war nie wieder zu nahe kommen wollte.

Gerecht ist es so, abscheuliches Monster, sagte sie zu dem toten Mann, Der Himmel hört schon auf zu zürnen…
 

Die Krähe landete auf der Spitze des Wachturmes von Tuhuli, als es aus dem Himmel grummelte und ein seltsames Wetterleuchten die Nacht erhellte. Zoras Chimalis hob schweigend den Kopf gen Himmel.

„Gewitter im Winter, das haben wir selten,“ war sein Kommentar, „Dann ist es vorüber?“ Die letzte Frage galt der Frau neben ihm, die nur stumm nach Norden sah.

„Ein komisches Wetter ist das,“ entgegnete Salihah ernst. „Die Geister sind immer noch unruhig. Kelar hat viel Unheil gestiftet. Das zu regeln ist Tabaris Aufgabe, er wird nach Kelars Tod das Clanoberhaupt sein.“ Zoras sah sie kurz an.

„Du tust so kalt,“ seufzte er, „Berührt dich sein Tod nicht mal ein kleines Bisschen? Selbst ich habe Mitleid, letztlich war er nur ein Opfer seines Irrsinns…“

„Mitleid…“ seufzte Salihah, „Ich habe einst mein Mitleid meinem Mann geschenkt in einer Zeit, in der er noch ein Mensch war… es muss jetzt mit ihm gestorben sein. Ich bin nie sehr emotional gewesen bei Toden. Als Kind hat man mich herzlos geschimpft, weil ich nicht über den Tod meiner Eltern geweint habe. Ich sehe zu viel… meine Augen finden keine Tränen mehr für so etwas.“ Er sagte nichts dazu. Ja, sie war kalt, aber nicht herzlos, das wusste er.

„Was suchst du im Norden, Salihah?“ wunderte er sich dann, „Du starrst, seit du zurück gekehrt bist…“ Er unterbrach sich, um in den wieder erleuchteten Himmel zu blicken, als das Wetterleuchten unruhig in eigenartigen Farben zurück kehrte.

„Aus dem Norden kommen die Dunkelheit und die Bosheit,“ erklärte sie sachlich, „Ich suche nach Zeichen, die ich übersehen haben könnte.“

„Du solltest zurück zum Schloss, Salihahchen. Die anderen werden sich fragen, wo du warst.“

„Wo soll ich gewesen sein? Ich war hier.“ Sie lachte ein seltsam hohles Lachen und fasste nach ihren Kopf, als sie plötzlich einen unangenehmen Schmerz spüren konnte. Sie angelte unruhig nach ihrer Medizin, aber sobald sie die Flasche in der Hand hielt, nahm Zoras sie ihr kopfschüttelnd ab.

„So nicht, du nimmst zu viel von diesem Zeug, das wird dich töten… ich bringe dich lieber noch mal zu Keisha… und danach nach Hause, bevor du unterwegs umfällst.“ Damit ergriff er sanft ihren Arm, um sie mit sich zu ziehen. Sie sträubte sich nicht, seufzte aber kurz.

„Du kannst mir nicht immer Gutes tun…“

„Siehst du doch,“ feixte er, „Ich würde der ganzen Welt Gutes tun und an erster Stelle immer dir, Salihahchen, meine Hübsche.“ Gegen ihren Willen wurde sie rot im Gesicht und wich leise atmend seinem Blick aus, bevor sie sprach.

„Du kannst nicht zur ganzen Welt gut sein, Zoras. Sie ist zu groß… selbst für dich.“
 

„Er ist tot,“ begrüßte Sukutai die anderen, die zurück zum Schloss kamen. Während Nalani sofort mit dem verwundeten Kind in die Stube eilte, schickte Tabari ihr einige Dienerinnen zu Hilfe.

„Bringt Wasser und Verbände,“ ordnete er an, „Und du da, suche nach meiner Mutter, da sie nirgends hier ist, ist sie vermutlich in Tuhuli, wenn sie dort nicht ist, bitte Zoras Chimalis, dir beim Suchen zu helfen. Es kann nicht sein, dass sie verschwunden ist, während wir uns um dieses Desaster kümmern!“ Er raufte sich genervt die blonden Haare, während er den Hofstaat herum scheuchte, dann erst sah er zu Sukutai, die noch immer vor ihm stand undverwirrt schaute. „Was ist?“ wunderte er sich. „Wir haben Vater gefunden und-… Moment, woher wusstest du, dass er tot ist, ehe wir kamen?“

„Dein Sohn hat es mir gesagt,“ antwortete Sukutai, und Tabari raufte sich abermals die Haare.

„Ah, so, hmm,“ machte er, ehe ihm klar wurde, was sie da gesagt hatte. „Wie bitte?! Puran hat dir das gesagt?! A-aber er kann das auch nicht-… Moment, wo ist das Kind?“

„Ich habe ihn mit einer Dienerin oben bei Alona gelassen. Dein Kind ist sehr begabt, ich glaube, er hört Stimmen im Wind.“

„In seinem Alter ist das völlig ausgeschlossen,“ entgegnete Tabari, „Er ist erst fünf! Wobei, er ist der Enkel meiner Mutter… wir sollten mit ihm zu Nomboh gehen, er als Lehrer kann sicher mehr dazu sagen.“

„Wo ist Kiuk?“ fragte die Frau besorgt, „W-was habt ihr mit Kelar vor, wenn er doch…?“

„Das wissen wir auch noch nicht…“ grübelte der Blonde und schritt eilig an ihr vorbei, „Das besprechen wir, sobald wir Mutter gefunden haben. Kiuk ist im Hof mit den Knechten, um den Leichnam zu bewachen… sieh du nach den Kindern, ich muss zu meiner Frau… das Kind, das wir mitgebracht haben, lag dicht neben meinem Vater, wir wissen nicht, ob er es verletzt hat oder was passiert ist…“

„Wie furchtbar,“ sagte Sukutai unglücklich, „Ein Dorfkind?“

„Vermutlich, vielleicht aus Nehawa oder Canulo, die liegen am nächsten dran… sobald der Kleine zu sich kommt, fragen wir ihn.“ Damit ging er in Richtung Stube. Sukutai sah ihm hinterher und sprach noch einmal.

„Dann hast du ihn getötet, Tabari… dann hast du das ganze Land von einem Monster befreit. Das Volk sollte dich… in höchstem Maße ehren.“ Demonstrativ senkte sie den Kopf, um sich leicht zu verneigen. Tabari sah sie nicht an, blieb aber stehen. Dann sagte er:

„Ich… habe ihn nicht getötet.“
 

„Und? Kommt er durch?“

„Ich denke schon. Die Wunde war schlimm, wir sind offenbar keinen Moment zu früh gekommen. Er fiebert, er sollte über Nacht hier bleiben.“

„Ich frage mich, wieso Vater im letzten Moment noch ein kleines Kind töten wollte… absurd, vollkommen.“

„Es mag vieles geben, das wir an deinem Vater nichtverstanden haben, Tabari. Jetzt ist es egal.“

„Hmm. Das ist wohl wahr.“

Der Junge hörte mit geschlossenen Augen dem Gespräch zu. Er kannte die Stimmen nicht und dennoch erschienen sie ihm auf merkwürdig ferne Weise vertraut. Er vermochte sie nicht einzuordnen. Sein Körper schmerzte abscheulich und er war verbunden worden. In dem Raum, in dem er zu sein schien, war es außergewöhnlich warm und er fand sich auf etwas Weichem liegen.

Eine Hand fühlte nach seiner Stirn, dann nach seiner verbundenen Brust, worauf das Kind zuckte ob eines üblen Schmerzes. Der Junge fragte sich, was passiert war… alles, woran er sich erinnerte war, dass er Wurzeln suchen gegangen war… da war ein alter Mann verletzt am Boden gewesen…

„Oh, er wacht auf,“ ertönte da die Stimme der Frau über ihm und der Junge öffnete langsam die Augen. Als erstes sah er über sich das Gesicht der schwarzhaarigen Frau, daneben tauchte jetzt ein blonder Mann auf.

„Und?“ fragte der Mann offenbar die Frau, die darauf brummte und nach den Lidern des Jungen griff.

„Was und?“ empörte sie sich, „Seine Augen sind kaum fiebrig, es geht bergauf. Nimm deinen Schädel da aus dem Weg, Tabari, verdammt!“

„Wo… bin ich?“ stöhnte der Junge jetzt leise, als der Mann sich aufrichtete und die Frau ihn ansah.

„Bei uns in der Stube. Wir haben dich verletzt auf der Wiese gefunden und ich habe deine Wunde versorgt. Bleib liegen,“ mahnte Nalani das Kind, als es sich aufrappeln wollte, „Du solltest dich ausruhen.“

„Stube?“ keuchte der Junge, „W-wo? Und wer seid Ihr? Ich muss heim u-und meiner Familie Wurzeln bringen… was habt Ihr mit dem verletzten Mann gemacht? Ist der auch hier?“ Die Erwachsenen sahen sich kurz an.

„Er ist tot,“ verkündete die Frau dann kühl. „Hat er dir das angetan?“

„Ich kann mich an nichts erinnern… nur daran, dass ich Wurzeln sammeln wollte und… d-da war dieser Mann…“ Japsend griff der braunhaarige Junge nach seinem Kopf.

„Shht, beruhige dich,“ Die Frau strich ihm über die Stirn und hielt ihm eine Tasse Tee hin. „Das ist Kräutertee, der beschleunigt die Heilung. Trink rasch, bevor er kalt wird.“ Dazu musste das Kind sich aufsetzen und trank artig den Tee. „Woher kommst du, Junge? Aus der Gegend?“

„Aus Canulo,“ antwortete er benommen. Tabari erhob sich.

„Du wirst über Nacht bei uns bleiben, morgen bringt dich jemand heim. Ruh dich aus. Du bist hier sicher. Der alte Mann wird dir nichts mehr tun…“ Der Junge aus Canulo hob den Kopf, um zu Tabari hinüber zu sehen. Für einen Moment verharrten sie mit den Blicken aufeinander und keiner von beiden vermochte später das Gefühl zu beschreiben, das siegehabt hatten bei ihrem ersten Blickkontakt. Es war seltsam, es war verkehrt und Tabari machte es plötzlich aus unerfindlichen Gründen unruhig. Draußen grollte der Himmel erfüllt von derselben Unruhe.

Tabari wandte den Blick von dem Kind ab.

„Gut,“ sagte er dann etwas apathisch, „Ich muss gehen, Nalani. Sobald wir Mutter gefunden haben, müssen wir nach Yiara und die Politik klären…“

„Kanntet Ihr den alten Mann?“ fragte der Junge dazwischen, und beide sahen ihn an. Tabari nickte.

„Ja. Er… war mein Vater. Mein Name ist Tabari Lyra, ich bin… jetzt Herr dieses Hauses. Hab keine Sorge, Junge. Das ist meine Frau Nalani.“

„Lyra?“ keuchte der Junge, „Die Lyras?! Dann seid Ihr König?!“ Verdutzt starrte er Tabari an, dieser lachte hohl.

„Nein… ich bin auch nur ein Sterblicher, genau wie du. Dokahsan braucht keinen König. Wie ist dein Name, Kind aus Canulo?“ Das Kind senkte ebenfalls höflich den Kopf. Es sah so nicht, wie alle Farbe aus Tabaris Gesicht wich, als er sprach.

„Ulan Manha, Herr.“
 


 

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oder auch das Kapi, in dem man lauter Random-Jungen trifft, die alle absolut NICHT random sind, beide werden wichtig... der erste ist klar, wer außer denen die das eh wissen erkennt den zweiten trotz anderes Namens? xD

Der Groll des Himmels

Das Wetterleuchten hielt immer noch an. Tabari regte sich nicht auf, er war nur völlig verwirrt. Wie konnte dieses Dorfkind Ulan heißen, wie dieser Idiot unter seinen Vorfahren, der vor sechshundert Jahren erst seine Schwester geschwängert und dann eine Nichtmagierin geheiratet hatte, dessen Namen niemand benutzen durfte? War das nur ein dummer Zufall oder gab es da eine Geschichte hinter diesem Namen? Er wusste e nicht und er hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn just in dem Moment tauchte Salihah wieder im Anwesen auf. Zuvor kam ein Diener wild gestikulierend in den Hof gerannt und schrie nach Kiuk, dass er seine Mutter gefunden hätte, aber ehe Kiuk ihn fragen konnte, wo, war Salihah selbst schon im Hof angekommen.

Kurze Zeit später stand die versammelte Familie im Innenhof, als es zu regnen begann. Nalani hatte Puran dem Küchenjungen überlassen, damit er nicht in den Regen musste.

„Wo bist du gewesen?!“ fragte Tabari seine Mutter ungewohnt heftig, „Du hast einiges verpasst, meine Gute! Vater ist tot, falls es dich interessiert, oder bist du dafür zu beschäftigt?“

„Ich weiß,“ war Salihahs prompte Antwort, und ihr Ältester wollte gerade mit seiner Predigt fortfahren, dann aber hielt er inne und starrte sie an.

„Wie, du weißt?! Ich lasse dich den ganzen, verfluchten Tag suchen und frage mich, wo du stecken magst, und du sagst Ich weiß?!“

„Tabari, ich bin die Seherin,“ sagte sie verwundert über seine Wut, „Es sollte dich wenig überraschen, dass die Geister mir bereits erzählt haben, was geschehen ist. Deshalb bin ich ja gekommen.“

„Wir haben so einiges zu regeln,“ entgegnete der Blonde und fuhr sich durch die nassen Haare, „Sein Tod mag den Zorn der Geister besänftigt haben, aber wir haben einen riesenhaften Haufen Probleme am Hals! Und du bequemst dich Stunden nach dem Tod deines Mannes auch mal heim, na, das nenne ich ja Loyalität.“

„Wage es ja nicht, so mit mir zu sprechen, Tabari!“ zischte sie zurück und die anderen sahen verblüfft zu den beiden herüber. „Ich warne dich nur einmal, Sohn,“ fuhr die schwarzhaarige Frau erbost fort, „Loyalität! Sollte ich Loyalität zu einem Monster haben, das dieses Land beinahe zu Grunde gerichtet hätte?!“

„Loyalität gegenüber deiner Familie, das betrifft auch Kiuk und mich und nicht nur Vater! Du hättest hier sein müssen, statt durch das Land zu tigern, Monster hin oder her!“

„Ich besitze Loyalität allein den Geistern des Himmels und der Erde gegenüber!“ Salihah reckte herrisch den Kopf in die Höhe und Tabari schrumpfte tatsächlich etwas zusammen, als ihn der Blick aus ihren böse funkelnden Augen traf. Ihre Augen waren vernebelt und er wusste plötzlich, dass das verdammte Laudanum ihre Zunge dämlich machte und sie Worte sagen ließ, die sie nicht so meinte. Er verfluchte die Droge innerlich und überlegte sich, ob er seine neu errungene Macht als König von Lyrien nutzen sollte, um das Laudanum zu verbieten; aber vermutlich würde seine Mutter ihn dafür töten.

Es war Nalani, die sich einmischte.

„Hört auf, seid ihr verrückt geworden?!“ empörte sie sich, „Wir haben wichtigere Probleme! Was machen wir mit Kelar? Wir können ihn schlecht da vergammeln lassen, das zieht Ungeziefer und Krankheiten an.“

„Wir können ihn wo anders vergammeln lassen,“ grummelte Tabari, „Weit weg von hier am besten.“

„Wir verbrennen ihn mit Haut und Haar, damit nichts von ihm übrig bleibt,“ sagte Kiuk perplex, und Tabari keuchte.

„Nein, nur nicht! Verbrennen ist eine ehrwürdige Bestattung, die die Seele ins Geisterreich bringt! Vater war ein Monster, das keine Ehre verdient hat!“ Ausnahmsweise mal stimmte seine Frau ihm zu.

„Tabari hat recht, egal, was wir tun, wir müssen um jeden Preis verhindern, dass sein Geist zurück in diese Welt kehrt.“

„Und wie wollen wir das machen?“ fragte Kiuk planlos und sah herüber zu dem Holzwagen, auf dem der in Leinentücher eingewickelte Körper des Vaters lag. „Außerdem würde mich interessieren, woran er gestorben ist… es… können doch nicht die Wunden gewesen sein, die Tabari ihm zugefügt hat…“ Jetzt erntete er stumme Blicke von allen, selbst von seiner Mutter, die das alles extrem kalt zu lassen schien, was ihn verwunderte. Kiuk hatte nie einen Draht zu seinem Vater gehabt, weil Kelar ihn als nutzlos bezeichnet hatte. Aber dennoch war es sein Vater, der tot war, der Mann, der ihn einst vor vielen Jahren gezeugt hatte, der irgendwann auch mal ein Mensch gewesen war. Und auch seine Mutter hatte diesen Mann einmal geliebt, das wusste es… offenbar wusste sie es nicht mehr, oder ihre Medizin hatte die Erinnerung in ihrem Kopf pulverisiert.

„Willst du das wirklich wissen?“ murmelte seine Mutter in dem Moment langsam, und alle drehten sich zu ihr um. Tabari schnaubte.

„Weißt du das auch?“ fragte er unverblümt, „Und hältst es nicht für nötig, es uns einfach zu sagen, damit wir fröhliche Rätselrunden machen können?“

„Tabari!“ herrschte seine Frau ihn an, weil er sich seiner Mutter gegenüber gerade so respektlos benahm, aber er brummte bloß und sah den Tadel gar nicht ein.

„Nein,“ war Salihahs Antwort, „Das weiß ich nicht. Aber ich möchte es auch nicht wissen und Keisha nicht zumuten, seinen Körper zu untersuchen, woran er gestorben sein mag. Ihr habt ihn doch gefunden, hatte er keine Waffe dabei?“

„Ach, das ist dir ja auch entgangen,“ machte der Blonde schnippisch, „Ich habe ihm seinen Speer abgenommen, den wird er kaum benutzt haben.“

„Ich spreche auch mehr von etwas Kleinerem wie einem Messer, das er vielleicht in der Tasche hatte, abgesehen davon konnte der Mann zaubern.“

„Moment, worauf läuft das hinaus?“ rief Sukutai erschrocken, „D-du denkst doch nicht, er hätte sich… selbst getötet?!“
 

„Also, so verzweifelt sah er aber nicht aus, als wir gingen,“ räumte Tabari unschlüssig ein. „Wir sollten doch nachsehen, und was, wenn der kleine Junge ihn umgebracht hat?“ Wenn der schon Ulan hieß, addierte er in Gedanken, aber Nalani schnaubte bereits.

„Klar, sicherlich. Der Herr der Geister, der Schrecken von Dokahsan, wird von einem zehnjährigen Dorfjungen ermordet.“

„Mit dem toten Reh aus dem Wald erschlagen!“ versuchte er es weiter und erntete von Nalani eine Kopfnuss.

„Hör auf, mich zu veräppeln, du Karottenkopf!“

„Ich habe keine Ahnung, wie er gestorben ist, und es soll mir gleich sein,“ schnarrte Salihah, die an den anderen vorbei schritt in Richtung Schloss. Ihre Kopfschmerzen hatten entgegen ihrer Erwartungen mit Kelars Tod nicht aufgehört. Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte…

„Moment!“ rief ihr älterer Sohn entrüstet, „Wo willst du hin?! Dir obliegt die Entscheidung über seinen Verbleib als seine Witwe, oder nicht?“

„Nicht ganz,“ war ihre Antwort und Tabari verschluckte sich vor Entsetzen, „Du bist sein erstgeborener Sohn und Erbe dieser Familie, Tabari. Und nicht nur das, du bist dank der glorreichen Taten deines Vaters Herr von Lyrien. Du… hast diese Entscheidung zu fällen, nicht ich.“ Damit ging sie, ehe Tabari etwas erwidern konnte, und einen Moment war er sprachlos wegen ihrer Unverschämtheit. Da war sie den ganzen Tag weg, dann war sie endlich da und überließ ihm die ganze Drecksarbeit? Was war bloß in sie gefahren in der letzten Zeit…? Langsam wurde es ihm wirklich zu bunt, wieso musste er den ganzen Mist aufgabeln, während die anderen gemütlich am Kamin sitzen konnten? Er würde diesen Drogen ein Ende setzen, egal wie, so konnte es nicht weitergehen.

„Wie auch immer,“ unterbrach Nalani genervt die Stille, „Es ist egal, wie er gestorben ist, er ist tot. Da deine Mutter dir die Entscheidung überlassen hat, was machen wir jetzt mit ihm?“ Tabari schwieg eine Weile verbittert und sie alle warteten ruhig im Regen auf seine Antwort.

Sie kam nach langer Pause.

„Wir werfen ihn in den Fluss,“ lautete seine Entscheidung und alle drei sahen ihn groß an. „Das ist unehrenhaft genug, Wasserleichen sind nicht sehr ansehnlich.“

„Dann wird er irgendwo angespült und die, die ihn finden, müssen sich mit seinem Geist herumplagen?“ fragte Nalani skeptisch, und ihr Mann seufzte.

„Wir beschweren ihn mit Steinen, damit er nicht wegtreibt und für immer im Flussbett begraben bleibt.“

„Das ist nicht genug!“ zischte sie grimmig und er verengte die Augen.

„Wie bitte?“ kam es kalt von ihm und sie hob den Kopf.

„Reißt ihn in Stücke!“ verlangte sie, „Wenn wir seinen Körper und seine Seele zerreißen, kann er auch nicht wiederkehren!“

„Was erwartest du von mir?“ murmelte Tabari und senkte den Kopf, „Verlangst du das wirklich, Nalani?“ Betretenes Schweigen. Kiuk schien auch nicht ganz überzeugt von Nalanis radikaler Methode, die Leiche loszuwerden. Er schlug einen Kompromiss vor.

„Wenn wir ihn in den Fluss werfen, müssen wir alle seiner Körperöffnungen mit Sand verstopfen, dann kommt die Seele nicht hinaus,“ erklärte er, „Dann wird sein bösartiger Geist auf ewig im Fluss gefangen sein. Ich denke, das reicht.“

„Wie könnt ihr euch mit halben Sachen zufrieden geben?!“ keuchte Nalani entsetzt, „Wir müssen ihn zerreißen, Tabari! Tu es, verdammt! Deine Mutter würde es auch tun, ich kenne sie.“

„Vielleicht,“ schnaubte Tabari, „Aber meine Mutter überlässt mir die Entscheidung, Weib.“ Sie erstarrte, als er sie so herablassend ansprach. Er duldete ihre Art, zu handeln, ganz offensichtlich nicht, und sie trat geplättet von seiner Kälte ihr gegenüber einen Schritt zurück, ohne es zu wollen. Dann senkte sie den Kopf.

„Entschuldige,“ sagte sie dumpf, „Ich wollte dich nicht erzürnen, Tabari. Bitte denk nach, ich meine es ernst… es ist der einzige Weg, den Geist zu hundertprozentiger Sicherheit los zu werden! Hör auf deinen Geist… du weißt, dass ich recht habe!“

Tabari sagte nichts. Er stand lange schweigend da, bis er der Gruppe letztlich den Rücken kehrte. Kiuk drehte das Gesicht zu ihm, um auf die Antwort zu warten, als Nalani den Kopf auch wieder hob.

„Was sagst du, Bruder?“ fragte er dumpf, Tabari ansehend, und der Ältere drehte den Kopf zu ihm und den Frauen zurück. Als er nichts sagte, wiederholte Nalani Kiuks Worte.

„Was sagst du?“
 

Auch wenn Kelar kein ehrenhafter Mann gewesen war und nur Chaos gebracht hatte, kam die ganze Familie mit hinunter zum großen Fluss, um ihn zu bestatten; oder etwas Ähnliches zu tun. So trug Nalani ihr Kind auf dem Arm und sogar Salihah war anwesend, als Tabari und Kiuk die mit Sand und Steinen präparierte Leiche in den Fluss warfen. Alona hatten sie bei den Dienern im Schloss gelassen wegen der Krankheit; im Hungermond war es eiskalt draußen und das Kind würde vielleicht sogar sterben, wenn es zu lange draußen war. Puran war gut eingepackt worden.

„Verschone uns mit deinem Zorn, böser Geist!“ sagte Tabari zum Flusswasser, das dahin rauschte und in dem die Leiche mit einem Plumps unterging, beschwert von den Steinen. „Möge dein Zorn eingesperrt bleiben im Schatten des Flusses Undim! Und niemals mehr zurückkehren ans Tageslicht.“ Sie standen schweigend da und während Nalani behutsam ihr Kind an sich drückte, das nur schweigend auf den kalten, dahin fließenden Fluss blickte, senkten die übrigen die Köpfe. Sukutai nahm Kiuk an der Hand. Sie hatte keinen Schimmer, wie er und Tabari sich fühlen mussten, ihren eigenen Vater so zu bestatten. Kelar war eine Bestie gewesen und sie war froh, dass er weg war, gab sie innerlich zu… aber sie vermochte sich nicht vorzustellen, was sie fühlen würde, wäre es um ihren Vater gegangen.

„Gehen wir,“ meinte der Blonde dann dumpf und kehrte dem Fluss und seinem Vater für immer den Rücken. Der Undim war ein großer und ehrenwerter Fluss, der sich durch das ganze Land Kisara zog und bei der Stadt Etrak im Norden ins Meer westlich von Dokahsan mündete. Er entschuldigte sich im Stillen bei den Flussgeistern, dass sie diese Bürde tragen mussten, auf den Körper und Geist seines Vaters zu achten. Er hoffte, der Fluss würde ihm und seiner Familie vergeben. „Wir haben viel zu klären,“ fuhr er nach einer Pause fort. „Als erstes müssen wir den Rat der Geisterjäger einberufen. Der Herr der Geister ist gestorben und wir haben keinen Anführer. Als nächstes muss ich nach Yiara gehen und die Politik regeln… bevor dieses Land gänzlich im Chaos versinkt.“

„Wenn es dafür nicht schon zu spät ist,“ murmelte Nalani vor sich hin, ohne jemanden anzusprechen, und Tabari warf ihr einen stummen Blick zu, sagte aber nichts. Sie alle wandten sich vom Ufer ab, um zurückzukehren, nur Salihah blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf den Fluss. Von Kelar war nichts mehr zu sehen; die Gewässer des Undim waren hier im Norden sehr tief.

Erinnerst du dich, Kelar, was ich dir einst prophezeite? fragte sie den Fluss in Gedanken, und ein grausames, wissendes Lächeln schlich auf ihre Lippen. Du wirst fallen, Kelar, und hart aufschlagen, sodass dein Schädel zerplatzt und Mutter Erde von deinem abscheulichen Blut beschmutzt wird. Wenn es soweit ist… werde ich neben den Splittern deiner Knochen stehen und lachen.

Und genau das… tue ich… mein geliebter und zugleich verhasster Mann.

Ihr Lächeln wurde breiter und sie lachte leise.

„Hört mich an, ihr Flussgeister!“ zischte sie dann, als sie wusste, dass die anderen in einiger Entfernung verwirrt zu ihr herüber sahen, weil sie ihnen nicht folgte. „Fesselt die bösartige Seele dieses Mannes bis in alle Ewigkeit! Ich bin Salihah, die Seherin, Gemahlin des Herrn der Geister, Kelar Lyra! Ich habe ein Recht, so zu euch zu sprechen, und ihr werdet meine Worte dulden, ebenso wie meine Anwesenheit. Ihr werdet den verschandelten, verwirrten Geist meines Mannes behalten bis zum Ende allen Lichts und aller Dunkelheit, bis hin zu dem Tag, an dem Vater Himmel und Mutter Erde verblassen! Und wenn ihr es wagen solltet, es nicht zu tun, werdet ihr es bitter bezahlen. Ihr solltet wissen, dass man mich nicht ungestraft verraten kann… sprecht!“

Und die Flussgeister schwiegen sie an. In diesem Moment war es, dass ihr klar wurde, dass etwas nicht so lief, wie es sollte. Sie wusste nicht, was es war, aber etwas war absolut falsch. Die Frau hob argwöhnisch den Kopf und versuchte in dem Chaos in ihrem Hirn die Antwort auf diese Verwirrung zu finden.

Was war hier verkehrt?

„Mutter?“

Sie fuhr herum und starrte zunächst wie ein zorniges Raubtier in Kiuks Gesicht, während er zu ihr gekommen war. Dann vermilderte sich ihr Ausdruck und sie seufzte. Die Kopfschmerzen… sie waren immer noch da.

Es war verkehrt… es sollte nicht so sein.

„Wir wollen heim, was ist mit dir?“ fragte Kiuk sie dumpf. Salihah schloss kurz die Augen.

„Gar nichts,“ brummte sie dann, „Ich habe Migräne, das ist alles. Entschuldigt, dass ich euch warten ließ. Wir können los.“
 

Das erste, was Tabari Kraft seines Amtes als Erbe von Kelar am nächsten Tag tat, war die Versammlung der Geisterjäger in Tuhuli einzuberufen. Tuhuli lag zentral in Dokahsan und war daher gut zu erreichen für alle Beteiligten. Kohdars kamen aus Yiara und Minar Emo aus Emdyn.

Den Tod des Mannes hatten alle schon durch Visionen der Geister mitbekommen. Aus Höflichkeit wurde Tabari Beileid ausgesprochen, aber der Blonde winkte nur ab, weil es kein echtes Beileid war; um Kelar musste niemand trauern und keiner tat es wirklich.

Das Hausmädchen brachte Tee (für Zoras und Nalani Kaffee). Salihah war auch mitgekommen, wie fast immer, und Keisha und Meoran waren auch dabei, obwohl sie nicht zum rat gehörten. Meoran, jetzt neunzehn Jahre alt, würde aber schon sehr bald ebenfalls die Prüfung machen und vielleicht auch bald als Geisterjäger Mitglied des Rates sein. Sein Vater war immens beschäftigt damit, ihn einzuweisen in die Kunst des Lehrens, damit Meoran nach Nombohs Tod einmal seinen Posten als Lehrer der Schwarzmagie übernehmen könnte. Meoran dachte nicht gerne daran, dass sein Vater nicht ewig lebte, die Vorstellung war furchtbar; aber der Tod von Kelar führte allen einmal wieder vor Augen, dass das Leben nicht ewig war. Eines Tages würden sie alle tot sein. Und wer würde dann ihre Mühen und Sitzungen bezeugen außer alter Annalen des Landes?

Überdies hatte Meoran seit neuestem eine Verlobte. Das Mädchen war elf Jahre alt und hieß Ruja, sie stammte aus dem Telepathen-Clan Thala. Natürlich war Ruja noch zu jung, um wirklich seine Frau zu sein, das würde sie in ein paar Jahren sein, wenn sie reif genug war. Die Verlobung war eine blitzartige Entscheidung der Eltern gewesen. Das Mädchen versuchte gerade sehr fleißig, ihre zukünftigen Schwiegereltern zu beeindrucken, indem sie dem Hausmädchen äußerst höflich und wohlerzogen beim Tisch decken half.

„Ihr müsst das nicht tun, junge Herrin, Ihr seid doch die Verlobte von Herrn Meoran,“ versuchte die Dienerin immer wieder, das Mädchen zu entlasten.

„Ich helfe aber gerne, keine Sorge!“ war die Antwort, „Lass mich das tragen, nicht alles zugleich, bevor etwas zerbricht…“

„Ein sehr… umsichtiges Mädchen,“ bemerkte Tabari bedröppelt und beobachtete Ruja und das Hausmädchen, „Glückwunsch, Meoran. Wurde ja auch mal Zeit für dich, hm? Wobei, ist sie nicht etwas sehr jung?“ Meoran wurde rot und Nomboh gluckste verhalten.

„Ach was, neun Jahre, na und? Zugegeben war das nicht lange geplant, es hat sich, sagen wir, kurzfristig ergeben.“

„Und ist nicht Thema dieses Rates,“ warf Zoras ausgesprochen angespannt ein, worauf sich alle Blicke auf ihn wendeten. „Wir sprechen über den Verbleib des Rates der Geisterjäger nach dem Tode von Kelar, der Herr der Geister war. Wir brauchen einen neuen Anführer. Wie ihr alle wisst, entscheidet normalerweise ein alle fünf Jahre stattfindender Zweikampf mit dem amtierenden Herrn der Geister, ob es einen neuen gibt; wer den Ratsführer besiegen kann, wird neuer Ratsführer. Wenn der Führer – wie in unserem Fall – verstorben ist, wird die Ausscheidung umgehend vollstreckt, das wisst ihr ebenfalls, denke ich.“ Er erntete einstimmiges Nicken von allen Seiten. „Die letzten Kämpfe um den Titel des Ratsoberhauptes hätten vor einem halben Jahr sein sollen,“ sagte Zoras weiterhin, „Aber unser Oberhaupt, Kelar, hielt es offenbar nicht für nötig, sich an die Regeln zu halten, und hat es ausfallen lassen. Nun; da Kelar tot ist, bedeutet das normalerweise, dass wir jetzt jeder gegen jeden einmal kämpfen müssten. Und wer die meisten besiegt hat, hat gewonnen. Aber,“ Er wurde lauter, als schon einige zu murmeln begannen, wie anstrengend das doch wäre. „Ich halte das in unserem Fall für überflüssig.“

„Wie bitte?“ machte Nalani, „Überflüssig?“

„Das heißt, wir verletzten die Regeln?“ fragte Meoran verdutzt. Sein Onkel brummte.

„Du bist nicht Mitglied des Rates, dich tangiert das nicht.“

„Na, ihr verstoßt gegen die Regeln…?“ korrigierte der junge Mann sich immer noch verblüfft.

„Ich möchte erklären, wieso,“ seufzte Zoras Chimalis, „Ich denke, wir wissen schon, wer der Gewinner ist, und daher können wir uns die Kämpfe sparen.“

„Na, das ist aber großkotzig von dir,“ machte Tabari prompt, „Mal so in die Runde zu werfen, dass du der Größte bist, denkst du echt, die Geister befürworten das?“

„Wer redet denn von mir?!“ entrüstete sich der Schwarzhaarige, „Dich meine ich, du Vollpfosten!“
 

Tabari klappte die Kinnlade quasi auf den Tisch und er erbleichte, während alle anderen erst ihn, dann Zoras, dann wieder ihn ansahen.

„Du denkst, Tabari hätte gegen uns alle gewonnen?“ fragte Barak Kohdar, der nebenbei in einem Buch las, das er auf dem Schoß hatte, „Ich meine, gegen Nalani hat er verloren…“

„Genau…“ zog Tabari sich selbst in den Dreck und weitete die Augen.

„Dann kämpfen die beiden eben gegeneinander, wir anderen sind eh‘ raus,“ sagte Tare Kohdar, „Barak, leg dein dämliches Buch weg, das ist unhöflich!“

„Nein, darum geht es nicht,“ mischte Zoras Chimalis sich ein, „Tabari hat gegen Kelar gewonnen. Kelar war Herr der Geister und Tabari hat ihn geschlagen. Das sollte reichen, oder hat jemand etwas einzuwenden?“ Niemand sprach, Tabari hustete nur vor sich hin, wurde aber ignoriert. Tare nahm seinem Bruder das Buch weg.

„Wie ungerecht, es war gerade so spannend…“

„Lies daheim, Himmel und Erde!“

„Also,“ erhob Zoras erneut die Stimme, „Dann nehme ich das als einstimmiges Akzeptiert an.“ Jetzt hob er den Kopf zur Zimmerdecke und brüllte unverhofft laut durch die Stube, sodass das Hausmädchen vor Schreck schrie und die Teekanne fallen ließ. Es klirrte. „Ihr Geister von Himmel und Erde! Habt ihr zugehört? Wenn ihr nicht einverstanden seid mit dieser Ausnahmeregelung, dann sprecht jetzt! Und ich werde mich eurem Willen beugen und mich unterwerfen, wie es meine Pflicht ist!“ Alle hielten gespannt die Luft an und warteten auf ein Zeichen. Einen Blitz oder Donner, irgendetwas…

Aber nichts geschah.

Der Schwarzhaarige seufzte, ehe er die Arme sinken ließ und zu Tabari sah, der stocksteif auf seinem Platz saß und dumm schaute.

„Dann ist es beschlossen,“ verkündete er, „Dann bist du ab heute unser neues Ratsoberhaupt, Tabari, und von jetzt an Herr der Geister an Stelle deines verstorbenen Vaters. Die Geister haben entschieden, dass es deine Bestimmung ist… also nimm sie an. Was sagst du?“ Der Blonde seufzte tief.

„Dass ich neuerdings zu viel nach meiner Meinung gefragt werde, das ist mir zu anstrengend.“ Neben ihm schnaubte Nalani.

„Ja, mein Lieber!“ spottete sie mit einem wohlwollenden Grinsen, „Das wird noch häufiger auf dich zukommen jetzt!“
 

Das war wohl wahr.

Der Tod seines Vaters machte Tabari nicht nur zum neuen Oberhaupt des Geisterjägerrates, sondern automatisch auch zum nachfolgenden König von Lyrien… und das war ein großes Problem.

„Lyrien!“ schnaubte Tabari, als er einige Tage nach dem Tod seines Vaters im Schlafzimmer im Schloss auf und ab marschierte, „Das Land heißt Dokahsan, es gibt kein Lyrien und es dürfte es nie gegeben haben! Vater hat dem ganzen Volk nur Unrecht angetan und es zu Sklaven gemacht, die Leute sind gestorben, verhungert, erfroren oder wurden hingerichtet wegen jedem kleinsten Mist!“

„Dieses Land gehört jetzt dir, Tabari,“ war Nalanis Antwort, „Du musst dafür sorgen, dass das aufhört. Das Volk muss sein Land zurückbekommen und ein neuer Senat muss eingesetzt werden, der die Politik regelt. Der König von Kisara in Vialla unten muss besänftigt werden; dass Kelar sich nicht an alte Pakts und Abmachungen gehalten hat, hat ihn erzürnt, wenn wir Pech haben, ist schon die Streitmacht aus Vialla im Anmarsch, um uns mit Gewalt niederzureißen. Du weißt, dieser König ist ein alter Kauz und auf Magier nicht gut zu sprechen. Aber das ist nicht unser Problem, sondern seins, und für uns kein Grund, mit ihm Krieg anzufangen! Es besteht ein Pakt, der uns an das Land Kisara bindet, der muss eingehalten werden.“

„Das weiß ich,“ stöhnte ihr Mann, marschierte weiter auf und ab und raufte sich die Haare, „Ich hatte auch nichts anderes vor! Dachtest du, ich mache weiter wie mein Vater und versuche, aus Dokahsan ein unabhängiges Land voller Schamanen und ohne Nichtmagier zu machen? Das ist doch Wahnsinn, Schamanen gibt es überdies überall auf ganz Tharr, nur nirgends so viele wie hier im Norden Kisaras, wo die Wiege unserer Kultur liegt, wie es heißt. Das ist dennoch kein Grund, das Land uns zu Eigen zu machen. Vater hat die Mächte der Schöpfung zutiefst erzürnt, ich muss… nicht nur sie, sondern das ganze Volk irgendwie besänftigen. Ich muss nach Yiara und… das öffentlich verkünden. Und mir graust davor, ich bin kein Politiker, ich kann keine öffentlichen Reden halten…“ Er warf ihr einen verzweifelten Blick zu und Nalani hob den Kopf.

„Dann besprich es mit deiner Mutter,“ verlangte sie, „Salihah kann sowas, sie kann dir helfen. Reden musst du allein, Tabari… ich denke nicht, dass sie die Rede einer Frau akzeptieren werden.“ Ihr Mann seufzte tief.

„Nur Ärger hat man!“ jammerte er, „Plötzlich bin ich der Depp, der alles regeln muss, dabei habe ich nicht die leiseste Ahnung, was ich zu tun habe!“ Sie tat etwas Erstaunliches; sie ging zu ihm herüber und streichelte ihm zärtlich über die Haare und seine Wange. Als er sie verdutzt über die ungeahnte Zärtlichkeit ansah, lächelte sie für einen Moment.

„Du bist sehr tapfer, mein Liebster…“
 

Während Tabari mit seiner inzwischen wieder etwas kooperativeren Mutter die Rede ausarbeitete, die er vor dem Senatsgebäude in Yiara würde halten müssen, hatte jeder in der Familie seine Aufgabe zu erledigen. Da es der kleinen Alona wieder besser zu gehen schien, wurden Kiuk und Sukutai damit betraut, einen neuen Senat zusammenzusuchen. In Yiara gab es genug Politiker, die dafür zu gebrauchen wären. Nalani war indessen damit beschäftigt, den Jungen namens Ulan gesund zu pflegen und sich zugleich um ihren eigenen Sohn und ihre Nichte Alona zu kümmern. Sogar die Chimalis-Brüder bekamen von ihrem neuen Ratsoberhaupt einen Auftrag; sie konnten mit Hilfe ihrer Späher, Krähen und Kondoren, die Grenzen überwachen und darauf aufpassen, dass im Süden kein Unglück geschah; von einer Streitmacht des Königs oder sonstigen Unruhen war nichts zu erkennen, aber sie alle fürchteten jeden Tag, dass der Zorn, den Kelar heraufbeschworen hatte im ganzen Land, sie noch bitter treffen könnte, an einer Stelle, die sie nicht erwarteten, an der es grausam wehtun würde. Aber nichts geschah… die Geister hüllten sich in seltsames Schweigen.
 

„Kannst du dich bewegen und gehen, Junge?“ Nalani beobachtete den verwundeten Jungen prüfend, als er sich von seinem Krankenbett erhob und ein paar Schritte durch das Zimmer ging.

„Ja, es geht schon wieder gut, Herrin,“ sagte er höflich, „Ich bin Euch lange genug zur Last gefallen und kann jetzt zurück zu meiner Familie nach Canulo kehren, wenn Ihr erlaubt…“ Er fasste plötzlich nach seinem Kopf und zuckte, worauf Nalani ihn skeptisch anblickte. Auf dem Boden des Zimmers saß Puran und bohrte mit seinem Holzschwert ein Loch in den Teppich. Jetzt sah er auch neugierig zu dem älteren Jungen hinauf, der vor ihm stand.

„Alles in Ordnung, sicher?“ fragte Nalani. Das Kind namens Ulan drehte etwas verblüfft den Kopf zu ihr.

„Ich… habe nur noch Kopfweh, das ist alles…“ gestand es kleinlaut, „Das wird schon, denke ich…“ Er zuckte wieder zusammen und Nalani erhob sich, während Puran vor sich hin redete:

„Meine Großmutter hat auch immer Kopfweh, vielleicht seid ihr verwandt.“

„Rede keinen Schmarrn,“ tadelte Nalani ihr Kind, „Und mach den Teppich nicht kaputt! – Ulan, hör mir zu. Vielleicht ist es besser, wenn ich dich selbst nach Canulo bringe, du solltest dich daheim noch weiter ausruhen… habt ihr Heiler in der Familie?“

„Wir sind alle Schwarzmagier,“ entgegnete der Junge benommen und sah zum kleinen Puran hinab, der immer noch am Boden saß. Als der Ältere wieder einen stechenden Schmerz durch seinen Kopf fahren spürte und kurz zischte, sah der Kleine am Boden auch die ungewöhnlich Raubtierartigen Eckzähne, die auch Kelar schon bemerkt hatte, ohne dass es irgendjemand Lebendes wusste. Puran wusste selbst nicht, was es war, aber der Anblick jagte ihm plötzlich einen unwohlen Schauer über den Rücken, als hätte sich der kranke Junge vor ihm plötzlich in einen Tiger verwandelt, bereit, ihn anzuspringen. Er kroch rückwärts über den Boden und erbleichte, was aber niemand bemerkte, da seine Mutter jetzt Ulan am Arm zur Tür zog.

„Dann gebe ich dir Kräutertee mit, der wird die Schmerzen lindern. Komm mit.“

„Wohin gehst du, Mutti?!“ fragte Puran plötzlich hysterisch; etwas an dem Gedanken, sie mit dem seltsamen Jungen alleine zu lassen, gefiel ihm gar nicht, und er rappelte sich auf und hustete.

„Ich bringe Ulan zurück in sein Dorf. Es wird nicht lange dauern, du bleibst bitte hier. Vati und Großmutter sind daheim, du bist ja nicht alleine hier, Puranchen.“

„Aber… ich mag doch nicht…“ nölte der Kleine unsicher, protestierte aber lieber nicht weiter, als Nalani ihm den Rücken kehrte und mit dem anderen Jungen zur Treppe ging. Wenn er doch nur wüsste, wieso er sich so komisch fühlte, wenn er den anderen ansah… wenn er das hätte erklären können, wäre sie vielleicht nicht gegangen! Er ohrfeigte sich innerlich für sein Unvermögen, sich in Worte zu fassen. Reden war nicht unbedingt etwas, was er gern tat, und Dinge erklären schon gar nicht.

„Bleib artig daheim,“ sagte seine Mutter noch zu ihm, als sie ging, „Ich bin doch bald zurück. Du bist alt genug, um eine Weile ohne mich zurecht zu kommen. Wenn du im Sommer in die Schule kommst, wirst du das auch müssen, gewöhne dich bitte daran, mein Sohn.“

„Ja, Mutti,“ war die dumpfe Antwort, ehe sie weg war.
 

Puran ahnte nicht, dass seinem Vater der kleine Junge aus Canulo ebenfalls im Kopf herum spukte. Während er versuchte, sich auf seine Rede zu konzentrieren, und seine Mutter hinter ihm auf und ab ging und ihm diktierte, was er zu sagen hätte, kamen seine Gedanken immer wieder auf den Jungen zurück, der einen so verhängnisvollen Namen trug.

Ob der rein zufällig Ulan hieß? Aber wenn nicht, wer nennt sein Kind denn freiwillig nach jemandem, der nur Unglück gebracht hat? Das ist doch Humbug… vielleicht wussten die Eltern gar nicht, dass es bei uns mal einen Ulan gab, sie sind ja nur einfache Bauern-… wie sollten sie davon wissen? Außerdem ist das über ein halbes Jahrtausend her, wer außer solchen Stammbaum-Fanatikern wie Mutter und Kiuk weiß überhaupt davon?

„Hörst du mir zu?!“ Die empörte Stimme seiner Mutter ließ den Mann hochfahren und er hustete.

„V-verzeih, ich war… in Gedanken,“ gestand er kleinlaut, „Ich höre.“

„Das hoffe ich für dich!“ schnaubte Salihah und rieb sich die Schläfen, „Es ist von äußerster Dringlichkeit, dass wir das erledigen, Tabari. Und wir können uns keine Fehler leisten, derer hat dein Vater schon genug gemacht.“ Der Sohn nickte dumpf. Ja, das wusste er.

„Dann machen wir weiter…“ schlug er vor, „Je eher wir es beenden, desto besser.“ Und während sie die Arbeit fortsetzten, verdrängte er die Gedanken an den kleinen Ulan bis auf weiteres.

Und so geriet in Vergessenheit, was nicht hätte verloren gehen dürfen…
 

An dem Tag am Ende des Hungermondes, an dem sie nach Yiara fuhren, begann es zu tauen. Die Straßen waren schlammig und der Wagen kam nicht gut voran, deswegen kamen sie erst nach der vereinbarten Mittagsstunde vor dem Senatsgebäude an, vor dem sich ganz Yiara versammelt haben musste. Aus jedem Kreis waren die Statthalter, die Verwalter der Kreise, gekommen, und ganz vorne an standen die zu neuen Senatoren auserkorenen Männer, in die traditionellen Gewänder des Senats gehüllt, wie es vor Kelar Lyras Machtübernahme gewesen war. Als Tabari sich ans obere Ende der breiten Steintreppe vor dem Gebäude stellte und plötzlich auf das versammelte Volk herab starrte, das zu ihm hinaufsah, wurde ihm fast übel. Er wäre am liebsten umgekehrt und hätte sich in einem Erdloch vergraben, er wünschte sich, irgendjemand könnte diesen Teil für ihn übernehmen… aber das war nicht möglich.

Er war Kelars Erbe.

Es war seine Pflicht, das zu tun… und der einzige Weg, den Groll des grauen Himmels zu besänftigen. Der Blonde blickte hinauf in die Wolken, die sich leise im grummelnden Himmel zusammen zogen. Es würde bald Regen geben.

Vorne bei den Senatoren stand der Rest des Geisterjägerrates, ebenso hatte man den Telepathen-Orden und den obersten Heilerrat versammelt.

Tabari räusperte sich, und nach und nach hörten die Menschenmassen vor ihm auf zu murmeln und blickten geschlossen und erwartungsvoll zu ihm hinauf, nicht wenige mit finsteren oder furchtsamen Blicken. Diese Menschen mussten seinen Vater wie die Pest gehasst und gefürchtet haben.

„Volk von Dokahsan,“ begann er dann kleinlaut, und hinten reckten sich einige, die es nicht gehört hatten. Nalani in der ersten Reihe machte verstohlene Handbewegungen und er wiederholte sich lauter: „Volk von Dokahsan!“ Jetzt hatten ihn alle gehört und er bekam jetzt ungeteilte Aufmerksamkeit. „Ich habe wichtige Nachrichten und Änderungen zu verkünden, deswegen habe ich euch heute hier versammelt! Für die, die mich hier heute zum ersten Mal sehen, mein Name ist Tabari Lyra, ich bin Oberhaupt des Rates der Geisterjäger. Mein Vater, der Tyrann Kelar, ist vor wenigen Wochen verstorben, wie sich schon verbreitet haben wird.“ Die Leute murmelten, manche nickten. „Ich komme zu euch in größter Demut,“ fuhr Tabari fort und senkte den Kopf, „Mein Vater hat euch viel Leid und Unheil gebracht, Menschen gemordet und versklavt. Das hätte nicht passieren dürfen. Wir, die Hinterbliebenen der Lyra-Familie, können das nicht rückgängig machen, so sehr wir es auch wünschen. Aber wir können verhindern, dass es so weiter geht, und das Desaster beenden. Darum bin ich hier und spreche zu euch. Dieses Land ist eine Provinz des Landes Kisara, was mein Vater offenbar ignoriert hat! Ich werde es nicht tun und ich werde am heutigen Tage diese Provinz Dokahsan seinem Volk zurück geben!“ Das Gemurmel wurde lauter, einige riefen und Tabari schnappte kurz nach Luft. „Ich übergebe die Politik dieses Landes in die Hände des wieder erstellten Senats, der für das Volk von Dokahsan sprechen wird. Dokahsan wird nicht länger Lyrien heißen, sondern seinen altehrwürdigen Namen zurück bekommen! Und Dokahsan… braucht keinen König! Der König, dem wir alle unterstellt sind, ist der König von Kisara!“ Die Rufe wurden lauter, einige blieben skeptisch, andere waren schon begeistert. Er hob die Hände, um das Volk wieder zum Schweigen zu bringen. „In Dokahsan leben sowohl Menschen als auch Schamanen, sie alle zusammen gehören zum Volk und sollen gleichermaßen daran beteiligt sein, aus diesem Land wieder ein Land des Friedens zu machen. Der Senat erhält die volle Entscheidungsmacht, er wird Reformen aber nur durchsetzen können in Übereinstimmung mit Abgeordneten aus den drei Räten der Magier – die da wäre der Rat der Heiler, der Rat der Seelenmagier und der Rat der Geisterjäger.“ Jetzt herrschte Schweigen und alle sahen ihn gebannt an. Tabari seufzte. „Jeder der drei Räte wird einen Abgeordneten stellen, der Besprechungen innerhalb der Räte an den Senat weitergibt und für den jeweiligen versammelten Rat spricht. Auf diese Weise beteiligen sich Nichtmagier und Magier gleichermaßen an der Politik, und nicht nur die Schwarzmagier, wie es früher war, da Seelenmagier und Weißmagier ebenso ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft sind!“

„Ist ja klasse, wer wird unser Vertreter?“ freute sich Tare Kohdar aufgeregt, Nalani blinzelte.

„Das entscheiden wir vermutlich auf der nächsten Sitzung.“

„Hört mich an,“ lenkte Tabari die Aufmerksamkeit erneut auf sich, worauf langsam alles Gemurmel wieder erstarb. „Meine Familie, die Lyra-Familie, war einst eine ehrwürdige Familie der Schamanen, hat aber in den letzten Jahren viel Unrecht getan. In großer Demut über die Schande, die meine Familie angerichtet hat, werfe ich mich dem Volk von Dokahsan zu Füßen als Zeichen dafür, dass ich euch um Vergebung anflehe, die meine Familie nicht mal verdient hätte. Ich erhebe keinerlei Anspruch… für meine Familie und meine Nachfahren als Entschädigung für die Schande und den Geisterzorn, für den mein Vater verantwortlich ist.“ Mit diesen Worten tat er etwas Verblüffendes, als er seine Ankündigung tatsächlich wörtlich nahm. Er ließ sich vor dem versammelten Volk, allen Senatoren und Statthaltern und allen drei Räten auf die Knie sinken und warf sich demütig auf den steinernen Boden, die Stirn auf die Erde gepresst. Das Volk murmelte, wurde nach einer Weile, die er da regungslos lag, aber totenstill. Kein Laut war zu hören und alle starrten hinauf zur Treppe und zum Senatsgebäude. Nalani war ebenfalls verblüfft über diese Geste, von der er sie nicht unterrichtet hatte, obwohl sie an sich in etwa mit ihm durchgesprochen hatte, was er sagen würde. Selbst Salihah schien das zu überraschen, aber sie lächelte hinauf zu ihrem Sohn voller Stolz und Zufriedenheit, als hätte er gerade die Welt gerettet. Vielleicht hatte er das… denn allein seine Demut würde den Groll des Himmels gegenüber dem Lyra-Clan besänftigen, weil er offen vor der halben Welt zeigte, dass sie im Unrecht gewesen waren und für die Taten des Vaters den Rest ihres Lebens lang büßen würden, wenn es sein musste.

„Tabari ist ein guter Mensch,“ murmelte Zoras Chimalis, der neben ihr stand und ebenfalls hinauf sah, „So viel Demut würde kein Geist jemals von ihm verlangen… es ist nicht seine Schuld, dass Kelar verrückt war. Du kannst stolz auf ihn sein, Salihah.“

„Das bin ich,“ entgegnete sie fast lautlos. „Das bin ich mit meiner ganzen Seele, Liebster.“ Und sie nahm zärtlich seine Hand in ihre, ohne dass sie einander anblickten.
 

Tabari erhob sich langsam wieder, hielt aber den Oberkörper vorgebeugt und den Kopf gesenkt.

„Ich werde nicht wagen, euch in die Augen zu sehen, das bin ich nicht wert,“ sprach er, „Der Senat soll entscheiden, was mit den Nachfahren des Tyrannen Kelar Lyra geschehen soll… dies liegt nicht in meinen Händen, dazu hätte ich kein Recht. Die Geister werden für Recht sorgen.“ Er sah jetzt kurz zu den Senatoren und wartete auf deren Entscheidung. Eigentlich gehörte die ganze Familie nach diesem scheußlichen Desaster in Verbannung, des Landes auf ewig verwiesen. Der Adelsstatus müsste ihnen entzogen werden und sämtliche Rechte, die sie bis dahin gehabt hatten.

Einer der Senatoren trat vor.

„Du verlangst harte Strafen für dich und deine Angehörigen, die nicht notwendig sind, wie der Senat, für den ich jetzt spreche, denkt,“ sagte der Mann, und alle sahen wieder erstaunt zu ihm hin, abgesehen von Tabari, der immer noch mit geneigtem Oberkörper stehen blieb. „Die Schuld, die auf deiner Familie lastet, ist nicht deine oder die deiner Söhne und einstigen Enkel, Tabari Lyra. Der Senat würde von den Strafen absehen, im Sinne eines… Neuanfangs, sozusagen. Eure Familie hatte diesem Land zu Zeiten des Krieges gegen Anthurien treue Dienste erwiesen und viel Gutes getan. Das soll nicht vergessen sein. Und ihr selbst wart es, die den Tyrannen losgeworden seid, und du hast dich aufrichtig und ehrlich vor dem versammelten Volk gedemütigt. Wir denken, das reicht.“ Tabari musste jetzt doch hochsehen und machte ein verdutztes Gesicht.

„D-das ist zu viel der Barmherzigkeit!“ keuchte er tonlos, „Ich weiß nicht, ob ich damit leben kann.“

„Du willst dir selbst keine Rechte mehr geben, daher geben wir dir jetzt kein Recht, zu widersprechen,“ feixte der Senator ernst und wandte sich an das Volk: „Wer etwas einzuwenden hat, der möge jetzt vortreten und sprechen!“ Die Menschen blieben still; manche murmelten und tuschelten untereinander, aber niemand trat vor oder erhob laut die Stimme. Tabari war verblüfft… er hatte sehr viel mehr Feindseligkeit und Zorn erwartet. Natürlich war er nicht Schuld an den Taten seines Vaters, aber normalerweise wurde die ganze Sippe des Täters gleich in Mitleidenschaft gezogen und verurteilt. Er fragte sich, ob sie wirklich so barmherzig waren oder ob sie sich nur nicht trauten, als erste zu protestieren. Die Männer des Senats sahen sich in der Masse um und auch die Geisterjäger und anderen Räte drehten die Köpfe, um nur murmelnde und tuschelnde Menschen hinter sich stehen zu sehen. Schließlich war es Zoras Chimalis, der das Wort ergriff, indem er ein paar Stufen der Treppe hinauf und neben den Senator stieg.

„Flüstern ist nicht sprechen!“ verkündete er laut, „Sprecht, wenn ihr Einwände habt, oder schweigt, wenn nicht, von halben Sachen haben wir genug gehabt! Lasst mich eines klar stellen, ehe ihr euch entscheidet.“ Er hob die Arme und wirkte dank seines schwarzen Umhangs beeindruckender denn je, sodass die Menschen tatsächlich geschlossen verstummten und zu ihm hinauf sahen. Tabari blinzelte. „Ich kenne die Lyra-Familie schon eine ganze Weile, ich kannte Kelar, das Monster, das einst ein Mensch war, den ich sogar einmal respektiert habe, und ich kenne seine Familie. Keiner von ihnen, weder Kelars Frau noch seine Söhne, haben je die Machenschaften des Monsters unterstützt, der Senat hat recht, wenn er sagt, sie trifft keine Schuld, wir vom Rat der Geisterjäger sind derselben Meinung. Tabari gab uns das Land zurück, das sein Vater gewaltsam für sich beansprucht hat, und ich denke diese Rede hier heute und die Gestik sind der Demut genug! Wenn ihr etwas anderes denkt, dann sprecht jetzt!“

Niemand sprach.
 


 

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Hier endet part eins^^ wenig passiert in dem kapi ^^' aber naja, gelaber halt... wir haben jetzt rein storymäßig etwa ein viertel der Geschichte hinter uns XD

Und um mal wieder eine Zeitleiste zu machen, wir haben Ende Januar 965^^

Stimme des Windes

Zweiter Teil: Dokahsan
 


 

Der nächste Sommer kam mit viel Feuchtigkeit und Regen über das Land, das jetzt wieder Dokahsan hieß. Es war, als würde der Himmel mit dem Regen die Vergangenheit und das Grauen, das Kelar Lyra verbreitet hatte, davon spülen wollen. Und Mutter Erde half ihm dabei; in schlammigen Rinnsalen vermischten sich Wasser und Erde und schwemmten das ganze Land auf. Und als der große Regen vorbei war, der beinahe den gesamten Sommermond angedauert hatte, war aus dem alten Lyrien ein neues Dokahsan geworden, glänzend im fahlen, grünlichen Sonnenlicht aus dem Himmel dank der Nässe wie ein neugeborenes Baby. Die Menschen konnten wieder leben in Dokahsan; sie hielten sich zwar auch nach dem halben Jahr, das Kelar jetzt schon tot war, noch distanziert und skeptisch den Lyras gegenüber, aber sie akzeptierten schweigend ihre Existenz im Kreis Vikhara.

Dank einigen erneuten Sitzungen und Regelungen im Senat war der König von Kisara friedlich gestimmt worden und der Provinz drohte kein Einmarsch irgendwelcher Streitmächte. Nach einigem Hin und her hatte man Tabari wieder zum Statthalter von Vikhara erhoben, wie es sein Vater vor scheinbaren Ewigkeiten auch einst gewesen war, zuständig für die Versorgung und den Schutz des Volkes dieses Kreises; nachdem Kelar sich selbst befördert hatte, hatte Vikhara keinen Statthalter mehr gehabt und es brauchte jetzt wieder einen. Tabari hatte das extrem großzügige und ehrwürdige Angebot der Senatoren entsetzt ablehnen wollen, hatte aber letztlich dem Drängen nachgegeben. Der Lyra-Clan war trotz Kelars grausamer Regentschaft, die zum Glück nur ein paar Jahre gedauert hatte, nach wie vor ein ehrbarer Clan und ein uralter Stamm der besten Magier Tharrs. Es wäre eine Beleidigung und Entwürdigung seiner Ahnen, die Familie mehr in den Dreck zu ziehen als die Gesellschaft für nötig hielt. Wobei es inoffiziell mehr Salihah war, die den Kreis verwaltete; Tabari hatte keine Spur einer Ahnung von Politik, obgleich sein Vater ihn einst unterrichtet hatte. So war es seine Mutter, die organisierte und ihm sagte, was er zu tun hatte, und Tabari war mehr der Vorzeige-Statthalter. Außerdem hatte Salihah es einfacher, die Verwaltung zu führen, weil sie öfter als ihr Sohn in der Kreisstadt Tuhuli war, die Verwaltungskapital von Vikhara war. Und abgesehen von Tabari, dem Trottel, wusste die ganze Familie, was die gute Salihah so oft in Tuhuli trieb…
 

Was wichtig war, war die Anknüpfung an die Gesellschaft des Landes, von der die Familie zwangsläufig abgekapselt worden war. Nalani und Sukutai, die manchmal beim Einkaufen in den Dörfern halfen, merkten es jedes Mal; die Dorfbewohner der Umgebung waren verstört und distanziert ihnen gegenüber und verneigten sich automatisch, wenn sie des Weges kamen. Sie fürchteten offenbar immer noch, sie könnten geköpft oder erhängt werden, würden sie der Familie nicht genug Respekt zollen. Gerade aus diesem Grund war der Beschluss, den die Familie gemeinsam fasste, sich vor den einfachen Menschen kooperativer und sterblicher zu zeigen, besonders wichtig; und einer der Gründe, weshalb Nalani ihren kleinen Sohn am Ende des Sommers in die Schule im Dorf Gahti schickte.
 

„Wir gehen zur Schule, gucken sie an und gehen dann wieder heim, nicht, Mutti?“

Nalani sah ihren Sohn verwundert an und musste lachen.

„Was?“ machte sie erstaunt, „Nein, nicht ganz, ich bringe dich hin und lasse dich über den Vormittag dort, dann hole ich dich am Nachmittag wieder ab!“ Sie hatte gerade ihren dünnen Sommermantel übergezogen und ihrem Söhnchen seine ordentlich gepackte Schultasche in die Arme gedrückt und war dabei gewesen, mit ihm das Schloss zu verlassen. Tabari war nicht zu Hause, sondern im Kreis unterwegs, Salihah war in Tuhuli und Sukutai wegen einer Senatssitzung in Yiara – sie war nämlich die Stellvertreterin des Telepathen-Rates im Senat geworden und hatte daher jetzt viel zu tun – aber Kiuk war mit seiner jetzt zwei Jahre alten Tochter Alona in der Eingangshalle, um seine Schwägerin und seinen Neffen ordentlich zu verabschieden. Alona wuselte um die Beine ihres Vaters herum, zwischen durch und wieder herum und lachte dabei blöd vor sich hin.

„Was?“ machte Puran jetzt auch entsetzt, „Du lässt mich da alleine?!“

„Schätzchen, so ist das in der Schule!“ war die knappe Antwort der Mutter, und als er sie immer noch fassungslos ansah, hockte sie sich vor ihn und streichelte seine braunen Haare. „Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört,“ lächelte sie dabei, „Du bist bald sechs, du bist alt genug, um eine Weile ohne mich das Schloss zu verlassen. Du willst doch kein Baby sein wie deine Cousine?“ Puran sah unsicher auf Alona, die weiter an der Hose ihres Vaters zerrte, um seine Beine herum rannte und Kiuk dabei fast umwarf. Dabei johlte und brabbelte sie etwas Unverständliches vor sich hin; sie sprach allgemein fast nichts Richtiges, was ihre Eltern etwas besorgte; Sukutai hatte sogar schon geglaubt, Alona hätte eine Entwicklungsstörung, davon hatte Keisha sie aber schnell wieder abgebracht.

„Nicht alle Kinder reden gleich früh,“ hatte sie erklärt, „Einige brauchen länger und andere weniger lang, das ist völlig normal. Sie ist erst zwei, sehr viele Kinder können mit zwei noch nicht sprechen.“

Puran schnaubte jetzt.

„Ich bin doch kein Baby mehr!“ erklärte er entrüstet, worauf Nalani sich erhob und ihm zur Belohnung für seine Einsicht den Kopf tätschelte.

„Siehst du. Dann lass uns gehen, sonst kommen wir zu spät nach Gahti!“

„Viel Spaß,“ rief Kiuk ihnen nach, „Wenn du heim kommst, kannst du uns was Schlaues erzählen, nicht, Puranchen?“

„Ich kann schon bis zehn zählen!“ rief das Kind zurück, das von der Mutter an die Hand genommen und aus dem Schloss geführt wurde. „Soll ich? Eins, zwei, drei…“

„Ja, ja, wir glauben dir,“ unterbrach Nalani seine Zählerei, „Erzähl das lieber deinem Lehrer gleich!“
 

Gahti war ein kleines Dorf knapp nordwestlich des Lyra-Schlosses. Man ging den Sandweg vom Hügel hinab zur Landstraße, wandte sich nach Norden, durchquerte ein kleines Wäldchen und war so gut wie da. In Vikhara gab es zwei Schulen; eine in Gahti und eine in Tuhuli. Alle Kinder aus den umliegenden Dörfern gingen in die Schule in Gahti, daher war in dem Dorf immer viel los. Der Trubel im Dorf lebte alleine von der Schule und davon wiederum lebten die Händler in Gahti, denn viele Eltern, die Kinder zur Schule brachten, entschlossen sich auf dem Rückweg in ihr Heimatdorf, noch etwas Obst oder Fleisch einzukaufen. Um dem Dorf ein städtischeres Flair zu geben, hatte der Vorstand von Gahti vor einiger Zeit die Hauptstraße mit Steinen pflastern lassen. Steinerne Straßen, so etwas gab es in keinem Dorf in ganz Dokahsan, so etwas leisteten sich nur die großen Städte wie Tuhuli, Yatoret und Yiara natürlich. Es beeindruckte und belustigte das Volk gleichzeitig, denn die Straße aus Steinen in Gahti war natürlich nicht halb so professionell und ordentlich gearbeitet wie in den Städten, immerhin hatten nur einfache Bauern dafür geschuftet und keine Handwerker. Der Dorfvorsteher in Gahti war sehr stolz auf seine Idee und seine Straße, die Kutscher, die die Hauptstraße passierten, fluchten, weil der Wagen so hoppelte und desöfteren hölzerne Randstangen zerbrachen bei dem Geholper; so hatten die Bewohner von Gahti immer etwas zu lachen, weil jeder, der daher kam, die Straße kommentierte, verfluchte oder lobte.

„Das Gute an einer Steinstraße ist, dass die Steine im Gegensatz zum Sand nicht aufweichen und fortgespült werden können,“ erklärte Nalani Puran, als sie mit ihm das Dorf erreichte und Puran sich darüber amüsierte, von einem Kopfstein zum nächsten zu hopsen. „Normalerweise nimmt man dafür nicht irgendwelche Steine, die am Wegrand herum liegen, aber das hier ist ein Dorf, hier läuft das anders – jetzt fall nicht noch hin, Puran, nimm meine Hand!“

„Ja, Mutti,“ war Purans brave Reaktion, und er nahm artig ihre Hand, als sie die Hauptstraße verließ und kurz darauf vor einem kleinen, hölzernen Törchen stehen blieb. Sie zeigte auf das große Gebäude dahinter.

„Sieh. Das ist die Schule! Ab heute wirst du hier sechs Jahre lang jeden Tag hin gehen. Außer in der langen Sommerpause und an Festtagen.“ Puran betrachtete das große Gebäude und sagte nichts. Das Schulgebäude war kleiner als das Schloss und vermutlich nicht mal halb so alt. Es war kein hübsches Gebäude, aber es stand immerhin. Ihm gefiel der Gedanke nicht, den ganzen Vormittag alleine ohne seine Mutter hier bleiben zu müssen. Von weitem hörten sie bereits Kindergeschrei und Gejohle auf dem Schulhof; die älteren Schüler waren heute auch nach ihrer Sommerpause zum ersten Mal wieder hier. Gerade drängelten sich ein paar etwas größere Jungen kichernd und herum albernd an Nalani und Puran vorbei auf das Schulgelände, wobei Puran sich erschrocken an seine Mutter drückte, um den Rabauken nicht zu nahe zu kommen. Ältere Kinder waren ihm unheimlich, sie waren größer und lauter als er; er dachte kurz verwirrt an den seltsamen Jungen aus Canulo, der im Winter bei ihnen gewesen war. Er konnte das gruselige Gefühl, das er bei seinem Anblick verspürt hatte, einfach nicht vergessen; und viel beunruhigender war, dass er offenbar der Einzige war, der es spürte.

„Nun, dann wollen wir mal,“ seufzte Nalani in dem Moment, nahm ihn an der Hand und ging durch das Törchen, „Da drüben unter dem Baum versammeln sich alle Schulanfänger mit der Lehrerin, wie es aussieht. Ab jetzt wirst du ohne mich zurecht kommen, nicht wahr?“

„Ich möchte nicht, dass du fort gehst,“ nuschelte ihr Sohn kleinlaut, klammerte sich unsicher an ihren Rock und beäugte skeptisch die gruseligen großen Kinder, die auf dem großen Hof herum tobten. „Die Leute hier machen mir Angst, Mutti…“

„Ach, das sind auch nur Kinder,“ Nalani befreite sich sanft aus seinem Griff und trat einen Schritt weg. „Sei tapfer. Du bist groß genug, das hast du doch heute Morgen vor Onkel Kiuk auch gesagt.“ Das Kind schmollte. Ja, das hatte er… er fragte sich gerade, was ihm wichtiger war, sein kindlicher Stolz, Mutti beeindrucken zu können, oder seine Sicherheit… nach einer Weile des Überlegens siegte dann wohl das Erste, denn er trat ebenfalls vor Nalani zurück und biss sich tapfer auf die Oberlippe, dabei mit dem Kopf nickend. Nalani seufzte innerlich erleichtert über seine Einsicht; sie konnte ja schlecht den ganzen Tag hier bleiben, so gern sie das auch getan hätte. Sie würde es nie zugeben Tabari gegenüber, aber er hatte recht gehabt… sie hätte ihren Sohn von Anfang an nicht so bemuttern dürfen, dann wäre es ihm jetzt leichter gefallen, sich von ihr zu lösen. Es ärgerte sie mitunter, dass Tabari, der eigentlich vollkommen tüdelig war, mehr auf gut Glück als durch Verstand so oft recht behielt. Tabari war ein merkwürdiger Mensch. Auf eine seltsame Weise verehrte und beneidete sie diesen Mann.
 

Puran fuhr herum und wollte es sich plötzlich anders überlegen, als seine Mutter mit einem Winken den Schulhof wieder verließ; aber da hatte sie das Törchen schon passiert, ehe er einen Schritt in ihre Richtung hätte tun können. Na, die war gut, und was sollte er jetzt machen, wo sie weg war? Verwirrt sah er sich auf dem großen Hof um und blickte unsicher zu der Gruppe mit kleinen Kindern unter dem Baum, von denen seine Mutter gesagt hatte, er müsste zu ihnen gehen. Und wenn sie sich geirrt hatte?

Seine Mutter irrte sich nie.

Er wollte gerade losgehen, da tippte ihn jemand von hinten an und der Junge drehte verblüfft den Kopf, um in das grinsende Gesicht eines größeren Jungen zu blicken.

„Was ist denn mit dir?“ fragte er amüsiert, „Vermisst du deine Mutti jetzt schon? Du bist aber klein, bist wohl neu hier, haha!“ Neben dem Jungen tauchten noch zwei andere auf und kicherten doof. Puran runzelte die Stirn und sagte nichts. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, nicht mit fremden Leuten zu sprechen; daher entschied er sich, die gruseligen Typen zu ignorieren. Das war leider nicht so leicht.

„Kannst du nicht reden?“ fragte der zweite nämlich jetzt und tippte ihn auch an, etwas unsanfterer als der Erste, „Ich glaube, der ist noch zu klein für die Schule, der redet gar nicht, du.“ Letzteres sagte er zu seinem Kumpel, der zuerst gesprochen hatte. Der räusperte sich theatralisch.

„Ich seh’s selber, du Honk, lass mich das machen.“ Puran blinzelte nur verdattert, als der Junge ihn plötzlich etwas rückwärts schob. „Du bist hier falsch, Kleiner, ich glaube, deine Mutter hat dich hier aus Versehen nur abgegeben, weil sie dich loswerden wollte.“ Hinter ihm fingen die beiden anderen schallend zu lachen an. Als der Vordere Puran wieder zu schieben versuchte, schlug der Kleine seine Hand weg.

„Schubs mich nicht, du Flasche!“

Die größeren Jungen sahen sich an. Der Vordere gluckste.

„Ah, er kann doch reden! Glaubst du mir etwa nicht? Ich sag‘s dir doch, deine Mutter ist sauer auf dich, die mag dich nicht mehr.“

„Ja, ich hab's auch gehört,“ pflichtete der zweite Junge ihm bei und nickte theatralisch, ehe er und der dritte, der bisher noch gar nichts gesagt hatte, wieder zu lachen anfingen.

„Was gehört?“ fragte der Kleine erschrocken, und der große Junge vor ihm lachte auch blöd:

„Na, dass sie gesagt hat „Endlich bin ich das Kind los!“ , haha!“ Puran starrte den Jungen fassungslos an; das hatte seine Mutter gesagt?

Er lügt…

„W-was?“ machte der Junge und fuhr hoch, „W-wer hat das gesagt?“

„Deine Mutter, du Trottel,“ johlte der Dicke vor ihm, als Puran herum fuhr und offenbar nach jemandem suchte.

„Redet nicht mit mir!“ schimpfte er dabei, „Hört damit auf!“

„Macht aber Spaß,“ kicherte der Junge, und jetzt schaltete sich der dritte ein.

„Du, ich glaube, er meint uns nicht…“

„Was soll der Quatsch, wen denn dann?“ Die drei sahen geschlossen wieder zu dem Kind, das sich einmal herum drehte und mit den Armen die Luft schlug. Es war nicht das erste Mal, dass er Geisterstimmen hörte… er hörte sie oft. Aber es war unheimlich und er wollte nicht, dass sie mit ihm sprachen. Seit sein Großvater tot war, hatte er die seltsame Befürchtung, der Geist von Kelar würde zu ihm sprechen; er fürchtete seinen Großvater, er sah noch genau sein gruseliges Gesicht vor sich, seine stechenden Augen und seine eigenartigen Raubtierzähne. Er hörte immer noch seine scharfe Stimme und sein kehliges Lachen… seine Mutter hatte versprochen, dass sein Großvater ihm nie wieder etwas tun könnte. Aber was, wenn er ihm den Kopf verdrehte, indem er ihm Sachen ins Ohr flüsterte?

„Geht weg, lasst mich in Frieden!“ empörte er sich und hielt sich die Ohren zu, „Ich mag nicht!“

„Jetzt seht euch den an,“ lachte einer der Jungen, „Der dreht ja komplett durch – hahaha…“

„Was für ein Deppenkind!“

„Was ist hier los?“ ertönte plötzlich eine Stimme vor ihnen und die drei Jungen fuhren hoch, während Puran plötzlich von jemandem festgehalten wurde und keuchend aufhörte, die Luft zu schlagen. Als er hinauf sah, stand hinter ihm eine junge Frau, hinter der der Haufen kleiner Kinder stand und etwas verpeilt auf das Geschehen blickte. „Ärgert ihr Rabauken schon wieder die Kleineren?“ fragte die Frau die großen jungen ärgerlich, „Husch, in eure Klasse mit euch! Eure Späße sind langsam nicht mehr komisch und ihr verschreckt immer die Kleinen!“ Die Jungen trollten sich artig und als Puran sich verdattert zu der Frau umdrehte, wurde er von der und allen kleinen Kindern hinter ihr groß angestarrt. Oh nein, hatte er irgendetwas Schlimmes gemacht?

„V-verzeiht bitte!“ keuchte er und verbeugte sich rasch, worauf die Kinder zu tuscheln und zu kichern begannen. Die Lehrerin zog eine Braue hoch und dann kam offenbar eine Erleuchtung, denn sie nickte plötzlich.

„Ah, du gehörst sicher zu meiner neuen Klasse, bist du heute zum ersten Mal hier? Und das ganz allein?“

„M-meine M-Mutti h-hat mich h-her g-gebracht…“ stotterte der Kleine nervös und fragte sich, ob er bestraft werden würde; statt dessen bekam er von der Frau ein freundliches Lächeln.

„So ist das?“ fragte sie, „Hab keine Sorge, ich tue dir nichts! Du bist sicher Puran, hab ich recht?“

Was für eine seltsame Geisterfrau, sie kannte seinen Namen! Er erbleichte und dachte an die Stimmen in seinem Kopf, die jetzt verstummt waren. Es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis sie zurück kehrten.

Die Frau schien seine Gedanken zu lesen:

„Das nehme ich mal als Ja; deine Mutter hat dich hier in der Schule angemeldet, ich habe eine Liste mit allen Namen der Klasse. Hier, diese Kinder gehören alle dazu, sie sind auch heute zum ersten Mal hier!“ Puran sah zu der Klasse aus Jungen und Mädchen herüber, die ihn alle groß anblickten – erst beim zweiten Mal hinsehen erkannte er plötzlich in der zweiten Reihe einen schwarzhaarigen Jungen, der nicht neugierig, sondern zornig zu ihm herüber sah, die grünen Augen zu bösen Schlitzen voller Hass verengt. Moment – den Jungen kannte er doch!

Das ist der mit dem Reh, den wir im Winter im Wald getroffen haben! Der ist auch hier in der Schule?

„Nanu? Ihr zwei scheint euch ja schon zu kennen?“ stellte die Frau ebenfalls verblüfft fest und musterte die beiden Jungen, die sich ansahen, und der Schwarzhaarige schnaufte grimmig, ehe er an den anderen vorbei ging, einschließlich Puran. Als er an dem kleineren Jungen vorbei kam, drehte er den Kopf und zischte ihm grantig zu:

„Fall tot um!“

Puran erstarrte und sah ihn ungläubig an, aber da war der andere Junge auch schon an ihm vorbei gegangen, nicht ohne ihn vorher gehörig zu schubsen, und die Frau schnappte nach Luft.

„Wie bitte?! Moment, bleib stehen, wohin willst du?! Jemine! – Kinder, bleibt da!“

Den Kindern blieb nichts anderes übrig und Puran starrte entsetzt dem Jungen und der Frau nach, ohne zuzuhören, was sie tadelnd zu dem Schwarzhaarigen sagte. Alles, was ihm im Kopf blieb, war…

Fall tot um.
 

In dem Schulgebäude gab es mehrere kleine Räume, die sie Klassenzimmer nannten. Das Klassenzimmer der ersten Klasse war wie alle anderen ein hölzerner Raum mit vielen Bänken und Tischen. Die Schüler setzten sich auf die Bänke und Puran fand sich neben einem dicken Kind wieder, das aufgeregt Brotstücke in sich hinein stopfte, die es aus sämtlichen Taschen zog. Er beobachtete perplex den essenden Jungen neben sich und fragte sich, wie man so viel essen konnte, da wurde die Aufmerksamkeit aller wieder auf die Frau vorne gelenkt.

„Mein Name ist Kalih,“ stellte sie sich vor, „Ich werde eure Lehrerin sein und ihr seid die neue erste Klasse dieser Schule! Willkommen, Kinder, guten Morgen.“

„Guten Morgen, Frau Kalih!“ grüßten die Kinder nach einigem Zögern und die Lehrerin strahlte.

„Sehr schön macht ihr das! Heute ist euer erster Tag, wir werden den Tag nutzen, um einander etwas kennen zu lernen. Ich möchte, dass jeder von euch der Reihe nach sagt, wie er heißt, woher er kommt und wie alt er ist. Hmm… fangen wir doch gleich hier vorne an!“ Vor ihr saß der schwarzhaarige Junge, der Fall tot um gesagt hatte. Puran erstarrte kurz, als sich alle Blicke auf den Jungen richtete. Er fragte sich, was der für ein Problem hatte… wieso sollte er tot umfallen? Er schauderte. Diese Schule war ganz und gar nicht schön und geheuer schon gar nicht. Er hatte doch gewusst, dass die Leute gruselig waren…

Der Schwarzhaarige stand auf, nachdem die Lehrerin ihn aufgefordert hatte, und sah etwas unsicher über den Haufen Kinder vor sich, als er vorne stand.

„Ich bin Ram,“ stellte er sich schließlich vor, „Ich bin sechs und komme aus Nehawa.“

„Wunderbar,“ freute sich die Lehrerin, „Setz dich; der nächste!“ Puran sah zu dem Jungen namens Ram, während sich der Reihe nach alle vorstellten.

Fall tot um.

Der Satz flog ihm immer wieder durch den Kopf, immer wieder sah er das zornige Gesicht des anderen; und das panische Gesicht, während er das Reh an sich drückte und am Boden kauerte, vor dem Speer von Großvater Kelar zurückweichend…

„Bitte lasst mir das Reh! Ich habe noch fünf Geschwister und wenn wir nicht essen, werden wir verhungern…“

„Fall tot um.“

Da wunderst du dich…? hörte er eine leise Stimme in seinem Kopf, und er sprang plötzlich wie von der Tarantel gestochen auf und schrie.

„Geh weg, verschwinde!“

„Was ist denn jetzt los?“ fragte die Lehrerin perplex, und der Junge fuhr abermals herum, als die Stimmen zurück kehrten.

Da wunderst du dich…? Lyra? Dein Großvater hat nicht nur diesem Kind Unrecht getan, er war ein grausamer Mann… die Leute hassen euch… sie verachten euch und wünschen euch die Pest an den Hals…

„Tun sie nicht, ihr lügt!“ empörte sich der Junge, während jetzt die ganze Klasse ihn anstarrte, und keuchend riss er die Augen auf und starrte geistesabwesend zurück.

Geister lügen niemals, Puran Lyra… lerne, damit umzugehen, mit deiner Gabe.

„Kommt nicht näher!“ Er schrie abermals auf, als er plötzlich an den Schultern gefasst wurde. Er wurde herum gedreht und sah plötzlich mit weit aufgerissenen grünen Augen heftig keuchend der Lehrerin direkt ins Gesicht, die ihn nur verdutzt anstarrte.

„Beruhige dich…“ flüsterte sie sanft, „Beruhige dich, niemand tut dir weh. Alles ist gut, ganz ruhig. Sieh mich an…“ Er sah sie an und keuchte abermals, ohne seine Atmung kontrollieren zu können, ehe er erschauderte; dann war es plötzlich wieder vorbei. Plötzlich waren die Geisterstimmen weg und er erkannte jetzt erst die Lehrerin, die ihn an den Schultern festhielt. Sie sah verwirrt und besorgt aus.

„W-…was ist passiert?“ nuschelte das Kind beklommen. Die anderen Kinder sahen sich beunruhigt an und Ram schnaubte.

„Geisterkind,“ brummte er, „Wahrscheinlich so besessen und gestört wie der Rest seiner Familie!“ Zu seinem Glück hatte die Lehrerin ihn nicht gehört, sie erhob sich und schon Puran sanft zurück in seine Bank.

„Besser?“ fragte sie beunruhigt, und der Tischnachbar mit dem Brot im Mund rückte etwas verängstigt ein Stück weg. Das Kind nickte unsicher.

„I-ich glaube schon…“

„Was immer du gesehen hast, es ist jetzt weg,“ sagte die frau vor ihm ernst. „Du musst dich nicht fürchten.“

„Ich habe aber nichts gesehen…“ murmelte Puran, als die Lehrerin schon wieder nach vorne ging, „Ich habe nur… Stimmen im Wind gehört.“
 

Es war der erste Schultag. Am ersten Tag fing man nicht gleich mit dem Lernen an, man stellte sich einander vor und die Lehrerin spielte einige Spiele mit der Klasse, damit sich alle aneinander gewöhnen konnten. Die Geister schwiegen den Rest des Vormittages über und der Junge schwieg mit ihnen, während er verstohlen versuchte, den schwarzhaarigen Ram zu beobachten, der so garstig schaute. Er wusste selbst nicht, wieso ihn so interessierte, was mit ihm passiert war; sein Instinkt sagte ihm, dass es wichtig war, er konnte aber nicht sagen, wieso.

„Fall tot um.“

Der Kleine erschauderte und fuhr zusammen, als mit einem Mal wieder die Stimme der Lehrerin seine Gedanken unterbrach.

„Wir machen jetzt eine Pause,“ verkündete sie, „Ihr müsst alle das Klassenzimmer verlassen, geht bitte auf dem Hof spielen! Wenn die Glocke läutet, ist die Pause um und ihr kommt wieder hinein.“

Pause, das klang gut. Johlend rannten die Kinder aus der Klasse, einige schubsten sich gegenseitig blöd lachend aus der Tür.

„Nicht drängeln, Kinder!“ empörte die Lehrerin sich und eilte darauf zu einem kleinen Mädchen, das umgeschmissen worden war und jetzt heulend auf dem Boden lag.

Puran entdeckte Ram neben der Tür stehen, nachdem schon fast alle draußen waren.

Sag es… verlangten die Geister, Geh hin und… sag es.

Er sprang keuchend von seiner Bank auf und schüttelte heftig den Kopf, als könnte er so die bösartigen Stimmen aus seinem Kopf vertreiben. Ram drehte den Kopf und sah ihn eine Weile blöd an, bevor sein Blick sich verfinsterte, als der Kleinere doch zu ihm herüber kam.

„Was hast du eigentlich für ein Problem?!“ platzte er lauter als er vorgehabt hatte heraus und erschrak selbst über seine laute Stimme, Ram beeindruckte das kaum. Er drängte sich mit einem grimmigen Schnauben an Puran vorbei, schubste ihn unsanft gegen die Wand und zischte:

„Du bist ja immer noch nicht umgefallen! Sprich mich nicht an.“

Dann war er weg und Puran fuhr herum, als die Geisterstimmen plötzlich zurück kehrten.

Ist das alles? Gibst du dich damit zufrieden?

„Geht weg!“ keuchte der Junge, ehe er aus der Tür stürzte und dem Schwarzhaarigen nachsetzte. „Lasst mich in Frieden, Geisterstimmen!“

Finde das Reh, wenn du die Antwort haben willst… du kannst nicht davon laufen.

„Verschwindet!“ schrie er jetzt lauter, als er aus dem Gebäude rannte. Plötzlich kamen ihm wieder die Bilder aus de Winter in den Kopf. Des Großvaters falsches, bösartiges Grinsen. Ram, der entsetzt und leichenblass am Boden kauerte. Das blutige, tote Reh.

Es starrte ihn aus roten Augen an und verfolgte ihn mit einem blutrünstigen Blick, sodass der Junge strauchelte und mehr stolperte als dass er rannte, als er den Hof erreichte. Hinten in einiger Entfernung sah er Ram, den er einzuholen versuchte, aber als er versuchte, schneller zu rennen, stand ihm plötzlich das riesige, tote Reh im Weg und starrte ihn an mit einer entsetzlichen Fratze –

„Hey, du gestörter Zwerg, du bist ja immer noch hier!“

Das nächste, was der Kleine merkte, war dass er auf dem Boden lag und sein Kopf höllisch schmerzte; es fühlte sich aber nicht nach einem Schmerz nach dem Hinfallen an, der Schmerz war tiefer, er kam von innen. Über sich erkannte er heftig keuchend die drei großen Typen vom Morgen. Sie beugten sich gehässig kichernd über ihn. Er wusste nicht, wieso er hier lag und auch nicht, wo er hin gewollt hatte;

Ram, fiel es ihm da ein, er musst mit ihm sprechen und herausfinden, was mit ihm los war, wieso er wollte, dass er tot umfiel.

„W-wo… wo ist das Reh mit den roten Augen hin?“ japste er, und die Großen sahen sich blöd an. Dann fingen sie schallend zu lachen an.

„Ah, das Reh mit den roten Augen! Rennt, Freunde, rennt um euer Leben, es ist hinter uns her!“ Der eine lief schon theatralisch brüllend weg, als Puran hustete und sich vorsichtig hinsetzte, sich den schmerzenden Kopf reibend.

„Ihr glaubt mir nicht!“ empörte er sich, „Es war wirklich da, ich habe es gesehen, es war direkt vor mir!“

„Du hast einen an der Klatsche,“ gluckste der Junge vor ihm und schubste ihn, als er wieder aufgestanden war, sodass er wieder zu Boden stürzte und schnaubte. „Reh, hier sind keine Rehe, hier sind nur Kinder, haha!“

„Und Lehrer,“ addierte der zweite, während der dritte wieder angerannt kam und immer noch lachte.

„Rennt, das Reh, es ergreift uns, aah!“

„Hört sofort damit auf!“ schrie Puran die Idioten empört an und rappelte sich hoch, dieses Mal wich er zurück, als der andere ihn wieder schubsen wollte. Er ballte wütend die kleinen Hände zu Fäusten. Die Jungen sahen sich erst an, dann glucksten sie und umzingelten ihn von allen Seiten, gehässig auf ihn herab sehend. Langsam fing es wirklich an Spaß zu machen, diesen Knirps zu veräppeln…

„Was sonst…?“ fragte einer der Jungen grinsend, „Holst du dann das böse Monster-Reh, damit es uns frisst?“

„Oder rufst du nach deiner Mutti, die nie wieder kommen wird, weil sie dich gar nicht haben will…?“ Der Kleine erstarrte kurz und keuchte heftig – in dem Moment fingen die Größeren wieder an, ihn zu schubsen, erst von hinten, dann von vorn, dann von der Seite, und er versuchte verzweifelt, aus dem Kreis der Älteren zu entkommen, aber wenn er versuchte, wegzurennen, hielten sie ihn fest und zerrten ihn rückwärts. Aus der Ferne hörte er die Stimmen von Erwachsenen, die rufend näher kamen und offenbar dazwischen gehen wollten. Er spürte den Schmerz in seinem Kopf wieder zurückkehren, als er erneut geschubst wurde, und hörte die Stimmen in seinem Kopf wild durcheinander wispern.

Sie lügen…

Du solltest dir das nicht gefallen lassen…

Du bist ein Kind der Geisterwinde… du hörst unsere Stimmen und kannst Dinge sehen, du kannst deine mächtigen Gaben nicht ignorieren… Puran Lyra.

„Ich will aber nicht mehr zuhören!“ schrie er, „Und ich will keine Bilder sehen, ich will blind und taub sein!“

Du willst davon laufen…? Du kannst… nicht davon laufen…
 

„Dummer Enkel.“
 

Puran erstarrte in dem Augenblick, in dem er plötzlich das Gesicht seines grausamen Großvaters vor sich sah, das Gesicht des Monsters, das er bis auf den Tod fürchtete. Und es kam direkt auf ihn zu mit den bösartigen, hellen Augen, genau wie das Reh, das drohte, ihn zu zerfetzen… und er stieß einen gellenden Schrei aus in dem einen Moment, in dem er plötzlich von seinem Großvater und dem Rehgeist gepackt und herum gerissen wurde. Plötzlich ergoss sich ein grausig blendendes Licht über ihm, während er schrie und ein entsetzliches Donnern über und unter ihm die ganze Welt zu erschüttern schien. Sein ganzer Körper schmerzte einen Moment lang, aber er schlug mit den Händen um sich und zerstörte das tote Reh und seinen toten Großvater, er schlug panisch nach ihnen und zerschmetterte die bösen Geister mit einem krachenden Donnerschlag. Als sie sich in Luft auflösten und das Licht erlosch, wurde es plötzlich dunkel und sehr still.
 

Das nächste, das er wahrnahm, war eine Stimme über seinem Kopf; mehrere. Die Stimmen klangen dumpf und weit entfernt. Er spürte Hände auf seiner Stirn und an seinen Fingern. Erst als er langsam zu sich kam, wurden die Stimmen deutlicher. Irgendeine Stimme gehörte seiner neuen Lehrerin.

„Um Himmels Willen, so tu doch etwas!“

„Bin ich Heiler, oder was? Apropos, sind die endlich eingetrudelt? Das dauert zu lange, der Junge wird sein Bein nie wieder benutzen können, wenn die nicht endlich auftauchen!“

„Ein Desaster ist das mit dem faulen Pack,“ kam es von einer dritten Stimme. Bein? Was für ein Bein? Seine eigenen fühlten sich normal an…

„Himmel und Erde! – Sorgt dafür, dass die Schüler im Gebäude bleiben und den grauenhaften Anblick nicht sehen müssen!“ Das war seine Lehrerin. „Hat denn endlich jemand die Eltern geholt?“

„Alle miteinander ganz ruhig bleiben. Panik bringt uns auch nicht weiter-… oh, er wacht auf!“

Puran blinzelte benommen und erkannte über sich seine Lehrerin und das Gesicht eines Mannes, vermutlich auch eines Lehrers.

„W-was…?“ stammelte er nur keuchend. Sein Kopf schmerzte und ihm schwindelte, als er sich aufsetzen wollte. Der Mann wollte ihn festhalten, seine Lehrerin wich keuchend zurück; das war alles, was er registrierte, bevor die Bilder plötzlich durch seinen Kopf geschossen kamen wie brennende Pfeile, genauso schnell, genauso leuchtend und genauso schmerzhaft.

Er sah das Reh, das tot am Waldboden lag, er sah die Fratze seines Großvaters und viel Blut, das spritzte und den Boden beschmutzte. Dann spürte er wieder, wie die Jungen ihn schubsten und dabei dämlich lachten. Er hörte sie rufen, aber er verstand ihre Worte nicht, und plötzlich erstarrten ihre Gesichter vor seinen Augen und wurden zu entsetzen Grimassen… dann erfasste ein grelles, schneidendes Licht die Jungen, schleuderte sie weg und irgendwo in der Ferne zu Boden, ehe das Bild vor Purans Augen rot wurde, als würde es bluten…

Er schrie auf und kippte nach vorne, als in ihm plötzlich ein mächtiger Brechreiz emporstieg, und die Personen um ihn herum fuhren ebenfalls schreiend zurück, während der eine Lehrer neben ihm hocken blieb und ihn festhielt. Der Junge übergab sich hustend auf den steinernen Boden.

„Ihr seid großartig, wegzurennen – ah, da sind ja endlich die Heiler!“ hörte Puran ihn sagen, und er stöhnte und hob benommen den schmerzenden Kopf, obwohl die Übelkeit wieder zunahm. Er zitterte. Was für Heiler eigentlich? Was war hier los, wieso saß er auf dem Boden, wieso war ihm schlecht…? In einiger Entfernung erkannte er Menschen, die am Boden hockten, um irgendetwas herum…

Blut?

„B-Blut…!“ japste er außer sich und versuchte plötzlich in wilder Panik, sich von dem Lehrer neben sich loszureißen, „W-was passiert hier?!...“ Er sah wieder das gleißende Licht vor seinen Augen aufflammen und hörte aus weiter Ferne das Schreien von Kindern. Er hustete und schrie wieder auf.

„Sieh mich an,“ sprach der Mann neben ihm ernst, „Sieh mich an, Junge! Es ist vorüber! Es wird nicht wieder kommen.“

„Doch, es wird!“ schrie das Kind entsetzt, hustete und erbrach sich erneut, bevor es panisch zu weinen begann. „I-ich weiß nicht, wieso ich hier bin, i-ich kann mich nicht erinnern, ich s-sehe nur Blut! W-wo sind d-die großen Jungen…?!“

„Ich sagte doch, es ist vorüber,“ der Mann war offenbar völlig ruhig, „Die werden schon wieder, die Heiler kümmern sich ja um sie. Hast du Schmerzen?“

Puran konnte nicht darüber nachdenken, ob er Schmerzen hatte, der Schock saß zu tief und er wusste immer noch nicht, was passiert war. Er wurde hoch genommen und erschauderte.

„Komm, wir gehen lieber weg von dem Trubel, ich mache dir einen Tee…“ Der Mann wollte mit ihm weggehen, wurde aber von einigen anderen Erwachsenen aufgehalten.

„Du bleibst mit ihm hier!“ rief eine Frau, „Niemand verlässt den Hof, bis das geklärt ist! Wir haben ein extrem ernstes Problem, so etwas ist noch nie passiert hier in Gahti! Das ist eine Schande, und hör auf, das gut zu reden!“

„Beschimpf nicht das Kind, er kann nichts für das, was passiert ist, oder hat er das absichtlich gemacht?“

„Na, von selbst haben sich die Jungen die Wunden wohl kaum zugefügt!“

„Er sollte sofort der Schule verwiesen werden!“ rief jemand anderes.

„Er sollte geröstet und aufgespießt werden!“ schrillte eine Frauenstimme quer über den Hof, „Mein Sohn hat nur noch ein Bein und eine halbe Nase, er ist für sein Leben entstellt!“

„Dafür sind ja die Heiler da, gute Frau! Niemand wird hier der Schule verwiesen oder geröstet, bis nicht alle Beteiligten hier sind und wir das wie Erwachsene geregelt haben!“ Puran keuchte, noch immer auf den Armen des Typen, den er nicht mal kannte. Vor ihm stand jetzt eine Frau, die ihn scharf musterte. „Die Lehrer gehen jetzt bitte alle wieder hinein zu ihren Klassen, es muss für Ruhe gesorgt werden! – Halt, du bleibst hier mit dem Balg auf dem Arm!“

„Balg!“ schnaubte der Mann, der Puran festhielt, „Er ist nur ein Kind, das waren Instinkte und keine boshaften Absichten, ich weiß das zu unterscheiden, bei allem Respekt, Direktorin!“

„Es ist mir, um ehrlich zu sein, Herr Masava, vollkommen egal, was es war, solange es Menschen gefährdet, die drei hätten tot sein können!“ In diesem Moment unterbrachen sich die zwei, und nach einem kleinen Windstoß und einen Schwall schwarzer Farbe vor sich erkannte Puran seine Mutter, die offenbar gekommen war und sich jetzt über ihn beugte.

„Sieh mich an,“ war ihre Begrüßung, „Sieh mich an und sag mir, was du sehen kannst, Sohn! Jetzt auf der Stelle.“

„Nun, nun, wollen wir nicht zuerst…?“ fragte die Direktorin belämmert dazwischen, aber Puran antwortete schon keuchend:

„I-ich sehe Muttis Gesicht…“ Sie fasste nach seiner Stirn, ehe sie sich zur Direktorin umwandte.

„Was ist mit meinem Sohn passiert?“ fragte sie kalt, „Wieso hat man mich so eilig her zitiert?“ Die Schuldirektorin räusperte sich.

„Ich halte es für besser, dazu doch hinein zu gehen.“
 

Das Zimmer der Direktorin war klein, aber sie, der seltsame Lehrer, Nalani und Puran fanden dennoch Platz darin. Auf dem Schoß seiner Mutter sitzend nahm der Junge seine Umgebung jetzt langsam wieder richtig wahr. Aber er zitterte immer noch und der Tee, den er bekommen hatte, hatte ihn nur wenig beruhigt.

„Drei Jungen aus der vierten Klasse sind schwer verletzt, wir haben sofort Heiler rufen lassen, zum Glück waren sie rechtzeitig, um das schlimmste zu verhindern. Ich kann nicht sagen, was da auf dem Hof geschehen ist, ich war ja hier drinnen! Herr Masava hatte ja Aufsicht, der kann sicher mehr dazu sagen!“ Sie warf dem merkwürdigen Lehrer einen bösen Blick zu und der war todernst, als er sprach.

„Die Jungs haben ihn geärgert und geschubst, und plötzlich fing er an zu schreien, in dem Moment, als wir dazwischen gehen wollten, schlug er… plötzlich mit einem Windmesser nach seinen Peinigern und hätte sie um ein Haar damit in Stücke gerissen. Die Geschichtslehrerin ist Telepathin, sie konnte die drei Jungs zum Glück rechtzeitig weg teleportieren, ehe ihre Köpfe ab gewesen wären, aber für Beine, Finger und Nase hat es leider gereicht.“
 

Nalani blinzelte und Puran fuhr hoch.

„W-was?!“ keuchte er, „W-wie, ich habe das gemacht?!“

„Ein Windmesser?“ machte Nalani, „Mein Sohn? Er ist erst fünf, wie soll er das geschafft haben?“

„Bei allem Respekt, Herrin, sein Vater ist der Herr der Geister,“ sagte die Direktorin verstört, „Und Meister des Windes, wie man doch sagt! Da ist es doch kaum verwunderlich, dass sein Sohn nach ihm schlägt.“ Nalani schnaubte.

„Ein Windmesser ist ein Zerstörer, das ist obere Magie und Geisterbeschwörung, wollt Ihr mir weis machen, mein fünf Jahre alter Sohn hätte die Windgeister gerufen und sie auf die Jungen gelenkt, um ihnen zu schaden?“

„Natürlich nicht mit Absicht,“ warf Herr Masava verblüfft ein, „Instinkte zur Selbstbeschützung, das kommt häufig vor bei Schamanenkindern… allerdings habe ich es nie in einer derart heftigen Ausführung erlebt.“

„Seine Lehrerin sagte mir, er hätte im Unterricht Stimmen gehört,“ warf die Direktorin ernst ein, „Der Junge ist ohne Zweifel hochbegabt, aber ich kann nicht riskieren, dass so etwas noch einmal vorkommt in meiner Schule.“

„Was soll geschehen?“ fragte Nalani und strich ihrem entsetzten Kind über den Kopf, „Auf anderen Schulen bestünde dasselbe Risiko, oder nicht? Können wir diese Instinkte irgendwie versiegeln, bis er alt genug ist, sie selbst zu kontrollieren? Ich bin ja keine Magielehrerin…“ Die Direktorin sah zu dem Lehrer und zog eine Braue hoch.

„Ich fürchte, das übersteigt meine Kompetenzen, ich bin schließlich kein Geisterjäger. Da müsst Ihr nach Tuhuli gehen, fürchte ich.“ Nalani seufzte.

„Dann werde ich das tun und Nomboh Chimalis selbst fragen,“ entschied sie, „Wir sind langjährige Freunde, das dürfte kein Problem sein. ich würde mir wünschen, dass mein Kind weiterhin auf diese Schule gehen kann, bei allem Respekt… ich werde mich persönlich bei den Eltern der betroffenen Jungen entschuldigen für den Vorfall. Und ich schwöre, dass es nie wieder passieren wird… ich habe nicht gewusst, dass das Risiko überhaupt bestand.“ Sie erhob sich und stellte Puran vor sich auf den Boden, worauf der immer noch zitternd zu Boden blickte.

„Wie könnt Ihr garantieren, dass Ihr das Wort halten könnt?“ wunderte sich die Direktorin und stand auch auf, als Nalani sich tief vor ihr verneigte.

„Ich werde alles tun, was ich kann, um das zu unterbinden. Mehr kann ich im Moment nicht tun… mein Wort muss Euch genügen. Es wird nie wieder vorkommen. – Puran?“ Puran ergriff schweigend Mutters Rockzipfel und hob etwas den Kopf. „Bitte entschuldige dich bei der Frau Direktorin für die Unannehmlichkeiten. Und versprich selbst, dass es nie wieder vorkommen wird.“

„Verzeihung, Frau Direktorin,“ sagte der Junge kleinlaut und verneigte sich, „U-und es wird nie wieder passieren… das verspreche ich Euch.“
 

Auf dem Weg zurück zum Schloss schwieg Nalani eisern. Der Schultag war gelaufen, so viel war klar, und mit ihrem eisernen Schweigen bestrafte die Frau ihr kleines Kind noch mehr als die tadelnden Worte der Lehrer es getan hatten. Die Reaktionen der restlichen Familie waren gemischt, als am Abend endlich alle wieder im Schloss waren und von dem Vorfall erfuhren.

„Um Himmels Willen,“ machte Sukutai entsetzt, „D-das sind schlimme Geschichten, die du erzählst, Nalani!“ Dabei wedelte sie aufgeregt mit dem neuen Nudelholz in der Luft herum, das sie in Yiara gekauft hatte. Es hatte sie geradezu angelächelt, hatte sie gemeint, und da das alte Nudelholz vor kurzem verschwunden war (man glaubte, Alona habe es sehr wahrscheinlich am Garten vergraben, damit ein Nudelholzbaum daraus wurde), war die Anschaffung durchaus praktisch. „Davon abgesehen, dass das grauenhaft ist, die anderen Kinder werden sich nicht mehr trauen, in seine Nähe zu kommen! Wir sollten ihm vielleicht doch lieber Privatunterricht geben…“

„Papperlapapp!“ machte die Schwägerin entrüstet, „Die werden schon zu sich kommen, Puran ist kein Massenmörder, es war Instinktsache und wir werden diese Instinkte kontrollieren, und zwar absolut perfekt, damit so etwas nie wieder passiert. Morgen fahre ich mit ihm nach Tuhuli zu Nomboh.“

„Das ist doch verrückt!“ mischte Tabari sich ein, „Du kannst solche Impulse nicht kontrollieren, Nalani! Erst recht nicht bei einem so kleinen Jungen! Es gibt Methoden, das zu trainieren, soweit ich weiß, aber so ein Training ist viel zu hart für ihn, er ist doch erst fünf!“

„Und kann mit fünf Windmesser rufen und damit drei Jungen fast zerfetzen!“ fuhr seine Frau auf, „Wie kannst du so fahrlässig damit umgehen, es hätte Schlimmeres passieren können!“

„Das ist aber doch nicht Purans Schuld!“ Der Blonde schnaubte verärgert, „Er kann doch nichts dafür, dass er begabt ist!“

„Sicherlich nicht, aber kontrollieren lernen muss er es doch trotzdem!“

„Das wird schon mit der Zeit irgendwie,“ seufzte ihr Mann zuversichtlich. Sukutai gab das neue Nudelholz dem Küchenjungen.

„Das ist aber nicht sehr passend jetzt, Tabari.“ Nalani war offenbar derselben Ansicht. Sie schlug wutentbrannt mit der Faust auf den Tisch, sodass das Geschirr darauf erzitterte, das der Küchenjunge gemeinsam mit einem der Dienstmädchen dort aufgestapelt hatte. Das Dienstmädchen keuchte entsetzt und fasste nach seinem runden Bauch; die Familie war entzückt gewesen, als sich herausgestellt hatte, dass der Küchenjunge und eines der Dienstmädchen sich sehr gern zu haben schienen, jetzt würde die Frau bald ein Baby bekommen.

„Dein Irgendwie kann mich mal, Tabari Lyra!“ schrie die Hausherrin jetzt wutentbrannt, „Du kannst nicht alles irgendwie lösen, du kannst es einfach nicht, und du hast keine Ahnung, was mit deinem Sohn passiert, von überhaupt nichts hast du Ahnung, du hirnloser Trampel!“ Tabari schnappte sich ebenfalls wütend den obersten Teller vom Stapel und warf ihn mit Wucht an die Wand, wo er zerschellte und alle in der Küche zusammenfuhren.

„Und du kannst nicht alles kontrollieren und so schieben, bis es dir passt, Weib!“ brüllte er sie an, „Das ist Entscheidung der Himmelsgeister, was mit Puran passiert, du kannst, verflucht noch mal, nicht seine Instinkte ausschalten, wie es dir passt, und sie wieder anschalten, wenn er alt genug ist! Du bist nicht Königin der ganzen Welt, Nalani!“

„Das habe ich nie behauptet, wie kannst du es wagen, mich so anzuschreien?!“ fuhr sie ihn an, und Tabari warf einen zweiten Teller an die Wand.

„D-das war das Geschirr unserer Großmutter!“ jammerte Kiuk dazwischen, wurde aber ignoriert.

„Du führst dich manchmal nicht besser auf als mein Vater mit deinem Kontrollwahn!“ schnappte Tabari in dem Moment, und alle zogen entsetzt die Luft ein; Nalani erstarrte.

„Du wagst es…“ keuchte sie und erbleichte, ehe sie rückwärts trat, und Tabari weitete die Augen bei ihrem fassungslosen Blick; ihm war klar, dass er zu weit gegangen war in seinem Zorn, das hätte er niemals sagen dürfen. Sie mit seinem Vater auf eine Stufe zu stellen war schlimmer als jede Beleidigung der Welt, vor allem für sie. „Du wagst es, das zu mir zu sagen…?!“ schnappte seine Frau da, und er sah sie erzittern; dann warf sie ebenfalls mit zwei Tellern nach ihm und verließ die Küche, dabei schrie sie wutentbrannt: „Elendes Scheusal, dass du es wagst, so mit mir zu sprechen!“

Tabari wich den Tellern gerade noch aus und hustete entsetzt, als er oben mehrere Türen knallen hörte, und die anderen in der Küche starrten einander erschrocken an.

„Du liebe Zeit,“ machte das schwangere Dienstmädchen bekümmert.

Tabari klopfte sich den nicht vorhandenen Staub vom Hemd.

„Fein,“ schnappte er, „Ich weiß, wann ich einen Fehler mache, aber sie weiß es nie, und ich bin nicht jedes Mal der Idiot, der ihr zu Füßen kriecht, bis sie mir verzeiht, die stolze, blutrünstige Königin der Geisterjäger!“ Er spuckte auf den Boden und stampfte ebenfalls verärgert davon. Kiuk und Sukutai blieben mit der Dienerin zurück.

„Ach!“ jammerte Sukutai, „Wie furchteinflößend! Jetzt schreien sie sich an, und wer kümmert sich um den armen Jungen? Ich weiß ja, dass sie beide kompliziert sind, aber müssen sie es immer so übertreiben?!“

„Mutter kümmert sich um ihn,“ seufzte Kiuk, „Natürlich können wir Impulse nicht kontrollieren, aber wir müssen uns etwas einfallen lassen, wenn er weiterhin zur Schule gehen soll.“

„Ach!“ seufzte seine Frau wieder unglücklich und ging zur Tür, „Das ist alles ein solcher Irrsinn!“
 

„Du kannst Stimmen hören und Bilder in deinem Kopf sehen, nicht wahr… Puran?“

Puran saß mit angezogenen Beinen auf der Fensterbank in seinem Zimmer und starrte verbiestert hinaus, als seine Großmutter das Zimmer betrat. Er sah nicht auf und sprach auch nicht. Nach einer Weile des Schweigens nickte er.

„Ja, und du wusstest das doch schon lange, Großmutter.“

„In der Tat,“ war Salihahs Antwort. Sie setzte sich zu ihm auf die breite Fensterbank und sah ebenfalls hinaus. Der Himmel grollte. „Deine Mutter ist wütend auf dich?“

„Sie redet nicht mehr mit mir,“ gestand der Kleine unglücklich, „I-ich wollte doch nicht, dass so etwas passiert! Ich habe das nicht mit Absicht gemacht!“

„Shhh…“ Salihah seufzte tief, ehe sie seinen Kopf streichelte, und er schniefte. „Natürlich nicht, Puranchen. Deine Mutter weiß das auch. Sie hat nur Angst um dich. Sie wird sich wieder beruhigen.“

„Ich habe doch nicht mal gewusst, dass ich sowas kann! Ich habe Stimmen gehört und Bilder gesehen, s-sie haben mir Angst gemacht! Großmutter… kann man nicht machen, dass es aufhört? Kann man machen, dass ich nie wieder Bilder sehen muss?“

Salihah sah ihn für einen Moment verdutzt an. Dann schloss sie ihre blauen Augen.

„Nein… das ist leider unmöglich. Ich habe mir das auch lange Zeit gewünscht. Die Geister haben dich zu etwas Großem bestimmt… du kannst nicht davor davon laufen. Du wirst lernen, wie du damit umzugehen hast.“

„Aber ich will das nicht!“ jammerte er, „I-ich habe Angst, dass das noch mal passiert! Was, wenn ich nächstes Mal jemanden umbringe damit?! Was, w-wenn… ich so böse werde wie Großvater…? Ich träume von ihm in der Nacht, er rennt hinter mir her und will mich fangen, d-das tote Reh läuft hinter mir her und will mich fressen… ich fürchte mich, Großmutter, i-ich will, dass es aufhört!“ Salihahs Blick wurde kalt, aber sie strich ihm abermals behutsam über die Haare.

„Du… bist nicht wie dein Großvater.“

„Aber er konnte das auch, oder?! Er konnte auch Bilder sehen und Stimmen hören und Windmesser rufen…“

„Ja, das konnte er, auch als Kind schon,“ sagte sie, „Aber es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen dir und ihm…“ Damit erhob sie sich, und Puran sah sie verzweifelt an, als sie sich zum Gehen wandte. Als sie an der Tür war, blickte sie zu ihm zurück. „Kelar… hat niemals nicht gewollt, dass es wieder passiert. Du bist ein guter Mensch… anders als Kelar.“

Und anders als ich, addierte sie in Gedanken, ehe sie die Zimmertür hinter sich schloss.
 

„Du bist grausam, Liebste,“ bestätigte Zoras Chimalis beklommen ihre Gedanken, als sie sich in der Nacht in Tuhuli das Bett teilten. Salihah bekam inzwischen kein Gästezimmer mehr, wenn sie nach Tuhuli kam, sondern verbrachte die Nacht in seinem Schlafzimmer.

Die Frau saß nackt auf ihm und warf jetzt keuchend ihre langen Haare nach hinten, als sie sich bewegte und das Feuer durch ihren Körper fließen spürte.

„Ich weiß,“ sagte sie dabei, „Das werde ich nicht ändern können… so war ich schon immer. Und du hast mich trotzdem immer begehrt.“

„Ich begehre dich…“ stöhnte er und zog sie zu sich herunter, um sie verlangend zu küssen, „Nicht trotzdem, Salihah, sondern deswegen… früher einmal, im Krieg, habe ich mir zeitweilig gewünscht, ich könnte grausam sein wie du, ich konnte es nur nie.“

„Das ist auch gut so…“ Sie legte sich auf ihn und sie küssten sich ausgiebig, „Du solltest auch nicht wie ich sein.“

„Aber das habe ich auch eben gar nicht gemeint,“ warf er ein, „Du bist grausam zu dir selbst, Seherin. Kelars Tod… hat dich verändert. Ich weiß das.“

„Ich habe die Geister belogen und war pietätlos, ich habe meinen eigenen Gemahl ermordet, ist das nicht Grund genug, grausam zu mir selbst zu sein?“ keuchte sie, als sie sich wieder aufsetzte und sie seine Hände nahm, um sie auf ihre runden Brüste zu legen. Sie sog scharf die Luft ein, als sie spürte, wie seine Hände sie berührten, wie sie ihre Brustwarzen umkreisten und zwischen den Fingern drückten, und ein Schauer aus Erregung durchfuhr sie, sodass sie aufstöhnen musste. „Du solltest es auch sein, Zoras, vielleicht hört das Grollen im Himmel dann auf. Ich weiß nicht, was es ist, die Geister hüllen sich in Finsternis. Meine Sehkraft verschwindet immer mehr, und ich dachte, mit Kelars Tod würde das nachlassen… irgendetwas ist falsch, irgendetwas haben wir übersehen, etwas Wichtiges.“

„Kelar ist tot,“ seufzte er, „Ihr habt seinen Körper versiegelt und sein Geist kann nie wieder den Fluss verlassen. Ich spüre es auch, eine seltsame Unruhe, die ich nicht in Worte fassen könnte. Aber solange wir nicht wissen, was es ist, können wir auch nichts dagegen tun…“ Sie stöhnte nur, während sie sich auf ihm bewegte und den Kopf in den Nacken lehnte, als ihr im Moment innigster Ekstase schwindelte und sie sah, wie die Welt sich drehte. Das Feuer erfasste ihre Augen und blendete sie, während sie seine Händeüber ihre nackte Haut gleiten spürte, die auch sie in Brand steckten wie die Dörfer im Krieg zerstört wurden…

Zoras schloss die Augen und keuchte ebenfalls, als sie über ihm erstarrte und dann laut seinen Namen stöhnte, als der Tanz seinen Höhepunkt erreichte und sie getragen von den sanfteren Flammen zurück zur Erde sank. Er strich ihr durch die schönen Haare, als ihr Kopf zitternd auf seiner Brust lag.

„Sag mir, Salihah… eins habe ich nicht begriffen. In wie fern hast du jemals die Geister belogen?“ Die Frau erhob sich langsam, bis sie wieder saß, noch bebend und keuchend nach dem vorangegangenen Liebesspiel. Ihr Gesicht war jetzt eiskalt, obwohl ihr Körper sich heiß auf seinem anfühlte und das bloße Geräusch, wie sie atmete, das Feuer erneut auflodern ließen. Ungeduldig zog er sie wieder mehr über sich und sie schnappte nach Luft, das Gesicht ungerührt.

„Ich habe um meinen Mann geweint, nachdem er tot war…“
 

Erstaunlicherweise war es weniger Nomboh, sondern viel mehr Keisha, die das Problem der ungewollten Instinkte ansatzweise lösen konnte, als Nalani mit ihrem Kind nach Tuhuli kam und den langjährigen Familienfreunden ihr Leid klagte.

„Du willst Kontrolle?“ machte Nomboh verblüfft auf die Ansage hin, sein Bruder verlor vor Erstaunen seine Zigarette aus dem Mund und brannte sich ein Loch in die Hose, worauf er fluchend aufsprang.

„Himmel hilf!“ schnaubte er dabei, ehe er zu Nalanis Leidwesen offenbar unwissend Tabari zustimmte: „Du kannst seine Rufgaben nicht kontrollieren, Nalani. Jedenfalls nicht komplett.“

„Dann aber offenbar halbwegs, oder wie?“ schnaufte die Frau zurück und sah kurz zu Puran, der leichenblass und ausgezehrt neben ihr saß. Er konnte seit Nächten schon kaum schlafen, weil die Geisterstimmen ihn wach hielten und ihm Angst machten. Normalerweise ging er zu seinen Eltern ins Bett, wenn er sich fürchtete, aber im Moment stritten sie und er wagte kaum, bei ihnen zu sein. Seine Eltern stritten sich öfter, aber dieses Mal war es schlimmer als sonst. Seine Mutter hatte seinen Vater sogar aus dem Schlafzimmer verbannt, sodass der jetzt bei Großmutter im Zimmer wohnte, während Großmutter nachts meistens abwesend war. Er wusste nicht, wieso genau seine Eltern sich zankten, aber er hatte das Gefühl, dass er mit Schuld daran war; dieser scheußliche Unfall auf dem Schulhof war Schuld. Er wünschte sich, er müsste nie wieder in diese Schule, nie wieder unter Menschen, denen er dasselbe antun könnte: Er fragte sich manchmal, während er nachts wach lag und Angst hatte, ob es vielleicht kein Zufall war, dass er Großvaters böse Stimme hören konnte oder sein Gesicht sah; was, wenn ihm das passierte, weil er auch so scheußlich und grausam werden würde wie sein Großvater?

Das Kind erzitterte auf seinem Sitz und erntete einen beunruhigten Blick von Zoras Chimalis. Nomboh hingegen sah zu Nalani.

„Natürlich gibt es Trainingsmethoden für diese automatischen Zauber-Impulse, aber das… trainiere ich normalerweise mit meinen Schülern, und die sind zehn Jahre älter als Puran jetzt! Er kann doch noch nicht mal die Grundzauber, wie kann ich da schwere Kontrollübungen mit ihm machen? Dafür ist seine Seele noch gar nicht stark genug, Nalani…“

„Verdammt, aber irgendwas müssen wir doch machen können! Wenn das wieder passiert, tötet er nächstes Mal jemanden damit! Gibt es keine Lösung, seine Fähigkeiten zu blockieren, so lange, bis er sie benutzen und beherrschen kann?“ Die Chimalis-Brüder sahen sich an. Zoras seufzte und holte sich eine neue Zigarette, die er sich ansteckte und den Rauch in die Luft pustete.

„Es gibt Medikamente, die wie eine Blockade wirken,“ berichtete Nomboh dann, „Keisha kennt sich da aus, dieses Zeug ist aber nicht ohne spezielle Genehmigung zu bekommen… du verstehst sicher, sonst könnte man ja jedem Magier einfach Tonnen diesen Pulvers in den Wein kippen und würde ihn komplett entwaffnen.“

„Ich werde mein Kind nicht vergiften,“ stellte Nalani klar, „Ich möchte nur, dass die Umgebung vor diesen Impulsen sicher ist, bis er alt genug ist, sie selbst zu beherrschen. Gibt es nichts Harmloseres dafür als die richtig schweren Blocker?“ Puran erschauderte. Aber vielleicht war es gut, wenn sie ihn komplett entwaffneten, dann könnte er nicht so furchtbar werden wie sein Großvater…

„Ich will die Medizin, Onkel!“

Die Erwachsenen sahen geschlossen auf ihn herunter, Zoras Chimalis schloss kurz die Augen. Nomboh blinzelte.

„B-bitte was?“ fragte er verdutzt.

„Ich… ich möchte kein Ungeheuer sein, vor dem alle sich fürchten!“ platzte der Kleine aufgelöst heraus, „Ich mache alles, was ihr sagt, alles, was sein muss, egal, wie eklig es ist, egal, wie schlecht es für mich ist! Ich… möchte nur nicht mehr Stimmen hören und Geister rufen, nie wieder…“

„Von nie wieder war keine Rede,“ sagte Nalani verblüfft, „Nur für eine Weile, bis du älter bist.“ Jetzt erhob Keisha sich auch und seufzte.

„Die Geisterstimmen wird es nicht verjagen, Puran,“ sagte sie zu ihm, den Kopf senkend, „Deine Großmutter hört auch viele Stimmen und sieht viele Bilder, sie hat auch schon versucht, sie los zu werden, erfolglos. Du musst es so sehen, es… ist eine große, ehrenwerte Gabe des Himmels, dass du sehen und hören kannst ohne Augen und Ohren. Nur wenige Schamanen können es so wie du, deine Mutter oder deine Großmutter.“ Puran war nicht zufrieden.

„Ich möchte die Gabe aber nicht!“ empörte er sich, „Die Gabe macht, dass die Leute uns hassen, oder nicht?!“ Alle sahen sich an. „Oder nicht, Mutti?! Wieso starren die Menschen uns an oder flüstern, wenn sie uns sehen? Wieso weichen sie zurück?“

„Das liegt nicht an den Gaben, sondern an deinem Großvater, der alles kaputt gemacht hat!“ erwiderte Nalani ernst. „Die Gaben des Himmels solltest du ehren, Puran.“

„Wir Schamanen können drei mächtige Gaben erlangen,“ sagte Nomboh, „Die des Sehens, die des Hörens und die des Rufens. Um Geisterjäger zu werden, wie wir hier es sind, brauchst du alle drei Gaben. Die Medikamente, die Keisha hat, können deine Rufgabe sperren, solange du sie regelmäßig nimmst… die Rufgabe ist von den dreien die seltenste, mächtigste und gefährlichste, und dennoch die einzige, die man bändigen kann… jemandem die Magie zu blocken ist eine gefährliche Waffe, Puran, ein Schwarzmagier ohne Magie ist völlig nutzlos, oder jedenfalls nicht nützlicher als jeder Nichtmagier, sofern er mit Waffen umgehen kann, Heiler, die solche Medikamente effizient einsetzen, könnten damit den gesamten Geisterjägerrat außer Gefecht setzen und damit sozusagen die Garde dieses Landes entwaffnen. Unterschätze also niemals, niemals einen Heiler…“ Er sah dabei blöd grinsend zu seiner Frau Keisha, die schnaubte.

„Weil diese Medikamente aus genau diesem Grund nicht öffentlich zulässig sind, kann ich dir keinen Massenvorrat geben, Nalani,“ sagte sie, „Du bist ein ehrbarer Mensch und würdest niemals Medikamente missbrauchen, das weiß ich, aber eigentlich darf ich dir so etwas nicht unter der Hand geben, Familienfreundin hüh oder hott. Wenn die Obersten des Heilerrates erfahren, dass ich ihnen die offizielle Notwendigkeit dieser Zugs unterschlagen habe, reißen die mir den Kopf ab…“

„Ist es in den Augen dieser Obersten nicht notwendig, dass ich mein Kind in die Schule schicke und es normalen Umgang mit Menschen haben kann?“ wunderte sich die Schwarzhaarige, und Keisha seufzte.

„Nein. Dein Fall würde bei denen nie als dringend nötig bezeichnet werden.“

„Wie bitte?! E-er hat drei Jungen schwerst verletzt und wenn es öfter passiert, tötet er vielleicht Menschen! Das nennen die nicht dringend nötig?!“

„Du müsstest ihn nicht zur Schule schicken, wäre deren Antwort,“ erwiderte die Heilerin, und alle sahen sie an, Puran auch. „Nalani – sieh mich an, ich weiß, wieso du das tust, aber das sind persönliche Gründe, er könnte genauso gut einen Hauslehrer bekommen, würden die im Heilerrat sagen. Sie würden mir niemals erlauben, dir dieses Zeug zu geben, denen ist egal, ob ihr euch wieder an das Volk angliedern könnt oder nicht, die sind vermutlich sowieso nicht gut auf euch zu sprechen…“

„Heißt das jetzt, ich soll klein mit Hut sein und nichts tun?“

„Natürlich nicht!“ empörte sich Keisha, „Ich gebe dir die Medizin ja, Nalani! Aber ich möchte, dass du darüber… zu keinem ein Wort verlierst. Keinem, nicht mal Tabari oder dem Rest der Familie. Und deiner Schwiegermutter nicht, die hat eine grausame Art, mit Medikamenten umzugehen.“

„Heißt das, ich kann nicht mehr zaubern?“ fragte der Kleine aufgeregt und sprang auf, „Wenn ich diese Medizin nehme?“

„Für’s erste,“ war Nalanis Antwort, und sie strich ihm zärtlich über den Kopf, „So lange, bis du alt genug bist, um es zu lernen, mein Sohn.“

„Dann bin ich niemals alt genug!“ entschloss er prompt und wurde von allen erstaunt angesehen, „Ich werde niemals ein Schamane werden, nie im Leben!“
 


 

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booyah o_o nichts passiert, nur dramaqueens am rumrennen. xD Rams 'Fall tot um' war aus Shaman King geklaut... aber das war einfach SO geil xDD Salihah und Zoras durften sich mal wieder Random-Liebhaben xD Nalani setzt ihr Kind auf Drogen, hahaha XD

Der Jäger

Im Wald war es dunkel. Das Kind rannte und wusste nicht, wohin und wieso, es rannte einfach geradeaus, vorbei an grausamen, dunklen Baumstämmen voller Bosheit. Aus den noch schwärzeren Zwischenräumen zwischen den Bäumen und Sträuchern blitzten glühende Geisteraugen hervor. Mit einem Mal sprang etwas aus dem Unterholz und stellte sich dem Kind in den Weg, böse herunter starrend.

Es war das tote Reh, das ihn schon so lange verfolgte… es war übernatürlich groß und stampfte auf ihn zu, während er rückwärts zu Boden stürzte und panisch aufschrie in dem Moment, in dem das Reh ihn zu Tode trampeln wollte. Aber dazu kam es nicht, denn mit einem gleißenden Blitzen und einem bösartigen Krachen verschwand das Reh direkt vor ihm und löste sich in Licht auf. Als der Junge erschrocken aufsah, erkannte er vor sich die blutigen Fetzen des Tieres liegen, das er mit seinen eigenen Händen zerrissen hatte, genau wie die Jungen in der Schule…

„N-nicht!“ keuchte er und riss hysterisch die Hände hoch, an denen das Blut klebte, obwohl er das Reh nicht berührt hatte, „Bleib fern mit deinem Zorn, Rehgeist!“

Doch die Geister lachten über den Jungen und er schauderte.

„Dummer Enkel,“ hörte er die schnarrende Stimme seines Großvaters, „Du kannst nicht davon laufen! Das ist die Natur deiner Familie, Puran… grausam, sadistisch!“

„Du wirst es sehen… die Menschen hassen euch, sie verachten euch wie die Pest und das mit recht… oder nicht?“ spotteten die Geister, und der Junge musste schreiend zusehen, wie das Reh sich vor seinen Augen wieder zusammen setzte und erneut auf ihn zu stürmte.
 

In dem Moment des Aufeinanderprallens von Reh und Kind wachte er auf und fand sich schreiend in seinem Bett wieder. Die Tür ging auf und er sah seine Mutter, die im Nachthemd zu ihm kam, ihn auf den Arm nahm und an sich drückte.

„Shhh… ist ja gut… ist ja schon gut. Mein Kind, ich bin bei dir. Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten.“ Puran drückte heulend das Gesicht in ihre Schulter und krallte sich an ihrem Nachthemd fest.

„S-sie wollen mich umbringen!“ schrie er panisch, „Sie wollen uns alle umbringen!“

„Was redest du da?“ fragte Nalani sanft und streichelte seinen Rücken, um ihn zu beruhigen, „Wer will dich umbringen?“

„D-die Geister!“ schrie ihr Sohn völlig außer sich vor Panik, „S-sie sind zornig, weil Großvater so viel Unrecht getan hat!“ Nalani seufzte und setzte sich mit dem heulenden Kind auf dem Arm auf die Bettkante, wo sie begann, ihn sanft hin und her zu wiegen, bis er aufhörte zu schreien und sich allmählich beruhigte.

„Schatz, es war nur ein Alptraum,“ beruhigte sie ihn. „Natürlich war Großvater ein böser Mensch. Aber er ist tot, Puran, er wird niemandem mehr etwas tun.“ Der Junge schniefte und wischte sich über die Augen, als er das Gesicht wieder hob.

„Aber ich träume immer denselben Traum, Mutti!“ schluchzte er aufgelöst, „I-ich fürchte mich, ich möchte das nicht mehr sehen… i-ich möchte, dass die Stimmen verschwinden…“ Nalani strich ihm behutsam über die wuscheligen Haare.

„Du darfst keine Angst vor ihnen haben,“ sagte sie zu ihm, „Wenn sie merken, dass du dich fürchtest, quälen sie dich, Puran… fürchte dich nicht, die Geisterstimmen wollen dir nicht wehtun. Manchmal… sagen sie Dinge, die wir nicht hören wollen… aber sie wollen dir nicht wehtun.“ Er drückte sich schutzsuchend an ihren Busen.

„Sagen sie zu dir auch Dinge, die du nicht hören magst?“ nuschelte er kleinlaut.

„Ja, natürlich. Hab keine Angst, mein Sohn. Niemand tut dir ein Leid, darauf… passe ich auf.“ Sie lächelte sanft und er drückte sich ängstlich an sie heran.

„Darf… ich bei dir schlafen, Mutti…?“ nuschelte er kleinlaut, und sie lachte leise und erhob sich mit ihm wieder.

„Natürlich, mein kleiner Liebling.“

Als sie bei der Zimmertür ankam, stand Tabari davor, der durch Purans Geschrei auch aufgewacht war und aus dem Gästezimmer gekommen war, in das er verbannt worden war; seine Mutter war schließlich nicht jede Nacht weg und konnte ihm ihr Bett überlassen.

„Was ist passiert?“ fragte er verpennt, als Nalani mit dem Kind auf den Armen herauskam. Sie würdigte ihn keines Blickes und drängte sich an ihm vorbei.

„Du bist etwas spät, mein Guter,“ sagte sie schnippisch, „Schlaf nächstes Mal einfach weiter, so bist du auch keine Hilfe. – Als ob du das jemals gewesen wärst, meine ich.“ Er starrte ihr empört nach, wie sie mit dem Sohn in Richtung Schlafzimmer ging, und er schnaubte verärgert. Langsam übertrieb sie es wirklich mit ihrer Wut; aber er würde sich hüten, sich vor ihre Füße zu werfen. Er hatte sie übel beschimpft, als er sie mit Kelar verglichen hatte, dafür würde er sich aufrichtig entschuldigen; aber nicht, bevor sie nicht einmal eingesehen hatte, dass sie sich auch irrte.

Schon zwei Wochen war es her, dass der Unfall am ersten Schultag passiert war, seitdem sah seine Frau ihn nicht mal mit dem Rücken an, und wenn doch, dann nur, um ihn zu beschimpfen. Tabari fühlte sich mitunter in Zeiten vor Purans Geburt zurück versetzt, in denen sie sich gehasst und sich gegenseitig die Pest an den Hals gewünscht hatten. Er hasste Nalani nicht… sie war seine Frau und sie bedeutete ihm sehr viel. Er ärgerte sich über seine eigene Gutmütigkeit und dass er schon mit sich kämpfen musste, um stur zu bleiben… am liebsten hätte er sich einfach entschuldigt und sich mit ihr versöhnt, zumal er dann endlich wieder in seinem Bett schlafen dürfte.

Was denkt die sich?! regte er sich jetzt auf, als er zurück in sein Gästezimmer stampfte, Wie will sie Instinkte kontrollieren?! Wenn sie eine Lösung findet, ist sie sicherlich ungesund oder verboten, oder sie wird ihn sein Leben lang in seinen Fähigkeiten beeinträchtigen… großartige Idee, Weib, seine Gaben zu blocken oder was immer du tun magst… wirklich großartig.
 

Nalani stellte ihrem Kind am Morgen ein Glas mit Wasser auf den Platz am Tisch. Er hatte ihr schwören müssen, niemals mit irgendwem darüber zu sprechen, dass er Medizin in sein Wasser gerührt bekam; und wenn man einen Schwur brach, wurde man vielleicht von den Geistern getötet, hieß es.

„Nun trink schon aus und mach dich fertig,“ sagte Nalani zu ihm, „Sonst kommen wir noch zu spät.“

„M-hmm…“ murmelte das Kind nur kleinlaut und trank brav sein Wasser. Neben ihm saß seine Cousine auf ihrem Kinderstuhl und patschte blöd lachend in ihrem Brei herum. Normalerweise schüttelte Puran über seine kleine Cousine den Kopf, heute war er dafür zu müde. Bei seiner Mutter hatte er besser geschlafen, aber die ständigen Alpträume nagten an ihm und raubten ihm jegliche Konzentration; das betraf auch die Schule.

Er hasste die Schule. Er hasste sie abgrundtief und wünschte sich an dem Morgen nichts sehnlicher, als nie wieder nach Gahti zu müssen. Das Dorf war potthässlich mit seiner dummen Steinstraße, die Schule war potthässlich, die Kinder waren gemein und unhöflich und die Lehrer kaum besser. Mit seiner Mutter darüber zu sprechen hatte keinen Sinn… sie hörte ihm offenbar nie zu, wenn er es ansprach.

„Mutti… muss ich in die Schule gehen?“ versuchte er es an diesem Morgen auf dem quälenden Weg nach Gahti erneut, als er an Nalanis Hand die Straße hinab ging. An ihnen vorbei zockelte ein kleiner Wagen in Richtung Norden.

„Natürlich,“ sagte Nalani dazu. „Alle Kinder gehen zur Schule. Du willst doch nicht dumm bleiben, oder doch?“

An sich würde er im Moment dumm bleiben vorziehen, dachte er, wagte aber nicht, das zu sagen. So senkte er nur bedrückt den Kopf. Ihm kam eine großartige Idee.

„Tante Keisha hat doch gesagt, man kann auch Privatlehrer bekommen! D-dann darf man doch daheim bleiben, oder? Darf ich nicht sowas bekommen, Mutti?“

„Auf keinen Fall!“ schnaubte die Mutter und sah ihn entrüstet an. „Kein Privatlehrer kommt mir ins Haus, Puran! Du wirst artig nach Gahti gehen, das ist viel besser als einen Hauslehrer zu haben. Ich hatte einen, als ich klein war, und im Nachhinein denke ich, eine Schule wäre sozialer gewesen. Du lernst dort andere Kinder kennen und kannst Freunde finden… wenn du nur zu Hause bleibst, bist du doch immer allein.“ Sie seufzte und strich ihm tröstend über den Kopf. „Und ich möchte nicht, dass du immer alleine bleibst, mein Sohn.“ Puran biss sich verbittert auf die Lippe.

„Aber Mutti… in der Schule bin ich doch viel mehr alleine als daheim.“
 

Das war wohl wahr, auch, wenn seine Mutter dazu nichts gesagt hatte, er hatte doch recht, beschloss er missgelaunt, als er in der Schule war. Wie er diesen Ort hasste, er wünschte sich sogar manchmal, dass ein Blitz in das Haus einschlagen würde, damit die Schule zerstört würde und er nie wieder dorthin müsste… dann erschrak er sich über seine eigenen, grausigen Gedanken und verwarf sie schnell wieder. Was, wenn die Geister seinen Wunsch erhörten und einen Blitz schickten?

Blitz… er dachte mit Grausen an den Unfall am ersten Schultag und an den gleißenden Blitz, den er selbst mit eigenen Händen auf die Jungen geschmettert hatte… immer wieder hallte der Satz in seinem Kopf nach, den er so oft gehört hatte.

„Sie hätten tot sein können!“

Ja, das hätten sie… er hätte beinahe Menschen getötet, ganz einfach so. Wie grausam… so grausam wie sein Großvater gewesen war.

„Fall tot um.“

Puran fuhr zusammen und vergrub zitternd den Kopf in den Händen. Ja, das hatte er verdient! Er sollte tot umfallen, er war furchtbar, er würde einmal ein Monster sein, wenn er groß war! Und durch die Dunkelheit vor seinen Augen blitzten ihn die bösartigen Augen seines Großvaters an…

„Puran, hörst du mir zu?!“

Er fuhr hoch. Vor ihm stand die Lehrerin, Frau Kalih, mit gehörigem Abstand allerdings. Er keuchte und errötete, als er merkte, dass die ganze Klasse ihn anstarrte, fast alle sahen ihn panisch an.

„R-ruft er wieder einen Blitz und schlitzt uns auf?“ flüsterte ein Mädchen in der zweiten Reihe.

„Nicht zu nahe ran, Frau Kalih, er tut Euch vielleicht weh!“

Die Lehrerin seufzte. Ja, vielleicht, aber sie musste die ganze Klasse gleichgerecht erziehen und unterrichten; auch, wenn der Spross der Lyra-Familie der gesamten Schule suspekt war und sie ihm niemals direkt ins Gesicht sehen konnte, er musste etwas lernen, genau wie alle anderen auch.

„Komm bitte zur Tafel und löse die Rechenaufgabe, Puran,“ sagte sie tapfer, „Los doch, auf!“ Der Junge schälte sich schweigend aus seiner Bank und trottete nach vorne, wo er stumm stehen blieb und auf die große, schwarze Tafel starrte. Er spürte die bohrenden Blicke hinter sich, diese ganzen Missgeburten, die ihn anstarrten, die ihn hassten… er hasste sie auch, er hasste sie wie die Pest.

Er wollte sie los werden, er wollte sie niemals wieder sehen. Bebend ergriff er ein Stück Kreide und setzte es an der Tafel an, während er die stechenden Blicke voller Angst und Abscheu weiterhin spürte.

Sie starren… flüsterten die Geister in seinem Kopf, und er keuchte heftig und packte die Kreide wutentbrannt fester. Sie starren dich an und hassen dich, zurecht, Puran Lyra, weil sie alle eure Familie hassen, dank deines Großvaters, der viel Unrecht getan hat…
 

Willst du sie zurück hassen…?
 

„Ja…!“ zischte er grantig, und er merkte gar nicht, wie er die Kreide bewegte und damit schrieb, er hörte nicht das Murmeln der Kinder und das Rufen der Lehrerin. Er sah nicht die Zahlen, die an der Tafel standen und die er zusammenzählen sollte, er spürte nur das Entsetzen der anderen hinter sich.

Alle hassen sie deine Familie… die Monster-Familie… Mörder.

„Aufhören!“ schrie er laut, und die Geister verstummten tatsächlich. Die Kinder hinter ihm schrien auch auf, als Puran herum fuhr und sie heftig atmend zurück anstarrte. In der ersten Reihe saß der schwarzhaarige Ram und sah verblüfft auf die Tafel, alle anderen Kinder starrten erbleichend zu Boden. Frau Kalih schlug sich die Hände vor den Mund.

„D-das ist… aber nicht die Rechenaufgabe, Puran…“ stammelte sie, und Puran sah verblüfft selbst zur Tafel – wovon redete sie? Er wusste es, sobald er das sah, was seine eigene kleine Hand eben ohne dass er es gemerkt hätte an die Tafel geschrieben hatte.
 

Hört auf zu starren, ihr elenden Missgeburten.
 

Ab dem Zeitpunkt wagte niemand mehr, ihn anzusehen. Es war ihm gleich, er wollte mit den Kindern nichts zu tun haben, denn sie wollten ja auch nichts mit ihm zu tun haben. Er fragte sich griesgrämig, wenn er in der Pause alleine in einer Ecke des Hofes saß, was seine Mutter sich dabei dachte. Freunde finden! Die war gut. Er verfluchte die Geister, die er immer noch hörte, und die Bilder, die er immer noch sah, seien es die Augen seines Großvaters oder das tote Reh oder etwas anderes. Die Kinder hassten ihn, er hasste sie zurück. Manchmal kamen einige Jungen zu ihm, weil sie mit anderen gewettet hatten, dass sie sich trauten, das Monsterkind anzusprechen, wie man ihn bereits liebevoll nannte, oder um zu zeigen, wie mutig sie waren. Aber dann kamen nur dämliche Sprüche, die ihn ärgerten oder verletzten.

„Wir sollen nicht starren? Wir starren aber, guck! Haha!“

„Ruf doch deinen Monsterblitz, ich renne schnell genug weg, wetten?!“

„Töte mich doch, töte mich doch, du kriegst mich gar nicht, hahaha!“

„Ich hab keine Angst vor dem Monsterkind, das sitzt eh‘ nur doof in der Ecke!“

Puran vergrub das Gesicht in den Armen, seine Knie umschlingend, und wollte niemanden mehr sehen. Er wollte heim…
 

Zu Hause waren die einzigen Menschen, die er mochte, mit denen er Spaß haben konnte.

„Guck, so sieht dein Name aus. Das heißt Alona! Wenn du groß bist, bringe ich dir schreiben bei, dann musst du nicht zur Schule gehen.“ Er schob seiner Cousine das Pergament hin, das er aus Vatis Schublade geklaut hatte und auf das er mit einer Feder fein säuberlich Alona geschrieben hatte. Alona malte die Buchstaben nach.

„Ich kann auch Alona schreiben,“ behauptete sie, indem sie die Buchstaben mit bunten Wachsstiften nachzog. „Wie geht Puran schreiben?“

Er schrieb ihr seinen eigenen Namen auf das Pergament.

„So. Und unser Nachname ist Lyra. Guck, so.“ Das kleine Mädchen schrieb emsig alles nach, was er ihr zeigte. Sie lernte sehr schnell. Puran war sehr stolz auf seine kluge kleine Cousine.

„Die Schule ist doof,“ erzählte Alona, als wüsste sie es genau, „Die Kinder sind gemein, nicht?“

„Die Kinder sind Missgeburten,“ brummte ihr Cousin frustriert. „Du musst nicht dahin, ich bringe dir alles bei, das geht auch.“

„Puran ist ein toller Lehrer,“ lobte sie ihn, „Ich kann schon zählen und schreiben.“

„Na ja, ein bisschen. Du könntest den Erwachsenen langsam mal sagen, dass du längst sprechen kannst, oder? Die denken alle, du wärst dumm!“ Alona malte fröhlich weiter ihren Namen nach.

„Nö,“ sagte sie frech, „Keine Lust.“
 

Pause.

Puran hasste die Pause fast noch mehr als den Unterricht, denn im Unterricht mussten alle aufpassen und hatten keine Zeit, ihn zu ärgern. In der Pause war es anders. Eine Zeit lang schaffte er es, sich im Klassenzimmer zu verstecken, während alle hinaus rannten, und dann eingeschlossen zu werden, das war sehr gut, denn dann hatte er das ganze Klassenzimmer für sich und konnte in Ruhe anfangen, die Hausarbeiten zu machen. Leider erwischte Frau Kalih ihn eines Tages dann doch und achtete seitdem immer sehr genau darauf, dass alle Kinder die Klasse verließen.

Aus der Traum.

Missmutig aalte er sich wieder aus seiner Bank und warf kurz einen Blick auf seinen dicken Tischnachbarn, der etwas Mühe hatte, sich nach draußen zu quetschen, während er versonnen Stücke von Brotrinde in sich hinein stopfte. Wann immer man diesen Kerl sah, er war immer am essen, war Puran aufgefallen, aber er hütete sich, den Dicken länger anzusehen, bevor er sich von dem auch einen dummen Spruch fing.

„Raus mit euch, alle,“ sagte Frau Kalih streng, „Hinaus, geht spielen!“ Nach dem Dicken trottete Puran als Letzter gelangweilt aus dem Raum, den die Lehrerin darauf abschloss. Der Tag war schlecht, ganz furchtbar schlecht. Draußen war es Herbst geworden. Seine Mutter hatte ihm versprochen, ihn zur Schule zu bringen, bis er sechs war; und am vergangenen Tag war er sechs geworden, demzufolge war er heute zum ersten Mal allein gekommen; so ziemlich als einziger in der Klasse, wie er festgestellt hatte. Alle kamen mit jemandem, einige mit ihren Müttern, andere mit großen Geschwistern… wobei es ihn andererseits auch stolz machte, dass seine Mutter ihn für groß genug hielt, alleine gehen zu können.

Er ging nicht auf den großen Pausenhof, auf dem alle spielten, denn da kamen nur immer die gleichen an und machten blöde Sprüche. Vor kurzem waren auch die drei Jungen wieder gekommen, die er zerfetzt hatte; sie hatten ihn böse angesehen, aber nicht gewagt, zu sprechen. Auf der Hinterseite des Schulgebäudes gab es noch einen kleinen Hof, auf dem weniger Kinder waren. Da würde Puran sich hinsetzen und hoffentlich seine Ruhe haben… dachte er.

Als er alleine auf einer kleinen Bank auf dem Hinterhof saß und sich verdrossen an die Wand hinter sich lehnte, entdeckte er Ram, der ebenfalls hier war.

Ausgerechnet der, dacht er sich missmutig und drehte den Kopf weg, als er dachte, der Schwarzhaarige hätte ihn gesehen. Ansehen wollte er ihn nicht… Rams Augen waren giftgrün, es war ein gefährliches Grün… und immer, wenn Puran ihn ansah, sah er in den Augen den verhassten Satz…

„Fall tot um.“

Ihm fiel bei dem Gedanken plötzlich auf, dass Ram fast der einzige der Klasse war, der noch nie mit einem dummen Spruch zu ihm gekommen war. Er fragte sich, ob das gut oder schlecht war… bis plötzlich ein Schatten über ihn fiel und er, als er hinauf sah, direkt in Rams finsteres Gesicht blickte. Puran erstarrte. Er wartete eine Weile darauf, dass Ram etwas sagte; als er nicht sprach, traute er sich, zuerst etwas zu sagen.

„Hallo… w-was ist?“ Ram sagte lange nichts. Dann spuckte er ihm plötzlich ins Gesicht und trat ihm gegen das Bein, dass der Kleine vor Schreck aufschrie und keuchend hoch sprang. Es schmerzte…

„Ich hasse euch!“ zischte Ram vor ihm und spuckte auf den Boden, „Dich und deine Drecksfamilie voller Mörder!“
 

Puran schnaubte.

Was war das denn? Die ganzen Wochen hatte der kein Wort gesagt, und jetzt kam er auch so an? Er musste sich nicht alles bieten lassen. Sich das schmerzende Bein reibend sah er den Größeren wütend an.

„Ich habe dir nichts getan und meine Familie ist keine Mörderfamilie!“ Ram unterbrach ihn schreiend.

„LÜGNER! Wie kannst du es wagen, das zu leugnen, ich weiß es ja wohl besser als du, elender Drecksack!“ Ehe der Kleinere eine Chance hatte, etwas zu sagen, schlug Ram ihm ins Gesicht. Puran stürzte zu Boden, hustete und spuckte Blut.

„W-was…?! Bist du verrückt geworden?!“ keuchte er nur entsetzt und fasste japsend nach seiner Nase, die sich grauenhaft anfühlte und ebenfalls blutete. Er hustete und versuchte, aufzustehen. In der Nähe hatten ein paar andere Kinder gespielt und kamen jetzt neugierig angerannt.

„Guckt mal, ´ne Klopperei!“

„Wie aufregend!“

Ram schnaubte und starrte wütend auf Puran herunter, die Fäuste geballt.

„Du bist an allem Schuld!“ schrie er, „Deine beschissene Familie, die glaubt, dass ihr alles gehört und dass sie alles darf! Lügner und Mörder seid ihr, ganz grausame Menschen!“ Er schlug ihn erneut, sobald er aufgestanden war, und trat wutentbrannt nach dem Kleineren, sodass er aufschrie. „Denkst du, ich hätte diesen verfluchten Winter vergessen?! Den Winter, in dem mein Bruder sterben musste, du Hundsarsch?!“ Puran verstand kein Wort von dem, was der Schwarzhaarige brüllte, und er versuchte verzweifelt, sich gegen die Schläge und Tritte zu wehren, aber erfolglos, wie er feststellte, als er erneut zu Boden geschleudert wurde und hart mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Er keuchte, als ihm schwindelte. Und dann kamen die Bilder.

Er sah das tote Reh und hörte das scheußliche Lachen seines Großvaters, er sah den dunklen Wald an sich vorbeirauschen und den entsetzten kleinen Jungen am Boden, der verzweifelt das Reh an sich drückte.

„I-ich, bitte lasst mir das Reh! Ich habe noch fünf Geschwister und wenn wir nicht essen, werden wir verhungern…“

Die Menschen hassen euch… und das mit Recht.

„Fall tot um.“

Er schrie laut auf, als er einen weiteren Tritt in die Seite bekam. Er wusste nicht, wie er es schaffte, sich plötzlich aufzurappeln, er wusste nur, dass er mit einem Mal wieder stand, und in diesem Moment war es, dass er wütend ausholte und dem größeren Jungen unverhofft mitten ins Gesicht schlug.

„ICH BIN KEIN MÖRDER!“

In diesem Moment wurde er plötzlich an den Armen gepackt, gleichzeitig sah er seine Lehrerin Frau Kalih, die gerannt kam und Ram auf die Beine zerrte, der zu Boden gestürzt war.

„Was ist hier los?!“ fauchte ihm eine Frau ins Ohr, und Puran erkannte keuchend die Stimme der Direktorin. „Ihr seid ja wohl noch ganz gar, euch hier zu prügeln!“ schimpfte sie, „In mein Zimmer, alle beide, Frau Kalih, ich will, dass die Eltern kommen, das kann ja wohl nicht wahr sein hier!“

„Ich habe doch recht, verdammt!“ brüllte Ram wütend, der von der Lehrerin festgehalten und mit sich gezogen wurde, „D-die Lyras sind Verräter, Lügner und Mörder, s-so was wie er darf hier nicht zur Schule gehen!“ Die Direktorin fuhr ihm barsch über den Mund.

„Wer hier zur Schule geht, entscheide ich, nicht du, Derran! Abmarsch! – Was glotzt ihr anderen denn so, spielt weiter!“
 

Weil Frau Kalih mit dem Zwischenfall beschäftigt war, konnte ihre Klasse nicht weiter lernen; demzufolge stand fast die gesamte Klasse aufgeregt und neugierig vor der Tür des Zimmers der Direktorin, während eine Heilerin dabei war, die zerschundenen Gesichter der beiden Jungen wieder zu richten. Die Direktorin ging fluchend auf und ab, während die beiden Jungen immer noch heftig atmend und einander ab und zu böse anstarrend auf Holzstühlen saßen.

„Was ist eigentlich passiert?“ wunderten sich die kleinen Erstklässler.

„Ich glaube, die haben sich gehauen, oder so,“ erwiderte ein zweites Kind.

„Jungs sind so doof, wieso hauen die sich immer?“

„Ram Derran hat das Monsterkind ganz schön grün und blau gehauen, ich glaube, die Nase war fast ab, hab ich gesehen.“

„Du lügst doch, wie kann man denn die Nase ab hauen?!“

„Wenn ich es doch sage…“

„Aus dem Weg! Lasst mich mal durch, ihr Kleinen,“ hörten sie plötzlich eine Stimme hinter sich, und alle traten ehrfürchtig vor dem älteren Mädchen mit den braunen Zöpfen zur Seite. Ihr folgten Frau Kalih und eine Frau mit schwarzen Haaren, schwarzem Umhang und wutentbranntem Gesicht.

„D-du liebe Güte!“ keuchte ein Mädchen, „D-das ist die Frau vom Statthalter, die Geisterjägerkönigin! So ernst ist es, dass sie die ganz Wichtigen holen müssen?!“

„Du dumme Kuh,“ lachte ein Junge sie aus, „Das ist Purans Mutter, du Deppenkind!“

„Vielen Dank, Frau Kalih,“ sprach die Direktorin da, „Geh bitte mit der Klasse zurück zum Unterricht, ich regel den Rest alleine.“ Damit schloss sie die Tür des Zimmers. Ihr Blick fiel zuerst auf das ältere Mädchen. „Deine Eltern sind verhindert, Tuwa?“

„Ich vertrete meinen Vater,“ entschuldigte sich das Mädchen, „Meine Mutter bekommt gerade unser neues Geschwisterchen, meine Eltern können im Moment nicht weg von daheim. Ich werde meinem Vater ausrichten, was immer Ihr verlangt, Direktorin.“ Damit stellte sich das Mädchen zu Ram, der offenbar ihr Bruder war. Nalani schnaubte.

„Was ist hier passiert?“ fragte sie kaltblütig, indem sie ihren eigenen Sohn ansah, der von der Heilerin das Bein gerichtet bekam. Puran stöhnte nur und konnte nicht antworten. Nalani zeigte auf Ram.

„Hast du mein Kind so zugerichtet?!“ fragte sie barsch, „Ich will wissen, was hier passiert ist! Es wird ja wohl keine Windmesser gegeben haben!“

„Nein, nicht dass ich wüsste,“ sagte die Direktorin, „Die beiden Jungen haben sich auf dem Hinterhof geprügelt, das ist alles, was ich weiß und-…“

„Ihr seid ja auch Lügner und Mörder, ihr dreckigen Bastarde!“ keifte Ram und fing ohne ersichtlichen Grund plötzlich an, zu heulen. „D-das ist alles eure Schuld, ihr verfluchten-…“ Seine Schwester hielt ihm entsetzt den Mund zu.

„Ramchen!“ keuchte sie, „So etwas darfst du nicht sagen!“ Sie sah entschuldigend zu Nalani und neigte den Kopf. „Bitte verzeiht, Herrin, e-er… ist noch nicht richtig über den Tod unseres Bruders hinweg gekommen und beschimpft oft die Leute… Ramchen, hast du angefangen, ihn zu schlagen?“ Ram hörte auf zu heulen und wischte sich über das flammende Gesicht. Verdammt, ein Mann heulte doch nicht…

„Die sind doch Schuld, Tuwa!“ schrie er wütend, „Die sind doch Schuld an allem! Der war damals auch da, ich hab ihn gesehen!“ Er fuhr wütend zu Puran herum und erntete einen Mörderblick von Nalani, die schützend eine Hand auf den Kopf des Jungen legte. „Im Wald, du Lügner!“ spuckte er grantig, und Puran keuchte nur.

Wald. Er sah das Reh vor sich und es starrte ihn an. Er hörte seinen Vater rufen.

„Nimm das Reh, Junge. Es gehört dir, nun lauf! Niemand wird dir etwas tun!“

Er fasste nach dem Reh, das ihn anstarrte, doch plötzlich drehte es sich um und kehrte dem Jäger den Rücken, um davon in den Wald zu rennen.

„Halt!“ schrie der Junge in seinem Traum, „Lauf nicht fort! Bleib stehen!“ Dann hörte er aus dem Nichts laut schallend Ram Derrans Schreien:

„Lügner!“
 

„Wovon redest du eigentlich, Knirps?“ fragte Nalani Ram entrüstet, „Woran soll mein Sohn Schuld sein?“ Ram schnappte nach Luft und wich keuchend dem grausamen Blick der Königin aus. Ihr Gesicht machte ihm Angst… seine große Schwester sprach.

„Bitte verzeiht. Das… ist nur ein Missverständnis. Vergebt meinem Bruder… ich hoffe, es wird nicht wieder passieren! Oder, Ramchen?“ Sie sah streng auf Ram, der nur verbittert zu Boden starrte. Purans Blick verfinstert sich ebenfalls.

„Wenn hier einer lügt… dann bist du es, Ram!“ zischte er, „Ich habe dir nie etwas getan, du… Missgeburt!“ Er erhob sich, jetzt geheilt, von dem Stuhl, und die Direktorin starrte ihn an, ebenso Nalani. Sie schlug ihm auf den Hinterkopf.

„Wie hast du ihn gerade genannt?!“ empörte sie sich und zeigte abermals auf den erstarrten Ram, „Entschuldige dich, das geht zu weit.“

„Schon in Ordnung,“ wandte Tuwa ein, „Dann sind sie jetzt eben quitt, Ram hat immerhin angefangen… ich bitte abermals um Vergebung, Herrin.“ Nalani musterte das Mädchen. Irgendwie hatte sie die Braunhaarige schon einmal gesehen… sie wusste nur nich mehr, wann und wo. Sie nickte, ehe sie zur Direktorin sah und sich ebenfalls verneigte.

„Dann sei es so,“ sprach sie, „Mein Sohn wird solchen Streitereien in Zukunft aus dem Weg gehen.“ Sie nahm Puran an die Hand und sah ihn streng an, „Nicht wahr?“ Puran senkte den Kopf.

„Ja, Mutti. Verzeiht bitte, Frau Direktorin.“
 

Der Herbst war die Zeit des Wildes. Während die Bäume zum Ende des Holzmondes ihr Laub langsam endgültig abwarfen, nutzte Tabari einen seiner wenigen freien Tage, an denen er nicht nach Tuhuli oder sonst wo hin musste, um seinem jetzt sechsjährigen Sohn das Jagen beizubringen. Eigentlich war es Purans Idee gewesen, dass der Vater ihn mitnahm, er hatte hartnäckig darauf bestanden.

„Du bist noch zu klein, um richtig auf die Jagd zu gehen,“ hatte Tabari gesagt, und der Junge hatte empört gemeckert:

„Was ist mit Ram, dem Jungen aus dem Wald damals?! Der ist kaum älter als ich und geht sogar alleine jagen!“ Darauf war dem Vater nichts mehr eingefallen; und alles war besser, als am freien Tag daheim zu sitzen… denn daheim war die immer noch wütende Nalani, die ihm Angst einjagte und die es seiner Meinung nach etwas übertrieb mit der Erziehung des Kindes. So war es vielleicht ganz gut, Puran mal für einen Nachmittag von der strengen Mutter zu lösen.

„Schimpft Mutti viel mit dir?“ fragte er sein hübsches Kind, während er mit ihm auf dem Schoß auf dem dicken Ast eines Baumes saß und den Blick über die Wiese schweifen ließ. Das noch anwesende Blätterdach des Baumes verbarg die beiden vor den Blicken der Rehe, die unten grasten.

„Manchmal,“ machte Puran und beobachtete gespannt die Tiere, „Was machen wir hier oben, Vati?“

„Shhh…“ flüsterte Tabari grinsend, „Wir beobachten. Für einen Jäger ist es wichtig, sich die Beute genau anzusehen. Wir dürfen niemals eine ganze Herde schlachten, das beleidigt die Geister der Tiere und von Mutter Erde. Wir suchen uns ein schwaches Tier aus, das weniger Chancen hat, zu entkommen, damit die stärkeren Tiere fliehen können. Wir haben einen sehr mächtigen Vorteil, weil wir Windmagier sind… dadurch können wir den Wind so drehen, dass die Rehe uns nicht wittern können.“ Puran war begeistert, was sein Vater alles wusste.

„Aber ist es nicht ungerecht, das schwächste Tier zu nehmen?“

„Nein, keineswegs… sieh mal, diese Rehe leben in freier Natur. Wenn wir das schwache Reh heute nicht töten, tut es morgen ein anderes Raubtier. Das ist der Lauf der Natur, Puran, und es ist Mutter Erdes Wille, solange wir nur so viel nehmen, wie wir zum Überleben brauchen. Wir Menschen töten nicht aus Spaß, sondern, um den Tiergeist zu ehren und alles vom Reh für uns zu verwenden. Das Fleisch, das Fell, die Sehnen, eben alles.“ Das Kind nickte verständnisvoll. Tabari beugte sein Gesicht vor und zeigte auf ein im Gras liegendes Reh, das den Kopf hin und her drehte. „Siehst du das mit dem verletzten Huf? Das nehmen wir. Es wird schlecht laufen können und ist deshalb eine leichte Beute.“

„M-hm,“ machte das Kind gespannt, während Tabari seinen Speer ergriff.

„Dann gehen wir jetzt runter… keinen Mucks, Puran, klar?“ Puran hielt aufgeregt die Luft an, als sein Vater ihn packte und langsam mit ihm vom Baum kletterte. Einige Rehe hoben alarmiert die Köpfe, als die beiden Schamanen sich flach auf den Boden legten und somit unsichtbar waren für die arglose Beute. „Hör zu,“ flüsterte sein Vater dann lautlos, „Du bleibst immer hier beim Baum, du gehst auf keinen Fall weg. Ich kann nicht voraussehen, in welche Richtung die Tiere fliehen, wenn wir Pech haben, kommen sie genau auf dich zu. Bleib beim Baum, Sohn.“ Puran wagte nicht zu sprechen und nickte so nur, ehe er vorsichtig rückwärts kroch in Richtung Baum, dabei so leise wie möglich bleibend. Tabari hob ganz langsam den Kopf über das trockene Gras der Wiese, von dem sich seine flachsblonden Haare kaum abhoben. Er umklammerte fest seinen Speer, ehe er mit einer flüchtigen Handbewegung den Wind über dem Land zwang, aufzufahren, sodass das heulende Geräusch das Rascheln seiner Bewegungen verbarg. Puran kauerte gespannt am Boden und beobachtete seinen Vater, wie er plötzlich direkt vor den Rehen aus dem Gras sprang, den Speer hoch reißend und das verletzte Tier vor sich erlegend, ehe es eine Chance bekommen hätte, wegzurennen. Die anderen Rehe stoben panisch auseinander und rannten fort in den Wald. Das getroffene Reh röchelte mit dem Speer in der Brust, bis Tabari ihm mit einer Handbewegung und einem Schneidezauber den Gnadenstoß gab.

„I-ist es vorbei?“ wagte das Kind zu fragen und den Kopf zu recken. Sein Vater winkte.

„Ja, komm zu mir, Puran! Hast du aufmerksam zugesehen, Sohn?“ Das Kind nickte eifrig, als es sich durch das Gras zu ihm gekämpft hatte und stolz auf die erlegte Beute blickte.

„Gibt’s jetzt heute Abend Rehbraten?“ Tabari lachte.

„Vermutlich. Das Fleisch dieses einen Tieres reicht für einige Zeit für unsere Familie, weißt du? Deswegen reicht es, nur eins zu töten. Das Wichtigste nach der Jagd ist, dass wir uns bei Mutter Erde und dem Reh für das Opfer bedanken.“

„Wie denn?“ fragte Puran aufgeregt, und Tabari hockte sich auf den Boden und strich mit der Hand über die Erde. Dabei schloss er andächtig die Augen. Der Kleine machte ihm alles nach.

„Wir danken dem Geist dieses Rehs für das Fleisch, das wir essen können, und Mutter Erde dafür, dass sie eines ihrer Kinder für uns gegeben hat,“ sagte Tabari leise, sein Sohn sprach ihm todernst jedes Wort nach. Nach dem Gebet an die Geister betastete Tabari die Hirschkuh vor sich eine Weile. „Na,“ machte er dann und klatschte in die Hände, „Dann wollen wir mal die Beute heim bringen!“
 

Jagen zu lernen war eine gute Sache. Sein Vater war stolz auf ihn, wenn er aufmerksam zuhörte, was er ihm erklärte, und Puran konnte sich gut merken, was Tabari zu ihm sagte. Damit, die Lehren seines Vaters im Kopf zu rezitieren, verbrachte der Junge meistens seine Zeit in der Schule während der Pause. Er versuchte, dem immer wütend guckenden Ram aus dem Weg zu gehen, was sich als nicht leicht erwies. Er verstand Rams Problem immer noch nicht; was hatte er ihm eigentlich getan? Irgendetwas hatte es mit dem Reh zu tun, mit dem Tod seines Bruders…

Denk nicht darüber nach, befahl der Junge sich, alleine im Hinterhof auf seiner Bank sitzend, wie er es jeden Tag in der Pause tat. Er hob den Kopf und sah in den Himmel. Langsam wurde es kalt… er fragte sich, ob sie im Winter in der Pause auch hinaus müssten… da würden sie doch erfrieren…

Als ein Schatten über ihn fiel, fuhr er hoch und dachte zuerst, es wäre wieder Ram, der kam, um ihn zu verprügeln… als er noch einmal hinsah, stand vor ihm keineswegs Ram, sondern ein Braunhaariger kleiner Junge mit Stirnband, die Arme in die Hüften gestemmt und ihn prüfend anblickend. Puran seufzte. Aha, also wieder einer, der eine Mutprobe ablegen wollte? Es juckte ihm schon in den Fingern, irgendetwas Gruseliges zu machen, um dem Idioten gehörig eins auszuwischen, aber dazu kam er gar nicht.

„Du bist überhaupt kein Monster, wie dumm von den Idioten!“ sagte der Junge laut, „Monster haben Reißzähne und scharfe Krallen, du hast nur ´nen eingerissenen Fingernagel, das ist total nicht furchteinflößend!“

Puran starrte ihn verblüfft an. Ah, den Jungen kannte er vom Sehen, er ging in seine Klasse und hörte auf den Namen Kannar. Der hatte bisher nie ein Wort mit ihm geredet… Er sah verblüfft auf seine Hände; tatsächlich, ein Nagel war leicht eingerissen.

„Warte, ich kann das heil machen,“ behauptete der Junge namens Kannar vor ihm und packte fröhlich seine Hand.

„Hey, loslassen! Sofort!“ empörte Puran sich und sprang auf, aber der andere griff schon den betroffenen Finger:

„Lira!“ murmelte er andächtig, und Puran erstarrte – das war der Heilzauber unter den Grundzaubern, ja… er sah auf seinen Fingernagel, der plötzlich noch weiter einriss, sodass es darunter zu bluten begann. Er zischte.

„Aua, du Idiot, d-du hast es nicht heil, sondern kaputt gemacht!“ empörte sich der Junge und schnaubte. Kannar hustete.

„Ach, verflixt!“ fluchte er unglücklich, „E-es klappt nie so, wie es soll! Mein Vater wird mich rösten! Darf ich es noch mal probieren?“

„Du hast wohl den Schuss nicht gehört!“ stöhnte Puran und wich zurück, „Wehe, du fasst mich je wieder an, du Rabauke!“

„Ich heiße Kannar Chipo,“ stellte sich der Junge vor ihm höflich vor.

„Ich weiß!“ brummte der andere und lutschte genervt das Blut von seinem Finger.

„Ich bin Heiler,“ erzählte Kannar weiter, „Deswegen sollte ich Lira an sich schon können, aber irgendwie bin ich zu dumm dafür. Du bist Puran, nicht?“

„Ja,“ machte Puran. Er war verwirrt – was wollte der Schlingel eigentlich? Erst redete er und zerriss seinen Fingernagel, dann redete er noch mehr… das hatte er noch nie erlebt. „Wieso hast du keine Angst vor mir?“ fragte er vorsichtig, „Denkst du nicht, ich wäre ein Mörder oder gestört oder so? Wenn du irgendeine Mutprobe machen willst, verschwinde, ich habe kein Interesse daran, immer der Idiot zu sein!“

„Ich will keine Mutprobe machen!“ rief Kannar verdutzt. „Ich sah dich da alleine herum sitzen, du hast so traurig geschaut… deswegen bin ich gekommen!“ Puran blinzelte.

„W-was?“ fragte er verdattert.

„Mit mir spielt auch keiner,“ lachte Kannar doof vor sich hin, „Weil ich immer versuche, Heilen zu üben, und dabei immer allen wehtue, dabei ist es nie Absicht!“ Puran starrte ihn ungläubig an. Das war ja fast wie das, was er gemacht hatte… wenn auch nicht so extrem. Wieso war ihm dieser nette kleine Kerl nie aufgefallen? Er brachte tatsächlich ein Lächeln zustande.

„Meinst du das ernst?“ nuschelte er verlegen, „Ich… meine… sowas hat noch nie wer zu mir gesagt, weißt du?“

„Und das, was du gemacht hast mit den großen Jungen, war doch auch ohne Absicht,“ bemerkte Kannar schlau, „Ich bin ja auch kein Monster, wieso solltest du eins sein? Wir sind Kinder. Basta.“
 

In der Schule war man über den Zusammenschluss der beiden Jungen erstaunt, aber erfreut; Für beide war es gut, einen Spielgefährten zu haben, und Puran war ganz verwirrt, dass der kleine Heilerjunge tatsächlich mit ihm spielen wollte. Kannars Familie lebte in Gahti, der Junge und seine große Schwester hatten es demnach nicht weit zur Schule. Sein Vater war auch Heiler und besaß die kleine Apotheke in Gahti.

„Was macht ein Apothekenbesitzer denn den ganzen Tag?“ wunderte Puran sich, als er mit seinem neuen Freund über ihre Familien redete. Kannar überlegte.

„Medikamente verkaufen, und so. Und herstellen, und so, Mutti hilft auch mit. Meine Mutti ist Heilerin und Telepathin zugleich.“

„Sowas geht?“ empörte der andere sich, „Mein Onkel und meine Tante sind nur Telepathen und meine Eltern nur Schwarzmagier!“ Kannar kratzte sich am Kopf.

„Aber meine Mutti ist so, ich weiß nicht, wieso das geht. Mein Vati hat es mir mal erklärt, aber ich hab's vergessen. Das war total nicht einfach.“ Das Wort total mochte er irgendwie. Dann wechselte er das Thema: „Was machen denn deine Eltern den ganzen Tag? Was macht man denn als König von Vikhara?“ Puran war stolz darauf, ein paar mehr Fachbegriffe zu kennen.

„Sie sind nicht Könige, mein Vater ist Statthalter. Und meine Großmutter, die schreibt meinem Vater die Texte, die er eigentlich schreiben soll.“

„Wieso denn das?“

„Weil meine Großmutter sehr klug ist.“

„Ist König und äh… wie hieß es? Standhalter? Ist das das gleiche?“ fragte Kannar verpeilt, und Puran kratzte sich am Kopf.

„Ich glaube nicht, mein Großvater war König, und das war was Schlechtes; Mutti sagt, Dokahsan braucht keinen König. Was Vati macht, weiß ich auch nicht, er ist immer weg von daheim.“ Kannar nickte, obwohl er nur die Hälfte verstanden hatte.

„Und was macht er, wenn er daheim ist?“

„Mir Jagen beibringen!“ erzählte der Kleine stolz und strahlte, ehe sich sein Gesicht verfinsterte und er den Kopf senkte. „Oder mit Mutti streiten.“
 

Das tat Tabari oft. Oder es war Nalani, die mit ihm stritt, niemand wusste mehr so genau, was eigentlich das Problem der beiden war; nur, dass es mit Purans Instinkten angefangen hatte… und das war schon zwei Monde her.

Seit zwei Monden sah Nalani ihren Mann nicht mehr an, sprach kaum mit ihm und ließ ihn im Gästezimmer schlafen. Als Kiuk seinen Bruder genervt fragte, ob er diesen Unsinn nicht endlich beenden wollte, fuhr Tabari ihm wütend über den Mund.

„Wieso soll ich immer der Depp sein, der kriecht?!“ fauchte er und trat dabei gegen das Bett in seinem Gästezimmer, sodass das Gestell wackelte und das Holz knarrte. „Sie ist diejenige, die sich aufregt, verflucht! Verdammt, ich bin ihr Mann, eigentlich sollte sie vor mir mit gesenktem Haupt stehen und Jawohl sagen, wenn ich etwas sage! – Ich weiß, das wird sie nie tun, das erwarte ich ja auch gar nicht von ihr, aber… es kann doch nicht sein, dass sie denkt, sie könnte mir auf der Nase herum tanzen, wie sie Lust hat! Sie sagt, ich hätte keine Ahnung von der Erziehung unseres Kindes, ja, sie lässt mich ja nicht!“

„Nein, du bist nie da, das ist es,“ sagte Kiuk verblüfft. Tabari fuhr wütend herum und mit einem Keuchen wich der Jüngere einem im Jähzorn seines Bruders auf ihn geschleuderten Windzauber aus, der ihn sauber skalpiert hätte. Er hatte Tabari nie so wütend erlebt… er konnte ja verstehen, dass es frustrierte, wenn die eigene Frau einem zwei Monde lang stur den Rücken kehrte und ihn ignorierte, aber was konnte er denn dafür? „J-jetzt hackt es aber, bist du verrückt?!“

Ich bin nie da?!“ empörte Tabari sich und raufte sich die Haare, „Du bist gut, du Sack! Ich habe zu tun, ich trage Verantwortung, während du den ganzen Tag hier Tee trinken kannst, wenn nicht gerade irgendwas mit dem TO ist! Und ich kümmere mich sehr wohl und sehr gerne um meinen Sohn, wenn meine durchgeknallte Frau nicht gerade wie eine Glucke auf ihrem Küken sitzt und aufpasst, dass ihm ja kein Härchen gekrümmt wird!“

„Aber, jetzt mal ruhig, Nalani hatte doch recht!“ sagte Kiuk, „Ich meine… sie hat doch seine Magie unter Kontrolle, darum ging es doch, oder?“

„Pff, vielleicht hat sie das, ich will nicht wissen, was sie ihm ins Frühstück mischt!“ Der Bruder sah ihn erschrocken an und Tabari schnaufte. „Denkst du, ich wäre blind?! Es gibt Flüche, die sowas blocken, und es gibt irgendwelchen Heilerkram dafür, sie wird ihn wohl kaum verflucht haben, das hätte ihn umgebracht!“

„Wenn sie ihm irgendwas gibt, nun… Puran geht es doch gut… solange seine Gesundheit nicht darunter leidet – ich meine, wenn sie es nicht täte, wer weiß, was sonst noch für Unfälle passiert wären.“

„Tss, ja, stattdessen wird er jetzt von den anderen Jungen alle Nase lang verprügelt, ist das etwa besser?“

„Besser als wenn er andere aus Versehen umbringt? Ähm, ja.“

„Das ist doch alles ein solches Heckmeck!“ meckerte der Blonde und ging dabei wütend im Zimmer auf und ab, „Was musste sie ihn auch unbedingt auf eine Schule schicken? Die Leute hassen uns, vor allem in dem Rest von Rodril natürlich, aber auch hier in den umliegenden Dörfern, hat Nalani erwartet, dass sie auf das Kind Rücksicht nehmen? Das sind einfache Leute, die können nicht so weit denken, dass Puran ja wohl nichts mit Vaters Schweinkram zu tun hat! Für die Bauern sind wir Lyras eben Lyras, wir sind böse, einer wie der andere, und ich kann ihnen nicht verübeln, dass sie so denken… wir werden noch Jahre im Dreck kriechen müssen, bis die uns vielleicht vergeben… falls überhaupt.“ Jetzt wurde er ruhiger und blieb stehen, den Kopf gesenkt. Kiuk schwieg. „Gehen wir,“ murmelte er dann, ehe er sich an seinem Bruder vorbei aus dem Zimmer drängte und zur Treppe ging, „Die bringen mich um, wenn ich wieder zu spät komme.“
 

Nombohs Sohn Meoran war endlich mal fleißig genug gewesen, die Geisterjägerprüfung zu machen. Zu deren zweitem Teil versammelten sich wie immer alle Geisterjäger in Tuhuli, um Meorans Kampfgegner auszulosen. Die Runde war sehr viel kleiner als bei Nalanis Prüfung, da nicht das ganze Volk anwesend war, aber größten Teils die Familien der Geisterjäger und einige andere Bekannte aus Tuhuli (Keishas gackernde Tee-Freundinnen zum Beispiel). Kiuk und Sukutai ließen sich die Gelegenheit natürlich nicht entgehen, das Schauspiel auch zu betrachten. Das Wetter war nicht so furchtbar wie bei Nalanis Prüfung, aber es dämmerte schon fast, als endlich alle da waren.

„Streichhölzer!“ brüllte Zoras quer durch die Leute, „Verdammt, bringt mir doch mal einer von euch Vollpfeifen Streichhölzer!“

„Du bist gut, ich muss doch den Tee machen!“ empörte sich Keisha zurück, während die übrigen Geisterjäger die Augen verdrehten über das übliche Chaos.

„Oh ja, Tee,“ machte Salihah monoton und wurde ignoriert.

„Was ist mit Enola?“ wollte Hakopa Kohdar zwischendurch von Nomboh wissen, weil Enolas Vater Zoras mit den nicht vorhandenen Streichhölzern beschäftigt war, „Wieso ist sie nicht gekommen aus Sinami?“

„Ihr Mann kann da nicht weg und die Reise mit der kleinen Tochter ist offenbar nicht so das Wahre,“ erzählte der Braunhaarige stirnrunzelnd, „Zoras fährt oft rüber und besucht die Familie, aber sie waren seit… Nalanis Prüfung nicht hier.“

„Wie schade.“

In dem Moment hatte Meorans kleine Verlobte Ruja Streichhölzer gebracht.

„Macht schon, zieht eins,“ seufzte Zoras Chimalis, der dem fast zwölfjährigen Mädchen die Streichhölzer abgenommen hatte.

„Hast du auch eins abgebrochen?“

„Sehr komisch, Tare, ich bin nicht blöd.“ So zogen alle ihr Holz und der mehr oder minder glückliche Gewinner war Barak Kohdar.

„Dein Buch lässt du hier, du kannst später weiter lesen,“ machte sein Vater darauf zunächst, worauf der ältere Sohn das Buch, das er in der Hand getragen hatte, seiner Frau Pinhi gab.

„Na, wird wohl Zeit, dass ich sowas auch mal mache,“ bemerkte er, bevor er theatralisch mit dem Finger auf Meoran zeigte. „Zeige keine Gnade! Von mir hast du keine zu erwarten, sage ich!“ Sein Sandkastenfreund Meoran lachte dämlich.

„Pass lieber auf deine Zunge auf, wäre doch ein Jammer für deine Frau, würde ich sie dir abschneiden müssen,“ grinste er ebenso theatralisch, und Pinhi Kohdar, Baraks Frau, lachte nervös.

„Ähm, Jungs, äh, tut euch nicht weh, mein Kind soll keinen verkrüppelten Vater haben!“
 

Barak Kohdars kleine Tochter, inzwischen ein Jahr alt, musste viel mehr aufpassen, nicht selbst als Krüppel zu enden. Das kleine Mädchen heulte unglücklich, weil die kleine Alona es sehr lustig fand, sie immer wieder in den Sand zu schubsen, in dem sie spielten. Für die Kinder war das Schauspiel nicht so spannend; das hieß, für die Kleinen nicht, Puran hätte gern mehr zugesehen, aber er war dazu verdammt worden, auf seine Cousine aufzupassen.

„Hör damit auf!“ empörte er sich jetzt und hielt Alona davon ab, das kleine, blonde Mädchen mit dem Mützchen auf dem Kopf weiter zu schubsen. „Das tut ihr weh, guck, sie weint!“

„Das macht lustig Plumps, wenn sie umfällt,“ johlte Alona schadenfroh. Ihr Cousin schlug ihr empört, aber sanft auf den Hinterkopf.

„Das ist nicht lustig!“ Jetzt fing Alona auch zu heulen an, und als der Junge genervt die Hände in den Himmel rang, kam Tante Sukutai.

„Schäm dich!“ schimpfte sie ihn, „Was hast du mit den Mädchen gemacht?! So benimmt sich aber kein anständiger Mann, die Mädchen zu schlagen, dass sie weinen.“

„Ich?! A-Alona hat die Kleine geschubst, ich hab gesagt, sie soll aufhören, da hat sie zu heulen angefangen, Tante!“

„Ach, pfui,“ seufzte Sukutai, und der Junge schmollte gekränkt. Pfui sagte sie zu ihm! Wenn das seine Mutter hörte! Er sah sich nach ihr um, aber Nalani schien gerade damit beschäftigt, bei den anderen Geisterjägern herum zu stehen. Da tippte Tante Sukutai ihn vorsichtig mit dem Fuß an, inzwischen die beiden heulenden Mädchen auf dem Arm. „Sei nicht garstig,“ sagte sie, „Aber hau die Mädchen nicht. Komm mit, wir gehen und schauen uns die Prüfung an, was meinst du?“ Das klang doch schon besser.
 

Tabari hatte keine Zeit. Für gewöhnlich war der Herr der Geister bei so einer Prüfung der Schiedsrichter; nur dann nicht, wenn einer der Beteiligten aus seiner Familie stammte, dann bestand schließlich die Gefahr, dass er parteiisch wurde.

So stand der Blonde dann noch immer gereizt von dem Ärger, den er mit seiner Frau hatte, neben dieser und den anderen und sah mehr oder minder aufmerksam zu, wie die beiden Jüngeren vor ihnen kämpften.

„Mach deine Arbeit ordentlich,“ brummte Nalani neben ihm und verschränkte die Arme, „Heute kann deine Mutter dir nicht vorsagen, was du zu tun hast.“

„Wie gehässig,“ zischte er grimmig, „Was denn, wo ist denn dein Küken, Frau Glucke? Pass auf, Sukutai könnte ihm etwas antun…“ Sie trat nach ihm.

„Reiß dich zusammen, du Kind!“

„Seid ihr noch ganz gar?“ schnaubte Kiuk hinter ihnen, „Reißt euch beide zusammen!“ Doch Tabari platzte plötzlich der Kragen. Ungeachtet seiner Aufgabe fuhr er herum und packte seine Frau wutentbrannt unsanft am Ärmel.

„Verdammt, du kotzt mich an!“ empörte er sich, „Ich habe die Schnauze gestrichen voll, Nalani, ich will das jetzt klären, jetzt auf der Stelle, damit wir uns verdammt noch mal wieder wie normale Menschen ansehen können! Und glaub ja nicht, dass ich vor dir kriechen werde!“

„Du hast eine Aufgabe, Tabari!“ schnappte sie und riss sich los, „Das muss bis später warten!“

„Nein, das muss jetzt sein, sonst drehe ich durch und lege aus Versehen Chimalis‘ Anwesen in Stücke!“ Sie schnaubte, als er sie erneut packte und mit sich durch die Leute und weg zog. „Minar, übernimm bitte den Schiedsrichter-Posten, während ich weg bin, aber ich muss echt kotzen, wenn wir das nicht jetzt sofort regeln!“ Das waren die Anweisungen des Herrn der Geister, und Minar Emo warf einen völlig verwirrten Blick über die Schulter und ihm nach. Aber ehe er hätte protestieren können, war Tabari mit Nalani in Richtung Chimalis-Anwesen verschwunden, um im Haus zu diskutieren.

„Na toll,“ kommentierte der Schwarzhaarige das dann seufzend und wandte sich nach vorne, um Tabaris Arbeit zu übernehmen.
 

Nalani riss sich wütend von ihrem Mann los, fuhr herum und schlug ihm ins Gesicht.

„Wie kannst du es wagen, mich so zu entführen?!“ fauchte sie, während er sich kurz über die blutende Lippe fuhr und dann die Tür des kleinen Raums hinter sich zuschob. „Und deine Arbeit abzuschieben, wohlgemerkt, du bist doch nicht mehr ganz-…“ Er unterbrach sie, indem er plötzlich eine Vase von der Kommode neben sich schnappte und sie Nalani wutentbrannt zu Füßen warf, dass es laut schepperte. Nalani keuchte und starrte entgeistert auf die Scherben. „Bist du wahnsinnig?! D-die gehört nicht uns!“

„Das ist mir vollkommen egal!“ brüllte er sie an, „Ich bin es leid, Nalani, ich bin es einfach nur leid, was ist dein verdammtes, beschissenes Problem?! Himmel, ich kotze echt gleich, ich bin stinksauer, seit Monden siehst du mich nicht mehr an und machst hier einen derartigen Firlefanz!“ Er stampfte wütend durch den Raum und warf dabei im Vorbei rauschen noch zwei Vasen zu Boden.

„Jetzt ist es aber genug!“ schrie sie und wirbelte herum, „Du hast mich mit deinem Vater gleichgesetzt, schon vergessen?! Und ich bin es auch leid, dein ewiges Irgendwie, dass du alles machst, wie es dir gerade in den Kram passt – jetzt ja schon wieder! Du lässt Minar deine Arbeit machen, du lässt deine Mutter deine Arbeit machen, machst du überhaupt mal etwas selber, Herr Tabari?!“

„Wozu sollte ich noch mehr machen, ich habe ja eine rundum perfekte Gemahlin, die alles besser weiß, am besten übernimmst du alle meine Arbeiten, weil ich es dir ja nie recht machen kann, Königin Nalani!“ Sie spuckte auf den Boden und trat Scherben nach ihm.

„Du randalierst hier im Haus unserer Freunde, weil du den Verstand verloren hast!“

„Du spuckst auf den Boden!“ konterte er wütend, „Deine Freunde, was habe ich denn mit Chimalis‘ zu tun?!“

„Ah, so ist das, deine Kollegen sind dir genauso Schnuppe wie deine Arbeit und deine Familie!“ Sie hob Scherben vom Boden auf und warf sie wütend nach ihm, als er herum schnellte, aus dem Regal neben sich zwei Bücher griff und sie wutentbrannt nach seiner Frau schleuderte. Polternd flogen die Bücher zu Boden und schlugen Dellen in die Wände. Tabari fluchte ungehalten, als sie zu ihm herüber kam und nach ihm zu schlagen versuchte. Er wollte ausweichen, aber sein schwarzer Umhang hatte sich am Bord des Regals verfangen, so schlug seine Frau ihm erst wütend ins Gesicht und dann riss der Umhang mit einem unschönen Geräusch, als er durch den Schlag rückwärts taumelte.

Nalani keuchte leicht außer Atem und zog ihre Faust zurück, ehe sie ärgerlich ihre langen Haare zurück warf.

„Ich kehre dir nicht den Rücken, weil du mich mit Kelar verglichen hast,“ schnaubte sie, „Sondern, weil mich dein Irgendwie nervt, du kannst nicht alles einfach so machen, Tabari! So funktioniert das Leben nicht! Und das siehst du nicht ein, das nervt mich an dir!“

Nein… es nervte sie, aber sie bewunderte es gleichzeitig, denn sie konnte so nicht denken und erst recht nicht leben. Wie machte der Kerl das? Sie ertränkte ihren Neid in Zorn.

„Du dachtest wohl, du könntest dich auch irgendwie mit mir vertragen, was?! Aber so wird das nichts, Tabari Lyra!“ Sie schlug erneut nach ihm, aber dieses Mal packte er ihre geballte Faust rechtzeitig. Sie starrte ihn an, als er sie so mühelos festhielt, und ehe sie eine Chance hatte, sich zu wehren, hatte er sie plötzlich an den Schultern herum gerissen und sie gegen die Wand geschmettert, sie dabei festhaltend. Sie keuchte, als seine grünen Augen ihre blauen fanden und sie einander kurz feindselig ansahen.

Sie war unfähig, sich zu bewegen, als er sie festhielt und ihre Oberarme zu zerdrücken schien.

„Ich sage nicht… dass man alles irgendwie machen kann,“ sagte er kaltherzig, und bei der fremden Tonlage in seiner Stimme erstarrte sie. „Aber du kannst… auch nicht alles kontrollieren, Nalani. Du magst die Königin der Geisterjäger sein… du bist klug, wunderschön und so kaltblütig wie der Winter hier oben…“ Dies murmelnd ließ er ihren einen Arm los und strich ihr flüchtig über die erhitzte Wange – das bereute er sofort, als sie mit dem freien Arm die Chance ergriff, ihn erneut zu schlagen. Er stolperte zurück und keuchte entsetzt, ehe sie sich auf ihn stürzte und ihn umwarf zu Boden. Zum Glück fielen sie nicht in die Scherben, als sie polternd zu Boden stürzten, und Tabari vergeudete keinen Moment, sondern packte seine auf ihm liegende Frau und rollte sich mit ihr herum, sie auf den Boden pinnend. Als Nalani herrisch das Kinn reckte, spürte sie plötzlich eine kalte Klinge an ihrer Kehle, und sie erstarrte augenblicklich.

„Das wagst du nicht…“ keuchte sie tonlos und starrte hinauf in das todernste Gesicht ihres hübschen Mannes, der ihr die klinge eines Jagdmessers an den Hals hielt, das er in der Tasche gehabt hatte.

„Ich war noch nicht fertig,“ sagte er kalt und drückte ihre Handgelenke schmerzhaft über ihrem Kopf zusammen. Sie zischte und versuchte nicht, sich zu wehren… sie wusste, dass er es nicht tun würde. So ein Mensch war er nicht. Aber provozieren sollte sie ihn besser nicht.

„Was willst du, Tabari?“ brummte sie dann ebenso kalt wie er zuvor und stierte ihn ärgerlich aus den blauen Augen an. Eine Weile lag er so auf ihr mit dem Messer an ihrem Hals und beide lauschten nur ihrem eigenen unregelmäßigen Atmen und ihrem rauschenden Blut im Kopf.

„Du magst all das sein, Nalani,“ zischte er zurück, „Aber du bist nicht unfehlbar!“
 

Sie starrte ihn an – aber ehe sie etwas hätte sagen können, verschlossen seine Lippen ihren Mund. Mit einem Klirren warf er das Messer weg zu Boden und ergriff energisch ihre beiden Wangen, damit sie das Gesicht nicht wegdrehen konnte…

Nalani wollte sich nicht wegdrehen. Sie war unfähig, sich zu rühren, alles, was sie spürte, waren seine warmen Lippen auf ihren, die sie sehr lange nicht auf diese Weise gespürt hatte… in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie es vermisst hatte.

Ihn vermisst hatte…

Mit einem erhitzten Stöhnen erwiderte sie plötzlich seinen innigen Kuss, zog seine Hände von ihren Wangen und schlang energisch die Arme um seinen Hals. Verblüfft über ihre Reaktion löste er sich von ihr und sah sie keuchend an.

„Dann gibst du mir also einmal recht?“ deutete er ihr Verhalten verwundert und richtete sich auf, sie schnellte hoch und warf ihn wieder zur Seite um zu Boden, um sich auf ihn zu rollen.

„Ich habe nie geglaubt, unfehlbar zu sein,“ schnarrte sie, als er unter ihr lag und heftig atmend nach ihren runden Hüften griff. Als seine Hände zu ihrem Hintern fuhren, schlug sie seine Finger. „Ich versuche doch mit Kontrolle nur, das Land zu schützen, das dir egal ist!“

„Das weiß ich, und das Land ist mir nicht egal,“ machte er, „Manche Dinge kannst du nicht in deine Hand bringen, und wenn doch, zahlst du dafür einen hohen Preis. Es verletzt die Regeln von Mutter Erde und Vater Himmel, sie haben nicht vorgesehen, dass der Mensch alles kontrollieren kann. Deswegen haben sie ja meinen Vater verflucht und verwunschen, er hat sich zu viel rausgenommen ihnen gegenüber!“

„Sehe ich so aus, als würde ich den Mächten der Schöpfung befehlen wollen, zu kriechen?!“ entrüstete sie sich und schlug seine Hände abermals von ihrem Hintern, als sie sich keuchend über ihn beugte und grimmig zusah, wie sein Blick unweigerlich zum Ausschnitt ihres Kleides wanderte. Sie sah zu, wie seine Wangen sich leicht röteten ob eines Schwalls plötzlicher Hitze, der über ihn kam und ließ ihn gewähren, als seine Hände zum dritten Mal nach ihrem Rock griffen. Die Frau hob leicht das Gesicht, ehe sie sich unerwartet auf seinen Unterkörper setzte und ungeduldig begann, an seinem Hemd zu reißen.

„Schließen wir einen Kompromiss?“ stöhnte er nervös, „Entschuldige dich, ich vergebe dir, sei nicht so verbissen und ich passe mehr auf das auf, was ich sage und tue. Einverstanden… Nalani?“ Sie schnappte nach Luft und drückte sich unwillkürlich erregt gegen ihn, als er ihren Hintern und ihre Hüften streichelte und dann auf ihrem Rücken anfing, ihr Kleid aufzuknöpfen. Sie sah ihm ins Gesicht, als er den Kopf vom Boden reckte und ihre Kehle küsste. „Wenn nicht… muss ich dir wohl wehtun…“ murmelte er dumpf, „Ich halte das keinen Moment länger aus, wenn du nicht sofort wieder meine Frau bist…“ Wie zur Bestätigung seiner Worte zog er ihr energisch das Kleid von den Schultern, als es offen war, und sie riss ihm in ihrem Eifer einen Knopf vom Hemd, um den Stoff ebenfalls von seiner Brust reißen zu können.

„Einverstanden!“ stöhnte sie, ehe sie sich zu ihm herab beugte und ihn wild küsste. Er erwiderte ihren Kuss und schälte sich aus dem erneut zerrissenen Hemd, bevor er ihr Kleid über ihren Hintern und an ihren Beinen hinunter schob. Während sie den Kuss intensivierten, rollte er sich mit ihr erneut herum, dass sie wieder auf dem Boden aufschlug und er sich auf sie legte. „Tabari!“ fuhr sie ihn, während sie sich unsanft die Haarklammern aus der Frisur riss und durch das Zimmer warf, dass es klirrte.

„Du hast dich noch nicht für dein störrisches Verhalten entschuldigt,“ erinnerte er sie grantig und sie starrte ihn an, als er sich über sie hockte und an ihrem Korsett zu schnüren begann. Japsend bog sie sich etwas durch und lehnte stöhnend den Kopf in den Nacken, als er das Stück halb offen hatte und mit der Hand hinein glitt, um ihre nackten Brüste darunter zu berühren. „Ich kann dich zwingen, Nalani, du solltest… mich nicht hintergehen.“ Er war todernst, als er sprach, trotz aller Erregung, und keuchend hob sie den Kopf und sah ihn wieder an. Dann sprach sie.

„Vergib mir, Tabari, mein Liebster.“
 

Er riss ihr das Korsett vom Leib und warf es hinter sich, ehe er sie hoch zerrte, bis sie beide wieder saßen und er die Arme um sie schlang, sie verlangend küssend. Sie stöhnte und fuhr mit den Händen durch seine ohnehin zerzausten blonden Haare, als er nach ihrer Unterwäsche angelte.

„Ach, ungeduldig?!“ schnaubte er, als sie ihm aus Versehen an den Haaren zog und begann, seinen Hals zu küssen, ihre Hände fuhren an ihm hinunter zu seiner Hose. „Und du hast mich Monde lang hingehalten, du grausame Frau…“ Er stieß sie wieder zu Boden und legte sich auf sie, worauf sie stöhnend die Beine um seinen Rumpf schlang.

„Das ist der Stolz einer Kandaya, du Pfeife!“ zischte sie, „Ich bin ja nicht notgeil.“

„Natürlich nicht,“ sagte er sarkastisch, und sie riss keuchend die Augen auf bei der Hitze, die sie durchflutete wie flüssiges Feuer, als seine Hände ihren nackten Körper berührten, jeden Zoll ihrer Haut in Flammen zu setzen schienen. Zitternd schloss sie die Augen.

„So wenig wie deine Mutter, genau.“

Mit diesen Worten gab sie sich der Hitze hin.
 

Die wenigen Zuschauer des Prüfungskampfes fuhren zurück, als auf dem Schlachtfeld, wie Tare Kohdar es theatralisch nannte, während er seinen Freund Meoran anfeuerte, seinen Bruder zu verhauen, eine gewaltige Explosion entstand und der halbe Platz mit einem Krachen aus dem Himmel in Flammen aufging.

„Du liebe Zeit!“ rief Keisha hysterisch und vergoss vor Schreck ihren Tee. Alona, die neugierig ganz vorn gestanden hatte, um besser zu sehen, schrie panisch auf, weil sie sich vor Feuer fürchtete, und klammerte sich an das nächste Bein, das sie erwischte.

„Na, bei mir bist du falsch, ich bin nicht Papa,“ machte Tare Kohdar verblüfft, als das Mädchen an seinem Hosenbein klebte und jetzt zu ihm hinauf sah. Ja, das wurde ihr auch gerade klar, dass das nicht ihr Vater war. Sie fing an zu heulen. Da die Eltern des Kindes offenbar nicht mitbekommen hatten, dass das Mädchen heulte, nahm Tare es barmherzig wie er war auf den Arm und tätschelte ihm den Kopf. „Nun weine nicht. Wird schon wieder. Öh… willst du einen Keks…?“

Minar Emo war damit beschäftigt, aufzupassen, was geschah, schließlich war er jetzt mal wieder Schiedsrichter. Das war gar nicht so leicht, weil ihn alle von allen Seiten vollquatschten. Auf der einen Seite hockte sein Enkel Henac, der völlig enthusiastisch erzählte, wie toll und aufregend das alles wäre.

„Großvater! Hast du das eben gesehen? Du meine Güte, wenn ich mal Geisterjäger werde, kann ich sicher noch tollere Sachen, nicht? Nicht?“

„Sicherlich, sicherlich…“

„Minar, sag mal!“ fuhr ihm von der anderen Seite Zoras Chimalis über den Mund, der plötzlich neben ihm stand und ihn energisch antippte, „Was machst du hier eigentlich? Ich hätte dich gerne mal gesprochen, mich nervt da etwas extremst seit einiger Zeit!“

„Ich kann gerade nicht!“ empörte Minar Emo sich, „Ich bin Schiedsrichter, wir reden nachher.“ Zoras sah ihn an.

„Was, wieso – häh? Wo ist Tabari?“

„Mit seiner Frau reden, sie sind ins Haus gegangen!“

„Verdammt, musste das jetzt sein? Wie lange sind sie weg?“

„Großvater, sieh dir das mal an!“

„Henac, verdammt – argh!“ Minar Emo raufte sich überfordert die schwarzen Haare, die allmählich ergrauten, „Sie sind, äh, schon länger weg, keine Ahnung.“ Der Jüngere schnaubte.

„Ich schicke mal das Hausmädchen nachsehen, die sollen hier mal eintrudeln und sich nicht drücken!“
 

Die Welt brannte. Nalani nahm es wahr und starrte in die Flammen, während sie mitten drin saß, den Kopf in den Nacken geworfen, aber sie unternahm nichts dagegen. Sollte die Welt doch brennen… so sehr sie es auch versuchte, sie konnte der Flammen um sie herum und in ihr nicht Herrin werden. Sie spürte Tabaris Hände auf ihrem Körper, wie sie das Feuer schürten, und keuchend presste sie sich benommen von der stickigen Hitze gegen ihn, erhob sich dann wieder und drückte sich erneut gegen ihn. Als sie den Kopf wieder herunter riss und ihr schwindelte von der schnellen Bewegung, starrte sie mit einen Blick auf ihn herunter, der dasselbe, ungezähmte Feuer beherbergte wie der Rest ihres Körpers. Sie sah sein Gesicht und dass er den Mund bewegte, aber sie konnte seine Stimme nicht mehr hören. Alles, was sie wahrnahm, war das Rauschen des erhitzten Blutes in ihrem Kopf und das Knistern des Feuers.

Dann sprachen die Geister des Feuers mit ihr.

„Das Himmelsfeuer wird zurückkehren… und es wird wütender sein als das vergangene. Hütet euch vor dem Schatten über dem Norden.“

„Schatten…?“ keuchte Nalani und riss die Augen weit auf, benebelt vom Feuer und dem Verlangen in ihrem Inneren, „Ich… beherrsche hier die Schatten.“

Tabari fuhr vom Boden auf, bis er saß, seine Frau nackt auf seinem Schoß. Sie lehnte stöhnend den Kopf wieder in den Nacken und umschlang mit den Armen seinen Nacken, ihre schwarzen Haare kitzelten seine Haut. Mit einem Mal stieß sie sich so heftig gegen ihn, dass er fast wieder umgekippt wäre, und japsend starrte er sie an, als sie unregelmäßig und heftig atmete.

„Feuer, Tabari…“ stöhnte sie, „Es ist überall, es kommt… auf uns zu…“ Als sie den Kopf senkte und ihm wieder ins Gesicht blickte, hatten sich ihre Augen verändert. Er starrte zu ihr hinauf, als sie sich an seinen Schultern festhielt und heftig keuchend und mit in Trance weit aufgerissenen Augen wisperte: „Es wird Tod geben…“

Tabari hörte ihre Worte nicht. Als sie den Kopf zu seinem Gesicht senkte, küsste er sie verlangend auf die Lippen. Keuchend kippten sie wieder zu Boden und die Frau löste sich japsend aus dem heftigen Kuss, dabei die Haare zurück werfend. Und plötzlich konnte sie das Feuer leibhaftig sehen vor ihren inneren Augen, es fiel wie flammender Regen aus einem pechschwarzen, zornigen Himmel, hinter dem eine blutrote Sonne empor stieg und immer größer wurde, als würde sie das Land in Feuer ertränken wollen. Stimmen und ein schrilles Kreischen rauschten ihr durch den Kopf, ehe eine Flut aus unzusammenhängenden Bruchstücken von Bildern über sie herein brach und sie schreiend die Augen zu kniff, um sie zu verdrängen. In diesem Moment explodierten nicht nur die Bilder in ihrem Kopf, sondern auch das Feuer im Raum mit einem Schlag. Sie spürte Tabaris Hände, die sie festhielten, als sie drohte, zur Seite zu kippen. In ihrem Kopf rauschte und pochte es, sobald sie die Augen öffnete, und sie schloss sie wieder… und als sie sie wieder öffnete, merkte sie, dass das Pochen kein Traum war.

„Ähm, v-verzeiht, Herr… und Herrin, ist, ähm, alles in Ordnung?“ kam die verschüchterte Stimme von Chimalis‘ Hausmädchen durch die Tür, gegen die es geklopft hatte, und Tabari ließ stöhnend den Kopf auf den Boden sinken. Na, hatte die Glück, dass sie keinen Moment früher gekommen war, dann hätte er sie vermutlich erschlagen…

„Alles in Ordnung,“ schnaubte er, „Du kannst gehen.“

„Braucht Ihr, äh… Hilfe, oder so…? Mein Herr verlangt nach Euch, Ihr werdet vermisst bei der Prüfung…“

„Wir brauchen keine Hilfe, danke!“ machte Nalani entsetzt, „Wir sind gleich zurück! Sag das Zoras und, ähm… für den Schaden kommen wir auf…“
 

Keisha war empört.

„Die Vasen meiner Mutter!“ zeterte sie und begann, zu heulen, „Wie grauenhaft, das waren uralte Erbstücke, du elender Wüstling, ihr… ihr… Barbarenhorde, ihr verfluchten…!“ So schimpfte und heulte sie, während Tabari unterwürfig vor ihren Füßen am Boden lag und sie um Vergebung für die kaputten Teile bat, was sie gar nicht zu hören schien.

„Ja, ja, uralte Erbstücke, deine Mutter war wirklich uralt,“ machte Zoras unverblümt. Die Prüfung war beendet und die Mischpoke versammelte sich jetzt im Anwesen, um Meorans Sieg und seine Aufnahme in den rat gebührend zu feiern.

Zoras‘ wie immer sarkastischer Kommentar machte alles schlimmer. Keisha griff wütend eine Tonschale von der Kommode neben sich und warf sie nach ihm, verfehlte ihn aber und traf die Wand, an der die Schale zerbrach.

„Wie redest du von meiner Mutter?!“

„Sie sah hundert Jahre älter aus als sie war, und weißt du, woher das kommt, Keisha? Weil sie sich immer künstlich aufgeregt hat – hey, sind das echte Falten oder ist das das Licht…?“ Keisha schnaubte wütend und Nomboh hielt sie beschwichtigend fest.

„Jemine!“ seufzte er, „Zoras, hör auf, meine Frau zu ärgern, und Tabari, steh wieder auf, es ist schon gut! Die Vasen sind hin und damit hat sich das. Du könntest dich lieber mal um Meoran und Barak kümmern, Keisha, oder sollen die so zerfetzt an den Tisch?“

„Ah, lass nur, Vati,“ seufzte Meoran, „Mein Arm ist komplett verbrannt und ich bin auf einem Auge blind, aber darauf nimmt hier ja keiner Rücksicht, geht schon in Ordnung.“

„Was?!“ keifte Keisha, „Wieso blind?“

„Mein Freund hat mir Feuer ins Gesicht gespuckt, ist dir das entgangen?“

„Himmel und Erde!“ schrie die Mutter entgeistert.

Während des regen Tohuwabohus im Anwesen nahm Nalani ihre Schwiegermutter zur Seite. Was immer es gewesen war, das sie gesehen hatte, es hatte sie beunruhigt. Salihah sagte lange Zeit nichts, als sie von der eigenartigen Vision zu hören bekam.

„Ich habe den flammenden Regen auch schon einmal gesehen,“ gestand sie, „Ich kann mir nicht erklären was er symbolisieren soll, Nalani. Ich höre viele bösartige Worte und Stimmen in meinen Träumen… mich beunruhigt es auch.“

„Feuer, da war überall Feuer, die ganze Welt war ein einziges Feuer!“ machte Nalani ernst, „Vielleicht ist es das Ende der Welt… was ist, wenn…“ Sie machte eine Pause, ehe sie weiter sprach, dabei ihrem gegenüber fest ins Gesicht sehend. „Was ist, wenn wir Kelars Körper und Geist nicht genug beseitigt haben?“

Salihah sah sie an und zog eine Braue hoch.

„Du meinst so etwas wie eine Rückkehr?“ Sie lachte kalt. „Sei nicht albern, Nalani… würde ich gerne sagen, aber ich weiß es nicht besser.“ Sie blickte zum Fenster. Draußen war es stockfinster geworden. Es waren üble Zeichen. Zuerst hatte sie die schlechten Zeichen und die nicht vorhandenen Veränderungen ihres Zustands nach Kelars Tod auf Paranoia geschoben oder auf das verfluchte Laudanum. Aber wenn Nalani auch beunruhigt war, war das ein Grund zur Sorge. Und es war nicht nur Nalani… die anderen Geisterjäger waren auch nicht zufrieden, und das Schlimmste war, niemand konnte erklären, woran diese allgemeine Unruhe der Geister lag. Wenn es wirklich an Kelar lag? Kelar war tot und seit er tot war, war nichts passiert, was das Land in Panik versetzt hätte.

„Was… sollen wir tun?“ flüsterte die Schwiegertochter gedämpft, „Sieh mich an… wenn du es nicht weißt, Seherin, dann weiß es niemand.“ Salihah reagierte anders, als sie erwartet hätte. Sie packte sie plötzlich unsanft am Handgelenk und zerrte sie näher an sich heran, bis sie der jüngeren Frau mit kaltblütigen Augen ins Gesicht starrte.

„Sag… nie so etwas, Nalani,“ sagte sie dabei, und ihre Stimme war rau und kratzig wie die einer alten Greisin. „Gib nicht immer… mir die Verantwortung für die ganze Welt! Meine Schultern halten das nicht mehr lange aus, ich habe… es gesehen… in meinen Träumen. Nalani… bald wird diese Verantwortung… auf dich übergehen. Du musst nicht mich nach dem Weg fragen… sondern dich selbst.“ Dann war der merkwürdige, fremdartige Moment ganz plötzlich vorbei, als sie Nalani losließ und stattdessen die Hand hob, um der Schwiegertochter zärtlich über das schöne Gesicht zu streicheln. Sie zeigte ein trauriges Lächeln, so fern, als läge sie im Sterben und wollte ein letztes Mal lächeln.

„Ich bemitleide dich so sehr, meine Tochter.“
 

Alona schlief bereits auf dem Schoß ihrer Mutter, als die Familie in der Nacht mit der Kutsche zurück zum Schloss fuhr. Der Weg von Tuhuli war ein gutes Ende zu fahren. Für die Kinder war es durchaus spät geworden…

Sie sprachen nicht. Während Sukutai mit dem Kopf an Kiuks Schulter lehnte und ebenfalls schon quasi schlief, sahen die anderen entweder ins Nichts oder aus dem Fenster. Salihah gab hin und wieder ein unheimliches Kichern von sich, was alle auf zu viel Wein schoben und nicht weiter beachteten.

„Schlaf ruhig auch, Puranchen,“ sagte Tabari zu seinem Sohn, neben dem er saß. Das Kind starrte gedankenverloren aus dem Fenster und beobachtete die Dunkelheit draußen, die vorbei rauschte.

„Ich kann nicht, Vati,“ entgegnete sein Söhnchen dumpf. Tabari sah ihn an, die anderen rührten sich nicht. Nicht einmal Nalani. „Wenn ich schlafe, kehrt der bösartige Traum zurück… ich fürchte mich vor den geistern, die im Traum mit mir reden, Vati.“ Tabari seufzte.

„Was sagen sie denn?“

„Seltsame Dinge, die… ich nicht verstehe,“ nuschelte der Kleine betreten, weiterhin aus dem Fenster sehend. Tabari tätschelte ihm behutsam den Kopf.

„Eines Tages, mein Sohn, wirst du… sie verstehen.“

„Und wenn ich das gar nicht will?“

„Du wirst,“ war Tabaris Entgegnung, auf die der Junge schwieg. Er lehnte den Kopf gegen den Rahmen des Fensters und schloss müde die Augen.

Nicht schlafen… versuchte er tapfer, sich zu befehlen. Nicht… es wird nur furchtbar sein.

Sein Körper hörte aber nicht auf ihn. In seinem Traum sah er wieder den Geist des toten Rehs, der vor ihm davon lief. Er sah sich selbst rennen, in seiner Hand lag ein goldener Speer. Er kannte die Waffe, er hatte sie schon gesehen… die Waffe seines schrecklichen Großvaters. Über ihm brannte der Himmel, als er durch den Wald rannte und Jagd machte auf das Reh. Doch egal, wie sehr er rannte, das Reh war zu schnell für ihn, und als er den Speer warf, verfehlte er es um Meilen, so schien es… dann kam plötzlich aus dem brennenden Gestrüpp ein weiterer Speer, der das Reh traf und zu Boden streckte, kurz nach dem Speer sprang Ram Derran hervor, der Schwarzhaarige aus seiner Klasse. Puran keuchte und blieb vor Schreck stehen, als der ältere Junge den Speer aus dem blutigen Kadaver zerrte und sich mit einem grauenhaften, hasserfüllten Blick zu ihm umdrehte.

„Das Reh gehört mir!“ zischte er, „Du kannst es mir… nicht wegnehmen, du Räuber! Du wirst für das bezahlen, was ihr verbrochen habt… Lügner!“

„Ich habe dir nichts getan!“ versuchte er zu schreien, aber aus seinen Lungen kam keine Luft und aus seiner Kehle kein Ton. Puran keuchte. Ram packte das Reh.

„Fall tot um,“ zischte er, „Verwöhntes Bengelchen, das zu dumm ist zum Jagen. Und ihr Adeligen nennt euch die Stärkeren? Dass ich… nicht lache!“

Er verschwand im Feuer, allein sein garstiger Blick brannte sich fest in Purans Gedächtnis, und er sah ihn noch immer, als er plötzlich wach gerüttelt wurde. Erschrocken fuhr er hoch und keuchte, als er mit benommenen Augen verschwommen seinen Vater über sich erkannte.

„Aufwachen, wir sind daheim,“ meldete Tabari grinsend, „Komm, wir bringen dich gleich ins Bett, du bist ja total erschossen.“

Erschossen?

Puran dachte unwillkürlich an seinen Traum und an das erlegte Reh, an Rams furchtbaren Blick. Und plötzlich wusste er, was er tun musste… was er tun musste, um das Rätsel um das Reh zu lösen. Um zu begreifen, was Ram für ein Problem hatte und es zu beheben…

Wenn er das Reh selbst erlegte, würde es nicht mehr mit der Antwort davonrennen können. Der Traum hatte sich verändert… zuerst hatten die Geister ihn gejagt… als er begriffen hatte, dass er keine Furcht zeigen durfte, war er zum Jäger geworden. Wenn er jetzt noch sein Ziel traf, hätte er die Antwort, da war er sicher. Es war plötzlich glasklar und er fragte sich, wieso er nicht eher darauf gekommen war.

Plötzlich hellwach sprang er auf und zog Tabari energisch am Arm.

„Ich habe etwas beschlossen, Vati!“ verkündete er aufgeregt, „Ich möchte ein perfekter Jäger werden, ich möchte, dass du mir alles beibringst, was du weißt, und das so bald wie möglich!“ Der Vater sah ihn verdutzt an, während er gefolgt von dem Kind aus der Kutsche stieg und auch Nalani drehte jetzt den Kopf, die das Gespräch gehört hatte.

„Du bist noch zu klein, um richtig zu jagen,“ widersprach sie verblüfft, und der Junge schnaubte mit einem derartigen Trotz in der Miene, dass die Mutter eine Braue hochzog.

Er widersprach ihr?

„Wenn Ram aus meiner Klasse schon alleine jagen kann, kann ich das auch!“ sagte er fest, „Es ist mir sehr wichtig, ich bitte dich, Vati!“ Nalani blinzelte. Was hatte Ram damit zu tun? War das der Idiot, der ihren Sohn zusammengeschlagen hatte? Ihr Blick verfinsterte sich, als sie zu Tabari sah.

Tu nichts, was ich nicht auch tun würde…

Der Blonde sah auf seinen Sohn. Nachdem er eine Weile stumm geschaut hatte, schloss er die Augen.

„Du wirst ein stolzer und guter Jäger sein, Puran,“ versprach er, „Ich zeige dir alles, was ich kann.“ Nalani grunzte und Puran verneigte sich heftig atmend vor Aufregung.

„Ich werde artig sein und tun, was Vati sagt!“ meldete er gehorsam, „Das verspreche ich!“

„Du Dummkopf, willst du dein Kind malträtieren?!“ zischte Nalani erbost, ohne zu beachten, dass Puran sie hören konnte, „Woher weißt du, dass es richtig ist?!“ Tabari seufzte, dann grinste er.

„Es ist… ein Gefühl,“ versuchte er es lächelnd, hob eine Hand und strich seiner Frau über das Gesicht. „Vertrau mir, Nalanichen… unser Sohn ist klug, er wird wissen, wieso er das möchte. Letzten Endes ist er der Sohn seiner hochbegabten Mutter.“ Er zwinkerte und die Frau errötete.

„Schleim nicht,“ grummelte sie, als sie sich verlegen abwandte und hinein ging.
 


 

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<3 nichts passiert, einself... Träume und Gelaber xD Mal wieder zur Übersicht, wir haben Ende November 965, ungefähr^^

Freundschaft

Wenn die Pause begann, ertönte ein schrilles Klingeln im ganzen Schulgebäude. Die Kinder waren es langsam gewohnt, aber dennoch erschraken einige jeden Tag beim Klingeln, einer fiel regelmäßig vor Schreck aus seiner Bank.

„Nichts passiert, nichts passiert,“ murmelte der Junge im Aufstehen und putzte sich den Staub von der Hose, während die Klasse schallend lachte und Frau Kalih seufzte.

„Schon gut,“ sagte sie, „Raus aus der Klasse jetzt, ich schließe ab. Spielt draußen, bis die Pause vorbei ist, dann machen wir weiter mit den Zahlen von zehn bis zwanzig.“

Johlend stürzten die meisten aus der Klasse, einige ließen sich mehr Zeit. Draußen war es sehr kalt geworden, deswegen achteten Lehrer an den Türen des Gebäudes darauf, dass alle Kinder auch warm eingepackt waren, wenn sie hinaus rannten, um zu spielen. Es hatte keinen Schnee, aber dafür Frost gegeben. Draußen heulten zwei kleine Mädchen, weil die Wippe festgefroren war und sich nicht bewegen ließ.

„Jetzt müsste man Feuer machen können,“ orakelte Kannar schlau, der mit Puran in der Nähe des Gebäudes blieb, weil es dort windgeschützt war. „Wobei das bei dem Wind nicht so leicht wäre, glaube ich. Verflixt, diese alberne Mütze ist grausig und kratzt!“ Er kratzte sich genervt am Kopf und rückte seine Wollmütze zurecht. Die Mütze war eine Kuriosität an sich, furchtbar gestrickt und mit einem albernen Bommel oben drauf. „Ich hasse die Mütze,“ erklärte Kannar seinem Freund bedauernd, „Meine große Schwester hat sie gemacht, ich trage sie nur, weil ich meine Schwester nicht verletzen will, ich hoffe, sie lernt bald ordentlich stricken und macht mir eine bessere.“ Puran gluckste.

„Ich hab keine große Schwester, die für mich strickt,“ meinte er, „Meine Cousine ist noch zu klein zum Stricken, die veräppelt nur alle und tut so, als könne sie nicht sprechen.“

„Wie seltsam.“

Die Unterhaltung der beiden wurde unterbrochen, als plötzlich lautes Lachen ertönte und sie herum fuhren. Puran war es schon gewohnt, dass die Leute lachten, und glaubte zuerst, sie meinten ihn, aber als er sich umdrehte, sah er auf einer Mauer seinen dicken Banknachbarn sitzen, vor dem zwei andere Jungen aus der Klasse blöd gackernd herum rannten, der eine hatte ein Stück Brot in der Hand.

„Komm doch her, Dicker, und hol's dir zurück!“ grölte er dabei, ehe er johlend davon rannt, quer über den Hof, „Fang mich doch, hol dein Brot, Klopsi!“

„Das ist gemein!“ jammerte der Dicke unglücklich und fuhr sich furch die blonden Haare, „Gib mir mein Brot zurück, iss dein eigenes!“

„Du musst es dir schon holen!“ gackerte der andere und rannte weiter, sein Freund lachte mit und folgte ihm.

„Genau, fang uns doch, Klopsi!“

„Wieso seid ihr so hässlich zu mir, ich hab euch doch gar nichts getan!“ beschwerte Klopsi sich gekränkt.

„Weil du, öh, fett bist!“ gluckste der eine, und der andere lachte:

„Genaaau! Und weil du nie zaubern kannst, weil du gar kein Magier bist, haha!“

„Genau, du Verlierer!“

Puran und Kannar sahen sich an. In dem Moment rannten die beiden Spaßvögel an ihnen vorbei, und ohne lange nachzudenken packte Puran den mit dem Brot, zerrte ihn am Ärmel seiner Jacke zurück und schubste ihn zu Boden, dabei zog Kannar ihm das Brot aus der Hand. Der Junge am Boden fing an zu schreien und zu plärren.

„Ihr Drecksäcke!“ schrie er, „Ihr Missgeburten, ihr Monster!“

„Euretwegen hat Mabi sich das Genick gebrochen!“ flennte der zweite mit, „Ihr Schweine!“

„Wenn er sich das Genick gebrochen hätte, wäre er tot, du Volldepp,“ machte Kannar, der als Sohn des Apothekers natürlich Bescheid wusste.

„Selber Volldepp!“ brüllte der Idiot namens Mabi Kannar an, „Mein Vati macht deinen sowas von fertig, das sag ich dir! Er schmeißt euch aus Gahti, aber wirklich!“ Mabis Vater war niemand Geringres als der Dorfvorsteher von Gahti. Als er so schimpfte, wurde Kannar tatsächlich ganz klein mit Hut und sagte plötzlich kein Wort mehr. Puran beachtete ihn nicht.

„So ein Heckmeck, ist das ein Grund, anderen ihr Brot zu klauen?“ empörte er sich, „Wirklich sehr komisch!“

„Bleib fern, Monsterkind!“ schnaubte Mabi und rappelte sich hoch. Sein Kumpel versteckte sich sicherheitshalber hinter ihm, aber der Sohn des Dorfoberhauptes gab nicht klein bei. „Ich habe keine Angst vor dir, Puran, spiel dich nicht so auf!“ Puran spuckte ihm vor die Füße.

„Ach, wirklich? Gut, du hast es nicht anders gewollt…“ Und plötzlich riss er die Arme in Mabis Richtung empor und brüllte: „ICH BRATE DICH MIT EINEM BLITZ!“ Wie erwartet kreischten Mabi und sein Kumpel panisch auf und rannten davon und um die Ecke des Gebäudes. Kannar lachte kurz.

„Geschieht ihm recht!“ bemerkte er nickend, „So ein Idiot.“ Puran ließ die Arme sinken. Natürlich hätte er nie wirklich einen Blitz gerufen, davon abgesehen, dass er das gar nicht konnte dank der Medizin von Tante Keisha. Aber das wusste Mabi ja nicht…

„Wir sollten das Brot zurück bringen,“ sagte er darauf zu Kannar, „Vergessen wir die Deppen.“
 

Der dicke Banknachbar druckste nervös herum und lachte dämlich, als er sein Brot wieder hatte.

„Äh, v-vielen Dank!“ sagte er dann, „I-ihr wart so schnell, das ist Wahnsinn, ich hätte den nie im Leben schnappen können! Ihr seid große Klasse, a-alle beide! Danke!“

„Kein Problem, die Idioten haben doch nicht alle Tassen im Schrank,“ meinte Puran verblüfft. „Du bist Travidan, oder?“

„Nennt mich Travi,“ grinste der Dicke, „Ich stehe in eurer Schuld, ihr habt mein Leben gerettet!“ Kannar schaute komisch.

„Jetzt übertreibst du aber, es war nur ein trockenes Brot…“

„Es war Essen!“ empörte Travi sich erschrocken, dass der Braunhaarige das nicht zu würdigen wusste, „Essen ist mein Leben!“

„Ah ja,“ machte Kannar gedehnt und verwundert von so viel Elan wegen eines Brotes.

„Ohne Brot verhungern wir doch!“ sagte Travi verblüfft.

„Sicherlich, aber ohne das eine Brot wärst du sicher nicht verhungert!“

„Doch…“ Er sah fragend auf Puran. „Du verstehst mich doch?!“ Der Junge blinzelte überrascht.

„Was, ich? Äh, klar, also – ja, wieso nicht…?“ Er kratzte sich verwirrt am Kopf und Kannar jubelte plötzlich, worauf die zwei anderen ihn ansahen.

„Merkt ihr das? Wir werden immer mehr, die von den anderen geärgert werden, wir gründen bald unser eigenes Dorf!“

„Oh ja,“ sagte Travi, „Das ist eine gute Idee. Und Mabi und die anderen Deppen dürfen nicht hinein, ätsch!“

„Ja, wir sind voll gut im Rennen, wenn ich groß bin, werde ich Apothekenbesitzer, ich kann euch dann Hustensaft und so verkaufen, Travi wird Müller wie sein Vater und macht uns Mehl für Brot, und Puran wird Standhalter und wird unser Chef, genau!“

„Statthalter!“ korrigierte Puran seinen Freund erstaunt.

„Wie toll, jetzt müssen wir nur noch den Sohn eines Bäckers auftreiben, der uns Brot macht aus meinem Mehl,“ machte der Dicke zustimmend nickend.

„Und solange wir kein Brot haben, gehe ich jagen,“ entschied Puran grinsend, „Bis ich groß bin, kann ich das so gut wie mein Vater, dann ist es gut.“

„Bringt der dir wirklich richtig Jagen bei?“ staunte sein Freund Kannar erneut, und Travi war ebenfalls neugierig. „Ich meine, so richtig…? Das ist total klasse, ich wünschte, mein Vater könnte mir das auch beibringen!“

„Ram macht das schon ganz allein,“ schnaubte Puran, „Der erlegt schon ganz alleine Rehe im Wald, da werde ich es wohl auch können. Du sicherlich auch, soll ich Vati mal fragen, ob ich dich mitnehmen darf? Er hat sicher nichts dagegen.“

„Das wär total klasse!“ rief der Heilerjunge aufgeregt und er zerrte den neu dazu gewonnen Freund Travi am Ärmel, der an seinem Brot kaute, „Kommst du auch mit?“

„Ich?“ mampfte der Junge, „Ich kann nicht rennen, das ist nichts für mich!“

„Das bringen wir dir schon bei, ist nicht schwer,“ gluckste Kannar zuversichtlich, „Du gehörst doch jetzt zu unserem tollen Dorf! – Sag mal, Puran, wie nennen wir das Dorf dann? Du bist der Chef, dann heißt es eben Puran-Dorf.“

„Quatsch!“ empörte der Schamane sich, „Wir… nennen es…“ Er grübelte und sah dabei abwechselnd Kannar und Travi an; dann hatte er keine Lust mehr, nachzudenken. „Wir nennen es Brot, so.“

„Brot?!“ rief Kannar.

„Oh ja, herrlich!“ grölte der Blonde begeistert.

„Puran, wir können ein Dorf nicht Brot nennen… wir könnten den Namen ja etwas abändern!“

„Brot ist gut!“ sagte Travi, „Nicht ändern.“

„Na gut, wir nennen es Broti,“ bestimmte Puran, „Und wir sollten Brot ehren, wir haben durch Brot einen neuen Freund bekommen und außerdem kann man es essen, Brot verdient viel Ehre! Deswegen nennen wir das Dorf nach Brot, und damit es nicht so seltsam klingt, heißt es Broti.“

„Ja, das ist gut. So machen wir es.“
 

Jetzt war Winter, im Winter war nicht die richtige Zeit zum Jagen. Die meisten wilden Tiere hielten Winterschlaf oder verkrochen sich die meiste Zeit des Tages in ihrem Unterschlupf. Als im Wintermond Schnee über Dokahsan fiel, hatte sich das Thema komplett erledigt.

„Rehe bleiben vielleicht hier oben und ernähren sich von Baumrinde,“ erklärte Tabari, „Aber die großen Herden ziehen während der Schneezeit fort und kehren im Frühjahr zurück, um ihre Jungen zu gebären, wenn das Land wieder grün ist.“ Vor ihm saßen jetzt drei sehr andächtige und aufmerksame kleine Jungen und sahen ihn gespannt an.

„Und was machen wir dann jetzt, Vati?“ fragte einer von ihnen, der sein Sohn war, und Tabari nahm seinen Speer und klopfte gegen den Schaft.

„Lernen, wie man Speere macht, denn ohne Speer ist das Jagen mühsam. Für uns Magier allerdings gibt es immer die Ausweichmöglichkeit, mit Schneidezaubern zu werfen, aber das ist nicht gut, das vergeudet so viel Blut und ist schmerzhafter für die Beute.“

„Wozu macht man es dann?“ wunderte Kannar sich, der neben seinen beiden Freunden auf dem Boden der Stube von Lyras Anwesen hockte. Travi war viel zu beschäftigt damit, sich umzusehen in dem riesigen Raum mit all seinen uralten Verzierungen, der edlen Aufmachung und den teuren Möbeln, die sich sein Vater vermutlich nicht mal leisten könnte, würde er seine komplette Mühle verkaufen.

„Als Notlösung, wenn man seinen Speer nicht mehr hat und ein wilder Büffel genau auf einen zu rast, kann man sich mit so einem Zauber das Leben retten,“ meinte Tabari, „Als ich klein war, ist mir das mal passiert, ich wäre beinahe von den Hörnern des Büffels aufgespießt worden, an jenem Tag hat mir meine Katura das Leben gerettet.“

„Katura?“ fragte Travi verpeilt, und Kannar gluckste.

„Der Windzauber unter den Grundzaubern,“ erklärte er, „Es gibt einen Schneidezauber, Sura, aber Katura funktioniert, wenn man es gut beherrscht, stärker als Sura. Kommt darauf an, in welchem Element man begabt ist; bei mir als Heiler ist das an sich egal, ich soll ja im Heilen begabt sein, aber für Schwarzmagier ist das sehr wichtig.“ Puran zog die Beine an und machte ein verbiestertes Gesicht. Kannar kannte sich gut aus mit Magie. Er hasste das Thema, er redete nie über Zauber. Er wollte schließlich selbst nicht zaubern, es war ihm völlig egal, was die anderen von Elementen redeten.

Nein. Wenn ich anfange, zu zaubern, werde ich letztlich doch ein Monster wie Großvater! Das darf ich niemals zulassen… ich werde nie im Leben Magier sein! schwor er sich verbiestert.

Tabari wechselte das Thema weniger deswegen, weil sein Sohn es nich mochte, sondern mehr wegen Travi, der als Nichtmagier damit nicht anfangen konnte. Er warf jedem Jungen einen kleinen, hölzernen Stab zu.

„Ihr seid noch nicht stark genug, einen richtigen Speer wie meinen zu tragen oder zu werfen, die Dinger sind sehr schwer und es erfordert viel Kraft im Arm. Solange ihr noch Kinder seid, bekommt ihr eine Art Kinderspeere, nenne ich es mal. Eure Schäfte sind etwa halb so lang wie meiner.“

„Das ist total aufregend,“ freute sich Kannar und fing an, im Sitzen hin und her zu wackeln, „Aber wir haben keine Spitzen!“

„Eine Speerspitze zu machen ist ein großes Stück Arbeit, Jungs,“ belehrte Tabari die drei ernst, „Wir üben das über den Winter, wo wir ohnehin nichts anderes zu tun haben.“
 

Kannar und Travi waren zum ersten Mal im Lyra-Schloss an jenem Tag. Nalani war sehr glücklich darüber, dass ihr Kind doch Anschluss in der Schule gefunden hatte und Freunde mit nach Hause brachte.

„Stell dir einmal vor, was Kelar gesagt hätte, würde er noch leben,“ sagte sie zu Sukutai, mit der sie in der anderen Stube saß und Tee trank (wobei sie selbst Kaffee aus Yiara trank). Alona krabbelte vor sich hin brabbelnd um den Sessel herum, auf dem ihre Mutter saß, und noch jemand saß bei den Frauen – das Dienstmädchen, das vor einigen Wochen ein gesundes Kind zur Welt gebracht hatte. Das Baby lag in einem kleinen Korb, den Nalani der Frau geschenkt hatte, neben dem Sofa. In dem Korb hatte Puran auch einst geschlafen, das niedliche kleine Baby der Dienerin durfte ihn jetzt haben.

„Was?“ machte Sukutai, und Nalani seufzte.

„Kelar wollte Puran doch zu seinem ultimativen Erben erziehen, und was bringt der Junge nach Hause? Einen Nichtmagier und einen Heiler, Kelar hätte diese Freunde sicher nicht gut geheißen.“

„Und auch nicht, dass wir mit einer Dienerin Kaffee trinken,“ grinste Sukutai, worauf die Dienerin erschrak. „Keine Angst, wir haben dich gern bei uns! Wir Mütter müssen doch zusammenhalten! Wenn dein Söhnchen älter ist, kann es mit Alona und Puran spielen. Nicht, Alona? Du spielst dann mit dem Dienerkindchen.“ Alona hörte auf, zu krabbeln, erhob sich und sah auf das Baby im Korb.

„Na ja,“ sagte sie arrogant, und die Frauen fingen an zu lachen.

„Alona… was heißt denn hier Na ja?“ hakte Sukutai streng nach, „Sieh mich bitte an.“

„Na ja,“ wiederholte das Mädchen störrisch und sah die Mutter aus ihren grünen Augen an. „Ich spiel‘ nicht mit Jungs.“

„Ach, pfui,“ sagte Sukutai entrüstet, während Nalani und die Dienerin wieder kicherten und letztere allen neuen Tee oder Kaffee einschenkte. Vom Flur her ertönte lautes Lachen und viel Gepolter, was die Frauen aufsehen ließ, und Alona rannte plötzlich johlend zur Tür, weil sie wusste, dass ihr Cousin und seine neuen Freunde nach oben kamen.

„Ah, wie war das, sie spielt nicht mit Jungs?“ murmelte Nalani, „Na, was in ein paar Jahren daraus wird, wissen wir ja.“
 

„Wir müssen unbedingt Pläne schmieden für unser Broti,“ sagte Kannar wichtig, während er mit den zwei anderen die Treppe hinauf polterte. Da sie nicht den ganzen Tag über Speerspitzen machen konnten, gönnte der Hausherr ihnen eine Spielpause; sie waren ja noch Kinder.

„Wir haben immer noch keinen Bäckersohn gefunden,“ seufzte Puran, „Aber hört mal, unser Küchenjunge ist jetzt Vater, dem seinen Sohn könnten wir nehmen, der kann ja von seinem Vater lernen, wie man die Küche macht, da lernt er bestimmt auch backen.“

„Unser Küchenjunge?“ staunte Travi, „Ihr habt einen richtigen Diener, einen lebenden?“

„Was denn sonst, die Torfkopf, einen toten etwa?“ schnaubte Kannar.

„Du liebe Güte, ihr habt einen echten, lebenden Diener, kann er auch sprechen?“ Puran lachte blöd.

„Äh, natürlich…?! Wir haben viele Diener…“

„Habt ihr es gut, ich bin meinem Vater sein Diener,“ stöhnte Travi, „Ich muss immer Mehlsäcke ziehen und so! Kann ich einen von euren Dienern haben?“

„Vielleicht, ich frag Mutti nachher mal – aber an sich gehören die Diener meiner Großmutter, ich müsste sie fragen, ob sie einen abgeben mag. Aber meine Großmutter kann gerade nicht, die hat auch Besuch.“

„Ach, Mist,“ seufzte Travi, „Dann fragen wir sie später. – Nanu, wer ist denn das?“ Er zeigte nach vorn, wo Alona auf die Jungen zu getrottet kam.

„Meine Cousine,“ seufzte Puran, „Sie ist zwei und heißt Alona!“

„Was spielt ihr?“ fragte Alona ihren Cousin strahlend, als sie bei den Jungen ankam. Kannar klärte sie auf:

„Wir spielen nicht, wir halten Rat über unser neues Dorf Broti.“

„Broti?“

„Ja, wie Brot.“

„Ihr könnt ein Dorf nicht Broti nennen,“ behauptete Alona. Puran schob sie weg von seinen Freunden.

„Spiel allein, in Broti dürfen keine Mädchen wohnen,“ sagte er, „Oder?“ Kannar und Travi waren ganz seiner Meinung.

„Genau, das wird ein Jungsdorf,“ sagte Kannar wichtig, „Wenn du dich in einen Jungen verwandeln kannst, kannst du auch da wohnen.“ Alona grübelte.

„Nee, das geht gar nicht,“ bemerkte sie schlau.

„Ja, deswegen ja.“ Kannar gluckste und die zwei anderen lachten, bevor sie das kleine Mädchen stehen ließen und davon rannten. Ehe er ging, tätschelte Puran seiner kleinen Cousine tröstend den Kopf.

„Wenn ich Geburtstag habe, darfst du mich mal besuchen,“ versprach er, „Nicht weinen, Alonachen.“ Sie schmollte und stierte ihn grimmig an.

„Zu meinem Geburtstag darfst du nie wieder kommen!“ brüllte sie dann verärgert, ehe sie zurück zu ihrer Mutter stampfte.

Ach, wie dramatisch.
 

„Und?“ Zoras Chimalis drehte argwöhnisch den Kopf in Richtung des Fensters, vor dem die Vorhänge zugezogen waren. Die schweren, alten Vorhänge tauchten das Schlafzimmer in ein trübes Dämmerlicht. Er lag nackt auf dem Bauch im Bett und drehte den Kopf zu seiner hübschen geliebten, während er sich eine Zigarette zwischen die Lippen schob und daran zog. Salihah saß aufrecht an ihr Kissen gelehnt neben ihm und trank aus ihrem Glas ihre ewige Medizin, bis er ihr genervt das Glas aus der Hand zog. „Hör auf, dich zu zu dröhnen, und antworte lieber. Hast du was gesehen, Salihahchen?“

„Nimm mir nie, hörst du, nie mein Laudanum weg!“ schnappte sie verärgert und griff nach dem Glas, das er ihr abermals vor der Nase wegzog und sie dabei grimmig ansah.

„Du kannst es haben, wenn du was gesagt hast, sei nicht so verantwortungslos. Ich habe kein gutes Gefühl.“

„Du hast nie ein gutes Gefühl!“ schnaubte sie ärgerlich und riss ihm dann im Gegenzug die Kippe aus dem Mund, worauf er hustete. Sie zog selbst an seiner Zigarette, zog die nackten Beine an und lehnte den Kopf stöhnend in den Nacken, als sie den Rauch in die Luft pustete.

„Doch manchmal hab ich das,“ entgegnete er mit einem zweideutigen Grinsen, und als sie ihn anlinste, wurde das Grinsen und breiter und er beugte sich herüber, um ihren nackten Oberschenkel zu küssen. Sie schlug ihm gegen die Stirn.

„Geh weg und schleim dich nicht ein, du Lustmolch, gib mir meine Medizin, dann kriegst du deine Zigarette zurück.“

„Behalt die Kippe, ich hab genug,“ grinste er feixend, Salihah brummelte etwas Unverständliches vor sich hin.

„Respekt gegenüber älteren, Zoras Chimalis,“ warnte sie ihn, „Ich bin immer noch älter als du und das ist mein Bett, benimm dich.“

„Habt ihr in diesem Bett Tabari gezeugt?“

„Nein, das war unter einem Feigenbaum in der Pampa. Wir waren auf dem Weg an die Front und da überkam es uns, oder besser gesagt mich, da haben wir es in einem Gebüsch getrieben.“

„Eben war es noch unter einem Feigenbaum,“ machte er verdattert.

„Das Gebüsch war unter einem Feigenbaum.“ Zoras räusperte sich. Dann verdrängte er die unsinnigen Gedanken an Kelar, in dessen Bett er jetzt unverschämt bei seiner Frau lag. Während sie stur seine Zigarette rauchte und er ihr Laudanum weg stellte, wurde er wieder ernst.

„Rede mit mir,“ verlangte er und rollte sich auf die Seite, um mit ihren langen, schönen Haaren zu spielen. „Was siehst du, Salihah?“

„Nichts,“ murmelte sie mit noch immer in den Nacken gelehntem Kopf, wobei sie Rauch ins Zimmer blies. „Ich spüre dasselbe Unheil wie du, aber mein Augenlicht wird schlechter.“

„Das wird es seit Jahren,“ sagte er verblüfft. „Und du bist noch nicht blind.“

„Ich dachte, mit Kelars Tod würde sich alles ändern,“ gestand sie, „Ich habe mich geirrt. Das ist selten vorgekommen in meinem Leben und deswegen nagt es extrem an mir. Ich bin stolz und perfektionistisch, Liebster… ich kann mir keine Irrtümer leisten. Noch immer… ist diese Unruhe da…“ Zoras sagte lange nichts. Er spielte nur mit ihren Haaren, bis sie die Kippe auf einem Teller auf dem Nachttisch neben sich ausdrückte und sich wieder hinlegte, sich an seine nackte Brust kuschelnd. Sie genoss die vertraute Wärme, seine sanfte Umarmung und das Gefühl seiner Lippen, die ihr Ohr kitzelten, als er sie dort küsste.

„Denmor ist wie vom Erdboden verschluckt,“ meldete er dann, und die Frau sah vorsichtig hinauf in sein hübsches Gesicht. Er sah immer noch jung aus, aber seine Züge waren härter und ernster geworden. Es war so viel geschehen, seit sie ihm zum ersten Mal so ins Gesicht gesehen hatte… damals war er noch ein Junge gewesen und hatte sie fassungslos angestarrt, während sie sich ausgezogen hatte, sich über ihm bewegt hatte, um das Feuer zu entfachen und seine allererste Flamme zu schüren. Es waren schöne, so ferne Erinnerungen, und es kam ihr vor, als wäre sie plötzlich um Jahrhunderte gealtert und all das so weit weg, so lange her…

„Besorgt dich Denmor, Liebster?“ fragte sie sanft und begann, seine Brust zu streicheln und seinen Hals zärtlich zu küssen. Er seufzte.

„Ich hatte böse Träume… ich dachte manchmal, Denmor zu sehen, aber es war so schnell vorbei, dass ich es nicht wirklich sehen konnte. Die Geister sind unruhig, es ist, als… wäre Kelars Regime noch nicht vorüber, obwohl er tot ist. Und als erster fiel mir da Denmor ein… ich habe mit Minar gesprochen, neulich, an Meorans Prüfung, Minar hat von Denmor nichts gesehen oder gehört, und auch kein anderer des Clans. Irgendetwas haben wir übersehen, fürchte ich, aber ich weiß nicht, was.“

„Und Denmor hat damit zu tun?“ fragte die Frau, „Das glaube ich kaum. Nalani hatte neulich einen seltsamen Traum von brennenden Himmeln, aber kein Denmor.“

„Nalanis Sehkraft ist sehr weitsichtig,“ murmelte er bei sich, „Sie hat sehr gute Augen.“ Salihah sagte nichts und streichelte eine Weile sanft weiter seinen Oberkörper. Dann durchfuhr es sie wie ein Blitz und sie fuhr hoch, keuchte etwas und fasste nach ihrem pochenden Schädel. „W-was ist denn?“ wunderte er sich besorgt und setzte sich auch auf, als sie stöhnend nach ihren Schläfen griff.

„Diese Kopfschmerzen bringen… mich um!“ japste sie mit seltsam belegter Stimme, und sicherheitshalber holte er ihr die Medizin zurück, die sie sich in den Rachen kippte und ihn dann aus glasigen Augen anstarrte. „Schick deine Späher aus… um Denmor zu suchen!“ verlangte sie dann, „Wenn es noch nicht vorüber ist, wenn wir irgendetwas verpasst haben, was die Geister uns nicht anvertrauen wollen, aus Denmor kriegen wir es heraus, egal, wie lange ich ihn foltern muss, ich werde ihn zum Reden bringen!“

„Foltern?“ machte ihr Liebhaber verblüfft.

„Ich reiße ihm Arme und Beine aus und breche ihm alle Rippen, ich stelle seine Füße in kochendes Wasser und verbrenne ihm die Augen mit Säure, ich mache alles, was mir möglich ist, und das ist eine Menge… und unter brutalen Schmerzen wird dieser Mehlwurm mir zu Füßen kriechen und freiwillig alles ausspucken, was er von Kelar weiß… das schwöre ich, Zoras!“ Er seufzte und griff nach seiner Kleidung am Boden, um eine schwarze Feder heraus zu holen und sie mit einer flüchtigen Handbewegung in die Luft zu werfen, worauf sie sich auflöste.

„Wie du willst, Seherin,“ sagte er dazu, „Du willst Denmor, du sollst ihn haben. Und er wird nicht nur kriechen, er wird nicht fähig sein, sich zu rühren vor Ehrfurcht.“

Vom Dach des Schlosses aus flatterte eine Schar Krähen auf und verteilte sich in alle Himmelsrichtungen, um davon zu fliegen.
 

Während des heftigsten Schneefalls im Hungermond wurde die Schule kurzfristig geschlossen. Gahti war ein ordentliches Dorf und die Leute schippten pausenlos Schnee von den Straßen, aber andere Dörfer waren komplett eingeschneit und viele Kinder könnten gar nichts zur Schule gelangen, deswegen hatte man beschlossen, erst im Neujahrsmond mit dem Unterricht fortzufahren. Und die Kinder freuten sich über die freie Zeit. Oder auch nicht, wenn sie Schnee schippen helfen mussten.

Als Puran zum ersten Mal Kannar in Gahti besuchte, brachte Nalani ihn am Mittag hin. Er hätte den Weg natürlich auch allein gefunden, aber die Frau fürchtete, er könnte auf der Landstraße im Schnee versinken. Tatsächlich wurden die zwei auf dem Weg durch das kleine Wäldchen beinahe von Schnee erschlagen, der plötzlich aus den Bäumen fiel, zum Glück warnten Nalanis Instinkte sie frühzeitig und sie konnte den fallenden Schnee mit einem Feuerzauber in der Luft verschwinden lassen.

„Großartig, Mutti!“ lobte Puran sie begeistert von der Reaktion, und sie seufzte.

„Wenn du groß bist, kannst du das auch.“ Er dachte nach und ihm fiel ein, dass er nie Magier werden wollte, deswegen protestierte er schnaubend:

„Nein, ich nicht, niemals!“ Nalani antwortete nicht; sie wusste nicht, was er für eine Macke hatte mit dem Zaubern, es würde sich mit der Zeit schon geben, spätestens dann, wenn alle seine Klassenkameraden zaubern konnten würde er es auch lernen wollen, da war sie sicher. Er war erst sechs und noch zu jung zum Zaubern.
 

Die Apotheke in Gahti, wo Kannar wohnte, war nicht weit von der Schule. Als Nalani klopfte, öffnete Kannar überschwänglich die Tür und grinste.

„Hallo!“ begrüßte er seinen Freund und seine Mutter, „Schön, dass ihr da seid! Kommt rein!“

Bitte, Kannar,“ ertönte eine genervte Männerstimme aus der Nähe, „Sag bitte, kommt doch bitte herein, ungezogener Bengel!“ Puran kicherte, während sein Freund errötete und Bitte nuschelte, ehe er Puran eintreten ließ. Nalani war im Begriff, wieder zu gehen; sie hatte ihn her gebracht und wurde nicht mehr gebraucht. Aus dem Raum neben der Tür kam ein Mann mittleren Alters, offenbar Kannars Vater, Herr Chipo. Der Heiler verneigte sich bei Nalanis Anblick.

„Eine überaus große Ehre, Frau Statthalterin,“ begrüßte er sie, „Kannar, bittest du die Dame eventuell auch herein, statt mit deinem Freund abzuhauen?!“

„I-ich, hab ich doch, ich meine, äh, entschuldige, Vati…“ machte der Kleine erschrocken, Nalani winkte ab.

„Schon gut, vielen Dank. Ich wollte ohnehin gehen, ich habe nur meinen Sohn her gebracht, ich hole ihn später wieder ab.“

„Doch nicht so viel Mühe!“ Kannars Vater lachte nervös, „Ich sorge dafür, dass Euer Sohn heil heim kommt, ich bin sicher, Kannar bringt ihn gern nach Hause. Oder, Kannar?“

„Und wer bringt dann ihn nach Hause im Dunkeln?“ machte Nalani verblüfft, „Das ist für mich doch keine Mühe, und nennt mich nicht Statthalterin, mein Mann ist Statthalter.“

„Und der Herr der Geister,“ addierte Herr Chipo verdutzt, „Und Ihr als Königin der Geisterjäger verdient unseren allerhöchsten Respekt, Herrin. Unser Haus ist sehr bescheiden und ich kann nicht viel anbieten außer einer Tasse Tee, aber es wäre mir eine Ehre.“ Nalani blinzelte. Was hatte dieser Typ denn für Minderwertigkeitskomplexe? Sie räusperte sich peinlich berührt von so viel Ehrerbietung; nach dem, was Kelar mit dem Land angestellt hatte, fühlte sich Respekt vom Volk falsch und schändlich an… sie willigte dennoch ein, eine Tasse Tee anzunehmen, was dem Apotheker offenbar eine große Freude machte. Ein kleines Mädchen mit Flechtezöpfen servierte artig den Tee.

„Meine Tochter, Akila,“ stellte der Mann das Kind vor, „Kannars ältere Schwester.“ Nalani nickte und dankte der Kleinen lächelnd für den Tee. Das Kind strahlte ob des Dankes, sagte aber nichts und senkte ehrfürchtig den Kopf. Irgendetwas war an dieser Familie durchaus seltsam, fand die Geisterjägerin verwundert.
 

Am Nachmittag schneite es. Nalani war längst wieder gegangen, als Kannars Vater die Kinder rief.

„Der Schnee hat aufgehört, wir können jetzt Schnee schippen,“ erklärte er, „Akila, hol Mutti aus der Waschküche, wenn wir alle mithelfen, geht es schneller.“

„Wieso müssen wir jetzt sofort Schnee schippen?“ wunderte Puran sich verhalten, sein Freund seufzte.

„Der Dorfchef verhaut uns, wenn wir nicht die Straße vor unserem Haus frei schippen, sagt Vati, deswegen erledigen wir es immer sofort nach dem Schneefall. – Aber, Vati, ich habe doch besuch, können wir nicht heute frei machen?“

„Unsinn, du kommst mit!“ empörte sich der Vater, „Puran ist Gast, der muss natürlich nicht. Wäre ja noch schöner, ihn arbeiten zu lassen.“ Puran seufzte.

„Aber dann komme ich mir nutzlos vor, ich helfe gern, dann geht es schneller…“

„Kommt nicht in Frage,“ machte der Vater, „Du könntest dich draußen erkälten, was soll deine Mutter von uns denken, wenn sie erfährt, dass wir dich arbeiten lassen wie einen Sklaven?“

„Aber…“

„Nichts aber, bleib hier drinnen, hier hast du es schön warm. Wir sind ja gleich zurück, keine Sorge.“ Er lächelte freundlich und Puran blieb nichts anderes über, als zu gehorchen, obwohl er sich schlecht fühlte, seinem Freund nicht helfen zu können. Kannar zuckte die Achseln, während die Familie sich anzog und hinaus marschierte. In der Tür hörte Puran Kannars Schwester mit ihrem Vater sprechen.

„Das ist alles so ein Aufwand, wieso lässt du Kannar nicht einfach Mabis Freund werden, damit dieser Streit mit dem Vorsteher sich erledigt, statt dich bei der Frau des Statthalters einzuschleimen, damit die den Chef verhaut, wenn er wieder droht, uns rauszuwerfen?“

„Sei still, undankbares Mädchen!“ schnaubte der Mann erbost und schlug ihr gegen den Hinterkopf, „Hinaus jetzt! Als würde ich deinen Bruder mit diesem Dummkopf Mabi spielen lassen, der bricht ihm doch eher die Knochen als dass er sein Freund würde!“ Dann fiel die Tür ins Schloss. Puran verstand das Theater nicht, während er aus dem Küchenfenster sah und die anderen beim Schippen beobachtete, Was hatte die Schwester damit gemeint, ihr Vater würde sich bei seiner Mutter einschleimen? Und was hatte das mit Mabi zu tun?
 

Als er Kannar danach fragte, war der erstaunlich wütend, während die beiden Jungen zusammen mit Kannars großer Schwester Akila durch das Dorf zum Zentrum gingen. Die Mutter hatte ihnen Geld mitgegeben, damit sie neues Brennholz kauften, das im Zentrum auf einem Haufen lag und dort verkauft wurde.

„Mein Vater schleimt sich bei niemandem ein!“ empörte der kleine heiler sich, „Er ist zwar kein Standhalter, aber er ist ein guter Mann!“

„Schrei nicht so!“ rief Akila, „Und du machst dein Maul auf, Kannar, du freust dich nur, einmal nicht nutzlos für die Familie zu sein!“

„Wovon redet ihr, wieso denn nutzlos?“ fragte Puran völlig verwirrt. Die Geschwister waren seltsam… eigentlich war Kannars ganze Familie seltsam. Irgendetwas passierte hier, das er nicht wusste und nicht verstand. Sein Freund biss sich auf die Oberlippe und sagte nichts auf die Frage. „Was ist, Kannar?!“ fuhr Puran ihn genervt an, „Du bist so komisch, seit ich hier bin, stimmt was nicht? Du bist doch sonst nicht so!“ Er wünschte sich, Travi wäre da, um ihm zuzustimmen. Leider war die Mühle seines Vaters auch eingeschneit, deswegen konnte der Dicke das Haus nicht verlassen.

„Von wegen komisch!“ schnaubte Kannar beleidigt und sah erzürnt auf seine große Schwester, „Das alles nur, weil du Unsinn redest, Akila!“

„Gar nicht wahr!“ empörte sich das achtjährige Mädchen und schubste ihren Bruder in den Schnee. Darauf half sie ihm aber wieder auf die Beine und entschuldigte sich. „Ich wollte dich nicht schubsen, ich… bin nur wütend, ich finde es nicht gerecht.“ Kannar schmollte und sein Freund sagte nichts mehr. Akila wandte sich ihm zu. „W-weißt du, es ist alles wegen des Dorfvorstehers, der Vater von Mabi-… w-was machen die denn da vorne?!“ Sie unterbrach sich und zeigte keuchend nach vorn, worauf die Jungen herum fuhren. Sie hatten den Marktplatz erreicht, an dem das Brennholz verkauft wurde – oder was davon übrig war, denn auf dem Haufen waren nur noch drei Scheite. Zwei kleine Jungen waren dabei, viel Holz in eine Schubkarre zu hieven. Als die drei Neuankömmlinge näher hinsahen, erkannten sie den Rabauken Mabi und seinen Kumpel.

„Was ist denn hier für ein Radau?“ fragte Akila entrüstet, als sie mit den kleinen Jungen am Haufen ankam, „Ihr seid wohl bescheuert, so viel Holz auf einmal zu kaufen und nichts für die anderen Bewohner übrig zu lassen, Mabi?!“ Der Junge drehte sich um und feixte.

„Aah, die Apothekerskinder!“ sagte er, „Und das Monsterkind, uuh…“

„Sollen wir mit drei Scheiten heizen?!“ fragte Kannar ihn empört und packte ihn schon am Kragen, seine Schwester zerrte ihn aber wieder zurück.

„Nicht schlagen!“

„Tss, ich bin Sohn des Dorfoberhauptes, ich kaufe Holz, so viel ich will. Weißt du was, ich kauf die drei letzten auch noch…“ Er gackerte blöd und bezahlte den Holzfäller, der den Kindern nur verwundert beim Streiten zusah. Mabi und sein Kumpel stapelten auch die letzten drei Scheite auf die Karre. Kannar schnappte nach Luft.

„Das ist nicht nur gemein, das ist verboten!“ rief er, „Wenn wir nicht heizen können, erfrieren wir nachts, ihr braucht doch gar nicht so viel Holz!“

„Klar brauchen wir das, je wärmer, desto besser,“ kicherte Mabi, „Vati hat gesagt, ich soll genug mitbringen, dass es eine Weile reicht.“

„Und der Rest des Dorfes ist euch egal?! Dein Vater ist Chef des Dorfes und muss dafür sorgen, dass es allen gut geht,“ behauptete Akila richtig, „Statt ihnen das Holz zu klauen!“ Puran schaltete sich auch ein:

„Hast du Idiot nicht gelernt, dass man Mutter Erde nur das nehmen soll, was man wirklich braucht? Nur, weil du es schön warm haben willst, kannst du nicht anderen das Holz klauen, die ohne vielleicht nicht den Winter überleben!“ Mabi packte den letzten Scheit weg und hob grinsend den Kopf.

„Ach ja? Willst du was sagen, Monsterkind? Wo dein Großvater allen noch mehr weggenommen hat als drei Scheite Holz…?!“ Puran erstarrte und fuhr zurück. Augenblicklich dachte er an das Reh und den Wald… und Ram Derran, der am Boden kauerte mit weit aufgerissenen Augen.

„Nehmt es mir nicht weg… w-wir brauchen doch etwas zu essen…!“

„Alle Rehe gehören uns, wir sind die Herrscher des Landes!“

Er trat heftig atmend rückwärts. Mabi lachte.

„Ah, da kommt die Erkenntnis? Etwas spät, hast du jetzt begriffen, was für eine Scheißfamilie ihr seid?! Und die, die mit euch befreundet sind, sind doch genau solche Missgeburten…“

„Hört schon auf!“ mischte Akila sich unglücklich ein, „Mabi, kannst du uns nicht etwas Holz verkaufen? Bitte, wir erfrieren sonst!“

„Mal nachdenken… nein,“ sagte der Sohn des Oberhauptes frech, er und sein Freund fingen lauthals zu lachen an. „Ist doch gut, dann muss Vati euch nicht mehr rausschmeißen, weil ihr nur Ärger macht, sondern ihr geht freiwillig aus Gahti!“

„Niemals!“ empörte Kannar sich, „Eher ziehe ich dir die Haut ab, du unhöflicher, mieser Dreckskerl!“

„KANNAR, NICHT!“ kreischte Akila, doch zu spät, denn die Jungen fingen schon an, sich zu schlagen. Mabis offenbar stummer Freund griff ihm natürlich unter die Arme. Das Mädchen versuchte verzweifelt, einen Moment zu finden, um dazwischen zu gehen, während sich die drei im Schnee kugelten und rauften wie kleine Raubkatzen. Sie sah verzweifelt zum Holzfäller, der seine Tasche packte und nicht den Anschein hatte, sich einmischen zu wollen. „S-so helft uns doch!“ jammerte sie, „Bitte, Herr, geht dazwischen…“

„Ihr Bälger seid mir doch egal,“ brummte der alte Holzfäller, „Ich kann Kinder nicht leiden, sollen sie sich doch die Köpfe einschlagen.“

„W-was…?! Hey, d-das könnt Ihr nicht, Ihr-…! Hilfe!“ Das Mädchen schrie, aber niemand kam, während Puran sich aus seiner Starre löste und Kannar zu Hilfe kam, der allein gegen die beiden größeren Jungen kämpfen musste.

„Ich warne euch nur!“ empörte er sich, „Ich kann wieder das Windmesser holen und euch zerreißen, wenn ihr nicht aufhört! Und deinen dummen Vater gleich mit, Mabi!“

„Misch dich nicht ein!“ fuhr Kannar ihn an, „Die verletzen dich noch!“

„Das ist mir doch egal, du bist mein Freund, ich lasse dich doch nicht im Stich!“ Damit packte Puran Mabis Kumpel am Kragen und zerrte ihn hoch, um ihn mit Schwung in den Schnee zu stoßen. Der Junge schrie auf, als er hart aufschlug, und Mabi ließ von Kannar ab und wandte sich wütend zu Puran um.

„Von wegen Windmesser,“ spottete er, „Du kannst das gar nicht mehr, nicht?! Du hast uns letztes Mal nur veräppelt, ich glaub dir kein Wort und hab keinen Schiss vor dir, verwöhntes Prinzchen!“

„Hau endlich ab…“ stöhnte Kannar, der sich aufrappelte und sich das Blut von der Lippe wischte, „Mein Vater schlägt mich tot, wenn du auch nur einen Kratzer hast, du… bist der Sohn des Herrn der Geister!“

„Das gibt mir nicht das Recht, meinen besten Freund alleine gegen zwei kämpfen zu lassen!“ rief der andere entsetzt, während Akila hinter ihnen schrie und weinte und versuchte, irgendetwas zu tun.

„Wie edel von ihm,“ spuckte Mabi, „Dann kriegt er eben auch eins auf die Fresse!“ Damit holte er aus und schlug nach Puran, der den Kopf rechtzeitig zur Seite riss und Mabi schubste, aber der riss den zweiten Arm hoch und schlug ihn mit solcher Wucht zu Boden, dass Puran auch in den Schnee purzelte und hustete. Aus seiner Nase rann Blut und wieder erinnerte er sich keuchend an Ram, der ihn ebenso verprügelt hatte. Ram… und das Monsterreh, das sich mit dem Schwarzhaarigen einen Alptraum teilen musste.

Kannar zerrte ihn hoch.

„Akila, bring Puran weg und ruf Vati! Die Sonne geht unter, bald wird sicher seine Mutter kommen und ihn abholen!“

„Aber ich kann doch nicht…!“ keuchte sein Freund entsetzt, als er in die Arme des älteren Mädchens geschubst wurde, das nur heulte.

„Verschwinde, wenn du voller blauer Flecken heim kommst, grillt Vati mich!“

„Ja, ja,“ gackerte Mabi, der sich auch über die Lippe fuhr, „Beschütz deinen kleinen Freund, Kannar, ich weiß genau, was dein Vater abzieht! Das ist doch alles nur wegen uns! Du gibst dich doch nur mit ihm ab, weil dein Vater das von dir verlangt, weil du sonst nichts Tolles kannst! Damit dein Vater damit drohen kann, dass er Purans Eltern holt, wenn mein Vater versucht, ihn aus Gahti zu schmeißen! Du bist doch nicht wirklich sein Freund, du Hohlkopf, du bist einfach nur erbärmlich und kannst nichts außer Leuten aus Versehen die Knochen brechen, weil du zum Heilen zu dumm bist!“
 

In dem Moment fror die ganze Szene ein. Puran erstarrte und riss sich aus Akilas Griff los, ehe er zu Kannar rannte und Mabi anstarrte.

„Du hast wohl den Schuss nicht gehört, was bildest du dir ein, sowas zu sagen?!“ rief er, „Dreckige Missgeburt!“ Er schlug nach Mabi, hatte aber Mabis Kumpel vergessen, der wieder aufgestanden war und ihn jetzt von den Beinen riss, ehe er ihm mit aller Kraft ins Gesicht schlug. Etwas brach mit einem unschönen Knacken und der Junge schrie vor Schmerz und hielt krampfhaft die Tränen zurück, die ihm unwillkürlich in die Augen schossen. Kannar trat zurück und senkte keuchend den Kopf. Puran stöhnte und hielt sich die gebrochene Nase, ehe er zitternd zu seinem Freund Kannar blickte.

„Sag doch was, Kannar!“ jammerte er, „Die lügen doch, du darfst sie nicht so mit dir reden lassen…“

Kannar antwortete nicht. Puran erstarrte, als er hinauf sah und Kannar ihm den Kopf zuwandte, um ihn bitter anzusehen.

„Nein…“ nuschelte er, „Das ist das Problem… sie lügen nicht.“
 

Puran erstarrte erneut und ignorierte plötzlich jeden Schmerz und jedes Nasenbluten und auch, dass sein ganzer Mantel schon bekleckert von Blut war.

Das… war ein böser Traum.

Sein erster und bester Freund erzählte ihm also… dass er gar nicht sein Freund war, sondern nur mit ihm gespielt hatte, weil sein Vater es befohlen hatte?

„Unser Vater und Mabis Vater können sich nicht leiden,“ erklärte Kannar aufgelöst, „S-sie streiten und hauen sich u-und der Chef droht, uns aus dem Dorf zu schmeißen, wenn wir nicht nach seiner Pfeife tanzen! U-und wenn er das tut, müssen wir zu meinem Onkel Kudan, dessen Haus ist so winzig, dass wir nie alle Platz hätten! Als ich in die Schule kam und Vati erfuhr, dass du der Sohn von Statthalter Lyra bist, wollte er, dass ich dein Freund werde, damit wir… Mabis Vater eins auswischen können und so-… i-ich hatte total Angst vor dir, aber Vati hat gesagt, wenn ich es nicht mache, lässt er mich nie wieder in sein Haus und…!“

„Genug jetzt!“ Akila war dazwischen gegangen. Sie zog ihren Bruder an der Schulter zurück. „Das reicht, es ist schlimm genug für ihn, sowas zu hören!“ Sie sah mitleidig auf den kleinen Puran, während Mabi und sein Freund amüsiert kichernd die dramatische Szene beobachteten.

„Tjaaa, wird wohl nichts mit dem Bündnis mit den bööösen Lyras… jetzt muss Kannar auf der Straße schlafen, weil er seinen Freund vergrault hat, hahaha!“ Puran erhob sich und die anderen verstummten. Der Kleine zitterte am ganzen Körper, seine Kleider waren nass vom Schnee und seine Hände halb erfroren, in seinem Gesicht brannte ein grauenhafter Schmerz. Er stierte Kannar fest an und sagte lange nichts.

„Dann… ging es nie um mich? Ich bin dir… scheißegal, es ging nur um deinen Vater und seinen doofen Streit?!“

„Ich hatte doch keine Wahl!“ schrie Kannar deprimiert, „I-ich wollte das doch nicht!“

„Du hast mich ein halbes Jahr lang nur angelogen und getan, als wärst du mein toller bester Freund, damit dein Vater sich ins Fäustchen lachen und Mabis Vater mit meinen Eltern drohen kann?!“

„Siehst du, Kannar, was du gemacht hast, Prinzchen weint gleich…“ sagte Mabi theatralisch und fing schallend an zu lachen, „Komm, bringen wir das Holz heim.“

„Niemand geht hier irgendwo hin!“

Die Kinder fuhren gehörig zusammen, als plötzlich aus der nördlichen Richtung Mabis Vater, der Dorfchef, und aus dem Süden Kannars Vater und Nalani auftauchten. Nalani zog ihr Kind zu sich und Akila lief mit Kannar zu ihrem Vater.

„Was ist hier los?“ wollte Nalani verärgert wissen und schob ihr Kind hinter sich, bevor dem Jungen noch mehr gebrochen werden konnte. „Wer hat dich geschlagen, Puran?“

„Das war Mabi!“ petzte Akila unglücklich und klammerte sich an ihren Vater, „Er hat die ganzen Holzscheite geklaut, Vati, und er und sein Freund haben sich mit Kannar und Puran geschlagen!“

„Gar nicht war, du Hure!“ rief Mabi, bekam von seinem Vater eine saftige Ohrfeige und erntete von Nalani einen wütenden Blick.

„Wie kannst du es wagen?!“ blaffte der Dorfchef seinen Sohn an, „Sprich nicht so mit einem Mädchen! Und wieso hast du ihn geschlagen?!“

„Kannar hat angefangen!“ schnaubte Mabi, „Und Puran hat ihm geholfen, deshalb hab ich ihm eine verpasst! – Seine Nase hab ich übrigens nicht zerdeppert, das war er!“ Er zeigte auf seinen eigenen Freund, der nur blöd guckte.

„Ist doch egal!“ jammerte Puran und drückte sich unglücklich an Mutter schwarzen Umhang, „L-lass uns einfach nur heim gehen, Mutti… ich will nie wieder hierher.“ Nalani sah ihn verblüfft an und Kannars Vater warf einen beunruhigten Blick auf seine Kinder.

„Was ist hier los?“ fragte er dann auch grimmig und sah Kannar an, „Hast du angefangen, du Idiot?“

„I-ich, er hat das Holz geklaut und…“

„Geklaut, ich hab's gekauft, du Arschsack,“ lachte Mabi höhnisch und bekam einen weiteren Schlag von seinem Vater.

„Diese Worte! – Chipo, über dieses Massaker reden wir noch!“

„Lass uns gehen, Mutti,“ murmelte Puran leise und nahm Nalanis Hand, „Es… wird kalt…“ Nalani seufzte. Ja, er war ganz durchnässt, es wurde Zeit. Aber so, wie es aussah, müsste sie noch nach Tuhuli zu Keisha mit ihm… Sie wandte sich also nach Norden und an den Dorfchef.

„Könnte ich mir ein Pferd aus dem Dorf leihen, um ihn nach Tuhuli zu unserer Hausärztin zu bringen, Dorfoberster?“

„Natürlich,“ sagte der Dorfchef, dann grinste er zu Kannars Vater, „Du bist doch heiler, Chipo! Bist du zu dumm, eine gebrochene Nase des Freundes deines Sohnes zu heilen?“ Nalani drehte sich auch um – ja, richtig, der war ja auch Heiler! Das ersparte eventuell den weiten Weg… Herr Chipo enttäuschte sie.

„Ich bin Apotheker, kein Arzt. Meine Heilkunde beschränkt sich, so fürchte ich, auf Miniatur-Reparaturen und Herstellung von Medizin. Ich kann ein Schmerzmittel anbieten, Herrin…“

„Das bringt‘s nicht,“ machte Nalani, „Danke, aber dann gehe ich doch nach Tuhuli. – Willst du dich nicht von deinem Freund verabschieden, Puran?“ Puran sah hinter ihrem Umhang hervor verbiestert auf Kannar, der leichenblass und deprimiert schaute. Purans grüne Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

„Das ist nicht mehr mein Freund,“ schnappte er grantig, ehe er seiner Mutter voran Richtung Norden taumelte, alle Schmerzen ignorierend.
 

Nalani blieb mit dem Kind über Nacht bei Chimalis‘ in Tuhuli. Keisha konnte Purans kleine Nase wieder heilen, aber bis der Schmerz ganz weg wäre, würde es etwas dauern, erklärte sie. Nalani war erstaunt, Salihah gar nicht vorzufinden, die doch sehr oft in Tuhuli war.

„Nein, Zoras ist gar nicht im Land,“ erklärte Keisha ihr, als sie spät abends in der Stube saßen und Tee tranken.

„Wie, nicht im Land?“

„Nicht in Dokahsan,“ erläuterte die Heilerin, „Er wollte nach Pinhu und vielleicht auch ins Hochland oder ins Gebirge von Kadoh, er sucht nach Denmor.“

„Denmor?!“ keuchte Nalani entsetzt und verschüttete beinahe ihren Tee. „Was will er denn von dem?!“

„Keine Ahnung, er hat nichts gesagt, Nomboh ist auch leicht angenervt, weil der Herr sich einfach aus dem Staub macht und das Anwesen und die Verwaltung des Clans uns überlässt, ohne zu sagen, wieso. Ich hab irgendwie das Gefühl, das mit Denmor ist nur eine faule Ausrede.“

„Wieso Ausrede? Wohin sollte er gehen, ohne dass ihr es wissen sollt? Dass er Salihah besucht, verschweigt er euch doch wohl nicht mehr, das weiß doch jeder Depp inzwischen, außer Tabari vielleicht, aber zu Salihah ist er ja auch nicht gegangen…“

„Über Salihah sagt kein Mensch was,“ meinte die Heilerin, „Natürlich wissen das alle, selbst die kleine Ruja hat das schon kapiert, und die ist erst zwölf!“ Sie trank einen Schluck. „Nein, die Sache ist die… niemand spricht es aus, aber wir alle haben so das Gefühl, dass Zoras anfängt, seinen Posten als Clanführer Stück für Stück an Meoran abzuschieben… Meoran ist der einzige männliche Nachkomme und deswegen natürlich der Erbe des Clans. Natürlich ist Meoran längst alt genug für die Verantwortung, aber es ist ja nicht so, dass Zoras alt und klapprig am Stock geht, er wird doch erst vierzig, liebe Güte. Nomboh meint, er hätte einfach nach all dem Schlamassel keine Lust mehr auf seinen Posten und die Verantwortung. Du kennst ihn ja, er… ist kein Typ dafür, von früh bis spät hier parat zu sein und Dinge zu verwalten, er tut das genug im Rat der Geisterjäger, erst war es, weil Kelar seine Aufgaben als Führer des Rates vernachlässigt hat und jetzt, weil Tabari noch nicht drin ist in der Verantwortung. Zoras kann nicht ewig am selben Ort bleiben, er… braucht diese ewigen Reisen, vielleicht ist es weniger, um Denmor zu suchen, sondern mehr als Erholung gedacht… wir alle verübeln ihm das keineswegs, aber er hätte ruhig ehrlich mit uns reden können!“ Nalani seufzte nachdenklich. Sie fragte sich, was wohl mit Denmor sein sollte. Sie hatte ewig nicht von Kelars Handlanger aus dem Emo-Clan gehört… der lebte noch? Sie müsste Salihah danach fragen… was immer Zoras in Anthurien und den Bergen tat, sie würde es wissen. Selbst dann, wenn er es ihr nie gesagt hätte.
 

Puran träumte einige Nächte später von dem Monster-Reh. Es sah ihn an aus toten Augen und bewegte sich kein Stück. Dann hopste es mit einem Mal davon, als er sich auf es stürzte und seinen kleinen Speer danach warf. Er verfehlte das Reh, aber Ram Derran, der plötzlich aus der Finsternis auftauchte, erlegte es mit einem gekonnten Speerwurf und streckte es nieder.

„Verlierer,“ sagte der Schwarzhaarige Junge mit den giftgrünen Augen. Dann warf er plötzlich seinen blutigen Speer direkt auf Puran zu, dabei lachte er gehässig. „Ich bringe dich um, Lyra!“

„Nein!“ schrie der Junge und fuhr keuchend aus dem Schlaf hoch. Er hatte sich irgendwie auf die Kante seines Bettes gewälzt und fiel jetzt nach dem plötzlichen Aufsetzen mit lautem Gepolter aus dem Bett zu Boden. Da lag er eine Weile keuchend auf dem Rücken und kämpfte gegen den Schwindel, der ihm plötzlich kam und die Sicht vor seinen Augen für einen Moment verdunkelte. Er sah noch immer das Reh, das ihn anstarrte… das er immer noch verfehlte.

Als er sich benommen aufsetzte und das Zimmer verließ, um sich im Bad etwas zu Trinken zu holen, wo immer ein Kübel mit Wasser stand, erschrak er sich beinahe zu Tode, als im Bad plötzlich jemand war. Doch ehe er aufschreien konnte, erkannte er schon, dass es nur seine Großmutter war, die auf einem Schemel neben der Badewanne saß, den Kopf in den Händen vergraben. Sie bewegte sich nicht und schien ihn nicht zu bemerken, auch nicht, als er näher heran schlich und sie vorsichtig antickte. Schlief die hier im Sitzen auf dem Schemel? Er erinnerte sich, dass sie einmal in der Küche mit dem Kopf auf dem Tisch geschlafen hatte, das war nicht lange nach dem Tod seines Großvaters gewesen; damals hatte er es nur mitbekommen, weil er von dem Gemecker seines Vaters darüber aufgewacht war, der die Großmutter offenbar schlafend in der Küche gefunden hatte. Irgendetwas hatte er von Wein geredet, der plötzlich restlos leer gewesen war, und Großmutter hatte dann, als Tabari sie geweckt und hinauf getragen hatte, sehr seltsame Lieder gesungen und seltsamerweise schallend gelacht, als sie vom Ende der Welt geredet hatte.

Puran fragte sich, ob er seine Eltern holen sollte. Aber zuerst versuchte er, sie anzusprechen.

„G-Großmutter?“

Und er erschrak sich beinahe erneut zu Tode, als sie mit einem Mal den Kopf hoch riss und ihn aus vernebelten, entsetzlichen Augen anstierte, dabei keuchte sie heftig.

„Du bist wach… Puran…?“ stöhnte sie, aber ihre Stimme klang fremd und nicht wie ihre eigene. Puran erschauderte. Das hatte er schon mal erlebt… wenn sie so seltsam war, war sie in der Geisterwelt mit der Seele, dann sah sie Bilder und hörte Stimmen…

„Großmutter, wieso sitzt du hier?“ wollte er wissen, und der Schleier vor ihren Augen lichtete sich. Plötzlich sah sie ihn normal an, aber sie sah todkrank aus. Sie war leichenblass und dünn geworden über den Winter. „Hast du… was gesehen, Großmutter?“ flüsterte er heiser, und Salihah vergrub stöhnend den pochenden Kopf in den Händen. Es schmerzte so abscheulich und grauenhaft, dass sie nicht hatte schlafen können. Sehen…? Der war gut… sie sah gar nichts, nicht den Hauch eines Bildes, und das seit zwei Tagen. Das beunruhigte sie extrem, und jetzt war Zoras nicht einmal da, bei dem sie sich ausheulen könnte. Sie konnte nicht Nalani mit ihrem Kummer belasten, Nalani war jung und hatte viel zu tun. Sie selbst wurde alt… das merkte sie jetzt, wo sie offenbar komplett erblindet war im Inneren. Und keine Spur von Denmor.

„Wieso bist du denn auf?“ fragte sie ihren kleinen Enkel also zurück, ohne zu antworten, und er scharrte mit dem nackten Fuß auf dem Steinboden herum.

„Ich… hatte wieder so einen Traum.“

Salihah sah ihn eine Weile an. Dann nahm sie ihn plötzlich in den Arm und strich ihm sanft über den Rücken und den Hinterkopf.

„Du hast… oft solche Träume… immer denselben, habe ich recht? Denselben, der sich ändert, je nachdem, was du fühlst und was dich beschäftigt…“ Sie schob ihn wieder etwas von sich weg, was er bedauerte, da er in seiner Nervosität ihre Nähe und Wärme genossen hatte. Sie strich ihm mit den eiskalten Händen über die Wangen und sah ihm lange lächelnd ins Gesicht. „Lass dich ansehen, mein hübscher kleiner Enkelsohn… äußerlich hast du die Augen deines Vaters… aber deine innere Sehkraft ist sehr stark. Das hast du wohl von deiner Mutter. Ich… sehe Großes in dir, Puranchen… ich weiß, du fürchtest die Magie, ich weiß auch warum.“ Er erstarrte. Sie wusste das alles? Einfach so…?

Sie sah seine Gedanken.

„Ich bin Seherin, mein Kleiner. Ich sehe Dinge, die Menschen denken… Dinge, die Menschen fühlen… Dinge, die sie gedacht haben und manchmal auch Dinge, die sie… eines Tages denken werden. Du, Junge… bist nicht dazu bestimmt, dein Leben lang wegzulaufen. Du bist… dazu bestimmt, ein großer Mann zu sein. Fürchte dich nicht vor den Träumen… sie zeigen dir nur den richtigen Weg. Du merkst es… ja schon selbst, nicht wahr?“

Das Kind senkte benommen den Kopf.

„Aber… ich fühle mich zu klein dafür…“
 

Der Bruch mit Kannar war nicht leicht. Puran und er mieden sich den Rest des Winters, wenn sie sich in der Schule begegneten. Travi konnte sich nicht entscheiden, zu wem er halten sollte, aber da Kannar nicht mit ihm redete, entschied er sich schnell für seinen Banknachbarn.

„Ich verstehe das nicht,“ sagte der Dicke immer wieder, selbst im Frühjahr noch, während er mit seinem Freund Puran auf dem Schulhof saß und den anderen Idioten beim Spielen zusah. Sie hatten beide keine Lust, etwas zu spielen. Travi war kein Freund von viel Toben, er saß lieber in Frieden irgendwo, aß und spielte dabei Mühle oder Dame. Jetzt hatten sie weder Lust auf Dame noch auf Mühle. „Ich meine… ich verstehe das nicht!“

„Ja, Travidan, ich weiß!“ schnaufte Puran genervt, „Das sagst du seit dem Winter zum dreihundertsten Mal! Vergessen wir Kannar, den Idioten, am besten, wir reden nie mehr über ihn!“

„Und nach Broti darf er auch nicht,“ entschied Travi beleidigt, „Der redet mit mir nicht mehr, dabei hab ich nichts getan – na ja, du auch nicht…“ Der Braunhaarige seufzte. Plötzlich entdeckte er Kannar am Ende des Hofes. Er übte an einem morschen Stock das Heilen und zerbrach ihn dabei aus Versehen – wie immer. Er sah eine Weile zu dem kleinen heiler herüber, der keinen Moment aufsah, wie er alleine da hockte und mit seinem Stock oder dessen Resten spielte. Irgendwie wollte er jetzt hinüber gehen und fragen, ob sie nicht einfach wieder wie früher Freunde sein könnten… aber irgendwie stellte sich da sein Stolz in den Weg. Kannar hatte ihn belogen und die Freundschaft war geheuchelt gewesen. Der heiler wollte doch in Wahrheit gar nichts von ihm wissen; von Travi anscheinend auch nicht. Puran fragte sich grimmig, wie er sich hatte in jemandem so derartig täuschen können.

Die Enttäuschung und der Zorn über Kannar verschafften ihm eine unangenehme Übelkeit, und er erhob sich murrend, entschuldigte sich bei Travi und ließ ihn dann alleine, weil er plötzlich das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen, und das nicht auf Travis Füße tun wollte. Als er das Schulgebäude erreichte und an der Seite entlang in Richtung Hinterhof gehen wollte, wurde ihm mit einem Mal schwarz vor Augen. Er strauchelte, hielt sich noch benommen an der Wand fest und keuchte dann, als die Bilder zurückkehrten. Das tote Reh. Das Lachen seines Großvaters, Ram Derrans Gesicht, mit weit aufgerissenen Augen, dazu unpassend seine vor Hass verzerrte Stimme.

„Ich bringe dich um, so… wie ihr Schuld seid am Tod meines Bruders!“

Puran keuchte. Sein Kopf schmerzte. Als er sein Augenlicht wieder hatte, hockte er auf allen Vieren am Boden, am ganzen Leibe zitternd. Das Übelkeitsgefühl war immer noch da, aber anders als zuvor, und er hob stöhnend den Kopf, als er registrierte, dass jemand vor ihm stand. Er blickte hinauf in Ram Derrans hasserfülltes Gesicht.

„Was ist?“ grunzte der Schwarzhaarige und pustete sich mürrisch ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, „Hat dich was überfahren? Ich würde es ehren, das Ding, dass es getan hat, glaub mir.“ Puran stöhnte, setzte sich hin und fuhr sich zitternd mit den Händen durch die Haare. Nein, mit dem Idioten wollte er sich gerade nicht auseinandersetzen.

„Hau ab, Ram!“

„Ist das dein reich hier, Prinz Lyra?“ schnaubte der Ältere und trat nach ihm, „Du hast wohl ein Rad ab! Ich bin, wo ich sein will, und fertig.“ Der Braunhaarige sah empor und stöhnte erneut ob der Kopfschmerzen, als das Bild des Rehs und des verschreckten Rams erneut vor seinen Augen aufflackerte.

„Das Reh…“ stöhnte er benommen, und Ram, der gerade kommentarlos weitergehen wollte, hielt an und sah plötzlich entsetzt auf ihn herab. „W-was… was ist mit dem Reh passiert… i-n dem Winter…? Sag es mir…“

Dann wurde er gepackt und am Kragen hoch gerissen, ehe er sich versah, rammte der ältere Junge ihn wütend brüllend gegen die steinerne Mauer neben ihnen und drückte mit den Händen wutentbrannt seine Kehle zu.

„Das wagst du zu fragen?!“ schrie er ihn an, „Wie kannst du nur, du elender Lügner, du abscheuliche Missgeburt, du weißt genau, was damit war! Du weißt genau, was dein Hurensohn von Großvater damit gemacht hat! Ich verzeihe euch das niemals, Puran, niemals! Abscheuliche Bestie, sprich nie wieder von Rehen in meiner Gegenwart, oder ich schlage doch tot!“ Damit stieß er den Jungen erneut gegen die Mauer, ehe er ihn losließ und dann davon trottete. Puran stöhnte und sank wieder zu Boden, vor seinen Augen flimmerte die Welt.

Was war hier los?

Wieso hassten diese Leute ihn alle, abgesehen von Travi ausnahmslos alle? Was hatte er je getan?
 

Plötzlich kam in ihm eine unglaubliche Wut auf, und er begriff es kaum selbst, als er plötzlich wieder auf die Beine sprang und blindlings losrannte, zurück zum Hof, Ram hinterher. Der Schwarzhaarige drehte sich perplex um, als der Kleinere plötzlich keuchend und japsend hinter ihm stand und ihn aus vollem Hals anbrüllte:

„ANTWORTE, DU MISTKERL, STATT LEERE VERSPRECHEN ZU MACHEN!“

Ram fuhr zurück vor Schreck über den plötzlichen Ausraster, den er definitiv nicht erwartet hatte; aber er fasste sich schnell wieder.

„Das war kein leeres Versprechen, ich schlag dich gerne auch jetzt tot!“ fuhr er ihn an, dann schlug er mit der Faust nach ihm. Puran wich rechtzeitig aus, duckte sich und bekam Rams Handgelenk zu fassen, daran riss er ihn wütend nach vorne und schlug ihn schneller zu Boden als der andere gucken konnte. Ram hustete und spuckte keuchend Blut, als er am Boden lag und sich schnell wieder aufrichtete. Er fuhr sich über die Lippen und wischte das Blut an seinem Ärmel ab, ehe er Puran vor die Füße spuckte. „Anfängerglück,“ grunzte er, dann stürzten sich die Jungen wutentbrannt aufeinander. Puran war es nur recht, dass Ram ihn erschlagen wollte, sollte er es doch versuchen… es war ihm plötzlich egal, ob er die Antwort auf seine Träume fand; plötzlich waren das Reh, die Schreie und das entsetzte Gesicht vor seinen Augen verschwunden. Stattdessen war da nur noch Zorn, nur noch Wut auf diese verfluchte, dreckige Welt voller Mistkerle, voller Lügner, die ihn nur verletzen konnten… er würde es ihnen heimzahlen, einen nach dem anderen, als nächstes war Kannar dran, dann Mabi und sein affiger Freund… oh ja, die ganze Klasse, auch die Mädchen, jeder einzelne von diesen abscheulichen Würmer würde bluten!

Die geisterstimmen kamen in seinen Kopf und übertönten plötzlich das Rauschend es Blutes in ihm, das Pochen seines Schädels und die Schreie um ihn herum.

„Großvater konnte auch Bilder sehen und Stimmen hören und Windmesser rufen…“

„Ja, das konnte er, auch als Kind schon. Aber es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen dir und ihm…“ Der Junge erstarrte in dem Moment, als das Bild vor seinen Augen schwarz wurde und er plötzlich inne hielt, Ram vergessend.
 

„Kelar… hat niemals nicht gewollt, dass es wieder passiert. Du bist ein guter Mensch… anders als Kelar.“
 

Das nächste, was er wahrnahm, waren grauenhafte Schmerzen am ganzen Körper. Er lag auf der Erde auf dem Rücken und starrte keuchend durch mit Blut verklebten Augen in den Himmel. Als er es wagte, den Kopf anzuheben, wurde der Schmerz quasi unerträglich und er schrie auf – dann sah er Ram, der ebenfalls auf dem Boden saß und sich japsend das blau geschlagene Auge rieb. Zwischen ihm und Puran stand jemand.

„Jetzt ist aber genug! Lass meinen Freund in Ruhe, oder… oder ich breche dir alle Knochen, darin bin ich nämlich Mister, wenn ich schon nichts anderes Tolles kann!“

Puran erstarrte bei der vertrauten Stimme. Als er mühsam den Kopf hob und sich aufsetzte, erkannte er Kannar, der mit ausgebreiteten Armen vor ihm stand, ihm den Rücken kehrend. Er keuchte leise.

„W-wieso…?“ Kannar drehte schnaubend den Kopf und wurde rot.

„Denkst du, ich lasse meinen Freund im Stich?“ nuschelte er, „Wir reden, wenn du wieder heil bist…“
 

„Schon wieder ihr zwei,“ schimpfte die Direktorin erbost, „da es offenbar keine Möglichkeit gibt, euch beide auseinander zu ziehen, werdet ihr ab heute jedes Mal härter bestraft, wenn ihr euch wieder prügelt! Das ist ja furchtbar! Eine Stunde Nachsitzen, alle beide, keine Widerrede.“ Ram und Puran würdigten sich keines Blickes, während eine Heilerin sie wieder zusammen flickte. Puran schwindelte noch immer. Die Antwort für den Traum hatte er immer noch nicht… jetzt verblasste das Bild des Rehs vor seinen Augen, das wieder aufgetaucht gewesen war, als letztes verschwanden die roten Augen, die ihn seit Monden verfolgten und nicht losließen. In der Tür standen auch Kannar und Travi. „Mir ist vollkommen egal, wer wen gehauen hat und warum,“ sagte die Direktorin wütend, „Hauptsache, ihr macht es nicht wieder. Ist das klar? Auf dem Schulgelände benehmen wir uns ordentlich und gesittet, Ram und Puran, verstanden?!“

„Ja, Frau Direktorin,“ sagten sie missmutig im Chor.

„Sehr schön, dann verschwindet, sobald die Heilerin fertig ist. Wir sehen uns heute Mittag zur Strafarbeit. An sich darf Kannar gleich mitmachen, der hat auch mitgemacht, wenn auch nur sporadisch.“

„Na toll,“ seufzte Kannar, widersprach aber nicht weiter.
 

„Wieso hast du das gemacht?“ murrte Puran, als sie am Nachmittag endlich mit der Strafarbeit fertig waren und er mit Kannar als letztes den Hof verließ. Ram war längst weg – umso besser, dachte der Junge sich. „Was ist eigentlich passiert?“ Kannar verknotete etwas verlegen seine Finger.

„Ich wollte sagen… e-es tut mir leid, was im Winter in Gahti war!“ kam dann. „Es ist wahr, dass mein Vater daran Schuld ist, dass ich… dich angesprochen habe, alleine hätte ich mich das nie getraut-… aber als wir und Travi dann so zusammen gespielt und Jagen geübt haben, hat… d-das total Spaß gemacht, und… ich hab das nicht gemacht, weil mein Vater es wollte, sondern, weil ich… gern dein Freund bin!“ Das letzte war mehr genuschelt und Puran verstand es nicht, weil der kleine Heiler sich verlegen weggedreht hatte. Verdammt, wie unmännlich, schimpfte Kannar sich selbst.

„Was hast du gesagt?“ wollte sein Freund verwirrt wissen, und Kannar schnappte nach Luft. Musste er das noch mal sagen? Das war peinlich genug, so herum zu sülzen! Aber jedes Wort war ernst gemeint… Er gab sich also die Mühe und sagte es lauter.

„Ich möchte, dass wir Freunde sind! W-wenn du mir verzeihst, heißt das…“ Puran schnaubte.

„Und dieses Mal sagst du das nicht, weil dein Vater dich sonst verprügelt?“ kam dann schnippisch.

„Nein… dieses Mal sage ich es, weil ich es so will!“ Der Braunhaarige kratzte sich am Kopf. Dann seufzte er und lächelte.

„Also… wenn du es ehrlich meinst, freut es mich sehr – Travi sicher auch. Und jetzt erzähl, was mit Ram passiert ist, ich weiß nur, dass ich plötzlich am Boden war…“ Der Heiler hustete.

„Du warst ganz komisch und plötzlich hast du dich nicht mehr bewegt, da hätte Ram Derran dich beinahe zu Tode geschlagen, deshalb… deshalb habe ich ihn aufgehalten, ihm voll in die Fresse gehauen und, ähm… ja, dann saß er und dann war es vorbei.“ Puran blinzelte.

„Ich war… komisch?“ murmelte er benommen, und plötzlich erinnerte er sich an die Bilder und an die Stimmen, die ihn verfolgt hatten.

„Du bist anders als dein Großvater. Du bist ein guter Mensch…“

Er blieb stehen und fasste nach seinem Kopf.

„Da… vorhin…“ keuchte er apathisch, „I-ich… hab gar nicht darüber nachgedacht, was ich tue, ich… hab mich einfach auf ihn gestürzt… ich fürchte, die anderen Leute haben recht, ich bin wirklich ein Monster!“ Kannar sah ihn ungläubig an.

„So ein Blödsinn,“ schnappte er, „Du hast ihn ja nicht getötet!“

„Aber vielleicht hätte ich es aus Versehen getan, wenn du nicht gewesen wärst!“ schrie Puran panisch, „I-ich, e-es ist nicht gut, wenn Travi und du meine Freunde seid! Vielleicht bringe ich euch aus Versehen um!“

„Wir haben keine Angst vor dir,“ grinste der Heiler zuversichtlich und wollte Puran auf die Schulter klopfen – aber Puran wich zurück und schnappte verzweifelt nach Luft.

„I-ich, nicht anfassen…“ stammelte er, „Es ist zu gefährlich, es… ist vielleicht besser, wenn wir uns nie wieder sehen…“

Er hörte nicht, was Kannar versuchte, auf ihn einzureden. Alles, woran er denken konnte, war dieser ungezügelte Hass, den er auf Ram Derran verspürt hatte, auf die ganze Welt… derselbe Hass, den sein Großvater einst auf die Welt gehabt haben musste. Dann hieß das, er wurde trotz der Medizin immer mehr wie er…?

Das darf ich nicht zulassen, ich darf nicht so werden! Niemals!

Er stolperte rückwärts, plötzlich ergriffen von einer kalten, grausamen Furcht vor sich selbst oder dem, was irgendwo in ihm lauerte, wie es aussah; dieses Monster, das sein Großvater auf ihn übertragen hatte, das er den Rest seines Lebens mit sich herum tragen müsste, bis es ihn eines Tages verschlang…

Er sah den Himmel über sich Feuer fangen und ein tiefes Grollen aus der Erde ließ ihn zu Boden stürzen. Seine Großmutter hatte gelogen; er würde kein großer Mann, sondern ein Ungeheuer werden!

„Puran!“

Er riss keuchend die Augen auf, als jemand seinen Namen rief. Er lag wieder am Boden, über sich sah er Kannars Gesicht; und nicht nur das. Seine Mutter war gekommen. Ihre Hand fuhr über seine Stirn.

„Das ist nicht gut,“ bemerkte sie, „Diese Visionen machen dich krank, mein Kind, du fieberst…“

„I-ich, er ist plötzlich neben mir zusammengebrochen…!“ stammelte Kannar, Nalani beruhigte ihn.

„Hab keine Angst. Das wird schon wieder. Ich bringe dich heim und mein Kind nach Tuhuli. Ich hab mich gefragt, wieso er nicht heim kam…“

„W-wir hatten Strafarbeiten wegen, äh, eines Streits…“ machte Kannar mit piepsiger Stimme vor Schreck über so viel Aufregung. Was passierte mit seinem Freund? Wieso sah er überhaupt so seltsame Bilder und hörte Stimmen, die niemand außer ihm hören konnte? Sicher, er als Schwarzmagier konnte seltsame Sachen, aber an sich hatte Kannar gelernt, Visionen wären nur etwas für Erwachsene…

Nalani nahm ihr keuchendes, zitterndes Kind auf die Arme, ehe sie mit seinem Heilerfreund in Richtung Apotheke eilte.
 

Tabari erwartete seine Frau am Schlosstor, als sie mit dem fiebernden Kind auf den Armen nach Hause kehrte. Vom Tragen ermüdet überreichte sie ihm ihren Sohn.

„Ins Bett,“ war alles, was sie sagte, „Rasch, Tabari.“

„Was hast du mit ihm gemacht?“ wunderte der Blonde sich besorgt, „Er hat Fieber…“

„Jetzt bring ihn hoch, ich bin völlig erschossen, ich bin von Gahti bis hierher zu Fuß gerannt mit ihm!“ Tabari gehorchte netterweise und brachte das Kind hinein. Eine Dienerin brachte kalte Lappen, die Nalani dem Kind auf die Stirn legen konnte, während Tabari und Salihah stirnrunzelnd in der Tür des Kinderzimmers standen. An Salihahs Bein klebte die kleine Alona, die sich langweilte.

„Ist er krank, Onkel?“ fragte sie Tabari. Der Blonde seufzte.

„Ich weiß auch nicht…“

„Er ist auf der Straße zusammengebrochen,“ erzählte seine Frau besorgt, „Sein Freund hat erzählt, es hätte wieder eine Schlägerei mit dem Derran-Jungen gegeben…“ Salihah unterbrach sie.

„Es ist keine sinnlose Schlägerei, die ihm Fieber verschafft, es ist sein überlasteter Geist, Nalani. Du solltest das besser wissen und nicht dumm herum raten…“ Alle verstummten und während Puran benommen die Augen aufschlug und nur die Hälfte von dem mitbekam, was um ihn herum geschah, sah seine Mutter alarmiert auf.

„Wovon sprichst du?“ fragte sie Salihah kalt.

„Dein Kind sieht Visionen und hört Stimmen, falls es dir entgangen ist,“ machte Salihah verblüfft über die Frage, „Er ist erst sechs und viel zu jung, um die gewaltige Macht seiner Gaben erfassen zu können, und ihr gebt ihm Blocker, Keisha und du… ihr solltet wissen, dass die dauerhafte Unterdrückung seiner geistigen, hervorragenden Instinkte dazu führt, dass sein Geist eines Tages explodiert, wenn man so will, oder, Nalani?“

Tabari erstarrte.

„Mein Sohn explodiert?!“

„Oh nein,“ machte Alona schockiert, „Machen wir eine Bestattung?“

„Dachtest du, ich bemerke die Blocker nicht, die du ihm ins Wasser mischst, Nalani?“ fragte Salihah langsam und betrachtete ihre Schwiegertochter, „Nalani… sieh mich an. Dachtest du, ich kenne das nicht selbst? Ich sehe Bilder, seit ich geboren wurde, man hat bei mir ebenso versucht, mich von der Last zu befreien und dem ein Ende zu setzen mit Blockern, insgesamt haben… die es nur schlimmer gemacht und wer weiß, vielleicht verdanke ich den Medikamenten von damals meine heutige Migräne.“

„Deine Migräne ist nur Abhängigkeit von Opium,“ sagte Tabari kopfschüttelnd.

„Ach, fahr mir nicht dazwischen, oder muss ich garstig werden?!“ fauchte sie und er hielt den Mund. Ja, wenn man sie darauf ansprach, rastete sie meistens aus; es war ein hoffnungsloses Unterfangen, sie von dem Laudanum weg zu bekommen, hatte der Blonde gemerkt. Kiuk und er hatten einmal versucht, alles Laudanum zu verbrennen, damit Salihah keins mehr hatte, das war eine Katastrophe gewesen; die Frau war vollkommen ausgerastet und hätte in ihrem Wahnsinn ob der fehlenden Droge beinahe die Pferdeställe niedergebrannt. Zum Glück hatte Kiuk eine Flasche sicherheitshalber aufgehoben und sie damit rechtzeitig besänftigt. Seitdem versuchte niemand mehr, ihr das Laudanum wegzunehmen, nicht einmal Zoras Chimalis schien sich das zu trauen, der oft zu Besuch gewesen war in den letzten Monden.

„Deswegen bekommt er Fieber, sein Körper und sein Geist sind nicht gut genug aufeinander eingestimmt, um den Blockern standhalten zu können,“ erklärte die Frau in dem Moment, als Nalani aufstand.

„Wieso weißt du von all dem?“ fragte die Jüngere und schnappte unwillkürlich nach Luft, „Ich habe doch extra darauf geachtet, dass-…“

„Dass was? Ich bin die Seherin, denkst du, mir entgeht irgendetwas in diesem Schloss?“ schnaubte Salihah und hob kühl den Kopf. „Ich hätte dich für vorausschauender gehalten, Tochter.“ Nalani senkte verbittert den Kopf.

Ja, und das mit Recht. Was war mit ihr los? Sie fasste bebend nach ihrem Kopf und wandte sich dann zum Fenster, den anderen den Rücken kehrend.

„Vergib mir,“ murmelte sie dabei, „Ich… weiß doch nicht, was ich tun soll, Salihah. Wenn ich zulasse, dass die Instinkte zurückkehren, geschieht ein fürchterliches Unglück, du weißt doch, was an Purans erstem Schultag war! Wir sind die Statthalterfamilie und verantwortlich für das Volk! Was Kelar vergessen hat, sind die Menschen, es ist unsere Pflicht, sie an erste Stelle zu stellen, vor uns selbst und unsere eigenen Kinder. Ist es nicht so?“ Salihah und Tabari sahen sich an. Dann war es der Mann, der zu seiner Frau ging und ihr tröstend durch die schwarzen Haare strich.

„Quäl dich nicht,“ murmelte er, „Deine Aufgabe ist nicht das Volk, sondern das Kind. Ich bin… der Statthalter, und nicht du, Nalani. Wie ich gesagt habe, du… kannst nicht alles in der Hand halten. Du kannst nicht das Volk und dein Kind zugleich lieben und versorgen. Dafür sind… wir ja zwei.“ Er grinste sie an, sobald sie den Kopf zu ihm drehte, und seufzend entfernte sie seine Hand von ihrer Schulter und drehte sich wieder zu ihm um. Sie setzte sich wieder auf die Bettkante und wechselte den Lappen auf Purans Stirn.

„Und was soll ich machen, Salihah, wo du doch alles weißt und siehst?“ Die Ältere überhörte die schnippischen Bemerkungen.

„Was immer Keisha und du dem Kind gebt, Nalani… hör damit auf, so schnell wie möglich. Wenn ihr so weiter macht, wird er nur öfter Fieber bekommen und seine Instinkte sind hinterher vielleicht für immer gestört.“ Nalani sah ihren Mann an.

„Und was, wenn wieder so etwas passiert?!“

Es war nicht Nalani, die das fragte, sondern Puran, der plötzlich wieder wach war und entsetzt hinüber zu Salihah starrte.

„Mutter sagt selbst, w-wir können das nicht kontrollieren, wenn ihr es nicht könnt, wie soll ich es alleine können, ohne Medizin bin ich doch verloren, Großmutter! I-ich werde ein Monster werden!“ Er setzte sich keuchend auf, worauf Nalani ihn sanft wieder ins Bett drückte.

„Du bleibst artig da, du bist krank!“ befahl sie streng. Puran stöhnte. Sein Kopf schmerzte…

„Es ist mir egal, ob ich davon krank werde, Großmutter, ich möchte kein Monster sein wie Großvater!“ Salihah schnitt ihm das Wort ab.

„Dann verleugnest du also deine Gaben, gaben, die selten sind und die dich dazu privilegieren, der Erbe dieser Familie zu sein?“ schnaubte Salihah ungewöhnlich kalt, „Die Geister werden dir zürnen, Puran, das ist nicht der Wille von Vater Himmel und Mutter Erde. Die Geister suchen sich andere Wege in deine Seele, wenn der normale Weg blockiert wird. Und vielleicht wirst du daran sterben und deine Eltern damit todunglücklich machen, willst du das?!“ Puran schnaubte.

„Ich bin weder ein Erbe noch ein Magier noch sonst irgendwas, ich… ich will doch nur, dass es aufhört!“

„Es wird dein Leben lang nicht aufhören, solange du davonläufst und nicht deinem Schicksal ins Auge siehst!“ fuhr Salihah ihn barsch an, das Kind fuhr erbleichend zurück ob ihres Zorns. Was war los…? „Wir alle müssen uns einmal unseren Ängsten stellen, früher oder später, auch du wirst es müssen, spätestens dann, wenn deine liebe Mutter, die dich viel zu sehr umhegt, dich nicht mehr beschützen kann, Puran! Wir alle werden geboren und sterben durch den Willen der Geister, du kannst dich nicht gegen ihre Bestimmung wehren, du wirst es noch lernen!“

„Mutter, das reicht!“ rief Tabari plötzlich dazwischen, worauf sie verstummte. Er seufzte, als sie ihn finster ansah. „Schrei meinen Sohn nicht an, wenn du schlechte Laune hast, lass sie an etwas anderem aus!“ Puran sagte nichts und klammerte sich an seine Mutter, die neben ihm saß.

„Sei vorsichtig, Herr der Geister,“ sagte Salihah zu Tabari, ehe sie aus der Tür ging und die verwirrte Alona dabei mit hinaus schob. „Du weißt, was deine Aufgabe ist. Dann werde ihr gerecht, sowohl als Ratsführer als auch als Vater.“ Damit ging sie und ließ die kleine Familie zurück in Purans Zimmer. Der Junge sah verzweifelt seine Mutter an.

„W-wenn ich keine Medizin mehr bekomme… dann wird es schlimmer, sicherlich!“ stammelte er, „Ich… ich würde furchtbare Sachen tun…!“

„Du wirst nichts dergleichen tun, mein Sohn,“ widersprach Tabari ernst, „Du hast seit dem Tag nämlich gelernt, stehen zu bleiben… und nicht wegzurennen, nicht wahr? Die Geister sind nicht böse. Sie wollen dir helfen dabei, deinen Weg zu finden.“

„Und wenn sie den falschen Weg für mich gewählt haben? Einen bösen Weg?!“ empörte Puran sich panisch. Nalani starrte ihn an.

„Puran! Wieso sollten die Geister so etwas tun?! Sie irren sich nicht, Sohn. Du musst dich nicht vor ihnen fürchten.“ Der Junge drehte verbissen den Kopf weg, als ihm erneut schwindelte.

„Vielleicht nicht vor allen,“ brummte er missmutig, ohne den Rest seiner Gedanken auszusprechen.

Sie wussten nichts. Sie hörten vielleicht nicht des Großvaters Lachen in der Nacht, wie sollten sie es wissen?

„Du kriegst deine Medizin noch eine Weile,“ versprach Tabari da und riss das Kind so aus seinen Gedanken, „Wir können dir das nicht geben, bis du alt genug für eine Lehre bist. So, wie es aussieht, würde es vorher deinen Geist zerschmettern. Du wirst sie kriegen, bis du lernst, mit der Grundmagie umzugehen.“

„Aber…?“ machte Nalani verblüfft, Tabari jedoch sah sie ebenfalls schweigend an, worauf sie den Kopf wegdrehte. Sie hasste es, wenn er plötzlich versuchte, sich durchzusetzen; aber sie fügte sich gehorsam, wenn er sie auf diese Weise ansah. Als der Vater sich zum Gehen wandte, fuhr Puran keuchend wieder hoch, bis er saß.

„Fein!“ schnappte er, „Dann werde ich niemals Magie lernen!“
 


 

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spääät x____x halb vier morgens und alles in ordnung... *sing* xDD Fillerkapi in dem nichts passiert. egaaahl! xD

Kontrolle

Wenn Puran dachte, der Magie aus dem Weg zu gehen wäre leicht, hatte er sich schwer getäuscht; und es sollte nicht lange dauern, bis er das zu lernen hatte. Egal, wie sehr er versuchte, die Gaben, die ihm geschenkt worden waren, zu unterdrücken und in eine innere, winzige Kammer seines Geistes zu sperren, egal, wie viel von der Medizin er bekam und wie lange er es tatsächlich kontrollieren konnte, eines Tages brachen die Impulse der Magie aus ihrem Kämmerlein aus und warfen ihn gnadenlos zurück in die Wirklichkeit;

In die Wirklichkeit, dass er als Magier geboren worden war und nicht davon rennen können würde.
 

Im Wald war es finster. Der Junge rannte, um das tote Reh zu erreichen, das vor ihm weglief. Egal, wie schnell er rannte, das Tier lief schneller und schneller, bis das Kind plötzlich wütend ob des Misserfolges seinen Speer hoch riss und ihn mit aller Kraft nach dem Reh schleuderte. Die goldene Spitze des riesigen Speeres durchbohrte das Fleisch und streckte das Tier nieder, sein Blut besudelte die pechschwarze Erde des Waldes. Bebend stand Puran über der erlegten Beute und starrte keuchend auf sie herab, die kleinen Hände verkrampft zu Fäusten geballt.

Er hatte es getötet. Er hatte es getroffen und jetzt war es tot… wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet? Wie oft hatte er diesen Traum gehabt, wie viele Nächte auf die Antwort des Rätsels gewartet…?

Aber statt der ersehnten Antwort kam Ram Derran. Plötzlich tauchte der Junge aus dem Nichts vor Puran und dem Reh auf, starrte ihn schweigend und hasserfüllt an, die Fäuste ebenfalls geballt.

„Ihr seid Schuld!“ zischte er dann und verengte die schmalen Augen zu noch schmaleren Schlitzen. „Ihr seid Schuld, weil ihr alles besitzen und beherrschen wollt, ihr Lyras! Ihr widerwärtigen Schweinehunde, euretwegen musste mein Bruder sterben!“ Er trat nach dem toten Reh und Puran fuhr zurück, als er plötzlich kalte Hände auf seinen schmalen Schultern spürte. Eine kehlige Stimme, die er kannte und fürchtete, krächzte ihm ins Ohr:

„Willst du dir das gefallen lassen, mein Enkel? Mein Erbe…?“ Der Junge erzitterte und wollte schreien, als sein Großvater ihm den Kopf tätschelte, als Ram, der ihn so hasste, auf ihn zu stürzte mit erhobener Faust, um ihm den Verstand aus dem Kopf zu prügeln… doch ehe etwas geschehen konnte, explodierte mit einem ohrenbetäubenden Krachen der Himmel. Ein glühend heißes, tödliches Feuer ergoss sich über die Welt und zerstörte Kelar und Ram, fraß das Reh und zog einen lauernden Kreis um den Jungen, der sich hastig umdrehte, umzingelt von Flammen, die empor schossen. Sie waren überall und sie kamen näher, sie zischten ihn an und verhöhnten ihn.

„Narr, Puran… du kannst nicht fliehen. Egal, wohin du läufst, wir sind bei dir. Egal, wie schnell du läufst, wir sind schneller. Du kannst nicht weglaufen vor dem Ende der Welt.“

„Nein!“ schrie der Junge panisch und versuchte es dennoch, aber der Feuerkreis war zu eng, die Flammen verbrannten schmerzhaft seine Beine, als er ihnen zu nahe kam. „D-das Ende der Welt?!“ empörte er sich, „Ihr Geister seid Lügner!“

„Ja, das Ende,“ sprachen die Flammen bösartig. „Dein Weg ist versperrt.“
 

Puran fuhr schreiend aus dem Schlaf hoch. Eine Weile lag er keuchend da und lauschte dem Rauschen des Blutes in seinem Kopf, er fragte sich kurz, ob er wirklich geschrien hatte oder ob das zum Traum gehörte, denn nichts geschah… wo war seine Mutter? Er erinnerte sich, dass sie früher immer gekommen war, wenn er nachts aufgewacht war. Aber der letzte Traum, den er gehabt hatte, war weit über zwei Jahre her. Vielleicht war Nalani es nicht mehr gewohnt, zu kommen, vielleicht hatte sie vergessen, dass es die Träume gab… Puran hatte es selbst vergessen bis zu diesem Moment. Bis zu dieser Nacht, in der die Geister ihm grausam bewusst gemacht hatten, dass sie noch da waren… in seinem Inneren, überall. Und sie würden ihn nicht verschonen, egal, wohin er rannte.

Es war nicht seine Mutter, sondern seine Großmutter, die kam. Sie war notdürftig in einen seidenen Morgenmantel gehüllt und ihre schwarzen Haare standen zerzaust von ihrem Kopf ab, als hätte sie sich viel im Bett herum gewälzt. Großmutter sah seltsam aus, wenn sie nicht hübsch gemacht war, fand der Junge; wie eine alte Wetterhexe, gruselig und dennoch ehrerbietend.

„Du siehst Bilder… ich habe euch doch vor Jahren gesagt, dass du nicht wegrennen kannst, Puran,“ war Salihahs kühler Kommentar. Der fast neun Jahre alte Junge setzte sich heftig atmend im Bett auf.

„Warum bist du hier?“ wollte er kleinlaut wissen.

„Weil deine Mutter schläft und nicht kommt,“ sagte die Frau. „Und einer nach dir sehen sollte, bevor du vor Angst von der Klippe springst.“ Sie setzte sich ruhig zu ihm ans Bett, griff ein Glas vom Nachttisch und füllte mit einer Handbewegung mittels des Zaubers Alara Wasser hinein. „Trink, das tut gut,“ erläuterte sie ihr Tun, als sie ihrem Enkel das Wasserglas hinhielt. Er nahm es stumm und trank einen Schluck. Es war seltsam; obwohl Großmutter gruselig aussah, beruhigte ihn ihre Anwesenheit tatsächlich. Es war, als könnten die Geister nicht an ihn heran, um ihn weiter zu quälen, solange Salihah da war. Al fürchteten sie diese eigenartige Frau.

„Wieso kommt jetzt nach zweieinhalb Jahren wieder so ein Traum, Großmutter?“ murmelte das Kind bedrückt, „Ich… i-ich dachte, ich hätte das… unter Kontrolle.“ Salihah lächelte sanft.

„Kontrolle, sagst du? Dummer Puran…“ Sie strich ihm zärtlich über die Wange. „Du kannst diese Gaben nicht kontrollieren. Nicht in deinem Alter. Es wird eine Zeit kommen, da du sie besser beherrschen wirst; du bist der Sohn einer großen Familie, du bist dazu bestimmt. Deine Gaben… die Geister, die du versuchst, in dir zu verstecken, erzwingen sich ihren Weg aus deinem Geist, deswegen kommen die Visionen. Je länger du versuchst, sie einzusperren, desto größer wird ihr Wille, zu entkommen. Das ist wie wenn du versuchst, ein Kaninchen in eine Kiste zu stopfen. Es wird sich wehren und wehren, wenn du es hinein pressen willst, und je länger du presst, desto schwächer werden deine Arme, weil du immer mehr Kraft verbrauchst, bis sie irgendwann nachgeben und das Kaninchen sich befreien kann.“

„Wieso geht dem Kaninchen nicht die Kraft aus?“ beschwerte Puran sich, „Es ist kleiner als ich und muss sich viel mehr anstrengen, um gegen den Deckel der Kiste zu hopsen, während ich nur drücken muss!“ Salihah lachte.

„Das stimmt… ein Kaninchen hättest du vielleicht geschlagen. Aber die Geister, Puran… die sind niemals erschöpft.“ Der Junge schwieg verbittert. Dann bedeutete das, es könnte wirklich nie vor seinem Schicksal wegrennen, weil die Geister nie aufgeben würden?

Die Großmutter stand wieder auf und drückte ihn sanft zurück ins Bett, die Decke über ihn legend.

„Schlaf,“ befahl sie leise, „Morgen ist Schule, du musst munter sein. Denk nicht mehr darüber nach. Die Geister sind launisch in der letzten Zeit.“ Damit ging sie zur Tür und hatte sie fast geschlossen, als das Kind ihr nachrief:

„Großmutter! Sag… gibt es ein Ende der Welt?“

Salihah hielt für einen Moment inne und sah ihn verblüfft über diese Frage an. Dann drehte sie sich endgültig ab und sprach, indem sie die Tür schloss.

„Niemand kennt den Anfang dieser Welt. Daher kennt auch niemand ihr Ende…“
 

Zoras Chimalis drehte mit einem Seufzen den Kopf, als seine Geliebte zurück in ihr Schlafzimmer kehrte.

„Das gab es hier wohl lange nicht…?“ fragte er sie, als sie vor dem Bett stand und ihren leichten Morgenmantel wieder auszog.

„Nein, ziemlich lange nicht,“ erwiderte sie, „Sie sollten aufhören mit den Blockern, bevor sie den Jungen damit umbringen. Hat deine Schwägerin Keisha eigentlich eine Ahnung, was sie Nalani da andreht, oder ist sie eine armseligere Heilerin als ich gedacht habe?“

„Keisha tut das nicht, um Puran zu töten, sie wollte Nalani auch nur helfen,“ machte der Mann murmelnd, während er sie ansah, als sie zu ihm ins Bett kam und nackt über ihn krabbelte. Ihre Hände fuhren sanft über seine Brust und er schauderte. „Ich weiß, ihr sorgt euch alle… der Kleine hat es nicht leicht. Die Gaben sind mächtig in seinem Geist, Salihah. Wenn sie nicht aufhören, seine Instinkte zu blockieren… wird das übel enden, du weißt das.“

„Ich spreche morgen mit meinem Sohn,“ versprach die Frau dumpf, als sie sich über ihn beugte und ihr Gesicht zärtlich an seines schmiegte. Die Wärme zwischen ihnen war angenehm… wie viele Nächte seit dem Tod ihres Mannes hatten sie jetzt schon gemeinsam verbracht? Zu viele… aber es würde keine Geister mehr geben, die ihre Vereinigungen erzürnen könnten. Er hatte keine Frau mehr und sie keinen Mann.

„Was hat Puran gesehen, Salihahchen…?“ flüsterte Zoras dumpf, während ihre Hände über seinen Körper glitten und er ihre runden Brüste gegen seine Haut drücken spürte. Sie waren immer noch prall und weich wie in alten Zeiten. Die Frau antwortete, bevor sie ihn verlangend auf die Lippen küsste.

„Das Ende der Welt…“
 

„Weil keiner den Anfang dieser Welt kennt, kennt auch niemand ihr Ende…“

Puran wiederholte die seltsamen Worte seiner Großmutter im Kopf, während er der Stimme vor sich nicht weiter zuhörte und mehr und mehr in die Finsternis seiner Gedanken abzutauchen begann. Dann wurde er plötzlich durch einen Schlag auf den Hinterkopf geweckt, darauf ertönte noch ein Klatschen neben ihm und ein Husten von Travi.

„Seid ihr wieder wach?!“ schnappte Lehrerin Kalih empört, die sich hinter der Bank der beiden Jungen aufgebäumt hatte. In der Hand hielt sie das Lehrbuch von Landeskunde. „Travidan, hör auf, im Unterricht zu futtern, und Puran, hör auf zu schlafen! Nachsitzen, alle beide!“ Die Klasse kicherte verhalten. „Ruhe, oder wollt ihr mit nachsitzen?!“ Sofort verstummten alle, während Puran sich stöhnend aufsetzt und sich den Kopf rieb, den diese brutale Frau mit dem Landeskundebuch geschlagen hatte. Er würde noch verblöden und sie wäre Schuld… Er blickte zu Travidan. Der Sohn des Müllers sah nur verblüfft zurück und ein paar Krümel fielen von seinen Lippen.

„D-du hast Tinte vom Heft auf der Backe…“ nuschelte der Blonde dann, als Frau Kalih wieder nach vorn zur Tafel ging. Puran schnaubte müde und wischte sich hastig über die Wange, ohne zu merken, dass er dabei das sauber spiegelverkehrte A nur verwischte und seine Wange damit ganz schwarz machte. Er hasste es. Konnten die ihn nicht schlafen lassen? Da kam er nachts um seinen Schlaf und in der Schule auch, weil die Lehrerin seit ein paar Tagen irgendwie besonders auf ihn achtete, hatte er das Gefühl. Während er gähnte und sich immer noch über die Wange wischte, hatte die Lehrerin ihn auch schon wieder auf dem Kieker.

„Da du ja so gut aufgepasst hast, Puran, kannst du uns sicher sagen, in wie fern sich die Landschaft von Noheema von der der anderen Provinzen unterscheidet?“ Der Junge blickte verblüfft an die große Landkarte, die sie vorne aufgehängt hatte. Zu sehen war das Land Kisara, von dem Dokahsan eine Provinz war.

Noheema? Was wollte die von ihm, was und wo war bitte Noheema?

„Noheema ist, äh, unten links!“ zischte Travi ihm noch zu, und der Junge blinzelte verwirrt auf die untere linke Ecke der Karte.

„Ähm…“ machte Puran zur Dehnung, während er nach und nach alle Blicke der Klasse auf sich zog. Einige kicherten und zeigten auf seine schwarze Wange. „Ähm, unterscheidet…?“ machte er weiter und überlegte, „Äh… dass… es an Senjo angrenzt…?!“

„Wie bitte?“ machte Frau Kalih und zeigte mit einem Stock auf die Karte, „Noheema ist im Südosten, was du meinst ist Thalurien!“ Die Klasse brüllte vor Lachen. Travi hustete.

„Du hast mir was Falsches vorgesagt, du Großmaul,“ schnaubte Puran seinen Freund an, „Du schuldest mir ein Wurstbrot, Mann!“

„Na toll… tut mir ja leid…“ Währenddessen gab Frau Kalih es auf und nahm jemanden anderes dran, der ihr dann erklärte, dass Noheema fast nur aus Wald bestand und sich dadurch von den anderen Provinzen unterschied.

„Wen interessiert der doofe Wald in Noheema?“ jammerte Puran gedämpft an Travi gewandt, „Die vierte Klasse ist noch furchtbarer als ich gedacht habe.“

„Ja, grausam. Dabei war die dritte schon so ätzend, Frau Kalih wird immer strenger, oder liegt das an uns? Wir sind ja wirklich keine Weltmeister im Aufpassen…“ meinte Travi und naschte heimlich von einer Brezel aus seiner Tasche.

„Vati sagt, wenn Frauen sich komisch benehmen und leicht reizbar sind, kriegen sie Kinder,“ orakelte Puran gelangweilt, und Travi hatte keine Ahnung; da unterbrach die Stimme der genervten Lehrerin ihr Gespräch erneut.

„So! Bevor wir gleich in die Pause gehen, habe ich noch etwas Wichtiges anzusagen. Das betrifft aber nur die Magier in der Klasse, die Nichtmagier können jetzt einen Moment schlafen.“

„Juhu!“ entfuhr es Travi, worauf alle lachen mussten. Puran stöhnte.

„Na toll. Können wir tauschen, ich schlafe und du hörst zu…“ Leider begann die Frau vorne schon zu sprechen.

„Ihr seid jetzt in der vierten Klasse und alt genug, um das Zaubern zu lernen. Es wird für das Lernen der Grundzauber einen Kurs geben, er wird jeden Montagnachmittag stattfinden im oberen Stockwerk. Herr Masava wird euch unterrichten.“ Aufgeregtes Murmeln begann. Die Mehrheit der Schüler waren Schamanen, Nichtmagier wie Travi waren nur wenige in Dokahsan. Dafür waren in anderen Provinzen nicht so viele Schamanen. Puran blinzelte. Wie bitte, Unterricht für das Zaubern? Das war nicht gut. Er wollte nicht zaubern, er hatte sich doch geschworen, niemals zaubern zu lernen! Doch ehe er darüber nachdenken konnte, fragte schon einer seiner Klassenkameraden:

„Ist der Unterricht Pflicht, Frau Kalih?“

„Was soll das denn heißen? Natürlich ist er das, es sei denn, eure Eltern oder andere Bekannte übernehmen den Teil der Ausbildung und möchten das selbst machen. Jeder bekommt von mir einen Zettel, auf dem alles steht. Gebt den euren Eltern und wenn welche von euch nicht in der Schule unterrichtet werden wollen oder können, sollen die Eltern darauf unterschreiben.“ Während sie sprach, verteilte sie bereits die zettel, bis jeder Magier einen vor sich liegen hatte. Puran betrachtete das Blatt stirnrunzelnd. „Ich möchte die Blätter morgen unterschrieben wiederhaben. Der Kurs beginn erst in einer Woche.“

Oh ja, eine Woche war gut. Bis dahin würde dem Jungen etwas einfallen… um diese Katastrophe zu verhindern.
 

„Ich verstehe dein Problem nicht,“ sagte Kannar verdutzt, als Puran wild gestikulierend mit dem halb zerknüllten Zettel vor seiner Nase herum wedelte. „Wieso willst du nicht zu diesem Kurs? Wir können uns nicht drücken, das merken die doch!“

„Na, ich muss doch auch nicht hin,“ sagte Travi. Die drei Jungen hockten wie sie es oft taten auf einer kleinen Mauer am Rand des Hofes und diskutierten über den Zauberkurs. Kannar schlug dem Blonden gegen den Kopf.

„Du kannst ja auch nicht zaubern, du Pfeife!“ Puran seufzte.

„Verstehst du nicht, wenn ich zaubern lerne, bringe ich aus Versehen Leute um! Du weißt doch, was… am allerersten Schultag passiert ist! Ich kriege seitdem Medizin, die macht, dass ich nicht zaubern kann. Wenn ich die nicht mehr nehme, passiert sowas nur wieder, das darf ich nicht machen!“

„Dann nimm sie doch weiter,“ sagte Kannar verblüfft. Puran schnaubte.

„Hallo, hast du geschlafen? Das Zeug macht, dass ich nicht zaubere, das heißt, ich kann gar nicht Vaira und so lernen, ich kann ja nicht zaubern!“

„Aaah,“ machten seine Freunde aufgeklärt im Chor und blickten sich darauf verdutzt an. Kannar kratzte sich am Kopf.

„Na, dann ist es ja ganz leicht,“ machte der Heiler, „Man muss nicht hin, wenn die Eltern einen selbst unterrichten. Du musst nur deine Eltern ankreuzen lassen, dass sie sich alleine unterrichten, und dann musst du nicht hin.“

„Aber ich will gar nicht zaubern, weder mit noch ohne meine Eltern! Niemals, kapiert?“

„Weiß ich doch,“ sagte Kannar grinsend, „Du unterschreibst einfach selbst und erzählst deinen Eltern gar nichts davon. Frau Kalih wird denken, deine Eltern unterrichten dich, und deine Eltern wissen gar nichts. Was meinst du?“ Der Braunhaarige grinste und Puran blinzelte einen Moment. Dann grinste er ebenfalls und faltete den Zettel ordentlich zusammen.

„Das ist eine hervorragende Idee, Kannar!“
 

Das erste Problem war die Unterschrift seiner Mutter, die er nicht bekommen würde. Oder seines Vaters, aber der war zurzeit unterwegs und nicht antreffbar. Zuerst dachte Puran sich, er würde einfach selbst Nalani Lyra auf das Blatt schreiben; aber nachdem er es ein paar Mal geübt hatte, fiel ihm auf, dass er seine Schrift nicht verändern konnte; Frau Kalih würde seine Handschrift erkennen. Sie war immerhin seine Lehrerin seit drei Jahren, sie hatte ihm das Schreiben beigebracht und wusste, wie er schrieb. Das hieß, er würde es jemanden anderen schreiben lassen… am besten ein Mädchen, denn Frauen schrieben anders als Männer und wenn es nach der Schrift seiner Mutter aussehen sollte –

„Da bist du ja endlich!“

Er fuhr hoch aus seinen Gedanken, die er auf dem Heimweg von der Schule gehabt hatte. Er hatte das Schloss erreicht und seine Mutter stand am Tor, höchst erzürnt mit verschränkten Armen.

„Wo bist du bitte gewesen?!“ begrüßte sie ihn barsch, „Ich warte seit Ewigkeiten auf dich!“

„Ähm…“ machte er erschrocken, „Wir, äh, mussten noch für Landeskunde was machen und das hat etwas gedauert, verzeih, Mutti…“

„Ja, ja, Landeskunde, du meinst wohl Strafarbeiten!“ schnaufte die Mutter, „Ich habe neulich mit Kannars Mutter gesprochen, ich weiß genau, was los ist, wenn du spät kommst! Erzählst du mir gleich, wieso ihr nachsitzen musstet, oder muss ich erst deutlicher werden?“ Er hustete gekünstelt. Oh je, das war nicht gut.

„Travi hat im Unterricht gegessen und ich bin eingeschlafen.“

„Na siehst du, es geht doch. Rein jetzt, das Essen ist schon kalt.“ Damit schob sie ihren Sohn behutsam vor sich her ins Schloss und in Richtung Küche. Die Familie saß schon nicht mehr am Tisch. Der Küchenjunge und seine Frau, das Dienstmädchen, machten bereits den Abwasch. Kiuk lief geschäftig in der Küche umher.

„Ah, Nalani,“ machte er, als die Frau ihr Söhnchen an den Tisch setzte und ihm seine Portion jetzt kaltes Essen hinschob, „Dich hab ich gesucht. Bist du in den nächsten Tagen daheim? Weil hier ja niemand ist, Tabari ist fort, Mutter ist in Tuhuli und verwaltet Tabaris Papiere, Sukutai und ich müssten eigentlich zu einem Treffen des TO nach Yiara, könntest du solange auf Alonachen aufpassen? Wir können sie schlecht mitnehmen…“

„Natürlich, keine Frage. Ist etwas passiert im TO?“

„Nein… nur das übliche, alljährliche Blabla, glaube ich.“ Nalani gluckste über diese Ansage. Das waren ja ganz neue Töne von Kiuk. Offenbar lag ihm Politik genauso wenig wie seinem Bruder. „Hat Tabari kürzlich spannendes berichtet? Irgendwas passiert im Kreis, womit man diese Leute im TO schockieren kann, damit sie nicht einschlafen?“

„Nun, nein, die Ernte ist mies gewesen dieses Jahr und es gibt zu viele Mäuler, die es zu stopfen gilt,“ war die Antwort seiner Schwägerin. Puran verfolgte das Gespräch der Erwachsenen wenig interessiert. Kaltes Essen war abscheulich… aber was sollte er machen? Er hätte eben früher kommen sollen, wäre Nalanis Antwort, wenn er sie gefragt hätte, ob sie es nicht wieder warm machen könnte. Dazu wäre der Feuerzauber Vaira jetzt gut…

Oooh nein. Zaubern ist schlecht!

„Zu viele Mäuler? Du liebe Zeit,“ sagte Kiuk perplex.

„Diese Landeier vermehren sich, als gäbe es kein Morgen. Nicht nur in Dokahsan, in ganz Kisara wächst die Bevölkerung, als hätte jemand Brot umsonst verteilt. Wenn das so weitergeht, stehen uns in einigen Jahren oder Jahrzehnten herrliche Hungersnöte und Platzmangel ins Haus. Tabari ist auch schon begeistert von seinem Beruf als Verwalter eines Kreises, in dem die Geburtenrate seit – ähm – sicher fünfzig Jahren nicht mehr kontrolliert wurde. Ist das zu fassen? Kein Arsch hat das aufgeschrieben, keiner hat mal gezählt, wie viele hier am Rumrennen sind!“

„Nun, mein Vater hat sich ja nicht gekümmert-…“

„Ach, dein Vater, ich sage fünfzig Jahre, das war lange vor Kelars Zeit als Herrscher, vor fünfzig Jahren war Kelar noch nicht mal geboren, da hat schon dein Großvater gepfuscht, oder wer auch immer damals für diesen Haufen verantwortlich war, frag deine Mutter, die weiß ja sonst immer alles. Zum Eierlegen ist das.“

„Wieso weißt du mehr über die Zustände in Vikhara als Tabari?“ stöhnte Kiuk, „Wenn ich ihn frage, kommt immer Ach, wird schon irgendwie! ...“

„Ich drehe ihm den Hals um,“ versprach die Frau, „Wenn er nach Hause kommt, fessel ich ihn ans Bett und werde ihn sowas von-…“ Kiuk unterbrach sie laut hustend.

„Nalani! Dein Sohn kann uns hören!“
 

Die viel zu rasch wachsende Bevölkerung im Land war nicht das, was Nalani am meisten Sorgen bereitete. Beunruhigender waren die seltsamen Träume, die sie mitunter heimsuchten, Träume, deren Bedeutung sie nicht verstand. Sie kamen nicht jede Nacht, aber mit konstanter Häufigkeit, und war immer wieder nahezu derselbe Traum. Aus einem pechschwarz verdunkelten Himmel kam ein Regen aus Feuer, der die ganze Welt in Flammen setzte. Und im Schreien des Todes, das auf der Welt ausbrach, tauchte am Horizont ein gewaltiger, brennender Ball auf, viel größer und viel tödlicher als die Sonne es sin könnte. Und sein Feuer verschluckte das Land und alles was auf ihm war, die Erde und auch den Himmel; am Ende des Traums explodierte das gesamte Feuer und eine Flut aus unzusammenhängenden Bildern und Bruchteilen von Visionen ergoss sich über Nalanis Kopf, während Stimmen wild durcheinander zischten, sprachen und schrien, die sie nicht verstehen konnte…

Die Frau öffnete die Augen. Sie lag allein in dem Bett, dass sie normalerweise mit ihrem Mann teilte, der aber nicht daheim war. Es war mitten in der Nacht und stockfinster im Schlafzimmer, weil die schweren, alten Vorhänge das fahle Licht der beiden Monde Ghia und Zuyya abschirmte.

Wieder dieser Traum… was wollen die Geister von mir? Wieso können sie mir nicht einfach sagen, was uns bedroht, was mich beunruhigt…? Seit Jahren.. sehe ich immer wieder den Regen aus Flammen und den Feuerball, der die Welt verschlingt…

Was sie zusätzlich beunruhigte war, dass Tabari den Traum nicht sah. Tabari war der Herr der Geister, er war ein mächtiger Magier und an sich von den Geistern dazu privilegiert, wichtige Dinge zu sehen; und es war doch offenbar wichtig, wenn sie so oft davon träumte…?

Ein dumpfes Poltern einige Räume weiter ließ Nalani den Kopf leicht heben. Als nichts weiter kam, stand sie auf und verließ das Schlafzimmer, um nachzusehen. Als erstes sah sie nach ihrem Kind, und weil sie nicht damit rechnete, das Geräusch wäre von ihm gekommen, erschrak sie beinahe zu Tode, als sie die Tür öffnete und Puran ihr aufrecht gegenüberstand, als hätte er hinter der Tür darauf gelauert, dass sie käme. Er war aschfahl und seine Augen waren ungesund geweitet, seine Hände bebten und ballten sich verkrampft zu Fäusten.

„Puran?!“ keuchte Nalani entsetzt, und das Kind kippte ihr in die Arme wie ein totes Tier, wo es plötzlich laut zu keuchen und zu japsen begann, als bekäme es keine Luft. „Um Himmels Willen!“ rief die Mutter und wurde jetzt auch blass, als der Junge in ihren Armen so heftig erzitterte und unkontrolliert zu zucken begann, dass er ihr beinahe heruntergefallen wäre. Dabei stöhnte er:

„S-sag ihnen, s-sie… sollen weggehen, Mutti…! Sag ihnen, sie s-sollen… mich in Ruhe lassen…!“

„Du liebe Güte,“ machte sie und hockte sich rasch mit ihm zu Boden, wo sie ihn behutsam in ihre Arme zog, „Beruhige dich! Wer soll verschwinden?“

„Die Geister… s-sie reden mit mir und sie sagen Dinge, die ich nicht hören will!“ wimmerte Puran und zuckte nur heftiger, als sie ihn liebevoll umarmte; dann fiel der Schock offenbar plötzlich von ihm ab und er fing plötzlich wie ein Kleinkind zu heulen an, vergrub sein Gesicht panisch an Mutters Brust und klammerte sich schreiend an sie. „Ich will nicht, dass sie mit mir reden, ich will gar nichts, sie sollen weggehen!“

„Puran, sie wollen dir nichts Böses!“ machte Nalani ernst und war besorgt über diese übermäßig heftige Reaktion. Er war gar nicht ruhig zu kriegen und in plötzlicher Wildheit riss er das Gesicht hoch und stierte sie wutentbrannt an mit einem Blick so voller Zorn und gleichzeitig blinder Panik, dass sie erstarrte.

„Mach sie weg!“ fuhr er seine Mutter schrill an und seine Stimme überschlug sich, „MACH SIE WEG, ODER ICH BRINGE EUCH ALLE UM!“

Als Nalani noch völlig baff von dem Ausbruch war, fassungslos in sein hübsches, aber wutverzerrtes Gesicht blickend, spürte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter.

„Ruhig jetzt,“ hörte sie Kiuks Stimme, hinter dem auch Sukutai im Nachthemd stand und entsetzt schaute. Aus der anderen Richtung kam Salihah.

„Was habe ich euch gesagt?“ murmelte sie mit Blick auf das wieder verstört in sich zusammensackende Kind, das wieder zu heulen begann, „Die Blocker bringen ihn um den Verstand! – Nimm ihn hoch, rasch, Sukutai, weck ein Mädchen und lass es Tee kochen, jetzt sofort.“

„Sehr wohl,“ gehorchte die Telepathin erschrocken und rannte hinunter. Puran sagte nichts mehr und wimmerte nur, als Nalani ihn ebenfalls verstört auf die Arme nahm und ihn zärtlich an sich drückte.

„Was ist hier los?!“ fragte sie aufgelöst, „Gibt es denn nichts, was wir tun können?!“

„Du solltest dir von Keisha irgendwas anderes geben lassen,“ sagte die Schwiegermutter und fühlte besorgt nach der verschwitzten Stirn des Kindes. „Wenn er dieses Zeug länger kriegt, wird er noch vor Einbruch des Winters sterben, Nalani.“
 

Der Tee beruhigte ungemein. Nicht nur Puran, auch die verstörten Erwachsenen. Nalani fiel ein Stein vom Herzen, als der Kleine sich sehr rasch erholte von dem Schock, den der Traum ihm offenbar beschert hatte. Für einen Moment, den sie ihn angesehen hatte, hatte sie der Wahnsinn in seinen Augen angegrinst wie ein alter, verhasster Bekannter.

Wahnsinn… es gab zu viel davon in dieser Familie. Unauffällig linste Nalani zu ihrer Schwiegermutter, die, so kam es ihr vor, je älter sie wurde auch immer mehr ihres gesunden Verstandes einbüßen musste. Waren es die Visionen, die sie die Nerven kosteten? Sie fragte sich, was mit ihrem Sohn geschehen würde, der schon so jung solche Träume hatte und jetzt schon verrückt davon wurde…

„Was… hast du gesehen, Puranchen?“ fragte die Großmutter jetzt sehr ruhig und behutsam, dem Kind dabei fest ins Gesicht blickend. Puran drehte den Kopf unbehaglich weg und trank lieber noch etwas Tee.

„Das Ende der Welt,“ war seine Antwort, die Salihah bereits erwartet hatte. Nalani, Kiuk und Sukutai sahen sich besorgt an.

„Das Ende der Welt?“ fragte erstere. Salihah hob langsam den Kopf. „W-was hat das zu bedeuten?! Mutter…?“

„Was wir tun müssen, ist, seinen Geist zu stärken,“ sagte die Ältere dann in aller Ruhe. „Er kann das nicht alleine kontrollieren, weder die Visionen noch die Magie, er ist viel zu jung, um damit umgehen zu können. Er hat das Pech, im Gegensatz zu mir Schwarzmagier zu sein, seine übernatürliche Sehensgabe ist gekoppelt an das übernatürliche Talent seiner Vorfahren, das macht es doppelt schwer. Der Junge ist, was Magie angeht, ein absolutes Genie, um es so auszudrücken. Was bei mir in meiner Kindheit nur unangenehm für mich war, diese Visionen, sind bei ihm durch das Zusammenspiel von Sehen und Rufen gefährlich, solange er es nicht kontrollieren kann.“

„Deswegen doch die Blocker!“ rief Nalani verzweifelt, „Dafür waren die doch da!“

„Das ist zu hoch für ihn, er ist nur ein Junge,“ widersprach Salihah ihr ernst, „Das ewige Unterdrücken seiner Instinkte bringt den ganzen Magieapparat zum Explodieren, wenn man so will, wenn du ihm noch weiter diese Medizin gibt, wird er ohne Zweifel nicht mal zehn Jahre alt werden!“ Puran keuchte. Was für ein grausames Spiel spielten die Himmelsgeister mit ihm und seiner Familie? Er hasste es… wieso musste er komisch sein, anders als andere Kinder? Wieso konnte er nicht normal sein, ohne diese Probleme, die kein Mensch außer ihm zu haben schien? Seine Eltern waren hervorragende Magier, aber sie hatten nie solche Probleme gehabt! Er erzitterte und umklammerte seine Teetasse.

„Ich will das nicht!“ schluchzte er dann aufgelöst, worauf sich ihm alle zuwandten. „Ich möchte nicht anders sein, ich will normal sein!“ Salihah seufzte leise.

„Das wirst du nie sein,“ nahm sie ihm gemeinerweise die Hoffnung, „Es tut mir leid, das so hart zu sagen, aber es ist wahr und du kannst es nicht ändern. Du bist geboren worden und warst etwas Besonderes.“

„Aber wir müssen doch etwas machen können!“ rief Sukutai, die auch fast heulte, „Seht ihn euch an, das ist doch grauenhaft! Was für ein Schicksal hat ein unschuldiges Kind, das so leiden muss?! Wie können die Geister es wagen, so etwas Unverschämtes zu bestimmen und dem Jungen sein Leben so zu versauen?! Ich will, dass etwas geschieht!“

„Es sind nicht die Geister, die es ihm schwer machen, sondern die Menschen,“ erklärte Salihah dumpf, worauf alle schwiegen. Puran schniefte unglücklich und lehnte den Kopf an Nalanis Arm, worauf sie ihn zärtlich an sich zog und ihn dann, einen Arm um ihn legend, sanft hin und her wiegte. „Geh zu Keisha und rede mit ihr, Nalani. Es muss andere Wege geben, die seine Instinkte schwächen, damit er normal mit ihnen umgehen kann wie jedes andere Schamanenkind mit Magie umgehen kann. In Tuhuli werden sie etwas finden, Nomboh ist immerhin Magielehrer, er kennt sich aus. Ich frage Zoras bei Gelegenheit mal, wenn du magst.“

„Das ist sehr nett, danke,“ sagte die Schwarzhaarige leise. „Aber ich werde morgen gleich nach Tuhuli fahren, je eher ich es tue, desto besser. – Und du solltest jetzt wieder schlafen, morgen ist Schule, mein Sohn.“ Puran drückte schweigend den Kopf an ihre Seite, um ihr zu signalisieren, dass er absolut nicht wollte, dass sie wegging, und so seufzte sie wieder. „Du darfst bei mir schlafen, wenn du möchtest, dann bist du nicht so allein. In Ordnung?“ Der Kleine nickte stumm. Ja, sehr in Ordnung. Nirgends schlief es sich so gut wie bei Mutti im Bett…
 

Etwas zu gut vielleicht, stellte der Junge fest, als er am nächsten Morgen wach gerüttelte wurde.

„Du schläfst ja noch immer, wir müssen los nach Gahti!“ Puran hob verpennt den Kopf aus dem weichen Kissen. Seine Mutter stand bereits gemantelt und gestiefelt am Bett und war offenbar höchst verwirrt.

„Was…?“ nuschelte er nur, und sie rüttelte ihn erneut.

„Ich habe dich doch schon vor längerer Zeit zwei mal gerufen und gerüttelt, ich dachte, du wärst längst auf!“ rief Nalani, „Und du liegst noch im Bett, rasch, wasch dich, zieh dich an, Frühstück gebe ich dir mit, dafür ist keine Zeit!“ Sie schneite hinaus und langsam kam es auch bei dem Jungen an, dass der Morgen da war. Er musste zur Schule – ein Blick zum Fenster, dessen Vorhänge bereits offen waren, sagte ihm dann, wie spät es wirklich war. Und er sprang mit einem Fluchen aus dem Bett seiner Eltern.

„Oh, verdammter Mistdreck!“

Im Flur rannte er beinahe Sukutai und eine Dienerin um, als er zu seinem eigenen Zimmer hechtete und so schnell wie noch nie in seinem ganzen Leben in seinen Kleidern war bei einer hastigen Katzenwäsche über dem Wassereimer im Bad bespritzte er dann sein ganzes Hemd mit eiskaltem Wasser, ehe er wieder ins Zimmer rannte und seine Schulsachen holte – sein Blick fiel auf den Zettel, den er unterschreiben lassen musste.

Verdammt – das hab ich ja ganz vergessen!

„Kommst du endlich?!“ hörte er Nalani unten rufen, und er rannte japsend aus dem Zimmer, den Flur entlang und zum Zimmer seiner Cousine.

„Sofort, Mutti! – Alonachen, tu mir einen großen Gefallen und schreib Muttis Namen da unten hin! Schnell, jetzt sofort, ich mache nachher auch, was du willst!“

Die fünfjährige Cousine saß spielend auf dem Boden vor ihrem Puppenhaus und war ganz überrumpelt von der stürmischen Bitte ihres Cousins. Sie ging noch nicht zur Schule, aber sie konnte schon die Namen ihrer engsten Verwandten schreiben, nachdem Puran ihr einige Buchstaben beigebracht hatte. Sie machte das sehr schön, fand er. Und sie war ein Mädchen, wenn sie Nalani Lyra auf das Blatt schrieb, würde das gar nicht auffallen; Frau Kalih kannte weder Nalanis noch Alonas Schrift, wie sollte sie es also wissen?

„Wieso?“ fragte das Mädchen jetzt perplex.

„Egal, mach einfach, jetzt sofort, ich bin ein Mann und du musst mir gehorchen!“ zischte Puran und tappte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Verdammt, sie sollte sich beeilen! Alona hatte alle Zeit der Welt.

„Musst du mal?!“ neckte sie ihn, weil er so hibbelte, und er hielt inne und blinzelte. Hm, jetzt wo sie es sagte…

„Mist, wenn ich wiederkomme, hast du es geschrieben!“ fluchte er, „Wenn nicht, verprügel ich dich, Alona!“ Das würde er nie wirklich tun… dazu hatte er sie zu lieb. Sie war nicht seine Cousine, für ihn war sie seine Schwester, er konnte sich gar nicht vorstellen, wie das Leben im Schloss ohne sie wäre. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit, deswegen tat Alona sehr artig, was er ihr aufgetragen hatte, während er auf Toilette war, und hielt ihm den wunderschön gefalteten Zettel hin, als er zurück kam.

„Bitte schön,“ sagte sie höflich, „Du schuldest mir was. Ich will einen Kuchen und dass du einen Nachmittag mit mir Puppen spielst!“

„Ja, ja, alles, Kleine,“ stöhnte er und stopfte den Zettel in seine Hosentasche, wobei er ihn völlig zerknitterte. Alona rümpfte die Nase.

„Du Unhold,“ schimpfte sie, „Ich habe es so schön gefaltet und du zerknüllst es, Puran! Das ist nicht sehr vornehm, du!“

„Das ist mir scheißegal,“ war seine Antwort, „Danke, ich muss los!“ Dann war er weg und die Kleine schnappte höchst entsetzt nach Luft. Dann sprang sie auf und kreischte gellend:

„Mutti, Mutti! Puran hat das Wort mit S gesagt, ganz laut, ich hab es gehört!“
 

Da Nalani auf dem Weg nach Tuhuli durch Gahti kommen würde, nahm sie ihr Kind auf dem Weg gleich mit auf das Pferd und setzte ihren Sohn vor der Schule ab. In Gahti musste sie das Pferd führen, weil die gepflasterte Straße so uneben war, dass das arme Tier einmal beinahe gestolpert wäre und um ein Haar die beiden Reiter abgeworfen hätte. Sie waren spät dran und Nalani schob ihren Sohn energisch durch das Tor.

„Jetzt beeil dich, du bist fast zu spät!“ machte sie, „Ich werde weiter zu Keisha gehen und sehen, was sich machen lässt.“

„Mach's gut, Mutti,“ erwiderte der Junge lächelnd, ehe er sich beeilte, zum Schulgebäude zu rennen. Nalani führte ihr Pferd gerade wieder vom Tor fort, als ihr plötzlich eine junge Frau entgegen gerannt kam. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Nalani die Mutter von Kannar, die Frau des Apothekers.

„Was ist dir denn passiert, dass du so rennst?“ feixte die Schwarzhaarige, und die Frau japste.

„Kannar ist so ein Schussel, jetzt hat er den Zettel für den Magiekurs liegen lassen, den er doch unterschrieben abgeben soll! Dieser Idiot, alles muss man ihm nachbringen!“ Nalani starrte sie an.

„Was?“ machte sie, „Was für ein Magiekurs? Was für ein Zettel?“ Kannars Mutter hatte gerade zur Schule rennen wollen, jetzt blieb sie aber stehen und schaute verblüfft.

„Wie, Ihr wisst nichts davon? Hat Puran das etwa nicht erzählt?“ Jetzt war Nalani ganz Ohr.

„Nein, er muss es… mir wohl unterschlagen haben,“ sagte sie grimmig, „Ich höre, Frau!“
 

Der arme Puran ahnte nichts von der schicksalhaften Begegnung der beiden Frauen und noch weniger, was ihn erwarten würde, wenn er nach Hause kam. Dabei hatte er an dem Tag gar keine Strafarbeiten und war pünktlicher denn je zurück im Schloss; wo ihn am Tor trotzdem eine zutiefst erboste Nalani in Empfang nahm.

Er sah seiner Mutter schon von weitem ihren Zorn an, als sie mit verschränkten Armen eiskalt auf ihn herunter starrte, und sie sprach kein Wort des Grußes, was ihn beunruhigte.

„Mutti?“ fragte er verpeilt, „Ähm… ich bin doch pünktlich!“

„Rein mit dir, aber schleunigst,“ zischte die Frau erbost und zeigte auf das Schloss. Wenn sie so schleunigst sagte, was es sehr ernst, und Puran beeilte sich verblüfft, hinein zu kommen. Nalani folgte ihm und knallte die Tür zu, ehe sie gezwungen gefasst begann: „Wie kann es sein, dass Kannar zu einem Magiekurs an eurer Schule geht und du nicht? Kannst du mir erklären, wieso ich nichts von einem Zettel gesehen habe, der unterschrieben werden musste?“

Der Junge erbleichte.

Wie hat die das denn rausgefunden?! war alles, was ihm durch den Kopf ging, und innerlich erwürgte er seine Cousine, die es ohne Zweifel ausgeplaudert haben musste.

„Ich… ähm…?!“ stammelte er nur, Nalani fauchte.

„Nichts da Ich, ähm!“ rief sie, „Wie kannst du es wagen, mir so etwas Wichtiges zu verschweigen?! Wo ist der Zettel, ich möchte ihn jetzt auf der Stelle sehen.“

„I-ich… d-das geht nicht, ich habe ihn doch abgegeben!“ machte er kleinlaut und seine Mutter stierte ihn an.

„Wieso abgegeben, keiner von uns hat ihn unterzeichnet! – Puran…?!“ Ihre Stimme wurde jetzt dunkel und sehr bedrohlich, und er erbleichter erneut, als sich ihr Gesicht verfinsterte. „Du hast es doch nicht etwa gewagt, meine Unterschrift zu fälschen… das würdest du nicht wagen, ich weiß es. Du würdest dich für so eine bodenlose Unverschämtheit und Ehrlosigkeit so extrem schämen, dass du mir das sofort gebeichtet hättest…“ Er erstarrte und Nalanis Gesicht zierte jetzt ein grausames, kaltes Lächeln, „Ist es nicht so, mein Sohn?“

Ja, jetzt war es so. In diesem Moment begriff Puran zum ersten Mal, wie grausam seine Mutter in Wahrheit sein konnte und dass sie, wenn sie zornig war, furchteinflößender war als jeder Alptraum. Und er würde nicht wagen, sie jetzt anzulügen… die Frau wusste das sehr genau.
 

„Gut,“ sagte Nalani kühl, nachdem er ihr alles gestanden hatte, und für sine Ehrlichkeit tätschelte sie ihm den Kopf, worauf er errötete. Wie war er auf die dumme Idee gekommen, seine geliebte Mutter hinters Licht führen zu wollen? Er schämte sich in Grund und Boden für seine Pietätlosigkeit. Nur etwas in ihm war noch stärker als die Reue… „Morgen gehen wir zusammen zu Frau Kalih, du wirst dich entschuldigen, weil du sie betrogen hast, und ich werde bestätigen, dass du da hingehst, Puran. Verstanden?“ Der Kleine widersprach seiner Mutter sehr kleinlaut.

„Aber ich… ich möchte da nicht hin, Mutti!“

„Was soll das heißen, natürlich gehst du da hin!“

„Ich will nicht zaubern, ich möchte niemals ein Schamane werden!“ Er wurde jetzt lauter und energischer, als sie ihn empört ansah hob er störrisch den Kopf. „W-wenn ich zaubere, passiert wieder so ein Unglück wie am ersten Schultag! Willst du, dass ich Menschen töte?! Sieh mich doch an, ich bin ein verdammtes Ungeheuer, ich bin der Enkel meines Großvaters! Wie kannst du zulassen, dass ich sowas wieder tue?!“ Während seines Protestes wurde er immer lauter und schrie sie letztlich an, ehe er sich umdrehte und davon rannte, hinaus aus dem Schloss.. Nalani fuhr herum und wollte ihm nachrufen, aber er war bereits weg. Sie seufzte unglücklich. Was sollte sie nur gegen diese Angst vor Magie machen? Einmal mehr verfluchte sie ihren Schwiegervater, der allein Schuld an den Psychosen ihres Sohnes war.
 

Puran wusste nicht wo er hin sollte. Er wollte sich erst im Stall verstecken, dann erschien es ihm aber doch zu leicht und er rannte aus dem Tor hinaus und den Sandweg hinab. Hauptsache weg, weg von diesen Leuten, die aus ihm ein Monster machen wollten – sahen sie das denn nicht? Verstand seine Mutter das nicht?

„Das ist doch Irrsinn!“ schrie er aufgelöst zu sich selbst, während er blind weiter rannte, bis er mit einem Mal gegen etwas lief und keuchend zu Boden stürzte. Über sich hörte er ein entsetztes Schnauben eines Pferdes und als er noch immer heulend im Sand saß und hinauf sah, blickte er direkt in das verdutzte Gesicht seines Vaters, der auf dem Pferd saß, in seinen imposanten Umhang gehüllt und die grünen Augen auf das Kind gerichtet.

„Was ist Irrsinn?“ fragte der Blonde ruhig, „Warum rennst du weinend davon, Sohn…? Was hat man dir angetan?“

Das Kind war plötzlich erleichtert, seinen Vater zu sehen. Es schluchzte herzergreifend, obwohl es sich sehr schämte, so Rückgratlos zu sein; Jungen weinten schließlich nicht…

„Vati…“ jammerte er, rappelte sich auf und drückte sich an Tabaris Bein. „I-ich werde ein Ungeheuer, oder?“ Tabari war noch verwirrter als zuvor. Da kam man von einer Rundreise im Kreis nach Hause und was fand man vor? Nichts als Drama!

Entweder Nalani hat das arme Kind malträtiert oder meine Mutter hat ihm Gruselgeschichten erzählt – immer dieser Ärger mit den Weibern!

Er seufzte, beugte sich herab und hob seinen Sohn mit etwas Hilfe eines kräftigen Windstoßes zu sich auf das Pferd.

„Jetzt reiß dich erst mal zusammen,“ sagte er ruhig, „Wir gehen jetzt heim und dann sehen wir, was los ist. Aber eins sage ich dir, ein Ungeheuer bist du auf keinen Fall. Du bist mein Sohn und ich freue mich jedes Mal, wenn ich dich sehe, dass es dich gibt, Puran.“
 

Schlussendlich saß die ganze Familie zusammen in der Stube. Nachdem sich jeder angehört hatte, was vorgefallen war, tranken erst einmal alle schweigend Tee. Alona hatte auch eine kleine Tasse Tee und kippte munter einen Löffel Zucker nach dem anderen in ihre Tasse. Aber da alle mit Ernsterem beschäftigt waren, bemerkte es niemand.

„Ich weiß, was du fühlst, Puranchen,“ ergriff Tabari dann als Herr des Hauses das Wort und sah seinen bekümmerten Sohn an, der am Boden saß und seinen Tee nicht anrührte. „Aber wer zaubert, ist nicht gleich ein Monster, oder? Was ist denn mit mir? Ich zaubere doch auch, bin ich ein Monster?“

„Hast du mit einem Zauber Leute zerfetzt?“ knurrte der Sohn missmutig, Tabari fiel dazu nichts ein. Sukutai zischte erbost.

„Sowas vor meiner Tochter!“

„Wer ist zerfetzt?“ fragte Alona neugierig.

„Um Himmels Willen, ihr verderbt das Kind…“

„Die Sache ist die,“ erklärte Nalani ernst, „Genau dafür ist der Zauberkurs gut. Wenn du lernst, die Magie anzuwenden, lernst du, sie zu beherrschen. Der Kurs wird dir helfen, dass so etwas niemals wieder passiert, wenn du ihn nicht machst, ist es sehr viel gefährlicher. Du kannst die Medikamente nicht mehr nehmen, sie bringen dich um und verwirren deinen Geist. Ich habe mit Nomboh gesprochen, was dir fehlt ist nicht Kontrolle über Instinkte, sondern ein fester, bodenständiger Geist, der stark genug ist, dem Einfluss der Geister Widerstand zu leisten. Zaubern üben stärkt den Geist enorm und genau das ist Inhalt dieses Kurses. Und aus diesem Grund ist es für dich überlebenswichtig, dass du da hingehst!“ Das Kind sah sie verunsichert an.

„Ist das nicht übertrieben?“ machte Kiuk verdutzt. Tabari warf ein Teebrot nach ihm.

„Das ist nicht sehr produktiv, du Hornochse!“

„Vati ist ein Hornochse,“ blödelte Alona gackernd.

„Mutti hat schon recht, es ist wichtig, dass du da hingehst und das lernst, Puran,“ fuhr Tabari jetzt wieder gefasst fort und räusperte sich. „Nur, wenn du lernst, dich deinen Befürchtungen auch zu stellen und wenn du lernst sie aktiv zu kontrollieren, dann kannst du dafür sorgen, dass sowas nicht wieder passiert.“ Der Junge schwieg eisern. Er hasste es. Wieso konnten die ihn nicht lassen? Er könnte genauso gut Jäger werden! Er brauchte keine Magie, wenn er niemals etwas mit Magie am Hut hätte, würden die Geister vielleicht eines Tages aufgeben… für sie wäre er dann doch genauso nutzlos wie sie für ihn… glaubte er.

„Woher willst du das so genau wissen?“ fragte er dann bitter, „Woher willst du wissen, dass es gut ist, wenn ich da hingehe?“ Tabari seufzte. Dann lächelte er wohlwollend und schenkte sich neuen Tee ein.

„Ich weiß es nicht zu hundert Prozent…“ gestand er, „Es kann sein, dass ich mich irre. Aber wenn ich tief in mich hineinhorche… wenn ich auf das höre, was die Geister zu mir sagen, dann kann ich spüren, dass es richtig so ist. Es ist ein… Instinkt, sozusagen. Hab Vertrauen… du wirst sehen, wir behalten recht.“
 

„Aha, da bist du ja,“ war Frau Kalihs verdutzte Begrüßung am nächsten Morgen, als Puran vor dem Unterricht vor der Klasse auf die wartete, nebst seiner Mutter. „Dich wollte ich sowieso noch sprechen, Puran…“ Die Lehrerin zog einen zerknüllten zettel aus dem Stapel an Papieren hervor, den sie trug, und hielt ihn dem Jungen hin; er erkannte den Zettel für den Magiekurs und errötete. „Wenn deine Mutter doch Nalani Lyra ist, die Frau des Statthalters… wieso unterschreibt sie deinen zettel mit Alona?!“

Puran hustete und starrte den Zettel an. Wie bitte?! Erst beim zweiten Hinsehen verstand er – seine dämliche Cousine hatte nicht Nalanis, sondern ihren eigenen Namen darauf geschrieben! Jetzt erbleichte er, während Nalani ungehalten auflachte.

„Ja, so geht das, wenn man versucht, zu schummeln!“ neckte sie ihr beschämtes Kind, „Und dann noch deine fünf Jahre alte Cousine dafür zu missbrauchen, dass du dich nicht schämst!“ Sie schlug ihm sanft auf den Hinterkopf – wie war das doch, Schläge sollten in Dobanjan das Denkvermögen erhöhen? „Nun, genug der Schande, Puran, worum habe ich dich gebeten?“ Sie sah zu Frau Kalih, die nur erstaunt wieder auf den Schüler sah, der sich plötzlich vor ihr verneigte.

„Ich bitte um Verzeihung, Frau Kalih!“ sagte er dabei, „Ich habe eine falsche Unterschrift mitgebracht, es war falsch und ehrlos von mir, Euch zu belügen und meine Mutter zu hintergehen. Es wird… nicht mehr vorkommen, bitte verzeiht!“ Frau Kalih war fast etwas gerührt. Außer ihm entschuldigte sich niemals ein Schüler so aufrichtig für so etwas, sie war sehr erstaunt von der Konsequenz, mit der Nalani ihr Kind erzog.

„Ich verzeihe dir, Puran,“ sagte sie freundlich. „Weil du dich so brav entschuldigt hast!“ Sie sah fragend zu Nalani – die war ja wohl nicht hier, um Puran dabei zuzusehen, wie er ich entschuldigte? Nalani beantwortete die ungestellte Frage auch sofort.

„Wenn Ihr erlaubt, unterschreibe ich den Zettel jetzt noch einmal wirklich, damit das vom Tisch ist. Ich entschuldige mich demütigst für die Umstände.“

„Nicht doch, keine Ursache…“ Sie gab Nalani eine Feder aus ihrer Tasche und hielt ihr den Zettel hin, den die Frau unterschrieb. Verwirrt sah die Lehrerin den Zettel wieder an. „Ähm, jetzt soll er doch in den Kurs?“

„Ja, sollte er die ganze Zeit. Das davor war ein Missverständnis. Und ich hoffe, es wird eine Anwesenheitsliste geben, damit nicht die Gefahr besteht, dass er sich heimlich davon schleicht.“ Sie linste zu Puran, der wieder über und über errötete.

„Ist ja gut, ich habe es begriffen!“ schmollte er verlegen, weil seine Mutter ihn vor seiner Lehrerin bloßstellte und wie einen elenden Verräter dastehen ließ. Oh, sie strafte wirklich hart, er würde es sich in Zukunft zweimal überlegen, ehe er plante, sie auszutricksen. „Ich gehe zu dem Kurs, versprochen, Mutti!“
 

Der Raum im Obergeschoss der Schule war extrem groß. Viel größer als das Klassenzimmer, sicher doppelt oder sogar dreimal so groß, fand Puran zumindest, als er zusammen mit seinem Freund Kannar zum ersten Mal darin stand und sich fasziniert umblickte. Ebenso taten es alle anderen Schamanenkinder der Klasse, die den Zauberkurs zum ersten Mal besuchten. Puran erkannte den Lehrer Masava sofort wieder; der war am ersten Schultag nach der Katastrophe mit bei der Direktorin gewesen.

„Hallo, Klasse,“ grüßte der Mann die Kinder guter Laune, während er vor dem versammelten Haufen Schamanen stand. „Mein Name ist Halian Masava, ich bin hier, um euch die Grundzauber der elementaren Magie beizubringen. Wie ihr seht…“ Er sah sich kurz um, so taten es ihm automatisch alle gleich, „Sind in diesem Raum weder Bänke noch Tische, wir werden nicht schreiben. Magie lernt man am besten durch praktische Übungen.“ Die Kinder sahen sich aufgeregt an. Wie großartig, kein langweiliges Aufschreiben und Auswendiglernen! „Ich gehe mal getrost davon aus, dass ihr die Grundzauber ohnehin beim Namen kennt, wenn nicht, auch egal, wir werden uns einen nach dem anderen vornehmen. Und anfangen werden wir mit einem der wichtigsten und ältesten Zauber überhaupt.“ Damit ließ er mit einem Fingerschwenk eine kleine Flamme in seiner Hand erscheinen, worauf die Kinder ihn mit noch größeren Augen ansahen. „Vaira,“ benannte der Lehrer den einfachen Feuerzauber. „Das Gute an den Grundzaubern ist, dass jeder Schamane theoretisch dazu in der Lage ist, sie anzuwenden, egal, ob er Heiler, Seelenmagier oder Schwarzmagier ist.“

„Und wie macht man das jetzt?“ fragte ein Mädchen unsicher, „Wenn Ihr das macht, sieht es so einfach aus, aber wenn ich mit meiner Hand so mache, passiert nichts!“ Herr Masava gluckste.

„Natürlich nicht, und um euch das beizubringen bin ich ja hier. Der Schlüssel liegt in eurem eigenen Geist. Konzentriert euch. Am besten stellt ihr euch weiter auseinander, es ist genug Platz für alle. Stellt euch einfach hin, schließt die Augen und versucht, tief in euch hinein zu horchen. Merkt ihr was?“ Die Kinder stellten sich murmelnd weiter auseinander und schlossen brav die Augen.

„Irgendwas kribbelt,“ meldete ein Junge schließlich verblüfft.

„Ja, bei mir auch!“

„Nein, es ist wie ein Rohr, durch das heißes Wasser fließt, und es ist überall!“ sagte ein dritter perplex. Herr Masava kicherte.

„Ja, merkt ihr? Das sind die Ströme eures Geistes in eurem Inneren. Wenn ihr euch konzentriert, könnt ihr sie spüren. Und das Zaubern funktioniert genauso, ihr müsst euch nur darauf konzentrieren, den Energiestrom in eure Hände zu leiten. Wenn ihr dabei an den Zauber denkt, den ihr ausführen wollt, habt ihr es schon.“

Mit dieser ersten Konzentrationsübung beschäftigten sich die Kinder eine Weile. Während es bei manchen auf Anhieb funktionierte und sie das Kribbeln spüren konnten, klappte es bei manchen partout nicht und der Lehrer kontrollierte jeden Schüler einzeln. Denen, die es einfach nicht auf die Reihe bekamen, half er dann so lange, bis sie es auch schafften, bis jeder Idiot einmal die geistige Energie gespürt hatte, einige wenn auch nur schwach. Viel interessanter war danach die Frage, wer denn wirklich fähig war, mit Hilfe dieser Konzentration Feuer aus seiner Hand zu zaubern.

„Versucht es, konzentriert euch!“ war die Anweisung des Lehrers, „Wenn es nicht sofort klappt, macht nichts, Übung macht den Meister! Denkt an die großen Meistermagier und daran, dass auch sie einmal nicht mehr waren als ihr es jetzt seid; Schüler, die auch einmal lernen mussten, wie man Vaira zaubert!“

Puran konnte sich seine Eltern nicht vorstellen ohne Magie. Es war ein seltsamer Gedanke, dass auch sie einmal so wie er irgendwo gestanden hatten und geübt hatten, Vaira zu zaubern… er blickte stumm auf seine leere Hand. Er traute sich nicht, es richtig zu versuchen. Was, wenn wieder so eine Katastrophe passierte wie am ersten Tag?

Das ist nicht gut, ich darf gar nicht zaubern! Ich will hier raus…

Er sah panisch zur geschlossenen Tür und begann unwillkürlich von einem Fuß auf den anderen zu tappen. Vielleiht sollte er schnell wegrennen? Behaupten, er müsste auf Toilette und dann einfach nicht wiederkommen? Nein, das war falsch, außerdem würde seine Mutter ihm die Haut abziehen dafür…

„Ja, sehr schön,“ unterbrach die Stimme des Lehrers seine wirren Gedanken und er fuhr erschrocken hoch, weil Herr Masava wieder von einem zum anderen ging. Zwei Kinder neben Puran war ein kleines Mädchen, das gerade eine ganz kleine Flamme aus ihrer Hand gezaubert und dafür Lob geerntet hatte. Das Kind strahlte stolz, während Herr Masava weiter zu Kannar ging, der zwischen dem Mädchen und Puran stand. „Na, dann probier mal,“ forderte er Kannar auf, „Du bist doch der Sohn von Apotheker Chipo?“

„Ja, genau,“ machte der Junge verblüfft und konzentrierte sich; eine kleine Flamme erleuchtete seine rechte Handfläche für einen sehr kurzen Moment, dann war sie auch schon wieder verschwunden. „D-das ist gar nicht so einfach!“

„Das war sehr gut, einfach üben, immer und immer wieder, wenn du es tausendmal gemacht hast, geht es im Schlaf, du wirst sehen.“ Kannar nickte zufrieden mit seiner Miniflamme und übte gleich weiter. Und Puran hatte in diesem Moment keine Zeit mehr zu überlegen, wie er am besten fliehen könnte, denn Herr Masava stand jetzt vor ihm. Er musterte den Jungen eine Weile von oben bis unten. Kannar hörte auf zu üben und sah neugierig zu seinem schweigenden Freund, der plötzlich wirkte, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. „Was ist los, Puran?“ fragte Herr Masava perplex, „Ist etwas nicht in Ordnung?“

Dem Jungen kam die ultimative Idee, zu sagen, ihm wäre schlecht, dann würde er vielleicht vom Unterricht befreit – aber er verwarf den Gedanken sofort, seine Mutter würde es merken…

„I-ich… nein, alles in Ordnung,“ murmelte er dann leise.

„Du übst gar nicht,“ stellte der Lehrer fest, „Kannst du Vaira schon und sparst dir die Mühe, oder wie soll ich das verstehen?“

„Ich… nein… ich kann… nicht, Herr.“ Herr Masava zog eine Braue hoch.

„Was heißt Kann nicht? Natürlich kannst du, deine Energieströme waren rundum perfekt vorhin. Versuch es ruhig, keine Angst.“ Puran druckste nervös etwas herum und wagte nicht, den Mann anzusehen.

„Aber ich… ich…“ Der Mann war zwar freundlich, aber auch nicht zu weich.

„Zeig es mir bitte, du bist nicht zum Herumstehen hier, oder soll ich mir aufschreiben, dass du die Leistung verweigerst?“ Das Kind erbleichte. Jetzt wurden die anderen still und immer mehr drehten sich neugierig zu der Ecke um, in der das Spektakel war. Puran hustete, ungeachtet der Tatsache, dass ihn die komplette Klasse inzwischen anstarrte.

„Mach doch einfach,“ war Kannars leiser Kommentar, und er grinste aufmunternd, „Wird schon.“ Sein Freund seufzte leise und gab den Widerstand auf, indem er eine Hand anhob und sich konzentrierte. Er spürte die Energie durch seinen Körper fließen, als er die Augen schloss, sah er es sogar… wie wabernde Ströme aus Licht in seinem inneren Auge.

Feuer… sagte er sich dabei ernsthaft, Ich will Feuer zaubern!

Und er beobachtete, wie die Energieströme vor seinen inneren Augen die Farbe von lodernden Flammen annahmen, während er sich mehr konzentrierte. Er spürte das Feuer, es war heiß, sowohl in ihm als auch außen, es war überall und es war unangenehm, als er keuchend den Namen des Zaubers nannte, um ihm einen Lebensgeist einzuhauchen:

„Vaira!“

Er öffnete die Augen und war erstaunt, dass er trotzdem noch die Flammen seines Geistes sehen konnte, die hoch wie eine Wand vor ihm aufragten, deren Leuchten das Tageslicht zu Schatten machte… und es nahm ihn völlig ein, als er nur da stand und starrte, während es in seinem Kopf zu rauschen begann. Und das Feuer wurde greller und heißer, je länger er starrte, bis ihm mit einem Mal schwindelte, als die Hitze vor seinen Augen so unerträglich heiß wurde, dass er aufschrie; im selben Moment wurde er plötzlich von hinten ergriffen und zurück gezerrt, gleichzeitig verschwand das Feuer vor seinen Augen mit einem Mal. Der Raum verdunkelte sich.

„Was ist passiert?!“ keuchte Puran benommen und zappelte nervös, als das Licht komplett verschwunden war. Jemand hielt in an der Schulter fest… Herr Masava, wie er erkannte, als er den Kopf heftig japsend drehte. „H-Herr Masava? Was ist hier los?!“

„Das… ist schwer zu erklären,“ murmelte der Lehrer offenbar selbst etwas apathisch, die freie Hand noch immer nach vorn gestreckt, während er mit der anderen den Jungen vor sich festhielt. Puran blickte wieder nach vorn und in die fassungslosen Gesichter seiner Klassenkameraden, die alle am anderen Ende des Raumes standen und sich leichenblass an die Wand drückten. Selbst Kannar war bleich im Gesicht und wagte nicht, sich zu rühren. Puran wurde ganz komisch.

„Was… was hab ich gemacht?“ japste er tonlos und erzitterte, als ihn eine plötzliche Eiseskälte erfasste und ihn einzufrieren drohte. Er wollte hier nicht sein. Er wollte jetzt weg sein, irgendwo, wo er nicht diese Gesichter sehen müsste, diese Panik in den Augen der anderen Kinder, dieses blanke Entsetzen.

Monster.

„Puran, das ist nicht deine Schuld,“ redete der Lehrer perplex auf ihn ein, „Es ist, ähm, dein Geist ist eben sehr speziell, dein Talent ist eben… extrem, daher diese ungeahnten Ausbrüche. Ich hätte das eigentlich ahnen müssen, es war mein Fehler. Kommt, Kinder, es wird nichts mehr geschehen!“

„Was ist passiert?!“ schrie Puran erneut, dieses Mal panischer. Der Mann drehte ihn sanft zu sich um und deutete auf die Wand und die Decke des Raumes. Und der Kleine begriff, was gemeint war.

Die Decke und die halbe Wand unmittelbar in seiner Nähe waren komplett schwarz gebrannt. Der Junge erbleichte jetzt ebenfalls.

„W-wie ist das… wie kann das mit einer Vaira-…?!“

„Erst bei diesen Grundzaubern sehen wir wirklich, welches enorme Ausmaß… deine Begabung hat…“ murmelte der Lehrer, „Ich gebe dir eine Nachricht mit, gib sie bitte deinen Eltern, ich möchte sie dringend sprechen.“ Er seufzte und tätschelte dem Jungen vor sich behutsam den Kopf. „Denn so… kann das nicht weitergehen.“
 

In diesem Punkt waren alle einer Meinung. So konnte es wirklich nicht weitergehen. Am nächsten Tag begleitete Nalani ihr Kind erneut zur Schule auf die Nachricht des Lehrers hin, der sie unbedingt sprechen wollte. Puran war ganz niedergeschlagen, als sie zusammen vor Herrn Masava standen, der sie an der Ecke des Gebäudes empfing.

„Es ist nichts Furchtbares, das ich sagen wollte,“ sagte dieser erstaunt darüber, dass der Junge so blass war und mit gesenktem Kopf neben seiner Mutter stand. Er war ein sensibles Kind, es würde nicht leicht werden.

„Selbstverständlich kommen wir für den Schaden an der Wand auf,“ erklärte die frau mit einer unterwürfigen Verneigung, „Es wird nicht mehr vorkommen! Das sage ich ständig, aber… ich verspreche Euch-…“

„Jetzt ist aber mal gut,“ machte der Mann verdutzt, „Darum geht es doch gar nicht. Dass Euer Sohn hochbegabt ist, steht außer Frage, das Problem ist nur, wie wir als Schule damit umgehen. Er ist den anderen seiner Klasse um Meilen voraus, diese Vaira, die er gezaubert hat, war, nun… ich hab selbst Erwachsene selten so ein Ausmaß an Vaira anwenden sehen, es war einfach unglaublich, was da passiert ist! – Hört mir zu, Herrin. Die Schulleitung ist… nicht besonders glücklich über all diese Zwischenfälle und ist der Meinung, ich solle Puran aus dem Kurs nehmen, es wäre zu gefährlich.“ Nalani seufzte bitter. Ja, das hatte sie befürchtet nach der Nachricht. Ehe sie zum Sprechen kam, fuhr Herr Masava fort. „Das werde ich auch tun müssen, aber die Sache jetzt fallen zu lassen ist absolut verschwendetes Potential, das wäre eine Beleidigung der Geister! Wenn Ihr erlaubt, werde ich persönlich mich um den Unterricht Eures Sohnes kümmern.“

„Was… meint Ihr damit?“ fragte Nalani verwundert.

„Ich kann ihm Privatstunden geben, meine ich. Ich sorge dafür, dass er die Grundzauber perfekt beherrscht; es wird ein gutes Stück Arbeit, so wie ich das einschätze, das Problem ist nicht das Talent, sondern die Kontrolle.“

„I-ich habe gesagt, ich möchte das nicht, weil ich wusste, es würde wieder passieren!“ schluchzte das Kind mit einem Mal, worauf ihn die beiden Erwachsenen anblickten. Beschämt vergrub Puran das Gesicht in der Seite seiner Mutter. „Aber auf mich hört ja keiner!“

„Jetzt stell dich gerade hin und schmoll hier nicht herum!“ zischte Nalani grantig und zog ihn hoch, „Hör auf zu weinen! Das ist ein sehr großzügiges Angebot von Herrn Masava! Du wirst es annehmen mit Respekt und Dank, Puran, dass er sich so um dich bemüht!“

„A-aber…“

„Nicht aber! Mir reicht es nämlich allmählich mit deinem Firlefanz um das Zaubern! Bei deinem Gemurre hättest du diese Ehre gar nicht verdient!“

„Nicht so hart, liebe Zeit,“ seufzte der Lehrer perplex, „Mir wäre es eine Ehre, den Sohn des Herrn der Geister persönlich zu unterrichten, Herrin, macht Euch keine Sorgen.“ Nalani verneigte sich.

„Die Ehre wäre bei mir. – Und bei meinem bockigen Sohn, verlasst Euch darauf. Puran, was sagt man, wenn man so eine Aufmerksamkeit bekommt?“ Der Junge verbeugte sich ebenfalls und murmelte ganz leise:

„Vielen Dank, Herr Lehrer, es ist mir eine außerordentliche Ehre, von Euch unterwiesen zu werden.“
 

Tabari war ganz durcheinander.

„Mir fallen Haare aus, oder?“ nölte er, während er in voller Montur in der Stube auf und ab marschierte und sich die blonden Haare raufte. „Es muss doch so sein, bei all diesem Heckmeck!“ Nalani sah ihm relativ unbeeindruckt dabei zu, wie er hin und her stampfte, während sie mit überschlagenen Beinen auf einem Sessel saß und in aller Seelenruhe ihre offenen, langen Haare kämmte.

„Wenn du dich immer am Kopf kratzt, fallen sie wirklich aus, ja,“ war ihr Kommentar. „Was nervt dich denn so?“

„Dieses ganze… verdammt… ach, verdammt!“ meckerte er und ging weiter herum, „Im Süden des Landes geht die Post ab, im Hochland gibt es eine Hungersnot nach der anderen und im Süden von Anthurien ist die Pest ausgebrochen, ich meine, gute Güte, die Pest! Das jagt mir vollkommen Angst ein! Die armen Schweine in Engarien dürfen ihre Häuser nicht mal verlassen, weil sie ihre Pest überall herumtragen könnten, weißt du, was der Rat in Pinhu damit macht? Die lassen diese ganzen Dörfer verrecken und hoffen, dass es dann vorbei ist!“

„Was sollen sie sonst machen? Es klingt grausam, aber die Pest ist ein Gegner, gegen den selbst die größten Heiler versagt haben, wenn sich das weiter ausbreitet, stirbt ganz Tharr.“

„Wie pragmatisch,“ stöhnte Tabari, während sie aufhörte, sich zu kämmen, ihre Haare zurück warf und sich erhob, damit sie mit ihm auf Augenhöhe war. „Jedenfalls hat diesen ganzen Krempel der Senator erzählt, der unten in Vialla bei der Sitzung des Königs war… ach, verflucht, dieser ganze Laden steht hier gerade Kopf, glaube ich!“ Er holte aus seiner Manteltasche eine Zigarette und steckte sie sich in den Mund.

„Was ist mit unserem Kreis Vikhara?“ wollte seine Frau wissen, „Ist hier was passiert?“ Als er an ihr vorbei ging, nahm sie ihm mit einem Flupp die Zigarette aus dem Mund, worauf er brummte, herumfuhr und weiter im Kreis ging. „Rauchen ist ungesund, Tabari,“ sagte sie, aber er ging gar nicht darauf ein.

„Nein, an sich nicht. Ich steige nur durch diese Annalen nicht mehr durch und meine Mutter ist in letzter zeit nie da, wenn ich sie brauche, entweder sie ist in Tuhuli mit Zoras Chimalis Tee trinken oder sie ist auf ihrem TO-Rat, oder weiß der Geier! – Und weißt du, was das Komischste an allem ist?!“ Gereizt zog er eine neue Kippe aus seiner Tasche, steckte sie in seinen Mund und wollte sie gerade anzünden, da zog Nalani sie ihm abermals aus dem Mund. „Diese Leute vermehren sich trotzdem wie die Hasen! Das ist echt unglaublich…“

„Vielleicht trinken sie alle zu viel Tee,“ sagte Nalani sarkastisch, und wie immer verstand ihr Mann diese Anspielung nicht; er war wirklich der einzige Depp im ganzen Land, hatte Nalani das Gefühl, der nicht schnallte, was seine Mutter mit Zoras Chimalis noch so tat außer Tee trinken.

„Bitte?“ schnaubte der Blonde und blieb vor ihr stehen.

„Schon gut,“ machte sie mit einer Handbewegung. „Dein Sohn kriegt jetzt Privatunterricht für die bessere Kontrolle des Geistes, damit er vernünftig Zaubern anwenden kann, ohne dabei aus Versehen in einem Umkreis von zehn Fuß alles zu sprengen.“

„Ja, das ist prima,“ machte der Mann, zog eine dritte Kippe heraus und steckte sie zwischen seine Lippen, ehe er Nalani verblüfft ansah. „Was, wie, sprengen? Privatunterricht, du liebe Güte!“

„Mit dem Kurs hat es nicht so geklappt, nachdem dein Sohn mit seiner ersten Vaira den halben raum angekohlt hat, gütigerweise hat sein Lehrer mir angeboten, Puran privat zu unterrichten, ich halte das für überaus großzügig.“

„Du liebe Güte,“ sagte Tabari entsetzt und hielt dabei seine Zigarette doch wieder zwischen den Fingern.

„Du solltest stolz sein auf deinen Sohn,“ warf seine Frau mit einem leichten Lächeln ein, das ihn stutzig machte. Nalani lächelte selten, und noch seltener ehrlich. Aber das hier war ein ehrliches Lächeln voll von ihrem mütterlichen Stolz auf ihr Kind, das sie so abgöttisch liebte. Sie senkte den Kopf wie ein verlegenes Mädchen. „Er ist sehr begabt, er… ist eben ein Nachkomme deiner Familie, Tabari. Er wird lernen, es zu kontrollieren, und eurem Namen keine Schande machen.“ Er musste leise lachen.

„Wer hat dir denn den Kopf verdreht, dass du dich um den Namen scherst? Das Talent hat er sicherlich zu einem großen Anteil von seiner Mutter… immerhin hast du mich geschlagen, Nalani. Wer weiß, ob du nicht… die wahre Herrscherin der Geister wärst.“ Sie hob den Kopf wieder und das Lächeln war verschwunden. Ihr Blick war ernst, als sie fortfuhr.

„Nun, die Geister haben ja nie protestiert, oder?“

Dann zog sie ihm wortlos die dritte Kippe aus den Fingern. Tabari gab es für den Tag auf.
 

Während die Eltern diskutierten, hatte Puran ganz andere Sorgen. Natürlich konnte sein Einzelunterricht nicht am Montagnachmittag stattfinden, stattdessen traf er sich jeden Dienstag mit Herrn Masava auf dem Schulhof. Nachmittags war dort niemand außer ihnen. Es wurde Herbst. Draußen wurde es kalt; in Dokahsan wurde es immer als erstes kalt, während im Süden des Landes noch Sommer war.

„So, Puran,“ war die Begrüßung des Mannes, und das Kind räusperte sich. Er hasste es immer noch, zaubern zu müssen… aber der einzige Weg, diese Anfälle für immer zu erledigen, war Kontrolle. Er musste da durch, ob er wollte oder nicht.

Die Grundzauber, von mir aus; danach werde ich niemals wieder Magie anrühren!

„Dein Problem ist nicht, dass du nicht zaubern kannst,“ fuhr Herr Masava fort. „Dein Problem ist quasi, dass du es zu gut kannst. Zu gut ist in diesem Falle aber schlecht, denn deine Zauber sind viel zu stark.“

„Ja,“ sagte der Junge, „Das… weiß ich.“

„Hmm. Wenn du starke Zauber anwendest, verbrauchst du mehr Energie deines Geistes. Du wirst lernen, diese Energie zu beherrschen und nur so viel zu verwenden, wie nötig ist… das heißt, während ich mit dem Kurs übe, größere Flammen zu machen, übe ich mit dir, kleinere zu machen. Verstanden?“ Das Kind nickte. „Dann mach jetzt Vaira, wie letzte Woche. Konzentriere dich darauf, die Flamme zu zügeln, sie zu beherrschen und die Größe selbst zu bestimmen.“ Der Junge holte nervös tief Luft, ehe er es versuchte. Aus seiner Hand stieß ein gewaltiger Flammensturm, der den halben Schulhof erleuchtete, Herr Masava musste zurück springen und riss einen Arm hoch.

„Aufhören, viel zu doll!“ tadelte er seinen Schüler ernst, der darauf das Konzentrieren ließ und heftig atmete.

„W-wieso war es so doll, ich hab mich doch konzentriert…!“

„Das geht nie beim ersten Versuch. Üben, Puran, mehr und mehr und mehr. Du kannst das, ich weiß das, du hast Talent. Du musst nur lernen, es zu zügeln. Willst du es noch mal versuchen?“ Er lächelte aufmunternd und keuchend hob der Junge seinen Kopf wieder.

Er musste da durch und er würde es beenden. Seine Großmutter hatte recht… er konnte nicht länger davor davonlaufen.

Seht mir zu, ihr Geister… ich werde mich nicht länger von euch jagen lassen!

Das schwor er sich, ehe er sich daran machte, fleißig zu üben.
 


 

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Drama xD Zauber-Kapi <3 Wir haben jetzt etwa September 968. Hey cool, Leyya ist sogar schon geboren xDDD irgendwo in Anthurien, lol XD Random^^

Himmelsfeuer

Herr Masava war zufrieden mit seinem Schüler.

„Jetzt versuch es noch mal,“ sagte er und trat zurück, „Und lass sie nicht außerhalb des gezeichnetes Kreises brennen.“ Er zeigte auf das Blatt Papier, das vor Puran am Erdboden lag. In der Mitte war ein sehr kleiner Kreis gezeichnet. Der Junge hob etwas außer Atem die Hand über das Papier:

„Demora!“ Mit einem kurzen Zischen schoss ein kleiner Blitz aus seiner Hand, traf genau die Mitte des Kreises und brannte ein Loch in das Papier. Sobald der Zauber verschwunden war, beugten sich sowohl der Mann als auch das Kind über das Loch; die Linien des Kreises waren nicht berührt worden.

„Hervorragend,“ freute sich der Lehrer, „Und jetzt vernichte das Papier.“ Puran schnappte ein paar Mal nach Luft, nickte aber gehorsam und hob die Hand wieder hoch, bevor er mit einer kurzen Bewegung und einem erneuten „Demora!“ einen sehr viel mächtigeren Blitz entstehen ließ und damit das ganze Blatt pulverisierte. Nichts blieb übrig als feiner Staub, der im eiskalten Wind wegwehte. „Wunderbar,“ lobte Herr Masava weiter, „Du lernst sehr schnell. Wir haben jetzt innerhalb von zweieinhalb Monden sämtliche Grundzauber optimiert und du kannst sie so klein und groß machen wie es dir gefällt. Ich habe noch niemanden gekannt, der so schnell so viel gelernt hat.“

„Das ehrt mich, vielen Dank,“ sagte Puran verlegen und verneigte sich höflich. Es war zum Verrückt werden; da wollte er doch gar nicht zaubern, war aber offenbar übermäßig begabt darin und machte damit seine ganze Umgebung entweder sehr stolz oder sehr neidisch. Der Mond der Stürme war halb um. Der Winter stand vor der Tür, langsam wurden die Übungsstunden im Freien unangenehm kalt.

Der Lehrer räusperte sich und trat wieder einen Schritt zurück.

„Einen Zauber gibt es allerdings noch, den wir nicht behandelt haben, ich bin sehr neugierig und hab mir deshalb das Beste für den Schluss aufgehoben.“ Puran blinzelte.

„Äh, was?“

„Ich bin… gespannt auf deine Katura,“ erklärte sich der Mann jetzt ernst. Puran blinzelte abermals. Katura… richtig, der Windzauber, er erinnerte sich. Als der Kleine nichts sagte, sah Herr Masava sich gezwungen, das weiter zu erläutern. „Deine Familie ist seit Generationen eine Familie der Windmagier. Alle Lyras sind Windmagier, oder die meisten zumindest. Deinem Vater sagt man nach, er könnte den Wind komplett beherrschen, was ihn zu einem absoluten Großmeister dieses Elementes macht; das ist sehr selten, dass jemand ein Element zu hundert Prozent beherrscht, deswegen zolle ich deinem Vater auch den allerhöchsten Respekt.“

„Ich dachte, alle in meiner Familie beherrschen den Wind?“

„Nein, nicht auf diese Art, was dein Vater macht, ist noch stärker. Die meisten Schwarzmagier haben ein Element, in dem sie besonders begabt sind. Bei euch Lyras war es meistens Wind, beim Kohdar-Clan war es meistens Feuer und bei den Kitas war es meistens Eis. Aber diese angeborene Neigung zu einem Element macht einen nicht gleich zum Großmeister.“ Puran nickte.

„Das verstehe ich. Soll ich jetzt versuchen, Katura zu zaubern?“

„Natürlich! Ich bin gespannt… wenn ich mich nicht sehr irre, dürfte deine Katura alle anderen deiner Zauber noch um Längen schlagen.“

Das Kind holte abermals Luft. Er war erschöpft, er hatte bereits den ganzen Nachmittag geübt, die meiste Zeit den Blitzzauber Demora. Er fragte sich, was geschehen würde… vielleicht war es nicht gut, wenn er Katura machte… er sah unsicher zu Herrn Masava.

„Tu es,“ sagte de ernst, schüttelte ebenfalls seine Hände aus und trat weiter zurück, um nicht genau in der Bahn zu stehen. So holte Puran erneut Luft.

Reiß dich zusammen! Sagte er sich streng, Du musst, du musst es beherrschen können! Wenn du das kannst, wirst du vielleicht auch kein Monster.

Mit diesen Gedanken riss er beide Arme nach vorn, als der Strom der Energie durch seinen Körper in seine Hände floss und er bereits spürte, wie ein grausam kalter Wind um ihn herum aufbrauste. Der Lehrer blinzelte und beobachtete das Schauspiel fasziniert, als der Zauber mit einem lauten Krachen und einem grellen Leuchten aus Purans Händen schoss. Das Kind erbebte keuchend bei der gewaltigen Macht des Windzaubers, und er erinnerte sich unwillkürlich an den ersten Schultag.

An die zerfetzten Jungen, denen er Beine und Nasen abgeschnitten hatte, ohne es zu merken oder zu wollen.

Er schnappte verzweifelt nach Luft und fürchtete sich plötzlich vor dieser entsetzlichen Macht zwischen seinen Händen, dass er die Arme japsend empor riss und den Zauber dabei von sich weg schleuderte. Mit einem Krachen prallte die gigantische Katura auf den nächsten Baum im Hof, durchschnitt dessen Stamm sauber mit einem grellen Blitzen und löste sich danach in Luft auf. Herr Masava erbleichte, als der Baum mit einem Knirschen zu ihnen herüber wankte und drohte, auf sie zu stürzen.

„Du lieber Himmel!“ Damit schnappte er Puran und hechtete mit ihm gerade noch aus der Bahn des fallenden Baumes. Mit einem Donnern landete der Ahorn auf dem Boden, sodass die Erde bebte.

Puran war ebenfalls erbleicht. Er taumelte, als Herr Masava ihn losließ, und wäre beinahe zusammengebrochen, als ein grauenhafter Schwindel ihn überkam. Hustend hielt er sich den pochenden Schädel.

„I-ich… kriege keine Luft…!“ japste er, und der Mann hielt ihn an den Schultern fest, damit er nicht zusammenbrach. Nach einer Weile des Schweigens verflog das Schwindelgefühl und die Luft kam auch zurück. „W-was… ist das normal…?“ stöhnte Puran benommen und starrte auf den Baum und auf die saubere Schnittstelle im Stamm. Herr Masava hüstelte.

„Was heißt denn normal…?“ machte er sichtlich selbst überrumpelt, „Natürlich ist es nicht normal, kein Kind deines Alters würde so etwas fertig bringen…“ Puran zuckte kurz bei diesen Worten.

Ja. Weil er toller war. Oder so. Er fand sich nicht toll, nicht mal ein kleines Bisschen, und der Baum tat ihm leid.

„Eigentlich würde niemand, den ich persönlich kenne, so etwas fertig bringen…“ korrigierte der Mann sich leise. Als Puran verbittert den Kopf wegdrehte, legte er dem Jungen eine Hand auf den Haarschopf. „Aber du bist… eben nicht normal, Puran. Das wirst du lernen und akzeptieren müssen. Du wirst lernen, damit umzugehen, sowohl anderen als auch dir selbst gegenüber. Es ist nicht leicht für dich, aber… so eine mächtige Gabe hat durchaus ihre guten Seiten.“

„Nicht, wenn sie Menschen tötet!“ zischte der Junge und ging ein Stück weg, „Ich bin nicht normal und ich hasse es! Ich will nicht anders sein, ich will nicht besser sein, oder toller, oder so! I-ich will nur wie die anderen sein! Ihr wisst nicht, wie das ist, wenn sie einen anstarren und tuscheln, wenn sie von einem Dinge erwarten, die man nicht möchte! Diese Gabe ist grausam und blutrünstig wie die meines Großvaters! Wenn ich so weitermache, werde… ich genauso wie er!“ Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung und er schnappte nach Luft, kämpfte gegen die Tränen. Verdammt, er war neun, er wollte nicht vor seinem Lehrer heulen!

Er wandte sich ab, aber der Mann ging um ihn herum und hockte sich vor ihn, ihm fest ins Gesicht sehend.

„Hör mir jetzt bitte sehr genau zu,“ sprach er ruhig. „Was dein Großvater Kelar getan hat, ist unaussprechbar. Er war ein großer Magier und hatte eine ebenfalls sehr mächtige Begabung, auch als Kind schon, nach dem, was ich so gehört habe. Vielleicht teilst du diese Eigenschaft mit ihm, du bist hochbegabt. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dir und dem Tyrannen Kelar.“ Puran sagte nichts. „Du… willst nicht sein wie er! Du willst mit deiner Gabe nicht das tun, was er getan hat! Mächtige Gaben können gefährlich sein und Menschen zu Bestien machen, das stimmt, aber… man kann mit den Gaben auch Gutes tun! Du kannst damit Menschen töten, das stimmt, aber du kannst sie genauso damit beschützen. Hast du das verstanden, Puran?“ Er sah ihn ernst, aber völlig ruhig an, und errötend sah der Kleine weg. Er nickte zaghaft.

Aber es machte doch keinen Unterschied! Ob er es wollte oder nicht, es passierte und er richtete mit seinen Zaubern Unheil an…

„Ich werde es beenden,“ schwor er düster, „Ich werde auch Katura zu meistern lernen, egal, was es mich kostet! Dann… werde ich aufpassen, dass niemals wieder etwas passiert, dass ich nicht will und das ich nicht kontrollieren kann!“ Er wollte schon anfangen, zu üben, doch Herr Masava hielt ihn auf.

„Na, na, immer die Ruhe. Für heute reicht es, du bist völlig erschossen! Ich bringe dich nach Hause, es dämmert schon. Wenn du dich überanstrengst, wirst du bloß krank und kannst mehrere Wochen gar nicht üben, also lieber aufhören, wenn es am schönsten ist.“
 

Das Kind war halb tot vor Erschöpfung. Nalani schüttelte lächelnd den Kopf, während sie ihrem schlafenden Sohn zärtlich über die geröteten Wangen strich, ihn dann fein zudeckte und das Zimmer verließ.

„Herr Masava sagte zu mir, es ginge voran mit dem Üben,“ erzählte sie Tabari, der auf dem Flur auf sie gewartet hatte. Ihr Mann seufzte.

„Das ist ja wenigstens eine gute Neuigkeit,“ war sein trockener Kommentar, dann raufte er sich die Haare und ging zusammen mit Nalani ins Schlafzimmer hinüber.

„Was denn, gibt es schlechte Neuigkeiten?“ wollte sie verwundert wissen. Er schloss die Schlafzimmertür und seine Frau begann schweigend und ihm den Rücken kehrend, ihr Kleid aufzuschnüren. „Hat sich die Pest von Engarien nach Dokahsan verbreiten, oder so?“

„Wie?“ fragte er verpeilt, bis ihm einfiel, wovon sie sprach. „Ach, liebe Güte, die Pest, nein, die haben sie offenbar im Keim erstickt in Engarien und damit mindestens vier Dörfer komplett ausgerottet. Du willst gar nicht wissen, was das für ein Bohai war in Anthurien, der ganze Senat hat verrückt gespielt und unten beim König ist fast nichts angekommen von den Gräueln, der hat nur gemeint, Problem erledigt, oder so, zumindest habe ich das gehört…“ Er unterbrach sich in seinem Redeschwall, als Nalani plötzlich vor ihm stand, ihm mit einer Hand den Mund zuhielt und ihn dabei gegen die Wand schubste.

„Ich frage mich gerade, was wohl gewesen wäre, wäre Sukutai deine Frau geworden,“ raunte sie dabei, „Du redest ja schon beinahe mehr als sie, ist ja fürchterlich!“

„Soll ich nicht mit dir reden?!“ empörte er sich und zog scharf die Luft ein, als sie sich, inzwischen nur noch in Unterwäsche und Korsett, gegen ihn drückte und mit der freien Hand sein Kind packte, um ihn zu zwingen, sie anzusehen.

„Zumindest nicht so übermäßig viel, du hirnamputierter Idiot,“ machte sie kaltblütig, und Tabari stöhnte. Dann hob er seinerseits die Hände, entfernte ihre aus seinem Gesicht und küsste sie verlangend auf die Lippen.

„Du magst eine Königin sein, Nalani…“ murmelte er danach benommen, „Aber ich bin immer noch dein Mann. Sprich nicht so abartig mit mir, auf die Dauer macht mich das wütend.“

„So wie mich dein ewiges Gequatsche, das ohnehin nichts aussagt?“

„Ich bin Politiker,“ erzählte er, „Politiker müssen reden.“ Nalani grinste diabolisch.

„Seltsam, deine Mutter kann das ganz gut ohne reden klären… dir fehlen die Waffen einer Frau, Tabari, mein Lieber.“ Tabari schaute sie dämlich an.

„Waffen einer Frau?“ Er bereute es, gefragt zu haben, als sie weiterhin grinste, seine Hände in ihre nahm und sie auf ihre runden Brüste legte. Er keuchte und starrte sie für einen Moment an, während sie den Kopf etwas zurücklehnte und sich an seinem Hemd festhielt. Was fragte er auch so dumm… es war Nacht und er war nicht mehr ganz wach, sie sollte nicht so hart zu ihm sein…

„Schlaf nicht, sondern fass mich an!“ befahl sie unruhig und zerrte ungeduldig an seinem Hemd, worauf er sie mit einem Mal packte und sie herum riss, sodass er sie jetzt gegen die Wand drückte und sie ein weiteres Mal küsste. Seufzend erwiderte sie seinen Kuss und schlang die Arme um seinen Nacken, ehe sie ein Bein hob und das Knie gegen seine Hose drückte. Mann hin oder her; er würde immer tun, was sie sagte, das war seine Natur. Und sie beide wussten das und fügten sich dem, was die Geister aus ihnen gemacht hatten…
 

Die Nacht war kalt. Nalani schmiegte sich wohlig seufzend an die nackte Brust ihres Mannes, während sie beieinander lagen und er vorsichtig die dicke Winterdecke über sie beide zog. Im Schlafzimmer war nicht gut geheizt, da außer Nachts ja nie jemand dort war und man das Feuerholz demnach anders effektiver nutzen konnte. Der Blonde seufzte auch, bevor er sich vorbeugte und sanft Nalanis Stirn küsste.

„Ich liebe dich,“ nuschelte er dabei beinahe etwas verlegen. Nalani schwieg. Er sagte das nicht oft; aber viel öfter als sie selbst dennoch. Sie war der Meinung, dass es überflüssig war, ihm dauernd unter die Nase zu reiben, was sie fühlte, denn er sollte es auch ohne Worte spüren. Tabari akzeptierte ihre Sichtweise, war aber selbst anderer Auffassung und sagte ihr, wenn es ihm passend erschien, dass er sie liebte. Und das tat er, es erschien ihm absurd, dass sie vor vielen Jahren einander gehasst und verabscheut hatten. Sie war seine Frau, er schenkte ihr alles, was er war und hatte, er würde für sie sein Leben geben, wenn es sein müsste. Und andersrum war es ebenso.

Die Frau antwortete also ohne Worte und schmiegte sich noch etwas dichter an ihn heran.

„Schlaf schön, meine hübsche Frau,“ flüsterte er dann.

„Wohl weniger,“ war ihre Antwort, „Die Geister lassen mich in den letzten Wochen selten ruhig schlafen.“ Tabari löste sich etwas von ihr und sah sie ernst an.

„Wie meinst du das? Siehst du Gefahren?“

„Ich bin mir sicher, dass es Gefahren sind, aber ich weiß nicht, was für welche und wie ich sie deuten soll. Die Geister zeigen mir eigenartige Dinge… ich habe mit deiner Mutter gesprochen, selbst die hat offenbar keine Ahnung. Und sie hat wirklich keine Ahnung, ich denke nicht, dass sie nur mit ihrem Opium die Schotten dicht macht.“ Diese Möglichkeit musste man ausschließen, weil Tabari ab und zu den Verdacht hegte, dass seine Mutter, die große Seherin Salihah, keine Lust mehr auf Sehen hatte und sich deswegen mit ihren Medikamenten das ganze Gehirn zu dröhnte, um am Ende gar nichts mehr sehen zu müssen. Niemand sprach darüber und niemand wusste, ob es wirklich so war; Salihah sprach nicht über ihre eigenen Probleme oder Sorgen, nicht einmal mit Nalani, mit der sie ansonsten sehr vertraut war.

Nalani erinnerte sich schaudernd an Meorans Geisterjägerprüfung.

„Nalani… bald wird diese Verantwortung… auf dich übergehen. Du musst nicht mich nach dem Weg fragen… sondern dich selbst.“ , hatte Salihah damals zu ihr gesagt, es hatte sich fest in Nalanis Seele gebrannt und ließ sie nicht mehr los, obwohl es schon Jahre her war. Ja… damals hatte sie auch zum ersten Mal von dem Flammenregen und dem brennenden Horizont geträumt.

In der Nacht kehrte der Traum, vor dem sie sich fürchtete, zu ihr zurück. Sie versuchte mit aller Kraft, etwas anderes zu sehen als Regen aus Feuer und den riesigen, brennenden Ball, der den Horizont fraß und die ganze Welt in Brand steckte, etwas anderes zu hören als das Zischen der Geisterstimmen in ihrem Kopf und das Schreien eines qualvollen Todes. Doch so sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, und als sie erwachte, kam es ihr vor, als hätte sie die ganze Zeit mit offenen Augen da gelegen wie erfroren, während Tabari sich besorgt über sie beugte und mit kühlen Fingern nach ihrem rasenden Puls am Hals fasste.

„Du hyperventilierst…“
 

„Es ist das Ende der Welt, oder?“

Auf die sehr vertraute, leise Stimme hin drehten beide den Kopf, Tabari schneller und Nalani etwas lethargisch. In der Schlafzimmertür stand ihr Kind, gefasster als er jemals in irgendeiner Nacht gewesen war, aber er zitterte am ganzen Körper ob der Spannung in seinem Körper, ob der Angst, die ihm wie nach jedem seiner eigenartigen Träume mit eisigen Klauen im Nacken saß.

„Puran…!“ machte Tabari noch besorgter und zog hüstelnd die Decke über seine nackte Frau, über der er saß, weil er versucht hatte, sie aufzuwecken; er war von ihrem Keuchen aufgewacht und hatte für einen Moment gedacht, sie würde ersticken. „Was meinst du? Wieso Ende der Welt?“

„In meinem Traum,“ murmelte der Junge und ignorierte den Umstand, dass seine Eltern nackt im Bett waren; es war nicht so, dass er sie nie nackt gesehen hätte, immerhin hatte er als Kleinkind mit ihnen gebadet. „Es kommt… Feuer vom Himmel… und es verbrennt das Land, den Himmel und die Erde gleichermaßen…“ Nalanis Augen weiteten sich und Tabari erstarrte über ihr.

Das war unmöglich. Er war noch immer ein kleines Kind, es war nicht möglich, dass er dieselben Visionen hatte wie seine Mutter. Normalerweise fingen Schwarzmagier erst kurz vor dem Erwachsenwerden an, Visionen zu sehen, wenn überhaupt… dass der Junge anders war, hatten sie alle gewusst, aber nicht, in welchem grauenhaften Ausmaß.

„Und die Geister…“ fuhr der Kleine unglücklich fort, „Die Geister sprechen mit mir, sie lachen und sagen, ich könnte nicht weglaufen vor dem Ende der Welt.“ Er erwähnte nicht mehr Ram oder das Reh oder seinen gehässig lachenden Großvater. Das waren Dinge, von denen er immer träumte, er schob es auf seine eigene Paranoia; Ram. Den hatte er lange nicht gesehen, in der Schule ging man sich gekonnt aus dem Weg, aber der schwarzhaarige Junge hatte schon lange nicht mehr versucht, ihn zu erschlagen. Er fragte sich einen Moment lang, wieso…

„Das Ende der Welt?“ machte Tabari entsetzt, „Was-…?“ Nalani unterbrach ihren Mann. Sie setzte sich auf, angelte ihre Unterwäsche und ihr Nachthemd vom Boden und zog sich an, während sie sprach.

„Du siehst Flammen, die vom Himmel fallen?“

„Ja…“

„Die Geister nennen es das Ende der Welt?“ Puran nickte unsicher, während Tabari auch seine Hosen anzog und sich verlegen räusperte. Die Frau sprach eine Weile nicht.

„Ich sehe es auch…“ murmelte sie dann, „Es ist beunruhigend, wen zwei Menschen dasselbe sehen. Vor allem, wenn ein dritter es nicht tut.“ Damit meinte sie Tabari, der sich selbst auch zunehmend doof vorkam. Wieso sahen alle seltsame Dinge und er als Herr der Geister nicht?

„Ich werde mich mal mit den Geistern unterhalten,“ schwor er düster, „Sie unterschlagen mir Dinge, das heißt, sie respektieren mich nicht. Und wenn sie mich nicht respektieren, ist… es vielleicht ein Fehler, dass ich Herr der Geister geworden bin.“ Schweigen. Dann brach das Kind scheu die Stille.

„Darf ich… bei euch schlafen?“ Tabari und Nalani sahen sich an, während der Kleine unmerklich errötete, weil er an sich viel zu groß war, um bei ihnen zu schlafen. Er war immerhin schon neun… Nalani lächelte und rückte zur Seite.

„Komm, mein Sohn,“ lud sie ihn ein, „Natürlich darfst du das. Ich frage mich, ob noch mehr Leute außer uns vom Ende der Welt träumen…“
 

Wenn es noch mehr Leute gab, die so etwas träumten, dann waren sie nicht in der Schule in Gahti.

Kannar versuchte schon seit dem Beginn des Unterrichtes angestrengt, logisch zu denken, während sein Freund Puran schlief, neben den er sich gesetzt hatte; Travi war krank und nicht in der Schule, da hatte der kleine Heiler sich die Freiheit genommen, sich auf den leeren Platz zu setzen.

„Wieso Ende der Welt, das ergibt absolut überhaupt gar keinen Sinn,“ murmelte er dabei vor sich hin, „Die Welt ist total rund, hab ich mal gelesen, genau. Und rund hat gar kein Ende, Puran, deine Geister reden total den Schwachsinn.“ Er tippte seinen Freund an, der nur ein verpenntes Schnarchen von sich gab und sich ansonsten nicht rührte.

Oder sich nicht gerührt hätte, wäre ihm nicht in dem Moment ein Stück Kreide an den Kopf geflogen.

„Puran Lyra!“ kreischte Frau Kalih vorne, „Und Kannar Chipo, was feiert ihr denn da wieder?! Wieso schläfst du, und wieso redest du mit dir selbst, Kannar?!“

„Was, wie wo!“ schrak Puran hoch und raufte sich die Haare, „Ja, genau, ich hab zugehört, Frau Kalih! Es waren die Zuyyaner!“

Alle schwiegen und starrten ihn an, einschließlich Kannar, der eben noch wild gestikuliert hatte und jetzt wie erfroren inne hielt.

„Wie bitte?“ machte die Lehrerin vorne bedeppert.

„Die Zuyyaner, die haben die Raumschiffe erfunden!“

„Natürlich haben sie das!“ Frau Kalih hustete, „Aber wir machen jetzt Mathe!“ Die Klasse lachte schallend über den lustigen Zwischenfall. Puran kratzte sich völlig blöd am Kopf und sah auf die Tafel.

„Was? Du liebe Güte, als ich eingeschlafen bin, hatten wir aber noch Geschichte!“ Jetzt brüllte die Klasse vor Lachen und, Kannar glaubte es kaum, selbst Ram Derran vorne musste bedeppert grinsen. Dabei grinste der eigentlich nie.

„Ja, genau, du mich auch,“ sagte die Lehrerin vorne, „Nachsitzen, Puran, und noch mal so ein Spruch und du sitzt einen ganzen Sonntag nach!“

„Aber ist doch wahr…“ nuschelte der Junge verlegen und räusperte sich, während er versuchte, seine wuscheligen Haare etwas zu richten. Kannar zerrte an seinem Ärmel.

„Hey, äh, ich habe versucht, deinen Traum logisch zu überdenken, aber es geht einfach nicht!“ erzählte er, „Du träumst total den Unsinn!“

„Eben hatte ich aber einen lustigen Traum,“ kicherte sein Freund nur, „Ich hab von Travi geträumt, der wie ein Karnickel hinter einem Stück Brot her galoppiert ist, aber das Brot war schneller als er und hat ihn ausgelacht…“ Kannar prustete.

„Das will ich auch sehen! – Apropos Karnickel, wir müssen dringend öfter zusammen jagen, wenn du dauernd mit deinem Vater alleine übst, bist du ja viel toller als Travi und ich, du elender Verräter…“

„Himmel, Arsch und Zwirn!“ schnaubte die Lehrerin jetzt wieder, und beide Jungen bekamen noch ein Stück Kreide an den Kopf. „Ruhe jetzt! Kannar darf mit nachsitzen! – Wieso sitzt du überhaupt auf dem falschen Platz?!“
 

„Die Frau ist so grausam,“ stöhnte Kannar in der Pause und kratzte sich am Kopf, „Ich sollte zu Hause die Regel einführen, wenn ich nachsitzen muss, bekomme ich zur Entschädigung Taschengeld, das wäre toll… leider wird mein Alter das nie erlauben!“

„Ach, du kriegst nur kein Taschengeld, ich bekomme Schläge!“ jammerte Puran, „Und meine Mutter kann eine Furie sein, wenn sie wütend ist!“ Kannar seufzte und sah über den schneebedeckten Hof, auf dem die Kinder tobten und johlten. Mabi und sein Kumpel ärgerten wieder kleine Kinder aus der ersten Klasse. Puran und Kannar beobachteten verblüfft, wie ein kleines Mädchen empört einen Schneeball nach Mabi warf und ihn mitten im Gesicht traf, worauf die beiden Jungen auf der Mauer in schallendes Gelächter ausbrachen. Selbst Mabis Kumpel lachte bedeppert, als sein Freund voller Schnee am Boden lag und fluchte.

„Hast du sein Gesicht gesehen?!“ grölte Kannar, „Dieser Vollarsch! Gebt es ihm, Mädels!“ Er lachte sich halb tot und Puran gluckste, obwohl er zum Lachen an sich zu müde war. Er hasste diese Träume…

Kannar fiel etwas ein.

„Sag mal, wie läuft es eigentlich mit deinem Zauberunterricht da? Bei uns ist es lustig im Kurs, langweilst du dich nicht alleine?“ Der Junge seufzte.

„Nein, also – ich übe ja, da hab ich viel zu tun… ich übe jetzt den letzten Zauber, Katura.“ Kannar hustete.

„Was?! Du kannst alle anderen also schon?! Mach mal was vor!“

„Vergiss es,“ murrte der Braunhaarige grimmig, „Ich tue das nicht öfter als nötig.“

„Aber wie willst du beweisen, dass du es kannst?“ schmollte sein Freund, „Vielleicht bist du dumm und kannst es nicht wie Ram Derran!“

„Wie jetzt, wieso der?“ Kannar kicherte.

„Na, weil er absolut total untalentiert darin ist, das glaubst du gar nicht, er kann immer noch nicht richtig Vaira! Geschweige denn irgendwas anderes, der kann gar nichts! Ich weiß, es ist nicht nett, darüber zu lachen, er ärgert sich bestimmt selbst total, aber… das ist echt… das ist total albern! Der könnte nicht mal ein Streichholz anzünden! Aber ich hab gehört, das ist so in seiner Familie, seine beiden großen Schwestern konnten auch nichts, hat man mir gesagt. Und egal, wie viel die üben, die schaffen es einfach nicht, es geht einfach nicht. Voll komisch, oder?“

„Ich würde sehr gerne mit Ram tauschen!“ stöhnte Puran, „Dann hätte ich die perfekte Ausrede, um niemals zaubern zu müssen!“ Er hob den Kopf und erblickte den schwarzhaarigen Jungen plötzlich, der genau auf sie beide zu kam. „Oh-oh, wenn man des Aasgeiers Namen sagt… er hat dich sicher gehört und vermöbelt dich jetzt, Kannar.“

„Wie?!“ Der Heiler sprang auf, „Du beschützt mich mit deinen Zaubern!“

„Vergiss es!“

In dem Moment kam Ram schnaubend bei ihnen an. Er stemmte die Arme in die Hüften und zu Kannars Erleichterung war sein Lästern nicht der Grund seines Kommens, weil er den Heiler komplett ignorierte.

„Wie ich höre, bringt dein verlogener Vater dir jagen bei?“ begann er arrogant und verengte grimmig die Augen, auf Puran sehend, der sich darauf zu voller Größe aufrichtete. Ram war einige Zoll größer als er, aber nicht mehr so viele wie früher.

„Wie kannst du es wagen, so von ihm zu sprechen, mein Vater ist kein Lügner!“ rief er erbost, „Dreckiger Bastard!“ Ram ließ das kalt.

„Natürlich ist er verlogen, wie der Rest eurer Drecksfamilie, wir ihr Lästerungen des Lebens eben seid, ihr Lyras! Na, bringt er dir auch bei, anderen die Beute wegzunehmen, wie sich das bei euch gehört?“ Er kicherte kaltblütig und kam sich offenbar sehr überlegen vor; nach dem nächsten Satz wusste Puran, wieso. „Schon mal ein Reh geklaut? Ja? Macht Spaß, was? Streng dich ruhig an, du wirst mich im Jagen sicherlich nicht schlagen!“ Er spuckte Puran vor die Füße, „Du würdest dir ja deine seidenen Hemden ruinieren und deine Pfirsichhaut dreckig machen, edler Prinz…“ Ehe er sich versah, trat der Jüngere ihm wutentbrannt gegen das Bein, worauf Ram zischte und Kannar hustete.

„Das wagst du nie wieder, Derran!“ fauchte Puran wütend, „Meine Familie hat dir nie etwas getan, du hast kein Recht, so zu sprechen, und tust du es noch einmal, polier ich dir dermaßen deine dreckige Fresse, dass du nicht mehr Himmel von Erde unterscheiden kannst!“ Er schnappte zornig nach Luft nach seinem Emotionsausbruch, Kannar erbleichte und Ram Derran rieb sich stöhnend das Bein, sah aber grimmig zu ihm herüber. Puran dachte an das Reh. Das tote Reh, das ihn immer noch in seinen Träumen heimsuchte, dessen Rätsel er einfach nicht begriff. Er sah es vor sich, wie es ihn anstarrte aus seinen toten Augen, und der Junge schauderte.

Renn, Junge, bis ans Ende der Welt… du fängst mich nicht!
 

Der Junge riss den Kopf wieder hoch und starrte Ram Derran finster an.

„Wollen wir wetten?“ schnarrte er kalt, „Ich mache dir einen Vorschlag. Wir machen einen Wettkampf und wer zuerst was erlegt hat halt gewonnen! Und wenn ich gewinne, sagst du mir ein für allemal, was du für ein Problem mit mir und Rehen hast, Ram!“ Ram zog eine Braue hoch.

„Ein Wettstreit im Jagen?“ wiederholte er vorsichtshalber, „Pff, wieso nicht, aber hey, was bekomme ich, wenn ich gewinne?“ Puran blinzelte.

„Was weiß ich, was du willst!“

„Darf ich dir dann die Fresse polieren, bis du nicht mehr Himmel von Erde unterscheiden kannst?“ grinste er zufrieden

„Mach, was du willst, du wirst nicht gewinnen!“

„Große Klappe hast du, Puran,“ feixte der Ältere, „Dann komm, wenn du dich traust!“ Er wollte schon los, da hielt Puran ihn entsetzt am Arm fest.

„Was, jetzt?! Der Unterricht ist noch nicht vorbei, wir können doch jetzt nicht Gahti verlassen!“ Ram brummte.

„Hast du Schiss?“ Das war sein einziger Kommentar, ehe er davon lief in Richtung Mauer des Schulhofes. An der einen Ecke stand ein Baum an der Mauer, an dem man bequem hinauf klettern und über die Mauer vom Schulgelände verschwinden konnte…
 

Puran fragte sich, ob sie beide von der Schule geschmissen würden, weil sie einfach in der Pause abhauten und das Dorf verließen. Außerdem war es eiskalt, als die beiden kleinen Jungen die Straße nach Osten verließen und quer feldein durch den Schnee stapften. Unterwegs sammelte der Ältere völlig selbstverständlich einen Stock und einen länglichen Stein auf, ohne sein Tun zu erklären, und verblüfft erkannte Puran bei näherem Hinsehen, dass er sich daraus einen Speer bastelte.

„Na, ob der funktioniert auf die Schnelle?“ spottete er, und Ram Derran schnaubte.

„Na, du hast ja eine Ahnung! Wie willst du denn ohne Speer schneller sein als ich, du Anfänger? Natürlich ist es kein guter Speer, aber immerhin besser als nichts und der Stein wird seine Arbeit leisten!“ Mit diesen Worten schlug er den länglichen Stein auf einen Felsbrocken, der aus dem Schnee ragte, und das schwarze Ding zerbrach an der Ecke und hatte jetzt eine scharfe Spitze. Puran starrte Ram fasziniert an, während der seelenruhig weiter stapfte und dabei seinen Pseudospeer baute. Ja… das war wahr, ohne Speer jagte es sich schlecht. Er hob das abgebrochene Stück Obsidian vom Boden auf, das Ram zurückgelassen hatte, und betrachtete die scharfe Kante etwas resigniert. Toll, mit so einem kleinen Steinchen konnte er doch keine Speerspitze machen… und wie wollte er das überhaupt an einem Schaft befestigen?

Er sah verwundert zu Ram, der stehen geblieben war und eine Schnur von seinem Hosenbein pulte, die den Stoff um sein Bein gehalten hatte. Mit ein wenig Geduld band er den scharfen, spitzen Stein damit an den Stock, den er vorher eine Weile mit einem Messer bearbeitet hatte, das er bei sich trug.

„Siehst du, du Trottel?“ höhnte er dann und zeigte Puran seinen kleinen Speer, „Er sieht absolut scheiße aus, aber er wird funktionieren.“

„Warten wir es ab, du Angeber!“

„Wer ist hier der Angeber?“ Der Schwarzhaarige pustete sich ein paar zu lange Haarsträhnen aus dem Gesicht, „Wer fackelt bei der ersten Stunde gleich den halben Übungsraum ab, weil er ja auch so toll zaubern kann…? Natürlich, du bist ja ein Lyra, du musstest ja übertreiben.“ Puran spuckte ihm vor die Füße.

„Lass das! Das war doch keine Absicht, du Mistkerl!“

„Natürlich nicht, du wolltest nur zeigen, wie toll du bist!“ spottete der Ältere grantig, und Puran wollte ihn wütend anbrüllen, wurde aber plötzlich zurück geschubst. „Sei ruhig, du Pappnase, sonst verjagst du die ganzen Viecher, du Idiot! Das erste, was uns über den Weg läuft, schnappe ich mir… du kannst sehen, wo du bleibst!“

Das gesagt drehte sich der Junge wieder um und kauerte sich an den Rand eines verkrüppelten, immergrünen Busches in den Schnee. Puran senkte feindselig die Augenbrauen, ehe er sich schweigend neben ihn hockte und dabei verärgert an seinem Speer bastelte, der nicht mal halb so schön aussah wie Rams. Außerdem hatte er keine Schnur an der Hose. Nach etwas Überlegen zog er seinen Mantel aus und riss den unteren Saum seines Hemdes ab, um ihn als Schnur zu benutzen.

„Was machst du da überhaupt?“ knurrte Ram Derran ihn an, „Wieso hockst du bei mir?!“

„Wenn du was siehst, erleg ich es vor dir, ganz einfach,“ behauptete der Braunhaarige bissig, ehe er den hässlichen Nichtspeer in seiner Hand betrachtete. Der ältere verkniff sich ein lachen, um leise zu sein.

Damit willst du mich schlagen? Furchteinflößend, Lyra.“

„Halt dein Maul.“
 

Winter war keine gute Jahreszeit zum Jagen. Puran fragte ich, ob sie wohl bis zur Dämmerung hier sitzen würden, aber Ram war ganz still und starrte in die Ferne, er bewegte sich nicht, als wäre er erfroren, während er kleinere nach einer längeren Zeit unruhig wurde.

„Hier kommt nichts vorbei!“ flüsterte er entrüstet, „Eher frieren wir hier fest, meine Füße sind schon tot!“

„Halt‘s Maul!“ zischte Ram ihn an und machte dabei kaum einen Ton. Der Jüngere murrte und schlang zitternd die Arme um seinen schlanken Oberkörper. Er könnte auch seinen Mantel wieder anziehen… aber der würde ihn beim Rennen behindern, deswegen war das keine gute Idee.

Er dachte an seinen Traum, an das Reh und an die Geister, die ihn verspotteten, wenn er schlief.

Dein Weg ist versperrt. Du kannst nicht davonlaufen vor dem Ende der Welt, sagte das Reh zu ihm, als er bebend die Augen schloss, und er atmete keuchend aus.

Ich will… gar nicht ans Ende der Welt!

Als er die Augen öffnete, sprang Ram wie vom Floh gebissen auf die Beine und stürzte vorwärts, ohne etwas zu sagen. Puran registrierte erst, als er wieder ganz bei sich war, dass am Rand der Welt, so sah es aus, ein Eichhörnchen davon huschte, das offenbar im Schnee nach Nüssen gegraben hatte. Puran konnte gar nicht so schnell denken, wie Ram plötzlich weg war, dann japste er und rannte ihm so schnell er nur konnte nach.

„Sag doch was, du Idiot!“ nölte er und bemühte sich nach Kräften, Ram einzuholen, aber der Schwarzhaarige war verdammt schnell. Ram antwortete nicht und hetzte dem Eichhörnchen nach, das aber noch schneller war als die Jungen und durch den Schnee sauste, bis der ältere Junge seinen kleinen Speer nach vorne schleuderte, direkt auf das Tier zu. Puran keuchte und hatte das Gefühl, zu ersticken, während er vom schnellen rennen Seitenstiche bekam.

Verdammt – ich will diese verdammte Antwort, ich will dieses verdammte Eichhörnchen! Du schlägst mich nicht, Ram, vergiss es!

Ehe er darüber nachdachte, was er tat, riss er den Arm nach vorne in dem Moment, in dem er Ram fast eingeholt und Ram seinen Speer geworfen hatte. Es passierte alles auf einmal, als mit einem kurzen Krachen ein greller Blitz aus Purans Hand schoss.

„Katura!“

Ram fuhr in diesem Moment zu ihm herum, als der Windzauber seinen Speer noch im Flug zerbersten ließ und danach das Eichhörnchen traf. Das Tier war schneller tot als es hätte quieken können, obwohl jetzt Blut den Schnee besudelte, war es kurz und schmerzlos gewesen.
 

Die Jungen blieben keuchend bei der erlegten Beute stehen. Von Rams Speer waren nur noch Splitter übrig, selbst den Obsidian hatte er zerschmettert. Fassungslos starrte der Ältere auf die Bruchstücke.

„W-was zum-…?!“ japste er dabei erbleichend, dann fuhr er herum und stierte Puran an.“Du hast geschummelt, du Sack! Das zählt nicht!“

„Wieso, wir haben nicht vorher abgemacht, dass ich nicht zaubern darf!“ empörte Puran sich, „Ich war schneller als du, gestehe dir deine Niederlage ein, Ram!“

„Hättest du fair gespielt, hätte ich eindeutig gewonnen!“ rief der andere wütend, „Zaubern zählt nicht! Du hast nicht gewonnen!“

„Du bist aber ein übler Verlierer,“ Der Jüngere rümpfte beleidigt die Nase, „Kannst es wohl nicht haben, wenn jemand besser ist! Verlierer!“ Er sprach ohne vorher zu denken – und er bereute seine Großkotzigkeit einen Moment später, als er plötzlich Rams Faust im Gesicht hatte und mit einem brennenden Schmerz im Gesicht keuchend zu Boden stürzte. Ram sprang über ihn und packte ihn wütend brüllend am Kragen.

„Sieh mich an, du Schummler, du dreckiger, kleiner Arschpenner! Mich nennst du Verlierer, nur, weil du zu dumm bist, einen Speer zu machen! Ja, gefällt dir gut, anderen die Beute wegzunehmen, nicht?! Du bist genauso ein mieser Scheißkerl wie alle anderen deiner dreckigen Inzestfamilie!“

Das reichte.

Mit einem plötzlichen, irren Kraftaufwand schleuderte Puran den Größeren von sich herunter und schlug ihm wutentbrannt in den Magen. Als Ram aufschrie und sich krümmte, trat er ihm noch gegen die Beine und stieß ihn wütend zu Boden in den Schnee.

„Du wagst es niemals wieder, so über meine Familie zu sprechen, du wahnsinniger, abartiger Drecksköter!“ schrie er laut, „Wir haben dir nie was getan, du mieser Bastard! Und meine Familie macht keinen Inzest!“

„Und wieso sind dann fast alle deiner Vorfahren plemplem im Kopf gewesen?! Dein bescheuerter Großvater zum Beispiel, der uns fast alle umgebracht hätte?! Und ich hab mir sagen lassen, dem seine Großtante war nicht besser als er, willst du wissen, was die gemacht hat?!“

„Ist mir egal, aus deinem Mund kommen nur scheußliche Lügen!“ schrie Puran und schlug ihm wütend ins Gesicht, worauf Ram aufsprang und sich abermals auf ihn stürzte. Sich raufend und schlagend rollten die Jungen fluchend durch den nassen Schnee.

„Man erzählt, sie soll Sklaven gehalten, gefoltert und lebendig gehäutet haben, nur so zum Spaß, um ihre eigenen, perversen Notgeilheiten zu befriedigen oder so! Dein Stammbaum ist ein blöder Kreis und ihr seid Lästerungen des Lebens!“ brüllte Ram, während er dem Kleineren noch drei mal mit voller Wucht ins Gesicht schlug. Puran hustete und spuckte Blut, als er sich auf den Bauch rollte und stöhnend nach seinem höllisch schmerzenden Kiefer griff. Irgendwas blutete heftig in seinem Mund und er schmeckte den widerlichen Geschmack des Lebenssaftes, als Ram ihn wieder herum zerrte und ihm so heftig wieder ins Gesicht schlug, dass er beinahe ohnmächtig geworden wäre vor Schmerzen. Stöhnend rappelte er sich auf und stierte seinen Gegner wutentbrannt zischend an.

„Du wagst es… so dreckig von meiner… Familie zu reden, die du… gar nicht kennst! Ich habe meinen Großvater gehasst, wage es nicht, mich mit ihm in einem Atemzug zu erwähnen, mit diesem abscheulichen Monster!“

Ram lachte schallend.

„Ach, tatsächlich?! Ihn nennst du Monster, sieh dich doch selbst an! Du bist genauso ein Bastard wie er und alle anderen deiner abscheulichen Ahnen!“

„Sag das nicht noch mal!“ brüllte Puran zornig, ehe er auf die Beine schnellte und den Älteren so unverhofft wieder schlug, dass der zu Boden stolperte. Ehe er sich hätte aufrichten können, holte der Kleine mit dem Fuß aus und trat ihm dann mit solcher Wucht gegen den Arm, dass es mit einem Mal laut knackte und Ram darauf einen so gellenden, grausamen Schrei ausstieß, dass Puran in der Bewegung erstarrte. Zitternd sah er herunter auf den anderen Jungen, der da mit blutender Nase und aufgeplatzten Lippen im Schnee lag. Sein Arm war ungesund verrenkt und sah nicht aus, als wäre er so, wie er gehörte. Der Junge schrie immer noch wie am Spieß und fasste bebend und heulend vor Schmerz nach seinem Arm, den er nicht mehr bewegen konnte.

„I-ich… hab auch noch Beine, Lyra!“ brüllte er dann verzweifelt und trat nach Puran. Der Jüngere war so entsetzt über den Arm, dass er ihn sogar traf und ebenfalls zu Boden stieß. Und er trat wütend schreiend weiter nach ihm und hörte gar nicht damit auf, so lange, bis plötzlich aus der Ferne ein schrilles Schreien ertönte. Dann wurden beide Jungen von einer unsichtbaren Macht ergriffen, in die Luft gerissen und weit voneinander entfernt wieder auf den Boden geworfen, worauf beide erneut schrien und Puran Blut spuckte.

Dann waren die Direktorin der Schule, Nalani und ein verwirrter, blonder Mann bei ihnen.
 

Puran fragte sich, wie oft er im Zimmer der Direktorin gelandet war – und meistens wegen Ram Derran. Einmal wieder saß er da mit einem Taschentuch im Mund, das das Blut aufsaugte. Diese verdammte Schlägerei hatte ihn einen Zahn gekostet, großartig.

Aber der andere war mit seinem gebrochenen Arm auch nicht besser dran. Gerade kümmerte sich eine Heilerin um den Knochenbruch, während Ram so leise wie möglich wimmerte, um stark zu wirken.

Die Direktorin war wutentbrannt.

„Ich werde euch beide von der Schule verweisen!“ schrillte sie, „Einfach so das Schulgelände zu verlassen! Frau Kalih und ich haben euch überall gesucht, bis wir mal auf die Idee kamen, dass ihr aus Gahti verschwunden seid! Zum Glück waren eure Fußspuren jenseits der Straße leicht zu finden im Schnee, ihr hättet euch ansonsten ja tot geprügelt! Ihr seid in der vierten Klasse, ich hätte mehr Verantwortungsbewusstsein und erwachsenes Benehmen von euch erwartet, ich bin nicht nur maßlos enttäuscht – nein, ich bin fuchsteufelswild!“

„Es tut mir furchtbar leid,“ sagte Nalani kalt, „Ich habe garantiert, so etwas käme nicht mehr vor, ich glaube, mein Sohn hat sich die Ohren schlecht gewaschen. Könnt Ihr Euch das mit dem Schulverweis nicht noch einmal überdenken-…?“

„Bei allem Respekt, Herrin, nein!“ schrie die Frau wütend, „Damit sich die beiden weiter prügeln und womöglich noch mal den Unterricht schwänzen?! Es reicht! Meine Geduld ist am Ende, bei euch beiden! Mit euch hat man nur Ärger, einer zerfetzt Schüler und verbrennt Wände, ein anderer verhaut alle, die ihn schief ansehen, wo soll das enden?! Mir ist egal, wo ihr zur Schule geht, hier wird es nicht sein!“

„Aber Frau Lehrerin…!“ machte auch der blonde Mann, offenbar Rams Vater, bedeppert, „Reicht nicht eine saftige Strafe, oder so? Sollen die Kinder dumm bleiben?“

„Dumm bleiben, pah! Die haben sich doch schon alle Hirnzellen aus den Köpfen geprügelt! Das ist mein letztes Wort, jetzt verlasst bitte das Gelände, ich will keinen von euch jemals wieder hier sehen!“ Damit zeigte die Direktorin zur Tür und ihr Gesicht wurde eiskalt. „Raus, aber zack.“
 

Das war eine furchtbare Nachricht. Beide Jungen schwiegen schuldbewusst, als sie mit ihren Elternteilen vor dem Schultor standen. Nalani würdigte Puran keines Blickes und verneigte sich vor Rams Vater.

„Ich entschuldige mich für das unmögliche Verhalten meines Kindes. Das war nicht recht und ich werde dafür sorgen, dass der Arm vernünftig geschient wird, damit er nicht schief zusammenwächst, sonst könnte Ram ihn vielleicht nie wieder benutzen.“ Ram erbleichte, sein Vater seufzte leise.

„Schon gut, ich muss mich bei Euch entschuldigen. Euer Sohn trägt die Schuld nicht alleine, meiner war nicht besser! Viel wichtiger ist doch, dass die Jungen wieder auf die Schule können.“ Die Schwarzmagierin war verwundert über diese Worte. Dieser Mann war kein bisschen zornig oder empört? Der lächelte einfach nur und dachte diplomatisch voraus?

Der blonde Mann hielt ihr eine Hand hin.

„Mein Name ist Chogan Derran, Herrin. Wir leben in dem kleinen Dorf Nehawa, ganz in der Nähe Eures Schlosses.“ Nalani nahm seine Hand nickend.

„Ah, dann weiß ich ja Bescheid. Nalani Lyra.“

„Ich weiß,“ grinste er, und sie runzelte die Stirn.

„Bitte?“

„Ich meine, ich weiß, dass Ihr Nalani Lyra seid, Ihr seid die Schamanenkönigin.“ Nalani räusperte sich. Das wussten selbst die Dorfbauern? Das war irgendwie unangenehm, sie nickte aber.

„Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, kümmere ich mich um die Schule,“ sagte sie, „Ich werde dafür sorgen, dass beide Jungen weiter hingehen dürfen. Als Entschädigung sozusagen.“ Puran sagte nichts und senkte nur bitter den Kopf. Und was, wenn er gar nicht mehr auf diese blöde Schule wollte…?
 

Als Nalani mit dem zerschundenen Kind nach Hause kam, war Tabari daheim. Was sie verwunderte.

„Was machst du denn hier?“ begrüßte sie ihren Mann, während aus der Küche Sukutai gelaufen kam und bei Purans malträtiertem Gesicht erst einmal markerschütternd schrie.

„Das arme Kind, um Himmels Willen, was ist dir denn geschehen?! Komm mal her, das sieht ja scheußlich aus, deine Nase ist ja ganz krumm! Du liebe Zeit, kannst du überhaupt gucken…?!“

„Die doofe Heilerin in der Schule hatte keine Zeit mehr, alles heil zu machen, weil die Direktorin uns rausgeschmissen hat,“ sagte Puran dumpf, als seine Tante jammernd nach seinem Gesicht griff. Hinter ihrem Rock tauchte die kleine Alona auf.

„Die Nase muss amputiert werden,“ erklärte sie todernst, und Puran starrte sie an.

„Was muss die?! Ampu-wie bitte?! Was kennst du denn für Worte?!“

„Amputieren heißt abmachen, du hohler Vogel!“

„Pfui, Alona!“ schimpfte Sukutai mit ihr und gab ihr einen sanften Klaps auf den Hinterkopf, „Sag sowas garstiges nicht zu deinem Cousin! Am besten, wir stecken dich erst mal in die Wanne, damit du den Dreck und das Blut los wirst, ist ja grauenhaft.“

„Amputiert ihr sie dann, Mutti?“

„Ach, pfui!“ empörte Sukutai sich abermals und erhob sich, dann zog sie Alona mit sich zur Treppe. „Dich baden wir gleich mit!“ Mit den Kindern im Schlepptau ging sie hinauf und wies eine Dienerin an, Wasser für die Wanne zu holen.

Währenddessen hatte sich Nalani mit ihrem Mann beschäftigt.

„Wieso bist du hier und nicht in Tuhuli, um deinen Papierkram zu machen?“ fragte sie, und Tabari jammerte und raufte sich die Haare.

„Ich kann das nicht, ich verliere den Verstand da oben und meine verfluchte Mutter kehrt mir jetzt den Rücken, ich beschimpfe sie schon den ganzen Tag lang übelst, wie kann sie mir sowas antun und mich im Stich lassen mit der Arbeit?! Sie weiß genau, dass ich ohne sie verloren bin da!“

„Wie bitte, was macht sie denn, wo ist sie denn?“ wunderte sich seine Frau, und er schnaubte empört.

„Was weiß ich, mit ihrem besten Freund Tee trinken vielleicht! Sie ist einfach heute Mittag aufgestanden und gegangen, dabei hat sie gesagt, sie macht das jetzt nicht mehr und ich solle das alleine machen, d-die hat sie ja nicht mehr alle, die alte Schachtel!“ Er regte sich richtig auf und schimpfte über Salihah, „Ich meine, sie ist doch meine Mutter, sie muss doch dafür sorgen, dass ich fertig werde…!“

„Halt mal die Luft an, du bist da in einer ganz gefährlichen Richtung,“ fiel Nalani ihm ins Wort, „Sie ist deine Mutter, nicht deine Dienstmagd, du bist echt alt genug, das alleine geregelt zu bekommen, oder? Salihah hätte das längst tun sollen, du fauler Sack, du hast nur keine Lust, es zu lernen, du bist doch nicht zu dumm dafür!“

„Ich glaube doch, dass ich zu dumm bin!“ meckerte er, „Ich fühle mich maßlos überfordert, das ist… ist doch scheiße!“ Nalani schnaubte und rümpfte die Nase, ehe sie ihm mehr oder weniger sanft an den Haaren zog. „Au!“

„Ich sag ja, fauler Sack!“ kommentierte sie sein Gemaule, „Wenn du deine grauen Zellen etwas anstrengst, ist die Kreisverwaltung gar nicht so schwer, Tabari.“ Damit war das Thema für sie erledigt und sie schritt an ihm vorbei, um ihren Mantel an die Garderobe zu hängen. Tabari fuhr herum und schnaubte.

„Wenn du mir nicht in den Jahren alle grauen Zellen aus dem Gehirn geprügelt hast, ja!“ zischte er angesäuert. Seine Frau seufzte.

„Salihah ist also nicht hier? Das ist bedauerlich, ich könnte nämlich gebrauchen, oder besser ihre Hilfe, nachdem dein Sohn sich heute von der Schule geprügelt hat.“ Der Blonde erstarrte.

„Wie – wie meinst du das?“

„Na, er und der Derran-Junge wurden der Schule verwiesen, weil sie sich wieder gehauen haben. Und meine Aufgabe ist, das rückgängig zu machen.“

„Und… was brauchst du dafür meine Mutter?“ fragte er verpeilt. Nalani sah ihn ungläubig an. Dann lächelte sie kalt.

„Tabari,“ flötete sie lauernd, „Deine Mutter ist die Seherin. Und nicht nur das, sie ist eine Tochter der Ekalas. Und wenn diese alten Bücher und Schriften ihrer Ahnen nicht lügen, kann sie Dinge, die andere Telepathen-Clans nicht können.“
 

Puran zuckte zusammen.

„Aua, nicht so doll!“ Seine Tante seufzte und ließ von seiner Nase ab.

„Ich bin keine Heilerin, mehr als mit dem Heilzauber Lira an dir herumdoktern kann ich nicht tun, da werdet ihr noch mal nach Tuhuli müssen. Ich versuche nur, alles kleinere schon mal zu heilen. Halt still, das ist unangenehm, muss aber sein.“ Er murrte und zuckte wieder, als ihre Hände nach seinem Gesicht griffen. Obwohl sie ganz vorsichtig war, tat es weh. Alona, die mit ihm in der Badewanne saß, war keine große Hilfe.

„Ich sag ja, wir amputieren deine Nase.“

„Was hast du immer mit deinem amputieren?! – Aua!“

„Halt still!“ empörte Sukutai sich, als der Junge Wasser auf seine kleine Cousine spritzte, die darauf spuckte und hustete.

„Mutti, Puran spritzt mich mit Wasser nass!“

„Weil du immer von amputieren redest, so toll ist das Wort nun auch wieder nicht!“ schmollte Puran, „Ich sollte dir die Zunge amputieren…“

„Kannst du gar nicht!“ johlte das kleine Mädchen und hielt sich den Mund zu, „Weil ich nämlich zu halte!“

„Ja, ja!“ Als seine Tante endlich sein Gesicht in Ruhe ließ, murrte er nur, während Sukutai zur Tür ging.

„Ich komme gleich zurück, bleibt da drin sitzen und seid artig! Du auch, Alonachen, hörst du?“ Die Kinder erwiderten nichts, und als die Frau die Badezimmertür geschlossen hatte, fingen sie an, sich gegenseitig nass zu spritzen.

„Man soll nicht Ja, ja sagen!“ behauptete Alona frech, und ihr Cousin zwickte ihr in den Bauch.

„Halt die Klappe, du Baby!“

„Ich bin kein Baby mehr, ich werde im Sommermond sechs!“

„Du hast aber noch voll viel Babyspeck am Bauch,“ spottete er, „Du bist eine richtige pummelige Kuh!“

„Dafür muss deine Nase amputiert werden!“

„Und dir deine Zunge, Alona!“

„Ich amputiere dir Arme, Beine und den Kopf zugleich!“ setzte sie entgegen, und Puran schob ihr eine große Welle Wasser ins Gesicht, sodass sie hustete und jammerte.

„Und ich dir deinen Speckbauch, tss!“ Sie setzte noch einen drauf:

„Ich amputier‘ dir dein Dinglein, dann bist du ein Mädchen, ätsch!“ Er errötete.

„Wie schmutzig! Ich bin voll ehrbar und so, ich habe gruselige Träume und kann besser zaubern als du, du musst Respekt vor mir haben!“ Darauf fiel ihr nichts mehr ein und sie spritzte laut johlend mit Wasser um sich, während ihn die Gedanken an seine Träume verbiesterten.

Er hatte die Antwort immer noch nicht; was immer dieses Reh mit Ram zu tun hatte, vermutlich war es der Grund, wieso der Schwarzhaarige ihn so abgrundtief hasste, obwohl er ihm nie etwas getan hatte; zumindest nicht bewusst. Was, wenn die Geister in seinem Namen Dinge taten, während er schlief, oder so? Das wäre entsetzlich!

Er ignorierte Alonas Gespritzte und drehte keuchend den schmerzenden Kopf zur Seite, als ihm bei dem Gedanken an die schauderhaften Alpträume schwindelte. Er war müde… schon seit Tagen war er müde, weil er kaum schlief wegen der Träume. Selbst am Sonntag, wo keine Schule war, kam er kaum zum Schlafen. Und jetzt war auch noch Vollmond; bei Vollmond schliefen viele Menschen schlecht, hatte seine Mutter ihm einmal erklärt. Er dachte an den blauen Mond Zuyya. Wenn auf Tharr Vollmond war, hieß das, dass man den Mond Ghia so gut wie gar nicht sah, dafür aber den Mond Zuyya, der klein und blau war, als runde Kugel am Nachthimmel. Zuyya war ihm gruselig. Er konnte sich nicht erklären wieso, aber irgendwie hatte er immer ein ungutes Gefühl, wenn er den kalt blau schimmernden Mond ansah. Er war wie ein bösartiges Auge von Vater Himmel, das wachsam auf ihn herunter starrte und keinen klitzekleinen Fehltritt der Menschheit verpassen würde…
 

Die Nacht war schlecht.

Es war eine schlechte Unruhe, die sich über dem schwarzen Land aus Eis breit machte, eine schleichende, namenlose Bosheit, die nur auf die Gelegenheit lauerte, da zuzuschlagen, wo es keiner erwartete.

Zoras Chimalis stand beunruhigt auf der Veranda seines Anwesens und starrte in den dunklen Nachthimmel. Der runde, kalte Mond Zuyya erhellte die Nacht nur spärlich, und es war ein schauderhaftes Licht, das statt Hoffnung zu geben eher Hoffnung stahl, so hatte er das Gefühl. Der Mann seufzte resigniert bei den Gedanken an die dunklen Vorahnungen, die ihn Nacht für Nacht heimsuchten. Und es wurde jede Nacht schlimmer; schlimmer, ja, aber nicht deutlicher.

„Es ist zum verrückt werden,“ murmelte er, „Was immer es ist, es ist kein gutes Zeichen. Und ich habe naiverweise eine Weile geglaubt, mit Kelar würde alles Übel aus dieser Welt verschwinden…“ Er stockte und drehte verstohlen den Blick nach hinten zurück ins Teezimmer, an das die Veranda angrenzte. Im Teezimmer saß seine Geliebte auf dem Kanapee. Sie trank zwar keinen Tee, sondern Rotwein, aber sie hob jetzt kühl den hübschen Kopf in seine Richtung.

„Was guckst du?“ fragte sie blöd. Er räusperte sich.

„Ich… nun ja, ich komme mir scheußlich vor, wenn ich vor deiner Nase so über Kelar herziehe, immerhin war er dein Mann und-… er hatte Gutes in sich. Es ist nicht gerecht, wenn ich ihm alles Unheil der letzten Dekaden zuschiebe.“ Sie seufzte.

„Du redest Unsinn,“ war ihr Kommentar, „Wir beide wissen, dass Kelar am Ende kein guter Mensch mehr war. Einst war gutes in ihm, das weiß ich wohl von allen am besten. Aber… es gibt so viele Dinge, die ihn kaputt gemacht haben. Und ich denke, ich selbst bin auch nicht unschuldig daran. Ich habe seine Wahnsinnsgeister kontrolliert, aber ich habe sie gleichzeitig auch geschürt, ohne es zu beabsichtigen.“ Er seufzte und drehte den Kopf wieder von ihr weg in die kalte Nacht. Es war der Vollmond des Neujahrsmondes; wenn sie Glück hatten, fing in ein bis zwei Monden der Frühling an. Sie beide schwiegen, bis Salihah ihr Glas ausgetrunken hatte und sich in den Türrahmen hinter ihn stellte. Die eisige Luft kam von draußen herein und ließ sie für einen Moment erzittern.

„Es sind schlechte Zeichen, oder, Salihahchen?“ murmelte er betreten.

„Na, du bist doch der Geisterjäger von uns. Du solltest das sagen können, mein Lieber.“

„Aber das ist es ja… ich weiß, dass etwas Bösartiges da ist in meinen Träumen, ich weiß, dass es schlecht ist… aber ich weiß nicht, wieso und was die Träume von mir wollen. Es… gibt so vieles, das mir Sorgen macht.“ Er sah wieder zum bläulichen Mond. Das beklemmende Gefühl, das er seit Ewigkeiten hatte, wurde in der letzten Zeit immer grauenhafter. Es brachte ihn nachts um seinen Schlaf und tagsüber um seine sonstige Ruhe, Keisha war schon völlig genervt von seiner schlechten Laune. Die sollte mal den Mund halten, sie sah schließlich keine Todesvisionen, seit sie denken konnte.

Schlechte Ahnungen hatte Zoras Chimalis schon als Kind gehabt, immer waren seine Träume böse Träume gewesen. Seine Eltern hatten ihn irgendwann für einen Simulanten gehalten und ihm nicht mehr zugehört, was ihn zutiefst verärgert hatte. Sein Vater war etwas verpeilt und verblendet gewesen, er hatte gelacht und seinen Erstgeborenen paranoid genannt, als der mit kaum zehn Sommern den Tod des Vaters in Träumen gesehen hatte. Es war Krieg gewesen und es war durchaus möglich, dass Menschen dabei starben, vor allem, wo die paar Geisterjäger quasi in erster Reihe zu stehen hatten als beste Verteidiger des Landes. Zoras hatte seinen Eltern immer sehr übel genommen, dass sie ihn bescheuert nannten, weil er immer nur negative und schlechte Träume gehabt hatte, er hatte sich fast ein Jahr lang geweigert, seiner Bestimmung als Stammhalter des Clans nachzukommen, weil er nicht eingesehen gehabt hatte, den Alten nach ihrem Gemosere noch einen Gefallen zu tun. Und wäre er nicht irgendwo tief in seinem Inneren ein pietätvoller und nur etwas verletzter kleiner Junge gewesen, hätte er schallend gelacht, als sein Vater dann doch gestorben war, wie er es vorhergesehen hatte.

Immer nur böse Träume zu haben war kein Segen. Es machte einen über die Jahre verbittert und irgendwann nahm einen niemand mehr ernst; die einzige, die ihn immer ernst genommen hatte, war Salihah gewesen. Sie wusste alles besser und hatte daher auch immer gewusst, dass er die Wahrheit sprach und nicht nur simulierte. Das war einer der Gründe, weshalb er sich schon vor Jahren so zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Salihah war eine seltsame, beeindruckende Frau. Sie konnte entsetzlich und grausam sein, aber sie hatte eine sehr zärtliche Seite an sich, die er schon immer sehr geschätzt hatte.

Als sie jetzt hinter ihn trat und das Kinn über seine Schulter reckte und er ihren heißen Atem an seinem Ohr spürte, erschauderte er kurz.

„Ich spüre es auch,“ flüsterte sie, „Diese Unruhe in meinem Inneren, wie ein lästiger Parasit ist sie in mir und lässt mich nicht mehr los. Und ich werde das Gefühl auch nicht los, dass wir… irgendetwas vergessen. Dass wir irgendetwas übersehen, etwas Wichtiges, das uns alle töten wird, weil wir es übersehen. Aber vor meinen Augen hängt ein tödlicher, dunkler Schleier… und ich bekomme ihn… da nicht weg.“ Als sie das sagte, senkte sie den Kopf und erntete einen ungläubigen Blick von ihrem Liebhaber. „Ich werde alt,“ lächelte sie, „Meine Augen sind wirklich schlecht geworden und was ich auch tue, ich kann nicht mehr das, was ich vor dreißig Jahren konnte. Liebe Güte, ich lebe schon beinahe fünf Jahrzehnte auf dieser Welt…“

Zoras drehte sich seufzend zu ihr um und strich ihr liebevoll über die Wange.

„Du… wirst, egal wie alt du bist oder was du kannst, für mich immer die Seherin sein.“ Sie lächelte erneut und gab ihm einen zärtlichen Kuss.

„Tabari sieht das nicht ein, aber ich versuche bereits, mich zurückzuziehen. Ich werde eine alte Frau, mein Sohn sieht das nicht so richtig ein, er war ganz schön sauer, weil ich ihn mit dem Papierkram alleine gelassen habe. Aber…“ Hier machte sie eine unsichere Pause, ehe sie den Kopf von ihrem Geliebten wegdrehte und murmelnd fortfuhr: „Er muss sehr bald lernen, ohne mich zurecht zu kommen, sonst ist es eines Tages zu spät.“ Zoras sagte nichts und streichelte ihr nur gedankenverloren durch die schwarzen, schönen Haare.

„Die Zukunft bringt Flammen und Schatten, meine hübsche Liebste…“
 

Er unterbrach seine Liebkosung, als er das Krähen eines Vogels hinter sich vernahm. Salihah schlang fröstelnd die Arme um ihren schlanken Körper.

„Lass uns rein gehen, am besten zu Bett,“ machte sie, „Mir ist eiskalt.“ Er antwortete nicht und sah vor dem fahlen Mond am Himmel eine schwarze Krähe flattern.

„Moment,“ machte er plötzlich kalt und streckte seinen Arm in den Himmel, bis der Vogel krächzend darauf landete und sich kurz aufplusterte. Salihah wartete, während der Mann den Vogel eine Weile still schweigend ansah.

„Was ist passiert?“ fragte sie dann knapp.

„Nichts,“ war die Antwort, „Das ist das Problem. Das ist ein Botschafter, den ich nach Denmor geschickt habe… dieser Heuchler ist immer noch wie vom Erdboden verschluckt. Wenn wir Glück haben, ist er einfach nur tot und verrottet, aber ich habe ein… ganz ungutes Gefühl…“ Er streckte den Arm wieder aus und sprach zu der Krähe: „Geh! Suche diesen Mann, irgendwo wird er sich finden lassen, und wenn es seine Knochen sind!“ Der Vogel krähte und flatterte wieder davon, dabei hinterließ er mit seinen Füßen blutende Kratzer auf Zoras‘ Arm, und der keuchte kurz.

„Wie undankbar, das kleine Biest,“ kommentierte Salihah das, und Zoras blickte stumm auf die blutenden Wunden in seinem Arm.

„Nein, das… ist es nicht…“ murmelte er, hob eine Hand und wusch mit dem Wasserzauber Alara das Blut von seinem Arm, „Die schlechten Zeichen häufen sich… die Geister spielen bösartige Spielchen mit uns, Salihah…“
 

Salihah konnte das ungute Gefühl, das sie genauso bedrückte wie Zoras, erfolgreich verdrängen, als sie in der Nacht mit ihm das Bett teilte. Obwohl ihr heiß war, als sie auf ihm saß und sich mit ihm bewegte, waren ihre Finger eiskalt, die über seinen Bauch streichelte, und er fasste zärtlich nach ihren schönen, runden Hüften und seufzte.

„Entspann dich mal… du bist ja noch ernster als ich, Salihahchen, muss ich mir Sorgen machen?“ feixte er, und sie lehnte heftig atmend den Kopf in den Nacken.

„Mir geht es gut…“ Die Worte gingen in ein leises Stöhnen über und sie erzitterte am ganzen Körper ob der Hitzewelle, die sie erfasste, während sie in ihrem Rausch wie so oft an die Decke blickte und die Geister darunter herum huschen sehen konnte. Sie schauten finster und die Frau erschrak über die bösartigen Gesichter in dem Moment, in dem er sich mit ihr auf dem Schoß aufsetzte und mit beiden Armen ihren schlanken Oberkörper an seinen drückte, um ihre Brust zu küssen, in dem Moment, in dem das Feuer in ihrem Inneren sie zu verbrennen drohte. Als sie heftig keuchend den Kopf herunter riss und in Zoras‘ Gesicht starrte, waren ihre Augen nicht von dieser Welt. Sie hatten ein unheilvolles Funkeln und er keuchte ebenfalls, als sie plötzlich mit völlig belegter Stimme sprach.

„D-die Geister! Sie sprechen… sie sprechen von Tod und Verderben, aber ich kann nicht mehr verstehen…“ Er starrte sie bloß erschrocken an, als sie in seinen Armen erzitterte und sich dann tief seufzend an seine Brust lehnte, als die Welt um sie herum plötzlich finster war. „Ich kann… nichts sehen… wo bist du, Liebster?“

Er konnte noch immer nur starren, als ihr Keuchen sich allmählich ungesund anhörte, und als sie ihren Kopf taumelnd wieder anhob, stand in ihren Augen das Fieber.

„Salihah… ich bin genau vor dir…“ murmelte er, und sie griff keuchend nach seinen heißen Wangen, als ein tierischer Schmerz in ihrem Kopf sie fast ohnmächtig werden ließ.

„Aber es ist dunkel… die Geister starren mich von der Decke an und reden von Tod…“ Dann lehnte sie japsend wieder den Kopf in den Nacken, sodass er sie festhalten musste, damit sie nicht umkippte. „Mach… dass die Dunkelheit verschwindet…“
 

Salihah dachte, es wären Ewigkeiten vergangen, dabei waren es nur ein paar Momente gewesen, als sie wieder sehen konnte. Sie lag dicht an ihren Liebhaber gekuschelt in seinem Bett, die Geister waren verschwunden.

„Was ist passiert…?“ nuschelte sie benebelt und rieb sich die Augen, „Ich… bin eingeschlafen?“

„Du bist krank, das ist passiert,“ war seine Antwort, „Fühlst du dich besser? Du hast etwas Fieber…“ Er fühlte sanft ihre Stirn. Sie war wieder etwas abgekühlt, einen Moment hatte er echt Sorge um sie… so ging es öfter. Manchmal kehrten ihre ominösen Kopfschmerzen ohne Vorwarnung und in aller Heftigkeit zurück, dabei bekam sie oft zusätzlich Fieber. Salihah seufzte leise und schmiegte sich an seine nackte Brust.

„Entschuldige die Umstände…“

„Ach, Umstände, ich bin nur runter gerannt und habe Medizin geholt, war nicht weiter wild.“

„Wären wir mal in der Teestube geblieben, dann hättest du dir die Treppe gespart,“ feixte sie, und er musste lächeln. Sie teilten einen sehr zärtlichen, innigen Kuss, während dem sie sich näher an ihn heran zog. Ihre Hände streichelten über seine Seiten auf seine Oberschenkel und dann zu seinem Unterkörper, worauf er perplex die Luft einzog. „Was denn…?“ raunte sie leise, „Das eben war ja wohl nichts, dann eben noch mal, hm…?“

„In der Teestube ist keine gute Idee,“ räumte er leicht grinsend ein, ehe er sich vorsichtig über sie rollte und begann, mit der Zunge über ihre weiße Haut zu fahren. Sie zitterte. „Meoran hat angeordnet, solange Lehrlinge da sind, wird hier nichts Unanständiges außerhalb der Schlafzimmer getrieben, nicht, dass die armen, unschuldigen Jungs und Mädchen das mitkriegen… vermutlich ist der Junge traumatisiert, seit er uns damals in der Teestube erwischt hat…“ Sie gluckste und seufzte dann leise, als seine Finger ihre Brüste berührten und sie spürte, wie die Hitze zurückkehrte. Vorsichtig schlang sie bereits erregt die Beine um seinen Rumpf und drückte ihn zärtlich gegen ihren Körper.

„Macht sich der kleine Depp denn gut, den er unterrichtet?“

„Der Depp macht sich gut, Meoran muss noch lernen, sich durchzusetzen, der blöde Bengel nimmt dauernd Reißaus und wir dürfen durch die ganze Stadt rennen, um ihn wieder einzufangen, neulich hat Nomboh ihn in einem Bordell gefunden, wo er nackt auf einer Bühne tanzte!“

„Wer, Nomboh?“

„Was, nein, der Lehrling, Himmel…“ Sie stöhnte etwas lauter, als er mit den Küssen etwas tiefer wanderte, bis sie die Hände heftig keuchend in seinen schwarzen Haaren vergrub und sich stöhnend etwas durchbog.

„Ich sage es ja… es wird Zeit, dass die Jungs lernen, ohne uns zurechtzukommen… das gilt für Meoran genau so wie für Tabari…“
 

In der Nacht kehrte der böse Traum zurück, wie Puran es geahnt hatte. Er hasste Ahnungen, vor allem, weil sie meistens richtig waren. Jeder andere hätte sich über diese Gabe vermutlich gefreut, dachte er sich mitunter… aber er hasste es.

Er war anders, er war immer anders. Und er wollte nicht anders sein…

Der Flammenregen kam zurück und ergoss sich wie ein unheilschwangerer Dämon über die Welt, es war tödliches Feuer, das alles vernichtete, was es zu fassen bekam. Puran jagte in all dem Feuer dem Reh hinterher, gehetzt von dem kehligen Lachen seines Großvaters und seiner kalten Stimme, die schnarrte:

„Renn nur, renn, du kannst nicht deinem Schicksal entkommen! Du bist der Erbe des Lyra-Clans, Puran! Deswegen bist du anders und wirst es immer sein…“

„Ich mag nicht!“ schrie er aus vollem Hals – zu seinem Entsetzen hörte sich seine Stimme plötzlich an wie die von Kelar und er erbleichte. Entsetzt riss er die Arme herum, als wollte er das Feuer, das ihn jetzt beinahe einkreiste, verscheuchen, aber aus seinen Händen schoss der Windzauber Katura, der das Reh in weiter Ferne erwischte und es zu Hackfleisch verarbeitete. Puran keuchte und starrte entsetzt auf seine kleinen Hände. Ihm blieb die Luft weg in der Hitze des Feuers und er hustete, bevor er plötzlich die Stimmen der Windgeister hören konnte, die über den Flammen herum schwirrten.

„Du kannst nicht davon rennen vor dem Ende der Welt. Wir werden dich jagen, bis du lernst, uns zu jagen, und wenn… es dich ans Ende der Welt bring, wirst du vom Rand fallen und sterben.“

Das letzte, das er wahrnahm, bevor er panisch keuchend aufwachte, war ein grauenhaftes Schreien in weiter Ferne.
 

Als er die Augen aufschlug, war Nalani bei ihm und fasste bestürzt nach seinem Gesicht. Aus seiner Nase rann Blut, das warm über sein Gesicht lief, und der Junge hickste und hustete, als Nalani ihn sofort hoch zog und auf ihrem Schoß setzte. Mit dem einfachen Heilzauber stoppte sie das Nasenbluten, und zitternd lehnte sich das Söhnchen an ihre Brust.

„Du bist hier, Mutti…“ nuschelte er dumpf.

„Natürlich bin ich das. Ich habe auch geträumt… ich habe dich schreien gehört und bin hergekommen.“ Puran schmiegte sich immer noch fröstelnd an ihren Busen. Sie war so schön warm…

„Mir ist schwindelig, Mutti…“ nuschelte er leise, „Dieser Traum… macht mir Angst. Ich… will nicht ans Ende der Welt…“ Nalani seufzte und streichelte ihm zärtlich über den Rücken.

„Nein, ich auch nicht. Morgen bei Sonnenaufgang fahren wir nach Tuhuli. Keisha wird deine Nase in Ordnung bringen und ich werde deine Großmutter suchen.“
 

Suchen war gelogen; Nalani wusste ja, dass sie ihre Schwiegermutter in Tuhuli und vor allem in Chimalis‘ Anwesen finden würde. So war sie wenig bis nicht überrascht, als sie am nächsten Vormittag samt Mann und Sohn dort eintraf und Salihah ihnen die Türe öffnete.

„Ich habe gewusst, ihr würdet kommen,“ erzählte sie zur Begrüßung und fasste nach ihrem steifen Nacken, ehe sie ihre Familie einließ. Tabari schenkte ihr nur ein beleidigtes Grummeln, Nalani war besorgt.

„Du siehst blass aus, ist alles in Ordnung?“

„Ich habe scheußlich geschlafen, diese Träume und Nichtträume machen mich wahnsinnig. Keine Sorge, ansonsten geht es. Und ich bin nicht die einzige, die schlecht geschlafen hat…“ Während sie das sagte, glitt ihr Blick ernst zu ihrem kleinen Enkel, der sich etwas scheu an Mutters Rock klammerte, während sie das Anwesen betraten. Puran war schon oft hier gewesen, und dennoch war das Anwesen fremd und seltsam. Es war so ganz anders gebaut als das Lyra-Schloss…

In der Stube saß Zoras Chimalis komplett genervt auf der Couch mit einer Tasse Kaffee, als die vier Lyras dazu kamen. Keisha wuselte sinnlos durch die Gegend und sortierte Pergamente.

„Bring Nalani auch Kaffee und den anderen Tee,“ ordnete der Mann dem Hausmädchen an, das auch herein schneite, und sich verneigend ging die Frau wieder. „Guten Morgen, überhaupt.“

„Wir sind hier, damit Keisha mal wieder Purans Gesicht verschönern kann,“ sagte Nalani und setzte sich, „Außerdem muss ich mit Salihah sprechen. Es tut mir sehr leid, dass wir immer eure Stube in Beschlag nehmen und vor allem eure Zeit…“

„Hast du dich wieder mit Jungen geprügelt, die zu stark für dich sind?“ fragte Zoras den kleinen Puran, der nur errötete.

„Dafür kann er nicht zaubern,“ behauptete er trotzig, „Und träumt nicht dauernd vom Ende der Welt, ich würde gerne mit Ram tauschen.“

Er merkte erst, dass alle Augen auf ihm ruhten, als er den Kopf zu Keisha drehte, die perplex blinzelte. Hätte er das nicht sagen sollen? Er kam nicht dazu, sich eine Rechtfertigung für seinen Willen zurecht zu legen, weil Zoras plötzlich aufstand.

„Was siehst du in deinen Träumen, Puran? Sag es mir, jetzt gleich.“ Der Junge fuhr erschrocken über die plötzliche Ernsthaftigkeit zurück.

„Regen aus Feuer und… und die Geister sagen mir, das wäre das Ende der Welt-…“ Zoras senkte die Brauen, ehe Nalani einwarf:

„Das sehe ich auch schon länger… es sind keine guten Zeichen, aber ich weiß nicht, worauf wir aufpassen sollen… es kann doch kein Feuer vom Himmel regnen, oder?“ Unsicher sah sie zwischen Salihah und Zoras hin und her. Der Schwarzhaarige sagte eine Weile nichts.

„Ich sehe es auch…“ murmelte er dann dumpf und Puran starrte ihn an, „Ich sehe es seit ich klein bin, schon mein Leben lang sehe ich das Ende der Welt. Ich… kann euch auch nicht sagen, ob es Feuer regnen kann; zumindest habe ich an keinem Ort, an dem ich war, etwas von Feuerregen gehört. Das war auch einer der Gründe, wieso ich mein Leben lang gereist bin… um herauszufinden, was hinter diesem seltsamen Traum steckt. Natürlich gib es in verschiedenen Ländern verschiedene Mythen und Sagen, Flammenregen und ein Rand der Welt sind nie gute Zeichen. Einmal, im Westen vom Land Ela-ri, habe ich geglaubt, des Rätsels Lösung zu haben, die nennen Blitze bei Gewitter Feuerregen, da dachte ich, es käme vielleicht ein grauenhaftes Unwetter, das alles zerstört, oder so, aber irgendwie war es das dann auch nicht…“ Die anderen sahen sich an und Puran atmete heftig ein und aus. Während des Schweigens setzte Keisha ihn auf den Couchtisch und begann vorsichtig, sein malträtiertes Gesicht ordentlich zu versorgen.

Selbst Zoras Chimalis träumte von dem Himmelsfeuer? Und niemand wusste, was es sollte, alle tappten ahnungslos in der Finsternis herum? Das war fast ein schlechteres Zeichen als der Traum selbst, fand er instinktiv, ohne zu wissen wieso er das dachte. Er sah seine Mutter aus dem Augenwinkel aufstehen und mit Salihah die Stube verlassen; er fragte sich, was sie von der Großmutter so geheimes wollte.

Tabari verfolgte die Frauen genervt mit dem Blick, ehe er sich brummend zur Tür wandte.

„Wo sind eigentlich die anderen eures Haushaltes?“ fragte Tabari Zoras nach einer Weile, in der Keisha Puran fertig heilte.

„Meoran kümmert sich um den Lehrling, oder versucht es, der Bursche ist etwas seltsam im Kopf, Nomboh ist vermutlich zur Unterstützung dabei und Ruja schenkt Nomboh Tee ein.“

„Hmm, ganz schön voll hier im Haus, oder? Ich hoffe, meine Mutter nimmt nicht zu viel Platz weg, weil sie ständig hier herum hockt, es tut mir wirklich leid für die Umstände. Sie ist eben etwas… bockig…“ Zoras musste lachen.

„Du sprichst von ihr, als wäre sie deine Tochter… keine Sorge, solange ich hier Chef bin, stört sie niemanden, das würde niemand zu behaupten wagen.“ Der Blonde seufzte.

„Ja, du bist irgendwie eine Respektsperson… du bist ein guter Mensch, du bist belesen und kannst dich durchsetzen, ich… bewundere das ehrlich gesagt…“ Er wurde immer leiser, während er sprach, der Ältere sah ihn verwundert über das eigenartige Lob an; dann platzte Tabari empört heraus: „Tu mir einen Gefallen und sei du an meiner Stelle Statthalter, du kannst das viel besser als ich!“
 

Zoras musste erst mal blöd gucken, Keisha hustete und Puran verstand nicht, worum es ging.

„W-was willst du?!“ keuchte die Heilerin dann, „Meinst du das ernst?!“

„Meine Mutter weigert sich, mich weiter zu unterstützen, und alleine kriege ich das nicht auf die Reihe!“ jammerte Tabari, „Ich – ich bin kein Politiker, du bist das viel mehr als ich, Zoras! Während ich diesen Kreis in den Bankrott reiten würde, würdest du alles richtig machen, ich weiß das! Es ist doch im Sinne von Vikhara, oder willst du zulassen, dass die einen verpeilten Deppen wie mich als Chef haben…?“ Er lachte über sich selbst und Zoras war sehr ernst, als er antwortete.

„Nein, Tabari, dein Angebot ehrt mich natürlich und dein Vertrauen erst recht, aber ich muss das ablehnen. Und nicht aus Höflichkeit oder weil ich bescheiden bin… im Gegenteil, es ist aus egoistischen Gründen. Ich habe keine Lust, ganz einfach.“

Tabari seufzte.

„Und ich soll die haben?“

„Das ist deine Aufgabe, nicht meine. Meine Aufgabe in dieser Welt ist bald vorbei, ich bin kein junger Mann mehr, das ist dir ja wohl klar. Wenn ich jetzt das Amt anträte, würdet ihr sehr bald einen neuen Statthalter brauchen, da bin ich sicher.“

„Sag doch sowas nicht!“ rief Keisha entsetzt und sprang auf. Zoras schnaubte.

„Ach, sei still, wir alle wissen, dass keiner unendlich lebt, auch ich werde das nicht! Eines Tages ist mein Leben beendet und ich gehe stark davon aus, dass meins vor Tabaris zu Ende ist. Ich versuche jetzt langsam, mich von all meinen Posten zurückzuziehen. Meoran wird einmal meinen Clan erben, dieses Anwesen und alles was dazu gehört, ich übertrage ihm inzwischen viel Verantwortung und selbst Nomboh lässt inzwischen ihn die Lehrlinge ausbilden. Meoran ist ein guter Lehrmeister geworden, er kann zwar noch lernen, aber es geht voran.“

„Und was soll ich machen?“ seufzte Tabari, „Ich… bin doch alleine aufgeschmissen da!“

„Du bist nur zu faul,“ feixte der Schwarzhaarige und Tabari schnaubte.

„Das sagt Nalani auch!“

„Dann sollte dir das zu denken geben. – Ich habe ohnehin genug eigene Sorgen, und die liegen außerhalb von Vikhara…“ Als er skeptische Blicke erntete, setzte er sich wieder auf die Couch und raufte sich die Haare. „Meine Tochter,“ erklärte er sich murmelnd. „In den letzten Wochen lag ein düsterer Schleier vor ihrem Verbleiben und die Geister wollen mir nicht preisgeben, was sie tut, wollen mir nicht zeigen, ob es Enola gut geht… du kennst ja die Geschichte mit der Familie dieses Gutsherren, mit dessen Sohn meine Enkelin verlobt wurde und den sie heiraten wird, sobald sie zur Frau herangewachsen ist…“ Tabari nickte. Ja, er hatte davon gehört. „Damals, das war vor fast zwei Jahren, sind sie alle drei, Enola, Kotori und die Kleine, mit in das Gutshaus gezogen und Teil dieser eigenartigen Familie geworden. Eigenartig sage ich deswegen, weil sie den Kontakt nach Tuhuli komplett unterbinden. Enola darf keine Briefe schreiben und ich habe das Gefühl, die, die ich schreibe, kommen auch nie an. Seit zwei Jahren habe ich weder meine Tochter, noch meinen Schwiegersohn oder meine Enkelin gesehen und dass die Geister sie mir nicht mal mehr zeigen, beunruhigt mich zutiefst. Wenn ich wüsste, welches Haus in Sinami das ist, dann wäre ich längst rüber gefahren und hätte die drei eigenhändig da raus geholt-…“ Tabari fiel ihm ins Wort.

„Mach dir da mal keine Sorgen, Enola ist ein kluges Mädchen und passt sicher auf sich auf!“ meinte er zuversichtlich, „Die Geister sind launisch… ich weiß das sehr gut.“ Er senkte sein Haupt und der Ältere sah ihn kurz schweigend an.

„Das… sind sie wirklich.“ Er warf einen unschlüssigen Blick auf die Kratzer an seinem Arm von der vorigen Nacht.

Schlechte Zeichen, wohin man auch sah… der Schatten war zurückgekehrt, und Zoras wurde das Gefühl nicht los, dass etwas auf sie zu kam, das weit schlimmer sein würde als Kelars Lyrien.
 

Puran fragte sich, ob er auf seine Mutter, seine Großmutter oder auf irgendwen anderes wütend sein sollte, weil er leider doch wieder zur Schule musste, ebenso wie sein bester Freund (nicht wirklich) Ram Derran. Die alten Waschweiber, wie er seine Mutter und eine Großmutter etwas grimmig betitelte seitdem, sagten nicht, was sie gemacht hatten, damit die Direktorin sie beide wieder aufnahm, aber eigentlich war es auch egal. Salihahs einziger Kommentar war:

„Ich bin die Seherin, Puran, wenn ich will, dass etwas passiert, dann passiert das, wenn ich dafür sorge. Sei artig und geh zur Schule, die letzten zweieinhalb Jahre wirst du auch noch überleben. Du willst doch nicht dumm und schwachsinnig sein und deinen Vorfahren Schande bringen, oder…?“ Dem Jungen waren seine Vorfahren egal, aber Großmutters Blick war etwas beängstigend, deswegen schüttelte er darauf nur schweigend den Kopf. Mitunter hasste er diese Bagage, in der er aufwachsen musste…
 

Und noch viel mehr diese grässliche Schule, dieses beschissene Dorf Gahti, in das er jeden Tag außer am Sonntag gehen musste. Er zählte schon im Frühlingsmond die Tage bis zur Sommerpause. Er freute sich zwar immer, seine beiden Freunde Travi und Kannar zu treffen, aber eigentlich konnte man mit denen auch viel mehr Spaß außerhalb der Schule haben. Jetzt, wo es war wurde, konnten sie wieder zusammen jagen gehen oder es zumindest versuchen. Wenn sie nicht jagten, um zu essen zu haben, sorgten sie stets dafür, das Beutetier nur zu verletzen, Kannar heilte dann die Wunden wieder und sie ließen das Tier wieder frei, um Mutter Erde nicht mehr zu nehmen als sie zum Überleben brauchten. Das waren die Regeln beim Jagen; wer sich zu viel nahm, den würden die Geister bestrafen, das brächte das Gleichgewicht zwischen Beute und Jägern durcheinander und würde alles zerstören.

Am Ende des Frühlingsmondes beendete Herr Masava den Zauberunterricht, nach der Junge auch den letzten Zauber, Katura, in allen Formen und Größen beherrschte. Der Mann sagte, er sollte stolz auf sich sein, aber Puran konnte das immer noch nicht; zaubern war immer noch das allerletzte Mittel, etwas, von dem er nur im allergrößten Notfall Gebrauch machen würde. Ja, er konnte es… aber es machte ihm nur Feinde in seiner Umgebung. Entweder die Leute hassten ihn aus Neid auf sein Talent oder sie fürchteten ihn. Und er verfluchte die Himmelsgeister wutentbrannt, weil sie ihm Talent geschenkt hatten.

Wolltet ihr, dass mich alle hassen? Findet ihr das gerecht? Besten Dank!
 

Umso verwirrter war Puran, als er zu Beginn des Kälbermondes eines Tages in der Pause alleine auf der Bank im Hinterhof hockte, weil Kannar und Travi anderweitig unterwegs waren, und auf eine kleine Gruppe Kinder aufmerksam wurde, die in einiger Entfernung auf einem Haufen herum standen, tuschelte und ab und zu zu ihm herüber sahen. Einen Jungen erkannte er, der ging in seine Klasse, ihm war nur der Name entfallen; ein komischer Kauz, mit dem er nie etwas zu tun gehabt hatte. Er hatte ihn, wenn er ehrlich war, noch nie reden gehört; der konnte sprechen?

„Ihr seid echt albern, geht einfach hin!“ empörte sich eine helle Stimme aus dem Haufen, und als Puran genervt hoch sah, stürmte ein blond gelocktes Mädchen auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. Sie musste jünger als er sein, mindestens eine Klasse unter ihm, er hatte dieses Mädchen noch nie gesehen.

„Was willst du?“ fragte er mürrisch in der Erwartung, es kämen wieder Deppen, die eine Mutprobe ablegen wollten. Das Mädchen strahlte ihn an.

„Ich heiße Narya Maru! Stimmt es, dass du mit Katura den Baum im Schulhof umgemäht hast?“ Puran sah sie blöd an, während hinter ihr die Jungen näher kamen und neugierig herüber sahen. Woher wusste die das denn? Hatte Herr Masava das herum erzählt?

„Mabi hat es herum erzählt, weil er mit seinem Kumpel auf der Mauer gehangen hat damals und es gesehen hat,“ sprach der scheinbar stumme Klassenkamerad von Puran kleinlaut und alle sahen ihn an. Wenn er doch nur auf den Namen käme…

„Willst du mit uns spielen?“ johlte das blonde Mädchen begeistert und hopste vor Purans Nase auf und ab, wobei ihr rosa Röckchen hoch flog, „Weil, wenn du echt so toll zaubern kannst, können wir zusammen üben!“

„Moment, was?“ stöhnte Puran perplex, während der stumme, namenlose Klassenkamerad unruhig die Augen verdrehte, dem das Verhalten des Mädchens offenbar peinlich war.

„Narya, lass ihn einfach in Ruhe, es kommen schon genug Leute an, die scheiße zu ihm sind!“ nuschelte er noch, ehe Puran sich erhob.

„Ihr-… übt zusammen zaubern und wollt, dass ich bei euch mitmache?“ fragte er ungläubig nach. Das war neu, das hatte er noch nicht erlebt. Normalerweise hatten die Leute Angst oder waren neidisch, weil er zaubern konnte…

„Ja, genau!“ Die kleine Narya kicherte vergnügt. „Du bist sooo toll, wenn du mitmachst, werden wir sicher alle mal toll!“

„Spinn nicht rum, er gehört zu den Lyras, so werden wir nie,“ spottete ein größerer Junge, darauf räusperte er sich und stellte sich vor: „Ich bin Umar, wir sind die ultimativen… Pseudo-Könner, sozusagen.“

„Pseudo-Könner?“ machte Puran empört.

„Wir tun so, als wären wir toll, aber eigentlich sind wir gar nicht so toll,“ erklärte der Größere, „Du bist eine Klasse unter uns – na ja, abgesehen von Madanan und Narya, die sind jünger – und bist besser als wir alle zusammen, du bist toll!“ Puran errötete. Das war er definitiv nicht von Gleichaltrigen gewohnt, solche Worte… aber immerhin wusste er jetzt, dass sein stummer Klassenkamerad Madanan hieß.

„Ich bin in der dritten Klasse,“ erklärte die kleine Narya wieder hyperaktiv und begann, um die älteren Jungen herum zu rennen, „Madanan ist mein Cousin, deshalb renne ich ihm hinterher, ich bin das Nestmädchen!“

„Nesthäkchen,“ korrigierte Madanan sie und verdrehte die Augen. „Entschuldige sie, sie ist etwas nervig.“

„Geht schon…“ murmelte Puran peinlich berührt von so viel Aufmerksamkeit. „Ich meine, wieso-… i-ihr… kennt mich doch gar nicht, wieso wollt ihr das mit mir machen…?“

„Weil du toll bist,“ sagte der Junge namens Umar wichtig, „Die anderen Idiotenhaben Angst vor dir, dabei kannst du doch nichts für das, was dein Großvater so angestellt hat-…“

„Euer Interesse ehrt mich,“ sagte er und dachte daran, wie Zoras Chimalis Tabaris Angebot abgelehnt hatte, „Aber ich muss das ablehnen. Ich… ich will doch gar nicht zaubern!“

„Wieso nicht?“ wunderte sich die kleine Narya. „Du bist doch gut…“ Ihr Cousin murrte.

„Darum geht’s nicht, du dummes Kind,“ antwortete er für Puran und der Kleine fragte sich, wieso dieser seltsame Junge nie mit ihm geredet hatte – er verstand ihn offenbar völlig, was für ein netter Kerl… der war ihm sympathisch. „Ich habe euch gesagt, es ist eine dumme Idee.“ Die anderen sahen sich an und jetzt kam Puran sich auch wieder dumm vor, so von allen enttäuscht angesehen zu werden. Er seufzte ergeben.

„Also… von mir aus, aber nicht lange, ich… mag zaubern nicht so.“ Überraschenderweise war es sein neuer Sympathieträger und Klassenkamerad, der bis zu dem Tag nie mit ihm geredet hatte, der darauf antwortete, dabei grinste er kurz.

„Zaubern kann echt ein Fluch sein, stimmt… aber du wirst nicht drum herum kommen, nicht dein Leben lang. Es ist viel angenehmer, wenn man aufhört, sich gegen die Geister zu wehren und lieber mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Man kann mit Zaubern Scheiße bauen, aber auch nützlich sein.“ Der braunhaarige Junge blinzelte bei diesen Worten. So etwas hörte er oft und hatte es bisher für langweiliges Erwachsenengerede gehalten; aber wenn selbst ein Junge so etwas sagte… er fragte sich, was mit diesem seltsamen Jungen war, dass er so gut Bescheid wusste; zumindest war er anders als die anderen der Gruppe.
 

„Wer, Madanan Tevvy?“

Wenn jemand über alles Bescheid wusste, dann war es Kannar. Der kleine Heiler war ein guter Beobachter und er wusste erstaunlich viele unwichtige Details über alle möglichen Schulkameraden von ihnen, egal, ob sie etwas mit ihnen zu tun hatten oder nicht.

„Der Typ redet doch nie, der ist mir irgendwie gruselig. Ich hab zuerst gedacht, Ram und er wären Brüder, weil sie beide nie reden, aber im Gegensatz zu Ram ist Madanan nicht scheiße im Kopf und brutal oder so…“ Puran seufzte. Ja, so weit war er auch schon gewesen. Außerdem hatte Madanan nicht die giftgrünen Schlitzaugen, die Ram hatte. Nachdem Puran seinem besten Freund Kannar von der Begegnung mit der eigenartigen Schamanenclique berichtet hatte, war der ganz aufgeregt gewesen.

„Das ist doch toll, wenn sogar die älteren Junge dich interessant finden, das sollte dich ehren, schmoll nicht!“ hatte er behauptet, „Erst recht, wenn die mit dir zaubern üben wollen…“ Darauf hatte Puran einen tausendsten Versuch gestartet, Kannar zu erklären, wieso er zaubern nicht mochte, und als er darauf gekommen war, dass der komische Madanan offenbar der einzige der Welt war, der ihn verstand, hatte er Kannar gefragt, was er über den anderen Jungen wusste.

„Viel kann ich dir da nicht sagen,“ meinte der heiler jetzt nachdenklich, „Die Tevvy-Familie wohnt in Dralor, eigentlich hätte Madanan viel einfacher nach Tuhuli zur Schule gehen können, ist viel dichter als Gahti. Aber seine Eltern stehen auf Gahti, irgendwie. Hab sie mal bei uns in der Apotheke gesehen, sie sind beide Schwarzmagier und sehr höfliche, freundliche Leute. Madanan ist ihr einziges Kind und wird bestimmt total verwöhnt, vielleicht denkt er, wir wären minderwertig, und redet deshalb nie mit uns…“

„So einen Eindruck hatte ich nicht,“ widersprach sein Freund ihm grübelnd, „Er ist vielleicht einfach schüchtern oder spricht nicht gern. Und dieses Mädchen, diese Narya Maru, ist seine Cousine, wohnt die auch da?“

„Ach, die Narya?“ Kannar kratzte sich am Kopf, „Ähm, ihre Mutter ist die Schwester von Madanans Mutter, glaube ich. Die wohnen auch in Dralor, quasi nebeneinander, habe ich gehört. Die Marus sind ein Clan von Erdmagiern. So, wie dein stärkstes Element Wind ist, haben die Erde, die können sogar den Boden verändern und so, habe ich gehört…“ Puran blinzelte. Das war alles schön und gut… aber wieso Madanan so seltsam war, wusste er immer noch nicht.

„Es ist viel angenehmer, wenn man aufhört, sich gegen die Geister zu wehren und lieber mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Man kann mit Zaubern Scheiße bauen, aber auch nützlich sein.“

Das hatte er gesagt… der Junge fragte sich beklommen, woher er das so genau wissen wollte…
 

Am ersten Sonntag des Kälbermondes war Viehmarkt in Tuhuli. Das war ein großes Ereignis in ganz Vikhara, weil aus allen Dörfern im Umkreis Bauern und Handwerker kamen, um ihre Waren auf dem Markt zu verkaufen. Mitunter zogen ganze Dörfer für den Tag nach Tuhuli und alle amüsierten sich prächtig. Der Viehmarkt im Frühjahr war ein richtiges Stadtfest, das vor allem kleine Kinder begeisterte. Puran war von Kannars Familie eingeladen worden, mit ihnen hinzugehen, das war aufregend… Alona hatte geheult, weil sie auch mit gewollt hatte, aber sie hatte nicht gedurft.

„Kannars Eltern haben besseres zu tun, als auch noch auf noch ein Kind mehr aufpassen zu müssen, es wäre unhöflich, dich einfach mitzuschicken,“ hatte Sukutai ihr erklärt, „Und von uns hat niemand die Zeit, auf den Viehmarkt zu gehen, Mausi… sei nicht böse! Vielleicht, wenn du größer bist!“

Der Junge freute sich diebisch, weil seine Cousine zu Hause plärren musste, während er den ganzen Tag mit Kannar und seiner großen Schwester Akila Spaß haben konnte. Er war noch nie während eines Festes in Tuhuli gewesen; wenn, dann immer nur in Chimalis‘ Anwesen. Ob Chimalis‘ wohl auch auf dem Viehmarkt wären?

„Es gibt zweimal im Jahr Straßenfest in Tuhuli,“ erklärte Akila Puran, als sie mit der ganzen Familie auf dem Weg in die Stadt waren. Sie gingen zu Fuß, das war ein gutes Stück zu gehen. „Einmal im Frühjahr den Viehmarkt, da werden größten Teils Tiere verkauft, junge Lämmer, Schweine und Kälber, manchmal auf Ziegen. Und zur Erntezeit gibt es noch mal ein Fest, da wird dann die von den Bauern ertragene Ernte verkauft. Manche flechten auch Körbe oder Fischnetze, andere basteln Schmuck aus Knochen oder sogar Perlen… die Perlensachen sind natürlich extrem teuer. Eigentlich gibt es alles in Tuhuli, die Straßenfeste sind immer toll!“

„Du weißt aber viel,“ lobte Puran das elfjährige Mädchen grinsend, und sie grinste zurück und tätschelte ihm und ihrem Bruder Kannar die Köpfe.

„Ich bin ja auch schon größer als ihr kleinen Jungs!“

„Frechheit, wir sind total groß!“ schnaubte Kannar, und seine Mutter tätschelte Akilas Hinterkopf.

„Sei nicht garstig, Akilachen.“ Das Mädchen kicherte nur albern vor sich hin.

„Was ist eigentlich mit Travi, kommt der nicht nach Tuhuli?“ fragte sich Puran dann, und Kannar hatte auch dafür eine Antwort.

„Doch, mit dem treffen wir uns am Stadttor.“
 

Das Straßenfest in Tuhuli war aufregend. Nachdem sie Travi tatsächlich am Tor gefunden hatten, hatten sich die vier Kinder von den Eltern gelöst und liefen nun alleine über den Markt, während Kannars Eltern sinnvolle Sachen einkauften. Puran war fasziniert von den vielen Dingen, die die Menschen anboten; er hatte noch nie so viele Sachen auf einem Haufen gesehen. Lebende und geschlachtete Tiere, Kräuter und Pflanzen, Stoffe für Kleider, Fische, Schmuck, sogar Stände mit geschmiedeten Waffen gab es. An dem einen Waffenstand glaubte der Junge kurz, sich versehen zu haben; da war doch einer der Jungs von der Zaubertruppe da, zu der der komische Madanan gehörte? Als er noch mal hinsah, winkte der andere Junge fröhlich. Offenbar hatte er sich nicht getäuscht.

„Du bist ja auch hier!“ wurde Puran von dem älteren Jungen begrüßt. Kannar kannte sogar seinen Namen.

„Ratan Kindo, der geht in die Klasse über uns,“ sagte er nämlich zu Akila. Puran lächelte kurz und winkte höflich zurück.

„Ja, ähm, und… was machst du hier?“

„Na, mein Vater ist Schmied, wir verkaufen hier Schwerter,“ erklärte er stolz. „Wir arbeiten mit Metallzaubern, da ist der Beruf Schmied ja genau das Richtige für uns, sozusagen!“

„Ist ja toll!“ staunt Puran und sah sich fasziniert die schön gefertigten Sachen an, „Ähm… seid ihr jedes Jahr hier auf dem Markt?“

„Klar, du nicht?“ kicherte der Junge namens Ratan, „Heute Vormittag muss ich hier am Stand herumstehen und meinem Vati helfen, aber ich freu mich schon, wenn ich auch herumrennen kann.“ Puran nickte, das konnte er verstehen. Travi zog maulend an seinem Arm.

„Können wir weiter? Da drüben gibt’s total leckeres Essen, da will ich unbedingt hin! Komm schon, Puran, gehen wir!“

„Ähm, ja, tut mir leid, ich muss dann wohl,“ lachte der andere und winkte Ratan noch mal, „Wir sehen uns… sicher in der Schule.“

„Genau, bis dann!“
 

Travi war ein kleiner Fresssack, unverbesserlich. Aber er hatte recht, der Stand mit Essen, den er entdeckt hatte, verkaufte tatsächlich sehr leckere Sachen. Die drei Jungen kauften sich Süßigkeiten, Akila sparte sich ihr bisschen Taschengeld für ein paar Ohrringe, die sie ein paar Stände zuvor entdeckt hatte; aber obgleich sie zusammen insgesamt viermal in dem Stand vorbei gingen, traute sich das Mädchen nie, einfach hinzugehen und den Schmuck zu kaufen, was ihr kleiner Bruder schon beim zweiten Mal mit einem genervten Murren kommentierte.

„Aber… soll ich wirklich?“ jammerte Akila beim fünften Mal, das sie den Stand passierten, „Ich meine… das ist doch teuer und… dann wäre mein ganzes gespartes Geld mit einem einzigen Kauf weg! Aber… sie sind so hübsch…“ Die Jungen seufzten gleichermaßen verständnislos.

„Entscheide dich bitte und nerv nicht herum!“ nölte Kannar, und Travi sagte:

„Wie kann man für etwas Geld ausgeben, das man nicht essen kann…?“ Puran verdrehte die Augen.

„Was denn, Akila? Ist dir das Paar Ohrringe wert, dein Geld auszugeben? Ja oder nein? Wenn ja, dann kauf sie einfach, dann lohnt es sich doch.“ Das Mädchen blinzelte und überlegte noch etwas hin und her, ehe sie sich schließlich entschied, die Ohrringe doch zu kaufen.

„Na endlich,“ seufzte Kannar dazu, „Und ich dachte, wir müssten jetzt den Rest des Tages am selben Stand vorbei latschen, der ohnehin völlig langweilig ist!“

„Nur, weil ihr Jungs euch nicht für Schmuck interessiert!“ nölte Akila.

„Du interessierst dich ja auch nicht für Essen,“ bemerkte Travi nickend. Kannar schnaufte.

„Ich auch nicht, du Fresssack!“

„Hey!“ unterbrach Travi da selbst das Gespräch und zeigte mit vollem Mund nach vorn, „Seht mal, ist das nicht Ram?“ Puran fuhr zusammen; oh nein, bitte nicht der. Kannar lugte schnaubend an Travi vorbei.

„Oh, geh mal aus dem Weg, Dickerchen! Stimmt, da hinten! Na, Puran, sollen wir ihn her pfeifen, damit du ihm die Fresse polieren kannst?“

„Sehr komisch,“ murrte Puran beleidigt. Er hatte seinen besten Freund Ram Derran auch schon gesehen, der in einiger Entfernung in der Menschenmasse zusammen mit zwei kleineren, schwarzhaarigen Jungen herum lief. „Na gut, verschwinden wir besser, bevor der-… na toll, zu spät.“ Da hatte Ram die Gruppe auch schon entdeckt und wenige Momente später standen die vier den drei schwarzhaarigen Jungen gegenüber.

„Was denn?“ spottete der größte der drei, „Prinz Lyra lässt sich dazu herab, auf das Stadtfest zu gehen? Welche Ehre, Tuhuli sollte sich wirklich freuen.“

„Halt den Rand,“ stöhnte der Braunhaarige nur, „Was willst du? Hast du nichts zu tun?“

„Eine Menge sogar,“ zischte Ram zurück und reckte den Kopf in die Luft, „Wenn ihr hier in der Richtung steht, in die wir wollen, ist das nicht meine Schuld.“ Die Jungen sahen sich grimmig an und Akila hüstelte.

„N-nicht streiten, bitte…“

„Wieso gibt es hier keinen verdammten Fisch?!“ meckerte der eine kleinere Junge neben Ram da und rang fluchend die Hände in die Luft, „Sag mal, wieso müssen wir überhaupt Fisch kaufen, wenn es in Nehawa sowieso dauernd Fisch gibt? Mutter hat doch ´nen Vollknall!“

„Das erzähle ich ihr!“ schnaubte der kleinste der drei da und zerrte an Rams Ärmel, „Raaaam, Yiska redet schlecht über unsere Mutter!“

„Seid doch mal ruhig, ihr halben Portionen, es ist Schande genug, dass ich euch beide hier mit mir herum schleppen muss!“ fauchte Ram die beiden an. Travi seufzte versonnen.

„Fisch, lecker…“ Kannar trat ihm auf den Fuß.

„Hast du sie noch alle? Das ist total ernst hier und du denkst nur an essen!“

„Aber er hat doch zuerst von Fisch geredet!“ Anschuldigend zeigte Travi auf den mittleren der schwarzhaarigen Jungen, den der kleinste Yiska genannt hatte. Jenem kleinsten ging gerade ein Licht auf. Er zeigte auf Puran.

„Ist das der Sohn vom Herrn der Geister?!“ quiekte er mit seiner noch sehr hohen Kinderstimme, „Den hab ich mir aber gruseliger vorgestellt, Ramchen! Du erzählst daheim immer, er wäre so furchtbar!“ Puran zog eine Braue hoch.

„Man redet schon schlecht über mich, ich werde berühmt,“ schnarrte er gespielt arrogant, und Ram räusperte sich.

„Ich mache euch gerne bekannt, wenn ihr solche Plappermäuler seid!“ zischte er dann, „Ja, das ist der gruselige Puran Lyra, und die beiden Schwachköpfe hier sind meine kleinen Brüder Yiska und Tsana.“

Aha, seine Brüder also. Sie sahen sich alle drei sehr ähnlich, fand Puran, aber mit dem blonden Vater, den er vor Monden mal gesehen hatte, hatten sie wenig Ähnlichkeit. Obwohl, doch, die komischen Augen hatte der auch gehabt. Der Braunhaarige seufzte.

„Sehr erfreut. Wie auch immer, wir gehen jetzt besser.“ Damit drängelte er sich unsanft an Ram vorbei und schubste ihn mürrisch zur Seite, worauf der herum fuhr.

„Hey, was fällt dir ein, mich zu schubsen?!“ Und schon schubste er zurück und Puran stolperte keuchend auf den Boden.

„Gib‘s ihm,“ stöhnte Yiska unbeeindruckt, „Du da, Dicki, hilfst du mir solange Fisch für meine Mutter suchen? Du magst doch essen?“

„Sofort aufhören!“ schrie Akila, als Puran sich gerade wieder aufrappelte und Ram schon empört nach ihm zu treten begann. Die Leute auf der Straße wurden von den beiden Jungen angerempelt, als Puran Rams Tritt auswich und der Schwarzhaarige stattdessen eine alte Dame in den Matsch trat.

„Du Flegel!“ fauchte sie, wurde von den beiden streitenden Kinder ignoriert und schließlich von Akila wieder hochgezogen.

„E-entschuldigt vielmals!“ rief das Mädchen, ehe es gefolgt von Kannar, Travi und Rams Brüdern Ram und Puran nacheilte, die sich vom Trubel des Festes entfernten und in einer Seitenstraße weitermachten.

„Was hast du bitte für Probleme?!“ fuhr Puran den Älteren gerade an, „So doll hab ich dich nun auch wieder nicht geschubst!“

„Ich kriege einfach das Kotzen, wenn ich deine Fratze nur sehen muss!“ empörte Ram sich und schlug nach ihm, kassierte darauf selbst einen saftigen Schlag ins Gesicht und fuhr hustend zurück. Puran spuckte ihm vor die Füße.

„Das ist kein Grund mich gleich zu treten, du Hurensohn!“

„Du wagst es, meine Mutter eine Hure zu nennen?! Das traust du dich nie wieder, das schwöre ich!“ Fluhend stürzte sich Ram wieder auf den Kleineren, während die anderen herbei stürzten und vergeblich versuchten, von außen einzugreifen. Das wäre auch nicht gut geendet, denn mit einer raschen Handbewegung von Puran wurde Ram plötzlich von einem harten Wasserstrahl zurückgeschleudert und landete auf dem Steinboden. Er stöhnte und seine Brüder sahen schockiert von ihm zu Puran und zurück.

„Das war eine Alara,“ sagte der kleine Tsana zu seinem großen Bruder Yiska, „Nicht das Piffelzeug, was du da machst!“

„Hast recht – aber hey, du kannst gar nichts!“

„Ich bin auch erst sechs!“

Ram hatte keine Zeit für die unnötigen Plappereien seiner Brüder. Er erhob sich hustend wieder und fuhr sich mit der Hand über das triefnasse Gesicht. Dann sah er zu Puran, der sich aufgerappelt hatte und die Hände bedrohlich in seine Richtung streckte.

„Tss,“ spuckte der Schwarzhaarige, „Du zauberst ja, ist ja was ganz Neues. Elender Angeber.“ Der Kleine schnaubte.

„Ich kann auch nichts dafür, dass du so eine Null bist. Traust du dich jetzt nicht mehr, oder was? Versuchs doch, du Anfänger.“ Kannar und Travi sahen sich blöd an und Yiska brüllte gut gelaunt:

„Hurra, wir sind Nullen! – Aber egal, Nullen sind viel vollkommener, jaaha, die sind rund! Und genau genommen kommt die Null vor der Eins und ist damit zuerst da und viel toller!“

„Das ist absoluter Schwachsinn,“ behauptete Kannar gedämpft.

„Weiß ich auch,“ machte Yiska, „Aber man muss doch positiv denken!“

„Na, da seid ihr aber anders als euer Bruder…“

„VERDAMMT!“ kreischte der kleine Yiska darauf, „Der Fisch! Ich brauche ganz dringend einen Fisch!“

Während die Jungen am Straßenrand wild diskutierten, stürzte Ram sich erneut auf Puran, wich dem nächsten Wasserzauber aus und schaffte es, ihm das Bein wegzureißen, sodass er japsend auf den Boden fiel. Sofort war Ram wieder über ihm, schlug wütend nach ihm und erntete eine Vaira in seinem Gesicht. Er schrie und wich wieder zurück, damit er sich nicht verbrannte.

„D-das ist ungerecht, wenn du zauberst!“ schrie er dann, „Kannst du dich nicht fair wie ein Kerl verteidigen?! Oder bist du eigentlich eine Frau?!“

„Halt‘s Maul, du Schisser!“

„Hört auf!“ versuchte Akila es erneut und zerrte an Purans Ärmel, „Lass doch diesen Blödsinn, meine Mutter bringt uns um, wenn dir was pass-…!“ weiter kam sie nicht, denn er riss sich wütend los und konnte so gerade noch Rams Faust ausweichen, die auf ihn zu gekommen war. Der Schwarzhaarige fluchte und wich einer weiteren Alara aus, die statt Ram die Straße überflutete.

„Sag mir endlich, was du für ein Problem mit deinem Reh hast, dann lasse ich dich auch in Ruhe!“ entfuhr es Puran verärgert, „Du bist doch immer derjenige, der Streit vom Zaun bricht, ich will doch gar nicht mit dir streiten!“

„Ich hasse dich!“ brüllte Ram nur, statt ordentlich zu antworten, im nächsten Moment schnellte seine Faust erneut auf Puran zu und er erwischte den Kleinen mit voller Wucht in der Magengegend, worauf der keuchte, dann wild hustend zu Boden stürzte und dabei noch Akila umwarf, die wieder an ihm gezerrt hatte. Das Mädchen heulte.

„AUFHÖREN!“

Ram Derran schnappte heftig nach Luft und stierte auf die zwei vor sich am Boden herab. Die Jungen kamen dazu und Yiska lachte dämlich.

„Hast du ein Mädchen geschlagen, Ramchen?! Du Oberdepp, sowas tut man nicht…“ Er fing sich eine saftige Ohrfeige vom großen Bruder.

„Sei ruhig! – Wir gehen jetzt Fisch kaufen. Lasst die Deppen doch Deppen sein. Kommt jetzt!“ Damit drehte er sich weg und verschwand mit seinen Brüdern zurück in Richtung Fest.
 

Puran kauerte stöhnend am Boden und spuckte etwas Blut.

„Verdammt…“ murmelte er, „Das… tut ganz schön weh…“

„Bist du verletzt?“ fragte Travi überflüssig, aber besorgt. Akila hatte sich zum Glück außer ein paar Kratzern nichts zugezogen und stand auf, ehe sie versuchte, Kannars besten Freund hochzuziehen.

„So ein Unglück!“ schluchzte sie, „Ich habe doch-…!“ Sie unterbrach sich entsetzt, als Puran laut schrie, als sie versuchte, ihn hoch zu ziehen.

„Nicht!“ jammerte er, „D-das tut weh, das geht nicht!“

„Soll ich Hilfe holen?“ fragte Travi erbleichend. Der Braunhaarige schüttelte heftig keuchend und hustend den Kopf.

„I-ich muss… ich muss doch gehen können, Mann… nicht anfassen, lass mich los, Akila!“ Akila schniefte.

„Ich habe doch gesagt, ihr sollt aufhören…!“

„Er hat doch angefangen!“

„Das ist doch egal, mach nächstes Mal einen Bogen um Ram Derran!“ rief sie ärgerlich und besorgt, „Was machen wir denn jetzt? Ich werde gehen und nach meinen Eltern suchen, und-…“ Puran hielt sie auf und fasste stöhnend nach seinem Bauch, mit der freien Hand hatte er Akilas Handgelenk gepackt.

„Warte…“ japste er und hob zitternd den Kopf, „D-das müssen wir nicht! Ich kenne diese Straße… ich bin hier schon mal gewesen!“

„Ja, und?“ sagte Kannar beunruhigt.

„An ihrem Ostende liegt der Außenring, da… ist Chimalis‘ Anwesen!“
 

Die junge Frau drehte langsam den Kopf und ihre Augen weiteten sich für einen Moment.

„Das glaubt Ihr doch selbst nicht, dass ich mich dazu herab ließe,“ sagte sie spöttisch, „Ich bin eine Tochter großer Leute, ich habe meine Ehre, gnädige Frau. Kommt einen… Schritt näher… und ich reiße Euch in Stücke!“ Sie trat dann aber selbst zurück, als ein schauriges Lachen vor ihr erklang. Es war kein ehrliches Lachen, es war mehr ein Ausdruck des Entsetzens.

„Das wagst du nach allem, was wir für dich und deine dämliche Familie getan haben? Das wagst du nach dem, was geschehen ist, nach der Gnade und Barmherzigkeit, die wir euch gaben? Du denkst wohl, nur weil du die Tochter eines Geisterjägers warst, wärst du mehr wert…?“

„War?“ machte die erste Frau tonlos. „Wieso war?“

„Weil du zu stolz warst, zurück zu deiner Familie zu gehen, nachdem ihr auf der Straße gelandet seid… du hast dich lieber uns in die Arme geworfen als dir vor deinem großartigen Vater einzugestehen, dass du ohne seine Hilfe niemals zurechtgekommen bist… genauso wenig wie du zugeben würdest, dass es überstürzt und dumm war, sich auf diesen armseligen Nichtskönner Kipu einzulassen…?“

„Sprich nicht so von meinem Ehemann, du falsche Schlange, oder ich reiße dir deine widerwärtige Zunge heraus und werfe sie ins Meer!“ Sie wollte herum fahren, aber mit einem Mal wurde es dunkel und die Frau keuchte und weitete die Augen erneut. „W-was geschieht hier? Was ist das für ein schändlicher Mistladen hier?“ Die bösartige Stimme der zweiten Frau kicherte in der Finsternis.

„Schlaf, Enola Kipu. Es ist schon dunkel… dank deiner Frechheit mir als Herrin gegenüber wirst du das Sonnenlicht niemals wiedersehen… ebenso wenig deinen Mann oder deine süße Tochter, die meinen Sohn heiraten und genauso meine Puppe werden wird wie der Rest dieser Schwachmaten, die hier leben. Sag mir, Enola… ist das nicht gnädig von mir…?“

Das Letzte, was die Dunkelheit preisgab, war ein grauenhafter Schmerz und Enolas panischer Schrei.

„Gib mir meine Pakuna zurück, du scheußliche Hure!“
 

Zoras Chimalis öffnete die Augen und für einen Moment war es dunkel, obwohl draußen helllichter Tag war. Als er sich schweigend aufsetzte und ein übles Schwindelgefühl die Schwärze zurück vor seine Augen trieb, hallte der Schrei seiner geliebten Tochter noch immer in seinem Kopf nach.

Du wirst das Sonnenlicht niemals wieder sehen.

„Was… passiert mit meiner Enola?“ stöhnte der Mann besorgt, während er auf dem Sofa saß und sich ein paar Mal über das Gesicht fuhr. Wann war er hier eingeschlafen? Sein Kopf schmerzte und es pochte seltsam darin, als säße ein Männchen mit einem Hammer in seinem Gehirn und haute lustig darauf herum. Es war dunkel, immer noch, obwohl er längst wach war. Es war ein bedrückendes, übles Gefühl, das er hatte, als er an den seltsamen Traum dachte. Eine kalte, grauenhafte Angst, die mehr und mehr von seinem Geist Besitz ergriff, je öfter er von seiner Tochter träumte.

Enola ging es nicht gut. Enola war in Gefahr, irgendetwas passierte, er wusste nicht was, nur, dass es etwas Schlimmes war. Das Gefühl war er gewohnt, er hatte es seit seiner Jugend, aber diese neue Angst um sein einziges Kind, sein einziges Erinnerungsstück an seine geliebte Frau Tehya, war anders.

Furchtbarer.

Das Pochen wurde stärker und stöhnend vergrub er den Kopf in den Händen; das machte es nur schlimmer. Wie Blitze huschten die Bilder über sein inneres Auge, wie ein Gewitter und ein gewaltiger Sturm ergossen sie sich über seinen Geist, Bilder von seiner Tochter, von seiner kleinen Enkelin und deren Vater, Kotori Kipu, Bilder von grauenhaften Silhouetten, Bäumen, die höher hinauf ragten als sie sollten, und schließlich von einem in Flammen stehenden Horizont…

Als er den Kopf keuchend aus den Händen hob und das Licht allmählich zurück in seinen Geist kehrte, merkte er, dass das Pochen nicht in seinem Kopf war, sondern an der Haustür.
 

Vor der Tür standen vier unglücklich japsende Kinder, eines von ihnen kannte Zoras sehr gut.

„Du liebe Güte, Puran!“

„Helft uns bitte!“ übernahm Akila als Älteste das Reden, als Puran sich stöhnend an Kannar lehnte und nach seinem immer noch höllisch schmerzenden Bauch griff, „E-es gab einen Unfall, wir brauchen die Heilerin Keisha! Puran ist verletzt und wir wissen nicht, was wir machen sollen!“

„Keisha ist nicht da,“ nahm Zoras Chimalis dem blassen Mädchen den Wind aus den Segeln. Er trat zur Seite und lotste die Kinder ins Haus, „Ich bin zwar kein Heiler, aber einen Schmerztee bringe selbst ich zustande, ich kümmere mich schon.“ Mit den Worten hob er den immer noch japsenden Puran vorsichtig auf den Arm, um ihn in die Stube zu tragen. Die drei anderen wagten nicht zu widersprechen und folgten ihm, obwohl sie nicht wirklich davon überzeugt waren, dass es helfen würde, wenn es kein Heiler tat. Aber hatten sie eine Wahl?

Nachdem der Schwarzhaarige aus der Küche Kräuter und Wurzeln geholt hatte, verschwand er zunächst in Richtung Terrassentür und brüllte draußen nach dem Hausmädchen, es solle Tee für die Kinder kochen.

„Du liebe Zeit,“ stammelte Travi inzwischen immer wieder und sah sich fasziniert um, „I-ist das ein großes Haus! Hier möchte ich auch wohnen, die alte Klappermühle meines Vaters ist ja ein Schrotthaufen dagegen!“

„Natürlich, das sind ja auch hohe Leute, du Idiot,“ murrte Kannar und fasste fasziniert einen Krug auf einer Kommode an. Akila schrie.

„Fass ja nichts an!“

„Ach,“ machte Zoras Chimalis, der wieder herein kam, das Hausmädchen rannte voller Erde und Grasflecken an ihm vorbei in die Küche, „Das wäre nicht weiter schlimm, selbst, wenn der Krug kaputt geht, der ist potthässlich. Dabei gehörte er nicht mal Keishas Mutter…“ Die Kinder konnten ihm nicht folgen und Kannar fasste das dämliche Ding gut gelaunt weiter an.

„Das ist total aufregend…“

„Weißt du was, behalt den Krug, Junge. Ich glaube nicht, dass den jemand vermissen würde.“

„W-was, ehrlich?!“ Der Junge grinste seine Schwester triumphierend an. „Guck, ich darf ihn behalten!“ Akila errötete vor Scham über seine Frechheit. Wie konnte er vor den Adeligen so schamlos sein?

Zoras setzte sich mit einer eklig aussehenden Brühe aus grünem Matsch in einer Tasse auf die Couch, wo Puran lag und jetzt seufzend den Kopf hob. Während der Mann in der ekligen Medizin rührte, fragte er:

„Was ist eigentlich passiert, Puranchen?“ Der Junge errötete jetzt auch.

„Also, ich… na ja, Ram und ich, wir-…“ Er musste nicht weiter sprechen.

„Ach so, Ram, das sagt schon alles, danke. Du bist aber auch ein Raufbold! Ich bin wirklich froh, dass ich nur eine Tochter habe, so blieben mir immer die Verletzungen erspart! Mädchen kloppen sich schließlich nicht so dämlich wie Jungs.“

„Du bist doch auch einer,“ sagte Kannar dreist, und Akila schlug ihn entsetzt.

„Wie kannst du nur, Kannar?!“

„W-war doch nicht böse gemeint…“ Zoras schenkte den Geschwistern einen skeptischen Blick.

„Natürlich, als ich noch ein Junge war, hab ich mich auch mit anderen Jungs gehauen, und meine Mutter war immer ganz furchtbar wütend deshalb, und mein kleiner Bruder war immer so ein braver Langweiler, der sich nie gekloppt hat, der hat sich dann diebisch gefreut.“ Puran blinzelte. Er konnte sich Zoras und Nomboh gar nicht als Kinder vorstellen, fiel ihm auf. Er kannte sie nur als seriöse, erwachsene Männer… eine seltsame Vorstellung, dass auch sie einmal so klein wie er gewesen waren.

Er unterbrach seine Gedanken, als der Mann ihm die übel riechende Brühe hinhielt.

„Da, trink das. Schmeckt scheußlich, lindert aber Schmerzen und Blutungen, falls du innen verletzt bist. Am besten wartet ihr hier, bis Keisha kommt, dann kann sie dich noch untersuchen. Wieso bist du eigentlich ohne deine Mutter hier?“

„Ich bin mit Kannar und Akila auf das Stadtfest gegangen,“ sagte der kleine Junge und trank die Brühe tapfer in einem Zug aus. Himmel, war das scheußlich. Er verzog das Gesicht und hatte kurz das Bedürfnis, sich sofort zu übergeben, aber er riss sich tapfer zusammen und hielt dem Geisterjäger die leere Tasse wieder hin.

„Ah ja, Kannar und Akila,“ murmelte Zoras und sah die beiden an, „Ihr seid aus Gahti, richtig? Und du bist dann sicherlich Travidan, der Sohn des Müllers.“

„W-woher wisst Ihr…?“ japste Travi perplex. Kannar knuddelte seinen neu errungenen Krug.

„Na, ich bin Geisterjäger, ich weiß eine Menge, mein Junge. – Eure Namen weiß ich zugegebenermaßen von Purans Eltern, da die auch Geisterjäger sind und wir uns ab und zu im Rat treffen, höre ich viel von euch.“

„Hoffentlich nichts Gutes,“ feixte Kannar, und die anderen lachten, Puran etwas verhalten, weil er Bauchschmerzen hatte.

„Nein, zum Beispiel, dass du letzten Winter einen Kuchen aus der Vorratskammer stibitzt und gegessen hast, Travi…“ Der dicke Junge hustete.

„W-was?! Aber – das hat doch niemand gemerkt, wie konnten Purans Eltern das wissen?“ Puran sah ihn ungläubig an.

„Du hast uns einen Kuchen geklaut?! Wie bitte?!“

„E-er sah so lecker aus, das war, als wir Verstecken gespielt haben, da landete ich in der Vorratskammer, und… und… der sah so lecker aus!“

„Deshalb hast du so lange zum Suchen gebraucht!“

„Ich rate dir etwas,“ murmelte Zoras Chimalis verschwörerisch, „Tu niemals heimlich Dinge in einem Haus, in dem Salihah ist… Purans Großmutter, die kennst du sicher. Sie weiß alles, auch wenn du denkst, niemand hätte dich gesehen.“
 

Das war wahr, Salihah wusste eine Menge. Wenn auch nicht so viel wie sie gerne gewusst hätte, denn mit jedem Tag wurden ihre geistigen Augen schlechter und dunkler, mit jedem Tag wuchs die namenlose Furcht in ihr vor irgendetwas, das sie nicht einmal kannte, geschweige denn sich erklären konnte. Irgendwo tief im Verborgenen, in der hitersten Ecke ihres abgestumpften Geistes, der einst so hellhörig und vorausschauend gewesen war, schlummerte eine Besorgnis und Unruhe, ein Wissen oder mehr Ahnen von Dingen, die in so weiter Entfernung lagen, dass sie kaum ihre Silhouetten erkennen konnte… aber es war beunruhigend genug.

„Die Zukunft unseres Landes… oder vielleicht auch der ganzen Welt… liegt in dunklen Schleiern, Liebster…“ murmelte sie benommen, als sie in der Nacht mit ihrem Liebhaber das Bett teilte. Er hatte ihr berichtet, dass ihr Enkel und seine Freunde am Nachmittag kurz im Anwesen gewesen waren, was sie wenig überrascht hatte; ein wenig ihrer Sehkraft hatte sie offenbar doch noch. „Ich vermag Purans Schicksal nicht mehr richtig auszumachen… alles, was ich weiß, ist, dass sein Schicksal… Teil des Himmelsfeuers ist, das wir in unseren Träumen sehen… seine Bestimmung und das Feuer sind… auf eine seltsame Art und Weise miteinander verbunden. Ich kann es nicht erkennen…“ Er seufzte, während er sich über sie beugte und sie zärtlich küsste.

„Quäl dich nicht, Salihahchen… wir alle machen uns Sorgen. Um so viele Dinge, ich…“ Er unterbrach sich und ließ sich wieder in die Kissen fallen, ehe er ihr plötzlich den Rücken kehrte und sich nervös die schwarzen Haare raufte. Salihah schmiegte sich an seinen nackten Rücken, ihre kühlen Finger streichelten sanft über seinen Arm.

„Was bedrückt dich?“ fragte sie überflüssigerweise; sie war immer noch Telepathin. Sie musste nie fragen. „Du bist nervös… mein Liebster…“

„Es geht um meine Tochter,“ murmelte er, „Ich habe von ihr geträumt, schon so oft, und jedes Mal macht es mir mehr Angst. Ich frage mich, ob ich paranoid werde aus Angst, sie zu verlieren… ich habe schon meine Frau verloren, wenn Enola in Sinami etwas zustößt…“ Hier wurde seine Miene unergründlich und selbst Salihah vermochte seine Gedanken mit einem Mal nicht mehr zu erkennen.

Was bedeutete diese Veränderung…?

Sie hob alarmiert den Kopf.

„Was dann?“ fragte sie kühl. Er antwortete lange nicht.

„Dann kann ich für nichts mehr garantieren…“
 

Als hätten die Geister Zoras gehört, sah er seine Tochter nicht mehr in seinen Träumen für einige Zeit. Als die Frau zurückkehrte in seine Träume, war der Kälbermond beinahe vorüber und die Bilder prasselten auf ihn herab wie ein Steinschlag im Gebirge. Am Ende sah er es wieder, das Himmelsfeuer, während die Erde unter seinen Füßen aufbrach, ehe die ganze Welt mit einem gewaltigen Grollen ins Chaos zu stürzen schien. Das Letzte was er hörte, war das Schreien seines Kindes, das im Schatten versank. Das letzte was er sah, war seine kleine Enkelin, die mit vor Schreck riesig geweiteten Augen an der Hand durch ein Land aus Feuer gezogen wurde.
 

Er fuhr aus dem Schlaf hoch und war augenblicklich auf den Beinen, durch das plötzliche Aufspringen wurde ihm schwindelig und mit einem Husten stürzte er wieder zu Boden. Die Zeit, in der er hustend und vom Traum benommen keuchend am Boden kauerte, kam ihm wie ein einziger Augenblick vor, dann waren plötzlich Nomboh und Keisha bei ihm.

„Was ist passiert?!“ fragte sein jüngerer Bruder, „War das eine Vi-… Zoras?!“ Er konnte den Satz nicht mal aussprechen, da war Zoras schon wieder taumelnd auf die Beine gekommen.

„E-Enola!“ japste er, „Irgendetwas passiert mit ihr, die bringen sie um, ich weiß, dass sie sie umbringen!“

„W-was redest du denn? Warte!“ schrie Keisha, die sich, nur mit einem Morgenmantel bekleidet, wieder aufrappelte, ebenso wie ihr Mann, als das Clanoberhaupt aus dem Schlafzimmer stürzte. Er schnappte sich im Flur seinen Mantel und seine Schuhe, ungeachtet der Tatsache, dass er darunter nur einen Pyjama trug, und wollte aus der Tür stürzten, als Nomboh ihn erneut packte.

„Wo willst du hin?“ fragte er entsetzt, „Komm doch erst mal zu dir und sag uns, was du gesehen hast!“

„Tod und Feuer, ich fahre nach Sinami!“ fuhr sein Bruder ihn an und riss sich los. Keisha schlug sich japsend die Hände vor den Mund und erbleichte. Mit etwas Gepolter kamen auch Meoran und kurz darauf seine Verlobte Ruja die Treppe herunter.

„Was ist hier denn los?“ fragte Meoran perplex.

„Lass mich los!“ zischte Zoras und sah Nomboh lauernd aus seinen grünen Augen an, „Ich gehe jetzt und du wirst mich nicht aufhalten! Ich weiß nicht, was hier passiert, nur, dass es schlecht ist, dass Sinami brannte, Enola schrie und ihre Tochter davon rannte! Willst du mir verbieten, meiner Tochter zu helfen?!“

„Du weißt weder genau, was passiert ist, noch, was passieren wird, du bist panisch und paranoid, das endet doch im Chaos!“ machte Nomboh entsetzt, „W-was ist denn mit Salihah, weiß die das nicht besser? Wir sollten hinunter und sie fragen, oder…?“

„Die sieht im Moment fast weniger als ich, die hilft mir nicht, ich gehe!“ Er riss sich los und brüllte in den Hof, man solle ihm sein Pferd bringen. Der Rest der Familie folgte ihm bestürzt.

„Warte, dann komme ich mit!“ rief Meoran, „Du kannst nicht mitten in der Nacht nach Sinami reiten-…“

„Keine Zeit, aber danke für dein Angebot!“ Ehe die anderen ihn aufhalten konnten, saß der Mann schon auf dem Pferd und gab ihm die Sporen, worauf es wiehernd davon preschte, zum Tor hinaus in Richtung Westen.

„Zoras, warte!“ schrie Keisha panisch, aber er war schon weg. Nomboh fluchte.

„Das ist doch Irrsinn! – Meoran, rasch, zieh dich ordentlich an, wir gehen ihm nach, wer weiß, was der dummes anstellt in seiner Hektik! Keisha, Ruja, ihr bleibt daheim und verlasst auf keinen Fall das Anwesen! Keiner von euch!“

„A-aber…!“ keuchte Ruja, inzwischen fünfzehn, fassungslos, und ihr Verlobter nahm sie an der Hand.

„Tu, was mein Vater sagt, Ruja. Mein Onkel ist normalerweise reserviert und seriös, wenn er so am Rad dreht, ist etwas falsch, das ist nicht in Ordnung. Ich habe auch kein gutes Gefühl dabei… beeilen wir uns besser!“
 

Weiter im Süden des Landes schreckte Puran keuchend aus dem Schlaf hoch, als die Nacht ein grauenhaftes Donnern erfüllte, so laut, als bräche der Himmel über dem Schloss zusammen, und das Kind sprang schreiend vor Schreck aus dem Bett.

„W-was zum?!“ keuchte er und lief zum Fenster, um in den rabenschwarzen Himmel zu blicken. Das Grollen dauerte noch immer an und die Erde bebte. Am Fenster konnte er nichts sehen, so verließ er sein Zimmer, um aus dem Flurfenster nach Westen zu sehen; dort traf er überraschenderweise auf seine Großmutter, die da im Nachthemd stand und den Kopf in seine Richtung drehte, worauf Puran fast vor Schreck erneut geschrien hätte.

War das wirklich seine Großmutter oder irgendein Gespenst, das zufällig ihre Haare und ihre Kleidung hatte? Sie war so aschfahl wie eine Tote und ihre Augen durchbohrten ihn mit einem Blick, der nicht aus dieser Welt kam.

„G-Großmutter…?!“ wimmerte Puran entsetzt und erbleichte ebenfalls, während er zurücktaumelte. Die Frau schloss bebend die Augen für einen Moment, ehe sich ihre Züge entspannten. Als sie die Augen aufschlug, hatte sich ihr Blick verändert und das Gespenst war verschwunden.

„Sinami brennt…“ flüsterte sie apathisch und starrte irgendwie durch ihren kleinen Enkel hindurch, als sie weitersprach. „Enola Chimalis ist tot und ihr Mann und ihr Kind von der Erde verschluckt worden… ich frage mich, ob das das Himmelsfeuer ist, das ich so oft sehe…“
 


 

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Booyah, Ente xD Wer jetzt denkt "Hääh, wie jetzt? o_O", keine Sorge, geht nächstes Kapi an genau der Stelle weiter <3

Zeitleisten-Memo: Wir haben Ende April 969. <3

Schatten des Kondors

„Was sagst du da?!“ Nalani war entsetzt und Sukutai schlug keuchend die Hände vor den geöffneten Mund, während Tabari und Kiuk sich erbleichend ansahen, dann den Blick wieder auf ihre Mutter richteten, die in der Stube auf der Couch saß, noch immer nur im Nachthemd. „Enola… w-was ist mit Enola passiert?“ fuhr Nalani irritiert fort, „Salihah, sieh mich an!“ Ungeahnt heftig zog sie das Kinn ihrer Schwiegermutter zu sich, sich vor sie und die Couch hockend. Salihah war apathisch, alles, was sie von sich gegeben hatte, waren Worte über Himmelsfeuer, Sinami und Enolas Tod. „Sieh mich an!“ forderte die jüngere Frau abermals scharf und verengte die blauen Augen zu Schlitzen, „Sag uns, was mit Enola und Sinami passiert ist!“

„Flammen und Finsternis…“ murmelte Salihah benommen, „Ich sah… den Tod des Mädchens… die Gutsherrin hat sie vergiftet… Vater Himmel strafte die Familie mit einem Blitz, der das Haus traf und in Brand steckte…“ Dann brach sie ab und die anderen sahen sich gleichermaßen entsetzt an. Puran klebte an Tabaris Hosenbein, seine kleine Cousine hatte sich unter dem langen Nachthemd von Sukutai versteckt. Sie fürchtete den Donner und das Wetterleuchten, das die Nacht hin und wieder erhellte.

„Was ist aus Enolas Mann und Tochter geworden?“ wunderte sich Tabari, „Und der Gutsfamilie, die sie aufgenommen hatte? Ich dachte, das Kind sollte den Sohn heiraten oder so? Wieso bringen sie dann Enola um-…?“ Seine Frau strafte ihn mit einem kalten Blick.

„Frag nicht so viel auf einmal, deine arme Mutter fiebert ja schon und wird noch durchdrehen!“ Sie drehte sich zur Tür, wo die Frau des Küchenjungen stand. „Bring Fiebertee und einen Lappen, rasch!“ Salihah keuchte nur und sank plötzlich im Sitzen in sich zusammen, vergrub die Hände stöhnend in ihren offenen Haaren.

„I-ich sehe Tod, überall, und es stinkt nach verbranntem Fleisch…“ japste sie tonlos, dann wechselte sie mitten im Satz das Thema, „Nein, keinen Tee, bloß nicht, bring mir Laudanum! – Enolas Mann und die Tochter sind in die Finsternis gefallen… ich kann sie nicht mehr sehen… n-nicht… nicht das Himmelsfeuer, das ich meinte, das ist anders… wo bleibt mein Laudanum, dummes Mädchen?!“ Nalani fasste ihre wirr vor sich hin redende Schwiegermutter sanft an den Schultern, setzte sich dann neben sie auf die Couch und zog sie in ihre Arme.

„Beruhige dich!“ sagte sie leise, aber mit Nachdruck, „Komm zu dir, der Traum ist vorbei, Mutter! – Kiuk, Tabari, vielleicht solltet ihr nach Tuhuli, wenn mit Enola wirklich etwas passiert ist, wird dort der Bär los sein.“

„Ich will mitkommen!“ rief Puran unverhofft und fing sich perplexe Blicke. Er keuchte und trat verunsichert zurück.

„I-ich… ich habe auch den Blitz über der Stadt gesehen, u-und das feuer-… und…“

„Das haben wir alle,“ fiel sein Vater ihm streng ins Wort, „Selbst ich ausnahmsweise mal, die Geister sind gnädig zu mir; du bleibst auf jeden Fall hier, ist das klar?“

„Aber Vati-…!“

„Schluss jetzt! Kiuk, bring uns hoch nach Tuhuli, du bist hier der Telepath!“ Ehe der kleine Sohn noch protestieren konnte, waren sein Vater und sein Onkel verschwunden. Dafür kam das Dienstmädchen mit dem Laudanum für die Großmutter zurück.
 

Sinami war taghell erleuchtet von den Flammen, die aus dem Gutshaus schossen und das riesige Anwesen fraßen, sofern noch etwas davon übrig war. Die ganze Stadt war in hellem Aufruhr, als Nomboh und Meoran sie erreichten und in Abstand zur Mauer des Anwesens ihre Pferde bremsten. Die Nacht war fast um. Schon ewig trieben sie ihre Pferde nach Westen, dann, vor einigen Augenblicken war plötzlich dieser monströse Blitz aus dem Himmel direkt in die Stadt geschlagen, da hatten sie sich noch mehr beeilt, um jetzt diese Misere vorzufinden.

„Scheiße,“ war alles, was Meoran sagen konnte, und er hustete und sah sich hektisch um. Die Feuerwehr war schon zur Stelle und versuchte mit Hilfe von Wasserzaubern oder Wasser aus Brunnen, den Brand von außen zu löschen, entsetzte Anwohner standen überall herum.

„Hin, los!“ machte Nomboh Chimalis knapp, sprang vom Pferd und kämpfte sich gefolgt von seinem Sohn zu Fuß durch die Menschen. „Was ist mit den Leuten, die hier wohnten?!“ fragte er sich durch, „Wo sind die Menschen?!“

„Das ist das Haus, oder?“ Meoran wagte kaum, es auszusprechen, „Das Haus, in… dem meine Cousine und ihre Familie…?“

„Still jetzt!“ fiel sein Vater ihm nervös ins Wort, als sie das halb zerfetzte Tor erreichten. Einer der Feuerwehrmänner versuchte, sie aufzuhalten, aber nachdem Nomboh mit einer Alara die brennende Tür gelöscht hatte, riss er sich aus dem Griff des Mannes los und kämpfte sich durch die Trümmer in den Hof des Hauses. Meoran folgte ihm hustend durch eine Rauchwolke.

Es waren die Geister, die ihm sagten, dass das das Haus was, nach dem sie gesucht hatten. Nach dem sein Onkel seit Jahren suchte, dieses eine haus, in dem seine Cousine Enola mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter wie in einem goldenen Gefängnis lebte…

Tat sie das?
 

Er blieb unverhofft stehen, als sein Vater vor ihm zum Stehen kam, inmitten des brennenden Innenhofes. Hof konnte man das nicht nennen, es war eine Wüste aus Feuer, Asche und Trümmern. Und mitten in dieser Wüste stand sein Onkel, sein schwarzer Mantel war weiß von Staub und Asche. Zu seinen Füßen lag eine junge Frau.

„Enola!“ schrie Meoran zuerst, ignorierte die Warnung seines Vaters und stürzte nach vorne zu seiner Cousine am Boden, nahm ihren Kopf auf den Schoß und schnappte verzweifelt nach Luft. „Enola, d-das ist doch nicht euer Ernst! Wach auf, du blöde Kuh! Wach schon auf, komm schon, d-du bist doch nur bewusstlos! Du bist…“ Er griff zitternd nach den Wangen der hübschen Cousine. Sie waren schmutzig und eiskalt, ihr Körper war bereits erstarrt wie erfroren. Sie musste schon die ganze Nacht lang tot sein. Während der junge Mann keuchend und schluchzend seine tote Cousine umarmte, sah deren Vater verbittert auf sie beide herab, bis Nomboh zu ihm kam und ihn unsicher an der Schulter fasste.

„Wir… sind zu spät…“ murmelte er dabei, „Es tut… mir so schrecklich leid, Bruder.“

Zoras kniff die Lippen zusammen und legte heftig einatmend den Kopf in den Nacken, allem Anschein nach mit größter Anstrengung versuchend, standhaft zu bleiben. Nomboh kannte seinen Bruder, und er senkte ebenfalls bebend vor Trauer den Kopf.

„Zoras, hör damit auf,“ presste er hervor, „Du… du kannst nicht tapfer sein, wenn deine Tochter… Tehyas Tochter…“ Er vermochte es nicht auszusprechen. Er wollte nur sichergehen, dass sein Bruder wusste, dass es ihm niemand nachsehen würde, wenn er jetzt schrie und weinte. Aber Zoras zuckte und reagierte ganz anders, als Nomboh oder Meoran es erwartet hätten.

Er begann plötzlich schallend zu lachen.

Es war ein falsches Lachen, ein übles, garstiges Lachen, und in diesem Moment fragte Nomboh sich, ob sein Bruder den Verstand verloren hatte. Als der Ältere zu ihm herumfuhr und ihn angrinste, noch immer gackernd und irre kichernd, war sein Blick nicht der, den Nomboh von seinem Bruder kannte.

Das war nicht sein Bruder. Das war irgendein Gefäß für die Launen der Windgeister, die ihn besaßen und ihn zu einer grauenhaften Marionette machten.

„Ich… habe sie alle umgebracht!“ gackerte Zoras Chimalis und brach wieder in schallendes Gelächter aus, „Ich habe diese… diese Hure mit einem Blitz zu Aas gemacht, diese Nutte, die meine Tochter ermordet hat! Diese verdammte Schlampe, diese Schande des Lebens, und ihr verdammtes Haus, jede einzelne Mauer brennt und nichts wird übrig bleiben für das, was diese Familie… meiner angetan hat! Dafür, dass sie meine Tochter zur Putze gemacht haben, dass sie ihr ihr Kind wegnahmen, dass sie sie töteten, ich habe sie den verdammten Zorn der Himmelsgeister spüren lassen!“

„Z-Zoras…!“ machte Nomboh fassungslos über diesen Ausbruch. Das Lachen erstarb, und jetzt brüllte sein Bruder ihn wutentbrannt an, so laut, dass die ganze Stadt es hätte hören können:

„Und ihr vermaledeites Kind, diesen verlausten Bengel, der meine Enkelin bekommen sollte, das ist genauso tot, ich habe sie alle umgebracht! Ich habe diese Nutte verbrannt und sie hat im Moment des Todes vor Qual geschrien, und weißt du was?! Es hat mir Spaß gemacht, sie leiden zu lassen, es hat mir verdammt noch mal Spaß gemacht! TU DOCH WAS, NOMBOH, DU DRECKSKERL, ICH LACHE, WÄHREND MEIN KIND TOT VOR MEINEN FÜSSEN LIEGT!“ Er wurde immer lauter und bedrohlicher und der Jüngere trat verunsichert einen Schritt zurück, als sich Zoras‘ Gesicht vor Wahnsinn verzerrte und er ohne etwas damit zu sagen zu schreien begann, er schrie sich die Lunge aus dem Leib, er schrie den Namen seiner Tochter, die er für immer verloren hatte, er schrie und verfluchte die Geister, die ihn nicht früher gewarnt hatten, die ihn hatten mit ansehen lassen, wie seine Tochter sterben musste, die zugelassen hatten, dass er sie tot fand, dass er zu spät kam. Er hasste sie, die Geister, den Himmel und die Erde, er hasste sie und er wollte sie zerstören für diese Schmach… aber das konnte er nicht. Er war nur ein Mensch…
 

Meoran hatte die Leiche seiner Cousine hoch genommen und sich erhoben, während er erbleichend seinen wahnsinnigen Onkel anstarrte. Nomboh wünschte sich plötzlich, Salihah würde kommen. Salihah, Zoras‘ ewige erste Geliebte, vielleicht die Einzige, die ihm jetzt helfen konnte. Wenn Salihah es nicht konnte, dann könnte es niemand, so viel war ihm klar.

Salihah kam nicht. Aber dafür ihre Söhne, als der Morgen angebrochen und die Sonne fast ganz aufgegangen war. Das Feuer hatte sich gelegt und nach einiger Überzeugungsarbeit hatten Kiuk und Meoran es geschafft, die Anwohner und Feuerwehrleute wegzuschicken, bis alles weitere geklärt war.

Die Aasfresser kamen schon, um das verkohlte Fleisch der Gutsherrin und der Angestellten im Hof und in den Trümmern anzupicken. Niemand verjagte die Geier, sollten sie doch fressen. Nur an Enola ließen sie keine Tiere, Meoran hatte sie in seinen Mantel gewickelt, damit sie nicht so leichte Beute wurde. Da lag sie nun tot in dem Mantel am Boden, ihr Vater lag wie ein verwundetes Kind weinend neben ihr und knuddelte die Leiche. Er hatte zu schreien aufgehört, aber vermutlich lag das daran, dass er kaum noch Stimme hatte. Um ihn herum standen Nomboh, Meoran, Tabari und Kiuk und wussten nicht weiter.

„Niemand weiß, was Enolas Mann und der Tochter ist,“ meinte Nomboh dumpf, „Sie waren nicht hier, als Zoras kam, als er Enola tot fand und das haus mit einem Geisterblitz zerstörte, ebenso wie die Frau, den Sohn und das gesamte Personal. Ich glaube, den Vater, also den Gutsherren, hat er auch übersehen, zumindest hat er von dem nicht gesprochen, sofern er bei Verstand redet, meine ich.“

„Ich bin nicht gestört!“ heulte Zoras am Boden und vergrub jammernd das Gesicht in Meorans Mantel, „Ich bin nicht geisteskrank, vergleiche mich nicht noch mit Kelar! Spieß mich doch gleich auf, das ist etwa gleichwertig! – Der Mann ist geflohen, ich sah ihn zur Hintertür hinaus rennen, ich hatte keine Lust, ihn zu verfolgen…“ Das erklärte wenigstens das, aber wo waren Kotori und das Kind? Nomboh befürchtete ja, dass sein Bruder in seiner rasenden Wut und seinem Wahnsinn vergessen hatte, dass sie auch im haus sein müssten, als er es angezündet hatte. Was, wenn die beiden also auch…? Er hielt es für besser, das nicht anzusprechen. Nicht jetzt. Wer wusste, was Zoras machen würde, würde man ihm unterstellen, seinen Schwiegersohn und seine Enkelin selbst ermordet zu haben?

„Dann teilen wir uns auf und suchen sie!“ schlug Tabari vor, „Sie werden wohl kaum lange fort sein, wenn Enola diese Nacht hier war, wenn sie geflohen sind, kann es nur kurz vor dem Blitz gewesen sein, dann können sie nicht weit sein!“

„Das ist eine gute Idee,“ meinte Meoran dumpf, „Am besten, du und ich suchen, Tabari, Kiuk, bitte hilf meinem Vater, meinen Onkel und Enola nach Tuhuli zu bringen, per Teleport seid ihr viel schneller, und…“ Er senkte kurz verlegen den Kopf, ehe er fortfuhr: „Vielleicht solltet ihr Salihah holen, vielleicht hilft die meinem Onkel, wieder zu Verstand zu kommen…“

„Ich bin nicht gestört!“ brüllte Zoras verzweifelt und fing plötzlich an, in die Leiche zu gackern, an die er sich klammerte, „Sie ist tot, verdammt, ich habe meine Frau und meine einzige Tochter verloren, da darf ich ja wohl neben mir sein! Da darf ich ja wohl heulend am Boden liegen und eine Leiche umarmen! Du ehrloser Mistkerl, Meoran!“ Meoran schnappte verletzt nach Luft, während Nomboh ihm mit einem Blick sagte, dass Zoras das nicht so meinte. Kiuk seinerseits räusperte sich.

„Bei allem Respekt,“ sprach er, obwohl Meoran jünger war als er, „Meine Mutter wird im Moment keine Hilfe sein. Die wird daheim berauscht von Fieber und ihren Drogen im Bett liegen, von meiner Schwägerin betüdelt werden und wirres Zeug reden. Sie… wird alt, sie ist durcheinander.“ Meoran seufzte resigniert.

„Ja… ich verstehe. Wir sollten uns an die Arbeit machen.“
 

Sukutai hatte die Kinder wieder ins Bett geschickt, obwohl es bereits hell geworden war, ehe sie sich mit Nalani um Salihah gekümmert hatte, der es nicht sonderlich gut ging.

Puran ging es auch nicht gut. Er konnte nicht schlafen, er war verwirrt und verstand nicht, was passierte. Nur, dass es schlecht war. Die Geister sagten ihm, dass es schlecht war und dass es schlechter werden würde, das machte ihm Angst, während er im Morgengrauen in seinem Bett lag und krampfhaft versuchte, einzuschlafen. Er wäre jetzt gerne zu seinen Eltern ins Bett gekrabbelt… leider waren die beide wach und nicht im Bett.

Als die Zimmertür aufging, dachte er zuerst, seine Mutter käme, dann erkannte er seine blasse Cousine, die bitterlich weinte.

„Alonachen… w-was hast du?!“ fragte er sie bestürzt und setzte sich auf. Das kleine Mädchen hickste und schluchzte und wischte sich mit den Ärmeln über das gerötete Gesicht.

„Ich habe Angst und kann nicht einschlafen!“ heulte sie unglücklich, „D-darf ich bei dir schlafen…? Bitte…“

Er starrte sie verwirrt an. Das hatte sie noch nie verlangt; Alona war ein sehr tapferes Mädchen. Sie weinte selten so wie jetzt und schlief auch immer brav durch, sie war viel tapferer als er selbst, fand er. Und er war immer etwas neidisch darauf gewesen, dass sie als Mädchen stärker war als er, obwohl er doch ein Junge war. Aber das hier war anders. Sie hatte wirklich Angst, sie zitterte und schniefte in einem fort. Der Junge rutschte in seinem Bett zur Seite und schlug die Bettdecke zurück.

„Klar darfst du,“ machte er, „Komm her. Ich kann auch nicht schlafen, vielleicht ist es gut für uns beide, wenn du bei mir bleibst. Soll ich dich etwas in den Arm nehmen?“ Sie nickte heftig, als sie zu ihm ins Bett krabbelte und sich an ihn kuschelte.

„Schlimme Dinge passieren, Puran…“ nuschelte sie gegen seine Brust, „Ich fürchte mich…“

„Das tun wir alle, glaube ich…“ antwortete er dumpf.
 

Salihah saß in ihrem Bett und redete kein wirres Zeug mehr. An den Fußenden des großen Bettes saßen Sukutai und Nalani, und gemeinsam warteten die Frauen auf die Rückkehr der Männer und Neuigkeiten.

Die Schwiegermutter hatte sich ein Gläschen gelöstes Laudanum nicht nehmen lassen und Nalani hatte irgendwann genervt ihrem Verlangen nachgegeben, obwohl sie am liebsten sämtliche Vorräte des Höllenzeugs verbrennen würde. Jetzt trank die Älteste immerhin nur noch Wasser.

„Ich habe den Tod des Mädchens gesehen in meinem Traum, und den Blitz, der das Haus traf… so voller… Zorn und Verzweiflung, ich konnte die Wut der Himmelsgeister richtig wahrnehmen im Traum…“ Salihah unterbrach sich und ihr Blick schweifte stumm zu den beiden Schwiegertöchtern am Fußende des Bettes. Nalani senkte den Kopf.

„Zoras war da, oder?“ hörte sie sich selbst fragen. Sukutai sah sie ungläubig an.

„D-du meinst, der Blitz kam-…?“ hauchte sie und vermochte es nicht auszusprechen, Nalani strich gedankenverloren ihr Nachthemd glatt. Sie fragte sich, wie sie reagiert hätte, wenn sie erführe, ihr Sohn wäre tot… sie wollte gar nicht genauer darüber nachdenken. Ihr Kind tot, unvorstellbar… sie würde eher selber sterben oder sogar über Leichen gehen, wenn sie dadurch verhindern würde, dass ihr Kind starb, dachte sie sich, einen Moment später kam sie sich grauenhaft vor. Wie konnte sie es wagen, so zu denken? Jeder musste sterben, auch ihr Sohn würde eines Tages sterben; sie hoffte nur, dass sie es vor ihm täte, damit sie nicht miterleben müsste, wie ihr Kind den Tod fand…

„Wir sollten nach Tuhuli und zumindest unser Beileid aussprechen, oder?“ fragte sie dann dumpf, um ihre grausigen Gedanken zu unterbrechen. Salihah nippte an ihrem Wasserglas. Ihr Zustand hatte sich etwas stabilisiert, aber sie war immer noch ungesund blass im Gesicht.

„Nicht jetzt,“ antwortete sie, „Zu viele Leute auf einmal wären nicht gut. Ich kenne Zoras, er wird niemanden sehen wollen.“ Sie addierte gemurmelt, sodass die beiden Jüngeren es nicht verstehen konnten: „Nicht einmal mich.“

Ein düsterer Schatten lag über ihren inneren Augen und machte sie schlechter denn je, als sie sich durch das Fieber heiß und müde fühlte. Es waren schlechte Zeichen… der Blitz über Sinami war nicht das Himmelsfeuer gewesen, das sie seit Monden fürchtete, von dem sie träumte und das sie nicht einordnen konnte.
 

Als Tabari und Kiuk zurück ins Anwesen kehrten, war Mittag vorbei. Zum Glück war Sonntag und Puran hatte nicht zur Schule gemusst; die beiden Kinder spielten gemeinsam im Garten des Schlosses, als die Väter kamen. Nalani begrüßte ihren Mann unverhofft überschwänglich mit einer stürmischen Umarmung.

„Was denn, womit verdiene ich die denn?“ wunderte der Blonde sich konfus, und sie schmiegte sich schweigend an ihn und vergrub das Gesicht in seiner Schulter. Sie fühlte sich nicht wohl bei all dem Übel, das geschah, sie hätte am liebsten den Rest des Tages nur in seinen Armen gelegen. Das würde sie nie vor ihm zugeben, dazu war sie zu stolz, aber sie war froh gewesen in dem Moment, in dem er heim gekommen war. Tabari fragte nicht weiter nach, als sie an seinem hals hing und sich stumm umarmen ließ. Er wusste, sie würde ohnehin nicht antworten, so schloss er sie etwas erschöpft in seine Arme und küsste ihre Wange.

„Ich… hab dich auch vermisst, meine Liebe,“ sagte er dann dumpf, während sie sich mit leichtem rosa Schimmer auf den Wangen von ihm löste und sich ein paar widerspenstige Strähnen hinter die Ohren strich.

„Deiner Mutter geht es besser,“ sagte sie, „Was war in Sinami?“ Ihr Mann seufzte tief und kratzte sich dann am Kopf.

„Gehen wir in die Stube? Ausnahmsweise trinke ich glaube ich auch mal Kaffee, ich schlafe sonst im Stehen ein. Das war eine lange Nacht…“
 

„Die beiden anderen sind verschwunden?“ war Sukutais entsetzte erste Frage auf den Bericht der beiden Männer hin, während sie gemeinsam in der Stube saßen. Sogar Salihah war wieder auf, nur die Kinder spielten draußen. Der Küchenjunge bewachte die beiden, damit nichts passierte. Jetzt, wo Nalani schmerzlich bewusst geworden war, dass nicht zwingend die Ältesten zuerst starben, wollte sie auf keinen fall, dass ihr Kind länger als nötig unbeaufsichtigt war; vermutlich würde sie deshalb später wieder mit ihrem Mann aneinander geraten, der ihre Paranoia satt hatte, aber dafür war jetzt keine Zeit.

„Meoran und ich haben fast den ganzen Kreis Dekin abgegrast, sie waren nirgends, weder Enolas Mann noch die Tochter. Wir haben jeden Menschen in ganz Sinami nach ihnen gefragt, aber niemand hat sie gesehen…“

„Wie bitte?“ machte Sukutai, „Aber das würde ja heißen, dass sie zusammen mit dem Anwesen…?!“

„Wir haben auch gewartet, bis die Feuerwehr die Trümmer des Anwesens durchsucht hat, wir haben selbst noch mal gesucht, wenn sie nicht völlig verkohlt sind durch den Blitz, sind sie vom Erdboden verschluckt…“ sagte Tabari unglücklich. Nalani verengte die Augen.

„Vielleicht sind sie das wörtlich,“ warf sie ein, „In meinem Traum sind sie in eine Finsternis gefallen, Gesichtslos, aber ich habe trotzdem gewusst, dass sie es waren… das Mädchen hatte lange, schwarze Haare.“

„Solche Mädchen gibt es ja wie Sand am Meer,“ meinte Tabari verdrossen, „Sieh dich selbst an, meine Mutter, Meorans Verlobte, alle haben schwarze Haare. Wenn ich ein schwarzhaariges Mädchen sehe, kann ich es doch nicht bei jeder Gelegenheit fragen, ob es Enolas Tochter ist…“

„Sie sind in den Schatten gefallen?“ keuchte Sukutai und trank hastig ihren Tee aus, „D-das kann nur ein Zeichen von verderben sein, etwas ganz Furchtbares muss mit ihnen ge-…“ Salihah unterbrach sie. Ihre stimme war kalt und leise, aber trotzdem durchbrach sie Sukutais Geplapper.

„Sie sind am Leben, alle beide.“ Die ältere Frau hob kurz das Gesicht und sah die ungläubigen Blicke der anderen auf sich ruhen. „Ich habe sie gesehen…“ Tabari starrte seine Mutter fassungslos an.

„Und das fällt dir jetzt ein?!“ fuhr er sie ungeahnt heftig an, „Hättest du das nicht sagen können, bevor wir nach Tuhuli gegangen sind?!“

„Tabari!“ empörte Nalani sich, und Kiuk seufzte.

„Idiot,“ machte er zu seinem Bruder, „Wenn sie das da schon gesehen gehabt hätte, hätte sie es doch gesagt!“ Die Mutter bewahrte vollkommene Ruhe.

„Höre auf deinen klugen jüngeren Bruder,“ zog sie ihren Erstgeborenen auf und Tabari brummte missgelaunt. Wieso hackten immer alle auf ihm herum? Er kam sich veräppelt vor; und Nalani war doch Schuld an seiner Verblödung, er war sich ganz sicher! Er würde ihr das bei Gelegenheit heimzahlen, beschloss er grantig.

Salihah setzte sich aufrecht hin und nippte an ihrer Teetasse. „Du fragst dich, wo sie dann sind… ich kann es dir nicht sagen. Alles, was ich weiß, ist dass sie leben, auszumachen vermag ich sie nicht. Der Vorhang vor meinen inneren Augen wird dunkler und schwerer mit jedem Tag, den ich lebe.“

„Und… Zoras und die anderen?“ fragte Sukutai nach einer bedrückten Pause und sah zu ihrem Mann, „Wie geht es ihnen? Das ist alles so furchtbar…“

„Was für eine Frage,“ murmelte Tabari schnippisch, „Wie würde es dir denn gehen, wen du deine Tochter ermordet in irgendeinem Gutshaus findest?“
 

Sukutai wusste darauf keine Antwort. Niemand wusste eine und eigentlich brauchte auch niemand eine. Die nächsten Tage waren schlimm, selbst die Kinder spürten die bedrückte Stimmung. Puran war ein sensibles Kind und schlechte Stimmungen übertrugen sich schnell und gern auf ihn, wie in dem Moment im Kirschmond, der begonnen hatte. Eigentlich war schönster Frühling in Dokahsan, aber im Schloss herrschte immer noch Winter, so kam es dem Jungen vor.

Er hatte Enola nicht wirklich gekannt; aber sterben war schlimm. Plötzlich wurde einem klar, dass alles einmal zu Ende war. Jeder Mond, jedes Jahr, jeder Tag hatte ein Ende. Aber im Gegensatz zum Mond, dem Frühling oder der Sonne wurden Menschen nicht wiedergeboren, wenn sie tot waren. Nur ihre Geister konnten überleben, indem man späteren Kindern ihre Namen gab.

Der Junge war so in seine Gedanken vertieft, dass er nicht mal mitbekam, dass die Pausenglocke läutete und seine Klassenkameraden schon grölend den Raum verließen. Frau Kalih redete vor ihrem Pult unwichtige Dinge wie über Hausaufgaben, er lag mit dem Kopf auf seinem Mathematikheft und hörte nicht zu. Zumindest solange nicht, bis er einen Schlag auf den Hinterkopf bekam und die Stimme seines Freundes Kannar über sich hörte, der von seinem Platz gekommen war.

„Pause, du Schlafsack!“ gackerte der Heiler, „Schnarch nicht so laut, Puran!“ Puran hüstelte und richtete sich auf, bevor er sich verlegen am Kopf kratzte und verpennt zu Travi neben sich schaute.

„Schnarche ich echt?“ Travi schüttelte mit vollem Mund den Kopf. Kannar gackerte vor sich hin, Puran gähnte und verschluckte sich vor Schreck, als Kannar ihn plötzlich heftig rüttelte.

„Hey, sieh mal,“ machte Kannar und zeigte nach vorn, ehe er flüsterte, „Ich glaube, Stummchen will irgendwas von dir…“ Puran brauchte etwas, um zu begreifen, dass Kannar Madanan meinte, der vor seiner Bank stand und verstohlen herüber sah, ohne sich recht zu trauen, dazu zu stoßen, wie es aussah. Puran wollte gerade überlegen, ob er hinüber gehen sollte, da rang sich der Schwarzhaarige von selbst dazu durch. Inzwischen waren fast alle Kinder aus der Klasse gerannt, um draußen zu toben. Frau Kalih ermahnte die letzten gerade, langsam mal hinaus zu kommen.

„Ähm…“ begann Madanan kleinlaut und scharrte mit dem Fuß sinnlos auf dem Boden herum, „Kommst du mit raus, Puran?“ Der Junge schenkte Kannar einen schrägen Blick und der Heiler zog eine Braue hoch.

„Was guckst du, hast du was?“ kam die patzige Antwort, und Madanan hustete, Puran erhob sich und gähnte erneut.

Ja, richtig, da waren Madanan und seine komischen älteren Freunde gewesen, die mit ihm zaubern wollten. Eigentlich wollte Puran immer noch nicht zaubern; das einzige, was ihn reizte, sich mit diesen seltsamen Leuten abzugeben, waren die Gedanken daran, dass Madanan ihn aus einem Grund, den er nicht kannte, besser verstand als alle anderen… selbst besser als Kannar, dachte er, als er wieder zu seinem Freund sah, den Madanan missbilligend musterte. Die beiden mochten sich wohl nicht…

„Kommt ihr beiden eine Pause lang ohne mich aus?“ fragte er Kannar und Travi dann verlegen, „Ist nicht böse gemeint, ich… bin nur…“ Er verstummte. Was war er? Deprimiert, weil eine Frau gestorben war, die er nicht mal gekannt hatte? Aus Solidarität seiner Familie gegenüber? Er fühlte sich komisch dank seiner Träume, dank der Umstände… er hatte einfach das Gefühl, dass er sich bei dem stummen Kerl besser fühlen würde als bei seinen albernen Freunden.

„Ja, ja, lass uns nur,“ machte der eine alberne Freund namens Kannar da gerade theatralisch, „Lass uns hier sitzen, ohne uns kannst du es schaffen!“ Der Junge entschied, sie wirklich da sitzen zu lassen; wie es aussah, meinten sie es nicht wirklich ernst oder böse. Es waren eben Kannar und Travi…
 

„Du bist still in den letzten Tagen,“ wagte Madanan zu bemerken, als sie das Schulgebäude verließen und offenbar auf dem Hof nach Umar, Narya und den anderen suchten. Puran seufzte.

„Bist du doch auch.“

„Das ist anders… ich bin es immer, du nicht. Ich sollte mir nicht anmaßen, mir darüber Gedanken zu machen, aber… ist etwas geschehen?“ Puran blinzelte und blieb stehen. Der Kerl konnte Gedanken lesen, oder? Er seufzte und sah auf seine Füße, als er verhalten antwortete.

„An sich nichts, was mich betrifft, es-… ist nur… eine Bekannte meiner Familie ist gestorben und alle sind deswegen niedergeschlagen, und irgendwie steckt mich sowas immer so an…“ Die Jungen schwiegen kurz und lauschten dem Lärmen der anderen Kinder auf dem Hof. Madanan sah jetzt auch betreten zu Boden und scharrte wieder mit dem Fuß auf dem Boden herum.

„Ich weiß, was du meinst…“ nuschelte er, offenbar verlegen, „Wenn jemand stirbt, ist das immer unangenehm, egal, wie gut man ihn gekannt hat; je besser man ihn kannte, desto schlimmer, meine ich. Ist bei uns auch schon vorgekommen.“ Puran sah ihn schweigend an.

„Was hast du für ein Problem mit Kannar?“ hörte er sich dann fragen, und kurz zuckte sein Gegenüber etwas zusammen. Als Madanan antwortete, kratzte er sich ratlos am Kopf.

„Ich hab nichts gegen ihn… nicht direkt. Ich-… habe nur ein Problem mit Heilern allgemein, Kannar kann da nichts für… es tut mir auch leid, dass ich automatisch grimmig werde, aber ich kann es nicht abstellen, egal, wie sehr ich es versuche.“ Er seufzte tief und ging dann weiter. „Komm, Umar haut mich, wenn ich dich nicht endlich mal mitbringe, die anderen fragen mich schon immer, wann du mal kommst!“ Puran beeilte sich keuchend, ihm zu folgen. Eine Frage hatte er dann doch noch:

„Wieso hast du was gegen Heiler? Was ist denn mit denen?“ Madanan schwieg kurz.

„Sie sind zu langsam. Und nie da, wenn man sie dringend braucht.“
 

Während Puran in der Schule war, hatte seine Großmutter sich selbst eine wichtige Aufgabe gestellt. Sie wollte Zoras Chimalis in Tuhuli besuchen, jetzt, wo es mehr als eine Woche her war, dass Enola gestorben war. Als sie ihrem Geliebten nach dieser zeit zum ersten Mal wieder gegenüber stand, sahen sie beide zunächst einen Fremden in ihrem gegenüber.

Zoras sah furchtbar aus, als er sie in der Stube empfing, seine Augen waren trübe und unausgeschlafen, als hätte er Nächtelang wach gelegen und um seine Tochter getrauert. Sie würde ihm das nicht verübeln. Und er seinerseits…

„Du bist ja furchtbar blass, bist du gesund, Salihahchen?“ war seine dumpfe Begrüßung. Außer ihnen beiden war niemand in der Stube. Das Hausmädchen war in der Küche und kochte provisorisch Kaffee, während Meoran sich mit dem seltsamen Lehrling herum schlug, Nomboh in Tuhuli unterwegs war und Keisha im Frauenzimmer mit Ruja gemeinsam nähte.

„Ich bin in Ordnung,“ sagte die schwarzhaarige Frau dumpf und schwieg eine Weile. „Wir brauchen keine Worte über die letzte Woche zu verlieren, denke ich. Es sei denn, du möchtest darüber sprechen. Du wolltest nicht, dass ich komme, und ich bin nicht gekommen. Jetzt bin ich auch nur hier aus Sorge um dein Wohlbefinden, Zoras. Du siehst kränker aus als ich und das will was heißen; ich weiß selbst, dass ich wie eine Mumie ausschaue, ich werde eben langsam alt und hässlich wie eine verdorrte Dattel.“ Er schnaufte und bot ihr einen Platz auf dem Sofa an.

„Du wirst nie eine verdorrte Dattel für mich sein, Salihah. Eher ein hübscher, runder Flaschenkürbis. Verdorrte Datteln sind schließlich faltig.“ Sie räusperte sich.

„Warte noch etwas, dann bin ich das auch. Schönheit währt nicht ewig, mein Liebling.“

„Innere schon,“ sagte er leise und sie sah verblüfft, dass er leicht errötend wegblickte. Schweigend saßen sie eine Weile da. Das Hausmädchen brachte Kaffee. „Das Zeug gibt es sogar in Sinami inzwischen,“ erklärte der Mann nebenbei und goss ihnen beiden Kaffee in Tassen, „Es verbreitet sich offenbar in Dokahsan, das ist erfreulich. Wie haben die Menschen es denn ohne Kaffee ausgehalten?“

„Du hast es auch, bis du im Süden warst,“ war ihr Kommentar, als sie an ihrer Tasse mit dem dunklen Getränk nippte. Er seufzte.

„Als ich noch mal in Sinami war wegen des Anwesens und des Abrisses der Trümmer, habe ich welchen gekauft, die führen das zeug im Teeladen,“ erzählte er recht emotionslos und zwang sich, zu lächeln. „Teeladen, ich habe an dich und unsere Teestube denken müssen und mich geärgert, dich nicht auf der Stelle sehen zu können, um dich ein wenig unsittlich lieb zu haben…“ Sie musste ehrlich lächeln, weil er es inzwischen auch tat, es kam einfach automatisch. „Hast du keinen Schluckauf bekommen, weil ich so an dich gedacht habe?“

„Wann war das denn?“

„Am Donnerstag.“

„Ah, hm, da hatte ich glaube ich tatsächlich Schluckauf,“ sagte sie glucksend, und er grinste kurz.

„Dann weißt du ja jetzt, wieso.“

„Ja, du bist Schuld. Bist du ja meistens, wenn etwas ist.“ Er nickte kurz und sie tranken schweigend Kaffee. „Du warst danach noch mal in Sinami?“ fragte sie dann nach einer peinlichen Pause. Wie verhielt man sich in diesem Fall? Als ihr Mann gestorben war, war es anders gewesen; das, was Kelar und sie verbunden hatte, war nicht zu vergleichen mit der aufrichtigen Liebe eines Vaters zu seiner einzigen Tochter. Sie waren beide verklemmt und niemand traute sich, wirklich Wichtiges auszusprechen. Stattdessen dümpelten sie umeinander herum wie balzende Enten.

„Ich war nur wegen des Anwesens dort,“ sagte er, „Ich schulde der Stadt schließlich Geld für den Schaden. Das war es mir wert und ich bereue nichts von dem, was ich in dieser Nacht getan habe. Ich habe dem Kopf der Stadt das Geld gegeben, Kaffee vom Wechselgeld gekauft und bin heim gefahren. Ich werde diese Stadt nicht mehr mit der Kehrseite ansehen.“ Salihah nickte.

„Der Gutsherr ist noch am Leben irgendwo, nicht wahr? Meine Augen sind grauenhaft schlecht und so gut wie blind, es sind nur noch Bruchstücke von Wahrheiten, die ich sehe.“

„Ja, der Bastard lebt noch irgendwo. Soll es von mir aus da hin gehen, wo der Pfeffer wächst. Ich werde ihm nicht nachjagen… soll er leben und spüren, wie das ist, seine Frau und sein Kind zu verlieren durch die hand anderer Menschen.“ Salihah sagte darauf nichts. Es war ungewohnt, ihn so verbittert zu erleben… Zoras war ein sehr friedlicher und geduldiger Mensch normalerweise. Sie kannte ihn seit seiner Jugend und wusste das sehr genau. Tehyas Tod vor Jahren hatte ihn verändert… und der Tod seiner Tochter würde es erneut tun. Es waren keine guten Zeichen.

Als Salihah stumm ihre leere Tasse weg stellte, lehnte Zoras sich kurz zurück.

„Ach ja,“ fiel ihm ein, „Bitte entschuldige mich bei Tabari und den anderen, dass ich niemandem Bescheid gesagt habe, als wir Enola bestattet haben. Ich… war egoistisch, ich wollte niemanden da haben, mein Bruder und seine Bagage da haben mir schon gereicht. Bitte vergebt mir, Salihahchen… ich hoffe, du verstehst das.“

„Das tun wir alle,“ behauptete sie.

„Na ja, Meoran kam gestern und meinte, Tabari hätte vor drei Tagen in Yiara auf dem Rat gemeckert, dass man niemandem Bescheid gesagt hätte. Kohdars und Minar wären völlig entsetzt gewesen.“

„Vermutlich,“ meinte seine Geliebte leise, „Kümmere dich nicht um Tabaris Gemoser, er ist schlechter Laune, weil er viel um die Ohren hat, weil er sich von uns verraten fühlt und seine radikal kaltblütige Frau ihm dabei auch keine Hilfe ist.“

„Denkst du, er ist wirklich überfordert mit seinem Posten, so ganz allein?“

„Rede dir nichts ein, er kommt zurecht. Er wird sich daran gewöhnen.“

Und wieder schwiegen sie, während Zoras seine Tasse ebenfalls leerte und beiden neu einschenkte. Salihah nahm dankend ihre Tasse entgegen. Nach einer Weile fing Zoras an zu reden.

„Vor zwei Jahren ging Enola und ihrem Mann das Geld aus. Nachdem sie ewig nach einer Möglichkeit gesucht haben, zu Geld zu kommen, um ihr Kind weiter versorgen zu können, hat diese Frau, diese Nutte aus dem Gutshaus, ihr angeboten, die Familie in ihrem Anwesen aufzunehmen. Es ging wohl hauptsächlich darum, ihren Sohn mit meiner Enkelin zu verloben. Enola und Kotori haben sie vermutlich nur mit aufgenommen, weil sie ihre Gutherzigkeit vor Sinamis Bevölkerung beweisen und sich so einen guten Posten zusichern wollten… weiß der Geier. Es war eine Telepathen-Familie, meine Enkelin ist genau wie ihr Vater Telepath.“ Er unterbrach sich und nahm einen Schluck Kaffee. „Nachdem die Familie also im Anwesen war, wurde die kleine Pakuna zur Verlobten des Bengels, Enola und ihr Mann durften arbeiten und dafür umsonst im Anwesen wohnen. Vielleicht erschien es zunächst als gute Lösung, das Mädchen wurde gut versorgt und würde einen reichen Kerl heiraten, der für sie sorgen könnte, aber was zuerst wie eine schöne Bleibe aussah, war… dann doch ein goldener Käfig.“

„Du wusstest das alles?“ fragte Salihah ihn dumpf. Er lachte bitter.

„Nein… ich habe Leute in Sinami reden hören, über das Anwesen, die Leute… einer sagte, die Gutsherrin sei neidisch auf Enola gewesen und hätte sie deshalb getötet. Enola war bildschön, viel schöner als diese Schlampe, vielleicht hatte sie Angst, dass sie ihr den Mann ausspannen könnte, obwohl Enola selbst einen hatte. Weiß der Geier… so genau will ich es dann auch nicht wissen.“ Er seufzte. „Enola war ein sehr stolzes Mädchen, sie… hatte den Stolz ihrer Mutter. Sie wäre nie zu mir gekommen wegen des Geldes, obwohl sie genau wusste, dass ich sie samt Mann und Tochter ohne Worte hier aufgenommen hätte, als sie kein Geld hatten. Sie hat mir kein Wort gesagt, sie wollte nicht… dass ich besorgt um sie bin oder zugeben, dass sie alleine nicht so zurechtkam wie sie es behauptet hatte. Sie ist zu früh von Daheim weggelaufen, sie war innerlich… doch noch ein Kind, obwohl äußerlich Frau und Mutter. Sie wollte mir beweisen, dass sie alleine überleben kann, dass sie erwachsen ist… sie wäre nie gekommen und hätte gesagt ‚Vati, bitte hilf mir.‘. Das…“ Er senkte jetzt den Kopf und betrachtete dumpf sein verschwommenes Spiegelbild im Kaffee. „Das macht mich als Vater sehr stolz auf mein schönes, kluges Mädchen… andererseits hat… sie ihr Stolz das Leben gekostet. Wäre sie einmal… nur ein einziges Mal hergekommen… und hätte ihren Stolz begraben, wäre sie jetzt am Leben. Und ihr Mann und ihre Tochter wären nicht verschollen.“
 

Nach dieser traurigen Erkenntnis saßen sie lange schweigend auf der Couch und tranken stumm ihren Kaffee aus.

„Entschuldige, dass ich dich so zutexte, Salihah,“ kam dann die knappe Aussage. Salihah drehte den Kopf.

„Nicht doch. Es tut dir gut, darüber zu sprechen. Sprich mit mir, so viel du möchtest, ich werde dir zuhören. Was willst du jetzt tun? Nach Kotori und Pakuna suchen?“ Der Mann lehnte sich wieder zurück und sah eine Weile an die Decke.

„Ich werde Späher aussenden, die im ganzen Land Dokahsan nach ihnen suchen sollen. Aber wenn sie sie finden… sollen sie es mich nur wissen lassen und ich werde so tun, als hätte ich sie nicht gesehen. Dieser Kerl, der Gutsherr, rennt irgendwo lebend herum und ich habe das ungute Gefühl, dass er kommen wird, um mir den Tod seiner Frau und seines Erben heimzuzahlen. Wo immer mein Schwiegersohn und seine Tochter sind, dort sind sie… sicherer als in Tuhuli. Ich überlege schon, ob ich Nomboh samt Familie hier rausschmeißen und zu euch schicken sollte, bis ich das geklärt habe. Das und… Denmor.“ Sein Blick verfinsterte sich, als er den Namen des Verräters aussprach, der einst Kelars treuer Handlanger gewesen war. Salihah hob jetzt ernst den Kopf und sah zu ihm herüber.

„Denmor? Hast du ihn endlich gefunden?“ wollte sie wissen. „Ich sehe ihn auch manchmal in meinen Träumen, ich habe ein ungutes Gefühl…“ Wenn sie länger darüber nachdachte, war das beklemmende Gefühl, das sie seit Monden, vielleicht Jahren hatte, sie besonders nach solchen Träumen bedrückte, in denen sie den seltsamen Mann vom Emo-Clan gesehen hatte. Sie fragte sich, wieso ihr Geist sie so beunruhigte mit dem Namen des zwielichtigen Mannes. Denmor war zwar Kelars Handlanger gewesen und damit kein Freund, aber ohne seinen Meister war er kaum zu fürchten; er war kein überaus guter Magier oder beängstigend talentiert in irgendetwas außer vielleicht spionieren; im Spionieren waren alle Emos gut, das war ihre Eigenschaft. Nein, es war irgendetwas anderes, was Salihah tief in ihrem Inneren beunruhigte, eine viel tiefer greifende Angst, die sie nicht beschreiben konnte…

„Wenn ich Denmor gefunden hätte, gäbe es da nichts mehr zu klären,“ warf Zoras da ein, erhob sich und kam um den Couchtisch herum, um sich neben sie zu setzen. „Die Geister sind unruhig… immer noch. Egoistischerweise habe ich nach dem Tod meiner Tochter geglaubt, es könnte nicht schlimmer werden… aber das wird es, Salihah. Sieh mich an…“ Sie tat es zögernd, und sein Blick war kalt und ernst, zusammen mit der Erschöpfung und Trauer in seinem Gesicht war es ein Besorgnis erregender Anblick. Sie schauderte unwillkürlich, als er eine hand hob und ihr gedankenverloren durch die Haare zu streicheln begann. Er sah sie nicht direkt an, sondern durch sie hindurch, als er sprach, und es war nur ein leises Wispern, als dürfte er nicht zu laut sprechen, als würde andernfalls die Frau vor ihm zerbersten können wie eine Kugel aus Glas.

„Unsere Welt Tharr… schreitet unaufhaltsam ihrem sicheren Tod entgegen. Es hat schon begonnen… ich kann sie sehen, die Schatten, die vom Himmel fallen werden… und sie werden das Land in Flammen und Dunkelheit ertränken, und nichts wird übrig bleiben als Staub…“
 

Als er Salihah wieder direkt ansah, glänzten ihre schönen Augen. Augen so voller Wissen und voll von den Schmerzen, die sie ihr Leben lang ertragen musste, die die ganze Welt vielleicht bald erleiden müsste, wenn seine Träume ihn nicht belogen. Zoras fragte sich, wie oft in seinem leben er die Seherin Salihah hatte weinen sehen. Es waren nicht viele Male gewesen.

„Ich… spreche nicht darüber…“ flüsterte sie fast tonlos und schlug zitternd die Lider nieder, „Aber ich sehe es auch… ich spüre sie, die Schatten, sie ergreifen besitz von meiner Seele, als wollten sie mich drängen, es auszusprechen, Panik zu verbreiten im Land, auf der Welt… aber ich kann das nicht tun! Es… tut furchtbar weh… und jeden tag, den ich weiterlebe, sterbe ich ein bisschen mehr, jeden tag werden die Schatten in meinem Leib stärker… ich weiß nicht, wie lange ich noch… aushalten kann, ein Mensch zu bleiben… ehe ich wie mein Mann dem Wahnsinn verfalle, den die Schatten mir aufzwingen werden…“ Sie schluchzte, und er beugte sich vor und schloss sie liebevoll in die Arme. Die Frau schämte sich, so nutzlos zu sein; sie war gekommen, um ihn von seiner Trauer abzulenken und nicht, um sein Mitleid zu erregen…

Aber sie war nur ein Mensch, sie hatte Grenzen. Grenzen, die durch die Flut aus Schatten und Visionen, die sie jemals gesehen hatte, bald zerreißen würden…

Er zog ihr Kinn hoch und küsste sie leidenschaftlich auf die Lippen. Ein leises Seufzen entrann ihrer Kehle, als sie sich dem Kuss hingab und zärtlich die Arme um seinen Nacken legte.

„Solange… du eine Familie und Menschen hast, die dich gern haben, wirst du schon nicht im Schatten oder Wahnsinn ertrinken,“ versprach Zoras ihr leise, als sie sich lösten, und er küsste ihren Mundwinkel, während sie seufzend den Kopf zurücklehnte und sich dichter an ihn drückte. „Das verspreche ich dir. Egal, was es kostet, ich werde dich davor beschützen… meine geliebte, schöne Salihah.“ Sie löste ihre Umarmung und strich mit den kühlen Händen über seine Brust, begann errötend, sein Hemd aufzuknöpfen. Obwohl ihr warm war, zitterte sie, als sie mit von Tränen erstickter Stimme sprach.

„Du kannst nicht die ganze Welt beschützen, Zoras… sie ist zu groß. Selbst für dich…“

Er lächelte lieb und zog sie dichter an sich heran, als sie sein Hemd geöffnet hatte und es sanft von seinen Schultern strich. Ihre Lippen wanderte zu seinem hals und sie berührte seinen Oberkörper mit ihrer Zunge.

„Aber kein Schatten wird dich mir wegnehmen… egal, was es kostet, Salihah.“ Damit küsste er ihren Kopf und spürte darauf, wie ihre Hände seine ergriffen und sie sanft auf ihre runden Brüste legte. Zärtlich berührte er sie, als sie wieder leise stöhnend den Kopf zurücklehnte.

„Zoras, bitte…“ seufzte sie wohlig, und gehorsam begann er, ihr Kleid aufzuschnüren, sie half ihm schweigend dabei und erzitterte erneut. „Liebe mich… wie deine Frau. Hör nicht auf…“ Er zog ihr aufwendiges Kleid etwas auseinander und strich über ihre weiße, nackte Haut darunter, ehe er sich über ihr schönes Gesicht beugte und sie liebevoll küsste.

„Würde ich nie… und insgeheim… bist du doch schon lange so gut wie meine Frau, habe ich recht…?“
 

„Was ist hier denn für eine Sitzung?“ wunderte sich Nalani, als sie die Stube betrat. Sie war mit Sukutai in Tasdyna gewesen, um deren Schwestern zu besuchen, und war gerade heim gekommen, da fand sie ihren Sohn auf dem Boden der Stube, während er gedankenverloren an seinem Speer herum bastelte, und ihren Mann auf dem guten Sessel sitzend, auf seinem Schoß Aktenberge und Unterlagen. Was denn, Tabari arbeitete ja, das war neu.

Oder auch nicht, jetzt, wo die Stimmung so schlecht war im Schloss und Tabari sich nicht mehr traute, über seine Mutter zu mosern, die immerzu mit Zoras Chimalis zusammen war, vermutlich, um ihn wegen Enola aufzuheitern (der gute Tabari hatte ja keine Ahnung, wie effektiv seine Mutter das tat), hatte er sich in letzter Zeit oft ungeahnt auf seine Arbeit gestürzt.

Er hob den Kopf, zwischen den Fingern hielt er eine Zigarette, die er sich jetzt genervt seufzend in den Mund steckte und daran zog.

„Guten Abend, Frau,“ begrüßte er sie, und Nalani zog eine Braue hoch.

„Du rauchst, während dein Sohn im selben Raum ist?“ mahnte sie, „Was für ein Gesundheitsbewusster Mann du doch bist. Aber du bist sinnvoll, ich bin positiv überrascht.“ Puran sah genervt hoch zu seinen Eltern. Oh nein, sie sahen sich böse an – er hasste es, wenn sie stritten….

„Er kam nach mir her, ich rauche, wo ich will,“ schnarrte Tabari, „Ich habe Puran nicht gezwungen, hier sitzen zu bleiben.“

„Das ist die Stube, Tabari, hier darf jeder sitzen, wenn er will und wann er will.“

„Ja, so, wie ich rauchen darf. Ich bin genervt, ich will das jetzt so, basta.“ Er wechselte das Thema, weil seine Frau zunehmend grantig wurde. „Und ja, ich arbeite, ich gehe die Bestände durch und die verdammten Annalen des Kreises. Ich war heute Morgen in Dralor und habe beim Dorfchef eine Volkszählung angeordnet, wenn die Geburtenrate weiter so in die Höhe schießt, können wir uns bald gegenseitig die Haare vom Kopf fressen, das geht offenbar auf ganz Tharr so.“ Puran blinzelte abermals, während er seinen Eltern zuhörte, die ihn offenbar ignorierten. Dralor… wohnte da nicht Madanan? Er dachte kurz an das gar nicht stumme Stummchen aus seiner Klasse. Zuerst hatte er den Jungen für seltsam gehalten, aber eigentlich war er völlig normal…

Bis auf die Tatsache, dass er als einziger auf der ganzen Welt zu wissen schien, dass Zaubern nicht nur ein Segen sein konnte, sondern furchtbar war. Er würde zu gerne wissen, wieso…

„Das ist gut,“ meinte Nalani jetzt offenbar wieder friedlich, nickte und wandte sich dann endlich an ihr einziges Kind. „Puran, du kannst-…“ Sie unterbrach sich und musterte ihn. „Gute Güte, wann hast du zum letzten Mal gegessen, Kind? Du bist fürchterlich dünn geworden…“ Besorgt baute sie sich vor ihm auf und er sah verwirrt an sich herunter, bevor er ebenfalls aufstand.

„Na, heute Mittag – mir geht es gut…“ sagte er konfus, und Nalani seufzte leise, dann streichelte sie ihm zärtlich über den Kopf.

„Geh in die Küche und lass dir was machen, mein Schatz,“ forderte sie sanft, „Wie kann es angehen, dass deine Cousine so pummelig ist und du so dünn?“

„Das nennt man Wachstumsphase,“ sagte Tabari, wurde aber ignoriert. Nalani küsste ihrem Kind den Kopf und die wuscheligen Haare.

„Geh schon, Junge.“ Das Kind wusste nicht, worüber sie sich Sorgen machte, eigentlich hatte er gar keinen Hunger, er gehorchte aber artig und verließ die Stube. Als Tabari mit seiner Frau alleine war, zog er die Brauen hoch.

„Muss ich mich fürchten, Königin?“ fragte er beunruhigt, weil er irgendwie das Gefühl hatte, sie hatte den Kleinen loswerden wollen, um ihm irgendetwas anzutun…

Nalani stellte sich vor ihn und den Sessel und fing in aller Ruhe an, ihren schwarzen Mantel aufzuknöpfen.

„Nein, keine Angst. Ich wollte… dich eigentlich mal loben, weil du artig deine Arbeit machst.“ Er blinzelte überrascht und Nalani hielt für einen Moment inne, als ihr Mantel ganz offen war. War sie wirklich so furchterregend, dass es ihren eigenen Mann überraschte, wenn sie nett war? Irgendwie deprimierte sie das…

Wie war sie zu einem so kaltherzigen Menschen geworden?

„Bin ich so eine Furie, Tabari…?“

Ihr Mann erhob sich vom Sessel, legte dabei seine Unterlagen auf den Couchtisch neben sich und drückte seine Zigarette in einem kleinen Aschenbecher aus, ehe er sich vor sie stellte. Mit einer Hand strich er ihr über die Wange, dann streifte er ihr den offenen Mantel von den Schultern, sodass er zu Boden fiel. Er grinste und küsste seine Frau zärtlich kurz auf den Mund.

„Du bist dominant, sagen wir so…“ murmelte er, nur wenige Zoll von ihren Lippen entfernt wieder inne haltend, und sie schloss seufzend die Augen. „Aber du bist eine wunderbare Frau, Nalani. Ich bin… stolz darauf, sagen zu können, dass du zu mir gehörst.“ Er küsste sie, damit sie nicht irgendetwas Blödes antwortete, weil er genau wusste, dass sie sich dämlich vorkam, wenn er ihr schmeichelte; dabei meinte er jedes seiner Worte ernst. Entgegn seiner Erwartungen stimmte sie ihm sogar zu, als er den sanften Kuss beendete, während sie ihm durch die blonden Haare strich.

„Sei das ruhig, fauler Sack,“ grinste sie diabolisch, „Ich helfe dir mit der Verwaltung, wenn du möchtest. Natürlich nur inoffiziell, damit du nicht als Verlierer da stehst… du machst mir Sorgen, wenn du so ernst bist, Tabari.“ Er grinste wieder leicht und küsste ihren Hals hinunter, während seine Hände über ihren Bauch und ihre Hüften streichelten.

„Das ist großzügig von dir… aber jetzt gibt es erst mal… etwas anderes, das ich möchte, Nalani…“
 

„Ich… will ehrlich zu dir sein…“ murmelte Tabari dann dumpf, als sie sich geliebt hatten und noch in dem Gewühl aus Kleidern auf dem Fußboden der Stube lagen, er immer noch über ihr. Normalerweise saß Nalani lieber auf ihm, aber ab und zu ließ sie auch zu, dass er über ihr war, um seine Mütze voll Würde nicht zu sehr zu verletzen.

„Was, hast du mich betrogen?“ fragte sie leicht außer Atem und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Tabari starrte sie an.

„W-was?! Nein, du liebe Zeit! W-wie könnte ich?! – Das traust du mir doch nicht ernsthaft zu?“

„Nein, ehrlich gesagt nicht.“ Tabari stöhnte leise, ehe er sich vorn ihr herunter rollte und ihren Mantel schnappte, um ihn als decke zu missbrauchen und über sie beide zu legen, falls dummerweise jemand herein kommen sollte. Nalani drehte sich auf die Seite zu ihm um, bevor sie eine seiner Hände ergriff und sanft seine Finger küsste. „Was wolltest du beichten, Tabari?“ fiel ihr wieder ein, und er seufzte. Gedankenverloren strich er ihr durch die langen Haare.

„Es… ist nicht nur die Arbeit, die mich nervt, die mich stresst, es… es sind eigenartige Dinge, die ich in der Ferne sehen und hören kann, Nalani, die Geister sind unruhig und das überträgt sich irgendwie auf mich…“ Sie erhob sich abrupt und sah ihn jetzt im Sitzen an.

„Was hast du gesehen?“ fragte sie alarmiert, „Siehst du auch endlich den Flammenregen, den alle außer dir seit Monden und Jahren sehen?“ Tabari setzte sich etwas schwerfällig ebenfalls auf und fuhr sich ein paar Mal durch die zerzausten Haare.

„Nein… ich sah Menschen von Zuyya, die kamen und das Land wie ein Heuschreckenschwarm überrannten, um nichts als Tod und Schatten zurückzulassen…“
 

Der Regenmond, der dem Kirschmond folgte, machte seinem Namen in dem Jahr absolut keine Ehre. Es regnete nicht, es war staubtrocken. Die Menschen fürchtete schon, es könnte im Hochsommer Waldbrände geben, wenn nicht bald regen käme. Die Luft war unangenehm warm und staubig, das halbe Volk war am Husten, weil es dauernd Staub einatmete. Jeden tag hofften die Menschen auf Regen oder wenigstens Wolken, die diesem vorauseilen könnten, aber nichts kam. Je näher der Sommer kam, desto erbarmungsloser brannte die Sonne auf das sonst eher kühle Land Dokahsan herab. Und während die Beunruhigung der Erwachsenen durch die Träume und dunklen Zeichen der vernebelten Zukunft wuchs, hatte Puran ganz andere Probleme.
 

„Sura!“

Der Junge japste, als der einfache Schneidezauber auf ihn zugesaust kam, und er riss gerade noch rechtzeitig instinktiv den Kopf zur Seite und vermied so gerade noch, skalpiert zu werden. Dabei verlor er das Gleichgewicht und stürzte zu Boden, wo er sitzen blieb und unverständliches Zeug vor sich hin murmelte.

„Schneller,“ wagte Ratan Kindo, der Sohn des Schmieds, Puran zu kritisieren, „Wenn du Madanan mal blocken willst, musst du schneller sein, der Kleine ist nämlich schneller als er in seinem Alter sein sollte!“

„Ich weiß…“ nölte Puran missmutig und sah zu Ratan, der beschämt darüber, ihn kritisiert zu haben, den Kopf senkte.

„Ist nicht böse gemeint, ich meine nur… du weichst immer nur aus…“

„Darf ich auch mal?“ johlte die kleine Narya und hüpfte auf und ab. Einmal wieder war die kleine Gruppe dabei, fleißig das zaubern zu üben. Bald würde die Sommerpause kommen, wenn keine Schule war, war es schwierig für alle, sich zu treffen, daher nutzten sie die Pausen so oft wie möglich. Wobei Puran nicht immer mitmachte, weil r seine besten Freunde Travi und Kannar nicht vernachlässigen wollte. Vor allem Travi als Nichtmagier konnte nie mitreden, wenn es ums Zaubern ging, und Kannar war beleidigt, weil Madanan ihn immer böse ansah, offenbar hatte der kleine Heiler sogar Angst, er könnte ihm seinen Freund Puran womöglich wegnehmen. Puran wollte nicht, dass die anderen seinetwegen stritten… Jetzt gerade war sein neuer schwarzhaariger Freund, der nicht viel sprach, dabei, mit ihm eine Art Pseudo-Duell auszuführen. Dabei versuchten sie nicht, sich gegenseitig mit Zaubern zu treffen, denn das könnte sie ja verletzen; eigentlich ging es nur darum, zu zaubern, zu reagieren und dann gezielt nichts zu treffen, was kaputt gehen könnte.

Der Junge namens Umar schob Narya nach hinten.

„Nein, nicht jetzt,“ war sein Kommentar, als Puran sich hoch rappelte und keuchte, sein Gegenüber senkte die Arme wieder. „Puran, im Ernst; das ist irgendwie nicht so sinnvoll, wenn du nie mitmachst und immer nur ausweichst!“

„Ich hab nie darum gebeten, bei euch mitzumachen…“ murmelte Puran kleinlaut. „Zaubern ist mir gruselig, ich… ich hab… immer Angst, was Schlimmes anzustellen und…“

„Dann überwinde das!“ rief der Ältere verwirrt und warf die Hände in die Luft, „Himmel, du bist doch kein Baby mehr! Ich meine, das ist doch Schwachsinn…“ Madanan fiel ihm empört ins Wort, ehe Puran eine Chance bekam, sich zu verteidigen.

„Laber nicht, du Arsch!“ brüllte sein stummer Freund zornig, „Hast du eine Ahnung?! Das geht nicht so von heute auf morgen, was fehlt, ist die Einsicht! Du weißt überhaupt nicht, wovon du redest, Umar, also hör auf, hier herumzumucken und dich aufzuspielen!“ Puran schnappte verwirrt nach Luft – Moment, jetzt stritten sich ja schon wieder Leute seinetwegen!

„Mich nennst du Arsch, mein Freund?“ schnaubte Umar empört und stupste den Kleineren etwas unsanft, aber nicht zu doll ein Stück zurück. „Hab ich dir irgendwas getan?“

„Hör auf, zu schimpfen!“ forderte Madanan grimmig, „Lass ihn in Frieden, wenn er nicht mag. Denkst du, das ist so leicht, sowas zu überwinden? Du kannst dich überhaupt nicht in diese Situation hinein versetzen, also halt den Rand.“

„Ach, du kannst das natürlich,“ machte Umar beleidigt, „Der weise, alles wissende Madanan Tevvy, oh ja, legt euch ihm alle zu Füßen!“

„Nö!“ grölte Narya und gackerte, ihr Cousin Madanan schnaubte.

„Ihr Idioten, darum geht es doch überhaupt nicht!“ Der Schwarzhaarige schien sich dazu zu entscheiden, die älteren Jungen und Narya links liegen zu lassen, er wendete sich seufzend an Puran und sein Ausdruck wurde ernst, aber milder. „Puran, hör mal. Niemand zwingt dich, hier mit uns herum zu daddeln. Ich kann verstehen, wenn du nicht magst. Ich…“ Er spürte die blöden Blicke der anderen auf seinem Nacken kleben und zögerte, ehe er fortfuhr. „Ich bin nicht vom selben Rang wie du und darf mir nicht anmaßen, mich über dich zu stellen. Ich… mache dir ein Angebot. Wenn du möchtest… helfe ich dir, es zu überwinden, was ganz wichtig ist, ist, dass du den Willen aufbringst, es zu überwinden. Du hasst die Magie, und du musst dich von diesem abgrundtiefen Hass lösen… wenn du das geschafft hast, ist es viel leichter. Die Geister sind nicht grundlos böse zu dir oder benutzen dich oder sowas…“ Puran sah ihn verwirrt an und der andere Junge senkte etwas beschämt über die große Lehre den Kopf. „Wenn du aufhörst, dich dagegen zu wehren, dass du zaubern kannst, ist es einfacher und weniger schmerzhaft. Zaubern muss nicht immer was Schlechtes sein, es kann… auch nützlich sein. Wenn du jetzt sagst, Nein, möchte ich nicht, mir egal, ist auch in Ordnung. Aber… lass mich dir raten, es wird nicht einfacher werden, wenn du so weiter machst, sondern nur schwerer. Du kannst… nämlich nicht ewig deinem eigenen Schatten davon laufen. Er holt dich immer ein.“

Puran starrte ihn an, die anderen schwiegen, die kleine Narya war auch ganz still und wiegte sich hin und her. Der Junge sah zu Madanan, der das Gesicht wieder gehoben hatte.

„Möchtest du, dass ich dir zu helfen versuche?“ fragte er scheu, und während die anderen weiterhin schwiegen, fasste Puran tapfer einen Entschluss.

Du kannst nicht ewig vor deinem eigenen Schatten davon rennen.

„Ja,“ machte er leise und sah dem anderen ins Gesicht. „Ich bitte dich darum.“

„Heißt das, er macht weiter mit?“ freute sich Ratan Kindo grinsend, Umar zog beeindruckt von Madanans Überredungskünsten die Brauen zusammen.

„Ich hoffe,“ grinste Madanan zurück und trat einen Schritt zurück, ehe er die Hände hob, „Macht ihr mal weiter, ich werde dann mit Puran alleine üben.“ Während die anderen wieder zu reden begannen und Puran sich also zu seinem nicht stummen Freund stellte, hatte er noch eine einzige Frage.

„Madanan… wieso verstehst du als Einziger hier, was mit mir ist? Wieso… willst du mir unbedingt helfen?“ Der Schwarzhaarige drehte den Kopf wieder zu Boden.

„Frag nicht mehr danach. Bitte.“
 

Mit dieser Antwort war der Junge überhaupt nicht zufrieden, aber er ließ es gut sein; verärgern wollte er Madanan nicht, er würde schon einen Grund haben, es ihm nicht sagen zu wollen. Obwohl die Neugier in ihm brannte wie ein bösartiges, kleines Feuer, das irgendwie schmerzte. Sein Gefühl sagte ihm, dass Madanan es vermutlich von selbst eines Tages erzählen würde, wenn er bereit dafür war. Aber wer wusste, wann das war? Puran war definitiv kein geduldiger Mensch, ganz und gar nicht, und es wurmte ihn, eventuell noch Jahre oder vielleicht Jahrzehnte auf diese Antwort warten zu müssen; und was wurde aus der Antwort von Ram Derran und seinem Reh? Er verfluchte die Himmelsgeister missgelaunt, dass sie ihn immer an der Nase herum führten. Ihn warten ließen, ihm Fragen gaben und ihm dann die Antwort verweigerten. Und an den bekloppten Ram mit seinen komischen Psychosen zu denken heiterte ihn nicht wirklich auf. Zum Glück war sein Nicht-Freund in den letzten Wochen offenbar extrem beschäftigt gewesen, er hatte ihn in keiner Pause gesehen und seit dem Viehmarkt in Tuhuli hatte es keine Klopperei gegeben; das war unheimlich, eigentlich…
 

So machte sich der Junge seine griesgrämigen Gedanken, als die Schule aus war und er allein Gahti nach Süden verließ, um heim zu gehen. Er war spät dran, weil Travi sich unbedingt noch beim Bäcker ein Stück Kuchen hatte kaufen müssen und auf keinen Fall alleine hatte gehen wollen, weil Mabi und seine inzwischen zwei treuen Kumpels auch beim Bäcker gewesen waren. Mabi, der Sohn des Gahtischen Dorfoberhauptes, war ein feister und gestörter Kerl, wie Puran fand, er mochte ihn inzwischen nicht lieber als im ersten Schuljahr. Wann sich sein blöd grinsender, unkluger Mitläufer verdoppelt hatte, wusste er auch nicht; plötzlich waren es zwei gewesen, die dem Idioten Mabi nachgerannt waren. Und ihr liebster Zeitvertreib war es offenbar, alle zu hänseln, zu ärgern oder sogar zu verhauen, die ihnen unterlegen war. Selbst die kleinen Erstklässler wurden nicht verschont, die nicht den hauch einer Chance gegen die drei größeren Jungen hatten.

Er hatte gerade das kleine Wäldchen erreicht, das auf dem Weg etwas Schatten vor der erbarmungslosen Sonne spendete, da sah er in der Ferne auf dem Weg ein Getümmel von anderen Kindern und hörte lautes Schreien.

Verdammt – was ist denn das für ein Mist, können sich diese Deppen nicht wo anders prügeln? fragte er sich schlecht gelaunt und überlegte sich, ob es klug wäre, da einfach durch zu marschieren – Halt, was dachte er da, er würde seine Mutter komplett entehren, wenn er sich feige wie ein Beutetier an dem Rudel da vorbei schliche, er war der Sohn stolzer Eltern! – Ehe er weiter denken konnte, ertönte das Schreien lauter und klang jetzt nach dem panischen Hilferuf eines kleinen Mädchens. Moment – die drei Idioten waren doch Mabi und seine bescheuerten Anhängsel?

Wo er gerade noch an sie gedacht hatte, was suchten die denn hier auf dem Weg, die wohnten doch in Gahti? Beim näheren Hinsehen erkannte er ein schwarzhaariges kleines Mädchen, das von den Jungen drangsaliert und geschubst wurde. Sie stießen die Kleine zu Boden, rissen ihr an den Haaren und lachten dabei schallend. Offenbar hatten sie dem Kind ein Armband gestohlen, mit dem sie nämlich grölend in der Luft herum wedelten, wie er sah. Das Mädchen schrie und versuchte offenbar, sich zu wehren, natürlich völlig erfolglos – die war sicher auch in der ersten Klasse.

„Wie… wie gemein und behindert im Kopf kann man denn sein?!“ empörte Puran sich für sich selbst und verfinsterte entrüstet den Blick, als er diese Schande mit ansehen musste. „Drei gegen einen, dann noch ein Mädchen, haben die nicht alle Tassen im Schrank?!“ Ohne es selbst zu merken ging er schneller auf das Chaos zu. Was sollte er denn machen, das konnte er doch nicht einfach passieren lassen! Das arme Mädchen! Nein, verdammt, er hatte eine kleine Cousine, wenn er sich vorstellte, wie die drei Alona statt dieses Mädchens so fertig machten… da wachten irgendwie automatisch Beschützerinstinkte in ihm auf, das ging nicht!

Aber was sollte er gegen die drei Deppen unternehmen? Sie waren größer und körperlich viel stärker als er, wo Mabi hinschlug, wuchs so schnell kein Gras mehr. Sich denen alleine zu stellen war keine gute Idee – er sah sich hektisch um. Wieso kam nie ein Händlerwagen oder irgendein Erwachsener vorbei, wenn man ihn dringend brauchte?! Jemand, der das beendete, jemand, der da helfen konnte! Er war doch selbst bloß eine halbe Portion!

Aber du kannst Zaubern, hast du das vergessen?

Er fuhr zusammen, als er plötzlich eine Stimme in seinem Kopf sprechen hörte. Ja. Er konnte zaubern. Und er hasste es… unwillkürlich dachte er an Madanan.

„Es kann ein Fluch sein, aber es kann auch nützlich sein. Du musst aufhören, die Magie zu hassen… aufhören, dem Umstand zu hassen, dass du Magier bist, du bist so geboren und wirst es nie los werden!“

Das hatte er gesagt – und in diesem Moment hatte Puran zum ersten Mal das Gefühl, dass der Junge wirklich die Wahrheit sprach. Das war ein Moment, in dem er alle Flüche gegen die Geister zurückzog und ihnen zum ersten Mal in seinem Leben für seine Gaben dankte.

Er rannte schneller, und kurz bevor er den Haufen erreichte, konzentrierte er sich, wie ein Lehrer, Herr Masava, es ihm gezeigt hatte, auf die Windgeister, ehe er beide Hände hochriss und rief:

„Katura!“

Katura war ein Windzauber, er konnte schneiden und damit ganze Häuser zerstören, in diesem fall half er aber lediglich dabei, die drei größeren Jungen unsanft von dem Mädchen weg durch die Luft und zu Boden zu schleudern, wo sie schreiend auf einem Haufen liegen blieben, ohne ernsthaft verletzt zu sein. Er würde sich sicherlich nicht auf deren Niveau begeben und sie halb tot prügeln…
 

Mabi und die beiden Deppen keuchten und stöhnten vor Schmerz durch die unsanfte Landung, während das niedliche kleine Mädchen mit den pechschwarzen haaren erschrocken zu Puran hinauf starrte. Sie hatte riesige Antilopenaugen und ihr Gesicht war ganz verheult. Doch Puran hatte erst mal keine Zeit für die.

„Was ist, huh? Gebt dem Mädchen das Armband zurück! Ich habe alles gesehen, na los! Oder wollt ihr noch ´ne Katura in die Fresse?!“ empörte er sich an Mabi gewendet. Das kleine Mädchen war völlig entsetzt.

„W-wer bist du?!“ fragte sie, und der Junge hörte ihr gar nicht zu, immer noch seine dummen Klassenkameraden ansehend.

„Wird’s bald, oder soll ich Wurzeln schlagen?!“

„Ohh...“ stöhnte einer der beiden Anhängsel, während sie immer noch auf der Erde lagen, „Du bist brutal, Mann! Wieso schlägst du uns gleich?!“

„Ihr habt dem Mädchen das Armband immer noch nicht wiedergegeben!“ Puran streckte unbeeindruckt eine Hand aus, „Na? Soll ich erst bis drei zählen, oder schafft ihr es jetzt?“

„Du bist ein Kotzbrocken, Lyra!“ zischte Mabi, der das Armband der Kleinen hatte, bevor sich alle drei aufrappelten. Puran fragte sich, ob Mabi je so wütend auf ihn gewesen war. Er grinste zufrieden über die zornigen Reaktionen. Oh ja, sollten sie nur schäumen, er hatte keine Angst vor denen. Sollten sie ihn doch verhauen, er würde das wehrlose kleine Mädchen schon beschützen, und wenn sie ihm auch Zähne aushauen würden – seine Mutter würde ihn dafür vermutlich noch mehr schlagen, weil er so doof war, sich verprügeln zu lassen, aber immerhin sein Vater wäre insgeheim vermutlich stolz, weil er so tapfer war.

„Du bist nur neidisch auf meine Katura, du Amateur,“ behauptete er so grinsend. „Gib ihr das Armband zurück, Penner! Oder die nächste geht dahin, wo's besonders wehtut!“ Die Jungen schnaubten, und schließlich warf Mabi das Armband wütend nach Puran und dem Mädchen.

„Da habt ihr‘s, ihr Wichser!“ brüllte er, „Kommt, Jungs!“ Er stampfte davon, seine Kumpanen folgten ihm schimpfend zurück in Richtung Gahti.
 

Das Mädchen erhob sich unsicher und putzte sich verlegen den Dreck vom Kleidchen.

„I-ich-...?“ stammelte es staunend, als Puran sich bückte und ihr das Armband hinhielt.

„Das wolltest du doch wiederhaben, oder?“ grinste er sie fröhlich an. „Hier. Lass dich von denen nicht unterkriegen, sie ärgern für ihr Leben gerne kleine Mädchen. Richtige Arschlöcher sind das.“ War doch wahr. Die Kline nahm das Armband und erstrahlte plötzlich wie eine kleine, aufgehende Sonne, sodass er sie verblüfft ansah – das Armband musste ihr ja ungeheuer wichtig sein.

„Ähm, du... ... du hast mich gerettet!“ rief sie aus, „Wenn du nicht gekommen wärst, hätten sie mich richtig verprügelt! Vielen Dank!“ Er musste glucksen.

„Kein Problem. – Bist du auf dem Weg nach Hause? Woher kommst du, Mädchen?“

„Ich heiße Pakuna Kipu!“ stellte sie sich artig vor, „Ich komme aus Nehawa! Kennst du das? Es ist da hinten!“ Der Junge hörte auf zu grinsen und machte ein nachdenkliches Gesicht.
 

Pakuna Kipu? Wieso war ihm, als hätte er diesen Namen schon einmal gehört? Kipu… irgendwie kam ihm der Name vertraut vor, aber er kam nicht drauf, warum. Nachdem er eine Weile verwirrt vor sich hin gedacht hatte, fiel ihm ein, dass die Kleine eine Antwort erwartete.

„Oh, ja, ich... kenne Nehawa,“ sagte er. Nehawa war ein kleines, friedliches Dorf nicht weit vom Schloss entfernt… Nehawa war das Dorf, aus dem auch Ram kam. Da fiel ihm ein… als sie geschrien hatte zuvor, hatte es sich fast so angehört, als hätte sie nach Ram gerufen… vielleicht hatte er es sich nur eingebildet. Er wurde schon paranoid…

„Bist du neu da?“ fuhr er so fort, „Ich hab dich noch nie gesehen... – komm, ich bringe dich nach Hause, bevor diese Idioten noch mal auf dich losgehen.“ Er ging, und aufgeregt folgte sie ihm.

„Das ist sehr lieb!“ sagte sie, „Danke! Aber mach dir bitte meinetwegen keine Umstände-... äh, wie ist dein Name?“

„Puran,“ seufzte er, „Ah, geht schon in Ordnung.“
 

Sie verließen das Wäldchen und gingen jetzt durch die südlich davon gelegenen Felder, durch die die Straße führte. Er fragte sich, ob das kleine Mädchen Ram kannte. Und, woher ihm ihr Name so bekannt vorkam. Letzteres könnte sie ihm kaum beantworten, also griff er auf ersteres zurück.

„Du hast... da doch einen Namen gerufen, als diese Jungen auf dich losgegangen sind…?“ versuchte er es unbeholfen in der Hoffnung, dass seine Sinne sich nicht getäuscht hatten, und die kleine Pakuna nickte.

„Oh, ja, Ram und Yiska! Sie wohnen neben uns, sie sind meine Freunde! Kennst du sie?“

Na, da war er wohl doch nicht paranoid. So ein Glück. Oder auch nicht, denn wenn Ram Derran der Freund dieser Kleinen war, würde der ihm lebendig die haut abziehen und ihn in Öl kochen, wenn er ihn bei ihr sah; woher kam eigentlich immer diese Geschichte mit dem Öl, fragte er sich, bei den Chimalis‘ witzelte man oft mit diesem Spruch herum, da wurde jeder verbal in Öl gebadet, der böse gewesen war…

„Ähm, ja, unfreiwillig, aber ja,“ erklärte er Pakuna dann lachend und dachte an Ram und auch seinen seltsamen Bruder, der unbedingt Fisch gebraucht hatte. „Du bist also eine Freundin von Ram? Dann ist es vielleicht besser, wenn er uns nicht zusammen sieht, Pakuna…“ Das Mädchen blinzelte.

„Warum nicht?“ wunderte sie sich, „Oh-... ... ihr versteht euch wohl nicht besonders?“ Ein helles Köpfchen schien sie zu sein, ein liebes Mädchen, durchaus. Aber ihr die komischen Umstände seiner… Bekanntschaft mit ihrem Freund Ram zu erklären stand nicht gerade an erster Stelle der Dinge, die er jetzt gerne tun wollte, außerdem würde sie ihm vermutlich nicht glauben.

„Ich weiß auch nicht,“ sagte er so – dabei fiel ihm auf, dass er das Warum ohnehin nicht kannte, immerhin verweigerten ihm die Geister und das dämliche Reh ja die Antworten, „Ist auch egal...“

Nach einiger Zeit des Gehens erreichten sie Nehawa. Am Zaun, der das Dorf begrenzte, verabschiedete sich Puran von Pakuna. „Ich gehe jetzt besser selber heim,“ grinste er, „Oh, bevor Ram uns sieht! – War nett, dich kennengelernt zu haben, Pakuna.“

„Ja!“ strahlte sie, „War auch nett, dich kennengelernt zu haben, Puran! Und vielen, vielen Dank, dass du mich hergebracht hast...“ Er grinste abermals, ehe er sich umdrehte und sich beeilte, heim zu kommen. Nein, nein, nein, seine Mutter würde ihn jetzt auch häuten und in Öl baden, weil er schon wieder so spät kam! Aber er hatte doch nur zur Sicherheit eines unschuldigen Mädchens beigetragen, sie sollte besser stolz auf ihn sein – und Madanan auch, er hatte immerhin gezaubert und war über seinen Schatten gesprungen!

Nachdem er weg war, erhob sich aus den Wipfeln eines Kirschbaumes eine Krähe und flog nach Norden.
 

Der Schatten kehrte zurück und Zoras Chimalis wusste nicht, aus welcher Richtung. Während er auf der Veranda stand, ans Geländer gelehnt, und apathisch in den trockenen Garten starrte, den die Sonne mit jedem tag mehr versengte, schickten die Geister ihm Finsternis, obwohl das Licht der untergehenden Sonne ihn blendete. Das Krähen eines Vogels über ihm ließ ihn schaudern, aber ansonsten rührte er sich nicht. Die Geisterstimmen in seinem Kopf sprachen von Vergangenheit und Zukunft. Und von Tod, wie jedes Mal, wenn sie mit ihm sprachen.

„Der Schatten wird kommen und die Welt verschlucken,“ sagten sie zu ihm, während er sich selbst durch eine gähnende Leere rennen sah, versuchend, dem Schatten zu entkommen, der aus einer Richtung kam, die er nicht kannte. Er konnte den Schatten im Dunkeln nicht sehen, aber er spürte seine Anwesenheit, eine grauenhafte Kälte, die zunächst nur seine Lungen betäubte, als hätte er eisige Luft eingeatmet, und sich dann über seinen ganzen Körper ausbreitete. Als er stehen blieb und sich verwirrt umsah, war plötzlich Salihah vor ihm, seine schöne Geliebte. Sie riss an seinem Umhang, den er vor seiner Brust zusammen gesteckt hatte, und sie rief seinen Namen.

„Sieh mich an!“ schrie sie ihm ins Gesicht, „Du hast gesagt, kein Schatten würde mich kriegen, was ist mit dir?! Sieh mich an, verflucht!“

„Ich sehe dich doch an!“ empörte er sich, aber offenbar hörte sie ihn nicht, denn sie zerrte an ihm und schrie nur noch lauter, bis er plötzlich mit ansehen musste, wie sie vor ihm zusammenbrach und dann keuchend am Boden lag. „S-Salihah!“ schrie er auch und hockte sich zu ihr. Sie hielt sich den offenbar schmerzenden Kopf und stöhnte dabei. Als sie das Gesicht zu ihm hob, war vor ihm nicht Salihah, denn plötzlich starrte ihn Kelar Lyras grinsende, wahnsinnige Fratze an.

„Was denn, hast du geglaubt, ich ließe ausgerechnet dich davonkommen, Chimalis?“ spottete der längst tote Mann und lachte kehlig, „Deine Hure wird es bereuen, mich getötet zu haben, und du noch viel mehr, dass du dich auf sie eingelassen hast! Salihah ist der Tod selbst, ich spreche aus Erfahrung. Sie ist wie diese Spinne, die ihre Männchen nach dem Sex auffrisst, sie hat erst ihren Spaß und tötet ihre Opfer dann. Sie wird dich genauso umbringen wie mich und jeden anderen, der je zwischen ihren Beinen lag, diese Hexe, diese wahnsinnige Irre…“

„Sprich nicht mit mir!“ blaffte er den Mann an und schlug ihm ins Gesicht. „Wie kannst du es wagen, Kelar, du Bestie?!“ Er erhob sich und trat nach dem lachenden Toten, während die Finsternis in ihm und um ihn herum immer kälter und düsterer wurde. Kelar verschwand, aber sein Lachen hallte in der Dunkelheit nach.

„Du rennst davon, weil du Angst hast… weil du weißt, dass ich recht habe, Chimalis! Du bist ein jämmerlicher Träumer… nicht umsonst habe ich den Kampf damals gewonnen und wurde Herr der Geister. Du wärst es nie würdig gewesen, diesen Titel zu tragen… genauso wie du unfähig bist, deinen Clan zu regieren, der den Bach runter gehen wird, so, wie ich es gesagt habe! Deine Frau, deine Tochter… wer bleibt dir noch?“

„Halts Maul!“ brüllte Zoras wutentbrannt und obwohl er aus vollen Lungen schrie, kam nur ein heiseres Krächzen aus seiner Kehle wie das Krähen eines Raben. Er fasste japsend nach seiner Kehle und Kelar gackerte in der Finsternis weiter.

„Am Ende bleibt nur die Leere, du Verlierer. Nichts als… pures Nichts!“ Der Schwarzhaarige fuhr herum, als er plötzlich Schritte hinter sich hörte. Aus dem Nichts war vor ihm Kelars treuer Helfer Denmor aufgetaucht, der Verräter. Da stand er breit grinsend, die schwarzen Haare hingen ihm ungewaschen ins Gesicht und der schäbige Umhang, den er trug, zeugte nicht gerade von einem Leben in Wohlstand.

„Du fürchtest dich?“ kicherte Denmor und zog aus seinem Gürtel einen Dolch, „Ich bin der Schatten, Zoras Chimalis. Das ist… dir doch klar, oder? Du solltest die schöne Salihah töten, bevor ich mir etwas viel Gemeineres für diese dreckige Hure überlege.“

Zoras wollte ihn anbrüllen, aber der Mann warf seinen Dolch und er landete gezielt in seiner Brust. Die Kälte in ihm gipfelte in einem grauenhaft schmerzlichen Höhepunkt, und als er nach seiner übel schmerzenden Brust fasste, war da… nichts.

Da war die Leere, die bereits begann, ihn aufzufressen.
 

„Herr?“

Zoras Chimalis fuhr hoch, als er plötzlich eine vertraute, sanfte Stimme neben sich vernahm und spürte, dass er angetippt wurde. Er schnappte nach Luft und schüttelte sich unwillkürlich, ehe er realisierte, dass er immer noch auf der Veranda stand. Neben ihm stand Ruja, Meorans bildhübsche Verlobte, die immer noch keine Frau geworden war. Sie war sehr spät dran… mit so einigem, fiel dem Mann dazu ein.

„W-was zum… verdammt, bin ich jetzt im Stehen auf der Veranda eingeschlafen?“ murmelte er bei sich und raufte sich die Haare, bevor er das Mädchen ansah. „Was ist, Ruja?“ Ruja verneigte sich höflich lächelnd.

„Ich soll dich holen, es gibt Essen!“ Sie plapperte munter weiter und war sehr stolz auf sich, als sie erzählte: „Ich habe beim Kochen geholfen und mir sehr viel Mühe gegeben, ich hoffe, es ist genießbar, Herr. Wenn ich schon körperlich keine Frau werde, wie es scheint, möchte ich wenigstens die Arbeit einer Frau schaffen. Ich stehe noch immer tief in eurer Schuld, weil ihr mich hier aufgenommen habt als Kind…“ Er fiel ihr ungalant ins Wort.

„Lass das Herr, Ruja, liebe Zeit. Du lebst schon seit vier Jahren hier und sagst immer noch Herr zu mir! Du wirst meinen Neffen heiraten, dann werde ich sowieso dein Onkel sein, oder? Sozusagen, meine ich. Gräm dich nicht, du schuldest niemandem etwas, kleine Ruja.“ Das Mädchen verbeugte sich noch tiefer. Jemine. Wenigstens hatte man ihr schon austreiben können, ihn oder auch die anderen Familienmitglieder im Plural anzusprechen. Sie hatte selbst Meoran lange ehrerbietig im Plural angesprochen, obwohl er es niemals verlangt hätte und es ihm überaus peinlich gewesen war, dass sich seine Verlobte selbst so dermaßen vor ihm erniedrigt hatte; er war sich vorgekommen, als behandelte er sie respektlos und wie Dreck, und sie hatten sich gefragt, was für grauenhaften Männern Rujas Familie begegnet sein musste, dass sie sich als Frau so unterworfen hatte. Das hübsche Mädchen war aber durchaus auf dem Weg der Besserung, zu Zoras‘ Erleichterung. Was sollte der arme Meoran denn mit einer Fußmatte als Frau? Um vor ihm zu kriechen, dafür gab es Diener oder Sklaven, überdies hatten die Chimalis‘ kriechendes Personal nicht nötig. Ihre einzige Angestellte, das Hausmädchen, wurde seit jeher mit großem Respekt und Freundlichkeit behandelt.

Das schwarzhaarige Mädchen richtete sich wieder auf.

„Gehen wir?“ fragte sie strahlend und er seufzte erneut. Im Garten krähte ein Vogel. „Du hast unsichtbare Dinge gesehen, oder?“ fragte die Telepathin dann, als er nicht reagierte, und Zoras blinzelte kurz. „Was… hast du gesehen?“ Er kratzte sich am Kopf und starrte eine Weile schweigend in den Garten.

„Tod…“ murmelte er dann dumpf und Ruja weitete schweigend die Augen. Zoras wollte sich gerade vom Garten abwenden und mit ihr ins Haus gehen, als eine kleine Krähe seine Aufmerksamkeit auf sich zog, die durch den Garten auf ihn zu geflogen kam.

„Ein Botschafter?“ riet Ruja erstaunt, als der Mann auch schon den Arm ausstreckte und das Tier auf seinem Ärmel landete. Vom letzten Botschafter, der auf seinem Arm gesessen und ihn zerkratzt hatte, waren noch immer Narben an seinem Arm, die er wohl auch nicht mehr los würde.

„Eine gute Nachricht in all der Finsternis,“ erklärte Zoras Ruja dann mit einem wehmütigen Lächeln, nachdem er den Vogel eine Weile angestarrt hatte. „Ich werde nie erfahren wo, das will ich auch nicht wissen vorerst, aber mein Schwiegersohn und meine Enkelin sind wohlauf. Es tut mir zwar weh, es dabei belassen zu müssen, aber mir bleibt keine andere Wahl… solange sie nicht bei mir sind, sind sie sicherer. Ich habe die dumme Angewohnheit, Finsternis und Unheil anzuziehen, fürchte ich…“ Ruja sah ihn bedrückt an und Zoras schickte die Krähe mit einer Armbewegung wieder fort. Als sie krächzend davon flog, warf sie im Sonnenuntergang einen bizarren Schatten auf den Boden, bei dessen Anblick es dem Mann kalt den Rücken herunter lief, ohne dass er wusste warum genau.

Schatten… Schatten, dem er nicht entkommen würde.

„Ich bin der Schatten, Zoras Chimalis. Das ist… dir doch klar, oder? Du solltest die schöne Salihah töten, bevor ich mir etwas viel Gemeineres für diese dreckige Hure überlege.“
 

Das war der Moment, in dem Zoras mit Gewissheit wusste, dass Denmor Emo gefährlich war. Mochte es für ihn, für Salihah oder für irgendwen anderes sein, den Rest des Sommers beschäftigte er sich damit, den Mann zu suchen, der ihn in seinen Träumen verspottete und seine Unruhe immer mehr steigerte. Jahrelang war Denmor verschwunden, aber nicht tot. Er war irgendwo in Dokahsan und versteckte sich wie ein lauerndes Raubtier, darauf wartend, dass irgendein dummes Kitz an ihm vorbei huschte und einen einzigen Schritt zu nahe kam.

„Warte nur,“ brummte Zoras Chimalis bei den Gedanken und verengte die Augen, „Ich werde dich finden, Denmor, und wenn ich dich habe, spieße ich dich auf und stoße dich von den Klippen!“ So sprach er und setzte seine verbitterte Suche fort, während ein grauenhaft trockener Sommer das Land passierte. Als Denmor tatsächlich wieder auftauchte, war der Sommer bereits fast vorüber.
 

In Tuhuli war das Erntefest, das zweite traditionelle Straßenfest im Jahr. Wie beim Viehmarkt kamen von überall her die Bauern und Handwerker und Dinge zu tauschen und zu verkaufen.

„Onkel?“ Zoras Chimalis drehte perplex den Kopf, als sein Neffe zu ihm kam. Er stand im Hof des Anwesens und war gerade dabei, es zu verlassen, er saß bereits auf dem Pferd und schickte gerade eine Krähe in die Luft, die krächzend davon flatterte. Meoran blieb neben dem Pferd stehen und sah dem Vogel skeptisch nach. „Du suchst immer noch nach dem Wurm Denmor, oder?“

„So lange, bis ich ihn gefunden und zerfleischt habe, jawohl,“ erklärte das Oberhaupt feierlich und Meoran räusperte sich. „Ich nehme an, dass du nicht zum Straßenfest gehst? Ich wollte mit Ruja hingehen, sie hat ein Dutzend oder mehr Sachen genäht, die sie vielleicht gegen nützliche Sachen tauschen kann.“

„Natürlich, geht nur,“ sagte Zoras verwundert, „Was fragst du mich um Erlaubnis? Was macht dein Wetten schließender Vater?“

„Rennt vermutlich über das Fest, wettet mit ein paar Trotteln und bringt einen feinen Braten mit nach Hause, wie jedes Jahr?“ riet der Neffe grinsend, „Letztes Mal gab es ein halbes Dutzend lebende Hühner und einen Kalbsbraten, das hat sich gelohnt…“ Zoras seufzte.

„Idiot…“ betitelte er seinen Bruder kurz, dann sagte er zu Meoran: „Ich werde heute Abend nicht hier sein, ich…“ Er räusperte sich gekünstelt, „Ich gehe zu Salihah. Meine Träume machen mich unruhig, ich habe die letzten Nächte kaum ein Auge zugetan und es treibt mich irgendwie nach Süden. – Guck nicht so, nicht in dem Sinne, in dem du wieder denkst! Meoran, du weißt, was wir besprochen hatten. Mach auf dem fest, was du Lust hast, aber betrink dich nicht, du musst doch die Trance beherrschen, wenn du Regen rufen willst. Und das Land braucht Regen… es ist völlig verdorrt.“ Der junge Mann nickte.

„Natürlich, Onkel. Ich… kann die Geister auch reden hören, es ist eigenartig in letzter Zeit… so ein unheimliches Flüstern im Wind, das mir Sorgen macht. Ruja übrigens auch, sie schläft auch schlecht und ist verwirrt.“ Zoras verengte für einen Moment die Augen.

„Wenn du schon dabei bist, die Geister um Regen zu bitten, bitte sie um Fruchtbarkeit für deine Verlobte, die fünfzehn einhalb und immer noch ein Mädchen ist!“ sagte er, „Du bist mein Erbe und wirst einmal meinen Clan führen, Meoran. Es wäre ein Jammer, würdest du… keine Nachkommen haben. Wenn Ruja nicht bald zur Frau wird… ist sie vermutlich unfruchtbar. So gern du sie hast, dann solltest du dir eine zweite Frau nehmen, die deine Kinder gebärt.“

„Sowas mache ich nicht, Onkel, bei allem Respekt,“ seufzte der Jüngere verlegen, „Ich liebe meine Ruja, wenn sie keine Kinder bekommen wird, dann sei es so.“

„Dann hast du deinen Clan dem Tode geweiht…“ schnarrte sein Onkel kalt, „Du bist ein wahrlich weiser Clanführer, Meoran, oh ja.“ Meoran senkte seufzend den Kopf.

„Onkel… genau genommen hast du kein Recht, sowas zu sagen. Du hast… eine Tochter gezeugt und keinen einzigen Clanerben. Hättest du dir eine zweite Frau genommen?“ Der Onkel schwieg darauf eisern. Dann trieb er sein Pferd voran.

„Wenn sie bis zum Wintermond nicht ihre Mondblutung hat, bekommst du eine zweite,“ entschied er. „Also sei artig und bitte die Geister um Gnade. Wir haben viel verloren… ich will nicht auch noch den Clan verlieren, Meoran.“ Dann galoppierte er davon und der Neffe blieb im Hof zurück. Dann rief er seine Verlobte, um mit ihr zum Fest zu gehen.
 

Lyras gingen nie zum Straßenfest. Abgesehen von Puran, der von Kannars Familie eingeladen worden war, und Tabari war in den paar Jahren als Statthalter mitunter zufällig an dem tag in Tuhuli beschäftigt gewesen, aber insgesamt ließen sie sich selten bis nie dort blicken. Das gemeine Volk hegte noch immer Abneigung und Furcht gegen die Familie, nachdem Kelar sie so unterjocht hatte. Die ganze Familie war im Schloss, während Zoras Chimalis mit seiner Geliebten zusammen war. Als es dunkel wurde, begann es tatsächlich in Strömen zu regnen.

„Meoran macht seine Sache gut,“ meinte Zoras murmelnd, während er apathisch aus dem Fenster sah. Er saß auf der Bettkante im Schlafzimmer, Salihah lag hinter ihm auf dem Bett und strich sich gedankenverloren durch die schwarzen Haare.

„Er ist Geisterjäger. Was erwartest du, dass er schlecht ist?“

„Natürlich nicht… aber er ist immer noch so ein Spielkind.“ Salihah kämmte weiter ihre Haare.

„Du bist nervös,“ stellte sie richtig fest, und Zoras drehte langsam den Kopf zu ihr. „Meine Augen sind abscheulich schlecht… sag mir wieso, Liebster. Was beunruhigt dich in letzter Zeit?“ Der Mann drehte das Gesicht wieder von ihr weg. Sie merkte das… natürlich merkte sie es, sie merkte alles. Sie war die Seherin… auch, wenn sie beinahe erblindet war im Inneren.

Er wusste nicht, ob es gut war, ihr von den beunruhigenden Träumen zu erzählen. Sie hatte vermutlich selbst genug… Sie unterbrach seine wirren Gedanken, als sie sich aufsetzte und hinter ihn krabbelte, um ihn von hinten zu umarmen.

„Gräm dich nicht…“ flüsterte sie ihm ins Ohr, bevor sie seinen Hals sanft küsste. „Wir alle… sehen Schatten in der Zukunft, Zoras.“ Er ruckte abrupt mit dem Kopf hoch.

Schatten.

Er sah Denmors widerliches Grinsen und ein kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken; Salihah küsste seinen Hals erneut, etwas ausgiebiger, und strich mit den Händen zärtlich über seine Schultern, nach vorn auf seine Brust und zum obersten Knopf seines Hemdes.

„Vergiss sie…“ sprach sie dabei dumpf und schloss die Augen, als sie sein Hemd halb öffnete und mit den Fingern seine Brust darunter berührte. Er seufzte leise. „Vergiss sie… heute Nacht. Ich… vergesse sie auch… und bin dein.“
 

Er verdrängte die Schatten, obwohl sie in ihm immer noch Panik auslösten, als er sich zu ihr umdrehte und sie liebevoll küsste. Er wusste nicht, dass sie die Schatten genauso sehen konnte wie er, dass ihre Angst nicht kleiner war als seine. Etwas Schlimmes würde kommen, und vielleicht wäre es das Ende der Welt… sie wollte nicht daran denken. Sie hatte ihren Liebhaber, sie wollte ihren Geist jetzt nicht mit der Dunkelheit ihrer bösen Ahnungen belasten. Sie ließ sich von ihm auf das weiche Bett legen und zog ihn über sich, sein Hemd jetzt komplett öffnend, während sie sich noch immer küssten.

„Berühr mich…“ stöhnte sie leise, als sie sich kurz lösten, nur um darauf einen weiteren, innigen Kuss zu teilen. Salihah schlang die Arme um den jüngeren Mann und drückte sich wohlig seufzend gegen ihn, als seine Hände langsam begannen, ihr leichtes Kleid hochzuschieben. Wenn sie wusste, dass er zu ihr kam, zog sie meistens keine aufwendigen Kleider an; er müsste sie ohnehin ausziehen, das sparte Zeit.

Der Himmel grollte und der Regen, der sich endlich über das ausgetrocknete Land ergoss, prasselte heftig gegen die Fensterscheiben, als die Nacht heraufzog und Zoras mit seiner Geliebten das Bett teilte. Sie lehnte den Kopf in den Nacken und seufzte leise, während sie auf seinem Schoß saß und mit ihm vereint war, während sie spürte, wie seine Hände ihren nackten Körper berührten und sie in Flammen setzten. Aber es war ein angenehmes Feuer, anders als das in ihren Träumen, das vom Himmel fiel und die Erde überschwemmte. Sie klammerte sich an ihn und hielt sich fest, bewegte sich mit ihm und spürte seine Lippen, die ihre Brust küssten. Seine Hände fuhren hastig über ihren nackten Rücken und hinunter.

Das Unwetter war egal. Die Schatten waren egal.

Sie war da, sie hatte ihren Liebhaber. Das reichte.
 

Sie liebten sich mehrmals, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen. Als sie verschwitzt und zufrieden beieinander unter der Bettdecke lagen, sahen sie einander an und schwiegen sehr lange. Es bedurfte keiner Worte mehr, um ihre Zuneigung auszudrücken… sie waren selbst dann eins, wenn sie sich nicht vereinten.

Salihah streckte die Hand aus und streichelte Zoras’ Wange.

„Und?“ fragte sie lächelnd. „Sind sie weg? Die Schatten…“ Er schloss seufzend die Augen. Da war Dunkelheit… im Zimmer war es dunkel und in seinen Gedanken auch. Aber die Angst war verschwunden, verkrochen in einem hinteren Winkel seines Geistes, an dessen erster Stelle nun die hübsche Frau stand. Die Frau, die er liebte. Er hatte Tehya auch geliebt, aber das war anders gewesen.

„Ich bin… mir nicht sicher,“ murmelte er leise und ließ zu, dass sie ihn weiterhin streichelte. Die Frau rückte etwas näher und küsste zärtlich seine Lippen, ehe er seine Arme um ihre Taille legte und sie an seinen Körper heran zog. Sie war eine bildschöne Frau; er erinnerte sich dumpf, dass sie als junges Mädchen ungesund dürr gewesen war, dünner als jeder Hunger leidende Bauer. Als sie gekommen war, um ihm das Blutritual zu machen, war sie schon älter gewesen, plötzlich war sie eine Frau gewesen mit Brüsten und runden Hüften, er hatte sie auf den ersten Blick beinahe nicht wiedererkannt damals.

„Wie nostalgisch…“ neckten die Geisterstimmen in seinem Kopf ihn plötzlich, und er schnellte aus dem Bett hoch wie vom Donner getroffen. „Das… ist das Ende der Welt, Chimalis!“

„Was ist?“ fragte die Frau alarmiert, als er plötzlich aus dem Bett sprang und in Windeseile seine Hosen anzog.

„Schatten!“ machte er und wirbelte in der Dunkelheit von einer seltsamen Panik ergriffen herum. Salihah warf sich geistesgegenwärtig ihr Nachthemd über, das neben dem Bett gelegen hatte, und ging herum, um ihn an den Schultern zu packen und festzuhalten.

„Sieh ihn nicht an und reiß dich los, bevor er dich fängt,“ sagte sie scharf, „Sieh mich an, Zoras!“ Er erstarrte bei ihren Worte, in dem Moment, in dem der Schatten über seinen Geist huschte wie ein Dieb, der in ein haus eindrang. Unbemerkt von allen, die darin waren, plötzlich war er einfach da.

Sieh mich an!

Das hatte sie in seinem Traum auch gesagt…

Als er ihrem Befehl folgte und sie ansah, erstarrte er erneut, als er den Schatten plötzlich mit wahren Augen sehen konnte, der als Mensch aus Fleisch und Blut hinter Salihah stand, sein dreckiges Grinsen im Gesicht und ein Kurzschwert erhoben, bereit, es der Frau quer durch den Rücken zu bohren.
 

„Ich bin der Schatten, Zoras Chimalis. Das ist… dir doch klar, oder? Du solltest die schöne Salihah töten, bevor ich mir etwas viel Gemeineres für diese dreckige Hure überlege.“
 

In diesem Moment wurde alles klar, in diesem Moment hob sich der Vorhang vor Zoras’ Geist und wie durch einen gläsernen Kristall sah er Denmor und was er tat…

Er würde sie töten.

Als Salihah seinen entsetzten Blick sah, war bereits alles zu spät. Zu langsam drehte sie den Kopf nach hinten, um den Mann zu erkennen und was er tat; als sie herum gewirbelt war, hatte ihr Geliebter sie schon zur Seite gestoßen und schützend die Arme vor ihr ausgebreitet. In seiner rechten Hand entstand ein gleißender Blitz, den er auf Denmor schmetterte in dem Moment, in dem das nach vorn schnellende Kurzschwert des Verräters seine Brust durchbohrte.
 

Salihah schrie.

Denmor schrie nicht, er ging wortlos in Flammen auf, als der Blitz ihn traf und Zoras Chimalis keuchend zu Boden sank, wobei das Schwert aus der Wunde und Denmors brennender Hand fiel.

„Zoras!“ kreischte Salihah wie von allen Geistern verlassen und stürzte zu ihm, als er hustete und Blut spuckte. Die Wunde war übel und blutete heftig, Salihah konnte sich gerade nicht darum kümmern, dass ihr ganzes Schlafzimmer zu brennen begann, weil Denmor die Bettdecke in Brand steckte, als er jetzt doch schreiend und brennend herum zu rennen begann.

„Der Schatten…“ japste Zoras und krümmte sich, als ein grauenhafter Schmerz durch seinen Körper fuhr, als er nur atmete. „D-der… ich habe… so oft geträumt und… so viel Tod gesehen…! R hat es also… doch auf dich abgesehen gehabt…!“ Er spuckte erneut Blut und sie kreischte verzweifelt.

„Sprich nicht!“ schrie sie, „Wieso hast du das gemacht?! Ich bin das nicht wert, nicht in tausend Leben, Zoras Chimalis, warum?! Sieh mich an!“ Er drehte schwer keuchend den Kopf und das Prasseln des Regens und der Flammen übertönten sein Japsen. „Warum?!“ wiederholte sie, und er sah sie flackernd an. Sie weinte bitterlich.

„Weil ich dich liebe, du dumme Frau…“ neckte er sie sanft, ehe er wieder hustete, sich krümmte und dann schreiend gänzlich zu Boden stürzte. Der Schmerz war furchtbar, er konnte nicht atmen… durch seine Finger, die er auf die Wunde presste, sickerte heißes Blut auf den Fußboden.

„Feuer!“ ertönte plötzlich ein panischer Schrei von der Tür hinter den Flammen, Salihah fuhr auf. Sie hörte ihre Söhne und deren Frauen rufen, aber sie nahm es nicht richtig wahr… bis sie Nalani „Alara!“ schreien hörte und der Wasserzauber alles nass machte und das Feuer löschte. Denmor stürzte röchelnd und verkohlt zu Boden, er bebte aber, offenbar war er lebendig. Nalani eilte gefolgt von einer panisch verheulten Sukutai und Tabari herbei, alle trugen nur Morgenmäntel.

In dem Moment war es, dass Salihah in ihren Tränen und ihrer Panik ihren Geist wiederfand. Zaubern. Nalani hatte gezaubert, sie musste es versuchen!

„Lira,“ japste sie, „W-wir machen Lira! Halt still, Zoras, wir kriegen das hin!“

„Was…?“ machte der Mann, als sie ihn auf die Seite drehte, worauf er wie verrückt zu husten begann. Sie presste weinend die Hände auf seine blutüberströmte Brust, während Nalani kommentarlos zu ihr kam und ihr sofort half.

„Steh nicht rum, hol Kräuter!“ schrie sie ihren Mann an, „Sukutai, sieh nach den Kindern! Sie dürfen das nicht sehen! Kiuk, pass auf das Schwein auf!“ Sie meinte Denmor, und ihr Schwager beeilte sich, dem Befehl zu folgen.

„Lasst das, das… ist schon zu spät, Salihah…“ stöhnte Zoras und hustete Blut, bevor er zitternd nach seiner Brust fassen wollte. Salihah schlug seine Hand weg.

„Sieh mich an!“ schrie sie wie wahnsinnig, sodass sogar Nalani erschrocken zurück fuhr und sie ansah. Er sah sie ebenfalls an und sie erzitterte am ganzen Körper. Im Zimmer wurde es plötzlich still, nur das ungesunde Röcheln, das der Mann von sich gab, war zu hören. „Du hast gesagt, kein Schatten würde mich kriegen…“ wisperte Salihah tonlos, dann schrie sie ihn an: „Was ist mit dir?! Sieh mich an, verflucht!“
 

Das hatte er auch schon mal gehört. Wieder hustend und mit aller Kraft versuchend, gegen die Schmerzen anzukämpfen erinnerte er sich wieder an den Traum, in dem sie genauso geschrien hatte.

Seine schöne, tapfere Salihah… es war falsch, sie schreien zu hören. Es war falsch, sie weinen zu sehen, seine hübsche Seherin.

„Die Lunge ist schwer verwundet!“ japste Nalani mit gesenktem Haupt, als er wieder Blut hustete und damit den Boden besudelte, „I-ich glaube nicht, dass meine Heilfähigkeiten dazu ausreichen, w-wieso ist Keisha nicht hier?!“

„Selbst wenn Kiuk jetzt nach Tuhuli ginge per Teleport und Keisha holte, es wäre zu spät…“ machte Tabari neben ihr, der aus dem Medizinschrank den nächstbesten Kräuterhaufen mitgebracht hatte, den er hatte finden können; hatte er Ahnung von Kräutern? Er war Geisterjäger und kein Heiler; und seine Frau ebenso, obwohl er sich für einen Moment wünschte, es wäre anders.

„Jetzt… heult nicht…“ keuchte Zoras und zwang sich zu einem verzerrten Grinsen, während er am Boden lag, Salihah nahm weinend seinen Kopf auf ihren Schoß. „Alles… hat ein Ende, Nalani. Wir alle… sterben.“

„Aber du darfst nicht!“ schrie Salihah ihn an, ehe Nalani hätte antworten können, „Nicht du! I-ich… ich liebe dich doch… mein Liebster…“ Nalani und Tabari sahen sich bestürzt an und die Frau senkte bebend den Blick, ehe sie aufhörte, sich vergeblich um die zu tiefe Wunde zu bemühen. Tabari verstand ihre Geste, als sie sich von Zoras und Salihah abwandte, und er nahm seine Frau tröstend in den Arm, als sie stumm zu weinen begann, den beiden Älteren den Rücken kehrend.

Das war nicht gerecht. Was hatte diese Familie getan, dass die Geister sie Stück für Stück auseinander nahm? Tehya, Enola… jetzt Zoras.

Ihr Geister seid grausam… was immer wir Menschen euch angetan haben, dass ihr so zürnt, wir bereuen es… ihr könnt jetzt damit aufhören!

Zoras hustete und drehte sich mit etwas Mühe wieder auf den Rücken, damit er Salihah ins Gesicht sehen konnte, als er vorsichtig den Kopf hinauf drehte.

„Salihah… keuchte er kraftlos und seine Lunge machte beängstigend ungesunde Geräusche, als er versuchte, zu atmen, und wieder Blut husten musste. Er schaffte es, seine Hand zu heben und ihre von den Tränen feuchte Wange zu streicheln, worauf sie mit einem Mal erstarrte. „Shh…“ flüsterte er weiterhin und brachte ein müdes Lächeln zu Stande. Ich… würde dich nicht zwingen, nicht zu weinen, Salihah… Tränen sind nicht… alle schlecht.“ Sie bebte vor Schluchzern und eine Träne tropfte von ihrer Wange auf seine Stirn. Er zuckte und sie riss panisch die Augen auf, als sie befürchtete, es wäre schon vorüber – dann hustete er wieder. „Lass mich gehen, Salihah… ich… kann zu Tehya und Enolachen… es… ist recht so.“

„Du hättest das nicht tun dürfen…“ wisperte sie, „Nicht für mich…“ Sie schloss weinend die Augen, als er ihre Wange etwas fester streichelte und seine Finger schließlich über ihre Lippen fuhren, die darauf erbebten. Sie schluchzte.

Als sie die Augen öffnete, sprach er leise.

„Für niemanden hätte ich es lieber getan als für dich… geliebte Salihah.“

Seine Hand sank zu Boden, als der Geisterjäger für immer die Augen schloss.
 

Salihah schrie erneut, dieses Mal lauter und länger. Bei ihrem Schreien fuhr Tabari unwillkürlich zusammen, Nalani erhob sich abrupt und schnappte atemlos nach Luft. Sie musste sich zusammenreißen – sie musste, es gab noch zu tun!

„Kümmere dich um deine Mutter!“ sagte sie zu Tabari und klang nicht halb so gefasst wie sie wollte, was sie ärgerte. Sie musste ihre eigenen Tränen unterdrücken, als sie zu dem niedergeschlagenen Kiuk herüber ging, der auf den röchelnden Denmor aufgepasst hatte; oder das, was von ihm übrig war.

Er war am ganzen Körper halbwegs verbrannt, es stand außer Frage, dass er die Nacht auch nicht überleben würde, der Zerstörer hatte ihn voll erwischt.

„Antworte, Drecksack,“ zischte Nalani und trat nach Denmor, worauf der stöhnte und zusammenfuhr. „War das deine Idee, Salihah zu töten?! Oder wer hat dich geschickt, wem dienst du Wurm jetzt?!“ Aus Denmors Kehle kam ein krächzendes Lachen, das gefärbt war von den grauenhaften Schmerzen, die er haben musste.

„Dienen… huh, Königin Nalani…?“ gackerte er. „Ich diente nur… dem Herrscher Lyriens, Eurem Schwiegervater! Und ich hätte recht getan, sie zu töten, diese Heuchlerin, diese Schlampe… sie ist Schuld an allem Übel…!“ Nalani trat ihm ins Gesicht, als sie ihren Zorn auf den Mann nicht mehr zügeln konnte. Denmor röchelte und hustete noch etwas, bevor er den schweren Verbrennungen erlag. Kiuk japste und seine Schwägerin schnappte kochend vor Zorn nach Luft.

„DU SCHWEINEHUND!“ brüllte sie Denmor an, obwohl er tot war, während ihr abermals die Tränen kamen. Sie wollte das beherrschen… sie wollte standhaft bleiben. Aber es war zu schwer… sie konnte nicht. „Wie hat Kelar dem das Gehirn gewaschen, dass er ihm selbst im Tod noch folgt?! Dieser abartige, widerwärtige Wurm, diese des Lebens unwürdige Made! Ich würde dich zerreißen, wärst du nicht bereits tot! Abschaum, du!“ Sie heulte verzweifelt und Kiuk senkte keuchend den Kopf.

„Schrei nicht…“ sagte er zu Nalani und sie drehte den Kopf zu Salihah, sie noch immer weinend und jammernd über Zoras Chimalis gebeugt am Boden kniete. „Das… macht Tote nicht lebendig, Nalani.“

Das wusste sie selbst, verdammt. Und Salihah wusste es auch, dennoch schrie sie sich die Seele aus dem Leib…
 


 

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ähm... booyah? xDD September 969, btw.

Geisterlicht

24. Geisterlicht
 

Bei der Bestattung sah Puran seit langem zum ersten Mal wieder alle Geisterjäger, die nach Tuhuli kamen, um den Tod ihres Kollegen zu betrauern. Denmor, der Verräter, wurde von den Klippen geworfen und weder bestattet noch in irgendeine Weise geehrt; Tabari hatte seine wutentbrannte Frau davon abbringen können, den Mann zu Hackfleisch zu machen. Zu viel Schande für einen Toten machte ihn vielleicht zu einem bösen Geist…

Der kleine Junge beachtete die Geisterjäger und die, die sonst noch da waren, aber wenig bis nicht, während er am Rock seiner Mutter klammerte in der Reihe der Menschen, vor ihnen der brennende Haufen mit der Leiche.

Das, was da geschah, war so weit weg, das war nicht wirklich. Irgendwo da draußen fand eine Bestattung statt, da wurde ein Mann bestattet, aber das hatte nichts mit ihm zu tun; er kannte den Mann gar nicht, es ging gar nicht um Zoras Chimalis. Puran spürte, wie seine Mutter mit der Hand zärtlich durch seine Haare strich, ohne ihn anzusehen. Sie sah niemanden an, sie stand starr wie ein Felsen neben ihm und stierte ins Nichts. Er erfasste sanft ihre unruhige Hand auf seinem Kopf und drückte sie zärtlich, um zu versuchen, sie zu trösten. Chimalis’ waren engste Familienfreunde; sie alle nahm der Tod des Oberhauptes mit.

„Was machen wir jetzt, Mutti?“ wisperte er tonlos und lehnte sich an ihren Rock, und Nalani senkte zitternd das Haupt.

Sie wusste es nicht…
 

Der Winter kam schleichend. Und dann war er plötzlich in voller Pracht da und der heftige Schneefall drohte das Land zu verschlingen. Abgesehen davon war der kommende Hungermond sehr mild. Tabari vermerkte mit seiner Volkszählung fast keine Toten in der Zeit, das war selten; im Hungermond starben oft Alte oder Kinder, wenn die Nahrung knapp wurde und die Dörfer schlecht vor dem kalten Wind und dem Schnee geschützt waren. Aber die Straßen waren schwer bis nicht passierbar in dem Schneegestöber. Obwohl die Menschen versuchten, sie freizuschaufeln, taten sie das nur in der Nähe ihrer Dörfer, die Strecken in der Mitte zwischen zwei Dörfern waren teilweise diverse Fuß hoch mit Schnee bedeckt.

Für Puran, der nach Gahti zur Schule musste, bedeutete das, dass das kleine Wäldchen davor ziemlich zugeschneit war. Aber dagegen wusste er sich zu helfen.

„Vaira, verdammt!“

Dafür waren die Zauber wirklich nützlich, Madanan log nicht. Mit der Flamme aus seinen Händen konnte er mühelos den Weg frei schmelzen. Da die Bäume vom Schnee kalt und feucht waren, würden sie auch kein Feuer fangen, es war daher völlig gefahrlos.

„Da hast du aber in bisschen vergessen!“ sagte Alona und zeigte auf eine Stelle, die noch voller Schnee war. Seit dem Spätsommer ging auch die kleine Telepathin in die Schule. Sehr zum Leidwesen ihres Cousins, der mit ihr gehen und auf sie aufpassen musste. Das an sich wäre nicht so wild – dumm war nur, dass Alona ungern auf sich aufpassen ließ.

„Mach es selbst und besser,“ schnaufte er so nur und sah das undankbare Gör neben sich an, während dieses seinen kleinen Ranzen auf dem Rücken zurecht rückte.

„Wenn ich zaubern könnte, würde ich,“ erklärte Alona hochnäsig und grinste, „Und rede nicht so gemein mit mir, ich bin dein Cousine, du musst mich lieb haben!“

„Ja, ja,“ Puran sah sie schräg an und ging ohne Worte weiter über den jetzt so gut wie schneefreien Weg. „Du bist ein undankbares Biest, Alonachen, weißt du das?“

„Was? Ist doch wohl logisch, dass du mir als Dame den Weg frei brennst, ich meine, ich bin klein und brauche Schutz und Sicherheit.“ Er lachte höhnisch. Schutz, die brauchte keinen Schutz! Wer die entführte, würde sie spätestens am nächsten Morgen wieder zurück bringen, da war er sicher. So, wie sie ihn zum Wahnsinn treiben konnte, würde sie es mit jedem tun, der sie anzugreifen versuchte. Natürlich hatte er seine Cousine trotzdem lieb… aber ihr das zu oft zu sagen war nicht gut, nachher bildete sie sich ein, sie bekäme alles von ihm, was sie wollte.

„Quassel nicht, Alona, und geh zu, wir kommen zu spät!“ befahl er so, und sie kicherte.

„Ja, und wer ist daran Schuld? Du, weil du mal wieder so ewig gebraucht hast!“

„Wenn du dich im Gegensatz zu mir eben nicht kämmst, dein Pech.“

„Mutti kämmt mich und macht mir Zöpfe, und das geht schneller als deine Kämm-Arie am Morgen,“ lachte sie, „Dabei hast du doch voll kurze Haare!“ Er stöhnte. Ja, aber sie standen in alle Himmelsrichtungen ab, als hätte er sich selbst mit dem Blitzzauber Demora angesengt, so konnte er doch nicht as dem Haus gehen! Das verstand die dumme Kuh natürlich nicht. Sein Onkel Kiuk hatte ihn auch mitunter geneckt, er wäre ganz schön eitel, ihm war das egal – der hatte gut reden, dem standen die Haare ja nicht so albern vom Kopf ab! Seine Mutter hatte ihm gesagt, das hätte er von seinem Vater, und das war wahr, denn Tabaris Haare sahen so aus wie seine, nur in blond. Er bedankte sich in Gedanken grummelnd bei seinem Vater für die tollen Gene. In diesem Fall beneidete er Ram Derran, dem seine Haare waren ganz glatt und hübsch. Frechheit.

„Ach, du hast ja keine Ahnung!“ empörte er sich so theatralisch und seine Cousine lachte doof.
 

Im Schloss war es kühl geworden zum Winter hin; aber nicht nur wegen des Wetters. Salihah hatte Nalani direkt nach Zoras Chimalis’ Tod etwas Sorgen bereitet; während Tabari offenbar immer noch nicht verstanden hatte, was seine Mutter und sein Kollege Zoras so miteinander getan hatten, war es Nalani natürlich sehr wohl bewusst und sie hatte schlimmstes befürchtet. Salihah hatte sich aber durchaus standhaft gezeigt. Abgesehen davon, dass sie nur noch schwarz trug, kam sie offenbar zurecht. Die Telepathin leugnete gern, dass sie wegen ihres verstorbenen Geliebten Schwarz trug, sie behauptete, wenn Nalani sie danach fragte, sie mochte eben neuerdings schwarze Kleider; Nalani fragte auch nicht weiter nach. Es ging sie nichts an; das war Salihahs Sache. Überdies hatte die jüngere Geisterjägerin kaum Zeit, sich um ihre Schwiegermutter zu kümmern, denn sie half ihrem trotteligen Mann bei seinem Papierkram, weil sie befürchtete, er würde zu weinen anfangen, wenn sie ihn damit allein ließ. Tabari war wirklich alles andere als der geborene Politiker. Und Schreiber schon gar nicht. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass Nalani für ihn die Papiere verwaltete, wenn er alles andere übernahm und nicht öffentlich machte, dass eine Frau ihm bei seiner Arbeit half; das wäre für Tabari eine unglaubliche Schande, das gesamte Volk würde ihn verspotten, er würde seinen Respekt, seinen Posten und alles andere verlieren, wenn er Pech hätte. Frauen hatten in der höheren Politik nichts verloren; es war schon empörend genug, dass Sukutai die Vertreterin des TOs im Senat war. Wenn die Senatoren sich mit den Vertretern der Magierräte trafen, das kam dreimal im Jahr vor, war sie dort bei Nomboh Chimalis und dem Vertreter der Heiler die einzige Frau im Saal. Sukutai hatte damit kein Problem und erstaunlicherweise hörten die Senatoren auf ihren Rat gern.

„Vermutlich redet sie die Männer in den Boden mit einem ihrer Sprechanfälle!“ hatte Tabari gemeint, „Ich frage Nomboh bei Gelegenheit mal, was sie im Rat so erzählt!“

Nomboh seinerseits hatte nach dem Tod seines Bruders genug um die Ohren gehabt. Als hätten die Geister darauf gewartet, dass Zoras starb, war kaum zwei Wochen später Meorans Verlobte endlich eine Frau geworden. Die Hochzeit der beiden war als gleichzeitiges Feiern von Meorans Ernennung zum Clanoberhaupt der Chimalis’ benutzt worden und war damit wenigstens ein freudiges Ereignis gewesen in aller Trübsal. Allerdings hatte die kleine Familie so gut wie allein gefeiert, was manche empört hatte. Meoran war zu Lyras gekommen und hatte einzig Salihah eingeladen mit den unterwürfigen und verlegenen Worten:

„Du warst quasi die zweite Frau meines Onkels, das macht dich zu meiner Tante und zum Mitglied meiner kleinen Familie, ehrenwerte Seherin. Es wäre eine Schande, dich nicht dabei zu haben; was euch andere angeht, es tut mir wirklich leid, seid mir nicht böse. Aber niemand fühlt sich komplett wohl nach… Onkels Tod, schon gar nicht meine Frau Ruja… sie schämt sich sehr, ausgerechnet kurz nach seinem Tod zur Frau geworden zu sein, ich fürchte, eine große Gesellschaft würde sie nicht erfreuen.“ Nalani hatte das sofort akzeptiert, Tabari hatte etwas gemault, dass das doch nicht Rujas Schuld wäre und daher kein Grund für sie, sich so anzustellen. Nalani war ihm irgendwann über den Mund gefahren, worauf er komplett beleidigt gewesen war. Zum Glück hatten sich die zwei am Abend wieder versöhnt.
 

„Mutter?“ sprach Nalani ihre Schwiegermutter an einem Tag im Hungermond an, als sie nach einem kurzen Klopfen die obere Stube betrat, in der sich die ältere Frau seit Zoras’ Tod meistens aufhielt. Nalani war insgeheim beeindruckt gewesen, dass Salihah überhaupt noch bereit war, in ihrem Schlafzimmer zu schlafen, nachdem dort Menschen gestorben waren. Salihah war sehr tapfer. Als die Geisterjägerin die Stube betrat und auf ihre Schwiegermutter sah, fuhr sie zunähst erschrocken zusammen und stürzte dann keuchend zu ihr. „S-Salihah, was ist?! Sieh mich an, ist alles in Ordnung?!“

Di Frau saß starr auf dem Sessel und bewegte jetzt bebend den Kopf in Nalanis Richtung, als diese sie energisch schüttelte. Ihre Augen waren trübe und gingen ins Leere.

„Dunkelheit, Nalani…“ stöhnte sie dabei nur, „Ich sehe immer schlechter, es wird finster. Der Winter… kommt nicht nur über das Land, sondern auch über meinen Geist, denke ich.“ Nalani sah sie unschlüssig an, dann fiel ihr Blick auf die alten Pergamente, die auf dem Boden lagen, die Salihah sich offenbar angesehen hatte. Sie hob sie auf und reichte sie ihrer Schwiegermutter mit einer respektvollen Kopfneigung.

„Winter… sag sowas nicht. Das klingt so endgültig.“

„Alles endet, Tochter,“ Salihah lächelte bitter und ihre Augen sahen jetzt etwas besser aus, als sie den Kopf zum Fenster drehte. Draußen war es grau und eiskalt.

Mit dem Tod ihres Geliebten war ihr plötzlich deutlichst vor Augen geführt worden, dass alles endlich war. Niemand lebte ewig, einmal erwischte es jeden.

Das galt auch für sie.

Ihre Augen waren inzwischen innerlich so gut wie blind. Selten bekam sie noch Visionen zu sehen und die Schmerzen in ihrem Kopf ließen nach, als wäre ihr Geist tatsächlich entlastet ohne die Bürden des Sehens. Aber dennoch war es wie eine uralte, innere Unruhe in ihr, wenn sie die Augen schloss und nichts sah als Dunkelheit. Ohne die Bilder, ohne die Stimmen war sie hilflos und vor allem ohne Nutzen, das machte sie insgeheim beinahe wahnsinnig. Wenn sie das nicht längst war…

„Nalani…“ murmelte sie dumpf und senkte das Gesicht tief, als Nalani sich wieder erhob.

„Was ist?“ fragte diese leise, „Stimmt etwas nicht?“ Die Ältere zögerte kurz.

„Du weißt nicht… wie das ist, wenn… plötzlich alles um einen herum dunkel ist, Nalani… hüte dich davor, Dunkelheit ist… immer schlecht.“ Das sagte sie mehr zu sich selbst und Nalani runzelte besorgt über die apathischen Worte die Stirn.

„Ich verstehe nicht ganz…“ machte sie perplex, was redete sie denn? Doch plötzlich wieder mehr bei sich hob Salihah den Kopf wieder und sah sie an.

„Schick nach der Dienerin, sie soll mir Tee bringen,“ verlangte sie und nahm ihre Pergamente wieder auf. Nalani wartet noch einen Moment, ob noch etwas käme; als sie nichts weiter sagte und offenbar tat, als wäre Nalani nicht mehr da, ging die Jüngere mit einem gemurmelten Gruß verunsichert hinaus, um das Mädchen nach dem Tee zu schicken.
 

Sie selbst setzte sich mit ihrem Schwager Kiuk in die untere Stube zur eigenen Teerunde, wobei sie selbst Kaffee trank; Salihah sah nicht aus, als wollte sie Gesellschaft, so zog Nalani es vor, sie in Frieden zu lassen.

„Deine Mutter redet komische Sachen, denen ich langsam nicht mehr folgen kann,“ klagte sie dabei Kiuk ihr Leid. Sukutai war zusammen mit Alona und einer Dienerin zum Einkaufen gegangen und Tabari war im Kreis unterwegs. In der Halle war viel Lärm zu hören, weil Puran und der Küchenjunge mit dessen kleinem Sohn spielten und sich offenbar mit Holzschwertern hauten, wie Nalani im Vorbeigehen bemerkt hatte. Der kleine Sohn des Küchenjungen war herzensgut, hatte seine Schlagkraft aber noch absolut nicht unter Kontrolle. Vor einigen Wochen hatte der Knirps Puran eine Bratpfanne über den Kopf gehauen und der hatte danach erst mal eine Weile Sterne gesehen. Der Vater des Knirpses war völlig besorgt und unterwürfig gewesen und hatte sich entschuldigt, Tabari hatte das jedoch nur belächelt.

„Was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker, das hat selbst mein gestörter Vater zu mir gesagt; mag nicht immer klug sein, aber von einer Pfanne über der Rübe ist noch keiner gestorben, den ich kenne…“

Die Gedanken an den Küchenjungen und Bratpfannen verdrängend konzentrierte sich die Frau jetzt auf Kiuk, der nur seufzte.

„Ja, Mutter ist schwierig, seit Zoras gestorben ist, du weißt ja,“ meinte er. „Ich fürchte, sie ist nicht so gut bei sich, wie es aussieht… sie ist immerhin nicht mehr die Jüngste und nachdem mein Vater verschieden ist auch noch… ähm… ihren Liebhaber zu verlieren war ein harter Schlag für sie. Mutter tut tapferer als sie ist.“

„Und was sollen wir da machen? Seit er gestorben ist, sind schon bald fünf Neumonde ins Land gezogen. Sie… redet immer von Dunkelheit und Unheil, ich habe aber schon lange nichts Beunruhigendes mehr geträumt…“ Nicht mal von dem brennenden Himmel hatte sie geträumt, fiel ihr dabei auf. Vielleicht war das an sich beunruhigender als zu träumen… Sie erinnerte sich dunkel an das, was Tabari einst gesagt hatte; er hatte von Zuyyanern geträumt, die das Land überrennen sollten. Zuyyaner, die Bewohner des blauen Mondes Zuyya, waren rätselhafte Menschen. Abgesehen davon, dass viele von ihnen für Menschen ungewöhnliche Haar- und Augenfarben hatten, unterschieden sie sich äußerlich nicht von Tharranern oder Ghianern. So sagte man, Nalani war niemals einem Zuyyaner begegnet. Auf Tharr gab es so gut wie keine, in Dokahsan schon gar nicht. Sie fragte sich beunruhigt, ob irgendeine Bedrohung von den Zuyyanern ausging, und sie hatte ihre politischen Kontakte im Land genutzt, um sich zu informieren. Sukutai hatte dezent im Senat nachgefragt, ob irgendetwas Sonderbares mit den Zuyyanern gewesen wäre, denn eigentlich verhielten sich alle drei Planeten, Tharr, Zuyya und Ghia, friedlich zueinander. Im Senat war nichts angekommen, das Aufsehen erregt hätte, und der Vertreter, der hin und wieder zum rat des Königs nach Vialla kam, hatte auch nichts gehört. Nalani fragte sich, wieso Tabari so etwas träumte. Sie selbst träumte es nicht… vielleicht irrte er sich, dachte sie skeptisch. Zumindest würde sie das im Auge behalten, ebenso wie ihre seltsam apathische Schwiegermutter.

Sie unterbrach ihre Gedanken als plötzlich mit viel Getöse der Küchenjunge, der eigentlich längst kein Junge mehr war, immerhin war er Vater, in die Stube gestürzt kam. Er hatte einen leeren Kartoffelsack wie eine große Mütze auf dem Kopf und rannte schreiend durch den Raum, ihm folgten die beiden Jungen, voran sein Söhnchen, ein Sieb auf dem Kopf und das Holzschwert hoch in die Luft gerissen.

„Zu Hilfe,“ keuchte der Küchenjunge und lief um das Sofa herum, „Zu Hilfe, sie wollen mich umbringen…“ Er war völlig aus der Puste und als er langsamer wurde, stürzte sich sein Sohn johlend auf ihn und verhaute ihn mit seinem Holzschwert.

„Wir haben ihn!“ rief der Kleine an Puran gewendet, „Wir haben den Dieb!“

„Sehr gut, er hat den heiligen Hut geklaut, der Schuft!“

„Echt mal, den heiligen Hut, Papa!“

„Den heiligen Hut, na so ein Unglück!“ machte Kiuk theatralisch und Nalani kicherte in ihre Kaffeetasse. Kiuk konnte wunderbar mitspielen, sie bewunderte ihn dafür. Egal, was für Unsinn die Kinder spielten, er ging jedes Mal darauf ein und begeisterte die Kleinen damit. Puran zog dem auf die Knie gesunkenen, heftig japsenden Küchenjungen den Sack vom kopf und hielt ihn hoch.

„Tataaa!“ jubelte er dabei, „Der heilige Hut ist wieder unser!“

„Hurra, hurra!“ johlte der kleine Knirps und hüpfte dabei, sodass das Sieb auf seinem Kopf verrutschte. Nalani gluckste.

„Und was habt ihr beide wohl für Hüte auf da? Unsere guten Siebe?“ Beide Jungen hatten ein Sieb auf den Kopf.

„Ja, weil, weil, wir sind die Sieb-Ritter und wir müssen im Spiel den heiligen Hut beschützen vor dem Räuber!“ Er zeigte auf seinen jetzt lachenden Vater.

„Ah ja,“ machte Nalani und tat beeindruckt, in dem Moment sprang der Küchenjunge auf, riss Puran den Kartoffelsack aus der Hand, stülpte ihn sich wieder über und rannte lachend aus der Stube.

„Aaahh!“ grölte der Knirps, „Der Räuber hat den Sack!“

„Du meinst wohl den heiligen Hut!“ empörte Puran sich und rückte sein Sieb zurecht, „Hinterher!“
 

„Du weißt nicht… wie das ist, wenn… plötzlich alles um einen herum dunkel ist, Nalani… hüte dich davor, Dunkelheit ist… immer schlecht.“

Salihah erinnerte sich dumpf an ihre eigenen Worte, während sie nachts in ihrem Bett lag und in die Finsternis starrte. Sie starrte mit geschlossenen Augen in eine gähnende Leere, eine tiefe Schwärze, die sich endlos vor ihr erstreckte, so weit sie sehen konnte; oder eben nicht. Sie sah nichts mehr… nichts außer Finsternis, und das beunruhigte sie.

„Sprecht, ihr Geister…“ wisperte sie, drehte sich zitternd in ihrem für eine Person viel zu großen Bett auf die Seite und kauerte sich zusammen wie ein ängstliches Kind. „Straft ihr mich… jetzt mit Blindheit für meine Grausamkeit?“

Niemand antwortete ihr. Sie zog sich keuchend die Bettdecke über den Kopf und es wurde dunkler. Ein Pochen erfüllte ihren Kopf, es war nicht schmerzhaft, es war… einfach da. Genau wie sie…

Sie war auch einfach da. Sie war keine Seherin mehr… sie war wie ein vertrocknetes Blatt an einem herbstlichen Baum, das letzte, welke Blatt, auf dessen Abfallen der Baum nur wartete, bevor er einen weiteren grausamen Winter überstand. Im Frühjahr würden neue Blätter wachsen, junge, grüne und hübsche Blätter.

Das Schweigen der Geister machte die Frau zornig. Richtig zornig, so sprang sie mit einem Mal wütend schreiend aus ihrem Bett.

„SEHT MICH AN!“ keifte sie in die Nacht und riss die Arme empor, mit Hilfe ihrer telekinetischen Kräfte hob sie dabei Dutzende von Büchern aus dem Regal und warf sie in die Luft, riss ohne auch nur in der Nähe der Bücher zu sein die Seiten heraus und zerfetzte sie in der Luft. „Sprecht mit mir, ihr undankbaren… launischen Biester!“ brüllte sie und keuchte vor Zorn, als sie ihre wahnsinnigen, bleichen Augen wutentbrannt auf die Zimmerdecke richtete. „Habe ich euch nicht mein Leben lang treu gedient, Geister?! Was ich tat, tat ich nach euren Hinweisen, nach eurem Willen, ihr seid… mir zu Dank verpflichtet, dass ihr mich als Gefäß für euren Willen missbraucht habt!“ Sie riss die Arme wieder herunter, während es um sie herum Papierfetzen regnete. Es waren wertlose Bücher gewesen, es war nicht schade um sie. Morgen würde sie einen Diener bitten, den Dreck aufzufegen. Noch immer antworteten die Geister ihr nicht, und sie schnaubte heftiger, als das Pochen in ihrem Schädel so laut wurde, dass sie nichts anderes mehr hören konnte –

Bis es mit einem Mal an der Türe klopfte.

„Mutter?“ hörte sie Tabaris verpennte Stimme, „Bist du verrückt geworden, hier so einen Radau zu machen?! Die Kinder schlafen doch!“ Sie drehte zornig den Kopf zur Tür, als er sie öffnete und hinein lugte. Da stand seine Mutter im Nachthemd mitten im Zimmer, die langen Haare zerzaust und in ihrem Gesicht ein grauenhafter, irrer Blick, der ganze Boden war voller zerfetzter Bücher. Tabari riss Augen und Mund auf. „Himmel – w-was ist denn jetzt?!“

Kaum sah sie ihn direkt an, änderte sich ihr Ausdruck und wurde milder. Sie erzitterte, taumelte dann kurz und fasste nach ihrem pochenden Schädel.

„Entschuldige,“ murmelte sie, „Ich brauche mein Laudanum.“ Sie setzte sich auf das Bett und kramte im Nachtschränkchen, um ein Glas und die Medizin zu holen. Tabari seufzte.

„Deswegen musst du hier nicht die Bücher zerreißen…“ sagte er leise, „Kann ich dir bei etwas helfen? Ich… sorge mich.“

„Das tut deine Frau auch,“ seufzte die Frau dumpf, dann lächelte sie traurig. „Sorge dich nicht, Tabari, mein lieber Sohn. Ich sehe… nur so viel Dunkelheit… und es ängstigt mich.“ Tabari blinzelte überrascht.

„Seit wann fürchtest du Finsternis?“ Er setzte sich neben sie und begann, ihr zärtlich durch die Haare zu streicheln. Sie sah schlecht aus; sie war bleich und dünn geworden, Zoras’ Tod tat ihr absolut nicht gut. Sie war krank, schon seit Jahren, und während es immer so vor sich hin geschlichen war, schien es jetzt mit voller Macht zurückzukehren.

„Ich weiß nicht…“ wisperte sie traurig und trank in kleinen Schlucken ihre Medizin, bis das Glas leer war und sie sich einmal erschöpft durch die Haare fuhr. Als sie erzitterte, sah Tabari sie besorgt an. „Die Geister… lassen mich im Dunkeln. So lange… beinahe fünfzig Jahre lang… bin ich die Seherin gewesen, habe ich Dinge gesehen… seit meiner Geburt… habe ich Dinge gesehen… habe ich Stimmen gehört… und jetzt… sind sie plötzlich verstummt. Das… macht mir Angst… das ist alles.“ Er verstand, was sie meinte, und er umarmte sie vorsichtig und versuchte sie damit etwas zu trösten. „Weißt du…“ fuhr sie dann fort, „Es fühlt sich… komisch an… übrig zu bleiben, Tabari… sie alle… verschwinden. Dein Vater ist fort… Zoras ist fort… und übrig bleibe… ich altes Muttchen in diesem… viel zu großen Anwesen. Ich sehe euch an, dich, deinen Bruder, Nalani… ich sehe euch an und merke, dass ihr immer weiter… weggeht von mir, vielleicht ohne es böse zu meinen… ihr seid jung. Die Welt… braucht euch, Tabari. Und ich stehe hier… und lächle. Mehr nicht.“ Er sah sie jetzt etwas bedrückt an und strich ihr über die Wangen. Entsetzt stellte er fest, dass er damit eine Träne weg strich, und er erschauderte.

„Mutter… das bildest du dir ein,“ machte er dumpf, „Egal… was passiert, ich werde immer dein Junge sein, oder? Und du wirst immer meine Mutter sein… ich habe dich sehr gern. Die Welt braucht dich genauso wie uns. Und wir brauchen dich. Merk… dir das bitte.“ Er lächelte und Salihah tat es ihm gerührt gleich. Dann löste sie sich aus seiner Umarmung und strich ihm auch durch die zerzausten blonden Haare. Sie legte sich wieder hin und er erhob sich, um sich auch wieder schlafen zu legen.

„Tabari…“ flüsterte sie noch, als er fast weg war, und er drehte den Kopf zu ihr, worauf sie abermals müde lächelte.

„Ja?“

„Ich habe dich immer… sehr, sehr lieb gehabt. Auch, wenn es dir vielleicht nicht immer so vorgekommen ist… ich habe dich immer lieb gehabt.“
 

In der Nacht sprachen die Geister plötzlich wieder. Mit einem Mal waren sie wieder da, als wäre nie etwas gewesen, und in der Dunkelheit vor Salihahs Augen tauchte ein winziges Licht auf, das tanzte, wenn sie versuchte, die Hand danach auszustrecken. Es war kalt im Schlafzimmer, als die Frau sich unruhig hin und her drehte, und sie fühlte sich plötzlich unwohl; und dennoch wohl, sobald sie das Licht betrachtete, das vor ihren Augen zu flimmern begann wie eine erlöschende Kerze.

„Die Welt… versinkt im Schatten,“ flüsterten die Geisterstimmen ihr zu, und sie rauschten durch ihren benebelten Kopf, als der Schmerz in Salihahs Kopf plötzlich wieder zu spüren war. Trotz Laudanum wurde er plötzlich so heftig, dass sie glaubte, sich vor Schmerz erbrechen zu müssen, und sie hustete keuchend und riss bebend die Augen auf.

„A-aufhören!“ stöhnte sie kraftlos, doch die Geister blieben bei ihr, schwirrten durch ihren Kopf, der sich anfühlte, als würde er platzen, und sie krümmte sich vor Schmerzen in ihrem Bett, versuchte zitternd an ihr Laudanum zu kommen. Aber es war zu weit weg..

„Flammen und Dunkelheit werden kommen, böse Dinge, die nicht von Dauer sein werden…“ wisperten die sanften Geisterstimmen. Salihah sah das Land unter dem Flammenregen ertrinken und sie schnappte keuchend vor Schmerzen nach Luft. Das Licht tanzte blendend vor ihren Augen, es schien näher zu kommen. Je gleißender es wurde, desto heftiger wurde der aasige Schmerz in ihrem Kopf. Sie hörte fremdartige Schreie und spürte plötzlich eine grauenhafte, eisige Angst in sich aufsteigen, als wäre sie selbst mitten im Flammenregen gefangen. „Du fürchtest dich vor der Dunkelheit, Salihah…?“

Sie japste verzweifelt, als die Flammen und die Angst einer gähnenden Leere und Schwärze wichen.

Da war sie wieder. Die Dunkelheit…

„Ja…“ wisperte sie tonlos und krallte sich verkrampft in ihre Bettdecke, ihre Augen huschten unruhig hin und her, dem weißen Lichtlein folgend, das ihr solche blendenden Schmerzen bereitete und sich doch so gut anfühlte. Das Geisterlicht, das sie aus der Dunkelheit retten würde. Aus der Ferne hörte sie unter den Stimmen in ihrem schmerzenden Kopf plötzlich die ihres Geliebten, den sie so grausam vermisste.

„Du musst keine Seherin sein, Salihahchen,“ sagte er zu ihr, „Du bist meine Frau. Das… ist doch genug, oder?“

Sie wollte weinen, aber der Schmerz erlaubte ihr keine Tränen, so stöhnte sie nur.

„Ja…“ wisperte sie, „Das… ist mehr als genug… und alles, was… ich je von ganzem Herzen begehrt habe…“

Der Schmerz in ihrem Kopf gipfelte in einem grausamen, gleißend hellen Höhepunkt, in dem Moment legte sich das Licht vor ihren Augen schützend über sie und verjagte die Dunkelheit.
 

Salihah verpennte das Frühstück, worüber sich vor allem Tabari amüsierte, der sonst immer derjenige war, der zu spät kam und von ausgerechnet seiner Mutter zurechtgewiesen wurde.

„Lass sie,“ seufzte Sukutai, während alle gemeinsam am Tisch saßen. Es war Sonntag, die Kinder mussten nicht zur Schule. „Sie war erschöpft in der letzten Zeit, sie sollte sich mal richtig ausschlafen!“

„Aber ich darf das nicht, wenn ich erschöpft bin, ich fühle mich veräppelt!“ beschwerte er sich, und Alona sprang vom Tisch auf.

„Ich gehe sie holen!“ verkündete sie, „Ich sage ihr, es gäbe Laudanum zum Frühstück, dann kommt sie bestimmt!“ gackernd rannte das Mädchen hinaus, ehe Sukutai sie festhalten konnte, und die Frau seufzte.

„Liebe Güte, lass Großmutter doch!“ rief sie ihr ratlos nach, aber Alona war schon weg. Puran erhob sich auch, um seine Cousine davon abzuhalten, die Großmutter zu wecken. Doch als er die Treppe hinauf kam, kam Alona ihm schon verängstigt wieder entgegen.

„Was?“ schnaufte er außer Atem, „Hat sie dich angepflaumt, weil du sie geweckt hast?“

„Nein,“ sagte Alona kleinlaut, „Kannst du mal Mutti holen? Ich g-glaube, Großmutter ist krank, s-sie liegt total komisch im Bett…“ Puran erstarrte.

Das klang nicht gut. Und das leichenblasse Gesicht des Mädchens war genauso wenig gut… er spürte, wie sein Herz vor Angst schneller zu klopfen begann. Er fürchtete sich und nahm Alona instinktiv an die Hand, obwohl er nicht mal wusste, wovor er Angst hatte; er spürte nur, dass etwas falsch war.

Offenbar hatten seine Eltern denselben Instinkt, denn er musste sie nicht rufen. Sie kamen beide von selbst, ergriffen von einer eigenartigen Unruhe, ganz plötzlich.

„Tabari, bleib mit den Kindern hier,“ ordnete Nalani knapp an und rauschte an den beiden Kleinen vorbei, ihr Mann gehorchte ihr nicht und folgte ihr, worauf Puran Alona ebenfalls mit zerrte. An der Zimmertür jedoch blieb Tabari stehen und hielt die Kinder abrupt auf, als Nalani keuchend zum Bett ihrer Schwiegermutter stürzte und ihr an den Hals und die Handgelenke fasste.

„Du meine Güte, was zum-…?! Salihah, hörst du mich?!“ schrie sie dabei, „Tabari, Kiuk soll Keisha holen, sofort! – Sitzt du auf deinen Ohren?!“ Tabari schnappte nach Luft und schob dann geistesgegenwärtig die Kinder vom Schlafzimmer weg, ehe er hinunter hastete. Puran blieb keuchend, verwirrt und schockiert mit Alona im Flur stehen. Das Mädchen wimmerte.
 

Die Seherin war tot.

Zumindest so gut wie, sagte Keisha, die Kiuk ohne Umschweife aus Tuhuli geholt hatte, dank des Teleports hatte das kaum wenige Momente gedauert. Während Sukutai sich ein weiteres Mal um die verängstigten Kinder kümmern durfte, standen alle anderen im Schlafzimmer um das Bett herum, in dem die Frau inzwischen ordentlich lag. Nalani zitterte am ganzen Körper.

„D-das ist doch Humbug!“ rief sie aufgelöst und versuchte krampfhaft standhaft zu bleiben, „Gestern war sie noch in Ordnung, zumindest genauso wie sonst! Wie kann sie von einem Tag auf den anderen einfach so tot-…?!“

„Es ist ihr Hirn,“ flüsterte Keisha auch etwas benommen, die Salihahs noch warme Stirn fühlte. „Ihr Herz schlägt noch, aber es wird bald aufhören, ihr Hirn ist bereits tot. So, wie ich das sehe, ist… darin eine Ader geplatzt, die das Gehirn verbluten lässt. So etwas kann… ganz plötzlich passieren, auch wenn es ihr gestern gut ging. Es kann sein, dass sie dieses… erweiterte Ding in ihrer Ader schon seit Jahre hat und es nur darauf gewartet hat zu platzen…“

„Das ist eine Krankheit?“ fragte Kiuk tonlos.

„Ich habe selten davon gehört hier oben, es… gab offenbar in Noheema einen Heiler, der das entdeckt hat, ich habe gehört, sie nannten es Aneurysma,“ machte Keisha und senkte keuchend den Kopf, „I-ich… ich kann nichts tun! Selbst wenn ich versuche, mit einem Zauber das Blut zu entfernen und die Wunde zu schließen, es würde nie so sein wie früher! Sie könnte gelähmt sein oder vielleicht den Verstand verlieren, vielleicht könnte sie niemals wieder sprechen oder gehen…“ Die Heilerin sah bedrückt in die entsetzten Gesichter von Nalani, Tabari und Kiuk, und es tat ihr weh, die Verzweiflung zu sehen. Sie wusste, wie sich das anfühlte… als sie ihre Mutter verloren hatte, was schon ewige Jahre her war, hatte sie geglaubt, die Welt könnte sich so nicht weiter drehen. Nicht einfach so, ohne ihre Mutter!

Aber sie konnte.

Sie war unbarmherzig, sie konnte und sie würde. Keisha erschauderte und strich Salihah, die sich nicht regte, aber noch schwach atmete, über den Haaransatz.

„Das Herz wird bald von selbst zu schlagen aufhören. Es tut… mir so leid.“
 

Nalani konnte nicht mehr stehen. Sie sank zu Boden, ohne es zu wollen, und Tabari hatte keine Nerven, sich um sie zu kümmern, obwohl es ihm leid tat; seine Mutter war tot? In der Nacht hatte er noch mit ihr gesprochen! In der Nacht war alles gut gewesen! Er hörte Nalani am Boden wimmern und er schloss bebend die Augen, brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, was hier geschah.

Niemals hatte er sich mehr gewünscht, einfach aufwachen zu können, als in diesem Moment.

„Das ist Wahnsinn,“ flüsterte er dann benommen und sah an die Decke, zwang sich, niemanden anzusehen, als er spürte, dass ihm gegen seinen Willen die Tränen kamen. Verdammt, er wollte jetzt nicht… er wollte stark sein und vernünftig, er wollte so sein, wie seine Mutter ihn zu sein gelehrt hatte… es ging nicht. „D-das, das ist meine Mutter! Die Seherin, die Frau, die alles weiß, die einen Schlächter in Öl gekocht hat, d-die… Königin von meines Vaters komischem Königreich Lyrien! Sie kann nicht einfach so tot sein, Keisha!“

„Was und wer Salihah auch alles war, sie ist… und bleibt eine Sterbliche,“ flüsterte Keisha traurig und musste sich ebenfalls beherrschen, um seriös zu bleiben. „Sie kann, Tabari… i-ich… kann nichts mehr tun.“

Sie kam sich nutzlos vor, einmal mehr in ihrem Leben. Wie oft schon war sie machtlos gewesen? Sie erinnerte sich an Tehya, der sie nicht hatte helfen können… einmal wieder wurde Keisha klar, was für eine kleine, unwichtige Heilerin sie doch war. Sie stammte nicht aus einem der ältesten Heilerclans, die gehörte nicht zu solcher Elite wie es die Chimalis’ und Lyras für die Schwarzmagier waren, aber ihre Familie war auch nicht schlecht gewesen. Sie fragte sich still, ob sie eine Schande für ihre Familie wäre…

Während Nalani wimmerte und Tabari immer noch geistesabwesend an die Decke starrte, um erfolglos zu vertuschen, dass er weinte, ergriff Kiuk tapfer das Wort. Seine Stimme war brüchig, als er sich an Keisha wendete.

„Wir danken dir für eine Mühe,“ sagte er, „Meine Frau wird dich zurück nach Tuhuli bringen. Ich… denke, wir… schaffen den Rest allein.“ Er sah unsicher zu seinem Bruder. „Ich denke, du darfst bei deiner Familie aber verbreiten, dass wir morgen die Bestattung abhalten.“ Tabari senkte den Kopf wieder und nickte dumpf, um das zu bestätigen. Keisha erhob sich schweigend und verneigte sich.

„Ich wünschte, ich könnte mehr tun…“ wisperte sie noch. Als sie zur Tür gehen wollte, hielt Nalani sie auf.

„Keisha, solange Salihah noch atmet… hat sie Schmerzen, bis ihr Herz aufgibt? Ich meine…“ Sie sah erst Kiuk, dann Tabari an, „Sollten… sollten wir das… beenden oder es lassen, bis es von selbst zu Ende ist?“

„W-wie kannst du – d-du willst sie umbringen?!“ keuchte Tabari, und sie schnappte verzweifelt nach Luft.

„Sie stirbt so oder so, das nennt sich in diesem Fall Gnadenstoß! Wenn sie nur noch Schmerzen hat, erlösen wir sie doch nur!“

„Aber-…?“ jammerte er und drehte den Kopf weg, während Keisha ihnen die Entscheidung abnahm.

„Sie… wird bereits nichts mehr spüren.“
 

Als Sukutai Keisha nach Tuhuli brachte per Teleport, saßen die beiden Kinder beim Küchenjungen in der Küche. Alona saß auf seinem Schoß und wurde gewippt, obwohl sie schon sechs Jahre alt und zu groß für Wippen war; das kleine Mädchen war verstört und sagte nichts, es ließ sich nur wippen. Puran saß auf der Bank an der Wand und starrte ins Nichts. Ihm war schlecht, aber nicht schlecht genug, um sich übergeben zu können, was ihn ärgerte. Er wollte nicht, dass etwas passierte. Er wollte, dass man den Tag zurückdrehen könnte und ihn noch mal begann, ohne dass mit seiner Großmutter etwas geschah.

Etwas geschah… er wusste, was geschehen war. Er war alt genug, um zu begreifen, wie Tod funktionierte. Alt genug, um die Bedeutung dieses Wortes zu verstehen, das ihm von einem Moment auf den nächsten seine Großmutter genommen hatte. Sie war zwar etwas unheimlich gewesen, aber er hatte sie gern gehabt und geehrt. Die Vorstellung, nie wieder mit ihr sprechen zu können, schmerzte ihn und steigerte seine Übelkeit.

„Komm her zu uns, Puran,“ sagte der Küchenjunge sanft und versuchte dabei, die kleine Alona etwas zu trösten. Der Junge schüttelte den Kopf. Er war leichenblass, der Küchenjunge befürchtete, er könnte jeden Moment umkippen. Der Schock über den plötzlichen Tod nagte an beiden Kindern, aber für den Jungen war es schlimmer. „Komm,“ versuchte de langjährige Diener und an sich schon Freund der Familie es erneut, aber Puran kauerte sich nur auf der Bank zusammen und lehnte den blassen Kopf auf seine angezogenen Knie.

„Mir ist schlecht…“ stammelte er dann kleinlaut, und da er nicht kommen wollte, sah sich der Diener gezwungen, samt Alona zu ihm zu kommen und sich neben ihn zu setzen. Er strich ihm beruhigend über den Kopf.

„Alles wird wieder gut,“ versprach er den Kindern leise, „Eure Großmutter kommt ins Geisterreich. Dort soll es schön sein, hab ich gehört. Sie hat es sicher gut da…“
 

Das Leben war kurz. Das fuhr Tabari durch den Kopf, als er auf der Bettkante saß, die kühle Hand seiner Mutter in seiner und sie sanft streichelnd. Auf der anderen Seite, mit der anderen Hand, saß sein Bruder. Nalani und Sukutai hatten es für richtiger gehalten, Salihah in ihren letzten, gefühlstoten, hirntoten Momenten mit ihren beiden Söhnen alleine zu lassen und sich um ihre eigenen Kinder zu kümmern. Deswegen saßen die beiden Männer jetzt da und schwiegen. Bis Kiuk die Stille brach.

„Wenn sie dieses… Aneurysma schon länger hatte, meinst du, es war Schuld an ihren Kopfschmerzen? Ich dachte immer, es wäre mehr etwas… Psychisches, weil die Seherei ihren Geist so belastet hat…“ Tabari war nicht nach Diskutieren zu Mute. Er senkte nur seufzend den Kopf. Dann sprach er, ohne an das Thema anzuknüpfen.

„Heute Nacht war ich noch bei ihr, weil sie so herum gebrüllt hat… sie… hat mir gesagt…“ Er stockte und fuhr sich plötzlich weinerlich über die Augen, und Kiuk verwunderte es, seinen Bruder so aufgelöst zu sehen. „Sie hat gesagt, sie hat mich lieb… i-ich muss jetzt gerade daran denken, dass ich früher… immer geglaubt habe, sie würde dich lieber haben als mich und… das letzte, was sie je zu mir sagte, war Ich hab dich lieb!... D-das ist so… ist… ach… ach, guck mich nicht so an, n-nur, weil ich flennen muss!“ Er drehte sich schniefend weg und Kiuk senkte bitter lächelnd den Kopf.

„Dummkopf…“ tadelte er seinen Bruder, streckte eine Hand aus und strich seiner Mutter über das kühle Gesicht. Es war so gut wie vorüber. Und es war beinahe Mittag. „Tabari, Mutter hat uns immer beide geliebt. Du Idiot hast das ehrlich bezweifelt?“ Der Ältere sah ihn kurz wieder an und Kiuk erschauderte, als er sich über die Frau beugte und ihr zärtlich über die Wange strich.

Dann sprach er mit seiner Mutter, während ihr Herz die letzten Schläge tat.

„Geh, Mutter. Zoras Chimalis wartet sicher schon auf dich. Wir… kommen zurecht.“
 

Und das mussten sie. Es war nicht leicht, aber es war, wie Keisha es auch gedacht hatte; die Welt war unbarmherzig. Sie drehte sich weiter, es war ihr egal, ob Menschen jemanden verloren hatten. Nalani fühlte sich verloren, als sie am nächsten Tag die Bestattung durchführten. Abgesehen von Keisha, Meoran und Nomboh war niemand gekommen, was vor allem Tabari etwas erleichtert hatte, dem der Tod seiner Mutter schwer genug fiel; da musste er nicht auch noch vor Dutzenden Reden schwingen.

Nalani sah ihrem Mann schweigend zu, wie er den Scheiterhaufen in Brand steckte mit einer einfachen Vaira. Vor sich hielt sie ihr Kind, das stumm den Kopf gegen ihren Rock lehnte.

Wer war sie ohne ihre Schwiegermutter? Salihah war ihr wie eine zweite Mutter gewesen… sie hatte ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Wen sollte sie jetzt um Rat fragen, wenn sie einen Traum nicht verstand? Tabari? Wohl kaum, der sah ja selbst weniger als sie…

Salihah antwortete ihr, obwohl sie nicht mehr da war.

„Nalani… bald wird diese Verantwortung… auf dich übergehen. Du musst nicht mich nach dem Weg fragen… sondern dich selbst.“

Das hatte sie einst gesagt… es schien sich jetzt zu bewahrheiten.

Das werde ich müssen, Mutter… aber ich bin nicht… so eine Seherin wie du.

Den Kopf senkend strich sie unbewusst den Kopf ihres Sohnes, der das kaum wahrnahm und nur stumm weiter da stand, monoton auf die Flammen starrend. Die Geister kicherten sanft in Nalanis Kopf.

„Nein, das nicht… aber du bist eine Königin, Nalani. Trage deinen Kopf oben, da gehört er hin… Tochter.“
 

Nalani tat das. Sie tat es mit dem stolzen Wissen, von Salihah Tochter genannt worden zu sein, eine ehrbare, entsetzliche wie weise Frau ihre Mutter nennen zu können, wenn auch nicht ihre leibliche Mutter. Sie schwor, die Frau auf ewig in Ehren zu halten. Ebenso würden es Salihahs Söhne tun; nach Salihahs Tod bestimmte der Rat der Seelenmagier Kiuk zum Vorstand, was dieser zunächst empört ablehnen wollte, dann aber aus Pietät zu seiner Mutter dennoch annahm. Und die Welt drehte sich ohne Salihah weiter, der Winter ging erstaunlich früh zu Ende, gefolgt von einem wunderbaren Frühling, der das schöne Land Dokahsan erblühen ließ. Und nicht nur das Land.
 

„Vati, Vati, guck, was ich gemacht habe!“ grölte die kleine Alona durch das ganze Schloss, rannte Treppen hinauf und hinab und suchte überall nach Kiuk, „Vaaati! Jetzt guck doch mal, ich kann was total Aufregendes machen! Vati, sag doch mal Piep, wo bist du?!“ Während sie plapperte und brüllte und umher rannte, fand sie Kiuk plötzlich in Kelars altem Arbeitszimmer, er stand vor dem Schreibtisch und verlor vor lauter Schreck seine Berichte aus der Hand, die er vom Senat bekommen hatte. Als Vorstand eines Magierrates musste man sich plötzlich mit Politik auseinandersetzen, Tabari hatte ihn schallend ausgelacht, weil er nun nicht mehr der einzige Idiot war, der das musste.

„Himmel und Erde!“ schnappte Kiuk, „W-was ist denn in dich gefahren, wieso brüllst du so? Du hast mich zu Tode erschreckt, Alonachen!“ Das Kind keuchte außer Atem vom Rennen und hielt ihm eine verdorrte Blume entgegen. „Ähm…?“ Der Mann wusste auf den ersten blick nichts damit anzufangen.

„Ich hab sie angekokelt und jetzt sieht sie so aus!“ erklärte seine bald siebenjährige Tochter stolz, „Ich hab sie so lange angestarrt und Vaira gerufen, bis es geklappt hat, toll, oder?“ Kiuk fasste nach seinem Kopf.

„D-du hast – Moment mal, du zauberst?! Du bist doch noch viel zu jung dafür…?“

„Ich bin toll!“ behauptete das kleine Mädchen eingebildet und warf seine geflochtenen Zöpfe nach hinten, worauf der Vater leise lachen musste. Das Kind hatte das Plappermaul seiner Mutter und den Stolz seiner Tante, Alona war ein gescheites Kind, wenn auch mitunter etwas vorlaut – das hatte sie wohl von ihrem Cousin.

Eben dieser kam gerade hinter ihr zur Tür herein und räusperte sich verhalten.

„Entschuldige, Onkel, ich konnte sie nicht aufhalten. Sie wollte dir unbedingt ihre vertrocknete Blume zeigen, obwohl ich gesagt habe, du musst arbeiten.“

„Ach, du hast ihr das beigebracht?“ fragte Kiuk glucksend, ehe er begann, seine Berichte wieder vom Boden aufzusammeln.

„Nicht wirklich, ich habe ihr etwas über Grundzauber erzählt und sie wollte es unbedingt ausprobieren. Ich hab ja nicht ahnen können, dass sie tatsächlich eine Vaira fertig bringt.“ Er sah seine Cousine erstaunt an. Dabei war sie doch Telepathin, für die waren elementare Zauber doch gar nicht so wichtig?

Kiuk erhob sich, strich seinem Mädchen über den Kopf und grinste dann seinen Neffen an.

„Na ja… es kann sich ja nicht jeder so gegen die Magie wehren wie du, Puranchen…“
 

Puran errötete. Seine Eltern, Onkel Kiuk und Tante Sukutai zogen ihn gern damit auf, dass er das Zaubern immer noch verabscheute. Er war ihnen ziemlich böse, weil sie ihn nicht verstehen wollten, wie konnten sie so verantwortungslos sein? Er würde nie wagen, seiner verehrten Mutter Verantwortungslosigkeit zu unterstellen, jedenfalls nicht auf dem direkten Wege. Aber das war einer der Punkte, in dem er ihr nie recht geben würde, das hatte er sich vorgenommen. Madanan hatte zwar recht damit, dass Magie auch mitunter nützlich sein konnte… aber ihre Hauptaufgabe war Zerstörung, das fiel dem Jungen in dem Moment wieder auf, als er Alonas verbrannte Blume sah. Mutter Erde würde ihr Blümchen sicher vermissen.

„Ach,“ brummte der Junge da nur missgelaunt und drehte sich um, um zu gehen, „Redet ihr nur!“ Weg war er und Kiuk lachte erneut leise, während Alona ihre verbrannte Blume in den Papierkorb warf.

„Zuhören tut er offenbar ungern,“ meinte der Telepath glucksend und begann, seine Berichte von vorn zu lesen, „Alonachen, hast du denn deine Hausaufgaben schon gemacht?“

„Schon längst,“ maulte das Kind, ehe es die verkohlte Pflanze wieder aus dem Papierkorb fischte, „Ach, weißt du was? Ich begrabe das tote Blümlein, damit Mutter Erde es wieder hat und nicht weinen muss!“ Der Mann schenkte seiner kleinen Tochter einen erstaunten Blick.

„Das ist eine sehr schöne Idee,“ meinte er, „Das tu mal, Kind!“
 

Es war an dem Nachmittag, an dem Alona ihre Blume zusammen mit ihrer Mutter im Vorgarten beerdigte, dass die Familie überraschend Besuch bekam.

Sukutai bemerkte zuerst die Anwesenheit eines Menschen vor dem Haupttor. Während das Mädchen ein Häufchen Erde auf das Blumengrab schaufelte, erhob sich die Frau erstaunt, ehe plötzlich vor dem Tor eine helle Stimme lauthals rief:

„Ich bin Pakuna Kipu! Guten… Tag!“

Alona japste und fiel vor Schreck auf den Hintern bei der plötzlichen Stimme, während Sukutai die Brauen hochzog.

Pakuna Kipu? Sie fragte sich, warum ihr dieser Name vertraut vorkam, der offenbar zu einem kleinen Mädchen gehörte… wie sie feststellte, nachdem sie mit Telekinese das Tor geöffnet hatte und der kleine Gast schüchtern in den Hof trat. Alona rappelte sich erschrocken auf und versteckte sich hinter dem Vorturm; wer war denn das und was hatte sie hier zu suchen? Augenscheinlich kam das Mädchen, das kaum älter als Alona sein konnte, aus einem der umliegenden Dörfer. Ihr Kleid war einfach, aber hübsch, und ihre pechschwarzen Haare glänzten hübsch in der Frühlingssonne.

Sukutai betrachtete das hübsche kleine Mädchen entzückt und fragte sich, ob sie die Frau gar nicht bemerkte; denn sie sah gar nicht zu ihr, sondern nur mit riesigen Augen am Schloss empor. Dann hechtete sie mit einem mal entzückte lächelnd nach vorn und beäugte eine rote Blume, die mitten in den Kieseln des Hofes vor sich hin wuchs. Unkraut; zu Kelars Zeiten hätte kein Unkraut im Garten oder im Hof überlebt, dachte Sukutai sich bedrückt. Seit Kelar tot war, ließen sie das Grünzeug wachsen, wie es wollte.

„Oh!“ machte das Mädchen namens Pakuna Kipu strahlend zu der Blume, „Ist die schön…“ Sukutai konnte sich jetzt ein fast lautloses Kichern nicht verkneifen – was für ein niedliches Kind war das denn? Sie freute sich über ein Unkraut in Kieseln?

Das kleine Mädchen fuhr zu Tode erschrocken hoch und sah Sukutai offenbar wirklich zum ersten Mal da stehen. Sie erbleichte und taumelte panisch.

„Oh, das ist Eure Blume! I-ich gehe schnell wieder!“ japste sie kleinlaut. Sukutai lächelte verwirrt und noch immer entzückt über die Niedlichkeit des kleinen Besuchers.

„Du brauchst doch keine Angst zu haben, kleines Mädchen! Ich werde dir schon nichts tun!“ Das Kind erstarrte und blickte in Sukutais Gesicht. Die Frau hockte sich vorsichtig hin, um mit der Kleinen auf einer Höhe zu sein. „Sag, wer bist du? Warum bist du hergekommen? Kann ich etwas für dich tun?“ Als keine Antwort erfolgte, fuhr sie fort: „Bist du aus der Gegend?“

„A-aus… aus Nehawa…“ japste die kleine Pakuna kreidebleich und schluckte ein paar Mal. Die Frau wandte sich um.

„Alona! Komm einmal her, sieh! Wir haben Besuch!“ rief sie ihre Tochter, die sich nicht mehr blicken ließ; seit wann fürchtete Alona sich vor Fremden? Als das kleine Mädchen darauf hinter dem Turm hervor kam und nichts sagte, begann plötzlich der Gast zu sprechen:

„Oh! Ihr geht auch auf die Schule in Gahti, ich habe Euch dort gesehen…“ Alona zog eine Braue hoch. Sie wurde im Plural angesprochen? Das hatte sie noch nie erlebt – wie aufregend, das gefiel ihr irgendwie.

„Ja, in die erste Klasse!“ erklärte sie so und versuchte, einen möglichst ehrerbietenden Ton anzuschlagen, worauf sie jedoch nur einen skeptischen Blick ihrer Mutter erntete.

„Du gehst auch in Gahti zur Schule?“ fragte diese Pakuna jetzt lächelnd und die Kleine nickte.

„In die zweite Klasse.“ Alona begann, an ihren Zöpfen zu pulen.

„Gibt’s jetzt Tee, Mutti?“ Pakuna sah sie groß an und Sukutai erhob sich lachend.

„Oh, Tee!“ sagte sie auch, „Stimmt, das müsste langsam soweit sein. Wie ist es, kleine Pakuna? Möchtest du mit uns Tee trinken, wo du schon hier bist? Meine Schwägerin hat Kuchen gebacken.“
 

Nalani war genervt. Sie war genervt von ihrem immerzu maulenden Ehegatten, der sich mit seiner Arbeit nicht anfreunden konnte, der ohne ihre Hilfe nirgends zurecht kam, so hatte sie das Gefühl; vermutlich wollte er das auch nicht… neulich erst hatte sie ihn in seinem Büro in Tuhuli am Schreibtisch schlafend gefunden, den Kopf auf den Unterlagen. Als sie ihn empört geweckt hatte, hatte er gemeint, sie wäre Schuld, weil sie ihn nachts um den Schlaf brachte. Großzügig wie sie war hatte sie ihm dann angeboten, früher zu Bett zu gehen und das Bettgespiele etwas zu vernachlässigen, dann war ihm das aber auch nicht recht gewesen, weil er doch mit ihr schlafen wollte und gereizt wurde, wenn er es nicht tat. Der Herr war nie zufrieden, hatte sie das Gefühl. Und das nervte sie, ebenso wie es sie nervte, dass sein Gemaule irgendwie liebenswürdig war und sie ihm nicht richtig böse sein konnte. Sie sehnte sich ganz furchtbar nach ihm, als sie jetzt an ihn dachte, und ein leises Seufzen entwich ihrer Kehle.

Und sie war genervt von ihrem schmollenden Kind, das immer so tat, als wäre es ein Fluch, dass es zaubern konnte. Nicht jeder, der zaubern konnte, wurde gleich Kelar, hatte sie oft versucht, ihm zu erklären, aber Puran war ein verdammt sturer Junge. Und wenn Nalani genervt war, wollte sie Kuchen backen. So hatte sie alles Personal kurzfristig empört für einen Tag in den Urlaub geschickt und einen wunderschönen Kuchen gebacken, den sie der nervenden Familie zum Tee servieren würde.

Nicht nur der Familie, stellte sie verblüfft fest, als sie auf die Terrasse kam und dort Sukutai samt Alona und einem fremden Mädchen herbei kam.

„Nanu?“ machte sie ungewollt grantiger als geplant und sah den erschrockenen Blick des Gastes, „Eine Freundin von Alona?“

„Ich kenne sie gar nicht, sie war plötzlich da!“ sagte Alona. Das schwarzhaarige Mädchen verbeugte sich ehrfürchtig, als Nalani den Kuchen auf den Tisch stellte und ihren schwarzen Umhang zurecht rückte.

„I-ich heiße Pakuna Kipu, ich komme aus Nehawa! Ich… ähm… wollte mir eigentlich… Euer schönes Schloss aus der Nähe ansehen, und… u-und ich wurde zum Tee eingeladen, Herrin…“ Sukutai nickte kichernd. Nalani zog plötzlich die Brauen hoch und musterte das Kind.

„Wie sagtest du, ist dein Name?“

„P-Pakuna Kipu!“ stammelte sie scheu, „M-Mein Vater ist Telepath, e-er heißt Kotori Kipu…“ Nalani erstarrte für einen Moment und Sukutai blinzelte jetzt auch, als ihr wieder das Gefühl kam, der Name wäre wichtig. Nalani drehte den Kopf.

Kipu. Vor ihnen stand niemand geringeres als Zoras Chimalis’ kleine Enkelin, Enolas Tochter! Die Geisterjägerin fragte sich, ob das Kind wusste, mit wem sie hier sprach… oder ob sie selbst überhaupt wusste, von welchen Leuten sie abstammte. Sie beschloss, ihre Gedanken bei sich zu behalten… wenn Kotori, Enolas Mann, es für weiser hielt, nichts davon zu verraten, dann war es nicht an ihr, sich da einzumischen.

„Willkommen, Pakuna,“ sagte sie so nur lächelnd, „Du darfst gerne mit uns Kuchen essen und Tee trinken.“
 

Zoras’ kleine Enkelin war das wohlerzogenste, schüchternste und liebenswürdigste kleine Mädchen, das Nalani kennengelernt hatte, dachte sich die Frau gerührt, als sie gemeinsam am Terrassentisch saßen und Tee tranken. Alona musste hinein laufen und nach ihrem Vater rufen, damit der auch kam. Pakuna fragte vor allem, was sie anrührte, sei es Kuchen oder Tee oder der Stuhl, der ihr gebracht worden war, um Erlaubnis, und sie verneigte sich höflich, wenn man es ihr gewährte. Als Kiuk kam, hielt Pakuna ihn offenbar für den Schlossherrn und war noch ehrfürchtiger als sowieso schon, was Nalani in ihrer Vermutung bestätigte, dass die Kleine nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wo sie war und mit wem sie Tee trank.

„Du dachtest dir also, du guckst dir das Schloss mal an?“ kicherte Kiuk gerade und sah Pakuna an, „Na, das nenne ich Neugier. Und du wohnst in Nehawa? Ein schönes Dorf, es gibt viele Kirschbäume dort.“

„Ja,“ bestätigte Pakuna glücklich, „Die Kirschbäume sind wirklich schön! Wir sind erst vor etwa einem Jahr dorthin gezogen…“ Kiuk sah sie grübelnd an und Nalani hielt im Tee trinken inne, das Mädchen ebenfalls musternd.

„Hmm,“ machte ihr Schwager am Kuchen kauend, „Wie ich sehe, bist du auch Telepathin! Meine Frau und ich sind auch welche, genau wie Alona.“ Pakuna nickte.

„Ja,“ sagte sie, „Mein Vater heißt Kotori Kipu. Er ist auch Telepath.“

„Ah, so ist das,“ grinste Kiuk nickend, bevor er Nalani verblüfft ansah, „Sag mal, wo sind deine Gefolgsleute eigentlich? Müsste Tabari nicht langsam zurück kommen?“ Sie stellte ihre Tasse ab.

„Die kommen von selber. Wenn nicht, haben sie Pech. Der Narr von meinem Sohn muss Instinkte spüren üben, und zwar gewaltig, er ist alt genug, um seine Phobie zu vergessen. – Übrigens ein schwarzes und ein lila Gen, Kiuk.“ Sie schenkte ihm Tee ein und er sah sie fragend an.

„Ein was? Wozu?“

„Das Mädchen.“ Nalani sah auf Pakuna. „Sie hat nur ein Telepathengen, das andere ist schwarz. Genau wie du, Kiuk.“ Der Mann sah Pakuna ebenfalls an.

„Ach so! – Weißt du, Pakuna, jeder Schamane hat zwei bunte Gene. Eins erbt er von der Mutter und eins vom Vater. Die sind einfach in deinem Körper drin! Und du hast ein lila Telepathengen von deinem Vater geerbt, das von deiner Mutter ist aber ein Schwarzmagiergen!“ Pakuna nickte eifrig.

„Oh! Das ist interessant! – Heißt das, ich könnte auch Schwarzmagier sein?“

„Um ein Schwarzmagier zu werden, brauchst du zwei schwarze Gene,“ antwortete Nalani, die noch immer allen neuen Tee eingoss. „Schwarzmagie ist die schwerste Form von Magie. Du kannst Telepath sein, auch, wenn du nur ein lila Gen hast. Du kannst Heiler sein, auch, wenn du nur ein weißes Gen hast. Aber um Schwarzmagier zu sein, musst du zwei schwarze Gene haben.“ Alona aß munter ihren Kuchen.

„Das heißt, wenn ich jetzt ein lila und ein weißes Gen hätte, könnte ich entweder Heilerin oder Telepathin sein? Oder sogar beides?“

„Ja, da kannst du sogar beides sein!“ antwortete ihr Vater. Drinnen im Schloss ertönte ein Poltern und Kiuk wandte den Kopf. „Nalani, Söhnchen kommt.“ Die angesprochene Frau wandte ebenfalls den Kopf und blickte den Jungen an, der aus dem Schloss kam.

„Du kommst reichlich spät!“ tadelte sie ihn.

„Wenn mich keiner ruft...“ maulte er, „Soll ich hellsehen, dass es Tee gibt?“

„Nicht in dem Ton,“ sagte Nalani zu ihm, „Und du hast so etwas wie Instinkte, die dir das sagen würden, würdest du af sie hören.“ Er schnaufte beleidigt. Da fing sie wieder mit dem Zaubern an! Er hasste es, verdammt. Er ging missgelaunt an ihr vorbei und erblickte Pakuna. Abrupt erstarrten beide Kinder, als sie sich sahen, dann quiekte das Mädchen.

„Aber-...?!“ rief es unwillkürlich, „Dich kenne ich doch!“

Oh ja, er erkannte sie auch wieder – das Mädchen, das er vor Mabi gerettet hatte.

„Oh, oh!“ machte er, „Pakuna, nicht wahr? Na, so eine Überraschung!“ Er grinste jetzt und die Erwachsenen sahen sich verwundert an. Nalani fragte sich, ob Puran doch auf seine Instinkte hörte oder woher er ihren Namen wusste – Kiuk nahm ihr das Denken ab.

„Nanu?“ machte er, „Ihr kennt euch schon? Na, sowas. – Junge, pack dich hin, nimm dir ein Stück Kuchen und klär uns auf! Woher kennst du das Mädchen?“ Nalani verdrehte die Augen. Keiner hatte eine Ahnung, wer Pakuna war? Enttäuschend, die nicht vorhandenen Instinkte hier.
 

Puran setzte sich also auch hin und nahm ein Stück Kuchen, bevor er von seiner Begegnung mit Pakuna erzählte. Danach erklärte Sukutai ihm, wie Pakuna ins Schloss gekommen war.

„Schie isch ´ne Freundin von Ram Derran!“ machte Puran mit vollem Mund und Nalani sah den Gast kurz an.

„Der Ram Derran, der dir den Backenzahn ausgeschlagen hat?“ fragte sie ungläubig, und Pakuna verschluckte sich vor Schreck mit dem Tee.

„Was?!“ sagte sie erschrocken, „Nein, das muss ein anderer sein! Ram würde sowas nie tun!“

„Ah, du irrst dich,“ machte Puran, „Ich kenne nur einen Ram Derran, der in Nehawa wohnt. Wenn er nicht einen Zwillingsbruder hat, war es der Ram Derran. Siehst du?“ Er machte den Mund auf und fasste nach der Zahnlücke hinten in seinem Mund. „So ist das! Aber er hatte dafür einen gebrochenen Arm.“ Das Mädchen war offenbar in höchstem maße entsetzt.

„Ihr-... habt euch richtig geprügelt?!“ fragte sie heiser. „Du-... hast mir zwar gesagt, dass ihr euch nicht sehr mögt... aber...“

„Das ist mehr als nicht mögen,“ sagte er, „Er hasst mich. Nur, weil ich ein Lyra bin, das ist alles.“ Das behauptete er jetzt; ihm fiel zerknirscht ein, dass er lange nicht mehr von dem Reh geträumt hatte, und eine wirkliche Antwort hatte er auch nicht, was Rams Verhalten anging. Aber eine Ahnung…

Pakuna runzelte die Stirn.

„Ein Lyra?“

„Lyra, das ist der Name unserer Familie!“ klärte Kiuk sie auf. „Was denn, du hast noch nie unseren Namen gehört?“ Er lachte. „Dabei ist es so nervtötend, irgendwo hinzugehen und jeder Depp kennt den Namen!“

„Wir sind die größten Zauberer der Welt!“ grölte Alona vorlaut.

Schamanen!“ tadelte Puran sie, „Es heißt Schamanen! Zauberer sind die, die Zylinder haben, aus denen sie weiße Kaninchen hervorholen!“ Das hatte Kannar ihm einst erklärt – der war einst auf dem Straßenfest in Tuhuli gewesen und dort war ein solcher Zauberer gewesen. Seit er das gehört hatte bestand der Junge sehr energisch auf dem Unterschied zwischen solchen Amateuren und Schamanen.

„Von mir aus,“ machte Alona.

„Unsere Familie, die Lyra-Familie, ist eine altehrwürdige Familie der Schamanen und zählt zu den mächtigsten Clans der Schwarzmagier,“ erklärte Nalani dem kleinen Mädchen. „Mein Mann, Tabari, ist der sogenannte Herr der Geister, der Führer des Schwarzmagierrates.“ Pakuna starrte sie an – in dem Moment ertönte erneut Gepolter aus dem Schloss und die Erwachsenen drehten die Köpfe. Kiuk trank etwas Tee.

„Ich sage ja, er müsste heute kommen.“ Keinen Moment später war Tabari, reichlich gerädert von seiner Arbeit, ebenfalls auf der Terrasse.

„Da komme ich ja gerade recht, wenn wieder alle Frauen hinter meinem Rücken über mich reden! – Puran, Söhnchen! Du bist mein Spion! Sag mir, was haben sie gesagt?“

„Nur, dasch du der Herr der Geischter bischt!“ machte der Junge erneut mit dem Mund voller Kuchen. Pakuna drehte sich um und neigte wieder den Kopf.

„Herr, e-es… ist mir eine außerordentliche Ehre!“ keuchte sie, worauf Tabari sie verblüfft anstarrte.

„Ähm – kennen wir uns?“
 

Nalani stellte sie ihm vor, während er sich auf den letzten freien Platz setzte und auch Kuchen und Tee bekam.

„Aaach so! Pakuna also, aus Nehawa! Hm, schön! Freut mich, dass du uns besuchen kommst!“ Nalani schüttelte indessen den Kopf. Sie linste ihren Mann von der Seite an, bis er ihr mit einem mal einen seltsamen, ernsten blick schenkte, der sie stutzen ließ…

Er weiß es auch Welch Wunder…

„Auch... wenn ich... Ram Derran kenne?“ flüsterte der kleine Gast da scheu. Puran seufzte.

„Mann! Du musst dich doch nicht schämen, ihn zu kennen, nur, weil er mir auf's Maul gegeben hat! Freunde sucht sich jeder selbst aus.“

„Zu mir... ist er immer sehr nett gewesen!“ bestätigte Pakuna verwirrt.

„Ja, kann schon sein!“ meinte Puran und grinste fröhlich. „Er hasst mich halt!“

„Er ist nur neidisch, weil du ein besserer Schamane bist als er, weil du nun mal stärkeres Blut hast!“ sagte Tabari Lyra gelangweilt. „Das ist etwas, für das du nichts kannst, und für ihn kein Grund, dich zu hassen. Die Derrans sind eine einfache Familie, nicht jede Familie hat gleich starkes Talent zum zaubern.“ Puran senkte den Kopf.

„Ich… glaube nicht, dass es nur daran liegt. Da ist noch etwas anderes…“ Er wurde immer leiser und alle sahen ihn an, als er sich räusperte und überlegte, ob er es tatsächlich aussprechen sollte…

Er beschloss, von den Blicken der anderen nur so durchbohrt, es zu tun.

„Ich glaube, er gibt uns die Schuld am Tod seines Bruders.“
 

Pakuna stand blitzschnell auf und starrte ihn an, als wäre er vor ihren Augen zu einem Kaninchen geworden.

„Was?!“ schrie sie, „I-ihr habt-…?! Ihr habt doch nicht-... Hotah getötet?!“ Die Lyras sahen sie gleichermaßen perplex an.

„Natürlich nicht!“ sagte Tabari entsetzt, „Wie kommt dieser Bengel von Derrans darauf?!“ Puran seufzte.

„Erinnerst du dich an den Winter, bevor Großvater starb? Damals hat er mich mit auf die Jagd genommen, ich war noch klein. Wir haben einen Jungen im Wald getroffen, das war Ram! Er hatte ein Reh erlegt... weißt du noch? Großvater wollte ihm das Reh wegnehmen und hat behauptet, alles würde uns gehören.“ Tabari grübelte.

„Ja, ich erinnere mich,“ sagte er dann ernst. „Aber an dem Tag habe ich dem Jungen das Reh gegeben, ich habe Großvater doch aufgehalten, Puran! Was hat das mit seinem Bruder zu tun?“

„Ich weiß auch nicht! Aber er hat gesagt, sein Bruder sei damals im Hungermond gestorben, weil sie nichts zu essen hatten! Ich habe einfach das Gefühl, es hat was mit diesem einen Reh zu tun.“ Mit diesem einen Reh, von dem er oft geträumt hatte, das ihn gejagt und wahnsinnig gemacht hatte.

Bedrücktes Schweigen. Dann setzte Pakuna sich wieder hin.

„Ihr seid nicht Schuld an Hotahs Tod, ich... weiß es einfach!“ sagte sie, „Ihr wart so nett zu mir! Ihr seht nicht aus wie Leute, die töten. Ich habe Leute erlebt, die töteten. Andere Adelige... weit weg von hier.“ Die Lyras sahen sich an. Nalani räusperte sich, als Tabari etwas einwerfen wollte, und zum Glück verstand er ihre Geste und sagte doch nichts. Der kleinen Pakuna fiel etwas anderes ein.

„Sag, Puran, wenn… du der Sohn des Herrn der Geister bist, wirst du dann auch mal einer sein?“

Alle Blicke wendeten sich auf den Jungen, dessen Gesicht sich verfinsterte.

„Natürlich wird er das,“ sagte Nalani da ruhig. „Er hat es im Blut, es ist ein angeborenes Potential.“

„Ich werde kein Herr der Geister!“ schnaubte Puran, und sein Vater schüttelte ratlos den Kopf. Der Junge sah trotzig zu ihm herüber. „Ich will nicht der mächtigste Mann der Welt sein! Das kann gerne jemand anderes machen! Ich werde Jäger, basta.“

„Das ist verschwendetes Talent!“ zischte sein Vater ärgerlich, „Jäger! Puran Lyra, der Jäger! Du bist ein Schamane! Du bist ein Mensch des Geistes! Jäger sind Menschen des Fleisches!“ Er brachte dem Kind zwar selbst jagen bei, aber das hieß doch nicht, dass er das zu seinem Beruf machen sollte. „Ob du willst oder nicht, wenn du alt genug bist, wirst du die Lehre bei Meoran machen, Sohn.“ Puran schnaubte.

„Ihr zwingt mich nicht!“ Nalani musste bösartig lachen und er schauderte.

„Du glaubst gar nicht, was wir alles können.“
 

Nachdem sie den Kuchen aufgegessen hatten und der Tee alle war, saßen sie zusammen weiter auf der Terrasse, genossen das schöne Frühlingswetter und unterhielten sich. Als die Sonne unterging, ertönte plötzlich in einiger Entfernung ein lautes Knallen, was alle aufschrecken ließ.

„Das kam vom Tor?“ fragte Sukutai verdutzt, und wieder war es Kiuk, der das Wort ergriff, als er eine Hand n Richtung des Tores hob, das vom Garten aus nicht zu sehen war.

„Hmm, noch mehr Besuch!“ sagte er glucksend, und plötzlich erhob Tabari sich, als ihn eine seltsame Ahnung beschlich, wer gekommen sein könnte – einen Moment später stand der neue Besuch schon vor ihnen im Garten, sich wutentbrannt zu voller Größe aufrichtend. Pakuna erhob sich auch.

„Ram!“ strahlte sie, aber ihr Lächeln verschwand beim wutverzerrten Gesicht des Jungen.

„Rückt Pakuna sofort raus!“ rief er wutentbrannt, „Auf der Stelle, na los! Sie hat hier nichts verloren! Und wir wollen mit euch nichts zu tun haben!“ Nalani zog eine Braue hoch.

„Hast du keinen Anstand mit der Muttermilch aufgesogen?“ fragte sie scharf. „So einen Ton vor Erwachsenen sollten deine Eltern dir verbieten!“

„Lass ihn,“ meinte ihr Mann ruhig, „Er will das Mädchen beschützen, das ist alles.“

„Tss!“ schnaubte Puran entrüstet und schielte den Schwarzhaarigen an, „Pakuna ist alleine hergekommen, du tust ja so, als hätten wir sie entführt! Und sie ist nicht deine Frau oder so, also hast du überhaupt nicht darüber zu bestimmen, wo sie etwas verloren hat! Also halt deine Zunge fest!“

„Halt die Klappe, du Rotznase!“ brüllte Ram, „Pakuna! Komm auf der Stelle her! Wir gehen nach Hause! Alle im Dorf machen sich Sorgen um dich!“ Pakuna sah eingeschüchtert zwischen ihm und den Lyras hin und her.

„A-aber-... ich-...!“ stammelte sie.

„Ich hab dir verboten, herzugehen!“ rief Ram ärgerlich, „Und es war dir scheißegal!“

„Du hast ihr nichts zu verbieten, du dreckiger Hund!“ fauchte Puran, „Lass sie in Ruhe, wenn sie nun mal nicht auf dich hören will!“

„Du sollst deine freche Klappe halten, du Arschloch!“

„HALT DEINE ZUNGE FEST, DERRAN!“

„Jungs, Jungs!“ empörte sich Tabari, „Schluss jetzt! Puran, halt den Mund! – Pakuna, es ist besser, wenn du jetzt gehst. Tu, was dein Freund verlangt.“ Pakuna sah ihn groß an, bevor sie stumm nickte und beklommen zu Ram herüber ging, der sie unsanft am Handgelenk packte.

„A-auf Wiedersehen!“ rief sie noch leise, als ihr Freund sie schon aus dem Garten zerrte.
 

Puran schnaubte.

„Ungezogener Idiot,“ brummte er nur, „Er behandelt sie ja wie eine Sklavin!“

„Beurteile nicht den Umschlag des Buches, sondern seinen Inhalt,“ riet Tabari ihm ernst. „Er war vielleicht unhöflich, aber das macht ihn nicht zu einem schlechten Menschen. Er scheint das Mädchen sehr gern zu haben, und da er unsere Familie aus seltsamen Gründen hasst, hatte er vermutlich Angst um sie.“

„Niemand von uns hat ihr was getan, das muss der doch sehen!“ empörte sein Sohn sich, „Verteidigst du gerade den Kerl, der mich verprügelt hat? Na, danke…“ Er stand auf und verschwand grimmig im Schloss. Tabari seufzte und sah ihm nach.

„Puran, wir sind alle nur Menschen. Und Menschen haben ihre Herzen!“ Der Junge drehte noch kurz den Kopf, reagierte aber ansonsten nicht mehr.

„Müssen wir jetzt wieder rein?“ fragte Alona kleinlaut, als nach einer Weile niemand mehr etwas sagte. Es wurde dunkel draußen…
 

„Schmollt er?“ fragte der Herr der Geister besorgt, als seine Frau am späten Abend zu ihm ins Schlafzimmer kam, nachdem sie dem Jungen noch eine gute Nacht gewünscht hatte.

„Sitzt auf dem Bett und spielt mit dem Holzschwert herum,“ antwortete sie mit einem milden Lächeln, ehe sie die Türe schloss und vor dem Spiegel begann, ihre Frisur zu lösen. Tabari seufzte. Er saß auf dem Bett und fing jetzt an, sein Hemd aufzuknöpfen, um sich für das Bett umzuziehen.

„Ich sollte ihm wohl mal ein richtiges besorgen, er ist ja alt genug, um das zu lernen.“

„Du kannst mit einem Schwert umgehen?“ neckte sie ihn und er verstand sie offenbar miss:

„Hallo?! Natürlich kann ich das, du eingebildete Kuh!“

„Rede nicht so mit mir!“ zischte sie ihn an, als er aufstand, und er zischte zurück.

„Du beleidigst mich, da darf ich mich ja wohl wehren!“ Sie warf ihre jetzt offenen, schwarzen Haare zurück und schnaubte erneut, sich zu ihm drehend; dann ganz plötzlich war aller Zorn verflogen und sie sprach jetzt ruhiger.

„Das Mädchen… du hast es auch gemerkt, oder?“

„Zoras’ Enkeltochter,“ bestätigte Tabari sie leise und sie seufzte. „Weiß sie… das selbst eigentlich?“

„Wenn sie es wüsste, würde sie sich anders verhalten… ihr Vater scheint sie im Dunkeln zu lassen, aus welchen Gründen auch immer, deswegen habe ich nichts dazu gesagt. Sie sind also in Nehawa und wohlauf…“ Sie sah zu ihrem Mann, der vor sie trat und langsam mit der Hand durch ihre schönen Haare zu streicheln begann.

„Da fällt mir ein, ich war vor etlichen Monden mal mit Meoran Kaffee trinken und er hat mir erzählt, sein Onkel hätte durchaus gewusst, wo Pakuna und ihr Vater stecken, hätte aber den Kontakt unterbunden, weil er fürchtete, sie nur in Gefahr zu bringen. Dieser Kerl, der Gutsherr, dessen Frau Enola ermordet hat, der rennt irgendwo herum, vielleicht ist es ganz gut, wenn Kotori und Pakuna irgendwo untergetaucht sind…“

„Du gehst mit Meoran Kaffee trinken?“

„Ja, in Tuhuli ist so ein niedliches Teehaus, die haben auch Kaffee, das verbreitet sich wohl wirklich. Es ging um irgendwelche Berichte der Stadt, die wohl noch in Gewahrsam seiner Familie waren, immerhin sind die Chimalis’ wichtige Leute dort…“ Seine Frau schüttelte den Kopf. Erst wollte sie noch sagen, wie unseriös er an seine Arbeit heranging, weil er immer alles irgendwie machte, dann ließ sie es aber. Sie legte die Hände auf seine Brust und strich dann das offene Hemd von seinen Schultern, ehe sie den Kopf hob und ihm einen liebevollen Blick schenkte.

„Ich hab mich nach dir gesehnt, mein Lieber,“ gestand sie kleinlaut. Tabari blickte sie überrascht an.

„Tatsache?“ murmelte er schmunzelnd, „Welche Ehre…“ Er senkte den Kopf zu ihrem Gesicht und küsste sie zärtlich. Es wurde ein liebevoller Kuss, der lange dauerte, und als sie sich lösten, schnappte Nalani leise nach Luft und ließ die Hände unmissverständlich in Richtung seiner Hose gleiten.

„Ich werde immer ganz hibbelig, wenn du mehrere Tage am Stück weg bist,“ seufzte sie und lehnte den Kopf zurück, als er sich vorbeugte und sanft ihren Hals hinab küsste. „Und heute Nachmittag in der Küche bin ich fast wahnsinnig geworden…“

„Fürchterlich, was mute ich dir zu…?“ nuschelte er dramatisch und zog sie dichter an sich heran, als ihre Finger seine Hose öffneten. Er langte auf ihren Rücken und löse di Schnüre ihres Kleides, bis es an ihrem Körper herab auf den Boden glitt.

„Ja, das solltest du dringend besser koordinieren.“ Er sah ihr ins Gesicht und sie strich ihm grinsend durch die blonden Haare. Grinsen tat sie selten… nur, wenn sie wirklich extrem gute Laune hatte. Sie musste ihn ja schrecklich vermisst haben, er war plötzlich sehr gerührt von seiner sonst so kalten Frau. Und einmal wieder stellte er fest, dass er diese Frau vor sich von ganzem Herzen liebte…

Sie legten sich zusammen ins Bett, nachdem er seine Hose auch los war, und während er sich über sie rollte und zärtlich ihr Korsett aufzuschnüren begann, zog sie ihn zu sich herunter und küsste ihn abermals.

„Ich sollte wohl so einiges besser koordinieren…“ murmelte er gegen ihre Lippen, als sie den Kuss beendeten und er sich jetzt etwas ungeduldig zwischen ihre Beine legte, als das Korsett endlich offen war. Sie söhnte leise und schloss die Augen, als sie spürte, wie er ihre Brüste streichelte und ihren Körper liebkoste. Verdammt, sie hatte ihn wirklich vermisst.

„Sprich nicht,“ seufzte sie so nur, „Nicht jetzt… Tabari, Liebster.“
 


 

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Booyah! xD Here we go again, tabari und Nalani haben sich für die Quote lieb, hey wir hatten ewig keine richtige Sexszene mehr kann das sein? o_o ich meine, das hier war ja auch keine... xD so, und Pakuna, erneut xD uuuund ach ja Salihah xD Hey wow zwei Bestattungen in einem kapi XDDD

Opfer

Ein frühmorgendliches entsetztes Schreien riss sämtliche Bewohner des Lyra-Schlosses aus ihren Gedanken, und vor lauter Schreck verknotete Sukutai die Zöpfe ihrer Tochter, sie sie zu flechten dabei war.

„Ach du liebe Güte!“ machte sie dabei, „Na, jetzt kann ich von vorn anfangen! Tut mir leid, Alonachen…“ Das siebenjährige Mädchen rollte nur mit den Augen und pulte etwas Dreck von der steinernen Wand, vor der sie stand.

„Schon gut, Mutti,“ sagte sie, „Es ist doch jeden Morgen dasselbe Theater. Gleich wird Tante Nalani wieder herum zetern, pass auf.“ Sie zählte innerlich von drei an rückwärts und kam gerade bei eins an, da wurde ihre Vermutung bereits bestätigt.

„Was heißt hier, Wenn mich keiner weckt, bin ich dein persönlicher Aufweck-Dienst, Sohn?!“ fauchte die Tante da schon durch das obere Geschoss des Schlosses, „Lerne, das selbst zu regeln, du wirst bald elf Jahre alt und bist kein Baby mehr!“

„Wie kann man freiwillig früh aufstehen?!“ fauchte Puran zurück, halb angezogen durch den Flur rennend, „Oh, verflucht, das schaffe ich doch nie! Du hättest mich doch früher wecken können, Mutti!“ Fluchend und schimpfend rannte er an Alona und Sukutai vorbei und warf letztere damit beinahe um, sie verknotete Alonas Zöpfe zum zweiten Mal und grummelte.

„Ja, dir auch einen guten Morgen, Puran!“

„Wer hat Aufstehen erfunden?!“ heulte der Junge im Badezimmer, versuchte vergeblich, seine Haare zu richten und jammerte weiter: „Und wieso muss Schule am Vormittag sein, kann das nicht nachmittags sein, dann könnte ich in Ruhe schlafen!“

„Das letzte Schuljahr schaffst du auch noch!“ rief Nalani ihm genervt nach. „Du bist echt ein genauso fauler, verpennter Sack wie dein Vater! Geh eben früher zu Bett!“

Der Junge rannte aus dem Bad, zurück in sein Zimmer und zog sich endlich fertig an, ehe er zurück ins Bad rannte, dieses Mal machte er einen Bogen m Sukutai und sie verknotete sich nicht noch mal.

„Ich gehe doch schon früher ins Bett als jeder andere Depp in meiner Klasse!“ beschwerte er sich, „Der Witz ist, Mutti, es bringt genau null komma nichts, weil die Geister mich dann so lange mit irgendwelchen Dingen nerven, die sie mir zeigen oder sagen, dass die Nacht halb um ist, bis ich endlich die Augen zu bekomme!“

„Nerven,“ wiederholte seine Mutter pikiert, die auch in den Flur kam und bei ihrer Schwägerin und Alona stehen blieb. Alonas Zöpfe waren jetzt fertig. „Andere nennen das privilegiert, die Stimmen der Geister zu hören! Dein nicht zaubern könnender Freund Ram Derran würde sicherlich gerne mit dir tauschen!“

„Ich würde auch gerne mit ihm tauschen!“ fauchte Puran grantig, „Oh, verdammte Dreckscheiße, wie soll ich denn so meine Haare machen?!“

„Also, ich bin fertig,“ behauptete Alona und setzte ihren Schulranzen auf, ehe sie zur Treppe ging, „Kommst du, Puran, wir müssen jetzt langsam los!“

„Wie bitte, veräppelst du mich?!“ schrie er sie verzweifelt an, „Ich bin noch lange nicht fertig!“

„Mir ist das egal, ich bin schon letzte Woche dreimal zu spät gekommen, weil du so lange an deinen doofen Haare herum fummeln musst, du eitler Pfau!“ meckerte die Cousine, „Du bist ja schlimmer als ein Mädchen!“

„Du hast ja keine Ahnung auf deinem Kopf wächst ja keine wilde Pampa!“

„Ich zähle bis drei, dann bist du hier!“ rief Alona genervt, „Eins…!“

Er fluchte und schimpfte, war aber tatsächlich bei drei neben ihr vor der Haustür. Er bedachte sie mit einem strafenden Blick, dann wurde er auch schon von seiner energischen Cousine aus der Tür geschoben.

„Los jetzt!“

„Jetzt hat er gar nicht gefrühstückt,“ stellte Sukutai besorgt fest, die auch hinunter kam, und Nalani neben ihr brummte.

„Selbst Schuld, er und seine Haare! Tabari war früher auch so bescheuert, aber es hat sich gelegt, ich hoffe ja, dass das bei meinem Sohn auch mal so sein wird und er einsieht, dass seine Haare sehr hübsch sind!“
 

Die Sonne knallte schon in den frühen Morgenstunden auf das Land, in das der Sommer gekommen und schon fast wieder gegangen war. Das neue Schuljahr hatte begonnen, und während Alona jetzt in der zweiten Klasse war, hatte für ihren Cousin die sechste und letzte angefangen. Und seit das Schuljahr begonnen hatte, war das ewige zu spät kommen nur noch schlimmer geworden. Puran war immerzu müde, egal wie früh er ins Bett ging; nachts kamen die Geisterstimmen und sagten ihm Dinge, die er gar nicht wissen wollte, oder zeigten ihm Bilder, die er nicht sehen wollte. Egal, wie sehr er versuchte, sie zu ignorieren, sie kamen immer wieder. Nachdem sie ihn im vergangenen Jahr eine Weile in Frieden gelassen hatten, schienen sie jetzt alles nachholen zu wollen…
 

Nach der ersten Hälfte des Unterrichts begann die Pause. Und nachdem der Junge ohnehin wieder im Unterricht eingeschlafen und von Frau Kalih Kreide an den Kopf bekommen hatte, machte sein Banknachbar und Freund Travi ihn darauf aufmerksam, dass er sein Frühstück vergessen hatte.

„Ich hab Hunger!“ jammerte der rundliche Blonde nämlich jetzt, während die anderen Kinder aus dem Raum strömten. Puran seufzte.

„Ich auch, ich hatte keine Zeit zu frühstücken…“

„Was?!“ heulte Travi, „W-wie kannst du so leben? Ohne Frühstück, i-ich würde ja sterben!“ Ja, das war klar. Dem Blonden fiel etwas ein. „Sag mal… steht nicht hinter dem Hof an der Mauer ein Apfelbaum?“ Puran drehte verpennt den Kopf zu seinem Freund, inzwischen rief Frau Kalih nach ihnen, weil sie die letzten waren, die noch im Raum waren.

„Das meinst du nicht ernst…“

„Doch!“ Puran brummte und richtete sich jetzt auf.

„Nur, wenn du kletterst!“
 

Der Apfelbaum stand nicht auf dem Schulgelände, sondern auf dem Nachbargrundstück. Die Jungen konnten aber bequem auf die Mauer klettern und von dort aus kleine Äpfel pflücken. Kannar war an dem Tag nicht zur Schule gekommen, vermutlich war er krank. Das kam mal vor.

„Die sind sauer,“ murrte Puran und sah den angebissenen Apfel pikiert an, während sein Freund munter weiter pflückte und schon diverse der kleinen Früchte in sich hinein gestopft hatte. Wie konnte man so schnell so viel fressen? Als er wieder zu seinem Freund sah, war der dabei, in den Baum zu klettern und noch mehr Äpfel zu pflücken. Puran hustete und sah sich um.

„H-hey, komm da lieber raus!“ zischte er, „Wenn der Aufseher auf dem Hof das sieht…!“

„Warte, gleich, aber der da oben sieht toll aus…“ machte Travi versonnen und kroch noch höher in den wackelnden Baum, während sein Freund sich immer hektischer umsah und sich nervös fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis der Aufsicht habende Lehrer das mitbekam… solange sie auf der Mauer saßen, konnten sie schnell die Äpfel verstecken und scheinheilig tun, aber mit Travi im Baum war das schwer…

Er erschrak sich beinah zu Tode, als er plötzlich eine Stimme von unten hörte:

„Hey, ist da jemand im Baum drin?“

Puran verschluckte sich vor Schreck und sprang instinktiv sofort von der Mauer, dabei vergaß er seinen dicken Freund, der jetzt im Baum hockte und zu Salzsäulen erstarrte. Und wofür?

Vor der Mauer und dem Baum stand ein kleines blondes Mädchen mit Zöpfen, das verwundert hinauf sah. Puran hustete und hustete und brauchte eine ganze Weile, bis er endlich das Stück Apfel aus seiner Luftröhre bekam und mit hochrotem Gesicht zu dem komischen Mädchen sah.

„Verdammt!“ schnappte er atemlos, „D-du hast mich zu Tode erschreckt!“

„Oh, das tut mir leid…“ machte die Kleine verlegen. Sie musste ein wenig älter als Alona sein, vielleicht in der dritten oder vierten Klasse, dachte Puran sich verwirrt und räusperte sich.

„Schon gut, aber – sag das nie mehr!“ Er räusperte sich abermals und sah dann zum Baum. „Travi, komm endlich da raus, bevor es echt noch ein Lehrer merkt, es war nur ein kleines Mädchen!“

„Ich-… heiße Cholena Dabovi!“ stellte die kleine sich artig vor und Puran drehte den Kopf wieder zu ihr. Sie verneigte sich sehr höflich.

„Ähm… Puran,“ stellte er sich kleinlaut vor, „Sehr erfreut.“ Das Mädchen strahlte ihn an.

„Ich weiß,“ sagte sie vergnügt, „Ich kenne dich, du bist Puran vom Lyra-Clan.“ Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Irgendwie war es peinlich, dass jeder Depp seinen Namen kannte. Er musste sich fast nie vorstellen, seinen Namen kannten immer alle, und meistens schwang dann ein missbilligender Ton mit, wenn man seinen Namen aussprach. Bei der Gelegenheit fiel ihm auf, dass das bei dem Mädchen Cholena nicht so war. Das Mädchen scharrte mit dem Fuß auf dem Boden herum und wiegte sich verlegen hin und her. Während dessen versuchte Travi oben aus dem Baum zu klettern, was gar nicht so leicht war. „Ich meine,“ erläuterte die Kleine sich dann leise, „Alle kennen deinen Namen, aber… ich meine… es is mir eine Ehre, dass du mit mir redest.“

Er sah sie fassungslos an.

„Jetzt übertreib mal nicht,“ seufzte er jetzt noch verlegener – was war das denn für eine, ein heimlicher Bewunderer? Das war ihm extrem unheimlich. Er beschloss, seinen Vater zu zitieren: „Wir sind alle nur Menschen!“ Das Mädchen sah ihn lächelnd an und errötete etwas, ehe es an seinen blonden Zöpfen zu tüdeln begann.

„Hey, ähm, ich komme nicht mehr runter…“ jammerte Travi kleinlaut im Baum, wurde aber ignoriert. „H-hallo? Puran…?“ Puran war damit beschäftigt, sich über das Mädchen zu wundern.

„Ich komme aus dem Dorf Rathuk,“ erzählte jenes gerade fröhlich, „Es ist nicht weit von Gahti!“ Puran nickte nachdenklich. Ja, er war nie dort gewesen, aber er wusste, wo es lag.

„Und? Schön da?“

„Ja, sehr. Wobei es wenig Schatten gibt, im Sommer ist das lästig.“ Er nickte abermals und hatte keine Ahnung, was er sagen sollte.

„Hmm,“ machte er dabei. Travi wimmerte auf dem Baum.

„H-helft ihr mir mal runter, ihr Tratschtanten?!“

„Das… ähm, ist schön,“ macht Puran und kratzte sich blöd am Kopf – was sollte er sagen? Er kannte die Kleine nicht mal; dafür redete sie aber ziemlich fröhlich drauf los. Er dachte an Narya, Madanans Cousine, die jetzt in der fünften Klasse war. Die konnte auch sehr viel reden und ließ sich gar nicht unterkriegen. Narya war ein bildhübsches Mädchen, fiel ihm auf, und er räusperte sich abermals.

„Es ist schön, dass ich im Baum hänge?“ nölte Travi abermals versuchend, Aufmerksamkeit zu bekommen. Jetzt bekam er sie, jedenfalls von Cholena Dabovi.

„Ach du Schreck!“ machte sie, „Du bist ja da oben drin!“

„Blitzmerker…“

„Heul nicht, geh mit dem Fuß noch ein Stück runter, da ist ein Ast!“ versuchte Puran es empört, der auch aufsah und dem es irgendwie peinlich war, seinen armen Freund so vernachlässigt zu haben. Cholena krabbelte mutig als erstes auf die Mauer und er starrte sie an, als sie von unten an Travis Bein zog, bis der endlich auf besagtem Ast stand.

„Und noch ein Stück!“ lotste sie ihn tapfer, „Gleich bist du unten!“ Das war er wirklich, und sobald alle drei wieder vor der Mauer standen, schenkte Travi seinem Freund einen beleidigten Blick.

„Du bist mir ja einer,“ jammerte er, „Ich sterbe da oben und du hast deinen Spaß mit den Frauen!“ Puran schnappte entrüstet nach Luft.

„Was?! I-ich hab doch gar nicht, hallo, wie kannst du…?!“ Er sah zu Cholena, Danke für deine Hilfe und… entschuldige dieses Gerede, Cholena!“ Se errötete plötzlich ebenfalls, schüttelte dann heftig den Kopf und begann hyperaktiv auf und ab zu hüpfen.

„Ich, ich meine, ist schon in Ordnung!“ rief sie dabei lachend, „Gern geschehen!“ Die Jungen wollten gerade noch etwas sagen, da schrillte die Schulglocke über den Hof; die Pause war vorbei.

„Na toll, zurück zu Frau Kalih, die uns mit Kreide bewirft…“
 

Frau Kalih musste nicht mit Kreide werfen, weil ausnahmsweise mal alle Schüler wach waren, als sie die zweite Unterrichtshälfte begann.

„Ihr habt jetzt das letzte Schuljahr begonnen,“ sagte sie zu der Klasse, „Nächsten Frühling werdet ihr die Abschlussprüfungen schreiben, bis dahin haben wir genug zu tun. Aber wie einige von euch vielleicht wissen, sieht das letzte Jahr auch einen umfangreicheren Ausflug über ein paar Tage vor, eine kleine Klassenreise sozusagen.“ Das machte tatsächlich alle wach.

„Eine Klassenreise?“

„Wie aufregend, wohin?“ begannen die Kinder schon durcheinander zu murmeln. Einige, die große Geschwister hatten, wussten natürlich schon, dass es eine Reise geben würde. Frau Kalih ergriff das Wort wieder.

„Die Reise wird acht Tage dauern, wir wollen in zwei Wochen losgehen.“

„Gehen?“ japste Travi, „Wohin denn?“

„Echt mal, geht es weit weg?“

„Nach Fann, das wäre doch was!“ Bevor wieder alle durcheinander brüllen konnten hob die Lehrerin die Hände.

„Nichts da Fann, das ist viel zu weit, da kämen wir ja in einem Monat kaum hin! Wir gehen zu Fuß, liebe Leute, und wir gehen nach Yiara.“

„Zu Fuß nach Yiara?“ keuchte Travi entsetzt, „Da sterbe ich ja vorher vor Erschöpfung!“ Einige lachten ihn aus und Puran schenkte denjenigen grimmige Blicke.

„Macht es erst mal selbst besser, ihr Gackertanten!“ sagte er empört. Frau Kalih seufzt.

„Das ist wirklich kein Grund zu lachen, das ist wahr. Natürlich ist es anstrengend, aber wir werden viele Pause machen. Deswegen brauchen wir auch drei Tage, bis wir überhaupt dort sind.“ Sie hängte eine große Landkarte von Dokahsan an die Tafel und begann, darauf herum zu zeigen. „Wir werden dem Fluss Undim nach Nordenfolgen bis zur Stadt Shav. Da übernachten wir, am nächsten Tag folgen wir dem Fluss Charinh, der in den Undim mündet, und laufen weiter bis zur Stadt Charine an der Quelle des Charinh. Zweite Übernachtung; danach geht es quer Feld ein nach Yiara. Dort werden wir zwei Tage bleiben und danach wieder denselben Weg zurück nach Gahti gehen.“

„So anstrengend…“ jammerte Travi, und Puran tätschelte ihm behutsam den Kopf.

„Wird schon… zur Not müssen Kannar und ich dich ziehen!“
 

Kannar war ein gutes Stichwort. Kannar war nicht da, und als guter Freund sah Puran es als seine Pflicht, ihm den Zettel wegen der Reise nach Hause zu bringen, den die Eltern unterzeichnen müssten. Da die Apotheke in Gahti war, war das nicht mal ein Umweg. Die inzwischen dreizehn Jahre alte Akila öffnete ihm, als er klopfte.

„Oh!“ sagte sie erfreut, „Du bist das!“

„Jawohl,“ sagte der Junge und hielt ihr den Zettel hin, als sie ihn kichernd betrachtete und er sich über ihr Verhalten wunderte. „Ich bringe einen Elternbrief aus der Schule, wir machen eine Klassenreise. Wie geht es denn Kannar, besser?“

„Was? Ähm, ja, schon besser,“ meinte sie und nahm mit einem höflichen Nicken den Zettel, „Ach ja, wir haben damals auch so eine Reise gemacht, als ich in der sechsten war. Es war echt lustig mit der ganzen Klasse durch halb Dokahsan zu laufen.“ Sie strahlte und linste ihn kurz an, worauf er skeptisch eine Braue hochzog.

„Na, ich werde es ja sehen,“ sagte er und verneigte sich plötzlich verlegen vor ihr, weil sie wieder kicherte. „Ich muss jetzt los, sonst…“ Weiter kam er nicht, denn hinter Akila im haus ertönte ein Poltern und plötzlich kam Kannar zu ihnen an die Tür.

„Hallo!“ begrüßte er seinen Freund und lachte blöd, „Bringst du etwa Hausaufgaben?“

„Einen Elternbrief,“ meinte Puran, „Alles in Ordnung?“

„Ja, war nur so ein Magending, morgen bin ich wieder in der Schule,“ sagte er guter Laune und stieß seine Schwester an, „Mutti sucht dich übrigens, Tratschtante!“ Das Mädchen verschwand und Kannar besah sich den Elternbrief. „Hey, wir gehen nach Yiara? Das wird ja spannend, Travi freut sich sicher aufs Laufen.“

„Total,“ meinte sein Freund, „Sag mal, was hat deine Schwester denn genommen, die kichert so doof…“ Kannar verdrehte die Augen.

„Man nennt es Pubertät,“ sagte er altklug, „Sie kichert immer! Mein Vater ist auch schon ganz angenervt! Du solltest in der nächsten Zeit besser nicht zu Besuch kommen, du musst Angst vor Akila haben.“

„Angst?“ fragte der Braunhaarige doof, „Wieso Angst, ist das das Kichern des Grauens?“

„Nein, weil sie dich süß findet und bei dir besonders kichert.“ Puran verdrehte auch die Augen.

„Wie bitte?! Ich bin doch kein kleines Baby, die sind süß… Gemeinheit…“

Das lag sicher alles an seinen Haaren, garantiert! Er beschimpfte die Gene seines Vaters einmal mehr im Inneren aufs Übelste.
 

Der Spätsommer war trocken. Für die Jahreszeit war es ungewöhnlich warm und staubig, als die sechste Klasse der Gahtischen Schule ihre Reise nach Yiara anbrach. Jedes Kind hatte einen Rucksack mit Sachen auf, aber nur so viel, wie sie tragen konnten, ohne Rückenschmerzen zu bekommen; immerhin mussten sie viel, viel laufen können.

„Ob das mal gut geht,“ seufzte Nalani nervös an dem Tag, an dem die Klasse aufgebrochen war. „Ich meine, ganze acht Tage, und nur ein Erwachsener, der auf eine ganze Klasse aufpasst?“ Tabari verdrehte die Augen.

„Ja, ich verstehe dich,“ spottete er, „Puranchen wird bestimmt überfallen und aufgefressen, oder fällt in den Fluss, oder wird von einer Schlange gebissen und vergiftet, natürlich.“ Sie sah ihn empört an und er schnaufte. „Hör mal, er ist fast elf, in ein paar Jahren wird er ein Mann sein! Du kannst ihn nicht immer bemuttern, Nalani, wie soll er denn so je selbstständig werden?“ Nalani senkte beschämt den Blick und begann, sinnlos an ihrem Pentagramm-Anstecker zu pulen. Sie trug ihren schwarzen Umhang, weil sie im Begriff war, mit ihrem Mann zur alljährlichen Ratssitzung des Geisterjägerrates aufzubrechen, der wie gewohnt in Tuhuli stattfand.

„Das hat deine Mutter auch einst zu mir gesagt…“ murmelte sie und Tabari sah sie schweigend an. Dann streichelte er ihr über den Kopf und ging an ihr vorbei zur Tür.

„Komm schon, die Kutsche wartet nicht ewig.“
 

Die Ratssitzungen waren meistens sinnlos und nicht besonders ergiebig; das war eigentlich etwas Gutes, denn solange es nichts zu bereden gab, passierte nichts im Land. Kein Krieg, kein neuer Kelar oder was sonst Schlimmes hätte daher kommen können.

Obwohl die Kutsche etwas zu spät kam, waren Tabari und Nalani nicht die Letzten, die im Rathaus von Tuhuli eintrafen; Meoran und Nomboh kamen noch später. Da die langweiligen Ratssitzungen meistens nur eine Runde Zigaretten für alle bedeutete, öffnete Nalani im Voraus genervt das Fenster und blieb dort stehen, als einzige völlige Nichtraucherin war man durchaus im Nachteil in so einer Runde.

„Wo habt ihr denn gesteckt?“ wollte Barak Kohdar wissen, als Meoran und sein Vater endlich da waren, „Ihr habt die Mohnschnecken verpasst und der Tee aus Yiara ist auch schon alle.“

„Keine Mohnschnecken, so ein Jammer,“ seufzte Nomboh theatralisch, während er sich setzte und sein Sohn sich schnaufend am Kopf kratzte, ehe er zu einer Erklärung anhob.

„Der Lehrling,“ sagte er und wollte fortfahren, aber da winkten schon alle ab und steckten sich der Reihe nach neue Kippen an, abgesehen von Nalani.

„Ja, ja, mal wieder.“

„Immer den anderen alles in die Schuhe schieben!“

„Du willst dich nur drücken, Zigaretten auszugeben, Meoran, du bist dran!“ meckerten die Männer durcheinander und Meoran brummte.

„Ich stopfe euch gleich Tabak in die Ohren, lasst mich ausreden!“

„Mit Tabak in den Ohren hören wir aber noch schlechter zu,“ sagte Tabari grinsend und der Jüngere schlug ihm gegen den Hinterkopf. „Aua, Respekt, Junge, ich bin dein Vorgesetzter in zweierlei Punkten!“

„Dieser Vollidiot von Lehrling, den wir jetzt neu haben!“ empörte Meoran sich, „Das ist einfach so… so viel Dummheit kann ein Mann doch gar nicht haben! Er hat null Orientierungssinn und verläuft sich im ganzen verdammten Anwesen und kommt immer gerade dahin wo er nicht erwünscht ist, wenn das so weitergeht-…!“ Er unterbrach sich und räusperte sich, während ihn alle neugierig ansahen. Nalani feixte:

„Dann kann euer Clan noch lange auf den nächsten Erben hoffen, weil jede Zeugung gestört wird?“ Meoran hustete gekünstelt und wurde rot, während alle schallend zu lachen begannen.

„Der Typ ist sicher ein Voyeur!“ orakelte Tare Kohdar gehässig grinsend, „Den lässt du mit Ruja alleine?“

„Keisha ist ja auch da,“ meinte Nomboh, und Tabari lachte blöd:

„Und wenn ihr heim kommt, sitzt der Dummkopf mit den beiden Frauen nackt am Kamin, haha…“

„Sehr komisch,“ nölte Meoran. Minar Emo seufzte. Er war wirklich alt geworden.

„Wer weiß, vielleicht wird er ja noch klüger, schlimmer als dein letzter Lehrling kann er ja nicht werden, das Talent der Jugend geht wirklich vor die Hunde.“ Alle kicherten blöd. Der letzte Lehrling, den Meoran gehabt hatte, hatte direkt nach der bestandenen Lehre großkotzig versucht, die Geisterjägerprüfung zu machen. Das war sehr nach hinten losgegangen, weil der Kerl nach den drei Tagen Isolation nicht erschienen war. Besorgt hatten alle nach ihm gesucht und hatten ihn schließlich völlig benebelt in einem Teehaus gefunden. Als sie die Prüfung deshalb schon hatten abblasen wollen, hatte der bekiffte Idiot aber auf dem Kampf bestanden; Tare Kohdar, immer noch der jüngste der Geisterjäger, hatte sich gnädig gezeigt und ihn erst mit dem zweiten Schlag außer Gefecht gesetzt.

„Der war doch beste Unterhaltung,“ meinte Nalani und zog eine Braue hoch, „Er hat nicht gekämpft, sondern getanzt, er sah aus wie ein Flamingo und ich hatte damals große Lust, ihn in ein rosa Federkleid zu stecken und ihm ein Krönchen aufzusetzen.“ Wieder mussten alle lachen und Tabari räusperte sich wichtigtuerisch.

„Wie auch immer, Schluss mit dem Unfug, Männer – und Nalani, ja, ja. Wir werden uns bald Zirkus nennen müssen statt Rat. Gibt es also etwas zu berichten…?“
 

Es gab nichts zu berichten. Das hatte auch niemand erwartet, obwohl es Nalani verwunderte, dass nichts etwas mit Zuyya zu tun hatte; seit Tabari ihr erzählt hatte, er hätte einmal von Zuyyanern geträumt, fragte sie wen sie auch traf, der davon etwas wissen könnte, nach dem Zustand der Dinge. Aber niemand konnte ihr irgendetwas Beunruhigendes sagen. Das war ja an sich gut, aber wieso träumte Tabari von Zuyyanern? Und sie nicht?

Die Frau erhielt auch bei dieser Sitzung keine Antwort darauf, und nachdem sie eine Weile herum gesessen hatten und niemand etwas zu sagen gehabt hatte, hatten sie sich wieder verabschiedet. Während Kohdars nach Yiara und Minar Emo nach Emdyn reisten, verabschiedeten Nalani und Tabari sich noch von Chimalis’.

„Was für ein Rat wir doch sind,“ schüttelte Nomboh den Kopf, „Mein Bruder hatte wohl recht seiner Zeit, wir sind nur ein Verein der Narren.“ Tabari kicherte.

„Ach was… das wird schon! Was ist überhaupt mit Ruja, frage ich mich? Sie ist doch Telepathin? Kommt sie gar nicht mit in den TO?“ Meoran zog eine Braue hoch.

„Ruja in einem Rat?“ Er musste laut lachen. „Bei aller Liebe, statt sich zu beraten würde sie den Leuten lieber Blumen ins Haar flechten!“

„Sag bloß, das hat sie bei dir gemacht…“

„Ach, sei doch still, du alberner Kauz!“ jammerte Meoran, während Tabari sich vor lachen den Bauch halten musste. „Diplomatie hin oder her, Mitglied des Rates sollten nur Leute sein, die es auch können. Ruja kann wunderbar sehen, kennt meine Gedanken bevor ich sie selbst kenne und kann Barrieren bauen, die einer Armee standhalten würden; aber was sie definitiv absolut nicht kann, ist Teleport!“

„Sie… kann sich nicht teleportieren?“ fragte Nalani ungläubig. „Ich meine – ich erinnere mich an Kiuks Lehre, er war damals noch jünger als Ruja und er konnte sehr schnell Teleport!“

„Ruja kann es definitiv nicht,“ Meoran lachte. „Aber niemand von uns stört sich daran… jeder hat seine Schwäche. Rujachen hat andere Vorzüge.“ Tabari hatte seinen albernen Tag und musste zweideutig grinsen.

„Glaube ich dir gern…“ Meoran hustete wieder und Nalani schlug ihrem Mann frech gegen den Kopf. „Aua!“

„Du bist aber albern heute!“ fauchte sie, „Ich sollte dich wohl mal wieder ans Bett fesseln und dich blutig kratzen, du hast es offenbar nötig!“ Meoran hustete jetzt noch lauter und Nomboh kratzte sich am Kopf.

„Wie auch immer, ihr, ähm… müsst euer Eheleben jetzt nicht auf offener Straße ausleben… es wäre das Beste, wenn wir jetzt alle heim gingen.“
 

Als sie Tuhuli mit der Kutsche verlassen hatten, hatte Nalani plötzlich das ungute Gefühl, einen Fehler zu begehen. Noch beunruhigender war, dass Tabari das bestätigte – sie beide hatten selten dieselben schlechten Ahnungen.

„Du merkst das auch, oder?“ sagte er murmelnd, „Ich weiß nicht, wieso, aber plötzlich hab ich ein ganz mieses Gefühl…“ Nalani starrte ihn für einen Moment an, dann wisperte sie apathisch:

„Wir müssen umkehren.“

„Umkehren?“ machte Tabari und seine Frau drehte sich plötzlich zum Fenster der Kutsche und sah hinaus, zurück nach Tuhuli, das sie gerade hinter sich ließen.

„Kehrt um!“ schrie sie zum Kutscher nach vorne und hämmerte gegen die Scheibe, „Siehst du den Rauch am Horizont, Tabari?“ Der Mann sah ebenfalls aus dem Fenster und weitete entsetzt die Augen.

„Das ist in Tuhuli?!“

„Das ist in der Richtung von Chimalis’ Anwesen!“
 

Das Anwesen stand in Flammen; oder zumindest der vordere Teil. Als Meoran und Nomboh entsetzt ankamen, lief Keisha hysterisch schreiend auf dem Hof herum.

„Himmel!“ kreischte sie und hängte sich heulend an ihren Mann und ihren Sohn, als sie sie sah, „D-die Küche brennt! Und das Feuer ist überall und der Stall und die Pferde, die Pferde sind ausgebrochen und das Mädchen, s-sie war da und s-sie ist nicht wieder aufgetaucht, i-ich weiß nicht, was passiert ist, plötzlich war überall Feuer und-…!“

„Wo ist Ruja?!“ schrie Meoran sie entsetzt an, „Und wo ist mein Lehrling?!“

„Sie waren in der Küche, Ruja hat mich aus der Tür geschubst u-und es ging alles so schnell, ich weiß nicht w-was ich machen soll!“

„Sie sind noch da drin?!“ machte Nomboh, „Meoran, bleib hier und versuche, so viel du kannst zu löschen mit Alara, ich suche die zwei!“

„Geh da nicht rein!“ kreischte Keisha, aber er riss sich schon los und versuchte ein paar Mal mit dem Wasserzauber die Tür zu löschen, die bedrohlich knarrte, als er es schaffte, sich an den zurückweichenden Flammen vorbei zu zwängen.

Drinnen war es erstickend heiß. Das dröhnende Knarren der Holzbalken übertönte Meorans Versuche draußen, mit Alara die Flammen zu löschen.

„Ruja?!“ rief Nomboh und riss sich keuchend den Umhang vom Leib, als dessen Enden auch Feuer fingen. „Ruja, wo bist du?! Antworte!“ Er hastete durch den brennenden Flur und versuchte in aller Eile die Wände zu löschen, was sich als schwer erwies; die Flammen waren einfach zu groß. Dann hörte er die Stimme seiner Schwiegertochter in dem Inferno.

„Wir sind in der Küche!“ japste sie, „Wir sind in einer Barriere, aber das Feuer kreist uns ein, wir kommen hier nicht raus!“ Der Mann hustete ob des giftigen Rauches und hielt sich schützend den Ärmel vor das Gesicht, als er zur lichterloh in Flammen stehenden Küchentür hastete. Tatsächlich sah er einen violetten Schimmer hinter den garstigen Flammen.

„Ich mache euch den Weg frei zur Tür!“ rief er und hustete wieder, „Halt noch solange durch mit deiner Barriere, Ruja!“ Sie wimmerte.

„Nimm nicht Alara, nimm was mit Erde!“ schrie sie, „Hier brennt Öl beim Herd, wenn du da Wasser rauf wirfst, fliegt uns das alles um die Ohren!“ Das war eine wichtige Information. Nomboh hustete und streckte dann die Hände aus, um sich mit einem Erdzauber zu versuchen; Erdzauber gehörten nicht zum Repertoire der Grundzauber, sie waren nicht einfach, aber das bisschen, das er mal aufgeschnappt hatte in all den Jahren, würde zumindest dafür reichen, die Flammen bei der Tür für ein paar Momente zu ersticken.

„Wir müssen uns beeilen!“ schrie Ruja drinnen und sah panisch hinauf, als die Balken erneut knarrten und bedrohlich herabzusinken begannen. „Schneller!“

„Ich mach ja schon!“ Mit diesen Worten und einem neuen Husten ließ er aus seinen Händen einen Haufen Sand auf die Flammen schießen, der das Feuer unter sich begrub und jetzt den Weg zu der Lichtblase freigab, in der Ruja mit dem völlig erstarrten Lehrling stand. Die Barriere schützte sie vor den Flammen, die sie umringten. Als Ruja jetzt die Blase auflöste, krachte es direkt über ihnen und Staub und Funken rieselten ihnen von der Decke entgegen. Nomboh fuhr hoch, als die Blase verschwand und Ruja an dem Lehrling zerrte.

„Komm doch!“ kreischte sie, „Das stürzt gleich alles zusammen, schneller! Beweg dich, du Arsch!“ Doch der Junge war wie versteinert und erzitterte nur verkrampft, ohne sich von der Stelle zu bewegen, egal, wie sehr sie an ihm zerrte. Die junge Frau fing verzweifelt an zu weinen, während die Flammen sich bereits dichter an sie und auch die Tür heran fraßen und die Decke knarrte. „Nomboh, hilf mir!“ flehte sie panisch, und er kam und riss an dem versteinerten Jungen. Es krachte erneut und als vor ihnen ein brennender Balken von dr decke fiel, schrien sie alle drei. Nomboh schnappte nach Luft, sah hinauf und stieß dann Ruja und den jungen mit aller Kraft aus der Küche.

„Flieht!“ brüllte er noch, und Ruja drehte sich in dem Moment um, in dem die gesamte Decke über der Küche in sich zusammenstürzte und das Zimmer und den Mann unter sich und dem Feuer begrub.
 

Geistesgegenwärtig ignorierte Ruja die Angst in ihrem Inneren und die Tränen auf ihren Wangen, als sie den trotteligen Jungen mit sich aus dem brennenden Anwesen zerrte. Draußen wurden sie beide von der heulenden Keisha empfangen, in ihrer Panik fiel es Ruja gar nicht als sonderbar auf, dass Tabari und Nalani plötzlich auch da waren. Letztere löschte jetzt zusammen mit Meoran das Haus.

„Wo ist Nomboh?“ fragte Tabari entsetzt, der den apathischen Lehrling schüttelte, „Hey, lebst du?! – Ruja, wo ist Nomboh?!“ Ruja antwortete nicht und fing an, hysterisch zu schreien, während sie sich in Keishas Armen vergrub.

„D-die Küche!“ wimmerte sie, „Es ist alles eingestürzt u-und, e-er hat uns rausgeschubst und, aber, i-ich weiß nichts, ich weiß nichts!“ Tabari sah Keisha erbleichen und sein Blick schweifte zu Nalani, die ihren Wasserzauber gerade auflöste. Das Feuer war gelöscht.

„W-wo ist Vater?“ japste Meoran erschöpft und sah sich panisch um, währen Keisha plötzlich auf dem Boden zusammenbrach und die immer noch wimmernde Ruja mit sich zog. „Wo ist er?!“ schrie der Mann lauter und Tabari hastete dazu, um ihn davon abzuhalten, die verängstigten Frauen weiter anzubrüllen.

„Wir suchen in den Trümmern der Küche, rasch! Nalani, kümmere dich um die drei da!“ Seine Frau drehte benommen den Kopf, während Tabari mit Meoran zum Haus hastete. Der hintere Teil war noch unversehrt, zerstört waren nur der Eingangsbereich, die Küche und der nördliche Teil des Anwesens, und natürlich der Stall, auf den das Feuer übergegangen war.

„Vater!“ schrie Meoran, als sie die Trümmer durchquert hatten und Tabari mit Hilfe seiner Windzauber Holz zerschnitt oder wegfegt, allerdings nur behutsam für den Fall, dass Nomboh darunter war und er den nicht aus Versehen mit wegfegte.

„Nomboh, antworte!“ schrie der Blonde auch, während sie sich voran kämpften. Als sie an der Küche ankamen, stutzten beide; von der Küche war nicht mehr viel übrig. Ein Haufen Schutt und Ruß tat sich vor ihnen auf. Nach dem ersten Schock begann Meoran rufend zu wühlen und buddelte sich durch den Schrott.

„Vater! Vater! W-wir sind gleich bei dir, Va-…“ Er stockte abrupt und Tabari eilte alarmiert zu ihm. Aus dem Schutt der Küche ragte der blutige Rest eines Arms. In dem Moment, in dem Tabari Meoran an den Armen packte und zurück zerrte, wurde beiden Männern klar, dass von Meorans Vaters nicht mehr viel übrig sein konnte. Und die Frauen draußen und die eintreffenden Feuerwehrmänner fuhren gehörig zusammen, als aus dem zertrümmerten Anwesen ein markerschütternder Schrei ertönte.
 

Als die sechste Klasse der Schule aus Gahti vor den Toren der Stadt Yiara stand, war die Lehrerin vollkommen gerädert und die Schüler bester Laune. Drei Tage waren sie unterwegs gewesen und jeden Tag war irgendetwas gewesen; am ersten Tag hatten Mabi und seine dummen Kumpels zwei Mädchen in den Fluss geschubst. Die Strömung verlief zum Glück nach Norden und die Mädchen waren eine Weile schreiend und zappelnd an der ganzen Klasse vorbei voran getrieben, bis Frau Kalih es mit Hilfe von ein paar Telepathen aus der Klasse geschafft hatte, die Mädchen an Land zu befördern. Das nächste Drama war gewesen, dass sie nicht mit nassen Kleidern hatten weitergehen wollen – aber umziehen hatten sie sich vor den ganzen Jungen auch nicht wollen, und bis endlich ein Gestrüpp gefunden worden war, waren die beiden schon fast von selbst getrocknet.

Als sie die Stadt Shav erreicht hatten, hatten sie dort übernachten wollen – in der Pension angekommen war ihnen aufgefallen, dass eine ganze Gruppe von Schülern plötzlich spurlos verschwunden war. Ein paar Rabauken hatten es lustig gefunden, sich davon zu stehlen und die Kleinstadt unsicher zu machen. Als Frau Kalih die Idioten gefunden hatte, waren sie dabei gewesen, einen Springbrunnen mit Kohlestiften zu beschmieren. Besonders auffällig war ein großer Schriftzug gewesen, der quer über den Stein geschmiert worden war und der da gelautet hatte:

Wer will unsere hässliche Lehrerin heiraten? Sie ist sicher noch Jungfrau!

Frau Kalih hatte keinen Kommentar darüber verloren und den Jungen als Strafe einen Beschwerdebrief an ihre Eltern versprochen.

Am zweiten Reisetag war zwar niemand in den Fluss gefallen, dafür war plötzlich Gepäck verschwunden gewesen und ein trotteliges Mädchen war über eine Wurzel gestolpert und hatte sich den Fuß verstaucht. Kannar hatte versucht, sie zu heilen, und hatte es wie es alle gewohnt waren noch schlimmer gemacht, so hatten sie das Mädchen abwechselnd alle tragen müssen bis zur Stadt Charine, wo ein Heiler ihren Fuß hatte heilen können.

Den dritten Tag auf der Reise bis nach Yiara hatte die Lehrerin damit zugebracht, ihnen über die Landschaft und die Vegetation von Dokahsan zu erzählen, was niemanden sonderlich interessiert hatte. Aber wenigstens war nichts passiert und jetzt standen sie endlich auf der Straße vor dem Tor.
 

„Diese Stadt ist verdammt groß,“ sagte Kannar und starrte hinauf an dem gigantischen Stadttor vor ihnen. Puran war mäßig beeindruckt. Er war nicht zum ersten Mal in Yiara, schließlich hatte seine Mutter ihn früher zu Geisterjägertreffen mit her genommen. Travi jammerte:

„Und meine Füße tun verdammt weh!“

„Na, wir sind jetzt ja da…“ versuchte Kannar ihn zu trösten, „Nur noch zur Pension, es dämmert ja schon fast.“

Die Pension war klein und mit der Klasse voll besetzt. Frau Kalih hatte natürlich vor Wochen angemeldet, dass sie kämen, so hatte der Wirt alle Zimmer reservieren lassen. Es gab Dreier- und Viererzimmer, nur Frau Kalih bekam ein Einzelzimmer.

„Tja, Derran, nichts mit Einzelzimmer, hehe!“ gackerte Mabi, der Idiot, und Puran drehte den Kopf zur Treppe, wo Mabi sich mit seinen Schlägertypen hinauf drängelte und dabei Ram umschubste, der da herum gestanden hatte. Ram spuckte ihm ins Gesicht.

„Solange ich nicht mit dir Fettarsch in einem Zimmer bin, ist mir das egal,“ gab er von sich, und Puran und Kannar sahen sich an.

„Ach, hör auf, mir die Luft wegzuatmen, du Bauerntrampel aus Nehawa!“ spottete Mabi nur verärgert und stampfte weiter. „Mit vielen Leuten ein Zimmer zu teilen musst du doch gewohnt sein, wo deine Eltern sich wie die Karnickel vermehren!“

„Dieser Depp bildet sich echt immer noch was darauf ein, Sohn von Gahtis Dorfchef zu sein,“ murmelte Kannar, „Das ist so furchtbar, auf jedem Dorffest spielt der sich auf wie der König vom Affenland.“

„Manche lernen nie dazu,“ entgegnete Puran und sah zur Treppe, bis er plötzlich Rams Blick fing. Der Schwarzhaarige sah ihn voller Abscheu an, drehte sich dann um und stampfte Mabi nach hinauf.
 

Den ersten Tag nach der Übernachtung in Yiara verbrachte die Klasse mit einer Besichtigung der Stadt. Frau Kalih hatte über die Geschichte der Stadt, die Politik und den Aufbau der Ringe sehr viel zu sagen, wurde aber von der Hälfte der Klasse ignoriert. Mabi und seine Kumpels machten sich gerade einen Spaß darauf auf einen vorbei fahrenden Eselkarren zu springen und sich ein Stück fahren zu lassen, vom Fahrer unbemerkt. Ein paar Mädchen waren vor dem Geschäft eines Juweliers stehen geblieben und schmachteten die schönen Ketten und Ringe an, die sie nicht in zehn Leben würden bezahlen können. Letztlich war Gahti eine Dorfschule und die Klasse bestand aus armen Dorfkindern.

„Weiter zur Mitte der Stadt hin sind die Ringe der vornehmeren Gesellschaft,“ erklärte Frau Kalih gerade, als sie an einem Tor stehen blieben. „Hier wohnen die reichen Leute, wir werden nicht weiter zum Kern gehen. Widmen wir uns jetzt besser dem Westen der Stadt und…“ Weiter erzählend ging sie voraus und die Klasse folgte ihr. Aber Travi hatte plötzlich etwas ganz anderes vor Augen.

„Seht ihr diese riesige Torte da hinten?!“ japste er und zeigte auf den Hof hinter dem Tor, vor dem sie stehen geblieben waren. Augenscheinlich gehörte er zum Anwesen irgendeiner Familie hier. „Mann, ich würde meine Seele geben für diese Torte!“

„Verfressener Sack,“ tadelte Puran ihn und sah auch in den Hof, in dem viele Menschen geschäftig einher rannten und offenbar ein großes Buffet aufbauten.

„Vielleicht gibt’s da ein Festmahl oder so,“ orakelte Travi neugierig, „Ach, wieso gibt’s solche Torten nicht bei unserem Bäcker?!“

„Du und deine Torte!“ machte Kannar, „Gehen wir, die anderen sind schon fast weg!“

„Meinst du, ich kann da rein und die schenken mir ein Stück Torte?“ seufzte Travi völlig verliebt in seine schöne Torte, und Kannar schlug ihm auf den Hinterkopf.

„Hackt es?! Da darfst du nicht rein, das ist das Haus von Adeligen und wir sind nur Dorfkinder, die spießen uns auf, wenn wir da reingehen! Und das wegen einer Torte!“

„Moment,“ mischte Puran sich trotzig ein, „Ich bin kein Dorfkind, mein Vater ist Statthalter von Vikhara. Ich… kann da rein!“
 

Dummerweise war das den Bediensteten des Anwesens egal oder sie kauften den drei Jungen nicht ab, was sie sagten. Jedenfalls wurden sie hochkant wieder rausgeworfen und verbrachten den Rest des Nachmittags damit, ihre Klasse zu suchen, die sie verloren hatten. Zum Glück schafften sie es kurz vor der Pension, wieder aufzuholen, und als Frau Kalih die Schüler zählte, wunderte sie sich:

„Nanu, Lyra, Chipo und Ando? Wart ihr den Nachmittag über unsichtbar oder wieso erinnere ich mich nirgends an eure Anwesenheit…?“ Travi hustete und Puran meinte:

„Keine Ahnung, wir waren jedenfalls da.“ Frau Kalih beäugte sie misstrauisch, sagte aber nichts weiter.
 

„Hey… wach auf, Mann!“

Puran brummte und zog sich die Decke über den Kopf.

„Vergiss es, Kannar!“ nölte er, „Ich stehe nicht auf, wozu so früh am Morgen?!“

„Na, weil Frau Kalih mit uns irgendwas machen will und wir uns vor der Pension treffen sollen…“

„Mir doch egal, geht ihr zwei vor, ich, ähm… komme nach!“

„Ich hab Hunger!“ jammerte Travi, der sich im Hintergrund des Dreierzimmers fertig anzog, „Wieso müssen wir so ein doofes Treffen vor dem Frühstück machen?!“

„Du und dein Frühstück, der andere und sein Bett, ich bin von Idioten umgeben!“ meckerte Kannar gespielt beleidigt. Er versuchte seinem Freund die Decke wegzuziehen, aber vergeblich.

„Ich bin ja gleich auf!“ maulte Puran unter der Decke, „Geht doch einfach vor! Mann, die Sonne ist doch noch nicht mal aufgegangen…“

Der zweite Morgen in Yiara brach ungemütlich an. Als Puran aufstand und seine Freunde längst unten waren, hatte er das eigenartige Gefühl, mit dem falschen Fuß aufgestanden zu sein; irgendwie war heute ein übler Tag. Ein Blick aus dem Fenster in strömendes Regenwetter bestätigte seine Vermutung nur.

Er hasste es und verfluchte die Regengeister, obwohl das Land dringend Regen gebraucht hatte. Aber er war keine Pflanze, er brauchte den gerade nicht… sich murrend das Hemd zuknöpfend beeilte er sich dann, hinunter zu kommen, bevor die anderen ohne ihn gingen – wobei, das wäre nicht schlecht, dann könnte er weiter schlafen…

Seine Träume zerplatzten, als er unten vor der Pension ankam und von einer sehr schlecht gelaunten Frau Kalih ein trockenes Brötchen in de Hände geworfen bekam.

„Frühstück!“ sagte sie streng, „Na endlich, noch einen Moment länger und ich hätte dich zur Not in Unterwäsche hier rausgezerrt!“ Puran sah sie verblüfft an, dann das nackte Brötchen. Als letztes fiel sein Blick auf den ebenfalls skeptisch guckenden Ram Derran, der da auch stand; als einziger.

„W-wo sind denn die anderen?“ wollte Puran wissen. Die Lehrerin schnaubte.

„Wir machen Gruppenarbeit, sie sind in Zweiergruppen in ganz Yiara verteilt und jede Gruppe bekommt eine Aufgabe. Da Ram mit niemandem zusammen gehen wollte und du über bist… seid ihr die letzte Gruppe.“

Puran sah sein Gegenüber namens Ram fassungslos an. Der murrte.

„War nicht meine Idee, wenn du verpennst, bist du Schuld!“

„Hey, aber, aber, Frau Kalih! Das könnt Ihr nicht, ich meine, ausgerechnet-…“

„Schweig!“ schrie sie und beide Jungen fuhren zurück. Sie drückte Ram ein Blatt Papier und ein leeres Marmeladenglas in die Hand. „Verschwindet endlich und seid vor Mittag zurück! Ich akzeptiere keine Ausreden!“
 

„Toll gemacht, Lyra,“ spottete Ram Derran im Gehen, das Glas in der Hosentasche und den Zettel betrachtend. „Mir ist egal, mit wem ich zusammen rumhängen muss, ich kann niemanden von euch leiden. Aber auf einer Beliebtheitsskala von eins bis zehn bist du bei mir die Minus zehn!“

„Gleichfalls,“ schnaubte Puran und aß sein Brötchen, „Gab es für alle so ein mickriges Frühstück? Travi wird sterben…“

„Frau Kalih ist übelst gelaunt,“ sagte Ram, „Irgendwelche Idioten haben angeblich aus der Theke unten gegorenen Beerensaft geklaut und sich besoffen oder so.“ Puran blinzelte. Was? „So, also was sollen wir machen?“ murmelte Ram weiter und ignorierte seinen zwangsläufigen Mitarbeiter, auf den Zettel sehend. Puran lugte ihm über die Schulter.

„Irgendwelche… Pflanzen sammeln? In der Stadt?“ wunderte er sich.

„Außerhalb der Mauer, du Idiot, steht doch drüber!“ machte Ram und gab Puran den Zettel, „Mann, was für eine Zeitverschwendung!“

Sie verließen Yiara und marschierten eine Weile schweigend durch die karge Tundra außerhalb der Stadt. In der Ferne im Westen floss der Fluss Endh, der den Kreis Endhir begrenzte. Das Land war flach und erstreckte sich bis zum Horizont, so weit sie sehen konnten nichts als Ödland mit hie rund da mal einem Strauch. Der Boden war weich und matschig vom Regen.

„Wo sollen hier Pflanzen sein?“ fragte Puran irgendwann, „Ich sehe nur diese hässlichen Sträucher!“

„Dann nehmen wir eben davon was mit und sagen das wäre alles, was es gab,“ stöhnte Ram, „Mir doch egal…“

„Dir ist alles egal, Frau Kalih ist sauer genug, wir sollten uns mehr Mühe geben!“

„Heul doch, Frau Kalih ist mir genauso egal! Wenn ich mit der Schule durch bin, sehe ich diese Schrulle nie wieder!“

„Deswegen solltest du trotzdem Respekt vor ihr haben…“

„Sie ist eine Frau, pff…“ Puran verdrehte die Augen. Ram konnte wirklich garstig sein.

„Wie auch immer,“ fuhr er fort und sah auf den Zettel, „Dann müssen wir eben wo anders suchen und diese doofen Pflanzen sammeln, Ram!“

„Nimm meinen Namen nicht in den Mund, Lyra!“ zischte der Ältere und blieb stehen, Puran tat es ihm gleich und spuckte ihm wütend vor die Füße.

„Jetzt blaff mich nicht so an, du bist auch nicht mehr oder weniger wert als ich!“

„Ach, jetzt tust du edel, dabei ist deine Familie ein Pack von Aufschneidern und miesen Lügnern!“ spottete Ram und stieß den Kleineren wütend zurück. Ebenfalls wütend stellte er fest, dass Puran gar nicht mehr so viel kleiner war als er.

„Noch ein Wort über meine Familie und ich reiße dich in Fetzen!“

„Ich sagte, deine Familie ist ein Pack von-…“ Ram unterbrach sich und beide Jungen fuhren herum, als plötzlich ein Rascheln hinter ihnen ertönte. Ein Fuchs huschte aus dem Getrüpp hinter ihnen und über die Tundra. Sein Fell war ganz weiß, obwohl der Holzmond noch nicht mal angebrochen war.

„Was ist denn das?“ machte Ram, „En Fuchs mit weißem Fell, obwohl kein Winter ist?“

„Vielleicht ist es ein Albino?“ riet Puran verwirrt und beide Jungen starrten dem Tier nach, bis Ram sich plötzlich auf den Boden hockte und einen kleinen Ast des Strauches abbrach, den er rasch mit seinem Messer zu bearbeiten begann. Puran kannte das Verhalten inzwischen und ihm wurde klar, worauf das hinauslaufen würde.

„Denkst du das was ich denke?“ grübelte er noch, und Ram schnaubte.

„Wer ihn zuerst erwischt, Lyra,“ machte er, „Und keine Zauber dieses Mal, um das von vorne rein klarzustellen!“

„Wie du willst. Seit damals sind Jahre vergangen, ich krieg ihn auch ohne Katura. Du bist nicht der einzige Jäger in Dokahsan.“ Damit brach er sich grimmig ebenfalls einen Stock ab und warf Frau Kalihs dummen Pflanzenzettel davon, um sich ebenfalls einen provisorischen Speer zu basteln.

„Vielleicht,“ grinste Ram Derran gehässig, „Aber ein besserer als du, Lyra.“

Sie verfolgten die Spur des weißen Fuchses zum Fluss Endh. Am Ufer entlang war das Tier nach Norden gelaufen, so wechselten die Jäger die Richtung. Den Auftrag der Lehrerin hatten sie beide vergessen, es ging hier um Respekt und Ehre, das war für jeden Jungen viel wichtiger als dämliche Pflanzen. Der Regen wurde stärker, als sie schneller liefen. Der Boden war glitschig, Puran wäre einmal beinahe ausgerutscht, konnte sich aber gerade noch halten. Ram schnaubte.

„Pass doch auf, wo du hin latschst!“

„Stell dich nicht so an!“ schnaubte der Jüngere zurück und beeilte sich, Ram einzuholen. Dann sahen sie den Fuchs in der Ferne wieder auftauchen. Er rannte direkt auf das Wäldchen zu, das sich weit entfernt aufgetan hatte.

„Schneller, wenn er erst da drinnen ist, kriegen wir den nie!“ machte Ram und rannte schneller, Puran japste und holte ihn sofort wieder ein, als sie tatsächlich zu dem Tier aufzuschließen schienen. In dem Moment, in dem Ram sich wunderte, warum das Tier offenbar langsamer wurde, wurde er überholt, und er sah Puran keuchend nach und beeilte sich, wieder aufzuholen.

„Hey, du Sack, warte!“ schnappte er empört, als sie dem Fuchs immer näher kamen und beide Jungen die Speere hoch rissen. Dann war das Tier mit einem Mal verschwunden.

„Was?!“ rief Puran, „W-wo ist er hin?!“ Ram blinzelte ebenfalls verwirrt – beide Jungen bemerkten zu spät die Schlucht, die sich plötzlich zwischen ihnen und dem Wäldchen auftat, erst, als Puran abrupt davor stehen blieb und schreiend mit den Armen ruderte; Ram konnte nicht rechtzeitig bremsen und schubste den Jungen vor sich aus Versehen vorne über in die Schult, ehe er selbst den hals verlor und ebenfalls stürzte.

Sie schrien beide und während Puran es schaffte, sich an einem Vorsprung festzuhalten, rutschte Ram noch ein bisschen tiefer hinein, ehe er an einem morschen Ast Halt fand. Unten sprang der Fuchs von dannen.

„Na großartig, Lyra!“ schrie Ram entsetzt und sah hinab, „Verdammt noch mal, d-das ist tief!“

„Du hast mich doch geschubst!“ schrie Puran zurück und sah zu Ram, „Alles in Ordnung?“

„Was für eine Frage, mir fehlen nur noch eine Hängmatte und ein Steak!“ Puran brummte. Na, dem ging es gut, wenn er noch meckern konnte. Er versuchte keuchend, sich auf den Felsvorsprung zu ziehen. Als er sich fast hinauf gezogen hatte, trat er aus Versehen beinahe gegen Rams Kopf. „Pass doch auf!“ schimpfte der.

„Mann, halt dich an mir fest, du Idiot!“ meckerte Puran zurück, „Wir müssen hier irgendwie raus!“ Er sah keuchend zum Himmel und versuchte abzuschätzen, ob es schon Mittag war. Frau Kalih würde sie suchen… verdammt, sie hätten nie so leichtsinnig sein dürfen!

„Den Idioten kriegst du zurück,“ schnaubte Ram, packte aber gehorsam Purans rechtes Bein und wollte sich festhalten, in dem Moment rutschte der Jüngere oben mit den Händen von dem glitschigen Fels ab und stürzte schreiend hinunter, über Ram hinweg und landete unsanft auf einem größeren Vorsprung etwas unter ihm. Ram konnte seinen Ast gerade noch packen und der knackte bedenklich. „Da hätten wir es!“ brüllte der Schwarzhaarige, „Idiot!“

„Der Felsen ist rutschig!“ maulte Puran und erhob sich vorsichtig, als er sicher war, dass der Vorsprung hielt.

„Bleib da unten, ich ziehe mich selbst hoch!“ machte Ram genervt und versuchte mit großer Mühe, zu dem Vorsprung zu kommen, an dem Puran zuvor gehangen hatte. Nach etlichen Versuchen schaffte er es endlich, sich hinauf zu ziehen, wobei er sich an den Felsen die Hände aufriss und sie zu bluten begannen. Der Regen wusch das Blut von seinen Fingern, als er seinen Schnürstiefel auszog und die Schnur davon als Seil benutzte. „Kannst du dich daran festhalten, Idiot?!“ fragte er hinunter, und Puran brummte.

„Nenn mich nicht so! Ja, ich hab das Seil.“

„Klettere erst, wenn ich rufe!“ befahl Ram, nahm die Schnur fest in beide Hände und klemmte sie zwischen seine Füße, ehe er sich zurücklehnte, um dem Gewicht standhalten zu können. „Jetzt, und mach dich ja nicht zu schwer, du Sack!“

„Selber Sack!“ schimpfte der Kleinere und kletterte mit dem Seil hinauf zu Ram. Als sie beide auf dem oberen Vorsprung standen, war es noch ein Stück bis zur Kante der Schlucht. Ram rieb sich stöhnend die blutigen Hände und trat seinen auseinander gerissenen Stiefel in die Schlucht.

„Der ist hin, du schuldest mir Schuhe, Lyra!“

„Danke,“ machte Puran kleinlaut und Ram schnaufte. „Ich meine, danke, dass du mich gerettet hast.“

„Noch sind wir nicht draußen, und fang ja nicht an zu heulen!“ entgegnete Ram. „Kannst du bei mir Räuberleiter machen? Ich zieh dich dann hoch, aber du gehst mit nicht mit Schuhen auf meine zerfetzten Hände.“ Puran sah auf seine Hände.

„Tut sicher weh,“ stellte er doof fest, und zur Antwort wischte Ram empört das Blut an Purans Hemd ab.

„Da hast du es, jetzt gib mir deine blöden Hände!“ Puran war so gütig und faltete die Hände, sodass der andere Junge mit dem Fuß darauf steigen konnte und er ihn hinauf zum Rand hob. Sobald er oben war, zog Ram Puran erneut mit der Schnur hoch, und als sie endlich beide wieder oben waren, lagen sie erst mal eine Weile erschöpft keuchend im Matsch, klitschnass vom Regen.

„Na toll,“ murmelte Puran dumpf, „Der Fuchs ist weg, der ganze Mist war umsonst!“

„Wärst du nicht gewesen, hätte ich ihn bekommen,“ sagte Ram grimmig wie eh und je, und der Kleinere sah ihn kurz verletzt an. Ram erhob sich langsam und wischte sich die verwundeten Hände an der Hose ab. „Wärst du nicht gewesen… wäre heute manches anders.“ Das war das letzte, das er sagte, ehe er einfach so seiner Wege ging und Puran ließ, wo er war.
 

Den Rest der Reise sprachen Ram und Puran nicht miteinander. Das war auch nicht mehr nötig. Frau Kalih war ohnehin wütend, weil sie keine Pflanzen gefunden hatten, aber irgendwie interessierte das niemanden mehr. Puran fragte sich zum wiederholten Mal, was dieser Kerl für ein Problem hatte. Es lag nicht an den Zaubern, da war er sicher. Aber vermutlich würde er nie erfahren, was das tote Reh ihm vor Jahren hatte zeigen wollen; er wollte es jetzt nicht mehr wissen. Er wollte gar nichts wissen von den lästigen Geistern, die ihn nachts quälten und um den Schlaf brachten. Mitunter wachte er nachts auf und dann schwindelte ihm ganz furchtbar oder ihm wurde übel, und er hasste die Geister dafür. Hatten die kein anderes Opfer?
 

Als die Klasse wieder in Gahti ankam nach den acht Tagen, wurde Puran von seiner Tante Sukutai und Alona abgeholt.

„Nanu!“ machte er erstaunt darüber, „Guten Tag, Tante. Wo ist meine Mutter?“

„Der Rest der Familie ist in Tuhuli,“ sagte Sukutai verhalten und wirkte bedrückt. Mit einem mal kehrte das üble Gefühl zurück, das Puran schon öfter gespürt hatte; immer dann, wenn etwas geschehen war. Er erbleichte und Alona nahm ihn an die Hand, um ihn in Richtung Heimweg zu zerren.

„Was ist geschehen, Tante?“ fragte er, und sie seufzte leise.

„Nomboh Chimalis ist bei einem Brand im Anwesen ums leben gekommen, an dem Tag, als ihr aufgebrochen seid,“ erzählte sie, und er erstarrte. „Deine Eltern sind mit den anderen Geisterjägern da, um mit beim Reparieren zu helfen und den Lauf der Dinge zu besprechen. Sie werden sicher nicht vor dem Abend heim kehren… solange hörst du hoffentlich auch auf mich.“ Sie lächelte jetzt wohlwollend und er nickte apathisch.

Ja, das würde er…
 

Chimalis’ Anwesen war ein halbes Wrack. Man hatte viele Arbeiter aus Tuhuli organisiert, die halfen, aber trotzdem würde es Monde dauern, bis es wieder intakt wäre. Meoran, Keisha und Ruja waren für die Zeit bei einer von Keishas Teefreundinnen untergekommen.

„Langsam reduziert sich unser Rat,“ bemerkte Hakopa Kohdar bedauernd, während er mit Nalani und Meoran vor dem Schrotthaufen stand. Die anderen waren gerade beschäftigt mit Helfen. „Von der alten Generation sind jetzt ja nur noch Minar und ich über, und wer weiß, wie lange noch.“

„Na, nun mal nicht das Unheil an die Wand,“ sagte Nalani entrüstet. „Was macht dein Lehrling, Meoran?“

„Er… ist dumm?“ seufzte der junge Mann gerädert und fuhr sich durch die braunen Haare. „Ich hoffe, ich… kann ihm das beibringen, was wichtig ist, während ich innerlich um meinen Vater trauere… vielleicht… sollte er sich besser einen neuen Meister suchen.“ Nalani senkte den Kopf.

„Ich kann dich verstehen.“

„Ich meine, ich hab daran gedacht, das mit dem Lehrer ganz aufzugeben,“ gestand er dann, „Mein Vater hat mich immer noch verbessert und so, er… war viel weiser.“

„Er war erfahrener,“ entgegnete Hakopa Kohdar, „Du wirst diese Erfahrung noch sammeln, Meoran. Gib nicht gleich auf.“

„Echt mal, ich brauche dich noch,“ warf Nalani ein, „Wer außer dir soll bitte meinen Sohn unterrichten in vier Jahren? Ich hoffe sehr für dich, dass du das tun wirst…“ Sie sah ihn kurz an. „Puran ist kein Idiot, Puran ist ein talentierter Junge, du weißt das. Er braucht einen Lehrmeister, der auf demselben Niveau aufgewachsen ist wie er selbst.“

„Ich denke, er hasst Magie?“ machte Meoran verdutzt, und Nalani seufzte.

„Vier Jahre, mein Freund, sind eine lange Zeit…“
 

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Das ging schnell, aber dafür dauerts etwas bis zum nächsten jetzt^^ und nächstes Kapi kommt Timeskip, um mal diese langweilige Kindheit hinter mich zu bringen XD

Das Kapi war abgesehen von Nombohs Tod sehr Filler, ich weiß xDDD Und Nombohs Tod war... sehr kurz, aber das war keine Bocklosigkeit, ich dacht mir nur wir müssen jezt nicht die tausendste Bestattungszeremonie beschreiben XDDD

Wille der Geister

Die lange Zeit war schneller um, als man Zeit gehabt hätte, sich um die eigene Achse zu drehen. Ob schlimme Dinge herauf zogen oder nicht, die Welt drehte sich weiter und die Menschen mit ihr. Und mit einem Wimpernschlag der großen, sich drehenden Welt wuchs Nalanis kleiner Junge auf, mit einem Mal war er vierzehn und so gut wie erwachsen, zum Leidwesen seiner immer besorgten Mutter, die er dann bald nicht mehr brauchen würde.

So war der Lauf der Dinge.
 

Die Welt brannte. Der Himmel war verhangen von unheilschwangeren Wolken aus Blut, während die Sonne rot glühend wie ein Ball aus Flammen in einer Richtung aufging, in der sie nichts verloren hatte. Aus den blutigen Wolken regnete es Feuer und Verderben und gleißende Lichtfetzen blendeten den Jungen, der mitten im Feuer stand und sich umzingelt von Bosheit sah.

„Warum jagt ihr mich immer noch?!“ fuhr er die Geister des Himmels und der Erde wutentbrannt an, „Was wollt ihr von mir?!“

„Du irrst,“ sprachen die Geister, „Nicht wir jagen dich… du bist es, der in Wahrheit uns jagt, oder nicht? Sieh! Zorn und Tod werden über das Land kommen, ehe der dritte Sommer vergangen ist…“ Das Feuer wurde heißer und grausamer und der Junge fuhr keuchend zurück, als sich plötzlich eine noch viel grausamere, beklemmende Finsternis über seinen Traum legte, ein unheilvoller, böser Schatten, der alles Licht zu verschlucken schien, das er finden konnte, eine abgrundtiefe Bosheit, die sich von jeder noch so kleinen Hoffnung ernährte, jedem noch so kleinen Funken Glück…

Es wurde grauenhaft dunkel um ihn herum, ehe er keuchend die Augen aufschlug und den dumpfen, aber nicht minder grauenhaften Schmerz in seinem Kopf spürte, als er aus dem Bett auf den Boden knallte.
 

Er rappelte sich auf und schnappte nach Luft, die Nebel des Geistertraumes aus seinem Kopf vertreibend, so gut er konnte. Er hasste es… sie machten ihn krank und verwirrten ihn, diese barbarischen Geister, und er verfluchte sie lauthals, ungeachtet der Tatsache, dass er nachts jemanden im Schloss wecken könnte.

„Verschwindet!“ brüllte er aus vollem Hals und sprang auf die Füße, schwankte bedrohlich ob des grauenhaften Schwindelgefühls, das ihn befiel. „Hört ihr mich, Geister?! Verschwindet und kommt niemals wieder!“ Und zitternd vor Wut fuhr er herum und seine noch vernebelten Augen glühten vor Zorn, als er hinter sich ein Geräusch hörte und schon glaubte, die verdammten Geister kämen zurück; „Verschwindet und kommt niemals wieder!“ brüllte er abermals, dann verschwand der Nebel vor seinen funkelnden Augen plötzlich und er erkannte seine kleine Cousine, inzwischen fast elf, die im Nachthemd in der Türe stand und seinen herrischen, grauenhaften Blick auf eine Art erwiderte, die ihn verblüffte.

Alona hatte keine Furcht vor seinem Zorn, sie stand einfach da und als er sie keuchend anstarrte, verschränkte sie die schlanken Arme vor der Brust.

„Ist gut, ich komme niemals wieder, genug gebrüllt?“ fragte sie harsch, „Es ist mitten in der Nacht und du machst hier einen Radau, dass die Toten aufwachen! Kontrolliere deine dämlichen Träume besser, dann hört der ganze Spuk nämlich auf, habe ich gelesen. Und du als Schwarzmagier solltest das an sich selbst wissen, ich bin ja bloß Telepathin.“

Ernüchtert fuhr er sich durch die Haare und ließ sich stöhnend wieder auf das Bett fallen, ehe er sie ansah.

„Verzeih, Cousine, habe ich deinen Schönheitsschlaf gestört?“ brummte er, „Wenn du ja alles besser weißt, dann füll dein Gehirn morgen in einen Trichter und flöße es mir durchs Ohr ein oder so, bereichere doch meinen dummen Geist mit deinem Wissen!“ Alona schnaubte.

„Du musst nicht patzig werden, ich kann nicht schlafen, wenn du hier herum schreist. Meinst du echt, du kannst die Geister für immer verjagen?“ Sie lächelte. „Das ist närrisch, Puranchen.“

„Nenn mich nicht so,“ murrte er und legte sich hin, ihr den Rücken kehrend, „Und was weißt du denn, was ich kann und was nicht?“

Alona sagte nichts. Sie wusste nur, dass seine Augen, als er sie angesehen hatte im Zorn, nicht ausgesehen hatten wie die ihres Cousins, sondern wie entsetzliche Löcher aus Macht und Bosheit, mit einem Glühen wie aus einer anderen Welt.
 

Der Sommer war fast da. Die Nächte vor dem Sommermond waren schwül und heiß, ungewöhnlich für Dokahsan. Nalani saß senkrecht in ihrem Bett und starrte in die aufgehende Sonne, die sich blutrot über den östlichen Horizont schob. Die Sonne, Vater Himmels großes Auge, hatte etwas gefährliches, ehrerbietendes und schönes an sich, und Nalani bewunderte das seltsame gleißende Ding, das sich Tag für Tag seinen Weg über den Himmel bahnte. Sie fragte sich, wovon sie aufgewacht war; es war kein Geräusch gewesen, sondern vielmehr eine eigenartige Stille, die sie beunruhigt hatte. Es war keine gewöhnliche Stille, sondern eine innere, eine Stille, die nur sie wahrnahm, wie sie glaubte. Ihr Mann lag neben ihr im Bett und kehrte ihr den nackten Rücken. Als sein leises Schnarchen plötzlich aufhörte, wusste sie, dass er wach war, und drehte den Kopf in seine Richtung. Dann wusste sie, dass sie sich geirrt hatte.

„Die Geister sind schweigsam,“ waren Tabaris erste, verschlafene Worte an jenem Tag, und sie blickte ihn erstaunt an, als er sich aufsetzte, gähnte und sich dann die blonden Haare raufte. „Etwas… hat sie erschüttert, wie ein Erdbeben die Menschen von den Beinen wirft.“ Nalani senkte den Kopf und ihr Mann sah ebenfalls zur Blutsonne. Er hörte es noch immer in seinem Kopf, ganz deutlich, als würde es genau vor seiner Nase gesprochen…

„Verschwindet und kommt niemals wieder!“

Und die Geister hatten gehorcht.
 

Nalani seufzte und schob sich an den Bettrand, als Tabari sich erneut die Haare raufte, ehe er sprach.

„Es wird wohl Zeit, dass wir Puran zu Meoran schicken. Wir können das nicht noch ein Jahr warten lassen… täten wir es, würde er Dinge anstellen, dessen Ausmaß er sich nicht mal vorstellen kann, und das könnte uns allen… schlecht bekommen.“ Seine Frau senkte den Kopf.

„Ich weiß,“ machte sie, „Das beunruhigt mich.“
 

Der Rat der Geisterjäger hatte sich seit Jahren Stück für Stück verändert. Nachdem Minar Emo vor drei Jahren seinem Alter erlegen war, war Hakopa Kohdar jetzt der einzige vom Alten Schlag, wie Tabari es nannte, den ehemaligen Kollegen seines Vaters, im Rat. Minar Emo war schnell durch seinen sehr emsigen Enkel Henac ersetzt worden, der erste seit langer Zeit, der die Prüfung geschafft hatte und somit in den Rat aufgenommen worden war. Henac Emo, inzwischen ein erwachsener Mann, war ein sehr kluger und scharfsinniger Kerl, er hatte überraschende Schnelligkeit und Auffassungsgabe bewiesen, als er Barak Kohdar in der Prüfung besiegt hatte.

„Das ist eben der Emo-Clan, seit alters her sind die bekannt als hervorragende Spione, sie sind schnell, geräuschlos und unsichtbar,“ hatte Tabari dazu gesagt, als er den Neuling in den Rat aufgenommen hatte, „Es ist an sich sehr gut, so jemanden zu haben.“

„Aber der Junge ist impulsiver und härter als sein Großvater es war,“ hatte Hakopa Kohdar mehr für sich gemurmelt, ohne dass irgendwer darauf eingegangen war.

„Du willst Puran nach Tuhuli bringen?“ fragte Meoran Tabari, als sie im Regenmond einmal wieder ein mehr oder weniger sinnloses Treffen in Tuhuli abhielten. Nalani saß genervt am offenen Fenster und fächelte sich frische Luft zu, während die Herren der Schöpfung ihre Zigaretten hatten.

„Wir wollen, ja, ob er will, ist dann die nächste Frage,“ seufzte der Blonde zur Antwort, „Aber wir werden ihm schon eintrichtern, auf dich zu hören!“

„Na, bekloppter als die letzten Lehrlinge kann er sich ja nicht anstellen,“ gluckste Tare Kohdar und bekam von seinem Bruder eine Kopfnuss. „Aua…“

„Ihr seid so albern,“ behauptete der Vater der beiden entrüstet. Henac Emo verdrehte die Augen und machte ein eingebildetes Gesicht. Tabari schnaubte und warf eine Schreibfeder nach Barak Kohdar.

„Hey, du Senatoren-Verhörer, erzähl uns lieber, ob es irgendwas Aufregendes gibt, um das wir uns sorgen sollten!“ Nach Nombohs Tod war Barak Kohdar zum Vertreter des Rates im Senat ernannt worden und hatte daher den größten Bezug zu den Politikern. Barak seufzte.

„Nicht ernsthaft,“ behauptete er, „Der alte König in Vialla scheint ein echter Vollidiot zu sein, unten in Alterien hat es Aufstände gegeben. Der König ist eben so ein konservativer alter Sack und hast ein Problem mit Magiern, das Desaster kennen wir ja schon von Anthurien… viel schlimmer als wir Schamanen haben es aber wohl die Lianer im Westen von Kisara. In Senjo werden sie gefürchtet und gejagt und in Thalurien ist es nicht besser, wie es scheint, das heißt, die Lianer werden an der Grenze zwischen Senjo und Thalurien hin und her gejagt wie die Ratten. Das alles tangiert weder uns noch Dokahsan, aber ich wollte es mal erwähnt haben.“

„Dämliche Rassisten,“ empörte Meoran sich, „Das ist das, was uns Menschen von Tieren unterscheidet, glaube ich! Kein Pferd würde ein anderes Pferd verachten, weil es einer anderen Art angehört, sowas können nur Menschen. Die einen haben Angst vor allem, was Magie beherrscht, die Magier halten sich für was Besseres… wann hört das denn auf?“

Tabari antwortete seinem Freund und Kollegen und gluckste bitter.

„Vermutlich niemals, mein Guter. Vielleicht ist das der Wille der Geister.“
 

Der Wille der Geister war vieles und gleichzeitig nichts, war Puran der Meinung. Er starrte seine Eltern empört an, als sie von ihrem Rat zurück kamen und ihm eröffneten, er würde mit Beginn des Sommermondes nach Tuhuli zur Magielehre gehen.

„Nirgends gehe ich hin!“ rief er, „Das habe ich euch dreitausendmal gesagt, Mutti! Ich mache keine Lehre, ich werde kein Schamane, ich werde Jäger!“ Demonstrativ schüttelte er seinen Speer, mit dem er gerade auf dem Weg hinaus gewesen war.

„Pff!“ machte Tabari unbeeindruckt, „Für diesen Kinderkram bist du langsam zu groß! Natürlich wirst du die Lehre machen!“

„Denkt ihr, weil ihr Geisterjäger seid, könnt ihr mich herumscheuchen wie ein Hühnchen?!“ fauchte der Junge zurück, „Einen Dreck werde ich! Ich will mit Magie nichts zu tun haben, sie macht nur Unglück und Verderben, ich sehe es doch in diesen verdammten Träumen! D-die machen mich krank und ich hasse es, das müsst ihr doch einsehen!“

Nalani war unbarmherziger als ihr Mann, als sie den Sohn mit einem derartig abweisenden und kalten Blick strafte, dass er von selbst zurück trat und sie empört anstarrte.

„Du lernst, das zu beherrschen und zu lenken, wenn du in Tuhuli bist, Meoran wird dir ein guter Lehrmeister sein. Du wirst auf das hören, was er sagt.“ Ihre Worte waren kein Rat oder eine Bitte; sie waren eine Feststellung, so und nicht anders würde es sein, wenn es nach ihr ging.

Wenn, ja.

Der Junge hob trotzig den Kopf wieder und stierte sie boshaft aus den grünen Augen an.

„Bei allem Respekt,“ zischte er, „Ich bin weder Sklave der Geister noch deiner, Mutter! Ich werde nicht deine Schachfigur sein, die du setzt, wohin du sie haben willst.“ Nalani kratzte das zu seinem Leidwesen überhaupt nicht. Und sie ließ ihr trotziges Kind ihren eigenen Stolz und ihre Grausamkeit in voller Breitseite spüren.

„Bring deiner Familie nicht so eine abartige Schande, Puran. Geh mir aus den Augen!“
 

Dem Satz folgte eine grauenhafte Stille, in der sowohl Puran als auch Tabari die Frau fassungslos anstarrten. Nalani blieb eisern, bis Puran seinen Speer fallen ließ. Das Geräusch, als die Waffe auf dem Boden aufschlug, ließ selbst die Königin der Schatten erschaudern und Tabari fuhr herum, als Puran sich wortlos an den Eltern vorbei zwängte und schnellen Schrittes und mit knallender Tür das Schloss verließ. Dann fand der Blonde seine Sprache wieder.

„Was ist in dich gefahren?!“ schrie er unabsichtlich lauter als geplant, „Wie kannst du sowas zu ihm sagen, damit machst du nichts besser, Nalani!“

„Hast du eine Peilung hier?!“ schrie sie zurück und ohrfeigte ihn halbherzig, „Er wird nach Tuhuli gehen, und wenn ich ihn fesseln, knebeln und dahin schleifen muss! Es mag hart klingen, aber du weißt genauso gut wie ich, dass er gefährlich werden wird, wenn er nicht bald lernt, seine Macht zu kontrollieren! Es wird schlimmer enden als dieses Drama am ersten Schultag vor Jahren!“

„Das ist kein Grund, ihn derartig zu demütigen, du klingst wie eine blutrünstige Monarchin, die das Betteln eines Leibeigenen abschlägt, ihm mehr Korn zu gewähren! Hörst du dich reden?!“ fragte er jetzt ruhiger, aber nicht weniger zornig als seine Frau. „Ich meine es ernst, Nalani! Hörst du dich jemals reden, wenn du zornig bist? Ich weiß doch, warum du so energisch bist, aber das muss doch ohne Grausamkeit gehen! Er ist immer noch ein Kind, Nalani, du setzt ihn viel zu sehr unter Druck.“

„Er ist ein Kind, ja, aber das wird er nicht mehr lange sein,“ zischte sie und kehrte ihm den Rücken, „Apropos, du als sein Vater solltest bald mal eine Frau für ihn suchen, die ihn durch das Blutritual zum Mann macht. Falls du sowas wieder mal vergessen haben solltest, großer Herr der Geister.“ Sie wollte die Treppe hinauf stampfen, aber er hielt sie noch einmal auf, indem er fortfuhr.

„Das weiß ich, danke, Königin. Ich glaube, ich sagte es schon einmal, Nalani… du magst eine Königin sein, aber du bist keine Göttin.“ Seine Frau antwortete nicht mehr, hielt nur kurz inne und ging dann hinauf.
 

Travis Vater war Müller in der Gegend, seine Mühle stand etwas entfernt von der Straße zwischen Gahti und dem kleinen Dorf Rathuk. Travi, der ebenso viel größer wie auch breiter geworden war, hatte Kuchen vom Bäcker geholt, den er sich brüderlich mit seinen beiden besten Freunden teilte, während sie zur dritt auf der Treppe vor der Mühle hockten. Die Sonne brannte erbarmungslos auf das Land herunter. Obwohl die Luft drückend und schwül war, kam nie Gewitter. Es war ein seltsamer Sommer, dachte Puran vor sich hin, grimmig wie er war, und er hörte Kannars Frage erst beim zweiten Anlauf.

„Ich rede mit dir!“ fauchte der Heiler. „Wann willst du wieder zurück nach Hause? Meinst du, deine Mutter beruhigt sich schnell?“ Puran sah zu ihm herüber, während der Heiler auf seinem Schoß Zigaretten drehte.

„Mir egal, ich gehe so schnell sicher nicht heim,“ schnaubte Puran beleidigt. „Kann ich bei dir schlafen, Travi?“ Der dicke Müllerssohn nickte mit vollem Mund.

„Sicher,“ kaute er, „Zumindest für eine Weile.“

„Bei mir schläft nie jemand, weil alle Angst vor meiner zickigen Schwester haben,“ nölte Kannar, und Puran verdrehte die Augen.

„Ich hab keine Angst vor Akila, ich komme mir nur dumm vor mit ihr unter einem Dach zu schlafen.“

„Weil sie mit dir ficken will?“

„Sag doch sowas nicht dauernd, das ist peinlich!“ schnappte Puran und wurde rot, „Das will sie doch gar nicht, verdammt! Und ich auch nicht, ganz nebenbei!“

„Ihr Schamanen habt doch dafür sowieso noch so einen lästigen Hokuspokus, wo sich alle besaufen und dann rumvögeln, oder so,“ machte Travi amüsiert, „Ist das nicht total albern, sowas?“

„Das Blutritual?“ fragte Kannar, „Ja, irgendwie schon, aber Tradition ist Tradition. Hier, aber ihr schuldet mir Tabak und Filter!“ Er hatte seine Zigaretten fertig gedreht und gab jedem seiner Kumpels eine ab, ehe er seine eigene mit Vaira anzündete. Puran tat es ihm gleich und Travi konnte nicht zaubern und musste sich daher mit einem Streichholz helfen.

„Ich hab aber kein Geld,“ maulte der Dicke dann, „Ich schenk dir Tabak zum Geburtstag, bis dahin hab ich vielleicht Geld.“

„Verfressener Sack, kauf einfach weniger Kuchen!“ nölte Kannar missgelaunt. Puran stieß seinen Freund glucksend an.

„Und ich dachte ich wäre derjenige mit der schlechten Laune! Travi, lass uns mal was mit Kannar machen, dass der mit seinem Gemecker aufhört, ist ja furchtbar. Ich sollte ihn zu meiner Mutter schicken, dann können sie zusammen meckern.“ Travi lachte.

„Kannar muss ein Mädchen küssen, küssen macht gute Laune.“ Der Heiler zog an seiner Zigarette und schnaufte.

„Nein, danke.“

„Ach, du weißt nur nicht, wie das ist.“

„Ja, weil ich der einzige Idiot im ganzen Kreis bin, der noch kein Mädchen geküsst hat!“ meckerte Kannar, und die beiden anderen lachten ihn aus. Kannar trat Puran gegen die Beine und warf seine Kuchengabel nach Travi. „Das ist nicht witzig!“

„Da wird es doch irgendeine Dumme geben, die dich küssen will, wenn sie selbst mich küssen,“ kicherte der Blonde, „Und ich bin fett, wer küsst schon Fette?“

„Offenbar diverse,“ machte Puran, „Wenn Kannar nicht immer so böse gucken würde, würde sich vielleicht auch mal eine trauen, mit ihm zu reden.“

„Wo sie dir ja in Scharen nachrennen, du hast gut reden,“ empörte der Heiler sich, und Puran raufte sich die Haare.

„Hey, ich such mir das nicht aus, ich würde gerne mit dir tauschen, Kannar. Hör auf zu meckern und mach lieber neue Kippen, die hier sind gleich weg.“ Er wedelte theatralisch mit der Kippe in seiner Hand vor Kannars Nase herum, und der seufzte.

„Jawohl, Chef, ich liege dir zu Füßen!“

„Na, als Oberhaupt von Broti kann ich das ja wohl erwarten,“ scherzte Puran gespielt arrogant, und die drei mussten lachen.
 

Im Haus der Mühle war es furchtbar warm in der Nacht. Puran schlief auf einer Matte am Boden, während sein Freund Travi neben ihm in seinem Bett lag. Obwohl Travi schnarchte, war es angenehm still; der Blonde wohnte nur mit seinem Vater zusammen im Haus, daher war nie viel Radau. Aber die Stille war anders, angenehmer. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der Junge das Gefühl, nicht von den dämlichen Geistern gejagt zu werden… es fühlte sich gut an, so ruhig. Vielleicht lag es auch daran, dass er fern war von seiner meckernden Mutter. Er drehte sich auf die Seite und seufzte, als er an sie dachte. Er liebte sie ja trotz allem, aber in der letzten Zeit hatte sie oft verletzende Dinge gesagt. Vielleicht war es unabsichtlich gewesen… aber um jetzt auf Knien vor ihr zu kriechen und um Vergebung oder Verständnis zu bitten ließ sein Stolz nicht zu. Es würde sich schon einrenken…

Etwas streifte seinen Kopf und er fuhr schnaubend hoch.

„Travi!“ brüllte er, „Ihr habt Mäuse in de Mühle! Da war eine an meinem Kopf!“ Travi blinzelte verpennt.

„Das war mein Fuß, Idiot… schlaf weiter!“ Puran schnaubte und sah auf Travis Fuß, der aus dem Bett hing.

„Dann pack deine Füße nicht auf meinen Kopf, Mann!“ brummte der Jüngere empört und legte sich wieder hin, den Fuß weg schiebend.

Abgesehen von Travis Fuß, der ab und an wieder auf seinen Kopf fiel, schlief er so gut wie noch nie. Die Stille war angenehm… zum ersten Mal hatte er das Gefühl, befreit zu sein. Wie gut, dass er entschieden hatte, diese Lehre nicht zu machen – die Geister hatten wirklich aufgegeben! Endlich würden sie ihn nicht mehr jagen…
 

Die Stille begann erst nach Tagen, ihn zu beunruhigen. Wenn es sich zuerst gut angefühlt hatte, so beängstigte ihn die Leere in seinem Kopf irgendwann, als der Sommer näher kam. Es war unnatürlich ohne Visionen, ohne Geister… er hatte sie verjagt, sie zürnten ihm und das war schlecht. Plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen… aber mit seinen Eltern darüber zu sprechen kam nicht in Frage. Seine Freunde Kannar und Travi verstanden ihn nicht; Travi war nicht mal Magier und Kannar als Heiler hatte gar keine solche Visionen oder Geisterstimmen im Kopf. Und Alona, die durch Gedankenlesen erkannte, was mit ihrem Cousin nicht stimmte, war auch keine große Hilfe.

„Du hast die Geister für immer verjagt, jetzt wirst du auf ewig verdammt sein!“ trällerte sie dabei. Alona hatte eine wunderbare Singstimme und konnte sehr schön singen, aber in dem Fall wollte Puran das nicht hören. „Du wirst sicher sterben oder so!“

„Ach, lass mich in Ruhe, du blöde Tante!“

Und noch beunruhigender war, dass seine Eltern nichts mehr sagten zu dem Thema. Die Zweifel brachten ihn jetzt mehr um den Schlaf als es die Visionen je getan hatten…
 

Er fragte sich, ob seine Schwarzmagierfreunde aus dem kleinen Zauberclub etwas dazu sagen könnten. Er sah Madanan und die anderen selten, seit die Schule vorbei war. Ab und zu trafen sie sich an einem alten, halb zerfallenen Bootssteg unterhalb der Klippen, knapp nördlich vom Lyra-Schloss. Es führte ein sehr steiler und schmaler Serpentinenweg hinunter, am Hang entlang und zu einem winzigen Stück Strand, von dem aus der Steg ins Meer führte. Früher einmal mussten hier Boote angelegt haben, aber das schien Jahrhunderte her. Der Kameraden kam der verlassene Ort zum Üben von zaubern ganz recht.

An dem Tag im Regenmond hatten sie plötzlich einen Neuling in ihrer Mitte. Narya hatte das blonde Mädchen mitgebracht.

„Sie ist zwar erst zwölf, aber wir kennen uns von früher aus der Schule!“ erzählte die inzwischen vierzehnjährige Narya gackernd und hängte sich dabei an Purans Hals, während sie hinter ihm stand und er am Rand des Stegs saß und verblüfft auf das neue Mädchen starrte. „Sie kommt aus Rathuk und heißt Cholena Dabovi!“

Na, das war ja ein Zufall. Puran starrte das Mädchen mit den blonden Zöpfen an, während Narya kichernd an seinem hals hing und ihn amüsiert knuddelte. Auch de älteren Jungen beäugten Cholena, dann ergriff Umar, einer der Ältesten, das Wort.

„Und sie ist gut?“ fragte er Narya, „das klingt so asozial, ich weiß, aber wir sind ja zum Üben hier und da ist es besser, wenn wir alle auf einem ähnlichen Niveau arbeiten – nicht, dass wir an Prinz Lyras Niveau jemals heran kämen…“ Er meinte den Spot keinesfalls böse und grinste Puran nur wohlwollend an, der streckte ihm die Zunge heraus.

„Lass den Scheiß, Umar!“

„Ihr beide kennt euch wohl schon?“ warf Madanan ein, der im Hintergrund stand. Der Junge war ungewöhnlich blass in letzter Zeit, Puran fragte sich, ob er krank war. Dann fiel ihm die Frage wieder ein und er schnappte nach Luft und sah verwirrt zu Cholena, die noch nichts gesagt hatte.

„W-was?! Nein, äh, ich meine, flüchtig! Wir haben uns in einer Pause getroffen vor Jahren.“ Er grinste jetzt und Cholena errötete verlegen und verknotete lächelnd ihre schlanken Finger. Als er sie ein weiteres Mal ansah, stellte Puran erstaunt fest, dass aus dem kleinen, freundlichen Mädchen von damals eine richtige, sehr junge Frau geworden war. Sie war gewachsen und ihre Hüften waren rund geworden wie bei einer Erwachsenen… Narya lenkte ihn ab, die ihn immer noch knuddelte.

„Aah, so ist das! Dann wollte sie sicher deinetwegen mit her!“ scherzte sie, und Cholena schnaubte.

„Was? Stimmt gar nicht!“

„Im Ernst,“ Narya hörte zu kichern auf und ließ den komplett verwirrten Puran los, ehe sie sich an Umar wandte. „Sie ist richtig gut. Ihre Yira schlägt deine, sage ich, Umar.“ Umar zog eine Braue hoch, Madanan hustete im Hintergrund. Die anderen Jungen sahen sich an und Cholena errötete.

„Das hat Narya behauptet, nicht ich!“ sagte sie sofort. Puran dachte an den Eiszauber Yira. Er selbst benutzte ihn fast nie, sein Spezialgebiet war nun einmal Wind und nicht Eis. Umar gluckste und sah auf Cholena. Mit seinen sechzehn Jahren war er deutlich größer als sie.

„Dann zeig mir mal, was du kannst, Mädchen! Dann schauen wir, ob Narya Dummheiten redet.“

„Madanan, die halten mich für blöd!“ meckerte Narya und hockte sich an den Rand des Stegs. Madanan antwortete seiner Cousine nicht.

Ratan Kindo, der Sohn des Schmieds, hatte für alle Saft mitgebracht. Während Umar sich mit Cholenas tatsächlich beeindruckender Yira auseinandersetzte, hockten die anderen am Strand, die Hälfte mit Zigaretten, tranken Saft und amüsierten sich über das Schauspiel.

„Mach ihn fertig, Mädel!“ jubelte Ratan gerade glucksend, „Ich pinne in Tuhuli ein großes Schild an den Markt, Zwölfjährige haut Umar platt mit Yira, oder so. Da lachen ja die Hühner.“

„Häng das in Dralor auf, Alter,“ machte Narya neben ihm und zog an ihrer Kippe, „In Tuhuli kennt uns ja keiner, in Dralor, wo wir wohnen, lachen dann wirklich die Hühner. Oder der Hahn, es sind keine Hühner mehr da.“

„Keine Hühner?“ schnaubte Ratan, „Was habt ihr mit denen gemacht?“

„Die wurden arbeitslos, als Narya in die Pubertät kam und zu gackern anfing,“ sagte Madanan bissig und alle lachten schallend. Die Blonde warf mit Sand nach den Jungen.

„Ihr dreckigen Wilden,“ stöhnte sie und erntete noch mehr Gelächter. Puran tätschelte ihr den Kopf und sie schnaufte.

„Nimm es nicht schwer, solange du nur gackerst und nicht dem Hahn seine Eier legst, ist doch alles gut.“ Ratan Kindo fiel lachend in den Sand und Narya bohrte den Rest ihrer Zigarette in den Boden, um ihn zu löschen.

„Na, wer weiß, was ich noch so mache?“ grinste sie, und er schnaubte jetzt auch und schob sie von sich weg, als sie zu kichern anfing.

„Eigentlich müssten wir ein großes Abschiedsfest feiern, oder?“ fiel Ratan auf, „Wo ihr drei Kleinen dann ja auch dran seid und ein Jahr in Isolation seid… Umar, Tokahe und ich haben das ja schon hinter uns!“ Puran starrte ihn an. Die Lehre, was sonst… er senkte murrend den Kopf.

„Ich gehe nicht weg,“ sagte er düster und alle verstummten und sahen ihn an. Narya blinzelte, Madanan raufte sich die schwarzen Haare.

„Wie, nicht?“ fragte Ratan, „Gerade du machst doch die Lehre?! Du bist doch vom Lyra-Clan! Wenn selbst wir zweitklassigen Deppen das machen…“

„Gehen du und Narya weg, Madanan?“ fragte Puran seinen Freund, der stumm nickte.

„Natürlich. Du bist also immer noch stur und willst nicht?“ Purans Blick wurde finster. Umar und Cholena kamen dazu und sahen verwirrt drein über die ernsten Gesichter.

„Was ist los?“ wollte die Kleine wissen.

„Du willst keine Lehre machen?“ fragte Tokahe, ein Kumpel von Umar, jetzt entsetzt, „Das ist doch dumm… da lernst du doch erst die wichtigen Dinge fürs Zaubern!“

„Ich habe mit Magie nichts am Hut,“ Puran erhob sich grimmig und klopfte sich den Sand von der Hose. Aus seiner Tasche zog er eine neue Zigarette und steckte sie sich an. „Ich werde Jäger, dafür brauche ich keine Isolation.“ Umar begriff auch, worum es ging, und lachte.

„Was bitte? Was hast du dann hier verloren?“

„Sag sowas nicht!“ machte Cholena erschrocken, aber Puran ignorierte beide und zog seelenruhig an seiner Zigarette, während er in den Süden starrte. Hinter den Klippen oben ging die Sonne unter. Es war spät geworden.

„Selbst wenn ich wollte,“ begann er dann, „Da wäre ich falsch. Ich kann nicht… die Geister reden nicht mehr mit mir.“ Da hatte er gleich eine Möglichkeit gefunden, von seiner Beunruhigung zu erzählen.

„Warum das? Sowas gibt’s?“ fragte Tokahe.

„Scheint so, Klugscheißer,“ entgegnete der Jüngere, „Ich gehe nicht hin, Punkt. Meine Eltern sehen das leider anders, die versuchen, mich zu zwingen… die können mir gar nichts.“ Er erntete betroffenes Schweigen auf seine grantige Ansage. Vermutlich wagte niemand mehr, ihm zu widersprechen.

Narya erhob sich langsam.

„Ich muss heim,“ meldete sie an und kam sich dumm vor, so in das Thema hinein zu fahren. „Madanan, bringst du mich auf die Klippe?“ Ihr Cousin seufzte.

„Geh alleine, du bist kein kleines Kind mehr.“ Das Mädchen maulte und hängte sich ein weiteres Mal an Purans Hals.

„Bringst du mich, Madanan ist gemein zu mir!“

„Albernes Mädchen,“ tadelte ihr Cousin sie und Puran erhob sich großzügig wie er war und schob Narya von sich weg.

„Ist ja gut, ich bringe dich rauf zur Straße nach Dralor!“
 

Der Serpentinenweg hinauf auf de Klippe war beschwerlich, wenn man hinauf musste. Wobei hinunter nicht unbedingt angenehmer war. Puran ging hinter Narya und achtete auf sie, damit sie nicht ausrutschte; Narya war ein geschicktes Mädchen und an sich passierte ihr sowas nicht, aber man wusste ja nie. Als er so mit ihr hinauf wanderte und sie ihm sinnlose Dinge erzählte, die ihn gar nicht interessierten, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass Madanan recht hatte… sie war wirklich kein Kind mehr. Sie war fast schon eine Frau, genau wie Cholena, noch mehr eigentlich, sie war immerhin älter. Er betrachtete sie eine Weile schweigend von hinten, ihre blonden Locken, die über ihrem Rücken wippten, und ihren hübschen, kurzen Rock, der knapp ihren Hintern bedeckte. Er errötete bei den Gedanken, die in ihm hoch kamen, als er sie länger ansah, und er drehte verlegen den Kopf weg. Es war unverschämt, eine Frau auf so eine Weise anzusehen; erst recht ein junges Mädchen…

Unter Schamanen war es seit Urzeiten Tradition, junge Mädchen und Jungs durch das sogenannte Blutritual erwachsen zu machen. Das Blutritual war eines der ältesten und wichtigsten Rituale der Magier Tharrs, es machte Mädchen zu Frauen und Jungen zu Männern, indem sie ihre erst Vereinigung erlebten. Den alten Bräuchen hatten sich alle zu beugen und die Tradition durfte von keiner Familie missachtet werden, das war der Wille der Geister, hatte sein Vater ihm einst erklärt. Puran fand die Tradition in diesem Fall albern; Nichtmagier galten einfach ab ihrem sechzehnten Geburtstag als erwachsen, das war doch viel einfacher und sparte so einiges…

In dem Moment erreichten Narya und er die Klippe und standen vor der hochgewachsenen Wiese, die sich bis hin zur Straße erstreckte.

„Sag mal, du hörst mir gar nicht zu, oder?!“ empörte Narya sich gerade und hielt abrupt an, als sie drei Schritte von der Klippe weg getan hatten, und unvorbereitet auf diese Bremsung lief er in sie hinein und stieß sie aus Versehen um.

„Nein, ich meine, habe ich – aahh!“ machte er dabei entsetzt, Narya quiekte, packte sein Hemd und hielt sich daran fest, womit sie ihn mit sich auf die Erde riss. Sie fluchten beide ungehalten und schrien, als sie den kleinen Hügel herunter auf die Wiese rollten, durch das hohe Gras und an einem kleinen Maulbeerbaum vorbei, nach einer Weile wurde das Schreien automatisch zu Lachen. Als sie in ein Gestrüpp aus Jujube gerollt waren und Narya auf Puran lag, lachten sie sich gegenseitig aus und kriegten sich gar nicht mehr ein.

„Was für ein Müll!“ gackerte Narya und haute ihm auf die Brust, „Was wirfst du mich um?!“

„D bist einfach stehen geblieben!“ prustete er ebenfalls und versuchte, sie weg zu schieben, „Geh runter…“ Er musste immer noch lachen, während sie jetzt aufhörte und sich vorsichtig aufsetzte, sodass sie breitbeinig auf ihm saß. Ihr hingen die Zweige des Strauches ins Gesicht und sie strich sie kichernd zur Seite, ohne von dem Jungen herunter zu gehen. Er hörte auch endlich zu lachen auf und eine Weile sahen sie einander schweigend und grinsend an. Dann sah Narya am Gestrüpp empor.

„In Dralor haben wir auch einen Jujube-Baum hinter dem Haus,“ erzählte sie, „Die Beeren nennen die Heiler auch Brustbeeren, man kann Tee aus ihnen machen.“ Während sie erzählte, wurde sie immer leiser und er setzte sich schließlich mit ihr auf dem Schoß auf und hielt sie fest, damit sie nicht rückwärts umfiel.

„Ah, so,“ machte er, „Schmeckt der denn, der Jujube-Tee?“

„Ist gut bei Erkältung,“ sagte das Mädchen leicht lächelnd. „Hast du mal Brustbeeren gegessen?“

„Nicht dass ich wüsste,“ erwiderte er. Das Mädchen sagte nichts und er auch nicht mehr, er sah sie nur an. Ihr hübsches, sonnengebräuntes Gesicht und ihre brauen Augen, wie dunkle kleine Steine waren sie in ihrem von blonden Locken eingerahmten Gesicht. Narya war ein sehr schönes Mädchen. Er fragte sich, wie Jujube-Tee schmecken sollte…

Narya fasste mit den warmen Händen nach seinem Gesicht und beugte sich über es, um ihn zärtlich zu küssen. Er war nicht überrascht darüber, dass sie das tat, und erwiderte ihren Kuss mit derselben, verlegenen Schüchternheit. Sie schmeckte sicher nicht nach Jujube, eher nach Orangensaft, und sie roch angenehm. Ihre Lippen waren weich und sehr warm, als er seine etwas mutiger gegen sie presste und sie de Mund öffnete, um mit der Zunge über seine Lippen zu streicheln. Narya beugte sich über ihn, während sie den Kuss vertieften, bis sie wieder auf ihm lag zwischen den Jujube-Sträuchern. Er errötete ungewollt, als sie sich voneinander lösten, und Narya grinste.

„War das dein erster Kuss?“

„Nein…“ Er räusperte sich, „Kannars Schwester hat mich vor zwei Jahren mal geküsst.“

„Ich hätte mich auch gewundert. Du küsst gut…“ Sie lächelte und wurde leicht rosa im Gesicht, auf ihm liegend. Ihre Hände strichen über seine Brust, hinab und wieder hinauf zum ersten Knopf seines Hemdes, während sie sich wieder herunter beugte und sie sich erneut küssten. Als sie sich abermals lösten, verließen ihre Hände sein halb aufgeknöpftes Hemd und schnürten ihre eigene Bluse auf. Er starrte sie an, als sie das dünne Stoffstück von ihrem Oberkörper streifte. Darunter war sie nackt und der Junge spürte eine seltsame Hitze in sich aufsteigen beim Anblick ihrer wohlgeformten, runden Brüste. Im kühlen Wind wurden ihre Brustwarzen hart und richteten sich auf, als sich das Mädchen vorsichtig wieder über ihn beugte. „Die Brustbeeren sehen auch so aus, wenn man sie trocknet,“ flüsterte sie ihm ins Ohr und er räusperte sich ein weiteres Mal. Dann küsste sie ihn. Puran hob seine Hände, um ihre nackten Brüste anzufassen, genauso weich und warm wie ihre Lippen waren sie, die seine berührten. Nur die Brustwarzen waren hart, tatsächlich wie kleine getrocknete Beeren. Und wie kleine Beeren nahm er sie sanft in den Mund, nachdem sie sich herum gedreht hatten und sie jetzt im Gras lag. Sie seufzte leise und legte die Arme um seinen Hals, ehe sie anfing, wieder an seinem Hemd zu nesteln. Er erschauderte, als ihre Hände über seine Haut glitten, sein Hemd abstreiften und seine Arme entlang strichen, wieder hinab über seinen jetzt nackten Oberkörper bis zum Knopf seiner Hose. Er besiegte den inneren Drang, dieser Hitze in sich nachzugeben und zuzulassen, dass sie ihn mehr berührte; heftiger, intimer… er schob seufzend ihre Hände weg.

„Das reicht,“ murmelte er heiser und war nervös durch die komische Hitze in seinen Lenden. Das halb nackte Mädchen lag unter ihm im Gras und er sah wieder auf ihre hübschen Brüste. Zu gerne hätte er sie weiter gestreichelt und geküsst, aber irgendwo in seinem Kopf hatte sich jetzt sein Gewissen eingeschaltet. „Ich… meine… ich hab das Blutritual noch nicht gemacht, bevor ich das nicht habe, können wir das nicht.“

„Ich weiß,“ sagte sie und setzt sich auf. Sie hob ihre Bluse vom Erdboden auf und zog sie sich lächelnd wieder an, während er aufstand und seine Hose zurecht rückte. „Ich hatte das Ritual auch noch nicht, ich wäre schon nicht zu weit gegangen. Aber ist in Ordnung. Ich… bin immer so neugierig, verzeih mir, Puran.“ Er wurde rot, als er sein Hemd ebenfalls aufsammelte und es sich wieder anzog. Als er es zuknöpfen wollte, stellte sie sich angezogen wieder vor ihn und machte es für ihn, er sah ihr schweigend zu.

„Da gibt es nichts, was ich verzeihen müsste,“ murmelte er, „Hat sich gut angefühlt.“ Sie lachte leise.

„Wenn wir beide ganz erwachsen sind, können wir ja an der Stelle weitermachen, an der wir aufgehört haben…“ Er grinste sie jetzt ebenfalls schelmisch an und zwickte sie in den Bauch.

„Aber nicht im Gestrüpp, das piekst überall…“
 

Die Versammlung unten am Steg löste sich bereits auf, als Puran Narya endlich zur Straße gebracht hatte und wieder herunter kam. Auf dem Weg kamen ihm schon Ratan, Umar und Tokahe entgegen, die in Richtung Tuhuli wollten. Sie fragten ihn auch, ob er mitkommen wollte, aber er lehnte dankend ab. Seine Mutter würde ihn aufspießen, wenn er unangekündigt am Abend wegging; und die Sonne war jetzt fast ganz untergegangen.

Er dachte verlegen an Narya und die Jujube-Beeren, als er den Rest der Serpentinen hinunter kletterte und beim Steg ankam. Er dachte an die getrockneten Beeren und die Brustwarzen des hübschen Mädchens, und die Hitze kehrte wie automatisch in seinen Körper zurück, obwohl er mit aller Macht versuchte, dagegen anzukämpfen…

Überraschenderweise fand er am Steg als einzige Verbliebene Cholena. Sie saß ganz vorn am Meer und sah nach Osten, wo die Dunkelheit herauf zog. Er sprach sie aus der ferne an, aber sie hörte ihn entweder nicht oder ignorierte ihn, so ging er zu ihr und hockte sich neben sie. Cholena bemerkte ihn erst jetzt und schrak hoch, dann errötete sie verlegen.

„Oh, i-ich hab dich nicht kommen gehört,“ flüsterte sie, „Entschuldige.“

„Macht nichts,“ sagte er, „Du sitzt hier ja noch, musst… du nicht heim nach Rathuk?“

Cholena lachte. Ihre Stimme war glockenhell und klang sehr angenehm, er hörte sie gerne sprechen, fiel ihm in dem Moment auf. Ihr Lachen war zuckersüß…

Er verdrängte die Gedanken an Naryas süße Brustwarzen und drehte errötend den Kopf weg. Er saß hier vor Cholena, verdammt! Als er wieder zu ihr sah, blickte sie ihn lächelnd an. Ihre Augen waren nussbraun und groß, ihr Gesicht war blass, bis auf ihre Wangen, die einen gesunden Rotschimmer hatten.

„Ja, ich werde gleich heim gehen. Aber dort wartet niemand auf mich, deswegen kann ich auch noch etwas hier bleiben. Ich komme manchmal an die Klippen und höre dem Windlied zu. Hast du das schon mal gemacht?“

„Ähm, nein,“ gestand er konfus.

„Dann horch mal,“ riet sie ihm strahlend, „Die Seelen singen im Wind.“ Puran lauschte. Er hörte erst nichts, doch nachdem er tief in sich hinein gehorcht und geschwiegen hatte, hörte er tatsächlich ein leises Wispern und Summen im Wind. Geisterstimmen. Er hasste sie eigentlich, aber in diesem Moment verspürte er keinen Groll gegen sie. Es war ein friedliches, liebevolles Summen, und es klang angenehm, er hörte eine Weile schweigend zu. Cholena unterbrach seine Meditation.

„Meine Eltern und meine Großmutter singen auch mit,“ verkündete sie lächelnd, „Sie singen mir abends manchmal ein Schlaflied, wenn ich nicht einschlafen kann. Es klingt schön… ich bitte sie oft, es noch einmal zu singen.“

Puran erbleichte und fiel rückwärts auf den hintern vor Schreck.

„D-deine Eltern sind… oh, d-das habe ich gar nicht gewusst! Entschuldige…“

„Macht doch nichts, ist schon gut. Sie sind glücklich im Geisterreich,“ behauptete das Mädchen und wagte es, ihn länger anzusehen. Er schämte sich jetzt, sie anzusehen, weil er sich ungehobelt vorkam, aber sie betrachtete jeden Zoll seines Körpers aufs Genaueste. Er war ein bildhübscher Junge und Cholena war gewiss nicht das einzige Mädchen, das ihn mit Vergnügen ansah. „Sie machen… sich nur manchmal Vorwürfe, weil sie mich nicht mehr umarmen können… sie beschützen mich aus dem Geisterreich, da bin ich sicher.“ Puran sah sie bedrückt an. Es deprimierte ihn zu wissen, dass ihre Eltern tot waren, obwohl sie noch so jung war. Das verdiente sie nicht! Cholena war freundlich und liebenswert, wieso ließen die Geister zu, dass so jemand alleine gelassen wurde?

„Sprichst du mit ihnen, wenn du schläfst?“ hörte er sich fragen, und sie nickte.

„Ja, jede Nacht. Es ist sehr angenehm. In dem haus in Rathuk ohne ich jetzt alleine, ich… fühle mich manchmal sehr einsam da. Deshalb bin ich euch so dankbar, dass ich mit euch üben darf! Das.. das ist eine sehr große Ehre für mich, mit Leuten aus adeligen Clans zusammen üben zu können!“

„Es geht ja nicht um adelig oder nicht adelig,“ widersprach er ihr behutsam, „Wir freuen uns, dass du deine Zeit bei uns verbringen willst…“ Er zögerte und korrigierte sich, „Na ja, also, ich freue mich.“ Sie wurde jetzt kirschrot.

„Im Ernst?“

„Natürlich, warum denn nicht?“ Er grinste fröhlich. „Also… du wohnst ganz alleine da oben in Rathuk?“ Sie nickte wieder und er räusperte sich. „Na ja, ich meine… wenn du Hilfe brauchst in irgendeiner Weise, komm zu mir, wenn du magst.“ Sie weitete die Augen und er dachte zuerst, sie würde etwas sagen; dann sagte sie aber nichts, erstrahlte nur wie eine kleine Sonne und blickte ihn an.

„Das ist sehr lieb!“ erklärte sie, indem sie sich erhob und sich tief vor ihm verneigte. „Ich… meine… danke. So etwas Liebes hat mir glaube ich noch niemand angeboten…“ Er erhob sich auch, weil sie im Begriff war, heim zu gehen. Sie gaben sich förmlich die Hand. Cholenas Hände waren ganz furchtbar zart und weich anzufassen. Er hielt sie etwas länger fest als nötig und sie strahlte, als sie sich wieder losließen.

„Du gehst jetzt?“ erriet er ihr Verhalten, und Cholena nickte wiederum.

„Ja, im Dunkeln mag ich nicht heim gehen. Vielleicht… sehen wir uns ja demnächst mal wieder?“ Sie lächelte verschmitzt und Puran grinste.

„Sicherlich. Komm gut heim!“ Er sah ihr nach, als sie die Serpentinen hinauf ging. Er hatte größten Respekt vor dieser jungen Frau, die so tapfer den Willen der Geister und den Tod ihrer Familie hinnahm.

Er könnte das nicht, wäre er an ihrer Stelle… da war er sicher.
 

Als er Schritte hinter sich hörte, drehte Puran sich um und merkte, dass Cholena doch nicht die letzte gewesen war. Madanan war hinter ihm aufgetaucht und sah ihn jetzt aus den pechschwarzen Augen schweigend an.

„Ah, du bist das,“ machte Puran nickend und Madanan nickte zurück. „Ich habe dich gar nicht bemerkt bis eben…“ Der Schwarzhaarige senkte den Kopf.

„Ich muss mit dir reden,“ kam dann dumpf, und der Jüngere zog verwirrt über die Ernsthaftigkeit die Brauen zusammen. Madanan brummte. „Es geht um dich, es… ich bin sauer auf dich, ehrlich gesagt.“

Dem Jungen versetzte es einen kleinen Stich. Es fühlte sich scheußlich an zu wissen, dass jemand einem böse war – erst recht nicht, wenn man den Grund nicht kannte.

„W-warum?!“ empörte er sich so entsetzt. Sie verließen den Steg und gingen sehr langsam den Strand hinauf, an der Klippe entlang, während Madanan sprach.

„Deine Einstellung kotzt mich an. – Sag nichts, lass mich bitte erst ausreden. Du willst keine Lehre machen, sagst du. Gut, deine Entscheidung, aber die Begründung ist für den Arsch. Du weißt das genauso gut wie ich, Puran. Ich sage dir solange wir uns kennen, du kannst nicht wegrennen, die Magie ist unweigerlich ein Teil von dir! Und offenbar rede ich gegen eine Wand, das kotzt mich echt an! Du wehrst dich mit Händen und Füßen gegen das, was du bist, das… das ist, als würdest du nicht akzeptieren, dass du zwei Augen und eine Nase hast! Es geht nicht nur um die Ehre der Geister, die du in den Dreck ziehst, es ist einfach so… dermaßen feige, immer wegzurennen!“

„Dann bin ich eben feige, ist doch meine Sache!“ schnaubte Puran ihn an, „Du hast doch keine Ahnung! Du hast doch früher immer verstanden, als Einziger, dass ich die Magie mehr als alles andere fürchte! Du weißt doch, wer mein Großvater war und was er getan hat! Seine Gene sind auch meine, sein Blut fließt durch meine Adern und ich bin auf dem besten Weg, so wie er zu werden!“

„Du redest seit Jahren dieselbe Scheiße!“ brüllte Madanan, „Natürlich hast du sein Blut in dir, na und?! In meinem Clan gab es vor tausend Jahren einen Idioten, der Massen von Menschen umgebracht hat, na und, ich bin mit ihm verwandt, aber ich bin nicht er! Und du bist nicht dein Großvater! Dein Vater ist auch mit ihm verwandt und ist ein begnadeter Magier, ist der etwa auch böse?! Außerdem teilen sich die Menschen nicht in gutmütige und Arschlöcher, jeder hat seine dunkle und seine helle Seite!“

„Und ich halte es für meine hellere Seite, wenn ich niemals zaubere!“ antwortete der Braunhaarige ärgerlich darüber, dass der Einzige, der ihn je verstanden hatte, sich plötzlich gegen ihn stellte. „Du kapierst das nicht, du bist anders als ich!“

„Ja, definitiv,“ schnappte Madanan, „Ich renne nicht weg, ich bleibe stehen und sehe meinem Schicksal ins Gesicht, ich nehme es an und mache das beste daraus! Deshalb gehe ich auch eine Lehre machen, ich trainiere seit Monden von früh bis spät, um meiner Familie diese Ehre erweisen zu können und nicht nutzlos am Rande stehen zu müssen!“ Puran blieb stehen und keuchte, bevor er weiter schrie.

„Dann mach das doch, du Dreckskerl, und schrei mich nicht an! Was ich tue oder lasse ist nicht dein Bier, Madanan! Du hast keine Ahnung, was diese Macht in mir macht! Was sie aus mir macht! Ich kann das nicht kontrollieren, ich würde aus versehen alles zerstören! Du weißt doch wie jeder andere in ganz Gahti, was ich an meinem ersten Schultag getan habe, wenn ich zulasse, dass ich zaubere, dann passiert sowas nur wieder!“ Er fuhr herum und starrte sein Gegenüber an; Madanan war auch stehen geblieben und… lachte. Puran war völlig verwirrt. „Warum lachst du?!“

„Du sagst, ich habe keine Ahnung!“ lachte er schallend und fuhr sich durch die schwarzen Haare, die ihm ins Gesicht hingen. „Du… sagst, ich kapiere das nicht! Was glaubst du, warum ich so darauf versessen bin, dir die Augen zu öffnen? Denkst du echt… das wäre aus Spaß an der Freude? Wir beide sind uns viel ähnlicher als du denken magst, Puran Lyra.“ Puran sah ihn groß an, die grünen Augen geweitet, während Madanan den Kopf wieder senkte. Die Erkenntnis war wie ein Schlag mit einem Brett gegen seinen Kopf.

„Du… hast sowas auch erlebt…“

Er hatte aufgehört zu lachen.

„Etwas Ähnliches. Und im Gegensatz zu dir ist es bei mir damals nicht gut ausgegangen.“ Es schien ihm schwer zu fallen, die Worte über die Lippen zu bringen, denn er zitterte, als er Puran den Rücken kehrte und weiter sprach. „Ich habe… jemanden umgebracht mit einem Zauber. Sag… also nie wieder… ich hätte keine Ahnung.“
 

Puran war erbleicht und wagte nicht zu sprechen. Eine Weile standen sie da und lauschten dem rauschen des Meeres. Der Jüngere trat dann neben Madanan, zunächst stumm.

„Wer… ist es gewesen?“ murmelte er neben sich und wusste nicht, was er sagen sollte. Was sagte man in so einer Situation?

Oh?

Tut mir leid?

Madanan antwortete und blickte auf das Wasser. Die Sonne war so gut wie untergegangen.

„Mein kleiner Bruder. Ich war fünf Jahre alt. Wir haben gespielt und in allem Eifer beim Toben haben… sich meine Instinkte verselbstständigt. Ich… weiß nicht genau, was ich gemacht habe, es war ein Schneidezauber, wie sie in meiner Familie üblich sind. Ich erinnere… mich nur noch an Blut… da war überall Blut und mein Bruder schrie, meine Eltern schrien… die Heiler waren zu langsam. Als sie kamen… war es schon zu spät für ihn. Er ist gerade mal ein Jahr alt geworden…“

Puran konnte nichts sagen. Da saß ein grauenhafter Kloß in seinem Hals, er drohte, ihn ersticken zu lassen. Er fühlte sich scheußlich. Madanan seufzte leise und wirkte, als hätte man ihm eine schwere Last von den Schultern genommen. Er sah seinen Freund wieder an.

„Das ist das erste Mal, dass ich mit jemandem darüber spreche, der nicht in Dralor wohnt. Die in Dralor wissen es alle. Es ist… ein Teil von mir, diese Schuld, die ich mit mir herum tragen muss seit jetzt zehn Jahren. Meine Eltern… haben mir nie die Schuld gegeben. Das habe ich nur selbst getan und tue es noch. Aber was ich damals gelernt habe…“ Er sah jetzt wieder zum Meer und Puran senkte tief den Kopf. „Man kann nicht ewig davon rennen vor dem, was geschehen ist. Mein Bruder kommt nicht zurück, auch wenn ich mich weigern würde, jemals wieder zu zaubern, er ist tot. Das Leben geht weiter und… man darf nicht stehen bleiben an dem Punkt, an dem man zusammengebrochen ist! Man muss weitergehen und geradeaus sehen! Du musst das, was gewesen ist, hinter dir lassen. Das heißt ja nicht, dass ich meinen Bruder vergessen soll… meine Eltern haben mich von Anfang an gelehrt, nie meiner Bestimmung den Rücken zu kehren. Und unsere Bestimmung als Magier ist es, Magie zu beherrschen. Wir beide, Puran, du und ich, stammen aus alten, anerkannten Clans, du natürlich noch mehr als ich. Alles, was geschieht, ist Wille der Geister.“

„Warum wollen die Geister, dass solche Dinge passieren?“ nuschelte Puran, „Wie kannst du ihnen vergeben, dass sie wollten, dass du deinen Bruder tötest? Warum… wollen sie sowas?!“ Madanan sah ihn wieder an. Dieses Mal war sein Ausdruck verändert, entschlossener.

„Damit wir daran wachsen und lernen,“ sagte er fest. „Die Geister wollen viele Dinge.“

„Aber ich… will nicht zulassen, dass sie sowas wollen und so einen grausamen Willen durchsetzen!“ rief Puran erschüttert, „D-das ist grausam!“

„Eben,“ sagte der Junge und lächelte, „Dann musst du lernen, sie zu beherrschen. Wenn du die Geister beherrschen kannst… kannst du in Zukunft vielleicht verhindern, dass sie so einen Willen durchsetzen.“

Puran sah ihn groß an, abermals. Dann senkte er den Kopf wieder.

„Ich… kann nicht, Madanan. Selbst, wenn ich wollte, jetzt… ist es zu spät für mich, um meine Meinung über Magie zu ändern. Die Geister… haben mir bereits den Rücken gekehrt.“
 

Das war in der Tat ein großes Problem. Die Geister kehrten nicht zurück, egal, wie viele Nächte er wach lag und sie bat, ihm Träume zu schicken. Egal, wie lange er wartete. Egal, ob er sich bei Sonnenaufgang an die Klippen stellte und laut nach ihnen rief, so laut er konnte, um sie wieder herbei zu rufen. Nach einer weiteren Woche wurde ihm klar, dass sie nie wieder kommen würden. Er musste mit seiner Mutter sprechen und sie überzeugen, dass er die Lehre nicht machen konnte, bei aller Liebe. Was Madanan ihm erzählt hatte, hatte ihn tief erschüttert. Er wusste, dass der Junge irgendwo recht hatte… aber was sollte er machen?

Als er es wagte, seine Mutter vorsichtig auf das Thema anzusprechen, war sie wie erwartet giftig.

„Können die Geister einen verlassen und nie wieder kommen?“

„Was stellst du für Fragen!“ machte sie, „Du bist ein Schamane, Puran. Wir sind Menschen des Geistes, die Himmelsgeister sind ein Teil unserer Seelen. Die verschwinden niemals.“

„Und angenommen es ginge theoretisch, was… macht man dann?“ Nalani sah ihn eine Weile bohrend an, während sie gemeinsam in der Stube saßen. Nalani trank Kaffee.

„Wie ich bereits sagte,“ sprach sie dann, „Die verschwinden niemals. Sie schweigen hin und wieder, über kurze oder lange Zeit, aber sie verschwinden nicht. Am nächsten Neumond gehst du zu Meoran nach Tuhuli, das ist dir klar, hm?“ Er sagte nichts und starrte verbittert in seinen Schoß. Die hörte ihm nie zu, verdammt! Wie sollte er ihr so sagen, was das Problem war?

„Mutti, ich kann nicht, die Geisterstimmen sind weg, ich hab sie verscheucht.“

Das wäre ein phänomenales Geständnis, definitiv. Puran seufzte und sank auf seinem Sessel in sich zusammen.

„Mutti… ich kann das nicht!“

„Von können ist hier nicht die Rede,“ erwiderte sie ruhig. „Du wirst gehen, dein Vater und ich haben das vor Jahren beschlossen. Es ist der Wille der Geister, Puran. Dir… ist etwas viel Größeres bestimmt als Jäger zu sein. Tief in deinem Inneren… weißt du das doch auch, nicht wahr?“

Er stand ruckartig auf. Ja, das hatte Salihah einst gesagt, als er klein gewesen war. Und schon damals hatte es ihm nicht gefallen.

Die Geister waren ihm verdammt noch mal egal! Und es ging nicht mehr darum, ob er wie Kelar Lyra werden könnte – es ging um das Prinzip.

„Ihr alle bestimmt nicht über mein Leben!“ brüllte er seine Mutter wutentbrannt an, „Weder du, noch Vati, noch die Geister noch sonst wer! Ich lasse mich verdammt noch mal nicht herum scheuchen wie ein Karnickel, wenn dir nicht passt, was ich werden will, dann sieh zu, wo du bleibst! Es ist mein Leben, verflucht, und nicht deins!“ Er stampfte zur Stubentür und Nalani stand ebenfalls auf.

„Du dummer Tor, du albernes Kind!“ rief sie erzürnt, „Du läufst immer noch davon, Puran!“ Ja, er lief davon, und er stampfte wütend die Treppe hinauf und hörte sie zornig ihm nachbrüllen. „Sie werden dich einholen und alles schlimmer machen, als es hätte sein müssen! Bleib hier und stell dich deinem verdammten Problem wie ein erwachsener Mann, Puran Lyra!“ Jetzt blieb er am oberen Treppenende noch einmal stehen und brüllte nach unten:

„Ich bin aber noch kein Mann, Mutti, und jetzt halt deine Fresse!“

Nach dem Moment sprach Nalani einen halben Mond lang kein einziges Wort mehr mit ihm.
 

Der Tag, an dem Puran die Geisterstimmen zum ersten Mal wieder hörte, war heiß und schwül. Der Himmel hing so tief über dem Land, dass alle befürchteten, es könnte einen Platzregen geben, der aber ausblieb. Puran war mit Kannar und Travi beim jagen gewesen, jetzt saßen die drei Jungen mit ein paar erlegten Hasen im Schatten eines Baumes auf derselben Wiese, auf der auch die Jujube-Sträucher wuchsen. Puran dachte immer kurz unwillkürlich an Narya und die Küsse, die sie geteilt hatten, wenn er die Sträucher sah, verdrängte das aber meistens schnell wieder. Mädchen waren furchtbar, sie verdrehten einem den Kopf, vielleicht ohne es zu merken, aber es war ganz furchtbar, stellte er dann oft fest. Vermutlich war das auch der Wille der Geister, so wie alles, was furchtbar war.

Travi hatte sich bei der Jagd richtig nützlich gemacht; er hasste es, zu laufen, daher hatte er beschlossen, mit Pfeil und Bogen zu arbeiten. Er war ziemlich geschickt, was Kannar am Anfang gar nicht geglaubt hatte. Puran war bei aller Liebe mitunter etwas genervt von Kannar, der seit einiger Zeit immer maulte, schlecht gelaunt war oder über andere herzog. Kannar und Travi verstanden sich zwar meistens gut, aber mitunter bekamen sie sich ganz schön in die Haare. Puran fragte sich, ob Kannars Miesepetrigkeit an seinem ehrgeizigen Vater lag, der ihn offenbar ziemlich unter Druck setzte, aber er fragte nicht nach. Kannar würde es ihm schon sagen, wenn etwas war.

„Hätten wir nicht eigentlich längst wieder bei der Mühle sein sollen?“ fragte Kannar dann, „Sollten wir nicht Käse kaufen für deinen Vater und seine Mausefallen?“

„Die blöden Mäuse, das ist so’ne Plage!“ nölte Travi, „Und – ach, verdammt, der Käse war für Paps! Den hab ich jetzt aber aufgegessen…“ Er blickte traurig in ein Stück Papier, in das der Käse eingewickelt gewesen war. Puran, der dabei war, Zigaretten zu drehen, und Kannar, sahen erst Travi, dann sich gegenseitig an und hauten sich dann synchron gegen die Stirn.

„Du absoluter Volldepp!“ rief Kannar, „Wir sind extra durch Gahti gelatscht, um für deinen Vater Käse zu kaufen, und du frisst den auf?!“

„Ja, ich hatte Hunger, was dagegen?“

„Dann friss das Karnickel, das du geschossen hast! Du hirnamputierter Fresssack!“

„Rohe Karnickel? Wenn, dann mit Salz und Pfeffer. Und dazu eine wunderbare Brühe. Vielleicht mit Rosmarin, oder so…“

„Hier gibt’s keinen Pfeffer und kein Rosmarin, erst recht keine Brühe!“ empörte der Heiler sich.

„Na, willst du etwa Kaninchen roh essen, Kannar?!“ fragte Travi entsetzt, „Du Ekelpaket!“

„Die alten Stämme haben das in der Not auch gemacht,“ behauptete der Jüngere, „Und behalte dein abscheuliches Rosmarin! Das versaut die Karnickel!“

„Was hast du nur gegen Rosmarin?“

Während die beiden völlig belanglos von Käse zu Rosmarin abschweiften und lauthals stritten, kamen in Purans Kopf plötzlich die Geisterbilder. Zuerst glaubte er, er würde sterben, weil plötzlich Bilder vor seinen Augen waren, und er schrak keuchend hoch. Flammen verbrannten seine Augen und ein schwarzer Rauch verdunkelte den Himmel. Puran hörte die Geister mit einem Mal wieder zu ihm sprechen.

„Sieh nach Norden!“

Automatisch wollte er sofort gehorchen, ließ es dann aber. Warum zum Geier sollte er auf die irren Stimmen hören? Er würde sich von keinem Befehle geben lassen.

Vergesst es! zischte er in Gedanken, Ihr könnt mich nicht beherrschen!

Die Bilder vom Feuer flammten stärker auf, dieses Mal bedrohlicher, und ihm war beinahe, als würde er die Hitze des Feuers wirklich vor sich spüren. Ihm war übel und er wusste nicht wieso, er keuchte abermals und fuhr heftig zusammen, als das üble, grauenhafte Gefühl in ihm stärker wurde, gleichzeitig mit dem Drang, sich doch nach Norden zu wenden. Etwas sagte ihm, dass er schauen sollte… dass er aufpassen sollte.

Etwas Schlimmes geschah.

Puran kniff die Augen zusammen und stöhnte leise.

„Ich will… das nicht sehen!“

„Wie kannst du nur kein Rosmarin mögen? Das ist wunderbar mit Karnickeln!“

„Ach, du und dein garstiges Rosmarin!“

Kannar und Travi unterbrachen ihre sinnfreie Diskussion, als Puran neben ihnen wieder zusammenfuhr und japste. Beide Jungen drehten sich zu ihm um und vergaßen di Kaninchen und das Rosmarin.

„W-was ist?!“ fragte Kannar besorgt, „Puran?! Bist du in Ordnung? Du bist weiß wie eine Leiche…“

„Mir ist komisch,“ keuchte er tonlos und rappelte sich auf, Travi nahm ebenfalls beunruhigt die Kaninchen auf, während Kannar seinem Freund auf die Beine half.

„Wir können dich heim bringen, du wirst sicher krank, Alter…“ machte er dabei, und Puran hustete.

„Geht schon, ich-…“ Er wurde von einem Schrei von Travi unterbrochen und der Dick ließ seine Kaninchen fallen. Kannar schrie auch vor Schreck.

„Was ist?!“ Er fuhr herum nach Norden, ebenso tat Puran es jetzt auch endlich; und er erbleichte erneut.

Am Horizont stieg tatsächlich schwarzer Qualm auf wie in seiner Vision. Irgendwas brannte, und es war nicht weit weg. Und es war ein großes Feuer. Travis nächster Schrei ließ ihm dann beinahe das Blut in den Adern gefrieren.

„D-das kommt aus der Richtung der Mühle!“
 

Sie rannten, so schnell sie konnten. Puran merkte nicht, dass er rannte, er tat es einfach; sein Körper tat es, sein Gehirn hatte sich in dm Moment abgeschaltet.

Sieh nach Norden.

Er hatte es nicht getan. Hätte er es getan, hätte sie schon früher das Feuer gesehen.

Sie rannten schneller, Kannar zerrte Puran entsetzt hinter sich her. Die Kaninchen waren plötzlich egal, ebenso der Käse. Als sie die Mühle von Travis Vater erreichten, brannte sie bereits lichterloh. Travi schrie und rief nach seinem Vater. Es kamen bereits Menschen aus Gahti und Rathuk angerannt. Männer schoben die drei Halbwüchsigen zurück.

„Geht nicht da ran, Kinder! – Schnell, mehr Wasser, bevor sie zusammenstürzt!“ Travi packte den Kerl am Kragen.

„Mein Vater, der Müller, wo ist er?!“ kreischte er, seine Stimme überschlug sich in der Panik. „Wo?!“

„Travi, nicht!“ japste Kannar entsetzt. Der dicke Müllerssohn drängte sich an den Menschen vorbei und schrie nach seinem Vater, suchte um die ganze Mühle herum, doch der Müller Ando war nirgends zu sehen. Puran hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, während er mit Kannar stocksteif an der Stelle stand, an die der Mann zuvor sie geschoben hatte. Trotz der Entfernung zur brennenden Mühle spürte er das Feuer in seinem Gesicht, die grausame Hitze. Später erinnerte er sich nur noch an die Hitze, und an das blendende Licht des Feuers, das umrahmt wurde von den schwarzen Rauchschatten.

„Das passiert nicht echt, o-oder?“ stammelte Kannar neben ihm. „Wo ist Travis Vater? H-Himmel, das passiert doch gar nicht? Puran, sag doch was!“ Puran konnte nichts sagen, Kannar laberte dafür in seinem Schockzustand umso mehr. Sie wünschten sich beide, sie könnten aufwachen…

Aber sie waren wach. Das geschah tatsächlich.

Als Travi zu ihnen zurückkam, zitterte er und heulte.

„I-ich finde ihn nicht!“ schrie er, „W-was, wenn er in der Mühle war?! I-ich könnte heulen!“

„Du heulst schon!“ jammerte Kannar, „W-was is’n?!“ Puran hörte dem weiteren Streitgespräch seiner Freunde nicht mehr zu. Sein Kopf pochte laut und übertönte damit alles Dröhnen um ihn herum. Die Flammen blendeten und schmerzten in seinen Augen, und alles, was in seinem Kopf war, waren grauenhafte Stimmen.

Wir haben dich gewarnt.

Hättest du auf uns gehört, Puran… du hättest Schmerzen erspart.

„Seht doch, wehe!“ schrie einer der Männer vorne plötzlich und die drei Jungen fuhren herum. Ein paar Männer waren dabei, das Feuer zu löschen, einige mit Wasserzaubern andere mit Eimern voll mit Wasser aus dem Brunnen von Gahti. Travi schrie abermals, as aus den Flammen der Mühle jetzt ein Mensch zu erkennen war, der drinnen am Boden zu liegen schien.

„Mein Vater!“ kreischte er wild und stürzte nach vorn, „M-mein Vater, da ist mein Vater! Lasst mich durch, mein Vater!“

„Travi, nein!“ Kannar heulte jetzt plötzlich auch, als er seinen Kumpel am Arm packte. Gemeinsam mit zwei weiteren Männern gelang es ihm, den Blonden festzuhalten. Und der Junge schrie sich die Seele aus dem Leib, die anderen rissen mit Gewalt an ihm, damit r sich nicht in die Flammen stürzte. Für den Müller kam jede Hilfe zu spät… jetzt sollte das Feuer nicht auch noch seinen einzigen Sohn bekommen.

Und in all dem Unheil stand Puran Lyra, ganz hinten und weit weg von Travi, der schrie, von Kannar, der wie ein Mädchen heulte, und von den garstigen Flammen. Er stand da und bewegte sich nicht, er war nicht mal fähig regelmäßig zu atmen.

Hätte ich die Geisterstimmen nicht ignoriert… wäre Travis Vater heute vielleicht nicht gestorben.
 

Nachdem das Feuer gelöscht war, war von der Mühle nicht mehr viel übrig. Das Wohnhaus der Andos nebenan hatte auch sehr gelitten, dort würde Travi jetzt nicht mehr wohnen können. Gemeinsam mit ein paar Männern aus Gahti begruben sie den Müller unter ein paar Trümmern, damit sein vom Feuer bereits verkohlter Körper nicht von Aasfressern vertilgt würde. Travi würde die fünftägige Totenwache am Grab halten, wie es Tradition war, damit die Seele seines Vaters heil ins Geisterreich käme. Auch für die Nichtmagier Tharrs gab es das Geisterreich, in dem die Toten waren.

„Ihr müsst nicht hier bleiben, wenn ihr nicht wollt,“ sagte der Blonde am Abend, als nur noch er und seine besten Freunde am Grab seines Vaters standen. Kannar und Puran waren nicht von seiner Seite gewichen. „Ich kriege das hin. Aber, ähm, ihr könntet mir was zu essen bringen, oder so, sonst falle ich ja in fünf Tagen vom Fleisch…“ Er lachte aufgesetzt, aber niemandem war jetzt zum Lachen zu Mute. Puran schon gar nicht.

„Du und dein Essen,“ sagte Kannar betrübt. „Wir haben die Karnickel liegen lassen, welch ein Jammer.“

„Ja, schade um das Rosmarin auch,“ machte Travi. Keiner lachte und niemand fand sich selbst wirklich witzig, obwohl es alle krampfhaft versuchten. Puran erschauderte. Es war falsch, jetzt zu versuchen, witzig zu sein! Als Travi ihn ansah, drehte er rasch den Kopf weg. Er konnte ihm nicht in die Augen sehen… das würde er nie wieder können.

Er war Schuld am Tod seines Vaters… zumindest mit. Er hätte es vielleicht verhindern können, wenn er sich nicht gegen die Geister gesträubt hätte. Er fragte sich, während die grauenhafte Übelkeit wieder in ihm hochkam, ob das die Strafe war dafür, dass er sie missachtet hatte… er war jetzt weiser.

Aber für diese Erkenntnis hatte erst jemand sterben müssen… in dem Moment stellte Puran Lyra, der Sohn des Herrn der Geister, zum ersten Mal fest, dass er ein absolut furchtbarer, grauenhafter Mensch war, irgendwo tief in seinem Inneren, ohne dass er es wollte.

„Was ist mit dir eigentlich?“ fragte Travi ihn jetzt, als er ihm den Rücken kehrte, „Hast du was? Du weichst meinem Blick seit dem Mittag nur noch aus, Puran-… w-was-…?“ Er unterbrach seine Frage und blinzelte, als sein jüngerer Freund plötzlich vor ihm zu Boden sank, sich dabei wieder umdrehend und… sich ihm zutiefst unterwürfig vor die Füße warf.

„Vergib mir! W-wobei ich es nicht mal verdiene, dass du mir vergibst, Travidan… nichts verdiene ich, Staub und Schande!“

„W-wovon redest du eigentlich?“ wunderte Travi sich, „Ist er jetzt verrückt geworden?“

„Ich weiß nicht!“ entgegnete auch Kannar verblüfft. Der Sohn des Statthalters, der Sohn zweier mächtiger Geisterjäger, warf sich einem Nichtmagier und Müllerssohn zu Füßen in den Dreck?

„D-die Geister…“ stöhnte Puran am Ende seiner geistigen Kräfte und begann zu zittern, immer noch am Boden liegend, die Stirn auf die Erde pressend, „S-sie haben mich gewarnt, sie haben mich gewarnt, ich solle nach Norden sehen! U-und ich hab mich geweigert, weil ich nicht auf sie hören wollte!“

„Was hat das mit uns zu tun?“ fragte Travi verpeilt. Er war müde und trauerte, wie sollte er da kombinieren? Puran hätte sein Gesicht wohl gerne tiefer in die erde gegraben.

„Wenn ich auf sie gehört hätte, wären wir früher hier gewesen! Dein Vater würde noch leben, wenn ich… n-nicht so ein verdammter Idiot wäre!“

Jetzt fiel der Groschen. Kannar starrte ihn an und Travi erbleichte.

„Was sagst du?“ wisperte er fassungslos. „Du… du wusstest, dass er sterben würde?“

„Nein, das nicht! Aber ich hätte früher sehen können, dass die Mühle brennt…“ Puran wagte nicht, den Kopf zu heben – er wusste auch so, dass seine Freunde ihn fassungslos anstarrten. Besonders Travi. Der Blonde fing an zu heulen.

„D-du sagst, er könnte noch leben?! Warum hast du Arsch dann nicht auf deine Geister da gehört?! Jetzt sieh mir ins Gesicht, Puran, du Mistkerl!“ Er heulte lauter; er meinte es nicht böse, als er seinen Freund so anschrie. Er konnte einfach nicht anders…

Puran konnte nicht hochsehen.

„Ich kann die Vergangenheit nicht ändern,“ sagte er zitternd, „Ich kann nicht gut machen, was ich versäumt habe. Aber ich werde verhindern, dass es… so weiter geht.“ Travi schluchzte und der Kleinere sah jetzt doch hoch, rappelte sich vorsichtig auf die Beine und verneigte sich gleich darauf tief. „Ich kann… nur das tun, was ich dir schuldig bin, mein Freund. Ich… verspreche dir, dass ich… das zu kontrollieren lernen werde! Ich werde das nächste Jahr weg sein auf der Lehre der Magie, in Tuhuli. Ich werde keinen von euch sehen dürfen… aber ich werde lernen und das sein, was die Geister mich lehren werden! Ich werde dafür sorgen, dass ich nie wieder unaufmerksam bin, ich werde keine Warnung ignorieren, weil ich zu stur bin… und wenn ich nächstes Jahr zurück komme, bin… ich vielleicht anders und du kannst mir vielleicht vergeben, Travi…“

Der Blonde starrte ihn nur an, Kannar hielt es für klüger, sich rauszuhalten.

„Vielleicht?“ nuschelte das Waisenkind dann und senkte den Kopf. „Du hast es… nicht absichtlich verschwiegen… es war nicht deine Schuld.“

„Nicht richtig, aber halb,“ korrigierte Puran dumpf. „Ich verspreche es dir, Travi. Das bin ich dir schuldig… dir und deinem Vater, der ohne meine Dummheit vielleicht noch leben könnte.“

„Vielleicht,“ sagte Travi abermals. „Wer weiß das schon? Ich würde dich nicht zwingen, das für mich zu tun, Puran.“

„Du nicht…“ machte der Braunhaarige, „Aber ich tue das.“
 

Wenn Puran geglaubt hatte, die Geister würden ihm seinen Meinungswechsel leicht machen, hatte er sich gewaltig geirrt. Er hatte den Geistern einst den Rücken gekehrt und sie verstoßen, er büßte jetzt bitter dafür. Sie straften ihn mit dem schlechten Gewissen wegen des Müllers Tod – als wäre das nicht Strafe genug, schwiegen sie wieder und die eine Vision des Feuers sollte die einzige bleiben.

„Die Geister verarschen mich!“ empörte Puran sich verzweifelt, „ich weiß nicht, was ich machen soll! Meine Mutter hört mir nicht zu und in drei tagen soll ich auf diese doofe Lehre und ich kann doch gar nichts! Die Geister ignorieren mich – nicht, dass ich es nicht verdient hätte, aber was soll ich machen?! – Kannar, sag was, du Arsch!“ Der Arsch war nicht böse gemeint; Kannar schnaubte auch nur. Sie beide saßen in Gahti auf der Lehmstufe vor der Apotheke und rauchten, weil sie nichts Intelligentes zu tun hatten. Der Regenmond näherte sich drastisch seinem Ende – und der Neumond des Sommers rückte immer näher.

„Was weiß ich? Kannst du ihnen nicht genauso befehlen, dass sie wieder kommen, wie du sie verjagt hast?“

„Nein, das habe ich ja probiert!“ Der Heiler seufzte. Dann hob er nach einer Weile theatralisch einen Finger und erhob sich.

„Pass auf, ich hab glaube ich eine Idee, die dir helfen kann! Wir klären das… besser drinnen, hier draußen ist zu viel los.“ Puran sah ihn an. Das klang beunruhigend.

Kannars Zimmer war eine dunkle kleine Kammer im Haus des Apothekers. Es hatte nur ein recht kleines Fenster, durch das spärliches Licht fiel, und im Zimmer gab es nichts außer einem Bett und einer kleinen Kommode, die daneben stand. Und jeder Menge Müll auf dem Boden, größten Teils Papier.

„Was hast du hier angerichtet, räumst du auf?!“ kam es von Puran, der über einen Berg Papier kletterte, „Was ist das für ein Scheiß, der hier überall rum fliegt?!“

„Das ist kein Scheiß, das sind Unterlagen, ich mache mich schlau, hör mal, ich muss doch den Job meines Vaters übernehmen und ich habe keine Ahnung von Arznei!“

„Du bist mir vielleicht ein toller Heiler – so ein Chaos!“

„Etwa so toll wie ein Geisterjäger, der keine Visionen sieht,“ konterte Kannar grinsend, und Puran errötete.

„Na, dann sind wir eben beide Deppen. Aber ich kann Ordnung halten, im Gegensatz zu dir.“

„Du hast dafür Diener, du Sack…“

„Was, gar nicht, ich lass doch keinen von denen in mein Zimmer! Das geht doch niemanden was an was ich da drin habe!“

„Klingt nach Pornobüchern, böser Puran…“

„Argh, doch nicht sowas!“ Der Junge schnaubte und wurde jetzt noch röter, dann blinzelte er. „Äh, Themawechsel – was hattest du jetzt für eine glorreiche Idee, du Held?“ Der Heiler nickte wichtig und zog aus der schäbigen Kommode ein kleines Kästchen, mit dem er sich auf die Bettkante setzte, sein Freund kam neben ihn. „Was ist das denn?“ fragte er überflüssig, und Kannar öffnete grinsend die Schachtel.

„Zigaretten, sozusagen!“ sagte er, „Das Herumlesen in Vaters Unterlagen über Medizin macht sehr klug! Ich habe von einem Kraut gelesen, das man wie Tabak rauchen kann, das aber ganz anders wirkt! In einer bestimmten Zubereitung und sehr geringer Dosis soll es wohl als Medizin wirken, aber zum Rauchen ist es viel witziger. Ich hab also unten geschaut, und mein Vater hatte das tatsächlich in der Apotheke…“

„Was hat das mit den Geistern zu tun?“ wunderte Puran sich, als Kannar ihm kichernd eine der Zigaretten in die Hand drückte. Eigentlich sahen sie genau aus wie normale Zigaretten.

„Rauch sie und du wirst es merken… das Zeug lässt einen für kurze Zeit total abgedrehte Dinge sehen.“
 

Die komischen Dinge kamen schnell. Schon kurz nachdem sie angefangen hatten, jeder eine der seltsamen Zigaretten zu rauchen, fingen sie an, komisch zu werden. Kannar fing blöd an zu lachen und kippte rückwärts um auf das Bett, in der Hand die Zigarette, deren Rauch das Zimmer vernebelte.

„Ich seeeehe… bunte Farben!“ lallte er dabei gackernd, „An der Decke tanzen Punkte! Und ein Dreieck!“

„Bunte Farben helfen mir aber nicht weiter!“ nölte Puran und blinzelte, als er plötzlich die Wand gegenüber auf sich zukommen sah, langsam, aber sie tat es definitiv. „Kannar, die Wand bewegt sich!“

„Neee, da sind nur Kreise und das Dreieck! Dreiecke sind total erotisch!“

„Alter, scheiße, d-die kommt echt auf uns zu!“ schrie Puran entsetzt und schob sich auf dem bett rückwärts, bis er gegen die Wand hinter sich stieß. Die andere Wand bewegte sich und waberte hin und her wie Pudding, sodass Puran plötzlich mit Panik glaubte, das Haus würde einstürzen. Beinahe hätte er seine Zigarette vergessen und bemerkte sie erst wieder, als plötzlich Asche auf Kannars bett fiel, und er pustete die Asche entsetzt zu Boden. Als er wieder hoch sah und an der seltsam schmeckenden Zigarette zog, hielt die Wand still. Während Kannar begann, lachend im Zimmer umher zu krabbeln, sah sein Freund jetzt einen in allen Farben schillernden Vogel durch das Zimmer fliegen, immer im Kreis, und am Fenster wuchs eine Blume. Die Blume tanzte am Fensterbrett hin und her und wankte mit der großen, purpurnen Blüte. „Was machst du da, Kannar?!“ fragte Puran verpeilt, als er wieder zu seinem Freund sah. Alles drehte sich und obwohl Kannar am Boden kroch, sah es aus, als kröche er über die Zimmerdecke wie eine Spinne. Jetzt bekam er auch noch acht Beine…

„Ich suche Pilze!“ johlte Kannar bedeppert, „Komm, hilf mir, die laufen immer vor mir weg!“

„Das ist aber nicht gesund!“ behauptete Puran und wusste nicht, ob sich das auf Kannars Ausruf bezog oder auf die Tatsache, dass sein Freund mit acht Beinen an der Decke krabbelte. „Kannar, Pilze können nicht laufen!“

„Doch, die mit den grünen Punkten hier können das. Und gegen die Wand rennen können sie – Au!“ Da war er selbst mit dem Kopf voran an die Wand angedockt, kippte zur Seite um und lachte sich halb tot. Puran beobachtete unterdessen die purpurne Blume, die mit sich selbst Karten spielte, während der schillernde Vogel zum Sturzflug ansetzte und auf dem Boden explodierte…
 

„Sitzt du auf deinen Ohren? Wach auf!“

Puran öffnete blinzelnd die Augen und das erste, was er feststellte, waren furchtbare Kopfschmerzen und ein übles Schwindelgefühl. Als zweites erkannte er seine ziemlich erboste Mutter, die über sein Bett gebeugt stand, die Hände in den Hüften, und ihn anstarrte.

„Was…? Wieso, ist schon Mittag?“

„Mittag, du bist gut, es dämmert bald wieder, du Schafskopf! Wo bist du gewesen?! Und was hat dich geritten, als du heute in den frühesten Morgenstunden singend durch das Schloss getanzt bist, du hast alle aufgeweckt!“ Er blinzelte überrascht.

„Ich war bei Kannar – was, singend durch das Schloss getanzt?!“

„Du weißt es nicht mal mehr, na, ich möchte nicht wissen, was ihr beide gestern getrunken habt, vermutlich Mengen, die eine Armee umhauen könnten!“ empörte Nalani sich pikiert, „Soll ich dir vorsingen, was du gesungen hast?“ Er errötete.

„Ähm, nein, besser nicht, ich hoffe, es war nichts Unanständiges…“

„Ich verliere auch besser keine Worte darüber, hoffe du nur, dass deine vorlaute Cousine so gütig ist, es nicht im ganzen Kreis herum zu erzählen. Jetzt komm aus den Federn, oder ich mache dir Beine, Sohn! Du wirst dich in Tuhuli bei Meoran besser betragen, oder ich lasse mir etwas Schreckliches für dich einfallen.“ Damit ging sie kopfschüttelnd und er setzte sich schwankend auf.

Er hatte keine Ahnung, wie er heim gekommen war – eigentlich wusste er gar nichts mehr, nur, dass er bei Kannar gewesen war und sie komische Kräuter geraucht hatten… als er sich anzog und in seine Hosentasche fasste, fand er noch ein paar der komischen Zigaretten, reichlich zerknautscht, offenbar hatte er sich drauf gesetzt oder so.

Ja, komische Dinge gesehen hatte er wirklich, soweit er sich erinnern konnte. Er fragte sich, ob sein Lehrmeister ihm das abkaufen würde, wenn er ihm von diesen Dingen erzählte – das würde eine harte Zeit werden in Tuhuli, das wusste er.

Er dachte an Travi, seinen Vater und die abgebrannte Mühle. Ja, er war es seinem Freund schuldig, diese Last auf sich zu nehmen… an sich mehr als das. Er hätte den Tod seines Vaters verhindern können und hatte es nicht getan.

Er verdiente gar nichts… höchstens Strafe.

Puran erschauderte und fasste sofort wieder nach seinem schmerzenden Kopf. Wie erbärmlich das Leben doch war…

„Ich muss hier raus,“ stöhnte er, „Ich kriege… hier keine Luft.“
 

An den Ufern des großen Stroms, des Undim, konnte er für eine Weile Ruhe finden, während er im Gras saß und kleine Kiesel und Erdbrocken ins Wasser warf. In der Ferne hörte er Menschen aus dem Dorf Rathuk lärmen und arbeiten. Er erschrak sich fast zu Tode, während er da saß und über die Zukunft nachdachte, als er plötzlich eine bekannte Stimme vernahm.

„Oh, du bist das ja!“

„Wer?“ fragte er blöd und drehte sich um, um in das strahlende Gesicht der kleinen Cholena zu sehen. Sie hatte einen Eimer dabei und wollte offenbar Flusswasser für das Dorf holen. „Oh… Cholena…“ brabbelte er dumm vor sich hin. Er kehrte ihr seufzend wieder den Rücken und warf einen neuen Stein in den Undim.

„Bist du… traurig?“ fragte sie leise und kam etwas näher. „Darf… ich mich etwas zu dir setzen?“ Er nickte und sie setzte sich neben ihn ins Gras. „Was ist denn los?“ kam dann. „Vielleicht kann ich dir ja helfen…“ Puran lachte kurz.

„Wie dumm – da hab ich dir neulich gesagt, wenn du Hilfe brauchst, komm zu mir, und jetzt ist es andersrum. Ach!“ Cholena kicherte mit ihrer glockenhellen, schönen Stimme und er konnte jetzt nicht mehr anders, als sie anzusehen.

„Du kannst auch ruhig mit mir sprechen, ehrlich,“ bot sie ihm an, „Du siehst mitgenommen aus…“ Der Junge raufte sich bedrückt die Haare.

„Es… ist nicht weiter schlimm,“ spielte er es dann herunter, „Sorge dich nicht, Cholena. Du hast sicher genug Sorgen. Dann will ich dich nicht noch mit den meinen belasten.“ Das blonde Mädchen blieb energisch.

„Reden tut aber gut!“ meinte sie, „Ich bitte dich, sprich mit mir. Ich werde zuhören.“ Er blickte sie verstohlen an. Cholena war ein gutherziges, liebes Mädchen. Sie beeindruckte ihn insgeheim mit ihrer offenen Art; und das, wo er ihre Geschichte kannte. Ihre Eltern waren tot und sie hatte niemanden an ihrer Seite. Wenn er an ihrer stelle wäre, wäre er in einen Fluss gesprungen… er war nicht so stark wie dieses schöne Mädchen vor ihm. Er war nicht der, der zu sein man von ihm erwartete, stellte er verbittert fest.

„Du hast… sicher von dem Brand der Mühle gehört…?“ begann er so nuschelnd, und sie nickte betreten. Darauf erzählte er ihr von jenem schicksalhaften Tag, der alles verändert hatte. Und er redete und redete und je mehr er sprach, desto leichter fiel es ihm, desto mehr Worte sprangen aus seinem Mund. Er erzählte dem Mädchen von den Visionen, die nicht da waren, von den Geistern, die ihn zurecht straften, von den Erwartungen seiner Eltern… und Cholena saß da und hörte aufmerksam zu, sie sagte nichts, unterbrach ihn nicht, sie hörte nur zu und nickte ab und zu oder weitete die Augen minimal. Als er nichts mehr zu sagen hatte, war er so aufgewühlt von all dem Ärger in sich, dass er erst mal eine rauchen wollte. Zum Glück hatte er die zerknautschen Kräuterdinger in seiner Tasche gegen normale Zigaretten ausgetauscht. Er stellte fest, dass sich eine ungemeine Erleichterung in ihm breit machte, jetzt, wo er einmal alles erzählt hatte, was es zu erzählen gab. Es fühlte sich jetzt besser an und er musste leise lachen, bevor er wieder an seiner Kippe zog. „Jetzt geht’s mir besser,“ verkündete er, „Danke, dass du mir zugehört hast, Cholena. Bitte sorge dich nicht weiter, ich glaube… wenn ich hart genug an mir arbeite, werde ich mit dem schlechten Gewissen leben können in Zukunft.“

„Das musst du nicht,“ meinte sie, „Du bist gar nicht Schuld. Mach dir keine Vorwürfe. Die Geister sind launisch… wenn du dich mal nicht gut fühlst, denk an das, was ich dir neulich gesagt habe. Lausche dem Windlied… es beruhigt ungemein. Und manchmal… findet man dabei die ultimative Lösung für Probleme.“ Sie lächelte sanft, ehe sie errötend den Kopf senkte. „Puran…?“

„Hm?“ entgegnete er geistreich und sah sie konfus an, als sie ein wenig herum druckste, und sie hob den Kopf wieder.

„Wenn du jetzt ein ganzes Jahr fort bist, werde… ich dich vermissen.“ Es schien ihr schwer zu fallen, ihm das zu sagen, und er weitete die Augen kurz und lachte dann wieder.

„Wir kennen uns doch kaum.“

„Ich weiß,“ gestand sie, „Zumindest nicht lange, und dennoch habe ich… wenn ich mit dir spreche ein Gefühl der… tiefen Vertrautheit, als würden… wir uns seit Zeitaltern kennen. Wir beide haben in der kurzen Zeit, die wir uns kennen, viel voneinander gelernt. Spürst du sie auch...? Diese Verbundenheit? Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben könnte, mein Kopf denkt Dinge, die meine Zunge nicht auszusprechen vermag.“ Er sah sie abermals an und als sie seine Hand vorsichtig ergriff, wusste er plötzlich, wovon sie sprach.

Als ihre Finger einander berührten und sie da am Ufer des Flusses saßen, sich nur gegenseitig aus großen Augen anstarrten und schwiegen, spürte er es auch zum ersten Mal. Es war ein eigenartiges Gefühl, er konnte sich nicht erklären, was es war – es war, wie sie sagte. Als würden sie sich schon seit Jahrhunderten kennen und als wäre es selbstverständlich, dass ihre Seelen aneinander hingen. Als wäre zwischen ihnen ein seltsames Band, das sehr, sehr lang und weit auseinander gezogen war, das jetzt plötzlich durch diese simple Berührung ihrer Hände wieder zusammen geführt worden war…

Cholena ließ ihn vorsichtig los und strich sich eine Strähne hinter das Ohr. Dann füllte sie ihren Eimer endlich mit Wasser und erhob sich.

„Ich muss heim,“ erklärte sie ihr tun und verneigte sich, als er auch aufstand. „Ich wünsche dir alles Gute für das kommende Jahr. Ich hoffe, wir… sehen uns danach wieder?“ Jetzt strahlte sie und er sah sie überrascht an, ehe er grinste.

„Sicher, Cholena. Noch einmal danke…“

„Ich hab doch gar nichts gemacht!“ lachte sie sich selbst aus, und er hob eine Hand und tippte ihr zärtlich mit einem Finger gegen die Wange, worauf sie erstarrte. Da war das Gefühl erneut und er genoss den sehr kurzen Moment der Empfindung.

„Doch, hast du,“ erwiderte er dann, als er zurück trat, „Du warst da. Das ist schon gut.“
 

Kaum war Cholena weg und er wollte sich selbst auf den Heimweg machen, jetzt besserer Dinge und vor allem inzwischen ohne Kopfschmerzen, da kam ihm schon seine Cousine entgegen.

„Aha, während wir uns sorgen, hast du deinen Spaß mit den Mädels,“ kommentierte sie das, was sie von weitem gesehen hatte, und er schnaubte, als sie bei ihm ankam. Ungefragt begannen sie gemeinsam den Rückweg zum Schloss. Rathuk war nicht weit weg.

„Das hat damit nichts zu tun, ich habe mich mit ihr unterhalten.“

„Und ihr die Wange gestreichelt,“ sagte Alona und verdrehte die Augen.

„Kannst du Zimtzicke mal aufhören, mir zu widersprechen?! Nein, habe ich nicht!“

„Du und die Mädchen, ja, ja,“ grummelte sie, und er musste plötzlich lachen.

„Du klingst ja fast wie Kannar, was ist dein Problem?“

„Meine Freundinnen sind dumm!“ nölte die Cousine beleidigt, „Sie fragen immer nach dir und was du machst und so, für mich interessiert sich niemand! Mich nerven Jungs und erst recht, dass alle meine Freundinnen es plötzlich toll finden, von denen zu reden!“

„Du wirst auch eines Tages eine Frau sein und dann wird dich das vielleicht mehr interessieren,“ orakelte er recht gelangweilt; was interessierte ihn das nicht vorhandene Liebesleben seiner Cousine? Insgeheim war er der Ansicht, dass kein vernünftiger Kerl dumm genug wäre, sich auf sie einzulassen. Sie würde sicher bildschön werden in ein paar Jahren und sie hatte keinen Babyspeck mehr, aber sie war kratzbürstig und rechthaberisch, wer wollte denn so eine aufmüpfige Frau, die einen andauernd korrigierte? Er jedenfalls nicht.

„Nicht mehr als Bücher!“ schnaubte sie ihm schon entgegen, „Wie kann man das Herumtüdeln mit irgendwelchen zurückgebliebenen Kerlen einem guten Buch vorziehen, einer Bibliothek, in der man ganz viele Dinge erfährt? Ich hab Vatis Stammbaumkiste gefunden, du willst gar nicht wissen, was für seltsame Namen unsere Vorfahren hatten.“

„Hast recht, das will ich wirklich nicht wissen!“ machte Puran genervt. Von wegen zurückgeblieben, die hatte doch einen an der Waffel. „Deine Eltern sind sicher enttäuscht, wenn du niemals heiratest! Irgendwas muss dich doch beeindrucken.“ Sie überlegte und wurde dann ruhiger.

„Was ich nicht will, ist ein Depp, der verdammt hübsch ist und nur sein Spiegelbild im Kopf hat. Ich will einen, der mich zu seiner Königin macht! Einer, mit dem ich etwas anfangen kann, der nicht nur Männersachen wie Saufen und Jagen im Kopf hat!“

„So einer findet sich gewiss irgendwo,“ versicherte er ihr wohlwollend und tätschelte ihren Kopf, „Gehen wir heim.“

Heim… ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er nicht mehr oft heim gehen würde, ehe man ihn fort schickte in die große Stadt Tuhuli, in der er ein Jahr getrennt von allen, die er gut kannte, leben müsste.

Ihm grauste davor.
 


 

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wohoo xD Zeitsprung xDD ja, öh, nichts zu sagen o_o

Tuhuli

Die Geister kehrten nicht wieder zurück und Puran verbrachte die verbleibenden Nächte bis zum Aufbruch kaum schlafend. Zu viel war es, das ihm durch den Kopf fuhr und die Sorge über das bevorstehende Jahr in Tuhuli war zu groß, als dass er hätte Schlaf finden können. So hing er am Tag des Aufbruchs halb schlafend am Tisch beim spärlichen Frühstück und seine Mutter scheuchte ihn wie ein aufmüpfiges Huhn.

„Iss, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit – Himmel, Puran, schläfst du am Tisch?!“ Sie rüttelte ihn energisch im Vorbeigehen und er stöhnte gedehnt.

„Ich kann ja sonst nirgends schlafen!“ jammerte er dabei und sah bedeppert auf sein Frühstück, ohne es anzurühren. „Können wir nicht morgen nach Tuhuli…?“

„Kommt nicht in Frage, Meoran hat auch noch anderes zu tun als dich zu unterrichten!“ sagte Nalani streng. Er kippte mit dem Kopf auf sein Brot und sie verdrehte die Augen, goss aus ihrer Kanne Kaffee in eine Tasse und stellte sie ihm hin. „Trink, das macht wach,“ war ihr einziger Kommentar, ehe sie aus der Küche schneite und nach ihrem Mantel verlangte. Puran hob den Kopf von dem Brot und sah die Tasse unschlüssig an. Er hatte das komische Zeug nie probiert, das an sich nur seine Mutter jemals getrunken hatte, solange er wusste. Umbringen würde es ihn sicherlich nicht.

Er hatte es kaum geschafft, die Tasse zu leeren, da war seine Mutter schon gemantelt und gestiefelt wieder erschienen.

„Bist du fertig?“ fragte sie, aber ihr gehetzter Ton war verschwunden. Er erhob sich seufzend.

„Muss wohl,“ kam etwas missmutig, und zusammen verließen sie die Küche.
 

In der Eingangshalle stand der Rest der Familie. Onkel Kiuk, Tante Sukutai und Alona umarmten Puran herzlich zum Abschied, wobei die Cousine fröhlich sagte:

„En Jahr bin ich dich los, hurra!“ Er schnaufte und sie rannte lachend davon, ihre Eltern schüttelten nur ratlos die Köpfe. Alle wussten, dass Alona ihn vermissen würde… Abschiede waren nichts für sie. Puran würde sie auch vermissen. Se nervte ihn zwar meistens, aber sie war wie eine kleine Schwester für ihn. Es wäre seltsam, ein Jahr ohne sie zu leben… oder ohne die anderen hier. Selbst den Küchenjungen würde er vermissen.

Tabari war auch da. Er konnte seinen Sohn nicht nach Tuhuli begleiten, weil er als Statthalter selbst zu einer Reise aufbrechen musste und so nur wenig Zeit hatte.

„Ich wollte mir was ausdenken, was ich dir sagen könnte,“ behauptete er verpeilt und raufte sich die blonden Haare, ehe er seinen Sohn eine Weile ansah. „Aber, ehrlich gesagt ist… mir nichts eingefallen. Du wirst ein Jahr ohne uns in Tuhuli sein. Wenn wir dich wiedersehen, wird der kleine Junge, den ich kenne, verschwunden sein… wenn du wiederkommst, wirst du ein Mann sein, Puranchen. Ach, wie schnell die Zeit vergeht.“

„Jetzt hast du ja doch was gesagt,“ meinte Puran grinsend, und der Vater umarmte ihn herzlich. „Ich werde dich auch vermissen, Vati.“
 

Puran war nicht zum ersten Mal in Tuhuli; eigentlich war er sein Leben lang andauernd hier gewesen, und doch fielen ihm plötzlich ganz neue, andere Sachen auf, als er mit seiner Mutter in der Kutsche zu Chimalis’ Anwesen fuhr. Gassen, deren Existenz er nie bemerkt hatte,, Muster auf manchen Pflastersteinen, Verzierungen an Häusern in Ring der Adeligen. Mit dem Hintergedanken, das kommende Jahr nur hier zu verbringen, sahen die Dinge anders aus… ebenso das Anwesen der Chimalis’, stellte der Junge ernüchtert fest, als sie davor eintrafen und im Hof von den drei verbliebenen Clanangehörigen begrüßt wurden.

Meoran Chimalis stand flankiert von seiner Frau und seiner Mutter im Hof, und alle drei verneigten sich höflich vor Puran und Nalani. Letztere taten es ihnen gleich.

„Ich freue mich, euch beide zu sehen,“ sagte Meoran gut gelaunt. Ich denke nicht, dass es noch was zu klären gäbe, oder, Königin Nalani?“ Sie schnaufte über den neckischen Spitznamen und Keisha lachte leise.

„Nein,“ sagte die Schwarzhaarige dann, „Wir haben besprochen, was zu besprechen war, Meoran. Und Ruja, versteht sich.“ Sie warf Meorans Frau einen Blick zu und die Telepathin verneigte sich noch tiefer, dabei lieb lächelnd.

„Es ist mir eine Ehre, Euch dienen zu können, Herrin.“

„Lass den Unfug und hör auf, dich zu erniedrigen,“ empörte Nalani sich und musste ebenfalls lächeln. Das Mädchen war zu höflich… Nalani wandte sich an Puran, der bislang stumm wie ein Zinnsoldat neben ihr gestanden hatte. „Ich gehe jetzt. Wir dürfen uns während des Jahres, das du in der Lehre bist, nicht begegnen, Puran… Vati und ich werden wegen des Rates sicher ab und an in Tuhuli sein, aber wir werden nicht zum Anwesen kommen können. Sinn der Isolation ist, dich zu isolieren.“

„Das leuchtet mir sogar ein,“ machte er und grinste kurz, ehe er von ihr liebevoll in die Arme geschlossen wurde. Er erwiderte die Umarmung. „Mach’s gut, Muttilein. Du wirst mir fehlen. Ich… werde mir die größte Mühe geben, dir niemals wieder Schande zu bereiten.“ Sie löste sich von ihm und als er in ihr schönes, zeitloses Gesicht blickte, sah er in ihren blauen Augen einen tiefen, schmerzhaften Kummer, den er nicht benennen konnte.

„Du hast mir… niemals wirklich Schande gemacht,“ flüsterte sie betreten, als gestünde sie ein Verbrechen, „Ich… bin sehr, sehr stolz auf dich, Puran.“
 

Die Sehnsucht nach seiner Familie und dem bekannten Schloss kam erst am Abend wirklich in ihm hoch, als sich langsam der Gedanke eingenistet hatte, weder seine Eltern, noch Alona, Onkel Kiuk oder Tante Sukutai im nächsten Jahr sehen zu dürfen. Geschweige denn seine Freunde Travi und Kannar, oder Madanan, Narya und die niedliche Cholena…

Große Vorstellungen waren nicht nötig gewesen. Puran kannte sowohl Meoran, seinen Lehrmeister, als auch Keisha und Ruja schon halbwegs, wirklich gut kannte er keinen von dreien, aber er kannte ihre Namen und ihre Gesichter. Wobei er Ruja kleiner und kindlicher in Erinnerung gehabt hatte; er hatte sie eine Weile nicht gesehen. Jetzt war sie weder klein noch kindlich, sie war ein kleines Stück größer als er und eine bildschöne Frau.

„Jetzt kennst du das Anwesen, du kannst kommen und gehen wie du magst und wohin du willst,“ belehrte Meoran ihn, als sie in der Dämmerung in der Teestube saßen und Tee tranken. „Aber wir sind auch kein Vergnügungspark hier, du bist hier, um zu lernen, mit der schwereren Schwarzmagie umzugehen. Ich bitte dich daher höflich, meine Autorität anzuerkennen und auf mich zu hören, wenn ich dir etwas beibringe. Dein Vater redet viel von dir, ich habe gehört, du wärst sehr begabt mit der Elementarmagie und Visionen?“

Puran verschluckte sich erst mal an seinem Tee und die Frauen sahen ihn bestürzt an. Ruja klopfte ihm wohlwollend auf den Rücken.

„Geht es wieder?“ fragte sie ihn lächelnd und er schnappte entsetzt nach Luft.

Visionen! Himmel hilf – darin war er seit einiger Zeit nicht mehr gut, nein! Er dachte nervös an die komischen Kräuter von Kannar, von denen er sicherheitshalber welche mitgenommen hatte. Wenn die von ihm verlangten, ihnen was vorzuträumen, würde es schwer werden… In seiner Nervosität merkte er nicht, wie Ruja neben ihm ihrem mann einen bedeutungsvollen Blick zuwarf und der eine Braue hochzog.

„Hab ich was falsches gesagt?“ fragte er irritiert und sah seine Mutter an. Keisha rümpfte nur die Nase, was ihm nicht wirklich half. „Wie dem auch sei, Puran. Du wirst dich schnell eingewöhnen, hoffe ich.“ Der Mann lächelte gutmütig. „Morgen fangen wir mit dem Training an. Geh besser früh schlafen heute, in der ersten Nacht in einem fremden Haus schläft es sich meistens schlecht.“
 

Da hatte er recht. Die Nacht war furchtbar. Nicht, weil das Bett unbequem gewesen wäre, das war es nicht, aber zu viele Gedanken verfolgten den Jungen und er schlief einen traumlosen, unruhigen Schlaf, bis er in den frühen Morgenstunden unerwartet geweckt wurde. Jemand zog die Vorhänge des Zimmers auf und als er verschlafen blinzelte und den Kopf drehte, sah er mit Erstaunen Meorans Frau, die sich strahlend zu ihm beugte.

„Aufstehen, guten Morgen!“ verkündete sie heiter und er fragte sich, was sie wohl getrunken haben mochte, um so eine Zeit schon so munter zu sein. Das war ja abartig – wobei abartig ein absolut unpassendes Wort für die Frau war. „Das ist der Kaffee meines, ähm, Schwiegeronkels, der macht munter,“ erklärte die schwarzhaarige Frau ihm ungefragt, „Möchtest du auch eine Tasse? Meoran schickt mich dich wecken, damit ihr früh anfangen könnt und er sich schon mal ein Bild davon machen kann, was du kannst.“

„Ah – ja. Aha. Mhh,“ machte Puran geistreich und völlig platt geredet von ihr – wie konnte man so viel reden? Ihr Gerede verwirrte ihn, war aber in keinster Weise störend, ihre Stimme klang angenehm sanft und ruhig. „Ähm – muss ich etwa immer im Morgengrauen aufstehen?!“ wagte er dann sich zu beschweren, ehe er seine Zunge hätte im Zaum halten können, „D-das ist ja Folter!“ Ihm kam kurz darauf, dass es nicht sonderlich höflich war, so etwas zu sagen… Ruja betrachtete ihn eine Weile mit einem eigenartigen Blick. Dann lächelte sie erneut.

„Dann werde ich dich wohl jeden Morgen foltern müssen…“
 

Als sie weg war, zog er sich rasch an und machte sich im Bad fertig. Rasch war dabei gut gesagt, mit seinen furchtbaren Haaren war das nicht so leicht. Als er in seinen Sachen kramte, die er mitgenommen hatte, fand er die kleine Schachtel mit den seltsamen Zigaretten, die einen komische Dinge sehen ließen. Er hielt für einen Moment inne, als er sich an Rujas Worte erinnerte.

„…und er sich schon mal ein Bild davon machen kann, was du kannst…“

Verdammt! schoss es dem Jungen durch den noch müden Kopf, Dann wird er mich sicher irgendwas testen und die Geister schweigen mich an, was soll ich denn machen?!

Er schnappte empört eine der Zigaretten, steckte sie sich zwischen die Lippen und zündete sie mit Vaira an. Er hustete darauf lauthals los. Ungefrühstückt schmeckte das Zeug ja abscheulich…
 

Meoran Chimalis beobachtete seinen neuen Schüler aufmerksam, als sie gemeinsam im Garten standen, wie sein Vater früher mit Nalani hier gestanden hatte, und mit ihm selbst, und mit manch anderem. Puran betrachtete voller Staunen den in allen Farben leuchtenden Garten und schwankte bedrohlich vor und zurück, während er fasziniert kicherte. Da sprangen sogar rosa Rehe durch den Garten und da hinten war ein blaues Kaninchen, das fliegen konnte.

„Der Garten ist ja spaßig, hehe!“ machte er dabei blöd lachend, und Meoran grinste ebenfalls.

„Das ist wohl wahr! Auf dann, Puran, tu mir den Gefallen und zeig mir deine Ka-… nein, lieber Tora. Tora, Pflanzenzauber. Kriegst du hin… fall nicht!“ Weiterhin amüsiert trat der Lehrer ihm gegenüber mit gehörigem Abstand und wartete, dass sein Lehrling sich regte. Aber der fing erst mal an, ohne Punkt und Komma zu quasseln:

„Wisst Ihr, Meister, ich hab geträumt, da wäre eine riesengroße Monstermuschel vom Himmel gefallen, direkt auf das Feld, jawohl! Und heraus kam ein Kamel, Ihr wisst schon, diese eigenartigen Tiere aus dem Süden mit den Pestbeulen auf dem Rücken, und es hatte einen Hut auf und begann, zu tanzen, es sah recht albern aus! Und die Muschel konnte singen, aber es war abscheulich, mit diesem albernen Hut, und das Kamel hat seine Farbe gewechselt wie Narya Maru die Männer, die sie küsst, Ihr kennt sie ja gar nicht, haha – sie ist eine gute Küsserin, aber wenigstens trägt sie keinen solch albernen Hut! Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die… diese Dinger da, wie heißen sie gleich, Gespenster? Nein… Kleister! Die Kleister wollen mir sagen, dass ich wohl gerne ein Kamel mit Hut küssen würde, aber wisst Ihr was, das würde ich nie ihm Leben tun, Kamele sind mir zuwider, insbesondere die mit Hüten!“ Meoran sah sich, obwohl er sich königlich amüsierte, gezwungen, das zu beenden:

„Könntest du mir endlich Tora vorführen und später deine behuteten Kamele küssen oder es lassen? Die sind gewiss haarig.“

„Ach, sagt das doch!“ lachte Puran und winkt ihm theatralisch zu, „Ja, Tora, das kriege ich hin! Aber passt auf, dass Ihr nicht dabei draufgeht, haha!“ Meoran bezweifelte, dass er in Gefahr war, als der Junge die Hände hoch riss und sehr enthusiastisch Tora! schrie. Der Mann hatte einiges erwartet, aber nicht, dass der arme Schüler sich beinahe selbst stranguliert hätte mit dem Pflanzenzauber, der Ranken aus seinen Händen wachsen ließ, die ihn jetzt selbst fesselten und einrollten wie eine Eierrolle. Der Lehrer verdrehte die Augen und löste den Zauber mit einem Schwung einer schwarzen Krähenfeder aus seiner Hand auf, worauf die ranken verschwanden und Puran hustend am Boden lag. Meoran ging zu ihm herüber und hockte sich seufzend vor ihn, als der Junge sich aufsetzte und hustete.

„Tag auch,“ lallte er blöd lachend.

„Na, so hat das wenig Sinn,“ entgegnete der Lehrer grinsend, „Am besten gehst du erst mal wieder schlafen, wir sehen dann nachher weiter.“
 

Als Puran wieder zu sich kam und ihm grauenhaft schlecht war, sah er Meoran gemütlich neben dem Bett auf einem Sessel sitzen und die Nachrichten lesen.

„Was ist… los?“ stammelte der Junge, „Warum… schlafe ich?“

„Ah, du bist wach,“ machte der Lehrer, ohne von seinen Nachrichten aufzusehen. „Du liebe Güte, diese Missgeburten aus dem Osten haben den Großen Wall in Fann und Janami angegriffen, das klingt aber unschön.“ Puran fragte sich, was das mit ihm zu tun hatte – da packte Meoran das Extrablatt weg und sah ihn an. „Ich glaube, wir müssen mal ernsthaft reden,“ begann er ernst, „Wenn wir fertig sind, kriegst du einen Kaffee, wenn du willst, das hilft.“ Der Junge setzte sich beunruhigt auf und kratzte sich am Kopf. Er fühlte sich grausam – und er erinnerte sich an nichts als bunte, schillernde Farben.

Diese verdammten Zigaretten!

„Verkaufe mich nie wieder für dumm, Puran,“ sagte Meoran ernst, aber nicht erzürnt. „Ich kenne das Zeug, das du rauchst, wenn du dachtest, mir damit lustige Visionen herbeizaubern zu können, so hast du es dir sehr leicht gedacht. Das hat jeder Idiot probiert, aber es liegt ein sehr tiefer Graben zwischen Drogenträumen und Visionen, Puran.“ Der Junge starrte ihn an.

Was? Er wusste es…? Ehe er fragen konnte, woher, fuhr Meoran fort.

„Als ich so alt war wie du, habe ich auch versucht, meinen Vater so über’s Ohr zu hauen, weil die Geister grundsätzlich nie etwas zu mir sagen, wenn man es braucht; aber genau wie ich heute hat er damals gesessen und gesagt ‚Meoran, du dummer, dummer Junge!’. Also… das hier ist eine Entscheidungsfrage, Puran. Bist du bereit, mit deinem eigenen Geist Kontrolle zu erlangen, oder willst du deine Zauber in Zukunft den Drogen überlassen?“ Puran blinzelte.

„Aber – aber, ich kann doch nicht!“ jammerte er, „Die Geister haben mir den Rücken gekehrt, ich habe tausendmal versucht, sie zurück zu rufen!“

„Da helfen keine Drogen,“ grinste Meoran, „Du hast sie nur nicht überzeugend genug gerufen… du musst es aus tiefsten Inneren heraus wollen, dass sie zu dir kommen. Deinen eigenen Geist beherrschen… damit er die Himmelsgeister kommandieren kann. Das ist… schließlich unsere Aufgabe als Geisterjäger.“ Puran senkte den Kopf. Er kam sich dumm vor – da hatte er seiner Mutter doch versprochen, nie wieder Schande zu bringen…

„Vergebt mir meine Dummheit vom Morgen,“ murmelte er, „Es… kommt nie wieder vor.“

„Willst du es denn dann mal… ernsthaft versuchen, die Geister zurückzuholen?“
 

Der Junge betrachtete am Nachmittag den Garten mit seinen realen Farben und ohne seltsame Zusätze, die die Drogen ihm verschafft hatten. Als sein Lehrmeister ihm irgendetwas erzählte, hörte er nicht zu; er kämpfte in seinem Inneren mit aller Kraft gegen die Vergangenheit.

Lauf nicht weg, hatten die Geister gesagt. Deine Bestimmung holt dich immer wieder ein. Du kannst nicht entkommen.

Ja, er hatte es seit Jahren versucht…entkommen war er nie. Er senkte bitter den Kopf, als er an seinen verrückten Großvater dachte, an das tote Reh und an Ram, der ihn hasste…

„Fall tot um.“

Lauf nicht weg, Puran. Du bist ein Mensch des Geistes… dir ist Größeres bestimmt als Jäger zu werden.

Er musste Meoran nicht zuhören, denn er wusste selbst, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war, stehen zu bleiben, sich umzudrehen und der verhassten Bestimmung, von der alle sprachen, ins Gesicht zu blicken. Er dachte an Herrn Masava und das Training der Grundzauber vor Jahren, den ersten Schritt zur Kontrolle dessen, was in ihm ruhte, eine merkwürdige, geistige Kraft, deren Verwendung er soweit er konnte minimieren würde. Magie musste das letzte Mittel bleiben, egal, wer er war. Sie war gefährlich, und selbst wenn er sie kontrollierte, konnte er damit jenen schaden, die eine Bedrohung werden würden –

In diesem Augenblick war es, dass die Geister zurück kehrten, ohne dass er sie gerufen hatte, und seit Wochen sah er zum ersten Mal wieder ungebeten das Himmelsfeuer, den Flammenregen. Und aus dem Himmel stiegen monsterhafte Gestalten, bösartige Geister, die blau schimmerten und die Welt zu ihren Füßen legen wollten…

„Jetzt ruf deine Geister!“ befahl Meoran ihm und trat sicherheitshalber einen Schritt zurück. Dabei stieß er gegen seine Frau, die unbemerkt erschienen war, und er entschuldigte sich bei ihr, doch Ruja war fasziniert.

„Es ist, wie Tabari gesagt hat, er ist ein begabter Junge!“ flüsterte sie andächtig, als Puran gehorsam die Arme hob und den Blick in den Himmel richtete, obwohl er gar nicht wirklich den Himmel sah; nicht den Himmel über Tuhuli. Vor seinen Augen brannte die Welt, brachten die bösen Geister Unheil und Tod, und er keuchte und strauchelte.

„Himmelsgeister! Erdgeister!“ schnappte er, „Kommt zu mir und folgt meinem Ruf! Ihr werdet mir dienen, wie ich euch dienen werde!“ Und aus dem Himmel ertönte ein langes, dumpfes Grollen, als sich die Wolkenberge über Tuhuli zusammen zu brauen schienen. Meoran und Ruja beobachteten das Schauspiel aus sicherer Entfernung, der Lehrmeister weitete für einen Moment minimal die Augen, als Puran wieder herum fuhr und ihn anstarrte mit einem Blick, der keinem Sterblichen gehören mochte…

Er hatte die Geister gerufen und sie waren gekommen. Meoran grinste und nickte anerkennend.

„Nein…“ sagte er zu Ruja und tätschelte ihr verhalten die Schulter, „Tabari hat gelogen. Der Junge ist sehr viel begabter, als er gesagt hat.“
 

Mit den Geistern kamen die schlechten Träume zurück. Und sie jagten den jungen wieder, beinahe jede Nacht kamen sie und er hasste sie schon wieder dafür, nahm den Umstand aber hin. Die Nächte waren nur dadurch dahin und er musste jeden Morgen jede Menge Kaffee trinken, um überhaupt die Augen offen halten zu können. Ruja weckte ihn energisch jeden Tag bei Sonnenaufgang. Und sie war unbarmherzig, versteckt unter ihrer lieblichen Erscheinung und Stimme war diese Frau unbarmherzig, Puran spürte das ganz genau, wagte aber nicht, in ihrer Nähe daran zu denken. Sie war Telepathin, nachher las sie seine Gedanken…

So ging das Training voran und aus dem Sommer wurde schnell Herbst. Der Herbst brachte im Gegensatz zum Sommer sehr viel Regen. Puran wunderte sich über das, was Meoran mit ihm übte, denn es erschien ihm zu einfach und nicht wie etwas, wofür man ein ganzes Jahr von seiner Familie fort musste. Aber wann immer er Meoran fragte, was noch käme, bekam er keine Antwort, so verbrachte Puran einen Teil seiner Zeit damit, seinen Meister zu beobachten und vielleicht auf andere Weise herauszufinden, was eigentlich gespielt wurde.

Meoran war ein höflicher, freundlicher Mann mit einer gewissen Ernsthaftigkeit, die ihm den nötigen Respekt verschaffte. Und der Junge hatte großen Respekt vor ihm, denn er wusste nie, was er dachte…

„Du merkst, wie wichtig es ist, dass dein Körper und dein Geist perfekt zusammenarbeiten,“ erklärte er seinem Schüler an jenem Tag am Ende des Holzmondes. „Ohne diese Einheit läuft nichts in der oberen Schwarzmagie. Elementarzauber, Zerstörer… das ist das, wovon die Menschen reden, die Zirkuskünste der Schamanen sozusagen. Gehe in ein Land wie Senjo, in dem wenige Magier leben, und erzähle, du wärst Schamane, dann wirst du hören ‚Zauber mal was!’. Das ist die bunte, schillernde Oberfläche des Spiegels, Puran. Aber darunter, hinter der Oberfläche, liegt erst das Wesentliche. Die eigentliche Aufgabe der Schamanen ist wichtig und geistig, nicht bunt und prächtig. Wir sind hier, um mit den Mächten der Schöpfung Kontakt aufzunehmen und ihren Willen zu verstehen. Durch diese Macht in uns haben wir die Gabe, uns Wissen anzueignen, und dieses Wissen zum Nutzen und Schutz des Lebens auf Tharr anzuwenden. So ist es auf dem Großkontinent, auf dem unser Land Kisara zwischen Senjo und Janami liegt, schon seit Anbeginn aller Zeiten. Aber bevor du fähig bist, die Mächte der Schöpfung richtig anzurufen, musst du deinen eigenen Geist unter Kontrolle bringen. Dazu sind diese Übungen am Anfang; eine Vorstufe zum Trancezustand, den du später brauchen wirst… theoretisch.“ Puran keuchte etwas und sah ihn an. Sie waren nass von Kopf bis Fuß, weil es in Strömen goss. Der Boden war bedeckt mit glitschigem Laub.

„Was heißt theoretisch?“ fragte er, und der Meister musste schmunzeln. Sein lachen verschwand schnell wieder.

„Du langweilst doch etwas, hab ich recht?“

„Nein, ich bin verwirrt, bei allem Respekt, Meister.“

„Das liegt daran, dass du das innere Gleichgewicht längst beherrschst; du hast es schon gekonnt, als du deine Geister gerufen hast. Ich habe dich jetzt eine Weile beobachtet und was immer ich dich habe machen lassen, du hast es einfach so gemacht. Du hast eine sehr große geistige Kraft und nutzt sie instinktiv genau auf die richtige Weise; jetzt kannst du es auch bewusst tun, wie du merkst.“

Puran blinzelte ein paar Mal.

„S-soll das heißen, ich konnte das alles schon und habe es jetzt nur zum Spaß noch mal geübt?“

„Nicht wirklich, ich sage ja, du kannst es jetzt bewusst. Vorher hast du es quasi aus Versehen richtig gemacht, ohne es zu wissen. Du bist… eben das Kind stolzer Eltern, Puran. Du hast die mächtige Aura deiner Mutter und deine mächtigen Rufens- und Sehensgaben; aber du bist nicht so impulsiv wie sie es in deinem Alter war, du hast Tabaris Ausgeglichenheit… etwas, für das ich ihn eigentlich beneide und das bei weitem unterschätzt wird, besonders… von seiner eigenen Frau.“ Der Junge raufte sich die nassen Haare und hustete kurz.

„Was…? Ihr meint Vatis Irgendwie?“

Irgendwie geht das, sagt Tabari, ja,“ lachte Meoran, „Wichtig ist, wenn du die Geister beherrschen willst… dass du Gefühl abschalten kannst. Dass du deine ganze Seele allein den Geistern widmen kannst. Und keiner im Rat… kann das so lange wie dein Vater.“
 

Der Regen dauerte an. Das Wetter war ungemütlich, deswegen verschoben Meoran und sein Schüler weitere Übungen auf den nächsten Tag, der sonniger werden würde, so hatte der Lehrer prophezeit. Puran beeindruckte diese Wettervorhersage – in sowas war er offenbar absolut talentfrei. Er sah in Visionen alles Mögliche über Dunkelheit, Tod und Grauen, aber nie das Wetter oder banale Alltagsdinge, die ihn viel mehr interessierten. Der Junge saß am Abend auf dem Fensterbrett in der Teestube und sah schweigend hinaus in den stürmischen Regen. Er dachte für eine Weile an seine Eltern, die er nun mehr etwa vier Monde nicht gesehen hatte. An seine stolze Mutter und seinen verplanten Vater, und irgendwie vermisste er sie beide. Zum ersten Mal dachte er über ihre Posten als Geisterjäger nicht mit gemischten Gefühlen oder gar negativ, plötzlich machte es ihn stolz, so anerkannte und wunderbare Eltern zu haben… der Gedanke, der ihm danach kam, an seinen verhassten Großvater, wurde unterbrochen, als er plötzlich eine Stimme von der Tür der Stube vernahm.

„Scheußliches Wetter…“

Er fuhr erschrocken herum und erblickte Ruja in der Tür. Sie war dabei, die Zimmerpflanzen des Anwesens zu gießen, so trat sie neben ihn zur Fensterbank und besprühte die Pflanze vor ihm mit einem Alara-Zauber. Er beobachtete sie fasziniert davon – ja, Zauber waren durchaus nützlich bisweilen.

„So spart man sich eine Gießkanne,“ sagte die Frau da auch, seine Gedanken erratend. „Du sitzt hier im Dunkeln, willst du kein Licht machen? Oder ist das Öl alle?“ Sie sah auf die kleine Öllampe auf dem Teetisch und Puran schüttelte den Kopf.

„Ich… wollte lieber im Dunkeln sitzen, dann kann ich besser raus sehen.“ Er betrachtete die Frau, während sie lächelnd und mit einer liebreizenden Art die Blume goss, sie sah beinahe aus, als kümmerte sie sich zärtlich um ein Baby. Sie war noch viel schöner, wenn sie lächelte, stellte er verträumt fest, und er lächelte automatisch mit, als er sie weiter ansah. Ihre schönen, pechschwarzen Haare, die sie zu einem festen Knoten gebunden hatte, die niedlichen Grübchen in ihren Wangen, wenn sie lächelte wie jetzt… Sein Blick wanderte ohne dass er es selbst merkte ein wenig weiter hinab über ihren Hals, ihr Schlüsselbein bis zu ihrem Ausschnitt, wo er kurz verharrte – aber sofort entsetzt wieder wegsah, als er sich dabei erwischte, ihr auf die Brüste zu sehen. Verdammt, was dachte er sich? Das war eine verheiratete Frau und sie war älter als er – wenn auch nur fünf Jahre – wie kam er dazu, sie auf so eine Art anzusehen? Wie ungehobelt!

Ruja schenkte ihm einen kurzen Blick, sagte aber nichts und lächelte weiter.

„Auch gut,“ sagte sie sanft, „Dann lasse ich das Licht aus für dich. Aber stolpere nicht, wenn du zu Bett gehst.“ Er nickte beklommen und sie sah aus, als wollte sie gehen, aber dann blieb sie doch stehen. „Meoran lobt dich viel, weißt du?“ begann sie leise und er wandte den Blick erstaunt wieder zu ihr, obwohl sein Gesicht jetzt brannte. Sie anzusehen war keine sehr kluge Idee, das Brennen in ihm wurde nur schlimmer und er kam sich unheimlich dreckig und widerwärtig vor, so etwas überhaupt zu denken. „Du bist ein sehr begabter Junge, Puran,“ fuhr sie fort. „Sträubst… du dich eigentlich immer noch so gegen die Geister und die Magie wie früher?“ Er errötete und fühlte sich ertappt.

„Ich, ähm – wieso weißt du davon?“

„Ich sehe vieles…“ Er fühlte sich an seine Großmutter erinnert, die allwissende Seherin Salihah. Ruja kam vermutlich nicht an sie heran, zumindest nicht nach dem, was er wusste, dennoch zweifelte er nicht daran, dass sie eine sehr begabte Magierin war.

„Du musst Magie nicht fürchten oder verachten… jedenfalls nicht, solange sie keinen bösen Zwecken dient…“ Er hob erstaunt den Kopf. Plötzlich fiel ihm wieder ein, warum er zuvor an Kelar gedacht hatte.

„Durch diese Macht in uns haben wir die Gabe, uns Wissen anzueignen, und dieses Wissen zum Nutzen und Schutz des Lebens auf Tharr anzuwenden…“

Der Junge verengte kaum merklich die Augen. Wenn das so war, was hatte sein Großvater dann getan?
 

In der Nacht verfolgten ihn die Gedanken an seinen Großvater und er wälzte sich die halbe Nacht lang von einer Seite auf die andere, hörte in seinem Kopf das kehlige Lachen, sah die bösartigen, spitzen Eckzähne, Kelars Markenzeichen, wenn man so wollte. Er hatte diese Zähne immer gefürchtet, sie ähnelten denen von Raubtieren und selbst jetzt, zehn Jahre nach Kelars Tod, spürte er noch dir Furcht in sich, wenn er länger an ihn dachte.

Irgendwann gab er das Schlafen auf und verließ sein Zimmer, um aus der Küche ein Glas Wasser zu holen. Er spürte sein Herz nervös klopfen und die Geisterstimmen flüsterten in seinem Inneren, als er hinunter tappte im Dunkeln de Anwesens. Es war weit nach Mitternacht. Das Glas Wasser getrunken und auf dem Weg zurück bemerkte der Junge das Licht in der Stube. Verwundert wagte er einen Blick durch die halb geöffnete Tür und sah auf der Couch seinen Lehrmeister sitzen.

„Nanu, auch noch wach?“ hörte er sich fragen und Meoran fuhr offenbar überrascht auf.

„Liebe Güte, Puran!“ machte er, „Ich habe mich zu Tode erschrocken!“

„V-vergebt mir, Meister…“

„Schon gut, komm zu mir,“ bot Meoran ihm wieder grinsend an und fuhr sich durch die Haare. „Die Geister schicken mir launische Träume von seltsamen Dingen,“ erklärte er sein Wachsein, sobald Puran neben ihm saß. „Was ist mit dir…?“ Puran seufzte resigniert.

„Ich… mich hält ehrlich gesagt etwas wach, was Ihr gesagt habt. Ihr habt gesagt, wir Schamanen wenden unser Wissen an zum Schutz des Lebens auf Tharr. Ich habe mich gefragt, wieso… war mein Großvater dann anders? Oder soll das, was er getan hat, etwa nützlich gewesen sein?!“

Meoran sah ihn kurz an und nippte dann an seiner Teetasse, die er in der Hand hielt.

„Sicherlich nicht,“ antwortete er verhalten. „Dein Großvater Kelar war ein… Mensch, der den falschen Weg gewählt hat. Irgendwann in unserem Leben stehen wir alle vor dieser Wahl.. ob wir den richtigen Weg wählen oder den leichten. Ich glaube nicht, dass ein Mensch von Natur aus bösartig sein kann. Er wird geboren und ist neutral, Erziehung, Erlebnisse und Umgebung machen ihn zu dem, was er am Ende ist. Niemand weiß… was mit Kelar geschehen ist, was ihn dazu veranlasste, so zu werden. Nur Salihah mag das gewusst haben… sie hat dieses Geheimnis mit ins Grab genommen.“ Sie schwiegen eine Weile.

„Onkel Kiuk hat einmal gesagt, Großvater hätte schon als Kind die Veranlagung gehabt, nicht ganz klar im Kopf zu sein…“

„Macht… macht die Menschen oft wahnsinnig, Puran. Je mehr Macht einem Menschen verliehen wird, desto gefährlicher und schmaler ist der Grat, auf dem er wandern muss, und desto leichter ist es, ihn umzuschmeißen in die Schlucht des Wahnsinns. Deine Großmutter Salihah war die mächtigste Telepathin ihrer Zeit, aber je älter sie wurde, desto mehr… hat die Macht ihren Verstand gefressen. Du warst noch zu klein um das zu merken, aber sie war sehr, sehr oft hier, um mit meinem Onkel-…“ Er hustete und brach ab. Das ging den Jungen ja wirklich nichts an. Puran sagte nichts, ahnte aber, worauf er hinaus gewollt hatte.

„Ihr habt noch mehr gesagt,“ murmelte er, „Ihr habt gesagt, auf dem Großkontinenten wäre es schon ewig so, dass… wir Schamanen die Lebenden beschützen. Was ist mit den Ländern außerhalb des Kontinenten, mit dem Inselreich Alymja oder den Ländern im Osten?“

„In Alymja leben sehr wenige Magier,“ erzählte Meoran düster und drehte den Kopf schweigend zum Fenster. „Im Osten, jenseits des Binnenmeeres, jenseits von Fann… gelten diese Gesetze nicht. Den Osten nannten die Menschen früher Das Land der Blutsonne und der Schatten… das lässt schon vermuten, warum.“ Puran erschauderte.

„Wart Ihr jemals dort?“ fragte er leise, und Meoran schnaubte.

„Kein Lebender setzt freiwillig einen Fuß in die Ostländer, es sei denn, er hat mit dem Leben abgeschlossen.“

„Dann… nutzen die Schamanen dort ihre Magie nicht… für irgendwas Gutes?“ murmelte der Junge benommen und Meoran seufzte.

„Auch auf unserem Kontinenten gibt es böse Menschen und im Osten gewiss auch gute, ich weiß es auch nicht genau. Mach dir im Moment nicht zu viele Gedanken, Puran… du bist noch ein Junge, du musst dich nicht sorgen um gute oder böse Magier. Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille… die, die wir für böse halten, die uns verletzen, kämpfen aus anderen Gründen, wir verstehen sie nicht und sie uns vielleicht ebenso wenig. Würden wir alle einander verstehen, würde die Welt vielleicht eines Tages ein… besserer Ort.“ Er sah seinen Schüler an und grinste kurz nostalgisch. „Geh jetzt schlafen. Nur, weil wir hier mitten in der Nacht herum schwätzen, heißt das nicht, dass du morgen ausschlafen darfst!“
 

Puran wusste selbst nicht, was ihn so beschäftigte, was genau es war, das durch seinen Kopf spukte, aber es ließ ihn die nächsten Wochen nicht los. Er träumte oft denselben Traum vom Flammenregen, vom Ende der Welt, den er schon als Kind geträumt hatte, und er hörte jede Nacht, so erschien es ihm, lauter das Lachen seines schaurigen Großvaters. Die Geister sprachen in seltsamen, längst vergangenen Sprachen zu ihm, die er nicht verstand, und am Ende des Traumes legte sich ein dunkler Schatten über seine Augen. In der Finsternis, die über die Welt fiel, sah er ein kleines, weißes Ding in der Ferne tanzen, eine kleine Spirale… im selben Moment befiel ihn ein derartiges Gefühl der Unbehaglichkeit, eine derartig grausame Panik, dass er aufwachte und keuchend im Bett lag.

Was war das? fragte er sich unmittelbar darauf und fasste erschrocken nach seinem immer noch pochenden Herzen. Wieso bin ich so panisch?! Was ist mit mir, es… war doch nur eine dumme Spirale… was ist an der furchteinflößend…?

Er lauschte verwirrt dem Rauschen in seinem Kopf und den verstummenden Geisterstimmen, in dem Moment klopfte es an der Zimmertür. Kurz darauf steckte Ruja ihren hübschen Kopf herein und strahlte ihn an. Auf dem Flur brannte Licht.

„Steh auf!“ rief sie ihn fröhlich, „Der Winter ist gekommen. Es gibt Frühstück!“

Was das eine mit dem anderen zu tun hatte, wusste Puran nicht, aber eil er jetzt ohnehin wach war, schälte er sich aus dem Bett und spähte aus dem Fenster, den Vorhang zurück ziehend. Und er schrie entsetzt auf.
 

Der Winter war wortwörtlich hereingeschneit gekommen, draußen tobte ein wilder Schneesturm, als Puran mit Meoran, Ruja und Keisha am Tisch saß und frühstückte.

„Hier ist es so still,“ nölte Keisha irgendwann, indem sie ein Eierröllchen von einem Teller in der Mitte nahm. „Früher waren hier so viele Leute, ich vermisse das laute, chaotische Frühstück.“

„Früher hast du es gehasst,“ erinnerte ihr Sohn sie glucksend. Keisha jammerte.

„Es ist jetzt ja schon her, dass sie alle gestorben sind, ach!“ machte sie, „Aber es ist einsam hier oben! Schnee macht mir immer schlechte Laune, vergib mir, Meoran.“

„Schon in Ordnung, solange du jetzt nicht den ganzen tag jammerst, ich habe noch zu tun. – Puran, bist du wach oder willst du noch einen Kaffee?“

„Was?“ fragte der Lehrling überrumpelt, weil er so plötzlich angesprochen wurde. In Gedanken hing er noch an dem Traum und dem grauenhaften Gefühl, das er dabei gehabt hatte…

„Das heißt wohl Nein, na dann, wohl an! Wir gehen jetzt im Schnee herum toben, während Mutti das Haus putzt.“

„Wie bitte, ich putze aber nicht das Haus!“ machte Keisha verblüfft und Ruja musste ungehalten lachen.

„Du merkst es schon nicht mehr? Wenn du genervt bist, putzt du das Haus, Keisha! – Ich werde dir helfen.“

„Was, Moment, ich putze das Haus?“ Die Heilerin war völlig aus der Bahn geworfen und die anderen mussten verstohlen glucksen.
 

Der Schneesturm dauerte immer noch an und Puran fragte sich, ob Meoran wollte, dass sie sich beide den Tod holten, als sie im Garten standen, um zu üben.

„Der Tag ist wunderbar,“ behauptete der Lehrmeister wichtig, „Der Winter ist jetzt da und diesen Firlefanz mache ich mit keinem Lehrling vor dem Winter, aus Prinzip nicht. Dabei gehe ich bei dir stark davon aus, dass wir nicht lange üben müssen… heute lernst du, wie man mit Zerstörern umgeht.“ Puran blinzelte sich den Schnee aus den Augen.

„Was?!“

„Na, so umwerfend ist das nun auch wieder-…“

„Nein, ich habe Euch nicht gehört bei dem Sturm!“

„Ach so, ich sagte, wir üben jetzt Zerstörer!“ Purans Reaktion war, obgleich er es jetzt gehört hatte, dieselbe:

„Was?!“

„Zerstörer sind die mächtigsten Elementarzauber und wir Schwarzmagier sind als einzige Schamanen privilegiert, sie beherrschen zu können. Heiler und Telepathen können das nicht, die haben andere Qualitäten. Geh zurück und sieh mir zu. Wichtig ist, dass du das, was du gelernt hast, jetzt anwendest… dann hören die Geister auf dich!“ Puran blickte ihn fasziniert an, als der Mann die Arme durch den wirbelnden Schnee in den Himmel riss und laut die Geister anrief. „Himmelsgeist! Komm herunter zu mir und lass mich dich lenken nach meinem Belieben! Du bist unter meiner Hand, Geist!“ Puran beobachtete völlig verblüfft, wie der Mann sich zu ihm umdrehte und mit einem wirbelnden Aufbrausen des Schneesturmes und einem lauten Krachen aus dem tief hängenden, dunkeln Himmel ein Blitz in Meorans Hände einschlug und er die gewaltige Lichtkugel über seinem kopf hielt, als wollte er sie auf seinen Schüler schmeißen. Puran kannte Zerstörer… es konnten tödliche, vernichtende Zauber sein, je nach dem wer sie ausführte. Und Meoran war als Geisterjäger einer der besten.

Einen Moment nachdem Puran ausgedacht hatte, ließ Meoran den Zauber verschwinden, als hätte er eben eine Blume aus seinem Ärmel gezaubert, die keine weitere Beachtung wert war. „Jetzt du,“ grinste der Lehrer und schüttelte den Schnee aus seinen braunen Haaren. Als der Junge ihn ungläubig anstarrte, sah er sich gezwungen, fortzufahren: „Ich weiß, dass du mit sechs Jahren Windmesser gerufen hast, auch, wenn du nicht gern darüber sprichst, aber das ist ein Zerstörer. Du wirst es jetzt wieder tun.“

Das war keine Bitte, das war eine sachliche Feststellung. Puran erschauderte.

„Aber es ist verdammt kalt, wie soll ich mich da konzentrieren?“

„Ausreden, fauler Sack,“ kicherte Meoran vergnügt und steckte sich in aller Ruhe eine Zigarette an. „Du wirst… die Kälte gar nicht spüren. Wetten?“
 

Puran hasste Meorans Wetten irgendwie, denn dieser Fanatiker gewann immer. Es war tatsächlich, wie der Meister gesagt hatte; er spürte weder Kälte noch Hitze, als er es seinem Lehrer nachmachte, die Arme in den Himmel riss und den Kopf in den Nacken warf. Alles, was er in seinem Inneren spürte, war ein komisches Kribbeln, als sein Geist und sein Körper komplett eins waren. Er erinnerte sich nur flüchtig an die Windmesser vom ersten Schultag; damals hatte es sich schlecht angefühlt. Jetzt fühlte es sich richtig an… es war angenehm.

„Das ist deine Bestimmung. Jetzt, wo du nicht mehr wegläufst, fühlt es sich auch nicht mehr komisch an…“ erklärte eine Stimme in seinem Inneren ihm und er hörte sich selbst die Geister rufen, obwohl er nicht mitbekam, wie er es tat – er tat es einfach.

„Windgeist!“ rief er, „Komm zu mir, komm und gehorche meinem Willen!“ Er spürte die gewaltige Macht zwischen seinen Händen, als der Schnee sich darin sammelte und zu einem immer größeren Windwirbel wurde, ein Wirbel voller Grausamkeit und Macht, die er kaum zu halten vermochte. Er spürte, dass die Macht ihn von den Beinen zu reißen drohte und er nahm nicht wahr, wie Meoran aus seinem Umhang eine schwarze Feder zückte und zwei Schritte zurück trat.

„Wunderschön,“ kommentierte er Purans Windwirbel entzückt, „Das erfüllt mein Herz mit Stolz, sowas sehen zu dürfen nach all den unfähigen Trotteln, die ich gelehrt habe in den letzten Jahren.“ Er sah zu seinem Schüler, de den kopf wieder herunter riss und erzitterte vor der Macht in seinen Armen, dem mächtigen Wind, den er beschworen hatte.

„Vater Himmel, gib mir… die Macht deiner Windgeister!“ japste Puran in seiner Trance und Meoran beobachtete immer entzückter die glühenden Augen des Jungen, dieses gewaltige, uralte Potential der Lyra-Familie, das er, Meoran, immer in höchstem Maße geehrt hatte. Ohne weitere Worte streckte er den Arm mit der Feder aus in Purans Richtung, und mit einem lauten krachen verschwand der Zerstörer in den Händen des Jungen. Puran taumelte und stürzte in den Schnee, lauthals hustend. Plötzlich war alles weg – das Kribbeln, die Trance, der Zauber, plötzlich war es eiskalt und er sprang keuchend auf.

„W-was… was habt Ihr gemacht, Meister?!“

„Ich wollte ja nicht, dass du den garten zu Kleinholz machst,“ sagte Meoran, „Das war beeindruckend. Ich habe mich selten so über einen Zerstörer gefreut. So, jetzt gehen wir Tee trinken in Tuhuli, ist ja grausam hier mit dem Wetter.“

„Vorhin fandet Ihr es noch herrlich,“ schnaubte Puran, „Ja, jetzt merke ich die Kälte auch wieder…“ Der Lehrer zeigte lachend auf ihn.

„Aha! Dir war also nicht kalt? Ich hab die Wette gewonnen, du schuldest mir einen Tee.“

„Na großartig!“
 

Der Schnee hörte nicht mehr auf. Es wurde kälter, je mehr es auf Mittwinternacht zuging, den Tag im Jahr, an dem die Sonne nicht aufging. Der Geburtstag seines Vaters, fiel Puran dazu noch ein, und er kam sich pietätlos vor, ihm nicht gratulieren zu können. Aber bis Mittwinter waren es noch einige Tage. Das Jahr neigte sich dem Ende zu. Für den jungen hieß das bald Halbzeit der Lehre. Inzwischen fand er den Gedanken nicht mehr befremdlich, bis zum Sommer hier zu bleiben; er fühlte sich wohl im Anwesen und bei der Familie, abgesehen von den unruhigen Träumen des Nachts. Die seltsame Spirale kam noch öfter vor und jedes Mal überkam ihn wieder das komische Gefühl, etwas, das er sich nicht erklären konnte. Und wenn er nicht von Spiralen im Schlaf träumte, träumte er andere, wenn er wach war.
 

„Meoran ist für drei Tage nicht hier, du hast also sozusagen frei,“ erklärte Ruja ihm eines Morgens, als er hinunter kam, ganz verwirrt, wieso ihn keiner geweckt hatte. Da saß die schöne Frau am Teetisch und steckte Blumen in den wunderschönsten Formen und Farben in eine Vase. Dabei achtete sie sehr sorgfältig darauf, welche Blume sie wohin steckte und auf welche Art. Puran beobachtete sie eine Weile fasziniert, bis sie ihn lächelnd aufforderte, sich zu ihm zu setzen. „Ich soll dir anordnen, artig zu üben, aber nur, wenn du nicht zu erschöpft bist. Es gibt Besprechungen in Yiara und mit dem Rat.“

„Warum erfahre ich das erst jetzt?“ wunderte Puran sich verwirrt.

„Meoran war untröstlich, er hat es einfach vergessen dir zu sagen.“ Sie lächelte ihn an und er errötete unwillkürlich und lächelt zurück, ohne es zu merken. Entzückt beobachtete er die kleinen Grübchen in ihren Wangen, als sie sich wieder ihren Blumen widmete. „Wie schön, da haben wir ja auch mal etwas Zeit miteinander,“ hörte er sie sagen und erstarrte abrupt.

Was sagte sie da?

„Ähm – w-was?!“ japste er erschrocken und sie kicherte. Dabei nahm sie eine schöne Blume vom Tisch und sah sie lange an, ehe sie sich entschied, wo sie sie zu den anderen in die Vase stecken konnte.

„Ja, du bist immer beschäftigt mit dem Training oder du bist müde. Dabei habe ich Freude daran, wenn wir so sitzen und uns unterhalten.“ Er schnappte unwillkürlich nach Luft. Das war wahrlich ein unverdientes Kompliment – sie war nett, wunderschön und beliebt, dass so eine Frau Freude daran hatte, mit ihm kleinen Jungen zu reden, erstaunte ihn auf positive Weise. Er spürte in sich ein seltsames Kribbeln aufkommen, als er hochrot vor Verlegenheit den kopf von ihr wegdrehte und eine Weile stumm auf seinen Füßen saß. „Du bist nervös,“ stellte sie leise fest, „Möchtest du auch Blumen stecken? Ich mache das immer, um mich zu entspannen, ich habe es als Kind von einer sehr weisen alten Frau gelernt.“ Er sah sie nur verwundert an und brachte keinen Ton heraus. Innerlich ohrfeigte er sich plötzlich dafür, dass er so dämlich da saß, aber er konnte nichts machen…

Ruja lächelte immer noch.

„Du musst doch nicht, keine Angst, schau nicht so entsetzt. Ich habe Blumen gern, sie bringen leben in das Anwesen. Das Anwesen war eine Weile sehr kahl… Mutters-… also, Keishas alte Vasen und Schalen wurden in Schränken verbarrikadiert und nach Enolas Tod hat mein Schwiegeronkel alles an Dekoration aus dem Anwesen verbannt. Das war eine traurige Zeit.“ Puran sagte immer noch nichts, zwang sich aber jetzt zu einem nervösen Nicken.

Egal, was er tat, plötzlich konnte er den Blick nicht mehr von ihr wenden, wie sie seelenruhig da saß und Blumen steckte, mit der Geduld einer Schildkröte. Sie war so schön, ihre Haut war so blass und zart, ihre Finger, die die Blumen nahmen, waren schlank und geschickt. Er verharrte mit dem Blick auf ihrem Gesicht, einer wunderschönen, seltenen Perle glich es, mit Edelsteinen als Augen, ihre Lippen rot geschminkt. Er erwischte sich dabei, in sich zum ersten Mal das dringende Verlangen zu spüren, sie in den Arm zu nehmen und diese weichen, roten Lippen zu küssen, wie er Akila und Narya geküsst hatte – nein, zärtlicher, er wollte viel sanfter und liebevoller sein, keine grobe Hand durfte es wagen, diese Porzellanpuppe anzurühren… Er erschrak über seine eigenen Gedanken, die, je weiter er vor sich hin spann, immer anzüglicher wurden. Verdammt, das war eine verheiratete Frau vor ihm! Die Frau seines Meisters, den er in höchstem Maße ehrte und respektierte! Wie konnte er es wagen, auch nur daran zu denken, sie zu begehren? Aber er konnte nichts machen, die Gedanken kehrten zurück, egal, wie oft er versuchte, sie zu verdrängen, und je öfter er es versuchte, desto stärker wurde das Verlangen in ihm, sie zu berühren auf eine Weise, in der ein mann seine Frau berühren sollte.

Sie war nicht seine Frau und würde es nie sein.

„Ich erzähle immer nur von hier,“ fiel der schönen Ruja da auf und sie sah ihn strahlend an. „Erzähle doch mal von deiner Heimat! Von deiner Familie… Meoran sieht sie oft, aber ich sehr selten… ich habe deine Großmutter Salihah in allerhöchstem Maße verehrt, wenn sie hier war früher. Sie war eine großartige Magierin, ich… bin gegen sie nur ein Staubkorn in einer Wüste.“

„Sicherlich nicht, du neigst wohl dazu, dich viel tiefer zu stellen als dir gebührt,“ meinte er und war verblüfft, dass er plötzlich Worte fand. Auch, wenn seine Stimme kaum mehr als ein nervöses Fiepen war. „Ich habe vom Meister gehört, du seiest eine sehr begabte Seelenmagierin.“

„Mein Talent in Teleport gleicht dem einer Ameise,“ widersprach sie lachend.

„Dafür hast du innere Augen und kannst Barrieren bauen,“ entgegnete er. „Und du hast etwas sehr wichtiges, was meine Großmutter nicht hatte… Freude am Leben, soweit ich das beurteilen kann.“ Ruja senkte kurz den Kopf und schwieg eine Weile, ehe sie weiter ihre Blumen steckte. Als sie fertig war, stand die Vase mit bunten Blumen verschiedener Arten auf dem Teetisch und sah hübsch aus. Fast wie die Frau, dachte Puran beklommen und verknotete stumm seine Finger. So saßen sie dann und schwiegen. Als sie ihn wieder anblickte, nahm sie plötzlich seine Hand.

„Du bist sehr lieb…“ sagte sie dabei und er starrte sie an, fassungslos über die simple Berührung, als sie sich zu ihm beugte und er plötzlich die wahnwitzige Idee bekam, sie könnte ihn küssen… er keuchte leise und wünschte es sich plötzlich, wünschte sich, dass sie es tat, und er würde sie auch küssen und sie berühren – er drehte japsend das Gesicht weg von ihr und erhob sich schnelle als nötig.

„I-ich-… ich sollte üben, wie der Meister es befohlen hat!“ stammelte er, „Danke für das Gespräch, Herrin. Ich stehe in Eurer Schuld.“

„Nicht doch,“ sagte Ruja ebenfalls verdutzt, als er rasch die Teestube verließ und dabei fast mit Keisha zusammen stieß, die gerade mit einem Tablett mit Tee und Keksen kam.

„Du lieber Himmel, was ist denn jetzt los?“ fragte die Frau entsetzt, als der Junge wortlos an ihr vorbei stampfte. Ruja stand auf und verneigte sich.

„Verzeih, das ist wohl meine Schuld. Ich habe ihn verwirrt, das war nicht meine Absicht.“

„In wie fern?“ wunderte die Schwiegermutter sich und stellte das Tablett ab.

„Ich habe ihn wohl etwas zu sehr provoziert,“ räumte die Schwarzhaarige verlegen ein, „Ich sollte mich demnächst entschuldigen.“
 

Puran kam nicht zum Trainieren, während Meoran weg war. Es tat ihm leid, dem Rat des Meisters nicht gefolgt zu sein, aber er konnte sich beim besten Willen nicht konzentrieren. Er fühlte sich abscheulich; wie konnte er es wagen, Meorans Frau lüstern anzugaffen? Wie grauenhaft! Er hätte sich gern selbst geschlagen zur Strafe für seine Gedanken. Und noch schlimmer – was, wenn Ruja sie gesehen hatte? Immerhin war sie Telepathin…

Mit solchen wirren Gedanken schlug er sich die nächsten Nächte um die Ohren. Wenn er doch einschlief, waren die Träume, die dann kamen, nicht im Geringsten hilfreicher dabei, Ruja aus seinem Kopf zu verbannen. Er träumte von der Frau, die nackt vor ihm im Feuer tanzte, ihren wunderschönen, bleichen Körper bewegte. Dabei lächelte sie und ihre pechschwarzen Haare wirbelten wild durch die heiße Luft und die Flammen, als sie den Kopf zurück warf, als sie sanft seine Hände nahm und sie auf ihre Haut legte, ihn animierte, sie anzufassen. Er konnte sich nicht bewegen, er konnte nur auf seine Hände starren, die auf ihrem Bauch lagen, und er hasste sich dafür – warum konnte er sich nicht rühren? Dann, mit einem Mal, verschwanden die Flammen und Finsternis umhüllte ihn. Ruja zersprang vor seinen Augen wie Glas und er wollte schreien – aber kein Ton kam aus seiner Kehle. Statt der Frau im Feuer tanzte jetzt die Spirale im Dunkeln.
 

„Bist du wach, Junge?“

Puran fuhr keuchend aus dem Schlaf hoch. In der Tür stand Meoran, der schon seit einer Woche wieder da war, und der Junge blinzelte. Nur langsam wurde er richtig wach und erinnerte sich, wo er war – in Tuhuli. Der Traum war vorbei… er erinnerte sich errötend an den ersten Teil des Traumes und an die schöne Ruja, an ihren nackten Körper und seine brennenden Hände, die sie berührt hatten. Wie konnte er so schamlos von der Frau seines Lehrmeisters träumen?

„Ähm – j-ja, ich bin wach…“ nuschelte er so höchst verlegen und grub sich etwas tiefer in die Bettdecke. Er spürte die Hitze des vergangenen Feuers immer noch in sich… er tastete unter der Decke verstohlen nach seiner Hose und räusperte sich verlegen. Dann wunderte er sich. „Wieso kommt nicht Ruja, um mich zu wecken?“ Oh nein – sie hatte sicher gemerkt, wie er sie beim Blumen stecken angestarrt hatte, und jetzt schämte sie sich… Meoran lachte leise.

„Sie fühlt sich nicht ganz wohl, aber keine Sorge, das vergeht in ein paar Tagen wieder. Deshalb komme ich dich holen, wir sollten anfangen!“ Er zeigte zum Fenster. „Draußen liegt noch mehr Schnee als gestern und vorgestern, langsam wird es wirklich mühsam!“
 

Was immer Puran mit den Geistern machte, sie antworteten ihm nicht auf die Fragen, die er hatte. Was bedeutete die weiße Spirale? Und warum war Ruja zersplittert in seinem Traum? Die Fragen beschäftigten ihn und lenkten ihn ab, sodass der Lehrer schon am frühen Nachmittag beschloss, das Training für den Tag zu beenden.

Das Training wurde jeden Tag mit einer gesunden Runde Tee und Kaffee beendet. So gab es den Tee dieses Mal etwas früher als gewöhnlich.

„Du bist unkonzentriert in den letzten Tagen,“ bemerkte Meoran, als er beiden Tee eingoss. „Was ist los?“ Puran hustete.

„Nichts-… ich meine, ich… bin nur etwas verwirrt. Durch diese Träume, die ich habe, und…“ Er vermochte nicht weiter zu sprechen. Er konnte ihm doch nicht sagen, wie anziehend er seine Frau fand…

Meoran sprach weiter, als keine Antwort kam.

„Nun, anderes Thema… ich bin mir nicht sicher, ob deine Eltern dir das erzählt haben, aber dir ist vielleicht so oder so klar, dass du nicht allein für die Lehre hier bist… wenn du zurück nach Hause kehrst, wirst du ein ausgebildeter Schwarzmagier und vor allem ein Mann sein, Puran. Aus diesem Grund hat dein Vater meine Frau gebeten, mit dir das Blutritual durchzuführen. Da wir jetzt im Winter nicht so viel machen können… werden wir das in zehn Tagen abhalten.“

Der Jung starrte ihn verblüfft an und saß eine Weile da, unfähig etwas zu erwidern. Das Blutritual? Das war das Ritual des ersten Eindringens eines Mannes in den Körper einer Frau – Moment!

„Was, wie, ich – ich meine, d-das heißt, ich soll mit Eurer Frau schlafen?!“

„Genau genommen sie mit dir; und es ist ein heiliges Ritual, Puran. Das ist anders.“ Meoran musste glucksen. „Du findest sie doch hoffentlich nicht abstoßend…?“

„Beim Himmel, natürlich nicht!“ schrie Puran erschrocken und wurde rot, „A-aber – aber… d-das… lasst Ihr zu?! Ihr als ihr Mann? Das ist doch – stört Euch das etwa nicht?!“

„Das hat mit mir überhaupt nichts zu tun,“ der Lehrer lächelte und trank etwas Tee, „Die anerkannten oder mächtigen, einflussreichen Leute werden oft gefragt bei Ritualen. Es heißt, etwas von der Macht des Partners geht auf denjenigen über, der erwachsen gemacht wird. Und es ist unsere Pflicht, dem nachzukommen, es ist der Wille der Geister. Und die Geister bestimmen, wen welcher Vater für sein Kind auswählt… und deiner hat für dich Ruja bestimmt. Und sie wird ihrer Pflicht mit Stolz nachgehen, so, wie ich dich mit Stolz ihr anvertrauen werde.“ Der Junge erbleichte. Stolz? Der war gut – der wusste ja nicht, was in ihm vorging! Der wusste nicht, wie er seine Frau angesehen hatte, dass er von ihr geträumt hatte… das war definitiv keine gute Idee, fand Puran entsetzt.

Aber er konnte sich nicht sträuben… die Geister würden ihren Willen durchsetzen, mit oder ohne sein Einverständnis.
 

In dem Falle eher ohne sein Einverständnis, dachte Puran sich verstimmt, als er am Morgen des schicksalhaften Tages auf dem Fensterbrett in der Teestube neben Rujas Steckblumen hockte und hinaus starrte in die trübe Frostlandschaft. Es hatte extrem gefroren und an hinausgehen und üben war gar nicht zu denken. Bei den Gedanken an die bevorstehende Nacht wurde ihm nicht gerade kalt… er schauderte.

Reiß dich zusammen! Das ist nicht das, was es scheint! Es ist eine Zeremonie, nicht mehr und nicht weniger…

Für sie würde es das sein, räumte er verstohlen ein. Aber für ihn nicht… er konnte beim besten Willen nicht nur eine Zeremonie sehen bei den Gedanken, mit der hübschen Frau das Bett zu teilen. Er dachte beklommen an die unartigen Träume der letzten Nächte und schüttelte sich.

„Warum macht ihr das mit mir, Geister?“ murrte er das Fenster und den Frost an. „Warum musste es ausgerechnet Ruja sein? Hätte es nicht irgendeine beliebige Dorfnutte sein können?“

Wäre es eine unbedeutende Fremde gewesen, hätte es ihm nichts weiter bedeutet…
 

Der Abend und die Nacht kamen schnell. Zu schnell für den Jungen, der sich plötzlich noch nicht dazu bereit fühlte, ein Mann zu werden. Erst recht nicht durch Rujas schönen, zierlichen Körper, den er nicht ruinieren wollte… und da stand er dann, mit nicht mehr als einem seidenen Tuch bekleidet, seine Haut mit Öl bestrichen und mit traditionellen Mustern der Geister bemalt auf Gesicht, Armen und Beinen. Und da stand er vor der Tür, hinter der die Frau auf ihn warten würde. Hinter ihm stand sein Meister, der ihn bemalt hatte und zur Feier des Tages sogar seinen schwarzen Umhang trug.

„Ich kann da nicht reingehen,“ brummte Puran verlegen. „Das geht nicht.“

„Dann werde ich dir den Fluchtweg versperren,“ grinste Meoran, „Du kannst nicht zurück oder hinaus.“

„Das ist sexuelle Nötigung.“

„Das ist das Blutritual, die Geister dürfen sowas.“

„Na toll. Vielleicht soll ich mich jetzt auch noch geehrt fühlen, Eure Frau schänden zu dürfen?“

„Wer spricht von schänden? Jetzt mach keinen Ärger, sonst verhaut deine Mutter mich, dein Vater vermutlich dazu, oder er hüpft zumindest neben ihr auf und ab und feuert sie an… willst du mich sterben sehen, Puran…?“

Wie dramatisch.
 

Der Junge schloss die Tür hinter sich und zog keuchend die Luft ein, als er sich gegenüber das hübsch hergerichtete Bett sah, in dessen Mitte Ruja saß, nackt auf den seidenen Tüchern, die das Bett bedeckten. Ihre schönen Haare fielen ihr offen über die Schultern. Ihre Haut war ebenfalls eingeölt und bemalt wie seine und sie glänzte wie ein neugeborenes Baby im fahlen Schein der Öllampen, die am Boden standen und den Raum nur spärlich erhellten. Als ihn ihr Blick aus den blauen Augen traf, fuhr er zusammen und stieß rücklings gegen die geschlossene Tür. Ruja lächelte ein hinreißendes Lächeln und er beobachtete entzückt die Grübchen in ihren Wangen, vergaß für einen kurzen Moment, wozu er hier war… wozu sie beide hier waren.

Es fühlte sich falsch an, irgendwo in seinem Inneren, und sein Geist sträubte sich... nur die Hälfte. Die andere Hälfte seines Geistes stierte die Frau an mit dem Begehren eines Erwachsenen, mit der ungebändigten Lust auf die Berührung und Vereinigung mit ihrem schönen Körper. Hin und her gerissen von seinen zwei verschiedenen Meinungen stand er lange unschlüssig da und konnte sich nicht rühren. Das Feuer in den Öllampen flackerte vor seinen Augen und schien den Raum einzukreisen, die Frau zu umrahmen, als wäre sie eine Feuergöttin, gebettet auf Tüchern aus Lava und Asche…

„Komm zu mir,“ lud sie ihn ein und rückte ein Stück zur Seite, riss ihn damit aus seinen Gedanken. Puran errötete. Er wusste nicht, ob sie ihn mit irgendeiner Telepathenkunst dazu zwang oder ob die Geister seine Beine bewegten, sodass er zum Bett herüber kam und sich neben sie setzte. „Du fürchtest dieses Ritual, Puran…“ stellte sie flüsternd fest und er erschauderte und zog das Tuch enger um seinen nackten Körper, als sie mit der Hand durch seine zerzausten Haare fuhr.

Er konnte nicht antworten.

Die Frau drehte sich ganz zu ihm hin, ehe sie aus dem Nichts eine Schale mit dunkler Flüssigkeit vor sich auftauchen ließ. Sie hielt sie ihm mit erröteten Wangen hin.

„Trink!“ befahl sie sanft, „Schmeckt abscheulich, aber es nimmt dir die Angst…“ Das klang einladend, so nahm er ihr die Schale ab und kippte deren Inhalt entsetzt seinen Rachen hinunter; und hätte sich darauf beinahe übergeben ob der Abscheulichkeit des Getränkes. Sie hatte nicht übertrieben… er schmeckte Blut und eine grauenhafte Menge Alkohol von gegorenen Beeren…

Das nächste was er spürte, war, dass er ins Bett herunter gedrückt wurde und wie Ruja sich über ihn beugte, ihn anstrahlend. Er keuchte ungehalten und fuhr abermals zusammen, als sein Kopf zu schmerzen begann. Ihre Hände glitten über seinen bemalten Körper, sie streichelten seine Brust und seinen Bauch hinab, wie in seinem Traum… Puran japste.

„N-nicht weiter…!“ Er hob benommen den Kopf und ihm schwindelte plötzlich. Als er an sich herunter sah, hatten ihre fleißigen Hände das Tuch von ihm entfernt und seinen Körper entblößt. Sie beugte sich über sein Gesicht und senkte ihres zu seinem herab, strich mit den warmen Fingern über seine bebenden Lippen. In seinem Kopf drehte sich alles. Er sah das Feuer der Öllampen im Himmel tanzen und die nackte Frau über sich, diese eine Frau, die er gleichzeitig fürchtete und so sehr begehrte… eine unangenehm drückende Hitze stieg ihm mit dem Alkohol des Getränkes zu Kopf. Ja, davon hatte er geträumt… dass sie im Feuer tanzen würde, dass sie ihn berühren würde… er konnte sich nicht bewegen und keuchte heftiger, als ihre zarten Finger, mit denen sie sonst Blumen steckte, weiter an seinem Körper hinab streichelten. Sie beugte ihr hübsches Gesicht ganz dicht über seines, dass sich ihre Nasenspitzen kurz berührten.

„Wovor hast du… solche Angst…?“ wisperte sie, als er den Kopf reflexartig wegdrehte.

„Du bist… Meorans Frau…“ stöhnte er und errötete unwillkürlich, als das Feuer des Raumes auch auf seinen Körper überging und er die Flamme in seinen Lenden zum ersten Mal in dieser Heftigkeit wahrnahm. Er stöhnte noch mal. Ruja strich mit einer Hand über seinen Hals.

„Du berührst nur den Körper dieser Frau,“ sagte sie, „Die Blutgeister werden meinen Körper besitzen und dich zum Mann machen, sobald du mich berührst… Meoran hat damit nichts zu tun.“

Das sagte sie so leicht…

Das war das letzte Vernünftige, das er dachte, bevor die gegorenen Beeren ihm endgültig die Sinne vernebelten.
 

Das Feuer der Lampen flackerte, als Ruja sich aufsetzte und seine Hände in ihre nahm, um sie auf ihre Brüste zu legen. Er hörte sie reden in der Wolke aus Benommenheit und Erregung, er schnappte nach Luft bei dem Gefühl ihres weichen Fleisches in seinen Händen. Anders als in seinem Traum war er jetzt fähig, sie zu berühren, sich zu bewegen. Ruja lehnte den Kopf in den Nacken und seufzte leise.

„Lass mich dir etwas über… die Geschichte dieses Rituals erzählen,“ flüsterte sie, und ihr Kopf schnellte wieder herab und sie beugte sich über ihn, ihre Hände zogen Spuren aus Feuer über seine Haut und ließen ihn aufstöhnen. „Einst wurden nur Mädchen so zu Frauen gemacht. Ein Mädchen war erst dann eine Frau des Stammes, wenn der führende Magier der Gruppe sie dazu gemacht hatte. Das war sehr wichtig, um die Geister gütig zu stimmen, die das Mondblut bringen und die Frauen fruchtbar machen. Ohne diese Geister könnte keine Frau Kinder bekommen und die Menschen würden aussterben. Irgendwann kam einer auf die Idee, dass auch die Jungen zum Wohle der Geister und des Stammes eingeführt werden sollten in diesen Lebensbereich. Weil man im Gegensatz zu Mädchen bei Jungen den Zeitpunkt nicht an einer Monatsblutung festlegen konnte, beschloss man, es bis zum sechzehnten Lebensjahr durchzuführen.“ Sie kicherte leicht, als er sie anstarrte und abermals keuchte, mit den Blicken darauf ihre Hände verfolgend, die über seinen Körper wanderten. Die Hitze im Raum wurde stärker und die Luft immer schwerer, dachte er entsetzt. Seine Hände berührten ihre Haut, ihren weichen Busen und fuhren hinab über ihren Bauch zu ihren Hüften. „Zurecht sagte man zu jener Zeit, warum sollen nur die Mädchen lernen, wie man sich vereint? Wenn die Männer es alle nicht beherrschen, können sie auch keine Kinder zeugen und das wäre eine Schande für die Geister… weißt du, Puran…“ Sie strahlte ihn an und seufzte leise, als er an ihren Hüften auf und ab strich und die Hitze auch in ihren Lenden entfachte. Sie erzitterte unter seinen Händen und er erhob sich japsend, bis er saß und sie breitbeinig über seinem Schoß kniete. Ihre Hände fassten um seinen hals, damit sie nicht umfielen. „Ich denke, sie hatten recht…“

„Womit…?“ stöhnte er nervös und errötete über und über, als eine ihrer Hände seinen Hals verließ und zwischen seine Beine fasste. Sie neigte ihr Gesicht so dicht an seines, dass ihre Lippen kaum einen Zoll voneinander entfernt waren.

„Warum sollen sich Frauen Zeit ihres Lebens die Mühe geben, ihre Männer zu befriedigen, wenn die Männer ihnen nicht denselben Gefallen tun können?“ flüsterte sie lächelnd und er starrte sie an und fragte sich, ob sie auch betrunken war. Ihm schwindelte. Er war hart vor Verlangen nach dieser Frau, die seelenruhig über ihm kniete und redete, und er spürte ihre Hand, die ihn berührte und fast um den Verstand brachte. „Oh ja, ich werde dich heute Nacht zum Mann machen, Puran, und ich werde… die zeigen, was du tun musst, wenn du eine Frau liebst… wenn du später einmal eine heiratest, wird sie strahlen.“ Er sah sie ungläubig an und ihre Blicke trafen einander. Er sah in ihren eisblauen Augen kein Eis… sondern das Feuer seiner Lenden, das sich darin widerspiegelte. „Berühr mich…“ verlangte sie keuchend und ergriff vorsichtig eine seiner Hände auf ihren Hüften. Er erschauderte, kam ihrer Forderung aber nach, während sie ihre Stirn keuchend gegen sine lehnte und ihre Lippen erzitterten.

Ihre Haut war weich und heiß, als er sie neugierig berührte, schwindelig von dem Alkohol, den sie ihm gegeben hatte. Er keuchte leise ihren Namen, als sie ihn sanft hinunter ins Bett drückte, dann schrie er entsetzt auf und fuhr wieder hoch, als sie sich auf ihn setzte und er plötzlich in sie eindrang. Sie drückte ihn wieder herunter.

„Entspann dich,“ sagte sie keuchend und er sah die Röte in ihr schönes Gesicht steigen, als sie auf seinem Unterleib saß und vorsichtig anfing, sich zu bewegen.

Die Welt brannte. Und Puran brannte auch, als er zuließ, dass sie ihn berührte, dass sie ihn führte und er sich ihren Bewegungen anpasste. Und sie sich seinen, als er sie mit einem Mal umwarf auf das Bett und sich keuchend über sie rollte. Er spürte ihre Hände auf seiner Brust und hörte ihr leises Stöhnen, als er erst vorsichtig, dann etwas mutiger tiefer in sie eindrang, sich leicht zurückzog und erneut eindrang. Die Frau zog ihn zu sich herab und umarmte seinen Nacken, sie erzitterte am ganzen Körper vor Ekstase und wisperte:

„Verkrampf dich nicht so, entspann dich! Du spürst… das Feuer… nicht wahr?“ Sie streichelte ihm ein paar haare aus der verschwitzten Stirn und suchte mit dem Blick nach seinen vor Alkohol und Lust vernebelten Augen.

„Ich halte das… nicht aus, Ruja…“ stöhnte er laut und kniff die Augen zusammen. Sie lächelte und schlang zärtlich die Beine um seinen Rumpf, damit er tiefer in sie eindringen konnte.

„Du musst es beherrschen… im selben Moment, in dem das Feuer dich… beherrscht, bist du auch sein Meister…“ stöhnte sie leise und umschlang ihn fester, trieb das Feuer zwischen ihnen weiter und ihn dazu an, sich schneller und intensiver zu bewegen.

Ihm schwindelte abermals, als er sich über sie beugte und sie sich stöhnend an ihn klammerte, als er sie berührte und sie nahm wie ein Mann. Das Feuer war heiß und schien ihn von innen zu erdrücken. Plötzlich wusste er nicht mehr, dass es Meorans Frau war, mit der er sich vereinte… die Flammen tanzten in Rhythmus ihrer Bewegungen und er starrte sie an, verfolgte ihren Tanz mit den Augen und versuchte, sich ihnen anzupassen… Als er wieder zu Ruja sah, die unter ihm lag und zu ihm hinauf sah, schnappte er keuchend nach Luft. Da war nicht Ruja, als er in ihre flammenden Augen sah, da waren die Geister, und sie berührten ihn und schürten das Feuer in seinem Inneren. Er warf stöhnend den Kopf in den Nacken, als er die Hände der Frau wieder über seinen Oberkörper gleiten spürte, fühlte, wie sie ihn streichelte und stimulierte.

„Die Welt… brennt so…“ keuchte er erregt und sie stöhnte lauter.

„Es ist ein… gutes Feuer, Puran…“ Sie klammerte sich stöhnend an die Hitze seines Körpers über ihr und presste sich gegen seinen Unterkörper, und sie lehnte keuchend den Kopf in die Kissen, als er sich mit einem letzten Stoß seiner Ekstase hingab, als der Tanz seinen Höhepunkt fand und das Feuer in seinem und ihrem Inneren explodierte. Er warf sich über sie und atmete an ihrer Schläfe heftig ein und aus, als er sich in ihr ergoss. Die Hitze betäubte ihn und er rollte sich stöhnend von der Frau, um neben sie ins Bett zu fallen. Ein berauschendes, heißes Gefühl überkam ihn und er rollte sich zitternd zur Seite. Er spürte das Feuer noch immer brennen und sein Herz laut pochen, aber zu seinem Erstaunen fühlte es sich unglaublich gut an…

Rujas Hände glitten zärtlich über seine Seite, während sie sich zu ihm umdrehte und sanft von hinten streichelte. Er spürte ihre warmen, weichen Lippen an seiner Schulter, dann umfingen ihn Müdigkeit und Finsternis.
 

Als er erwachte, hatte er Kopfschmerzen. Es musste mitten in der Nacht sein, es war stockfinster und er fand sich im Bett liegend, in dem Meorans Frau ihn zum Mann gemacht hatte. Das Feuer war heruntergebrannt, sowohl in den Öllampen als auch in seinen Lenden. Ruja lag hinter ihm, war das zweite, das er bemerkte, und als er sich zu ihr umdrehte, dachte er zuerst, sie schliefe. Aber sie schlug die Augen auf und lächelte sanft.

„Ich habe mir gedacht, du würdest jetzt in etwa aufwachen,“ sagte sie. Er errötete, als er sie ansah. Sie war nackt und die Bemalungen auf ihrer Haut waren vom Schweiß verwischt und verlaufen. Sein Blick verharrte kurz auf ihren Brüsten. Sie waren nicht besonders groß, aber trotzdem hübsch, und er erinnerte sich beschämt, dass er sie mit Vergnügen angefasst und gedrückt hatte. Als sein Blick weiter hinunter schweifte, wurde ihm unangenehm heiß und er senkte den Kopf rasch, um sie nicht weiter anzustarren.

„Soll ich… jetzt wieder in mein Zimmer?“ nuschelte er, und Ruja legte sanft eines der Laken über seinen Körper, dann eines über ihren eigenen.

„Bleib heute Nacht hier,“ bat sie ihn. „Wenn du wegläufst, wirkt der Zauber vielleicht nicht richtig.“ Er schwieg und wagte nicht, sie anzusehen. Sie las seine Gedanken: „Dir ist es so unangenehm, bei mir zu liegen? Bin ich dir abstoßend, Puran…?“

„Nein!“ Er reagierte heftiger als sie geahnt hatte und sie fuhr zurück. Er errötete. „Ich meine… d-du bist wunderschön und… das… ist ja das Problem! Ich begehre dich, Ruja, auf eine Weise, die ich nicht sollte, du… bist Meorans Frau! Ich komme mir vor, als hätte ich dich geschändet, w-wie konnte ich nur-…?“ Sie unterbrach ihn, indem sie vorsichtig einen Finger auf seine Lippen legte und er verstummte.

„Denk nicht darüber nach,“ sagte sie. „Was du fühlst, ist völlig natürlich für einen Jungen – ähm, jungen Mann deines Alters. Es wird wieder vergehen, glaub mir.“

„Woher willst du das wissen?“

„Hör auf dein Herz, Puran. Es wird… mir zustimmen, wenn du gut hinhörst.“
 

Sein Herz sagte gar nichts. Während der Winter an Tuhuli vorbei zog und keinerlei großen Schaden anrichtete, versuchte er, sich von Ruja fernzuhalten. Sie machte es ihm nicht leicht; erst als der Frühling kam, war sie plötzlich sehr viel seltener im Anwesen oder in seiner Nähe. Ob absichtlich oder nicht, vermochte Puran nicht zu sagen, er war ihr nur dankbar. Es tat ihm leid, falls er sie verletzt hatte, weil er Abstand von ihr suchte, Ruja war eine so liebenswerte Frau… nur in seinem Fall etwas zu liebenswert. Auf keinen Fall durfte er jemals zulassen, dass er irgendetwas Unsittliches über sie dachte, geschweige denn sie auf eine Weise anrührte, die ihm nicht gebührte. Er wollte seinen Lehrmeister auf keinen Fall betrügen, das war abartig und pietätlos.

Der Frühling kam schleichend wie eine alte Greisin. Zuerst merkte man gar nicht, dass es wirklich Frühling wurde, erst mit dem Kälbermond war der Schnee endlich ganz abgetaut und die ersten kleinen Blumen erblühten im Garten von Chimalis’ Anwesen.

Puran hatte keine Zeit für die Blumen. Er musste lernen; je länger er in Tuhuli war, desto weniger qualvoll erschienen ihm die Lehre und die Magie. War er am Anfang wirklich allein für Travi gekommen, dem er das schuldete, wie er meinte, so hatte sich seine Denkweise über diesen Teil seiner Bestimmung grundlegend geändert. Meoran war die Veränderung auch aufgefallen.

„Wenn ich an den ersten Tag zurückdenke, den wir gemeinsam geübt haben – oder es versucht haben, du warst ja nicht wirklich bei dir – erstaunt mich diese Verwandlung, die du im Begriff bist, durchzumachen, umso mehr,“ sagte er zu seinem Schüler, während sie zusammen auf der Veranda saßen und rauchten.

„Verwandlung?“ machte Puran ein wenig irritiert, ohne zu ihm herüber zu sehen.

„Als du hierher kamst, warst du ein bockiger kleiner Junge, der nur gezaubert hat, weil er sich gezwungen sah, dem die Geister zürnten und nicht mehr mit ihm sprechen wollten… jetzt bist du ein Mann. Du bist erwachsen geworden in dem dreiviertel Jahr, das du hier warst.“ Der Jüngere errötete. Ein Mann, ja… seine Frau hatte ihn dazu gemacht. An Ruja zu denken schmerzte ihn und er verdrängte das Bild ihres hübschen Gesichtes schnell aus seinen Gedanken. Was Meoran dann sagte, ließ ihn dann doch entsetzt herumfahren.

„Was Ruja angeht, sei ihr nicht böse. Sie ist zwar ein wenig älter als du, aber in meinen Augen noch immer sehr unbeschwert und naiv für ihr Alter. Sei ihr nicht böse, dass sie glaubt, es wäre so einfach, sie aus deinem Kopf zu verbannen.“

„W-… was?!“ japste Puran und verlor vor Schreck die Kippe aus der Hand, „Ihr – Ihr wisst…?!“

„Ich kann es dir ja schlecht verübeln, sie ist bildschön, klug und sanft. Früher war sie noch unbeschwerter… je älter sie wir, je mehr sie zu einer wirklichen Dame heranreift, desto mehr muss sie davon einbüßen. Ruja mag dir immerzu lächelnd erscheinen, aber sie… hat genauso Komplexe wie jeder Mensch seine eigenen hat.“ Der Junge blinzelte.

„Aber… macht Euch das gar nicht wütend, dass ich sowas-…?!“

„Warum sollte es mich wütend machen?“ gluckste der Mann, „Du würdest sie niemals gegen ihren Willen anrühren. Das weiß ich, das sehe ich in deinen Augen. Ruja hat dich sehr, sehr gern, sie redet gerne von dir, wenn wir zusammen sind. In deinen Augen mag sie im Moment die perfekte Frau sein, aber glaub mir, das wird vergehen, damit hat sie vermutlich recht.“

„Moment, Ihr habt keine Angst, dass sie Euch weglaufen könnte, wenn sie dauernd von mir redet?“

„Natürlich nicht!“ Meoran kicherte amüsierter denn je. „Das wirst du lernen, wenn du älter wirst, Vertrauen… ist eine der wichtigsten Eigenschaften, die ein Mensch haben kann, finde ich. Und ich vertraue meiner Frau und dir… davon abgesehen, wollte sie tatsächlich weglaufen und lieber an deiner Seite bleiben, würde ich sie nicht abhalten. Zu viele Männer sehen ihre Frauen als Besitztümer, die sie an sich binden wollen… Ruja verdient es nicht, zu einem Gegenstand der Begierde degradiert zu werden. Sie ist ein Mensch und hat Gefühle. Wenn sie sich in irgendeinen anderen Mann unsterblich verlieben würde, würde ich sie gehen lassen, damit sie glücklich wird.“

„Aber… macht Euch das nicht traurig? Liebt Ihr sie… denn nicht auch?“

„Sicher tue ich das. Und natürlich würde es mich schmerzen, aber ich würde dieses Opfer bringen, eben weil ich sie liebe und es nicht um das geht, was mich glücklich macht, sondern um das, was sie erfreut. Wenn man jemanden so sehr liebt, dann… sind die eigenen Bedürfnisse plötzlich nicht mehr so wichtig. Hab keine Angst, du wirst das schon noch erfahren, wenn du älter bist.“

Puran konnte sich das nicht vorstellen. Er fragte sich, was er tun würde, wenn er eine Frau hätte und die aber einen anderen lieben würde… gerade, weil er seine Frau liebte, würde er doch nie zulassen, dass es soweit kam, oder? Meoran war durchaus seltsam.

Der Mann zog an seiner Zigarette und tätschelte seinem Schüler die Schulter, ehe Puran erneut ansetzte:

„Wie… fühlt sich das an, Meister? Jemanden so… gern zu haben, dass man ihm zuliebe alles aufgeben würde?“

„Das wiederum wäre selbstlos, du musst ein Mittelmaß finden. Ich würde vieles für Ruja geben, aber sicher nicht alles, denn das würde sie niemals wollen. Es ist kompliziert…“

„Eure Eltern haben Euch doch mit ihr verlobt, woher… wusstet Ihr dann, dass Ihr sie liebt, wenn Ihr sie Euch nicht ausgesucht habt?“

„Das kam natürlich erst nach längerer Zeit. Aber je länger man mit einem Menschen zu tun hat, desto enger wird die Beziehung, die man miteinander aufbaut. Und irgendwann haben wir beide dieses… unsichtbare Band gespürt, das uns miteinander verbunden hat. Die Geister haben gewollt, dass es so kommt. Sie haben gewollt, dass wir zusammen kommen, deswegen haben sie uns aneinander gebunden. Und wenn wir zusammen sind, spüren wir es beide, dass wir… füreinander bestimmt sind. Wenn du so etwas spürst in der Gegenwart eines Menschen, dann… ist es recht so.“

Puran erstarrte für einen Moment. Plötzlich musste er an de kleine Cholena aus Rathuk denken und erbleichte.

„Dennoch habe ich… wenn ich mit dir spreche ein Gefühl der… tiefen Vertrautheit, als würden… wir uns seit Zeitaltern kennen. Wir beide haben in der kurzen Zeit, die wir uns kennen, viel voneinander gelernt. Spürst du sie auch...? Diese Verbundenheit?“

Ja, er erinnerte sich deutlich an den Tag, an dem er mit ihr am Undim gesessen hatte, an dem sie ihm die Hand gegeben und ihn angelächelt hatte. Er hatte es auch gespürt… diese engste, tiefste Verbundenheit, obgleich er das Mädchen kaum kannte. Plötzlich und ohne einen ersichtlichen Grund sehnte er sich nach dem kleinen blonden Mädchen. Er fragte sich, ob er sie noch mal wiedersehen würde, wenn er zurückgekehrt war…

„Wieso wollen die Geister Dinge, ohne dass wir Einfluss darauf haben…?“ nuschelte er verlegen, dem Meister den Rücken kehrend, als er aufstand und auf den im Tau glitzernden Garten sah. „Warum gibt es Geisterjäger, wenn sie die Geister nicht jagen, sondern in Wahrheit immer von ihnen gejagt werden?“

Meoran lachte leise. Er zog abermals an seiner Zigarette, ehe er antwortete.

„Wenn das jemals einer herausfindet… wenn einer den wahren Willen der Geister zu verstehen vermag, dann wird er ein wirklich sehr weiser Mann sein.“
 

Die folgende Nacht war die erste, in der er in seinen Träumen nicht Ruja sah, die im Feuer tanzte und ihn berührte. Stattdessen sah er Cholena, und sie tanzte nicht im Feuer, sondern in der Dunkelheit. Ihre blonden Haare wirbelten durch die Dunkelheit und ihr Schimmer schien das einzige Licht zu sein. Das Mädchen lächelte ihn an und selbst im Traum hatte er das Gefühl, sie nach einer Zeit von jahrtausenden wiederzusehen, sie schon ewig intimst zu kennen. Er verfolgte sie mit den Blicken, wie sie tanzte und lachte, und sie strahlte ihn an und war wunderschön, wie ein leuchtendes Geistermädchen.

„Komm zu mir…“ wisperte sie lächelnd und nahm seine Hand in ihre, ehe sie sich an seinen Hals hängte und ihn zärtlich umarmte. Sie war ganz leicht, als sie an ihm hing, und er fürchtete sich, sie fester anzufassen, weil sie so zerbrechlich erschien –

Dann wurde es plötzlich stockfinster, Cholena verschwand vor seinen Augen. Die Geister sprachen mit schnarrenden, bösen Stimmen.

„Glück… ist nur eine Illusion. Eigentlich gibt es es gar nicht.“ Puran drehte sich um und fand sich plötzlich mitten im nichts stehen; nicht mal mehr Finsternis war um ihn herum, da war nichts. Eine gähnende Leere, und er fürchtete sich mit einem Mal so sehr, dass er erzitterte und die Geister ihn verspotteten.

„Du kannst unseren Willen nicht kennen, Puran Lyra. Die Geisterjäger können uns zwar für kurze Momente beherrschen, aber keiner kann es für immer.“

„Das verlange ich auch nicht!“ erwiderte er, „Ich verlange nur Antworten auf die Bilder! Was sind die Spiralen Warum tanzen sie in der Finsternis?“

Die Geister gaben ihm keine Antworten. Stattdessen sah er die ominöse Spirale erneut auftauchen. Und das unbehagliche Gefühl wurde stärker denn je, wie eine grauenhafte Angst befiel es ihn und packte seine Kehle mit eisigen Klauen. Es erinnerte ihn unangenehm an seinen verstorbenen Großvater, diesen Wahnsinnigen… aber das Gesicht, das plötzlich vor ihm auftauchte und ihn anstarrte, war das eines anderen Mannes. Er kannte ihn nicht, als er in die grünen Augen starrte, aber die Panik in ihm wurde größer und mächtiger… bis der Mann mit einem gehässigen Grinsen den Mund öffnete und de zugespitzten Eckzähne entblößte.

„Du kannst nicht davonlaufen vor der Vergangenheit, Puran.“

In dem Moment, in dem der Mann mit der wahnsinnigen Fratze von Kelar Lyra den Arm nach ihm ausstreckte und ein gleißendes Licht aus purer Boshaftigkeit daraus auf ihn zuschoss, erwachte Puran entsetzt keuchend aus dem Traum.

„Du kannst nicht davonlaufen…“ hallten die gackernden Geisterstimmen in seinem Kopf nach. Er drehte sich keuchend auf die Seite und ignorierte die Stimmen, so gut er konnte, ehe er sich verkrampft an der Decke festkrallte.

„Nein, das nicht… aber ich kann stehenbleiben und ihr entgegen starren, bis sie aufgibt und vor meinen Füßen kriecht!“ zischte er grantig, „Ich… werde mich nicht von euch an der Nase herumführen lassen, Geister!“
 

„Du kannst nicht davonlaufen…“
 

„Du willst was?“ Meoran sah seinen Lehrling perplex an, als dieser höflich tief verneigt vor ihm stand.

„Lehrt mich jetzt, die Geisterwinde zu beschwören!“ wiederholte er, „Ich verspreche Euch, ich werde Euch keinen Anlass geben, Euch zu ärgern!“

„Das ist so ziemlich die letzte Übung, die ich mit dir machen kann,“ erinnerte Meoran ihn ernst, „Die Geisterwinde zu rufen, die Kinder Vater Himmels, das ist das Metier eines wirklich ausgebildeten Schwarzmagiers. Du magst ein Genie sein, Puran Lyra, aber so überragend, dass du das drei Monde früher als normal schaffen könntest, bist du auch wieder nicht, bei allem Respekt.“

„Ich gebe Euch mein Wort,“ machte Puran nicht minder ernst, „Wir können ja wetten, das mögt Ihr doch? Wenn ich verliere, schulde ich Euch Tee bis zum Ende meines Aufenthaltes.“

„Wenn du nicht verlierst, ist dein Aufenthalt überdies vorbei,“ räumte Meoran ein und der Schüler blinzelte. „Wenn du das… tatsächlich schafftest, gibt es nichts mehr, was ich dir beibringen könnte.“ Puran schwieg eine Weile, bis der Meister fortfuhr und hinaus sah in den sonnigen Garten. Es wehte kaum Wind. „Wie kommst du zu dieser absurden Idee, Puran? Sag’s mir, ich bin neugierig. Was überzeugt dich, dass du das schaffen könntest?“

„Ich werde nicht nachgeben, bis ich es schaffe, ganz einfach,“ war seine Antwort, „Die Himmelsgeister werden auf mich hören.“ Meoran zog eine Braue hoch und war nicht ganz überzeugt. Der Junge war übernatürlich begabt, er hatte selbst für seinen Clan eine sehr schnelle Auffassungsgabe und lernte rasch, aber das machte ihn nicht zu einem Überflieger. Als er dem Jungen eine Weile ins Gesicht sah, erkannte er aber weder Scherz noch Irrsinn in ihm… er meinte es absolut ernst.

„Warum?“ wollte er so noch wissen, und Puran senkte den Kopf.

„Weil ich nicht mehr von diesen Träumen gejagt werden will… wenn die Geister wissen, dass sie mich zu respektieren haben, werden… sie mir vielleicht Antworten geben.“
 

„Denk dran, du schuldest mir Tee, wenn du das nicht hinbekommst,“ sagte der Meister nachdenklich, als sie wenige Moment später im Garten standen und er seine Arme in den Himmel hob. „Die Geisterwinde zu rufen ist keine ungefährliche Sache. Wenn dien Geist und dein Körper nicht perfekt zusammenarbeiten, wenn dein Körper oder deine Seele nicht die Kraft dafür haben, dann können diese mächtigsten Zauber der Schwarzmagier dich umbringen. Wenn du es falsch anpackst, können sie dir ewig zürnen oder dich verfluchen… es ist eine Kunst, die man gut üben sollte und… ich bezweifle extrem, dass du das beim ersten Versuch schaffst… sieh mir zu! Du musst jetzt all das anwenden, was ich dich im vergangenen Jahr gelehrt habe! Erlaubst du dir auch nur einen klitzekleinen Fehltritt, könnte das fatal enden.“

„Ich habe verstanden,“ meinte der Junge ernst nickend und sah Meoran zu, als dieser den Kopf ebenfalls in den Himmel hob und die Hände hoch hinaus streckte.

„Dann sieh und lerne, und beschwer dich nicht bei mir, wenn du nachher tot auf dem Boden herum liegst! – Na toll, deine Mutter wird mich häuten und grillen, wobei ich nicht sicher bin, in welcher Reihenfolge.“ Er warf den kopf in den Nacken und der Himmel zog sich über ihnen zusammen, als er fortfuhr und mit lauter Stimme rief: „Geister des Himmels, Geister der Erde!“ Puran wartete, was er noch sagen würde, aber zu seiner Verblüffung sagte Meoran gar nichts mehr. Stattdessen verdunkelte sich mit einem Mal der Himmel über ihnen und die Wolken brauten sich zu unheilschwangeren Türmen zusammen. Mit einem mal erschauderte Puran auch wie die vom plötzlich aufbrausenden Wind geschüttelten Bäume um ihn herum, als ihn ein kalter Schauer überkam; aber es war anders als der grauenhafte Schauer, den er spürte, wenn er die weiße Spirale in seinem Traum sah… als er in des Meisters Gesicht sah, fuhr er erbleichend zurück; denn vor ihm stand nicht sein Meister, vor ihm stand ein gefährlicher, mächtiger Mann mit seiner mächtigsten Waffe. Seine blauen Augen hatten sich verändert und spiegelten die gesamte Macht der Geister wider, die er jetzt in den Händen hielt, für die Augen unsichtbar, aber die Seele konnte sie sehen. Meoran ließ eine Hand sinken und zückte eine schwarze Kondorfeder.

„Jetzt mach du es!“ verlangte er, „Und ich werde sehen wie weit du die Winde halten kannst… hör auf deinen Instinkt, er wird dir sagen, was du tun musst!“

Der Junge holte tief Luft, ehe er die Hände ebenfalls ein wenig hob, den Meister samt seiner Feder und seiner Macht anstarrend. Er dachte an seine Träume, an seine Antworten, die er haben wollte…

Cholena. Da war das niedliche kleine Mädchen aus Rathuk in seinem Kopf und er errötete bei den Gedanken an sie…

Lass dich nicht ablenken, konzentriere dich! sagte er sich selbst entrüstete, schüttelte heftig den Kopf und streckte die Hände von sich weg nach vorn, die Handflächen zum Himmel gerichtet.

„Kommt, Geister! Folgt meinem Willen, ihr werdet mir dienen auf dieselbe Weise, wie ich euch dienen werde!“

Und sie hörten auf ihn. Er spürte sie, die Geister, sie waren überall, um ihn herum, in seinem eigenen Geist, und er schloss zitternd die Augen, als er die Hände höher hob und das Kribbeln der gewaltigen Kraft auf seiner Haut spüren konnte. Wie Feuer flackerten die Bilder der Visionen vor seinen Augen, wie emsiges Flüstern vernahm er die Stimmen der Geister überall. Er hörte in weiter Ferne ein lautes Krachen aus dem Himmel. Als er die Augen wieder öffnete, sah er Meoran vor sich stehen, die Feder noch immer erhoben.

„Reicht das, um die Wette zu gewinnen?“ fragte er und spürte, wie die Kraft der Naturgeister ihn von den Beinen zu reißen drohte; Meoran grinste.

„Das werden wir gleich sehen!“ Damit warf er seine Feder auf Puran zu und der Junge erstarrte, als sie mit einem enormen Krachen gegen seine Aura schlug und die Erde erzitterte. Puran fuhr zurück und verlor das Gleichgewicht, als die Feder des Chimalis-Clans seine eigene macht im Handumdrehen zerschmetterte, als wäre sie aus Glas. Dann war es plötzlich ruhig und der Himmel klarte wieder auf.

„Was… was war das?“ machte Puran und sah entsetzt hinauf. Meorans Feder war verschwunden.

„Standhaft bleiben,“ riet er seinem Lehrling, „Deine Kontrolle ist nicht stark genug. Ich habe ja gesagt, es ist zu früh. Her mit dem Tee!“

„Noch nicht!“ schnappte Puran, „Nein, ich… gebe noch nicht gleich auf! Gebt mir mehr Versuche, dass es beim ersten Mal klappt, haben wir nicht gewettet!“

„Tapferer Junge, du solltest dich nicht überschätzen…“

Ihr… solltet mich nicht unterschätzen!“ gab Puran bissig zurück und Meoran sah ihn groß an. In den Augen des Jungen war bitterer Ernst, eine grausame Entschlossenheit und Sturheit, wie allein Nalani, Purans Mutter, sie je besessen hatte. Dieser Junge war mit Haut und Haar Nalanis Sohn. Und, egal, was sie jemals geschimpft hatte, dieser Junge war der Schattenkönigin ganzer Stolz.

Er seufzte und trat einen Schritt zurück, um eine neue Feder zu zücken.

„Gut,“ sprach er, „Dann versuch es noch mal. Wenn du standhältst und… die Feder mit deiner bloßen Aura zerstören kannst, kann ich dir nichts mehr beibringen, Puran.“
 

Sie hoben beide die Hände erneut und abermals verdunkelte sich der Himmel, als das tiefe, bedrohliche Grollen ertönte und beide Männer die Macht aufbauten, die sie beherrschen konnten. Puran schnappte mehrmals nach Luft, bebend die Arme weiter in den Himmel reißend und auf seinen Meister starrend, bereit, den Schlag seiner Feder abzufangen.

Er würde nicht wieder versagen.

Er durfte nicht.

Die Geister schuldeten ihm Antworten und er würde sie so lange zähmen, bis sie ihm gaben, was er wollte.

„Hört mich an!“ brüllte er in den Himmel, „Ich sage, ihr werdet mir gehorchen, Himmelsgeister!“ Meoran zog seine Feder höher und hob den Kopf, als es erneut aus dem Himmel grollte und sich mit einem Mal ein Platzregen über ihnen ergoss. Puran sah zu seinem Lehrer und schnappte abermals nach Luft.

Ich darf… nicht nachgeben! Ich muss… wissen, was passiert, denn was die Visionen sagen, könnte die ganze Welt zerstören, wenn es… niemand deuten kann!

„Nimm das und wir werden sehen, Puran,“ sprach Meoran amüsiert, dann warf er seine Feder erneut.

Der Junge hielt stand. Die Feder zerschellte mit einem gewaltigen Krachen, als sie in die Nähe seiner Hände kam und die Macht der Aura berührte, die darin lag. Puran strauchelte nur kurz, blieb aber auf den Beinen, während die Feder verschwand. Dann löste er die Macht selbst auf, die er gerufen hatte, und ihm schwindelte leicht. Gefäß für die Macht der Geister zu sein war auf die Dauer sicher schädlich, dachte er sich, sprach es aber nicht aus. Er stützte sich schwer atmend an seinen knien ab, ehe er grinsend zu Meoran sah, der sich durch die nassen Haare fuhr. Der Regen dauerte an.

„Und, was nun?“ fragte er, „Nichtsda Tee.“ Der Lehrer sagte eine Weile nichts. Dann nickte er und grinste auch.

„Das war der zweite Versuch und… und du hast meine Feder zerbröselt. Du… machst mir Angst,“ gab er lachend zu. „Ich weiß nicht, ob das jemand… schon mal nach nur zwei Versuchen und dann noch viel früher als normal geschafft hat…“

„Willenskraft,“ murmelte der Junge, „Oder pures Anfängerglück.“

„Nein, nein, Puran,“ widersprach Meoran, „Keiner… keiner ruft Geister durch Anfängerglück. Die Geister, Puran… kennen kein Glück.“ Er seufzte tief, dann wrang er kurz seinen nassen Umhang aus und rieb sich glucksend die Hände. „Ah, nun, gehen wir Tee trinken? Ich lade dich ein, auf einen Abschiedstee sozusagen.“

„Was, Abschiedstee?“

„Natürlich! Jetzt, da du das Schwerste beherrschst… brauchst du mich nicht länger und das heißt, du kannst heimkehren.“
 


 

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surprise xD Und hey, haut mich nicht, Puran ist nicht so ein Gary Stue wie jetzt gerade rüberkam...^^'

Das Kapi ist furchtbar, ich weiß ._____.

Liebe

Meoran betrachtete Tabaris Versuche, im Gehen Pergamente zu sortieren, verblüfft und sagte eine Weile nichts, bis der Blonde ihn ansprach.

„Was denn, wolltest du nicht irgendwas sagen? Tut mir leid, dass ich gerade tüdelig bin, aber ich muss diesen ganzen Papierkram heute noch sortiert bekommen und das ist ganz schön zeitaufwendig!“

„Deswegen nimmst du den ganzen Kram mit auf die Straße und… sortierst, indem du über die Straße ge-… Vorsicht, verdammt!“ Meoran riss den Älteren gerade noch zurück, als sie dabei waren, eine Straße in Tuhuli zu überqueren und ein Wagen mit Pferden sie beinahe überfahren hätte. Der Kutscher schnaufte entrüstet und fuhr kopfschüttelnd weiter. Tabari schnaubte ebenfalls und gestikulierte wild.

„Passt auf und seht nach vorne, ich darf hier herum rennen, ich bin wichtig! Genau jawohl! – Aah!“ Meoran schlug sich gegen die Stirn. Beim Gestikulieren waren dem Deppen seine Papiere in alle Himmelsrichtungen fortgeweht und schreiend setzte der Statthalter jedem einzelnen nach. „Meine Pergamente!“ rief er dabei, „Nein, halt, kommt zurück! Verdammt!“ Mit einigen Handbewegungen lenkte er den Wind in die andere Richtung, damit er die Blätter wieder zu ihm trug, und Meoran beobachtete fasziniert und amüsiert zugleich, wie sein Kollege und Freund herum zauberte und nach und nach tatsächlich seine Dokumente zu fassen bekam.

„Tabari, ich wollte mit dir sprechen und dir nicht bei deinen Clownsnummern zusehen!“ bemerkte er dann glucksend.

„Sprich, ich höre doch!“

„Nun, es geht um deinen Sohn…“ fing der Braunhaarige grübelnd an und Tabari lachte schallend.

„Was denn, macht er Ärger? Nalani wartet schon seit Monden auf eine Feder von dir, in der steht ‚Euer Sohn rennt nachts laut singend durch das Anwesen, tut doch was!’…“

„Nein, das ist es nicht… es ist, er… ist fertig mit der Ausbildung.“

„Himmel hilf, das letzte Papier!“ stöhnte Tabari, als er jetzt wieder begann, alles neu zu sortieren. „Was? Ah, ja, ist doch gut.“ Er registrierte erst einen Moment später, was der Mann da gesagt hatte. Abrupt ließ er seine Pergamente wieder fallen, beachtete sie nicht weiter und starrte Meoran mit offenem Mund an. „Er ist was?!“

„Er ist konzentriert, er ruft Zerstörer, er ruft de Winde, was soll ich ihm noch beibringen, Tabari?“ fragte der Lehrmeister ihn. „Es gibt nichts mehr, das er von mir lernen könnte. Er hält sie nicht lange, die geisterwinde, aber er ruft sie und sie folgen ihm. Wie er sie beherrscht, kann er sich nur selbst beibringen, indem er tief in sein Innerstes hört.“

„Aber – Moment, das geht doch nicht!“ rief der Blonde und sammelte irritiert seine Blätter auf, „Wir haben doch erst Kälbermond! Was machen wir mit Puran?“

„Ich werde ihn zu euch heim schicken, was sonst? Nicht, dass ich ihn los werden wollte… er ist ein sehr höflicher und bescheidener Bursche, na ja, kein Wunder bei deiner erschreckenden Frau.“ Die Männer glucksten verstohlen und Tabari hob einen Arm im Meorans Richtung.

„Es ist so furchtbar, inzwischen zerreißt sie meine Hemden, wenn sie zornig ist! Sieh dir das an, und als könnte ich Knöpfe annähen…“

„Ach, du stehst doch darauf,“ gab Meoran prompt zu hören und Tabari schnappte empört errötend nach Luft.

„Ich – bitte was?!“

„Wie dem auch sei. Ich wollte mich deshalb ja umgehend mit dir treffen, und da du zufällig sowieso in Tuhuli bist… nimm dein Kind mit. Ich fürchte, wenn er noch drei Monde bliebe und nichts täte, stiftete das insbesondere bei meiner Frau Verwirrung und Schuldgefühle.“

„Vertragen er und Ruja sich nicht?“ fragte Tabari und senkte bedrückt den Kopf.

„Doch, tun sie sehr gut. Aber in unserer Situation ist das gerade… eine schlechte Kombination, sage ich mal. Er ist zu sensibel und sie zu pflichtbewusst…“
 

Tabari fragte sich, wie lange er nicht mehr wirklich auf Chimalis’ Grundstück gewesen war; es musste eine Weile sein, denn ihm kam alles verändert vor, als er seinem Kollegen ins Haus folgte. Bei Nombohs Bestattung musste er das letzte Mal hier gewesen sein, kam ihm… und das war immerhin schon fast fünf Jahre her.

„Oh!“ kam da auch schon Nombohs Witwe aus der Stube geeilt, und sie neigte rasch höflich den Kopf. „Tabari, welche Ehre. Tee, Jungs?“

„Mutter, hör auf, Jungs zu sagen, das ist ja furchtbar,“ war Meorans Kommentar und er fuhr sich ein paar Mal durch die Haare. „Ja – hast du Zeit für Tee? Oder auch Kaffee, wahlweise?“

„Einen sehr kurzen vielleicht. Wo ist denn mein Kind, das will ich an sich vorher sehen… schließlich bin ich deswegen hier, oder?“ Er grinste breit und Meoran grinste auch.

„Mutter, ich mache den Tee selbst, schick du lieber nach Ruja und Puran, wenn du beide irgendwo auftreiben kannst.“
 

Als der Meister am Morgen angekündigt hatte, sich mit seinem Vater in Tuhuli zu treffen, hatte Puran schon artig seine Sachen gepackt. Er wusste, dass er jetzt heimkehren würde… einerseits freute er sich auf seine Eltern, seine Familie, sein eigenes Zimmer, seine Freunde… andererseits schmerzte ihn der Gedanke an den Abschied von Tuhuli, von Meoran… und von Ruja.

Er seufzte tief, während er gedankenverloren auf dem Fensterbrett in seinem Zimmer saß und hinaus starrte. Wie oft hatte er das getan im vergangenen Dreivierteljahr? Er dachte missmutig an alles, was er gelernt hatte. Plötzlich verstand er, nach all den Jahren, warum seine Großmutter damals so seltsame Dinge gesagt hatte.

„Du bist für etwas Größeres bestimmt…“

Aber jetzt, da er es wusste, kam er sich noch kleiner vor… der Gedanke war eigenartig, dass er, wenn er wollte, so viel Macht in den Händen halten konnte… Macht, die töten konnte, wenn er es wollte… oder auch, wenn er es nicht wollte, solange er es nicht perfekt beherrschte.

Es klopfte an der Tür und Keisha steckte den Kopf herein.

„Bist du fertig?“ fragte sie, „Dein Vater ist da, du solltest ihn begrüßen. Hast du deine Sachen eingepackt?“ Der Junge nickte und rutschte von der Fensterbank, als die Frau schon verschwand und er sich beeilte, ihr zu folgen.

Auf dem Flur traf er Ruja, die aus der oberen Stube gekommen war. Er erschrak sich zuerst beinahe; lange waren sie sich nicht so direkt begegnet, weil sie ständig aneinander vorbei rannten, worüber er eigentlich auch froh war… irgendwie.

„Du bist also schon in Aufbruchstimmung?“ fragte sie ihn leise, als sie vor ihm stehenblieb und er senkte gegen seinen Willen errötend den Kopf. Er konnte ihr nicht lange ins Gesicht sehen… es ging beim besten Willen nicht, er kam sich sofort dreckig und pervers vor, wenn er sie länger ansah und zwangsläufig an das Blutritual denken musste, an diese eine Nacht, die sie geteilt hatten, legalerweise, wohlgemerkt… in Purans Kopf lief so manches illegales in diesem Punkt.

„Mein Vater ist gekommen und holt mich offenbar ab,“ sagte er trocken und bemühte sich nach Kräften, seine Gedanken zu verdrängen. Verdammt, er wollte sich wenigstens normal von ihr verabschieden! „Entschuldige, dass ich dir immer den Rücken kehre. Es ist nicht böse gemeint, es ist… ist… du weißt sicher, was ich meine, du liest meine Gedanken ohnehin, oder?“

„Das wäre unhöflich von mir,“ wisperte sie. „Ich muss mich selbst entschuldigen, ich habe auch Abstand gehalten, aber… weil ich gespürt habe, dass es dir unangenehm ist, in meiner Nähe zu sein. Sieh mich an…“ Sie lächelte, als er es tat und wieder errötete. „Wir werden uns sicher länger nicht sehen. Ich habe dich sehr lieb gewonnen in den Monden, die du hier warst… ich glaube, die Geister wollten, dass wir… uns auf diese Weise treffen.“ Er nickte beklommen. Das war wohl so… wie verabschiedete man sich von so einer Frau? Er seufzte abermals und entschied sich dann, es kurz und schmerzlos zu machen.

„Dann sei es so. Ich verabschiede mich hier schon mal von dir… es ist mir eine Ehre, dich zu kennen, Ruja. Und ich… hoffe, wir… sehen uns wirklich nicht zum letzten Mal.“ Dann ließ er sie stehen, sah aus dem Augenwinkel wie sie sich verneigte und ging herunter, um seinen Vater zu begrüßen.

Tabari saß inzwischen mit Meoran in der Stube unten und letzterer war dabei, Tee und Kaffee zu servieren. Als der Junge sich räusperte, fuhren beide herum und Tabari erhob sich abrupt.

„Du lieber Himmel!“ rief er dabei, „Ich hab dich nicht kommen gehört, verzeih, aber meine Ohren klingeln noch ein wenig, weil deine Mutter so herum gekeift hat und-… ach, was rede ich!“ Er kletterte um den Stubentisch herum und schloss seinen Sohn glücklich in die Arme. Puran grinste und erwiderte die Umarmung mit derselben Herzlichkeit. Plötzlich erschien es ihm ganz normal, dass Tabari hier war – vergessen waren die Monde, in denen er seinen Vater nicht gesehen hatte.

„Ich freue mich, dich zu sehen, Vater,“ entgegnete er glucksend und Tabari ließ ihn kurz los, sah ihn eine Weile an und umarmte ihn wieder.

„Himmel!“ machte er dabei und drückte sein Kind fest an sich, „Wann habe ich schon mal die Gelegenheit, dich festzuhalten, solange deine Mutter dabei ist jedenfalls nicht!“

„Ihr streitet doch hoffentlich nicht schon wieder…“

„Nein, wir drücken so unsere Liebe zueinander aus, das weißt du doch. Himmel und Erde, du bist ganz schön gewachsen, du hast mich ja beinahe eingeholt!“ Damit ließ der Vater Puran wieder los und sah ihn verblüfft an. Tatsächlich war Puran kaum noch kleiner als sein Vater. „Du siehst gesund aus, Junge. Deine Mutter wird Augen machen, wenn ich dich heute mit heim bringe, damit rechnet sie sicher nicht.“
 

Aber Nalani würde es sicher nicht schlecht heißen, dachte Puran sich verwundert. Der Abschied von Meoran und auch von Keisha fiel ihm ähnlich schwer wie der von Ruja, aber auf andere Weise.

„Wir sehen uns spätestens, wenn du zur Geisterjägerprüfung kommst, denke ich doch!“ versprach der Meister grinsend und winkend, als Tabari samt Sohn in eine bestellte Kutsche gestiegen war und diese sich langsam in Bewegung setzte, zum Tor hinaus und die Straße hinab nach Süden. Bald war das Anwesen aus ihrem Blickfeld verschwunden und Puran und Tabari drehten sich nach vorn, schweigend nebeneinander sitzend.

„Seltsam, da sieht man sich fast ein Jahr nicht und hat trotzdem nichts zu sagen,“ brach Puran dann die Stille. „Wie… geht es euch daheim? Sind alle gesund?“ Sein Vater zog eine Braue hoch.

„Oh, ja, alle bester Gesundheit. Verändert hat sich manches, würde ich sagen. Nicht unbedingt zum Schlechten… aber verändert hat es sich. Du hast das auch…“ Puran blinzelte und sein Vater sah lächelnd aus dem Fenster der Kutsche. „Du… bist erwachsener geworden. Ich bin stolz auf dich…“
 

Das Schloss sah aus wie immer. Der Garten war völlig verwildert, ein noch größerer Urwald als je zuvor, dachte Puran verblüfft, als er samt Vater daheim war und mitten im Garten stand. Auf der Terrasse saßen die Frauen der Familie und Kiuk bei Tee und Kuchen (Nalani hatte Kaffee). Puran erinnerte sich an den Frühling, in dem Pakuna sie besucht hatte, aber weit kam er nicht, denn da hatte sein Mutter sich schon erhoben und starrte ihn an… nicht so entsetzt, wie Sohn und Mann angenommen hatten.

„Dann haben die Geister also nicht gelogen,“ sagte sie, „Ich sah dein Gesicht und ich habe mich gefragt, was es heißen mag… du bist zurück, Puran?“

„Wie du siehst…“ machte er und war so perplex über ihre nicht vorhandene Verblüffung, dass ihm der Mund offen stehen blieb. „Wie jetzt – du hast das gewusst?!“

„Nicht gewusst, aber ich hatte eine Vorahnung.“

„na, hoffentlich keine böse-…“ stammelte der Junge immer noch verwirrt und brachte nicht mehr heraus. Er konnte sie einfach nur ansehen, seine geliebte Mutter, diese Frau, die er sein leben lang mit größtem Respekt und größter Liebe verehrt hatte… da stand sie, anmutig und bildschön, und jetzt erst begriff er, warum die Menschen sie Königin nannten… sie war einfach eine, sie hatte die Haltung, die Weisheit und den Stolz einer Königin. Ohne dass er es zurückhalten konnte schlich ein Lächeln auf seine Lippen vor Freude, sie wiederzusehen, und es wurde schnell zu einem breiten Grinsen. Nalani rührte sich nicht. Sukutai wollte sie gerade anstoßen, sie solle nicht so kalt tun, da trat die Hausherrin selbst vor und blieb vor ihrem Sohn stehen, statt ihm ungestüm um den Hals zu fallen behielt sie selbst jetzt ihre stolze Haltung und strich ihm nur sanft über die Wangen; aber ihr Gesicht zierte eine Freude, die jeden noch so kalten Stolz weg blies.

„Ich bin sehr froh… dich wiederzuhaben, mein kleiner Junge… der kein kleiner Junge mehr ist und es nie mehr sein wird.“ Er gluckste, ehe er ihre hand weg schob und seinerseits ihr um den hals fiel. Wenn sie es schon nicht tat…

„Vielleicht nicht mehr äußerlich, aber innerlich werde ich das doch immer sein, Mutter. Ich hab dich vermisst…“

Jetzt bekamen auch die anderen Gelegenheit, den verlorenen Sohn zu begrüßen, der gar nicht verloren gewesen war. Der Reihe nach umarmten und drückten sie ihn und redeten viel, am meisten natürlich Tante Sukutai – als letztes kam seine Cousine und Puran fiel aus allen Wolken; er hätte die kleine, patzige Alona beinahe nicht wiedererkannt!

„Was ist denn in nicht mal zehn Monden aus der frechen Ziege geworden, die sich meine Cousine schimpfte?!“ neckte er sie entsetzt und starrte sie an. Alona blinzelte.

„Wovon redest du?“

„Du hast Titten!“

„Oh weh!“ machte Sukutai im Hintergrund, als hätte er bei ihrer Tochter eine Krankheit festgestellt. Er sah das junge Mädchen verblüfft an. Sie war in den neun Monden ein großes Stück gewachsen, ihr Gesicht war nicht mehr so pummelig; eigentlich war gar nichts an ihr pummelig, weil sich ihr Babyspeck offenbar endlich ordentlich verteilt hatte. Statt des Babyspecks hatte sie plötzlich Brüste, zwar nicht übermäßig groß, aber definitiv erkennbar, oder lag das an dem engen Kleid, das sie trug. Ihre braunen Haare waren lang geworden und sie hatte sie sich mit einem Haarreifen aus Knochen aus dem Gesicht geschoben. Sie war richtig hübsch geworden, mit ihren bald zwölf Jahren würde sie bestimmt auch bald eine Frau werden.

„Werd nicht frech, sowas sagt man nicht zu einer Dame,“ behauptete die halbwüchsige Cousine etwas entrüstet, war aber, wie ihm auffiel, viel verhaltener als er es von ihr kannte. Sie strich sich durch die langen Haare und gab ihm die Hand. „Schön, dass du wieder da bist, jetzt habe ich wieder jemanden zum Nerven.“

„Das ist alles? Na, hör mal…“ Sie grinste keck und wandte sich zum Gehen. „Wobei du früher da bist als ich dachte, so ein Jammer. Es war so ruhig ohne dich.“ Sie kicherte und Puran starrte sie empört an.

„Hey, mehr Respekt bitte, ich bin jetzt ein Mann, du Trulla!“

„Spiel dich bloß nicht auf, du bist ja nicht der einzige Mann auf der Welt,“ sagte sie unbekümmert, „Darf ich gehen, Mutti? Ich hab den Tee ausgetrunken.“

„Himmel,“ machte Kiuk, und Sukutai war mit einem Mal ungewohnt bösartig.

„Du bleibst mir im Schloss!“ entrüstete sie sich keifend und zeigte auf ihre Tochter, „In dein Zimmer, mein kleines Mädchen, und ich merke, wenn du fort gehst!“

„Ich würde es nie wagen,“ stöhnte das Mädchen und verschwand im Schloss. Die anderen sahen sich an und Puran wunderte sich.

„Hab ich was verpasst?“

„Nichts, was nicht beschämend gewesen wäre,“ machte Nalani perplex. „Wer will erzählen?“

„Sukutai kann besser reden als ich,“ redete Kiuk sich raus und versteckte sich hinter seinen zehntausend Stammbaumpergamenten. Die Frau atmete tief ein und aus und verschränkte offenbar höchst aufgeregt die Arme vor der Brust.

„Meine Tochter, die deine Cousine ist,“ begann sie gezwungen gefasst, „Hat sehr, und ich fürchte, zu untertreiben, wenn ich nur sehr sage, aber etwas Besseres mag mir nicht in den Sinn kommen, so sehr ich mich bemühte; sehr also, sehr oft in Gahti bei ihren Freundinnen aus der Schule herumgetrieben. Ich sage getrieben, jawohl, nicht, dass du irgendwas Anzügliches denken magst, Puran, aber-…“ Er unterbrach ihren Redefluss.

„Wenn es nicht anzüglich war, warum ist dann hier so ein Tohuwabohu? Was hat sie denn gemacht?“

„Ihre Freundinnen!“ empörte Sukutai sich.

„Sie hat ihre Freundinnen gemacht?“

„Diese kleinen Luder, das war grauenhaft, ich fürchte, sie stiften mein braves Mädchen dazu an, Dinge zu tun, die sie sonst nicht täte!“

„Ich musste sehr lachen, ich weiß nicht, was du dich so aufregst, Sukutai,“ gackerte Tabari.

„Jedenfalls war ich einmal zufällig in Gahti zum Einkaufen, und ach, was sehe ich? Meine kleine Tochter mit ihren frühreifen Freundinnen, und sie alle trugen Sachen, das war, das war… mir fehlten die Worte! Deine Cousine, die meine Tochter ist, hatte einen Rock an, der war so kurz wie ein altmodischer Gürtel breit war, ihr wisst schon, diese fürchterlichen Dinger, für einen Gürtel viel zu breit, für die Länge eines Rockes an so einem jungen Mädchen – überhaupt an jedem Mädchen! – völlig unmöglich! Und an den Beinen hatte sie gar nichts, und Lippenstift!“

„Was macht sie denn mit Lippenstift an den Beinen?“ wollte Puran verwirrt wissen, ahnte aber, dass das nicht gemeint war, als seine Tante entrüstet die Hände rang.

„Lippenstift in einer Farbe von reifen Kirschen, bei allem Respekt, in so einer schrillen Farbe Lippenstift, das tragen doch nur Freudenmädchen!“

„Zumal an den Beinen,“ addierte Tabari scherzend, wurde aber gekonnt ignorierend.

„Ich ging also herüber und sprach sie an, mit ihren komischen Freundinnen aus Gahti, und sie lacht mich nur aus und sagt – was sie gesagt hat, ach! Wehe! Sie sagte zu mir, Ach, Muttchen, du hast ja keine Ahnung, was den Jungs heute gefällt!“

„So alt bin ich nun auch wieder nicht,“ jammerte Kiuk beleidigt.

„Ach was, du!“ jammerte seine Frau, „Muttchen! Sie hat Muttchen zu mir gesagt, als wäre ich eine verschrumpelte Greisin, eine hirnverbrannte, alte Großmutter, die schon ganz tüdelig im Kopfe ist, wehe!“ Und sie sah Puran an und fragte todernst: „Sprich, Junge von heute, gefällt dir etwa, wenn junge Dinger so herumlaufen? Sprich ehrlich zu mir, Puran, ich altes Muttchen muss wohl belehrt werden, ach!“

Puran konnte seine Tante etwas irritiert lachend beruhigen:

„Bei aller Liebe, Tantchen, nein… entweder bin ich ein sehr seltsamer Junge von heute oder Alona hat irgendetwas gestochen! In ihrem Alter, sie mag Brüste haben, das macht ihren Körper noch lange nicht zu einem richtigen Frauenkörper und mit einem halben machen so aufreizende Kleider sie nur ganz und gar lächerlich. Also, ich kenne jedenfalls niemanden, der auf so etwas-… na ja, Travi steht auf alles, was Titten hat, ich sollte ihn fragen, ob er sie so gesehen hat, wäre ja grauenvoll.“

„In der Tat,“ gab Nalani jetzt von sich, „Dahin schwindet die Anerkennung unserer Familie, ach!“ Sukutai schnaubte.

„Sagt mal, habe nur ich das Gefühl, oder veräppelt ihr alle meinen Wortlaut?“
 

„Du kleine Schlampe…“ wurde Alona begrüßt, als sie ihre Zimmertür öffnete und ihr Cousin davor stand. Sie schnaufte.

„Ja… ich hab dich auch gern,“ machte sie irritiert.

„Deine Mutter hat sich aufgeregt über den sehr kurzen Rock, den du angehabt haben sollst, und den knalligen Lippenstift, was ist in dich gefahren? Du weißt doch, dass sie viel Wert auf ordentliches Erscheinen legt…“

„Kann ich ahnen, dass sie mitten am Tag durch Gahti latscht?“ fragte das Mädchen verstimmt, „Das waren Sachen meiner Freundin, sowas besitze ich doch nicht. Aber die Mädchen finden es seit einigen Monden sehr schick, so herum zu laufen, soll ich mich etwa ausklinken, nur, weil meine Mutter eine konservative Trulla ist?“

„Mach, was du willst, aber doch nicht sowas, es geht gar nicht um deine Mutter!“ empörte er sich, „Ist dir klar, wie alt du bist? Titten machen dich nicht erwachsen, Alona, wenn du so halb nackt in der Gegend herum rennst und jedem Penner deinen Hintern zeigst unter dem kurzen Rock, was meinst du, wer dann plötzlich gerannt kommt und dich spannend findet? Sicherlich keine Jungs von heute, wie du es nennst, sondern perverse alte Böcke, deren Frauen krepiert, schwanger oder behindert sind und die seit Jahren keine hübsche Jungfrau mehr genagelt haben!“ Sie schwieg kurz, dann nickte sie.

„Ich danke dir für deinen Schutz Puran, aber ich bin kein Kind mehr. Ich verstehe deine Sorge, aber ich passe auf mich selbst auf. Beziehungsweise, andere tun das für mich mit. Als du weg warst, mussten mich auch andere beschützen. Ich bin nie alleine unterwegs, ich habe meine Freundinnen oder ich-…“ Sie brach abrupt ab und schürte damit nur sein Misstrauen.

„Oder was?“ hakte er nach.

„Nichts!“ keifte sie los, plötzlich verärgert, „Ich komme zurecht! Mich wird kein alter Penner vergewaltigen! Kümmere dich um deinen Kram und mische dich nicht in meinen ein, Puran!“ Sie schlug die Zimmertür zu und er trat verblüff von der heftigen Reaktion zurück. Als er wieder aufmachen wollte, war die Türe verschlossen.

„Alona! Mach auf, was ist denn mit dir? Ich habe es doch nicht böse gemeint, ich… ich mache mir nur Sorgen! Wenn dir etwas passiert, ist die Hölle los, und nicht nur bei mir! Du weißt das, sei nicht störrisch und mach auf!“ Aber sie erwiderte erbost:

„Ich habe dir nichts zu sagen! Guten Tag, der Herr!“ Er schnaubte jetzt ebenfalls verärgert.

„Fein, wie die Herrin mit der frechen Klappe befiehlt. Aber komm ja nicht auf die Idee, dich bei mir auszuheulen, und ich beschütze dich sicherlich niemals wieder vor sabbernden Pennern, die dir an die Wäsche wollen!“ Dann ging er und Alona war es recht so.
 

Natürlich hielt er sein Wort in keinem Fall – wie könnte er? Sie war wie eine Schwester für ihn, wie könnte er zulassen, dass ihr etwas geschah? Aber ihr seltsames Verhalten machte ihn nervös, das ärgerte ihn, da er so seit seiner Rückkehr schon Wochenlang keine Zeit gefunden hatte, die bei Meoran gelernten Dinge zu üben, um sie nicht wieder zu verlernen. Es dauerte bis zum Hochsommer, bis er endlich herausbekam, was ihr komisches Getue sollte.

„Was denn, sie hatte einen Rock an, der so kurz war wie eine Scheibe Brot lang ist? Ist ja furchtbar!“ erklärte Travidan, Purans verfressener Freund von der Mühle, empört, als sein Kamerad ihm eines Tages davon erzählte.

„Du denkst immer nur an Essen, jetzt vergleichst du Alonas Röcke mit Brot!“

„Ich meine, furchtbar, und ich hab’s nicht gesehen!“ addierte Travi da und fing an zu lachen bei Purans entgleisten Gesichtszügen. „Keine Sorge, war nur ein Witz…“

„Dir traue ich alles zu,“ jammerte Puran, „Meine Cousine ist erst zwölf, sie ist doch noch viel zu klein für einen Freund!“

„Was, mit zwölf, pff, einen Freund haben heißt doch nicht sofort in di Kiste springen,“ gackerte Travi, „Na ja, es sei denn, man heißt Narya, oder so…“ Puran sah ihn blöd an.

„Was, Narya?“

„Ja, es heißt, seit sie eine Frau geworden ist, schläft sie sich fröhlich durch den halben Jahrgang oder so… ich meine, sie ist echt hübsch, ich würde da ja auch nicht Nein sagen, dummerweise bin ich nicht ihr Typ, glaube ich.“ Puran schnaubte kurz. Du liebe Zeit! Er erinnerte sich an die Jujube-Sträucher und räusperte sich verhalten; ja, sowas würde er Narya zutrauen, so, wie sie ihn damals überfallen hatte. Travi kratzte sich am Kopf.

„Gehen wir zum Bäcker nach Gahti und kaufen Kuchen?“

„Verfressener Sack…“ brummte Puran, erhob sich aber von der Wiese, auf der sie sinnlos herum gehockt hatten. Es war heiß geworden und die Luft vom Meer war schwül, es war kein Wetter, um viel zu tun, schon gar nicht zu jagen und sich zu bewegen. „Na ja, dann schauen wir gleich mal, ob Kannar inzwischen da ist, als ich vorhin her kam, war der Idiot nicht daheim. Ich frage mich, was der besseres zu tun hat!“

„Der hat oft besseres zu tun, oder nicht?“ machte der dicke Müllerssohn, „Ich sehe ihn nur noch selten, dabei wollte wir doch zu dritt Broti erbauen! So ein Verräter!“

„Ja, wir stellen ihn in Broti an den Pranger und bewerfen ihn mit Obst und Gemüse,“ pflichtete Puran ihm bei, „Vielleicht ist er dauernd am Kiffen und hat deswegen vergessen, dass wir noch leben, der Spacko.“
 

Kannar war nicht am Kiffen. Die beiden Freunde fanden den Heiler, der inzwischen nach abgeschlossener Ausbildung auch in der Apotheke seines Vaters mit anpackte, weder in der Apotheke noch beim Bäcker (wo er im Allgemeinen eher selten anzutreffen war), sondern in der kleinen Teestube neben dem Bäcker. Travi hatte ihn auch mehr zufällig durch das kleine, dreckige Fenster entdeckt. Gahtis kleine Teestube war mal ein Gasthof gewesen, hatte aber so wenig Kundschaft gehabt, dass es sich selbst zur Teestube degradiert und jetzt immerhin ein paar Stammkunden hatte. Das Haus war nicht in bestem Zustand und der Dorfchef von Gahti, Mabis aufgeplusterter Vater, wollte es eigentlich abreißen und ein moderneres, schöneres bauen lassen, um den Ruf seines Dorfes zu verbessern. Zu seinem Pech waren trotz des Desinteresses an dem Teehaus die meisten Bürger gegen den Abriss, weil das alte Haus etwas Nostalgisches und Antikes hatte, das zu bewahren sich lohnte, wie man fand.

Als Travi Kannar verblüffenderweise in dem schäbigen kleinen Teehaus entdeckt hatte, waren die beiden Freunde sofort hinein gerannt. Und noch verblüffender war die Tatsache, dass der Heiler nicht alleine hier saß.

„Was… im Namen von allem, das heilig ist, geht hier vor?!“ schnappte Puran empört und sah seine kleine Cousine an, die unverfroren Kannar gegenüber auf einem Hocker saß und vor sich eine schlichte Tontasse stehen hatte.

„Na, Überraschung,“ sagte Travi ebenfalls verblüfft, „Was sitzt ihr denn hier in der Teestube?“

„Wir trinken Tee, du wirst es nicht glauben,“ meinte Kannar verstimmt, und Purans Blick, der immer grantiger und empörter wurde, machte ihm insgeheim Angst. Verdammt, es war eine dumme Idee gewesen, herzukommen!

„Tee trinken, ja, ja, wir wissen ja, was dabei rauskommt, wenn es fertig ist!“ zischte der Sohn des Statthalters da auch schon, „Ich denke da empört an meine Großmutter, die mit Zoras Chimalis Tee trinken ging!“ Alona errötete wie auf Knopfdruck und die beiden Jungen verstanden nur Bahnhof.

„Was, deine Großmutter?“ sagte Travi, wartete aber keine Antwort ab und bestellte sich verdrossen einen Tee mit viel Zucker.

„Was denkst du bitte?!“ schnappte Alona hochrot im Gesicht an ihren Cousin gewandt, „Wir trinken nur Tee, verdammt, ist das verboten!“

„Bist du doof in der Birne?!“ herrschte er sie an und fuhr zu Kannar herum, „Was machst du Sack mit meiner Cousine?! Erst abfüllen und dann flachlegen oder was?!“

„W-was?!“ japste Kannar, „Wie bitte?!“

„Was war das für ein Tee?!“ grunzte sein Freund zornig weiter und schnappte Alonas leere Tasse, um daran zu riechen. „Sicher Schlaftee oder Tee, der bekifft macht, damit sie sich später nicht mehr erinnert?!“

„Es war schwarzer Tee mit Honig,“ machte Kannar entsetzt, „W-wovon redest du, was ist dein Problem?!“

„Du gehst nicht mehr Tee trinken, Alona!“ empörte Puran sich weiter, „Deine Mutter macht sich Sorgen und das zurecht! Männer sind alle Schweine und haben nur das Eine im Kopf, wie… wie siehst du bitte aus, sind das die Sachen deiner Freundin?!“ Er starrte sie an. Ihr Rock war zwar deutlich länger als die altmodischen Gürtel breit waren, aber er reichte ihr dennoch nicht mal bis zu den Knien. „Wenn du so herum rennst!“ empörte er sich entsetzt weiter. Alona sprang auf und stampfte wütend mit dem Fuß auf.

„Wir trinken nur Tee, jetzt mach mal halblang!“ schrie sie, „Ich habe mich schon oft mit Kannar getroffen, als du weg warst, wir haben oft gemeinsam Tee getrunken und geredet, und keiner hatte irgendwelche abscheulichen Gedanken!“

„Was weißt du, was in seinem Kopf abgeht?!“ schnaufte der Ältere ärgerlich.

„Wenn Männer alle Schweine sind, was bist dann du?“ schnappte sie und er blinzelte blöd. Dann räusperte er sich.

„Na, hör mal, wenn sich eine Frau, die nicht gerade meine Cousine ist, in so einem Aufzug vor mich hinsetzt, was soll ich machen?“ Er fragte sich, was er wohl machen würde, wenn Ruja in so einem Kostüm mit ihm Tee trinken würde – ach, er sollte aufhören, an sie zu denken! Sie schnaubte.

„Dann bist du vielleicht pervers, Kannar ist es nicht! Dass du mir nicht vertraust ist eine Sache, aber deinem eigenen besten Freund solltest du vertrauen, oder?!“ Er erstarrte kurz, als sie vor ihm wütend die Fäuste ballte. Dann wandte sie sich an Kannar und verneigte sich. „Vielen Dank für den Tee. Auf Wiedersehen!“ Ehe Kannar etwas sagen konnte, hatte Alona sich mit wehenden Haaren umgedreht, Puran noch einen vernichtenden Blick zugeworfen und war aus dem Teehaus gerannt. Die Jungen standen und saßen da wie vom Donner gerührt. Nur Travi trank seinen Tee.

„Was habt ihr getan?“ fragte er theatralisch. Dann stand Kannar auf.

„Verdammt, was… ist in dich gefahren?!“ rief er und sah Puran an, „Sie ist deine Cousine! Denkst du echt, ich würde ihr ein Haar krümmen?!“

„Was läuft zwischen euch beiden?“ fragte Puran unverfroren, „Raus mit der Sprache, du bester Freund, der mit meiner Cousine anbandelt!“

„Nichts, außer Tee trinken! Wir haben uns beim Frühlingsfest in Tuhuli zum ersten Mal getroffen, zufällig, und weil ihr ihre Freundinnen weggerannt waren, mit denen sie da gewesen war, habe ich sie nach Hause gebracht, damit sie nicht allein gehen muss, ist das falsch? Wenn ich das nicht gedurft hätte, verzeiht, Prinz Lyra!“ Der Sarkasmus in seiner Stimme war unüberhörbar und Puran errötete, als er sich plötzlich schäbig vorkam, so ein Theater gemacht zu haben.

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du sie öfter triffst?“ brummte er dann, „Du hast seit ich wieder hier bin mit keinem Sterbenswort etwas erwähnt!“

„Bin ich dazu verpflichtet, weil sie deine Cousine ist?“

„Es hätte uns allen den heutigen Ärger erspart. Ich hätte mich dann eben früher aufgeregt, aber nicht in dem Maße! Ich-… versteh doch, Kannar, ich sorge mich nun mal! Würdest du dich nicht auch um Akila sorgen, wenn sie plötzlich mit Leuten Tee trinkt?!“

„Ähm – nein. Außerdem ist das anders, sie ist älter als ich. Wie auch immer, wie soll es weiter gehen? Alona redet jetzt sicher weder mit mir noch mit dir jemals wieder, super gemacht…“

„Ach, ich finde sie auch ganz niedlich,“ gackerte Travi, bekam strafende Blicke als Antwort und trank hastig seinen Tee weiter. Kannar errötete und drehte den Kopf weg.

„Ihr seid so… verdammt noch mal! Du bist zu albern, du bist zu ernst, könnt ihr beide nicht normal sein?! Ach, lasst mich doch einfach in Ruhe!“ Damit stampfte er ebenfalls aus dem Teehaus und die beiden anderen sahen ihm perplex nach. Puran schnaufte.

„Der stellt sich an! Erst meine zwölf Jahre alte Cousine anbaggern, die nicht mal eine Frau ist, und dann beleidigt wegrennen!“

„Ah, komm, du hast dich auch ganz schön bescheuert aufgeführt,“ machte Travi erstaunlich diplomatisch und Puran sah ihn entrüstet an.

„Wie bitte?! Warum hält nie einer zu mir?!“

„Am besten entschuldigen wir uns einfach bei den beiden, dass wir sie gestört haben,“ schlug der Dicke leise vor, „Das war wirklich nicht so nett… wenn sie sich doch mögen…“

„Wie bitte, wieso mögen die sich ohne meine Erlaubnis?!“

„Ah,“ Travi wusste sehr genau, wie er seinen Freund ganz schnell zum Schweigen bringen konnte, „Ohne deine Erlaubnis! Da kommt der Diktator in dir durch, vielleicht kommst du ja nach deinem Großvater…“ Wie erwartet erstarrte der Jüngere sofort.

„Sag das nie wieder,“ zischte er dann bedrohlich leise, „Sag das… nie wieder, oder du wirst es bereuen, Travidan Ando.“ Damit kehrte er seinem Freund auch den Rücken und stampfte beleidigt davon. Travi rief ihm nach:

„Reg dich ab, sortiere erst mal deine wirren Gedanken! Du hast zu viel im Kopf und bist deswegen so pissig!“ Er wurde von hinten angetippt und als er hoch sah, stand der Besitzer des Teehauses hinter ihm. „Eh…“

„Bezahl bitte die drei Tassen Tee, die ihr Rüpel hier getrunken habt, du Banause!“
 

Vielleicht hatte Travi recht. Nein, er hatte sogar höchstwahrscheinlich recht. Travi war in der Schule zwar nie eine Leuchte gewesen, aber wie man mit Menschen umgehen musste, wusste er sehr viel besser als seine beiden Freunde zusammen, hatte Puran sich schon öfter gedacht. Travi war ein guter Junge. Es tat ihm leid, ihn so angefahren zu haben… aber auf seinen Großvater reagierte er nun mal empfindlich, der Idiot wusste das doch ganz genau!

Er sollte seine Gedanken sortieren… all den Müll, der in seinem kopf schwirrte. Es war ihm egal, was Alona machte, was Kannar machte, da war so viel anderes, was irgendwie bedeutsamer erschien. Da war immer noch Ruja in seinem Kopf, Meorans bildschöne, lächelnde Frau, und er hasste sich dafür, dass er sie noch immer so sehr begehrte, dass allein die Gedanken an ihr Lächeln ihn erregten. Andererseits war da Cholena, das blonde Mädchen aus Rathuk… er fragte sich in dem Moment, was wohl aus ihr geworden war. Plötzlich sehnte er sich danach, sie zu treffen, denn immer, wenn er mit ihr gesprochen hatte, hatte sie ihn beeindruckt und danach war alles besser gewesen. Er erinnerte sich flüchtig an das seltsame, intime Gefühl, das er gespürt hatte, als ihre Hände einander berührt hatten…

Aber am wichtigsten, störendsten und am meisten im Vordergrund seiner Gedanken waren die Träume, die ihn jede Nacht um den Verstand zu bringen drohten. Der Regen aus Flammen und Blut, der die Welt überflutete, die weißen Spiralen im dunkelsten Schatten einer boshaften Finsternis… jedes Mal, wenn er den Traum sah, wachte er entsetzt auf, gepackt von den kalten Klauen einer panischen Angst, die er sich nicht erklären konnte. Wie konnte er etwas so dermaßen fürchten, von dem er nicht mal wusste, was es war?
 

Er wusste nicht, wohin er gehen wollte, jedenfalls nicht nach Hause, da konnte ihm auch niemand weiter helfen. Es tat ihm jetzt schon leid, Alona, Kannar und Travi so angeschrien zu haben, er würde sich bei allen dreien entschuldigen müssen. Fraglich war nur, ob das verzeihlich war…

Er wusste nicht, wohin seine Füße ihn in seinem aufgewühlten Zustand trugen, er merkte nur mit fortschreitendem Tage, dass es düster wurde und bald darauf zu regnen begann. Irgendwann blieb er mitten auf der Straße stehen, die jetzt durch ein kleines Dorf führte. Er hatte keine Ahnung, wo er war, und es war ihm auch egal, sein Instinkt würde ihn schon wieder heim führen, wenn er wollte.

„Ach, was soll’s…“ stöhnte er resigniert, „Irgendwann muss ich ja ohnehin heim, bevor Mutter mich grillt…“

„Na, welche Ehre verschafft unserem Dörfchen denn dieser Besuch?“ Puran fuhr herum, als plötzlich hinter ihm jemand sprach. Er wollte erst entsetzt schreien, dann erkannte er aber seinen alten Freund Madanan hinter sich stehen, in der Hand einen Schirm, gemantelt und gestiefelt und auf dem Rücken ein Rucksack.

„Madanan!“ machte Puran perplex.

„Dich habe ich ja ewig nicht gesehen,“ meinte der Schwarzhaarige und neigte höflich den Kopf. „Bist du schon lange aus Tuhuli zurück? Ich war zwar vor zwei Wochen wieder daheim, bin jetzt aber noch mal in Kadoh gewesen. Die Berge da sind wirklich schön.“

„Was machst du in Kadoh?“ wunderte Puran sich überrumpelt.

„Na ja, an sich nicht mehr als durch die Gegend reisen, aber man sieht interessante Dinge auf diese Weise. Dummerweise sprechen die meisten Eingeborenen in den kleinen Kaffs in Kadoh nicht die Einheitssprache, oder wenn, dann mit einem sehr seltsamen Dialekt, es ist nicht so einfach, sich da zu verständigen. Was ist mit dir, was machst du hier in Dralor?“ Puran war zu fasziniert von den Gedanken an die Provinz Kadoh im Westen des Landes und verstand die Frage erst nicht, so dauerte es, bis er antwortete:

„Ich, ähm… weiß selbst nicht so genau.“

„Dann komm doch mit zu mir, bevor du hier im Regen stehst und dir den Tod holst. Du kannst mit zu Abend essen, wenn du magst.“
 

Das war ein sehr freundliches Angebot. Puran dachte sich dabei, dass er noch nie bei Madanan daheim gewesen war. Das Haus, in dem die Tevvys und die Marus zusammen wohnten, war ein ansehnliches, großes Haus.

„Puraaaan!“ johlte Narya, Madanans stürmische Cousine mit den blonden Locken, als die beiden zur Tür herein kamen, und schon hing das Mädchen an Purans Hals. „Das ist aber eine Überraschung, welche Ehre!“

„Luft, l-lass mich atmen!“

„Hey, und ich bin zwei Wochen in Kadoh und bin dir völlig egal? Na, besten dank, Cousine,“ sagte Madanan gespielt beleidigt.

„Ach, du, Puranchen war noch nie hier!“ ereiferte sich Narya grinsend und schenkte dem Gast einen sehr eigenartigen Blick, worauf dieser gegen seinen Willen prompt errötete. „Komm, ich zeige dir das Haus!“
 

Der Abend in Dralor war sehr nett. Madanans und Naryas Familie war sehr freundlich und zuvorkommend. Die meiste Zeit erzählte Madanan von seiner Reise nach Kadoh, als sie mit dem Essen fertig waren. Kadoh bestand fast nur aus Bergen, zwei große Gebirgsketten verschlagen in diesem gebiet einander, die höchsten Gipfel des Landes Kisara waren in den Kadoh-Bergen und den Iketh-Bergen. Wirklich bewohnbare Gegenden gab es nur im Norden, im Nordosten und im Süden der Provinz. Während Madanan erzählte, hing Narya die meiste zeit glucksend an Purans Hals oder tippte ihn unter dem Tisch mit ihren Füßen an. Als er einmal etwas verhalten zu ihr herüber sah, grinste sie wiederum fröhlich. Narya war eine seltsame junge Frau, stellte er zum wiederholten Male fest, je länger sie nebeneinander am Tisch saßen, je öfter ihre Hände unverhofft nach seinen Oberschenkeln fassten, ganz flüchtig nur, aber die Geste war deutlich genug. Und er war definitiv nicht abgeneigt, was das Mädchen betraf…

So wunderte er sich wenig über sich selbst, als es Nacht wurde und er das Angebot der Familie annahm, über Nacht zu bleiben.

Vielleicht würde es ihn auf andere Gedanken bringen, dachte er sich verhalten, als er über ihr in ihrem Bett lag und mit ihr schlief. Mit Narya zu schlafen war anders als es mit Ruja zu tun; Narya war kleiner als Ruja, sie war auf andere Art temperamentvoll, sie hatte weniger mystisches an sich und war dadurch viel greifbarer, als sie unter ihm laut stöhnte und sich in wilder Leidenschaft an seinen Unterleib presste, forderte, verlangte und ihn schnell über seine Grenze hinaus trieb. Auch, wenn es nicht Ruja war, es war dasselbe Feuer, das seinen Körper einnahm, als er sich in ihr ergoss und sich dann stöhnend neben sie rollte, wo sie sich keuchend an ihn schmiegte. Eine Weile lagen sie schweigend da und lauschten dem heftigen Atmen des anderen und ihrem eigenen, rasenden Herzen.

„Jetzt haben wir beendet, was unter den Jujube anfing,“ grinste Narya irgendwann und strich sich durch die blonden Haare. „Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr überfallen, aber… ich…“ Er räusperte sich.

„Schon gut. Ich hatte es genauso nötig wie du.“ Erstaunlicherweise errötete sie.

„Was denn, wirklich?“ Er antwortete nicht, legte nur seufzend einen Arm um ihren nackten Körper und zog sie dichter an sich heran.

„Stimmt es, was ich gehört habe, dass du so… oft die Betten wechselst?“ hörte er sich dann fragen. Sie setzte sich auf. Als er sie ansah, saß sie neben ihm im Bett und strich sich wieder durch die blonden Locken, ihn ernst ansehend.

„Also, wenn du gedacht hast, wir beide werden jetzt ein zuckersüßes Liebespaar, muss ich dich enttäuschen, das hier war rein körperlich. Ich dachte, das wäre dir bewusst.“

„Ist es, Narya, ich habe dich gern, aber ich bin keines Falls verliebt in dich. Ich war nur neugierig…“ Das Mädchen lachte verlegen.

„Ähm, na ja, ich… ich bin keine Nutte oder so… ich meine… klar habe ich nach meinem Blutritual mit mehreren geschlafen…“

„Wie viele davon kenne ich persönlich?“ wunderte er sich feixend und die dachte nach.

„Also – zwei? Drei? Ach, keine Ahnung. Ich habe eben noch nicht den richtigen gefunden, mit dem ich mein Leben verbringen will… was ist mit dir, Puran? Hast du eine Frau im Auge?“ Er hüstelte.

„Keine, die ich haben könnte, sagen wir es so.“ Narya legte sich wieder zu ihm und strich mit den Fingern auf seiner Brust auf und ab, küsste zärtlich seinen Hals und seine Schulter.

„Oh, so ist das also… wer ist sie? Die Freundin eines anderen Kerls?“ Er räusperte sich.

„Die Frau eines guten Familienfreundes. Aber reden wir nicht darüber, das wird sich schon biegen.“ Er grinste und verdrängte die Gedanken an Ruja; er wollte jetzt wirklich nicht an sie denken oder gar über sie sprechen. Narya musste das alles nicht wissen.

Das Mädchen verstand ihn und rollte sich plötzlich über ihn, setzte sich auf und zeigte ihm ihren hübschen, reifen Körper, während ihre Hände nach seiner Mitte griffen.

„Du denkst zu viel nach, Puran…“ raunte sie leise und grinste verschmitzt, „Schlaf noch mal mit mir. Entspann dich, du bist sooo ernst und verbissen…“

„Das ist nicht ganz leicht, weil ich-…“ Er kam nicht weiter, als sie sich über ihn beugte und ihn heftig auf die Lippen küsste. Er gab seinem inneren Verlangen schnell nach, als ihre Zunge in seinen Mund glitt und ihre Hände ihn bearbeiteten, bis er sich hart aufrichtete. Ja, es war gut… er wollte den ganzen anderen Kram um sich herum vergessen. Er wollte mit ihr schlafen, er wollte nicht an all die beunruhigenden Dinge aus seinem Traum denken, oder an Alona und seine Freunde, die er heute alle auf einmal vergrault hatte. So zog er das blonde Mädchen keuchend wieder zu sich herab, als sie sich von seinen Lippen löste, um sich erneut mit ihr zu vereinen.
 

Die Träume holten ihn wieder ein. In der Nacht kehrte der Flammenregen über Tharr zurück und mit ihm die weiße Spirale, die im Schatten tanzte, um Puran um den Schlaf zu bringen. Als er leise vor sich hin fluchend aufstand und aus dem Fenster in Naryas Zimmer hinaus starrte, verflog das üble Gefühl auch nicht wirklich. Oben am Himmel waren die beiden Monde Ghia und Zuyya zu sehen. Ghia groß und grünlich, Zuyya im Hintergrund und bläulich. Puran war nie mit einem Raumschiff auf einen er beiden Monde gefahren; beide waren genauso bewohnt wie Tharr und man konnte sie befahren. Man sagte sich, Tharr sollte von außen rot leuchten, wenn man ihn von Ghia oder Zuyya betrachtete; dabei war der Himmel innen grün, Puran hatte keine Ahnung, ob das Gerücht stimmte und wie das angehen konnte. Eigentlich war es ihm auch egal… als er seinen Blick wieder zum kleinen Mond Zuyya schweifen ließ, hatte er für einen kurzen Moment, dass das schlechte Gefühl aus seinem Traum wieder zurückkehrte… aber nur kurz, nachdem er einmal geblinzelt hatte, war es genauso plötzlich verschwunden, wie es gekommen war. Puran hatte keinen kopf dafür, sich darüber weitere Gedanken zu machen. Ihm schwirrte genug Krempel im Hirn herum.
 

Zu allererst musste er sich um seine Cousine und Kannar kümmern. Am Morgen verabschiedete er sich von den Tevvys und Marus, insbesondere von Narya, die wieder glucksend an seinem hals hing und die dafür einen kurzen Kuss bekam. Und wenn er sich nicht schnell von ihr gelöst hätte und gegangen wäre, so hatte er das Gefühl, sie wäre am liebsten auf offener Straße noch mal über ihn hergefallen, vor all ihren Verwandten, so intensiv, wie sie seinen Kuss erwidert hatte. Eine seltsame Nymphomanin schien sie zu sein, dachte er bei sich.

Da er Alona jeder Zeit finden konnte daheim, wollte er zuerst nach Kannar sehen. Er fand seinen Freund in der Apotheke seines Vaters und er war fleißig am Arbeiten, sortierte Medikamente in Schränke und portionierte von seinen Eltern hergestellte Medizin in Flaschen und Dosen. Zuerst warf er Puran einen Blick zu, dann tat er, als wäre er Luft.

„Kannar, ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen,“ begann sein Freund ehrlich. Kannar grunzte.

„Reichlich spät. Ist dir über Nacht eingefallen, wie bekloppt du dich aufgeführt hast?“

„Schon vorher – sag mal, willst du meinen Standpunkt eigentlich nicht verstehen? Ich weiß, dass ich überreagiert habe, dass es falsch war und dass-…“

„Ja, leicht überreagiert,“ zischte der Heiler. „Hältst du mich echt für einen perversen Wichser, der ein junges Mädchen sofort ficken will?! Das hat mich ehrlich gesagt viel mehr entsetzt als dass du uns beim Tee trinken gestört hast.“

„Ich… ich weiß doch, ich… ich bin in der letzten zeit gestresst und verwirrt, Kannar! Das ist keine Entschuldigung, ich weiß, aber – du… weißt doch innerlich auch, dass ich… dir das niemals allen Ernstes zutrauen würde. Oder? Es… tut mir leid, was ich gesagt und gemacht habe gestern, es war unrecht.“

Kannar seufzte.

„Entschuldige dich mehr bei Alona…“ murmelte er, „Ich glaube, für sie war das schlimmer. Ich hab’s dir gestern nicht gesagt, aber diese Male, die wir uns getroffen haben – abgesehen vom ersten Mal in Tuhuli – war meistens sie es, die mich gefragt hat, ob ich nicht Zeit hätte. I-ich meine…“ Jetzt wurde er plötzlich rot, „Ich habe keine Ahnung, ob sie… ob sie… echt das von mir will was… Mädchen nun mal wollen, wenn sie so sind-… ich meine… ich? Wieso ich, ich bin weder überaus hübsch noch talentiert… und wir sind vom selben Stand.“ Puran sah ihn erstaunt an.

„W-was?“ japste er, „Moment, du meinst… Alonachen ist… ich meine, denkst du, sie ist in dich verknallt?“ Kannar hüstelte.

„Nicht, dass ich damit angeben wollte – ich meine nur, sieht es nicht danach aus? Ich bin ja nicht völlig dumm, weißt du…?“ Die Jungen sahen sich bedröppelt an.

„Und was sagst du dazu?“ murmelte Puran dann, „Was, wenn es so wäre?“ Sein Freund errötete verlegen, räumte die letzten Dosen mit Medizin weg und kam hinter dem kleinen Tresen hervor.

„Ich… fühle mich zu unrecht geehrt, sowas verdiene ich Depp gar nicht. Ich meine, aus ihr wird eine bildhübsche Frau werden und sie ist klug… ich kann jetzt Pause machen. Gehen wir eine rauchen? Ich sterbe hier drinnen.“ Puran nickte schweigend und nachdem Kannar nach einer Mutter gebrüllt hatte, sie solle sich um den Rest kümmern, gingen sie hinaus. Während sie rauchend durch das Dorf wanderten und sich beide fragten, wer eigentlich den Tee bezahlt hatte, als sie am Teehaus vorbeikamen, fuhr Puran dann verlegen fort.

„Kannar, ich… will noch etwas klarstellen. Wir reden nicht mehr über Alona – sie ist alt genug um selbst zu entscheiden. Wenn ihr beide euch… eben mögt, dann… dann mögt ihr euch. Ich werde mich da nicht zwischen stellen, weil-… du mein Freund bist und… ich sie lieber dir gebe als irgendeinem Arsch, den ich nicht kenne.“ Der Heiler gluckste.

„Aha, gestern klang das aber noch anders, dir hat wohl jemand das Gehirn gewaschen…“

„Wenn, war es Naryas Schuld,“ grummelte der Ältere perplex und Kannar verschluckte sich mit dem Rauch der Zigarette und hustete.

„Wie, Narya, bist du bei ihr gewesen?“ Er fing dreckig an zu lachen. „Also der nächste Depp, den sie in ihrem Bett hatte?“

„Nur, weil ich sage, sie hätte Schuld, heißt das nicht, ich wäre in ihrem Bett gewesen.“

„Dein Gesicht sagt alles. Verdammt, du hast sie gefickt, oder?“

„Du liebe Zeit, sowas sagst du auf der Straße – meine Tante wimmelt hier manchmal überraschend herum…“ sagte Puran hüstelnd, „Hattest du nicht auch inzwischen dein Blutritual?“

„Ja, klar, aber im Gegensatz zu dir oder anderen muss ich deswegen nicht dauernd vögeln,“ gluckste der Heiler und Puran brummte errötend.

„Hallo, das war doch nur einmal! Na ja, zwei-… ach, eine Nacht, basta. Lass mich doch, ich mach das halt gern! Wer hat dein Ritual gemacht?“

„Die fette Nachbarin,“ machte sein Kumpel missmutig, „War nicht so berauschend, aber na ja, ich war sternhagelvoll und hab mir vorgestellt, statt der fetten Tante ihre Tochter zu nageln, die ist viel hübscher, leider ist sie hochschwanger und kann daher nicht…“

„Na, kein Wunder, dass du nicht so darauf aus bist…“

„Siehst du? Warum sollte ich also deine Cousine ficken wollen? Ich meine, ich würde sie definitiv zehnmal der fetten Nachbarin vorziehen, das gebe ich zu, aber so insgesamt… verdammt, du hast das letzte Fest in Tuhuli gar nicht mitgekriegt, oder, obwohl du da warst? Das, wo ich Alona heim gebracht habe, da war die Hölle los, in unserem Jahrgang und der Umgebung waren irgendwie fast alle auf Orgien aus, das war entsetzlich. Du hättest Travi sehen sollen.“

„Er hat’s doch hoffentlich nicht auf der Straße getrieben? Ich würde mich für ihn schämen…“

„Das nicht, nein, aber das letzte Mal, dass ich ihn an dem Tag gesehen habe, hatte er von irgendwo eine Flasche Wein geklaut und um sich herum drei gackernde Weiber, die an ihm hingen und quasi dabei waren, ihn auszuziehen, irgendwie sind sie in irgendeine abgeschiedene Gasse verschwunden, hat mich nicht weiter geschert… aber ich war leicht verwirrt…“
 

Während Kannar offenbar einen versöhnlichen Tag hatte, war Alona bockiger. Aber ihr Cousin war es gewohnt, dass sie bockig war, und dagegen half meistens Hartnäckigkeit. Sein Vater hatte sich gelegentlich beschwert, wie furchtbar es wäre, wenn die Kinder sich stritten, da alle beide stur waren wie zwei alte Esel. Dass Puran das von seiner Mutter hatte, war ihm klar, er wunderte sich nur, von wem Alona das hatte bei ihren netten Eltern.

„Du denkst, mit einem einfachen Tut mir leid ist alles vergessen und vergeben?“ empörte Alona sich lauthals, und ihr Cousin duckte sich unter einem Buch hinweg, das sie nach ihm warf. „Du hast sowohl mich als auch Kannar beschämt, lass mich doch einfach! Am besten gehst du mir aus den Augen für den Rest deines Lebens!“

„Jetzt übertreib mal ni-… aahh! Bist du verrückt?!“ Er duckte sich entsetzt erneut, als sie mit einer zum Glück nicht brennenden Öllampe nach ihm warf und diese zu Boden stürzte und kaputt ging. „Alona, jetzt reiß dich mal zusammen!“

„Du hältst deinen eigenen Freund für einen Ficker und mich für eine Nutte, die gefickt werden will!“ schrie das Mädchen und es war ihr egal, ob sie jemand hören würde. „Ich bin eine Frau von Rang und Ehre, ich lasse mich nicht auf solche Niveaus herab!“

„Von wegen Frau, du – aahh!“ Er hechtete keuchend zur Seite, als sie noch drei Bücher nach ihm warf, das letzte traf ihn am Hinterkopf und warf ihn glatt durch die Wucht zu Boden. Er drehte sich stöhnend auf den Rücken und rieb sich die Beule am Kopf, ehe er zu Alona hoch sah, die wutentbrannt und hochrot im Gesicht in ihrer Zimmertür stand.

„Du hast keine Ahnung von meinen Gedanken und Gefühlen, ich will nicht, dass du dich weiter einmischst!“ schnappte sie, „Lass mich doch! Ich bin erwachsen genug, um alleine klar zu kommen, Puran!“ Er rappelte sich auf und das Mädchen stutzte, als er sie plötzlich kaltblütig ansah mit einem Blick, den sonst höchstens seine Mutter kannte.

„Sage, was du magst, du bist ein Mädchen, Alona,“ sagte er dumpf. „Du verhältst dich mit deinem kindischen Gezeter und Gemecker jedenfalls nicht im Entferntesten wie eine erwachsene Frau, also reiß deine Klappe nicht so weit auf und finde deinen Platz in der Familie!“

Sie schwieg und senkte für eine Weile den Kopf, während er mürrisch nach Luft schnappte und versuchte, seine ruinierte Frisur zu richten. Was bildete die sich ein?

„Ich habe mich entschuldigt und weiß, dass ich mich daneben benommen habe. Ich habe mit Kannar gesprochen und ich werde euch sicher nicht mehr im Weg sein. Mehr kann ich nicht tun, Alona, dass du trotzdem noch herum krakeelst ist nicht recht und absolut überflüssig,“ erläuterte er seine harschen Worte und die Cousine sah ihn trotzig an.

„Du bist eindeutig der Sohn deiner Mutter,“ sagte sie, „Wenn du wütend bist, habe ich Angst vor dir, Puran.“ Er sagte nichts und sie senkte den Kopf wieder und fing an, ihre langen Haare um ihre Finger zu drehen. „Gut, ich nehme deine Entschuldigung an. Am besten, wir sprechen nie wieder darüber.“ Sie wollte sich abdrehen und weggehen, aber er hielt ihr handgelenk fest und sah sie jetzt wieder ruhiger an. Dann räusperte er sich.

„Du hast Kannar sehr gern, oder?“ Er wagte es einfach mal, direkt auf sie loszugehen und sie reagierte quasi so, wie er erwartet hatte, als sie errötete und sich peinlich berührt aus seinem Griff wand.

„Geht dich doch nichts an!“ schnappte sie und er musste grinsen. Also Volltreffer.

„Ist gut,“ sagte er und hob abwehrend die Hände, als sie ihn schon funkelnd anstierte, „Ich sage nichts weiter. Zu niemandem.“ Mit einer wohlerzogenen Kopfneigung ließ er sie allein und das Mädchen schloss verlegen seine Zimmertür, ließ sich auf ihr weiches Bett fallen und drehte verlegen ihre Haare weiter. Plötzlich fühlte sie sich weitaus weniger erwachsen als sie es gerne hätte.
 

Der Sommer war heiß. Obwohl der Sommermond, der Hochsommer in Dokahsan, sich schon dem Ende neigte, blieb es erbarmungslos heiß im Land. Die Sonne schien das ganze Land verbrennen zu wollen; nicht nur im Norden der Welt war es heiß, ganz Kisara und auch die Nachbarländer litten unter der grausamen Hitze. Die drückende Luft war quälend und beunruhigend.

Puran hatte mitunter das Gefühl, wenn er träumte, dass er dem Ende der Welt zu greifen nahe käme. Er hatte das Gefühl, den Arm ausstrecken zu können und es erwischen zu können, das Ende und die Bedeutung dieser Worte, die ihn seit seiner Kindheit jagten. Doch jedes Mal, wenn er es versuchte, wenn er nach den Antworten greifen wollte und beinahe soweit war, den Flammenregen und die Spirale zu erfassen, dann verblassten sie plötzlich in einer endlosen, grauenhaften Schwärze, die ihn noch viel mehr beunruhigte als es jeder Schatten zuvor je getan hatte. Und die Geister lachten ihn aus und gackerten:

„Du bist noch kein Herrscher der Geisterwinde, Puran! Du bist noch nicht soweit, es zu begreifen!...“
 

„Dann macht mich doch dazu!“ brüllte er aufgebracht, als er aus dem unruhigen Schlaf hochfuhr, und er sprang wie vom Fuchs gebissen aus dem Bett und schrie die Geister aus dem offenen Fenster heraus an. „Dann macht doch aus mir, was ihr mir vorbestimmt habt, statt mich anzugackern und mich in der Dunkelheit wandeln zu lassen wie einen blinden Bettler! Ihr wahnsinnigen Ausgeburten der Himmels- und Erdmächte! Ihr Scharlatane, ihr solltet mir zu Füßen liegen und ich sollte euch lenken! Ihr lacht über mich, nicht wahr?! Der dumme Junge, der jahrelang seine Bestimmung als Schamane nicht anerkennen wollte, ja, ach, lacht ihr nur! Ich werde kommen und euch zerfetzen, wenn ihr mir verschweigt, was ich tun soll! Gebt mir das Ende der Welt, los doch!“ Wutentbrannt riss er beide Arme hoch und streckte sie zur Seite aus, „Hier bin ich, ihr verdammten Narren! Wo ist das Ende der Welt?! Was wollt ihr von mir, ihr Rätselsteller?!“ Er schrie und fluchte und schimpfte, doch die Geister antworteten ihm nicht und schwiegen still. Wutentbrannt raufte er sich die wuschigen Haare und rannte immer noch lauthals fluchend und brüllend in seinem Zimmer auf und ab, bis seine Stimme versagte und er nur noch husten konnte. Stöhnend lehnte er sich erschöpft gegen den Kleiderschrank im Zimmer und atmete heftig ein und aus. Ihm war heiß und er fuhr sich mit den Fingern über die verschwitzte Stirn, als die gewohnten Schwindelanfälle und die Übelkeit ihn übermannten, die er oft verspürte nach den grausigen Träumen.

Als er im Bad war, kam seine Mutter. Noch japsend über das Waschbecken gebeugt fuhr er sich mit der hand über die zitternden Lippen und sah sie verstört an, wie sie da stand in ihrem Morgenmantel und ihn ernst anblickte.

„Schrei nicht,“ war alles, was sie sagte. Er schnappte verzweifelt nach Luft. Die Übelkeit am zurück und er erbrach sich erneut, ehe er fluchend den Kopf zu ihr drehte.

„Wie soll ich nicht schreien?! Sag es mir! Ich werde wahnsinnig, jede verdammte Nacht werde ich wahnsinnig! Mein Körper hält das nicht aus, ich bin an der Grenze meiner Kräfte! Ich habe verflucht noch mal allen Grund, zu schreien! Mir ist kotzübel und ich habe das Gefühl, mir die Seele aus dem Leib zu würgen, reicht das?!“

„Puran, du wirst es so nicht besser machen!“ erwiderte sie sanft und kam zu ihm. Ihre Hand strich durch seine Haare, als er sich verzweifelt japsend am Becken abstützte und unverhofft zu weinen begann.

„I-ich kann das nicht! Das ist mir zu viel, ich ertrage das nicht mehr, versteh das doch, Mutter! Was… w-was verlangen die Geister von mir?! Ich bin gerade eben erwachsen und ich bin kein Sprachrohr für die Geister! Warum verdammt noch mal ich und nicht irgendein anderer Depp?!“ Nalani wollte erst irgendetwas Strenges antworten, aber sie ließ es. Stattdessen umarmte sie ihr Kind liebevoll und strich ihm über den Kopf.

„Die Geister sind launisch, mein Sohn,“ sagte sie leise, „Sie zeigen mir auch nichts, was mir weiterhelfen würde. Auch nicht deinem Vater, falls dich das tröstet. Du musst geduldig sein und du wirst innere, geistige Ruhe brauchen, wenn du die Träume verstehen willst. Du siehst… den flammenden Regen noch immer, nicht wahr? Und das Ende der Welt… es ist nahe, ich spüre es auch. Schon Zoras Chimalis hat davon geträumt und es nicht begriffen. Vielleicht wollen die Geister bis zum letzten Moment hinauszögern, uns die Antwort zu offenbaren… ich kann es dir nicht sagen. Gräm dich nicht, Puran… diese Machtlosigkeit geht vorüber.“

„Das sagt ihr seit Jahren,“ stöhnte er, „Wann ist es dann endlich vorüber?“ Er löste sich aus ihrer Umarmung und sah verlegen zu Boden. Allmählich flaute das Schwindelgefühl ab und zurück blieben Kopfschmerzen. Nalani strich ihm über die heißen Wangen.

„Schlaf,“ riet sie ihm leise lächelnd. „Ruh dich aus. Mach dich nicht kaputt durch die Sorgen deines Geistes… du wirst noch lange Zeit heil sein müssen in Zukunft, Puran, mein Sohn.“
 

Er fand wenig Schlaf. Die Visionen kehrten zwar nicht zurück, dafür kamen bekannte Gesichter zurück, die er entweder fürchtete oder begehrte. Nachdem er von seinem grausigen Großvater geträumt hatte und von dem Verräter Denmor, der Großvaters Spion gewesen war, sah er die süße Cholena, die ihn anstrahlte und vor ihm einen gleichzeitig lieblichen wie auch erotischen Tanz tanzte. Sie bewegte sich leicht mit einem sanften Windstoß vor seinen Augen, nie sein Gesicht aus den Augen verlierend. Hinter ihr ging eine glühende Sonne auf, als sie kichernd den Kopf in den Nacken lehnte und ihn mit einem zärtlichen Seufzen an ihren Körper heran zog. Er spürte dieselbe Vertrautheit wie vor einem Jahr am Undim, als er sie mit den Händen berührte. Ihre Haut war weich und sie fasste ihn neugierig an und kicherte mädchenhaft, als sie ihn dazu aufforderte, in sie einzudringen und sie zu lieben wie eine Frau.

„Spürst du es nicht auch?“ wisperte sie dabei, „Diese Vertrautheit zwischen uns…? Es fühlt sich so schön an… und warm…“ Sie hängte sich übermütig an seinen hals und küsste ihn wild, und er drückte sie auf die von der Blutsonne rot gefärbte Erde und schlief mit ihr, bis sie unter ihm vor Verlangen keuchte und den Kopf heftig zurückwarf…

Ein weiteres Mal wachte er japsend auf, dieses Mal aber nicht vor Panik. Der Morgen war gekommen. Verlegen drehte er sich im Bett um, als er sich an den vergangenen Traum so deutlich erinnerte, als hätte das Mädchen tatsächlich als Frau unter ihm gelegen. Er war noch hart vor Erregung und stöhnend rollte er sich wieder auf die Seite, sich fragend, ob es gut oder schlecht war, dass er jetzt perverse Träume von Cholena träumte statt von Ruja.
 

Als ihn die stickige Luft im nervte, ging er hinaus, obwohl es draußen genauso schwül und heiß war wie drinnen. Er sah verblüfft, dass tatsächlich eine Blutsonne aufgegangen war an dem Tag, und er wunderte sich, was das zu bedeuten hatte. Die Sonne hatte eine ungesunde, kränkliche Farbe und tauchte den Himmel in ein verpestetes Gelb.

„Irgendwas… ist hier nicht in Ordnung,“ murmelte der Junge beunruhigt und starrte nach Südosten, ehe er mitten auf dem Weg nach Gahti stehen blieb und mit einem Mal hinter sich einen erschrockenen Schrei hörte. Er fuhr noch herum, da war es schon zu spät, denn plötzlich prallte etwas gegen ihn und warf ihn um zu Boden, worauf er auch schrie, allerdings vor Schmerz. Auf ihm landete ein weiches Etwas, beim genauerem Hinsehen erkannte er ein junges Mädchen… und japste entsetzt auf.

„Himmel und Erde – Cholena!“

Cholena Dabovi setzte sich errötend auf und saß damit auf seinem Unterleib, ehe sie sich sitzend verneigte.

„E-entschuldige!“ stammelte sie, „Du bist ja hier! Ich, ich, ich kam den Hügel herab und habe dich nicht rechtzeitig gesehen, entschuldige! Ich war so verträumt und… und, ach! Oh je, hast du dir wehgetan…?“ Er starrte sie fasziniert an, während sie kirschrot wurde und dabei dennoch wunderschön aussah. Er wurde ebenfalls etwas rot im Gesicht, als er sie ansah und sich fragte, was wäre, wenn sie wüsste, dass er in der vergangenen Nacht ausgerechnet von ihr geträumt hatte?

Vielleicht war der Traum en Zeichen gewesen…

„Ähm… also… geh doch erst mal runter von mir, dann… ähm, reden wir weiter…“ lachte er verpeilt und sie quiekte entsetzt, sprang auf und verneigte sich noch zehnmal. Er rappelte sich auf und klopfte sich den Dreck von der Hose, ehe er sie wieder ansprach. „Also… ich… freue mich, dich zu sehen. Wohin wolltest du denn so eilig?“ Das Mädchen strich sich verlegen durch die blonden Haare.

„Ehrlich gesagt… wollte ich zu dir,“ flüsterte sie lächelnd. Er sah sie verdutzt an.

„Was?“

„Na ja, ich… meine… du hast einmal gesagt, wenn ich möchte, könnte ich zu dir kommen! Und ich… habe vor allem in den vergangenen Tagen und Nächten viel an dich gedacht…“ Er räusperte sich verlegen. Du liebe Zeit – es musste wirklich ein Zeichen der Geister sein! Er sah sie lange an, während sie noch etwas vor sich hin murmelte und ganz scheu zu sein schien. Scheu aber auf ihre Weise auch anmutig und dabei niedlich. Die blonden Locken umrahmten ihr hübsches Gesicht verspielt und ihre Hände kneteten offenbar unruhig an ihrem Kleid herum. Sie war eine richtige junge Dame geworden, fiel ihm auf… sie hatte die Rundungen einer erwachsenen Frau und sie war etwas gewachsen. „Was ich sagen wollte, ich…“ sprach sie da und riss ihn aus seinen Gedanken, und er sah ihr ins Gesicht und ihre nussbraunen Augen. „Ich wollte… dich unbedingt sehen. Ich wollte dich schon gestern sehen und ich habe so viel an dich gedacht, habe mich aber nicht getraut, echt zu gehen! Und heute Morgen habe ich mich so sehr nach dir gesehnt, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe! Ich hatte das Gefühl, ich müsste platzen, wenn ich nicht sofort zu dir könnte und – dir etwas Wichtiges sagen könnte, Puran!“

Jetzt war er aber gespannt.

„W-was? Cholena, bitte, das ist doch zu viel der Ehre, so toll bin ich wirklich n-…“ Sie unterbrach ihn und errötete wieder, als sie den Kopf neigte und nach Luft schnappte.

„Ich bin ganz furchtbar verliebt in dich!“ sagte sie laut genug, dass er es sehr deutlich hören konnte, „Ich… möchtest… möchtest du mit mir gehen, Puran?“
 

Puran konnte sie einen Moment nur anstarren. Was sagte sie da? Einfach so? Moment, was bedeutete das, was sie da sagte?

Sie wollte seine Freundin sein… sie wollte mit ihm zusammen sein. Sie war verliebt in ihn. Er wusste nicht, was es war, das er fühlte, aber es kam ihm plötzlich vor, als würden sich sämtliche Organe in seinem Inneren herumdrehen und Purzelbäume schlagen. Es fühlte sich komisch an, nicht richtig unangenehm, aber eigenartig, und plötzlich spürte er einen heißen Schauer über sich fahren. Es kribbelte ganz furchtbar und plötzlich spürte er mehr denn jemals zuvor das dringende Verlangen, sie zu umarmen. Sie liebte ihn – er hatte nie etwas gesagt bekommen, das in ihm heftigere Gefühle ausgelöst hatte als das. Es war so schön, dass er nicht wollte, dass es je aufhörte…

Cholena missverstand sein Zögern und sah etwas verlegen hinunter.

„I-ich, es… es war ungehobelt von mir, oder? Ein Mädchen verlangt sowas nicht, das… es… i-ich wollte nicht-… ich meine-…!“ Er hielt ihre Hände fest, als sie sich zitternd abwenden wollte. Als sie ihn ansah, sah er in ihren Augen eine kleine Welt, die dabei war, zusammenzubrechen.

„Warte,“ keuchte er heiser, „Du… du möchtest das wirklich? Ohne Quatsch? Ich…“ Er sah in der kleinen, schönen Welt in Cholenas Augen einen Hoffnungsschimmer aufglühen. „Ich würde mich über alle Maßen geehrt und stolz fühlen, dich… zur Freundin zu haben, wenn ich ehrlich bin.“ Ohne dass er es kontrollieren konnte musste er grinsen, weil er plötzlich so berauscht war von dem Glücksgefühl, das ihn durchströmte, als er ihre Hände hielt. Sie waren zart und warm…

Cholena errötete und erstrahlte dann wie eine kleine Sonne. Die Welt in ihren Augen erblühte wie ein Feld im Frühling.

„Das… ist der wundeschönste Tag meines Lebens!“ wisperte sie dann, „Ich fasse gar nicht, dass ich mich wirklich getraut habe, dich zu fragen! U-und du Ja gesagt hast! Das ist… ist… ich bin so glücklich und so-… so…!“ Er unterbrach sie, weil sie keine weiteren Worte fand, und gluckste amüsiert über ihren aufgeregten Redeschwall.

„Shhh…“ machte er leise, „Sprich jetzt nicht.“ Sie wurde wieder rot, als er mit den Fingern ihr Kinn hoch zog und sie dann ganz zärtlich auf die weichen, rosa Lippen küsste. Hauchzart wie ein Frühlingsmorgen war der erste Kuss, den sie teilten, und Cholena umarmte glückselig seinen Nacken und gab sich ihm hin, als er sie dichter an sich heranzog. Er spürte ihre Wärme ganz dich bei sich, es fühlte sich richtig und gut an… zum ersten Mal, seit er aus Tuhuli zurück war, hatte er das Gefühl, dass etwas richtig war, dass etwas so war, wie es sein sollte. Er wollte, dass es nie aufhörte…
 


 

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spannender Titel, aber hey... passt xD Btw, wir haben Ende Juli 975. Etwas mehr als ein jahr vor Beginn des Krieges gegen Zuyya.

Die Unruhe der Mutter Erde

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Das Flüstern der Windkinder

In der folgenden Nacht kehrten die Träume und das Himmelsfeuer mit ungeahnter Heftigkeit zurück. Obwohl er es schon seit Jahren und unzählige Male gesehen hatte, erschreckte Puran das grauenhaft blendende, bösartige Feuer der Zerstörung, das vom Himmel regnete, ebenso wie die zischenden und raunenden Stimmen im Wind und in der Finsternis. Bevor der Traum über ihm mitsamt dem bluttriefenden Himmel zerplatzte und sich ein Schwall von Grauen über ihn ergoss, sah er erneut die weiße Spirale, die in den Schatten stürzte, gefolgt von entsetzlichen Schreien von bekannten Stimmen, die er aber trotzdem nicht einordnen konnte…
 

„Nein!“ japste er und fuhr keuchend aus dem Schlaf hoch. Einen Moment saß er heftig atmend in seinem Bett und starrte in die menschenleere Dunkelheit seines großen Zimmers. Cholena schlief an jenem Tag in ihrer eigenen Hütte – sie konnten schließlich nicht von früh bis spät wie Kletten aneinander hängen. Wobei er sich plötzlich nach seiner schönen Freundin sehnte und sich wünschte, sie wäre jetzt bei ihm, um mit ihm zu reden und ihm klar zu machen, dass der Traum vorbei war.

Sein Herz pochte noch immer, als er sich aus dem Bett rollte und unruhig ins Badezimmer ging, um etwas zu trinken zu holen. Er hatte so oft denselben Traum geträumt, und dennoch beschlich ihn nach jedem davon dieselbe, kalte Angst, das grauenhafte Gefühl, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte, wenn er an die weiße Spirale dachte.

Finsternis… so viel davon. Und Feuer.

„Sprecht doch deutlich, Himmelsgeister,“ stöhnte er ermüdet, als er im Badezimmer stand und Wasser in seinen Rachen kippte, um wieder klar denken zu können. Ihm schwindelte und für einen Moment wurde das Flüstern in seinem Kopf lauter… es wurde so laut, dass er plötzlich glaubte, jemand wäre bei ihm im Raum. Von einer unerklärlichen Panik ergriffen wirbelte er herum. „Sprecht doch!“ schrie er verzweifelt, „Zeigt mir doch deutlich, was ihr zu sagen habt, und hört auf zu spielen! SPRECHT!“ Vor seinen Augen flammte für den Bruchteil eines kurzen Moments das Bild seiner süßen Cholena auf, lächelnd, aber mit leblosen, leeren Augen wie die einer Puppe, dann wurde ihm unversehens schwarz vor Augen.
 

„Bist du gesund?“

Puran öffnete stöhnend die Augen und fand sich am Boden des Badezimmers liegen. Sein Kopf lag auf einem Paar Oberschenkeln und als er das Gesicht benommen drehte, sah er erstaunlicherweise nicht seine Mutter, wie er erwartet hätte, sondern Alona, seine Cousine.

„Wie lange war ich weg…?“ murmelte er und versuchte, sich hinzusetzen. Sie verbot es ihm.

„Liegen bleiben,“ sagte sie. „Keine Ahnung, ich habe den Bumms gehört, als du umgekippt bist, ich kam her und du lagst auf dem Boden. Dein Kopf tut sicher weh… was ist passiert?“

„Cholena…“ stöhnte er verwirrt und erhob sich gegen ihren Willen doch, „I-ich, ich habe sie gesehen, es war – es war kein guter Traum! Ich muss nach ihr sehen, jetzt gleich, ich-…“ Alona schnaufte.

„Du wirst schön hier bleiben!“ Sie hielt ihn am Hosenbein fest. „Du hast nach dem Sturz sicher eine Gehirnerschütterung, du gehst auf keinen Fall mitten in der Nacht nach Rathuk! Dass ich als Zwölfjährige dir sowas sagen muss, wirklich…“ Wie sie erwartet hatte hielt er inne und errötete kurz. Ihm wurde wieder schwindelig, als er länger schweigend da stand, und er stützte sich stöhnend an der Wand ab.

„Es ist übel, was auf uns zukommt, Alona…“ murmelte er, als sich das Mädchen auch erhob. „Ich weiß nicht, warum und was es ist, aber ich… ich habe seit Monden… ein schlechtes Gefühl, als würde uns allen… ein grauenhafter Tod aus Feuer und Schatten bevorstehen.“ Seine Cousine sah ihn einen Moment schweigend an.

„Ich spüre es auch…“ murmelte sie, „Ich glaube, die Unruhe von Himmel und Erde ist so stark, dass selbst Nichtmagier sie spüren können… es ist wirklich unheimlich…“ Sie wirkte für einen Moment zerbrechlich und schutzlos, seine sonst so tapfere, freche Cousine, die so klug war und kein Blatt vor den Mund nahm… Puran verwirrte ihre Angst ebenso sehr wie ihn seine eigene verwirrte. Wo war die kratzbürstige Alona, die er kannte?

Nein… sie war Alona… sie wurde nur langsam erwachsen.

„Was mich wundert…“ murmelte er dann, als ihm immer noch komisch war und er sich fester abstützen musste, um nicht wieder umzukippen, „Du bist gekommen… warum ist Mutter nicht gekommen? Sonst ist sie doch immer die Erste, die instinktiv auf den Beinen ist…“
 

Als Tabari zurück nach Vikhara kehrte, war der Herbst halb vorüber. Statt zuerst zum Schloss zu fahren, fuhr er nach Tuhuli, um seine Arbeit zu machen. Er war gleichermaßen froh und erstaunt darüber, vor dem Ratsgebäude Meoran anzutreffen.

„Nanu?“ begrüßte der Herr der Geister seinen Kollegen und Meoran neigte höflich vor dem Älteren den Kopf.

„Willkommen daheim, mein Freund,“ sagte er förmlich. „Ruja hat gesehen, du würdest heute kommen. Du siehst furchtbar aus, die Reise war sicher anstrengend.“

„In der Tat,“ meinte der Blonde erschöpft und fuhr sich ein paar Mal durch die krausen Haare. „Die Leute in Vialla sind überaus anstrengend – hast du mal probiert, die Hochsprache zu sprechen?! Versuch das bitte mal und beweise mir, dass auch du es nicht kannst – ich kann es nämlich definitiv nicht, wie schaffen die da unten das, unsere Einheitssprache so anders zu sprechen?“

„Nein, nein, wir sind die Landeier, die es anders sprechen,“ grinste Meoran beschwichtigend, „Die Hochsprache ist die Einheitssprache in ihrer reinen Form, wir hier im Norden sprechen unseren eigenen Dialekt, genau wie sicher jede Region Tharrs ihren Dialekt und Akzent hat. Aber falls es dich beruhigt, mir fällt es auch sehr schwer. Mein Onkel konnte die Hochsprache perfekt aussprechen, er hat sich schon als Kind geweigert, unseren Bauerndialekt zu sprechen, hat mein Vater mal erzählt. Ich glaube, Onkel Zoras war ganz schön eingebildet, haha…“

„Und ein weiser Mann, wenn er das konnte…“ seufzte Tabari. Der Jüngere klopfte ihm auf die Schulter.

„Gehen wir einen trinken und du erzählst mir vom Senat in Vialla… was ist passiert mit den Verhandlungen mit Zuyya und Ela-Ri?“
 

Es sah nicht gut aus.

„Diese Vollpfosten!“ stöhnte der Herr der Geister niedergeschlagen und orderte eine neue Teekanne an den kleinen Tisch, an dem er mit seinem Freund in der Teestube Tuhulis saß, „Natürlich kriechen wir nicht vor den Zuyyanern, die uns technisch nicht nur haushoch, sondern so hoch wie das D’anbahr-Gebirge überlegen sind, beleidigen den komischen neuen Kaiser und so… richtig so, genau!“ Meoran seufzte ob des Sarkasmus’ in Tabaris Stimme. Das war zu erwarten gewesen.

„Solange die Zuyyaner samt ihrem mordenden Kaiser auf ihrer Zuyya bleiben, können sie mich gerne kreuzweise,“ sagte er dann, „Das bedeutet, der Senat in Vialla hat dir nicht zugehört und sie wollen nicht wahrhaben, dass wir alle hier schlechte Zeichen sehen? Pff… es ist so bedauernswert. Früher, als die Menschen noch in Stämmen lebten, war der Zauberer des Stammes der wichtigste Mann überhaupt, auf den haben alle gehört… welch ein Desaster das doch heutzutage ist.“

„Hmm,“ machte Tabari dazu zustimmend und nippte an seiner fast leeren Teetasse. „Wo bleibt der neue Tee, verdammt? – Ja, es ist überall auf der Welt anders. Der Anteil der Bevölkerung Tharrs, der Schamane ist, ist nicht klein Und dennoch sitzen wir so weit unten in der Fresskette. Man traut sich zwar nicht, uns öffentlich anzugreifen, aber in der Politik haben Schamanen nichts zu suchen, so war es schon immer.“ Die Bedienung brachte neuen Tee. Die Männer bedankten sich und während Tabari ihnen beiden einschenkte, fuhr Meoran fort.

„Was passiert mit dem Schattenland im Osten? Meine Träume haben mir nichts Gutes gesagt. In Vialla nehmen… sie das Wort Ela-Ri nicht erst in den Mund. Wir müssten mit dem regierenden Clan von Tejal sprechen, aber an den kommen wir nur heran, wenn wir das Schlangenmeer überqueren – das tut doch keiner freiwillig, ich schon gar nicht!“ Er lachte nervös. Tabari nickte.

„Die Geister sind launisch,“ sagte er. „Ich habe auf der Rückfahrt zwei Tage und zwei Nächste damit verbracht, sie anzurufen und zu fragen, welcher Bedrohung wir uns dringender zuwenden sollen… sie antworten mir nicht, Meoran. Ich bin am Ende meines Verstandes, so fürchte ich. Du bist klüger als ich… was sollen wir tun?“ Meoran lachte.

„Ich? Klüger? Ich bitte dich, Tabari… du bist von uns beiden der Herr der Geister.“ Der Blonde schnaubte.

„Aber was, verdammt noch mal, soll ich tun?! Herr der Geister, das ist nur ein Amtstitel, so wie König oder Gouverneur einer ist! Ich bin Vorsteher eines Rates, mehr nicht. Das heißt nicht, dass ich klüger wäre als alle anderen. Was… sollen wir machen, Meoran?“

Meoran nippte seelenruhig an seinem Tee, ehe er den Kopf wieder hob und zufrieden grinste.

„Das musst du deine Nalani fragen, so denke ich.“
 

Die Frau sah sich selbst im Schatten stehen, hinter ihr brannte das Land. Vor sich sah sie den Schatten eines Mannes, in seiner Hand tanzte die knöcherne Spirale. Sie erkannte sein Gesicht nicht, weil es von Finsternis verhüllt war. Aber sie hörte eine sehr wohl bekannte und verhasste Stimme in ihren Ohren zischen, die sprach:

„Hast du Angst, Königin der Königinnen?“

„Nein!“ rief sie und fuhr herum, um mit dem Schattenschwert Kadhúrem nach dem Spiralenmann vor sich zu schlagen. Der Schatten verflog und sie spürte den eisigen Atem eines grausamen Todes in ihrem Nacken, der mit der Stimme ihres Schwiegervaters zischte.

„Du kannst nicht davonlaufen, Nalani… ich werde es verhindern. Ich bin der König von Lyrien! Und du wirst… schon bald auf dem Boden zu meinen Füßen kriechen und dir wünschen, alles wäre anders gekommen!“

Als Nalani aus ihrem Tagtraum erwachte, war sie in ihrem Sessel in sich zusammengesackt und die Schriftrolle war ihr zu Füßen gefallen. War da nicht ein Geräusch gewesen?

„Was machst du denn hier oben?“ wurde ihr Verdacht in dem Moment verdutzt bestätigt und sie richtete sich hüstelnd wieder in ihrem Sessel auf. Tabari war zur Stubentür hereingekommen. Wie lange hatte sie geschlafen…? Draußen dämmerte es.

„Du bist wieder da,“ stellte sie schlau fest und erhob sich, „Willkommen daheim.“

„Wo hast du Kiuk gelassen?“ fragte ihr Mann glucksend, während er sich bückte und ihr half, die heruntergefallenen Schriftrollen und Pergamente aufzusammeln. „Sonst macht ihr euren Stammbaum-Kram doch immer zu zweit?“

„Nein, dieses hier nicht…“ murmelte sie, „Ich suche… immerzu nach Antworten auf eine Frage, die ich nicht mal kenne…“ Er sah sie verwundert an, als sie sich erschöpft mit den Händen über das Gesicht fuhr. Sie sah gerädert aus, anders als er sie kannte. Ihre Augen waren offenbar vor Schlaflosigkeit unterlaufen und ihr Gesicht aschfahl.

„Lass mich dir doch helfen, du sture Frau,“ seufzte er, „Was kann ich tun, Nalani, um dich zu entlasten? Ich weiß auch nicht, was geschehen wird… die Zukunft unseres Landes liegt in Schleiern aus Schatten und Furcht…“ Er legte die ganzen Papiere achtlos auf den Stubetisch und warf dabei das Tintenfass um, das dort gestanden hatte, weil seine Frau offenbar Dinge notiert hatte. „Ach, verdammt!“ fluchte er empört, als sich die schwarze Tinte über die Pergamente ergoss und Nalani stürzte keuchend hinzu.

„Du Vollidiot!“ keifte sie, „Jetzt ist alles hin! Alles voller Tinte, du bist so ein-…! Argh! Hole sofort das Mädchen, sie soll kommen und wischen!“ Er seufzte und tat wie ihm geheißen, während sie empört die Papiere betrachtete und sich wünschte, sie könnte die fließende Tinte mit bloßen Gedanken am Fließen hindern, während sie die mühevoll beschrifteten Lyra-Stammbäume einschwärzte, dass die Namen nicht mehr zu lesen waren. Die gesamten oberen Generationen waren dahin; kurz vor dem Namen Ulan Lyra hörte die Tinte zu fließen auf, als fürchtete selbst die Flüssigkeit sich vor dem Namen. Nalani stutzte einen Moment, als sie auf den Namen des Ahnen sah, der vor vielen Jahrhunderten gelebt und nur Unheil gebracht hatte.

Ulan.

Woher kannte sie den Namen? Er kam ihr vertraut vor, auf eine seltsame Weise, die ihr übel aufzustoßen schien…

Ehe sie dazu gekommen wäre, darüber nachzudenken, kam Tabari mit dem Hausmädchen zurück und unterbrach sie.
 

Mit dem Winter kam die Finsternis über Dokahsan. Die Zeit der langen Dunkelheit brach an und schürte wie jedes Jahr die Furcht in den Herzen der Menschen. Mit dem Winter kamen Schnee, Frost und Hunger. Dank der allgemeinen Überbevölkerung auf Tharr gab es viele Tote, die auf den Straßen in Städten erfroren oder verhungerten. Es gab von nichts genug auf der Welt.

In der kalten Jahreszeit machten sich die Räte der Schamanen zum ersten Mal gemeinsam daran, mit den Menschen in den hohen Positionen zu verkehren, um die drohenden Übel Zuyya und Ela-Ri abzuwägen und aufzuhalten. Während Tabari zusammen mit Meoran, einem der Telepathen und einem der Heiler nach Janami reiste, um sich über die Lage in D’anbahr und dem dahinter liegenden Ostreich zu informieren, wollte Nalani sich mit Kiuk, Henac Emo und noch einem Heiler um Vialla und den König von Kisara kümmern. Dabei widerstrebte es der Frau, ausgerechnet mit Minar Emos arrogantem Enkel zusammenarbeiten zu müssen. Er war eigenartig und grinste sie auf eine Art an, die ihr absolut nicht gefallen wollte. Aber er war als Mitglied des Emo-Clans bestens dafür geeignet, unbemerkt Informationen zu beschaffen, ebenso wie Meoran mit seinen Vögeln und Federn.

Für Tabari war das Misstrauen Henac Emo gegenüber nicht so einfach zu handhaben wie für seine Frau.

„Ich mag auch nicht, wie er dich ansieht,“ gestand er ihr, als er mit seinem Trupp gen Osten aufbrach und vor dem Tor des Lyra-Schlosses stand. Dazu waren die Telepathen gut; der Mann aus dem Rat würde sie mit Leichtigkeit nach Janami teleportieren können und sparte damit allen die Reisezeit. „Aber er ist Mitglied unseres Rates, Nalani. Ich als Vorstand dieses Rates kann nicht einfach so mein Misstrauen ihm gegenüber aussprechen, letzten Endes steht er auf unserer Seite, Nalani. Du hast ja Kiuk, wenn Emo dir an die Wäsche geht, verhaue ich ihn definitiv…“ Er grinste aufmunternd und Nalanis Visage verbiesterte sich noch mehr.

„Nein, Irrtum,“ schnarrte sie, „Wenn er es wagt, mich anzurühren auf eine Weise, die nicht seiner würdig ist, wird er sterben.“ Sie begriff erst, was sie da gesagt hatte, als die Gesichtszüge der Männer vor ihr entgleisten und Meoran sie vor allem mit einem Ausdruck anblickte, den sie von ihm nicht kannte… Angst?

„Ich-…!“ wollte sie erschrocken über ihre eigenen Worte und deren Wirkung einwerfen, aber ihr Mann hielt es für das Beste, das jetzt zu beenden.

„Wir gehen!“ befahl er laut, „Ich wünsche auch dir eine gute Reise, Nalani. Und, Puran?“ Er sah zu seinem Sohn, der neben der Mutter stand und etwas verwirrt war von der ernsten Stimmung im Hof, „Da wir jetzt alle wegfahren, kümmere du dich um das Anwesen, insbesondere um Alona. Wenn irgendetwas ist, geht ihr nach Tuhuli zu Ruja und Keisha, sie werden schon für euch sorgen. Verstanden? Ich verlasse mich auf dich, Sohn.“ Puran neigte artig den Kopf.

„Ich werde mein bestes geben, deinen Wünschen gerecht zu werden, Vater.“

Als Tabari und seine Gruppe verschwanden und sich im violetten Leuchten des Teleports auflösten, sah er zu Nalani, die noch neben ihm stand und im wehenden Wind wie erstarrt auf die Stelle blickte, an der Tabari verschwunden war.

„Mutter?“ wagte er sie vorsichtig anzusprechen. Nalani schloss zitternd die Augen. Das war der Moment, in dem Puran zum ersten Mal das Gefühl bekam, dass seine so stolze und mächtige Mutter, die Königin der Geisterjäger, genau wie jeder andere Sterbliche von Unruhe geplagt wurde und dass die kalte Fassade, die sie zu wahren pflegte, auf Messers Schneide stand. Plötzlich machte sie den Eindruck eines verschüchterten alten Waschweibs, von der majestätischen Haltung war nichts mehr übrig.

Sie atmete leise ein und aus.

„Der Wind seufzt,“ murmelte sie mit geschlossenen Augen, „Und wir werden es in Kürze mit ihm tun.“
 

Sukutai war in Yiara wegen des Senats. So waren die beiden Kinder, die eigentlich keine mehr waren, mit den Angestellten alleine im großen Schloss. Cholena war gekommen und auf der einen Seite fühlte es sich lustig an, einmal ohne Aufsicht daheim zu sein.

„Hauptsache, du kommst nicht auf die Idee, während der Abwesenheit deiner Eltern deine Blutung zu kriegen,“ brummte Puran seine Cousine an, während er auf der Couch in der Stube lag und Cholena kichernd an deren Kopfende saß, um den Kopf ihres Freundes auf dem Schoß zu halten und seine Haare zu streicheln. „Das wäre nämlich echt ungünstig, Alona,“ fuhr der da fort. Die Cousine schnaubte.

„Als ob ich mir den Zeitpunkt aussuchen könnte,“ grummelte sie. „Mir ist langweilig, warum gehen wir nicht irgendwo hin?“

„Du willst nur nach Gahti zu Kannar,“ stöhnte Puran und angelte vom Couchtisch eine Zigarette, die er sich in den Mund schob und ansteckte. Den Rauch auspustend gluckste er dann. „Tja, Pech… ich habe keine Lust, deinen Aufpasser zu spielen, du wirst da bleiben müssen, wo ich bin, also hier. Abgesehen davon soll ich das Schloss hüten und kann deswegen schlecht mit dir feiern gehen!“

„Und ich soll mich jetzt tagelang langweilen?“ nölte sie und rümpfte ob des beißenden Rauchs die kleine Nase. Er machte eine abwinkende Handbewegung.

„Zieh Leine, ja? Wir diskutieren später weiter, Alonachen, ich habe Besuch und muss mich doch gebührend um ihn kümmern…“ Bei diesen Worten grinste er seine blonde Freundin blöd an, worauf diese zurückgrinste, ihm die Zigarette aus den Fingern zog und selbst einen Zug nahm. Alona war zutiefst empört.

„Nichtsda!“ schmollte sie und sprang auf, „Du bist zwar ein Mann, aber deswegen kannst du mich nicht herumscheuchen, Puran! Geht in deinem Zimmer ficken, wenn ihr so rattig seid, aber nicht auf der Couch!“

„Wer sagt, dass wir ficken…? Wirklich, so ein unartiges Hirn hast du?“ Alona verdrehte die Augen. Er fuhr unbeeindruckt fort: „Und, hmm, wer sagt, dass wir es auf dem Sofa tun…?“ Damit setzte er sich auf, nahm Cholena die Kippe wieder ab und küsste sie verlangend auf die Lippen. Sie kicherte in den Kuss und Alona trottete jetzt von selbst aufgebend zur Tür.

„Ihr seid so pervers,“ brummte sie, „Ich erzähle es deinen Eltern, wenn sie kommen, Puran! Dann sage ich ihnen, dass du mich geärgert und Cholena auf dem teuren Sofa flachgelegt hast!“ Mit dieser Drohung knallte sie die Tür zu und stampfte die Treppe hinauf.

„Ach,“ machte der Cousin, sobald sie weg war, und stand auf, „Das wäre auch nicht das erste Mal – was sie ja nicht weiß – außerdem soll sie nicht so brav tun…“

„Du solltest vielleicht wirklich nicht so gemein sein und sie abschieben,“ machte Cholena lächelnd, „Sie hat dich sehr lieb und möchte eben nicht alleine sein… ich kann sie verstehen.“ Er drückte den Rest der Zigarette auf dem kleinen Unterteller aus, den er dafür mitgenommen hatte, und stand von der Couch auf, worauf sie es ihm gleichtat.

„Ach was, darum geht es nicht,“ lachte er nervös, „Oder wolltest du etwa, dass sie uns dabei zusieht, wenn wir Sex haben?“ Er legte seine Hände auf ihre Hüften und strich sanft daran auf und ab, ehe er neckisch begann, ihren Hals herab zu küssen. Seine Zunge glitt über ihre Haut und sie seufzte leise, die Arme um ihn legend. Als sie ein Knie anzog und es spielerisch gegen seinen Schritt rieb, stöhnte er kurz und unterbrach seine Tätigkeit. „Flittchen…“ tadelte er sie und packte ihre Hüften fester, drehte sie herum und drückte sie sanft gegen die Wand neben ihnen. Cholena grinste diebisch.

„Ach, jetzt bin ich das Flittchen, weil ich dir gebe, was du verlangst…? Du bist so böse…“ Er beugte sich dunkel über sie und verschloss ihren Mund mit seinem. Seine Hände zupften nervös an ihrer Bluse, zogen sie auseinander und ihr von den Schultern, ehe sie sanft und dennoch energisch ihre Brüste erfassten. Leise keuchend löste sie sich aus dem Kuss und zog ihr Bein abermals an. Er war bereits hart vor Verlangen, Cholena kicherte sanft, als ihre Finger geschickt seine Hose öffneten und sie ihren Körper gegen seinen drückte. Dann streckte sie sich zu seinem Ohr und flüsterte: „Aber ich mag es, wenn du böse bist, Puran… ich will… dass du mich berührst…“ Er stöhnte erneut, als ihre Hände ihn sanft berührten und er die Hitze in sich wie eine Flamme empor schießen spürte. „Ich will… dass du mich ausfüllst…“ fuhr sie wispernd fort und steigerte damit seine und ihre Erregung, bis er sie plötzlich in wildem Begehren an sich heran zerrte, sie abermals küsste und mit der Hand ungeduldig ihren Rock hinauf schob, um sie zwischen ihre Schenkel zu legen.
 

„Ja, gib’s mir! – Tiefer, ja, oh, schneller, ah, ja!“ äffte Alona beleidigt das Paar nach, während sie im Schloss herum stampfte auf der Suche nach einer sinnvollen Beschäftigung. Sie schnaufte und drehte empört ein paar ihrer langen Haarsträhnen um ihre Finger. Immer Cholena, Cholena hier, Cholena da, manchmal fragte sie sich, ob ihr Cousin, den sie eigentlich sehr schätzte, auch mal etwas anderes im Kopf hatte als Tabak oder Sex. Und das war nicht übertrieben, denn jedes Mal, wenn sie nachts ins Bad gegangen war und dabei an seinem Zimmer vorbei gekommen war, hatte sie ihn stöhnen gehört, ihn und seine Cholena, während sie sich mit einem Eifer geliebt hatten, als gäbe es kein Morgen.

Vielleicht wird es keins geben, sagten die Stimmen in ihrem Kopf, die sie mitunter hörte. Sie blieb stehen und sah sich um – außer ihr war niemand im Flur.

„Warum sollte es keins geben?“ fragte sie entrüstet und stampfte weiter, wohin ihre Füße sie trugen, bis sie im Schlafzimmer ihrer Großeltern gelandet war.

Kelars und Salihahs Schlafzimmer benutzte niemand. Tabari sorgte dafür, dass die Angestellten es sauber hielten, aber alle Möbel waren so gelassen worden, wie seine Mutter sie bei ihrem Tod vor jetzt sechs Jahren zurückgelassen hatte. Alona kam öfter hierher; das Zimmer war wie eine geheime Schatzkammer, in der es spannende, alte Sachen zu entdecken gab, die längst vergessen worden waren. Sie hatte auch noch mehr Stammbäume entdeckt, die sie ihrem Vater gebracht hatte, damit der seine Sammlung vervollständigen konnte. Alona half ihm oft dabei, oder Tante Nalani, wenn sie daran saß. Die Stammbäume waren interessant. Es hatte viele Tabaris und Kiuks gegeben unter den Lyras, ihr Vater und ihr Onkel waren beide Träger der größten und häufigsten Namen der Liste, so weit sie es einschätzen konnte.

In dem alten Schrank im Schlafzimmer waren unten Schubladen, in denen sie schon oft spannende Dinge gefunden hatte. Als sie jetzt wieder davor saß und froh war, das Stöhnen aus der Stube nicht bis hier herauf hören zu können, fand sie ein abgenutztes offenbar uraltes Buch mit ledernem Umschlag, das sie bis jetzt noch nicht näher betrachtet hatte.

„Das sieht ja aus, als hätte es schon mehrere Jahrhundertwenden überlebt,“ seufzte sie und schlug es auf, worauf ihr eine Staubwolke entgegen flog. Hustend blätterte sie durch die mit sehr ordentlicher, gestochener Handschrift beschriebenen Seiten. Sie erkannte nach einem Denken die Schrift ihrer Großmutter wieder. Was sie aber viel mehr verblüffte als die Schrift war der Inhalt der Worte.
 

Das Monster schied dahin im Hungermond 965. Haben ihn in des Undims Wasser geworfen. Etwas fehlt, kann nicht sagen was es sein möge. Eigenartiges Bauernkind aufgelesen, verwundet. Schatten kommen mit flammendem Regen, können nicht fort.

Meine unwürdigen Augen erblinden.
 

Alona blinzelte. Es mussten Aufzeichnungen über den Tod des Großvaters sein – nicht nur über seinen Tod, über sein ganzes Leben, kam dem Mädchen, als sie weiter nach vorne blätterte. Auf der ersten Seite stand:
 

Dies sind Schriften über die Bestie von Dokahsan. Mögen der Buchstaben kundige Gelehrte sich in fernen Jahren nach meinem Scheiden daran erinnern, wer – oder was – den mächtigen, großen Clan der Lyraden zu Fall brachte.
 

„Ist ja spannend, ei!“ machte das Mädchen entzückt über das Tagebuch ihrer Großmutter, kauerte sich vor dem Schrank auf den Boden und blätterte wieder herum. „Ich erfahre Dinge über Großvater, die ich nicht wusste, da niemand wagt, sie auszusprechen…“
 

Sommer 939. Spüre das Monster noch immer. Er beherrscht einen grauenhaften Fluch, er nennt es das Schmerzmal. Funktioniert durch die Zähne, bindet an ihn durch ein Mal an der Bissstelle. Er kann damit durch seinen Willen Schmerzen zufügen. Kein Gegenmittel, haben es bei Yatoret an einem Kader aus Anthurien getestet. Mann tot, zu viel getestet. Er nennt es ultimative Waffe und sich selbst unbesiegbar. Mein Bauch wird rund, Leben bewegt sich manchmal…
 

Fasziniert schüttelte Alona den Kopf und las nicht weiter über Salihahs erste Schwangerschaft, die zu jener Zeit gewesen war – was war das gewesen, ein Fluch, der ein Schmerzmal hinterließ? Das klang ganz nach dem, was von Kelar erzählt wurde… er war furchtbar gewesen und ein mächtiger Schamane. Alona fragte sich, ob sie ihn fürchten sollte, würde er noch leben.
 

Der Scharlatan hat mich betrogen. Stimmen sprechen und zeigen mir die Hure. Vermutlich ist ihre Tochter von ihm. Werde meine Finger nicht damit beschmutzen.
 

Unter diesem nächsten Eintrag hatte die Großmutter etwas hinzugefügt, das sehr klein darunter geschrieben stand:
 

Ungutes Gefühl. Eigenartiges Bauernkind?

ULAN MANHA.
 

Alona wusste damit nichts anzufangen.
 

Die Träume kehrten schnell wieder. Puran beobachtete den brennenden Regen, der von einem blutigen Himmel herab fiel und das Land in Brand steckte. Zischend zogen die Feuergeister einen Kreis um ihn und lachten ihn aus.

„Du kannst nicht davonlaufen,“ wiederholten sie die Worte, die Puran so hasste. Er verfluchte die Geister und wollte nach ihnen schlagen, aber die Flammen wichen vor ihm zurück und versanken in einer bösartigen, nicht enden wollenden Finsternis. Er hatte das Gefühl, kopfüber in ein gähnendes Loch zu fallen, um ihn herum war nichts als der Wind der Himmelsgeister. Er sah die weißen Spiralen und hörte das kehlige Lachen seines Großvaters aus dem Nichts erschallen.

„Nein, lasst mich!“ entrüstete er sich, „Ich werde nicht euer Sklave sein, Geister!“

„Du bist ein Mann des Geistes, es ist deine Bestimmung. Bleib stehen…“ Er wusste nicht, ob er es wirklich tat oder ob die fallende Finsternis um ihn herum plötzlich still hielt. Plötzlich stand er mitten in der Dunkelheit, das Flüstern im Wind war verstummt. In der Ferne tanzte die weiße Spirale, er konnte sie nur anstarren und nicht verstehen, was sie von ihm wollte. Doch als er die Hand nach dem Ding ausstreckte, um es zu fangen, zerbrach die Finsternis um ihn herum in Scherben wie ein Glas. Der blutige Himmel stürzte wieder brennend über ihm zusammen und die rissige, gespannte Haut von Mutter Erde platzte auf, gefolgt von einem tiefen, grauenhaften Brüllen aus der Tiefe. In der Ferne erkannte er die Umrisse eines kleinen Menschen.

„Verschwinde!“ rief er dem Kind zu und verspürte plötzlich in sich eine seltsame Panik, das kleine Mädchen könnte in die aufbrechende Erde stürzen. „Renn weg, Kleine!“

Doch als das dunkelhaarige Mädchen erschrocken den Kopf zu ihm herum drehte und ihn aus großen, braunen Augen anstarrte, endete der Traum so abrupt, wie er begonnen hatte. Er fuhr aus dem Schlaf hoch.

„Puran…?“

Als nächstes nahm er Cholenas verwirrtes Gesicht über sich wahr. Er lag keuchend in seinem Bett, während das Mädchen sich über ihn beugte, ihre blonden Haare hingen ihr zerzaust über die nackten Schultern.

„Alles in Ordnung?“ fragte sie besorgt, „Du hast mitten im Schlaf angefangen, zu murmeln, ich hab dich nicht verstanden-… du sahst so… verkrampft aus-…“ Er atmete heftig ein und aus. Als er sich ruckartig aufsetzte, stieß er sie beinahe um und fuhr sich stöhnend mit den Händen über das Gesicht.

„War nur ein Traum…“ tat er es murmelnd ab, sich die Haare raufend. Das panische Gefühl aus dem Traum griff noch immer nach ihm, als er schon eine Weile wach saß. Cholena umarmte ihn zärtlich von hinten und schmiegte ihren Körper an seinen. Nach einer langen Pause sah er sich gezwungen, fortzufahren. „Ein Traum… den ich seit Jahren immer wieder habe… immer kommen neue Dinge hinzu, die mich mehr verwirren…“ Seine Freundin lehnte zärtlich ihren Kopf an seine Schulter.

„Du sorgst dich so viel…“ nuschelte sie dann und fuhr sanft mit den Händen über seine nackte Haut. „Gräm dich nicht, mein Schatz…“ Er seufzte nur und starrte zum Fenster. Durch den Spalt, den die Vorhänge frei gaben, schien das Mondlicht grell herein. Es schneite offenbar.

„Ich wünschte, ich könnte mich weniger sorgen…“ gab er dumpf zu hören, ehe er sich vorsichtig zu ihr herum drehte und einen Kuss auf ihren Mundwinkel setzte. „Vergib mir, dass ich dich beunruhige, Cholena…“

„Ich liebe dich,“ flüsterte sie sanft und er sah sie groß an, als sie lächelte und mit den Fingern hauchzart über seine Brust und eine Seiten streichelte. Ihr Blick sprach Bände. „Du brauchst dich für gar nichts zu entschuldigen…“ Ihr Lächeln wurde zu einem Grinsen, als sie ihn hinab ins Bett drückte und sich über ihn rollte. Mit geübten Bewegungen glitten ihre schlanken Hände über seinen Bauch und weiter nach unten zwischen seine Beine. „Entspann dich… lass die Träume dich nicht zerfressen, Puran.“

Als er keuchend die Augen schloss und zuließ, dass sie ihn berührte und erregte, wie sie es fast jede Nacht und überall tat, wünschte er sich, er könnte ihrem Rat besser folgen.
 

Er und Cholena wurden im Morgengrauen geweckt, weil Alona heftig an der Zimmertür klopfte und brüllte.

„Aufwachen! Unsere Eltern sind wieder da!“

„Tatsache…?“ stöhnte ihr Cousin ermüdet und drehte im Bett liegend den Kopf zum Fenster. Es war taghell. Er lag auf dem Rücken und halb auf ihm Cholena, nackt und glücklich ob der vergangenen Nacht. Die Tage waren schnell vergangen – wenn er mit Cholena zusammen war, fiel es ihm oft nicht auf…

Sonderlichen Erfolg schienen die Älteren nicht gehabt zu haben bei ihren Erkundungsreisen, ihre Gesichter waren düster und versprachen keine guten Nachrichten.

„Das Schlangenmeer verschluckt alles, was es zu fassen bekommt, sei es aus dem Wasser oder aus der Luft,“ empörte Tabari sich ohne gefragt zu werden. „Meorans Vögel konnten den schwarzen Nebel nicht durchdringen – der, der am weitesten gekommen ist, zeigte uns mehr Schatten, Düsternis und Feuer des Krieges. Also nichts, was wir nicht auch vorher gewusst hätten! Dhimoriens Häfen werden von früh bis spät beobachtet, im Südwesten scheint alles friedlich zu sein. Wir sind nicht klüger als zuvor, Himmel!“

„Das ist nicht gut,“ bemerkte Puran sachlich, der neben Cholena und Alona rasch angezogen auf der Treppe stand. „Die Geister schweigen eisern und antworten nicht, wenn ich sie frage… dann haben sie euch also auch nichts gesagt.“

„Sagen tun sie vieles,“ murmelte Nalani finster, ging an ihm vorbei und hinauf, den anderen nur flüchtig zunickend, „Nur nicht das, was wir hören wollen.“ Ihr Sohn sah ihr verblüfft über die Kälte in ihrer Stimme nach und blickte dann zu seinem Onkel Kiuk, der mit Nalani unterwegs gewesen war. Der Telepath seufzte.

„Ich sorge mich, Bruder,“ gestand er Tabari kleinlaut. „Die Zeichen sind schlecht, das sehen wir alle. Dennoch können wir die Bedrohung nicht orten. Vielleicht hat es auch an Henac Emo und seinem süffisanten Grinsen gelegen… aber ich kenne Nalani seit wir Kinder waren und was sie sagt und tut erfüllt mein Herz mit tiefster Unruhe… sprich mit ihr. Wenn du ihr nicht demnächst Seelenfrieden schenken kannst, vermag es vermutlich niemand. Etwas frisst sie von innen auf, ich weiß nur nicht, was es ist…“

Tabari schenkte seinem jüngeren Bruder darauf nur einen verzweifelten Blick.
 

Er fand seine Frau wie er erwartet hatte im Schlafzimmer vor, wo sie unruhig auf und ab ging und sich die Haare raufte. Sie hatte ihre kompliziert hochgesteckte Frisur gelöst und ihre langen, schwarzen Haare fielen ihr in krausen Wellen über die Schultern und ihren Rücken herab. Als sie ihn hereinkommen sah, hielt sie inne und hörte wie auf Knopfdruck auf, herum zu gehen, stellte sich schweigend ans Fenster und starrte hinaus.

„Ah,“ machte Tabari langsam und schloss die Tür, „Das bedeutet wohl, du möchtest nicht mit mir sprechen?“ Sie antwortete nicht – das hatte er ebenfalls erwartet. „Du weißt, warum ich zu dir komme, Nalani,“ fuhr er ernst fort, ohne die Spur eines Scherzes, derer er sonst massig verwendete, wenn er redete. Sie lachte kalt.

„Weißt du was? Du erinnerst mich an die Zeit vor Purans Geburt, du klingst, als würdest du gleich sagen, dass du endlich einen Erben für deinen Vater zeugen willst…“ Tabari trat hinter sie und gab keinen Kommentar zu ihrer fragwürdigen Aussage.

„Was verheimlichst du mir?“ presste er mit Mühe hervor und hob eine Hand, um sie an der Schulter zu fassen – kurz davor stoppte er jedoch und ließ es bleiben. Sie war apathisch. Etwas beunruhigte sie und es machte ihm Sorgen. Er wollte sie in den Arm nehmen und trösten wie ein verheultes Kind… dabei wusste er, dass Nalani das nicht helfen würde. „Sprich, Frau,“ kam dann etwas energischer, „Selbst Kiuk merkt, dass du komisch bist! Was ist geschehen damals im Ratssaal… als du… vor Emo zurückgewichen bist?“ Er keuchte. „Hat er dir etwas angetan?! Hat er-…?!“ Sie fiel ihm barsch ins Wort.

„Es ist nichts mit Emo!“ Sie drehte sich zu ihm herum und ihre von Unruhe getriebenen Augen trafen seine. „Er hat nichts getan, ich schwöre es dir. Außer blöd gegrinst, aber das tut er immer. Nein…“ Und bitter lächelnd senkte sie ihren Kopf, schob ihren Mann von sich weg und begann wieder, auf und ab zu hetzen. „Nein, ich selbst bin es, die mir Sorgen macht!“

Tabari sah ihr beim Gehen zu und war erstaunt.

„Wie – wieso das?“ fragte er verdattert. Noch verdatterter wurde er aber, als sie plötzlich aufgelöst heftiger zu atmen begann und sich verzweifelt die Haare raufte, für einen kurzen Moment glaubte er tatsächlich, sie schluchzte – Nalani weinte nie! Sie war die Königin, die war kaltherzig, sie hatte ihn im Kampf besiegt, was außer ihr niemand vermocht hatte, seit er vor nunmehr zehn Jahren Herr der Geister geworden war. Die Entscheidung des Vorstehers des Geisterjägerrates fand alle fünf Jahre statt – wenn jemand des Rates es schaffte, den amtierenden Vorstand zu besiegen, würde er ihn ablösen. Zweimal waren die fünf Jahre schon verstrichen und selbst seine stolze Frau Nalani hatte es beide Male nicht vermocht, ihn zu schlagen. Er hatte sich gefragt, ob sie absichtlich verloren hätte, um ihren Gatten nicht mit der Schande zu beschämen, dass sie als Frau mächtiger war als er – wobei es ihn als vermutlich einzigen Mann der Welt niemals beschämt hätte. Die Geister ließen denjenigen gewinnen, den sie für würdig erachteten, sie zu vertreten… Nalani konnte nicht mit Absicht verlieren, die Geister würden es nie zulassen.

„Was ist geschehen…?“ keuchte er fassungslos über ihre Aufgelöstheit. Sie japste.

„Du hast es selbst schon gesagt… viele haben es gesagt…“ murmelte sie wie betrunken und hob den Kopf wieder, um ihn aus entsetzt aufgerissenen Augen anzustarren. „Ich… habe deinen Vater so verachtet und gehasst… und dennoch werde ich immer mehr wie er… ist es nicht so?“
 

Er starrte sie an. Er konnte nicht antworten, während sie weiter auf und ab ging und fluchte. Sie verfluchte Kelar, sie verfluchte die Geister und wurde immer lauter, bis sie ihren Mann mehr oder weniger absichtlich anschrie.

„Die Geister lügen mich an! Sie befehlen mir Dinge, die sie nicht befehlen würden, wenn ich normal wäre! Ich werde genauso wahnsinnig wie dein verfluchter Vater, dieser elende Bastard, der Menschen gemordet hat und das als recht empfand! Ich höre Stimmen in meinem Kopf, die von Töten sprechen, ich spüren ständig so ein… grausames Verlangen in mir, ihnen zu folgen, ich sage Dinge, ohne meine Zunge zu kontrollieren, Dinge, die ich nicht sagen will!“ Sie fuhr abermals herum und stierte ihren völlig erstarrten Mann an. „Schlag mich, Tabari!“ verlangte sie dann zischend und drehte sich komplett zu ihm um, das Kinn reckend. „Schlag diese abartige Bosheit aus mir raus, du Nichtsnutz!“

„Wovon redest du?!“ machte er konfus – ja, er hatte sie bisweilen mit seinem herrischen Vater verglichen… aber so schlimm wie er war sie wirklich nicht. Sie war völlig in Rage und kam zu ihm herüber, zerrte an seinem Kragen und verfluchte ihn auch.

„Tu es, du Memme!“ schrie sie, „Schlag mich, ich will das nicht! Das bin ich nicht, ich will, dass das aufhört und dass diese bösen Dämonen in meiner Seele schweigen! Du bist doch hier der Herr der Geister! Tu es, Tabari!“

Er schlug ihr ohne Vorwarnung mit solcher Wucht ins Gesicht, dass sie zu Boden ging.
 

„Tut mir leid!“ keuchte er entsetzt über sich selbst und hockte sich zur ihr, während Nalani sich benommen nach dem Schlag aufrichtete und nach ihrer blutenden Nase fasste. Der Schmerz war so heftig, dass er sie für einen Moment blendete; nachdem sie den Heilzauber Lira an sich selbst angewendet hatte, hörte zwar die Blutung auf, nicht aber der Schmerz – dieser Idiot musste ihr die Nase gebrochen haben… „I-ich, ich wollte das nicht so doll!“ machte Tabari bekümmert und fasste nach ihrem Gesicht, „Ich kann das nie einschätzen, wie doll ich zuschlagen kann, bitte vergib mir, Nalani… aber du wolltest es so!“

„Habe ich mich beschwert?!“ blaffte sie ihn an und stockte dann, als der Schmerz ihr schwindelig werden ließ. Ihr Mann legte behutsam einen Arm um ihre Schultern.

„Hat es denn geholfen?“ fragte er dumpf, „Geht es… dir besser?“ Sie atmete gebrochen ein und aus und schloss für einen Moment die Augen.

In ihrem Inneren war es still. Weder Geister noch Dämonen sprachen ein Wort… der Zorn, den sie in sich gespürt hatte seit Tagen, war mit einem Mal verschwunden, als hätte Tabari ihn tatsächlich weggeschlagen. Sie wusste vermutlich besser als er selbst, was für ein mächtiger Mann er eigentlich war… ein mächtiger Zauberer, der Zorngeister mit einem einzigen Schlag vertreiben konnte. Das hatte er schon oft bei ihr geschafft, sogar ohne Schläge. Er hatte gemacht, dass sie sich in ihn verliebt hatte… nachdem sie ihn zu Beginn nur gehasst und verabscheut hatte…

Sie musste nicht auf seine Frage antworten, das wusste sie. Deshalb drehte sie sich schweigend zu seinem Gesicht und schenkte ihm einen kurzen Blick, ehe sich ihre Lippen in einem stürmischen, verlangenden Kuss vereinten. Nalani seufzte leise, als sie ihre Arme um den Hals ihres Mannes schlang und er ohne zu fackeln begann, an ihrem Kleid zu schnüren.

„Nicht auf dem Boden!“ schnaufte sie, den Kuss beendend, und schlug seine Hände weg. Sie stand auf und Tabari sah sie bereits erhitzt durch den einen Kuss an wie ein hungriges Tier, als sie ihr Kleid selbst aufschnürte. Ehe sie dazu gekommen wäre, es sich auszuziehen, war er nach oben geschnellt, tat es für sie und warf sie mit Gewalt um auf das Bett neben ihr. Ihre Hände fuhren über seine Schenkel, als er sich murrend über sie setzte und sich herabbeugte zu ihrem Gesicht.

„Du hast mir gefehlt…“ gab er murmelnd zu. Nalani schloss die Augen.

„Shhh…“ machte sie leise und legte einen Finger auf seine Lippen, „Sprich nicht immer so viel. Ich brauche im Moment keine Worte, um dir zu zeigen, was ich empfinde, Tabari.“ Den Finger von seinem Mund nehmend zog sie ihn energisch am Kragen herab zu sich und küsste ihn wieder. Ein Schauer überkam sie, als sein Mund über ihr Kinn und ihren Hals hinab auf ihren Oberkörper wanderte. Er berührte und erregte sie auf diese vertraute Weise, bis sie unter ihm vor Verlangen stöhnte, als seine Hände über ihre nackten Beine strichen. Wie Feuer brannte ihre Haut unter seinen Berührungen, als seine Finger ihre Brüste umkreisten und wieder hinunter glitten.

Feuer wie bei dem flammenden Regen in ihrem Traum.

„Nicht!“ stöhnte sie enthusiastisch, als er sich wieder aufsetzte, um sich selbst auszuziehen. Die Geister wisperten in ihrem Kopf, doch Nalani verdrängte sie kopfschüttelnd. Es gab nur die Hitze in ihr und die Lust, sich mit ihrem Mann zu vereinen. Es gab keine Geister und das Feuer in ihr war gut… „nein, komm…!“ widersprach sie sich selbst und rutschte unter ihm etwas zurück, um mehr Platz zu haben, bevor sie zuließ, dass er sie ganz auszog und sie sich ihm keuchend und mit dem Begehren einer Frau für ihren Mann öffnete. „Tu es, Tabari!“

Er tat es und mit keiner Faser seines Körpers hielt er sich zurück, als er sie heftig nahm, mit einem Eifer, als hätte er sie seit Monden nicht gesehen. Dabei waren es nur einige Tage gewesen, die sie getrennt gewesen waren. Sie klammerte sich schreiend an seinen heißen Körper, als sie sich vereinten und sich miteinander im Rhythmus bewegten.

„Glaub mir… Nalani…“ keuchte er und lehnte den Kopf erregt zurück, während er tief eindrang und sich schnell auf den Höhepunkt hin arbeitete. Ja, verdammt, er hatte sich wirklich nach ihr gesehnt. „Wärst du tatsächlich meinem Vater so ähnlich, würde ich… keine Freude dabei empfinden, mit dir zu schlafen!“

„Das hoffe ich auch für dich,“ stöhnte sie und schloss bebend die Augen, als seine Arme sich um sie legten und er sie heftig an sich heran zerrte in dem Moment, in dem er sich in ihr ergoss. Es war ein tiefer, heftiger Höhepunkt und Tabari stöhnte ihren Namen, als sie ihren Unterleib gegen seinen presste.

Das Feuer brannte so heiß in ihrem Körper, dass sie immer noch schrie, als er sich zurückzog.
 

Der Frühling kam. Mit den letzten Wintertagen verschwand die Kälte aus Dokahsan, aber nicht die allgemeine Unruhe, die sich verbreitete und die keiner benennen konnte. Und je näher der Sommer kam, desto stärker wurde die Nervosität der Menschen. Die Schamanen spürten das Zittern der Geister viel intensiver als die Nichtmagier und waren deswegen noch mehr beunruhigt. Das ewige, nächtliche Flüstern der Windgeister verstummte, als der Sommer kam. Ihm folgte eine entsetzliche, Tod bringende Stille, die alle noch mehr beunruhigte als es das Flüstern getan hatte…
 

„Irgendetwas wird geschehen. Wir wissen nicht, was es ist, und gerade deswegen macht es unsere Angst größer. Was immer kommen mag, Cholena… ich will, dass du an das denkst, was ich dir einmal gesagt habe… deine Sicherheit ist mir das Wichtigste!“ Cholena lächelte beschwichtigend, als ihr Freund sich so ereiferte, während er nervös an seiner Zigarette zog und mit der freien Hand sein Schwert sinnlos herum drehte. Der Hochsommer war gekommen.

„Ja, ja,“ lachte sie, „Ich werde nicht versuchen, irgendwen zu retten, wenn etwas passiert, sondern auf mich selbst aufpassen, zu Befehl, Prinz Lyra…“

„Das ist sehr ernst,“ empörte er sich ein wenig verärgert darüber, dass sie das so leichtfertig hinnahm. Vor längerer Zeit hatte er ihr ein Schwert aus dem Schloss gegeben, damit sie sich zur Not wehren könnte – sobald er ihr beigebracht hätte, wie man damit umging, hieß das. Und eigentlich war sie eine sehr aufmerksame Schülerin gewesen, aber seit neuestem war sie oft unaufmerksam und gab ihm das Gefühl, ihn nicht ernst zu nehmen. „Hörst du mir zu, Cholena?“ Sie lächelte und neigte den Kopf. In den Händen hielt sie das geschenkte Schwert, auf das sie sehr stolz war.

„Ja, verzeih mir… ich höre dir zu! Ich wollte dich nicht verärgern, ich… ich habe nur gute Laune und es fällt mir schwer, nicht über deinen griesgrämigen Gesichtsausdruck zu lachen…“ Griesgrämig, die war gut… er sorgte sich um sie! Griesgrämig sagte sie…

„Es freut mich, wenn du gute Laune hast,“ machte er verwirrt, „Aber kannst du nicht trotzdem mit Ernsthaftigkeit da rangehen? Cholena, mir ist doch nur wichtig, dass ich dich in Sicherheit wissen kann-…“

„Solange wir zusammen sind, bin ich das ohnehin, oder?“ lächelte sie optimistisch und ging zu ihm herüber über die Wiese neben der Schlossmauer, auf der sie trainiert hatten, „Ich fürchte mich nicht… nicht bei dir.“ Er schnaufte.

„Aber ich bin nicht jeden Tag von früh bis spät bei dir, Cholena!“ versuchte er weiter, sie zu überzeugen, „Du kannst dich nicht voll und ganz auf mich verlassen… ich habe nur Angst…“ Er ließ das Schwert sinken und zog abermals an seiner Kippe, als sie bei ihm ankam und sich glücklich an ihn schmiegte. Seufzend strich er ihr über den Rücken und vermochte nicht weiterzusprechen.

Er liebte sie so sehr… aber Nacht für Nacht sah er sie im Schatten verschwinden und nicht wiederkehren, hörte er sie seinen Namen schreien vor Angst, ohne dass er sie finden oder ihr helfen konnte… bei jedem Aufwachen versuchte er, die Angst zu verdrängen, die jeden Tag größer und schmerzlicher wurde, und mit jedem Sonnenaufgang fiel es ihm schwerer. Es tat ihm leid, ihr seine üble Laune so aufbürden zu müssen…

„Entschuldige,“ murmelte er beklommen, als sie sich kichernd streckte und ihn sanft auf den Mundwinkel küsste. „Sei mir nicht böse, dass ich in letzter Zeit so aufgekratzt bin…“ Er ließ sie los und steckte das Schwert ein, ehe er wieder an dem Rest der Kippe zog und an ihr vorbei ging. „Hören wir auf und setzen uns in den Schatten, sonst bin ich gleich gar.“ Sie lächelte liebevoll, als er sie an der Hand nahm und sie sich zusammen in den kühlen Schatten eines großen Baumes setzten. Als er ihr großzügig den Zigarettenstummel anbot, ehe er alle war, lehnte sie kichernd ab und Puran fuhr sich durch die Haare.

„Ach ja, du magst ja nicht mehr, entschuldige, vergesse ich immer wieder.“

„Ist doch in Ordnung,“ machte sie, während er seinen Stummel selbst aufrauchte und den nicht mehr brauchbaren Rest im Gras ausdrückte. Vor wenigen Monaten hatte Cholena feierlich beschlossen, nie wieder zu rauchen oder Alkohol zu trinken. Er bewunderte ihren tapferen Entschluss, wo ihm ein Leben ohne Tabak reichlich abstrus vorkam. Er fragte sich aber mitunter, wie es dazu gekommen war – sicher war Travis Geburtstagsfeier im Kälbermond Schuld, hatte er sich mitunter gesagt.

Travidan hatte seinen siebzehnten Geburtstag sehr ausgelassen gefeiert im Frühling. Puran und Cholena waren natürlich da gewesen, ebenso wie Kannar und Alona, aber außer ihnen noch drei Dutzend anderer Leute. Puran hatte so diverse Menschen getroffen, die er seit Ewigkeiten nicht gesehen hatte, viele aus seiner ehemaligen Schulklasse. Selbst Mabi war da gewesen – Travi hatte den eingebildeten Sohn von Gahtis Bürgermeister immer noch nicht gern, er hatte ihn nur dabei sein lassen, um ihn abfüllen zu können und sich über die peinlichen Dinge zu amüsieren, die er betrunken machen würde. Diesem Amüsement hatten natürlich alle gern beigewohnt. Die Feier war eine offene Feier gewesen, zu der jeder hatte kommen können, der zufällig vorbei kam, deswegen war es auch eine sehr große Runde geworden. Und wenn es schon Bier umsonst gab… Travi arbeitete seit einiger Zeit in der kleinen Kneipe von Gahti, da konnte er das natürlich billig beschaffen. Und das Bier war nicht das Schlimmste des Abends gewesen. Irgendwann hatten hochprozentige Getränke aus gegorenen Früchten die Runde gemacht und Puran war sich sicher, dass er sich auch nur noch an die Hälfte dessen erinnerte, was danach so geschehen war.

Er erinnerte sich, dass Mabi völlig bekifft und betrunken um das Feuer getanzt war, um das sie gesessen hatten, und dass er beinahe reingefallen wäre. Cholena hätte mit einer Zigarette beinahe seine Haare in Brand gesteckt, während sie auf seinem Schoß gesessen hatte; irgendwann hatten Kannar und der kleine Bruder von Ram Derran, der auch da gewesen war, angefangen, den schon kotzenden Mabi noch mehr abzufüllen und fröhlich um die Wette zu trinken, während Alona ebenfalls völlig neben sich auf der Wiese eingeschlafen war – aber nur für eine Weile, denn der Gipfel war erst danach gekommen, als die Hälfte schon wieder lallend davon gezogen war. Puran hüstelte jetzt bei der Erinnerung an seine blonde Freundin, die irgendwann angefangen hatte, sich auf seinem Schoß auf eine nicht ganz angebrachte Weise zu bewegen. Dann hatten sie im Beisein sämtlicher anderen mitten auf der Wiese miteinander geschlafen und sich gar nicht daran gestört. Offenbar hatten sie als gutes Beispiel gedient und aus dem Saufgelage war eine grauenhafte Orgie geworden, bei der sämtliche Anwesenden zunächst ihr Schamgefühl und irgendwann ihr Bewusstsein verloren hatten dank des Alkohols. Aufgewacht waren sie mit höllischen Kopfschmerzen, abgesehen von Kannar, der es irgendwie schaffte, wie ein Loch zu trinken und dann keinen Kater zu haben, und Rams kleinem Bruder, der ein ähnliches Talent zu besitzen schien.

Alkohol war furchtbar, stellte Puran ernüchtert fest, als er jetzt im Schatten saß und Cholena im Arm hielt. Er hatte davon noch nie viel vertragen und war vielleicht abgesehen von Mabi sicher der Erste gewesen, der sturzbetrunken nur Müll erzählt hatte. Er entsann sich dunkel, Kannar nach seinem Namen gefragt zu haben…

„Ich spüre die Unruhe doch auch…“ riss Cholena ihn aus seinen Gedanken und schmiegte sich an seine Seite. Er seufzte und zog sie vorsichtig dichter an sich heran. „Ich verstehe doch, was du fühlst. Glaub mir, auch ich bin nervös mitunter. Du bist es mehr als ich, weil die Geister dir mehr zeigen und sagen als mir. Du bist ein Sohn von Geisterjägern… ich bin ein Niemand. Aber so sehr du dich bemühst, die Geister werden dir erst die Lösung geben, wenn du aufhörst, sie zu verlangen. Du sorgst dich viel zu sehr… mein Schatz…“ Er seufzte wieder nur. Das Mädchen drehte sich etwas mehr zu ihm hin und streichelte zärtlich über seine Brust, hinauf zu seinem Hals und schließlich über seine Wange.

„Nein…“ murmelte er dumpf, „Ich sorge mich, weil es meine Aufgabe ist. Da höre ich endlich auf, vor meinem Schicksal und meiner Aufgabe davonzurennen, und du rätst mir, weiterzulaufen. Das ist kontraproduktiv, Cholena…“ Jetzt stahl sich ein Grinsen auf seine Lippen, während sie sich lachend aufsetzte und sich dann breitbeinig auf seinen Schoß pflanzte. Glucksend erfasste er ihre runden Hüften, als sie sich zu seinem Gesicht beugte. Sie teilten einen intensiven, fordernden Kuss.

„Ich bin also kontraproduktiv…?“ machte sie raunend, als sie voneinander abließen und ihre Hände sein Hemd zu öffnen begannen. Er lehnte stöhnend den Kopf gegen den Baum.

„Verdammt, was machst du da?“ entfuhr es ihm halbherzig empört, „Hier kann uns jeder sehen, der aus dem Schloss geht oder hinein…“

„Sollen sie doch weggucken…“ flüsterte sie, ehe sie ihn erneut küsste, als müsste sie ihn ernsthaft überreden, sie zu lieben. Sie wusste, dass sie das nicht musste… seine Hände fuhren bereits unter ihren Rock, als sie sich sanft gegen seinen Unterleib presste und spürte, wie er vor Erregung noch in der Hose hart wurde. Er verfluchte sich mitunter dafür, ihr so dermaßen verfallen zu sein. Egal, wo sie waren und welche Tageszeit war, wenn sie ihn so berührte und küsste, konnte er nicht anders, als sie zu begehren. Wie oft hatte sie beide unterwegs nach Irgendwo das Verlangen nacheinander überfallen? Sei es in einer Gasse von Gahti gewesen, am Flussufer oder in einem Gestrüpp am Wegrand, da gab es fast keine Grenzen.

Sie lehnte sich seufzend zurück, als er sie berührte, wie er es oft tat, wenn sie zusammen waren. Ein Keuchen entfuhr ihr, als er sich sanft mit ihr herum drehte, sie ins Gras legte und sich über sie beugte, seine Hände schoben ihren Rock nach oben und ihre legten sich sehnsüchtig um seinen Nacken.

„Ich liebe dich…“ seufzte sie glückselig, während Puran ihren Hals küsste, mit einer Hand an ihrer Unterwäsche zu nesteln begann und zuließ, dass ihre Hände seine Hose öffneten. „Mach dir nicht-… unnötig Sorgen, Puran. Es ist gut…“

Ja, es war gut. Wenn er sich mit ihr vereinte, konnte er seine Angst vergessen, seine düsteren Träume waren ganz weit weg, als sie im Schatten des Baumes miteinander schliefen. Wo sie so ungestüm angefangen hatten, sich gegenseitig zu erregen, taten sie es danach sehr zärtlich, und das Mädchen lag voller innigster Liebe in seinen Armen, streichelte ihn, küsste ihn und liebte ihn. Und Puran gab ihr, wonach sie verlangte, während er über ihr lag und ihr beider Feuer schürte. Es wurde eine kurze, aber innige Vereinigung und als sie zufrieden und von der Hitze noch erschöpfter einander in den Armen im Gras lagen, schmiegte Cholena sich abermals lächelnd an seine Brust. Und als sie ihm zärtlich zuflüsterte, wie glücklich sie mit ihm war und wie sehr sie ihn liebte, kehrte plötzlich ungeahnt heftig die Angst in seinen Geist zurück, sodass er erschrocken hochfuhr und ihr unabsichtlich wehtat, als er sie gezwungenermaßen von sich schubste.
 

Die Geister schwiegen. Das taten sie oft, aber in dem Moment war es ungünstig für die Menschen, die nach Antworten suchten. Dass Tabari, obwohl er Herr der Geister war, ahnungslos war, war man gewohnt, aber auch die anderen hörten nichts mehr. Wenn sie träumten, waren es stumme Träume, voll von schweigsamem Grauen, das ihre Furcht vor dem, was auf sie zukommen mochte, schürte.

„Es ist wie ein tiefes Luftholen vor dem Einstürzen der Welt,“ murmelte Puran, als er eines Abends am Fenster der Stube stand und hinaus starrte in den blutroten Sonnenuntergang. Es war eine böse Farbe, die ihm Sorgen machte. Hinter ihm saß die gesamte Familie in der Stube versammelt und jeder hing seiner eigenen Beschäftigung nach. Sukutai stickte Muster auf eine Tischdecke, Alona las ein Buch, das unglaublich zerfleddert aussah und das Puran noch nie gesehen hatte, Kiuk und Nalani waren mit ihren Stammbaumlisten zu Gange und Tabari ging ein Tagesblatt lesend in der Stube herum. Jetzt blieb er kurz stehen und drehte den Kopf zu seinem Sohn.

„Ja, so fühlt es sich an,“ sagte er auch murmelnd, „Es ist boshaft…“ Er seufzte, warf das Tagesblatt auf den Couchtisch und orderte an der Tür den Küchenjungen herbei, er solle Tee und Gebäck bringen. Plötzlich ertönte aus weiter Entfernung ein dumpfes, unheimliches Grollen wie ein Knurren des grantigen Himmels, das alle Familienmitglieder inne halten und aufhorchen ließ.

„Was war das?!“ fragte Alona entsetzt und sprang auf die Beine. Das Grollen dauerte an und ließ die Menschen erschaudern, als es statt leiser nur lauter wurde.

„Himmelsdonner,“ keuchte Tabari erbleichend und Puran fuhr am Fenster zurück, als er genau in die Blutsonne starrte. Plötzlich sah er in der Sonne das Feuer, das kommen würde, das gewaltige Feuer und den Zorn des Himmels, der sich in Blut und Tod über sie ergießen würde. Er stöhnte benommen, als die finsteren Bilder vor seine Augen huschten, so schnell, dass er sie nur flüchtig wahrnehmen konnte.

Die weiße Spirale. Der flammende Regen. Cholena, die kopflos in die Finsternis stürzte und nach ihm schrie. Plötzlich zog sich in ihm etwas auf grauenhafte Weise zusammen, als das panische Gefühl mit solcher Heftigkeit in ihn zurückkehrte, dass er unwillkürlich aufschreien musste. Er spürte, wie sein Vater ihn auffing, als er keuchend nach hinten kippte, in dem Moment, in dem er das Gesicht eines Jungen vor sich sah, der ihn aus seltsam vertrauten und gefürchteten grünen Augen anstarrte. In seiner Hand hielt er eine kleine Spirale.

Er hatte den Jungen schon mal gesehen… es war Jahre her, aber er erkannte das Gesicht sofort wieder. Das Gesicht mit den grünen Augen verzerrte sich zu einer grinsenden Grimasse.

Als er keuchend und hustend mit dem Grollen aus dem Himmel und trotz Tabaris Griff auf dem Boden zusammenbrach, hörte er die Geister wieder wispern und die Stille brechen.
 

„Du kannst nicht davonlaufen… mit Flamme und Schmerz wird der Schatten über Tharr fallen und euch alle begraben.“
 


 

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TEH DRAMA xD Hey ist Karana nicht in Buch 3 auch mal Visionen sehend umgekippt? xD Muss wohl in der Familie liegen xD Und hey, wer in diesen Träumen alles auftaucht... xD und Hey, Salihah hatte ein Tagebuch xD Das Random-Kapi ever, einself, aber nächstes Kapi gehts endlich mal wieder richtig ab xD

Der Zorn des Vater Himmel

Die Nacht, in der das Feuer über Tharr kam und sich Nalanis und Purans ewiger Traum bewahrheitete, begann mit einem mächtigen Donnergrollen, wie sie es bei Sonnenuntergang bereits schon mal gehört hatten. Es erschütterte die Erde und den Himmel gleichermaßen, es war wie eine bösartige, unheilschwangere Trommel in der Finsternis, die den Menschen durch Mark und Bein ging.

„Das ist doch Lärmbelästigung!“ rief Tabari wütend und warf sich in seinem Bett auf die andere Seite, sich das Kissen über den Kopf ziehend, „Verdammt, Ruhe, Vater Himmel und Mutter Erde!“ Nalani kauerte sich neben ihm bei jedem Trommelschlag mehr zusammen wie ein verängstigtes Kaninchen, als das ungute Gefühl, das sie seit Jahren hatte, rapide schlimmer wurde, mit jedem Herzschlag schien es sich ins Unermessliche zu steigern… Schuld waren das Beben der Erde und das Trommeln des zornigen Himmels.

„Kommt nicht hierher!“ wisperte sie und schloss bebend die Augen, während Tabari hinter ihr fluchte und meckerte. „Bleibt fern, Zorngeister des Himmels!“

Was immer Puran am Abend gesehen hatte, das ihn so entsetzt hatte, dass er zu Boden gegangen war und sie ihn hatten ins Bett bringen müssen, jetzt zehrte es an ihr und es würde nicht loslassen, bis es das letzte Bisschen Verstand aus ihrer Seele gepresst hatte.

Öffne die Augen, Nalani! Befahlen die Geister in ihrem Kopf, und sie weigerte sich und presste die Fäuste so sehr zusammen, dass es schmerzte.

„Bleibt fern!“ keuchte sie abermals, als die Stimmen ihren Befehl wiederholten, bis sie nach dem vierten Mal endlich dem Befehl folgte… und erstarrte.

Das Zimmer war taghell erleuchtet, obwohl es mitten in der Nacht war. Doch der Schein war nicht Schein des Tageslichtes, es war ein böses, rotes Leuchten, ein Licht, dass keine Geborgenheit, sondern den Tod versprach. In dem Moment, in dem Nalani noch mit offenem Mund in Richtung Fenster starrte, von wo der Schein zu kommen schien, ertönte das Grollen und Donnern direkt über ihren Köpfen in einer Lautstärke, als bräche der Himmel über dem Schloss zusammen. Gleichzeitig wurde das gesamte Gemäuer mit einem heftigen Krachen erschüttert und warf Tabari und Nalani aus dem Bett.

„Was, im Namen aller Mächte der Schöpfung-…?!“ schrie Tabari und erbleichte, als er sich aufrappelte und das Beben ihn gleich noch einmal umwarf, das ganze Schloss wurde erfasst von dem grauenhaften Zorn der Himmelsgeister, es warf sich hin und her und mit einem lauten Krachen zerbarsten die hölzernen Balken über dem Schlafgemach, herein geflogen kam ein Stein aus purem Feuer.

Nalani schrie.

„Es ist der flammende Regen aus meinen Träumen! Wir werden angegriffen!“ Kaum hatte sie ausgesprochen, gingen bereits die Vorhänge und Teppiche lichterloh in Flammen auf.
 

Puran fuhr keuchend aus seinem unruhigen Schlaf hoch, als das unwirkliche Zischen und Krachen direkt über ihm ihn in Angst und Schrecken versetzte. In Windeseile sprang er aus dem Bett und stürzte zum Fenster. Das Beben des Bodens warf ihn beinahe von den Beinen, ehe er sich am Fensterbrett festhalten und hinaus starren konnte.

„Himmelsdonner!“ japste er fassungslos bei dem Anblick, der sich ihm bot.

Das Schloss brannte. Der Hof und die Ställe standen in Flammen, aber nicht nur sie – das ganze Land schien zu brennen, und aus dem Himmel fielen Klumpen aus Feuer. Der Himmel war schwarz vom Rauch, der von brennenden Ländereien und Ortschaften aufstieg, und ein dröhnendes Beben der Mutter Erde erfüllte die Nacht wie ein Klageschrei des Todes. Puran brauchte einen Moment, um sich klar zu machen, was hier geschah – was es bedeutete, was hier geschah. Und zum ersten Mal begriff er den Traum vom Flammenregen, den er seit Jahren immer wieder geträumt hatte… zum ersten Mal spürte er die Panik, die er nur aus den Träumen kannte, in wirklicher, grauenhafter Realität.

Sie würden alle sterben.

Das war das Ende von Tharr! Das Ende der Welt…
 

„Du kannst nicht davonlaufen… mit Flamme und Schmerz wird der Schatten über Tharr fallen und euch alle begraben.“
 

Er stand wie angewurzelt vor dem Fenster und war unfähig, sich zu rühren, seine Augen sahen nicht das Feuer im Land, sondern die brutale Grausamkeit des Geschehens, und er bemerkte den brennenden Stein, der direkt auf sein Fenster zuflog, erst, als es schon quasi zu spät war. Als das Feuer das Glas des Fensters sprengte und ins Zimmer polterte, verfehlte es den jungen Mann um Haaresbreite, stattdessen trafen ihn die Glasscherben und die Wucht des Schlages warf ihn zu Boden, während sich die Scherben schmerzhaft in seine Arme bohrten, die er reflexartig schützend vor sein Gesicht gehalten hatte. Der Raum wurde von einem lauten Krachen erschüttert, als der Feuerball in die Ecke knallte und dort zu explodieren schien, sämtliches brennbare Material in Brand steckte und die Möbel erzittern ließ. Puran lag keuchend am Boden und sah noch den Schrank auf sich zugestürzt kommen, dessen Füße das Feuer angesengt hatte, und in dem Moment, in dem er glaubte, sein Leben wäre zu Ende, wurde der gesamte Schrank plötzlich zur Seite geschleudert, aus dem kaputten Fenster hinaus und davon.

„Puran! Steh auf, los!“ kreischte seine Cousine mit verheultem Gesicht und zerrte an ihm, dabei griff sie in eine Scherbe, die in seinem Arm steckte, und ihre Hand begann zu bluten. Das Mädchen heulte verzweifelt auf und zerrte energischer. „Steh auf, wir müssen hier raus! Es stürzt alles zusammen, wir sterben, wenn wir nicht hinausgehen!“ Mehr instinktiv als aus klarem Verstand heraus rappelte er sich hustend auf.

„Warum bist du hier?!“ keuchte er, als Alona versuchte, das Feuer mit Alara zu löschen – vergeblich. Der einfache Zauber kam gegen das Himmelsfeuer nicht an.

„Lauf!“ schrie sie stattdessen und er folgte ihrem Befehl. Als sie das Zimmer hastig verließen, krachte der Rest des Mobiliars in sich zusammen und sie entkamen um Haaresbreite den Flammen, die aus der offenen Tür stoben.

Im Flur sah es ähnlich aus und die zwei rannten durch Trümmer und Flammen, hinab über die Reste der Treppe, auf deren Stufen das Feuer ebenfalls züngelte.

„Mutti, Vati!“ schrie Alona dabei, „Wo seid ihr?!“ Doch weder von Kiuk, noch von Sukutai, Tabari oder Nalani war irgendwo eine Spur. Puran blieb abrupt auf halber Treppe stehen und wollte wieder hinauf.

„Wir müssen nachsehen, vielleicht sind sie oben eingesperrt!“ schrie er hysterisch, und als er losrennen wollte, warf seine heulende Cousine sich in blinder Panik an seinen Hals.

„Geh nicht weg! Mach, was du willst, aber geh nicht fo-… aah!“ Sie schrien beide auf, als die Treppenstufe, auf der sie standen, vom Feuer angefressen zusammenbrach und beide herunter stürzten. Schmerzhaft polterten sie zu Boden, geistesgegenwärtig sprang Puran wieder auf die Beine und packte seine Cousine, um sie hoch zu zerren. Die Treppe war hinüber, hinauf könnten sie nicht mehr. In ihm kam eine grauenhafte Panik hoch – was war mit ihren Eltern? Wo steckten sie, warum waren sie nicht hier?

Warum ging die Welt unter?

Er packte Alona, um mit ihr zur Tür hinaus zu rennen. Doch auf dem Weg dahin wurde das Schloss von einem weiteren Beben erschüttert und warf die zwei von den Beinen. Alona schrie vor Angst, als sie abermals zu Boden stürzten und Puran sich samt seiner Cousine noch rechtzeitig zur Seite rollte, als ein weiterer Feuerstein zu Boden stürzte.

„D-die Tür!“ schrie er fassungslos und sah mit an, wie die Tür lichterloh in Flammen aufging.

„Keller!“ war alles, was die vor Panik bebende Alona neben ihm herausbrachte, und zusammen rannten sie zurück durch die Halle, durch den unteren Flur in Richtung Kellertreppe. Vom Keller aus führte eine kleine Steintreppe hinaus auf den Hof. Begleitet von lautem Krachen und Dröhnen und weiteren Feuerschlägen schafften sie es, in den Keller zu rennen, wo es erstaunlich ruhig war.

„Wir können hier drinnen nicht bleiben!“ keuchte Puran außer sich und rannte mit seiner heulenden Cousine durch den Korridor in Richtung Tür. „Ich bringe dich hier weg in Sicherheit, dann suche ich alleine nach unseren Eltern, kapiert? Du wirst dich dann nicht rühren, Alona!“

„Ich hab Angst!“ kreischte sie panisch, „I-ich will nicht, dass du weggehst! Hörst du?!“ Er hielt inne und lauschte, als das Donnern kurz verstummte. Alona drückte sich wimmernd gegen die kalte Steinwand. Sie erzitterte noch immer, aber das gröbste Beben war scheinbar vorbei…

„Hör zu,“ machte Puran zu ihr und versuchte mit aller Kraft, die Panik in seinem Inneren zu verdrängen – einer musste das Mädchen beschützen, verdammt, er durfte jetzt nicht wahnsinnig werden! Er tat ein paar Schritte nach vorne und stieß die Tür zu einem Raum zu seiner Linken auf. „Schnapp dir ein Paar alte Schuhe aus dem Schrank und was zum Anziehen, was immer uns da draußen erwartet, es wird nicht nett sein. Und es wird gefährlich sein… diese Steine fallen nicht einfach vom Himmel. Das sind Leute, die uns angreifen, die sie werfen…“ Alona erbleichte. Als sie sich nicht rührte, suchte er ihr selbst ein Paar alte Schuhe aus dem Schrank im Raum, in dem normalerweise alte, nicht mehr verwendete Kleider aufgehoben wurden. Er schnappte sich in Ermangelung eigener noch passender Schuhe irgendwelche alten von seinem Vater und zog sich eine Handvoll alter Klamotten und die Schuhe über, ehe er einen Schrank weiter hastete, um nach Waffen zu suchen. Sein eigenes Schwert war in seinem Zimmer geblieben… ein Jammer um das schöne Stück.

Er hatte sich gerade zwei Schwerter aus dem Schrank geschnappt und ein Messer ergriffen, als das Donnergrollen abermals kam, lauter als zuvor. Alona schrie auf dem Flur, den einen Stiefel bereits angezogen und den anderen in der Hand. Als Puran zu Boden ging, war es nicht das Beben oder der markerschütternde Donner über ihnen, der den Himmel zerplatzen lassen musste, was ihn zu Boden brachte, sondern die Flut von brutalen Bildern, die plötzlich vor seinen Augen aufflimmerte. Klirrend ließ er alle Waffen fallen und hustete, auf allen Vieren am Boden kauernd, als eine so mächtige Übelkeit von ihm Besitz ergriff, dass er das Gefühl hatte, in Ohnmacht fallen zu müssen.

Cholena! Wo war sie? Was war mit ihrem Dorf Rathuk? Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte Puran sich, die Geister hätten ihm die Wahrheit nicht so grauenhaft direkt ins Gesicht geworfen.

Seine hübsche Freundin verschwand in der Finsternis. Er versuchte sie einzuholen, doch je schneller er rannte, desto weiter weg war Cholena, bis die Dunkelheit sie verschlungen hatte. Er schrie. Vor seinen Augen flammte Cholenas Schicksal auf, als er das Feuer im Dorf Rathuk sehen konnte, die garstigen Flammen, die auch das Schloss seiner Vorfahren zerstörten. In dem Moment des Bildes, das ihm die schemenhafte Gestalt des Grauens zeigte, die seiner Geliebten den Schädel zertrümmerte, schalteten sich sowohl sein Verstand als auch seine Vernunft ab.
 

Alona wusste nicht, was passierte. Sie lag benommen und schockiert am Boden und alles, was sie wahrnahm, war, dass ihr Cousin plötzlich wie am Spieß zu schreien anfing. Er kriegte sich gar nicht mehr ein, als wollte er sich plötzlich die Lunge aus dem Leib schreien. Ein weiteres Beben erschütterte das Schloss und das junge Mädchen schaffte es erst beim dritten Versuch trotz des donnernden Grollens von oben und des Zitterns der Erde, sich aufzurappeln und den zweiten Schuh anzuziehen. Die Feuersteine sprengten bereits den Aufgang in den Korridor, den sie herab gekommen waren, und das Mädchen sprang kreischend zur Seite, um den fliegenden Schutthaufen und der Staubwolke auszuweichen. Bebend vor Panik stolperte sie in den kleinen Lagerraum und zerrte heulend an Purans Arm.

„Du musst aufstehen!“ schrie sie ihn an, „Was ist mit dir?!“

„FASS MICH NICHT AN!“ brüllte er wie wahnsinnig und sie fuhr erbleichend zurück, als er das Gesicht hob, verzerrt von einem entsetzlichen Schmerz ob der Grausamkeit der Himmelsgeister – plötzlich wusste sie, was los war. Sie trat keuchend vor Entsetzen zurück und strauchelte, während Puran versuchte, auf die Beine zu kommen.

„D-das ist gelogen!“ wisperte Alona, „D-das ist doch nicht so…?!“

„Cholena!“ schrie ihr Cousin außer sich und stürzte hustend und keuchend wieder zu Boden, als eine neue Erschütterung ihn wieder aus dem Gleichgewicht warf. Er schrie den Namen seiner Freundin und er verfluchte die Himmelsgeister, die es wagten, ihm die Bilder wieder und wieder vor Augen zu halten… das Feuer, das brennende Dorf, der Holzscheit, der den Kopf des Mädchens zertrümmerte –

Er hörte Cholena schreien, bevor die Finsternis sie umfing… und ihn ebenso.
 

Er wusste nicht, wie er auf die Beine gekommen war. Das nächste, das er halbherzig wahrnahm, war, dass er rannte, dass er schrie und das entsetzliche Gefühl in seinem Inneren sich mit der aufkommenden, heftiger werdenden Übelkeit mischte. Es fühlte sich an, als würde es ihn innerlich zerreißen und auffressen, und er schnappte geistesabwesend die Schwerter wieder vom Boden und stürzte hinaus, den Korridor hinunter. Er hörte Alona hinter sich nicht mehr nach ihm rufen, er hörte das Krachen und das zornige Donnern aus dem Himmel nicht mehr.

„Ich bringe sie um!“ schrie er wutentbrannt, „Ich bringe sie alle um, diese Schweine, die sie getötet haben! Ihr werdet kopflos am Boden kriechen wie Würmer, ihr Maden! Ihr werdet euch wünschen, niemals geboren worden zu sein!“

„Warte, nicht!“ kreischte Alona hysterisch und wollte ihm nachsetzen, um ihn aufzuhalten, doch mit einer zornigen Handbewegung und einem Windzauber zerschmetterte er schon völlig in Rage die Tür, die hinaus führte, mit solcher Wucht, dass der Druck des Schlages sowohl ihn als auch Alona abermals zu Boden schleuderte. „Puran, komm zurück! Warte!“ heulte das Mädchen, als er schon die Treppe hinauf sprang ans unwirkliche Tageslicht, das keines war, sondern der bösartige Schein des Feuers. Heulend folgte sie ihm hinaus, um ihn nicht zu verlieren, obwohl sie Angst hatte, direkt hinter der Treppe von irgendetwas erschlagen zu werden. Aber oben empfing sie nur ein ohrenbetäubendes Krachen, die darauf folgende Erschütterung hätte sie beinahe zurück die Treppe hinab geschleudert. Alona warf sich schreiend zu Boden – wo war ihr Cousin hin? „Puran! Puran, wo bist du?!“ schrie sie verzweifelt seinen Namen, doch er antwortete nicht. Der Hof stand in Flammen, ebenso wie das Schloss. Als mit einem weiteren Krachen der Südturm von einem Feuerstein getroffen wurde, fuhr das Mädchen herum und erstarrte. Das alte Gemäuer, das über Jahrhunderte felsenfest hier gestanden hatte und Wind und Wetter getrotzt hatte, brach brennend und ächzend in sich zusammen, die Steine des Turms stürzten dem Mädchen bereits vor die Füße, ehe sie Zeit bekam, zu reagieren. Plötzlich wurde sie von hinten gepackt und mit enormer Kraft weggezerrt, bis sie schrie, weil ihr Arm schmerzte. Als Alona herumfuhr, sah sie in das aufgelöste Gesicht ihrer Mutter.

„Mein Mädchen!“ heulte diese und drückte die unversehrte Alona an sich, als hinter ihnen der Südturm in sich zusammen fiel und auf den brennenden Hof stürzte. „Mein Mädchen, du bist am Leben! Ich habe überall nach dir gesucht!“

„Wo ist Puran?!“ jammerte Alona und begann vor Erleichterung, ihre Mutter lebend und so gut wie unverletzt zu sehen, erneut zu weinen.

„Wir haben keine Zeit, wir müssen von hier weg!“ keuchte die Mutter und hustete ob des giftigen Rauches, der die Luft verpestete. Die stickige Hitze mit dem Arm wegzuwedeln versuchend zerrte sie ihre Tochter rennend in Richtung des Haupttores. „Das Schloss wird angegriffen, wir m-müssen so schnell wie möglich fort von hier!“ Sie schrien und fuhren zusammen, als direkt hinter ihnen etwas explodierte und die Druckwelle samt einem Feuerschwall die Frauen zu Boden warf. Alona kreischte. Alles brannte, alles ging zugrunde!

Es war wirklich das Ende der Welt…
 

Flammen und Hitze.

Das war alles, was Puran wahrnahm, als er kopflos durch das Inferno rannte auf der Suche nach einem Schuldigen, nach irgendjemandem, den er für Cholena abstechen konnte, dem er seinen ungebändigten Zorn ins Gesicht schleudern konnte. Er wusste nicht mehr, wo Alona war, er wusste gar nichts mehr. Plötzlich stolperte er über etwas und stürzte zu Boden, worauf er hustete, ehe er sich umblickte, um zu sehen, worüber er gefallen war. Entsetzt schrie er auf, als er nichts anderes als eine brennende Leiche sah, die da mitten im Weg lag und nicht mehr zu erkennen war – vermutlich einer der Angestellten. Puran fragte sich kurz, ob der nette Küchenjunge und seine Frau und sein Sohn noch lebten…

Die nächsten Gedanken ließen die Übelkeit mit aller Macht zurückkehren – was war mit seinen Eltern? Wo waren sie? Am Leben? Oder so wie Cholena… …

„Cholena!“ Er jammerte und schrie dann gellend auf, ehe er in sich zusammensank und weiter schrie, ihren Namen schrie, als könnte er dadurch den Schmerz in seinem Inneren und die grauenhafte Panik verdrängen… er wollte den Rest seines Lebens hier liegen und schreien, verdammt!

Ihm wurde ein Strich durch die Rechnung gemacht, als er plötzlich hoch gezerrt wurde. Als er herum fuhr, blind vor Schmerz und Zorn, hätte er mit seinem Schwert beinahe seine eigene Mutter enthauptet, die vor ihm stand. Nalani duckte sich rechtzeitig und schlug ihm die Waffe aus der Hand.

„Spar dir dein Geschrei für später, Sohn!“ blaffte sie ihn an, „Das sind die Zuyyaner, die uns überfallen, das ganze Land steht in Flammen! Wir können hier nicht bleiben, wir werden das Schloss jetzt verlassen!“ Hinter ihr tauchte auch Tabari auf, reichlich zerzaust und mit angesengten Kleidern, das Gesicht schwarz vom Ruß. Er hustete und Puran strauchelte. Die Welt drehte sich, die heißen Steine des Hofes verbrannten seine Schuhsohlen… er bemerkte es nur beiläufig, als er heftig ein und ausatmete und am ganzen Körper erzitterte.

Die Flammen waren immer noch da…

„Jetzt haut endlich ab!“ empörte der Herr der Geister sich, als sein Sohn kein Wort sagte und seine Frau sich zu ihm umdrehte, „Ich suche nach Kiuk, Sukutai und Alona, ihr beide verschwindet jetzt endlich von hier! Das Anwesen meiner Vorfahren, wirklich großartig! Dafür werden diese Schweinehunde bezahlen, das schwöre ich!“ Er spuckte wütend auf den Boden und schubste Nalani zu Puran herüber, der sein Schwert aufhob und abermals taumelte.

„Mir ist schlecht…“ stöhnte er benommen, wurde aber ignoriert, während seine Mutter ihn unsanft am Oberarm packte.

„Wehe, du kommst nicht nach, Tabari!“ warnte die Frau ihren Mann, „Dann bringe ich dich eigenhändig um!“
 

Flammen und Kälte.

Das war paradox. Puran nahm die Umwelt nicht wirklich wahr, als seine Mutter ihn mit sich durch die Hintertür hinauszerrte, weg vom Hof und vom brennenden Anwesen. Der Wind wehte stickige, vom Rauch verpestete Luft in ihre Gesichter und ließ ihre Augen tränen, als sie nach Osten rannten, zu den Klippen. Von unten kam Kälte, als die Brandung an die Felsen preschte, das Rauschen der Wellen konnte dennoch nicht das Donnern aus dem blutigen Himmel übertönen.

„Wo wollen wir hin?!“ keuchte Puran und fuhr herum. Als er das Schloss von weitem sah, sah er erst das wirkliche Ausmaß des Infernos. Es war, wie seine Mutter sagte, das ganze Land stand in Flammen. Der Himmel und die Erde brannten gleichermaßen, zurückbleiben würde ein schwarzes Land des Todes.

„Die Klippen runter,“ sagte die Mutter und stoppte in dem Moment vor einem kleinen Serpentinenweg, der eng an der Klippe hinab in Richtung Meer führte. Nalani war lange nicht hergekommen… „Rasch, runter!“ befahl sie und schob ihren traumatisierten Jungen vorwärts. Er war ihr einziges Kind, seine Sicherheit kam an allererster Stelle. Ehe sie zuließe, dass irgendein Zuyyaner ihn erwischte oder das Feuer ihn verbrannte, würde sie lieber selbst sterben.

Als eines der flammenden Geschosse unmittelbar hinter ihnen auf die Wiese schlug und explodierte, hätte der Druck die zwei beinahe von der Klippe gefegt. Puran keuchte und warf sich bäuchlings auf den Pfad, auf den er gerade so passte, während Nalani zu Boden geschleudert wurde und das Gras Feuer fing.

„Mutter!“ schrie Puran panisch in der Furcht, sie wäre getroffen worden, doch sie rappelte sich bereits hustend wieder auf.

„Rasch! Geh, unten sind wir geschützt vor den Schlägen!“

Den Serpentinenweg hinunter gestolpert und über ein paar rissige Felsen geklettert erreichten die beiden eine kleine Höhle in der Klippe, in die sie krochen. Nalani hatte keine Gedanken dafür, sich an Dinge zu erinnern, die hier lange vor Purans Geburt geschehen waren, zu tief war das Beben, das selbst die Klippen erschütterte, als sie sich in die dunkle Höhle kauerten und dem Donnern lauschten. Tabari wusste, dass sie hier waren, er würde nachkommen und sie finden – obwohl er Klettern verabscheute.
 

Puran dachte nicht an seinen Vater. Auch nicht an seine Cousine oder seinen Onkel und seine Tante… nicht an seine Heimat, das Schloss seiner Ahnen, das in diesem Moment über ihnen dem Erdboden gleich gemacht wurde, überrannt von den Zuyyanern und ihrem Tod bringenden Feuer. In seinem Kopf waren nur die scheußlichen Bilder, seine geliebte kleine Cholena, ihr zertrümmerter Schädel, ihr dunkles Blut, das den Sandboden vom brennenden Rathuk bedeckte.

„Cholena!“ jammerte er und kauerte sich noch enger zusammen in der Höhle, worauf Nalani ihn ansah. Sie schloss ihre Augen kurz mitleidig, weil sie wusste, was in ihm vorging. Es war nicht wirklich schwer zu erraten.

„Es tut mir leid…“ sagte sie dumpf, und er erschauderte. Die Bilder raubten ihm den Verstand, hatte er das Gefühl, er wollte das nicht sehen! Er wollte gar nichts, höchstens aus dieser Höhle springen und dabei sterben…

„Ich verfluche sie, die Geister, und die Mächte der Schöpfung, die das zulassen!“ brüllte er und fuhr so schnell hoch, dass er sich schmerzhaft den Kopf an der Höhlendecke stieß. Nalani setzte sich alarmiert auf, als er laut zu schreien anfing und mit Wucht die Hand gegen die Felswand schmetterte. Es gab ein unschönes Knacken und die Frau keuchte, als er den Schmerz der ohne Zweifel mindestens einmal gebrochenen Hand nicht zu bemerken schien und nur weiter jammerte.

„Puran, reiß dich zusammen! Du kannst ihr nicht helfen, wenn du so herum schreist!“

„Niemand kann ihr helfen, weil sie tot ist!“ brüllte er sie an, „Die Geister veräppeln mich, halten sie es für nötig, mir das vor Augen zu halten?! Die finden das witzig, ich will das nicht! Ich will gar nichts, verdammt noch mal!“

„Puran!“ schrie Nalani hysterisch, als er herumfuhr und sie Angst hatte, er würde sich tatsächlich aus Wahnsinn aus der Höhle stürzen; doch er tat es nicht, stattdessen brach er wieder am Boden zusammen und schrie und heulte und weinte um seine Cholena, sein hübsches Mädchen. Nalani erschauderte, als sein grausamer Schmerz sie tief im Inneren erschütterte und bewegte, so erhob sie sich und kroch vorsichtig zu ihm herüber, um die Arme um ihn zu legen und ihn wie ein verängstigtes Kind an sich zu drücken.

„Weine…“ wisperte sie tonlos, „Weine, das werden wir alle noch viel tun, denn das, was uns heute genommen wurde, wird niemals zurückkehren…“

Und sie umarmte ihn und weinte im Inneren mit ihm.
 

Das Beben ebbte nach einer gefühlten Ewigkeit ab, das Donnern nicht. Wie Trommeln des Grauens dröhnten die Donnerschläge durch die Nacht, die wieder zum Tag wurde. Puran schlief einen traumlosen Schlaf, während seine Mutter am Rand der Höhle saß und in den blutigen Sonnenaufgang starrte, der nicht wirklich einer war. Der Himmel war verhangen vom Rauch des brennenden Landes. Es war ein Morgen des Todes und der Trauer.

Tabari war nicht gekommen. Seine Frau wurde langsam nervös, während sie da saß, bis sie sich schließlich überwand, ihren traumatisierten Sohn aus seinem Schlaf zu reißen.

„Wach auf,“ befahl sie ihm dumpf, „Ich gehe zurück und sehe, wo Vati bleibt. Bleib hier und rühr dich nicht, Puran.“ Er brauchte etwas, um ihre Worte zu begreifen und zu verstehen, wo er war. Die Erinnerung war wie ein Hammerschlag auf seinen Kopf. Zum ersten Mal spürte er die grauenhaften Schmerzen in seiner Hand und, dass er sie nicht bewegen konnte. In seinem Kopf pochte es, die Geister schwiegen.

„Warte!“ keuchte er, als Nalani sich aufmachen wollte, „I-ich… ich bleibe hier nicht alleine! Ich komme mit dir, Mutter!“

„Es ist zu gefährlich,“ entgegnete sie im Hinausklettern, „Ich will nicht, dass dir etwas zustößt.“

„Als ob das jetzt noch einen Unterschied machen würde!“ entgegnete er verbittert, missachtete ihren Befehl und folgte ihr trotzig. Nalani widersprach nicht mehr.

Oben auf der Klippe war das Land schwarz und brannte zum Teil noch immer. Als die zwei herüber zum Schloss sahen, fanden sie nur eine alte Ruine vor, die Reste der Grundmauern und den halben Hauptturm. Flammen züngelten noch immer aus dem Grundstück und Nalani schlug sich die Hände vor den Mund, als sie eine ungewohnte Angst überfiel, ein Gefühl, das in seiner Grausamkeit selbst Kelar Lyra überstieg.

„Tabari!“ schrie sie ungeahnt panisch und rannte voran, Puran blieb nichts anderes übrig als ihr nachzurennen, um sie nicht zu verlieren… nein, nicht auch noch sie.

Das schöne Land Dokahsan war nicht wiederzuerkennen. Nichts war mehr so, wie er es gekannt hatte, jetzt war alles tot und platt. In der Ferne ertönten die Trommeln des Krieges, sie wurden lauter und kamen näher. Als Puran für einen Moment stehen blieb und ernüchtert nach Norden starrte, sah er in der Ferne sich bewegende Punkte, die nach Süden rückten.

„Sie kommen hierher… es sind Massen von denen!“ japste er und beeilte sich, seiner Mutter zu folgen, die gerade die Ruine erreichte.

Es war ein Jammer, so durch die Reste des einst so stolzen Anwesens zu staksen wie ein Storch im Salat. Zerbrochenes Geschirr lag zwischen den Trümmern am Boden, zerstörte Möbel zwischen den Balken und Steinen. Verkohlte Häufchen waren die letzten Erinnerungen an die schweren, teuren Gardinen der Stuben und Schlafzimmer, an die aufwendig gewebten Teppiche. Sie fanden Tabari, als sie einmal um den Trümmerhaufen herum gekraxelt waren. Da stand er inmitten der Misere und starrte nach Westen, wie eine Statue aus Stein, ohne sich zu rühren. Sein schwarzer Umhang war kaum weniger zerfetzt als die verkohlten Vorhänge am Boden, seine strohblonden Haare waren durch Ruß und Asche beinahe so schwarz wie die seiner Frau. Als Nalani ihn erreichte und ihn keuchend am Arm fasste, drehte er wie mechanisch seinen Kopf.

„Du bist wohlauf…“ stöhnte die Frau erleichtert und vermochte ihre kalte Hülle nicht länger zu wahren, vermochte ihre Emotionen nicht länger zu verschließen ob des Steins, der ihr vom Herzen fiel bei seinem Anblick. Er war so gut wie unversehrt, an seinem Arm klaffte eine grauenhafte Wunde und in seinem Gesicht waren ein paar Kratzer und Blutergüsse, ansonsten schien er gesund zu sein.

„Ich habe sie nirgends gefunden,“ murmelte er benommen, als seine Frau ihn erleichtert umarmte und Puran sie endlich einholte. „Kiuk, Sukutai und Alona sind wie vom Erdboden verschluckt, ich habe jeden Stein umgedreht!“ jammerte der Herr der Geister, „W-wie kann ich weggehen ohne die Gewissheit, ob mein Bruder und seine Familie wohlauf sind?!“

„Sie sind Telepathen, vielleicht haben sie sich weg teleportiert, um sich in Sicherheit zu bringen!“ meinte Nalani und sah ihn an, „Das wäre durchaus nicht unwahrscheinlich-… glaubst du nicht, die Geister würden dir zeigen, wenn Kiuk etwas zustieße?“ Puran versetzte es einen schmerzhaften Stich. Zeigen… ja, offenbar zeigten die Geister einem gerne Gewissheit um den Verbleib seiner Lieben… er dachte an Cholena und zog scharf die Luft ein, um die furchtbare Übelkeit zu verdrängen.

„Wenn sie hier nicht sind, werden sie fort sein, Mutter hat recht,“ schaffte er zu sagen und Tabari sah ihn ungläubig an, „W-wir müssen hier weg, Vater! Wir können uns hier nicht verstecken und von Norden kommen noch mehr dieser Scharlatane!“ Tabari und Nalani drehten synchron die Köpfe gen Norden, von wo das Trommeln und Donnern immer noch erschallte und lauter wurde. Der rötliche, unwirkliche Schein des Feuers, das gerade erlosch, tauchte den Himmel in eine bösartige Farbe. Sie hatten kaum die Köpfe nach Süden gewandt, um zu sehen, was für ein Weg vor ihnen lag, da erzitterte die gespannte Haut von Mutter Erde erneut. Die drei Schamanen strauchelten und Puran keuchte, während Nalani den Kopf herum riss.

„Sie kommen, rasch!“ rief sie, „Wir können nicht die Straße benutzen, es wäre viel zu riskant! Entlang der Klippen führt ein Pfad weiter unten nach Süden, so weit ich weiß, wenn wir den nehmen, ist die Gefahr, dass diese Zuyyaner uns erwischen, so gut wie nicht vorhanden.“

„Klippen?“ brummte Tabari, „Du willst, dass ich klettere, während ich nicht weiß, wo mein Bruder ist, während-… m-mein Schloss, das Anwesen meiner Ahnen ist zerstört! Die Welt brennt, ich kann das nicht, Frau!“ Er zeigte schnaufend auf den Boden am Eingangstor, oder dem, was davon übrig war. „Diese Penner sind hier einmarschiert, oder haben es versucht, sie haben wohl nicht damit gerechnet, dass hier noch jemand lebt, der fähig ist, ein Schwert zu führen! Ich mache das gerne noch zehnmal, wenn ich dafür auf der Straße gehen kann, in unserem Land, wohlgemerkt!“

„Spinner!“ schnaufte Nalani, „Gegen diese Armada können wir nicht mal zu dritt etwas ausrichten! Das sind Zuyyaner, das sind Magier, und sie ticken anders als wir! Ihr Feuer ist unlöschbares Feuer, selbst meine Wasserzauber haben nichts gegen es bewirkt!“ Es bebte erneut und Tabari schnappte nach Luft, während Puran benommen zurücktrat und dabei beinahe auf einem herumliegenden Holzscheit ausgerutscht wäre.

Das Trommeln kam näher.

Rascher.

„Schnell!“ befahl Nalani und packte Tabaris Kragen, ehe sie ihren Sohn vor sich her schubste und mit beiden Männern die Trümmer des Anwesens hinter sich ließ, zurück zu den Klippen rannte. Hinter ihnen dröhnte der Donner erneut, als die zweite Welle des Todes über das Land schwappte, um alles zu vernichten, was sie zu fassen bekäme.

Puran warf im Rennen einen letzten Blick auf die Reste des Schlosses, das ihm seit er denken konnte als Heimat gedient hatte. So ging es dahin, das ehrwürdige Gemäuer, das Jahrhunderte lang gestanden hatte… es sollte das letzte Mal sein, dass er es zu sehen bekam.
 

Der Pfad, von dem Nalani gesprochen hatte, führte hinter der Höhle, in der sie und Puran übernachtet hatten, die Klippen hinab und schlängelte sich kurz vor dem sehr schmalen Strand eben weiter nach Süden. Tabari fluchte über die Kletterei, die anderen ignorierten ihn aber, so gab er es bald auf und folgte artig.

„Du bist verwundet…“ murmelte Puran irgendwann dumpf, nach einer gefühlten Ewigkeit, die sie dem Pfad folgten. Das Donnern wurde dumpfer, viel lauter erschien ihnen nun das Rauschen des Meeres zu ihren Füßen. Manche Wellen preschten so gewaltig an die Klippen, dass sie den Menschen ins Gesicht spritzten. Nach kurzer Zeit waren alle drei nass bis auf die Knochen gewesen.

Tabari griff nach seinem Arm. Das Blut lief jetzt wieder, weil die Wunde nass geworden war, und das Salz des Meeres brannte unangenehm darin.

„Halb so wild,“ seufzte er jedoch und grinste unerwarteter weise verzerrt. Puran senkte den Blick. „Vielleicht steht Nehawa noch, das müssten wir auf diesem Weg eigentlich kreuzen, vielleicht hat da jemand Verband…“

„Ein Heiler wäre sinnvoller,“ seufzte Puran und betastete dabei flüchtig seine gebrochene Hand. Es schmerzte höllisch, doch er spürte es erst Momente nachdem es wehgetan hatte durch die dicke Schicht aus Schock und Trauer hindurch. Je länger sie wanderten, desto klarer wurde ihnen, dass jetzt alles anders sein würde. Das war kein Spiel und kein Traum. Sie konnten nicht aufhören, wenn sie keine Lust mehr hatten, oder aufwachen.

„Mittag ist noch nicht durch,“ meinte Nalani vorne, die nach dem Stand der Sonne sah, „Wenn wir zügig gehen, könnten wir vor Einbruch der Nacht das Undar-Gebirge erreichen. Die Berge bieten uns Schutz für die Nacht. Zum Glück haben wir Sommer und es ist nicht kalt…“

„Undar?“ keuchte Puran, „Das ist Kreis Sendhul, irgendwie ist der Gedanke beängstigend, Vikhara so schnurstracks zu verlassen…“

„Vikhara, ach!“ jammerte Tabari und imitierte unbeabsichtigt Sukutais Tonfall, „Ich bin Statthalter des Kreises, ich fühle mich schuldig! Ich hätte für die Leute da sein sollen, ich-…!“

„Nichts hättest du!“ schnappte Nalani verbiestert, „So überraschend, wie der Angriff gestern Nacht kam, hätte kein Mensch reagieren können! Dich trifft keine Schuld, Tabari, Statthalter bist du gewesen! Vikhara ist tot, ebenso unser Rang und unser Anwesen, übrig bleiben wir drei im schwarzen Land der Asche!“ Tabari seufzte deprimiert. Puran seufzte auch.

„Wie sind die so schnell hergekommen, die Zuyyaner?“ fragte er bedrückt, „Ich meine, müssen sie nicht mit Raumschiffen nach Vialla fahren? Dann hätten sie von Süden kommen müssen…“

„Die Zuyyaner haben die Raumschiffe erfunden, sie können mit denen überall landen und brauchen dafür keinen Flughafen,“ entgegnete Nalani. „Ich denke, sie sind von Yiara gekommen. Und sie sind rasch, sie haben aus der Luft und vom Land angegriffen, sie können fliegen ohne Flügel oder fliegende Maschinen, heißt es. Damit sind sie weitaus schneller als wir Tharraner zu Fuß.“

„Warum greifen die uns an, wenn die hohen Politiker irgendein Problem miteinander haben?“ nörgelte Tabari, „Wahrscheinlich hat der neue Zuyyanische Kaiser eine Klatsche…“

„Das sicher auch. Nein, die wollen nicht die Politiker… noch nicht. Die wollen die Zivilisten, um zu zeigen, was für eine Übermacht sie sind,“ behauptete die Frau, Puran seufzte.

„Ich dachte, sie wollten mit Tharr oder dem Dreiweltenrat nichts mehr zu tun haben…? Das ergibt in meinen Augen keinen-…“ Er stockte abrupt, als Nalani inne hielt. Die Männer kamen neben sie und blickten ernüchtert auf das, was sich ihnen bot. Die Klippen waren stetig abgefallen und waren jetzt nicht mehr vorhanden, das kleine Stück flache Küste erstreckte sich aber nur bis hinter das Dorf Canulo weiter südlich. Direkt vor ihnen lag jetzt das, was von dem Fischerdorf Nehawa übrig geblieben war.

Es war ein Ort des Todes. Puran schnappte entsetzt nach Luft bei den Resten der einst simplen, aber hübschen Holzhütten, bei den schwarz verbrannten Leichen und Körperteilen, die die Straße zierten. Er wollte nicht wissen, wessen Bein das war, über das er gerade stieg, als sie benommen ihren Weg durch das tote Dorf fortsetzten. Wessen Haus rechts neben ihnen in sich zusammenbrach, als sie vorbei gingen, als hätte es nur darauf gewartet, sich jemandem ächzend mitzuteilen. Er dachte schaudernd an die kleine Pakuna, die er vor vielen Jahren als Kind getroffen hatte; sie hatte hier gelebt, oder? Und Ram Derran – selbst der Gedanke an den mürrischen Großwildjäger und dass er tot hier herum liegen könnte versetzte ihm einen schmerzhaften Stich. Er hatte Ram Derran nie gemocht, aber deswegen wünschte er ihm noch lange nicht den Tod.

„So, wie das hier aussieht, sind sie auch hier schon heute Nacht gewesen,“ murmelte Tabari und sah sich um. „Hier ist kein Zeichen von Leben mehr – die haben alles gnadenlos platt gewalzt, was ihnen in den Weg kam… Nalani hatte recht, sie sind wirklich flink. Was denkst du, wie weit sind sie gekommen bis jetzt, Nalani? So überraschend, wie das kam, bekommen sie wohl auch keinen Widerstand…“

Puran hörte seinen Eltern nicht mehr zu, als sie das Dorf hinter sich ließen und sich beeilten, an dem kleinen Strand entlang nach Süden zu kommen, möglichst bald wieder das ansteigende Land hinter Canulo zu erreichen; dahinter würden sie bald die Undar-Berge erreichen. Er hatte auch keine Gedanken übrig für das sehr kleine und nicht sonderlich hohe Gebirge, das einzige in Dokahsan. Die Leichen in Nehawa hatten ihn schmerzlich an Rathuk erinnert, Cholenas Dorf, dem er einfach so den Rücken gekehrt hatte. Es würde genauso aussehen wie Nehawa… und eine der verkohlten Toten dort wäre Cholena, seine süße, kleine Cholena. Ihm kam der Gedanke, dass er umkehren und ihre Leiche holen sollte, um sie würdig zu bestatten – wie hatte er einfach wegrennen können? Was für eine Schande! Als er abrupt stehen blieb, entschied er sich jedoch sofort anders, als er das Trommeln im Norden hörte.

Oben sind die Zuyyaner. Ich kann nicht zurück… nicht mehr jetzt. Es ist zu spät… Cholenas Körper und Seele sind für immer verloren.

Die Gedanken zerfraßen ihn beinahe von innen, als er seinen Eltern verbissen folgte. Es war kalt, obwohl es Sommer war. Aber es war nicht das Wetter, das kalt war, es war sein Inneres, das erkaltete, mehr und mehr, je weiter er sich von seiner Heimat und seiner toten Freundin entfernte. Wenn sie in Undar ankämen, wäre er ein kalter Stein geworden, zerfressen von Schuldgefühlen und Trauer, so glaubte er.
 

Er konnte kein Stein geworden sein; er bewegte sich noch, stellte Puran verdrossen fest, als sie nach Sonnenuntergang das Undar-Gebirge erreichten. Während Tabari kleinlaut über das Klettern nörgelte, ging seine Frau zügig voran. Puran wunderte sich über seine Mutter, die nicht schnell genug fortkommen zu können schien. Was war das für ein Verrat an Vikhara, an dem toten Anwesen, an allen Leuten, die sie gekannt hatten, die jetzt vielleicht gestorben waren und nie wieder zurückkehren könnten?

Er wurde eines Besseren belehrt, als es zu regnen begann. Es war ein warmer Sommerregen, dennoch erfreute er keinen der Menschen im Gebirge. Der Himmel grollte über dem zerklüfteten Fels, dieses Mal kam es nicht von den Zuyyanern, sondern von dem heraufziehenden Gewitter. Nalani entdeckte eine kleine Höhle, die eigentlich mehr ein Raum unter einem Felsvorsprung war, der nach Osten zeigte. Hinter den niedrigeren Gipfeln Undars lag irgendwo noch immer das Meer, die Bucht, an deren Küste sie den ganzen Tag lang entlang spaziert waren. Unter dem Vorsprung waren sie wenigstens vom Regen geschützt, nur der Wind erfasste sie noch, als sie sich dicht an die Felswand kauerten.

„Kannst du den Wind nicht mal abschalten?“ fragte Nalani ihren Mann dumpf, Tabari seufzte.

„Damit das Gewitter für immer über unseren Köpfen hier sitzt? Nein, der Wind muss die Wolken weiter wehen, wenn ich ihn jetzt anhalte, machen wir heute Nacht kein Auge zu…“ Er lachte bitter. „Wobei, das werden wir wohl ohnehin nicht. Seht uns an, wie Verbannte hocken wir hier mitten in der Pampa, haben weder Heim, noch heile Kleidung noch Nahrung, alles was wir haben, sind Waffen, mit denen wir uns gegenseitig den Rest des Lebens sparen können, oder so…“

„Wie überaus optimistisch,“ stöhnte Puran ermüdet, gab seinem Vater aber innerlich recht. Als sie schwiegen, grollte der Himmel abermals. Sie sprachen nicht mehr, jeder versuchte für sich, zur Ruhe zu kommen und ein wenig Schlaf nachzuholen, denn das war bitter nötig nach der Aufregung.

Nalani kauerte an die Felswand gelehnt am Boden und starrte in den östlichen Himmel, in die Schwärze der Gewitterwolken, aus denen ab und zu Blitze zuckten. Der Regen ergoss sich über das Land und spülte vielleicht das Blut der Toten fort, das das Land besudelte, und die Verwüstung, die die Zuyyaner hinterlassen hatten. Ja, Krieg war über das Land gekommen… und es war nicht das Ostreich Ela-Ri gewesen, das Unheil gebracht hatte.

Spare deinen Groll und Zorn, Vater Himmel, sprach sie innerlich zu den grollenden Wolken, Lasse ihn lieber über jenen ab, die deiner Frau Mutter Erde und euren Kindern das angetan haben… Sie unterbrach ihre Gedanken, als sie plötzlich einen sanften Druck auf ihrer Schulter spürte. Als sie nach links sah, war Tabaris Kopf gegen sie gekippt, und so angelehnt schnarchte ihr Mann jetzt leise vor sich hin. Sie seufzte leise und strich ihm mit einer Hand über den Arm, der noch immer verwundet war. Die Wunde sah übel aus, aber sie hatte weder die Kraft, sie mit bloß einer Lira zu heilen, noch die Materialien zum Versorgen… Ihr nächster Blick galt Puran, der etwas abseits ebenfalls an der Wand kauerte und den Eltern den Rücken zukehrte. Sie hoffte, er könnte diese Nacht besser schlafen als in der davor…

Puran schlief nicht. Er lag lang wach da und starrte ins Nichts, ohne wirklich etwas zu sehen. Der Himmel grummelte zornig über ihm und das Rauschen des Regens, der gegen die Berge prasselte, klang gleichmäßig, dennoch beunruhigend. Die Geister flüsterten mit seltsamen Stimmen in seinem Kopf, aber er verstand die Sprache nicht. Er versuchte wütend, sie zu ignorieren.

Erst zeigt ihr mir tausendmal, wie meine Freundin sterben musste, und jetzt soll ich euch noch zuhören? Was verlangt ihr von mir, Himmelsgeister? Ist das eure Strafe dafür, dass ich euch so viele Jahre verleugnet habe…?

Darauf kam keine Antwort. Puran dachte an seine Cholena. Ob der Regen auch über Rathuk gekommen war und das Blut weggewaschen hatte? Das Gefühl, ihre Leiche dort gelassen zu haben, stieß ihm immer wieder übel auf, und irgendwann setzte er sich stöhnend wieder auf und hielt sich keuchend den pochenden Kopf. Ihm schwindelte.

„Wenn du bei mir bist, muss ich mich doch nicht fürchten!“ hörte er Cholenas Stimme plötzlich in seinem Kopf. Er sah ihr fröhliches Lächeln noch immer, und schmerzlich wurde ihm wieder bewusst, warum sie jetzt tot war…

Er war einmal nicht bei ihr gewesen.

Als er dann doch einschlief, merkte er es nicht, es war ein unruhiger Schlaf. Im Traum erschien ihm eine lebendige Cholena. Sie tanzte über eine Frühlingswiese, ihre blonden Haare wehten im Wind. Sie trug ein hübsches, schlichtes Kleid, das bei ihrem Tanz auf und ab wippte.

„Bin ich dir schön genug, mein Schatz?“ strahlte sie ihn glücklich an, drehte sich herum und ließ Haare und Kleid wirbeln. Puran wollte die Hände nach ihr ausstrecken, erreichte sie aber nicht.

„Ja!“ rief er, „Das bist du, Cholenachen! Lauf nicht fort-… ich… ich will dich doch nur anfassen, ich will dich in den Arm nehmen… ich will, dass du als meine Frau an meiner Seite bist und nicht irgendwo, wohin ich dir-… n-nicht folgen kann!“

„So wird es nicht kommen…“ flüsterte das Mädchen und tanzte vergnügt weiter über die Wiese. Doch je mehr er sich bemühte, sie zu erreichen, desto weiter fort tanzte sie. Dann blieb sie in einiger Entfernung stehen und strich das Kleid gewissenhaft über ihrem Bauch und ihren Hüften glatt. „Vielleicht ist es nicht Wille der Geister,“ lächelte sie darauf, „Weine nicht um mich, Puran… ich werde hier auf dich warten! Ich werde nicht weglaufen… behalte lieber die schönen Bilder von mir im Kopf und denke nicht nur an die hässlichen…“ Er schnappte nach Luft.

„A-aber man lässt mich ja nicht…“ Cholena kicherte und begann wieder, über das frische Gras zu tanzen.

„Wir werden uns wiedersehen,“ versprach sie und streckte die Hände nach ihm aus, worauf ihm schmerzlicher denn je bewusst war, dass er sie nie erreichen könnte…

„Warte, geh nicht fort, bitte!“ schrie er ihr nach, aber sie drehte sich um und tanzte davon über die Wiese, weiter und weiter fort von ihm… bis die Wiese mit einem Mal in Flammen aufging, die Erde zerbrach und der Himmel ergoss sich blutend über dem sterbenden Land. Puran rief verzweifelt nach Cholena, aber sie war verschwunden – statt ihrer entdeckte er plötzlich jemanden, den er schon einmal im Traum gesehen hatte, ein kleines Mädchen, das auf dem Rand eines aus der brechenden Erde herausragenden Stückes Fels balancierte. Ehe er das Bild des fremden Kindes richtig erfassen konnte, verschwand die Vision vor seinen Augen.
 

Die drei Menschen erwachten durch ein unnatürliches Geräusch über ihnen. Ein leises Bröckeln von Fels ganz in der Nähe… Tabari erhob sich als Erster.

„Was war das?“ fragte er alarmiert. Nalani und Puran rappelten sich auch auf und die Frau zog die Brauen zusammen.

„Waffen ziehen,“ befahl sie kaltblütig und zog vorsichtshalber Kadhúrem, die Männer zogen jeder ein Schwert, ehe sich alle drei an die Felswand hinter ihnen drückten und zu den Seiten sahen. Puran war noch nicht wach genug, um wirklich beunruhigt zu sein, was ihn insgeheim ärgerte – was würde er tun, wen gleich Zuyyaner um die Ecke gesprungen kämen? Sie abstechen für Cholenas Tod? In dem Moment hatte er mehr Lust, ihnen nur die Visage zu polieren und sie zu fragen, was sie sich dachten, ihr Land zu überfallen ohne ersichtlichen Grund.

„Ich höre keine Trommeln,“ bemerkte er geistesabwesend und registrierte nicht, dass Tabari neben ihm stutzte. Ja, das war merkwürdig. Der Himmel war aufgeklart, es schien bereits auf Mittag zuzugehen. Das Gewitter war vorüber, und offenbar hatte es den Rauch weggewaschen aus dem Himmel. Das Geräusch kam näher, jetzt erkannten sie deutlich Schritte von Menschen. Sie hörten ein Schnauben in einiger Entfernung wie ein Ausdruck des Missfallens.

„Zuyyaner?“ wisperte Tabari Nalani beinahe tonlos zu, damit das, was immer da oben herum ging, ihn nicht hörte. Nalani legte ihr Ohr an die Felswand.

„Schwer zu sagen, klingt nicht nach gerüsteten Soldaten. Wenige, ich höre nur zwei.“

„Na, mit denen werden wir fertig, wenn einer es wagt, herzukommen…“ stöhnte Tabari und ergriff das Schwert fester. Die Schritte kamen näher und verstummten plötzlich.

„Sie sind über uns, auf dem Vorsprung,“ formte Nalani mit dem Mund und zeigte hinauf, worauf alle nach oben sahen. Eine Weile standen die drei unten da und rührten sich nicht, hielten gespannt die Luft an, die Waffen bereits, falls sie jemand angriffe –

Es kam alles anders.

Plötzlich tauchte direkt vor Purans Nase etwas neben ihrem Unterschlupf auf, gleich darauf schrie Puran synchron mit dem Neuankömmling vor Schreck laut auf, was dazu führte, dass Tabari und Nalani ebenfalls schreiend herum fuhren und Tabari mit dem Schwung beinahe sowohl seinen Sohn als auch den Menschen vor ihm skalpiert hätte mit dem Schwert. Dann sah er noch einmal hin und ließ die Waffe augenblicklich fallen.

„Bei Himmel und Erde – Meoran?!“
 

„Hab ich mich verjagt!“ stöhnte Meoran Chimalis und strauchelte etwas, „Ich habe mich zu Tode erschreckt!“

„Und wir uns ebenso!“ empörte Puran sich, „W-was taucht Ihr hier aus dem Nichts auf, Meister, ich wäre fast ohnmächtig umgefallen vor Schreck!“

„Und das in meinem Alter!“ jammerte eine Stimme hinter Meoran, und erst jetzt erkannten die drei Lyras, dass der Mann seine Mutter Keisha auf dem Rücken trug. „Ich habe geglaubt, es ginge zu Ende – aber das haben wir ja alle oft den vergangenen Tag, nicht wahr?“

„Ruja, komm runter!“ rief Meoran hinauf, „Sie sind tatsächlich hier und wir haben uns alle gegenseitig halb tot erschreckt…“ Alle sahen auf, als nach einigen Momenten auch Ruja vom Vorsprung geklettert kam, während Meoran seine Mutter von seinem Rücken klettern ließ.

„Geh mal alleine, du alte Schachtel, solange wir nicht klettern müssen,“ nölte er dabei, ohne es wirklich böse zu meinen. Alle drei schienen wohlauf zu sein, und als endlich alle unter dem Vorsprung waren, mussten sich alle gegenseitig vor Erleichterung umarmen und drücken. Puran stellte ernüchtert fest, wie lange er Ruja nicht gesehen hatte… es war seltsam, sie plötzlich wieder vor sich zu haben, und er wagte es auch nicht, sie zu umarmen, stattdessen neigte er sehr reserviert den Kopf vor ihr, was sie mit einem liebevollen Lächeln erwiderte.

„Sie hat eure Lebensgeister gespürt,“ erzählte Meoran gerade und zeigte auf Ruja, „Deswegen sind wir hergekommen. – Also, in die Richtung sind wir sowieso unterwegs, wir wollten nach Undath, oder wenigstens sehen, ob die Stadt noch steht, da sie so abseits der Hauptstraße nach Süden ist, könnte es jedenfalls sein.“

„Moment, sie hat unsere Lebensgeister gespürt?“ fragte Tabari verblüfft.

„Sie ist Telepathin, sie kann das,“ behauptete sein Freund grinsend, während Ruja leise lachte. Sie schien erst etwas einwerfen zu wollen, ließ es dann aber, verstummte und lächelte nur weiter, wendete sich dann höflich an Keisha und fragte, ob sie in Ordnung wäre. Puran sah sie nicht länger als nötig an und konzentrierte sich lieber auf die anderen. Es war nicht dasselbe Gefühl, das er spürte, wenn er die schöne Ruja ansah, wie damals in Tuhuli, es war völlig anders, und dennoch beunruhigte es ihn noch immer, ihr zu nahe zu kommen. Ihre Anwesenheit hatte eine gleichzeitig angenehme und unangenehme Wirkung.
 

„Wie seid ihr so schnell hergekommen?“ grübelte Tabari inzwischen, „Tuhuli liegt weiter nördlich als das Lyra-Schloss, ihr hattet es doch viel weiter bis hierher!“

„Wir haben auch kaum gerastet, mein Guter,“ seufzte Meoran und kratzte sich am Kopf, „Sie haben Tuhuli vorletzte Nacht quasi von Kopf bis Fuß in Brand gesteckt, sie kamen aus dem Nichts, ganz einfach so. Das ganze Anwesen stand komplett lichterloh in Flammen, was blieb uns übrig, als Hals über Kopf zu fliehen? Die Stadt zu verteidigen war absolut völlig aussichtslos, diese Zuyyaner waren eine dermaßene Übermacht gegen uns, da erschien es mir klüger, die Frauen zu retten und davon zu rennen, statt mich sinnlos heldenhaft zu opfern.“

„Weise Entscheidung, Meister,“ kommentierte Puran das nüchtern und Meoran seufzte.

„Nicht wirklich, aber sagen wir, es gab keine Alternative.“

„Habt ihr die Schweinehunde gesehen?“ grunzte Tabari missmutig, „In Tuhuli, meine ich?“

„Sicher haben wir das. Sie sind aus Yiara gekommen, sie müssen dort gelandet sein. Aber ich vermute, dass sie nicht alle gelandet sind, Angriffe von oben kamen in solchem Ausmaß, das kann doch ohne Maschine nicht funktionieren… nicht bei Zuyyanern, heißt das.“

„Denen traue ich alles zu,“ brummte Keisha, „Diese Kletterei macht meine alten Füße kaputt, wehe, Undath steht nicht mehr, ich kriege die Krise!“

„Die Zuyyaner sind im Gegensatz zu uns Schamanen keine sonderlichen Elementarmagier,“ entgegnete Nalani ernst, „Ich habe mich viel informiert über die Zuyyaner, seit ich ahnte, dass sie uns durchaus gefährlich werden könnten. Sie haben nur drei Elemente, die sie benutzen können, und das sind Feuer, Eis und Wasser. Ihre viel größere und gefährlichere Stärke ist ihre psychische Magie. Sie können ihre Seele kontrollieren und sich selbst so fliegen lassen, sie können in sogenannten Mondkugeln, die sie bei sich tragen, die Zukunft sehen, und was viel furchtbarer ist, sie können nicht nur ihren eigenen Geist kontrollieren, sondern auch die von anderen Menschen.“

„Du meinst, sowas wie hypnotisieren?“ fragte Keisha beunruhigt. Nalani nickte, die Männer sahen sich bestürzt an.

„Ich weiß nicht, wie weit ausgereift dieses Können bei jedem einzelnen ist, aber es heißt, sie könnten sogar… den Willen von Menschen beeinflussen und lenken, oder ihre Gedächtnisse verdrehen oder gar auslöschen.“

Auf diese Ansage hin herrschte Schweigen unter den jetzt sechs Magiern. Keisha fiel Tabaris Wunde auf und sie verdrehte die Augen.

„Sag doch was, Junge, wozu bin ich Heilerin?!“ maulte sie, und der Blonde ließ sich widerstandslos von ihr den Arm heilen. Als nächstes kam Purans gebrochene Hand an die Reihe, und Nalani seufzte innerlich froh über Keishas Anwesenheit. So ein Glück… in Zeiten wie jenen waren Heiler unermesslich wertvoll. Was immer geschah, sie müssten vor allem Keisha mit allen Mitteln schützen, denn ohne ihre Heilkünste wären sie alle verloren.

„Wenn wir uns weiter nach Süden durchschlagen wollen, sollten wir vorsichtig sein,“ ergriff Meoran das Wort, der seinen ebenfalls reichlich malträtierten schwarzen Umhang zurecht rückte. „Wir sollten nachts gehen und tagsüber in Höhlen oder Felsnischen Schutz suchen. Hier im Gebirge werden die Zuyyaner vermutlich nicht herum schwirren, sie werden die großen Straßen nach Süden nehmen; aber nicht unbedingt nur die. Jedes einzelne Dorf in ganz Vikhara ist ausgebrannt. Von weitem habe ich Sinami und Threaldan brennen sehen, sie werden die Seen von Aledyn auch nicht verschont haben. Und sie sind verdammt schnell, dass sie in Yiara gelandet sind, ist vielleicht einen Vierteltag vor ihrem Einmarsch in Tuhuli gewesen, nicht mal!“

„Schlafen die nicht?“ schnaufte Tabari argwöhnisch.

„Ich weiß es nicht, aber wenn sie in einem Vierteltag durch ganz Frostland gerannt sind und in der Nacht ganz Vikhara geplättet haben, sind sie in diesem Moment längst in Yatoret oder noch weiter südlich,“ der Jüngere räusperte sich. „Die setzten auf ihren Überraschungsangriff, weil keiner mit ihnen rechnet und niemand sie aufhält, kommen sie durch das Land wie ein Messer durch die Butter.“

„Zumindest die erste Welle,“ meinte Puran grimmig, „Wenn wir die zweite irgendwie stoppen, bekommen sie keinen Nachschub und irgendjemand weiter unten wird sie schon zum Stehen bringen.“

„Das sagt sich leicht, ich fürchte, es bleibt nicht bei zwei Wellen, mein Junge,“ machte Meoran verdutzt, „Es sind Massen von ihnen, es sind unglaubliche Massen, wie Heuschreckenplagen schwärmen sie über das ganze Land. Es mag wehtun, aber, so fürchte ich, Dokahsan ist verloren. Was wir auf keinen Fall tun sollten, ist uns ihnen kopflos in den Weg zu stellen. Zuyyaner sind anders als wir, wir können nicht darauf setzen, dass sie an denselben Stellen schwach sind wie wir Tharraner. Das ist anders als Anthurien, wir haben es hier nicht mehr mit unseresgleichen zu tun. Die Zuyyaner kommen nicht aus unserer Welt und nach dem, was ich hier gesehen habe, will ich nicht wissen, wie ihre ist.“ Sie schwiegen abermals eine Weile. Puran linste Ruja verstohlen an, die ihn aber nicht zu bemerken schien. Sie sah stumm nach Osten in die aufgehende Sonne.

„Was wollen sie überhaupt hier?“ fragte Nalani dann an Meoran gewandt, „Nach Vialla, um es dem König zu geben? Wieso landen sie dann nicht sofort in Vialla?“

„Darum geht es nur zweitrangig, fürchte ich,“ entgegnete der Lehrer, „Sie sind hier oben gelandet, um so viele wie möglich zu morden, ehe sie tatsächlich nach Vialla kommen. Der König wird nicht viel tun können, er wird erbleichend hinter seinen Mauern stehen und zusehen, wie sein Land überrannt wird, die nichtmagischen Soldaten sind keine Gegner für Zuyyaner, weniger noch als wir.“

„Das… das ist ja fürchterlich!“ entrüstete Puran sich, „W-was haben wir den Zuyyanern getan?“

„Nichts,“ meinte Nalani, „Sie verabscheuen uns als minderwertige Unwürdige, ebenso wie die Ghianer. Zuyyaner halten sich grundsätzlich für etwas Höheres und Besseres, Puran.“

„Das ist kein Grund, die Unwürdigen gleich zu eliminieren!“

„Doch, für diese Monster scheinbar schon. Ich glaube nicht, dass sie ein Gewissen haben; die Soldaten schon gar nicht. Die tun, was man ihnen befiehlt.“ Nalani blickte zu Meoran und Tabari. „Was machen wir, wenn wir in Undath sind? Falls es noch steht, meine ich; wir werden nicht lange an einem Ort bleiben können, früher oder später werden die Zuyyaner auch nach Undath kommen, falls sie da noch nicht waren.“

„Uns von großen Städten fernhalten und den Straßen den Rücken kehren,“ behauptete ihr Mann ernst, „Am besten machen wir uns, sobald wir Dokahsan verlassen haben, auf in Richtung Osten, vielleicht nach Janami. Weg vom Geschehen, wenn sie nicht im Osten auch irgendwo gelandet sind, sind wir da in der guten Richtung.“

„Wir sollen einfach weglaufen? Was ist mit den Dörfern in der Gegend, sollen die alle überrannt werden?“ fragte Puran entsetzt.

„Wie Meoran sagte,“ erwiderte seine Mutter und setzte sich auf den Steinboden, „Es ist nicht klug, wenn wir uns den Zuyyanern kopflos in den Weg stellen. Jeder Versuch, Leute zu retten, mag noch so edel sein, Sohn, aber in unserer Position auch ebenso töricht. Du wirst niemanden retten können, sondern am Ende selbst draufgehen, wenn du es versuchst. Wir müssen sie beobachten aus der Ferne, etwas anderes wird uns nicht übrig bleiben.“ Damit war die Diskussion für sie beendet, und während Tabari, Meoran und Keisha sich ebenfalls hinsetzte, um die Nacht abzuwarten und dann den Weg nach Undath fortzusetzen, sah Puran erneut zu Ruja, die bisher nicht gesprochen hatte und immer noch nach Osten blickte. Er fragte sich gerade innerlich, ob mit ihr alles in Ordnung wäre, da drehte sie sich zu ihm um. Die anderen begannen neue Gespräche und bekamen nicht mit, dass die junge Frau sprach.

„Es tut mir aufrichtig leid, Puran,“ wisperte sie, und er senkte beschämt den Kopf.

„Sieht man mir etwa so sehr an, was geschehen ist?“

„Uns allen ist sowas geschehen. Ich habe deine Freundin nicht gekannt und maße mir darum nicht an, viel über sie zu sagen, ich habe nur gehört von ihr. Es schmerzt und das ist nur natürlich. Vergib mir, wenn es mir schwer fällt, dir ins Gesicht zu sehen, Puran… ich denke, es hilft dir nicht, mich jetzt anzusehen.“ Er errötete.

„Ich danke dir für dein Beileid,“ murmelte er trocken nach einer langen Pause, Ruja neigte wohlerzogen ihren hübschen Kopf. Als sie ihr Gesicht wieder hob, hatte er seines abgewandt und sah seinerseits nun nach Norden, in die Richtung, in der die Sonne nie schien.

Der Norden war finster, aus dem Norden kam oftmals das Unheil…

Lange war die nördliche Provinz, Dokahsan, ihre Heimat gewesen. Das hatte jetzt ein Ende, wie so vieles eines hatte.

Dann ist das wohl… wirklich das Ende der Welt, von dem die Geister sprechen…?

Die Gedanken daran, Dokahsan für immer den Rücken zu kehren, waren schmerzhaft; fast so schmerzhaft wie die an den Tod seiner Cholena.
 


 

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xD? August 976. Ende Part zwei <3

Das Heilermädchen

Dritter Teil: Anthurien
 


 

Sie zogen mehrere Tage durch ein Land der Verwüstung. Nachdem sie Hoffnung geschöpft hatten ob der Tatsache, dass die Stadt Undath hinter dem Gebirge noch stand, wurde ihnen diese gleich wieder genommen, als sie weiter nach Süden kamen. In Undath hatten sie sich mit Proviant, neuen Kleidern und Reisedecken gerüstet, sodass sie die Straße, die an der Küste entlang führte, hinter der völlig zerstörten Stadt Morusk nach Osten verließen. Sie passierten die Reste des Walls, den Kelar vor Zeiten an der Grenze Dokahsans hatte bauen lassen, und betraten die Provinz Anthurien, mit der ihre Väter und Großväter lange Zeit Krieg gehabt hatten.

Anthurien und Dokahsan waren in ihrer Fläche etwa gleicher Größe. Aber die Provinzhauptstadt Anthuriens, Pinhu, war sehr viel kleiner als Yiara. Das Feuer von Morusk hatte sich tief in die westlichen Wälder Anthuriens gefressen, erst nach einem weiteren Reisetag erreichte die Gruppe ein Stück bewachsenes, offenbar noch unbeschadetes Land.

„Wir machen einen Bogen um die Straße und sind jetzt auf dem besten Weg quer feldein nach Brayk,“ erklärte Keisha, die in Undath eine staubige alte Landkarte von einem alten Herrn billig bekommen hatte. Sie hatten Glück, dass Meoran vor ihrer Flucht aus Tuhuli einen kleinen Stapel Wertpapiere aus der Kommode mitgenommen hatte, von dessen Großteil sich die sechs Menschen alles Nötige in Undath gekauft hatten. Die alte Karte war nicht ganz aktuell, einige Namen von Städten waren geändert worden und einige kleinere Dörfer waren noch nicht mal verzeichnet. Aber für das Nötigste würde sie ihren Dienst tun.

Meoran lugte seiner Mutter über die Schulter, während sie auf einem umgestürzten Baumstamm saß, an dem sie ein feuerloses Lager für die Nacht aufgeschlagen hatten.

„Brayk? Großartig, ich denke, wir sollten dann um die Stadt auch gleich einen Bogen machen, die Städte werden sie sicher angreifen und so viele wie sie sind, werden sie nicht auf der Hauptstraße nach Vialla bleiben, sondern fröhlich nach allen Seiten Patrouillen schicken.“

„Na, wenn unser weiser Lehrmeister das sagt,“ machte Tabari grinsend und sein Freund murrte.

„Das sage ich, wenn unser großer Jäger und Fallensteller mal in die Hufe käme und das Abendessen endlich zerteilte…“ Keisha lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf sich, wieder auf die Karte sehend.

„Wenn wir um die Stadt einen Bogen machen wollen, sollten wir über Norden ausweichen. Gebirge sind immer gut zum Verstecken, das Nächste wäre das Nosar-Gebirge im Osten von Anthurien, an der Grenze zum Land Janami.“

„Wenn wir auf dem Weg nach Nosar zwei Straßen kreuzen, brauchen wir sicher drei Tage, bis wir dort sind,“ bemerkte Meoran dumpf. „Außerdem, he, Gebirge, du willst doch nur, dass ich dich wieder trage, du faule Tante, weil du ja nicht klettern kannst!“

„Trägt mich auch jemand, wenn ich sage, dass ich nicht klettern kann?“ freute Tabari sich, aber keiner antwortete ihm, so nahm er verdrossen die zwei Kaninchen weiter aus, die er auf dem Weg erlegt hatte, damit sie die haltbaren Vorräte noch etwas aufsparen konnten. „Aber in Nosar soll es viele Gämsen geben, die sollen gut schmecken und die Felle und Hörner sind ganz schön wertvoll…“

„Ihr seid doch albern!“ rief Nalani herüber, die gemeinsam mit ihrem Sohn und Ruja ein kleines Zelt aufbaute, für das sie in Undath Lederhäute und leichte, aber stabile Pfähle gekauft hatten. Es war genug Platz darin für die sechs Menschen, was alle etwas überrascht hatte, von außen sah es unheimlich eng aus. Aber es schützte vor Regen und Wetter. „Einer jammert über das Klettern, einer denkt nur ans Essen, wo kommen wir da hin? Wir müssen nicht klettern, es gibt ein Stück Grasland zwischen den Ausläufern der Berge und dem Fluss nördlich davon. Verblüffenderweise führt keine Straße da durch, die Straße nimmt nämlich den Pass nach Kerhi-Uhl.“

„Eine Straße durch das Gebirge, obwohl es einen Weg direkt daneben gibt?“ fragte Puran sie verdutzt, „Wie… strategisch unklug angelegt.“

„Und wieso kann deine Mutter die Karte im Kopf, hätte sie das vorher gesagt, hätte ich den alten Tattergreis nicht bequatschen müssen!“ empörte Keisha sich in Purans Richtung.

„Ich kenne sie nicht auswendig, ich habe mir nur die Straßen angesehen in Richtung Osten.“

„Kerhi-Uhl,“ wiederholte Meoran nachdenklich, „Das erscheint mir wie eine gute Idee, der östliche Teil des kleinen Kreises Kerhi-Uhl ist abgegrenzt vom Rest der Provinz, im Norden durch einen Fluss, im Südwesten durch das Nosar-Gebirge. Vielleicht machen sich die Zuyyaner nicht die Mühe, an so abgeschiedene Hinterwäldlerstädte zu kommen, vielleicht stehen Darleri und Omaen noch. Von Omaen aus ist es nur noch ein Katzensprung nach Janami, die Stadt liegt direkt an der Grenze des Landes.“
 

Damit beschlossen sie, dem Angriff der Zuyyaner so weitläufig wie möglich aus dem Weg zu gehen. Der abgeschiedene Ostteil Kerhi-Uhls kam dabei gerade recht.

In der Nacht grollte der Himmel wieder über dem Land, als die Menschen in ihrem Zelt lagen. Puran starrte gedankenverloren hinauf an die lederne Decke des Unterschlupfes, während er dem Donnern lauschte. Es gab keinen Blitz und auch keinen Regen, es gab nur Donner aus dem Himmel. Ein komisches Gewitter.

Die Geister waren unruhig, und er war es ebenso. Er fand keinen Schlaf, vor seine Augen flogen nur verzerrte Bilder, die er nicht sehen wollte. Brennendes Land unter blutigem Himmel, Berge aus Toten und zerstörte Dörfer. In all der Zerstörung lief seine Freundin Cholena, quicklebendig und lachend, an ihm vorbei. Er versuchte sie festzuhalten, aber er griff in die Luft und das Mädchen verschwand im Inferno des Krieges.

„Cholena! Lauf nicht weg!“ keuchte er und drehte den Kopf; doch Cholena war verschwunden, stattdessen sah er das kleine Mädchen wieder, das er schon öfter in seinen Träumen gesehen hatte, das Kind mit den dunklen Haaren. Es sah in sein Gesicht aus riesigen, schwarzen Augen, ehe auch es im Feuer verschwand.

Er erwachte aus seinem unwirklichen Halbschlaf und sah noch die Umrisse des Mädchens vor sich, als er sich murrend auf seinem kleinen Schlafplatz aufsetzte. Die anderen schienen zu schlafen, so kroch er so geräuschlos wie nur irgend möglich aus dem Zelt, er konnte nicht still liegen und schweigen, er brauchte frische Luft.

Die Nacht war verhangen und der Himmel grollte immer noch, als der junge Mann sich etwas vom Lager entfernte und an den hohen Bäumen empor sah. Er fragte sich, wer das Kind war, das er jetzt schon öfters im Traum gesehen hatte… er kannte es nicht, abgesehen von den Träumen hatte er das Mädchen nie gesehen. Und dennoch kam ihm ihr kleines Gesicht irgendwie vertraut vor und so, als würde es nicht mehr lange dauern, bis er erführe, was der Traum bedeutete.

„Wie kann ich mir über sowas Gedanken machen, während ich um meine Cholena trauere?“ schimpfte er mit sich selbst und raufte sich die Haare. Wie pietätlos von ihm!

Aber es war Krieg. Jetzt war alles anders.

Puran erschrak sich beinahe zu Tode, als er mitten im Grübeln plötzlich eine reale Stimme hinter sich vernahm.

„Ich glaube nicht, dass Trauer dich am Denken hindern sollte, das wäre töricht, oder?“

Er fuhr keuchend herum. Hinter ihm zwischen den Fichten stand Ruja.

„Was zum-…?! I-ich habe mich halb tot erschrocken!“ platzte er heraus. Die Frau neigte höflich den Kopf.

„Vergib mir, das wollte ich nicht… ich sah dich fortgehen und bin dir gefolgt…“ Er stutzte für einen Moment. Was hatte sie? Sie war seinetwegen gekommen?

Wäre sie zufällig gekommen, hätte er es leichter ertragen…

Es fiel ihm noch immer schwer, ihr ins Gesicht zu sehen, obwohl sie jetzt schon mehrere Tage gemeinsam reisten. Puran hatte sich zuerst eingeredet, es würde leichter werden, weil jetzt alles anders war und er im Kopf genug anderes hatte; sie waren nicht in Tuhuli und sie steckte keine Blumen, sie waren in irgendeinem hässlichen Wald in Anthurien. Aber Ruja war immer noch Ruja. Sie war immer noch betörend schön, eine so hübsche Frau wirkte in der Verwüstung des Landes dermaßen fehlplaziert, dass es zu unwirklich erschien, sie tatsächlich neben sich zu haben. Obwohl das, was er jetzt empfand, wenn er sie ansah, sich gewaltig von dem unterschied, was er in Tuhuli gefühlt hatte, irgendwo tief verborgen in seinem Inneren würde das Begehren nach dieser Frau immer sein, hatte er das Gefühl.

Meorans Frau trat jetzt drei Schritte näher, worauf er unwillkürlich zusammenzuckte. Sie sollte bloß nicht zu nahe kommen… was dachte er da eigentlich? Er wurde schon wieder pietätlos…

Lass das, Puran, befahl er sich selbst grantig. Und zwar auf der Stelle. Wage niemals wieder in so eine Richtung zu denken, sie ist eine die Frau deines Lehrmeisters!

Er seufzte tief, als er ihr den Rücken kehrte und sich entschuldigte.

„Ich kann… dich nicht ansehen, Ruja, verzeih. Ich-… kann es immer noch nicht, meine ich.“ Sie verstand und lächelte bitter.

„Ich wollte mit dir sprechen… an sich geht es… in gewissem Sinne darum, Puran.“ Er schwieg. Er musste dazu nichts sagen, sie wusste, was er fühlte. Sie wusste es und dennoch tat sie, als wäre alles wie immer… hinter ihrer Liebenswürdigkeit war sie eine entsetzlich grausame Person, fand er mitunter. „Als Meoran neulich erzählt hat, ich hätte eure Lebensgeister gespürt und euch so gefunden, war das nur zum Teil richtig… ich habe nur deinen Lebensgeist gespürt und bin ihm gefolgt.“

Jetzt sah er sie doch an. Die Nacht war beinahe vorüber; am östlichen Horizont zeichnete sich ein blässlicher Schimmer ab. Im fahlen Sonnenaufgang sah Ruja bleich und krank aus. Aber sie lächelte mit höflich gesenktem Blick.

„Meinen-… wieso meinen?“ wollte er wissen. Sie nickte.

„Was du spürst, Puran… ist vielleicht nicht so unehrenhaft, wie du glaubst, ich… denke, es ist der Wille der Geister, dass wir uns auf diese Weise begegnet sind.“

„Das macht es nicht ehrenhafter, die Frau meines Meisters zu begehren,“ sagte er errötend und schämte sich gleich danach, es ausgesprochen zu haben.

„Das ist es nicht,“ widersprach die Frau, „Wir beide sind durch die Geister miteinander verbunden worden, es ist eine Art… seelisches Band zwischen uns, deswegen kann ich dich spüren, auch auf weitere Entfernung.“ Sie sah die unausgesprochene Frage in seinem Gesicht und fuhr fort: „Ich kann das, weil ich Seelenmagierin bin, du bist Schwarzmagier. Das Spüren von Geistern ist nicht dein Metier, du sollst sie ja beherrschen.“ Er drehte den Kopf in Richtung Osten. Beherrschen… er beherrschte gar nichts, er wurde wie ein Stück Holz von den Wogen des Willens der Geister hin und her geworfen.

Als er lange Zeit schwieg, trat sie direkt hinter ihn, bis er ihren sanften Atem in seinem Nacken spüren konnte und erschauderte. Wie gerne hätte er sich umgedreht und sie umarmt? Er seufzte erneut und zwang sich, ihr weiter den Rücken zu kehren.

„Du drehst dich weg…“ flüsterte sie ihm ins Ohr und streckte sich dabei; er war ein gutes Stück gewachsen seit Tuhuli.

„Ich habe nichts zu sagen,“ murmelte er bedrückt, und die Frau stellte sich wieder auf die ganzen Füße und lächelte sanft.

„Die Welt ist im Wandel. Du wirst sehen, sie… hat sich für immer verändert mit den Dingen, die geschehen sind.“ Er grinste verzerrt. Ja, das wusste er. „Du sorgst dich so viel…“ fuhr sie leise fort und er drehte langsam den Kopf in ihre Richtung, als sie ihre Hand hob und seine Wange hauchzart berührte. An sich wollte er sofort den Kopf wegdrehen, vermochte aber nicht, sich von ihrem Anblick loszureißen.

„Ich habe Träume,“ antwortete er ihr unverblümt, sie weiterhin anstarrend, „Und immer noch geht die Welt unter in Flammen und Zorn des Himmels. Es ist noch lange nicht vorbei, das hier… ist erst der Anfang.“ Er erwähnte das fremde Mädchen nicht, dessen Bedeutung er nicht kannte.

„So wird es sein…“ Ruja blickte hinauf in den Mischwald. „Die Blätter färben sich bald golden… und die Sonne verblasst mit jedem Tag mehr, den wir erleben. Ehe der Winter gekommen ist, wird es viele Flammen und viel Tod geben, so fürchte ich.“ Sie standen zusammen da und sahen in die aufgehende Sonne, die man hinter der verhangenen Wolkendecke kaum ausmachen konnte. In dem Moment, in dem sie da einfach nur standen und in die Richtung der aufgehenden Sonne sahen, hatte Puran plötzlich das Gefühl, sie wären wieder vereint wie in Tuhuli. Aber es war eine rein seelische Vereinigung, eine viel stärkere als eine körperliche es sein konnte, und sie beide standen lange schweigend da und genossen die tiefen Empfindungen, bis die Frau lächelnd den Kopf senkte und die schönen blauen Augen schloss, ehe sie sprach.

„Ich wünschte, ich könnte dich fester umarmen…“
 

Als Ruja und Puran zum Lager zurückkehrten, wachten die anderen im Zelt gerade auf. Sie hatten sich kaum aufgesetzt, da ertönte in nicht allzu weiter Entfernung ein gewaltiges Krachen, es folgte eine Erzitterung der Erde, wie sie alle sie in Dokahsan zuvor verspürt hatten.

„Die Zuyyaner?!“ schrie Puran und machte einen Satz zurück, als hätte Ruja neben ihm sich plötzlich in einen Feind verwandelt. Die Frau fuhr ebenfalls herum nach Süden, während die vier anderen aus dem kleinen Unterschlupf lugten, Tabari absolut nicht ausgeschlafen.

„Das kann doch nicht wahr sein, wo sollen die herkommen?“ fragte er empört, „Ich meine, Welle eins dürfte längst weiter unten sein und Welle zwei – ist das Welle zwei?“

„Von mir aus kann es Welle dreihundertelf sein, Hauptsache, sie entdecken uns nicht, rasch!“ keuchte Meoran und verschwand wieder im Zelt, wohin ihm dann alle folgten. Sie räumten ihr Hab und Gut zusammen und bauten in Windeseile die provisorische Behausung ab. Tabari und Meoran nahmen die Pfähle und banden sie provisorisch auf die Rückentragen aus Knochen, die sie in Undath besorgt hatten. Während sie die Spuren der Raststätte so gut wie möglich verwischten, ertönte das Krachen öfter und aus der Ferne im Süden drang ein unwirkliches, tödliches Licht zu ihnen.

„Sie legen Feuer,“ stöhnte Ruja benommen, die wie angewurzelt am Rand der kleinen Lichtung stand und gen Süden sah. „Wieder…“

„Es war eine weise Entscheidung, einen Bogen um Brayk zu machen, Meoran,“ behauptete Nalani, „Wir sollten weiter nach Osten, und zwar möglichst noch schneller als die Zuyyaner. Sie scheinen nicht nur den Weg direkt nach Vialla nehmen zu wollen, wenn sie hier herüber marschieren… dann wollen sie vermutlich so viele Leute ausmerzen wie nur irgend möglich, oder so.“

„Das ist furchtbar!“ machte Keisha, während die kleine Gruppe davon eilte.

Sie ließen die Lichtung hinter sich und wendeten sich der aufgegangenen Sonne zu, um die Nordstraße nach Brayk möglichst bald zu passieren und zurücklassen zu können. Sie verfolgte das Grollen des verhangenen Himmels und das Zittern der Erde unter ihren Füßen ließ auch die Menschen erschaudern. Je mehr sie nach Osten kamen, desto deutlicher hörten sie Schreie aus der Ferne. Brayk oder die umliegenden Dörfer wurden vermutlich angegriffen. Puran schloss keuchend die Augen, als vor ihm wieder das Feuer aus seinen Träumen auftauchte. Wenn er sich ausmalte, was diesen Leuten, die sie schreien hörten, in dem Moment angetan wurde, in dem sie hier durch den Wald rannten, wurde ihm übel und schwindelig. Er strauchelte, Nalani griff ihn am Arm und zerrte ihn wieder hoch.

„Gib dich nicht dem Grauen der Visionen hin,“ riet sie ihm dumpf, „Es kann dich umbringen, wenn du es zu tief auf dich wirken lässt, renn, Puran!“

„I-ich kann nicht!“ japste er verzweifelt, „Mir wird schwarz vor Augen…“

„Reiß dich zusammen!“ hörte er in der sich drehenden Welt vor seinen Augen auch Meoran rufen, der seinen anderen Arm packte, als seine Beine ihrem Dienst entsagten. Als er seine Füße wieder spüren konnte, verblassten die Flammen vor seinen inneren Augen und wurden gegen reale ausgetauscht, als er sein Gesicht hob und keuchte.

„Da, am Waldrand! Es brennt…“

„Die Welt brennt überall…“ meinte Nalani beunruhigt, als sie ihren Weg eilig fortsetzten, verfolgt von dem Grollen und dem Beben der Erde. „Weg vom Feuer, weiter nach Norden, rennt!“ Sie rannten und schnappten nach Luft, je länger sie liefen, je mehr die Erschöpfung wuchs. Puran spürte seine Füße nicht und fragte sich, wie sie ihn trugen, aber sie taten es. Er konnte die Geister in seinem Kopf wispern hören; nein, es war mehr ein eindringliches Zischen.

„Komm!“

Der Befehl kam gleichzeitig mit dem realen Ausruf seiner Mutter, die an ihm zerrte, als Puran merkte, dass er stehen geblieben war und nach Südosten starrte.

„Was ist denn?!“ rief Tabari von vorne.

„Frag deinen Sohn! Warum hältst du an, lauf!“ Nalanis Stimme trug Entsetzen inne und etwas, was Puran nie bei ihr gehört hatte… Angst.

„Ich renne aber in die falsche Richtung…“ stöhnte er plötzlich, worauf Nalani und auch die anderen ihn noch entsetzter ansahen. „Ich muss hinunter nach Südosten!“

„Bist du verrückt, da rennst du denen in die Arme, Puran!“ schrie Keisha. Nalani hielt ihn fest, als ihr Sohn taumelte und offenbar drohte, das Bewusstsein zu verlieren.

„Reiß dich zusammen!“ wiederholte sie Meorans Worte grantig.

„Aber die Geister befehlen es!“

„Komm!“ riefen die Stimmen in seinem Kopf. Nalani senkte die Brauen und verfesterte ihren Griff, zog ihn weiter nach Norden.

„Die Geister ziehen dich nicht in das Kriegsfeuer, Puran, das ist dein Drang, Cholena zu folgen,“ mutmaßte sie kaltherzig und Ruja keuchte erschrocken über solche Grausamkeit.

„W-wie kannst du sowas sagen?!“ fragte sie entsetzt und Tabari erbleichte auch. Meoran war ziemlich sachlich.

„Puran sieht nicht aus, als wäre er suizidgefährdet.“

„Kennst du meinen Sohn besser als ich, Meoran?!“ schnappte Nalani grimmig und ihr Kollege zog eine Braue hoch.

„Lügen die Geister, Königin?“ fragte er zurück. Tabari unterbrach die Diskussion, als seiner Frau ohnehin nichts einzufallen schien.

„Wartet… das Trommeln ist verstummt.“

Sie lauschten. Tatsächlich war es plötzlich still im Wald und das Beben hatte nachgelassen. Die Menschen schwiegen bitter, bis Puran sich mit sanfter Gewalt aus Mutters Griff befreite und sich gen Osten drehte.

„Wir sollten gehen.“ Mit diesen Worten ging er einfach voran und obwohl Nalani der Gedanke übel aufstieß, ihren Sohn nicht weiter festzuhalten, wehrte sie sich nicht, als Tabari sie am Arm nahm und das verhinderte.

„Er ist ein Mann und kein Säugling, der deine Arme immerzu um sich braucht,“ sprach er dazu und seine Frau sah verbiestert zu Boden.

„Vielleicht, aber er ist immer noch unser einziger Sohn. Würdest du es verkraften, wenn ihm etwas zustieße, Tabari?“ Tabari antwortete nicht.

Sie setzten ihren Weg jetzt entspannter fort, weil der Lärm nachgelassen hatte. Vögel flohen aus dem Wald gen Westen, als sie sich dem Feuer im Osten näherten, obwohl sie an sich versuchten, ihm auszuweichen. Die Flammen schienen sich ihnen um jeden Preis in den Weg stellen zu wollen. Am Ende des Waldes kurz vor der Nordstraße von Brayk, die aus der Kleinstadt in die nördlich von ihr gelegenen Dörfer führte, hielten die sechs für einen Moment im Schutz der noch stehenden Bäume an und betrachteten das Ausmaß des Feuers.
 

Es war dabei, sich zurückzuziehen, aber das kleine Dorf vor ihnen, das die Nordstraße durchquerte, stand lichterloh in Flammen. Es kamen keine Schreie mehr, die Bewohner schienen das Schlimmste hinter sich zu haben.

„Das ist furchtbar,“ meinte Keisha bedrückt und sie schwiegen andächtig, gedachten der vielen toten Geister, die jetzt verwirrt umher schwirren würden. Nie würden sie heil ins Geisterreich kommen, weil sie keine anständige Bestattung bekommen hatten. Es gab keine grausamere Art, einen Menschen auszulöschen, als den Körper so zu zerstören, dass auch die Seele nie den Weg ins Geisterreich fände. So starb nicht nur der Mensch, sondern auch die Erinnerung an ihn auf gewisse Weise.

„Die Geister, die nie lügen, haben einen komischen Willen,“ murmelte Tabari mit gesenktem Kopf. „Gehen wir hinunter und sehen nach, ob noch jemand lebt. Die Zuyyaner scheinen weg zu sein. Ob wir auf dem Weg nach Osten durch das Dorf oder drum herum gehen, ist reichlich egal.“ Da hatte er zweifellos recht.

So verließen sie nach einer weiteren Weile, in der nichts passiert war, den Schutz des Waldes und betraten die sehr große Lichtung, auf der das Dorf stand. Im Dorf selbst war kein Zeichen von Leben. Häuser und Tote auf der Straße brannten noch, einige der Gebäude fielen in sich zusammen, als die Gruppe an ihnen vorbei ging. Keisha erschauderte bei jedem Geräusch und die anderen schüttelten traurig die Köpfe.

„Kein Leben,“ machte Meoran irgendwann, als sie drei brennende Straßen durchquert hatten, „Die sind alle verbrannt und zertrümmert von den fliegenden Steinen…“

„Wie kann man so grausam sein? Das waren Frauen und Kinder, wehrlose Zivilisten, die vermutlich noch nie im Leben mit Zuyyanern geredet, geschweige denn ihnen was angetan haben…“ murmelte Puran benommen und drehte den Kopf. Es gab ein knarrendes Geräusch, als ein brennender Balken von einer Hausruine stürzte und Funken aufstoben, als das Holz zu Boden krachte. „Wenn die Zuyyaner ein Problem haben, sollen sie sich an die wenden, die sie verärgern, und nicht alle möglichen zufälligen Opfer leiden lassen, das ist doch hirnverbrannt!“

„Nein, das ist Aufräumen, fürchte ich,“ seufzte sein Vater mitleidig und sah traurig auf eine bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leiche, an der er vorbei ging. Plötzlich vernahmen sie ein leises Geräusch, das nicht von einstürzenden Hütten kommen konnte, und blieben stehen. Ein leises Wimmern in knapper Entfernung…

„Da ist noch jemand am Leben!“ machte Ruja schnell und zeigte nach links, „Dort drüben, daher kommt das Weinen!“ Nalani weitete die Augen.

„Oh nein, rasch!“ Sie liefen um ein verkohltes Haus herum und kamen dem Geräusch näher – es kam hinter einer hölzernen Kiste hervor, die erstaunlicherweise nicht brannte. Nalani und Puran lugten hinter die Kiste und fanden am Boden zusammengekauert ein aufgelöst weinendes, schwer verwundetes kleines Mädchen. Und während Nalani die Augen minimal weitete, erstarrte ihr Sohn neben ihr, als das Kind vor ihnen erschrocken das Gesicht hob.

Er hatte sie schon mal gesehen… öfter. Es war das Mädchen aus seinen Träumen.
 

Ehe er sich versah, hatte er sich zu dem Kind gehockt, das er nicht kannte, das er nur schon gesehen hatte. Und er wusste plötzlich, was der Traum bedeutete – die Geister hatten ihn hergeführt, sie hatten geplant, dass er dieses kleine Kind traf, das neben dem brennenden Haus saß.

„Sie ist verwundet,“ stellte er besorgt fest, „Was ist mit dir? Bist du ganz alleine?“ Vielleicht lebte ja noch jemand außer dem Kind? Doch das Mädchen fing nur an stärker zu weinen und rieb sich mit Blutverkrusteten Fäusten die großen, braunen Augen und sprach nicht.

„Hier ist keine Seele, ich glaube, sie ist alleine,“ bemerkte Meoran, der mit den anderen dazu stieß, „Sie hat immerhin noch alle Körperteile und Kraft zu Weinen, ich habe ein gutes Gefühl, dass sie leben kann…“ Er wurde unterbrochen, abermals ertönte das Trommeln in der Ferne. Dieses Mal kam es von Norden. Die Gruppe fuhr auf, das Kind hinter der Kiste erbleichte und verstummte augenblicklich.

„S-sie kommen zurück?!“ fragte Tabari entsetzt, „Rasch! Hinfort nach Osten, ehe sie da sind!“

„Nimm sie mit, wir lassen das Kind auf keinen Fall hier!“ entschied Nalani an Puran gewandt, und ohne Widersprüche hob er das Mädchen hoch und ließ es sich von Nalani auf den Rücken setzen, um es besser tragen zu können. Das fremde Kind regte sich nicht, abgesehen davon, dass es zitterte, es wehrte sich nicht und sprach nicht, es wimmerte nur vor sich hin. Nalani fasste der Kleinen auf die Stirn.

„Die Wunden sind schlimm, Keisha muss sie bald behandeln, sonst ist es vielleicht zu spät, und sie steht unter Schock. Halt sie gut fest.“

„Nicht aufgeben, kleines Mädchen!“ sagte Puran zu dem Kind auf seinem Rücken, als sie weiter rannten, um das tote Dorf zu verlassen. „Wir bringen dich in Sicherheit, hab keine Angst vor uns! Die Zuyyaner werden dich nicht bekommen, das schwöre ich dir!“ Weil er nach vorn sah und das Kind hinter ihm hockte, sah er nicht, wie sich das kleine Gesicht vor Dankbarkeit und Erleichterung kurz aufhellte, ehe die Schmerzen das kleine Mädchen wieder einzuholen schienen und es sich kraftlos gegen seinen Rücken lehnte.
 

Sie rannten. Sie passierten die leere Straße so schnell wie möglich und verschwanden hinter ihr wieder im düsteren Wald von Morund. Sie hörten das Grollen in der Ferne, es näherte sich immer schneller, so beeilten sich auch die Menschen immer mehr. Puran hörte das kleine Kind auf seinem Rücken vor Schmerzen wimmern und unverständliche Dinge murmeln, während es sich mehr schlecht als recht an ihm festhielt.

„Halt noch ein bisschen durch!“ versuchte er verzweifelt, der Kleinen einzureden, „Gib dich nicht den Stimmen hin, du bist noch viel zu jung, um hier zu sterben, verstanden?! Halte durch, du schaffst das schon!“ Er griff nach ihren dürren Beinchen, die um seinen Oberkörper hingen, und stellte verblüfft fest, dass sie an den Beinen so gut wie unversehrt war, nur sehr kleine Narben zierten ihre weiche Haut.

„Sie verliert das Bewusstsein,“ meldete Keisha hinter ihm und betrachtete das Mädchen, „Rascher!“
 

Das Kind hörte die Stimmen der fremden Leute, während es durchgeschüttelt und getragen wurde. Es war unangenehm, aber gleichzeitig auch wohltuend, plötzlich die Wärme eines Körpers an sich zu spüren; freundliche Stimmen, die Leute wollten ihr nichts Böses, sagten ihre Instinkte. Sie kamen von wo anders her, ihre Sprache hatte einen anderen Akzent als die der Bewohner des Dorfes Makar… Benommen ertastete das Kind mit den verbrannten, übel schmerzenden Fingern Nacken und Kiefer ihres Trägers. Ihr schwindelte und die Sicht vor ihren Augen verschwamm.

„Mein Retter…“ wisperte sie tonlos, als ihre Sinne ihrem Dienst entsagten und es um das Kind herum lange Zeit schwarz wurde.
 

Sie fanden eine kleine Ansammlung von Felsen, zwischen denen sie sich versteckten, als das Donnern immer näher kam; als es am lautesten krachte und sie vor Schreck aufschrien in der Befürchtung, hinter dem nächsten Stein könnte eine Armada hervor springen, folgte aber nur ein dumpfes Zittern des Waldes, ehe das Geräusch der Feinde wieder abebbte und gänzlich verstummte. Erst eine Weile nach dem Verklingen des Stampfens von vielen Soldaten und des Trommelns lugte Tabari als Erster zwischen den Felsen hervor.

„Sie sind die Nordstraße wieder zurück nach Brayk gezogen,“ orakelte er nachdenklich, „Sie haben Brayk heute Morgen angegriffen, sind die Straße hinauf in die Dörfer gezogen und wieder zurück, nachdem alle Dörfer platt waren. Wir können ihnen nur sehr knapp entkommen sein, wären wir nur wenig später aufgebrochen, hätten sie uns sicher gesehen.“ Allgemeines Aufatmen. In der kleinen, länglichen Höhle, die an sich mehr ein breiter Felsspalt war, auf den abermals flache Steine gefallen waren, könnten sie etwas verschnaufen, ehe sie sich aufmachten, nach Kerhi-Uhl zu gelangen.

„Das wären drei Dörfer,“ meinte Keisha, die die Karte ausgebreitet hatte, „Das Dorf, das wir durchquert haben, muss Makar gewesen sein.“ Tabari lugte ihr dieses Mal über die Schulter, inzwischen setzte Puran das kleine Mädchen ab und legte es auf seine Reisedecke, die er auf den Steinboden geworfen hatte.

„Könnt ihr mir erst mal helfen hier?“ wendete er sich an Keisha, „Die Karte können wir nachher auswendig lernen! Das Mädchen braucht Medizin, und zwar schnell!“ Keisha widersprach nicht und eilte umgehend herbei, gefolgt von Nalani und Ruja. Eine kurze, provisorische Untersuchung des Kindes ergab, dass es Glück gehabt hatte: „Sie sieht schlimmer aus, als es ist,“ meinte Keisha nämlich. „Sie hat keinen brennenden Stein abbekommen, nur etwas Feuer aus dem Dorf. Aber sie fiebert, die Wunden müssen gereinigt und sauber verbunden werden, sonst entzünden sie sich und alles wird schlimmer.“

„Ihre Beine sind in Ordnung, oder?“ wunderte Puran sich besorgt, „Sie fühlten sich gar nicht verletzt an, was für ein Wunder.“ Alle blickten auf die tatsächlich unverletzten Beine des Mädchens. Nalani fasste flüchtig über die Haut.

„Das ist nicht möglich,“ meinte sie dazu, „Wie können ihre Beine nichts abbekommen haben, während der Rest ihres Körpers vor kleinen Verbrennungen nur so strotzt?“

„Sie ist Heilerin,“ bemerkte Ruja, worauf sie alle dumm anblickten. Puran vor allem.

„Willst du sagen, sie hat ihre Beine selbst geheilt?“

„Wenn die vorher so ausgesehen haben wie der Rest von ihr, ist es schier unmöglich, in ihrem Alter so etwas zu heilen!“ warf Keisha ein, „Sie ist noch ein Kind, sie kann nicht mal zehn Sommer alt sein! In dem Alter lernt man gerade die Grundzauber, ohne Medikamente kann sie unmöglich einfach so ihre Beine geheilt haben…“

„Warum nicht, vielleicht ist sie talentiert?“ machte Ruja, „Puran hat mit sechs Jahren Windmesser gerufen, warum soll eine Heilerin nicht auch existieren, die mit weniger als zehn Jahren Verbrennungen heilt?“ Den anderen fiel dazu nichts ein. Der Junge seufzte schwermütig und streichelte der Kleinen über die dunklen Haare.

„Sei tapfer, kleines Mädchen. Du wirst wieder gesund werden… wenn es soweit ist, werden wir immer noch herausfinden können, wer du bist und ob du sowas kannst.“
 

Als das Kind erwachte, umfing sie Dunkelheit. Eine andere Dunkelheit als die Ohnmacht zuvor, es war angenehmer und kühler. Sie fand sich liegend auf irgendetwas Weichem. Ihre Schmerzen waren so gut wie verschwunden, als sie verwirrt die Augen aufschlug.

„Ah, sie wacht auf,“ hörte sie eine Stimme über sich, und sie drehte langsam den Kopf. Etwas pochte. Doch noch Schmerzen.

Wo war sie? Wo war Onkel Turoni? Und seine Frauen und Töchter?

Als sie die blonde, ältere Frau über sich erblickte, wusste sie, dass sie nicht geträumt hatte. Das Dorf hatte gebrannt, die Männer waren losgezogen, um die Angreifer zu erschlagen. Keiner war zurückgekommen. Alles hatte gebrannt, Onkels erste Frau war von einem Stein erschlagen worden, der vom Himmel gefallen war. Die zweite Frau hatte zwei der Kinder unter die Arme genommen und war weggerannt… sie hatte sie zurückgelassen. Sie hatte sie weggestoßen, als sie ihr hatte folgen wollen, und das Kind war alleine neben dem brennenden Haus sitzen geblieben.

Ihre Beine, waren ihre Beine da? Sie versuchte, sie zu bewegen, erfolgreich. Sie waren noch dran! Zeitweise hatte sie geglaubt, sie würden abfallen, sie hatten gebrannt und es hatte so wehgetan, dass sie gedacht hatte, sie müsste sterben. Das Kind hatte wegrennen wollen, wie Onkels zweite Frau, aber ihre Beine hatten ihr nicht gehorcht. Sie hatte es mit aller Kraft und Mühe versucht, die Schmerzen wegzuzaubern, es hatte nicht ganz geklappt…

Dann waren die Fremden gekommen, als schon kein Leben mehr im Dorf gewesen war. Als die unheimlichen Männer in Rüstungen weggezogen waren, sie hatte sie gesehen, hinter ihrer Kiste versteckt hatte sie getan, als wäre sie tot. Die Angreifer hatten sie wohl übersehen. Die Fremden hatten sie mitgenommen… suchend sah sich das Kind nach seinem Retter um. Wo war der Mann, der sie getragen hatte? Er war sehr lieb zu ihr gewesen. Sie sah bei sich nur die blonde Frau und eine jüngere mit schwarzen Haaren, beide sahen besorgt aus. Die Blonde fasste dem Kind auf die Stirn.

„Shhh… hab keine Angst, Mädchen,“ sagte sie sanft. „Du bist in Sicherheit, das Feuer ist fort, die Zuyyaner auch. Ich bin Keisha. Neben mir sitzt Ruja. Ich habe deine Wunden geheilt und die Schlimmeren verbunden, du wirst bald keine Schmerzen mehr haben.“ Dabei lächelte sie, die Jüngere tat es ihr freundlich gleich. Das Kind sagte nichts. Es beobachtete die beiden Frauen, sie schienen sehr nett zu sein. Wieder sah sie sich suchend um und versuchte, einen Eindruck von ihrem Zufluchtsort zu bekommen. Wo waren sie? Es war dunkel, sie waren nicht unter freiem Himmel, aber auch in keinem Haus. Da waren mehr Stimmen gewesen, erinnerte sie sich… wo war ihr Retter, der sie getragen hatte?
 

Ruja erkannte die verwirrten Gedanken der Kleinen und sie erhob sich lächelnd. Keisha sah sie verdutzt an.

„Wohin gehst du?“

„Warte kurz, kleines Mädchen, ich bringe dir Besuch,“ versprach sie, tätschelte ihrer Schwiegermutter den Kopf und verließ die Höhle, vor der Puran auf einem Stein hockte und unruhig mit dem Fuß tappte. Als er Meorans Frau zu sich kommen sah, sprang er auf.

„Ist was passiert?“

„Die Kleine ist aufgewacht,“ berichtete Ruja, „Sie möchte dich sehen, glaube ich. Sie hat noch nicht gesprochen, aber sie hat an dich gedacht. Die Wunden sind gut versorgt, wenn deine Eltern mit den Wurzeln wiederkommen, die Nalani suchen sollte, wird es ihr bald gut gehen.“

„So ein Glück… es wäre doch ein Jammer gewesen,“ seufzte er und war im Begriff, die Höhle zu betreten, da hielt die hübsche Frau ihn noch einmal auf.

„Du kennst das Mädchen… oder nicht? Du kennst es aus deinen Träumen…“ Er hielt inne.

„Ich hasse es, wenn du meine Gedanken siehst,“ gestand er.

„Vergib mir. Wenn die Geister dir das Kind gezeigt haben, hattest du vorhin recht… sie haben dich nach Makar gezogen, damit du das Kind rettest. Es war deine Bestimmung, von Anfang an. Kümmere dich gut um sie, sie scheint dir sehr dankbar zu sein.“ Puran schwieg kurz.

„Danke,“ gab er dann von sich, ehe er die Höhle betrat.

Das Kind sah ihn aus großen Rehaugen an, als er sich neben Keisha hockte und wohlwollend grinste, erleichtert, dass sie sich besser fühlte.

„Du wirst bald wieder gesund sein,“ versprach er ihr auch, „Ich hoffe, ich habe dir kein Unrecht angetan, als ich dich mitgenommen habe.“ Das Mädchen lächelte ihn liebevoll an, obwohl es ihn gar nicht kannte, und er kratzte sich am Kopf. „Mein name ist Puran Lyra,“ stellte er sich gehorsam vor und nahm vorsichtig die kleine Hand in seine. Als er sie wieder loslassen wollte, hielt das Kind ihn plötzlich fest und sah ihn wehleidig an. „Du… willst wohl, dass ich hier bleibe?“ Stumm nickte das Mädchen. Er setzte sich ganz auf den Boden und ließ seine Hand in ihrer. „Dann werde ich das tun, hab keine Angst. Wie ist dein Name?“

Doch die Kleine sagte nichts, sie lächelte nur dankbar und zeigte ihm ihren größten Respekt.
 

Mit der Dämmerung begann es zu regnen. Die Menschen saßen im Eingang der Höhle und betrachteten den Regen, der offenbar immer kam, um das Feuer zu löschen.

„Ich frage mich, wieso der Regen Feuer löschen kann, wenn unsere Wasserzauber es nicht schaffen,“ meinte Meoran, der im Eingang stand und sich gegen den feuchten Fels lehnte. Er sah nach unten und seinem Kollegen Tabari dabei zu, wie er mal wieder das Abendbrot ausnahm. Auf der Suche nach heilenden Wurzeln, auf die der Blonde seine Frau begleitet hatte, hatte er gleich noch zwei zu langsam schaltende Vögel erlegt, die dann als spärlicher Proviant herhalten mussten.

„Und ich frage mich, wo Kiuk, Sukutai und Alona abgeblieben sind…“ seufzte der Herr der Geister dumpf während seiner Arbeit, die an sich Frauenarbeit war – aber Nalani musste Keisha helfen, das kleine Mädchen zu pflegen, das war wichtiger. Meoran seufzte.

„Wenn du willst, schicke ich Späher, um sie zu suchen, ich suche auch schon nach den anderen Geisterjägern. Kohdars sind irgendwie nach Aledyn gekommen, war das letzte, was ich gehört habe, das ist einige Tage her.“

„Ah, dann geht es ihnen gut? Was ist denn mit unserem Liebling, Henac Emo?“

„Gute Frage, den hab ich noch nicht gefunden. Ich habe Kohdars eine Botschaft geschickt, dass wir nach Kerhi-Uhl gehen, vielleicht wäre es ganz sinnvoll, wenn wir aus dem Rat uns zusammentun.“

„Nalani wird Emo häuten,“ feixte Tabari, indem er den zweiten Vogel zu rupfen begann. Als Puran zu den anderen Männern herüber kam, sah Meoran hoch.

„Und, geht es der Kleinen besser?“

„Sie schläft jetzt,“ seufzte der Jüngere, „Ich hab nichts herausfinden können über sie, sie lächelt nur und spricht nicht.“

„Wenigstens wird sie gesund,“ meinte Meoran nickend, „Es war gut von dir, sie mitzunehmen, Puran.“

„Hätte ich sie etwa verrecken lassen sollen? Was ist denn das für ein Mann, der sowas tät?“

„So jemand wie dein Großvater,“ feixte Tabari erstaunlich guter Dinge, während Purans Gesicht sich bei der Erwähnung des Großvaters deutlich verfinsterte.

„Sprich nicht von ihm, während wir alle im Unheil stecken und vielleicht sterben werden!“

„Nein,“ machte der Vater grinsend und amüsierte sich über die Aufregung, „Du irrst dich, Puran. Sterben werden wir alle, das ist gewiss. Wir können uns nur den Zeitpunkt nicht aussuchen.“
 

Weil der Regen andauerte und sie keine bösen Zeichen oder Trommeln wahrnehmen konnten, blieben sie in der Höhle im Wald. Sie war trocken und gut versteckt, dass die Zuyyaner sie dort schnell fänden war unwahrscheinlich. Sie alle konnten etwas Ruhe vertragen nach der Aufregung der letzten Wochen und die Verletzungen des kleinen Mädchens sollten erst ganz geheilt sein, ehe sie weitergehen wollten.

„Die Wurzeln scheinen gut anzuschlagen,“ meinte Nalani nach mehreren Tagen des Aufenthaltes, als sie am provisorischen Lager des kleinen Kindes hockte und die so gut wie geheilten Wunden überprüfte. Sie lächelte die Kleine an, die sich inzwischen aufsetzen durfte. Ihre dunkelbraunen Haare waren glatt und lang, ein paar Haare standen jedoch widerspenstig von ihrem Köpfchen ab. „Keisha ist eine gute Heilerin. Du bist auch Heilerin, nicht wahr? Du hast gute Vorarbeit geleistet an deinen eigenen Beinen.“ Sie sprach es einfach mal an in der Hoffnung, eine weiterführende Reaktion zu erhalten. Das Mädchen verneigte sich aber nur sehr tief vor ihr, dass ihr alle Haare ins Gesicht hingen. Seit sie bei ihnen war, hatte die Kleine nicht gesprochen. Sie bedankte sich höflich durch Gesten, aber kein Wort verließ ihre Lippen. Nalani seufzte und sah zu ihrem Sohn, der neben dem Lager an der Wand hockte. Da er am meisten Zeit mit dem Kind verbrachte, setzte seine Mutter große Hoffnung darauf, dass er es vielleicht eher als sie schaffte, das Kind zum Reden zu bewegen…

Falls es das konnte. Vielleicht war es ja stumm?
 

Das Mädchen hob den Kopf wieder, als die Frau mit den schwarzen Locken sich erhob und ging. Nalani nannte sie sich, hatte sie mitbekommen, und sie war Purans Mutter. Dafür, dass ihr Sohn schon ein Mann war, sah Nalani noch ziemlich jung aus. Das Kind fragte sich, wie alt sie gewesen sein mochte, als sie Mutter geworden war.

Ihre größte Aufmerksamkeit galt immer Puran. Er hatte sie gerettet, wäre er nicht gekommen, wäre sie jetzt verbrannt mit Makar. Oder Onkel Turoni wäre wiedergekommen und hätte sie dafür bestraft, dass sie nutzlos war. Keine der beiden Möglichkeiten gefiel ihr.

Das Kind strahlte Puran an, als er das Gesicht zu ihm drehte. Er strahlte zurück.

„Dir scheint es ja wirklich besser zu gehen,“ stellte er fest, „Das erleichtert uns alle sehr, kleines Mädchen. Dann werden wir diesen Ort bald verlassen nach Osten. Es hat… dich niemand gefragt, ob du mitkommen möchtest, du sprichst nicht mit uns…“ Er seufzte jetzt und das Kind weitete die braunen Augen. „Aber ich bin mir sehr sicher, dass du meine Sprache verstehen kannst. Du musst nicht sprechen, du musst mir nur antworten, wenn ich dich frage: möchtest du mit uns kommen oder soll ich mit dir zurück, um nach deiner Familie zu suchen? Ich weiß nicht, ob du eine hast…“ Sie schüttelte langsam den Kopf. Puran zog eine Braue hoch.

„Heißt das, du möchtest lieber mitkommen?“ Jetzt nickte sie vorsichtig. Sie taten so viel für sie… sie musste Dankbarkeit zeigen! Vorsichtig rappelte sie sich etwas mehr auf und neigte beschämt über ihre eigene Nutzlosigkeit den Kopf. Immer war sie allen ein Klotz am Bein. Onkel Turoni hatte darüber geschimpft und seine Frauen hatten gemeint, man müsse sie in Brayk auf dem Viehmarkt verkaufen. Vielleicht fände sich ja ein dummer Bauer, der so etwas Hässliches wie sie haben wollte, hatte sie gemeint.

Und jetzt kam einer und wollte sie mitnehmen – seit sie die Fremden getroffen hatte, hatten sie nie von Belastung oder nutzlos gesprochen.

Sprechen war ein gutes Stichwort.

„Ich heiße Leyya Bao,“ stellte sie sich schüchtern vor, und sie sah Puran vor sich erstarren, offenbar völlig verblüfft darüber, ihre Stimme zu hören. Sie hasste ihre Stimme; sie war schon acht und damit ein großes Mädchen und klang wie ein Baby. Puran schien das nicht zu stören.

„Du redest ja mit mir!“ machte er und lächelte sie liebevoll an, „Wie überraschend – das freut mich, dass du doch noch sprechen möchtest. Ich hoffe, wir haben dich nicht bedrängt?“ Er schien zu denken, genau das jetzt zu tun, als sie kurz zögerte, denn sein Gesicht wurde jetzt besorgt. „Tut mir leid, jetzt texte ich dich zu…“ Doch das Kind schüttelte den Kopf.

„Bedrängen? Du hast mir das Leben gerettet, du bist ein großer Held! Ich… hoffe, ich bin keine zu große Belastung, ich… würde dein Angebot, mich mitzunehmen, so gerne annehmen…“

„Ich denke, ob wir einen Menschen mehr oder weniger dabei haben, ist kein Unterschied, Leyya,“ erklärte er ihr. „Was ist… mit dem Dorf? Was ist mit den Leuten von dort, ist deine Familie fort?“ Da senkte die Kleine ihren Kopf abermals und sprach eine Weile wieder nicht.

„In Makar habe ich keine Familie… und die, die ich in Brayk hatte, ist schon seit vielen Jahren tot.“
 

„Bao?“ war Rujas erste Reaktion, nachdem Puran den Namen des Mädchens kurz an seine Mitreisenden weitergeleitet hatte und wieder in die Ecke zu der Kleinen verschwunden war, um sie ein bisschen aufzuheitern. Die schwarzhaarige Frau hatte es mit Keishas Hilfe geschafft, ein so gut wie rauchloses Feuerchen zu errichten, das einen kleinen Ring von Steinen erhitzte, auf denen jetzt das gusseiserne Töpfchen stand, das Keisha ebenfalls billig in Undath erstanden hatte. Sie mussten vorsichtig sein, wenn sie kochen und Feuer machen wollten, der Rauch durfte nicht gesehen werden, er würde ihre Anwesenheit verraten. Jetzt kochte sie in dem Topf Brühe. „Die Baos sind eine ehrenwerte Heilerfamilie in Kisara, soweit ich weiß, sollen sie ihren Ursprung in Yatoret haben, im Laufe des Krieges mit Anthurien sind sie irrsinniger weise nach Morund gekommen, glaube ich. – Tabari, du hast vergessen dem Vogel den Fuß abzuschneiden, sieh dir an, wie das Ding in meiner Brühe schwimmt, möchtest du Füße in deinem Essen?“

„Wie bitte? Kann nicht sein, der war ganz sicher ab! Gib mal her, ich mach es raus…“

„Ja, Khonma Bao hieß ein Mitglied des Heilerrates, soweit ich weiß,“ fiel Meoran jetzt auf, der neben seiner kochenden Frau am Boden saß. Tabari versuchte mit seinem Schwert das Stück Fleisch mit Fuß aus der Suppe zu angeln, wobei Nalani, die auch dabei saß, ihn empört anschnaubte, was er mit der Waffe, die Menschen getötet hatte, im Essen suche.

„Das Ding ist blitzsauber, Himmel!“ nörgelte der Herr der Geister, „Für wen hältst du mich, ich bevorzuge gutes Essen, ich bin ein verwöhnter Schlossjunge, schon vergessen?“ Er wandte sich während seiner ziemlich albernen Arbeit an Meoran: „Ja, Khonma Bao, sagt mir auch was. Hab ich aber seit Jahren nicht gesehen, er muss gestorben sein…“

„Vor vier Jahren in etwa,“ meldete Keisha überraschend und wurde von Tabari unterbrochen, der jubelte:

„Hab den Fuß! – Ach, verflixt, jetzt ist er wieder in die Suppe gefallen.“

„Du bist so ein Vollidiot,“ stöhnte Nalani und verdrehte die Augen.

„Vor vier Jahren ist er verstorben, soweit ich weiß, aber aus dem Rat verschwunden ist er schon vor sieben oder acht Jahren, so fürchte ich. Ich bin ja selbst nicht im Rat, ich habe nur in Tuhuli einiges gehört,“ war Keishas Aussage, als alle ihre Aufmerksamkeit von Tabari abwendeten.

„Und die haben in Anthurien gewohnt?“ fragte Nalani gedämpft, „Wenn, dann ist es ja nicht auszuschließen, dass die Kleine mit Khonma Bao verwandt ist. Hatte er Kinder?“

„Keine Ahnung, aber ich bin sicher, dass er nicht in Makar gelebt hat, Khonma Bao war ein vornehmer Mann, jedenfalls kein Bauernsohn.“

„Wie auch immer,“ entgegnete Meoran, schob Tabaris Schwert im Topf zur Seite und fischte den Vogelfuß selbst mit der bloßen Hand heraus, „Wir wissen jetzt, wie sie heißt. Leyya Bao. Redet sie nur mit Puran? – Sieh mich nicht so an, Nalani, meine Finger sind sicher nicht dreckiger als Tabaris Schwert, außerdem reinigt Dreck den Magen.“

„Männer,“ seufzte Nalani darauf nur. „Ob sie auch mit uns spricht, wird sich zeigen. Besser nur mit Puran als mit niemandem.“
 


 

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Hurra, Hurra, Leyya ist da xD *Fahne schwenk* Etwa September 976, btw.

Kerhi-Uhl

Das Mädchen sprach plötzlich eine Menge im Vergleich zu vorher.

„Ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt, dass du mir das Leben gerettet hast, oder? Es tut mir leid, ich war so fasziniert und erschrocken… also… danke!“

„Bitte, keine Ursache,“ machte Puran förmlich und wollte fortfahren, aber das quietschvergnügte Heilermädchen ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Ich freue mich! Ich kann gar nicht sagen, worüber genau, eigentlich sollte ich weinen, weil Krieg ist! Die komischen Männer mit Rüstungen waren unheimlich… aber seit ich bei euch bin, habe ich gar keine Angst mehr, glaube ich!“

„Leyya, halt mal die Luft an,“ unterbrach Puran sie entrüstet, und als sie ihn verblüfft aus ihren riesengroßen, niedlichen Augen ansah, konnte er nicht anders als zu lächeln. „Ich meine, du sollst doch schauen, ob du gehen kannst, quasseln kannst du doch danach weiter. Steh auf, gib mir deine Hand.“ Sie tat es und er zog sie vorsichtig auf die Beine, um sie loszulassen, sobald sie stand. Das Mädchen ging ein paar Schritte.

„Ich habe keine Schmerzen mehr!“ jubelte sie begeistert, „Keisha ist wirklich eine sehr großartige Heilerin!“ Puran lachte.

„Na, die größte Vorarbeit an den Beinen hast du doch selbst geleistet, wie es aussieht!“ Die Kleine blieb stehen.

„Ich?“ stammelte sie und sah auf ihre Beine. Von ihren Brandwunden war so gut wie nichts mehr zu sehen, nur um den linken Arm trug sie noch einen kleinen Verband aus einem Stofffetzen.

„Natürlich du, du bist doch auch Heilerin?“ Leyya nickte.

„Ich habe mich bemüht, weil ich wegrennen wollte, aber meine Beine haben gebrannt, es hat so weh getan… aber ich habe gedacht, das Heilen hätte nicht geklappt, weil ich keine Veränderung gespürt habe… es hat immer noch wehgetan, als du mich gerettet hast.“ Wie immer, wenn sie erwähnte, dass er sie gerettet hatte, erstrahlte ihr ganzes, kleines Gesichtchen vor Freude und sie sah ihn so dankbar und liebevoll an, dann er sich nur verlegen räusperte. Sie übertrieb es ganz schön mit ihrer Dankbarkeit, dachte er mitunter, es war doch selbstverständlich gewesen, dass er sie mitgenommen hatte. Weil Leyya nie auf ihn hörte, wenn er ihre Dankbarkeit verlegen abtun wollte, sagte er schon nichts mehr dazu und ließ sie strahlen.

„Keisha hat aber gesagt, deine Beine wären in Ordnung, so ziemlich zumindest, vielleicht dauert es etwas, bis der Schmerz nachlässt,“ meinte er stattdessen grübelnd, „Fest steht, du musst eine sehr begabte kleine Heilerin sein, wenn du das geschafft hast.“ Jetzt errötete das Mädchen und senkte erst bescheiden den Kopf – Puran sah sie aber auch mit gesenktem Kopf vor Stolz über so ein Kompliment strahlen.

„Das ist übertrieben, ich bin nutzlos,“ erklärte sie sich und er verdrehte die Augen.

„Du musst ja grauenhaft behandelt worden sein,“ murmelte er dabei, „Dass du von dir selbst so wenig hältst… du kannst dir ruhig etwas mehr auf dich einbilden, manchmal glaube ich, du hältst dich für ein Stück Dreck!“ Das Kind sah unbehaglich zu Boden und er fragte sich bestürzt, ob er jetzt zu direkt gewesen war. Sie kam aus einer ganz anderen Gegend als er, in Anthurien war alles anders… er sollte vorsichtiger sein mit dem, was er zu ihr sagte, wenn er sie nicht verletzen wollte.

„Solche Worte habe ich… lange nicht gehört,“ sagte sie verblüffenderweise und Puran blinzelte. Lange nicht mehr? „Zuletzt von… meinem Vater. Er hat gesagt, ich sollte stolz sein auf meine Herkunft. Dabei hat er mich lieb angesehen, ich sehe es noch wie gestern vor mir.“ Es entstand eine unangenehme Pause und der junge Mann räusperte sich verhalten.

„Was ist mit deinem… Vater passiert?“ fragte er leise. Leyya strich sich schweigend durch die braunen Haare. Als er dachte, sie würde nichts mehr sagen, sprach sie doch.

„Er ist gestorben, als ich vier war. Weil meine Mutter bei meiner Geburt gestorben ist, musste ich danach zu meinem Onkel Turoni nach Makar. Ich weiß, so etwas Böses sagt man nicht, aber ich… bin froh, Onkel Turoni nie wieder sehen zu müssen.“
 

„Sie kann gehen?“ fragte Tabari seinen Sohn am späteren Abend, während er vor der Höhle stand, die der Gruppe zwei Wochen als Unterschlupf gedient hatte. Der Holzmond würde bald anbrechen, der Herbst war sehr plötzlich über den Wald gekommen. „Das ist gut, dann brechen wir morgen Nacht auf. Tagsüber ist zu riskant, wir müssen noch mindestens eine Straße überqueren bis nach Nosar. Ich bin hier nicht der Idiot, der die Landschaft auswendig kennt, wende dich an die Damen der Runde…“ Puran feixte, während Tabari sich die Haare raufte. Drinnen in der Höhle machte Ruja gemeinsam mit Keisha Essen; heute hatte Nalani das Fleisch ausgenommen, um ihrem Mann gleich zu beweisen, wie viel besser als er sie das konnte.

„Was machen wir, wenn der Winter kommt?“ wollte der Junge wissen, und der Blonde zuckte mit den Schultern.

„Hoffen, dass er mild ausfällt…“

„Das wäre ziemlich optimistisch. Glaubst du, die Zuyyaner kommen nach Kerhi-Uhl?“

„Ich habe keine Ahnung,“ seufzte sein Vater beklommen. „Ich bin ehrlich gesagt ziemlich in Sorge… um Kiuk und so, um meine Kollegen… es gibt so viel, das wir verloren haben und nie wiederbekommen werden in Dokahsan.“

„Kann Meoran nicht Vögel schicken, die nach Onkel Kiuk, Sukutai und Alona suchen?“ fragte Puran bedrückt, „Ich denke auch oft an sie und die Gedanken, dass sie-…“ Er sprach es nicht aus. Vom Tod eines Menschen zu sprechen, der vielleicht noch lebte, brachte Unheil und stachelte die Geister vielleicht dazu an, es als Wunsch aufzufassen und passieren zu lassen.

Sein Vater seufzte erneut und raufte sich zum wiederholten Male die blonden Haare.

„Ich weiß… und Meoran ist schon dabei und tut alles, was er kann… bisher sind die Boten aber nicht zurückgekehrt. Da das ewig her ist, macht es mir allmählich Sorgen – können Vögel einfach so verschwinden?“ Meoran selbst war es, der darauf antwortete, als er auch aus der Höhle zu den zwei anderen Männern trat, weil die Frauen ihn beim Kochen als überflüssig befunden und hinaus gescheucht hatten.

„Sicherlich nicht. Ich befürchte eher, dass die Zuyyaner sie gefunden haben, sonst wären sie längst zurück, um Bericht zu erstatten. Dokahsan ist, so fürchte ich, weitgehend besetzt von diesem Pack, es wird nicht leicht sein, Kiuk da zu finden… oder für Kohdars, sich zu uns durchzuboxen.“

„Die Zuyyaner?“ empörte Puran sich, „Warum sollten sie Vögel töten? Die wissen doch nicht, dass es Boten sind!“

„Das würde ich nicht so leichtfertig annehmen…“ Meoran kratzte sich am Kopf und spähte hinaus in die Finsternis des Waldes. „Zuyyaner sind anders als wir. Sie können Dinge spüren, die kein Tharraner spüren kann. Ich würde nicht meine Haut darauf verwetten, dass die das nicht wissen…“
 

Die Nacht war dunkel und kühl. Sie hatten die Haut, aus der sie das Zelt gemacht hatten, jetzt als Windschutz vor die Höhle gehängt, während sie drinnen schliefen. Puran fragte sich, wie es im Winter werden würde. Im eiskalten Schnee in Höhlen zu schlafen wäre nicht nur gesundheitlich schädlich, es wäre tödlich. Anthurien lag zwar südlich von Dokahsan, aber dennoch konnten die Winter hier kaum wärmer sein als in seiner alten Heimat.

Er hörte Meoran und Ruja leise miteinander flüstern, konnte ihre Worte aber nicht verstehen, da sie auf der anderen Seite der Höhle lagen. Vermutlich teilten sie sich das nicht vorhandene Bett, wobei sie dafür aber wirklich erstaunlich geräuschlos wären. Die Gedanken an Ruja und Vereinigungen zu schnell hintereinander bekamen ihm nicht gut, und murrend rollte er sich samt seiner Reisedecke herum, dem Geflüster den Rücken kehrend, und versuchte, nicht weiter darüber zu grübeln. Es ging ihn nichts an, was die trieben, sie waren Mann und Frau. Er schämte sich, weil die Erinnerungen an sein Blutritual und die hübsche Ruja ihn noch immer irgendwo erregten, obgleich es nicht mit dem zu vergleichen war, was er während seiner Lehre in Tuhuli gefühlt oder geträumt hatte.

Träume… er hasste Träume. Unwohl dachte der Junge an Cholena, die er seit sie über die Wiese gelaufen und mit ihm gesprochen hatte nicht mehr gesehen hatte. Er fragte sich, ob ihr Geist wusste, was er ab und zu tief im Inneren immer noch von Meorans Gemahlin dachte… vielleicht war sie erzürnt und erschien deswegen nicht mehr in seinen Träumen…

„Sei nicht töricht,“ sprachen die Geister in seinem Kopf. „Dafür gibt es eine Grenze zwischen der Welt der lebenden und der der Toten. Lass sie los.“

„Wie könnt ihr sowas sagen?“ stöhnte er tonlos, um niemanden der anderen zu wecken oder – im Falle von Meoran und Ruja – zu stören, „Pietätlose Ekel…“

„Du kannst die Totenwelt nicht als Lebender betreten, Puran Lyra,“ sprachen die Geister weiter. „Da ist kein Weg. Du lebst, also lebe.“

Das war einfacher gesagt als getan… er seufzte unglücklich. Ein kalter Windzug kam in die Höhle trotz des Vorhangs und er erzitterte. Er vermisste Cholena… zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus Dokahsan dachte er auch an die anderen, die er vermisste, wie seine Freunde Kannar und Travi – was war mit ihnen? Lebten sie? Und Madanan, Umar und Narya? Vielleicht war Kannar bei Alona, immerhin waren sie zusammen und er hatte sie vor nicht allzu langer Zeit zur Frau gemacht – Puran hoffte es für beide. Die Ungewissheit über den Verbleib seiner Restfamilie und seiner Freunde schmerzte und weckte in ihm die altbekannte, grausige Übelkeit. Als er keuchend herumfuhr, tat er es allerdings nicht deswegen, sondern wegen des leisen Wisperns, das plötzlich direkt hinter ihm zu hören war.

„Puran… bist du noch wach?“

Hinter ihm kauerte eng an den Boden gedrückt die kleine Leyya und sie zitterte, als er sich betreten zu ihr herum rollte.

„Offenbar,“ war die Antwort. „Was ist los… fühlst du dich schlecht?“ Im Dunkeln konnte er sie nicht sehen, aber ihre Stimme klang nicht gut.

„Ich habe Angst…“ gestand die Kleine und verkroch sich unter ihrer Decke; sie hatte die von Nalani bekommen, die sich jetzt mit Tabari eine teilte. „Der Wind heult und… und ich habe Angst, dass d-die Männer mit Rüstung kommen und alles in Brand stecken…“

„Hier kommt niemand, Leyya,“ erklärte er ihr leise und sie sah bedrückt hinunter auf ihre Decke. Als sie nichts mehr sagte, kroch er über den Höhlenboden zu ihr herüber und zog sie in seine Arme, um das kleine Mädchen vorsichtig an sich zu drücken. „Ich… bin ja bei dir. Ich lasse dich nicht los, wenn du nicht willst.“ Er spürte, wie die Kleine sich an ihn schmiegte und legte die Decke über sie, um sie beide damit zuzudecken.

„Danke…“ nuschelte sie dabei, „Du bist… schön warm.“ Puran lächelte und streichelte ihre Haare.

„Schlaf,“ flüsterte er, „Morgen werden wir diesen Ort verlassen und weit weg gehen vom Feuer und den Zuyyanern. Ich werde nie wieder zulassen, dass dir jemand etwas antut.“

Und das Mädchen lächelte, während es die Augen schloss und die angenehme Wärme seiner Umarmung genoss. Sie fragte sich, wann sie zum letzten Mal umarmt worden war…

Sie konnte sich nicht erinnern.
 

Der Weg nach Kerhi-Uhl begann in der kommenden Nacht mit einem Unwetter. Tabari maulte, als sie durch den Wald nach Südosten stapften.

„Das ist ein schlechtes Zeichen, vielleicht sagen die Geister uns durch den Regen, wir sollten nicht nach Kerhi-Uhl!“

„Solange sie das nicht ausdrücklich sagen, gibt es für uns keinen Grund, länger im Wald zu bleiben,“ meinte Meoran verdutzt, „In den Bergen können wir uns besser verstecken und eine Armee wird nicht unbedingt einen Gebirgspass überqueren, wenn es nicht sein muss. Vielleicht schenken sich die Zuyyaner diese Ecke, meine ich, was gibt es schon in Kerhi-Uhl, geschweige denn in Nosar?“

„Gämsen,“ erwiderte der Herr der Geister wichtigtuerisch, „Wenn wir davon ein paar erlegen, können wir aus den Hörnern Trinkgefäße machen, das kann nie schaden.“

„Und ich dachte, du machst aus dem Kopf eine Trophäe und setzt sie dir auf den Schädel,“ meinte Nalani trocken, die vorweg ging, weil sie am besten im Dunkeln sehen konnte. Vor allem Keisha war völlig nachtblind und ließ sich von Ruja führen und festhalten.

„Das ist so furchtbar, ich sehe ja meine Hand vor Augen nicht!“ jammerte die Alte dabei immer wieder, „Waren wir schon am Fluss?“ Irgendwann verdrehte Meoran die Augen.

„Mutter, halt verdammt noch mal deinen Mund, bitte!“ empörte er sich gedämpft, „Nein, wir waren nicht am Fluss, wir kommen an keinem vorbei, Himmel und Erde! Wenn du noch ein elftes Mal nach diesem Fluss fragst, erkläre ich dich zu einer senilen alten Großmutter!“

Großmutter, du bist gut, wenn du mich mal zu einer machen tätest, Meoran, würde ich dir zustimmen!“ Dank der Dunkelheit sah niemand, wie ihr Sohn vor Scham errötete, sie hörten ihn sich nur entrüstet räuspern. Dazu würde er sich jetzt sicher nicht äußern. Ruja tat es ungebeten für ihn:

„Ich werde mir die größte Mühe geben, Schwiegermutter, das verspreche ich.“

„Himmel, könnt ihr darüber wann anders sprechen?“ mischte Puran sich genervt ein, der nicht wirklich an einem Gespräch über das Kinder zeugen interessiert war. An seiner Hand ging Leyya, die das alles offenbar sehr fasziniert verfolgte. „Und von was für einem verdammten Fluss redet ihr Helden überhaupt?!“

„Auf der Karte war einer!“ meinte Keisha, „Alte senile Großmutter, ja, ja, Meoran, ehrlich.“

„Ich hätte sie ins Meer werfen sollen in Undar,“ grummelte Meoran vor sich hin, natürlich ohne diesen Wunsch auch nur im Entferntesten ernst zu meinen. Nalani übernahm die Erklärungsarbeit an Keisha gewendet.

„Der Fluss liegt im Norden, dahin führt die Straße, und die wollen wir meiden. Wir werden sie nur kreuzen und uns nach Süden bewegen, im Wald bleiben, um knapp vor der Stadt Athash wieder gen Osten abzubiegen und zum Nosar-Gebirge zu gelangen. Und jetzt seid still, wenn wir so weiter plaudern, fühlen sich die Zuyyaner noch zum Tee trinken eingeladen.“ Alle verstummten jetzt und gingen schweigend weiter, nur Meoran murmelte grummelnd vor sich hin:

„Oh nein, Tee trinken weckt üble Erinnerungen an unser schönes Kanapee.“
 

Bei Tage rasteten sie im Dickicht möglichst versteckt, um in der Nacht weiter gen Süden zu ziehen. In der zweiten Nacht überquerten sie problemlos die Straße nach Osten. Ein paar Meilen von der Südstraße entfernt bewegten sie sich auf die Stadt Athash zu, die vor den Hängen von Nosar lag. Tabari hoffte, dass die Stadt sogar noch heil war, damit sie Vorräte aufstocken und eine Decke für Leyya besorgen konnten. Das kleine Mädchen fühlte sich offenbar sehr unbehaglich, Nalanis Decke zu missbrauchen, und versuchte mehrmals pro Reisenacht, sie ihr zurückzugeben, was die Geisterjägerin jedes Mal energisch ablehnte.

„Du bist noch ein Kind, für ein Kind wie dich würde ich auch mein letztes Hemd geben, das ist ja wohl selbstverständlich,“ sagte sie einmal während der vierten Reisenacht. Sie lächelte und strich der Kleinen über den Kopf, die, ihre Decke umgehängt, einmal neben ihr vorne ging, weil Puran damit beschäftigt war, mit Meoran und seinem Vater zu diskutieren, was wohl aus allen möglichen anderen geworden war. „Wie alt bist du eigentlich genau?“

„Ich bin im Sommermond acht geworden,“ nuschelte Leyya. Die Frau nickte für sich; dann war ihr Vater also vor vier Jahren gestorben, sie würde Keisha später einmal fragen, ob das zufällig mit dem Heiler Bao überein stimmte. Sie wollte das Mädchen lieber nicht direkt nach seinem Vater fragen, sicher täte es ihr weh, an seinen Verlust zu denken.

Überdies entwickelte sich die Kleine gut, sie sprach munter mit ihnen allen und schien keine Angst zu haben, nur wenig Selbstwertgefühl, wie Puran desöfteren beteuerte. Ihr Onkel, bei dem sie gelebt hatte, musste ein furchtbarer Mann gewesen sein, Nalani wollte gar nicht wirklich wissen, was er alles mit dem armen Kind angestellt hatte, dass sie so verschüchtert war. Ihre Wunden waren gut verheilt.

„Hab keine Sorge, kleines Mädchen,“ fuhr die Schwarzhaarige lächelnd fort, „Behalte die Decke reinen Gewissens. Du verdienst eine fürsorgliche und liebevolle Behandlung.“

„Wie wollt Ihr das wissen, Herrin?“ fragte das Kind betreten, „Vielleicht war ich ja unartig, bevor Ihr mich mitgenommen habt?“

„Die Geister haben mir genug gesagt, um gewiss zu sein.“

„Die Geister…?“ Die kleine Heilerin weitete beeindruckt die Augen und Nalani gluckste amüsiert über ihr Erstaunen. „Sie sprechen zu Euch, Herrin? Ich habe mir sagen lassen, nur wirklich fähige Magier können die Stimmen der Geister wahrnehmen oder sie sogar im Traum sehen…es ist eine besondere Gabe, nicht wahr?“

„Das Sehen ohne Augen und das Hören ohne Ohren nennen wir in Dokahsan es, ja,“ stimmte die Frau ihr zu, „Und obgleich ich in meiner Position viele Leute kennengelernt habe, die diese gaben beherrschten, dürfen wir dennoch nicht vergessen, dass sie wertvolle Geschenke der Geister sind. Mein Sohn wollte das lange Zeit nicht einsehen…“ Sie wandte den Kopf und sah über die Schulter zu Puran. Der Junge sah gerade auf.

„Was ist?“ fragte er verblüfft und die anderen Männer sahen ebenfalls nach vorne, weil Nalani mit Leyya stehen geblieben war.

„Nichts ist, was ist mit euch?“ fragte die Schamanenkönigin zurück, „Was ist mit deinen Flattermännern, Meoran?“

„Flattermänner, sagt sie, die Geisterjägerkönigin,“ meckerte der Jüngere entrüstet, „Etwas mehr Respekt bitte vor den Aasfressern, sie können dir die Augen aushacken, wenn du gemein zu mir bist…“

„Ich zittere vor Angst – ich meine, was ist aus Kiuk und Kohdars und wem sonst noch geworden?“

„Kohdars?“ wunderte Leyya sich erschrocken, „Das ist doch einer der ältesten Schwarzmagierclans Kisaras?!“

„Das sind unsere Kumpels,“ grinste Tabari, „Moment, haben wir vergessen zu erwähnen, dass wir drei auch Geisterjäger sind?!“

Das Mädchen erstarrte und Puran stöhnte.

„Vater, das war… etwas ungehobelt.“

„G-Geisterjäger?!“ fiepte Leyya, offenbar aus allen Wolken gerissen, „Aber – aber – nein, das habt Ihr ganz offenbar nicht erwähnt, Herr! Ich wusste nicht, w-wenn ich geahnt hätte, mit wem ich herumreise-…!“

„Jetzt aber mal halblang,“ Meoran gluckste, „Du vergisst eine Kleinigkeit, Mädchen. Egal, aus welchem Stand wir kommen oder du kommst, egal, wer wir sind oder waren, das tut nichts zur Sache. Wir sind im Krieg. Alles ist anders, von einem Titel können wir uns auch keine Sicherheit kaufen.“ Leyya blinzelte und alle schwiegen. Das waren wahre und weise Worte, fand Puran auch, und er bewunderte seinen Meister für seine Umsichtigkeit. „Geisterjäger, Dorfmädchen, Statthalter von Vikhara, das ist egal, wir alle sind hier im selben Boot, um es so auszudrücken. Wir alle wollen dasselbe, Sicherheit für die, die uns wichtig sind, oder zumindest uns selbst, und dass dieser Krieg aufhört. Menschlichkeit ist das, was uns hier und jetzt ausmacht, alles andere ist Schall und Rauch, Leyya.“ Das Mädchen war erbleicht.

„Aber – aber ich muss Euch Respekt zollen, mein Onkel hätte mich tot geschlagen, wenn er gewusst hätte, dass ich ohne es zu wissen mit Euch reise und nicht mal-…“

„Du solltest auf Meoran hören, er spricht klug,“ fiel Tabari ihr ernst ins Wort. „Ich denke, darüber brauchen wir nicht wieder sprechen, vergib uns, dass wir das versäumt haben zu erwähnen, Leyya.“ Er machte eine Kunstpause und fuhr leiser fort: „Aber wo wir bei Herkünften sind… wenn du Bao heißt, können deine Vorfahren nicht weniger angesehen gewesen sein unter den Heilern wie wir es unter den Schwarzmagiern waren… oder?“ Leyya senkte kurz den Kopf.

„Ich weiß nur, dass wir als ich sehr klein war ein großes Haus in Brayk hatten. Bis ich vier war, habe ich da mit meinem Vater gewohnt, bevor ich zu meinem Onkel gekommen bin… mein Vater war ein guter Heiler, glaube ich.“

„Das glauben wir auch beinahe,“ gab Nalani zu hören und sah zu Tabari, „Shht jetzt, wir gehen weiter. Es ist noch ein langer Weg nach Kerhi-Uhl und vor Sonnenaufgang brauchen wir noch ein gutes Versteck für den Tag.“
 

Das Versteck war weniger gut und noch weniger bequem, es war eine sehr schmale Nische zwischen zwei moosbewachsenen Felsen im Wald, in die sie sich quetschten. Puran nahm Leyya auf seinen Schoß, damit sie nicht am kalten Erdboden sitzen musste, und bevor sie einschlief, lehnte sie sich dankbar an seine Brust und kuschelte sich an ihn.

„Dann bist du der Sohn des Herren der Geister?“ flüsterte sie leise zu ihm, und er lächelte zur Antwort flüchtig.

„Das ist nicht wichtig, aber ja.“

„Dann bist du ja sowas wie ein Prinz unter den Schamanen…“

„Ach, Quatsch. Glaub mir, es hat ziemlich viele nervige Nachteile, Sohn einer mächtigen Familie zu sein.“ Er dachte kurz an Cholena und seufzte. Sie hatte ihn auch immer darum beneidet, dem uralten Adel Dokahsans anzugehören… er selbst hatte das nie nachvollziehen können. Wie viele hatten ihn in der Schule angeglotzt oder gehasst wegen seiner Herkunft? Allen voran Ram Derran natürlich…

Die Gedanken an seine tote Freundin verdrängend legte er schützend die Arme um die kleine Heilerin auf seinem Schoß und zog seine Decke um sie beide, um sie darin einzumummeln.

„Schlaf jetzt,“ wisperte er der Kleinen ins Ohr, „Du bist sicher müde vom Gehen. Nächste Nacht werden wir wieder weit laufen müssen…“ Sie sagte nichts, aber er spürte sie an seiner Brust leicht nicken, bevor er selbst die Augen schloss und versuchte, Schlaf zu finden.

Es war nicht leicht. Von einer inneren Unruhe getrieben wechselte er im Halbschlaf andauernd die Position seiner Beine, dabei versuchend, sich möglichst wenig zu bewegen, um Leyya nicht zu wecken, die tief zu schlafen schien. Er beneidete sie um ihren Schlaf, den die Geister ihm verwehren zu wollen schienen.

Stimmen in der Finsternis ließen ihn zusammenschrecken, sie sprachen von Unheil und Feuer. Vor seinen Augen brannte das Land und die fliegenden Feuersteine prasselten wie ein grausamer, tödlicher Regen auf die Haut von Mutter Erde, während der Himmel grollend zürnte. In den Flammen sah er einen hölzernen Turm aufragen, bevor unter seinen zitternden Füßen die Erde aufbrach und eine gewaltige, unsichtbare Macht das Feuer davon jagte, bis nur Schatten und Leere zurückblieben…

Puran fuhr aus dem Schlaf hoch und erschreckte damit aus Versehen das kleine Mädchen, das an ihn gekuschelt gedöst hatte.

„W-was ist?“ keuchte sie entsetzt, und sie wurde noch unruhiger, als sie in sein bleiches Gesicht sah. Was sie sah, war nicht Purans Gesicht. Es war das Gesicht irgendeines blassen, kranken Menschen, als wäre der junge Mann plötzlich um Jahrzehnte gealtert. Seine grünen Augen waren vernebelt von Unheil und Furcht und das Mädchen spürte, wie diese Furcht auf sie überging wie ein Virus, als er sie an sich drückte und dabei erzitterte. „Puran?“ wisperte sie tonlos und voller Angst, während sie sich wimmernd an seine warme, schützende Brust drückte. Sein Herz raste…

„Puran?“ wurden Leyyas Worte wiederholt, aber von Nalani, die plötzlich vor den beiden aufgetaucht war. Sie fasste nach ihres Sohnes Kinn und zerrte es mit sanfter Gewalt zu sich herum. „Sieh mich an. Was hast du gesehen?“

„Ich weiß nicht, was es war… aber die Flammen… kehren zurück,“ gab Puran von sich, seine Stimme war vor Heiserkeit kaum wiederzuerkennen. Leyya erstarrte.

„Das Zuyyanerfeuer?!“

„Rasch,“ war Nalanis Kommentar nach einer sehr kurzen Pause, „Tabari, Meoran, auf! Wir werden diesen Ort schnellstens verlassen.“

„Wie bitte, die Dämmerung ist noch gar nicht eingetreten…“ nölte ihr Mann, der am Boden in der Felsnische hockte und sein Schwert polierte, „Wenn wir im Hellen noch-…“ Er brach ab, als ihm ein lautes Krachen und ein Beben der Erde ins Wort fielen. Die Gruppe erstarrte und Puran erhob sich. Ihm war schwindelig und stöhnend stützte er sich an den Felsen ab, als die Nachwirkungen der Visionen ihm jetzt zu schaffen machten, wie sie es schon oft getan hatten.

„Das war nicht weit weg,“ machte Meoran ebenfalls beunruhigt, und Ruja und Keisha standen jetzt auch auf. Das Krachen wiederholte sich und die kleine Leyya erzitterte mit jedem Beben des Bodens mehr, ihr Gesicht aschfahl vor Angst.

„Von der Straße weg!“ rief Nalani und packte in Windeseile ihre Reisedecke auf ihre Rückentrage, „Nach Osten, rennt! Die kommen hierher!“

„Oh nein, Himmel!“ fiepte Ruja jetzt auch besorgt, ehe Meoran sie und seine Mutter packte und sie aus der Nische stieß, um mit ihnen vorweg zu rennen. Tabari zerrte an Purans Arm.

„Renn, oder sollen wir dich tragen?!“ schnappte er hektisch, weil sein Sohn sich nicht rührte und nur apathisch an die wand starrte, an der er lehnte. Er sah grauenhaft aus. „Puran, verdammt, komm zu dir, verdräng die Visionen! Jetzt!“

„Komm doch!“ jammerte Leyya auch, die an seiner Hand zog, und Puran stöhnte.

„M-mir ist schlecht, ich kann nicht gehen-…“

„Reiß dich zusammen, oder ich schleife dich an den Haaren nach Kerhi-Uhl,“ warnte sein Vater ihn erstaunlich energisch, „Du bist mein einziges Kind, du denkst doch nicht, dass ich dich hier lasse?“ Der Sohn keuchte ein paar Mal, ehe er sich mit aller Macht, die er noch hatte, zusammenriss und sich von den Felsen abstieß.

„Lauf!“ rief er seinem Vater zu, nahm das Kind an die Hand und folgte ihm augenblicklich.

Sie rannten nach Osten, quer feldein auf das Ende des Waldes zu. Dahinter trennte nur eine Aue sie vom Nosar-Gebirge. Während Nalani mit Meoran vorweg rannte, hinter ihnen Ruja und Keisha, sah Tabari sich immer wieder nach den Kindern um, wie er sie beide betitelte, obwohl Puran schon fast siebzehn war. Das Beben der Erde riss sie einige Male von den Beinen und am Himmel leuchtete glühend rot das Feuer des Krieges.

„Sie werden kommen!“ schrie Leyya außer sich vor Panik, während Puran sie geistesgegenwärtig mit sich zerrte. Er lief viel zu schnell für sie und sie stolperte immer wieder. „I-ich kann nicht mehr! E-es geht zu schnell…“ Das Mädchen schrie auf, als es den Halt endgültig verlor, Purans Hand entglitt und zu Boden stürzte.

„Nicht, halt!“ schrie Puran entsetzt, hielt an und riss sie unsanft vom Boden hoch, packte sie und nahm sie auf seinen Rücken. „Halt dich fest, ich trage dich!“

„D-das ist zu schwer für dich, du bist krank!“ heulte das Mädchen zitternd, während sie weiter rannten. Es krachte hinter ihnen und sie schrien beide vor Schreck auf. „Lass mich lieber hier, d-das bin ich nicht wert! Onkel Turoni hätte mich geschlachtet, wenn er das wüsste!“

„Dein Onkel Turoni kriegt von mir eine in die Fresse und ich trete ihm gehörig in die Säcke, wenn ich ihn jemals sehe! Ich lasse dich auf keinen Fall zurück, kapiert?!“ Das Mädchen weinte auf seinem Rücken, irgendwie vor Rührung, weil er sich so um sie bemühte, aber an sich am meisten aus Furcht. Puran ignorierte ihr Weinen und rannte, so schnell seine Beine es ihm erlaubten. Vorne hörte er die anderen rufen und plötzlich war sein Vater bei ihm und packte seinen Arm. Sie waren etwas hinter den vier übrigen zurückgefallen.

„Was ist mit dir?!“ japste Tabari, „Renn, auf der Wiese sind wir ungeschützt dem Feuerregen ausgesetzt, wenn wir zusammen bleiben, kann Ruja uns wenigstens mit ihrer Barriere schützen, sie kann damit aber keine tausend Hektar schützen, Himmel! Bist du in Ordnung?“

Nichts ist in Ordnung, wollte Puran jammern, aber er sagte nichts und beeilte sich mit Vaters Zerren die anderen wieder einzuholen. Als es über ihnen lauter krachte als je zuvor und sie einen großen Feuerball direkt auf sich zusausen sahen durch die Kronen der Bäume hinweg, schrien sie und machten gerade noch einen Satz nach vorn, um den Flammen zu entkommen. Der Druck der Explosion, als der Feuerball auf die Bäume prallte, schleuderte Tabari und Puran noch diverse Fuß weiter nach Osten und Leyya mit ihnen.

„Verdammt, habe nur ich das Gefühl oder kommen die direkt hierher?!“ stöhnte der Herr der Geister, der sich zuerst rasch erhob und Puran auf die Beine half, „Jemand verwundet?“

„D-das ist das Ende der Welt!“ keuchte sein Sohn entsetzt und fuhr herum, als ein weiteres Krachen ertönte, unter das sich jetzt ein neues Geräusch mischte – Schritte von Menschen. Leyya erbleichte.

„Vater, d-du hast recht, die kommen tatsächlich auf uns zu!“ entgegnete der Junge verblüfft, „W-wie haben die uns gefunden?!“

„Das ist mir völlig egal, solange wir sie abhängen können! Renn!“

Sie rannten weiter. Begleitet vom Beben der Erde und dem Dröhnen des Himmels verließen sie den Wald. In der Ferne sahen sie die vier anderen rennen auf der Wiese, hinter der das Nosar-Gebirge lag. Südlich von ihnen brannte die Stadt Athash.

„Rascher!“ brüllte der Blonde und scheuchte sein schon hustendes und japsendes Kind vor sich her. Als er zurück blickte, sah er aus den brennenden Gebüschen des Waldes die Verfolger hervor preschen und auf sie zu gerannt kommen. Es waren fünf Männer zu Fuß und in den typisch zuyyanischen Rüstungen, sie trugen scheinbar nur einfache Schwerter.

„Die Männer in den Rüstungen!“ heulte Leyya panisch auf Purans Rücken, die Tabaris Blick folgte, „D-die waren in Makar! Sie waren überall, sie setzten Feuer auf das Land und in den Himmel, sie töten alles, was sie in die Finger bekommen!“

„Lauf!“ schrie der Älteste entsetzt, „Wenn wir die anderen einholen, können wir uns mit der Barriere schützen, vielleicht hängen wir sie dann ab!“ Puran keuchte und rang verzweifelt nach Luft. Er war erschöpft, seine Beine gehorchten ihm nicht mehr lange, hatte er das Gefühl. Das Gewicht des kleinen Mädchens auf seinem Rücken wurde immer schwerer…

Das Mädchen. Er durfte nicht aufgeben, er musste sie in Sicherheit bringen! Sie war noch ein Kind, sie hatte doch ihr ganzes Leben noch vor sich!

Reiß dich zusammen, Puran, renn! Befahl er sich wütend und versuchte, das Tempo erneut zu erhöhen, als es unmittelbar hinter ihnen krachte und er die Hitze des tödlichen Feuers hinter sich spüren konnte. Eine Feuerkugel war auf die Wiese geschlagen. Leyya schrie.

„Bist du getroffen?!“ rief er über die Schulter zu ihr, und sie weinte ängstlich und klammerte sich an seinen Hals.

„Wir werden alle sterben!“

„Nicht so schnell…“ stöhnte der Herr der Geister neben ihnen und drehte den Kopf, ehe er beide Hände in den Himmel riss. „Heute stirbt niemand von uns, kleines Mädchen!“ Mit einer simplen Handbewegung ließ er den Wind über der Aue eine Druckwelle erzeugen, die die fünf Verfolger zu Boden schleuderte. „Das schenkt uns ein paar Momente, schneller!“

Doch die Momente verstrichen schneller als Tabari gedacht hatte. Kaum waren sie kurz weiter gerannt, kamen die Verfolger schon zurück und holten immer schneller auf. Plötzlich flogen Wurfmesser an ihren Köpfen vorbei ins Gras und verfehlten die drei um Haaresbreite, hätte Tabari die Geschosse nicht instinktiv heran fliegen gespürt und sie mit Wind zur Seite gelenkt, hätten sie sie durch den Kopf aufgespießt.

„W-was ist das?!“ rief Puran erbleichend und stolperte über eines der Wurfmesser – beim kurzen Hinsehen erkannte er, dass es keine Messer waren, sondern Zapfen aus Eis. Er erinnerte sich an die Worte seiner Mutter; Zuyyaner beherrschten nur drei Elemente der Magie, Feuer, Eis und Wasser. Er fuhr zu seinem Vater herum.

„Das hat keinen Zweck, wir schütteln die niemals ab!“ rief er, „Und bis zu Ruja und den anderen ist es zu weit, wir sind zu weit zurück gefallen!“

„Dann haben wir wohl keine Wahl, als uns mit der Nase voran ins Getümmel zu stürzen,“ war des Vaters Kommentar. „Du bleibst mit der Kleinen zurück, egal, was passiert, hast du das verstanden?“

„Was?!“ fiepte Leyya panisch, „D-das könnt Ihr nicht! Das sind Monster!“

„Das sind nicht die ersten Zuyyaner, denen ich begegne,“ machte Tabari und hielt an, „Und ich werde nicht meine Familie ihren Klauen überlassen! Lauf, Puran, bevor ich dir in den Hintern trete!“

„Ich kann dich nicht alleine hier-… Himmel!“ Der Junge duckte sich samt Leyya, als noch ein Eis-Geschoss auf ihn zugeflogen kam und ihn knapp verfehlte. Tabari zog mit einer Hand sein Schwert und hob die andere in den Himmel, der zu grollen begann.

„Sie sollen den Zorn Vater Himmels spüren für die Gräuel, die sie diesem Land antun…“ zischte der Blonde ungewohnt grimmig, während die Soldaten auf zu gerannt kamen. Kurz bevor sie die drei hätten erreichen können, riss er seine freie Hand nach vorne und ein weiterer Windstoß riss alle fünf von den Beinen. „Hau endlich ab, Puran, bring Leyya in Sicherheit!“ Sein Sohn keuchte.

Leyya. Ja, das Mädchen, bei aller Ehre, aber das Mädchen durfte nicht seiner Pietät ausgesetzt werden! Wenn er sie zu Ruja brachte, konnte er immer noch zurück rennen, wenn es bis dahin nicht zu spät war… er rannte los und Leyya schrie.

„Was wird aus deinem Vater?!“

„Der kommt klar!“

„Eben warst du anderer Meinung!“

„Er ist der Herr der Geister, er wird sich zu verteidigen wissen, ich kehre zurück, wenn du in Sicherheit bist-… ah!“ Er stolperte über einen neuen Eiszapfen, der im Gras vor ihm landete, und stürzte zu Boden, dabei fiel das Kind von seinem Rücken. Puran rappelte sich in Windeseile hoch und stellte sich schützend vor die Kleine, als zwei der Angreifer Tabari umgangen zu haben schienen und jetzt auf die zwei zu kamen. „Bleib hinter mir und rühr dich nicht!“ schrie er das Mädchen an, das leichenblass und wimmernd am Boden lag und sich allein vor Angst schon nicht rühren konnte, als es die Männer auf sich zu rennen sah.

Sie dachte an Makar. An das Feuer im Dorf, an die tote Frau von Onkel Turoni. An die andere Frau, die sie im Stich gelassen hatte…

Sie wollte das nicht mehr! Sie wollte, dass das aufhörte… Vor ihr stand ihr Retter, und er rettete sie glatt noch einmal, als er genau wie sein Vater die Arme empor riss und zumindest den einen Angreifer mit ebenso einem Wirbel zurück schleudern konnte.

Sie war nutzlos… wieder einmal kam sie sich dumm vor.

Puran keuchte und schaffte es gerade noch trotz des üblen Schwindels, der nach dem kurzen Windzauber wieder in ihm aufkam, seine zwei Schwerter zu schnappen und damit den zweiten Mann abzuwehren, der ihm sein eigenes Schwert entgegen schleuderte. Klirrend stießen drei Klingen aufeinander, bis der Jüngere eine seiner zwei wegzerrte, herum riss und dem Mann vor sich mit einer raschen Bewegung den Arm abschlug, ehe er selbst genau mitbekam, was er tat. Der zweite Soldat hatte sich jetzt wieder aufgerappelt, musste den zwei Schwertern ausweichen und einem neuen Windzauber, ehe er dem Jungen und dem kleinen Kind einen Feuersturm aus bloßen Händen entgegen schmetterte.

„Duck dich, Leyya!“ schrie Puran entsetzt, und er riss die Hände nach vorne – mit einem Mal kam ihm der Traum wieder auf, der ihn so beunruhigt hatte zuvor. Plötzlich spürte er dieselbe unsichtbare Macht in sich selbst, die in seinem Traum das Feuer zerstört hatte… vor seinen Augen wurde es schwarz und er verlor so plötzlich das Gleichgewicht und sämtliche Macht, wie sie zuvor in ihm aufgekommen war, ohne dass er sich erklären konnte, warum; alles, was ihm durch den Kopf ging, war, wie er so das Mädchen beschützen sollte… dann wurde er zu Boden gestoßen und das nächste, was er fühlte, war eine entsetzliche Übelkeit, während er das Feuer vor seinen Augen verschwinden sah, dann fiel für einen kurzen Moment Schatten über sein Bewusstsein.

„Verdammte Bastarde!“ hörte er über sich die wutentbrannte Stimme seiner Mutter, als er das Bewusstsein wieder erlangte. Er fand sich im gras liegend, neben ihm kauerte die wimmernde Leyya. Als er sich erheben wollte, versagten seine müden Beine und die Übelkeit von zuvor kehrte mit solcher Macht zurück, dass er sich prompt auf die Erde erbrach und lautstark zu husten begann.

„Tabari!“ hörte er als nächstes Meorans Stimme etwas weiter weg, „Ich gehe runter, bleib du bei den anderen, Nalani, ich hoffe, da kommen nicht noch mehr!“

„Was ist passiert?!“ stöhnte Puran benommen und schaffte es, sich hinzusetzen. Sein Kopf schmerzte. „Wo ist das Feuer…?“

„Es ist fort, seid unbesorgt, beide.“ Das war Ruja, und verblüfft stellte Puran fest, dass er gemeinsam mit Keisha und Leyya in einer schwach glimmenden Blase am Boden hockte, hinter der Barriere, die Ruja erstellt hatte und mit ausgestreckten Armen aufrecht erhielt. Außerhalb der Blase stand Nalani mit Kadhúrem in der rechten Hand, sie wandte jetzt schnaufend den Kopf von den beiden toten Soldaten ab, die vor ihr am Boden lagen und deren dunkles Blut das Gras befleckte.

Ihm fiel wieder ein, was passiert war. Wo war sein Vater?

„Vater!“ schrie er laut und sprang auf die Füße, „Vater, wo ist er?!“

„Bleib ruhig,“ mahnte die Telepathin ihn ernst, „Meoran ist ihm zur Hilfe gekommen, die Zuyyaner sind so gut wie tot.“

Wie ungewohnt kaltherzige Worte doch aus Rujas hübschem Mund springen konnten…
 

„Zwei gegen einen, ihr seid nicht fair,“ meckerte Tabari die beiden Männer an, deren tödlichen Schwerthieben er auswich oder sie teilweise gekonnt mit seiner eigenen Waffe blockte. Das waren keine hochkarätigen Krieger… das waren einfache Fußsoldaten, weder besonders stark noch sonderlich erfahren, stellte der Blonde verwundert fest. Er fragte sich, ob man ihn unterschätzte. „Hat euer Anführer euch uns nach gejagt? Redet, ihr könnt sicher die Einheitssprache, ihr Ratten!“ Sie sprachen nicht, sondern warfen mit Eis und Feuer nach ihm, was der Blonde ohne weitere Anstrengung mit einer Änderung der Windrichtung in ihre eigenen Gesichter zurück wehte. Schreiend mussten die Soldaten ihren eigenen Zaubern ausweichen und der Schamane nutzte die Ablenkung, um eine Hand in den Himmel zu reißen und mit einem lauten Grollen von oben einen Wirbel aus Blitzen und Donner in seiner Handfläche entstehen zu lassen. „Himmelsdonner, du Zorn unseres Vaters!“ keuchte er ehrerbietig, „Komm in meine Hand, Windgeist, und lasse mich dich beherrschen, wie es mein Schicksal ist!“ Es krachte aus dem Himmel und als Tabari den Kopf drehte, sah er die Männer vor sich die Arme empor reißen und ihn abermals mit Zaubern bewerfen. Er gluckste. „Zu spät, ihr Idioten. Wolltet ihr dem Finger des Vater Himmel widersprechen?“

Damit riss er seine erhobene Hand hinab und schmetterte den Zerstörer mit aller Kraft allen Gegnern und Zaubern entgegen, die da waren, riss den ohnmächtigen Körper des ersten Mannes, den er niedergeschlagen hatte, mit dem Wirbelwind hoch in die Luft und warf ihn auf die zwei anderen herunter. Mit einem Krachen platzte die Erde vor seinen Füßen auf dank der Macht des Windmessers. Der Mann schloss die Augen und bat Mutter Erde um Vergebung für die verlorenen Lebensgeister und den zerstörten Boden, als der Zauber sich legte. Dann riss er sie wieder auf, als mit einem Mal der eine der Soldaten genau vor ihm aus dem Nichts auftauchte.

„Na, du hast den Windzauber überlebt?“ fragte der Blonde noch, dann riss der Gegner sein Schwert nach vorn und hätte ihn um ein Haar aufgespießt, hätte er sich nicht instinktiv zur Seite fallen lassen, so wurde nur sein Arm von der seltsamen Schwert mit der roten Klinge gestreift. Als Tabari zu Boden stürzte und sich im Gras durch den Schwung überschlug, hörte er das unschöne Geräusch eines aufgeschlitzten Halses hinter sich und drehte keuchend den Kopf. Da stand Meoran, in seiner Hand eine Kondorfeder, und der Körper des Krieges ging vor ihm leblos zu Boden. Mit ihm fiel sein verziertes Schwert mit der roten Klinge. Mit einem Mal war es still auf der weiten Aue vor Nosar. In der Ferne erklang noch immer das Trommeln aus Athash, dessen Mauern lichterloh brannten. Schwarzer Rauch vernebelte den Himmel der heraufziehenden Nacht.
 

„Du bist aber gnadenlos, Meoran,“ kommentierte Tabari verdutzt den geköpften Zuyyaner vor ihnen am Boden, als sein Kollege seine Kondorfeder einsteckte und seinen zerfetzten Umhang zurecht rückte.

„Ja, bitte, dass ich dir gerade die Haut gerettet habe,“ feixte er, „Scherz… ich weiß, das ist nicht lustig.“

„In der Tat,“ brummte der Herr der Geister, „Das tut weh, dabei war es bloß ein dummer Schnitt…“ Er fasste keuchend nach seinem stark blutenden Arm. In dem Moment kamen die anderen wieder zu ihnen, Keisha und die Kinder sahen ungesund bleich aus.

„Waren das alle?“ war Nalanis erste Frage.

„Waren die hinter uns her?“ addierte Ruja scheu. „Das wäre furchtbar… die müssen ja viele Männer haben, wenn sie gleich fünf entbehren, um eine kleine Reisegruppe zu erledigen!“

„Kleine Reisegruppe ist gut, wenn der Chef von denen die Leichen erst findet, sind wir schlimmer dran,“ erwiderte ihr Mann unverblümt. „Wenn er weiß, dass er Gegner hat, die seine Krieger töten können, wird er unruhig werden.“

„Der Chef?“ fiepte Leyya panisch, die sich an den zitternden und immer noch schwindelnden Puran klammerte.

„Der Kaiser, oder wer auch immer diesen Haufen anführt.“

„Es ist egal,“ meinte Nalani kaltherzig. „Sie haben uns angegriffen, wir haben sie getötet. Wir gehen weiter, rasch jetzt! Wenn wir diese Nacht Nosar erreichen, können wir uns verstecken, ehe der Kaiser oder Chef noch mehr hinter uns her schickt.“
 

Der Schimmer des Feuers in der Stadt leuchtete weit in die düstere Nacht hinaus und der kleinen Magiergruppe den Weg zum Gebirge, als sie sich beeilten, jetzt im Dunkeln über die Aue zu laufen. Da sie nicht mehr verfolgt wurden, konnten sie etwas langsamer machen, was vor allem Puran zu Gute kam, der sich insgeheim fragte, wieso er noch gehen konnte, während er an der Hand die kleine Leyya mit sich zog. Sie ließen die getöteten Verfolger im Gras zurück und hielten genau auf die Berge zu. Erst, als sie deren Fuß endlich erreicht hatten, sprachen sie wieder. Weit in der Ferne glühte das Feuer von Athash. Das Trommeln verhallte in der Nacht und ein kalter Wind fuhr auf, als die Menschen begannen, sich gegenseitig auf eine Reihe von Felsen zu ziehen und langsam in das Gebirge zu klettern.

„Es kommen keine solche Kerle mehr, oder?“ war Keishas erste Frage, ehe sie anfing, zu jammern: „Ach, Kletterei, Himmel hilf!“

„Ich bin zwar nicht der Himmel, ich helfe aber trotzdem ausnahmsweise mal…“ seufzte Meoran großzügig und ließ seine Mutter auf seinen Rücken klettern, „Aber wehe, du scheuchst mich herum, Muttchen, ich bin kein Packesel!“

„Zumindest kann ich niemanden sehen hinter uns,“ antwortete Nalani auf die Frage der Heilerin und spähte über die düstere Aue, die nur vom rötlichen Brennen in der Ferne erhellt wurde. „Wir sollten uns so weit wie möglich ins Innere der Berge vorkämpfen, vielleicht finden wir wieder eine Höhle, das wäre gut. In den Bergen werden sie nicht viel herum wühlen, sie werden denken, wir gehen weiter in die Provinz hinunter.“

„Ich dachte, das täten wir auch!“ entgegnete ihr Gatte verwundert, „Sollen wir in den Bergen bleiben?“

„Es ist sicherer als jede Stadt der Welt es gerade sein kann, glaube ich.“

„Aber wenn der Winter kommt, erfrieren wir hier oben!“ war Purans Ansage, „W-wie stellt ihr euch das vor?“ Nalani schnaubte und kletterte weiter hinauf. Sie entdecke einen kleinen Trampelpfad, der zwischen verdorrten Büschen entlang mitten in die Berge führte.

„Vielleicht haben wir Glück und die Aufregung hier im Osten hat sich gelegt, bis der Winter kommt,“ meinte sie im Gehen, „Kommt, rasch! – Mädchen, kannst du noch gehen?“ Letztere Frage galt Leyya, die erschöpft an Purans Hand hing und widerwillig einen Fuß vor den anderen setzte.

„Es geht noch, ja,“ murmelte sie nicht ganz überzeugend und senkte den Kopf, „Ich werde niemanden mehr belasten heute! Es reicht, dass Puran meinetwegen so fertig ist…“ Sie fühlte sich furchtbar. Seit der großen Flucht von zuvor hatte der Ältere kaum gesprochen, er atmete ungleichmäßig und seine Hand, die ihre hielt, war ganz verkrampft. Wäre sie doch nur nicht so ein Klotz am Bein! Onkel Turoni hatte immer recht gehabt, sie gehörte in den Fluss geworfen und ersäuft, damit sie niemanden mehr belastete…

Puran sah das anders.

„Ich bin nicht fertig, und schon zweimal nicht deinetwegen,“ sagte er grantig, „Du redest dir furchtbare Dinge ein, kleines Mädchen. Niemand gibt dir an irgendetwas eine Schuld, ich bin nur erleichtert, dass du gesund und lebendig bist! Alles andere ist mir völlig egal, hörst du? Jetzt marsch, geh voraus, damit ich dich auffangen kann, wenn du ausrutschst.“ Sie starrte ihn entsetzt an und er lächelte müde. Dann streichelte er ihr über die kalten Wangen und durch die dunkeln Haare, die ganz zottelig waren nach der Aufregung. „Hab keine Angst. Ich hab dir doch gesagt, ich würde… niemals zulassen, dass dir etwas zustößt, kleine Leyya. Pass gut auf dich auf, ja?“ Das Kind schluchzte vor Rührung und klammerte sich fester an seine Hand, bis er sich aus ihrem Griff befreite und sie sanft von hinten anschob, damit sie vorausging.
 

Der schmale Pfad schlängelte sich durch eine unschöne Geröllhalde, die die Menschen überquerten. Kleine Kiesel lösten sich vom Boden, auf dem sie gingen, und mitunter rutschten sie aus auf den rollenden Steinchen. Ein lautes Donnergrollen ließ sie kurzzeitig zusammenfahren, aber kein weiteres, unheilvolles Geräusch folgte dem Krachen aus dem Himmel.

„Vielleicht war es weiter weg,“ orakelte Tabari optimistisch, sah aber bestürzt hinauf in die Schwärze über ihnen. Keisha klammerte sich unwillkürlich fester an Meorans Schultern.

„Was immer es war, Hauptsache, es kommt nicht hierher, w-wir sollten uns beeilen!“

Und weiter ging die endlos erscheinende Wanderung durch das Geröll der Nosar-Berge. Bald verschwand der Pfad und sie kämpften sich zwischen mächtigen Felsen hindurch, wateten durch einen kleinen Bach und stiegen stetig bergauf. Irgendwann tauchte der Pfad wieder auf oder es war ein neuer, jedenfalls folgten sie ihm eine lange Zeit nach Osten und wanderten, bis die Nacht halb um war. Dann übermannte selbst die tapfere Nalani allmählich die Erschöpfung dank der vorherigen Flucht, und sie hielten schnaufend und stöhnend mitten in den Felsen an. Leyya sah neben sich einen toten Baum stehen, der da vor sich hin gewachsen war und jetzt keine Blätter mehr trug. Es war eine trostlose und karge Gegend, in der sie sich befanden.

„Wir rasten für heute,“ entscheid Tabari anstelle seiner Gemahlin und hob eine Hand, „Da drüben ist ein Vorsprung, unter dem sind wir geschützt vor Regen, falls welcher kommt. Oder Schnee, so kalt, wie es langsam wird.“

„Schnee im Holzmond?“ japste Leyya entsetzt. Meoran lachte.

„Na, freilich! Bei uns in Dokahsan hat es oft im Holzmond geschneit. Es hat sogar schon mal im Mond der Irrlichter geschneit, als ich klein war.“

„Wir sind aber nicht in Dokahsan, sondern in Kerhi-Uhl,“ bemerkte Puran nachdenklich, „Also viel weiter südlich, dass der Winter hier so früh einfällt, würde mich verwundern.“

„Mich verwundert langsam kaum noch etwas,“ seufzte der Lehrmeister, „Nicht in diesem Land, nicht in diesem abscheulichen Krieg.“
 

Sie ruhten unter dem Vorsprung, sofern sie zur Ruhe kamen. Sie wechselten sich damit ab, Wache zu halten; dass die Zuyyaner direkt hinter ihnen her gewesen waren, obwohl sie fernab der Straße gewandert waren, hatte ihnen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wer wusste, ob noch mehr von ihnen kämen? Aber die Nacht blieb still und ebenso die folgenden Tage, die sie im Gebirge verbrachten. Sie beschlossen, vorerst in den Bergen zu bleiben. Der Pass, den die Hauptstraße nach Osten über die Berge nahm, war weiter nördlich, sie fühlten sich einigermaßen sicher zwischen den zerklüfteten Felsen. Während sie sich von dem Schrecken erholten, gab es genug anderes, was sie beunruhigte.

„Das ist äußerst verwunderlich!“ entrüstete Keisha sich und fingerte nervös an Tabaris Oberarm herum. Der Blonde stöhnte.

„Das tut weh, mach das doch sanfter! Was ist denn so verwunderlich, du alte Hexe, ich finde es verwunderlich, dass mein Arm noch dran ist!“

„Ich kann den Schnitt nicht heilen, Tabari,“ war die Antwort der Frau und der Geisterjäger verdrehte die Augen.

„Dann lass es die Kleine probieren, vielleicht kann – wie, Moment, wieso kannst du das nicht?“ Er sah sie verblüfft an, dann auf seinen Oberarm, den das Schwert des Zuyyaners vor einigen Tagen gestreift hatte. Die Wunde war ein wenig von selbst verheilt, schmerzte aber immer noch unangenehm.

„Ich weiß nicht…“ Keisha sah besorgt auf die Wunde, „Es ist zwar keine schwere Wunde, aber… aber was ich auch versuche, nichts zeigt Wirkung! Lira nicht, was dafür durchaus reichen müsste, und auch keine komplizierteren Zauber. Das verwundert mich, bin ich so alt?“

„Du bist nicht mal fünfzig,“ sagte der Mann verdrossen, „Was bedeutet das?“ Wenn sie nicht mehr heilen könnte… das wäre furchtbar!

Nalani mischte sich ein.

„Ich glaube, es liegt nicht an Keisha, sondern an der Waffe, die dich getroffen hat. Es war eine zuyyanische Waffe, die sind vielleicht anders. Ich habe damals, als ich über die Zuyyaner nachgeforscht habe, alte Aufzeichnungen von vor vielen Jahrhunderten gefunden über die Waffen, die sie tragen.“

„Tatsache?“ fragte Keisha verwirrt. Der Mann blinzelte.

„Manche Zuyyaner tragen spezielle Waffen, sowas wie Magiemedien, mit denen sie auch zaubern können. Die Klingen solcher Waffen sind aus anderem Material als unsere, wenn man von ihnen verletzt wird, kommt unsere Heilermagie dagegen vielleicht nicht an; so, wie mein Wasser gegen das Zuyyanerfeuer nicht ankommt.“ Das war beunruhigend und die beiden sahen sich an. Keisha jammerte.

„Was machen wir denn?! Diese Zuyyaner haben uns alles Mögliche voraus, wie sollen wir jemals gegen sie ankommen?!“

„Wir können sie nicht mit elementaren Reihefolgen schlagen, aber wir haben andere Stärken als sie,“ meinte Nalani, „Mein Wasser nützt mir nichts gegen ihr Feuer, aber vor dem Schatten Kadhúrems haben sie gekniet auf der Aue. Wenn uns die Elemente wenig nützen, werden wir auf anderes zurückgreifen müssen. Und wie wir gesehen haben, sind sie aus Fleisch und Blut und können sterben wie jeder andere Mensch.“

„Wie ungemütlich,“ stöhnte Tabari und rieb sich den Arm, ehe er die Heilerin ansah, „Ich glaube, das Heilen sparen wir uns jetzt, offenbar führt das zu nichts. Danke trotzdem, Keisha. Wo ist eigentlich deine Nachwuchs-Heilerin?“ Er sah sich um – da erblickte er Leyya schon selbst. Sie kam mit Puran einen Felsen herab geklettert und war erstaunlich flink darin. Die Kinder waren ganz aufgeregt.

„Wir haben eine Höhle gefunden!“ berichtete das Mädchen stolz, „Nicht weit von hier, und sie ist unbewohnt! Wir können da hoch ziehen, da sind wir geschützt vor dem Wetter und die Zuyyaner werden sie sicher auch nicht finden!“

„Was denn?“ Tabari grinste, „Das klingt ja großartig.“

„Noch mehr Klettern?!“ heulte Keisha, und Meoran schnaufte.

„Ich muss dich doch sowieso wieder tragen, du faule Tante!“ Neben ihm tauchte seine Frau auf und sie strahlte die beiden Jüngsten an.

„Eine Höhle? Ist ja wundervoll, wo müssen wir hin?“ Puran errötete gegen seinen Willen, als sie ihn direkt ansah, und grinste trotzdem, als er mit Leyyas ständigem Nicken und Zustimmen erklärte, wohin sie gegangen waren und wo sie die potentielle Behausung entdeckt hatten. Irgendwie war es komisch, mit Ruja zu sprechen, aber trotzdem tat er es gerne…

Nalani stieß ihren Mann in die Rippen, der aufgestanden war.

„Es war sicher Wille der Geister, dass wir die kleine Leyya gefunden haben, denke ich,“ sagte sie leise, und ihr Mann brummte verwirrt.

„Weil sie unser neues Daheim gefunden hat?“

„Ach, Unsinn… ich meine Puran. Sie hängt an ihm wie eine kleine Klette, und er kümmert sich um sie. Ich habe ein gutes Gefühl, wenn ich sie sehe, und sieh dir die zwei doch an… das Mädchen ist gut für ihn. Ihre Gegenwart scheint es ihm leichter zu machen, Cholenas Tod zu verkraften, das war ein harter Schlag für ihn. Dann der ganze Ärger mit den Visionen, nach denen sein Körper sich immer noch weigert, zu gehorchen… die Kleine tut ihm richtig gut, ich halte es für eine gute Sache.“ Der Blonde seufzte kurz und senkte dann das Gesicht etwas, ehe Puran merken konnte, dass beide Eltern ihn ansahen.

„Du siehst immer Dinge, die ich nicht sehe, Nalani,“ behauptete er, „Wenn du das sagst, wird es wohl so sein. Das mit Cholena hat mir so leid getan, sie hatten sich so lieb und… sie wäre doch eine gute Frau für ihn gewesen.“

„Offenbar haben die Himmelsgeister das anders gesehen,“ entgegnete die Schwarzhaarige langsam, ohne den Blick von Puran und Leyya zu wenden, die immer noch von der Höhle erzählten, „Sonst hätten sie Cholena nicht sterben lassen.“
 

Die neue Behausung, die die Kinder ausfindig gemacht hatten, war gut. Sie führte ein gutes Stück in den Berg hinein und schützte damit gut vor Kälte und Wind. Noch am selben Tag zogen sie in die Höhle um und errichteten dort ihr provisorisches neues Zuhause. Und für eine Weile schienen das Trommeln des Krieges und das Feuer der Zuyyaner wie für immer verstummt, während die kleine Gruppe in den Nosar-Bergen wohnte. In der Nähe ihrer Unterkunft wuchsen ein paar verkrüppelte Sträucher und sogar zwei kleine Laubbäumchen, die ihr Blätterkleid nach und nach abwarfen, je länger die Menschen im Gebirge lebten. Abgeschieden von der Zivilisation und dem Krieg kamen sie alle ein wenig zur Ruhe, bis der Winter über das Land kam.

Die Überlegung, im Winter die Berge zu verlassen, wurde einstimmig abgelehnt. Das Gebirge war sicher und die Höhle geschützt, sie hatten den Eingang mit einem Gatter aus Holzzweigen und darüber gespannten Tierfellen verbarrikadiert, um die eisige Kälte von draußen fern zu halten. In der kalten Jahreszeit verließen sie kaum die Höhle, nur, wenn es sein musste. Wasser war immer vorhanden dank des Wasserzaubers Alara, und dank Tabaris und Purans Jagdkünsten hatten sie auch ein paar Trinkgefäße aus den Hörnern der Gämsen machen können, die sie erlegt hatten. Der Winter eignete sich hervorragend für das Anlegen von größeren Vorräten, die in der Kälte in kleinen Vorratsgruben im Boden gefroren und so nicht schlecht werden konnten. Nicht nur Fleisch- und Fettvorräte, sondern auch kleine Bündel aus Heilkräutern, die Keisha gemeinsam mit dem kleinen Mädchen in den Bergen gesammelt hatte, wurden darin aufbewahrt.

In den Bergen schneite es viel. Noch mehr als in Dokahsan, stellte Puran verblüfft fest, der seine Heimatprovinz vor Beginn des Unheils nie verlassen hatte. Überdies kam er selten dazu, sich über die Landschaft zu wundern, er hatte genug anderes im Kopf. Viel seiner Zeit beanspruchte das kleine Mädchen, das Tag und Nacht kaum von seiner Seite wich und ihn am liebsten überall hin begleitete. Er war erstaunt darüber, dass er ihre ständige Anwesenheit und ihr Geklette nicht als lästig empfand. Der Junge hatte sie gerne bei sich und duldete ihre Anwesenheit an sich immer. Wenn er nicht gerade mit seinem Vater auf die Jagd ging, beschäftigte er sich mit Leyya, weil es die Kleine so unheimlich zu freuen schien, wenn er ihr Aufmerksamkeit schenkte. Nachts kuschelte sich das Kind oft an ihn, und jetzt im Winter konnten sie sich gegenseitig wärmen, wenn sie so miteinander kuschelten. Irrsinnigerweise half ihm das Kuscheln mit der Kleinen sogar dabei, sich mehr und mehr von den beunruhigenden Gedanken an die hübsche Ruja zu lösen. Wenn Leyya bei ihm schlief, dachte er nie an Ruja und träumte auch keine unartigen Sachen von Meorans Frau; die kleine Heilerin war wirklich eine Heilerin, in seinem Fall eher unbewusst und eine seelische.

Was sie nicht heilen konnte, weder bewusst noch unbewusst, waren die Geisterträume, die ihn immer wieder heimsuchten. Bisweilen zwar selten, aber sie kehrten immer wieder zurück in seinen Geist, um ihn um den Schlaf zu bringen. Und seit langem einmal wieder träumte Puran in einer der letzten Winternächte von der komischen weißen Spirale, die jetzt im Todesfeuer tanzte und ihn auslachte.

„Was wirst du tun, Lyra? Davonrennen, so wie du es immer getan hast? Was wirst du tun ohne deinen Vati, der dir den Wind zu Füßen legt, ohne deine Mutti, die jeden in den Schatten wirft, der es wagt, ihr Baby anzugreifen…? Du kannst nicht weglaufen, Lyra, dieses Mal nicht. Es liegt dir selbst im Blut… nicht wahr?“ So kicherte die Spirale und tanzte durch einen brennenden Himmel und eine blutige Erde voller Tod und Verderben. In der Ferne dröhnten die Trommeln, als das Bild vor Purans Augen verschwamm.
 

Er fuhr unwillkürlich zusammen, als er erwachte, und presste dabei aus Versehen die kleine Leyya fest an sich, sodass sie auch aufwachte.

„Was ist passiert?“ wollte sie bestürzt wissen, und Puran löste sich hustend von ihr und kehrte ihr den Rücken, als ein grauenhaftes Panikgefühl in ihm aufstieg gemeinsam mit dem furchtbaren Schwindelgefühl. „P-Puran?“ fragte das Kind weiter und fasste ihn vorsichtig an der Schulter.

„Nicht,“ stöhnte er und brachte nicht mehr heraus. Leyya zog besorgt die Brauen hoch.

„Wieder so ein Traum?“

„Sie… kommen immer d-dann, wenn ich es nicht haben will… das heißt, eigentlich will ich es selten… das geht vorüber… schlaf weiter.“

„Ich kann nicht,“ flüsterte sie bestürzt, „Kann ich dir nicht helfen? Du wirst immer so schlimm krank, wenn das öfter kommt…“ Puran lachte bitter. Ja, krank… sie nannte es krank, weil er kaum geradeaus gehen konnte und sich übergeben musste, wenn er zu oft Bilder sah, er kam sich selber vor, als hätte er zu viel Alkohol getrunken; dabei gab es gar keinen Alkohol in den Nosar-Bergen. Es gab gar nichts… es war Krieg.

Als er sich ein wenig beruhigt hatte und das furchtbare Gefühl abflaute, das er immer bekam, wenn er von der Spirale träumte, drehte Puran sich wieder zu der Kleinen um und seufzte tief.

„Schon gut. Gräm dich bitte nicht um meinetwillen, Leyyachen. Mir geht es gut, ich… bin nur aufgewühlt.“ Er setzte sich langsam auf und sah in Richtung des Höhleneingangs. Seiner instinktiven Schätzung zu Folge ging die Sonne gerade auf. Es fiel durch das Gatter kein Licht in die Höhle und das Feuer war erloschen, er sah nur die Umrisse der anderen, die irgendwo neben ihnen schliefen und sich nicht regten. Leyya setzte sich jetzt auch auf und zog die Decke fester um sich, als sie fröstelte. Ohne ihn an ihrer Seite, an den sie sich kuscheln konnte, war ihr plötzlich kalt…

„Wohin willst du?“ wisperte sie traurig, als Puran über den Boden zum Gatter zu krabbeln begann.

„Raus, ich brauche frische Luft. Bleib drinnen, du holst dir sonst den Tod… ich bin gleich zurück, keine Angst.“
 

Der Schnee begann schon, zu schmelzen. Puran sah sogar vereinzelte Grashalme durch die weiße Schneedecke sprießen, als er oben auf dem Dach der Höhle zwischen den Felsen stand und nach Norden blickte. Der Himmel grummelte, war aber nicht bösartig von feurigem Licht oder Schatten erfüllt. Die Luft war kalt, aber nicht unangenehm, und eine Weile stand der Junge einfach nur da und starrte gen Norden. Er hörte Schritte hinter sich und drehte den Kopf; Nalani kam zu ihm.

„Du bist aufgewacht? Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe, Mutter.“

„Hast du nicht, ich war vor dir wach,“ war die nüchterne Antwort. Sie machte eine Pause, während sie neben ihren Sohn trat und ebenfalls nach Norden sah. „Du siehst sie auch… die Knochenspiralen, nicht wahr? Und sie bereiten dir Unbehagen, ebenso wie mir selbst.“

Puran starrte sie an.

„Du… du siehst sie auch?“ Warum sagte die das jetzt erst? Doch seine Mutter würde ihm die Frage nicht beantworten, sie drehte nur langsam den Kopf nach Nordwesten und blinzelte. „Was sollen sie, Mutter?“ fragte Puran dumpf weiter, „Ich sehe sie schon seit ich in Tuhuli die Lehre gemacht habe, ich verstehe nur ihre Bedeutung nicht.“ Nalani seufzte.

„Nun… du wirst sie anders sehen als ich, weil wir beide unterschiedliches Empfinden im Bezug auf die Visionen der Zukunft haben. Aber ich spüre genau wie du ein merkwürdiges, tiefes Unwohlsein… irgendetwas in mir versucht sich an irgendetwas Wichtiges zu erinnern, ich weiß nur nicht, an was…“ Das war beunruhigend. Puran senkte den Kopf und Nalani starrte weiter geradeaus, als ihr mit einem Mal wie ein Splitter einer Erinnerung der alte Stammbaum im Schloss vor Augen kam. Das Blatt, auf das Tabari die Tinte gekippt hatte, und den einen Namen, den diese verschont hatte.

Ulan.

Woran versuch ich mich zu erinnern…? Ulan… warum fühlt sich alles in mir schlecht an, wenn ich an diesen Namen denke?

Ein dumpfes, weit entferntes Beben unterbrach die Gedanken der beiden Magier und abrupt wendeten sich beide wieder nach Norden. Die Berge erzitterten leicht zu ihren Füßen.

„Mutter! W-was ist das?! Stürzt die Höhle ein?!“ keuchte der Junge entsetzt und strauchelte schon, Nalani hielt ihn am Arm fest.

„Hör auf deine Instinkte,“ war ihre kalte Anweisung. „Was sagen sie dir, Puran? Lerne, erst deinen eigenen Geist zu fragen, bevor du mich fragst… du wirst mich nicht immer bei dir haben, um dir antworten zu können.“ Nach dieser entsetzenden, aber wahren Aussage starrte er sie zunächst hilfesuchend an, folgte dann aber dem befehl und versuchte, nach seinen Instinkten zu suchen… die erstaunlicherweise keine Panik schoben.

„Die Zuyyaner rücken nach Osten vor…“ hörte er sich zu Nalani sagen, die nichts erwiderte. „Sie kommen zum Pass von Nosar oben im Norden… es war wirklich eine weise Entscheidung, hier zu bleiben im Winter, glaube ich!“

„Das glaubst nicht nur du,“ war Mutters Kommentar und sie strich sich kurz durch die schwarzen Haare. Sie und auch die anderen Frauen hatten ihre langen Haare abgeschnitten, da sie in freier Wildbahn nur im Weg waren und schwer zu pflegen. Niemand von ihnen konnte jetzt lange Zeit mit Haarpflege verbringen, so reichten Nalanis einst so lange, gewellte Haare gerade noch über ihre Schulterblätter. „Was immer im Norden passiert, wir sind fernab davon und hier in Sicherheit.“
 

Da hatte die Frau recht. Sie hatten es verhältnismäßig gut in ihrer kleinen Höhle und der Winter zog an ihnen vorbei, ohne bleibende Schäden zu hinterlassen. Als der Schnee verschwunden war, kehrte der Frühling in die Nosar-Berge und auch in die kleine Behausung der Gruppe ein. Das Grollen des Himmels war verstummt und die Menschen freuten sich, nicht mehr den ganzen Tag in der düsteren Höhle verbringen zu müssen; sie konnten die ersten warmen Sonnenstrahlen genießen und es kam auch neues, junges Wild in den Bergen, das sie jagen konnten. Nicht zu viel; immer nur so viel, wie sie zum Überleben brauchten, um die Tiergeister nicht zu beleidigen.

Ein unerwartetes Problem wurde ihnen erst bewusst, als der Frühling schon halb vorbei war und der Sommer näher kam.

„Was ist denn da drüben los?“ wunderte sich Puran und spähte zum kleinen Vorplatz der Höhle, auf dem sich seine Eltern, Meoran und Ruja befanden und über irgendetwas ziemlich Wichtiges zu diskutieren schienen. Vor dem Jungen im kargen Gras zwischen ein paar Felsen hockten Keisha und Leyya, die gemeinsam heilende Kräuter zum Trocknen auslegten, während die alte Frau dem Kind beibrachte, welche Pflanze wofür gut war.

„Hm?“ machte Leyya auch verwundert und blickte herüber, „Ist was passiert?“

„Vielleicht sollten wir lieber nachsehen…“ Puran räusperte sich und schnappte seinen Speer, den er aus Knochen gebaut hatte im Winter, ehe er samt der Frau und dem Mädchen zur angeregten Versammlung herüber eilte.

„Habe ich mich verhört?“ keuchte Tabari gerade und starrte dabei auf seinen Kollegen und dessen Frau, „Dass wir das noch erleben dürfen, habe ich ja nicht zu hoffen gewagt…“

„Und der Zeitpunkt hätte nicht ungünstiger sein können, ihr dummen Trottel,“ schimpfte Nalani, „Wie stellt ihr euch das vor?“

„Jetzt macht mal halblang, ich schäme mich so schon genug!“ jammerte Meoran errötend, „Es ist nicht so, dass das beabsichtigt war-… zumindest nicht jetzt und hier, Nalani, glaub mir! Ich wünsche mir durchaus einen schöneren Geburtsort für mein erstes Kind als die Berge von Nosar!“

Puran fiel aus allen Wolken.

„Kind?!“ fiepte er mit vor Schreck höherer Stimme, „D-du meinst, Ruja ist schwanger?!“ Er blickte seine frühere Flamme verblüfft an. Die hübsche Telepathin strich über ihren noch flachen Bauch, als auch auf ihre Wangen ein leichter Rotschimmer kroch – allerdings nicht vor Scham, sondern vor Freude.

„Ich weiß, Nalani, dass es dir und den anderen nur Ärger macht und dass es nicht gut ist, so im Krieg… aber ich freue mich so wahnsinnig über meine Schwangerschaft, i-ich habe geglaubt, ich wäre unfähig, eine gute Gemahlin für meinen Mann zu sein! Bitte sei nicht zornig… ich werde die volle Verantwortung für alles tragen, ich werde mich kümmern und ich verspreche euch, keine Belastung zu sein!“

„Schönerer Geburtsort?“ feixte Tabari an Meoran gewendet, „Ist doch herrlich hier, die Vögel zwitschern, die Sonne lacht – wobei, bis euer Baby kommt, ist der nächste Winter da, bis dahin vergeht viel Zeit!“ Meoran hustete nur verlegen. Verdammt, er hätte besser aufpassen sollen… er schielte zu seiner vor Glück strahlenden Frau, seiner süßen Ruja, die er so liebte. Er hatte genau wie sie schon lange den Gedanken aufgegeben, jemals ein Kind in ihren bauch zu pflanzen; dass es jetzt plötzlich doch passiert war, war eine sehr merkwürdige Laune der Geister, am unpassendsten Ort in der unpassendsten Zeit der Welt. Er war stolz, dass er plötzlich unverhofft Vater werden würde, und freute sich einerseits sehr über diese Neuigkeit, die Ruja ihm zunächst am Morgen heimlich mitgeteilt hatte; aber es gab so viele Probleme! Sie konnten doch nicht ewig hier bleiben, ein Kind konnte hier nicht geboren werden oder aufwachsen… und falls die Zuyyaner kämen und sie fliehen müssten und Ruja einen dicken bauch hätte oder ein Baby in einer Trage… er wollte gar nicht daran denken.

„Versteht mich nicht falsch,“ meinte Nalani, „Ich freue mich auch für euch beide… eigentlich sollte es die schönste Nachricht der Welt für ein Paar sein, dass die Frau ein Baby erwartet… aber ihr wisst, was damit für eine Verantwortung auf uns allen lastet. Ruja, das gilt nicht nur für dich. Deine Bürde in allen Ehren, aber wir alle stecken da mit drin. Du glaubst doch nicht, dass wir euch hängen lassen, wenn ihr Hilfe braucht! Es wird keine leichte zeit sein, vor allem nicht für euer Kind… aber sagen wir mal so, wir haben ja keine Wahl. Es ist jetzt in deinem Bauch, dann wird es dort wachsen.“

„Wir könnten es immer noch wegmachen…“ nuschelte Meoran kleinlaut, überzeugte aber absolut nicht davon, dass er das wirklich tun könnte. Tabari schnaufte.

„Hier werden keine Babys weggemacht! Erst recht nicht, wo ihr zwei seit Jahren probiert und probiert! Wir werden das schon irgendwie hinbiegen, oder nicht, Königin der Königinnen, Nalanichen?“ Er grinste seine Frau an, die ihre Augen verengte.

Nalanichen, so kommst du angekrochen?“ brummte sie, „Ich habe verstanden, Zuckerpopo.“ Der Blonde schnappte errötend nach Luft und zischte entsetzt „Zuckerpopo?!“, während Ruja darüber kicherte und die Geisterjägerin sich an sie wandte. „Wir werden wohl keine Wahl haben, wie ich sagte. Vergib meine unschöne Reaktion, ich… sorge mich nur um die Sicherheit der ganzen Gruppe, und es wird mit einem baby sehr schwer werden. Wenn wir still sein müssen, wie willst du deinem Kind verbieten, zu schreien, falls es Hunger bekommt? Wer trägt dich durch die berge mit deinem Kugelbauch in wenigen Monden?“ Die Telepathin verneigte sich lächelnd.

„Ich werde das hinbekommen, versprochen! Bitte sorgt euch nicht um uns… es wird ein gutes, gesundes Kind sein, ich kann das spüren! Endlich ein Erbe für den Chimalis-Clan, es wird gut sein!“

„Ja, das wird es!“ rief Keisha, die sich einmischte, und sie umarmte erst Ruja, dann ihren Sohn, und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. „Ich habe ja auch schon gar nicht mehr gehofft, je Großmutter zu werden! Wie wunderschön!“

„Ja, ich finde auch, dass es wunderschön ist!“ stimmte Leyya fröhlich mit ein, „Ein kleines Baby wird bald geboren werden, das ist doch die schönste Nachricht der Welt, oder?“ Sie strahlte die Fast-Eltern an und Meoran räusperte sich, jetzt etwas ermutigter, während die Schwangere liebevoll lächelte. Alle Blicke wandten sich auf die kleine Heilerin und Leyya errötete ebenfalls vor Freude. „Wir… wir werden eine große Familie sein, oder?“ Sie blickte zu Puran, der neben ihr stand und kein weiteres Wort herausgebracht hatte.

Ruja bekam ein Kind… das war eine erstaunliche Sache, fand er. Er konnte sie sich mit dickem Bauch gar nicht vorstellen… andererseits band es sie noch fester als vorher an ihren Mann und war für den Jungen ein guter Anlass, den erregenden Träumen von der hübschen Frau endgültig den Rücken zu kehren. Bald würde sie Mutter von Meorans Kind sein, und sie würde eine wunderbare Mutter sein, das wusste er instinktiv, als ihn ihr lieb lächelnder Blick traf. Er lächelte auch und verneigte sich höflich.

„Ja, das werden wir,“ sagte er, um Leyya zu bestätigen, und nahm die Kleine dabei an die Hand, „Alles Gute, Meister Meoran, Ruja.“
 


 

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jah, goil xD sicher letztes Kapi 2009 xDD Euch halbem Dutzend Lesern frohe Weihnachten und einen guten Rutsch xD

~April 977 am Ende des kapis^^. Die 'Kosenamen' in der letzten Szene gehen auf Kimis Konto, sozusagen. Und ja, Kimi, du hattest recht, aber es hieß trotzdem nicht einfach 'Ja' ú///ù. Ansonsten, ultimatives Nichts-passiert!-Kapi #5484392625.

Der Wachturm von Iter

Der warme Sommerwind trug Leyyas Stimme hinauf auf die kleine Anhöhe. Puran drehte den Kopf in ihre Richtung und sah das kleine Heilermädchen durch das karge Gras, das in den Nosar-Bergen wuchs, auf sich zu gerannt kommen.

„Puran!“ rief sie außer Atem und strahlte, als sie bei ihm ankam. „Hier bist du, ich habe dich gesucht!“ Er räusperte sich und setzte sich auf, während die Kleine sich zu ihm kniete.

„Was denn?“ gähnte er und kratzte sich dabei am Kopf, „Dich wird man wohl nie los…“ Als sie ihn gekränkt anblickte, musste er leise lachen. „War nicht ernst gemeint, dummes Mädchen. Guck nicht gleich so, da kommen mir ja die Tränen…“

„Sicher vor lachen,“ murmelte Leyya betreten und senkte errötend den Kopf.

„Habe ich jemals über dich gelacht?“

„Ja, als ich im Kirschmond mit der Wasserschüssel umgekippt bin und sie auf meinem kopf gelandet ist!“ jammerte das Mädchen. Puran lachte lauthals los.

„Das war ja auch urkomisch, mit dem Ding auf deinem Kopf sahst du aus wie ein Mini-Zuyyaner, zum Fürchten… jetzt schmoll nicht wieder, wäre mir das passiert, hättest du auch über mich gelacht, sicher!“ Er sah sie an, wie sie sich verlegen durch ihr vergangenes Missgeschick durch die dunklen Haare strich. Sie war ein bildhübsches Kind, und obwohl sie jetzt schon seit fast einem ganzen Jahr mit den Lyras und Chimalis‘ reiste, hatte sie ihre schüchterne Höflichkeit beibehalten; so gut wie.

So viel Zeit war vergangen, fiel dem jungen Mann dabei auf, und er stützte seufzend den Kopf auf die Hände. Schon beinahe ein Jahr waren sie fort aus Dokahsan… schon beinahe ein Jahr war es her, dass die Zuyyaner Tharr überfallen hatten. Er fragte sich, was aus ihnen geworden war… hier, in den Nosar-Bergen, waren keine aufgetaucht. Die kleine Gruppe hatte etwa ein Dreivierteljahr unbeschadet hier gelebt, es war eine gute Heimat.

Zu Beginn hatte Puran Dokahsan oft vermisst und wehmütig an das alte Schloss seiner Vorfahren zurückgedacht, an das Dorf Gahti, seine Freunde, die Stadt Tuhuli… an Cholena, seine hübsche Geliebte, die im Feuer des ersten Angriffes gestorben war. Das alles würde er nie wiedersehen und jetzt daran zu denken schmerzte noch immer… aber es gab auch Gutes im Leben. Hier in den Bergen war kein Mensch außer ihnen; es war einsam, aber ruhig, und er hatte festgestellt, dass ihm diese Einsamkeit gut getan hatte in den letzten Monden. Er war oft lange alleine durch das Gebirge gewandert, um nachzudenken, manchmal war er tagelang weggeblieben und hatte sich bei der Rückkehr stets eine Ohrfeige von seiner Mutter eingefangen, wo er gesteckt hätte – er hatte es gerne in Kauf genommen, seine Mutter regte sich zwar gerne auf, beruhigte sich aber auch wieder. Bei seinen zahlreichen Ausflügen war es mitunter die schwerste Arbeit gewesen, Leyya abzuschütteln. Die kleine Heilerin klebte wie eine Klette an ihm und wollte ihn nie alleine weggehen lassen; nachdem er es vor einigen Wochen tatsächlich geschafft hatte, sich klammheimlich davonzustehlen, war sie bei seiner Heimkehr sehr erbost und beleidigt gewesen und klebte jetzt noch mehr an ihm, hatte er das Gefühl. An sich war ihm ihr Geklette reichlich lästig, aber wirklich böse sein konnte er ihr nie. Sie war ein Kind, alle Kinder hingen an jemandem. Er erinnerte sich daran, wie er vor nicht allzu langer Zeit selbst so ein Kind gewesen war und immerzu heulend am Rockzipfel seiner Mutter gehangen hatte… jetzt war ihm sein früheres Benehmen überaus peinlich.

„Ich dachte, du wärst wieder weggelaufen und wanderst wieder dumm durch die Berge!“ schnaufte das Mädchen in dem Moment trotzig und riss ihn aus seinen Gedanken, „Du darfst nicht einfach wegrennen, Puran, Nalani und ich werden sehr böse auf dich dann!“

Dumm durch die Berge wandern!“ schnaufte er zurück und tippte ihr mit dem Finger neckend gegen die Nasenspitze, „Ich wandere nicht dumm, Fräulein Bao, ich denke nach! Du hast keine Ahnung davon, weil du kein Schwarzmagier bist, aber ich bin einer und muss über das nachdenken, was die geister mir sagen, und mit ihnen Kontakt aufnehmen, denn das ist die Aufgabe der Schamanen. Und dafür brauche ich Ruhe, das geht nicht, wenn du kleines Küken immer an mir klebst. Sei nicht böse.“ Leyya blinzelte, schwieg dann lange und pulte an ein paar Grashalmen herum. Lange saßen sie da auf der Anhöhe, die nicht weit entfernt war von ihrer Höhle, in der sie seit dem Herbst lebten.

Er drehte den Kopf zu dem kleinen Mädchen.

„Sag mal, aber deshalb bist du doch nicht hier?“ fiel ihm ein, „Was wolltest du denn?“ Die Kleine schreckte aus ihren Tagträumen und strahlte ihn an.

„Ah, richtig! Keisha, Ruja und ich wollen heilende Wurzeln sammeln gehen, kommst du mit und beschützt uns? Tabari und Nalani sind nicht da, die wollten irgendetwas Wichtiges besprechen, und Meoran hat gesagt, ich soll dich fragen…“ Puran hustete. Na, die zogen sich ja hervorragend aus der Affäre…

Etwas Wichtiges zu besprechen, Mutter, ihr mich auch… und Meister Meoran, ich bin schwer enttäuscht von Eurer Faulheit…
 

Unten an der Höhle warteten schon Keisha und ihre Schwiegertochter Ruja mit Graskörben, als Leyya flink wie ein Reh die Felsen herab gesprungen kam und Puran ihr folgte. Die Schwarzhaarige strich kichernd über ihren bereits wenig gerundeten Bauch, in dem seit einigen Monden neues Leben wuchs; zum ersten Mal bei der hübschen Telepathin. Ruja freute sich tierisch auf ihr erstes Baby, das sah man ihr auch jeden Tag mehr an. Ihrem Mann nur, wenn man genau hinsah… Meoran war sehr verhalten geworden und überaus vorsichtig im Umgang mit seiner viel jüngeren Frau. Darum wunderte Puran sich auch, dass er nicht mit eigenen Augen über sie wachen wollte beim Wurzeln sammeln, und er fragte seinen ehemaligen Lehrmeister verblüfft danach, der im Höhleneingang stand. Meoran jedoch grinste.

„Du bist ein besserer Frauenbewacher als ich, Puran, du bist noch jung und schnell zu Fuß, ich bin so ein alter Sack…“

„Faule Ausrede, ich bin deine Mutter und ja wohl dementsprechend älter!“ rief Keisha herüber und die Frauen lachten laut. Der Mann räusperte sich und sah Puran jetzt ernster an.

„Pass gut auf sie auf,“ murmelte er, während die Frauen kicherten, „Auf alle drei. Ehrlich gesagt, Ruja hat in der letzten Zeit etwas herum genölt, dass ich ihr zu sehr nachrenne… ich starte jetzt einen Versuch, mich weniger dumm anzustellen. Aber du-… du verstehst doch hoffentlich meine Sorge um sie und unser Kind, ich meine… es hat viele Jahre gebraucht, bis es soweit gekommen ist, und wenn wir es jetzt verlieren-… wäre das…“ Puran nickte.

„Schon gut, natürlich verstehe ich das. Mir würde es genauso gehen, ich…“ Er brach ab. Ja, Kinder, an sowas dachte er noch nicht im Entferntesten. Dabei hatte seine Mutter, als sie in seinem Alter gewesen war, bereits ihn gehabt… er fragte sich manchmal, was wohl geworden wäre, wenn Cholena nicht gestorben wäre. Er hätte sie gerne zur Frau genommen und vielleicht würde sie jetzt neben Ruja sitzen und auch einen runden Bauch bekommen…

Würde, hätte, könnte. Es waren so verschwendete Worte.

Cholena würde nie mit einem Babybauch neben Ruja sitzen.
 

Etwas unterhalb der Höhle, die sie bewohnten, gab es ein Stück grünes Land in den Bergen, wo viele Büsche und Kräuter wuchsen. Die Frauen waren schon oft zum Kräuter sammeln hergekommen. Jedes Mal kam jemand zum Aufpassen mit; auch, wenn die Zuyyaner sich nirgends hatten blicken ließen, gab es doch genug Gefahren in den Bergen, vor denen die Frauen beschützt werden mussten. Vor allem Ruja, jetzt, da sie ein Baby erwartete.

Puran beobachtete Meorans hübsche Frau, während er sich gegen eine Felswand lehnte und die Frauen Kräuter sammelten. Rujas Bauch wurde langsam etwas rund, man konnte es schon sehen, wenn man genau hinsah. Er freute sich für sie und Meoran; was sie wohl für ein Kind bekämen? Junge oder Mädchen? Schwarzmagier wie sein Vater oder Telepath wie seine Mutter? Aber wie wäre es mit einem Baby in den Bergen? Er sorgte sich mehr um das Wohlergehen des Kindes als dass er sich darauf freuen könnte… sie hatten hier keinerlei Möglichkeiten, ein Kind gut zu versorgen. Wenn nicht genug zu essen da wäre? Von Windeln ganz zu schweigen, in was sollten sie das arme Ding wickeln, ein Stück Pelz?

„Keisha, Keisha, schau, sind die hier richtig?“ riss Leyyas Stimme ihn erneut aus seinen Gedanken und er sah, wie das kleine Mädchen zu der blonden Heilerin rannte, in ihren Händen ein kleines Büschel Grünzeug, wie Puran es für sich betitelte – hatte er Ahnung von Pflanzen? Er war kein Heiler, was wusste er von Pflanzen? Er konnte nicht einmal einen Kirschbaum von einer Eiche unterscheiden…

„Ja, die sind gut, kleines Mädchen,“ sagte Keisha nickend, „Tu sie in den Korb, wenn wir genug sammeln, haben wir einen Wintervorrat. Diese Kräuter lindern Schmerzen; Ruja wird sie bei der Geburt ihres Kindes sicher begrüßen.“ Ruja lachte.

„Oh je, oh je. Mach mir doch nicht schon Angst, bevor ich die Tritte des Babys spüren kann…“ Die Frauen amüsierten sich und Puran seufzte, verschränkte die Arme im Nacken und kam sich überflüssig vor. Er sah hinauf in den wolkenlosen Himmel. Obgleich das Leben in den Bergen vergleichsweise idyllisch war, spürte er dennoch eine immer währende leichte Unruhe in sich, wenn er auf seine Instinkte hörte.

Das war nicht alles, sagten die Geister mitunter zu ihm, wenn er nachts wach lag und keinen Schlaf fand, oder wenn er auf seinen Wanderungen durch das Gebirge nur die Stimmen im Wind hatte, mit denen er sprechen konnte – mit denen er sprechen wollte. Manchmal flüsterten sie so leise, dass er ihre Worte nicht verstehen konnte, und mitunter klangen die Stimmen, als sprächen sie eine fremde Sprache. Es war ein eigenartiges Gefühl, das ihn heimsuchte, wenn er die seltsamen Bilder der Zukunft, der Vergangenheit oder der Gegenwart vor seinen inneren Augen sah. Er hatte die seltsame Spirale des Öfteren gesehen und wusste noch immer nicht, was sie ihm sagen wollte, wenn sie schallend lachend durch die Finsternis tanzte, bis Schatten über sie fiel. Er spürte noch immer dieselbe, eisige Angst, die seinen Nacken packte, wenn er aufwachte nach solchen Träumen.

Was wollt ihr von mir, Himmelsgeister und Erdgeister? Könnt ihr nicht Klartext sprechen und sagen, wovor ich mich so sehr fürchte?

Ein lautes Knacken und Rascheln im nahen Unterholz am Rande des Wiesenstücks ließ ihn alarmiert aufschrecken. Er packte instinktiv seinen Speer und fuhr zu dem Geräusch herum, während die Frauen jetzt ebenfalls inne hielten.

„Was war das?“ fragte Keisha leise und stand auf, den Korb mit den Kräutern in der Hand. Leyya erbleichte und Ruja drehte keuchend den Kopf, als das Knacken lauter wurde und mit einem Mal direkt vor ihnen aus dem morschen Gebüsch ein Bär auftauchte. Puran schnappte nach Luft und trat einen Schritt zurück, die Frauen erstarrten.

„Das hat gerade noch gefehlt… Himmel hilf!“
 

„Mir fehlt mein altes Bett aus Vikhara!“ meckerte Tabari ungehalten, während seine Frau ihn ungestüm gegen die harte Felswand hinter ihm schubste und er sich den Kopf stieß. „Aua, jetzt ist aber mal gut!“

„Du verweichlichst,“ stellte sie fest und rümpfte die Nase. Er stöhnte und hob eine Hand, um ihr durch die Haare zu streichen. Er saß auf dem Boden an der Felswand und sie auf ihm, jetzt lehnte sie sich leicht außer Atem zurück und fuhr sich selbst zufrieden durch die Haare. „Du solltest dankbar sein, dass wir leben, und das schon ein Jahr lang nach Ausbruch des Chaos in Kisara. Und du willst dein Bett, pff.“

„Entschuldige, aber ich bin eben ein verwöhntes Schnöselkind reicher Eltern, angesehener Leute des magischen Hochadels, Nalani – was du eigentlich auch sein solltest – ich könnte jetzt noch zehntausend Dinge aufzählen, die mich gerade ankotzen hier! Kein Bett, kein Badezimmer, kein ausgewogenes Essen – Essen, Himmel, ich vermisse es sogar das Aufteilen der Braten in der Küche. Und gib bitte zu, dass es wesentlich bequemer wäre, sich im Bett zu vereinen als hier mitten im Geröll, außerdem bist du Schuld, wenn ich jetzt wie meine Mutter an einem Aneurysma sterbe, weil du meinen Schädel immerzu gegen diese Wand schlägst!“ Wie um seine Worte zu bestätigen schlug sie seinen Kopf erneut gegen den Felsen. „Aua, Himmel!“

„Meinst du, Kelar hat Salihahs Kopf auch gegen eine Wand geschlagen?“ fragte Nalani ihn verblüfft. „Eher andersrum, denke ich. Oder Zoras hat ihren Kopf gegen die Wand geschlagen, könnte ja sein…“

„Zoras?“ stöhnte Tabari und rieb sich den schmerzenden Hinterkopf, mit der freien Hand hielt er Nalani fest, damit sie nicht nach hinten kippte. „Warum sollte er…?“

„Ach, warum sollte er, was weiß ich, was er mit ihr gemacht hat, wenn sie es getrieben haben, geht mich ja nichts an.“

„Moment!“ Der Blonde fuhr entsetzt auf und keuchte erschrocken, als Nalani fast umgefallen wäre und sich an seine Schultern krallte. „W-was, wie, getrieben, Zoras doch nicht!“ Ungläubig starrte Nalani ihn an, dann ließ sie ihn behutsam los, erhob sich von ihm und tätschelte ihm den blonden Schopf.

„Du bist wirklich ein Blindfisch, immer noch. Sag nicht, du hast es echt nicht begriffen…“

„Was begriffen, was erzählst du?“ schnappte er, sah ihr zu, wie sie begann, sich komplett anzuziehen, und er tat es ihr gleich. „Meine Mutter?!“

„Natürlich deine Mutter! Soll ich es dir aufschreiben? Das war doch ein offenes Geheimnis, jeder Idiot wusste das, sogar dein Vater – was ihm natürlich nicht gefallen hat.“

„Meine Mutter hatte eine Affäre mit Zoras?!“ japste Tabari, „Und das erzählst du mir Jahre nach ihrem Tod?! Hast du den Schuss nicht gehört?!“

Es war kein Schuss, sondern ein Schrei aus der Ferne, der beide herumfahren ließ, und die Frau zog gerade ihren Rock zurecht, als sie erstarrte.

„Das kam von unten, das war Leyya!“ rief sie alarmiert, kurz darauf ertönte weiteres Geschrei und ein beängstigendes Brüllen.

„War das gerade ein Bär?!“ keuchte Tabari.

„In dieser Gegend?“

„Ich habe schon öfter Spuren von Bären gesehen hier, aber eigentlich weiter südlich – Himmel, die anderen!“ Die beiden hasteten hinunter in Richtung der Höhle.
 

Puran entkam um Haaresbreite der Pranke des Bären, stolperte zu Boden und verlor den Speer aus der Hand. Die bekrallte Tatze schlug neben ihm ins Gras und wirbelte Erde durch die Luft.

„Lauft!“ schrie der Junge den Frauen zu, und Ruja packte geistesgegenwärtig die heulende Leyya und setzte sie Keisha auf die Arme. Mit einer schnellen Handbewegung erwischte die Telepathin den Bären mit einem Telekinese-Schlag und verhinderte so, dass das aggressive Tier seine Zähne in Purans Bein vergrub, über das es gerade hatte herfallen wollen. Das Tier brüllte, als es zurückgeschleudert wurde, was dem jungen genug Zeit zum Aufstehen gab.

„Was sage ich, der ist ja völlig übergeschnappt!“ keuchte er und starrte den Bären an, der sich gerade wieder fing. Es war ein jüngeres Tier und dem Schamanen war schnell klar, warum er sie angriff, das Tier war ziemlich mager und hatte offenbar ewig nichts zu fressen bekommen. Er schnappte seine Waffe und musste wiederum den Tatzen ausweichen, dabei schubste er Ruja, Keisha und Leyya zurück. „Haut ab, na los, ich kann hier nicht ewig den Hampelmann spielen vor dem, hol doch einer Meoran zur Hilfe!“ Keisha japste verzweifelt und rannte augenblicklich mit der kleinen Leyya auf den Armen zurück, als der Bär vor ihnen einen Satz auf die Menschen zu machte. Puran sprang zur Seite und stieß Ruja abermals zurück, mit einem Hieb seiner Waffe verletzte er das Tier an der Schulter. Jetzt wurde es noch aggressiver und fletschte wütend die Zähne. Die Menschen beeilten, sich, zurück zu rennen, und mit der freien Hand, in der er keinen Speer hielt, erschuf der Junge einen kleinen Wirbel und schleuderte dem Bären den Windzauber Katura entgegen. Als sie aus der Ferne ein Krachen hörten, fuhren sie schreiend herum in der Befürchtung, jetzt stürze auch noch der Berg zusammen; oben auf dem Felsen standen aber nur Tabari und Meoran, und ersterer hatte den Arm in den Himmel gestreckt und einen größeren Wirbel erzeugt als es Purans Katura gewesen war. Der Wind fuhr auf und Meoran sprang geschickt herab auf die Wiese, und Ruja und Puran, die weiter vorn standen, nach hinten zu zerren.

„Fort mit uns!“ keuchte er, „Vorsicht, der Bär!“ Der Bär langte nach ihnen, in dem Moment traf ihn aber Tabaris Windmesser. Die drei Menschen direkt davor hechteten zur Seite, um die Druckwelle des Zaubers nicht abzubekommen, als es laut krachte. Was der schneidende Windzauber aus dem Angreifer machte, war kein schöner Anblick. Das Blut des Tieres bespritzte die drei am Boden, wobei Ruja größten Teils verschont blieb, weil ihr Mann sich schützend über sie rollte und damit die größere Sauerei abbekam. Die Frau keuchte.

„Er ist fort…“ wisperte sie, als Meoran seufzte und Puran sich strauchelnd erhob.

„Himmel und Erde,“ stöhnte er und wischte sich etwas Bärenblut vom Nacken, „Dabei hab ich mich doch heute früh erst gewaschen…“

„Seid ihr verletzt?!“ schrie Keisha hinten, und sie rannte besorgt wieder herüber zu den anderen, die sich aufrappelten – auf dem Weg rutschte sie auf einem Stück feuchtem Gras aus und stürzte schreiend zu Boden, rollte samt der wimmernden Leyya die abschüssige Wiese herab und verschwand hinter der Kante. Die anderen begriffen erst in dem Moment des dumpfen Rumms ein Stück weiter unten, was gerade geschah.

Meoran schrie.

„Himmel! Mutter!“ Er sprang auf die Beine, vergaß seine am Boden liegende frau augenblicklich und stürzte gefolgt von Tabari, der herunter gekommen war, und Nalani, die Wiese herab zum Rand. Keisha und Leyya waren nicht sehr tief gestürzt, zwischen ein paar verkrüppelten Büschen hindurch geflogen und auf einem harten Felsvorsprung gelandet. Leyya rappelte sich gerade auf die Knie, als die drei Älteren oben über den Rand guckten. Die Kleine fing an, wie am Spieß zu schreien.

„Keisha! Keisha!“ kreischte sie, „Hilfe! Kommt schnell, sie blutet, sie wacht nicht auf! Schnell!“

„Das fehlte noch!“ jammerte Tabari, Meoran sprang schon herab, wobei Leyya sich benommen wunderte, warum der aus so einer Höhe einfach springen konnte. Nach kurzer Zeit waren abgesehen von Ruja und Puran, der auf diese aufpasste, alle unten auf dem Vorsprung.

„Es sieht übel aus!“ war Nalanis nüchterne Diagnose nach kurzer Untersuchung, „Sie hat eine Wunde am Kopf, dafür reichen meine Heilfähigkeiten nicht aus… ich bin schließlich keine Heilerin.“

„H-heißt das, sie muss…?!“ weinte Ruja oben auf der Wiese, „D-das ist doch furchtbar!“

„Noch ist es nicht zu spät,“ Nalani hob den Kopf, „Wir müssen rasch sein und die Berge sofort verlassen. Wenn wir es rechtzeitig in ein Dorf schaffen und ihr jemand helfen kann…“

„In die Dörfer?“ Tabari keuchte, „Du meinst, falls noch eins steht…?!“ Sein Kollege hob Keisha schnauben hoch und nahm sie vorsichtig auf die Arme.

„Hilf mir, sie auf meinen Rücken zu binden, ich gehe sofort hinunter nach Kerhi-Uhl,“ erklärte er sein Tun, „Packt eure Sachen, wer weiß, wie lange die brauchen, um sie zu heilen.“

„Dann ist es beschlossene Sache. Geh, Meoran, pass auf dich auf.“ Nalani nickte ihm zu und der Mann beeilte sich, davon zu kommen. Leyya wimmerte und drückte sich an Nalanis Rock.

„Ich habe Angst…“ gestand sie kleinlaut, „W-was, wenn er nicht schnell genug ist?“

„Niemand von uns ist schneller als Meoran,“ beruhigte die Frau sie sanft, ehe sie empor blickte zu ihrem Sohn und Ruja. „Auf! Wir brechen das Lager ab und folgen ihm, er wird sicher einen Späher schicken.“
 

Es war ein komisches Gefühl, die Höhle zu verlassen, in der sie beinahe ein Jahr gelebt hatten. Sie packten alles, was sie tragen konnten, auf ihre Rückentragen aus Knochen und machten sich nach einem ratlosen Versuch Tabaris, die Karte zu lesen, die Keisha aus Undath hatte, au den Weg nach Nordosten, hinunter in die Wiesen von Kerhi-Uhl.

„Du bist zu dumm, um eine Karte zu lesen,“ schimpfte Nalani mit ihrem Mann, Tabari meckerte.

„Zu dumm, zu dumm, für alles bin ich zu dumm! – Ah, Ruja, als Bewohnerin des Chimalis-Anwesens, hast du gewusst, dass meine Mutter was mit deinem Schwiegeronkel hatte?!“

„Hast du das nicht gewusst?“ entgegnete Ruja überrascht und Puran schnaubte hinter ihnen, der Leyya an der Hand hatte.

„Vater, selbst ich habe das geschnallt!“

„Was ist denn los?“ wollte die kleine Heilerin bedrückt wissen; seit dem Unfall war die Kleine sehr reserviert und sorgte sich. Außerdem gefiel es ihr nicht, die Nosar-Berge zu verlassen… das einzige Dorf, das sie gekannt hatte, war Makar gewesen. Es war kein schöner Ort gewesen, die Leute hatten sie verabscheut und ausgenutzt. Brayk war schön gewesen, wo sie mit ihrem Vater bis zu seinem Tod gelebt hatte… aber daran erinnerte sie sich kaum noch. Was sollte sie jetzt in einem neuen Dorf?

Sie hatte ja Puran, tröstete sie sich und umklammerte die Hand ihres Retters. Der junge Mann sah sie verdutzt an.

„Alles in Ordnung? Es geht um meine Großmutter, sie und Meorans Onkel waren ein heimliches Liebespaar. Und alle bis auf Vati haben das gewusst…“ Er grinste jetzt und Tabari errötete schmollend.

„Himmel, wie entehrend für eine Frau ihrer Klasse, eine uneheliche Beziehung zu haben…“

„Wir reden da wann anders drüber, Vater, zuerst müssen wir Meoran finden – ah, seht!“ In dem Moment kam eine Krähe vom Himmel geflogen und landete ungalant auf Tabaris Kopf. Der Mann fluchte, weil der dumme Vogel seine Krallen in seine Haare bohrte.

„Oh je,“ machte Leyya bedrückt, Nalani schüttelte ihren Kopf und nahm das Federvieh vom Kopf ihres Mannes, um es auf ihren Unterarm zu setzen und es eine Weile schweigend zu betrachten.

„Wir sind auf dem richtigen Weg,“ erklärte sie, „Der Geist der Krähe hat gesagt, sie sind in einem kleinen Dorf namens Iter untergekommen, um Keishas Wunde wird sich bereits gekümmert. Wir könnten bei Einbruch der Nacht dort sein, wenn wir uns beeilen.“
 

Als sie die Berge nach langem Gehen verließen und ein kleines Stück über die Wiesen nach Nordosten gingen, erreichten sie das kleine Dorf Iter allerdings erst lange nach Einbruch der Nacht. Leyya war unterwegs müde geworden und obwohl sie sich lange tapfer auf den Beinen gehalten hatte, hatte sie ihre Erschöpfung dann übermannt und Puran trug sie jetzt auf dem Rücken, als sie das Dorf betraten. Knapp südwestlich des Dorfes stand ein hoher Wachturm, von dem aus man sie bereits gesehen hatte, dementsprechend erwartete die Gruppe ein kleines Empfangskomitee am Zaun.

„Dann seid ihr die Freunde von den beiden Fremden, richtig?“ begrüßte sie ein älterer Mann und neigte den Kopf. „Willkommen in Iter. Ich bin der Dorfälteste. Wie sind Eure Namen, Fremde?“

„Tabari Lyra,“ stellte der Herr der Geister sich artig vor und verneigte sich, „Meine Frau Nalani, mein Sohn Puran, Meorans Frau Ruja und die kleine Leyya. Wir kommen aus Dokahsan… abgesehen von Leyya, sie kommt aus Makar.“

„Lyra?“ machte der Dorfälteste verblüfft, „Die Lyras aus, ich meine, die Lyras?! Die Schamanen-Lyras?“

„Gibt es noch andere?“ wunderte Puran sich und verlagerte Leyyas Gewicht auf seinem Rücken.

„Bei Himmel und Erde, ihr seid die Herrscher der Geister?! Warum sagt das niemand?“ Bevor er sich aufregen konnte, fasste Tabari ihn behutsam an der Schulter.

„Herr, bitte… nicht solch ein Chaos. Wir sind alle Menschen und alle Opfer des Krieges. Ignoriert, woher wir stammen, bitte, denn es schützt uns hier auch nicht vor der Gefahr durch die Zuyyaner.“ Allgemeines Gemurmel begann und die Dorfmenschen machten verängstigte Gesichter.

„Die Zuyyaner sind also wirklich in Anthurien, oder?“ flüsterte eine Frau und Nalani blinzelte.

„Soll das ein Witz sein? Wir sind durch ganz Morund gelaufen und viel war verbrannt, wir haben die Schreie gehört… dann waren sie nicht östlich der Nosar-Berge?“

„Nein,“ entgegnete der Dorfälteste, „Wir haben Späher geschickt, um nachzusehen, aber hier kam kein Zuyyaner an. Ein kleiner Trupp hat vor nicht allzu langer Zeit versucht, den Pass zu überqueren, wir haben es aber rechtzeitig vom Wachturm aus gesehen und konnten es verhindern. Felsen blockieren jetzt den Pass, darunter liegen sie irgendwo und vermodern, oder so.“

„Wie barbarisch,“ keuchte Ruja ungehalten, aber wirklich Mitleid hatte sie nicht mit den Männern, die ihre Heimat zerstörten und angriffen. „Was ist aus meinem Mann und meiner Schwiegermutter geworden?“

„Ah, richtig, die beiden anderen,“ erinnerte sich der Älteste. Puran ließ indessen Leyya von seinem Rücken klettern. Das Mädchen stellte sich müde neben ihn.

„Wir sind schon da…?“ nuschelte sie verschlafen.

„Die zwei sind im Haus meiner Tochter,“ sagte der Älteste vor ihnen da mit einer weiteren Kopfneigung, „Unser Dorfarzt hat die Wunde beheben können, sie wird es schon schaffen, die Frau.“

„Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen…“ seufzte Tabari erleichtert.
 

Das Haus der Frau war sehr klein, aber sah bequem aus. Jedenfalls bequemer als jede Höhle, räumte Tabari in Gedanken ein, als sie alle nach Keisha sahen, sie auf einem provisorischen Schlaflager lag und wieder zu Bewusstsein gekommen war. Meoran saß bei ihr.

„Nie wieder Berge!“ empörte die blonde Heilerin sich, „Mein Kopf fühlt sich an, als wäre mir ein Haus darauf gefallen!“

„Sie kann wieder meckern, dann geht es ihr augenscheinlich besser,“ behauptete Meoran seufzend. „Gut, dass wir so schnell hier waren und dass die Bewohner so freundlich waren…“

„In der Tat,“ machte Nalani, „Die haben uns widerstandslos rein gelassen…“

„Na, weil ich ihnen vorher von euch berichtet habe. Bei mir waren sie skeptischer, aber wegen meiner Mutter haben sie mich doch rein gelassen.“

„Siehst du, was du mir verdankst,“ machte Keisha maulig und Ruja lächelte und strich ihr über die Stirn.

„Shh, beruhige dich, Schwiegermutter. Du brauchst Ruhe. Am besten ist, wenn wir dich schlafen lassen… vielleicht lassen uns die Dorfbewohner etwas hier bleiben, bis es dir besser geht.“ Die anderen sahen sich an.

„Täte uns vielleicht allen gut…“ bestätigte Meoran grübelnd, „Obwohl es in den bergen ziemlich idyllisch war.“

„Idyllisch!“ fauchte Keisha und bereute die Aufregung, als ein grauenhafter Schmerz durch ihren Kopf stach, „Ich habe Schmerzen und die Berge sind Schuld! Nie wieder, Meoran!“

„Himmel, jetzt reicht es aber, sei dankbar, du alte Schachtel, dass ich dich getragen habe. Wir lassen sie jetzt schlafen, kommt!“ Damit stand ihr Sohn beleidigt auf und verließ gefolgt von den anderen und Keishas Gemecker, sie sollten gefälligst bleiben, das kleine Zimmer. Ruja schloss die Tür hinter sich.

„Streitet nicht… es ist schön, dass sie gesund wird.“

„Weiß ich doch, aber wenn sie einmal nicht gesund ist, tut sie so, als wäre alles meine Schuld,“ nölte ihr Mann, die anderen seufzten. „Wie geht es dir…? Mit dem Baby, war der Weg nicht zu viel für dich…?“

„Unterschätze mich lieber nicht, mein Lieber,“ lachte die Frau fröhlich, „Mir geht es gut und dem Baby auch, keine Sorge.“ Sie teilten einen kurzen, liebevollen Kuss und Puran kümmerte sich um die kleine Leyya, die müde an seiner Hand hing und am Einschlafen war. Auch, wenn er Ruja inzwischen ansehen konnte, ohne unsittliche Dinge zu denken, musste er sie trotzdem nicht beim Küssen beobachten.

Eine relativ junge Frau trat zu ihnen und neigte den Kopf, offenbar die Tochter des Dorfältesten.

„Ihr könnt hier bleiben, wenn ihr wollt,“ erklärte sie, „Es können nicht alle von euch hier im Haus schlafen, dazu ist kein Platz. Aber meine Schwester wohnt nebenan, ihr Haus ist größer.“

„Das ist sehr freundlich von euch,“ meinte Nalani ernst und neigte den Kopf. „Wenn die Zuyyaner selbst nach einem Jahr nicht hier in Iter waren, ist das ein gutes Zeichen, vielleicht bleibt dieser Teil von Kerhi-Uhl ja wirklich verschont.“ Die Frau ihr gegenüber lächelte und schwieg, ebenso schwiegen die anderen und Puran senkte brummend den Kopf. Hoffnungen würde er darauf nicht setzen. Er hatte kein beruhigendes Gefühl in dem Dorf. Die Zuyyaner konnten fliegen, nichts würde sie daran hindern, auch einen verschütteten Pass zu überqueren. Seine Instinkte sagten ihm nichts Angenehmes für die Zukunft und er war sich sicher, dass seine Mutter es ebenso spürte wie er.

Sie war Geisterjägerin, er war nur ein dummer Junge.
 

Der Dorfälteste von Iter hatte zwei Töchter. Die ältere lebte mit ihrem Mann, der Tischler war, und ihren zwei Kindern zusammen, in ihrem Haus erholte Keisha sich von ihrer Wunde, Meoran und Ruja blieben bei ihr. Neben dem Haus stand die Behausung der jüngeren Schwester, die allein lebte und dafür die Restlichen bei sich aufnahm. Ihr Ehemann war vor ein paar Jahren umgekommen, ließen die Lyras sich vom Ältesten erzählen, und da sie kinderlos geblieben waren, war die junge Frau jetzt alleine und daher war viel Platz. Die Frau war sicher kaum älter als Ruja und Puran fragte sich mitunter während der Zeit, die sie bei ihr lebten, warum sie sich keinen neuen Mann suchte, sie war schließlich keine alte Schachtel. Aber eigentlich war es ihm auch egal, vielleicht wollte sie einfach nicht. Er wollte ja auch nicht, fiel ihm dazu ein; abgesehen von seinen schmutzigen Gedanken über Meorans Frau hatte er seit Cholenas Tod nicht wirklich viele Gedanken daran verschwendet, eines Tages vielleicht eine andere Frau zu nehmen. Die ganze Zeit in den Bergen war es ihm ziemlich egal gewesen, erst recht, seit er sich komplett von allen Gedanken an Ruja abgewendet hatte; erst jetzt, wo sie mit einem Mal wieder unter Menschen sahen, fing das Alleinsein an, ihn zu ärgern. Mitunter sah er Paare im Dorf spazieren gehen oder gemeinsam mit ihren Kindern spielen, junge Erwachsene, die errötend kichernd umeinander herum wuselten wie verspielte Tiere. Wenn er ihnen länger zusah, spürte er mitunter in sich ein schmerzhaftes Verlangen, auch einmal wieder eine Frau zu umarmen oder zu küssen. Und es gab keine, mit der er seinem Verlangen nachgeben könnte. Seine Mutter kam natürlich nicht in Frage, Ruja war verheiratet, Keisha zu alt und Leyya zu jung. Und wo er doch erst ein paar Tage in Iter war, käme er sich pervers vor, eines der jungen Mädchen aus dem Dorf anzuquatschen… das ging doch nicht. Leyya war ihm auch keine Hilfe dabei, wenn er sich seine etwas unzufriedenen Gedanken machte.

„Warum schaust du so grimmig?“ wollte sie wissen, während er auf der Lehmstufe des kleinen Häuschens saß, in dem sie bei der jüngeren Tochter des Ältesten lebten. Die kleine Heilerin saß neben ihm, hatte augenscheinlich nichts zu tun und lehnte sich jetzt vertrauensvoll gegen seine Schulter. „Ist alles in Ordnung, Puran?“

„Ich bin genervt,“ antwortete er brummig, definitiv nicht bereit, sein Problem ihr gegenüber zu konkretisieren. Sie war erst neun, Himmel, sie hatte doch gar keine Ahnung.

„Warum?“ fragte sie besorgt und ließ ihn los, „Soll ich dir was bringen?“

„Nein, danke.“ Seine Antwort stellte sie nicht zufrieden.

„Was nervt dich denn so?“

„Zum Beispiel du!“ fuhr er sie plötzlich an und sie sprang erschrocken auf und erbleichte, als er sie grimmig ansah. „Was ist, Leyya? Hast du niemanden anderes, an dem du kleben kannst?! Die Kinder der Frau nebenan wollen immer mit dir spielen und du möchtest nie, stattdessen gammelst du den ganzen Tag bei mir herum, das ist doch affig! Du bist ein Kind, also spiele bitte mit Kindern, ich bin erwachsen!“

„A-aber… aber ich möchte nicht mit ihnen spielen, ich möchte viel lieber bei dir bleiben!“ gestand die Kleine traurig, „H-hast du… mich nicht lieb?“ Puran verdrehte die Augen.

„Doch, aber dass du niemals von meiner Seite weichst nervt mich im Moment etwas. Bitte sei nicht wütend, ich meine es nicht böse! Versteh doch, ich… ich muss ab und zu alleine nachdenken und will meine Ruhe, ich kann mich auf nichts konzentrieren, wenn du dabei bist. Wird dir das nicht langweilig, bei mir zu hocken und nichts zu tun?“ Das Kind überlegte schüchtern.

„Nein… solange du bei mir bist, fühle ich mich immer wohl… ich habe Angst ohne dich, Puran. Du bist lieb…“ Er seufzte. Irgendwie ehrte ihn ihre Bewunderung für ihn ja, aber andererseits war sie ihm mitunter peinlich. Wie konnte man so besessen von einem Menschen sein? Dann noch von ihm, er verstand gar nicht, was sie an ihm toll fand, er fand sich selbst fürchterlich. Er erhob sich und fuhr sich durch seine widerspenstigen Haare.

„Geh spielen,“ knurrte er, „Mir ist es zu heiß hier draußen, ich gehe rein. Und wehe, du rennst mir nach, ich will meine Ruhe!“ Er stampfte ins Haus und ließ das Mädchen draußen in der Mittagshitze stehen. Als er weg war, senkte Leyya traurig den Kopf und fing stumm zu weinen an.
 

In der Wohnstube des kleinen Häuschens war es kühl und schattig. Er raufte sich noch immer genervt die braunen Haare, während er etwas herum ging und sich die simplen Möbel ansah. Es war ein so kleines und bescheidenes Haus; sein eigenes Zimmer im Schloss war sicher dreimal so groß gewesen wie diese Stube, dachte er sich verdutzt, ehe er vor einer sehr kleinen Kommode anhielt, die aussah, als würde sie jeden Moment zusammenklappen. Kleine Gefäße aus Ton standen darauf, eine Vase und eine Schale, sie waren gebrannt und bemalt worden. Es waren einfache, aber durchaus hübsche Dinge. Seltsam, plötzlich wieder Häuser zu sehen… und Menschen.

„Mein Mann war Töpfer,“ ertönte so plötzlich eine Stimme hinter Puran, dass er aufschrie und herum fuhr, um direkt in das Gesicht der Hausherrin zu blicken, die sich offenbar unbemerkt angeschlichen hatte und jetzt hinter ihm stand, die hellen Haare zu einem festen Knoten gebunden. „Er hat die Schale und die Vase selbst gemacht, es waren einst Hochzeitsgeschenke für mich.“ Er keuchte immer noch erschrocken und fasste nach seiner Brust.

„Ihr habt mich zu Tode erschreckt,“ murmelte er, ehe er wieder auf die Tonarbeiten sah. „Sie sind hübsch geworden. Es tut mir leid… für Euch, wegen Eures Mannes. Ich weiß, wie sich das anfühlt.“ Die Frau vor ihm lachte leise.

„Verstehe… entschuldige für das Anschleichen. Ich habe mich nur gefragt, warum du hier drinnen bist, wo sind die anderen von euch?“

„Irgendwo, mir bekam nur die Mittagssonne nicht, ich bin… ehrlich gesagt nicht sehr hitzebeständig.“ Das war er wirklich nicht; in Dokahsan waren die Sommer milder gewesen. Je südlicher man kam, desto heißer wurde es. Er konnte Hitze nicht ausstehen.

„Das ist wahr, es ist ein sehr warmer Sommer dieses Jahr. Die Ernte wird schlecht werden, fürchte ich. Ich kann etwas Wasser oder kalten Tee holen, wenn du magst, das ist gut bei Hitze.“ Er nickte dankbar für das Angebot.

„Entschuldigt, ich möchte Euch nicht belästigen oder Eure Zeit stehlen,“ murmelte er bescheiden, als sie einander gegenüber am Stubentisch auf Kissen knieten und kalten Tee tranken. Er war verblüfft, das sie sich einfach zu ihm setzte und mit ihm sprach; bisher hatten sie alle nicht viel von ihr gesehen, sie war wenig daheim gewesen.

„Nein, nein, keine Sorge. Ich muss mich vielmehr entschuldigen, meine Gäste vernachlässigt zu haben. Ich muss bei der Ernte von Früchten helfen und kann deshalb wenig hier sein. Wie ich am ersten Tag sagte, ihr könnt kommen und gehen, wie ihr wollt. – Du bist Puran, oder?“ Er nickte. „Wo wir uns so zum ersten Mal wirklich unterhalten können… ich war ganz erstaunt darüber, als Vater sagte, ihr wärt alle Schamanen. Hier in der Gegend sind Magier selten, ich habe nie vorher welche getroffen. Wie ist das? Mit den Geistern zu sprechen?“ Der Junge musste glucksen und nippte an seinem Tee.

„Das?! Oh, lästig! Sie sagen einem grundsätzlich das, was man nicht hören will, und nie das, was man wissen will! Und sie sind… mitunter sehr hart und grausam.“ Die Frau guckte interessiert.

„Beneidenswert. Als Kind habe ich mir immer gewünscht, zaubern zu können,“ gestand sie und lächelte versonnen in ihre Tasse.

„Beneidet uns nicht… seid froh, dass Ihr die Bürde nicht tragen müsst. Menschen des Geistes tragen Verantwortung… und Verantwortung ist schwer und wird immer schwerer, je älter man wird. Wie ein Kartoffelsack, der ich mit Wasser voll saugt. Wir können zaubern, zahlen für gute Magie aber einen hohen Preis. Ich frage mich gerade, wann ich zum letzten Mal unbeschwert geschlafen habe.“ Sein Gegenüber nickte langsam. Sie sagte nichts, so sah er sie fragend an in der Erwartung, eine Antwort zu bekommen. Sie war hübsch, wie sie da schweigend oder sinnierend vor ihm saß, den Blick nach unten gerichtet. Er betrachtete sie intensiver und merkte erst gar nicht, als sie wieder zu ihm aufsah, erst, als sie sprach, fuhr er entsetzt zurück.

„Ist etwas?“ Auf ihre Lippen kroch ein amüsiertes Lächeln, als er verlegen errötete und sich am Kopf kratzte. Oh nein, was starrte er sie so unhöflich an? Wie furchtbar.

„Nein…“ murmelte er, „Verzeiht, ich wollte nicht unhöflich werden. Ihr… seid eine hübsche Frau, das ist alles.“ Er blinzelte verblüfft über seine eigenen Worte. Himmel, na, ob die ihn noch weiter in ihrem Haus wohnen ließ? Wie peinlich…

Die Frau sah ihn auch nur kurz an, erhob sich dann wortlos und verließ die Stube, ihre Tasse mitnehmend.

„Schon gut, keine Sorge. Ich mache den Abwasch“
 

Keisha erholte sich schnell. Bald war sie wieder auf den Beinen und kerngesund, was vor allem Leyya erfreute, die viel Zeit mit ihr verbrachte und wichtige Dinge für das Heilen lernte. Puran bemerkte verdrossen, dass die Kleine ihm jetzt wirklich mehr aus dem Weg ging, und es tat ihm sehr leid, sie vor einigen Tagen so gekränkt zu haben… aber vielleicht war es für Leyya besser, etwas Abstand zu bekommen. Und Keisha freute sich sehr über die kleine Schülerin, denn die anderen hatten weniger Zeit für die Witwe.

„Wenn Keisha wieder gesund ist, könnten wir gehen und die Dorfbewohner in Ruhe lassen,“ meinte Nalani eines Tages im Mond des vielen Fleisches, als sich die Gruppe am Rande von Iter traf, um die weiteren Tage zu besprechen. „Wir sind ihnen sicher eine Last.“

„Ich glaube nicht,“ warf Tabari verdutzt ein, „Sie machen einen sehr gut gelaunten Eindruck. Unsere Gastgeberin ist sehr zuvorkommend.“ Puran räusperte sich verhalten und drehte den Blick in eine andere Richtung. „Und ihre Schwester nebenan und vor allem deren Kinder sind doch völlig aus dem Häuschen.“

„Na, dass du es hier gemütlicher findest, war mir klar!“ schnaufte die Schwarzhaarige. Meoran mischte sich ein.

„Ich muss sagen, ich… würde sehr gerne noch etwas hier bleiben, ich gebe Tabari recht,“ gestand er und wurde jetzt von allen angesehen. „Meine Frau kriegt mit jedem Tag einen größeren Bauch. Für unser Kind ist es das Beste, wenn sie sich ausruhen kann und wir nicht mehr als nötig herum laufen müssen. Hier ist es friedlich und Menschen sind hier, die uns helfen können, wenn etwas ist. Es wäre gut, wenn wir bleiben könnten, bis das baby auf der Welt ist…“ Nalani nickte langsam.

„Gut, das klingt einleuchtend. Oder ist jemand dagegen?“ Niemand sagte etwas und Ruja errötete.

„Nur meinetwegen so ein Aufstand? Ich bin gesund, ein Kindeskeim ist ja keine Krankheit…“

„Höre auf deinen Mann, denk daran, dass du bisher nie Leben in dir hattest, willst du diese seltene, wertvolle Frucht aufs Spiel setzen?“ entgegnete Tabari ziemlich direkt und die Frau schüttelte den Kopf. „Ich werde den Ältesten fragen, ob er einverstanden ist. Natürlich beteiligen wir uns an den Dorfarbeiten, soweit wir helfen können, um sie nicht auszunutzen. Bis zum Winter wird es sicher dauern, bis das Kind kommt… bis dahin müssen wir uns wenigstens nützlich machen hier.“

„Vielleicht bleiben wir dann ja auch länger,“ meinte Puran verdrossen, „Ich meine, was ist mit Leyya? Sie könnte mit den anderen Kindern zur Schule gehen und lernen, falls es eine gibt in der Gegend. Das Einzige, worauf wir achten müssen, sind die Zuyyaner.“ Leyya neben ihm erschauerte, als er die Feinde erwähnte.

„Sie dürfen nicht herkommen!“ machte sie ängstlich und ergriff zum ersten Mal seit Tagen seine Hand. „Nicht, nicht hierher!“ Der Ältere seufzte leise und drückte ihre kleine Hand in seiner, um sie zu trösten, während die anderen wieder zu reden begannen.

„Fürchte dich nicht,“ flüsterte er der kleinen Heilerin zu und sie erschauerte. „Ich passe auf dich auf. Bist du mir noch böse wegen neulich? Es tut mir leid, dass ich gemein war…“ Das Kind sah ihn groß an.

„Ich kann dir nicht böse sein,“ nuschelte sie, und beim Anblick ihres traurigen Gesichtes konnte er gar nicht anders, als sich zu ihr zu hocken und sie liebevoll zu umarmen. Leyya klammerte sich Schutz suchend an ihn und vergrub das Gesicht in seiner Schulter.

„Ich hab doch sehr gern,“ gestand er ihr grinsend, „Traurig gucken steht dir nicht, Leyyachen. Lächle… tu es für mich, ja?“ Sie sah auf und strahlte ihn an.

„Ich würde für dich alles tun!“ versprach sie glücklich, „Du hast mich gerettet!“

„Ach, vergiss das endlich. Das war selbstverständlich. Na, komm… lass uns zum Haus gehen, ja?“ Er erhob sich und nahm sie dabei auf den Arm, worauf sie lachte. Schweigend schmuste sie sich an ihn und blickte dabei nach Westen in den klaren Himmel. In der Ferne sah sie den riesigen Wachturm aus massiven Steinen.

„Wie hoch ist er wohl?“ fragte sie sich laut, „Es ist der größte Turm der Welt, sicher, Puran, oder?“ Puran blickte auch in Richtung Turm.

„Hmm, gute Frage. Könnte gut sein. Ich kann die Hausherrin fragen, wenn ich sie das nächste Mal treffe, sie weiß es sicher…“
 

Nachts kehrten die Geisterstimmen zurück. Sie sagten kaum etwas, was Puran verstehen konnte, sie zischten nur und wisperten in der Finsternis seiner Träume, während Bilder von Feuer und Tod durch seinen Kopf flogen, aneinander prallten und dann explodierten. Er spürte einen stechenden Schmerz durch seinen Kopf fahren, als die Spirale wieder vor ihm auftauchte und wippte.

„Sieh bei Sonnenaufgang nach Westen,“ befahlen die Geister jetzt deutlicher, „Willst du noch länger davonlaufen vor deinem Schicksal, Puran, Sohn des Lyra-Clans?“

Die Stimmen in seinem Kopf kicherten und die Spirale blitzte wieder vor ihm auf, ehe er keuchend aus dem Schlaf hochfuhr.

Er sah sich in dem dunklen Zimmer um, in dem er samt seinen Eltern und Leyya zum Schlafen untergebracht worden war. Die anderen schienen nicht aufgewacht zu sein und Purans setzte sich leise stöhnend auf der Matte auf, auf der er gelegen hatte. Neben ihm auf einer weiteren Matte lag Leyya und umklammerte im Schlaf einen Zipfel ihrer Decke. Ein Blick zum Fenster sagte ihm, dass es noch mitten in der Nacht sein musste.

„Ich hasse es…“ murmelte er leise zu sich und fuhr sich mit den Händen über das verschwitzte Gesicht. „Schlafen… warum lassen die mich nicht schlafen?“

Das mulmige Gefühl und eine störende Unruhe in ihm trieben ihn schließlich aus dem Zimmer und er schlich in die Kochecke des Hauses, um sich einen Becher mit Wasser zu füllen. Er wusste nicht, was es war, aber etwas war anders an dem Gefühl in sich, merkte er bedröppelt, als er in der Küche stand und Wasser aus einem Holzbecher trank. Das Fenster nach Westen zeigte nur die nächtliche Dunkelheit.

Sieh bei Sonnenaufgang nach Westen.

„Sonnenaufgang?“ murmelte er, „Das kann nichts Gutes bedeuten… meine Instinkte spielen mir entweder einen Streich oder warnen mich vor Dingen, die ich nicht sehen kann… noch nicht.“ Er stellte seufzend den Becher auf den Tisch, in dem Moment, als er plötzlich Schritte hinter sich hörte und den Kopf drehte. Die Hausherrin war gekommen und stand jetzt in einem simplen, kurzen Nachtkleid hinter ihm.

„Du bist auf?“ wunderte sie sich, „Ich habe deine Stimme gehört und mich gefragt, ob etwas passiert ist.“

„Entschuldigt, wenn ich Euch geweckt habe,“ machte er erschrocken und sie lachte dumpf.

„Nein, nein, ich war ohnehin wach. – Schlecht geschlafen?“ Puran drehte den Kopf nachdenklich wieder zum Fenster und schwieg eine Weile. Dann seufzte er und nickte.

„Nur… so ein Traum eben. Das habe ich ständig. Ich bin irgendwie… beunruhigt, weiß aber nicht, wovon.“ Er sprach nicht weiter. Es war nicht die übliche Unruhe in seinem Inneren, die er spürte… da war noch irgendetwas anderes. Irgendetwas in seinem Geist, das protestierte, das sich bewegte und nicht länger davon rennen wollte…

Er wünschte, er könnte einfach davon rennen.

„Meinst du, es geschieht etwas mit Iter? Die Zuyyaner, oder so?“ fragte die Frau sachlich, die jetzt neben ihn trat und auch etwas Wasser trank.

„Keine Ahnung,“ gestand der Jüngere dumpf und sie schwiegen wieder. Als Puran die Stille zu peinlich wurde, redete er sinnlos weiter: „Wie hoch ist eigentlich der Wachturm? Er ist riesig, in Dokahsan gab es nicht solche Türme, selbst das Schloss meiner Vorfahren war kleiner…“ Zumindest in seiner Höhe, addierte er in Gedanken. Die Frau sah aus dem Fenster.

„Ich weiß nicht genau, wie hoch er ist, ich weiß aber, dass er in Anthurien der älteste, größte und festeste Turm ist. Niemals haben Menschen diesen Turm stürzen können, die Mauern sind fest und dick. Und wir haben hier viele Kriege und Kämpfe erlebt, oder unsere Vorfahren vor hunderten Jahren. Der Turm ist groß genug, um das ganze Dorf darin unterzubringen, und er hat Waffen. Von oben kann man Angreifer schon lange bevor sie uns erreichen sehen und sie rechtzeitig erledigen…“ Während sie erzählte, sah er sie eine Weile von der Seite an, wie sie redete und aus dem Fenster sah. Ihr dünnes Nachthemd gewährte ihm Einblicke, die sicher nicht gewollt waren, und Puran errötete und zwang sich, den Blick wieder abzuwenden. Er konnte aber nicht anders, als sie erneut anzulinsen, als sie verstummte und sich jetzt zu ihm umdrehte. Stille erfüllte das Haus und Puran war froh, dass das Licht, das der Mond Ghia in der Nacht spendete, so gering war, dass es seine geröteten Wangen verbergen würde, als er sie ansah.

„I-ich meine,“ räusperte er sich rasch, als ihm wieder bewusst wurde, dass sie ihn ansah, „Ähm, wenn die Zuyyaner kommen, wird der Turm… sicher, ähm… ein guter Schutz sein. Oder so…“ Er wurde immer leiser, weil ihr Anblick ihn mit einem Mal nervös machte, und er ohrfeigte sich innerlich für sein dummes benehmen. Er war kein Kind mehr… und das hier war nicht Ruja.

Aber sie war eine hübsche, junge Frau… und im Gegensatz zu Ruja war sie nicht verheiratet.

Die Hausherrin reckte das Gesicht ein wenig, um ihn intensiver anzusehen.

„Vermutlich,“ machte sie und klang nüchtern. „Ich habe keine Angst vor den Zuyyanern.“ Er erwiderte ihren Blick, fasste sich ein Herz, sie anzusehen und das nervöse Stottern zu unterdrücken, obwohl in ihm plötzlich ein unangenehm dringendes Verlangen danach aufkam, sie zu berühren; ein Gefühl, das er lange nicht in dieser Intensität gespürt hatte, und es beunruhigte ihn in dem Moment ein wenig.

„Ihr solltet Euch besser fürchten… die Zuyyaner sind unbarmherzig und gnadenlos. Sie würden eine hübsche Frau wie Euch nicht vor die Wahl stellen, sich vergewaltigen zu lassen oder umgebracht zu werden, sie würden vermutlich beides tun, fragt sich nur, in welcher Reihenfolge.“

„Dann sollen sie es ruhig versuchen. Kein Feuer bringt unseren Turm zu Fall, denke ich.“

„Dann werden sie andere Wege finden. Ihr solltet Euch fürchten… tut mir den Gefallen, Herrin, ich wäre beruhigter, irgendwie…“ Er ließ sie nicht aus den Augen, als sie kurz das Gesicht senkte, es dann wieder hob und ihn wieder ansah. Sie lächelte.

„Sprich nicht so mit mir, ich… komme mir bescheuert vor, wenn du als Sohn reicher Leute zu einer Dorffrau im Plural sprichst.“ Er wusste darauf keine Antwort; er fragte sich, ob ihm eine eingefallen wäre, wenn das Verlangen nach ihr nicht so groß gewesen wäre in diesem Moment, ihn nicht ablenken würde von den beunruhigenden Gedanken in seinem Geist.

„Ja…“ machte er deswegen nur intelligent. Sie sagte nichts mehr und ohne weiter darüber nachzudenken beugte er sich zu ihr nach vorne und küsste sie auf die Lippen. Wie lange hatte er nicht die Lippen einer Frau auf seinen gespürt? Oder ihre Zunge, die seine jetzt in ihrem Mund umspielte, als sie willig seinen Kuss erwiderte und die Hände gegen seine Schultern legte. Sie lösten sich leise keuchend voneinander und niemand sprach.

Es gab keine Worte zu sagen, denn Blicke reichten vollkommen aus, um deutlich zu machen, was jeder der beiden jetzt verlangte.

Ihr Schlafzimmer war viel kleiner als der Raum, in dem Puran sonst zusammen mit den anderen schlief, aber ihr kleines Bett war dennoch bequemer als die Matte. Obwohl sie älter war als er, war ihr Körper noch zart und hübsch wie der eines jungen Mädchens, und er berührte jeden Zoll ihrer Haut mit seinen Fingern und seiner Zunge, ehe sie sich richtig vereinten. Und die Frau schlang ihre schlanken Beine um ihn, als er sich in ihr bewegte und sich ihre Lippen in einem weiteren, fordernden Kuss fanden.

„Entschuldige… ich habe lange nicht mehr bei einer Frau gelegen…“ stammelte er nervös, während er über ihr lag und sich langsam wieder an das Gefühl der Vereinigung gewöhnte.

„Und ich bei keinem Mann seit dem Tod meines Gatten,“ erwiderte sie und atmete heftig ein und aus, pustete sich stöhnend eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht und zerrte ihn zu sich herunter. „Mach dir keinen Kopf, es ist gut.“ Er keuchte, beugte sich über sie und küsste sie abermals. Je länger sie es taten, desto vertrauter wurden ihm die Bewegungen, die Hitze, die ihn antrieb, schneller zu machen… sein Höhepunkt war heftig und die Erleichterung fühlte sich plötzlich so verboten gut an, als er seinen Samen in ihr ergoss und sie unter ihm laut aufstöhnte vor Ekstase. Der Ekstase des Höhepunktes folgte die Ermüdung. „Bleib heute Nacht bei mir…“ seufzte die Frau leise, als er sich zurückzog und sich neben sie ins Bett legte. „Den Rest der Nacht, meine ich, sie ist sowieso bald vorüber…“
 

Tabari erwachte am Vormittag von keinem Geräusch, sondern von einem instinktiven Alarm, der plötzlich in seinem Inneren anschlug. Er setzte sich keuchend auf seinem Lager auf und rüttelte sofort an Nalanis Oberarm.

„Nalani, wach auf! Spürst du es auch…? Der Wind… hat angehalten.“ Seine Frau setzte sich alarmiert ebenfalls au, während die kleine Leyya am anderen Ende des Raumes auch aufwachte. Sie japste.

„Wo ist Puran?“ wollte sie besorgt wissen, aber dessen Eltern schienen das nicht Vorhandensein ihres Sohnes nicht als größte Sorge anzusehen. Der Blonde rappelte sich auf und zog den Vorhang vor dem Fenster zurück und sah nach Westen – und fuhr zurück im selben Moment, in dem plötzlich ein unglaublich lauter Gong aus nicht allzu weiter Entfernung ertönte. Die Lautstärke des Gongs ging den dreien durch Mark und Bein, als auch Nalani und Leyya sich aufgerichtet hatten.

„Du liebe Güte!“ rief die kleine Heilerin entsetzt, Nalani keuchte.

„Das kommt aus dem Turm!“

„Die Zuyyaner!“ fiel Tabari ihr jäh ins Wort, „M-meine Instinkte haben mich also nicht betrogen, sieh dir das an!“ Die Frau und das Mädchen stürzten zum Fenster und während Leyya vor Angst zu schreien anfing, erbleichte Nalani nur.

Draußen von den Bergen kamen sie, zum ersten Mal bekamen sie die Feinde tatsächlich in großer Zahl zu Gesicht. Eine ganze Kompanie kam über die Wiesen, die jetzt vom Licht der aufgehenden Sonne aus dem Osten überflutet wurden. Und sie waren unnatürlich schnell.

„Die fliegen,“ machte Tabari, Leyya klammerte sich wimmernd an seine Frau und fragte immer wieder nach Puran – wo war der Kerl eigentlich? „Rasch, auf! Die sind gleich hier, was stehen wir hier rum?!“ Sie zogen in Windeseile ihre Sachen an und stürmten aus dem Zimmer, Nalani hatte dabei Leyya an der Hand. Auf dem Korridor trafen sie auf Puran und die Hausherrin.

„Puran!“ heulte Leyya glücklich, ihn zu sehen, und er grinste kurz verzerrt – für Freude war keine Zeit.

„Die Zuyyaner sind auf dem Weg nach Iter, sie müssen die Berge überquert haben!“ erzählte er seinen Eltern überflüssigerweise.

„Das Dorf wird in den Wachturm evakuiert,“ meinte die Hausherrin wenig bekümmert, „Und ich dachte schon, uns hinter den Bergen passiert nichts.“

„Die kommen sicher unseretwegen, die waren schon mal hinter uns her,“ behauptete Tabari empört, während sie alle das Haus verließen. Draußen ertönte der Gong aus dem Turm noch lauter. Die Dorfbewohner rannten schon hysterisch und rufend durch die Gegend, Mütter trugen ihre kleinen Kinder auf den Armen. Die Tochter des Ältesten sah Tabari auf seine Aussage hin verdutzt an.

„Euretwegen? Und das sagt Ihr jetzt, Herr?! Na, großartig.“

„Meoran!“ rief Nalani dazwischen, die auch ihren Kollegen, Keisha, Ruja und die Schwester der Hausherrin samt Familie auf sich zu kommen sah. Ihnen folgte der schnaufende Dorfälteste.

„In den Turm, rasch! Sie kommen hierher, sie werden das Dorf überrennen! Im Turm sind wir sicher, niemand hat ihn jemals bezwungen.“

„Und das Dorf?“ machte Ruja besorgt, „Was wird aus den Häusern? Sollen wir sie einfach ihrem Schicksal überlassen?!“

„Keine Heldentaten von einer Frau mit rundem Bauch!“ entrüstete sich Meoran und packte sie unsanft am Arm, „Tut, was der Älteste sagt, wir gehen in diesen Turm!“

Leyya fing an zu weinen, als die Panik sie übermannte, und ließ sich schluchzend auf Purans Rücken heben, der sie durch das Dorf in Richtung Turm trug.

„Es ist wie in Makar, plötzlich haben alle geschrien und plötzlich war… überall Angst!“ jammerte sie dabei, und Puran versuchte verzweifelt, sie zu beruhigen, während sie zusammen nach Südwesten rannten.

„Schneller! – Hab keine Angst, Leyya, ich passe auf dich auf!“

Ein ohrenbetäubendes Krachen nicht allzu weit entfernt ließ alle aufschreien und einige sich instinktiv auf die erde werfen. Eine der altbekannten Feuerkugeln war vom Himmel gefallen und direkt vor dem Turm eingeschlagen. Sämtliche Menschen, die zu dicht dran gewesen waren, wurde in die Luft gesprengt und in Fetzen zurück auf die Erde geworfen. Puran beeilte sich zum Glück, Leyya, die von seinem Rücken gefallen war bei der Erschütterung, die Augen zuzuhalten und ihr den Anblick zu ersparen, der ihn selbst erschauern ließ.

„Wie… wie barbarisch!“ keuchte seine Liebhaberin und Tochter des Ältesten entsetzt, sie sich aufgerappelt hatte. Jetzt wurde die Panik im Dorf noch größer.

„Die greifen den Wachturm an, diese Wahnsinnigen!“ schrie ihr Vater und tanzte wie wild im Kreis herum, bis Nalani ihn festhielt.

„Sie sind nicht hinter Land und Boden her, die wollen Menschen töten!“ belehrte sie ihn, „Sucht Euer Volk zusammen, rasch, und flieht in den Turm. Jeder, der hier draußen bleibt, wird garantiert getötet, vielleicht haben wir da drin eine Chance, wenn er wirklich so stabil ist, wie man sagt.“ Sie rannten. Zwischendurch sammelten sie noch andere Menschen ein, Verwundete, die Feuer abbekommen hatten, oder zu langsame Alte, die nicht voran kamen, und gerade mit einem zweiten Feuerregen und einem grauenhaften Erzittern der Erde, das alle von den Beinen riss, erreichten die meisten den Wachturm. Die fliegenden Zuyyaner waren schon beinahe da und aus dem Turm schoss man mit Pfeil und Bogen auf die gepanzerten Soldaten, was nicht allzu viel nützte.

Oben im Turm schrie jemand auf; als Meoran den Kopf herum riss, sah er schon einen Hagel aus Eiszapfen von den Zuyyanern aus direkt auf die Schießscharten des Turmes zufliegen, einige trafen die dahinter sitzenden Schützen und die Männer fielen erstochen zu Boden. Die Frauen schrien, die Kinder heulten panisch.

„Die kommen hier rein!“ jammerten sie, „Wir werden sterben!“

„Nicht, nicht!“ rief der Älteste verzweifelt, „Wir werden standhalten! Neue Schützen, erschießt die Eismagier!“

„Das ist doch Wahnsinn,“ keuchte Keisha, „Puran! Gib mir Leyya, rasch! Sie kann mir helfen, die Verletzten zu versorgen. – Ruja, verdammt, wir brauchen die Barriere! Ohne sind wir bald alle tot!“ Die Telepathin senkte keuchend den Kopf und Meoran jammerte.

„Aber sie ist schwanger, ich stelle sie nicht vor den Turm hinaus, unter keinen Umständen – Ruja, bleib hier!“ Doch seine hübsche Frau riss sich schon aus seinem Griff und stolperte zurück zur Tür. Draußen krachte und polterte es.

„Ich werde nicht zulassen, dass alle Menschen sterben, die uns so gutherzig aufgenommen haben… ich muss das machen, Meoran. Du weißt das. Komm mit und beschütze mich, wenn du Angst hast.“ Sie lächelte zuversichtlich. Tabari schnaufte.

„Sie hat recht, ich wage zu bezweifeln, dass der Turm diesem Angriff lange standhalten wird… die Zuyyaner sind anders als wir, Dorfältester, mit Verlaub. Wir können uns nicht verschanzen hier, gibt es keinen sichereren Ort für die Frauen und Kinder?“ Der Dorfälteste schnappte nur verzweifelt nach Luft. Während sie da standen und sich mit den anderen Dorfbewohnern in das Bauwerk drängelten, krachte es erneut, dieses Mal bedrohlicher, und von oben ertönte abermals lautes Geschrei.

„Sie werfen mit Feuer! Der Turm steht in Flammen!“ Die Magier drehten erschrocken die Köpfe und Nalani sah oben bereits die Flammen züngeln. Die Menschen schlugen sie schreiend und rufend mit Decken aus oder versuchten es mit aller Macht, indessen erbebte das gesamte Gebäude. Oben musste eine Feuerkugel herein geflogen sein und die Mauer zerstört haben.

„So viel zu Der Turm wird nicht eingenommen,“ bemerkte Puran schlau. Es krachte abermals. Tabari fuhr herum.

„Verdammt! Ruja, raus, bau deine Barriere um das Gebäude, wir gehen hinaus und versuchen irgendwie, sie aufzuhalten! Wir sind Geisterjäger, wir waren die Verteidiger Dokahsans, sollen wir uns einfach so ergeben? Was für eine Ehre wäre das, frage ich?“

„Das waren nicht wir, sondern unsere Großeltern,“ murmelte Puran belämmert.

„Ihr wollt da raus?“ fragte die eine Tochter des Ältesten entsetzt, „Seid ihr des Wahnsinns?“

„Wir sind Magier und haben noch am ehesten eine Chance, diese Bastarde zu erledigen, im Hügelland von Morund haben wir schon mal welche beseitigt und in Dokahsan…“

„Das ist Selbstmord,“ japste die Schwester der Frau, „Nicht!“ Nalani pflichtete ihrem Gatten jetzt bei.

„Es ist unsere Aufgabe als Geisterjäger, er hat recht. Und ich sehe es unter meiner Würde, mich wie ein Karnickel zu verkriechen und zuzusehen, wie um mich herum alle sterben.“ Sie warf einen Blick auf Tabari und Puran, die zustimmend nickten. Keisha und Leyya, die schon etwas weiter hinauf geklettert waren, sahen jetzt besorgt herunter, und Meoran kaute nervös auf seiner Lippe herum.

„Wir sind nur vier, mit Ruja fünf!“ meinte er verdrießlich, „Wie soll das gehen, Tabari? Sie fliegen… von uns kann nur einer fliegen, und das bin ich, und ich sehe mich nicht fähig, eine ganze Kompanie alleine zu erledigen… sie sind uns gegenüber nicht nur zahlenmäßig, sondern auch waffentechnisch klar im Vorteil.“

„Du übersiehst etwas sehr Wichtiges,“ entgegnete Nalani und zog Kadhúrem, „Sie sind in unserem Land, auf unserem Territorium, über das unsere Geister wachen und nicht der zuyyanische Gott. Die Geister werden die Beschmutzung ihres Landes nicht dulden, sie werden uns beistehen, wenn wir für sie kämpfen.“ Meoran seufzte ergeben, schüttelte seine Hände und zog dann mit jeder eine Feder aus seinem schwarzen Umhang.

„Und wie kriegen wir sie auf den Erdboden und verhindern, dass sie wieder fliegen?“ wollte er trotzig wissen. Tabari verdrehte mit einem Mal gelangweilt die Augen.

„Das lass meine Sorge sein. Egal, wie sie fliegen, sie sind in der Luft den Gesetzen der Winde ausgesetzt. Und ich… bin zufällig ein Meister der Windmagie. Ich hole sie runter und ihr macht sie fertig. Alles klar?“ Die anderen sahen sich an und Puran schnappte nach Luft.

„Das ist grauenhaft,“ behauptete er, indem sie sich daran machten, hinaus zu gehen.

„Seid vorsichtig!“ schrie Leyya ihnen ängstlich nach, „B-bitte passt auf euch auf!“ Puran verließ als Letzter den Turm und grinste sie aufmunternd an.

„Das wird schon!“ imitierte er seinen Vater, ohne es recht zu beabsichtigen, dann ging er.
 

Die Kompanie der Zuyyaner hatte nicht weit vom Turm inne gehalten und baute sich vor den Magiern auf wie eine Flutwelle des Todes.

„Zweihundert Mann, mindestens,“ zählte Tabari über den Daumen und drehte den Kopf, um am Turm herauf zu sehen. An der Tür stand Ruja und legte jetzt die Hände zusammen, um mit etwas Konzentration auf ihre Fähigkeiten einen Schutzschild zu schaffen, der das ganze Gebäude wie ein Film umhüllte, ein schwacher, leuchtender Schimmer, der stärker war, als er aussah.

„Geht!“ rief die Telepathin dabei, „Ich kümmere mich solange um die Barriere!“

„Himmel, Ruja,“ machte Nalani, „Wir können sie nicht so da stehen lassen… Puran! Du bleibst hier, egal, was passiert, und beschützt Ruja! Tabari, sieh zu, dass du sie runter holst, alle, jetzt!“

„Moment, wenn Tabari mit dem Wind beschäftigt ist und Puran mit Ruja, sollen wir die zu zweit alle machen?!“ fragte Meoran entsetzt und zu seinem noch größeren Entsetzen hob die Frau Kadhúrem und schien absolut ernst zu sein.

„Ja, so ungefähr. Warum fragst du?“

„Ach… nur so, um sicher zu gehen… das macht hundert für jeden!“

„Schön zu sehen, dass du zählen kannst.“

„Warum muss ich den Frauenbewacher spielen?!“ empörte Puran sich im Hintergrund, der sicherheitshalber seine zwei Schwerter zog und sich vor Ruja stellte. „D-das ist so unmöglich zu zweit!“

„Du bist nicht einfach nur der Frauenbewacher,“ sagte sein Meister und sah ihn streng an, „Du bewachst meine Frau und mein zukünftiges Baby, also komm nicht auf die Idee, deinen Posten zu verlassen! Von meiner Mutter und Leyya ganz abgesehen…“ Er wandte sich wieder nach vorn, als Nalani ihn am Arm zerrte und sie sahen, wie sich die ganze Kompanie brüllend vorwärts stürzte, direkt auf den Turm und die wenigen Magier davor zu.

„Tabari!“ brüllte Nalani ihren Mann an und der hob brummend beide Arme in den Himmel und warf den Kopf in den Nacken, während er ein paar Schritte rückwärts trat, bis er fast gegen den Turm stieß.

„Wind!“ brüllte er in den Himmel gegen das Tosen der heran rauschenden Feindeswelle an, „Geist des Windes, folge meinem Befehl als Herrscher der Geister! Gib mir deinen Zorn, Vater Himmel, und ergieße ihn über all jene, die versuchen, dein Land zu zerstören! Komm, Wind!“ Ein mächtiger Sturm brauste auf, der selbst Nalani und Meoran beinahe von den Beinen gerissen hätte. Sie hielten sich aneinander fest und der Jüngere zog jetzt seine Federn hoch und hielt eine davon keuchend gen Himmel.

„Dann wollen wir mal hoffen, sie fliegen wirklich nicht mehr… denn wenn sie in der Luft ausweichen können, sind sie nicht einfach zu erwischen.“

„Hmm,“ erwiderte Nalani, „Du nimmst die linke Hälfte, ich die rechte Hälfte, und stirb mir nicht, Meoran. Deine Frau und dein ungeborenes Baby würden es nicht gutheißen.“

„Ich gebe mir Mühe, Königin. Das gilt aber auch für dich.“ Der Wind fuhr stärker au, aber jetzt weiter hinauf, sodass sie wieder gerade stehen konnten und einander losließen. Tatsächlich beobachteten sie, wie der Wirbel, den Tabari kontrollierte, einen Zuyyaner nach dem anderen auf den Boden schmetterte und am Fliegen hinderte. Einige, die der Windgeist direkt erwischte, wurden gleich in der Luft zerrissen und stürzten in Teilen auf die Erde, mitten in die heran rollende Armada. Nalani riss Kadhúrem hoch und mit einem Schrei ihrerseits gingen die beiden Magier zum Angriff über, ehe die Feinde sie erreichen konnten.

Der Himmel verfinsterte sich mit einem enormen Krachen. Das Feuer der Zuyyaner kam jetzt nicht mehr aus dem Himmel, sondern aus den Reihen der Soldaten direkt auf die Schamanen zu. Nalani riss ihre Waffe abermals herum und verschluckte das gesamte Feuer mit einem Streich aus purer Schwärze aus dem Schatten, den die Kandayas seit jeher kontrollierten. Meoran warf seine zwei Federn in den Himmel, wo sie vom Wind erfasst und in tausende und abertausende Fetzen zerrissen wurden. Er seufzte und zog dann mit einer Hand sein Schwert, um den ersten Angriff der Zuyyaner abzuwehren, die jetzt auf ihn zu kamen. Sein Schwert klirrte gegen das eines Gegners in dem Moment, in dem Meoran noch einmal den Kopf zu seinen zersplitterten Federn drehte.

„Dann fliegt!“ rief er in den Himmel, „Auf Tod und Schatten, Kondorgeister des Chimalis-Clans!“ Er stieß den Angreifer mit seinem Schwert zurück und riss die Hand in den Himmel – und aus den zerfetzten Federteilen entstand ein schwarzer Nebel aus Schatten, dem tausende und abertausende schwarze Nebelgestalten in Form von großen Vögeln entsprangen und herab stürzten auf die Feinde. Und obwohl sie nur aus schwarzem Nebel bestanden, konnten sie Menschen aus Fleisch und Blut verletzen, wie der Mann vor Meoran schmerzhaft zu spüren bekam, als einer der Vögel auf ihn herunter stieß und ihn allein durch das Streifen in zwei saubere Hälften teilte. Danach spürte der Mann nichts mehr. Meoran schnaubte. „Denkt ja nicht, ihr kämet vorbei!“
 

Nalani hatte keine Probleme, im Dunkeln zu sehen oder den gespenstischen Nebelvögeln auszuweichen, während sie sich mit dem Schattendolch durch die Reihen der Feinde schlug. Der Schatten Kadhúrems verschlang das Feuer der Angreifer und die Eiszapfen, die man nach der Frau warf, klirrten laut gegen die Klinge.

Na wartet, ihr Bastarde in Blechbüchsen, ich finde euren Befehlshaber und mache ihn zur Schnecke, dann werdet ihr winselnd wie geprügelte Wölfe davon rennen…

Einer der Eissplitter schoss an Kadhúrem vorbei und streifte ihre Wange, worauf sie keuchend herumfuhr mit dem schneidenden Schmerz, den sie darauf spürte. Gleich darauf stürzten sich zwei Männer auf einmal auf die Frau, die Schwerter voran.

Lass dich ja nicht von den Klingen verletzen… wenn es zuyyanische Magiemedien sind, kann Keisha die Wunden nicht heilen!

Sie blockte den ersten Mann mit einem geschickten Hieb ihres Dolches und stach ihm die Waffe in die Kehle, sodass er gurgelnd zu Boden stürzte und dort verendete. Als der zweite Mann gegen sie springen und sie erschlagen wollte, wirbelte sie erneut herum und riss statt des Dolches nun die leere Hand hoch, und mit einem bloßen Blick aus ihren kalten, blauen Augen stülpte sich die Finsternis über den Gegner. Keuchend fuhr er zurück und schien zu versuchen, dagegen anzukämpfen, doch der Schatten war stärker und zwang ihn in die Knie. Dann sprach er plötzlich die Einheitssprache, die seit langer Zeit in ganz Khad-Arza, allen drei Welten, gelehrt wurde:

„Habt Erbarmen, Schattenweib…!“

Doch Nalani sah nur heftig atmend auf ihn herunter und wandte schließlich den Kopf ab, den anderen Männern zu, die auf sie zu stürmten.

„Nicht mit euch, die ihr uns feige aus dem Hinterhalt überfallt und unschuldige Menschen tötet.“

Sie riss sowohl die Waffe als auch ihre Hand wieder herum. Mit einem Krachen aus dem schwarzen Himmel entstand in ihrer freien Hand ein Wasserstrudel – wenn ihre Wasserzauber das Feuer nicht löschten, hieß das nicht, dass sie die Männer damit nicht zerschmettern konnte… und so war sie kaum überrascht, als die gewaltigen Strudel aus ihrer Hand sprangen und die Armee vor ihr zerfetzten, einige Soldaten wurden trotz Rüstung von dem harten Wasser durchbohrt und aufgespießt. Von links kam ein gewaltiger Schwall Feuer auf Nalani zu, der dem Wasser jedoch ebenso wenig anhaben konnte, wie es das Wasser sonst beim Feuer gekonnt hatte. Die Magie der Zuyyaner und die der Schamanen schienen einfach nicht kompatibel zu sein, dass die Elemente gegenseitig absolut keine Wirkung aufeinander hatten. Weder löschte das Wasser das Feuer, noch ließ viel Feuer wenig Wasser verdunsten. Nalani sprang zur Seite und parierte ein paar Schwerthiebe, ein Schlag eines besonders großen Mannes riss sie von den Beinen und schleuderte sie zu Boden – ihr Schattendolch rettete ihr erneuter Weise das Leben, als er den nächsten Schwerthieb ihres Gegners blockte, der die Frau glatt enthauptet hätte und so nur ihre Schulter traf. Sie keuchte, stieß den Angreifer mit einem neuen Wasserstrudel zurück und rappelte sich auf die Beine.

„Verdammt!“ zischte sie und fuhr herum, um nach den anderen zu sehen – von Meoran sah sie nichts mehr, er musste auf der anderen Seite der Kompanie sein; zumindest die Nebelvögel waren noch da. Plötzlich fuhr über ihr der Windwirbel heftiger auf, kurz darauf flogen einige Zuyyaner durch die Gegend und auf die Erde, die offenbar versucht hatten, zu fliegen, und von Tabari daran gehindert worden waren. Als die Geisterjägerin den Kopf wieder nach vorn drehte, entdeckte sie mit einem Mal den Befehlshaber – zumindest war sie sicher, dass es der Befehlshaber war, seine Rüstung unterschied sich von den anderen. „Na warte, du Knilch,“ brummte sie und zerrte Kadhúrem hoch, „Komm nur her, wenn du dich traust…“ Sie trat wieder zurück und riss ihre Hand in den schwarzen, grollenden Himmel. „Himmelsgeister!“ schrie sie hinauf, „Kommt und seid meine Diener, ich, Nalani, befehle euch als Geisterjägerin! Geister von Vater Himmel, Geister von Mutter Erde, folgt dem Willen dieser Frau!“ Ein Krachen ertönte, als sie die Arme nach vorne riss, und mit einem gewaltigen Tosen aus der Tiefe zerbrach vor ihr der Erdboden, als würde Mutter Erde ihren Rachen auftun, um die Angreifer zu verschlingen. Die Männer brüllten, als sie in den entstandenen Schacht stürzten und denen, die dem Erdspalt entkamen und vor oder zurück sprangen, donnerte die nächste, gigantische Flutwelle entgegen. Sie hätte sämtliche Männer auf der Zelle zermalmt, wäre nicht in dem Moment, in dem Nalani vor sprang, um an der Spalte vorbei zu kommen, eine zweite Wassermacht von vorne auf Nalanis gekracht. Die beiden Flutwellen sprangen gegeneinander und zerplatzten mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen. Die Frau richtete sich auf und blieb am Rande des Erdspaltes stehen, den sie geschaffen hatte, als das Wasser verebbte und die Soldaten sich zur Seite stürzten, an ihr vorbei. Ihr gegenüber stand jetzt der Befehlshaber der Kompanie in seiner schicken Rüstung, die Hände in dem Moment sinken lassend. Augenscheinlich hatte er die zweite Wasserwelle erzeugt.

„Dann ist es also kein Märchen, was man auf Zuyya erzählt hat,“ sagte er erstaunlich ruhig und musterte die Frau vor sich, die schwer keuchte. Der Mann sprach die Einheitssprache Khad-Arzas wie der Wurm von zuvor, er sprach sie aber deutlich sauberer und besser. „Ich habe den Vögeln in Ahrgul nicht geglaubt, dass die tharranischen Schamanen unserem Niveau in Magie gleich kommen könnten…“

„Dann lernt Ihr jetzt etwas Neues,“ war Nalanis kaltherzige Antwort, während ihr auffiel, wie verdammt jung ihr Gegenüber war – zumindest für den Posten eines Befehlshabers definitiv zu jung, dachte sie. Der Kerl hier war doch nicht älter als Ruja, niemals… „Und Ihr lernt sogar noch mehr, wir übertreffen euer sogenanntes Niveau, mit dem ihr es sogar fertig bringt, Zivilisten abzuschlachten und Bauerndörfer niederzubrennen…“ Sie hatte erwartet dass er jetzt mit einem tollen Grund antworten würde, für den sie kämpften, aber nichts dergleichen kam, er reckte nur das Kinn in die Luft und hob blitzschnell einen Arm nach links. Nalani fuhr herum, als sie aus dem Augen eine große Gruppe Soldaten sah, die an ihr vorbei sprintete in Richtung des Turmes, genau auf ihren Sohn und Ruja zu. Sie keuchte. „Puran!“ Der Befehlshaber der Zuyyaner machte ihr einen Strich durch die Rechnung, als sie in Richtung Turm rennen wollte, indem er ihr sein Schwert in den Weg hielt.

„Nicht so hastig… hier spielt die Musik, Schamanenkönigin… so nennt man Euch doch? Ich hab mich etwas schlau gemacht. Und ich habe mich gefragt, wie ein Aufeinandertreffen wohl aussehen würde…“ Die Schwarzhaarige zischte.

„Dann werden wir das jetzt sehen und es wird das letzte Treffen von Euch mit irgendwem sein, weil ich Euch zerfetzen werde!“ Mit diesen Worten sprang sie in die Luft und riss Kadhúrem nach vorne, während ihr Gegner sein Schwert ebenfalls hob, um sich in den Kampf zu stürzen.
 

„Die kommen auf uns zu!“ machte Puran entsetzt und sah auf die Horde Soldaten, die unweigerlich auf ihn zu gestürmt kam. Ruja hinter ihm seufzte.

„Du wolltest doch den Helden spielen und hast gemault, dass du der Frauenbewacher sein musst…?“ feixte sie, der Jüngere maulte.

„A-aber ich habe nicht beabsichtigt, alleine gegen fünfzig zu kämpfen…“ Er tat einen Schritt nach vorne, „Rühr dich nicht und schrei, wenn einer in deine Nähe kommt, ich versuche, sie von dir fern zu halten, aber ich habe nur zwei Augen!“

„Ich habe vollstes Vertrauen,“ lächelte die Frau zu seiner Besorgnis sehr zuversichtlich, und er holte tief Luft, ehe er sich den Gegnern entgegen wendete und die Waffen nach vorne riss. Da erreichten ihn schon die ersten Männer und er hatte plötzlich alle Hände voll damit zu tun, die Soldaten von Ruja fern zu halten. Seine Mutter hatte ihn einst gelehrt, wie man zwei Schwerter führte, so hielt er sich eine Zeit ganz tapfer und parierte jeden Schlag der Soldaten vor ihm, bis plötzlich zwei von der Seite kamen. Der eine erwischte ihn mit dem Schwert am Arm, worauf ein übel schmerzender Schnitt entstand und Puran keuchend herum wirbelte. Im nächsten Moment hatte der Angreifer seinen Kopf verloren.

„Kommt nur!“ fluchte er ungehalten und spuckte dem Kopflosen vor die Füße, ehe der nächste auf ihn zu sprang und der Junge ihn mit einem gezielten Katura-Zauber zurück schleuderte. „Ihr barbarischen Mörder, wagt es, in die Nähe des Turmes zu kommen, und ich reiße euch in Stücke!“ Er fuhr abermals herum und stach einen Mann mit dem Schwert zu Boden, einem anderen verpasste er einen blutenden Schnitt quer über das Gesicht.

„Puran, pass auf, hinter dir!“ schrie Ruja und er riss japsend den Kopf herum, duckte sich gerade noch unter dem Schwert eines Feindes hinweg, wurde von einem nächsten zu Boden gestoßen und überschlug sich hustend, während er eines der Schwerter aus der Hand verlor.

„Verdammt, Ruja!“ schrie er panisch und sprang auf die Beine, geistesabwesend schmetterte er einen weiteren Zuyyaner mit Katura zurück und warf ihn in die Reihen der anderen, die auf ihn zu kamen. Ruja schnappte nach Luft, als die Horde jetzt den Turm und auch sie beinahe erreicht hatte; es waren einfach zu viele, Puran war nur einer und sie waren mehrere Dutzend. Sie drehte keuchend den Kopf zu dem Jungen, der jetzt von einem neuen Angreifer zu Boden geschmettert wurde, kurz darauf hätte ein Eiszapfen ihm beinahe das Bein abgetrennt, zum Glück riss Puran rechtzeitig sein Bein zur Seite und das Eis bohrte sich nur tief ins Fleisch. Er schrie auf und Ruja kreischte in dem Moment, in dem die Männer sich zeitgleich auf Puran und auch auf sie stürzten.

„Tabari, hilf uns!“ Doch der Herr der Geister kam gar nicht dazu sich zu rühren. Im Moment von Rujas panischem Schrei ertönte aus dem Himmel ein ohrenbetäubendes Donnern, als würde der Himmel persönlich seinen Zorn über der Welt ergießen wollen, und sowohl den Schamanen als auch den Zuyyanern ging das Tosen durch Mark und Bein, die Erde erzitterte vor Ehrfurcht. Und Puran rappelte sich auf, die höllischen Schmerzen in seinem Oberschenkel ignorierend, als er zu der halben Kompanie vor sich herum fuhr und die beiden unbewaffneten Hände hoch in den Himmel riss. Und Ruja erstarrte, als sein Blick sie mit einem mal streifte, ein Blick aus Augen, durch die die Himmelsgeister selbst sie anstarrten, so voller Macht und so dermaßen ehrerbietend, dass die Frau auf die Knie gesunken wäre, würde sie nicht die lebenswichtige Barriere aufrecht halten müssen. Tabari in knapper Entfernung drehte jetzt ebenfalls fassungslos über das, was geschah, den Kopf.

Puran schnappte heftig nach Luft. Alles schmerzte beim Atmen und in ihm war ein so grausamer Druck, eine ungebändigte, tödliche Macht, die mit aller Kraft versuchte, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien, eine Macht, die er schon von Kindesbeinen an bis auf den Tod gefürchtet hatte.

Was tut ihr, Geister von Himmel und Erde?! fragte er die Mächte der Schöpfung fassungslos. Er hatte das Gefühl schon öfter gespürt, aber nie in diesem enormen Ausmaß – ja, in der vergangenen Nacht hatte er geträumt, danach hatte er dasselbe Kribbeln verspürt. Es machte ihm Angst, aber andererseits wusste er instinktiv ganz genau, was das hier war.

Das war seine Bestimmung.

Es war recht so, es war das, zu was die Geister ihn seit seiner Geburt bestimmt hatten… er war ein Schamane. Und nicht nur das, er war ein Lyra… er war ein Herrscher der Himmelsgeister. Zum ersten Mal in seinem Leben verschwand der Hintergedanke in seinem Kopf, dass er irgendwo der Enkel seines Großvaters und deswegen vielleicht etwas Schlechtes war – zum ersten Mal in seinem Leben spürte Puran die Geister überall, in ihm, in der Erde, auf der er stand, in der Luft, die er atmete, und er war eins mit ihnen, er war ein Teil von ihnen, als er seine Arme weiter nach oben streckte und in dem Moment mit einem lauten Krachen aus dem schwarzen Himmel ein gewaltiger Wirbel aus purer Macht in seinen Händen entstand, wie ein Wirbelsturm drehte sich der Windgeist zwischen seinen Händen und wurde immer größer und mächtiger, bereit, jeden zu zerfetzen, der in seine Bahn geraten würde.

„Das…“ schnappte Puran atemlos und warf den Kopf in den Nacken, „Ist der Wille der Himmelsgeister! Tod… und Schatten!“ Dann riss er beide Arme samt Wind nach vorne, und die Macht der Geisterwinde verließ seine Hände und zerschmetterte sämtliche Soldaten direkt vor ihm, als wären sie Häuser aus Papierkarten. Da war der Druck, den Puran schon so lange in sich gespürt hatte, diese furchtbare Macht in seinem Inneren, die jetzt heraus kam, ohne dass er es aufhalten konnte – und jetzt war es gut, zum ersten Mal war es gut, dass er komplett eins war mit den Geistern von Himmel und Erde. Er war selbst ein Windgeist, und er sah sich selbst über das Schlachtfeld fliegen, während der Windwirbel die Soldaten nieder mähte und nichts von ihnen übrig ließ. Er flog über die toten und ohnmächtigen Männer, vorbei an Meoran, der sich immer noch mit einer Horde herum schlug und vorbei an seiner Mutter und dem Befehlshaber der Armee, die kämpften und jetzt inne hielten und den Wirbel betrachteten, vor Fassungslosigkeit erbleichend. Dann kehrte Puran wieder in seinen Körper zurück, als der Geisterwind verschwand, und plötzlich erfüllte ihn anstatt des Gefühls der ungezähmten Macht eine grauenhafte Erschöpfung. Er kippte wie leblos zu Boden und Ruja schrie.

„Oh nein, Puran! – Tabari, tu doch was!“ Tabari schnappte nach Luft, noch zu verblüfft von dem, was er eben gesehen hatte. Das war nicht einfach irgendein Geisterwind gewesen… das war mehr gewesen, er spürte die Furcht erregende Macht seines Kindes noch immer bis in die Knochen, obwohl es längst vorbei war. Puran war sein Sohn und er war ein Erbe des mächtigen Lyra-Clans… aber selbst für diese Verhältnisse war das anormal gewesen.
 

„Feuer!“ schrie der Befehlshaber weiter hinten den restlichen Männern zu, um den Moment des Entsetzens bei allen auszunutzen, jetzt, wo der gruselige Wirbel weg war, und Nalani fuhr herum, als plötzlich von allen Seiten der Feuerregen aus den Händen und Waffen der Soldaten sprühte. Sie musste selbst einem Feuerschlag ihres Gegners ausweichen und als sie mit Kadhúrem nach ihm schlug, wich der Mann geschickt aus und schleuderte von der anderen Seite Flammen auf sie. Sie sprang zurück und versengte dabei ihre Haarspitzen. Von rechts kam neues Feuer und sie hechtete nach links, kurz darauf stieß sie mit Meoran zusammen, der in jeder Hand eine Feder hielt und heftig schnaufte.

„Für so eine Hetzerei bin ich nicht gemacht, eindeutig!“ stöhnte er, „Himmel, das Feuer!“ Die beiden drehten sich um und sahen sich umzingelt von Flammen. Von allen Seiten kamen die Zuyyaner auf sie und den Feuerring zu, allen voran der Anführer, der mit einem gekonnten Sprung zu ihnen über die Flammen sprang. Nalani zog den Dolch und Meoran die Federn, indem sie Rücken an Rücken die Angreifer im Auge behielten. Es waren nicht mehr viele übrig, vielleicht vier Dutzend… genug.

„Jetzt kommen wir der Sache näher,“ bemerkte der Heerführer und hielt Nalani sein Schwert entgegen. „Ich hatte mehr erwartet von den hoch gelobten besten Schamanen Tharrs, oder jedenfalls des Zentrums, wie ich mir habe sagen lassen. Ihr seid jämmerliche drei Leute, ein kleiner Junge und eine Frau mit einer Barriere… wirklich beunruhigend.“

„Dafür, dass es Euch so wenig kratzt, habt Ihr aber viele Männer verloren heute,“ bemerkte Nalani bissig. „Wie peinlich…“ Der Heerführer war jedoch gar nicht aus der Ruhe zu bringen. Meoran keuchte, als die übrigen Soldaten ihre Waffen zogen, bereit zum Angriff.

„Immer langsam mit den jungen Pferden, Königin,“ sagte er glucksend. Dann hob er eine Hand, Nalani und Meoran hoben die Waffen höher. „Feuer – verbrennt sie, jetzt.“
 

Meoran fragte sich, warum der Idiot das befahl, während er noch bei ihnen stand, und er wollte gerade ausholen, um mit seiner Feder zu verhindern, dass das Feuer sie erreichte… aber dazu kam es gar nicht. Mit einem Mal erklang hinter ihnen ein neues, lautes Krachen aus dem Himmel und als beide Schamanen sich umdrehten, kam neues Feuer von außen, das aber dieses Mal die Zuyyaner erwischte und lebendige Braten aus ihnen machte. Es fraß sich um den ganzen Feuerring herum zu einem weiteren, Furcht erregenden Ring mit helleren, größeren Flammen, und der Heerführer zog eine Braue hoch, als auf einer Anhöhe eine kleine Gruppe von Personen erschien. Nalani erkannte sie sofort.

„Kohdars!“ japste sie fassungslos und Meoran stöhnte erleichtert.

„Die schickt der Himmel… sogar Henac Emo ist da…“ Der Befehlshaber der Kompanie sah sich in Ruhe an, was geschah, während seine Männer verbrannten oder von plötzlich einher fliegenden Nadeln erstochen wurden, die ihre Hälse trafen. Einige Männer retteten sich schreiend aus dem Feuer, und der Mann im Kreis räusperte sich.

„Gut, ich weiß Bescheid,“ war alles, was er sagte, und ehe Nalani ihn hätte aufhalten können, hatte der Mann sich plötzlich in Luft aufgelöst. Mit ihm verschwanden die noch lebenden Soldaten.
 

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yeah. xD öh, ende juli - august 977, oder so xD Der Bär ist dumm. xD

Gäste

„Ihr hättet gar nicht passender hier auftauchen können, Leute!“ begrüßte Tabari seine vier Kollegen, die beiden Kohdar-Brüder, ihren Vater Hakopa und Henac Emo. Letzterer zeigte ein selbstgefälliges Grinsen.

„Was denn, die großartigen Lyras sind auf Hilfe von uns schwächeren Clans angewiesen…? Dass ich das noch erleben darf…“

„Streitet nicht, Himmel!“ meckerte Meoran und raufte sich die Haare. Ruja hatte die Barriere um den Turm aufgelöst und als die Flammen der Zuyyaner niedrig genug gebrannt waren, hatten Nalani und Meoran den Flammenring verlassen und standen jetzt mit erwähnter Ruja und den anderen Geisterjägern auf dem Feld herum. Aus dem Wachturm strömten die Dorfleute und jubelten über den Sieg. Keisha kümmerte sich um Puran, der allmählich wieder zu sich kam.

„Wie habt ihr uns hier gefunden, am Arsch des Landes?“ fragte Tabari verblüfft an Kohdars gewendet und zog es vor, Emo zu ignorieren, der außer einer frechen Klappe meistens nichts zu bieten hatte. Was Tabari bedauerte, Henac Großvater Minar Emo war ein hervorragender Magier und ein guter Mann gewesen. Sein Enkel hatte sich seit seinem Eintritt in den Rat bisher nicht allzu viele Sympathien eingehandelt. Er wurde stumm geduldet, aber nicht gemocht. Ebenso wenig schien er irgendwen zu mögen außer sich selbst.

„Wir haben Meorans Botschaft erhalten und haben uns gedacht, es wäre von Vorteil, wenn wir alle zusammen sind, je mehr, desto besser, da haben wir uns durch Dokahsan und Anthurien her gekämpft. Die ganze Provinz ist voller Zuyyaner, ich sag’s euch, das ist beängstigend. Und von allen Seiten kommen mehr, die sind wie Heuschrecken, die über eine Ernte herfallen. Auf dem Weg hierher haben wir fast nur Tote gesehen, und Zuyyaner, die rotten die gesamte Menschheit aus, wenn das so weiter geht,“ berichtete Hakopa Kohdar nüchtern.

„Emo haben wir unterwegs getroffen und gleich mitgenommen,“ addierte Tare Kohdar, der jüngere Sohn. Mit den Geisterjägern war auch der Rest des Kohdars-Clans gekommen, das, was übrig war – was Baraks Frau und seine vier Kinder waren, mehr nicht. Barak Kohdar überdies bot einen ungewohnten Anblick.

„Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?“ wollte Tabari bestürzt wissen und zeigte auf den Jüngeren, der eine provisorische Binde quer über seinem Gesicht trug.

„Mein rechtes Auge ist hin, sonst ist alles gut,“ meinte der Angesprochene leichthin und der Blonde hustete.

„Wie furchtbar, tut mir leid…“

„Vati ist tapfer, er ist halb blind und trotzdem toll!“ rief das kleinste der Kinder und klammerte sich stolz an Baraks Hand, worauf der Vater dumm lachte. Das vierte Kind war endlich mal ein Junge geworden, der einzige, noch sehr kleine Erbe des Clans für die Zukunft. Nalani beugte sich zu dem kleinen Jungen herunter und tätschelte ihm die braunen Haare.

„Ja, da hast du wohl recht, Kleiner. Du musst stolz sein.“

„Nun hört mal auf, ich lebe ja,“ brummte Barak verdrossen, „Vater hat nur noch acht Finger, das ist kaum besser.“

„Wollen wir jetzt jedes Wehwehchen erläutern oder lieber über wichtige Dinge reden?“ mischte Henac Emo sich genervt ein und Nalani fand, dass er ausnahmsweise mal etwas Vernünftiges von sich gab. Sie drehte das Gesicht zu ihm und nahm ihre Gedanken sofort wieder zurück, als er sie zweideutig angrinste. Er war und blieb eine Schlange, irgendwie.

„Lasst uns zurück ins Dorf gehen,“ schlug die Frau kaltherzig vor. „Ich hoffe, es ist Platz für uns alle.“
 

Der Dorfälteste war völlig aus dem Häuschen, weil jetzt der gesamte Rat der Geisterjäger in seinem bescheidenen Dorf kampierte. Er stellte für die Beratung seine eigene Stube zur Verfügung, nachdem alle zurück nach Iter gekehrt und die gröbsten Verletzungen provisorisch versorgt worden waren. Puran war auch wieder auf den Beinen und saß jetzt mit Leyya auf dem Schoß zwischen Keisha und Ruja auf einer Bank am Rand der Stube, während die Ratsmitglieder um den Tisch herum saßen. Ein paar Dorfmänner und natürlich der Älteste waren auch anwesend, an der Tür stand die jüngere Tochter, der Puran nur einen leicht verlegenen Blick schenkte, worauf sie grinste.

„Das habe ich noch nie erlebt!“ machte der Älteste entrüstet, „D-dass der Turm in Gefahr war, meine ich! Er steht hier ewig und keine Armee hat ihn je einnehmen können – und heute musste ich miterleben, wie es geschehen wäre, hätte die tapfere Frau Ruja nicht ihre Barriere gebaut! Wären die Geisterjäger nicht hier angekommen, wären wir jetzt alle tot, wir verdanken Euch unser Leben!“

„Nicht so hastig,“ nahm Nalani ihm den Wind aus den Segeln, „Es ist vielleicht anders, als Ihr-…“ Sie fing einen mahnenden Blick ihres Mannes, und sie verstand und brach ab. „Ah, schon gut.“ Verwirrt blinzelten einige Männer, Tabari jedoch räusperte sich.

„Das liegt daran, Herr, dass Ihr vermutlich nie gegen Zuyyaner gekämpft habt… wir vor diesem Krieg übrigens auch nicht. In der kurzen Zeit der Invasion hier habe ich folgendes gelernt. Zuyyaner sind anders als wir, sie kennen offenbar keine menschlichen Schwächen, sie sind gnadenlos und haben kein Gewissen, sie fliegen und ihre Magie ist anders als unsere. Sie sind hervorragend organisiert, vermutlich weit besser als es jemals ein Heer von Tharr war. Nach den Erzählungen meines Vaters aus dem Krieg zwischen Dokahsan und Anthurien vor vielen Jahrzehnten habe ich den Eindruck, dass hier alle munter drauf los gekloppt haben…“ Die Dorfmänner nickten zustimmend.

„Wir waren nicht dabei, aber zumindest war es nicht annähernd so ein Desaster wie das heute,“ sagte einer.

„Eigentlich halte ich sie jetzt nicht mehr für so eine Gefahr,“ bemerkte ein zweiter, „Immerhin haben die Schamanen mit nur fünf Leuten eine ganze Kompanie zerschlagen.“

„Was daran lag, dass die von uns keine Ahnung haben, die wussten nicht, worauf sie sich einließen,“ entgegnete Nalani scharf, „Nächstes Mal werden sie vorbereiteter sein.“ Alle zogen die Luft ein und Tabari erbleichte.

„Nalani!“ zischte er und sie senkte den Kopf.

„Was soll das meinen?“ mischte sich die Tochter des Ältesten ein, „Nächstes Mal? Die kommen zurück?“ Tabari gab sich halb geschlagen und seufzte.

„Sehen wir den Tatsachen ins Auge, Teuerste, sie wollen offenbar alles ummähen, was sie finden. Der Anführer ist entwischt, er wird Bericht erstatten, denke ich.“ Das löste allgemeine Unruhe im Raum aus. Leyya sah erschrocken zu Puran, der sie festhielt.

„Glaubst du auch, sie kommen wieder?“ flüsterte sie, „Das wäre furchtbar…“ Er seufzte.

„Ich weiß es nicht, Leyya… vielleicht. Auf alle Fälle müssen wir vorsichtig sein.“ Er fühlte sich müde und erschöpft nach dem Kampf auf der Wiese. Er hatte noch nie eine so gewaltige Macht in sich gespürt wie zuvor, noch nie war die Magie in ihm so stark gewesen… und noch nie war er nach einem Zauber so fertig gewesen, am liebsten hätte er sich ins Bett gelegt und drei Tage am Stück geschlafen. Leider bleib ihm das verwehrt…

„Ich denke, mehr gibt es im Moment nicht zu sagen,“ fiel Tabari nämlich ein, „Wir sollten das Dorf auf alle Fälle rüsten und gut bewachen lassen, der Turm muss Tag und Nacht bewacht werden. Wenn wir Pech haben, sind sie sogar hinter dem Wachturm her, so ein Aussichtsposten kann nie schaden…“ Er räusperte sich. „Ich würde Euch höflich bitten, Herr, uns jetzt alleine zu lassen, es gibt noch Dinge, die ich mit meinen Ratsmännern besprechen muss, die nur uns Magier tangieren und Euch wenig interessiere werden.“ Nach einem Blick des Ältesten verließen die Männer die Stube, der Dorfchef folgte ihnen artig.

„Und wenn es uns doch interessiert?“ fragte seine Tochter perplex, ehe ihr Vater sie ungestüm am Arm zog.

„Sei nicht unhöflich und komm mit raus!“ Sie seufzte und ergab sich, der Vater schloss die Tür hinter ihnen.
 

„Was denn jetzt?“ machte Hakopa Kohdar verdutzt, als der Blonde sich räusperte und eine Hand auf den Tisch legte, ehe er zu der Bank an der Seite sah.

„Puran,“ sprach er ernst den Namen seines Sohnes und der sah verwundert hoch, „Ich fordere, dass er die Prüfung macht und Mitglied des Rates wird, wo wir doch alle schon hier sind.“

Die Nachricht brachte alle zum Schweigen. Kohdars und Emo weiteten die Augen und Meoran und Nalani sahen sich verblüfft an. Puran blinzelte.

„Äh – was?“ war seine geistreiche Antwort.

„Ja, was?“ stimmte Henac Emo ihm zu, „Wie alt ist er gleich, sechzehn? Er ist doch viel zu jung dafür!“

„Ich bin fast achtzehn!“ entrüstete Puran sich beleidigt und Tare Kohdar warf ein:

„Ich bin mit fünfzehn Geisterjäger geworden…“

„Alter ist Schall und Rauch,“ entgegnete Meoran, „Wie kommst du auf die Idee, Puran wäre jetzt reif dafür, Tabari? Meinst du, er könnte die Prüfung bestehen?“

„Andernfalls würde ich es nicht fordern. Ich habe vorhin gesehen, zu was er fähig ist, es muss dir entgangen sein, aber ich habe nie, und ich sage das als erbe einer ohnehin protzigen Familie, nie ein derartiges Ausmaß an Magie gesehen, es hat mich dermaßen erschüttert, dass ich das jetzt unbedingt ansprechen musste.“

„W-was, ich?“ japste Puran und wurde jetzt rot, weil ihn alle ansahen – wie peinlich… „Ich habe gar nichts gemacht, also… doch, schon… aber ich habe das nicht hundert Prozent unter Kontrolle…“

„Keine Kontrolle ist schlecht, das wird nichts,“ orakelte Emo gehässig. Puran brummte. Was hatte der denn für ein Problem, er war zwar bescheiden, das hieß aber nicht, dass man seine Würde verletzen musste.

„Wie kannst du sowas sagen?“ schnappte Leyya da auch schon zu seiner Verteidigung, ehe Puran sie aufhalten konnte, „Puran ist ein guter Magier, ich weiß das!“

„Leyya, halt den Mund,“ dankte Puran ihr die Verteidigung barsch. Emo kicherte.

„Oh, du hast eine Verehrerin, die halb so alt ist wie du, wie niedlich…“ Es war Ruja, die in den Streit einfiel, indem sie sich erhob.

„Ich habe gesehen, was Tabari gesehen hat,“ sagte sie ernst, „Und was er gesagt hat, war nicht übertrieben. Es war… es war, als hätten die Geister von Himmel und Erde Purans Körper ausgefüllt, als stünden Vater Himmel und Mutter Erde persönlich vor mir, in der Hülle eines Menschen… es war unglaublich. Und wenn er sagt, er kontrolliert es nicht, so denke ich, dass aber nicht viel dazu gefehlt hat. Wenn es nicht ein Selbstbeschützungsinstinkt ist, der unwillkürlich aufkommt, isst es automatisch kontrollierter, denke ich.“ Darauf schwiegen alle und Tabari nickte ihr dankbar zu.

„Wenn Ruja das sagt, hat sie recht,“ meinte Meoran zuversichtlich und er musterte Puran. „Als ich ihn gelehrt habe, war er ein sehr talentierter und geschickter Junge, zutrauen würde ich es ihm schon. Und meine Frau irrt sich nicht in solchen Gefühlen.“

„Sagst du, weil du blind vor Liebe bist, hm?“ gluckste Henac Emo und Meoran zischte ihn an.

„Hüte deine Zunge, Henac, mein Geduldsfaden ist nach diesem Drama heute sehr strapaziert!“

„Nein, das sagt nicht nur Meoran, das sage ich auch,“ mischte Nalani sich ein, „Ruja hat ein Gespür für sowas. Vielleicht sogar mehr als wir Schwarzmagier.“

„Wirklich?“ machte Henac Emo belustigt, „Ist ja toll, ich sollte sie mal meine Hand lesen lassen, vielleicht sagt sie mir meine Zukunft voraus…“ Barak Kohdar mischte sich jetzt ein.

„Himmel, so kommen wir ja nie voran. Ist irgendjemand dagegen, dass wir Puran die Prüfung machen lassen?“

„Ja, ich,“ schnaufte Emo, „Noch mehr Lyras im Rat und wir haben eine Dynastie!“

„Wir haben im Rat mehr Kohdars als Lyras,“ sagte Nalani schroff, „Wenn du von deiner Sippe mehr hier haben willst, musst du wohl ein paar fähige Söhne zeugen, du Meckerpott.“

„Ach, ignorieren wir ihn, wir sind schließlich kein Telepathenrat, der alles demokratisch klärt… ich bin der Kopf des Rates, ich bestimme,“ meinte Tabari und setzte sich so über Henac Emo hinweg, auf den ohnehin keiner hörte. Der Jüngere schnaufte.

„Na, besten Dank für deine Weitsicht, Herr der Geister.“

„Wie jetzt, und wann passiert das?“ fragte Puran verblüfft, „Wenn ihr schon über meinen Kopf hinweg entscheidet, dass ich das mache…“ Er fragte sich insgeheim, ob das richtig war… und ob er das, was in seinem Inneren so lauerte, wirklich bändigen konnte. Auch wenn Ruja zuversichtlich war, war er skeptisch.

„Wir erholen uns erst mal von dem Gemetzel heute, da wir Keisha haben, die sich auskennt, müssten zwei Tage dafür reichen,“ meinte Nalani, „Das heißt, in drei Tagen fangen wir an mit der Isolation.“
 

„Du musst drei Tage weg und alleine durch die Gegend laufen?“ Leyya machte ein besorgtes Gesicht, während sie mit der Hausherrin zusammen in der Küche saß und ihr dabei half, Gemüse zu schneiden für das Abendessen. Die meisten Männer waren jetzt damit beschäftigt, den Zaun des Dorfes zu verstärken, aber Puran hatte man gesagt, er sollte sich lieber ausruhen, was ihm eigentlich entgegen kam. So saß er jetzt etwas gelangweilt bei den beiden in der Küche und hatte ihnen gerade erklärt, was in drei Tagen auf ihn zukäme.

„Ja, so ist das,“ meinte er und gähnte. „Aber das ist noch das Leichteste… danach werde ich gegen einen der anderen Geisterjäger antreten und ihn besiegen müssen, das wird harte Arbeit.“ Leyya keuchte und verlor die Karotte aus der Hand, die sie hatte schneiden wollen.

„Richtig kämpfen?“ machte sie entsetzt, „A-auf Leben und Tod?!“

„Ach, Unsinn…die werden schon aufpassen.“

„Und wer wird dein Gegner sein?“ wunderte sich die ältere Frau und schnitt emsig weiter, „Ich meine, wenn dein Vater der Herr der Geister ist, ist er der vermutlich mächtigste Schamane des Zentrums, oder zumindest Kisaras…“

„Na ja, mein Vater ist als Oberhaupt des Rates davon ausgeschlossen. Aber es wäre genauso schlimm, wenn es meine Mutter erwischt… das wird ausgelost, glaube ich. Hoffentlich überlebe ich das…“ Als er Leyyas Gesichtszüge darauf entgleisen sah, musste er leicht grinsen. „Ach, hab keine Angst, das wird schon. Irgendwie… hoffe ich.“

„Und wenn du den Kampf bestehst, bist du auch ein Geisterjäger?“ fuhr die Frau fort und er nickte dumpf. Ja… das wäre wohl so. Eine seltsame Vorstellung, plötzlich mit seinen Eltern auf einer Stufe zu stehen… plötzlich da hinzukommen, wo er als Kind niemals hatte hinkommen wollen.

Seine inoffizielle Liebhaberin hob grinsend den Kopf von ihrem Gemüse und sah ihm ins Gesicht.

„Viel Glück,“ meinte sie leise. „Wenn du deine Arbeit diesbezüglich nur halb so gut machst wie das, was du letzte Nacht gemacht hast, wirst du keine Probleme haben.“ Das war sehr direkt gesprochen und er errötete erschrocken und war froh darüber, dass Leyya noch so klein war und vermutlich nicht verstand, worum es ging – so glaubte er, die kleine Heilerin wusste ziemlich gut, worum es ging, und sie verzog jetzt das kleine Gesicht. Da hatte er also in der Nacht gesteckt, und sie hatte sich Sorgen gemacht… während die beiden Älteren weiter redeten, beachtete die Kleine ihre Gemüse nicht weiter und irgendetwas in ihr fühlte sich aus irgendeinem Grund plötzlich verletzt, sie wusste selbst nicht, was es war…

„Ich wünsche dir auch Glück, Puran,“ wisperte sie dann betreten, aber sie sprach so leise, dass die anderen sie nicht gehört hatten und ihr niemand antwortete.
 

„Warum willst du lügen, Tabari?“

Nalani stand bis zu den Knien im Fluss mit kaum mehr an als ihrer Unterwäsche und wusch das Blut vom Kampf aus ihrer Kleidung, während ihr Mann am Ufer saß und bei ihrem Anblick anderes im Kopf zu haben schien als das, was wichtig war. Sie stöhnte. „Tabari, hörst du mir zu?!“

„Was, äh, ja, klar,“ machte er dumm lachend und errötete etwas, als er auf ihre nur dürftig bedeckten Brüste sah und ihm gleich ganz anders wurde. Das Korsett, das sie aus Dokahsan mitgenommen hatte, war natürlich durch dauerhaftes Tragen längst kaputt gegangen und so hatte sie sich stattdessen als Halterung nur einfache Stofflappen um den Oberkörper gebunden. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sie ihm Wasser ins Gesicht trat.

„Hallo, ich rede mit dir!“ Er fuhr auf und meckerte erst einmal, weil er jetzt nass war, dann zeigte er ihr, dass er offenbar doch zugehört hatte:

„Denk doch mal, Nalani, was glaubst du, ist hier los, wenn du erzählst, dass sie unter Umständen gezielt hinter uns her sind? Was du gesagt hast, was dieser Heerführer so von sich gegeben hat, bestätigt unsere Vermutung dessen ja nur. Wir sind vermutlich die einzigen, die den Zuyyaner Widerstand geleistet haben und sogar eine Kompanie geschlagen haben, sie werden jetzt alles tun, um uns aus dem Weg zu räumen.“

„Das weiß ich,“ machte die Frau und zog ihren Rock aus dem Wasser, um ihn auszuwringen, ehe sie zu Tabari ans Ufer kam und sich in Unterwäsche wie sie war neben ihn setzte. Ehe sie weiter sprechen konnte, legte er schon ganz zufällig einen Arm um sie und zog sie etwas dichter an sich heran. „Deswegen meine ich doch, dass wir so schnell wie möglich hier verschwinden sollten, um die Leute nicht in Gefahr zu bringen! Wir können ihnen das nicht verschweigen… sie denken, sie sind mit uns gerettet, dabei kam die Gefahr für sie erst mit uns her…“

„Wir gehen so schnell wie möglich, Nalani,“ versprach ihr Gemahl ihr murmelnd, „Ich wollte nur… ich weiß, es ist irgendwie egoistisch, aber, denk doch an Ruja und das Baby. Hier im Dorf kann sie es sicher und in Ruhe gebären, wie soll das gehen, wenn wir jetzt aufbrechen und herum wandern? Ihr Bauch wird in wenigen Monden kugelrund sein und sie wird langsam sein im Gehen. Und am besten bekommt sie ihre Wehen mitten in einem Kampf oder so. Ich will aufbrechen, sobald Ruja und ihr Kind gesund und munter sind und sie stark genug ist, um weit zu gehen.“ Die Frau seufzte leise und legte den nassen Rock in die Kiesel am Ufer zum Trocknen, als Tabari sie fester umarmte und sie spürte, wie er ihren Hals zu küssen begann.

„Ja, das sehe ich ein… lass das…“ seufzte sie und versuchte energisch, ihn wegzuschieben, „Tabari, ich habe ein schlechtes Gewissen, diese Leute hier so in Gefahr-… Mann, hörst du zu?!“ Sie stöhnte empört, als er sie plötzlich umwarf und sich über sie rollte.

„Nein, jetzt nicht, wenn du so halb nackig vor mir herum rennst, musst du damit rechnen…“

„Lustmolch,“ brummte sie kalt, ließ aber zu, dass er sie küsste und mit den Händen begann, an ihrer Unterwäsche zu nesteln. Hauptsache, es kam niemand zufällig vorbei…
 

Leyya erwachte mitten in der Nacht durch ein Knarren des Holzbodens. Als sie müde den Kopf hob, sah sie die Zimmertür zu fallen und war sofort wach. Was war das gewesen? War jemand herein gekommen? Ein Blick auf die Matte neben ihr, die leer war, verriet ihr, dass stattdessen jemand hinaus gegangen war – Puran war nicht da. Die Kleine zog etwas unglücklich die Beine an. Plötzlich spürte sie das Bedürfnis, sich dicht an ihn zu kuscheln, wie sie es in der Höhle in den Bergen nachts oft getan hatte, besonders im Winter. Es war so schön warm gewesen… jetzt war es zwar heiß, weil Sommer war, aber sie wollte trotzdem kuscheln… leider war ihr verehrter Retter seit einer Weile nicht mehr davon angetan, mit ihr zu kuscheln, erst recht nicht mehr, seit sie in Iter waren.

Sie schnaufte beleidigt. Nachdem sie etwas gewartet hatte und er nicht zurückgekommen war, fragte sie sich, wo er stecken mochte… ihr fiel die Hausherrin ein und ihre Miene verbiesterte sich, ehe sie sich aufsetzte und tapfer beschloss, ihn zu suchen. Als sie die Tür erreicht hatte, wurde sie aufgehalten.

„Lass ihn, Leyya. Du wirst es verstehen, wenn du älter bist.“

Es war Nalani, die leise geflüstert hatte, und das kleine Mädchen drehte sich bedrückt zu ihr um.

„Du weißt, wo Puran hingeht?“ flüsterte sie zurück.

„Natürlich. Er ist mein Sohn, ich bemerke Dinge, die ein Außenstehender nicht sehen würde, wenn ich ihn beobachte. Sei ihm nicht böse… er ist erwachsen. Erwachsene brauchen das ab und zu.“ Die kleine Heilerin schmollte. „Ich sage ja, du verstehst das, wenn du eine Frau bist. Eines Tages wirst du einen Mann haben und dann auch sowas tun.“

„Aber die Herrin ist gar nicht Purans Frau…“ Nalani lächelte leicht.

„Du kannst zu uns kommen, wenn du magst, Leyyachen. Bei Tabari und mir ist genug Platz.“ Damit schlug sie ihre Decke zurück, um das kleine Mädchen über sie auf ihr Lager krabbeln zu lassen, wo sie sich zwischen Nalani und ihren Mann kuschelte. Tabari wachte dabei auf und blinzelte verwundert.

„Ach, und ich habe gerade geglaubt, meine Frau sei geschrumpft…“ Nalani verdrehte die Augen und legte mütterlich einen Arm um das Mädchen, das sich glücklich an sie schmiegte. Das war ein schönes Gefühl, von beiden Seiten gewärmt zu werden, als Tabari sich auch wieder zu ihnen drehte und seinerseits begann, Nalanis Arm zu streicheln, der um Leyyas Körper lag.

„Seit… ich bei euch bin, habe ich das Gefühl, ich habe… eine echte Familie,“ nuschelte die Kleine dann und die Erwachsenen warfen sich einen gerührten Blick zu, besonders Nalani nahm dieser Satz mehr mit, als sie zugegeben hätte. Tabari sah sie leicht erzittern, als sie ihren Arm von Leyyas Taille hob und ihr zärtlich durch die Haare strich. Es war wie vor Jahren, als sie den kleinen Puran bei sich im Bett hatten schlafen lassen… nur hatten sie dieses Mal ein kleines Mädchen.

„Wir werden eine Familie für dich sein, Leyya, wenn du es möchtest,“ wisperte Nalani, ihr Mann stellte fest, wie erstaunlich brüchig ihre Stimme mit einem Mal war, und er musste lächeln. „Ich würde… mich sehr freuen, eine Familie für dich sein zu können, kleine Leyya.“

Sie beherrschte sich noch, um nicht zu weinen, aber Tabari wusste, dass dazu nur wenig gefehlt hatte… er kannte seine Frau.

„Ich vermisse Kiuk, Sukutai und Alona,“ murmelte die Frau leise, als Leyya zwischen ihnen eingeschlafen war. „Ich denke, die Geister würden uns nicht vorenthalten, wenn ihnen etwas Ernstes zugestoßen wäre, oder?“

„Ich hoffe es,“ machte ihr Mann, „Ich weiß nicht… sie haben mir schon oft Sachen verschwiegen oder ich war zu dumm, um die Visionen zu deuten… oder beides. Ich sorge mich ernsthaft, ich meine… wenn selbst Kohdars und Emo hier sind, warum sind Kiuk und Sukutai nicht hier? Vielleicht haben sie Meorans Feder nie bekommen, aber… ich meine, irgendwo müssen sie doch sein…!“ Nalani beschwichtigte ihn vorsichtig.

„Shh… ja, gewiss. Sie werden leben und eines Tages werden wir sie wiedersehen. Dafür bete ich zu allen Geistern, die mich anhören wollen. Tu du dasselbe, dann… wird es vielleicht schon bald sein.“
 

Im Morgengrauen weckte ein merkwürdiges Ereignis das Aufsehen der Wachen am Turm. Zwei Menschen kamen auf das Dorf zugelaufen und schienen keinerlei Anstalten zu machen, anzuhalten.

„Wer sind die denn? Reisende um so eine Tageszeit?“

„Späher der Zuyyaner, knallt sie ab,“ schnaufte einer der Wachmänner im Turm und gab den Befehl zum Schuss. Der Pfeil aus dem Wachturm hätte die beiden komischen Vögel problemlos getroffen, aber im letzten Moment blitzte die Hand des einen plötzlich auf zerschmetterte den Pfeil.

„W-was…?!“ japste der Schütze oben entsetzt, „Was machen die mit meinem Pfeil?!“

„Schlag im Dorf Alarm, rasch!“

Der Gong ertönte und als die beiden in dunkle Mäntel gehüllten Gestalten den Zaun erreichten, bestand ihr Empfangskomitee aus einem Dutzend bewaffneter Bauern aus Iter. Sie bedrohten sie mit großen Messern und Speeren. Der kleinere der beiden Menschen trat keuchend einen Schritt hinter den größeren, besagter hob die Hände zur Abwehr.

„Keine Angst, wir sind keine Zuyyaner und wollen eurem Dorf nichts tun! Ich habe eine Botschaft, lasst mich ein!“ Daraufhin sahen die Bauern sich verblüfft an.
 

„Herr, wacht auf! Rasch, es ist wichtig!“ Tabari hustete perplex, als die Hausherrin an ihm rüttelte und ihn samt Nalani und Leyya aus dem Schlaf riss.

„Was ist denn jetzt passiert?“ wollte er wissen und setzte sich auf dem Lager auf. Leyya rieb sich die Augen. Die Frau räusperte sich.

„Verzeiht die Störung, aber es sind Menschen gekommen, sie wollen den Herrn der Geister sprechen, umgehend.“ Tabari warf Nalani einen Blick zu.

„Was denn, was für Menschen?“

„Ich habe sie nicht gesehen, der Sohn des Hirten kam eben und sagte mir, ich solle Euch holen. Es sollen zwei sein, die kamen im Morgengrauen her und sitzen jetzt in der Taverne.“ Die Magier sahen sich abermals an, ehe sich alle drei erhoben und sich flink fertig anzogen, um gemeinsam das Zimmer zu verlassen. In der Stube trafen sie auf Puran, der erstaunlicherweise schon wach war.

„Hast du die Fremden gesehen?“ fragte Tabari seinen Sohn überflüssigerweise und der seufzte und fuhr sich durch die definitiv ungekämmten Haare.

„Nein, ich habe es auch gerade erst gehört, ich habe doch geschlafen… ich komme mit euch, Vater.“ Er sah auf Leyya, die ihn irgendwie keines Blickes würdigte und sich an Nalani klammerte, was ihn verwunderte. Was war der denn über die Leber gelaufen?

In der Taverne war morgens kein Mensch, so waren die Fremden schwer zu übersehen, die als einzige an einem Tisch saßen und vor sich Krüge mit Ziegenmilch hatten. Sie hatten die Kapuzen ihrer Mäntel abgenommen und Tabari und die anderen erkannten einen jungen Mann mit schwarzen Haaren und ein sehr junges, blondes Mädchen, aber immerhin älter als Leyya, vermuteten sie.

„Ah,“ machte der Mann und winkte gut gelaunt, als er die Schamanen in die Taverne kommen sah. „Ihr seid also der große Tabari Lyra, der Herr der Geister?“

„Fangen wir doch lieber bei dir an, Bursche, wer bist du?“ fragte Tabari verblüfft zurück. Etwas Gepolter hinter ihnen ließ sie herumfahren. Meoran, Kohdars und Henac Emo waren ebenfalls gekommen, mit ihnen der Dorfälteste und der sehr erschöpfte Sohn des Hirten, der durch das halbe Dorf gerannt war, um alle zu holen.

„Was für ein Radau am Morgen, ist ja fürchterlich!“ entrüstete der Meckerpott Emo sich sogleich, „Ich hoffe, was du zu sagen hast, ist etwas wert, du komischer Knilch.“ Er fixierte missmutig den Fremden und das blonde Mädchen. Der Fremde trank in Ruhe seine Ziegenmilch aus und schien alle Zeit der Welt zu haben, es schien ihn auch nicht zu stören, dass die Gesichter der unausgeschlafenen Ratsmitglieder immer grantiger wurden.

„Toll, sind jetzt alle Geisterjäger da oder fehlt noch jemand?“ fragte er heiter. Nalani seufzte.

„Wir sind alle da, sag uns deinen Namen, Junge.“

„Mein Name ist Neron Shai!“ kam er ihrer Forderung brav nach und grinste, „Ich bin gekommen, weil die Geister mir gesagt haben, wo ich euch finden könnte.“

„Das tun sie mitunter,“ bemerkte Tare Kohdar stirnrunzelnd. Der Kerl mochte nur wenig älter als Puran sein. „Warum wolltest du uns finden, Neron Shai?“ Der Angesprochene grinste ihn an.

„Um euch zu bitten, mich die Prüfung machen zu lassen und eurem Rat beizutreten.“
 

Er erntete eisernes Schweigen und bestellte sich in der Zeit eine neue Ziegenmilch.

„Und, habt ihr sowas wie gebratenen Speck? Wäre großartig, ich mag euch Bauern,“ sagte er zu dem Wirt, der reichlich verwirrt dreinschaute. Dann sprach Meoran.

„Du willst was?“

„Ah, Ihr habt Eure Sprache wiedergefunden. Ich will die Prüfung machen, die Geisterjägerprüfung. – Wollt Ihr auch frühstücken?“ Nach frühstücken war gerade niemandem zumute. Henac Emo fing dämlich zu lachen an.

„Wie bitte?!“ höhnte er, „Du Knilch tauchst hier auf, stopfst dich mit Speck und Ziegenmilch voll und willst Geisterjäger werden? Was denkst du, wer du bist? Das ist doch kein Zirkus, der neue Söldner sucht!“

„Nein, denke ich auch nicht. Ihr glaubt mir nicht?“ Der Schwarzhaarige kratzte sich am Kopf und warf einen Blick auf seine Begleiterin. „Was meinst du, klang ich, als würde ich scherzen, Saja?“ Das junge Mädchen lächelte nur gezwungen in Richtung der anderen und schüttelte dabei wortlos den Kopf.

„Ehrlich gesagt ist… es etwas seltsam, dass du hier aufkreuzt, fröhlich einher spazierst und nebenbei behauptest, du wolltest in unseren Rat, Neron Shai,“ wagte Tabari jetzt auch, sich zu räuspern. „Ich fürchte, du unterschätzt das, ohne dir zu nahe treten zu wollen. Wie alt bist du?“

„Zwanzig geworden dieses Jahr,“ erklärte der Jüngere fröhlich, „Und keine Sorge, ich behaupte frei heraus, die Prüfung ohne Probleme schaffen zu können.“

„Wer’s glaubt,“ machte Tare Kohdar spöttisch und Henac Emo kriegte sich vor Lachen kaum noch ein.

„So ein Depp, darf ich dem eine in die Fresse hauen?!“

„Reiß dich am Riemen, Emo,“ machte Nalani gelassen, „Was weißt du von ihm? Vielleicht ist er ja so ein toller Hecht, wie er gerade behauptet. Was spricht dagegen, ihn es versuchen zu lassen? Wo Puran ohnehin übermorgen aufbrechen wird, kann der da ja gleich mitmachen.“

„Ach, ich bin nicht der Einzige? Ist ja toll, wer macht denn noch mit?“ Puran räusperte sich verhalten.

„Ich bin Puran, freut mich auch.“

„Großartig, ich freue mich schon. Heißt das, ich darf in den Rat?“ fragte Neron Shai naiv und Meoran verdrehte die Augen.

„Nein, du darfst die Prüfung machen, in den Rat darfst du erst, wenn du die bestanden hast.“

„Meine ich doch.“

„Du hast sie aber noch nicht bestanden,“ bemerkte Barak Kohdar glucksend und Henac Emo stützte sich inzwischen vor Lachen an der Wand ab.

„Na ja, aber das werde ich, verlasst euch darauf, ich habe keinerlei Zweifel daran,“ erklärte der seltsame Mann und nickte zuversichtlich.

„Das kommt ganz darauf an, mit wem du es zu tun bekommst im Kampf…“ versprach Emo feixend, „Unser Chef bleibt dir ja erspart, aber seine Frau ist übel, ich fräße einen Besen, wenn du gegen die großartige Königin Nalani gewinnen würdest…“ Nalani warf ihm nur einen grantigen Blick zu, welchen der Mann mit seinem üblichen, höhnischen Grinsen erwiderte. Sie wollte gar nicht wissen, was dem jetzt durch den Kopf ging, wenn er sie so ansah, sie sah stattdessen wieder auf Neron und das Mädchen. Sie bekamen jetzt Speck und mehr Ziegenmilch und frühstückten in aller Ruhe.

„Also gut, wir werden ja sehen,“ sagte Tabari dann und gähnte, „Wenn du so darauf bestehst, komm übermorgen im Morgengrauen zum Tor von Iter, wir treffen uns da zum Beginn der Prüfung. Mal sehen wie viel von deinem lobenswerten Selbstvertrauen noch übrig ist nach drei Tagen Einsamkeit in der Wildnis.“
 

Leyya schmollte. Puran hatte keinen Schimmer, was mit ihr war, aber sie redete nicht mit ihm, als er versuchte, sie anzusprechen. Da er das nicht auf sich sitzen lassen konnte und wollte, drehte er den Spieß also herum und rannte jetzt ihr hinterher, als sie beleidigt durch das Dorf stapfte.

„Leyya, warte doch! Wohin willst du überhaupt?!“

„Du sagst mir auch nie, wohin du gehst, mitten in der Nacht,“ meckerte sie, „Ich wache auf und du bist nicht da, warum sollte es dich also scheren, wohin ich gehe?“ Er verdrehte die Augen.

„Ist das dein Problem? Dass ich gestern Nacht weggegangen bin?“

„Nicht nur gestern Nacht, schon öfter,“ meckerte das kleine Mädchen erbost, „Findest du es wichtiger, mit der Frau, bei der wir wohnen, perverse Spielchen zu treiben, als dich um mich zu kümmern?“ Sie wurde immer lauter und schrie absichtlich durch das ganze Dorf, was er so machte, worauf Puran verlegen errötete, als einige alte Frauen, die an ihnen vorbei gingen, verstohlen kicherten. Er verdrängte seine Verlegenheit, er musste sich nicht alles bieten lassen.

„Das hat mit dir nichts zu tun, Leyya, du bist ein Kind, du klingst wie eine eifersüchtige Ehefrau! Um ehrlich zu sein habe ich es verdammt noch mal satt, mit Kindern zu kuscheln, weil ich erwachsen bin, und du wirst in nächster Zeit sehr gut ohne mich auskommen müssen! Ich hab dich gern, aber du hängst zu viel an mir, du bist ja vollkommen besessen von mir!“ Er sah mit Bestürzen, wie sie in Tränen ausbrach.

„Ja, weil du der allerliebste und wundervollste Mensch der Welt bist… warst! Bis eben! Ich komme hervorragend ohne dich aus, ja, das werde ich beweisen!“ Damit strafte sie ihn mit einem bösen Blick und lief davon, er folgte ihr nicht mehr und raufte sich genervt die Haare. Was war mit der denn los? Wäre sie einige Jahre älter, würde er vermuten, sie hätte ihre Tage oder wäre schwanger, da aber beides ausgeschlossen war, konnte er sich ihr bescheuertes Verhalten, wie er fand, nicht erklären.

„Ach, die beruhigt sich wieder,“ wurde er plötzlich von der Seite angequatscht. Als er sich umdrehte, sah er am Gatter eines kleinen Schweinestalls Neron Shai und sein bisher stummes Mädchen stehen. Der Jüngere seufzte tief.

„Ich hoffe. Sie ist mitunter etwas schwierig.“

„Deine Verlobte oder so?“ riet der Schwarzhaarige fröhlich, „Na ja, kein Wunder, dass sie nicht kapiert, wenn du bis sie alt genug ist mit ´ner anderen Spaß hast…“ Puran schnappte abermals errötend nach Luft.

„Sie ist nicht meine Verlobte, keineswegs! Himmel! Sie ist, na ja, wir haben sie im brennenden Makar gefunden und mitgenommen, seitdem hängt sie eben an mir.“

„Ach,“ machte Neron verdutzt, „Wenn sie nicht diene Verlobte ist, ist doch egal, wieso regt sie sich auf?“

„Ja, keine Ahnung… p-pass auf, die Schweine…!“ Weiter kam Puran nicht, denn Neron schrie bereits selbst auf, als plötzlich ein paar Schweine ihre Rüssel durch das Gatter steckten und an seinem Mantel knabberten. Empört schnaubend riss Neron sich los und zerriss dabei den Mantel, das blonde Mädchen fing an zu lachen und Puran zog eine Braue hoch, während Neron fluchte.

„Verdammte Schweine! Ist ja furchtbar!“ Er zeterte noch eine Weile und überraschend sprach das blonde Mädchen jetzt Puran an.

„Das passiert ihm immer. Seit wir in Skelrod aufgebrochen sind, ist das der vierte Mantel, den er kaputt bekommt.“ Sie kicherte und Neron schnaubte.

„Ja, Saja, du findest das lustig!“ Sein Gegenüber blinzelte erneut.

„Skelrod? Ihr kommt also aus Noheema im Osten von Kisara?“ Er erinnerte sich an die Karte von Noheema aus der Schulzeit, Skelrod war eine große Stadt und soweit er sich entsann die Kreisstadt von Uldun.

„Ja,“ machte der Schwarzhaarige jetzt maulig und betrachtete den zerfetzten Mantel. „Na toll. Mal wieder einen neuen besorgen… unsere Eltern sind aber nicht mehr dort, meine sind inzwischen beide tot – sie waren ziemlich alt – und Sajas Mutter starb im Kindbett, ihr Vater ist vor einem Jahr abgehauen und hat sich nicht mehr blicken lassen, seitdem sind wir zusammen. Wir waren Nachbarn in Skelrod.“ Der Braunhaarige sagte nichts und war verwirrt, dass er so viel doch sehr schmerzhaftes so frei heraus erzählte, obwohl sie sich gar nicht kannten. Tischte der jedem seine Familientragödie auf, als wäre es ein Märchen zum Einschlafen? Puran fand das schaurig… allein der Gedanke an den Tod seiner Eltern ließ in ihm eine furchtbare Übelkeit aufsteigen vor Angst. Das ging nicht, seine Eltern konnten nie sterben! Sie waren Geisterjäger…

Doch, sie konnten. Und sie würden, das wusste er natürlich. Aber es schmerzte zu sehr, daran zu denken…

„Das tut mir leid,“ druckste er so nur nervös herum und wusste nicht, wie er mit den Informationen umgehen sollte.

„Schon gut,“ Neron kicherte. „Sie kommen nicht wieder, wenn wir Trübsal blasen! Also lass den Kopf nicht hängen.“ Es entstand eine drückend stille Pause.

„Ihr seid von Skelrod hierher zu Fuß gekommen?“ fragte Puran dann, das Thema wechselnd. Der Ältere nickte.

„Ja, zwischendurch haben wir einfache Arbeiten in Dörfern oder Städten übernommen, damit wir etwas Geld hatten und Streckenweise von Wagen mitgenommen werden konnten. Oder um mir neue Mäntel zu kaufen…“ Er hielt dem Jüngeren seine Hand entgegen und der sah verdutzt darauf. „Viel Glück, wollte ich dir wünschen. Für die Prüfung, meine ich. Ich glaube, wir schaffen es beide. Du bist doch der Sohn der Lyras, für dich dürfte das doch ein Kinderspiel sein.“ Puran errötete beschämt.

„Das… ähm… übertreiben immer alle. Der Name macht mich nicht toll. Absolut nicht, ich halte mich ehrlich gesagt nicht für geeignet, dem Rat beizutreten…“

„Warum willst du dann die Prüfung machen?“

„War nicht meine Idee, mein Vater will das. Würde ich ihm sagen, dass mir das gerade über den Kopf wächst, würde ich ihn beschämen-… diese ganze Sache mit Ehre und Anstand hat mich schon immer angekotzt.“ Er setzte ein gespieltes Lächeln auf und reichte Neron freundlich die Hand. „Aber dir wünsche ich auch Glück. Gerade, weil du nicht aus einem dieser alten, konservativen Clans kommst, die irgendwie ihre Rats-Dynastie machen, würde ich dir wünschen, dass du es schaffst.“
 

„Und? Was hältst du von den Fremden?“ wurde Puran in der Nacht gefragt, als er bei seiner vorübergehenden Liebhaberin lag und sie einander noch leicht außer Atem umarmten. Sobald Rujas Kind auf der Welt und sie wieder auf den Beinen wäre, würden sie Iter wieder verlassen, von daher würde es keine Beziehung auf ewig werden. Beide wussten das, keiner störte sich daran, sie genossen einfach das bisschen ruhige Zeit, das ihnen bleiben würde.

„Was, wieso?“ gluckste er und begann, ihr durch die Haare zu streicheln.

„Na ja, meinst du, der Kerl ist so ein toller Hecht, wie er behauptet hat?“

„Keine Ahnung, aber ich glaube, er ist ein netter Mensch. Vorhin haben wir uns kurz unterhalten auf der Straße. Sie sind aus Skelrod hierher gelaufen!“ Er addierte, als er von ihr einen verwirrten Blick erntete, „Das, ähm, ist eine Stadt in der Provinz Noheema.“ Er hoffte, dass sie wenigstens Noheema kannte – wie hatte ihm entgehen können, dass sie als Dorffrau wohl kaum so eine gute Ausbildung gehabt hatte wie er. Natürlich war seine Schule in Gahti auch eine Dorfschule gewesen, aber Iter war doch noch kleiner und ländlicher. Von den Menschen hier konnten vermutlich nur wenige lesen und schreiben.

„Ah,“ sagte die Hausherrin und lächelte kurz, ehe sie den Kopf senkte und er sie dichter an sich heranzog, sich über sie rollte und wieder begann, sie zu küssen. „Ach, was wird das denn…?“

„Na, was wohl…?“ brummte er über ihr und grinste, als sie ihn gespielt konfus ansah. Ohne zu antworten umschlang sie seinen Nacken und zog ihn in einen neuen, innigen Kuss.

„Verstehe, die letzten Nächte vor der Prüfung sollten wir ausnutzen, du wirst drei Nächte weg sein…“

„Ja, eben, mir graust schon davor.“

„Denkst du… es wird leicht? Ich meine, weil du doch… ah…“ Sie unterbrach sich unwillkürlich, als seine Hände zwischen ihre Schenkel glitten und ihr ein erregtes Seufzen entfuhr. „Weil du doch… der Sohn zweier Geisterjäger bist…“ Puran seufzte ebenfalls leise.

„Ehrlich gesagt, ich denke nicht, dass es leicht wird…“ Jetzt etwas aus dem Konzept ließ er von ihr ab, rollte sich kurzfristig wieder von ihr herunter und sah schweigend an die Decke. Sie drehte sich wieder zu ihm um. „Ich halte den Elan meines Vaters für übertrieben, ich meine… letzten Endes bin ich nur ein Mensch und… und…“ Er wusste nicht, was er sagen wollte.

Die Gefühle, die er bei den Gedanken an die Prüfung hatte, waren gemischt; er fürchtete sich davor, seine Eltern zu enttäuschen, es nicht zu schaffen, aber auch davor, was wohl werden würde, wenn er es schaffte. Er versuchte schon den ganzen Tag, in sich hinein zu horchen und herauszufinden, ob das seine Bestimmung war… ob das der Platz war, an den er gehörte. In dem Kampf gegen die Zuyyaner, als er diese mächtige Magie gerufen hatte, als das Innerste der geistigen Macht aus ihm herausgebrochen war wie aus einem ewig stabilen Käfig, hatte es sich richtig angefühlt… plötzlich hatte er gewusst, dass das der Wille der Mächte der Schöpfung war. Er war ein Schamane, er war dazu geboren, um die Geister zu rufen und sie zu beherrschen. Und er hatte sich jahrelang vor seinem Schicksal gefürchtet und versucht, davor zu fliehen… die Geister hatten recht behalten. Es hatte ihn wieder eingeholt… er konnte nicht fliehen.

Zum ersten Mal verspürte er nicht die übliche Verzweiflung bei diesem Gedanken, sondern akzeptierte den Willen der Himmelsgeister als das Schicksal, das ihm gegeben worden war. Das einzig Richtige war, das Beste daraus zu machen.

Mit diesem Entschluss drehte er sich wieder zu der hübschen Frau neben ihm um, rollte sich abermals auf sie und sah sie unter sich lächeln, ehe er sich über sie beugte und sie erneut küsste.
 


 

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Jah. Kurz und wenig Inhalt, aber Übergang eben xD

Geisterkind

Leyya starrte mit auf den Händen aufgestütztem Kopf nach Norden, als im Osten die Sonne aufging. Sie saß auf der Lehmstufe des Hauses, in dem sie seit einigen Wochen wohnten. Noch war im Dorf fast nichts los, wenige Menschen standen vor Sonnenaufgang auf; aber sie hatte schließlich etwas sehr Wichtiges zu erwarten. Summend beobachtete sie den Sonnenaufgang, sich nach Osten drehend, in dem Moment öffnete sich die Tür zum Nachbarhaus und die kleinen Kinder der Frau, bei der Meoran, Keisha und Ruja wohnten, kamen heraus.

„Du bist ja schon auf!“ wurde Leyya von ihnen begrüßt, und sie nickte, weiter summend. In den letzten drei Tagen hatte sie gezwungenermaßen mit den Kindern gespielt, da keiner der anderen Zeit für sie gehabt hatte… und es war eine schöne Ablenkung davon gewesen, dass Puran nicht da war wegen der Isolation vor dem Prüfungskampf… drei Tage lang war er jetzt fort.

Heute würde er zurückkehren, ebenso wie der fremde Mann namens Neron, dann würde es einen aufregenden Kampf zwischen den Geisterjägern geben, der entscheiden würde, ob die beiden Männer in den Rat aufgenommen würden. Leyya zweifelte ebenso wenig daran, dass Puran es schaffen würde, wie Neron Shai an sich selbst zweifelte. Es war Puran, er war der wunderbarste Mensch der Welt!

Die Freude in ihr darüber, ihren höchst verehrten Retter bald wiederzusehen, wuchs ins Unermessliche, als sie sich strahlend erhob und die Kleinen ebenfalls begrüßte.

„Heute ist ein wunderbarer Tag!“ erklärte sie ihnen wichtig, „Die Männer kehren heute zurück und die Prüfung wird beendet. Ich bin ganz aufgeregt!“ Die Kinder sahen sich groß an.

„Es gibt eine richtige Klopperei, habe ich gehört!“ rief der Ältere staunend, „Geht das richtig mit zaubern und so? Wie aufregend, glaubst du, wir dürfen zugucken?“

„Vielleicht!“ giggelte die kleine Heilerin aufgeregt, „Das müsst ihr eure Eltern fragen, oder vielleicht eher Tabari, er ist schließlich der Chef der Geisterjäger.“ Sie nickte wichtig mit dem Kopf und fuhr sich dabei ein paar Mal durch die Haare. Vor den kleinen Dorfkindern konnte sie zeigen, dass sie Ahnung hatte, denn die hatten überhaupt keinen Schimmer von allem, was Magie anbelangte. „Tabari ist der größte Schamane der Welt, genau!“ fuhr sie fort, worauf die Kinder beeindruckt schauten – ehe sie ein amüsiertes Gackern von hinten unterbrach. Meoran war flankiert von seiner Mutter und seiner schwangeren Frau ebenfalls aus dem Haus gekommen.

„Tabari ist sicher nicht der größte Magier der Welt… die Geisterjäger sind die Vertreter der Schwarzmagier in Tharrs Zentrum, das heißt nicht automatisch, dass nicht irgendwo Schamanen leben, die vielleicht stärker sind als wir. Tharr ist groß… im Osten hinter dem Schlangenmeer gibt es schließlich auch Magier.“ Alle sahen ihn groß an und Leyya errötete etwas beschämt über ihren Fehler.

„Aber die im Osten zählen nicht.“, behauptete sie dann trotzig, „Im Osten leben bösartige Kreaturen, sagt man!“ Jetzt blickten die Dorfkinder entsetzt und Ruja lachte leise.

„Wir werden mit den Ostländern auch nichts zu tun bekommen hier, hoffe ich, also keine Sorge! Geh, Leyyachen, weck Tabari und Nalani, es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen zum Treffpunkt – ich weiß doch, warum du schon so früh wach bist… du weißt, welcher Tag heute ist!“ Jetzt erstrahlte Leyyas Gesicht wieder, hastig verneigte sie sich und rannte ins Haus.

„Ja, der schönste Tag der Welt ist heute, Puranchen wird wieder kommen!“ johlte sie dabei und merkte nicht mehr, wie die Erwachsenen draußen verstohlen zu kichern begannen. Ruja strich sich über den gerundeten Bauch.

„Dafür, dass sie beide sich vor der Isolation neulich noch so angezickt haben, freut sich die Kleine aber extrem auf seine Rückkehr!“ machte Meoran belustigt, „Sie muss ihn ja schrecklich vermisst haben. Wirklich niedlich, wie sehr sie ihn ins Herz geschlossen hat.“

„Ins Herz geschlossen, du bist gut.“, seufzte Keisha neben ihm, „Was daraus wird, sobald sie einmal eine Frau geworden ist, dürfte ja allen klar sein.“
 

Aufgrund einer eventuellen Gefährdung des Dorfes oder dessen Einwohner hatten die Geisterjäger beschlossen, die Prüfung fernab von Iter auszuführen, an den östlichsten Ausläufern der Nosar-Berge. Dazu wanderten sie eine ganze Weile über Wiesen in die Richtung, aus der sie alle hergekommen waren. Ein paar Dorfbewohner hatten sich nicht abschütteln lassen und wollten unbedingt zusehen, darunter der Chef und die kleinen Kinder, mit denen Leyya gespielt hatte. Während der Reise kümmerten sich die Geisterjäger geschäftig um ihre Streichhölzer und Leyya ließ sich zusammen mit dem Dörflern von Ruja erklären, wie diese Prüfung ablief und was wichtig war. Als sie die Ausläufer der Berge erreichten, sahen sie schon aus der Ferne die beiden Prüflinge, gesund und munter, die da bereits warteten.

„Na endlich, und ich dachte schon, ich sollte hier Wurzeln schlagen.“, begrüßte Puran die Ankommenden verstimmt, der hektisch im Kreis herum gegangen war, während Neron Shai gemütlich auf einem kleinen Felsblock saß und trockenes Brot aß, das er offenbar als Proviant mitgenommen hatte.

„Na, dir geht’s wohl gut.“, machte Tabari an Neron gewendet, „Sitzt da am Schmausen, ist ja nicht zu fassen. Du glaubst wohl immer noch, du könntest es mit Leichtigkeit schaffen? – Im Gegensatz zu Puran…“ Er blickte stirnrunzelnd auf seinen Jungen, der jetzt schnaufend vor ihm zum Stehen kam und sich die in alle Richtungen abstehenden Haare raufte.

„Vater, ich bin empört!“ rief er, „Was mutest du mir zu, drei Tage in der Wildnis herum zu laufen, guck dir meine Haare an! Himmel hilf, ich will, dass wir es sofort hinter uns bringen, damit ich endlich meine Haare ordentlich machen kann, die bringen mich um! Ich sehe aus wie eine Pilzbürste! Das ist der Gipfel, Vater, ich schwöre!“ Er guckte noch grantiger, als er von allen anderen amüsiertes Gelächter hören musste. Wie bitte, die lachten ihn aus? Wenn die wüssten, seine Haare verfluchte er schon sein Leben lang, und was für eine Entehrung der Geister war es, dass er so dreckig und unordentlich zu einer Prüfung antreten musste?

Zu Purans Leidwesen schienen allen anderen seine zerzausten Haare egal zu sein, denn jetzt schob Nalani ihren Mann zur Seite, der sich vor Lachen kaum noch halten konnte.

„Ich hoffe, du hast in den drei Tagen auch an anderes gedacht als deine Frisur.“, bemerkte sie schnippisch, „Das wirst du brauchen, Sohn. Schön, dich gesund zu sehen.“ Der junge Mann seufzte nur und raufte sich maulend und meckernd die Haare. Die anderen gackerten immer noch… kein Wunder, so, wie er aussah, fand er entrüstet. Sein Blick fiel auf die hübsche Ruja, seine alte Flamme, die ebenfalls kicherte und Leyya an der Hand hielt, und er errötete leicht. Na toll, dass sie ihn so sah, wie er wie eine Pilzbürste aussah.

„Wie auch immer.“, riss Tabari wieder das Wort an sich, als auch Neron fertig mit Frühstücken war und herüber kam. „Wir fangen jetzt an. Jeder von euch beiden wird einen Kampf bestreiten. Regeln sind klar, noch mal zum Mitschreiben, an sich gibt es keine. Ihr werdet euren Gegner nicht töten, das wäre ziemlich kontraproduktiv. Bestanden habt ihr, sobald ihr wenigstens ein Unentschieden erzielt. Wir haben eure Gegner auf dem Weg hierher ausgelost, ansonsten wünsche ich euch beiden Glück.“ Er trat zurück, ebenso taten es die anderen, und Keisha und Ruja lotsten die Schaulustigen in weitere Entfernung, da die Zauber, die zu Tage treten würden, durchaus Fläche beanspruchen würden und zu nahes Beistehen gefährlich sein könnte.

Tabari streckte den Arm aus und nickte zu seinem Sohn herüber.

„Du fängst an, dich haben wir zuerst als Anwärter ausgewählt, sozusagen, Neron ist nach dir dran. Dein Gegner ist Emo. Du weißt, was du zu tun hast.“ Puran machte große Augen und sein Blick wanderte zu Henac Emo, der diebisch grinste, als hätte er sich sein Leben lang auf diesen Tag gefreut.

Ausgerechnet der, dachte der Jüngere sich verblüfft, Wobei, besser er als Mutter oder Meister Meoran-… bei ihm habe ich wenigstens kein schlechtes Gewissen, wenn ich ihm die Fresse polieren muss…

„Halt!“ empörte Nalani sich noch, als die anderen schon in sichere Entfernung trotteten und die Kontrahenten sich einander gegenüber aufstellten.

„Was ist noch?“ wollte Tabari wissen. Seine Frau verdrehte die Augen.

„Wir haben keinen Schiedsrichter, du Obertölpel!“

„Welch liebevolle Bezeichnung.“, murmelte der Dorfchef hinten in Keishas und Rujas Richtung. Letztere lachte nervös.

„Ähm, ja, sie sind ein Herz und eine Seele, auch, wenn es nicht so aussieht.“

„Ich würde es lieber Feuer und Flamme nennen, das klingt anrüchiger.“, addierte ihre Schwiegermutter und Ruja sah sie entrüstet an.

„Oh, ja, Schiedsrichter!“ bemerkte Tabari jetzt auch schlau und kratzte sich am Kopf. „Ich darf das ja dieses Mal nicht-…“

„Warum darf er nicht?“ wunderte Leyya sich, „Der Herr der Geister macht das doch immer?“

„Nein, nicht, wenn einer der Gegner ihm sehr nahe steht… Puran ist sein Sohn, er könnte Gefahr laufen, für ihn Partei zu ergreifen, das wäre nicht rechtens.“, war Keishas Antwort. Die Frauen blickten wieder zum Rat der Geisterjäger.

„Dann mach ich es.“, kam es dann von Meoran und Barak Kohdar zur selben Zeit, beide sahen sich kurz verdutzt an, dann schnaubte Meoran:

„Hey, du hast nur ein Auge, wie willst du alles sehen, Barak?“ Der andere konterte giftig:

„Du bist sein Lehrmeister, du bist genauso parteiisch wie Tabari, das hat doch wenig Zweck!“

„Wie bitte, zweifelst du an meinem Urteilsvermögen?!“ keuchte Meoran erbost, doch ehe die beiden sich tatsächlich streiten konnten, ging der Herr der Geister dazwischen.

„Seid ihr verrückt, was ist denn mit euch los?! Gut, Hakopa macht es, dann seid ihr beide raus, er ist der Älteste und verdient die Ehre damit.“

„Du meinst Arbeit.“, erwiderte Tare Kohdar gelangweilt, der sich hütete, sich um den Posten zu reißen. Meoran und Barak inzwischen verneigten sich demütig voreinander.

„Entschuldige.“, fing der Jüngere der beiden an, „Ich respektiere dich, Barak, ich weiß auch nicht, was das sollte… der Krieg macht aus vernünftigen Menschen Monster, fürchte ich.“

„Das ist wohl wahr, mir tut es auch leid. Gehen wir nachher zusammen Tee trinken?“

„HALLO?!“ brüllte Puran aus der Ferne herüber, „Einigt euch, ich will endlich meinen Kamm und einen Spiegel!“

Jetzt vergaßen alle das Tohuwabohu und nach einer Weile waren endlich alle da, wo sie hingehörten. Hakopa Kohdar stand etwas näher am Geschehen, um alles beobachten zu können, und er gab das Zeichen zum Angriff.
 

Puran war noch nicht einmal fertig damit, sich zu fragen, was er jetzt wohl am besten täte, da schnellte sein Gegner mit einem Mal auf ihn zu und bewarf ihn schnell wie ein Blitz mit einer Handvoll Wurfnadeln. Der Jüngere fuhr keuchend zurück und spürte einen stechenden Schmerz in seinem linken Oberarm und seiner rechten Schulter, hauchfein punktiert, aber er wurde immer stärker und ließ auch nicht nach, als er die dünnen, aber sehr stabilen Nadeln aus seinem Körper zog.

„Geht’s noch?“ meckerte er dann unverblümt in Emos Richtung, der über ihn hinweg gesprungen war und jetzt grinsend auf einem Felsen in der Nähe stand. „Was zum Geier?! Ich bin noch gar nicht wach, verdammt!“

„Na, dann wird es aber Zeit.“, machte der Schwarzhaarige und pustete sich einige in der Tat lang gewordenen Strähnen aus dem Gesicht, „Sei froh, dass das Gift in den Nadeln nur schmerzhaft ist und dich nicht lähmt oder gar tötet, aber ich soll dich ja am Leben lassen…“ Der Jüngere schnaufte empört. Gift, na großartig. Und töten, noch großartiger, seine Mutter hatte völlig recht, dieser Mann war ein gestörter Sadist… er verdrehte missmutig die Augen und zog unbeholfen seine zwei Schwerter aus dem Gürtel. Emo fing darauf an zu lachen.

„Neiiin.“, machte er theatralisch, „D-du meinst das nicht ernst und willst mit Schwertern auf mich losgehen! Oh, Puran, komm, mach einen Punkt, du enttäuschst mich…“

„Was erwartest du denn?“ entgegnete der Angesprochene kalt, „Dass ich sofort meine Trümpfe aus dem Ärmel ziehe und mir am besten ins Gesicht male, was ich gut kann und was du fürchten solltest? Ich denke, ich soll dich besiegen, dann komm mal her und steh nicht Töne spuckend auf deinem Stein da herum!“

Er selbst zweifelte mehr an seinen großkotzigen Worten, als es sich angehört haben musste, bemerkte Puran betreten, denn sein Gegner machte ein finsteres Gesicht und verzog dann amüsiert den Mund zu einem diabolischen Grinsen.

„Ganz wie du willst, Prinz Lyra… dein Wunsch ist mir Befehl!“ Und mit diesen Worten sprang er in die Luft und warf abermals mit Nadeln, dieses Mal waren es mehr. Puran war jetzt darauf gefasst, beworfen zu werden, und blockte bis auf eine, die in seinem Rücken landete, alle mit seinen Schwertern ab, sodass sie klirrend gegen die Klingen stießen und zu Boden fielen. „Deine Waffen werden dir bald nichts mehr nützen!“ empörte der Geisterjäger sich, landete auf der Erde und fuhr herum, mit einer einzigen Bewegung seiner Hand ließ er aus einem dunklen Nebel eine ganze Horde von Nadeln auftauchen, die er sogleich auf sein Gegenüber schleuderte. Wie eine schwarze Wand sah Puran die Dinger auf sich zu kommen, und keuchend sprang er zurück, auf einen Felsen und hoch in die Luft, um den meisten Nadeln auszuweichen. Einige schlug er mit den Schwertern zurück, aber die obersten konnte er nicht mehr aufhalten und fuhr noch im Sprung wieder herum, damit wenigstens sein Gesicht verschont blieb und die Nadeln nur seinen Rücken durchbohrten. Keuchend landete er wieder auf dem Boden und taumelte, als der Schmerz mehr zunahm. Doch er kam kaum dazu, Luft zu holen, da kam die nächste Wand aus Nadeln und Schatten auf ihn zu, dieses Mal von der anderen Seite. Von irgendwo hörte er Emo dreckig lachen.

Verdammt, das… ist nicht komisch! dachte der Jüngere angesäuert und riss die Schwerter wieder hoch, um sie dann in seinen Gürtel zurück zu stecken. Das hat ja überhaupt keinen Zweck auf diese Weise… hach, wie ich das hasse! Ich will nur einen Kamm und eine Tasse Kaffee!

Oh ja, Kaffee vermisste er unglaublich, seit er aus Dokahsan weg war… mit diesen Gedanken hob er die Arme wieder und mit einer ausschweifenden Bewegung seiner Hände schleuderte er Emos Nadeln einen gleißenden Blitz entgegen, der die dunkle Wand traf und wie eine gewaltige Schwertklinge aus purer Magie zerfetzte, sodass sie in abertausende von Splittern zersprang und die Nadeln in alle Himmelsrichtungen davon flogen.

Emo kicherte.

„Ah… jetzt wird es interessant, du Amateur!“ Der Jüngere fuhr herum in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, aber der Gegner war verschwunden. Er drehte sich einmal im Kreis herum, aber nirgends war er zu entdecken. Nach Luft schnappend wandte sich Puran den Felsen der Nosar-Berge zu, zweifelsohne hatte Emo sich hinter einem davon verkrochen und spielte tot, oder so… doch zu seiner Empörung kam plötzlich wieder ein Schatten auf ihn zu, aber nicht von den Felsen, sondern von hinten, er wirbelte abermals herum und zerschmetterte die Nadeln mit einer Katura, in dem Moment traf schon wieder eine kleine Ladung Nadeln seinen Rücken. Er hörte von irgendwo Emos Lachen, als er wieder Luft holte und mit aller Macht versuchte, die Schmerzen zu ignorieren. Was war das für ein Mistkerl, wieso löste er sich in Luft auf und war auf allen Seiten zugleich? So schnell konnte doch kein Mensch sein… Er blieb murrend stehen und zerrte die Nadeln aus seinem Rücken, ehe er die Hände wieder hob und sich heftig atmend umsah. Von seinem Gegner war keine Spur.

„Was ist?“ kam seine Stimme wieder aus dem Nichts, „Verwirrt? Na, du bist ja ein toller Geisterjäger…“ Und der Jüngere kam gerade eben zum kurzen Verschnaufen, da kam schon der nächste Schatten über ihn.
 

„Er nimmt ihn ganz schön hart ran…“ brummte Nalani im Hintergrund, die mit den anderen das Geschehen beobachtete, wie ihr Sohn gehetzt wie ein Beutetier hin und her sprang, herumfuhr und alle Angriffe Emos mit Windmessern zerschlug. „Leicht macht er es ihm jedenfalls nicht… ich habe geahnt, dass das so ausartet, Tabari, wenn er zu weit geht, musst du das unterbrechen!“

„Nichtsda.“, sagte ihr Mann erstaunlich nüchtern, „Das ist jetzt in Hakopas Händen als Schiedsrichter. Wenn er denkt, er übertreibt, wird er einschreiten, nicht ich. Die Geister haben entschieden, dass es Emo sein soll, also muss Puran mit ihm fertig werden.“

„Hey, willst du wetten?“ grinste Meoran ihn von der Seite an, „Das ist dein Sohn, der schafft ihn mit links!“

„Ich wette doch nicht gegen meinen eigenen Sohn, du Idiot!“ empörte der Blonde sich, „Wette mit den Bauern aus Iter, Meoran!“
 

Ein weiterer Hagel aus Giftnadeln und Puran stolperte geschwächt von den Schmerzen und dem ewigen Herumrennen über einen Stein und stürzte zu Boden. Keuchend versuchte er, sich so schnell wie möglich wieder aufzurappeln, aber seine Beine wollten nicht so wie er. Als er japsend auf seinen rechten Oberschenkel fasste, fühlte er warmes Blut unter seinen Händen, das bereits seine Hose durchtränkte. Die Nadeln hinterließen kleine, aber viele Wunden, er fühlte sich inzwischen wie ein Sieb.

„Verdammt, das… ist nicht alles!“ zischte er empört über sich selbst, „Dieser verdammte Dreckskerl muss doch irgendwo sein!“ Genau als er das vor sich hin fluchte, tauchte der Gegner direkt vor ihm auf. Puran rappelte sich jetzt erfolgreich hoch und riss alarmiert die Hände hoch, die grünen Augen zu finsteren Schlitzen verengt. „Ah, er gibt sich also die Ehre!“

„Gibst du schon auf, Prinz Lyra?“ gackerte der Ältere und schüttelte seine Hände aus, „Wenn das dein großes Talent sein soll, von dem alle reden, frage ich mich, ob Meoran blind, taub und dämlich im Kopf ist, dass er dich für etwas Besonderes gehalten hat…“

„Dann glaube das, ich gebe nicht auf.“, entgegnete Puran sachlich und putzte sich etwas Dreck von der Kleidung. „Spiel nicht mit mir, Henac Emo, sieh mir in mein verdammtes Gesicht und greif mich an wie ein Mann, und nicht wie ein Feigling, der sich versteckt!“

„Es geht hier nicht um Ehre, das ist eine Frage der Strategie, Puran. Und meine ist es nun mal, mich zu verstecken, es wäre ziemlich dumm von mir, es nicht zu tun… aber gut… wie du willst.“ Emo trat ein paar Schritte zurück und hob die Arme bedrohlich langsam wieder in Purans Richtung. „Ich höre zu spielen auf und mache jetzt Ernst.“

Und ehe er sich versah, wurde es vor seinen Augen schwarz.
 

Dunkelheit. Nein, es war finsterer als Dunkelheit, und es fühlte sich kalt und grauenhaft an, als er im Schatten herum wirbelte und nichts außer noch mehr Finsternis wahrnahm. Der Emo-Clan war ein sehr alter Zweig des Kandaya-Clans, deswegen arbeitete der Mann natürlich ebenso mit Schattenzaubern wie Nalani. Und in dem Moment war er froh, nicht seine Mutter als Gegnerin erwischt zu haben… er wollte sich nicht ausmalen, wie das geendet hätte. Puran riss die Arme durch die Finsternis hinauf, als er Emos Lachen aus dem Nichts vernahm.

„Wo bist du, Mistkerl?!“ wollte er empört rufen, aber zu seinem Entsetzen verließ seine Kehle kein Ton. Er spürte einen stechenden Schmerz in seinen linken Arm fahren und drehte sich abermals um in der Erwartung, von Nadeln aufgespießt zu werden; als er jedoch versuchte, sein Windmesser zu benutzen, um die Nadeln abzublocken, geschah nichts… seine Hände waren wie betäubt, er spürte die Macht nicht mehr, die Magie, die die Geister ihm sonst bescherten, sie war plötzlich wie weggeblasen.

Verflucht, was machst du mit mir, Emo…?! Was ist das denn für eine üble Veräppelung…?! Er fuhr herum und rannte ein Stück durch die Dunkelheit, nur, um gleich wieder anzuhalten vor Verwirrung über die Schwärze um ihn herum. Sein Atem ging schwer und er spürte jetzt zu den Schmerzen, die sich in seinem Körper ausbreiteten wie ein Buschfeuer, noch einen furchtbaren Brechreiz kommen, als der Schmerz sich plötzlich auf seine Magengegend konzentrierte; und er fiel in die Finsternis des Schattens ohne ein Halten, gefühlte Jahre lang, als der Boden unter seinen Füßen verschwand.
 

„Jetzt reicht’s, Schluss!“ schrie Nalani hinten wutentbrannt und Meoran, Tabari und Tare Kohdar mussten sich zu dritt auf sie stürzen, um sie festzuhalten, als sie schon im Begriff war, ins Schlachtfeld zu springen. „Mach, dass das aufhört, Hakopa, er geht zu weit! Er soll ihn verdammt noch mal nicht umbringen!“ keifte sie weiterhin, „Lasst mich los! Tabari, lass los und ich zerfetze diesen Mistkerl, der gerade unser Kind umbringt!“

„Reiß dich zusammen, niemand wird hier zerfetzt!“ keuchte Tare Kohdar entsetzt, „Sag doch was, Tabari!“

„Der Kampf ist entschieden, verflucht, Hakopa, beende das, bevor Emo ihm den Kopf abreißt!“ schrie Nalani zornig, „Loslassen, oder ich bringe euch alle verdammt noch mal um!“

„Oh nein! W-wie furchtbar!“ Leyya fing vor Angst wegen des Geschreis beinahe zu weinen an, während sie fassungslos auf Puran starrte, der inzwischen am Boden lag, nachdem Emo wieder aufgetaucht war und ihm gackernd in den Bauch getreten hatte. „Puran, steh auf!“ schrie sie dann verzweifelt, „Steh auf, bitte! Ich weiß, du kannst das! Willst du dich so demütigen lassen von diesem dunklen Heini?! Steh auf!“

„Der Kampf ist nicht entschieden, er wird wieder aufstehen!“ zischte Tabari da seiner Frau ins Gesicht, sie am Kragen zu sich herum zerrend, „Sieh mich an! Vertraust du meiner Entscheidung nicht, ihn zur Prüfung zu schicken? Ich weiß, was ich gesehen habe, und ich weiß, was die Geister sagen. Du weißt es doch normalerweise auch…?“ Nalani hörte auf, zu zappeln, und senkte ebenfalls zischend den Kopf.

Ja, sie wusste, was die Geister sagten. Sie wusste, dass ihr Sohn eine außergewöhnliche innere Stärke besaß, eine außergewöhnliche Macht der Geister. Aber sie war seine Mutter und in Momenten wie diesen schalteten ihre Instinkte sich zu ihrer größten Verärgerung aus. In Momenten wie diesen, in denen sie einen der Menschen, die sie liebte, in Gefahr sah, merkte sie plötzlich, dass sie ebenso ein Mensch war, der fühlen konnte, und keine eiskalte Geisterfrau.

„Dann steh auf!“ zischte sie in Purans Richtung und sah aus dem Augenwinkel, wie Leyya sie hoffnungsvoll ansah. „Steh auf, Junge, oder ich breche dir die Beine, wenn du das überlebst, damit du liegen bleiben kannst!“
 

„Steh auf!“ hörte Puran die Geister sagen, während er fiel, und er schnappte verzweifelt nach Luft. Statt Luft atmete er Finsternis ein, und er begann zu husten, als sie sich mit einem fürchterlichen Schmerz in seinen Hals brannte. „Steh auf und zerreiße die Finsternis, Puran… du bist ein Kind der Geisterwinde, du bist ein Schamane!“

„Ich würde ja!“ empörte er sich tonlos, da noch immer keine Stimme aus seinem Mund drang, und er kämpfte keuchend gegen den Schatten, der ihn gefangen hielt, von dem die anderen draußen nichts mitbekamen. „Es geht nicht!“

„Du willst nur nicht, das ist es.“, sagten die Stimmen in seinem Kopf, und er stöhnte, als der Schmerz zunahm und er wieder husten musste. „Es ist dein Schicksal, Puran… du bist zu Größerem bestimmt als dem hier.“

Er öffnete ruckartig die Augen, als er das hörte – diesen Satz, den er so oft gehört hatte. Und als wäre es eine Zauberformel gewesen spürte er plötzlich, wie die Magie zu ihm zurückkehrte, wie sein Geist gegen die Finsternis ankämpfte, stärker als zuvor. Und er zwang sich, sich umzudrehen und spürte den Boden unter seinen Füßen zurückkehren.

Verdammt! Ich werde nicht… jämmerlich am Boden liegen und verlieren, nein! Ganz… sicher nicht!

„Dann helft mir… hier raus, Himmelsgeister!“ Seine Stimme war auch zurückgekehrt, als er den Befehl aussprach in einem Ton, den er sich selbst niemals zuvor hatte anschlagen hören. Und die Geister gehorchten ihm.

Mit einem Grollen aus dem Himmel fuhr Henac Emo auf der Wiese zurück, der gerade mit einer handvoll Nadeln ausgeholt hatte, um sie auf den am Boden liegenden Jungen zu schleudern, ungeachtete Nalanis Gezeter von hinten, in dem Moment, in dem Puran die Augen plötzlich wieder aufschlug.

„Was zum…“ murmelte der Geisterjäger und machte sicherheitshalber einen Schritt rückwärts; die Botschaft, dass jemand seinen Schatten durchbrochen hatte, was noch nie ohne seinen Willen geschehen war, drang zu langsam zu ihm durch, so langsam, dass er erst wieder realisierte, was geschah, als Puran plötzlich wieder auf den Beinen stand und einen Arm in den Himmel hinauf riss. Und mit einem weiteren, diesmal lauteren Krachen fuhr ein gewaltiger Wind über das Feld, der sich in seiner ausgestreckter Hand zu einem Wirbel konzentrierte. Dröhnend und ächzend wurde der Windwirbel in seiner Hand größer und mächtiger, und keuchend starrte er auf seinen Gegner, der sich für einen Moment nicht rührte.

„Wenn du gedacht hast… das wäre alles, was ich zu bieten habe… hast du dich geirrt.“, presste er gezwungen gefasst heraus, „Ich werde nicht winselnd vor dir im Dreck kriechen, Emo!“ Mit diesen Worten riss er seinen Arm samt Wirbel herab und schmetterte die gewaltige, pure Macht der Magie aus seiner Hand auf den Mann vor sich. Das Schreien des Publikums von zuvor war jetzt bis auf das allerletzte Geräusch verstummt, Puran spürte sie ihn anstarren mit vor Fassungslosigkeit entgleisten Gesichtszügen, und er spürte die Himmelsgeister, die ihm unter die Arme griffen, als die gewaltige Macht in seinem Inneren aufloderte wie eine bösartige Flamme, wie ein wildes Tier, das sich von seiner Leine losgerissen hatte brach sie aus seinem Körper heraus und donnerte mit voller Kraft auf den Erdboden. Die Welt erzitterte wie durch einen Anschlag der Zuyyanerarmee und der Himmel grollte über ihren Köpfen. Puran schloss kurz die Augen. Er hörte das Krachen nicht, er spürte das Zittern nicht; alles, was er hörte, war das Flüstern der Geister, ihre eindringlichen Stimmen, die ihn aufforderten, die gesamte Bandbreite seiner inneren, gewaltigen Kraft freizusetzen, das, was tatsächlich in ihm schlummerte, für das er seit seiner Geburt bestimmt war. Und alles, was er spürte, war die Energie, die Anwesenheit der Himmels- und Erdgeister. Sie waren da, sie waren in der Luft, die er atmete, sie waren in seinem Körper und seinem Geist, und durch ihre Augen sah er, obwohl seine eigenen Lider fest geschlossen blieben.

Dann hörte das Grollen und Beben auf, als der gigantische Windwirbel versiegte und einen Krater der Verwüstung hinterließ. Emo war spurlos verschwunden.

„Er ist weg.“, sagten die Geister, „Hör auf deine Instinkte. Du wirst ihn nicht mit deinen Augen finden, Puran… du wirst ihn mit deinem Geiste finden!“

„Tu es!“ zischten die Stimmen eindringlicher, und er atmete tief ein und aus, spürte die Macht und hob zitternd die rechte Hand Zoll um Zoll nach oben. Der Wind fuhr wieder auf, als er Emos Stimme darin schnaufen hörte.

„Beeindruckend, gebe ich zu… aber dennoch bist du blind und taub, Prinz Lyra… du bist kein Gegner für mich.“

Und als die Stimme verstummte, sah Puran ihn. Er sah ihn ohne Augen, nur durch seinen Geist, wie der Mann plötzlich direkt hinter ihm auftauchte – nein, er sah ihn, bevor er auftauchte, und als der Jüngere sich herum drehte, tauchte Emo erst auf, und in seiner Hand waren vergiftete Nadeln, die den Kampf besiegeln sollten, würden sie ihn treffen. Sie waren anders als die zuvor – diese Nadeln würden den Schatten nicht nur über ihn stülpen wie zuvor, sie würden ihn bis in seine Seele vordringen lassen, und dann wäre ein Entkommen ohne Emos Zutun unmöglich. All das sagten die Geister ohne Worte, all das sagten sie ihm, und Puran begriff, als er seine rechte Hand jetzt schneller empor riss, was sie gemeint hatten.

Er war dafür bestimmt, sie auf diese Weise zu benutzen, die Macht von Vater Himmel und Mutter Erde, die Geisterkinder, die in seinem Körper und seiner Seele schlummerten. Sie waren wie eine Waffe, sie waren eine mächtige Waffe, und sie ließen sich ungern in diesem Maße bändigen.

Aber er konnte sie beherrschen… er konnte und er würde, beschloss er in diesem einen Moment, in dem sich die befreite Macht aus seinem Geist in seiner rechten Hand bündelte und mit einem lauten Krachen und einem gleißend hellen Blitzen sichtbar wurde. Sie materialisierte sich, er konnte sie erfassen wie eine tatsächliche, sterbliche Waffe, obwohl sie nur aus purer Macht der Geister bestand; sie war ein Erzeugnis der Mächte der Schöpfung. Puran öffnete die Augen und sah die Nadeln jetzt real auf sich zufliegen, und Henac Emos entgeisterter Blick, als der Junge die Hand nach vorne schwang und mit ihr die Waffe der Geister, das gleißende Blitzlicht, das sich wie ein Schwert geformt hatte. Ein einziger Streich mit dem Geisterschwert in Purans Hand reichte aus, um die Nadeln in Staub aufzulösen, und ehe der Gegner sich versah, war der Jüngere über ihm, stieß ihn gewaltsam auf die Erde, packte ihn mit der freien Hand am Kragen seines schwarzen Umhanges und hielt ihm mit der rechten Hand das blitzende Schwert an die Kehle.

„Ja, du hast recht.“, zischte er dann kalt, „Ich bin kein Gegner für dich, Emo.“
 

Hakopa Kohdar hob die Arme nach einem kurzen Moment.

„Der Kampf ist vorüber.“, entschied er, „Wäre das eine Schlacht, wäre Emo jetzt jedenfalls tot, also hat Puran den Kampf gewonnen und damit die Prüfung bestanden.“ Als müsste er sich erst absichern blickte er zum Rest der Geisterjäger, doch die standen nur mit offenen Mündern da und brachten kein Wort heraus. Es war Leyya, die das Schweigen brach. Sie erstrahlte wie eine kleine Sonne, befreite sich aus Keishas Handgriff und rannte über die Wiese.

„Puran!“ rief sie dabei, „Du hast es geschafft, hurra! Ich habe gewusst, dass du es kannst!“

„H-halt, Vorsicht!“ schrie Hakopa Kohdar sie entsetzt an, als sie an ihm vorbei rannte, auf den Sieger des Kampfes zu. Puran versiegelte gerade noch rechtzeitig die Macht wieder und ließ das leuchtende Schwert verschwinden, da warf Leyya sich stürmisch in seine Arme und hängte sich vor Freude gleichzeitig lachend und weinend an seinen Hals. Er war so überwältigt von dem Angriff der Heilerin, dass er rückwärts umkippte.

„Leyya, du liebe Güte, was zum-…?!“ jappste er nur verblüfft, und sie drückte sich an ihn, als wäre er ein lange tot geglaubter Freund, den sie nach Jahren zum ersten Mal wieder sah.

„Du hast es geschafft!“ wiederholte sie glücklich und setzte sich auf, jetzt auf ihm drauf sitzend, „Ich freue mich! Und, du bist wieder da, du warst drei Tage lang weg, ich habe dich fürchterlich vermisst! Ich… ich freue mich, du bist der Größte!“ Er errötete, wusste nicht genau, weshalb, setzte sich dann etwas heftiger atmend auf und räusperte sich. Jetzt kamen auch die anderen an und machten einen Kreis um die zwei am Boden. Die Bauern aus Iter jubelten, die Kinder grölten begeistert. Leyya umarmte Puran mit aller Liebe und Zuneigung, die sie besaß, und er musste unwillkürlich lächeln über ihr Verhalten. Dabei hatte er sie so dumm angeblafft, bevor er gegangen war… sie war ein sehr beeindruckendes Mädchen, stellte er einmal wieder fest.

„Du bist tapfer, kleine Leyya.“, murmelte er dann nur lächelnd und tat ihr den Gefallen, ihre Umarmung zu erwidern, weil er genau wusste, dass sie das erfreute. Und wie erwartet drückte sie sich fester an ihn und lachte jetzt leise neben seinem Ohr. Es war ein helles, schönes Lachen, aus dem all ihre Freude sprach, die sie empfand.

Als Tabari gefolgt von den anderen Geisterjägern, nicht zuletzt einem zerknirschten Emo, den Kreis der jubelnden Bauern betrat, rappelte er sich wieder auf und stellte Leyya dabei vor sich auf die Füße. Sie ließen einander los und der junge Mann räusperte sich wieder, ehe er sich tief vor den Ratsmitgliedern verbeugte – was er bereute. Denn in diesem Moment kehrten plötzlich wie auf Kommando alle Schmerzen in seinen Körper zurück, die die Anwesenheit der Geister wohl verdrängt hatte, hinzu kam ein furchtbarer Schwindel in seinem Kopf. Als Puran etwas sagen wollte, kam nur ein hirnloses Brabbeln aus seinem Mund, dann wurde ihm so plötzlich schwarz vor Augen, dass er zunächst glaubte, Emos Schatten wäre zurück. Lange Zeit blieb es dunkel in seinem Geist.
 

Als er die Augen aufschlug, lag er in einem Bett. Es war dunkel draußen und er hörte geschäftiges Treiben in Iter. Und das Geräusch eines Stuhls, der über Holzboden geschoben wurde, Schritte, die hastig auf ihn zukamen. Und das Erste, was er vor sich sah, war Leyyas hübsches Gesicht.

„Du bist auf! So ein Glück, wir hatten Angst, du schläfst jetzt bis zum Winter!“ Er konnte ihr nicht folgen.

„W-was?“ stöhnte er und wollte sich aufsetzen – ihre kleinen Hände verhinderten es, die sich auf seine Brust legten. Oder besser auf den Verband, der darum gewickelt war; wo waren seine Kleider?

„Nicht!“ machte die Heilerin leise, „Bleib liegen, du musst dich ausruhen, du bist erschöpft. Das wird wieder, Keisha hat gesagt, du musst nur schlafen. Wie geht es dir?“

„Kopfweh.“, stöhnte er benommen und blieb liegen, „Wir-… wir sind im Haus…? Wie lange war ich weg-…? Wo sind alle, was ist los und-… warum zum Geier bin ich nackt?!“

„Du bist nicht nackt.“, entgegnete sie und wurde rot, „Ähm, wir haben dir deine Unterwäsche an gelassen, Meoran meinte, es wäre für dich nicht so angenehm sonst-… Keisha und ich haben die Wunden durch die Nadeln geheilt und versorgt, deshalb bist du – fast – nackt.“ Er räusperte sich. Wie liebenswürdig, das kleine Mädchen hatte ihn also nicht ganz nackt gesehen, da war er aber beruhigt – er wollte sie schließlich nicht für ihr Leben schädigen mit Anblicken, für die sie definitiv noch zu jung war. Er seufzte.

„Mann… ja, Prüfung-… genau, da war was, ich erinnere mich.“, murmelte er vor sich hin, „Ist es schon Abend?“

„Längst!“ lachte sie amüsiert, „Draußen machen sie ein großes Feuer, sie feiern euch zu Ehren ein Fest! Wenn es dir wirklich gut geht, darfst du aufstehen und mit herunter kommen, es gibt richtig viel gutes Essen. Aber Keisha hat gesagt, du musst dich vor allem ausruhen. Du hast mächtige Magie angewendet, das hat dich mitgenommen.“ Beeindruckt sah Puran sie einen Moment an.

„Das weißt du alles? Du bist für dein Alter eine sehr geschickte Heilerin, wenn du Keisha sogar eine Hilfe warst.“ Er sah sie vor Verlegenheit und Stolz über dieses Kompliment erröten und lächelte müde. „Danke… für alles, was du getan hast. Und Keisha gilt das natürlich auch.“

„Nein, nein!“ wehrte die Kleine ab, „I-ich meine, du hast mein Leben gerettet, ich stehe in deiner Schuld!“

„Ach was, Blödsinn!“ Sie drehte beschämt den Kopf weg, als er kurz lachte, was seinen Kopfschmerzen aber nicht gut tat. Ihm fiel etwas anderes ein. „Ah – sag mal, Leyya… was ist denn aus der Prüfung geworden?! Hab ich etwa alles verpasst? Was ist mit Neron Shai?“

„Oh, der hat sie auch geschafft, genau wie du!“ erklärte sie fröhlich, „Er hat Meoran ziemlich durch die Gegend gehetzt, der war nicht begeistert – er hatte ein lustiges Schwert, es konnte auch leuchten und sich wie eine Schlange winden, das war unglaublich! Seine Begleiterin Saja stand neben mir, als wir zugesehen haben, sie hat mir erklärt, es ist ein Magiemedium, also, das Schwert, meine ich. Eine Waffe, auf die man Zauber übertragen kann, ziemlich beeindruckend! – Natürlich nicht halb so beeindruckend wie das, was du gemacht hast!“ Puran verdrehte wohlwollend die Augen.

„Ja, ja, natürlich. Hör auf, für mich zu schwärmen, die Leute werden noch denken, du seist verliebt in mich, haha!“ Sie lachten beide.
 

Wenig später kam Keisha und nachdem Puran von ihr einen Tee gegen Kopfschmerzen bekommen hatte und sich ansonsten wach genug fühlte, um aufzustehen, verließen sie das Wohnhaus, um auf den Dorfplatz zu gehen, wo die Feier in vollem Gange war. Auf dem Weg dahin trafen die beiden Heilerinnen und Puran auf Nalani, die mit einem Stoffbündel in den Armen einher ging.

„Da seid ihr ja.“, ließ sie verlauten, als sie vor den dreien zum Stehen kam. Eine Weile betrachtete sie ihren einzigen Sohn, ehe sie flüchtig den Kopf senkte. „Leyya, Keisha, geht bitte voraus und sagt Tabari, dass wir anfangen können, wir kommen gleich nach.“ Die beiden taten, wie ihnen geheißen, und einen weiteren, langen Moment sahen Mutter und Sohn schweigend einander an, um sie herum das Getümmel und Gejohle der ausgelassenen Menschen ignorierend.

„Deine Haare sind wieder gewachsen.“, stellte Puran dann irgendwann ohne Zusammenhang fest, hob eine Hand und strich Nalani über die schwarzen Haare. „Du siehst hübsch aus, Mutter.“ Sie lächelte leicht und erwiderte seinen liebevollen Blick.

„Schmeichler. Du siehst besser aus als nach der Prüfung, Puran. Ich bin gekommen, weil ich solche Dinge ungern vor versammelter Mannschaft ausdrücke. Du weißt, wie ich fühle, ich bin deine Mutter und du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben, gemeinsam mit deinem Vater natürlich. Heute ist… ein besonderer Tag, Puran. Das ist dein Tag, der Tag, an dem du genau wie dein Vater und ich Mitglied des obersten Rates der Schwarzmagier wirst. Für mich ist es, als-… als wärst du ein zweites Mal zum Mann geworden. Ich will…“ Sie fand nicht die richtigen Worte. „Ich will sagen… ich bin sehr, sehr stolz auf dich…“ Er sah sie gerührt an und sie schimpfte. „Verdammt, was soll das Gerede!“ Damit fiel sie ihm um den Hals – inzwischen war er größer als sie. Und sie umarmten einander und er lachte bitter und zwang sich mit aller Macht, nicht vor Rührung zu weinen – er war so eine Heulsuse, es war ihm wirklich peinlich… aber dass seine Mutter so mit ihm redete, war selten und es machte ihn glücklich… „Ich liebe dich, mein Kind.“, wisperte Nalani neben seinem Ohr, „Mein einziges Kind… das längst kein Kind mehr ist. Ich bin stolzer, als jemals eine Mutter auf ihren Sohn sein wird, in dieser Welt oder der nächsten.“

„Nein…“ machte er und ohrfeigte sich innerlich für seine jetzt doch sehr wässrige Stimme, als er sie losließ und sie lächelnd ansah, dabei zitternd. „Nein, ich bin es, der stolz sein kann… stolz darauf, so großartige Eltern zu haben, die mich lieben und ohne die ich ein Nichts wäre… ich bin stolzer darauf, dein Sohn sein zu dürfen, Nalani, Königin der Geisterjäger, als jemals ein Sohn stolz auf seine Mutter sein wird.“ Er wischte sich hastig über die Augen und räusperte sich, während Nalani ihn gut verstand und leicht grinsen musste. Sie hatte ein so sensibles Kind, es rührte sie immer noch. „Was hast du da in den Armen, Mutter?“ lenkte er ab und sie nickte.

„Ah, das ist für dich. Ich habe mir die Freiheit genommen, dir während deiner Abwesenheit einen Umhang zu machen… als Zeichen der Ehre, die dir gebührt als Geisterjäger. Hier im Dorf hatten sie Stoff, den wir schwarz eingefärbt haben… in Dokahsan hättest du natürlich besseres Material bekommen, aber wir sind nun mal nicht in Dokahsan.“ Sie breitete das Stück Stoff vor ihm aus und er zog die Brauen hoch, ehe er es dankend annahm.

„Das ist mir wirklich eine Ehre.“, murmelte er, „Jetzt reicht’s langsam, noch mehr und ich werde ganz rot-… ich danke dir, Mutter. Mit Stolz werde ich ihn tragen wie eine zweite Haut.“

„Aber nimm ihn beim Waschen ab…“
 

Um das Feuer herum saßen die Menschen von Iter und alle, die im Moment ebenfalls in dem Dorf wohnten, als Nalani mit Puran dazu stieß. Bei ihrem Anblick hörten sie auf, zu feiern, und alle Blicke wandten sich auf die zuletzt Angekommenen.

„Was ist denn jetzt?“ wunderte der Jüngere sich verblüfft, dann erhob sich sein Vater, der an einem der eigens für diese Feierlichkeit heran geschleppten Tische gesessen hatte. Die anderen Geisterjäger taten es ihm jetzt gleich, Henac Emo murrte.

„Da jetzt ja alle da sind, die das tangiert, werde ich mich kurz fassen.“, behauptete der Herr der Geister und räusperte sich, „Puran und Neron, kommt beide zu mir und stellt euch vor mich hin.“ Die beiden sahen sich zunächst fragend an und folgten dann dem Befehl. Um sie herum war es jetzt bis auf das Prasseln des Feuers still. Die Augen aller Anwesenden lagen jetzt auf dem Magierrat, auf den Menschen mit den schwarzen Umhängen. Neron hatte auch einen bekommen, vermutlich von seiner Begleiterin, dachte Puran sich und musterte seinen Mitstreiter, der offensichtlich so erfolgreich gewesen war, wie er großkotzig behauptet hatte.

Tabaris Worte rissen ihn aus seinen Gedanken.

„Ihr habt beide die Prüfung bestanden, das heißt, ab heute seid ihr zwei vollwertige Mitglieder unseres Rates der Geisterjäger. Vertreter der Schwarzmagier des Zentrums von Tharr! Auf euch liegt nun, so wie auf uns Älteren, eine große Verantwortung, aber es ist für euch ebenso eine Ehre, Vermittler zwischen den Geistern und den Lebenden sein zu können.“ Danach lehnte er den Kopf in den Nacken und riss die Arme zum Himmel empor, worauf das Feuer mächtig zu flackern begann ob des Windes, der plötzlich aufkam. „Geister von Vater Himmel und Mutter Erde!“ rief Tabari mit lauter, befehlender Stimme in den nächtlichen Sommerhimmel, „Erkennt ihr diese beiden Männer als Geisterjäger an, nachdem sie die Prüfung bestanden haben? So, wie ihr ihnen dienen werdet, werden sie euch dienen, was sie tun werden, ist der Wille der Mächte der Schöpfung, der alles erschaffen, beherrschen und zerstören kann! Sprecht, Geister!“ Die Menschen ringsum hielten gespannt den Atem an, ehe aus dem Himmel ein langes, dunkles Grollen ertönte, das die meisten zusammenfahren ließ. Puran keuchte, als sein Vater wieder herunter sah, ihm direkt ins Gesicht. Der Blonde grinste und ließ die Arme sinken. „Dann wäre das besiegelt. Vor den Augen von Vater Himmel und in dem Griff der Mutter Erde zu euren Füßen seid ihr beide jetzt Mitglieder des Rates. Ähm.“, Er kratzte sich plötzlich doof lachend am Kopf, „Normalerweise würdet ihr jetzt Pentagramm-Anstecker bekommen, dummerweise… haben wir keine hier! Das, ähm, holen wir nach, sobald wir Material und einen Schmied dafür finden, ich denke, die Geister werden euch auch ohne den Anstecker folgen.“

„Klar, das wird schon.“, grinste Neron Shai zuversichtlich, Puran räusperte sich nur verhalten und verneigte sich.

„Ich bin geehrt durch das Ansehen, das ihr mir zukommen lasst, Va-… äh, Herr der Geister, Ratsvorsteher.“ Tabari musste leise lachen, ehe er vortrat und seinem Sohn die Schulter klopfte.

„Sei nicht so förmlich, Puran… ich erkenne dich doch kaum wieder, wenn du so bist.“ Er grinste und sein Sohn zwang sich auch zu einem etwas verzerrten Grinsen. „So, dann lasst uns mal weiter feiern, Essen gibt’s! Setzt euch zu uns!“ Dann war die zeremonielle Stimmung gebrochen und alle begannen zu reden, zu lachen und zu singen, während sich alle um die Tische herum verteilten. Und während sie aßen, kam Puran zu diversen Informationen, die er schon vermisst hatte.

„Leyya hat erzählt, Neron Shai hätte dich fertig gemacht, Meister, ich bin etwas erstaunt…“ Meoran hüstelte.

„Da hat sie wahr gesprochen, dieser verrückte Kerl war ziemlich beeindruckend.“

„Na, was wohl dein Vater und dein Onkel im Geisterreich jetzt von dir als Erbe des Clans denken…“ feixte Puran amüsiert und sein Lehrer räusperte sich, bevor er lachend aus einem Becher trank.

„Ach, die amüsieren sich bestimmt. Ich halte das heute für keine Schande, wo kämen wir hin, wenn jeder Verlierer dieses Kampfes gleich beschämt würde? Nein, es ist der Wille der Natur, dass wir neue Geisterjäger in den Rat aufnehmen, und dafür müssen die Alten eben ab und zu mal Platz machen. Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, ich hätte nichts mehr drauf…“

„Wie könnte ich…?“

„Man weiß ja nie, sagen wir so, wäre dieser Kampf vor einem Jahr gewesen, oder nur vor einem halben Jahr, dann wäre ich vielleicht…“ Er hüstelte gekünstelt, linste seine Frau neben sich kurz an und grinste Puran dann wieder an, „Ich meine, dann wäre ich vielleicht mehr bei der Sache gewesen, ich fürchte, besonders schwer gemacht habe ich es dem Vogel nicht-… es liegt eben an den Umständen, Puran.“ Der Junge verstand, was er meinte, und stützte jetzt gackernd den Kopf auf die Hände.

„Aaach so… und ich dachte, Ruja wäre es, die schwanger ist, Meister…“

„Das ist ja das Problem, ich sorge mich zu viel – ach, hör nicht auf das tüdelige Geplapper eines alten Mannes, Puran. Du hast hervorragende Arbeit geleistet da heute auf dem Feld… lass mich dir eines gesagt haben, mein Junge. Nimm dir niemals ein Beispiel an mir, ich bin ein schlechtes Vorbild. Ich meine, sich von privaten Sorgen von der Arbeit ablenken zu lassen ist das letzte – ich kann nichts dagegen tun, ich bin zu sensibel dafür. Aber die Sorge um andere, diese ständige Angst, Menschen zu verlieren, die wir lieben, macht uns auf eine Weise verletzbar und schwach, die uns umbringen kann, wenn sie am falschen Zeitpunkt hoch kommt. Verstehst du, was ich meine? Nimm mich als Gegenbeispiel, Puran, das ist für dich besser.“ Sein ehemaliger Schüler lächelte leicht und tätschelte ihm dann freundschaftlich den Kopf.

„Das hast du lieb gesagt… ob ich mich daran halte, werde ich mal sehen. Was mich noch verwirrt ist-… was… was genau war das, was ich da gemacht habe? Ich meine… da war ein Schwert aus… aus purer Magie in meiner Hand, es war nicht da und doch da, wie kann sowas angehen? Ich, ähm, wusste nicht, dass ich sowas kann…“

„Offenbar wusste das keiner.“, machte der Meister, und Ruja neben ihm schnaubte und boxte ihn in die Seite.

„Ich habe es gewusst!“ verkündete sie, „Ich habe es vom ersten Augenblick an gewusst, dass er ein Kind der Geister ist, ihr alle habt mir nicht geglaubt. Du tätest gut daran, hin und wieder auf mich zu hören, Meoran, Liebster.“ Er sah sie dumm an und Puran beugte sich vor, um sie ebenfalls anzusehen.

„Wie jetzt, du hast das gewusst?!“ empörte er sich und staunte darüber, dass er mit ihr sprechen und sie ansehen konnte, ohne einen einzigen Funken Erregung in sich zu spüren – dann war er also tatsächlich endlich über sie hinweg? „Sprich, Frau!“

„Es ist eine sehr seltene Gabe, das Geisterschwert.“, erklärte die Telepathin ruhig und lächelte ihn liebevoll an, „Ich weiß nicht, ob es jemals in anderen Clans als deinem aufgetreten ist… die Magier, die diese Technik beherrschten, waren von Geburt an dazu bestimmt, es einmal zu tun. Ihre Anzahl kann man an einer Hand abzählen, das bedeutet, es ist eine der seltensten Gaben der Welt.“ Puran errötete. Wie jetzt, das machte ihn langsam wirklich zum Sonderling… und er wollte doch eigentlich nur normal sein.

„Was… was ist es, Ruja?“ murmelte er betreten und jetzt sprach Meoran weiter.

„Das Geisterschwert ist die geballte Macht der Himmelsgeister, die sich mit deinem Geist und deinem Leib vereinen, es ist eine Waffe – die Geister benutzen sozusagen dich als Magiemedium, um ihre Macht verbreiten zu können, und formen in deinen Händen eine Waffe. Es muss nicht unbedingt ein Schwert sein, einer deiner Vorfahren vor sehr vielen Jahrhunderten, soweit ich weiß der erste, bei dem so eine Technik dokumentiert wurde, hatte zum Beispiel einen Speer, weil es zu seiner Zeit keine Schwerter gab. Mit deinem kenne ich drei dokumentierte Fälle der Geisterwaffe, und alle drei stammten vom Lyra-Clan. Der letzte lebte vor über fünfhundert Jahren, um das Jahr 400 herum. Er hatte auch ein Schwert, ich vermute, dass die Form der Geisterwaffe davon abhängt, was das Medium, also der Magier, für eine geeignete Waffe hält. Wenn du denkst, ein Schwert ist praktisch, dann wird es ein Schwert, wenn du lieber einen Morgenstern willst, formt es sich vermutlich zu einem.“ Der Jüngere nickte erleuchtet und kratzte sich am Kopf.

Das ist, ähm… ich muss das erst mal aufnehmen, glaube ich, ich meine… wenn es wirklich die materialisierte Macht der Geister selbst ist, mit der ich kämpfe, ist die Kraft dieser Waffe, dieses Schwertes, doch… quasi unermesslich groß!“

„Wohl wahr, das kommt natürlich auf dich an.“ Meoran lächelte wohlwollend, „Es kommt darauf an, wie weit du es kontrollierst… was du heute gezeigt hast, hat so ziemlich alle aus den Socken gehauen, und so, wie es aussieht, hast du die Macht deines Geistes sehr gut im Griff.“ Ruja sah an ihrem Mann vorbei und strahlte Puran an.

„Ich habe ja gesagt, du wirst es kontrollieren!“ meinte sie, „Erinnerst du dich, neulich, als Tabari dich zur Prüfung schicken wollte? Was im Kampf gegen die Zuyyaner am Wachturm noch unbeholfen und mehr zufällig war, war heute direkt herauf beschworen… du kannst es, ich wusste es von Anfang an.“ Er wandte den Blick seufzend von ihr ab und widmete sich kurz wieder dem Essen. Bevor er jedoch tatsächlich weiter aß, fragte er noch:

„Dann sag mir eines, Ruja, wenn du so viel weißt… warum ich?“ Die Schwarzhaarige lächelte, wandte den Blick ebenfalls ab und strich sich kurz über den gerundeten Bauch. Bald würde es Winter werden… dann würde das neue Leben aus ihrem Bauch kommen.

„Das ist der Wille der Geister, Puran.“, antwortete sie ihm dann leise, „Das kann ich dir nicht sagen. Vielleicht findest du es eines Tages heraus, vielleicht auch nicht. Es ist deine Bestimmung… es ist das, was die Geister für dich vorgesehen haben. Warum sie das tun, kann kein Sterblicher die sagen.“

Das hatte er geahnt. Und einmal mehr brummte er über die eigenwilligen Launen der Geister, bevor er endlich zu essen anfing.
 


 

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booyah? xD Das ging fixer als ich dachte... naja, der Kampf war kurz, aber ihr wollt doch nicht wirklich 10 Seiten lang lesen wie Puran vor Emo wegläuft...? o_O in der Kürze liegt die Würze... Sommer 977. Immer noch; Part 3 bekommt entweder 2 kurze kapis oder ein langes noch, mal schauen, danach kommt Part 4 ^_^

In die Dämmerung

Die Stimmen der Windgeister waren leise und dennoch energisch, als sie zischten und wisperten. Das Feuer fiel aus dem Himmel direkt auf das Dorf zu, und über die brennende Welt strömten die Zuyyaner wie Ameisen. Für einen Moment erkannte Puran das Gesicht des vordersten Mannes der Armada, und die hellblauen Augen starrten ihn an mit einer Bestimmtheit, dass er in dem Moment, in dem er aus dem Schlaf und seinem unruhigen Traum gerissen wurde, wusste, dass der Zuyyaner ihn direkt angesehen und gemeint hatte.

„Puran, schnell, steh auf!“ hörte er dann eine Stimme, die viel realer war als das Zischen in seinem Traum, und sie gehörte Leyya. Vor Schreck fuhr er aus dem Bett hoch und sprang auf die Füße, als er das Mädchen im Türrahmen stehen sah, völlig außer Atem. Hinter ihm setzte sich ebenso verblüfft seine Liebhaberin auf und bedeckte ihren Körper schnell mit der Decke.

„Was ist passiert?!“ fragte sie alarmiert bei dem entsetzten Gesicht der kleinen Heilerin, diese hatte aber vergessen, was sie sagen wollte, und hatte plötzlich nur noch Augen für den jungen Mann, der bei allem Schrecken übersehen hatte, als er aus dem Bett gesprungen war, dass er nackt war – als Puran reichlich langsam auch registrierte, was Leyya plötzlich sehr neugierig anstarrte, errötete er und schnappte ein Kissen, das er sich räuspernd vor seinen Unterkörper hielt.

„Ähm – genau, was ist passiert?“ erinnerte er sie peinlich berührt wieder an den Ernst der Lage, und das Mädchen errötete jetzt auch, schüttelte das aber schnell wieder ab.

„Puran, Herrin, schnell, ihr müsst kommen! Rujas Baby kommt!“
 

Das war in der Tat eine wichtige Meldung. In Windeseile zogen beide sich an, und Puran hielt es für das Weiseste, so zu tun, als wäre dieser peinliche Moment zuvor niemals gewesen; hoffentlich war die arme Leyya jetzt nicht traumatisiert. Sie machte aber einen sehr fidelen Eindruck und erzählte ununterbrochen, wie aufgeregt sie doch war.

„Die anderen sind schon alle wach, sogar Tabari!“ erzählte sie, „Der wollte Schnee schippen, oder wollte nicht, sondern sollte, und als plötzlich die ältere Schwester der Hausherrin heraus schneite und rief, Ruja hätte Wehen bekommen, hat dein Vater dem armen Neron den Schneeschieber über die Rübe gezogen vor Schreck! Nalani und Keisha sind jetzt bei Ruja und helfen ihr, aber ich wollte euch unbedingt auch holen, das ist so aufregend!“

„Langsam, hol mal Luft, Kleine.“, keuchte die Tochter des Dorfchefs nervös, indem sie zu dritt das Haus verließen und sich zum Nachbarhaus aufmachten.

Der Winter war schnell gekommen. Bald wäre das Jahr vorüber, es wurde auch Zeit, dass Rujas Baby endlich ihren Bauch verließ, hatten sich alle gedacht. Puran dachte zerknirscht an seine beunruhigenden Träume und die Zuyyaner – was, wenn sie wieder kämen? Das alles waren keine guten Zeichen… aber dafür war jetzt keine Zeit.

Im Nachbarhaus erwartete die drei eine versammelte Mannschaft in der Wohnstube. Die halbe Familie des Dorfchefs war da, die da schließlich wohnte, und außerdem Meoran und Tabari.

„Aha, guten Morgen.“, begrüßte der Blonde seinen Sohn amüsiert, als die drei herein kamen, und Puran zog die Brauen hoch.

„Was hast du mit Neron gemacht? Liegt der jetzt tot im Schnee, nachdem du ihm den Schieber über den Schädel gebraten hast?“

„Nein, dem geht es gut, ich habe ihm Frühstück im Gasthof spendiert zum Trost, Leyya hat die Beule kuriert. Welch Glück, dass wir zwei Heiler haben!“ Der Jüngere sah die Kleine verdutzt an.

„Du hast das ganz alleine gemacht?“ fragte er sie verdutzt. Das Mädchen erstrahlte erst vor Stolz darüber, ihn beeindruckt zu haben, tat dann aber patzig:

„Ach, du bist nicht der Einzige, der etwas auf dem Kasten hat hier!“ Er räusperte sich verlegen. So hatte er das doch gar nicht gemeint…

Ein lauter, schmerzerfüllter Schrei ließ alle zusammen fahren, bis auf Meoran, der auch schrie und aufsprang.

„Sie kommt doch dabei um!“ jammerte er, als Tabari ihn energisch am Arm packte und festhielt, „Las mich los, Tabari, bitte!“

„Du bleibst schön hier, mein Freund!“ seufzte der Blonde, „Komm, Puran, gut, dass du hier bist, hilf mir mal, ihn festzuhalten! Jedes mal, wenn Ruja im Schlafzimmer schreit, will er zu ihr hin rennen, der paranoide Sack, er würde die armen Frauen ja nur noch mehr verrückt machen…“ Der Sohn lachte dämlich; ja, das verstand er irgendwie… wobei er seinen Meister auch verstehen konnte, es klang nach den grauenhaftesten Schmerzen der Welt…

„Bin ich froh, keine Frau zu sein!“ versetzte er dabei und setzte sich auf Meorans andere Seite auf die Bank. Leyya verschwand inzwischen mit der Hausherrin zum Schlafzimmer. „Ich meine, das muss doch furchtbar sein.“

„Tja.“, Tabari lachte schelmisch, „Was uns Kerlen solche Freude macht, bringt den Frauen neun Monde später nur Schmerz und Leid… schäm dich, Meoran…“ Sein Freund errötete und jammerte weiter.

„Ach, hör aber auf, du warst auch nicht besser, der Beweis sitzt neben mir!“

„War doch nur ein Witz, entspann dich mal. Das wird schon gut gehen! Ruja ist eine starke Frau und sie ist gesund. Sie wird ein starkes, gutes Baby zur Welt bringen, und nachher wirst du vor Stolz weinen, wenn du deinen ersten Sprössling auf dem Arm halten darfst. Freue dich darauf, es ist das schönste Gefühl der Welt.“

„Was denn, bist du auch so abgegangen, als ich geboren wurde?“ fragte sein Sohn, „Hätte ich ja gerne gesehen…“

„Ging ja nicht, du hattest dieses schleimige Zeug auf dem Kopf und konntest gar nicht gucken, habe ich mir sagen lassen.“

„Schleimige Zeug, das war die Fruchtblase, und ich dachte, das bringt mir Glück… rede nicht so abfällig über mein Glück, Vater!“

„Ach, ich freue mich ja schon, wenn du mal eine Frau hast und Vater wirst, Puran, dann wirst du dich sicher genauso anstellen wie Meoran und jeder andere Kerl, der Vater wird…“

„Von wegen, da stehe ich drüber.“
 

„Los jetzt, streng dich an! Pressen!“ Nalanis Stimme war scharf und befehlend, während sie vor Ruja kniete und mit den Händen ihren prallen Babybauch betastete. Die Jüngere keuchte erschöpft.

„Was denkst du, tue ich den ganzen Tag?“ fragte sie, „Es ist anstrengend, ich… muss mich ausruhen…“ Keisha und die ältere Tochter des Dorfvorstehers, die die Frau an den Oberarmen festhielten, rüttelten sie, damit sie nicht in sich zusammen sank.

„Nicht aufgeben!“ machte ihre Schwiegermutter energisch, „Du hast es bald geschafft, Rujachen.“

„Ich möchte liegen…“ seufzte die Schwarzhaarige und atmete heftig ein und aus, „I-in Dokahsan bekommt man Kinder im Liegen, oder nicht?“

„Glaub mir, im Hocken geht es leichter.“, erklärte die Frau aus Iter zuversichtlich, „Wenn die Mutter aufrecht gebärt, hilft die Schwerkraft des Planeten dabei, das Baby nach unten zu ziehen. Als wollte Mutter Erde dir helfen, also hab Vertrauen.“ Die Telepathin stöhnte, ehe sie eine weitere Wehe überkam wie eine Welle aus furchtbaren Schmerzen. Doch Nalani machte ihr Hoffnung:

„Komm, Ruja! Ich kann das Köpfchen schon sehen, du hast es bald! – Leyya, sei so lieb und hole eine Schüssel mit warmem Wasser, und wir brauchen Tücher!“ Die kleine Heilerin, die aufgeregt daneben gehockt und gespannt zugesehen hatte, ebenso wie die zweite Tochter des Dorfchefs, erhob sich rasch.

„Ja, mache ich! Sei tapfer, Ruja!“

Angesprochene schloss zitternd die Augen. Ja, tapfer sein musste sie… die Luft im Zimmer erschien ihr stickig. Wie lange hockte sie nun schon so da und hatte Schmerzen? Sie war müde und glaubte nicht, die Kraft zu finden, das zu beenden… obwohl die anderen Frauen sie immer wieder motivierten und sie antrieben, weiter zu machen, schwand ihre Energie immer mehr.

Geister von Mutter Erde, Geister der Geburt… wie lange wollt ihr dieses Kind noch in meinem Bauch festhalten? Es muss jetzt geboren werden!

Keuchend klammerte sie sich an Keishas Hand, um ihre letzten Kraftreserven zu mobilisieren und erneut zu pressen.

„Bitte… Mutter Erde, zieh das Kind aus meinem Leib…“ stöhnte sie dabei, dann ging das Stöhnen in ein schmerzerfülltes Schreien über. Nalani legte eine Hand auf den Bauch, die andere griff zwischen die Schenkel der Jüngeren, um nach dem Köpfchen des Kindes zu fassen.

„Komm, Kind von Ruja!“ befahl sie dem noch ungeborenen Baby deutlich, „Komm, wir alle rufen und warte auf dich! – Reiß dich zusammen, Ruja, einmal noch! Jetzt!“ Ruja schrie.
 

„Jetzt ist aber gut!“ schrie Meoran derweil auch, als er das hörte, und Puran und Tabari ergriffen ihn mit einem Ruck, um ihn davon abzuhalten, doch noch zu seiner Frau zu rennen. „Lasst mich auf der Stelle los, ich warne euch, Puran, Tabari! Himmel und Erde, lasst mich los!“ Er zappelte verzweifelt und mit sanfter Gewalt beförderten die anderen ihn wieder auf die Bank.

„Ruhe, Himmel!“ schnaufte der Herr der Geister, „Bleib hier sitzen, da sind genug Leute im Raum, du mit deinen nicht vorhandenen Nerven bist sicher der Letzte, der da hilfreich ist!“

„Aber meine Frau hat Schmerzen, verflucht, ich will zu ihr und sie trösten…“

„Du bist Schuld an ihren Schmerzen, das ist wenig tröstlich.“, sagte Tabari unsensibel und Puran schnaubte.

„Jetzt reicht es aber, Vater, der arme Kerl ist doch schon fertig genug!“ Meoran konnte nichts erwidern, denn plötzlich flog die Tür des kleinen Hauses auf und herein kamen Kohdars, Neron Shai und seine stumme Begleiterin Saja.

„Aha, da ist ja schon die Hälfte!“ grinste Barak Kohdar als Erster, „Wir haben von Neron in der Taverne gehört, hier gäbe es ein freudiges Ereignis, da dachten wir, wir kommen alle vorbei und gratulieren!“

„Das ist aber aufmerksam.“ Der Blonde grinste sie fröhlich an, „Gibt’s was zu trinken?!“

„Was viel Besseres.“, entgegnete der jüngere der Kohdar-Brüder und zog mit einer Hand ein kleines Kästchen hervor, „Die haben hier Tabak, diese Hinterwäldler!“

Meoran jammerte und der Herr der Geister und sein Sohn neben ihm starrten auf den Mann mit dem Tabak mit einer plötzlichen Gier in den Gesichtern, als wäre Tare Kohdar eine nackte, vollbusige Frau. Der Braunhaarige räusperte sich auch bereits verhalten, ehe Puran zuerst aufsprang.

„Her damit, du Arsch, auf der Stelle!“

„Na, nicht so vorlaut, junger Mann, du hast noch kein Pentagramm, mein Guter!“

„Himmel und Erde, ich will eine rauchen, jetzt sofort!“

„Ihr seid ja Helden!“ schrie Meoran entsetzt und versuchte jetzt abermals, sich loszureißen, „Meine Frau bekommt ein Baby und ihr wollt rauchen! Unverantwort-…“ Er unterbrach sich und erbleichte, als er genannte Frau einen Schrei ausstoßen hörte, der noch lauter und markerschütternder war als alle vorigen. „Ich nehme alles zurück, gib mir auch was, Tare, vielleicht beruhigt das…“ Aber Tare Kohdar war noch gar nicht fertig damit, für alle Zigaretten zu drehen, da unterbrach ein neues Geräusch das angespannte Murmeln der Männer im Flur; es war das Schreien eines Neugeborenen.

Meoran vergaß sofort sämtliche Zigaretten, ebenso quasi alle anderen, außer Puran, der seinen Kollegen Tare ungeduldig anstieß, er solle sich beeilen, obwohl auch er jetzt erschrocken den Kopf hob beim Schreien des Babys.

„D-das ist mein Kind!“ rief sein Lehrmeister dann und er wurde noch blasser, als Tabari ihn endlich aufspringen ließ, und gefolgt von jenem und den anderen stürzte er zum Schlafzimmer des Hauses. Die Tür wurde ihnen geöffnet und die Meute stand einer glücklich strahlenden Nalani gegenüber.

„Herzlichen Glückwunsch, stolzer Vater!“ begrüßte sie Meoran zuerst und umarmte ihn freundschaftlich, „Ruja hat dir gerade eine kerngesunde, wunderschöne Tochter geschenkt!“

„Mein Kind!“ jammerte der Jüngere und erwiderte gerührt ihre Umarmung, „I-ich habe ein Kind! Ich habe ein Töchterlein! Rujachen, geht es dir gut?!“

„Dumme Frage, sie ist völlig fertig!“ kam es von Keisha hinten aus dem stickigen Zimmer, und sie lachte dabei, während eine Freudenträne über ihre Wange rann. „Komm, rasch, sieh sie dir an!“ Das Schreien des Babys erfüllte jetzt das ganze Haus, und Nalani ließ Meoran an ihr vorbei zu Ruja taumeln, die erschöpft, aber überglücklich auf dem Schlaflager lag, provisorisch mit einem Laken bedeckt. In ihren Armen strampelte das Baby und schrie aus vollen Lungen.

„Das ist so wunderbar…“ seufzte Tabari gerührt in der Tür, dann wurde er von seiner Frau zurück geschoben.

„Bleibt alle draußen, nur Meoran darf rein!“ erklärte sie, „So eine Meute hier, wie soll die arme Ruja da zur Ruhe kommen? Ihr könnt gucken, sobald wir sie und die Kleine gewaschen und angezogen haben.“ Der Blonde seufzte enttäuscht und auch die übrigen blickten unzufrieden drein, immerhin wollten alle einen Blick auf das kleine Baby erhaschen. „Haut schon ab, Tür zu!“ befahl die Geisterjägerin ihnen empört, und widerwillig gehorchten ihre Kollegen.
 

Ruja und das Baby waren wohlauf. Während Nalani mit Hilfe von Keisha deren Schwiegertochter gewaschen und die Tücher und Kissen des Schlaflagers ausgetauscht hatten gegen frische und saubere, hatten Leyya und die Töchter des Dorfchefs sich um das Kleine gekümmert, es ebenfalls gewaschen und angezogen. Jetzt hielt Meoran seine Tochter zum ersten Mal stolz auf dem Arm und strahlte über das ganze Gesicht beim Anblick des Kindes. Seine Frau lag ermüdet auf dem Lager und lächelte, mit einer Hand das Bein ihres Mannes streichelnd, der neben dem Lager stand.

„Was sagst du…? Sie ist… sie ist kein Sohn, Meoran… aber sie wird ein gutes und starkes Kind sein, ich kann es spüren…“

„Ruja…“ seufzte er und hockte sich samt Kind zu ihr herab, um sie direkt anzusehen, „Mach dir doch über sowas keine Gedanken. Es ist mir egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist… es ist unser Kind! Es ist unser gemeinsames Kind, und ich bin jetzt der glücklichste Mann auf der ganzen Welt! Sie ist wunderschön, unsere Tochter…“ Er strahlte das quengelnde Baby an und der Frau kamen vor Glück die Tränen.

„Ich liebe dich… euch beide… so sehr…“ wisperte sie, und er seufzte ebenfalls gerührt und küsste sie liebevoll. Inzwischen durften alle anderen wieder herein kommen, unter der Voraussetzung, leise zu sein, und bildeten jetzt eine große Traube um Rujas Wochenbett. Leyya hing glücklich an Purans Hand und war ganz aus dem Häuschen vor Freude.

„Das ist so ein schöner Tag!“ versetzte sie freudestrahlend, „Ein kleiner Mensch ist geboren worden! Puran, sieh sie dir an, sie ist das niedlichste kleine Mädchen der Welt!“ Puran grinste ebenfalls und beugte sich vor, um die Kleine zum ersten Mal aus der Nähe ansehen zu können.

„Ja, stimmt… noch niedlicher als du, nicht zu fassen!“ Sie errötete empört, als er ihr neckisch den Kopf tätschelte. Sein Vater tätschelte indessen Meorans Schulter und grinste bis zu den Ohren.

„Alles Gute euch dreien!“ wünschte er fröhlich, „Leyya hat recht, es ist ein guter Tag!... Hach, darf ich sie auch mal knuddeln, Meoran, alter Freund?“ Der Angesprochene lachte vergnügt. Jetzt war ihm gar nicht mehr anzusehen, wie angespannt und nervös er zuvor gewesen war… er war wirklich der glücklichste Mann der Welt, der Jüngere glaubte ihm das sofort, wenn er ihn sich so ansah.

„Sei aber vorsichtig!“ murmelte der Lehrmeister jetzt und gab Tabari vertrauensvoll das Baby in die Arme, worauf der Blonde das Kind anstrahlte,

„Willkommen auf der Welt, Kleine!“ begrüßte er sie förmlich. Das Kind machte jetzt einmal die Runde, sodass jeder der Anwesenden sie einmal kurz und sehr behutsam auf den Armen gehalten hatte. Vor allem Leyya war so entzückt von der Kleinen, dass sie sie fast ungern wieder abgegeben hatte. Als das Baby am Ende in Rujas Armen lag, begann es, zu jammern, und wissend öffnete die Frau ihr Nachthemd und ließ ihre Tochter an ihrer Brust trinken. Puran hüstelte und wandte errötend das Gesicht davon ab, um ihr nicht ungewollt auf die nackte Brust zu starren. Wenn er jetzt daran dachte, wie überaus lange er als Kind gerne an der Brust seiner Mutter genuckelt hatte, wurde ihm irgendwie übel; er war schon ein sehr verzogenes Kind gewesen, hatte er das vage Gefühl.

Nalani riss die Aufmerksamkeit auf sich.

„Eure Tochter hat noch keinen Namen, Meoran.“, stellte sie sachlich fest, „Einen Lebensgeist.“ Der Mann sah auf seine Frau und das Kind, ehe er sich räusperte und dennoch erst nach einer Weile sprach.

„Dieses Mädchen ist nicht nur irgendein Mädchen, es ist das erste Kind seiner Generation im Chimalis-Clan… und damit, sofern ihr nicht noch ein kleiner Bruder folgt, die Stammhalterin. Sie verdient einen Namen mit Ehre.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich werde… meine Tochter Saidah nennen, nach einer großen Frau und Führerin des Chimalis-Clans vor vielen Jahrhunderten, nach der Tochter des Yamir. Damit nehme ich das Leben meiner Tochter an.“

„Saidah!“ rief Leyya als Erste das Baby beim Namen, und es machte ein undefinierbares Geräusch an Rujas Brust, „Das ist ein schöner Name, Meoran.“ Der Mann strahlte und setzte sich an den Rand des Schlaflagers zu seiner Frau, indem er ihr zärtlich über die schwarzen Haare strich. Das Baby Saidah hatte die Haare seiner Mutter geerbt, ein schwarzer Flaum bedeckte ihren kleinen Kopf.

„Ja.“, pflichtete Ruja der Heilerin lächelnd bei und wiegte das Kind in ihren Armen, „Sie ist Schwarzmagierin… sie wird sicher einmal talentiert und weise sein wie ihre Vorfahren..“
 

Die meisten vergaßen über die Freude ob der gut verlaufenen Geburt und ob des kleinen Babys Saidah, dass die Welt weiterhin ein gefährlicher und bösartiger Ort blieb dank der Zuyyaner. Eine der wenigen Ausnahmen derer war Nalani, und ihre Unruhe, die sie verspürte, sobald sie nach Westen blickte, wuchs mit jedem Tag, den sie länger in Iter waren.

„Wir haben etwas vereinbart, Tabari Lyra.“, sprach sie ihren Mann ernst an an einem Tag im Hungermond. Der Schnee war in großen Flocken gefallen und das ganze Dorf und die Umgebung glänzten weiß. Der Herr der Geister saß, in alle Kleider gehüllt die er besaß, mit seinem Sohn vor der Taverne des Dorfes auf einer eingeschneiten Bank und rauchte. Seine Frau verfluchte Tare Kohdar und den Tabak mitunter, der wieder aufgetaucht war – jetzt hatten die Männer alle nichts Besseres zu tun als zu rauchen, dabei gab es ernstere Dinge! „Sobald der Hungermond vorüber ist, ist Rujas Wochenbett vorbei, sie wird gehen können, sie und Saidah sind kerngesund. Es gibt für uns keine Ausrede, länger hier zu sein wie Parasiten.“

„Ich weiß doch, Nalani.“, war die Antwort ihres Mannes, er zog an seiner Zigarette und pustete grübelnd den Rauch in die eiskalte Winterluft. „Ich habe das nicht vergessen… es ist nur, wohin wollen wir? Nach Osten, möglichst weit weg vom Krieg?“

„Wäre am sinnvollsten, oder?“ wunderte Puran sich neben ihm, wusste aber nicht ganz, ob er tatsächlich dieser Meinung war oder es nur so daher sagte, weil ihm nichts Gescheiteres einfiel… seine Mutter senkte schweigend den Kopf, wandte sich dann zum Gehen, wobei ihre jetzt wieder recht langen Haare im Wind flogen.

„Ich werde die Geister nach Antworten fragen.“, erklärte sie kalt. „Mit jedem Tag, den wir hier sind, gefährden wir Iter mehr, als wir ihm nützen. Wenn ich nichts anderes gesagt bekomme, brechen wir mit dem Neumond auf. Verabschiedet euch also schon mal von denen, die ihr lieb gewonnen habt.“
 

„Ich verstehe schon.“, machte die jüngere Tochter des Dorfvorstehers in der Nacht, als ihr Liebhaber ihr berichtet hatte, dass sie den Ort über kurz oder lang verlassen würden. Als es Zeit zum Schlafen geworden war und alle sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatten, war Puran zu ihr ins Schlafzimmer gekommen und lag jetzt neben ihr. Sie trug ihr dünnes Nachtkleidchen, das halbwegs durchsichtig war, sich auf die Seite drehend und sich mit einem Ellenbogen am Bett abstützend betrachtete er sie ausgiebig. Sein Blick blieb eine Weile auf ihren durch das Hemdchen schimmernden Brüsten hängen; ihre Brustwarzen hatten sich aufgestellt und wären selbst mit einem nicht durchsichtigen Gewand ohne Probleme zu sehen gewesen. Der Anblick erregte ihn und er räusperte sich verhalten, ehe er den Blick auf ihre Schenkel gleiten ließ. „Es war schon klar, dass ihr nicht auf ewig bleibt… ich werde dich aber vermissen, Puran.“

„Ich komme mir schäbig vor, jetzt noch fröhlich mit dir ins Bett zu hopsen, obwohl ich quasi gerade mit dir Schluss gemacht habe…“ brummte er verlegen; seinen eigenen Worten unabsichtlich widersprechend hob er die freie Hand und begann, über ihre runden Hüften zu streicheln und langsam das dünne Leibchen hoch zu ziehen. Darunter war sie nackt und er sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als er ihr unweigerlich zwischen die Beine starrte und seine Erregung immer schwerer unterdrücken konnte.

Die Frau merkte natürlich, was in ihm vorging, so setzte sie sich langsam im Bett auf und streifte sich mit einer eleganten Bewegung das Nachthemd über den Kopf.

„Eigentlich waren wir doch nicht wirklich ein Paar, oder?“ entgegnete sie, „Ich komme klar. Ich habe von Beginn an nicht erwartet, dass du bei mir bleiben würdest. Ich habe dich gern und ins Herz geschlossen, aber seien wir ehrlich… war es mehr als Sex?“ Puran räusperte sich und setzte sich auch auf, um sie sanft herunter ins Bett zu drücken und sich über sie zu rollen. Inzwischen drückte sein Glied hart gegen seine Unterwäsche vor Erregung und er keuchte leise, als sie wissend an der Wäsche zu ziehen begann.

„Also… es ist nicht so, dass ich mich nur deshalb mit dir abgegeben hätte!“ empörte er sich, „Wenn du so einen Eindruck von mir behältst als Erinnerung, wäre mir das sehr peinlich! I-ich… ich bin doch kein notgeiler Perverser!“ Die Ältere lachte leise.

„Nein… das weiß ich doch. Jetzt lass uns nicht mehr daran denken… wir einigen uns stumm, denke ich. Ich möchte die letzten paar Nächte mit dir genießen, also liebe mich jetzt, ich hab’s nötig. Und du auch, wie ich das sehe…“ Sie gluckste amüsiert über sein jetzt doch errötetes Gesicht. Dabei ließ sie ihre Hände wie zufällig zwischen seine Beine wandern, worauf er sich leise stöhnend über sie beugte und sie dann verlangend küsste. Als die Frau seinen heftigen Kuss mit derselben Intensität erwiderte, erhob er sich mit dem Unterkörper leicht, damit sie sich unter ihm zurecht rücken konnte. Und dann schlang sie laut seufzend die Arme um seinen Nacken, als er mit einer Hand ihren rechten Oberschenkel ergriff, ihn hoch zog und sich wieder auf sie legte, um sich mit ihr zu vereinen.

Es war ihm peinlich, daran zu denken, erst recht, während er mit ihr schlief, aber ihm grauste irgendwie vor dem Gedanken daran, wieder mondelang durch die Einöde zu ziehen ohne eine Frau an seiner Seite, an der er sich ab und zu mal erleichtern konnte; er musste sich eingestehen, es im Dorf hier mit seiner Liebelei mit der Dorfchefstochter etwas übertrieben zu haben, so nötig hatte er es dann normalerweise nicht… aber die Vorstellung, jetzt ewig nicht bei einer Frau liegen zu können, ernüchterte ihn extrem. Wer wusste, wohin sie kämen und wann sie wieder Menschen trafen? Murrend verdrängte er die dämlichen Gedanken, als die Frau unter ihm laut aufstöhnte vor Verlangen, während er sich in ihr bewegte und ihr das Feuer brachte, das er ihr in den vergangenen Monden fast jede Nacht gebracht hatte… und sich selbst. Es tat gut, sie zu berühren, es mit ihr zu tun, und er hielt sich auch nicht zurück, als er rasch das Tempo anzog und sich schneller als gewöhnlich auf den Höhepunkt hinarbeitete. Noch hatte er in seinem Geist Platz für andere Gedanken, die nicht mit der bevorstehenden Unruhe zusammenhingen…
 

Leyya schmollte im anderen Schlafzimmer.

„Und schon wieder ist er fort!“ jammerte sie theatralisch ohne die Erwartung, dass Nalani oder Tabari ihr zuhören würde. Letzterer schlief sowieso schon wie ein Stein und die Frau war auch kurz davor, einzunicken. Die Heilerin war hellwach und saß mit unterschlagenen Beinen auf ihrem Schlafplatz. „Puran hat die andere Frau viel lieber als uns, das ist nicht gerecht, oder?“

„Ich habe es dir doch schon mal erklärt.“, war Nalanis Antwort, „Er ist erwachsen und tut mit ihr Erwachsenensachen. Lass ihn, und stelle dich darauf ein, dass er nach dem Aufbruch schlechte Laune haben wird, weil er auf diese Dinge dann verzichten muss.“

„Dafür muss ich die ganze Zeit darauf verzichten, dass er was mit mir macht!“ empörte das Mädchen sich. Dann kam sie sich schäbig vor, so zu reden, als wäre Puran ein schlechter Mensch. Sie bewunderte und verehrte ihn doch so… aber sie vermisste ihn, wenn er nachts bei der Frau im Bett schlief und herum stöhnte – sie hatte alles gehört, viele Nächte lang. Sie kannte dieses Gehabe der Männer sehr gut aus ihrer Zeit in Makar; Onkel Turoni war ein noch sehr viel schlimmerer Rammler gewesen als Puran es war, und es war ihm völlig egal gewesen, wer ihn dabei beobachtet oder gehört hatte, sogar dann, wenn es seine kleine Nichte betraf, die verstört vom Tod ihres Vaters, seines Bruders, und trauernd nutzlos herum gesessen hatte.

Gegen Onkel Turoni verhielt Puran sich überaus gesittet und anständig, fand die Kleine, und sie beschloss verstimmt, ihm noch einmal zu vergeben und sich auf die Zeit zu freuen, in der sie wieder nachts mit ihm kuschelnd einschlafen konnte.
 

Nalani konnte nicht schlafen. Es war mehr ein unruhiges Zwischending aus Schlaf und Wachsein, als sie sich auf dem Schlaflager, das sie mit ihrem Mann teilte, von einer Seite auf die andere rollte und die zischenden Stimmen der Geister ihr Unbehagen bereiteten. Sie träumte von Zuyyanern, die über das brennende Land unter dem Donner marschierten, mit Schritten kaum weniger laut als das bösartige Grollen des Himmels. Und sie erkannte in ihrem Traum den Befehlshaber der Kompanie, dem sie bereits einmal gegenüber gestanden hatte. Irrsinnigerweise grinste er sie an und sein grinsen erinnerte sie an Henac Emo, obwohl der völlig anders grinste. Der Himmel wurde schwarz über ihr, als sie herumfuhr und in der Ferne ein brennendes Dorf erkannte. Ein Dorf wie Iter… nein. Sie sah den Wachturm im Südwesten, es sah nicht nur aus wie Iter, es war das Dorf, in dem sie seit Monden lebten.

„Die Zuyyaner…“ keuchte sie tonlos und drehte mechanisch den Kopf wieder nach Westen, „Dann sind sie auf dem Wege hierher?“ Ihre eigene Stimme hallte hohl in ihrem Kopf nach wie in einer geräumigen Höhle und sie schloss bebend die Augen, als sie das Grauen, die Flammen und die Todesschreie des Krieges über sich hereinbrechen spürte wie eine Springflut. Mit ihnen kamen auch Fluten von Bildern. Sie sah brennende Himmel und Länder, in der Ferne des Westens die gigantischen Berge, die das Land vom westlichen Meer trennten. Der Himmel grollte zornig, ehe er die Welt mit einem Beben der Erde in Finsternis ertränkte. Das letzte, was Nalani sah, war die Knochenspirale, die im Schatten tanzte, dazu ertönte ein ihr scheußlich bekanntes, kehliges Lachen…

Als sie heftig atmend die Augen aufschlug, sah sie als erstes in Tabaris Gesicht. Und der Morgen graute allmählich.

„Du bist unruhig…“ flüsterte er und hob eine Hand, um über ihr bebendes Gesicht zu streichen, „Was hast du gesehen, Nalani…?“

Sie schloss die Lider wieder und keuchte leise, indem sie zuließ, dass er sie berührte.

„Schatten…“ murmelte sie, „Die Zuyyaner kommen hierher, wie ich es geahnt habe… wir müssen noch heute aufbrechen, fürchte ich.“
 

Die Vorbereitungen für den Aufbruch waren schnell getroffen. Draußen fiel Schnee, als die versammelten Geisterjäger mit dem Dorfoberhaupt und einigen anderen Dorfbewohnern auf dem Marktplatz im Zentrum standen.

„Ihr brecht jetzt gleich auf?“ fragte der Chef besorgt, „W-warum so plötzlich? Es wird bald Nacht und… bitte, lasst Euch gesagt sein, Ihr seid herzlich willkommen, zu bleiben! Niemand wird belastet durch Eure Anwesenheit…“

„Das ist leider nicht möglich.“, entgegnete Tabari, „Wir werden unsere letzten Habseligkeiten packen und aufbrechen… zumindest meine Familie und-…“ Hakopa Kohdar unterbrach ihn.

„Wir gehen alle gemeinsam. Wir drei, Neron, Saja und Henac begleiten euch, Tabari.“ Der Blonde sah verblüfft herüber und auch die anderen blinzelten. Hinter Barak Kohdar standen schon seine Frau Pinhi und die vier Kinder mit gepackten Rückentragen.

„Aber wer beschützt das Dorf, wenn Ihr fort seid?“ fragte ein kleines Bauernkind bedröppelt, worauf alle Erwachsenen es tadelnd anstarrten – wie konnte es es wagen, das laut auszusprechen? Tabari sah hilflos zu Meoran, er sich am Kopf kratzte. Sie alle plagte die Ahnung, warum die Zuyyaner tatsächlich nach Iter gekommen waren, und Nalani war es, die es jetzt aussprach.

„Das Dorf wird sicherer sein, wenn wir weg sind… die Zuyyaner sind jetzt hinter uns her, nicht hinter euch. Wir sind die Einzigen, vermute ich, die ihnen jemals Kontra geboten haben, deswegen haben sie uns auf dem Kieker. Das lassen die sich doch nicht gefallen, da rennen sie durch das halbe Land und niemand hält sie auf, und plötzlich kommen da ein Dutzend Magier und machen ihnen ihren Feldzug streitig… wenn sie kommen, kommen sie unsertwegen. Es ist deshalb unsere einzige Möglichkeit, wegzugehen…“ Jetzt blickte sie dumpf auf Tabari, der das Wort wieder ergriff.

„Ihnen entgegen nach Westen.“
 

Die Nachricht versetzte die Bürger von Iter in Schweigen.

„Ihnen entgegen?“ keuchte dann die jüngere Tochter des Dorfvorstehers entsetzt, „D-das ist… das ist nicht Euer Ernst… Ihr werdet umkommen! Das damals am Turm war nur eine kleine Kompanie, sie werden doch jetzt mehr Leute haben!“

„Haben wir auch.“, behauptete Tabari und zeigte auf Neron, „Der war letztes Mal nicht da. Wir haben keine Wahl als den Weg nach Westen zu nehmen, so halten wir sie von Iter fern. Ein großes Lager der Zuyyaner ist bei der Bergenge von Aughot, wie die Späher berichtet haben. Wir werden da hingehen und denen mal zeigen, von wo hier der Wind kommt, und sie werden sich nicht trauen, Anthurien weiter zu zermalmen.“ In seinen Worten lag kein Zweifel an ihrer Wahrheit – so, wie er es sagte, würde es geschehen, hatte man automatisch das Gefühl, wenn man ihm ins Gesicht blickte, dem sonst so verpeilten Herrn der Geister.

Purans Liebhaberin ließ sich nicht so leicht beeindrucken.

„Aber bis nach Aughot ist es ein weiter Weg quer durch die ganze Provinz, soweit ich weiß, Verzeihung, Herr. Und ich dachte, diese Bastarde besetzten das ganze Land nördlich der Berge?“

„Vielleicht tun sie das, in ausgebrannten Dörfern werden sie nur ihre Zeit verschwenden. Um uns sorgt euch nicht. Wir haben euch für eure Gastfreundschaft zu danken… für vieles haben wir zu danken. Und gerade deswegen… sollten wir die Zuyyaner fernhalten vom Osten.“ Der Dorfvorsteher schwieg. Seine Tochter sah ihn schweigend an, als erwartete sie, dass er widersprach… aber der Mann verneigte sich tief und beugte sich damit dem Willen des Rates.

„Ich kann Euch ja nicht hier gefangen halten.“, murmelte er, „Dann habt Ihr Dank für das, was Ihr für unser Dorf Iter getan habt und geht reinen Gewissens. Wir werden Euch in Ehren halten, Tabari Lyra, Euch, Eure Familie und Euren Rat.“ Die Geisterjäger verneigten sich ebenfalls, einige tiefer, wie Tabari, und andere, wie Henac Emo, so gut wie nicht bemerkbar.

„Diese Ehre gebührt diesem Dorf, Herr.“, sagte der Ratsführer höflich, „Es wird dann Zeit für den Aufbruch. Seid unbesorgt… niemand wird diesen Ort anrühren, das schwöre ich.“

Die Versammlung löste sich auf und die Aufbrechenden holten noch ihr letztes Gepäck, bevor sie das Dorf verlassen würden. Henac Emo ging keckernd an Tabari vorbei und grinste ihn blöd an dabei.

„Sei umsichtig, was du schwörst, großer Herr der Geister.“, schnarrte er dabei lauernd, „Die Geister nehmen Schwüre sehr genau… brichst du deinen Schwur, können sie dich dafür töten. Ganz schön leichtsinnig, und das für ein armseliges Bauerndörfchen.“

„Dieses armselige Bauerndörfchen hat dich überwintern lassen, du Schmarotzer, sei dankbar… die Geister strafen ebenso Ehrlosigkeit, Emo.“

„Was denn, so genervt heute?“ grinste der Schwarzhaarige und blieb stehen, Tabari zerrte seinen Umhang zurecht und rümpfte die Nase, während um sie herum die Menschen wieder ins Warme verschwanden. Nur wenige blieben auf der Straße, um ihnen gleich beim Gehen zuzusehen und zu winken. „Wo ist denn deine gute Laune, Tabari…?“ Die Antwort kam abrupter, als der Jüngere gedacht hätte.

„Halt deine Zunge fest… ich warne dich nur ein einziges Mal, Henac. Und deine Augen, sie sehen in Richtungen, die mir nicht gefallen wollen…“ Der andere Mann lachte hohl.

„Himmel, jemine, habe ich Frauchen etwa einen Moment zu lange angesehen? Sie ist schön, nicht wahr, die kaltblütige, grausame Königin der Kandayas? Du weißt das sicher detaillierter als ich…“ Tabari zischte ungewohnt grantig.

„Wage ja nicht, so über meine Frau zu sprechen. Ich sage es ungern zweimal.“

„Ist ja gut, keine Sorge…“ Emo grinste und verneigte sich theatralisch vor dem Blonden, „Keine Sorge, ich liege dir zu Füßen, Tabari! Aber sei achtsam… du magst der Herr der Geister und der Erbe der Lyraden sein, des mächtigen Stammes der Geisterrufer, aber auch du bist ein Mensch aus Fleisch und Blut.“ Der Blonde blieb ruhig, senkte aber zornig die Brauen.

„Ebenso wie du, Henac.“, versetzte er kalt. „Geh nicht zu weit, Junge.“

„Nicht doch… ich sorge mich doch nur um dein Wohlergehen. Wer soll den Rat führen, wenn du fällst in deinem Hochmut? Etwa deine Frau? Eine Frau als Herrin der Geister, ist das überhaupt erlaubt? – Oder Meoran, deine rechte Hand, dein hauseigener Papagei? Dann ginge unser Rat definitiv den Bach hinunter…“ Er lachte noch, aber nicht mehr lange, denn jetzt platzte dem Älteren der Kragen, er machte einen großen Schritt nach vorne und packte ihn unsanft am Schlafittchen, zerrte ihn zu sich heran und stierte ihm in die schwarzen Augen.

„Ich warne dich, Emo… das ist kein Witz mehr. Ich kenne meinen Platz im Angesicht der Mächte der Schöpfung! Du solltest deinen auch kennen.“ Damit ließ er ihn wieder los und stieß ihn ein wenig zurück, ehe er ihn noch mit einem grimmigen Blick bedachte und davon schritt.
 

Der Abschied von Iter fiel den meisten nicht richtig leicht. Sie alle hatten das Dorf in dem halben Jahr lieb gewonnen, ebenso wie die Bewohner, und dennoch führte kein Weg an diesem Abschied vorbei. So folgten die Magier der Abenddämmerung nach Westen und winkten dabei hin und wieder zurück zum Dorf. Am Zaun standen einige der Bewohner und winkten ebenfalls. Als das Dorf nicht mehr zu sehen war hinter den Hügel von Kerhi-Uhl, zog die Nacht herauf und brachte einen eisigen Wind mit sich.

„Ach, Himmel!“ meckerte Tabari und sah hinauf, „Das wird eine kalte Reise, Freunde!“

„Im Hungermond durch das verschneite Land zu stapfen war wirklich eine überaus weitsichtige Idee.“, brummte Henac Emo und fing sich darauf schon wieder grimmige Blicke von allen Seiten. Zur Überraschung aller war es Ruja, die ihm kleinlaut zustimmte.

„Ich zweifle nicht an der Richtigkeit der Entscheidung… aber für die Kleinen und mein Baby ist es gewiss nicht leicht…“ Sie drückte die kleine Saidah an sich, die sie in so viele Felldecken und Stoffe wie nur vorhanden gewesen waren gehüllt hatte und die sie in einer Trage vor ihrem Bauch trug. Das kleine Mädchen jammerte mit dem pfeifenden Wind, der neue Schneewehen brachte. Tabari blieb stehen und drehte den Kopf. Barak Kohdars vier Kinder und Leyya sahen sich nicht sonderlich glücklich aus. Der kleine Junge maulte.

„Die Frostgeister werden meine Füße essen, Vati, oder? U-und meine Finger sind schon gefroren, glaube ich!“

„Pinhi, nimm das Kind auf den Rücken.“, war Baraks Kommentar dazu und er sah die drei älteren Töchter an. „Seid ihr drei in Ordnung, Mädels?“

„Wir müssen da jetzt durch!“ behauptete die Älteste, die etwa im gleichen Alter war wie Nerons Begleiterin Saja. „Hab keine Sorge, Vati!“ Puran sah auf Leyya, die an seiner Hand hing.

„Was ist mir dir?“ fragte er sie, „Frierst du? Wenn ja, sag mir Bescheid.“ Die Heilerin schüttelte den Kopf. Sie hatte einen Fellmantel mit großer Kapuze an und war dadurch gut geschützt vor dem Schnee.

„Mir ist warm, sorge dich nicht. Ich bin schon neun einhalb! Ich bin kein kleines Baby mehr und ich werde euch nicht belasten!“ Puran grinste darüber nur und sagte nichts. Ja, sie war ein stolzes kleines Mädchen.

„Ja, das mit der Reise im Hungermond ist keine leichte Sache!“ bestätigte Tabari Ruja dann und alle sahen erst ihn, dann Meorans Frau an, die ihr Baby wiegte, das zu weinen begonnen hatte. „Ich weiß, das ist ungünstig, Ruja, haltet noch etwas aus! Wenn wir die Berge erreicht haben, finden wir Schutz vor dem Schneesturm. Bleibt dicht zusammen, dann ist es nur halb so kalt, und denkt an einen heißen Ofen, das hilft.“

„In einen Ofen würde ich mich jetzt gern setzen!“ maulte Barak Kohdars kleiner Sohn und kuschelte sich fröstelnd an seine Mutter, die ihn trug.

Die Nacht war fast vorüber, als die Menschen müde die Berge erreichten und sich in einer überdachten Nische zwischen den hohen, grauen Felsen niederließen. Es war einigermaßen windgeschützt und dank der Kohdars, die Feuermagier waren, hatten sie eine kleine Schale mit Talg, die sie anzündeten und sich daran wärmen konnten. Vor allem die Kinder wurden von ihren Eltern oder Verwandten vor dem eisigen Wind geschützt und dicht an die Schale gesetzt. Puran hatte Leyya auf seinen Schoß gesetzt und sie lehnte sich vertrauensvoll an seine Brust, während sie Ruja und das Baby beobachtete, das jetzt etwas umständlich durch die viele Kleidung der Frau gestillt wurde. Es war nicht ganz einfach, das Baby an die Brust zu legen, da es viel zu kalt war, um die Brust groß zu entblößen, abgesehen davon, dass die Männer der Gemeinschaft die Telepathin allesamt neugierig anguckten, jedoch ohne etwas zu sagen. Saidah quengelte aber nicht mehr, als sie satt war und der Schein des Feuers sowie die Umarmung ihrer Mutter sie wärmten.

„Und jetzt?“ machte Keisha und sah hinaus in den tobenden Schneesturm, „Tu doch etwas, Tabari, dass dieser Wind aufhört, Himmel! Wie sollen wir morgen weiter gehen?“

„Über die Berge, da sind wir windgeschützter.“, meinte Neron Shai blinzelnd. Meoran war anderer Meinung.

„Aber in den Bergen können wir von Schneelawinen erschlagen werden. Nein, wir müssen die Berge morgen wieder verlassen und die Enge über den Wiesen durchqueren. Am besten halten wir auf die Stadt Nuiq zu, allerdings fernab der Straßen, das ist zu riskant.“

„Dann gehen wir ja beinahe den Weg zurück, den wir einst nach Kerhi-Uhl gekommen sind!“ bemerkte Puran empört, „So eine Zeitverschwendung.“

„Sei dankbar, ohne diese Zeitverschwendung hätten wir nicht eineinhalb Jahre in Frieden gelebt!“ entgegnete sein Vater trocken. „Meoran hat recht, wir werden quer feldein gehen, um so schnell wie möglich nach Aughot zu gelangen. Diese Reise wird einige Tage in Anspruch nehmen, wir haben kleine Kinder dabei und sind deshalb langsamer als auf dem Hinweg. Meoran, sorge dafür, dass deine Geier alles erkunden, vor allem, was die Provinzhauptstadt Pinhu angeht. Da haben die Zuyyaner unter Garantie ein Nest mittlerweile, eines, das sich bis nach Aughot herüber zieht und die Bergenge zum Hochland blockiert. Und genau dieses Nest… werden wir zerschlagen.“

Die anderen schwiegen beunruhigt, während Meoran sich erhob, Ruja flüchtig über die Haare streichelte und dann gehorsam die Nische verließ, um nach seinen Spähern zu rufen.

„Das ist Wahnsinn, Tabari.“, bemerkte Tare Kohdar benommen, der seine älteste Nichte auf dem Schoß hatte. „Das sind Massen von Kriegern, denen wir da gegenüber stehen… und wir sind acht Männer und eine Frau. Wir sind nicht mal ein Dutzend, oh mein Himmel…“

„Ja, wir sind in deren Augen eine kleine Stecknadel… und sie sind ein Vorschlaghammer.“ Der Herr der Geister richtete den Kragen seines schwarzen Umhanges und sah in die Runde. „Aber sie sind in einem fremden Land, sie sind hierher gekommen ohne das geringste Wissen über Tharr, über Kisara oder über uns Schamanen. Wir… haben die Geister der Natur. Vater Himmel und Mutter Erde werden dieses Eindringen in ihr Land nicht dulden. Sie werden uns unterstützen… und die Natur ist ein Gegner, den selbst zehntausend Mann nicht besiegen können. Wenn wir uns diesen Vorteil zu Nutze machen, Freunde, dann haben wir vielleicht eine Chance.“

Vielleicht, sagt er.“, grummelte Henac Emo. Nalani brummte.

„Wenn du zu feige bist, lauf doch davon und verkleinere diese Chance noch mehr!“ Er schwieg darauf. Tabari senkte seinen Kopf.

„Ihr dürft keine Furcht haben.“, murmelte er dabei, „Furcht ist… jetzt das Einzige, was uns wirklich zum Scheitern verurteilen könnte.“
 

Die Reise über das Land war anstrengend und gefährlich. Der Schneesturm ließ einen Tag später nach, aber er ließ eine klirrende Kälte zurück über Anthurien, das die Schamanen jetzt durchquerten. Sie waren langsam und nicht nur die Kälte zehrte sie aus, als sie nach Westen wanderten; die Vorräte waren auch knapp bemessen, der Hungermond machte seinem Namen alle Ehre. Es gab kaum Wild, das die Männer erlegen konnten, und wenn sie doch welches fanden, war es mager. Der Schnee war so hoch, dass er den Männern bis zu den Knien reichte, die kleineren Frauen und die Kinder hatten es nicht leicht, darin zu gehen; oft benutzten sie den Feuerzauber Vaira, um sich den Weg frei zu schmelzen, wenn es nicht weiter ging. Wenn der so gewaltsam geschmolzene Schnee wieder überfror, wurden die Wege spiegelglatt, die sie passierten, und das Gehen wurde dadurch auch nicht weniger mühsam. An der Glätte wiederum fanden die Kinder Spaß.

„Man kann wie auf dem See mit Eisschuhen rutschen!“ johlten die beiden kleineren Mädchen von Barak Kohdar, „Wir haben zwar keine Eisschuhe mit Kufen unten dran, aber das geht auch ohne. Wenn wir alle rutschen, sind wir sicher schneller!“

„Passt auf, dass ihr nicht fallt!“ sorgte sich die Mutter der Mädchen nur, als diese kichernd über die glatten Wege schlitterten. Leyya kicherte auch und sah ihnen zu, wie sie spielten; einerseits hatte sie plötzlich auch Lust, mit den Mädchen herum zu rutschen, aber sie blieb artig an Purans Hand und spielte erwachsen.

„Ich bin für solche Spiele schon zu groß!“ behauptete sie energisch, und Keisha, die neben ihr und Puran wanderte, lachte los.

„Ja, du bist schon sehr erwachsen, Leyyachen! Du bist ja auch unsere Nachwuchsheilerin, es ist sehr wichtig, dass du groß und vernünftig wirst.“ Die Kleine errötete etwas verlegen, aber auch stolz. Sie war stolz darauf, Keishas Schülerin sein zu dürfen; die blonde Frau brachte ihr viel bei in Sachen Heilkunde, sie machte aus ihr eine tolle Medizinfrau, das wusste sie. Und Keisha wusste, dass das Mädchen aus Makar ein wahnsinnig großes Potential hatte… Leyya könnte eine sehr viel größere Heilerin werden als sie, Keisha, es jemals gewesen war. Es war sehr wichtig, dass sie sie gut ausbildete und ihr alles beibrachte, was sie wusste… sie war eine alte Frau. Wer wusste schon, wie lange sie die Gelegenheit hatte, der Kleinen etwas beizubringen…?
 

Das Passieren der Kleinstadt Nuiq wurde ein kleines Abenteuer für die Gruppe. Schon aus dem Schutz eines nahen Waldes heraus sahen sie, dass die Zuyyaner die Stadt eingenommen hatten und als Lager benutzten. Unbemerkt über den Fluss Oeni zu kommen, an dem die Stadt lag, würde nicht leicht. Sie ließen Meorans Spitzel, die Krähen, die Wachposten des Lagers in Nuiq beobachten, um dann ein Stück Flussabwärts einer nach dem anderen über den zugefrorenen Fluss zu kriechen, so schnell wie möglich im schützenden Wald westlich der Oeni verschwindend. Jedes Kind wurde von jemandem über den Fluss getragen; Hakopa Kohdar und seine jüngste Enkelin wären beinahe entdeckt worden von den Zuyyanern in Nuiq, aber durch ein geschicktes Ablenkungsmanöver Meorans und der Krähen über der Stadt geschah nichts weiter. Als Tabari als letzter den Fluss überquert hatte und alle in Sicherheit im Wald waren, suchten sie sich eine Raststelle, um zu übernachten, möglichst ein gutes Stück südlich von Nuiq. Sie fanden ein dichtes Gestrüpp, dessen immergrüne Zweige ihnen ein kleines Dach boten. Sie machten kein Feuer, es war einfach zu riskant, dass sie von Patrouillen aus der Stadt gesehen würden. Demzufolge war es kälter als sonst in dieser Nacht; und das war nicht alles.

„Wir werden nur kurz ausruhen und dann sofort weiter gehen, bis die Sonne am Himmel steht.“, entschied Nalani nämlich, „Wir sind jetzt nicht mehr weit weg von Pinhu und der Bergenge, viel dichter gibt es keine weitere Möglichkeit, zu schlafen… das wird der letzte Schlaf sein, den wir finden, bevor wir es morgen mit der Armee zu tun bekommen.“

Die Kinder drückten sich etwas beunruhigt an ihre Eltern oder auf wessen Schoß sie sonst gerade saßen; selbst Leyya konnte jetzt nicht mehr erwachsen tun und schüttelte sich unwillkürlich.

„Es wird gefährlich, oder, Puranchen?“ nuschelte sie gedämpft, und er seufzte.

„Ja, das wird es. Vertrau mir… oder meinem Vater, besser gesagt. Ich sorge dafür, dass du nicht stirbst, Leyya.“ Sie schwieg bedrückt.

„Und all die anderen?“

„Wir passen auf uns auf, sorge dich nicht.“ Er hob den Kopf und sah zu Ruja. „Was ist mit dir? Bist du schon wieder fit genug, um deine Barriere zu machen? Irgendwie müssen wir die Kinder durch die Enge schleusen, oder?“ Die Telepathin nickte.

„Ich werde mein Bestes geben.“

„Natürlich werden wir… den Krieg nicht beenden können mit diesem einen Streich.“, warf Tabari ernst ein und hob den Kopf, „Aber wir können ihnen mit Glück einen großen Denkzettel verpassen. Sie sollen nicht glauben, die Geister von Tharr und ihre Vertreter würde zulassen, dass sie so über uns herfallen… und sie werden bluten und sich denken… Ah, diese Welt hat ihren eigenen Geist. Obacht, Leute, wenn wir einen Schritt in die falsche Richtung tun… sind wir tot.

„Dass die das denken ist sehr… optimistisch.“, bemerkte Henac Emo.

„Dass sie überhaupt denken ist optimistisch genug, finde ich.“, war Meorans Kommentar dazu, „Nahezu utopisch.“

„Hört zu!“ riss der Blonde das Wort wieder an sich, „Wir haben den Vorteil des Überraschungsangriffes – wenn nicht irgendetwas schief gelaufen ist in unserer Planung ahnen die nichts davon und rechnen noch weniger damit, dass es jemand wagt, sie anzugreifen. Sie werden uns entgegen kommen, da sie nach Kerhi-Uhl wollten, um uns zu erschlagen, wie ich denke… am besten, wir laufen ab durch die Mitte. Das wird ein anstrengender Tag, Freunde, also schlaft euch gut aus, ihr werdet es brauchen; ehe wir dort sind, trennen uns noch einige Meilen von der Bergenge bei Aughot.“
 

Es wurde still im Gestrüpp, als die meisten sich schlafen legten oder es zumindest versuchten. Nalani hockte am Rand der kleinen Gruppe mit dem Rücken zu den anderen und sah in den finsteren Westen. Ihre Arme umschlangen ihre angezogenen Knie, auf die sie seufzend den Kopf legte, ehe sie spürte, wie jemand mit der Hand durch ihre schwarzen Haare strich und sich dicht neben sie setzte. Sie hatte sie wieder geschnitten und mehr schlecht als recht zusammengebunden, damit sie ihr bei der Wanderung und im bevorstehenden Kampf nicht im Weg waren. Die Frau erzitterte, während Tabari sich leise räusperte und ihr einen Arm um den Rücken legte.

„Du schaust besorgt… wie eigentlich immer, aber dennoch anders.“, bemerkte er scharfsinnig, „Was bedrückt dich?“ Sie seufzte erneut und schwieg eine Weile, während sie fühlte, wie er sie behutsam streichelte. In Tagen wie diesen mochte sie es gern, wenn er zärtlich mit ihr war, und das kam nicht oft vor. Tabari wusste das genauso gut wie sie und es war immer beunruhigend, wenn Nalani Zärtlichkeit wollte.

„Die Erde ist nervös, genau wie ich, Tabari. Es wird nicht leicht werden… meine Träume bringen mir Schatten und Tod…“ Sie erzählte nichts weiter von der Knochenspirale, die sie in der letzten Zeit öfter gesehen hatte und die sie beunruhigte.

„Das tun sie oft, oder?“ murmelte ihr Mann neben ihr und zog sie zärtlich an sich heran, bevor er den Kopf zur Seite beugte und ihr einen Kuss auf die Wange setzte.

„Denkst du wirklich, die Zuyyaner haben nach dem morgigen Tag Angst vor uns, Tabari?“

„Hm? Was meinst du?“

„Du hast gesagt, wir würden ihnen einen Denkzettel verpassen… ich denke nicht, dass sie tatsächlich Respekt vor unseren Geistern bekommen werden danach. Diese Zuyyaner denken nicht, sie sind Maschinen. Sie tun, was man ihnen sagt, und nichts anderes. Und es werden mehr kommen, fürchte ich… wir können sie nicht schlagen.“

„Nicht alle… aber wir werden sie genug erschüttern, glaub mir, Nalani. Natürlich können wir nicht alle erledigen, dieses Lager bei Aughot ist ja nicht das einzige, das sie haben… die Zuyyaner sind Menschen aus Fleisch und Blut, genau wie wir. Sie können fallen und sie werden, Nalani.“

„Das bezweifle ich nicht… ich zweifle nur daran, dass sie dann aufgeben. Sie werden weiter machen und nichts wird sich ändern, außer dass es vielleicht fünfhundert von ihnen weniger gibt, wenn wir gut sind.“

„Fünfhundert? Hach, ich setze auf eintausend.“

„Mach keine Witze.“

„Mache ich nicht, ich meine das ernst… eintausend, und wenn ich die alle selbst erledige. Vielleicht wettet Meoran mit mir.“ Seine Frau seufzte und lehnte sich jetzt an seine Schulter. Eine Weile schwiegen sie.

„Denkst du, wir sterben morgen?“ Der Blonde musste leise glucksen.

„Oh, nein. Aber falls ich mich irre…“ Er hob den kopf und sah sie an, bevor er ihr mit einer Hand über die Wange strich und sich dann zu ihr beugte, um sie kurz, aber zärtlich zu küssen. „Ich liebe dich, Nalani, Schattenkönigin. Für immer…“ Er grinste sie zuversichtlich an und sie konnte nicht anders als zu lächeln, den Kopf senkend.

„Scherzkeks…“ murmelte sie, ehe sie sich etwas dichter an seinen warmen Körper kuschelte und mit der Hand gedankenverloren über seine Brust zu streicheln begann. „Ich dich nicht, kein Stück.“ Dass ihre Worte nicht im Entferntesten ernst gemeint waren, hätte ein Blinder gesehen, und Tabari kicherte auch nur.

„Wer ist hier der Scherzkeks?“
 

Am Morgen ging eine blutrote Sonne auf im Osten. Die Menschen waren schon vor dem Sonnenaufgang losgezogen und kehrten der Blutsonne den Rücken, als sie auf die Bergenge von Aughot zuhielten. Einen weiten Teil des Weges trugen sie die Kinder, um schneller durch den Schnee zu kommen, erst, als sie am Nachmittag den Wald von Madah knapp nördlich von Pinhu und Aughot fast durchquert hatten, ließen sie sie herunter. Hier war der Schnee nicht so hoch wie er es in Kerhi-Uhl gewesen war. Am Rande des Waldes konnten sie das Nest der Eindringlinge bereits erkennen.

„Südlich von uns liegt Aughot.“, sagte Tabari trocken, als sie im Wald hockten und hinaus spähten auf die Stadt, die jetzt direkt vor ihnen lag. Das Lager der Zuyyaner war nicht nur groß, es war gewaltig. „Ruja, bleib mit Pinhi, Keisha und den Kindern hier. Wenn nötig, flüchtet nach Westen in den Schutz der Ausläufer der Berge. Wenn der Weg frei genug ist, kommt durch die Bergenge, wir werden euch ein Zeichen geben.“ Die Telepathin nickte, indem sie Keisha ihre Enkelin Saidah in die Arme legte und ihre Hände ausschüttelte, bereit, die Barriere um sie alle zu bauen.

„Sie werden fliegen, Tabari, du weißt, was du zu tun hast.“, meinte Meoran und erhob sich ebenfalls, „Dann ist jetzt der Tag gekommen, vor dem wir uns lange gefürchtet haben.“

„Die Zuyyaner werden gleich mehr Grund haben, sich zu fürchten.“, grinste Neron, dem seine treue Begleiterin zur Seite stand.

„Was ist mit der denn, die kann doch nicht mit in den Kampf…“ machte Puran verdutzt, „Sie ist doch noch ein Kind!“

„Keine Angst, Saja hält was aus.“, erklärte sein Kollege und tätschelte der Blonden den Kopf, „Du würdest es bedauern, wenn sie nicht mitkäme.“

„Seid ihr soweit?“ fragte Nalani von vorne, die sich jetzt auch erhob und der Reihe nach alle ansah, zuletzt fiel ihr Blick auf ihren Mann, der die Arme ausstreckte. „Staub und Schatten, Tabari… mehr lassen wir nicht übrig von ihnen!“ Der Herr der Geister schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, brannte darin das Feuer der Magie, das Feuer seiner Macht über den Wind, und er riss die Arme empor in den Himmel.

„Staub und Schatten, Freunde!“ Als er die Arme ganz hoch riss, hob Nalani ihre Hand mit Kadhúrem ebenfalls, und mit einem Krachen färbte sich der Himmel über ihnen schwarz.
 

Vor dem großen Lager bei Aughot, das die Bergenge zum Hochland blockierte, erwarteten die Zuyyaner die Gruppe bereits, als sie mit gezogenen Waffen aus dem Wald kamen. Allen voran stand der Befehlshaber vom letzten Mal, Nalani erkannte ihn wieder. Hinter ihm stand die Armada – es war nicht annähernd das, worüber Tabari in der Nacht noch gewitzelt hatte… wenn sie hier heil durchkommen wollten, wären es am Ende nicht eintausend tote Zuyyaner, sondern für jeden von ihnen eintausend.

„Du hast die Lage… leicht unterschätzt, oder?“ fragte Meoran seinen Freund sarkastisch, „Das wird Arbeit.“

„Vertrauen.“, war die Antwort des Älteren, „Hab Vertrauen, Meoran.“ Er drehte den Kopf nach vorne und sah seinem Feind ins Gesicht. Der andere Mann hatte seinen Helm abgenommen und seine strohblonden Haare offenbart, die ihn irgendwie weniger gefährlich aussehen ließen als er war.

„Ich warte schon auf Euch, Schamanen.“, sagte er auf der Einheitssprache, „Eigentlich wollte ich ein Bataillon in den Osten senden, um euch zu erledigen, aber dass ihr freiwillig auf den Servierteller spaziert macht natürlich alles leichter. Ich bewundere Euren Mut… Ihr seid der Herr der Geister, das Oberhaupt des Rates der Schwarzmagier, nicht wahr?“ Tabari nickte.

„Das ist richtig, ich sehe, Ihr habt Euch schlau gemacht, lesen könnt Ihr also. Hervorragend, wird Euch leider nichts nützen.“

„Keine Sorge, habe ich nicht erwartet. Ich habe mich nach der Niederlage bei Iters Turm etwas schlau gemacht, ja. Eure Existenz passt seiner Majestät, dem Kaiser, nicht, und ich wurde vertrauensvoll damit beauftragt, dem ein Ende zu bereiten.“ Er neigte seinen Kopf und setzte den Helm wieder auf, ehe er eine Hand hob und die Soldaten hinter ihm vor rückten, die Waffen und zum Teil die bloßen Hände hebend. „Dann wollen wir mal nicht weiter Tee trinken, hier ist er verdammt noch mal kalt.“ Tabari hob die Arme erneut, als der Befehlshaber seine senkte. „Tötet sie, Männer, und lasst keinen von ihnen am Leben!“
 

Den Versuch, zu fliegen, starteten die Zuyyaner gar nicht erst, sie stürzten sich zu Fuß frontal auf die kleine Gruppe der Geisterjäger.

„Staub und Schatten.“, keuchte Nalani noch einmal, bevor sie ihren Dolch Kadhúrem in die Luft riss und es aus dem schwarzen Himmel grollte. Wie gigantische Wellen krachten die Fronten der Zauber von beiden Seiten aufeinander. Die Welt versank in Finsternis und nur das grelle Blitzen des Feuers der Kohdars und der Zuyyaner erhellte sie. Das Kampfgetümmel, das Schreien und das Grollen des Himmels vereinten sich zu einem dauerhaften Brummen in Purans Ohren. Er wusste nicht genau, ob er das, was er tat, bewusst oder mehr unbewusst machte, während er mit simplen Handbewegungen und ein paar Windmessern versuchte, sich einen Weg nach vorne durchzuschlagen. Er sah irgendwo weiter links Nerons Schlangenschwert blitzen, rechts brannte das Feuer, aus dem Himmel kam der Schatten von Kadhúrem gefolgt von Meorans Geistervögeln herab gestoßen wie ein bösartiger Pfeilhagel. Er fuhr herum, als sich plötzlich ein weiterer Soldat auf ihn stürzte, und zischend riss er seine rechte Hand hoch und schmetterte den Mann mit einem Krachen und einem gleißenden Blitz aus seinen Fingern zurück und zu Boden.

Ein Krachen ertönte, gefolgt von einem hellen Blitzen unmittelbar neben ihm, und Puran hechtete zur Seite und wich dem Feuerschlag eines weiteren Zuyyaners aus, der mit seinem mächtigen Zauber das Land erschütterte und die Erde in Brand steckte. Dann erwischte ihn ein Schlag von hinten und schleuderte ihn zu Boden, er überschlug sich hustend und war zu seinem Glück schnell genug wieder auf den Beinen, um den nächsten Angriff seines Gegenübers mit einer Katura abwehren und zurückschmettern zu können. Als er sich keuchend ganz aufrappelte, erkannte er in seinem Gegenüber den Befehlshaber persönlich. Und nicht nur das…

„Ich habe dich in meinen Träumen gesehen…“ murmelte der Jüngere dumpf und erinnerte sich an die Fratze, die ihn in seinen Visionen angesehen hatte, an die blauen Augen, in die er jetzt auch sah. Er keuchte und ballte die rechte Hand zur Faust, zu nervös, um sich richtig auf die Waffe zu konzentrieren, die er beschwören wollte. Er ignorierte das grölende Getümmel um sich herum, denn die Soldaten schienen um ihren Anführer und ihn jetzt einen Bogen zu machen, während besagter Befehlshaber sein Schwert zog und begann, wie ein Raubtier um seine Beute um Puran herum zu gehen, ihn dabei nicht aus den Augen lassend.

„Ich habe auch von dir geträumt… du bist das Nesthäkchen, du bist des Ratsführers einziger Sohn.“, sagte er dabei lauernd, „Ich habe mich gewundert, was an dir wohl so speziell sein mag, dass Katari es für nötig hält, dich mir zu zeigen…“ Puran schnaubte und behielt den Älteren im Auge, seine Hände warnend empor reißend.

„Dann komm und finde es heraus!“

„Na, so stürmisch? Ich habe mir sagen lassen, ihr Schamanen seid so fixiert auf den Schutz der… Lebensgeister, so nannte es sich? Töten wäre in eurem Volk eine Schande, oder so…?“ Der Schamane spuckte ihm vor die Füße.

„Das gilt nicht für euch, ihr seid Maschinen! Ihr tut nur das, was man euch befiehlt, habe ich nicht recht? Das hat nichts mehr mit Lebensgeistern zu tun.“

„Ah, verstehe. Ja, ich folge meinen Befehlen… aber das tust du doch auch… nur, dass es in deinem Falle Geister sind, die dir befehlen, und keine Menschen…“ Er grinste amüsiert, und Puran stierte ihn wütend an, die Arme herum reißend, und seine grünen Augen blitzten zornig.

„Ich bin keine seelenlose Marionette wie ihr verfluchten Zuyyaner es alle seid, ich kenne meine Grenzen! Und deine zeige ich dir!“ Ehe er hätte zaubern können, war der blonde Mann ruckzuck über ihm und er keuchte, als er das Schwert des Älteren noch auf sich zugerast kommen sah; reflexartig riss er den Arm hoch und durch den Selbstschützungsinstinkt, der ihm innewohnte, erschien mit einem grellen Blitzen das Geisterschwert in seiner Hand, das die Waffe des anderen mit einem lauten Krachen abblockte.
 

Nalani schnappte nach Luft und wirbelte herum, ehe sie den Kerl, der sich auf sie hatte stürzen wollen, skrupellos mit ihrem Dolch abstach, sodass er röchelnd zu Boden sank. Schon kam der nächste von der anderen Seite und sie riss beide Arme hoch, um mit einem Schwall aus Finsternis aus ihren Armen das Eis verschwinden zu lassen, das man auf sie schmetterte.

„Tabari, ich bringe dich um, wenn wir das überleben!“ fauchte sie dabei ihren Mann an, der nur knapp von ihr entfernt mit seiner Windkontrolle beschäftigt war. Zwischendurch fand er die Ruhe, eine Hand nach vorne zu reißen und eine Gruppe von Soldaten mit einem messerscharfen Windzug niederzustrecken.

„Warum, weil die eintausend nicht stimmten?“ brüllte er zu ihr herüber gegen den Lärm der Schlacht an, „Jammere nicht, Nalani! – Pass auf, hinter dir!“ Sie fuhr noch herum, aber Tabari war schneller und hatte den heimlichen Angreifer mit einem weiteren Schwenker seiner Hand mit einer Windböe enthauptet. Seine Frau schnaufte.

„Ich habe alles unter Kontrolle, hör auf, mich zu retten!“

„Oh, jetzt wird sie bissig!“ feixte der Blonde albern und Nalani sprang in die Luft und parierte den Schwerthieb eines weiteren Gegners, stieß ihn mit Kadhúrem zurück und parierte wieder, als er irrsinnig schnell wieder auf sie zu preschte. „Nur die Ruhe, Königin…“

Ruhe?!“ blaffte die Magierin ihn an und beendete den fleißigen Schlagabtausch mit dem Zuyyaner prompt, indem sie die freie Hand hoch riss und ihn mit einem Wasserzauber unerwartet viele Fuß zurück schmetterte, sodass er auf den Boden aufschlug und sich das Genick brach. „Ich gebe dir gleich Ruhe, Tabari Lyra! Wo ist Puran, siehst du ihn irgendwo?! Mir gefällt das hier nicht, Himmel!“

„Ich sehe nichts, der wird schon klar kommen, ich sehe nur Feuer und Qualm!“ Der Mann drehte den Kopf seinerseits nach rechts und schlug einem neuen Feind mit bloßer Faust so kräftig ins Gesicht, dass der zu Boden ging, wo ihn dann ein einfacher Windzauber niederwarf. Nalani fluchte ungehalten, als jetzt zwei auf einmal auf sie zu stürzten, und sie riss ihr zweites Kurzschwert aus dem Gürtel und parierte beide Angriffe zugleich, was nicht einfach war; Tabari keuchte entsetzt, als der eine der Männer zur Seite sprang, ihrem Hieb auswich und seinerseits beinahe ihren Kopf abgeschlagen hätte, hätte ihn nicht plötzlich ein herumfliegender Flammenwurf erfasst und ihn in Brand gesteckt. Nalani erschlug den zweiten Soldaten mit dem Dolch und fuhr wutentbrannt herum.

Du sollst mich nicht retten! “ keifte sie, und Tabari stöhnte.

„Ich war das nicht, das war Feuer, das war sicher einer der Kohdars! Mann, du bist erregend, wenn du so herum brüllst, wären wir nicht mitten in einer Schlacht, würde ich dich jetzt auf der Stelle lieben…“

„Holen wir nach, wenn wir Ruhe haben!“ feixte sie bissig und wandte sich wieder den Soldaten zu, die sich auf sie stürzten.
 

Die Welt lag im Schatten. Das Feuer des Lagers warf bizarre Lichter in den düsteren, vom Qualm schwieligen Himmel. Meoran sah hinauf und drehte sich dann herum, dabei mit einer heftigen Armbewegung und einem Schwenk der Krähenfeder in seiner Hand einen weiteren Soldaten niederschlagend.

„Barak!“ rief er durch das Getöse des Infernos und fuhr abermals keuchend herum, dieses Mal in die andere Richtung, „Es wird Zeit, dass wir die Frauen und Kinder durch die Bergenge schleusen, wie sieht es aus?!“

„Wir brennen den Weg frei!“ Der Ältere fuhr herum und riss das verbliebene Auge auf, das nicht hinter der Binde versteckt war: „Himmel, Meoran, dreh dich um!“ Meoran fuhr nach hinten und im nächsten Moment wurde er von einem der Angreifer gepackt und von irgendetwas grauenhaft Schmerzhaftem zu Boden gestoßen. Er riss seinen Arm herum und schaffte es mit einem eher weniger gezielten Blitz aus seiner bloßen Hand, dem Zuyyaner über sich den Unterarm abzutrennen, während er am Boden lag. Der Mann über ihm schrie auf, verzerrte vor Wut das Gesicht unter dem Helm und holte aber blitzschnell mit dem verbleibenden Arm aus, um einen neuen Eiszapfen auf ihn zu schmettern. In dem Moment erfasste ihn ein Flammenwirbel von der Seite und er stolperte abermals schreiend zurück, Meoran rappelte sich schwer keuchend auf und strauchelte.

„Ist ja grauenhaft!“ empörte er sich, hob die Hand mit der Feder und warf sie auf den brennenden Mann. Als sie ihn traf, zuckte er kurz und stürzte dann zu Boden, ohne sich jemals wieder zu rühren. Barak Kohdar erreichte seinen Kollegen hustend.

„Bist du verletzt?! – Du liebe Güte, du hast ein Eis am Stiel im Bein…“

„Zieh das da jetzt ja nicht heraus, so blutet es wenigstens nicht.“, seufzte Meoran und tippte den doch beachtlich großen Eiszapfen in seinem Oberschenkel an. Es schmerzte aasig, aber er ignorierte die Wunde und zog aus seiner Tasche eine neue Feder. „Meine Mutter wird das schon machen!“ beruhigte er Barak dann, der ihn skeptisch anstarrte. „Rasch jetzt, halt mir den Rücken frei, wenn ich Ruja und die anderen hole. An uns liegt es jetzt, dass unsere Familien hier heil durchkommen! Ich hoffe für Tabari, dass er seinen Wind im Griff hat!“ Mit diesen Worten und einem Blitzen aus dem Himmel riss er den Arm mit der neuen Feder empor und sprang dann in die Luft; Barak zog aus seinem Gürtel sein Schwert und wehrte tapfer ein paar Feinde ab, während sein Kollege hinter ihm in die Luft flog, rasch und als würde die eine Feder sein Gewicht problemlos tragen können. Die Mitglieder des Chimalis-Clans, des Clans der Kondorgeister, hatten das Privileg, mit einer bestimmten Technik fliegen zu können, wie die Zuyyaner es konnten. Und es ersparte einige Zeit und Mühe, da Meoran sich so über die entsetzten Krieger der fremden Welt hinweg bewegen und zu Ruja und den anderen gelangen konnte, die am Rande der Bergenge geschützt von der Barriere hinter einer Felswand warteten.

„Du bist da!“ rief die Telepathin erleichtert, ihren Mann unversehrt zu sehen – bis auf den Eiszapfen, den aber alle ignorierten. „Dann gehen wir einfach da durch?“

„Rasch, und bleib dicht hinter mir, und lass ja die Barriere oben.“, war Meorans Ansage, und er sah hinter Ruja Leyya, seine Mutter, Baraks Frau und deren Kinder hervor lugen. „Das ist wie mit einem Regenschirm, er schützt vor Wasser, so schützt die Barriere euch vor den Angriffen, so hoffe ich. Bleibt auf alle Fälle so dicht wie möglich zusammen und rennt, so schnell wie ihr könnt! Seht nicht zurück, rennt einfach. Denkt an das Ziel, die andere Seite dieses Feuers… die andere Seite des Lagers! Ihr habt nur dieses Ziel vor Augen – Ruja, sieh mich an!“ Er fuhr sie scharf an und sie nickte heftig. Sie war nervös… sie war die einzige, die diese Barriere erhalten konnte… wenn sie versagte, wären sie alle verloren. In ihren Händen lagen jetzt die Leben von Pinhi, Keisha und den Kindern.

Ihrer eigenen kleinen Tochter, die auf den Armen der Großmutter zu jammern anfing.

„Ruja, hast du mich verstanden?“ herrschte Meoran seine Gemahlin streng an, „Von dir hängt das ab, egal, was du siehst, egal, was passiert mit Barak, mir oder sonst wem, du musst hier durch! Du musst weiter rennen! Verstanden? Sei ein gutes Mädchen, meine Hübsche.“ Die Schwarzhaarige keuchte und zitterte. Dann nickte sie abermals, heftiger als zuvor.

„Geh! Ich werde dir folgen! Rennt, Leute!“
 

Sie rannten. Meoran wich nicht von der Seite der schützenden, schwach leuchtenden Blase, in der die Frauen und Kinder waren, als führte er ein Pferd durch das Schlachtfeld. Von der anderen Seite stieß Barak Kohdar später dazu, und sie rannten quer durch das zerstörte, brennende Lager. Ein ohrenbetäubendes Krachen direkt neben ihnen und ein grelles Aufflammen des Infernos ließen sie zusammenfahren, als das Feuer der Zuyyaner auf das von Tare und Hakopa Kohdar traf. Die beiden Fronten aus purer Magie explodierten mit einem Donnern und einem Beben der Erde.

„Nicht umdrehen! Weiterlaufen!“ fuhr Barak die Frauen an, als seine Frau Pinhi sich besorgt weinend nach ihrem Schwager und ihrem Schwiegervater umsah, ihren kleinen Sohn auf dem Rücken tragend. Das Kind fand die Aufregung amüsant.

„Macht sie fertig, Opa und Onkel!“

„Rennt weiter, nicht einschlafen! Rennen!“ schrie Barak empört und seine Frau heulte verzweifelt vor Panik. Ruja keuchte. Feuer, überall! Die ganze Welt schien zu brennen… es war wie damals, als Tuhuli überrannt worden war. Sie hörte die Schreie von Menschen aus der Ferne – waren es Soldaten von Zuyya oder ihre Kameraden? Sie konnte es nicht ausmachen… sie hörte Pinhi hinter sich heulen und die kleine Saidah wie am Spieß plärren, und sie rannte und rannte, bis ihre Füße zu schmerzen begannen und die Luft sich aus ihren Lungen wrang wie Wasser aus einem Wischlappen.

Sie hasste Feuer. Sie verabscheute es so dermaßen… Feuer brachte böse Erinnerungen. Nicht nur an das Inferno von Tuhuli… mit Schmerzen dachte sie hysterisch an den Tod von Meorans Cousine Enola, nach dem halb Sinami in Brand gestanden hatte… und noch schlimmer erinnerte es sie an den Tod ihres Schwiegervaters Nomboh.

Nomboh, der sie aus dem brennenden Haus gestoßen hatte, der sie gerettet hatte und für sie gestorben war.

Ein peitschendes Knallen unmittelbar neben ihr riss die Frau aus ihren hysterischen Gedanken und sie sah, wie ein zuyyanischer Feuerzauber an der Barriere abprallte und erlosch.

„Ruja, lauf!“ schrie Meoran sie neben der Blase an, „Lauf, denk an nichts! Ich bin bei dir, ich lasse dich nicht alleine! Pass auf die Barriere auf, verdammt!“ Die Frau fuhr herum, als das peitschende Knallen erneut ertönte und sie jetzt von mehreren Seiten zugleich angegriffen wurden. Sie sah aus dem Augenwinkel ihren Mann und Barak Kohdar ein paar Angreifer niederstechen, bis mit einem Mal direkt neben der Blase aus Licht, in der sie und die anderen Frauen und Kinder waren, eine Flammenwand empor schoss wie aus angezündetem Öl. Und durch die Barriere hindurch spürte sie die Hitze und den Tod der Flammen, die ihren Mann plötzlich von ihr trennten, sodass sie ihn nicht mehr sehen konnte.

Und sie hielt an und stieß einen gellenden Schrei aus, als die Panik sie übermannte.

Sie hörte Keisha noch „Nein, nicht, Ruja!“ kreischen, aber es war zu spät; wie eine Seifenblase zerplatzte die Barriere, als die Telepathin blind vor Panik herumfuhr, und hätte Barak sie nicht plötzlich von der anderen Seite gepackt und mit sich gezerrt, wäre sie direkt in die Flammenwand gehechtet.

„Meoran, wo ist Meoran?!“ schrie sie außer sich, „Ich kann nicht rennen, Barak! Meine Füße sind tot, mein ganzer Körper ist tot! I-ich habe diese Kraft nicht…!“

„Rasch, rennt!“ fuhr Barak sie an, hievte sie auf seinen Rücken, als sie in seinem Griff zusammenzuklappen drohte, mit einem Arm schnappte er noch seine jüngste Tochter, die er hoch nahm. Keisha gab Leyya das Baby und nahm stattdessen die zweitjüngste Tochter von Barak auf den Rücken, und ungeachtet der Tatsache, dass sie völlig schutzlos mitten durch das Schlachtfeld liefen, rannten sie weiter, gen Südwesten.

„Lauft, lauft und seht nicht zurück!“ befahl Barak Kohdar den Frauen, bevor plötzlich wieder ein Regen aus Feuer über sie fiel. Sie rannten schneller. Ein kleines Feuerklümpchen traf die älteste der Kohdar-Töchter am Arm, und mit einer freien Hand schlug Keisha so lange auf den kleinen Brandherd ein, bis er erloschen war und das Mädchen nur eine übel schmerzende Wunde zurück behielt.

„Verdammt, schneller! Rasch!“ keuchte Barak und scheuchte die Frauen wie eine Schar Hühner vor sich her, Ruja und seine Tochter immer noch tragend. Ein Blick über die Schulter sagte ihm, dass ihnen eine ganze Horde von Männern folgte, die die Arme gen Himmel rissen. „Oh nein… das nächste Feuer! Lauft doch!“ Und das Zischen der Feuerbälle im Himmel ertönte über ihnen; dieser Regen würde sie nicht so leicht verfehlen wie der letzte, dachte der Mann verzweifelt – doch dazu kam es gar nicht. Der Himmel verdunkelte sich und ein bösartiger, gieriger Schatten verschlang die Magie der Zuyyaner wie Krümel eines Kuchens. Plötzlich waren sie weg, und Leyya, die über ihre Schulter blickte, sah von der Seite einen grellen Blitz quer durch die Reihen der Verfolger schießen, der diese um die Hälfte reduzierte. Dann stolperte Meoran aus der kleiner gewordenen Flammenwand, etwas malträtiert, aber augenscheinlich lebendig, in seiner Hand eine weitere Feder. Auf einem eingestürzten Zelt neben den Frauen und Barak Kohdar tauchte Henac Emo auf, der den Schatten geschickt hatte.

„Pff, ihr schafft aber auch nichts alleine.“, spottete er, „Da lassen wir euch zwei Familienpapas schon die Weiber eskortieren, und ihr vermasselt es beinahe. Du schuldest mir was, Meoran, und du auch, Barak!“

„Du erntest meinen Respekt später, Emo!“ japste Meoran erschöpft, „Jetzt tu, was du tun musst, und Barak, rennt!“ Er beeilte sich, die Gruppe wieder einzuholen, und Ruja stöhnte auf Baraks Rücken vor Erleichterung, ihren Mann lebend zu sehen. Die Panik stand immer noch in ihren Augen; dass sie noch fähig wäre, jetzt eine Barriere zu bauen, bezweifelte eben dieser, und er ließ sie in Ruhe und nahm seinem Kollegen stattdessen die jüngste Tochter ab, die sich heulend an seinen Hals klammerte.

„Die verfolgen uns immer noch, Himmel!“ keuchte Keisha, und ein Schrei von Leyya vor ihr ließ sie erbleichen; als sie nach vorne sah, war ein Soldat direkt in ihre Bahn gesprungen und hätte Leyya samt Baby Saidah beinahe aufgespießt, hätte die kleine Heilerin sich nicht instinktiv geduckt, das Baby schützend an sich pressend. Und ehe der Soldat sich versah, schlug das kleine Mädchen ihm mit der bloßen Faust gegen den Unterarm, schob ihn damit unverhofft zur Seite und rannte weiter. Die Erwachsenen starrten nur verblüfft auf das, was dann geschah, als der Mann keuchend nach seinem Arm fasste, als hätte ihn nicht ein kleines Mädchen, sondern ein Boxer geschlagen. Und während Meoran ihm mit einem Schwerthieb die Kehle aufschnitt, sah er den übel herausstehenden Knochen im Unterarm des Kerls, verzog angewidert und verblüfft zugleich das Gesicht und rannte weiter. Eine Feuerkugel schoss von hinten direkt an Keishas Ohr vorbei und sie schrie entsetzt. Die beiden Männer fuhren herum, als die Verfolger plötzlich aufgeholt hatten und jetzt zum Angriff übergingen.

„Da vorne!“ schrie die älteste Tochter von Barak, „D-da ist das Ende, das Feuer ist weg! Wir schaffen es, lauf, Mutti!“

„Verdammt, rascher!“ schrie Meoran die Frauen an und schob seine stolpernde Mutter energisch vor sich her, „Verdammt, schneller!“ In dem Augenblick, in dem sie das letzte, brennende Zelt des Lagers passierten, ertönte unmittelbar hinter ihnen ein lautes, tosendes Grollen. Die Erde erzitterte in einer Heftigkeit, dass sie die Gruppe beinahe von den Beinen geworfen hätte. Als sie die Bergenge passiert hatten und hinter dem Inferno im Schnee standen, drehten sie sich keuchend und japsend um, um zu sehen, was passiert war.

„Das ist… nicht möglich!“ machte Barak Kohdar und ließ Ruja von seinem Rücken klettern. Es hatte ein kleines Erdbeben gegeben und der Boden war genau unter den Verfolgern zusammengebrochen, an ihrer Stelle türmte sich jetzt ein kleiner Steinwall auf. Und daneben hockte Nerons kleine Begleiterin Saja, die Hände auf die Erde gelegt. Neron Shai stand hinter ihr und fing einen entflohenen Soldaten mit seinem Schlangenschwert. Die sich schlängelnde Klinge wickelte sich um das Bein des Mannes, riss ihn in die Luft und schleuderte ihn in hohem Bogen weg, wobei er schrie und strampelte, ehe er gegen die Berge knallte.

„Das hätten wir.“, meinte der junge Mann zufrieden. „Saja, bleib bei den Frauen und Kindern jetzt, gut gemacht. Meoran, was ist mit dir, du siehst so fertig aus?“ Meoran atmete röchelnd ein und aus. Die Wunde in seinem Bein war nicht das Einzige, was ihn schwächte, die Luft war auch überall, nur nicht in seiner Lunge, und er strauchelte.

„Ich bin in Ordnung! Rasch jetzt, wir m-müssen zurück…“

„Bleib du hier.“, meinte Barak auch besorgt, „Du bist aschfahl, bevor du da drinnen umkommst, lass dich lieber von Keisha aufpäppeln. Neron! Geh, rasch!“ Mit einem letzten Blick auf seine Frau und seine Kinder rannte Barak Kohdar mit Neron zusammen wieder ins Inferno. Meoran keuchte heftig und sank unwillkürlich zu Boden, fassungslos zurück starrend, wohin die zwei verschwanden.

Was war das denn? So alt war er doch wirklich nicht…? Was war er bloß für eine Schande für seine Ahnen, wenn er jetzt schon müde wurde? Aber ein einziger Versuch, wieder aufzustehen, hätte ihn, so glaubte er, beinahe das Leben gekostet, als plötzlich ein so grauenhafter Schmerz durch seinen Körper fuhr, dass er dachte, er würde tot umfallen – und zu seiner Verblüffung stammte der Schmerz nicht aus seiner Wunde am Bein, sondern aus seiner Brust.
 

Puran parierte keuchend einen weiteren Schwerthieb seines Gegners mit seinem eigenen, obwohl das Geisterschwert gar nicht materiell in seiner Hand lag; es war seltsam, so nur mit einem Schwert aus purer Magie, das nur aus zuckenden Blitzen bestand, zu kämpfen, aber zu seinem Glück gewöhnte er sich rasch daran. Mit einem lauten Krachen knallte die blitzende Klinge gegen die reale des Feindes, und der Befehlshaber riss den Kopf zurück, als der grelle Blitz des Geisterschwertes seinem Gesicht gefährlich nahe kam.

„Eine interessante Waffe hast du, das muss ich dir lassen.“, murmelte er, „Wir werden ja sehen, ob Kataris Zauber die deiner Himmels- und Erdgeister dominieren kann!“

„Nicht, solange wir auf meiner Mutter Erde stehen unter den Augen meines Vater Himmel, Zuyyaner!“ zischte der Jüngere grantig, holte aus und schlug nach dem Blonden. Er duckte sich abermals, aber Puran erwischte mit einem lauten Grollen aus dem Himmel seinen Helm und riss ihn seinem Gegner mit dem Hieb vom Kopf. Das Metall zerbarst unter der Macht der Geister von Himmel und Erde, und jetzt mit ungeschütztem Kopf sprang der Zuyyaner wieder zurück, wich einem weiteren Angriff aus und parierte einen mit seinem Schwert.

„Dafür, dass du noch ein halbes Kind bist, beeindruckend.“, gab der Blonde dann kaltblütig zu hören, „Dann komme ich meinem Ziel wohl näher… herauszufinden, mit wem zum Geier ich es zu tun habe hier.“

„Ein halbes Kind?“ Puran lachte höhnisch, „Wenn du wüsstest, armer Wicht!“ Er riss seinen Arm samt Schwert nach vorne und schlug wieder nach ihm, aber der Mann ließ sich instinktiv zur Seite fallen, sodass das Geisterschwert ihn noch einmal verfehlte. Dann riss er seine freie Hand ebenfalls hoch und jetzt war er es, der sich ducken und zurück springen musste, als plötzlich ein Flammenstoß aus der Hand des Befehlshabers auf ihn zu kam. Reflexartig hob er sein leuchtendes Schwert empor und als der zuyyanische Feuerzauber dagegen prallte, gab es ein unschönes Krachen und eine kleine Erschütterung, die dem Älteren Zeit gab, sich wieder auf die Beine zu rappeln. Zwei treue Soldaten kamen hinter ihn und boten ihre Hilfe an.

„General, Euer Helm…“ machte der eine entsetzt, der blonde Mann schnaubte nur.

„Rasch, tut eure Arbeit, das ist nicht euer Metier hier!“ Die Männer verneigten sich und machten, dass sie weg kamen, als die Erde aus der Ferne ein weiteres Mal erschüttert wurde und selbst Puran jetzt strauchelte. Als er keuchend herum fuhr, stürzte sich der General der Zuyyaner wieder auf ihn und warf ihn unversehens auf die Erde. Sein Schwert hätte den Jüngeren beinahe geköpft, hätte Puran nicht rechtzeitig den Kopf so weit wie nur möglich zur Seite gerissen, sodass die Klinge in die Erde stach. Zitternd schloss er die Augen für einen winzigen Moment, als er am Boden lag und der General über ihm. Mutter Erde dröhnte unter ihm vom Getöse des Kampfes, und sie brummte bösartig tief im Inneren, als der Zuyyaner sein Schwert aus ihrer Haut zog.

Dieser Krieg musste ein Ende finden… und zwar schnell. Die Bilder vom explosionsartigen Feuer des Himmels erschienen vor Purans inneren Augen, und als er keuchte und bereits glaubte, diese Visionen zum definitiv falschesten Zeitpunkt der Welt würden sein Schicksal besiegeln, war es auch schon wieder vorbei. Die Geister wisperten in seinem Kopf.

„Das Ende der Welt wird kommen.“

Nein… grummelte der junge Mann innerlich, Das Ende der Welt ist schon da.

Er holte Luft und riss dann den Arm mit der Waffe hoch, im selben Moment, in dem der Zuyyaner über ihm sein Schwert in seine Brust hatte rammen wollen. Und mit einem ohrenbetäubenden Krachen schlug das blitzende Geisterschwert gegen die Klinge des Mannes und zerschmetterte sie in tausende Scherben, als wäre sie aus Porzellan gewesen. Der General weitete noch die Augen, dann fuhr Puran unter ihm hoch, schlug ihm mit der bloßen Faust ins Gesicht und ihn damit von sich herunter, um auf die Beine zu springen. Und er riss das Schwert hoch und hielt es seinem Gegner heftig atmend an den Hals, worauf der das Kinn reckte und ihn aus seinen hellblauen Augen lange ansah.

„Wahrlich.“, murmelte er, „Ein interessantes Schwert, wie ich sagte. Auch gut, das zu wissen.“ Er tat etwas, was der Jüngere nicht erwartet hatte, denn er grinste feixend, ehe er behände zurück hechtete und damit der Bedrohung der Waffe an seiner Kehle entkam. Ehe Puran sich empören konnte, dass der das so leichtfertig sah, hob der Mann seine leere Hand, den Griff des kaputten Schwertes wegwerfend, und ließ in seiner Handfläche eine grell blitzende Kugel aus Licht erscheinen.

„Die Seelenkugel der Zuyyaner…“ erinnerte er sich mit einem Mal an längst vergangene Worte, die seine Großmutter ihn als kleines Kind gelehrt hatte, „Ist ein Teil ihres Geistes und ihre gefährlichste Waffe. Mit dieser Seelenkugel können sie nicht nur hypnotisieren oder die Zukunft sehen… sie können den Willen, das Gedächtnis und das Unterbewusstsein anderer Menschen damit kontrollieren und verändern, wie es ihnen gefällt. Wenn du mich fragst, sind die Zuyyaner von allen Menschenvölkern Khad-Arzas die Gefährlichsten und die Grausamsten… sie sind noch skrupelloser und vor allem klüger als die Barbaren des Ostreiches. Du bist mein Enkelsohn, Puran… du trägst mein Blut in dir, das Blut meiner Familie. Vielleicht hast du gegen so einen Gegner als einer der wenigsten Tharraner eine kleine Chance… wenn dein Wille stärker ist als der deines Gegenübers und der der Kugel. Die Kugel kannst du nicht zerstören… aber ihren Träger, wenn du rasch bist.“

„Seelenkugel…?“ keuchte er jetzt und trat unwillkürlich zurück, als er auf das runde Ding in der Hand des Generals sah, der den Kopf wieder senkte und den Arm nach vorn streckte.

„Sieh ihm nicht in die Augen.“, rieten ihm die Geister, „Sieh zu Boden und sei schneller als er.“

Wie soll ich schnell sein, wenn ich ihn nicht ansehen kann?! empörte er sich in Gedanken, da ertönte vor ihm plötzlich ein unschönes Krachen und er riss alarmiert die Waffe empor, ehe ihn plötzlich eine gigantische Druckwelle erfasste und ihn zurück zu Boden schleuderte. Puran hustete und rappelte sich auf, dabei spürte er plötzlich einen stechenden Schmerz in seinem Inneren, der vorher nicht da gewesen war.

Was… war das denn für ein komischer Zauber?!

Er hustete erneut und erschrak darüber, dass er Blut spuckte. Sich hastig an die Brust fassend erkannte er aber keine äußere Wunde, und japsend fuhr er wieder zu seinem Gegner herum.

„So leid mir das um deine interessante Waffe tut, die mir dir verschwinden wird.“, bedauerte der General murmelnd seine Arbeit, „Ich tue hier nur meine Arbeit.“ Damit ließ er seine seltsame Kugel empor schweben und deren Leuchten verstärkte sich, worauf Puran keuchend die Augen aufriss. Er hustete erneut Blut und riss sich mit aller Macht zusammen, um die Schmerzen zu ignorieren. Plötzlich verstummte das Wispern der Geister in seinem Kopf, stattdessen hörte er nur noch Rauschen. Und es wurde lauter, tosender, als schlüge in seinem Inneren eine Brandung gegen die Außenwand. Das Rauschen wurde lauter und lauter und es schmerzte dermaßen, dass er unwillkürlich aufschrie und sich an die Ohren fasste.. Vom Himmel kam plötzlich ein gewaltiger, grauenhafter Druck, der ihn in die Knie zwingen wollte.

Fall tot um! sagte der Himmel, wie es Ram Derran getan hatte, und Puran stöhnte.

Nein… nicht! Ich muss… i-ich muss einen stärkeren Willen haben als er! Das ist nicht der Himmel, der mich tötet, sondern dieses Dings…! Er keuchte, der Schmerz in seinem Kopf und seiner Brust vereinten sich zu einem einzigen, der noch furchtbarer war. Er schwankte. Als er es wagte, den Blick auf den Gegner zu heben, sah er rasch wieder herunter in der Befürchtung, Blickkontakt könnte alles schlimmer machen. Das laute Rauschen in seinen Ohren wurde immer schlimmer, es lähmte ihn und er versuchte mit aller Macht, dagegen anzukämpfen, bis er es zitternd und Stück für Stück schaffte, seine Schwerthand zu heben.

„Versuche nicht, es zu besiegen, Junge.“, riet der General ihm dumpf, „Es bringt dich dann nur schneller um.“

„Ich… lasse… mich nicht von dir zu Boden zwingen, Zuyyaner…!“ stöhnte Puran und schaffte es, einen Schritt zu tun trotz des Drucks, der ihm das Gefühl gab, im nächsten Moment von innen heraus zu explodieren. „Ich… bin Puran Lyra, Sohn einer… der mächtigsten Schamanenfamilien Tharrs! Und die Geister… kriechen vor mir, wenn ich es will… d-du… du wirst… du wirst das ebenso, Bastard!“ Während seine Worte am Anfang noch leise und brüchig gewesen waren, wurden sie bald lauter und fester. Und der zuyyanische General riss die Augen ein weiteres Mal auf, als sein Gegner sich plötzlich mit einem gewaltigen Ruck ganz aufrichtete und aus dem Himmel ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte, sobald er sein Geisterschwert in den schwarzen, rußigen Himmel riss. „Vater Himmel! Tu, was ich sage, und gib mir deinen Zorn, um ihn über… jene zu ergießen, die deine Welt angreifen und beherrschen wollen! Komm, Wind der Geisterkinder!“ Und es donnerte über ihnen, der General ließ seine Seelenkugel mit einem kurzen Knall verschwinden und trat zurück, als mit einem Mal ein gleißender Blitz in das erhobene Schwert einschlug und die Macht der Geister darin vermutlich verzehnfachte, wenn nicht mehr.

„Unglaublich…“ keuchte er dabei entsetzt, und als Puran sein flammendes Schwert wieder herab riss und den Blitz der Mächte der Schöpfung auf die Erde und seinen Feind zu schmetterte, hechtete der Zuyyaner so rasch er konnte zurück durch das Inferno. In dem Moment war ihm klar, dass der Kampf um das Lager entschieden war, als der Blitzspeer von Vater Himmel samt Geisterschwert in die Erde eindrang und sie mit einem ohrenbetäubenden Brüllen aus den Wolken zerschmetterte, ihre Haut aufriss und das Land in Brand steckte. Die Erde erzitterte, als sie auseinander brach und viele der Soldaten in ihren finsteren Rachen verschlang. Doch der General sprang ein Stück in die Luft und Puran sah ihn weiter davon fliegen. Er keuchte und umklammerte das blitzende Schwert, das in der Erde steckte, und wollte es hoch reißen und den Zorn der Mutter Erde auf den Mann hetzen, nachdem er dem des Himmels wohl zu entkommen schien; aber plötzlich versagten seine Beine und er stütze wieder Blut hustend zu Boden. Das Geisterschwert löste sich in Luft auf. Der junge Mann keuchte und schnappte nach Luft, aber alles, was in seine Lungen kam, war Qualm vom brennenden Feld, auf dem sie kämpften. Er versuchte, sich aufzurappeln, als das Dröhnen aus den Tiefen der Erde lauter und bedrohlicher wurde; die Geister hatten ihn erhört. Sie würden all ihren Zorn über das Land ergießen… wenn er nicht rechtzeitig weg kam, würde er dem ebenso zum Opfer fallen wie die Zuyyaner…

„V-verdammt…!“ stöhnte er und startete einen neuen Versuch, aufzustehen, schaffte es aber erst, als ihm plötzlich jemand unter den Arm griff und ihn empor zerrte. Tare Kohdar war neben ihm.

„Rasch!“ keuchte er auch, „Vergiss den Anführer, der sucht schon seine restlichen Männer, wir müssen auf die andere Seite zu den anderen! – Kannst du gehen?“

„L-lass, ich, e-es wird gehen!“ hustete der Jüngere und taumelte etwas, ehe er sich endlich fasste und trotz der aufkommenden Übelkeit zusammen mit seinem Kollegen nach Süden rannte. Ihnen kamen fliehende Zuyyaner entgegen, die noch einen letzten Versuch starteten, sie umzubringen, aber nach einem Handschwenk von Tare Kohdar verendeten sie als geröstete Blechbüchsen auf dem Boden.

Nach kurzem Rennen trafen die beiden auf Tares Vater, Tabari und Nalani, von der anderen Seite kamen Barak und Neron.

„Die laufen weg!“ machte Letzterer empört, „Seht euch das an, die Zuyyaner rennen vor uns davon!“

„Vergesst es, nach Hause lassen wir die Bande heute nicht mehr! Sicher die Hälfte der Armada ist noch am Leben, das lassen wir denen nicht durchgehen!“ zischte Nalani erbost, als auch Henac Emo aus dem Nichts auftauchte. Kurz blieben sie alle stehen, leicht außer Atem und erschöpft von der Schlacht, dann sprach Hakopa Kohdar.

„Nein, seht… die laufen nicht weg, die formieren sich und greifen an…“ Er zeigte nach Norden, wo die Masse an Feinden, die noch geblieben war, sich zusammenraffte und auf den Befehl des etwas höher schwebenden Generals, der hinter ihnen war, wieder nach vorn stürmte, auf die Gruppe zu.

„Geht zurück, rasch! Die kommen hier nicht durch!“ machte Tabari erstaunlich kalt, riss die Arme beide in den Himmel und erntete ein lautes Donnern von oben, als ein bedrohlicher Blitz aus den Wolken zischte. Er ignorierte die Eiszapfen und Feuerkugeln, die die Soldaten vor ihnen aus der weiten Entfernung auf die Gruppe zu schleudern begannen, und Nalani schob Puran und Tare Kohdar neben sich zurück nach hinten.

„Fort mit euch!“ keuchte sie und riss ihren Arm mit Kadhúrem nach vorne, während sie einen Schritt vortrat. „Sie sind über dieses Land hergefallen und denken, sie könnten sich alles erlauben, diese Bastarde… der Zorn von Vater Himmel… und Mutter Erde wird sie zerschmettern!“ Die anderen taumelten rückwärts und sahen zu, wie Tabari den Kopf in den Nacken warf und seine Frau neben ihm jetzt beide Arme nach vorn streckte, als wollte sie die Erde beschwören, zu ihr herauf zu fliegen.

„Vater Himmel! Herr von Tharr, Vater der Windgeister und der Flammentöchter!“ brüllte der Herr der Geister in den dröhnenden und grollenden Himmel hinauf, als es zu regnen begann und ein mächtiger Wind aufbrauste. „Schicke mir deinen Groll! Gib mir deinen Zorn, Himmelsgeist, und den Sturm der Vernichtung!“ Während er da stand und den anderen im Hintergrund bewusst wurde, dass er tatsächlich ein Herr der Geister war, bildete sich aus dem stürmischen Wind im Himmel langsam ein Wirbel, der immer größer und mächtiger wurde, bis er als gigantische Säule aus der Macht des Windes wie ein Finger des Vater Himmel selbst vom Himmel herab ragte.

Puran konnte nicht glauben, was er sah, als der gigantisch große Wirbelsturm vor seinem Vater Form annahm; als der Sturm den Boden berührte, gab es ein weiteres, beängstigendes Krachen und der Wind, der aufbrauste, war so gewaltig, dass die Geisterjäger weiter zurück taumelten und Angst bekamen, von dem Wirbel eingesaugt und verschlungen zu werden. Die Erde brach in Stück unter der donnernden, riesenhaften Gewalt des Sturms.

„Windgeist, du Kind von Vater Himmel und Mutter Erde!“ brüllte Tabari gegen das Dröhnen des Sturmes an, den er allein zähmte, den er alleine in seinen Händen festhielt wie ein gefährliches Raubtier an einer Kette im Zirkus.

Ein Raubtier, das ein ganzes Land in Schutt und Asche legen und Häuser zu Staub zerfetzen konnte.

„Gehorche meinem Willen als Herrscher über die Windgeister!“ zischte der blonde Mann, während sein Umhang und seine Haare empor wirbelten mit dem gewaltigen Sturm, „Vernichte die Bastarde, die deine Mutter entehren und deinem Vater Schande gebracht haben!“

Dann entfesselte er seinen Wirbelsturm und das Windkind der Mächte der Schöpfung donnerte mit ohrenbetäubendem Tosen über die Ebene und den angreifenden Zuyyanern entgegen.
 

Sie rannten. Oder sie versuchten es, denn zum Rennen blieb ihnen keine Zeit. Wenige schafften es tatsächlich, sich durch das schnellere Fliegen weitab vom Wirbelsturm zu retten, als dieser durch die Bergenge preschte, die Erde und das Land unter sich komplett zerstörte, die Berge ankratzte und das Wasser des Flusses durch die Luft peitschte.

„Lauft zurück!“ fuhr Tabari seine Kollegen an, „Zu den Frauen und Meoran, rasch jetzt! Nalani!“ Das letzte galt natürlich seiner Frau, die genau wie er wie ein Fels in der Brandung im mächtigen Wind stand, der Wirbelsturm direkt vor ihnen, der sich von ihnen entfernte. Und sie riss ihre Hände samt Kadhúrem ebenfalls in den Himmel empor und den Kopf herum, ehe sie gegen den Lärm des gigantischen Windzaubers anschrie.

„Und Mutter Erde, die du die lebenden Dinge beherbergst, gebärst und wieder zu dir holst! Kämpfe gegen diejenigen, die dir zu Unrecht schaden, und gib mir deinen Hass, deine schäumende Wut!“ Schäumen tat sie tatsächlich, als aus der vom Wirbelsturm aufgerissenen und zerstörten Erde mit einer heftigen Armbewegung der Frau Massen von Wasser sprudelnd empor schossen. Sie vereinten sich als eine gigantische Springflut aus der Erde mit dem Sturm, der das Wasser so rasend schnell rotieren ließ, dass es durch die Luft peitschte und allein ein Tropfen einen Menschen wie ein Nagel durchbohren konnte. Das krachende Donnern und Blitzen aus dem Himmel tat sich zusammen mit dem Dröhnen aus der aufgeplatzten Erde. Immer mehr Wasser schoss in riesenhaften Wellen herauf und begrub das vom Wind zerfetzte Land unter sich, bis sowohl die Springflut als auch der Wirbelsturm sich langsam auflösten und ein Chaos zurückließen, eine Ebene aus matschbraunem Wasser, das ein malträtiertes Land übersät mit Leichen und Teilen von solchen bedeckte, als müsste es vor der Welt verstecken, was für ein grausamer Kampf hier stattgefunden hatte.

Ein Kampf, den die Geister der Natur für sich entschieden hatten.

Während Tabari seufzend die Arme sinken ließ und den Mächten der Schöpfung in Gedanken dankte für ihre Unterstützung, beobachtete seine Frau schweigend, wie eine Handvoll Zuyyaner als winzig kleine Punkte in weiter Ferne verschwanden.
 

Eine betäubende Stille legte sich nun über das Land und den Ort der Verwüstung, als die Gruppe sich wieder zusammen fand und sie einander erleichtert umarmten, weil alle am Leben waren und niemand lebensbedrohlich verwundet. Nalanis Flutwelle hatte die meisten Feuer gelöscht, den Rest hatte die Erde verschluckt, und jetzt griff die eisige Kälte des Winters wieder nach ihnen, sodass sich die Menschen in den Schatten der Berge zurückzogen und dort rasteten. Keisha kümmerte sich mit großer Unterstützung ihrer kleinen Schülerin um die Blessuren der Schlacht. Meoran, der bei den Frauen geblieben war während die anderen den Zuyyanern den Rest gegeben hatten, war seinen Eiszapfen im Bein bereits los, zum Glück hatte das Geschoss seine Schlagader knapp verfehlt. Die ominösen Schmerzen in seiner Brust waren auch verschwunden, dafür hatte er jetzt andere Sorgen.

Ruja weinte.

„Ich bin furchtbar!“ keuchte sie und kauerte unterwürfig vor ihm am Boden, worauf Meoran sich hinhockte und versuchte, sie energisch empor zu ziehen. „I-ich habe dir Schande gebracht, mein Liebster, mit meiner Panik, i-ich bin Schuld, dass wir beinahe gestorben wären… vergib mir, Meoran…“

„Himmel hilf, hör sofort auf, dich vor mir in den Dreck zu werfen!“ Er zog an ihren Armen und schüttelte seine völlig aufgelöste und demütig am Boden kauernde Frau. „Ruja… Ruja, sieh mich an… das war nicht dein Fehler! Das hätte jedem von uns passieren können! Und allen geht es gut, du musst dir doch keine Vorwürfe machen…“

„Na ja, an sich doch.“, bot Henac Emo einen kontraproduktiven Kommentar, und er grinste feixend zu den beiden herüber. „Dass du sie trotzdem noch liebst überrascht keinen, Meoran; als könntest du jemandem böse sein… aber sie hat doch recht mit dem, was sie sagt… durch ihre Gedankenlosigkeit wäre Baraks Familie beinahe krepiert, ebenso deine Mutter, deine Tochter und das Heilermädchen…“ Ruja schluchzte und Meoran funkelte seinen Kollegen wütend an.

„Oh, und wie ich jemandem böse sein kann, dir nämlich gerade jetzt, Emo! Misch dich verdammt noch mal nicht in meine Angelegenheiten! Als ob dir etwas an Baraks oder meiner Familie läge! Du findest es nur lustig, Leute zu demütigen!“

„Na, na, wie war das, du wolltest mir doch Dank zollen, oder nicht? Ich habe deiner süßen Frau und den anderen die Haut gerettet, und du pflaumst mich an, tss… ich frage mich ernsthaft, wieso ich eurem komischen Verein beigetreten bin…“

„Das fragen sich alle.“, giftete Meoran ihn an. „Aber du hast recht, ich danke dir für deine Hilfe zuvor. Hast du mir noch irgendetwas zu sagen, du Schlaumeier?“ Henac Emo kicherte süffisant vor sich hin und seine Augen ruhten eine Weile sadistisch auf der geistig doch sehr mitgenommenen Ruja, die den Kopf gesenkt hielt.

„Deine Frau ist irgendwie zu wenig nütze, Meoran. Sie kann keinen Teleport, sie gerät in wichtigen Situationen in Panik und sie braucht ewige Jahre, um überhaupt mal schwanger zu werden, und dann ist es nur ein Mädchen… du bist schon ein armer Wicht. Wobei euer Unglück mit dem Kind ja nicht an Ruja liegen muss, vielleicht hast du es einfach nicht drauf.“ Der Ältere brummte.

„Ich spare mir darauf mal einen Kommentar, und ich bezeichne meine Tochter nicht als Unglück! Dieses Ich-muss-unbedingt-einen-Sohn-zeugen-Geschwätz ist doch sowieso überbewertet, wer sagt, dass eine Frau einen Clan nicht genauso gut führen kann?! Das gab es in vielen Clans schon mindestens einmal, sogar bei den Lyras, oder etwa nicht?“

„Ja, aber die letzte, die man da aus der Geschichte kennt, war auch völlig bescheuert im Hirn…“

Meoran kam nicht dazu, etwas zu erwidern, weil sein Freund Tabari dazwischen trat.

„Hört ihr wohl mit dem Gezanke auf? Ist ja albern hier!“ empörte er sich, „Wir haben Wichtigeres zu tun. Ruja, bist du in Ordnung?“ Die Frau wagte nicht, ihn anzusehen, noch immer beschämt, und setzte sich nur widerwillig wieder aufrecht hin.

„I-ich… bin in Ordnung.“, wisperte sie tonlos, und als sie erzitterte, zog Meoran sie seufzend in seine Arme und streichelte sie.

„Hör nicht auf Emo, der wurde, so fürchte ich, als Junge zu heiß gebadet, er meckert doch immer an allem und jedem herum… mach dir nichts daraus!“

„Ich verspreche, dass ich mich nächstes Mal zusammenreißen werde!“ stammelte sie unglücklich, „Ich… ich finde, Unrecht hat er nicht! Ich bin keine besonders nützliche Gemahlin… zumindest keine nützliche Magierin, wie es scheint.“

„Ach, hör auf, scheiß auf das, was Emo sagt!“ empörte er sich und erhob sich, Ruja stand darauf ebenfalls auf. Tabari räusperte sich und sah in die Runde seiner erschöpften Kameraden.

„Wir haben denen jedenfalls gezeigt, wo hier der Hammer hängt.“, erklärte er, „Wie geht es jetzt weiter? Am besten rasten wir hier eine Weile… nicht zu lang, weil es verdammt kalt wird…“ Er sah zum Himmel. Die Nacht brach herein. Hakopa Kohdar sprach.

„Vielleicht ist es das Beste, wenn wir uns auf unbestimmte Zeit wieder trennen.“, meinte er, „Die Zuyyaner sind viele, das hier war nur ein Lager, sie werden mehrere haben und schon weiter nach Süden vorgedrungen sein. Dieser Mann heute, dieser Anführer ihrer Infanterie, der wird zu seinem Kaiser rennen und Verstärkung erbitten. Und wir alle wissen, wem dieser Aufmarsch dann gelten wird… uns nämlich! Wir haben ihnen Kontra geboten, das werden die nicht auf sich sitzen lassen…“

„Er spricht weise.“, war Nalanis Kommentar dazu. „Wohin gehen wir?“

„Am besten bleiben wir im Schutz der Berge, da können sie uns schwerer finden und auch schwerer angreifen.“ Neron zeigte nach Süden und Westen. „Die Gipfel von Kadoh und das Hochland sind an vielen Stellen wahrlich schwer zugänglich.“

„Ja, diese Idee hatte ich auch schon.“, meinte Keisha, die in Iter intensiv die Landkarte studiert hatte, „Kadoh erscheint mir als ein guter Zufluchtsort. Was meinst du, Tabari?“ Der Herr der Geister nickte.

„Nalani, Puran und ich werden euch begleiten, wenn ihr nach Kadoh gehen wollt.“ Er sah noch fragend auf seine Frau und seinen Sohn, der gerade noch von Keisha verarztet wurde, und beide stimmten ihm stumm nickend zu.

„U-und ich auch!“ warf Leyya schnell ein, bevor sie jemand vergaß. Sie hängte sich an Ruja, die ihre kleine Tochter wieder in den Armen hielt. Die Telepathin lächelte wieder und strich dem Mädchen über den Kopf.

„Natürlich du auch, Leyyachen.“

„Einverstanden.“, ergriff der älteste der Geisterjäger wieder das Wort und räusperte sich, „Dann werde ich meine Familie auf die Hochebenen von Taryolland führen. Was ist mit euch, Neron und Henac?“

„Ich gehe, wohin mich meine Füße tragen, möglichst weit ab von den beschissenen Zuyyanern!“ schimpfte der Ältere, Neron Shai kratzte sich am Kopf.

„Hättet Ihr etwas dagegen, wenn Saja und ich Euch begleiten, Herr des Kohdar-Clans? Wir kommen aus Noheema, Kadoh ist für uns sowas wie der Rand der Welt und die Berge da sind beängstigend… Taryolland ist nicht so fernab von unserer Heimat.“

„Verstehe. Nein, wir haben nichts dagegen, oder?“ Hakopa sah auf seine Söhne und diese schüttelten synchron die Köpfe.

„Vielleicht setzen wir uns dann dort von euch ab und kehren zurück nach Skelrod.“, überlegte Neron weiter, „Was glaubt ihr, wie lange dauert dieser Krieg noch?“

„Solange der König nicht eine fähig Armee aufstellt und die Zuyyaner besiegt… oder die Zuyyaner alles platt rennen… bis zum Ende aller Zeiten.“, meinte Meoran verdutzt. Das war ernüchternd. Tabari seufzte leise und sah nach Osten und über das ins Chaos verwandelte Land.

„Dann sollten wir um Mitternacht aufbrechen. Ob wir uns danach wiedersehen mag ungewiss sein… das entscheiden die Himmelsgeister. Ich werde sie um eine unbeschwerliche Reise für jeden von uns bitten.“
 


 

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Jah. Ein langes Kapitel. Wir haben jetzt etwa Februar 978, schätze ich. Was Tabari da am Ende gemacht hat, heißt heutzutage Tornado, aber dieses Wort wird auf Tharr wohl kaum existieren, die haben kein Spanisch. Und es zieht sich etwas, ich weiß... úu Es zieht sich sehr... uû

Ende Part drei.

Himmelsberge

Vierter Teil: Kadoh
 


 

Es war eiskalt. Leyya spürte ihre Finger nicht mehr, aber sie hatte ihre Handschuhe ausziehen müssen. Mit den Handschuhen war sie an den glatten, zum Teil mit Eis überzogenen Felsen abgerutscht und konnte sich schlecht festhalten, daher hatte sie sie lieber eingesteckt und beeilte sich jetzt, den anderen durch das Gebirge zu folgen, während ihre Finger dabei abstarben, so hatte sie das Gefühl. Die waren gut, die waren alle größer als sie und konnten daher besser klettern, abgesehen von Keisha, aber die wurde getragen. Das Mädchen seufzte, blieb stehen und machte Pause. Es war so anstrengend… einerseits wollte sie auch gerne getragen werden, andererseits wollte sie auf keinen Fall irgendwen belasten; sie war schon groß! Sie musste das alleine schaffen! Ihre Hände schmerzten fürchterlich ob der beißenden, eisigen Kälte des Winters. Hier in den Bergen war alles noch schlimmer…

„Ich m-möchte, dass der Frühling bald kommt…“ seufzte sie leise und rieb die erfrorenen Finger aneinander, was nicht wirklich half. Dann wurde sie sanft von hinten angestoßen.

„Was ist? Geh weiter, rasch. Wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit weg sein vom Pass, hier zieht der Wind durch und macht alles verdammt kalt… bist du müde?“ Sie drehte sich um und sah in Purans Gesicht, der sich zu ihr herab beugte und sie stirnrunzelnd ansah.

„Ich bin nicht müde.“, sagte sie, „Aber es ist so eiskalt! Meine Finger sind gefroren, sieh…“ Unglücklich hielt sie ihm ihre kleinen Hände hin, und er keuchte.

„Bist du denn verrückt geworden, deine Handschuhe auszuziehen?!“ tadelte er sie entrüstet. Weiter vorne blieben die anderen stehen und sahen nach den beiden Jüngeren, die zurück geblieben waren. „Wo sind die Handschuhe, Leyya?“

„Hier… wenn ich sie anhabe, rutsche ich immer weg und kann mich nicht festhalten…“

„Oh, Kindchen…“ Puran verdrehte die Augen, hockte sich vor sie und begann, ihre Hände zwischen seinen zu reiben. Er klang wie ein schimpfender Vater, und Leyya schluchzte, weil sie ihn verärgert hatte. „Du bist dumm, Leyya, warum sagst du das nicht, bevor deine Finger erfrieren?! Großartig. Und jetzt weine nicht, das wird gleich besser.“

„Was ist mit euch da hinten?“ fragte Tabari von vorne, „Alles in Ordnung?“

„Ja, ja! Geht ruhig, wir holen euch gleich wieder ein!“ meinte sein Sohn nur, rieb weiter die Hände, bis sie ganz langsam wieder ein bisschen Farbe bekamen und wärmer wurden.

„Es tut mir leid.“, nuschelte die Kleine, „Ich wollte… euch nicht aufhalten. Ich bin doch nur ein Klotz am Bein… vergib mir, Puran, bitte…“

„Ist schon gut.“ Er seufzte und zog ihr die Handschuhe an, „Behalte sie jetzt an, du dummes Mädchen, ja? Nimm meine Hand, dann musst du dich nicht festhalten, ich ziehe dich.“ Sie errötete.

„Immer und immer falle ich dir nur zur Last!“ meckerte sie über sich selbst, „Bist du meiner nicht langsam überdrüssig? Vielleicht solltet ihr mich einfach hier lassen.“

Puran schlug sie. Aber es war nur ein sehr leichter Schlag, der ihr nur wenig wehtat. Empört starrte er sie an und stellte sich hin.

„Sag das niemals wieder! Wie kannst du es wagen, uns sowas zuzutrauen, ein kleines Mädchen in den Bergen von Kadoh im Eis sitzen zu lassen?! Sehen wir aus wie Barbaren, oder was?! Du bist noch ein Kind, natürlich ist es für dich schwerer, was mich viel mehr nervt als das ist, dass du sowas dauernd behauptest! Himmel, als würden wir dich loswerden wollen… du gehörst doch schon zur Familie, oder?“ Als sie ihn anstarrte, grinste er sie aufmunternd an und streichelte ihr dann über die Kapuze. „So, jetzt müssen wir uns beeilen, halt still.“ Sie quiekte entsetzt, als er sie schnappte und sie sich einfach über die Schulter warf wie einen Kartoffelsack, ihre Beine festhaltend, und dann loszog.

„Oh nein, nicht! Oh Himmel, nein, Puran, lass mich sofort runter!“ schrie sie erschrocken und strampelte. Er gluckste.

„So geht es aber schneller, ich lasse dich runter, wenn wir die anderen eingeholt haben – hör auf zu zappeln!“
 

Einerseits war es ihr peinlich, dass sie alleine so langsam voran kam und Puran sie jetzt an der Hand halten und ziehen musste, als sie den Weg mit den anderen gemeinsam fortsetzten; andererseits liebte sie es, seine Hand zu halten. Er war für sie der Held der ganzen Welt, dass irgendein Mensch auf der Welt liebenswerter, hübscher oder toller als er war, war für Leyya völlig ausgeschlossen. Sie hing sehr an ihm, es machte sie glücklich, wenn er sie ansah, mit ihr redete oder wie jetzt ihre Hand hielt, das waren die schönsten Momente ihres Lebens. So schön, dass sie mitunter vergaß, auf den Weg zu achten, und stolperte, dabei riss sie ihn ein paar Mal beinahe von den Beinen. Tabari machte dem erstaunlich kaltherzig ein Ende.

„Höre endlich auf, so herum zu albern, Leyya, gehe geradeaus und achte auf deine Füße!“ herrschte der blonde Mann sie ungewöhnlich streng an und fixierte ihr niedliches Gesicht mit seinen schmalen, grünen Augen. „Das ist kein Witz mehr, wir sind hoch oben jetzt! Wenn ihr hier hinfallt, könnt ihr euch übel verletzen, und Knochenbrüche sind noch das Harmloseste! Der Fels und das Eis sind hart, ihr könntet euch das Genick brechen oder den Schädel spalten! Puran, nimm sie bitte einfach auf deinen Rücken und gib mir dein Gepäck, dann hört dieses Gestolpere auf.“ Leyya keuchte und Puran verdrehte die Augen.

„Ist doch nichts geschehen, Vater, ich passe schon auf sie auf. Das geht, keine Angst.“ Zu Leyya sagte er: „Gehe ein bisschen vorsichtiger, in Ordnung?“ Sie nickte beschämt und Meoran, der Keisha trug, verdrehte auch die Augen.

„Solange du da hinten nicht auch Unsinn anfängst, Mutter, ist alles gut.“ Er sah zu Tabari. „Gehen wir, rasch, die Dämmerung bricht schon herein. Ich hasse diesen Winter…“

So kletterten sie weiter hinauf in die Berge. Es war ein beschwerlicher Weg. Der Pass von Lon, den sie genommen hatten aus dem Osten von Kadoh hinauf ins Gebirge, war nicht wirklich ein viel begangener Pass. Es war viel mehr ein Schleichweg durch Geröll, vereiste Farne und krüppelige Bäumchen hinauf bis zur Quelle des Flusses Yarmol. Und jetzt fegte der eisige Wind des Winters hindurch durch den Pass und ließ die kleine Menschengruppe erzittern bei ihrem Weg.

„Knochenbrüche und das Harmloseste, Himmel bewahre!“ keuchte Keisha auf dem Rücken ihres Sohnes und sah verwirrt zurück, „Diese Berge von Iketh sind ein Graus, sie sind der pure Tod! Diese Kälte, dieses Eis, und jetzt auch noch Knochenbrüche!“

„Dafür brauchen wir nicht mal grausige Berge, dafür haben wir ja Leyya…“ scherzte Meoran unter ihr und verlagerte ihr Gewicht ein wenig, während er weiter ging. Das Mädchen sah ihn blöd an und Nalani vor ihnen drehte verwundert den Kopf.

„Was? Leyya?“ fragte sie scharf. Puran zischte.

„Hallo? Warum hackt ihr heute alle auf ihr herum?!“

„Das war nicht böse gemeint!“ rief Meoran erschrocken, „Du hast nicht gesehen, was dieses Unschuldslamm in der Schlacht von Aughot mit einem Faustschlag angerichtet hat… ihr habt das doch auch gesehen, Mutter, Ruja?!“ Die Frauen sahen erst ihn, dann Leyya an, und Tabari blieb jetzt stehen.

„Was denn, Leyya?“ wunderte er sich auch. Das kleine Mädchen erinnerte sich an den Zuyyaner, der ihr im Weg gewesen war, den sie geschlagen hatte.

„Ich… ich habe ihm den Knochen gebrochen?“ wisperte sie tonlos, „Ich habe – ich habe ihn doch nur zur Seite geschoben!“

„Du hättest den Arm danach sehen sollen…“ brummte der Lehrmeister verwirrt. Seine Mutter räusperte sich.

„Sie ist Heilerin, Meoran! Es gibt bei Heilern eine Zaubertechnik, die es möglich macht, durch bloße Schläge Nerven, Muskeln oder gar Knochen zu brechen, ohne äußere Verletzungen zu verursachen. Diese Technik ist nicht unüblich unter Heilern.“

„Schon.“, machte Nalani verdutzt, „Aber unter neun Jahre alten Heilern auch?!“ Jetzt schwieg die alte Frau und Leyya sah entsetzt auf ihre behandschuhte Hand.

„Oh mein Himmel! Ich habe das gar nicht gemerkt!“

Es war Puran, der die Sache aufklärte. Er verdrehte die Augen und zog sie einfach weiter hinauf durch das Geröll.

„Selbsterhaltungstrieb, automatischer Selbstschützungsinstinkt. Kenne ich irgendwo her… ich wusste nicht, dass Heiler sowas auch machen… jetzt haben wir etwas gemeinsam, kleine Leyya.“
 

Als sie immer höher und höher in das Iketh-Gebirge kletterten, begann es auch noch, zu schneien. Das machte die Reise noch beschwerlicher und sie kamen nur langsam vorwärts. Sie waren einige Tage nach Südwesten gegangen, nachdem sie sich von den anderen Geisterjägern getrennt hatten, die nach Südosten gegangen waren. In der Nähe des Dorfes Lon in Kadoh hatten sie dann den Pass bestiegen, der sie auf die höchsten Berge des Landes führte. Die Provinz Kadoh bestand fast nur aus Bergen. Die beiden großen Gebirgszüge, die Iketh-Berge und die Kadoh-Berge, gingen nahtlos ineinander über und waren Geburtsort vieler, großer Flüsse. Der Undim, der nach Dokahsan floss, entsprang auch in den Iketh-Bergen.

Die Dämmerung war längst vorüber und es war finster, als sie den Pass endlich verlassen und die Quelle des Yarmol erreicht hatten. Dort gab es eine kleine, verkrüppelte Baumgruppe zwischen den Felsen, die ihnen einen guten Windschutz bot.

„Was genau ist denn ein… Selbstbeschützungsinstinkt?“ fragte Leyya leise, während sie sich dicht an Puran kuschelte. Trotz des Lagerfeuers war es fürchterlich kalt und sie kuschelten sich alle in kleinen Fraktionen dicht aneinander, um nicht so zu frieren, während sie versuchten, Nachtruhe zu finden. Puran hatte sich und Leyya in ihre beiden Reisedecken gewickelt und drückte das kleine Mädchen jetzt auch behutsam an sich heran. Er antwortete ihr ganz leise, um damit nicht die anderen beim Einschlafen zu stören.

„Na ja, ein Instinkt in dir, der dein Leben beschützt, wenn du in Gefahr bist. Durch diesen Instinkt zauberst du automatisch irgendwas, meistens etwas, von dem du nicht vorher wusstest, dass du es kannst… die Geister machen das, um dein Leben zu schützen.“

„Verstehe. Ich wusste gar nicht, dass es sowas gibt…“ Er lachte leise, als sie sich immer energischer an ihn kuschelte.

„Hey, krabbel mir nicht gleich ins Hemd, ist dir so kalt?!“ gluckste er, und sie drückte ihr kleines Gesicht schutzsuchend an seine Brust.

„Was… hast du damit gemeint, wir haben was gemeinsam? Hast du auch jemandem den Arm gebrochen?“

„Nein… als ich klein war, habe ich aber auch mal aus Versehen gezaubert, ohne zu wissen, dass ich sowas kann. Sei froh… dass es bei dir im richtigen Moment passiert ist.“ Er tätschelte ihr den Kopf und sie schmiegte sich glücklich an ihn heran.

„Ist das denn etwas Gutes, Puran…?“

„Ich… denke schon. Du bist sicher eine sehr talentierte Heilerin. Wenn man als Kind ungewöhnlicherweise schon zaubert, ist das meistens Grund zur Annahme, dass man… gut ist, ja.“ Sie kicherte.

„Na, also bei dir stimmt es ja jedenfalls. Du bist Geisterjäger… du bist ein sehr mächtiger Magier, glaube ich. Du hast eine großartige Begabung, dass die Geister dir gehorchen.“ Jetzt errötete er etwas und seufzte, ehe er ihre Komplimente abwehrte.

„Ich bin auch nur ein Mensch, Leyya…“ Als er auf ihre Antwort wartete und nichts kam, sah er hinab; das Mädchen kuschelte sich liebevoll an ihn und umarmte seinen Oberkörper jetzt mit ihren Armen, das Gesicht an seine Brust schmiegend.

„Du bist schön warm…“ Puran gluckste leise, ehe er die Decke fester um sie beide zog und die Augen schloss.

„Ja, ja… du auch.“
 

Der nächste Morgen war ein Graus. Es war noch kälter geworden, sobald das Feuer erloschen war, und die Menschen waren froh, sich noch bewegen zu können vor Kälte, als sie ihr Lager abbrachen, um weiter zu ziehen. Rujas Baby quengelte und hatte Hunger. Während sie ihre Tochter stillte, entwendete Tabari Keisha die Karte und betrachtete sie sehr lange schweigend.

„Wie immer wir es drehen, wir sind hier nicht gut aufgehoben, mitten im Geröll und viel zu dicht am Pass.“, erklärte er dann, als die anderen schon dabei waren, ihre Rückentragen aufzusetzen und Ruja ihr Kind fertig gestillt hatte.

„Das hast du aber fein gesagt.“, lobte Nalani ihn sarkastisch und er drehte sich um und zeigte nach Südwesten.

„Wir sollten tiefer ins Gebirge hinein gehen, den Grat überqueren und dann – aahh?!“ Seine Gesichtszüge entgleisten, als er hinaus sah auf einen gewaltigen Schneeberg, der auf dem Grat lag und damit auf dem Weg, den sie beschreiten wollten. Die anderen folgten seinem Blick mit gemischten Gefühlen.

„Was ist denn das?“ machte Leyya, „W-wir sind ja komplett eingeschneit!“

„Großartig, ihr Blitzmerker.“, meinte Nalani verdutzt. „Und jetzt?“

„Jetzt hätte ich gerne einen der Kohdars hier.“, versetzte der Blonde neben ihr und kratzte sich dämlich am Kopf, „Oder alle drei.“ Puran stöhnte.

„Ja, die haben Tabak, die Schweine.“

„Mir ging es mehr um das Feuer.“
 

Der Schnee war nicht nur hoch, er war riesig hoch. Er reichte Tabari bis zur Brust an den höchsten Stellen, Leyya versank komplett darin; sie schlugen sich sehr mühevoll mit Wind- und Schneidezaubern durch, ihr Talent mit dem Feuer war natürlich nicht vergleichbar mit dem der Kohdars; so viel Schnee vermochte keiner von ihnen zu schmelzen. Der Weg über den Grat wurde schwerer und gefährlicher als jeder Weg, den sie jemals in irgendwelchen Bergen hinter sich gebracht hatten; es dauerte beinahe bis zur Dämmerung, dann hatten sie den Kamm endlich überquert und gelangten in eine kleine Senke weiter unten. Der Schnee war hier nicht annähernd so hoch wie zuvor und es gab sogar eine minimale Vegetation, was alle sehr freute.

„Vielleicht finden wir hier ein Plätzchen für die Nacht.“, murmelte Keisha auf Meorans Rücken und blickte sich in der Dämmerung um. Die hohen Gipfel warfen bizarre Schatten auf die Senke, in der sie standen. Erschöpft waren sie nach dem Marsch, und so wollten sie in einem mickrigen Wäldchen ihr Gepäck ablegen und ein Feuer entzünden.

„Das nennst du Feuerholz?“ fragte Meoran seinen Kollegen Tabari empört, als jener mit einer Handvoll Reisig ankam, „Ist ja großartig, das soll uns heute Nacht wärmen?“

„Dieser popelige Wald gibt nicht mehr her…“ Der Jüngere seufzte, indem er den winzigen Haufen Reisig zusammen schob und ihn mit Vaira anzündete, ehe sich die versammelte Gruppe um das sehr dürftige Lagerfeuer herum niederließ. Ein Knacken in unmittelbarer Nähe ließ sie aufhorchen.

„Was war das?“ keuchte Leyya alarmiert und setzte sich rasch auf ihre Knie, um im Notfall schneller aufspringen zu können. Keisha lachte.

„Sicher einer der, wie war das, Tabari, popeligen Bäume, Himmel, was hatten wir für einen kultivierten Statthalter.“

„Jetzt reicht es aber, Alte, geh ins Bett!“ brummte ihr Sohn entrüstet, „Den ganzen Tag lang erzählst du mir irgendwelche belanglosen Dinge, während ich dich durch die Gegend-… horcht!“ Er erhob sich plötzlich, als das Geräusch erneut ertönte, dieses Mal aus einer anderen Richtung. Jetzt horchten auch die übrigen und standen nach und nach auf, Leyya erbleichte und sah sich hektisch um.

„Das war kein Baum.“, war Nalanis kaltblütiger Kommentar, und sie zog schneller Kadhúrem als Tabari die Hände erheben konnte. Als letzterer zwei Schritte nach vorn tat, hatte er plötzlich eine messerscharfe Pfeilspitze aus Stein an seiner Kehle.

„Ach du Schreck!“ japste er und riss die Hände jetzt doch hoch, um sich zu ergeben, „Was wird das denn, wenn es fertig ist?!“

Er wollte sich nach seinen Gefährten direkt hinter ihm umsehen, aber ihnen drohte in dem Moment ein ähnliches Problem. Zwischen den Felsen und Schneewehen waren Menschen hervor gekommen, die sie jetzt von allen Seiten umzingelten und mit einfachen, aus Holz und Stein gefertigten Spießen bedrohten. Tabari traute seinen Augen kaum; direkt vor ihm stand ein in weißes Fell gehüllter und graziös beschmückter Krieger eines Ureinwohnerstammes, der zweifellos in dieser Gegend leben musste, ihm noch immer seinen Speer gegen die Kehle pressend.

Richtige indigene Bergbewohner! Der Herr der Geister hatte zwar von den Menschen gehört, die fernab jeder Zivilisation in Stämmen oder Clans in den hohen Bergen von Kadoh lebten, aber dass er jemals einen so aus der Nähe würde betrachten können, hatte er nicht angenommen.

„Du liebe Güte!“ keuchte er, „Ein Ureinwohner!“

Einer?!“ machte Meoran entsetzt, als der weiß befellte Mann den Blonden rückwärts schupste und die Reisegruppe sich enger zusammen stellte, umzingelt von in Fell gehüllten Barbaren mit Speeren. Obwohl diese Gegner wesentlich leichter zu erledigen wären als auch nur ein einziger Zuyyaner, verspürte keiner der Schamanen den Drang, sie zu verletzen; noch hatten sie ihnen schließlich nichts angetan, es wäre unrecht, ihnen etwas anzutun.

Nalani beobachtete die Männer, die sie bedrohten, mit scharfem Blick und sehr genau. Leyya wimmerte und krallte sich an Purans Hose, während Ruja besorgt das keckernde Baby an sich drückte.

„Wir kommen in Frieden!“ versuchte der Herr der Geister es diplomatisch und sah dabei den besonders beschmückten Kerl vor sich an, vermutlich ihr Anführer oder Häuptling. „Wir… wir wollen nur ruhen!“

Zur Antwort zischte das klimpernde und klappernde Gegenüber und presste die Spitze fester gegen Tabaris Hals.

Ausruhen, meine ich! N-nicht für immer ruhen, oder so…“

„Tabari…“ brummte seine Frau hinter ihm, und jetzt sprach der komische Vogel von Anführer auf einer ihnen unbekannten, seltsamen Sprache zu einem seiner Kollegen. Leyya schrie panisch auf und presste sich an Purans Beine, als alle Speere näher an die Gruppe heran gestoßen wurden.

„Jetzt übertreibt ihr aber…“ brummte der Blonde an den Häuptling gewandt und stemmte störrisch die Hände in die Hüften, ehe seine Frau ihn unterbrach.

„Du Idiot, sie verstehen unsere Sprache nicht!“

Alle Blicke richteten ich auf die schwarzhaarige Frau und der Häuptling der Ureinwohner zurrte sein weißes Fell zurecht und verengte die ohnehin schmalen, pechschwarzen Augen zu Schlitzen. Nalani bückte sich und legte Kadhúrem vor sich auf den Boden, sich ohne ihre Waffe wieder erhebend.

„Legt eure Waffen weg, alle.“, befahl sie leise, und eher widerwillig folgten Tabari, Meoran und Puran ihrem Befehl, ihre Schwerter ebenfalls ziehend und zu Boden fallen lassend. „Dann wissen sie, dass wir sie nicht angreifen wollen. Vielleicht gewährleisten sie uns einen sicheren Unterschlupf in der Gegend, verärgert sie bloß nicht. In dieser Gegend war keiner von uns je zuvor, wir sind auf Einheimische wirklich angewiesen. Allein schon des Babys wegen.“ Sie sah auf die kleine Saidah, die unruhig an Rujas Mantel zu knabbern begonnen hatte. Sie hatte Hunger…

Der Häuptling vor Tabari ließ seinen Speer sinken. Nach einer Handbewegung seinerseits taten alle anderen Bergmenschen es ihm gleich, ehe er in seiner seltsamen Sprache laut an die Gruppe gewandt sprach. Natürlich bekam er keine Antwort, so wiederholte er seine Worte langsamer und deutlicher und gestikulierte dabei, so gut er konnte. Dabei verrutschte sein alberner Kopfschmuck.

„Und wenn er das noch tausendmal wiederholt, werde ich es dennoch nicht verstehen.“, seufzte Puran gedämpft. Er nahm Leyya an die Hand, die nervös von einem Fuß auf den anderen tappte.

„Ich glaube, er möchte, dass wir ihnen in diese Richtung folgen.“, erklärte Nalani, die den Bergmann eingehend beobachtete. Sie sah nach Westen, wohin der Fremde immer wieder zeigte und dabei seine Worte, die keiner verstand, zum hundertsten Male wiederholte.

„Einen Versuch ist es wert.“, stellte ihr Gatte fest, der sich wieder gefangen zu haben schien. Er nickte und verbeugte sich blödsinnig vor dem unzivilisierten Wilden; als er aber sein Schwert aufheben wollte, versperrte ihm ein in die Quere gehaltener Speer den Weg. „Soll ich meine Waffe hier liegen lassen, während du deine trägst, du Vogel?!“ entrüstete der Blonde sich, und Nalani hielt ihn gerade noch auf, als er den Speer wegschieben wollte.

„Tabari, verflucht! Reiß dich zusammen… sieh, sie nehmen die Waffen schon für uns mit.“ Sie nickte zu den anderen Bergmännern in Fellen, die jetzt alle Schwerter und Kadhúrem einsammelten. Puran seufzte und raufte sich die Haare.

„Na, ob wir die jemals wieder bekommen? Dahin schwindet dein Schattenschwert, Mutter, ach!“

„Sukutai würde dich dafür jetzt umarmen.“, lachte sein Vater, und sie nahmen ihr Gepäck und folgten den Wilden, die ihre Waffen nach Westen entführten.
 

Die Bergmenschen hatten ihr Lager auf einem breiten Felsvorsprung am Rande der Senke. Jetzt war der große Platz aus Fels verschneit, sie erkannten aber Gerüste aus Holz, die an der Felswand des Bergmassivs dahinter lehnten, die vermutlich zum Trocknen von Fleisch und Fellen dienten. In der hohen, fast komplett senkrechten Wand hinter dem Vorsprung war ein Spalt, der in das Massiv führte. Dort lotste der befellte Häuptling zunächst zwei seiner Männer hinein, blieb aber mit den anderen und den Fremden davor stehen.

„Was machen wir hier?“ wollte Leyya wissen, die an Purans Hand hing, und dieser seufzte.

„Keine Ahnung.“ Während sie offenbar auf irgendetwas warteten, fing der Häuptling an, zu sprechen. Alle starrten ihn entsetzt an und nur Nalani schien überhaupt einen Sinn in seinem Gerede zu sehen, denn sie neigte höflich ihren Kopf, während der komische Kauz ein schier unaussprechliches Wort sagte und sich dabei eine Hand auf die Brust legte.

„S-sollen wir ihn nachmachen?“ wunderte Meoran sich und hob eine Hand, Puran brummte:

„Was hat er gesagt?!“

„Ihr seid töricht, beobachtet ihn doch!“ seufzte seine Mutter, „Das ist eine sehr alte Sprache, glaube ich. Der Mann heißt Ashatighteche, er hat sich vorgestellt.“

Wie heißt er?!“ rief Tabari erschrocken. Puran verdrehte die Augen.

„Von mir aus kann er Wurstbrot oder Lebertran heißen, ich verstehe ihn trotzdem nicht.“ Leyya fing neben ihm an zu kichern bei der Vorstellung eines Mannes, der Wurstbrot hieß. Sie befolgten Nalanis Rat und stellten sich ebenfalls vor.

„Ich bin Tabari.“, seufzte der Herr der Geister verwirrt von all dem Trubel, und der Häuptling mit dem komischen Namen musterte ihn eine Weile und hob dann eine Hand, als würde er ihm zuwinken wollen.

„Damehya, Ischbntabali.“

„Was, Moment, nein, Tabari! Du Idiot, Tabari, nicht Ich bin Tabari…“

„Du sprichst wirklich sehr undeutlich.“, gackerte Meoran hinter ihm, „Versuch es noch mal, und sag nur noch Tabari!“

„Nenn dich einfach Wurstbrot.“, addierte Leyya und brach in einen neuen Kicheranfall aus. Ehe sie weiter Tabari veräppeln konnten, geschah das, worauf sie offenbar gewartet hatten, denn die zwei Männer kamen aus dem Spalt zurück ans Tageslicht, ihnen folgten eine alte Frau, eine junge Frau und ein junger Mann. Die Alte war fast noch seltsamer gekleidet und beschmückt als der Häuptling; zuerst hielten sie sie für seine Frau, aber dafür war sie entschieden zu alt, vielleicht war sie seine Mutter. Die alte Frau war mit seltsamen Farben bemalt im Gesicht und ihre Haare waren auf eine Art geflochten, die keiner von ihnen weder in Dokahsan noch in Anthurien jemals gesehen hatte. Der Schmuck aus Federn und Knochen, den sie trug, rasselte, als sie barfuß durch den Schnee zu den Fremden herüber schritt und sie alle lange schweigend betrachtete. Der junge Mann folgte ihr dabei wie ein Schleppenträger und verfolgte jede Bewegung, die die Alte machte, mit aufmerksamem Blick.

„Oh mein Himmel, ich weiß, was hier passiert!“ japste Meoran, als die seltsame Frau ihn energisch musterte, „Die werden uns kochen und essen!“

„Was?!“ schrie Leyya, Puran hielt ihr erschrocken den Mund zu.

„Bist du wahnsinnig, reize sie nicht…“ Und sie fielen vor Schreck beinahe aus allen Wolken, als die alte Frau plötzlich sprach – und zwar in ihrer Sprache.

„Von wo… kommen?“

Tabari war zu geplättet davon, die tharranische Einheitssprache zu hören – wenn auch sehr gebrochen und mit noch fürchterlicherem Akzent als bei ihm selbst – um antworten zu können, so tat es Nalani.

„Aus Dokahsan. Wir kommen aus dem Norden.“ Dabei zeigte sie in die Richtung, die Alte drehte ihren Kopf und folgte dem Fingerzeig. Sie murmelte etwas zu dem jungen Mann hinter ihr, der ihre Worte darauf etwas lauter an seine Stammesbrüder richtete, offenbar dolmetschend.

„Geistermenschen… ihr.“, murmelte die alte Frau dann wieder an Nalani gewendet. Diese schwieg einen Moment, ehe sie nickte.

„Schamanen, ja. Wir sind Schamanen.“

„Große Geistermenschen ihr.“, fuhr die Alte ruhig fort, „Ich… Geisterfrau von Stamm.“

„Aha.“, machte Meoran verblüfft, „Sie ist eine Magierin inmitten von Nichtmagiern?“

„Die spirituelle Kraft des Stammes.“, sagte Ruja zu ihm und wippte das Baby auf ihren Armen, „Ich kann ihre Gene sehen, sie ist Schwarzmagierin. Der Junge hinter ihr muss zu ihr gehören, er ist auch Magier.“ Sie sah auf den Dolmetscher, der die Worte abermals für die anderen Männer wiederholte auf der komischen Bergsprache. Er konnte nicht älter als Puran sein.

„Ich träumte von Geistermenschen aus Norden.“, sprach die alte Magierin in ihrer gebrochenen Hochsprache weiter. „Geister sprechen, ihr kommt.“

„Wir sind auf Reisen.“, erklärte Nalani der Frau. „Krieg ist im Land. Wir verstecken uns hier.“

„Ja, Krieg, Geister sprechen.“, bestätigte die Alte vor ihr. Dann wendete sie sich an den Häuptling und sprach in seiner Sprache zu ihm. Er antwortete ihr, worauf die Frau wieder Nalani und die anderen anblickte. „Himmelsberge gut verstecken. Geistermenschen beim Stamm verstecken, Ehre für Menschen von Stamm.“ Die Schamanen aus dem Norden sahen sich einen Moment blinzelnd an. Trotz der gebrochenen Sprache verstanden das alle. Die Geisterjägerin verneigte sich höflich vor der Alten.

„Wir nehmen das Angebot gerne an. Wir bleiben ein wenig bei eurem Stamm, wenn wir dürfen.“
 

Die Spalte im Felsen führte in einen schmalen, dunklen Gang und jener wiederum zu einer riesigen Höhle im Inneren der Felswand. Die Gäste waren erstaunt über das Ausmaß der Behausung, in der der Stamm der Bergmenschen lebte. Und der Stamm hatte viele Mitglieder, wie ihnen klar wurde, als sie nach dem Betreten der Höhle von allen Seiten aus neugierigen, entsetzten, verwirrten oder amüsierten Gesichtern angestarrt wurden. Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen beobachteten die Schamanen, die dem Häuptling, der alten Magierin, ihrem Dolmetscher und der jungen Frau folgten, die bisher noch nichts gesagt oder getan hatte.

„Diese Höhle ist gigantisch groß…“ murmelte Tabari verblüfft und sah sich um, während sie auf einen größeren, flachen Platz inmitten der Behausung gingen. Dort blieb der Häuptling flankiert von den drei anderen stehen und sprach dann laut zum ganzen Stamm auf der eigenartigen Sprache.

„Vermutlich erklärt er denen jetzt, was wir hier wollen.“, riet Ruja erstaunt. Saidah strampelte in ihren Armen und war äußerst unzufrieden. Am Ende seiner Rede, die keiner verstand, schob der Häuptling die junge Frau zu den Fremden herüber und sprach weiter, jetzt fungierte die Alte als Dolmetscherin.

„Sie… Häuptlingstochter. Sie zeigt Geistermenschen den Stamm.“ Alle Blicke richteten sich auf die junge Frau, die ihren Vater etwas verwirrt oder wehleidig anblickte.

„Sie kann doch unsere Sprache gar nicht, wäre es nicht klüger, wenn die Alte dies übernähme?“ wunderte Puran sich gedämpft in Richtung seiner Mutter, hütete sich aber, es auszusprechen, bevor er noch aus Versehen irgendwen beleidigte. Das junge Mädchen wurde inzwischen von jener Alten angesprochen, darauf verbeugte sie sich eifrig vor den Gästen, was sie völlig übertrieben und ungeübt anstellte. Offenbar hatte sie sich noch nie vor jemandem verbeugt, die Alte musste ihr geraten haben, es zu tun, überlegte Nalani sich verdutzt.
 

Eigentlich war die Höhle überschaubar trotz ihrer Größe. Es gab vereinzelte höhere Felsvorsprünge und kleine Gräben und Löcher im Boden, die mehr oder minder voneinander abgeschottete Schlafplätze für jede einzelne Familie des Stammes bildeten. Natürlich konnte die Häuptlingstochter die Einheitssprache nicht, aber sie wusste sich dafür, dass sie vorher so wehleidig geschaut hatte, gut zu helfen, als sie den Gästen alles zeigte wie den Lagerungsort für Vorräte, die Arbeitsstellen, an denen Frauen Felle, Fleisch und Häute bearbeiteten, oder verschiedene Schlafplätze. Sie drückte sich geschickt mit Gesten aus und sprach nur wenig; dabei hatte sie eine sehr schöne, liebliche Stimme, wie die Magier bald feststellten.

„Wenn sie redet, klingt es, als würde sie singen.“, meinte Leyya entzückt, „Wie ein hübscher Vogel, oder, Puran?“ Puran räusperte sich.

„Sie ist auf alle Fälle ein sehr kluges Mädchen, denn sie schnallt ganz genau, dass es Zeitverschwendung ist, mit uns auf dieser seltsamen Sprache zu sprechen… also für mich zumindest klingt alles gleich.“ Am Ende der Führung wies das Mädchen mit der Vogelstimme den Gästen zwei größere Felsvorsprünge als Schlaf- und Wohnplätze zu. Dank einiger Geduld, viel Mühe seitens der jungen Frau und Nalanis natürlicher Sprachbegabung und Auffassungsgabe verstanden sie auch, als das Vogelmädchen ihnen erklärte, dass diese Vorsprünge Plätze für heilige Rituale und Zeremonien waren und damit sehr ehrenwerte Plätze zum Wohnen.

„Die haben ja einen Narren an uns gefressen, mein lieber Schwan.“, war Meorans Kommentar. Sie teilten die nebeneinander liegenden Felsvorsprünge unter ihren Familien auf, so richteten er, Keisha, Ruja und das Baby sich auf dem einen ein und die Lyras und die kleine Leyya, die Purans Hand einfach nicht mehr loslassen wollte, auf dem anderen.

„Die Geisterfrau hat von uns geträumt.“, meinte Nalani nachdenklich, „Sie wusste, wir würden kommen, für die ist das sicher ein heiliges Zeichen oder so, deswegen vielleicht.“

„Woher kann sie eigentlich unsere Sprache?“ wunderte Puran sich neben ihr, während er sich an die Wand lehnte und die Aussicht genoss, die sie von ihrem neuen Quartier aus hatten. Sie konnten die ganze Höhle beobachten, was die Menschen unter ihnen taten, wie Könige saßen sie da auf ihrem großen, felsigen Thron.

„Das weiß ich auch nicht. Wir sollten sie bei Gelegenheit fragen.“
 

Die Höhle war sehr warm ob diverser, fast rauchloser Feuer, die entzündet waren. Von der Kälte von draußen merkte man überhaupt nichts mehr, und die Reisenden waren sehr dankbar für den geschützten Unterschlupf. Sie würden hier problemlos überwintern können. Die Gedanken an die kalten, lebensbedrohlichen Nächte unter freiem Himmel zuvor waren jetzt weit weg, als sie des Nachts auf ihren Felsvorsprüngen in ihre Decken gekuschelt schliefen.

„Wie lange gedenkst du dieses Mal zu bleiben?“ murmelte Nalani gedämpft, während sie sich unter der Decke an ihren Mann kuschelte, bei dem sie lag. Tabari seufzte und zog sie in seine Arme, dabei küsste er ihre Wange.

„Du warst es doch, die hier so harmonisch mit den Wilden kommuniziert hat. Wir werden einen guten Winter erleben. Wenn der Frühling gekommen ist, werden wir sehen… vielleicht ist es sicher hier. Unauffällig, fernab von jedem Krieg und jeder Zivilisation. Wir wollten abtauchen, oder nicht?“ Sie seufzte nur leise und strich mit einer Hand über seine Seite, weiter hinab und unter sein Hemd.

„Ich kann nicht erklären, was mich an diesen Ort bindet, Tabari… ich spüre es schon, seit wir diese Männer getroffen haben. Es… ist, als hätten die Geister mir geraten, dass wir hier bleiben sollten.“

„Dann fragst du mich, wie lange ich zu bleiben gedenke?“ brummte er sie an, rollte sich über sie und begann ihren Hals zu küssen. „Wir haben ein kleines Mädchen und ein Baby bei uns… es wird gut sein, eine Weile an einem Ort zu bleiben.“ Sie erwiderte nichts und schloss die Augen, als sie spürte, wie seine Finger begannen, unter der Decke an ihrer Kleidung zu nesteln. „Sag mal… wenn das so ein heiliges Dingsbums ist, auf dem wir schlafen, glaubst du, es ist verboten, wenn wir uns hier lieben…?“ wunderte er sich dann gedämpft, worauf sie dumpf lachen musste.

„Idiot…“
 

Puran war genervt von seinen Eltern. Der Felsvorsprung, den sie sich zu viert teilten, war zwar sehr breit, sodass er mit genug Abstand von ihnen und ihnen den Rücken kehrend liegen konnte, aber an seinen Ohren ging dennoch nicht vorbei, was hinter ihm so passierte. Wobei derartige Geräusche nicht nur von hinten kamen; auch unten in anderen Teilen der Höhle schienen irgendwelche Leute sehr beschäftigt zu sein… der junge Mann brummte und zog sich die Decke über den Kopf.

Er kam wunderbar damit klar, keine Frau bei sich zu haben, mit der er sich amüsieren konnte, seit sie Iter verlassen hatten; solange nicht irgendjemand in seiner Gegenwart anfing, Dinge zu tun, die er jetzt nicht tun konnte. Er vermisste kurz seine hübsche Liebhaberin aus dem Dorf, die Witwe des Töpfers, die für eine Witwe entschieden zu jung gewesen war. Aber sie war nicht hier, sie würde ihm auch nicht weiterhelfen. Über seiner Unzufriedenheit ob der Gesamtsituation legte sich der Nebel der Geisterträume vor seine Augen, als er versuchte, zu schlafen. Er war weder richtig wach noch schlief er tatsächlich, er beobachtete nur schweigend die Bilder, die vor seinen Augen vorbei liefen, als beobachtete er ziehendes Wild. Feuer kam und verblasste wieder, ihm folgte ein schwerfälliger, düsterer Regen, der die Welt unter Wasser setzte und dann in Dunkelheit tauchte. Und aus der Schwärze tauchte die Silhouette eines Mannes auf, der eine Kapuze trug. Puran beobachtete die Geistergestalt verblüfft und erstarrte dann, als der Fremde den von der Kapuze fast ganz verhüllten Kopf hob – nur sein Mund war zu sehen und aus ihm blitzten ihm die zugespitzten Eckzähne seines Großvaters entgegen.

„Euch binden an Düsternis, das werde ich.“ , schnarrte der Fremde mit hohler, kehliger Stimme. „Und dann werdet ihr kriechen vor meinen Füßen, Lyra… und bluten und sterben werdet ihr, wenn ich es befehle…“ Dann wandte der Kerl sich kichernd von ihm ab und verschwand in der Schwärze des Traumes. Und an seiner Stelle tauchte die weiße Spirale auf, die Puran so oft schon gesehen und so oft schon gefürchtet hatte. Und sie tanzte ihren Tanz, der Menschen töten würde, bis der junge Mann keuchend vor Schreck seinen Geist von der Vision fort riss und sich kerzengerade auf seinem Schlaflager aufsetzte.

Es war dunkel geworden, die meisten der kleinen Lagerfeuer in der Höhle waren erloschen. Puran erschauderte und fuhr sich nervös durch die Haare. Da war es wieder, das beklemmende Angstgefühl, diese kalte Panik, die ihn im Nacken ergriff und fest zudrücke, um ihm die Luft abzuschnüren. Diese Paranoia, die ihn nach jedem einzelnen dieser Träume wieder einzuholen schien, egal, was er tat.

Sein Großvater… fürchtete er ihn denn so lange nach seinem Tod noch immer so sehr? Nein, es war irgendetwas anderes, das ihn tief im Inneren auf grausame Weise erschütterte und beunruhigte, eine finstere Ahnung, die er sich weder erklären noch benennen konnte.

So in seine Gedanken versunken fuhr er beinahe schreiend hoch, als er plötzlich eine kalte, kleine Hand auf seinem Oberarm spürte.

„Puran…?“

„Verdammt – erschrecke mich nie wieder so! Nie wieder!“ blaffte er die kleine Leyya ungewollt heftig an und sah bestürzt, wie sie vor Angst zurückwich und beschämt den Kopf senkte.

„Tut mir leid, bitte verzeih mir…!“ wimmerte sie verwirrt über seinen Zorn. „I-ich… ich bin aufgewacht, als du dich hingesetzt hast, und… ich habe mich gefragt, was wohl los ist…“ Sein Zorn über den Schrecken verrauchte so rasch, wie er gekommen war, und abermals seufzend und sich die Haare raufend linste er die Heilerin an, die sich samt ihrer Decke neben ihn gehockt hatte. Sie konnte nichts für seine Unsicherheit, für diesen Ärger, den er mit den Visionen hatte, für dieses unwohle Gefühl, das er danach verspürte… es war unrecht, sie anzuschreien. Sie sorgte sich nur…

„Entschuldige.“, murmelte er leise, um seine Eltern nicht aufzuwecken, die in der Nähe schliefen, „Du bist ein sehr liebevolles Mädchen, Leyya… sorge dich nicht um mich. Mir geht es gut… ehrlich.“ Ungläubig blickte die Kleine ihn an. Ihre fast schwarzen Haare waren nach dem kurzen Schlafen wuschelig und hingen ihr unordentlich ins Gesicht. „Ich… ich habe Träume, das weißt du doch. Und die wühlen mich auf.“ Die Kleine senkte den Kopf und traute sich, jetzt wieder näher zu kommen.

„Sie machen dir Angst, oder?“ las sie aus seinem Gesicht und er drehte zunächst schweigend den Kopf weg.

„Ja, tun sie.“, war dann die ehrliche Antwort. Leyya schwieg. „Ich kann mich nicht erinnern, wann das angefangen hat… aber schon während meiner Lehre in Tuhuli hatte ich… diesen Traum, immer wieder den gleichen, immer wieder etwas anders; aber jedes Mal wieder die weiße Spirale, die in der Finsternis tanzt. Und seit ich sie sehe, spüre ich diese bedrückende Furcht in mir…“ Er stockte für einen Moment und blinzelte überrascht. „Nein, warte… diese Angst stammt noch aus einer anderen Zeit. Ich kann nicht sagen, was es ist und seit wann… aber je länger ich darüber nachdenke, desto tiefer fühlt es sich an, desto grausamer, aber auch ferner, wie eine verstaubte, kleine Scherbe, die einem als Kind im Bein gesteckt hat und die dann weggeworfen wurde. Und nach Jahren findet man sie wieder und weiß nichts damit anzufangen, so lange, bis man sie entstaubt und darauf sein eigenes Blut wiederfindet.“

Die Kleine wusste instinktiv, was er meinte, obwohl seine Worte für ein neun Jahre altes Mädchen etwas zu hoch waren. Aber Leyya wusste, wovon er sprach. Sie überwand den kurzen Abstand zwischen ihnen und schmiegte sich gleichzeitig Schutz suchend und tröstend an seine Seite.

„Ich bin Heilerin.“, murmelte sie leise, „Ich kann die Scherben aus deinem Bein ziehen, wenn du magst.“

Das konnte sie. Er wusste nicht, woran genau es lag, aber sobald sie sich gegen ihn lehnte und mit ihm sprach, sobald ihre kleine Hand unter der Decke hervor kroch und nach seiner angelte, verflog die Furcht in seinem Geist. Leyya war eine wirklich große Heilerin, wenn allein ihre bloße Anwesenheit heilende Wirkungen hatte, dachte er sich verblüfft, und er verspürte tiefste Bewunderung für das tapfere Mädchen, das er vor Ewigkeiten, so schien es, aus dem brennenden Makar mitgenommen hatte. Er schätzte sie, vielleicht mehr als sie annehmen würde. Leicht lächelnd hob er einen Arm und legte ihn um ihre schmalen, kindlichen Schultern.

„Du bist lieb.“, gestand er ihr, „Ich danke dir, Leyya.“ Die Kleine erstrahlte verhalten und kuschelte sich an ihn, während sie sich wieder hinlegten und er seine Decke um sie beide legte. Sie brauchte ihn nicht mehr fragen, ob sie bei ihm schlafen dürfte, er hatte diese Frage wortlos beantwortet, ehe sie daran gedacht hatte, sie zu stellen.

Und einmal mehr in ihrem Leben stellte Leyya Bao fest, dass er der wundervollste, beste Mensch auf der Welt sein musste. Und glücklich schloss sie ihre hübschen Augen, sich in seine Arme kuschelnd, um weiter zu schlafen.
 


 

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Jaah uû Ich hasse dieses Kapitel uû Ich weiß, es hat keinen Inhalt, will ich nicht hören, danke úu Aber Ianas Vater war da. Er hat zwar nichts wirklich gesagt, aber er war da! Surprise -___- Freut euch in nächster zeit auf noch ein paar solcher absolut langweiligen, inhaltslosen kapitel xD Hust xD

Aber da snächste wird dauern, ich fahre erstmal weg bis zum 19ten^^'

Lied der Erde

In den Bergen kam der Frühling spät. Fast noch später als im hohen Norden Dokahsans, wo mitunter erst am Ende des Kälbermondes die Blumen blühten. Aber in der Höhle des Stammes war vom Winter kaum etwas zu spüren, und er zog an ihnen vorbei als wütender, lang anhaltender Schneesturm, ohne dass sie ihn viel hörten oder sahen. Man verließ die Höhle nur selten. Die Jäger des Stammes hatten draußen in der gefrorenen Erde Vorratsgruben, in denen sie Fleisch konservierten, aus denen sie ab und zu neue Vorräte holten. Ansonsten verließ man die Höhle nur zum Waschen. Die kleine Quelle in der Nähe war im Winter natürlich zugefroren und musste jeden Tag von neuem aufgehackt werden. Ihr Wasser war eiskalt; zum Glück konnten die Schamanen sich damit behelfen, das Wasser mit dem Feuerzauber Vaira etwas aufzuwärmen, was die Menschen der Berge extrem faszinierte.

„Ihre Weise Frau, die Alte, die mit uns sprechen kann, war bisher die einzige Magierin, die sie gesehen haben, deswegen halten sie uns jetzt für außergewöhnlich mächtige Leute, weil wir alle die Mächte ihrer Geisterfrau haben,“ erklärte Ruja der verwunderten Leyya, als sie im Frühling gemeinsam an der langsam wieder auftauenden Quelle saßen. Sie wusch die Windeln ihres Babys, dieses wiederum lag auf Leyyas Armen und strampelte aufgeregt.

„Und Vaira ist für die sowas wie ein Wunder?“ lachte die Heilerin, „Sogar ich kann Vaira, und Alara auch, das sind sehr wichtige Zauber, nicht?“

„Vaira und Alara sind vermutlich die wichtigsten Zauber unserer Magie, wenn du allein sie beherrschst, kannst du in der Natur überleben; du kannst Feuer machen und hast Wasser zum Trinken. Die Geister segnen uns mit wichtigen und großen Gaben, Leyya…“ Das sah die Kleine ein. Sie versuchte, das Baby beruhigend zu wiegen, das immer energischer strampelte und offenbar unzufrieden war.

„Ich freue mich so, jetzt, wo der Frühling kommt!“ erzählte sie Ruja dann strahlend, „Wir müssen nicht mehr den ganzen Tag in der Höhle herum hocken! Ich habe das Gefühl, seit Jahren keine Sonnenstrahlen mehr gesehen zu haben… und der Schnee schmilzt auch schon!“ Die Telepathin neben ihr lachte, während sie den sauberen Stoff auswrang und sich dann die eiskalten Hände rieb.

„Ja, ich freue mich auch über die frische Luft. Wo jetzt der Frühling kommt, kannst du dir von Keisha weiter Dinge über Heilkräuter beibringen lassen. Ich werde sehen, ob ich vielleicht den Frauen dieses Stammes bei ihrer Arbeit helfen kann, damit wir nicht wie Schmarotzer sinnlos herumsitzen und uns bedienen lassen von ihnen. Die Männer können bei der Jagd helfen, so sind wir alle zu etwas nütze.“ Die Kleine neben ihr schnaufte und sah nach links.

„Wenn Puran denn bei all seinem Geturtel mit den Frauen des Stammes noch ans Jagen denken kann, heißt das wohl.“ Die Ältere kicherte und sah auch nach links. Auf dem großen Platz vor der Höhle, den man von der Quelle aus sehen konnte, waren viele der Menschen bei der Arbeit; einige Frauen machten ein Feuer, einige nähten Kleidung aus Fellen und Häuten, Kinder spielten in den Resten des Winterschnees und bewarfen sich gegenseitig damit. Nalani stand zusammen mit der alten Frau und dem Dolmetscher am Rande des Plateaus; aber Leyyas grimmige Blicke galten doch mehr Puran, der sich von der Häuptlingstochter mit der Vogelstimme und einigen anderen Menschen (fast nur jungen Frauen) offenbar irgendetwas beibringen ließ, um sich auch nützlich zu machen. „Na, die scheinen ihn ja toll zu finden, hmpf,“ schnaubte das Mädchen beleidigt, ehe sie auf Baby Saidah blickte und sie weiter wiegte. „Gut, dass du noch so klein bist und das ganze Elend nicht mit ansehen musst.“

„Nun, was erwartest du? Puran ist ein hübscher junger Mann, die Frauen des Stammes scheinen da einer Meinung zu sein. Ich kann sie verstehen… wäre ich ein unverheiratetes junges Ding, würde ich vermutlich jetzt auch da hocken.“ Sie linste die Kleine diabolisch grinsend an und neckte sie amüsiert: „Und Leyya offenbar auch nur zu gerne, wie ich das sehe…!“

„Nein, ich nicht!“ empörte sie sich und sprang auf die Füße, mit dem Lärm erschreckte sie das Baby und alle drehten sich zur Quelle und den beiden um. „Ich habe kein Problem! Es ist nur albern, das ist alles, Ruja! – Ich bringe Saidah hinein, bis dann.“ Damit stampfte sie samt dem kleinen Kind davon und ließ seine kichernde Mutter an der Quelle zurück.
 

In der Höhle war es stickig, aber Leyya war das egal. Sie wollte die anderen jetzt nicht sehen und wegen des schönen Frühlingswetters waren die meisten Menschen draußen, drinnen war fast niemand. Ein paar Kinder spielten mit Knochen, während das Mädchen mit Saidah an ihnen vorbei stampfte zu ihrem Schlafplatz auf dem Felsvorsprung. Verwundert blickten die Kinder des Bergstammes auf und ihr nach, sagten aber nichts. Auf dem heiligen Vorsprung angekommen legte das Mädchen Saidah auf ihren Schlafplatz. Das Baby wackelte unschlüssig mit einem Beinchen.

„Puran hat ja keine Zeit für mich,“ beklagte sie sich bei der Kleinen und fuhr sich frustriert durch die dunklen Haare. „Vor allem jetzt, wo der Winter zu Ende geht, nicht mehr! Aber ich bin ja auch nur ein kleines Mädchen, nicht wahr? Natürlich sind die großen Frauen interessanter als ich, offensichtlich, da er sie anstarrt und ich seit einigen Wochen ziemlich egal für ihn bin! – Nein, aber das ist mir gleich! Soll er doch machen, was er will, ich werde das gleiche tun, hah! – Autsch!“ Sie fuhr empört herum, als sie plötzlich spürte, wie ihr etwas gegen den Kopf flog. Als sie hinter sich auf den Felsen blickte, kullerte dort ein kleiner Ball aus einer zusammengeknüllten Tierhaut. Schnaubend fuhr Leyya hoch und hob das hässliche Ding auf, um zu sehen, wer es wagte, sie damit zu bewerfen – sie entdeckte weiter unten einen Jungen, der erschrocken zu ihr hinauf sah und verlegen von einem Fuß auf den anderen tappte. Offenbar hatte er sie aus Versehen beworfen, stellte sie fest, als er ihr etwas zurief, was sie nicht verstand. Die Augen verdrehend warf sie ihm seinen Ball wieder zurück; damit hatte er nicht gerechnet und so flog ihm das Lederknäuel mit voller Wucht ins Gesicht und warf ihn um.

„Oh weh!“ schrie Leyya entsetzt auf, als er zu Boden ging, aber er rappelte sich hustend und sich die Stirn reibend wieder auf und sah dumm auf seinen Ball, dann auf Leyya, die jetzt in etwa so guckte wie er zuvor. Dann fing er an zu kichern, das Kichern wurde schnell zu einem fröhlichen Lachen über sich selbst und das Missgeschick mit dem Werfen. Er warf den Ball zurück zu Leyya und diese lachte auch, als er sie wieder damit traf. Ein paar Mal warfen sie hin und her und lachten dabei über sich gegenseitig, wenn der andere das Knäuel an den Kopf geworfen bekam. Sie unterbrachen ihr albernes Spiel erst, als die kleine Saidah auf Leyyas Schlaffell anfing, zu weinen.

„Oh nein, das Baby!“ erinnerte die Heilerin sich besorgt, vergaß ihren neuen Spielgefährten und hob das kleine Mädchen auf ihre Arme, um es behutsam zu wiegen. Es strampelte und plärrte, und der Junge, mit dem Leyya gespielt hatte, kam auf den Felsvorsprung gekrabbelt und sagte irgendetwas.

„Ich verstehe dich nicht!“ meinte die Heilerin bekümmert, „Shht, Saidahchen… nicht weinen, ich bin da! Du fühlst dich sicher einsam, ja…“ Das Baby beruhigte sich, nachdem es eine Weile gewiegt und gestreichelt worden war, und als die Kleine still war, sah Leyya fragend zu dem Jungen mit dem Ball. Sie beschloss, sich vorzustellen. „Leyya,“ sagte sie deutlich und zeigte dabei auf sich. „Wie heißt du?“ Dann zeigte sie auf ihn und erwartete einen unaussprechlichen Namen wie den des Häuptlings; umso verblüffter war sie, als nur eine recht knappe Antwort kam, wobei er auf seine Brust zeigte:

„Karana.“
 

Der Stamm war groß, aber in kurzer Zeit konnte man die wichtigsten Mitglieder kennenlernen, hatten die Magier bemerkt. Es gab den Häuptling des Stammes, der an seinem übermäßigen Schmuck an der Kleidung zu erkennen war. Er hatte eine Frau und einen ziemlich großen Haufen an Kindern; seine älteste Tochter, die Leyya auf Vogelstimme getauft hatte, weil ihren Namen ebenso wie den ihres Vaters niemand aussprechen konnte, schien ein klein wenig jünger als Puran zu sein. Die weise Geisterfrau, die Magierin, die die Einheitssprache beherrschte, war ebenfalls ein wichtiger Mensch im Stamm. Obwohl sie Schwarzmagierin war, beherrschte sie auch Heilkünste; zwar keine magischen, aber sie kannte sich mit den Kräutern der Berge sicher mindestens so gut aus wie Keisha. Die alte Frau war für die Rituale und Zeremonien des Stammes verantwortlich, ebenso für die Medizin und dafür, den Menschen die Stimmen der Geister zu übermitteln. Der junge Mann, der ihr auf Schritt und Tritt folgte wie ein Schatten, war ihr Sohn, stellte sich heraus, was alle verblüfft hatte.

„Der muss doch mindestens ihr Enkel sein, der ist doch nicht älter als Puran!“ entrüstete Tabari sich nach der Erkenntnis, „Und sie ist bestimmt älter als ich!“

„Oder sie hat eben sehr spät Kinder bekommen…“ warf Meoran ein, „Sieh mich an, wenn meine Tochter so alt ist wie Puran jetzt, bin ich auch alt und schrumpelig.“

Unter den Frauen hatte neben der Frau des Häuptlings auch eine pummelige Vielfachmutter viel zu melden im Stamm. Sie unterwies vor allem jüngere Mädchen in der Frauenarbeit, sie lehrte sie zu nähen, zu kochen und Fleisch auszunehmen. Keiner der Gäste hatte gewagt, ihre Kinder zu zählen, es mussten weit über zehn sein, einige waren noch jünger als Leyya. Der Junge namens Karana, mit dem Leyya oft spielte, war ebenfalls ein Sohn dieser Frau.

Was die Männer anging, hatte natürlich der Häuptling das Sagen; es gab aber noch einen jüngeren Mann, der im Stamm als bester Jäger hoch angesehen wurde, um ihn scharten sich die übrigen Jäger des Bergstammes. Seinen Namen vermochte sich auch niemand zu merken, so taufte Leyya den imposanten Oberjäger auf Schwarzspeer, weil sein Jagdspeer mit Asche schwarz gefärbt worden und sozusagen sein Erkennungszeichen war. Leyya gab überdies vielen der Bergmenschen Namen, es machte ihr Freude, sie zu beobachten und sie nach bestimmten Eigenarten, Positionen oder Merkmalen zu benennen. Allein ihr Kamerad Karana behielt seinen richtigen Namen; er hatte offenbar auch als einziger einen Namen, den man aussprechen und behalten konnte.

„Karana… Sternenauge, so bedeutet,“ erklärte die Alte an einem Abend im Frühling, als sie gemeinsam mit fast dem ganzen Stamm auf dem Vorplatz der Höhle um diverse Feuer herum saßen und aßen. Die Frau schien bemerkt zu haben, wie die Gäste sich über die Namen amüsierten, und sie selbst hatte sich auch königlich über Tabaris lächerliche Versuche amüsiert, die Namen der Bergmenschen auszusprechen. „Sehr alte Sprache, die der Stamm spricht. Älter als Sprache von Geistermenschen.“

„Sternenauge?“ fragte Leyya kauend, die neben Nalani in der Nähe der Alten saß, „Das ist eine sehr schöne Bedeutung, oder, Nalani?“ Die Schwarzhaarige lächelte sanft und strich ihr mütterlich über den Kopf, ehe sie sich an die Alte wendete.

„Warum sprichst du unsere Sprache, weise Frau? Du… kommst nicht aus den Bergen, nicht wahr?“ Jetzt richteten sich viele Blicke auf sie, auch einige Bergmenschen verstummten, obwohl sie Nalani nicht verstanden. Der Sohn der Alten, der ihr Enkel hätte sein können, fixierte die Geisterjägerin jetzt sehr lange schweigend mit einem eigenartigen Blick. Dann sprach seine Mutter.

„Ja, es stimmt. Ich… geboren im Norden, wie ihr. Meine Familie… flieht… aus Yatoret, als Männer aus Anthurien kommen. Ich war ein kleines Mädchen. Fliehen in die Berge. Dieser Stamm hat unsere Leben gerettet. Mein Sohn,“ Sie zeigte auf besagten und er wandte den Blick hastig und verwirrt von Nalani ab, weiter an seiner Keule kauend, „Ist in Himmelsbergen geboren.“

„Spricht er unsere Sprache auch?“ wunderte Nalani sich, weil der Junge noch nie gesprochen hatte, zumindest nicht zu ihnen. Die Frau schüttelte den Kopf.

„Nur sehr wenig, ich bringe ihm bei. Ich selbst kann wenig. Alles verlernt. Ich bin alt, Geisterfrau. Viele Sonnen und Monde vergehen seit dem Tag, als wir her gekommen sind.“ Sie lächelte. „Ich bringe meinem Sohn alles bei. Über Menschen, die nicht in den Bergen wohnen. Er trägt… ein großes Schicksal. Ich habe gesehen, in meinen Träumen.“ Nalani verengte minimal die Augen, indem sie den Sohn anblickte, der offenbar tat, als hörte er seine Mutter nicht.

„Ein großes Schicksal? Was für eins?“

„Er wird Stamm anführen einmal. Ich habe gesehen. Weiß nicht, wann. Weiß auch nicht, warum, aber er wird es.“

„Er wird neuer Häuptling?“ wunderte Tabari sich, „Na, wieso nicht…“

„Du siehst viele Träume, nicht wahr, alte Frau?“ fragte Nalani langsam weiter, „Ich träume auch viel. Du hast gesagt… du hast von uns geträumt.“

„Ja. Ich sehe in Träumen, dass Geistermenschen kommen. Und alles wird anders danach.“

„Anders?“

„Und… ist das gut?“ murmelte Nalani, ehe ihr Mann weiter fragen konnte. Die Alte lächelte wohlwollend.

„Ja, ist gut, glaube ich. Ihr seid große Geistermenschen, viel Macht ist in euch… ich kann sehen in euren Seelen. Von euch… wir können vieles lernen über die Menschen. Bitte bringt uns bei, Geisterfrau. Mein Sohn ist ein guter Lerner.“ Der Sohn drehte jetzt wieder seinen Kopf zu den Gästen und sah sie schweigend an. Die Geisterjägerin verneigte sich höflich.

„Ich erzähle euch von den Menschen. Im Gegenzug habe ich auch eine Bitte an euch… lehrt mich eure Sprache der Berge. Die Geister haben uns hierher geschickt… damit wir und der Stamm voneinander lernen können, denke ich.“ Die weise Frau nickte ein paar Mal.

„Ja, das ist gut! Ich lehre Geisterfrau die Bergsprache. Und Geisterfrau erzählt uns von den Menschen, die nicht in den Bergen leben.“
 

Das Leben war angenehm im Stamm der Bergmenschen. Und sie verdrängten, dass hinter den Gipfeln der Iketh-Berge der Krieg gegen die Zuyyaner ohne sie weiter tobte, dass irgendwo am anderen Ende des Landes vermutlich ihre Kollegen, die Kohdars, Neron Shai, seine Freundin Saja und der meckernde Henac Emo vor sich hin lebten. Manchmal schickten die Geister ihnen Bilder aus der Ferne, Bilder von Tod und Krieg über dem Land. Es schmerzte sie, zu sehen, was aus ihrem Heimatland gemacht wurde; eine Wüste der Qualen und des Todes. Sie waren hier in Sicherheit in den Bergen.

Nachdem der Frühling dann da war, kam der Sommer rasch. Die Sommer in den Bergen waren kurz, aber angenehm. Am Ende des Sommers war die Zeit der reifen Beeren. Die Magier hatten gelernt, dass es auf den hoch gelegenen Wiesen in der Nähe der Höhle kleine Büsche mit schmackhaften, blutroten Beeren gab, die es zu pflücken galt. Das war Arbeit der Frauen; aber auf dem Weg zu den Hochebenen mussten Männer die Sammlerinnen begleiten, damit sie nicht angegriffen wurden.

„Es ist immer dasselbe,“ schnaufte Puran und raufte sich die Haare, „Egal, was ist, ich bin garantiert der Frauenbewacher. Wie jedes Mal, ich sollte es aufgeben.“

„Das liegt an den Weibern, die hängen dir alle am Hals, mein Guter,“ feixte Meoran neben ihm, während sie hinter den Frauen her gingen wie hinter einer Schar Gänse. Der Jüngere schnaufte und errötete etwas, ehe er die Stammesfrauen und jungen Mädchen verlegen beobachtete, die kicherten, sich in ihrer seltsamen Sprache unterhielten oder stumm daher gingen. Einige von ihnen waren zugegeben ziemlich hübsch… aber was sollte er machen? Ansprechen konnte er sie schlecht, sie verstanden ihn nicht; und außerdem käme er sich schäbig vor, einfach so eine von ihnen anzureden, selbst, wenn er sie verstehen könnte; sie waren hier nur Gäste. Sie würden irgendwann wieder gehen und er konnte ihnen schlecht eine Frau klauen und mitnehmen… er beobachtete verstohlen ein zierliches, junges Mädchen mit braunen Haaren von hinten, das fröhlich kichernd seinen Beerenkorb herum schwenkte. Sie hatte ein lustiges Kleid aus Fell an, an dessen Saum unten getrocknete Beeren befestigt waren. Die Samen in den Beeren rasselten, während sie ging, und wackelten am Saum hin und her wie die Zöpfe der jungen Frau an ihrem Kopf. Das Kleid war aus dem Fell eines noch nicht ganz ausgewachsenen Hirsches gemacht worden, die weißen Flecken des Tieres zierten jetzt die Bekleidung der Frau. Leyya hatte sie deswegen Rehkleid getauft, soweit sie es mitbekommen hatten, war sie die jüngere Schwester des Oberjägers Schwarzspeer.

Rehkleid war hübsch, fiel ihm auf, während er sie eine Weile ansah; dann riss sein Kollege und Lehrmeister ihn wieder ins reale Leben zurück.

„Na, und wie es aussieht, hängen nicht nur die Frauen an dir, Puran.“

„Ach, lasst den Unsinn, Meister!“ empörte er sich entrüstet, ehe ihm etwas einfiel, „Moment, ich weiß, warum Ihr wolltet, dass ich mit Euch die Frauen bewache, weil Euch langweilig ist, mit denen alleine zu sein, Ihr versteht sie ja auch nicht!“ Meoran hustete.

„Wo denkst du hin…?“

„Pff, ich habe Euch ertappt…“

„Höre endlich auf, mich im Plural anzusprechen, ist ja fürchterlich mit dir. Du möchtest Distanz von mir? So scheint es zumindest.“

„N-nein! Also, ich meine… ich wollte Euch – ähm, dich… das ist ungewohnt… nicht verärgern… ich meine… ich respektiere dich… deswegen erscheint es mir komisch, nicht im Plural zu sprechen…“

„Mach dir keinen Kopf um das.“ Der Ältere gluckste. „Ich werde alt, Puran. Ich bin zwar jünger als Tabari, aber trotzdem aus seltsamen Gründen seit einigen Monden schlechter zu Fuß als ihr anderen; wenn wir auf der Jagd waren, kam ich doch kaum hinterher, weil ich gar nicht die Ausdauer habe, die du und ein Vater haben… ich glaube nicht, dass es an mir etwas gibt, zu dem du aufsehen könntest, also keine Sorge.“ Puran senkte bedrückt den Kopf. Ja, das war ihm auch aufgefallen; in Sachen Kondition war er von den Fluchten aus dem Norden nach Kerhi-Uhl auch mehr gewöhnt von seinem Meister, in der letzten Zeit war er gesundheitlich nicht so auf der Höhe gewesen. Auf der Jagd war er zurückgeblieben, weil er nicht mehr hatte atmen können oder seine Brust seltsamer Weise geschmerzt hatte; Keisha wusste dazu auch nichts Gescheites zu sagen. Aber wenn er nicht gerade Ewigkeiten hinter wilden Tieren her rannte, war Meoran gesund, das war die Hauptsache. Deswegen bekam er jetzt meistens den Posten des Frauenbewachers, weil er da nicht so viel laufen musste.

„Ich bewundere Euch – äh, dich… auch nicht um die Fähigkeit des Jagens, ich bewundere deine Weisheit, Meister.“ Meoran wollte ihn gerade auslachen und fragen, was an ihm weise sein sollte, doch ein fernes, aber dennoch donnerndes Dröhnen der Erde unterbrach sie. Sie hielten sofort an, ebenso wie die Frauen vor ihnen, und alle fuhren entsetzt erbleichend herum.

„Was war das?!“ keuchte Puran sofort und riss alarmiert seinen Speer hoch, während die Frauen vor ihnen laut zu reden begannen und sich panisch umsahen. Das Donnern der Erde ertönte erneut und dieses Mal erschütterte es das gesamte Gebirge, als würde Mutter Erde sich schütteln und versuchen, die Menschen wie Parasiten abzuwerfen.

„Die Zuyyaner…“ murmelte Meoran, „Das Beben kommt von einer weit entfernten, aber gewaltigen Erschütterung unserer Welt…“ Er taumelte ob des Erdbebens und Puran fuhr japsend herum, als die Frauen plötzlich zu schreien anfingen und in alle Richtungen davon stoben wie gejagte Tiere.

„Halt, bleibt zusammen!“ rief er entsetzt, „W-was zum-…?!“ Das nächste Beben kam nicht aus der Erde, sondern von oben, und erschrocken blickte er hinauf auf den steilen Felshang über ihnen… und erstarrte vor Entsetzen, als er die Felsbrocken sah, die, groß wie ein geräumiges Wohnzimmer, hinunter gepoltert kamen, genau auf die Frauen zu, die schreiend umher rannten. Meoran schrie.

„RENNT!“

Obwohl sie die Sprache nicht verstanden, bemerkten sie das Donnern über sich und folgten seinem Befehl umgehend. Die niedliche Tochter des Häuptlings schubste panisch zwei noch sehr junge Mädchen mit aller Kraft fort von sich, um sie aus der Bahn der Felsen zu schleudern, dabei stolperte sie und war schon im Begriff, hinzufallen – das wäre ihr Ende gewesen, wenn die Felsen sie getroffen hätten.

Es war reine Instinktsache, als Puran einen Satz nach vorne machte und sie brutal am Arm packte, sie mit aller Macht zurück zerrte, die er aufbringen konnte; nicht zuletzt mit Hilfe eines ebenso instinktiv gezauberten Windstoßes schaffte er es, sich und die Häuptlingstochter im letzten Moment aus der Bahn der tödlichen Felsen zu werfen. Mit einem lauten, dröhnenden Krachen schlugen die Felsbrocken auf den Weg und donnerten weiter die Berge hinunter. Ihr Tosen und die Erschütterung der Steinlawine ließen die Menschengruppe erzittern, bis sie nach und nach verstummten und dann alles in Stille zurückließen.
 

Puran lag heftig atmend auf dem Bauch am sandigen Boden, halb neben ihm das Mädchen, das Leyya Vogelstimme nannte. Er spürte, dass sein Kopf schmerzte, und musste sich erst einmal wieder vor Augen führen, was gerade geschehen war. Er hörte Meoran rufen.

„Du liebe Güte! Seid ihr verletzt? Puran!“ Der Jüngere hob stöhnend den Kopf, während sein Meister gefolgt von den anderen Frauen und Mädchen zu ihm kam, wo sie einen neugierigen Kreis bildeten. Vogelstimme rappelte sich auf und jappste. Dann sah sie zunächst mit großen Augen in die Gesichter der übrigen Frauen, die sie groß anstarrten, manche flüsterten noch ängstlich vom vorigen Erdbeben miteinander. Puran hustete und setzte sich ebenfalls auf, um Meoran zu antworten.

„Nein, ich bin in Ordnung. Sie scheint es auch zu sein…?“ Er betrachtete Vogelstimme, die den Kopf tief senkte und sich plötzlich vor ihm auf den Boden warf. „Du liebe Zeit, doch nicht?! Sag doch was-…!“ Doch das Mädchen richtete sich schon eilig wieder auf, als er nach ihrer Schulter fasste, und aufgeregt gestikulierend schaffte sie trotz ihrer fremden Sprache und mit etwas Hilfe von Meoran, den beiden Männern klar zu machen, dass sie sich bei Puran bedanken wollte; er hatte ihr das Leben gerettet, das war eine sehr große Tat. Der Stamm würde ihn dafür auf ewig ehren, versprach die Häuptlingstochter. Der junge Mann war so perplex, als sie sich wieder vor seine Knie zu Boden warf, während er immer noch saß, dass er nichts erwidern konnte.

„Wir sollten zurück zur Höhle,“ murmelte sein Lehrer dann mit Blick auf die unheilschwangeren Felsen, die sie zu Tode erschreckt und Vogelstimme beinahe zerschmettert hätten. „Der Weg zu den Beeren ist jetzt ohnehin versperrt…“
 

Es waren alle unverletzt. Als man im Lager von dem Vorfall berichtete, erntete man entsetztes Jammern von den Alten und Kindern und erschrockene Blicke von den Jägern, die da waren.

„Wir haben es auch gehört, dieses Donnern,“ sagte Nalani zu ihrem Sohn, den wohlauf zu sehen sie überaus erleichterte, sodass sie an sich halten musste, um ihn nicht in Anwesenheit aller mütterlich zu umarmen; nicht, dass sie ihren Stolz verlor…

„Es war ein Zeichen von Unheil, oder… Mutter?“ murmelte der Sohn beklommen und strich sich etwas grübelnd durch die braunen Haare, die wie üblich in alle Richtungen abstanden. Nalani sprach nicht. Sie beide wussten, dass er recht hatte. Was immer die Zuyyaner im Osten trieben, es war nichts Gutes und sie spürten instinktiv, dass tausende Menschen im Moment des Bebens ihr Leben verloren haben mussten.

„Solange diese Bastarde auf Tharr sind, wird es Unheil geben,“ rang sich die Schwarzhaarige doch noch zu einer Antwort durch, „Wenn wir großes Glück haben, gehen sie irgendwann und alles wird gut.“

„Haha,“ Puran lachte sarkastisch, „Das ist so utopisch, so gutgläubig ist noch nicht mal von Vater!“

Er wurde unterbrochen, weil plötzlich jemand seinen Namen schrie und ehe er sich versah Leyya an ihm hing. Mit ihrem Ansturm hätte sie ihn beinahe von den Beinen gerissen, und jetzt hing sie vor Freude, ihn zu sehen, fast weinend an seinem Hals. Sie war groß geworden, seit sie in den Bergen angekommen waren.

„Du bist am Leben!“ rief sie, „Ich hab mich gefürchtet bei dem Erdbeben! Die Geister sagen seltsame Dinge, i-ich habe gedacht, dir würde etwas geschehen da oben…!“

„Liebe Güte…“ Er lächelte wohlwollend und schloss sie seufzend in die Arme, ehe er sich sanft aus ihrer Umklammerung befreite. „Natürlich lebe ich, für wie blöd hältst du mich, dass ich mich von einem Felsen zu Pastete verarbeiten lasse? Pastete, ach, was gäbe ich eigentlich für ein vornehmes Essen wie früher daheim?“ Sie strahlte und begann, vor ihm auf und ab zu hüpfen.

„Ich mache dir Pastete, wenn der Krieg vorbei und alles gut ist!“ versprach sie, „Ich mache dir das beste, vornehmste Essen der Welt, nur dir!“ Er nahm sie nicht ernst.

„Ja, mach das mal. Und ich erlege dir einen Bären und schenke dir sein Fell.“ Ehe Leyya sich empören konnte, dass er sie veräppelte, obwohl sie ihr Versprechen völlig ernst gemeint hatte, kam der Häuptling mit dem unaussprechlichen Namen auf die Schamanen zu. Neben ihm ging seine Tochter, Vogelstimme, und mit ihnen kam der ganze Stamm. Alle versammelten sich und Leyya blickte verblüfft zu ihrem Kameraden namens Karana, der auch in den Reihen stand und neugierig guckte; offenbar hatte er genauso wenig Ahnung wie sie, was hier geschah.

Nalanis Blick galt der alten Magierin und ihrem sehr jungen Sohn. Die Geisterjägerin verbrachte viel Zeit mit den beiden und gegenseitig brachten sie sich vieles bei.

„Der Häuptling wird zu deinem Sohn sprechen, Geisterfrau,“ sagte die Alte todernst, worauf Puran den Häuptling ansah. Er wollte sich verneigen, aber der Mann war schneller, er sank auf die Knie und warf sich auf den Boden, als stünde er vor dem Kaiser der Welt. Als er begann, auf der fremden Sprache zu reden, dolmetschte Nalani für ihren verwunderten Sprössling.

„Es sind Worte des tiefsten, größten Dankes, die er spricht. Du hast seiner Tochter das Leben gerettet, dafür steht er in deiner Schuld.“

„Nicht doch, d-das war doch selbstverständlich!“

„Still und lausche!“ mahnte die Mutter ihn ernst und der Jüngere hustete. Eine Weile lauschten sie alle dem Gerede des Häuptlings, das außer Nalani niemand der Gäste verstand. Danach stand der Mann wieder auf und nahm seine älteste Tochter an den Schultern. Er schob sie mit einer ausschweifenden Armbewegung zu Puran herüber.

„Wie jetzt?“ wunderte dieser sich nach dem vorigen Tadel seiner Mutter kleinlaut und auch die übrigen Schamanen sahen sich dümmlich an. Abgesehen von Nalani.

„Der Häuptling macht dir ein großzügiges Geschenk, um seine Schuld zu begleichen. Du darfst seine älteste Tochter als dein Eigentum behalten und über sie verfügen, wie es dir beliebt. Sie ist jetzt sozusagen deine persönliche Frau. Oder Sklavin, oder was immer du gerne möchtest.“

Puran starrte sie darauf entgeistert an.
 

Eine Weile herrschte Schweigen. Nur Ruja sah Leyyas fassungslos geweitete Augen, tat aber so, als hätte sie nichts gesehen, und wiegte ruhig ihr Baby auf ihren Armen. Ihr nächster Blick galt Puran, der wiederum erst Vogelstimme, dann den Häuptling, dann seine Mutter anstarrte und keinen Ton herausbekam.

„Das… das kann ich nicht annehmen,“ keuchte er dann heiser. „M-man kann doch keine Menschen verschenken! Das… das geht gegen meine Moral, das kann ich nicht. Sag ihm das, Mutter!“ Nalani rührte sich nicht, der Sohn der alten Magierin im Hintergrund zog eine Braue hoch. Puran sah es und fragte sich im Stillen, ob der junge Kerl von Nalani schon so viel der Hochsprache gelernt hatte, dass er ihn verstehen konnte. Sprechen tat der Dolmetscher zumindest niemals in der Einheitssprache.

„Nein,“ widersprach Nalani dann kalt.

„Was?! Wie kannst du das zulassen, ich kann doch eine Frau nicht wie einen alten Teppich annehmen!“

„Wir sind hier im Stamm der Bergmenschen, Puran. Es sind ihre Bräuche und ihre Sitten, denen wir uns anzupassen haben, weil sie uns aufnehmen. Wenn du dieses Geschenk nicht annimmst, beschämst du den Häuptling, Vogelstimme und deine Eltern, weil du zeigst, dass du nicht richtig erzogen wurdest.“

„Was?!“ Jetzt lachte er hysterisch und fuhr sich nervös durch die Haare, Vogelstimme musternd, die ihn mit gesenktem Kopf schuldbewusst anvisierte, oder eher seine Füße. „Sie nicht anzunehmen beleidigt den Stamm, aber sie anzunehmen ist in unseren Sitten schändlich, der Handel mit Menschen ist das Letzte und unterste Schublade!“

„Ich weiß, in Dokahsan,“ machte die Mutter, „Aber wir sind in Kadoh. Wir sind nicht in der Zivilisation, in der wir aufgewachsen sind. Hier gelten andere Regeln, Puran. Du hast keine Wahl, wenn du nicht den Zorn des ganzen Stammes auf dich ziehen willst… sein Geschenk abzulehnen wäre die größte Entehrung sowohl für den Häuptling als auch für die Frau, denn es zeigt, dass sie dir nicht gut genug ist. Versuch wenigstens, dich in sie hineinzuversetzen.“

„Du verlangst sehr viel, bei allem Respekt,“ schnarrte er jetzt leicht zornig und verengte seine hübschen Augen zu bedrohlichen Schlitzen, aus denen er sie anstierte wie ein hungriges Raubtier. „Ich verlange nichts dafür, dass ich ihr das Leben gerettet habe, jeder andere hätte es auch getan, hätte er so dicht daran gestanden wie ich.“

„Du hast aber ihr Leben gerettet und kein anderer. Damit gehört dieses Leben jetzt dir, Puran. Nimm es an.“ Es folgte eine lange Pause, nach der der Jüngere schließlich resignierend seinen Blick abwandte und brummend zu Boden starrte. Obwohl sie bereits wusste, dass sie ihn überzeugt hatte, fragte Nalani weiter. „Wirst du das Geschenk annehmen und ehren, wie die Lebensgeister es verdienen, die du vor dem Tode bewahrt hast?“

Er zischte grantig.

„Ja, das werde ich,“ gab er nach, und während seine Mutter genau das dem Häuptling sagte, ging lautes Jubeln und Reden unter den Bergmenschen los. Allein Leyya senkte finster den Blick, wandte sich ab und nahm Karana an der Hand, um mit ihm davon zu laufen.
 

Die Menschen der Berge hatten komische Gesetze, fand Puran etwas zerknirscht, als am Abend der ganze Stamm fröhlich das Überleben aller Mitglieder trotz Erdbeben feierte. Sie hatten auf dem Platz vor der Höhle ein großes Feuer errichtet, viele tanzten und sangen. Die alte Seherin des Stammes sprach mit lauter Stimme auf der komischen Sprache zu den Geistern, um die Erde zu besänftigen und weitere Beben zu verhindern. Der Sommerhimmel war klar, man konnte viele Sterne sehen.

Neben ihm saß Vogelstimme vergnügt lächelnd am Boden und richtete auf einer hauchdünnen, steinernen Platte, die einen Teller ersetzte, Essen für ihn an. Irgendwie kam er sich schäbig vor, sich von ihr bedienen zu lassen, aber sie hatte sich nicht davon abhalten lassen; offenbar war es für eine Frau hier eine Ehre, einem Mann dienen zu können. Wie demütigend. Verlegen nickte er der Frau zu und nahm ihr Essen mit einem gemurmelten Dank an, den sie sowieso nicht verstehen würde… er hasste es, nicht mit ihr kommunizieren zu können. Schweigend aß er und beobachtete die tanzenden und lachenden Menschen um sich herum. Ruja tanzte auch und kicherte dabei, während Meoran vor ihr stand, sich amüsierte und seine Tochter Saidah auf den Armen wippte. Seufzend betrachtete der junge Mann die Frau seines ehemaligen Lehrmeisters, wie sie im Schein des Feuers tanzte und dabei so wunderschön und lieblich aussah. Obwohl seit seiner Lehre in Tuhuli schon einige Jahre vergangen waren, war Ruja noch immer so bildschön wie damals, als wäre sie um keinen Tag gealtert. Im Gegenteil… die Geburt ihres Kindes schien sie noch mehr aufblühen gelassen zu haben. Er lächelte versonnen und wandte errötend den Blick von ihr ab – es war gut, dass er über sie hinweg war. Sie schön zu finden war nicht verwerflich, im Gegensatz zu seinem früheren, brennenden Verlangen nach ihr. Dennoch beneidete er seinen Meister innerlich um seine schöne, kluge Frau und wünschte sich plötzlich, auch einmal so eine zu finden, die er so verehren und lieben konnte wie Meoran Ruja.

Er blickte verdrossen wieder zu Vogelstimme, die junge Frau, die jetzt sein Eigentum war, so hatte Nalani gesagt. Eigentum war gut… was machte er jetzt mit ihr? Perplex beobachtete er, wie sie verlegen errötete unter seinem Blick und irgendwie schüchtern lächelnd in ihren Schoß blickte, dabei mit den Händen an ihrem Kleid aus Tierhäuten zupfend. Er wollte sich gerade etwas überlegen, was er ihr versuchen könnte mitzuteilen, aber sein Vater unterbrach ihn.

„Na, du Frauenheld?“ Entrüstet fuhr der Jüngere herum. Tabari hockte plötzlich hinter ihm und grinste amüsiert. „Wie macht sich denn deine neu errungene Frau?“

„Von wegen Frauenheld!“ schnaufte Puran verlegen, „Ich habe das nicht beabsichtigt, als ich sie gerettet habe! Ein Geschenk, sagen sie, für mich ist es gerade mehr eine Belastung, dass sie jetzt mir gehört. Ich muss schließlich für sie sorgen und ihr Vater ist aus dem Schneider.“

„Tja, so ist das Leben. Aha, aber sie hat dir Essen gebracht, lohnt sich doch.“ Tabari feixte, sein Sohn seufzte nur.

„Ich weiß gar nicht, was ich mit ihr anstellen soll, ich meine, ich kann mich nicht mal mit ihr unterhalten… ich meine, ein Haustier geschenkt bekommen oder Speere oder Essen ist eine Sache, aber einen Menschen, ich meine… meine Frau, sagst du, sie ist gar nicht meine Frau… wenn ich eine heirate, dann, weil ich sie begehre, und nicht weil ich sie geschenkt bekomme!“

„Ich verstehe, was du meinst, Puran, glaub mir. Aber wir sind in einem fremden Land mit fremden Ritualen. Du wirst das Beste daraus machen müssen. Tu, was deine Mutter gesagt hat, und ehre das Mädchen.“ Er räusperte sich zweideutig und erhob sich, worauf sein Sohn dumm schaute. „Wir sollten… froh sein, so lange wir hier sind. Also hör auf, so ein Gesicht zu machen, sei nicht so verbissen.“ Er grinste aufmunternd und der Sohn seufzte wiederum. Er blickte seinem Vater schweigend nach, als er wieder davon trottete und nach seiner eigenen Frau suchte, die vermutlich mit dem jungen Dolmetscher sprach.
 

Was dachte der sich? So ein Schwerenöter war er nun auch wieder nicht, dachte er sich beleidigt. Die Feier dauerte bis spät in die Nacht und nach und nach verschwanden alle Mitglieder des Stammes in die Höhle, um zu schlafen. Drinnen herrschte fröhliches Gekicher; viele hatten sich mit gegorenem Beerensaft betrunken und alberten herum, als Puran irgendwann gefolgt von Vogelstimme hinein ging, weil ihm die Hitze des Feuers draußen zu unangenehm wurde. Sie mussten teilweise über Menschen steigen, die mitten auf dem Boden vor sich hin schnarchten und offenbar schon ihren Rausch ausschliefen. Kopfschüttelnd linste der junge Mann zur Seite, wo in einigen der kleinen Familiensenken Paare oder kleine Kinder friedlich kuschelten. Alkohol war ein furchtbares zeug, hatte er schon vor Jahren gelernt, als er noch in Vikhara gelebt hatte; er erinnerte sich empört an Travis Geburtstag und die Sauforgie, die sie veranstaltet hatten, und wie er im Beisein sämtlicher Freunde und Bekannten über seine Freundin Cholena hergefallen war wie ein wildes Tier… die Erinnerung war ihm selbst jetzt noch peinlich. Was wohl aus Travi geworden war? Und Kannar… und Alona, seiner Cousine, die mit seinem besten Freund zusammen gewesen war… plötzlich vermisste Puran seine Familie.

Seufzend kletterte er mit der Frau zusammen auf den Felsvorsprung, auf dem er mit seiner Familie wohnte. Seine Eltern waren auch schon da und schliefen bereits, oder taten zumindest so, genau konnte er es in der schummrigen Beleuchtung durch Talglampen in der Höhle nicht erkennen. Er fragte sich, wo Leyya war… nach einem besorgten Blick entdeckte er sie aber auf dem anderen Vorsprung, wo Chimalis’ wohnten, sie kuschelte dort mit dem Baby Saidah und Keisha. Meoran und Ruja waren noch nicht da, der Himmel wusste, wohin die sich verzogen hatten und was die machten; sie hatten sich vorhin so verliebt und sehnsüchtig angesehen, als Ruja noch kichernd getanzt hatte, dass Puran nicht lange nachdenken musste, um zu erraten, was sie wohl taten. Wie lieb von Leyya, dass sie solange mit auf Baby Saidah aufpasste.

Die Gedanken an Leyya stimmten den jungen Mann verwirrt, während er sich auf sein Lager legte und sich in seine Decke wickelte. Vogelstimme legte sich schweigend lächelnd neben ihn. Die kleine Heilerin war seit dem Nachmittag irgendwie seltsam gewesen, sie war zusammen mit ihrem kleinen Freund umher gelaufen und hatte getan, als wäre er, Puran, plötzlich Luft, obwohl er sie angesprochen hatte. Er fragte sich verwirrt, ob er ihr irgendetwas getan hatte. Leyya wurde immer komischer. Erst wollte sie ihm Pastete machen und dann ignorierte sie ihn plötzlich…

Es dauerte lange, bis endlich mehr Ruhe in die Höhle einkehrte, als immer mehr Menschen vom Feiern müde herein kamen und sich hinlegten. Puran lag lange wach auf der Seite und beobachtete stumm das Geschehen in der Höhle weiter unten. Irgendwo liebte ein Mann seine Frau, er konnte trotz der Decke, die über ihnen lag, deutlich die Bewegungen sehen. Neben ihnen rollte sich eine weitere Frau auf die Seite, die zweite Frau des Jägers. Dass ab und zu ein Mann mehrere Frauen hatte, war im Stamm nicht unüblich, hatten die Magier erfahren. Es war eine Ehre für einen Mann, zwei Frauen zu haben oder gar noch mehr. Die Alte hatte einmal von einem Jäger erzählt, der aber schon tot war, der vier Frauen gehabt hatte und unter den anderen Männern ziemlich hoch angesehen worden war.

Puran blinzelte, als die zweite Frau sich aufrappelte und nach ein paar Worten zu ihrem beschäftigten Mann auf einen kleinen Vorsprung in der Nähe zu einer anderen Familie kletterte. Dort zog sie sich aus und krabbelte unter die Schlaffelle eines anderen Jägers, und kurz darauf war das nächste Paar beschäftigt. Der Schwarzmagier hustete verblüfft. Was war denn das, die Frau ging weg, um mit einem anderen Spaß zu haben, und das war in Ordnung? Irgendwie war ihm die Anarchie dieser Bergleute wirklich zu verwirrend, er brauchte Regeln und Ordnung, verdammt…

Als er sich von dem Geschehen unten abwendete und sich herum rollte, blickte er direkt in das hübsche Gesicht von Vogelstimme. Sie hatte die Augen geschlossen und schien bereits zu schlafen und Puran seufzte.

Er sollte sie ehren, hatte man gesagt. War das eine Ehre für die Frau, wenn er mit ihr tat, was er zuvor schon mit diversen anderen Frauen in seinem Leben getan hatte? Irgendwie kam es ihm falsch vor, sie nur für seine Zwecke zu benutzen, obwohl ihm der Gedanke, mit ihr zu schlafen, plötzlich ziemlich gut gefiel. Er dachte kurz an das hübsche Mädchen Rehkleid; er fand wirklich ziemlichen gefallen an ihr, sie war niedlich. Seit sie in Iter gewesen waren, hatte er mit keiner Frau geschlafen und die Bilder und Geräusche von eben lösten in ihm jetzt ein unruhiges Verlangen danach aus, Vogelstimme zu wecken und sich zu ihr unter die Felldecke zu legen.

Reiß dich zusammen… schalt er sich grummelnd, kehrte der jungen Frau nervös den Rücken und schloss die Augen, um wenigstens die Bilder nicht mehr zu sehen, wie sich irgendwo in der Höhle irgendwelche Paare liebten. Du begehrst nicht die Frau, sondern nur ihren Körper im Moment, weil du so lange nicht mehr hast. Sie einfach zu nehmen wäre entwürdigend für sie, sie ist schließlich ein Mensch und kein Sexspielzeug…

So dachte er und zwang sich, Ruhe zu bewahren, nicht an die Frau hinter ihm oder irgendeine zu denken und zu schlafen.
 

Sobald der Herbst gekommen war, waren es nicht mehr die Frauen, die Puran um seinen Schlaf brachten, sondern die Windgeister, die ihn daran erinnern wollten, wer er war.

Er träumte einen eigenartigen Traum, der so real schien, als wäre er mehr eine ferne Erinnerung; eine dunkle, beunruhigende Erinnerung, die ihn fast wahnsinnig machte, obwohl nichts geschah. Er träumte vom Schloss seiner Ahnen und von einem kleinen Jungen aus einem Dorf. Genau wie er selbst hatte er braune Haare und grüne Augen, und als der Junge den Kopf zu ihm drehte und ihm ins Gesicht starrte, kam es Puran vor, als würde sein bloßer Anblick ihn vor Furcht lähmen.

Da war die grauenhafte Panik tief in seinem Geiste, die er bei einem anderen Traum ebenfalls verspürt hatte… bei dem Traum mit den Spiralen in der Finsternis.

Der kleine Junge verzog den hübschen Mund zu einem dämonischen Grinsen und entblößte dabei seine seltsamen, spitzen Eckzähne; Zähne, die denen eines Raubtieres glichen. Aus der Finsternis in seinem Geist hörte er alte Worte seiner Mutter.

„Der Junge heißt Ulan Manha, er kommt aus Canulo. Wir fanden ihn neben deinem toten Großvater, er war verletzt… sicher hat Großvater ihn angegriffen. Er erinnert sich an nichts mehr…“

Puran erinnerte sich gut an jenen Tag kurz nach dem Tod seines Großvaters und an den Dorfjungen. Das grinsende Gesicht verschwand in der Dunkelheit, allein die Stimmen blieben zurück und zischten in seinem Kopf, dass er nur Bruchstücke verstehen konnte.

„Habt ihr Heiler in eurer Familie?“

„Wir sind alle Schwarzmagier…“

„Meine Großmutter hat auch immer Kopfweh, vielleicht seid ihr verwandt.“

Und die weiße Spirale tanzte unermüdlich in der Finsternis seines Traums, den Tanz, der in ihm die Panik auslöste. Und als die Schleier der Vision sich zu lösen begannen, segelte aus dem Himmel eine schwarze Feder herab, die zerschellte wie Glas, sobald sie die Spirale berührte.
 

Als er sich aufsetzte, musste der Morgen grauen. Im späten Herbst graute der Morgen recht spät in den Bergen. Vogelstimme lag auf ihrem Schlafplatz neben seinem und schlief, als Puran sich aufsetzte und sich ein paar Mal nervös über das Gesicht fuhr.

Da war sie wieder, die beklemmende, unbekannte Angst, die ihm die Luft zum Atmen nahm. Irgendein dunkles, bösartiges Loch in seinem Geist, das ihm wieder und wieder Unbehagen bereitete, ohne dass er genau benennen könnte, wovor er sich fürchtete. Er sah sich seufzend in der düsteren Höhle um. Mit etwas Abstand neben Vogelstimme schlief die kleine Leyya, noch etwas weiter hinten sein Vater. Wo war seine Mutter? Als er zum anderen Vorsprung sah, erinnerte er sich beim Anblick der Chimalis-Familie an die schwarze Feder aus seinem Traum, die zerschellt war. Der Chimalis-Clan war der Clan der Kondorgeister, der Clan der Todesvögel und Aasfresser. Für was sollten die schwarzen Federn stehen, wenn nicht für Chimalis’? Aber wieso waren sie dann zerschellt? Eine grausame Sorge machte sich in ihm breit, und als er die Beengung durch die Panik nicht mehr aushielt, kletterte er behände vom Vorsprung, ohne die anderen zu wecken, wie er hoffte, und eilte aus der Höhle an die frische Luft. Als er weg war, hob Leyya bestürzt den Kopf vom Lager und fragte sich, wohin er gegangen sein mochte.
 

Es war kalt geworden. Draußen auf dem Vorplatz fand er Nalani, die dort am bereits entfachten Feuer hockte und in die Luft starrte. Sie drehte den Kopf, als er sich wortlos zu ihr setzte, und eine Weile saßen sie einfach nur nebeneinander und sagten nichts.

„Die Träume rauben dir den Schlaf… nicht wahr?“ begann sie schließlich ein dumpfes Gespräch. Puran antwortete nicht; das war nicht nötig. „Ich werde auch von Bildern gejagt, während ich selbst noch immer nach denselben Antworten suche…“

„Was für Antworten?“

Darauf antwortete sie nicht.

„Antworten auf Fragen, die mich schon lange beschäftigen,“ wich sie dann aus und Puran verstand rasch, dass sie ihm nichts sagen würde. Er fragte sich, warum nicht.

„Siehst du auch noch immer die Spiralen, Mutter?“

„Ja, öfter.“

„Und kennst du… auch diese… Furcht in deinem Inneren, wenn du sie gesehen hast? Wenn ich von ihnen träume, bin ich befangen und panisch, wenn ich aufwache, als hätte ich etwas Fürchterliches gesehen… es sind doch nur Knochen, oder?“ Nalani schwieg lange.

„Ja. Nur Knochen.“ Sie machte eine Pause. „Die Geister sind unruhig in den Bergen und in der Erde, ich kann es spüren. Die Zuyyaner wüten da draußen und zerstören das Land, in dem wir leben… die Welt… stirbt, und ich habe das Gefühl, mit ihr zu sterben, wenn ich träume. Es ist eigenartig.“ Ihr Sohn senkte beklommen den Kopf.

„Ich habe heute Nacht von einem Jungen geträumt, der einst bei uns im Schloss war nach Großvaters Tod. Ich weiß nicht, wieso, aber irgendetwas… hat mich alarmiert dabei. Dieser Ulan Manha, erinnerst du dich? Aus Canulo…“ Als Nalani auf die Füße sprang und ihn anstarrte, als wäre er vor ihren Augen zu einem Pferd geworden, schrie er vor Schreck kurz auf. „W-was…?!“

„Ulan!“ keuchte Nalani, „Ulan! So hieß er! Der kleine Junge, der halb tot neben Kelar am Boden lag! Er hieß ausgerechnet Ulan!“

„Was meinst du mit ausgerechnet?“ wunderte ihr Sohn sich erbleichend. Die Frau fasste sich an den pochenden Schädel. Die eisige Luft und die gleichzeitige Wärme des Feuers neben ihr machten sie schwindelig.

„Ich frage mich seit Jahren… warum der Name Ulan nicht aus meinem Kopfe verschwinden mag. Jetzt weiß ich, woher ich ihn kenne… dieser Dorfjunge hieß so. Warum hieß der ausgerechnet Ulan? Das… kann doch kein Zufall sein!“

„Wieso denn Zufall?“ japste er, „Was ist mit dem Namen?“

„Ulan… hieß einer deiner Vorfahren vor vielen Jahrhunderten. Auf den Stammbäumen im Schloss stand er. Warum trägt ein stinknormales Dorfkind den Namen eines Lyra-Clanführers von vor langer Zeit?“ Sie sprach nicht weiter.

Und vor allem, warum… zieht sich in mir alles beunruhigt zusammen, wenn ich an diesen Namen denke…?

Sie konnte sich weder die eine noch die andere Frage beantworten…
 

Der Herbst war kurz. Bald würde der nächste Winter kommen; bald wären sie ein ganzes Jahr in den Bergen von Kadoh. Von den wenigen Bäumen, die in jener Höhe wuchsen, trugen bald die meisten keine Blätter mehr. Der nahende Winter schlug den Magiern zusätzlich zu ihren Sorgen um die seltsamen Visionen der Geister auf die Gemüter, nicht nur Nalani und Puran.

„Bald werden wir wieder den ganzen Tag nur in der Höhle hocken können,“ jammerte Leyya einmal, während sie gemeinsam mit Keisha auf einem Stein Kräuter trocknete in den letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres. Der Mond der Stürme würde bald kommen. Dann würde es Zeit, in der Höhle zu bleiben, und den darauf folgenden Wintermond, den Hungermond und den Neujahrsmond würden sie nur drinnen verbringen. Die Aussichten waren grässlich. Leyya vermisste jetzt schon die warme Sommersonne und den frischen Wind. Sie freute sich auf den Frühling. „Meinst du, der Vorrat an Heilkräutern reicht, Keisha?“

„Für den Winter? Ich hoffe. Im Winter wachsen nirgends Kräuter, wenn er ausgeht, wäre es übel. Aber wir haben fleißig gesammelt. Du bist eine sehr gute und fleißige Schülerin, Leyya!“ Die alte Frau sah sie stolz an und das Mädchen errötete glücklich.

„Ich gebe mir viel Mühe!“ Keisha lachte leise.

„Wo ist denn dein Freund Karana geblieben? Der weicht doch sonst gar nicht mehr von deiner Seite?“ Der kleine Junge und Leyya waren tatsächlich seit dem Frühjahr oft zusammen, was alle entzückt hatte. Und Keisha hatte es auch irgendwie beruhigt, dass ihre Schülerin seitdem nicht mehr gar so sehr an Puran hing; nicht, dass sie etwas gegen den Jungen gehabt hätte, aber Leyyas Zuneigung für Puran glich an sich mehr einer wilden Besessenheit, hatte sich die Heilerin öfter besorgt gedacht und sich gefragt, ob das gut war. Sie war noch ein kleines Mädchen und sollte mit Gleichaltrigen spielen, statt einem längst erwachsenen Mann auf die Nerven zu gehen, der garantiert anderes im Kopf hatte, als ein Kind zu umhegen.

„Karana übt mit anderen Jungen Speere zu werfen im Wäldchen,“ sagte die Kleine da zu ihr. „Das machen sie oft, ich gucke ihnen manchmal zu. Ich wollte auch gerne üben, damit ich etwas Nützliches kann, aber Nalani hat gesagt, Frauen dürfen hier im Stamm keine Speere tragen. Stattdessen hat die alte Seherin mir eine Schleuder geschenkt, schau!“ Sie holte stolz ein kleines Lederband hervor, an dessen Ende eine Wurflasche befestigt war, in die man Steine legen konnte. „Ich habe schon ganz lange geübt, damit Steine zu werfen, das ist sehr schwierig!“

„Du liebe Zeit!“ lachte Keisha, „Du bist aber eine tapfere kleine Kriegerin! Du bist doch an sich mehr eine Medizinfrau als eine Kriegerin? Für mich sind Waffen nichts, ich konnte damit nie umgehen…“

„Aber mit heilen bin ich doch nur nützlich, wenn jemand krank ist,“ behauptete die Kleine unglücklich, „Ich möchte doch auch anders nützlich sein, ich möchte, wenn ich groß bin, einen wunderbaren Mann haben, dem ich auf keinen Fall zur Last fallen will. Er soll sehen, dass ich mich selbst verteidigen und jagen kann, damit er nicht so viel Arbeit mit mir hat und stolz ist. Ist das nicht gut?“

„Werde aber nicht zu selbstständig, sonst langweilt sich dein Mann nämlich, weil er nichts zum Beschützen hat… Männer wollen ihre Frau beschützen können und damit angeben, wie toll sie das können. Wenn die Frau alles alleine kann, fühlt der Mann sich überflüssig…“ Sie gluckste und Leyya kicherte auch.

„Männer sind seltsam, Keisha.“

„Wem sagst du das?“ Die beiden sahen auf, als Ruja sich zu ihnen gesellte. In einer Trage auf ihrem Rücken strampelte die kleine Saidah, die im Wintermond ein Jahr alt werden würde. Sie krabbelte bereits geschickt durch die Höhle, wenn man sie ließ. Ihre schwarzen Haare waren gewachsen und ringelten sich niedlich um ihre kleinen Ohren herum. Sie war ein wirklich hübsches kleines Baby.

„Was ist mit dir denn?“ lachte Keisha an ihre Schwiegertochter gewandt, „Du siehst du entnervt aus!“

„Die Männer!“ empörte Ruja sich, „Du hast recht, sie wollen nicht, dass man nützlich wird, du hättest sie sehen sollen. Ich wollte zusammen mit ein paar anderen hinauf, um die letzten Beeren von den Sträuchern zu sammeln, Meoran und Puran sind völlig entsetzt gewesen und wollten auf keinen Fall zulassen, dass ich gehe… es wäre ja ach so gefährlich, ich sollte an das Erdbeben von damals denken, und ich hätte doch ein Baby… die stellen sich an, als hätte ich eine tödliche Krankheit…“ Sie lachte über die hysterischen Kerle, die dann alleine mit den Frauen hinauf gegangen waren, um Beeren zu sammeln.

„Sie meinen es sicher nur lieb, weil sie sich um dich sorgen,“ kicherte Keisha und Ruja verdrehte die Augen.

„Dass Meoran die Vorsicht in Person ist, kenne ich ja, dem kann ich ja normalerweise gut zureden, aber selbst Puran… Puran ist sicher paranoid und hat Angst, er müsse mich dann retten und würde mich geschenkt bekommen, haha!“ Die beiden Frauen lachten lauthals los, das Mädchen blinzelte.

„Was denn, echt?“

„Das würde ihm auch sicher überhaupt nicht gefallen, dich geschenkt zu bekommen…“ feixte Keisha, „Wenn ich da an seine Lehre denke, müsste ihm der Gedanke doch gefallen!“

„Seitdem sind Jahre vergangen, Puran ist kein kleiner Junge mehr,“ meinte die Schwarzhaarige und lächelte, während sie auf ihren Schoß sah. „Er ist ein erwachsener Mann. Ich fürchte, er macht sich viel zu viele Sorgen um die ganze Welt… er versucht, für alles und jeden Verantwortung zu tragen, obwohl er genau weiß, dass seine Schultern nicht die ganze Welt aushalten können. Er ist ein so gutmütiger Mensch… manchmal vermisse ich unsere liebevollen Gespräche aus Tuhuli, ich habe mich so gerne mit ihm unterhalten.“ Keisha lächelte, Leyya machte ein trotziges Gesicht und verstand alles falsch.

„Jetzt hat der gute Mann ja keine Zeit mehr für uns, er hat ja jetzt eine hübsche Frau, ach!“ schnaubte sie ungeahnt boshaft und die Frauen sahen sie perplex an. „Und Rehkleid, nicht zu vergessen, die um ihn herum tänzelt, ah, und die große Schwester von Karana, die auch. Er will sicher alle Frauen des Stammes für sich behalten und heiraten, pff.“ Ruja lachte schallend auf.

„Das ist sicher das letzte, was er will… du eifersüchtige Nudel!“

„Ich bin nicht eifersüchtig!“ rief Leyya errötend und sprang auf. Saidah keckerte zufrieden in ihrer Trage und strampelte. „Ich… ich… ich finde nur… ich… mag es eben nicht, wenn alle Weiber an seinem Hals kleben, obwohl sie ihn doch gar nicht kennen.“

„Warte ab,“ gluckste Ruja, während Keisha im Hintergrund die Augen verdrehte, „Eines Tages wirst auch du eine hübsche Frau sein, Leyya. Wenn es soweit ist, wird Puran sich daran erinnern, dass du auch noch da bist, und dann werden plötzlich alle anderen Frauen für ihn egal sein, weil du viel wertvoller bist als hundert unbekannte Schönheiten.“
 

Puran hatte mit unbekannten Schönheiten eigentlich gar nichts am Hut. Zumindest nicht so, wie Ruja dachte.

„Was verlangst du von mir, Mutter?!“ meckerte er missgelaunt, während er auf seinen Knien einen Speerschaft hielt, den er mit gezielten Windzaubern zurecht zu schnitzen versuchte. „Deren Regeln da, deren Regeln hier, was ist mit meinen Regeln? Vogelstimme gehört jetzt mir, denke ich, das heißt, ich kann mit ihr machen, was ich will, und wann ich will, und es ebenso bleiben lassen, wenn ich nicht will!“

„Theoretisch hast du recht,“ seufzte Nalani, „Es geht mehr um… eine indirekte Erwartung seitens des Häuptlings. Er hat dir seine Tochter geschenkt als Dank für ihr Leben. Und du rührst sie nicht an, das macht einen komischen Eindruck, als fändest du sie nicht würdig genug, oder so. – Guck mich nicht so wütend an, ich habe mir das auch nicht ausgedacht!“

„Die sind ja so glorreich, diese Hinterwäldler!“ zischte er, „Sie sagen, ich darf mit ihr machen was ich will, erwarten aber eigentlich, dass ich ihr Kinder mache, oder was?! Entschuldige mal, ich lasse mir nicht gerne vorschreiben, mit welcher Frau ich das Schlaflager zu teilen habe, und ich mache es aus Prinzip nicht mit Frauen, deren Sprache ich nicht mal verstehe! Das ist ja wohl meine Sache, was ich mit ihr mache, ob ich sie flachlege oder es sein lasse, solange ich ihr keinen Schaden zufüge oder sie verhungern lasse, geht das keinen was an, was ich mit ihr treibe! Oder nicht treibe, in diesem Fall.“

„Ich weiß doch, was du meinst, und nach unseren Gesetzen hast du doch völlig recht. Aber wir…“

„Wir sind hier in Kadoh, hier ist alles anders, ja, ja!“ rief er wütend, bevor er aus Versehen mit zu viel Energie Katura auf den Schaft zauberte und ihn damit in zwei Teile spaltete. Er knirschte, sprang auf die Füße und warf die zerbrochenen Teile zu Boden. „Verflucht! Mir reicht es, ich bin stinksauer, ich kann es nicht mehr hören! Erwartung hier, tue dies und das da, Ehre hier, Demütigung da, weißt du was, wenn das so weiter geht, werde ich hier wahnsinnig! Ich habe verdammt noch mal anderes im Kopf, diese Visionen machen mich verrückt, diese innere Panik macht mich verrückt, diese… diese Frau macht mich verrückt, die hinter mir schläft und mit der ich nichts anzufangen weiß, außer sie blöd anzugrinsen! Ich werde ihm seine Tochter einfach zurück schenken und ihm sagen lassen, dass ich mich einfach nicht gebührend um sie kümmern kann, sie verdient etwas Besseres als mich, und sicher wollen viele junge Männer hier mit mir tauschen!“

„Damit beschämst du sie alle, wenn du sie zurück gibst,“ warnte Nalani ihn dumpf, wagte aber ob seines durchaus ernst zu nehmenden Zorns nicht, großartig zu widersprechen. Puran war selten richtig zornig. Jetzt war er es definitiv, und seine Mutter merkte in diesen seltenen Wutanfällen, dass er durchaus, wenn auch gering, das Blut seines tyrannischen Großvaters in seinen Adern hatte. „Du denkst zu viel. Lenk dich ab, vielleicht tut es dir sogar gut, wie ich es sage, wenn du zwischen all deinen Identitätskrisen auch mal ein Mann bist und tust, was ein Mann nun einmal ab und zu mit einer Frau tun muss.“

„Bin ich dir nicht Mannes genug, wenn ich nicht dauernd mit irgendwem das Bett teile, so wie du und Vater jede Nacht einen drauf macht?! Meoran ist wenigstens so artig, mit Ruja irgendwo hin zu gehen, und ich bin jetzt nicht männlich genug, oder was?!“

„Du verstehst mich mit Absicht falsch und das weißt du.“, zischte sie grantig und er fauchte sie an wie ein wütendes Raubtier. „Reiß dich am Riemen, Puran, und schreie nicht, die Leute gucken uns schon an.“

„Das ist mir gleich!“, brüllte er aus vollem Hals, „Die verstehen unsere Sprache sowieso nicht! Ich habe es satt, ich will heim! Ich will nach Dokahsan in mein Schloss zurück, ich will ein anständiges Bett, ich will gutes Essen und meine Ruhe! Ich will diesen ganzen Scheiß hier nicht mehr, verflucht!“

„Beherrsche deinen Geist!“, schrie sie jetzt auch, als er wutentbrannt herum fuhr und davon stampfte zur Höhle. „Mit Zorn wirst du blind und findest erst recht keine Antworten für deine Panik! Du… du verdammter Tor, du elende Missgeburt!“ Sie ereiferte sich richtig an ihrer Wut auf seine Sturheit, dass sie erst merkte, wie verletzend ihre Worte gewesen waren, als er längst weg war. Sie wusste genau, dass sie keine ihrer Beschimpfungen ernst gemeint hatte… sie liebte ihren Sohn. Sie hoffte, er wusste das auch, wenn er sich beruhigt hatte.
 

Er blieb nicht lange wirklich zornig, aber den Rest des Tages blieb er in der Höhle und sprach mit niemandem mehr. Nalani ließ ihn in Frieden, war aber froh, dass er offenbar sein Wort brach und keinerlei Anstalten machte, Vogelstimme zurück zu ihrem Vater zu bringen, um damit den ganzen Stamm zu entehren.

Puran tat die junge Frau Leid, als er nachts wieder neben ihr auf dem Schlaflager lag, wie er es seit dem Spätsommer tat. Sie musste sich doch seltsam fühlen neben ihm, der er nichts mit ihr machen konnte; sie konnten nicht miteinander reden. Sie verständigten sich im Notfall mit Händen und Füßen, das war aber sehr anstrengend auf die Dauer…

„Du hast doch ein besseres Leben verdient,“ seufzte er leise in ihre Richtung, wissend, dass sie ihn nicht verstehen würde. Die Frau drehte den Kopf und blickte ihn an. Ja, sie verstand nicht, aber sie hörte den schwermütigen Ton seiner Stimme und sorgte sich. Vielleicht war sie eine schlechte Frau… seit sie bei ihm war, hatte er sie noch kein einziges Mal angerührt; vielleicht war sie ja zu hässlich? Vielleicht war er auch nur zu schüchtern… die Menschen aus dem Norden waren komische Leute, hatte sie gelernt.

Puran seufzte, als sie irgendetwas zu ihm sagte, was er nicht verstand.

„Wir reden aneinander vorbei, Vogelstimme,“ bemerkte er sachlich. „Denkst du auch so, wie meine Mutter sagt? Erwartest du von mir, dass ich mich unter deine Decke lege? Es ist ja nicht so, dass ich von dir abgeneigt wäre… aber es kommt mir komisch vor, es einfach zu machen, wenn ich nicht weiß, ob du vielleicht nicht magst… ach, wäre das einfach, wenn du einfach sprechen könntest wie ich!“ Natürlich antwortete sie ihm nicht so, wie er es gerne gehabt hätte; aber sie tat es auf eine andere Weise, die er nicht erwartet hatte und die es plötzlich sehr viel einfacher machte, als sie sich unter ihrem Fell bewegte und die Decke schließlich etwas zur Seite schob, worauf sie sich ihrer Kleider entledigte und ihm schließlich nackt den Rücken kehrte. Der junge Mann zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein; das war eine eindeutige Geste. Hatte sie ihn etwa doch verstanden? Oder hatte sie sich nur zufällig dasselbe gedacht wie er? Aber wieso drehte sie ihm dann jetzt den Rücken zu, nachdem sie sich erst ausgezogen hatte?

Diese Leute sind anders als wir. In vielem, sagte er sich weise und betrachtete die nackte Frau neben sich, die den Kopf etwas errötend drehte und ihn über die Schulter hinweg anblickte. Und er erwiderte ihren Blick stumm; er würde sie jetzt bestimmt nicht abweisen, nachdem sie sich ihm so bereitwillig angeboten hatte.

Seine eigene Decke zurück schlagend schob er sich herüber auf ihr Schlaflager dicht neben seinem und legte die Hände auf ihre runden Hüften, um sie flüchtig zu berühren. Ihr Körper war warm und weich, als er sich sanft gegen sie drückte und mit den Lippen hastig über ihren Nacken und ihre Schulter strich. Sie erzitterte in seinen Armen, als er ihre Haut streichelte und seine Hände nach vorne auf ihre Brüste wandern ließ, während Vogelstimme ihr Schlaffell über sie beide zog.

„Dreh dich um…“ murmelte Puran gegen ihren Nacken und ließ ihren Busen wieder los, um zu versuchen, sie mit den Händen herum zu drehen. Sie kapierte reichlich langsam, was er wollte, und sah ihn blöd an, als er sie endlich zu sich herum gedreht hatte und sie sich ansehen konnten. „Ihr seid echt animalisch hier im Stamm,“ tadelte er sie dumpf, „Ich mag es nicht von hinten machen, ich möchte dich lieber ansehen dabei.“ Dass sie seine Worte nicht verstehen würde, war ihm egal; vielleicht rechtfertigte er sein handeln nur vor sich selbst, dachte er sich und keuchte, als er spürte, wie ihre Hände ihre Verwirrung offenbar vergessen hatten und ihrerseits begannen, ihn zu berühren. Erst sanft, dann intensiver, als er sie dichter an sich heran zerrte. Jetzt, wo er sie tatsächlich berührte wie eine Frau, kam ihm der Gedanke, dass es ihm nichts ausgemacht hatte, beinahe ein Dreivierteljahr völlig ohne Sex gelebt zu haben, total bescheuert vor. Wie hatte er das bitte ausgehalten? Als wollte sein Körper seine dämlichen Gedanken bestrafen, verstärkte sich die erregte Flamme in seinen Lenden nur noch mehr, als die Frau in seinen Armen leise keuchte und ihre Hände gegen seine Taille presste. Seufzend senkte er das Gesicht zu ihrem Schlüsselbein, um sie dort zu küssen, und ihre fleißigen Finger schnürten eifrig an seiner Hose, um sie zu öffnen und herunter zu zerren. Als er sich unruhig über sie rollte und seinen Unterleib gegen ihren drückte, stöhnte sie vor Verlangen laut auf; er erstickte ihre Schreie mit einem heftigen Kuss auf ihre Lippen.

„Nicht so laut, Himmel!“ zischte er, obwohl er ebenfalls die Hitze der Erregung in sich spürte, nachdem er von ihren Lippen abgelassen hatte und Vogelstimme unter ihm mit den Armen nach seinem Nacken angelte, um ihn leise wimmernd zu sich herab zu ziehen. „Du wirst noch alle wecken…“ Sie sagte irgendetwas zu ihm, was er nicht verstand. Er ignorierte sie mit einem erhitzten Keuchen, ehe er sich über ihr in Position brachte und sich unruhig zwischen ihre Schenkel drängte, als die Frau sich ihm willig öffnete und hingab.
 

Leyya kehrte den beiden grimmig den Rücken und vergrub sich unter ihrer Schlafdecke, als sie die enthusiastischen Geräusche hinter sich vernahm, wobei sie angewidert das Gesicht verzog. Erwachsene waren eklig, stellte sie fest. Und barbarisch; kannten die keine Nachtruhe?

Alle Paare im Stamm machen es so, sagte sie sich selbst beklommen unter ihrer Decke, Es macht keinem etwas aus, wenn es alle mitbekommen… nur mir macht es was aus!

Und sie wusste genau, dass es nicht die Geräusche oder der Anblick waren, die sie deprimierten. Plötzlich fühlte sie sich einsam; sie sollte demnächst wieder mit Keisha und Baby Saidah kuscheln, beschloss sie traurig. Seit Puran Vogelstimme hatte, gab es für sie keinen Platz mehr an seiner Seite, auch, wenn sie nicht auf dieselbe Weise bei ihm liegen wollte wie die Häuptlingstochter; sie, Leyya, war schließlich noch ein Mädchen. Mädchen war es verboten, so etwas zu tun; erst, wenn sie eine Frau geworden war, dürfte sie auch.

Sehnsüchtig dachte sie an Rujas liebevolle Worte.

„Eines Tages wirst auch du eine hübsche Frau sein, Leyya. Wenn es soweit ist, wird Puran sich daran erinnern, dass du auch noch da bist, und dann werden plötzlich alle anderen Frauen für ihn egal sein, weil du viel wertvoller bist als hundert unbekannte Schönheiten.“

Leyya wusste nicht, ob das wirklich so sein würde. Deprimiert blickte sie im Dunkeln an ihrem schmächtigen Körper hinab. An ihr war nichts begehrenswertes, nichts hübsches, wie Ruja gemeint hatte. Wie sollte aus einem hässlichen, dürren Mädchen eine hübsche Frau werden? Dabei wünschte sie sich doch so sehr, dass Puran sie einmal ansehen würde… wenn sie alt genug war, sollte er sie ansehen und sie begehren, ja! So, wie sie ihn begehrte, und das schon seit langem… sie beschloss, sich viel Mühe zu geben und bald eine Frau zu werden; hübsch und begehrenswert, wie Ruja es prophezeit hatte.

Sie schloss die Augen und versuchte, trotz ihrer aufgewühlten Gedanken zu schlafen. In der Ferne, draußen unter dem pechschwarzen Himmel, grollten die Wolken.
 


 

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booyah xD Noch ein Kapitel ohne Inhalt xD *blöd lach*

Sterbliche Welt

Der Winter fegte als weißer, eisiger Sturm über das Plateau und die Iketh-Berge hinweg, blieb aber kürzer als der letzte, sodass schon im Kälbermond der Frühling anbrach. Die Menschen waren froh, nicht mehr tagein, tagaus in der Höhle herum hocken zu müssen; besonders Leyya. Während des Winters konnte sie Puran so schwer aus dem Weg gehen…

Das kleine Heilermädchen war wütend. Sie war wütend auf Puran, der sie nicht ansah, sie war wütend auf die Frauen im Stamm, obwohl sie nichts Böses taten, und sie war wütend auf sich selbst, weil sie wütend war. Sie wollte ihm doch gar nicht aus dem Weg gehen, sie hatte ihn doch so gern… aber ihn mit Vogelstimme oder irgendwem anderes zu sehen machte sie noch zorniger, deswegen ging sie ihm lieber aus dem Weg.

Sie hatte ja Karana, der ihr ein so guter Freund war. Sie hatte den Jungen gern… obwohl er etwas älter war als sie, kam sie sich selbst mitunter erwachsener vor als er. Aber es war gut, dass er nicht erwachsen war… anders als Puran. Leyya hatte gelernt, dass Erwachsene alles kompliziert machten. So, wie ihre Gefühle für Puran kompliziert waren. Die für Karana hingegen waren einfach; sie waren Freunde.

„Es ärgert mich einfach, weißt du? Früher war er so lieb zu mir und nachts konnte ich mich an ihn kuscheln, wenn ich einsam war. Und jetzt ist da gar kein Platz mehr vor lauter Weibern. Erst Vogelstimme, die wurde ihm ja geschenkt, das ist anders. Und Rehkleid, die manchmal nachts dazu kommt und kichert, genau! Hast du sie gesehen? Ich habe sie gesehen, sie war ganz nackt und ist zu ihm unter die Decke gekrochen, und dann haben sie sich vereint, und Vogelstimme hat nebenan gepennt. Ich glaube, Rehkleid ist ein richtiges Flittchen! Das ist ein böses Wort für eine Frau, die Männer um ihren Finger wickelt, hat Nalani gesagt…“ So textete sie den armen Karana oft zu, wenn sie mit ihm spielte oder, was sie seit Beginn des Frühlings öfter tat, mit ihm übte, mit der Steinschleuder umzugehen. So auch jetzt, während sie beide auf einer kleinen Böschung nicht weit vom Berg und vom Plateau herum tollten. Der Junge aus dem Stamm verstand natürlich kein Wort von dem, was sie sagte, aber Leyya tat es gut, sich auszusprechen; und es war besser, wenn er nichts verstand, denn so konnte er auch nicht petzen, was für böse Sachen sie so sagte. Und er konnte ihr nichts von dem übel nehmen, was sie schimpfte. „Und deine große Schwester, hast du die gesehen?“ fuhr sie grantig fort und legte einen Kiesel in die Wurflasche der Schleuder, um weit auszuholen und die Waffe über ihrem Kopf herum zu schleudern. „Nichts gegen sie, immerhin ist sie deine Schwester, aber die ist auch so ein Flittchen! Ich erinnere mich an das Frühlingsfest, wo auf dem Plateau ein Feuer brannte und alle getanzt haben, und deine Schwester hatte fast nichts an dabei; sie sah so hübsch aus… ich meine, ich verstehe ja, dass Puran sich mehr für hübsche Frauen interessiert als für mich, ich…“ Sie schleuderte den Stein mit einer flinken Bewegung nach vorne, er sauste durch die Luft und knallte gegen einen verkrüppelten Baum. „Ich habe ja gar nichts Frauliches an mir!“ Jammernd warf sie die Schleuder zu Boden und Karana kam zu ihr gesprungen und umarmte sie fröhlich. Er redete irgendetwas auf seiner Sprache, was sie nicht verstand; so wenig, wie er sie verstand. Aber irgendwie spendete es ihr trotzdem Trost, dass er da war, während sie sich hässlich und dumm vorkam. Sie schob ihn sanft von sich und maulte. „Pass auf, Karana,“ sagte sie, dann griff sie sich an die eigene Brust und versuchte, das winzige Bisschen, das darauf wuchs, irgendwie in ihren Händen hochzuheben. Ihre Brustansätze waren so gut wie nicht vorhanden, dabei war sie doch schon bald eine Frau… Karana hustete, als er sie so ansah, und sie schnaufte. „Guck her! Siehst du? Das sind doch keine Brüste! Ich sehe nicht aus wie eine Frau! Kein Wunder, dass mich niemand ansieht! Aber das ist verletzend, weißt du…?“ Er räusperte sich nur blöd und schien keinen Schimmer zu haben, warum sie sich selbst an den Brustansätzen herum drückte; mit ihrem leichten Sommerkleid aus dünnem Fell sah man ohnehin noch weniger davon als sowieso schon. Leyya hasste ihren Mädchenkörper…
 

Der Sommer kam zurück und mit ihm eine für die hohen Berge überraschende Hitze. Der Regen schien dieses Jahr auszubleiben, am Himmel zeigte sich wochenlang keine einzige Wolke. Doch das klare Wetter war trügerisch; die Magier spürten genau die Spannungen in der Luft und das Unheil, das irgendwo noch tief verborgen schlummerte und nur darauf wartete, geweckt zu werden und sie alle ins Verderben zu stürzen.

„Es ist zu idyllisch hier…“ seufzte Tabari mit Blick nach Osten. „Das ist wie die Ruhe vor dem Sturm. Erst braut sich unbemerkt irgendetwas zusammen, und eines Tages wird es mit einem Wolkenbruch über uns herein wehen und uns alle umbringen, oder so… ich habe kein gutes Gefühl bei diesem wolkenlosen Himmel.“ Er sah zu seinem Kollegen Meoran, der neben ihm auf dem Grat stand und die Landkarte aus Undath in seinen Händen drehte, die er seiner Mutter entwendet hatte.

„Sterben werden wir alle, Tabari,“ murmelte er abwesend und der Herr der Geister seufzte, schenkte ihm noch einen besorgten Blick und sah dann wieder nach Osten, dem Wind entgegen, der ihm die Haare aus dem Gesicht blies. Die schwarzen Umhänge der beiden Männer wehten nach Westen.

„Das weiß ich, aber ich sorge mich dennoch. Es ist nicht gut, was aus dem Osten kommt. Die Windgeister flüstern noch immer von Krieg und Tod auf dem Hochland. Ob die Zuyyaner inzwischen bis Vialla gekommen sind?“ Meoran seufzte tief.

„Wo ist denn dein Das wird schon geblieben?“

„Das versteckt sich, fürchte ich…“ Doch der Blonde lachte amüsiert und klopfte seinem Freund auf die Schulter, dabei aufpassend, dass er ihn nicht vom Grat warf. Sie waren wirklich weit hinauf geklettert, um sich einen Überblick über die Umgebung zu verschaffen. „Ich spüre einfach eine… unangenehme, innere Unruhe, dieses… dieses Ahnen von Schlimmem, das uns die Himmelsgeister bescheren. Irgendwie kann ich nicht zur Ruhe kommen hier, obwohl wir hier bestens aufgehoben sind. Wir haben ein Heim, Nahrung, unseren Frauen und Kindern geht es gut, der Krieg ist fern… man sollte meinen, wir beide müssten jetzt beruhigt schlafen können. Aber irgendwie ist dem nicht so… das ist es, was mich besorgt.“ Der Jüngere nickte.

„Ich verstehe dich sehr gut, ich… kenne das Gefühl. Die Träume, die ich sehe, besorgen mich auch in der letzten Zeit. Irgendetwas Großes kommt auf uns zu und… ich fürchte, es könnte zu gewaltig sein für uns kleine Sterbliche.“ Er blickte ebenfalls nach Osten. Nach einer langen Pause hob er die Karte wieder. „Wir sind eingekesselt von lauter Flüssen,“ sagte er murmelnd. „Im Südosten von hier fließt der Undim gen Norden, wir sind nicht weit von seiner Quelle entfernt. Im Westen fließt der große Strom des Yarmol nach Süden Richtung Thalurien. Die Strömungen sind hier in der Gegend relativ kräftig, wenn wir uns Boote bauen können, wäre das ein einfacher Fluchtweg, falls irgendetwas passiert. Diese Leute hier können nicht gegen Zuyyaner kämpfen… selbst wir haben es schwer und wir sind viel besser gerüstet. Wenn also…“ Er machte eine Kunstpause und spürte Tabaris ungläubigen Blick auf sich ruhen, während er nervös seine zitternden Finger verknotete, „Irgendetwas… geschehen sollte, ich werde nicht wagen, das Unheil beim Namen zu nennen… dann ist das unsere einzige Alternative.“ Sein Kollege sagte nichts. Es entstand eine weitere Pause.

„Es ist jetzt schon drei Jahre her, dass der Krieg angefangen hat,“ meinte er dann und Meoran steckte die Karte ein und sah ihn verblüfft an. „Ziemlich genau um diese Jahreszeit war es, dass sie Dokahsan überrannt haben… irgendwie nostalgisch, an die Heimat zu denken, die wir nie wiedersehen werden.“ Der Andere lachte leise.

„Sag doch nicht niemals, Tabari. Vielleicht werden wir es eines Tages.“

„Ich frage mich oft… was wohl aus meinem Bruder geworden ist… und Sukutai und Alona…“ Der Ältere seufzte leise und raufte sich die wuschigen Haare. „Mich besorgt es, nicht zu wissen, wo sie sind und ob es ihnen gut geht…“

„Was sagt dein Geist dir?“

„Dass… sie am Leben sind. Aber ich weiß nicht, ob mich mein Innerstes nicht genauso trügt wie uns dieser strahlend grüne Himmel…“
 

Irgendwo in der Ferne grollte der Himmel über dem pechschwarzen Land. Leyya fuhr erschrocken zusammen, als sie auf dem Felsvorsprung in ihre Decke gerollt lag und spürte, wie der Berg unter ihr erzitterte. Es war ein ganz leichtes Zittern, aber es war spürbar und es machte ihr Angst. Mit rasendem Herzen legte sie die Hand auf den Fels neben ihrem Schlaflager.

„Shht, Mutter Erde…“ wisperte sie leise, „Höre auf zu zittern… frierst du? Wir haben doch Sommer?“

Das war sicher kein gutes Zeichen. Das Mädchen hob verwirrt den Kopf und sah zu Puran herüber, der nichts gemerkt zu haben schien; zumindest schlief er seelenruhig, links neben ihm lag Vogelstimme und rechts Rehkleid. Sie fragte sich, ob er wirklich schlief… irgendwie wünschte sie sich, er würde das Zittern der Erde ebenfalls spüren und ihr sagen, sie wäre nicht die Einzige, die es vernahm…

Was denkst du dir? schalt sie sich dann selbst in Gedanken, Puran hat genug Frauen in seinem Kopf, für ein Mädchen wie dich ist gar kein Platz.

Die Erkenntnis war nicht neu, dennoch stimmte sie sie traurig. Sie wünschte sich mehr denn je zuvor, dass er sie einfach umarmte, dass er so lieb und zärtlich zu ihr war wie zu den anderen… sie wollte wie früher an seiner Seite schlafen und sich an ihn kuscheln, wenn sie fror oder Angst hatte. Diese Zeiten waren jetzt vorüber…

Sie war aber nicht alleine, stellte sie fest, denn plötzlich spürte sie, wie jemand über ihre Schulter strich.

„Leyyachen…“ Sie drehte den Kopf und blickte in Nalanis Gesicht. Die Frau hatte sich neben ihr auf ihrem Lager aufgesetzt und flüsterte jetzt leise. „Kannst du nicht schlafen?“

„Die Erde zittert…“ murmelte die Kleine unglücklich und Nalani lächelte.

„Ja, ich weiß. Mutter Erde ist nervös… wie wir alle. Du bist es auch… selbst du, kleines Mädchen. Hab keine Angst, hier in den Bergen… droht uns momentan keine Gefahr, da bin ich sicher.“ Das Mädchen drehte sich um und ließ sich umarmen.

„Was will Mutter Erde uns sagen…? Wenn sie im Sommer friert und zittert, ist das schlecht, oder?“ Sie kuschelte sich an Nalanis Brust und fühlte sich geborgen; die Geisterjägerin war ihr in den vergangenen beinahe drei Jahren wie eine Mutter ans Herz gewachsen, die sie vorher nie gehabt hatte. Sie sah nicht, wie die Frau über ihr die Stirn in Falten zog, während sie das kleine Mädchen zärtlich an sich drückte und ihm Schutz bieten wollte.

Ja… die Zeichen der Geister waren insgesamt eher schlecht gewesen in der letzten Zeit. Sie drehte ihren Kopf und blickte auf ihren Familiendolch Kadhúrem, der neben dem Schlaflager lag. Die Schattenklinge, die das Erbstück ihres aussterbenden Clans war, ihre mächtigste und tödlichste Waffe.

Bald würde eine Zeit kommen, in der sie ohne ihre stärkste Waffe würde kämpfen müssen… es galt, dafür zu üben, solange sie dazu noch Gelegenheit hatte. Ihr nächster Blick streifte ihren schlafenden Sohn mit seinen beiden Anhängseln neben sich. Sie schloss die Augen, dabei über Leyyas weiche, dunkle Haare streichend.

Schlafe friedlich, Puran, mein Sohn… die Zeit des Schlafens wird für dich sehr bald vorüber sein. Und plötzlich wirst du aufwachen und vor einer Welt stehen, die zu Grunde geht…
 

Was wirst du dann tun, mein tapferer, talentierter Junge…?
 

Puran schlief nicht so friedlich wie seine Mutter oder Leyya denken mochte. Die Schatten der Geisterträume verdunkelten seine Seele und erlaubten ihm nicht, viel zur Ruhe zu kommen. Seit der Sommer gekommen war, häuften sich in seinem Kopf die Bilder, die vorüber zogen wie Wild auf den Wiesen im Norden. Immer wieder tauchte die verschwommene Gestalt mit den Zähnen seines Großvaters in seinen Träumen auf, immer wieder sah er die knöchernen Spiralen, die in der Finsternis tanzten. Und die Windgeister zischten mit bedrohlichen Stimmen in seine Ohren.

„Die Welt ist im Wandel… und Schatten wird über das Land fallen wie eine Seuche.“

„Du kannst nicht vor deinem Schicksal davon laufen, Puran Lyra. Du bist ein Schamane… und ein Erbe deines Clans.“

Das grausame, kehlige Lachen seines Großvaters ließ ihn erschaudern und er fuhr erschrocken aus dem unruhigen Halbschlaf.

„Du wirst kriechen… so wie all die anderen! Alle werdet ihr kriechen wie Würmer im Staub… wie ihr es schon damals hättet tun sollen…“ Puran japste und riss panisch den Kopf hoch, als er das Gefühl zurückkehren spürte… die ewige Furcht, die seine Kehle zuschnürte, wenn er von bösen Geistern träumte. Vor seinen Augen flimmerte die Welt in allen Stufen von Schatten, als die weiße Spirale zurückkehrte; dann sah er plötzlich Rujas hübsches Gesicht. Er erschrak sich kurz – dass er von Meorans Frau geträumt hatte, war sehr lange her. Unwillkürlich keuchte er bei ihrem Anblick, als sie lächelnd zu ihm sah und in der Finsternis einen lieblichen Tanz tanzte. Es war nicht der erotische Tanz mit dem Feuer, den sie vor Jahren in seinen Träumen getanzt hatte, es war seriöser und melancholischer.

Was ist mit dir, Rujachen…? Was ist mit deinem Lächeln…? Es erkaltet, oder irre ich mich?

Ruja in seinem Wachtraum antwortete nicht, sie lächelte nur wie eine hübsche Puppe, die ihren Mund gar nicht ändern konnte, während sie sich im Schatten wiegte und ihre zarten Füße bewegte. Dann blieb sie plötzlich stehen und als er sie noch fasziniert betrachtete, sah er, wie sie auf ihre nackten Füße sah, sie unter dem leichten Gewand hervor lugten. Sie stand in einer Lache aus Blut, der Saum ihres Kleides war bereits rot davon. Puran jappste, ihrem Blick folgend – und als er wieder empor sah zu ihrem Gesicht, löste sie sich vor seinen Augen in Schatten und Dunkelheit auf. Als letztes segelte wieder die schwarze Feder zur Erde hinab und zerschellte, sobald sie sie berührte.
 

„Ruja?!“ Keuchend drehte er den Kopf, als er sich von seinen Geisterträumen löste und vom Schlaflager aufsprang. Dabei schnappte er noch seine Decke, die er sich umwickelte, um nicht splitternackt da zu stehen. Der Morgen war gekommen. Rehkleid und Vogelstimme setzten sich perplex über sein Geschrei auf und rieben sich gähnend die Augen. „W-wo ist Ruja?! Ist sie in Ordnung?!“ rief Puran hysterisch und sah sich um, weil er sie nirgends sehen konnte. Überall an den Familienfeuern saßen schon Leute und arbeiteten, viele waren bereits draußen.

Er hielt inne, als er Keisha in knapper Entfernung lachen hörte.

„Du suchst Ruja? Die ist mit ein paar anderen zum Fluss gegangen… du Langschläfer, es ist bald Mittag!“ Er räusperte sich und hielt die Decke um seinen Unterkörper fest, die dabei war, sich zu verabschieden. Keisha hockte unten auf dem großen Platz in der Höhle zusammen mit Leyya und sie zerstampften mit einem Stößel Kräuter auf einem Stein. Leyya blickte erstaunt zu ihm hinauf, drehte sich dann aber weg und tat, als wäre er ihr egal. Er fragte sich ohnehin seit geraumer Zeit, was in sie gefahren war, weil sie aus irgendeinem Grund, den er nicht verstand offenbar wütend auf ihn war. Was hatte er getan? Er hatte seine Mutter fragen wollen, hatte es dann aber doch gelassen; das war Leyyas Sache. Wenn sie ein Problem hatte, sollte sie es selbst sagen.

„Danke…“ murmelte er so nur, und ehe Keisha fragen konnte, was er hatte, verschwand er zurück auf das Lager, um sich rasch anzuziehen. Die Heilerin blinzelte und blickte zu Leyya.

„Jetzt sind ihm seine Weiber wohl über den Kopf gewachsen,“ grummelte Letztere, „Er wird schon plemplem und verlangt nach den Frauen von anderen.“ Sie hob den Kopf und sah ihm beleidigt nach, als er vom Vorsprung kletterte und grußlos an ihnen beiden vorbei aus der Höhle ging. Vogelstimme und Rehkleid, die jetzt über den Felsvorsprung lugten, waren offenbar auch verwirrt.

„Ach was, das ist nichts Neues…“ machte Keisha amüsiert und zerstampfte weiter Kräuter, und die Kleine starrte sie perplex an.

„Wie, nichts Neues?!“ Der Älteren kam die Idee, dass es nicht sonderlich klug war, mit Leyya über dieses Thema zu reden, das eigentlich ohnehin Geschichte war, so, wie sie das sah; oder fand Puran jetzt wieder Gefallen an ihrer Schwiegertochter wie in Tuhuli? Das wäre aber nicht gut… nein, der Junge war doch jetzt erwachsen und vernünftig, er würde außerdem nicht wagen, seinem Lehrmeister die Frau auszuspannen…

Das Mädchen riss sie aus ihren Gedanken, weil es sich energisch vor ihr aufbaute und an ihren Schultern rüttelte.

„Keisha! Keisha, was meinst du damit?! Sag es mir, bitte!“ Zunächst sah die Blonde sie verwirrt an, dann fasste sie sich und schnaubte entrüstet.

„Hörst du wohl auf, mich zu rütteln?! Du willst wohl meinen alten Körper zerbrechen, oder wie? Stelle keine überflüssigen Fragen und lerne! Du lässt dich viel zu leicht von sowas ablenken, wir arbeiten hier! Was willst du denn für eine Heilerin werden auf diese Art? Wenn du jemanden heilen willst, musst du dich nur darauf konzentrieren, alles andere muss dir egal sein… selbst Puran muss dir egal sein!“ Leyya schnappte erst entsetzt nach Luft, dann sank sie in sich zusammen und kauerte sich wieder auf die Felsen, senkte tief den Kopf und erzitterte. Die alte Heilerin bereute ihren harschen Worte jetzt ein wenig und milderte ihren Blick; als sie ansetzen wollte, das kleine Mädchen zu trösten, sprach Leyya selbst:

„Entschuldige, Keisha… ich wollte dich nicht verärgern. Ich… ich… vielleicht bin ich keine gute Heilerin.“ Die Frau strich ihr mütterlich über den Schopf und lächelte gutmütig.

„Du hast großes Talent und du bist geschickt mit den Kräutern, du bist eine gute Lernerin. Ich zeige dir alles, was ich kann, aber wenn ich einmal nicht mehr da bin, musst du alleine weiter lernen… ich kann dich nicht immer zurechtweisen. Eines Tages wird meine Seele im Wind fliegen und dann wirst du die Heilerin der Gruppe sein, die anderen müssen sich auf dich verlassen können. Darum ist es mir wichtig, dass du gut aufpasst, verstehst du? Mach dir jetzt keine Gedanken um Puran oder Ruja oder irgendeine andere Frau, für die er sich je interessiert hat, das alles ist nicht von Bedeutung.“ Die Schülerin nickte beklommen und versprach ihr, ihr bestes zu geben.
 

Das war leichter gesagt als getan. In den nächsten Tagen konnte sie nicht anders, als Puran verstohlen zu beobachten, wenn sie ihn sah. Sie wusste nicht, was ihn an jenem Morgen so aufgeschreckt hatte, aber es schien ihn enorm zu beschäftigen, er war nervös und ignorierte die jungen Frauen des Stammes plötzlich zunehmend. Sogar Rehkleid, der er von allen am meisten Zuneigung entgegen brachte, wie das Heilermädchen gemerkt hatte. Dabei war sie in ihren Augen hässlicher als die beiden anderen, obwohl Rehkleid älter war als sie, hatte sie kaum größere Brüste oder Hüften. Irgendwie freute es Leyya diebisch, dass sie nicht die Einzige zu sein schien, die so ein Problem hatte. Sie hoffte insgeheim schadenfroh, bald weiblicher auszusehen als Purans offenbare Lieblingsfrau; sie wuchs immerhin noch, die andere Frau vermutlich eher weniger.

Dass Puran weniger Zeit mit seinen Weibern verbrachte, machte sie aus irgendeinem Grunde glücklich. Aber dennoch traute sie sich nicht, ihn selbst einmal anzusprechen, wenn er alleine auf irgendeinem Felsen saß, einen Strohhalm zerrupfte und nervös ins Nichts starrte. Er war unruhig… sie wollte sich gerne zu ihm setzen und ihm sagen, dass er sich um nichts sorgen bräuchte, sie würde ihm helfen, bei was auch immer. Sie wollte für ihn da sein und ihm zeigen, dass sie nützlich war und voller Liebe zu ihm… aber sie konnte es nicht. Oft stand sie gar nicht weit entfernt von ihm im Hintergrund, sah zu ihm hin und schwieg dennoch. Und Puran schien sie entweder zu ignorieren oder nicht zu bemerken.

Vielleicht wollte er ja gar keine Gesellschaft. Warum sonst würde er Vogelstimme, Rehkleid und Karanas Schwester alle ignorieren?
 

Ruja ihrerseits war wie immer. Wenn Leyya nicht gerade Puran beobachtete oder ihm sehnsüchtig nachblickte, war sie gerne bei Meorans wunderschöner und glücklicher Frau. Eigentlich beneidete sie Ruja. Nicht nur um ihre Schönheit, mit der sie alle anderen anwesenden Frauen, selbst Nalani, in den Schatten stellte, sondern auch um ihre glückliche Familie. Sie hatte einen Mann, der sie mehr als alles andere auf der Welt liebte, und Meoran war sehr fürsorglich und liebevoll zu ihr, und ebenso zu ihrer gemeinsamen Tochter Saidah. Das kleine Mädchen war ordentlich gewachsen. Sie würde mit dem kommenden Winter zwei Jahre alt werden, sie konnte jetzt alleine laufen und plapperte munter die Worte nach, die man ihr beizubringen versuchte.

Leyya liebte die kleine Saidah fast noch mehr als Puran; natürlich auf andere Weise. Sie verbrachte gerne viel Zeit mit der Kleinen, spielte mit ihr und versuchte, ihr Dinge beizubringen. Sie war wie eine kleine Schwester für sie und es machte sie glücklich, mit ihr zu spielen. Und Saidah liebte sie auch.

„Lieb!“ lachte das kleine Mädchen und strampelte mit den Beinchen, während es auf Leyyas Schoß saß und von ihr wild hin und her geschaukelt wurde.

„Schau, wir fahren mit dem Boot!“ kicherte die Heilerin und schwankte im Sitzen weiter herum, „Jetzt kommt eine grooooße Welle von links!“ Dabei wiegte sie sich samt Saidah nach rechts und die Kleine johlte vor Freude und strampelte so stark, dass sie beinahe von Leyyas Schoß geplumpst wäre. „Und jetzt eine von rechts, oh weh!“ Und es ging nach links, wieder johlten die Mädchen. Ruja saß nicht weit davon auf der Erde und flocht einen Korb aus Binsen; oder versuchte es, denn das Boot-Spiel der Kinder brachte sie zum Lachen und lenkte sie ab.

„Oh nein, passt nur auf, dass ihr nicht kentert!“ rief sie den beiden zu, und ihre Tochter quietschte, als das ältere Mädchen sie wieder durchschüttelte, dann zu wanken aufhörte und die Kleine kitzelte. Saidah lachte und zappelte.

„Jetzt wird das kleine Mädchen vom großen, bösen Fisch gefressen! Happ!“ grinste die Größere dabei, bis sie schließlich mit dem Kitzeln aufhörte und die Kleine zu Atem kommen ließ.

„Oh nein, wehe!“ rief Ruja theatralisch, „Mein Kind wurde gefressen! Zu Hilfe! – Meoran ist nie da, wenn man ihn braucht, er könnte jetzt mal seine Tochter aus dem Rachen des Fisches retten…“ Sie lachte und die kleine Heilerin stimmte mit ein. Nachdem alle wieder atmen konnten, kamen die Mädchen zu Ruja und während Saidah auf den Boden gesetzt wurde, versuchte ihre Spielgefährtin, ihrer Mutter zu helfen. „Bist du überhaupt jemals Boot gefahren, Leyya? Ich meine, Makar lag ja nicht an der Küste?“

„Nein, bin ich nicht… Meoran und Tabari reden davon, dass wir vielleicht mit einem Boot fahren müssen, wenn die Zeichen schlechter werden.“ Die Frau lächelte.

„Ja, die schlechten Zeichen… sie sind alle nervös, die Schwarzmagier. Ich bin nur Telepathin, ich sehe nicht so viel wie sie.“

„Meinst du, ein Unheil wird kommen?“ fragte das Mädchen und blickte zu Saidah, die an einem Binsenhalm knabberte und dabei mit sich selbst herum plapperte.

„Ich weiß es nicht, Leyyachen… der Wind sagt seltsame Sachen zu uns, glaube ich.“
 

Der kurze Sommer in den Bergen neigte sich bereits dem Ende zu. Jetzt, wo der Herbst bald kam, gingen die Männer oft auf die Jagd, um Vorräte für den Winter anzulegen, und die Frauen sammelten Beeren. Die Unruhe blieb; es war nicht nur Puran, der verbiestert abseits von allen herum hockte und seine Ruhe haben wollte, manchmal verschwanden auch Nalani und Tabari für mehrere Tage, um in völliger Isolation besseren Kontakt mit den Geistern von Himmel und Erde bekommen zu können. Doch als Tabari als Erster zurückkehrte von seiner Wanderung, war er nicht entspannter als vorher; der sonst so unbeschwerte Mann wirkte irgendwie falsch mit ernstem Gesicht, fand Leyya besorgt. Als sie ihn einmal fragte, was ihn denn so beunruhigte, gab er ihr keine wirkliche Antwort.

„Ich weiß es selbst nicht, Leyya, das ist es ja… die Geister sprechen Worte, die ich nicht verstehe… oder vielleicht nicht verstehen will, ich weiß nicht genau.“ Mehr bekam sie aus ihm nicht heraus.

Über ihre Sorge um die schlechten Zeichen, von denen sie als Heilerin nur wenig mitbekam, vergaß sie beinahe, Puran und Ruja zu beobachten, um herauszufinden, was er für ein Problem mit der Frau hatte, dass er ihren Namen schreiend aus dem Schlaf geschreckt war; dann, eines Tages, fiel es ihr plötzlich wieder ein, weil Puran sich aus seiner genervten Phase löste, auf die Frau zuging und sich ein Gespräch mit ihr wünschte. Sie hatte gerade mit der kleinen Saidah an der Hand zum Fluss gehen wollen, um sie zu baden, aber jetzt ließ sie ihr Kind los, das darauf von Keisha an die Hand genommen wurde, und folgte ihm mit einem fröhlichen Lächeln; einem Lächeln, wie Ruja es eben immer trug.

„Dann gehe ich eben mit dir baden, kleine Maus,“ sagte die Oma zu Saidah, die kichernd von einem Fuß auf den anderen tapste. „Vielleicht kommt Leyyachen ja auch mit… - ähm, Leyya?“ Sie sah sich um; ihre Schülerin war nirgends mehr zu sehen, dabei hatte sie doch gerade noch mit ihr, Ruja und der Kleinen auf dem Plateau am Feuer gesessen…
 

Die kleine Heilerin fragte sich, ob Puran und Ruja sich jemals alleine unterhalten hatten; jedenfalls hatte sie es bisher nicht mitbekommen. Sie überlegte, worüber sie wohl sprechen könnten, als sie ihnen mit sicherem Abstand folgte; weit gingen sie nicht weg, nur die kleine Anhöhe hinauf, auf der sie, Leyya, oft mit Karana spielte. Sie hockte sich verblüfft hinter einen Strauch, als Ruja stehen blieb und Puran vor ihr auf und ab zu gehen begann.

„Du… du machst mir Sorgen!“ schnappte er dann ungewohnt barsch zu der Frau, die nur eine Braue hochzog.

„Was ist mit dir? Du bist so unruhig, Puran… habe ich irgendetwas getan?“

„Nein!“ rief er empört, „Nein, das ist es ja… aber die Geister sprechen von dir, wenn ich schlafe… ich habe…“ Er wurde jetzt leiser, blieb direkt vor ihr stehen und sah betreten zur Seite. „Ich habe von dir geträumt… und es war ein schlechter Traum. Ein Traum von… deinem Tod…“ Ruja schwieg darauf, während Leyya unbemerkt von beiden erbleichte.

Tod? Das war nicht die Art von Gesprächsthema, die sie erwartet hatte.

Das war schlimmer…

„Und das sorgt dich?“ kam dann ihre Antwort, und Puran keuchte, als sie ihm melancholisch lächelnd ins Gesicht sah. „Manchmal schicken die Geister uns Visionen und manchmal nur Alpträume, die nur aus Furcht bestehen. Kannst du das schon unterscheiden?“ Er weitete seine grünen Augen.

„Ich… ich weiß nicht… ich weiß nur, dass es mir Angst macht, wenn ich dann aufwache. Ich habe kein gutes Gefühl… der Himmel grollt und die Erde bebt, wenn wir versuchen zu schlafen.“

„Ich weiß… wir spüren es alle. Selbst die kleine Leyya, so denke ich. Aber solange wir nicht wissen, was wirklich geschieht und was nur eine Laune von Himmel und Erde ist, können wir nichts tun…“ Sie schwiegen lange.

„Pass auf dich auf, bitte,“ murmelte Puran schließlich bedrückt und hob eine Hand, als wollte er nach ihrer greifen – er hielt kurz vor ihrer Hand jedoch wieder inne und ließ seine wieder sinken.

Das war Meorans Frau. Er sollte nicht mal daran denken, ihre Hand zu halten… warum kamen ihm jetzt, nach der langen Zeit, die vergangen war, wieder solche Gedanken?

Sie schien seine Gedanken zu kennen, denn sie lächelte bescheiden und senkte ihr Gesicht tief, sodass er es beinahe nicht mehr sehen konnte. Er war längst größer als sie…

„Wie lange ist es her… dass wir beide alleine gesprochen haben?“ begann sie dann leise und er starrte sie an, verblüfft darüber, was sie sagte. „Im Wald in Anthurien, bevor wir Leyya gefunden haben, habe ich recht?“ Er nickte stumm; ja, daran erinnerte er sich gut. Es war ein melancholisches Gespräch gewesen, ähnlich diesem hier, aber ihm kam es so vor, als wären sie beide jetzt noch schwermütiger als damals.

„Ich wünschte, ich könnte dich fester umarmen…“ hatte sie damals gesagt, und bei der Erinnerung errötete er unwillkürlich. Was genau hatte sie damit eigentlich gemeint?

„Dieses Gespräch ist anders als das letzte,“ murmelte er dann, worauf sie das Gesicht wieder etwas hob. Ihr Lächeln war verschwunden. „Damals hab ich noch an dir gehangen und an den dreckigen Träumen aus Tuhuli, die ich von dir hatte…“ Er wurde abermals rot und hüstelte gekünstelt. Die Frau lachte leise.

„Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich war in Tuhuli wirklich aufreizend dir gegenüber, ich habe dich nicht so dermaßen verwirren wollen… das war nicht gut für dich. Bitte vergib mir, Puran.“

„Nein, du solltest mir vergeben. Du bist eine verheiratete Frau, ich hätte nie solche Gefühle für dich haben dürfen. Und dennoch… habe ich dich begehrt. Und irgendwie, wenn ich dich jetzt so vor mir sehe, habe ich das Gefühl, dass ich es tief in meinem Inneren, in irgendeiner verschlossenen Kammer meines Geistes, noch immer tue…“ Er musterte sie von oben bis unten, fuhr mit dem Blick ihre Konturen nach, ihren hübschen, weiblichen Körper, bis er sich keuchend zur Seite drehte und sich nervös die Haare raufte. „W-was rede ich da?! Himmel, Ruja, vergiss, was ich gesagt ha-…“ Er kam nicht weiter, denn sie hielt ihn am Arm fest und zwang ihn, sie wieder anzusehen. Als er in ihr Gesicht blickte, war sie aschfahl.

„Ich weiß doch…“ wisperte sie und klang, als wollte sie weinen. Bestürzt weitete der junge Mann seine Augen, doch sie weinte nicht, sondern fuhr fort. „Ich weiß doch, wie du fühlst… ich habe… dir nie gesagt, wie ich fühle. Ich habe es nicht getan, weil ich nicht wollte, dass du Falsches von mir denkst. Ich habe damals in Anthurien von einem Band gesprochen, das uns auf schicksalhafte Weise zusammengeführt hat und uns verbindet, auf merkwürdige Art… es ist immer noch da, ich kann es spüren. Wenn ich dich berühre, wie jetzt…“ Er schauderte, als ihre Finger seinen Arm losließen und über seine gerötete Wange fuhren. „Es ist immer da. Was uns beide verbindet ist etwas anderes als… Liebe oder Begehren, es ist nicht dasselbe! Ich bin die Frau von Meoran und ich liebe ihn als meinen Mann… aber ich empfinde dir gegenüber… eine so tiefe Zuneigung, entstanden durch dieses Schicksalsband, das… die Geister zwischen uns geknüpft haben. Das Gefühl, das ich für dich habe, kann ich mit keinem Wort beschreiben, Puran… aber es ist da und manchmal, wenn ich dich ansehe, spüre ich es und sehne mich… danach, so unbeschwert mit dir reden zu können wie in Tuhuli… die Liebe, die ich für dich empfinde, Puran, ist eine andere als die, die ich für meinen Mann fühle, aber… es ist nicht weit ab davon…“

„Nein, nicht!“ keuchte er, als sie so seine Wange streichelte, und er drehte den flammenden Kopf weg. „Bitte sag das nicht, Ruja, du… reißt nur alte Wunden wieder auf… du solltest mich nicht so ansehen!“

„Und du solltest nicht wünschen, dass ich dich so ansehe, und dennoch tust du es, ich sehe in deine Seele…“ Er japste verzweifelt.

„Du hast recht…“ meinte er dann, „Es ist dieses Band. Es sorgt dafür, dass ein Teil von mir… immer dir gehören wird, Ruja.“ Sie lächelte bitter.

„Ich sollte dir… das nicht erzählen…“ begann sie nach einer längeren Pause und Puran blinzelte. „Aber mein Geist… drängt mich…“ Sie senkte ihren Kopf erneut. „Als dein Vater mich bat, dich während deiner Lehre zum Mann zu machen, habe ich mich gefragt, was für ein Junge du wohl sein magst, als Kind zweier so verschiedener Leute. Ich habe dich so sehr ins Herz geschlossen, als du bei uns warst… schon wenige Wochen, nachdem du gekommen bist. Als du bei uns warst, habe ich mit Meoran ein Abkommen getroffen…“ Sie sah jetzt wieder auf und Puran erstarrte, als sie fortfuhr. „Er hat gesagt, falls ihm einmal etwas zustieße… irgendetwas, weshalb er nicht mehr für mich sorgen könnte… dann würde er dich bitten, mich zur Frau zu nehmen.“

„Was?!“ schnappte er darauf und erbleichte. „Wie… wie, meine Frau?! Du?!“

„Meoran hat damals gesagt, als erster, dem er mich ohne schlechtes Gewissen anvertrauen könnte, wäre ihm dein Vater eingefallen. Dann meinte er aber, du seiest mehr in meinem Alter, du bist nur fünf Jahre jünger als ich, während dein Vater fünfzehn Jahre älter ist als ich… und da wir beide uns gut verstanden und ich dich gern hatte, hielt er das für eine gute Idee. Und ich… fühlte mich dadurch so verpflichtet und irgendwie… schuldig dir gegenüber und… auch Meoran gegenüber, dass ich… verwirrt war und… deswegen habe ich mich von dir distanziert nach deinem Ritual…“ Er konnte sie eine Weile nur ansehen; plötzlich war es, als hätte jemand ein Licht in die Schatten ihrer Gedanken gehalten, plötzlich verstand er so vieles… so vieles, was ihr Handeln anbelangte. Als er sich wegdrehen wollte, hielt sie seine Hand fest. „Warte…“

„Vielleicht sorge ich mich deshalb ja um dich…“ nuschelte er, „Wegen dieses… Bandes, von dem du gesprochen hast. Vielleicht ist es auch Schuld daran, dass Meoran dich zu mir geben will, falls… ach… er redet gerne davon, dass ihm irgendwas passieren könnte, ich glaube, er sorgt sich zu viel. Er ist ein guter Mann für dich, Ruja, und ein guter Vater für Saidah. Ich wäre weder das eine noch das andere.“

„Sag das nicht. Du bist ein wunderbarer Mann, Puran. Du bist so erwachsen geworden… momentan bist du nur nervös. Das sind wir aber alle.“

„Wunderbarer Mann, na, das denke ich nicht… ich neige dazu, Leute zu verärgern, ohne zu merken wie. Leyya zum Beispiel ist aus irgendeinem Grund stinksauer auf mich und ich kapiere einfach nicht, was ich gemacht habe, das sie so dermaßen erzürnt hat! Das tut mir so leid, ich habe sie doch gern…“
 

Leyya erstarrte.

Er sprach von ihr! Von ihr, er dachte an sie… er sorgte sich wegen ihres Zorns! Plötzlich war sie so gerührt und ergriffen von seiner Sorge, dass sie alle Wut auf ihn oder irgendwelche Frauen vergaß; sie vergaß sogar das Erstaunen über die Tatsache, dass Puran offenbar auch in Ruja verliebt gewesen war, und sie wollte aufspringen, zu ihm laufen und ihm um den Hals fallen.

„Ich bin nicht mehr zornig!“ wollte sie sagen, aber sie brachte es dennoch nicht über sich. Als sie spürte, wie die Unruhe in ihr immer größer wurde, drehte sie sich um und rannte davon, die beiden auf der Anhöhe allein zurücklassend.

„Was war das?“ fragte Puran, der die Schritte im morschen Gestrüpp vernommen hatte, und er fuhr herum und griff bereits nach seinem Gürtel, wo sein Schwert hing, aber Ruja hielt eine Hand fest.

„Der Wind…“ sprach sie wissend und er blickte sie verzweifelt an. Sie war so hübsch… und so sanft und liebevoll. Die Gefühle, die er in dem Moment für sie empfand, unterschieden sich stark von den früheren, aber dennoch ließen sie ihn hastig zurücktreten und sich aus ihrem Griff winden.

„Ich kann das nicht, Ruja. Wir sehen einander zu lange an. Ich möchte nicht, dass Meoran etwas zustößt… er ist weit besser für dich als ich.“

„Du tust immer so bescheiden und als wärst du ein grässlicher Kerl,“ lachte sie leise, „Das bist du nicht, Puran.“

„Ich versuche nur, dich zu beschützen. Pass bitte auf dich auf, diese Träume werden mir keine Ruhe lassen, ich… weiß nicht, was aus uns allen wird…“ Er wollte sich abwenden, doch abermals hielt sie ihn fest, dieses Mal am Kragen seines Umhangs, und er sah in ihr schönes, blasses Gesicht herab und erkannte in ihren Augen ihre tiefe Zuneigung, von der sie gesprochen hatte. Sie flüsterte, als wäre sie ein Windgeist.

„Das wissen wir alle nicht… in vielen Jahren werden wir auf diesen Tag zurückblicken und darüber lächeln… denkst du nicht?“ Er antwortete nicht. Wispernd und fast tonlos fuhr sie fort, während sie sanft ihre Augen schloss. „Lass uns… das Licht noch genießen, ehe die Sonne für immer verblassen wird…“

Nach diesen Worten küsste er sie auf die Lippen.
 

Das Ende des idyllischen grünen Himmels über Kadoh kam mit einem krachenden Unwetter zu Beginn des Mondes der Irrlichter. Tagelang ergoss sich der Zorn des Himmels über die Berge mit einem gewaltigen Regen. Die Erde zitterte und dem grollenden Donner und die Blitzspeere des Vater Himmel steckten ein paar der verkrüppelten Bergbäume in Brand, die aber vom Regenwasser wieder gelöscht wurden. Schwer drückten die Wassermassen auf die Iketh-Berge und lösten Lawinen aus Schlamm und Geröll aus. Und gemeinsam mit dem Zorn des Himmels ergossen sich auch die Bilder vor den Augen der Magier; und brachten nicht das, was sie gesucht hatten, sondern nur Tod und Verderben.

Tabari träumte von Dokahsan oder dem, was davon übrig war. Die Geister gewährten ihm nur wenige Blicke auf das einst schöne Land im Norden, das jetzt einer Todeswüste glich, niedergebrannt und eingenommen von den Zuyyanern, die dafür sorgten, dass so viele Menschen wie möglich umkamen. Und in diesem einen Moment war es, dass der Herr der Geister zum ersten Mal seit Beginn des Krieges einen Blick auf seinen Bruder und dessen Familie gewährt bekam.

Und es sollte der letzte bleiben.

Feuer regnete noch immer vom Himmel, als er Kiuk gemeinsam mit Sukutai und Alona durch ein Wüstland rennen sah, das nicht mehr als Land zu erkennen war. Die Zuyyaner waren hinter ihnen her, und Tabari wollte schreiend empor springen, ihnen nachjagen und sie umlegen, einen nach dem anderen, und seine Familie in Sicherheit bringen.

„Lauft!“ wollte er rufen, aber seine Stimme versagte ihren Dienst und er sah zu, wie die Krieger näher kamen „Was ist mit Teleport?! So rennt doch!“ Doch es kam wieder keine Stimme aus seiner Kehle, stattdessen grollte der Himmel zornig über den in Fetzen fliegenden Traumbildern. Das Land verschwand, zurück blieben Finsternis und ein schriller, markerschütternder Schrei, als Alonas Beine versagten und das Mädchen zu Boden stürzte.

Was macht ihr, Himmelsgeister…? Warum verratet ihr uns alle so dermaßen…? kam es Tabari dumpf, und er schnappte nach Luft, als sein Bruder zurück stürzte, seine Tochter mit Gewalt hoch zerrte und sie hinter sich zu Sukutai schleuderte; in diesem Moment erreichten die Soldaten die Familie und der vorderste riss die Hände hoch, um gigantische Flammen das gesamte Bild verschlingen zu lassen.
 

Lasst mich das nicht mit ansehen… ich warne euch, ihr Windgeister!
 

Als Tabari die Augen öffnete und Nalanis entsetzte Stimme neben sich hörte, die ihn energisch rüttelte, hatte er das Gefühl, dass ein Teil seines Geistes mit diesem Traum gestorben war.

„Tabari!“ herrschte seine Frau ihn an, und als er endlich ganz wach war, sah er sie, wie sie neben ihm aufrecht auf dem Lager saß, auf der anderen Seite saßen ein völlig bleicher Puran und eine noch bleichere Leyya, außerdem eine verwirrte Vogelstimme. „Du bist wach…“ murmelte seine Frau dann apathisch und ließ seinen Kragen los, als er sich ebenfalls hastig aufsetzte und keuchend ins Nichts starrte. Vom anderen Felsvorsprung sahen Meoran, Ruja, Keisha und sogar die kleine Saidah fassungslos zu ihnen herüber und wagten nicht zu atmen. Der halbe Stamm musste aufgewacht sein durch die Geräusche, von allen Seiten starrten sie hinauf und waren zu ängstlich, um sich zu bewegen.

„Was… ist passiert?“ wagte Puran seinen geistig irgendwie noch nicht ganz anwesenden Vater zu fragen, den das leichenblasse Gesicht beunruhigte, das er sah. „Was hast… du gesehen, das so grausam war, dass du im Schlaf schreist…?“ Alle warteten schweigend und mit klopfenden Herzen vor Angst auf die Antwort, die nur eine schlechte Nachricht sein konnte. Als sie sie hörten, wünschte Puran sich plötzlich, niemals gefragt zu haben.

„Mein Bruder ist tot…“
 

Nalani erstarrte, während aus Purans Gesicht jegliche Farbe wich. Meoran, Ruja und Keisha im Hintergrund warfen einander fassungslose Blicke zu, der Telepathin entfuhr ein jämmerliches Piepsen, ehe sie sich die Hände vor den Mund schlug.

„Was sagst du…?“ machte Nalani, „Kiuk?!“

„Ich habe sie gesehen…“ murmelte ihr Mann dumpf und erzitterte, „Kiuk und… Sukutai und Alona. Sie rannten über verbranntes Land und… da waren die Zuyyaner…“

„Bist du dir sicher?“ hakte sie nach, „Vielleicht veräppeln die Geister uns, das tun sie mitunter!“ Sie fuhr unwillkürlich zusammen, als Tabari sich abrupt erhob und sich durch die Haare fuhr. Seine Hände bebten dabei, als er zwei Schritte nach vorn trat, seiner Frau den Rücken kehrend.

„Nein… dieses Mal nicht…“ Mehr sagte er nicht, er verließ wortlos den Vorsprung und darauf die Höhle, ehe Nalani ihn hätte festhalten können, die sich auch keuchend aufrappelte. Sie schnappte nach Luft und konnte nicht wahrhaben, was sie gehört hatte; Kiuk war tot? Ganz einfach so? In ihrem Kopf tanzten Bilder der Vergangenheit und sie sah ihren Schwager und seine Familie noch vor sich, als wäre es gestern gewesen, dass sie sie gesehen hatte. In der Zeit, in der Tabari noch seines Vaters Diener gewesen war, war Kiuk ihr wie ein Bruder gewesen und sie hatte ihn so sehr ins Herz geschlossen, dass der bloße Gedanke an seinen Tod sie schmerzte.

„Ihr lügt uns doch an, Geister des Himmels…“ wisperte sie tonlos und sah zur Decke der Höhle, ehe sie aus vollem Hals schrie: „IHR LÜGT DOCH, ODER?!“

Sie bekam keine Antwort. Als Stille herrschte, sank die Frau zurück auf das Schlaflager und umschlang ihre angezogenen Knie mit den Armen.

Sie lügen nicht…

„M-Mutter…?“ wimmerte Puran neben ihr, der es geschafft hatte, sich zu bewegen und zu ihr zu krabbeln und jetzt eine Hand durch ihre schwarzen Haare gleiten ließ, „Mutter… d-das heißt, Onkel Kiuk ist wirklich…?! U-und was ist mit Tante Sukutai und Alona…?“

„Ich weiß es nicht…“ machte sie stimmlos und er schluchzte verzweifelt, bevor seine Mutter sich traurig herumdrehte und ihn tröstend in ihre Arme schloss. Und er brach in ihren Armen zusammen und weinte, während sie ihm durch die Haare strich und selbst mit sich kämpfte, um Haltung zu bewahren. Meoran und Ruja kamen herüber und Letztere bemühte sich um Leyya, die auch zu weinen begann, obwohl sie Purans Onkel nie gekannt hatte. Offenbar war es aber jemand gewesen, den alle gemocht hatten, deshalb war sie traurig…

„Vielleicht solltest du Tabari suchen gehen, Meoran…“ riet die Telepathin ihrem Mann dumpf und er hockte sich zu ihr und Leyya und schüttelte traurig den Kopf.

„Nein… nicht jetzt. Ich glaube nicht, dass er jemanden sehen will.“
 

Die Menschen des Bergstammes waren reichlich verwirrt über das plötzliche eigenartige Benehmen ihrer Gäste, bis Nalani sich zusammenriss und sie darüber aufklärte, was geschehen war. Darauf erntete sie erschrockene und bestürzte Blicke von allen Seiten, die alte Seherin sprach ihr und den anderen ihr Beileid aus.

„Wir errichten Feuer… damit wir gedenken dem Bruder von Tabari,“ sagte sie, nachdem sie mit dem Häuptling gesprochen hatte, und Nalani senkte bitter lächelnd den Kopf.

„Das ist eine große Ehre für meinen Schwager, denke ich… Tabari wird das sicher etwas trösten, es ist eine gute Sache.“ Die Alte lächelte traurig, ehe sie Nalani ihre Hand reichte.

„Nein, für uns… Ehre genug, euch gedenken zu können.“

„Ich danke dir, Geisterfrau des Stammes.“ Nalani nahm ihre Hand und umklammerte mit der freien Hand ihren Dolch Kadhúrem, ehe sie den Blick kurz über den Sohn der Alten gleiten ließ, der wie immer hinter ihr stand und kein Wort sprach. Aber er beobachtete sie mit einer verständnisvollen Traurigkeit und Anteilnahme, dass sie genau wusste, dass er jedes Wort der Konversation verstanden hatte. Er war ein guter Lerner.

Es waren bedrückte Tage, in denen die Bergmenschen das Feuer auf dem Plateau errichteten. Tabari kehrte nicht zurück zur Höhle und keiner bekam ihn zu Gesicht. Doch obwohl manche sich sorgten, hatte Nalani keinerlei Zweifel daran, dass er wiederkommen würde. Er brauchte Zeit für sich, um den Tod seines Bruders zu verarbeiten, in solchen Situationen war er kein geselliger Mensch. Sie wusste das und sorgte sich deswegen nicht. Sie war schweigsam und selbst viel fort, um den Rat der Erdgeister zu suchen und Antworten auf die vielen Fragen zu finden, die sie noch hatte. Die anderen blieben bedrückt zurück und halfen mit, das Feuerholz zusammen zu suchen, um sich abzulenken. In der Trauerzeit war es, dass Leyya sich traute, Puran wieder anzusprechen, als er an einem Nachmittag alleine auf dem Vorsprung in der Höhle saß und die Spitze seines Speeres schärfte.

„Es tut mir… leid um deinen Onkel. Du hast ihn sicher lieb gehabt…“ Er sah kurz hoch zu ihr, als sie sich zu ihm stellte, dann wieder auf seine Arbeit.

„Danke,“ machte er dumpf. „Ja, ich hatte ihn gern. Er war ein lieber Mensch. Und ich sorge mich um meine Tante, seine Frau, und meine Cousine, seine Tochter… aber die Geister lassen mich immer im Ungewissen.“ Die Heilerin schwieg beklommen. Warum fiel ihr nichts Tröstendes ein, das sie sagen könnte? Warum stand sie nur schweigend da und war nicht nützlich, wie sie es gerne wollte…? Sie hockte sich dicht neben ihn, um ihm zu zeigen, dass er nicht alleine sein musste. Puran hob den Kopf wieder und schenkte ihr einen fragenden Blick.

„Ihnen… geht es sicher gut,“ wollte sie ihm leise Mut machen. „Sonst hättet ihr das sicher auch in Träumen gesehen… hab keine Angst.“ Sie senkte scheu den Kopf, als er seinen Speer weglegte und sie eine Weile schweigend musterte. Plötzlich dachte er an das Gespräch mit Ruja vor einigen Wochen; war die Kleine jetzt nicht mehr böse auf ihn, wenn sie sich so zu ihm setzte? Jetzt war aber kein guter Zeitpunkt, um sie danach zu fragen und zu versuchen, sich für irgendetwas zu entschuldigen, wo er nicht mal wusste, was er gemacht hatte. Er freute sich, dass sie bei ihm saß, ihre bloße Anwesenheit spendete ihm mehr Trost als jedes gewünschte Beileid der vergangenen Tage… plötzlich hatte er das Bedürfnis, sie zu umarmen und fest an sich zu drücken wie früher, wenn sie bei ihm geschlafen hatte. Leyya sprach. „Darf ich hier bei dir sitzen bleiben und dich trösten, Puran?“

Er sah sie verblüfft an. Dann musste er lächeln, überlegte nicht weiter und schloss sie einfach in die Arme. Er spürte, dass sie in seinen Armen erstarrte.

„Das tust du doch schon, wenn du nur hier bist, Leyya,“ murmelte er, „Ich habe es doch schon mal gesagt? Du bist eine erstaunliche Heilerin, denn Wunden heilen, wenn du… einfach nur da bist. Zumindest bei mir, habe ich das Gefühl.“ Er musste leise lachen, während sie errötete ob der liebevollen Zärtlichkeit, ehe sie sich an seine Brust kuschelte und das Gesicht darin vergrub. Sie hatte ihn so sehr vermisst… sie fühlte sich, als hätte sie ihn seit Jahren nicht gesehen, es tat so gut, in seinen Armen zu liegen und gewärmt zu werden… sie wollte, dass er sie niemals losließ.

„W-wirklich…?“ schluchzte sie gerührt und er gluckste.

„Warum sollte ich dich anlügen, Leyya? Ich hab dich doch gern…“ Sie drückte sich schweigend an seine Brust und sagte nichts mehr, sie war glücklich, bei ihm sein zu können… obwohl es sie schmerzte, dass er sie nie so gern haben würde, wie er Ruja gern hatte…

In seinen Augen würde sie wohl immer ein Mädchen sein, auch dann, wenn sie eine Frau geworden war.
 

Am fünften Tag nach Tabaris Verschwinden ging Nalani zu ihm. Suchen musste sie nicht, da ihre Instinkte sie gleich auf den richtigen Weg führten. Sie fand ihn ein gutes Stück entfernt vom Plateau am Rand einer kleinen Schlucht sitzend und in die Ferne nach Nordosten starrend. Um ihn nicht zu erschrecken, räusperte sie sich bereits in einiger Entfernung, ehe sie zu ihm hin ging und etwas hinter ihm stehen blieb.

„Hier bist du…“ begann sie leise, „Die Menschen des Stammes haben Wild gejagt und haben ein Feuer gemacht, um Kiuk zu ehren. Es ist Zeit, dass du zurück zu den Menschen kommst…“ Tabari schauderte, sagte aber nichts, ihr weiterhin den Rücken kehrend. Nach einer Weile war sie das Schweigen leid und setzte sich neben ihn, nahm stumm seine Hand in ihre. „Hast du jetzt die fünftägige rituelle Totenwache alleine ohne Leiche gehalten?“ fragte sie, „Die Geister werden uns nicht mehr zürnen, sorge dich nicht.“

„Ich hätte ihn suchen sollen, damals…“ murmelte Tabari dann, ohne auf ihr Gerede einzugehen, und sie hob de Kopf und sah ihn an. Er zitterte und fuhr sich mit der freien Hand über das bleiche Gesicht. Er sah erschöpft und müde aus… „Als der Krieg begann! Ich hätte ihn suchen sollen und nicht weglaufen dürfen! Was bin ich für ein schlechter großer Bruder, wenn ich zulasse, dass er vor mir stirbt, obwohl er jünger ist?!... Ich… fühle mich so unendlich nutzlos und…“ Er brach ab und senkte bitter den Kopf. Nalani sah ihn schluchzen und seufzte leise.

„Weine nicht… es wird ihn nicht wiederbeleben. Ich trauere auch um ihn, genau wie du. Er war auch mir ein Bruder.“ Sie hatte kaum ausgesprochen, da heulte er plötzlich los und sank richtig in sich zusammen, als hätte er die ganzen Tage lang alle Tränen zurückgehalten; und jetzt kamen sie und er konnte gar nicht aufhören zu weinen und zu jammern. Nalani senkte deprimiert den Kopf und ließ ihn gewähren, als er sich aufgelöst gegen sie lehnte und sich dann mit dem Kopf in ihren Schoß sinken ließ.

„Er fehlt mir so schrecklich, Nalani… ich habe jahrelang ohne ihn gelebt seit Beginn des Krieges, aber jetzt erst… jetzt, wo mir jede Möglichkeit genommen wurde… ihn jemals wiederzusehen… tut es dermaßen weh, dass ich… nicht mal atmen kann…“ Er grub sein Gesicht in ihren flachen Bauch und heulte und schrie vor Verzweiflung, bis seine Stimme zu versagen drohte, und Nalani saß stumm da und strich beruhigend über seinen blonden Schopf, als wäre er ein kleines Baby, das Schmerzen hatte.

„Du trägst keine Schuld daran…“ war alles, was sie von sich gab. Sie wusste, dass Worte die Wunden nicht heilen konnten. Und sie gab ihm auch schweigend alle Liebe und alles Verständnis, das sie hatte, um den Heilungsprozess ihrer beiden seelischen Wunden zu beschleunigen.
 

Das Leben ging weiter. Es musste, und Tabari wusste das auch, als er zusammen mit seiner Frau zurück zum Plateau kehrte und sie ab Abend um das große Feuer herum saßen. Die Bergmenschen stimmten heilige Gesänge auf der alten Sprache an, um die Toten und Geister zu ehren. Und Tabari sah tapfer an den Flammen empor zum dunklen Himmel; in dem Moment wusste er, dass die Seele seines Bruders wohlbehalten im Geisterreich angekommen war. Er spürte sie, als er die Augen schloss und Kiuks lächelndes Gesicht vor sich sah, und wusste, dass sein Bruder auch nach seinem Tode ein Teil von ihm sein würde.

„Eines Tages werden wir uns wiedersehen, Kiuk, mein Bruder…“ murmelte er benommen, indem er seine Augen wieder öffnete, „Aber noch nicht jetzt. Wenn es soweit ist, gib mir deine Hand und vergib mir, dass ich nicht für dich da sein konnte…“
 

Der Winter kam. Alle hatten damit zu tun, sich auf das lange Leben in der Dunkelheit der Höhle vorzubereiten und genügen Vorratsgruben anzulegen. Kiuks Tod hatte alle getroffen, die ihn gekannt hatten, obwohl sie ihn gar nicht mit eigenen Augen verfolgt hatten war es schwer genug, das zu verarbeiten. Es würde ein dunkler, schweigsamer Winter voller düsterer Vorahnungen werden…

Nalani sah in den Schatten, der aus dem Norden und dem Osten nahte, wenn nachts die Erde leise bebte und zitterte, offenbar selbst beunruhigt vor dem, was kommen würde, ebenso wie die Frau. Sie lehnte sich gegen die Felsenwand hinter dem Vorsprung, auf dem sie schliefen, während sie als einzige wach saß und keine Ruhe fand. Über ihr grollte der Himmel, als der Schatten sich verfinsterte.

Gebt mir… meine Antworten, Geisterwinde! befahl sie Mächten der Schöpfung in Gedanken, Warum… geht mir der Bauernjunge Ulan nicht mehr aus dem Kopf, der denselben Namen trägt wie ein Vorfahre der Lyras…?

Mit einem Blitzen huschten die Bilder vor ihren inneren Augen vorbei, so schnell, dass sie es schwer hatte, sie richtig zu erfassen; aber sie sah einen Mann mit Kelars Gesicht, der die Zähne bleckte… er hatte dieselben, zugespitzten Eckzähne wie der verhasste Schwiegervater der Frau, und sie weitete in Unglauben die Augen. Das war nicht Kelar, der sie aus dem Schatten heraus angrinste und die Augen zu bösartigen Schlitzen voller Wahnsinn anstierte, aber dennoch hatte er eine solche Ähnlichkeit mit dem Tyrannen, dass er sein Bruder hätte sein können.

„Versuch nicht, davon zu rennen, Wachtel,“ schnarrte er sogar mit Kelars Stimme und die Frau keuchte, „Du wirst für das büßen, was ihr mir verdorben habt… ihr werdet am Boden kriechen wie Würmer im Schlamm und um den Tod betteln, Nalani… und dann werde ich gnädig sein und ihn euch gewähren… bin ich nicht barmherzig?“

Sie sah das Feuer vom Himmel fallen und die Finsternis zerschmettern, als der Himmel und die Erde ihren Zorn über die Welt ergossen, und am Ende explodierte sie mit einem gleißenden, tödlichen Licht. Als das Leuchten erlosch, stand Nalani alleine in der Finsternis und vor ihren Füßen tanzte die weiße Knochenspirale. Mit einer weiteren Flut von nicht zusammenhängenden Bildern endete der Traum gemeinsam mit einem stechenden, grauenhaften Schmerz in ihrem Bauch.

Als sie die Augen wieder aufschlug, herrschte in der Höhle Grabesstille. Rein Instinktiv sah Nalani zuerst nach ihrem Mann, der friedlich neben ihr schlief, und dann nach Puran, der etwas weiter hinten bei Vogelstimme lag, einen Arm um die schlafende Frau gelegt, und ebenfalls schlief. Seufzend schob sie sich an den Rand des Vorsprungs und kletterte behände hinab, um an die frische Luft zu gehen. Vielleicht würde das ihre unruhigen Visionen verjagen, die ihr den Schlaf raubten…

Auf dem Plateau stellte sie erstaunt fest, dass sie nicht der einzige Mensch war, der hinaus kam und nachdenken wollte. Überraschend fand sie an einem kleinen Feuer den Dolmetscher sitzen, den Sohn der Geisterfrau. Er sah zu ihr hin, als sie aus der Höhle trat, und nickte ihr zu, sodass sie zu ihm kam und sich mit höflichem Abstand neben ihn setzte.

Der junge Mann war ein seltsamer Typ, dachte die Frau sich beklommen, als sie gemeinsam schweigend am Feuer saßen. Er sprach nie, nur mit seiner Mutter auf der alten Sprache oder mit manchen seiner Stammesbrüder. Aber dennoch war er kein unfreundlicher Mensch, er half und arbeitete genauso viel wie alle anderen auch. Sie erschrak sich beinahe zu Tode, als er sie mit einem Mal ansprach, als wäre es nicht das erste, sondern das tausendste Mal, dass er das tat:

„Ihr könnt nicht schlafen, habe ich recht? Ich beobachte Euch mitunter, wie Ihr sitzt und mit offenen Augen träumt… diese Träume sind ziemlich gruselig, oder?“

Nalani fuhr herum und war so baff über seine akzentlose, perfekt gesprochene Hochsprache, dass sie kurz glaubte, sich verhört zu haben.

„Du – du sprichst ja unsere Sprache! Und das einwandfrei, willst du mich veräppeln?!“

„Meine Mutter hat doch gesagt, ich sei ein guter Lerner. Ich habe gelernt und jetzt kann ich sie. Allerdings fehlen mir noch viele Worte.“ Die Frau schnaubte. Da sprach er Jahrelang kein einziges Wort und plötzlich quasselte er wie nichts Gutes! Aber es freute sie, dass er so begabt war, und sie lächelte wohlwollend, ehe sie sich seufzend wieder zum Feuer wandte.

„Ja, es ist wahr, was du sagst. Ich träume, ohne zu schlafen, und es sind keine guten Träume. Ich sehe Schatten und Tod.“

„Ich sehe auch Träume, wenn ich meine Augen schließe,“ erwiderte er. „Meine Mutter kommt aus einer Schamanenfamilie, mein Vater war ein Mann des Stammes. Ich bin zwar nur ein halber Schamane, aber die Träume sind ungewöhnlich stark in mir, sagt meine Mutter oft.“

„Dann hast du gesehen, was sie sieht? Dass du einmal… den Stamm führen wirst?“

„Das auch. Ich habe nur keine Ahnung, wieso ich. Der beste Jäger des Stammes wird neuer Häuptling, und ich bin kein guter Jäger. Böses kommt aus der Ferne, habe ich recht? Was ist es, das kommen wird…?“

„Vater Himmels Zorn…“ murmelte die Frau abwesend und musterte den jungen Mann lange. Sie hatte auch von ihm oft geträumt, ohne dass er irgendetwas Wichtiges getan hätte darin, aber sie hatte ihn deutlich gesehen. Und in seiner Hand war Kadhúrem gewesen.

Sie sah auf ihren Gürtel und zog ihren Dolch, um ihn ebenfalls anzusehen.

„Kennst du das?“ fragte sie ihn überflüssig – woher sollte er es kennen? Aber einen Versuch war es doch wert… und abermals überraschte er sie.

„Das ist das Schattenschwert Kadhúrem. Es ist das Herzstück Eures Clans, der Kandayas, nicht wahr?“ Sie verengte ihre Augen.

„Woher kennst du diese Namen?“

„Aus meinen Träumen. Ich habe von Euch geträumt, bevor Ihr kamt. Und von diesem Schwert. Es ist wertvoll und sehr mächtig, eine gefährliche Waffe… aber nur, solange jemand mit dem Geist der Kandayas sie trägt.“

„Das ist richtig. Ich… habe auch von dir geträumt und weiß noch nicht genau… was es bedeuten soll. In meinem Traum hattest du meinen Dolch in der Hand.“ Der Mann zog eine Braue hoch, drehte dann den Kopf weg und schwieg sehr lange. Als er seine Stimme wieder erhob, schien er plötzlich verunsichert.

„Ich habe eine Fähigkeit geerbt, die in der Familie meiner Großmutter, der Mutter meiner Mutter, verbreitet war. Sie bedient sich so genannter Medien, das heißt, sie funktioniert mit Dingen. Und zwar mit Dingen toter Leute.“ Nalani zog jetzt auch eine Braue hoch, ehe er fortfuhr. „Der Vater meiner Mutter zum Beispiel stammte aus einer kleinen Familie, die mit Schwertern arbeitete; sie konnten die Klingen der Schwerter mit einem einfachen Zauber blitzschnell zum Glühen bringen. Als meine Großeltern und meine Mutter hierher kamen und ihr Vater gestorben war, hoben sie sein spezielles Schwert auf. Und wenn ich es in die Hand nehme, kann ich damit das, was mein Großvater konnte, obwohl ich nicht seine Fähigkeiten geerbt habe.“

„Das heißt, du kannst… Techniken von toten Leuten benutzen, indem du ihre speziellen Waffen benutzt? Sofern sie Medien besitzen, heißt das… das heißt, wenn ich dir Kadhúrem gebe… kannst du damit Schattenzauber machen, wenn ich tot bin?“

„Genau so. Spezielle Magiemedien wie Euer Schattenschwert oder das glühende Schwert meines Großvaters sind ein Teil desjenigen, dem sie gehörten. Gewisser Maßen ein Teil, in dem Euer Geist steckt. Mit meiner ererbten Fähigkeit kann ich durch diese Medien mit dem Geist der Person verschmelzen, der es mal gehörte, sozusagen. Wenn ich das Schwert meines Großvaters benutze, kann ich mich mit seinem Geist vereinen. Es ist dann, als würde er die Technik ausführen, wenn das Schwert glüht, weil sein Geist mit meinem Körper verschmilzt…“ Die Frau weitete die Augen.

„Das ist… eine gefährliche Technik…“ Wenn sie daran dachte, was Kelar getan hätte mit einer solchen Fähigkeit, wurde ihr übel; die Techniken von Leuten benutzen, die tot waren… das hätte ihm sicher gefallen. Sie senkte den Kopf und sah wieder auf Kadhúrem. Was der junge Mann ihr gesagt hatte, machte Sinn und fügte sich in alles, was sie in ihren Träumen sah und fürchtete, wie ein fehlendes, letztes Puzzleteil.

„Ich verstehe,“ machte sie ernst. „Danke. Du hast mir indirekt einige Fragen beantwortet, die in meinem Kopf waren. Vielleicht kann ich jetzt besser schlafen, weil ich eine ungefähre Vorstellung habe von dem… was auf mich zukommt und was meine Pflicht ist.“ Er sah sie an, als sie sich langsam erhob, dabei den Dolch wieder einsteckend. Ehe sie sich auf den Weg zurück in die Höhle machte, erhob sie noch einmal ihre Stimme. „Noch eine Frage habe ich allerdings. Diese Technik… sie funktioniert nur, wenn der ursprüngliche Träger des Mediums tot ist, oder?“

Ihr Gesprächspartner nickte stumm und die Frau tat es ihm gleich. Und obwohl der Winter noch nicht richtig da war, fröstelte sie plötzlich, als der Schicksalswind sie streifte und ihr die Erkenntnis in die Seele blies, dass nichts auf ewig war.

Innerhalb der sterblichen Welt gab es keine Unendlichkeit.
 


 

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yay... xD Nichts passiert. Und einige nicht übereinstimmenden Dinge mit den Hauptbüchern xD was Puran und Ruja angeht, meine ich^^' erstens hieß es früher, er hätte sie nie geküsst, aber ich wollte dass er sie verdammt nochmal ein einziges mal küsst ey uû und außerdme hat er die Story mit dass sie seine Frau werden sollte an sich erst am Ende von Buch1 gehört, aber das ist so logischer alta xD

Wir haben jetzt Frühherbst 979^^.

Feuer und Wasser

Der zweite Winter, den sie in Kadoh verbrachten, war lang und hart. Eine schier unendliche Kette von Stürmen und Gewittern zog sich über die Iketh-Berge hinweg und verurteilte die Menschen dazu, kaum einen Fuß vor die Höhle zu setzen; noch weniger als in den Wintern davor. Und die Höhle war stickig von den vielen Menschen und den Kochfeuern der Familien, aber immerhin warm.

Mit dem düsteren Grollen des Himmels, das durch die Wände der Berge dröhnte, und dem immerzu anhaltenden Zittern der Erde häuften sich die dunklen Vorahnungen immer mehr.

Schatten huschten über Purans Gesicht und er zuckte mit den Lidern, während er versuchte, die kichernden Geister der Vergangenheit und der Zukunft einzufangen und so vielleicht herauszufinden, was sie ihm sagen wollten.

Warum träumte er immer wieder von dem komischen Jungen namens Ulan, der wenige Tage bei ihnen im Schloss gewesen war? Und warum wurde die Furcht, die er beim Anblick er rätselhaften Knochenspiralen verspürte, mit jedem Mal, das er sie sah, noch größer und drückender?

„Redet, Himmelsgeister!“, befahl er den kichernden und zischenden Stimmen in seinem Kopf erbost, „Ich befehle euch, mit mir zu sprechen! Was geschieht mit uns?! Wovor… fürchte ich mich da…?“

Doch die Stimmen zischten in einer Sprache, die er nicht verstehen konnte, und gaben ihm keine befriedigende Antwort. Und ehe er sich wütend von den informationslosen Träumen losriss, fuhr ihm das Bild des unbekannten Mannes erneut vor Augen, der ein Gesicht hatte wie sein Großvater… und dieselben, abartigen Eckzähne, die ein Zeichen des Todes und der tödlichen Macht Kelars gewesen waren…

„Willst du immer noch… davon rennen, Puran Lyra?“
 

„Ach!“, schimpfte der Mann empört und setzte sich ruckartig auf seinem Schlaflager auf. „Diese elenden Toren! Wartet, ich werde es euch zeigen und eines Tages werdet ihr vor meinen Füßen um Gnade winseln wie räudige Köter!“ So erboste er sich und schlug grimmig Vogelstimmes Hand weg, die nach seiner Brust geangelt hatte, und die junge Frau fuhr jetzt erschrocken zurück, als er sich vom Lager rollte und aufstand. „Entschuldige, aber lass mich in Frieden!“, brummte er die Frau an, und sie schien zumindest den vagen Sinn der Worte zu verstehen, denn sie machte keine Anstalten, ihn aufzuhalten oder zurück zu holen, als er sich einige Fuß von seiner Schlafstätte entfernt gegen die Felswand lehnte, sich zu Boden sinken ließ und sich genervt und frustriert die Haare raufte.

Da war die Furcht wieder, und sie pochte schmerzend in seinem Kopf, als er sich an der Wand zusammenkauerte und nicht wagte, sich weiter zu bewegen.

„Das… ist das Ende der Welt.“ , flüsterten die Geister, im selben Moment erschütterte ein lauter Donner von draußen die gesamte Höhle. Puran fuhr hoch; einige waren aufgewacht und sahen sich erschrocken um, aber die meisten waren vom dauerhaften Grollen den ganzen Winter über so abgehärtet, dass sie seelenruhig weiterschliefen. Er fragte sich, ob es schon Tag war.

In der Höhle war es immerzu dämmrig.

Als er sein Gesicht etwas drehte, fiel sein Blick auf Leyya. Sie sah ihn aus ihren riesigen Augen an, die wie die eines unschuldigen Rehs wirkten, und in ihnen war eine ähnliche Furcht wie die, die er verspürte.

„Leyya?“, sprach er sie vorsichtig an, und das Mädchen zuckte zusammen und kuschelte sich fest in ihre Decke.

„Ich fürchte mich vor dem Donner…“, gestand sie leise, „Kannst du… nicht schlafen?“ Sie fröstelte; sie wunderte sich, dass er gar nicht fror, so nur in Hosen, aber offenbar war das nicht der Fall. Er seufzte und rutschte zu ihr herüber.

„Komm zu mir.“, bot er ihr murmelnd an, „Ich… passe auf dich auf, versprochen.“ Ihre hübschen Augen weiteten sich vor Verblüffung. Aber dann fackelte sie nicht lange, rappelte sich auf und kuschelte sich dicht neben ihn, worauf er seufzend einen Arm um sie legte und sie an sich drückte. Sie zitterte ebenso wie die Haut von Mutter Erde es oft tat. Aber als sie in seinen Arme war, hörte sie zu zittern auf und drehte ihr Gesicht vor Freude und Stolz strahlend zu seinem hinauf.

„Es ist ewig her, dass wir zuletzt so gesessen haben.“, sagte sie glücklich und errötete, den Kopf senkend, „I-ich… habe das vermisst…“ Er spürte, dass sie eine Hand auf sein Bein legte, und musste darüber leicht lächeln. Es war, wie es schon einmal geschehen war; sie war nur bei ihm, aber durch ihre Anwesenheit verjagte sie die Beklemmung in seinem Geist. Er fühlte sich mit einem Mal nicht mehr so ausgelaugt und frustriert wie zuvor; sie war eine gute Heilerin. Eine Heilerin des Geistes, hatte Puran manchmal das Gefühl. Zumindest bei ihm funktionierte das, er hatte keine Ahnung, ob sie auf alle anderen auch so beruhigend wirkte.

„Ja…“, machte er gedehnt, „Ich hab das auch vermisst, um ehrlich zu sein. Ich habe irgendwie im Moment die Schnauze voll von den Weibern…“ Er wusste ja, dass Vogelstimme ihn nicht verstand, so konnte er das ruhig aussprechen. Er hatte zwar keine Abneigung gegen sein Geschenk, aber er konnte immer noch nichts mit ihr anfangen außer das, was Männer nun einmal mit Frauen taten; das war eine auf Dauer unglaublich einfältige Beziehung und irgendwie war das nicht sein Ding, hatte er in den vergangenen Monden bemerkt. Er wollte keine Matratze, sondern eine Frau…

„Aber sie sind hübsch…“, murmelte Leyya leise und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Er sah auf sie herunter.

„Was? Wer?“

„Vogelstimme… und Karanas Schwester und Rehkleid… und Ruja.“ Jetzt zuckte er.

„Was, Ruja? Wieso Ruja, die war aber nie in meinem Bett, also hör mal…“

„Nicht in Kadoh!“, protestierte Leyya schnippisch, „Aber früher einmal war sie das, habe ich nicht recht? Du… du bist in sie verliebt!“ Er schob sie sanft von sich und musterte sie skeptisch.

„Woher hast du das denn bitte?“

„Ich…“ Sie errötete abermals, „Ich… sehe es dir an, wenn du sie ansiehst…“ Er musste lachen.

„Ich bin nicht in Ruja verliebt!“, versetzte er gedämpft und hoffte, seine Eltern würden nicht aufwachen. „Als ich bei ihr in Tuhuli war ein Jahr lang, hat sie für mich das Blutritual gemacht. Das heißt, sie hat mich zum Mann gemacht. Aber das war das einzige, was ich je mit ihr geteilt habe, und das ist ein heiliges Ritual und hat im eigentlichen Sinne gar nichts mit Sex zu tun.“

„Aber du warst damals in sie verliebt!“, protestierte die Kleine und verschränkte schmollend die Arme.

„Himmel – na ja, damals… vielleicht ein bisschen. Ich war noch ein dämlicher Junge, das hat doch nichts mit dem zu tun, was ich heute – wieso rechtfertige ich mich eigentlich vor dir, du bist doch nicht meine Frau!“ Konnte ihr doch egal sein, was er mit Ruja machte oder nicht…

Er dachte beschämt an den einzigen Kuss, den er mit ihr geteilt hatte vor einigen Monden. Irgendwie fühlte er sich jetzt schuldig; er hätte sie niemals küssen dürfen, aber es war einfach so über ihn gekommen… sich räuspernd senkte er den Kopf, sodass ihm die zerzausten Haare ins Gesicht hingen. Ruja hatte seinen Kuss erwidert. Hatte sie damit nicht ihren Mann betrogen? Ach, was hängte er es ihr an, er hatte sie doch zuerst geküsst…

Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sich dafür zu vierteilen.

„Es ist doch nicht schlimm, ich verstehe das doch!“, warf die Heilerin neben ihm ein und er sah sie perplex an. In der Dunkelheit der Höhle erkannte er es nicht, aber er hatte irgendwie das Gefühl, als würde ihr Gesicht jetzt rot werden, als sie bedrückt zur Seite sah. „Sie ist wunderschön und sie hat richtige Brüste. Jeder Mann sollte in sie verliebt sein, es würde mich kaum wundern.“ Puran sagte nichts. Warum erzählte sie ihm das und was sollte dieser melancholische Unterton?!

„Ähm.“, wollte er ansetzen, aber Leyya kam ihm zuvor, indem sie sich hinkniete und sich plötzlich selbst an die Brust fasste.

„Findest du, ich habe auch schon Brüste? Schau, wenigstens ein bisschen! Ich finde es sehr ungerecht, ich bin so gut wie erwachsen und habe trotzdem keine Brüste!“ Sie versuchte, irgendwie ihre Brustansätze zu betonen, und Puran weitete verwirrt die Augen und starrte sie an. Jetzt wurde er ebenfalls rot und hustete leise.

„Ähm – na ja, das… wächst bestimmt noch!“ Sie sah ihn aufgelöst an und ihm kam der Gedanke, dass das ziemlich unsensibel gewesen war. „Leyya, du bist noch keine Frau. Es ist nicht wichtig!“

„Doch, für mich ist es das, ich bin fast eine Frau!“, jammerte sie, „Die Mädchen im Stamm, die jünger sind als ich, haben mehr Brüste als ich! Ich hasse diesen blöden Mädchenkörper, ich will solche schönen Brüste haben wie Ruja und Vogelstimme und Nalani und alle anderen!“ Jetzt verdrehte er die Augen. Warum redete er mitten in der Nacht mit ihr über Brüste?

„Leyya, Brüste sind nicht das Wichtigste an einer Frau!“, belehrte er sie mürrisch. „Absolut überhaupt nicht das Wichtigste. Verstanden?“ Sie verstummte und eine Weile herrschte Stille. Dann flüsterte sie zaghaft:

„N-nicht? Aber… ich dachte, alle Männer mögen große Brüste…“

„Nein, ich mag sie nicht. Überhaupt nicht, um ehrlich zu sein.“ Die Heilerin erstarrte kurz. Er mochte keine Brüste? Hieß das, er fand eine Frau ohne Brüste schöner als eine mit? Puran erläuterte sich kleinlaut: „Ähm, na ja, große Brüste sind so unhandlich, weißt du?“ Dabei hielt er ihr seine Hände hin. „Meine Hände sind nicht sonderlich groß, da passt nicht so viel rein. Ich finde kleine Brüste viel hübscher… aber trotzdem finde ich sie nicht wichtig! Eine Frau besteht doch nicht nur aus Brüsten, Himmel bewahre…“ Das Mädchen grabschte sich immer noch verunsichert selbst an den doch sehr kleinen Brüstchen herum und er drehte jetzt verlegen das Gesicht weg. Was machte sie da, wieso fummelte sie sich vor seinen Augen selbst an? Unwillkürlich linste er sie abermals an, während sie schwieg.

Verdammt… schoss es ihm plötzlich durch den Kopf, Unrecht hat sie nicht… sie ist tatsächlich beinahe eine Frau…

Wie lange war es her, dass er das kleine Mädchen Leyya aus Makar mitgenommen hatte? Seitdem waren Jahre vergangen… ihm war gar nicht aufgefallen, wie groß und weiblich sie geworden war in der Zeit. Jetzt sah er sie an und stellte zum ersten Mal fest, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie wirklich eine richtige Frau wäre; ihr Körper hatte sich verändert… was dachte er da?

Das fast erwachsene Heilermädchen sah ihn wieder an und fragte:

„Du, Puran…? Was… ist denn für dich das Wichtigste an einer Frau?“

Er seufzte.

„Für mich? Na, dass sie einen selbstständig denkenden Geist hat und nicht auf alles Jawohl sagt, was ihr Mann so von sich gibt! Ich meine, wenn ich eine Frau habe, bin ich natürlich verantwortlich dafür, dass es ihr gut geht und muss sie beschützen, wenn es drauf ankommt, natürlich sollte sie bis zu einem gewissen Grad auf mich hören, aber sie sollte auch ihre eigene Meinung haben und fähig sein, Nein zu sagen, wenn sie für bescheuert hält, was ich sage! Ich meine, ich bin nicht unfehlbar, niemand ist das. Mich kotzt das irgendwie an, wenn eine Frau ihrem Mann gegenüber so absolut unterwürfig ist und alles tun würde, was er sagt. Wenn er sagt ‚Spring von der Klippe!’ , tut sie es vermutlich noch, oder wie? Das ist doch unwürdig! Mutter Erde würde Vater Himmel da auch den Vogel zeigen!“ Er ereiferte sich richtig, während er sprach, und das Mädchen sah ihn fasziniert an – und einmal mehr glaubte sie, dass er der wunderbarste, weiseste und tollste Mann der Welt sein musste. Während alle Männer nur an Brüste dachten, war er so philosophisch… er war wirklich etwas besonderes, und sie liebte ihn so sehr in diesem Moment, dass sie plötzlich weinen wollte.

„Das… klingt irgendwie vernünftig…“, meinte sie leise und er hörte zu reden auf und sah sie skeptisch an. Irgendwie war sie seltsam heute Nacht.

„Wenn ich eine Frau heirate, tue ich das, weil ich sie als Mensch liebe, weil ich ihre Art mag, und nicht wegen ihrer Brüste oder was weiß ich.“, addierte er noch, „So oberflächlich bin ich nicht…“

„Denkst du, ich habe einen eigenständigen Geist, Puran?“, unterbrach sie ihn und er drehte sich ruckartig zu ihr herum und starrte sie an.

„Was denn, du? Natürlich hast du den, immerhin kannst du ziemlich beleidigt sein, wie ich bemerkt habe-…“ Er stockte und sah, dass sie verwirrt die Brauen hochzog – mit einem Mal dämmerte es ihm. Wieso bezog sie alles, was er über Frauen sagte, auf sich selbst? Er erzählte ihr ahnungslos, was er mochte, und sie fragte ihn dann, ob er fand, dass das auf sie zutraf… „Nein… Himmel!“, keuchte er erkennend und fasste sich an den Kopf, „Meine Güte, jetzt weiß ich, warum du die ganze Zeit sauer warst, du bist eifersüchtig…“ Jetzt machte plötzlich alles Sinn…

Leyya schnappte nach Luft und reagierte heftiger als er angenommen hatte.

„Ich bin nicht eifersüchtig!“, rief sie energisch und ignorierte die Tatsache, dass sie alle wecken könnte. „Das… das ist nicht wahr! Ich war sauer, weil du… du… dich so aufgespielt hast mit deinen Weibern da, genau!“

„Aufgespielt?!“, empörte er sich, „Wann bitte soll ich mich aufgespielt haben?!“

„Ich konnte nie schlafen, wenn du dich da mit deinen Frauen vergnügt hast, ich habe mich über die Geräusche geärgert und war deshalb sauer!“, schnappte sie, „Das hat nichts mit dir zu tun, also, doch, aber nicht wie du denkst! Pah, eifersüchtig, ich bin doch nicht eifersüchtig, i-ich meine, warum sollte ich? So großartig bist du nun auch wieder nicht, als wäre jede Frau sofort eifersüchtig, wenn-…!“ Sie redete und redete und er verdrehte seine Augen; das musste aufhören, Himmel! So erfasste er etwas unsanft ihr Kinn, zog es hoch und stoppte ihren empörten Redeschwall, indem er sie auf die Lippen küsste.
 

Sie erstarrte augenblicklich. Eine Weile brauchte sie, um zu registrieren, was gerade geschah. Er… küsste sie. Richtig auf den Mund, so, wie ein Mann eine Frau küsste, nicht wie ein Küsschen unter Verwandten oder guten Freunden. Sie war so perplex über das, was er tat, dass sie sich nicht rühren konnte ob der gigantischen Welle an Gefühlen, die jetzt in ihr empor stieg wie eine Flut. Seine Lippen waren warm und ganz weich, als er sie zärtlich und doch so bestimmend gegen ihre presste, als er sie leicht dagegen bewegte und sie dazu brachte, es ihm gleichzutun, als sie schüchtern und überwältigt von der Euphorie in ihrem Inneren seinen innigen Kuss erwiderte. Als er sich von ihr löste, schlug sie die Augen wieder auf und errötete über und über. In sich spürte sie eine wohlige Wärme, ein schönes, kribbelndes Gefühl; und sie war sicher, dass das eben der wunderschönste Moment ihres ganzen Lebens gewesen war.

Den Puran mit einem einfachen Satz zunichte machte, ohne es zu beabsichtigen.

„Das wolltest du doch?“, seufzte er, „Entschuldige, Leyya… ich hätte das nicht tun sollen.“

Sie blinzelte ein paar Mal, ehe sie seine Worte verstand.

„Was?“, japste sie, „Dann hast du das nur getan, damit ich still bin? Nicht, weil…“ Sie senkte beschämt den Kopf. „Nicht, weil du… mich… begehrst?“ Das war ernüchternd. Oder enttäuschend. Nein, beides…

Er erbleichte.

Begehren? Sie begehren? Sie hatte noch kein Blutritual hinter sich, er durfte sie gar nicht begehren! Allein der Gedanke ließ ihn erröten und er keuchte, als er sie betrachtete; das Mädchen, das kein kleines Mädchen mehr war, sondern fast eine Frau. Und er fühlte noch immer die Wärme ihrer Lippen auf seinen, die Hingabe und die bedingungslose Liebe, die sie ihm geschenkt hatte in diesem kurzen Moment; die Gedanken erweckten in ihm eine ungewohnte Flamme, ein Verlangen, das sich grundlegend von dem unterschied, was er früher für Ruja empfunden hatte oder für Cholena. Er konnte es nicht beschreiben, aber es wurde heftiger, je länger er sie ansah, und er spürte das Bedürfnis, sie erneut zu küssen, immer dringender werden.

Entsetzt über seine Gedanken fuhr er hoch und schnappte nach Luft.

Bist du wahnsinnig?! Sie ist noch keine Frau, auch wenn dazu nicht viel fehlt! Wie kannst du so schamlose Gedanken haben?!

„Ich… v-vergiss das, Leyya!“ zischte er und sie weitete entsetzt die Augen, als er sich erhob und plötzlich aus irgendeinem Grund sehr angespannt und grimmig zu sein schien.

„Habe ich etwas falsches gesagt?“, fragte sie unglücklich, „Ich… ich meine… d-das war der wunderschönste Augenblick in meinem ganzen Leben, als du mich eben geküsst hast!“

„Sag sowas nicht.“, antwortete er kalt und kehrte ihr den Rücken, „Und hör besser auf, dich so an mich zu klammern, ich bin… nicht der Mann, den du begehren solltest, Leyya.“ Dann ließ er sie alleine und kehrte zurück auf sein Schlaflager, auch wenn sein Geist sich sträubte; zu gerne wäre er bei ihr geblieben und hätte sie umarmt; oder noch mal geküsst… aber das konnte er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Es war besser, wenn sie sich von ihm löste, bevor er in ihr zu große Hoffnungen schürte.
 

Leyya verstand nichts. In den letzten Tagen des Winters tat Puran konsequent, als wäre sie Luft, was sie unglücklicher machte als jemals zuvor. Warum küsste er sie und machte sie für einen kurzen Moment zum glücklichsten Menschen der ganzen Welt, um sie dann fallen zu lassen…? Sie wollte mit ihm sprechen; sie wollte zu ihm gehen, ihn ohrfeigen und ihn anschreien, was er sich erlaubte, so mit ihr umzugehen… aber sie konnte es nicht. Sie liebte ihn doch von ganzem Herzen… der Gedanke, ihn anzuschreien, tat ihr weh.

Dann würde er sie nur noch weniger mögen…

Sie würde sich resigniert damit abfinden müssen, dass Puran sie nie mit dem Blick ansehen würde, den sie sich wünschte… er würde sie nie wie eine Frau ansehen und sie begehren. Sie war auch nicht besonders begehrenswert mit ihrem scheußlichen, noch immer zu kindlichen Körper. Sie verstand, dass er sie nicht wollte… aber es machte sie traurig.

Sie hatte keinen Schimmer, was Puran wirklich dachte… und warum er versuchte, Abstand von ihr zu halten.
 

Das Feuer des Himmels kehrte mit aller Macht zurück, als der Winter vorüber war; an dem Tag, an dem die Zuyyaner über den Grat kamen.

Morgens erschütterte ein lautes, dröhnendes Grollen die Iketh-Berge und riss den Stamm damit aus dem Schlaf.

„Was war das?“, fragte Tabari entsetzt, der aufsprang, als die Erde unter ihren Füßen zu beben begann, als wollte Mutter Erde ihren Rachen auftun und sie alle verschlingen. Die Menschen des Stammes fingen an zu schreien und wild durcheinander zu rufen, Kinder weinten vor Schreck über das mächtige Beben und das Donnern aus dem Himmel, das alle vorigen des gesamten Winters um Längen in seiner Lautstärke schlug.

Nalani kam ebenfalls auf die Beine und sah keuchend hinauf zur Höhlendecke, an der bereits kleine Felsbrocken zu wackeln begannen.

„Das Feuer von Himmel und Erde, vor dem wir uns alle gefürchtet haben…“, japste sie tonlos und erntete fassungslose Blicke von Tabari, Puran und auch Meoran, der mit seiner Familie herüber geeilt war. Die Geisterjägerin drehte den Kopf zum Höhleneingang. „Der Tag ist gekommen.“

„LAUFT!“, schrie Puran und schnappte erbleichend nach Luft, ehe er Vogelstimme packte und sie am Arm hinter sich her zerrte, „Der Berg, er wird zusammenfallen unter Vater Himmels Zorn!“

„Sag es dem Volk, weise Frau!“, herrschte Nalani die alte Frau an, die jegliche Gesichtsfarbe verloren hatte und zu ihrem Sohn sah, der nur mit offenem Mund hinauf starrte und nichts sagte. „Sag es ihnen, jetzt! Wir müssen hier raus und alle fliehen!“

Als die Geisterfrau es übersetze, brach Panik aus.
 

Als die Menschen aus der Höhle stürzten und Hals über Kopf planlos irgendwo hinrennen wollten, schlug ihnen eine gewaltige Feuerwand entgegen. Die vordersten verbrannten jämmerlich im Feuer der Angreifer, die von oben herab kamen, schwer bewaffnet und in ihren eigentümlichen Rüstungen.

„W-was für eine Ausgeburt von Dämonen ist das…?!“, japste der Dolmetscher, der zusammen mit seiner Mutter und dem Häuptling neben den Gästen aus der Höhle gestürzt war, „Das ist doch kein tharranisches Feuer…?!“

„Die Zuyyaner!“, keuchte Ruja und drückte die vor Angst schreiende kleine Saidah an sich, die sie auf den Armen trug. „Was sollen wir machen, Tabari?! Wir kommen hier nicht raus!“

„Hol sie da runter, Vater!“, brüllte Puran und fuhr wutentbrannt herum, ehe er mit einer Hand sein Geisterschwert erscheinen ließ und es aus dem Himmel krachte, „Hol sie aus dem Himmel, diese lästigen Schmeißfliegen! Sollen sie kommen, sie werden ihr blaues Wunder erleben!“

„Die sind bis hierher gekommen, um uns zu jagen…?“, keuchte Keisha erbleichend und wich zurück. Tabari machte einen Schritt nach vorn und mit einer bloßen Handbewegung kontrollierte er die Luftströmungen über ihnen, sodass die fliegenden Krieger schnell gezwungen waren, zu landen. Zwei landeten innerhalb des Ringes aus Feuer, den sie selbst um das Plateau gezogen hatten; nach einem grellen Blitzen und einem Hieb mit dem Geisterschwert waren beide Geschichte, ehe sie eine Chance gehabt hätten, sich zu wehren.

Die Erde bebte und warf die Menschen beinahe von den Beinen als mit einem lauten Tosen von unten das Feuer verschwand und sich die Flammen in staubige Schatten verwandelten. Puran ließ seine Waffe sinken und drehte den Kopf über die Schulter, um zu seiner Mutter zu sehen, die mit ausgestreckten Armen das Schattenschwert Kadhúrem nach vorn hielt und damit die Flammen von Finsternis verschlucken ließ. Tabari weitete die Augen, als er nach vorn sah, sobald der Rauch der gelöschten Flammen sich verzogen hatte; und er erstarrte ebenso wie der gesamte Stamm hinter ihm.

Hinter der Mauer aus Feuer wartete eine ganze Armada aus Zuyyanern auf sie. Puran machte heftig nach Luft schnappend einen Schritt rückwärts. Instinktiv suchte er nach dem blonden General vom letzten Mal… aber er war nirgends zu sehen. Vielleicht war er bereits gefallen…

Der vorderste der Krieger erhob seine Waffe, worauf die anderen sich bereit zum Angriff machten.

„Hört mir jetzt genau zu.“, fing Tabari leise an und wendete sich direkt an die alte Frau, die ihn ja als einzige zu verstehen schien. „Das sind Gegner, gegen die ihr nichts ausrichten könnt mit Speeren. Schnappt eure Frauen und Kinder und rennt, so schnell ihr könnt. Die sind nicht hinter euch her… die wollen uns, die wir die einzigen wirklichen Gegner der Zuyyaner waren. Wir können versuchen, sie so lange wie möglich aufzuhalten, aber das sind hunderte… das sind Massen, denen vielleicht selbst wir nicht gewachsen sind.“ Er erntete jetzt auch skeptische Blicke von Nalani und Meoran, als er langsam die Hände wieder hob und den Wind auffahren ließ, sodass die Rüstungen der Krieger klapperten und die langen Haare der Frauen empor wirbelten. „Also, rennt! JETZT!“ Im selben Moment, in dem Tabari schrie, griffen die Krieger sie an.
 

Ein mächtiger Flammenschlag stieß gegen Tabaris Windzauber, den er nach vorne schleuderte, die Arme herab reißend und damit den ganzen Zorn des Himmels auf die Meute werfend, die keine Ruhe geben würde, bis entweder ihre Gegner oder sie selbst erledigt waren. Mit einem ohrenbetäubenden Donnern krachten die beiden Zauber aufeinander und verursachten eine Explosion, die sowohl Tabari als auch den zuyyanischen Krieger von den Beinen riss. Gleichzeitig begannen die anderen Soldaten, Feuer und Eiszapfen auf das Plateau regnen zu lassen, und die Menschen versuchten schreiend auszuweichen oder sich in den Berg zurückzuziehen.

„Nicht in den Berg!“, schrie Ruja und hastete zur Seite, als ein heran fliegender Feuerball sie um ein Haar getroffen hätte, „Im Berg ist es nicht mehr sicher wegen des Erdbebens!“ Doch die Bergmenschen verstanden sie nicht und rannten trotz der Warnungen auch von Seiten der alten Geisterfrau hinein in der Hoffnung, sich so schützen zu können, blind und taub vor Panik. Ruja fuhr herum, als ihre Schwiegermutter sie keuchend zur Seite schubste und sie abermals einem Feuerball ausweichen konnte.

„Ruja!“, schrie die Heilerin, „Schnell, deine Barriere! Gib mir Saidah, rasch! Ohne die Barriere sind wir alle verloren! Rasch, kommt!“ Die Hälfte der Menschen, die in Reichweite waren, versammelte sich um die Frauen und die heulende Saidah, die jetzt auf den Armen ihrer Großmutter hing und nach ihrer Mutter schrie. Ruja breitete die Arme aus und bildete rasch die Barriere um sie alle, die den Feuerregen abfing und sie alle schützte. Allein Tabari, Puran, Meoran und Nalani blieben außerhalb der Lichtkugel, um die Feinde mit Zaubern zu zerschlagen. In dem Moment, in dem Nalani ihr Schattenschwert in den Himmel riss und die Wolken sich mit einem lauten Donnern verdunkelten, gab der Heerführer ein Zeichen, auf das hin die Männer hinter ihm ihre gigantisch großen Feuerzauber genau auf die große Barrierekugel und Ruja zu zu halten schienen. Meoran keuchte und riss die Augen auf, als Ruja in der Blase erstarrte.

„NICHT!“, schrie er noch vergeblich, da war es schon zu spät – aber die gewaltigen Feuerkugeln trafen gar nicht Ruja oder die Blase, sondern schlugen mit tosendem Donnern in den Berg direkt hinter ihnen ein.

Nalani riss Augen und Mund auf, als die ganze Welt von dem Tosen zu erbeben schien. Und der Berg bröckelte nach dem mächtigen Einschlag der Magie, bis vor den Augen aller der gesamte Oberteil des Berges, der ihnen Jahrelang als Behausung gedient hatte, abbrach und geradewegs auf sie zu stürzte.

„Verdammt – der Felsen wird uns alle zermalmen! RENNT!“
 

Die Barriere würde einen Steinschlag diesen Ausmaßes niemals überleben, ebenso wenig die Menschen darunter, so löste Ruja den Schild wieder auf und sie rannten schreiend um ihr Leben, als schon die ersten Brocken mit donnerndem Krachen auf die Erde fielen, die Menschen durch den Aufprall hoch schleuderten und von den Beinen warfen. Den Moment des Chaos’ nutzten die Zuyyaner, um sie zu Fuß anzugreifen. Der Befehlshaber brüllte auf zuyyanisch Befehle an die Armee, die Nalani selbst ohne Sprachbegabung als Tötet sie! hätte identifizieren können. Kaum hatte sie den Blick vom Heerführer abgewandt, stürzte sich einer der Soldaten auf sie, den sie mit einem Schwung ihres Dolches in Schach halten konnte. Seine Klinge kreuzte die ihre und sie erinnerte sich dumpf an Anthurien; zuyyanische Waffen verursachten Wunden, die Keisha nicht heilen könnte. Sie mussten höllisch aufpassen, damit sie nicht zu schwer getroffen wurden. Mit einem keuchen sprang sie zurück, riss Kadhúrem herum und trennte den Kopf ihres Gegners nicht mit dem Dolch, sondern mit einem messerscharfen Wasserstrahl aus ihrer freien Hand vom Körper. Als von der anderen Seite bereits der nächste Zuyyaner kam und mit Feuer nach ihr warf, duckte sie sich rechtzeitig; im selben Moment krachte mit einem gigantischen Donnern der nächste Felsen vom Berg direkt neben ihr auf die Erde. Er zerbrach dabei in zwei Stücke und das eine erschlug den Gegner, während Nalani rückwärts taumelte und durch das Beben der zornigen Erde umgeworfen wurde.

„Die anderen!“ keuchte sie, „Wir müssen hier verschwinden, wir können sie so niemals schlagen!“ Sie spürte, wie sie am Arm gepackt und hoch gezerrt wurde; als sie schon herum fuhr, um dem Gegner den Gar aus zu machen, erkannte sie den Sohn der Geisterfrau hinter sich, der ihr hoch geholfen hatte.

„Das Plateau ist verloren!“, rief er ihr durch das Tosen und beben hindurch zu, „Ich fürchte, wir müssen fliehen, um überhaupt überleben zu können – was sind das für Leute?! Das… sind keine Menschen, sondern Bestien!“

„Jetzt ist der Tag gekommen, mein Freund, an dem deine Prophezeiung sich erfüllen wird.“, erwiderte die Geisterjägerin kalt und sah ihn eine Weile an. „Der Tag, an dem du die Führung des Stammes übernehmen wirst.“
 

Leyya schrie und stolperte zur Seite, als die Felslawine auf die Erde herab donnerte und viele der Stammesmenschen unter sich begrub. Ein Brocken verfehlte sie um Haaresbreite und sie stürzte heulend vor Panik zu Boden, als der Himmel direkt über ihr in Flammen aufging. Sie hörte das Krachen und Donnern der Felsen und der Zauber, mit denen die anderen und die Zuyyaner sich bewarfen. Wo war Puran? Wo waren die anderen? Keuchend versuchte sie sich aufzurappeln, aber ein weiteres Beben warf sie wieder zu Boden und eine Wolke aus Asche und Staub legte sich über sie.

„Puran?!“, heulte sie aufgelöst, „Keisha! Nalani!“ Doch sie hörte keine Antworten, nur Schreie des Todes, als sie sich zusammenriss und aufstand, um zu rennen. Sie musste weg – irgendwohin! Ein Schwall aus tödlichen Flammen kam auf sie zu, als sie orientierungslos umher irrte, und das Mädchen schrie vor Angst auf, unfähig, sich zu rühren. Erst, als der Feuerball unmittelbar vor ihr einschlug und die Erde zum Dröhnen brachte, machte sie einen Satz. Funken trafen ihre Beine und verbrannten ihre Haut, aber vor Schreck nahm sie den Schmerz nicht einmal wahr. An ihr rannten Menschen des Stammes vorbei, Jäger, Frauen und sogar Kinder, ohne sie zu sehen, in wilder Panik wie Tiere auseinander stiebend. Da – da erkannte sie plötzlich ein bekanntes Gesicht. „Karana!“, schrie sie hysterisch den Namen ihres Freundes, und der Junge sah zu ihr herüber und kam herbei, um sie energisch auf seiner seltsamen Sprache auf sie einredend mit sich zu zerren, quer durch das Chaos der fliehenden Menschen, irgendwo in Sicherheit. „Bin ich froh, dass du wohlauf bist!“, jammerte die Heilerin, „D-du bist verwundet am Kopf!“ Sie deutete im Rennen mit der freien Hand auf eine Platzwunde an seinem Hinterkopf, die er aber zu ignorieren schien. Er zerrte sie weiter, bis ein weiteres Donnern die beiden zusammenfahren ließ und Karana keuchend den Kopf drehte. Von der Seite stürzte sich ein gewaltig großer zuyyanischer Krieger genau auf sie zu, in seinen Händen eine Lanze. Karana schnaubte, ehe er blitzschnell seinen Speer empor riss und damit tatsächlich die viel größere und kräftigere Lanze abblocken konnte. Leyya sah fassungslos zu, wie ein noch nicht mal ausgewachsener Junge sich gegen einen riesigen Soldaten behauptete, ohne jede Furcht und mit der Pflicht in seinem Geist, das Mädchen zu beschützen, mit dem er sich angefreundet hatte im Laufe ihrer Anwesenheit. Zorn auf die Angreifer packte sie, dass sie es wagten, selbst Kinder anzugreifen, die ihnen niemals etwas getan hatten, und sie keuchte, ehe sie Karana zur Hilfe kam und mit einem einzigen, gezielten Faustschlag gegen das Bein des Kriegers dafür sorgte, dass er zusammensank und fluchend aufschrie dank des grausamen Schmerzes, den sie ihm verschafft hatte durch die Zerstörung der Muskeln. Karana hatte keine Zeit, sich über die Kraft des Heilermädchens zu wundern, während er wütend mit dem Speer nach dem Kerl stach, der sie angriff; die Waffe wurde aber von der harten Rüstung abgeblockt und der Junge erstarrte, als der Krieger trotz des zerstörten Beines noch knien mit der freien Hand Karana den Speer aus den Händen riss.

„Karana!“, kreischte Leyya entsetzt, als der Junge jetzt wehrlos vor dem Mann stand und keuchend die Augen aufriss; der Zuyyaner fuhr wutentbrannt brüllend zu Leyya herum und wollte sie mit seiner Lanze erstechen – Karana war schneller als er und stieß den gesamten Mann zu Boden, indem er sich schreiend auf ihn stürzte und wild mit bloßen Fäusten auf ihn einschlug. Der Gegner schlug mit dem Kopf gegen einen Stein, bevor er den Arm mit der Lanze noch einmal empor riss und ihn dem Jungen mit aller Wucht durch den kleinen Körper rammte.

Leyya kreischte. Karana erstarrte, noch halb auf dem Krieger hängend, während er Blut spuckte und dann die Augen ungesund verdrehte, ehe er auf der Lanze zusammensackte, die ihn komplett durchbohrt und aufgespießt hatte. Leyya schrie wie am Spieß und kriegte sich gar nicht wieder ein, sie konnte nur starren und schreien, gefesselt von dem Grauen und der Unbarmherzigkeit dieses eiskalten Mannes, der das Kind getötet hatte, ohne Rücksicht auf irgendeinen Lebensgeist dieser Welt zu nehmen. So schreiend und heulend am Boden zusammen sinkend hätte es die Heilerin beinahe selbst das Leben gekostet, weil der Mann mit der freien Faust nach ihr packte, Karana samt Lanze zu Boden schleudernd. Und er drückte ihr die schreiende Kehle zu, ohne dass sie es wirklich registrierte – bis ihn plötzlich ein Blitz von der Seite traf und der Mann in Flammen aufging. Sofort ließ er das Mädchen fallen und Leyya spürte, dass sie unsanft empor gezerrt wurde. Dann sah sie Meorans Gesicht.

„Leyya! Um Himmels Willen, bist du verletzt?! – Leyya! Sieh mich an, hör auf zu schreien, was-…?! Oh mein Himmel…“ Er sah erst jetzt Karana und den Speer, während die Kleine hemmungslos heulend und wimmernd in seine Arme sank.

„Er hat ihn einfach so umgebracht!“, schrie sie, „Einfach so, e-er hat uns einfach angegriffen und… und Karana wollte mich beschützen und… e-es ging alles so schnell, ich weiß nicht, was ich tun soll…!“

„Gar nichts tust du, laufen höchstens!“, stöhnte er erschöpft und fuhr sich über das verschwitzte und vom Feuer rußige Gesicht, ehe er sie packte und mit ihr vor einem weiteren Feuerschlag der übrigen Krieger floh. Und ihr Schreien erstarb, als sie mit ihm rannte, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen, obwohl ihr Herz vor Panik noch immer raste.

Dann kam Puran. Sie sah ihn von weitem und begann von neuem zu weinen, diesmal vor Erleichterung, dass er am Leben war. Sein rechts Bein war übelst verbrannt und auf seiner Schulter klaffte eine Schnittwunde, aber er war lebendig, als sein Lehrer und die Kleine ihn erreichten, und er heulte selbst beinahe auf vor Erleichterung.

„W-wo hast du sie gefunden?! Rasch, fort, vielleicht finden wir hinter dem Grat Schutz! Wir müssen zu den Booten und den Fluss hinunter, das ist die schnellste Lösung! W-wo sind die anderen, Meoran?!“ Meoran keuchte und stützte sich zitternd an seinen Knien ab, heftig atmend, nachdem er Leyya an Puran übergeben hatte.

„Bring sie weg!“, keuchte er, „Ich kann nicht… laufen… mein linkes Bein gehorcht mir plötzlich kaum mehr, ich weiß nicht, was passiert! Ruja ist mit Saidah und Keisha nach Westen geflohen, ich weiß… dass wir zu den Booten müssen! Nimm so viele mit, wie du kannst, ich suche deine Eltern! W-wo ist dein Mädchen?“

„Vogelstimme i-ist erschlagen worden…“, machte Puran und Leyya erbleichte. Sie war auch tot? Dass Puran sie jetzt auf seine Arme hob, brachte ihr nicht das Glücksgefühl, das sie sonst verspürte in seiner Nähe.

Jetzt ging die Welt unter. Hier gab es kein Glück.

„Geht es dir gut, Meo-… Meoran?!“, schrie der junge Mann dann panisch, als sein Lehrer vor ihm zusammenbrach und sich japsend an das äußerlich völlig unverletzte linke Bein fasste.

„Ich kann nicht, geh, rasch!“, fuhr der Ältere ihn an, „Bring Leyya weg! I-ich… kann nicht… s-sehen…“ Seine Artikulation wurde plötzlich grauenhaft schlecht, als würde er das Sprechen verlernen, und der Schüler erbleichte vor Angst. Was war denn das, das hatte aber nichts mit den Zuyyanern zu tun…

„Keisha!“, japste er, „Wo ist Keisha, verflucht! Leyya, kannst du gehen?! Rasch, ich kann nicht euch beide tragen!“ Sie heulte, als er sie von seinen Armen ließ und jetzt seinen Lehrmeister auf seinen Rücken hievte, der offenbar versuchte zu protestieren, aber gar kein richtiges Wort mehr über die Lippen brachte. „Halt durch!“, schrie Puran entsetzt, „I-ich suche Keisha, halte durch, bitte! Bitte stirb nicht, Meister! – Leyya, halt dich an meinem Hemd fest, oder dem, was davon übrig ist! Komm!“ Sie tat wie ihr geheißen, als er los rannte. Das Mädchen hatte es nicht leicht, Schritt zu halten, aber sie strengte sich an mit aller Kraft, die der Schock ihr noch ließ…
 

„Wenn ihr uns jagt, warum tötet ihr dann die Zivilisten, ihr Barbaren?!“ Tabari spuckte seinem Gegner ins Gesicht, während er mit einem Windmesser nach ihm schlug und ihn mit einer bloßen Handbewegung zurückschleuderte. Der Heerführer keuchte und war rasch wieder auf den Beinen, ehe er zum nächsten Schlag ansetzte. Seine Waffe klirrte gegen das Schwert, das Tabari gezogen hatte, und es gab ein grelles Blitzen, als beide Klingen sich trafen.

„Tötet so viele wie möglich, ist der Befehl.“, sagte der Zuyyaner und sprach dabei die Einheitssprache der drei Welten. „Aber besonders euch, die Mitglieder des Geisterjägerrates… nachdem mein Vorgänger zweimal versagt hat, euch zu vernichten, ist es… jetzt an mir.“ Vorgänger? Tabari fragte sich, ob damit der Blonde vom letzten Mal gemeint war, mit dem Puran sich tapfer herumgeschlagen hatte. „Ihr seid die Einzigen, die der Armee Kataris Kontra geboten haben… ihr seitdem Kaiser des Imperiums mehr als nur im Wege. Und ihr solltet dankbar sein, dass wir euch helfen, die Überbevölkerung auf Tharr zu bekämpfen…“

Dem Herrn der Geister platzte jetzt vor Zorn der Kragen. Er stieß ihn brüllend von sich und riss beide Arme wutentbrannt in den Himmel, worauf ein ohrenbetäubendes Donnern ertönte.

„Wie kannst du es wagen, du dreckige Made… es gut zu nennen, was ihr tut?! Ihr tötet unschuldige Menschen, die euch nie etwas getan haben… und dafür soll ich dir danken?! Danke mir besser für einen schmerzlosen Tod, Bastard… meine Frau wäre jetzt anders mit dir umgegangen.“

Der Gegner lachte höhnisch, als er sich aufrecht hinstellte und die Arme nach vorne riss, um die vernichtende Seelenkugel zwischen seinen Händen herauf zu beschwören; die stärkste und gefährlichste Waffe der Zuyyaner, mit der sie Geister von Menschen kontrollieren und unterwerfen konnten. Doch er kam nicht dazu, seine tödliche Seelenmagie anzuwenden, denn Tabari war schneller, als er aus dem Himmel gezielt einen sehr schmalen, aber mächtigen Wirbelsturm herab zog und ihn mit den Händen wie einen Bohrer auf den Mann schmetterte, der ihn ebenso in Stücke riss und nichts von ihm übrig ließ als Fleischreste, die am Boden verstreut lagen. Das Licht der Seelenkugel erlosch, als der Mann verschwunden war, und Tabari senkte stöhnend die Hände wieder, ehe er zum pechschwarzen, rußigen Himmel aufsah.

Vergib mir, Vater Himmel, für meine Grausamkeit… aber diese Leute lästern über die Lebensgeister, müssen wir sie deshalb nicht bestrafen…?

Etwas stieß gegen ihn und abrupt fuhr er herum und riss sein Schwert hoch – es war nur Nalani, die gegen ihn gestoßen war und gerade mit einer Flutwelle drei der Angreifer gegen den Grat spülte, wo sie zerschmettert wurden von den Wassermassen.

„Nalani!“, japste der Blonde, als sie zu ihm aufsah mit ernstem, aber schönem Gesicht. Er wollte sie umarmen und ihr sagen, wie froh er war, dass sie lebte, aber dafür war keine Zeit. Es donnerte immer noch und es waren noch hunderte von Zuyyanern am Leben, die versuchten, jeden zu töten, der ihnen in die Finger kam.

Bei seiner Frau war eine größere Gruppe von Überlebenden des Stammes. Unter ihnen waren die weise Frau, ihr Sohn und Rehkleid; der Häuptling war nicht zu sehen, ebenso wenig der beste Jäger, Schwarzspeer.

„Sind das alle?“, schnappte der Blonde fassungslos, und Nalani wandte sich an den Dolmetscher.

„Ab hier werden sich unsere Wege trennen, Ihr wisst, wohin ihr fliehen könnt?“ Der junge Mann nickte.

„Ja, es gibt einen befreundeten Stamm weiter im Nordwesten, wir werden dorthin fliehen. Was wird aus euch?“

„Wir fliehen nach Süden mit dem Fluss. Ab jetzt wirst du den Stamm führen… du musst stark sein und deinem Schicksal folgen.“ Dann tat sie so ziemlich das letzte, was Tabari jemals erwartet hatte.

Sie übergab dem jungen Mann ihr Kadhúrem.

„Was… was machst du da?!“, schrie er entsetzt, „Du kannst doch nicht…?! Die Waffe deines Clans-…?!“

„Schweig!“, zischte sie, „Es gibt für alles einen Grund!“ Ihre nächsten Worte galten wieder den Stammesmenschen. „Geht! Führe sie! Führe sie mit Kadhúrem, das ich dir schenke… als Andenken an uns, damit ihr uns nicht vergesst.“

„Aber… d-das kann ich nicht…?“, keuchte der Schwarzhaarige verdattert, doch die Frau blieb hartnäckig.

„Bewahre es gut auf… es ist ein Erbstück meines Clans. Mögen auch deine Kinder es eines Tages erben. Wenn es in ihren Händen auch nicht Schatten bringen wird, es wird seinen Dienst erfüllen, wenn die Zeit… gekommen ist.“

Tabari starrte sie ungläubig an über diese Tat; wenn es irgendein Dolch gewesen wäre, eine Sache. Aber Kadhúrem? Was war sie ohne Kadhúrem? Wie konnte sie ohne ihre stärkste Waffe überhaupt kämpfen?

Der Dolmetscher verneigte sich und nahm den Dolch an, ihn fest umklammernd.

„Ich danke Euch für die Ehre… Nalani vom Kandaya-Clan. Genau wie Eure Erinnerung werde ich Euer Schwert in Ehren halten.“ Die Schwarzhaarige verneigte sich auch. Hinter ihnen krachte es und die Erde zitterte.

„Rennt jetzt, rasch! Wenn wir uns trennen, werden sie hinter uns her sein. Beeilt euch! Und alles Gute!“

Das waren die letzten Worte, die sie mit den Bergmenschen wechselten. Als der Stamm unter der Führung des Dolmetschers davon rannte, liefen die beiden Geisterjäger nach Westen, in Richtung der Boote, in der Hoffnung, die anderen dort zu finden.
 

„Da sind Tabari und Nalani!“, keuchte Ruja und riss den Kopf hoch, während sie ihr vor Angst wimmerndes Kind auf den Armen hielt, das sich ängstlich gegen ihre Brust drückte. Im Schutze einiger hoher Felsen verharrten sie so lange, bis Keisha Meorans seltsames Leiden kuriert hatte, das so plötzlich gekommen war und das keiner kannte. Zum Glück hatte Puran die Heilerin und ihre Schwiegertochter samt Enkelin schnell gefunden, sodass Keisha jetzt dabei war, ihrem Sohn das Leben zu retten.

„Sieh mich an, Meoran!“, befahl sie ihm barsch, nachdem sie einen Zauber auf seine Stirn angewendet hatte, der in seinem Kopf verschwunden war, doch er konnte sie nur mit dem rechten Auge ansehen und stöhnte benommen.

„Der Himmel… grollt noch, Mutter, lauf weg!“

„Bist du denn des Wahnsinns, jetzt sieh mich an, wo ist dein linkes Auge?!“ Natürlich war es da; aber er konnte sie nicht ansehen, während sein rechtes Auge das normal tat, blickte das linke auf unnatürliche, kranke Weise nach außen.

„Ich kann nicht, ich versuche es ja…“

„Um Himmels Willen!“, hörte er dann die Stimme seines Freundes Tabari, der mit seiner Frau dazu stürzte, „Was ist dir denn geschehen?!“

„Wollt ihr eine medizinische Erklärung oder wollt ihr lieber dafür sorgen, dass uns die Zuyyaner vom Hals bleiben?“, war Keishas unverblümte Antwort, worauf der Herr der Geister wieder nach hinten blickte und mit einem lauten Schrei gerade noch einem Eiszapfen auswich, der auf ihn zugerast gekommen war.

„Verfluchter Himmel, weg hier!“

„Die Boote!“, schnappte Ruja, und während Nalani voraus rannte, schnappte Puran jetzt die aufgelöst heulende Leyya, um sie auf seine Arme zu heben und sie vor seiner Brust zu tragen wie ein kleines Kind, obwohl sie schon so groß war. Aber hinter ihnen waren die Angreifer, auf seinem Rücken war sie nur mehr in Gefahr… er würde lieber seinen Rücken opfern als das kleine Mädchen, schwor er sich verbittert.

„Kannst du aufstehen, Alter?“, japste Tabari und sah beunruhigt auf Meoran, der sich keuchend hinzusetzen versuchte und dabei vollkommen unmotorisch wirkte. Keisha sprang auf die Füße und schrie auch, als sie nach hinten sah – eine ganze Horde von Soldaten stürmte direkt auf sie zu.

„Wo sind die Bergleute, Tabari?! – Nimm Meoran hoch, das war ein verdammter Schlaganfall!“

„Wie bitte? – Und die Bergleute sind fort, wir haben uns getrennt, sie kommen klar! Zumindest mehr als wir!“ Mit diesen Worten packte der Blonde seinen Kameraden und hievte ihn sich über die Schulter, um ihn mit einem Arm festzuhalten und den anderen wenigstens frei zu haben für Zauber, um sie von hinten zu schützen.

Sie rannten hinunter vom Plateau in Richtung Fluss, die Zuyyaner verfolgten sie hartnäckig. Bald schon überließ Nalani Ruja die Führung und befahl ihrem Sohn, Leyya abzusetzen.

„Sie muss alleine laufen, Tabari mit einer Hand kann nicht die ganze Meute aufhalten und Meoran ist wohl am Verrecken, ich brauche dich jetzt!“

„I-ist gut… lauf, rasch!“ Letzteres galt Leyya, die sich nur widerwillig von ihm löste und plötzlich schrill aufkreischte, sobald sie auf eigenen Füßen stand. Puran wirbelte alarmiert wieder herum und mit bloßem Instinkt und einem Windmesser aus seiner Hand skalpierte er den Krieger, der aus dem Nichts direkt vor ihnen aufgetaucht war. Der Mann stolperte röchelnd rückwärts, bis Ruja ihn mit einem gezielten Telekinese-Schlag davon schmetterte.

„Sie kommen von allen Seiten?!“, schrie sie darauf auch und gab Leyya Saidah auf die Arme, um beide Hände für die Barriere frei zu haben.

„Tötet sie, macht sie weg, wir müssen zum Fluss!“, brüllte Tabari schnaubend hinter ihnen, „Macht irgendwas, der Weg muss frei sein!“ Dann riss er seinen Arm herum und schleuderte mit einem weiteren Windzauber eine Reihe von Gegnern um, einem Letzten auch eine Lanze aus den Händen, die dieser auf ihn hatte werfen wollen.

„Brauchst du dein Schwert gerade, Tabari?!“, fluchte Nalani neben ihm, „Ich leihe es mir kurz, wenn du erlaubst!“

„Ach, doch hilflos ohne Kadhúrem?“, spottete er, „Du bist echt weise, Weib! – Nun nimm es schon aus meinem Gürtel, Himmel!“ Sie zog die Waffe aus seinem Gürtel und fuhr herum, um damit einen der Zuyyaner aufzuspießen, der sich auf sie gestürzt hatte.

„Hier ist nur zu wenig Platz für Wasserzauber oder die Macht der Schatten, das ist alles!“, empörte sie sich, „Geht’s dir besser, Meoran?!“

„Na ja, mittelprächtig…“, stöhnte der Jüngere, kopfüber auf Tabaris Schulter hängend wie ein Mehlsack, „Mein linkes Auge ist hin, ist ja fürchterlich!“

„Der Weg ist frei!“, brüllte Tabari dann neben ihm und er fuhr zusammen, ebenso wie Nalani. „Los, rennt doch, rasch! Du zuerst, Ruja, und Keisha, Leyya, rennt!“

Sie zerschlugen die Umzingelung und schafften es mit einiger Mühe, weiter hinab zum Flusstal zu rennen, noch immer verfolgt von den Angreifern. Brennende Pfeile und Eiszapfen flogen ihnen um die Ohren, die Tabari entweder mit Wind abhielt oder die an Rujas Telekineseschlägen scheiterten. Ein Eiszapfen zerriss Nalanis Umhang und ein Pfeil bohrte sich in Rujas rechten Arm, sodass sie aufschrie und reflexartig inne hielt; Puran wäre beinahe in sie hinein gerannt und schubste sie gewaltsam voran, fluchend mit seinem Geisterschwert einen Krieger von der Seite abwimmelnd.

„Geh, rasch, Ruja!“, herrschte er sie an, „Verarzten können wir auf dem Boot! – Achtung, da ist einer links von euch, Mutter!“ Nalani fuhr herum, als ein neuer Mann von einem nahen Felsen gesprungen kam und mit seinem breiten Schwert nach ihnen hieb. Die Geisterjägerin sprang zurück und wich noch aus, aber der nächste Hieb traf Keisha und verpasste ihr einen grauenhaften Schlitz quer über den Oberkörper. Sie keuchte und stürzte zu Boden, überschlug sich auf den Felsen und wäre beinahe tief gestürzt, hätten Puran und Nalani sie nicht zeitgleich gepackt.

„Keisha!“, schrie Ruja von irgendwo panisch, doch die Heilerin hustete nur und fasste schmerzhaft nach der heftig blutenden Wunde.

„N-nur ein Kratzer, ich bin doch keine alte Großmutter!“, schnaufte sie, „Weiter, los, rennt!“

„Trag sie, Puran, sonst wird die Wunde tiefer!“, ordnete Nalani trotz Keishas Protesten an, sodass ihr Sohn sie folgsam hoch hob, ehe sie weiter rannten. Endlich erreichten sie die Boote, die sie in langer, mühsamer Arbeit vorsorglich gebaut hatten und die sie am Ufer des großen Flusses Yarmol verstreut hatten. Eigentlich waren sie nicht für die Flucht gedacht, es waren nur kleine Kanus und sie waren, was Schnelligkeit anging, auf die Strömung angewiesen. Es gab zwei Boote. Ruja stieß das erste sofort ins Wasser und half Leyya dabei, mit hinein zu klettern, ihr das kleine Kind abnehmend, das sie bisher getragen hatte. Während Puran ihnen samt Keisha hastig nacheilte, sprangen die letzten beiden mit Meoran in das zweite Boot und stießen beide vom Ufer ab. Die Strömung des Yarmol war stark und riss die kleinen Kanus sofort nach Süden; ein wildes Geschaukel begann. Am Ufer fluchten die Zuyyaner, die abgehängt worden waren – aber nur kurz, denn sie sprangen in die Luft und flogen ihnen nach über den reißenden Fluss.

„Verdammt, das gibt’s doch nicht!“, schrie Puran entsetzt, „Vater, tu doch was!“

„Nalani, denk an das Wasser!“, keuchte der Herr der Geister, ehe er sich schwankend im Boot erhob und dabei beinahe über Bord gegangen wäre. Er hielt sich aber erstaunlich gut, als er die Arme in den Himmel riss und den Wind herbei befahl. „Wind, Kind von Vater Himmel! Komm und schicke mir Zorn, den ich gegen jene richten kann, die dein Land angreifen!“ In seinen Händen entstand ein gewaltiger Wirbel, mit dessen Hilfe er alle Zuyyaner wieder zum Landen zwang, die ihnen nachgesetzt hatten. Manche fielen ins Wasser – die anderen beobachteten fasziniert, wie die Wassermassen des gewaltigen Flusses die Krieger verschlangen, als wären sie kleine Häppchen für Zwischendurch. Nalani breitete andächtig beide Arme zur Seite aus, um dem Strom zu befehlen, sie rascher zu tragen, rascher und gerader.

„Bring uns nach Süden, fort, Yarmol, großer Strom!“ Und zur Antwort gurgelte der Fluss und dröhnte unter den Booten, die er schnell von dannen trug. Bald waren die Zuyyaner weit zurück und nicht fähig, sie einzuholen dank Tabaris Zauber, der ihnen das Fliegen verbat.
 

„Wir haben es geschafft!“, keuchte Ruja fassungslos und starrte zurück nach Norden, während sie getrieben und gepeitscht wurden von den Wogen des Flusses.

„Die kommen zurück… wir müssen achtsam sein!“, murmelte Puran, „Wir sind ungleich verteilt, hier sind mehr Menschen als in dem anderen Boot…“ Er wurde von Keisha unterbrochen, die plötzlich stöhnend zusammensank und die Hände auf ihre tiefe Wunde presste. Ihre Schwiegertochter bemühte sich sofort um sie.

„Oh Himmel, d-das sieht schlimm aus! Zeig mal her…“

„Ich verliere so… v-viel Blut…“, stöhnte die blonde Heilerin und schnappte keuchend nach Luft. Puran erstarrte, als er einen Blick auf sie warf; ihre ganze Kleidung war rot vom Saft des Lebens, der aus ihrer Wunde austrat. Panisch warf er einen Blick auf Ruja, dann zum anderen Boot.

„Vater!“, schrie er, „Keisha ist stark verwundet, w-wir müssen anhalten!“

„Wie bitte?!“, rief Meoran von drüben, der sich offenbar erholte, aber dennoch ziemlich angeschlagen wirkte, „W-was ist mit Mutter…?“

„Leyya!“, japste sein Schüler dann auch schon und sah auf die kleine Heilerin, die leichenblass auf Keisha starrte und sich nicht rührte. „Leyya, versuch dein Bestes! Wir müssen doch wenigstens provisorisch die Wunde schließen können… - g-gib mir deinen Gürtel, Ruja, damit können wir es vielleicht zubinden!“

„Ach, n-nun macht nicht… so ein Theater…“, stöhnte Keisha, klang aber nicht halb so tapfer, wie sie es gerne gehabt hätte. Ruja schluchzte panisch, als sie sich selbst das Stoffband abband, das ihre Kleidung zusammenhielt. Puran zog seine Jacke und dann sein Hemd aus, letzteres missbrauchte er als Verband, um die Blutung irgendwie zu stillen, mit Rujas Gürtel banden sie das Ganze zusammen.

„Meinst du, damit hält sie durch, bis wir ein geeignetes Ufer finden?“, fragte Puran Ruja unsicher, und sie schüttelte den Kopf und fing plötzlich zu weinen an.

„Ich weiß es nicht! Ich weiß gar nichts, w-wieso muss sowas passieren?!“ Sie nahm Leyya in die Arme, die sich bewegt hatte und versuchte, zu ihrer Lehrerin zu gelangen, die jetzt stöhnend und noch immer heftig blutend in der Ecke des Kanus lag.

„Wir können nicht anhalten, die Zuyyaner sind viel zu dicht!“ schrie Nalani aus dem anderen Boot, „Was sollen wir machen?!“

„Verdammt, Keisha stirbt!“ brüllte ihr Sohn aufgelöst und fing jetzt aus Verzweiflung auch zu heulen an, „I-ich weiß doch auch nicht, Mutter! Wir müssen anhalten, jetzt sofort!“ Nalani weitete entsetzt die Augen bei seinem Gefühlsausbruch, während Tabari erbleichte.
 

Ein Stück weiter Flussabwärts war ein schmaler Streifen des Ufers geeignet zum Anhalten; sie stiegen auf der anderen Seite des Flusses aus, auf der nicht die Zuyyaner waren. Während Tabari die Boote an Land zerrte und sich um den Wind kümmerte, so weit er noch konnte nach der ganzen Anstrengung, hievten die anderen Keisha ans Ufer und versuchten, nachdem sie die provisorischen Verbände entfernt hatten, die Wunde zu versorgen.

Die kleine Leyya kniete neben ihrer Lehrerin und hielt beide Hände über die Wunde, mit aller Kraft versuchte sie, alle ihre Heilfähigkeiten einzusetzen, um den Riss zu schließen, aus dem unaufhörlich Blut rann. Doch so sehr sie sich bemühte, die Wunde wurde und wurde nicht kleiner… verzweifelt schrie sie auf und Keisha stöhnte.

„Überlaste… d-dich nicht, Leyya! Du bist noch… nicht groß genug für diese… Wunde.“

„Sag das nicht!“, schrie das Mädchen panisch, „Ich rette dich, Keisha! Ich brauche dich noch, ich schaffe das! Du wirst sehen, ich habe gut gelernt!“ Die Blonde hustete und spuckte Blut, worauf Leyya zusammenzuckte. Tränen rannen über ihre schmutzigen Wangen, als sie es wieder und wieder erfolglos probierte. Um sie herum hockten die anderen, allen voran Meoran und Ruja, ersterer noch immer benommen, letztere weinte bitterlich. Nalani trug die kleine Saidah, die nichts von dem verstand, was passierte.

„Das war eine… zuyyanische Waffe, nicht wahr…?“, erinnerte sie sich dabei dumpf und wippte das Kind auf ihren Armen. „Eine Waffe, deren Wunden… wir nicht heilen können.“
 

Die Nachricht saß ihnen tief in den Gliedern und einer nach dem anderen verstand, was das bedeutete.

Keisha würde sterben. Und sie konnten nichts dagegen tun.

Ruja brach vollends in Tränen aus und sank in sich zusammen, während Meoran nur am ganzen Leib zitterte und leichenblass wurde. Leyya gab nicht auf, schrie und versuchte, all ihre Kraft zu investieren, und wenn es sie umbringen würde; sie musste Keisha retten!

Die alte Frau war anderer Meinung. Stöhnend hob sie eine Hand und versuchte schwach, die Kleine wegzuschieben.

„Hilf mir alter Greisin nicht mehr…“, flüsterte sie und lächelte verzerrt. „Spare deine Kraft… du… musst doch noch eine Frau und eine gute Heilerin werden. Und eine gute Mutter… das möchtest du doch so gern?“ Die Kleine heulte.

„Ich gebe nicht auf! Ich schaffe es, bitte lass mich!“

„Nein… hör auf. Es ist… umsonst, Leyyachen. Sei nicht… t-trau…rig. Bitte…“ Flehend wandte die sterbende Frau den Blick von ihrer Schülerin ab, worauf Puran die Kleine mit sanfter Gewalt von ihr entfernte und sie auf den Arm nahm. Leyya schrie und strampelte und weinte, sie ließ sich nicht mal durch seine Anwesenheit beruhigen oder dadurch, dass er sie an sich drückte und sie zärtlich streichelte. Seine Hände zitterten… und er weinte auch, als er mit der Kleinen zurück trat. Keishas letzte Augenblicke sollten allein ihrem Sohn gehören… dem letzten der Chimalis-Familie, der geblieben war.

„Meoran…“ Der Angesprochene schauderte, als Keishas Hand nach seiner suchte, und er ließ zu, dass sie sie ergriff, ehe er seiner Mutter in das blutverschmierte Gesicht blickte. Sie war blass und ihre Hand eiskalt. „Mein… mein tapferer, großer Junge… m-mit deinem hässlichen Schiel-Auge, ehrlich…“

Ihm war nicht zum Scherzen zumute.

„Ich mache nur Ärger.“, murmelte er dann, sein rechtes Auge sah sie an, das linke starrte weiterhin ungesund nach außen. „Du hast mir vorhin… d-doch noch das Leben gerettet… vergib mir, dass ich… nicht nützlicher war, Mutter.“

„Nützlicher?“ Die Heilerin lächelte, ihn liebevoll ansehend, wie nur eine Mutter ihr Kind ansehen konnte. „W-wie könnte ich mehr verlangen? Du bist ein guter Mann geworden… und ein guter Vater. Du hast mich… immer stolz gemacht…“ Jetzt schluchzte er, während Ruja ihn von der Seite weinend umarmte und nicht wagte, sich einzumischen. Keisha seufzte leise und schloss die Augen, als sich Dunkelheit über ihren Geist zu legen begann. „Du siehst… deinem Vater so ähnlich… Meoran…“

Ihre letzten Worte sprach sie lächelnd.
 

Sie hatten keine Zeit für die fünftägige, traditionelle Totenwache. Meoran wollte bleiben und die anderen sollten mit dem einen Boot vorfahren, aber Tabari redete ihm das schnell wieder aus.

„Du hast deine Mutter verloren, das tut mir leid, ich kenne diesen Schmerz sehr gut, ich erfuhr ihn vor Jahren am eigenen Leibe. Aber du hast auch eine lebende Familie… eine Frau und vor allem eine sehr kleine Tochter, die dich beide noch brauchen. Wir können hier nicht länger verweilen, die Zuyyaner würden uns zu schnell wieder einholen. Also müssen wir aufbrechen nach Süden, mein Freund… wir werden ihren Körper verbrennen und zu den Geistern beten, sie mögen ihre Seele heil bei sich aufnehmen.“ Der Jüngere ließ zitternd den Kopf hängen, während seine Frau mit Saidah auf dem einen Arm mit der freien Hand nach seiner griff. Schließlich nickte Meoran beklommen und wandte den Blick zu seiner Mutter, die am Boden lag.

„Du… hast wohl recht, mein Freund. Wir… müssen weiter.“

Der Himmel war bezogen, als Puran hinauf blickte in die grollenden Berge aus Wolken. Er stand beim Boot mit den Schuhen im Flusswasser, in dem Gefährt neben ihm kauerte die leichenblasse, zitternde Leyya. Sie hatten der Kleinen Keishas Medizinbeutel gegeben, in dem ein Vorrat an Heilkräutern und Wurzeln war.

„Jetzt wirst du die Heilerin unserer Gruppe sein.“, sagte Puran dumpf zu dem Mädchen, und sie zuckte zusammen, leise wimmernd den Medizinbeutel an sich drückend.

„Ich bin unfähig.“, jammerte sie dann, „Keisha war eine viel… bessere Heilerin als ich!“ Sie weinte stumm und drehte beschämt den Kopf von ihm weg, um ihm ihre erbärmliche Schwäche nicht zeigen zu müssen; umso verblüffter war sie, als er sich plötzlich, ins Boot geklettert, zu ihr hockte und ihr Gesicht mit einer Hand sanft wieder zu sich drehte.

„Du hast dein Bestes gegeben!“, zischte er energisch. „Mehr konntest du nicht für sie tun, niemand ist dir böse, Leyya. Wunden, die von zuyyanischen Waffen geschlagen wurden, kann man eben nicht heilen. Das ist doch nicht deine Schuld…“ Sie schluchzte.

„Aber wie kannst du mich eine gute Heilerin nennen, wenn du weißt, dass es immer etwas geben wird, das ich nicht heilen kann?!“ Sie umklammerte bebend den Beutel in ihren Händen, ehe sie die Brauen senkte. Was jetzt in ihr Gesicht trat und die Verzweiflung verdrängte, hatte er zuvor nicht gesehen bei ihr. Es war ein mächtiger Trotz, gemischt mit Entschlossenheit, und ihr Blick duldete keinen Zweifel an dem, was sie jetzt sagte. „Ich werde etwas dagegen tun, Puran! Ich werde dafür kämpfen, ich werde all meine Kraft ausschöpfen, um irgendetwas zu entwickeln, das… auch Wunden von zuyyanischen Waffen heilen kann! Erst, wenn mir das gelungen ist, bin ich es überhaupt wert, als Heilerin bezeichnet zu werden.“

Er sagte nichts dazu und senkte den Kopf. Als ihre entschlossene Ader wieder versiegte und sie wieder in Tränen ausbrach, zog er sie seufzend in seine Arme und versuchte unbeholfen, sie zu trösten.

Am Himmel erhellte der Schein des Feuers die Welt, als Nalani die Leiche in Brand steckte und alle außer den beiden Jüngeren, die im Boot saßen, am Ufer standen und Keishas Geist eine gute Reise wünschten. Das Wasser des Flusses gurgelte unter dem Kanu, das halb ans Ufer gezogen da lag und bei den heran peitschenden Wellen schaukelte. Die Flammen der Bestattung wärmten Purans Gesicht, aber dennoch drang nichts Warmes zu ihm durch, als er die Augen schloss und sich die Gesichter all jener vorführte, die dieser Krieg bereits gefordert hatte. Er dachte an seine Cholena… an seinen Onkel Kiuk, an die vielen unschuldigen Menschen in Dokahsan, Anthurien und Kadoh, an Vogelstimme und an Keisha. Das einzige, was jetzt etwas Wärme verschaffte im eiskalten Wind des auftauenden Winters, war der Gedanke daran, dass er sie alle nicht zum letzten Mal gesehen hatte.

Eines Tages würde er sie wiedersehen im Reich der Geister… an dem Tag, an dem auch sein Körper zu Staub verbrannt würde und sein Geist mit den anderen im Wind würde wandern können.
 

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Yeah xD Keisha ist tot, Meoran schielt und alle fahrne Kanu <3 Etwa März 980, btw.

Das Herz Kisaras

Fünfter Teil: Vialla
 


 

Die Luft war kalt, aber das Wasser das Yarmol war weiter südlich ruhiger geworden, als sie in die niederen Kadoh-Berge gelangten. Der Himmel war trist, obwohl jetzt der Frühling anbrach; und ebenso war es die Stimmung der Schamanen. An den vereinzelt am Ufer sichtbaren Blumen des ersten Tauens konnte sich niemand erfreuen, nicht einmal Leyya, die ansonsten alles liebte, das lebte. Keishas Tod und die Zerstörung des Plateaus, auf dem sie so lange friedlich gelebt hatten, überschattete das Erwachen der Welt.

„Wasser, Wasser, immer Wasser.“, stöhnte Puran und lehnte sich gegen den Rand des schlichten Kanus, den ziehenden Himmel über sich beobachtend. „Seit ewigen Tagen dümpeln wir durch den Fluss, ist der nicht bald mal zu Ende? Ich hasse Boot fahren, mir ist fürchterlich übel!“

„Also, ich finde es besser als klettern.“, sagte sein Vater dazu und Puran stöhnte und fasste nach seinem schmerzenden Bauch. Er hoffte inständig, dass es bald vorüber war… er sah ja ein, dass der Weg über den Fluss sehr viel schneller war als zu Fuß, aber das ständige Erbrechen war doch auf Dauer nicht gesund… seine Eltern hatten offenbar keine Probleme mit dem Geschaukel… so eine Ungerechtigkeit.

Sie fuhren nach Möglichkeit den ganzen Tag durch und suchten sich mit der Dämmerung einen Platz am Ufer, um zu nächtigen. Im Morgengrauen ging es dann weiter mit den Booten durch die Berge nach Süden. Der Yarmol schlängelte sich zwischen gigantischen Felswänden hindurch, bisweilen wichen diese einem kleinen Bergwald oder einem seichteren Ufer. Wenn sie an Land waren, versuchten sie mit sehr viel Mühe, irgendetwas Essbares aufzutreiben; es gab nur wenige Tiere in den zerklüfteten Felsen, die sie hätten jagen können, davon abgesehen war, ausgenommen Tabari, keiner der Männer fähig, nach der ewigen Tour mit dem Boot zu jagen; Puran war froh, Land unter den Füßen zu haben und sich nicht mehr übergeben zu müssen und Meoran war froh, wenn er sich mit seinem einen Auge irgendwie zurecht fand. Sie hatten an den Ufern Wurzeln gesammelt und sich von sehr karger Kost ernährt, bis Nalani es nach drei Tagen geschafft hatte, eine Angel zu bauen, mit der sie seitdem fischte; eigentlich bestand die Angel nur aus einem stabilen Stück Holz und aneinander geknoteten Sehnen eines kleinen Marders, den sie erlegt hatten. Am Ende der Schnur hatte man einen kleinen Knochen angebracht, auf den sie Köder steckten, um Fische zu fangen. Wenn sie an Land waren, grub die kleine Saidah fröhlich nach Würmern in der Erde, die Nalani dann als Köder für ihre Angel benutzte.

„Wenn mein Vater das erlebt hätte, der wäre ausgerastet.“, meinte Tabari einmal, als sie abends auf einem kargen Stück Land um ein kleines Feuer saßen und Fisch brieten, „Fisch ist Frauenfleisch, der wäre eher gestorben als dass er das angerührt hätte.“

„So eine Verschwendung der Gaben der Mutter Erde.“, seufzte seine Frau darauf, „Dieser Schund mit Frauenfleisch und Männerfleisch ist ohnehin vollkommen überholt, und in Zeiten wie diesen muss man nehmen, was man bekommt.“

„I-ich beschwere mich ja auch gar nicht, ich finde, der Fisch schmeckt hervorragend…“

„Als ob ich mir Gedanken darum machen könnte, was ich esse.“, jammerte Puran, „Es kommt ja sowieso wieder hoch, bevor ich eine Chance habe, es zu verdauen.“
 

Nachts wisperten die Geister im Wind, wenn sie versuchten zu schlafen. Einer von ihnen blieb immer wach, um aufzupassen, sie wechselten sich regelmäßig ab. Nur Leyya und die kleine Saidah wurden verschont von der Wachpflicht.

Tabari erwachte mitten in der Nacht durch das Flüstern des Windes. Obwohl er die Worte nicht verstanden hatte, war er beunruhigt, und er setzte sich auf und raufte sich gähnend die blonden Haare. Sein Instinkt sagte ihm, dass der Morgen bald grauen würde; wieso hatte Nalani ihn nicht geweckt, damit er sie vom Wachen ablöste? Er sah in den Himmel. Er war aufgeklart; man konnte die Sterne als winzige, weiße Punkte in der Schwärze erkennen. Kein Grollen war zu hören und die Erde hatte zu zittern aufgehört. Dennoch spürte der Herr der Geister die Unruhe des Windes, die auch auf ihn überging, als er nach Osten blickte.

Osten… östlich von hier war das Hochland Kisaras. Das Herz des Landes, in dem die Zuyyaner vermutlich am meisten tobten. Er fragte sich, wohin die Schicksalsgeister ihn und seine Familie jetzt führen würden…

„Du bist auf…“ Nalanis Stimme erschreckte ihn so sehr, dass er fast in den Fluss gesprungen wäre. Das sanfte Rauschen des dahin ziehenden Wassers durchbrach die Stille des schlafenden Lagers. Nalani saß am Ufer, die Füße im Wasser, und sah ebenfalls nach Osten. Das Lagerfeuer war erloschen.

„Warum weckst du mich nicht?“, wunderte sich der Mann, ehe er über die schlafenden anderen hinweg stieg und sich zu seiner Frau ans Ufer setzte. Sie seufzte nur.

„Ich war ohnehin wach und kann nicht schlafen, deswegen dachte ich, ich erspare es dir… du bist doch der Langschläfer von uns.“ Er musste hohl lächeln.

„Na ja, ich bin noch besser im Frühaufstehen als Puran…“ Er wurde wieder ernst und sah auf ihre Füße, die im Wasser waren. „Ist das nicht eiskalt?“

„Eigentlich nicht. Für mich ist es gerade angenehm.“ Tabari schwieg darauf.

„Was beschäftigt dich, dass es dir den Schlaf raubt?“, fragte er dann leise, damit die anderen nicht aufwachten. Nalani senkte bitter lächelnd das Gesicht und sah auf das Flusswasser.

„Ich… habe Visionen und frage mich… so viele Dinge…“

„Was für Dinge? Sprich doch mit mir…“ Sie seufzte tief.

„Es ist komisch… ohne Keisha plötzlich. Sie war… immer da. Schon als ich zum ersten Mal in Tuhuli war, war sie da. Ich fühle mich… irgendwie leer.“

„Das geht uns allen so… mir auch. Meoran tut so tapfer, aber es ist seine Mutter, die gestorben ist… wenn wir nicht hinsehen, weint er. Dass kann ich spüren… und es ist in Ordnung so.“ Seine Frau sah wieder auf und in den Himmel.

„Ich frage mich, ob wir als Magier… fähig sind, vor unserem Tod zu ahnen, dass wir sterben…“, murmelte sie dann und klang apathisch, worauf er sie verblüfft ansah.

„Was, ahnen? Wie meinst du das…?“

„Wir sehen Visionen vom Tod anderer, ich frage mich, ob man auch vom eigenen Tod träumen würde.“

„Mir ist das zumindest bisher nicht passiert. Na ja.“, er lachte jetzt wieder, „Vielleicht ist mein Tod dann ja noch weit weg.“

„Ich glaube, dass deine Mutter ihren Tod vorausgesehen hat.“, sagte Nalani dann dumpf, und der Mann erstarrte. „Ich denke, sie hat sich innerlich darauf vorbereitet. Ich frage mich… was sie gesehen hat…“ Sie schwiegen wieder. Dann war Tabari das Thema Tod leid.

„Warum hast du Kadhúrem weggegeben? Ich denke da seit Tagen drüber nach und es will mir nicht in den Kopf gehen. Ich halte dich keineswegs für leichtfertig oder voreilig… normalerweise weißt du, was du tust. Warum also…?“

„Ich kann dir das nicht erklären…“, war die ausweichende Antwort und er linste sie skeptisch an; er wusste, dass sie irgendetwas vor ihm verbarg. Da sie es niemals grundlos tun würde, ging er nicht weiter darauf ein. „Ich kann dir sagen, es ist… Wille der Geister. Die Geister haben mir befohlen, das zu tun, ich habe oft geträumt. Am Ende… wird diese Tat etwas entscheiden.“ Er sah auf den Yarmol vor ihnen.

„Am Ende? Welchem Ende, Nalani…?“ Jetzt lehnte sie den Kopf an seine Schulter, während sie weiterhin nach Westen sah.

„Vermutlich am Ende der Welt…“
 

Als der Morgen graute, weckten Tabari und Nalani die anderen, obwohl es ihnen leid tat, sie aus ihrem wohl verdienten Schlaf reißen zu müssen. Sie alle waren erschöpft von der Flucht und der Bootsfahrt quer durch halb Kadoh.

„Oh nein, schon wieder Morgen…“, nölte Puran ermüdet und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, als seine Mutter ihn weckte. „Ich kann diesen Fluss nicht mehr sehen…und vor allem diese elenden Boote nicht…“

„Sei tapfer.“, riet Meoran ihm, und der Jüngere gruselte sich etwas vor den eigenartigen Augen seines Lehrmeisters. Es tat ihm leid, dass er immer noch zuckte, wenn er das nach außen starrende Auge ansah; es war ein ungewohnter Anblick und er zeigte ihm schmerzhaft, dass mit seinem Lehrer wirklich etwas nicht in Ordnung war. „Halte noch einige Tage durch, so, wie wir das auf der Karte berechnet haben neulich, dürften wir bald an die Grenze von Kadoh und den Bergen kommen; hinter den Bergen werden wir sicher irgendwo den Fluss verlassen können. Wir sind weit weg vom Plateau inzwischen…“ Puran seufzte leise und erhob sich taumelnd, versuchend, sich mit etwas Wasser aus dem Fluss die strubbeligen Haare zu glätten, was nicht funktionierte. Er hasste seine Haare…

Als er sich gerade dazu aufraffen wollte, zum Boot zu gehen, das er an sich noch mehr hasste als seine Haare, kam Leyya zu ihm. In ihrer ausgestreckten Hand lagen kleine Stückchen einer braunen Knolle.

„Die Wurzeln helfen gegen Übelkeit…“, erklärte sie ihm schüchtern und er sah sie groß an. „Ich habe gestern Abend oben auf der Böschung welche gesehen und ausgegraben. Ich… dachte, vielleicht helfen sie dir…“ Er wunderte sich etwas über die melancholische Art, in der sie sprach, schob es dann aber auf die Trauer um Keisha und nahm dankend die komischen Wurzelstücke entgegen. „Du musst sie kauen, dann wird es sicher besser sein beim Fahren.“ Ein liebevolles, aufopferndes Lächeln kam in ihr Gesicht, als er leicht den Kopf neigte. Sie sah erschöpft aus… die ganze Reise war für das Mädchen nichts. Sie war so tapfer… er war stolz darauf, wie erwachsen sie geworden war, seit er sie in Makar gefunden hatte.

Plötzlich fiel ihm der Kuss wieder ein, den er ihr gegeben hatte – es kam ihm vor, als wären Jahre vergangen seitdem, dabei waren es höchstens Wochen. Er errötete gegen seinen Willen und warf sich hastig die Wurzeln in den Mund, um dabei sein Gesicht abwenden zu können. Er fühlte sich so unverantwortlich und selbstsüchtig; wie hatte er sie bitte küssen können? Der bloße Gedanke daran ließ in ihm jetzt wieder das Verlangen erwachen, sie zu umarmen und sie noch mal zu küssen… sie zu berühren wie eine Frau. Denn sie wurde immer mehr zu einer… Tag für Tag.

Nein! Bist du des Wahnsinns, du darfst daran nicht mal denken! Nicht, bevor sie ihr Blutritual hatte… nein, auch danach nicht. Sie ist verdammte neun Jahre jünger als du, Puran… das geht nicht!

„Danke für die Wurzel.“, sagte er beklommen, ihr den Rücken kehrend, „Dann lass uns mal aufbrechen, bevor wir hier festwachsen.“ Er konnte sie so nicht ansehen… dann würde er nur wieder merken, dass sie kein Kind mehr war, und das wäre schlimm.

Hoffentlich hatte sie den blöden Kuss einfach vergessen.
 

Leyya hatte den Kuss natürlich nicht vergessen. Sie dachte fast jeden Tag daran; es waren schöne Gedanken, die sie ablenkten von dem Schmerz des Verlustes von Keisha und ihrem kleinen Freund Karana… der gestorben war, um sie zu retten. Um sich zu schützen, verschloss sie die traurigen Erinnerungen tief in ihrem Inneren und dachte lieber an Puran… den Mann, den sie von ganzem Herzen liebte und begehrte.

Und sie wusste genau, dass er ihre Gefühle nicht erwiderte… er würde nie etwas finden an ihrem hässlichen, unreifen Körper, der sie mehr und mehr ärgerte, wenn sie sich selbst betrachtete beim Waschen.

Am liebsten würde sie den ganzen Tag nur bei Puran sein… aber sie hatte das Gefühl, ihm zu sehr auf die Nerven zu gehen, wenn sie zu sehr klammerte, deswegen hielt sie freiwillig Abstand von ihm und fuhr bei Tabari, Ruja und der kleinen Saidah im Boot mit, während die drei anderen sich das zweite Kanu teilten. Dabei wollte sie am liebsten die ganze Zeit bei Puran sein…

Als sie ihm noch einen sehnsüchtigen Blick zuwarf aus dem Kanu, ehe sie losfuhren, bemerkte er sie nicht und sah schweigend nach Osten. Die Dämmerung warf blutrotes Licht über die Weiten des Himmels…
 

Nach vielen scheinbar endlosen Tagen des Reisens auf dem Strom gen Süden erreichten sie endlich die letzten Ausläufer der Berge. Plötzlich erhoben sie sich mächtig im Westen und im Osten erstreckte sich flaches, grünes Land. Der Frühling war tatsächlich gekommen während ihrer Reise – die Wiesen blühten in den prächtigsten Farben, als wollten sie versuchen, die tristen, grauen Berge aufzuheitern. Die Frühlingssonne wärmte das Land über dem klaren, grünen Himmel und drang mit ihren Strahlen bis in die Seelen der Menschen vor, als sie jetzt über das schöne, offenbar noch von den Zuyyanern unbeschädigte Land blickten. Die Tage der Trauer und des Schmerzes mussten sie hinter sich lassen; nach jedem kalten Winter kam ein neuer, warmer Frühling.

Auch nach diesem, der der kälteste von allen für sie gewesen war.

„Das Licht ist außerhalb der Berge ganz anders…“, murmelte Meoran benommen, als hätte er noch nie zuvor blühende Blumen gesehen. Nalani feixte.

„Das liegt an deinem Schiel-Auge!“

„Du kannst fürchterlich gehässig sein.“, schnaufte er, wusste aber, dass sie es nicht böse gemeint hatte.

„Wie lange habe ich keine flachen Wiesen gesehen?“, fragte Ruja sich auch im anderen Boot und zeigte nach Osten. „Schau, Saidah! Der Frühling ist da!“ Die kleine Saidah johlte und streckte lachend die Händchen nach den Wiesen aus, an denen sie vorbei fuhren. Das mittlerweile zwei Jahre alte Mädchen war für gewöhnlich ernst und beobachtete lieber stumm, als sich am Geschehen zu beteiligen; aber selbst sie lachte und erstrahlte jetzt, und sowohl Ruja, die sie festhielt, als auch Meoran aus dem anderen Boot schenkten der Kleinen liebevolle, zärtliche Blicke voller elterlicher Zuneigung. Sie beide liebten die Kleine über alles. Sie war wie ein kleiner Schatz, der beschützt werden musste.

„Da?“, machte Saidah ihre Mutter erstaunt nach, „Füh da?“

„Der Frühling ist da, genau.“

Die Strömung des Yarmol war an den Ausläufern der Berge sanft und trieb die Kanus nur langsam vor sich her. Als sie vor Tagen einmal Rast in einem kleinen Bergwald gemacht hatten, hatten sie aus Holz Paddel gebaut, mit denen sie sich jetzt schneller voran bewegen konnten als die gemächliche Strömung sie trug. Am Nachmittag kam am Ufer im Osten ein kleines Dorf in Sicht.

„Na endlich.“, stöhnte Puran und ließ das Paddel sinken, „Ich hatte schon befürchtet, in ganz Thalurien gibt es kein verdammtes Dorf am Fluss…“

„Eigentlich können wir noch nicht in Thalurien sein.“, meinte Meoran neben ihm verwundert, „Vermutlich im Süden Kadohs, wenn die Karte mich nicht anlügt. In Thalurien gibt es definitiv keine solchen Berge.“

„Wie auch immer, Meister, Hauptsache, die können uns Unterschlupf und Essen geben… ich kann weder Wasser noch Fisch mehr sehen…“ Der Lehrer lachte leise.

„Ja… da bist du nicht der Einzige, glaube ich.“ Sie hatten keine Zeit, weiter zu diskutieren, denn Fischer an einem Steg nahe dem Dorf, der zum Fluss führte, hatten sie bereits bemerkt und fingen aufgeregt an zu rufen und machten Anstalten, davon zu laufen. Tabari sprang erschrocken auf.

„Halt doch, wartet!“, schrie er, „Wir sind keine Zuyyaner, falls ihr das denkt! Wir sind Schamanen, wir kommen aus Dokahsan! Können wir bei euch rasten?“

„Na, hoffentlich können die unsere Sprache.“, bemerkte Puran verblüfft, als die Männer zum Steg zurück rannten, ihnen entgegen.

„Woher seid ihr, Fremde?“, fragte einer mit einem Strohhut und hielt sich eine Hand ans Ohr; offenbar hatte er Tabari nicht verstanden. Aber er sprach die Einheitssprache, auch, wenn der Akzent, mit dem er sprach, ein fürchterlicher war, wie Puran verdattert feststellte.

„Aus Dokahsan!“, rief Tabari zurück, „Dürfen wir hier anlegen? Wir sind tagelang den Yarmol entlang gereist und sehr erschöpft… wir haben ein kleines Kind hier…“

„A-aus Dobanjan?!“, japste der Mann mit Hut verdutzt, Tabari blinzelte.

„Nein, Dokahsan, nicht Dobanjan!“ Doch die Antwort verblüffte alle:

„Dokahsan? Nie gehört, ist es schön da?“
 

Das kleine Fischerdorf hieß Ardunan und lag im Südosten der Provinz Kadoh, dicht an der Grenze zum Hochland. Die Schamanen durften ihre Kanus am Steg vertäuen und sich im Dorf ausruhen – oder versuchten es zumindest. Die Menschen in Ardunan hatten von nichts eine Ahnung, stellte an schnell fest. Sie wussten weder, wo Dokahsan lag, noch, wie die anderen Länder auf Tharr hießen, außerdem schienen sie nie im Leben Magiern begegnet zu sein – in diesem Punkt waren sie noch verwunderter als es die Bauern in Iter gewesen waren.

„Und ihr könnt richtig zaubern, ja?“ Der Dorfvorsteher war ein relativ junger Mann; älter als Puran, aber jünger als Meoran, vermuteten die Magier verdutzt.

„Natürlich.“, war Nalanis Ansage – das erzählte sie jetzt zum dritten Mal. Beschweren würde sie sich nicht; diese Leute gaben ihnen zu essen und ließen sie die Nacht im Dorf verbringen. Sie sollten dankbar sein und mussten die Fragerei über sich ergehen lassen. Dass hier im Westen Kisaras Magier so derart selten anzutreffen waren, verwunderte sie doch etwas.

„Ist ja Wahnsinn!“, freute sich der Häuptling begeistert, „Ich dachte immer, Schamanen gibt’s nur im Märchen! Also, mein Großvater hat immer von welchen erzählt, weil er mal nach Thalurien gereist ist, er hat behauptet, da hätte er welche getroffen, lebende! Wir haben es immer als Seemannsgarn abgetan…“

„Offenbar hat er die Wahrheit gesprochen.“, bemerkte Tabari grinsend. Meoran seinerseits, der die Landkarte seiner Mutter trug, breitete sie auf dem Tisch des Wirtshauses aus, in dem sie versammelt saßen.

„Warum kennt ihr Dobanjan und Thalurien, aber Dokahsan nicht?“, schnaufte er und ignorierte das entsetzte Gesicht seines Gegenübers, als dieses sein Schiel-Auge sah. Er zeigte den Dorfmenschen Dokahsan auf der Karte. „Hier ist es, im Norden. Wir sind vor den Zuyyanern geflohen und jetzt hierher gekommen.“

„Wie, Zuyyaner?“, kam die nächste entsetzende Frage, „Was wollen die denn?“ Darauf herrschte eine Weile Stille. Puran hüstelte gekünstelt.

„Ihr wollt uns jetzt nicht weismachen, dass ihr seit fast vier Jahren verpasst, dass hier Krieg herrscht…?“
 

Offenbar war in dieser Ecke des Landes absolut nichts passiert. Kein Krieg, gar nichts. Die Ahnungslosigkeit der Dorfbewohner war erschreckend; oder mehr verwirrend. Dann waren die Zuyyaner nicht so weit nach Süden gekommen? Das wäre ein gutes Zeichen.

„Das heißt gar nichts.“, nahm Meoran Tabari den Wind aus den Segeln, als der schon anfing, positiv zu denken. „Sie sind vielleicht nicht in dieser Gegend, aber vielleicht weiter im Osten. Das hier ist eine abgeschiedene Gegend, bis auf ein paar kleine Dörfer ist hier keine Zivilisation, ich glaube kaum, dass die Zuyyaner an dem Gebiet interessiert sind.“ Bei Sonnenuntergang standen die beiden Männer gemeinsam mit Nalani vor dem Wirtshaus, in dem sie in der Nacht schlafen würden, und sahen nach Osten in die heraufziehende Dunkelheit. Schatten kam über das Land auf sie zu.

„Was heißt interessiert?“, konterte der Blonde verdutzt, „Sie sind nach Kadoh gekommen, da ist ja wohl noch weniger Zivilisation… sie sind allein zum Töten gekommen, das Land oder die Gegend schert sie nicht.“

„Dahin kamen sie unsertwegen.“, meinte seine Frau scharf und er verstummte. „Sie waren hinter uns her, schon in Anthurien, das wissen wir alle drei. Sie müssen die zwei Jahre sehr gründlich nach uns gesucht haben… sie geben sich verdammt viel Mühe dafür, uns loszuwerden, dass sie schon zwei Kompanien und ein ganzes Bataillon verloren haben, scheint sie nicht zu kratzen.“ Die Männer schwiegen.

„Ich meinte auch eher...“, setzte Meoran dann an und nahm die Karte zur Hand, „...dass sie vielleicht einfach durch die Mitte gegangen sind. Wenn man über das Hochland will und die höchsten Gipfel umgehen möchte, gibt es drei Wege. Entweder man geht im Westen durch den Westwald; dann käme man hier an. Oder man geht im Osten des Hochlandes am Fluss Oeni entlang, was aber meines Erachtens ein Umweg für sie wäre; am leichtesten für sie wird der Weg durch die Mitte durch das Wüstland von Karrghol sein. Keine sonderlich erbauliche Gegend vermutlich, aber das dürfte denen ja egal sein… es ist der kürzeste und leichteste Weg nach Vialla.“ Die zwei anderen sahen ihm über die Schultern auf die Karte und Nalanis Augen verengten sich.

„Vialla.“, wiederholte sie den Namen der Hauptstadt des Landes. „Genau das ist der Ort, an den wir jetzt zu gelangen versuchen sollten.“

Tabari fuhr herum.

„Bitte?“, machte er, „Nach Vialla? Dann laufen wir doch den Zuyyanern in die Arme, wenn die da hinwollen! Warum bleiben wir nicht eine Weile hier, wenn es hier sicher ist, wie Meoran sagt?“

„Weil es das nicht mehr ist, seit wir hier sind!“ Sie fuhr sich mürrisch durch die Haare, die sie dringend wieder schneiden musste; im Krieg waren lange Haare fehl am Platz. „Sie verfolgen uns, Tabari, du weißt das genauso gut wie ich. Wenn wir bleiben, werden all diese Zivilisten sterben. Es wird immer mit einem Massaker enden… deswegen müssen wir dorthin, wo wir uns an die wenden können, die das ganze am meisten tangiert. Und das heißt, wir werden uns an die Regierung wenden. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Das Katz und Maus Spiel ist jetzt vorbei, Tabari.“ Der Herr der Geister senkte nachdenklich die Brauen.

„Was du sagst, klingt klug.“, meinte er scharf, „Aber ist es das tatsächlich? Ich bin unsicher.“

„Ist der König nicht so ein Penner, der Magier verachtet?“, murmelte Meoran kleinlaut, „Ist es dann weise, ihn um Hilfe zu bitten?“

„Wir bitten ihn nicht um Hilfe für uns, sondern für sein Land, denn es ist seine Pflicht, es zu verteidigen und sein Volk zu schützen!“ Nalani schnaubte entrüstet. „Und mir ist egal, ob er mich verachten mag, ich werde vor ihm sprechen, und wenn ich dafür nackt auf dem Tisch tanzen muss! Es geht hier um tausende von Menschen… auch um unsere eigenen Kinder. Willst du, dass deine Tochter in Frieden aufwachsen kann, Meoran? Dann komm mit mir und beende dieses Fiasko!“ Der Mann sah sie mit seinem einen Auge schweigend an, während Tabari seufzte und den Kopf in den Nacken legte, um zum dunkler werdenden Himmel zu starren.

„Du musst nicht nackt auf dem Tisch tanzen, Nalani, dieser Anblick ist allein mir vorbehalten. Wir werden nach Vialla gehen, es liegt dicht dran von hier aus. Morgen brechen wir auf, wenn alle fit sind.“
 

Leyya fühlte sich überhaupt nicht wohl. Der Gedanke, am nächsten Tag aufzubrechen und viel zu gehen, ängstigte sie und verdarb ihr die Laune. Sie hatte schon seit dem Mittag Bauchschmerzen und wusste nicht, warum; es lag nicht am Essen, da war sie sicher, der Schmerz kam nicht aus dem Magen, sondern lag tiefer. Vielleicht bekam sie die Seekrankheit erst nach der Seefahrt oder es war die Auswirkung der grausamen Erschöpfung, die sie jetzt im Dorf Ardunan zum ersten Mal mit aller Macht spürte. Auf der Fahrt auf dem Yarmol war sie tapfer gewesen, sie hatte kaum extreme Müdigkeit verspürt, es war, als holte sie alle Erschöpfung jetzt auf einen Schlag ein. Sie fragte sich, ob es den anderen besser ging; zumindest hatte sie nicht den Eindruck, dass sie sich so elend fühlten wie sie im Moment, als sie auf der Bastmatte kauerte, die am Boden des Wirtshauses lag und auf der sie schlafen würde.

Das Haus war nur eine winzige, schäbige Taverne, es gab so etwas wie Gästebetten nicht, deswegen hatte man Matten auf den Boden legen lassen und die Tische und Stühle im Raum nach Feierabend zur Seite geschoben, damit die Fremden aus dem Norden dort schlafen konnten. Bei dem Angriff auf das Plateau hatten sie fast all ihr Hab und Gut verloren, so auch ihre Reisedecken; im Dorf hatten sie immerhin drei Stück bekommen können, die nicht gebraucht wurden. Um Tragen zu bauen war keine Zeit, wie es schien, auch nicht, um mehr Decken aus Wolle anfertigen zu lassen. Leyya bedauerte es, nicht etwas in dem kleinen Dorf bleiben zu können, zumindest, bis sie keine Bauchschmerzen mehr hatte; na ja, vielleicht waren die ja am nächsten Tag schon weg.

Der baldige Aufbruch hatte auch etwas Gutes, hatte sie gemerkt; wenn sie nicht blieben, bekam Puran keine Gelegenheit, sich mit irgendeiner Frau einzulassen. Sie kam sich dumm vor, weil sie der bloße Gedanke daran, dass er mit einer anderen Frau als ihr verkehrte, rasend eifersüchtig machte; wozu war sie neidisch? Puran würde sie nicht so sehen, wie sie ihn sah… für ihn war und blieb sie ein Mädchen. Und er würde und konnte sich nicht mit einem Mädchen vergnügen, das noch keine Frau war; das war verboten und die Geister würden es strafen. Vielleicht waren die Bauchschmerzen eine Strafe für sie, weil sie sich heimlich wünschte, dass er sie wie eine Frau berührte… manchmal träumte sie nachts von ihm, dass er sie noch einmal küsste und dass seine Hände mit ihren quasi nicht vorhandenen Brüsten Dinge taten, die man besser mit großen Brüsten machen konnte… und wenn sie aufwachte, war ihr heiß und schwindelig und sie wusste nicht, warum das so war.

Sie hob traurig den Kopf, um nach Puran zu suchen, der am anderen Ende des Raumes auf seiner Matte lag und an die Decke starrte. Wie gerne wäre sie zu ihm gekrabbelt und hätte sich trotz der Schmerzen zu ihm gekuschelt? Sie wollte bei ihm sein, sie spürte instinktiv, dass sie da hingehörte… an seine Seite. Sie hatte es von Anfang an gespürt, schon am ersten Tag, den sie ihn gekannt hatte. Sie hatte in sein Gesicht gesehen und gewusst, dass er der Mann sein würde, dem ihr Herz für immer und ewig gehören würde.

Warum lasst ihr Geister mich so etwas fühlen, wenn er es nie erwidern wird?! schimpfte sie innerlich, Das tut weh und ist ungerecht…

Als sie merkte, dass Puran nicht zu ihr herüber sehen würde, legte sie sich deprimiert hin und versuchte frustriert, einzuschlafen.
 

Puran spürte die Blicke des Mädchens ganz genau, er achtete aber darauf, sie erst anzusehen, als sie ihm bereits den Rücken gekehrt hatte. Er wollte nicht, dass sie merkte, dass er sie ansah… sie sollte ruhig denken, er würde sich nicht für sie interessieren. Dass sie sich für ihn interessierte, war kein Geheimnis, selbst er hatte es begriffen, wenn auch als Letzter, so war ihm aufgefallen. Aber egal, was die arme Leyya empfinden mochte, es war nicht gut so. Er durfte nicht zulassen, dass sie ihm zu nahe kam; er war auch nur ein Mann. Und sie war eine Fastfrau. Eben nur fast… sie war zu sehr eine Frau, dass er in ihr noch ein kleines Kind hätte sehen können, aber sie war auch noch zu sehr Kind, als dass es erlaubt gewesen wäre, wenn er sie auf die Weise begehrte, wie er schon diverse andere Frauen vor ihr begehrt hatte… Ruja, Cholena, die Witwe aus Iter, Rehkleid, selbst Vogelstimme.

Rehkleid. Er fragte sich stumm, ob sie noch am Leben war; sie war noch so jung, zwar immerhin älter als Leyya und definitiv eine Frau… aber sie war von der Statur her Leyya gar nicht unähnlich gewesen. Sehr klein und zierlich und mit verhältnismäßig wenigen weiblichen Rundungen. Er hatte sie von den dreien, mit denen er sich so die Zeit vertrieben hatte auf dem Plateau, am liebsten gehabt, er hatte sie hübsch und niedlich gefunden. Mit Entsetzen stellte er fest, als er jetzt Leyya von hinten betrachtete, dass die beiden einander wirklich sehr ähnelten. Er fragte sich, ob er Rehkleid vielleicht unterbewusst nur aus diesem Grund attraktiv gefunden hatte…

Die Gedanken verschafften ihm Übelkeit. Was dachte er da?! Leyya war noch immer ein Mädchen, sie war noch nicht erwachsen! Wie konnte er so über sie denken? Aber er begehrte sie… er merkte es jetzt, da er sie schweigend ansah, deutlicher als je zuvor, dieses Verlangen in sich, sie zu berühren… und es war ganz anders als das, was er vor Jahren in Tuhuli für Ruja empfunden hatte. Dieses Verlangen war viel realer, viel heftiger und viel drängender; Leyya war keine verheiratete Frau.

Nein, sie war überhaupt keine Frau!

Und es war nicht nur ihr zierlicher, unschuldiger Körper, den er so sehr begehrte… er hatte sie gern. Er hatte sie richtig gern und er sprach gerne mit ihr, war gerne mit ihr zusammen… es fühlte sich richtig an, wenn er bei ihr war. Die Geister hatten ihn damals zu ihr nach Makar gezogen, damit er sie fand. Er, nicht irgendein anderer Mann, sondern er allein. Und jetzt zogen sie ihn wieder zu diesem Heilermädchen, das ihm so sehr ans Herz gewachsen war.

Verdammt… das geht nicht! Sie ist noch keine Frau, solange sie dieses Ritual nicht hatte! Du darfst kein Mädchen begehren, du perverser Sack… du bist verdammt noch mal zu alt für sie!

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als seine Mutter zu ihm kam. Er setzte sich nervös auf und raufte sich die Haare, weiter auf die kleine Heilerin starrend.

„Du solltest mit ihr sprechen.“, sagte Nalani sehr leise zu ihm, und er brauchte etwas, um sie zu verstehen.

„Was? Ähm – mit wem?“

„Mit Leyya. Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber dass ihr umeinander herumeiert und euch dauernd verstohlene Blicke zuwerft entgeht nicht mal mehr deinem verpeilten Vater. Ihr solltet reden, Puran, das wird es erleichtern.“ Er brummte, während er das Mädchen weiterhin betrachtete. Sein Blick blieb unweigerlich an ihrem Hintern kleben und er errötete, als das Verlangen in ihm plötzlich ganz fürchterlich dringend wurde.

„Es ist nichts vorgefallen!“, zischte er energisch, „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Mutter.“ Sie hob skeptisch eine Braue und folgte seinem Blick, sah demonstrativ wieder in sein errötetes Gesicht und feixte.

„Ach ja? Deswegen guckst du sie auch an wie ein Raubtier ein blutiges Fleischstück, genau…“ Er schnappte empört nach Luft und sie entschloss sich, in aller Ruhe weiter zu bohren. „Dir ist sicher aufgefallen, dass Leyya kein kleines Mädchen mehr ist… sie wird schon bald zu einer Frau werden.“ Er zischte jetzt. Oh ja, das war ihm aufgefallen, und wie… er erhob sich unruhig und tappte nervös von einem Fuß auf den anderen.

„Ja, Mutter! Sonst noch etwas? Lass das meine Sorge sein, oder möchtest du mir noch mal diskret vorschreiben, was ich zu tun habe im Leben, wie du es schon immer getan hast? Verdammt, ich…“ Er warf einen letzten Blick auf Leyya, dann hektisch auf seine Hose und sah dann zu, dass er zur Tür kam. „Ich muss an die frische Luft.“ Weg war er und Nalani, die zurück blieb, kicherte dämlich. Jetzt sah Ruja auf, die Saidah zu Bett gebracht hatte, und seufzte.

„Ach, Nalani, du bist so sadistisch. Der arme Kerl, mir tut das leid.“

„Wenn er sich so dumm anstellt, mein Himmel.“, seufzte die Ältere und erhob sich auch. „Was in ihm vorgeht, ist ja wohl offensichtlich. Dazu muss ich nicht mal Gedanken lesen können.“ Die Telepathin schüttelte lächelnd den Kopf.

„Es ist doch gut, wenn er sich so zusammenreißt… noch ist sie immerhin ein Mädchen.“

„Noch, ja, aber bald wird sie es nicht mehr sein. Sag mal, hat Meoran mit dir auch so ein Theater gemacht, weil du neun Jahre jünger bist als er?“ Jetzt kicherte die Frau leise und sah auf ihren Mann, der mit Tabari an einem der Tische über die Karte gebeugt saß und irgendetwas nachrechnete.

„Na ja… als ich so alt war wie Leyya jetzt, war ich noch nicht annähernd eine Frau. Aber als ich dann eine wurde, hat er sich nie gesträubt oder geschämt für das, was zwischen uns war. Und es war ja auch wundervoll…“ Sie errötete leicht und Nalani räusperte sich, weil sie die weiteren Gedanken ihrer Freundin gar nicht kennen wollte.

„Wir sollten schlafen… Puran wird schon zurückkommen, wenn er fertig ist. Morgen wartet ein langer Fußmarsch auf uns.“
 

Am nächsten Morgen regnete es. Es war ein sanfter, aber trotzdem kalter Frühlingsregen, der die Gruppe nicht gerade dazu motivierte, Ardunan zu verlassen. Vor allem Leyya nicht; der armen Kleinen schien es furchtbar zu gehen, am Morgen nach dem Aufwachen hatte sie entsetzlich elend ausgesehen und jetzt, während die anderen gepackt hatten, hatte Nalani sich ihrer angenommen und versuchte jetzt im Hinterstübchen des Wirtshauses, irgendetwas gegen ihre Bauchschmerzen zu tun, wie es schien.

„Wir… könnten auch einfach noch einen Tag bleiben, wenn niemand etwas dagegen hat…“, stöhnte Puran und sah hinaus, während er, eine der Decken und einen kleinen Sack mit Vorräten auf den Rücken gebunden, unter dem Vordach des Wirtshauses stand.

„Da hat gewiss niemand etwas gegen.“, meldete das Dorfoberhaupt guter Laune, „So ein Regen kommt hier öfter vor. Die Wolken stoßen gegen die Berge und bleiben deswegen andauernd über unserem Dorf. Aber bei viel Regen schwillt der Fluss an und manchmal werden Fische angespült.“

„Das ist hervorragend.“, sagte Tabari lächelnd, „Ich gäbe viel darum, bei euch noch etwas Fisch essen zu können, aber leider müssen wir dringend aufbrechen. Ich hoffe, die Kleine ist in Ordnung…?“ Er sah besorgt nach drinnen, wo Nalani mit Leyya beschäftigt war, während die anderen draußen warteten.

Sie hatten ihre Kanus gegen Vorräte und eine Babytrage für Ruja eingetauscht. Saidah war mit ihren zwei Jahren zwar kein Baby mehr, aber sie war noch zu klein, um lange zu Fuß zu gehen, außerdem war sie natürlich auf ihren kurzen Beinchen viel langsamer und würde sie nur aufhalten. So war es besser, wenn ihre Mutter sie trug. Jetzt saß das kleine Mädchen auf dem Rücken der Mutter in der Trage und wippte kichernd mit einem Bein.

„Sie hat Rujas Gesicht.“, meinte Puran und betrachtete das kleine Mädchen eine Weile, worauf Ruja kichernd den Kopf zu ihm drehte.

„Meinst du? Zumindest meine Haare hat sie.“

„Ja, ich finde, sie sieht dir sehr ähnlich.“ Der Jüngere lächelte flüchtig und fuhr sich dann ein paar Mal gedankenverloren durch die Haare. Saidah hatte auf der Stirn ein markantes, kleines Muttermal; der kleine Punkt sah auf den ersten Blick immer seltsam aus, aber eigentlich war es niedlich. Sie würde später sicher mal eine bildschöne Frau werden, genau wie ihre Mutter. Und da sie eine kleine Schwarzmagierin war, würde sie sicher eines Tages wie ihr Vater die Macht des Chimalis-Clans inne haben, dessen letzte Nachkommin sie war. Natürlich bestand immer noch die Chance, dass sie noch kleine Geschwister bekommen würde, Ruja war schließlich noch jung…

Sie wurden aus ihren Gedanken gerissen, als Nalani gemeinsam mit der bleichen Leyya aus dem Haus kam. Während das Heilermädchen den Blick gesenkt hielt, aber wenigstens ein klein wenig gesünder aussah als nach dem Aufstehen, schenkte Nalani erst Ruja einen bedeutungsvollen Blick, ehe sie ihren Sohn kurz anlinste.

„Was?“, fragte dieser perplex, als er den Blick bemerkte, und seine Mutter seufzte und schob die kleine Leyya behutsam aus dem Haus, ihr folgend.

„Es wird sich schon geben. Ich habe ihr Schmerztee gegeben.“ Sie erntete einen großen Blick von Ruja und Puran fragte sich, warum seine Mutter ihn so dämlich anguckte, wenn sie erzählte, sie hätte Leyya Tee gegeben; was hatte er jetzt damit zu tun? „Wir haben… viel vor uns, es kommt noch einiges auf uns zu. Womit wir die Reihe von an sich erfreulichen Ereignissen in absolut unpassenden Zeiten fortführen.“ Mit ihren Worten verwirrte sie nur alle, abgesehen von Ruja, die jetzt schmunzeln musste, worauf ihr Mann ihr einen sehr blöden Blick schenkte.

„Was meint sie damit, was soll die Geheimniskrämerei?“

„Wir sollten jetzt wirklich aufbrechen, ehe es Mittag wird.“, war alles, was sie sagte, ehe sie Nalani folgte, die mit Leyya an der Hand bereits voraus ging. Die drei Männer warfen sich dämliche Blicke zu.

„Hat einer von euch verstanden, was hier los ist, oder bin ich nicht der einzige Depp hier?“ brummte Meoran.

„Weiber.“, stöhnte Tabari und verdrehte die Augen, „Ich habe es auch nicht geschnallt und so, wie mein Sohn guckt, der noch weniger; wir sollten ihnen folgen, bevor sie uns weglaufen…“
 

Der Marsch im Regen nach Süden war nicht beschwerlich, nur etwas unangenehm. Sie reisten quer über ein hügeliges Land, das jetzt im Frühling grün war. Die Blumen ließen traurig ihre Köpfe hängen im Regen, aber Leyya war sich sicher, dass sie in den schönsten Farben erblühen würden, sobald die Sonne wieder hervor käme… genau wie sie selbst.

Nach der Nacht hatten die Bauchschmerzen etwas nachgelassen, aber das Mädchen hatte am Morgen die Ursache für sie gefunden; es hatte sie selbst erschreckt, obwohl sie es eigentlich als Heilerin hätte ahnen und besser wissen müssen, als in ihrer Unterwäsche am Morgen plötzlich das Blut einer Frau gewesen war. Sie war eine Frau! Na ja, zumindest fast; eine richtige Frau wäre sie erst nach dem traditionellen Ritual, das unter Schamanen üblich war. Die Nichtmagier hatten das nicht, hatte sie gelernt. Obwohl sie sich doch so lange danach gesehnt hatte, eine Frau zu werden und viele Gedanken für dieses bevorstehende Ritual übrig gehabt hatte, so konnte sie sich jetzt gar nicht mehr damit befassen; es verwirrte sie immer noch, dass die Geister sie einfach so von einem Tag auf den nächsten zur Frau gemacht hatten. Es machte sie trotz der Schmerzen stolz und glücklich… mit diesem neuen Problem hatte sie sich an jemanden wenden müssen, da war ihr Nalani als am geeignetsten erschienen, da Ruja mit ihrer kleinen Tochter genug zu tun hatte.

Nalani hatte sie auf ihren Bericht mütterlich umarmt und sich sehr gefreut; ihre Freude hatte das Mädchen tief berührt und sie fragte sich, ob ihre leibliche Mutter sich auch so gefreut hätte über die Tatsache, dass sie jetzt eine erwachsene Frau wurde.

„Sowas passiert meistens plötzlich, das ist nicht schlimm.“, hatte ihre nicht leibliche, aber gefühlte Mutter zu ihr gesagt, und sie hatte ihr im Dorf eine frische Unterhose und die kleinen, weichen Fellstücke besorgt, die extra dafür da waren, um das Mondblut aufzunehmen. „Es passiert sehr früh bei dir.“, hatte sie ebenfalls gesagt, „Aber für dein Alter ist dein Körper auch schon sehr erwachsen…“

Leyya kicherte unwillkürlich, als sie eine aufgeregte Euphorie überkam über die Tatsache, dass sie jetzt fast erwachsen war. Da waren die Schmerzen gar nicht mehr so schlimm… vielleicht würden ihre Gebete zu den Geistern doch noch erhört werden und Puran würde sie bald endlich wie eine Frau ansehen… so, wie sie es sich schon lange wünschte. Was wünschte sie sich mehr als wie eine Frau in seinen Armen liegen zu können? Bei den nächsten Gedanken errötete sie. Vielleicht würde sie das schon bald können…

Und genau das war ein Problem.

„Wann können wir in Vialla sein?“, fragte Nalani ihren Mann und Meoran, die abwechselnd im Gehen die Landkarte betrachteten.

„In ein paar Tagen vermutlich, kommt darauf an, wie schnell wir gehen.“, war Meorans Antwort, „Wenn wir quer über das Hügelland Ealrinth gehen und ab Dreem die Straße nehmen, sind wir bald dort. Verlaufen können wir uns kaum, der Weg ist nicht sehr weit.“

„Das ist gut, wir sollten sehen, dass wir dort irgendwie eine Herberge finden, die wir bewohnen können, wir haben nämlich noch ein Problem zu erledigen, ehe wir uns an den König wenden können.“ Auf diese Aussage hin erntete Nalani einige fragende Blicke, während Leyya jetzt etwas errötete, weil sie Probleme hatten ihretwegen… sie wagte nicht, Puran anzusehen, der sie kurz musterte, aus Angst, in seinem Gesicht Missfallen zu finden.

„Ein Problem?“, machte Tabari verblüfft. Seine Frau tätschelte Leyyas Kopf.

„Unsere kleine Heilerin ist über Nacht zur Frau geworden… das heißt, wir haben dafür zu sorgen, dass sie demnächst das Blutritual bekommt. Und das geht in einer Stadt gewiss besser als unter freiem Himmel, nehme ich an.“

Die Reaktionen auf diese Nachricht waren verschieden; Ruja, die es durch Gedankenlesen zuvor schon gewusst hatte, strahlte fröhlich, während Tabari und Meoran stumm die Augenbrauen hochzogen und Puran unmerklich erbleichte.

„Wie jetzt, wirklich?“, war die absolut intelligente erste Reaktion des Herrn der Geister. „Das – ist doch ein gutes Zeichen, trotz aller Misere machen die Geister jetzt aus dem Mädchen eine Frau… das erheitert mich irgendwie gerade.“ Er lachte fröhlich und schenkte Leyya einen Blick voll von väterlichem Stolz. Die Kleine errötete gerührt und drückte unsicher Nalanis Hand in ihrer. Alle waren so lieb…

„Na, dann sollten wir rasch nach Vialla gehen, da hat Nalani wohl recht.“, war Meorans Kommentar, „Die Blutgeister sollen schließlich nicht zornig werden, weil wir so lange warten… Zorn können wir wirklich nicht gebrauchen jetzt.“

Während die anderen anfingen zu reden und langsam ihren Weg über die regnerischen Hügel von Ealrinth fortsetzen, beobachtete Puran die kleine Leyya mit abwesendem Blick, ohne dass die Farbe zurück in sein Gesicht kehren mochte.

Sie war jetzt eine Frau? Oder fast? Einerseits überkam ihn plötzlich Erleichterung… darüber, dass er sich dann nicht mehr schämen müsste, etwas Verbotenes zu tun, wenn er sie begehrte. Sobald sie eine Frau geworden war, war es erlaubt…

Andererseits schämte er sich plötzlich dennoch ob der Gefühle, die jetzt in ihm wach wurden. Egal, ob sie eine Frau war, sie war doch irgendwo immer noch quasi ein Kind! Er versuchte krampfhaft, sich gegen die Anziehung zu wehren, die von der kleinen Heilerin ausging, als sie jetzt an der Hand seiner Mutter weiter marschierte und er sie starr von hinten beobachtete, wie sie ging.

„Rede mit ihr.“ , hatte Nalani gesagt; die war gut! Wenn er mit ihr redete, würde er sich nur wie ein Idiot benehmen und wer wusste, wie lange er sich beherrschen könnte, dem Verlangen zu widerstehen, sich einfach auf sie zu stürzen und sie zu…? Er schüttelte sich und war angewidert von sich selbst. Was dachte er da? Er tat ja, als hätte er seit Jahren keine Frau berühren können… seine Gedanken schweiften zu dem, was auf die erste Blutung einer Frau unweigerlich folgen würde, von dem seine Mutter gesprochen hatte; das Blutritual. Und das, was sein Instinkt ihm dazu sagte, erregte ihn und verunsicherte ihn zugleich.

Hör auf dein Herz, sagten die Geister zu ihm, und ausnahmsweise mal sprachen sie nicht in zischendem Ton, sondern flüsterten leise. Er wusste, was auf ihn zukäme, aber er wollte es nicht hören. Brummend drehte er den Kopf zur Seite und ignorierte die Stimmen, die versuchten, auf ihn einzureden.

Die Zeit, in der er vor Geister weggelaufen war, war vorüber. Dachte er.
 

Sie verbrachten eine unruhige Nacht am Fuße eines Hügels in einer relativ windgeschützten Mulde; durch den Regen waren sie nass bis auf die Knochen und ihre Reisedecken würden die Kälte der Nacht auch kaum abhalten, da sie ebenfalls nass waren. Mit dem nassen Reisig ein Feuer zu machen war unmöglich, so stellten sie sich auf eine eisige Nacht ein. Die Decken waren zum Glück relativ groß, sodass sie sich zu zweit jeweils eine teilen konnten; Meoran und Ruja dank ihrer Tochter sogar zu dritt. Puran war froh, dass seine Mutter es ihm ersparte, sich mit Leyya eine Decke zu teilen, stattdessen nahm sie die Kleine unter ihre Fittiche, während ihr Sohn sich mit seinem Vater um die letzte Decke hauen konnte. Am nächsten Morgen waren sie durchgefroren von der kalten Nässe, aber als sie ihre Reise eilig fortsetzten, hatte der Regen über dem Land aufgehört.

„Sonne!“, strahlte Leyya und zeigte nach Osten, als sie den Hügel überquerten und weiter nach Süden marschierten. „Schaut, es gibt doch Sonne in diesem Land aus Gras.“ Die anderen folgten dem Blick der Heilerin und Tabari legte die Stirn nachdenklich in Falten. Ja, da war die Sonne, aber ihr freundlicher Schein war trügerisch… am Rand der Erde im Osten zog rötlicher Rauch des Todes auf.

„Die Zuyyaner.“, murmelte er und Leyya erbleichte, die anderen drehten benommen die Köpfe. Saidah strampelte wild in ihrer Rückentrage.

„Feuer da? Mag nicht!“ Ruja machte aber nur ein bestürztes Gesicht, während Meoran der Kleinen tröstend über das Köpfchen strich.

„Das Feuer ist weit weg… es kommt nicht her, meine Kleine.“ Es war Puran, der die Aufmerksamkeit wieder nach Süden zog.

„Aber, äh, da kommt etwas anderes her… wollen die zu uns?“

Die Gruppe wandte sich wieder um und sah durch das vom gestrigen Regen nasse, matschige Grasland zwei große, verzierte Kutschen auf sich zukommen. Vor den Pferden ging ein Dutzend uniformierter Männer auf Rössern mit Waffen und als Nachhut ebenso viele noch einmal. Die Geisterjäger warfen sich verwunderte Blicke zu.

„Wer ist das denn?“, machte Tabari verblüfft. „Wollen die echt zu uns?“

„Keine Ahnung, deshalb frage ich ja.“, entgegnete Puran, „Vielleicht sind das nur Aristokraten, die spazieren fahren… durch… matschiges Grasland.“

„Sollen wir weglaufen?“, wunderte Leyya sich verängstigt und nahm unsicher Nalanis Hand, doch die Frau schien keine Angst zu haben.

„Nein, wir warten, bis sie da sind oder vorbei gefahren sind. Das sind keine Zuyyaner… die kommen aus Vialla.“ Sie sah auf einen Mann ganz am Ende der Kolonne, der ein Banner mit dem Wappen des Landes Kisara trug. So ein Banner durfte eigentlich nur einer mit sich herum tragen… in dem Moment, in dem Nalani das noch dachte, kam die Kolonne genau vor der Gruppe zum Stehen. Der vorderste Mann lenkte sein verziertes, gepflegtes Pferd quer vor die Schamanen, als wollte er ihnen den Weg abschneiden. Leyya fragte sich, ob sie nicht doch hätten weglaufen sollen…

„Ihr seid Herr Tabari Lyra, Statthalter des Kreises Vikhara im Nordland Dokahsan, ist das richtig? Ihr seid der Ratsvorsteher des Rates der Geisterjäger?“, fragte der Mann auf dem Ross laut und angespannt. Tabari zog eine Braue hoch und war viel zu beschäftigt damit, fasziniert diese komische Kolonne vor sich zu betrachten, um zu antworten, bis Meoran ihn verhalten anstieß.

„Äh, ja, genau! Das bin ich.“ Der Mann auf dem Ross räusperte sich wichtig.

„Das ist gut, wir haben tagelang nach Euch gesucht, wir erhielten Nachricht, ihr würdet in Ealrinth landen!“

„Was, woher wussten die das denn?“, fragte Puran sich perplex, „Das wussten doch nicht mal wir bis gestern…“ Doch der Uniformierte sprach bereits weiter, während er eine Armbewegung nach hinten machte, worauf die anderen Rösser sich in einer Parade aufstellten und einer absprang, um eilig die Tür der vorderen Kutsche zu öffnen.

„Dann habt Ihr jetzt eine Audienz bei seiner Majestät, dem König vom Lande Kisara! Er möchte Euch unverzüglich sprechen!“
 

Die Schamanen starrten ihn ungläubig an und schließlich hustete Nalani.

„Na, das ist aber praktisch, genau den hätten wir ohnehin gern gesprochen.“, murmelte sie, sodass nur Leyya neben ihr es hören konnte. Tabari seinerseits versteifte sich und hob den Kopf in die Höhe, als aus der vorderen Kutsche ein erstaunlich wenig verzierter Mann stieg. Und der Herr der Geister war verwirrt, als dieser Mann an der Parade der Soldaten vorbei auf sie zukam.

„Das ist der König? Moment, als ich zuletzt in Vialla war, sah er aber anders aus!“

„Verneigt euch, ihr Unwürdigen!“, zischte der angespannte Mann auf dem Ross empört, weil alle nur fassungslos starrten, und gehorsam kamen die Magier seiner Bitte nach. Saidah strampelte gackernd.

„Saidah mag König gucken! Hat nie König geguckt, hihi!“

„Shht, Mäuschen…“, versuchte Ruja gedämpft, sie zur Ruhe zu bringen. In dem Moment blieb der Mann vor der Gruppe stehen.

„Nicht doch, steht bequem.“, war das erste, was er sagte, „Ihr müsst Euch nicht vor mir verneigen; nicht jetzt.“

„Ihr seid der König?“, wagte Tabari verdattert zu fragen, „Wer war dann der König, den ich vor Jahren in Vialla gesehen habe?“

„Vermutlich mein Vorgänger, ich bin noch nicht lange im Amt. Mein Vater verschied vor beinahe einem Jahr, seitdem bin ich König, ich vermute, dass Ihr seitdem nicht mehr in Vialla gewesen seid; die Umstände ließen es schwer zu, so fürchte ich.“ Tabari starrte ihn nur an, ebenso wie alle anderen, vor allem Leyya war ganz fasziniert; das war der König? Der redete ja ganz normal und war ein normaler Mensch! Irgendwie war ein König so etwas Hohes und Unfassbares für sie gewesen, dass sie die Tatsache erstaunte, dass er ein Mensch aus Fleisch und Blut war, genau wie sie… wie alle anderen.

Tabari wurde jetzt manches klar. Ah, ein neuer König! So war das also. Der König sah der Reihe nach die anderen an.

„Dann ist das Eure werte Gemahlin, die Schattenkönigin Nalani? Und Ihr seid dann Herr Meoran Chimalis aus Tuhuli, nehme ich an?“

„So ist es.“, sagte Meoran stellvertretend für Nalani mit und neigte den Kopf, „Wie können wir dienen, Majestät?“

„Und woher wusstet Ihr, dass wir hier sein würden…?“, wunderte der Herr der Geister sich verdattert, worauf der König eine Handbewegung machte und zwei Männer der Nachhut zur zweiten Kutsche eilten, um die Türen zu öffnen. Und die Schamanen staunten nicht schlecht, als sie dort den Rest des Geisterjägerrates aussteigen sahen; da waren Hakopa Kohdar und seine beiden Söhne, Neron Shai und auch Henac Emo.

„Ich ließ mir sagen, die Geister hätten Eure Ankunft hier vorausgesehen.“, antwortete der König zufrieden, als die übrigen Geisterjäger ebenfalls hinzu traten. Tare Kohdar war ganz aus dem Häuschen.

„Ich freue mich, euch alle wohlauf zu sehen!“, wagte er die Konversation zu unterbrechen und die Geisterjäger schüttelten einander die Hände, „Emo war das mit dem Voraussehen, er hat gute Augen, aber der Idiot hat sich um drei Tage verrechnet, wir suchen schon ewig nach euch.“

„Mach es besser, vorlauter Sack.“, zischte Henac Emo dem Älteren nur missgelaunt wie eh und je zu, und Meoran senkte wie automatisch die Brauen feindselig bei seinem Anblick. Beim letzten Mal, dass er mit seinem Kollegen gesprochen hatte nach der Schlacht von Aughot, waren sie ziemlich aneinander geraten und er hatte die garstigen Worte Ruja gegenüber nicht vergessen, die Emo von sich gegeben hatte. Als ihn der Blick des Jüngeren traf, legte sich auf dessen Gesicht ein verblüfftes Grinsen. „Alter, Meoran, was hast du mit deinem Auge gemacht…?“

„Zügele deine Zunge, Schlange.“, war alles, was Meoran sagte, ohne sich richtig aufzuregen; dafür waren ihm seine Nerven zu schade. Emo war zwar ein Idiot, aber er war ein Kollege und ein guter Magier… er hatte kein Recht, ihn anzupflaumen.

„Was macht ihr alle hier?“, wunderte Tabari sich jetzt und sah verdattert auf den König, der das Begrüßungsszenario offenbar geduldig verfolgte. „Was… geht hier eigentlich vor, Majestät?“ Jetzt verstummten alle und wandten sich wieder dem höchsten Mann im Reich zu, der übrigens ein gutes Stück kleiner als Tabari und eigentlich auch fast alle anderen Geisterjäger war. Selbst Nalani war größer als er.

„Ich sprach zuerst mit Euren Kollegen des Rates, und als sie sagten, sie würden eine Entscheidung nur im Beisein des versammelten Rates treffen können, sah ich mich gezwungen, Euch suchen zu gehen… deswegen bin ich hier. Es geht um die Zuyyaner, diese Elenden, die seit Jahren schon unser Land überfallen. Ich sage angesichts der Tatsache, dass es nicht mein Land allein ist… ihr alle seid Teil seines Volkes und ein König ohne ein Volk wäre keiner… in Wahrheit, Herr Lyra, komme ich zu Euch und Euren Kollegen in tiefster Demut.“ Der Augen des Blonden weiteten sich, als alle Geisterjäger den König anblickten, der sich plötzlich vor ihnen verneigte. Hektisch taten es alle uniformierten Männer auf den Rössern ihm gleich und die Magier sahen einander verblüfft an.

„Was denn, der König neigt vor uns den Kopf…?“, raunte Henac Emo und auf sein Gesicht stahl sich ein Lächeln, das Nalani gar nicht gefallen wollte, die das aus dem Augenwinkel beobachtete. Der König sprach.

„Mein Vater tat Unrecht, als er euch Magier verfluchte und versuchte, sie sich vom Halse zu schaffen, wehe! Ich fürchte, ich kann nicht rückgängig machen, was er tat und sprach, aber ich bin hier, um Euch demütigst um Vergebung zu bitten… denn was mein Vater übersah, bringt uns in diesem Krieg beinahe um. Ihr Magier seid die einzigen… die es geschafft haben, sich gegen diese Eindringlinge von Zuyya wirklich erfolgreich zu behaupten. Ich will es kurz machen… ohne Eure Hilfe verlieren wir dieses Gemetzel und Kisara… wird fallen. Im Moment belagern sie bereits die Hauptstadt von Norden her… es ist fast unmöglich, hinein oder hinaus zu kommen. Gut, dass ich als König mich in meinem eigenen Land besser auskenne als die Zuyyaner. Und so komme ich zu Euch, Herr der Geistermenschen, Herr der Schamanen aus dem Norden, und ich flehe Euch an… helft uns.“ Bei diesen Worten ging er noch weiter und fiel vor Tabari auf die Knie in den Matsch. Der Blonde keuchte und trat entsetzt zurück, während die übrigen sich immer perplexer ansahen.

Der König von Kisara, dessen Vorgänger sie immer verflucht und verhöhnt hatte, lag auf Knien vor ihnen und flehte um Beistand? Es war ein bizarres Bild. Tabari wusste nicht, was er antworten sollte. Emo wusste es sehr genau.

„Wir sollen für Euch in erster Reihe stehen und uns die Köpfe abschlagen lassen? Klar, sicherlich, Eure Hoheit. Was springt für uns dabei raus? Nachdem wir uns jahrelang haben anhören müssen, wie Euer… verdammter Vater uns Magier als unwürdig und machthungrig bezeichnete, sollen wir seinen Nachfahren jetzt dienen?!“

„Henac!“, warnte Hakopa Kohdar ihn erbost und Tabari machte planlos den Mund auf.

„Nein, Herr.“, sagte der König und erhob den Kopf ernst wieder, „Ihr sollt nicht mir dienen, sondern meinem Land, Kisara. Und was für Euch dabei herausspringt? Rechte, die euch mein Vater nicht eingestehen wollte. Ehre und Ruhm… wenn wir es gemeinsam schaffen, die Zuyyaner zu schlagen, so schwöre ich euch, wird kein Schamane in meinem Land mehr verachtet oder gefürchtet werden. Ich sorge dafür, dass wir gemeinsam… als ein Volk aus Menschen, Lianern und auch Schamanen ein Land sind.“

„Das sind utopische Ideen, die Ihr da habt, tss.“ machte Henac Emo grimmig, „Glaubt Ihr, das geht so einfach?“

„Ich möchte es gerne glauben, ja. Ich sage nicht, dass es von heute auf morgen funktioniert, aber Zeit meines Lebens werde ich dafür kämpfen. Wenn Ihr nicht kämpft, dann wird Kisara schon bald fallen… wo wollt Ihr dann hin? Senjo und Janami sind sicher als nächstes dran, ich glaube nicht, dass die Zuyyaner so schnell Halt machen. Vor denen, so wage ich zu sagen, ist nicht einmal das Schattenland hinter Dhimorien sicher! Und selbst, wenn es das wäre, Ihr wollt doch nicht Euer Leben im finsteren Ostland fristen…?“ Emo wollte etwas Giftiges erwidern, aber jetzt hatte der Herr der Geister seine Sprache wiedergefunden.

„Halt den Rand, Emo!“, blaffte er ihn an, ehe er etwas gesagt hatte, und der Schwarzhaarige weitete erstaunt die dunklen Augen. „Ich… bin hier immer noch das Oberhaupt des Rates, und nicht du. Was der König sagt, ist die Wahrheit, und lass mich dir etwas nahelegen; euch allen!“ Er drehte mit grimmiger Entschlossenheit den Kopf und sogar Nalani fuhr zurück bei seinem unbekannten Blick.

Ein Blick, der klar machte, dass er ein Führer war… dass er der Sohn einer Familie von Herrschern war. Der Sohn von Kelar Lyra.

„Dieses Land, diese Erde, auf der wir stehen, ist unsere Mutter, und der Himmel über uns ist unser aller Vater! Nicht nur meiner und deiner, Emo, nicht nur der der Schamanen! Auch der der Menschen, aller Tiere, aller Pflanzen und lebenden und nicht lebenden Dinge auf dieser Welt. Dieses Land, Kisara, ist das Land, das uns eine Heimat gegeben hat, seit jeher hat es das getan. Und ich… bin nicht bereit, diese Heimat an diese Schweine aus der blauen Welt abzugeben! Wir alle hier sind Teil eines Kreises, eines Volkes, und wir wollen, dass unsere Nachkommen und deren Nachkommen in einem blühenden Land leben können, in einem Land des Lichts und des Friedens! Ich sage, wir kämpfen für unser Heimatland, und wenn es sein muss so lange, bis unser Leben verwirkt ist. Das… ist unsere Pflicht als Geisterjäger, das Land zu beschützen vor Unheil, das das Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde ins Wanken bringen könnte.“ Nach dieser Rede erntete er staunende Blicke von allen Seiten. Meoran seufzte leise und senkte lächelnd den Kopf, während die Soldaten des Königs zu murmeln begannen und die kleine Leyya an Nalanis Hand spürte, wie ihr ein aufgeregter Schauer über den Rücken rann, als die Bedeutung dieser wichtigen Worte langsam in sie hinein sickerte wie tauendes Eis.

Ja… er hatte recht! Das war ihr Land, das ihnen Schutz bot… jetzt mussten sie ihm Schutz bieten. Sie lächelte zuversichtlich und sah, wie Meoran seinem Freund eine Hand auf die Schulter legte.

„Das hast du sehr gut gesagt, mein Freund.“, murmelte er dabei, und Tabari sah auf Emo, der schnaufte.

„Was sind wir diesem König schuldig, frage ich?“, schnarrte er, „Dass wir uns als Soldaten für ihn verpflichten?“

„Wir sind dem König gar nichts schuldig.“, erwiderte der Blonde ernst, „Aber unserem Vaterland sind wir es schuldig, denkst du nicht?“ Darauf fiel dem Jüngeren offenbar nichts mehr ein und er machte grummelnd einen Schritt zurück, als Tabari sich an den König wendete und den Kopf senkte. „Ihr habt uns gehört. Ich denke, es bestehen keine Einwände… das heißt, wir nehmen Euer Angebot an und vergelten die Einhaltung Eurer Worte mit Treue und Vergebung.“

„Das ehrt mich, Herr.“, sagte der König zu ihm, erhob sich und lächelte erleichtert. „Wenn der Rat der Geisterjäger mit uns kämpft, sage ich, wir schlagen die Zuyyaner!“ Tabari grinste.

„Ja, das wird auch mal Zeit… hinaus mit den Bastarden aus dem Land!“
 

Die hintere Kutsche war geräumiger, als es von außen schien, denn der ganze Rat der Geisterjäger passte hinein, zusätzlich Ruja, die Saidah auf dem Schoß hatte, und Leyya. So beladen zog die Kolonne wieder zurück in Richtung Vialla durch das nasse Hügelland. Die kleine Saidah war noch nie mit einer Kutsche gefahren und starrte fassungslos aus dem Fenster, wo sich die Welt bewegte, obwohl sie selbst sich nicht rührte.

„Wo sind denn eure Angehörigen?“, fragte Meoran und sah auf Barak Kohdar.

„Schon in Vialla.“, war die Antwort, „Wir haben uns sicher viel zu erzählen. Wie ich sehe ist dein linkes Auge jetzt auch kaputt? Großartig, du solltest dir auch so eine Augenbinde zulegen wie ich, das schindet totalen Eindruck bei den Leuten in Vialla, die denken, wir sind die absoluten Helden.“

„Und wie seid ihr eigentlich in die Wagenkolonne des Königs geraten?“, wunderte Tabari sich auch, während Meoran schmunzeln musste, obwohl die Erfahrung mit seinem Auge nicht wirklich amüsant gewesen war.

„Wir sind ja, nachdem wir uns von euch getrennt hatten, durch das Steppental nach Südosten gewandert. Ausgenommen Henac, der hat sich irgendwann abgesetzt, den haben wir zufällig wieder getroffen, als wir eine Weile in Skelrod gewesen sind.“

„Skelrod?“, fragte Puran verblüfft und zeigte auf Neron Shai, „Wo der herkommt?“

„Ja, genau.“

„So weit nach Noheema seid ihr gelaufen? Lieber Schwan.“, kommentierte der Jüngere das perplex und kratzte sich am Kopf. Barak Kohdar fuhr fort:

„Wir sind nicht so lange da gewesen, den ersten Winter über. Wir sind in Quidon gewesen und haben die Provinzregierung vor den Zuyyanern gewarnt, danach sind wir über den zweiten Winter in Rothor gewesen.“

„Rothor?“, fragte Leyya kleinlaut, die keine Ahnung hatte, wovon die Männer sprachen; außer ihr schienen alle zu wissen, wo das lag… Nalani antwortete ihr.

„Das ist eine Stadt in der Provinz Noheema. Sie liegt mitten in einem großen See und nur eine kleine Landzunge verbindet die Insel mit dem Festland.“ Die Heilerin nickte aufgeklärt und der ältere der Kohdar-Brüder fuhr jetzt fort.

Na ja, und dort hat der König uns gefunden. Er muss von den Schlachten im Norden gehört haben und hat Späher nach uns ausgeschickt, die uns nach Vialla bringen sollten. Als er mit uns gesprochen hatte, haben wir ihm gesagt, dass wir nur eine Entscheidung treffen können, wenn der ganze Rat versammelt ist, deswegen sind wir zusammen mit seiner Majestät persönlich aufgebrochen, um euch abzufangen. Wie ist es euch ergangen?“ Die Frage war noch interessiert; es war Baraks Vater Hakopa, der etwas weiter dachte und murmelnd den Kopf zum Fenster drehte.

„Deine Mutter, Meoran… sie war noch dabei, als wir uns getrennt haben…“

Darauf richteten sich alle Blicke auf das Oberhaupt des Chimalis-Clans, selbst Henac Emo sah von seinen offenbar höchst spannenden Füßen auf. Eine bedrückende Stille trat ein, bis Barak Kohdar sich verlegen räusperte.

„Um Himmels Willen, ich… ich hätte weiter denken sollen-… vergib mir…“

„Ist schon gut.“, war Meorans Antwort und er seufzte kurz, während Ruja mitfühlend nach seiner Hand griff, ohne ihn anzusehen. Sie teilte seinen Schmerz über Keishas Tod… sie war auch für sie wie eine Mutter gewesen. Es war seltsam ohne sie… manchmal vergaß Ruja, dass sie tatsächlich tot war. Sie erwartete, dass sie sie in Vialla wieder treffen würden, dass sie da irgendwo stünde und winkte, sie alle umarmte und wieder bei ihnen war…

Ihr wurde mit jedem Tag mehr klar, dass das nicht so sein würde. Und die Erkenntnis schmerzte und bedrückte sie über den Rest der langen, schweigsamen Reise in das Herz des Landes Kisara.
 


 

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hurra xDD Teil fünf beginnt <3 wir haben immer noch etwa März 980^^

Tanz des Feuers

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die Bänder der Geister

Das Gute daran, im Palast des Königs zu leben, war die Tatsache, dass die Hygiene wesentlich besser geregelt war als bei den Bergleuten in Kadoh. Endlich gab es wieder vernünftige Badewannen, das Baden in eiskaltem Quellwasser blieb einem erspart und vor allem konnte man sich alle Zeit der Welt lassen, weil man nicht befürchten musste, dass demnächst irgendein anderer um die Ecke kam und interessiert guckte.

Puran stand dazu, dass er fürchterlich eitel war, und er genoss das Privileg, ein Badezimmer an dem ihm zugeordneten Schlafgemach zu besitzen; so etwas hatte er nicht mal im Schloss seiner Ahnen gehabt. Er war froh um den Umstand jetzt und er verbrachte die folgenden Wochen eine Menge Zeit damit, sich andauernd zu waschen, vor allem seine fürchterlichen Haare zu richten, mit denen er laut Neron Shais feixendem Gelächter mehr Zeit verbrachte als jede Frau mit langen Haaren, die so viel Pflege doch viel nötiger hätten als seine. Puran war nicht seiner Meinung; seine Haare waren stur und er war es eben auch. War ihm egal, wenn sein Kollege ihn verrückt nannte… abgesehen von den Haaren auf seinem Kopf musste er sich auch um die vereinzelten in seinem Gesicht kümmern, oder eher sie vernichten, und er war froh darum, dass seine Familie allgemein eher haarlos war, abgesehen vom Kopfhaar. Sein Vater rasierte sich nur selten, weil er viel zu faul dafür war, aber trotzdem hatte er nie einen Bart.

„Dafür ist es extrem praktisch, wenn man Windmagier ist.“, hatte Tabari ihm einmal erklärt, „Da kannst du dir mit einer extrem dosierten Katura die Hände über das Gesicht reiben und weg sind die Haare. Spart enorm Zeit.“

Das tat es sicher, Puran hielt diese Technik in seinem Gesicht jedoch wirklich für lebensbedrohlich; Tabari beherrschte den Wind komplett, er selbst tat das nicht im selben Maß; er fürchtete, sich mit einer Katura in seinem Gesicht eher selbst zu enthaupten als sich zu rasieren, deswegen musste er da wohl bei der herkömmlichen Methode bleiben.

Sich mit sich selbst zu beschäftigen war gut… es lenkte ungemein von den wirklichen Problemen ab, die ihm noch bevorstanden, dachte er sich mürrisch, wenn er sich zum zweiten Mal am Tag gründlich wusch und seine Haare machte. Vielleicht würde das viele Wasser ja seine unsittlichen Gefühle für Leyya davon spülen… er hoffte es, glaubte aber nicht wirklich daran. Bisher hatte es zumindest nicht geklappt… die hübsche Heilerin kehrte immer wieder in seinen Kopf zurück, insbesondere nachts, wenn er alleine in seinem Bett lag und sich dabei erwischte, dass er sich wünschte, sie würde zu ihm kommen und mit ihm das Bett teilen, wie sie es bei ihrem Ritual getan hatte.

Das Ritual, das entgegen jeder Vorschrift mehr eine tatsächliche Vereinigung als ein Ritual gewesen war.

Er zischte wütend über sich selbst und hob den Kopf vom Waschbecken im Badezimmer, um in den Spiegel darüber zu sehen.

„Du bist ein völliger Idiot, Puran.“, murmelte er zu seinem Spiegelbild, „Ein absolut bescheuerter Idiot…“ Er wusste, dass er Leyya begehrte, und jeder andere, der ihn und sie kannte, wusste es vermutlich auch. Und dennoch versuchte er, davon zu laufen…

Wie immer. Es war immer dasselbe mit ihm… auch dieses Mal.
 

Seit Leyya zur Frau geworden war, waren viele Wochen vergangen und der Sommer stand vor der Tür. Er versuchte seit der schicksalhaften Nacht, der Heilerin aus dem Weg zu gehen. Sie machte es ihm nicht leicht, denn sie versuchte das Gegenteil, hing an ihm wie eh und je – nein, eigentlich noch mehr als zuvor. Und es tat ihm leid, dass er ihr so die kalte Schulter zeigen musste… aber wurde er sie auf angenehmere Weise los?

„Musst du dich denn wirklich so verhalten?“, fragten die Geister ihn manchmal, wenn er heimlich an sie dachte und sich danach sehnte, sie wieder in die Arme schließen zu können. Er kniff empört die Lippen zusammen und starrte wutentbrannt sein Spiegelbild an, kurz davor, es zu zerschlagen.

„Musst du sie leiden lassen, damit du mit dir im Reinen bist? Und dich selbst…?“

„Schluss!“, zischte er grantig, „Ich leide nicht! Ich komme zurecht, ich brauche eure Ratschläge nicht, Geister!“ Er fuhr wütend mit den Händen in das Wasser des Waschbeckens und schüttete sich eine Fuhre davon auf die Haare, um sie wutentbrannt damit platt zu drücken, was nicht wirklich halten würde.

„Das sind keine Ratschläge, das ist dein Schicksal, vor dem du mal wieder davon rennst…“, kicherten die Geister, und der junge Mann fluchte ungehalten, wirbelte herum und zeigte drohend mit dem Finger auf den Spiegel.

„Nein, das lasse ich hinter mir! Ich lasse mir nicht von euch vorgeben, welche Frau an meine Seite gehört! Das entscheide ich allein, hört ihr?! HÖRT IHR?!“

Ein leises Klopfen an der Tür des Schlafzimmers ließ ihn erschrocken inne halten. Hüstelnd drehte er den Kopf, während ihm das Wasser noch aus den jetzt glatten Haaren tropfte. Oh nein, jetzt hatte sicher jemand mitbekommen, dass er in seinem Zimmer fuchsteufelswild herum brüllte… wie peinlich.

„Ja!“, nörgelte er so nur missgelaunt und stampfte aus dem Badezimmer, als sich die Tür zum Flur öffnete und er erstarrte, als er Leyya da stehen sah. Er verschluckte sich entsetzt und fuhr sich dann perplex durch die Haare. „Was… machst du denn hier? Es ist schon Abend, du solltest im Bett liegen.“

Die junge Frau seufzte leise und schloss ungebeten die Tür hinter sich, ehe sie sich ihm tapfer entgegen stellte.

„Da du dich ja verbarrikadierst, dachte ich, ich versuche, ab durch die Mitte zu laufen.“, verkündete sie stolz und mit der Hartnäckigkeit, die er von seiner eigenen Mutter kannte und die er immer gefürchtet hatte. Da Nalani aber kaum mehr als einen Zoll kleiner war als er, wirkte es bei ihr imposanter als bei Leyya, die er mehr als einen Kopf überragte. Er war wie alle Männer seiner Familie nicht unbedingt klein. „Ich sehne mich doch nach dir, Puran!“, begann sie dann kleinlaut und all ihr Stolz war dahin, als sie errötend den Kopf senkte, offenbar beschämt, ihn belästigen zu müssen.

„Du belästigst mich nicht, ich habe dich lieb!“, wollte er ihr gerne sagen, als er sie so ansah… er konnte nicht.

Er durfte nicht.

„Das tut mir leid für dich, ich habe keine Zeit.“, war seine trockene Antwort und sie sah keuchend auf. Er kehrte ihr den Rücken und begann, die Vorhänge vor den Fenstern zuzuziehen. „Wir sind im Krieg. Seit meine Eltern und die anderen zurück sind und das Heer jetzt vorbereitet wird auf den Angriff der Zuyyaner, haben sich die Zeiten geändert, Leyya.“

Sie war nicht so naiv, wie er gedacht hatte.

„Ach, aber Zeit, dich zweimal am Tag zu baden und viermal deine Haare zu glätten findest du!“, schnappte sie, „Ich verstehe dein Problem nicht, deine Haare sind sehr hübsch, auch, wenn sie von deinem Kopf abstehen…“

„Schmier mir nicht Honig ums Maul, meine Teuerste.“, warnte er sie und zog weiterhin Vorhänge zu, sie keines Blickes würdigend. „Ich mag unnötige Komplimente am falschen Ort nicht, erst recht nicht von der falschen Person.“ Jetzt hatte er sie verärgert, sie stampfte schreiend mit dem Fuß auf wie ein Kind.

Ein Kind, ja… ein Kind, das sie in seinen Augen irgendwie immer noch war. Ein Kind, das ihn sexuell erregte, genau. Er war so widerwärtig…

„Du tust so, als hättest du mich immer nur gehasst!“, fauchte sie wütend, „Warum machst du das, Puran?! Was ist denn in dich gefahren?! Seit… seit ich eine Frau bin, behandelst du mich wie Dreck, was soll das?! Was habe ich dir getan?!“ Sie schrie ihn richtig an und das veranlasste ihn doch, sie wieder anzusehen, fassungslos über ihren Wutanfall. Er verstand sie… sie war im Recht.

Natürlich war sie das… Beschämt senkte er das Gesicht und wendete den Blick von ihr ab, während sie nach Luft schnappte. Sie merkte gar nicht, wie hübsch sie war, hatte er das Gefühl… sie merkte gar nicht, was für eine wunderschöne junge Frau sie war. Selbst dann, wenn sie wütend auf ihn war… oder gerade deswegen vielleicht.

„Frauen, die ihren Männern immer unterwürfig sind und nie ihre Meinung sagen, kotzen mich an.“, hatte er einst zu ihr gesagt. Es erschien ihm wie ein vergangenes Leben… ein Leben, in dem er nicht daran gedacht hatte, dass er einmal mit ihr schlafen würde und danach seine Triebe und Gefühle nicht mehr beherrschen könnte.

Er hätte es schon damals wissen sollen… er hatte instinktiv gewusst, dass es so käme. Es gewusst und ignoriert.

Leyya beruhigte sich und senkte dann zitternd den Kopf.

„Sag mir nur, was ich getan habe. Bitte… dann gehe ich. Ich werde dich in Ruhe lassen, ich will nur wissen wieso.“ Sie blickte auf ihre Füße und errötete. „Ich dachte, früher hätte es daran gelegen, dass ich noch ein Mädchen war. Aber jetzt… bin ich eine Frau und du siehst mich immer noch nicht wie eine Frau an… du hast es… in der einen Nacht getan… und ich dachte, du könntest es auch zukünftig tun.“

„Leyya…“, seufzte er traurig und kam auf sie zu, um eine Hand nach ihr auszustrecken – kurz bevor er ihre Haare hätte streicheln können, hielt er inne. Er durfte das nicht… ja, sie war eine Frau. Das war sie definitiv. Aber er hatte sie als Mädchen kennengelernt und sich umzugewöhnen war schwer… er wünschte, es wäre leichter. Er schnappte verzweifelt nach Luft. „Das… was in jener Nacht über mich kam, war ein Fehler. Das hätte nicht passieren dürfen, niemals…“ Er unterbrach sich abrupt, als er sah, dass sie zu zittern begonnen hatte.

Sie weinte.

„Ich liebe dich!“, heulte sie und versetzte ihm damit ungewollt einen tiefen Stich ins Herz, als sie zu ihm aufsah, die schönen, braunen Augen voller Trauer. „Ich liebe dich so sehr… s-seit… dem ersten Tag, den ich dich kannte, liebe ich dich, Puran Lyra! Du bist… für mich der einzige Mann auf der Welt…“ Er keuchte unwillkürlich.

„Nein, nicht so.“, versuchte er, sie aufzuhalten, „Sag sowas nicht. Bitte… es gibt genügend andere, die viel besser sind als ich.“

„Aber du hast mich verdammt noch mal gewollt in der Nacht!“, fuhr sie wieder auf und wischte sich ruppig die Tränen aus dem Gesicht. „Du hast mich geliebt in der Nacht, Puran! Von wegen nicht da, du warst da, und wie du da warst, du hast mich geküsst! Du hast dich mit meinem Fleisch vereint… hat es dir etwa nicht gefallen? Bin ich so widerlich in deinen Augen?“ Wiederum keuchte er. Oh nein, sie verstand alles falsch!

„Leyya, nein! S-so war das nicht, es… ist anders als du denkst, ich kann das so nicht!“ Der Blick, den sie jetzt aufsetzte, beunruhigte ihn auf eine Weise, die wörtlich unter die Gürtellinie ging. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und setzte ein Gesicht auf, das er so noch nie bei ihr gesehen hatte; aber es zeigte definitiv Wirkung, denn es erregte ihn und schürte in ihm das alte Verlangen aus der verflossenen Frühlingsnacht.

„Ich bin jetzt eine Frau.“, versetzte sie kokett, „Und du bist ein unverheirateter Mann. Theoretisch hast du das recht, mit mir als unverheirateter Frau zu machen, was immer dir beliebt… jeder Zeit… und überall.“

Ihre Worte waren eindeutig und Puran errötete. Er mochte es eigentlich, wenn Frauen so offensiv waren und zeigten, dass sie es wollten… aber zu viel war zu viel. Er zischte und trat zurück, die Erregung erfolgreich unterdrückend. Er hätte sie gerne auf der Stelle ausgezogen und sie richtig genommen… das ging nicht, Himmel!

„Hör auf, Leyya, ich warne dich!“, schnappte er zornig und sie blinzelte, weil er anders reagierte als sie gehofft hatte. „Du führst dich auf wie eine billige Nutte! Hör auf, dich mir so anzubieten, so will ich dich nicht! Du kannst hier nicht antanzen und mich verführen, was bildest du dir ein, wer du bist?! Wie so ein Flittchen, eine Dorfschlampe, machst du dich an mich heran und reibst mir unter die Nase, dass ich dich hier und jetzt nehmen soll! Das geht zu weit, mach das diskreter bei deinem zukünftigen Mann, für den ich hoffe, dass er sich gerne von seiner billigen Frau beschämen lässt!“ Er verlor die Kontrolle über seine Zunge, aber das merkte er zu spät, als Leyya ihn schon erbleichend anstarrte. Er starrte zurück und sah die Fassungslosigkeit in ihren Augen, das Entsetzen über diese garstigen, widerlichen Worte… es tat ihm weh, sie so sehen zu müssen, und erst recht deshalb, weil er Schuld daran war. Seufzend kehrte er ihr wieder den Rücken und stampfte zurück in Richtung Badezimmer. Dann sprach die Heilerin schockiert:

„Mein… zukünftiger Mann? Was redest du da…? Spürst du nicht… …?“ Sie brach unschlüssig ab und fasste sich selbst auf die Brust, um dort ihr Herz schlagen zu spüren. Was sie als nächstes wisperte, ließ ihn kurz erstarren.
 

„Spürst du nicht das Band, das die Geister zwischen dir und mir geknüpft haben… das uns zeigt, dass wir… zusammen gehören…?“
 

Puran schwieg lange. Er sah sie nicht an, als er endlich den Mund auftat, und was dann heraus kam, sollte alles Bisherige besiegeln und abschließen.

„Nein, Leyya. So ein Band gibt es nicht zwischen uns… ich habe so niemals für dich empfunden.“

Er erwartete, dass sie in Tränen ausbrach oder wieder schrie. Aber sie tat nichts von beidem, als er es wagte, über die Schulter zu sehen. Sie ließ langsam die Hände wieder sinken und trat dann taumelnd in Richtung Tür.

„Ich verstehe.“, murmelte sie dabei leise und er war bestürzt vor Gram, als er den schlimmsten Schmerz in ihrer Stimme hörte, den diese zierliche, liebevolle Frau nur ertragen konnte… er hoffte und betete, dass sie ihn ertragen würde.

In ihr war in dem Moment etwas zerbrochen… es würde vermutlich nie wieder heilen.

„Lass mich dir sagen, Puran… wenn du mich nicht zur Frau willst… dann werde ich niemals in meinem Leben einen Mann annehmen.“ Das war das Letzte, was sie sagte, ehe sie ging und leise die Tür hinter sich schloss. Und als sie weg war, war er es, der am Boden zusammenbrach und hemmungslos zu weinen anfing.
 

Jetzt hatte er jedenfalls erreicht, was er hatte erreichen wollen. Leyya war fort und sie kam auch nicht zurück. Und Puran hatte gelogen… er kam überhaupt nicht zurecht, wie er zu den Geistern gesagt hatte. Er wusste, dass es für Leyya das Beste war, wenn sie ihn vergaß… so, wie er Ruja hatte vergessen müssen. Die war wenigstens nur fünf Jahre älter als er und nicht neun. Und Leyyas Wohlergehen war ihm wichtig genug, um sie und sie und alle Himmelsgeister anzulügen.

Er spürte das seelische Band zwischen ihnen beiden genauso deutlich wie sie. Und dennoch wehrte er sich dagegen…

Der Krieg gab ihm genügend Möglichkeiten, vor dem schlechten Gewissen zu fliehen, oder vor der Wirklichkeit, vor der Tatsache, dass er sich trotzdem immer noch zu ihr hingezogen fühlte und sich nach ihr sehnte. Am ersten Tag des Sommers hatten die Zuyyaner lange genug vor den Mauern gewartet und starteten den Angriff auf die Weltstadt. Nachdem Tabari sie erfolgreich am Fliegen gehindert hatte, mussten sie die Mauer wohl oder übel zu Fuß angreifen, was sich trotz der augenscheinlichen Überlegenheit der Zuyyaner als nicht einfach erwies.

Aus dem Süden des Landes hatten die Geisterjäger eine ganze Menge an zusätzlichen Kriegern mitgebracht, auch Magier. Der König hatte ein Bataillon Soldaten vor der nördlichen Mauer postiert, während von oben Bogenschützen die Angreifer abwehrten. Seelenmagier waren dafür zuständig, die Mauer mit Schutzschilden abzuschirmen, wenn die Feinde mit Feuerbällen und Regen aus Eiszapfen warfen. Die Truppen vor der Stadt hielten sich wacker damit, die Angreifer niederzuschlagen, angeführt von einem Teil des Geisterjägerrates. Puran war mit Meoran auf der Mauer und dirigierte die Bogenschützen. Ausnahmsweise mal hatte er nicht gemosert, als sein Vater darauf bestanden hatte, ihn nicht vor die Mauer zu Nalani und den anderen zu lassen.

„Bei deiner momentanen Beziehungskrise und Verwirrung bist du da vorne sicher keine Hilfe, ich hätte Angst um deinen Kopf.“, hatte Tabari verlauten lassen, „Deswegen bleib da oben und konzentriere dich dennoch.“

Und das tat er, denn das war eine Pflicht, vor der er nicht einfach weglaufen könnte. Die Angreifer schafften es trotz der Barrieren, ein paar vereinzelte Geschosse aus mächtigen Feuerzaubern auf die Mauer zu schmettern, einige kämpften sich unten durch die Truppen vor davor, um zu versuchen, sie zu überwinden; aber alle Versuche, Viallas Mauern zu bezwingen, blieben erfolglos, denn die Feinde, die sich bis dorthin vorgekämpft hatten, wurden entweder von den Heeren unten zerschmettert oder spätestens oben von den Bogenschützen, Meorans Federn oder Purans Geisterschwert in Stücke gerissen. Es gab auf beiden Seiten Verluste und besonders gefährlich wurde es für die Verteidiger eigentlich erst, als die Zuyyaner auf ihre stärkste und übelste Waffe zurückgriffen; die Seelenkugeln. Doch ehe sie eine Chance bekamen, diese effektiv einzusetzen, wendete sich das Blatt plötzlich durch das Auftauchen der Unterstützung aus Intario, dem Land im Norden des tharranischen Zentrums. Von zwei Seiten eingekesselt zogen sich die Zuyyaner für den ersten Versuch zurück zum Fluss Lanem im Hochland.

„Endlich sind die Mächte der Schöpfung einmal auf unserer Seite!“, seufzte der König euphorisch, nachdem alle wieder in der Stadt waren und der Herrscher von Intario mit zwei Generälen im Palast empfangen worden war. „Das ist ein gutes Zeichen! Die Schamanen, jetzt die Artillerie aus Intario, langsam können wir uns behaupten gegen die Eindringlinge!“

„Wir sollten sie jagen und angreifen, solange sie noch verwirrt sind von unserer plötzlichen Stärke, Majestät.“, schlug einer der anwesenden Generäle vor, „Die werden ihr blaues Wunder erleben und dann vor uns davonlaufen wie die Hasen!“

Puran schnaubte, während der Rat der Geisterjäger gemeinsam mit den beiden Königen und den Generälen noch immer gerüstet durch den halben Palast in Richtung des Ratssaals eilte.

„Bei allem Respekt, General, das halte ich für eine absolute Schnapsidee.“ Der General sah ihn an.

„Ah, so? Dann bereichere uns mit deiner Weisheit und Lebenserfahrung, Junge – wie alt warst du noch gleich, achtzehn?!“

„Zwanzig.“, stöhnte der Jüngere und ließ sich nicht auf den Seitenhieb ein, sondern wendete sich direkt an den König, der ihn im Gehen groß anstarrte.

„Aber recht hat er ja.“, meinte der Monarch, „Was spricht denn dagegen, sie jetzt zu zerschlagen, wo sie nicht damit rechnen?“

„Glaubt Ihr, das war alles, was die heute geleistet haben?“, konterte Puran verdutzt, „Das war ein Tropfen auf den heißen Stein! Wir sind hier hinter den Mauern sicher, Majestät. Wir können sie mit den Mitteln, die wir jetzt haben, vermutlich eine Weile verteidigen und beten, dass aus Senjo und Janami noch Verstärkung kommt. Mit den Geschützen aus Intario können wir die Feinde aus weiter Entfernung bewerfen, geben wir ihnen die Steine der Häuser zurück, die sie mit ihren Feuerkugeln aus dem Himmel zerstören konnten. Sollen sie kommen und gegen die Mauer branden wie eine Welle, und Vialla wird wie ein Fels stehen. Wenn wir aber da raus rennen, laufen wir ihnen in die Arme, verlieren sämtliche Infanterietruppen und die Zuyyaner überrennen Vialla. Ihr habt also die Wahl… wir sollten nicht leichtsinnig werden und den Rausch des einen kleinen Sieges auskosten.“ Er erntete verblüffte Blicke sowohl von den beiden Königen als auch von seinen Kollegen des Rates.

„Seit wann bist du so strategisch veranlagt?“, wunderte sich sein Vater dann entsetzt und Nalani zuckte kurz mit dem Mundwinkel, um ein angedeutetes Grinsen zu zeigen.

„Vermutlich die Gene deiner Mutter.“, murmelte sie in Richtung ihres Mannes, der nur schnaufte. Puran tat es ihm gleich.

„Nein, ich beobachte und mache mir Gedanken. Irgendwomit muss ich mir ja meine Zeit vertreiben…“

Und mich von Leyya ablenken, addierte er in Gedanken, wagte aber nicht, das auszusprechen.
 

Leyya hatte zu tun. Überraschenderweise hatten die Geisterjäger im Süden Kisaras ein paar alte Mitglieder des obersten Heilerrates auftreiben können, die im Kriegsfeuer aus Dokahsan geflohen waren. So wie der Rat der Geisterjäger allgemein als der Kreis der besten Schwarzmagier des Landes bekannt war, war der oberste Heilerrat natürlich die Runde der besten Heiler. Nalani hatte dafür gesorgt, dass die Ratsmänner Leyya unter ihre Fittiche nahmen und die Ausbildung beendeten, die Keisha begonnen hatte. Leyya sollte bald eine fertig ausgebildete Heilerin sein.

Sie war eine schnelle und fleißige Lernerin und der momentane Führer des halben Rates lobte vor Nalani oft das begnadete Talent der jungen Frau.

„Es ist unübersehbar, dass sie eine Tochter des Bao-Clans ist.“, hatte der Mann einmal gesagt, „Dafür, dass sie jahrelang nur mit Schwarzmagiern herum gelaufen ist, ist sie wirklich grandios.“ Nalani hatte die unverhohlene Kritik mal zynisch lächelnd übersehen. Heiler, vor allem die vom älteren Schlag, waren selten angetan von Schwarzmagiern oder deren Fähigkeiten. Die Heiler nannten die Geisterjäger gerne destruktiv, machthungrig oder kriegstreiberisch; an diesen Vorurteilen war Kelar vermutlich nicht unschuldig, hatte die Geisterjägerin sich manchmal gedacht, immerhin war der nicht besonders höflich zu den Heilern gewesen. Allerdings waren die hirnlosen Vorurteile den jeweils zwei anderen Parteien der Schamanen gegenüber schon immer irgendwie da gewesen, allerdings nie abgrundtief ernst gemeint; Schwarzmagier hatten auch ihre Gerüchteküche über die Telepathen und die Heiler, ebenso hatten die Telepathen Vorurteile gegen die Schwarzmagier und die Heiler. Das war nicht schlimm, solange es nicht in einem Gemetzel endete.

Gemetzel gab es genug im Krieg. Und während Leyya lernte und mit allen wichtigen Kräutern und Heilzaubern umzugehen übte, konnte sie sich gleich dabei nützlich machen, gemeinsam mit den anderen Heilern die Verwundeten aus den Schlachten an der Nordmauer zu kurieren. Sofern sie nicht von den ominösen speziellen Waffen der Zuyyaner getroffen worden waren, waren die Wunden meistens gut heilbar.

Der Sommer verging, ohne dass Leyya ihn hätte genießen können oder sich an ihm erfreut hatte. Sie war zu sehr mit ihren Kräutern und Zaubern beschäftigt… und damit, ihre eigene, tiefe Wunde im Herzen langsam zu kurieren. Sie würde nie heilen, hatte sie auch noch im Herbst das Gefühl, während sie eines Tages auf der Treppe zu einem der hübschen Höfe im Palast saß, auf ihrem Schoß eine Schale mit verschiedenen Heilpflanzen, die sie mit einem Stein zu Brei zerstampfte. Sie hatte Puran lange nicht wirklich gesehen… er war viel weg, an der Mauer oder davor, und er kämpfte tapfer für sein Land und das Volk… wenn er einmal im Palast war, ging er ihr aus dem Weg und sie wollte ihn nicht mehr ansehen. Wie sehr hatte sie sich selbst vor ihm erniedrigt, nur um am Ende nicht das zu bekommen, was sie sich so sehr von ganzem Herzen wünschte? Sie wusste, er würde sie sowieso nicht sehen wollen… aber sich damit abzufinden, dass er sie kein bisschen lieb hatte, schmerzte zu sehr, um es wahrhaben zu können. Sie wollte nicht daran denken.

Traurig seufzend sah sie zu den Bäumen im Hof, die ihre Blätter nach und nach verloren. Es war Holzmond; immer wieder hatten die Zuyyaner versucht, die Mauer von Vialla zu Fall zu bringen, und bisher hatte sie standgehalten. Wer wusste schon, wie lange noch? Sollte das ewig so weitergehen? Die junge Heilerin sah bedrückt wieder auf die hässliche Kräuterpaste, die sie gerade fabrizierte. Es war ein Experiment, sie wollte versuchen, damit eine neue Medizin zu brauen.

Sie sehnte sich so sehr nach Puran… plötzlich schmerzte der Wunsch in ihr, ihn umarmen und küssen zu können wie im Frühling, sie so sehr, dass sie fast geweint hätte…

„Leyya!“

Sie hob abrupt den Kopf beim Klang der hellen Kinderstimme hinter ihr, bevor sie rennende Schritte hörte und sie plötzlich von hinten jubelnd angesprungen wurde, wobei sie fast ihre Kräuterpaste hätte fallen gelassen.

„Nanu!“, machte sie und zwang sich zu kichern, „Saidah, du bist so ungehobelt, erschrecke mich nicht so!“

„Hihi!“, lachte Meorans kleine Tochter glücklich und kuschelte sich an sie, „Ich will mit dir spielen! Bitte, bitte, spiel mit mir!“ Die Heilerin seufzte lächelnd. Die kleine Saidah war im Moment der einzige Mensch, der ihr Freude machte. Sie war für sie wie eine kleine Schwester… es machte sie glücklich, sie aufwachsen zu sehen. Sie würde im Winter schon drei werden… wie schnell die Zeit verging. Normalerweise war das kleine Schwarzmagiermädchen sehr reserviert und vor allem Fremde begrüßte sie immer mit einem bitterbösen Blick voller Skepsis, ihre hübschen, blauen Augen wirkten dann wie die einer wachsamen Wölfin, die abschätzte, ob ihr Nachwuchs in Gefahr war. Aber wenn sie bei Leyya war, war sie völlig gelöst und konnte gar nicht lange genug herumtoben und spielen. Leyya spielte eigentlich gerne mit ihr, aber jetzt war ihr nicht nach Toben. Sie hatte Bauchweh… so war das, wenn man eine Frau war, einmal im Mond musste man Schmerzen ertragen.

„Ich kann nicht, Saidah.“, sagte sie deshalb ernst, als das Mädchen sich von ihr löste, „Ich mache eine wichtige Medizin. Magst du hier bei mir sitzen und mir helfen? Du kannst auch einmal probieren, die Kräuter zu Brei zu machen.“

„Oh ja!“, freute sich das Kind begeistert, setzte sich artig neben sie und griff nach dem Mahlstein, während Leyya amüsiert die Schüssel festhielt. „Wir machen Brei für ein Baby, hihi!“ Leyya lachte leise und hob den Kopf, als ein Schatten über sie fiel und Saidahs Vater zu ihnen trat, ein wenig aus der Puste.

„Du lieber Himmel, dieses Kind rennt zu schnell für einen alten Mann wie mich…“, stöhnte er und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Sie hat dich von Weitem gesehen und war nicht mehr zu halten… stören wir dich gerade, Leyyachen?“ Die Heilerin schüttelte den Kopf.

„Ach was, überhaupt nicht. Und so alt bist du doch wirklich noch nicht, Meoran. Du bist doch noch nicht mal in der Nähe der Vierzig!“

„Ach.“, machte der Mann und rückte seinen Umhang zurecht, „Viel älter als das werde ich, so fürchte ich, auch nicht werden, so, wie ich jetzt schon vor mich hin kränkele.“ Er lachte und setzte sich dann neben seine kleine Tochter. Saidah strahlte ihn an, während Leyya ihn traurig ansah. Das glaubte er wirklich…? Er sollte nicht so pessimistisch sein…

„Wir machen Babybrei, Vati, schau!“, erklärte Saidah ihm da stolz und zeigte auf den Matsch in der Schüssel. „Aber grünen Brei, iiih!“

„Babybrei?“ Meoran zog eine Braue hoch. „Aber Saidah, hier ist doch gar kein Baby!“

„Doch, Leyya kriegt sicher irgendwann eins, für das ist der grüne Brei! Das arme Baby, hihi!“ Leyya errötete.

„I-ich kriege doch kein Baby!“, beschwerte sie sich verlegen und sah zur Seite, als Meoran sie angrinste. „Ich… würde ja gerne, aber dazu fehlt mir wohl der Mann…“ Sie wurde immer leiser, als sie sprach, und senkte schließlich immer noch rot im Gesicht das Haupt. „Was… macht Puran so, Meoran? Geht… es ihm gut?“ Der Geisterjäger seufzte mit einem wohlwollenden Lächeln.

„Um die Wahrheit zu sagen… nein, nicht wirklich, so fürchte ich. Er ist nicht körperlich krank…“, warf er ein, als Leyya ihn entsetzt ansah, „Es ist wohl… eher was Seelisches, was ihn fürchterlich fertig macht…“ Er musste das wissende Grinsen wirklich unterdrücken; Leyya würde auch so verstehen, was er damit sagen wollte.

„Hat er… zu dir jemals etwas gesagt… über mich?“, wisperte die Heilerin deprimiert, „Nimmt er meinen Namen überhaupt in den Mund?“

„Nein… mit seiner Zunge spricht er nicht über dich. Aber mit seinem Blick tut er es manchmal, ohne es zu merken, wenn er an die Wand oder ins Nichts starrt…“ Darauf schwieg die Jüngere ernüchtert; obwohl es in ihr einen winzig kleinen Funken Hoffnung schürte… Hoffnung darauf, dass sie ihm vielleicht nicht so egal war, wie sie dachte…

Nein. Hoffe nicht, Leyya… das wird dich nur wieder verletzen. Sieh den Tatsachen ins Auge. Vielleicht irrst du dich mit dem Gefühl des Geisterbandes zwischen dir und ihm… vielleicht gibt es wirklich keins.

Sie sah wieder auf Saidah und die Kräuterpaste und seufzte ergeben.

„Vielleicht schaffe ich es eines Tages, eine Medizin für deine Krankheiten zu erfinden, Meoran. Damit du alt genug wirst, um mitzukriegen, wie deine süße Tochter groß und erwachsen wird.“
 

Der Herbst war rot. Rot wie die Blätter, die von den Bäumen fielen, und rot wie das Blut, das vergossen wurde, als man erbittert um den Stand von Viallas Mauern kämpfte. Puran hatte recht behalten; wären sie hinaus gelaufen, um die Zuyyaner zu jagen, wäre das ihr Tod gewesen. Obwohl sie viele vernichten konnten im Kampf um die Stadtmauer, kamen immer wieder neue nach; die Zuyyaner schienen unendlich viele Krieger zu haben Zu allem Überfluss teilten sie sich jetzt in zwei Fronten auf, wovon eine nach Westen, nach Thalurien, zog, um die Reiter aus Senjo daran zu hindern, als Verstärkung anzurücken. Tabari ließ sich nicht einschüchtern von der Übermacht der Feinde, wenn er als Führer des großen vereinten Heeres von Kisara und Intario und als Vertreter der Schamanen an der Front.

„Vernichtet sie und zeigt keine Gnade, denn ihr werdet von denen auch keine bekommen!“, verkündete er und hob das Schwert, das er trug, gen Himmel, während er mit der anderen Hand einen Windwirbel erzeugte. „Ihr kämpft nicht für mich, nicht für einen König oder irgendeine ungreifbare Macht! Ihr kämpft für eure Familien, die in diesem Land leben wollen, für eure Frauen und Kinder, für eure Heimat! Also steht aufrecht, Männer aus Kisara und Intario, Krieger des Zentrums! Steht aufrecht und zerschmettert die Eindringlinge, die euch das alles wegzunehmen versuchen!“

„Für Kisara!“, war die gegrölte, trotz aller Schicksalsschläge motivierte Antwort der Armee hinter ihm, „Für Tharr!“

Wie eine gigantische Flutwelle schmetterten die zuyyanischen Kämpfer gegen die Verteidiger vor der Stadt und die Mauer dahinter. Aus dem Himmel regnete Feuer, das durch eine ausschweifende Armbewegung von Nalani vom Schatten verschlungen wurde, den sie mit bloßer Willenskraft erzeugte. Sie war die einzige Frau in einer Armee, aber keiner zweifelte daran, dass sie mächtiger war als viele Männer es jemals gewesen waren.

In aller Finsternis der Schlacht erhellte der Schein eines bösartigen, gigantischen Feuers den Tag, und Puran auf der Stadtmauer vergaß für einen Moment sämtliche Befehle und Bogenschützen. Da, in der Ferne hinter den vorderen Fußtruppen saß der blonde General aus dem Hochland, den er bei Aughot nicht hatte besiegen können.

„Der lebt also doch noch!“, keuchte er, „Das ist der Heerführer, Meoran, sieh!“ Als Meoran den Kopf drehte, fuhr er nur zurück und riss beide Arme empor.

„Den Namen verdient er sich garantiert, passt auf! Das Feuer aus seinen Händen kommt direkt auf uns zu!“

Der mächtige Feuerschlag war größer als alle anderen je zuvor und erschütterte die ganze Stadt. Das Feuer war zu mächtig für jede noch so stabile Mauer, war Purans einziger, panischer Gedanke, als er reflexartig seine Waffe hochriss und dem drohenden Tod, der sie alle zerschmettern sollte, den geballten Zorn der Mächte der Schöpfung entgegen schleuderte; alle Macht, die die Himmelsgeister durch das Geisterschwert aufbringen konnten, um das Schicksal davon abzuhalten, Vialla zu zerstören… das Aufeinanderprallen beider Mächte, der des zuyyanischen Todesfeuers und der der tharranischen Geister, erzeugte ein ohrenbetäubendes Dröhnen und eine Druckwelle, die sämtliche Krieger in großem Umkreis zu Boden schleuderte.

„Vater Himmel!“, keuchte Puran und riss den Kopf empor, um in die Finsternis über ihnen zu blicken, ehe er die Atme wieder erhob und die Explosion beider Kräfte mit einem Schwung seines Schwertes weg von Vialla und zurück auf die Feinde schmetterte. „Vater Himmel, bring deinen Zorn über die, die dein Land zerstören! Und Mutter Erde, lasse sie fallen in einen gähnenden Abgrund der Schwärze… und spucke sie niemals wieder aus, die Frevler!“

Dann gab es ein weiteres Krachen, als Puran das Geisterschwert verschwinden ließ und beide Arme in den Himmel riss, den Kopf in den Nacken werfend, damit die Mächte der Schöpfung ihm gehorchten. Und sie folgten ihm.

Von oben kam ein dröhnendes Donnern gemeinsam mit einem gleißenden Blitzschlag, während das Land erbebte unter den Füßen der Armee. Und unter den Gegnern brach der Erdboden in Stücke und bildete einen gewaltigen Spalt mitten im Land. Die Zuyyaner flohen, so schnell sie nur konnten, und dennoch stürzten viele in die Tiefe, während das Grollen von Himmel und Erde die Welt überschattete. Als Puran keuchend den Kopf wieder nach vorn drehte, traf sein erboster Blick den des zuyyanischen Heerführers, der zum Rückzug blies. Für einen Moment blickten beide Männer trotz der meilenweiten Entfernung einander unverwandt an, dann neigte der Zuyyaner den Kopf, seine Niederlage anerkennend.
 

Warte, du Geisterkind der Schamanen… eines Tages werde ich euch auch noch zu Boden zwingen.
 

Tabari rappelte sich hustend vom Erdboden auf und sah fassungslos auf den Erdspalt, der sich nur einige Fuß vor der Armee auftat. Sein nächster Blick galt Nalani und Barak Kohdar, die ein kleines Stück rechts von ihm gerade dabei waren, auf die Beine zu kommen. Mit einer Handbewegung von Nalani riss der schwarze Himmel wieder auf, es folgten graue Wolkenberge, die noch immer erzürnt vor sich hin grollten.

„Was… im Namen aller Geister war das?“, murmelte Barak Kohdar und sah mit seinem einen Auge verdattert in Richtung Vialla. Die Frau verengte die blauen Augen zu schmalen Schlitzen.

„Himmel und Erde sind launisch… wie es aussieht.“ Sie blickte zur Mauer, an die Stelle, an der sie sonst meistens ihren Sohn hatte stehen sehen, jetzt sah sie nur einen davon wehenden Zipfel seines Umhanges, der hinter der dahinter verschwand.
 

„Meister! Kannst du mich hören, bist du verletzt?!“, fragte Puran seinen Lehrer entsetzt, während er ihm auf die Beine half. Meoran hustete nur.

„Ach, keine Sorge, Unkraut vergeht nicht… deine unheimliche Macht hat die Bogenschützen umgehauen und mich gleich mit, das ist alles…“

„Auch noch meine Schuld!“, jammerte Puran und sah ihn skeptisch an, „Wirklich alles in Ordnung…?“

„Bis auf mein hässliches Auge ja…“ Inzwischen rappelten sich auch die Bogenschützen einer nach dem anderen wieder auf. Meoran fasste nach seiner Wange, die einen kleinen Kratzer von umher fliegenden Eiszapfen abbekommen hatte, und spähte über die Mauer hinab. „Jetzt bricht Chaos in der Stadt aus… wir sollten rasch hinunter gehen. Rührt euch, Schützen!“
 

Die Zahl der Verwundeten war trotz des weiteren Sieges groß und die Heiler und menschlichen Ärzte hatten alle Hände voll zu tun, als die Krieger zurück in die Stadt kehrten. Während Leyya den Mitgliedern des Heilerrates dabei half, das an Wunden zu heilen und zu versorgen, was ihrem Niveau entsprach, sah sie immer wieder hektisch in der Menge der Verletzten nach den Geisterjägern; waren sie alle wohlauf? Was war mit Puran…? Aber wenn er nicht hier war, war es gut… dann war er vermutlich nicht verwundet, das beruhigte sie ungemein…

„Leyya!“ Sie fuhr auf und errötete, als einer der anderen Heiler sie hastig am Arm packte. „Träum nicht! Rasch, wir haben zu wenig des blutstillenden Hamamelis-Extraktes, geh rasch einen großen Topf holen und aus dem Hinterhof die Zweige der Hamamelis, sofern noch welche übrig sind. Ansonsten Thymian, so viel du tragen kannst. Rasch, Kleine!“ Die junge Frau keuchte und nickte entsetzt, ehe sie herum wirbelte und davon rannte durch den Palast. Sie musste sich mühsam durch Mengen von Menschen drängeln. Krieger, Diener, Bürger von Vialla… manche stießen sie aus Versehen zur Seite oder zu Boden, ihre gemurmelten Rufe, sie wäre Heilerin und müsste schnell durch, hörte niemand… sie war zu klein und zu leise.

Im Hinterhof war wirklich nicht mehr viel übrig von der Rinde der Hamamelis, einem kleinen Bäumchen, das die Eigenart hatte, im Winter zu blühen. Die Heilerin hatte keine Zeit, ewig an dem Baum herum zu kratzen, so nahm sie nur das, was einfach zu erlangen war und hechtete wieder hinein in den Palast, um nach einem Kochtopf und Thymian zu suchen. Am besten fände sie das sicher in der Küche –

„Au!“ Plötzlich stieß sie gegen etwas und wäre beinahe nach hinten umgefallen, da wurde sie plötzlich am Arm gezogen, ehe eine weitere Meute aufgeregt rufender Menschen sie hätte zu Boden trampeln können.

„Leyya, du bist hier! Ich habe mich schon gefragt, wo du stecken magst, so ein Chaos!“, rief Ruja durch den Lärm, die sie zur Seite gezogen hatte, auf ihrem Rücken trug sie ihr kleines Kind Huckepack.

„Hallo, hihi!“, jubelte Saidah vergnügt. Meoran tauchte auch neben seiner Frau auf, offenbar unverletzt, was sie beruhigte.

„I-ich muss zur Küche!“, rief sie energisch, „Ich soll Thymian und einen Topf holen! Ich habe keine Ahnung, wo die Küche ist, ich war nie dort…“ Sie hatte kaum ausgesprochen, da nahm Ruja sie schon am Arm und lief mit ihr los.

„Dann helfen wir dir rasch suchen, komm!“

Als sie die Küche gefunden hatten, waren dort nur zwei Männer, einer wienerte den Boden und der zweite hob verblüfft den Kopf, als die Magier hereinstürzten.

„Ich brauche einen Topf und Thymian für den Heilerrat!“, erklärte Leyya kleinlaut, als der fremde Mann sie und die Chimalis-Familie hinter ihr plötzlich mit seinen scharfen, grünen Augen musterte. Für einen sehr kurzen Moment erinnerten sie die grünen Augen an irgendetwas, aber sie konnte sich nicht erklären an was.

Meoran sprach, worauf der schweigsame Kerl seine Augen auf ihn richtete.

„Rasch, Koch, oder sollen die Menschen da oben sterben?“ Der Angesprochene erhob sich, fuhr sich kurz durch die braunen Haare und holte aus dem Küchenschrank einen großen Topf hervor. Aus einem anderen Schrank holte er das Gewürz Thymian. Als er Leyya beides gab, galt sein süffisanter Blick jedoch Meoran und als er grinste, entblößte er seine ungewöhnlich spitzen Eckzähne.

„Wenn das so ist… rasch, Chimalis, bring den sterbenden Männern einen leeren Kochtopf…“ Meoran starrte ihn nur mit seinem gesunden Auge erstaunt darüber, dass er seinen Namen direkt wusste, an, bis der komische Kauz auch Ruja und Saidah einen Blick schenkte. „Worauf wartet ihr denn? Flink, husch, ihr habt hier nichts verloren.“

Ruja sprach nicht, als sie zurück zu den Heilern eilten. Doch Meoran überkam plötzlich ein furchtbares Gefühl, irgendetwas uraltes, in Vergessenheit geratenes, ein unheilschwangerer Schatten… er hatte keine Ahnung, woran es lag, aber es war ein schlechtes Zeichen.
 

Der König von Kisara war ganz aus dem Häuschen.

„Die Geister von Himmel und Erde sind wahrlich einmal auf unserer Seite in diesen dunklen Monden des Krieges!“, ereiferte er sich beim abendlichen Bankett, das zu Ehren des erneuten Sieges über die Zuyyaner abgehalten wurde. Egal, wie schlecht die Zeiten sein mochten, für ein Festmahl hatte man immer Zeit, so schien es. „Es ist wirklich so, die Feinde branden gegen unsere Mauer und sie steht wie ein Felsen! Vor einem halben Jahr habe ich noch geglaubt, das sei unser Untergang, als die Zuyyaner vor den Toren standen, und siehe! Welch großen Wandel hat das Schicksal genommen…?“ So freute er sich und redete und redete, und die Oberschicht, die mit ihm am Tisch saß, eingeschlossen der Senat und die Mitglieder der Schamanenräte, hörten ihm entweder zu oder ließen es bleiben. Es war an jenem Abend während des Banketts, dass Leyya zum ersten Mal seit langem Gelegenheit hatte, Puran länger als nur einen flüchtigen Moment lang anzusehen, als er ihr gegenüber an der Tafel saß. Und obwohl er sie nicht einen Augenblick lang ansah oder beachtete, weil sie in seinen Augen Luft zu sein schien, war sie so glücklich, ihn ansehen zu können… sie konnte sitzen, essen und ihn dabei beobachten. Obwohl er so beschäftigt war und in der Schlacht kämpfte, sah er noch immer so hübsch und perfekt aus… kaum ein Kratzer war in seinem Gesicht, und wenn doch, waren es ganz kleine, die nicht mal eine Narbe zurücklassen würden.

Doch alles Glück darüber, ihn sehen zu können, war trügerisch. Je länger sie ihn beobachtete, desto größer wurde in ihr die Sehnsucht, mit ihm sprechen zu können… sie wollte um den Tisch herum rennen und ihn umarmen, sie wollte ihm alle Liebe geben, die sie aufbringen konnte… es war, als zöge das Geisterband sie automatisch zu ihm hin, wenn sie ihn ansah.

Das Geisterband, das offenbar nur in ihrer Fantasie existierte…

„Nein, Leyya. So ein Band gibt es nicht zwischen uns… ich habe so niemals für dich empfunden.“

Die Erinnerung an seine Worte schmerzte sie und ließ sie zusammenfahren, den Kopf tief über ihren Teller senkend. Es schien so lange her… es war über ein halbes Jahr her, dass er das gesagt hatte, und dennoch war ihr, als wäre es gestern gewesen. Als wäre es gestern gewesen, dass ihre Seele so furchtbar zu schmerzen begonnen hatte. Ohne dass sie es wollte spürte sie, dass ihr die Tränen kamen. Sie wollte nicht weinen… nicht vor den anderen! Nicht vor Puran… dem das vermutlich egal wäre. Dem sie egal war… jetzt bereute sie es, ihn zuvor noch angesehen zu haben, und wünschte sich, sie wäre ihm an diesem Tag nie begegnet. Vielleicht wäre der Schmerz dann nicht so groß gewesen…

„Entschuldigt mich…“, stammelte sie, als sie sich erhob und Ruja sie noch bestürzt ansah. Sie kümmerte sich nicht darum und verließ eilig den Speisesaal… je weiter sie vom Tisch weg ging, desto schneller ging sie, bis sie rannte. Vielleicht konnte sie so das Gefühl in sich verjagen, das ihr sagte:

Bleib doch… lauf nicht weg.

Sie merkte auch nicht, dass Puran ihr nachsah.

An der Stelle der Tafel, an der die Geisterjäger und ihre Anhängsel saßen, herrschte jetzt Stille, während der König und die anderen fröhlich feierten. Schließlich fing Puran an zu jammern und vergrub das Gesicht in den Händen, die Ellenbogen auf den Tisch stützend, was man eigentlich ja nicht machte.

„Das kann doch nicht wahr sein! Ich darf nicht mal mit ihr im selben Raum sein, ohne dass sie mit mir jeder Pore ihres Körpers ein so schlechtes Gewissen macht, dass ich das Gefühl habe, ich müsste brechen!“

„Nicht auf den Braten, bitte.“, war Neron Shais feixender Kommentar, „Habt ihr jemals so einen Braten gesehen? Das ist der Wahnsinn, ich glaube, ich ziehe hier ein.“

„Braten, ach!“, jammerte Puran neben ihm und stieß ihn empört an, „Ich habe hier Probleme, ja?! Und du redest von Braten!“ Meoran verdrehte sein eines Auge.

„Geh ihr nach!“, riet er ihm, „Sei ehrlich, Puran, es macht dich genauso wahnsinnig wie Leyya – und ihr beide macht damit uns alle wahnsinnig! Hör auf, ihr aus dem Weg zu gehen, geh zu ihr.“

„Als ob das so leicht wäre, sie wird mich den Rest des Abends ohrfeigen, Meister!“ Seine Mutter neben ihm brummte.

„Das hättest du auch verdient, du Idiot.“ Tabari, der ihr gegenüber saß, sah seine Frau amüsiert an.

„Sie ist eine richtige kleine Nilfa, unsere kleine Leyya.“ Nalani zog eine Braue hoch und Puran gleich zwei.

„Was, eine Nilfa? Was bedeutet das, ich dachte, das wäre ein Fluss in Thalurien?“

„Ja, genau. Der Fluss hat seinen Namen von der Märchengestalt namens Nilfa. Ich erzähle dir die Geschichte, das ist eine alte Sage in Thalurien. Sie handelt von einem Flussgeist, der in dem Fluss wohnte, der heute Nilfa heißt. Der Flussgeist pflegte in Gestalt eines wunderschönen, unschuldigen Mädchens an Land zu kommen und auf einem großen Felsen am Ufer zu sitzen, ganz allein und hilflos, wie es schien. Und eines Tages kam ein Fischer den Fluss hinauf mit seinem Boot. Er sah das unschuldige Mädchen, und, na ja, was dann in Märchen eben so passiert, war natürlich geblendet von ihrem Äußeren. Er hat sie mit in sein Boot genommen und sich mit ihr vergnügt… als er dann seinen Verstand wiedergefunden hat, ist ihm aufgefallen, dass er aber daheim eine Frau hat, die er nicht betrügen wollte, deswegen hat er den Flussgeist wieder verstoßen. Und der Geist war zornig und hat das Boot des Fischers umgeworfen, um den Mann mit sich in die Tiefe zu ziehen und für immer an sich zu binden. Er ward nie mehr gesehen. Die Leute in Thalurien ehren und fürchten den Fluss Nilfa gleichermaßen, die bringen dem Geist des Flusses Gaben, um ihn ruhig zu stimmen…“ Tabari kicherte, als er sein Märchen beendete, und die anderen starrten ihn groß an. Dann richteten sich alle Blicke auf Puran, der erbleicht war, bis Tabari noch einen Schlusssatz fand: „Seitdem ist es zu einer Redewendung geworden, solche Mädchen als Nilfa zu bezeichnen, mit denen man sich einmal einlässt und die man dann deshalb nie wieder los wird, haha.“ Puran schnappte nach Luft und Tare Kohdar schüttelte den Kopf.

„Tabari, das war ganz schön kontraproduktiv…“

„Aber irgendwo hat er doch recht…“, war der Einwurf seines Bruders.

„Ich will aber nicht in die Tiefe gezogen werden, Vater!“, entrüstete Puran sich errötend, und Tabari feixte.

„Na ja, das wirst du vielleicht ja gar nicht… du hast ja keine Frau, wegen der du die Nilfa verstoßen müsstest.“

„Ich bin zu alt für sie!“, zischte der Sohn entrüstet, „Das geht doch nicht, Vater, das sind verdammte neun Jahre! Das… ist doch pervers!“ Tabari verdrehte die Augen und jetzt war es Meoran, der sich laut räusperte und seinen Schüler ungewohnt grimmig ansah.

„Entschuldige mal, ich bin auch neun Jahre älter als meine Frau! Findest du mich jetzt auch pervers, Puran?“ Daraufhin starrte der Jüngere ihn perplex an und wagte nicht mehr zu sprechen. Tatsächlich… das war ihm nie bewusst gewesen! Wie peinlich…

„N-nein-… ich meine… Ihr nicht, Meister, ich meine, das… ist doch was ganz anderes…“ Meoran tat beleidigt und drehte den Kopf weg, worauf der arme Puran beschämt in sich zusammen sank. Warum war er immer der Idiot, der ins Fettnäpfchen trat?

Nalani schenkte ihm einen kalten Blick von der Seite.

„Geh ihr nach.“, befahl sie ihm dumpf. „Beende diesen Zirkus endlich. Du weißt, dass die Geister euch beide zusammengeführt haben. Du spürst die Verbindung genau wie sie, du wehrst dich nur aus einem ziemlich dämlichen Grund dagegen. Du liebst sie… ist da das Alter nicht egal?“

„Ach!“, schnaubte er und erhob sich zornig, „Was wisst ihr schon, ihr albernen Spaßvögel?! Hört auf, mich mit Leyya verheiraten zu wollen, ich suche mir meine Frau verdammt noch mal selbst aus! Ich, Mutter, hörst du, und nicht die Geister!“ Damit drehte er sich auf dem Absatz um und stampfte ebenfalls aus dem Saal, in die entgegen gesetzte Richtung wie Leyya zuvor.
 

Er wollte nur in sein Bett. Eine Weile irrte er wütend und unglücklich durch den Palast und wollte nichts weiter als sein Zimmer finden und den Rest des Abends dort verbringen, niemanden sehen und mit niemandem reden. Als er aber endlich den Korridor erreicht hatte, in dem die Gemächer seiner Familie waren, kam alles anders.

Der Flur war dunkel und verlassen, nur eine einzige Wandkerze erleuchtete den gesamten Korridor und das nur spärlich. Und mitten auf dem Fußboden kauerte Leyya und weinte bitterlich. Als er sie erkannte, wie ein Häufchen Elend am Boden liegend und weinend, erstarrte er erst fassungslos; dann kehrte das schlechte Gewissen mit aller Macht zurück, als wollten die Geister ihm zeigen, was er ihr angetan hatte, und ihm dieselben innerlichen Schmerzen zufügen.

Sie weinte. Und das nur seinetwegen… das spürte er instinktiv. Eine Weile stand er von ihr unbemerkt einfach nur da und sah auf sie herunter, bis er den Anblick nicht mehr ertragen konnte. Plötzlich waren all seine Vorsätze egal… sie hatte es nicht verdient, so elend am Boden zu liegen und zu weinen. Und er war es nicht wert, dass sie es seinetwegen tat…

„Leyya…“, sprach er sie an und ärgerte sich darüber, dass aus seiner Kehle kaum ein Ton kam. Doch sie hörte ihn, denn sie hob erschrocken den Kopf und rappelte sich auf, bis sie saß. Errötend drehte sie das hübsche Gesicht weg und fuhr sich schluchzend über die Augen. „Was machst du da?“, fragte er sie dumpf, „Warum liegst du mitten auf dem Flur…?“

„Ich weine, weil mein Fuß umgeknickt ist!“, schluchzte sie herzergreifend und rieb sich den Knöchel, „Es tut weh… i-ich bin hingefallen…“ Er sah bestürzt auf ihren tatsächlich leicht geschwollenen Knöchel und seufzte, sich vor sie hockend.

„Wieso wendest du dann keinen Heilzauber auf dich selbst an…?“, murmelte er benommen und hatte keine Ahnung, was er zu ihr sagen sollte. Es gab keine Worte, die rechtfertigten, was er getan hatte… das wussten sie beide. Es gab keine Wort der Entschuldigung oder Fragen nach ihrem Wohlbefinden; was wäre das für eine dumme Frage gewesen? Man sah ja, wie sie sich fühlte…

Leyya senkte bitter lächelnd den Kopf.

„Ja…“ machte sie, „Heilzauber. Das… vergaß ich beinahe in meinen Schmerzen. Wie dumm von mir…“ Dann fuhr ihr Gesicht hoch und sie schrie ihn an mit aller Wut und allem Schmerz, den sie hatte: „ES GIBT NICHT FÜR JEDEN SCHMERZ EINEN ZAUBER, PURAN!“

Als sie wieder in Tränen ausbrach, schloss er sie plötzlich fest in seine Arme und drückte sie an sich. Und vor Schreck vergaß sie ihre Tränen, als er das Gesicht verzweifelt keuchend in ihren schönen Haaren vergrub und erzitterte, sie dabei fest an sich drückend, als wollte er sie nie wieder loslassen.

„Vergib mir!“, heulte er und sie erstarrte in seinen Armen. „Ich weiß… zwei simple Worte werden nicht gut machen können, was ich getan habe-… nichts kann diese… Schande gut machen, Leyya. Ich bin ein Idiot, ich… habe einen Fehler gemacht, als ich dich an jenem Tag… von mir stieß. I-ich habe so sehr versucht… dagegen anzukämpfen… a-aber… ich… ich kann nicht mehr! Ich halte das… nicht mehr aus… dich so sehen zu müssen, dich weinen sehen zu müssen, dich nicht bei mir haben zu können… i-ich kann das nicht mehr! Bitte vergib mir, wenn du kannst…“ Sie erzitterte jetzt, während er sprach, und voll von Fassungslosigkeit weitete sie ihre dunklen Augen, als er sich vorsichtig von ihr löste und ihr Gesicht ansah, die Hände hebend und immer wieder sanft ihre Wangen streichelnd, die gerötet und feucht von ihren Tränen waren. Er schniefte. „Ich habe gelogen… damals. Ich…“ Er senkte kurz den Kopf, nur um ihn dann rasch wieder zu heben und sich zu ihr vorzubeugen, worauf sie bebend vor sehnsüchtiger Erwartung die Augen schloss. Sie spürte, wie sein Atem ihre Lippen kitzelte.

Wie sehr hatte sie seine Nähe vermisst…? Und plötzlich war er da, plötzlich umarmte er sie und war ihr wieder so nahe, dass ihr Herz wieder zu schmerzen begann; dieses Mal vor Freude, so sehr, dass sie fast wieder geweint hätte.

„Ich spüren das Geisterband, von dem du sprichst, genauso wie du, Leyya…“ Das gesagt überwand er den letzten Zoll zwischen ihnen und küsste sie liebevoll auf die Lippen.
 

Von einem Moment auf den nächsten war Leyya vom unglücklichsten Menschen der Welt zum glücklichsten geworden, als sie seine Lippen auf ihren spürte, wie sie sich sanft gegen sie drückten. Und willig öffnete sie den Mund und ließ zu, dass ihre Zungen einander berührten, wie sie es vor einer gefühlten Ewigkeit schon mal getan hatten. Sie teilten einen langen, innigen Kuss, und Leyya wünschte, er würde nie enden, als Puran sich von ihr löste und errötend das Gesicht senkte.

„Ich…“, murmelte er verlegen und wusste nicht, wie der Satz weitergehen könnte. Leyya brauchte jetzt keine Worte mehr. Er spürte das Band auch! Das war alles, was ihr wichtig war, und sie erstrahlte wie die aufgehende Sonne und fiel ihm überglücklich um den Hals.

„Ich hab dich so sehr vermisst…“, schluchzte sie und weinte schon wieder, sich fest an ihn pressend, und er umarmte sie zärtlich und küsste ihre Wange und ihren Hals, während seine Hände hastig über ihren schlanken Rücken streichelten. „Ich habe mich so nach dir gesehnt, Puran… jeden Tag und… jede Nacht…“ Jetzt errötete sie auch, als sie an die vielen einsamen Nächte dachte, die jetzt vorbei waren.

Er zog ihr Kinn mit den Fingern empor und küsste sie noch mal.

„Ich weiß…“, nuschelte er dann, „Ich habe dich… doch auch vermisst. Ich habe mich genauso gesehnt…“ Er erzitterte abermals, als sie ihn ansah. Sie war hübsch… trotz ihrer Tränen war sie wunderschön in diesem Moment, in dem sie auf dem Flur des Palastes am Boden knieten, als er sanft ihre Wangen und ihre langen Haare streichelte. Und sie war eine Frau… nie hatte sie erwachsener gewirkt, reifer und anziehender, als in diesem Augenblick, dachte Puran errötend, und ein Gedanke führte zum nächsten. Wie lange war es her, dass er sie so hatte berühren können…?

Sie keuchte unwillkürlich, als er sie in plötzlicher Wildheit zu Boden warf und sich über sie rollte, um sie abermals zu küssen. Dieses Mal küsste er sie heftiger und fordernder, und er war wenig überrascht, als sie sein Verlangen sofort erwiderte, heftig die Arme um seinen Nacken schlang und sich dem Kuss hingab.

„Ich habe jede Nacht an dich gedacht…“, brummte er über ihr, als sie voneinander abließen, und sie seufzte leise und schloss bebend die Augen, als er sich über ihr Schlüsselbein beugte, um es zu küssen. Mit einer Hand stützte er sich am Boden ab, die andere fasste jetzt nach ihrem Oberarm, dann fuhr sie hinauf auf ihren Oberkörper, um ihre hübsche Brust anzufassen. „Verdammt… wie hab ich das ein halbes Jahr lang ausgehalten…?“ Sie lächelte und begann, sein Hemd aufzuknöpfen, als er an ihrem Kleid zu schnüren anfing, dabei richtete sie sich langsam wieder etwas auf, sich streckend, um ihn wieder küssen zu können. Da war das Feuer, nach dem sie sich gesehnt hatte… das Feuer vom Blutritual, das er ihr damals gegeben hatte. Sie spürte es jetzt in ihrem Körper von neuem zum Leben erwachen, ebenso wie in seinen Lenden, als sie sich leise stöhnend gegen ihn presste und er ungeduldig mit den Händen unter ihr Kleid glitt. Ja, sie fragte sich dasselbe wie er… aber im Vergleich zum vergangenen halben Jahr war die Erregung in ihrem Inneren jetzt sehr viel stärker und ungezügelter… jetzt schien das vergangene halbe Jahr zu verblassen…
 

Sie erinnerte sich hinterher nicht mehr, wie sie es geschafft hatten, vom Flur in sein Bett zu kommen. Und es war ihr völlig egal… die ganze Welt war ihr egal, als sie mit dem Kopf auf den weichen Kissen lag, während er über ihr war und mit ihr schlief. Sie waren eins, und Leyya bewegte sich mit ihm und umschlang atemlos die Hitze seines Körpers über ihr, während sie in seinen Armen seit langem wieder Erfüllung und Freude fand. Es war so schön… es fühlte sich so richtig an, wenn er sie berührte, wenn sie sich küssten… sie wusste genau, dass sie sich niemals geirrt hatte mit dem Geisterband. Die Geister von Himmel und Erde wollten, dass sie zusammen waren… jetzt waren sie es endlich. Und Purans frühere Hemmungen ob des lächerlichen Altersunterschiedes waren dahin, als sie sich so in aller Hingabe und aller Leidenschaft vereinten, die sie besaßen. Er liebte sie, wie ein Mann eine Frau lieben sollte, und es war recht so.

Sie gehörte hierher… an seine Seite, in seine Arme, so, wie er zu ihr gehörte.

„Von diesem Moment habe… ich oft geträumt, weißt du?“, flüsterte sie andächtig, als sie glücklich und erfüllt beieinander in seinem Bett lagen und er ihr dieses Mal nicht den Rücken kehrte nach dem Sex. Er hatte sie zärtlich in seine Arme gezogen und sie kuschelte sich glücklich an seine nackte Brust, mit den Fingern sanft seine Haut streichelnd. „Dass wir zusammen hier liegen würden wie Mann und Frau… es… fühlt sich schön an.“ Er gluckste, plötzlich völlig erleichtert und gelöst von seinen ernsten Gedanken von zuvor. Ja, es fühlte sich wirklich schön an. Es war richtig so.

„Warum flüsterst du, Leyya?“, grinste er sie an, „Gibt es etwas zu verbergen?“ Sie lachte leise.

„Nein… ich habe nur Angst, den wunderschönen Augenblick mit dir zu zerstören, wenn ich laut spreche… als wäre… er aus Glas, ganz wertvoll und zerbrechlich, so fühlt es sich an.“ Dabei streichelte sie lächelnd seine Brust und küsste seinen Hals. Er hörte zu grinsen auf und fuhr ihr gedankenverloren mit den Fingern durch die Haare. Lange Zeit schwiegen sie beide und genossen einfach die intime Wärme zwischen ihnen, während sie in der Dunkelheit des Zimmers nackt beieinander lagen.

„Hat dir jemals jemand gesagt, wie wunderschön du bist, Leyya?“, murmelte er dann und betrachtete sie lange Zeit. Sie löste sich etwas von ihm und sah ihn verlegen an.

„Was, ich?!“, lachte sie, „Unsinn, Puran, schau meinen hässlichen Körper doch an…“

„Ja, das tue ich!“ Er schnaubte leise, während er sich vorsichtig wieder über sie rollte. Dann begann er, sie überall zu streicheln und zärtlich mit den Lippen zu liebkosen. „Ich finde dich wunderschön… hier…“ Dabei streichelte er ihr hübsches Gesicht, „Und hier…“ Sie keuchte leicht und wurde rot, als er jetzt mit den Händen ihre kleinen Brüste erfasste und sanft drückte. „Und hier… und hier auch…“ Er berührte sie überall und zeigte ihr, wie hübsch er sie fand, und verlegen und gerührt wurde sie noch röter, während sie den Funken in ihrem Unterleib wieder aufkeimen spürte, als er sie auch dort zärtlich streichelte und küsste.

„Findest du… wirklich…?“, nuschelte sie dann und wand sich erhitzt unter ihm, als er sich wieder über ihr Gesicht beugte. Sie hob vorsichtig die Arme, um ihn auch zu berühren. Als er über ihr leicht keuchte, musste sie lächeln. Dann beugte er sich zu ihr herunter; zuerst glaubte sie, er wollte sie küssen, und war deswegen zunächst verdutzt, als er sein Gesicht an ihrem Mund vorbei und stattdessen zu ihrem Ohr senkte. Als er sprach, war er ganz leise, aber sie hörte jedes seiner Worte mit ihrer ganzen, glücklichen Seele.

„Ich liebe dich, Leyya… und das habe ich schon immer getan. Vergib mir, dass ich dich angelogen habe…“

Dann küsste er sie doch, und sie gab sich voller Liebe seinen Berührungen hin, um sich noch einmal mit ihm zu vereinen und seine Frau zu sein.

Sie wusste genau, dass in seinen Worten dieses Mal keine Lüge war.
 


 

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aaaw <33 xD Kitsch-Kapiiii xD Und halleluja, Simus Papa war random da, und - der Koch! xDD

Himmelsgeister

Puran sah den Schatten über das Land zurückkehren, mit ihm die Silhouette des Mannes, der das Gesicht seines Großvaters hatte und ihn mit den spitzen Eckzähnen angrinste.

„Die Welt ist im Wandel… und Schatten wird über das Land fallen wie eine Seuche.“, sprachen die Geister in seinem Kopf, und vor seinen inneren Augen ergossen sich ganze Fluten von Bildern des Todes. Wieder fiel das Feuer vom Himmel, das die Erde verbrannte, ihm folgte ein Schatten des Unheils. Aus der Finsternis, die ihn verschluckte, hörte Puran das Lachen seines verstorbenen Großvaters.

„Lange dauert es nicht mehr, dann werdet… ihr fallen, Lyra. Und ich werde dafür sorgen, dass die Grube unter euch tief ist, sodass ihr auf ewig in die Finsternis fallt…“ Das Lachen verstummte, und während alles um ihn herum dunkel wurde, sah Puran in der Ferne die weißen Spiralen tanzen.

„So unscheinbar, die Biester…“, kicherten die Geister, „Und doch so voll von… Tod.“

Bevor er aufwachte, hörte er die vertraute und gefürchtete Stimme des Tyrannen Kelar erneut.

„Und wenn ihr endlich am Grund aufschlagt, werdet ihr kriechen wie Würmer… in Fetzen!“
 

„Puran?“

Er öffnete keuchend die Augen. Im Zimmer war es dämmrig und er brauchte etwas, um zu registrieren, wo er war. Richtig, Vialla. Er hörte Leyyas Stimme neben sich, die sich zu ihm gedreht hatte und ihn groß und verschreckt anstarrte.

„Puran, ist… alles in Ordnung?“, wisperte sie und er setzte sich stöhnend im Bett auf.

„Ja… war nur… wieder so ein Traum.“, murmelte er benommen und fuhr sich mit den Händen über das verschwitzte Gesicht. Leyya zog die Bettdecke über ihren nackten Körper und setzte sich auch auf, um ihn liebevoll zu umarmen.

„Das passiert oft in der letzten Zeit…“ meinte sie dann bedrückt, „Denkst du, es… wird etwas Schlimmes kommen?“ Er seufzte.

„Das weiß ich leider auch nicht… es wühlt mich nur auf und besorgt mich, aber ich weiß nicht, wieso…“

„Leg dich wieder hin, mein Liebster.“, riet sie ihm und küsste lächelnd seine Wange, ehe sie ihn zurück in die Kissen drückte. Er seufzte abermals und ließ zu, dass sie sich gegen ihn drückte und sanft mit der Hand durch seine zerzausten Haare zu streicheln begann, während sie sich über ihn beugte. „Ich sorge mich auch… du schläfst zu wenig.“

„Mmh.“, machte er nur gedehnt. Sie küssten sich zärtlich. Ja, das kannte er aus der Vergangenheit… Cholena hatte sich früher auch gesorgt, als er wegen der vielen Träume ständig wach gelegen hatte; damals, kurz bevor der krieg ausgebrochen war. Wie lange war das her…? Damals war er noch fast ein Junge gewesen und unkontrolliert… aber irgendwie hatte sich dennoch nichts geändert seitdem. Genau wie damals zermarterten die Träume ihm den Geist und brachten ihn seit endlosen Monden um den Schlaf, dessen er ohnehin wenig bekam in Vialla.

„Entspann dich.“, seufzte Leyya zärtlich und küsste ihn noch mal, „Du solltest schlafen… der Tag ist noch nicht richtig angebrochen.“ Jetzt stöhnte er, rollte sich unter ihr weg und setzte sich wieder hin, sich murrend die Haare raufend.

„Ich kann nicht!“, nölte er, „Ich würde ja gerne, Leyyachen, glaub mir… ich finde keine Ruhe hier, ich… ach… was soll’s, ich gehe baden…“

Leyya setzte sich auch wieder auf und sah ihm nach, als er aufstand und ins Badezimmer verschwand.
 

Der Winter war gekommen und bereits wieder auf dem Heimweg. Draußen regnete es seit vielen Tagen fast ohne Unterlass. Die Witterungsbedingungen erschwerten das Kämpfen sowohl für die Tharraner als auch die Zuyyaner, deswegen herrschte für eine kurze Weile etwas Ruhe auf den Flachländern von Zarimia, die jetzt der Erdspalt zierte, den die Geister im Herbst erschaffen hatten. Aber hinter den Mauern von Vialla herrschte reger Aufruhr; es gab genug zu tun, die Verteidigung musste aufrecht erhalten, die Mauer ausgebessert und repariert werden. Truppen wurden versammelt, niemand hatte Gelegenheit, sich wirklich auszuruhen während des kurzen Atemnehmens, das ihnen durch den anhaltenden Regen gewährt wurde.

Die anderen hatten es im Allgemeinen sehr begrüßt, dass Puran und Leyya jetzt ein Paar waren; vor allem Nalani hatte sich gefreut. Neron Shai hatte einen eigenartigen Sinn für Humor dazu gehabt:

„Komm, Puran, wir beide gründen jetzt einen Verein der Männer, die auf viel jüngere Frauen stehen…“ Puran hatte nur verlegen gehustet, während sein schwarzhaariger Kollege von seiner eigenen Verlobten, Saja, einen Brotkorb gegen den Kopf geworfen bekommen hatte. Die blonde Saja, die selten sprach, war im Vergleich zu dem jungen Mädchen, das sie in Anthurien gewesen war, wirklich eine erblühte Frau geworden. Sie war auch einige Jahre älter als Leyya. Bei ihr und Neron fiel gar nicht so auf, dass sie sieben Jahre auseinander waren.

Leyya stand langsam ebenfalls auf, um sich in eines der Laken vom Bett zu hüllen und auch ins Badezimmer zu gehen. Puran saß schon in der Badewanne und war dabei, sich mit den Händen Wasser auf den Kopf zu kippen, um seine Haare zu waschen. Als Schamane hatte man es beim Baden denkbar einfach… man musste keinen Diener heran zitieren, der extra Wasser herbei schleppte, dazu hatte man den Wasserzauber Alara. Warm machen konnte man das Wasser auch ganz einfach mit einer Vaira und musste es nicht vorher extra aufkochen lassen.

„Ich verstehe einfach nicht, wieso ich dauernd von meinem Großvater träume, der ist gestorben, als ich fünf war!“, entrüstete der junge Mann sich im Haare waschen, als Leyya sich mit ihrem Laken auf den Rand der Badewanne setzte.

„Dein Großvater?“, wunderte seine hübsche Freundin sich und strich sich mit einer Hand durch die dunklen Haare.

„Ja, er war er fürchterlicher Mann, ich hatte panische Angst vor ihm… aber – wie gesagt – der ist ewig tot… ich spüre immer so eine Unruhe in mir… so… einen Schatten, der sich in meinem Geist einzunisten versucht, aber ich weiß einfach nicht, wovor ich solche Furcht habe… vor meinem längst toten Großvater?“

„Die Geister von Toten können auch noch im Tod mächtig sein, hat Tabari einmal gesagt…“, murmelte die Heilerin beklommen, und Puran schnaubte und schüttelte heftig den nassen Kopf.

„Ja, aber der Geist meines Großvaters wurde vernichtet nach seinem Tod… sie haben dafür gesorgt, dass er niemals zurück in diese Welt kehren wird…“

„Dann hat es vielleicht ja nur sinngemäß irgendwas mit ihm zu tun…“ Leyya lächelte und er seufzte, als er spürte, wie sie ihm durch die Haare zu streicheln begann. Sie schaffte es immer noch, den Schatten verblassen zu lassen, der versuchte, sich seiner zu bemächtigen… wenn sie da war, wenn sie sprach, beruhigte ihn das schon.

„Entschuldige, dass ich dich damit so belaste, Leyya…“, murmelte Puran bedrückte, „Ich wünschte, ich könnte dir ein besseres Leben bieten als diesen Humbug.“ Seufzend ließ er den Kopf zur Seite sinken und lehnte ihn auf ihren Oberschenkel, während sie noch auf dem Wannenrand saß. Sie lachte und fuhr herum.

„Puran! Du Idiot, du bist doch ganz nass-… aah!“ Sie schrie entsetzt auf, als sie durch das plötzliche Herumfahren den Halt verlor und samt dem Laken zu ihm in die Wanne plumpste, jetzt seitlings auf seinem Schoß sitzend. Er fing schallend zu lachen an, als das Wasser spritzte und sie ihn empört anstierte.

„Du liebe Güte, du solltest dein Gesicht sehen…“, gackerte er und duckte sich immer noch lachend, als sie ihm eine Kopfnuss verpassen wollte.

„Ach!“, jammerte sie, „Das Laken ist jetzt ganz nass, womit sollen wir heute Nacht schlafen?!“

„Ich schlafe nicht mit einem Laken…“, grinste er und sie errötete, hörte aber auf, sich zu wehren, als er sie kichernd umarmte und sie versöhnlich auf den Hals küsste. „Komm, sei nicht so, du hättest doch ohnehin auch gebadet…“ Jetzt musste sie auch leise lachen, ehe sie sich mühsam etwas zu ihm drehte, die Arme um seinen Hals legte und ihn fordernd küsste, während er mit den Händen das Laken von ihrem nackten Körper zog.

„Wo ich schon mal hier bin, hm…?“, grinste sie ihn an, als sie den Kuss beendete, und ihre rechte Hand verließ seinen Nacken, um über seine Brust und seinen Bauch hinunter zu fahren.

„Ja… es ist gut, dass du hier bist, Leyyachen.“ Er erwiderte ihr eindeutiges Grinsen, als er das nasse Laken aus der Wanne beförderte und sie hochhob, um sie zu sich umzudrehen und sie breitbeinig wieder auf sich zu setzen. Sie kicherte, als sie sich über sein Gesicht beugte und sie einen weiteren Kuss teilten, während er bereits erhitzt nach ihren Brüsten fasste und sie sanft in seine Hände nahm.

„Lass uns Liebe machen… das ist bestimmt aufregend so in der Badewanne, was meinst du?“, fragte sie ihn amüsiert, und er keuchte leise, als sie sich gegen ihn lehnte und er die Flamme in seinen Lenden erwachen spürte.

„Ja, unbedingt, meine Hübsche…“ Darauf zog er sie energischer in seine Arme, worauf sie ebenfalls leise keuchte.
 

Mit dem Ende des Winters kam kein Ende des Regens. Wie die Geier warteten die Menschen nur darauf, dass das Wetter sich besserte, damit sie endlich die Zuyyaner in die Flucht schlagen könnten, die seit einem Jahr nun Vialla belagerten.

„Nanu, wo ist Emo?“, wunderte Tabari sich und sah sich um, während er am Ende des Ratstisches im Senat stand, vor ihm versammelt die Geisterjäger, die beiden Könige, die obersten Generäle und die Senatoren. Nur der von allen ungeliebte Kollege Henac Emo war nirgends aufzutreiben.

„Keine Ahnung.“, meinte Barak Kohdar, „Wir haben ihn überall gesucht und nicht gefunden. Am besten fangen wir ohne ihn an, sonst werden wir ja bis Neujahr noch nicht fertig!“

„Wir können nicht ohne ihn anfangen.“, murrte Tabari, „Auch, wenn wir ihn alle nicht mögen, ist er ein Mitglied des Rates.“

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“, schnaufte Neron Shai, „Der trägt ohnehin nichts besseres zur Beratung bei als schäbig zu grinsen oder zynische Kommentare zu schmeißen…“ Tabari verdrehte die Augen, während Meoran ergeben zurück zur Tür ging.

„Ich suche ihn mal, wozu haben Vögel gute Augen…? Ich beeile mich, Tabari.“

„Ich warte gerne.“, räumte der Herr der Geister feixend ein, „Aber die Zuyyaner vielleicht nicht!“
 

In Vialla gab es keinen ordentlichen Tabak. Zumindest war der in Anthurien besser gewesen, stellte Henac Emo griesgrämig fest und betrachtete den hässlichen Stumpf seiner Zigarette, als könnte der etwas dafür. Da hatte man einmal seine Ruhe und dann gab es nur miserablen Tabak. Er hatte lange überlegt, wo er sich vor den nervigen Kollegen verstecken könnte; schließlich hatte er sich hinunter in die Etage der Angestellten geschlichen und hockte da jetzt auf einer steinernen Treppe gegenüber des Küchenvorraums, in dem irgendwelche Sklaven dabei waren, Gemüse zu schälen. Er sah ihnen gelangweilt bei der Arbeit zu; besser das als sich da oben mit den einfältigen Schönrednern herumzuschlagen. Es war so eine elende Zeitverschwendung, die Zuyyaner kurz und klein zu schlagen, die wuchsen schneller nach als man schauen konnte, hatte er manchmal das Gefühl. Für jeden Mann, den man tötete, kamen zwei neue daher.

Als er plötzlich Schritte hörte, die direkt auf ihn zu kamen, drehte der Schwarzhaarige mürrisch den Kopf – und war verdutzt, dass ihn doch jemand entdeckt zu haben schien, obwohl er dafür gesorgt hatte, seine Anwesenheit für die Instinkte der anderen zu verbergen. Oder war das Zufall?

„Was hast du denn hier verloren, kleines Mädchen? Solltest du nicht… wohlbehütet in den Armen deiner nutzlosen Mutter sein?“ Emo verzog das Gesicht unwillkürlich zu einem hinterhältigen Grinsen. Einige Stufen hinter ihm stand Meorans kleine Tochter. Sie war in ein hübsches Kleidchen gesteckt und ihre schwarzen Haare zu Zöpfen geflochten worden. Jetzt stand sie erstarrt da, Emo konnte nicht sagen, ob sie sich erschreckte, ihn hier zu sehen, oder ob sie ihn mit ihren Augen genau durchschaute und wusste, dass er sich vor ihrem Vater und den anderen versteckte, weil er sie alle leid war… „Ach.“, sprach er grinsend, „Wie ähnlich siehst du deiner Mutter Ruja, kleines Mädchen! Du siehst aus wie ein Taschenformat von ihr, weißt du das? Abgesehen von deinen Augen, du siehst mich an, wie dein Herr Vater mich jetzt ansehen würde. Törichte Saidah… warum bist du bitte hier unten?“ Das kleine Mädchen sah ihn an.

„Ich gehe spazieren, ja.“ Darauf lachte der Mann.

„Ah, spazieren. In die Küche? Willst wohl heimlich Essen klauen?“

„Nein, ich gucke alles an.“ Die Kleine fuhr zurück, als er plötzlich herumfuhr und den Kopf in ihre Richtung streckte. Aber sie lief nicht weg, sie blieb, wo sie war, und schnappte nur erschrocken nach Luft, während sie in seine schwarzen Augen blickte. So voller Schatten…

„So? Du guckst viel für dein zartes Alter, kleines Mädchen… weißt du auch, dass man Kindern, die zu viel angucken, die Augen ausstechen kann, wenn sie böse waren…?“

„Du bist ein falscher Mann.“, behauptete Saidah nach einem Moment der Stille. Darauf blinzelte er und lachte dann laut auf, sodass die Küchenjungen weiter vorne ihn verblüfft anstarrten.

„Ein was bin ich? Oh, wenn dein Vater das hört, was du für böse Dinge sprichst…“

„Du bist ein Schattenmann.“, murmelte sie unbeirrt und er zischte sie an.

„Ja, Schatten ist das Element, mit dem meine Familie zu arbeiten pflegt, du kleine Klugscheißerin…“

„Um Himmels Willen! Was hast du hier zu suchen, Saidah?!“ Meorans Stimme riss die beiden aus ihrer Unterhaltung und Emo zog die Augen zu Schlitzen zusammen. Verdammt, jetzt hatte man ihn ja doch gefunden… Saidah drehte sich um und streckte die Arme aus, damit ihr Vater sie hochheben konnte. „Bist du mal wieder Mutti davon gerannt, du ungezogenes Ding?“, seufzte dieser und sah sein Töchterlein streng an. „Sie sorgt sich bestimmt!“ Sein nächster Blick galt Emo. „So, hier bist du also, du Drückeberger. Was zum Himmel tust du hier unten?“

„Zum Beispiel vor euren dämlichen Fragen flüchten…“, feixte der Jüngere, pustete den Rauch der Kippe in die Luft und drückte den Stummel dann auf der Steintreppe aus. „Lass uns ehrlich sein, Meoran, ist es wirklich sinnvoll, was hier abläuft? Ich denke nicht. Ich hatte vor nicht langer Zeit einen Traum. Da fing ich an, mich zu fragen, wozu das alles? Für die menschlichen Könige? Glaubst du wirklich, der Idiot hält sein Versprechen?“

„Natürlich wird er das. Er würde nicht wagen, uns zu hintergehen, Emo.“ Meoran schenkte ihm einen scharfen Blick. „Komm jetzt, die anderen warten!“ Doch der Schwarzhaarige grinste diabolisch und blieb sitzen.

„Ich dachte an die Zeit von Lyrien, als wir noch die Könige waren, zumindest oben im Norden, weißt du? Meinst du, die Zuyyaner wären durch Lyrien auch so schnell durch gekommen? Ich glaube nicht… das waren zwar harte Zeiten, aber irgendwie war es doch Wille der Geister.“

„Wage nicht, so darüber zu sprechen…“ Der Ältere verengte die Augen jetzt ebenfalls zu Schlitzen, „Kelar war ein grausamer Mann! Seine Herrschaft gutzuheißen gleicht einer Beleidigung aller Lebensgeister, also hüte dich besser. Du weißt genauso gut wie ich, dass Kelar Lyra das Land fast zu Grunde gerichtet hätte in seinem Wahnsinn!“

„Na ja, am Ende, ja, aber am Anfang hat es doch geblüht.“, war die unverblümte Antwort. „Was passiert jetzt, wo wir wieder einen Senat haben? Politik! Politik! So schmieren dir die Leute Honig ums Maul, bis du selbst ganz wirr bist und eines Morgens aufwachst, um auch Politik! Politik! zu schreien… Wer behält denn bei der ganzen Bürokratie den Überblick?“

„Dass du nicht für die Politik geboren bist, ist mir klar.“, machte Meoran schnippisch, „So etwas wie Diskutieren ist nicht dein Ding, entweder alles tanzt nach deiner Pfeife oder nicht, und wenn nicht, dann schmollst du.“

„Ich schnalle dieses Gedümpel hier auch nicht, Chimalis. Wir könnten auf ganz anderem Niveau sein, als die Marionetten des Königs zu spielen und in erster Reihe zu stehen, um den Zuyyanern zu applaudieren, wie sie sich darauf vorbereiten, uns alle zu verbrennen.“

„Auf ganz anderem Niveau? Hör dich mal reden, du klingst kaum besser als Kelar, den du eben so verherrlicht hast.“

„Ja, dann sei es so!“ Henac Emo lachte laut und erhob sich dann, um den anderen Mann und seine Tochter grimmig anzugrinsen. „Ich glaube, noch ein Kelar würde euch gut tun, dann wisst ihr endlich wieder, wo euer Platz ist, ihr verblendeten Hornochsen… und auf mir trampelt ihr herum, ja.“

„Jetzt übertreibst du. Du bist gut, aber so gut bist du auch nicht, du bist nicht Kelar und das ist gut so.“

„Ah, so ist das also…? Das sagt der Richtige, Herr Ich-kann-nicht-mehr-ich-brauche-Pause mit einem Auge.“ Meoran sparte sich seinen Kommentar. „Weißt du, was in meinem Traum war, Chimalis? Ich sah Tod und Finsternis. Eine Finsternis, die wir vielleicht verhindern können.“

„Wir sehen alle Tod und Finsternis, Emo. Wenn du eine hilfreiche Lösung siehst, mit der wir die Zuyyaner loswerden, drücke dich nicht vor dem Rat und teile sie mit uns. Dazu ist der Rat nämlich da, falls es dir während deiner größenwahnsinnigen Pläne entfallen ist.“

„Tss.“, war die Antwort und der Schwarzhaarige senkte den Kopf, ohne Meoran aus den Augen zu lassen. „Die Zuyyaner werden wir nie los.“

Die beiden wurden unterbrochen, als sie plötzlich ein lautes Rufen hinter sich vernahmen. Als sie sich umdrehten, stand ihnen einer der Köche gegenüber. Meoran erkannte ihn wieder, das war der junge Kerl mit den grünen Augen.

„Sitzt ihr eigentlich auf euren Ohren?! Was habt ihr hier zu suchen?! Ah, der Herr will sicher wieder Töpfe und Thymian für die Scheintoten…“ Sein Blick galt Meoran, der nur seufzte, während Henac Emo den Mann einen Moment anstarrte und die dunklen Schattenaugen minimal weitete.

Er hatte diesen Mann schon einmal gesehen, er war ihm im Traum erschienen. Das war der Mann aus Canulo. In dem Moment, in dem der Koch ihn ebenfalls anblickte und sich ihre Blicke trafen, spürte Meoran das üble Gefühl dunkler Vorahnungen zurückkehren, das er schon einmal verspürt hatte und das er immer noch nicht benennen konnte. Seine Instinkte warnten ihn plötzlich und mit einem Mal zischten die Geister in seinem Kopf.

„Ihr solltet den Schatten von Lyrien vernichten, solange ihr es noch könnt…“

Er kam nicht dazu, weiter zu denken, denn der junge Koch erhob die schnarrende, kehlige Stimme wieder und pustete sich ein paar braune Haare aus dem Gesicht. Als er sprach, sah auch Emo die spitzen Zähne und wusste mit einem Mal, vor wem er hier stand.

„Macht, dass ihr wegkommt, ihr dämlichen Schnösel, aber dalli!“, entrüstete sich der Angestellte, „Oder wollt ihr Kartoffelschäler werden?! Raus jetzt!“

Die zwei und Saidah machten, dass sie weg kamen, und bemerkten nicht die giftigen Blicke, die der Mann ihnen nachwarf. Ebenso wenig das dämonische, wahnsinnige Grinsen, das sein Gesicht plötzlich zierte.

„Ja, Chimalis, lauf nur. Lauf, so lange du deine Beine noch hast, ehe ich sie dir eins nach dem anderen abschneiden werde.“
 

Es waren Tage des Schweigens, die an ihnen vorbeizogen und Schatten zurückließen. Schatten, der sie alle überkam, einen nach dem anderen, mit dem Ziel, nur Dunkelheit und Furcht zurückzulassen in den Herzen der Menschen von Tharr. Was würde werden, wenn die Zuyyaner wieder angriffen? Wären sie stärker als im Vorjahr, noch mehr Krieger…?

Was würde werden, wenn die Mauer fiele?

Der Einzige, der dem Schatten die ganze Zeit trotzte, war Tabari. Egal, was war, er verlor nicht den Mut und versuchte, seine Kollegen und Mitstreiter damit anzustecken, was zusehends schwerer wurde. Der einzige Mensch, der wusste, dass Tabaris Optimismus auf Messers Schneide stand, nicht mehr war als ein Selbstbeschützungsinstinkt, mit dem er seine eigene Unsicherheit austricksen wollte, war Nalani.

„Wolken ziehen über das Land.“, murmelte der Herr der Geister und sah hinauf in den grollenden, düsteren Himmel über der Stadt. Für die Jahreszeit war es noch ziemlich kalt. Sie würden neuen Regen bringen und vielleicht sogar Schnee. „Sie bringen neue Schatten… die Geister sind unruhig.“ Er stand am großen Fenster in seinem Schlafzimmer im Palast. Nalani trat hinter ihn und folgte schweigend seinem Blick.

„Du bist das auch, Tabari.“, entgegnete sie dann. Er seufzte.

„Ja, das stimmt. Ich bin auch unruhig.“ Dann drehte er den Kopf und sah sie ernst an. „Sag mir, wie lange siehst du schon in deinen Träumen das Ende der Welt? Denkst du, es ist bald soweit?“ Sie feixte.

„Nein, für uns nicht. Bald ist schwer zu definieren. Es sind nicht die Zuyyaner, die das Ende der Welt bringen… ich habe es eine Zeit lang geglaubt. Aber als auch nach Beginn des Krieges wieder Träume vom Ende der Welt kamen, wusste ich, dass es nichts mit Zuyya zu tun haben wird.“ Er seufzte erneut, als sie neben ihn kam. Ohne es wirklich zu merken nahm er sanft ihre Hand in seine. Sie ließ ihn gewähren, sagte aber nichts. „Sorgst du dich um die Schlachten vor uns?“

„Ich bewundere dich.“, murmelte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Du hast Kadhúrem nicht mehr und hast dennoch kein bisschen deiner Macht eingebüßt. Ich habe gedacht, ohne Kadhúrem wärst du aufgeschmissen.“

„Irrtum, mein Guter. Ich habe lange geübt, um mir die mächtigsten Geister der Schatten und der Finsternis anzueignen. Ich habe schon lange vorher gewusst, dass ich Kadhúrem in Kadoh lassen würde.“

„Du hast den anderen nicht gesagt, warum es weg ist, oder? Puran hat mich einmal gefragt, wo dein Schattenschwert sei, ich habe ihm geantwortet, dass ich es nicht wüsste.“

„Es ist nicht wichtig, dass sie es erfahren. Lass sie im Unwissen, sie würden sich nur unnötig den Kopf zerbrechen.“ Jetzt drehte sie sich zu ihm um und er tat es ihr gleich, ihre Hand dabei loslassend. Stattdessen begann er sanft, durch ihre schwarzen Haare zu streicheln. Obwohl sie nicht mehr die Jüngste war, war sie noch immer bildschön… so, wie sie es immer schon gewesen war.

„Hast du Angst?“, fragte er dann dumpf, und Nalani hob das hübsche Gesicht und sah ihn lange an.

„Wovor?“

„Vor dem Tod… wir stehen ihm immerhin Auge in Auge gegenüber, nicht wahr? Du spürst es genau wie ich… habe ich nicht recht, Schattenkönigin?“ Jetzt senkte sie das Gesicht wieder. Dann lächelte sie bitter.

„Nein, Tabari, ich fürchte den Tod nicht. Ich habe mir sagen lassen, es wäre wie Unendlichkeit.“

„Vermutlich ist es das.“ Er beugte sich vor, um ihre Lippen zu küssen, und sie seufzte leise, seinen Kuss erwidernd, ehe sie sich von ihm löste und zum Fenster starrte.

„Emo macht mir Sorgen.“, gestand sie ihm dann und er zog den Kopf hoch.

„Emo? Warum, weil er sich vor den Ratssitzungen drückt? Ja, mir gefällt aber auch nicht, was er so von sich gibt, und seine Blicke gehen in eine Richtung, die mir unbehaglich erschient.“

„Ich habe ein ungutes Gefühl im Zusammenhang mit ihm. Ich weiß nicht, wieso… es ist, als würde mich irgendetwas tief in meinem Inneren warnen wollen. Emo ist gefährlich… er ist ein unsichtbarer Schatten, der mit Giftpfeilen arbeitet. Wenn er tatsächlich irgendetwas gegen uns tut, dann in einem Moment, in dem niemand damit rechnet, an einer Stelle, an der wir es nicht erwarten… und an der es am meisten wehtut. Und es ist schwer, ihn im Auge zu behalten, weil er sich so gut verstecken kann.“ Tabari schwieg lange. Als er sprach, gehörte es nicht mehr zum Thema.

„Unendlichkeit… erscheint mir so negativ. Ich habe mir einmal sagen lassen… die Geister beneiden uns um unsere Sterblichkeit…“ Nalani sprach nicht.
 

Der Regen hörte auf, als der Kirschmond anbrach. Es ging schon beinahe auf den Sommer zu; jetzt, wo der Regen nachließ und Mutter Erde langsam die viele Flüssigkeit aufsaugen konnte, um trocken zu werden, liefen sämtliche Vorbereitungen und Rüstungen von morgens bis abends. Es war nicht mal Zeit, sich über Emo zu ärgern, der dem Rat der Geisterjäger weniger eine Hilfe zu sein schien, als dass er ihm nur Steine in den Weg legte, ob nun absichtlich oder als Nebenwirkung seiner eigenen egoistischen Machenschaften. Irgendwann hatte Tabari es aufgegeben, ihn suchen zu lassen.

„Hat er eben Pech. Wer nicht will, der hat schon, die Geister werden ihn schon strafen, wenn er Mist baut. Wir haben keine Zeit, ihm hinterher zu rennen wie einem kleinen, bockigen Jungen.“ Da waren alle seiner Meinung gewesen und der Schwarzhaarige erntete jedes Mal, wenn er tatsächlich auftauchte, bitterböse Blicke von allen Seiten, die er nur grinsend erwiderte. Er wusste genau, dass er sich Feinde machte… diese niederen Kreaturen waren ihm egal.

Er hatte seine eigene Zukunftsvision gehabt und wusste genau, dass alles anders laufen würde, als die Schlaumeier es dachten.

Dann rückten die Zuyyaner wie erwartet wieder an, als der Regen nachgelassen hatte. Und alle in der Stadt wussten, dass die Pause vorüber war.
 

Leyya war nicht zufrieden mit der Gesamtsituation.

„Wir sehen uns in den letzten Tagen so wenig, Puran…“, murmelte sie dumpf, als sie des Nachts mit ihm im Bett lag und sich an seinen nackten Oberkörper schmiegte. Er lag auf dem Rücken und starrte an die Decke, jetzt einen Arm um ihren zierlichen Körper legend und mit einer Hand apathisch durch ihre Haare streichelnd.

„Wir sehen uns doch jede Nacht…“, erwiderte er. Sie schmollte.

„Aber nur in der Nacht und dann nicht lange… und dann träumst du wieder, kommst nicht zur Ruhe, bist am folgenden Tag nur müde und schläfst deswegen am Abend sofort ein…“ Sie kam sich ungerecht vor, weil sie meckerte, obwohl er jeden freien Moment, den er hatte, bei ihr war. Und sie liebten sich, wann immer die Zeit und ihre Bestimmungen es zuließen. Es war nicht so, dass sie nicht beschäftigt war. Sie lernte bei den Heilern und machte gute Fortschritte. Und wenn sie alleine war und nichts zu tun hatte, übte sie, schwerere Heilzauber anzuwenden, und probierte herum, um eines Tages ihr Lebensziel zu verwirklichen, einen Zauber zu schaffen, der auch die Wunden heilte, die die zuyyanischen Waffen verursacht hatten. Dennoch fehlte er ihr so oft… vor allem, seit der Regen vorbei war.

Sie hatten am Abend zusammen gebadet. Das hatten sie schon ein paar Mal gemacht, die Wanne war groß genug für sie beide und es war angenehm, im Wasser zu schmusen oder vielleicht auch etwas mehr zu machen, fand die junge Frau, und ganz offensichtlich teilte er ihre Meinung. Er hatte ihr sehr liebevoll die Haare gewaschen und sie war ganz entzückt gewesen, dass man mit Haaren so sanft umgehen konnte.

„Als ich klein war, in Makar, hat die Frau meines Onkels mir im Brunnen die Haare gewaschen, sie hat gerupft und gezerrt, das hat fürchterlich weh getan… ich hatte hinterher immer das Gefühl, meine ganze Kopfhaut würde bluten. Wie du es machst, ist es so schön…“, hatte sie ihm verliebt offenbart, und er hatte nur gelacht und sie zärtlich in den Nacken geküsst. Sie liebte es, wenn er sie berührte… nach dem Bad hatten sie sich nur schnell abgetrocknet, ihre nassen Haare ignoriert und sich direkt auf der Matte vor der Wanne geliebt; danach im Bett noch einmal. Jetzt waren selbst Leyyas lange Haare vom vielen Herumwälzen im Bett trocken.

Puran seufzte und ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen, als er jetzt auf dem Rücken lag. Er war eigentlich todmüde, wusste aber genau, dass er nicht schlafen könnte; es gab zu vieles, das ihn wach hielt. Es tat ihm auch leid, in den letzten Tagen so wenig Ruhe und Zeit für seine hübsche Freundin gefunden zu haben… sie sah so unschuldig und niedlich aus, hatte es aber faustdick hinter den Ohren, hatte er gelernt, seit sie ein Paar waren. Obwohl er der einzige Mann war, mit dem sie jemals geschlafen hatte – das dafür wirklich oft – benahm sie sich, als hätte sie hundert Jahre Erfahrung, wenn sie sich das Bett teilten. Sie war wirklich erstaunlich, mitunter kam er sich selbst etwas dumm vor, weil sie sich so unsagbar geschickt anstellte, obwohl sie – außer mit ihm – nie groß geübt hatte… er dagegen hatte es mit vielen Frauen getan, und keine hatte ihn je so erfüllt wie Leyya. Nicht einmal Ruja… nicht einmal Cholena. Die Geister hatten sie ihm eben doch bestimmt… sie gehörte zu ihm. Er spürte es jeden Moment, den sie zusammen waren, den er sie nur ansah, es war wie ein unsichtbarer Zauber, der sie beide miteinander verband.

Er wünschte sich, er könnte sie den ganzen Tag nur im Arm halten und sie lieben, von morgens bis abends wollte er nur noch bei ihr liegen… leider war das nicht möglich, das wussten sie beide.

„Ich sorge mich, Puran…“, wisperte sie da und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Er drehte den Kopf, um sie anzusehen.

„Worum?“

„Um dich, du Torfkopf!“, jammerte sie und schmuste sich dichter an ihn. „Morgen müsst ihr wieder hinaus und kämpfen… oder? Sie werden doch kommen, die Zuyyaner, ich bin mir sicher… ich… ich will nicht, dass du da draußen umkommst!“

„Das fällt dir aber spät ein, wir sind schon über ein Jahr hier…“, murmelte er und grinste dann, als sie ihn geknickt anlinste. Irgendwo war sie manchmal doch noch ein Kind, wenn sie so schaute… ein Kind, das einen Keks wollte und keinen bekam. „Ich passe auf mich auf, Leyyachen. Sorge dich nicht, es wird alles gut werden.“ Sie senkte bitter den Kopf.

„Das sagt sich so leicht! Du bist jetzt nicht mehr oben auf der Mauer, sondern unten davor, du könntest von diesen bösen Waffen getroffen und getötet werden! D-das sind Wunden, die ich nicht heilen kann! Die niemand heilen kann… ich habe Angst, dich zu verlieren, wo wir doch gerade so glücklich miteinander sind…“ Sie schniefte herzergreifend und er musste lächeln.

„Ach, Leyya… ich verstehe dich ja, aber was soll ich dir sagen? ‚Ja, sorge dich ruhig, ich werde garantiert sterben!’ ? Das ist nicht wirklich hilfreich…“ Als sie nur schutzsuchend das Gesicht in seiner Seite vergrub, drehte er sich um, zog ihr Kinn hoch und sah sie an. Sein Lächeln war verschwunden. „Leyya, sieh mich an. Jetzt.“ Sie tat es gehorsam und schluchzte dennoch, als er sie plötzlich so ernst anblickte. „Ich befehle den Geistern von Himmel und Erde, wenn ich will und wenn es angebracht ist. Und auf keinen Fall werde ich zulassen, dass du weinen musst. Das verspreche ich dir. Ich verspreche dir, ich werde zurückkommen. Ich werde lebend zurückkommen zu dir, mein Liebes, um dich glücklich zu machen. Ich habe… mir in den letzten Wochen viele Gedanken über uns beide gemacht… die Geister von Himmel und Erde wollten, dass wir beide zusammen finden. Sie haben mich damals zu dir nach Makar geführt… und sie haben mich noch einmal zu dir geführt, als du erwachsen geworden bist. Sie werden nicht wollen, dass all ihre Mühe, mich zu dir zu bringen, für nur so kurze Zeit war…“

„Meinst du wirklich?“, wisperte sie erstaunt, und er lächelte jetzt wieder zuverlässig, ehe er das Gesicht nach vorn beugte und zärtlich ihren Mundwinkel küsste.

„Ja, Leyyachen. Wir beide sind eins, wir gehören zusammen. Selbst ich Depp habe das jetzt kapiert, ja…“ Er musste lachen über seine frühere Torheit und Leyya lachte mit. Er küsste ihren anderen Mundwinkel, ehe er fortfuhr. „Leyya… ich wünsche mir, dass du meine Frau wirst, sobald der Sommer vorbei ist.“

Ihr Lachen erstarb.
 

Einen Moment lang starrte sie ihn aus großen, braunen Augen an. Seine Frau? Sie konnte nicht fassen, was sie da hörte – Worte, von denen sie sich schon Jahre wünschte, sie jemals hören zu können… wie lange hatte sie davon geträumt, einmal seine Frau zu werden? Sie hatte geglaubt, allein mit ihm zusammen sein zu können wäre schon der Ehre und der Güte genug… das war fast zu schön um wahr zu sein…

„Was?“, fiepte sie deswegen erbleichend und Puran gluckste.

„Haut dich das echt so um? Ich dachte, du wartest nur darauf, dass ich das sage, ich meine, es war ja sowas von vorhersehbar, dass ich das tun würde-… - oh nein, oder willst du das vielleicht gar nicht?“ Jetzt machte er ein bedeppertes Gesicht; er erntete ein entrüstetes Schreien von ihr, bevor sie sich plötzlich aufsetzte, wobei die Decke von ihr rutschte.

„Nein!“, rief sie entsetzt und mit einer Panik in der Stimme, als hinge ihr Leben von diesem Moment ab. „Natürlich möchte ich das! I-ich… ich kann… g-gar nicht glauben, dass das wirklich passiert! Ich… ich bin das hässliche Mädchen aus Makar, das nur benutzt und herum gescheucht wurde, das zu nichts nütze ist, und… und jetzt bekomme… ich ernsthaft einen Heiratsantrag von dem Mann, der mir auf der ganzen Welt der allerwichtigste und wunderbarste Mensch ist…“ Sie fing an zu weinen und wusste nicht mal, warum. Wie konnte sie weinen? Das war der schönste Moment in ihrem ganzen Leben… sie konnte gar nicht aufhören zu weinen, und Puran setzte sich besorgt ebenfalls auf und schloss sie liebevoll in die Arme, zog sie an sich heran und versuchte, sie zu beruhigen.

„Weine doch nicht, das steckt mich immer so an…“, murmelte er beschämt, „Als Mann ist es so peinlich, so eine Heulsuse zu sein, ich kann mir das im Gegensatz zu dir nicht leisten…“

„Ja…“, brachte sie zwischen lauter Schluchzern hervor und er verstand den Zusammenhang erst nicht, bis sie fortfuhr. „Ja, Puran! Ich möchte deine Frau werden, bei allem, was heilig ist… das wäre mein allergrößter Wunsch…“ Sie löste sich etwas von ihm und wischte sich über die Augen, als die Tränen langsam versiegten. Jetzt strahlte sie ihn an. „Ich habe doch einmal gesagt… wenn du mich nicht willst, will ich niemanden… du bist der einzige Mann auf der ganzen Welt für mich.“ Er grinste.

„Und du die einzige Frau, die ich an meiner Seite haben möchte.“ Sie freute sich, während sie sich wieder hinlegten und Leyya sich kichernd wie ein kleines Mädchen über ihn rollte. Er hüstelte. „Was denn, noch nicht zufrieden, die Dame?…“

„Wir sollten gebührend unsere Verlobung feiern.“, feixte sie, während sie die lästige Bettdecke weg schob und sich vorsichtig auf seinen Unterkörper setzte, mit den Händen nach seiner Mitte greifend. Er weitete die Augen und zog scharf die Luft ein, als sie ihn zärtlich berührte und seinen lüsternen Blick erwiderte. „Vielleicht schläfst du danach ja besser…? Apropos, Puranchen, was soll eigentlich „Wenn der Sommer vorbei ist“ meinen? Wieso nicht gleich?“

„Weil wir wohl etwas brauchen werden, um die lästigen Zuyyaner endlich ganz los zu werden. Bevor sie nicht weg sind, finden wir dafür weder Zeit noch Ruhe.“

„Und wenn ihr sie nicht besiegt, bis der Sommer vorbei ist?“

„Dann können die mich mal kreuzweise, dann heiraten wir eben auf dem Schlachtfeld in Rüstung, wenn es sein muss…“ Auf diese Ansage musste sie kichern, ehe sie die albernen Gedanken weg schloss und sich über ihn beugte, um ihn verlangend zu küssen.
 

Es war in jener Nacht, dass die Furcht, die Leyya sonst so gut aus seinem Inneren zu verdrängen vermochte, mit aller Macht in Purans Geist zurückkehrte. Sie kam in Form von Bildern, die er schon einmal gesehen hatte… als sie noch in Kadoh gewesen waren. Er hatte seitdem nicht mehr von Meorans Frau geträumt, und dass er es ausgerechnet direkt nachdem er Leyya einen Antrag gemacht hatte tat, verwirrte ihn; aber es waren nicht die Bilder aus Tuhuli, die er sah, sondern die Bilder des Schattens, die ihn schon einmal beunruhigt hatten.

Er sah Rujas hübsches Gesicht… blass sah sie aus und nicht gesund, als er sie näher betrachtete. Aber sie strahlte ihn an und tanzte vor seinen Augen in der Dunkelheit.

Was ist mit dir, Ruja…? Was ist mit deinem Lächeln…? Es erkaltet, oder irre ich mich?

Ruja antwortete nicht, sie lächelte nur wie eine hübsche Puppe, die ihren Mund gar nicht ändern konnte, während sie sich im Schatten wiegte und ihre zarten Füße bewegte. Dann blieb sie plötzlich stehen. Puran hatte das schon einmal gesehen und er wollte sich zwingen, irgendetwas anderes zu machen als beim letzten Mal; vielleicht würde der Traum dann anders ausgehen…

„Nicht, Ruja!“ , wollte er ihr zurufen, „Komm weg da, du bist zu dicht am Schatten…“ Aber seine Stimme versagte ihm und als er versuchte, die Hand nach ihr auszustrecken, rückte ihr Bild immer weiter und weiter in die Ferne, hinein in den Schatten, das vom schauerlichen Lachen seines verstorbenen Großvaters erfüllt wurde. Sein Großvater, Kelar, der noch viele Jahre nach seinem Tod immer noch fähig war, ihm Angst zu machen…

Wie war das möglich?

„Lauf, wenn du dich fürchtest…“, hörte er die vertraute und zugleich fremde Stimme in seinem Kopf zischen, „Lauf weit weg, solange du noch kannst… bevor ich euch in Stücke reiße!“ Puran fuhr keuchend im Schatten herum und sah gerade noch, wie Ruja am Boden zusammenbrach und Blut hustete, ehe die Dunkelheit sie verschluckte und nichts von ihr übrig ließ.

Zuletzt schwebte die schwarze Kondorfeder wieder hinunter auf den blutigen Erdboden, um darauf zu zerschellen, als wäre sie aus brüchigem Glas.
 

„Puran!“

Er fuhr aus dem Schlaf hoch und schnappte keuchend nach Luft, als Leyya ihn panisch rüttelte.

„Ruja!“, japste er und seine Verlobte erstarrte erbleichend, „I-ich, Himmel, was ist mit ihr, ist sie in Ordnung?!“

„Na, was soll ich davon halten?“, jammerte die Heilerin errötend, „Du willst mich heiraten und wachst schon einen Tag danach auf und schreist Ruja?“ Er registrierte nur langsam, wovon sie sprach, dann schnaubte er entsetzt.

„Ach, doch nicht so, du verstehst alles falsch, irgendetwas passiert mit ihr, sie ist in Gefahr! Ich weiß nur nicht, wieso-…“ Leyya unterbrach ihn und schubste ihn plötzlich energisch aus dem Bett, sodass er zu Boden fiel und sich hustend aufrappelte. „Was sollte das denn, ich träume nicht auf diese Art von Ruja!“

„Steh auf!“ schrie Leyya und sprang auch aus dem Bett, „Schau doch, die Zuyyaner sind da!“ Er erstarrte und sah zum Fenster. Erst jetzt fiel ihm der unnatürlich helle, rötliche Schein auf, der von draußen kam, und das Grollen des Himmels war plötzlich unüberhörbar.

„D-die Stadt… steht in Flammen?!“

Plötzlich flog die Zimmertür auf, worauf Leyya erschrocken japste und ihren nackten Körper rasch mit einer Decke verbarg; aber es war bloß Nalani, die herein kam, vor einer Frau war das nicht schlimm für sie. Nalani schien das auch überhaupt nicht zu interessieren.

„Ihr schlaft noch?!“, rief die Frau entsetzt, „Puran, verdammt, zieh dir was an und komm, die Zuyyaner greifen die Mauer an, die sind schneller als wir gefürchtet haben!“

„Aber, was ist mit Ruja?!“, japste ihr Sohn, zog sich aber tatsächlich in Windeseile an; ausnahmsweise mal waren sogar seine Haare egal, es ging um Leben und Tod! „I-ich hatte eine Vision, irgendwas Schlimmes wird mit ihr geschehen-… Mutter, so warte doch!“ Nalani war schon wieder weg, ohne ihm zugehört zu haben. Er fluchte, raufte sich die Haare und beugte sich zu Leyya, die jetzt von Panik ergriffen wurde dank des hektischen Angriffs. Sie weinte, als er sie zum Abschied küsste.

„Ich habe Angst, ich weiß nicht, was ich machen soll!“, jammerte sie, „D-die greifen sicher das Schloss an!“

„So weit kommen die nicht, das verspreche ich dir! Denk dran, sobald der Sommer vorbei ist, wirst du meine Frau. Denk nur daran, das erheitert dich vielleicht, Leyyachen… ich komme zurück, ja? Sieh mich an!“ Sie schluchzte und er küsste ihre Wangen, um die Tränen verschwinden zu lassen. „Ich habe es dir versprochen. Vergiss das nicht, meine Hübsche.“ Dann ließ er sie los, um aus dem Zimmer zu hechten und seiner Mutter und den anderen zu folgen.
 

Ruja war wohlauf und gesund. Leyya hatte sich an Purans seltsames Verhalten am Morgen erinnert und ihm den Gefallen tun wollen, nach dem Rechten zu sehen. Als sie zu dem Zimmer kam, das sich Meoran, Ruja und die kleine Saidah teilten, war die Telepathin dabei, ihre Tochter fertig anzuziehen.

„Du bist noch hier?“, fragte die Schwarzhaarige erschrocken, „Rasch, wir Frauen mit Kindern sollen uns lieber in die Untergeschosse des Palastes zurückziehen, ich denke, da du noch so unheimlich jung bist, obwohl du eine Frau bist, solltest du mit uns kommen! Pinhi Kohdar und ihre Kinder sind auch schon unterwegs, es sieht übel aus da draußen…“

„I-ist die Mauer gefallen?“, japste die Heilerin, und Saidah begann, zu singen:

„Auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt die kleine Wanze…“

„Shht, Maus, sing doch jetzt nicht!“, machte ihre Mutter entsetzt, „Das ist sehr ernst!“ Zu Leyya sagte sie: „Nein, noch nicht, aber wenn die Geister nicht wieder alle schützenden Hände über uns legen, so fürchte ich, dass…“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Leyya erbleichte. Die Mauer würde fallen? Dann wäre Vialla verloren! Sobald der Schutzwall fiel, war die Stadt unmöglich zu verteidigen, hatte Puran einmal gesagt.

„Ruja, ich kam eigentlich deinetwegen!“, jammerte sie, „Puran hatte irgendwelche Träume von dir und war ganz durch den Wind eben, e-er hat gesagt, du seist in Gefahr-… d-du musst vorsichtig sein, ich weiß aber nicht, wieso!“

„Schaut euch mal die Wanze an, wie die Wanze tanzen kann…“, trällerte Saidah fröhlich vor sich hin, als Ruja ihr die Schühchen fertig zugebunden hatte und das Kind auf den Arm nahm.

„Gefahr…? Wieso Gefahr, ich weiß nichts… komm mit mir, Leyya, hier oben ist es zu gefährlich zu bleiben!“

„Wohin gehen wir, Muttilein?“, fragte die kleine Saidah, die zu singen aufgehört hatte und sich jetzt verunsichert an Rujas Schulter schmiegte.

„In den Keller, um uns in Sicherheit zu bringen. Keine Angst, ich bleibe bei dir.“ Sie lächelte und Leyya ergriff verängstigt einen Zipfel von Rujas Kleid, als sie gemeinsam die Treppen hinab eilten und dabei noch viele andere Menschen trafen, die auf dem Weg hinunter waren.

„Ich hab den Schattenmann gesehen, ja!“, verkündete das Kind zusammenhangslos und Ruja machte ein verblüfftes Gesicht.

„Was für einen Schattenmann, Saidah?“

„Ich hab von ihm geträumt, ich glaube, er ist böse.“ Ihre Mutter hatte keinen Schimmer, wovon das Mädchen sprach, so tätschelte sie es nur und eilte weiter die Treppen hinab.
 

Das Grollen des Himmels erschütterte die Stadt und den Palast des Königs, während ein Großteil der Frauen und Kinder unten im Untergeschoss hockten und darauf warteten, dass das Desaster vorüber wäre. Die Verzweiflung war allgegenwärtig; Dienerinnen weinten vor Angst, dass die ganze Stadt über ihnen in Schutt und Asche gelegt würde, während sie hier saßen, manche versuchten panisch, hinauf zu gelangen, wurden aber von Wachmännern abgehalten.

„Hier unten seid ihr sicherer als da oben, also bleibt ruhig! Die Stadt wird schon nicht zertrümmert, die Armee des Königs wird das verhindern!“

Das hörte Leyya immer wieder, während sie auf der steinernen Stufe einer kleinen Treppe saß und sich gegen die Wand neben ihr kauerte. Es spendete wenig Trost, das zu hören. Sie sorgte sich dennoch… nicht nur um Puran, auch um Tabari und Nalani, um Meoran und die anderen Geisterjäger… sie waren doch irgendwie eine große Familie für sie geworden…

Noch weniger hilfreich als die Worte der Wachen war Barak Kohdars einziger Sohn, der völlig in seiner Panik aufging, seinen Vater, seinen Onkel und seinen Großvater niemals wieder zu sehen. Er saß heulend und jammernd auf dem Schoß seiner Mutter Pinhi und war überhaupt nicht zu beruhigen. Die kleine Saidah war viel tapferer als er, obwohl sie erst drei war und der Knirps schon fast neun. Seine beiden älteren Schwestern versuchten gemeinsam mit Pinhi, den armen Jungen zu beruhigen. Eigentlich hatten die Kohdars vier Kinder; aber das älteste Mädchen, das längst eine Frau war, war nicht mit nach Vialla gekommen, wie Leyya erfahren hatte, nachdem sie im Palast eingezogen waren vor gut einem Jahr.

„Sie hat in Rothor einen Mann kennengelernt und sich völlig verliebt… sie hat ihn geheiratet, bevor wir nach Vialla aufgebrochen sind, und ich denke, dort ist sie sehr viel geschützter als hier, ihr Mann wird gut für sie sorgen. Obwohl es uns allen sehr schwer gefallen ist, sie dort zu lassen…“, hatte Barak Kohdar einmal erzählt, und Leyya fragte sich jetzt, wie es der ältesten Tochter wohl ging. Sie musste in Sajas Alter sein…

In dem Moment, in dem Leyya an Nerons Verlobte dachte, setzte die sich gerade neben sie auf die Stufe, offenbar nur wenig besorgt, im Gegensatz zu ihr selbst.

„Du musst dich nicht fürchten, Leyya.“, erklärte sie lächelnd, „Die schaffen das schon da oben.“ Die Heilerin blickte sie stirnrunzelnd an.

„Sorgst du dich nicht um Neron?“

„Ach, der nervt die Zuyyaner so lange, bis sie keine Lust mehr haben ihn töten zu wollen, glaube ich.“ Die blonde Frau gluckste amüsiert und stützte die Ellenbogen auf ihre angezogenen Knie.

„Meinst du, so einfach geht das?“, seufzte die Jüngere bedrückt. Sie wollte nicht so traurig sein… aber immer wieder kehrte die Sorge mit dem fürchterlichen Herzklopfen zurück. Saja gab ihr einen guten Rat.

„Denk an irgendetwas Lustiges. Oder an etwas Schönes, auf das du dich freust, das hilft!“ Die Heilerin hob verdutzt den Kopf. Ja, das hatte Puran auch gesagt.

Denk an die Hochzeit, das nimmt dir sicher die Angst, Leyya.

In dem Moment fiel ihr auf, dass noch niemand wusste, dass sie überhaupt heiraten würde. Die Euphorie über diese Gedanken riss sie ganz plötzlich aus ihrer Betrübnis.

„Ja!“, machte sie und strahlte, ehe sie fröhlich Sajas Hand in ihre nahm. „Wir sind jetzt gleich, du und ich! Wir sind jetzt beide verlobt!“ Saja starrte sie an. Diese Worte hatten wohl auch Ruja und Pinhi gehört, und beide Frauen sowie die beiden Töchter von Barak drehten abrupt den Kopf zu den beiden. Der hysterische kleine Junge heulte trotzdem weiter.

„Verlobt?“, machte Ruja verblüfft, „Du meinst…?“

„Das ist ein guter Gedanke!“, freute Leyya sich aufgeregt und klatschte in die Hände, ehe sie Rujas Ahnung bestätigte. „Ja, Puranchen hat gestern Nacht um meine Hand angehalten! Ich bin die glücklichste Frau der Welt!“

„Das ist wirklich etwas, worauf du dich freuen kannst.“, entgegnete Saja erfreut und klatschte ebenfalls begeistert in die Hände, „Das ist toll!“

„Wie aufregend, eine Hochzeit.“, freuten sich auch Baraks halbwüchsige Töchter, „Dürfen wir dafür hübsche Kleider bekommen, Mutti?“

„Na, so weit sind wir noch nicht…“, machte Pinhi konfus und das Lachen der Frauen erstarb, als das donnernde Grollen über ihnen sie daran erinnerte, wo sie waren. Augenblicklich verstummte jedes Geräusch im Untergeschoss und sowohl die Frauen und Kinder als auch die Wachen sahen bestürzt zur zitternden Decke des Gewölbes empor.

„Der Himmel bricht über uns zusammen!“, schrie eine Frau aus einer Ecke panisch, „D-das ist das Ende!“ Doch keiner antwortete ihr, alle starrten nur entgeistert hinauf, während das grollende Donnern anhielt und die Erde zu ihren Füßen leicht erbebte.

Ihr Geister… flehte Leyya in Gedanken und klammerte sich erbleichend an Sajas Hand, die neben ihr hockte und jetzt auch entsetzt hinauf starrte, Bitte, Vater Himmel und Mutter Erde… lasst das nicht zu! Kämpft für eure Welt… und lasst nicht zu, dass die, die sie verteidigen, zu Schaden kommen… sie alle sind doch eure Kinder… oder nicht? Und Kinder muss man beschützen…

Das Beben ließ nach, aber der Schatten über der Stadt verblasste nur langsam. Saidah, die von ihrer Mutter schützend umarmt und festgehalten wurde, blickte dabei an ihr vorbei durch die Katakomben, in denen sie saßen, und murmelte undeutlich irgendetwas von dem Schattenmann, den sie im Traum gesehen hatte.

„Kleines Vöglein, fliege heim, dein Nestlein brennt, die Kindlein schrei’n… der Schattenmann hat sie… gefressen, ei.“
 

Die Mauer fiel nicht. Die Zuyyaner hatten es geschafft, an einer Stelle ein Loch in den Wall zu sprengen, aber die Verteidigung von Vialla ließ keinen Feind lebend dieses Loch passieren. Sie kämpften erbittert um den Erhalt der restlichen Mauer, und die Geister schienen Leyyas Gebete im Keller gehört zu haben. Als es am schlimmsten aussah und die Armee beinahe der Macht der Seelenkugeln der Zuyyaner erlegen wäre, lenkte ein neues Spektakel die Gegner für einen Augenblick ab. Die Reiter aus Senjo kamen endlich in Vialla an, nachdem sie die Besetzung von Thalurien zerschlagen hatten, und die Tiere trampelten alles nieder, was die komische zuyyanische Rüstung trug, ehe die Feinde Zeit bekommen hätten, sich abermals auf ihre Kugeln zu konzentrieren. In dem Moment hatte die Seelenkontrolle der Kugeln all ihre Macht über die Soldaten verloren, die mit bloßer Willenskraft der Zuyyaner in die Knie gezwungen worden waren, und als die Kavallerie vorbei gesaust war, schlug Tabari den Rest der Angreifer mit einem Wirbel aus den Winden der Geister zurück. Zurück blieb ein Feld der Verwüstung voll vom Blut unzähliger Männer, sowohl Zuyyaner als auch Tharraner hatten zuhauf den Tod gefunden. Der König von Kisara bedauerte das sehr, er nahm seinen Helm ab und betete für die Lebensgeister der Toten, damit sie heil im Reich der Geister ankämen. Der grollende Himmel hing düster über dem Land, als die Überlebenden sich zurück hinter die Mauer zogen und sofort Anordnungen bekamen, das Loch sofort bestmöglich zu flicken. Barak Kohdar steckte die Flachländer von Zarimia in Brand, um die Leichen und das Blut zu beseitigen und zu verhindern, dass wilde Raubtiere und Aasfresser angelockt wurden.

„Die Geister von Himmel und Erde sind dennoch unruhig und zornig.“, murmelte Tabari dumpf, als er nach oben blickte, während seine Frau neben ihm im Chaos an der Mauer stand und gen Osten in die Dunkelheit sah, die herauf zog. „Es ist wohl doch die Unendlichkeit, was? Wahrscheinlich hört dieser Krieg nie auf.“ Nalani seufzte.

„Ich glaube, das zu entscheiden liegt nicht in unserer Hand.“ Sie drehte sich ab und schickte sich zum Gehen. „Komm, Tabari. Es dämmert bereits…“
 

Der Sommer zog sich langsam dahin. Leyya kam es vor, als wollten die Geister sie ärgern und sie besonders lange warten lassen auf das Ende des Sommers, das sie so sehr ersehnte. Jeden Tag sorgte sie sich, wenn die Geisterjäger mit der Armee des Königs hinaus mussten, um die Stadt zu schützen. Jeden Abend war ihre Erleichterung groß, wenn sie Puran, seine Eltern, Meoran und die anderen lebend wiedersehen konnte. Und jede Nacht war sie glücklich, wenn sie mit ihrem Verlobten das Bett teilte und ihm all ihre Liebe schenkte.

Der letzte Sommertag war traditionell der Tag, an dem die ersten Blätter sich verfärbten. Als Leyya die Blätter der Kastanie im Innenhof des Palastes betrachtete und feststellte, dass sie gelb wurden, jubelte sie; das Ende des Sommers war gekommen. Normalerweise freute sich keiner über das Ende des Sommers; denn das bedeutete, dass der Winter bald käme, und mit ihm der grausige Hungermond, den alle fürchteten. In Vialla war es sehr viel wärmer als in Dokahsan; die Sommer waren heiß und feucht und die Winter dennoch kalt, wenn auch nicht annähernd so kalt wie sie es im Norden waren. Dass der Boden richtig fest gefror, war selten.

Leider war der Krieg nicht vorüber, als der Sommer es dann war. Aber Puran hatte Leyya ein Versprechen gegeben und war davon überzeugt, es zu halten.

„Es tut mir wirklich leid, dass du so eine kleine Hochzeit nebenbei bekommst, Leyya.“, beteuerte er ihr gegenüber unglücklich, als sie voreinander in dem eigens für das freudige Ereignis hergerichteten Saal im Palast standen am Abend des ersten Herbsttages. Es war der Mond der Irrlichter. Leyya war bildschön hergerichtet worden. Sie trug ein aufwendig geschnürtes Kleid aus Seide, ihre Haare waren hochgesteckt und mit Blumen, Ähren und getrockneten Beeren dekoriert worden.

„Blumen für die Schönheit einer Frau, Ähren und Beeren für die Fruchtbarkeit.“, hatte Ruja ihr erklärt, die sie angezogen und geschmückt hatte. „Du wirst eine wundervolle Ehefrau sein, Leyya… du bist wunderschön geworden mit den Jahren.“

Leyya sah errötend zu Boden bei den Gedanken. Hübsch? Sie? Sie mochte ihren immer noch nicht richtig fraulichen Körper nach wie vor nicht… aber es ehrte sie, dass Ruja sie hübsch fand. Und noch viel mehr, dass Puran das auch tat. Jetzt war nicht die Zeit dafür, verlegen zu Boden zu sehen! Sie erstrahlte und sah ihrem Mann direkt ins Gesicht.

„Klein? Puran, der König von Kisara, der König von Senjo und der König von Intario sind bei meiner Hochzeit! Das ist die wunderschönste Hochzeitszeremonie, die man haben kann, wir feiern in einem Palast und es sind die Leute da, die mir wichtig sind… damit meine ich nicht die Könige, bevor du doof fragst.“ Er grinste leicht und nahm ihre Hand in seine.

„Na ja.“, machte er, während er mit der freien Hand seinen schwarzen Umhang zurecht rückte. Passend zur Feier hatte er übrigens endlich einen Pentagramm-Anstecker bekommen, ebenso wie Neron. „Der König von Kisara muss ja hier sein, immerhin ist das sein Palast, da können wir ihn schlecht ausladen, außerdem redet er offenbar gerne mit mir… na ja, und die anderen beiden sind eben zufällig hier und höchste Gäste unseres Herrschers, wir können ihnen ja schlecht die Türen versperren. Was ich meinte, ist… ich wünschte, wir hätten mehr Zeit und Ruhe hierfür gefunden. Ich möchte dich nicht so zwischen Tür und Angel heiraten… ich möchte, dass ein ganzer Tag von morgens bis abends allein dir gehört, Leyya… jetzt ist es leider nur ein Abend geworden, aber ich fürchte, mehr schaffen wir nicht, wenn wir Pech haben, kommen die Zuyyaner schon morgen zurück…“ Sie lachte leise.

„Und eine Nacht…“, addierte sie gedämpft, worauf er sich verhalten räusperte. In dem Moment trat sein Vater vor sie beide, ebenfalls feierlich in seinen durch die vielen Kämpfe etwas malträtierten Umhang gehüllt. Als amtierendes Familienoberhaupt war es an ihm, seinen Sohn ordentlich zu verheiraten. Als der Herr der Geister sich räusperte, verstummten die anwesenden Gäste und das Brautpaar direkt vor ihm. Unwillkürlich drückte die kleine Leyya Purans Hand ganz fest, als die Aufregung in ihr plötzlich ganz schnell wuchs.

Sie würde heiraten. Sie würde heute Purans Frau werden… für immer und ewig! Das war wirklich der wundervollste Tag ihres Lebens.

Es war richtig so. Sie beide spürten es und hatten das von Anfang an getan. Sie hatten nicht lange überlegen müssen, nachdem sie ein Paar geworden waren; die Geister hatten sie füreinander bestimmt. Nur sie beide… Puran würde keine Frau der Welt an ihrer Stelle heiraten, das wusste sie tief in ihrem Inneren. Sie hatte sich von seiner ersten Freundin erzählen lassen, Cholena, mit der er ein Jahr lang zusammen gewesen war, ohne sie zu heiraten, ehe sie verstorben war. Leyya wusste instinktiv, dass er sie nie hätte heiraten können… im Inneren hatte sein Geist auf eine andere Frau gewartet.

Auf das Heilermädchen aus Makar, das jetzt erwachsen war.

In diesem Moment war Leyya Bao die stolzeste und glücklichste Frau ganz Tharrs; keiner hatte einen so wundervollen Mann wie sie. Nachdem sie als Kind immer nur Pech gehabt hatte und von allen getreten und ausgenutzt worden war, hatten die Erdgeister jetzt endlich Erbarmen mit ihr…

Tabari hustete leicht.

„Wir sind heute hier wegen eines sehr fröhlichen Ereignisses in den schwarzen Stunden!“, erklärte er und Puran musste glucksen, während sein Vater feierlich daher redete.

„Er hört sich an, als wollte er eine Propagandarede halten… er ist wohl mit dem Geist noch auf dem Schlachtfeld…“ murmelte der Bräutigam dann seiner Frau zu, die daraufhin kicherte.

„Hört mir gefälligst zu, ich traue euch gerade!“, empörte der Blonde sich da und erntete amüsiertes Gelächter aus den Reihen der Gäste. Die Geisterjäger waren anwesend mit ihren Familien, selbst Henac Emo war dabei, der eigentlich weniger geduldet als beobachtet wurde. Nalani fasste sich an die Stirn über die geplatzte Seriosität der Zeremonie. Was erwartete sie auch, wenn Tabari das machte…?

„Entschuldige.“, flüsterte Leyya dann und der Herr der Geister fuhr fort, dabei die Arme erhebend und den Kopf in den Nacken werfend. Die drei Könige fuhren etwas irritiert zurück, als plötzlich mitten im Raum ein Windzug auffuhr.

„Vor den Augen des Vater Himmel und auf der Haut von Mutter Erde vereine ich euch, Puran und Leyya, zu Mann und Frau. Mögen die Geister euch auf ewig verbinden und euch Glück bescheren für die Zukunft.“ Jetzt senkte Tabari seinen Kopf wieder und sah seinen Sohn an. „Sprich, Puran! Bist du bereit, diese Frau Leyya zu deiner Gemahlin zu nehmen? Wirst du sie beschützen und ehren, wie es der Wille der Geister ist?“ Puran neigte ehrfürchtig den Kopf, während er spürte, dass Leyya neben ihm zu zittern begann.

„Ja, das werde ich, so wahr ich hier stehe.“

„Und du, Leyya, willst du diesen Mann deinen Gemahl nennen? Wirst du treu sein und ihn ehren nach dem Willen der Geister?“ Die Heilerin schien vor Glück und Freude fast zu platzen.

„Ja!“, machte sie deshalb enthusiastisch, „Das will ich von ganzem Herzen.“

„Dann sei es so.“, war Tabaris Kommentar und er lächelte über das ganze Gesicht. „Die Geister bezeugen eure Vereinigung. Ehrt sie und findet Glück und Würde.“ Das war alles, was er sagte, und er verneigte sich vor den beiden. Die Zeremonie war beendet.
 

Kleine Feier, aha?“, machte Leyya und kicherte, als sie später gemeinsam im Speisesaal an der Tafel saßen. Der König hatte für ein schönes Festessen gesorgt, sofern das bei den Zuständen im Land möglich war; im Krieg gab es nun einmal nicht alles, was eigentlich dazugehörte. Die königlichen Köche hatten aber das Talent, aus dem Bisschen, das da war, ein großes Festmahl zu zaubern. Jetzt servierten sie die Gerichte und erzählten dabei, um was es sich überhaupt handelte. „Ich werde hier fürstlich bedient, das nennst du also klein, Puranchen?“ Er lachte dumm.

„Das war nicht meine Idee… aber gegen gutes Essen ist ja auch nichts einzuwenden, wenn man ehrlich ist.“

„So ist das also, das Essen ist dir so wichtig?“, feixte sie und nahm von einem der Teller seltsame Spieße mit Fleischstücken und Gemüse. Er kicherte erneut.

„Ja, ich bin eben ziemlich verwöhnt von daheim…“ Er sah schnaubend zu Nalani. „Ihr seid Schuld, ihr habt mich immer so verhätschelt!“ Nalani hörte ihm gar nicht zu. Sie war damit beschäftigt, einen der Köche mit verengten Augenschlitzen zu beobachten, der das Essen servierte. Der Mann war jung, sicher kaum älter als Puran. Das war es aber nicht, was sie stutzig machte, als sie den Kerl betrachtete… sie hatte ihn schon einmal gesehen.

Wie kann das sein? Wann soll ich einem Koch aus Vialla begegnet sein…?

Als sie den Mann weiter beobachtete, drehte er plötzlich das Gesicht zu ihr. Sie sah unauffällig zur Seite, ehe seine grünen Augen ihre hätten finden können.

Grüne Augen? Sie hatte diese Augen schon einmal gesehen. Sie wusste nur nicht, wo… aber was auch immer es war, das sich in ihr versuchte, an etwas zu erinnern, es war kein gutes Gefühl.

Plötzlich kehrte der Schatten zurück… und die Tod bringende Knochenspirale.

„Sprich…“, murmelte die Frau und hielt dabei einen der anderen Köche an, der zwischen ihr und Ruja hindurch auf den Tisch langte, um eine Platte abzustellen, „Woher ist der Mann da hinten?“ Der Koch folgte verblüfft ihrem Blick.

„Äh… aus Thalurien, soweit ich weiß, jedenfalls aus dem Westen… - halt, wartet, nein! Er kam aus Holia, genau.“

„Holia?“, machte Nalani stirnrunzelnd.

„Ein kleines Dorf nahe der Grenze, es liegt in Senjo, ganz dicht bei Thalurien. Die Zuyyaner haben schon mal im Westen gewütet, vielleicht kam er deswegen her… lange ist er noch nicht hier, aber er kennt sich gut aus.“ Die Schwarzhaarige schenkte dem eigenartig vertrauten und doch fremden Mann in der Ferne einen letzten Blick und seufzte.

„Danke. Dann habe ich mich wohl geirrt, das ist alles.“ Der Koch lachte verwirrt und die Frau nahm einen Schluck Wein und sah wieder auf den Tisch, sich mit der freien Hand kurz durch die Haare fahrend. „In Holia kenne ich sicherlich niemanden.“ Sie sah Henac Emos nachdenklichen Blick nicht, der erst in ihre Richtung, dann in die des Kochs aus Holia schweifte, ehe der komische Kauz sich wieder seinem Essen widmete.
 

Das kleine Bankett heiterte alle auf. Nicht nur Puran und Leyya, denen zu Ehren es überhaupt abgehalten wurde; es ließ immerhin für einen Abend die größten Sorgen um die Zukunft verschwinden. Als sie zu Bett gingen und sich in ihre Gemächer zurückzogen, waren die Menschen fröhlich; einige etwas angetrunken, wie Neron Shai, der plötzlich angefangen hatte, Geschichten über seine Großeltern zu erzählen, die niemanden interessierten. Am Ende hatte er versucht, die Tochter von Barak Kohdar noch mit abzufüllen, was der Vater in aller Ruhe unterbunden hatte, weil die ältere Tochter mit ihren dreizehn Jahren noch gar nicht trinken durfte.

„Aber Vati!“ , hatte das Mädchen gemault, „Ich könnte in meinem Alter sogar schon eine Braut sein, wie man gesehen hat!“

„Leyya trinkt nichts und außerdem ist sie im Gegensatz zu dir eine Frau. Sei doch froh, dass die Geister dich noch von dem lästigen Mondblut verschonen, glaub mir, du wirst den Tag noch verfluchen, an dem es dich auch erwischt.“ , war der Kommentar von Pinhi gewesen, worauf die Frauen angefangen hatten zu lachen.

Als sie den Saal verlassen hatten und sich gegenseitig eine gute Nacht wünschten, taten sie es in dem Wissen, dass am nächsten Tag alles wieder beim Alten sein würde.

Der Krieg und die Sorgen würden zurückkehren, der kleine Schimmer aus Heiterkeit dieses Abends würde am Morgen mit der Röte des Himmels verblassen. Man musste die Zeit nutzen, solange man sie hatte… das Ende des Tages kam schneller, als es einem lieb sein konnte.
 

In der Nacht gab es ein Gewitter. Es war nur ein leichtes Sommergewitter, obwohl der Sommer vorüber war, aber Leyya machte es Sorgen und brachte sie um den Schlaf.

„Das in meiner Hochzeitsnacht!“, jammerte sie und kuschelte sich beim nächsten, grollenden Donner an Purans Brust, „Das ist ungerecht. Die Geister sollten uns eine schöne Nacht bescheren… ich meine, du bist Geisterjäger…“

„Ach, sorge dich nicht. Das zieht vorüber.“ Puran streichelte ihr durch die Haare, dann ihren nackten Rücken herab und auf ihre Seite, während seine Frau sich weiter an ihn kuschelte. Das Gewitter hatte angefangen, nachdem sie sich geliebt hatten. Wenn sie sich so an ihn klammerte und wimmerte wegen des Unwetters, vergaß er mitunter, dass sie jetzt wirklich seine Frau war. Sie war so infantil mitunter… ach, er war eben doch ein perverser Sack. Das war ihm egal… er liebte Leyya. Hier war sie richtig, an seiner Seite, und nirgendwo anders. Er war froh darüber, seine Komplexe überwunden zu haben.

„Ich kann noch gar nicht fassen, dass ich jetzt… wirklich deine Frau bin!“, fiel Leyya da prompt in seine Gedanken ein, und er gluckste, rollte sich seufzend auf die Seite und schloss ihren zierlichen Körper fest in beide Arme. Sie küssten sich liebevoll. „Leyya Lyra… klingt das gut, Puranchen?“

„Ja, wunderschön. Wobei ich meinen Nachnamen an sich immer verabscheut habe, weil er mir zeitlebens zur Ärger gebracht hat.“ Sie kicherten beide und verliebt schmuste die junge Frau sich dichter an ihn, sanft ein Bein anhebend und es um seinen Rumpf schlingend. Er räusperte sich bei der doch sehr eindeutigen Geste und ließ seine Hände zur Antwort wie zufällig auf ihren Po gleiten.

„Du bist sooo negativ eingestellt mitunter…“, flüsterte die kleine Heilerin lächelnd, „Das muss man dir unbedingt austreiben, weißt du?“

„Ach ja…? Und wie soll das gehen…?“ Er wusste ganz genau, wie das wohl ihrer Meinung nach gehen würde, noch bevor sie sich auf den Rücken rollte und ihn kichernd über sich zog, mit den Armen seinen Nacken umschlang und ihn dann leidenschaftlich küsste.

„Du musst einfach öfter lachen…“, sagte sie dann zärtlich zu ihm, als sie sich voneinander lösten und er sich keuchend am Bett abstützte, während sie ihr Knie anzog und es vorsichtig zwischen seine Beine drückte. Sie spürte, wie die Flamme in ihnen beiden erneut ausschlug, als er sich jetzt über sie beugte und begann, ihre Brust zu küssen. „Das steht dir besser als dieses grimmige Gesicht, mein Liebling…“ Er seufzte, hob das Gesicht von ihrem Busen und legte ihr sachte einen Finger auf die Lippen. Wie um ihr den Gefallen zu tun lächelte er amüsiert.

„Shh… sprich nicht mehr. Entspann dich.“

Und Leyya schloss lächelnd die Augen, bevor er sie abermals sanft auf die Lippen küsste, während seine Hände in ihr das Feuer entfachten, das sie so liebte. Und sie gab sich ihm mit Leib und Seele hin.
 


 

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Schattenmann

Meoran fluchte ungehalten.

„Wo ist dieser verdammte Bastard bitte wieder?! Es regt mich nur noch auf und ich habe das Gefühl, es wird nur schlimmer! Dieser dämliche, egoistische Nichtsnutz, wozu ist er überhaupt Geisterjäger geworden, wenn er seinen verdammten Pflichten nie nachkommt? Zum Haare ausreißen ist das, ach!“ Die anderen Geisterjäger warfen einander beklommene Blicke zu. Nalani verdrehte die Augen.

„Pass auf deinen Blutdruck auf, mein Guter.“, feixte sie in Meorans Richtung und der Jüngere raufte sich verzweifelt die Haare. In dem Salon, in dem sich der Rat hatte treffen wollen, war Henac Emo mal wieder nicht aufgetaucht. Inzwischen hätten alle daran gewöhnt sein sollen, dass der sich herumtrieb, wo er wollte, und nicht auf die Anweisungen achtete… dennoch wurmte es die übrigen Männer und Nalani.

„Wir sollten ihn fesseln und ihm nur noch Wasser und Brot bringen zur Strafe.“, meinte Tare Kohdar, der zusammen mit Puran auf der Couch im Salon saß und rauchte. Barak, der vor selbiger auf und ab ging und seine Augenbinde zurecht zupfte, schnaufte.

„Ach, lassen wir den Idioten! Wahrscheinlich wollte er nur in den Rat, weil er seinen Großvater so angehimmelt hat! Aber Minar war wenigstens ein loyaler Kerl. Von den zwielichtigen Emos gab es in der Vergangenheit ja auch einige, die Unheil angerichtet haben… ich habe die Nase echt voll von denen.“ Die anderen sahen ihn geschlossen an und Meoran versteifte sich jetzt vor Anspannung. Nalani senkte den Kopf bei den Gedanken an Zoras Chimalis’ Tod, an dem Minar Emos Neffe Denmor Schuld getragen hatte. Sie erinnerte sich genau an das brennende Schlafzimmer ihrer Schwiegermutter und die aufgelöst schreiende Salihah, die um ihren Geliebten geweint hatte…

„Mir macht das Sorgen, ich weiß nicht, wieso genau…“, warf Meoran dann ein und sah aus dem Fenster, „Die Geister sprechen eigenartige Dinge, die ich nicht verstehe. Vielleicht werde ich ja paranoid… was, wenn Emo nach Denmor schlägt und Unheil anrichtet?“

„Sprich nicht davon!“, fiel Tabari ihm plötzlich ins Wort, worauf sein Freund ihm einen verdutzten Blick aus seinem funktionierenden Auge schenkte. „Bevor die Himmelsgeister dich hören und deine Worte auf dich zurückwerfen…“ Die anderen schwiegen benommen. „Wenn es so wäre, Meoran.“, griff der Herr der Geister das Thema nach der Pause wieder auf, „Wäre es nicht dasselbe… denn es gibt ja keinen Kelar Lyra mehr, dem er nachrennen könnte… das war schließlich der Grund, weshalb Denmor so ein Ärgernis wurde.“

Nalani legte die Stirn in Falten bei seinen Worten, als sich in ihrem Inneren irgendetwas sträubte, als versuchte es, ihrem Mann zu widersprechen. Sie unterdrückte das seltsam flaue Gefühl in ihrem Inneren und drehte sich wie Meoran zum Fenster.

„Die Zuyyaner kehren zurück… wir sollten uns beeilen und ihnen Kontra bieten, solange wir das noch können. Die Zeit des dunklen Himmels steht bevor.“

„Die Zeit, in der der Schatten kommen und das Land fressen wird…“, addierten die Geister in ihrem Kopf kichernd, und die Frau schüttelte sich kurz, um das Gelächter zu vertreiben.

Schatten…?
 

Der grimmige Koch aus Holia senkte die Brauen und musterte den älteren Mann vor sich eine Weile. Dabei stemmte er wichtigtuerisch die Arme in die Seiten, um größer und imposanter zu wirken. Beide Männer waren in etwa gleich groß.

„Was willst du schon wieder hier?“, schnarrte der Jüngere von beiden dann missgelaunt, „Denkt ihr, das hier sei so eine Art Freizeitparadies für gelangweilte Geisterjäger? Das ist eine Küche, das steht da oben übrigens auch über der Tür. Kannst du lesen, Mann aus dem Norden?“ Er deutete auf die hölzerne Eingangstür, vor der er stand. Als der Schwarzhaarige vor ihm ihn nur desinteressiert musterte, zischte der Koch und entblößte dabei seine eigentümlich spitzen Eckzähne. „Taub bist du wohl auch noch? Ihr seid echt ein Pack von eingebildeten Schnöseln, ihr Geisterjäger… ihr glaubt wohl, ihr könnt hier alles tun, was ihr wollt!“

„Ihr seid der Mann aus meinem Traum.“, sagte Henac Emo dann kalt und der Koch erstarrte kurz. Für einen Moment verharrten die Blicke beider Männer aufeinander und die grünen, schmalen Augen des Jüngeren bohrten sich ungläubig in die schwarzen des Geisterjägers.

„Bitte? Du missverstehst da was, ich stehe nicht auf Männer, du Perversling.“ Jetzt grinste Emo ein dämonisches Grinsen und senkte bedrohlich den Kopf.

„Davon war auch nicht die Rede. Ich sprach von einer Vision, die ich hatte. Und ich sah Euch. Diese Zähne habe… ich schon einmal gesehen, an einem anderen Mann vor langer Zeit. Wer… bist du wirklich? Bist du echt nur ein Koch aus Holia?“ Der Mann verengte die grünen Augen zu schmalen Schlitzen und musterte den Schwarzhaarigen kurz.

„Vermutlich genauso sehr wie du mit deinen Kollegen an einem Strang ziehst.“, war die zwielichtige Antwort, und in dem Moment war es, dass sich das Gesicht des Kochs veränderte. Emo weitete minimal die Augen; mit diesem Gesicht ergaben seine Träume plötzlich einen Sinn.

Er hob den Kopf mit einem süffisanten Grinsen wieder und warf dabei seine kinnlangen schwarzen Haare zurück.

„Ja… das tue ich wirklich ungern. Diese… Idioten.“
 

Der Herbst war jetzt gänzlich ins Land gekommen. Der Holzmond war aufgegangen und hatte bereits den Vollmond überschritten; es ging langsam schon auf den Winter zu. Noch immer belagerten die Zuyyaner die Hauptstadt Vialla. Die Soldaten aus Kisara, die Reiter aus Senjo und die Schützen aus Intario hielten die Mauer, aber jedes Mal, wenn sie wieder in den Kampf zogen, kamen mehr Gegner; die Quellen der zuyyanischen Krieger schienen unerschöpflich zu sein. Man fragte sich, ob denen nicht irgendwann die Männer ausgingen; der Planet Zuyya war viel kleiner als Tharr, es schien an sich gar nicht möglich, dass sie so viele Krieger hatten… dachte man. Niemand wusste wirklich viel über die Zuyya; was alle wussten war nur, dass dort alles anders war. Die Zuyya war ein einziges, gigantisches Imperium, das sich über den ganzen Planeten erstreckte; es gab keine einzelnen Länder und Regierungen wie auf Tharr und Ghia, es gab nur ein einziges Reich. Und einen Kaiser, der es regierte.

Der Himmel grollte düster über dem kargen Land von Zarimia, das die Schlachten in Schutt und Asche gelegt hatten, und über der dunklen Stadt Vialla, von deren einstigem Glanz und deren Pompösität der Krieg nichts übrig lassen würde. Nach und nach verblasste das Licht des Zentrums der zentralen Welt Tharrs.

Wie lange würden sie die Mauer noch halten? Langsam beschlich alle das dumpfe Gefühl, dass Vialla fallen würde… früher oder später, wenn die Zuyyaner beschlossen, mit den Spielchen aufzuhören.

„Sie wird schon vier im Wintermond.“, murmelte Ruja und lächelte leicht, während sie ihre schlafende Tochter sanft in das Bettchen legte, das in der kleinen Kinderstube ihrer Gemächer stand. „Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, dass ich sie geboren habe… wie schnell doch die Zeit vergeht.“ Meoran lehnte ermüdet in der Tür des Kinderzimmers und fuhr sich nur mit den Händen über das verspannte Gesicht, während seine Frau die kleine Saidah liebevoll zudeckte und ihre schwarzen Haare streichelte. Dann hob sie ihr Gesicht etwas, um zu ihrem Mann zu sehen und unermüdlich weiter zu lächeln. „Gräme dich doch nicht so, Liebling… ich weiß, du bist beunruhigt. Erfreue dich zwischendurch mal an unserem hübschen, klugen Mädchen, das wird dich auf andere Gedanken bringen. Sie ist ein so liebes Kind… sie ist das wundervollste Geschenk, das die Geister mir gewährt haben. Ein einziges, vermutlich…“ Er sah sie jetzt an und verzog bestürzt das Gesicht, als die hübsche Frau den Kopf mit einem bitteren Lächeln senkte.

„Ja, ein einziges, das mir mehr bedeutet als alles andere, meine liebe Ruja.“, meinte er dann mit einem matten Lächeln. „Wir haben eine wunderbare, gesunde Tochter. Das ist alles, was mir wichtig ist.“ Sie seufzte, ehe sie dem Bettchen den Rücken kehrte, an ihrem Gatten vorbei aus dem Kinderzimmer ins Schlafzimmer ging und vor dem Spiegel an der Wand begann, ihre aufwendige Frisur zu lösen. Meoran lehnte die Tür der Kinderstube an und trat hinter seine Frau.

„Aber der Clan hat trotzdem keinen Erben, der seinen Namen weiter trägt.“, murmelte sie im Aufschnüren ihrer Zöpfe, „Wenn Saidah einmal heiratet, wird sie den Namen ihres Mannes bekommen. Was wird dann aus dem Chimalis-Clan?“

„Das ist… nicht so wichtig.“ Er lachte leise, „Machst du dir etwa darum Gedanken? Du bist ja wie meine Tante Tehya. Sie hat auch immer gedacht, sie wäre unwürdig, weil sie meinem Onkel nur eine Tochter geboren hat… dabei hat Onkel Zoras Enola immer abgöttisch geliebt und hätte sie nicht mal gegen zehn Söhne eintauschen wollen.“

„Hätte er auch so gedacht, wenn du auch ein Mädchen geworden wärst? Wenn es keinen Erben gegeben hätte? Es gab ja einen, in sofern war es dann egal…“

„Mach dir bitte keine Gedanken darum, Ruja. Das ist vergeudete Zeit, du weißt das.“ Er seufzte, drehte ihr den Rücken wieder zu und ging zum Fenster. Er wollte jetzt nicht darüber sprechen… sie hatten ganz andere Sorgen. Diese Unruhe, die er immerzu verspürte, die auch seine Kollegen von Tag zu Tag mehr plagte, ließ ihm keine Zeit für solche kleinlichen Gedanken. Draußen war es Nacht geworden… es war stockfinster.

Plötzlich konnte er die Himmelsgeister in seinem Kopf wispern und zischen hören, als seine Frau sich hinter ihm auszog, die schwarzen Haare jetzt offen. Sie drehte sich wieder zu ihm um und versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.

„Aber was, wenn wir noch ein Kind bekämen? Vielleicht würde es ja dann ein Junge… was meinst du?“ Er seufzte.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Da das ohnehin nur ein Wunschdenken bleiben wird, möchte ich da jetzt gerade nicht drüber nachdenken, ehrlich gesagt.“ Sie lächelte jetzt doch und zog sich ganz aus, ehe sie nackt hinter ihn trat und liebevoll die Arme um ihn schlang. War er auch noch so vertieft in seine beunruhigten Gedanken, darauf reagierte er immer; und er tat es auch jetzt und zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als ihr nackter, weiblicher Körper sich zärtlich gegen ihn drückte.

„Du denkst so pessimistisch, Meoran.“, flüsterte sie, „Wer sagt, dass es unmöglich ist, dass ich noch einmal schwanger werde? So alt bin ich ja noch nicht…“ Er murrte nur.

„Ich halte es für absolutes Glück und einen einmaligen Segen der Geister, dass wir es überhaupt zu einem Kind gebracht haben… ein zweites zu wünschen wäre zu viel verlangt.“

„Und was wäre, wenn die Geister es uns dennoch gewähren würden…?“ flüsterte sie gut gelaunt weiter, während sie mit den Händen in Richtung seiner Hose wanderte, und er errötete bloß und drehte das Gesicht zur Seite.

„Wäre, würde, könnte, hätte, Rujachen, ich bin kein Träumer, ich sehe die Tatsachen, wie sie sind…“ Sie verdrehte hinter seinem Rücken die Augen.

Er kapiert es echt nicht… er ist eben nervös. Gib ihm mehr Zeit…

„Lass dich nicht aufregen von den launischen Geisterstimmen…“, sagte sie so und schmiegte sich liebevoll an ihn, während ihre Hände versonnen begannen, ihn auch auszuziehen. „Sei heute Nacht mein Mann, Meoran… das bringt dich auf andere Gedanken.“ Mit sanfter Gewalt drehte sie ihn zu sich herum, worauf er seufzend den Widerstand aufgab, der nicht wirklich einer gewesen war, und sie sich verlangend küssten.

Doch das Wispern der Geister in seinem Kopf ließ ihm wenig Ruhe. Ruja sah ihm das wohlwollend nach, als sie nur kurz und eher unkonzentriert miteinander geschlafen hatten und dann beieinander in dem großen Bett lagen, das sie sich teilten, und statt darüber zu schmollen, dass er nicht einmal für das Liebesspiel genug Ruhe fand, lächelte sie nur verständnisvoll und schmiegte sich glücklich an ihn.

„Meine Rache wird kommen, Chimalis, und sie wird grauenhafter sein als alles, was du jemals erlebt hast!“ , zischten die Geister in Meorans Kopf und er fuhr unwillkürlich zusammen, als er deutlich die bekannte Stimme des gefürchteten Tyrannen Kelar Lyra heraushören konnte. Ruja blinzelte hinter ihm und richtete sich halb auf, während er die Augen weitete und mit dem einen funktionierenden hysterisch umher blickte.

„Was wollt ihr, Geister…?“ stöhnte er dabei und hörte die Geister leise höhnisch lachen.

„Deine Linie wird zu Grunde gehen, das schwöre ich dir!“ Er sah jetzt Kelars wutverzerrtes Gesicht deutlich vor sich, als wäre es am vergangenen Tag gewesen, dass er ihn so gesehen hatte; jetzt erinnerte er sich plötzlich an diese Worte. Er hatte sie schon einmal gehört… vor vielen Jahren an dem Tag, an dem Nalani die Prüfung bestanden hatte und Geisterjägerin geworden war.

An dem Tag, an dem Kelar den gesamten Clan vor Meorans Onkel Zoras verflucht hatte… sie hatten die Macht des früheren Herrn der Geister unterschätzt, wenn sie geglaubt hatten, der Fluch ginge einmal vorüber.

„Ich werde dafür sorgen, dass sie versiegt wie Wasser in Sand, deine Schlampe von Tochter wird niemals, niemals ein männliches Kind gebären, das deinen Clan erben könnte, und Meoran, dieser schwächliche Dummkopf von deinem Neffen, wird niemals einen Sohn zeugen, bah! Euer ganzer, verdammter Clan wird vernichtet werden, dafür sorge ich, und wenn ich den Allerletzten von euch verfluchten Barbaren töten muss!“

„Liebling…?“ Meoran drehte benommen den Kopf und starrte in das besorgte Gesicht seiner bildschönen Frau, die sich jetzt hingesetzt und sich über ihn gebeugt hatte. „Was… denkst du?“ Er stöhnte leise und sah sie eine Weile konfus an, während das Gelächter in seinem Kopf langsam leiser wurde und dann verstummte.

„Irgendwie…“, murmelte er dann und seufzte besorgt, „Habe ich in letzter Zeit so oft das Gefühl, dass mich der Schatten der Vergangenheit bald wieder einholen wird… und um das zu verhindern bedarf es eigentlich nur einer Kleinigkeit, so scheint es… irgendetwas ganz simples, das ich tun müsste… aber ich weiß nicht, was es ist… es ist, als bliebe das Unheil… so lange unsichtbar, bis es zu nah an mir dran ist, als dass ich noch eine Chance hätte, es aufzuhalten…“ Ruja zog die Stirn in Falten. Dann lächelte sie aufmunternd und legte sich wieder zu ihm.

„Denkst du nicht, dass die Geister dich rechtzeitig warnen werden…? Du bist ein Geisterjäger…“ Meoran seufzte nur.

„Das schon… aber die Himmelsgeister sind launisch. Ich habe das Gefühl, dass sie mich früher oder später verraten werden, um mir dann von hinten in den Rücken zu stechen…“
 

Der Tag, an dem das Unheil sie alle tatsächlich einholte, war am dritten Tag nach dem Vollmond des Holzmondes. Obwohl die Schlachten in Zarimia gerade pausierten für einige Tage, lag die Unruhe der Geister in der Luft, zum greifen nahe, und steigerte nur die Nervosität der Magier. Selbst die Telepathen und die Heiler spürten die Unruhe der Geister im Himmel und in der Erde.

„Du sorgst dich, Puran… ich tue es auch, irgendetwas stimmt nicht, oder? Ich weiß aber nicht, woran es liegt…“, murmelte Leyya, während sie im Innenhof auf der Treppe saß und einmal wieder an einem Kräuterbrei arbeitete. Gerade war sie dabei, ein Bündel aus gut riechenden Gräsern auf einer kleinen Steinplatte zu schneiden. Puran seufzte nur. Er hockte mit ein bisschen Abstand neben ihr auf der Treppe und rauchte. Er war froh darüber, dass er hier wieder zu Tabak kam, in Kadoh hatte es keinen gegeben. Zwar war er in Dokahsan weitaus besser gewesen als hier, aber Tabak war Tabak. Und es beruhigte ihn, wenn er so nervös war wegen der zwielichtigen Visionen der Geister, mit denen er nichts anfangen konnte. Immerzu träumte er vom Ende der Welt, von seinem Großvater und den weißen Spiralen, und die Geister verspotteten ihn wegen seiner Ahnungslosigkeit. Er hasste sie dafür… und sich selbst, weil ihm die Ungewissheit den letzten Nerv raubte. Es frustrierte ihn nur noch mehr, dass er dadurch nicht einmal mehr die Ruhe fand, seine Frau zu lieben. In den vergangenen paar Nächten seit seinem unbemerkt vorüber gezogenen zweiundzwanzigsten Geburtstag hatte irgendwie nichts so funktioniert, wie es das hätte tun sollen. Egal, was die arme Leyya auch getan hatte, was ihn normalerweise extrem erregte, in den letzten Nächten hatte nichts gewirkt. In ihrer irgendwie kindlichen Naivität hatte Leyya völlig besorgt geglaubt, er wäre ernsthaft krank, was ihn auch nicht wirklich aufgeheitert hatte.

„Das… liegt nur an dem Stress, den ich habe, das geht schon wieder vorbei… hoffe ich jedenfalls…“, hatte er verlegen dazu gemurmelt und die Geister innerlich dafür verflucht, dass sie ihm jetzt auch das Letzte nahmen, was ihm zwischendurch mal Freude verschaffte in dem Chaos des Krieges. Und oh, sie würden sich hüten, ihn grundlos zeitlebens impotent zu lassen, das schwor er sich verbiestert, während er an seiner Kippe zog und den Rauch in die kalte Herbstluft blies.

„Ja, ich bin auch echt am Ende meiner Nerven.“, gestand er ihr grimmig und die kleine Frau hob den Kopf, um ihm ein mitleidiges Lächeln zu schenken.

„Ich weiß, du bist jetzt nur noch saurer, weil du keinen-…“

„Sprich nicht!“, unterbrach er sie empört, „W-wenn das jemand mitbekommt, bin ich doch das Gespött der Nation…“ Sie kicherte.

„Du nimmst das viel zu schwer. Dass ihr Männer immer gleich durchdreht, wenn es um sowas geht, du hast doch selbst gesagt, es geht vorbei. Mach dir doch nicht noch mehr Sorgen als nötig.“ Er seufzte resigniert.

„Aber mal ganz von meinen privaten Problemen abgesehen ist das Gefühl echt ganz übel, das ich habe… und allen geht es so, das ist ja das Unheimliche. Selbst du spürst etwas… irgendetwas passiert. Aber ich weiß nicht was… das wurmt mich einfach.“

„Ich weiß.“ Leyya lächelte immer noch und er seufzte wieder, drückte den kümmerlichen Rest der Zigarette auf dem Steinboden aus und zog gleich eine neue aus seiner Jackentasche. „Mich ärgert es auch, dass ich nicht vorankomme mit meinen Experimenten… ich bin offenbar einfach unfähig.“ Sie sah auf ihren Kräuter-Matsch und Puran schenkte ihr einen blöden Blick.

„Unfähig? Pah, nicht so sehr wie ich im Moment…“ Sie verdrehte die Augen. Er machte da aber auch ein Drama daraus…

„Mir kam neulich eine Idee.“, wechselte sie dann das Thema und ihr Blick wurde ernst, als er sich die nächste Zigarette ansteckte und angespannt zu ihr herüber sah. Oh, verdammt, er war so schlecht gelaunt wegen des ganzen Trubels… „Wenn ich einen Zauber entwickeln will, der gegen die Wunden der zuyyanischen Waffen wirkt, brauche ich eine Testwaffe. Wenn du das nächste Mal gegen die Zuyyaner kämpfst… kannst du mir eine dieser Waffen mitbringen?“ Er musste dämlich auflachen und sah sie verblüfft an.

„Du Wolf im Schafspelz, ich soll eine dieser Waffen hier reinschleppen? Na, der König wird sich bedanken… ich werde sehen, was ich tun kann, Leyya. Ist ja nicht so, dass wir mit denen Skat spielen gehen.“ Die Heilerin seufzte und sie schwiegen wieder eine Weile. Während sie ihre Kräuter schnitt und auf dem Stein mit einem anderen, faustgroßen Stein zerstampfte, blickte er stumm in den bezogenen Himmel. In dem Moment hatte er plötzlich das Gefühl, dass die Unruhe in ihm stärker wurde, während er nur da saß; irgendetwas warnte ihn, er wusste nur nicht, was es war und wovor es ihn warnen wollte. Entsetzt sprang er auf die Beine und Leyya fuhr vor Schreck zusammen, als er sich hektisch umsah.

„Was ist denn?!“, fragte sie erbleichend.

„Ich weiß nicht, aber ich habe ein ganz schlechtes Gefühl auf einmal… irgendetwas… ist hier falsch!“ Leyya keuchte und ließ ihr Steinbrett mit den Kräutern fallen, als ihr Mann den Kopf drehte. Die Geister zischten in seinem Kopf, aber ihre Sprache war unverständlich und bedrohlich.

„Lauf, bevor ich dich in Stücke reiße… und wenn ich den Allerletzten von euch verfluchten Barbaren eigenhändig töten muss!“

„Leyya, geh rein.“, war Purans kaltherziger Befehl, worauf die junge Frau ihn groß anstarrte.

„Was?“

„Geh in den Palast zu meiner Mutter! Jetzt… irgendetwas passiert, rasch, Leyya! Bei meiner Mutter bist du hoffentlich in Sicherheit…“

„Und du?“ fragte sie, als sie rasch die Reste ihrer Kräuter aufsammelte und sich daran machte, hinein zu eilen, wie er befohlen hatte. So, wie er sprach, meinte er es ernst und es war nicht die Zeit, um ihm zu widersprechen. Puran drehte sich herum und schob sie zur Tür, die in den Palast führte, ihr dabei folgend.

„Ich folge dem Ruf der Geisterstimmen… um da hin zu kommen, wohin sie mich rufen. Vielleicht finde ich heraus, was das schlechte Gefühl ist…“ Sie japste, während sie jetzt zu zweit durch die Korridore rannten. Keiner wusste, warum sie rannten und wovor sie Angst hatten… aber irgendetwas war nicht in Ordnung.

Und es waren nicht die Zuyyaner, das spürten beide Magier instinktiv.
 

Nalani war nicht in ihrem Zimmer gewesen, sondern bei Ruja. Dort hatte Leyya beide Frauen und die kleine Saidah gefunden, nachdem Puran sich auf der Treppe von ihr getrennt hatte und jetzt vermutlich im Schloss umher irrte. Die beiden Frauen warfen Leyya einen bestürzten Blick zu, als sie kreidebleich die Tür hinter sich schloss und sich schnaufend gegen die wand lehnte.

„Was ist denn passiert?“, wollte Nalani wissen. Leyya schnappte nur atemlos nach Luft, was die ältere Frau beunruhigte; so aufgewühlt war die Heilerin selten und erst recht nicht grundlos. Ein flaues Gefühl beschlich sie jetzt, da sie Leyya so ansah; ein Gefühl, das sie schon einmal verspürt hatte vor nicht allzu langer Zeit.

„Nein… in Holia kenne ich sicher niemanden. Ich werde mich geirrt haben.“ , riefen die Geister ihr ins Gedächtnis, und die Frau verengte jetzt die blauen Augen. Ruja sprang indessen auf und eilte zu der kleinen Heilerin, fasste nach ihren Wangen und versuchte, sie zu beruhigen.

„Leyya, alles ist gut! Beruhige dich doch, wir sind ja alle da. Wo hast du Puran gelassen?“, fragte sie dabei vorsichtig, und allmählich löste sich die Schreckensstarre der Heilerin, worauf sie plötzlich schluchzte und zu zittern anfing.

„I-ich weiß nicht, plötzlich fühlt sich das… so schlecht an! Die Geister sind zornig, o-oder so… Puran ist irgendwo hin gelaufen, um nachzusehen, i-ich weiß doch nicht…“

„Ach du Schreck, setze dich doch erst mal…“, machte die Telepathin mitleidig und zog sie herüber auf einen freien Sessel im Gemach. Nalani musterte Leyya eindringlich und die kleine Saidah, die am Boden mit einer Stoffpuppe spielte, sah jetzt auch auf. Nachdem Leyya saß, setzte Ruja sich selbst wieder auf die Couch, auf der sie zuvor gesessen hatte. „Ich habe gerade Tee und Nusskuchen bringen lassen, wollt ihr etwas? Das baut dich sicher auf, Leyyachen.“

„Einen Tee, ja… danke…“, schniefte die Kleine, „Irgendetwas… i-irgendetwas passiert… oder?“ Sie sah vor allem Nalani an, während Ruja ihr Tee eingoss. Die Geisterjägerin schloss jetzt die Augen.

„Ich fühle auch die Unruhe… hat Puran dir nicht gesagt, was er fühlt?“

„Nein, er war nur plötzlich ganz fürchterlich hektisch und panisch…“ Die Frauen sahen sich abermals an. Ruja bot Nalani auch Tee und Kuchen an, doch diese lehnte dankend beides ab.

„Entschuldige, aber mir ist im Moment nicht nach essen oder trinken zu Mute. Wenige Tage nach Vollmond, du weißt ja, wie das ist.“ Sie räusperte sich und Ruja musste lächeln.

„Natürlich, verzeih mir, Nalani.“ Sie schenkte sich so selbst Tee ein und nahm sich ein Stück Kuchen. Als nächstes rief sie nach Saidah, damit sie zum trinken käme, und das kleine Mädchen rappelte sich vom Boden auf und kam zu seiner Mutter auf die Couch. Auch sie bekam Kuchen, statt Tee aber ein Glas mit Wasser.

„Meine Puppe ist jetzt tot.“, erklärte Saidah gerade sachlich und Leyya verschluckte sich vor Schreck an ihrem Tee.

„Wie bitte?“ machte sie, und die Kleine entgegnete:

„Ich habe ihr vergifteten Tee gegeben, sie war nicht brav, ei.“ Während Leyya sich von ihrem Schrecken zu erholen schien und begann, mit der fast Vierjährigen zu diskutieren, dass vergifteter Tee nicht lustig war, wandte sich Nalani an die Telepathin.

„Apropos Mondzeit, irre ich mich oder bist du über diese weltlichen Frauenprobleme seit ziemlicher Zeit erhaben, Ruja?“ Sie erntete erst einen ertappten Blick, dann ein leises Kichern von ihrer Freundin.

„Na ja, so lange auch wieder nicht… ich bin mir ehrlich gesagt noch nicht komplett sicher, ich wage nicht, es richtig auszusprechen… ich meine, es würde mich so glücklich machen…“ Sie aß gut gelaunt Kuchen und trank Tee, dann lachte sie. „Ich wünsche mir, dass die Unruhe bald vorüber ist, woher auch immer sie kommen mag… damit wir mehr Frieden haben hier. Es ist fürchterlich, es ist wie eine klammernde Kälte in meiner Kehle… und ihr Geisterjäger spürt es ja sicher noch schlimmer als ich. – Saidah! Was machst du denn da?!“ Sie sah empört auf ihre Tochter, die angewidert alle Nüsse aus dem Kuchen pulte und zur Seite schob.

„Ich mag Nüsse nicht, Muttilein…“

„Ach, du törichtes Kind.“, seufzte die Mutter entrüstet, und Leyya lachte leise. Nalani seufzte.

„Hast du es Meoran gesagt? Oder hat er noch keinen Schimmer?“

„Ich habe es versucht, aber er hat mir glaube ich gar nicht zugehört. Er ist eben durch den Wind wegen der ganzen bösen Vorzeichen… ich warte noch etwas. Vielleicht irre ich mich ja auch… ich will ja niemandem falsche Hoffnungen machen.“ Sie lächelte unbekümmert und während Saidah grantig die ekligen Nüsse aus dem Kuchen pulte, lehnte Nalani sich schweigend in ihrem Sessel zurück und sah dann zum Fenster. Die Sonne würde bald untergehen und tauchte den grüngrauen Himmel jetzt in ein gefährlich blutiges Rot. In dem Moment wurde ihr klar, dass Leyyas Panik und Purans Hektik nicht von nichts gekommen waren… etwas würde geschehen, und der zornige Himmel verlangte nach Blut.
 

In der Nacht kam der Schatten zurück. Und er kam auf die Weise, die Puran schon lange insgeheim gefürchtet hatte. Aus der Ferne hörten Leyya und er leise Schreie, als sie im Bett lagen.

„Was war das?“, murmelte er verstört und stützte sich an den Ellenbogen am Bett ab, während seine junge Frau ihn nur erschrocken anstarrte. Ein leises Grummeln aus dem Himmel folgte dem Schreien aus der Ferne; dann fuhren die beiden jäh zusammen, als es plötzlich heftig an der Tür klopfte. Leyya ließ von Purans Unterkörper ab, den sie zuvor mit ihren Lippen liebkost hatte in der Hoffnung, er würde darauf vielleicht positiv reagieren; jetzt war das plötzlich völlig egal, denn als Puran mit einem plötzlichen, fürchterlichen Schmerz in seinen Schläfen wie vom Blitz getroffen aus dem Bett hochfuhr, flog auch die Tür auf. Herein kam Meoran, und er sah fürchterlich aus.

„M-Meoran?!“, rief Leyya entsetzt und vergaß vor Schreck sogar, dass sie nicht mehr als ihre Unterwäsche trug.

„Hilfe!“, rief Meoran aufgelöst, „Leyya, schnell, bitte komm mit mir, e-es ist wegen Ruja! Bitte, um Himmels Willen, hilf mir!“

Leyya hatte die Auffassungsgabe einer Heilerin. Heiler hatten keine Zeit, lange blöd zu gucken, wenn man sie um Hilfe bat, sie mussten sofort reagieren. So sprang sie aus dem Bett und schnappte sofort nach ihrem Medizinbeutel mit allen Kräutern, Wurzeln und Salben, die sie besaß, während Puran nur fassungslos im Bett sitzen und starren konnte. Da war es wieder, das Pochen in seinem Schädel… und plötzlich kicherten die Geister in seinem Inneren.

„Fürchtest du dich noch nicht genug, Lyra…? Bald werdet ihr kriechen und euch wünschen… der Himmel würde euch alle erschlagen!“

„Nein!“, stöhnte der junge Mann verzweifelt und rollte sich auch unbeholfen aus dem Bett, ehe er seine Hosen in Windeseile anzog, während Meoran und Leyya schon aus dem Raum rannten. „Ich… werde nicht länger wegrennen vor euch, Geister!“ Dann folgte er den beiden anderen.
 

Ruja ging es schlecht. Sie hatte plötzlich mitten in der Nacht grauenhafte Bauchschmerzen bekommen; zuerst hatte sie versucht, es mit ihrem Umstand abzutun, aber es war ein so fürchterlicher und irrer Schmerz, dass sie es nicht ausgehalten hatte. Von ihrem Schreien war Meoran neben ihr aufgewacht, der daraufhin sofort nach der Heilerin gerufen hatte… jetzt waren sie plötzlich alle hier. Leyya hockte an der Seite des Bettes, in dem die Telepathin lag und immer noch wie am Spieß schrie. Puran war auch da und selbst Tabari und Nalani waren wohl aufgewacht. Nalani tat ihr den Gefallen, die arme kleine Saidah zu beruhigen zu versuchen, die natürlich auch wach geworden war und jetzt ängstlich wimmerte.

„D-die Schmerzen hören nicht auf, sie… werden… nur schlimmer…“, keuchte Ruja und fasste verkrampft nach ihrem Unterleib, während sie unruhig im Zimmer umher sah. Leyya warf ihr einen bestürzten Blick zu und fasste besorgt nach ihrer Stirn.

„Es kam ganz plötzlich, einfach so?“, fragte sie zitternd, „I-ich verstehe das nicht…!“ Ruja schrie und die Heilerin fuhr zusammen vor Schreck. Meoran saß jetzt weiß wie eine Wand auf der anderen Seite seiner Frau und hielt schwer atmend ihre Hand in seiner.

„Kannst du nicht irgendwas tun, Leyya? Es gibt sicher einen Zauber, oder so…“

„Sicher gibt es den, aber ich weiß nicht, woher die Schmerzen kommen, das ist das Problem, ich kann nicht einfach wild drauf los zaubern…“

„Tabari.“, hörte sie dann die Stimme ihrer Schwiegermutter im Hintergrund des Zimmers, „Rasch, schick nach den anderen Heilern. Je mehr, desto besser, sofort.“ Ihr Mann gehorchte und verließ wortlos den Raum. Saidah auf Nalanis Armen fing plötzlich zu weinen an.

„Wird Mutti sterben, Nalani…?“ Nalani starrte sie an und auch die anderen fuhren jetzt entsetzt zu dem kleinen Mädchen herum. Meoran schnappte verzweifelt nach Luft, als er Nalani anblickte, die Saidah auf Purans Arme drückte und jetzt auch zum Bett eilte, während Ruja vor Schmerzen aufschrie und sich krümmte.

„Was, wenn es an dem Kindeskeim liegt… wenn da einer ist?“ fragte sie bestürzt, und Ruja hob keuchend den Kopf und sah sie panisch an.

„N-nicht…!“ wimmerte sie, „Nicht… mein Baby, das… ist es… s-sicher nicht…“

„E-ein Baby?“ japste Leyya, „Moment, du bist schwanger?!“ Sie sah verblüfft auf Meoran, der aber offenbar nicht die Zeit hatte, sich über diese Nachricht zu freuen… im Gegenteil.

„Baby?“ stöhnte er und sprang plötzlich vom Bett auf, „Nein, wehe! D-das… das gefällt mir nicht, das weckt zu viele grausame Erinnerungen! Nicht auf diese Weise, Ruja, ich flehe dich an! E-es… es ist… es ist wie in jener Nacht, als… als meine Tante einen grauenhaften Tod im Kindbett erlitt…!“ Er wagte kaum, davon zu sprechen, und Nalani starrte ihn jetzt ebenfalls an.

Tehya Chimalis’ Tod war so ewige Jahre her, so kam es ihnen vor… Meoran war noch ein Kind gewesen und Puran ein nicht mal ein Jahr altes Baby. Und dennoch saß ihnen allen die Erinnerung an diese Zeit noch fest im Genick… das Entsetzen, das sie damals alle gepackt hatte durch den plötzlichen Tod der armen Frau. Aber Tehya hatte damals eine Fehlgeburt gehabt und danach ein fürchterliches Fieber bekommen… das, was Ruja gerade durchmachte, war etwas anderes.

Die junge Frau keuchte wieder und wimmerte, als der Schmerz in ihren Bauch zurückkehrte, und sie sah bebend zu Leyya empor, die einen verzweifelten Versuch startete, einen Schmerzen lindernden Zauber auf ihren Bauch anzuwenden. Vielleicht konnte man wenigstens die Schmerzen eindämmen, bis die erfahreneren Heiler kamen und vielleicht herausfanden, was wirklich mit ihr war…

„Halte durch, Ruja…“, flüsterte sie dabei und versuchte, die arme Frau zu beruhigen, „W-wird es besser so?“

„E-es bleibt gleich, es… ich weiß auch nicht, woher es kommt…!“, wimmerte die Schwarzhaarige verzweifelt und stieß einen weiteren Schrei aus, wobei sie sich auf grauenhafte Weise im Bett hin und her wand, als versuchte sie, den Klauen des Schmerzes zu entfliehen. Saidah schrie auch vor Panik und krallte sich an Purans Hals, während er Mühe hatte, die Kleine festzuhalten.

Was war das hier? Das war ein böser Traum… vorhin war doch noch alles gut gewesen. Und plötzlich standen sie hier an Rujas Bett, während die Frau wahnsinnige Schmerzen hatte? Er überlegte sich kurz, mit der kleinen Saidah hinaus zu gehen, irgendwo hin, damit sie die Qualen ihrer Mutter nicht mit ansehen musste… aber er konnte sich nicht rühren. Er war wie versteinert und lehnte am Fensterbrett, das zappelnde und vor Angst schreiende Mädchen auf seinen Armen, das wild auf ihn einzuschlagen begann und zu seiner Mutter wollte. Und keiner hatte Zeit, der armen Saidah Beachtung zu schenken… niemand konnte aufsehen und Puran befehlen, das Kind fort zu bringen. Wo blieb Tabari mit den Heilern?

In just diesem Moment flog die Tür wieder auf und der Blonde kehrte mit einem der älteren Heiler zurück ins Zimmer.

„Du liebe Zeit!“, machte dieser sofort entsetzt und eilte dazu, während Leyya etwas zur Seite rutschte, um ihrem Kollegen Platz zu machen. Sie zitterte jetzt am ganzen Körper und Nalani, die neben ihr am Bett kniete, merkte genau, dass die tapfere Hülle jetzt zu bröckeln begann, die Leyya als Heilerin aufgebaut hatte, um helfen zu können. Jetzt siegte die Angst in der jungen Frau und sie begann plötzlich auch zu weinen.

„I-ich kann gar nichts machen!“, fiepte sie mit hoher Stimme, während Nalani sich aufrappelte und sie tröstend umarmte, „D-der Zauber gegen Schmerzen hilft nicht, die Kräuter helfen nicht, e-es sind bösartige Schmerzgeister in ihrem Inneren, d-die ich nicht besiegen kann… e-es ist… es ist wie bei Keisha… ich… bin einfach nicht stark genug…“

„Das ist nicht deine Schuld, Leyya.“, war Nalanis trockener, aber ernst gemeinter Kommentar, und die Jüngere schluchzte hysterisch und fuhr in ihren Armen zusammen wie ein verschrecktes Kind, als Ruja wieder schrie und sich unter den Händen des älteren Heilers wand, der perplex den Kopf hob.

„Ist es… m-mit dem Baby…? Ist was damit…?!“, japste die Frau atemlos, „Sagt es mir, Herr…!“

„Nein, das ist es nicht.“, war die Antwort, und Meoran starrte fassungslos zwischen dem Mann und Ruja hin und her, als er auch mal begriff, was los war.

„D-du bist schwanger, Ruja?!“

„Sie hat starke innere Blutungen in der Magengegend.“, meinte der Heiler dann und machte dabei ein bestürztes Gesicht, „Das sieht übel aus, zu meinem Bedauern… ich kann nicht erkennen, woher die Blutungen kommen, es… ich fürchte, mehr als Schmerzen zu lindern kann ich nicht für sie tun.“

Die Nachricht schlug ein wie ein Blitz in die Haut der Mutter Erde.
 

„Was?“, war Meorans erster, fassungsloser Kommentar, und er starrte den Heiler vor dem Bett an, als wären ihm gerade Hörner gewachsen. Tabari im Hintergrund erbleichte und in diesem Moment verstummte sogar die kleine Saidah.

„Mutti wird sterben!“, keuchte sie dann, und Puran vermochte nicht zu sagen, ob sie das aus ihrer ohnehin bestehenden Panik heraus sagte oder ob sie verstanden hatte, was der Heiler gesagt hatte. Unwillkürlich drückte er das Kind fester an sich heran und sich selbst mehr gegen das Fensterbrett, an dem er lehnte, obwohl es ihm im Rücken zu schmerzen begann. Er merkte es nicht mehr… er merkte gar nichts mehr, er war froh, dass er Saidah überhaupt noch hielt und nicht längst aus Versehen fallen gelassen hatte.

Davon hatte er geträumt. Mondelang. Jahrelang. Er hatte gewusst, irgendetwas würde passieren… war es das jetzt?

Er wollte aufwachen und in seinem Bett liegen…

„Nein!“ Es war Nalani, die aufschrie, indem sie Leyya losließ und aufsprang, ehe sie den älteren Heiler zornig anfunkelte. „Ihr werdet doch irgendetwas tun können für sie! Das erlaube ich nicht, das kann nicht sein! Vor Sonnenuntergang war sie kerngesund!“ Ruja schrie und fasste wimmernd nach ihrem Bauch, während die Tränen über ihre Wangen liefen. Leyya konnte sich nicht rühren, sie saß wie versteinert auf der Bettkante, während Meoran langsam jegliche Farbe aus dem Gesicht verlor.

„Was?“, fragte er noch einmal, aber es kam kaum ein Ton aus seiner Kehle, als er sich zu dem Heiler wandte, der ebenfalls nach dem Bauch der Frau fasste. Er murmelte einige Worte und unter seinen Händen leuchtete ein schwacher Schimmer, worauf ihr Schreien zu einem schwachen Stöhnen abflaute und dann nur noch ein leises Wimmern war.

Die Schmerzen waren schwächer geworden, aber ganz verschwanden sie nicht… zitternd fasste die Frau wieder nach ihrem Bauch, bevor sie das Gesicht keuchend drehte und den Mann vor ihr ansah. In seinen Augen sah sie bekümmertes Bedauern… das war der Moment, in dem sie wusste, dass er nicht gelogen hatte mit dem, was er gesagt hatte.

Sie würde sterben. Und sie wusste nicht einmal, warum… es war wie eine grauenhafte Strafe des Himmels für irgendetwas, das sie einmal getan hatte…

Aber was sollte das sein? Was hatte sie denn falsch gemacht? Hätte sie nicht wieder schwanger werden dürfen…?

„Es ist doch… Kelars Fluch, oder, Meoran…?“, wisperte sie tonlos, als ihr Gatte neben dem Bett plötzlich zu zittern begann, und jetzt fuhr auch Leyya in sich zusammen beim plötzlichen, leisen Klang von Rujas Stimme.

Einer Stimme, die sie bald nie wieder hören würde…

„Das… das passiert nicht, oder?“, murmelte der Geisterjäger nur und starrte Rujas bleiches Gesicht starr vor Entsetzen an. „Das hier… d-das ist nicht richtig! Das ist falsch so, so sollte es nicht sein, Ruja…“ Doch sie schloss die blauen Augen und lächelte, ehe sie wieder keuchte, als der schmerzlindernde Zauber an Wirkung verlor. Sie hustete und rollte sich keuchend auf die Seite, zu ihrem Mann hin, der sie nur anstarren konnte, unfähig, sich zu bewegen.

„Wie… wie lange… habe ich denn noch, Herr…?“, schaffte sie hervor zu pressen und das Schreien wurde wieder lauter. Der Heiler machte ein untröstliches Gesicht und wich gekonnt Nalanis Mörderblicken aus.

„Sagt das nicht!“, zischte die Geisterjägerin da auch schon, „Es muss doch etwas geben, womit wir sie retten können! Was ist es, was in ihrem Inneren blutet? Kann man das nicht aufhalten?!“

„Ich würde, wenn ich könnte, aber ich fürchte, dazu… ist es bereits zu spät, Herrin.“, war der Kommentar des Heilers, und jetzt fing Puran hinten auch zu husten an und brachte dabei nur ein entsetztes Jammern hervor. Als er die arme Saidah beinahe doch fallen gelassen hätte, als die Erkenntnis ihn auch ergriff, eilte ihm sein Vater zur Hilfe und nahm ihm die Kleine ab, ehe Puran stöhnend zu Boden sank und jetzt lauter jammerte.

„S-sie kann doch nicht…?! D-das geht doch nicht, Mutter!...“ Nalani schenkte ihm kaum Beachtung und sah den Heiler nur mit weit aufgerissenen Augen schweigend an. Als sie den Kopf vor ihm senkte, wusste der arme Mann, dass sie verstanden hatte.

„Die Blutung ist heftig… es wird nicht mehr lange dauern. Es… tut mir leid, Herrin…“ Dabei warf er aber mehr einen Blick auf Leyya, die sich plötzlich wieder aufrappelte, über das Bett krabbelte und nach Rujas Bauch fasste, worauf diese zuckte.

„Ich gebe nicht auf!“, schrie sie dann und weinte weiter, „I-ich kann sicher irgendetwas tun, damit sie nicht sterben muss! Ruja darf nicht sterben, i-ich verhindere das, ja!“

„Leyya…“, wisperte die Telepathin und lächelte kurz, ehe sie erneut hustete und jetzt auch Blut spuckte. Leyya erstarrte über ihr.

„Stirb nicht, bitte! D-das kannst du doch nicht, nicht einfach so, nicht hier und jetzt!“ Nalani zog sie am Arm zurück, aber die Jüngere wehrte sich panisch und versuchte energisch, sich loszureißen, bis die Schwiegermutter sie an beiden Armen packte und vom Bett zerrte. Ruja schrie auf und krümmte sich zusammen, und wimmernd fasste sie zur Seite nach Meorans Hand.

„Geh nicht weg… Liebster…“, keuchte sie, und er sank ebenfalls japsend zusammen und schnappte schwer nach Luft, während er ihre Hand in seiner festhielt.

„Nein, ich… werde niemals weggehen, Ruja…“

Nalani, die Leyya mit viel Mühe hielt und spürte, wie das weinende junge Mädchen in ihren Armen zusammenbrach, wechselte einen traurigen Blick mit ihrem Mann, der daraufhin um das Bett herum ging und die kleine Saidah zu Meoran brachte. Das kleine Mädchen wimmerte, als es sich dann an Meoran klammerte, und Rujas Gesicht zierte ein bildschönes Lächeln, das aber ihre Schmerzen zeigte.

„Meine… meine kleine Tochter…“, flüsterte sie, und Leyya in Nalanis Armen heulte noch lauter, während sie von ihrer Schwiegermutter herum gedreht wurde und diese sie zitternd an sich drückte. Ein weiterer Schrei der sterbenden Frau riss sie aus ihrem Kummer und Leyya blickte noch immer weinend hinter Nalanis Armen hervor auf ihren Mann, der jetzt am Boden kauerte und hemmungslos zu heulen begonnen hatte. Die kleine Heilerin löste sich zitternd von der Schwiegermutter und bemühte sich um ihren Mann, und Nalani ließ sich kraftlos auf die Kante des Bettes sinken.

„Mutti, du wirst doch wieder gesund, oder…?“, schluchzte Saidah unglücklich auf Meorans Arm, und ihr Vater zitterte am ganzen Körper, während Ruja ihn langsam losließ und die Hand hob, um über das hübsche Gesicht des Mädchens zu streicheln.

„Du wirst ein tapferes Mädchen… sein, Saidah, nicht wahr? Du wirst… einmal eine große Zauberin sein, ich habe… es einmal geträumt… weißt… du…?“ Das Mädchen erwiderte nichts und griff wimmernd nach der Hand der Mutter. Dann schrie sie wieder und hustete Blut auf das Bettlaken, und Saidah jammerte, als Meoran sie auf das Bett setzte und verzweifelt nach Rujas Wangen fasste.

„Das ist ein böser Traum, Ruja… ein schrecklicher… böser Traum…“ Es war kaum mehr als ein Krächzen, das aus seiner Kehle kam, und sie krümmte sich und zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als er ihr Gesicht so festhielt, ehe sie wieder hustete und Blut spuckte, das jetzt seine Ärmel besudelte.

„Nein… das ist… Wille der Geister. Du wirst… nicht aufwachen… so sehr du es dir wünschen magst, Meoran.“ Darauf erstarrte er und sie sahen schweigend einander an. Es war der letzte Blick, den sie teilten, und in Rujas Augen sah er all ihre aufrichtige Liebe zu ihm und zu ihrer Tochter, die ihre einzige bleiben sollte. Und sie blickte ihrem Mann ins Gesicht und wusste, dass er ihre Gefühle erwiderte.

Das war alles, was sie wissen musste… das war alles, was ihr etwas bedeutete.

In dem Moment, in dem die Telepathin ihre letzten Atemzüge tat und zum letzten Mal sprach, war es im Raum plötzlich totenstill.

Die Frau lächelte keuchend, als sie ihre Hand vorsichtig wieder hob und sie auf die von Meoran legte, die noch an ihrer Wange war.

„Bleibst du hier…? Du bist schön warm…“ Er erstarrte, als sie ihre Augen langsam schloss, und er fühlte, wie ihre Finger seine langsam losließen und ihre Hand zurück auf das Bett sank.

„Ja…“, stammelte er neben sich, „Das werde ich, Ruja…“ Sie lächelte immer noch, als der Schmerz in ihrem Inneren jetzt verblasste und plötzlich so fern schien…

So fern wie Meorans Stimme, die sie so gerne hörte… so fern wie das Weinen ihrer Tochter, die sie so sehr vermisste.

„Dann ist es gut…“, wisperte sie, „Weine nicht, Meoran… bitte… nicht… mein Liebling…“

Das war das Letzte, was sie sagte, ehe ihre Hand ganz herab gesunken war und sie aufhörte zu atmen.
 

Der Morgen graute nicht. Eigentlich tat er es, aber nicht für alle. Während Puran benommen am Boden des Wohngemaches seiner Eltern saß, an die Wand gelehnt und Leyyas Kopf auf seinem Schoß, hatte er das Bedürfnis zu glauben, die Sonne könnte nie wieder aufgehen.

Wie könnte sie aufgehen, wenn Ruja tot war? Einfach so…

Er drehte wie in Trance den Kopf und sah zur Wand ihm gegenüber, während seine Hand über Leyyas Haare streichelte. Die junge Frau hatte lange weinend in seinen Armen gelegen und er auch in ihren; jetzt war sie in einen unruhigen Schlaf gefallen und er war froh, eine Weile schweigen zu können. Er konnte sie nicht trösten… niemand vermochte jetzt irgendwen zu trösten. Ein grässlicher, dumpfer Schmerz erfüllte seinen Kopf schon die ganze Nacht, jetzt kam noch eine furchtbare Übelkeit dazu, die er zusehends verdrängte, soweit er konnte.

Was war das für eine Welt, in der die Geister sowas zuließen? Einfach so…

„Ja… es ist das Ende der Welt. Das haben wir ja gesagt. Und es wird kommen und noch ganz andere töten.“

Er wollte die Stimmen nicht hören und verbannte sie wütend und todunglücklich aus seinem Kopf. Wie konnten sie ihn jetzt verspotten? Es waren grauenhafte Stunden, die sie durchlebten.

Am frühen Morgen hatte Tabari die schwere Aufgabe übernommen, dem Rest des Geisterjägerrates die traurige Nachricht zu überbringen. Das hieß, Kohdars und Neron Shai. Emo war ohnehin nirgends zu finden, aber auf die Anwesenheit des alten Meckerpotts legte auch gerade niemand Wert. Die Nachricht war niederschmetternd. Der sonst so heitere Neron war plötzlich todernst geworden; er schien immer so dümmlich, aber Puran hatte jetzt gemerkt, dass der wenig Ältere definitiv klug genug war, um zu wissen, wo der Spaß aufhörte.

Jetzt hatten sich alle im Zimmer des Herrn der Geister versammelt, um Meoran und Saidah eine Weile alleine mit Ruja zu lassen; es half wenig, wenn alle um sie herum standen und sie bemitleideten. Tabari kannte das noch vom Tod seiner Mutter; das war natürlich nicht hiermit zu vergleichen, seine Mutter war viel älter gewesen… aber er hatte es auch gehasst, wenn alle um ihn herum gewuselt waren, um ihn zu bedauern. Das brachte niemanden ins Reich der Lebenden zurück. Puran drehte den Kopf erneut, während seine Eltern mit Kohdars und Neron sprachen. Saja, Nerons Verlobte – er war immer noch nicht dazu gekommen, sie zu heiraten… – war mit Pinhi Kohdar und deren Kindern in deren Wohnstube geblieben. Der jüngste Geisterjäger seufzte nur leise und lauschte den Gesprächen nicht wirklich. Er war auch froh, dass er die Ausrede hatte, sich um seine instabile Frau kümmern zu müssen, um nicht ernsthaft mitreden zu müssen… dafür fehlte ihm gerade einfach die Kraft. Er konnte sich nicht wie seine Eltern tapfer hinstellen und reden… er konnte nicht wie sie seine Trauer überspielen.

Es war ein seltsames Gefühl… und es dauerte seine Zeit, bis er wirklich realisieren konnte, dass Ruja tatsächlich tot war. Lange glaubte Puran noch, er würde sicher gleich aufwachen und alles wäre wie früher. Einfach so…

„Warum macht ihr das, Himmelsgeister? Aus heiterem Himmel… und ausgerechnet Ruja… wer soll jetzt Saidah eine Mutter sein? Ist euch… das denn völlig egal?“

Die Himmelsgeister gaben keine Antwort.
 

Der König von Kisara war auch erschüttert, als er die Nachricht erhielt. Viel zu sagen wagte niemand und sie alle waren den Geistern dankbar, dass sie wenigstens die Zuyyaner im Moment fern hielten. Es vergingen drei Tage des bedrückten Trauerns und Schweigens, in denen man sich kaum begegnete, weil sich alle in ihren Zimmern verschanzten. Erst am vierten Tag nach Rujas Tod begann das Erwachen aus dem Schlaf der Tränen und der Verstand kehrte zurück.

Nalani erwachte aus einem von unruhigen Träumen begleiteten Schlaf, während das bedrohliche Wispern der Geister in ihrem Kopf langsam verstummte. Sie hatte sich an das Wispern gewöhnt… die Geister sagten ihr jede Nacht die gleichen Dinge. Und dennoch machte es sie nervös, keine Gewissheit über die Zukunft zu haben.

Das einzige, das wirklich gewiss war, war der Tod.

Sie seufzte nach einem Blick zu den dunklen Vorhängen, hinter denen die Sonne schien und ihre letzten Herbstlichter über das Land schickte. Bald würde der Winter kommen… die kalte, erbarmungslose Jahreszeit. In Nalanis Geist war der Winter längst da… plötzlich fragte sie sich, ob der Dolmetscher aus Kadoh ihr Kadhúrem auch artig aufbewahrt hatte. Es war immer noch ungewohnt ohne das Schattenschwert an ihrem Gürtel…

„Du bist auf…“ Tabaris verschlafene Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie drehte sich zu ihrem Mann um, der hinter ihr gelegen hatte und jetzt gähnte. „Du bist noch immer unruhig… es macht mir Sorgen, dich so zu sehen, Nalani.“ Während er sprach und ein weiteres Mal gähnte, strich er ihr über die nackte Schulter und dann durch die schwarzen Haare.

„Mir ist über Nacht wieder eingefallen, was mich die ganze Zeit innerlich aufgewühlt hat.“, sagte sie, während er sie weiterhin streichelte, und er rückte etwas dichter an sie heran und ließ sie ihre Arme um seinen Nacken legen. Rujas plötzlicher Tod saß ihnen beiden immer noch im Nacken. In der vergangenen Nacht hatten sie zum ersten Mal wieder miteinander geschlafen, aber es war anders gewesen als sonst… zärtlicher. Sie waren selten so zärtlich zueinander im Bett.

„Und, was ist das?“, seufzte er noch immer etwas verpennt, gähnte wieder und begann dann langsam, ihre Wange hinunter zu ihrem Hals zu küssen.

„Woran Ruja gestorben ist wissen wir immer noch nicht. Das wurmt mich schon seit Tagen… der Heilertyp hat gesagt, innere Blutungen, aber woher sie kamen, wusste keiner… das wird doch nicht aus heiterem Himmel einfach passieren…“

„Meine Mutter ist doch auch aus heiterem Himmel gestorben und es waren auch Blutungen.“

„Das war anders, und sie war älter und außerdem Alkoholikerin, das fördert sowas nur noch. Ruja war blutjung, sie war verdammt noch mal siebenundzwanzig… ich weiß nicht, was es ist, aber mein Instinkt sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Dass wir irgendetwas vergessen… oder nicht sehen wollen.“

„Wenn du das rausfinden willst, und die Heiler das so nicht gefunden haben, müssten wir sie aufschneiden…“, seufzte der Blonde und sie schauderte.

„Bist du verrückt? Meoran wird das niemals zulassen… würdest du mich aufschneiden?“

„Nein…“ Er seufzte, hob den Kopf und drehte sie langsam auf den Rücken, um sich über sie zu rollen und mit einer Hand ihre Brust zu bearbeiten. Sie schloss die Augen, als sie einen zärtlichen Kuss teilten. „Was sagen deine Geister denn, Nalani…?“

„Ich bin mir nicht sicher… aber irgendetwas in meinem Geist sträubt sich einfach… das alles bei Seite zu lassen. Irgendein Detail… das alles verändert.“ Tabari sah sie konfus an, als sie für einen Augenblick die Augen weitete in dem Moment, in dem die Vision zurückkehrte in Form von Kelars spitzen Eckzähnen, die plötzlich vor ihrem inneren Auge waren, gemeinsam mit der knöchernen Spirale. Im Hintergrund kicherte ihr verhasster Schwiegervater.

„Euer ganzer, verdammter Clan wird vernichtet werden, dafür sorge ich, und wenn ich den Allerletzten von euch verfluchten Barbaren töten muss!“

Die Frau fuhr aus dem Bett hoch und schob Tabari zur Seite, worauf er sich schnaubend aufsetzte, verärgert darüber, dass sie ihn einfach sitzen ließ, wo er doch gerade Lust auf sie bekommen hatte. Er schenkte ihr nur einen verdatterten Blick, als sie sich plötzlich in Windeseile anzog.

„Wo willst du denn hin?“

„Dein verdammter Vater…“, murmelte sie im Anziehen, „Warum träume ich eigentlich dauernd von ihm? Ich gehe hinunter und sehe mir Ruja noch einmal an, wenn Meoran nichts dagegen hat… vielleicht weiß ich dann, was die Geister von mir wollen.“ Tabari erhob sich auch und begann brummend, sich anzuziehen, als seine Frau aus dem Raum eilte. Wenn sie plötzlich ihre Geistesblitze hatte, konnte er ihr nie folgen… irgendwie war sie immer schneller gewesen als er. Sie war eben die Schamanenkönigin…
 

Als Nalani an Meorans Zimmertür klopfte, öffnete lange Zeit niemand. Es war noch früh, deswegen ging sie davon aus, dass er vielleicht noch im Bett war, und wartete etwas. Sie waren alle behutsam gewesen in den vergangenen Tagen… und Meoran war ihnen dankbar gewesen dafür, dass sie sich nicht mit liebevollem Trost auf ihn gestürzt hatten. Er brauchte Zeit für sich alleine, um den schockierenden Tod seiner Frau zu verarbeiten… wenn er das könnte.

Ein ungutes Gefühl überkam die Frau, als auch nach drei weiteren Klopfern niemand öffnete, so öffnete sie die Tür selbst und fand die Stube dämmrig vor. Die Vorhänge waren zugezogen.

„Meoran?“, fragte sie in die Stille, aber es kam keine Antwort. Hastig schritt sie hinein und spähte durch die angelehnte Tür ins Schlafzimmer – auch dort war kein Mensch, das Bett war fein säuberlich gemacht worden. Ihr nächster Blick fiel ins Kinderzimmer; dort lag Saidah mutterseelenallein und friedlich schlafend in ihrem Bettchen. „Meoran! Wo steckst du denn?!“, fragte Nalani alarmiert und suchte die ganzen Gemächer ab, zuletzt auch das Badezimmer, aber der Mann war wie vom Erdboden verschluckt. Erst, als sie in wilder Aufregung wieder zur Tür schneite, stolperte sie beinahe über das Stück Pergament, das auf dem Teppich lag. Als sie es aufhob und ansah, erstarrte sie, obwohl es nicht für sie bestimmt war, sondern für ihren Mann.
 

Tabari;

Vergib mir, ich kann das nicht. Ich bin nicht so stark wie du.
 

Ohne weiter nachzudenken ließ die Frau den Zettel fallen und rannte aus dem Zimmer, als das üble Gefühl in ihren Geist zurückkehrte. Auf dem Korridor stieß sie mit Tabari zusammen, sie schubste ihn zurück und schrie ihn an.

„Verdammt, er ist weg! Wecke Puran auf und hilf mir suchen, jetzt sofort, bevor es zu spät ist!“

„Was?!“, japste der Blonde und sie zischte.

„Meoran, er ist weg! Beeile dich, wir müssen ihn finden, bevor er irgendwas Dummes macht!“ Damit rannte sie weiter und ließ den verdatterten Mann im Flur stehen. Als er begriff, wovon sie sprach, erbleichte er und setzte sich sofort wieder in Bewegung, um seinen Sohn zu wecken.

Nalani folgte ihren Instinkten in die richtige Richtung; sie fand ihren Kollegen auf einem größeren Balkon des mittleren Turmes des Palastes. Darauf bedacht, ihn nicht zu erschrecken, rief sie schon von weitem seinen Namen, als sie ihn sah, und sah ihn zusammenfahren.

„Du bist hier… und ich hatte schon Angst um dich…“, murmelte sie und betrat den Balkon, ihn von hinten betrachtend. Meoran stand auf dem Geländer, ihr den Rücken kehrend, und starrte nach Norden. In der Ferne konnte man das Lager der Feinde ausmachen und die zerstörte Landschaft von Zarimia.

„Geh, Nalani.“, sprach der Mann da und sie hielt inne beim Klang seiner Stimme. Sie war brüchig und verunsichert; dass er in den letzten Tagen viel geweint hatte, war kein Wunder. „Mach dir nicht den Aufwand, ich kann das nicht ohne sie… wie soll ich verdammt noch mal leben ohne Ruja?! Es erscheint mir so falsch… sie war immer da, schon seit Jahren war sie immer da… und jetzt plötzlich soll ich das verkraften… dass sie… einfach fort ist? Ich kann meinen Schmerz nicht herunterschlucken wie Tabari und du!“

„Das sollst du auch nicht, aber du begehst einen großen Fehler, Meoran.“, sagte die Frau behutsam und blieb, wo sie war. „Natürlich schmerzt es, es wird immer schmerzen! Du bist nicht der erste Mensch der Welt, der jemanden verliert.“ Er zischte und breitete die Arme aus, den Kopf zurückwerfend. Jetzt trat sie doch näher, weil sie Angst hatte, er würde aus Versehen das Gleichgewicht verlieren.

„Ja, sicherlich nicht!“, schrie er verzweifelt, „Aber du hast nicht Ruja verloren! Nicht auf die Art, auf die ich sie verloren habe, Nalani! Ich habe sie geliebt, sie war der allerwichtigste und wertvollste Mensch meines ganzen, verfluchten Lebens, verstehst du das?! So sehr, wie ich Ruja geliebt habe, hast du niemals jemanden geliebt, kalte Schattenkönigin, habe ich recht? Was verstehst du davon?!“ Jetzt drehte er den Kopf herum und sie sah in sein aufgelöstes und vor Gram verzogenes Gesicht. Als sie stumm die Augen weitete, spuckte er ihr vor die Füße. „Verdammt, ich heule mir die Augen aus dem Kopf! Ich weine jeden Moment, wenn ich mich nicht gerade daran erinnern muss, weiter zu atmen! Ich kann das nicht, ich halte diesen Wahnsinn nicht aus… und du bist die Letzte, die mir zu sagen hat, ich solle das nicht… du empfindest doch gar nichts… du nicht, tapfere, kühle Königin, nicht wahr…?!“ Er drehte sich wieder nach Norden und streckte die Arme dem Himmel entgegen. „Ich blicke in Richtung Heimat… in Richtung Tuhuli, zum Haus meiner Vorfahren, zu meinem Vater, zu meinem Onkel und meiner Tante, meiner Cousine… ich werde zu ihnen sehen und ich kann hören, wie sie mich rufen… seht, Geister! Seht, Ahnen meiner Familie… ich werde kommen und eurem Ruf folgen, wie ihr es… mir befehlt!“

„NEIN!“

Nalani packte mit einem gewaltigen Satz nach vorn hechtend seine Beine, als er drohte, vorne über zu stürzen, und mit Gewalt zerrte sie ihn wieder auf den Balkon, wodurch sie beide zu Boden stürzten.

„N-Nalani…“, wimmerte er und rappelte sich auf, während sie sich hinsetzte, und im nächsten Moment gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. Hustend fuhr er zurück und rieb sich die Wange.

„Was denkst du dir, du elender Idiot?! Du… verdammter Feigling, du verantwortungsloser Drecksack?!“, schimpfte sie ihn schallend aus, als wäre er ein kleines Kind. „Denkst du, Ruja würde das wollen?! Dass du dein Leben wegwirfst, das ihr jetzt verwehrt ist?! Du läufst davon, du bist genauso ein dämlicher Idiot wie mein Narr von einem Sohn es mitunter zu sein pflegt! Glaubst du ernsthaft, Ruja würde das befürworten?! Oder deine Ahnen?! Denkst du, dein Vater würde das gutheißen?! Höre auf deinen Geist, Meoran!“ Sie stand auf und er zitterte am ganzen Körper, als er sich abdrehte.

„Mein Vater hat sein Leben geopfert, um Ruja zu retten, und ich passe nicht gut genug auf sie auf, damit sie weiter lebt! Was soll er schon von mir denken?! Dass ich ein Idiot bin…“

„Du trägst daran doch keine Schuld! – Verdammt, sieh mich an!“ Sie drehte ihn gewaltsam wieder zu sich und er fing an zu heulen.

„Ich… schaffe das aber nicht so! Ich kann das nicht, Nalani, verdammt…“

„Dein Vater hat sich geopfert für die Zukunft des Clans, der Familie; für deine Frau! Was ist mit deiner Zukunft? Was ist mit Saidah? Du hast eine Verantwortung zu tragen, du bist ihr Vater! Du bist der einzige, den sie hat… willst du deine einzige Tochter, deine lebende Erinnerung an Ruja, im Stich lassen?“ Sie sah, dass er sie anstarrte, und innerlich erleichtert stellte sie fest, dass jetzt das Gröbste geschafft sein sollte.

„Saidah…“, stammelte er und erzitterte, und die Geisterjägerin hob sein Gesicht wieder an, das er gesenkt hatte, um ihn anzusehen.

„Ja, Saidah. Dein Kind, der letzte Rest deiner Familie. Du musst sie beschützen und für sie sorgen, das ist deine Aufgabe. Das bist du deiner Frau schuldig, oder…? Ruja kann sich nie wieder um Saidah kümmern. Einer muss für sie da sein… und nicht ich oder Tabari oder Puran, sondern du. Du bist ihr Vater… sie braucht dich noch, Meoran. Sie braucht dich am meisten von allen Menschen auf der ganzen Welt. Mach dir das bitte klar… weglaufen ist… keine Lösung. Willst du Saidah ein schlechter Vater sein?“ Er schüttelte zitternd den Kopf.

„Nein…“ Er sah wieder nach Norden, dann in den Himmel, während die Frau ihn schweigend ansah. Es entstand eine lange Pause, nach der Meoran sich wieder zu seiner Kollegin umdrehte und sich vor ihr verneigte. „Vergib mir, Königin… ich war im Unrecht. Es stimmt, ich… ich muss meine Pflichten erfüllen, so gut ich kann. Das bin ich… Ruja wirklich schuldig.“ Er zeigte ein bitteres Lächeln, Nalani ein ehrliches, als er den Kopf wieder senkte. Schließlich fasste sie vorsichtig nach seinem Arm und strich mit der Hand wohlwollend darüber.

„Sie wird auf dich warten, Meoran. Eines Tages wirst du sie wiederhaben… aber bis dahin bist du Saidahs Vater und in der Welt der Lebenden. Versprochen?“ Er seufzte, als sie zusammen den Weg antraten in Richtung des Palastes.

„Ich verspreche es, Nalani.“
 

Sie schnitten die Leiche nicht auf. Es war unwürdig, einen Toten aufzuschneiden, selbst unter der Aussicht, dadurch herausfinden zu können, was Ruja getötet hatte. Meoran wollte es nicht wissen; es zu erfahren brächte seine geliebte Frau nicht wieder ins Leben zurück, also war es egal. Es war Vergangenheit. Am Abend des Tages verbrannten sie die sterblichen Überreste der Frau im Innenhof des Palastes mit einer würdigen Zeremonie. Meoran selbst war es, der die Fackel auf den Scheiterhaufen war, und während Puran noch dank des Desasters am Morgen fürchtete, sein Lehrer würde gleich mit auf den Haufen springen, war seine Mutter jetzt aber zuversichtlich, dass er klüger geworden war.

„Ich bewundere ihn aber für die Kraft, die es kosten muss, das zu tun…“, murmelte der Sohn darauf nur und senkte bedrückt den Kopf. „Ich… könnte Leyya nie anzünden.“

„Die Bestattung mit Feuer ist eine ehrenhafte Bestattung, eines Königs würdig.“, erinnerte seine Mutter ihn ernst, „Der Rauch wird Rujas Geist ins Geisterreich tragen. Meoran weiß das… es ist wichtig, dass er das tut, und damit den Geistern zeigt, dass er seine Frau loslässt. Das ist die einzige Möglichkeit, die er hat…“ Sie sah in die Flammen, während Puran neben ihr erzitterte und das Haupt gesenkt ließ, um nicht der ganzen Versammlung den Schmerz zu zeigen, der ihm noch immer im Gesicht stand. Es war in diesem Augenblick, dass das Gefühl der bedrohlichen Unruhe zurückkehrte, gemeinsam mit den Bildern, die er jede Nacht wieder und wieder vor Augen hatte. Die Bilder von seinem Großvater, von den Spiralen in der Dunkelheit. Und er hörte das grauenhafte Gelächter der Himmelsgeister in seinem Kopf, als vor seinen inneren Augen ein Bild auftauchte, das er so noch nicht kannte. Da war die Silhouette mit dem bedrohlichen Grinsen seines Großvaters, der fremde Mann, der ihm irgendwie dennoch vertraut vorkam… auf eine böse, falsche Art und Weise. Und zu seinen Füßen am Boden lag Ruja, in ihrem Gesicht und an ihren Kleidern klebte Blut. Dann hob der Fremde den Kopf und Puran sah jetzt zum ersten Mal das Gesicht des Mannes, das dem seines verhassten Großvaters gar nicht unähnlich sah… er hatte die gleichen, bösen Augenschlitze, wenn auch die Farbe der Iriden anders war; und er hatte dieselben Eckzähne.

„Euer ganzer, verdammter Clan wird vernichtet werden, dafür sorge ich, und wenn ich den Allerletzten von euch verfluchten Barbaren töten muss!“

Puran fuhr zurück, als der Mann nach Rujas Kehle griff und die Frau sich zappelnd unter seinem Griff zu winden versuchte.

„Töten… das werde ich euch, ihr Maden, wenn ihr mir nicht zu Füßen kriechen wollt… so wie Ruja… siehst du sie, Lyra? Hörst du sie schreien…? Ich werde euch heimzahlen, was ihr verbrochen habt, Chimalis… und Stück für Stück werde ich euch auseinander reißen, bis eines Tages der ganze Clan im Boden versinken wird… und nie wieder auftaucht!“ Er richtete nach seiner Rede den Blick direkt auf Puran und der Jüngere fuhr erbleichend zurück, als ihn die grünen Augen so voller Bosheit trafen, so voll von Verachtung und Wahnsinn… der Mann bleckte die spitzen Zähne. „Fürchtest du dich, Puran…? Vor dieser Macht, die mir zu Teil wird…?“

„Wer bist du, Fremder?“ , war alles, was der junge Mann keuchend hervor brachte, und er spürte, wie ein grauenhafter Schwindel in ihm aufkam, als Ruja am Boden aufschrie und der Fremde ihre Kehle fester zudrückte. Er lachte nur höhnisch; und plötzlich tauchten aus der Finsternis hinter ihm noch zwei weitere Hände auf, die nach dem Bauch der Frau fassten und ihn mit bloßen Fingern auseinander rissen wie ein Stück rohes Fleisch. Puran erstarrte, als seine Augen gefesselt waren von dem fürchterlichen, widerwärtigen Anblick. In dem Moment, in dem Rujas Schreie verstummten, tauchte Henac Emos Gesicht hinter den blutverschmierten Händen über Rujas Oberkörper auf. Und während der zwielichtige Geisterjäger ein süffisantes Lächeln zeigte, kicherten die Geister in Purans Kopf so laut, dass er nichts anderes mehr wahrnehmen konnte.

„Kleines Vöglein, fliege heim, dein Nestlein brennt, die Kindlein schrei’n… der Schattenmann hat sie… gefressen, ei.“
 

„Emo!“

Puran wusste nicht mehr, ob er es selbst gesagt oder nur gedacht hatte, aber seine Mutter stieß den Namen neben ihm plötzlich mit grauenhafter Verachtung in der Stimme aus, als er plötzlich aus seiner Trance erwachte und sich am Boden des Hofes sitzend fand. Leyya war bei ihm und schüttelte entsetzt seinen Arm.

„Puran?! W-was ist mit dir, du bist plötzlich einfach zusammengebrochen…?!“ Doch er konnte ihr nicht antworten. Sein Gesicht war erhitzt von dem Feuer der Zeremonie, und er suchte keuchend nach seiner Mutter, die neben ihm herum wirbelte.

„Getötet…“, japste Puran nur und Leyya starrte ihn entgeistert an, „S-sie wurde getötet, ich weiß es… ich spüre es, meine Instinkte schlagen Alarm…“

„Wo ist Emo?!“, fuhr Nalani auf und stierte ihren Gatten an, der neben ihr gestanden hatte, und während ihr Sohn sich aufrappelte und versuchte, seine Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen, fragte er sich, ob seine Mutter dasselbe gesehen hatte wie er. Als ihn ihr kalter Blick traf, wusste er, dass es wirklich so sein musste.

„Du hast ihn auch gesehen, habe ich recht… Mutter?“

„Was ist mit Emo?“, fragte Leyya entsetzt, und Tabari war schneller von Begriff als die kleine Heilerin.

„Du meinst, er hat… damit zu tun?!“, keuchte er in Nalanis Richtung, und langsam richtete sich das ganze Augenmerk der Versammlung auf die Gruppe. Meoran war nicht fähig, sich vom Fleck zu bewegen, obwohl er jedes Wort verstehen konnte.

Getötet. Ruja war getötet worden…?

„Was sagt ihr da…?“, stammelte er neben sich und Nalani und Tabari tauschten einen kurzen Blick. Dann fuhr die Frau plötzlich herum und rannte aus der Menge, hinein in den Palast.

„Ich werde ihn finden, den Drecksack, und ich mache ihm verdammt noch mal den Gar aus!“

„W-was zum Geier ist hier los?!“, wollte der König erschrocken wissen, als Tabari entsetzt aufschrie und seiner Frau unverzüglich folgte.

„Warte, Nalani! Das kannst du nicht, verdammt!“ Er rannte auch davon und die verdatterte Trauergemeinschaft warf sich einen fassungslosen Blick zu. Meoran war zu Salzsäulen erstarrt, die kleine Saidah neben ihm schien entweder nichts bemerkt zu haben oder alles um sich herum zu ignorieren, denn sie sah noch immer gebannt in die Flammen, in denen ihre Mutter verbrannt wurde. Dann sprach das kleine Mädchen und Puran fühlte sich plötzlich unweigerlich an den seltsamen Tagtraum erinnert, der ihn eben überfallen hatte.

„Der Schattenmann hat Mutti gefressen, oder…?“ Meoran sah seine Tochter groß an, dann richtete er den Blick auf Puran, der sich jetzt heftig atmend an der Wand hinter sich abstützte.

„Was… hast du gesehen eben?“ Der Jüngere antwortete nicht sofort. Als er es tat, neigte er noch immer schwer atmend den Kopf. Der Schmerz pochte noch immer… die Unruhe kehrte mit aller Macht zurück, und sie wurde stärker, je länger er da schweigend stand. Er fühlte in sich das Bedürfnis, seinen Eltern nachzurennen, zu sehen, wohin die Instinkte ihn dieses Mal treiben würden… vielleicht dorthin, wo es wichtig war. Als er zuletzt die arme Leyya allein gelassen hatte wegen der Geisterstimmen, die versucht hatten, ihm einen Weg zu zeigen, war er am Ende im Schlosskeller gelandet, dort waren die Stimmen verstummt und hatte ihn sitzen gelassen. Und er hatte keine Ahnung gehabt, warum er im Keller war oder wie er dorthin gekommen war. Er war einfach da gewesen…

Die Geister trieben mitunter seltsame Spiele mit ihnen. Manchmal hatte Puran sich in den vergangenen Nächten, in denen er schlaflos im Bett gelegen hatte, gefragt, ob die Geister ihn absichtlich in die Irre führten oder ob sie versuchten, ihm Verborgenes zu zeigen… vielleicht hätte er Dinge erfahren, die Rujas Tod verhindert hätten, wäre er vor einigen Tagen schlauer gewesen.

Der Gedanke brachte ihn beinahe um den Verstand.

„Ich habe Emo gesehen… und in meinem Traum hat er Ruja getötet…“
 

Tabari hatte wenig Mühe, seine rennende Frau einzuholen, und er rannte mit ihr weiter, obwohl er keinen Schimmer hatte, wohin sie wollte.

„Der Koch aus Holia.“, keuchte sie im Laufen, „Er war auch da, in meinem Traum, genau wie Emo! Und sie haben Ruja getötet! Verdammt, Emo hat Ruja auf dem Gewissen, bist du taub, Tabari?!“

„Weißt du das mit Sicherheit?“, herrschte er sie an, „Das ist eine ziemlich üble Unterstellung, das kannst du ihm nicht grundlos anhängen, egal, wie wenig wir ihn mögen! Er ist Teil des Rates und damit verpflichtet, für das Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde zu sorgen, genau wie wir. Wir Schamanen… sind Vermittler zwischen den Sterblichen und den Geistern. Uns kommt eine sehr wichtige Aufgabe zu, Nalani, und Emo weiß das genauso wie du und ich!“

„Denkst du, der schert sich da auch nur einen feuchten Kehricht drum?!“, entgegnete sie, „Wir müssen ihn finden, beeil dich!“ Tabari schnaufte nur; als sie beide um die nächste Ecke des Korridors bogen, hielten sie abrupt inne, denn unerwarteter Weise trat der Gesuchte ihnen schon freiwillig entgegen.

Da stand er, in seinen imposanten schwarzen Umhang gehüllt, und reckte das fahle Gesicht voller Stolz und Gehässigkeit, in seinen Augen lag ein wissender, widerwärtiger Triumph, während Nalani und Tabari ihn nur fassungslos und schwer atmend ansahen.

„Na, so ein Zufall.“, sagte Henac Emo kalt. „Wenn das nicht unser so kluger und selbstbeherrschter Herr der Geister ist… oder eher, der seine Frau so sehr beherrschende Herr der Geister… war es nicht unter deinem Vater noch üblich, seine Frau in Ketten zu legen und zu verprügeln, wenn sie ihren eigenen Willen bekommen hat?“ Tabari kam nicht dazu, zu antworten, denn jetzt platzte Nalani der Kragen. Ohne Schwierigkeiten schnellte sie nach vorn, packte den Mann am Kragen und stieß ihn brutal gegen die nächste Wand, wo sie ihm wutentbrannt die Kehle mit bloßen Händen zuschnürte.

„Du Verräter, du elender Meuchler, du Abschaum! Du widerwärtige Bestie!“, brüllte sie ihn an, „Wie kannst du es wagen, so zu sprechen?! Wie kannst du es wagen, gutzuheißen, was Kelar getan hat, sei froh, dass er tot ist! Du verdammter Mehlwurm, du hast sie umgebracht! Ich weiß, dass du sie umgebracht hast, also grinse mich nicht so an und bereue deine Tat, bevor ich dich in Stücke reiße, du elender, verfluchter-…!“ Emo lachte, obwohl er in ihrem Griff kaum Luft bekam.

„Ja, ja, was sage ich, wie gut hast du sie doch unter deiner Fuchtel, Tabari…? Die blutrünstige Schattenkönigin, man könnte ja meinen, sie wäre das Kind von Kelar und nicht du!“ Nalani nahm eine Hand von seinem Hals und schlug ihm ohne Vorwarnung mit solcher Wucht mitten ins Gesicht, dass er zu Boden ging.

„Du abartiger, widerlicher Abschaum, du grauenhafte Lästerung allen Lebens, du-…!“ Jetzt griff ihr Mann doch ein, als sie erneut nach dem Blut spuckenden Mann schlagen wollte, und er hielt ihre Hand in der Luft fest.

„Nalani, es reicht.“, sagte er bestimmt, aber völlig in Ruhe. Die Frau zischte und bebte vor Zorn und Hass auf den elenden Kerl, der jetzt nach seiner blutenden Lippe fasste und wieder empor sah. Sein Grinsen war verschwunden, der Triumph in seinen schwarzen Augen war aber geblieben. Auf dem Korridor herrschte Stille. „Du streitest nicht ab, was sie sagt?“, lautete dann Tabaris Kommentar, „Dann gibst du es zu? Du hast Ruja also tatsächlich getötet?“

„Ich habe sie nicht getötet, nein.“, sagte Emo und richtete sich langsam wieder auf. Nalani zuckte in Tabaris Griff und verspürte ein so großes Verlangen, dem Verräter auf der Stelle den Kopf vom Hals zu reißen, dass sie sich wirklich zusammenreißen musste, um diese Mordlust zu unterdrücken.

Mordlust… das hatte sie schon einmal ihm gegenüber gespürt, vor vielen Jahren schon. Damals hatte sie sich darüber erschrocken… jetzt war es ihr plötzlich gleich. Sie wusste, dass sie nicht log… die Geister hatten es ihr selbst gezeigt.

„Du hast sie also nicht getötet?“, fragte Tabari scharf, „Schön, und warum sieht Nalani dich dann in Visionen dabei, wie du sie tötest?“

„Wahnvorstellungen, mein Guter.“, grinste der Jüngere und Tabari verengte die Augen zu bedrohlichen Schlitzen. „Sie hasst mich eben so sehr, dass sie nur sieht, was sie sehen will… nicht wahr?“

„Hüte deine Zunge, ich warne dich. Ich sehe, wenn du mir Unsinn erzählst, Henac.“

„Wo ist der Koch?!“, blaffte Nalani ihn an und riss ihre Hand aus der ihres Mannes, blieb aber, wo sie war. „Der Kerl aus Holia?! Dann war er es!“

„Welcher Koch?“, machte Henac Emo grinsend, „Also wirklich, dass du mich beschuldigen würdest, hätte ich mir ja fast denken können, aber Fremde…?“

„Du hast sie vergiftet, verdammt!“, zischte die Frau erbost, „Du arbeitest doch mit giftigen Wurfnadeln! Und er als Koch dürfte sich mit Giften ja auch auskennen, womöglich ist er sogar noch Heiler oder so! Die plötzlichen Schmerzen im Bauch kamen doch nicht von nichts!“

„Woher willst du wissen, wenn ein Heiler sowas können soll, dass es nicht die niedliche kleine Leyya war?“, lachte der Mann, „Immerhin war Ruja doch ihre einzig ernst zu nehmende Konkurrentin, was deinen Schönling von Sohn angeht…“

„Ruja war mit Meoran verheiratet, das hat doch mit Puran nichts zu tun, und mit Leyya schon gar nicht. Rede dich verdammt noch mal nicht heraus!“

„Ja, Ruja war vielleicht verheiratet, aber hält das Puran davon ab, sie zu begehren, wie er es als Junge in Tuhuli getan hat? War er nicht geil auf sie? Ich kann es ihm ja nicht verübeln, Ruja war wirklich eine unglaublich schöne Frau. Schade um sie, eigentlich, und schade, dass solche Frauen immer nur so liebenswürdige Deppen wie Meoran abkriegen.“

„Das reicht jetzt, das ist nicht Grund unseres Hierseins!“, empörte Tabari sich, als Nalani neben ihm wieder zu explodieren drohte. „Wo bist du gewesen? Wo warst du an dem Tag, an dem sie starb? Und was hast du mit dem komischen Koch aus Holia zu tun?“

„Ich habe nichts mit einem Koch zu tun, Tabari.“

„Wäre aber besser für dich, dann könnte er vielleicht dein Alibi bestätigen.“ Jetzt zeigte der Blonde auch ein stumpfes Grinsen und trat einen Schritt vor, um den Jüngeren auch am Kragen zu packen und wieder gegen die Wand zu stoßen, aber sanfter als Nalani es getan hatte. „Ich warne dich nur einmal, Henac… lüge mich niemals an. Niemals, es wird dir schlecht bekommen. Ich bin dein Vorgesetzter und du hast mir zu antworten. Also frage ich dich… wo warst du? Dafür, dass du es bedauerst, dass Ruja tot ist, zeigst du aber wenig Gefühle oder gar Anwesenheit bei ihrer Bestattung…“

„Wo soll ich gewesen sein? Ich war in meinem Zimmer. Beweisen kann ich es nicht, weil ich das Pech habe, keine liebreizende vollbusige Frau in meinem Bett gehabt zu haben, die das bestätigen könnte, gib dich also damit zufrieden, großer Häuptling.“ Tabari sah ihm nur unverwandt ins Gesicht. Nach einer Weile begann Henac Emo schallend zu lachen, bis der Blonde ihn fester packte. „Seht euch doch an, ihr jämmerlichen, ahnungslosen Irren! Ihr lauft herum und versucht mit Hilfe popeliger Visionen, die nur Bruchstücke enthalten, herauszufinden, was mit Ruja passiert ist, und weil ich das schwarze Schaf des Rates bin, bin ich der Schuldige! Ihr solltet euch ansehen… ihr verblendeten Hornochsen! Ihr denkt wohl, ihr seid ganz oben am Ende der Fresskette, was, Tabari? Niemand kann euch zu Fall bringen… und wenn es dennoch geschieht, ist ein böser Dämon dahinter! Früher habe ich auch so gedacht… bis mein Großvater starb, bei dem ich gelebt habe. Damals habe ich begriffen, wir alle sterben. Auch die hübsche Ruja. Und während wir hier leben, sollten wir das Beste für uns daraus machen, oder? Ich habe Ruja nicht getötet… es hätte mir keinen Vorteil eingebracht. Da hätte ich eher Meoran getötet, um dann Ruja ficken zu können, aber andersrum macht es ja wenig Sinn…“ Er lachte wieder und Nalani starrte ihn fassungslos über seine Worte an. Worte voller Torheit und purem Egoismus. Sie verabscheute diesen Mann… sie hatte es immer getan, aber jetzt tat sie es noch mehr als jemals zuvor.

Und sie alle wussten, dass er log.
 

Tabari war die Ruhe selbst, als er den Schwarzhaarigen losließ und dann mit sanfter Gewalt von sich stieß. Mit angewidert verzogenem Gesicht trat er zurück und starrte ihn eine Weile an, ehe er sprach.

„Als ich dich damals in den Rat ließ, dachte ich, du seist ein ehrgeiziger, verbissener Junge, der unbedingt so wie Minar werden wollte. Ich habe mich in dir getäuscht… deine unkooperative Haltung zeugt nicht gerade von Ehrgeiz, und noch weniger tun es die Worte von jetzt, die aus deinem Mund kommen, ohne dass du deinen Verstand einschaltest. Du denkst doch in erster Linie nur an dich selbst… ist es nicht so?“ Der Schwarzhaarige schnaufte.

„Ich sage ja, verblendet. Du warst das ja schon immer. Erst warst du Vatis braver Junge, jetzt bist du der von Nalani, wo ist der Unterschied? Du gehorchst nur, Tabari, merkst du das nicht? Du spielt die Puppenrolle in dieser Geschichte… dabei sollten wir verdammt noch mal Herrscher sein! Herrscher der Geister, ja! Und stattdessen beherrschen sie uns… ist das nicht die verkehrte Welt?“

„Die Geister… die Mächte der Schöpfung sind die einzigen Wesen, denen ich jemals mit Leib und Seele dienen werde.“, sprach Tabari kalt. „Ich habe weder meinem Vater so gedient, noch diene ich meiner Frau. Aber ich bin ein Mensch des Geistes, ein Schamane, dessen Berufung es ist, mehr zu verstehen als das, was einem hilft, zu überleben oder wie man den meisten Profit herausschlagen kann. Du, Henac, hast das offenbar nicht verstanden. Nein, genau genommen… hast du gar keine Ahnung. Du bist kein wirklicher Geistermann.“

„Was du natürlich beurteilen kannst, weil du so weise bist und das auswendig gelernt hast, was Nalani dir nachts im Bett ins Ohr stöhnt, hm?“, kicherte Emo, und ohne ein Wort trat Nalani ihm gegen das Schienbein, worauf er schmerzhaft zischte. Tabari seufzte und senkte die Brauen wieder, als er den Mann grimmig ansah. In seinen Augen war kein Zweifel an seinem Vorhaben; es war das einzig Richtige, wenn sie ihre Gemeinschaft irgendwie schützen wollten.

„Ich verstoße dich hiermit aus dem Rat der Geisterjäger, Henac. Du wirst deines Ranges und Amtes enthoben und wirst aus der Stadt verbannt zur Sicherheit aller Lebenden hier. Ich will, dass du auf der Stelle hier verschwindest und dich dann niemals wieder hier blicken lässt. Falls du zurückkehren solltest ohne eine ausdrückliche Einladung, erwartet dich der Tod.“

Das Grinsen verschwand erneut und jetzt sah der Verräter seinen Ratsführer zum ersten Mal ungläubig an. Nalani sah mit Genugtuung das Entsetzen in seinem Geist wachsen, als Tabari keine Miene verzog.

„Wie bitte?“, machte der Schattenmann dann und war verblüffend gefasst, „Du hast dich wohl gerade intimst mit dem König angefreundet und das vereinbart, was?“ Jetzt hob der Blonde den Kopf und sah ihn von oben herab kaltherzig an.

„Nein, du missverstehst das. Das hat mit dem König nichts zu tun, das ist allein Sache des Rates. Du wirst verbannt aus der Stadt, also packe deine Sachen und verpiss dich für immer von hier. Und ich warne dich nur ein einziges Mal, Henac.“ Er trat zurück, um dem Jüngeren Platz zum Gehen zu machen, aber der rührte sich nicht vom Fleck.

„Ah…“, machte er dann langsam und erkennend, und dann wandte er sich tatsächlich reichlich wenig bedauernd zum Gehen. „Eigentlich… ist mir das egal. Ich habe meine Zeit mit euch ohnehin bloß verschwendet. Wenn du mich jemals wiedersiehst, Tabari, wirst du beten, am heutigen Tag anders gehandelt zu haben… das gilt auch für die anderen Verlierer im Rat. Aber wie du wünschst… großer Häuptling.“

„Nein, wir werden uns nicht wiedersehen, Henac.“, war die hasserfüllte, kalte Antwort. „Wenn es je geschehen sollte… bringe ich dich eigenhändig um. Das verspreche ich dir, Henac.“
 


 

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ich hoffe die formatierung ist jetzt nicht verhunzt, irgendwie veräppelt Word mich gerade... oô naja... okay... Izzy sagt zwar es sei okay, abe rich finde das Kapi irgendwie trotzdem schlecht óo Wir haben Oktober 981.

Das Erlöschen des Feuers

Es war, als hätte sich der Schatten über Vialla verzogen, nachdem Henac Emo aus dem Rat und der Stadt verbannt worden war. Es beruhigte alle irgendwie, zurück blieb nur die Trauer über den Verlust der armen Ruja. Das Licht kehrte zurück in die Stadt, als die Herbstwolken sich auflösten und einen klaren, aber kalten Himmel übrig ließen. Und es erleichterte die Menschen trotz der Kälte, wenn sie nachts die Sterne und Monde sehen konnten, die die dichten, schattigen Wolkenberge bisher verborgen hatten.

„Was immer Emo mit Rujas Tod zu tun gehabt haben mag; ob er nun wirklich mit Schuld hatte oder nicht, er war hier fehl am Platz und es war das einzig Richtige, ihn aus dem Rat auszuschließen.“, war Tabaris Kommentar, als er den anderen Geisterjägern offenbarte, was geschehen war. „Ich hätte das längst mal tun sollen.“

„Was besseres als an allem und jedem Meckern oder dämlich grinsen hatte der doch ohnehin nicht zu bieten.“, kommentierte Tare Kohdar das brummend, und sein Bruder seufzte, während er aus seiner Manteltasche Zigaretten zog und für alle eine Runde ausgab zur Feier des Tages.

„Vorsicht, unterschätzt den lieber nicht… Henac mag ein süffisanter Scheißkerl sein, aber er hat die Prüfung bestanden. Nach den Regeln der Geister ist er Mitglied des Rates… er stammt aus einem namhaften Clan. Wenn er wirklich irgendeine Intrige geplant hat, der bisher nur Ruja zum Opfer gefallen ist – Himmel bewahre, das ist ja auch schlimm genug!...“ Er schenkte Meoran einen bestürzten Blick, als ihm beim Sprechen einfiel, dass das ziemlich pietätlos der Toten und ihrem Witwer gegenüber geklungen haben musste. Meoran nahm nur schweigend eine Zigarette entgegen und zeigte ein bitteres, aufgesetztes Lächeln.

„Eines Tages werden wir ohnehin alle sterben, Barak. Manche früher, manche später, so ist eben das Leben. Es ist eine Krankheit mit hundertprozentiger Sterblichkeitsrate.“ Die anderen Männer schwiegen bedrückt über diese Aussage, während Nalani sich mit der kleinen Saidah und Leyya an den Händen etwas abseits der ganzen Raucher hielt.

„Was ich ursprünglich sagen wollte.“, begann der wenig Ältere dann wieder und rückte verstohlen seine Augenbinde zurecht, „Wenn Emo tatsächlich eine Intrige gegen uns geplant haben sollte, kann er das jeder Zeit weiter verfolgen, auch wenn wir es nicht bemerken. Er ist Schattenkrieger, Tabari… er kann seine Anwesenheit verbergen und sich damit unbemerkbar machen. Selbst du als Herr der Geister wirst ihn dann nur mit Mühe finden…“

„Ja, das ist wahr.“, räumte der Blonde ein, „Auf der Hut sein werden wir natürlich. Aber ich… fühle mich irgendwie erleichtert, jetzt, wo er weg ist. Als hätte man mir einen störenden Stein von der Schulter genommen…“ Die anderen Männer nickten schweigend und stimmten ihm zu. Niemand konnte wirklich benennen, woran es lag… aber es brachte Erleichterung.

Das Leben ging weiter… und der Schatten zog vorüber, um das Licht zurück in die Stadt und die Geister der Menschen zu lassen.

Doch die Ruhe sollte nicht von langer Dauer sein.
 

Leyya seufzte glücklich, als sie den Kopf in den Nacken warf und an die Zimmerdecke sah. Vor ihren Augen sah sie die Flammen, die jetzt ihren Körper erfüllten, und die Hitze, die in ihr hinauf stieg wie kochendes Wasser, als sie auf ihrem Mann saß und sich bewegte, wie sie sich noch nie zuvor bewegt hatte. Als wäre tatsächlich ein Fluch von ihnen allen abgefallen mit Emos Verschwinden, hatte Puran jetzt zum ersten Mal seit diversen Nächten wieder die Ruhe dazu, mit ihr zu schlafen, was beide ungemein beruhigt und erfreut hatte, natürlich besonders den Mann, der jetzt nicht mehr fürchtete, zeitlebens nie wieder mit seiner Frau das Bett teilen zu können, weil sein Körper nicht mitmachte… und es tat wahnsinnig gut, es endlich wieder tun zu können, dementsprechend erhitzt und eifrig waren sie auch bei der Sache. Leyya ließ ihre Hände mir gespreizten Fingern über seinen zitternden Bauch hinab wandern zu der Stelle, an der sie beide vereint waren, und er stöhnte unter ihr laut auf.

„Ich weiß, das ist gut, nicht wahr…?“, grinste sie ihn verführerisch an, den Kopf wieder senkend, und er keuchte ungehalten und packte in plötzlicher Ekstase ihre Hüften, um sie festzuhalten und sie tiefer und inniger berühren zu können, worauf die kleine Frau sich nach vorne beugte. Den Druck auf seinen Unterleib verstärkend ließ sie eine ihrer Hände wieder hinauf auf seine Brust gleiten und ihr entrann auch ein lauteres Stöhnen, als er sie fester an sich zerrte.

„Ernsthaft… noch eine Nacht länger und ich wäre wahnsinnig geworden…“, stöhnte er dabei, während er sie wieder locker ließ und sie sich über ihm in wilden Verrenkungen durchbog im Moment der größten Ekstase, als das Feuer in ihrem Inneren sie endlich ganz und gar zu verbrennen schien. Sie gaben sich ganz ihrem Verlangen nacheinander hin, als sie den Höhepunkt des Feuertanzes erreichten und von den Wellen der Erfüllung hinaus auf die andere Seite des Himmels getragen wurden. Dann lagen sie einander verschwitzt und erfüllt in den Armen und Leyya kuschelte sich verliebt an die nackte Brust ihres Mannes. Er küsste ihre dunklen Haare und grinste zufrieden. „Und ich habe schon gedacht, das würde jetzt ewig so weitergehen… grauenhaft.“ Sie kicherte und sie teilten einen langen, leidenschaftlichen Zungenkuss.

„Ich habe daran geglaubt, dass es wieder wird, mein Liebster.“, gestand sie ihm lächelnd, „Du bist schließlich Puran… du bist der wunderbarste, beste Mann der ganzen Welt… und vor allem bist du mein Mann, hihi!“ Er seufzte leise und erwiderte ihr glückliches Lächeln, als sie einander noch immer erhitzt und leicht aus der Puste losließen und sich auf den Rücken legten, um ein wenig zu Atem zu kommen.

„Ja, das bin ich. Das heißt, du hast mich für immer und ewig an der Backe.“ Sie lachten darüber und Leyya war glücklich, dass sich die ernste Stimmung und die Trauer etwas gelöst hatte. Seit Rujas Tod und seit der Bestattung waren mehrere Tage vergangen. Der Holzmond neigte sich schon wieder seinem Ende zu.

„Ich habe niemand lieber an meiner Seite als dich.“, erklärte sie feierlich, als sie kurz geschwiegen hatten, und setzte sich langsam wieder im Bett auf. Er fuhr sich stöhnend durch die braunen Haare.

„Und das ehrt mich, Leyya… das tut es wirklich.“ Er nahm vorsichtig ihre zierliche kleine Hand in seine und drückte sie sanft, unsicher, was er sagen sollte. Er wollte sie eine Weile einfach nur schweigend betrachten, seine bildhübsche, junge Frau. Ihr niedliches Gesicht, ihre riesigen, dunklen Rehaugen, die sie viel unschuldiger aussehen ließen als sie es war, ihren kleinen, schmalen Körper, der so zerbrechlich wirkte wie der einer Porzellanpuppe… Puran wusste sehr genau, dass sie keine Porzellanpuppe war. Leyya war stark… sie zerbrach nicht so schnell, hatte er gelernt. Und er war froh darüber… was hatte er nicht alles gesagt und getan, was ihr absichtlich oder unabsichtlich wehgetan hatte? Und sie war trotzdem bei ihm… und sie liebte ihn vermutlich mehr als sie jemals irgendeinen Menschen auf der ganzen Welt geliebt hatte. Das ehrte ihn und machte ihn gleichzeitig ziemlich verlegen.

„Was ist los…?“, flüsterte sie zärtlich, als er so lange nichts sagte, und sie legte sich auf den Bauch wieder neben ihn und rutschte dichter heran, eine Hand hebend, um seine Wange zu streicheln. Er sah ihr ins Gesicht und beugte den Kopf herüber, um ihr einen liebevollen, kurzen Kuss auf die Lippen zu setzen.

„Ich habe mich gerade gefragt, wie ich in Worte fassen könnte, was ich für dich empfinde… ich sehe dich so gerne einfach nur an, Leyya… und dann sehe ich dich an und sehe eine wunderschöne Frau, die… viel erwachsener ist als sie aussieht, glaube ich. Und eine Frau, die mir in den vergangenen Jahren so sehr ans Herz gewachsen ist, als… wäre sie schon immer da gewesen. Es ist ganz seltsam, es… ist wie diese Bänder, von denen du einst gesprochen hast.“ Leyya sah ihn aus riesig geweiteten Augen an; Augen voller Stolz, voller Freude über seine lieben Worte, voller bedingungsloser Liebe für ihn. Und nur für ihn, für keinen anderen Menschen der ganzen Welt empfand sie auch nur annähern so viel… Puran lächelte und strich ihr abermals über die Haare. „Verdammt.“, lachte er dann, „Ich kann das nicht in Worte fassen! Ich kann nicht sagen, wie sich das anfühlt, ich weiß nur… dass es… richtig ist. Bei dir bin ich daheim, Leyya…“

Und das Schönste von allem auf der ganzen Welt war, so fand er in dem Moment, Leyyas Strahlen darauf. Sie strahlte, als wäre sie der einzige rundum glückliche Mensch der ganzen Welt. Und es war so schön, wenn sie strahlte… er wollte, dass sie es immer tat.

„Ich liebe dich, Puran…“, wisperte sie und war vor Freude den Tränen nahe, sodass er sie rasch wieder in seine Arme zog und sich mit einem tiefen Seufzen mit ihr herum rollte, sodass er über ihr lag. Die kleine Heilerin schlang zärtlich die Arme um seinen nackten Körper und gab sich seinen Lippen hin, als er sie liebevoll küsste. Als sie dann vorsichtig die Beine spreizte und zuließ, dass er sich dazwischen legte, spürte sie bereits, dass die Flamme in ihren Lenden von neuem aufloderte, während die Hände ihres Mannes zärtlich ihre Brüste umkreisten. „Schlaf mit mir…“, stöhnte sie leise und voller Verlangen nach ihm, sobald er sich von ihren Lippen löste, und er antwortete nicht; dazu brauchte er keine Worte. So presste er sich schweigend dichter an sie und beugte das Gesicht über ihre jetzt hart aufgerichtete Brustwarze, um sie sanft in den Mund zu nehmen, als ihre Finger spielerisch wieder in seine Mitte wanderten.
 

Sie schliefen viermal miteinander. Als sie endgültig erschöpft einschliefen, war die Nacht schon mehr als halb um. Und es war in jener Nacht, dass Puran zum wiederholten Mal das Gefühl bekam, die Geister von Himmel und Erde würden nie einfach so zulassen, dass die Menschen in Ruhe glücklich waren.

Puran träumte einen eigenartigen Traum. Auf dunkler, feuchter Erde tanzte seine kleine Frau nackt im Wind, über ihr ein böse grollender Himmel. Sie wiegte ihren nackten, hübschen Körper sanft hin und her und sah ihn auffordernd an, kicherte mädchenhaft, als sie die Hände nach ihm ausstreckte und ihn festhielt. Und sie tanzten gemeinsam, den gleichen Tanz, den sie noch vor kurzem im Bett getanzt hatten, und sie vereinten sich unter dem grollenden, schwarzen Himmel auf der Haut von Mutter Erde. Als täte er es wirklich wieder, spürte er in seinem Inneren die Erregung wachsen, als er im Traum mit seiner Frau schlief; bis sie plötzlich hinter einer Wand aus lodernden Flammen verschwand, worauf Puran hochfuhr und erschrocken nach ihr rief. Als sie wieder in seinem Blickfeld auftauchte, umarmte sie ihn zärtlich von hinten, die ganze Zeit schweigend; erst jetzt sprach sie, als er sich zu ihr herumdrehte und sie anstarrte. Ihr Bauch war rund geworden von neuem Leben, das darin heranwuchs.

„Ist das nicht wunderschön?“, freute sich die Heilerin und strahlte, „Ein kleines Kind von dir und mir…“ Ehe er etwas erwidern konnte, verschwand die Umgebung um sie herum. Übrig blieb Leyya inmitten von Finsternis, in einer gähnenden Leere schwebend. Und ihre Stimme klang bizarr und verzerrt, als sie fortfuhr.
 

„Freust du dich, Puran?“
 

Er kam nicht zum Antworten, denn Leyya löste sich vor seinen Augen auf, an ihrer Stelle tauchten aus dem Nichts gewaltige Raubkatzen auf, die bestialische Fangzähne hatten. Sie stoben an dem jungen Mann vorbei und keuchend fuhr Puran herum, um ihnen nachzustarren. Die Geister zischten in seinem Kopf, es war ein gemeines, bösartiges Zischen, und er schnappte entsetzt nach Luft. Die Raubtiere jagten geifernd über eine schwarze, blutige Erde, unter dem zornigen Himmel hinweg. Bei näherem Hinsehen erkannte Puran, worauf sie zuhielten; in der Ferne mitten auf der Tundra stand ein kleiner Junge. Ein kleiner Junge, der ihm selbst so dermaßen ähnlich sah, dass der Geisterjäger kurz dachte, er sähe sein jüngeres Selbst; aber ihm wurde schnell klar, dass es hier nicht um ihn ging… er sah sein zukünftiges Selbst, das Kind, das Leyya ihm gebären würde.

Seinen Sohn.

„Lauf weg!“, wollte er rufen und Panik ergriff ihn, als die Raubtiere auf das schutzlose Kind zu rannten, aber es kam kein Ton aus seiner Kehle. Und er war unfähig, sich zu bewegen, er wollte nach vorne hechten und den Jungen beschützen, sein eigenes Kind… aber es kam alles anders.

Das vorderste der Raubtiere kam direkt vor dem Jungen zum Stehen und das Kind und das Tier starrten einander aus giftgrünen Augen feindselig an. Und Puran keuchte, als die Raubkatze plötzlich menschliche Züge annahm; und er erkannte mit Entsetzen die Fangzähne wieder. Die spitzen Eckzähne, die sein Großvater gehabt hatte, der gefürchtete Tyrann Kelar Lyra. Eine grauenhafte, furchteinflößende Gestalt war es, als das Raubtier plötzlich zu Kelar Lyra wurde, dem Jungen gegenüber stehend. Die anderen Raubkatzen ergriffen quiekend die Flucht aus Angst vor der gewaltige Macht des Tyrannen, die Puran beim bloßen Anblick in jede Pore drang und die ihn vor Panik zu lähmen schien. Fassungslos sah er zu, wie sein zukünftiges Kind seinem Großvater gegenüber stand, und das Kind erhob die Arme zum Himmel, gebieterisch und mit der herrischen Art eines mächtigen Magiers. In dem Moment, in dem der Kleine und der grausame Kelar einander so gegenüber standen und beide ihre gewaltige, furchtbare Macht in den Himmel ergossen, vereinten sich die gewaltigen Windgeister mit den Bewegungen des Kindes, und es drehte den Kopf, um herrisch empor zu starren und den Mund für einen Tod bringenden Zauber zu öffnen… und Puran hatte das Gefühl, ihm bliebe das Herz stehen.

Das Kind hatte dieselben, grauenhaften Eckzähne wie der Großvater.

Das Bild aus dem Traum und aller Schrecken zerplatzten mit einem furchtbaren Krachen, das die Erde erschütterte, und aus heiterem Himmel durchfuhr ein grauenhafter Schmerz Purans Körper, als er die Augen aufschlug und plötzlich wieder in der Wirklichkeit war.
 

Er fragte sich kurz, ob er wohl geschrien hatte. Aber als er sich schweißgebadet im Bett aufsetzte und auf seine schlafende Frau sah, war er beruhigt. Zumindest hatte er sie nicht geweckt. Er betrachtete Leyya mit noch immer pochendem Herzen, wie sie nackt neben ihm lag und selig schlief. Sein Blick fiel auf ihren flachen Bauch. Er suchte panisch nach irgendeiner Veränderung… war sie komisch gewesen in der letzten Zeit? Anders als sonst? Er konnte sich nicht erinnern… verdammt!

Stöhnend raufte er sich die Haare. An Schlaf war nicht mehr zu denken, so aalte er sich aus dem Bett und zog sich schnell und so leise wie möglich an, um sie nicht zu wecken. Er musste hier raus… er musste an die frische Luft. Die Angst schnürte ihm noch immer die Kehle zu… jetzt ergab plötzlich so vieles einen Sinn. Jetzt ergab es Sinn, dass er die ganze Zeit noch von seinem Großvater träumte, dass er ihn immer noch fürchtete… irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm, dass sie den Geist des Tyrannen nicht so los waren, wie sie es gerne gewesen wären.

Er würde zurückkehren… auf eine abstruse, grausame Weise, und er würde sie alle vernichten. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, diese Frau zu heiraten? Vielleicht hatten die Geister ihm ja von Beginn an nur Streiche gespielt…

„Ja, genau, lauf zu ihr hin! Lauf und nimm die Frau, die wir für dich erwählt haben!“ , hörte er sie in seinen Wahnvorstellungen zischen, während er Hals über Kopf aus dem Zimmer stürzte, den Korridor entlang, die Treppen hinab, irgendwie hinaus. „Nimm sie und pflanze ihr deinen Samen in den Bauch, damit sie den einzig wahren Erben der Geister wiedergebären kann… dem einzigen, dem wir jemals vollständig dienen werden, denn ihr anderen seid nur Würmer… nur Staub und Luft!“

„Nein!“, japste Puran und glaubte, er würde vor Panik wahnsinnig werden. „D-das ist so nicht, das ist eine Lüge! Ich werde nicht zulassen, dass das passiert, niemals! Ihr könnt… ihr könnt nicht so mit mir spielen! Ich bin ein Geisterjäger, ich bin ein Schamane! Und ihr habt meinen Befehlen Folge zu leisten, ihr schlüpfrigen, verfluchten-…!“ Er hielt sowohl im Rennen als auch im Fluchen inne, als er den Innenhof erreicht hatte und feststellte, dass er nicht allein dort war. Auf der Treppe sitzend fuhr die Frau zu ihm herum und starrte ihn verblüfft an.

„Du liebe Güte, was hat dich denn angegriffen?“ Puran japste erneut.

„Mutter…?“
 

Nalani war beunruhigt über den Wahnsinn in seinem Gesicht, als er so zerzaust und völlig neben sich hinter ihr stand und sie anstarrte, als wäre sie von den Toten auferstanden. Er sah grauenhaft aus, aschfahl im Gesicht und plötzlich scheinbar um Jahre gealtert.

„Komm zu mir.“, bot sie ihm dann ruhig an, und er bewegte sich erst zögerlich, dann setzte er sich aber neben sie auf die Stufen, die hinab in den Hof führten. Es war kalt draußen… die Sonne ging beinahe auf. Puran fuhr sich ein paar Mal mit den Händen über das Gesicht und zitterte, als seine Mutter ihn schweigend musterte. „Was ist passiert?“, fragte sie ihn dann, „Hattest du einen Alptraum?“ Seine Reaktion war weitaus heftiger als sie geahnt hätte, als er plötzlich fast in Tränen ausbrach und in sich zusammensackte wie ein zu früh aus dem Topf genommener Hefekloß.

„Alptraum?! Alptraum, mein ganzes Leben ist ein Alptraum! Die Geister verarschen mich, Mutter! S-sie tun das alles nicht, um uns zu schützen oder zu leiten, es ist alles Großvaters Schuld! Großvater, verdammt, ich habe so panische Angst, dass ich fast sterbe im Moment!“

„Großvater?!“, fuhr Nalani verblüfft auf, „Du hast von ihm geträumt?“ Er jammerte und starrte sie in wilder Panik an, ergriff ihre Arme und schüttelte sie heftig.

„Er kommt wieder, sein Geist ist nicht vernichtet, ich weiß es! Er wird wieder zurückkommen, Mutter, u-und wir werden alle Opfer der Spielchen der Geister! Mein Leben lang habe ich diese Furcht, immer und immer wieder wurde ich daran erinnert, a-aber heute Nacht… d-du hättest das sehen sollen, es… d-das ist nicht möglich! Es ist grauenhaft, ich weiß es!“ Nalani senkte kurz die Brauen, als er aufhörte, sie zu schütteln, sich stattdessen wieder hysterisch wimmernd durch die Haare fuhr und wie ein wütendes Kind mit den Füßen auf der Stufe herum stampfte, während er saß.

„Ja, das denke ich auch… ich fürchte, Kelars Geist ist tatsächlich wieder in dieser Welt… ich träume auch oft von ihm, wieder und wieder, und ich habe mich gefragt, wieso.“

„Ja, ich auch!“, keuchte er und schien sich allmählich etwas zu fassen. „Heute Nacht kam mir plötzlich die Erkenntnis, ich weiß, wie es passieren wird! E-es ist mein Kind, es ist verdammt noch mal mein Kind!“ Der Blick, den er darauf erntete, verblüffte ihn.

„Dein Kind?“, fragte Nalani scharf. „Du hast von… deinem Kind geträumt?“

„Es… es war mein Sohn… meine Instinkte haben es mir gesagt, ich weiß es, Mutter.“

„Du meinst, ein Sohn von dir und deiner Frau?“

„Na ja, natürlich… u-und es war fürchterlich, aus den Raubtieren kam plötzlich Großvater heraus und…“ Nalani unterbrach ihn kalt.

„In deiner Vision gab es Raubtiere und einen Sohn von dir und Leyya? Und Kelar? Sprich nicht weiter, dann haben… wir denselben Traum gehabt. Ich habe das gleiche gesehen, eben gerade.“
 

Puran blieb der Mund offen stehen. Er blinzelte und suchte nach Worten. Als er sie fand, war seine Stimme ganz zittrig.

„Moment… du hast es auch gesehen? Warum… warum sitzt du hier so ruhig?! Ist dir klar, was das bedeutet?! Du hast gesehen, dass mein Sohn dieselben Zähne hatte wie Großvater! Und denselben, grausamen Blick! Das Kind ist es, das den Geist von Großvater wieder in diese Welt bringen wird… d-das ist furchtbar!“ Seine Mutter schien seine Panik nicht zu teilen.

„Wovon redest du?“, schnarrte sie, „Wer sagt, dass es so sein wird? Dass es so kommt, ist absolut unmöglich, es sei denn, du wärst so dumm, deinen Sohn Kelar zu nennen, und das wirst du wohl kaum.“

„Aber die Windgeister… sie haben ihm gehorcht… sie haben sich zusammengetan, das Kind und Großvater waren eins, wie ein und dieselbe Person…“

„Die Winde haben dem Jungen gehorcht, ja. Aber er hat der Bestie gegenüber gestanden und sie damit zerschmettert.“

„Was? Bei mir hat es nur den ganzen Traum zerschmettert… du kannst doch nicht so optimistisch denken! Ich glaube, dieser Junge wird uns alle töten, wenn er zur Welt kommt! Ich… ich kann nicht zulassen, dass das geschieht!“

„Die Geister schicken uns Visionen der Zukunft, Puran.“, erwiderte seine Mutter bestimmt, „Aber sie zu deuten ist Aufgabe der Schamanen. Und wir beide sind offenbar verschiedener Meinung. Du sagst, der Junge wird uns vernichten; ich sage, er wird Kelars Geist vernichten. Das ist ein verheerender Unterschied.“

„In der Tat!“

„Ich kann dir nicht sagen warum, aber ich habe schon seit längerem das Gefühl, dass Kelar hier präsenter ist als er sein sollte. Wenn, dann ist sein Geist, so fürchte ich, schon lange wieder in dieser Welt, das heißt, mit einem Sohn von dir hat das gar nichts zu tun.“

„Das ist ein Bauchgefühl, das beweist gar nichts!“, entrüstete er sich, „Was, wenn ich recht habe?! Ich kann doch nicht zulassen, dass Leyya ein Kind von mir kriegt, wenn ich weiß, dass es die Familie vernichten wird!“

„Du irrst, Puran.“, war die kalte Antwort seiner Mutter und er schnaubte empört, als sie ihn so grimmig anstarrte. „Es ist das Gegenteil der Fall; wenn dieses Kind nicht geboren wird, gibt es vielleicht niemanden, der fähig ist, Kelars Geist zu vernichten! Sei nicht so stur und tu, was ich dir sage.“

„Stur?!“ Er erhob sich jetzt und taumelte kurz, als ihm vom plötzlichen Aufstehen kurz schwindelig wurde. „Entschuldige mal, du kannst dich genauso gut irren wie ich! Wenn ich recht habe, ist das das Ende des ach so großartigen Lyra-Clans, wenn ich zulasse, dass Leyya ein Kind bekommt! Und du bist bereit, das alles zu riskieren, nur für den Fall, dass ich mich eventuell irre? So herum ist es sicher! Irgendwer wird sich schon finden, der Kelars Geist zerstört, und wenn ich es selbst tun muss – wenn ich recht behalte, wird er gar nicht erst geboren, Mutter!“ Nalani lachte ihn schallend aus und versetzte ihm damit einen tiefen Stich, ehe sie sich auch erhob und ihn mit herablassendem Stolz anblickte, obwohl er bereits einige Zoll größer war als sie.

„Du willst Kelars Geist bezwingen, Puran Lyra?“, schnarrte sie, „Du? Du bist ein talentiertes Zauber-Genie, das macht dich aber noch lange nicht zum Herrn der Geister. Mit deiner… ewigen Panik würdest du doch eher davonlaufen als ein Schwert gegen deinen Großvater zu erheben… denkst du wirklich, es wäre so einfach?“

Er schnappte fassungslos nach Luft über diese Demütigung. Kurz spürte er in sich, zutiefst in seinem männlichen Stolz verletzt und wutentbrannt, das Bedürfnis, sie dafür zu schlagen. Sie war seine Mutter! Sie hatte ihn geboren, gesäugt und aufgezogen, alles, was er war, war er teilweise auch ihretwegen oder um ihretwillen! Und vor allem hatte er sie immer geliebt, so sehr ein Sohn seine Mutter nur lieben konnte… wie konnte sie da so über ihn sprechen? Er unterdrückte die aggressive Ader in seinem Inneren gekonnt, ballte aber zitternd vor Wut und ob der Demut die Fäuste. Nalanis Blick wurde sanfter, als er zwei Schritte rückwärts trat, aber sie sprach nicht. Kein Wort der Entschuldigung… kein abschwächendes ‚Du weißt, warum ich das sagen muss, mein Kind’.

Gar nichts kam.

Er zischte, als die Aggressivität in ihm jetzt einer grauenhaften Enttäuschung wich, und Nalani beobachtete schweigend, wie er innerlich in sich zusammenbrach und wie sein Gesicht sich verzog, als er beinahe wieder zu weinen begonnen hätte vor Wut. Sie wusste, dass sie ihn verletzt hatte… aber wenn er nicht einsichtig wurde, würden sie alle einen bitteren Preis dafür zahlen. Wäre Puran noch ein Kind gewesen, ihr kleiner, anhänglicher Junge, der bei jedem Mucks jammernd unter ihrem Rock verschwunden war, der bei jeder Gelegenheit Muttermilch und ihre Liebe als Mutter aus ihrer Brust gesaugt hatte, dann wäre alles leichter gewesen… dann wäre es leichter gewesen, ihn zu überzeugen. Aber er war jetzt erwachsen und entschied selbst, was er tat… und wenn er sich irrte und falsch entschied, musste er die Konsequenzen tragen. Nalani schmerzte der Gedanke, ihn nicht auf ewig beschützen zu können.

„Wir werden sehen…“, schnappte er da und sie bemühte sich, ihre kalte Fassade aufrecht zu halten, obwohl es ihr leid tat, wie seine Stimme brach beim Sprechen. „Du magst die Königin der Schamanen sein, Mutter… aber du bist nicht unfehlbar! Merk dir das… du törichte Närrin!“ Mehr vermochte er ihr nicht ins Gesicht zu werfen, auch wenn bei seinem Zorn die abscheulichsten Schimpfwörter auf seiner Zunge gelegen hatten.

Sie war seine Mutter… und er klammerte sich immer noch so sehr an sie. Er könnte sie niemals wüst beschimpfen. Wutentbrannt zischend machte er Kehrt und stampfte davon, zurück in den Palast, aus dem er gekommen war. Nalani blieb zurück und seufzte beunruhigt, ehe sie sich wieder hinsetzte und schweigend den Sonnenaufgang beobachtete.

„Ihr Geister von Himmel und Erde… sprecht mit mir…“, befahl sie dumpf, „Bin ich denn so im Unrecht, wenn ich mein Kind vor Dummheiten beschützen möchte? Bin ich eine schlechte Mutter gewesen…? Dann tut es mir leid…“

Die Geister antworteten ihr nicht, und die Frau vergrub zitternd den Kopf in den Armen, die Beine anziehend, und schottete das wärmende Sonnenlicht von ihrem Leib und ihrem Geist ab.
 

Leyya stand vor einem Mysterium. Und wie jedes Mal, wenn es je so gewesen war in ihrem Leben, ging es um Puran. Sie hatte keinen Schimmer, was ihm über die Leber gelaufen war, aber als sie am Morgen aufwachte, guter Laune ob der schönen vorangegangenen Nacht, war er nicht mehr im Bett. Sie fand ihn in der Wohnstube der Gemächer, wo er, bereits fertig angezogen und gekämmt, wütend fluchend auf und ab stampfte. Auf Fragen von ihr reagierte er gar nicht, was sie ärgerte, aber sie beschloss weise, ihn in Frieden zu lassen. Vielleicht hatte er einen schlechten Tag… das würde schon vergehen. Es tat ihr nur leid um ihre schöne gute Laune, die bei seinem wütenden Anblick wie eine Seifenblase zerplatzt war.

Und wenn die Heilerin geglaubt hatte, es wäre nur eine Laune ihres mitunter ziemlich grimmigen Mannes, hatte sie sich geirrt, den die nächsten Tage machten es nicht besser, sondern immer schlimmer. Er sprach selten mit ihr, und wenn sie es wagte, ihn zu fragen, was denn eigentlich passiert sei, fuhr er ihr barsch über den Mund, statt ihr zu antworten. Die kleine Frau war verzweifelt; was hatte sie denn falsch gemacht? Wenn er so mit ihr umging, war es sicher ihre Schuld… aber wofür sollte sie sich entschuldigen, wenn sie nicht gesagt bekam, was sie getan hatte, das ihn so erzürnte…? In den ersten Nächten kehrte er ihr nur den Rücken. Dann begann er irgendwann, nachts gar nicht mehr bei ihr zu liegen, sie hatte keine Ahnung, wo er schlief, in seinem Bett jedenfalls nicht. Das war der Moment, in dem Leyyas Furcht, etwas Falsches getan zu haben, in Zorn umschlug.
 

„Was machen eigentlich die Zuyyaner? Sind die eingeschlafen am Fluss oben?“, fragte Neron Shai, als sie am letzten Tag des Holzmondes eine Ratssitzung mit den Königen, den obersten Generälen und dem Senat abhielten. Der junge Mann erntete von einigen amüsiertes Gelächter, der König von Kisara räusperte sich.

„Das fragen wir uns auch. Wie die Späher berichten, sitzen sie in ihrem Lager herum…“

„Vermutlich brüten sie irgendetwas Furchtbares aus!“, sagte einer der Generäle scharf, „Seit Monden belagern sie unsere Hauptstadt schon, irgendetwas tun sie hinterrücks, das uns dann endgültig von den Beinen reißt. Wir sollten sie zerschlagen, bevor sie Gelegenheit bekommen, ihr Ei zu Ende zu brüten!“ Zustimmendes Gemurmel. Tabari seufzte.

„Bei allem Respekt, Herr, ob das so leicht ist? Das Lager der Zuyyaner ist riesengroß. Sie frontal anzugreifen wäre ziemlich riskant. Sie sind nicht dumm und sie haben genau wie wir Möglichkeiten, sich vorher zu informieren, was passieren wird. Wo wir unsere Visionen haben, haben die ihre Seelenkugeln, diese Monsterdinger, die Leute schlachten, ohne dass sie bluten.“ Die Männer sahen sich abermals murmelnd an, Nalani senkte bitter den Kopf, während ihr Mann sprach. Sie linste zu ihrem Sohn herüber, der noch grimmiger als sie auf die Tischplatte stierte, als wollte er sie mit bloßen Blicken zerstören.

Töten ohne dass sie äußerlich verletzt werden… das ist eine grausame Sache.

„Vergebt mir, Herr, wenn ich Euch widerspreche.“, warf ein anderer der Generäle dann ein und sah Tabari kurz an, „Aber wenn wir aus der Offensive angreifen und sie überraschen, haben wir einen klaren Vorteil. Und wir haben jetzt die Armeen von Kisara, Senjo und Intario vereint hier. Ich sage, wir stürmen das Lager und vernichten sie schneller als sie gucken können, Majestät.“

„Das ist Wahnsinn!“, keuchte Barak Kohdar auch, „Die lassen sich nicht überraschen!“

„Was sollen wir stattdessen tun? Sollen wir hier sitzen und warten bis sie uns überrennen? Das geht zu lange so, wenn dieser Krieg noch ewig geht, sind unsere Männer irgendwann ausgezehrt und schwach von den langen Jahren! Eins ist klar, Majestät, einen langen Krieg gegen die Zuyyaner gewinnen wir niemals. Einen schnellen Kampf vielleicht. Die Magier haben recht, es wäre riskant… aber ebenso riskant ist es, abzuwarten, was sie als nächstes tun.“ Der König blinzelte und die anderen anwesenden Männer und Nalani tauschten jetzt eine Reihe von unsicheren Blicken aus.

„Zumindest würde es dem Volk nur zu Gute kommen, wenn der Krieg bald vorbei wäre.“, brummte Puran dann, und Tabari schnaufte.

„Wäre, ja. Wer sagt, dass wir es so beenden? Majestät, bei allem Respekt… das wird nicht funktionieren.“

„Heißt das, Ihr wollt Euch weigern, sie anzugreifen?“, war die Entgegnung des Militärs und der Herr der Geister verneigte sich.

„Ich werde mich dem fügen, was mir befohlen wird. Und der Rat der Geisterjäger wird mir folgen, darauf gab ich einst mein Wort. Ich halte es dennoch nicht für die beste Idee, sie einfach im Lager anzugreifen. Mir kommt es vor, als würden wir in eine offene Falle rennen.“ Er wandte sich an den König von Kisara. „Was gedenkt Ihr zu tun, Majestät?“ Jetzt richteten sich alle Blicke erwartungsvoll auf den König, der eine Weile schwieg. Als er das Haupt wieder erhob, lag in seinen Augen keine Unsicherheit mehr.

„Dann werden wir gehen und es ihnen zeigen. Das Versteckspiel ist vorüber… sollen sie sehen, wo sie bleiben, diese elendigen Schurken! Das ist verdammt noch mal unser Land… und wir machen keine halben Sachen. Vor Sonnenaufgang ziehen wir nach Zarimia!“
 

Als Puran in sein Zimmer zurückkehrte, nachdem die Versammlung beendet war, hoffte er eigentlich darauf, ein bisschen Ruhe zu finden, aber er hatte sich darin getäuscht. Leyya erwartete ihn, als er eintrat, und sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie wütend war. Er wusste, warum sie wütend war, und es tat ihm leid… aber was sollte er machen? Er durfte nicht zulassen, dass sie ein Kind bekam… als sie sich vor ihm aufbäumte in voller Größe, bereute er seine Entscheidung sehr. Sie war hübsch… sie war hübsch und so unschuldig. Sie konnte nichts dafür, dass er träumte… es war nicht gerecht, es an ihr auszulassen, das wusste er.

„Entschuldige, Leyya, ich habe jetzt keine Zeit.“, sagte er kalt und versuchte, an ihr vorbei ins Bad zu gelangen, aber sie stellte sich ihm in den Weg.

„Einen Moment, Herr Lyra!“, zischte sie, „Hast du mir nicht etwas zu erklären? Warum du so grauenhaft scheußlich zu mir bist in letzter Zeit? Und wo du die letzten Nächte warst?“ Er zuckte vor Schreck zusammen.

Oh nein… das hatte sie jetzt bestimmt falsch aufgegriffen. Er kam erst jetzt auf die Idee, dass es aussehen musste, als treibe er es mit einer anderen Frau… was natürlich nicht der Fall war. Er hatte bei Meoran übernachtet, da lief er nicht Gefahr, die arme Leyya aus Versehen doch zu schwängern…

„Leyya, es ist nicht das, was du denkst.“

„Was willst du wissen, was ich denke, du redest ja nicht mal mehr mit mir!“, fuhr sie ihn an und er zischte, als sie immer lauter wurde. „Was ist los mit dir?! Kein Wort hast du gesagt, was passiert ist, du bist seit Tagen schlecht gelaunt und komisch! Würdest du mir also bitte endlich sagen, was du hast, verflucht?! Du kehrst mir schon wieder den Rücken, nennst du das etwa Ehe? Da können wir doch gerade wieder und dann sowas…“

„Leyya, es tut mir leid, dafür habe ich einfach gerade keine Zeit, versteh das bitte.“

„Das ist doch Humbug!“, blaffte sie ihn an, und als er die Augen verdrehte und sich an ihr vorbei drängelte, packte sie seinen Ärmel und zerrte ihn zurück, ihn wütend ansehen. „Spuck endlich dein Problem aus, Puran!“ Er riss sich jetzt ebenfalls verärgert los.

„Verdammt, Visionen! Reicht dir das?! Diese Träume bringen mich um den Verstand und ich habe Pflichten, Frau! Ich kann nicht die ganze Nacht bei dir liegen und Spaß haben!“

„Bis vor kurzem konntest du das sehr gut. Was hat dich verändert? Sag es mir… bitte.“ Sie wurde wieder leiser und Puran senkte bedrückt den Kopf, als sie ihn losließ und ergeben das Gesicht wegdrehte. Dann seufzte er und zog ihr Kinn mit den Fingern zärtlich wieder zu sich herum.

„Diese Vision, die ich sah… handelte auch von dir. Von… uns… indem ich mich von dir fernhalte, versuche ich nur, dich zu beschützen, Leyya. Es gab… es gab ein… Kind… von uns… und dieses Kind… wird ein böses, schlechtes Kind sein, ein Kind mit dem Geist meines Großvaters. Deshalb… kann ich nicht zulassen, dass es dazu kommt. Deshalb… kehre ich dir den Rücken, Leyya. Lass mich jetzt los und geh.“ Sie starrte ihn an, während er ihr abermals den Rücken kehrte, jetzt ins Badezimmer ging und genervt anfing, sich zu kämmen.

„Ein Kind? Du hast gesehen, dass wir beide… ein Kind haben?“, wisperte sie fassungslos, und er sagte nichts. „Und du… du willst… verhindern, dass es geboren wird?“

„Ja, so ist es. Du kanntest meinen Großvater nicht, aber ich habe dir oft genug gesagt, dass er böse war. Er darf nicht wieder zurück in diese Welt, um keinen Preis. Vergib mir, Leyya… vielleicht…“ Er senkte jetzt bitter den Kopf und sie schauderte, als er abermals seufzte. „Vielleicht war es falsch, dich geheiratet zu haben.“
 

Die Heilerin reagierte anders als er geahnt hätte. Sie stampfte ins Badezimmer, zerrte ihn gewaltsam herum und zwang ihn damit, sie anzusehen; als er es tat, gab sie ihm eine schallende Ohrfeige.

„Hörst du dich mal reden?!“, fauchte sie, als er sie fassungslos anstarrte, „Wo ist der Mann, den ich geheiratet habe, den ich liebe?! Bis vor ein paar Tagen war er noch da! Welche Dämonen besitzen dich, Puran, dass du sowas überhaupt nur denkst?! Wir beide gehören… doch zusammen! Außerdem, woher willst du sichergehen, dass ich nicht längst schwanger bin? Ist ja nicht so, dass wir nie miteinander geschlafen hätten…“ Er starrte sie an.

„Moment, du bist schwanger?!“

„Nein, du Idiot, bin ich nicht!“, rief sie, „Aber ich sehe nicht ein, nie Kinder haben zu dürfen, weil du plötzlich paranoid wirst! Wie soll denn dein Großvater in unserem Kind wiedergeboren werden? Ich werde mein Kind schon nicht nach ihm benennen, Puran!“

„Das weiß ich, aber dann wird der böse Geist irgendwelche anderen Wege finden! Ich habe es doch gesehen, verdammt!“ Er schnappte empört nach Luft, als sie auf ihn zutrat und ihn rückwärts stieß, bis er gegen die Badewanne stolperte.

„Ich bin aber nicht bereit, mein Leben kinderlos zu fristen, Puran.“, erklärte sie bestimmt, „Und bevor du wieder mit sowas anfängst, nein, ich will keinen anderen Mann! Ich will dich, und ich will nur mit dir Kinder! Ich wünsche mir so sehr eine große Familie mit vielen Kleinen, die um uns herum laufen und glücklich sind… du wirst sehen, wenn wir sie liebevoll großziehen, werden sie schon keine Bestien werden wie dein Großvater!“

„Du denkst, es wäre so einfach?“, brummte er und sie schnaubte, als er sich wieder aufrichtete, um bedrohlicher zu wirken. „Du verstehst wohl den Ernst der Lage nicht, Leyya. Mein Großvater hat hunderte, wenn nicht tausende von Menschen ermordet, er war kaltblütig, machthungrig und wahnsinnig! Willst du so ein Kind erziehen? Ein Kind mit denselben, fürchterlichen Zähnen einer Bestie?“

„Ja, das will ich.“, sagte sie, und er starrte sie an. „Solange es dein Kind ist, werde ich es mit allem lieben, was ich habe. Und du wirst mich auch nicht davon abbringen können, egal, was du sagen magst. Ich bin deine Frau… wir sind eins, vor den Augen von Vater Himmel haben wir das bezeugen lassen. Du wirst mich nicht so einfach los, Puran, vergiss es!“ Er sah sie an und seufzte leise.

Wie gerne hätte er sie in die Arme geschlossen? Wie gerne hätte er zugelassen, dass alles einfach wieder gut wurde…? Aber die Angst in ihm davor, dass Kelar wieder zurück in diese Welt kehren würde, war zu groß… das Risiko war zu heftig, das er eingehen würde. Wie sollte er das reinen Gewissens verantworten?

„Ich kann das nicht, Leyya.“, sagte er so dumpf und sie weitete die Augen, als er sich abermals an ihr vorbei schob und das Bad wieder verließ. „Ich bewundere deinen Ehrgeiz. Aber so geht es nicht… wenn du Kinder willst, such dir wen anderes. Wenn du bei mir bleiben willst, wirst du damit leben müssen, dass wir niemals Kinder haben werden. Du hast die Wahl… es tut mir leid, dass ich dir Kummer bereiten muss. Ich versuche nur, dich zu beschützen…“ Er lächelte bitter, als er ihr flüchtig über den Kopf strich und dann die Gemächer verließ. „Ich würde sterben, wenn dir etwas zustieße wegen meiner Fehler…“ Dann ging er und ließ sie allein. Und die junge Frau senkte den Kopf und versuchte mit aller Kraft, die sie hatte, die Tränen zurückzudrängen, die ihr kamen…

Sie wollte nicht weinen. Nicht seinetwegen… aber sie konnte doch nicht anders…
 

Der Angriff auf das Lager der Zuyyaner war ein Desaster, wie Tabari es vorhergesagt hatte. Zuerst schlugen sie sich gut und offenbar hatten sie die Feinde tatsächlich überrumpelt mit der plötzlichen Offensive. Doch die Zuyyaner fassten sich schneller wieder, als den Kriegern lieb sein konnte, und nicht einmal die Hälfte des Lagers war zerstört, nicht einmal ein Achtel der Armada vernichtet, als sie zurückschlugen. Weit über hundert der Angreifer verloren ihr Leben, als der König von Kisara zum Rückzug blies, und sie ließen die Flachländer von Zarimia brennend hinter sich zurück. Puran vergaß nie den Blick des blonden Generals der Zuyyaner, dem er jetzt seit Ewigkeiten zum ersten mal wieder Auge in Auge gegenüber gestanden hatte; ein Blick voller Scharfsinn und Skepsis, als versuchte der Mann genau abzuschätzen, mit wem er es eigentlich immer wieder zu tun hatte. Der General der Zuyyaner mit dem seltsamen Helm war ein weitaus besser organisierter und listigerer Mann als die Generäle aus Kisara oder Senjo es waren, hatte Puran das Gefühl…

Der Blonde wusste, was er tat. Die Generäle von Tharr schienen sich da nicht so sicher zu sein, wenn man diesen wahnwitzigen Angriff betrachtete. Puran hatte keine Ahnung vom Militär und eigentlich interessierten ihn Kriegsstrategien nicht. Aber wenn er eines im laufe seines Lebens gelernt hatte, dann war es, seine eigene Macht einzuschätzen und die des Gegners. Und wenn der Gegner zu groß für ihn war, dann musste er andere Wege finden…
 

Der Mond der Stürme brachte Regen über das Land, der die Brände auf den Feldern des Krieges löschte. Hatten sie nach Emos Verschwinden kurz Luft holen können, so kehrte die Ungewissheit über die Zukunft jetzt mit aller Macht zurück. Nervös kauerten die Menschen in Vialla und nichts änderte sich. Die Zuyyaner belagerten noch immer das Hochland; was nördlich davon lag, Anthurien, die nördlichen Kreise von Kadoh und Dokahsan, war gefallen und vermutlich unter der Vorherrschaft der Eindringlinge; so genau vermochte das keiner zu sagen.

Nalani hätte viel darum gegeben, ihre Schwiegermutter bei sich haben zu können. Salihah hatte einst gesagt, sie, Nalani, würde ihren Posten als Seherin übernehmen müssen. Eine zeitlang hatte sie auch gedacht, sie könnte zumindest nach bester Möglichkeit tun, was die ältere Frau verlangt hatte; jetzt merkte sie, dass sie der Verantwortung nicht so gewachsen war, wie sie es gerne gehabt hätte.

„Meine Augen werden schlecht, oder?“, brummte sie wenige Tage nach dem missglückten Angriff auf das zuyyanische Lager, als sie auf dem Sofa in ihrer Wohnstube lag und apathisch gegen die Decke starrte. „Jetzt weiß ich… wie deine Mutter sich vorgekommen sein muss kurz vor ihrem Tod.“ Tabari saß auf einem Sessel der Couch gegenüber und hob jetzt den Kopf.

„Na, hör mal, davon bist du ja hoffentlich noch etwas entfernt.“

„Wer weiß? Wir sind hier im Krieg. Du und ich, wir könnten genau wie alle anderen hier schon morgen fallen. Oder in vielen Jahren erst… wann endet das, Tabari?“ Er antwortete nicht. Dann senkte er seufzend den Kopf wieder.

„Was versuchst du denn zu sehen?“

„Dein Vater verschwindet immer noch nicht aus meinem Kopf. Was, wenn sein Geist wirklich irgendwie zurück in die Welt gekehrt ist? Hast du dieses Gefühl nicht…? Diese… innere Unruhe, ganz tief in deinem Inneren, dass irgendetwas nicht so ist, wie es sein sollte…? Kelar sollte tot sein für immer, wir haben seinen Körper in den Undim geworfen. Wie kann sein Geist zurückgekehrt sein?“

„Das weiß ich nicht… haben die Geister dir nicht geantwortet?“

„Das tun sie ungern in letzter Zeit. Ich sorge mich… die Zustände hier sind schlecht. Und ich meine nicht nur die Zustände von Vialla oder dem Zentrum… der strahlende Glanz von Tharrs einst glorreichem zentralen Reich steht auf Messers Schneide, Tabari.“ Er sagte abermals nichts. „Wenn das so weitergeht, werden wir über kurz oder lang untergehen.“

Aber das war nicht ihre Hauptsorge. Noch immer sah sie die Knochenspiralen, die in der Finsternis tanzten und sie verspotteten. Noch immer hörte sie Kelars Lachen… und jede Nacht sah sie Ruja von neuem vor ihren Augen sterben, als wollten die Geister sie wieder und wieder schmerzhaft daran erinnern, dass die junge Frau niemals wieder lächeln oder atmen würde…

„Der Koch aus Holia.“, brummte sie dann und setzte sich wieder auf, worauf ihr Gatte ihr einen perplexen Blick schenkte. „Wir haben uns um Emo gekümmert und dafür gesorgt, dass er verschwindet; aber was ist mit dem Koch? Ich habe ihn auch gesehen… nicht nur in einer Vision, schon öfter…“

„Warst du denn mal da?“, wunderte der Blonde sich, „Wo liegt eigentlich dieser Ort Holia?“

„Im Osten von Senjo, habe ich mir sagen lassen; ich war nie da, nein.“

„Wie kannst du ihn dann gesehen haben außer hier?“

„Das weiß ich ja eben nicht, aber mir kommt es so vor… als wäre ich ihm schon einmal begegnet. Vielleicht in einem früheren Leben… es erscheint so fern… aber es ist da, ich kann es deutlich spüren!“ Sie erhob sich, schnappte ihren Umhang und warf ihn sich um. Tabari stand ebenfalls auf, als sie sich daran machte, das Zimmer zu verlassen.

„Wohin willst du?“

„In die Küche, ich werde nach dem Kerl fragen. Ach, Tabari, was mir gestern einfiel… hast du gerade nichts zu tun? Dann kümmere dich ein wenig um Meoran… und frag ihn bei der Gelegenheit, was dein Sohn tut. Ich fürchte, dank unseres Streits von neulich wird er nur Dummheiten tun… er lässt die arme Leyya wieder alleine, dabei kann sie gar nichts dafür.“ So sprach sie und eilte davon, und der Herr der Geister rang brummend die Hände über den Kopf.

„Na, und ich bin der Therapeut für alle? Großartig…“ Er seufzte, verließ aber widerstandslos das Zimmer, um nach seinem Freund Meoran zu suchen. Nach längerer Suche trieben seine Instinkte ihn schließlich in einen der unteren Salons, wo er quasi die Hälfte seines Rates vorfand. Meoran war da und hatte die kleine Saidah auf dem Schoß, er hatte einen ziemlich planlosen Versuch gestartet, das kleine Mädchen zu frisieren; als ob er Ahnung von Frauenfrisuren hätte. Auf einem Sofa neben ihm hockten Puran und Neron Shai, neben letzterem saß noch seine immer noch Verlobte Saja.

„Na sowas, dein Vater!“, rief Neron an Puran gewendet und strahlte, und Puran verdrehte die Augen.

„Das sehe ich selbst…“

„Hast du Zigaretten mitgebracht, Tabari?“, plapperte der Ältere schon fröhlich weiter, „Meine sind alle…“

„Was, nein!“, machte der Herr der Geister und fragte sich kurz, was er eigentlich hier wollte. Sein Sohn lehnte sich brummend auf dem Sofa zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

„Du und deine Zigaretten, Neron.“, feixte er dabei und grinste gehässig, „Du bist ja sowas von abhängig, Alter.“

„Aber du.“, schnaufte der Schwarzhaarige ebenso gehässig, „Aber was soll es, komm, wir fragen Tare, der hat immer welche. – Wollt ihr auch welche?“ Die Frage galt Tabari und Meoran, und die beiden älteren sahen sich kurz blöd an. Meoran seufzte.

„Nicht hier drinnen mit dem Kind und der armen Saja.“, entschied Meoran dann weise, und sein blonder Freund räusperte sich, während Neron Puran energisch am Arm vom Sofa und zur Tür zerrte.

„Jetzt komm, du Penner, was ist los mit dir in letzter Zeit?“, gluckste er dabei, „Deine schlechte Laune macht mir Angst, du brauchst Drogen!“

„Das ist nicht sehr produktiv…“, stöhnte Puran und warf den anderen entschuldigende Blicke zu.

„Wo ist Leyya?“, warf Tabari ihm noch konfus nach, als sein Sohn von Neron ganz aus dem Raum gezerrt wurde, der maulte, er wolle endlich Zigaretten. „Du bist viel ohne sie unterwegs momentan, stimmt was nicht bei euch?“ Die Reaktion, die er erntete, war giftiger als er befürchtet hatte.

„Sie ist bei den Heilern und übt heilen. Und was ich mit ihr mache, geht ja wohl niemanden was an. Ich durchschaue dich, Vater, du kommst nur und fragst das, weil Mutter es gerne so hätte und sich selbst zu fein ist, mit mir unwürdigem Angsthasen zu sprechen… wenn sie sich entschuldigen will, soll sie selbst kommen, ich bleibe bei meinen Worten.“ Dann ließ er sich von seinem Kollegen mitschleifen und Tabari sah baff auf die zuschlagende Salontür. Kurz herrschte Schweigen, dann wandte sich sein Blick auf Meoran.

„Was zum Geier…? Ich habe doch nur ganz normal gefragt…?“

„Was immer zwischen ihm und Nalani gewesen ist, es soll ganz schnell bereinigt werden, das löscht jeglichen Elan, wenn er jemals vorhanden war.“, seufzte sein Freund und sah frustriert auf die arme Saidah, die jetzt sehr komisch aussah. Das Mädchen wippte mit den Füßen und zupfte blöd an ihren Zöpfen herum. Was sie dann sagte, machte es nicht besser, obwohl sie es in ihrer kindlichen Naivität nicht so grausam meinte, wie es klang.

„Mutti konnte das viel besser als du, Vati!“

Tabari erstarrte und Meoran sah aus, als hätte er vor Verzweiflung am liebsten geweint. Sie war nur ein Kind… sie wusste nicht, was genau sie da gesagt hatte… und außerdem hatte sie einfach recht. So atmete ihr Vater nur schweigend ein und aus und strich ihr über die schwarzen Haare, bitter den Kopf senkend.

„Ich weiß… vergib mir, meine kleine Prinzessin.“ Es war Saja, die sich erbarmte, und sie stand fröhlich lächelnd auf, um die kleine Saidah auf ihre Arme zu heben.

„Komm, Kleine, ich mache das für dich ordentlich. Ich bin schließlich auch eine Frau; Frauen können sowas immer besser als Männer!“ Das kleine Kind lachte.

„Oh ja!“
 

Die Zimmertür öffnete sich und Tare Kohdar fuhr entsetzt zurück, als Neron ihm darauf beinahe ins Gesicht gesprungen wäre und ihn gut gelaunt anbrüllte.

„Kippen, du Sack!“

„Na, jetzt aber mal langsam, die jungen Herren!“, empörte sich der Ältere darauf und japste dann, als er plötzlich etwas von hinten gegen sich springen spürte, und aus dem Inneren des Zimmers ertönte lautes Gegröle und Gelächter.

„Wir haben dich, Onkel!“, brüllte sein kleiner Neffe, Baraks Sohn, der an seinem Rücken klebte und jetzt gut gelaunt in sein Hemd biss. An Tares Bein hing die Schwester des Jungen, die jüngste Tochter, und biss in sein Hosenbein.

„Und wie wir dich haben, du bist jetzt im Spiel tot und wir müssen dich auffressen!“

„Oh nein… alles, nur das nicht!“, jammerte Tare Kohdar und seine beiden Kollegen vor der Zimmertür warfen verblüfft einen Blick hinein. Drinnen saß die gesamte Familie; Pinhi und Barak auf einem kleinen Sofa, Hakopa auf einem Sessel und auch die ältere Tochter von Barak war da, sie hockte am Boden und stickte. Die vier lachten über den Elan der jüngsten Kinder, die ihren Onkel offenbar zum Fressen gern hatten.

„Du liebe Güte.“, machte Puran verblüfft, „Was macht ihr denn bitte alle hier?“

„Nachmittagstee.“, sagte Pinhi fröhlich und deutete auf die Teekanne auf dem Stubentisch. „Wollt ihr euch hersetzen, Neron und Puran?“

„Ach, nein, danke, ich möchte nicht gefressen werden, eigentlich wollten wir nur bescheiden und höflich wie wir sind nach Kippen fragen.“

„Moment, du wolltest das, Neron!“, schnaufte Puran empört, und die Kohdars lachten abermals.

„Wir sind Löwen!“, sagte der kleine Junge auf Tares Rücken zu den Neuankömmlingen und fletschte die Zähne, „Ich bin ein Babylöwe und Schwesterchen ist meine Mama, spielen wir, und Onkel ist eine An… An… Anpilote!“

„Antilope!“, riefen die anderen Kohdars im Chor und der Kleine errötete verlegen. Neron und Puran lachten schallend los.

„Antilope?!“, japste Neron, „Na, so grazil bist du nun auch wieder nicht, Tare…“

„So kriegst du keine Kippen von mir, du unhöflicher Knilch.“, seufzte die Antilope und schüttelte sanft die Kinder ab. „Aber ehrlich gesagt passt mir das gut, bloß weg von der verfressenen Horde… meine Klamotten lösen sich schon auf, fürchte ich…“ Er griff seufzend in seine Hosentasche und fand tatsächlich seine Dose mit den fein säuberlich zusammengedrehten Zigaretten. Die Kinder jammerten, als er aus der Tür ging.

„Nicht weggehen, Onkel, bitte… Neron und Puran können ja auch Antilopen sein!“

„Oh nein, vergesst es.“, machten die beiden entsetzt im Chor, und Pinhi drinnen kicherte.

„Kinder, kommt her, lasst euren Onkel mal Pause machen!“ Maulend gehorchten die Kleinen und nach einer kurzen Verabschiedung verließen die drei Männer das Gemach wieder.

Auf einer der Terrassen unten am Garten verteilte Tare gütiger Weise Zigaretten für alle und sie standen eine Weile schweigend da und rauchten. Dann fing Neron an zu reden.

„Mensch, die Kinder sind ja nicht zu bändigen! Beißen die echt oder tun die nur so? Bin ich froh, dass ich noch keine habe…“

„Ich glaube, ich bin auch ganz froh, nur der Onkel zu sein und nicht der Vater.“, machte Tare darauf, „Das wäre nichts für mich, ich wäre viel zu schnell genervt von den Gören und würde sie nachher noch aus Versehen verhungern lassen oder so…“ Er kratzte sich mühsam am Rücken und murrte. „Und oh, du wirst lachen, manchmal beißen sie tatsächlich! Glück nur, dass sie nicht wirklich Löwen sind, die Zähne wären unangenehmer.“

„So wie die meines Großvaters vermutlich.“, seufzte Puran darauf und lehnte sich gegen die Wand, den Rauch der Zigarette in die Luft pustend. Die zwei anderen sahen ihn kurz an.

„Hey, solltest du nicht langsam mal zu deiner Frau zurückgehen nachts?“, seufzte Neron dann nach einer kleinen Pause. „Ich meine… willst du das echt durchziehen? Nie Kinder haben?“

„Na, ich kann das ja auch…“, behauptete der Älteste verdrossen und Neron schnaubte.

„Du bist ja auch komisch, alter Sack! Hast du es eigentlich jemals mit einer Frau getrieben nach deinem Ritual? Ich meine, ich hab dich nie mit einer reden sehen, die nicht vergeben war…“

„Ich dachte, wir reden hier über Puran!“

„Ach!“, jammerte dieser da und die beiden anderen sahen ihn an. „Es gibt nun mal zwei Möglichkeiten! Entweder habe ich recht oder meine Mutter hat es. Ich… ich wünsche mir ja, dass sie recht hat! Glaubt mir, ich möchte nicht, dass es wirklich so ist, wie ich fürchte, aber wenn es eben doch so ist… das Risiko ist einfach zu groß… denke ich…“

„Du bist doch echt masochistisch, jetzt sei vernünftig und geh zu deiner Frau, entschuldige dich für dein blödes Benehmen und mach ihr ein Kind.“, gluckste Neron Shai und er erntete eine Kopfnuss von Tare.

„Meine Herren, bist du taktlos!“

„Ich meine das ernst!“, lachte der Schwarzhaarige und sah Puran kichernd an. „Hör auf dein Herz. Was sagt es dir, Puran? Was sagen deine Instinkte?“ Der Jüngste der Runde zog nur schweigend an seiner Kippe und seufzte dann.

„Dass es nicht gut wäre, sondern zu gefährlich…“

„Nein, hör zu.“, erwiderte der Ältere da und als Puran ihn ansah, war er plötzlich erstaunlich seriös. „Sagen das wirklich deine innersten Instinkte? Oder sagt das deine Paranoia?“
 

In dem Moment riss ein dumpfes Krachen aus einiger Entfernung die drei aus ihrem ernsten Gespräch. Sie fuhren geschlossen zum Palast herum, aus dem das Dröhnen zu kommen schien, und Puran erbleichte, als sie alle drei plötzlich ein unbehagliches, warnendes Gefühl beschlich. Die Geister zischten und Tare Kohdar verlor vor Entsetzen den Rest seiner Kippe aus der Hand, als die Erde unter ihren Füßen unmerklich zu beben begann.

„W-was ist das?!“, keuchte Neron Shai, „Die Zuyyaner?!“

„Nein!“, schnappte Puran und er sah keuchend am Palast empor, als das Gefühl plötzlich so stark wurde, dass ihm beinahe schwarz vor Augen geworden wäre. „Etwas Schlimmeres… irgendetwas Furchtbares passiert hier…“

Vor seinen Augen tauchten die weißen Spiralen auf und tanzten, umringt von Flammen, in der Finsternis. Als die Flammen erloschen, war es plötzlich stockdunkel und der junge Mann strauchelte. Neron hielt ihn am Ärmel fest, als er drohte, umzukippen, und als der Schleier der Dunkelheit sich vor Purans Augen wieder lüftete, ertönte ein Schreien aus dem Inneren des Schlosses.

„Der Schatten, den wir alle so fürchten!“, stammelte Tare Kohdar dann und lief plötzlich los, wieder hinein, die jüngeren Männer folgten ihm eilig. Drinnen stießen sie beinahe mit Tabari zusammen, der ihnen entgegen kam, ebenfalls bestürzt.

„Da seid ihr ja, habt ihr das eben mitbekommen?“, fragte er entsetzt und die drei nickten. „Rasch, ich glaube, es kam von oben, die Geister sind plötzlich unheimlich unruhig.“, fuhr der Blonde fort und zu viert stürzten sie weiter durch das Schloss, rempelten panisch herum rennende Diener an und hasteten die Treppen hinauf. Unterwegs begegnete ihnen der König, der ebenfalls erschrocken war von den Schreien, und er hatte ganz bestürzende Neuigkeiten.

„Zu Hilfe! Der Palast wird angegriffen!“, schrie er, „Eben fiel mir ein Diener vor die Füße, blutüberströmt ist er von oben herab gestürzt, ach! Wehe, Himmel, was tust du uns an?!“

„Von oben?!“, japste Neron Shai, „Tabari, wo ist Saja?!“

„Ich habe Meoran bei ihr und Saidah gelassen, keine Sorge! Rasch, Majestät!“

„E-ein blutüberströmter Diener?“, wunderte Puran sich noch, „W-was ist denn mit dem passiert-… was-…?!“ Er unterbrach sich fassungslos, als sie noch einen Korridor weiter hinauf gehetzt waren, samt König, und jetzt plötzlich vor einem Schlachtfeld standen.

Auf dem Flur lagen zwei weitere Diener, eine Magd und ein Wachmann, beide leblos und ihre Kleidung befleckt von dunklem, noch warmen Blut. Der König schrie entsetzt und Puran erbleichte, als ihm klar wurde, in welchem Korridor sie waren.

„Das… ist doch der Flur, auf dem unsere Zimmer sind…?!“
 

„Vater!“, schrie Tare Kohdar als Erster, sobald er den Schock über die Leichen am Boden von sich abgeschüttelt hatte, und ehe Tabari ihn hätte aufhalten können, war er nach vorne gestürzt, auf das Wohnzimmer zu, in dem er vorhin seine Familie zurückgelassen hatte. „Barak, Pinhi! Verdammte Scheiße!“

„Warte, Tare! Vorsicht, was, wenn die Zuyyaner noch da-… bleib stehen!“, schrie Neron, und die anderen Geisterjäger setzten ihm alarmiert nach, während der König fassungslos stehen blieb und das Blutbad auf dem Flur anstarrte.

Was passierte hier? Wie waren denn Feinde in seinen Palast gekommen?

„Ich rufe die Wachen zusammen!“, beschloss er murmelnd und war sich nicht sicher, ob er wirklich laut sprach oder es nur dachte in seinem Schrecken. „Ich rufe die Wachen zusammen und sichere den Palast ab, niemand wird hier hinaus gelangen, bis wir die Täter geschnappt haben, die es wagen…!“ Er vermochte nicht weiter zu sprechen. Er wusste nicht, was hier passierte…

Tare Kohdar blieb keuchend vor der angelehnten Zimmertür stehen, als Tabari ihn endlich erwischte und ihn am Ärmel festhielt. Durch den offenen Spalt der Tür drang rötliches, böses Licht auf den Korridor.

„Warte!“, zischte der Herr der Geister und zog vorsichtshalber sein Schwert, „Wenn du da kopflos herein rennst, kommst du noch um!“ Tare Kohdar schnappte nach Luft und die beiden Jüngeren erreichten sie jetzt ebenfalls, als der Braunhaarige die Tür mit einem Ruck aufstieß.

Was sie sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Von dem Wohnzimmer, das sie vorhin zurückgelassen hatten, war nichts mehr übrig; die Möbel waren beschädigt, die Couch brannte, auf dem edlen Teppich klebten ganze Blutlachen. Hakopa Kohdar und Barak lagen auf dem Fußboden und rührten sich nicht. Wo waren Pinhi und die Kinder?

„VATER!“, schrie Tare fassungslos, riss sich aus Tabaris Griff los und stürzte nach vorne zu seinem Vater, um ihn zu schütteln. „Vater, um Himmels Willen! Mach die Augen auf! Bitte…! Vater!“

„Was im Namen aller Geister ist hier geschehen?!“, fragte Neron erbleichend und Puran schnappte hysterisch nach Luft, als Tabari ebenfalls in den Raum stürzte und sich um Barak bemühte. Als er nach dem Puls des Jüngeren fassen wollte, zuckte er zusammen und nach einem hastigen blick auf den panisch schreienden Tare sah er bestürzte zu seinem Sohn und Neron, die wie angewurzelt in der Tür standen. Tabaris Blick machte ihnen gleich klar, dass Barak tot war.

„Oh nein…!“, war alles, was Puran darauf heraus brachte, ehe er das Gleichgewicht doch verlor und keuchend zu Boden stürzte, wo er heftig zu husten anfing. Neron erzitterte.

„Vater, d-das kann doch nicht wahr sein!“, jammerte Tare indessen weiter und fuhr seinem leblosen Vater über das kalte Gesicht, ihn weiterhin schüttelnd. „D-das ist ein böser Traum, ja! Komm schon, wach auf! D-du veräppelst mich doch…!“

„Tare…“ Tabari kam zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter, worauf der Jüngere aufhörte, seinen Vater zu schütteln, und erstarrte. Dann sank er über dem toten Körper in sich zusammen und erzitterte, während der Herr der Geister bestürzt zu Neron blickte.

„Rasch, wir müssen Pinhi und die Kinder suchen, guck im Schlafzimmer, Neron!“, befahl er hastig, „Vielleicht konnten sie fliehen oder sich verstecken…“ Neron tat wie ihm geheißen und stürzte vorwärts ins Zimmer. Tare Kohdar umklammerte seinen toten Vater und fing jetzt aus vollem Hals an zu schreien und zu heulen. Tabari konnte nichts anderes tun als bestürzt zusehen, und er warf einen verzweifelten Blick auf Puran, der sich die Lunge aus dem Leib hustete und sich beinahe auf den Boden übergeben hätte.

„Ihr spielt böse Spielchen mit uns, Himmelsgeister…“, murmelte der Blonde und schloss bebend die Augen, um für die für immer verlorenen Lebensgeister von Barak und Hakopa zu beten, dass sie heil im Geisterreich ankommen mögen.

Dann riss Neron ihn aus seinen Gedanken.

„Tabari!“, brüllte er und stürzte aus dem Schlafgemach, „Schnell, komm! I-ich habe… ich habe sie gefunden, der kleine Junge ist noch am Leben!“

„Was?!“, schnappte Tabari und Tare hob jammernd den Kopf und fuhr auch herum.

„D-der Kleine!“, schnappte er erbleichend, und blitzschnell war er wieder auf den Beinen und folgte Tabari zu Neron ins Schlafzimmer. Der Anblick der restlichen Familie hätte ihn beinahe umgebracht vor Gram. Da lag Pinhi auf dem Boden, ihr Schädel war blutig eingeschlagen worden. Unter ihr lagen die beiden toten Mädchen, die offenbar erstochen worden waren, und neben dem Haufen lag der kleine Sohn von Barak, der zitternd die Augen auf die ankommenden Männer richtete. Auf seiner Brust klaffte eine tiefe Schnittwunde, aus der Blut quoll, und an seinem Kopf war eine riesige Platzwunde.

„Onkel…“, keuchte er schwach, als er Tare erkannte, und der Mann stürzte japsend zu dem kleinen Kind und nahm es vorsichtig hoch.

„Um Himmels Willen, wer hat das getan?!“, heulte er verzweifelt, „H-halte durch, bitte! – Verdammt, Tabari, ruf doch die Heiler, schnell!“ Der kleine Junge hustete und spuckte Blut, ehe er heftig zu zittern begann. Er weinte.

„E-es ging alles so schnell, ich… wusste nicht, was passiert-… d-da war… da war ein Mann… e-er hat… er hat sie… s-sie alle… ein böser Mann, Onkel…“

„Was für einer, wie sah er aus? Ich werde ihn finden und vernichten, für das, was er getan hat! Shht… beruhige dich, Kleiner… ich bin bei dir, ich beschütze dich…“ Das Kind klammerte sich wimmernd an ihn.

„I-ich hatte solche Angst… s-sie waren einfach tot und… und es… e-es ging so… schnell… i-ich kann sie immer noch schreien hören-…“ Das Kind wurde immer leiser beim Sprechen und schloss müde die Augen, als sein klammernder Griff um Onkels Hemd nachließ, das er mit Blut befleckt hatte. „Ich… bin müde und… mir ist so kalt, Onkel…“

„Nein! Halt durch, gib nicht auf, bitte!“, schrie sein Onkel verzweifelt und als Neron schon dabei war, loszurennen, um nach den Heilern zu schicken, war es bereits zu spät für den kleinen Jungen.

„Onkel… es war ein… ein böser… Dämon, glaube ich…“ Tare Kohdar erstarrte, als das Kind auf seinen Armen in sich zusammensackte und aufhörte zu atmen. Neron hielt in der Tür neben Puran inne, als er den Älteren wieder schluchzen hörte und wusste, dass er die Heiler nicht mehr holen musste… das Kind war tot, genau wie der Rest des Clans.
 

Der Koch war nicht in der Küche. Nalani zog die Stirn in Falten, als sie mit einem der Küchenjungen sprach, den sie an der Tür zur Küche abgefangen hatte.

„Was meinst du, er arbeitet nicht mehr hier? Wurde er gefeuert?“

„Nein, er ist plötzlich weggegangen, ich habe keine Ahnung, warum und wohin.“, meinte der Junge beschämt. „Er war ein echt guter Koch, haben die Älteren immer gesagt. Ich hatte nie mit ihm zu tun, er hat nur immer grimmig geguckt, aber dafür, dass er noch so jung ist, war er echt geübt. Es heißt, er hätte bei einem Medizinmann in Thalurien gelernt, mir Gewürzen umzugehen.“ Die Frau seufzte und beobachtete aus dem Augenwinkel das geschäftige Treiben in der Küche. Einige Diener sahen sie verwirrt an, widmeten sich aber rasch wieder ihrer Arbeit.

„Seit wann genau ist er fort?“, fragte sie den Jungen dann und der kratzte sich am Kopf.

„Also, das weiß ich nicht genau, seit ein paar Wochen glaube ich… ich kann nicht zählen, ehrlich gesagt…“ Entschuldigend blickte er die hübsche Frau an und errötete, als sie dankend den Kopf neigte.

„Hat der Typ auch einen Namen? Oder ist er nur Der aus Holia?“

„Doch, natürlich hat er einen.“ Jetzt nickte der Diener kurz mit dem Kopf. „Sie haben ihn Manha genannt, ich glaube, sein Vorname war Ulan.“

Nalani erstarrte.

Ulan Manha. Das Kind, das wir damals in Dokahsan gesund gepflegt haben, nachdem Kelar es angegriffen hatte…

Sie erinnerte sich sehr genau an den kleinen Dorfjungen aus Canulo, den sie gepflegt hatten. Jetzt wurde ihr plötzlich klar, warum ihr der dumme Koch so bekannt vorgekommen war… sie hatte ihn tatsächlich schon einmal gesehen. Aber dann konnte er nicht aus Holia kommen… vielleicht war seine Familie ja aus Canulo fortgezogen?

Ihr kam der Stammbaum der Lyras in den Sinn. Der Stammbaum, auf dem einer der Vorfahren ausgerechnet Ulan geheißen hatte. War es wirklich purer Zufall, dass dieser Bauernjunge, der jetzt Koch war, genauso hieß?...

„W-was habt Ihr, Herrin?“, wunderte der Diener sich da, und die Schwarzhaarige drehte den Kopf zur Treppe, die hinaufführte, als sie ein ungutes Gefühl der Warnung beschlich. Etwas passierte… die Geister waren besorgt in ihrem Inneren.

„Entschuldige, dass ich dich von der Arbeit abgehalten habe. Danke für die Dinge, die du mir gesagt hast…“, murmelte sie nur hastig und machte dann Kehrt, um wieder hinauf zu rennen, den Diener verwirrt zurücklassend. Was hatten eigentlich immer alle mit Manha aus Holia, wundert der sich mitunter; er fragte sich, ob er der Frau hätte erzählen sollen, dass auch ein anderer der Geisterjäger hier vor einigen Wochen noch ab und zu vorbei gekommen war, um Manha zu sprechen. Vielleicht war der Kerl aus Holia ein Magnet für Zauberer… der arme Junge hatte doch keine Ahnung.
 

Als Nalani in der Haupthalle des Palastes ankam, kamen ihr Tabari, Meoran und Saja entgegen, Meoran trug seine Tochter auf den Armen.

„Da bist du ja!“, keuchte der Herr der Geister außer sich und Nalani erstarrte, als er auf sie zukam und sie kurz umarmte, als hätte er sie jahrelang nicht gesehen.

„Was ist geschehen? Irgendetwas beunruhigt mich…“

„Ja, mit Recht tut es das.“, sagte Meoran und senkte den Kopf, „Hast du nicht das Theater mitbekommen, den Lärm von oben?“

„Ich war in der Küche, ich habe nichts gehört, ich habe nur ein schlechtes Gefühl.“, entgegnete sie alarmiert und stutzte beim todernsten Gesicht ihres Mannes. Er ließ sie los und senkte den Kopf, ehe er Luft holte, um die schreckliche Nachricht zu verkünden.

„Hakopa und Barak und die gesamte Familie sind tot. Wir haben sie eben oben gefunden, sie wurden brutal niedergemetzelt… ich habe Puran und Neron bei Tare gelassen, sie kümmern sich bereits.“

Auf diese Nachricht hin wäre Nalani beinahe wortlos zu Boden gestürzt, denn sie schlug ein wie ein Blitz in die Erde.

„S-sie sind… wie bitte?!“, flüsterte sie erbleichend und Saja senkte auch bebend den Kopf, als selbst die sonst so tapfere Nalani in stummem Entsetzen die Augen weitete. „Wie… wie ist das denn passiert, eben gerade?!“

„Ja, offenbar. Wir alle hatten ein ungutes Gefühl und als wir hinauf rannten, war es schon zu spät. Und es kommt noch besser… wir haben zuerst gedacht, es wären Zuyyaner gewesen, die sich eingeschlichen hatten. Aber der König hat das gesamte Schloss umstellen und durchsuchen lassen, und die Wachen haben nirgends jemanden Verdächtiges gesehen, es kam niemand von draußen ins Schloss. Das heißt, es muss irgendjemand gewesen sein, der schon drinnen war. Es waren keine Zuyyaner, da bin ich jetzt ziemlich sicher… die Zuyyaner hätten andere Methoden gefunden. Die hätten das Blut gespart mit ihren Seelenkugeln.“
 

Die Bestürzung und das Entsetzen verbreiteten sich im ganzen Palast und der näheren Umgebung wie ein Lauffeuer. Die Menschen ergriff die Panik, als sie daran dachten, dass es offenbar jemand geschafft hatte, an den Wachen vorbei hinein zu gelangen und ungehindert Leute zu töten; nicht nur Leute, sondern Geisterjäger. Galten sie nicht als mächtige Magier aus dem Norden? Wenn selbst solche Leute einfach getötet werden konnten…auch vielen Männern der Armee entsagte jetzt jeglicher Mut, als sie die Nachricht erhielten. Ob es nun Zuyyaner gewesen waren oder nicht; selbst die Magier, die die naiven Menschen aus Vialla und dem Süden für unbesiegbar gehalten hatten, konnten getötet werden… es waren schlimme Nachrichten. Der König von Kisara kümmerte sich um verstärkte Bewachung der gesamten Stadt und versuchte vergeblich, die Panik wieder einzudämmen, die sich breit machte.

Für Tare Kohdars Leid interessierte sich kaum jemand, der arme Mann hatte auf einen Schlag seine komplette Familie verloren; für Trauer war keine Zeit bei den Menschen. Und da hatte Nalani geglaubt, die Lyras wären pragmatisch gewesen. So blieb die Seelenarbeit im Rat der Geisterjäger, die versuchten, sich zu kümmern.
 

Es dämmerte. Die Sonne ging unter, aber Puran schenkte ihr keine Beachtung, während er auf dem Korridor am Boden kauerte und wie hypnotisiert auf die großen Fenster am Ende des Flurs starrte, wo das letzte Tageslicht zu ihm herein dringen wollte. Jetzt war fast Winter, die Sonne ging früh unter. Als die letzten Lichtstrahlen auch verschwunden waren, wurde es finster im Korridor.

Das alles erschien ihm immer noch wie ein unwirklicher Traum. Ein böser Traum, aus dem er jetzt langsam wirklich aufwachen wollte. Er wollte aufwachen und lachende Gesichter sehen; Gesichter von Leuten, die er nie wieder ansehen würde. Erst Ruja… jetzt Hakopa, Barak und seine ganze Familie. Es fühlte sich leer an, wenn er daran dachte, versuchte, zu registrieren, dass das kein Traum war, sondern bittere Realität.

Hatte er nicht genauso gedacht wie die naiven Menschen in Vialla? Er hatte viele Jahre lang keinen Gedanken daran verschwendet, dass die Leute, mit denen er täglich zu tun hatte, eines Tages sterben könnten. Der Tod war so fern gewesen, so ungreifbar… ‚Davon sind wir noch Meilen entfernt!’ , dachte man als junger Mensch und winkte mit der Hand lässig ab. Und jetzt erfuhren sie schmerzhaft am eigenen Leib, dass der Tod allgegenwärtig war. Vor allem im Krieg.

Jeder von ihnen könnte am nächsten Tag sterben; sei es auf dem Schlachtfeld oder im Palast. Seine Eltern, Meoran, auch er selbst, obwohl er noch weit entfernt vom dreißigsten Lebensjahr war; selbst seine kleine Frau, Leyya, die gerade mal dreizehn war. Ja, selbst die kleine Saidah, unschuldige fast vier Jahre alt, könnte jeden Tag eines grausamen Todes sterben, wie die unschuldigen Kinder von Barak Kohdar.

Die Welt war so klein… und die Spanne der Lebensgeister, die in dieser Welt weilten, war mitunter viel zu kurz.

Puran seufzte verbittert, zog die Beine an und vergrub den Kopf in den Armen, die sich um seine Knie schlangen. Man machte sich die unnützesten Gedanken, wenn man verwirrt war. Man versuchte, praktisch zu denken, um sich selbst davor zu schützen, den Schmerz des Verlustes zu empfinden. Was war wichtiges zu tun? Was würde beim nächsten Kampf mit den Zuyyanern werden, jetzt, wo sie zwei Geisterjäger weniger hatten? Nein, drei… Emo war ja auch nicht mehr da. Auch, wenn er ein fürchterlicher Mistkerl gewesen war, er fehlte als Kämpfer. So blieben nur noch sechs im Rat übrig… plötzlich war Tabari der Älteste im Rat, jetzt, wo Hakopa tot war. Sie mussten die Familie noch bestatten und die Totenwache halten; gab es überhaupt noch genug Holz für so viele Scheiterhaufen? Oder sparte man und warf alle auf einen? Das war doch irgendwie pietätlos…

In seine dunklen Gedanken versunken störte Puran das Bild der weißen Spirale kaum, als es vor ihm in der Finsternis zu tanzen anfing wie in seinen Träumen. Und auch die Sorge um die Wiedergeburt seines gefürchteten Großvaters schien mit einem Mal weit, weit weg zu sein… das war nicht von Belang.

Vor ihnen lag der Winter. Und im Winter kam die erdrückende Finsternis zusammen mit der klammernden Kälte, die gemeinsam versuchten, den Bangen Menschen im vom Krieg gepeinigten Land das letzte Bisschen Hoffnung zu rauben.
 

Als sein Vater zu ihm kam und sich neben ihn hockte, hob Puran nur kurz den Kopf und sagte nichts.

„Hier bist du… ich habe mich schon gefragt, wo du stecken magst. Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Tabari dumpf, erwartete aber nicht wirklich eine Antwort. Der Sohn seufzte.

„Dann ist es also kein Traum und wir werden nicht aufwachen… nicht wahr?“

„Ja, so ist es leider. Es erschüttert uns alle zutiefst. Hakopa und Barak haben einen eigenartigen Tod gehabt…“

„Eigenartig? Unwürdig nenne ich es, sie waren großartige Magier und Krieger, und dann werden sie so niedergestochen!“, jammerte Puran, raufte sich die Haare und schluchzte hemmungslos. „I-ich kann nicht glauben, dass das alles passiert! Ich… ich bin verwirrt und weiß nicht mal mehr, was ich glauben oder hoffen soll!“ Was Tabari dann sagte, steigerte die Verwirrung nur.

„Das ist es ja. Die beiden wurden nicht erstochen… sie haben keine äußeren Verletzungen. Abgesehen… von einem seltsamen Zeichen, das ihnen eingeritzt wurde, oder so.“ Der Jüngere fuhr sich mit der Hand über die wunden Augen und blinzelte.

„W-was? Zeichen?“

„Ja, wir wissen auch nicht, was das zu bedeuten hat. Vielleicht hat der Mörder in die Wunde Gift gestreut, ich weiß es nicht, aber an der kleinen Schnittwunde sind sie unmöglich gestorben. Barak hat vermutlich noch einen Schlag oder Tritt ins Gesicht bekommen, aber sonst ist nichts zu sehen. Es ist komisch… die Geister senden… mir die ganze Zeit über seltsame Zeichen, die ich nicht verstehen kann.“ Sie schwiegen kurz, ehe Puran benommen den Kopf drehte.

„Das… ist grauenhaft. Dann ist es wie bei Ruja…?“

„Nein, Ruja hatte kein merkwürdiges Zeichen auf ihrer Hand. Es muss etwas anderes sein… wir haben uns auch schon gefragt, nachdem wir die Idee mit dem Gift hatten – die aber niemand bestätigen kann, zumindest so äußerlich nicht – ob nicht Henac irgendwie damit zu tun hatte. Er ist Schattenkrieger… ich würde ihm zutrauen, hier unbemerkt herein zu kommen. Aber ich weiß es auch nicht… es passieren… komische Dinge. Und da dachten wir, die Zuyyaner seien unser Hauptproblem!“ Wieder entstand eine Pause. Schließlich wagte der Vater leise das Thema zu wechseln. „Leyya kam vorhin zu uns, weil sie davon gehört hatte. Sie war ganz außer sich und hysterisch… sie hat nach dir gefragt. Du solltest wieder zu ihr gehen, Puran… du tust ihr weh mit dem, was du tust, merkst du das nicht?“ Puran brummte.

„Ich weiß das sehr wohl, Vater.“

„Dann solltest du noch einmal über das nachdenken, was du tust, Puran… ich weiß, du tust das nur, um sie zu schützen, aber glaubst du wirklich, dass du sie so am besten beschützt? Manchmal… muss man auch Risiken eingehen, um den größtmöglichen Schutz gewährleisten zu können.“ Er lächelte, als sein Sohn ihn missmutig ansah, dann erhob der Blonde sich und klopfte sich den Dreck vom Umhang.

„Aber…“, wollte der Jüngere noch protestieren, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er dachte verlegen an das, was Neron gesagt hatte.

„Sagen das wirklich deine innersten Instinkte? Oder sagt das deine Paranoia?“

Paranoia…? Ist es das wirklich?

„Hör mir zu, Puran.“, warf Tabari da noch ernst ein. „Falls irgendetwas mit deinem Großvater sein sollte… denk daran, wer du bist. Mein Vater war ein König des Lyra-Clans, ein ausgezeichneter Magier… aber das bist du auch, Puran. Du bist mein Sohn… und ebenso ein Erbe des Lyra-Clans wie Kelar es war. Wenn es nicht so wäre… wenn du kein Genie wärst… wärst du nicht fähig, das Geisterschwert zu tragen.“ Er neigte zum Abschied den Kopf, ehe er ging und seinen verdatterten Sohn auf dem Flur zurückließ. Puran senkte den Kopf wieder und seufzte tief. Er dachte wehmütig an seine geliebte kleine Leyya… er würde gerne zu ihr gehen, wie Tabari verlangte. Er wollte sie in die Arme schließen, sie küssen und ihr sagen, dass er sie niemals wieder alleine lassen würde.

„Hör auf dein Herz…“, flüsterten die Geister, „Was sagen deine Instinkte?

Puran versuchte, zu lauschen, während er den Kopf wieder auf die Knie sinken ließ.

Ja… was sagen sie…? Was soll ich machen?
 

Als er am späteren Abend zu seiner Frau ging, hatte sie gerade gebadet. Sie hatte sich rasch in ein Handtuch gewickelt, als sie Geräusche gehört hatte, und sobald sie das Badezimmer verlassen hatte, stand sie ihrem Mann gegenüber und sah erschrocken hoch.

„Puran…!“, keuchte sie und einen Moment später fiel sie ihm unglücklich in die Arme. „Um Himmels Willen… i-ich habe nach dir gesucht, ich hab von Tabari das mit Kohdars gehört und… d-das ist fürchterlich…!“ Er seufzte leise und schloss sie schweigend in seine Arme, während sie erzitterte.

„Shh…“, machte er und versuchte, sie zu beruhigen, während er sie langsam herüber ins Schlafzimmer zog und sich mit ihr auf das Bett setzte. „Ich weiß, es ist grausam. Ich hoffe, du hast es wenigstens nicht gesehen…“ Sie kuschelte sich verzweifelt an ihn und er hielt sie lange fest, bis sie sich beruhigt hatte, sich vorsichtig aufsetzte und ihr Handtuch zurecht rückte. Ihre Haare waren noch nass.

„Wie lange waren wir nicht mehr zusammen hier, Puran…?“, wisperte sie dann leise und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Es schmerzte ihn jetzt, als er daran dachte, dass er sie so leiden gelassen hatte.

Es war nicht ihre Schuld… er war ein Idiot.

„Eine Weile.“, war seine Antwort. „Ehe ich zu einer Entschuldigung ansetze… ich hab dir was mitgebracht.“ Sie blinzelte, als er aus seinem Gürtel ein Messer zog und es ihr seufzend vor die Nase hielt. Sie wunderte sich zuerst, dann verstand sie, was das eigentlich war.

„Oh nein!“, japste sie und fuhr zurück, „Du hast tatsächlich eine der zuyyanischen Waffen besorgt… das ist ja toll!“ Er zog seine Hand mit dem aufwendig verzierten fremdländischen Messer wieder weg, als sie danach griff, aus Angst, sie könnte sich schneiden.

„Natürlich habe ich das. Sei vorsichtig, nicht, dass du dich verletzt. Hast du das Konzept für deine Heiltechnik schon weit genug, um damit üben zu können?“

„Ich hoffe es, ich habe verschiedene solcher Wunden untersucht und mir daraus etwas ausgedacht.“, erklärte sie aufgeregt, zog ihr Handtuch wieder zurecht, das ihr herunter zu rutschen drohte. „Ich habe aber keine Ahnung, ob es funktioniert.“

„Dann probieren wir das gleich einmal aus.“, beschloss er nickend, zog seinen Ärmel hoch und wollte schon mit dem Messer an seinem Oberarm ansetzen, als seine Frau ihn aufhielt.

„Wie bitte, w-was machst du da?!“

„Na, zum Üben brauchst du ja wohl eine Wunde.“, machte er perplex, „Keine Angst, ich mache doch nur einen winzigen Schnitt, es kann ja nichts passieren. Es ist ja nicht so, dass diese Wunden gar nicht heilen; von selbst tun sie es ja, nur bei zu großen Wunden ist es eben schlecht, wenn man sie nicht behandeln kann.“ Leyya blinzelte.

„A-aber du kannst dich doch nicht selbst verletzen, damit ich üben kann! Was, wenn mein Zauber fehlschlägt und dich umbringt?“

„Ach was, warum sollte er das tun? Ich vertraue dir, Leyya, das Schlimmste, was passieren kann, ist doch, dass es nicht wirkt, oder?“

„Du könntest auch explodieren oder tot umfallen… oder vielleicht zu einer Schnecke werden.“

„Sicher, Leyyachen. Komm schon, zeig mir, was du dir ausgedacht hast.“ Er versuchte, zu grinsen, und seine Frau senkte errötend den Kopf.

„Ich habe aber Angst, dass ich dir wehtue…“

„Sei ehrlich, habe ich das nicht ohnehin verdient, nachdem ich dich so sitzen gelassen habe?“

Jetzt hob sie das hübsche Gesicht wieder und sah ihn aus geweiteten Augen an. Er beugte sich vor und küsste sie flüchtig auf die Lippen, sodass ein warmer Schauer über ihren Rücken rann bei dem sanften, liebevollen Gefühl. Doch da war es auch schon wieder vorbei und die Heilerin schüttelte sich kurz und machte ein enttäuschtes Gesicht.

„Nur so ein bisschen?“ nuschelte sie, „Ich habe dich so schrecklich vermisst in den letzten Tagen… dieses Bett ist viel zu groß für mich allein.“

„Ich weiß… vergib mir, Leyya. Ich… bin verwirrt und gestresst im Moment und… ich… ach, aber wir haben andere Probleme! Verdammt, Kohdars sind tot und… irgendwo rennt ein Mörder herum, oder Emo, oder wie auch immer, ich kann nicht verantworten, dich jetzt alleine zu lassen!“

„Ich kann auch auf mich selbst aufpassen!“ schnaubte sie und tat beleidigt, den Kopf wegdrehend, „Zur Not verwandle ich meinen Gegner in eine Schnecke…“ Er hielt sie am Arm fest, als sie sich daran machte, vom Bett aufzustehen.

„So war es nicht gemeint… aber ich bin dein Mann, Leyya. Ich will dich beschützen und… ich bin es leid, dir den Rücken zu kehren, ehrlich gesagt…“ Jetzt errötete er verlegen und sie hielt inne. Er legte das zuyyanische Messer zur Seite und stand dann auf, um von hinten die Arme um seine Frau zu schlingen. Sie ließ zu, dass er ihren Nacken und ihre Schultern küsste. Ein neuer Schauer überkam sie, aber es war angenehm so… bebend schloss sie die Augen, um die Empfindungen stärker zu spüren, als Purans Hände über ihre Hüften hinauf glitten und vorsichtig das Handtuch von ihrem Leib zogen. Sie schauderte kurz und bekam eine Gänsehaut, während sie jetzt splitternackt vor ihm stand und spürte, wie seine Hände sanft begannen, ihre kleinen Brüste zu bearbeiten. Dabei küsste er ihren Hals und fuhr mit der Zunge nach vorne zu ihrem Schlüsselbein.

„Warum hast du mir dann… den Rücken gekehrt…?“ murmelte sie und öffnete die Augen wieder, als er sie langsam zu sich herumdrehte. Er schob sie sanft etwas zurück und dann herunter auf das Bett, bevor er sich über sie beugte und sie leise atmen hörte, während seine Finger über ihren nackten Bauch wanderten.

„Was du zu mir gesagt hast neulich… dass du nicht bereit bist, dein Leben lang kinderlos zu bleiben… das ist richtig so, Leyya.“, meinte er dumpf, „Es war… egoistisch von mir, sowas zu verlangen. Die Geister sagen mir komische Dinge, die mich beunruhigen… das ist wohl der Grund, warum ich so… überreagiert habe. Das war nicht gerecht von mir…“

„Was ist denn mit dir?“, flüsterte sie und lächelte liebevoll, während sie die Hände hob und begann, sein Hemd aufzuknöpfen, als er wieder ihren Hals zu küssen begann. „Willst du denn keine Babys? Ich habe schon seit unserer Hochzeit darauf gehofft, ich meine… ich wünsche es mir so sehr, Puran…“ Er seufzte kurz.

„Mir graust vor diesem Gedanken… vor diesem Bild mit dem Kind und den Zähnen meines Großvaters.“, sagte er dumpf. „Ich… kann dir das nicht sagen, Leyya. Ich weiß es nicht.“

„Vergiss die Schatten, mein Liebster…“, flüsterte sie und schloss abermals die Augen, dabei zog sie ihm hastig das Hemd von den Schultern, das sie geöffnet hatte. Ihre kleinen, zierlichen Hände fuhren über seinen nackten Oberkörper hinab zum Bund seiner Hose. „Ich spüre… so tief in mir diesen Schrecken vom Nachmittag… ich… wünsche mir so sehr, das… vergessen zu können… nur für einen Moment. Hilf mir, Puran…“

Er küsste sie verlangend auf die Lippen. Seufzend klammerte sie sich an ihn und wünschte sich, er würde niemals aufhören, sie zu lieben. Sie war sein… und sie war es für immer, mit Leib und Seele.
 

Es fiel ihnen leicht, sich in ihre eigene Welt zu flüchten, weg von den Schatten der Realität und den grausamen Sachen, die geschehen waren. Sie wollten blind und taub sein, eingeschlossen in ihrer eigenen, kleinen Welt, wo nur sie beide existierten. Und die Wärme zwischen ihnen hüllte sie ein wie eine schützende Barriere, bereit, alles Schlechte und Böse fernzuhalten von ihnen. Leyya sah trotz geschlossener Augen das Feuer im Himmel tanzen, die Flammen, die sie umringten und wärmten, die den Raum zu erhellen schienen, während sie unter ihrem Mann lag und sich mit ihm vereinte. Fest klammerte sie sich an die Hitze seines Körpers, um jede Vibration, jede Bewegung mit jeder Faser wahrnehmen zu können, wie er immer wieder in sie eindrang, sich leicht zurückzog und wieder eindrang. Es fühlte sich gut an… es war richtig so. Für diesen kurzen Augenblick konnten sie wirklich vergessen, wo sie waren… und warum sie es waren. Als Leyya die Augen flackernd öffnete und in Purans Gesicht über ihr sah, spiegelten seine Augen ihr Verlangen und ihre Leidenschaft wieder, die sie empfand. Er keuchte ungehalten und stützte sich neben ihr am Bett ab, ehe er den Kopf zu ihrem senkte und sie fordernd küsste.

„Du hast mir so gefehlt, Liebster…“, stöhnte die kleine Heilerin ergeben unter ihm und schrie dann laut, als er plötzlich das Tempo steigerte und seine Bewegungen intensivierte. Japsend schlang sie die Beine um seinen Unterleib, um ihn mehr spüren zu können, um ihm so nah zu sein wie sie konnte… sie wollte, dass es niemals aufhörte.

„Ich weiß, ich bin ein Vollidiot… ich hätte dich nicht nächtelang alleine lassen sollen…“, seufzte er dann, als sie sich unter ihm laut stöhnend hin und her wand wie ein zappelnder Fisch, ergriffen von der Ekstase des Höhepunkts, die sie daraufhin packte. Er hatte Schwierigkeiten, sie festzuhalten, und packte unruhig ihre schmalen Hüften, während die kleine Frau den Kopf zurück in die Kissen warf und sich heftig nach hinten durchbog, um ihren Unterleib dichter an seinen zu pressen. Dann erschlaffte sie in seinen Armen und sank schwer atmend zurück auf die Matratze, benebelt von der Hitze in ihrem Inneren, die nur ganz langsam abzuflauen begann. Mit einem weiteren, letzten Stoß beugte er sich wieder über sie und ein lustschweres Stöhnen kam aus seiner Kehle, als er das Gesicht in ihren Haaren vergrub und sich schließlich in ihr ergoss. Leyya umarmte zitternd seinen Rücken und schmiegte sich liebevoll an ihn wie eine weiche Wolke, die ihn langsam und behutsam wieder zurück auf die Erde trug, als das Feuer langsam erkaltete.

Puran stöhnte erneut, als er sich vorsichtig aus ihr zurückzog und sich von ihr herunter rollte. Dabei schnappte er die Bettdecke vom Fußende und warf sie provisorisch über sie beide. Leyya schmuste sich abermals an ihn, als er jetzt auf dem Rücken lag und einen Arm um ihren zierlichen Körper legte.

„Ach, jetzt haben wir ja gar nicht deinen Heilzauber getestet.“, fiel ihm ein, sobald er wieder zu Atem gekommen war. Neben dem Bett auf dem Nachttisch lag jetzt das zuyyanische Messer. Leyya seufzte.

„Ich kann das doch nicht bei dir…“

„Na, an wem sonst? Dir selbst? Damit du noch weniger Kraft hast für deinen Zauber?“ fragte er sie verdutzt. Keuchend schob er sie leicht von sich und setzte sich auf, um nach der Waffe zu angeln. Leyya setzte sich auch auf und errötete.

„Aber… das kann ich doch nicht jetzt…? Ich meine, jetzt bin ich so aufgewühlt von dem eben…“ Sie schwiegen eine Weile, in der Puran offenbar interessiert das Messer musterte und die Frau ihren nackten Mann, der viel hübscher war als jedes Messer. Als er sie plötzlich wieder ansah, fuhr sie zurück und fragte sich warum sie sich erschrak; es war doch nur Puran.

„Tu es für mich, Leyya.“, bat er sie dann dumpf, „Du kannst das.“ Er ließ keine weiteren Widerworte zu und sie schnappte nach Luft, als er mit dem Messer einen winzigen, nicht wirklich tiefen Schnitt auf seinen Oberarm zog. Es trat kaum Blut aus und es schmerzte eigentlich auch nicht mehr als es bei jedem anderen Messer geschmerzt hätte. „Die Klinge ist verdammt scharf… aber das sind die unserer Schwerter ja auch, daran wird es kaum liegen…“ murmelte der Mann verblüfft und sah auf den kleinen Schnitt auf seinem Arm, ehe er ihn seiner Frau unter die Nase hielt. „Jetzt mach ihn zu.“

„Aber was, wenn ich es nicht kann?!“ schnappte sie erbleichend, „Oh Himmel, Puran, du kannst doch nicht…?!“

„Dann werde ich schon nicht an dem kleinen Kratzer sterben!“ Er verdrehte die Augen, „Willst du jetzt ein Heilmittel erfinden oder nicht?“ Die kleine Frau senkte verwirrt den Kopf, ehe sich ihre Mimik veränderte und sie tief Luft holte.

„Ich werde es versuchen. Verzeih mir, Puranchen, wenn ich dir wehtue… vielleicht ist es unangenehm, die Zellen zu regenerieren.“ Er machte sich auf Schlimmes gefasst, als sie ihre Hand auf den Schnitt legte und begann, sich zu konzentrieren. Sie flüsterte leise Worte zu den Geistern der Mutter Erde, die ihr helfen sollten, lebende Zellen zu erschaffen und den Schnitt verschwinden zu lassen, als ihre Handfläche über dem kleinen Schnitt schwach aufleuchtete. Puran beobachtete die Anspannung in Leyyas Gesicht und spürte, wie eine klamme Kälte durch seinen Arm zog, die sich verstärkte, sobald das Leuchten heller wurde. Dann flauten Kälte und Licht plötzlich ab und Leyya ließ keuchend ihre Hand von seinem Arm sinken, tief das Haupt senkend.

„Meine Kraft reicht… einfach nicht für mehr!“ wisperte sie, „Bitte, Mutter Erde… gib mir… mehr geistige Kraft für… einen Moment nur…“ Sie atmete heftig ein und aus und Puran hob die Hand, um ihr über den Kopf zu streicheln. Der Schnitt war nicht verschwunden.

„Entspann dich, du hast dein Bestes gegeben…“, versuchte er es, doch sie zischte und entfloh seiner Hand, um grimmig auf seinen Arm zu sehen.

„Aber er ist noch da! Es funktioniert nicht…“

„Dann wirst du üben und eines Tages wird es gehen. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, Leyya. Ich habe schon gespürt, dass sich irgendetwas tut… aber es war eben noch nicht ganz soweit. Das macht doch nichts… hab keine Angst.“

„Aber dank meiner Unfähigkeit hast du jetzt eine Wunde und bald eine Narbe!“ jammerte sie unglücklich und er lachte auf.

Das nennst du eine Narbe, na hör mal, ich kämpfe seit Jahren gegen diese Bastarde von Zuyya, ich habe Schlimmeres eingesteckt als das da.“ Er zog die Decke zurück und sah glucksend auf seinen Oberschenkel, den eine unschöne, größere Narbe zierte, die noch aus Kadoh stammte. „Der Krieg zeichnet uns alle, Leyya. Es sind Zeichen, für die wir dankbar sein sollten, sie beweisen, dass wir stärker waren als das, was uns angegriffen hat… wir haben es immerhin überlebt.“ Er wuschelte ihr väterlich durch die Haare und schmollend lehnte sie sich gegen seinen Oberkörper, während sie langsam wieder zurück ins Bett sanken und sich hinlegten. Eine ihrer Hände fuhr spielerisch über seine Brust hinab, während sie an die Wand sah.

„Ja… bisher haben wir das.“, war ihre dumpfe Antwort.
 

Sie hatte Puran in den Bergen von Kadoh ein Versprechen gegeben; eigentlich weniger ihm als sich selbst. Aber sie hatte versprochen, dafür zu kämpfen mit aller Kraft, die sie hatte, einen Heilzauber zu erfinden, der die von zuyyanischen Schwertern geschlagenen Wunden ebenso heilen könnte wie andere Zauber andere Wunden verschwinden lassen konnten. Und in jener Nacht entschloss sich die junge Frau verbiestert, diesem Versprechen wirklich ein für allemal nachzukommen. Sie würde es schaffen; sie musste! Eines Tages würde sie die garstigen Wunden bezwingen und sie würden sich ihrem Willen, sie zu heilen, beugen, so, wie sich die Winde vor Puran verneigten und seinen Händen folgten. Leyya hatte in den vergangenen Monden in Vialla viel und gut gelernt bei den obersten Mitgliedern des offiziellen Heilerrates. Aber sie war noch keine vollwertige Heilerin… eine solche Technik würde das definitiv ändern.

So übte sie, jeden freien Moment, in dem sie Kraft aufbringen konnte. Sie war Puran dankbar für das Messer, das er ihr gebracht hatte, anhand welchem sie hoffte, die Eigenarten dieser seltsamen Waffen herauszufinden, die sich äußerlich gar nicht von den ihren unterschieden, abgesehen von seltsamen Zeichen und Verzierungen. Vielleicht war es ein bestimmtes Metall, das verhinderte, dass die tharranischen Heilzauber die Wunde schlossen… vielleicht waren diese Waffen auch mit einem dämonischen Zauber belegt, und es galt, den Geistern der Erde mit aller Macht zu befehlen, gegen die Geister von Zuyya anzukämpfen…

Der Winter kam in langen, trüben Tagen über das Land und drückte auf die Stimmung der Menschen. Die Panik ob des Todes des Kohdars Clans hatte sich zwar gelegt, aber die düsteren Schatten blieben über dem Land hängen, als wollten sie den Menschen das Licht jetzt endgültig wegnehmen. Am Ende des Wintermondes starteten die Zuyyaner einen plötzlichen, heftigen Angriff auf die Mauern von Vialla; durch die Demotivation und Furcht der Armee von Tharr wäre es an jenem Tag beinahe um das Reich geschehen gewesen. Im letzten Moment war es Tabaris Verdienst, der den Himmelsgeistern befahl, ihm zu folgen, und mit einem erneuten Wirbelsturm wie dem bei Aughot die Reihen der gegnerischen Soldaten zerschmetterte, bis die Letzten freiwillig zurück an den Fluss flohen. Das war der Moment, an dem der Tiefpunkt der Schatten überwunden wurde; plötzlich schöpften die Menschen neue Hoffnungen aus diesem Rückschlag in letztem Augenblick.

Sie hatten viele Männer verloren, ja, und die Zuyyaner schienen unbezwingbar; aber sie hatten immer noch den Herrn der Geister; den obersten Sprecher der Mächte der Schöpfung. Solange sie den hatten, hatten sie auch die Hilfe von Himmel und Erde.

„Ein Hoch auf den Herrn der Geister!“, riefen die Männer der Armee und jubelten, und Tabari senkte nur verbiestert das Gesicht, sich höflich verneigend, während der König von Kisara flankiert von dem von Intario und dem von Senjo vor ihm trat und seinen Schutzhelm abnahm.

„Ich gratuliere zum erneuten Sieg, Majestät.“, sagte der Blonde, und der König lachte.

„Der Jubel gilt nicht mir, sondern Euch, Herr. Ihr… seid ein guter Heerführer und Herr der Geister. Hebt Euer Haupt und nehmt mit Stolz die Ehre an, die Euch das Volk entgegen bringt… Ihr verdient sie.“

„Oh, nein, Majestät.“, widersprach Tabari und erhob sich wieder. „Ehre verdiente der Mann, der den Krieg zu beenden vermöge, mein König.“
 

Mit dem Winter lichtete sich auch der Schatten über Vialla; langsam, aber es war, als würden die Menschen aus einer längeren Trance der Düsternis erwachen und jetzt neue Kraft schöpfen können, genau wie die Blumen die erste Frühlingssonne in sich aufzunehmen versuchten, um prächtig und in allen Farben zu erblühen.

Der Tag, an dem Leyya zum ersten Mal ihren Heilzauber vollendet und erfolgreich anwenden konnte, war ein besonderer Tag für die junge Frau. Und Puran war über alle Maßen verblüfft über ihren Erfolg, als sie es zum ersten Mal schaffte, den kleinen Schnitt auf seinem Arm verschwinden zu lassen. Sie war schon den ganzen Tag über unheimlich aufgeregt gewesen aus irgendeinem Grund, den er nicht verstand, und sie hatte plötzlich offenbar das Bedürfnis verspürt, ihm zu beweisen, was für eine wunderbare Ehefrau sie sein konnte. Sie hatte am frühen Abend im Zimmer auf ihn gewartet, als er von einer der Besprechungen zum weiteren Vorgehen zurückgekehrt war, etwas gerädert von der ewigen Unruhe im Palast, und er war verdutzt gewesen: sie hatte das Zimmer schön zurecht gemacht und auf dem kleinen Stubentisch für sie beide gedeckt. Und er war noch verblüffter gewesen über das, was angerichtet gewesen war.

„Ich habe dir Kaffee besorgt, weil du in der letzten Zeit oft gesagt hast, du hättest gerne welchen, wie in Dokahsan!“ hatte sie mit einem liebevollen, glücklichen Strahlen erklärt. „Und ich habe dir Pastete gemacht… ich habe zwar in Kadoh versprochen, ich würde sie dir machen, wenn der Krieg vorbei ist, aber… aber ich wollte nicht länger warten, ich wollte das unbedingt jetzt machen! Ich habe mir viel Mühe gegeben… ich habe noch nie Pastete gemacht, ich hoffe, sie schmeckt dir, mein Liebster! Heute ist ein wundervoller Tag, ich bin glücklich!“

Puran war zu verdattert gewesen über ihren Eifer, um großartig zu fragen. Sie war schon am Mittag sehr euphorisch gewesen, als er zu der Besprechung aufgebrochen war, aber da hatte er noch das Gefühl gehabt, sie versuchte, irgendetwas zu unterdrücken. Am Abend ließ sie jedenfalls alles heraus; ihre Pastete war ausgezeichnet, er war dank seiner Verwirrung über ihre Euphorie leider kaum dazu gekommen, ihr das zu sagen. Davon abgesehen, dass es ihn tierisch amüsiert hatte, zur Pastete Kaffee zu trinken, was eigentlich absolut überhaupt nicht zusammen passte. Das war nicht von Belang… sie hatte sich Mühe gegeben, es war hervorragend und sie hatte es nur für ihn getan, was ihn irgendwie peinlich berührte. So viel Mühe war er doch gar nicht wert… es beschämte ihn manchmal, wie abgöttisch seine Frau ihn liebte. Nicht, weil sie sich peinlich beneähme, sondern nur, weil er sich selbst so unwürdig vorkam, so eine wundervolle Frau abbekommen zu haben. Leyya war wirklich die beste Frau der ganzen Welt. Er war sicher, dass keine auf ganz Tharr ihren Mann so sehr lieben konnte wie Leyya ihn liebte. Und kein Mann könnte seine niedliche Frau so sehr verehren wie er Leyya…

Als sie dann mit dem Essen fertig gewesen waren, hatte Leyya völlig eifrig unbedingt ihren Heilzauber wieder einmal üben wollen und er hatte sich bereitwillig erneut sachte in den Arm geschnitten, um ihr den Gefallen zu tun als Gegenleistung für ihre liebevolle Mühe. Er hatte erwartet, dass es in der Aufregung ohnehin nicht funktionieren würde… und dann funktionierte es unerwarteter Weise doch.

„Ich habe es geschafft?!“ rief die Heilerin selbst verdutzt und starrte auf den Schnitt, oder besser den Arm, denn der Schnitt war verschwunden. Puran blinzelte ebenfalls, während er auf der Couch saß, die Frau quer auf seinem Schoß.

„Scheint ja so!“ machte der Mann auch, „Ich meine… er ist weg!“

„Ich… ich habe es geschafft, die Geister der Mutter Erde zu zähmen…?“, wisperte Leyya auf seinem Schoß, dann erhob sie sich rasch und begann plötzlich, aufgeregt wie ein Kind auf und ab zu hüpfen. „Ich habe doch gleich geahnt, heute würde ein guter Tag! Ich habe es gewusst, als ich aufgewacht bin! Die Geister haben einfach ein gutes Gefühl in mir verursacht, es… es ist ein guter Tag, Puran!“ Sie jubelte und freute sich so sehr, dass auch er trotz aller Müdigkeit nicht anders konnte als liebevoll zu lächeln. Sie nahm seine Hände in ihre und hüpfte so weiter, während er lachend sitzen blieb.

„Ist ja gut, beruhige dich endlich mal…“, versuchte er, sie zurück auf den Teppich zu holen, „Das ist toll, dass du es geschafft hast, Leyya!“ Sie kicherte, als er auch langsam aufstand und sie zärtlich in seine Arme zog. Grinsend beugte er sich über sie und küsste ihren Mundwinkel. „Das heute Abend war echt niedlich von dir… ich bin ganz gerührt, um ehrlich zu sein. Jetzt haben wir ja eigentlich was zu feiern nach dem Erfolg, oder?“ Leyya strahlte ihn an, als er sie zärtlich auf seine Arme hob und sie kurzer Hand in Richtung Schlafzimmer trug. Sie hängte sich glücklich an seinen Hals und schmiegte sich dabei an ihn. Sie wollte allen Geistern für diesen schönen Tag danken… sie hatte einfach das Gefühl, er würde alle die vergangene Trauer wett machen.

Kohdars und Ruja waren tot… aber sie lebten. Sie lebten und mussten das genießen, so lange sie konnten. Und das würde sie von ganzem Herzen tun…

„Wir haben nicht nur das zu feiern, mein Liebling.“, offenbarte sie ihm, als er sie vorsichtig auf das Bett legte, und Puran hielt kurz inne, gerade dabei, am Verschluss ihres Kleides zu nesteln.

„Ach?“ fragte er ahnungslos; obwohl ihn ihr Anliegen eigentlich weit weniger hätte überraschen dürfen.

„Puran, du wirst bald Vater…“
 

Er wunderte sich selbst darüber, dass er für einen Moment seine Sprache verlor. Was überraschte es ihn? Sie schliefen eigentlich fast jede Nacht miteinander, oft sogar mehrmals; war es so absonderlich, dass sie da schwanger wurde? Aber er richtete sich benommen auf und setzte sich neben sie auf das Bett, nachdem er das gehört hatte, und musste erst einmal registrieren, was sie gesagt hatte.

Er wurde Vater. Sie trug sein Kind in ihrem Bauch.

Verblüffender Weise dachte er nicht als erstes an die Vision, die er vor Monden gehabt hatte und die ihm so einen Schrecken eingejagt hatte; den Traum von der Wiedergeburt seines Großvaters, den er verdrängt hatte nach dem Tod der Kohdars. Nein, als erstes kam ihm in den Kopf, dass er nie zuvor die Möglichkeit bedacht hatte, dass er beim Sex ja ein Kind zeugen könnte. Seit Jahren hatte er mit diversen Frauen geschlafen, mit fast allen über längere Zeit sehr oft, und nie war eine schwanger geworden; und auch mit Leyya war er doch schon so lange verheiratet, wieso wurde sie jetzt plötzlich schwanger?

Der zweite Gedanke, der ihm kam, erfüllte ihn plötzlich mit tiefster Freude und großem Stolz; es waren einfache Instinkte, die in ihm wach wurden, als er langsam in seinen Kopf bekam, dass seine Frau ein Baby erwartete. Sein Baby… ein gemeinsames Kind. Als wäre Leyyas Euphorie auf ihn übergegangen verzog sich sein Gesicht plötzlich zu einem Lächeln; dann wurde es zu einem Grinsen, zu einem glücklichen Strahlen. Es war ein gutes Gefühl… es war leicht und warm, angenehm. Ein Baby war etwas Gutes… es bedeutete Leben.

Neues Leben inmitten allen Todes im Land… das musste doch ein gutes Zeichen sein!

Die Freude über diese Nachricht, die ihn jetzt wie eine Welle überrumpelte, verdrängte sämtliche Furcht aus seinem Geist. Es gab Kelar Lyra nicht mehr und auch nicht die alberne Vision. Vielleicht hatte seine Mutter doch recht gehabt? Es war nicht von Belang… nicht in diesem Moment.

„Du… du bist schwanger? Moment, deshalb der ganze Hokuspokus heute?!“, keuchte er fasziniert und Leyya erstrahlte unter ihm. Sie nickte aufgeregt.

„Ich habe ewig mein Mondblut nicht vergossen; heute habe ich mich dann endlich getraut, es näher zu untersuchen! Ich habe es noch keinem erzählt und… nach der Vision, die du hattest, hatte ich Angst, es dir zu sagen… aber… ich bin so froh! Du scheinst es ja doch nicht schlimm zu finden?“

„Um Himmels Willen, nein!“, japste er, dann beugte er sich über sie und schloss sie liebevoll in die Arme. „Leyya, du liebe Zeit, wir bekommen ein Kind… das… das ist wunderschön! Das ist… ich kann… mich plötzlich gar nicht mehr fürchten… es ist, als hätte der bloße Gedanke daran, bald Vater zu werden, alle Angst aus mir verjagt…“ Sie lachte vor Freude, während sie ihn umarmte und sie sich im Bett einmal herum rollten, bis er unten lag und sie über ihm. Sie strampelte aufgeregt mit den Füßen.

„Du freust dich!“, keuchte sie außer Atem und strahlte. „Ich… ich bin die glücklichste Frau der Welt, Puran…“

Das glaubte er ihr ohne zu zögern, und er lächelte sie an mit aller Liebe, die er für sie empfand, als er ihr Gesicht sanft zu seinem herab zog und sie sich leidenschaftlich küssten. Es war ein flüchtiger, kurzer Moment des puren Glücks, den sie beide teilten, als sie sich so küssten und in liebevoller Zärtlichkeit berührten.

Ein kurzer Lichtschein in der Dunkelheit, die von Norden wieder herauf zog und die die Stadt dieses Mal in tieferen Schatten stürzen sollte als jemals zuvor. Und die Finsternis würde das kleine Lichtlein verschlingen und für lange Zeit erlöschen lassen…
 


 

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Lol xD das Übergangs-Kapi xD Am Anfang ist noch Oktober 981, am Ende ist so Ende März 982 <3

Seelen im Wind

Als Leyya die Neuigkeiten verbreitete, war die Freude im Bekanntenkreis groß. Tabari freute sich wie ein kleines Kind und verbrachte den Rest des Tages damit, abwechselnd Meoran und Tare Kohdar zu schütteln und ihnen immer wieder zu erzählen, dass er vermutlich noch in diesem Jahr Großvater würde. Während die beiden Männer Tabaris Freude teilten und es als willkommene Erheiterung in ihrem vergangenen Verlust ansahen, piekte Neron Shai seiner immer noch Verlobten in den Bauch.

„Wieso bist du eigentlich noch nicht schwanger, Saja?“

„Weil du ein Hornochse bist, mein Guter…“, war die Antwort der blonden Frau und sie schob empört seine Hand von ihrem Bauch. Die kleine Saidah freute sich tierisch.

„Leyyachen bekommt bald ein Baby!“, johlte sie und rannte dabei lachend und kichernd durch den Salon, im Slalom um alle Erwachsenen herum und wild mit den Ärmchen rudernd. Inzwischen war sie vier. „Dann kann ich mit ihm spielen! Darf ich es wiegen, zudecken und füttern? Ja?“

„Es muss doch erst mal auf die Welt kommen, Dummerchen.“, machte ihr Vater glucksend, als das Mädchen gegen seine Beine rannte und sich johlend an ihm festhielt. Leyya kicherte über ihre Freude. Ja, es wäre gut für Saidah, einen Spielgefährten zu bekommen; sie hatte hier keine anderen Kinder zum Spielen, höchstens mal Kinder der Bediensteten im Schloss, die sich aber offensichtlich eher etwas gruselten vor der hübschen, klugen Saidah. Saidah war eine kleine Schwarzmagierin, und sie war es mit Haut und Haaren. Man sah es nicht äußerlich, jedes nichtmagische Kind konnte genauso schwarze, lange Haare und blaue Augen haben; es war mehr ein Gefühl, das es deutlich machte, wenn man mit ihr sprach oder sie ansah. Auch, wenn die Kleine noch nicht in Worte fassen konnte, was mit ihr geschah, so war allen klar, dass ihre Sehensgabe sehr groß und mächtig sein musste; sie war eben eine Erbin des altehrwürdigen Chimalis-Clans.

Puran nutzte den frohen Moment, um sich mit seiner Mutter zu versöhnen; zu seiner Freude war sie es, die sich zuerst entschuldigte, bevor er zum Sprechen angesetzt hatte.

„Ich war ungerecht zu dir.“, behauptete sie dumpf und senkte den Kopf, als er vor ihr stand. „Ich kann dir nicht erklären, was… mit mir passiert ist, als wir uns damals bei Sonnenaufgang gestritten haben. Es ist… eine Intuition gewesen, die mir sagte, was ich in diesem Traum sehen soll…“

„Schon gut, mir tut es auch leid. Ich… war nicht wirklich mondelang böse auf dich, ich… ach, Mutter, lass uns das angehen wie erwachsene Menschen. Wir sind verschiedener Meinung; es mag ein schwerwiegender Unterschied sein, für welche Deutung wir uns entscheiden, aber wir sollten die Kraft haben, es mit erhobenem Kopf zu tragen. Ich bin bereit, die Konsequenzen auf mich zu nehmen, wenn ich zulasse, dass Leyya dieses Kind austrägt; ich brächte es doch nie übers Herz, es ihr zu verbieten. Es ist neues Leben und… es wird das Kind von mir und meiner geliebten Frau sein. Es sollte nicht Grund zum Streit sein, sondern Grund zur Freude… denke ich.“ Er lächelte kurz und verneigte sich vor ihr, und sie sagte nichts, sondern umarmte ihn nur schweigend, das Gesicht in seiner Schulter vergrabend. Verdutzt über die emotionale Reaktion, die er so gar nicht von ihr kannte, brauchte er etwas, um ihre liebevolle Umarmung zu erwidern. Wenn sie ihn umarmte, fühlte er sich immer wieder wie ein Kind… es tat gut, der Verantwortung des Erwachsenenlebens für einen Moment zu entfliehen.

„Ich bin so unendlich stolz auf dich, Puran.“, versetzte sie leise und er lächelte, während er hinter sie in den Raum sah und feststellte, dass die anderen alle in andere Gespräche vertieft waren. Seine Mutter hasste es, vor anderen Emotionen zu zeigen… „Du bist so erwachsen geworden und… irgendwie schmerzt es mich immer noch, wenn ich wieder merke, dass du nicht mehr mein kleiner Junge bist, der ohne es zu hinterfragen tut was ich sage und zu mir aufsieht… du hast deinen eigenen Geist. Und das ist gut so! Jetzt… wirst du Vater… und ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du auch ein so wunderbares Kind bekommst wie ich es habe.“ Er lächelte.

„Du dumme Frau.“, tadelte er sie sanft, „Egal, was zwischen uns stehen mag, ich werde im Herzen immer dein kleiner Junge bleiben. Das weißt du doch… ich liebe dich doch, Mutter.“ Nalani sagte nichts, aber er wusste, dass sie seine Worte in Gedanken mit größter Hingabe erwiderte.
 

Es war an einem Morgen kurz vor dem Vollmond des Kälbermondes, als Puran von wildem Geschrei draußen plötzlich geweckt wurde. Entsetzt fuhr er aus dem Bett hoch und starrte zum Fenster, während Leyya neben ihm gähnte und sich auf den noch flachen Bauch drehte, wobei die Decke von ihrem nackten Körper rutschte.

„Was ist denn jetzt…?“, seufzte sie, „Ist etwas passiert…?“

„Da draußen im Hof ist irgendein Aufruhr.“, stellte der Mann besorgt fest, und Leyya schenkte ihm einen sehnsüchtigen Blick, als er sich erhob und sich rasch anzuziehen begann. Sie setzte sich auf.

„Musst du jetzt weg?“, fragte sie maulig, „Ich würde viel lieber noch weiter mit dir kuscheln… oder vielleicht auch mehr machen…“

„Ich weiß, vergib mir. Nachher ist etwas Wichtiges passiert, da wäre es mir peinlich, wegen sowas alles verpasst zu haben.“

„Du magst es doch sonst vor dem Aufstehen immer so gerne.“, behauptete sie und kicherte dabei, sich durch die langen, dunklen Haare fahrend. „Kommst du denn zurück, wenn du geguckt hast, was los ist? Ich warte dann solange hier auf dich…“ Er grinste sie an und wollte gerade etwas erwidern, da klopfte es an die Schlafzimmertür; aber als Puran noch den Kopf drehte, flog sie auch schon auf und herein schob sich Tabaris Kopf. Leyya machte ein entsetztes Geräusch und bedeckte ihren entblößten Oberkörper.

„Huch!“, machte der Herr der Geister kurz, schüttelte aber schnell alle Verlegenheit ab. „Entschuldigt – Puran, rasch, komm runter, wir haben einen sehr eigenartigen Besucher bekommen!“ Der Jüngere schnaufte.

„So, und wer findet sich so wichtig, so kurz nach Morgengrauen hier anzutanzen?!“

„Es ist ein Bote des zuyyanischen Kaisers…“
 

Diese Faszination wollte sogar Leyya sehen, die sich ebenfalls schnell Kleidung überwarf, ehe sie zu dritt das Zimmer verließen. Im Hof direkt beim Eingang zum Palast hatten Wachen des Königs den Kundschafter in Ketten gelegt, sicherheitshalber, und so stand der uniformierte Mann jetzt in der Mitte des Hofes, umringt von Schaulustigen. Als die drei Könige kamen, machten die Leute artig Platz. Irgendwo am Rand versammelten sich auch die Geisterjäger und Puran hielt seine Frau vor sich fest, damit sie aus sicherer Entfernung sehen konnte, was geschah.

Der zuyyanische Botschafter machte ein gezwungen gefasstes Gesicht und linste unruhig nach allen Seiten, von denen er angestarrt wurde. Er hatte feuerrote Haare; bei Zuyyanern waren eigenartige Haar- und Augenfarben nicht unüblich, hieß es.

„Na ja, aber er könnte auch aus Kuyala kommen, die Leute in Kuyala haben auch rote Haare, obwohl sie keine Zuyyaner sind.“, behauptete Neron Shai großkotzig, „Vielleicht so ein Kollaborateur. Wir sollten ihn hängen.“

„Lassen wir ihn doch erst mal sagen, was er sagen will…“ Meoran schlug dem vorlauten Kerl gegen den Hinterkopf und Neron jammerte. „Wenn es uns missfällt, können wir ihn immer noch hängen.“ Die Stimme des Königs unterbrach die angeregte Diskussion auf dem Hof.

„Sprecht, Wachen!“, verlangte er nämlich, „Was ist das für ein Vogel?“

„Er kam mit dem Sonnenaufgang zum Nordtor, ganz allein, und bat um eine Audienz.“, erklärte der Soldat, der den Kerl zum Palast gebracht hatte. „Wir haben ihn durchsucht, er kam unbewaffnet. Sicherheitshalber haben wir ihn eingekettet, Majestät, damit er nicht versucht, wegzurennen oder gar zu zaubern…“

„Gute Arbeit. – Dann sag, was du zu sagen hast, Botschafter von Zuyya!“ Der König warf dem seltsamen Typen einen scharfen Blick zu. „Dein Gebieter schickt also eine Nachricht für uns?“

„Ich habe eine Botschaft von meinem Herrn, dem durchlauchten Kaiser des zuyyanischen Imperiums.“, erzählte er in perfekt gesprochener Dreiweltensprache. „Ich habe das Pergament in meiner Tasche, leider komme ich nicht heran, weil man mich eingekettet hat.“

„Wache, holt das Pergament!“, forderte der König. Ein Raunen ging durch die Menge und die Menschen tauschten verblüffte Blicke, als einer der Soldaten eine ordentlich verzierte und vergoldete Pergamentrolle hervorzog und sie dem König überreichte. Er öffnete sie seinem Herrscher gutmütig und der König von Kisara guckte verdutzt. „Was ist das denn für ein Kauderwelsch da?! Das kann ich nicht lesen!“ Der Zuyyaner schien ein Lachen zu unterdrücken in Anbetracht seiner Situation und sprach:

„Das hätte mich auch beeindruckt, wenn Ihr das gekonnt hättet, natürlich sind es Schriftzeichen der Zuyya. Wenn mir jemand das Papier vor die Nase hält, lese ich vor, mit Eurer Erlaubnis.“ Der König zuckte mit den Achseln.

„Was bleibt mir anderes übrig…“ So befahl er einem der Soldaten, dem Mann das Pergament vor das Gesicht zu halten. Der las vor:

„Wie lange soll es noch weitergehen mit dem Hin und her? Ich gestehe, ihr wehrt euch tapfer, Männer von Tharr. Tapferer, als ich angenommen hatte, und meine Geduld neigt sich dem Ende. So werde ich nicht länger hier sitzen und warten, sondern die Dinge eigenständig in die Hand nehmen. Ich habe mir Gedanken gemacht; dieses Land ist durchaus ein gutes Land und eure Männer sind tüchtig. Obwohl das ursprünglich nicht mein Anliegen hier war, werde ich euch Tharranern einen Vorschlag machen, der das alles ohne weiteres Blutvergießen beenden könnte. Ich ziehe meine Streitmacht augenblicklich zurück unter der Bedingung, dass Kisara ohne Einschränkungen unter mein Regime fällt. Es wird damit automatisch eine Kolonie des Imperiums der Zuyya. Ich verweise nur einmal auf die Großzügigkeit meines Angebotes; nehmt ihr es an, Tharraner, wird keiner von euch hier mehr sterben. Schlagt ihr es jedoch aus, wird meine Armee mit dem nächsten Morgenrot die Mauern von Vialla endgültig niederreißen und in Schutt und Asche legen, was auch nur zu einem Hauch von euch jemals erbaut worden ist. Es wird nicht länger hirnlose Kompromisse geben und ich werde mich nicht eher zurückziehen als Vialla gefallen ist. Und es wäre schade um die Stadt, oder nicht?“

Das war alles, was der Botschafter vorlas, und auf seine Worte herrschte Grabesstille auf dem Hof. Dann brach plötzlich lauter Protest aus den Reihen der Leute aus. Sie schrien und schimpften oder jammerten vor Panik, bis der König endlich die Hände erhob und zum Schweigen gebot.

„Ruhe!“, brüllte er dabei und fixierte den Kundschafter mit giftigem Blick. „Mit anderen Worten, dieser Brief ist nichts anderes als eine Drohung?! Wir… sollen uns ergeben oder sterben? Eine – wie war das? – zuyyanische Kolonie werden? Hat dein Herr wirklich geglaubt, es wäre so einfach?!“

„Ich fasse das so auf, dass Ihr das Angebot ablehnt?“, war die trockene Gegenfrage und der König von Kisara schnaubte.

„Kolonie!“, brüllte er, „Pah! Ich sage, die Männer in Kisara sterben lieber heldenhaft, als Sklaven von euch Bastarden zu sein! Ihr fallt über uns her, schlachtet Massen von Menschen und denkt dann, wir würden uns friedlich ergeben?!“ Er erhielt zustimmendes Brüllen aus den Zuschauerreihen und die Geisterjäger sahen sich kurz an. Tabari schloss kurz die Augen und seufzte tief.

„Das… ist also das Ende der Belagerung. Das bedeutet… morgen bei Sonnenaufgang wird sich dieser Krieg endlich entscheiden.“ Leyya schauderte in Purans Armen. Das klang schlimm… das gefiel ihr gar nicht.

„Zu lange haben wir uns hier hinhalten lassen!“, rief der König da zornig, „Der Kaiser sagt, er macht keine Kompromisse! Dann machen wir auch keine… wir werden Vialla bis zum letzten Mann verteidigen, bis zum letzten Tropfen Blut, der uns bleibt!“ Das Volk grölte zustimmend. „Dieses Land ist ein freies Land, ein Land Tharrs, niemals wird es eine Kolonie werden! Mit Blut wurde das Reich einst zusammengeschmiedet, jetzt wird es mit diesem Blut verteidigt werden, wenn es sein muss!“ Wieder Grölen, dann wandte sich der König unerwartet an den Rat der Schwarzmagier. Sein Blick galt vor allem Tabari, der ehrfürchtig den Kopf neigte. „Was sagt Ihr, Herr der Geister? Was geschieht mit diesen Scharlatanen?“ Alle Augen richteten sich jetzt auf den Blonden und Tabari räusperte sich, bevor er ein paar Schritte vortrat. Die Menschen vor ihm machten ihm brav Platz, bis er vor dem Zuyyaner und den Wachen stand, die noch immer das Pergament hielten.

„Gib mir das, Soldat.“, befahl er grob und verlangte nach dem Papier, das ihm sogleich gegeben wurde. Der rothaarige Kundschafter fixierte Tabari aus verengten Augenschlitzen, als der das Pergament vor ihn hoch hielt, den Arm dabei weit von sich streckend. Plötzlich war es still und ungläubig starrten alle gebannt auf die Konfrontation der beiden Männer. Der Zuyyaner schrumpfte unter Tabaris Blick richtig zusammen; dann sprach der Blonde.

„Wenn eure Männer morgen früh hier ankommen…“ Das gesagt ließ er das Pergament in seiner Hand ohne eine einzige Bewegung mit bloßer Geisteskraft in Flammen aufgehen; der Kundschafter weitete die Augen stumm, ebenso wie manch anderer, als der Herr der Geister den Kopf hob und die brennenden Teile des Briefes zu Boden fallen ließ, wo sie jämmerlich vor sich hin qualmten. Er fuhr fort. „Dann werden sie brennen.“
 

Damit war es beschlossen. Die Aufregung hinter den Mauern von Vialla war groß, als der Gesandte des zuyyanischen Kaisers zurückgeschickt wurde, um seinem Herrn zu berichten. Zweifelsohne würden die beiden Heere am nächsten Sonnenaufgang aufeinander treffen, und das Gefühl, dass diese eine Schlacht so manches entscheiden würde, drückte den Menschen schwer aufs Gemüt. Sofort ging es ans Aufrüsten und Rekrutieren; jeder Mann, der fähig war, eine Waffe zu tragen, wurde jetzt Teil der Armee. Viele waren noch sehr jung oder schon sehr alt. Und obwohl die Furcht über der Stadt hing, gemeinsam mit dem düsteren Schatten, der sie alle bedrohte, waren die Soldaten entschlossen, ihr Bestes zu geben und bis zum letzten Mann zu kämpfen, wenn es sein musste. Sie würden keine zuyyanische Kolonie sein!

Sie waren Tharraner und dafür würden sie kämpfen.
 

Tabari stand auf dem kleinen Balkon, der an seinem Zimmer war, das er mit seiner Frau teilte. An die Brüstung gelehnt sah er schweigend nach Westen ins Gesicht der untergehenden Sonne. Wie eine blutrote Feuerkugel schob sie sich Stück für Stück über den Horizont, um bald dahinter verschwunden zu sein und die Menschen mit den Schatten alleine zu lassen. Es war ein klammes, ungutes Gefühl, das den Mann jetzt überkam; vielleicht lag es an der heraufziehenden Kälte der Nacht… er konnte es nicht genau sagen.

„Geister von Himmel und Erde…“, murmelte er und schloss dabei andächtig die Augen, als er die Hände auf die Brüstung legte und spürte, wie die höchsten Geister zu ihm kamen und ihm zuhörten. „Sprecht, sind wir nicht alle eure Kinder? Ist dieses Land nicht eure Heimat genauso wie unsere? Dann steht uns morgen bei, Geister von Himmel und Erde… sorgt dafür, dass eure Kinder wieder in Frieden leben können. Vielleicht ist es ja dann vorbei…“ Er sagte nichts weiter und sah schweigend wieder nach Westen, wo die Sonne jetzt fast ganz untergegangen war. Die Geister zischten und wisperten in seinem Kopf. Es waren beunruhigende Klänge… es war wie ein eigenartig wissendes Gefühl, eine Ahnung, die er nicht benennen konnte. Obwohl sie düster war, hatte er keine Furcht…

Er hob den Kopf, als er Schritte hinter sich hörte und wie seine Frau sich hinter ihn stellte. Das Wispern der Stimmen aus der Geisterwelt verstummte, als Nalani sprach.

„Das war waghalsig von dir. Du hast den zuyyanischen Kaiser ziemlich provoziert, als du das Pergament verbrannt hast.“

„Was hätte ich sonst tun sollen?“, fragte er und drehte sich jetzt zu ihr um. „Mich unterwerfen?“

„Du hättest es etwas… diskreter angehen können.“, murmelte sie und er schwieg, als sie den Kopf senkte. „Ich habe Befürchtungen… Stimmen im Schatten, die zu mir von Unheil und Verderben sprechen.“

„Die haben wir alle.“, meinte er mit einem wohlwollenden Grinsen, obwohl sie ihn weiterhin nicht ansah. Schließlich, als sie nichts entgegnete, stieß er sich von der Brüstung ab, schritt an ihr vorbei und hinein ins Zimmer. „Du verstehst nicht viel von Kriegsführung, denke ich.“, fuhr er dann ernster fort. „Mein Vater hat mir davon viel beigebracht, als ich ein Junge war. Es geht nicht um die Provokation, Nalani, und auch nicht um mich, sondern um die Soldaten, die uns dienen. So zu sprechen provoziert vielleicht den Feind, aber es stärkt den Kampfgeist und das Selbstvertrauen unserer Männer, und das ist unglaublich wichtig in diesem Moment. Sie sollen wissen, dass wir zu dem stehen, was wir behaupten, und zwar mit Leib und Seele. Sie sollen sehen, dass sie keine Gnade zeigen sollen, denn die Zuyyaner werden wohl kaum welche für uns übrig haben. Sie sollen spüren, dass diese Feinde trotz ihrer gewaltigen Übermacht besiegbar sind! Zuyyaner sind keine Geister, sie sind Menschen aus Fleisch und Blut, genau wie wir. Und eines haben wir ihnen ganz klar voraus… wir haben Seelen. Bei den willenlosen Marionetten des größenwahnsinnigen Kaisers bin ich mir da nie sicher.“

Die Frau seufzte, als sie ebenfalls wieder ins Zimmer kam und die Balkontür hinter sich schloss und verriegelte. Dann zog sie die Vorhänge zu und folgte ihm ins Schlafzimmer.

„Und dennoch… ist mein Geist im Inneren unruhig, Tabari…“, gestand sie dann dumpf, als beide auf ihrer Seite des großen Bettes standen, sich einander den Rücken kehrten und sich auszuziehen begannen. Ihr Mann sah über die Schulter zu ihr hin und beobachtete, wie ihr Kleid von ihrem schlanken Körper rutschte, das sie geöffnet hatte. Seine Augen verfolgten jeden Zoll ihrer blassen, weichen Haut, den sie jetzt entblößte, und er grinste, als er sich an die alten Zeiten erinnerte, in denen sie ihn nicht an ihren hübschen Körper herangelassen hatte; damals hatte er sich gehütet, sie öfter so intensiv anzusehen, weil er genau gewusst hatte, dass es ihn nur zur Verzweiflung treiben würde, wenn er sie nackt sah und dann die Gewissheit hatte, sie nicht besitzen zu können.

Besessen hatte er sie nie… aber er sich an dem Tag, an dem er sich von seinem verrückten Vater abgewandt hatte, auch von dem Gedanken abgewandt, Männer müssten eine Frau besitzen. Das war nicht nötig… und Tabari hatte nie bedauert, Nalani nicht besitzen zu können.
 

Sie wechselten keine Worte mehr, als sie ins Bett kletterten und erst schweigend dalagen. Dann rollte Tabari sich seufzend auf die Seite zu seiner Frau und umarmte ihren nackten Körper zärtlich, sie dichter an sich heran ziehend.

„Hast du Angst, meine Königin?“, murmelte er gegen ihren Nacken, ehe er sich vorbeugte und ihren Hals küsste. Nalani schloss die Augen und seufzte leise, als sie spürte, wie seine Hände über ihren Bauch hinauf glitten und wie sie ihre Brüste erfassten, um sie erst sanft, dann etwas energischer zu drücken.

„Nicht vor der Schlacht…“, antwortete sie, „Nur vor der Zukunft. Was wird aus uns allen werden, Tabari?“ Zu ihrer Verblüffung war seine Antwort zunächst nur ein amüsiertes Lachen. Als sie sich empört zu ihm herumdrehen ließ und ihrerseits die Arme um seinen Hals legte, um ihren Unterleib gegen seinen bereits harten Mannknochen zu pressen, grinste er sie an.

„Eines Tages werden wir alle Staub und Luft sein, Nalani. Früher oder später… in sofern… spielt es doch keine Rolle und wir sollten die Zeit, die wir in dieser Welt haben, für… weltliche Dinge nutzen, oder?“

Sie wusste nicht genau, was es war, aber etwas war anders in dieser Nacht, als sie miteinander schliefen und sie sich leise stöhnend an seinen Oberkörper klammerte. Und es war nicht die Tatsache, dass er ausnahmsweise mal oben war. Vielleicht lag es am drohenden Schatten… Nalani sah keuchend an die düstere Decke des Zimmers, während sie die Hüften anhob und sich in heftiger Ekstase an ihren Mann presste, als er den Kopf zu ihrem herab senkte und sie unsanft in den Hals biss.

Sagt mir, Himmelsgeister… was ist es, das mich so nervös macht? Was ist es, das ich tief in meinem Inneren… schon so lange fürchte und das mit jedem Tag, den ich hier bin, schlimmer und heftiger wird…?

Doch die Geister schwiegen sie an, und die Frau schloss bebend die Augen, als sie das Gefühl hatte, die Mächte der Schöpfung würden sie in Grund und Boden starren wollen. Sie starrten nur von oben herab auf die Sterblichen und sagten kein Wort… aber sie wussten genau die Antworten auf alle Fragen.

Sadistische Bastarde…

Dann riss sie ihre blauen Augen wieder auf in dem Moment, in dem er ein letztes Mal zustieß und sie spürte, wie die altbekannte Hitze sie erfasste und in Richtung des schwarzen, unheilschwangeren Himmels zu tragen versuchte. Es war heftiger als sonst; wilder und ungezügelter, als sie laut Tabaris Namen in den dunklen Raum schrie und sich dabei an ihn klammerte wie an einen einzelnen Felsen inmitten von tosenden Wellen. Tabari keuchte über ihr, ergriffen von ihrer heftigen Reaktion, und mit einem Zischen warf er sich wieder über sie in dem Moment, in dem er sich in ihr ergoss. Sie hörte ihn an ihrer Schläfe heftig ausatmen und schloss die Augen wiederum, um das Gefühl des Höhepunktes zu genießen, das sie bis in die Tiefen ihres Geistes erschütterte.

Als er sich von seiner Frau herunter rollte und sich stöhnend neben sie ins Bett sinken ließ, drehte sie sich zu ihm herum und ließ zu, dass er einen Arm um sie legte wie um ein Kind, das er beschützen wollte.

„Die Geister schweigen…“, seufzte sie nach einer langen Pause, in der sie wieder zu Atem kamen und den Moment genossen, nach ihrer heftigen Vereinigung einfach nur beieinander liegen zu können. Tabari seufzte auf und fuhr sich mit der Hand, die nicht Nalanis Schulter streichelte, durch die blonden Haarsträhnen.

„Ich wünschte, sie täten es.“, war seine Ansage und die Frau hob verwundert das Gesicht, doch er sah sie nicht an, sondern starrte verdrossen an die Zimmerdecke. Erst, als Nalanis Hand langsam begann, seine nackte Brust zu streicheln und mit den Fingern seine Rippen nachzufahren, fuhr er fort, und seine Stimme hatte sich verändert. Sie klang dumpf und melancholisch, etwas, was Nalani gar nicht gewohnt war. „Manchmal höre… ich sie nachts rufen… die Geister der Männer, die ich in diesem Krieg getötet habe. All die… Väter, Brüder, Söhne, Onkel, Neffen und Ehemänner, sie stehen da hinter… dem Schleier aus Dunkelheit, der die Welt der Geister von der unseren trennt.“ Nalani hielt mit ihren Bewegungen auf seinem Oberkörper inne, als er sie vorsichtig dichter an sich heranzog und murmelnd weitersprach. „Sie rufen meinen Namen und sagen… Willkommen daheim.“
 

Vor einem blutroten Himmel und der wie ein zerstörerischer Feuerball im Osten aufgehenden Sonne versammelte sich die Armee von Kisara gemeinsam mit der Artillerie aus Intario und den Reitern aus Senjo bei den Toren der Stadt Vialla. Die Krieger waren in mehrere Gruppen geteilt worden und die Magier als beste Widersacher der zuyyanischen Eindringlinge hatten jeder das Kommando für eine dieser Abteilungen. Gütigerweise hatten sie von Senjos König Pferde gestellt bekommen, auf denen sie jetzt saßen, die schwarzen Umhänge bedeckten den halben Rücken der Tiere, die sie beritten. Es wehte kein Wind, als der König von Kisara gerüstet neben Tabari an der Spitze der Armee stand, hinter ihm der Träger mit dem Banner Kisaras, das schlaff an der Stange hing.

„Sie kommen.“, war Tabaris knappe Ansage, ohne dass er den König oder sonst jemanden ansah, als in der Ferne die Trommeln ertönten, die ihnen schon in Dokahsan durch Mark und Bein gegangen waren.

Die Trommeln des Krieges, die ihnen allen einen qualvollen Tod ankündigen wollten.

Der König zog die Schultern hoch und keuchte tonlos.

„Wir müssen standhaft bleiben, egal, was immer alles über die Hügel kommen mag!“, erklärte er scharf, „Wir dürfen nicht nachgeben… sie werden brennen, Ihr habt es auch gesagt, Herr Lyra.“ Tabari sagte zunächst nichts.

„Das habe ich. Und ich werde dafür sorgen, dass sie das tun… in Stücken, wenn es sein muss.“ Mit diesen Worten hob er die Arme gen Himmel und das war das Zeichen für den Monarchen, sein Pferd herumzuzerren und sein Schwert aus dem Gürtel zu ziehen, als er seiner Armada gegenüber stand.

„Männer!“, brüllte er laut und deutlich, während das Trommeln in der Ferne lauter wurde und immer näher kam, als der Wind auffuhr und die Umhänge und Banner empor wehte. Hinter den Hügeln tauchten die ersten Lanzen auf, dann die ersten Helme, die in der glutroten Sonne glänzten, die sich über den Horizont schob. „Männer aus Kisara! Männer aus Intario! Männer aus Senjo!“, fuhr der König fort und riss dabei seine Waffe in die Luft, sodass sich die rötlichen Sonnenstrahlen daran brachen. „Söhne von Tharr! So ziehen wir in diese entscheidende, vielleicht letzte Schlacht! Denkt immer daran, für was ihr kämpft! Ihr kämpft nicht für mich… nicht für einen Mann, oder für drei, ihr kämpft für dieses Land, eure Heimat! Unsere Welt, die wir bis zum letzten Mann zu verteidigen wissen werden!“ Er erntete tosendes Grölen aus den Reihen der Krieger, und Tabari grinste in sich hinein, als er an seine Worte zu Nalani über das Anfachen des Kriegsgeistes dachte.

Ja, sie sollten kämpfen um Leben und Tod. Er würde es auch tun, und er würde es mit dem Stolz seiner Ahnen tun.

Was würdest du sagen, Vater, würdest du das hier erleben? Fragte er sich und hob das Gesicht gen Himmel, um die rötlichen Wolken zu betrachten, die von der Sonne bestrahlt wurden. Du warst der Patriarch, der Tyrann, der das ganze Land Dokahsan in Angst und Schrecken versetzen konnte… ich frage mich, ob die Zuyyaner dich gefürchtet hätten.

„Für den Tod!“, brüllte der König gerade, der sein Pferd wieder herumdrehte und jetzt der heranziehenden Armee entgegen stierte, die über die Hügel gekommen war und jetzt anhielt, die Waffen zückte, bereit zu töten. An der Spitze der zuyyanischen Streitmacht stand jetzt ein verziertes, gerüstetes Ross, auf ihm saß ein noch mehr verzierter, ebenfalls gerüsteter Mann. Er hielt ein Banner mit einem verschnörkelten, zuyyanischen Emblem in der Hand und rammte die Stange jetzt symbolisch in den Erdboden neben sich, als ihn der Blick der Gegner aus Vialla traf.

„Der Kaiser.“, murmelte Tabari, als der König die Augen weitete, „So einen Hochmut besitzt nicht mal ein General von denen. Wurde auch Zeit, dass sich der Herrscher dieser Truppen mal persönlich auf dem Schlachtfeld zeigt und nicht immer die Soldaten die Arbeit machen lässt. Noch bevor die Sonne untergeht…“ Damit riss Tabari seine Arme nach vorne und mit einem mächtigen Windstoß aus seinen Händen dröhnte der Himmel über ihnen, die Zuyyaner rührten sich nicht von der Stelle. „…wird sein Kopf rollen, Majestät!“

Der König erwiderte den Blick des Herrn der Geister, nickte mit dem Kopf und riss sein Schwert abermals in die Höhe, als er die Zügel seines Pferdes anzog und es wiehernd stieg.

„Für Kisara!“, brüllte er, und die Krieger hinter und neben ihm grölten auch und zogen die Waffen ebenfalls empor. „Für Tharr! Vernichtet sie und lasst keinen am Leben!“

Mit diesem Schlachtruf stürzte sich das Heer auf die ebenfalls wieder vorrückenden Zuyyaner.
 

Es gab ein lautes Krachen, das von Himmel und Erde zugleich zu kommen schien, als die Armeen aufeinander prallten, im selben Moment noch begannen gleißende Blitze, Wirbel aus Feuer, Eissplittern und purer Macht durch die Luft zu fegen. Wie zwei tosende Wellen krachten die Fronten aneinander, mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen trafen sich die zuyyanischen und tharranischen Zauber und schmetterten diverse Leute, die dummerweise dazwischen standen, zu Boden oder zerrissen sie in der Luft. Klingen von Schwertern und Spitzen von gefährlichen Spießen blitzten im Licht der aufgehenden Sonne, bald waren sie alle von Blut besudelt. Das Grölen der Krieger erfüllte die morgendliche Luft und das hysterische Schreien derjenigen, die bereits getroffen oder zu Boden gerissen worden waren, wo sie jetzt ihre Köpfe oder Gliedmaßen verloren.

„Vernichtet sie alle! Lasst nicht zu, dass sie unser Land einnehmen! Das hier ist Tharr, es wird niemals Teil des zuyyanischen Imperiums sein!“, tönte irgendwo im Getümmel die laute Stimme des Königs von Kisara, ihr folgte ein donnerndes Krachen, dass entweder von irgendeinem Zauber oder einem Artilleriegeschoss ausgehen musste. Puran fuhr keuchend herum und riss sein Pferd zur Seite, als ein greller Flammenstrahl haarscharf an ihm vorbei sauste und hinter ihm mit einem weiteren Knallen in die schon malträtierte Erde einschlug.

„Vergib uns, Mutter Erde, dass wir deine Haut so massakrieren.“, stöhnte der Schamane nur, zog die Zügel abermals herum und riss das Geisterschwert hoch, das er in der Hand trug, um damit herannahende zuyyanische Krieger von sich fern zu halten. Röchelnd stürzten die Männer blutend zu Boden, als die Klinge aus purer Magie ihre Rüstungen durchbohrte wie ein Stück weiche Butter. Aber Puran hatte keine Zeit, zu triumphieren, denn da kamen von links schon die nächsten, gewaltigen Flammen der Feinde auf ihn zu. Er japste und duckte sich gerade noch rechtzeitig, gab dem Tier die Sporen und es sprang nach vorn, dabei riss es drei weitere Zuyyaner zu Boden und trampelte über sie hinweg. Als wieder ein Schwall Feuer auf ihn zukam, riss Puran rein instinktiv die freie Hand ohne Schwert hoch und schleuderte den Flammen eine Klinge aus Windmagie entgegen, die den Zauber zurückschmetterte. Kurz darauf schrie der zuyyanische Soldat auf und wurde von seinem eigenen Feuerzauber getötet. Als er es hinter sich plötzlich schreien hörte, fuhr Puran abermals herum und sah auch Männer der eigenen Armee zu Boden gehen. Neben ihm ging ein Mann in Flammen auf; dann riss ein weiteres Grollen aus dem sich wieder verfinsternden Himmel den jungen Mann wieder aus seiner Starre. Als er nach oben blickte und die schwarzen Nebel aus Schatten sah, die herab kamen, um sich auf die feindlichen Krieger zu stürzen, hielt er unwillkürlich hektisch Ausschau nach seiner Mutter; wo war sie jetzt? Wo waren die anderen vom Rat?

Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, wenn er hier lebendig rauskommen wollte, fiel ihm ein, als plötzlich ehe er dazu kam, richtig zu reagieren, ein ganzer Pfeilhagel aus Eissplittern von vorne auf ihn und das Pferd zugeschleudert wurde. Puran riss keuchend die Augen auf und riss reflexartig beide Arme nach vorne; ein instinktiver Windstoß aus seinen Händen hielt die meisten der Splitter ab, aber einige streiften seine Wange oder zerrissen Teile seines schwarzen Umhangs. Das Pferd stieg plötzlich und wieherte panisch, weil es getroffen worden war, und der Reiter schnappte entsetzt nach den Zügeln und riss es herum; mit einem Hieb seines blitzenden Schwertes schlug er zwei Männer zu Boden, die versuchten, das Pferd anzugreifen, und als er wieder nach links sah und das Reittier gerade einen weiteren Krieger zu Boden trampelte, kam der nächste Feuerschlag auf ihn zu. Er riss noch das Schwert herum, um mit der Macht der Geister das tödliche Feuer abzufangen, aber die Magie der Zuyyaner war jetzt zu stark. Als er spürte, wie der Zauber krachend auf die Klinge des Geisterschwertes donnerte, wurde er von der Macht seines Gegners zurückgeschleudert. Er fiel vom Pferd, das arme Tier wurde von den Flammen erfasste und rannte panisch wiehernd umher, dem sicheren Tod entgegen.

„Verdammt, was für eine Barbarei!“, schimpfte Puran hysterisch und rappelte sich schleunigst vom Boden auf, während er mit den Augen verfolgte, wie das brennende Pferd von den blutrünstigen Zuyyanern niedergemetzelt wurde. Sein Kopf schmerzte nach dem Sturz und er fuhr mehr zufällig rechtzeitig herum, als ein weiterer Zuyyaner mit einem Speer nach ihm stieß. Ein Schlag seines Schwertes blockte den Speer gerade noch ab und verhinderte so, dass er aufgespießt werden konnte, dann riss er die Waffe abermals herum und stach den Angreifer damit zu Boden, wo er mit einem gurgelnden Röcheln verendete.

Ein Donnern ließ die Erde zu seinen Füßen erzittern und warf ihn beinahe abermals zu Boden, während von vorne wieder ein Feuerschlag kam, der ihn nur sehr knapp verfehlte. Als Puran keuchend wieder auf die Beine kam und mit einem Krachen aus dem Himmel sein Geisterschwert herum riss, um die Reste der Flammen ins Nichts zu schlagen, erkannte er in knapper Entfernung vor sich den blonden General wieder, den er schon auf dem Hochland bei Aughot gegenüber gestanden hatte.

„So trifft man sich wieder.“, sagte der Zuyyaner in einwandfrei gesprochener Dreiweltensprache. „Bei uns heißt es, im Leben sieht man sich immer zweimal.“

„Gut, dann wäre das ja auch das letzte Mal für Euch!“, entgegnete Puran kaltherzig und hob sein Schwert, während über ihnen der pechschwarze Himmel grollte und die Erde unter ihnen erzitterte, als beide Männer einander gegenüber standen.

„Das denkst du, Sohn des Herrn der Geister.“, entgegnete der Ältere ungläubig, und Puran zischte und schlug mit dem Geisterschwert nach dem Mann, der den Schlag aber gekonnt mit seinem eigenen Schwert parierte. Ein grelles Blitzen umschlang die glühende Klinge der magischen Waffe, als sie auf die des Zuyyaners traf, und das Klirren war ein unschönes Geräusch.

„Ich… habe keine Angst vor euch, Zuyyaner!“, zischte der Schamane nur erbost, und er schlug abermals nach dem Kerl, der aber herumwirbelte und dem Angriff gekonnt auswich. Kurz darauf musste Puran selbst zurückspringen, weil das Schwert des Generals ihn beinahe enthauptet hätte. Mit einem zornigen Zischen riss er seine Waffe nach vorne und schleuderte damit ein gewaltiges Windmesser auf seinen Gegner. Der Zuyyaner ließ sich instinktiv zur Seite fallen, um der tödlichen Klinge aus Magie zu entkommen, und riss eine Hand vom Heft seines Schwertes, um damit einen weiteren Stoß Flammen auf den jüngeren Mann zu schleudern. Als der Windzauber und das Feuer aufeinander trafen, gab es ein lautes Krachen und die entstehende Druckwelle der Explosion beider Zauber schmetterte Puran wieder zurück auf die Erde. Ehe er sich hätte aufrappeln können, war der zuyyanische Heerführer wieder über ihm und schlug mit dem Schwert nach ihm; instinktiv riss der Jüngere den Schwertarm hoch und parierte den Angriff mit dem blitzenden Geisterschwert. Mit der freien Hand schleuderte er ein weiteres Windmesser nach dem Angreifer, sodass der zurückweichen musste und Puran Zeit bekam, sich schnell wieder aufzurappeln. Kaum stand er, kam schon wieder das Schwert des Generals auf ihn zu und er musste zur Seite hechten, weil er seine eigene Waffe nicht schnell genug hochreißen konnte.

Verdammt, ist der schnell…

Er warf einen Blick auf das Geisterschwert und dann in den schwarzen Himmel, während er noch einen Satz rückwärts machte und der zuyyanische General vor ihm zum Stehen kam.

„Du bist doch noch ein halber Knabe…“, brummte der Blonde dann und verengte die blauen Augen zu schmalen Schlitzen. „Du magst talentiert sein, aber so talentiert, dass ich mich fürchten müsste, bist du nicht. Und ich frage mich, was Katari mir sagen will, wenn ich dich… in der Zukunft sehe.“ Mit diesen Worten ließ er sein Schwert sinken und hob die eine Hand, um darin die schimmernde Seelenkugel erscheinen zu lassen. Puran keuchte und hob alarmiert sein Schwert; das war nicht gut. Diese Kugeln, die die Zuyyaner besaßen, waren gefährliche Waffen, hatte er gelernt…

Er musste schneller sein als sein Gegner; das war die einzige Chance, die er hatte, dachte er in dem einen Moment, und er riss das Geisterschwert mit einem Donnern von oben nach vorne, schlug nach der Hand mit der tödlichen Seelenkugel – aber ehe er sie hätte erreichen können, obwohl er sich blitzschnell bewegt hatte, spürte er wie damals bei Aughot die unsichtbare Druckwelle, die ihn überrollte, als der Zuyyaner die Hand nur ein kleines Stückchen anhob; eine Druckwelle, die ihn wieder zu Boden zwang, wo er sich keuchend auf allen Vieren an der aufgerissenen, mit Blut besudelten Erde abstützte. Plötzlich durchfuhr seinen Leib ein unangenehmer Schmerz, obwohl er keine beängstigende Wunde eingesteckt hatte, und als er hustete und Blut aus seinem Mund tropfte, hob er bebend den Kopf wieder. Es fiel ihm schwer, gegen die Übermacht der Seelenkugel anzukämpfen; sie kämpfte, ohne dass der Gegner sich bewegte. Der General stand nur da mit ausgestrecktem Arm und zwang ihn scheinbar mit bloßen Blicken auf die Erde nieder. Nein… es war die Kugel, die seinen Willen angriff, ihn herunter drückte und verhindern wollte, dass er jemals wieder aufstand.

Puran schnappte keuchend nach Luft, als er das Gefühl bekam, der Himmel würde ihn herab drücken mit aller Macht, die er hatte, und Mutter Erde zog ihn mit derselben Macht in ihren Schoß, um ihn festzuhalten und nie wieder ans Tageslicht zu lassen… es war ein grauenhaftes Gefühl, und ihm entrann ein weiteres Keuchen gefolgt von blutigem Husten, als er zitternd immer dichter an den Boden gedrückt zu werden schien.

Nein! zischte er innerlich wütend und kämpfte stärker dagegen an, Hört mich an, Geister von Mutter Erde! Ihr dürft jetzt nicht… nachgeben! Ich darf… nicht nachgeben!

„Fall tot um.“, befahlen die Geister des Himmels scheinbar in seinem Kopf und er wusste instinktiv, dass es nicht der Himmel war, der ihm befahl, sondern die Seelenkugel des Zuyyaners.

„Ich… werde nicht tot umfallen!“, zischte Puran dagegen an und schüttelte heftig den Kopf, ehe er die Finger in die lockere Erde unter sich krallte und spürte, wie sie bebte. „Ich… werde leben… für meine Frau und… mein ungeborenes Kind… für… dieses Land unter diesem Himmel und dieser Erde!“ Dann riss er den Kopf empor und stierte den Zuyyaner vor sich direkt an, der stumm die Augen weitete – er hatte keine Zeit mehr zu reagieren, denn plötzlich erzitterte die Erde direkt unter ihm so stark, dass sie entzwei brach und ein Graben entstand. Der General schnappte nach Luft, ließ seine Kugel verschwinden und sprang rechtzeitig zurück, um nicht in den Erdspalt zu stürzen.

„Was zum…?!“, keuchte er dabei, „Du solltest nicht mehr selbstständig denken können! Wieso kannst du dann zaubern?“ Er erwartete nicht wirklich eine Antwort, denn die Erde bebte erneut und er keuchte und stolperte jetzt doch zu Boden; im selben Moment war Puran wieder auf den Beinen, weil die Macht der Kugel jetzt vorbei war.

„Du kämpfst von mir aus mit deiner Seele… ich kämpfe mit den Seelen von Himmel und Erde.“, antwortete der Jüngere barsch, „Das ist der Grund, Zuyyaner!“ Mit diesen Worten schlug er abermals mit dem Schwert nach dem Gegner, während der Himmel über ihnen grollte.
 

Nalani drehte japsend den Kopf herum, als sie das Donnern der Himmelsgeister über sich hörte und ihre Macht spürte, sodass sie erzitterte.

„Puran!“, keuchte sie in der aufkommenden Panik, ihrem Sohn würde irgendwo im Getümmel irgendetwas zustoßen, doch sie kam nicht dazu, in die Richtung zu rennen, in der sie ihn instinktiv vermutete, denn diverse Gegner stürzten sich in diesem Moment grölend auf die einzige Frau des ganzen Schlachtfeldes zu, die Waffen voran. Ehe Nalani hätte reagieren und sie abblocken können, wurden die Männer von einem gezielten Windstoß erfasst und brutal zurück geschleudert, dabei zerfetzte die Windmagie ihre vom Helm nicht verborgenen Gesichter auf unschöne Weise. Blutend und schreiend stürzten die Männer zu Boden und Nalani konnte sie einen Moment nur fassungslos anstarren, ehe sie am Oberarm gepackt und zurück gerissen wurde.

„Puran wird schon noch am Leben sein!“, sagte Tabari zu ihr, der sie gepackt hatte, „Konzentriere dich, oder willst du hier verrecken? Ich würde mich für dich schämen, wo du zeitlebens besser warst als ich, wäre das ein unwürdiger Tod für meine Königin.“

„Tabari, Vorsicht!“, entgegnete sie lauter als nötig und riss sich aus seinem Griff los, um ihn zur Seite zu schubsen, als sie sah, wie von der anderen Seite ein weiterer Mann auf sie zustürzte. Der Herr der Geister fuhr herum und riss noch sein Schwert empor, um den Mann abzublocken, und seine Frau gab ihm dann den Rest, indem sie aus ihren Händen einen messerscharfen Wasserstrahl schießen ließ und damit die Rüstung des Soldaten durchbohrte, ehe er Zeit gehabt hätte, zu zaubern.

„Was wäre ich ohne dich?“, machte der Blonde darauf und beide fuhren herum, als sie von der Seite von einem Hagel aus Eissplittern unterbrochen wurden, der auf sie zukam. In einer hektischen Bewegung riss Tabari seine Frau mit sich zu Boden, die Eissplitter streiften so nur ihre Arme gerade noch und Nalani bekam einen unschönen Schnitt auf die Schulter, bevor sie beide zu Boden stürzten und der Rest des Zaubers über sie hinweg fegte. Als beide Magier herumfuhren und sich schnellstmöglich wieder aufrappelten, stand ihnen gegenüber das gerüstete Ross des Kaisers persönlich.

„Das.“, brummte Tabari düster und schob seine Frau damit mit einer Handbewegung von sich weg, „Ist mein Gegner, Nalani.“
 

Die Frau weitete die Augen und fuhr dann keuchend zurück, als kaum einen winzigen Augenblick später von beiden Seiten bereits die Zauber aufeinander krachten; das zuyyanische Feuer prallte gegen ein weiteres Windmesser von Tabari und die Erde erzitterte vor den gigantischen Mächten beider Magier, die hier zusammentrafen. Mit einem Krachen aus dem Himmel explodierten die Zauber und die Druckwelle schleuderte alles im Umkreis von diversen Fuß durch die Luft und zurück auf die Erde. Der Kaiser fluchte irgendetwas auf zuyyanisch, als das Pferd unter ihm den Halt verlor und wiehernd stürzte; die Rüstung war zu schwer um sich wieder aufrappeln zu können, und ehe er von dem kippenden Tier begraben werden konnte stieß der Mann sich davon ab und hechtete zur Seite weg. Er zog sein Schwert, aber Tabari war schneller wieder auf den Beinen und mit einem gewaltigen Schlag seines eigenen Schwertes stieß der Blonde seinen Gegner gleich wieder rückwärts. Nalani starrte und rappelte sich benommen wieder vom Boden auf – einen Moment später hätte sie die Faszination für die Schlacht fast das Leben gekostet, denn ein zuyyanischer Soldat stürzte sich von hinten auf sie und warf sie zu Boden. Sie spürte einen grauenhaften Schmerz in ihrem rechten Arm, als das Schwert des Feindes sie dort traf, dann wirbelte sie zischend herum und schlug dem Kerl die bare Faust ins Gesicht. Verblüfft von der unbeholfenen Reaktion fuhr der Mann zurück und die schwarzhaarige Frau drehte sich ganz um und machte nur eine winzige Handbewegung, die aus ihren Fingern gewaltige Wasserstrudel schießen ließ, welche den Angreifer zurück zu Boden schleuderten und durch ihre eisige Härte gleich den ganzen Mann quer durchbohrten. Als Nalani keuchend einen Schritt zurück machte, stieß sie rücklings gegen irgendetwas, fuhr herum und hätte um ein Haar Neron Shai skalpiert, der hinter ihr aufgetaucht war.

„Du liebe Güte!“, rief der Jüngere und sprang zurück, ebenfalls kurz davor, die Frau mit seinem Schlangenschwert zu enthaupten, „Verzeih, ich hab dich gar nicht gesehen.“

„Keine Zeit dafür!“, zischte sie und hechtete zur Seite, als ein weiterer Hagel aus messerscharfen Eispfeilen auf sie beide zugeflogen kam, den der junge Mann mit einem Schwung seines Schwertes abhalten konnte und zurück in die Luft schleuderte, wo er hergekommen war. „Was ist mit den anderen, Neron, hast du jemanden gesehen? Sind noch alle am Leben?“

„Äh, ich glaube schon! Irgendwo da drüben habe ich vorhin Tare und Meoran aus den Augen verloren, und irgendwo war auch der König von Intario… Achtung!“ Nalani keuchte und reagierte noch rechtzeitig, als wieder ein halbes Dutzend Zuyyaner zu Fuß auf sie zugehechtet kam, und sie riss die Arme empor und zwang die Männer allesamt unter ihren Schattenzauber, worauf sie polternd zu Boden stürzten, als wären sie mitten im Sprung gestorben. Neron erwischte einen weiteren mit seinem Schwert, das sich um dessen Bein wickelte und ihn dann hoch in die Luft riss und davon schleuderte. In dem Moment erschütterte ein gewaltiges Beben die Erde, auf der sie kämpften, und warf sowohl die nächsten Angreifer als auch Nalani und Neron brutal von den Beinen. Es entstand ein gewaltiger Riss im Boden, in den sie mit einem Haufen lockerer Erde und Geröll purzelten, und Nalani hustete und versuchte, sich wieder aufzurappeln, um nicht vom Boden verschluckt zu werden. Neron packte ihre Hand und mit etwas Mühe schafften sie es, sich aus dem Spalt zu befreien und wieder auf festem Boden zu landen.

„Der Zorn der Erdgeister… soll sie verschlingen, diese blutrünstigen Barbaren…“, stöhnte die Frau und keuchte dann, als sie sich aufrappeln wollte und zunächst ihr linkes Bein versagte, das irgendeinen Klumpen Geröll abbekommen haben musste, der eine unschöne Wunde auf ihren Unterschenkel gerissen hatte. „Verdammt…“

„Bist du verletzt?“, fragte Neron entsetzt und riss sie zur Seite, als plötzlich einer der Zuyyaner, die auch in den Spalt gefallen waren, wieder empor schnellte und nach ihnen mit seinem Speer stieß.

„Geht schon.“, brummte die Frau nur und rappelte sich jetzt beim zweiten Versuch erfolgreich wieder auf die Beine, ehe aus dem Himmel ein weiteres Krachen ertönte und die Erde unter ihnen erneut zum Beben brachte. Dieses Mal behielten sie aber das Gleichgewicht und Neron fuhr seinerseits japsend zu seiner Kollegin herum, nachdem er den Angreifer zurück in den Spalt getreten hatte und jetzt sein Schlangenschwert herum schwang.

„Nalani!“, keuchte er und stieß sie an, ehe er hinter sie deutete und die grünen Augen perplex weitete, „Das Beben kommt nicht von wütenden Geistern der Erde, sondern von Zaubern die die Haut von Mutter Erde erschüttern!“ Die Frau drehte ebenfalls den Kopf und prompt erzitterte der gespannte Erdboden unter ihnen abermals, als in knapper Entfernung ein gleißendes Blitzen zu sehen war. „Guck, da sind Puran und der Heerführer aus dem Hochland!“
 

Die Geister zischten in seinem Kopf, als Tabari in die Luft sprang und somit den Flammen des Kaisers entkam, die dieser nach ihm geworfen hatte. Das Feuer erwischte den Saum seines schwarzen Umhangs und fluchend riss der Geisterjäger sich den Stoff vom Hals, ehe er richtig in Flammen aufgehen konnte, dann landete er auf dem Boden und riss sein Schwert herum, um nach seinem Gegner zu schlagen. Klirrend schlug das Metall gegen die Klinge des zuyyanischen Kaisers. Tabari erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf das lange, kunstvoll verzierte Schwert seines Gegners; vermutlich war es auch eine jener Klingen, von denen geschlagene Wunden unheilbar waren. Leyya arbeitete zwar an einem Zauber, der das beheben sollte, aber vollends ausgereift schien ihre Technik noch nicht zu sein, da sie bisher kaum mehr als kleine Schnitte damit hatte heilen können. Er musste also zusehen, diesen Kerl zu erledigen, bevor er ihn erledigte… das war der Kaiser der Zuyyaner, der Anführer der Bastarde, die seit Jahren das Land überfielen und belagerten und unzählige Menschen auf dem Gewissen hatten.

Was würden die Zuyyaner ohne ihren Führer tun? Wem würden diese geistlosen Schlächter folgen, wenn nicht dem Bediener aller Maschinen, die sie ja waren?

Die Dreiweltensprache des Kaisers hatte einen grässlichen Akzent, was nur kennzeichnete, wie wenig Mühe der Mann sich gab, dass der Tharraner ihn verstand.

„Du hältst dich wohl für schlau, Schamane… oder du hast zu viel Ruhm geerntet hierzulande und bist davon so trunken, dass du denkst, du schnappst dir mal den dicksten aller Fische… glaubst du, ich würde es dir leicht machen?“ Tabari spuckte ihm ins Gesicht, statt zu antworten, und mit der nächsten Handbewegung schmetterte er ein Windmesser auf den Mann, das ihn beinahe den Arm gekostet hätte; der Kaiser von Zuyya riss den Oberkörper rechtzeitig zur Seite, aber das Windmesser zischte durch die Luft empor und durch das schwungvolle Ausweichen stolperte der Mann und stürzte zu Boden. In der Befürchtung, Tabari würde sich sofort auf ihn stürzen, rappelte der Imperator sich schnaufend sofort wieder auf die Beine, aber sein jüngerer Gegner riss nur beide Arme in den Himmel und ließ mit einem lauten Krachen von oben einen Windwirbel zwischen seinen ausgestreckten Händen entstehen, der sich mit jedem Moment vergrößerte und immer mehr seine Macht versprühte.

„Nein, ich folge nur dem, was die Geister von Himmel und Erde gesagt haben.“, antwortete er dabei mit lauter, gebieterischer Stimme, und er starrte auf seinen Gegner auf eine Art, auf die sein Vater vermutlich auf in seinen Augen minderwertige Würmer gestarrt haben musste; dabei gab er sich nicht mehr Mühe, die Einheitssprache zu sprechen, als der Kaiser. „In meinen Träumen sah ich den Tag kommen… an dem wir uns begegnen würden. Und ich sah auch, dass es der letzte Tag des Befehlshabers von euch Bastarden sein würde!“ Mit diesen Worten schmetterte er seinen Wirbelwind auf den Kaiser zu, mit ihm allen Zorn des Himmels, der jetzt durch seinen eigenen Geist mit der Welt der Sterblichen vereint war. Tabari spürte die Anwesenheit der höchsten Geister in seinem Körper, er konnte die Erde zu seinen Füßen erbeben spüren und hörte das Grollen des zornigen Himmels über sich, als er die Augen schloss im Moment dieser Ekstase der puren Macht. In dem Moment, in dem der Windwirbel die Haut der Mutter Erde traf und er bereits glaubte, den Imperator endgültig erwischt zu haben… und dann ließ ihn ein weiteres Donnern direkt vor ihm die Augen wieder aufschlagen und er sah das gewaltige, garstige Feuer der Zuyya, das aus den empor gerissenen Händen des Mannes schoss, der Macht von Vater Himmel entgegen.

„Der allmächtige Gott Katari beugt sich nicht dem Willen eurer lächerlichen Gespenster!“, rief der Imperator höhnisch und riss den Kopf ebenfalls in den Nacken, aus seiner Kehle kam ein irres, verzerrtes Lachen. „Seht, ihr albernen Gewalten von Tharr! Das Feuer Kataris wird eure kleinen Böen zerschmettern, so wie Kataris Kinder die Tharraner zerfetzen!“

Mit einem gewaltigen Knallen trafen die beiden gigantischen Zauber aufeinander, wie zwei kämpfende Stiere mit den Köpfen aneinander krachten. Himmel und Erde bebten gleichermaßen bei der gewaltigen Energie, die die Magie freisetzte. Und Tabari bebte ebenfalls, aber vor Hass auf diesen widerwärtigen Drecksack, der es wagte, die Macht von Himmel und Erde vor ihren eigenen Augen derartig zu demütigen.

„Du wagst zu viel, Zuyyaner!“, presste er hervor, ehe er beide Arme nach vorn riss und spürte, wie die Macht der Himmelsgeister durch seine Finger rann wie das Blut in seinen Adern. „Du hättest… besser daheim bleiben sollen!“ So sprach er, ehe er die Arme auseinander riss und den Kopf wieder senkte. Es folgte ein weiteres Krachen.
 

Die Erschütterung der Erde warf Puran von den Beinen und er rollte sich keuchend zur Seite, um Haaresbreite dem Schwert des zuyyanischen Generals entkommend, der nach ihm schlug und jetzt die Waffe in die Erde steckte. Puran japste und schwang den Schwertarm ebenfalls herum, ehe der General Zeit hatte, seine Waffe wieder zu heben, und mit einem mächtigen Hieb des Geisterschwertes schlug er nach der ausgestreckten Hand, die den Schwertgriff hielt; der Griff wurde zerschmettert und der Zuyyaner riss mit einem kurzen Schrei seine Hand zurück, als das blitzende Schwert aus Magie ihn an den Fingern traf und eine unschöne Wunde auf seine Hand schlug.

„Narr!“, brummte der Blonde darauf und sah auf sein jetzt zerstörtes Schwert ohne Griff, ehe er nach dem am Boden liegenden Tharraner trat. Der Jüngere kam erstaunlich fix wieder auf die Beine und schlug erneut mit dem Geisterschwert nach ihm, im letzten Moment zog der Zuyyaner aus seinem Gürtel noch ein kurzes Messer, mit dem er das Schwert aber nur schwer abblocken konnte. Er sprang zurück und wich einem Windmesser aus, das Puran schnaubend nach ihm schleuderte und das ihn am Arm verletzte. Fluchend hechtete er weiter rückwärts und warf seinem Gegner eine Ladung Eissplitter entgegen, die Puran aber mit dem Schwert zur Seite schleuderte und dadurch praktischerweise noch einen anderen zuyyanischen Krieger erwischte, der dann röchelnd zu Boden stürzte.

„Ja, nennst mich einen Narr und rennst dann vor mir davon, wie?“, war Purans Antwort und er stürzte sich fluchend auf seinen Feind und schlug nach ihm, verfehlte ihn aber und verpasste der Rüstung nur einen ziemlich bösartigen Kratzer an der Seite, weil der Zuyyaner rechtzeitig hochsprang. Ein weiterer Schlag mit dem Geisterschwert warf dem Älteren das arglose Messerchen aus den Händen und er stolperte über einen am Boden liegenden Toten auf die Erde. Mit aller Macht riss Puran keuchend sein Schwert empor und mit einem Grollen aus dem Himmel glühte die Klinge stärker auf, ehe er sie herunter stieß, um den Mann endlich zu töten; ihm schlug ungeahnt ein mächtiges Feuer aus dessen Händen entgegen und ließ ihn seinerseits schreiend zur Seite springen, um nicht in Flammen aufzugehen, obwohl sich in seinem Gesicht jetzt ein unangenehm heißer Schmerz ausbreitete. Der kurze Moment des Ausweichens gab dem General Zeit, sich wieder aufzurappeln, dabei schnappte er eine neben der Leiche am Boden liegende, blutverschmierte Waffe und schlug sie gegen das leuchtende und blitzende Schwert des Schamanen, als der wieder nach ihm ausschlug. Klirrend prallten die Klingen aneinander und als der Zuyyaner schnell noch einen Schlag hinterher setzte, traf er Purans Seite und sorgte dafür, dass der Jüngere mit einem Aufschrie zu Boden ging.

„Ach, verdammt!“, meckerte der dabei und fasste zischend nach der Wunde in seiner Seite; sie war nicht tief, blutete aber offenbar ziemlich heftig… aber er hatte keine Zeit für einen notdürftigen Heilzauber, mit denen er als Schwarzmagier sowieso alles andere als begabt war. Hoffentlich könnte Leyya ihm das wieder richten, falls er hier lebend herauskam, dachte er noch, dann riss er instinktiv den Kopf herunter und wich so eben gerade noch der Schwertklinge des Zuyyaners aus. Er sprang rückwärts und erschlug auf dem Weg quer durch das halbe Schlachtfeld noch zwei andere Krieger, während der General ihn unermüdlich verfolgte und sie ein paar Schläge ihrer Schwerter austauschten. Schließlich überraschte Puran seinen älteren Gegner, indem er statt weiter zurück nach vorne sprang und ihn damit beinahe gerammt hätte – den Augenblick der Verblüffung des Zuyyaners nutzte er dann, um ihm mit dem Geisterschwert gegen den Unterarm zu schlagen.

Er hätte glatt die Hand des Generals abgeschlagen, hätte der nicht vorher den Arm hoch gerissen, so erwischte der Schamane nur das Schwert, das jetzt in hohem Bogen durch die Luft wirbelte und davon flog. Und wieder war der General ohne Waffe und er weitete die Augen noch, als Puran ihn mit bloßer Hand am Schlafittchen packte, ihn herumriss und gewaltsam zu Boden schleuderte, wo er mit dem Fuß auf seine Brust trat, um ihn festzuhalten, und das Geisterschwert mit einem bösartigen grollen des Himmels an die Kehle seines Gegners setzte. „Ein letztes Wort?“, fragte er den Blonden kalt und der Zuyyaner schwieg einen kurzen Moment. Dann seufzte er und hob unmerklich die rechte Hand in Richtung von Purans Bein, das auf seiner Brust stand.

„Oh ja. Hochmut, Junge, kommt stets vor dem Fall.“

Puran starrte ihn empört an, dann spürte er plötzlich einen grausamen Schmerz durch seinen Unterschenkel fahren und fluchend blickte er hinab; der Kerl hatte aus seiner Hand Feuer schießen lassen und versengte ihm damit gerade das Bein. Sofort zog er es zurück und schlug nach dem Gegner, der sich aber wegrollte und aufstand, während der Jüngere schreiend nach seinem schmerzenden Bein fasste und versuchte, das Gleichgewicht zu wahren. Der zuyyanische General riss die Hände empor und darin erschien abermals die Seelenkugel, ein kleines Gebilde aus bläulichem Licht, das so harmlos schien und doch so tödlich sein konnte. Puran zischte vor Schmerzen und versuchte mit aller Macht, sich auf den Kampf zu konzentrieren – es war ein ohrenbetäubendes Krachen in knapper Entfernung, das sowohl ihn als auch den General zur Seite herumfahren ließ.

„Das ist…?!“, keuchte der Jüngere und vergaß alle Schmerzen, als er herübersah zu dem gewaltigen Gemisch aus zuyyanischem Feuer und der puren, geballte Macht der Windgeister – einer Kraft, die er bei Aughot schon einmal gesehen hatte. „Vater…?!“, japste er weiterhin und auch der zuyyanische General weitete stumm die Augen beim Anblick des Infernos, als die beiden gigantischen Kräfte der Magie dort aufeinander schlugen.

Für einen Moment war es, als würde sich die ganze Schlacht nur noch auf die Auseinandersetzung von Tabari und dem Kaiser konzentrieren. Die Krieger beider Seiten, die noch am Leben waren, wenn auch teils schwer angeschlagen, wichen panisch zurück vor den Zaubern, die Himmel und Erde zum Beben brachten, und bildeten einen ehrfürchtigen Kreis um das Geschehen.

Es war in diesem Moment, dass die Geister in Purans Kopf anfingen, auf grauenhafte und beunruhigende Weise zu zischen und zu flüstern.
 

„Das ist das Ende der Welt…“
 

Die Mächte von Himmel und Erde vereinten sich zu einem großen, grollenden Krachen, als Tabari die Arme auseinander riss und damit wie durch bloße Willenskraft sowohl seinen Windwirbel als auch des Kaisers Flammenwand wie einen großen Vorhang teilte, sodass die Zauber donnernd nach beiden Seiten hin verschwanden. Dann sprang er nach vorne, durch die sich auflösenden Wände aus Magie hindurch auf den Imperator zu, der damit nicht gerechnet hatte und jetzt reflexartig seine Klinge mit der des Geisterjägers kreuzte. Krachend prallten beide Klingen aufeinander und es begann ein wilder Schlagabtausch, bei dem beide Männer sich gegenseitig über das Feld hetzten. Der Kaiser von Zuyya war größer und vor allem kräftiger als Tabari, es war gar nicht einfach, seine Schläge zu parieren, dafür war der Jüngere wendiger und schneller und konnte besser ausweichen.

Um sie herum tobten die Flammen des Krieges von neuem, als die Krieger sich aus ihrer Schreckensstarre rissen und wieder anfingen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, die hohen Tiere der Armee sich gegenseitig überlassend. Irgendein umher fliegender Zauber hätte Tabari beinahe erwischt, aber seine Instinkte warnten ihn rechtzeitig und ließen ihn mit einer bloßen Handbewegung die Magie mit einem Windstoß zurückschleudern. Er musste zur Seite hechten, weil das gefährliche Schwert des Kaisers nach ihm schlug und ihn nur knapp am Arm streifte – der Blonde zischte und wirbelte mit einem Schwung herum, das Schwert mit aller Kraft empor reißend. Mit einem Schlag nach Oben erwischte er den Helm seines Gegners und riss ihn ihm damit unsanft vom Haupt; das Metallding flog durch die Luft und landete auf der Erde. Der Kaiser erstarrte, ebenso wie einige hinter ihm, die erschrocken hochfuhren. Sie riefen irgendetwas auf zuyyanisch, aber der Imperator zischte nur abwertend in Tabaris Richtung, ehe er ihn aus bösartigen Augenschlitzen fixierte.

„Das… wagst du nur einmal, Zauberer!“, war die Drohung, und Tabari schnaubte nur und parierte einen weiteren Schlag, ehe er den Kaiser mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, zurückstieß, sodass der taumelte und schließlich zu Boden stolperte.

Das war der Moment – vielleicht der einzige Moment, den er jemals haben würde.

Er machte einen Satz nach vorne und riss die Arme wieder empor, um den vernichtenden Wirbelsturm erneut vom Himmel herab zu ziehen und sein Gegenüber damit endgültig zu zerfetzen. Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte, als der Wirbel sich zwischen seinen ausgebreiteten Armen bildete und der Kaiser rappelte sich schnellstmöglich auf die Beine, ehe Tabari die Hände nach vorn zu reißen begann.

„Auf Tharr gibt es… keinen Katari, du Bastard!“

Es gab einen heftigen Ruck nach hinten, der Tabari verblüffte, und mit noch immer erhobenen Händen erstarrte er auf der Stelle, als das Gesicht seines Gegners plötzlich wieder genau vor seinem war. Der Imperator sah ihn ausdruckslos, aber triumphierend an, und zu spät bemerkte der Herr der Geister den seltsamen Schmerz, der bis eben nicht da gewesen war.

„Du irrst dich, Schamane.“, waren die gehässigen Worte des Mannes, ehe Tabari keuchend den Kopf senkte, um an sich herunter zu sehen. In seiner Brust steckte das monströse Schwert des Herrschers von Zuyya.
 

Als hätten die Geister die Zeit angehalten, erstarrte plötzlich das gesamte Umfeld. Sowohl Tharraner als auch Zuyyaner hielten wie versteinert inne und es trat eine unnatürliche Stille ein, die das Schlachtfeld noch gruseliger und bizarrer machte unter dem pechschwarzen Schattenhimmel als es ohnehin gewesen war, als der Kaiser mit einem unschönen Geräusch das Schwert aus dem Körper seines Gegners zog. Dann ging Tabari Blut spuckend zu Boden und löste die Versteinerung.

Nalani schrie.

„TABARI!“ Damit hechtete sie ungeachtet sämtlicher Gegner und Mitstreiter, die ihr im Weg war, und ungeachtet Neron Shais Händen, die versuchten, sie festzuhalten, nach vorne zu ihrem Mann, wo sie abermals aus vollem Halse aufschrie, als sie das Schwert jetzt von Nahem sah. In dem Moment schrie Puran auf der anderen Seite ebenfalls; der General, gegen den er so lange gekämpft hatte, rührte sich gar nicht mehr, als der Jüngere mit wenigen Sätzen ebenfalls nach vorne rannte.

„Himmel und Erde!“, schrie er hysterisch und erbleichte – er kam aber nicht dazu, sich weitere Gedanken zu machen, denn der Kaiser erwachte auch wieder zum Leben und schlug mit dem blutigen Schwert nach ihm.

„Und der Nächste, der versucht, es mit Kataris Kindern aufzunehmen…?!“, zischte er dabei mit einem dämonischen Grinsen, als Puran den Schlag reflexartig mit dem Geisterschwert parieren konnte, „Du wirst genauso enden wie deine Landsmänner… und du weißt es doch auch… dass Kisara fallen wird. Nicht wahr?!“ Puran schrie ihn wutentbrannt an, seine Stimme überschlug sich im Zorn, als er wütend nach dem größeren Mann schlug und nur knapp seinen Unterarm erwischte.

„Wage es nicht, den Namen dieses Landes auch nur in den Mund zu nehmen!“, brüllte er außer sich vor Wut, „Du wahnsinniger Bastard, die Geister sollen dich verfluchen!“ Er schrie auf, als er den Mann abermals verfehlte. Die Brandwunde an seinem Unterschenkel machte ihm schwer zu schaffen und er spürte, wie sehr dieser plötzliche Kraftaufwand an seinen Energiereserven zehrte; sein Herz schlug ihm bis zum Hals und das einzige, was durch seinen Kopf schwirrte neben dem Zischen der Himmelsgeister waren die Gedanken an seinen Vater.

Sein Vater… der Herr der Geister, der Führer des Clans, des Rates… des ganzen Volkes der Schamanen, wenn man so wollte.

Seine Panik und die Verzweiflung steigerten seinen Zorn nur und wie ein Besessener schlug er nach dem Imperator und drängte ihn zurück, quer über das halbe Schlachtfeld, so erschien es ihm, ohne ihn jemals ernsthaft zu treffen. Dann krachte der Himmel über ihm und er hielt für einen winzigen Augenblick in der Bewegung inne, als er die Spannung in der Luft spürte und aus dem Augenwinkel verfolgte, wie sich die schwarzen Wolkenberge direkt über dem Land auftürmten zu einem gewaltigen und bedrohlichen Massiv.

„Hebe dein Schwert, Puran!“ , befahlen die Himmelsgeister ihm, „Jetzt, sofort!“

Was er tat, tat er rein intuitiv. Er folgte dem Befehl keuchend und riss den rechten Arm in die Höhe, dem Himmel entgegen, im selben Moment, in dem das zuyyanische Schwert frontal auf ihn zu geschossen kam. Reflexartig riss er die linke Hand nach vorne und beugte sich zur Seite; die Waffe des Imperators durchbohrte mit einem unschönen Geräusch seine linke Handfläche komplett. Der Jüngere keuchte und weitete die Augen, in dem Moment versagte seine Stimme und hinderte ihn daran, ob des furchtbaren Schmerzes zu schreien – im selben Augenblick schlug mit einem gewaltigen Krachen der Blitz aus dem Wolkenberg in das Geisterschwert ein. Die gesamte, grausame Macht des Vater Himmel, des Beschützers ihrer Welt, bündelte sich in einem einzigen, gigantischen Wirbel aus purer Magie an der Spitze des Schwertes, einem gleißenden, erschütternden Wirbel aus Licht und Schatten. Der Kaiser erstarrte vor Purans Augen und trotz aller Schmerzen packte der Schamane die Klinge des Schwertes mit der Hand, die es ohnehin durchbohrt hatte, und hinderte den Mann daran, seine Waffe zurückzuziehen. Dann riss er den anderen Arm samt Schwert in einem Schwung herab und rammte die gesamte Macht und den Zorn des Himmels in die Brust seines Gegenübers. Der Imperator ging wie ein Stück Papier in gleißende Flammen auf und stieß einen grauenhaften Schrei aus, der sämtliche Anwesende erzittern ließ. Puran schrie auch und riss seine linke Hand aus dem Schwert, in der jetzt ein blutendes Loch klaffte.

„Ja, verfluchen sollen sie dich!“, brüllte er den brennenden Kaiser von Zuyya an und stieß ihn brutal auf die Erde, wo er schrie und sich wand und versuchte, die hartnäckigen Flammen loszuwerden, sobald der Schamane sein blitzendes Schwert aus seinem Körper gerissen hatte. Noch mal schlug Puran nach ihm und erwischte ein Bein, das er damit erfolgreich abtrennte. „Und sie sollen dich auf ewig in irgendein unwürdiges Geschöpf verwandeln, dessen Existenzgrund nur der ist, von anderen zerfetzt und zermalmt zu werden, wie ich es mit dir tun werde! Verflucht seist du, einen qualvollen, unwürdigen Tod sollst du sterben, unwürdiger, dreckiger Bastard! Brenne, du Hurensohn! Soll jeder Zoll Fleisch deines Körpers lichterloh brennen für immer!“ Er brüllte und schrie sich die Seele aus dem Leib, während er immer wieder wutentbrannt nach dem Mann schlug, auch, als der aufhörte sich zu wehren und reglos am Boden liegen blieb, ohne dass die Flammen der Himmelsmagie erlöschen wollten. Schließlich spürte Puran seine Kräfte verschwinden und dass ihn jemand an den Armen packte und zurück zerrte. Er hörte nur dumpf Nerons Stimme hinter sich, ehe er zu Boden sank und sein zorniges Schreien in panisches Heulen umschlug. Das Geisterschwert verschwand aus seiner Hand und der Mann warf sich heulend und schreiend auf den zermürbten Erdboden, ignorierte die Versuche hinter sich, ihn irgendwie auf die Beine zu ziehen.

„Verdammt, steh auf…“, versuchte Neron es verzweifelt, „D-du solltest nach deinem Vater sehen – VERDAMMT, HOLT DOCH ENDLICH DIE HEILER, IHR UNFÄHIGEN SÄCKE!“ Er zog seinen Kollegen und Freund mühsam wieder etwas hoch und zwang ihn streng, ihm ins Gesicht zu sehen. „Puran, reiß dich zusammen! Dein Vater ist verdammt noch mal noch am Leben!“ Der Jüngere sagte nichts und heulte nur wieder auf, ehe er den Kopf drehte und zu seinen Eltern sah, die einige Fuß entfernt am Boden waren. Tabaris Kopf lag auf Nalanis Schoß und sie hatte sich wimmernd und rufend über ihn gebeugt. Taumelnd kam Puran auf die Beine und stolperte mehr zufällig zu ihnen herüber, ehe er neben seinem Vater in den Matsch am Boden stürzte und wild zu husten anfing.

Neron Shai stand auf und drehte den Kopf, um dem blonden General der Zuyyaner in die Augen zu sehen.

„Ich denke, es gab genug Blutvergießen!“, behauptete der Schamane kalt und der General erwiderte den Blick stumm, stimmte ihm wortlos zu.

„Rückzug!“, befahl der Zuyyaner dann, „Sofort Rückzug, alle Truppen zu mir!“ Er wandte sich ein letztes Mal mit einem würdevollen Kopfnicken an Neron. „Wir haben genug angerichtet für jetzt.“ Sie nahmen die sterblichen Überreste ihres Führers mit, als sie sich zurückzogen und die Tharraner alleine ließen.
 

Das Wispern der Geister in Tabaris Kopf verstummte jetzt, als er in den Himmel sah, mit dem Kopf auf dem Schoß seiner Frau liegend.

„Holt die Heiler!“, hörte er irgendwen weiter hinten rufen, „Rasch!“ Der Blonde hustete und spuckte Blut, ehe er nach der Wunde auf seiner Brust fasste und keuchte.

„Lasst nur, es tut schon… kaum noch weh…“, stöhnte er dabei und er spürte, wie Nalani unter ihm erzitterte. Als er in ihr Gesicht empor blickte, weitete er keuchend die Augen bei der Panik darin. „N-…Nalani…“

„Das tust… das tust du nicht wirklich, Tabari!“, schnappte sie und versuchte mit aller Macht, sich zusammenzureißen, ehe sie am ganzen Körper erzitterte und die Hände hob, um damit hektisch über seinen Kopf und auf die Wunde zu fahren. „Ich… ich bin keine Heilerin, meine Lira wird nicht ausreichen dafür…“

„Das… erwarte ich auch nicht, meine Teuerste.“, sagte ihr Mann leise und hielt ihre Hand bebend auf seiner Brust fest, während er den Blick nach links schweifen ließ, zu Puran, der unbeholfen versuchte, sich aufzurappeln. „Sieh mich an… wo… ist der Kaiser geblieben?“

„Er ist tot, Vater…“, war Purans benommene Antwort, dann heulte er wieder auf und griff nach seinem Arm. „Hörst du, s-sie sind weg! Es wird… es wird alles wieder gut, Vater! Sie sind schon losgerannt und holen die Heiler, solange hältst du noch durch! Bitte…“ Er fuhr panisch zusammen, als sein Vater nicht antwortete, sondern nur zuckte und in einen üblen Hustenanfall ausbrach, bei dem er abermals Blut spuckte und sich dann krümmte und auf die Seite rollte.

„Argh-… verd-… dieser Scheißkerl!“, fluchte er dabei und meinte offenbar den Imperator, „Ich… ich bin stolz auf dich, Puran… sieh mich an. Ver-…sprich mir was, ja?“ Der Sohn sah ihm gehorsam ins Gesicht, konnte die Tränen aber nicht mehr zurückhalten und rüttelte verzweifelt an Tabaris Arm.

„Gar nichts, Vater! D-du wirst das überleben! Versprich du mir das!“

„Das kann… ich nicht…“, stöhnte der Herr der Geister und keuchte, während Puran vor ihm erbleichte beim rasselnden Klang seines Atems. „Versprich mir… dich gut um deine Mutter und… Leyya zu kümmern. Und… und dein Kind, es… ich… wäre ihm gerne… ein Großvater gewesen…“

„NEIN!“, brüllte Puran ihn an und schrie erneut, als sein Vater den Kopf wieder drehte und jetzt zu Nalani blickte, die ihn immer noch festhielt. „Vater, bitte! D-du kannst jetzt nicht sterben!“

„Versprich es mir, Puran!“, japste sein Vater nur und der Jüngere senkte wimmernd den Kopf, ohne noch etwas zu sagen. Mit dem, was er sprach, stimmte er indirekt zu – er wusste, dass es seine letzten Worte an seinen Vater sein würden.

Und diese Erkenntnis schmerzte ihn so sehr, dass er glaubte, selbst sterben zu müssen.

„Ich liebe dich, Vater… und ich verehre dich, mehr als jeden anderen Mann dieser Welt.“

Tabari wusste das zu schätzen, und als er abermals zu seiner Frau sah, spürte er den Schmerz der Wunde in seiner Brust dumpf werden und abflauen; ebenso flaute das Licht vor seinen Augen ab, als würde sich langsam ein dunkler Vorhang vor sein Gesicht legen.

„Nalani…“, murmelte er und zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein in dem Versuch, noch Luft in seine Lungen zu bekommen. Die Klänge der Welt wurden leiser und hörten sich an, als wären sie meilenweit weg von ihm, dumpf und fern waren sie. Menschen kamen gerannt von irgendwo her… „Nalani, sieh… m-mich an…“ Und seine grünen Augen richteten sich direkt auf das hübsche Gesicht seiner Frau, während er keuchend und zitternd eine Hand hob, um nach ihrer Wange zu fassen.

Sie weinte. Tabari fragte sich, wann er sie jemals weinen gesehen hatte… es waren nicht viele Male gewesen. Seine tapfere, kaltherzige Königin der Schattengeister… die gar nicht so kaltherzig war, wie es von außen schien.

Er wusste das am besten.

Sein Mund verzog sich zu einem flüchtigen, verzerrten Lächeln.

„Erinnerst du dich an diese… Höhle in den Klippen hinter dem Schloss…?“, murmelte er und sie erwiderte nichts, schluchzte nur bitterlich und beugte das Gesicht zu seinem herab, damit er die Hand nicht so weit zu ihrer Wange heben musste.

„Ja…“, wisperte sie dann und erbebte vor Schluchzern, als er die Augen halb schloss.

„Wenn ich… mir einen Ort für meinen Tod hätte aussuchen können, wäre… es da gewesen…“ Sie erzitterte und sein Lächeln verschwand, als seine Hand über ihre Wange strich und versuchte, die Tränen wegzuwischen. Eine tropfte ihm auf die Stirn. „Du weinst…?“, murmelte er und sie wimmerte, sich weiter über ihn beugend. „Du weinst um mich, meine Königin… dann musst du mich ja wirklich… ziemlich lieben, was…?“ Ein Keuchen entrann ihrer Kehle und ihr Wimmern wurde lauter und verzweifelter. Panisch klammerte sie sich mit den Händen an seine Schultern, als hätte sie Angst, dass er davon wehen könnte.

„Ja!“, schrie sie dann unter Tränen, „Ja, das tue ich… so… sehr, Tabari…“

Sie erstarrte, als er abermals schwach lächelte und seine Hand langsam zu Boden sinken ließ. Noch einmal wollte er sie ansehen und sie im Gedächtnis behalten, seine schöne Frau, die er so sehr geliebt hatte, so viele Jahre lang… und er wollte die Erinnerung an sie fest in seinem Geist einschließen und mit auf die Reise durch den Wind ins Geisterland nehmen.

„Dann liebe mich für immer, Nalani…“, flüsterte er mit dem letzten Hauch von Stimme in seiner Kehle, dann schloss er die Augen ganz und spürte noch, wie seine Frau wieder zu zittern begann… dann umfingen ihn die Windgeister, um mit sanften Händen nach seiner Seele zu angeln und sie mit sich zu nehmen. Es war angenehm… als er wusste, dass Nalanis Geist seinen wenn auch widerwillig loslassen würde, folgte er dem Ruf der Himmelsgeister.
 

Als die Heiler gefolgt vom Rest des Rates und den Königen kamen, brach Nalani schon über dem Körper ihres Mannes zusammen und begann bitterlich zu weinen. Es war ein bizarres Bild, das Tare Kohdar erstarren ließ, als er neben Neron ankam, der in einiger Entfernung am Boden hockte und sich verwirrt immer wieder durch die Haare fuhr.

„Das ist ein schräger Tag heute.“, murmelte der Jüngere dumpf, „Ich meine, das ist so… surreal, oder, Tare? Vorhin war er noch da und so voller Kampfgeist… verdammte Scheiße.“ Tare wusste nichts dazu zu erwidern, er starrte bloß. Meoran stolperte nach vorne zu Nalani und Puran, zu denen jetzt die Heiler eilten. Leyya war auch bei ihnen, und sie schrie erschrocken, während sie zu ihrem Mann stürzte und ihn unter Tränen rüttelte.

„Sag, dass das nicht passiert!“, wimmerte sie, „D-das kann doch nicht, ich meine, Tabari ist-…?! E-eben kam ein Krieger in die Stadt und rief nach den Männern aus dem Heilerrat, und als ich… g-gehört habe, der Herr der Geister wäre schwer verletzt, h-habe ich… habe ich geglaubt, mir bliebe das Herz stehen…! Oh Puran, b-bitte sag, dass das nicht passiert…“

Sie erwartete nicht wirklich, dass er das sagte. Sie wusste, dass sie irrte, als er sich mühsam aufrappelte, bis er saß, und sie immer noch heulend und schreiend umarmte und an sich drückte, so wie seine Mutter seinen Vater, während Meoran unbeholfen versuchte, irgendetwas zu sagen.

Es hatte keinen Sinn, etwas zu sagen… es bedurfte hier keiner Worte.

„Der zuyyanische Kaiser ist tot.“, murmelte der König von Senjo finster und blickte schweigend nach Norden, während der Himmel aufzuklaren begann. „Vielleicht ist das… endlich das Ende dieses grausamen Krieges.“ Er sah zu seinem Kollegen aus Kisara, der neben ihm stand und jetzt resigniert den Helm absetzte, den Kopf senkend.

„Ja.“, murmelte er dabei, „Aber wir zahlen dafür einen bitteren Preis.“ Seine Augen ruhten eine Weile auf dem dramatischen Szenario auf der Erde, auf der verzweifelten, weinenden Familie, die jetzt für immer auseinander gerissen worden war. Schließlich hob der Monarch den Kopf wieder und sah gen Himmel, um die Geister zu bitten, den Geist des Ratsführers heil mit sich zu nehmen und sicher in ihr Reich zu tragen.

Mittag war bereits vorüber.
 

Puran hatte kein Zeitgefühl mehr. Eigentlich, so kam es ihm vor, hatte er überhaupt keine Gefühle mehr, denn in seinem Inneren war eine einzige, grausame Leere. Da war nicht einmal Trauer oder Schmerz über den Verlust… da war nur ein großes, schwarzes Loch.

Er hatte keine Ahnung, wie und wann er wieder in den Palast gelangt war, aber als er den dunklen Schleier seiner Seele von seinen Augen fort schob, lag er auf der Seite quer am Fußende seines Bettes in seinem Zimmer, voll angezogen, nur die Rüstung trug er nicht mehr; dafür aber immer noch die versifften, blutigen Kleider aus der Schlacht. In seiner linken Hand pochte dumpf irgendetwas, was er nicht einordnen konnte. Vielleicht noch so ein schwarzes Loch… als er benommen besagte Hand vor sein Gesicht hob, war er verdutzt, als er darin tatsächlich ein blutiges, grausam zugerichtetes Loch entdeckte.

Wieso hatte er ein Loch in der Hand? Er konnte durchsehen, dahinter war die angelehnte Schlafzimmertür… es tat nicht einmal mehr weh. Es sah nur scheußlich aus…

Als er an seinen Vater dachte, zog sich krampfhaft etwas in seinem Inneren zusammen und ließ ihn zucken. Er atmete keuchend ein und aus und schloss dann zitternd die Augen, als könnte er dadurch die bittere Realität einfach ausschalten.

Als könnte er dadurch in eine heile Welt zurückkehren, ohne Krieg, in der sein Vater noch lebte…

Als würde sein Körper ihn daran hindern wollen, sich der süßen, verlockenden Ohnmacht hinzugeben, zwang er den jungen Mann, die Augen wieder zu öffnen. Da war sie wieder, die Realität… und Tabari war tot.

Er erinnerte sich, wie er am vergangenen Morgen hier herein geplatzt war. Leyya hatte noch empört gequiekt, weil sie nackt gewesen war… wie unbeschwert waren sie gewesen? Tabari würde nie wieder durch diese Tür kommen. Es kam ihm vor, als wäre es Jahrhunderte her, dass er sein Lachen gehört hatte… ihn angesehen hatte. Ihn umarmt hatte… wo war all die Zeit hin? Sie würde niemals zurückkehren… ebenso wenig wie sein Vater.

Puran setzte sich stöhnend auf und ihm wurde schwindelig. Kurz war ihm schwarz vor Augen. Als er sich an die sitzende Position gewöhnt hatte, sah er zum Fenster. Die Sonne ging unter. Er drehte den Kopf weiter und erblickte dann an der Seite des Bettes seine Frau. Sie saß am Boden, Kopf und Arme lagen auf dem Bett und sie schien zu dösen. Mehr unbewusst bewegte er sich und streckte die Hand ohne Loch nach ihr aus, um sie sanft zu berühren, darauf fuhr sie zusammen und schrak hoch.

„Oh!“, machte sie heiser und er senkte den Kopf, als sie rasch aufstand. Sie zitterte und sah ungesund aus… „Du bist wach… ich bin eingeschlafen, oh nein… ich wollte… auf dich aufpassen…“

„Ist in Ordnung.“, murmelte er dumpf. „Wie lange war ich denn weggetreten…?“

„Den ganzen Nachmittag… Neron hat mir geholfen, dich herzubringen, oder, eigentlich hat er uns beiden geholfen, herzukommen…“ Sie strich sich traurig durch die Haare und senkte das Haupt tief, als er sich erhob und sich auch durch die Haare fuhr. Er taumelte zunächst, hielt sich aber auf den Beinen. Nach einer Weile sprach er.

„Ich gehe mich waschen. Den… ganzen Dreck, diesen Siff aus der Schlacht, ich will dieses verdammte Blut nicht mehr an mir haben! Ich will gar nichts mehr, ich will nur noch baden… diese dreckigen Klamotten sind grauenhaft, ich stinke sicher nach den Leichen vom Schlachtfeld…“ Leyya sah ihm bestürzt nach, als er aus dem Zimmer taumelte und dabei anfing, sich mehr schlecht als recht auszuziehen, was seine verwundete Hand ihm erschwerte.

„Warte!“, rief sie besorgt und folgte ihm ins Badezimmer, „Warte, du bist verletzt… ich helfe dir, Puran… ich… kann versuchen, die Wunden zu versorgen.“ Er sagte nichts, lehnte sich erschöpft gegen die kalte, geflieste Wand des Badezimmers und ließ zu, dass sie sein Hemd aufschnürte und es vorsichtig von seinem Oberkörper streifte. Kurz ließ sie von ihm ab und zauberte mit dem Wasserzauber Flüssigkeit in die Badewanne, nur ein wenig; sie war nicht sonderlich begabt mit dem Zauber Alara. Das erledigt kehrte sie zurück zu ihrem Mann und öffnete seinen Gürtel, dabei besorgt seinen Oberkörper nach schlimmeren Wunden absuchend.

„Was ist mit den anderen…?“, murmelte Puran lethargisch und senkte den Kopf, ihr dabei zusehend, wie sie auch seine Hose aufknöpfte, dann versuchte er unbeholfen, selbst die Initiative zu ergreifen. Doch er strauchelte nur wieder, sobald er sich von der Wand abstieß und versuchte, seine Hosen selbst auszuziehen, so tat seine Frau es doch für ihn. Ihre Kleider waren auch nicht mehr ganz sauber, so zog sie sich darauf rasch selbst aus und sorgte mit etwas Mühe dafür, dass sie beide in die halb gefüllte Badewanne stiegen.

Sie hatte vergessen, das Wasser mit Vaira aufzuheizen. Das kalte Bad vertrieb mit einem Schlag sämtliche Benommenheit aus Purans Geist und er schrie entsetzt, als er plötzlich im kalten Wasser saß und sowohl sein Bewusstsein als auch sämtliche Schmerzen zurückkehrten. „Verflucht, d-das ist ja eiskalt, Leyya!“, schrie er weiter und zischte dann schmerzhaft, als seine durchlöcherte Hand das Wasser berührte. Sofort riss er sie wieder hoch und starrte auf die blutige Wunde. „Himmel, tut das weh… eben war es noch so harmlos…“

„Entspann dich.“, riet die Heilerin ihm dumpf und er stöhnte.

Entspann dich? Du bist gut, das tut weh! – Aah!“ Er schrie abermals, als sie seine Hand ungeduldig nahm und ins Wasser tauchte. Noch schlimmer wurde es, als sie anfing, daran herum zu tasten und zu streichen. Er schnappte keuchend nach Luft und unterdrückte einen weiteren Schrei.

„Die Wunde muss erst gründlich gewaschen werden, bevor ich versuchen kann, sie zu heilen… halt doch still, bitte…“, murmelte sie leise und er bemühte sich, zu gehorchen, obwohl ein aasiger Schmerz von der Wunde ausging und ihn fast wieder ohnmächtig werden ließ. Diese verdammten zuyyanischen Waffen…

Das Wasser färbte sich leicht rötlich, als sie die Wunden wusch, und er beschloss, das widerliche Zeug gleich ablaufen zu lassen, neues in die Wanne zu befördern und noch mal zu baden – das hier war ja ein Blutbad… Leyya hob seine verletzte Hand aus dem Wasser und betrachtete sie kurz von allen Seiten, ehe sie ihn aufforderte, sie ihr flach ausgestreckt entgegen zu halten.

„Was machst du?“, fragte er dumpf, „Meinst du, dein… spezieller Zauber reicht dafür aus?“

„Das wird er müssen!“, entgegnete sie scharf und er spürte, wie die Entschlossenheit trotz der Trauer um ihren Schwiegervater zurückkehrte; der Kampfgeist seiner kleinen Frau, mit dem sie es gemeistert hatte, diese Kunst überhaupt zu entwickeln.

Sie war tapfer… tapferer als er es je sein könnte. Er beneidete sie kurz um ihren Mut.

Leyya legte ihre Hand auf seine und schloss die Augen.

„Ich bitte euch, Geister der Mutter Erde… Geister der Mutter, die lebende Dinge erschafft! Helft mir, jetzt auch… lebende Dinge zu erschaffen mit diesem Zauber!“ Und Puran weitete staunend die Augen, als ihre Hand zu leuchten begann und er die Macht der Erdgeister spüren konnte, die davon ausging. Sie ging auf ihn über, auf die Hand, die er ihr hinhielt, auf das Loch – und dann durchfuhr ihn ein grauenhafter, ziehender Schmerz von der Mitte seiner Handfläche aus, dem erst eisige Kälte, dann lodernde Hitze folgte. Er zischte und packte mit der freien Hand den Rand der Wanne, um nicht umzukippen durch den enormen Druck, der auf ihn einwirkte, der ihn dichter an die Mutter Erde ziehen wollte… Leyya schnappte vor ihm heftig nach Luft und versuchte mit aller Kraft ihr Bestes. Es musste klappen… es musste einfach! Wie sollte er ohne seine zweite Hand Geisterjäger sein? Sie durfte nicht zulassen, dass es dazu käme… sie war schon nicht rechtzeitig da gewesen, um Tabari zu helfen… jetzt musste sie wenigstens ihren Mann gesund machen.

„Mutter Erde…“, stöhnte sie, als sie spürte, dass ihre Kräfte schwanden, und sie presste ihre stärker aufglühende Hand ein letztes Mal fest gegen Purans, all ihre Kraft in den Zauber steckend, die sie aufbringen konnte. „Bitte… hör mich an, Mutter Erde…“ Puran japste ob der unangenehmen Gefühle des Heilungsprozesses; dann ließ Leyya ihre Hand sinken und beugte sich erschöpft atmend nach vorne. „I-ich… ich kann es nicht!“, schluchzte sie, „Ich… habe nicht genug Energie-… ich bin… e-eine unfähige Frau für dich-…“

„Warte-…“, machte er perplex stammelnd und hob seine linke Hand, die sie losgelassen hatte, und betrachtete sie eingehend.

Das Loch war verschwunden.

„Du hast es geschafft… sieh!“, stammelte er verdutzt und sie hob den Kopf. Dann eine Hand, mit der sie vorsichtig gegen die neu entstandene Handfläche tippte. Sie war wirklich da… die Zellen hatten sich regeneriert. Die Hand war ganz… das Loch war weg. An seiner Stelle blieb nur eine markante Narbe zurück. Sie hatte es wirklich geschafft!

Als sie das registrierte, wollte sie lächeln… aber die vorangegangenen Ereignisse ließen ihr glückliches Lachen in ihrer Kehle ersticken.
 

Düster grollte der Himmel über dem Land, als die Nacht heraufgezogen war. Es war lange her, dass Puran und Leyya zusammen gebadet hatten, ohne sich dabei in irgendeiner Weise intim zu berühren oder sich zu vereinen. Aber jetzt war niemandem danach, derlei Dinge zu tun… nachdem sie sich gewaschen und Leyya die restlichen Wunden versorgt hatte, trockneten sie sich ab und legten sich wieder ins Bett. Die kleine Heilerin kuschelte sich schweigend an die Brust ihres Mannes, der ihr nur gedankenverloren durch die langen, dunklen Haare fuhr.

„Es ist so unwirklich…“, murmelte er irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit. „Ich… glaube immer, dass mein Vater jeden Moment herein kommen könnte, oder ich denke daran, dass ich ihn morgen dies und das fragen sollte… und dann fällt mir ein, ‚Ach, das geht ja gar nicht…’… das ist… irgendwie brutal.“

„Brutal ist, dass er sterben musste!“, wimmerte sie an seiner Brust, „E-er war… er war ein so guter Magier und… er war ein toller Mensch! Für mich ist er… in den Jahren mehr mein Vater gewesen als es mein Onkel Turoni jemals gewesen ist… und mein leiblicher Vater hatte dazu nur vier Jahre meines Lebens Gelegenheit… an die ich mich kaum noch erinnere…“ Sie schluchzte und er zog sie zitternd dichter an sich heran, jetzt mit der Hand über ihren nackten Rücken streichelnd.

„Schlaf, Leyya.“, murmelte er dann dumpf, „Oder versuche es wenigstens. Wir haben… auch noch Dinge, für die wir Kraft brauchen werden, auf die wir uns zu bewegen…“ Damit löste er sich etwas von ihr und fuhr mit der Hand auf ihren noch flachen Bauch, in dem ihr gemeinsames Kind wuchs. Sie hickste leise vom Weinen in seinen Armen, ehe sie eine Hand auf seine legte.

„Dieser Kindeskeim in meinem Bauch ist auch in diesem Moment… mein einziger Lichtschimmer…“, wisperte sie, und er schloss die Augen, als sie erneut schluchzte und sich gegen ihn drückte, worauf er sie liebevoll umarmte und beschloss, sie nie wieder loszulassen.
 

Leyya schlief tatsächlich irgendwann erschöpft ein; Puran schlug sich die Nacht um die Ohren und fand keine Ruhe. Alles, was ihm im Kopf herum schwirrte, waren Gedanken an den vergangenen Tag. Er sah immer noch die Bilder der Schlacht, die Männer, die er zerfetzt hatte – den zuyyanischen Kaiser, den er vernichtet hatte.

Der Mann, der seinen Vater getötet hatte.

Die Gedanken brachten ihn beinahe um, so hatte er das Gefühl, während er sich bemühte, die arme Leyya nicht aus Versehen zu erdrosseln, als er sie energisch an sich drückte, als könnte er so das Zittern in seinem Inneren bezwingen. Das Wispern der Geister in seinem Kopf ließ ihn erschaudern und er schloss die Augen in der verzweifelten und vergeblichen Hoffnung, etwas Schlaf zu finden und die gräulichen Bilder in seinem Geist zu vergessen… Bilder von Tod und Verderben, die sich wie ein Schatten über seine Seele legten und offenbar beschlossen hatten, ihn nie wieder loszulassen.
 

Nalani dachte nicht einmal an Schlaf. Sie lag nur in ihrem Bett, das ihr jetzt zu groß und zu leer vorkam, weil sie alleine darin liegen musste. Wie versteinert starrte sie auf die Stelle, an der sonst ihr Mann gelegen hatte, als wünschte sie, er würde einfach wieder auftauchen, wenn sie lange genug starrte.

Er kam nicht zurück. Er würde nie wieder da liegen… nirgendwo würde Tabari jemals liegen, nur auf dem Scheiterhaufen am nächsten Tag, wenn sie die Bestattung abhalten würden. Der Gedanke ließ sie erschaudern. Es fühlte sich falsch an ohne Tabari… es war nicht richtig, dass er nicht da war und sie schon!

Zitternd streckte sie ihre Hand aus und berührte die Fläche auf dem Bett, auf der ihr Mann fehlte. Es erschütterte sie tief im Inneren, die bloße Matratze zu berühren, das Kopfkissen, auf dem sie noch ein blondes Haar fand.

„Wieso… bist du nicht hier…?“, wisperte sie tonlos, ohne eine Antwort zu erwarten, und sie fuhr zusammen, als sie unwillkürlich schluchzen musste, weil die Gedanken an ihren Mann sie zu sehr schmerzten. „Du fehlst mir… dabei sind wir nicht mal… einen Tag getrennt…“ Ihre Stimme erstarb unter den Schluchzern und sie rollte sich nach vorne auf Tabaris Seite des Bettes, das Gesicht bebend in seinem Kissen vergrabend. Das Bettzeug roch noch nach ihm… sie atmete tief den Geruch ein, den sie bald nie wieder riechen können würde… es war eine grausame Gewissheit. Dieses Wissen, dass sie ihn nie wieder lachen hören würde… dass er nie wieder mit ihr sprechen würde… sie wünschte sich, er käme zu ihr und würde ihren Kopf streicheln, ihre Haare berühren, wie er es gern getan hatte.

„Weine nicht, Königin.“ , wollte sie ihn sagen hören, und allein die Gedanken daran ließen sie wieder zu weinen beginnen.

Gestern Nacht hatten sie hier noch gelegen… sie waren zusammen gewesen, und sie hatten sich geliebt… plötzlich erinnerte sie sich an das, was er gesagt hatte, und hob den Kopf, auf das Kissen starrend, als wäre es Tabaris Gesicht.

„Manchmal höre ich nachts die Geister der Männer, die ich in diesem Krieg getötet habe, rufen… sie rufen meinen Namen und sagen… Willkommen daheim.“

„Du hast das geahnt…“, keuchte sie und starrte auf das Kissen, ehe sie abermals erzitterte bei der Schaurigkeit dieses Gedankens. „Du hast gewusst… dass etwas geschehen würde… nicht wahr, Tabari?“

Ihr Mann antwortete ihr nicht und benommen sank sie wieder ins Kissen, drehte sich wimmernd auf die Seite und kauerte sich zusammen, apathisch mit den Fingern über den Kissenbezug streichelnd.

„Erinnerst du dich noch an die Höhle in den Klippen hinter dem Schloss…?“, hörte sie noch seine Worte und schloss zitternd die Augen, um mit irgendeiner Macht, die sie nur aufbringen konnte, all ihren Schmerz in ihrem Inneren zu verschließen… sie wollte alle Gedanken einsperren und weitermachen können.

Tabari war tot und sie war am Leben… es war aber nicht so einfach, alles wegzusperren, wie sie es sich wünschte.

Sie sah die Höhle vor sich, von der er gesprochen hatte. Sie erinnerte sich an die Nacht, die sie dort zusammen verbracht hatten; damals hatten sie sich noch so gehasst und gestritten… und dennoch waren schon erste Anzeichen der Zärtlichkeit zwischen ihnen da gewesen. Sie wollte dahin zurück… zurück nach Dokahsan, in ihre Heimat. Sie dachte an Kiuk, ihren Schwager, der schon vor Jahren verstorben war… jetzt würde sein Bruder ihn wenigstens wiedersehen. Sie fragte sich, ob Sukutai und Alona am Leben waren… Alona. Als sie Kiuks Tochter zum letzten Mal gesehen hatte, war sie noch ein Mädchen gewesen… inzwischen musste sie längst eine erwachsene Frau sein, ein wenig älter als Nerons Verlobte.

Die Gedanken lenkten sie ab… sie hüllten sie ein wie ein schützender Vorhang aus Dunkelheit, damit sie versuchen konnte, die Nacht zu überstehen.

In dieser Nacht schwiegen die Geister in ihrem Inneren.
 

Die Bestattung fand am nächsten Tag auf dem Innenhof des Palastes statt. Sämtliche Anwohner des Schlosses des Königs waren anwesend, während in der Mitte der große Scheiterhaufen stand, auf dem unter einem Tuch der Herr der Geister lag, bereit für die letzte Reise ins Reich der Geister. Auf dem Podest, auf dem der Haufen war, standen Nalani und der König von Kisara, der noch die Fackel hielt und der noch etwas zu sagen hatte.

„Volk von Kisara! Der gestrige Tag war ein Tag der Geschichte. Tapfer haben unsere Männer gegen die zuyyanischen Eindringlinge gekämpft, wir haben uns wacker geschlagen! Aber wir haben auch schwere Verluste erlitten am gestrigen Tag… kann ein einfacher Sieg solche Verluste wett machen? Ich weiß es nicht… aber lasst uns glauben… lasst uns hoffen, dass die Männer, die gestern auf dem Schlachtfeld ihr Leben ließen, es für das Land getan haben, für ihre Familie, damit die in Frieden leben kann, eines fernen Tages, wenn der Schatten vorübergezogen ist.“ Er machte eine Pause, in der es totenstill auf dem Hof war. Dann fuhr er fort. „Tabari Lyra war ein guter Mann! Ein guter Kämpfer, ein weiser Magier und ein guter Heerführer. Ich beklage zutiefst seinen Verlust und demütig werde ich mich vor seiner Familie in den Staub werfen und sie um Vergebung bitten… denn es war mein Befehl, der ihn auf dieses Schlachtfeld gebracht hat.“ Jetzt drehte der König sich zu Nalani um, die den Kopf hob und so gefasst wie nur möglich sprach.

„Euch trifft keine Schuld, Majestät. Es war nicht Euer Befehl… Tabari wäre auch ohne den Befehl gegangen. Freiwillig, weil er daran geglaubt hat, mit… eigener Kraft diejenigen beschützen zu können… die er liebte.“ Ihre Worte erschütterten die Anwesenden und Leyya schluchzte unglücklich, während sie ganz vorne bei ihrem Mann stand, der jetzt sachte einen Arm um sie legte. Dann wandte der König den Kopf und sah ihn an, was ihn verdutzte.

„Gestern.“, erhob er wieder die Stimme, „Ist ein edler Mann gestorben, dessen Tod wir hier betrauern. Aber gestern haben auch… die Zuyyaner ihren Führer verloren, den Kaiser, der Schuld war an allem Unheil. In Ehren halten müssen wir die Schamanen, sage ich, die uns geholfen haben, den Feind zu zerschlagen – ohne die es nicht möglich gewesen wäre. Insbesondere will ich mich verneigen vor dir, Puran, Sohn von Tabari, dem Herrn der Geister. Du, der du den Kaiser unserer Feinde bezwungen… und geschlachtet hast. Das Volk soll dich in Ehren halten bis hin zu dem Tag, an dem deine Seele mit der deines Vaters im Wind weht! Ehren sollt ihr den Mann, dem ihr die Freiheit Kisaras zu verdanken habt!“ Und ehe Puran etwas erwidern konnte, ging der König auf die Knie und warf sich vor ihm auf den Boden. Der junge Mann erstarrte, als nach und nach erst die Generäle, dann die Senatoren und schließlich der ganze Hofstaat und alle, die im Hof anwesend waren, sich ebenfalls verneigten; allein Nalani blieb, wo sie war, und Leyya war an Purans Seite vor Verblüffung erstarrt.

„Himmel!“, keuchte Puran nur verlegen und spürte etwas in seinem Inneren sich schmerzhaft zusammenziehen bei dem Bild, das sich ihm darbot. „Ich… ich bin es nicht wert, dass Könige vor mir knien!“, stammelte er dann, brach den Protest aber mit flammendem Gesicht ab – er konnte doch dem König nicht befehlen, das zu lassen. Er war der König. Der nahm keine Befehle entgegen, schon gar nicht von ihm. Es war seine Mutter, die dumpf sprach.

„Das ist deine Ehre, Puran. Nimm sie an, sie ist… Wille der Geister.“

Und vermutlich die einzige Chance, die der Lyra-Clan hat, je wieder zu Rang und Ehre zu kommen nach dem, was Kelar getan hat… es ist richtig so. Es ist gut so…

Sie senkte ebenfalls würdevoll den Kopf und ihr Sohn keuchte verzweifelt, weil er sich unwohl fühlte. Er hinderte seine Frau gerade noch daran, sich auch zu verneigen, indem er sie festhielt. Das Gefühl war berauschend – aber auf eine unangenehme Weise, irgendwie. Er konnte nicht direkt erklären, was es war, aber er hatte das Gefühl, als würde die Ehre ihm die Kehle zuschnüren wollen und ihn zwingen, einen langsamen, grausamen Tod zu sterben.

Er war froh, als der König sich wieder aufrichtete und es ihm alle gleichtaten. Dann gab er Nalani die Fackel in die Hand und die Frau wandte sich dem Scheiterhaufen und ihrem Mann zu, das Feuer erhoben, das beides anstecken sollte.

„So brenne, Geist von Tabari…“, stammelte sie und ihre Stimme erstarb unter dem Knistern der Fackel in ihrer Hand, während sie erzitterte und die Augen schloss. „Mögen der Schein der Flammen und der Rauch dich hinauf tragen zum Vater Himmel und hinüber ins Reich der Geister…“ Sie schnappte keuchend nach Luft und zwang sich schließlich, nicht weiter zu zögern und die Fackel auf den Haufen zu werfen. Als sie darauf zurücktrat vor den empor stechenden Flammen, die sich über dem Reisig und dem Stroh ausbreiteten, taumelte die Frau und wäre beinahe vom Podest gefallen, hätte Puran nicht einen Schritt nach vorne gemacht und sie festgehalten, um sie anschließend lieber herunter zu heben und neben sich abzustellen.

„Reiß dich zusammen, Mutter…“, versuchte er es kleinlaut, als sie das Gesicht von ihm abwandte und hinauf starrte in die Flammen; ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Du hast damals bei Ruja gesagt-… w-wir… wir müssen ihn loslassen… wie soll Vaters Geist vernünftig auf die andere Seite des Himmels kommen, wenn du dich daran klammerst? Sieh mich an…“ Sie schnappte neben ihm nach Luft und hob den Kopf in die Höhe, sich dabei über die Augen fahrend – sie wusste es ja. Sie wusste, dass er die Wahrheit sprach…

Und dennoch fiel es ihr schwer…

Nalani atmete tief durch, ehe sie gen Himmel blickte und die Stimme etwas lauter erhob.

„Geh, Tabari… eines Tages werden wir uns wiedersehen! Sieh, Vater Himmel… ich lasse den Geist meines Mannes los, damit er zu dir kann. Wir kommen zurecht…“ Sie schloss die Augen wieder, als sie den Wind in ihr Gesicht fahren und durch ihre Haare streicheln spürte. Er war wie Tabaris Hände, die sie so sanft berührt hatten manchmal, wenn sie alleine gewesen waren… es war ein angenehmes, warmes Gefühl, und es kam nicht von den Flammen vor ihr, sondern aus ihrem Inneren heraus.

„Du bist nicht alleine, Königin…“, wisperten die Geister in ihrem Kopf und sie schauderte, als sie so deutlich, als wäre er wirklich da, Tabaris grinsendes Gesicht vor sich sehen konnte. „Sei tapfer, Nalani.“, sagte der Windgeist zu ihr, und sie lächelte unwillkürlich, die Augen noch immer geschlossen, und genoss die letzte, warme Berührung des Windes in ihrem Gesicht.

Es war gut so … sie hatte ihn loslassen können.
 

Die Flammen ragten bis hoch in den Himmel hinauf und von dem brennenden Haufen ging eine angenehme Wärme aus, als die Menschen versammelt schweigend im Hof standen und dem tanzenden Feuer zusahen, wie es die Seele des Herrn der Geister hinauf in den Himmel trug. Es dauerte lange, bis sich die Versammlung allmählich auflöste und nach und nach alle wieder dahin verschwanden, wo sie zu tun hatten.

Puran saß mit seiner Frau und Meoran, der Saidah auf dem Schoß hatte, auf der Treppe, die zum Palast führte, und raufte sich unruhig die Haare.

„Du bist jetzt so eine Art Nationalheld.“, sagte sein Lehrmeister zu ihm, „Weil du den zuyyanischen Kaiser getötet hast… irgendwie bist du schon immer etwas Besonderes gewesen.“

„Ja…“, murrte der Jüngere dumpf und wich dem Blick seines Meisters aus, „Und ich habe es schon immer gehasst.“ Meoran seufzte.

„Ich weiß, was du meinst… aber es war die Bestimmung der Geister, dir diese mächtigen Gaben zu verleihen. Du solltest ihren Willen ehren, Puran… du kannst dein Schicksal nicht eigenhändig ändern. Und dein Schicksal ist es nun einmal, etwas Besonderes zu sein. Jetzt… bist du das Oberhaupt deiner Familie. Und für die nachfolgenden Generationen…“ Er sah dabei auf Leyya, die schwach lächelte bei den Gedanken an das Baby in ihrem Bauch, „Solltest du ein gutes Beispiel liefern, sie sollten zu dir aufsehen und dich respektieren können… als Mann, der die Traditionen ehrt, wie es sich gehört. Neue Wege sind gut, Puran, aber wir Menschen sind von Natur aus eher Gewohnheitstiere, wir brauchen feste Regeln und Sitten, an die wir uns halten, deswegen müssen wir immer in gewissem Maß den Traditionen folgen, auch, wenn es uns nicht passt.“

„Die Gaben der Geister, sagst du…“, stöhnte der Jüngere und starrte apathisch in die Flammen; Meoran zog jetzt besorgt eine Braue hoch bei dem Zittern seiner Stimme und der Veränderung in seinem Gesicht. „Diese Gaben, die aus mir ein Monster machen, jawohl!“ Er schnappte nach Luft, als er an die Bilder dachte, die immer noch in seinem Kopf umher schwirrten wie lästige Fliegen um einen Kadaver herum flogen. Egal, wie oft er es versuchte, sie ließen sich nicht vertreiben. Die Bilder der Männer, die er in all den Schlachten getötet hatte… einschließlich die des Kaisers.

„Verneigen will ich mich vor dir… du, der du den Kaiser unserer Feinde bezwungen… und geschlachtet hast.“ Das hatte der König gesagt und die Worte stießen ihm jetzt übel auf, als er an sie dachte, und er erhob sich rasch von der Stufe und taumelte rückwärts, den Blick noch immer auf die Flammen gerichtet.

Geschlachtet, ja… das war das passende Wort.

Er erinnerte sich genau an den Moment… an den Augenblick, in dem er die Kontrolle über seine Macht verloren hatte, wie es schon lange nicht mehr passiert war. Es hatte ihm einmal wieder bewiesen, dass in seinem Inneren Kräfte wohnten, die er niemals zu bändigen wissen würde… eine bestialische, furchtbare Macht, vergleichbar mit der Schreckensgestalt seines Großvaters.

„Da siehst du es wieder.“ , zischten die Geister hämisch in seinem Kopf und er japste entsetzt, „Du bist eben Kelars Enkel. So sehr du es zu leugnen versuchst, ein Teil seines Blutes fließt in deinen Adern… und wird es immer tun, Puran. Du bist ein Kind des Geistes… und ein Genie, wie Kelar auch eines war.“

„N-nein, Lügen!“, zischte der Mann und schüttelte heftig den Kopf, nicht merkend, wie Leyya und Meoran erst ihn, dann sich gegenseitig bestürzt ansahen.

„Puran?“, fragte seine Frau dann erschrocken und stand auf, aber er wich vor ihr zurück, als wäre sie ein böser Dämon.

„Nicht…“, stöhnte er kraftlos und erzitterte, indem er eilig weiter zurück und die Stufen hinauf stolperte. „Komm nicht näher… die Geister segneten mich mit Gaben, sagst du, Meister! Ich sage, die gaben sind ein Fluch… es sind Mächte, die ich nicht beherrschen kann… nicht vollends! Diese Macht, die… die dafür sorgt, dass ich brutal Menschen umbringe, was ist das für eine gute Gabe, sag es mir!“ Meoran erhob sich auch.

„Es war der Mann, der deinen Vater getötet hat, hast du jetzt etwa Mitleid mit ihm?“, fragte er erstaunlich kaltherzig, was bei ihm ungewohnt war. Saidah hatte er auf der Stufe abgesetzt und die Kleine durchbohrte Puran mit ihren blauen Augen, ohne etwas zu sagen.

„Rache ist nichts Edles, was man verherrlichen sollte!“, rief Puran fassungslos und jetzt drehten sich immer mehr der anderen im Hof zu ihnen um, die bis eben noch das Feuer beobachtet hatten, einschließlich Nalani und der Rest des Rates. „Ich bereue nicht, ihn getötet zu haben, aber ich hätte in meinem Kontrollverlust auch wen anderes erwischen können! Sogar dich, sogar meine Mutter! Findest du das eine gute Gabe, Meoran?!“

„Das sind Hirngespinste, du machst es dramatischer als es ist.“, erwiderte der Ältere, „Setz dich hin, Puran, beruhige dich. Du weißt tief in deinem Inneren, dass so etwas nie passieren wird. Vorher würde dein Geist sich zusammenreißen und die Kontrolle über deine Macht zurückholen. Du weißt, dass du das kannst… könntest du es nicht, wärst du nicht fähig, das Schwert der Himmelsgeister zu führen.“

„Und wenn es doch eines Tages passiert? Ich sehe die Bilder der Leute, die ich umgebracht habe, sie verfolgen mich in meinen Träumen und machen mich wahnsinnig… und die Geister spotten über mich… i-ich kann das… nicht länger verantworten! Die Bürde ist… mir einfach zu schwer!“ Er schnappte abermals panisch nach Luft, als das Gefühl zurückkehrte, das er gespürt hatte, als sich alle vor ihm verbeugt hatten.

„Knien sollen sie… du bist jetzt der König des Lyra-Clans. Du verdienst, dass sie… vor dir kriechen.“, kicherten die Geister und er schrie entsetzt auf, wirbelte dann herum und stolperte in den Palast, die anderen zurücklassend. Leyya schrie auch und setzte ihm nach.

„Warte doch! Um Himmels Willen, Puran!“ Die anderen schenkten einander nur verblüffte Blicke, Nalani senkte nachdenklich die Augenbrauen über das Verhalten ihres Sohnes. Sie fragte sich, was das wohl bedeuten mochte…
 

Leyya holte ihren Mann oben im Korridor ein und fasste nach seinem Arm.

„Puran, sprich mit mir…“, verlangte sie sanft, doch er riss seinen Arm zischend aus ihrem Griff und schnappte verzweifelt nach Luft.

„Nicht, Leyya! Ich… tu dir nur weh…“

„Du tust mir weh, indem du mich abweist!“, empörte sie sich, packte störrisch wieder seinen Arm und zerrte daran, sodass er gezwungen war, anzuhalten, und sich zu ihr umdrehte. Sie sah die Verwirrung in seinem Gesicht, die Überlastung, und sie wusste, dass er noch weniger geschlafen haben musste als sie; er war todmüde, der Verlust seines Vaters saß ihm im Nacken, es war nicht verwunderlich, dass er so einen Nervenzusammenbruch bekam.

Sie seufzte leise, als er nur schweigend heftig ein und aus atmete, dann drückte sie ihn rückwärts gegen die steinerne Wand des Korridors und presste sich zärtlich gegen ihn, dabei seinen Oberkörper umarmend. „Bitte.“, flüsterte sie dumpf gegen seine Brust, „Sprich mit mir. Wovor fürchtest du dich?“ Er atmete eine Weile nur, ohne zu sprechen, und schloss bebend die Augen, um die wohltuende, beruhigende Wärme seiner hübschen Frau in sich aufzunehmen, die ihn umarmte.

Sie war eine gute Heilerin… er hatte es immer gewusst.

„Ich… fürchte mich immer noch… davor, so zu werden wie mein Großvater.“, murmelte er dann, „Manchmal habe ich… solche Gedanken in mir… solche… Impulse, die ich zurückhalte, die mir… vor Augen halten… dass ich im Inneren ein ziemlich… herrischer Mensch zu sein scheine…“ Er zuckte, als er spürte, sie sie ihn fester umarmte und sich streckte, um seine Wange zu küssen. „Und manchmal, in… diesen Schlachten… verliere ich die Beherrschung über dieses… schattige Innere meiner selbst und… ich weiß nicht, was ich dagegen machen soll…“ Leyya unterbrach ihn lächelnd.

„Du bist nicht herrisch, du magst nur gerne die Kontrolle haben.“, korrigierte sie ihn, „Daran… ist nichts Falsches, Puran. Du versuchst doch nur, das, was dir lieb ist, zu beschützen, und das geht am besten, wenn du es kontrollieren kannst… außerdem… musst du nicht etwas herrisch sein, wenn du die Geister von Himmel und Erde beherrschen willst?“

Er sah sie kurz an, als sie sich sanft von ihm löste und ihn zärtlich anlächelte.

Beherrschen… ja, das sollte er. Das Zischen in seinem Kopf war verstummt, als er jetzt so mit Leyya auf dem Flur stand, die Geister schwiegen ihn jetzt an.

Ja, beherrschen musste er sie… damit sie aufhörten, ihm höhnisch den Kopf zu verdrehen mit ihren Lügenmärchen. Natürlich hatte er das Blut seines Großvaters in sich, er hatte auch seine Haarfarbe; das machte ihn nicht zum Monster. Nicht, wenn er dafür sorgte, dass die Geister keine Gelegenheit bekamen, ihm seine Kontrolle zu nehmen.

„Du hast recht.“, machte er plötzlich entschlossen und Leyya zog eine Braue hoch, als er sich abermals umdrehte und weiter lief. Sie rannte ihm nach.

„Wohin gehst du denn?!“

„Auf den Balkon, damit Vater Himmel mich hören kann!“, erwiderte er grimmig und sie blinzelte perplex, als er in ihr gemeinsames Zimmer stürzte, durch die Stube hindurch und auf den kleinen Balkon, wo er sich am Geländer abstützte und hinauf in den Himmel sah. Oben türmten sich gräuliche Wolken. Als seine Frau auch auf dem Balkon angekommen war, hob Puran die Hände in den Himmel und betrachtete von unten die große Narbe auf seiner linken Hand, die er dem Kaiser zu verdanken hatte – nein, die Narbe hatte er an sich seiner Frau zu verdanken. Und er dankte ihr wirklich, denn besser eine Narbe als ein Loch. „Sieh, Vater Himmel!“, rief er mit lauter, gebieterischer Stimme, und Leyya hinter ihm fuhr zusammen, als aus dem wolkigen Himmel ein dumpfes Grollen ertönte. „Ich will, dass du mir zusiehst und auf ewig bezeugst, was ich zu dir spreche! Ich werde nicht… wie mein Großvater werden und noch mehr Menschen morden, ich werde dafür sorgen, dass ich meine Macht beherrsche! Ich schwöre dir in deinem eigenen Angesicht, Vater Himmel, dass ich nie wieder mit diesen meinen Händen einen Menschen töten werde!“ Es folgte ein weiteres Grollen und Leyya sah ihn aus großen Augen an bei den Worten.

Ein Schwur war ein Pakt mit Himmel und Erde. Ihn zu brechen war viel schlimmer als jedes Versprechen zu brechen, das man jemals jemandem gegeben haben mochte; die Geister konnten einen dafür bestrafen oder gar töten. Er musste sich seiner Sache sehr sicher sein, wenn er vor dem Himmel so einen Schwur ablegte… irgendwie beeindruckte sie diese Entschlossenheit enorm und sie atmete tief die frische Frühlingsluft ein, während sie andächtig die Hände auf ihren Bauch legte, als würde sie dadurch ihrem ungeborenen Baby sagen, dass sie seinen Vater wunderbar fand.

Sie lächelte, als Puran die Hände keuchend sinken ließ und sich zu ihr umdrehte. Er seufzte und drehte das Gesicht zur Seite, während er mit einer Hand nach ihren fasste.

„Du hast recht, beherrschen muss ich die Geister.“, meinte er dabei ernst und sie nahm seine Hand zärtlich in ihre, ehe sie sich an ihn schmiegte und zuließ, dass er den freien Arm um sie legte, während er nach Norden starrte, in Richtung ihrer alten Heimat. „Damit ich, wie Meoran gesagt hat, unserem Kind eines Tages ein gutes Beispiel sein kann… und verhindern kann, dass die Geister aus ihm so eine Bestie machen wie es mein Großvater war. Lass uns… ab heute versuchen, nicht mehr über ihn zu sprechen… wenn wir ihn totschweigen, verschwindet sein Schatten vielleicht eines Tages aus meinem Gemüt und denen derer, die ihn genauso gefürchtet haben.“
 


 

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Ähm - yay? April 982.

Herrscher der Geister

Die nächste Nacht verlief ruhiger als die vergangene. Allmählich löste sich der Schock über Tabaris Tod aus den Seelen der Magier; das Leben musste weitergehen. Sie waren am Leben, sie konnten nichts für Tabari tun und er auch nichts für sie. Es wurde Zeit, Prioritäten zu setzen… auch, wenn es schwer fiel.

„Irgendwie wird das schon.“, behauptete Neron Shai zuversichtlich zu dem Thema, „Das hätte Tabari jetzt gesagt. Wir sollten das in Ehren halten, denke ich.“ Da hatte er nicht ganz unrecht, denn es gab genügend Dinge, um die sie sich in Zukunft Gedanken machen müssten – in ziemlich naher Zukunft überdies.
 

„Die Zuyyaner haben sich zurückgezogen.“, erklärte der König von Kisara guter Laune, als Puran ihn einige Tage nach seines Vaters Tod in seinem Thronsaal aufsuchte, um mit ihm zu sprechen. „Das verdanken wir dir, sie sind sicher schockiert, dass ihr Kaiser getötet wurde. Soweit die Späher das gesehen haben, haben sie sich in höhere Gebiete des Hochlandes verkrochen und die Stellung in Zarimia am Fluss aufgegeben. Aber ganz weg sind sie immer noch nicht, obwohl es von allen Seiten in den Provinzen Aufstände und Gemetzel gegeben hat in den letzten Monden, sie sind immer noch da. Was muss denn noch passieren, damit diese machthungrigen Geier endlich mal verschwinden?“

„Vielleicht muss ihnen erst der Himmel auf den Kopf fallen.“, seufzte Puran dazu, „Aber ich fürchte, dass selbst das sie nicht abschrecken würde. Ich frage mich, ob die nichts Besseres zu tun haben auf Zuyya. Und langsam müssen ihnen doch mal die Krieger ausgehen…“

„Ja, ich weiß auch nicht. Erstaunliche Leute, diese Zuyyaner. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir auf dem richtigen Weg sind, sie zu zerschlagen. Jetzt wird es sicher einen neuen Kaiser geben, aber so als neuer Kaiser kann man nicht mir nichts dir nichts die Politik seines Vaters oder Vorgängers fortsetzen… ich weiß das ja selbst sehr gut, obwohl ich kein Kaiser, sondern nur König bin.“ Er zeigte ein aufmunterndes Lächeln und Puran räusperte sich. Es wurde Zeit, mit dem Geplapper aufzuhören.

„Majestät… der Grund meines Kommen ist… eigentlich eine Bitte an Euch, oder… mehr eine… Umstandsänderung meinerseits, die für Euch einige Konsequenzen haben wird.“ Der König hörte zu lächeln auf und sah ihn jetzt ernst an, als der Jüngere sich höflich verneigte. „Ich… werde mich aus dem Militär zurückziehen. Vergebt mir, mein König, ich… kann nicht weiter in Eurer Armee kämpfen.“

Der Monarch beäugte ihn lange, dann schloss er die Augen und seufzte.

„Ich verstehe; was ist mit den anderen aus dem Rat? Sprichst du für sie mit?“

„Nein, das gilt nur für mich persönlich. Es ist so, ich… habe in den vergangenen Tagen und Nächten viel nachgedacht und… festgestellt, dass… mir das Dasein als Krieger überhaupt nicht liegt. – Ich meine.“, Er hob abwehrend die Hände, als der König protestieren wollte, dass er aber doch ein ausgezeichneter Kämpfer war, „Es… liegt mir geistig nicht. Ich kann das nicht länger mit meinem Gewissen vereinbaren, ich bin Schamane… und Schamanen sind nicht als Krieger geboren. Zumindest ursprünglich nicht. Meine Aufgaben beschränken sich auf andere Dinge. Davon abgesehen liegt mir das… alles aber auch so nicht, ich bin nicht der geborene Heerführer wie es mein Vater war. Ich bin eben mehr der Redner und Politiker, wie meine Großmutter.“ Jetzt zog der Monarch eine Braue hoch und schien etwas aufgeheitert.

„Ach, na, wenn das so ist, warum unterhältst du dich nicht mal mit den Männern aus dem Senat? Es würde mich ehren, wenn du dich tatsächlich mehr zu den Politikern zugehörig fühlst, wenn du ein Teil des Senats werden würdest.“ Puran musste lachen.

„Das… würde mich wiederum zu sehr ehren, Majestät. Der Senat des Königs? Das ist für mich als Landei aus dem Norden doch sehr weit weg.“

„Ich meine das ernst.“, erwiderte der Ältere verdutzt und der Schamane zog eine Braue hoch. „Sprich mit den Männern. Ich habe es in der letzten Zeit öfter getan und wollte ohnehin dafür sorgen, dass die Gesetze reformiert werden und so auch Magier genauso wie Nichtmagier hohe Ämter des Landes belegen können. Mein Vater mit seiner dämlichen Rassenpolitik war da ja nicht so für zu haben. Aber ich sage, wir alle sind ein Volk. Lianer, Schamanen und Menschen sollten alle gleichberechtigt sein in der Möglichkeit der Berufe. Die Senatoren sind in diesem Punkt meiner Meinung.“ Puran verneigte sich abermals.

„Bei allem Respekt, mein König, ich kann… so ein großzügiges Angebot nicht einfach annehmen, ich… weiß auch gar nicht, ob ich wirklich hier in Vialla bleiben werde.“

„Das ist natürlich ein Argument. Andererseits habe ich gehört, dass in der Provinzregierung von Dokahsan die Räte der Magier einen Anteil an Mitspracherecht im Senat hatten, ist das richtig?“

„Das ist richtig. Zumindest, sofern es einen Senat gab.“

„Das ist großartig, das inspiriert mich. Ich hatte die Idee, da gerade für Kisara, wo die Magier doch sehr zahlreich vertreten sind – anders als in Senjo zum Beispiel, meine ich – die Mitsprache eures Volkes für die Regierung unglaublich wichtig ist… also, da hatte ich die Idee, die drei Rät der Schamanen ebenso in meinen einzugliedern. Ich würde mir, das ist eine dringliche Bitte an dich, wünschen, dass du mir von den Angelegenheiten aus Dokahsan erzählst. Der Vertreter des Senats da oben ist wohl leider im Feuer des Krieges gefallen, es ist im Moment ohnehin unsagbar schwer, mit den ferneren Provinzen Kontakt aufzunehmen. Da hilft mir jeder zufällig vorhandene, kundige Landsmann.“

„Kundig? Nun ja, abgesehen davon, dass ich meines Vaters Papiere studiert habe als Junge, weiß ich kaum etwas…“ Der Jüngere machte eine Pause. „Auch… wenn ich Euer Angebot für viel zu ehrenhaft halte, würde ich mich dennoch gerne in diese Richtung wenden und für Euch tun, was ich kann.“ Der König war jetzt zufriedener.

„Das hört man gern. Du bist klug und engagiert, ich halte dich für durchaus fähig, ein höheres Amt zu betreiben als das eines Berichterstatters. Wenn sich die Aufregung gelegt hat, werde ich dich persönlich in der Akademie empfehlen, damit du studieren kannst. Du musst wissen, die Akademie für Politikwissenschaften hier in Vialla gilt als eine der besten im Zentrum.“

„Um Himmels Willen.“, murmelte der Magier errötend, „Majestät! Ich meine… ehrlich gesagt würde ich mir… intrigant vorkommen den anderen Männern gegenüber, die sich so einen Studienplatz hart erkämpfen müssen… ich meine, ich hätte das Gefühl, mir meine Ehre erschummelt zu haben.“

„Dann mach es wieder gut und beweise, dass ich mich bei deinem Talent für diese Richtung nicht irre.“, war die erstaunlich ernste Antwort des Monarchen und Puran sah ihn groß an. Er meinte völlig ernst, was er sagte – und er würde das wirklich tun. Nicht, weil er ihm zujubelte, sondern weil er wirklich dieses Talent in ihm sah, was er beschrieben hatte. Der Jüngere blinzelte kurz, ehe er sich abermals verneigte.

„Da Ihr… so darauf besteht… werde ich mich nicht weiter zieren. Und ich verspreche Euch… wenn Ihr das wirklich für mich tut, werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um Euch nicht zu enttäuschen. Und eines Tages… werde ich dann vielleicht wieder hier mit Euch stehen, dann aber im Kreis der Senatoren, zu denen ich aufsehe. Und erst in diesem Moment wird vergolten sein, was Ihr für mich tun wollt… ich will nicht, dass irgendjemand denkt, ich hätte mir meinen Posten mit guten Beziehungen ermogelt.“

„Das hört sich gut an.“, meinte der König zuversichtlich, „Ich weiß, dass du mich nicht enttäuschen wirst, ich habe es im Gefühl. An dem Tage, an dem wir hier wieder stehen werden, werde ich lächeln und nicken, damit wir beide Bescheid wissen.“
 

Als Puran den Thronsaal verlassen hatte und auf dem Weg zurück zu seinen Gemächern war, hörte er plötzlich rennende Schritte hinter sich auf dem Korridor. Er war so verblüfft und auch beschämt über die große Ehre und das Vertrauen, das der König ihm entgegen gebracht hatte, dass er zu langsam reagierte und sich erst umdrehte, als sich etwas – oder eher jemand – japsend an seinen Hals schmiss und ihn von hinten stürmisch fest umarmte.

„Puran, Liebster!“, machte Leyya, die an seinem Rücken hing, und als er hustete, überrascht von dem Ansturm, ließ sie ihn los und lächelte ihn stolz an. „Du glaubst nicht, was gerade passiert ist!“ Er musterte sie verdutzt. Seine kleine Frau war ganz aus dem Häuschen, und sie nahm flink seine Hände in ihre und tänzelte mit ihm weiter in Richtung des Zimmers. „Der Vorsteher des Heilerrates, bei dem ich gelernt habe, hat mit mir gesprochen, eben gerade. Er hat gesagt, er hätte meine Erschaffung des Heilzaubers gegen die zuyyanischen Waffen mitverfolgt und er war ganz begeistert davon, dass es tatsächlich geklappt hat!“ Puran musste lächeln und ließ sich von ihr herum zerren, nicht fähig, ihre gute Laune zu bremsen; sie war einfach wie Zucker, der auf der Zunge zerging, wenn sie strahlte… wie könnte er da etwas dazwischen werfen?

„Das ist wunderbar.“, sagte er so, „Ich habe dir ja gesagt, es ist ein wahres Wunder. Ich muss gestehen, ich habe vor Neron und ein paar anderen auch schon damit angegeben, wie gut du meine Hand geheilt hast…“ Er blickte dabei auf die vernarbte linke Hand, und Leyya errötete vor Stolz.

„Sie wollen, dass ich Mitglied des Heilerrates werde und allen zeige, wie man diesen Zauber benutzt!“, offenbarte sie dann ihr Hauptanliegen, „Damit bin ich wohl das jüngste Mitglied, das seit Ewigkeiten in diesem Rat ist, ich… bin so stolz, weil… ich einfach das Gefühl habe…“ Jetzt hielt sie inne und wurde leiser, was Puran sie neugierig ansehen ließ. „Weil ich das Gefühl habe, dass ich damit… meinem längst toten Vater eine wahnsinnige Ehre erweisen kann… und ich… bin nie wieder eine unnütze Tochter, oder eine unnütze Frau…“ Ihre Stimme zitterte vor Aufregung und sie sah hoch in das hübsche Gesicht ihres Mannes. „Sag, Puran… bist du… auch stolz auf mich?“

Er war mehr als das. Weil es sinnlos war, das in Worten auszudrücken zu versuchen, zog er ihr Kinn hoch, beugte sich herab und küsste sie verlangend auf den Mund. Hingebungsvoll erwiderte die kleine Heilerin seinen Kuss und schlang seufzend die Arme um seinen Nacken, sich dabei auf die Zehenspitzen stellend. Als sie den Kuss beendeten, lächelte sie ihn an, und er lächelte zurück.

„Ich habe überdies nie gedacht, du wärst unnütz… meine hübsche, tapfere Leyya. Ich habe deinen Mut und deine Hartnäckigkeit, mit der du an eine Sache herangehst, immer sehr bewundert. Egal, wie der Sturm auch tobt, du gibst nicht auf, du lässt dich vielleicht biegen wie ein zarter Grashalm…“ Dabei streichelte er ihr nicht ohne einen gewissen Unterton in der Stimme über die Hüften, „Aber du richtest dich immer und immer wieder auf. Das… fasziniert mich immer noch so an dir… du hast diese Ehre des Heilerrates verdient, mehr als jeder andere Heiler der Welt.“ Er küsste sie noch einmal, dieses Mal fordernder. Zum ersten Mal seit Tabaris Tod verspürten sie beide wieder das Bedürfnis, sich zu lieben, und es war ein angenehmes, warmes Gefühl.

Sie überwanden die letzten Fuß zu ihrem Zimmer, wo Puran die Tür hinter sich schloss; und kaum war sie zu, gab es kein Halten mehr. Als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen, stürzten sie sich wild und übermütig aufeinander, und sie rollten sich lachend über den Boden, glücklich über die Befreiung, die sie spürten, weil die Beklemmung der Trauer verflog. Tabari hätte nicht gewollt, dass seinetwegen alle einen Mond lang Trübsal bliesen. Und diese Erkenntnis tat ungemein gut, als sie sich in ungestümer Hektik gegenseitig die Kleider vom Leib rissen, sich zwischendurch erhitzt küssten und einander mit den Händen flüchtig berührten.

„Sei nicht so wild, Leyya… pass doch auf das Baby auf…“, stöhnte er benommen, als sie auf seinem Schoß saß, während er am Boden lag, und sie schnalzte frech mit der Zunge, ehe sie seinen Rumpf zwischen ihren Schenkeln einklemmte und sich mit einem großen Schwung zur Seite warf, sodass sie auf den weichen Teppichboden des Zimmers rollte und er über sie. Sie teilten einen gierigen, leidenschaftlichen Zungenkuss.

„Das sagt der Richtige, ja, ja…“, feixte sie und schlang laut seufzend die Arme um ihren Mann, als er sich keuchend über sie beugte und ihre Brustwarze zwischen seine Lippen nahm, um wie ein Baby daran zu saugen, was in ihren Lenden die Hitze verdoppelte. Sie schrie enthusiastisch seinen Namen in den Raum, während sie sich ihm willig öffnete und ungeduldig auf die feste, tiefe Berührung wartete –

Ein unglaublich lautes Hämmern an der Zimmertür unterbrach ihre Zweisamkeit und wie vom Blitz getroffen fuhren beide empor, Puran drehte sich schnaufend zur Tür um.

„Wer in Himmels Namen wagt es, jetzt zu klopfen?!“, brüllte er wütend, und Leyya schnappte nach Luft. Draußen hörte sie unsicheres Gackern, das irgendwie nach Neron klang.

„Ähm… ich komme wohl ungelegen, aber… es ist wirklich verdammt, verdammt wichtig, Puran… deine Mutter köpft mich, wenn ich dich nicht auf der Stelle in den Salon hole… willst du wirklich, dass ich sterbe, alter Freund?“ Puran zischte und erhob sich, seine Kleider zusammen suchend.

„Oh, du solltest ab jetzt nicht meine Mutter fürchten, sonder mich… dir ist ja wohl klar, was du gerade angestellt hast… oh, ich werde mich so fürchterlich an dir rächen, Neron…!“ So fluchte er vor sich hin, während er und seine Frau sich anzogen und sie errötete, als er sie entschuldigend ansah. „Vergib mir, Leyya… nachher machen wir da weiter, wo wir aufgehört haben.“

Sie verließen zusammen das Zimmer, sobald sie angezogen und etwas gekämmt waren, und schenkten Neron Shai beide einen bitterbösen Blick, der sich nur grinsend räusperte und mit ihnen in Richtung des Salons ging.

„Jetzt mal ohne Witz, Puran, deine Mutter ist aus verständlichen Gründen nicht ganz so ausgelassen wie ihr…“, murmelte er dann und der Jüngere zuckte kurz. „Sie ist unglaublich schlecht gelaunt, und es hieß, alle Ratsmitglieder sollen sich treffen, weil es sehr dringend wäre.“

„Wehe, es ist nichts, was mit dem Untergang der Welt oder so zu tun hat, oder sonst wie dringlichst ist, für eine Runde Kippen und Kaffee unterbreche ich nicht meine Beschäftigung mit meiner Frau, so eine Ratssitzung kann ja wohl warten!“

„Wenn Nalani nicht so unheimlich gewesen wäre, hätte ich auch gedacht, als ich vor der Tür stand, ‚Verdammt, lass sie wenigstens fertig machen’…“, räumte der Schwarzhaarige ein und er kassierte einen Schlag auf den Rücken von Leyya.

„Also wirklich, wie lange standest du Spanner vor unserer Tür?!“

„Ich habe euch ehrlich gesagt schon am Ende des Flurs stöhnen gehört, ihr seid aber auch laut…“

„Neron, halt deine vorlaute Zunge fest!“ So meckernd und diskutierend erreichten sie den Salon, wo Nalani, Meoran und Tare Kohdar schon saßen, die beiden letzteren rauchend, die Frau grimmig auf und ab gehend.

„Da seid ihr ja endlich.“, wurden die drei begrüßt und Puran grunzte.

„Dann raus mit deinem wichtigen Anliegen, das war gerade der unpassendste Moment der Welt!“ Seine Mutter verengte die blauen Augen zu schmalen Schlitzen.

„Wie ihr ja wohl wisst, haben wir keinen Ratsvorsteher mehr.“, sagte sie, „Und das bedeutet, wir müssen dringend dafür sorgen, dass die Entscheidungskämpfe stattfinden, die den neuen Herrn der Geister bestimmen werden.“
 

Das ließ die Mannschaft verstummen. Neron Shai und Puran sahen sich kurz an, Leyya machte ein verwirrtes Gesicht.

„Wie sieht das denn aus?“, fragte sie sich, „Entscheidungskämpfe?“ Nalani hatte zum Glück die Geduld, ihrer Schwiegertochter das jetzt zu erklären.

„Vielleicht weiß Neron das ja auch nicht, der ist ja noch nicht lange hier.“, räumte sie davor ein, ehe sie sich an Leyya wandte. „Es muss immer einen Herrn der Geister geben, den höchsten Vertreter der Geister hier in der Welt der Lebenden. Normalerweise finden diese Entscheidungskämpfe alle fünf Jahre statt. Im Normalfall sieht es so aus, dass alle amtierenden Ratsmitglieder einmal gegen den Vorsteher antreten müssen; wenn ihn jemand besiegen kann, ist er der neue Ratsvorsteher. Wenn nicht, bleibt der alte es eben.“

„Und wenn es mehrere schaffen, ihn zu besiegen?“, machte Neron verdutzt, und Meoran lachte im Hintergrund.

„Glaubst du, das kommt oft vor? Es ist wohl mal vorgekommen, dass es wirklich zwei geschafft haben, dann mussten diese zwei eben noch einmal gegeneinander antreten, bis ein klarer Sieger entschieden ist. Aber dass sowas vorkommt, ist absolut selten. Und seit Tabari den Posten seines Vaters übernommen hat, sind jetzt siebzehn Jahre vergangen, und bei den beiden Malen, die es seitdem diese Kämpfe gab, hat ihn keiner von uns geschlagen. Nicht mal Nalani.“ Darauf sagte Neron nichts, und die einzige Frau im Rat seufzte und fuhr fort.

„Wir haben allerdings das Problem, dass wir ja keinen Ratsführer haben, gegen den jemand antreten könnte. Das macht alles komplizierter und vor allem zeitaufwendiger, denn das bedeutet, dass jeder von uns gegen jeden einmal kämpfen muss. Und wer die meisten Kämpfe für sich entscheiden kann, ist der neue Herr der Geister.“ Leyya weitete die Augen.

„Das ist doch Irrsinn, das… sind doch wahnsinnig viele Kämpfe! Und… hatten wir nicht genug davon…?“ Sie sah bedrückt zu Boden; die Vorstellung, dass all die Leute, die sie lieb gewonnen hatte, sich gegenseitig bekämpfen mussten, gefiel ihr gar nicht. Tare Kohdar kicherte.

„Ja, ja, da sind sie wieder, die pazifistischen Heiler. Es wird schon keiner sterben, Leyya… es läuft ähnlich wie bei den Aufnahmeprüfungen, einer ist Schiedsrichter und passt darauf auf, dass keiner zu Bruch geht.“

„Also, ich fand, dass Puran schlimm genug zugerichtet war nach seiner Prüfung!“, jammerte sie, und ihr Mann errötete.

„Du beschämst mich.“, brummte er, „Das hört sich an, als wäre ich der totale Verlierer…“ Sie schnaufte.

„Ihr und eure elende Ehre und Würde, grausam…“ Nalani unterbrach das Gespräch.

„So ist es seit Anbeginn der Zeiten Tradition, Leyya. Es ist der Wille der Geister, dass es so geschieht, und so wird es auch dieses Mal laufen.“ Sie sah jetzt mehr ihren Sohn an, der den Blick aber nicht zu bemerken schien, „Jeder… gegen jeden. Es gibt kein freundliches Gewinnenlassen, das würde sämtliche Geister entehren; Himmel und Erde werden entscheiden, wem von uns sie die meiste Kraft geben werden, um ihn dann zum Anführer des Rates zu machen.“ Schweigen erfüllte den Salon. Dann war es Tare Kohdar, der sprach.

„Wir… haben aber noch ein Problem, Nalani… wir sind nicht… vollzählig, wenn ich es wagen darf, das zu sagen. Henac ist nicht da.“ Der einzige verbliebene Erbe des Kohdar-Clans wurde darauf von einigen Augenpaaren beinahe tot gestarrt. Puran zischte.

„Der? Der ist doch gar nicht mehr im Rat! Was sollen wir mit dem? Es geht um uns fünf, mehr nicht, Tare!“

„Du irrst dich.“, machte der Ältere ernst, „Tabari mag Henac aus dem Rat verstoßen haben; vor den Augen der Geister jedoch hat er die gleiche Macht inne wie wir fünf. Vor den Geistern… ist er immer noch einer von uns, daran können wir nichts ändern. Solche Grenzen zwischen der Stufe der magischen Macht können nicht wir ziehen. Das können allein die Geister von Himmel und Erde.“

„Soll das heißen, wir müssen den Bastard wieder hierher holen?!“, empörte Puran sich grantig, „Das könnt ihr vergessen!“ Seine Mutter war anderer Meinung.

„Uns wird aber nichts anderes übrig bleiben, Tare hat recht. So leid es mir tut und so sehr ich mir auch wünsche, einen anderen Weg zu finden. Jeder, der einmal diese Aufnahmeprüfung bestanden hat, ist auf dem Niveau der Geisterjäger. Der Mächtigste von denen, die dieses Niveau haben, muss der Anführer des Rates werden. Es kann sich auch keiner von uns der Teilnahme an diesen Kämpfen verweigern; auch, wenn man keine Lust hat, Anführer zu werden, muss man trotzdem mitmachen, denn allein die Geister bestimmen denjenigen, den sie für fähig halten, ihr mächtigster Vertreter zu sein. Und würden wir Emo einfach außen vor lassen, wäre das ein Verstoß gegen die Regeln – da er auf demselben magischen Niveau ist wie wir, könnte es genauso gut sein, dass die Geister ausgerechnet ihn für am würdigsten empfinden. Es wäre also quasi Schummelei, würden wir ihn ausschließen und ihm diese Chance verwehren.“

„Du glaubst doch nicht, dass die Geister diesem Meuchler und Verräter den Posten des Herrn der Geister überlassen würden!“, machte Neron jetzt auch pikiert, „Ich meine, dann Prost Mahlzeit, wenn der Anführer wird, geht der Rat aber den Bach runter.“ Da stimmten ihm alle zu; dennoch war es ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle an den Kämpfen teilnahmen.

Meoran seufzte und erhob sich, sobald Nalani ihn auffordernd ansah.

„Ich tue das wirklich ungern.“, murmelte er, „Aber ich könnte… weder dir noch den Himmelsgeistern diesen Befehl abschlagen, Nalani… ich werde einen Boten nach ihm schicken.“ Er ging wortlos an den anderen vorbei zur Salontür, und Nalani drehte den Kopf in seine Richtung.

„Ich danke dir, Meoran. Du hast etwas gut bei mir.“
 

Meoran hatte nicht geahnt, bei seinem Vorhaben auf heftigsten Widerstand zu stoßen – und zwar von Seiten seiner Tochter.

„Du darfst nicht, Vati! Du darfst nicht, er soll hier nicht sein! Ich will nicht, dass er hier ist!“ Meoran sah verzweifelt herunter, wo seine kleine Tochter sich schreiend und protestierend an sein Bein klammerte und wild strampelnd versuchte, ihn aufzuhalten. Saja, die auf die Kleine aufgepasst hatte, saß ratlos auf dem Sofa der Stube und tauschte einen verwirrten Blick mit dem Vater der Kleinen.

„Müsst ihr ihn denn wirklich holen…?“, fragte sie zaghaft und Meoran schnaubte.

„So will es das Gesetz! Saidah, lass mich auf der Stelle los, oder ich werde böse!“

„Du darfst das nicht, Vati! Er ist ein böser Mann, er ist der Schattenmann! Ich hasse ihn, Vati!“ Sie schrie und heulte und riss kreischend an seinem Hosenbein, wobei sie es beinahe kaputt machte. Meoran sah auf die Kleine herunter und schloss benommen die Augen, um sich darauf zu konzentrieren, was er jetzt tun sollte.

Er verstand ihre Panik… er verabscheute Emo genauso wie seine Tochter. Er wollte auch nicht, dass er kam… aber es musste sein. Die Gedanken an Rujas Tod schmerzten ihn noch immer. Er dachte jeden Tag an seine geliebte Frau und sehnte sich schrecklich nach ihr. Auch, wenn er sich vor anderen beherrschen konnte, wusste er doch sehr genau, dass dieses Loch, dass Rujas Tod in seiner Seele hinterlassen hatte, mit jedem Tag, den er sie vermisste, etwas größer wurde. Und dass Saidah ihn daran erinnerte, wer zumindest mit Schuld an Rujas Tod gewesen war, machte es ihm nicht gerade leichter, seine Pflicht zu erfüllen.

„Saidah, bitte hör mir zu…“, versuchte er es kleinlaut, und das vier Jahre alte Mädchen strampelte wütend und klammerte sich mit aller Macht an sein Bein, als er versuchte, sich loszureißen, ohne ihr dabei wehzutun. „Hör mir bitte zu!“, wiederholte er lauter und zorniger, und mit einem Ruck entzog er sein Bein doch noch ihrem Griff, hockte sich herunter und packte das Mädchen unsanft an den Oberarmen. Sie schrie, und er wusste genau, dass er ihr wehtat. „Du bist noch zu klein, um das zu verstehen!“, blaffte er sie an, „Das ist eine Sache der Erwachsenen, du hältst dich da raus, Saidah! Ich muss das tun, ich habe keine Wahl! Glaub mir, ich will auch nicht, dass Emo hier herum hockt! Aber so will es das Gesetz!“ Saidah stierte ihn an und schluchzte.

„Warum befiehlst du den Geistern dann nicht einfach, dass sie das Gesetz ändern?! Du… bist doch Geisterjäger, Vati!“

„So einfach geht das nicht, meine Kleine. So etwas kann ich ihnen nicht befehlen.“ Er ließ sie los und streichelte sanft ihre Arme, die er zu fest gepackt hatte. „Vergib mir, mein Liebes… ich wollte dir nicht wehtun. Bist du mir böse?“ Saidah strafte ihn mit einem trotzigen Blick, und er küsste das Kind auf den Kopf und nahm es dann auf die Arme, um es sanft an sich zu drücken und zu wiegen. „Ich habe dich so lieb, mein Schatz… verzeih mir, Saidahchen. Ich war garstig zu dir. Ich verspreche dir, dass ich nicht zulassen werde, dass dieser Schuft dir zu nahe kommt. Einverstanden?“ Die Kleine drückte das Gesicht an seine Brust und antwortete nicht, aber sie schlang ihre kleinen Ärmchen schutzsuchend um seinen Hals, und er wusste, dass sie ihm vergeben würde.
 

Niemand freute sich auf Henac Emos Rückkehr nach Vialla; Nalani schauderte bei dem Gedanken daran, dass Tabari dem Verräter damals geschworen hatte, ihn umzubringen, würde er je wieder einen Fuß in die Stadt setzen; ihn jetzt nach Tabaris Tod einfach wieder zurück zu zitieren grenzte beinahe an Verrat an ihrem Mann, so hatte sie das Gefühl. Aber Gesetz war Gesetz… so schauten die Mitglieder des Geisterjägerrates alle relativ missmutig drein, als der Verbannte wenige Tage später tatsächlich Meorans Botschaft nachkommend von Süden aus in die Stadt der Städte zurückkehrte. Er sah nicht aus, als wäre es ihm schlecht ergangen, er war ordentlich angezogen, gewaschen und gekämmt, und wie üblich hatte er das süffisante Grinsen im Gesicht, nicht ohne eine Spur von Genugtuung, als er seine ehemaligen Kollegen erreichte, die ihn am Tor des Palastes empfingen.

„Was sagt man dazu? Da lässt man euch ein halbes Jahr alleine und schon ruft ihr nach mir… ich habe mich gefragt, wie lange es wohl dauern würde… nicht wahr, Nalani?“ Nalani schenkte ihm einen Blick voller Abscheu.

„Glaube ja nicht, dass wir uns darüber freuen, dich zu sehen, Verräter. Du weißt, warum du kommen musstest; und wäre es ein anderer Grund gewesen, wärst du wohl kaum gekommen.“ Er lachte amüsiert.

„Du glaubst, ich sei scharf auf den Posten deines Mannes? Mein Beileid, übrigens.“

„Spare dir deine Heucheleien!“, zischte Puran und stierte ihn zornig an, „Damit das klar ist, du wirst nicht wieder Mitglied des Rates, Emo. Sobald wir hier fertig sind, verschwindest du, es sei denn, du wirst neues Ratsoberhaupt…“

„Was offenbar keiner vermutet und keiner hofft.“, addierte der Verräter, „Ihr seid echte Kameradenschweine, Puran… ich habe es ja immer gesagt. Verblendet. Na ja, ich sehe einmal darüber hinweg… mir ist der Posten egal. Ich bin nicht scharf darauf, eine Bande von Hornochsen zu führen, hier bin ich definitiv fehl am Platz, das ist mir klar geworden im vergangenen halben Jahr.“ Nalani beobachtete ihn schweigend, während er sprach, und sie fragte sich, wo er dann besser dran war. Das war der Moment, in dem sie zum ersten Mal wieder an den komischen Koch aus Holia dachte; ob Emo wirklich irgendetwas mit ihm zu tun hatte? Beide waren etwa zeitgleich aus Vialla verschwunden, der Koch allerdings grund- und spurlos. Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte.

Henac Emo schenkte Puran ein immer noch amüsiertes Grinsen.

„Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, du hast deine Frau geschwängert? Tapfer, tapfer, und das in ihrem zarten Alter, du bist aber einer, Puran…“

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“, war die reservierte, nüchterne Antwort. „Wie auch immer. Wir sollten dieses nötige Szenario bald hinter uns bringen, wir wissen nicht, was die Zuyyaner als nächstes vorhaben. Nur, weil ihr Kaiser tot ist, heißt das nicht, dass sie klein beigeben; wir tun das schließlich auch nicht.“
 

Es dämmerte bereits, als der Rat sich im Salon versammelte, um alles Restliche zu besprechen. Sie würden die Kämpfe auf den ohnehin zertrümmerten Feldern von Zarimia ausführen, wo die Schlachten gegen die Zuyyaner stattgefunden hatten; dort war genug Platz und es gab nichts, was aus Versehen zu Bruch gehen konnte. Jetzt war Saja dabei, eine Tabelle zu zeichnen, während der Rest der Versammlung rauchte oder Kaffee trank. Puran war ziemlich stolz auf sich, dass er langsam alle davon überzeugen konnte, statt Tee Kaffee zu trinken.

„So.“, sagte Saja dann und sah von ihrem Papier auf, das sie beschriftet hatte, die Feder klemmte sie sich hinter das Ohr. „Ihr seid sechs Geisterjäger, jeder kämpft gegen jeden einmal, das bedeutet, es gibt sechs mal fünf Kämpfe; da es ja aber Zweikämpfe sind, sind das drei mal fünf Kämpfe, das bedeutet, wenn jeder pro Tag einen Kampf ausführt, gibt es fünf Tage mit je drei Kämpfen. Wenn wir morgen bei Sonnenaufgang anfangen, haben wir mit Glück in fünf Tagen bei Sonnenuntergang den neuen Ratsvorsteher.“ Alle sahen sie an und Neron schnaubte.

„Wieso kannst du das im Kopf rechnen?!“

„Das ist gut, so ein Glück, dass wir eine gerade Anzahl sind.“, lachte Tare Kohdar, „Sonst wäre ja alles noch anstrengender geworden… hast du auch aufgeschrieben, wer als erstes wen an der Backe hat, Saja, du kluge Rechnerin?“ Die blonde Frau fuhr sich durch die Haare und hielt ihr Papier hoch.

„Ja, ich habe vorhin Lose gebastelt mit euren Namen und dann den ersten Tag ausgelost. Da sowieso jeder gegen jeden antreten muss, ist es vollkommen egal, wer wann welchen Gegner hat, daher habe ich den Rest dann einfach so aufgeschrieben, wie es mir eben in den Sinn kam.“ Sie erntete neugierige Blicke von allen Seiten, als die Betreffenden einen Blick auf das Papier erhaschten. Ihr immer noch Verlobter pustete die Luft aus seinem Mund.

„Du bist so sadistisch, wenn ich gleich am ersten Tag gegen Puran kämpfe, bin ich doch total unmotiviert, gegen den verliere ich doch sowieso!“, meckerte er, das aber nicht ganz ernst meinend. Puran schnaubte.

„Ach, aber in Iter damals warst du so von dir selbst überzeugt?“

„Du hast den zuyyanischen Kaiser getötet, Alter… und deine Frau geheiratet. Und geschwängert!“

„Was… hat das denn mit dem Kampf zu tun?“ Jetzt ging wieder angeregtes Diskutieren los, und Saja verdrehte die Augen und lehnte sich zurück, dabei sah sie auf Leyya, die mit der kleinen Saidah in der Ecke des Salons saß, um das Mädchen möglichst weit von Emo fern zu halten, den Saidah nur mit bitterbösen Blicken voller Hass strafte, während sie sich mit dem Kopf an Leyyas Bauch an die etwas ältere Heilerin klammerte. Leyya hatte die Kleine so lieb… mit jedem Tag wurde sie ihrer hübschen Mutter ein bisschen ähnlicher, fand die Heilerin, und sie war sicher, dass Saidah als erwachsene Frau einmal genauso bildschön sein würde wie Ruja es gewesen war.

Sie vermisste die liebevolle und mütterliche Ruja…
 

Die bevorstehenden Kämpfe besorgten sie noch in der Nacht, als sie mit Puran in ihrem Bett lag.

„Ich wünschte, es gäbe eine friedlichere Lösung dafür!“, schmollte sie, während sie mit dem Kopf auf seiner nackten Brust lag und mit der Hand über seinen Bauch streichelte. Er seufzte.

„Mir graust ehrlich gesagt auch davor… aber so ist das Gesetz.“

„Warum macht ihr euch das so kompliziert? Die Telepathen wählen einfach ihren Vorsteher und wir Heiler tun das auch, soweit ich weiß… so lange bin ich ja noch nicht im Rat…“ Er musste lächeln, als er stolz daran dachte, dass seine Frau jetzt eine offiziell anerkannte, wirklich fähige Heilerin war; in den obersten Rat der Heiler kam nicht jeder Idiot. Nicht mal Keisha war Mitglied gewesen, dabei war sie eine sehr talentierte Frau gewesen. Als Auszeichnung für ihren Beitritt in den Rat hatte Leyya auch einen Umhang und einen Anstecker bekommen; allerdings war ihr Umhang weiß und nicht schwarz wie die der Geisterjäger, und auf dem vergoldeten Anstecker war kein Pentagramm, sondern eine Blume, die das weltweite Symbol der Heiler war. Die Telepathen hatten purpurne, auberginefarbene, violette oder manchmal auch blaue Umhänge – für die Männer des Rates, die violett zu feminin fanden – und auch sie hatten Anstecker, auf denen eine Spirale abgebildet war. So hatte jeder der drei Stämme der Schamanen seine Farbe und sein Symbol.

„Weißt du, Leyya.“, begann Puran dann leise und strich dabei zärtlich auf ihrem Rücken auf und ab. „Es gibt Menschen, die behaupten, Schwarzmagier wären generell mächtiger als Heiler und Telepathen. Das ist Quatsch. Aber es gibt einen Grund, wieso wir es in diesem Fall komplizierter haben. Es hängt mit den Geistern zusammen, denen wir alle auf verschiedene Art befehlen können. Ihr Heiler befiehlt den Erdgeistern; der Mutter Erde, die die Pflanzen wachsen und Dinge Leben lässt. Die Telepathen wiederum befehlen den Himmelsgeistern; dem Vater Himmel, der die Dinge verändern kann, der uns von der Geisterwelt abschirmt, der aber auch auf uns herunter stoßen kann. Und wir Schwarzmagier befehlen sowohl den Himmelsgeistern als auch den Erdgeistern. Du hast ja sicher etwas über die Gene gelernt? Von jedem Elternteil bekommst du ein magisches Gen vererbt, je nach der Art Magier, die deine Eltern sind. Es gibt Heilergene, Telepathengene und Schwarzmagiergene. Sobald du auch nur von einem Elternteil ein Heiler- oder Telepathengen geerbt hast, kannst du Heiler oder Telepath sein, oder sogar beides, wenn du beide Gene besitzt. Aber Schwarzmagier mit richtiger, höherer Schwarzmagie kannst du nur sein, wenn du von beiden Eltern das schwarze Gen bekommen hast.“ Sie nickte.

„Ich weiß… das ist gut in unserem Fall. Ich bin keine reinerbige Heilerin, ich habe nämlich nur ein Heilergen; das Gen, das ich von meiner Mutter geerbt habe, ist ein Schwarzmagiergen. Das heißt, da du zwei schwarze Gene hast, ist es möglich, dass unser Kind genau wie du Schwarzmagier wird und damit… ein Erbe für eure Familie.“ Das war ihr vor kurzem erst aufgefallen, und es hatte sie stolz und glücklich gemacht; auch, wenn Puran beteuerte, dass ihm das Erbe nur zweitrangig wichtig wäre, und dass er auch alle Kinder von ihr lieben würde, wenn sie allesamt Heiler würden, mochte Leyya den Gedanken, dass sie wenigstens die Chance hatte, ihm einen richtigen Erben zu schenken.

„Ja, so ist es. Und da wir als Schwarzmagier eine größere und schwerere Verantwortung auf den Schultern haben, da wir zwei der Mächte der Schöpfung beherrschen, können wir den obersten Vertreter der Menschen, die beide dieser Mächte miteinander verbinden können, nicht einfach per Abstimmung auswählen. Es geht darum, zu beweisen, dass wir… würdig sind, den Geistern von Himmel und Erde mit genügend Macht gegenüber zu treten. Deswegen ist es so kompliziert.“ Die Frau nickte verständnisvoll und kuschelte sich dichter an ihn.

„Und noch etwas ist mir eingefallen.“, murmelte sie, „Meoran hat gesagt, Tabari war siebzehn Jahre lang Herr der Geister; und es gab in dieser Zeit nur zwei mal diese Kämpfe? Ich dachte, alle fünf Jahre?“

„Ja, das stimmt, die letzten Kämpfe dieser Art waren in dem Jahr, bevor der Krieg anfing. Danach… hatte keiner mehr Zeit, wir verloren uns aus den Augen… wann und wo hätten wir fünf Tage lang durchgehend kämpfen sollen? Abgesehen davon, dass wir auch mal mehr als sechs waren…in dem Jahr, in dem die Kämpfe fällig gewesen wären, sind wir nach Vialla gekommen, die Schlachten mit den Zuyyanern liefen auf Hochtouren. Das wäre nicht leicht geworden.“ Das sah sie ein, und sie seufzte leise, seine sanften Berührungen auf ihrem Rücken genießend.

„Puran…?“ Er sah zu ihr herab, als sie den Kopf drehte, und sie lächelte ihn liebevoll an. „Ich… wünsche dir viel Glück.“
 

Nalani hatte den König darum gebeten, die Kämpfe auf den im Moment ruhigen Schlachtfeldern nicht als Zirkus auszuschildern und möglichst wenige Menschen als Zuschauer zuzulassen. Die Entscheidung, wer der nächste Herr der Geister werden sollte, war kein Schauspiel für die Bewohner von Vialla. Natürlich konnte man Schaulustige von ihren Hausdächern oder der Mauer im Norden nicht vertreiben, aber direkt bei den zermürbten Feldern waren nur die drei Könige, einige Sicherheitsleibgarden und die Angehörigen der Teilnehmer – was sich auf Leyya, Saja und die kleine Saidah beschränkte. Und ein paar Vertreter des Telepathen-Ordens waren mitgekommen, die zur Not die Zuschauer mit Barrieren vor den umher fliegenden Blitzen schützen sollten.

„Das ist ja abenteuerlich.“, machte der König von Senjo verwirrt und sah sich skeptisch um, „Ich habe mir nicht in meinen abstrusesten Träumen ausgemalt, so etwas beobachten zu können. Na, so ein Glück, dass wir nicht auf solche Weisen die Könige bestimmen, haha…“

„Ja, das wäre in der Tat unschön.“ Der König von Kisara drehte den Kopf, als nachträglich noch die Mitglieder des Heilerrates kamen, um zur Not Wunden heilen zu können. Leyya stellte sich artig zu ihren neuen Kollegen, dabei Saidah an der Hand haltend. Das kleine Mädchen mit den schwarzen Haaren blickte in den bewölkten Himmel.

„Ich hab von kleinen Vöglein geträumt!“, erzählte sie dann und umklammerte dabei erstaunlich frohen Mutes Leyyas Hand.

„So? Das ist fein, das war sicher ein guter Traum.“

„Ja, die Vögelchen kamen und haben eine böse Schlange gepickt, weil sie das Nest angreifen wollte. Und dann haben sie gesungen, Husch, dumme Schlange, kriech davon! Oder wir picken dir deine Äuglein aus, ei! “ Leyya fragte sich, was das zu bedeuten haben mochte.
 

Den Auftakt zur Reihe der Duelle machten Nalani und Tare Kohdar. Der Kampf war schnell vorüber und Nalani entschied ihn für sich; da sie am besten mit Wasser arbeiten konnte, war Tare als Feuermagier da nicht wirklich im Vorteil, und dann schluckte Nalanis Schattenzauber den Rest der Flammen und der Kampf war entschieden.

„Und das ohne Kadhúrem.“, machte Tare Kohdar dazu und raufte sich die braunen Haare, „Was bin ich denn für ein Waschlappen?“

„Kopf hoch, Tare, wir werden am Ende vermutlich auch alle Waschlappen sein… das ist Nalani, vergiss das nicht.“, kicherte Neron Shai darauf, ehe er und Puran den zweiten Kampf bestritten. Wie Neron es vorhergesagt hatte, gesellte der Jüngere sich zu seiner Mutter in die Liste der Gewinner, wobei ihr Kampf nicht ganz so schnell vorbei gewesen war wie der erste. Neron hatte versucht, mit dem Schlangenschwert das Geisterschwert aus Purans Hand zu reißen, was gründlich daneben gegangen war, und nach einigem Hin und Her beider Männer und diversen Blitzschlägen, die das Feld noch mehr zermürbt hatten, war es Puran gewesen, der mit einer geschickten Handbewegung und einem Windmesser seinem Gegner das Schwert aus der Hand geschlagen hatte. Das Schlangenschwert war in hohem Bogen über das Schlachtfeld geflogen und hätte beinahe die Zuschauer getroffen, hätten die Telepathen nicht rechtzeitig gehandelt.

„Himmel, so ein Chaos!“, empörte einer der Könige sich bestürzt, der um sein Leben gefürchtet hatte.

Meoran seinerseits fragte sich, ob es Schicksal war, dass er als erstes ausgerechnet gegen Henac Emo antreten musste. Gegen den Mann, der seine Frau auf dem Gewissen hatte… es war nicht einfach, seine unerschütterliche Seele standfest zu halten, wenn man so einen tief verwurzelten, grausamen Zorn in sich spürte, wie er ihn auf Emo hatte. Aber mit roher Gewalt würde er nicht weit kommen – das war nicht seine Aufgabe.

Beide Männer kannten die Techniken des anderen und waren daher darauf eingestellt, entsprechend zu reagieren. Der dritte und letzte Kampf des ersten Tages war auch der längste, und obwohl es bereits wieder dämmerte, sah Leyya mit der Kleinen an der Hand gebannt der Schlacht der Federn und Wurfnadeln zu, der grollenden Macht des Himmels, die Meoran nach Henac Emo warf, der die Blitze des Älteren mit seinen Schattenzaubern verschlang; am Ende zerschmetterte Meoran mit der letzten seiner Federn Emos Schatten und zwang seinen verhassten Gegner zu Boden. Er war mit einem Satz über ihm und schon hatte der Schwarzhaarige die Feder des Kondors an seiner Kehle, dabei starrten sich beide Männer keuchend und finster ins Gesicht. Als Meoran sprach, wusste die Heilerin am Rand des Feldes plötzlich, wovon Saidah geträumt hatte.

„Ich hätte hundert Gründe mehr dafür, dich zu töten, als dich am Leben zu lassen, Schlange. Ich rate dir, kriech weg, solange du noch kannst, bevor ich es mir anders überlege und dir eines Tages deine garstigen Schattenaugen aussteche!“
 

Die folgenden drei Tage verliefen ähnlich. Wirklich ernste Verletzungen gab es nicht, hier mal ein kleiner Schnitt, hier mal eine Platzwunde, aber nichts, was Besorgnis erregen würde, worüber Leyya froh war. Jeden Tag beobachtete sie die Kämpfe, die jeder auf seine Art atemberaubend und einzigartig waren – und unheimlich, wie sie fand, wenn sie mitunter die Macht der Geister überall spüren konnte, wenn die Kontrahenten ihre mächtigsten Zauber auf ihre Gegner schmetterten und damit die Erde zum Zittern brachten.

Nachdem vier von fünf Tagen vergangen waren, war die Entscheidung des neuen Ratsführers dennoch noch nicht ganz gefallen. Meoran hatte zwei von vier Kämpfen gewonnen, Tare Kohdar und Henac Emo jeder einen, der arme Neron war bislang leer ausgegangen und Nalani und Puran teilten sich den ersten Platz des Rangliste, da sie beide alle ihre Kämpfe für sich entschieden hatten; der letzte Tag würde das ändern.

„Dass da keiner von uns mehr mitspielt, ist eigentlich klar.“, schnaufte Neron am Abend des vierten Tages, „Eigentlich können wir vier anderen es uns sparen, noch mal zu kämpfen, oder?“

„Das wäre aber irgendwie Schummelei.“, schmollte Puran und sein Freund schlug ihm gegen den Rücken, „Aua!“

„Es wird sich ja wohl zwischen dir und Nalani entscheiden! Wir andere sind doch alle raus aus dem Rennen, es wäre vergeudete Zeit und vor allem vergeudete Kraft. Wobei ich gegen Meoran sicher ausnahmsweise Mal gewinnen würde, das hab ich schließlich bei der Prüfung schon mal geschafft…“

„Also, ich muss nicht unbedingt noch mehr haben…“, machte Meoran und kratzte sich am Kopf. „Neron hat recht, eigentlich entscheidet es sich zwischen euch beiden. Du wirst morgen gegen Nalani kämpfen müssen, Puran, und wer diesen Kampf gewinnt… ist der neue Ratsvorsteher.“ Puran wich den Blicken aus, die die anderen ihm jetzt zuwarfen, und sah in Richtung seiner Mutter, die mit dem König von Kisara sprach und den Männern des Rates den Rücken kehrte.

Mutter… ich kann doch nicht gegen meine eigene Mutter kämpfen!
 

Puran verfluchte mal wieder sein Schicksal. Er wollte nicht gegen seine Mutter kämpfen… gegen seinen Lehrmeister anzutreten war schon schwer genug gewesen. Er erinnerte sich an den Kampf gegen Meoran; nach einigem Anfangszögern hatte er auch schnell aufgehört, sich zurückzuhalten, immerhin war Meoran der Erbe des Chimalis-Clans und kein Schwächling. Und obwohl er wusste, dass sein Lehrmeister immer wieder gesundheitlich etwas angeschlagen war und schnell aus der Puste geriet, war es ein harter Kampf gewesen; Meoran hatte keinesfalls vorgehabt, es ihm leicht zu machen, und das hatte er auch wirklich nicht getan. Letzten Endes hatte das Geisterschwert die Macht der Kondorgeister überbieten können, aber es war nicht einfach gewesen.

Bei seiner Mutter war das etwas anderes. Sie war seine Mutter, er konnte doch nicht gegen sie kämpfen… nicht, weil er sich vor ihrer Macht fürchtete, und sie war auch für ihn vermutlich der schwerste Gegner des ganzen Rates – sie war seine Mutter! Sie hatte ihn geboren und groß gezogen, er verehrte sie… wie konnte er da gegen sie kämpfen mit dem Vorhaben, sie zu besiegen? Er wollte sie gar nicht besiegen… das konnte er doch gar nicht. Er wünschte sich, sich irgendwie davor drücken zu können… aber das würde nicht gehen.

„Du versuchst schon wieder, wegzulaufen…“, tadelten ihn die Himmelsgeister und Puran schnaubte.

„Au!“ Auf seinen kurzen Aufschrei hob Leyya den Kopf.

„Halt doch still!“, mahnte sie ihn, „Wie soll ich dich heilen, wenn du die ganze Zeit herum hampelst wie ein nervöses Kind? Was ist denn?“ Er stöhnte und raufte sich die Haare, während er rücklings auf dem Bett lag. Leyya versorgte die Brandblase an seinem Unterschenkel, die er Tare zu verdanken hatte, mit dem er sich heute herum geschlagen hatte. Oder versuchte das zumindest.

„Ich kann nicht gegen meine Mutter kämpfen…“, murmelte er dann und versuchte jetzt, ruhig zu liegen, damit sie die schmerzende Wunde verschwinden lassen konnte. Sorgsam kam seine zierliche Frau ihrer Arbeit als Heilerin nach und bemühte sich bei ihrem Heilzauber, zärtlich zu sein.

„Ich weiß, dass es sicher schwer wird.“, meinte sie dabei leise, „Du musst das aber hinter dich bringen.“

„Wie so vieles. Manchmal hasse ich es echt… ich wünschte, ich wäre… einfach stinknormal. Ram Derran würde mir ins Gesicht schlagen, wenn er das jetzt hören würde, aber ich beneide ihn, wenn er noch am Leben ist… ich beneide ihn dafür, dass er ein Niemand ist. Er kann weder großartig zaubern noch hat je in sonst irgendwas wirklich durch Können geglänzt – außer Jagen – aber er hat wenigstens ein normales Leben und nicht dauernd irgendwelche Herausforderungen der Geister, die er bestehen muss.“ Er fragte sich, wieso er jetzt an seinen Schulkameraden dachte, den er nie gemocht hatte – was auf Gegenseitigkeit beruhte, wie er annahm.

Ram Derran würde nie ernsthaft gegen seine Mutter kämpfen müssen. Er würde auch nie darüber nachdenken, die Verantwortung tragen zu müssen, den Rat der Geisterjäger anzuführen. Er würde nicht irgendwelche viel zu ehrwürdigen Angebote vom König des Landes bekommen, die er nicht ablehnen konnte. Puran fragte sich, ob das Mädchen Pakuna Rams Frau geworden war; soweit er das damals mitbekommen hatte, hatten die zwei immer sehr aneinander gehangen, und die Tratschtante Travidan hatte einmal erzählt, sie wären auch ein Paar gewesen, sobald sie alt genug gewesen waren. Travi und Kannar… Puran dachte viel zu selten an seine beiden Kindheitsfreunde. Was wohl aus ihnen geworden war? Oder aus Ram und Pakuna…

Ram Derran würde einfach nur seiner Frau ein guter Mann und ihren gemeinsamen Kindern ein guter Vater sein können. Er musste niemand anderes sein als das… darum beneidete der Jüngere ihn wirklich. Er wollte auch einfach nur Leyyas Mann und Vater ihres noch ungeborenen Kindes sein.

Aber die Geister hatten nie gewollt, dass er normal war. Sie hatten bestimmt, dass er anders war… er würde sie irgendwo in seinem Inneren immer dafür hassen, egal, wie gewissenhaft er seiner Bestimmung nachgehen würde.

Leyya ließ von seinem Bein ab, betrachtete die verheilte Haut zufrieden und sah ihn dann aufmunternd lächelnd an.

„Du schaffst das schon.“, sagte sie und streichelte dabei zärtlich über seine Beine, während sie am Bettrand saß. „Wir alle müssen manchmal Dinge tun, die wir nicht wollen…“ Sie lächelte ihn liebevoll an und er seufzte leise, als ihre Finger vorsichtig hinauf auf seine Oberschenkel krochen und dann noch weiter nach oben. Ehe sie in seinem Schoß hätte ankommen können, hielt er ihre Hände fest und umklammerte sanft ihr Handgelenk.

„Komm zu mir, Leyya… bitte. Sei heute Nacht… einfach nur hier. Deine bloße Anwesenheit gibt mir ja vielleicht die Kraft… die ich brauche, um den morgigen Tag zu überleben.“ Sie kicherte leise und stand vorsichtig auf.

„Du übertreibst… die Welt wird nicht untergehen, Puran. Du bist nur nervös…“ Er beobachtete sie schweigend, wie sie sich langsam vor ihm auszog. In aller Ruhe betrachtete er jeden Zoll ihrer weichen, rosigen Haut, den sie freigab; von ihrem Schlüsselbein hinab zu ihren kleinen, hübschen Brüsten, über ihren noch flachen Bauch, der in wenigen Monden so rund wie eine Wassermelone sein würde, über ihre Oberschenkel bis hin zu dem kleinen, dunklen Dreieck aus weichen Härchen zwischen ihren Beinen. Sie war schön… manchmal sah er sie einfach nur gerne an. Ganz ohne irgendwelche anzüglichen Gedanken sah er sie gerne an, wie sie war, so, wie er sie liebte. Es tat gut, sie einfach nur anzusehen, und es erheiterte ihn immer wieder, wenn sie verlegen errötete, wenn er sie so anblickte.

„Starr doch nicht so…“, nuschelte sie peinlich berührt und krabbelte zu ihm ins Bett, kuschelte sich mit ihm unter die Decke und schmiegte ihren warmen, nackten Körper dicht an seinen. Er trug noch seine Unterwäsche; während er sie liebevoll küsste, ließ er zu, dass sie sie ihm zärtlich auszog.

„Warum soll ich nicht starren, wenn mir doch so gefällt, was ich sehe?“, fragte er zurück und sie errötete noch tiefer, als er sich seufzend über sie rollte und ihr Gesicht mit zärtlichen Küssen bedeckte. Sie umarmte seinen Nacken und erzitterte unter den sanften Berührungen.

„Küss mich…“, wisperte sie nur, weil ihr keine gescheite Antwort einfiel, und ihr Mann grinste wissend, ehe er ihrer Forderung mit größter Hingabe nachkam, sich am Bett abstützte und mit einer Hand spielerisch hinab zwischen ihre Schenkel glitt. Ja, es war gut, wenn sie bei ihm war… vielleicht berauschte ihre hingebungsvolle Liebe so sehr, dass er darüber die Furcht vor dem morgigen Tag vergaß.
 

Der Morgen graute in einer beängstigenden Stille. Flammend erhob sich die Sonne über dem östlichen Horizont und ließ die Gutwetterwolken am Himmel in ihrem Licht brennen. Puran spürte das Brennen im Nacken, der Sonne den Rücken kehrend und das Gesicht nach Westen. Es verursachte ein unangenehmes Kribbeln in ihm und es wehte kein Lüftchen, als er auf den zerrütteten Feldern von Zarimia stand, ihm gegenüber seine Mutter.

Der Tag, den er gefürchtet hatte, war angebrochen. Und obwohl er ihn immer noch fürchtete, blieb er felsenfest stehen, wo er war, und versuchte, dem Blick der Frau vor sich standzuhalten, als sie ihn aus blauen Augen anstierte. In ihnen spiegelte sich die Flamme der aufgehenden Sonne, in ihnen lag eine kalte, bestialische Entschlossenheit; Nalani hatte keine Angst vor diesem Kampf, er wusste das. Und sie würde ohne Gnade tun, wozu sie hergekommen waren… er fragte sich, woher sie diese Selbstbeherrschung nahm.

In der Ferne warteten die anderen Geisterjäger, die Könige, deren Leibgarde und die Telepathen und Heiler. Leyya war auch da… sie stand in seinem Rücken, sodass er sie nicht sehen konnte, aber er wusste, dass sie da war, und dass sie jede Bewegung von ihm verfolgte, an ihrer Hand die kleine Saidah.

Dieser Tag würde vieles entscheiden. Dieser Tag würde entscheiden, wer der neue Führer des Rates werden würde… der Nachfolger von Tabari als Herr der Geister. Niemanden der anderen hatte es überrascht, dass das Finale der Kämpfe so aussah; Meoran und Tare Kohdar hatten bereits am zweiten Tag behauptet, es würde sich letzten Endes zwischen Tabaris Frau und seinem Sohn entscheiden. Tare seinerseits übernahm jetzt die Arbeit des Schiedsrichters; nach Nalani war er jetzt derjenige, der am längsten im Rat war, weil er so unheimlich jung schon die Prüfung bestanden hatte.

„Seid ihr bereit?“, fragte er die beiden Kontrahenten langsam und sah dabei von einem zum anderen. „Dieser Kampf entscheidet über die Zukunft des Rates; es gibt kein Unentschieden. Entweder ihr gewinnt, oder ihr verliert. Bevor das nicht eindeutig ist, ist der Kampf auch nicht vorbei. Von mir aus kann es losgehen.“ Damit trat er zurück in den Sicherheitsabstand, doch Nalani und Puran rührten sich eine ganze Weile nicht. Schließlich sprach die Frau. Sie hob das Kinn und blickte ihrem Sohn ins Gesicht, obwohl die hinter ihm aufgehende Sonne sie blendete.

„Du weißt, worauf es ankommt. Wir sind nicht hier, um Kaffee zu trinken, und ich halte mich für sehr großzügig, wenn ich dir jetzt vorher sogar ins Gesicht sage, dass ich mich nicht zurückhalten werde, nur, weil du mein Kind bist. Ja, das bist du, aber du bist jetzt ein Mann. Ich muss dich nicht mehr mit Samthandschuhen anfassen.“ Er atmete tief ein und aus und hockte sich auf den Boden, um mit der Hand ein wenig der von der kühlen Nacht noch feuchten, schwarzen Erde aufzunehmen und sie durch seine Finger rieseln zu lassen.

Vater Himmel… siehe, ich atme deinen Atem ein… Mutter Erde… siehe, ich berühre deine Haut. Gebt mir Kraft… für das, was mir jetzt bevorsteht. Gebt mir… bitte den Mut, den ich brauche, um das zu tun, was ich tun muss…

Er erhob sich, sobald die Erde nicht mehr in seiner Hand war, und Nalanis Augen trafen wieder auf seine, als sie die Arme nach vorne hob.

„Wenn du geglaubt hast, ich würde es dir leicht machen, weil ich dich lieb habe, hast du dich geirrt, Puran!“, zischte sie und er weitete die Augen, als sie ihn so plötzlich angriff, dass er kaum einen Lidschlag später rückwärts zu Boden geschleudert wurde, sich einmal überschlug und dann hustend auf dem Bauch liegen blieb. Er keuchte, als er vor sich noch die gewaltige Wasserflut auf sich zudonnern sah, ehe er sich so schnell er konnte wieder aufrappelte und die Welle gerade noch mit einem Windmesser teilen konnte, sodass sie an ihm vorbei rauschte und auf das Schlachtfeld klatschte. Er kam kaum dazu, Luft zu holen, denn seine Mutter hatte sich jetzt frontal auf ihn gestürzt. Sie hatte sich zwei schmale, lange Schwerter besorgt, mit beiden schlug sie jetzt nach ihm, sodass er hustend ausweichen und rückwärts springen musste. Er starrte sie an in dem Moment, in dem sie abermals ausholte, und war unfähig, sich zu rühren; war das wirklich seine Mutter?

Ja, das war sie, eindeutig… aber es fühlte sich falsch an, dass sie ihn angriff… dass er sie angreifen sollte…

Nalani erinnerte ihn schmerzhaft daran, als sie ihm mit einem der Schwerter in den Arm schlug.

„Wehre dich, du Memme!“, zischte sie ihn an, „Na los! Willst du hier Wurzeln schlagen?!“ Er zischte, als sie die Klinge wieder empor riss und er nach dem blutenden Schnitt an seinem Arm fasste.

„V-verdammt, übertreib doch nicht so-…“ Instinktiv riss er den Kopf zur Seite, als sie mit einer Hand plötzlich wieder einen messerscharfen Wasserstrahl nach ihm schmetterte. Dann schlug sie mit den Schwertern nach ihm und er wich abermals aus.

„Ich übertreibe nicht, du sollst mich angreifen, Puran!“, blaffte sie ihn an, „Willst du den Rest des Tages vor mir davon rennen, wie du es immer bei allem tust, was dir nicht passt?!“ Er errötete wegen des Tadels, und sie zischte und schlug erneut nach ihm.

Sie hatte genau gewusst, dass es so laufen würde… er war eben das Kind seines Vaters. Und sie musste ihm das austreiben… jetzt, hier, sofort.

Sie ließ ihn wieder zurück hechten und steckte dann die Waffen weg, um die Arme wieder in den Himmel zu heben und aus dem Tau auf der Erde das Wasser empor zu ziehen und mit Hilfe dessen eine weitere Flutwelle zu erschaffen.. Puran weitete japsend die grünen Augen, als die Wassermassen abermals auf ihn zu kamen, und in dem Moment, in dem er sich mit einem weiteren Windmesser retten konnte, stürzte seine Mutter sich mit grimmiger Entschlossenheit auf ihn, dabei wieder eines der Schwerter ziehend und es genau auf ihn richtend. Seine Instinkte waren gut; reflexartig riss er die Hände jetzt ebenfalls hoch und mit einem Krachen aus dem Himmel ließ er das Geisterschwert darin erscheinen, die gebündelte, gewaltige Macht der Geister. Nalanis Klinge schlug gegen die blitzende des Geisterschwertes und ein böses Grollen folgte aus dem Himmel.

„Kämpfe!“, rief sie zornig, riss ihr Schwert zurück und sprang jetzt ihrerseits rückwärts, „Tu es, oder ich zwinge dich dazu!“ Puran ließ das Schwert zitternd sinken.

„D-du bist meine Mutter! Verstehst du denn nicht-…?!“

„Das tut nichts zur Sache vor den Geistern von Himmel und Erde!“, schrie sie wütend und er fuhr zusammen, als er in ihr kaltes, verhärtetes Gesicht sah. „Los, kämpfe! Greif mich verdammt noch mal an, oder bist du dazu zu erbärmlich?!“ Er schnappte nach Luft, als sie die freie Hand empor riss und darin die Schwärze des Schattenzaubers entstehen ließ, den sie unweigerlich auf ihn werfen würde. Er schnappte verzweifelt nach Luft. Wie konnte sie so grausam sein?

„M-Mutter! Das ist – das hat nichts mit erbärmlich zu tun, das ist eine natürliche Hemmschwelle! Wenn du die nicht hast, bist du wirklich kaltherzig-…“ Er keuchte abermals, als sie die geballte Macht aus purer Finsternis nach ihm schleuderte. Krachend prallte sie auf das Geisterschwert, das er wieder empor riss, und mit einem gleißenden Blitzen zerschmetterte er ihren Zauber mit seiner Klinge. Sie sprang in die Luft und schlug mit dem Schwert nach ihm, was er mit seinem eigenen parieren konnte.

„Bist du nicht Manns genug, um eine Frau zu schlagen?“, lachte sie dabei spöttisch und er weitete die Augen, als sie amüsiert hinter ihm landete, blitzschnell herumfuhr und abermals nach ihm schlug. Er konterte den Angriff geschickt mit seinem Schwert und wurde von ihr rückwärts gestoßen, beinahe wäre er gestolpert. „Bist du zu feige, Puran?! Du entehrst mich mit deiner… elenden Feigheit! Traust du mir nicht zu, dass ich es überlebe, wenn du ernst machst, oder wie?“

„W-was…?!“, schnappte er und wurde weiß – jetzt ging sie langsam wirklich unter die Gürtellinie. „Sag sowas nicht! Du weißt, wieso ich-…!“ Ein neuer Schlag von ihr unterbrach ihn und er zog den Kopf ein, als ihre Klingen sich direkt über ihm kreuzten.

„Dann kämpfe!“, schrie sie wütend, „Du bist ein Jammerlappen, genau wie dein Vater es in deinem Alter war! Spare mir dein Geheule und benehme dich ausnahmsweise mal wie ein richtiger Mann! Los, greif mich an, oder ich reiße dich in Stücke, wenn es sein muss! Du musst die Gesetze der Geister ehren und kannst… nicht weglaufen, Puran! Und ich werde nicht zulassen, dass du deine Ahnen so dermaßen beschämst mit deinem jämmerlichen… unreifen Verhalten hier!“ Er starrte sie immer fassungsloser über diese abscheulichen Beschuldigungen an und sie wusste, dass sie ihm wehtat… aber er rührte sich immer noch nicht, deswegen musste sie wohl oder übel noch einen draufsetzen.
 

„Es wundert mich echt, dass du Verlierer es geschafft hast, deiner Frau ein Kind einzupflanzen, bei deiner Unmännlichkeit!“
 

Jetzt fanden ihre Worte fruchtbaren Boden. Innerlich entschuldigte sie sich bei ihm für die widerlichen Worte, die sie nicht wirklich ernst meinte, obwohl es ernst geklungen hatte; der Zweck heiligte die Mittel. Sie wollte den Kampf ehrlich beenden und ihn nicht gewinnen, weil er sich geschlagen gab. Das würde die Geister erzürnen… und sie wusste, dass er das genauso wusste wie sie.

„Jetzt… bist du zu weit gegangen!“, blaffte er sie an und sie war ironischerweise erleichtert über den Zorn, den sie in seinem Gesicht sah.

Jetzt macht er ernst. Na endlich…

Sie sprang zurück, als er sich jetzt auf sie stürzte und mit dem Geisterschwert nach ihr schlug. Sie parierte den Schlag und schleuderte abermals eine Fuhre Wasser nach ihm, was er mit einer Katura erwiderte und mit dem Windzauber ihren Angriff zerschlug.

„Ich lasse mir manches von dir gefallen, Mutter!“, empörte er sich dabei, „Aber nicht alles!“

„Ja, das ist auch gut so!“, zischte sie zurück, ehe die Klingen erneut aufeinander trafen. Er schlug mit solcher Wucht zu, dass das Geisterschwert Nalanis Waffe zerschmettere und sie mit einem Griff ohne Klinge da stand. Keuchend fuhr sie herum und hechtete zurück, ehe er sie mit dem blitzenden Schwert hätte treffen können. Jetzt war sie es, die auswich, als er mit einer weiteren, gewaltigen Katura nach ihr warf.
 

Himmel und Erde erzitterten und Leyya tat es auch, dabei die kleine Saidah fester umklammernd, die sie an der Hand hielt. Es erschütterte die kleine Heilerin genau wie die anderen und die Erde zu ihren Füßen, als sie zusah, wie ihr Mann und seine Mutter einander Zerstörer entgegen schleuderten, sich gegenseitig auswichen und erbittert versuchten, den Sieg über den Gegner zu erringen. Sie fragte sich, ob es Nalani auch so schwer gefallen war, sich dazu durchzuringen, zu kämpfen. Nalani tat immer ohne zu zögern, was sie tun musste… sie war eine starke Frau und Leyya bewunderte sie für diese Willenskraft, für diese unerweichliche Seele, die sie besaß… sie fragte sich, ob es nicht unsagbar schwer sein musste, die Kraft aufzubringen, gegen sein eigenes Kind zu kämpfen… sie fasste nach ihrem flachen Bauch. Sie könnte niemals gegen das Baby kämpfen, das darin mit jedem Tag etwas wuchs.

Ein weiteres Donnern aus dem Himmel ließ sie zusammenfahren und Saidah quiekte unwirsch an ihrer Hand, weil sie das kleine Händchen aus Versehen mehr einquetschte als nötig.

„Aua…“, machte die Kleine und Leyya ließ sie erschrocken etwas lockerer.

„Oh nein, vergib mir, Saidahchen!“ Sie spürte, wie jemand ihre Schulter tätschelte, und sah darauf beunruhigt zur Seite und in Meorans Gesicht.

„Sorge dich nicht… sie werden sich schon nicht gegenseitig umbringen. Das sieht härter aus als es ist.“

„Das sagt sich so leicht.“, murmelte die Heilerin und erzitterte, als ein gleißendes Blitzen von vorne die Landschaft erhellte.

„Sie müssen jetzt den Geistern beweisen, dass sie würdig sind, diesen Titel zu tragen… nur der, der die Geister am besten beherrschen kann und dadurch den anderen besiegt, kann auch Herr der Geister werden. Oder Herrin, wie auch immer…“

„Gab es je eine Herrin der Geister?“, lachte Neron Shai doof, „Kann ich mir gar nicht vorstellen…“ Meoran seufzte.

„Hey, überhaupt, lasst uns wetten, wer gewinnt, wenn wir schon hier herum stehen…“ Leyya schnaubte.

„I-ihr könnt doch über sowas nicht wetten!“ Doch die anderen Geisterjäger schienen das gar nicht unnormal zu finden.

„Nalani, aber sowas von.“, war Henac Emos ungewünschter Kommentar und er machte ein komisches Gesicht. „Sie ist die Schattenkönigin, Baby Puran kann sie nicht besiegen, auf gar keinen Fall!“

„Wettest du?“, machte Meoran verdutzt, „Ich halte dagegen.“

„Ernsthaft? Du bist lebensmüde, Meoran… du bist nur verblendet, weil du Puran so gern hast! Dabei solltest du ihn besser hassen, weil er deine Frau angemacht hat…“ Der Ältere verengte die Augen zu Schlitzen, wobei sein linkes, kaputtes Auge eigentlich wie immer zur Seite schielte.

„Was denn, traust du dich doch nicht, Emo?“, antwortete er, ohne darauf einzugehen, und der Schwarzhaarige zog eine Braue hoch.

„Wieso sollte ich, ich gewinne sowieso… einhundert, Alter. Und Nalani wird ihn in den Boden schlagen. Was für eine Schande, wir alle verlieren gegen eine Frau…“
 

Puran keuchte und stolperte rückwärts, um Nalanis übrigem Schwert auszuweichen, als sie nach ihm schlug und die freie Hand empor riss, um darin den nächsten Wasserzauber entstehen zu lassen. Krachend donnerte die Magie gegen die Klinge des Geisterschwertes, das er herum riss, dem Angriff entgegen, und das Schwert zerschmetterte die Flutwelle wie ein großes Glas, sodass die Tropen wie tausende von Scherben durch die Luft wirbelten und wie Regen herab zur Erde fielen. Puran keuchte und riss beide Arme empor, um dem Wind zu befehlen, die Scherben zurück auf seine Gegnerin zu schleudern. Und die Wassertropfen flogen wie die Eissplitter der Zuyyaner auf Nalani zu, die die Hände auch hoch riss, das Schwert einsteckend, und mit einem schwarzen Loch aus Schatten zwischen ihren Händen ihren eigenen Zauber im Nichts verschwinden ließ.

Keuchend sprang sie ein Stück zurück, als ihr Sohn vor ihr inne hielt und sie mit noch immer erhobenen Armen anstarrte, ebenfalls leicht außer Atem. Sie hatte nicht geglaubt, es würde einfach werden, jetzt, wo sie ihn erst mal dazu gebracht hatte, sich Mühe zu geben… er war Tabaris Sohn. Und gegen Tabari hatte sie nur einmal in ihrem Leben gewonnen, bei ihrer Geisterjägerprüfung vor genau zwanzig Jahren.

Du bist das Kind deines Vaters, Puran… beweise es mir! Beweise mir, dass ich mich nicht täusche in den Dingen, die ich sehe… die die Geister mir offenbart haben. Es ist unser Schicksal, am heutigen Tag so aufeinander zu treffen… und der Sieger dieses Kampfes ist ebenfalls Schicksal… und wurde schon lange vor unserer Geburt von den Geistern von Himmel und Erde dazu bestimmt.

Sie atmete tief ein und aus, ehe sie die Hände ausbreitete und sie dann ausgestreckt über den zertrümmerten Erdboden hielt, auf dem sie stand, die Augen schließend und auf die Antwort der Mutter Erde wartend.

„Komm, Erdgeist!“, rief sie dabei laut und deutlich, „Komm, Mutter der lebenden Dinge, auf der wir stehen, Geist der Dunkelheit, Geister der Toten! Folgt meinem Willen, wenn ich euch rufe!“ Sie spürte, wie die Erde zu ihren Füßen leicht erbebte und konnte fühlen, wie die Macht der Mutter auf sie überging, sie ausfüllte wie ein warmer Strom, bis in ihre Fingerspitzen floss. Die Haut der Erde zitterte unter ihr und brodelte, und als die Frau die Augen wieder öffnete und den Kopf reckte, sah sie ihrem Kind direkt ins Gesicht, bereit, die ganze Macht an Schatten, die sie hatte, auf ihn zu schleudern.

Es wird Zeit, es zu Ende zu bringen, Puran. Lauf nicht weg… stell dich deinem Schicksal!
 

Puran konnte die Erde ebenfalls zittern spüren, und er keuchte abermals, als er seiner Mutter in die Augen sah und wusste, dass sie jetzt zum finalen Schlag greifen würde. Sie beschwor die Geister der Erde, und er konnte die Macht, die vom Boden ausging, auf dem er stand, in seinen Füßen spüren, es ließ ihn schaudern.

„Lauf nicht weg.“ , flüsterten die Geister in seinem Kopf, und er schloss bebend die Augen, als es ausnahmsweise einmal keine bösartigen, zischenden Stimmen waren, die zu ihm sprachen, sondern sanfte, gutmütige, die ihm Mut gaben. „Das ist… deine Bestimmung, Puran.“

Und woher soll ich wissen, ob ich das Richtige tue, Geister…?

Die sanfte Stimme in seinem Kopf lachte leise und er spürte, wie die Geister ihm ihre Hände reichten, wie sie seine Arme wieder empor in den Himmel zogen, ihn dazu ermutigten, die rufenden Worte zu sprechen.

„Vertrauen… das ist alles. Du bist ein Rufer der Himmelsgeister… hab Vertrauen.“

Er schnappte nach Luft, als er das Geisterschwert in den Himmel empor streckte und hörte, wie es über ihm donnerte, so laut, dass die Luft und die Erde erschüttert wurden. Dann schlug mit einem zweiten Krachen ein gleißender Blitz in die Klinge des Schwertes ein, sobald Puran den Mund öffnete.

„Geister des Himmels! Geister des allmächtigen Vaters, der über uns wacht, Geister der Sonne, die uns Licht schenkt, Geister der Winde, die den Dingen Leben einhauchen! Kommt herunter zu mir, kommt in meine Arme, kommt in das Schwert, das ihr mir gegeben habt! Gebt mir die Macht, mit der ich meinem Schicksal entgegentreten kann!“ Er spürte das Donnern des Himmels, das ihm durch Mark und Bein ging, während der Blitz an der Klinge des Schwertes sich vergrößerte und zu einem gigantischen Wirbel aus purer Macht wurde, einem Wirbel der Himmelsgeister.

Im selben Moment gab es auch ein Krachen aus der Erde unter ihm und als er den Blick auf seine Mutter richtete, brach vor ihren Füßen die Erde auf und heraus brach eine gigantisch große, mächtige Springflut, als hätte Nalani mit bloßem Willen das Grundwasser aus der Erde gezogen. Sie riss die Arme empor und die gigantischen Wellen türmten sich bis zum grollenden, schwarzen Himmel auf, als der Blick der Frau den ihres Kindes traf. Für einen Moment blickten beide einander an, in dem einen Moment, in dem sie ihre Wassermassen noch im Zaum hielt, bereit, sie jeder Zeit auf ihn loszulassen wie ungezähmte Pferde, eine geballte, grauenhafte und zerstörerische Macht der Mutter Erde. In dem Moment, in dem Puran in seinen Händen die Macht des Himmels festhielt, den erbarmungslosen Wirbel aus Magie, der alles zerschmettern würde, was ihm in den Weg käme…

In diesem einen, kurzen Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, wusste Nalani, dass ihre Visionen sie nicht getäuscht hatten.

Und sie wusste, wie der Kampf ausgehen würde.
 

Sie ließen die Macht frei, die sie gerufen hatten, und ließen all die Kraft der beschworenen Geister hinaus in die Luft strömen, in die Flutwelle, die Nalani von sich schleuderte, und in den gigantischen Himmelswind, den Puran mit samt dem Geisterschwert in Richtung der Erde sausen ließ. Und mit einem Krachen aus dem Himmel und einem Dröhnen und bebend der Erde trafen die beiden Mächte aufeinander wie zwei gigantische Kraftfelder, die versuchten, das jeweils andere weg zu drängen, wobei beide Magier die Hände nach vorne gerissen hatten und sie geistige und körperliche Macht, die sie besaßen, in die beschworenen Zauber steckten.

Die Mächte sind einander ebenbürtig… schoss es Puran in den Kopf und er schloss keuchend die Augen, als er am ganzen Leib erzitterte und spürte, wie die Macht des Vater Himmel wie sein Blut durch seine Adern floss, wie es in seinem Kopf rauschte und in seinen Fingern kribbelte. Das Kribbeln verteilte sich über den ganzen Körper und er hatte plötzlich das Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben; er war nicht mehr Puran, er war der Wind selbst, er war die Macht, die er gerufen hatte, und er konnte sie beherrschen, wie er seinen eigenen Leib beherrschte, er konnte mit ihr machen was immer er wollte.

„Wir Schwarzmagier beherrschen die Macht von Himmel und Erde zugleich.“ , erinnerten ihn die Geister an seine eigenen Worte, die er zu Leyya gesagt hatte.

„Rufe die Erdgeister… und vereine sie mit denen des Himmels.“

Er öffnete die Augen japsend wieder – der Boden unter seinen Füßen war zurückgekehrt und die Erde erbebte, als er den Blick auf sie richtete. Seine Stimme klang dumpf und fern, als wäre sie nicht seine eigene, als er die Arme zitternd wieder anhob und langsam zu den Seiten ausbreitete, dabei den Machtwirbel vor sich vergrößernd, der immer noch gegen Nalanis gigantische Flutwelle aus der Macht der Erde kämpfte –

Die Macht der Erdgeister, die er im Begriff war zu rufen.

Er keuchte.

„Geister… der Mutter Erde!“, schnappte er, „Frau von Vater Himmel, Mutter der Welt, Macht der Dunkelheit! Gehorche meinem Willen, Erdgeist!“ Wie Nalani zuvor hob er die zur Seite ausgestreckten Arme langsam wieder hoch, wobei er heftig erzitterte in dem Augenblick, in dem die Erde unter ihm bebte. Er konnte die Macht der Erdgeister spüren, die durch seine Füße in ihm empor schoss und sich mit der Macht des Himmels vereinte, die er gerufen hatte – als er den Kopf in den Nacken lehnte und keuchend empor sah in die grollenden, schwarzen Berge aus Wolken, explodierte das berauschende Gefühl in ihm mit einem blendenden, gleißenden Licht vor seinen Augen.

„Geister!“, brüllte er mit aller Macht, die er aufbringen konnte, „Hört mich an, Mächte der Schöpfung, Mächte des Anfangs und des Endes dieser Welt! Kommt und lasst mich euch lenken, und ihr werdet meinem Ruf folgen!“

Seinen befehlenden Worten, die keinen Widerspruch duldeten, folgte ein gewaltiges Krachen, das von Himmel und Erde zugleich zu kommen schien.
 

Nalanis Flutwelle verschwand zurück in der Erde, als Puran die Erdgeister zu sich rief und ihnen selbst befahl – die Frau hatte nicht länger die Kontrolle über sie und sie weitete die Augen, als die Macht in ihr versiegte wie ein ausgetrockneter Bach und sie stolpernd rückwärts torkelte, während der Machtwirbel aus den Winden des Vater Himmel auf sie zu donnerte und sie unweigerlich zerschmettern würde. Hinzu kam aus der aufbrechenden, zornig brüllenden Erde die Macht der Erdgeister, sie vermischte sich mit dem Wirbel, als Puran die Hände wieder herab stieß und mit dem Geisterschwert in den Boden schlug, auf dem sie standen. Als hätte er damit ein brüchiges Stück Brot getroffen, das zerbarst, bröckelte die Erde entzwei und bildete vor Purans Füßen einen großen Graben. Nalani sah die vereinte Macht von Himmel und Erde auf sich zukommen, und sie atmete die trockene Luft ein, als sie den Kopf ebenfalls in den Nacken warf, die Arme ausbreitete und so stehen blieb, das Schicksal erwartend, das die Geister seit langem für sie bestimmt hatten.
 

Ein ohrenbetäubendes Donnern erfüllte die Ebenen von Zarimia, als alle Wirbel gemeinsam mit der Macht verschwanden. Zurück blieb Puran, bar jeder Kraft, sich weiter auf den Beinen zu halten, und er strauchelte und hustete keuchend, während er verschwommen vor sich das zerschmetterte Feld sah, das der Wirbel zurückgelassen hatte. Das Geisterschwert verschwand aus seiner Hand, als seine Finger den leuchtenden Griff bebend losließen, nicht länger fähig, es festzuhalten.

„Schlaf…“, wisperten die Geister sanft und schienen zufrieden zu sein, und er verdrehte die Augen und stürzte haltlos zu Boden. Bevor alles schwarz wurde, hörte er Leyya in der Ferne gellend aufschreien.
 

Als er wieder zu sich kam, wusste er nicht, wo er war. Alles, was er wahrnahm, war das üble Pochen in seinem Kopf, ein ständiger, grausamer Schmerz, der ihn lange daran hinderte, sich zu bewegen. Erst nach einer Weile flaute er ganz langsam ab; als er die Augen öffnete, spürte er etwas Kaltes auf seiner Stirn. Das erste, was er sah, war das Gesicht seiner Frau.

„Du bist wach…“, wisperte sie und erstrahlte vor Freude. Ehe Puran etwas hätte sagen können, umarmte sie ihn zärtlich. Er merkte jetzt, dass er lag; beim zweiten Blick erkannte er sein Schlafzimmer und das Bett, an dessen Kante Leyya saß. Sie strahlte ihn an und richtete sich wieder auf, ihn loslassend. „Ich habe schon gedacht, du schläfst bis morgen durch…“ sagte sie leise und er stöhnte.

„Was… wieso, welche Tageszeit ist denn…?“

„Die Sonne geht bald unter. Du hast den halben Tag lang geschlafen… wobei du für das, was du durchgemacht hast, erstaunlich früh wach bist.“ Er blinzelte

„Häh? W-was… hab ich denn durchgemacht-…? Au…“ Er fasste keuchend nach seinem Kopf, als er sich vorsichtig aufsetzte und der Schmerz zurückkehrte. Dabei fiel ein nasser Lappen von seiner Stirn, der da offenbar zum Kühlen gelegen hatte. Leyya fasste ihm besorgt auf die jetzt feuchte Stirn.

„Hmm… fühlt sich schon besser an. Bleib lieber liegen. Du bist erschöpft… erinnerst du dich nicht? Die Kämpfe um den Titel des Ratsführers… du hast gegen Nalani gekämpft und unglaubliche Mächte entfesselt… es war… es war Wahnsinn!“ Er sah sie doof an, als ihre großen, braunen Rehaugen ihn musterten.

Ja, er erinnerte sich. Die Kämpfe… ja, die Macht von Himmel und Erde…

„W-wo… wo ist Mutter?“, keuchte er dann und sah sich um, als könnte sie plötzlich um die Ecke kommen. „Wie geht es ihr, was… was ist denn gewesen, ich meine…?“ Leyya lachte.

„Beruhige dich… Nalani geht es gut. Dein Zauber hätte sie beinahe zerschlagen wie eine Porzellanpuppe… es war vielleicht ein guter Wille der Geister, der sie genügen Widerstand hat haben lassen und dich die Magie rechtzeitig zurückziehen-… Tare als Schiedsrichter hätte das nie beenden können. Wäre er dazwischen gegangen, wäre er wohl draufgegangen, oder so! Grausam – aber die Geister haben dir gehorcht… du musst sie stumm zurückgerufen haben, ehe sie Nalani hätten erwischen können.“ Puran hielt sich immer noch stöhnend den Kopf. Was zum Geier? Er hätte seine Mutter beinahe in Stücke gerissen?

„Sie ist in Ordnung?“, fragte er besorgt, „Sie ist doch nicht verletzt, oder?“

„Nein! Nalani war vor dir wieder auf den Beinen, sie war auch nur etwas fertig nach der Anstrengung. Vermutlich ist sie in ihrem Zimmer.“ Er seufzte und atmete leicht auf. Wenigstens das… dann fiel ihm etwas anderes ein.

„Und wie, ähm… ist jetzt der Kampf ausgegangen?“

„Na ja.“, machte die Heilerin und lächelte ihn stolz an, als hätte sie nur auf diese Frage gewartet, „Deine Macht hat die von Nalani ganz offensichtlich überstiegen. Das heißt, du hast den Kampf gewonnen und bist… ab heute der Herr der Geister.“

Er konnte sie nur wieder doof ansehen. Sein Kopf schmerzte, er brauchte etwas, um zu verarbeiten, was sie gesagt hatte. Als es endlich bei ihm angekommen war, war sein erster, geistreicher Kommentar:

„Ähm… häh?“

Leyya lachte liebevoll.

„Ganz ruhig, immer langsam!“, meinte sie, „Du bist jetzt der Vorsteher des Rates, weil du alle Kämpfe gewonnen hast. Es ist entschieden, das Turnier ist endlich vorüber.“ Jetzt japste er.

„Was? Aber… aber, ich meine…?“ Er konnte nichts sagen. Alles, was ihm in den Kopf kam, blieb ihm im Hals stecken – was sollte er antworten?

Oh?

Ist ja großartig?

Er wusste es nicht… er wusste nicht mal, ob es wirklich großartig war. Das war ein ehrenwertes Amt; das ehrenwerteste Amt, das ein Schwarzmagier überhaupt inne haben konnte. Es war der Posten seines Vaters… den er jetzt übernommen hatte.

Tabari… er vermisste ihn, fiel ihm plötzlich auf.

Langsam rutschte er zum Rand des Bettes und startete einen benommenen Versuch, aufzustehen. Leyya wollte ihn daran hindern.

„Puran, bleib hier… du solltest dich jetzt ausruhen, ich bringe dir schon alles, was du brauchst!“

„Nein, Leyya… das nicht. Ich-… ich möchte… zu meiner Mutter… was hat sie… gesagt?“

„Sie hat es mit Fassung getragen.“, meinte die Heilerin, „Ich glaube, sie war sehr stolz, als wir es ihr gesagt haben. Bitte, Liebling, leg dich wieder hin-… Puran!“ Sie rief ihm besorgt nach, als er zur Tür torkelte und ohne auf sie zu hören hinaus eilte. Sie lief ihm nicht hinterher… zu Nalanis Zimmer war es nicht weit. Das würde er schon überleben, und wenn es ihn so drängte, sie zu sehen, wollte sie sich nicht in den Weg stellen… dazu hatte sie kein Recht.
 

Nalani war nicht in ihrem Zimmer. Puran überlegte sich zuerst, das Gespräch mit ihr nach hinten zu verschieben ob seines noch angeschlagenen Zustands; wer wusste, wo sie war? Er konnte jetzt nicht durch das ganze Schloss rennen und sie suchen… aber es drängte ihn doch zu sehr, sie zu sehen, er wollte sehen, dass sie in Ordnung war, er wollte ihre Stimme hören… kurz kam er sich schäbig vor, als er etwas eiliger durch die Korridore torkelte, manchmal nach ihr rief und versuchte, sie zu finden; wie lange war es jetzt her, dass sein Vater gestorben war? Er hatte seitdem nur mit einer eigenen Trauer gekämpft, er hatte sich von seiner Frau trösten lassen und ihr gleichzeitig beigestanden, aber was war mit seiner Mutter? War er auch nur einmal zu ihr gegangen und hatte mit ihr darüber gesprochen? Was war er denn für ein pietätloser Mistkerl?

„Du kannst nicht immer nur alle anderen im Kopf haben.“ , entschuldigten die Geister netterweise sein Verhalten, „Du bist nur ein Mensch, du musst auch irgendwann Zeit für dich selbst haben… das ist in Ordnung.“

„Nein, nichts ist in Ordnung!“, jammerte er und hielt kurz inne, sich keuchend an der Wand neben sich abstützend, „Wo ist Mutter…?“ Die Geister erleichterten ihm das Gehen, indem sie den Schwindel verschwinden ließen, der ihn kurzzeitig ob der Erschöpfung erfüllt hatte; als er Nalani fand, hockte sie allein auf einem seichten, Grasbewachsenen Hügel irgendwo in den Weiten des Schlossgartens. Sie wurde von der Sonne beschienen, die im Westen unterging, während sie da im Gras saß und nach Norden starrte. Als Puran zu ihr kam, rührte sie sich nicht; er war froh, dass seine Kontrolle über seinen Körper ein wenig zurückgekehrt war auf der Suche, als hätte die Bewegung ihm mehr geholfen, sich zu erholen, als die Bettruhe zuvor. Seine Mutter machte einen kerngesunden Eindruck, und dennoch…

„Mutter?“, sprach er sie zaghaft an, als er hinter ihr stand, und sie fuhr zusammen, was ihn verblüffte – sie hatte nicht gemerkt, dass er gekommen war? Das war unüblich, sonst sah sie alles sofort mit inneren Augen.

„Du bist wach…“, wisperte sie dann mit gebrochener Stimme und Puran erschrak. „Ich habe… mich gefragt, wann du kommen würdest-… ich habe dich noch nicht erwartet.“ Er keuchte, schnellte um sie herum und hockte sich verdattert neben sie in ihren Schatten, um ihr Gesicht sehen zu können.

Sie weinte.

„W-was… was ist denn…?“, fragte er bestürzt, „D-du… du weinst…?“ Sie fuhr sich mit der Hand errötend über die Augen, offenbar verlegen darüber, dass er sie so ansah. Es war das erste Mal, dass Puran sie so vor sich sah; sonst war sie so majestätisch, kalt, unbarmherzig und vermittelte mit nur einem Blick eine gnadenlose Macht, die ihr inne wohnte… jetzt saß sie wie ein Häufchen Elend weinend am Erdboden, die Wangen gerötet. Plötzlich wirkte sie, als sei sie in einem Tag um Jahre gealtert; dabei war sie noch nicht einmal vierzig. Nalani, die große Königin der Schamanen, war letzten Endes auch nur eine Frau, und keine allmächtige Göttin. Genau wie alle Menschen aus Fleisch und Blut konnte sie trauern, erröten und vergehen. Es bestürzte ihn, das festzustellen.

„Ich… habe mit deinem Vater gesprochen…“, stammelte sie dann und er weitete die Augen. Sie sprach mit den Geistern… „Du wirst jetzt… seinen Platz im Rat einnehmen. Das macht mich unheimlich stolz… instinktiv habe… ich immer gewusst, dass wir uns eines Tages so gegenüber stehen würden. Und ich habe auch gewusst… dass du mich schlagen würdest. Du bist… deines Vaters Sohn, Puran. Du bist Windmagier… ein Herrscher des Himmels und der Erde.“ Er sagte nichts und senkte benommen den Kopf. Sie hatte das alles vorher gewusst? Ihre Sehensgabe war unglaublich groß… Puran wusste genau, wieso seine Großmutter, die wahnsinnige Seherin Salihah, ihre Schwiegertochter so sehr geschätzt hatte.

Nalani drehte das Gesicht zu ihm und hob eine Hand, um sein Kinn anzuheben.

„Lass dich ansehen…“, wisperte sie, „Du bist… so erwachsen geworden. Du siehst… deinem Vater so unglaublich ähnlich, Puran… du bist bildhübsch. Das warst du immer…“ Er räusperte sich und nahm ihr Kompliment verlegen an, als sie wehmütig lächelte und zärtlich seine Wange streichelte. Dann weitete er seine grünen Augen wieder, als ihre Augen gefährlich zu glänzen begannen. „Du bist… ein wundervolles Kind gewesen… ich wünschte, ich wäre dir eine bessere Mutter gewesen, Puran.“ Dann schluchzte sie unverhofft und er hob die Brauen, als sie das Gesicht keuchend senkte und erzitterte. „D-dein Vater fehlt… mir so schrecklich… es tut so… grauenhaft weh, wenn ich an ihn denke und fest…stelle, dass er nie wieder hier sein wird-…“ Er machte ein betroffenes Gesicht, als sie vor ihm in sich zusammensank und das Gesicht in den Händen verbarg, als weitere Schluchzer ihren Körper erzittern ließen. Ohne zu zögern zog er sie in seine Arme.

„Weine ruhig…“, murmelte er, „Du irrst dich, wenn du denkst, du wärst mir eine schlechte Mutter… du bist eine wunderbare Mutter. Ich vermisse Vati auch immer… ich weiß, was du fühlst.“ Er beherrschte sich, um nicht auch zu weinen, als die Gedanken an seinen Vater ihn auch mit tiefer, schmerzvoller Trauer erfüllten. Sie keuchte und weinte bitterlich, während sie das Gesicht an seiner Brust vergrub, wie Leyya es auch tat, wenn sie weinte.

„Ich bin… so stolz auf dich…“, flüsterte sie, als sie ihre Stimme wieder etwas beherrschen konnte, und er schauderte, als sie seine Umarmung jetzt erwiderte. „Und ich weiß, dass du deiner Bestimmung gerecht werden wirst. Es war Wille der Geister… schon von Geburt an warst du dazu bestimmt… einmal hier zu landen. Von Geburt an warst du… etwas Besonderes. Du hast einen starken Willen, deswegen hast du immer versucht, wegzulaufen, und wolltest dich nicht einfach dem vorgegebenen Weg hingeben… aber ich glaube, du bist jetzt da, wo du hingehörst. Und es… macht mich gleichzeitig so glücklich und auch wehmütig, zu wissen… dass es jetzt nichts mehr gibt, was ich für dich tun kann. Du stehst auf eigenen Beinen… du bist ein erwachsener Mann. Bald wirst du Vater sein, dann hast du… eine neue Aufgabe, die du bewältigen musst. Aber ich bin sicher, dass du… auch das schaffen wirst, du hast ja noch Leyya.“ Er musste leicht lächeln.

„Du bist ja auch da.“, sagte er dann, „Nur, weil ich jetzt Herr der Geister bin, heißt das ja nicht, dass du nicht mehr meine Mutter bist.“ Sie sagte eine Weile nichts, sie saßen nur schweigend im Sonnenuntergang und hielten sich aneinander fest in dem wärmenden, schönen Licht, das den sonst grünen Himmel gelblich färbte.

Ach, mein geliebter Sohn… meine Aufgabe in dieser Welt… wird bald beendet sein, so fürchte ich. In meinen Träumen… rufen die Geister bereits meinen Namen. Ich weiß jetzt… wie sich Salihah gefühlt haben muss mit der Bürde… der Sehensgabe, die sie besessen hat… mit der Bürde der mächtigen Position, die sie hatte und die sie mir vermacht hat.

Sie drehte den Kopf nach Norden in Richtung des dunkler werdenden Himmels, während sie sich etwas aufsetzte, Puran sie losließ und sie weiterhin schweigend einfach nur da saßen. Wenn sie tief in sich hinein horchten, war es, als wären die Geister ihrer Verwandten, die sie vermissten, bei ihnen und säßen ebenfalls hier im Gras. Nalani spürte Tabaris Finger, die ihren Nacken kitzelte, und das liebevolle Grinsen in seinem Gesicht, das er immer besessen hatte. Zitternd schloss sie die Augen, als die Sehnsucht nach ihrem Mann so stark wurde, dass es in ihrem Inneren schmerzte.

Was sagst du, Salihah, Seherin? fragte Nalani die Geister in Gedanken, während sie weiter zum Himmel blickte. Lachst du über uns, weil wir vom Schicksal hin und her geschaukelt werden wie totes Holz auf dem Wasser? Du weißt… dass die Macht, das zu kontrollieren, nur wenige haben… nicht wahr?

Salihahs Geist antwortete nicht, aber die letzten Sonnenstrahlen tauchten die spärlichen Wolken am goldenen Himmel in eine Farbe des Feuers, was die Frau die Augen zu Schlitzen verengen ließ. Dann sprachen die Geister.

„Eines Tages wird die Welt in Feuer und Schatten versinken… fürchtest du dich, Schattenkönigin?“
 


 

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Booyah. April 982, again. Ich mag Neron, er ist so scheiße xD Und seht, frohlocket, Nalani kann... menschlich sein. Buahahaha xDDD

Dämonenkind

Der Sommer war kurz, aber heiß. Als er sich dem Ende neigte, ließ er das Land trocken und staubig zurück. In Vialla hatte es fast gar nicht geregnet, im Süden des Landes musste es noch schlimmer sein.

Leyya saß auf dem Balkon der Gemächer, die sie mit ihrem Mann teilte, im letzten Licht der vergehenden Sommersonne. Jetzt, am Abend, waren die Temperaturen angenehm; mittags waren sie nicht auszuhalten. Sie blieb deswegen lieber drinnen, um ihr Baby zu schützen und sich nicht unnötiger Belastung auszusetzen. Dabei mochte sie die Dunkelheit drinnen nicht und wäre viel lieber den ganzen Tag draußen… jetzt kam der Herbst. Bald würde wieder Regen kommen… Leyya freute sich auf den Frühling.

„Das wird der erste Frühling für dich sein, mein Schatz.“, sagte sie zu ihrem Bauch und streichelte glücklich mit den Händen darüber. Die Monde waren so schnell verflogen; inzwischen war ihr Bauch schon ziemlich rund, es konnte nicht mal mehr drei Monde dauern, bis ihr Baby das Licht der Welt erblicken würde. Sie fragte sich wie so oft, was es wohl würde – ein Junge oder ein Mädchen? Sie wollte beides… sie wollte ganz viele Kinder bekommen, hatte sie tapfer beschlossen. Sie liebte Kinder so sehr…

Die kleine Heilerin machte ein entzücktes Geräusch, als sie ganz zart in ihrem Inneren fühlte, wie das Kleine sich bewegte. Es war ein lebendiges kleines Kind, es bewegte sich oft. Manchmal hatte sie deshalb nachts kaum Ruhe, weil es immerzu in seiner dunklen Höhle strampelte und offenbar verkünden wollte, dass es da war. Das waren gute Zeichen; besser als wenn es immerzu still läge, das hätte ihr Angst eingejagt. Leyya wippte glücklich auf dem Stuhl vor und zurück und begann zu singen, während sie so in der Abendsonne saß. Seit sie schwanger war, sang sie oft und gern; es gab ihr das Gefühl, damit könnte sie ihrem Baby ihre eigene gute Laune einflößen. Sie wollte, dass es ein glückliches Kind wurde…

Die sich öffnende Zimmertür riss sie aus ihrem Lied und sie erhob sich rasch, eilte in die Wohnstube und erstrahlte vor Freude.

„Puran, du bist zurück!“

Der gute Mann bekam keine Zeit, etwas zu sagen, denn schon fiel sie ihm zur Begrüßung um den Hals. Er musste glucksen.

„Ach, Leyya… mach doch nicht so einen Wirbel, hast du etwa erwartet, ich würde nicht heimkehren? So weit weg ist die Akademie ja nicht, mein Liebes.“ Sie kicherte mädchenhaft, als sie ihn losließ und er sie liebevoll auf die Lippen küsste, dabei mit der Hand über ihren runden Bauch streichelnd. „Und? Alles in Ordnung bei euch beiden?“, fragte er dann und sie kicherte weiter.

„Ja, ich habe unserem Baby gerade ein Lied vorgesungen. Es hat gestrampelt!“ Zu ihrem Bauch sagte sie: „Schau, Vati ist zurück. Sei hübsch artig, mein Kleines.“ Puran lachte leise, ehe er sich mit den Händen müde durch die braunen Haare fuhr.

„Verdammt.“, stöhnte er dabei, „Ist das eine Affenhitze. Immer noch, obwohl der Mond der Irrlichter schon halb vorüber ist! Ich schwitze mich tot, ich sage es dir, eines Tages schwitze ich mich tot! Ich hasse Hitze, ich hasse sie so dermaßen…“ Er maulte ein wenig herum, begann dabei im Zimmer herum zu gehen und dabei sein Hemd auszuziehen. „Grauenhaft! Ich bin im Norden aufgewachsen, ich halte grausame Kälte aus, aber mit dieser Hitze kannst du mich jagen. Und da erkläre mir mal, wie ich mich auf das Studium konzentrieren soll, bei dieser Affenhitze. Weißt du, was die größte Sauerei ist? Dass offenbar keiner der anderen Säcke da so ein Problem damit hat, ich komme mir maßlos veräppelt vor… ach, ich gehe baden, entschuldige mich, Leyyachen.“ Seine Frau hatte ihm nur lächelnd zugehört; sie wusste ja, dass er fürchterlich hitzeempfindlich war… es tat ihr leid, dass er solche Probleme hatte, aber dagegen tun konnte sie schlecht etwas… sie konnte nur dafür sorgen, dass er wenigstens dann keinen Grund zum Meckern hatte, wenn er bei ihr war. So kam sie einige Zeit später zu ihm ins Bad und hockte sich neben die Wanne.

„Ich hab dir Kaffee machen lassen, Liebling, und ein bisschen etwas zu essen. An sich ist bei so einer Hitze Tee ja viel besser, aber ich weiß ja, dass du Kaffee lieber magst…“ Er seufzte, sah sie kurz an und fuhr sich dann mit den Händen über das Gesicht.

„Du bist lieb… bitte mach dir nicht meinetwegen Kummer, Leyya. Du solltest dich ausruhen und nicht für mich die Dienstmagd spielen… ich komme mir immer so garstig vor dann, als hätte ich das von dir verlangt.“

„Ich bin schwanger, nicht krank.“, versicherte sie ihm und strich durch seine nassen Haare, „Als deine Frau ist es doch auch meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass du dich wohlfühlst. Und wenn ich schon nicht Vater Himmel bitten kann, die Hitze etwas zu mildern…“ Jetzt lachte er.

„Oh nein, Leyya, du rührst mich… wirklich, das… verdiene ich gar nicht.“ Mit einem verschmitzten Grinsen drehte er sich zu ihr. „Ich habe die beste, klügste, hübscheste und wundervollste Frau der Welt. Eindeutig.“ Sie errötete ob des liebevollen Kompliments und ließ zu, dass seine Hand ihre Haare berührte. „Was hältst du davon, Leyya? Du kommst zu mir in die Wanne, wir schmusen ein bisschen, dann essen wir, setzen uns auf den Balkon und sehen dem Farbenspiel des Himmels zu. Und wenn du müde wirst, bringe ich dich ins Bett.“ Sie strahlte ihn an, ehe sie sich vorsichtig erhob und die Riemen ihres Sommerkleides löste, das ihr dann von den Schultern glitt.

„Das ist eine wunderbare Idee, das gefällt mir sehr.“
 

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, ließ sie den Himmel in einer sattgrünen, düsteren Farbe zurück über dem Land Kisara. Der schwarze Schleier der Nacht breitete sich über der Stadt aus, bereit, jeden zu verschlingen, der es wagte, um diese Tageszeit noch sein Haus zu verlassen.

Nalani fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit. Sie konnte sie selbst beherrschen und trotzte dem Grollen des Himmels, als sie alleine auf einem kleinen Felsen an einem seltsamen Ort hinter dem Palast saß, in ihrem schwarzen Umhang gehüllt, weil die Kälte der Nacht jetzt heraufzog. Die Menschen nannten diesen Ort Friedhof, hatte sie gelernt; in Dokahsan gab es solche Orte nicht, an denen Tote begraben wurden und ihnen kleine Denkmäler oder Grabsteine errichtet wurden. Im Norden wurden die Toten verbrannt; bei den Schamanen war es absolut undenkbar, Tote zu vergraben. Wie sollte so der Geist frei sein und zum Himmel aufsteigen können? Waren die Toten, die hier lagen, ihre Geister, nicht für immer an diesen Ort gebunden? Das war eine seltsame Vorstellung…

Sie seufzte, als ein kalter Windstoß sie erfasste und sie schaudern ließ, sodass sie den Umhang fester an ihren Körper presste, um nicht zu frieren. Der Wind kam aus dem Norden, es war die Ankündigung des Winters, der bald auch hier ankommen würde. In Dokahsan musste es jetzt schon recht kühl sein… der Nordwind brachte Nalani immer ein Stück Heimat entgegen. Wenn sie die Augen schloss und sich konzentrierte, konnte sie die nördliche Halbinsel im Wind riechen. Die Fichtenwälder von Yagorh, das Salz des nördlichen Meeres, die sturmgepeitschten Klippen der Ostküste… und wenn sie genau horchte, konnte sie ihre alte Heimat im Wind hören: das Rauschen des großen Stroms Undim, das Zwitschern von Vögeln, die nur im Sommer oben im Norden lebten und im Winter gen Süden zogen, um nicht zu erfrieren. Es war auch das Geräusch von Rehen und Hirschen, die über die Wiesen galoppierten, das Wispern des kalten Nordwindes in den Wipfeln der knorrigen, uralten Bäume… Nalani vermisste Dokahsan. All das, mit dem sie aufgewachsen war, sogar die kalten, unbarmherzigen Hungermonde.

Wind erinnerte sie immer schmerzhaft an ihren verstorbenen Mann… Tabari war ein Großmeister des Windes gewesen, ein Mann, der das Element Wind ganz und gar hatte beherrschen können, vom kleinen Lüftchen bis hin zum gewaltigen Orkan. Diese vollkommene Beherrschung eines Elementes war eine seltene Gabe, soweit die Frau wusste.

„Tabari…“, wisperte sie sehnsüchtig den Namen ihres Mannes, während sie die Augen geschlossen ließ und den Wind in ihrem Gesicht fühlen konnte, der ihr sanft durch die Haare strich und sie zu umarmen schien. Es war, als wäre Tabari wirklich bei ihr, und der Gedanke machte sie glücklich und ließ sie lächeln.

Als sich der Wind änderte, war es mit einem Mal keine Umarmung mehr, sondern eine schneidende Kälte, die ihr ins Gesicht fegte, und sie keuchte und riss die Augen wieder auf. Es war stockfinster und sie hörte das bösartige, warnende Zischen der Geister, während sie sich hektisch erhob und vor sich in der Finsternis die Knochenspiralen tanzen sah.

Die Vision… stammelte Nalani innerlich; sie erinnerte sich an diese Bilder, die sie schon oft im Traum gesehen hatte. Gleichzeitig überkam sie eine unangenehme, grausame Kälte, während Massen von Bildern über sie hereinbrachen wie ein Platzregen. Mit scharfen Klauen packte der eisige Wind nach ihr, der einen langen, grausamen Winter ankündigte, und sie fuhr zurück, als sie plötzlich vor ihren inneren Augen ihrem Schwiegervater gegenüber stand, dem Tyrannen Kelar, den die Nachwelt immer noch fürchtete. Er bleckte seine scharfen Eckzähne und seine kalten, blauen Augen sahen sie so herablassend und wissend an, dass sie kurz erstarrte.

„Hüte dich, Wachtel… du wägst dich in Sicherheit, ich werde dir etwas anderes beweisen.“ Er lachte ein schauriges Lachen, das ihr eine Gänsehaut bescherte, und sie fuhr herum, als sie das Gefühl hatte, jemand packte sie an der Schulter – aber es war nur die heftige Windböse, die an ihrem Umhang riss, als sie sich umdrehte. Kein Mensch war bei ihr auf dem Friedhof. Vor ihren Augen verschwamm das Bild von Kelar und seinen Eckzähnen. Übrig blieb ein Gefühl der beklemmenden, beunruhigenden Kälte in ihr, und sie schnappte nach Luft.

Was ist es, das mich beunruhigt…? Was ist das für ein Gefühl, irgendwo in der Tiefe meines Geistes, das mich seit vielen, vielen Jahren schon um den Schlaf bringt, immer und immer wieder…?

Es war diese ständige, innere Unruhe, dieses lauernde Gefühl in ihr, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Nalani trat einen Schritt zurück, holte tief Luft und versuchte, sich darauf zu konzentrieren. Erst, wenn sie den Ursprung des unguten Gefühls gefunden hatte, konnte sie versuchen, es zu bekämpfen…

„Du hast mir deinen Posten vermacht, Seherin Salihah…“, murmelte sie dabei dumpf und sah über den dunklen Friedhof, „Aber nicht… deine gewaltige Sehensgabe. Du wusstest… was mich beunruhigen würde, oder nicht…?“

Antworten taten ihr die Geister, aber es war nicht Salihah, die mit ihr sprach; es waren böse, gefährliche Stimmen, und sie zischten, als in der Finsternis die Spirale wieder auftauchte und Nalani in der Ferne ein vertrautes und doch zugleich fremdes, kehliges Lachen hörte.

„Weißt du es nicht selbst, wenn du auf dein Herz hörst, Schattenkönigin…? Furcht… ist der größte Gegner der Menschen. Sie kann sie lähmen oder gar töten, wenn sie richtig… eingesetzt wird… nicht wahr?“

Plötzlich wusste sie, was ihr immer noch übel aufstieß; plötzlich wusste sie, was sie noch zu tun hatte, als ihr ein anderes Bild zurück in den Kopf schoss.

Ulan Manha. Der komische Koch aus Holia, der immer wieder in meinen Träumen vorkommt und der spurlos verschwunden ist… gemeinsam mit Henac Emo nach Rujas Tod.

Sie senkte den Kopf bei den Gedanken an den jungen Mann, den sie als er ein kleiner Junge gewesen war vor dem Tod gerettet hatte. Was war es nur für ein merkwürdiges Schicksal, dass er ihr jetzt nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte?

„Warst du mal dort?“ , hörte sie noch Tabari fragen, es schien, als wäre es Ewigkeiten her; dabei war es nicht mal ein Jahr. „In Holia? Wo ist das überhaupt…?“

„Ein kleines Dorf im Osten von Senjo…“

Nalani kehrte dem Friedhof den Rücken, um zurück in den Palast zu eilen. Irgendwie zogen die Geister sie nach Westen, hin zu diesem komischen Ort, aus dem der Koch angeblich stammte. Sie fragte sich, was sie in Holia erwarten würde…
 

Als sie im kommenden Morgengrauen an die Zimmertür ihres Sohnes und seiner Frau klopfte, hatte sie ein paar Dinge zusammengepackt, um damit eine Reise von mehreren Tagen überstehen zu können. Sie hatte sich vom König ein Pferd geliehen, mit dem sie nach Westen reiten wollte. Sie musste sich beeilen…

Puran öffnete nach einem gegrummelten „Ja…“ verpennt die Tür. Als er dort Nalani stehen sah, dazu gemantelt und gestiefelt, hob er verschlafen eine Augenbraue.

„Was ist denn?“, wollte er wissen.

„Ich wollte mich abmelden. Ich werde Vialla für eine Weile verlassen und gehe auf Reisen. Es ist wichtig, aber ich werde mich beeilen und so schnell wie möglich zurück sein.“

„Was, Moment – w-wohin willst du?!“, keuchte er und schien jetzt richtig aufzuwachen. Er öffnete die Tür ganz und musterte sie. „Was hast du vor?“

„Ich muss nach Holia.“, verkündete sie und er machte ein konfuses Gesicht.

„Nach was? Kann man das essen?“

„Das ist ein Dorf im Osten von Senjo. Der Ort, aus dem Ulan Manha hierher gekommen sein soll. Es zerfrisst mir den Kopf, ich kann nicht ruhig schlafen, ehe ich das nicht gelöst habe. Irgendetwas wollen die Geister uns sagen, indem sie uns wieder und wieder auf diesen Mann hinweisen… dieser Kerl, der irgendwie mit Rujas Tod zu tun hat.“ Puran erstarrte bei den Worten und Nalani senkte den Kopf. „Rechne nicht vor dem zehnten Tagesanbruch mit mir. Der König weiß Bescheid… die anderen werden wohl eine Weile ohne mich zurechtkommen.“

„Warte!...“ hielt er sie kleinlaut auf und hielt sie am Umhang fest, als sie bereits gehen wollte. „Was ist mit Meoran? Weiß er auch davon?“

„Nein, ich habe es nur dir gesagt und dem König.“ Der Sohn nickt kurz, ließ sie los und sah dann zur Seite. Rujas Tod… er hatte lange nicht daran gedacht, auch nicht an diesen Kerl aus Holia oder Henac Emo. Nachdem er Herr der Geister geworden war, hatte der Verräter die Stadt wieder verlassen und niemand hatte je wieder von ihm gehört in den vergangenen Monden. Es weckte auch jetzt ein unbehagliches Gefühl in seinem Inneren, daran zu denken…

Nalani lächelte ihn an, als er schwieg, und hob eine Hand, um seine Wange zu streicheln.

„Sei tapfer, du bist schließlich der Herr der Geister.“, neckte sie ihn.

„Ja, aber ohne deinen Rat total aufgeschmissen…“, feixte er zurück und neigte den Kopf, „Ich wünsche dir Glück, Mutter. Komm gesund zurück und finde das, was du suchst. Gib auf dich acht.“ Sie nickte, ehe sie ihn wieder losließ und sich entfernte.

„Du auch, Puran. Und auf deine Frau. Ich beeile mich, um rechtzeitig wieder hier zu sein… ich würde sie ungern die Geburt alleine überstehen lassen, weder Ruja noch Pinhi sind noch hier, um ihr zu helfen, und sie ist so fürchterlich jung…“ Sie seufzte, als Puran verlegen hüstelte. „Ach, tu nicht so, stehe für das gerade, was du mit deiner Frau machst! Es wird schon gut gehen, ich habe ein gutes Gefühl bei eurem Baby. Es wird ein gutes Baby sein, Puran. Ach ja, und grüße Meoran von mir.“ So sprach sie, ehe sie ging und er ihr nachsah, bevor er die Tür leise wieder schloss und eine Weile schweigend da stand. Vielleicht war es gut für sie, ein wenig zu reisen und alleine zu sein. Auch, wenn sie tapfer war, wusste er genau, dass sie schlimmer um Tabari trauerte als er selbst; er hatte zwar seinen Vater verloren, das war schlimm… aber sie hatte ihren Mann verloren, den sie mehr als jeden anderen Menschen geliebt hatte. Puran konnte nicht sagen, was er tun würde, würde er Leyya eines Tages verlieren…

Er wollte nicht daran denken. Es gab genug schlimme Zeichen.
 

Als Meoran kam, vermutlich um seine Grüße abzuholen, tat er es mal wieder im falschesten Moment überhaupt.

„Puran, verdammt, hast du deine Mutter-…“

„Argh, schon wieder! Raus!“, unterbrach ihn Purans Stimme mit einem empörten Fauchen, und Meoran blieb wie angewurzelt in der Tür stehen und musste erst mal begreifen, was los war, als Leyya keuchend den Kopf hob und ihr ganzes Gesicht errötete. Von weitem sah er gar nichts, was beunruhigend gewesen wäre, Puran saß auf dem Sessel in der Stube der Gemächer, eigentlich komplett angezogen, und vor ihm hockte die ebenfalls angezogene Leyya am Boden. Er musste schon zweimal hinsehen um zu schnallen, wo ihr Kopf eben noch gewesen war, was aber geschickt durch die gepolsterten Armlehnen des Sessels verborgen wurde. Meoran hüstelte.

„Ich bringe Neron um. Aber sowas von. Verzeihung – ähm, wenn ihr fertig seid, hätte ich dich gerne gesprochen…“ Er errötete auch, hüstelte wieder und verschwand ganz schnell wieder aus der Tür, während Puran fassungslos auf die Stelle starrte, wo er eben gerade noch gestanden hatte.

„Das ist nicht euer Ernst!“, schnaufte er, „Warum, verdammt, finden wir eigentlich nie mal die Ruhe, ordentlich zu-…?! Ach!“ Er fuhr sich jetzt auch errötend durch die Haare und lehnte sich grummelnd im Sessel zurück, während seine Frau sich gekünstelt räusperte.

„V-vielleicht machen wir heute Abend weiter, Schatz-… es schien wichtig zu sein, oder…?“

Puran schenkte seinem Lehrmeister einen grantigen Blick, als er und seine Frau ordentlich angezogen und gekämmt das Zimmer verließen und den unfreiwilligen Störenfried auf dem Flur vorfanden.

„Ehrlich, Puran, ich schwöre, das war keine Absicht.“, entschuldigte der sich verlegen, „Ich habe wohl ein Händchen dafür, muss so ein Kindheitstrauma sein, seit ich meinen Onkel und deine Großmutter auf dem Kanapee erwischt habe.“

„Klopfen heißt das Zauberwort.“, machte der Jüngere und räusperte sich, „Erwarte jetzt keine gute Laune, auch, wenn ich dir vergebe.“

„Eigentlich ist Neron Schuld, der Penner muss geahnt haben, dass sowas passieren würde, er hat mich ja hergeschickt, dieser Sack! Ich ziehe ihm das Fell über die Ohren, diesem Naseweis!“

„Ich mache mit.“, verkündete Leyya missmutig, ehe Puran das Thema etwas ungalant wechselte.

„Was gibt es, was wolltest du, Meoran?“

„Ah, ja. Neron… dieser Penner… hat mich geschickt, wir suchen deine Mutter. Dich eigentlich auch, du bist schließlich der Herr der Geister. Es gibt etwas Wichtiges zu klären.“

„Das ist ungünstig.“, erwiderte der Braunhaarige und seufzte, „Was ist passiert?“

„Da ist ein Knilch, der in den Rat will.“
 

Auf der Treppe im Innenhof saßen Neron, Tare Kohdar und Saja und rauchten. Saidah war auch da, sie rauchte natürlich nicht, sondern bastelte aus Blumen einen Kranz. Der Knilch, der in den Rat wollte, stand am Fuß der Treppe und alle drehten die Köpfe, als die drei Neuankömmlinge eintrafen.

„Da ist ja Puran, immerhin!“, sagte Tare feixend, aber der Herr der Geister hatte ganz anderes im Kopf, er ging schnellen Schrittes auf die Treppe zu und packte Neron unsanft am Kragen, worauf der anfing, sich halb tot zu lachen.

„Du elender Sack, du verdammter, ich werde jetzt nur um Saidahs Willen keine perversen Worte in den Mund nehmen, du Tor, aber oh, ich bringe dich um, Neron Shai, ich bringe dich um!“

„Jetzt lass meinen Mann am leben!“, empörte Saja sich und sprang auch auf, während Neron lauthals lachte.

„Ich hab’s gewusst, ich hab’s gewusst!“, schrie er dabei, „Du nimmst also keine perversen Worte in den Mund? Haha, und was deine reizende Frau so in den Mund nimmt, wollen wir-…“

„Ich warne dich!“, zischte der Jüngere und Leyyas Gesicht ging vor Scham in Flammen auf, und ertappt blickte sie zur Seite. Meoran hüstelte.

„Neron, das reicht, ich häute dich auch nachher, dass du mich da wissend hingeschickt hast!“

„Himmel hilf, diese Wahnsinnigen wollen mich umbringen, Tare, so tu doch was!“, jammerte der Schwarzhaarige gespielt panisch, während Puran ihn weiter schüttelte. Tare Kohdar pustete den Rauch in die Luft.

„Nein das hast du echt verdient, du Penner.“ Er lachte und schließlich ließ Puran seinen Kollegen los und der schenkte ihm zur Entschädigung immerhin eine Zigarette. Er nahm sie murrend an und steckte sie mit dem Feuerzauber Vaira an, ehe er die blonde Saja kurz fixierte.

„Zügele deinen vorlauten Mann mal, meine Gute, es täte ihm besser, wenn er mich noch einmal beim Sex stört, grille ich ihn…“ Saja lachte blöd und jetzt erhoben sich alle.

„Wo ist Nalani?“, wollte Tare wissen, „Wir dachten, du wüsstest es?“

„Ja, ich weiß es auch. Sie ist weg, sie ist verreist und wird sicher nicht vor dem nächsten Neumond wiederkommen.“

„Was, wohin ist sie?“, entgegnete Tare Kohdar verdutzt, „Sie hat nichts gesagt!“

„Nach, äh, Holia, nach Senjo. – Wie auch immer, ist das der Vogel, der die Prüfung machen will?“ Puran zog an seiner Kippe und nickte in Richtung des bisher schweigsamen blonden Kerls. Alle folgten dem Nicken und der letzte Erbe der Kohdars nickte. Puran seufzte, zog abermals an der Zigarette und ging zu dem Mann herüber, der höflich den Kopf neigte.

„Ihr seid wohl der Ratsführer.“, sagte er gut gelaunt. „Es ist mir eine außerordentliche Ehre, ich habe sehr viel von Euch gehört, Puran Lyra.“ Der Ratsführer räusperte sich.

„Wie ist dein Name?“

„Senol Kita, Herr.“ Der Braunhaarige hob interessiert eine Braue.

„Wie, Kita? Der Kita-Clan? Von denen ist ja ewig keiner bei uns aufgetaucht!“ Er erinnerte sich an Erzählungen seines Vaters; der Kita-Clan war ein gar nicht mal so unbekannter, alter Schamanenclan, es hieß, sie waren sehr entfernt mit den Kohdars verwandt. Ein Mann vom Kita-Clan war wohl im Geisterjägerrat gewesen, als Tabari noch klein gewesen war, hatte er erzählt, der Mann war noch älter als Tabaris Großvater Beksem gewesen. Der blonde Mann nickte.

„Ja, äh, ich glaube, mein Urgroßvater war in eurem Rat.“

„Ist ja toll.“, machte Puran verblüfft, „Das ist interessant. Wie alt bist du?“

„Vierundzwanzig…“ Der Ratsführer räusperte sich und warf seinen Kollegen einen Blick zu.

„In Ordnung; wir haben ein Problem mit dieser Prüfung, da wir nicht vollzählig sind… meine Mutter ist – wie du sicher gehört hast – nicht hier, und Emo-… ach, der verdammte Emo, müssen wir den etwa schon wieder suchen?!“

„Hinfort mit dem Schattenmann!“, empörte sich Saidah im Hintergrund, die offenbar genau alles mithörte, obwohl sie im Gras saß und Blumenkränze flocht. Der Mann namens Kita sah das Mädchen verblüfft an, dann wieder zur Puran und machte ein verwirrtes Gesicht.

„Ich, äh, wollte auch keine Umstände machen, eigentlich war es meine Frau, die diese abstruse Idee hatte, ich weiß gar nicht, ob ich hierzu tauge!“

„Aha, noch jemand, der sich von seiner Frau herumscheuchen lässt!“, feixte Neron Shai und zeigte auf Kita. Tare Kohdar machte ein unbeeindrucktes Gesicht.

„Na ja, diese Kerle sind in der Vergangenheit immer die Ratsführer geworden…“ Puran schnaubte und hob die Hände, als Senol Kita etwas sagen wollte.

„Moment mal, Leute! Wir losen eben mit Zetteln aus, wer seinen Kampf machen müsste, und wenn wir Glück haben und nicht ausgerechnet Mutter oder Emo ziehen, können wir die Prüfung doch auch ohne die beiden machen, oder nicht? Ich glaube, den Geistern wäre das egal.“

„Wenn du das sagst, du bist schließlich der oberste Schamane hier!“, gluckste Neron, und Saja machte sich schon daran, aus einem kleinen Pergament in ihrer Tasche Lose zu basteln, auf die sie die Namen aller Geisterjäger schrieb, auch Nalani und Henac Emo.

„Saja wird unsere Sekretärin.“, erklärte Meoran, der ihr über die Schulter sah, „Sie erledigt den Papierkram und wir sitzen gemütlich in der Sonne und rauchen, das gefällt mir.“ Die blonde Frau sah ihn diabolisch an.

„Davon träumst du, Meoran, ich werde auch eines Tages die Prüfung machen! Ich will doch nicht ewig euer Mädchen für alles sein… - so, Puran, komm her und zieh einen Zettel, du bist der Ratsführer!“

„Wieso er, ich kann das eben so gut.“, meckerte ihr Mann und lehnte sich jammernd gegen sie, „Oder sollten wir den Prüfling seinen Gegner selbst ziehen lassen? Wie lustig…“ Senol Kita hörte den seltsamen Gesprächen verblüfft zu und lachte doof, während Puran sich die Zigarette wieder in den Mund steckte, herüber ging und Saja über die Schulter in die Hände griff, in denen sie alle zusammen gefalteten Lose beherbergte. Er zog blind einen Zettel, faltete ihn seufzend auseinander, hob theatralisch eine Hand und zeigte dann auf Tare Kohdar.

„Ich wähle dich, Tare, hah!“

„Großartig.“, machte Tare Kohdar, „Also, Junge, das bedeutet, wenn du von den drei Tagen Isolation zurückkommst, darfst du versuchen, mich zu besiegen. Schaffst du es, bist du im Rat.“ Er erhob sich, drückte den Rest seiner Kippe am Boden aus und kramte eine neue aus seiner Jackentasche, die er jedoch dem Neuen hinhielt. „Komm zu uns und rauch eine mit, bevor du aufbrichst.“ Senol Kita grinste ihn an.

„Welche Ehre! Ich bin Nichtraucher, danke – aber ich setze mich gerne zu euch, wenn ihr erlaubt. Tut mir leid für die Umstände. Wie gesagt, meine Frau… war der Meinung, ich sollte mich bei euch bewerben, sie sagt, ich würde dazu taugen. Mal sehen, was passiert.“

„Na, deine Frau wird das schon wissen. Ist sie auch Schwarzmagierin?“

„Telepathin. Wir sind noch nicht so lange hier, eigentlich erst etwas mehr als ein Jahr; wir haben eine Weile im Westen gewohnt, bis der Aufruf zur Schlacht gegen die Zuyyaner kam und wir zusammen mit vielen anderen Magiern aus Thalurien herkamen.“ Die anderen sahen sich kurz an. Ja, Puran erinnerte sich an die Zeit, in der er Leyya zur Frau gemacht hatte; damals waren die anderen nach Westen und Süden gereist, um mehr Magier in die Armee zu holen. Der blonde Kerl war ihm bis jetzt nie aufgefallen… der Typ war kleiner als er selbst, aber die strohblonden Haare standen ebenfalls in alle Himmelsrichtungen ab, obwohl sie einen Tick kürzer waren.

Die Kitas waren ein Clan von Eismagiern, hatte Puran einmal gehört. Ob der Typ auch das Eis beherrschte? Wäre mal etwas Neues, bisher gab es hier nur Wind, Schatten, Blitze und Feuer. Wenn er aus einem der altehrwürdigen Schamanenclans stammte, war er vermutlich kein schlechter Magier. Mit Eis gegen Feuer zu kämpfen war vermutlich eine spannende Sache; er fragte sich, wie das wohl sein würde in drei Tagen.
 

Die Belagerung von Vialla durch die Zuyyaner war vorüber; ganz verschwunden waren die Feinde aber immer noch nicht. Sie streiften wie Banden von Barbaren durch das ganze Land, auch durch das Nachbarland Senjo oder den Westen von Janami, wie sie in der Stadt gehört hatten. Noch immer plünderten und verbrannten die Zuyyaner scheinbar wahllos irgendwelche Dörfer, manche Trupps wurden von jetzt auch im Land verteilten Kriegern aus Kisara erschlagen.

Nalani machten es diese schlechten Zustände des Landes nicht gerade einfach, nach Westen zu gelangen, sie musste viele Umwege machen, um unnötigen Schlachten aus dem Weg zu gehen. Manchmal konnte sie es nicht vermeiden und versuchte dann, ohne große Blessuren aus dem Gemetzel zu kommen. Nach mehreren Tagen des Reisens erreichte sie schließlich die Grenze von Kisara, hinter der sich das Land der Reiter erstreckte, Senjo. Das Dorf Holia lag in der Provinz Kamien, sehr dicht an der Grenze zu Kisara. Von weitem war es kein besonderer Ort, ein unscheinbares, ärmliches Dorf, bescheidener als Iter in Anthurien, wie die Schwarzhaarige feststellte, als sie am Morgen des fünften Tages ihr Ziel erreichte.

„Und hier hat der Kerl namens Manha gelebt?“, fragte sie sich, als sie von weitem noch auf der Straße auf das kleine Dorf herab sah, die Kapuze ihres schwarzen Umhangs auf dem Kopf, um sich vor dem Nieselregen zu schützen, der eingesetzt hatte. „Nun… ich hoffe, ich bin nicht umsonst hergekommen, Erdgeister. Ich hoffe, die Bauern hier können mir Antworten geben.“
 

Aus der Nähe war Holia noch viel ärmlicher und mickriger als aus der Ferne. Es war ein zerrüttetes kleines Dorf, die Häuser waren schlecht gebaut, manche noch schlechter als andere, einige machten den Eindruck, als würden sie jeden Moment in sich zusammenfallen. Die sandigen, engen Wege im Dorf waren aufgeweicht und schlammig; hier musste es im Gegensatz zu Vialla ziemlich viel geregnet haben den Sommer über. Aus manchen Ecken drang fauliger Gestank wie von Aas, die Geisterjägerin fragte sich verblüfft, ob sie hier Leichen horteten oder ein Tier im Stall gestorben war und keiner die Zeit hatte, es zu entsorgen. Als nächstes wunderte sie sich, dass es keine Wachen am Zaun gab, der das Dorf begrenzte – vielleicht waren die Zuyyaner nicht hier gewesen?

Sie wurde eines besseren belehrt, als plötzlich mehrere Männer brüllend aus scheinbar verrotteten Hütten stürzten und ihrem Pferd den Weg versperrten. Sie schüttelten wild scharfe Speere und Lanzen in ihre Richtung und das Pferd wieherte und wich panisch zurück, als die Frau die Zügel ergriff.

„Keinen Schritt weiter, oder wir reißen dich in Stücke!“, rief einer der Männer und bedrohte das Pferd mit dem Speer, ein weiterer richtete seine Waffe in Nalanis Richtung, bereit, zu werfen, wenn sie eine falsche Bewegung machen sollte. Nalani schnaubte. Sie war eine stolze Frau und ließ sich nicht gerne bedrohen, schon gar nicht von Leuten, die ihr definitiv unterlegen waren; aber sie wollte Antworten, die Männer zu vergraulen wäre sehr kontraproduktiv. Ihnen mit Magie ihre Überlegenheit zu demonstrieren würde die Kerle nur beschämen oder noch misstrauischer machen, so hob sie nur die Hände und zog die Kapuze von ihrem Kopf.

„Immer die Ruhe, ich führe nichts Böses im Schilde.“

„Kann jeder sagen! Du bist sicher eine dieser Zuyyaner-Schmeißfliegen, die hier umher surren! Leg deine Waffen weg, alle, die du führst, Weibsbild, oder wir schneiden dich auf!“, war die grobe Reaktion.

„Genau!“, pflichtete der zweite Mann grimmig bei und die anderen brummten finster. Nalani seufzte, zog aus ihrem Gürtel zwei Schwerter und ein paar Messer, alles ließ sie vom Rücken des Pferdes aus zu Boden fallen. Einer der Männer wollte die Waffen einsammeln, ein anderer hielt ihn auf:

„Nicht anrühren, Dummbeutel! Die zuyyanischen Klingen töten dich und keine Tinktur schließt die Wunden, die sie schlagen, Narr!“ Nalani wollte etwas einwenden.

„Ich bin keine Zuyy-…“ Doch sie wurde jäh von einer weiteren Stimme unterbrochen, als ein weiterer Mann hinter einem der morschen Holzhäuschen hervor trat.

„Ihr Idioten, die Zuyyaner sind anders angezogen. Außerdem… glaube ich nicht, dass die Frauen haben. Bisher hab ich nie eine bei ihnen gesehen…“ Nalani verengte die Augen und musterte den jungen Mann, der jetzt hinter die anderen Rüpel getreten war, worauf alle ihre Speere und Lanzen sinken ließen und ihn ansahen. Offenbar war das der Häuptling des Dorfes. Er musste älter als Puran sein, aber sicher noch keine dreißig Jahre, überlegte Nalani stirnrunzelnd. Die braunen Haare hingen ihm strähnig vom Kopf, ein Stirnband verhinderte, dass sie ihm auch in das scharfkantige Gesicht fielen. Die Frau neigte höflich den Kopf.

„Ich bin keine Zuyyanerin, ich komme aus Kisara.“, verkündete sie geduldig. „Mein Name ist Nalani. Bist du der Häuptling von Holia?“

„So in der Art, ja.“, grinste der jüngere Mann sie an, „Ich bin Arlon.“ Er blitzte sie kurz aus dunklen Augen an und kicherte dann. „So… und wenn du keine Zuyyanerfrau bist, Weib, was hast du dann hier verloren? Du siehst viel zu edel aus für diese erbärmliche Gegend, sollen wir das als Ehre oder als Dummheit betrachten, dass du dich zum gemeinen Volk herab begibst…?“ Nalani zog schweigend eine Braue hoch, als die Männer vor ihr verhalten glucksten und offenbar keine sauberen Gedanken hegten, während sie sie eindringlich begutachteten. Oh, wie sie solche Barbaren verabscheute… hier war sie ganz offensichtlich im letzten Kaff voller Wilder gelandet, die vermutlich rohes Fleisch aßen und wie Tiere über die Frauen herfielen, um ihre Gelüste zu erleichtern. Wenn einer von denen es wagen sollte, sie falsch anzufassen, würde ihr Vorhaben in der Tat schwer werden… sie war nicht bereit, ihre Antworten mit ihrem Körper zu kaufen, da stand sie drüber. Wer war sie denn? Aber wenn sie jeden tötete, der sie falsch anpackte, würde ihr niemand mehr etwas sagen…

Sie seufzte und versuchte, die ekligen Blicke zu ignorieren.

„Ich bin hier, weil ich nach einem Mann suche, der sich Ulan Manha nennt. Ich habe gehört, er soll hier gelebt haben, stimmt das?“ Sie erntete eisernes Schweigen und die Männer tauschten bedeutungsvolle Blicke aus. Der Anführer, Arlon, verfinsterte seinen Blick. Nalani schwieg. Dann war das also ein Volltreffer, zumindest sahen die Männer aus, als hätten sie den Namen definitiv nicht zum ersten Mal gehört.

„Ah, Manhas wohnen schon lange nicht mehr hier.“, sagte Arlon dann und schnaubte, die anderen Männer tauschten beunruhigte Blicke. „Vielleicht ist es besser so, waren komische Leute. Aber sie hatten den gleichen, komischen Akzent wie du…“

„Ja, wir stammen ursprünglich aus derselben Provinz im Norden von Kisara, daher kenne ich den Namen ja. Dass sie nicht mehr hier sind, habe ich befürchtet, wisst ihr, wohin sie sind?“ Arlon lachte sie aus.

„Wohin sie sind?! Tot sind sie, Alter! Ich weiß ja nicht, wie es bei euch im Norden ist, aber hier ist Krieg, die verdammten Zuyyaner brennen alles nieder, was sie kriegen können! Manhas waren komische Fanatiker, die konnten zaubern, hat ihnen aber auch nichts genützt!“ Die Frau seufzte, ehe sie die Zügel des Reittiers locker ließ und den Mann vor sich eine Weile fixierte.

„Ich würde mir wünschen, dass ihr mir etwas über die Familie Manha erzählt. Alles, was ihr zu sagen habt, egal, wie unwichtig es scheinen mag. Ich versuche, Dinge über sie herauszufinden, weil ich dem Mann namens Ulan in Vialla begegnet bin.“ Die Männer aus dem Dorf sahen sich noch verblüffter an.

„Vialla?“, machte einer, „Kisaras Hauptstadt? Was hat der denn da verloren, der komische Kauz?“

„Der ist noch am Leben? Und ich dachte, die Lianer hätten ihn zerfleischt…“ Nalanis Augen weiteten sich ungläubig bei dem Murmeln der Bauern. Zerfleischt? Lianer? Wo war sie denn hier gelandet? Der Führer des Dorfes lehnte sich leicht zurück und grinste abermals. Seine Zähne waren dreckig, Nalani gefiel sein Blick nicht besonders.

„Gut, dann mache ich dir einen Vorschlag. Ich lade dich ein und erzähle dir dann alles, was mir zu den Manhas einfällt.“ Die Geisterjägerin sah ihn eine Weile an. Was immer er für Absichten hatte, ihr blieb ja keine Wahl als darauf einzugehen, wenn sie etwas erfahren wollte. Wenn er irgendetwas Dummes machte, konnte sie ihm immer noch drohen. Sie brauchte keine Waffen, um sich zu verteidigen…

„Einverstanden.“
 

Das Haus vom Dorfoberhaupt Arlon war das, was noch am besten aussah von all den Bruchbuden des Dorfes. Es gab sogar eine kleine, hölzerne Veranda, aber die Dielen quietschten und knarrten grausam, als Nalani dem komischen Kerl folgte, als würden sie jeden Moment einbrechen. Im Haus war es schummrig und kühl. Der Boden war aus festgestampftem Lehm gemacht, es gab nicht viele Möbel oder Dekorationen. Der Mann schritt vor ihr her und bellte durch die Hütte:

„Weib! Setz Wasser auf und koch Suppe, wir haben hohen Besuch aus dem Osten!“ Nalani verzog noch das Gesicht und fragte sich, wie er es wagen konnte, so abscheulich zu sprechen, da tauchte aus der augenscheinlichen Wohnstube eine kleine Frau in einfachen Leinenkleidern auf. Auf dem Kopf trug sie ein Tuch, das ihre Haare aus ihrem Gesicht hielt, auf dem Rücken hatte sie eine kleine Trage, in der, soweit Nalani das erkennen konnte, ein kleines Baby steckte. Dass der komische Kerl Familienvater war, hatte sie ihm nicht angesehen, musste sie einräumen; aber besonders liebevoll schien er auch nicht zu sein, denn als er vor der Frau stehen blieb, fuhr er unfreundlich fort: „Was ist, willst du Wurzeln schlagen? Ich sagte, wir haben Besuch! Weide deine Augen an der Dame aus Kisara, so etwas wirst du in deinem beschissenen Leben hier vermutlich nie wieder sehen.“ Nalani starrte ihn an. Was sagte der da zu seiner Frau? Am liebsten hätte sie ihm eins übergebraten für diese Unverschämtheit, aber Arlons Frau schien das gewohnt zu sein, sie schnarrte munter zurück.

„Ach ja? Schön für die Dame aus Kisara, Arlon! Ich hoffe du vergisst über ihre blendende Schönheit oder ihr blendendes Geld nicht, dass ich deine Frau und Mutter deines Sohnes bin, du Drecksack! Noch einmal so ein Spruch und du kannst dir deine Suppe alleine kochen.“ Der Mann gab ihr eine Ohrfeige.

„In die Küche!“, empörte er sich wüst und die Frau gab klein bei, schenkte Nalani einen grimmigen Blick und verzog sich tatsächlich. Während sie ihnen den Rücken kehrte, konnte die Schwarzhaarige einen Blick auf das Baby erhaschen, das in der Trage zu wimmern anfing. Sie sparte sich einen Kommentar zu diesem nicht wirklich blumigen Eheleben, stattdessen folgte sie dem Dorfoberhaupt in die Wohnstube. Er setzte sich ohne ihr einen Platz anzubieten auf ein ausgesessenes, schlecht gearbeitetes Sofa und sie nahm sich genauso ungefragt einen Hocker aus der Ecke des Raumes, um sich darauf zu setzen. Neben ihm auf dem Sofa wollte sie nicht wirklich sitzen, das schien er jetzt auch zu begreifen und schenkte ihr einen brummigen Blick.

„Diese blöde Schlampe.“, murrte er dann, „Ich habe sie nur geheiratet, weil sie schwanger von mir war, mir doch egal, was sie macht. Aber sie hat die größten Titten im Dorf. Hier in diesem Kaff hat man ohnehin keine andere Möglichkeit. Einmal hier, immer hier, hier gibt es nichts, nur Viehmist, und als Frau bist du doppelt angearscht. Wenn der Vater deines Kindes dich nicht will, solltest du es besser in deinem Bauch töten, denn mit Kind will dich kein anderer Mann. Na ja, aber dass ich sie hier den ganzen Tag machen lasse was sie will, scheint ihr zu Kopf zu steigen, dass sie so mit mir redet.“ Die Ältere zog desinteressiert eine Braue hoch. Vermutlich redete die barsche Bauersfrau noch viel schlimmer mit ihm und er versuchte hier sich vor ihr herauszureden, um nicht so beschämt dazustehen, weil seine Frau schlagfertig genug war, ihm die Stirn zu bieten.

„Wolltest du nicht über Manhas erzählen?“, fragte sie, da sie sein Eheleben nicht wirklich interessierte, doch er fuhr erst mal brummend fort:

„Diese Provinz ist Dreck, wir sind so der letzte Abschaum des Landes, am weitesten weg von der Hauptstadt Yuron, wo die ganzen Spießer sitzen und Geld kacken. Als ob irgendeiner dieser Monarchen sich mal um die Armut hier kümmerte, pff, denen doch Wurst.“ Er schenkte ihr einen süffisanten Blick. „Und die aus Kisara sind auch schlimm, wenn nicht schlimmer! In Thalurien hocken auch die ganzen reichen Greise auf ihren vergoldeten Scheißhäusern, kommst du auch daher? Bist sicher so’ne spießige Konkubine von irgendeinem Senator oder so, das sind die klugen Politiker, denen das Volk scheißegal sind, die sagen, sie sprächen für die armen Leute, aber selbst von goldenen Tellern essen, während auf den Straßen die Leute an der Pest verrecken.“ Nalani sah ihn unbeeindruckt an.

„Nein, mein Mann ist kein Senator.“ Dass er Statthalter gewesen war, damit Vorsteher eines ganzen Kreises, verschwieg sie ihm besser.

„Wie auch immer, du hast weiße Haut, das heißt, du musst nicht draußen arbeiten. Meine Frau ist ganz braun und hat einen krummen Rücken, außerdem sind ihre Beine verbeult, weil sie immer auf der Erde kriechen muss und Rüben pflückt.“ Er beugte sich vor und grinste diabolisch. „Mich würde interessieren, ob sich deine Beine anders anfühlen, die sind sicher ganz glatt und weich.“

„Ja, und meine Faust in deinem Gesicht ist dagegen ziemlich hart, Mann. Ich bin nicht hergekommen, damit du mich anmachst, ich bin nicht in deiner Altersklasse, Oberhaupt von Holia. Erzähle mir von den Manhas.“ Sie sah den Mann eindringlich an und fixierte seine dunklen Augen, bis er sich geschlagen zu geben schien, sich wieder zurücklehnte und brummte.

„Als sie hergekommen sind, war ich noch ein kleiner Junge, gerade eben in der Schule oder so, keine Ahnung. Sie waren ein ganzer Schwarm, es gab die Eltern und zehn Kinder. Zehn, zieh dir das bitte rein, eine halbe Armee! Die Frauen hier werfen zwar auch ein Kind nach dem anderen, aber zehn hat noch keine geschafft. Erst recht nicht alle vom selben Kerl… sie haben hier gewohnt, bis die Zuyyaner kamen. Sie haben gesagt, sie kämen aus dem Norden von Kisara. Es gab vier Jungs und sechs Mädchen, der Typ namens Ulan war der Älteste von allen, älter als ich. Der Vater war ein ziemlich guter Jäger, Wahnsinn, und sie waren alle Zauberer. Schwarzmagier, glaube ich.“

„Ja, das habe ich auch gehört.“ Das hatte der kleine Junge Ulan selbst gesagt an dem Tag, an dem sie ihn vor dem Tod gerettet hatten in Vikhara.

„Zauberer sind hier in der Gegend sehr selten.“, fuhr Arlon seufzend fort, „In Thalurien gibt es recht viele, aber hier drüber fast gar keine. Das war also schon was Besonderes, einerseits war es ziemlich spannend, andererseits gruselig. Die Mutter war eine totale Hexe, die hat die ganzen Dorffrauen aufgestachelt hier, außerdem ging mal das Gerücht die hätte den Ziegenhirten geschlachtet und an ihre Kinder verfüttert. Sie war, soweit ich das als Kind mitbekommen habe, ziemlich talentiert im Zaubern. Und der Ziegenhirte war so ein Volltrottel, der sie total geil fand, und eines Tages war er verschwunden und niemand hat ihn je wieder gesehen.“ Die Geisterjägerin hob noch eine Braue und war verblüfft. Geschlachtet? Das klang doch sehr abstrus… vielleicht war es nur die Panik der Bauern, die eben Angst vor Magiern hatten. Wenn Ulan noch ein Kind gewesen war, als er hergekommen war, mussten sie ziemlich bald nachdem der Junge bei Lyras gewesen war hierher gekommen sein, schlussfolgerte sie nachdenklich. Warum sie hergekommen waren, war eigentlich nicht wichtig; wichtiger war, wie der Kerl nach Vialla gelangt war. Irgendetwas gab es, das sie übersah. Irgendetwas, ein Bruchstück, das sie nicht kannte, das alles zusammensetzen würde. Warum sah sie diesen Jungen in ihren Träumen? Wieso beschlich sie ein ungutes Gefühl, wenn sie an ihn dachte?

„Erzähl mir über Ulan.“, bat sie, „Gab es irgendetwas an ihm, das auffällig war?“

„Auffällig? Pff, also mir ist nichts aufgefallen. Er war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, dieselben Augen, grün, dieselben Wangen, denselben Mund und sogar dieselben Zähne, er hatte voll das Mädchengesicht, bis er erwachsen wurde.“

„Er war ein bildhübscher Kerl.“, kam die Stimme von Arlons Gattin von hinten und Nalani drehte den kopf. Die Frau kam mit der fertigen Suppe, stellte sie auf den kleinen Holztisch vor dem Sofa und setzte sich dazu, während sie allen Suppe in hölzerne Schüsseln schöpfte. Nalani nahm dankend die Schüssel an und beobachtete, wie Arlon seine Frau schnaubend beäugte.

„Bildhübscher Kerl? So wie Mädchen hübsch sein sollten vielleicht!“

„Er war bildhübsch, aber komisch, die Manha-Kinder hatten mit uns Dorfkindern nur wenig am Hut. Nun ja, die Mädchen sind natürlich später, sobald sie Titten bekamen, von den Rüpeln hier ziemlich angemacht worden, sie waren alle bildhübsch, wie die Mutter.“ Nalani runzelte die Stirn.

„Komisch? Wieso komisch?“, fragte sie und Arlon schien es nicht zu gefallen, dass sein Besuch mit seiner Frau redete, so zischte er und riss die Aufmerksamkeit wieder an sich.

„Tss, sie waren Schamanen, die sind alle komisch! Die dachten anders als wir, machten andere Sachen als wir, waren irgendwie… abgedreht. Die waren kultiviert, Alter. Die konnten lesen, diese Säcke! Ich meine nicht nur so Schullesen, sondern richtig lesen, die haben richtige Bücher gelesen. Ulan hat viel gelesen, glaube ich, außerdem war er der Kräuterheini, er wollte sicher Arzt werden oder so.“

„Arzt? Als Schwarzmagier ist das schwer.“, sagte Nalani verdutzt. „Kräuterheini?“

„Ja, er hat immer mit Pflanzen gespielt. Damit kannte er sich ziemlich aus, und es gab das Gerücht, er könnte kochen. Kochen! Wie eine Frau! Ich glaube, er stand auf Männer…“ Das war Nalani relativ egal. Aha, er hatte also schon als Kind kochen gekonnt, dann war seine Begabung wenig verwunderlich. Damit konnten auch die Kräuter zusammenhängen. Eine merkwürdige Art war es aber, als Schwarzmagier Interessen eines Heilers zu besitzen. Aber das konnte doch nicht der Grund für ihre Unruhe sein… dann konnte er eben kochen, ungewöhnlich, aber na und?

„Konnte er noch irgendetwas sehr gut?“, fragte sie weiter und Arlon seufzte. Er grübelte eine Weile.

„Er war auch ein guter Jäger. Hatten aber komische Methoden, Tiere zu erlegen, bei uns setzt man Köder ein, um Raubtiere zu jagen, ohne ihr Fell zu beschädigen, denn die Felle sind viel wert, entweder als Decke für den Winter oder zum Verkaufen in Koraggh. Das kannten die gar nicht, die Spinner!“ Er lachte und die Schwarzmagierin sagte nichts. Ihr fiel etwas anderes wieder ein.

„Einer hatte vorhin gesagt, sie wären von Lianern zerfleischt worden. Wieso Lianer, was haben die mit denen zu tun? Gibt es da irgendetwas, was ihr mir sagen könnt?“

„Wieso Lianer?“, schnaufte Arlon sie an, und seine laute Stimme erschreckte das Baby, es fing an zu weinen und wurde von der Mutter behutsam aus der Trage geholt, worauf sie es an ihre wirklich sehr üppige Brust legte und säugte. „Na, weil die hier immer herum schwirren und Leute angreifen! Wer von den Manhas nicht von Zuyyanern getötet wurde, wurde Opfer der Lianer-Anschläge, habe ich gehört! Komisch, dass Ulan überlebt hat! Woher kommst du noch mal, Frau aus dem Osten? Weiß nichts über die Lianer, pff…“

„Wo ich herkomme, gab es fast keine Lianer.“, erzählte die Frau ruhig und dachte an das Volk der Beschwörer. Nein, sie hatten sich immer im Westen des Zentrums angesiedelt oder im Osten von Kisara, in Noheema sollte es auch einige geben. Das Volk der Lianer, die auch Magier waren, war klein geworden über die Jahrtausende. Sie waren äußerlich unschwer erkennbar, weil alles an ihnen bleich war wie die Monde in der Nacht. Sie hatten sehr blasse Haut, viel blasser noch als Nalani, und sie hatten weißblonde Haare und sehr helle, bläuliche Augen. Die Menschen fürchteten die Lianer nicht weniger als die Schamanen; vielleicht sogar noch mehr wegen ihres eigentümlichen Aussehens.

„Die verdammten Ärsche vom Gespenstervolk rennen hier herum und morden, kein Wunder, dass keine vernünftigen Beamten aus der Stadt hierher geschickt werden, keiner regiert freiwillig diese Provinz, weil hier die ganzen Barbaren herumlaufen! Diese ätzenden Lianer, verdammt! Deshalb ist hier ja alles so verkommen! Diese scheiß Politiker, entweder wurden sie von den Gespenstern gemeuchelt oder sie sind kreischend wie Frauen geflohen, pff! Unser Dorf kriegen diese Bastarde nicht platt, wir haben einige erwischt in den Jahren, die Manhas waren auch ganz gut dabei, muss ich einräumen. Vielleicht hat die wahnsinnige Mutter die ja auch an ihre Kinder verfüttert, ich würde es fast wetten, die Leichen sind nämlich alle verschwunden.“

„Die Lianer… greifen Menschen an?“, wunderte Nalani sich verblüfft. Das hatte sie noch nie gehört – gerechtfertigt wäre es, so, wie das Volk zusammengedrängt wurde, so, wie sie behandelt wurden. Nalani hatte gelernt, dass Lianer sehr friedliebende Leute waren, die mit der Natur eins sein wollten und eigentlich keiner Fliege etwas zu Leide tun konnten. Aber die furchtsamen Menschen, die um ihre Machtstellung fürchteten, scheuchten die Beschwörer herum, niemand gewährte ihnen Rechte oder eine Bleibe… da wäre sie als Lianerin vermutlich auch einmal auf die Barrikaden gegangen. „Was haben sie dann mit den Manhas gemacht?“

„Keine Ahnung, das war, nachdem sie hier weg waren!“, machte Arlon entrüstet, „Unser Ältester, Gazal, hat mal davon erzählt, er reist immer durch die Provinz und erfährt überall Neuigkeiten. Vielleicht weiß er mehr. – Weib, geh ihn holen, jetzt!“

„Ich stille deinen Sohn!“, empörte die Frau sich und rückte ihre baren Brüste absichtlich etwas in seine Richtung, um ihn damit zu beschwichtigen – ausnahmsweise Mal wirkte das aber nicht und er zeigte grantig zum Flur.

„Raus, jetzt! Ich will Gazal, hier, sofort, bring ihn her! Willst du den Besuch warten lassen, du Schlampe?!“
 

Der Mann namens Gazal war definitiv älter als Nalani. Er war ein hässlicher, gedrungener Mann, aber er war freundlicher als das Dorfoberhaupt, als er berichtete, was er wusste.

„Was ich über die Manhas gehört habe, nachdem sie Holia verlassen haben, war alles etwas schwammig. Die meisten sind hier gestorben, der Vater, ein paar Mädchen und die Hälfte der Jungen. Die ältesten Mädchen und die Mutter sind wohl von den Zuyyanern verschleppt worden, aber vermutlich sind sie auch alle ermordet worden, das weiß niemand. Ich habe aber von einem blutigen Massaker an der Grenze gehört, wo Ulan, der Älteste, sich wohl an der Einheit der Zuyyaner gerächt haben soll. Bewohner des Dorfes Zaria haben erzählt, sie hätten gesehen, wie er ganz alleine die Bastarde zerfetzt hätte, es wäre grauenhaft und makaber gewesen, hieß es. Dann habe ich gehört, er soll eine Weile mit einem seiner Brüder, der wohl als Einziger überlebt hat, in Thalurien herum gelaufen sein. Er hat wohl bei Heilern oder Apothekern gearbeitet, mit seinen Kenntnissen über Kräuter war er da wohl recht nützlich. Sein kleiner Bruder ist mit großer Wahrscheinlichkeit von Lianern getötet worden, das habe ich gehört. Schon bevor die Zuyyaner kamen herrschten hier immer und immer wieder Bürgerkriege mit den Lianern. Normalerweise greifen sie Kader aus der Regierung an oder Beamte, und eher selten Zivilisten. Vielleicht war es auch bloß ein Unfall, aber dass Lianer damit zu tun hatten, wurde von allen Quellen berichtet. Das Letzte, was ich von Ulan Manha gehört habe, der wohl als Einziger dieser seltsamen Familie noch lebt, ist, dass er wohl nach Vialla wollte. Er war schon öfter da, als seine Familie noch hier wohnte, er hat irgendwelche Aufzeichnungen gesucht.“

„Ja, das passt zusammen, ich habe ihn in Vialla getroffen, er war Koch im Palast des Königs.“

„Was?!“, entfuhr es Arlon und seiner Frau und letztere keuchte noch.

„Wie, beim König?“

„Er war Koch im Palast, wie ich gesagt habe.“, wiederholte die Magierin. „Und was für Aufzeichnungen hat er gesucht, weißt du das auch, alter Mann?“ Der alte Gazal kratzte sich am halb kahlen Kopf und überlegte.

„Ehrlich gesagt weiß ich das nicht genau, Herrin. Es hatte wohl irgendetwas mit Magie zu tun, wenn ich mich recht entsinne. Er hat wohl nach einem bestimmten Zauber gesucht. Ich habe ihn gefragt, woher er wüsste, wo er danach suchen sollte, und er antwortete mir, die Geister des Himmels hätten ihm den Weg gezeigt in ein kleines, unscheinbares Antiquariat im Norden von Vialla. Er hat dort, so wie ich das verstanden habe, auch oft Manuskripte über Dokahsan gesucht, die Provinz, aus der er stammte, über die Geschichte und irgendetwas mit Zaubern.“ Die Frau runzelte nachdenklich die Stirn. Gazal fuhr fort. „Er hat einmal zu mir gesagt, als ich ihn gefragt habe, wonach er denn suche, er suche nach einem bestimmten Zauber, den sein Großvater gekonnt haben soll. Er hat wohl… Aufzeichnungen darüber gesucht, wie er funktioniert, wie man ihn anwendet oder so. Ich habe mich gewundert, wenn es der Großvater war, müsste doch einer seiner Eltern Bescheid wissen. Nein, hat er gesagt, seine Mutter wüsste gar nicht, dass es ihr Vater gewesen wäre. Ich wiederum habe ihn gefragt, woher er es dann wüsste. Die Geister haben es mir im Traum erzählt, hat er gesagt. Schamanen sind eigenartige Gesellen, finde ich… sie sprechen mit Geistern, das ist ziemlich unheimlich.“ Nalani verengte die blauen Augen zu Schlitzen.

Sein Großvater konnte einen Zauber, den er können wollte? Es war der Vater seiner Mutter, doch die wusste nicht, dass er ihr Vater war… und alles, was er wusste, hat er durch Visionen erfahren…? Vielleicht ist es ja der eine Zauber, nach dem er gesucht hat, der der Schlüssel ist für das Rätsel… wieso zittert meine Seele vor Furcht, wenn ich an ihn denke? Er war nur ein kleiner Junge… er ist nur ein Koch. Sie senkte den Kopf etwas, ehe sie weiter dachte. Aber er hat Ruja getötet… irgendetwas ist an ihm, das mich bis in die Tiefe meiner Seele beunruhigt und erschüttert. Irgendetwas… ist an diesem Mann, das mich einfach nicht loslassen will.

„Hat Ulan gefunden, wonach er gesucht hat?“, fragte sie dumpf und sah zu dem alten Gazal, der sich abermals am Kopf kratzte.

„Ja, ich glaube schon. Aber nicht in Vialla. Die Berichte, die er gefunden hat, stammten letztendlich aus Taiduhr.“
 

Taiduhr war die Provinzhauptstadt von Thalurien. Es war eine kleine Stadt, vielleicht so groß wie Tuhuli, viel kleiner als Yiara, die Provinzhauptstadt von Dokahsan. Mit nicht mehr als dem Namen eines Mannes und seines kleinen Buchantiquariats begab sich Nalani umgehend nach Nordosten, zurück ins Heimatland und nach Taiduhr. Sie bezahlte die Bewohner von Holia für ihre Hilfe mit Geld; es war vermutlich nicht das, was Arlon sich am meisten gewünscht hatte, aber er würde sicher einsehen, dass sein Dorf Geld dringender brauchte als er eine Affäre mit einer älteren Frau. Sie war froh, aus Holia weg zu sein; es war ein wirklich schauderhaftes Örtchen.

Die Hauptstadt der Provinz Thalurien war sehr übersichtlich. Sie war viereckig angelegt und alle Straßen waren gerade, eigentlich sehr ungewöhnlich für Städte in Kisara. Die Nacht war bereits hereingebrochen, als Nalani den Ort erreichte und das Tor passierte. Heute würde sie das Antiquariat nicht mehr aufsuchen können, so beschloss sie, sich eine Unterkunft für die Nacht zu besorgen und in dem ihr angebotenen Zimmer schon einmal alles, was sie erfahren hatte, im Kopf zusammenzufassen. Sie hatte nicht wirklich etwas gehört, das sie entsetzt hatte; jeder Horst könnte so eine Geschichte haben. Das Einzige, was sie verblüffte, war die Sache mit dem Großvater und dem ominösen Zauber, nach dem sie zu forschen versuchte; und die Tatsache, dass der Mann namens Ulan Manha fähig gewesen war, eine ganze Kompanie Zuyyaner alleine zu töten. Entweder war er für seine gewöhnliche Herkunft übernatürlich begabt – was ja durchaus möglich war, Neron Shai bewies das auch – oder es gab einen Zusammenhang zwischen dem Zauber, dem Großvater und den Fähigkeiten des Mannes.

Über die verwirrenden Gedanken fiel die Frau bald in einen traumlosen Schlaf.
 

Das Antiquariat, das sie gesucht hatte, befand sich im Osten von Taiduhr in einem ärmeren Teil der Stadt. Es war ein unscheinbarer kleiner Laden mit altem Krempel, staubigen Artefakten, die vermutlich halb so viel wert waren wie sie kosteten. Der Inhaber des Ladens war ein alter Greis, der kaum noch Zähne hatte und Haare schon gar nicht, und er musterte die Frau mit einem langen, wissenden Blick.

„Ihr seid die Königin, die Witwe von Tabari Lyra, habe ich recht?“, begrüßte er sie und sie starrte ihn an. Ein Blick genügte, um sie verstehen zu lassen, dass er Magier war; Telepath, wie sie merkte, als er auf ihre unausgesprochene Frage antwortete. „Ich habe geträumt, Ihr würdet kommen. Vor zwei Tagen war das. Die Geister… haben Euch hergeführt, nicht wahr?“ Der Mann machte eine unterwürfige Kopfneigung und Nalani hob eine Hand, um ihn anzudeuten, dass er das nicht zu tun bräuchte.

„So scheint es. Die Geister und der Hinweis eines Mannes aus Holia. Sagt, Ihr führt diesen Laden gewiss schon lange?“

„Mein ganzes Leben, so weit ich denken kann.“

„Dann seid Ihr irgendwann schon einmal jemandem begegnet, der… von den Geistern hergeführt worden ist, nehme ich an. Einem jungen Mann vermutlich, mit braunen Haaren, grünen Augen und einem auffallend hübschen Gesicht.“ Während sie sprach, wunderte sie sich, dass diese Beschreibung genauso gut auf ihren eigenen Sohn hätte zutreffen können. Der Mann sah sie weiterhin wissend an.

„Ich habe auch geträumt, Ihr würdet… nach Dingen fragen, die schon einmal erfragt worden sind hier. Vor einigen Jahren kam tatsächlich so ein Mann hierher, ein unscheinbarer Bauernjunge, aber er hatte einen mächtigen, Furcht einflößenden Geist.“ Er griff unter die Theke, hinter der er stand, die umrahmt von Gerümpel war, und zog einen kleinen, zusammengefalteten Haufen schmutziger, alter Papiere hervor. „Er hat hiernach gesucht… ich schätze, es hat ihn weitergebracht, sie zu lesen. Er hat sie nicht weiter gebraucht und mit wieder gegeben. Nehmt sie!“ Er hielt ihr die Lumpen hin und die Frau nahm sie dankend an, faltete die Blätter auseinander und runzelte die Stirn.

„Was ist das?“, fragte sie nach.

„Es sind Seiten aus Tagebüchern. Ich sammele Relikte aus anderen Zeiten, Zeugnisse von früher, sozusagen. Das hier hat ein Mann aus Dokahsan geschrieben. Er war Krieger, eines Tages vor sehr vielen Jahren kam er hierher und brachte diese Zettel. Er schien es für wichtig zu befinden, dass man sie aufhob und dass die Nachwelt die Chance bekam, sie einmal zu lesen. Der Mann kam um 961 hierher, also vor über zwanzig Jahren. Seine Einträge hier sind aber noch mal zwanzig Jahre älter, sie stammen aus den sehr frühen Vierzigern. Vielleicht interessiert Euch, was er geschrieben hat.“ Nalani runzelte die Stirn. Diese Pergamente waren älter als sie selbst; sie waren etwa so alt wie Tabari, ein wenig jünger. Was mochte hier stehen, das Ulan Manha fasziniert hatte? Sie versuchte, aus dem Text schlau zu werden, der in krakeliger, unsauberer Schrift auf die zerrissenen Papiere geschrieben worden war.
 

Hungermond.

Die Männer aus Anthurien geben nicht auf. Ich habe den Sohn des Heerführers gesehen, er verfügt über eine scheußliche Art von Zauber. Dunkle Geister verwehren mir die Sicht auf das, was er denkt, wenn er das tut. Es ist ein grausamer Fluch, mit dem er die Männer unter Todesqualen foltert, bis sie am Schmerz verrecken, den ihnen der Zauber beschert. Er verursacht keine Wunden, er hinterlässt nur ein kleines Zeichen auf der Haut an der Stelle, an der der Fluch das Opfer traf. Er kann damit Schmerzen verursachen, so viel es ihm gefällt, und sie auch aufhören lassen, aber das würde er ja nicht tun. Ich habe gesehen, wie sie Verräter und Meuchler damit zur Strecke gebracht haben, wie sie Kader aus Anthurien damit so lange gefoltert haben, bis sie vor Schmerzen wahnsinnig wurden und dann starben. Es muss ein furchtbarer Zauber sein, der eine gewaltige geistige Kraft erfordert, ebenso wie die gewollte Grausamkeit, einen Menschen so leiden zu lassen.

Habe schlimme Gerüchte gehört, der Heerführer misstraut seinem eigenen Sohn, glaube ich. Es weiß vermutlich kaum jemand von diesem Zauber, ich habe es nur zufällig gesehen und fürchte um mein Leben; wenn sie es erfahren werden sie mich sicherlich jagen und schlachten…
 

Was dann kam, war weniger interessant, nur der letzte Satz des Eintrags auf der letzten Seite machte Nalani wieder aufmerksam.
 

Hütet euch vor dem Dämon, der mit seinen Fängen das Zeichen des brutalen Schmerzes setzt.
 

Nalani keuchte.

„Der Dämon!“ machte sie, „Das… das Zeichen! Der Zauber hinterlässt keine sichtbare Wunde, sondern nur ein Zeichen! Ein Zeichen, über das brutale Schmerzen heraufbeschworen werden können… das ist der Zauber, den Ulan Manha gesucht hat? Den sein Großvater konnte?“ Sie starrte fassungslos auf die Zettel. „Das… ist ja grauenhaft!“ Es war in dem Moment, dass die Geister ihr auf die Sprünge halfen.

„Es ist nicht nur das, Königin… es hinterlässt keine Wunden, aber es tötet. Ein Zeichen, keine Wunden. Das Zeichen des Dämons.“ Die Frau erbleichte, als die Geister mit verschiedenen Stimmen sprachen. Stimmen, die sie einst gehört hatte.

„Da war ein Mann… er hat sie alle getötet. Es ging so schnell-… ich glaube, es war ein Dämon.“

Sie schloss bebend die Augen, als sie wusste, was sie hier in den Händen hielt. Den Ansatz von dem, was es bedeutete.

„Dieser Kerl… Ulan Manha… er hat den gesamten Kohdar-Clan auf dem Gewissen. Er hat sie mit diesem Zeichen… alle umgebracht.“
 

War es den ganzen Sommer über trocken gewesen, kam jetzt der Regen mit aller Macht zurück über das Land. Und mit ihm fegte der dunkle Schatten der Zukunft zurück über das Schloss von Vialla, der die alte, tief verwurzelte Furcht wieder weckte, die in Vergessenheit geraten war.

„Schatten wird über euch fallen und euch in Finsternis ertränken…“, sprachen die Geister, und sie wisperten fremdartige Worte, die Puran nicht verstehen konnte. Er sah hinab und erblickte auf seiner Hand plötzlich die Spirale tanzen, die er seit Jahren sah, die Spirale, die ihn wieder und wieder beunruhigte, ohne dass er wusste wieso.

„Warum fürchtest du dich? Weil du nicht weiß, was dich erwartet, wenn der Schatten die Erde berührt?“

„Oder eher, weil du genau weißt, dass du nicht ausweichen kannst…? Es ist das Ende der Welt.“ Wieder kicherten die Geister und die bedrohlichen Stimmen mit fremden Worten jagten dem jungen Mann eine Gänsehaut über den Körper, sodass er unwillkürlich heftig erzitterte.

„Instinktiv weißt du doch, was es ist, das du fürchtest… immer noch, immer wieder, wie du es seit jeher getan hast. Den Dämon… der auch ein Teil von dir ist…“
 

„Puran?!“

Leyyas besorgte Stimme durchschnitt das Gemurmel der Geister und er riss keuchend die Augen auf – sie brannten wie Feuer, daran merkte er, dass er sie gar nicht zu gehabt hatte. Er träumte schon mit offenen Augen am lichten Tag?

„Was-…?“, machte er verdattert und seine Frau zog japsend seine Hand hoch.

„Du hast das Tintenfass umgeworfen!“, klagte sie, „Was ist denn passiert? Plötzlich warst du so abwesend und du… mein Himmel, du zitterst…“ Er schnappte nach Luft und starrte vor sich an den Tisch, an dem er saß, und auf die Papiere mit den Notizen, die er für seine Akademie und das Studium hatte machen wollen. Von dem Papier war nichts mehr übrig, es ertrank jämmerlich in der schwarzen Pfütze aus Tinte, die sich aus dem kleinen Fässchen über den ganzen Tisch ergoss, ebenso wie über Purans Hose und den Stuhl und den Teppich unter dem Schreibtisch.

Er stieß einen lauten Schrei aus.

„Verfluchter Dreck! Oh nein, verdammt, Scheiße! – Ich weiß, das sagt man nicht! Ach, Himmel hilf, wehe, jetzt fange ich an zu reden wie meine Tante, diese verdammte Tinte, sie ist überall! Oh nein, der Teppich, d-der König bringt mich um! Ach, wie ungeschickt…“

„Du liebe Güte!“, machte Leyya auch erschrocken und eilte mit einem Tuch aus dem Bad heran, um zu versuchen, damit und mit etwas Wasser die Flecken aus dem Teppich zu lösen. „Was ist geschehen…?“, wollte sie dabei wissen, während er weiter fluchte, seine versaute Hose auszog, froh war, dass die Unterwäsche nichts abbekommen hatte – ein Wunder – und versuchte, mit einem zweiten Tuch auch die schwarze Tinte vom Tisch aufzuwischen.

„Meine ganzen Unterlagen sind im Eimer, ach!“, meckerte er, „Jetzt kann ich von vorne anfangen, Himmel!...“ Er beruhigte sich etwas, während er die nassen Papiere in den Müll warf und der Schauer von zuvor ihn wieder überkam, als er aus dem Fenster in den grauen Berg aus Wolken starrte.

Der Schatten… er war wirklich zurückgekehrt, in die Stadt wie auch in seinen Geist. Er fühlte die Unruhe wieder, die er für eine Weile verdrängt hatte, und die Gewissheit, dass irgendetwas Schreckliches zum Greifen nahe war, dass irgendetwas passieren würde, ließ ihn seine Papiere und die Tinte vergessen.

„Ich weiß nicht, was es ist.“, murmelte er, „Aber es… macht mir… gerade Panik, Leyya.“

Seine Frau erhob sich vom Boden und sah ihn erschrocken an, wie er apathisch zum Fenster starrte,

„Das war eine Vision, oder…? Was haben die Geister gesagt, Puran?“, flüsterte sie und nahm sanft seine Hand, die immer noch bebte und zitterte. Es war die Hand, die durchlöchert gewesen war, die sie geheilt hatte; das Zittern war plötzlich grauenhaft heftig geworden, obwohl sie ihn festhielt. „Puran, deine Hand… w-was machst du mit deiner Hand?“

„Gar nichts… dass die so zuckt, bin ich schon gewohnt, das tut sie meistens bei Neumond. Der Holzmond ist angebrochen…“

„Was hast… du gesehen?“, wisperte die Heilerin besorgt und sah ihm fest ins Gesicht. „Puran! Sieh mich an! Was haben sie gesagt?“ Er senkte den Kopf, um zu ihr herab zu sehen, aber seine grünen Iriden wanderten nur orientierungslos hin und her.

„Sie sprechen… von Dämonen… und vom Ende der Welt. Irgendetwas sagt mir… dass irgendetwas Schlimmes passieren wird. Ich weiß nur nicht, was es ist…“
 

Nalani kam am Nachmittag, dem Schatten folgend, der über die Stadt fiel wie giftiger Regen. Seit ihrem Aufbruch waren elf Tage vergangen; Puran und Leyya empfingen sie am Tor des Palastes, wegen des heftiger werdenden Regens Schirme tragend. Da Nalani keinen Schirm auf dem Pferd halten konnte, war sie nass bis auf die Knochen, als sie das Tier in den Hof des Schlosses führte, ihre triefende Kapuze zurückwarf und Wasser von ihrer Nasenspitze pustete.

„Der Schatten des Unheils eilt dir voraus, Mutter!“, begrüßte Puran sie dumpf, „Was hast du für schlechte Nachrichten mitgebracht?“ Seine Mutter warf ihm einen kurzen Blick zu. Sie hatte es auch gespürt… es war ein schlechtes Gefühl gewesen, das sie am Morgen geweckt hatte, und es war immer schlechter geworden, je dichter sie an Vialla heran gekommen war.

„Kehr um.“ , hatten die Geister gesagt, „Versuch es, Königin. Auch wenn du nicht weit kommen wirst…“

„Kehr um und deine Familie wird dem Tode geweiht sein.“

So hatten sie gesprochen und es war klar gewesen, dass sie nicht umkehren konnte. Sie würde ihren Sohn, ihre Schwiegertochter und ihr ungeborenes Enkelkind nicht im Stich lassen, was immer es war, das sie zu bedrohen schien. Als sie jetzt vom Pferd absaß und sich schüttelte ob der Nässe und plötzlichen Kälte, überkam sie ein Schauer aus purem Unheil. Es fühlte sich an, als würde sie von irgendwo aus der Ferne von Augen voller Bosheit beobachtet und durchbohrt werden. Wie scharfe Speere drangen sie ihr in Mark und Bein, doch als sie sich keuchend umdrehte, war niemand da.

„Ich habe Dinge über Ulan Manha herausgefunden.“, sagte sie knapp, als sie merkte, dass ihr Sohn sie erwartungsvoll anblickte. Jetzt weitete er die Augen und Leyya klammerte sich an seinen Arm, mit der freien Hand hielt sie den Regenschirm.

„Der Koch, der… Ruja getötet hat?“, japste sie dabei und die Schwiegermutter schenkte ihr einen nichtssagenden Blick.

„Er hat nicht nur Ruja getötet, wie es aussieht. Lasst mich etwas Trockenes anziehen, dass berichte ich euch, was ich erfahren habe.“
 

Der Regen hatte sie ziemlich ausgekühlt; in ihrem Zimmer wusch sie sich kurz mit heißem Wasser, um wieder etwas aufzutauen, ehe sie sich frische, trockene Kleider suchte. Doch ehe sie sich anzog, setzte sie sich einfach wie sie war auf ihr Bett, um einen Moment in völliger Stille einfach zu sitzen und Ruhe zu haben.

Hütet euch vor dem Dämon, der mit seinen Fängen das Zeichen des Schmerzes setzt.

Der letzte Satz des alten Eintrags auf den Zetteln ließ ihr keine Ruhe, seit sie Taiduhr verlassen hatte. Es war, als versuchten die Geister, Erinnerungen in ihrem Kopf wach zu rütteln, die sie verloren zu haben schien, indem sie sie andauernd daran erinnerten. Und es war ein ungutes Gefühl, das sie ausfüllte, eine tiefe, finstere Ahnung von Bosheit, die sie, wenn sie tief in sich hinein horchte, schon seit Jahren spürte.

Immer wieder.

„Der Sohn des Heerführers.“, murmelte sie nachdenklich, während sie nackt auf dem Bett saß und langsam ihre Wäsche zusammensuchte, um sich bald anzuziehen. „Wer war der Sohn des Heerführers? Der Mann, der den Zauber beherrschte, der Kohdars getötet hat… das war der Großvater von Ulan Manha, der seine Technik übernommen hat. Verdammt, in Dokahsan gab es vermutlich diverse Heerführer, der Krieg gegen Anthurien hat Jahre gedauert, ewige Jahre!“ Sie zischte, ehe sie sich erhob und sich tatsächlich anzog. Irgendetwas sagte ihr, dass sie nicht weit entfernt war. Der Schlüssel, der das Rätsel lösen sollte, war zum Greifen nahe, sie spürte es instinktiv… und dennoch stand sie blind in der Finsternis, sie verstand das fremdartige Gemurmel der Geister nicht.

Die unheimliche Beunruhigung in ihrem Inneren machte sich mit lautem Herzklopfen bemerkbar und die Frau fasste schweigend auf ihre Brust, versuchend, sich zu beruhigen. Sie wusste nicht, ob es die Ungewissheit über das Rätsel war, die sie fürchtete, oder nicht eher eine tief verwurzelte, instinktive Gewissheit… über das, was unmittelbar bevor stand. Über das, was unweigerlich geschehen würde.

„Du hast es geträumt, schon lange. Deswegen hast du dem Mann in Kadoh dein Schattenschwert gegeben, Nalani. Du spürst, dass der Schatten… um deinetwillen gekommen ist.“

Sie antwortete den Geistern nicht, als sie jetzt angezogen zum Fenster in die Dunkelheit starrte. Es wurde Abend.

„Tabari…“, wisperte sie tonlos den Namen ihres Mannes, „Was würdest du an meiner Stelle tun?“

Ihr Mann schwieg und sie schloss seufzend die Augen, ehe sie leise ein und aus atmete und sich daran machte hinunter zu gehen. Es war zeit für das Abendmahl. Und sie hatte noch viel zu berichten.
 

„Das ist Senol Kita.“, wurde der Geisterjägerin im Speisesaal der junge Mann vorgestellt und sie musterte ihn kurz.

„Er ist jetzt Mitglied des Rates!“, addierte Neron fröhlich, der jetzt neben dem Neuen stand und ihm kameradschaftlich auf den Rücken klopfte. Der Blonde verneigte sich vor Nalani.

„Ich habe viel von Euch gehört, Herrin.“

„Wie, er ist Mitglied des Rates?“, wunderte diese sich bloß, „Ich war nicht hier, wieso habt ihr ohne mich die Prüfung gemacht? Und Emo?“

„Wir haben Lose gemacht und zum Glück wurden weder du noch Emo gezogen.“, erklärte Puran, „Die Geister haben mir nicht widersprochen, Kraft meines Amtes als Herr der Geister habe ich also entschieden, wir machen es einfach ohne euch. Zumindest hat mir niemand widersprochen und der Kerl hat Tare besiegt…“

„Ja, wir vom alten Schlag müssen wohl Platz machen.“, machte Tare Kohdar und die einzige Frau im Rat zog die Brauen hoch.

„Ja, vielleicht sollten wir das. Willkommen im Rat, Senol Kita. Ich bin Nalani, wie du ja weißt. – Setzen wir uns, ich habe Schauergeschichten aus dem Westen mitgebracht.“
 

Der König hatte wie jeden Abend eine große Tafel, an der alle aßen, und ließ einen Gang nach dem anderen servieren, als lebten sie in einem Reich des Überflusses. Die anderen Geisterjäger waren entsetzt über die Neuigkeiten bezüglich des Todes der Kohdars, die Nalani ihnen brachte, vor allem natürlich Tare, der vor Schreck sein Brot verschluckte und fast erstickt wäre.

„D-der Kerl hat – er ist Schuld an allem Unheil!“, röchelte er dann, noch immer halb über den Tisch gebeugt, als Meoran ihm das Leben gerettet und ihm so lange auf den Rücken geschlagen hatte, bis das Brot wieder aus seiner Luftröhre gekommen war. Keiner wagte, den Namen Ulan Manha in den Mund zu nehmen; wer wusste, wer zuhörte und zufällig mit ihm befreundet war?

„Ein Zauber, der ein Fluchmal schafft und Schmerzen verursacht, die einen umbringen?“, fand Puran viel entsetzlicher und er schauderte. „U-und wer ist der Sohn des Heerführers, von dem du gelesen hast?“

„Wenn ich das wüsste, wären wir einen Schritt weiter. Es gab in Dokahsan sehr viele mächtige Schamanen, die zu so etwas Furchtbarem in der Lage gewesen wären.“ Sie drehte den Kopf und sah an der Tafel entlang, an der sie saßen und immer noch aßen. „Was mich ebenfalls stutzig macht ist… dass er Ruja nicht auf dieselbe Weise getötet haben kann wie Kohdars. Sie hatte nicht das Mal.“ Daraufhin erntete die Frau stumme Blicke von ihren Kollegen, die ihr recht gaben. Meoran unterließ einen Kommentar, er gab seiner Tochter, die neben ihm saß, eine Schale mit Pudding.

Dieser Mann hatte seine Frau auf dem Gewissen und vermutlich den ganzen Kohdar-Clan, abgesehen von Tare… der Gedanke, dass der Kerl frei umher lief und niemand wusste, wo er war, stieß ihm jetzt übel auf und er warf einen besorgten Blick auf Saidah, die fröhlich Pudding aß.

„Wenn er Ruja nicht mit diesem Zauber getötet hat, wie dann?“, fragte Neron, der neben ihm saß, und Meoran zischte.

„Können wir mal aufhören, über ihren Tod zu sprechen, bitte?“

„Willst du nicht wissen, was sie umgebracht hat? Jedenfalls war es nicht dieser Zauber. Emo hatte doch auch damit zu tun, oder…?“ Neron sah fragend zu den anderen, doch die schwiegen nur. Es war nie klar gewesen, was genau Ruja getötet hatte; sie hatten es nie wissen wollen. Es war furchtbar genug, dass sie tot war. Puran seufzte und widmete sich wieder seinem Essen, nachdem er seinem Meister noch einen trüben Blick geschenkt hatte. Er konnte verstehen, dass es ihm nicht gefiel, wenn sie so darüber sprachen, als redeten sie vom Einkaufen. Als er jetzt an Meorans hübsche Frau dachte, schmerzte ihn die Erinnerung an ihren Tod ebenfalls noch. Es war gerade ein Jahr her… etwas weniger.

Ein Jahr, und wie gerufen war der Schatten jetzt zurückgekehrt. Er schauderte und ließ das Besteck fallen, als sein Kopf plötzlich schmerzte und pochte, als die Geister anfingen, zu zischen und in eigenartigen, bedrohlichen Worten zu zischen. Für den Bruchteil eines Augenblickes flackerten die Bilder der Spiralen wieder vor seinen Augen auf, ehe er sie richtig erfassen konnte, waren sie wieder verschwunden. Seine linke Hand zitterte wie Espenlaub, als er sie an seine pochend schmerzende Schläfe hob, und er erntete einen besorgten Blick von Leyya, die neben ihm saß, und einen scharfen von seiner Mutter, die ihm gegenüber den Kopf hob und ihn jetzt kalt fixierte.

„Was hast du?“, flüsterte die Heilerin unruhig und griff hektisch nach Purans zuckender Hand, um sie verwirrt zu betrachten. „Ich habe die Wunde doch geheilt, irgendwelche Nerven scheine ich nicht getroffen zu haben, so, wie du zitterst… und immer nur links!“ Ihr Mann hörte ihr nicht mehr zu, er senkte nur schwer atmend den Kopf, als die Unruhe und die Furcht in seinem Geist mit einem gewaltigen Hammerschlag so heftig wieder zurückkehrten, dass ihm übel wurde und er sich beinahe auf den Tisch übergeben hätte. Als er sprach, war es kaum mehr als ein heiseres Krächzen, das aus seiner Kehle kam.

„W-was immer es ist… das meinen Geist dermaßen beunruhigt… es ist jetzt in diesem Moment näher an uns dran als jemals zuvor…“

Er hatte das Gefühl, dass die kommende Nacht grausam werden würde.
 

Seine Instinkte hatten ihn nie im Stich gelassen. Obwohl der Neumond bereits wieder vorüber war und der Holzmond ins Land gezogen war, zitterte seine linke Hand mit der hässlichen Narbe so heftig wie nie zuvor, hatte Puran das Gefühl, als er am Abend auf der Seite im Bett lag, seiner Frau den Rücken kehrend, obwohl er wusste, dass sie genauso wach war wie er selbst. Sie war hochschwanger; dass sie sich vereinten, war keine gute Idee, und auch auf die Spielchen ohne echte Vereinigung, die sie seit ein paar Wochen als Ersatz trieben, hatte er gerade keine Lust. Die Unruhe in seinem Geist und das Zittern seiner Hand störten ihn zu sehr, als dass er sich auf das Liebesspiel hätte konzentrieren können. So viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf, die ihn störten und verwirrten, die ihn zutiefst besorgten. Dieser Kerl, Ulan Manha, den er zum ersten Mal als kleiner Junge gesehen hatte und der seitdem immer wieder in seinen Träumen aufgetaucht war, war nicht einfach irgendein Koch. Nicht einmal irgendein bösartiger Koch; er hatte Kohdars getötet. Er beherrschte einen Zauber, der selbst Persönlichkeiten wie Hakopa und Barak getötet hatte, mächtige Magier, denen so ein Landei eigentlich unterlegen hätte sein müssen. Und er hatte Ruja getötet… auf eine andere, aber ebenso abstruse Art und Weise, da war Puran sicher. Ruja war keine dumme Frau gewesen. Sie war eine gute Seelenmagierin gewesen und sie hatte nie etwas mit dem Koch zu tun gehabt; wann hätte er einen Fluch auf sie sprechen sollen? Und noch dringender war eigentlich die Frage nach dem Warum.

Die Geister schwiegen ihn an und ließen ihn allein in der Dunkelheit, alleine mit der Ungewissheit, was geschehen würde. Aber ein flaues, fürchterliches Gefühl in seinem Magen verriet ihm, dass es nichts Gutes war, was kommen würde.

„Sprecht mit mir.“, bat er die Himmelsgeister in Gedanken und vergrub die bebende Hand unter dem Kopfkissen, um das ewige Zittern etwas zu unterdrücken. Langsam nervte es wirklich… ob Leyya irgendeine Medizin hatte, die das eindämmte? „Was ist es, das Ruja getötet hat? Was verschweigt ihr vor mir? Sprecht!“ Die Geister kicherten und er keuchte, als ihm schwarz vor Augen wurde; nicht, weil er ohnmächtig geworden wäre, sondern ob der Schatten, die plötzlich über seinen Geist fielen. In der Ferne tanzte die weiße Spirale.

„Was willst du jetzt machen, Lyra?“, fragte eine bekannte und doch unbekannte Stimme in der Dunkelheit. „Mich erschlagen? Eure Zeit ist abgelaufen, du spürst es genauso wie ich. Ich werde dafür sorgen, dass es so ist…“ Er hörte ein schauriges Gelächter und in der Finsternis um ihn herum tauchte eine bleiche Hand auf, die die Spirale festhielt und sie dann auf der Handfläche weitertanzen ließ. Langsam wuchs der Hand ein Arm, dem Arm ein Körper und am Ende sah Puran sich wieder der Silhouette gegenüber sah, der er schon oft begegnet war. Dem Mann mit den Fangzähnen und den grünen Augen, auf dessen Hand die Spirale hüpfte.

Ulan Manha, der Mörder von Kohdars und Ruja.

„Was ist es, das Ruja getötet hat?!“, schnappte Puran zornig, „Sagt es mir, Geister!“

„Ist es wirklich das, was du wissen willst? Ist es nicht eher die Frage danach… wer als nächster kommt?“ Puran erstarrte, als er fühlte, wie seine kleine Frau sich hinter ihm regte.
 

Nalani hatte das Fenster geöffnet und spürte den kalten, nassen Regen, der ihr ins Gesicht sprühte, während sie auf der breiten Fensterbank saß und in den Himmel starrte. Die Luft war stickig gewesen im Zimmer, daher wollte sie ein wenig frische Luft herein lassen, ehe sie schlafen ging.

Sie war nervös. Eine leichte Übelkeit erfüllte sie schon eine ganze Weile, sie schob es auf die grausame Unruhe in ihrem Inneren. Die Kälte und der Geruch des Regens taten gut und sie seufzte, den Blick vom Himmel abwendend.

Hütet euch vor dem Dämon, der mit seinen Fängen das Zeichen des Schmerzes setzt.

Sie zischte.

„Ihr wollt es mir vor Augen halten und ich bin zu dumm, Geister! Dann seid nicht so stur und sagt es mir!“ Sie öffnete die blauen Augen wieder, stieg von der Fensterbank und sah weiter hinaus, als eine starke Windböse ihr die vom Regen feuchten Haare ins Gesicht pustete. Sie hob die Arme empor und spürte, wie die Macht der Geister in ihre Hände floss und ihren Körper durchströmte, gleichzeitig mit einem unangenehmen Schmerz in ihrem Inneren, den sie gekonnt ignorierte.

Ich will diese Antworten… und ihr werdet sie mir geben. Egal um welchen verdammten Preis. Wer… ist Ulan Manha? Wer ist der Dämon, den wir fürchten sollen?

Die Geister zischten in ihrem Kopf und die Frau stutzte, als es um sie herum finster wurde.

„Dann wirst du sehen, was geschehen ist an jenem Tag… an dem Lyrien in den Schatten stürzte.“
 

Nalani war benommen. Sie wusste nicht, was es war, aber als sie die Augen öffnete, blieb es stockfinster. Erst nach drei weiteren Versuchen nahm sie verschwommen und gemeinsam mit dumpfen, langsam abklingenden Schmerzen im ganzen Leib eine Stimme wahr, die sie schon einmal gehört hatte. Sie fragte sich erst panisch, was passiert war; wieso war sie so schläfrig, apathisch? Wieso war sie wie gelähmt und unfähig, irgendetwas anderes zu empfinden als diese Trägheit ihres Geistes? Als wäre er dabei, für immer zu erlöschen…

„Seelenfänger!“, schoss ihr der grausige Name des Wächters der Toten in den Kopf, des Geschöpfs, das den Menschen die Seelen nahm und sie hinüber ins Geisterreich brachte oder für immer zerstörte. Sie spürte den Seelenfänger, den Todesgott, der nach ihr angelte –

Dass sie träumte, merkte Nalani erst, als sie die Augen doch zu öffnen schaffte und das Gesicht eines bestürzten Jungen über sich sah, der sie aus grünen Augen entsetzt anstarrte.

„Ihr seid verletzt, Herr, kann ich Euch helfen?“

Mit einem Mal wusste Nalani wieder, was sie hier sah – die Vision, die ihr zeigen sollte, wer Ulan Manha war. Da war er, direkt vor ihren Augen, der Junge, der er gewesen war, als sie ihn gerettet hatten.

„W-was zum-… was bist du denn für ein Knirps?!“, hörte sie sich selbst sprechen und sie japste innerlich – die Stimme kannte sie. Das war nicht ihre Stimme – was war hier los, wieso lag sie am Boden? Die dumpfen Schmerzen in ihrem Inneren flammten stärker auf, während Ulan Manha versuchte, sie hinzusetzen.

„Ich komme vom Dorf Canulo im Süden, i-ich sollte nach Wurzeln graben, wir haben nichts zu essen… da fand ich Euch hier liegen!“, antwortete der Junge verzweifelt und sie zischte mit der anderen Stimme.

„Hau ab! Ich brauche keine Hilfe.“ Ein Röcheln entrann ihrer Kehle und sie spürte wieder die Kälte des Seelenfängers in sich aufkommen, spürte die Nähe des Todes. Die finstere Welt, die sie nur noch benommen wahrnahm, wurde dunkler,

„Ihr sterbt!“, jammerte der Junge, „Ich hole Hilfe aus dem Dorf! Bleibt, wo Ihr seid!“ Jetzt verschwand die Kälte, als das Kind sich aufrappelte, und Nalani drehte benommen den Kopf, als eine empörte Wut in ihr aufflammte, zeitgleich mit den übler werdenden Schmerzen.

„Wie kannst du es wagen, mir zu… befehlen…?! Weißt du nicht, mit wem… du hier redest?!“ Die Schwarzmagierin keuchte und riss die Augen auf, als ihr dämmerte, was es wirklich war, was sie hier sah. Und mit wessen Augen sie es sah.

Geister… das tut ihr nicht wirklich.

„Du wolltest die Antwort, Königin.“, sagten die Geister daraufhin.

Die Frau blickte auf das Kind zurück, das inne gehalten hatte und sie fassungslos mit geöffnetem Mund anstarrte. Dann sah sie sie.

Die spitzen Eckzähne, die der Junge hatte. Die Fänge des Dämons, die sie sehr gut kannte… die sie fürchtete und verabscheute wie nichts anderes auf der Welt.

Das verdammte Kind hatte die Zähne. Die gleichen Zähne, die unverkennbaren Eckzähne der Bestie.

„Hat noch jemand in deiner Familie diese Zähne? Würde mich nicht wundern…“, hörte sie sich sprechen, achtete aber mehr auf das, was Ulan erwiderte.

„Ja, meine Mutter… was hat das damit zu tun?“

Nalani schnappte nach Luft. Es hatte eine Menge damit zu tun. Es gab nur eine Möglichkeit, eine Seele an jemanden Bestimmtes weiterzugeben und es selbst zu kontrollieren, ohne dass sich ein Dritter einmischte. Eine Seele wurde wiedergeboren, wenn ein Kind geboren wurde und den Namen eines Ahnen bekam. Dieses Kind war längst geboren und hatte einen Namen, aber seine Abstammung war keine Frage mehr.

Sie wusste, wer Ulan Manha war, als sie mit der Stimme der Bestie zischte:

„Eine Menge. Und jetzt stirb, du dummes Dorfkind!“
 

Wenn der Junge kurz vor dem Tode stand, ebenso wie sie selbst, würde ihre Seele auf ihn übergehen und ihm das Leben retten… ihr eigener Körper war dahin. Dafür hatte man gesorgt. Die letzten Gedanken, die sie hegte, ehe es zappenduster wurde, galten Salihah.

Du hast dich geirrt, Salihah… wenn du gedacht hast, du könntest mich töten. In diesem Kind wird meine Seele weiterleben und ich werde keine Ruhe geben, bis ich euch alle vernichtet habe. Ein Kind von meinem Blut… ein wahrer Erbe meines Reiches.
 

Die Geisterjägerin schlug die Augen wieder auf und fand sich noch immer an der Fensterbank. Ihr schwindelte und eine grausame Übelkeit überfiel sie, sodass sie strauchelte. Die Vision war vorüber – die Geister hatten nicht verhüllt, was sie ihr hatten sagen wollen.

„Der Sohn des Heerführers.“, keuchte sie benommen und stolperte apathisch rückwärts, bis sie gegen das Bett stieß und einknickte, sich auf die Kante setzte. Sie spürte noch immer die Schmerzen aus der Vision… nein, sie kam von irgendwo anders her, aber es waren wirkliche Schmerzen. „Der Heerführer… der vereinten Armee Dokahsans war Beksem Lyra.“ Es war so klar… plötzlich fragte sie sich, warum sie es nicht vorher gewusst hatte.

Keuchend sah sie zum Fenster und spürte den Schwindel mit aller Macht zurückkehren; er war hier. Er war hier im Schloss. Und sie wusste, warum er gekommen war.

„Kelar!“, japste sie den Namen; sie hatte keine Furcht mehr vor ihm. „Kelar… ist der Sohn des Heerführers. Der Dämon, der das Schmerzmal beherrschte. Und Ulan Manha… ist sein Enkelsohn. Sein Enkelsohn, der seinen Geist… in sich versiegelt.“
 

„Liebling? K-kannst du mich hören? Sag doch was, Liebling!“ Puran zog keuchend die Luft zwischen den Zähnen ein, als Leyyas kalte Hände seine Schultern ergriffen und ihn schüttelten, um ihn aus der Trance der Vision zu reißen. Er hatte die Augen geöffnet, aber dennoch kam es ihm vor, als würde er sie erst jetzt aufschlagen und wieder wach werden, als er seinerseits Leyyas Oberarme ergriff und sie auf sich zog.

„Diese Spiralen, Himmel!“, stammelte er, „Was sollen sie immerzu? Was ist es, das Ruja getötet hat?“

„Spiralen?“, fragte Leyya verblüfft, jetzt plötzlich auf ihm liegend, und sie setzte sich vorsichtig auf, um nicht auf ihrem runden Babybauch zu liegen. Puran fuhr sich verstört durch die braunen Haare und atmete heftig ein und aus, was sie beunruhigte. Sie war aus ihrem Halbschlaf geschreckt, als er hinter ihr plötzlich angefangen hatte, heftig zu japsen und nach Luft zu schnappen, und in der Angst, er könnte ersticken, hatte sie dann versucht, ihn wach zu rütteln. Er hatte sie aus offenen Augen angestarrt und sie dennoch nicht erkannt, und sie hatte gewusst, dass er träumte… aber es war beängstigend gewesen.

„Es waren innere Blutungen…“, stöhnte er unter ihr und sie runzelte die Stirn, während ihr Mann langsam seine Fassung zurückzugewinnen schien. „Innere Blutungen und niemand wusste, woher sie kamen!“ Leyya nickte zögerlich, als er sich aufsetzte, sie somit auf dem Schoß hatte, sie dann sanft von sich herunter schob und aus dem Bett hechtete. „Es müssen diese Spiralen sein, Ulan Manha hat Ruja mit diesen Spiralen umgebracht! Verdammt, wenn ich nur wüsste, was das bedeutet, das ist doch sicher symbolisch! Spiralen, wofür stehen Spiralen?“ Er schnaubte, rannte im dunklen Schlafzimmer umher und zog aus der Schublade einer Kommode schließlich einen Kohlestift, mit dem er in Ermangelung eines Papiers auf das Bettzeug die Form der Spirale aufmalte. Leyya quiekte.

„Das Bettzeug, Puran, d-du machst alles schwarz-…! Was ist das?“ Sie betrachtete verdrossen seine Zeichnung und er zischte.

„Die Dinger, von denen ich immerzu träume, diese Spiralen, nur dass sie weiß sind und nicht schwarz! Sie tanzen in der Finsternis und der Koch Ulan Manha hatte sie in seiner Hand!“ Er trat zurück und sah seine kleine Frau das Werk betrachten, bis sie schließlich die Stirn erneut runzelte.

„Sie erinnern mich an die Fleischköder aus Knochen, die die Frauen meines Onkels in Makar benutzt haben, um Raubtiere zu töten, ohne an sie heran zu müssen und ohne ihr Fell zu ruinieren.“, meinte sie, „Es sind kleine Spieße aus Knochen, wenn man sie einweicht, kann man sie verbiegen und ganz klein zusammendrücken. So hat meine Tante die Dinger in das Köderfleisch gedrückt, das die Tiere gefressen haben. Dann haben sich die Knochenspieße im Magen wieder auseinander gedreht und haben den Magen von innen zerstochen… es hat nicht sehr lange gedauert, bis die Tiere daran starben und man ihre Felle und Knochen verwenden konnte. Aber-…“ Sie stockte, als ihr bewusst wurde, was sie sagte, und sie hob den Kopf. Puran erbleichte und ließ den Kohlestift fallen.

„Knochenspieße?“, japste er, „Das… das ist es, was Ruja getötet hat! Diese Knochendinger! Sie sind im Essen gewesen, so muss es sein-…und daher kamen die inneren Blutungen. Der Kerl ist Koch! Es ist nicht schwer für ihn, sowas in die Gerichte zu mischen, wenn sie so klein sind, fallen sie ja nicht auf!“ Leyya stand auf, als ihr Mann sich schnell Kleider überwarf und zur Tür hastete. Plötzlich begannen die Geister in seinem Kopf wieder zu zischen und er spürte, wie sie ihn drängten, das Zimmer zu verlassen. Sein Instinkt warnte ihn vor dem Schatten, der näher kam…

Er war hier. Hier im Schloss, und warum er gekommen war, stand außer Frage.

„Puran!“, rief Leyya panisch und warf sich einen Morgenmantel über, „W-wohin willst du?! Mitten in der Nacht…“

„In die Küche.“, brummte er, „Und ich werde die Dinger finden, die Ruja ermordet haben. Ich darf nicht zulassen, dass es so weitergeht.“

Sie folgte ihm hastig und war rasch aus der Puste, als sie die vielen Treppen und Korridore hinab und vorbei an diversen Wachmännern des Königs hinunter in die Etagen der Diener stürzten, bis sie die menschenleere Küche erreichten. Die Tür war abgeschlossen; Puran hatte keine Zeit für Höflichkeiten, so schnappte er sein Geisterschwert und zertrümmerte das Schloss, sodass die Tür aufsprang und ihnen Einlass in den dunklen Raum gewährte. Während sie rannten, wurde das Zischen und Flüstern in Purans Kopf immer laute rund dringender, und er wirbelte keuchend in der Finsternis herum.

„Woher willst du wissen, dass sie hier sind?!“, fragte Leyya hysterisch, die nach Luft schnappte und eine Öllampe neben der Tür aufhob, die sie mit Vaira anzündete. „Er kann sie auch in seiner Hosentasche haben!“

„Und wenn sie sich dann aus irgendwelchen Gründen auflösen und sein Bein verletzen? Wohl kaum. Die Geister führen mich… ich weiß, dass sie hier sind!“

„U-und was machen wir, wenn wir sie finden?“ Leyya rannte ihm nach, als er keuchend durch die Küche hetzte und begann, in Schubladen und Schränken zu suchen. Sie half ihm.

„Sie dem König zeigen und dafür sorgen, dass jedes verdammte Gericht, das diesen Raum verlässt, kontrolliert wird darauf! Ich spüre diese Unruhe, e-es wird so weiter gehen! Er ist zurückgekehrt… er ist hier im Palast, Ulan Manha.“ Vor Schreck ließ Leyya beinahe die Lampe fallen.

„Was?!“

„Ich habe ihn gesehen… in meinem Traum! Ich habe keine Ahnung, wer er ist und was er macht, aber er hat Kohdars und Ruja ermordet! Er wird weiter machen, w-wir müssen verhindern, dass noch einer von uns dran glauben muss!“ Die Heilerin wimmerte panisch, während sie weiterhin Schubladen durchkämmte auf der Suche nach den Spießen, die ihre Tanten benutzt hatten – bis Puran neben ihr plötzlich schrie und sie zum zweiten mal beinahe die Öllampe zerstört hätte. „Hier sind sie!“, rief ihr Mann und hockte sich vor einen alten, hölzernen Schrank, aus dem er mit lautem Scheppern und ohne Rücksicht auf Verluste ein paar Pfannen warf, es folgten alte Suppenkellen. Alle Instinkte schlugen in ihm Alarm, als er noch hinter den Kellen einen morschen Holzscheit aus dem Schrank fischte, ihn zu Boden warf und dahinter ganz unscheinbar einen kleinen Haufen der spiralförmigen kleinen Knochen zu Tage förderte. In dem Moment, in dem er die kleinen Spieße in den Händen hatte und sie seiner Frau hinhielt, kehrte die Furcht, die er nach jedem Traum mit den Spiralen gespürt hatte, mit aller Macht in seinen Geist zurück.

„Puran!“, schrie Leyya, stellte rasch die Lampe auf die Anrichte der Küche und stürzte zu ihm, als er plötzlich vor ihren Augen erbleichte, stolperte und zu Boden stürzte, als hätte ihm jemand eine Flasche über den Kopf gezogen. „Um Himmels Willen, was hast du?!“, jammerte sie und packte seine Hände, aus denen die Spiralen kullerten und zu Boden fielen. Sie waren, wie Leyya erzählt hatte, aufgeweicht, zusammengerollt und dann getrocknet worden, damit sie ihre trügerische Form beibehielten. Puran war unfähig sich zu rühren. Er saß jetzt plötzlich auf dem Hintern und konnte nicht aufstehen, er starrte seine hysterische Frau nur aus weit aufgerissenen Augen an, als die Furcht in ihm mächtiger wurde als jemals zuvor.

„Es ist zu spät, Lyra… du kannst mich nicht aufhalten. Ich habe dein Schicksal längst besiegelt… Puran.“

Und dann sah er seine Mutter, die den Kopf in seine Richtung drehte. Auf ihrer Schulter tanzte die Knochenspirale, wie sie es im Schatten getan hatte.
 

„Ist es wirklich das, was du wissen willst? Ist es nicht eher die Frage danach… wer als nächster kommt?“
 

„Mutter!“, japste er atemlos und Leyya erstarrte vor ihm, als er heftig den Kopf schüttelte, um die Finsternis aus seinem Geist zu vertreiben. Er rappelte sich auf die Beine, packte ein paar der Knochenspieße vom Boden und taumelte; schnell hatte er aber sein Gleichgewicht zurück und als seine Frau noch aufstand und ihn verzweifelt und verwirrt anstarrte, packte er mit der freien Hand ihre, um sie unsanft mit sich zu zerren, hinaus aus der Küche, hinauf über Treppen und Korridore. Puran hatte keinen Kopf dafür, dass die Übelkeit wieder zurückkam in seinem Inneren und auch nicht dafür, dass seine hochschwangere Frau vielleicht nicht so schnell laufen konnte wie er. Das einzige, was in seinem Kopf war, waren die zischenden Stimmen der Himmelsgeister, die ihn warnten, und das Rauschen seines eigenen Blutes. Je weiter sie von der Küche weg kamen, desto schneller rannten sie, wobei die arme Leyya kaum mithalten konnte und panisch wimmerte, er solle langsamer machen.

„W-was ist denn los?!“, wollte sie verunsichert wissen, als sie den Korridor erreichten, in dem ihre Zimmer lagen, und Puran ließ sie los – dann packte er sie wieder und rannte weiter. Nein, er durfte sie nicht zurücklassen, egal, wie anstrengend es für sie war… er hatte zu viel Angst, dass ihr jemand etwas antun könnte. Er antwortete ihr nicht, obwohl sie empört jammerte, während er sie weiter zerrte – als er das Zimmer seiner Mutter erreichte und heftig die Tür aufstieß, sah er sie im Schlafzimmer empor fahren. Sie hatte auf dem Bett gesessen und starrte jetzt in das entsetzte Gesicht ihres Sohnes.

„Puran! Was bei Himmel und Erde-…?!“

„Der Kerl! Ulan Manha, wir wissen, wie er Ruja getötet hat!“, schnappte er, „I-ich habe von dir geträumt, Mutter, es sind diese Knochenspieße, sie sind im Essen versteckt und bringen einen von innen um!“, quasselte er völlig außer sich los und Nalani keuchte, als sie die wahnsinnige Panik in seinem bleichen Gesicht erkannte.

„Kind, beruhige dich…!“, murmelte sie, „Liebe Zeit, die arme Leyya, habt ihr einen Tausendmeilenlauf hinter euch oder was-…?“ Sie japste, als sie einen Schritt in Leyyas Richtung tun wollte und plötzlich die Schmerzen in ihrem Inneren so plötzlich heftiger wurden, dass sie zuckte. Als der stechende, grauenhafte Schmerz sie noch betäubte, hustete sie heftig und presste die Hand auf ihre bebenden Lippen, während Puran und Leyya sie gleichermaßen fassungslos anstarrten. „Was zum-…?“, keuchte die Frau stimmlos und ließ die Hand sinken. Als sie sich des seltsamen Geschmacks in ihrem Mund bewusst wurde, der sich mit den bohrenden Schmerzen in ihrem Leib vermischte, sah sie herab auf ihre Finger.

Das Zischen der Geister verstummte augenblicklich in Purans Kopf, als er das Blut auf der Handfläche seiner Mutter sah.
 


 

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öööy xD *Fahne schwenk* Oktober 982. Yeah. xD TEH PANIC! Und Senol Kita war etwas random xD aber er war da xD und er ist sowas von absolut unwichtig für die Story xD

Trennung

Nalani taumelte, während sie starr auf ihre Hand starrte, an der Blut klebte. Ihr eigenes Blut, das aus ihrem Inneren kam.

„Fürchtest du dich, Königin?“, fragten die Geister in ihrem Kopf und sie erzitterte, als sie in das vor Panik erbleichende Gesicht ihres Sohnes und dessen Frau sah. „Du hast gewusst, was die Schicksalsgeister bestimmt haben, oder nicht? Warum zitterst du?“

Als die zischenden Stimmen verstummten, durchfuhr ihren Leib ein wahnsinniger, stechender Schmerz, der sie schreiend zu Boden stürzen ließ. Puran schrie auch.

„Mutter!“ Sofort stürzte er zu ihr und sie schlug immer noch schreiend seine Hand weg.

„Nicht, Puran!“, hustete sie und spuckte wieder Blut, als der Schmerz in ihrem Inneren sich noch steigerte und ihr die Luft aus der Kehle zu schnüren drohte. Hustend und keuchend kippte sie zur Seite und lag dann auf dem Boden mitten im Zimmer. Leyya heulte vor Schreck und stürzte dazu, griff nach ihr.

„Nalani, um Himmels Willen, was hast du?!“ Sie keuchte und krümmte sich, als der Schmerz erneut durch ihren Bauch stach und sie das Gefühl bekam, die Himmelsgeister verspotteten sie von oben, als sie wieder Blut spuckte.

„Der… Schatten, Puran…!“, stöhnte sie, „E-er ist hier! Ulan Manha… er ist hier… im Palast, ich spüre… es!“

„Sprich nicht, liebe Zeit!“, schrie Puran panisch und versuchte, sie hochzuheben, worauf sie gellend aufschrie, als der Schmerz sich verdoppelte. „Leyya, rasch, hol Meoran und die anderen, sofort! Irgendwen, verdammt, lauf!“ Leyya heulte vor Angst, folgte aber dem Befehl und rannte hinaus, während er seine Mutter auf ihr Bett transportierte, worauf sie abermals Blut hustete und damit sein Hemd traf. Sie fasste japsend nach seinem Gesicht und schmierte auch dorthin Blut.

„Puran, sieh… m-mich an!“ keuchte sie, „Sieh mich an! Der Kerl… du musst dich in acht nehmen vor ihm-…!“ Er fiel ihr ins Wort, obwohl nur ein heiseres Krächzen aus seiner Kehle kam.

„Es ist wie bei Ruja… e-es ist… es sind die Knochenspiralen…!“ Er hatte sie auf dem Bett abgelegt und sie rollte sich hustend zur Seite und schrie, als der Schmerz plötzlich rapide zunahm. Er starrte wie versteinert auf seine jetzt wieder freie Hand, in der noch die Knochenspiralen waren, die er mitgenommen hatte. Das panische, grauenhafte Gefühl, das ihn überfiel, verschaffte ihm so heftige Übelkeit, dass er würgen musste und sich gerade noch zusammenriss, um sich nicht an Ort und Stelle zu übergeben.

Die Knochenspiralen, die Ruja getötet hatten. Die jetzt dabei waren, auch seine Mutter zu töten.

Und was viel schlimmer war als die Gewissheit, dass es wirklich passieren würde, war der Blick, den er jetzt im Gesicht seiner Mutter erkannte, als er sie erbleichend wieder ansah und sie keuchend nach Luft schnappte.

Sie hatte gewusst, dass es so kommen würde. Vielleicht nicht auf welche Weise oder wann genau; aber sie hatte es gewusst. Die Erkenntnis ließ den jungen Mann schaudern und er packte Nalanis kalte, bebende Hand, um sie mit seiner eigenen festzuhalten, während er vor dem Bett zu Boden sank und zu heulen anfing.

„D-du kannst… das nicht machen, Mutter! Ich… ich bin der Herr der Geister! Ich erlaube das nicht! Versteht du?!“ Nalani schrie und presste seine Hand heftig mit ihrer zusammen, ehe sie den Kopf empor riss und ihn verzweifelt anstarrte. Er weinte bitterlich und sie wusste, dass sie ihn nicht trösten konnte. Es gab nichts Schmerzhafteres für eine Mutter als den Anblick ihres weinenden Kindes und die Gewissheit, es nicht trösten zu können.

„Du kannst… als Herr der Geister… über viele bestimmen, Puran…“, keuchte sie so dumpf und strich bebend mit einem Finger über seine Hand, die ihre umklammerte, „Aber… darüber nicht.“

„Die Geister tun unrecht!“, heulte er außer sich und fuhr zusammen, als sie sich abermals heftig krümmte und Blut hustete. „Mutter-… w-was soll ich denn ohne dich machen…?!“ Er unterbrach sich, als die Tür wieder aufflog und die verstörte Leyya zusammen mit Meoran wieder herein stürzte, der seine kleine Tochter auf den Armen trug. Ihnen folgte noch der momentane Vorsteher des Heilerrates.

„W-was ist geschehen?!“, japste er außer Atem und die kleine Saidah wimmerte panisch, während sie sich an seinen Kragen klammerte.

„Die bösen Knochengeister sollen weggehen!“, rief sie dabei hysterisch und Nalani sah das kluge kleine Mädchen keuchend an, das das kleine Gesicht in des Vaters Brust vergrub. Saidah hatte ein wahnsinnig ausgeprägtes Gespür für Schatten. Sie sah, wenn böse Dinge geschahen, und die Geisterjägerin war sicher, dass die Kleine genau wusste, dass es dieselben Knochenspiralen waren, die schon ihre Mutter getötet hatten.

Ulan Manhas Knochenspiralen. Der Mann, der Kelars Enkel war – der Kelars Geist inne hatte.

Die grauenhaften Schmerzen verhinderten, dass sie ein vernünftiges Wort über die Lippen brachte, stattdessen schrie sie nur auf und spuckte erneut Blut.

„Ihr müsst ihn… ihr müsst ihn aufhalten, irgendwie! E-er ist hier-… i-im-…!“

„Mutter, nicht sprechen! Um Himmels Willen, Leyya, bring das Kind weg…“, jammerte Puran und sah auf Saidah, die sich nur bebend an ihren Vater klammerte und Nalani aus weit aufgerissenen Augen ansah. Leyya bewegte sich nicht und stand starr neben ihm, am ganzen Leibe zitternd, während ihr Vorgesetzter, der Heiler, noch einen vergeblichen Versuch startete, mit Zaubern die inneren Blutungen zu heilen.

Sie alle hatten dieses Szenario schon einmal durchgemacht. Es schien plötzlich, als wäre es erst einen Tag her, dass Ruja gestorben war. Als Leyya keinerlei Anstalten machte, sich zu bewegen, fuhr ihr Mann sie wüst an.

„BRING SIE WEG, LEYYA!“ Es war mehr ein Instinkt, der die kleine Frau gehorchen ließ, und sie heulte verzweifelt auf, als sie Meoran seine Tochter abnahm und mit ihr davon eilte, obwohl das Mädchen wimmerte und protestierte. Der Anblick war nichts für sie, aber sie konnten sie nicht alleine lassen…

Leyya hatte panische Angst. Sie hatte das Gefühl, in einer falschen Welt zu sein, als sie schon wieder über den Flur rannte und panisch um Hilfe rief. Als Ruja gestorben war, war es schon schlimm gewesen; aber Nalani stand ihr noch näher. Sie war wie eine Mutter für sie… verdammt, sie wollte nicht weinend umher rennen, sie wollte zurück! Als die Zimmertür neben ihr aufsprang und Neron und seine Frau Saja halb angezogen heraus stürzten, schrie die Heilerin beinahe vor Erleichterung.
 

„Das hat keinen Sinn, i-ich schaffe es nicht…“, stammelte der Heiler erbleichend, kaum einen Moment, bevor Leyya wieder in den Raum gerannt kam, außer Atem und immer noch hysterisch schluchzend.

„Wo ist Saidah?“, fragte Meoran sie japsend.

„I-ich habe sie zu Neron und Saja gebracht…“ Der Mann seufzte. Da war sie gut aufgehoben. Es war schlimm genug, dass er sie mit hergebracht hatte… aber Leyyas panische Nachricht hatte dafür gesorgt, dass er das kleine Mädchen unmöglich alleine hatte weiterschlafen lassen können. Er sah heftig atmend zu Nalani, die erzitterte und immer noch die Hand ihres Sohnes umklammerte, der nur apathisch nach Luft schnappte.

„Es sind die Knochenspieße…“, wimmerte er, um dem Heiler zu antworten, und er ließ geistesabwesend die zusammengepressten Spieße fallen, die er in der Hand gehabt hatte. Jetzt, wo Saidah fernab vom grausigen Geschehen war, ließ er zu, dass Leyya neben ihm zu Boden sank und sich bitterlich weinend nach vorne an das Bett lehnte, um nach Nalanis anderer Hand zu angeln.

„I-ich will das nicht…“, jammerte sie dabei, „V-vorhin war… doch noch alles gut!“ Nalani forderte sie mit ihrem Blick auf, zu schweigen, und ihr Mund verzog sich trotz der Schmerzen für einen Moment zu einem bitteren Lächeln.

„Vergib mir, Leyya… ich wünschte, ich… hätte dir… ich wollte… d-dir doch noch bei der Geburt helfen… d-du musst Saja fragen, sie… hilft dir bestimmt…“ Leyya wimmerte und sagte nichts, das Baby war ihr jetzt gerade relativ gleich.

„Du darfst nicht sterben…“, schluchzte sie, „I-ich… bitte nicht, Nalani!“ Sie zuckte zusammen, als die Frau vor ihr abermals schrie und sich krümmte, und jetzt war es Meoran, der sie sachte zurückzog und sie festhielt, sie daran hinderte, sich frontal auf ihre gefühlte Mutter zu stürzen. Leyya brach in Tränen aus, ließ aber zu, dass er sie festhielt. Sie spürte, wie sehr er zitterte; es musste ihn auch Überwindung kosten, sie jetzt zurückzuhalten.

Nalanis blauen Augen richteten sich mit einem letzten Aufwand an übriger Kraft flackernd auf ihr einziges, geliebtes Kind. Sie wollte ihn noch einmal ansehen, den kleinen Jungen, den sie geboren, gesäugt und groß gezogen hatte. Es war in dem Moment, dass sie spürte, wie die Schmerzen, nachdem sie zuvor ihren Höhepunkt erreicht hatten, langsam dumpfer wurden und wie sich Schatten über ihren Geist legte.

Es war der Wille der Geister… sie konnte sich dem nicht widersetzen. Und eigentlich wollte sie es auch nicht. Ihre Aufgabe in dieser Welt war erfüllt.

Sie spürte Purans Hand, die ihre fester drückte; obwohl er seinen Griff verfestigte, hatte sie das Gefühl, er würde lockerer, und sie zog keuchend die Luft zwischen den Zähnen ein.

„P-…Puran…“, japste sie und hörte, wie er vor ihr panisch aufheulte. „Pass… auf… Manha auf-… er ist-… ist-…!“ Sie keuchte erneut und die Worte kamen ihr dazwischen nur so unverständlich über die Lippen, dass Puran sie nicht verstand. Er klammerte sich jammernd an ihre Hand.

„Ich lasse dich nicht los, Mutter!“, erklärte er, „Ich kann… d-das nicht… ich kann das nicht!“ Er zitterte und sie versuchte krampfhaft, seine Hand auch zu drücken; sie hatte keine Kraft mehr in den Fingern.

„Doch, du kannst…“, wisperte sie dann, „Und… du musst. Du m-musst… es für Leyya… und für… deinen Sohn…“ Sie erzitterte, als sich die Dunkelheit wie ein schützender, aber kalter Mantel über sie zu legen drohte in dem Augenblick, in dem alle Gefühle in ihr verblassten, gemeinsam mit dem Schmerz und der Sehnsucht danach, ihr Kind noch einmal umarmen zu können. Ihr Atem ging rasch und rasselnd, als sie die Luft einzog. Als die Finsternis sie umfing, spürte sie wieder den Wind, obwohl der Raum geschlossen war. Sie sah Tabaris grinsendes Gesicht vor sich und spürte, wie er ihr eine Hand hinhielt, wie um ihr aufzuhelfen.

„Tabari…“, keuchte sie dann und Puran vor ihr erstarrte, während eine Träne von seinem Kinn auf seine Hose tropfte. „Ich kann… dich sehen…“
 

Als seine Mutter erstarrte und sich der Griff ihrer Hand um seine lockerte, erstarrte auch Puran. Er wartete und starrte sie fassungslos an – wartete darauf, dass sie die Augen wieder aufschlug, dass irgendetwas geschah. Dass sie atmete; dass sie sich rührte und irgendjemand ihm sagte, ihre Verletzung wäre nur halb so wild, wie man gedacht hatte. Einen kurzen Moment wünschte er sich wirklich ernsthaft, dass so etwas geschehen würde und glaubte beinahe schon daran; dann rissen die Geister ihn ungehobelt wie immer aus seiner Schreckstarre zurück in die Realität.

„Pass auf Manha auf. Er ist hier… der Dämon, der den Fluch des Schmerzmals beherrscht.“

Ulan Manha.

Puran schnappte nach Luft und erzitterte, als sein Blick auf die Knochenspieße am Boden fiel. Die Dinger, die seine Mutter und Ruja getötet hatten.

Plötzlich erfasste ihn ein unbändiger, gnadenloser Zorn, und er sprang auf die Füße und heulte immer noch, ehe er aufschrie und herum wirbelte. Leyya schrie in Meorans Armen auch vor Schreck über seine plötzliche Wut.

„Dieser Bastard!“ fluchte Puran ungehalten und seine Stimme überschlug sich, als er wie wahnsinnig zu schreien anfing, „Er hat sie umgebracht! Er hat sie verdammt noch mal umgebracht!“ Ehe Leyya ihn hätte aufhalten können, stürmte er aus dem Raum, stieß dabei den Heiler und auch Meoran zur Seite, der sich bebend erhoben hatte.

Sein Kopf pochte. Sein Körper brannte vor Zorn, der in ihm hoch brodelte wie ein zerstörerisches, Tod bringendes Feuer, als er über den Korridor hetzte, getrieben von der Wut und den kichernden Geistern des Himmels und der Erde.

„Pass auf, was du tust… du hast einen Eid abgelegt, Puran Lyra…“

„Ich pfeife darauf, hört ihr?! ICH PFEIFE DARAUF! Bringt mich zu ihm und ich reiße ihn in Stücke!“ Er wusste, die Geister würden ihm Folge leisten; das hatten sie zu tun! Sie sollten verdammt noch mal kriechen und tun, was er sagte… er spürte den Hass in sich aufflammen und es schmerzte ihn, als würde er seine Hand in eine offene Kochstelle halten. Und der Schmerz wurde stärker und brennender mit jedem Schritt, den er tat.

Und sie folgten seinem Befehl. Als Puran auf Ulan Manha traf, ihm zum ersten Mal seit Ewigkeiten gegenüber stand, war es auf einem der unteren Balkone am Fuße des Hauptturms des Palastes. Der wenig ältere Mann kehrte ihm den Rücken, als er ihn erreichte. Dann drehte er sich um und schenkte Puran ein wissendes Grinsen, die diabolischen, grünen Augen direkt auf die des Jüngeren gerichtet.

„Dann haben die Geister nicht gelogen… sie haben gesagt, du würdest kommen… Lyra.“
 

Zu mehr Worten kam er nicht, weil Puran ihn mit einem wütenden Schrei voll von Hass und Abscheu am Kragen packte, ihn rückwärts bis zum Geländer des Balkons stieß und mit einem Krachen das Geisterschwert heraus beschwor, um es dem anderen an die Kehle zu halten.

„Ich bringe dich um!“ brüllte er ihn an und spürte, wie der Zorn ihn zu verbrennen drohte, wie er mehr und mehr die Kontrolle über Purans Geist und Körper gewann. „Du Mörder, du wahnsinniger Bastard, du elender Hurensohn! ICH REIßE DICH IN FETZEN! Ich zerfetze deinen Geist so lange, bis zu vor mir am Boden kriechst wie ein elender Wurm und um Gnade winselst, Manha! Du hast sie verdammt noch mal umgebracht!“ Er spürte, wie das Pochen in seinem Kopf mächtiger wurde, als er dem anderen Mann seine Waffe gegen den Hals drückte und ihn dabei mit grober Gewalt packte und festhielt. Dabei hätte er Ulan Manha beinahe das Geländer hinunter geworfen, was jener noch rechtzeitig verhinderte, weil er sich daran festhielt, während er mit dem Rücken dagegen geschmettert wurde. Er reagierte nicht so, wie Puran es gerne gehabt hätte.

Er lachte schallend auf.

„Ach, so ist das also…? Was willst du machen? Mich töten, Lyra? Brächte das irgendetwas? Würden deine geliebte Mutter und die schöne Ruja dadurch wieder lebendig werden…?“

„ICH ZERSCHMETTERE DEINE SEELE, DU HURENSOHN!“ schrie Puran ihn außer sich vor Zorn an, „Ich haue dich in Fetzen! Ich-…!“ Seine Stimme versagte, weil er zu viel und zu laut gebrüllt hatte, und keuchend hustete er; der Moment der Unachtsamkeit hätte ihn beinahe das Leben gekostet, denn Ulan Manha zog blitzschnell eine Hand vom Geländer und fuhr herum, mit einem gezielten Schlag schleuderte er seinem jüngeren Gegner lodernde Flammen ins Gesicht. Puran wehrte sie noch rechtzeitig mit seiner Waffe ab, wurde aber zurück gestoßen und strauchelte, während der andere wieder auf beiden Füßen stand und sein Gleichgewicht zurück hatte.

„Narr…“ gackerte der Koch aus Holia, „Du Idiot hast nicht die Spur einer Ahnung… wer ich bin! Du hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst, Puran Lyra, Prinz von Lyrien! Tss… Himmel, wie erbärmlich.“ Puran zischte nur und zitterte vor Hass, das Geisterschwert fest umklammernd und es abermals in die Richtung des Feindes hoch reißend. Er hatte noch nie so eine wahnsinnige Mordlust in sich wahrgenommen wie in diesem Moment… er wollte ihn umbringen. Er wollte ihn zerstückeln und an die Schweine verfüttern, er wollte ihn auf die brutalste und qualvollste Art umbringen, die ihm nur einfallen würde… dieses Verlangen in ihm war so schmerzhaft und fühlte sich grauenvoll an, sodass er noch einen Schritt rückwärts taumelte. Die Geister zischten zornig in seinem Kopf und ließen seine Kräfte schwinden, er spürte bereits, dass seine Knie so sehr zu zittern begannen, dass er fürchtete, jeden Moment zusammenzubrechen.

Kontrolle! schrie irgendwas in seinem Inneren und er kämpfte verzweifelt gegen die Übermacht in sich an; diesen Drang, zu töten, den er schon nach seines Vaters Tod unterdrückt hatte.

Damals, als er den Schwur geleistet hatte, niemals wieder jemanden umzubringen. Wenn er den Schwur brach, würden die Geister ihn vielleicht töten… er hörte verschwommen durch all den Hass und allen Zorn hindurch die Worte seiner Mutter.

„Du musst stark sein für Leyya und für deinen Sohn… du musst das ohne mich schaffen.“

Er bebte vor Wut und fragte sich, ob er das Geisterschwert zerquetschen könnte, weil er so fest zudrückte, obwohl es nur aus Magie bestand. Eine flaue, grausame Übelkeit stieg in ihm auf, als er dazu ansetzte, zu sprechen. Es fühlte sich abartig an, mit diesem Bastard zu sprechen… es fühlte sich an, als versuchte jemand, seinen Magen von innen heraus umzukrempeln. Dabei sprach er nur ein einziges Wort…

„Warum?“

Ulan Manha grinste ihn süffisant an. Die Hände vom Zaubern noch erhoben grinste er einfach und antwortete schließlich.

„Nur ein Wort, Lyra. Macht. Weißt du… wie sie sich anfühlt? Du weißt es genau, nicht wahr…? Ich weiß es auch… und ich werde sie bekommen, genauso wie du sie bekommen hast. Ich werde dafür sorgen, Lyra… ihr werdet mir nicht im Weg stehen!“ Jetzt schlich sich ein dämonischer, wahnsinniger Ausdruck in sein an sich hübsches Gesicht und verzerrte es zu einer grauenhaften Furcht einflößenden Grimasse. Dabei entblößte er seine spitzen Eckzähne und Puran erstarrte. Der Mann aus seinen Träumen… genau dieselben Zähne wie die seines Großvaters. „Ich werde euch unterwerfen und wieder an mich reißen, was einst mein war!“ fuhr er fort und seine Stimme überschlug sich jetzt fast genauso wie die des Jüngeren, aber nicht vor Wut, sondern vor Lachen, als er den Kopf in den Nacken warf. „Und wenn ich euch dafür alle niedermetzeln muss… wie Kohdars… wie ich dafür gesorgt habe, dass der Chimalis-Clan niemals einen echten Erben haben wird! Haha! Der Trottel Meoran wird niemals eine andere Frau anrühren und niemals einen Sohn zeugen, der seinen Clan erbt! Und seine Tochter wird das auch nicht tun können, so ein… Jammer…“ Er lachte gellend, ehe er den Kopf wieder herab riss und Puran aus giftigen Augenschlitzen bösartig angrinste. „Tare Kohdar hatte bloß durch Zufall Glück, mir entkommen zu sein… bisher! Und deine Mutter… die hübsche, kalte Nalani, die Königin… hah! Ich habe die Königin getötet… bin ich nicht mächtig? Siehe, Lyra! Deine Mutter, die den Windmeister Tabari geschlagen hat… ein kleiner Spieß aus Knochen… hat sie umgebracht!“

„Wenn du Clans vernichten willst… hättest du mich töten sollen und nicht sie!“ zischte Puran garstig und zitterte ob der Anspannung, die er aufbrachte, um seinen Hass zu beherrschen. „Im Gegensatz zu Ruja… hat meine Mutter bereits einen Sohn geboren!“

„Dass ich deine Mutter getötet habe, hatte einen simpleren Grund. Sie wusste… mir zu viel. Die Geister warnten mich, da zog ich es vor, hierher zurückzukehren… es ist nicht schwer mit Hilfe von Schattenmagie, ins Schloss zu gelangen… das sollte dich beunruhigen, oder?“ Der Ältere lachte. „Als ich eintraf, war deine Mutter bereits zurück… und es ist den Himmelsgeistern zu verdanken, die doch dir als oberstem Geisterjäger des Zentrums gehorchen sollten… dass meine Spieße den Weg in ihrem Magen fanden. Keine Sorge… auf dich und… deine niedliche Familie komme ich noch zurück. Ich will mir sicher nicht entgehen lassen… wie du mich wieder anbrüllst und dann wehrlos zusehen musst, wie ich deiner Schlampe von Frau… mit bloßer Hand die Eingeweide und jedes weitere ungeborene Kind aus dem Leib reißen werde!...“ Er lachte immer noch, als er rückwärts sprang und schließlich behände auf das Geländer des Balkons kletterte. „Fürchtest du mich, Puran?!“ Puran konnte nicht antworten. Er konnte nur zitternd da stehen und starren, bebend vor Zorn und versuchend, das furchtbare Pochen in seinem Kopf zu ignorieren.

Er hatte es geschworen… er durfte dem Verlangen, ihn umzubringen, nicht nachgeben. Niemals…

Das gellende Schreien seines Gegenübers ließ ihn auffahren. Ulan beugte sich vor und herrschte ihn schallend an.

„FÜRCHTEST DU DICH?!“ Das vor Wahnsinn verzerrte, machthungriges Gesicht, diese Fratze mit den Raubtierzähnen, jagte Puran einen eisigen Schauer über den Rücken; dennoch rührte er sich nicht, als der andere abermals gackerte. „Solltest du… denn ich werde nicht aufgeben, bis ich die Macht habe, die mir zusteht! Ich… bin der König der Geister, Lyra! Ihr Maden… werdet kriechen in blutigem Staub… und darum betteln, dass ich euren Tod kurz und schmerzlos mache… die Mächte der Schöpfung werden vor mir kriechen! Sieh mich an, Lyra! Du weißt… dass es so sein wird! Sieh mich an!“ Puran sah ihn an, aber er sah nicht Macht in den Zügen des anderen, nicht in seiner Erscheinung… was er sah, war Irrsinn.

In dem Moment verschwand das Pochen in seinem Kopf, mit einem Mal dachte er ganz klar. Es war, als hätte sich der Vorhang aus Zorn gehoben, der junge Mann hörte zu zittern auf und sah seinem Gegner fest in das wahnsinnige Gesicht. Dann lauschte er den Stimmen der Geister, die jetzt friedlicher wurden und er erinnerte sich an den Traum, den er einst mit Nalani geteilt hatte. Jetzt wusste er, was seine Mutter gemeint hatte mit ihrer Version.

Plötzlich war alles so logisch…

„Willst du mich nicht aufschlitzen…?“ kicherte Ulan Manha und breitete bereitwillig die Arme aus, Puran belustigt ansehend. „Na los, komm und versuch es… lass deinem hass auf mich freien Lauf… du kannst das sehr gut, Puran…“

Der Geisterjäger holte tief Luft. Dann ließ er das Geisterschwert verschwinden und machte einen Schritt zurück.

„Nein.“, sagte er kalt. „Deine Zeit wird kommen. Du wirst sterben, Manha… aber nicht durch meine Hand. Nicht heute Nacht. Ich werde nicht auf dein Niveau fallen und dich umbringen, obwohl ich dich verabscheue.“

Er erntete zunächst entsetztes Schweigen. Damit hatte sein Gegner offenbar nicht gerechnet. Dann zischte er plötzlich wütend, fing im nächsten Moment wieder schallend zu lachen an.

„Du lässt… mich laufen?! Haha… Puran, der Barmherzige… Puran, der Schwächling, der Feigling, der nicht Manns genug ist, den Tod seiner eigenen Mutter zu rächen! Erbärmlich… wie konnte ich damit rechnen, du könntest Gefallen finden an Zorn…?“ Sie hörten rennende Schritte, die näher kamen, Schritte mehrerer Personen. Ulan Manha grinste ein letztes Mal, ehe er die Arme empor riss. „Wir werden uns eines Tages erneut begegnen… wenn du vielleicht den Mumm aufgebracht hast, nicht länger davonzulaufen!“ So sprach er, dann ließ er sich rückwärts vom Geländer kippen.
 

In dem Moment, in dem er kippte, stürzten Meoran, Neron Shai und Tare Kohdar um die Ecke auf den Balkon, außer Atem und mit entsetzten Gesichtern.

„DA!“ brüllte Neron und stürzte an dem erstarrten Puran vorbei zum Geländer, Tare folgte ihm, damit sie nach Ulan Manha sehen konnten; aber der Feind war spurlos verschwunden. Der Balkon war nicht hoch, nur mehrere Fu0 über dem Boden; trotzdem war nirgends der Hauch einer Spur zu erkennen, dass Manha irgendwo gelandet wäre.

„D-der hat sich in Luft aufgelöst!“ japste Neron atemlos, „Dieser Hurensohn! Ich habe ihn gesehen, eben gerade!“

„Telepathen vielleicht…“ murmelte Tare Kohdar, „Wenn nicht sogar Zuyyaner… irgendetwas hat er bei sich, das ihn teleportieren kann.“

„Er hat Emo, ich werde das Gefühl nicht los, dass die beiden zusammen unter einer Decke stecken… Schattenmagie kann vieles, was unsichtbar ist.“
 

Meoran bemühte sich derweil um Puran, der sich plötzlich, wo Ulan Manha verschwunden war, fühlte, als wäre er mit einem gewaltigen Hammerschlag zurück in die Welt geschlagen worden, aus der er kam. Plötzlich stand er da im Dunkeln auf dem nassen Balkon und der Schmerz kehrte in seine Seele zurück Mit einem Schlag war auch die Übelkeit wieder da und er brach keuchend am Boden zusammen, um sich jetzt doch zu übergeben. Er schrie und fasste sich mit beiden Händen wimmernd an den Kopf, als ihm bewusst wurde, dass die Welt sich auch ohne seine Mutter drehen würde.

Nalani war tot – und sie würde nicht wieder aufwachen, weil er dem Dämon gegenüber gestanden hatte. Der Zorn hatte die Realität und den Schmerz in seinem Inneren verschlossen gehabt… für einen Moment hatte er vergessen, wer er war. Er war nur wütend gewesen… voll von Zorn, Mordlust und purem Hass auf den Mann, der sie umgebracht hatte. Dabei hatte er erst jetzt richtig registriert, dass sie tatsächlich tot war…

„Puran…“, hörte er dumpf von irgendwo Meorans Stimme, aber er wollte nicht zuhören. Er wollte gar nichts… er wollte seine Mutter zurück. Verzweifelt schrie er aus vollem Hals ihren Namen so oft, bis seine Stimme versagte und er hustend und heulend zur Seite kippte. Er fühlte Hände, die nach ihm griffen und versuchten, ihn hochzuziehen, aber er machte es ihnen nicht leicht und schlug jammernd um sich.

„L-lasst mich!“, brüllte er mit dem Rest Stimme, den er noch hatte, „Lasst mich los!“

„Sei vernünftig, willst du dir hier den Tod holen im Regen?“ Das war Tare, der Meoran offenbar dabei half, ihn auf die Beine zu zerren, letztlich schafften sie es auch. Puran strauchelte und würgte, als er das Gefühl hatte, sich erneut übergeben zu müssen. Er beherrschte sich aber, schnappte keuchend nach Luft und sah dann zitternd hinauf in den bewölkten, pechschwarzen Himmel.

„S-sie… ist tot…“, japste er dann unwillkürlich, „Ich möchte… jetzt aufwachen und sagen können… e-es war ein böser Traum…“
 

Er hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren, als Meoran und die anderen ihn mehr oder minder behutsam wieder ins Schloss schoben, wieder hinauf in den Korridor. Saja war mit Senol Kita und Saidah bei Leyya geblieben, die sie bereits ins Bett gebracht hatten. Es war nicht leicht gewesen, sie von Nalani weg zu bekommen, aber sie hatten die kleine Heilerin doch nicht da liegen lassen können… als Puran zusammen mit Meoran zu ihr kam, während die anderen draußen blieben, saß die kleine Frau am ganzen Leibe zittern auf dem Bett und umklammerte weinend das Kopfkissen, das sie auf dem Schoß hatte. Sobald sie ihren Mann erkannte, erhob sie sich und fiel ihm heulend um den Hals.

„Oh Puran… d-das ist alles so furchtbar…“, schluchzte sie herzergreifend und er zitterte nur, als Meoran ihn behutsam losließ und er seine Frau traurig umarmte. Er konnte nicht sprechen. In seinem Inneren arbeitete alles hart daran, den Schmerz zu verdauen und ganz tief in seiner Seele einzuschließen, damit er nicht selbst daran starb. Er musste noch leben… für Leyya, die er jetzt festhielt und zärtlich an sich drückte, sie an seiner Brust bitterlich weinte. Für Leyya und das ungeborene Baby in ihrem Bauch, das strampelte. Er spürte den zaghaften Tritt durch Leyyas Bauch hindurch, während sie sich an ihn drückte. Es war ein kleines, neues Leben, das in ihr wuchs… er musst leben, um es zu schützen. Er durfte sich dem süßen Gefühl der Finsternis nicht hingeben, egal, wie sehr es wehtat…

„Wir… lassen euch jetzt allein.“, sagte Meoran dumpf, der Saidah an die Hand nahm, während Saja und Senol in der Stube aufstanden, die zum Schutz von Leyya da geblieben waren. „Es… tut mir so wahnsinnig leid… ich weiß sehr gut, wie sich… das anfühlt.“ Er hatte ebenfalls kaum Stimme und seine Worte waren zittrig und leise, als er sprach. Puran war zu sehr mit seiner eigenen Trauer beschäftigt, um das zu berücksichtigen, aber er wusste im Inneren, dass sein Lehrmeister es auch nicht leicht hatte damit. Er war nicht Nalanis Sohn, er hatte vor den andere nicht das Recht, so zusammenzubrechen wie Puran. Er musste sich noch um Saidah kümmern… und Meoran war kein Mann, der den Tod einer guten Freundin so einfach wegstecken konnte. Es war kein Wunder, dass er kaum sprechen konnte.
 

Puran hatte sich nicht geirrt mit dem, was er noch bei Abendessen gedacht hatte; die Nacht wurde grausam. Er fand keinen Schlaf, ebenso wenig seine Frau, sie lagen nur abwesend und schweigend nebeneinander im Bett und wollten, dass die Zeit verging, die angeblich Wunden heilen konnte. Puran war der Meinung, das konnte sie nicht. Nie hatte ihn ein Verlust so sehr geschmerzt wie der seiner Mutter. Selbst Cholenas Tod oder der seines Vaters erschienen ihm dagegen plötzlich harmlos. Es war nicht so, dass ihm sein Vater weniger bedeutet hätte als seine Mutter… aber seine Beziehung zu Nalani war sein Leben lang immer noch einen Hauch inniger gewesen. Er hatte so lange aus ihrer Brust getrunken, dass er sich noch daran erinnern konnte, es einmal getan zu haben… auch, wenn er des Öfteren nicht ihrer Meinung gewesen war, sie war immer da gewesen. Und jetzt war sie das nicht mehr… er brauchte viel länger, um das zu begreifen als bei jedem anderen, den er je verloren hatte. Es schien so unwirklich und falsch… wie konnte seine Mutter plötzlich tot sein?

Der Zorn auf Ulan Manha oder irgendetwas anderes, auf diese Knochenspieße oder die bloße Tatsache, dass Nalani tot war, war verschwunden. Zurück blieb nur eine gähnende Leere in seinem Inneren; ein Loch wie das, das in seiner linken Hand geprangt hatte. Ein Loch, das Leyya im Gegensatz zu dem in der Hand mit keinem Zauber würde heilen können.

Zitternd rollte der junge Mann sich auf die andere Seite, seiner kleinen Frau den Rücken kehrend, und starrte apathisch zum Fenster. Sie hatten die Vorhänge nicht zu gezogen. Er sah durch einen schmalen Riss in den schwarzen Wolken am Himmel den bläulichen Mond Zuyya, die Heimat der Krieger, die seit Jahren ihre Welt belagerten und überfielen. Er fürchtete die Zuyya nicht mehr… der Krieg war egal. Wie konnte die Welt sich einfach weiterdrehen und missachten, dass Nalani tot war? Himmel und Erde war der Tod eines einzelnen Menschen egal. Es war ihnen gleich, wie bedeutend der Mensch gewesen war… Nalani war die Königin der Schamanen gewesen. Und trotzdem nur ein sterblicher Mensch.

Er rollte sich mit einem verzweifelten Seufzen wieder auf die andere Seite zurück und atmete hektisch ein und aus, um die Tränen zurück zu halten, die ihm in den Augen brannten. Es tat so verdammt weh… wieso konnte er den Schmerz nicht einfach wegsperren? Er fühlte sich, als wäre er alleine in eine tiefe Schlucht aus purer Finsternis gefallen, alleine, blind und taub in irgendeiner Bosheit gefangen, aus der er den Ausweg nicht kannte. Seine Mutter war immer das Licht gewesen, dem er gefolgt war. Wem sollte er jetzt folgen, wenn nicht ihr? Er kam sich hilflos und so winzig vor wie noch nie in seinem Leben. Da hatte er sich immer gewünscht, er wäre keine so große Persönlichkeit, er wäre klein und unbedeutend… und jetzt war er es und wünschte sich wieder groß, um über den Rand der Schlucht blicken zu können…

Er spürte plötzlich die Berührung von kleinen, vertrauten Händen, die über seine Brust strichen, hinauf zu seinen Schultern, und wie die dazugehörigen, zierlichen Arme sich dann um ihn legten. Er schlug die Augen auf und blickte herab auf seine kleine Frau, die sich vorsichtig an ihn schmiegte und ihn jetzt liebevoll umarmte. Er verstand ihre Geste auch ohne Worte und erwiderte die Umarmung mit derselben Zuneigung, die sie ihm auch gab. Er wusste, dass sie versuchte, ihm Trost zu spenden, und er dankte ihr schweigend für ihre Anwesenheit und ihre innige, bedingungslose Liebe ihm gegenüber. Sie waren in derselben, finsteren Schlucht und sie zu umarmen fühlte sich an, als könnten sie sich dadurch gegenseitig ein bisschen Licht schenken. Leyyas Anwesenheit wirkte auf ihn wie ein letzter Hoffnungsschimmer, ein kleiner Halt, der ihn daran hindern würde, noch tiefer in die Dunkelheit zu stürzen. Obwohl sie nicht sprach, nichts anderes tat als ihn stumm zu umarmen, gab sie ihm die Kraft, diese Nacht zu überstehen. Wie ein kleines Lichtlein führte sie ihn hinauf, bis seine Füße auf einem Vorsprung halt fanden und er ganz entfernt irgendwo den Rand der Schlucht sehen konnte. Puran liebte sie so sehr in diesem Moment, in diesem einen, zerbrechlichen Augenblick, der wie eine empfindliche Kugel aus schillerndem Glas war, dass er sie unwillkürlich heftig atmend dichter an sich presste und sich vornahm, sie niemals wieder loszulassen. Sie spendete so viel Wärme… sie war die Hoffnung, von der er gedacht hatte, sie wäre mit Nalani für immer aus seinem Leben verschwunden. Als er sich überwand, ein paar wenige Worte über seine Lippen zu bringen, obwohl er vom vielen Heulen heiser war und die Trauer in ihm seine Stimme noch mehr versagen ließ, waren es die einzigen Worte, die jetzt das Richtige aussagten.

„Ich liebe dich… so sehr, Leyya… bitte lass mich niemals los.“
 

Ulan Manha war verschwunden. Der König ließ am nächsten Tag den gesamten Palast und letztlich ganz Vialla nach ihm durchkämmen, blieb aber erfolglos. Der Monarch war entsetzt gewesen über die Botschaft, die Tare Kohdar ihm am Morgen gebracht hatte. Wie oft hatte im Hof des Palastes jetzt ein Scheiterhaufen gebrannt, auf dem irgendjemand Wichtiges gelegen hatte? Es war ein Jammer. Und abgesehen von Tabari war keiner der Toten durch die Zuyyaner gestorben, die der eigentliche Feind waren, so hatte der König zumindest angenommen.

„Es hat keinen Zweck, den Kerl jetzt im ganzen Land suchen zu lassen.“, bemerkte Tare zu dem Thema, „Wir vermuten, dass unser… ehemaliger Kollege Emo irgendwie mit ihm unter einer Decke steckt. Emo ist Schattenmagier und kann sich unsichtbar machen, ebenso wird er dafür sorgen können, dass er oder Manha oder sie beide spurlos verschwinden. Das Einzige, was wir tun können, ist, die Gerichte der Küche sorgfältig zu kontrollieren. Und gegen den komischen Zauber, von dem meine… verstorbene Kollegin erzählt hat, mit dem Manha meinen Vater und Bruder getötet haben soll, können wir vermutlich gar nichts ausrichten, solange wir nicht wissen, wie er funktioniert.“ Der König sah das ein, bedauerte es aber zutiefst.
 

Bei Sonnenuntergang war Puran fähig, einigermaßen sicher auf seinen Beinen zu stehen, sodass sie die Bestattungszeremonie gleich abhalten konnten. Den Tag über war der Scheiterhaufen errichtet worden und darauf lag jetzt seine Mutter, hübsch wie sie es immer schon gewesen war, selbst im Tod. Die Sonne ergoss rötliches Licht über das Land und schien die Menschen zu verspotten, weil sie einfach unbeschwert schien, während sie trauerten. Puran wusste jetzt, wie Nalani sich gefühlt haben musste, als sie Tabari bestatten hatten. Etwa genauso stand er jetzt auf dem Podest mit dem Haufen, die Fackel in der bebenden Hand. Er zitterte so sehr, dass er fürchtete, sie fallen zu lassen, als er den Kopf erst senkte, dann gen Himmel blickte, sich dessen bewusst, dass der versammelte Hofstaat, der anwesend war, jetzt zu ihm hinauf blickte. Der Mann schloss keuchend die Augen, als er den Windhauch in sein Gesicht fahren spürte, der vom Himmel kam.

„Sei tapfer, mein Sohn.“, sprachen die Geister und er musste an seinen Vater denken, der der Meister des Windes gewesen war. „Du bist nicht ganz allein… du hast noch deine Frau und dein Kind. Lass los…“ Er bewegte sich nicht, er zitterte nur und wünschte sich aus tiefstem Herzen, stärker zu sein, um das über sich bringen zu können. Es war eine Tradition der Geister… es war seine Aufgabe, den Haufen in Brand zu stecken. Er musste den Geist seiner Mutter loslassen, damit sie heil ins Geisterreich kommen könnte… dorthin, wo sein Vater und so viele andere auf sie warteten.

Leyya tat einen Schritt nach vorne zu ihm und nahm seine freie Hand in ihre.

„Wir tun es gemeinsam, Puran.“, wisperte sie stimmlos und er senkte den Kopf kurz, ohne sie anzusehen. Dann umklammerte er ihre kleine, zierliche Hand fest mit der seinen.

„Gib… mir Kraft, Liebes…“, stammelte er und spürte darauf, wie sie ebenfalls fester zudrückte, während er die brennende Fackel empor hob. Sein Blick fiel wieder auf das bleiche, hübsche Gesicht seiner toten Mutter und er schauderte, ehe er sich zusammenriss und das Gesicht wieder anhob.

„Geist von Nalani!“, rief er in den vom Sonnenuntergang orange gefärbten Himmel. „Geist der Schattenkönigin! Mögest du sicher mit dem Rauch der Flammen hinüber ins Reich der Geister gelangen… möge Vater Himmel dich willkommen heißen, möge Mutter Erde die Asche deines Körpers für immer bewahren!“ So sprach er, dann ließ er die Fackel auf den Reisighaufen fallen, der sich langsam entzündete und bald lichterloh brannte. Mit Leyya an der Hand trat Puran zurück; obwohl die Fackel nicht viel gewogen hatte, fühlte er sich, als wäre ihm ein mächtiger Stein von der Seele genommen worden. Es war ein erleichtertes und doch trauriges, schmerzhaftes Gefühl, das ihn überkam, als er die hellen Flammen betrachtete, und er wusste nicht, ob seine Augen jetzt vom Rauch brannten oder von Tränen. Er drückte die Hand seiner Frau fester, als er mit einem bitteren Lächeln wieder zum Himmel sah und versuchte, die Augen offen zu halten. „Lebe wohl… geliebte Mutter. Dort, wo du hinkommst… wird alles gut sein. Du wirst… Vater wiederhaben… du hast ihn sicher vermisst.“

Und für einen Moment hatte er das Gefühl, als er so hinauf sah, dass die Geister ihn anlächelten.
 

Der Holzmond näherte sich bereits wieder seinem Ende. Puran fragte sich, wo die Zeit geblieben war, als er allein auf dem leeren, großen Bett saß, in dem seine Eltern einst geschlafen hatten. Es war ordentlich gemacht worden, aber in dem Zimmer wohnte seit Nalanis Tod niemand mehr. All ihre Sachen waren noch da, wo die Frau sie zurückgelassen hatte. Jetzt saß ihr Sohn da mit ihrem schwarzen Umhang, den er auf dem Schoß hatte und mit den Händen festhielt. So lange war es noch gar nicht her, dass sie ihn noch getragen hatte… der Stoff roch noch nach dem Parfüm, das sie immer benutzt hatte. Es war ein angenehmer Geruch, aber er stimmte den Mann jetzt deprimiert, weil es ihm wieder schmerzhaft vor Augen hielt, dass er den Geruch bald nie wieder riechen würde. Am Umhang würde er bald verblassen. Und irgendwann würde er vergessen haben, wie seine Mutter einmal gerochen hatte. Er hatte Angst, so vieles zu vergessen… erschrocken stellte er fest, dass es ihm schon jetzt schwerer fiel, sich daran zu erinnern, wie seines Vaters Stimme geklungen hatte.

In die Stadt war Schweigen eingekehrt. Die Zuyyaner hatten sich verteilt im Land; ihr Hauptlager musste irgendwo im Hochland sein, aber sie hatten sich weiter nach Norden zurückgezogen. Da er selbst geschworen hatte, nie wieder einen Menschen zu töten, bekam er von den Machenschaften der Armee nur noch wenig mit, aber von seinen Kollegen aus dem Rat hörte er, dass die Zeiten der großen Schlachten wohl vorüber waren. Mit dem Tod des zuyyanischen Kaisers war die Macht der Eindringlinge gebrochen worden.

Die Akademie hatte er seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr besucht; das war aber egal, er konnte das Studium schließlich fortsetzen, wann und wie es passte, und in den vergangenen Tagen hatte er sich die nötige Konzentration einfach nicht zugetraut. Inzwischen fand er wenigstens wieder ansatzweise Schlaf, obwohl ihm immer noch so vieles im Kopf herum schwirrte, das ihn nervös machte. Die Geister schwiegen ihn an, wie alles zu schweigen schien seit dem Tag, an dem Nalani gestorben war. Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte… wo war die Zeit geblieben?

Bald würde der Winter kommen. Er hatte das Gefühl, dann immer noch hier alleine zu sitzen und den Umhang seiner Mutter an sich zu drücken.

Er schrak aus seiner Apathie, als es an der Tür klopfte. Kurz darauf kam Meoran ins Zimmer und machte ein betroffenes Gesicht.

„Wenn ich störe, gehe ich wieder.“, murmelte er dumpf, „Ich… wollte nur mal nach dir sehen.“

„Nein, bitte bleib.“, war Purans Antwort, und er zwang sich zu einem Lächeln. „Du hast ja gelernt, wie man anklopft…“ Meoran lachte nicht, er setzte sich nur mit anständigem Abstand zu seinem Lehrling und schwieg kurz. Auch, wenn sie eine Weile nichts sagten, fühlte es sich angenehm an, nicht alleine zu sein.

„Wie fühlst du dich?“, kam es dann unbeholfen von Meoran. „Du… siehst blass aus… entschuldige bitte die dämliche Fragerei, Puran. Ich weiß, wie das ist, wenn man jemanden verloren hat. Alle fragen einen, wie es einem geht, und man weiß nicht, was man darauf antworten soll. Wir dürfen den Menschen das nicht übel nehmen. Viele haben diesen Verlust noch nicht in dieser Form erlebt und wissen selbst nicht, wie sie damit umgehen sollen, meistens noch weniger als die Betroffenen selbst.“ Puran nickte.

„Ich… weiß. Danke… ich glaube, allmählich überwinde ich die tiefste Stelle des Grabens.“ Sie schwiegen wieder kurz, bis der Jüngere schauderte und den Umhang unwillkürlich fester an sich presste. „Darf ich… dich etwas fragen, Meister?“

„Natürlich.“

„Hast du… auch manchmal Angst, du könntest… Ruja vergessen? Oder deine Eltern…? Wenn wir sie nicht mehr täglich sehen… verschwinden sie nicht eines Tages aus unserem Kopf…?“ Meoran sah ihn eine Weile an mit seinem einen Auge, während das andere wie üblich nach außen schielte.

„Das wird nicht geschehen.“, sagte er dann zuversichtlich. „Ich weiß, was du meinst… aber die wirklich wichtigen Dinge an den Menschen, die wir geliebt haben, werden wir nie vergessen. Die Dinge, die sie für uns persönlich ausgemacht haben. Ich sehe… immer noch so klar und deutlich wie dich jetzt Rujas Lächeln vor mir, wenn ich die Augen schließe. Ich kann immer noch… genau fühlen, wie es sich angefühlt hat, wenn sie mich berührt hat. Auch, wenn wir diese Befürchtung haben, die Menschen, die uns so sehr am Herzen lagen, werden nie aus unseren Seelen verschwinden. Sie leben… in kleinen Dingen, die sie getan haben.“ Der Mann lächelte kurz und sah zum Fenster. „Ruja zum Beispiel… hat unserer kleinen Tochter früher oft ein Schlaflied gesungen. Jetzt mache ich das manchmal, wenn Saidah es sich wünscht. Ich bin ein wirklich schlechter Sänger, aber das Lied, das Ruja gesungen hat, habe ich noch genau in meinem Kopf. Und obwohl ich fast keinen Ton treffe, haben Saidah und ich beide… das Gefühl, dass Ruja mit uns im Zimmer ist, wenn wir dieses Lied singen. Es ist… ein schönes Gefühl.“ Puran zitterte und senkte den Kopf tief, weil er sich genau vorstellen konnte, was Meoran meinte. Es bewegte ihn tief in seinem Inneren, daran zu denken.

„Ich wünsche mir so sehr… dass mir meine Eltern auch auf diese Weise im Gedächtnis bleiben werden.“ Meoran lächelte ihn jetzt an.

„Das werden sie. Bei mir zum Beispiel lebt dein Vater mit seinem Irgendwie weiter. Wenn ich etwas an ihm beneidet habe, dann diese Einstellung. Ich versuche, das nachzumachen, wenn ich das Gefühl habe, die Verantwortung und das Leben ohne meine geliebte Frau wäre unerträglich… dann stelle ich mich hin und sage mir, Irgendwie klappt das schon!, und du wirst lachen, manchmal motiviert es mich tatsächlich.“ Jetzt lächelte Puran auch, es fiel ihm leichter als vorher.

„Ich… danke dir. Ich weiß, es… ist für dich auch nicht leicht. Meine Eltern waren dir gute Freunde…“

„Die besten, die ich je hatte.“, lachte der Ältere leise, „Aber… zum Glück habe ich bei den Lyras ja noch einen guten Freund, der hoffentlich noch lange lebt.“ Puran errötete etwas und senkte nur schweigend den Kopf wieder; er wusste genau, dass er damit selbst gemeint war. „Wo ist Leyya eigentlich?“ wechselte sein Lehrer dann das Thema.

„Sie ist bei einer Besprechung mit dem Heilerrat. Solange sie nicht alleine ist, bin ich beruhigt… seit ich diesem Kerl, Manha, begegnet bin, habe ich ständig panische Angst, jemand könnte ihr etwas antun… es fällt mir mitunter sogar schwer, sie alleine ins Badezimmer zu lassen, es ist furchtbar. Ich habe mir in den letzten Tagen ein paar Gedanken gemacht… mit Leyya habe ich das noch nicht besprochen. Aber… ich habe vielleicht vor, Vialla demnächst zu verlassen.“

Meoran sah ihn jetzt groß an.

„Wie jetzt? Ohne deine Frau?“

„Nein, natürlich werde ich sie mitnehmen! Ich… denke, die Armee des Königs braucht uns nicht mehr so dringend. Und ich habe das Gefühl, weit ab von der Hauptstadt könnte ich Sicherheit für meine Familie finden… ich möchte nicht, dass mein Kind so aufwachsen muss, unter Zuständen, bei denen ich jedes Mal die Krise kriege, wenn es nur kurz von mir getrennt ist. Ich muss Frau und Kind alleine lassen können, ohne vor Angst zu sterben. Ich ziehe sogar in Erwägung, Kisara zu verlassen… auch, wenn es mich etwas schmerzt, meinem Vaterland so den Rücken zu kehren. Vielleicht würde ich nach Yuron gehen, Senjos Hauptstadt… na ja, ich werde Leyya fragen, was sie dazu sagt. Sie soll später nicht sagen, ich hätte sie gezwungen.“ Der Lehrmeister nickte nachdenklich.

„Ja… das ist eine Sache, die gar nicht dumm scheint, Puran. Jetzt, wo du es sagst… sollte ich vielleicht auch mal über diese Möglichkeit nachdenken.“ Der Jüngere lächelte kurz.

„Ach? Wenn wir wieder zusammen reisen, ist es sicher gut. Das tun wir schließlich schon seit vielen Jahren!“
 

Leyya war prinzipiell einverstanden, als ihr Mann ihr am Abend von seinen Gedanken erzählte, während sie wie so oft gemeinsam badeten.

„Aber die große Wanne wird mir fehlen!“, war ihre einzige Sorge, und er seufzte lächelnd.

„Wenn ich erst einmal in der Politik arbeite, verdiene ich Geld, von dem wir auch eine große Badewanne kaufen können.“ Ihr fiel etwas anderes ein.

„Wo du gerade davon sprichst; was wird denn aus deinem Studium?“

„Na ja… es kommt ein wenig darauf an, wo wir tatsächlich landen. Wenn wir nach Yuron gehen, ist der Weg hierher natürlich sehr weit. Aber wenn ich erst mal eine sichere Bleibe für dich und unser Baby gefunden habe, kann ich immer zeitweise hierher zurückkehren. Das werden wir wohl ohnehin ab und zu müssen, ich habe mit dem König gesprochen. Er hat gesagt, dass er die drei obersten Räte der Schamanen jetzt fest in seinen Rat eingliedern will; das bedeutet für uns beide, dass wir in regelmäßigen Abständen hier Rat halten müssen, du mit den Heilern und ich mit meinem Raucherhaufen…“ Über die Bezeichnung kicherte seine hübsche Frau, ehe sie sich zärtlich rückwärts gegen seine Brust lehnte. Er legte sanft die Arme um sie und streichelte versonnen über ihren prallen Babybauch.

„Du rauchst doch selbst wie ein kaputter Schornstein.“, gluckste sie und er hüstelte. „Das muss aber aufhören, wenn das Baby da ist! Zumindest in seiner Gegenwart, dein Kind soll doch nicht krank werden! Ich habe vorhin Senol Kita und seine Frau getroffen, ich muss anmerken, dass ich ihn toll finde, er ist von euch der Einzige, der nicht raucht!“ Puran seufzte.

„Mutter war auch Nichtraucherin… ja, jetzt ist Senol wirklich der Einzige.“ Er machte eine kurze Pause. „Du verstehst, warum wir weg müssen, oder?“ Sie zögerte, so antwortete er ihr prompt. „Ulan Manha hat zu mir gesagt, er will, dass wir kriechen. Er hat es auf uns Geisterjäger abgesehen, so fürchte ich… und genauso auf ihre Familien. Er hat Ruja getötet, um zu verhindern, dass der Chimalis-Clan einen männlichen Erben bekommt… ich möchte nicht einmal daran denken, was der Kerl mit dir machen könnte. Wir wissen nicht, wo er ist und wann er wieder auftaucht… ich möchte, dass du in Frieden leben kannst und dass unser Kind ungestört aufwachsen kann, in einer Umgebung, die nicht vorprogrammiert, dass eines Tages dieser Schlächter vor der Tür steht. Wenn wir hier blieben, wäre das doch nur eine Einladung für den Typen, dass wir darauf warten, dass er wiederkommt und den nächsten umlegt.“ Die kleine Heilerin nickte stumm und legte ihre Hände auf seine, die immer noch ihren Bauch streichelten. Darin war das Baby; sie spürte es mit jedem Tag stärker werden und wachsen. Schon sehr bald würde es das Licht der Welt erblicken… Leyya wusste nicht, ob sie den Tag fürchten oder herbeisehnen sollte. Sie tat irgendwie beides… Nalani hatte von einem Sohn gesprochen; sie fragte sich, ob die Schwiegermutter recht behalten würde und es ein Junge sein würde, den sie zur Welt brachte. Ein kleiner Erbe für den Lyra-Clan… der Gedanke machte sie ungeheuer stolz. Für jede Frau war es ein großer Wunsch, ihrem Mann einmal einen Sohn zu schenken, denn Söhne sicherten den Namen der Familie und trugen ihn weiter, während Töchter eines Tages den Namen ihres Mannes annehmen würden. In sehr seltenen, speziellen Ausnahmefällen war es andersrum, aber soweit Leyya wusste höchstens dann, wenn die Familie der Frau mehr Macht und Einfluss besaß als die des Mannes.

„Die Großmutter meines Großvaters zum Beispiel, habe ich mir sagen lassen, war eine gebürtige Lyra, das heißt, ihr Mann hat ihren Namen angenommen, als er sie geheiratet hat. Aber das kommt wirklich selten vor.“ , hatte Puran ihr einmal erzählt.

Sie lächelte glücklich und schmiegte sich verliebt an ihren Mann. Auch, wenn es ein Mädchen würde; sie würde jedes Kind von ganzem Herzen lieben, das sie Puran gebären würde. Sie hoffte so sehr, dass er das auch tun würde…

„Ich werde dir folgen, wo immer du hingehen magst, mein Liebster.“, flüsterte sie und drehte so weit sie konnte den Kopf, damit sie ihn hinter sich ansehen konnte. Zur Antwort, beugte er sich seinerseits vor und küsste sie verlangend auf die weichen Lippen.
 

Für die Besprechung des weiteren Verbleibs traf sich der Rat der Geisterjäger am folgenden Tag im Salon zu Kaffee und Kuchen. Puran hatte Leyya mitgenommen, die jetzt die kleine Saidah auf dem Schoß hatte und sie ab und zu kitzelte. Das kleine Mädchen kicherte und gluckste dabei, während es versuchte, sich strampelnd zu befreien.

„Ich fürchte.“, begann Puran die Sitzung mit einem Räuspern, „Liebe Kollegen, eine Ära neigt sich dem Ende. Ära klingt etwas übertrieben… ich meine, wie lange sind wir hier jetzt zusammen? Seit zwei einhalb Jahren. Und der Gedanke an Trennung schmerzt mich… aber ich fürchte, nach dem, was geschehen ist, ist es der sicherere Weg. Ich habe mich entschieden, mit Leyya nach Westen zu ziehen. Wohin genau, haben wir noch nicht festgelegt, nach Senjo vielleicht. Weg von hier, aber das Zentrum verlassen könnte ich nicht.“ Er erntete zustimmendes Gemurmel. Neron Shai gluckste.

„Ich weiß noch gar nicht, ob wir auch gehen, hier gibt es so leckeres Essen umsonst.“, sagte er, erntete darauf einen Schlag von seiner blonden Frau auf den Kopf, „Aua! Ähm… na ja, wenn, dann werden wir zurück nach Skelrod gehen. Zurück zu den Wurzeln, heißt es doch…“

„Ich denke, ihr und Senol habt es auch am leichtesten, hier zu bleiben.“, war Tares Kommentar, und er lehnte sich zurück und nippte an seiner Kaffeetasse. „Du, Neron, hast nicht mal einen bekannten Namen, du wirst Ulan Manha vermutlich egal sein…“

„Soll das heißen, ich bin ein Niemand?“ empörte Neron sich.

„Ja, genau, und da kannst du froh sein in diesem Fall! – Und Senols Name, Kita, ist zwar eigentlich ein altehrwürdiger Clan, aber da einige Generationen von denen jetzt nicht im Rat waren, ist er untergetaucht und wird dadurch irgendwie uninteressanter. Dass Puran, Meoran und ich hier verschwinden, macht wirklich Sinn…“ Er seufzte leise. „Ich habe meiner einzigen noch lebenden Nichte einen Brief geschrieben nach Rothor, ich werde sie kurz besuchen und dann mal sehen, wo ich lande.“

„Dann verschwinden wir also alle von hier, wie…?“, murmelte Puran dumpf, „Nun… wir werden uns ja wenigstens viermal im Jahr sehen, um Rat zu halten, es sei denn, es passiert etwas Wichtiges, dann öfter…“ Er sah der Reihe nach alle an, während Senol noch erzählte, er würde vermutlich noch eine Weile mit seiner Frau in Vialla bleiben wollen. Das war eine Umstellung, daran zu denken, all die bekannten und vertrauten Gesichter so lange nicht sehen zu können… vor allem Tare und Neron waren ihm in den Jahren in der Hauptstadt gute Freunde geworden. Wenigstens Meoran blieb ihm erhalten… doch als sein Blick auf seinen Lehrmeister fiel, machte der ein ernstes Gesicht und sah kurz auf seine Tochter und Leyya.

„Ich… muss dir gestehen, Puran…“, begann er dann kleinlaut, „Wir werden nicht mit euch nach Westen gehen. Sei mir nicht böse, ich habe gute Gründe.“ Puran sah ihn dumpf an und der Mann fuhr fort. „Ich habe nachgedacht; wenn wir weiterhin alle auf einem Haufen wohnen, ist es dann nicht leichter, uns zu finden? Ich denke, es ist klüger, wenn wir von nun an getrennte Wege gehen… so sehr es mich schmerzt, Puran.“ Jetzt sahen auch Leyya und die Kleine auf und erstere machte ein bestürztes Gesicht.

„Ihr… ihr verlasst uns?!“, fragte sie traurig und Saidah war offenbar auch nicht begeistert.

„Ich gehe mit Leyya!“ verkündete sie grantig. Ihr Vater seufzte.

„Nein, das geht nicht, Maus. Es ist sicherer für uns alle. Nicht nur für dich, auch für Leyya und ihr Baby! Willst du etwa, dass Leyyas Baby in Gefahr kommt?“ Das kleine Mädchen schnaufte verdrießlich und Leyyas Blick wurde immer unglücklicher.

„Aber… wir… sind doch wie eine Familie, Meoran…“, stammelte sie zitternd und Puran erhob sich rasch, um seinem Freund unter die Arme zu greifen.

„Er hat recht, Liebes, es… ist wirklich besser so. Vergib mir, mein Freund, dass ich egoistischer Weise nicht vorher daran gedacht habe…“ Der Ältere hob abwehrend die Hände.

„Puran! Lass doch den förmlichen Kram… ich wünschte wirklich, ich könnte tatsächlich mit euch gehen… vermutlich werde ich Kisara auch verlassen, in Noheema tummeln sich ja schon Tare und Shais, im Süden wohnen komische Leute und im Norden sind die Zuyyaner, vielleicht gehen wir nach Janami hinüber.“ Saidah schmollte unzufrieden und drückte sich an Leyyas Babybauch. Der Geisterjäger wusste, dass seine Tochter es nicht guthieß, sich von allen verabschieden zu müssen… es tat ihm auch leid, ihr die einzigen Bekannten zu nehmen, die sie hatte. Vielleicht würden sie irgendwo unterkommen, wo Kinder lebten, damit sie endlich gleichaltrige Spielkameraden bekam… es war kein Wunder, dass sie so frühreif und erwachsen war mit ihren fast fünf Jahren, sie hatte ja immer nur mit Erwachsenen zu tun gehabt… sie brauchte dringend ein normales Leben und eine normale Kindheit.

„Und wann brechen wir auf?“, kam es dann dumpf von Leyya, als lange keiner etwas gesagt hatte. Puran sah seinen Meister kurz an, der nur den Kopf senkte, während die anderen verdrossen Kaffee tranken.

„So schnell wie möglich. Am liebsten gleich morgen.“
 

Am Ende des Holzmondes schien die Sonne nicht oft und auch nur kurz, es wurde spät hell und früh wieder dunkel. Leyya hatte gemerkt, während sie in Vialla gewesen waren, dass hier die Zeit des Sonnenuntergangs viel kürzer war als im Norden von Kisara; hier ging es viel schneller, dass der Tag zur Nacht wurde. Sie fragte sich, woran das lag. Wie es wohl im Westen sein würde?

Sie war noch nie im Westen gewesen, fiel ihr auf, als sie am Abend nach Sonnenuntergang ihr Hab und Gut in einem aus Leder gefertigten Rucksack verstaute, den sie in der Stadt gegen eine kleine Dose Salbe eingetauscht hatte, die sie gemacht hatte. Sie besaßen kaum etwas; die Jahre auf der Flucht vor den Zuyyanern hatten sie sparsam sein lassen. Es war praktisch, dass es gerade kalt wurde, so konnte die Frau viele ihrer Kleider übereinander tragen und musste sie nicht einpacken, solange die Kleidung noch über ihren runden Bauch passte. Ein Kleid, das sie sich einst in Kadoh selbst genäht hatte, war ihr zu klein geworden, was sie sehr erfreut hatte; es war zwar schade um das Kleid, sie hatte es gemocht, aber dass sie gewachsen war freute sie sehr. Einerseits machte es sie sehr stolz, dass sie so jung schon Frau und Mutter war – das waren in gehobeneren Schichten nicht viele Frauen. Und Puran stammte aus einem mächtigen, ehrwürdigen Clan der Schamanen, da war sie ja wohl jetzt von der oberen Schicht… andererseits wünschte sie sich mitunter, sie wäre etwas reifer und erwachsener. Dann würde man sie ernster nehmen… aber sie würde ja noch älter werden und vielleicht noch mehr wachsen.

„Ach.“, sagte sie seufzend, hörte mit dem Packen auf und setzte sich verdrossen auf das Bett, um ihren prallen Bauch zu streicheln. „Was denke ich an so belanglose Dinge? Vielleicht tue ich es, um mich davor zu schützen, dass der Abschied morgen wehtun wird…“ Sie blickte zum Fenster, wo sie den Balkon ihrer Gemächer sehen konnte. Puran stand draußen und rauchte, das tat er jetzt schon eine ganze Weile, davon abgesehen, dass er natürlich zwischen den Zigaretten Pause machte. Die kleine Heilerin seufzte. Sie wusste, dass es ihm genauso schwer fiel wie ihr… er tat so tapfer und hatte den Nachmittag über sicher hundertmal gesagt, dass es das Beste für die Familie wäre… Leyya glaubte ihm das. Aber dass er es wieder und wieder hatte sagen müssen zeigte ihr nur, dass er sich auch selbst dazu überreden musste, die Stadt zu verlassen und all seine Kollegen und Freunde zurückzulassen.

Der Gedanke, Meoran und die kleine Saidah morgen zum letzten Mal für lange Zeit zu sehen, schmerzte Leyya am meisten. Wie lieb hatte sie die beiden doch gewonnen? Von Anfang an waren sie zusammen gewesen, Lyras und Chimalis’, und jetzt fühlte es sich falsch an, sich zu trennen. Als sie daran dachte, wie gerne sie die kleine Saidah hätte aufwachsen sehen, kamen ihr plötzlich die Tränen und sie fing an zu weinen. Wie sehr würde sie sie vermissen…

„Du weinst ja…“

Sie hob schluchzend den Kopf und wischte sich hastig die Augen, als sie Purans Stimme vor sich hörte. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er wieder herein gekommen war, aber jetzt hockte er sich vor sie und das Bett und streichelte mit einem bitteren Lächeln ihre geröteten Wangen.

„I-ich… werde alle so vermissen!“, schniefte die Heilerin traurig, „Es… es tut mir weh, sie alle zu verlassen…“ Sie sah, dass er zitterte, und kurzer Hand nahm er sie in den Arm und drückte sie liebevoll an sich, sie dabei halb vom Bett ziehend.

„Mir geht es genauso… glaub mir. Ich weiß, dass ich das Richtige tue, und dennoch macht mein Herz mir meinen Entschluss so schwer… noch nie ist mir ein Abschied so schwer gefallen wie jetzt.“ Seine Frau in seinen Armen schluchzte und kuschelte sich schutzsuchend an seine Brust.

„Es ist auch… nicht nur das…“, wisperte sie, „Dies hier… ist der Ort, an dem deine Eltern noch bei uns waren, und Ruja… Kohdars… dieser Ort birgt so viele Erinnerungen an… diese Menschen, die mir viel bedeutet haben… ich habe… Angst, wenn ich Vialla verlasse, dass diese Erinnerungen verschwinden werden…“ Puran vergrub das Gesicht in ihren dunklen, langen Haaren und drückte sie weiterhin an sich, mit einer Hand strich er leicht über ihren Rücken.

„Meine Eltern sind jetzt Geister… sie werden aus dem Reich der Toten über uns wachen, ich… kann es spüren. Sie sehen uns zu… jetzt, in diesem Moment. Wenn du tief in dich hinein horchst, spürst du es sicher auch! Und sie werden uns immer begleiten, egal, wohin wir gehen. Sie werden auch bei uns sein, wenn wir Vialla verlassen. Ich… denke… dass jeder Ort jetzt sicherer für dich ist als Vialla. Weit weg will ich sein von dem Ort des Todes, von diesem Wahninnigen, diesem Manha… wir werden eine geeignete Heimat für unser Baby finden, Leyya.“ Jetzt ließ er sie vorsichtig los und sah ihr in das mit Tränen verschmierte Gesicht. Sie zog durch die Nase hoch und erwiderte seinen Blick, als er eine Hand hob, um ihr eine Träne aus dem Gesicht zu wischen. Eine zweite auf der anderen Wange küsste er vorsichtig weg und sie schauderte ob des angenehmen Gefühls. „Hab keine Angst. Es ist… eine gute Sache. Es fällt uns schwer, aber ich denke, dass wir es später nicht bereuen werden. Wir müssen aufhören, an das zu denken, was war, was wir vermissen könnten… wir müssen an de Zukunft denken. Und die… ist hier drin.“ Er legte beide Hände auf ihren runden Bauch und streichelte ihn, worauf seine Frau etwas glücklicher lächelte und sich abermals die Augen rieb.

„Ja…“, flüsterte sie und lachte leise, als sie spürte, wie das Baby sich in ihrem Inneren bewegte, als würde es genau spüren, dass sein Vater gerade ihren Kugelbauch streichelte. Es würde ein gutes, starkes Kind werden… es musste einfach so sein. Plötzlich freute Leyya sich mehr als jemals zuvor auf den Tag, an dem es geboren werden würde.

Es gab Dinge, die auf sie zukamen, die schön waren. Veränderung und auch Trennung musste nicht immer schlecht sein.
 

Den Tag des Abschieds begleitete sogar die spärlich scheinende Sonne des Spätherbstes, als Puran mit seiner Frau, Meoran und der kleinen Saidah an den Toren des Palastes stand. Im Schloss hatten sie sich bereits vom König von den anderen Geisterjägern verabschiedet; der Monarch hatte ihnen netterweise Pferde geschenkt, mit denen sie reisen konnten, so standen die Tiere jetzt gesattelt und bepackt an der Hauptstraße, bereit, aufzubrechen.

„Der König bedauert unsere Abreise ziemlich.“, meinte Puran grinsend, „Er hat richtig geschmollt, komischer Kauz. Aber das mit den Pferden war großzügig von ihm.“

„Ja… ach, nach Neujahr sehen wir uns doch ohnehin hier wieder wegen des Rates. Was ist mit eurem Heilerrat, Leyya? Trefft ihr euch auch nach Neujahr hier?“

„So hat seine Majestät es sich jedenfalls gewünscht.“, antwortete die Frau beklommen. Sie trug, wie sie es sich vorgenommen hatte, einige ihrer Kleider übereinander und sah damit etwas pummelig aus. „Es heißt, die Räte der Magier sollten sich viermal im Jahr mindestens zusammenfinden. Na ja, und natürlich berichten, was es gibt. Eigentlich ist das eine gute Sache, oder? Im Vergleich zum vorigen König, der mit uns Magiern nie etwas zu tun haben wollte und uns lieber bekämpft hat… vielleicht arbeiten wir auf diese Weise endlich alle zusammen für ein gemeinsames Volk von Kisara.“ Die Gedanken gefielen ihr. Jetzt fehlte nur noch ein Rat für die Lianer, aber die waren schwer aufzutreiben. Vielleicht würden sie sogar welche sehen, es hieß, im Westen sollte es welche geben. Leyya hatte nie Lianer getroffen, nur immer von ihnen gehört und gelesen. Es hieß, sie wären bildschön, wie Wesen aus Mondlicht, ganz blass und zierlich. Sie würde gerne Lianer treffen.

„Ja.“, machte Meoran, „So sieht es wohl aus. Und wenn Puranchen einmal sein Studium beendet hat und unter die hohen Tiere der Politik geht, kann das ja nur gut werden hier in Kisara, haha!“ Er schmunzelte und Puran errötete vor Verlegenheit.

„Nicht doch, Meister, keine unverdienten Komplimente, wer sagt, dass ich in dem Bereich begabt bin? Das wird sich ja zeigen…“ Er räusperte sich und es kehrte kurz Stille ein vor den Toren. Alle wussten, dass jetzt Worte des Abschieds kommen mussten, aber niemand traute sich, damit anzufangen. Schließlich tat es Meoran schweren Herzens.

„Tja, dann… heißt es jetzt wohl Lebe wohl…“ Er seufzte tief und ergriff Saidahs Hand, worauf das Mädchen den Kopf hob. „Sag Leb wohl, Saidahchen. Wir werden Puran und Leyya jetzt eine Weile nicht sehen… aber wir werden sie bestimmt mal besuchen!“ Die Kleine schmollte und rückte sich schweigend gegen sein Hosenbein.

„Ich will nicht fort!“ versetzte sie dann und ihr Vater machte ein unglückliches Gesicht.

„Saidah, ich habe dir doch erklärt, wieso wir weggehen. Sei nicht traurig…“

„Ich will mich um Leyyas Baby kümmern!“, meckerte die Kleine und stampfte mit dem Fuß auf. Die kleine Heilerin hockte sich vor sie und strich ihr über die schwarzen Haare, worauf Saidah sie finster anstierte. „Ihr dürft nicht weg!“, erklärte sie bestimmend und zugleich traurig. Leyya wusste, dass der Kleinen längst klar war, dass sie die Entscheidung der Erwachsenen nicht ändern konnte. Es war furchtbar für sie, all die Leute hinter sich zu lassen, die sie gern hatte…

„Wenn ihr uns besuchen kommt, wird das kleine Baby schon da sein!“, erklärte Leyya dem Mädchen lächelnd. „Dann kannst du vielleicht schon mit ihm spielen… bis es soweit ist, musst du tapfer und geduldig sein. Du kannst das, Saidah, ich glaube an dich. Das Baby wird ganz sicher auf dich warten, eines Tages wirst du mit ihm spielen können! Das verspreche ich dir, meine Kleine.“ Saidah sah sie groß aus ihren blauen Augen an und schwieg. Dann umarmte sie Leyya schweigend und drückte sich an sie heran, das Gesicht in ihrer Schulter vergrabend.

„Lebe wohl.“, nuschelte sie kleinlaut, und Meoran schloss seufzend die Augen, erleichtert darüber, dass die Kleine es eingesehen hatte. Es war gut, wenn er sie nicht an den Haaren mitschleifen musste, es hätte ihm zu leid getan, sie gewaltsam wegzuzerren… es war gut, wenn sie verstand, warum das sein musste.

„Lebe wohl, kleine Saidah.“, flüsterte Leyya auch, „Ich hab dich für immer lieb, vergiss das nicht!“

„Ich dich auch!“, machte die Kleine, dann ließ sie die Frau los und umarmte Puran auch, als er sich zu ihr herab beugte. „Und dich auch…“

„Lebe wohl, Saidahchen.“, sagte Puran zu ihr und streichelte ihre pechschwarzen Haare. „Sei ein tapferes, großes Mädchen und pass gut auf deinen Vater auf, hörst du?“

„M-hm…“, nickte das Kind beklommen, ehe es ihn auch losließ und wieder Meorans Hosenbein festhielt, mit dem kleinen Fuß auf dem Boden scharrend. Obwohl sie noch so klein war, spürte sie genau, wie bedeutsam diese Trennung war… dass sie sich wirklich lange nicht sehen würden. Und es schmerzte sie genauso wie die Erwachsenen.

Meoran seufzte erneut, als er Puran und Leyya ansah.

„Ich werde an euch denken und an euer Kind, das bald geboren werden wird.“, sagte er dumpf. „Jeden Abend werde ich den Sonnenuntergang ansehen, nach Westen blicken und an euch denken. Es… fällt mir wirklich schwer…“ Er unterbrach sich unsicher und Leyya erhob sich, um ihn schniefend zu umarmen.

„Was soll das Gelaber…?“, fragte sie, „Wir… wir finden alle keine Worte, die beschreiben, was es bedeutet, uns jetzt zu verabschieden, Meoran… ich… habe dich lieb!“ Er erwiderte die Umarmung der Frau schweigend und lächelte sie an, als sie ihn unglücklich losließ.

„Das ehrt mich, Leyya. Du bist wunderschön geworden…“ Die kleine Heilerin verneigte sich errötend, wobei ihre geflochtenen Haare nach vorn über ihre Schultern fielen. Auf Reisen war es vor allem bei langen Haaren praktischer, sie zusammen zu binden. Meoran seinerseits drehte den Kopf in Purans Richtung und beide Männer sahen eine kurze Weile bedröppelt einander an, nicht wissend, was sie machen sollten, was sie sagen könnten. Sie hatte zu viel gemeinsam erlebt und teilten doch dasselbe Leid des Verlustes, wie konnte da ein einfaches Lebe wohl reichen? Schließlich verdrehte der Jüngere die Augen, trat vor und schloss den Lehrmeister in die Arme.

„Wir stellen uns ja an wie kleine Jungen, denen es peinlich ist, zum ersten Mal ein Mädchen zu umarmen!“, meinte er dabei, und Meoran musste leise lachen. „Ich werde dich vermissen, Meister… pass gut auf deine Tochter auf. Wenn wir uns das nächste Mal sehen im Hungermond, werde ich dir von unserem Kind berichten.“

„Ja, das tu bitte, ich bin ganz neugierig.“ Meoran grinste, als sie sich wieder losließen und Puran erwiderte das Grinsen mit allem Mut, den er aufbringen konnte. „Es werden wieder bessere Zeiten für Tharr kommen, ich kann es spüren.“

„Ja, ich auch. Die Windgeister sagen es mir.“ Mit diesen Worten traten beide zurück und stiegen jetzt auf ihre Pferde, Meoran nahm seine Tochter vor sich mit auf seines. Leyya und Puran hatten jeder ein eigenes Pferd, mit der schwangeren Frau hatte das eine Tier ja genug zu tragen. Saidah winkte, als Puran sich zuerst nach Westen abwendete und Leyya ihm die Straße hinunter folgte.

„Lebt wohl!“ rief das kleine Mädchen dabei, und Puran und Leyya winkten auch, während sie gingen und Meoran sein eigenes Reittier nach Osten wendete, ihnen den Rücken kehrend und in die Dunkelheit ritt, die heraufzog.

„Vergiss uns nicht, kleine Saidah!“ lachte Leyya und winkte der Kleinen wehmütig nach, zwischendurch nach vorne sehend, damit sie nicht ihren Mann aus den Augen verlor.

„Komm jetzt.“, sagte dieser da und zog die Zügel zusammen, „Wir sollten Vialla verlassen haben, bevor die Sonne im Westen verschwunden ist. Wir folgen ihrem Licht so lange wie es noch geht.“ Er sah auch noch einmal über die Schulter und winkte, aber Meoran und Saidah warnen in der Ferne bereits kaum noch auszumachen. Er seufzte, wandte sich wieder nach vorne und gab nach einem Blick auf seine Frau dem Pferd die Sporen, damit es schneller die Straße hinunter trabte und sie herunter zum Westtor gelangten. Leyya atmete tief ein und aus und beeilte sich dann, ihr Reittier ebenfalls anzutreiben. Sie kehrten dem Palast, Meoran und Saidah und allem, was sie hier erlebt hatten, den Rücken und machten sich auf den Weg, dem letzten Licht der Sonne zu folgen. Die kleine Heilerin wünschte sich von ganzem Herzen, dass der neue Weg ihnen Gutes bringen würde.
 

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Hier endet Part fünf, Oktober 982 ^^ Es kommt noch Part 6 <3 Der wird aber relativ kurz und inhaltslos^^ zumindest denke ich das jetzt^^ mal sehen! <33

Lorana

Sechster Teil: Thalurien
 

Der Mond der Stürme brachte Regen über das Land. Aus den Bergen zog eine Kaltfront gen Süden und kühlte die Provinzen im Westen ab. An solchen Tagen sehnte Puran sich mehr denn je nach dem gemütlichen Gemach im Palast von Vialla… viel lieber würde er jetzt mit ihr in dem großen, weichen Bett liegen, aus dem Fenster in den Regen sehen und innerlich alle armen Schweine auslachen, die gerade draußen sein mussten. Jetzt war er selbst so ein armes Schwein, so kam er sich vor, als er missgelaunt und nass bis auf die Knochen auf sein ebenfalls nasses Pferd sprang. Zuvor hatte er seiner Frau auf das andere Tier geholfen, und Leyya summte vergnügt, während sie die Kapuze ihres gefütterten Wintermantels aufsetzte. Offenbar machte ihr der Regen nichts aus.

„Das ist verwunderlich!“, schnaufte ihr Mann und linste sie an, „Das Wetter ist abgrundtief scheiße, und das seit Tagen, die wir nun hier umher irren, und wir sind immer noch nicht in Senjo! Und du – summst!“

„Ich habe es dir doch einmal gesagt.“, erklärte sie und streichelte dabei mit einer Hand ihren inzwischen noch praller gewordenen Bauch, „Ich singe, denn dann wird es ein fröhliches Kind. Du solltest auch singen, Liebster!“ Sie grinste ihn an und er verdrehte die Augen.

„Wenn ich singe, fängt das Kind eher an zu heulen als dass es fröhlich wird…“ Darauf musste sie herzhaft lachen und ihre gute Laune ließ ihn jetzt auch liebevoll lächeln und das schlechte Wetter vergessen. Es war gut, wenn sie fröhlich war… dann ging es ihr gut, das beruhigte ihn.
 

Seit sie Vialla verlassen hatten, waren gut zwei Wochen vergangen. Der Mond der Stürme war angebrochen und bald würde schon der Vollmond die Mitte des Mondzyklus markieren. Es ging auf Winter zu. In zwei Wochen konnte man in friedlichen Zeiten problemlos nach Yuron kommen… nicht aber, wenn überall Trupps der Zuyyaner umher schwirrten, denen die beiden Schamanen auszuweichen versuchten. Puran wollte das Risiko nicht eingehen, dass Leyya oder dem ungeborenen Baby etwas geschah. Sie hatten sich südwestlich gehalten und nach vielen Umwegen den großen Strom Yarmol überquert; den Fluss, auf dem sie vor einigen Jahren viele Tage lang in Kanus nach Süden gefahren waren. Dann hatten sie wegen der Zuyyaner den Weg wieder gen Norden eingeschlagen und waren jetzt immer noch in Kisaras westlichster Provinz, Thalurien. Was ihn viel mehr beunruhigte als das langsame Vorankommen waren der eintretende Winter, die zunehmende Kälte und allem voran Leyyas extrem fortgeschrittene Schwangerschaft. Er rechnete jeden Tag, beinahe jeden Moment damit, dass seine Frau die Wehen bekam, und dabei umher zu reisen ohne eine feste Bleibe war wirklich unpraktisch. In der vergangenen Nacht hatten sie in einem kleinen, selbst gebauten Unterschlupf in einem hohlen Baum geschlafen. Trotz gefütterter Reisedecken, die sie noch aus Vialla hatten, der brennenden Talglampe und kuscheln waren ihre Glieder am Morgen steif gefroren gewesen, es wurde höchste Zeit, dass sie endlich eine Behausung für den Winter fanden. Aber in einer größeren Stadt in einer Pension ein Zimmer zu mieten war viel zu teuer, das Geld konnten sie gar nicht aufbringen… jedenfalls nicht sofort. Leyya konnte sich als Heilerin überall nützlich machen, er selbst musste an seiner nützlichen Arbeit noch etwas arbeiten. Auch aus diesem Grund hoffte er, sie würden bald die Grenzen zu Senjo erreichen… in der Provinz Kamien, die an Thalurien angrenzte, lebte simpelstes und einfachstes Bauernvolk, so weit er wusste. Die wollten kein Geld, die wollten Arbeiter. Schamanen gab es da ziemlich selten, aber Leyyas Heilerfähigkeiten würden es ihnen, so hoffte er, leicht machen, für den Winter irgendwo unterzukommen. Er konnte immer noch mit Jagen dienen oder was immer die Leute von ihm verlangen würden, solange nur seine Frau und das Baby gut versorgt wurden.

Aber bis nach Senjo schien der Weg noch so weit…
 

Die Wolken am Himmel brauten sich zu bösartigen Bergen zusammen und grollten düster über dem Land, als die beiden Magier am späten Nachmittag den Fluss Nilfa erreichten. Sie fanden eine seichtere Stelle, an der sie das Gewässer mit etwas Mühe überqueren könnten.

„Jetzt muss ich an das Märchen von der Nilfa denken, von dem ich erzählt bekommen habe!“, fiel Puran ein, als er sein Pferd bereits durch den Fluss gebracht hatte und jetzt dabei war, das von Leyya an den Zügeln vorsichtig auch durch das Wasser zu ziehen, das ihm fast bis zur Brust reichte. Seine Frau saß auf dem Pferd und das Tier ließ sich gehorsam durch das Wasser ziehen.

„Was für ein Märchen?“, wollte sie kichernd wissen und sah auf ihre Beine, über die auch das Wasser schwappte, während sie an den Seiten des Pferdes herab hingen. Die Nilfa war an dieser Stelle normalerweise ein friedlicherer Fluss, aber das viele Regenwasser hatte ihn anschwellen lassen. Puran feixte und hatte etwas Mühe, durch das Rauschen des Stroms mit ihr sprechen zu können.

„Vater hat damals gesagt, du wärst auch so eine Nilfa! So eine Frau, die man nie wieder los wird, wenn man sich einmal auf sie eingelassen hat…“ Er hörte sie hinter sich schnauben und erreichte jetzt das andere Ufer, wo er sich zunächst selbst aus dem Wasser zog, klitschnass wie er war, und dann anfing, das Pferd ans Ufer zu führen. Leyya beugte sich auf dem Rücken des Tieres vor.

„Wie bitte, soll das heißen, du willst mich loswerden, Puran Lyra…?!“, fragte sie lachend, ehe sie plötzlich zusammenfuhr und unwillkürlich heftig keuchte. Puran registrierte erst, dass irgendetwas nicht stimmte, als sie plötzlich leichenblass wurde und die Hände auf ihren Bauch legte.

„W-was hast du?!“, fragte er sofort – im nächsten Moment schalt er sich einen Trottel.

„Oh nein…!“, japste sie und sah auf den prallen Babybauch, „D-das Baby, Puran… ich glaube, es ist soweit!“

„Das ist gerade sehr ungünstig, du sitzt mitten in einem Fluss!“, empörte ihr Mann sich nervös und sie schnappte verzweifelt nach Luft, die Hand gegen den Bauch pressend.

„E-es schmerzt…“, wimmerte sie, „P-Puran! Bitte, hol mich hier raus! Es tut weh…!“ Ohne zu zögern sprang er wieder ins Wasser und schob mit aller Kraft an dem Gaul, damit er endlich aus dem Wasser stieg, dabei holte er mit etwas Mühe seine keuchende Frau vom Rücken des Tieres und trug sie selbst.

„Kannst du gehen?“, fragte er sie, „Wir müssen ein Dorf finden, und zwar schnell… verdammt, musste das mitten in der Einöde passieren-…?! W-was machen wir denn jetzt…?!“ Ein Krachen aus dem Himmel ließ beide zusammenfahren und Leyya erbleichte, als er sie auf der Erde abstellte und sie gen Himmel sahen. Die düsteren Wolken hatten sich noch höher aufgetürmt und blickten zornig auf sie herunter, bereit, all ihre Wut auf sie zu ergießen.

„Vater Himmel…!“, wimmerte die Frau und Puran fuhr sich auch durch die Haare. Auch noch Gewitter, großartig… seine Frau war tapfer. Sie zerrte an seinem Ärmel, als der Schmerz in ihrem Unterleib sich zu verflüchtigen schien.

„Rasch!“, machte sie, „Ich kann noch gehen, am Anfang kommen die Wehen in größeren Abständen, solange es noch geht, laufe ich! Das Sitzen auf dem Pferd macht es nur schlimmer, habe ich das Gefühl… v-vielleicht finden wir ja ein Dorf oder so…“

Sie gingen zu Fuß. Puran führte die Pferde hastig hinter sich her, nach einer Weile merkte er aber, dass die treuen Tiere ihm auch freiwillig folgten, so ließ er sie los – das musste er auch, denn kurz darauf brach seine Frau beinahe am Boden zusammen und schrie vor Schmerzen auf. Er schnappte sie kurzer Hand und trug sie auf seinen Armen, ehe er weiter nach Westen rannte. Zu allem Überfluss donnerte der Himmel über ihnen und es begann, in Strömen zu regnen, was nichts leichter machte.

„Verflucht!“, bellte Puran irgendwann den Himmel an, „Beherrsche dich, du garstiger Bock da oben! Ich gebe dir die Schuld, wenn meiner Frau oder meinem Baby etwas zustößt!“ Zur Antwort donnerte es erneut und der Schamane zischte wütend, bis seine Frau auf seinen Armen erneut zusammenfuhr und gellend aufschrie.

„Ich kann das nicht mehr!“, jammerte sie und fing vor Panik zu weinen an, während sie sich an seinen Nacken klammerte, „E-es tut so grauenhaft weh… ich habe solche Angst, dass d-das Baby einfach so kommt und herunterfällt und-…!“

„Das wird es nicht! Sieh mich an!“ Er sah zu ihr herab und sie schluchzte hysterisch. „Du schaffst das, Leyya. Ich bin bei dir! Wir finden einen Unterschlupf, und zur Not gebärst du es alleine, ich helfe dir… du musst mir nur sagen, was ich tun muss…!“ Sie japste und presste sich erneut schreiend gegen ihn, worauf er die Luft einzog und sich beeilte, weiter zu rennen.
 

Wenn Vater Himmel ihnen aus irgendeinem Grund zürnte, nahm Mutter Erde sie in Schutz; gerade, als Puran sich fragte, wie lange er noch rennen könnte und wie lange seine schreiende Frau auf seinen Armen wohl durchhielte, sah er in der Ferne ein Dorf. In dem Moment war ihm vollkommen gleich, was für Barbaren dort wohnen mochten, er dankte allen Geistern für die Barmherzigkeit, während er mit langsam schwindender Kraft und der immer verzweifelter schreienden Leyya auf den Armen zum Zaun rannte, der das Dorf begrenzte. Die Straßen waren menschenleer und alles war düster vom heftigen Gewitter, das sich über das Land ergoss. Als die beiden Schamanen gefolgt von den treuen Pferden durch das kleine Tor kamen, krachte der Himmel über ihnen, als wollte er ihre Ankunft mit empörtem Grollen ankündigen. Puran hatte keine Zeit für die Aufregung der Himmelsgeister.

„Hilfe!“, schrie er panisch mit aller Stimme, die er nach dem langen Rennen noch hatte, „Hilfe, bitte! Ist hier denn niemand, verflucht?!“ Er rannte keuchend den sandigen, vom Regen aufgeweichten Weg durch das halbe Dorf und rief, so laut er konnte, sich dabei umsehend, ob er irgendwen entdecken konnte – als Leyya auf seinen Armen wieder gellend aufschrie und ob des grausamen Schmerzes zusammenfuhr, schnappte er hastig nach Luft und hörte dann eine Stimme schräg vor sich.

„Was ist geschehen?!“ Er fuhr herum und hätte vor Erleichterung, Menschen zu sehen, beinahe seine Frau fallen gelassen. Aus einer Haustür lugte eine ältere Frau heraus und machte ein entsetztes Gesicht. Jetzt öffneten sich auch noch mehr Türen im Umkreis, aus denen Menschen guckten.

„Meine Frau, s-sie kriegt ein Kind!“, japste Puran atemlos, „B-bitte, helft ihr, schnell!“ Während er hinter sich verwundertes und aufgeregtes Gemurmel hörte, verlor die Frau vor ihm keine Zeit und öffnete ihre Haustür ganz nach einem Blick auf die verzweifelt keuchende Leyya. „Rasch, hinein, Fremde!“, forderte sie erschrocken, „Ich werde sehen, was ich tun kann!“ Puran fuhr vor Schreck zusammen, als Leyya sich fest an seinen Hals klammerte und abermals laut aufschrie.

„I-ich halte nicht länger aus!“, heulte sie panisch, „I-ich habe solche Angst, dass e-etwas geschieht…!“ Ihr Mann folgte der Dorffrau in das fremde Haus. Drinnen war es warm und die Stube war erleuchtet. Auf dem Weg dorthin kamen der Frau ein ebenfalls etwas älterer Mann und eine junge Frau entgegen gerannt.

„Mutter, was ist geschehen?“, fragte letztere erschrocken, „Oh weh!“

„Rasch, hole Tücher und eine Schüssel mit Wasser!“ ordnete die Mutter daraufhin an, während sie an der Tochter und dem vermutlichen Gatten vorbei in die Stube eilte. Sie riss von dem einfachen Sofa an der Seite ein Fell und legte es auf den Boden. „Leg deine Frau hier rauf, Fremder. Hier ist noch ein Kissen.“ Leyya wimmerte, als Puran sie gehorsam auf das Fell am Boden legte, und sie packte schreiend seinen Arm.

„Geh nicht weg!“, heulte sie, „I-ich habe solche Angst, es tut grauenhaft weh! D-der Himmel ist zornig, w-was, wenn irgendetwas nicht stimmt mit unserem Baby…?!“

„Sprich das nicht aus, denk nicht mal daran!“, zischte er und zitterte panisch, als sie abermals schrie. Die Dorffrau hockte sich zu ihnen und strich Leyya beruhigend über die verschwitzte Stirn.

„Beruhige dich, Frau.“, sagte sie sanft, „Alles wird gut sein. Hab keine Angst, wir kümmern uns um dich!“ Leyya wimmerte und sah die Alte zum ersten Mal an, wie sie sich aufmunternd anlächelte. Sie hatte ein freundliches, schon leicht runzliges Gesicht, sie machte den Eindruck, als könnte sie ihr ihr Baby ohne weiteres anvertrauen. Vorsichtig ließ sie Purans Arm wieder los, der nur keuchte und verwirrt zur Tür sah, als die Tochter der Alten mit Laken und einer großen Schüssel mit Wasser herein schneite.

„Da bin ich, Muttilein.“, keuchte sie und eilte zu der Alten, „Was kann ich noch tun?“

„Kümmere dich um die schwangere Frau und ziehe ihre Unterkleidung aus, rasch. Ich glaube, die Fruchtblase ist schon geplatzt, das Baby wird jeden Moment da sein. Ich bin sofort wieder da!“ Sie erhob sich rasch und warf Puran einen Blick zu. „Erfahrungsgemäß ist eine Geburt nichts für Männer. In unserem Dorf bleiben die Männer dem Raum der Niederkunft fern, sie sind ja doch keine Hilfe. Wenn deine Frau es zulässt, ist es vielleicht besser, wenn Ihr solange hinausgeht… ist das in Ordnung?“ Puran starrte sie nur verstört an und blickte dann heftig atmend auf Leyya, die erneut schrie. Seine kleine Frau nickte wimmernd.

„I-ich schaffe es!“, versprach sie tapfer, „Sorge dich… nicht, Liebster! Ich schaffe es, bitte denk an mich! Bitte… bitte die Geister des Himmels, m-mit ihrem Grollen aufzuhören… der Himmel soll seinen Zorn zügeln…!“ Taumelnd kam der Herr der Geister auf die Beine und nickte ebenfalls.

„Ja, i-ich tue, was ich kann! Sei tapfer, Leyya, ich weiß, dass du es kannst!“ Er wünschte sich, überzeugter von seinen Worten zu sein, als er gemeinsam mit der alten Frau hastig den Raum verließ. Auf dem Flur trafen sie den alten Mann wieder, der sich verwirrt die bereits teilweise grauen Haare raufte.

„Lieber Himmel.“, sagte er dabei, als seine Frau ihm schon Puran entgegen schob.

„Kümmere dich um den Mann, vielleicht solltest du Tee kochen!“, meinte sie, dann fuhr sie zur immer noch offenen Haustür herum, in der sich bereits einige andere tummelten und neugierig herein lugten.

„Was passiert hier denn?“, wollte ein Mann wissen, ein weiterer, jüngerer schnappte nach Luft, als die Alte ihn stürmisch aus der Tür schob.

„Sohn, rasch, stehe nicht so herum, gehe zu Sagals und lasse nach Chitra schicken, wir können ihre Heilfähigkeiten jetzt gebrauchen! Die Frau bekommt ein Baby, beeil dich endlich!“ Der junge Mann zischte und machte, dass er davon kam, worauf seine Mutter wieder zurück in die Stube rannte. Sie lehnte die Tür an und von drinnen kam Leyyas Schrei, gleichzeitig ertönte ein grollender Donner. Puran schauderte und strauchelte etwas, ehe er an dem alten Mann vorbei zur Haustür torkelte.

„I-ich muss hinaus, ich muss diesen Himmelszorn besänftigen…!“, stöhnte er, „M-meine Frau kann doch bei diesem Lärm kein Baby gebären…!“

„Wartet, Ihr wollt da hinaus in das Mistwetter?“, wunderte der Alte sich, „Wartet, Herr! – Beruhigt Euch, meine Frau hat schon vielen geholfen, Babys zu gebären, Eurer Frau wird nichts geschehen… ach, wartet doch…“ Als Puran nicht auf ihn hörte, folgte der Alte ihm rasch hinaus vor die Haustür in die Kälte. Es goss aus Kübeln, was die Schaulustigen offenbar veranlasst hatte, sich wieder zurückzuziehen. Abgesehen von dem Sohn der beiden Alten, der gerade die Straße wieder herauf kam, ihm folgten ein anderer alter Mann und eine junge Frau. Der ältere Mann blieb aber auf der Straße stehen und kehrte dann wieder um, während die beiden Jüngeren das Haus erreichten. Die Frau musterte Puran kurz, nickte ihm und dem Alten hinter ihm dann höflich zu und eilte gefolgt von dem jungen Mann ins Haus. Letzterer kam aber schnell wieder heraus und dann standen sie zu dritt vor dem Haus im Regen. Ein Donnergrollen ließ Puran zusammenfahren und empor sehen in die schwarzen Wolken. Die Nacht war bereits herein gebrochen.

„Vergebt den Überfall…“, stammelte er dann neben sich in Richtung der beiden Dorfmänner, „Wir sind unterwegs nach Senjo und plötzlich hat sie die Wehen bekommen-… ich hoffe, wir belästigen euch nicht zu sehr…“

„Ach, nun mal die Ruhe.“, lachte der Alte, „Wir sind doch keine Unmenschen! Ihr braucht Hilfe und wir geben sie gerne, wenn wir können. Deine Frau ist sehr tapfer, glaube ich. Chitra ist eine gute Heilerin, sie hat schon viele Babys von anderen Frauen auf die Welt gebracht.“ Puran nickte nur nervös und fuhr abermals zusammen, als der Himmel wieder grollte. Drinnen hörte er seine Frau aufschreiend, dazwischen die beruhigenden Stimmen der Dorffrauen, die sich um sie kümmerten.

Der alte Mann neigte vor Puran den Kopf.

„Mein Name ist Chata Anso. Ich bin der Verwalter von Lorana, das ist das Dorf, in dem wir gerade stehen. Das hier ist mein ältester Sohn, Mujak.“ Er nickte zu dem jüngeren Mann herüber, der ebenfalls den Kopf neigte. Puran verneigte sich gestresst ebenfalls.

„Puran Lyra.“, entgegnete er kurz angebunden, und beim nächsten Donner fuhr er empört herum. „Verflucht, Vater Himmel! Jetzt reicht es aber mal mit dem Getöse! Hast du ein Problem?! Dann sprich mit mir, du Narr, mildere endlich deinen unnötigen Zorn!“ Er riss die Arme in den Himmel hinauf und von oben krachte es abermals, als ein gewaltiger Wind durch das Dorf fegte. Die beiden Dorfmänner starrten erst sich gegenseitig, dann den Fremden an.

„W-was im Namen aller-…?!“, japste der Jüngere, und sein Vater hielt ihn fest, als er schon vortreten wollte. Der Wind flaute wieder ab und nach einem weiteren Donnern und einem beunruhigenden Wetterleuchten im Himmel wurde der Regen schwächer.

„Ihr seid Schamane…“, stellte das Dorfoberhaupt richtig fest, als Puran sich nervös die Haare zu raufen begann und vor den beiden auf und ab ging. „Ihr könnt den Geistern des Himmels befehlen…“ Der Magier seufzte unruhig.

„Ja, das ist wahr…“ Ein weiteres Schreien seiner Gattin von drinnen ließ ihn wieder zusammenfahren, stärker als es der Donner getan hatte. Er hörte die Worte der Dorfmänner nicht mehr, alles, was er wahrnahm, war Leyyas Schreien und das Zischen der Geister in seinem Kopf.

„Fürchtest du um ihr Leben, hm?“, spotteten sie kichernd, „Du solltest zu dem stehen, was du anrichtest, wenn du deine Frau in so jungem Alter schwanger machst, du Idiot.“

Ja, das wusste er. Das half ihm nicht weiter.

Ruhe!, zischte er empört, Ja, ich fürchte um sie, ich weiß, dass es ein Fehler war…

„War es das wirklich?“, fragten die Geister und er blieb stehen, als er an den Traum dachte, über den er mit seiner Mutter gestritten hatte. Er hatte befürchtet, sein Kind wäre eine Reinkarnation von Kelars Geist… seine Mutter hatte etwas anderes gesagt. Der bloße Gedanke an das, was passieren würde, wenn er doch recht behielt, verschaffte ihm derartige Übelkeit, dass er taumelte. Er spürte, wie einer der beiden Männer seinen Arm ergriff, um ihn davor zu bewahren, umzufallen, und er strauchelte erneut.

„Bitte, Geister der Mutter Erde… Geister der Frauen und der Geburt, ich flehe euch an… helft… m-meiner Leyya… macht aus dem Baby ein gutes Kind…“, stammelte er apathisch, er erntete ein dumpfes Grollen von oben, sehr viel leiser als die vorigen. Er wusste nicht, ob die Erdgeister auf ihn gehört hatten. Er kam sich vor als stünde er wie so oft in seinen Träumen in der Finsternis, und um ihn herum war nur Leyyas schmerzerfülltes Schreien.
 

Er wusste nicht, wie lange er schon im Dunkeln stand und das Schreien mit anhörte, wie lange er schon versuchte, die Geister darum zu bitten, ihren Zorn zu mildern – als er das Gefühl für seine Umgebung zurück bekam, waren der Regen und der Sturm wieder stärker geworden, aber das Grollen hatte nachgelassen. In dem Moment, in dem er Leyya zum letzten Mal schreien hörte, erklang auch zum ersten Mal in dieser Nacht der Schrei eines Neugeborenen.

Die beiden Dorfmänner fuhren zuerst herum, als Puran noch dabei war, zu registrieren, was er da hörte.

„Das Baby ist da!“, freute sich der Alte sofort, „Na, das hat aber lange gedauert! Lieber Himmel, die Nacht ist ja halb um!“

„Hey, aufwachen, Fremder, dein Kind ist da!“, lachte der Jüngere ebenfalls und Puran fuhr japsend herum und wurde weiß, als er es wieder hörte – das laute, kräftige Schreien eines Babys.

„Es ist da…“, stotterte er perplex, und plötzlich verließen ihn seine Kräfte und er taumelte vorwärts, wäre beinahe über die Türschwelle gestolpert, wenn der Alte ihn nicht festgehalten hätte. „Mein Kind… ist da!“, wiederholte er dann immer noch fassungslos, und als der Schrecken von ihm abbröckelte wie tote Haut, befreite er sich schnell aus dem Griff des Mannes und stolperte wieder ins Haus. „Leyya!“, rief er dabei und hatte vor Aufregung kaum Stimme, während er dem Geschrei des Kindes immer näher kam, „L-Leyya, mein Liebes, b-bist du wohlauf?!“ Er hörte seine Frau hinter der Tür heulen.

„Du bist Vater, mein Liebster… d-du bist Vater des niedlichsten Babys der Welt, Puran!“ Er wusste gar nicht, wie ihm geschah, da öffnete sich die Stubentür vor ihm und heraus kam die junge Heilerin, die Mujak zuvor heran geschleppt hatte. Sie lächelte, als sie ihm plötzlich gegenüber stand, und verneigte sich leicht, ihre Hände in einem Tuch vergrabend, das sie hielt.

„Eure Frau hat eben einen gesunden Jungen zur Welt gebracht, Herr.“, verkündete sie guter Laune, „Meinen Glückwunsch, es ist ein wunderbares Baby, und es schreit aus den gesündesten Lungen der Welt, wie man hört.“ Sie lachte leise und Puran taumelte jetzt zur Seite. Chata Anso und sein Sohn kamen ebenfalls herein und letzterer schenkte der Heilerin einen kurzen Blick.

„Ein männliches Kind? Na, so ein Glückspilz.“, grinste er, dann wurde er lauter und rief in Richtung Stube: „Wie lange soll der arme Kerl denn noch hier herum torkeln wie ein besoffener Biber?!“ Sein Vater lachte und als die Tür wieder aufging, kam die alte Frau heraus und strahlte über das ganze Gesicht. Kurzer Hand fiel sie Puran um den Hals und er hustete erschrocken über die offensive Gestik. Was war das denn, er kannte sie doch gar nicht…

„Alles Gute, deiner Frau geht es wunderbar, dem Baby auch! Du kannst jetzt zu ihnen, Fremder, aber sei behutsam, beide sind sehr erschöpft. Es war eine anstrengende Geburt, nicht ganz ungefährlich bei einer so kleinen und zierlichen Frau…“ Sie machte ein besorgtes Gesicht. „Aber deine Frau war sehr tapfer und hat durchgehalten. Na los, geh zu ihr, sie wartet schon auf dich!“ Damit schob sie den immer noch entsetzt starrenden Puran in Richtung Stube und durch die jetzt offene Tür.

Die Tochter der alten Ansos öffnete gerade das Fenster, um frische Luft in den stickigen Raum zu lassen. Auf dem Sofa lag in ein Laken gewickelt und mit dem Fell eines Rehs bedeckt Leyya. Sie sah zu ihm auf, als er vor dem Sofa stand, und schenkte ihm ein erschöpftes, glückliches Lächeln. Das Schreien des Babys war verstummt; und als Puran sich neben Leyyas Kopf vor das Sofa hockte, blickte er zum ersten Mal in das Gesicht seines Sohnes, des winzigen, nackten Wesens, das seine Frau auf ihrem Bauch liegen hatte. Es war ebenfalls gewaschen und in ein Tuch gehüllt worden, jetzt lag es auf dem noch etwas aufgeblähten Bauch seiner Mutter und ruhte sich aus. Auf seinem Köpfchen war ein Flaum dunkler Haare.

„Ist das nicht… das wunderschönste Baby der ganzen Welt?“, wisperte Leyya und wagte kaum, lauter zu sprechen, aus Angst, sie könnte das Kleine damit zerstören. Sie hob müde eine Hand und streichelte sanft das winzige Kind, das sich darauf ganz leicht bewegte. Die Frau schluchzte, als eine weitere Welle der schönsten Gefühle der Welt sie übermannte und wegzuspülen drohte. „I-ich… ich bin… so glücklich, Puran… ich bin so dermaßen glücklich, i-ich kann… nur noch weinen!“ Und sie weinte und strahlte dabei vor Freude, als er sich zu ihr herüber lehnte und auch eine Hand hob, um seinerseits seine Frau zu streicheln. Er küsste ihre Wange und zitterte, als er seine Augen kaum von dem Baby lassen konnte, das einfach nur da lag und atmete.

Das war sein Sohn. Es war das Kind von ihm und Leyya, ein neues, winziges Leben. Und er liebte es vom ersten Moment seines Lebens an von ganzem Herzen, so sehr, wie ein Vater sein Kind nur lieben konnte.

„Du bist so tapfer, meine Leyya.“, flüsterte er und lächelte gerührt über ihre Tränen; in Wahrheit musste er sich beherrschen, um nicht mitzuheulen. Leyya wischte sich mit der freien Hand die Augen.

„Nimm ihn.“, forderte sie ihren Mann strahlend auf, „Halte ihn und zeige ihm, dass du da bist… der Lebensgeist des Kindes wird spüren, dass du sein Vater bist, so, wie er gespürt hat, dass ich seine Mutter bin…“ Puran wagte kaum, das Kind hochzuheben, er hatte Angst, zu sehr zuzudrücken und es zu zerquetschen; ganz behutsam hob er das winzige Baby vom Bauch seiner Frau und nahm es auf seine eigenen Arme. Das Baby bewegte sich. Dann öffnete es blinzelnd zum ersten Mal die Augen, nur einen winzigen Spalt weit, aber Puran spürte, dass es ihn ansah. Es konnte vermutlich eigentlich noch gar nicht richtig gucken, aber sein Geist konnte es. Als er die Augen seines Sohnes zum ersten Mal sah, fiel jede Panik, er könnte irgendetwas mit seinem Großvater zu tun haben, von ihm ab. Dieses Kind konnte unmöglich ein schlechtes Kind sein.

Seine Mutter hatte recht gehabt. Es war ein gutes, gesundes Kind.

„Wie soll es heißen?“, fragte Leyya lächelnd, „Es braucht einen Namen, einen… Lebensgeist.“ Puran sah erst das Baby, dann sie an und gab es ihr schließlich zurück, als es abgehackte, wimmernde Laute von sich zu geben begann. Als Leyya es wieder auf ihren Bauch legte, suchte es mit seinem winzigen Mund nach ihrer Brust, und mit einem liebevollen Lächeln rückte sie sich etwas auf dem Sofa zurecht, bevor sie das Laken von ihrem Oberkörper zog und dem Kleinen zum ersten Mal die Brust gab. Es begann sofort gierig zu trinken und die Frau sah wieder zu ihrem Mann. Der senkte den Kopf.

„Ich würde mir wünschen… dass du ihm einen Namen gibst, Leyya. Mein erster Gedanke wäre gewesen… ihn nach meinem Vater zu benennen. Es wäre eine Ehre für jeden Jungen, diesen Namen zu bekommen… aber… was macht meine Mutter im Geisterreich, wenn mein Vater schon wieder in unserer Welt weilt…? Mein Instinkt sagt mir, dass du ihm einen Namen geben sollst.“ Leyya sah ihn zunächst groß an. Das war eine große Ehre. Normalerweise war es Sache des Mannes, das Kind – vor allem den erstgeborenen Sohn – zu benennen. Dass er ihr diese ehrenvolle Arbeit überließ, machte sie sehr stolz. Die Frau sah auf das trinkende Baby und lächelte es an.

„Deine Mutter hat gesagt, ich würde einen Sohn bekommen.“, sagte sie dann. „Ich habe mir Gedanken gemacht, welche Namen außer dem deines Vaters noch eine Ehre für dieses Baby wären… es ist dein erstgeborener Sohn. Er… verdient einen wundervollen Namen.“ Puran sah sie gespannt an, als sie kurz pausierte, dann hob sie das Gesicht wieder und sprach den Namen glückselig aus. „Karana. Unser Sohn soll Karana heißen.“ Als sie einen verblüfften Blick ihres Mannes erntete, der das wohl nicht erwartet hatte, erläuterte sie ihre Wahl. „Karana war der tapferste aller Jungen in ganz Kadoh für mich. Ein Junge, der… viel zu früh gestorben ist… und er starb, als er mein Leben beschützte. Ohne diesen tapferen Jungen wäre… ich heute nicht hier. Mein erstgeborener Sohn verdient die Ehre, diesen wunderbaren Namen zu tragen… möge er einmal genauso tapfer und mutig sein wie der Junge, dem ich begegnet bin.“ Puran sagte nichts dazu. Er lächelte sie nur an mit einem warmen Lächeln voller Liebe und Zuneigung, sowohl für die Frau wie auch für das Kind.

„Karana.“, wiederholte er und strich dabei über den Kopf des Sohnes, „Das ist ein wunderschöner Name. Ich nehme das Leben dieses meinen Sohnes an. Ich wünsche mir, dass sein Lebensgeist ihm Stärke und Glück bringen wird.“
 

Er hatte kaum ausgesprochen, da öffnete sich vorsichtig die Tür, herein kam die alte Frau. Während Puran zu seiner Frau gegangen war, hatten alle anderen das Zimmer verlassen, um ihnen etwas Ruhe zu gönnen.

„Entschuldige, dass ich störe.“, flüsterte sie, „Aber es gibt noch etwas zu klären; wollt ihr hier bei uns schlafen, Fremde? Wir können noch eine Matte herein bringen, auf der dein Mann schlafen kann, du darfst auf dem Sofa liegen. Ihr solltet euch ausschlafen und zur Ruhe kommen… das Gewitter scheint auch vorüber zu sein.“ Sie lächelte gutmütig und Puran erhob sich rasch.

„Das ist eine große Ehre für uns.“, sagte er mit einer tiefen Verneigung, „Würdet Ihr das wirklich zulassen? Ich wäre sehr dankbar für diese liebevolle Hilfe, gute Frau… ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken kann. Es tut mir leid, dass wir Euch in der Nacht so gestört haben…“

„Ach was!“, winkte die Alte ab, „Es gibt ein neues Leben im Dorf! Das ist ein Grund zur Freude!“ Sie lachte glücklich und Leyya strahlte über die Freundlichkeit. „Keine Sorge, ich hole euch die Matte, ruht euch nur aus! Morgen schauen wir mal, wie es weitergeht.“ Sie wollte gehen, doch Puran ergriff sie schnell vorsichtig am Arm, sodass sie ihn erstaunt anblickte. Er sah ihr dankbar in das runzlige Gesicht.

„Ihr… seid sehr, sehr gute Menschen.“, sagte er leise. „Mögen die Geister Euer Dorf mit Glück und Wohlstand segnen. Es ist nicht selbstverständlich so etwas für Fremde zu tun, jedenfalls nicht da, wo ich herkomme. Ich danke Euch wirklich… aus tiefstem Herzen.“ Er verneigte sich erneut und die Frau machte ein freundliches Gesicht.

„Nicht doch, junger Mann.“, wies sie ihn zurecht, „Wir tun nur, was wir können. Wäre die Welt nicht schöner, wenn alle so handelten?“

„Ja… das wäre sie wirklich. Habt Dank, gute Frau, es soll euch tausendfach vergolten werden, sobald es möglich ist.“
 

Die Nacht wurde ruhiger. Der Sturm war vorüber, als Leyya sich vorsichtig vom Sofa schob und es irgendwie schaffte, zu ihrem Mann auf die Matte zu kommen, um sich mit dem kleinen Baby an ihn zu kuscheln. Zu zweit war es etwas eng, aber sie kamen zurecht und Leyya hatte sich nach der zärtlichen Umarmung gesehnt, die sie jetzt bekam. Während Puran ihren Hinterkopf streichelte, schlief sie neben ihm ein; er selbst fand erst Schlaf, als der Morgen graute, und der wurde bald unterbrochen, weil sein neugeborenes Baby in Leyyas Armen zu plärren begann.

Dem Unwetter des vergangenen Tages folgte trotz des fortgeschrittenen Jahres und des baldigen Winters ein strahlender Sonnenschein. Während die alte Frau Leyya in der Stube dabei half, das Baby zu wickeln, und ihr Tipps gab, wie man es am schnellsten und einfachsten machte, war der Herr der Geister dem alten Mann des Hauses dankbar für eine Tasse Kaffee und ein Stück Brot.

„Woher seid Ihr, wenn ich fragen darf?“, fragte der alte Chata Anso ihn dabei, während er mit ihm in der Küche saß und seine Tochter im Hintergrund Tee aufsetzte. „Ihr sprecht einen eigenartigen Dialekt, wenn ich das so sagen darf.“ Auf ganz Tharr wurde dieselbe Sprache gelehrt, bis auf die Gegenden, die nicht wirklich der Zivilisation angehörten, beherrschten alle Menschen die Einheitssprache. Sie war über viele Jahrhunderte hinweg durchgesetzt worden. Aber jede Region hatte ihre Eigenheiten, ihren eigenen, speziellen Wortlaut und Wortschatz, daher erkannte man immer schnell, ob jemand von weit weg kam. Puran seufzte kurz.

„Jetzt gerade kommen wir aus Vialla, ich bin aber in Dokahsan geboren und meine Frau in Anthurien.“

„Oh! Das ist wahrlich ganz das andere Ende des Landes, quasi… das ist ja eine weite Reise, die ihr hinter euch habt. Wohin soll es denn gehen?“

„Wir… sind auf dem Weg nach Yuron, wobei das noch gar nicht hundertprozentig sicher ist… wir suchen nur einen Ort, an dem wir bleiben können. Na ja, jetzt ist das… ja so eine Sache…“ Er machte eine verlegene Pause, in der er einen großen Schluck Kaffee trank. „Meine Frau liegt jetzt im Wochenbett, ich denke, es wird etwas dauern, bis sie wieder reisen kann, oder?“ Der alte Mann hatte davon auch keine Ahnung und sah nur blöd seine Tochter an. Die lachte nervös.

„Vati, ich habe doch selbst noch keine Kinder gehabt, frag Mutti!“ Dann kam sie mit einem Tablett mit Teekanne und Tassen an ihnen vorbei und verschwand aus der Küche, um das Getränk ihrer Mutter und der jungen Frau aus dem Norden zu bringen. Puran und Chata Anso blieben in der Küche zurück.

„Nun.“, sagte letzterer dann lächelnd, „Ich denke, bis Eure Frau das Wochenbett überwunden hat und kräftig genug ist für eine Reise, könnt ihr problemlos hier bleiben, wenn ihr möchtet. Wir haben ein Zimmer, in dem könntet ihr wohnen, wir brauchen es gerade nicht; das Zimmer, das mal Mujak gehörte, er ist ja schon verheiratet und wohnt nicht mehr bei uns.“ Der Jüngere hustete, weil er sich an seinem Kaffee verschluckt hatte.

„Das wäre wirklich möglich? Du liebe Zeit, ich – würde jetzt gerne sagen, ich könnte es nicht annehmen, aber… ich fürchte, meine Frau braucht diese Ruhe wirklich-… was kann ich für euch tun, guter Mann, um euch zu entschädigen?“

„Ihr müsst doch nichts tun!“, lachte der Mann amüsiert, „Es ist doch eine Ehre für uns, netten Menschen helfen zu können. Ich möchte mich auch nicht aufdrängen, nicht, dass Ihr Euch ein schlechtes Gewissen macht… es ist nur ein Angebot.“

„Aber irgendetwas muss ich doch machen können-… ich bin ein passabler Jäger, vielleicht kann ich da irgendwie helfen…“

„Ah, na, wenn Ihr so darauf besteht, wendet Euch an Mujak, er ist der beste Jäger des Dorfes, er führt die Truppe an, wenn es etwas zu jagen gibt. Er freut sich immer über fähige Unterstützung. Aber Ihr müsst wirklich nicht, kümmert Euch lieber um Eure Frau und Euren kleinen Sohn. Aber Ihr könntet uns etwas über das Land erzählen, aus dem Ihr kommt. In Dokahsan war ich noch nie… da muss es furchtbar kalt sein im Winter! Hier ist der Hungermond auch mitunter sehr zäh und furchtbar…“ Puran gluckste.

„Na ja, ja, es ist viel kälter als hier, stimmt, aber ich persönlich bin mehr die Kälte gewohnt und komme mit der Hitze hier unten nicht gut klar… so ist jeder was andere gewohnt.“

„In Dokahsan wohnen die meisten Schamanen, heißt es.“, fuhr Chata Anso fort, während er aufstand und sich auch eine Tasse Kaffee einschenkte. „Hier in Thalurien gibt es auch eine ganze Menge – Chitra seid Ihr ja gestern begegnet. Sie gehört zum Sagal-Clan, habt Ihr den Namen im Norden gehört?“ Puran schüttelte den Kopf; seine Mutter hätte das vielleicht, sie war doch diejenige mit den Clanstammbäumen gewesen… „Nun, wie auch immer, hier unten in Thalurien sind sie sehr einflussreiche Leute. Ich bin quasi nur das offizielle Oberhaupt von Lorana. Chitras Vater, das Oberhaupt der Sagal, regelt hier alles, was mit höheren Instanzen zu tun hat. Die Familie ist sehr groß und überall im ganzen Kreis und teilweise auch außerhalb verteilt, sie haben überall Beziehungen in jeder Schicht der Provinz. Der alte Sagal ist immer noch etwas jünger als ich, aber er ist ein weiser Mann mit viel Ahnung. Vielleicht ist es gut, wenn Ihr Euch ihm einmal vorstellt, wenn ihr ein wenig bleiben wollt. Er wird gewiss nichts dagegen haben, er misstraut nur Geheimniskrämern, die ihren Mund nicht aufbekommen.“

„Ja, dann wäre es vielleicht gut, wenn ich mal mit dem Mann spräche.“

„Wenn Ihr wollt, kann ich Euch nachher hinbringen, dann können wir gleich bei Mujak vorbei gehen und ihn wegen des Jagens fragen.“ Der Alte war ganz begeistert und Puran musste leise lachen.

„Nun mal langsam, Ihr tut ja, als würden wir einziehen wollen…“
 

„Oh!“, rief Leyya erfreut und hätte beinahe vor Aufregung ihren Tee verschüttet, „Wir können hier bleiben? Das… das wäre so furchtbar nett! Ich weiß gar nicht, wie wir den Leuten hier danken sollen…“ Sie errötete und Puran strich ihr über den Kopf. Er saß bei ihr auf der Matte, auf der sie in der Stube lag, durch einen Stapel Kissen soweit aufgerichtet, dass sie trinken konnte. Für das Baby hatte man ein Körbchen besorgt, in dem es jetzt schlief. Der Herr der Geister hatte seiner Frau gerade erzählt, was er mit Chata Anso besprochen hatte, und sie war jetzt ganz aus dem Häuschen. „Das ist wirklich lieb… was für gute Menschen hier wohnen.“ Er lächelte, beugte sich herüber und küsste ihre Wange.

„Es ist Glück, dass wir hier gelandet sind. Da sind die Geister sehr gnädig mit uns gewesen… ich werde mich nachher einmal bei den Mächten der Schöpfung bedanken für das Glück… dass du dich ausruhen und das kleine Baby wachsen kann.“ Er räusperte sich. „Ich werde nachher mit dem Hausherren zu dem Mann gehen, der hier das Sagen zu haben scheint, damit er weiß, dass wir eine Weile hier sind. Du sollst dich ruhig so lange ausruhe, bis es dir besser geht, die Reise nach Yuron ist weit-… wer weiß, wie viele Zuyyaner da wieder herum irren.“
 

Das Haus der Sagals war teilweise aus Stein, teilweise aus Holz gebaut und musste eines der ältesten im Dorf sein. Es machte einen ordentlichen und ehrerbietenden Eindruck, gerade so, dass man genau ahnen konnte, dass der Inhaber des Hauses ein bedeutender Mann sein musste. Dasan Sagal war ein Mann mittleren Alters, er musste etwas älter als Tabari es jetzt wäre sein, dachte Puran sich, als er vor dem Mann den Kopf neigte – er hatte ihn am vergangenen Abend gesehen, als Mujak und Chitra zusammen mit ihm in Richtung des Hauses gekommen waren, der Mann aber dann zurückgeblieben war. Jetzt stand er auf der Veranda des Hauses vor der geöffneten Haustür und beobachtete seine beiden Besucher kurz. Als Puran zum Sprechen ansetzte, hob er die Hand, um ihn aufzuhalten.

„Sagt nichts. Ich weiß, wer Ihr seid. Kommt herein.“ Mehr sprach er nicht, er trat nur zur Seite und ließ Chata Anso und Puran passieren, hinter ihnen schloss er die Haustür wieder und rieb sich die Hände. Als er dann den Gästen voraus in die besser geheizte Küche schritt, fiel Puran auf, dass er ein Bein nachzog und etwas hinkte. In der Küche wartete Chitra, die Heilerin, bereits mit gefüllten Teetassen. Puran sah sie nur blöd an und Dasan Sagal erriet seine Frage, bevor er sie aussprechen konnte. „Ich habe gewusst, ihr würdet heute kommen. Deshalb habe ich Chitra gesagt, sie solle Tee machen. Setzt euch doch.“ Er setzte sich selbst und die Gäste taten es ihm gehorsam gleich. Chitra begrüßte beide Männer und schenkte dann allen Tee ein, ehe sie sich auch wieder setzte, neben ihren Vater.

„Ich verstehe.“, murmelte Puran mehr für sich, „Ihr seid Telepath, dann ist es kein Wunder.“ Der Mann unterbrach sein Gemurmel.

„Herzlichen Glückwunsch zum gesunden Sohn, das zu Anfang. Ihr habt es schon gehört, aber ich stelle mich noch einmal vor, mein Name ist Dasan Sagal, ich bin der Kopf meiner Familie und einer der Restlichen, die hier noch wohnen. Meine jüngste Tochter Chitra habt Ihr schon gesehen.“

„Ich fühle mich außerordentlich geehrt, Herr.“, sagte Puran mit einer weiteren Kopfneigung und Chata Anso gluckste über so viel Förmlichkeit.

„Nicht doch.“, widersprach der Telepath im Tee trinken, „Uns sollte es eine größere Ehre sein, Puran Lyra, Sohn des Windmeisters und der Schattenkönigin aus dem nördlichen Land. – Oh, Chata, mein Freund, du hast keine Ahnung, neben wem du sitzt.“

„Was?“, machte der jetzt verblüfft und Puran erstarrte. Moment, Telepath hin oder her, das wusste der alles?

„Herr, ich bitte doch-…“, begann er kleinlaut, aber Dasan Sagal redet weiter.

„Nicht so förmlich, alles ist gut. Die Geister haben mir schon vor Eurer Ankunft gesagt, Ihr würdet kommen. Ich habe gewusst, es würde ein Unwetter kommen und mit ihm zwei Fremde. Und dann kam Mujak und rief nach meiner Tochter. – Wisst Ihr, wenn man so viele Leute in ganz Thalurien kennt, hört man einiges. Eure Mutter ist vor kurzem noch in der Provinzhauptstadt Taiduhr gewesen, sie war im Antiquariat meines Großonkels. Ich habe… von ihrem Ableben gehört, ich bedaure Euren Verlust.“ Jetzt senkte er kurz den Kopf und Puran war zu verdattert darüber, was der alles wusste, um etwas sage zu können. Dasan Sagal wandte sich an Chata Anso.

„Puran Lyra ist nicht nur irgendein Schamane, er ist Vorsteher des obersten Gremiums der Schwarzmagier, des Rates der Geisterjäger. Der Mann, neben dem du sitzt und dessen Frau in deinem Haus gestern ein Kind geboren hat, ist niemand Geringeres als der Herr der Geister, der oberste Vertreter der Mächte der Schöpfung in diesem Umkreis.“

Puran hüstelte verlegen.

„Ihr macht mich verlegen.“, brummte er nur, als Chata Anso ihn verblüfft anstarrte.

„Moment!“, machte der dann, „Sowas wie… das Oberhaupt der Schwarzmagier dann, sozusagen?“

„Sozusagen, ja, jedenfalls ein Mann von Rang und Ehre. Der Lyra-Clan, aus dem er stammt, ist einer der ältesten, ehrwürdigsten und begabtesten Clans des ganzen Zentrums. Aber das ist nicht alles, wir dürfen ja Eure Frau nicht vergessen.“ Er trank in aller Ruhe Tee und Puran errötete beschämt über die ganze Ehre, die ihm zuteil wurde; das hatte er nun wirklich nicht beabsichtigt, hier alle in Aufruhr zu versetzen… vielleicht war es schlecht, wenn bald ganz Thalurien wusste, dass er hier war; dann würde Ulan Manha ihn auch finden.

„Was ist mit der Frau?“, wollte Chata Anso wissen und Puran hielt es für klug, jetzt selbst zu sprechen.

„Leyya ist Heilerin, sie ist auch Mitglied des obersten Heilerrates und stammt aus einer ebenfalls ehrwürdigen Heilerfamilie, soweit ich weiß, der Bao-Familie.“ Er wandte sich rasch an Dasan Sagal und versuchte irgendwie mit Blicken zu verhindern, dass er jetzt die ganze Lebensgeschichte seiner Familie auftischte; es war nicht gut, wenn es alle wussten. Der Telepath schien seine Gedanken zu verstehen, denn er wechselte jetzt etwas ungalant das Thema.

„Eure Frau wird sicher sechs Wochen im Wochenbett liegen; es dauert seine Zeit, bis man nach einer Geburt wieder fähig für lange Reisen ist. In sechs Wochen ist der Hungermond schon fast da. Ich möchte mich nicht aufdrängen, Herr, aber im Mittwinter zu reisen erscheint mir äußerst unpraktisch, zumal Ihr ein Baby bei Euch habt… vielleicht wäre es besser, wenn Ihr den Winter hier verbrächtet.“ Puran hustete.

„Was? Aber – aber, wir können doch nicht wie Kuckuckskinder in einem fremden Nest wohnen, einfach so, auf Kosten anderer…“

„Ich denke, Ihr wolltet jagen? Ich denke nicht, dass das ein Problem ist. Natürlich nur, wenn Ihr es wünscht. Ich bin sicher, Chata und seine Frau würden sich geehrt fühlen.“

„N-natürlich würden wir das – und selbst, wenn nicht, es ist tödlich, im Hungermond in Kamien herum zu irren… die Gegend ist so schon nicht ganz ungefährlich, aber im Hungermond sind da nicht nur die Menschen die Raubtiere.“ Puran senkte verlegen den Kopf. Was sollte er machen? Es war ein vernünftiges und vor allem großzügiges Angebot… für Leyya und das Kind wäre es gut. Der Hungermond war nicht mehr fern… daran hatte er nicht gedacht.

Er hob das Gesicht verdutzt wieder, als Dasan Sagal sich plötzlich etwas schwerfällig mit seinem Hinkebein erhob.

„Chitra, schenke doch Chata Tee nach. Ich würde mir wünschen, für einen Moment mit dem Herrn der Geister unter vier Augen sprechen zu können… es gibt da Dinge, die er vermutlich gerne erfahren würde.“ Chitra holte sofort die Kanne, während Puran sich nach einer Verneigung vor Chata Anso und ihr erhob und dem hinkenden Mann aus dem Raum folgte. Er führte ihn in die Wohnstube, auf deren Boden ein edler, verzierter Teppich lag. Puran fragte sich, woher der wohl kommen mochte, als Dasan Sagal die Tür hinter sich schloss.

„Der Teppich ist aus Adadru.“, erriet der Telepath wiederum seine Gedanken und Puran fuhr auf.

„Was? Oh… ja… ähm, hübsch.“ Adadru? Das war wahrlich weit weg. Fann, soweit er wusste, das Land der Irren, wie es hieß. Fann war ein Ort, den man grundsätzlich eher mied und der nur Geheimnisse barg. „Nun… was wolltet Ihr mit mir besprechen?“, lenkte er dann auf das Thema zurück, dabei beobachtete er Dasan Sagal, der im Zimmer umher humpelte, langsam, aber ohne müde zu werden. Was wohl mit seinem Bein passiert war? Was der Mann dann sagte, ließ den Schwarzmagier aus allen Wolken fallen.

„Ich weiß, vor wem Ihr flieht. Ulan Manha, der Schlächter. Vor Zeiten bin ich ihm auch einmal begegnet. Er hat gefährliche Augen… dahinter ist vermutlich eine Seele, die so hässlich ist wie seine Visage hübsch ist. Ich habe davon geträumt vor nicht langer Zeit.“ Puran räusperte sich verhalten.

„Ihr… kennt ihn also? Was ist mit den anderen im Dorf? Wissen sie alle, wer das ist?“

„Nein, kaum. Chata vielleicht, er ist einer vom älteren Schlag. Die jungen Leute schert das alles nicht. Dabei ist es noch nicht so lange her, dass er die Einheit der Zuyyaner geschlachtet hat, es war nicht weit von hier. Und dann das Drama mit den Lianern; ich habe das Gefühl, das wird noch ein böses Nachspiel haben. Die Lianer sind bedauernswerte Leute, sie sind zu gutmütig, um sich wirklich zu wehren, und werden deswegen ganz sicher ein schweres Los ziehen. Man könnte denken, ich sollte es ihnen wünschen…“ Er klopfte sich auf das Bein, das er nachzog. „Das hier verdanke ich den Beschwörern. Hier an der Grenze werden sie noch mehr diskriminiert als sonst wo auf ganz Tharr, so denke ich, sie haben keine Rechte und versuchen zu kämpfen. Und dabei greifen sie meistens Leute an, die etwas mehr zu sagen haben, so bin ich auch eines Tages an der Reihe gewesen.“

„Verstehe… das tut mir leid.“

„Oh, keine Sorge, den armen Leuten sei vergeben, sie sind wirklich die größten Opfer dieser Welt, vielleicht habe ich diese Behinderung verdient.“ Er lachte kurz. „Was ich sagen wollte… ich bitte Euch im Namen der Geister, die zu mir sprachen, bleibt hier. Ihr sucht… Schutz für Eure Frau und Euer Kind, vor diesem Manha-Typen? In Kamien findet ihr den niemals. Und der Weg nach Yuron rauf ist sehr weit.“ Der Herr der Geister sah schweigend zum Fenster, während der Ältere weiter im Kreis ging und sich dabei am Kinn kratzte. „Ich habe… Verbindungen in ganz Thalurien. Die funktionieren wie ein Frühwarnsystem. Ulan Manha wird keinen Fuß unbeschadet durch diese Provinz tun, ich wage zu behaupten, dass Ihr hier in Lorana sicherer seid als irgendwo sonst in der Gegend.“

„Er hat einen Schattenkrieger.“, sagte Puran dunkel. „Henac Emo, der Verräter, steckt vermutlich mit ihm unter einer Decke. Er kann ihn und sich selbst unsichtbar und unbemerkbar machen, Herr… ich möchte Euer Dorf nicht in Gefahr bringen.“ Zu seiner Verblüffung lachte der alte Sagal.

„Ah… Emo, der Schattenkrieger. Nun, dann soll er das versuchen. Die Emos mögen ein ehrenwerter, mächtiger Clan im Norden sein. Der Clan der Sagal ist der mächtigste Clan hier im Westen. Wir sind so gut wie keine Schwarzmagier, aber ich denke, dass Telepathen für unsichtbare Leute gefährlichere Gegner sind als Schwarzmagier es je sein könnten. Ihr müsst Euch nicht sorgen. – Ich möchte Euch nicht zwingen, damit Ihr das versteht… ich möchte Euch raten.“ Er blieb vor Puran stehen und beide Männer sahen sich ernst ins Gesicht. Puran wusste, dass der alte Mann es wirklich ernst meinte, er meinte wirklich das, was er sagte, und nur das. Es ging hier nicht um zwielichtige Absichten… es ging um den Zusammenhalt eines Volkes gegen den gemeinsamen Feind.

Er verbeugte sich vor Dasan Sagal.

„Ich danke Euch demütigst für Eure Sorge…“, murmelte er dabei, „Ich würde mich… über alle Maßen geehrt fühlen, mit Euch im selben Dorf wohnen zu können.“

„Und ich denke, dieses Dorf wird meinen Ratschlag nicht bereuen. Es ist eine gute Sache… ich kann es spüren, tief in meinem Inneren, ohne ihm einen Namen geben zu können.“
 

Leyya schlief, als Puran am Abend zurück zu ihr kam. Sie wohnten jetzt in dem freien Zimmer im Haus der Ansos; es gab die Matte, eine Kommode, die die alte Frau Anso für sie leer geräumt hatte, damit sie ihre Sachen hinein tun konnten, und einen kleinen Tisch mit einem Schemel. Auf dem Tisch stand das Babykörbchen mit dem kleinen Karana, als Puran ins Zimmer kam, und seine Frau lag eingerollt auf der Matratze und schlief. Er lächelte, während er seinen schwarzen Umhang ablegte, begann, sich auszuziehen und nach dem Baby sah. Sein Söhnchen lag friedlich in dem Körbchen, fein zugedeckt, und störte sich an gar nichts.

„Träum was Schönes, Karanachen.“, flüsterte der Vater und wagte nicht, das Baby anzufassen, um es nicht aufzuwecken. Als er die Decke etwas mehr über Leyya ziehen wollte, seufzte sie leise, blinzelte und drehte sich dann um.

„Puran…?“

„Ach!“, zischte er, „Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken! Ich war extra ganz leise…“ Sie gähnte und rutschte zur Seite, sich zu ihm drehend, als er sich mit auf die Matte legte und sie sich zusammen unter die Decke kuschelten. Sie küssten sich sanft. „Tut mir leid…“

„Ach was.“, sagte sie leise, um das Baby nicht aufzuwecken, „Ich wollte gar nicht einschlafen… ich wollte auf dich warten, aber… ich war so müde… wie ist es dir ergangen? Hast du Neuigkeiten?“ Sie ließ ihn nicht antworten, legte nur zärtlich die Arme um seinen Nacken und gab ihm einen langen, tiefen Kuss. „Ich habe dich vermisst, Puranchen…“ Er lächelte.

„So lange war ich doch gar nicht weg… ja, ich… denke, ich habe einige Neuigkeiten. Ich möchte… da etwas sehr Wichtiges mit dir besprechen.“ Sie sah blinzelnd in sein Gesicht und fand eine ernste Miene.

„Was hast du…?“, wunderte sie sich sofort besorgt, doch er legte ihr einen Finger auf die Lippen.

„Es geht um… dieses Dorf hier. Ich habe das Angebot bekommen, dauerhaft hier zu bleiben… wenn du es auch möchtest. Ich habe mit dem Mann gesprochen, der hier in Lorana eigentlich die meisten Fäden zieht, ein Telepath namens Dasan Sagal. Ein höflicher, gebildeter Mann, er hat einen guten Eindruck auf mich gemacht. Er… wusste von Ulan Manha.“ Leyya starrte ihn an und er begann, ihre Haare zu streicheln. „Er… hat gesagt, hier in Thalurien wären wir sicherer als in Senjo. Außerdem sind wir dichter an Vialla, das… heißt für mich, dass es leichter wird, das Studium zu beenden und dass ich bald etwas Vernünftiges tun kann, womit wir Geld verdienen. Herr Sagal hat Beziehungen in der ganzen Provinz und kennt viele Leute, er hat gesagt, vielleicht kann er einen Draht nach Taiduhr und dem provinzialen Senat besorgen. Ich meine, das wäre eine sehr gute Sache… was sagst du?“ Die Frau keuchte.

„Wir… wir dürfen einfach so hier bleiben?“, fragte sie leise, „Wirklich? Das geht?“

„Ich denke schon. Ich denke, wir werden auf jeden Fall den Winter hier verbringen; bis dahin können wir uns endgültig entscheiden. Die Leute machen einen netten Eindruck, die Gegend ist angenehm und für ein Kind ist so eine ländliche Umgebung ein viel schönerer Ort zum Aufwachsen als eine große Stadt…“ Sie fing an zu lächeln.

„Deine Entscheidung ist längst gefallen, oder…?“, wisperte sie und strich sanft über seine Wange, „Du würdest das Angebot gerne annehmen, nicht?“

„Ich frage dich und deine Meinung ist mir sehr wichtig.“, widersprach er errötend, „Ja, ich würde gerne. Aber nicht, wenn du nicht willst.“ Sie kicherte, reckte sich und küsste seinen Mundwinkel, worauf er sie ansah.

„Ich möchte das auch, Puran… was du sagst, klingt vernünftig und gut… ich habe… ein angenehmes Gefühl in diesem Ort. Ich habe es gleich gespürt, als wir hergekommen sind… es hat sich… richtig angefühlt, oder? Die Geister haben uns hergebracht. Vielleicht wollen sie, dass wir hier bleiben.“ Ihr Mann seufzte leise und sie kuschelten sich dichter aneinander, die Arme um den jeweils anderen legend. Sie teilten einen weiteren Kuss. „Aber… wo sollen wir wohnen? Wir können die Ansos doch nicht unser Leben lang hier belasten…“

„Nein, ich weiß. Ich bin vorhin mit dem Alten durch das Dorf gegangen, oben neben dem Brunnen ist ein Platz, an den sicher ein kleines Häuschen passen würde. Die Leute sind so dermaßen hilfsbereit, sie wollen alle mithelfen, dann könnten wir uns bald ein Häuschen bauen… das Material müssen wir wohl in Raten abbezahlen, sobald es möglich ist. Die sind irgendwie sehr locker damit.“

„Materialmangel oder Geldprobleme scheint es ja nicht zu geben.“, bestätigte Leyya erstaunt und er gluckste.

„Ich glaube, das liegt an dem Kerl, Sagal. Er ist Telepath – er weiß, was ich denke. Er weiß, dass er mir vertrauen kann, und das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich… habe auch ein gutes Gefühl.“

Leyya lächelte glücklich, als sie sich dichter in seine Arme kuschelte. Der Gedanke, in dem Dorf mit den freundlichen Menschen zu bleiben, gefiel ihr sehr. Es war der Geburtsort ihres erstgeborenen Sohnes… ein Ort für einen neuen Anfang.

Die Gedanken an die dunkle, traurige Vergangenheit, die sie zurückgelassen hatten, rückten in weite Ferne. Es wurde Zeit, dass in ihren Herzen Platz war für eine Zeit des Lichts. Sie würde hier beginnen, an diesem Ort, in diesem kleinen Zimmer auf der simplen Matte. Leyya spürte es tief in ihrem Inneren und es machte sie glücklich.
 


 

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Ja... langweiliges, kruzes Kapitel^^' Part sechs beginnt! <3

Schattenmond

Der neue Abschnitt ihres Lebens begann für Puran und Leyya sehr angenehm in dem Dorf Lorana. Sie hatten sich gegenseitig, sie hatten ihr Kind, sie hatten die Hilfe der Dorfbewohner. Es war gut, genauso wie sie es alle gespürt hatten; Puran bereute nicht, in Lorana geblieben zu sein, als der Winter vorbei war. Seiner Frau und seinem Kind ging es hier gut, sie kamen gut mit den Einwohnern zurecht und das Wichtigste war, sie waren vermutlich sicher vor Ulan Manha. Und nach dem, was er dann so hörte, war er wirklich froh, dass er nicht nach Senjo gegangen war.

Der Sommer war gekommen und wieder gegangen, jetzt herrschte Winter in Thalurien. Die angenehmere Jahreszeit, wie Puran grummelnd fand, der sich an die Affenhitze im Sommer einfach nicht gewöhnen konnte. Dafür fand sein kleiner Sohn das überhaupt nicht.

„Was ist denn jetzt schon wieder los?“, stöhnte Puran aus dem Bad, während er versuchte, seine Haare zu richten, als aus der Wohnstube des kleinen Häuschens, das sie sich gebaut hatten, das Gejammer des Kindes zu hören war. „Verdammt, Leyya, tu doch irgendetwas, ich kann jetzt gerade nicht!“

„Ja, ja.“, machte die Heilerin und verdrehte die Augen, während sie aus der kleinen Küche in die Stube eilte und nach Karana sah, der in seinem Bettchen wütend strampelte und jammerte. Normalerweise schlief er gut durch; dass er jetzt am frühen Morgen schon auf war, war kein gutes Zeichen. Und da sein eitler Pfau von Vater ja lieber seine Haare platt machte, musste sie immer ihr Grünzeug zur Seite schieben, wenn irgendetwas war. Bei aller Liebe zu ihrem Mann, morgens wollte sie ihm manchmal den Hals umdrehen. Wenn er früh aufstehen musste, war er beinahe unausstehlich und sie war dann – sie hätte nie für möglich gehalten, dass das mal so sein würde – froh, wenn er aus dem Haus war, dann hatte sie etwas Ruhe. Dabei liebte sie ihn und verstand ja, dass er nervös war… er hatte viel zu tun und vor allem viel, was er vermasseln konnte, worauf er aufpassen musste. Um einen guten Posten zu bekommen musste er viel tun… sie wusste das und würde ihm deshalb nie einen Vorwurf machen. Bald wäre sein Studium vorbei und sie war recht sicher, dass er einen guten Posten in Taiduhr bekommen würde; dann wäre er sicher etwas ruhiger.

Karana schluchzte und jammerte, als seine Mutter ihn aus seinem kleinen Bettchen aus Holz hob. Sie wippte das kleine Kind auf ihren Armen und versuchte, es zu beruhigen. Tatsächlich hörte der Kleine auf zu strampeln und jammerte nur noch. Das war schon gut; er war jetzt vierzehn Monde alt und strampelte manchmal so heftig, dass er sich beinahe aus ihren oder Purans Armen zappelte.

„Er ist offenbar einfach ein kleiner Dickkopf, der nicht immer so mag, wie er soll.“, hatte Puran einmal dazu gesagt und sie hatte feixend erwidert:

„Ah, richtig, wie der Vater, so der Sohn.“

Jetzt hob die Heilerin den Kopf, das Baby auf ihren Armen wiegend, als Puran aus dem Badezimmer kam und gestresst seufzte.

„Ist was passiert?“, fragte er und sie schüttelte sachte den Kopf.

„Ich weiß auch nicht genau… vielleicht wollte er Aufmerksamkeit. Nicht, Karanachen?“ Sie kitzelte das Baby und ihr Söhnchen maulte nur etwas unzufrieden vor sich hin, während es seinen Vater aus den grasgrünen Augen anstarrte. Das Kind streckte maulend eine kleine Hand nach dem Vater aus und Puran seufzte jetzt bestürzt, ehe er sich zu Leyya und seinem Sohn hockte und zuließ, dass der Kleine mit seinem Händchen nach seinen Fingern grabschte. Jetzt war Karana ganz friedlich und Puran lächelte und vergaß seinen Stress für einen Augenblick.

„Es tut mir leid, dass ich so schlecht gelaunt bin, Karanachen… sei mir nicht böse. Ich mache es wieder gut, wenn etwas Ruhe eingekehrt ist hier…“ Er wollte wieder aufstehen und das Kind loslassen, doch jetzt jammerte sein Söhnchen nur lauter und hielt verkrampft seinen Zeigefinger fest.

„Oh nein, Puran.“, machte Leyya unglücklich, „Er möchte nicht, dass du gehst… ach, wie süß…“ Ihr Mann warf ihr einen bestürzten Blick zu, dann streichelte er Karanas dunklen Haarschopf.

„Ach! Das macht es mir jetzt auch nicht leichter, Sohn, musst du so rührend sein, bevor ich mich konzentrieren muss?“ Seine Frau lachte leise, ehe sie sich etwas streckte und ihn liebevoll auf die Wange küsste.

„Wir haben dich lieb, Puran.“, versetzte sie dabei leise, während er Karana endlich losließ und das Baby, wenn auch schmollend, Ruhe gab. „Du bist nur in Taiduhr heute, oder? Das ist ja nicht weit, dann bist du heute Abend zurück, oder?“ Er nickte, gab Frau und Baby je ein Küsschen auf die Stirn und machte sich dann daran, das Haus zu verlassen.

„Bei Sonnenuntergang bin ich daheim, so hoffe ich. Pass auf dich auf, Leyya… und mach keinen Unfug!“ Er grinste kurz, worauf sie ihm feixend die Zunge herausstreckte, ehe er die Haustür durchschritt und hinaus ging. Ein kalter Windstoß von draußen fegte in den Flur und Leyya fröstelte.

„Ach!“, machte sie und wippte den hicksenden Karana auf ihren Armen, „Dieser Hungermond dauert ewig! Ich hoffe, der Frühling kommt bald… dann können wir wieder draußen spielen, Karanachen… nicht?“ Das Kind begann nur von Neuem, zu jammern, und die Heilerin fragte sich besorgt, ob er krank wäre.
 

Dass sie in Kisara geblieben waren, hatte einige Vorteile mit sich gebracht. Für Puran war es nicht besonders schwer, oft nach Vialla zu fahren, um sein Studium möglichst bald beenden zu können; auch, wenn es ihm immer sehr leidtat, wenn er seine Familie für die ganze Woche im Dorf zurücklassen musste und nur am Sonntag heimkehrte. Er machte sich keine Sorgen, dass ihnen in Lorana etwas geschehen könnte – Dasan Sagal und sein Frühwarnsystem von Verbindungen waren, da hatte er ein gutes Gefühl, sehr zuverlässig. Es war aber auf die Dauer sehr anstrengend, sich so sehr auf die Arbeit zu konzentrieren… er hätte lieber den ganzen Tag bei Leyya und Karana zugebracht als in der Akademie oder in irgendwelchen Regierungsgebäuden…

Er seufzte, während die Kutsche ihn wie so oft in die Provinzhauptstadt Taiduhr fuhr. Eigentlich mochte er Kutschfahrten nicht sonderlich, lange Fahrten machten ihm manchmal Kopfschmerzen… aber in den eigenartigen Zeiten wie diesen war es so sicherer, hatte er sich sagen lassen, und weil man ihn in Taiduhr haben wollte, hatte man ihm vom Senat aus eigens eine Kutsche nach Lorana geschickt.

Der Krieg mit den Zuyyanern war unwichtig geworden. Vor einem Jahr hatte es eine Vereinbarung eines Waffenstillstandes gegeben, die bisher andauerte; alle hofften, dass daraus vielleicht auch der endgültige Frieden resultieren würde… aber die Menschen in der Regierung waren auf der Hut. Die Zuyyaner waren gerissene Schlitzohren. Sie zu unterschätzen oder naiver Weise zu denken, sie hätten gute Absichten, wäre ein fataler Fehler.

Es waren seltsame Leute, dachte Puran, während er aus dem kleinen Fenster der Kutsche auf die vorbei ziehende Landschaft starrte. Jetzt waren die Bäume kahl und auf manchen Feldern lag noch der Schnee des Wintermondes. Im Hungermond schneite es selten… es wurde nur verdammt kalt, erstaunlich für diese südliche Region. Im Haus hatten sie einen kleinen Kamin, mit dem sie im Winter heizten. Es zu bauen hatte viele Monde gedauert, aber am Ende des Sommers hatten sie endlich aus dem Zimmer der Ansos ausziehen können. Leyya machte sich gut als Heilerin des Dorfes, sie tat sich oft mit Chitra zusammen. Puran war auch froh, dass sie dadurch schnell Anschluss in der Gemeinde fand, sie und die andere Heilerin verstanden sich offenbar sehr gut. Und wenn sie nicht mit Chitra Salben herstellte, war sie bei den Ansos. Mujak und seine Frau hatten ebenfalls noch sehr kleine Kinder, so konnten vor allem Mujaks Frau und Leyya sich gegenseitig Ratschläge geben. Lorana war ein gutes Dorf. Es gab alles, was man zum Leben brauchte; für größere Einkäufe war das nahe liegende Dorf Thuran noch da. Das Wichtigste war, Ulan Manha würde ihnen in Lorana kaum etwas antun. Nicht, solange Herr Sagal Einfluss hatte in Thalurien.

Dem inoffiziellen Vorsteher des Dorfes hatte der Mann auch seine Verbindung zum Senat in Thalurien zu verdanken – seine Verbindung zu dem potentiellen Posten, den er vielleicht mit Glück bekommen könnte, wenn er sein Studium fertig hätte. Der Senat in Taiduhr hatte zehn Mitglieder, keins mehr und keins weniger. Und der Älteste der Senatoren, der vorhatte, seine Stelle an irgendjemanden Jüngeres abzutreten, war praktischer Weise ein guter Freund von Dasan Sagal.
 

Senator Koreth war ein durchschnittlicher Mann. Auf dem Kopf fehlten ihm schon einige Haare, er war weder sonderlich klein noch sonderlich groß. Die Haare, die er noch hatte, waren jetzt grau wie seine Augen es auch waren, aber er hatte ein amüsiertes Lächeln im Gesicht, als er Purans Kutsche an den Toren von Taiduhr abfing. Er bezahlte den Kutscher und der fuhr wieder von dannen, während die beiden Männer sich kurz begrüßten.

„Ihr seid spät dran.“, erklärte der Ältere dann, „Lag es am Schnee?“

„Nein, ich… musste mich noch von meinem jammernden Kind verabschieden, fürchte ich… vergebt mir.“ Der Mann gluckste.

„Na, vor mir müsst Ihr Euch nicht rechtfertigen… ach, Ihr seid ein ehrlicher Kerl, das ist bewundernswert. Wenn Ihr zum Senat kommt, sagt lieber, es wäre der Schnee gewesen, für den könnt Ihr schließlich nichts. Mit Eurem Baby werden die Politiker nur wenig Mitleid haben… das sind raue Zeiten hier im Moment. – Gehen wir, es ist Zeit. Norit ist auch schon da.“ Puran seufzte kurz. Norit, ja. Auf den hatte er sich schon den ganzen Tag gefreut. Auf seinen einzigen Konkurrenten, was den Posten von Senator Koreth anging.
 

Norit war der Sohn eines der anderen Senatoren. Er war ein schneidiger Bursche und einige Jahre älter als Puran, er war längst über dreißig und ging auf die vierzig zu. Er war ein unfreundlicher, missgelaunter Kerl, und Puran wurde das Gefühl nicht los, dass er mit dem selbst ohne die Konkurrenz um die Arbeitsstelle nie warm geworden wäre.

„Ach, da seid Ihr ja.“, begrüßte er die beiden Neuankömmlinge trocken und die übrigen neun Senatoren im Raum drehten sich um. „Was… hat Euch aufgehalten?“

„Der Schnee.“, brummte Puran nach Anweisung, „Vergebt die Verspätung, meine Herren. Ich kam, so schnell ich konnte.“

„Früher aufstehen, heißt die Lösung.“, machte der Mann namens Norit und verdrehte dabei die Augen. „Nun, da endlich alle – auch Herr Lyra – anwesend sind, können wir wohl anfangen. Vater?“ Die beiden zuletzt eingetretenen setzten sich an den Tisch, an dem auch die anderen bereits saßen, und ein anderer Mann räusperte sich.

„Ich wollte gar nicht viel Zeit vertrödeln.“, sagte er. „Eigentlich wollte ich nur kurz das Desaster mit den Lianern noch einmal zu Tage fördern. – Ich denke, es war eine weise Entscheidung, die Wahl auf den Sommer zu verschieben.“ Er warf dabei Norit, seinem Sohn, und Puran je einen Blick zu. „Das bedeutet für euch beide, macht bis dahin keinen Unfug. Es ist das Volk, das wir vertreten in höheren Gremien, um das wir uns kümmern, dafür sind wir da. Nur einer von euch kann Koreths Posten hier haben, wer die Wahlen gewinnen will, sollte sich… gut präsentieren können.“

„Und pünktlich sein können.“, addierte Norit gehässig und Puran sparte sich weise einen Kommentar. Mit dem Idioten Streit anzufangen würde nichts leichter machen.

„Die Sache mit den Lianern liegt da jetzt sehr ungünstig. Es ist ein wahnsinniger Aufstand gewesen; in Zaria sind die Leute richtig auf die Barrikaden gegangen, es gab Verletzte und sogar Tote. Und es kommt schlimmer, das Ganze hat sich bis in den Süden herunter gezogen. Jetzt ist es vorüber, denke ich, aber das Grausame ist, dass uns ja die Hände gebunden sind. Sie verfrachten die Lianer auf Wagen. Wagen! Wie Tiere! Das läuft alles in Senjo, das geht uns nichts mehr an, sollen sich die Beamten in Kamien kümmern – ach nein, da gibt es ja keine mehr.“

„Das nehmen wir alles sehr auf die leichte Schulter.“, behauptete der alte Koreth und sah auf den Tisch. „Was diese Leute mit den Lianern machen ist gegen jedes Gesetz. Sie berauben sie mit Drogen ihrer Macht, zu beschwören, dann sind sie leichte Beute, weil sie – außer in Ausnahmefällen – körperlich vollkommen unterlegen sind, und dann verfrachten sie sie wie Kartoffelsäcke nach Yuron, um sie von dort aus nach Ghia zu schleppen. Die Unterdrückung der Lianer ist eine Sache… die hier genau wie in Kamien, in Noheema, in Janami, überall, immer schief gelaufen ist. Es hätte nicht passieren dürfen. Sie sind Bestandteil unserer Bevölkerung, genauso wie die Menschen und die Schamanen.“

„Ach, aber sie stiften doch die Unruhe!“, brummte Norit, „Sie greifen uns vernünftige Leute doch an, ist es unser Problem, dass sie nicht akzeptiert werden?“

„Also, in gewissem Sinne schon.“, bemerkte Puran dumpf, wurde von dem Älteren aber ignoriert, nur Senator Koreth schenkte ihm einen kurzen Blick.

„Also, wenn ihr mich fragt, ist es gar keine üble Idee, diese Chemikalie, die sie entwaffnet. Dieser Kerl, Scharan, oder wie immer er heißt, hat einen Meilenstein der Wissenschaft gesetzt.“ Puran keuchte.

„Wie bitte?! Es soll gut sein, dass ein Volk gedemütigt und verschleppt und versklavt wird, Norit? Ich höre wohl nicht richtig!“

„Die Lianer bedrohen unsere Gesellschaft hier in Thalurien, sollen wir uns nicht für Sicherheit und Frieden im Volk einsetzen? Ihr habt wohl in der Akademie nicht aufgepasst, Herr Lyra… tja, einen Finger im Kuchen des Königs reicht eben nicht, um Senator zu werden.“ Der Jüngere schnappte nach Luft.

„Ich habe also keine Ahnung?“, fragte er dann gezwungen gefasst, „Dann sagt mir eines, weiser Mann. Sind die Lianer, die hier in Thalurien geboren worden sind, etwa nicht Teil des Volkes? Sollen wir zulassen, dass sie diskriminiert werden, nur, weil sie hellere Haut haben als andere? Sind nicht alle die Kinder von Vater Himmel und Mutter Erde?“

„Ja, ja, da spricht der große Zauberer.“, lachte Norit, „Die Geister, die Geister!“

„Schamane!“, schnappte der andere grantig, „Nicht Zauberer!“

„Jetzt kommt die Gefühlsduselei, genau. Ich habe doch gewusst, es hatte einen Sinn, dass der alte König Magier aus den hohen Positionen ausgeschlossen hat. Schamanen im Senat, pff. Soweit kommt es noch. – Dann tut doch etwas gegen die Ausbeutung, wenn ihr könnt, Herr Lyra! Ich ziehe vor Euch den Hut, wenn es Euch gelingt, die Lianer friedlich in das Volk einzugliedern; das Volk kann die Beschwörer größten Teils nicht leiden, die Bauern werden es nicht gutheißen, wenn Ihr mit Eurer Minderheitenpolitik daher schneit. – Wie Ihr seht, ist die Bevölkerung begeistert von der Chemikalie, die die Hormone zum Beschwören hemmt und die Lianer entwaffnet. Sie machen ja alle mit! Der Kerl mit seiner Erfindung hat eine totale Revolution ausgelöst, sowohl hier als auch in Senjo. Nieder mit den Lianern!, heißt es dann, und so. Ich glaube kaum, dass das zu bändigen ist.“

„Weil Ihr es nicht versuchen würdet.“, war Purans trockener Kommentar, und jetzt half ihm Senator Koreth etwas aus.

„Die Sache mit den Lianern leichtfertig abzutun, Norit, wäre ein Fehler und zeugt auch nicht gerade von Altruismus. Sei vorsichtig, lass mich dir sagen… dieser Kerl, Scharan, ist ein gefährlicher Mann. Nicht, weil er sich mit Chemie auskennt, sondern mehr wegen des Größenwahnsinns.“ Puran senkte bei den Worten schaudernd den Kopf und konnte dem Mann dabei zu schweigend zustimmen.

Scharan…
 

Er selbst wäre nie auf die Idee gekommen, seine schlimmsten Alpträume mit der Unterdrückung und Versklavung der Lianer zu verbinden. Es war wiederum Dasan Sagal gewesen, der ihn darauf hingewiesen hatte.

„Du kannst jetzt beruhigt schlafen, auch, wenn wir einen bitteren Preis gezahlt haben. Aber Ulan Manha ist nicht mehr auf Tharr.“ , hatte er vor wenigen Monden verkündet, und Puran hatte ihn nur dumm angesehen.

„W-was für einen Preis? Wo ist er dann?“

„Die Lianer. Die Lianer werden nach Ghia gejagt und dort zu Sklaven gemacht; der, der diese Revolution angezettelt hat, der dieses Gift erfunden hat, das sie schwächt, ist niemand anderes als dein Freund Ulan Manha. Scharan ist der neue Name, den er sich gegeben hat, seine neue Identität… als Herrscher der Lianer. Sozusagen. Ist es nicht Irrsinn, dass – soweit ich herausgefunden habe, mein Großcousin vierten Grades in Negrash ist Linguist – dieses Wort, Scharan, das er als seinen Namen gewählt hat, auf einer alten Sprache des Lianervolkes tatsächlich Herrscher bedeutet? Er muss ein sehr belesener Bursche sein, wenn er das irgendwo herausgefunden hat; diese Sprachen spricht seit vielen Jahrhunderten kein Lianer mehr.“ Diese Ansage war eingeschlagen wie ein Blitz in die Erde und Puran hatte sein Gleichgewicht gerade noch gewahrt.

„Er – er ist Scharan?! Wie… woher… wisst Ihr das? Ich habe es nur gehört, nie gesehen, was mit den Lianern passiert…“

„Ich habe ihn gesehen… nur im Traum, aber seine dämonischen Augen waren unverkennbar. Er ist es. Und jetzt ist er Sklavenkönig auf Ghia.“
 

Die Versammlung der Senatoren in Taiduhr war recht kurz an jedem Tag; die Älteren hatten noch einiges zu besprechen, was Puran und Norit als Noch-nicht-Senatoren kaum tangierte. Als sie das Ratsgebäude verließen, war der Nachmittag noch jung. Als Norit und sein Vater bereits gegangen waren, lud der alte Koreth Puran zum Tee ein. Eigentlich war es kein Geheimnis, dass der Alte den Jüngsten sehr unter seine Fittiche nahm und Puran ehrte die Anerkennung zutiefst, die der Mann ihm schenkte. Eigentlich war es egal, wen der beiden Konkurrenten Senator Koreth für seinen Nachfolger bevorzugte, letztlich war es die Entscheidung des Volkes, das einen der beiden Männer in den Rat wählen würde; den, der den Leuten mehr zusagte.

„Wahlkampf ist eine anstrengende Sache.“, meinte der Alte dann in aller Ruhe, als sie in einem kleinen Teehaus in Taiduhr saßen und sich bedienen ließen. „Es kommt darauf an, was Ihr hermacht, ob Ihr das Volk mehr von Euch überzeugen könnt als Norit von sich. Große Versprechen machen sie dann alle, manche lügen den Leuten das Grüne vom Himmel herab, damit sie gewählt werden. Und wenn dann nichts von den Versprechen eingehalten wird, ist das Geschrei groß. Ich weiß, dass Ihr nicht so ein Aufschneider seid… bei Norit bin ich mir nicht sicher. – Kurzum, es geht hier einzig um Eure Vorzüge Norit gegenüber. Was habt Ihr, das er nicht hat?“ Der jüngere Mann raufte sich verlegen die Haare.

„Einen fürchterlichen Akzent…“ Senator Koreth lachte.

„Ach, es ist viel sauberer geworden. Damals, als Sagal mir Euch vorgestellt hat, klang Eure Hochsprache noch ziemlich verschwommen, Ihr habt sehr fleißig geübt. Nein, das wird nicht das Problem sein. Euer Akzent ist überdies ein angenehmer, die Akzente aus Fann oder Ostjanami sind fürchterlich für die Ohren, finde ich…“ Er nahm einen Schluck Tee. „Ich wünsche mir sehr, dass Ihr die Stelle bekommt, Herr Lyra. Ich kann dafür nur wenig tun, ich kann Euch nur vorbereiten. Wenn Ihr es wünscht, tue ich das gern. Norit hat dafür seinen Vater, ungerecht behandelt wird also niemand. – Ihr habt ihm gegenüber den Nachteil, dass Ihr nicht von hier seid. Norit wurde hier geboren und kennt die Provinz sehr gut, ebenso die Macken bestimmter Regionen. Ihr allerdings habt den sehr schweren Vorteil, dass Ihr direkte Verbindung zum König höchstpersönlich habt… ich bin mir nicht sicher, ob Euch bewusst ist, dass das wirklich viel wiegen wird…?“

„Im Guten?“, wunderte Puran sich, „Dann ist es ja praktisch…“

„Ich denke, es ist etwas Gutes, ja. Das bedeutet, wenn es Probleme im Volk gibt, und sich die Leute an den Senat wenden, wissen sie, dass ihr Problem zur Not gleich noch eine Ebene höher getragen werden kann. Zum Beispiel im Falle einer Hungersnot oder Ähnlichem ist das ziemlich nützlich, die Leute werden das gut finden. – Dass Ihr Schamane seid, hat natürlich zwei Seiten; manche der Nichtmagier werden es nicht begrüßen, dass jetzt auch Magier höhere Positionen besitzen dürfen. Aber sämtliche Magier – und davon gibt es hier in Thalurien gerade sehr viele – werden das natürlich gutheißen; würde mich wundern, wenn nicht. Damit ist schon mal mindestens die Hälfte aller Leute auf Eurer Seite. Es haben ja nicht alle Nichtmagier ein Problem damit wie Norit. – Es geht hier um Vorteile, Dinge, die Ihr Norit voraus habt. Und hinzu zu allem, was ich erwähnt habe, kommt… auch, wenn ich weiß, dass Ihr das nicht gutheißen werdet… die Tatsache, dass Ihr den Kaiser der Zuyyaner getötet habt.“ Darauf trank er einen Schluck Tee und Puran wich seinem Blick schweigend aus.

„Das werde ich nicht mit noch einem Kaiser tun.“, erklärte er, „Selbst, wenn ich es könnte. Ich habe geschworen, niemals wieder jemanden zu töten… dieses Schlachten muss ein Ende finden…“

„Ja, ich weiß.“, meinte der Ältere dumpf. „Das war weise. Es wird auch keiner erwarten, dass Ihr noch einen Kaiser tötet… es reicht das Wissen, dass Ihr das mit einem getan habt. Erst, als Ihr das getan hattet, fingen die Zuyyaner an, sich zurückzuziehen; wenn wir Glück haben, habt Ihr den Krieg beendet.“
 

Puran glaubte nicht so recht daran, dass der Krieg tatsächlich vorüber war. Und selbst, wenn er es gewesen wäre, dann würde bald ein neuer kommen. Als er am Abend zurück ins Dorf kehrte, war er müde und schlecht gelaunt. Er kam sich ungerecht Leyya gegenüber vor, als er die Kutsche vor dem Zaun von Lorana anhalten ließ, die Koreth ihm bestellt hatte, ausstieg und dem Kutscher Trinkgeld gab. Der Mann bedankte sich und fuhr in die Dunkelheit davon. Puran seufzte, raufte sich erschöpft die Haare und fragte sich ernsthaft, ob er krank war. Wenn er schon so durchdrehte, bevor er überhaupt richtig arbeitete, war er dann überhaupt fähig dazu? Aber die ganze Situation zehrte seine Nerven mehr aus als es der ganze Krieg gegen Zuyya getan hatte, so hatte er das Gefühl; das war doch albern. Wurde er jetzt bescheuert?

Er hatte ein schlechtes Gefühl, als er nach Hause kam, die Tür öffnete und seine Familie mit einem matten Murmeln begrüßte. Er konnte nicht sagen, was es war, aber schon den ganzen Tag hatte er das Gefühl, dass ein Schatten an seinem Geist zerrte und seine Laune deshalb so furchtbar war.

Karana weinte. In den letzten paar Tagen quengelte das Baby oft… das hatte er bisher eher selten getan. Vielleicht war er krank?

„Du bist daheim…“, wurde er dann von Leyya begrüßt, die in den Flur kam, während er sich schweigend Schuhe und Mantel auszog. Als sie von ihm einen bitteren Blick fing, wagte sie nicht, ihn zu umarmen oder zu küssen und senkte bedrückt den Kopf. „War… dein Tag schlecht?“, flüsterte sie dann verlegen.

„Scheißtag.“, war seine knappe Antwort, „Ich weiß auch nicht. Ich habe absolut keinen Bock, morgen wieder nach Vialla zu fahren. Vielleicht sollte ich alles schmeißen und Reisbauer werden.“ Mehr sagte er nicht und schockiert starrte sie ihm nach, als er schnurstracks an ihr vorbei in die Stube stampfte, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Ihm entging ihr verletzter Gesichtsausruck nicht und er seufzte, vor der Badezimmertür anhaltend, und drehte doch den Kopf zu ihr. Entschuldigend blickte er sie kurz an. „Vergib mir, ich… bin am Ende meiner Kräfte, das… ist alles… ich wollte nicht grob werden… ich… ach, verdammt, ich gehe baden… lass mich am besten eine Weile in Ruhe, dann bin ich vielleicht erträglicher.“

Leyya kümmerte sich um das Baby und tat eine Weile, wie er es wünschte. Karana jammerte unruhig auf ihren Armen, während sie ihn wiegte und versuchte, ihn zu trösten. Sie sorgte sich etwas… sie hatte ihn gründlich untersucht, aber keine Anzeichen einer Krankheit finden können, so fragte sie sich, was mit dem Kind war. Vielleicht steckte Purans schlechte Laune den Kleinen einfach an… nach einer Weile beruhigte sich das Baby endlich und schlief ein, sodass sie es in sein Bettchen legen konnte. Dann ging sie doch ins Badezimmer.

„Liebster… sprich doch mit mir.“, bat sie dumpf, als er den Kopf hob und sie die Tür anlehnte; so könnte sie das Baby hören, wenn etwas war, aber die Wärme des Zimmers würde nicht großartig verloren gehen. Die Badewanne, die sie hier hatten, war natürlich nicht zu vergleichen mit der im Palast des Königs. Es war nur eine relativ große Zinkwanne, aber zu zweit passten sie nicht hinein. Leyya passte mit dem Baby hinein, das war schon mal etwas… die kleine Frau stellte keine Ansprüche. Sie war glücklich, solange ihre Familie alles hatte, was sie brauchte.

Sie holte sich den kleinen Schemel aus der Ecke des Badezimmers und stellte ihn neben die Wanne, um sich zu ihrem Mann zu setzen, der etwas lustlos seine Füße einseifte.

„Ich komme mir ja selber schon albern vor.“, murmelte er dabei grummelnd, „Sag, stelle ich mich an, Leyya?“

„Ein bisschen. Ich verstehe dein Problem nicht… ist es die Akademie? Oder sind es die Senatoren in Taiduhr? Es… ist doch gut, wenn du eine Stelle da bekommst… es ist dichter dran als wenn du in Vialla Senator wärst…“

„Ja, das weiß ich. Ich finde es auch gut, ich habe diese Verbindung nur dem alten Sagal zu verdanken – es war wirklich Glück, dass wir hier gelandet sind. Ich… weiß das zu schätzen, glaub mir. Es… ist nur… irgendwie fühle ich mich verloren.“ Sie blickte ihn an und strich ihm dann zärtlich über den Nacken.

„Ich bin doch bei dir… ich lasse dich nicht alleine. Ich werde hinter dir stehen. Selbst dann, wenn du Reisbauer werden solltest.“ Sie lächelte amüsiert und über sein Gesicht huschte auch ein kurzes Grinsen.

„Reisbauer… nein, dafür bin ich echt nicht gemacht! Mit meiner behinderten Zitterhand, niemals!“ Er gluckste und sah auf seine linke Hand mit der Narbe, die von der Wunde geblieben war, die er dem zuyyanischen Kaiser zu verdanken hatte. Sie beugte sich herüber und küsste seine Wange.

„Jetzt sei nicht so maulig, Puran. Du bist ja schlimmer als das Baby, das quengelt doch schon genug! Mir reicht einer von euch, der jammert. Du bist nervös, ich weiß… ich glaube daran, dass du den Posten in Taiduhr bekommst! Das ganze Dorf steht doch hinter dir, wir alle wählen dich.“

„Das Problem ist, wenn ich nicht nur Nettigkeitspunkte bekommen will, muss ich mich vermarkten können, und darin bin ich so unbegabt… du kanntest meine Mutter! Du glaubst nicht, dass man bei so einer Mutter ein großes Durchsetzungsvermögen bekommt…“ Er verdrehte die Augen und sie lachte leise.

„Du bist nur zu bescheiden, das ist alles. Es gefällt dir nicht, dich selbst als toll darzustellen… dabei bist du das doch! Ich finde dich toll.“

„Na, immerhin eine hier im Haus.“

„Zwei.“, korrigierte sie glücklich, „Karana findet dich auch toll!“ Sie lächelte und er seufzte tief, während er seinen Fuß wieder ins Wasser sinken ließ und sich die nassen Haare raufte.

„Es ist nicht nur der Stress, der mir an die Nerven geht.“, murmelte er dann leiser und sie wurde wieder ernst und zog die Brauen hoch.

„Wie…?“

„Es ist irgendwie… so eine Unruhe in mir… obwohl Ulan Manha jetzt Scharan heißt und auf Ghia ist… ich sollte doch beruhigt sein, oder? Aber ich bin es irgendwie nicht, und irgendein Instinkt sagt mir, dass es nicht an der Arbeit liegt. Ich schlafe schlecht und weiß nicht mal genau, wieso eigentlich… und dass ich dann übermüdet bin macht auch nichts besser. Ich sollte mich viel mehr um dich und Karana kümmern, und dass ich das nicht kann macht mir so ein furchtbar schlechtes Gewissen… ach, ich habe einfach das Gefühl, die Welt wächst mir über den Kopf! Alle erwarten Großes von mir und ich glaube, ich bin zu klein…“ Er unterbrach sich, als Leyya sich erhob und ihn liebevoll umarmte. Verblüfft sah er sie an, ließ aber zu, dass sie sich zärtlich gegen ihn drückte und seinen Hals küsste.

„Ich liebe dich.“, versetzte sie leise und ein Schauer lief ihm über den Rücken, als sie von ihm abließ und ihn mit einem so liebevollen und aufopfernden Lächeln ansah, dass er kurz seine Sorgen vergessen musste. Sie war so hübsch, wenn sie lächelte… wie konnte sie ihn so zärtlich ansehen, nachdem er seit Tagen und Wochen so ungerecht zu ihr war? „Pass auf, ich habe eine tolle Idee, Schatz.“, flüsterte sie da verschwörerisch, „Ich mache dir einen schönen Tee zur Entspannung – Kaffee regt dich doch nur auf, du sollst dich doch ausruhen. Und dann sorge ich dafür, dass du dich besser fühlst und gut schlafen kannst. Vertrau mir, ich kann das. Ich bin schließlich Heilerin… da sollte ich auch deine gestresste Seele heilen können.“ Sie zwinkerte und er hüstelte, als er eine dunkle Ahnung bekam, in welche Richtung ihr Vorschlag eigentlich lief.

„Zumindest… kannst du es versuchen.“, murmelte er gedämpft, als sie sich aufrichtete und leise kicherte. „Ich hoffe, dein Tee macht mich nicht betrunken oder so, ich ahne Furchtbares.“
 

Puran hatte keine Ahnung, was sie in ihren Tee getan hatte, aber es war tatsächlich hilfreich; nicht nur der Tee. Seine Frau war eine gute Heilerin… er hatte schon vor Jahren das Gefühl gehabt, dass allein ihre Anwesenheit die Sorgen in seinem Geist vertreiben konnte. Wenn auch immer nur vorübergehend. Sie waren in den letzten Wochen fast nie dazu gekommen, sich das Bett zu teilen, und es jetzt zur Abwechslung einmal wieder zu tun war angenehm. So viel der kleine Karana auch am Tag herum gejammert hatte, in der Nacht schlief er wie ein Stein und ließ sich gar nicht stören von den Geräuschen seiner Eltern, die im selben Zimmer schliefen. Das Haus hatte nur eine Wohnstube, die gleichzeitig das Schlafzimmer war; das Bett war mit einer kleinen Trennwand aus Holz und Papier vom Rest des Zimmers abgeschirmt. Aber Geräusche dämpfen konnte die kleine Pseudo-Wand natürlich nicht.

Die Schatten der Vergangenheit versuchten in der Nacht, Puran wieder einzuholen, aber dank Leyyas Tee nahm er sie nur am Rande in seinen Träumen wahr, verschwommene, schwarze Silhouetten, die ihm keine Angst mehr einjagen konnten. Und das Kichern der Geister in seinem Kopf konnte er zur Abwechslung einmal getrost ignorieren. Es war die erste Nacht seit Ewigkeiten, so erschien es ihm, in der er richtig gut schlafen konnte. So fiel ihm der Abschied am nächsten Morgen und die etwas längere Reise nach Vialla nicht ganz so schwer wie sonst, obwohl es ihm leid tat, dass sein Baby immer noch unglücklich herum jammerte, wenn er es wagte, das Haus zu verlassen.

Wenn Puran nach Vialla fuhr, um die Akademie zu besuchen, blieb er gleich ein paar Tage dort. Ab und zu musste er ohnehin wegen der Ratstreffen in die Reichshauptstadt, in der er so lange Zeit gewohnt hatte. Für die Zeit, die er in Vialla war, wohnte er in einem kleinen Zimmer mit kleiner Kochstelle und Badezimmer in einem der vielen Hofhäuser im Beamtenviertel. Es waren viereckige Bauten mit einem Hof in der Mitte, in den Gebäuden rund um den Hof herum waren viele kleine und größere Zimmer, die man mieten konnte. Es gab viele Menschen, die in der Woche in der Stadt arbeiteten und am Sonntag zurück zu ihrer Familie in die umliegenden Dörfer fuhren, für solche Leute waren die kleinen Zimmer in den Hofhäusern ideal. Der König hatte ihm, als Puran zum ersten Mal von Lorana aus zurück in die Stadt gekommen war, zuerst ein Gemach im Schloss anbieten wollen, aber der Herr der Geister hatte das dann doch etwas sehr protzig gefunden den anderen Studenten der Akademie gegenüber, wenn er fröhlich aus dem Palast des Königs getanzt kam… es war so schon mitunter nicht ganz leicht, die beleidigten Blicke zu ertragen, die man ihm mitunter zuwarf.

„Der Liebling des Königs persönlich, ah ja.“ , murmelten die Leute dann und rümpften die Nasen, „Der sich hier eingekauft hat ohne eine Spur Talent zu beweisen, während wir teuer bezahlen müssen, um hier lernen zu können. Aber nur mit einer guten Verbindung zum Königshaus wird man noch lange kein guter Politiker.“

Puran verstand die Leute gut, dass sie so redeten. Es war wirklich nicht ganz gerecht… aber ganz so bescheiden, dass er deshalb beschämt den Kopf hängen ließ, war er dann doch nicht. Das hätte es auch nur schlimmer gemacht, so überhörte er gekonnt das Getuschel; ja, er hatte pures Glück gehabt, dass er hier gelandet war, aber talentfrei war er verdammt noch mal nicht. Senator Koreth in Taiduhr war nicht von ihm überzeugt, nur weil er Dasan Sagals Bekannter war. Der König mochte keine Ahnung haben, die Aufgaben eines Monarchen waren schließlich ganz anders als die der Senatoren, aber Koreth würde wohl wissen, wovon er sprach.

Es war, obwohl er so oft nach Vialla kam, immer wieder seltsam, die Stadt zu betreten. Er kam von Westen; aus der Richtung waren sie damals vor Jahren auch gekommen, als sie Vialla zum ersten Mal betreten hatten. Immer, wenn er durch das gigantische Tor ritt, erwartete er, dass hinter ihm seine Eltern sprachen oder dass hinter irgendeiner Ecke Meoran und die kleine Saidah hervor kamen… er vermisste sie alle. Meoran nur viermal im Jahr bei den Ratssitzungen zu sehen war viel zu wenig… Puran bedauerte mitunter, dass sein Lehrmeister so weit weg gezogen war. Für ihn war die Reise viermal im Jahr nach Vialla viel weiter als für ihn selbst. Seine Tochter ließ er dabei daheim; Puran hatte Saidah seit dem Tag, an dem sie sich vor Karanas Geburt hier verabschiedet hatten, nie wieder gesehen. Sie war jetzt schon sechs Jahre alt… er wusste gar nicht, ob sie zur Schule ging.

„Ach, was verplempere ich meine Zeit.“, seufzte er und sah an den Toren empor, die er gerade durchschritten hatte, ehe er dem treuen Pferd des Königs die Sporen gab, um seinen Weg etwas eiliger fortzusetzen; er hatte noch einiges für die Akademie zu tun. Plötzlich schmerzte ihn der Gedanke, seine hübsche Frau und sein Baby für mehrere Tage nicht sehen zu können; aber der Weg nach Vialla war einfach zu weit, um jeden Tag hin und zurück reiten zu können…

„Hey, verdammt! Pass doch auf, wo du hingehst mit dem Gaul, du Penner!“, wurde er da aus seinen Gedanken gerissen und erschrocken zog er die Zügel zusammen, als das Pferd laut wieherte; aus einer Seitenstraße war von rechts plötzlich eine junge Frau gekommen, die das Tier dank Purans Unachtsamkeit beinahe überrannt hätte. Jetzt machte es einen Satz zur Seite und der Frau fiel ein Stapel Pergamente aus den Armen, den sie getragen hatte. „Na toll!“, schimpfte sie verärgert, als Puran herumfuhr, „Ich werde dir Beine machen, du blinder Hornochse, hast du Tomaten auf den Augen?!“

„Entschuldigt, das war keine Absicht…“, seufzte er nur verlegen und tätschelte das erschrockene Pferd, während die Frau auf der Straße empört das Gesicht zu ihm wandte. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke und er sah, wie sie plötzlich erstarrte und bleich wurde. Zuerst fürchtete er, sie würde zusammenbrechen – erst, als sie den Mund auftat, fiel ihm auf, dass die im selben Dialekt sprach wie er.

„Das ist nicht möglich…“, keuchte sie gerade und vergaß die Papiere, die sie aufzusammeln begonnen hatte, sie ließ alles wieder fallen und schnappte heftig nach Luft. „D-das… ist ein übler Scherz der Geister, oder irre ich mich…?“ Er sah, wie sie zitterte, und nachdem er sie lange genug entsetzt angestarrt hatte, fiel es ihm wie Schuppen von dem Augen. Er erbleichte ebenfalls, als er sicher war, dass er keine Trugbilder sah.

Alona?!“
 

Er hatte seine Cousine beinahe acht Jahre nicht gesehen. Es war nicht verwunderlich, dass er sie beinahe nicht erkannt hätte – das bockige Mädchen, das er im Feuer des Krieges in Dokahsan aus den Augen verloren hatte, war plötzlich eine bildschöne, erwachsene Frau. Er sprang von seinem Pferd und es war ihm völlig egal, ob er den ganzen Verkehr aufhielt, weil das Tier mitten auf der Hauptstraße stand – seine Cousine! Sie war am Leben, sie war hier! Ohne weitere Worte schloss er sie in die Arme und sie fing an zu weinen vor Fassungslosigkeit; er musste sich wirklich beherrschen, um nicht auch gleich mit zu weinen – das konnte doch nicht wahr sein! Plötzlich tauchte sie aus dem Nichts auf, beschimpfte ihn und war einfach da…

„Du bist so ein Weichei!“, begrüßte sie ihn heulend, indem sie an seinem Hals hing, „Du bist ein Mann, wehe, wenn du jetzt flennst! Ich darf das, ich bin eine Frau!“ Er ließ sie los und fasste zitternd ihre Wangen, starrte ihr schönes Gesicht an und konnte nicht anders als hysterisch zu lachen.

„U-und was für eine! Sieh dich an… du bist eine richtige Dame geworden…!“

„Und ich habe gewusst, dass heute irgendetwas passieren würde!“, versetzte sie und wischte sich leicht verlegen die Augen, „Ich bin aufgewacht und die Geister haben gesagt, heute ist ein guter Tag! I-ich habe nicht geahnt, dass so etwas geschehen würde-…“ Sie strahlte ihn mit verheultem Gesicht an und sie umarmten sich erneut, weil sie gar nicht wussten, was sie sagen sollten. Was sagte man, wenn man sich fast acht Jahre nicht gesehen hatte und nicht mal sicher gewesen war, ob der andere überhaupt noch lebte… ob man ihn je wiedersehen würde?

Hallo, schön, dich zu sehen?

Wohl kaum…

„Was zum Geier machst du hier?!“, fragte er dann, als er sich etwas gefasst und das Pferd an den Rand der Straße gezogen hatte, wo sie jetzt vor einem der hohen Gebäude standen. Alona hatte ihre Pergamente aufgesammelt und hielt sie unter einen Arm geklemmt, mit der freien Hand strich sie sich ein paar der langen, braunen Haarsträhnen hinter die Ohren. „Ich meine… in Vialla, d-du bist doch noch nicht lange hier?!“

„Nein, seit gestern.“, behauptete sie, „Ich wohne auch nicht hier, ich bin kurzfristig hier, weil ich Kopien von alten Dokumenten suche, die in der Bibliothek in Yiara verbrannt sind beim Angriff, ich will sie ausleihen und noch mal kopieren lassen, damit da oben wieder alles vollständig ist; aber dasselbe könnte ich dich fragen! Was hast du hier verloren, einfach so, und wieso hast du ein Pferd, und… Himmel…“ Sie zerrte plötzlich an seinem schwarzen Umhang herum und strich mit zwei Fingern andächtig über den Pentagramm-Anstecker, „Du… bist Mitglied des Geisterjägerrates…“

„Schon lange…“, machte er verwirrt, „Wie, Bibliothek in Yiara, was machst du denn da? – Verdammt, wir können doch nicht hier auf der Straße so quatschen, setzen wir uns in ein Lokal und trinken Tee? Ich lade dich ein, dafür reicht mein Kleingeld noch…“
 

„Es ist Wahnsinn, dich plötzlich vor mir zu sehen.“, murmelte die junge Frau leise, als sie wenig später in einem kleinen Teehaus saßen und tranken. Sie musterte ihn und seufzte, ehe sie an ihrer Tasse nippte. „Scheiße, du bist ein bildhübscher Mann. Beinahe schade, dass du mein Cousin bist.“ Er musste doof lachen.

„Ja, ja, erst bin ich ein Weichei und dann plötzlich hübsch, du kannst mich gern haben… ach, ich habe es vermisst, von dir aufgezogen zu werden… wie habe ich das jahrelang ausgehalten?“

„Du Missgeburt.“, seufzte sie und sie lachten herzhaft ohne wirklichen Grund. Alona wurde schnell wieder ernst, strich sich wieder Haare hinter die Ohren und seufzte. „Ich habe oft von dir geträumt. Ich habe… einiges gesehen. Von deinen Eltern. Es tut mir wahnsinnig leid… ich habe geweint, als ich von ihrem Tod erfahren habe. Es war in dem Moment, in dem ich erst verstanden habe, was du gefühlt hast, als die Geister dir von Cholenas Tod gesagt haben… damals habe ich dich für wahnsinnig gehalten.“ Er sagte nichts und sah bedrückt auf seine Teetasse.

„Wir haben auch von Onkels Tod mitbekommen. Vater war völlig fertig… ich habe ihn nie so erlebt. Und meine Mutter auch nicht, nachdem Vater gestorben war… es war… so grauenvoll, mit ansehen zu müssen, wie jemand so unmenschlich leidet.“ Sie schwiegen betreten. Puran nahm einen Schluck Tee. „Wie geht es deiner Mutter?“ Alona drehte den Kopf zur Seite und räusperte sich.

„Schlecht.“, war die Antwort und ihr Cousin keuchte.

„W-was…?!“

„Sie ist schwer krank. Sie liegt die meiste Zeit im Bett, manchmal hustet sie Blut. Die Heiler in Yiara sagen, es sei die Schwindsucht… offenbar gibt es nichts zu machen als abzuwarten, dass es vorüber geht.“ Sie beide sahen sich kurz an und Puran wusste, dass sie nicht die Krankheit meinte, die vorübergehen würde. Diese Nachricht war erschütternd und er vermochte darauf nichts zu sagen. Seine Tante lag im Sterben? Das minderte alle Wiedersehensfreude extrem.

Die junge Frau seufzte kurz.

„Ich weiß, das… trifft dich. Ich lebe damit jetzt eine Weile, es ist grausam, aber man lernt es zu akzeptieren… bin ich taktlos, wenn ich das Thema wechseln möchte?“

„Ja…“, machte Puran heiser und sie sah bestürzt, dass es ihn mehr mitnahm als sie befürchtet hatte.

„Puran… entschuldige, das war nicht sehr feinfühlig von mir…“ Sie hob eine Hand, aber er wehrte sie ab, als sie nach seinem Arm fassen wollte, und drehte sich weg.

„Vergib mir – d-das… muss ich erst mal begreifen. D-du setzt dich hierhin und sagst mir, dass deine Mutter die Schwindsucht hat! Ich meine-… d-das… mir ist schlecht.“ Sie senkte den Kopf und nachdem sie lange geschwiegen hatten, schien er sich etwas zu fangen und fuhr sich über das bleiche Gesicht. „Ich… b-bist du sicher, dass man nichts tun kann?“

„Zumindest sagen das die Heiler in Yiara. Wir wohnen da seit wenigen Jahren. Nachdem mein Vater gestorben ist, haben wir es geschafft, in der Stadt zu bleiben, ohne von den Zuyyanern zerfetzt zu werden. Sie sind bald aus Yiara verschwunden. Die Stadt sieht grauenhaft aus, fast alles wurde zerstört, nur wenige Teile sind heil geblieben. – Trink Tee, Puran, bitte. Ich gebe dir Zucker, das macht dich fit.“ Sie tat ihm einen Löffel Zucker in den Tee und er trank hastig einen Schluck. Jetzt war er bereiter dafür, das Thema zu wechseln.

„Du… lässt sie alleine da oben? Was machst du jetzt hier mit der Bibliothek?“

„Sie ist nicht alleine, unser Nachbar kümmert sich freundlicherweise, ich verstehe mich sehr gut mit ihm. Netter Kerl. – Ich arbeite in der Bibliothek. Ich bin dabei, die fehlenden Stücke, die verbrannt sind, zu ersetzen. Von vielen gibt es Kopien in anderen Städten – zum Beispiel hier. Ein Werk zu kopieren ist sehr aufwendig und kostet viel Geld, aber irgendwie lässt sich das sicher einrichten.“ Sie sah dabei auf ihre Tasse und er fuhr sich noch immer etwas verstört durch die Haare.

„Ah…“, machte er geistreich und trank seinen Tee aus, „Das… ist natürlich gut. Wie bist du hergekommen?“

„Per Teleport natürlich.“, stellte sie klar, „Die Zuyyaner sind zwar gerade weg und man kann wieder durch das Land reisen, aber so geht es doch extrem viel schneller. So eine weite Strecke kostet natürlich ziemlich Kraft, aber ich kriege es hin. Ich vertrete meine Mutter im TO, weil sie nicht aufstehen soll. Oder den paar, die davon oben in Dokahsan geblieben sind im Krieg. Ich habe gehört, die andere Hälfte des Ordens war hier.“

„Ja, das ist richtig. Findet ihr euch denn jetzt wieder zusammen?“

„Ja, wir haben letztes Jahr im Wintermond ein Treffen in Yiara gehabt. Der König hat ja befohlen, dass sich alle Räte regelmäßig hier in Vialla versammeln und ihm Bericht erstatten, das heißt, ich werde wohl öfter hier sein. – Jetzt erzähl doch mal von dir, was hast du hier zu suchen?“

„Eigentlich…“ Er sah nach der nicht sichtbaren Sonne, um die Tageszeit zu erraten, „Sollte ich in der Akademie für Politikwissenschaften sein… ach, das kann warten.“ Sie hob eine Braue.

„Nein.“, machte sie, „Ich habe irgendwie geahnt, dass du in diese Richtung schlägst. Kommt von Großmutter, sie wäre die geborene Politikerin gewesen, dumm nur, dass Frauen da nichts verloren haben.“

„Ja, das habe ich auch schon gehört von Vater… wir werden sehen, was passiert. Wenn ich Glück habe, bekomme ich im Sommer eine Stelle in Taiduhr, im Frühling sind die Abschlussprüfungen. Dafür, dass ich so blöd hin und her fahren muss, ging das recht fix.“ Sie schnaubte.

„Taiduhr? Thalurien, du wohnst in Thalurien?“

„Das Dorf heißt Lorana. Es ist ein schöner, freundlicher Ort. Die Leute da sind wahnsinnig gutherzig, sie haben uns quasi die Haut gerettet, als ich im strömenden Regen mit meiner in den Wehen liegenden Frau da reingeplatzt bin…“ Er hatte vergessen, dass seine Cousine Leyya nicht kannte – die junge Frau hustete und verschluckte sich fürchterlich mit ihrem Tee, dann starrte sie ihn mit offenem Mund an.

„Wie jetzt – wie bitte?! Du hast eine Frau?! Und ein Kind?!“

„Hey.“, schnaufte er nur, „Ich bin vierundzwanzig! Das ist doch normal in meinem Alter, normaler wäre, wenn ich drei Kinder hätte, oder so… hat bei mir halt etwas gedauert…“ Sie starrte ihn an.

„Du idiotischer Sack!“, schalt sie ihn, „Da schmollst du wegen meiner Mutter und sowas erzählst du als wäre es nichts! Wo kommt die Frau her? Cholena kann es ja nicht sein…“

„Ihr Name ist Leyya, sie ist eine großartige Heilerin. Wir haben sie in Makar gefunden als kleines Mädchen, kurz nachdem wir Dokahsan verlassen haben.“

„Moment, wenn sie vor acht Jahren noch ein kleines Mädchen war, kann sie jetzt aber noch nicht richtig erwachsen sein, oder?“ Er hüstelte.

„Sie ist fünfzehn… einhalb.“ Puran sah seine Cousine die Luft hörbar aus ihrem Mund auspusten.

„Und schon Mutter? Na, du bist aber ein Schwerenöter, konntest es wohl nicht abwarten. Sieht dir ähnlich, du Penner…“ Sie musste verhalten grinsen und er errötete verlegen und betete, dass sie niemand im Teeladen gehört hatte.

„Du würdest dich wundern.“, brummte er so bloß, „Was ist mit dir? Wieso bist du denn nicht verheiratet?“ Sie schnaufte.

„Ich heirate nicht. Ich sehe gar nicht ein, irgendeinem Kerl seinen Dreck hinterher zu fegen, und Kinder will ich auch keine. Das mit Kannar… war leider nicht so lange wie es hätte sein können. Ich hoffe, du schweigst jetzt nicht wieder ewig, wenn ich dir sage, dass er tot ist… es tut mir leid, Puran. Er… ist schon lange vor Vater gestorben, wir sind eine Zeit lang gemeinsam herum geirrt im Land. Die Zuyyaner haben ihn halt eines Tages erwischt.“ Ihr Cousin stöhnte.

„Ich… fühle mich jetzt wirklich unwohl! Kannar ist tot?! Würde mich wundern, wenn überhaupt noch irgendjemand am Leben ist, den ich mal kannte…“ Sie gab ihm einen Schlag auf den Arm. „Au…“

„Hey! Bin ich etwa niemand, Puran?!“
 

Der Krieg und die grauenhaften Erfahrungen hatten seine Cousine zweifelsohne abgehärtet, dass sie so leichtfertig über den Tod ihres Freundes und vielleicht ihrer Mutter sprechen konnte. Puran war sich nicht sicher, ob er sie darum beneiden oder bemitleiden sollte… er war froh, dass sie vom Tod seiner Eltern vorher gewusst hatte. Leuten, die man gern hatte, so eine fürchterliche Nachricht zu überbringen war beinahe schlimmer als der Verlust an sich, hatte er gelernt.

Die Sache mit der Akademie war für ihn für den Rest der Woche gelaufen. Seine Cousine war hier – er hatte sie seit Jahren nicht gesehen, wie sollte er sich so auf das Studium konzentrieren, wenn er viel lieber mit ihr Zeit verbringen wollte? Da war es doch klüger, es gleich aufzugeben, beschloss er weise, als sie den Nachmittag in der Teestube verbracht hatten und schließlich wieder auf der Straße standen.

„Hast du… noch Zeit, Alona? Oder musst du deinen Kram mit den Kopien jetzt gleich erledigen? Ich würde dich so gerne mit nach Lorana nehmen und dir meine Frau vorstellen… ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, es gibt so viel, da sich dir erzählen möchte! Es hat sich einfach so viel zugetragen, während wir getrennt waren…“

„Was ist denn mit dir?“, schnaubte sie darauf, „Ich habe noch bis morgen Zeit. Aber du solltest doch brav studieren, Cousin…?“

„Das kann ich auch wann anders tun… es gibt jetzt Wichtigeres. Du bist hier!“ Er grinste sie an und sie schnaubte erneut, ehe sie kurz lächeln musste und ihn in die Seite boxte.

„Nicht zu fassen… ich wusste nie, dass du mich so sehr liebst. Aber weil du so lieb bittest… einverstanden, ich nehme dein Pferd und du rennst neben mir her.“ Ohne seine Antwort abzuwarten schwang sie sich schon auf das Reittier, das vor dem Teehaus gewartet hatte, und er hob entrüstet die Arme.

„Du verdammte-… das dauert doch ewig!“
 

Die Dorfheilerin Chitra strich Baby Karana über den kleinen Kopf und sah ihn dabei nachdenklich an. Das Kind saß auf dem Fußboden der Stube auf einem Fell, auf dem er oft spielte. Es hickste, hatte aber aufgehört zu jammern und beobachtete die Frau mit den kurzen, blonden Haaren aufmerksam. Er hatte Chitra schon oft gesehen, er kannte sie. Ihren Namen konnte er noch nicht aussprechen, bei ihm war sie Chida.

„Jetzt ist er ganz ruhig!“, seufzte Leyya, die mit einem Teebecher in die Stube kam, „Aber er hat immerzu geweint in den letzten Tagen, vor allem gestern und heute morgen… und ich dachte, vielleicht weißt du Rat…“

„Ich glaube nicht, dass er krank ist.“, meinte die Ältere grübelnd, „Er hat kein Fieber und sieht sehr gesund aus. Hast du versucht, seinen Bauch zu reiben? Vielleicht hat er Verstopfung oder so.“

„Nein, das ist es nicht, da bin ich sicher.“, meinte die junge Mutter betreten. Chitra schwieg kurz, dann schob sie ihren Finger zwischen Karanas Lippen und öffnete vorsichtig seinen kleinen Mund. Leyya sah ihr verblüfft zu, wie sie im Mund des Jungen herum tastete, was Karana nur missmutig über sich ergehen ließ. Er verzog das Gesicht und begann, wütend zu treten, als die Frau seinen Mund behutsam weiter auf hielt und über seinen Kiefer strich. Er hatte schon fast alle Zähne.

„Seine Eckzähne.“, meinte sie dann und blickte zu Leyya, „Sie sind noch nicht da – ich glaube, sie kommen jetzt durch. Wenn die Zähne wachsen, haben kleine Babys immer Schmerzen, das ist normal, hört aber auf, sobald die Zähne durchgebrochen sind. Sieh… hier fühlt es sich spitz an, ich glaube, seine nächsten Zähnchen kommen… und deshalb weint er.“ Leyya keuchte und starrte abwechselnd Karana und sie an.

„Das – das wird es sein! Das gibt es ja nicht, und ich blöde Kuh komme da nicht drauf! Oh nein, vielen Dank, Chitra, ich wüsste nicht, was ich ohne dich wäre! Sie mögen mich im Heilerrat aufgenommen haben, a-aber ich bin so unerfahren…“ Chitra lächelte.

„Das macht doch nichts. Es ist dein erstes Kind. Beim zweiten weißt du alles aus Erfahrung besser. Ihr wollt doch bestimmt noch eins?“

„Oh ja!“, ereiferte sich die Jüngere und strahlte, während sie den Teebecher abstellte und den jammernden Karana auf den Arm nahm. Sie wippte ihn beruhigend auf und ab und er schluchzte nur verbiestert. „Natürlich, ich… wünsche mir viele Kinder! Und Puran auch, wir kommen hoffentlich bald dazu, es ernsthaft zu probieren… in der letzten Zeit ist es so stressig hier, aber ich verstehe ihn ja…“ Chitra lächelte sie an und das Geräusch der sich öffnenden Haustür ließ beide Frauen herumfahren. Leyya machte ein verblüfftes Gesicht. „Entschuldige mich!“, sagte sie eilig zu der anderen Heilerin und lugte in den Flur – und war gänzlich verwirrt. „P-Puran! Du bist ja schon wieder zurück?“

Ihr Mann stand in der Haustür und grinste sie kurz an, als sie zu ihm und der Tür eilte, das Baby noch immer auf den Armen. Karana hickste und war offenbar auch erstaunt.

„Ja… ich bin spontan wieder heim gefahren, es gibt Neuigkeiten, quasi! Entschuldige, störe ich dich etwa, Liebes?“

„W-was, natürlich nicht!“, rief sie und errötete, während Karana das Gesicht verzog und jammerte. Sie wippte ihn tröstend auf und ab. „Was gibt es denn Neues? – Komm doch rein, lieber Himmel, es wird eiskalt!“

„Die Geister spielen seltsame Spielchen mit uns!“, erklärte er ihr, „Ich habe Besuch mitgebracht! Deswegen komme ich ja, ich wollte euch einander vorstellen.“ Er blickte über die Schulter und ehe Leyya hinaus sehen konnte, um zu erfahren, wer wohl kommen mochte, tauchte neben ihrem Mann plötzlich eine junge Frau auf. Moment, eine Frau? Leyyas Blick verfinsterte sich prompt und sie drückte Karana an sich, der nur weiter nölte. Was dachte der sich? Kam früher heim, ließ seine Ausbildung liegen und das für eine Frau? Wie lange kannte er die schon, verdammt?

„Puran…?!“, entrüstete sie sich darauf schon angesäuert und er verstand ihre Reaktion erst mal überhaupt nicht; erst als er ihren Blick noch einmal verblüfft beobachtete, verstand er das Missverständnis.

„Du liebe Güte, für wen hältst du mich?“, murrte er darauf und räusperte sich, während die Frau neben ihm eine Braue hochzog. „Das ist meine Cousine, Alona! Ich habe dir doch von ihr erzählt… wir haben uns zufällig in Vialla getroffen. – Alona, das ist meine Frau, Leyya. Und wie du siehst ist das Baby unser gemeinsamer Sohn, Karana.“ Alona schmunzelte über die Frau ihres Cousins, die jetzt erschrocken und beschämt über ihr Missverständnis errötete und sich rasch verneigte. Die war doch nicht ernsthaft eifersüchtig gewesen?

„Es ist mir eine außerordentliche Ehre!“, rief die Heilerin da schon in Alonas Richtung, „V-vergebt mir meine eigenartige Reaktion, ich-… ich… ach! Puran, du Untier, du hättest mir vorher sagen können, wer sie ist!“ Schnaufend drehte sie sich wieder zu ihrem Mann, der sie kurz anblickte. Dann schob er seine Cousine ins Haus und schloss die Tür.

„Ich freue mich ebenfalls.“, sagte Alona mit einer höflichen Kopfneigung. Sie war ein gutes Stück größer als Leyya, sodass die Jüngere nun zu ihr aufsehen musste. „Und nicht so förmlich, wie ich gehört habe, bist du doch aus dem Bao-Clan, also einer angesehenen Familie. Kein Grund, dich vor mir in den Dreck zu werfen.“
 

Sie setzten sich gemeinsam mit Chitra, die immer noch da war, in die Stube, um Kaffee zu trinken. Leyya war ihr erster Auftritt vor Purans Cousine immer noch peinlich und sie wagte kaum, etwas zu sagen; was war sie für eine pietätlose Frau? Wie hatte sie auch nur im Ansatz denken können, Puran würde irgendeine Tussi mit zu ihr bringen? Oder überhaupt irgendeine Tussi kennen, dann noch in Vialla, weit weg von seiner Frau… wie konnte sie sowas nur denken? Sie würde sich nachher wirklich bei ihm entschuldigen müssen, so dachte sie bedrückt, während sie die Cousine ihres Mannes verhalten musterte. Alona Lyra war eine bildschöne Frau, es war unverkennbar, dass sie und Puran verwandt waren; sie hatten die gleiche Haarfarbe und die gleichen Augen, natürlich sprachen sie denselben Dialekt… Leyyas Sprache unterschied sich von der ihres Mannes eigentlich nicht wirklich, aber für Chitra musste es seltsam sein, von lauter Menschen umgeben zu sein, die im Dokahsan-Dialekt sprachen.

Obwohl sie Alona Lyra nie zuvor gesehen hatte, war es ein Stück Vergangenheit, das sich über das Haus in Lorana legte, als sie sich mit der jungen Frau unterhielten, fand Leyya. Das war Purans Familie – nein, jetzt war es auch ihre. Es freute sie, zu sehen, dass ihr Mann plötzlich allen Stress zur Seite schieben konnte über die Wiedersehensfreude. Er machte einen ganz anderen Eindruck, wenn er nicht so genervt war wie in der letzten Zeit… ohne sich viel am Gespräch zu beteiligen beobachtete sie lächelnd die Verwandtschaft und trank in Ruhe ihren Tee; bis Karana, der neben dem Sofa auf dem Boden gespielt hatte, wieder zu jammern anfing und wild strampelte und sich wehrte, als seine Mutter ihn aufhob.

„Ja, ich weiß… du bist unzufrieden, Karanachen… das geht vorüber! Bald hast du es geschafft…“ Sie hob den Kopf zu Puran, der ihr gegenüber saß. „Wir wissen jetzt, was er hat! Er bekommt die nächsten Zähnchen und ist deswegen unglücklich!“

„Ach!“, machte der Mann verblüfft und Alona zog abermals eine Braue hoch, „Wirklich?! Na, darauf hätten wir früher kommen können… das erleichtert mich… ich habe mir wirklich Sorgen gemacht…“ Er lächelte kurz und sah auf seinen Sohn, der sich unzufrieden jammernd auf dem Schoß seiner Mutter wand und seinem Vater plötzlich auch einen verbiesterten, verwirrten Blick schenkte. Die grünen Augen hatte er von ihm… Karana hatte ein hübsches Gesicht, aber wenn er so finster schaute wie in diesem Moment, konnte er beinahe gruselig aussehen; so gruselig ein kleines Kind eben sein konnte…
 

In dunklen, grauen Schleiern zog die Nacht über Thalurien. Leyya hatte ihr dämliches Verhalten vom Nachmittag wieder gutmachen wollen und hatte der Cousine ihres Mannes angeboten, über Nacht zu bleiben. Der Weg nach Vialla oder gar nach Yiara war weit; dass Alona Telepathin war und sich dadurch teleportieren konnte, übersah Leyya gekonnt… es ging ums Prinzip.

„Das ist sehr freundlich.“, nahm die Ältere das Angebot fröhlich an, „Wenn ich niemanden störe… jetzt kann ich in Vialla sowieso nicht mehr arbeiten, dann gehe ich morgen zurück.“

„Ansos leihen uns bestimmt eine Matte, auf der du schlafen kannst.“, meinte Puran zuversichtlich, als Leyya schon lief, um das Dorfoberhaupt zu fragen, „Die Leute hier sind unheimlich nett zu uns. Ohne diese Leute gäbe es Karana vielleicht jetzt nicht…“ Er lachte kurz, aber es war ein nervöses Lachen, das sie bei ihm als ungewohnt empfand. „Also, ich alleine hätte Leyya nie bei dieser Geburt beistehen können.“

„Das glaube ich, da wäre ja deine Frisur ruiniert gewesen.“, zog sie ihn auf und er errötete, als sie ihm grinsend auf den Kopf griff, bis er sich murrend zurückzog.

„Du legst es aber auch drauf an, meine Gute!“, entrüstete er sich, und ihr nicht ernsthaftes Gezanke wurde von Leyya unterbrochen, die mit der geliehenen Matte zurückkehrte. Sie hatte auch ein Kopfkissen dabei.

„Decken haben wir selbst genug; wo möchtest du schlafen? Hier in der Stube bei uns oder lieber auf dem Flur? Aber hier ist es wärmer…“

„Oh, keine Sorge, ich bin Kälte gewohnt, ich nehme den Flur.“ Sie feixte und Puran schenkte ihr einen warnenden Blick, den sie ignorierte. „Ich will euch doch nicht stören heute Nacht…“ Die Heilerin schnappte erschrocken errötend nach Luft, Puran hüstelte und schob seine Cousine barsch aus der Tür in den Flur.

„Du hast für heute genug gequasselt, Cousine!“, schnarrte er ein wenig verärgert und seine Frau machte ein verwirrtes Gesicht, als er ihr die Matte und das Kissen wegnahm und beides Alona auf den Kopf warf. „Sei nicht so schamlos, das gehört sich nicht für eine Frau! Du bist ja nur neidisch, hah! – Gute Nacht, Alona.“ Letzteres klang wieder versöhnlich und als Alona noch blöd lachte, machte er die Stubentür zu und wandte sich zu seiner Frau um. „Hör nicht auf das alberne Gequatsche, ich fürchte, sie kommt nach ihrer Mutter, die hat auch viel erzählt, wenn der Tag lang war.“ Leyya zog nur die Brauen hoch, als er an ihr vorbei in Richtung der Schlafecke stampfte und dabei erstaunlich eilig begann, sich auszuziehen.

Sukutai – die Gedanken an Alonas Mutter schmerzten ihn plötzlich, als er daran dachte, dass sie vielleicht bald sterben würde. Leyya hatte es auch bestürzt, als sie es gehört hatte, obwohl sie seine Tante nie gekannt hatte. Er seufzte. Die Welt drehte sich zu schnell für ihn. Alles, was er kannte, verschwand und änderte sich… Puran warf einen missmutigen Blick zu den zugezogenen Vorhängen. Da war die Nervosität der letzten Tage wieder. Plötzlich war sie wieder da… für kurze Zeit hatte er geglaubt, an jenem Tag könnte er sich einmal entspannen. Die Geister schienen ihm nichts Gutes übrig lassen zu wollen.

Er legte sich hin und wartete, bis Leyya zu ihm kam, um sie dann zärtlich in die Arme zu schließen und sich seufzend über sie zu rollen. Sie teilten einen liebevollen Kuss und die kleine Heilerin legte die Arme um seinen Nacken, zog ihn zu sich herunter und ließ zu, dass er begann, an ihrem Hals zu knabbern. Eine seiner Hände glitt hektisch an ihrer Hüfte auf und ab, wanderte schließlich nach vorne und etwas tiefer; ebenso seine Lippen, als er sich über ihren Busen beugte und sie mit der Zunge berührte. Leyya errötete und keuchte leise.

„Puran, w-was ist, wenn deine Cousine uns hört…? – L-Liebling, nicht so stürmisch…“

„Dann hört sie uns eben.“, stöhnte er über ihr, erhob sich etwas und pustete sich eine wirre Haarsträhne aus der Stirn, „Ich brauche das jetzt, sonst kann ich nur nicht schlafen, ich merk das schon. Die Geister wollen mich verarschen!“ Murrend senkte er das Gesicht wieder und sie japste erhitzt, als er ihre Knospe zwischen die Lippen nahm und sie zärtlich küsste. Die Frau errötete stärker und wand sich leise seufzend unter ihm, als seine Finger sie auf die Art und Weise berührten und stimulierten, wie sie es gern hatte; er wusste viel zu gut, wie er sie überzeugen konnte. Normalerweise musste er sie nicht überzeugen… aber der Gedanke, dass ihr Besuch sie hören könnte, war ihr peinlich – hatte sie sich vor seiner Cousine nicht schon genug blamiert?

„W-was sagen die Geister denn…?“, wisperte sie verwirrt und in der Hoffnung, es wenigstens so lange hinaus zögern zu können, bis eine Chance bestand, dass Alona auf dem Flur eingeschlafen war – wobei sie es auch nicht wirklich erwartete. Es war ja nicht so, dass sie abgeneigt war… und ihr nun doch ziemlich nervöser Mann ließ sich auch gar nicht auf ihre Frage ein.

„Sprich jetzt nicht. Dann hört sie auch weniger.“ Leyya verdrehte die Augen, weil sie genau spürte, dass er ungeduldig war, und sie umarmte ihn etwas inniger und küsste seinen Mundwinkel, als er sich zu ihrem Gesicht beugte.

„Schon gut… liebe mich, Puran. Irgendwie mag ich es ja, wenn du so drängelst…“ Sie kicherte, als er etwas hüstelte, dann verdrängten beide ihre Verlegenheit und küssten sich erneut.

Wo seine Frau doch zu Beginn so verlegen gewesen war, verwunderte es Puran ein wenig, wie zügellos sie dann plötzlich wurde, als sie sich kurz und intensiv liebten und dabei nicht mehr oder weniger auf ihre Geräusche achteten als sonst auch. Das Baby störte es ja offenbar nie, Karana hatte einen sehr gesunden Schlaf; zumindest hatte er sich noch nie beschwert, wenn sie sich im selben Zimmer das Bett geteilt hatten. Manchmal taten sie dem Kind den Gefallen, es wo anders zu tun, aber da Alona jetzt im Flur schlief, war das auch nicht möglich.

Leyyas Verlegenheit kehrte zurück, als sie fertig waren und einander zufrieden und müde in den Armen lagen.

„Was, wenn sie uns doch gehört hat? Sie wird sicher seltsame Bemerkungen machen, oder…?“

„Nimm nicht ernst, was sie dazu sagt, sie quasselt viel, wie gesagt… sie meint eigentlich nie böse, was sie so sagt. Wir sind wie Geschwister, Geschwister meckern sich halt mal an, ohne es ernst zu meinen. Sie fand es schon als kleines Kind lustig, mich aufzuziehen, störe dich nicht daran. Ich bin das gewohnt.“ Seine Frau seufzte leise und kuschelte sich an seine verschwitzte Brust, als er gähnte und sich mit einer Hand durch die zerzausten Haare fuhr.

„Bist du noch unruhig?“, nuschelte sie dann und er blinzelte. Dann sah er auf sie herab, während sie den Kopf etwas anhob, und er küsste ihren Schopf und gähnte erneut.

„Es wird schon. Ich bin jedenfalls müde… das ist schon mal ein gutes Zeichen. Vielleicht finde ich ja wenigstens Schlaf…“

Das wäre jedenfalls mal etwas Gutes und Seltenes in der vergangenen Zeit…
 

Die Geister gönnten ihm nur wenig Ruhe. Es war in dieser Nacht, als er tatsächlich einmal einfach eingeschlafen war, dass der Schatten aus der Vergangenheit auf eine Weise zurückkehrte, die Puran schon wieder vergessen gehabt hatte; die Himmelsgeister würden niemals etwas vergessen.

Er träumte von gewaltigen Raubkatzen, die über das schwarze Land aus Finsternis jagten, Raubkatzen mit bestialischen Fangzähnen. Sie stoben an ihm vorbei und keuchend fuhr Puran herum, um ihnen nachzustarren. Die Geister zischten in seinem Kopf, es war ein gemeines, bösartiges Zischen, und er schnappte entsetzt nach Luft. Die Raubtiere jagten geifernd über eine blutige Erde, unter dem zornigen Himmel hinweg. Bei näherem Hinsehen erkannte er, worauf sie zuhielten; in der Ferne mitten auf der Tundra stand ein kleiner Junge. Ein kleiner Junge, der ihm selbst so dermaßen ähnlich sah, dass der Geisterjäger kurz dachte, er sähe sein jüngeres Selbst; aber ihm wurde schnell klar, dass es hier nicht um ihn ging… er sah sein zukünftiges Selbst, das Kind, das Leyya zur Welt gebracht hatte.

Seinen Sohn, Karana.

„Lauf weg!“ , wollte er rufen und Panik ergriff ihn, als die Raubtiere auf das schutzlose Kind zu rannten, aber es kam kein Ton aus seiner Kehle. Und er war unfähig, sich zu bewegen, er wollte nach vorne hechten und den Jungen beschützen, sein eigenes Kind… aber es kam alles anders.

Das vorderste der Raubtiere kam direkt vor dem Jungen zum Stehen und das Kind und das Tier starrten einander aus giftgrünen Augen feindselig an. Und Puran keuchte, als die Raubkatze plötzlich menschliche Züge annahm; und er erkannte mit Entsetzen die Fangzähne wieder. Die spitzen Eckzähne, die sein Großvater gehabt hatte, der gefürchtete Tyrann Kelar Lyra. Eine grauenhafte, furchteinflößende Gestalt war es, als das Raubtier plötzlich zu Kelar Lyra wurde, dem Jungen gegenüber stehend. Die anderen Raubkatzen ergriffen quiekend die Flucht aus Angst vor der gewaltigen Macht des Tyrannen, die Puran beim bloßen Anblick in jede Pore drang und die ihn vor Panik zu lähmen schien. Fassungslos sah er zu, wie sein zukünftiges Kind seinem Großvater gegenüber stand, und das Kind erhob die Arme zum Himmel, gebieterisch und mit der herrischen Art eines mächtigen Magiers. In dem Moment, in dem der Kleine und der grausame Kelar einander so gegenüber standen und beide ihre gewaltige, furchtbare Macht in den Himmel ergossen, vereinten sich die gewaltigen Windgeister mit den Bewegungen des Kindes, und es drehte den Kopf, um herrisch empor zu starren und den Mund für einen Tod bringenden Zauber zu öffnen… und Puran hatte das Gefühl, ihm bliebe das Herz stehen.

Das Kind hatte dieselben, grauenhaften Eckzähne wie der Großvater.
 

„Nein!“, schrie er panisch und fuhr aus dem Schlaf hoch. Ein grauenhaftes Schwindelgefühl überrumpelte ihn, weil er sich so plötzlich erhoben hatte, und keuchend schnappte er nach Luft und verhinderte gerade noch, dass er wieder rückwärts ins Bett fiel. Er warf einen Blick auf Leyya, die sich kurz bewegte, dann aber weiter schlief, und stöhnend sammelte er seine Hosen vom Zimmerboden, zog sich an und stand auf. Instinktiv sah er nach Karanas Bettchen; doch der kleine Junge schlief friedlich und war auch nicht aufgewacht. Puran zischte, als er an den schon etwas größeren Jungen aus seinem Traum dachte und an die grauenhaften, verräterischen Eckzähne.

Großvaters schändliche Seele… was ist, wenn ich damals doch Recht hatte, Mutter?

Der Gedanke alleine machte ihn wahnsinnig – er hätte am liebsten laut über die Ungewissheit aufgeschrien, die er in seinem Inneren spürte, die ihn seit Tagen, Wochen um den Schlaf brachte… Moment. War es das? War es das, was er tief in seinem eigenen Geist die ganze Zeit gespürt hatte? Er wusste es nicht… abermals zischend kehrte er seinem schlafenden Sohn den Rücken und verließ die Wohnstube, um sich aus der Küche ein Glas zu holen und Wasser zu trinken. Er merkte nicht, dass seine Frau verschlafen den Kopf hob und ihm blinzelnd nachblickte, als er die Tür schloss.

Er stieg über seine Cousine hinweg und erschrak sich beinahe zu Tode, als sie plötzlich sprach und sich aufsetzte.

„Das Bad ist in der anderen Richtung, dachte ich, Puran.“

„Himmel und Erde, bei allen Geistern!“, zischte er und fuhr hastig herum, sie anstarrend, „Erschreck mich nie wieder so! – Wieso bist du denn wach?!“

„Lass mich nachdenken – ah, jetzt erinnere ich mich, da war plötzlich ein Schatten über mir und irgendein Idiot kletterte über mich hinweg, und ich hatte Angst, dass er im Dunkeln auf mich tritt.“

„Das merkst du im Schlaf?“, knurrte er, „Mein lieber Himmel, du bist wirklich eine großartige Telepathin, du kannst schlafen und zugleich wach sein. Das macht mir Angst.“ Er ging jetzt in die Küche und sie erhob sich langsam, um ihm zu folgen. In der Küche holte er sich ein Glas und beförderte mit dem einfachen Zauber Alara Wasser hinein, das er dann trank. Mürrisch sah er den Behälter an, als könnte es etwas dafür, dass die Panik vom Wasser nicht verflog, und mit einem genervten Stöhnen stellte er es unsanft auf die Anrichte, bückte sich zum Schrank herunter und förderte eine halb volle Weinflasche zu Tage, die er öffnete, um das leere Wasserglas wieder zu füllen. Alona stand inzwischen in der Küchentür und musste jetzt kurz lachen.

„Was denn, du stehst nachts auf und besäufst dich? Das hätte ich nicht von dir gedacht, früher hast du gar nichts vertragen…“

„Ich vertrage auch immer noch nichts, viel mehr als ein solches Glas und ich werde peinlich.“, seufzte er, „Ich werde hier wahnsinnig! Ich habe doch Paranoia, verdammt noch mal, wieso fürchte ich mich immer noch so sehr davor?! – Komm, Alona. Trink einen mit, wenn ich ein bisschen dusselig werde, komme ich sicher auf andere Gedanken.“ Sie zog nur eine Braue hoch, nahm aber schweigend das zweite Glas an, das er ihr hinhielt, nachdem er es ebenfalls gefüllt hatte. Er schnaubte und hob seines an. „Auf deine Gesundheit, Alona!“ Sie tranken, und nach einer kurzen Weile des Schweigens sprach die Frau.

„Was hast du geträumt?“

Er blickte sie an, offenbar erst verblüfft darüber, dass sie wusste, was er hatte, dann fiel ihm aber ein, dass sie Telepathin war, und er räusperte sich verhalten und starrte aus dem kleinen Küchenfenster. Schließlich erzählte er ihr von dem Traum, den er schon einmal geträumt hatte, bereits vor Karanas Geburt; und von dem Streit, den er darüber mit seiner Mutter gehabt hatte.

„Und jetzt sag mir.“, zischte er am Ende seiner Erzählung, „Bin ich verrückt, weil ich noch Jahre nach Großvaters Tod von seinem Schatten verfolgt werde? Meinst du… meinst du, mit Karana ist etwas Schlimmes? Ich habe einfach panische Angst, dass er eines Tages wirklich diese Zähne bekommt…“

„Und?“, fragte die Cousine und trank ihren Wein aus, „Es sind bloß Zähne. Die Zähne machen ihn nicht zu Großvater.“

„Aber es ist ein schlechtes Zeichen! Verflucht, ich habe es schon damals gesehen und… und jetzt holt mich diese Unruhe wieder ein, wieso sollte dieser Traum ausgerechnet an dem Tag zurückkehren, an dem ich erfahre, dass mein Sohn seine Eckzähne bekommt, wenn es keine Bedeutung hätte?“ Darauf hatte seine kluge, belesene Cousine eine ziemlich dämliche Antwort, aber sie brachte ihn wirklich zum Schweigen.

„Weil die Geister dich eben gerne veräppeln, Puranchen.“ Er starrte sie an und sie sah sich gezwungen, fortzufahren. „Großvater ist nicht als Bestie geboren worden. Wie ein Mann einmal wird, hängt zumindest zu einem größeren Teil auch von seiner Erziehung ab. Soweit ich weiß, hat der Urgroßvater unseren Großvater als Kind nicht sonderlich liebevoll behandelt, das war nicht üblich in der Zeit. Väter haben ihre Söhne nur ausgebildet und zu Kriegern erzogen, gerade in dieser Generation damals wegen des Krieges gegen Anthurien. Abgesehen davon hatte der gute Beksem, soweit ich das gehört habe, kaum Zeit für seinen Sohn, und wenn man dauernd links liegen gelassen wird, ist es ja eigentlich kein Wunder, dass man verrückt wird.“

„Dann gibst du dem alten Beksem die Schuld an Lyrien? An der ganzen Tyrannei?“

„Natürlich nicht; aber er war sein Vater, wenn es jemand hätte verhindern können, dann er. – Was ich damit sagen will… Karana ist dein Sohn. Noch ist er ein Baby; selbst, wenn er wirklich die Reißzähne bekommt und es irgendetwas zu bedeuten haben sollte, wenn du das Richtige tust, wird es nicht soweit kommen, wie du fürchtest. Seit Großvater so ein Baby war wie Karana es jetzt ist, sind viele Jahre vergangen! Die Dinge haben sich geändert und man geht heute ganz anders mit Kindern um als damals. Das… kann vieles anders machen, Puran.“ Sie schnaubte und grinste erneut, als sie das leere Glas auf die Anrichte stellte, dabei neben ihn tretend. Er drehte nur schweigend den Kopf zur Seite. „Ach, Puran… du bist wirklich immer noch dieselbe Heulsuse, die du schon als kleines Kind gewesen bist. Deine Mutter hat dich verzogen, sie hätte dir nicht so ewig die Brust geben sollen.“ Sie wusste, dass er nicht in der Stimmung für ihre Neckereien war, deswegen wunderte sie sich nicht, als er darauf nicht einging, ebenfalls sein Glas leerte und ohne sie anzusehen die Stimme wieder erhob.

„Wann gehst du zurück nach Yiara?“

„Was, so schnell willst du mich loswerden? Großartig. Morgen bei Sonnenuntergang, von Vialla aus, denke ich.“

„Ich… würde dich bitten, mich mit herauf zu nehmen. Ich habe darüber nachgedacht, was du über deine Mutter gesagt hast… und ich würde sie… sehr gerne wenigstens noch einmal sehen. Wenn es keine Schwierigkeiten macht, versteht sich…“ Alona weitete minimal die Augen und sah ihn an, als er den Kopf wieder zu ihr drehte. Als sie lange nichts sagte, addierte er kleinlaut: „Bitte, Alona.“

„Ich habe nichts dagegen.“, warf sie ein, „Aber was ist mit deiner Arbeit? Und deiner Familie?“

„Die Akademie kann warten und die Senatoren und Taiduhr auch. Ich will doch nicht lange bleiben, höchstens zwei Tage. Per Teleport sind wir doch schnell oben. – Und Leyya werde ich natürlich fragen, wenn sie morgen wach ist…“ Ein Räuspern an der Tür unterbrach die beiden und sie blickten auf die Heilerin, von der sie gerade noch gesprochen hatten. „Leyya!“, machte der Mann verblüfft und sie sah von ihm zu Alona.

„Ich werde selbstverständlich mitkommen…“, meinte sie, „Ich… ich meine, es ist deine Tante, sozusagen… ich… würde sie auch gerne kennenlernen. Und Karana sicher auch!“

„Ob der sich später daran erinnert? Wohl kaum, er ist doch gerade erst eins.“, lachte die Telepathin und ihr Cousin räusperte sich.

„Kannst du denn uns alle nach Yiara teleportieren?“ Die Angesprochene schnaufte.

„Hallo? Bin ich die Enkelin von Salihah Lyra, oder was?! Vielleicht ist meine Sehensgabe nicht die größte, aber im Teleportieren hätte ich Großmutter geschlagen, da bin ich überzeugt!“

„Dann steht dem ja nichts mehr im Wege.“, freute sich Leyya aufgeregt, „Ich war noch nie in Yiara! Wann geht es los, gleich morgen früh?“

„Ja, sobald die Sonne aufgeht packen wir und fahren nach Vialla. Wir sollten jetzt besser den Rest der Nacht schlafen… wenn ich das jetzt kann.“, murmelte der Herr der Geister, gähnte und raufte sich kurz die Haare. „Zeit fürs Bett, aber wirklich.“
 

Leyya war noch nie per Teleport gereist. Das Baby natürlich auch nicht, so starrte es seine Mutter und dann die Cousine seines Vaters nur entsetzt aus riesigen Augen an, als sich die Erwachsenen mit ihm am Nachmittag des folgenden Tages vor dem Haus in der Kälte versammelten. Alona war aus Vialla wieder zurückgekehrt und jetzt waren sie bereit, nach Yiara zu reisen. Leyya trug auf dem Rücken eine Trage mit Gepäck für zwei Tage, auf ihren Armen saß der kleine Karana. Seine Mutter hatte ihn schön warm eingepackt; oben im Norden war der Winter bekanntlich sehr viel härter als hier – obwohl Yiara an der Küste lag, was das Klima ein wenig vermildern würde. Dennoch würde es kälter sein als in Thalurien und dass das kleine Kind noch eine Erkältung bekam war sicher das Letzte, was sie wollte.

„Ich habe mit Chata gesprochen, damit jemand Bescheid weiß, dass wir bis morgen Abend weg sind.“, erklärte Puran seiner Frau und tätschelte dann seinem Sohn das Köpfchen, „Sei tapfer, Karana, es geht jetzt ans Teleportieren. Fühlt sich komisch an – sag mal, halten so kleine Babys das überhaupt aus, Alona?“

„Um Himmels Willen, das fällt dir jetzt ein?!“, rief Leyya erschrocken und die Telepathin pustete hörbar die Luft aus ihrem Mund.

„Ihm wird schon kein Bein abfallen dabei. Aber wenn er später jammert, wissen wir, warum…“

„Du Wahnsinnige, du opferst meinen Erben…“, jammerte Puran und sie packte unsanft seine Hand und Leyyas Ärmel.

„Schnauze halten, außerdem war das deine Idee. – Halt das Kind gut fest, Leyya, es geht jetzt los.“

Leyya war froh über die Warnung, denn wirklich etwas merken tat sie nicht – es ging ganz schnell, dann löste sich die Umgebung um sie herum plötzlich auf und alles, was sie spürte, war ein zaghaftes Gefühl in der Magengegend, als würde sie fallen – aber ehe sie es richtig registrieren konnte, hatte es schon aufgehört und die Umgebung war wieder da; allerdings anders als zuvor. Verblüfft drückte sie Karana an sich, der nur verwirrt schaute und einen Finger in seinen Mund steckte, um unruhig daran zu lutschen. Sie standen vor einem relativ großen Haus mit Obergeschoss. Das Dach war nur leicht schräg, damit Regen und Schnee nicht darauf liegen bleiben konnten. Es gab einen kleinen Vorgarten, durch den ein Weg zum Haus führte, den die Gruppe jetzt passierte.

„Moment – hier wohnst du?“, fragte Puran verblüfft und sah zurück über die Schulter, die kleine Straße herunter, in der das Haus stand. Sie mussten relativ weit am Rand von Yiara sein, die Gegend war ruhig und geräumig, ungewöhnlich für eine Stadtmitte wäre es gewesen.

„Westen von Yiara, ja.“, erklärte seine Cousine ihm beiläufig, während sie auf die Haustür zusteuerte, „Die alten Bewohner wollten hier weg und haben es verhältnismäßig günstig verkauft. Mein Vater war so schlau, aus dem Anwesen damals, als der Krieg ausbrach, die Wertpapiere aus dem Schrank mitzunehmen, wir haben ein gutes Stück davon für das Haus abgegeben… aber es ist in gutem Zustand, von den Angriffen der Zuyyaner hat es nichts abbekommen, und außerdem ist jede Menge Platz.“

„Platz?“, schnaufte Puran, „Wofür, für zwei Frauen? Ist ja der Wahnsinn, also, falls du doch noch mal Kinder haben willst, ist hier jedenfalls genug Platz… - und überhaupt, Moment, Wertpapiere aus dem Anwesen?“ Seine Cousine grinste, während sie die Tür öffnete und die Gäste eintreten ließ.

„Ja, natürlich gehört ein Anteil auch deinem Vater, mein Vater hat das alles ordnungsgemäß verwaltet. Ich kann dir deine Anteile geben, wenn du ja gerade zufällig hier bist…“

Im Haus war es schummrig. Alona entzündete eine Öllampe, die neben der Haustür auf einem Tisch gestanden hatte, und führte ihren Besuch im unteren Geschoss herum. Die Küche war, genau wie beim Haus in Lorana, neben dem Eingang links, es gab eine Wohnstube, zwei kleinere Zimmer und am Ende des längeren Flurs ein großes Badezimmer. Die Treppe hinauf gab es noch mehr kleine und etwas größere Wohn- und Schlafzimmer. Auf eine der geschlossenen Türen deutete die Telepathin nur von weitem.

„Das ist Mutters Zimmer, sie schläft vermutlich, ich sehe gleich nach ihr und sage ihr, dass wir Besuch haben. – Ich bin keine gute Gastgeberin, ehrlich gesagt… setzt euch einfach und macht es euch bequem, ich bringe euch dann etwas zu trinken.“
 

Die Wohnstube war geräumig und gemütlich. Puran und Leyya saßen eine ganze Weile auf den Sitzkissen einander gegenüber am kleinen Couchtisch. Karana saß auf dem Schoß seiner Mutter, brabbelte unverständliche Dinge vor sich hin und schien aber begeistert zu sein, er klatschte fröhlich lachend in die Hände und johlte.

„Ihm scheint es zu gefallen.“, meinte Puran grinsend und stützte die Ellenbogen auf den Couchtisch vor sich. „Wertpapiere, tss. Das ist ziemlich praktisch, das heißt, wir kriegen unverhofft Geld, und es wird nicht wenig sein. Mein Vater war Statthalter in Vikhara, er hat für die Verwaltungsarbeit nicht wenig Lohn bekommen.“ Sie kitzelte lachend das Baby und hob dann den Kopf, um ihren Mann anzusehen.

„Dieses Haus ist riesig, Puran!“, sagte sie, „Mir kam ein Gedanke, als ich hier herein kam und sah, wie groß alles ist-… nein, eigentlich kam er mir schon früher. Ich habe erst jetzt, wo wir Besuch über Nacht hatten, gemerkt, wie klein unser Haus eigentlich ist-… ich… denke daran, was ist, wenn Karana größer wird? Er wird nicht ewig bei uns mit im Zimmer schlafen können, und außerdem…“ Leyya errötete etwas, „Wünsche ich mir doch noch mehr Kinder mit dir… wir können uns doch nicht alle eine Stube teilen. Ich meine… denkst du nicht, dass wir darüber nachdenken sollten, an das Haus anzubauen?“ Karana kicherte, während er in Mutters Armen wild strampelte und versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. Schließlich ließ sie ihn los und er plumpste auf den Boden, wo er sich flink wieder aufrappelte und auf den wackeligen Beinchen durch das Zimmer zu stolpern begann. Er konnte schon eine ganze Weile laufen, mitunter überschätzte er sein Gleichgewicht und rannte so schnell, dass er umfiel; zum Glück hatte er sich dabei noch nichts getan.

„Ja, darüber habe ich auch schon gegrübelt.“, antwortete Puran seiner Frau dann dumpf. „Für mehrere Kinder ist das so jedenfalls ganz und gar unmöglich. Ich möchte ja auch, dass es nicht bei einem bleibt…“ Er lächelte sie schelmisch an und sie strahlte, abermals errötend.

„Wenn du weniger Stress hast, klappt es sicher besser. Ich freue mich schon!“

„Wenn wir jetzt die Wertpapiere meines Vaters kriegen, ist es einfach, bald Baumaterial und Hilfskräfte zu bezahlen… vielleicht sollten wir ein Obergeschoss bauen, das wäre vermutlich am besten.“

„Oh, wie aufregend!“, freute sich Leyya – ihr Gespräch wurde von Karana unterbrochen, der kichernd durch den Raum stolperte und jetzt gegen seinen Vater rannte, dabei fiel er rücklings um und zu Boden und hickste.

„Hoppla.“, machte Puran lachend und das Kind hickste erneut und plapperte ihm nach.

„Hoppla…“

„Ja, nach vorne gucken, kleiner Mann!“, riet der Vater ihm, während er den Kleinen auf die Beine zog und wieder hinstellte. Karana strahlte ihn mit seinen paar Zähnchen im Mund an und breitete die Arme aus, um nach vorne gegen Puran zu kippen und sich umarmen zu lassen.

„Meins.“, erklärte er dabei feierlich und der Vater lachte.

„Ach, so ist das also? Besitzergreifend und blind, was habe ich doch für einen Sohn…“, feixte er, und Karana kuschelte sich an ihn und knabberte an Vaters Hemd herum, bis der ihn hüstelnd etwas weg schob. Leyya lag lachend mit dem Kopf auf der Tischplatte. „Beiß mich nicht, Karana, ich gebe keine Milch! Außerdem kriegst du doch schon lange keine Muttermilch mehr – nein, aufhören, du hast jetzt Zähne, du machst nur mein Hemd kaputt… aua!“ Die kleine Heilerin lachte nur und amüsierte sich köstlich.

„Kind frisst Vater mit Haut und Haar!“, zitierte sie die imaginäre Schlagzeile in den Nachrichten, „Ein bockiger Junge hielt seinen Vater für eine Milch gebende Mutter und fing an, ihn zu essen… ja, Puran, da siehst du mal, Karana hält dich für eine Frau…“

„Sehr komisch.“, brummte ihr Mann und neckte sie zurück, während er sich das gackernde, strampelnde Kind vom Hals hielt, „Das kommt nur daher, weil er eine Mutter hat, die etwa genauso viel Oberweite hat wie ihr Mann, nämlich keine.“ Seine Frau zischte errötend und schien jetzt wütend.

„Das sagst ausgerechnet du! Und du tönst sonst herum, du würdest meine Brüste mögen, Puran!“

„Ja, ich liebe deine Brüste, das weißt du doch.“, schnaubte er, „Du hast gesagt, ich sähe weibisch aus!“

„Das kommt alles von deinem eitlen Getue mit deiner Frisur!“, schnaubte die Heilerin erbost, „Du sorgst dich mehr um deine Haare als jede Frau, die ich je gekannt habe!“

„Und deswegen beißt Karana meine Brustwarze? Na großartig. Das hat wehgetan, soll ich das mal bei dir machen?“

„Ich weiß, wie sich das anfühlt, ich habe ihm selbst die Brust gegeben, noch vor ein paar Monden!“

„Ja, aber damals hatte der Schlaumeier auch noch keine Zähne. Und jetzt hör auf, zu schmollen, ich habe es doch nicht böse gemeint, genauso wenig wie du, das wissen wir doch beide.“ Sie zog eine Schnute und drehte das Gesicht zur Seite.

„Du weißt auch genau, dass ich auf dieses Thema empfindlich reagiere… das war gemein, Puran! Du kannst mich doch nicht damit aufziehen! Manchmal wünschte ich, dein Mannknochen wäre so klein wie meine Brüste, damit ich dich damit auch aufziehen könnte!“ Er musste lachen.

„Jetzt reicht es aber, Leyya, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht wirklich ärgern… kannst du mir vergeben?“ Er setzte Karana jetzt endlich auf seinen Schoß, wo das Kind zu zappeln aufhörte und stattdessen an seiner eigenen Lippe zu knabbern begann. Leyya schnaubte, stand schließlich auf und kam um den Tisch zu den beiden herum, wo sie sich neben ihren Mann hockte.

„Wenn du mir beweist, dass du es ernst meinst, ja…“, flüsterte sie dann und lächelte bereits wieder, bevor er sich zu ihr beugte und sie leidenschaftlich küsste. Mit einem Arm seinen Sohn festhaltend hob er die andere Hand an Leyyas Busen und strich zärtlich darüber, während sie sich seufzend seinem Kuss hingab und den Mund öffnete, damit ihre Zungen sich berühren konnten –

„Ich störe euch ja nur ungern, aber ich dachte, du wärst wegen meiner Mutter hier, Puran. Sie ist wach, ich habe ihr alles berichtet und sie würde euch gerne sehen. Sie kann nicht das Bett verlassen, deswegen solltet ihr hinauf kommen. Aber wenn ihr erst mal weiter vor den unschuldigen Augen eures Sohnes ein Geschwisterchen für ihn machen wollt, mache ich solange Tee.“ Puran und Leyya fuhren hustend auseinander und Letztere errötete noch heftiger als zuvor, als sie sich verneigte und Entschuldigungen dahermurmelte. Ihr Mann schnaubte, ebenfalls leicht rot im Gesicht, und erhob sich mit Karana auf dem Arm.

„Du hättest dich dezent räuspern können, Alona, deine Kommentare spare dir ruhig in Zukunft. Aber natürlich gehe ich mit dir hinauf – möchtest du mit, Leyya?“ Er lächelte, als sie sich beschämt ebenfalls erhob und ihre Bluse zurecht rückte, „Meine Tante würde dich sicher auch gerne kennen lernen.“ Sie nickte und warf Alona einen verlegenen Blick zu, dir jedoch nur kicherte und die Gäste vor sich die Treppe hinauf steigen ließ. Vielleicht sollte sie sich einmal in Ruhe mit der Frau ihres Cousins unterhalten… nicht, dass die Heilerin sie nachher für eine schlechte, gehässige Person hielt. Aber sie war so niedlich, wenn sie so verlegen war – so etwas war Alona nun einmal von ihrer Familie nicht gewohnt.

Sukutai lag in ihrem Bett im abgedunkelten Zimmer. Die Öllampe aus dem Flur brannte jetzt auf dem Nachttisch und die Frau im Bett drehte vor Freude beinahe weinend den Kopf zur Tür, in der sie den Neffen ihres verstorbenen Mannes sah.

„Du bist… wirklich hier, Puran, oder träume ich…?“, wisperte sie mit leiser Stimme, „Ich habe vergangene Nacht von Vikhara geträumt und… von dem Schloss… ich habe gewünscht, dass alles wie früher wird. Aber das wird es nie wieder sein, nicht wahr?“ Sie zitterte und Puran trat mit Leyya, die jetzt Karana trug, und seiner Cousine näher an das Bett seiner Tante. Er schnappte nach Luft, als er sie ansah, und sie wandte ihr Gesicht jetzt seinem zu, lächelnd. „Ach, sag mir, wie lange mag es her sein, dass ich dich sah, Neffe? Du bist… ja ein richtiger, erwachsener Mann geworden… und hübsch bist du… die Männer deiner Familie waren immer hübsch…“ Er räusperte sich und wusste nicht, was er sagen sollte… er hätte das Kompliment gerne erwidert. Aber hübsch war seine Tante nicht mehr… man sah ihr die schwere Krankheit bereits deutlich an. Sie war ausgezehrt und blass, ihr Gesicht war eingefallen wie das einer alten Frau, dabei war sie sogar jünger als seine eigene Mutter es jetzt gewesen wäre. Es schmerzte ihn, sie so krank zu sehen… und es tat ihm für Leyya leid, dass sie seine Tante nicht in besserer Verfassung kennenlernen konnte.

Er seufzte traurig, als er sich an den Bettrand setzte und Sukutais Hand nahm.

„Ich bin hier, ja.“, meinte er dann dumpf, „Ich… ich bin so froh, dass ich dich wieder sehen kann… glaub mir, Tante, ich wünsche mir genau wie du, dass alles wie früher wäre…“ Sie lächelte und sah ihn an, während sie schwer nach Luft schnappte.

„Ja, wir… würden mit… deinen Eltern und… Kiuk zusammen auf der Terrasse sitzen und Kuchen essen… natürlich nur im Sommer. Es sind so… schöne, angenehme Erinnerungen für mich. Ach, wehe, ich weiß, dass ich dieses Bett nie wieder verlassen werde. Die letzten Tage, Wochen, wie lange mag es dauern? Wie lange werde ich hier vor mich hin vegetieren mit keiner Gesellschaft als der meiner Tochter…?“

„Du bist ungerecht, Muttchen.“, sagte Alona dumpf, „Herr Noh von nebenan kümmert sich auch um dich, während ich fort bin. War er heute hier?“

„Heute morgen, ja. Ja, der gute Mann ist natürlich auch da… du solltest später hinüber gehen und dich bei ihm bedanken für seine Liebenswürdigkeit.“

„Hatte ich vor.“, sagte Alona mit einem verhaltenen Räuspern. Sukutai drehte den Kopf von Puran weg und zu Leyya, die sich artig verneigte.

„Mein Name ist Leyya.“, stellte sie sich vor, „Ich bin Purans Gemahlin… und das ist unser Sohn, Karana.“ Sie wippte das Baby auf ihren Armen und Karana kicherte. Puran musste lächeln, als seine Tante ebenfalls strahlte.

„Ah, Alona hat bereits erwähnt, du seist jetzt verheiratet, Puran! Ach, ich bin richtig stolz… und Vater bist du! Du bist tapfer… deine Eltern wären sicher… ebenfalls stolz.“ Sie seufzte deprimiert und Puran räusperte sich.

„Ja, sie… haben leider beide Karanas Geburt verpasst. Wenigstens unsere Hochzeit haben sie erlebt. Vater hat sich schon so auf seinen ersten Enkel gefreut-… es ist schade, dass Karana nie Großeltern haben wird. Meinen Großvater habe ich war zeitlebens verflucht, aber meine Großmutter hatte ich gern. Obwohl sie gruselig war…“ Er lachte leise und Sukutai tat es ihm gleich, dann hustete sie heftig und wandte sich ab, dem Besuch den Rücken kehrend. Bestürzt sahen die anderen sich an, ehe die Frau sich wieder zu ihnen umdrehte, sobald der Hustenanfall vorüber war.

„Ich hätte… Tabari und Nalani gerne noch… einmal gesehen… als dein Onkel starb, Puran… habe ich mich so oft gefragt… wie soll ich das Tabari erklären, wenn ich ihn wiedersehe? Was soll ich sagen, wenn ich weiß, dass er erfahren hat, dass sein Bruder tot ist? Ich wüsste es bis heute nicht… es tut mir so leid.“ Der Mann seufzte nur kurz.

„Ich weiß, was du meinst, mir geht es ebenso, wenn ich anderen erzähle, dass meine Eltern gestorben sind. Die Geister haben es Vater gesagt, als Kiuk gestorben ist. Er war am Boden zerstört, ich… habe ihn nie so erlebt wie damals. Es war furchtbar. Und ähnlich war es mit meiner Mutter, als mein Vater starb.“ Sukutai zeigte ein bitteres Lächeln, als sie an die Decke des Zimmers blickte.

„Wir sind den ganzen Krieg über hier im Norden geblieben. Wir sind umher geirrt, haben Schutz gesucht und auch versucht, die wehrlose Bevölkerung irgendwie mit zu schützen. Aber die Zuyyaner sind… einfach immer wieder gekommen, sie sind immer mehr geworden. Dann starb Kannar… er ist von den Kriegern getötet worden. Als Kiuk starb… waren wir auf der Flucht vor den zuyyanischen Soldaten. Die Kraft, die wir noch hatten, hätte nie für einen Teleport gereicht… wir hatten die Wahl, ob wir eine Barriere machen und uns so lange schützen, bis die Kraft alle ist, oder ob wir den Rest der Magie dafür nutzen, sie Bestien zu zerschmettern… Kiuk hat sich dann für letzteres entschieden. Und er hat die Einheit getötet… aber der letzte von ihnen durchbohrte ihn mit der Klinge, die er trug.“ Sie schloss die Augen und Puran sah kurz auf Leyya, die erzitterte bei der furchtbaren Geschichte. „Kiuk war kein Kämpfer… er hat es immer gehasst, zu kämpfen. Und dennoch ist er… als Held gestorben. Das macht ihm und auch uns als Hinterbliebenen große Ehre… die Geister haben ihn gut bei sich aufgenommen, ich weiß es.“ Sie schwiegen alle einen Moment, ehe Sukutai die Augen wieder öffnete und müde lächelte. „Und bald werde ich ihn sehen können.“
 

Den Rest des Nachmittages erzählte Puran seiner Tante, was sie erlebt hatten während der Kriegsjahre. Er erzählte, wie Leyya zu ihnen gestoßen war, von dem Dorf Iter und der Geburt der kleinen Saidah. Von der Schlacht bei Aughot, auf die er aber nur kurz einging, und von der Zeit in Kadoh bei den Bergmenschen. Er erzählte von Karana, Leyyas Lebensretter, dem sein Sohn seinen Namen zu verdanken hatte, und wie sie aus Kadoh in Booten geflohen waren – wie Keisha gestorben war. Von der Zeit in Vialla, dem König, davon, wie Ruja, Kohdars und seine Eltern gestorben waren, von Henac Emos Verrat und dem Mann namens Ulan Manha, der sich jetzt Scharan nannte und als Herrscher der Lianer auf Ghia sein Unwesen trieb. Bei dem Namen Ulan Manha hob Alona verblüfft den Kopf und bat ihn, das zu wiederholen – als er es aber tat, sagte sie nichts weiter und runzelte bloß die Stirn. Zuletzt berichtete Puran von der Reise nach Thalurien mit seiner schwangeren Frau und wie die Menschen in Lorana sie gerettet hatten.

„Was ist eigentlich mit Dasan Sagal, kennt ihr den auch? Ich glaube nicht, dass er im Telepathen-Orden ist, aber der Name ist unten in Thalurien so bekannt wie hier die Ekalas.“, fiel ihm dann ein, und während Sukutai wieder hustete, sprach Alona.

„Doch, ich kenne den Namen Sagal. Sie sind ein recht alter und hoch angesehener Clan der Telepathen. Vielleicht auf derselben Stufe wie die Ekalas, von denen unsere Großmutter abstammte. Es gibt viele Zweige dieser Familie, im TO ist einer mit dem Namen Sagal, der muss weitläufig mit deinem Freund aus Lorana verwandt sein.“

„Wieso weißt du, wer im TO sitzt?“, wunderte Puran sich nur und sie lachte kurz auf.

„Da meine Mutter nicht mehr an den Ratssitzungen teilnehmen kann… erst recht nicht in Vialla… vertrete ich sie, man hat mich also vorzeitig zum Rat zugelassen, eigentlich hätte ich erst später eintreten sollen. Allerdings tue ich das offiziell erst seit wenigen Wochen, die letzte große Sitzung in Vialla habe ich verpasst. Der TO versammelt sich auch hin und wieder außerhalb des königlichen Rates, meistens hier in Yiara.“

„Ah.“, machte der Cousin aufgeklärt, „Dann bist du jetzt also auch im Rat! Ist ja großartig, jetzt sind wir alle Mitglieder irgendeines Rates.“ Er lachte und Sukutai lächelte auch.

„So entspricht es ja auch eurem Namen… ihr seid Lyras. Der Clan der Lyra ist seit jeher… der größte aller Clans. Es wäre merkwürdig, wärt ihr nicht im Rat.“
 

Puran war verblüfft darüber, wie ernüchternd es war, seine Tante zu treffen. Er hatte gedacht, er würde in wieder aufgeweckten Emotionen ertrinken und den Rest des Tages heulen bei den Erinnerungen an die verflossenen Zeiten… aber so war es gar nicht, das war überraschend, auf angenehme Weise. Er hasste es mitunter, so dicht am Wasser gebaut zu sein.

Jetzt stand er am Fenster des Zimmers, das seine Cousine ihm angeboten hatte, in dem er und seine Frau schlafen würden. Leyya brachte Karana zu Bett – in Alonas Haus gab es natürlich kein Kinderbettchen, aber man hatte ihm liebevoll ein kleines Nest aus Decken und Matten gebaut, in dem er schlafen würde, im Zimmer neben dem seiner Eltern. Als seine Cousine hinter ihn trat und sich kurz räusperte, um auf sich aufmerksam zu machen, sagte er lange nichts, dann drehte er seufzend den Kopf.

„Ich werde meinen Nachbarn besuchen und mich bei ihm für die Mühe um meine Mutter bedanken.“, kündigte sie an, „Es ist das Haus östlich von diesem, falls also irgendetwas ist, findest du mich da. Könnte etwas dauern. Geht ihr ruhig schlafen.“

„Du scheinst deinen Nachbarn ja gern zu haben.“, stellte er fest und sie verdrehte die Augen.

„Wir trinken mitunter zusammen Tee. Er ist ein guter Mann, und er lebt alleine und freut sich daher über die Gesellschaft. Ich glaube, es kommt nicht nur meiner Mutter zu Gute, dass er während meiner Abwesenheit für sie sorgen kann, vermutlich trinken sie dann hier auch Tee, oder so.“ Sie lachte kurz und ihr Cousin nickte.

„In Ordnung, ich weiß Bescheid. – Sag… gibt es wirklich nichts, was man für sie tun kann?“ Mit Bedauern sah er, wie Alona den Kopf schüttelte.

„Ich habe schon gute Heiler hier gehabt, wir können mit Medikamenten versuchen, die Symptome zu lindern, aber die Chance auf Heilung ist quasi dahin. Es ist in Ordnung, wir beide, sie und ich, haben gelernt, es zu akzeptieren. Sei nicht deprimiert deswegen, bitte. Ich wünsche mir nur, dass es so wenig Schmerzen wie möglich geben wird.“ Sie neigte den Kopf und murmelte ein Wort zum Abschied, wünschte ihm eine gute Nacht und verschwand dann aus dem Zimmer. Puran sagte nichts und starrte nur wieder aus dem Fenster in die Dunkelheit. Es war eiskalt in Yiara… zum Glück war das Haus recht gut geheizt.

Er hörte Leyya nebenan ein Schlaflied für das Kind singen, und als wollte er selbst davon einschlafen schloss er die Augen. Die Geister wisperten in seinem Kopf und als er plötzlich in der Dunkelheit wieder die grinsende Fratze seines Großvaters erkennen konnte mit den Zähnen eines gefährlichen Raubtiers, riss er die Augen zischend wieder auf und fasste heftig nach seinem pochenden Schädel.

„D-diese verdammten Zähne!“

„Was hast du, Liebling? Hast du Zahnschmerzen, oder was?“ Er fuhr entsetzt herum, als er Leyyas Stimme plötzlich im Zimmer hörte – er hatte nicht gemerkt, dass sie zu singen aufgehört hatte und herein gekommen war. Bedeppert starrte er sie an, als hätte er sie nie zuvor gesehen, während sie leise die Tür schloss und ein verwirrtes Lächeln zeigte.

„Nein…“, brachte er dann heraus, „Nein, das ist es nicht.“

„So?“, machte sie dumpf und trat zu ihm herüber, um ihn sanft von hinten zu umarmen, während er wieder aus dem Fenster sah. „Was fluchst du dann hier herum? Karana schläft jetzt… wir sollten auch zu Bett gehen, Puran.“ Er antwortete lange nicht und sie dachte schon, er wäre im Stehen eingeschlafen, da sprach er doch:

„Mein Großvater hatte furchtbare Eckzähne, sie sahen aus wie die eines Raubtiers. Ein eigenartiges Merkmal, das mich immer beunruhigt hat. Jetzt… träume ich denselben Traum wie damals, bevor du schwanger wurdest… von dem Kind, das du mir geboren hast, das… eben diese Zähne trägt. Ich kann mir nicht helfen als es als schlechtes Zeichen zu deuten… was, wenn Karana wirklich diese komischen Zähne bekommt?“ Leyya ließ ihn los und als er sich umdrehte, starrte sie ihn aus geweiteten Augen an.

„Du denkst… also immer noch, unser Sohn hätte irgendetwas mit deinem Großvater zu tun?“

„Ich weiß nicht, auf welche Weise das möglich wäre… damals haben die anderen seinen Leib mit Sand und Steinen verstopft und in den Fluss geworfen, eine unwürdige Art der Bestattung, die seinem Geist nie erlauben sollte, wieder in diese Welt zurückzukehren. Irgendwie werde ich aber das Gefühl nicht los, dass er dennoch zurückgekehrt ist… ich träume immer noch davon, diese ewige Angst, die ich schon mein ganzes Leben mit mir herum trage, verfolgt mich immer noch, d-das kann doch nicht grundlos sein! Die Geister würden das nicht machen, wenn es grundlos wäre, Leyya!“ Sie wandte keuchend den Blick ab.

„Aber… aber warum unser Kind? Er hat einen guten Namen bekommen, einen Lebensgeist, der mit deinem Großvater absolut gar nichts zu tun hat, abgesehen davon, dass er denselben Anfangsbuchstaben hat…“

„Ich weiß es doch nicht.“, seufzte ihr Mann missmutig, „Ich weiß nur, was ich träume. Und ich träume, dass Karana diese Zähne hat. Es ist ein Traum von… großer, gefährlicher Macht. Dieses Baby wird einmal ein mächtiger Schamane sein… es ist seine Bestimmung, einmal in die Fußstapfen seiner Vorfahren zu treten. Aber diese Familie hat viele Fußstapfen gelegt… er könnte in meine treten, in die meines Vaters… oder in die meines Großvaters. Und das ist es, wovor ich Angst habe.“

Leyya sagte kurz nichts, und er wandte sich von ihr ab und zog sich aus, um sich dann auf das für sie bereitete Schlaflager zu legen. Ehe sie auch anfing, sich auszuziehen, antwortete sie ihm dann.

„Wir sind Karanas Eltern… dann ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er in die richtigen Fußstapfen tritt. Ich kann nichts Böses spüren in diesem Baby… es ist ein guter Sohn, Puran. Vertrau mir… selbst, wenn er wirklich die Fangzähne des Tyrannen Kelar bekommt… er ist nicht Kelar. Er ist Karana. Er ist dein Sohn… wem wird er wohl eher nacheifern, seinem Vater, den er sehr liebt, oder einem Urgroßvater, den er niemals auch nur annähernd gekannt hat?“ Puran seufzte und sah ihr zu, wie sie sich zu ihm legte, und sie umarmten einander innig und teilten einen kurzen Kuss.

„Ich wünschte, es wäre so leicht. Ich möchte dir vertrauen, Leyya… ich möchte diese Panik überwinden. Aber die Geister… finden so viele, abstruse Wege, ihren Willen durchzusetzen… lass uns beten, dass ich genug Macht aufbringen kann, um sie so weit zu beherrschen, dass sie unsere Familie nicht zerstören…“
 


 

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Hurra, ein Titel mit 'Schatten', hatten wir lange nicht mehr, hust! xD Hatten wir auch noch nicht 64627342 Millionen Mal xD Ach was solls. Gammliges, langweiliges Kapi ohne viel Inhalt mit viel Geblah^^ Und bitte, wenn irgendetwas unklar ist oder ungeklärt erscheint, sgat es mir... manchmal verliere selbst ich den Überblick^^

Kreislauf

Karanas Eckzähne ähnelten denen seines Urgroßvaters sehr. Für Puran blieb es ein beunruhigendes Zeichen, ein schlechtes Omen, obwohl er versuchte, dagegen anzukämpfen. Es war, wie Alona gesagt hatte… er war Karanas Vater, es lag mit an ihm, auf welchem Weg sein Sohn eines Tages landen würde. Er musste nur dafür sorgen, dass es nicht der Weg eines Mannes war, dessen raubtierähnliche Eckzähne der Kleine geerbt hatte…

Die Gedanken ließen ihn trotz der Hitze schaudern, als er eiligen Schrittes durch die Hauptstadt Vialla marschierte, auf dem Weg zum Palast. Er würde zu spät kommen und die anderen im Rat würden sich königlich amüsieren… oh, wie er es hasste. Aber in Gedanken versunken hatte er einfach die Zeit vergessen. Der Sommer war gekommen. Er war schon beinahe wieder vorbei, aber in Thalurien wie in Vialla hielt die furchtbare Hitze immer noch an. Es war ein trockener Sommer mit wahnsinnig viel Sonne gewesen; Puran hatte gedacht, er würde sterben in dem Klima. Im Sommer sehnte er sich immer nach der angenehm frischen Temperatur in Dokahsan, nach seiner alten Heimat… den Rest des Jahres fühlte er sich wohl in Lorana. Nur im Sommer nicht, und er machte kein Geheimnis daraus. Seiner Frau und Karana schien es da besser zu gehen; vor allem Karana. Er war auch im Sommer quietschfidel gewesen, war im Dorf herum gerannt und gehüpft, egal, bei welcher Hitze. Er war im Süden geboren worden, vielleicht hatte er deswegen nicht so große Probleme mit der Hitze wie sein Vater…

So in Gedanken versunken erreichte der Mann schließlich den Palast und fuhr erschrocken zusammen, als ihm plötzlich jemand genau in den Weg sprang.

„Aha, da bist du ja endlich! Und wir haben uns schon gefragt, ob du vergessen hast, dass wir heute Rat halten müssen, Puran!“ Der Herr der Geister fasste sich keuchend an die Brust und schnaubte dann, ehe er dem Mann vor sich ins Gesicht sah.

„Himmel, Neron! Du Idiot, wieso erschreckst du mich so?! Wenn ich tot umfalle, müsst ihr in einem sehr langwierigen, anstrengenden Turnier einen neuen Herrn der Geister bestimmen, willst du das etwa schon wieder durchmachen müssen? Wobei, mir könnte es dann ja egal sein…“ Er seufzte, als hinter Neron auch Tare Kohdar, Senol Kita und Meoran dazu kamen. Der Rat der Geisterjäger war wirklich nicht mehr groß, fiel dem Jüngsten dabei auf und er räusperte sich verhalten, als die vier andere einander ansahen und dann synchron grinsten. Er hatte sie alle seit dem Frühjahr nicht mehr gesehen… viermal im Jahr sollten sich die obersten drei Räte der Schamanen in Vialla treffen, um zu besprechen, ob es etwas Wichtiges gab. Das Protokoll der Versammlungen ließ man dann dem König zukommen. Puran ärgerte sich immer, dass die Heiler ihren Rat nie gleichzeitig mit dem seinen abhielten, sondern immer um wenige Tage versetzt; so konnte er nie viel Zeit mit seiner Frau zusammen in der Stadt verbringen, wenn sie schon beide hier sein mussten. Sie wohnten dann für die wenigen Tage in Purans kleiner Stadtwohnung im Beamtenviertel; aber dass sie dort gleichzeitig waren, beschränkte sich meistens auf höchstens eine Nacht. So war Leyya einen Tag bevor er nach Vialla aufgebrochen war schon aus der Stadt abgereist und war jetzt wieder in Lorana – das Gute daran war, dass so immer jemand auf Karana aufpassen konnte. Wenn sie tatsächlich beide weg mussten, wurde das Kind vertrauensvoll Chata Anso und seiner Frau überlassen.

„Du siehst so fertig aus.“, grinste Neron da und der Braunhaarige schnaufte, „Ich dachte, deine Frau wäre schon früher hier gewesen…?“

„Diese Hitze.“, erinnerte Puran ihn, „Ich hasse sie, ich habe mich sehr beeilt, herzukommen, und es ist verdammt warm, grauenhaft!“

„Sehr beeilt, und dennoch zu spät.“, grinste Tare, „Mittag ist durch, die Sonne war schon im Zenit… aber was soll’s, du bist da.“

„Besser spät als nie.“, addierte Senol Kita und Neron hob theatralisch einen Zeigefinger.

„Wir haben noch etwas zu feiern, so denke ich, oder, Puran? Ach, verdammt, ich wollte getrocknete Blätter mitnehmen aus Skelrod und sie über dich werfen zur Feier des Tages… du Senator aus Thalurien!“ Jetzt begriff der Jüngere, was Neron feiern wollte, und er lachte blöd.

„Moment, woher weißt du, dass die Prüfungen durch sind…?“

„Meoran hat es erzählt.“, petzte der Schwarzhaarige, „Du hast ihm einen Brief geschrieben! Du hast also den Posten von Koreth gekriegt! Glückwunsch! Verdammt, dann wirst du jetzt ja ein richtig wichtiger Mann… und ich?! Du Held…“ Die anderen lachten und Puran ließ sich von seinen Kollegen und Kameraden die Hand geben, ehe er sich erneut räusperte und sie sich dann langsam auf den Weg zum Ratssaal machten, der für sie fünf Männer viel zu groß war.

„Das ist nett von euch, so viel Aufmerksamkeit wäre nicht nötig gewesen.“, murmelte der Ratsführer dann bescheiden, „Ich schätze, es gehört auch etwas Glück dazu…“

„Du hast die Leute eben von dir überzeugt.“, grinste Meoran, „Ich bin stolz auf dich. Wie macht sich denn deine neu errungene, ehrliche Arbeit?“

„Wieso betonst du ehrlich, Meister? – Nun, es ist… anstrengend. Der Papierkram macht Kopfschmerzen, Statistiken und so, aber eigentlich ist das noch besser als in der Provinz herum zu laufen, bei dieser Affenhitze! Und das im Mond der Irrlichter!“

Sie erreichten den Raum, in dem sie für gewöhnlich tagten, und setzten sich gemeinsam an den Tisch. Der Raum war stickig, deswegen öffnete Senol artig die Fenster, während die anderen die guten Gaben heraus rückten:

„Tare hat extra guten Tabak gekauft und ich hab Wein mitgebracht!“, erklärte Neron eifrig, „Ach so, das Formelle vorweg – ist was passiert? Nein? Gut, hurra, wir machen es wie immer und rauchen und saufen!“ Alle lachten, Senol verdrehte die Augen und Meoran schnaubte.

„Also wirklich, etwas Ernst solltest du behalten, Neron. Die Zuyyaner sind immer noch auf Tharr, wir sind mit denen noch nicht fertig. Trotz des Waffenstillstandes sollten wir achtsam sein.“

„Sind wir doch, du Spielverderber…“, kicherte Neron, gab seinem Kollegen aber mit einem Blick zu verstehen, dass er ihn durchaus ernst nahm. Meoran seufzte; er wusste, dass Neron ein guter Mann war. Wenn es wirklich ernst würde, könnten sie sich auf ihn verlassen.

„Du verlierst wohl nie deinen Humor.“, seufzte Puran, nahm aber dankend eine von Tares Zigaretten an, „Gerade jetzt, wo deine Frau endlich mal schwanger geworden ist, solltest du dich mal zusammenreißen! Bevor die Geister es sich anders überlegen…“

„Ah, oh, ihr werdet sehen!“, gackerte der Schwarzhaarige, der sich auch eine Kippe ansteckte – Tare und Meoran taten es ihm gleich und Senol Kita hüstelte bloß. Der einzige Nichtraucher im Verein… „Saja wird einen großartigen Sohn gebären, genau! Purans Karana muss doch mal einen Rivalen haben! Oder wenigstens Kumpel, oder so.“

„Ja, pass auf, nachher sieht er noch so aus wie ich.“, feixte Tare Kohdar und erntete von seinem Kollegen einen Schlag auf den Kopf, „Au… war nur ein Scherz, ich mach mir nichts aus blonden Frauen…“ Die anderen lachten erneut und Neron schmollte.

„Such dir endlich auch mal eine, du Außenseiter.“, riet er Tare dann grinsend, „Alle hier sind Vater, nur du Idiot nicht – sogar Senol hat ein kleines Baby!“ Der Blonde lachte.

„Sie lacht jetzt schon… ich könnte den ganzen Tag meiner Frau und meiner Tochter zusehen, es ist einfach zu schön…“

„Da kommt der Romantiker, passt auf.“, feixte der einzige Kinderlose weiter und die anderen glucksten erneut.

Seit dem Frühlingsmond hatte Senol eine kleine Tochter, sie hieß Sora. Beim letzten Ratstreffen war der Blonde ganz aus dem Häuschen gewesen und hatte allen von dem freudigen Ereignis erzählt, und weil er ohnehin in Vialla wohnte, hatten anschließend alle kurz seine Frau Shiva und Baby Sora besucht und zum Glückwunsch beschenkt. Sora war ein niedliches Baby mit bislang wenig Haar und blauen Augen. Puran fragte sich, ob das Kind von Neron und seiner Frau Saja wirklich ein Junge werden würde. Nach so vielen Versuchen hatte es also bei ihnen auch endlich mal geklappt; Saja war jetzt seit sehr kurzer Zeit schwanger. Im späten Frühjahr des nächsten Jahres würde das Kind geboren werden.

Während Senol sich über Tare empörte und sich aufregte, er wäre gar kein Romantiker und niemand würde ihn ernst nehmen, und der Ältere nur grinsend seine Zigarette rauchte, holte Neron aus der Tasche, die er mitgebracht hatte, Becher, um allen Wein einzuschenken. Meoran lachte verhalten, während er zum Fenster blickte. Draußen bewölkte es sich… es würde Regen geben, wenn nicht sogar Gewitter. Der drückenden Luft war die Spannung anzumerken…

„Ich wünsche mir so sehr, dass es einfach so bleibt, weißt du?“, murmelte er in Purans Richtung, „Dass wir… weiter hier so sinnlos sitzen und rauchen, dass wir uns fröhlich über unsere Nachwuchs unterhalten können… und dass dieser Nachwuchs unbeschadet aufwächst. Ich wünschte, es wäre einfach… wir beide wissen, dass es das nicht sein wird, Puran.“ Der Jüngere senkte kurz den Kopf und sagte nichts, während die anderen ihm gegenüber lauthals diskutierten. Dann drehte er das Gesicht zu seinem Lehrmeister herum und zeigte ein bitteres Lächeln.

„Ich weiß, ja. Wenn ich mit den Geistern spreche, warnen sie mich noch immer… vor dem Ende der Welt. Uns steht noch irgendetwas Grausames bevor… ich weiß nicht, ob es die Zuyyaner sind… oder irgendetwas anderes.“ Meoran stieß den Rauch der Zigarette aus und richtete den Blick an die Zimmerdecke, als er sprach.

„Ich habe Gerüchte gehört, dass die Bestienzüchter im Ostreich irgendwelche grauslichen Schatten über dem Zentralreich beschwören wollen. Ich weiß nicht, in wie weit die Quellen vertrauenswürdig sind – du weißt, ich darf dir darüber eigentlich nichts erzählen, Informationen der streng geheimen Sorte. Du hast das nicht von mir, Puran… aber sei so gut und behalte im Hinterkopf, was ich dir sage. Wir in Janami sind dem Ostreich näher als ihr… irgendetwas tun sie in Ela-Ri, dem Land der blutigen Schatten.“ Puran starrte ihn noch einen Moment an – dann riss Neron seine Aufmerksamkeit wieder auf sich.

„Hey, schläfst du? Stoßen wir an, Puran! Auf dich, weil du jetzt Senator bist, du Held! Zeig’s denen in Thalurien, du machst das schon gut! Alles Gute.“

„Genau.“, stimmten Tare und Senol im Chor zu und Puran musste verhalten lächeln, während sie ihre Becher aneinander stießen und er sich fragte, ob der König das gut fände, wenn sie hier Alkohol tranken. Er nippte an seinem Becher und versuchte, die Schatten aus seinem Geist zu verdrängen, die Meorans vage Andeutungen in ihm geweckt hatten; schlimmere Schatten als Karanas Zähne verursacht hatten, und das sollte etwas heißen.
 

Er vertrug fast keinen Alkohol, deswegen trank er nur den einen Becher Wein; schließlich musste er irgendwie noch nach Lorana kommen am Nachmittag. Neron maulte zwar, man wüsste seinen guten Wein nicht zu schätzen, aber Puran war in diesem Punkt nicht sehr kompromissbereit – er wusste selbst, dass er abscheulich werden konnte, wenn er sehr betrunken war; und er wurde schnell betrunken. Jedenfalls schneller als sein Kollege, der dann den halben Wein alleine getrunken hatte – am Ende hatten Meoran und Tare sich erbarmt und ihn zur Kutsche geschleppt, die ihn zurück nach Skelrod bringen sollte.

„Saja wird sich freuen.“, hatte Meoran orakelt und die übrigen Geisterjäger hatten gelacht. „So ein Trottel. Aber immerhin haben wir etwas zu lachen.“

Wenn Puran vom Wein etwas dusselig geworden war, war er jedenfalls wieder nüchtern, als er spät in der Nacht endlich das Dorf erreichte, in dem er lebte. Er war seit drei Tagen nicht hier gewesen… die Bauarbeiten am Haus gingen voran, stellte er fest, als er durch die sandige Hauptstraße ging und auf das Haus der Ansos zusteuerte. Wie sie es angedacht hatten, hatten sie im Sommer damit begonnen, ihr kleines Haus um ein Stockwerk zu erweitern. Es war eine schwierige und langwierige Arbeit, die viele Hände benötigte, aber viele Männer aus dem Dorf und den Nachbardörfern halfen mit, sie wurden natürlich für ihre Arbeit entschädigt. Während gebaut wurde, konnten die nicht im Haus wohnen, deswegen hatte das Dorfoberhaupt ihnen großzügigerweise wieder das Gästezimmer in seinem Haus angeboten. Sie hofften, vor Einbruch des Winters fertig zu sein mit dem Bau.

„Ich sollte die Leute hier dringend für ihre Gutmütigkeit belohnen…“, murmelte Puran bei sich, als er das Haus erreichte, die Tür leise öffnete und sich möglichst lautlos die Treppe hinauf in das Zimmer schlich, das er mit seiner Familie teilte. Und verblüfft blieb er in der Tür stehen, die er geöffnet hatte, denn Leyya lag quer auf dem Schlaflager, noch voll angezogen, und schlief tief und fest. Zuerst hatte er Angst, ihr wäre etwas passiert – aber sie atmete gleichmäßig und ruhig, was ihn beruhigte. Er seufzte, schloss die Zimmertür hinter sich und legte seinen schwarzen Umhang ab. Kurz warf er einen Blick in Karanas Bettchen – der Kleine schlief bis auf die Windel nackt unter einer dünnen Leinendecke, die Leyya ihm im Sommer gab, damit er es nicht gar zu warm hatte. Puran lächelte kurz und streichelte zärtlich das Köpfchen seines Sohnes. Karana nuckelte am Daumen; das tat er noch nicht lange, erst seit einigen Monden. Es war niedlich anzusehen und des Vaters Lächeln wurde vor Entzücken etwas breiter.

„Schlaf schön, Karana.“, flüsterte er, „Tut mir leid, dass ich so selten bei dir sein kann im Moment… mir geht es da eigentlich nicht anders als Senol. Ich würde gern den ganzen Tag bei dir und deiner wundervollen Mutter sein…“ Zu jener wandte er sich jetzt um, schritt zum Schlaflager und versuchte vorsichtig, seine Frau ordentlich umzudrehen, sodass sie nicht mehr quer über dem Bett lag – dabei wachte sie auf und gähnte verschlafen, worauf er entsetzt die Hände zurück riss.

„Oh nein, ich wollte dich nicht wecken…“, stammelte er und Leyya zog die Brauen hoch.

„Oh!“, machte sie, „Ach, Puran… oh nein, ich bin eingeschlafen! Ich wollte nicht einschlafen…“ Sie setzte sich sofort auf und errötete, worauf er sich am Kopf kratzte.

„Ist doch in Ordnung. Es ist spät… es hat wirklich ewig gedauert hierher. Vergib mir…“ Er küsste sie entschuldigend auf die Lippen und sie strahlte ihn an, als sie sich erhob.

„Puran, schau doch.“, verlangte sie kichernd und wiegte sich vor ihm hin und her, „Fällt dir gar nichts auf an mir?“ Verblüfft sah er sie an und grübelte.

„Ähm…?“, machte er planlos und sie wiegte sich weiter, ihm einen Hinweis gebend:

„Oder an dem, was ich trage…?“

„Ah!“, fiel ihm jetzt geistreich ein, „Du hast das Kleid an, das du dir im Frühling genäht hast… ah, es steht dir gut, es ist hübsch geworden.“ Er betrachtete den Stoff, den sie geschickt zu einem hübschen, weiten Kleid verarbeitet hatte. Sie hatte viele Wochen daran gearbeitet und war sehr stolz auf sich gewesen, als sie fertig gewesen war, er erinnerte sich… wieso trug sie es jetzt plötzlich? Es war das erste Mal, dass er es an ihr sah… dabei war es seit Monden fertig. „Was ist denn los?“, fragte er so amüsiert, stand auch wieder auf und fing an, sein Hemd aufzuknöpfen. „Gibt es etwas zu feiern, dass du es anhast?“

„Nun.“, erklärte sie und grinste ihn schelmisch an, „Ja, sozusagen! Habe ich dir damals gar nicht gesagt, wofür genau ich das Kleid genäht habe? Es ist ein weites Kleid und der Stoff ist ziemlich dehnbar… das ist wichtig für die Kleidung einer Frau, die ein Kind erwartet…“

Er hatte gerade den letzten Knopf seines Hemdes geöffnet und hielt jetzt plötzlich inne bei ihren Worten. Die Augen geweitet starrte er sie an, und Leyya kicherte wie ein kleines Mädchen, sich hastig durch die Haare fahrend und dann ihr neues Kleid glatt streichend.

„Was… wie bitte? Habe ich mich verhört oder hast du gerade sagen wollen, dass du neues Leben in dir trägst?“

„Du hast richtig gehört, Schatz…“, kicherte seine Frau und hibbelte jetzt richtig ungeduldig hin und her, bis sie sich nicht mehr beherrschen konnte und ihm um den Hals fiel. Er stolperte bei der plötzlichen Umarmung und hielt sie fest, als sie ihren zierlichen, hübschen Körper dicht an seinen drückte. „Ist das nicht toll? Mir war schon in Vialla neulich morgens so komisch, da habe ich gleich, sobald ich daheim war, den Test an mir selbst gemacht… und ich habe den Geist eines kleinen Babys in mir gespürt! Wir bekommen noch ein Kind… ich bin so überglücklich, ich wollte unbedingt warten, bis du heim kommst…“ Sie ließ zitternd vor Freude von ihm ab und strahlte ihn glücklich an – Puran konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern. „Was sagst du?“

„Ich… ich freue mich!“, keuchte er, „Das ist… das ist wunderbar!“ Sie strahlten sich an und glücklich warf sich die Kleine wieder an seinen Hals, worauf er sie an sich zog und ihre Haare küsste. Sie weinte vor Freude.

„Ich… habe so lange gehofft… ich meine, Karana wird schon in zwei Monden zwei… es wird wirklich Zeit für ein zweites Kind! Ich war so aufgeregt, ich konnte keinen Moment stillsitzen heute! Ich habe es noch keinem gesagt, du solltest es zuerst hören!… Oh, die Geister sind gütig zu uns! Ich danke ihnen so sehr für den Lebenskeim… ich freue mich so!“ Puran musste lachen über ihre Euphorie, und zärtlich hob er sie auf seine Arme und legte sie dann auf dem Schlaflager ab, wo er sich über sie beugte und ihren Mund küsste.

„Ich liebe dich…“, seufzte er dann, „Ich freue mich genauso wie du, Leyyachen. In drei Monden werde ich Neron auslachen, weil er immer noch auf sein erstes Kind wartet und wir schon auf das zweite, haha…“ Sie lachten beide, aber nur leise, um Karana nicht zu wecken. Dann beugte Puran sich wieder herunter zu ihr und begann, ihr Gesicht und ihren Hals mit Küssen zu bedecken, während ihre Hände sanft sein offenes Hemd von seinen Schultern streiften.

„Liebe mich, Puran…“, wisperte sie fast lautlos, „Zeig mir, dass du mein Mann bist… und Vater meines Babys.“ Sie strahlte, als er den Kopf hob, und glücklich teilten sie einen weiteren, innigen Kuss. Es war ein wundervoller Moment, und die Schatten im Ostreich hatte er wieder vergessen, als er begann, Leyyas Kleid aufzuschnüren, und ihre Hände rasch in seine Hose glitten.
 

Das Gewitter kam über Nacht. Die Hitze des Sommers kühlte schnell herunter, als es in Strömen über das Land goss und der Himmel grollend seinen Zorn auf irgendetwas verkündete. Das Gewitter hielt Puran vom Schlafen ab, während seine Frau sich nicht daran zu stören schien, sie schlief nackt in seinen Armen. Doch selbst die größte Freude über Leyyas zweite Schwangerschaft konnte die Unruhe nicht vertreiben, die ihn jetzt wieder einholte, während er wach lag und dem Donnern draußen zuhörte. Er fragte sich, wieso die Geister zornig waren… ob etwas geschehen war? Die Erinnerung an Karanas Eckzähne kam wieder in ihm hoch und er ließ Leyya los, um sich zischend auf die andere Seite zu rollen und sich mit den Händen über das Gesicht zu fahren.

„Lasst mich doch einfach in Ruhe, ihr Geister…“, murrte er, und er lauschte dem Prasseln des Regens auf dem Dach, das ein Stück über die Außenwand hinausragte und so verhinderte, dass es ins Zimmer regnete, obwohl das Fenster offen war. „Oder sagt wenigstens, was ihr wollt…“ Doch die Himmelsgeister schwiegen in seinem Kopf und taten, als gäbe es ihn gar nicht, was ihn erboste. Was bildeten die sich eigentlich ein?

Ein Schauer überkam ihn, ohne dass es einen wirklichen Grund hatte, und er zog sich die dünne Sommerdecke bis unter die Nasenspitze, obwohl ihm nicht kalt war. Ein Blitzen draußen erhellte das Zimmer und er erkannte bizarre Schatten an der Wand, auf die er starrte. Schatten des Unheils und dunkler Vorahnungen, von denen er wohl keinen Tag seines Lebens verschont bleiben sollte…

Hatte es jemals eine Zeit gegeben, in der er keine schlechten Zeichen gesehen hatte?

Vielleicht dachte er einfach zu pessimistisch. Wenn er nicht immer nur nach Schatten in seinen Träumen jagte und aufhörte, immerzu an sie zu denken, wurde es vielleicht besser… er nahm sich vor, an angenehme Dinge zu denken, um endlich Schlaf zu finden, und ignorierte das Grollen des Himmels.
 

Doch am nächsten Tag waren die Sorgen wieder da, als Puran und Leyya aufstanden, sobald der Morgen graute. Karana schlief noch, als sie sich rasch anzogen und das Zimmer verließen. Puran kam nicht viel dazu, über die Schatten in seinem Geist nachzudenken, die Böses vorhersagten, da seine fröhliche Frau seine Hand nahm und ihn gut gelaunt mit sich die Treppe hinab in die Küche der Ansos zog. Dort trafen sie Frau Anso, die Kartoffeln schälte. Sie war eigentlich immer früh wach und arbeitete in der Küche.

„Wir sind nur kurz weg, um zu baden.“, erklärte Leyya und Puran kratzte sich noch etwas unausgeschlafen am Hinterkopf. Ja, richtig, baden war eine gute Idee… „Wir beeilen uns, kannst du solange auf Karana aufpassen? Bitte…“

„Ach!“, machte die alte Anso lachend und winkte, „Natürlich kann ich das. Der Tag ist ja noch jung… musst du heute gar nicht nach Taiduhr, Puran?“

„Nein… heute ist mal Ruhe, zum Glück. Entschuldige die Umstände, bitte… wir sind wirklich gleich zurück.“

Die Luft draußen war nach dem Gewitter sehr angenehm geworden. Leyya rannte und kicherte dabei, während sie ihren Mann hinter sich her durch das Dorf und hinaus zerrte. Ganz in der Nähe von Lorana lag ein kleiner See, in dem die Menschen im Sommer oft baden gingen; und gerade, weil sie im Moment bei den Ansos wohnten, war der See für die beiden praktisch, damit sie nicht das Badezimmer der Gastgeber belagern mussten. Schließlich wohnten noch mehr Leute dort im Haus…

„Du bist ja gar nicht zu bremsen.“, stöhnte Puran ermüdet, als sie das Ufer des Sees erreichten und seine kleine Frau sich fröhlich in der kühlen Luft des Morgengrauens auszog. Er beobachtete sie und zog heftig die Luft zwischen den Zähnen ein, als sähe er sie zum ersten Mal nackt. Sie lachte ihn manchmal aus, wenn er so reagierte bei ihrem Anblick, aber er wusste, dass sie sich freute, dass ihm ihr Körper so gefiel. Sie selbst hasste ihren immer noch kaum weiblichen Körper – dass ihre Brüste jemals schön und prall werden würden wie die aller anderen Frauen, glaubte Leyya inzwischen nicht mehr. Wahrscheinlich würde sie immer wie ein Mädchen aussehen, obwohl sie längst eine Frau war.

„Ja!“, erklärte sie feierlich und wiegte sich nackt vor ihm im Wind, „Ich freue mich… wir werden bald noch ein Baby bekommen! Der Gedanke macht mich so glücklich, dass ich den ganzen Tag tanzen möchte!“ Sie kicherte erneut, fuhr sich durch die Haare und trat von einem Fuß auf den anderen. „Jetzt zieh dich doch endlich aus, oder meinst du, du wirst vom Herumstehen sauber?“ Er konnte nichts sagen, sondern sie nur anstarren, wie sie splitternackt vor ihm im seichten Gras am Ufer stand. Die kühle Luft verschaffte ihr eine Gänsehaut und ihre zierlichen, dunklen Brustwarzen richteten sich auf. Der Anblick ließ ihn nur schaudern und er zog es vor, sich doch endlich von ihr abzuwenden und ihrem Befehl Folge zu leisten. Verdammt… da war er nur wenige Tage von ihr getrennt und schon wurde er bei ihrem bloßen Anblick schon verrückt. Er fragte sich manchmal, ob man besessen von seiner Frau sein konnte. Er war es vermutlich, so hatte er oft das Gefühl. Wenn er sie länger nicht sah, wurde er nervös und schlecht gelaunt. Und es verblüffte ihn eigentlich sogar, dass es ihr da genauso ging. Es war, als sträubten sich alle Geister, wenn sie zu lange voneinander getrennt blieben, als wollten sie unbedingt betonen, dass sie beide zusammengehörten. Es war ein angenehmer Gedanke, und Puran grinste, als er sich auch ausgezogen hatte und Leyya sich plötzlich von hinten auf ihn stürzte. Sie klammerte sich lachend an seinen Hals und riss ihn von den Beinen, und mit einem erschrockenen Schrei stürzten sie in den See. Am Ufer war das Wasser nur sehr flach und es spritzte, als sie hinein fielen. Leyya setzte sich sofort wieder auf und fing herzhaft zu lachen an, während ihr Mann empört den Kopf aus dem Sand am Grund des Sees riss und ausspuckte.

„Verdammt, ich hab Sand im Mund…“

„Du hättest dein Gesicht sehen sollen…“, gackerte Leyya und er schnaufte, während sie kicherte und mit den Beinen strampelte.

„Sei nicht so übermütig, nachher tust du dem Baby in deinem Bauch weh.“, mahnte er sie, aber sie gackerte nur weiter und schmiegte sich an ihn, nachdem er sich auch aufgesetzt hatte.

„Ach, du bist sooo ernst…“, sagte sie mit verstellt böser Stimme und zwickte ihn in den Oberarm. „Und ich habe gedacht, du hast weniger Stress, wenn deine Prüfungen durch sind; jetzt arbeitest du schon eine Weile und bist immer noch so unruhig.“ Er seufzte.

„Ich fürchte, das liegt in meiner Natur. Nerve ich dich, Leyya? Dann tut es mir leid.“

„Nein, ich sorge mich nur!“, gestand sie und er blinzelte, als sie zu lachen aufhörte und ihn ernst ansah. „Du bist nachdenklich… das bist du immer, aber ich merke auch, wenn du es mehr bist als gewöhnlich. Was ist passiert?“ Lachend kratzte er sich am Kopf.

„Wenn ich das wüsste, hätte ich keinen Grund, nervös zu sein. Aber irgendwie beschleicht mich schon seit längerer Zeit ein ungutes Gefühl… vor allem seit gestern Nacht. Und es liegt nicht am Gewitter… vielleicht sollte ich meinen freien Tag nutzen, um die Geister ernsthaft um eine Antwort zu bitten.“

„Ach, so viel ernster Kram…“, seufzte sie und er musste lächeln, als sie wie ein Kind schmollend die Arme vor den kleinen Brüsten verschränkte. „Und ich hatte gedacht, an deinem freien Tag kommst du einmal dazu, etwas mit Karanachen und mir zu machen…“ Sie konnte nicht zu Ende sprechen, weil er sie plötzlich umwarf. Als sie quiekte, rollte er sich im Wasser über sie und drückte sie herunter, sodass nur ihr Gesicht aus dem flachen Wasser heraus guckte. Sie kicherte noch, als er sie flüchtig auf die Lippen küsste.

„Andererseits…“, räumte er ein, „Kann ich mir auch morgen noch genug Sorgen machen. Ein Tag Pause täte mir vielleicht ganz gut… so wie die Gesellschaft meiner bezaubernden Frau.“ Sie errötete vor Stolz, als er sie verliebt anlächelte, sich dann herabbeugte und sie wieder küsste. Oh, sie hatte so gehofft, dass es sich so ergeben würde… sie ging so gerne mit ihm baden. Und da ihre Badewanne im Haus zu klein für sie beide war, war der See im Sommer herrlich dafür. Hier war genug Platz… und im Morgengrauen war hier niemand außer ihnen, so konnten sie sich ungestört austoben, so viel sie wollten.

„Ich habe dich jetzt viele Nächte lang nicht sehen können…“, wisperte sie, als er sich erhob und sich etwas weiter ins Wasser setzte, worauf Leyya zu ihm krabbelte, um sich dann breitbeinig über seinen Schoß zu knien. Seine Hände fuhren über ihren nackten Rücken und durch ihre nassen Haare, die daran klebten, als sie ihn errötend angrinste und ihre Finger verspielt über seinen Oberkörper fahren ließ. „Ich habe mich… so nach dir gesehnt, Puran…“ Er tat empört:

„Ah, du versuchst, damit zu rechtfertigen, dass du schon wieder Sex willst, obwohl wir es erst in der Nacht wild getrieben haben?“

„Oh, ich glaube nicht, dass ich mich dafür wirklich rechtfertigen muss.“, erwiderte sie mit einem dezenten Blick nach unten, worauf er hüstelte und ein diabolisches Grinsen von ihr erntete. „Denn ich glaube, ich bin da nicht die Einzige, die das will…“
 

Als sie wieder zurück zum Haus der Ansos kehrten, frisch gebadet, angezogen und mit noch nassen Haaren, erwartete Puran das Unglück, das er tief im Inneren die ganze zeit verspürt hatte. Der alte Chata war auch inzwischen wach und er erwartete die beiden vor der Haustür mit ernster Miene.

„Nanu?“, machte Leyya bestürzt, als sie das Dorfoberhaupt sie beide kurz anblicken sah, „W-was ist geschehen?“

„Keine Angst, dem Kleinen geht es gut. Aber ihr habt Besuch bekommen, während ihr am See wart, und… offenbar keine schönen Nachrichten.“ Er sah bedrückt zur offenen Haustür, und als hinter ihm jemand aus dem Haus trat, hob Puran verblüfft den Kopf – und fuhr zusammen, als er seine Cousine in der Tür stehen sah.

„Alona!“, keuchte er und trat einen Schritt nach vorn, und sie seufzte tief, ehe sie sich apathisch durch die langen, braunen Haare strich und den Blick senkte.

„Da seid ihr ja endlich, ich habe euch schon gesucht; man hat mir netterweise gesagt, ihr wärt euch waschen gegangen, deswegen habe ich kurz gewartet.“

„Aber…?“, machte Puran nur nervös, als Leyya schon unruhig seine Hand nahm. Alonas Nachricht war nicht überraschend, aber sie traf ihn dennoch, als sie den Mund wieder auftat.

„Meine Mutter ist gestern verstorben. Ich bin gekommen, um euch zu bitten, der Bestattung beizuwohnen.“
 

Puran strauchelte, obwohl die Nachricht nicht wirklich unvorhergesehen kam. Trotzdem musste Leyya ihn stützen, als er plötzlich bedrohlich schwankte und dann sein Gleichgewicht nach einem verzweifelten Keuchen zurück gewann.

„S-sie… sie ist…?“ Er starrte Alona nur an und sie schloss die Augen, ehe sie den kurzen Abstand zwischen ihnen überwand und Cousin und Cousine einander in schweigsamer Trauer umarmten. Leyya tauschte einen hilflosen Blick mit Chata Anso, der den Kopf gesenkt hatte.

„Es tut mir leid…“, flüsterte die kleine Heilerin dann und wusste nicht, was sie anderes tun sollte als daneben zu stehen. Puran seufzte, während er seine Cousine an sich drückte, und sie zitterte in seinen Armen, das Gesicht an seiner Brust vergrabend. Sie atmete unregelmäßig ein und aus und Puran versuchte unbeholfen, ihr tröstend durch die Haare zu streicheln.

„Obwohl ich es schon Monde vorher wusste, ist es doch… ein Schlag mit dem Hammer.“, murmelte Alona benommen, als sie sich dann hastig von ihm löste und sich mit den Händen über das Gesicht fuhr. „Vergib mir meine Unfähigkeit, Puran. Ich habe Meoran eine Nachricht geschickt, ich hoffe, er kommt auch; unsere beiden Familien gehören irgendwie seit vielen Generationen auf schicksalhafte Weise zusammen. Ich empfand es als rechtens, ihm Bescheid zu sagen.“ Ihr Cousin nickte nur schweigend und sie holte kurz Luft.

„Möchtest du einen Tee trinken, Alona?“, fragte Leyya die ältere Frau bedrückt, „Oder irgendetwas?“ Sie sah zum Dorfoberhaupt, das den Kopf wieder hob, doch Alona schüttelte den Kopf.

„Ich würde gerne sofort zurück nach Yiara. Unser Nachbar ist jetzt im Haus, und ich habe Nachricht an den Orden gegeben, dessen meine Mutter auch ein Teil war. Vielleicht sind die alle schon da, ich will sie nicht so lange warten lassen. – Habt ihr Zeit, eine Nacht zu bleiben, wenn ich euch morgen früh wieder her teleportiere?“ Puran nickte.

„Natürlich, das geht in Ordnung. Lass uns… kurz das Nötigste einpacken für das Kind, dann kann es losgehen. Oder, Leyyachen?“ Er sah seine Frau mit gequältem Gesicht an, die nur apathisch nickte und nach ihrem flachen Bauch fasste.

„V-vorhin… dachte ich noch, es wäre ein guter Tag und… ich habe mich so über meine Schwangerschaft gefreut…“ Die Cousine ihres Mannes sah sie groß an, als Puran noch ein Wort mit Chata Anso wechselte und dann im Haus verschwand, um Karana zu holen.

„Du bist schwanger? Meinen Glückwunsch, Schwägerin.“ Die Heilerin errötete unglücklich.

„Aber das ist jetzt so unpassend…“

„Das entscheiden die Geister. Ich finde, es ist ein gelungener Kreislauf der Natur. Ein Mensch stirbt, ein neues Leben wächst. So… funktioniert das eben.“ Alona lächelte und strich der kindlichen Frau über den Kopf. „Ihr werdet sicher ein wunderbares, zweites Baby bekommen.“
 

Der Gedanke ermutigte die Heilerin etwas, als sie wenig später mit ihrem kleinen Sohn auf den Armen gemeinsam mit ihrem Mann und Alona wieder hinauf nach Yiara teleportiert wurde. Die Telepathin hatte recht; es war ein Kreislauf. Dass sie gerade an dem Tag ihre Schwangerschaft ihrem Mann gebeichtet hatte, an dem Sukutai gestorben war, war nichts Schlechtes. Es war der Wille der Geister. Und dennoch beschloss sie weise, ihre Freude über das Baby auf später zu verschieben, als sie im Haus in Yiara angekommen waren. Verblüffenderweise waren alle anderen wirklich da – viele Mitglieder des Telepathen-Ordens, Alonas Nachbar, Herr Noh, und selbst Meoran war da; im Hintergrund saß die kleine Saidah neben einem recht jungen Mann auf der Küchenbank.

„Da seid ihr ja.“, wurden sie da von dem Nachbarn Noh begrüßt und der ältere Mann gab Puran höflich die Hand. „Wir haben uns immer nur von weitem gesehen, Senator Lyra, es ist mir eine Ehre. Wenn auch zu einem traurigen Anlass.“

„Ich stimme Euch einfach mal zu.“, murmelte der Herr der Geister dumpf und neigte den Kopf, ehe er sich zu Meoran wandte, der traurig seufzte. „Du bist schon da, Meister?“

„Ja, ich habe in der Stadt noch Alonas Nachricht bekommen… da ich wegen des vorangegangenen Rats ohnehin die Familie in Vialla mithatte, habe ich sie abgeholt und habe dann zufällig Herrn Sagal getroffen, der uns netterweise per Teleport mitgenommen hat.“ Er nickte in Richtung eines der Telepathen, und Puran nickte erkennend – das musste irgendein Verwandter von Dasan Sagal aus Lorana sein.

Während Alona ihren Nachbarn und ihre Kollegen begrüßte und ein paar Worte verlor, nickte Puran, der gemeinsam mit seiner Frau bei Meoran stehen blieb, zu Saidah, die artig auf der Küchenbank saß.

„Ach, dann sehe ich ja auch deinen, ähm… Kinderaufpasser mal, über den sich im Rat immer alle den Mund zerreißen!“

„Was?“, fragte Leyya verdutzt, die Karana auf ihren Armen wippte, und Meoran hüstelte.

„Wie, habe ich dir nie von Meorans Kindermädchen erzählt?“, wunderte sich ihr Mann gedämpft, „Der Junge neben Saidah.“

„Wie kann denn ein Junge ein Kindermädchen sein?“ Leyya bemühte sich, dem jungen Mann keine auffälligen Blicke zu schenken, um nicht unhöflich zu wirken, obwohl ihr die Geschichte etwas seltsam vorkam. Was machte Meoran denn mit einem Mann als Kindermädchen? Wieso keine Frau, die das sicher besser konnte? Der Meister ihres Mannes räusperte sich verhalten.

„Können wir das später klären? Ich finde das gerade bei diesem Anlass etwas… unangemessen.“ In dem Moment wurden sie auch schon von Alona unterbrochen, die sich räusperte.

„Ich danke euch allen für eure Mühe, dass ihr gekommen seid. Wir versammeln uns hier, um den Körper meiner Mutter zu verbrennen und ihre Seele ins Geisterreich zu schicken… wir haben heute morgen bereits den Scheiterhaufen im Hinterhof errichtet.“ Sie machte eine unschlüssige Pause und Puran sah, dass sie sich nervös am Arm kratzte, was ganz untypisch für die sonst so beherrschte und berechnende Frau war. „Ich… ich mache dann nachher für alle Tee, als Dank für die Ehre, die ihr mir… heute erwiesen habt mit eurem Erscheinen.“ So murmelte sie mehr, als dass sie sprach, ehe sie sich schweigend abwandte und voran in den Hinterhof des Grundstückes ging.

„Sie ist nervös…“, murmelte Leyya betrübt, der es auch aufgefallen war, und unpassend zum Anlass fing Karana auf ihrem Arm an zu lachen und zu kichern. Puran seufzte, das Kind kurz schräg ansehend.

„Sie trauert… und versucht, es in sich zu vergraben.“
 

Der Hinterhof war wie ein kleiner, hübsch angelegter Garten. Der Haufen aus Reisig, auf dem die Tote unter einem Tuch lag, passte gar nicht in das idyllische Bild mit den Blumen, kleinen Sträuchern und angeordneten Steinen.

Karana gackerte, während er jetzt an Leyyas Hand stand, als sich die Gruppe hinter Alona versammelte, die die brennende Fackel in die Luft erhob. Leyya zischte verzweifelt.

„Sei still, Karanachen! Das ist nicht der richtige Moment zum Lachen!“ Sie zog an seinem Ärmchen, doch der Kleine kicherte nur aus unerfindlichen Gründen weiter und ließ sich nicht beirren. Ein paar der Telepathen drehten sich schon verblüfft nach dem Jungen um, der unaufhörlich gluckste. Leyya zischte erneut und zerrte an Karana, doch es war nichts zu machen. „Nimm dir ein Beispiel an Saidah!“, empörte die Frau sich, „Sie steht ganz brav und du alberst hier herum!“

Alona versuchte, ihren sozusagenen Neffen zu ignorieren, als sie die Stimme erhob.

„Geist von Sukutai!“, sprach sie laut, „Nun verlasse deinen sterblichen Körper und kehre in die Geisterwelt zurück, aus der alle Seelen stammen und in die alle wieder zurückkehren müssen. Das ist der Kreislauf… von Himmel und Erde, der nicht unterbrochen werden darf.“ Damit schloss sie ihre Ansage und ließ die Fackel zitternd auf den Haufen fallen, worauf sie so gefasst wie sie konnte wieder zurücktrat. Und dennoch erschauderte sie unwillkürlich, als der Haufen mit der Leiche ihrer Mutter in Flammen aufging. „Es… ist der Kreislauf.“, wisperte sie tonlos, und als sie spürte, wie jemand von hinten die Hände auf ihre Schultern legte, zuckte sie kurz zusammen. Puran stand hinter ihr und zog sie jetzt zu sich heran, worauf sie heftig erzitterte.

„Spiele nicht die kalte Frau, Alona.“, murmelte er, „Ich weiß, dass du das nicht bist. Ich weiß, dass du versuchst, zu schweigen, obwohl dein Geist vor Schmerzen schreien will. Tu es… ich weiß, wovon ich spreche, wenn ich sage, dass ich weiß, wie es sich anfühlt, eine Mutter zu verlieren.“ Und er schloss die Augen und hielt sie fest, als sie sich zu ihm herumdrehte, ihn schluchzend umarmte und zu weinen begann über die Vergänglichkeit der schönen Tage, die längst hinter ihnen lagen. Sie hörten Karana im Hintergrund weiter lachen und Leyya verhalten mit ihm schimpfen, sie hörten das Feuer vor ihnen prasseln, aber im Geiste waren sie wo anders. Zurück in den alten, vergangenen Tagen, die nie zurückkehren würden, in denen sie alle noch am Leben waren. Alonas Eltern, Purans Eltern… wenn sie zurückblickten, brachte es Sehnsucht und Nostalgie mit sich; und was lag in ihrer Zukunft?

Schatten und die quälende Ungewissheit, was aus ihnen allen werden würde.
 

Karana war gar nicht zu beruhigen. Er kicherte, und wenn er nicht kicherte, quasselte er zusammenhanglos vor sich hin. Seine Mutter wurde langsam ärgerlich, als sie versuchte, ihn in einem der Zimmer in Alonas Haus schlafen zu legen, während die anderen unten Tee tranken. Die Telepathen waren wieder gegangen, nur Herr Noh, Meoran und seine Anhängsel waren geblieben. Jetzt lag Karana in dem Bett, das Leyya für ihn gerichtet hatte, und strampelte jedes Mal wild, wenn sie versuchte, ihn zuzudecken.

„Karana, jetzt sei still und schlaf!“, empörte sie sich grantig, „Jetzt ist Schluss mit dem Zirkus, was ist los mit dir? Was ist so komisch?!“

„Mutti lieb, hihi…“, kicherte das Kind, und Leyya schnaufte.

„Nein, Mutti ist nicht lieb, Mutti ist wütend auf dich! Wie kannst du so schamlos lachen, während wir eine Bestattung abhalten? Du bist respektlos zu deiner eigenen, äh, Großtante, auch, wenn sie nur angeheiratet war! Du hast überhaupt keinen Grund zu lachen, Karana Lyra, hör damit auf!“ Karana klatschte begeistert in die Hände und strampelte johlend, als sie empört abermals versuchte, ihn zuzudecken. Die Heilerin war verzweifelt – was war mit dem Kind? Wieso lachte es die ganze Zeit?

„Vielleicht mag er sich davon ablenken, dass ihn die Situation verwirrt.“, hörte Leyya eine helle Kinderstimme hinter sich und sie fuhr erschrocken herum – sie hatte Saidah gar nicht hereinkommen gehört. Jetzt stand Meorans sechs Jahre alte Tochter bei ihr und sah herunter auf Karana, der strampelte und sie nicht beachtete.

„Verwirrt?“, fragte Leyya nur, und das kleine Mädchen ging näher an das Bett und hielt Karanas strampelndes rechtes Beinchen fest, bevor sie ihm ins Gesicht blickte. Was dann geschah, verblüffte Leyya mehr als vieles, was sie erlebt hatte.

Karana hörte sofort zu strampeln auf und war ganz still, als das Mädchen ihn streng anblickte und sprach.

„Schlaf, Karana.“, befahl sie höflich, aber mit ordentlichem Nachdruck, ohne dass sie besonders laut wurde dabei. Und der Kleine gehorchte ihr aufs Wort, lag plötzlich ganz friedlich im Bett und ließ sich von Saidah fein zudecken. „Sei artig, mach deiner Mutter keinen Kummer.“, fuhr die Kleine mit ernster Miene fort, und Karana gähnte und schloss die Augen, als hätten ihn allein durch die Worte des Mädchens die störrischen Geister verlassen, die ihn zuvor aufgescheucht hatten. Als Saidah sich vom Bett entfernte, blieb er seelenruhig liegen und gähnte erneut, sich dabei auf die Seite rollend, und müde hob er eine Hand und steckte sich den Daumen in den Mund, um daran zu nuckeln. Leyya sah verblüfft auf Meorans kleine Tochter.

„Wie… hast du das gemacht?“, wollte sie wissen, „Er… gehorcht dir ja aufs Wort!“ Saidah pulte eine Weile schweigend an den schwarzen Zöpfen, die sie trug.

„Ich weiß auch nicht genau.“, gestand sie dann, „Die Geister wollten es so, glaube ich.“
 

Die Geister wollten so einiges, dachte die Heilerin sich verwirrt, als sie wenig später, jetzt, da Karana endlich schlief, zusammen mit ihrem Mann, Alona, Meoran und dem alten Noh in der Wohnstube saß. Saidah und das männliche Kindermädchen tobten jetzt im unteren Flur herum und spielten Pferd – natürlich war der arme Kerl das Pferd und Saidah die Reiterin, die auf seinem Rücken saß und Befehle erteilte.

Leyya hatte Meoran erzählt, was seine Tochter zuvor getan hatte, dass es sie sehr beeindruckt hatte. Der Kollege ihres Mannes war verblüfft gewesen.

„Was denn, Saidah hat einfach Schlaf gesagt und er ist eingeschlafen? Ist ja nicht zu fassen.“

„Sie ist ein kluges, scharfsinniges Mädchen.“, behauptete Puran und nippte an seiner Kaffeetasse, „Und sie ist eine Erbin des Chimalis-Clans. Sie wird einmal eine große Magierin sein, wenn sie eine Frau ist.“ Er machte eine unsichere Pause, ehe er sich verhaltener an seinen Lehrmeister wandte. „Mir… kam schon einmal dieser Gedanke, Meoran. Du hast keinen Sohn und Saidah ist dein einziges Kind – die letzte Erbin deiner Familie. Was machst du mit ihr, wenn sie erwachsen ist? Sobald sie heiratet, wird der Chimalis-Clan… verschwinden, weil sie ihren Namen ablegt. Es sei denn, du findest zufällig einen Mann für sie, der zwar begabt, aber namenlos ist, der sich dazu herablassen würde, den Namen der Frau anzunehmen.“ Meoran seufzte.

„Das ist für mich kein Problem. Das mit dem Namen. Auch, wenn sie anders heißt, wird sie immer das Blut der Chimalis tragen. Und… eigentlich widerstrebt es mir, extra einen namenlosen Niemand zu suchen, der ihren Namen annehmen kann. Wie viele begabte Magier ohne großen Clan gibt es schon? Neron ist wahrlich eine seltene Ausnahme. Ich weiß, dass mit meiner Frau… die letzte Hoffnung für mich gestorben ist, jemals einen Sohn zu haben. Die Linie der Chimalis wird mit Saidahs Hochzeit enden. Und wenn sie das schon tut, will ich meinem Clan die Ehre erweisen, dass seine letzte Erbin wenigstens einen ehrbaren Mann bekommt.“

„Dieses Gerede mit den Clans ist ganz schön grausam den Kleinen gegenüber.“, bemerkte Herr Noh kleinlaut, und Alona lachte.

„Ja, aber sowas ist angeboren. Wenn man einmal in so einem Clan steckt, kommt man nicht mehr raus und denkt unweigerlich genauso, egal, wie sehr man versucht, es nicht zu tun.“

„Grausam, sagt er.“, brummte Meoran, „Es ist eine Verantwortung und Bürde, die man als Clanführer trägt, die Bürde, dafür zu sorgen, dass die Linie weiterhin besteht oder zumindest größtmögliche Ehre vor den Geistern erhält.“ Dann trank er einen Schluck Tee und Puran seufzte tief, die Kaffeetasse anhebend, ehe er sprach und dabei die Tasse intensiv musterte.

„Würdest du deine Tochter Karana zur Frau geben, Meoran?“

Der Ältere verschluckte sich mit dem Tee und hustete, kriegte sich aber schnell wieder ein und fuhr dann zu seinem langjährigen Freund herum.

„Was?“, keuchte er, „Im Ernst?“ Leyya machte auch ein verblüfftes Gesicht.

„Karana soll Saidah heiraten?“

„Was spricht dagegen? Sie sind fast gleich alt, die fünf Jahre sind ja wohl egal. Nun, wenn sie sich, wenn sie älter sind, absolut gar nicht leiden können, natürlich nicht… aber beide sind Erben alter, ehrwürdiger Clans. – Du hast gesagt, Meoran, du willst, dass sie einen ehrbaren Mann bekommt. Ich hoffe, dass Karana eines Tages einer sein wird. Nicht der Name macht ihn ehrbar, sondern der Geist und die Art seines Handelns.“

„Nun.“, machte Meoran, „Das ist gut gesagt… wenn er da nach dir schlägt, wäre das zumindest unweigerlich gegeben.“ Puran errötete verlegen ob des überdeutlichen Kompliments und Alona zog eine Braue hoch.

„Du und ehrbar, Puran, ja, ja.“

„Sei ruhig!“, entrüstete er sich und sie kicherte über seine Aufregung, bevor sie sich selbst und ihrem Nachbarn neuen Tee eingoss. Meoran lächelte kurz, als das Grölen aus dem Flur näher kam und das männliche Kindermädchen mit Saidah auf dem Rücken herein getrabt kam.

„Ich bin erledigt… bitte geh runter, können… wir nicht etwas anderes spielen?“

„Ja, in Ordnung.“, meinte das Mädchen vergnügt und kletterte hinab, „Du warst tapfer, Tanuq. Schlage etwas vor, was magst du spielen?“

„Ähm… Ich sehe was, was du nicht siehst?“

„Das ist fein, ei!“ Das Mädchen hüpfte aufgeregt auf und ab und zerrte dann an der Hand des Mannes, der Meoran einen verpeilten Blick schenkte und mit der Kleinen hinaus jagte.

„Nun, Karana wäre sicher ein guter Mann für Saidah.“, stimmte Meoran jetzt seinem Freund zu, „Wie du sagtest – sofern die Kinder nichts dagegen haben, sobald sie alt genug sind, das zu entscheiden, nehme ich dein Angebot gerne an. Es wäre mir eine Ehre, meine Restfamilie mit dem Clan der Lyra verbinden zu können. – Was sagst du dazu, Leyya? Schließlich ist Karana dein Sohn.“

„Nach dem, was ich da oben gesehen habe, habe ich das Gefühl, dass Saidah eine gute Frau für ihn wäre!“, machte diese verblüfft, „Sie… hat jedenfalls die Hosen an.“ Die anderen lachten und Meoran kratzte sich am Kopf.

„Dann behalten wir es im Hinterkopf und schauen, wie das in zwölf Jahren oder so aussieht. – Prost, Puran, mein Freund, auf die Verbindung.“

„Ich weiß deine Einwilligung mehr zu schätzen als du dir vorstellen kannst.“, sagte der Jüngere, als sie kurz ihre Tee- und Kaffeetassen erhoben und tranken. Leyya fiel noch etwas ein, während sie Saidah draußen mit dem jungen Mann spielen hörte.

„Wer… ist jetzt der Kerl, mit dem sie spielt? Ich meine, ich wusste gar nicht, dass jemand bei euch lebt, Meoran.“

„Da hat mein gestresster Freund Puran wohl verpeilt, dir das zu sagen.“, scherzte der Ältere, „Nun, die Geschichte ist etwas… zwielichtig.“ Er hüstelte etwas und Puran fing zu lachen an.

„Ja, du hättest Nerons Gesicht sehen sollen. Der hat alles falsch verstanden, der Idiot…“ Der Lehrmeister errötete etwas und kratzte sich wieder am Kopf.

„Dass ich in Janami beim Militär gelandet bin, weißt du aber, Leyya?“

„Ja… wie war das genau?“

„Genau genommen bin ich Führer einer Sicherheitstruppe in den Bergen von D’anbahr bei Minh-În. Das Haus, in dem ich wohne, ist eine verlassene Wachstation gewesen, die wir etwas aufgerüstet haben. Ich organisiere den Schutz und die Überwachung einer bestimmten Region des Gebirges; es kommen gerne Flüchtlinge aus Fann oder sonst von wo zu uns und wollen heimlich die Grenze überqueren, nach Janami kommen, ohne zu bezahlen. Und der König kann illegale Zuwanderer nicht ausstehen, deswegen lässt er alle Grenzen streng bewachen. Ich habe teuer bezahlt für meine Unterkunft dort, um ins Land reisen zu dürfen. Wer grundlos die Grenze passieren will und keine Genehmigung der höheren Gremien vorzeigen kann, wird…“ Er stoppte kurz und fuhr leiser fort, „Sagen wir, dezent weggeschafft. Das ist eine geheime Sache, mehr kann ich dir darüber nicht erzählen, Leyya… es sind… strenge Regeln und harte Bedingungen da oben. – Jetzt komme ich zu Tanuq. Er war auch beim Militär, allerdings in einer anderen Truppe weiter östlich, und er… hat Ärger bekommen und wurde rausgeschmissen. Ich bin ihm bei der Patrouille begegnet und habe ihn zuerst für einen illegalen Einwanderer gehalten. So verstoßen wegen Ärgernissen hätte er in ganz Janami nirgends mehr eine Arbeit bekommen. Und ich brauche jemanden, der auf Saidah aufpasst… ich bin nicht den ganzen Tag daheim, sie ist noch zu jung, um alleine zu bleiben. Deswegen habe ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, sozusagen, und Tanuq bei mir eingestellt. Es rettet ihn vor dem sicheren Hungertod und mich vor der Panik, was wohl mit Saidah ist, wenn sie alleine ist. Er kümmert sich rührend um sie und sie mag ihn gern. Es war eine gute Entscheidung, ihn zu behalten.“ Die anderen sahen sich an und Leyya war immer noch etwas verwirrt.

„Ja, das verstehe ich.“, sagte sie. „Aber… ein Mann als Kindermädchen?“

„Na ja.“, schnaubte Alona, „Wenn er nun mal einen Mann gefunden hat, der zufällig Arbeit brauchte, und keine Frau…“

„Nun, ich hätte aber eine Frau nicht eingestellt.“, räumte der Geisterjäger verhalten ein. „Es… es ist… einfach wegen Ruja. Ich käme mir vor, als versuchte ich, sie zu ersetzen, würde ich eine Frau holen, die Saidah bemuttert. Nicht nur hätte ich Angst, dass Saidah genau das von mir denkt, dass ich versuche, ihr eine Ersatzmutter zu geben… niemand kann Ruja ersetzen, weder für sie, noch für mich. Außerdem hätte ich einfach Angst gehabt… dass es mir tatsächlich passiert, dass ich irgendeine Frau als… Frau ansehe und… na ja. Ich bin auch nur ein Mann… und ich möchte keine neue Frau. Ich möchte meiner einzigen Frau treu sein, und wenn ich Tag und Nacht irgendein womöglich hübsches, junges Ding um mich herum habe, fällt es – seien wir ehrlich… - nun mal etwas schwer, das einzuhalten.“ Das leuchtete ein und Leyya tat es jetzt leid, dass sie so hartnäckig gefragt hatte, dass er so intime Dinge hatte erzählen müssen. Sie trank hastig ihren Tee, und jetzt war es Alona, die weiter stocherte.

„Eins aber noch. Wenn du einen Mann hast, der auf deine Tochter aufpasst – hast du keine Angst, dass er sie eines Tages interessiert anguckt oder sie unsittlich begrabbelt?“ Jetzt lachte Meoran nervös und Puran hustete – jetzt waren sie am kritischsten Punkt der Geschichte angelangt.

„Das… wird nicht passieren. Deswegen hat er ja Ärger bekommen in seiner Truppe, und mir kommt es zu Gute, weil ich sicher weiß, dass er Saidah nie anrühren wird. Er… interessiert sich nicht… für das weibliche Geschlecht.“ Darauf erntete er eisernes Schweigen. Herr Noh machte ein perplexes Gesicht und Alona verkniff sich ein Lachen und den dummen Kommentar, der ihr dazu einfiel. Stattdessen presste sie nur heraus:

„Du… hast… ein schwules Kindermädchen?“ Meoran hustete.

„Ich weiß genau, was du denkst! Nein, ich habe nichts mit ihm, ich interessiere mich nicht für Männer, wirklich nicht! Damit hat Neron mich schon fertig gemacht, noch mal brauche ich das nicht! Ich sagte doch, ich werde meiner Frau treu bleiben… ganz davon abgesehen bin ich sehr guter Hoffnung, dass auch Tanuq kein… sexuelles Interesse an mir haben wird, ich bin doch viel zu alt für ihn, er ist jünger als Puran! Und schon Puran könnte vom Alter her locker mein Sohn sein…“

„Na ja, locker, mit fast vierzehn Jahren?“, fragte Alona feixend, „Da hättest du sehr früh anfangen müssen.“

„Ich meine ja, rein theoretisch wäre es möglich…“, seufzte der Ältere und Puran gluckste, ihm auf die Schulter klopfend.

„Ist gut, Väterchen… wir verstehen, was du sagen willst…“
 

Karana schlief fest, als seine Eltern später nach ihm schauten. Er lag genauso da, wie Leyya ihn im Zimmer gelassen hatte, atmete ruhig und lutschte zufrieden an seinem Daumen. Leyya lächelte und streichelte seine braunen Haare, ehe sie das Deckchen etwas höher über ihren kleinen Sohn zog und sich zu Puran umdrehte, der hinter ihr stand. Er küsste Leyyas Nacken.

„Er scheint sich wohl zu fühlen. Immerhin einer.“

„Du nicht?“, lächelte die Frau und spürte, wie ein Schauer über ihren Rücken fuhr, als er sie noch mal auf den Nacken küsste. Es fühlte sich angenehm an… er machte das oft, wenn er hinter ihr stand, und sie grinste in sich hinein bei dem Gedanken daran, was daraus gleich resultieren würde. Oh, sie war so besessen… besessen von ihrem gut aussehenden, tapferen Mann, und sie stand dazu, dass sie es war.

„Hmm.“, machte Puran leise hinter ihr, während eine seiner Hände sich nach vorne auf ihren Bauch lümmelte, um sanft über ihr Kleid zu streicheln, dort, wo in ihrem Inneren das noch winzige Baby wuchs. „Ich frage mich, ob Alona in diesem riesigen Haus jetzt ganz alleine wohnen will…“

„Sie hat ja noch ihren netten Nachbarn.“, kicherte Leyya gedämpft, um Karana nicht zu wecken, „Der kommt bestimmt mal zum Tee.“ Sie hörte Puran hinter sich husten.

„Ja, genau. Zum Tee.“ Sie schien seine Anspielung nicht zu bemerken, denn sie lehnte sich nur seufzend gegen seine Brust und legte die Hände auf seine Hand, die auf ihrem Bauch lag. Dass Herr Noh etwa zu so einem Tee kommen würde, zu dem auch Zoras Chimalis zu Salihah gekommen war, war in Purans Augen nicht ganz auszuschließen. Nicht, dass er wirklich etwas gewusst hätte… aber er kannte Alona und sein Bauchgefühl hatte ihn nie im Stich gelassen. Vielleicht war es gut für sie, wenn sie den Tod ihrer Mutter nicht alleine überwinden musste – selbst, wenn er nicht wegen seiner Arbeit daran gehindert gewesen wäre, ihr beizustehen und eine Weile zu bleiben, so wusste er genau, dass Alona seine Gesellschaft nicht zulassen würde. Sie wollte vor ihm nicht das Schutz suchende Mädchen sein… das hatte sie nie gewollt. Vor einem nicht ganz so vertrauten Mann würde es ihr leichter fallen, ihre Gefühle auszudrücken… und wenn sie nur rein körperlicher Natur waren, das spielte keine Rolle. Wichtig war, dass Alona nicht ganz allein blieb.

Puran drehte den Kopf zum Fenster. Die Sonne ging unter und tauchte den Himmel des Spätsommers in ein unnatürlich gelb-grünes Licht. Vom Osten her zog Schatten über das Land, während im Westen die letzten Lichtstrahlen darin zu ertrinken drohten.

Schatten aus dem Osten… murmelte er innerlich und drückte seine zierliche Frau unschlüssig etwas fester an sich heran. Er wandte den Blick von der heraufziehenden Dunkelheit ab und seinem Sohn Karana zu, der sich im Schlaf etwas bewegte und auf den Rücken drehte. Sprecht, Geister des Himmels und der Erde… was ist es, das mir… schon wieder den Schlaf nimmt? Das mir immer noch… diese Unruhe beschwert? Was passiert mit dem Ostreich?

Die Geister kicherten nur, und es verging eine Weile, bis sie antworteten.

„Mit Feuer und Schatten… wird das Bündnis der drei Welten zerbrechen. Mit Donner und Finsternis… kommt das Ende der Welt, Lyra.“
 


 

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jah... gammel <3

Kind des Kirschmondes

Im Mond der Stürme wurde Karana zwei Jahre alt. Er war schon alt genug, um mitzubekommen, dass es ein besonderer Tag war, dass seine Eltern ihn besonders doll lieb hatten und verwöhnten und dass alle gute Laune hatten. Inzwischen konnte er ziemlich problemlos laufen und fiel nur noch selten dabei hin; sprechen tat er meistens eher in seiner eigenen Sprache, die die Erwachsenen nicht verstanden. Leyya sorgte sich ab und zu, dass er für sein Alter doch sehr wenig sprach. Puran sorgte sich lieber um Karanas Eckzähne; mit dem Herbst hatte das Kind angefangen, sie dafür zu benutzen, alles zu zerbeißen, was ihm nicht passte. Karana war ein sturer Bock. Zuerst hatte nur das Stofftier darunter gelitten, das Leyya ihrem Sohn einmal genäht hatte – eines Tages hatte das Tier plötzlich einen Arm weniger gehabt und nach langer, vergeblicher Suche nach dem entfernten Körperteil hatten die Eltern sich verblüfft gefragt, ob Karana den Arm gegessen hätte. Krank war er jedenfalls nicht geworden. Als nächstes hatten seine Bettdecke und sein Kissen im Bettchen dran glauben müssen, irgendwann ein Strumpf seiner Mutter und ein Pergament mit Statistiken der Provinz seines Vaters, was jenen im Übrigen extrem geärgert hatte, weil er so die ganze Schreibarbeit noch mal hatte machen müssen. Irgendwann hatten die Eltern weise beschlossen, Pergamente außerhalb von Karanas Reichweite aufzubewahren.

Der Winter war halb vorbei, als die Bauarbeiten am Haus der Lyras endlich fertig gestellt werden konnten und die Familie in ihr jetzt größeres Heim einziehen konnte. Es gab im oberen Stockwerk drei Zimmer: ein zweites Bad und zwei Schlafzimmer. Das eine gehörte fortan Karana, das andere seinen Eltern, die es gleich in der ersten Nacht schamlos ausnutzten, endlich ihre Privatsphäre zu haben, um sich mit aller Intensität und Wildheit zu lieben. Und Karana im Zimmer gegenüber hörte keinen Ton, zumindest schlief er seelenruhig und beschwerte sich nicht.

Während der Winter vorüber ging und einem angenehm milden Frühling wich, wurde Leyyas Bauch immer runder und größer. Das Kind darin entwickelte sich gut, so sagte sie selbst – als Heilerin hatte sie praktischerweise die Möglichkeit, ständig selbst zu prüfen, ob mit ihrem ungeborenen Kind alles in Ordnung war. Mit jedem Tag, den das Kind weiter unter ihrem Herzen wuchs, wurde die Frau glücklicher. Puran beobachtete, sofern er in Lorana war, mit Entzücken ihre wachsende Vorfreude auf das gemeinsame Baby. Sie summte, sang und tanzte, wenn auch letzteres nur vorsichtig, um das arme Baby nicht zu sehr durchzuschütteln. Die Hausarbeit, die sie zu erledigen hatte, machte ihr Spaß, wie sie selbst sagte.

„Ich habe das Gefühl, jeder Tag ist ein schönes Lied.“, erklärte sie ihm einmal, als er sie darauf ansprach, wie niedlich sie war, wenn sie sich freute. „Ich könnte den ganzen Tag singen und tanzen… ich bin einfach so glücklich…“

„Na, dann muss das zweite Kind ja auch ein unglaublich glücklicher Mensch werden.“, feixte Puran und küsste sachte die Lippen seiner Frau, „Verausgabe dich nicht, meine Hübsche, bei all deinem Getanze.“ Sie kicherte und streichelte über ihren gerundeten Bauch, vor Freude errötend. Auf seine Worte ging sie nicht ein, aber bei all ihrer Freude und Aufregung konnte er es ihr auch nicht verdenken.

„Ich liebe dich, Puran… ich habe immer gewusst, dass es gut sein würde zwischen uns. Ich… bin die glücklichste Frau der ganzen Welt mit dem wundervollsten Gemahl der ganzen Welt.“

„Nicht übertreiben.“, mahnte er sie grinsend, und sie teilten einen weiteren, innigeren Kuss.
 

Die Träume vom Ende der Welt und dem Schatten aus dem Osten verfolgten Puran noch immer, als der Frühling bereits seine Mitte überschritten hatte und der Kirschmond angebrochen war. Manchmal zog er sich für einige Tage zurück, verließ das Schlafzimmer nicht und kommunizierte mit den Geistern von Himmel und Erde, um irgendwie Antworten auf die vielen Fragen zu finden, die seine Visionen in ihm aufwarfen. Doch egal, wie sehr er sich bemühte, die Geister schienen es für egal zu befinden, dass er der Herr der Geister war. Sie sagten nichts. Und das ärgerte ihn, ebenso dass sein Zustand nach tage- und nächtelanger Trance nicht sonderlich stabil war und ihn zusehends daran hinderte, seiner weltlichen Arbeit als Senator nachzukommen. Er konnte sich viele Ausfälle wegen Krankheit oder nicht ausreichender Kraft nicht leisten, wo er noch nicht lange im Amt war und die anderen Senatoren ihm ständig auf die Finger sahen, dass er sich ja keinen Fehltritt erlaubte.

Es war nicht leicht, mit Abstand der Jüngste im Senat von Thalurien zu sein. Er war erst fünfundzwanzig – die anderen im Rat waren vermutlich fast doppelt so alt wie er, auf jeden Fall waren allesamt alt genug, um mindestens sein Vater sein zu können. Er trug den spöttischen Titel Babysenator in Taiduhr, was es auch nicht gerade besser machte. Er konnte den alten Männern aber nicht verübeln, dass sie ihm die Weisheit, die für ein solch hohes Amt von Nöten war, nicht zutrauten. Er selbst hätte vermutlich auch jeden so jungen Kerl ausgelacht, der daherkam und behauptete, er könnte genauso gut die Politik machen wie die Alten. So blieb Puran Lyra nichts anderes übrig, als das Beste zu machen, um Eindruck zu schinden. Pünktlich dort erscheinen, wo er zu tun hatte, alles gewissenhaft und ordentlich erledigen und nichts falsch machen. Ein wichtiger Aspekt war im Übrigen seine Erscheinung – er durfte sich nie leisten, vor seinen älteren Kollegen Unsicherheit zu zeigen. Er musste ihnen gegenüber Respekt haben, weil sie älter waren, aber er durfte sich auch nicht von ihnen unterbuttern lassen und ihnen Gelegenheit geben anzunehmen, er hätte Angst vor ihnen. Er hatte sich in Taiduhr im Herbst einen Spazierstock besorgt; nicht, weil er nicht gehen konnte, sondern als Statussymbol. Mit derart verzierten Gehstöcken gingen nur die angesehenen Männer von höherem Rang einher, und verblüffenderweise hatte der bloße Stock tatsächlich die Blicke der Senatoren verändert.
 

„Schatz… bist du in Ordnung?“ Leyya machte ein besorgtes Gesicht, als sie ihren Mann am Vormittag die Treppe herab poltern hörte, als wäre er unfähig, anständig zu gehen. An der untersten Stufe angekommen lehnte Puran sich stöhnend gegen die Wand und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.

„Die Trance bringt mich um, eines Tages, wirklich.“, nölte er, „Ich bin erledigt… ich habe völlig die Orientierung verloren, ich weiß nicht mal, wie lange ich da oben war und versucht habe, Antworten zu finden…“ Sie lächelte wohlwollend. Sie war fertig angezogen und trug ihre Schuhe, was ihn verblüffte. Kurz sah er ihr dabei zu, wie sie in der Küche Teig für Gemüserollen zubereitete, die sie am Abend machen wollte. Karana lümmelte unter dem Küchentisch herum und malte mit einem schwarzen Kohlestift Muster auf den Boden.

„Gehst du weg?“, fragte Puran seine Gemahlin verpeilt und kratzte sich am Kopf. Es war warm geworden, dafür, dass erst Kirschmond war. Er kam sich plötzlich dämlich vor, weil seine Frau so angezogen war und er nicht mehr als seine Schlafhose trug.

„Ja, ich muss mit Chitra nach Mitonha, arbeiten… gut, dass du auf bist, kannst du auf Karana aufpassen? Oder traust du dir das nicht zu mit deinem labilen Zustand…?“ Sie sah von ihrem Teig auf und wirkte besorgt, als er sich abermals über das Gesicht fuhr.

„Ich bin in Ordnung…“, seufzte er, „Ich bin etwas müde, aber ich komme klar. Gut, dass ich heute frei habe.“

Das Kommunizieren mit den Geistern war eine anstrengende Arbeit, und sie zehrte einen ziemlich aus. Besonders ärgerlich war dann, wenn man keine Antwort bekam auf das, was man fragen wollte. Puran hatte das Gefühl, die Geister veräppelten ihn grundsätzlich, weil sie Spaß daran hatten. Und das erzürnte ihn ziemlich. Als er sich von seiner besorgten Frau verabschiedet hatte, nahm er seinen kleinen Sohn mit ins Badezimmer. Er konnte ihn nicht alleine lassen, während er badete, also musste der Knirps mit; davon abgesehen war er überall verschmiert mit Kohle und konnte ein Bad gut gebrauchen.

„Du Schlingel!“, tadelte Puran seinen Sohn, der gackerte, als er in die Badewanne gesetzt wurde. Die Badewanne im zweiten, oberen Bad war nur ein kleines bisschen größer als die Zinkwanne unten, aber Vater und Sohn passten noch problemlos zusammen hinein. Mit seiner Frau konnte Puran leider immer noch nicht baden; dieses Vergnügen beschränkte sich dann auf die frühen Morgenstunden im Sommer und den nahen See. „Was malst du auch den Boden an! Sieh dich an, Karana, du schaust aus wie ein Schornsteinfeger.“ Karana gackerte und plantschte ausgelassen im Wasser herum, während sein Vater ermüdet versuchte, ihn gründlich zu waschen. Karana war ein bildhübsches Kind. Er war kein Hungerhaken, aber auch nicht pummelig, wie Alona es als Kind gewesen war. Sein Gesicht war sehr ansehnlich und die grünen Augen machten immer den Anschein, dass der Kleine nie müde wurde. „Tapferer Junge.“, seufzte der Mann schließlich, während er mit den Händen Karanas braune Haare zu waschen begann. „Ich hoffe, wenn du eines Tages auch mal Geisterjäger sein wirst, werden die Geister dir mehr Antworten geben als mir; oder du hältst diesen geistigen Druck einfach besser aus als dein zimperlicher Idiot von Vater.“ Karana lachte und pustete heftig die Luft aus seinem Mund, um kein Wasser hinein zu bekommen. „Verdammt, ich verfluche die Himmelsgeister…“ Murrend ließ Puran von Karanas Haaren ab und begann stattdessen, sich selbst zu waschen, während das kleine Kind im Wasser plantschte. Es gab so vieles, was ihn immer noch sorgte. Dinge, die unbeantwortet blieben… er wünschte sich, dass Karana einst ein leichteres Los ziehen würde als er. Er war Schwarzmagier wie sein Vater… es war nicht zwingend gegeben, aber nicht unwahrscheinlich, dass der Junge eines Tages ebenfalls die Macht besitzen würde, in den Rat der Geisterjäger zu kommen. Es hatte in den vielen Jahrhunderten, die der Lyra-Clan schon bestand, fast keinen männlichen Schwarzmagier gegeben, der nicht diese Macht besessen hätte. Den offiziellen Rat der Geisterjäger gab es nicht so lange wie den Lyra-Clan, aber Puran war überzeugt, dass die Vorfahren, die älter als der Rat waren, ebenfalls diese Macht besessen hatten. Er wünschte sich, dass sein Sohn dieses Schicksal, würde es ihn wirklich genau wie alle seine männlichen Vorfahren väterlicherseits ereilen, leichter tragen konnte als er selbst.

So richtig einverstanden war Puran nie mit seiner Bestimmung gewesen. Und vielleicht war das der einzige Grund, warum er nicht allmächtig und allwissend war – er wusste sehr gut, dass seine Gabe, die Geister grenzenlos zu beherrschen, die er nur sehr selten offen zeigte, ihn selbst in den Reihen seiner mächtigen Vorfahren zu einem der mächtigsten Exemplare machte. Ruja hatte gesagt, das Geisterschwert zu führen beherrschten nur extrem wenige. Wäre er nicht so pessimistisch und unzufrieden mit seinem Schicksal, wäre er gewillt, seine bestialische, gigantische Macht auszunutzen, so wäre er vermutlich fähig, ganz Tharr zu unterwerfen oder zu vernichten. Er war nicht der größenwahnsinnige Typ… er fragte sich, ob der Geist seines Großvaters tatsächlich noch existierte – und ob er vor Hass und Neid irgendwo verging, weil sein Enkel eine Macht von einem Ausmaß besaß, das die seine niemals besessen hatte.
 

Wenn niemand daheim war, konnte so ein freier Tag ganz schön langweilig werden. Zum Glück war ja Karana da, und angesichts der Tatsache, dass sein Vater die vergangenen Tage komplett im Schlafzimmer verbracht hatte, war es eine gute Idee, mit dem Kleinen an die frische Luft zu gehen. Frisch gebadet und angezogen konnte man sich ja auch wieder sehen lassen, wobei der kleine Junge seine neu angezogenen Kleider gleich wieder dreckig machte, weil er mit den Füßen im Sand der Straße herumtrat und damit trockenen Staub aufwirbelte, der jetzt seine Hose benetzte. Karana nieste.

„Das kommt davon.“, tadelte Puran seinen Sohn entrüstet, „Was wirbelst du auch den ganzen Dreck auf?“ Karana gackerte und brabbelte irgendwelche unverständlichen Worte vor sich hin. „Karana!“, entfuhr es Puran strenger und er hielt den Kleinen fest und zwang ihn grantig, ihn anzusehen. „Hörst du mir zu? Lach mich nicht aus, sondern antworte in unserer Sprache!“ Er starrte dem Kind streng ins Gesicht und Karana schmollte, verengte die grünen Augen zu Schlitzen und murmelte dann tatsächlich gehorsam:

„Ja, Vati!“ Puran seufzte und streichelte Karanas Wange.

„Ich hab dich lieb. Entschuldige, dass ich dich anpflaume, ich… bin eben immer noch gereizt über den Ungehorsam der Geister, die mir nicht antworten wollen.“

Ein fröhliches Johlen etwas weiter vorne ließ sowohl den Vater als auch den Sohn aufsehen. Sie waren beim Anwesen der Sagals angekommen bei ihrem Spaziergang, und jetzt stürmten zwei von Dasan Sagals kleinen Enkelsöhnchen aus dem Haus und die Straße hinunter. Sie waren beide nur wenig älter als Karana, die Jungen spielten im Sommer oft zusammen im Sand. Als die beiden Sagal-Jungen Karana entdeckten, johlten sie erneut und der Kleine an Purans Hand tappte kichernd von einem Fuß auf den anderen.

„Na, sowas.“, machte Puran und ließ seinen Sprössling los, als die beiden größeren Jungen dazu kamen und zu quasseln begannen. Im Gegensatz zu Karana sprachen sie vernünftig.

„Karana, Karana, spiel mit uns!“

„Jaa, wir bauen jetzt eine Sandburg!“

„Jetzt aber mal halblang!“, ertönte die Stimme des Großvaters da auch, der mit seinem Hinkebein aus der Tür gehumpelt kam. Er hatte auch einen Gehstock, aber anders als Puran diente der bei Dasan Sagal nicht ausschließlich als Statussymbol. „Bevor ihr mit Karana davon rennt, habt ihr zum Herrn Senator artig Guten Tag gesagt?“ Die beiden Kleinen sahen sich schuldbewusst an und neigten dann brav vor Puran die Köpfe.

„Guten Tag, Herr Senator!“ Der Angesprochene gluckste amüsiert. Als die Jungen gleich wieder aufeinander einzureden begannen – die Sagal-Jungen normal und Karana auf seiner Brabbelsprache. Vermutlich verstanden die Älteren kein Wort von Karanas Gequatsche, aber sie verstanden sich trotzdem blendend.

„Guten Tag, Jungs.“, erwiderte er dann förmlich, ehe er sich vor dem Großvater der Jungen verneigte. „Guten Tag, Herr.“

„Dieses Herr-Gequatsche legt Ihr niemals ab, was?“, lachte Dasan Sagal, „Ihr habt kein bestimmtes Ziel, wie ich sehe, könnte ich mir Eure Ohren für einen Moment leihen? Es gibt seltsame Dinge, die ich gehört habe, die ich dringend an Euch weiterleiten wollte. Am besten… begleiten wir die Rasselbande zum Schmied.“

Vor dem Haus des Dorfschmieds war ein Platz mit feinem Sand, dort spielten viele der Dorfkinder oft, nicht nur die drei Jungen. Der Schmied war zum Glück ein fast tauber alter Mann, den der Krach der Kinder nicht zu stören schien; er freute sich vielmehr über den Trubel vor seiner Hütte. Tatsächlich fanden sie, als sie langsam wegen Dasan Sagals lahmem Bein in die Richtung schlenderten, schon den Sohn des Pferdezüchters und den Sohn des Winzers, die im Sand spielten. Die Jungen waren noch etwas älter als Dasan Sagals Enkelsöhne und hatten mit den Kleinen nichts weiter zu tun, sie gingen beide bereits in die Dorfschule, die im nahen Dorf Mitonha lag. Eines Tages, in vier Jahren, würde Karana dort auch hingehen. Puran war oft in allen Ecken der Provinz unterwegs, um die Ortschaften zu inspizieren, ob alles in Ordnung war, so hatte er auch bisweilen die Schule von Mitonha einmal in Augenschein genommen; sie hatte einen guten Ruf und war zahlreich besucht von Kindern aus sämtlichen nahen Dörfern. Sogar aus dem Osten von Senjo kamen Kinder dorthin, weil es die einzige Schule in der Umgebung war.

Karana und die beiden Sagal-Jungen stürzten sich grölend auf den Sandhaufen vor dem Haus des Schmieds, worauf die beiden älteren Knirpse pikiert von ihrer offenbar sehr ernsthaften Arbeit dort aufsahen.

„Wehe, ihr schmeißt Sand auf unsere Würmerzucht, ihr Racker.“, warnte sie der Sohn des Winzers, „Die mögen es nicht, mit Sand beworfen zu werden.“

„Würmerzucht, na großartig.“, seufzte Puran mit Blick auf die Kinder, und Dasan Sagal lachte kurz. Sie gingen langsam weiter vor sich hin, immer in der Nähe der Kinder bleibend. Der Senator räusperte sich. „Was ist es, was Ihr zu sagen habt?“

„Die Zuyyaner.“, begann der Telepath gedämpft, und sein Gesprächspartner versteifte sich und blieb stehen.

„Was?! W-was ist mit ihnen?“

„Sie machen allerlei komische Dinge. Ich habe heute Morgen Rücksprache gehalten mit meinem Vetter dritten Grades, der in Kimriso lebt, also direkt in der Nähe von Vialla hier in unserer Provinz.“ Puran nickte und staunte nebenbei darüber, wo dieser Mann überall Verwandtschaft hatte. Dasan Sagals Augen und Ohren waren überall, hatte er das Gefühl, es schien nichts in der Provinz zu geben, das ihm entgehen konnte. Eigentlich war der gesamte Sagal-Clan ein großer Spionagehaufen; was nicht unbedingt schlecht war. „In der Nähe von Kimriso ist gestern ein kleines Jagdflugschiff der Zuyyaner gelandet, hinaus kam eine Patrouille der Zuyyaner, Krieger, wie wir sie aus den Zeiten vor dem Waffenstillstand kennen. Natürlich ist sofort Panik ausgebrochen, die Invasion beginne von neuem, aber ich glaube, die Truppe, die nach Tharr kam, ist gar nicht an Kimriso interessiert. Sie haben das Dorf zwar durchwühlt, aber nichts zerstört und auch niemanden erschlagen oder mitgenommen, sie sind einfach weiter gezogen und sind auf dem Weg nach Westen gewesen.“

„Dann kommen sie hierher?“, wunderte Puran sich, „Was mag denn das bedeuten? Was haben sie wohl gesucht?“

„Das haben sie in Kimriso zumindest nicht gesagt, davon abgesehen, dass die Zuyyaner sich viel zu fein sind, die Einheitssprache zu sprechen, damit wir Dorfdeppen sie verstehen. Ich fand die Botschaft nur äußerst eigenartig, und dass sie während de Waffenstillstandes einfach unbefugt durch das Land rennen und Chaos verursachen ist auch nicht gerade angestrebt, so fürchte ich. Nur, weil sie uns im Krieg so fertig gemacht haben, heißt das nicht, dass die hier ein und aus marschieren können, wie sie wollen. Wir sind doch keine zuyyanische Kolonie!“

„In der Tat nicht, Herr. Aber die Truppe einfach umzurennen wäre auch nicht wirklich günstig, nachher geben wir dem nächsten, größenwahnsinnigen Kaiser nur einen Grund, uns noch mal anzugreifen. Aber auf jeden Fall sollte man sie fragen, was sie eigentlich wollen, wenn sie ihre Mäuler nicht von alleine aufkriegen.“

„Eben.“, seufzte der Ältere mit Blick auf die Kinder, die im Sand spielten, „Ich kann nicht sagen, ob sie nach Lorana kommen… wenn, wäre es nicht mehr lange hin. Wir wissen, wie schnell die Zuyyaner sind.“

„Dann fahre ich umgehend nach Taiduhr, um zu berichten.“, entschloss der Schwarzmagier ernst, „Freier Tag hin oder her, das ist keine unwichtige Sache.“ Er sah unruhig auf Karana. „Herr… könntet Ihr mir einen Gefallen tun und auf meinen Sohn aufpassen? Meine Frau ist in Mitonha, sie wird heute Abend zurückkehren.“

„Natürlich. Ich werde ihr Bescheid sagen… ich danke Euch für Eure Mühe, Senator Lyra.“

„Und mir sagt Ihr, ich solle mit den Förmlichkeiten aufhören!“, feixte der Jüngere noch, ehe er sich beeilte, um sein Pferd zu holen. Er hatte keine Zeit, sich von Karana zu verabschieden, obwohl es ihm leid tat. Der Kleine war zu sehr in sein Spiel vertieft, um die Abwesenheit des Vaters zu registrieren. Erst, als er aufsah und Puran plötzlich weg war, fand Karana, dass etwas komisch war.
 

Leyya war bestürzt, als sie bei Sonnenuntergang vor ihrem Haus Dasan Sagal mit Karana stehen sah, und sie ahnte sofort, dass irgendetwas passiert war. Die Nachricht, dass Zuyyaner durch die Provinz eierten und Dörfer ins Chaos stürzten, trug nicht zu ihrer Beruhigung bei, aber sie dankte dem inoffiziellen Oberhaupt von Lorana für seine Mühe um Karana, ehe sie hinein eilte in der naiven Hoffnung, im Haus vor potentiellen Überfällen der Zuyyaner sicherer zu sein. Auch, wenn sie nichts zerstört und niemanden getötet hatten, die Botschaft war voller Unheil. Was mochte passiert sein? Was suchten sie hier in Thalurien? Und verstieß dieses Herumrennen in der Provinz nicht gegen den Waffenstillstand? All das fragte sich die junge Frau, als sie nachts alleine im Bett lag und Angst hatte. Sicherheitshalber hatte sie Karana mit in ihr Ehebett genommen, jetzt schlief der Kleine seelenruhig neben ihr und atmete dabei leise ein und aus. Leyya konnte nicht schlafen. Und ausnahmsweise mal lag es nicht daran, dass sie Purans Umarmung vermisste und wie er sie streichelte und liebkoste; nun, es lag nicht nur daran, räumte sie verlegen in Gedanken ein. Was machte er eigentlich die ganze Nacht in Taiduhr?

Sie schlug sie nervös die Nacht um die Ohren. Bei jedem Geräusch hoffte sie, Puran käme heim, oder sie fürchtete, Zuyyaner brächen in das Haus ein, und sie hoffte sehnsüchtig, dass es bald Morgen würde, damit die grässliche Nacht vorbei war. Als der Morgen endlich graute, erhob sich die Heilerin seufzend und müde vom Bett und beschloss, das Schlafen aufzugeben. Karana wachte auf, als sie ins Bad gehen wollte, um sich frisch zu machen, und aus Furcht vor den Übergriffen der Zuyyaner nahm sie das Kind lieber mit.

„Gibt’s Essen?“, kicherte das Kind, das offenbar nichts von der Unruhe seiner Mutter spürte, und Leyya seufzte und streichelte seine zerzausten Haare, als sie nach einer kurzen Katzenwäsche mit ihm hinab eilte. Sie war rastlos. Wo war Puran? Und was war jetzt mit den Zuyyanern?

„Ja… ja, ich mache dir gleich Frühstück, Karana.“, murmelte die Frau zerstreut und konnte nicht umhin, immer wieder aus dem Flurfenster neben der Haustür zu sehen. Aber niemand kam… seufzend stellte sie ihren Sohn auf dem Boden ab und begann tatsächlich, ihm Frühstück zu machen. Sie stellte fest, dass sie am Abend vergessen hatte, ihre Gemüserollen zu machen. Ach, war das ein furchtbarer Moment…

„Verdammt, wo bleibt Puran?“, schluchzte sie dann verwirrt vor Angst und eilte wieder in den Flur, das halbe Brot für den Kleinen ungeschmiert liegen lassend. Sie öffnete die Haustür und spähte jammernd hinaus. „Ich bringe dich um, wenn du heim kommst, Puran Lyra! Wie kannst du mich so in Sorge lassen…?!“

„Wieso ist denn die Tür auf?“, wollte Karana wissen und Leyya starrte ihn verblüfft an, Puran plötzlich vergessend.

„W-was? Hast du gerade einen ganzen Satz gesagt?!“ Karana sah sie doof an, dann grinste er unschuldig.

„Äh, lala, hihi…“ Sie schnaubte und fragte sich, ob sie das gerade richtig beobachtete, dass ihr zwei Jahre alter Sohn sie die ganze Zeit verarschte und längst richtig sprechen konnte, nur keine Lust hatte – in dem Moment unterbrach sie lautes Rufen aus dem Dorf. Das Kind zurück ins Haus schiebend hechtete Leyya hinaus vor die Tür, um zu sehen, was los war – sie hörte das Wiehern eines aufgeregten Pferdes, irgendwo empörten sich Dorfbewohner… dann sah Leyya ein schwarzes Pferd um die Ecke preschen, auf ihm ein in Lumpen gehüllter Reiter, der definitiv nicht aus Lorana kam. Leyya erstarrte und wusste nicht recht, ob sie wahrnahm, dass der Kerl direkt auf sie zugeritten kam, sie registrierte ihn erst wirklich, als er das Pferd unmittelbar vor der Haustür ruckartig bremste. Der Gaul stieg panisch und hätte den Reiter beinahe abgeworfen, als Leyya ihn noch erbleichend musterte. Er war blond und seine Haut war blass, er wirkte seiner Kleidung zum Trotz überhaupt nicht wie ein armer Bauer, mehr wie einer aus wirklich hohem Rang. Seine hellblauen, ungewöhnlichen Augen fixierten sie kurz – dann griff er vor sich und Leyya bemerkte erst in diesem Moment den kleinen Jungen, der vor dem Mann auf dem Pferd saß. Der Mann hob den Kleinen herunter und drückte ihn in Leyyas Arme, duldete keinen Widerstand oder eine Zurückweisung ihrerseits, so hielt sie plötzlich das wildfremde Kind in den Armen.

„W-wer-…?!“, keuchte sie noch stimmlos, und der Fremde warf einen Blick nach Osten und keuchte verzweifelt, ehe er Leyyas Gesicht nur kurz fixierte.

„Ich flehe Euch an, bitte beschützt Simu. Ich kann ihn nicht mehr beschützen, sie werden ihn umbringen… ich flehe Euch an, Herrin, mit aller Demut, die ich aufbringen kann… bitte sorgt für ihn. Er ist alles, was mir geblieben ist… bitte!“ Er sprach in einem seltsamen Akzent, Leyya fragte sich, aus welchem Land er kommen mochte. Sie konnte nicht antworten, sondern nur starren, in sein flehendes, verzweifeltes Gesicht. Er sah mitgenommen aus…

„W-wer seid Ihr?“, wisperte sie nur, und der Fremde richtete sich japsend auf dem Gaul wieder auf und warf einen letzten, bitteren Blick auf das kleine Kind in Leyyas Armen.

„Beschützt Simu!“, wimmerte er, „Ich flehe Euch an… Eure Gnade soll Euch eines Tages vergolten werden, Herrin, das schwöre ich im Namen meiner Familie.“ Das war alles, was er sprach, dann riss er die Zügel herum und jagte mit einem Affenzahn wieder hinaus aus dem Dorf, fort von Leyya, fort von dem Kind, das er ihr gegeben hatte. Leyya schrie und wollte ihn aufhalten, aber er war weg, ehe sie auch nur einen Schritt nach vorne tun konnte. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, was gerade geschehen war, ehe sie auf das Kind sah, das sie immer noch trug. Der kleine Junge konnte nicht älter als ihr eigener Sohn sein. Er hatte genau wie der Mann blonde Haare und blaue Augen und starrte sie aus einem leichenblassen Gesicht und Augen voller Panik an, ohne sich jedoch zu rühren. Tausend Fragen auf einmal schossen ihr durch den Kopf: Wer war der Mann gewesen? Warum rannte er weg? Was war mit dem Kind?

Sie wusste nicht, was sie tun sollte, sie konnte nur da stehen – dann kam Puran. Aus dem Nichts tauchte er plötzlich ebenfalls auf einem Pferd galoppierend auf und bremste mit fast derselben Bewegung und Heftigkeit wie der Fremde zuvor vor seiner Frau.

„Bei Himmel und Erde, Leyya!“, keuchte er, „Geh ins Haus, rasch! Die Zuyyaner sind auf dem Weg hierher, verschließe die Tür und komm nicht raus, bis ich zurück bin! – Wer ist denn das?“ Er sah verblüfft auf den fremden Jungen, der jetzt den Kopf zu ihm umwandte und ihn aus riesig geweiteten Augen anstarrte.

Plötzlich brach es wie tauendes Eis im Frühling aus Leyya heraus. Sie erzählte so kurz und zusammenfassend wie möglich, was ihr gerade widerfahren war, und Puran keuchte mit Blick auf den blonden Jungen.

„Dann ist der Kerl bestimmt das, was die Zuyyaner suchen! Vor wem sollte er sonst wegrennen?! – Versteck das Kind, auf der Stelle! Los, mach schon!“ Er gab dem Pferd zischend die Sporen und es galoppierte wiehernd los nach Westen. Leyya schrie erneut.

„Puran! Was machst du denn?!“

„Ich sorge dafür, dass sie nicht hierher kommen! Und dann suche ich den Fremden!“
 

Leyya wollte zu den Ansos rennen oder zu Herrn Sagal; sie hielt sich aber an Purans Anweisung und verbarrikadierte sich im Haus, oben in Karanas Kinderzimmer, mit den beiden kleinen Jungen. Als sie den fremden Jungen abgesetzt hatte, sah er sich nur verwirrt in der ihm unbekannten Umgebung um und machte keinen Ton. Karana musterte den Fremden interessiert und zerrte dabei gedankenverloren an seinem Hemd herum.

„Du bist Simu, nicht wahr?“, fragte Leyya den Fremden zaghaft, um irgendetwas zu sagen – obwohl sie selbst panisch war, war es viel wichtiger, die Kinder zu beruhigen. Karana und der Kleine spürten die Angst, die vorherrschte, ganz deutlich. „Hab keine Angst…“, fuhr Leyya fort und lächelte den verstörten, fremden Jungen an. Der Kleine starrte nur schweigend zurück. „Ich bin Leyya.“, stellte sie sich dann lächelnd vor. „Das ist Karana. Hier passiert dir nichts, Simu… niemand wird dir wehtun.“ Der Kleine senkte scheu den Blick etwas und zitterte nervös. Die Heilerin verübelte es ihm nicht… er kannte sie nicht, er wusste nicht, wo er war, und vermutlich auch nicht, wieso. „Dieser Mann.“, flüsterte die Frau behutsam, „Ist das dein Vater?“ Simu antwortete nicht. Vielleicht konnte er auch gar nicht sprechen, er war noch sehr, sehr klein… der Blonde bewies ihr nach langem Schweigen jedoch das Gegenteil, indem er plötzlich doch den Mund auftat. Was aus seiner Kehle kam, war nur ein unverständliches Brabbeln, aber es klang anders als das von Karana. Es klang wie eine richtige Sprache, aber irgendwie auch wieder nicht. Kleine Kinder quasselten oft sinnlos vor sich hin, sie kannte das ja… dann sprach er erneut, und jetzt verstand sie ihn.

„Ich bin Simu.“ Leyya lächelte. Er konnte sich vorstellen, wie zuckrig.

„Ach!“, machte sie freudig, „Hallo, Simu! – Komm, Karana, sag ihm auch Hallo. Das ist Simu. Er wird… wohl eine Weile hier sein.“ Sie fragte sich verstört, ob Puran den Fremden fände… was hatte das alles zu bedeuten?

Karana machte zwei Schritte nach vorne und musterte dem fremden Jungen eine lange Weile. Der Fremde blickte schweigend zurück und sie schienen nur durch stumme Blicke irgendetwas zu vereinbaren oder zu erkennen. Dann strahlte Karana plötzlich und umarmte den kleinen Jungen herzlich.

„Hihi, lieb!“, machte er dabei und der kleine Simu schaute verwirrt, als er plötzlich geknuddelt wurde, aber dann zeigte er ein verblüfftes, kleines Lächeln. Leyya tat der Junge leid… er musste völlig unter Schock stehen. Was ihm wohl widerfahren war? Sie hoffte, Puran würde ihr mehr sagen können, wenn er zurückkehrte.

Und der Tag der Sorgen ging weiter.
 

Als Puran zurückkehrte, war es längst nach Mitternacht. Die beiden kleinen Jungen teilten sich friedlich Karanas Bett und schliefen aneinander gekuschelt. Leyya war müde, weil sie die letzte Nacht nicht geschlafen hatte, aber jetzt ins Bett zu gehen wagte sie nicht vor Sorge. Als sie unten die Tür aufgehen hörte, erhob sie sich und taumelte zur Treppe, wo ihr ihr Gemahl bereits entgegen kam. Erst, als sie sich zur Begrüßung erschöpft umarmt hatten, fiel ihr auf, dass er nicht weniger übernächtigt wirkte als sie.

Sie setzten sich in die Küche und Leyya machte ihnen beiden Kaffee, damit sie nicht beim Sprechen einschliefen. Normalerweise trank sie keinen Kaffee… aber es machte tatsächlich ein wenig munterer, stellte sie verblüfft fest, während sie saßen und tranken.

„Die Zuyyaner sind verschwunden.“, war Purans erste Ankündigung. „Die können sich auflösen, wie Teleport, es war ungeheuer. Gestern bin ich nach Taiduhr gefahren und habe sofort Alarm geschlagen, dann sind wir mit einer Truppe los, um die komischen Vögel zu suchen und sie höflich zu fragen, was sie eigentlich wollen; Waffenstillstand heißt nicht, dass wir hier besetztes Land sind, das passiert werden darf, wann es denen passt und egal aus welchem Grund. Wir sind die ganze Nacht unterwegs gewesen… dann haben wir sie gesehen auf dem Weg direkt hierher, wie es schien, ich habe mich beeilt, um eine Abkürzung zu nehmen und vor ihnen hier zu sein und euch zu warnen… da kam dein komischer Fremder ins Spiel.“

„Haben sie ihn verfolgt?“, wollte Leyya wissen und Puran zog die Schultern hoch.

„Ich fürchte es. Ich habe ihn nicht finden können, aber ich fand das schwarze Pferd, herrenlos und panisch auf einer Wiese herum irrend. Das muss das gewesen sein, auf dem er geritten ist…“

„Und die Zuyyaner?“, fragte die Heilerin besorgt, „Dann… haben sie ihn erwischt und mitgenommen?“ Ihr Mann seufzte und trank zügig seinen Kaffee aus.

„Sie sind jedenfalls an Lorana vorbei, wie du vermutlich selbst bemerkt hast. Sie haben zuerst die Straße nach Thuran genommen, sind aber auf halbem Weg dann nach Westen quer feldein gerannt, und in den Wäldern von Tsnira haben wir sie dann verloren. Diese Barbaren sind wahnsinnig schnell unterwegs, die fliegen ja, die brauchen gar keine Pferde. Ich vermute, dass sie den Kerl erwischt haben und dann abgehauen sind… ich habe keine Ahnung, was das soll.“ Sie schwiegen kurz und Leyya seufzte bedrückt.

„Was machen wir jetzt mit Simu?“

„Mit wem?“

„Na, Simu, der kleine Junge, den mir der Fremde in die Arme gedrückt hat.“

„Am besten ist es vielleicht, wenn wir ihn nach Vialla bringen. Es kommen manchmal Gesandte von Zuyya, dann können wir die fragen, ob sie wissen, was mit dem Vater passiert ist, sofern das überhaupt sein Vater war, der da verfolgt wurde.“

„Was? D-du willst den Jungen also ausliefern?“, fragte sie bestürzt und er schürzte die Lippen.

„Ich riskiere nicht meine Familie und das Leben von ganz Lorana, indem ich irgendjemanden hier verstecke und beherberge, den ausgerechnet Krieger der Zuyyaner verfolgen, Leyya. Denk doch nur, was passieren würde, wenn die herausfinden, dass der Junge hier ist.“

„Es ist nur ein Kind! Er ist nicht älter als unser eigener Sohn, der ist doch unschuldig! Egal, was der Fremde verbrochen haben mag, dass er die Zuyyaner erzürnt hat, das Kind kann nichts dafür…“

„Das sehen die Zuyyaner anders, sonst hätte es keinen Grund für den Kerl gegeben, den Kleinen zu verstecken. Wenn er wirklich nichts getan hat und die Zuyyaner kein Problem damit haben, ist es ja auch in Ordnung, wenn sie ihn bekommen oder zumindest erfahren, wo der Knirps ist.“

„Du hältst die Zuyyaner für diplomatisch genug, das Kind eines Mannes, den sie verfolgt haben, für was auch immer – auch, wenn er vielleicht nicht der Vater ist, so gehörte das Kind zumindest doch in irgendeiner Art zu ihm – einfach fröhlich zu akzeptieren? Das grenzt doch an Selbstbetrug, mein Guter, du weißt, zu was die fähig sind…“

„Leyya, der Kerl wird irgendetwas getan haben, was schlecht war! Ob er sie beleidigt hat oder gestohlen hat aus ihren Lagern, die hier im Land immer noch vereinzelt herumliegen, oder sonst etwas, sie werden einen Grund haben, ihn zu verfolgen, das ist nicht unsere Angelegenheit.“ Er erntete nur einen grimmigen Blick von ihr und stöhnte verzweifelt. „Leyya, Liebes… bitte verstehe doch-…“

„Nichts!“, zischte sie, „Du Kindermörder willst den Kleinen an die Zuyyaner ausliefern, Puran, hörst du dich reden?! Ich bin schwer enttäuscht von deiner Rückratlosigkeit, so etwas auch nur zu denken!“ Sie erhob sich und er war zu verblüfft über ihren Ärger, um auch aufzustehen. „Das Kind ist völlig verschüchtert, es kann garantiert nichts dafür, egal, was passiert ist! Ich werde nicht zulassen, dass du ihn nach Vialla bringst… nicht zu den Gesandten von diesem Planeten voller Monster und Barbaren! Die Zuyyaner töten ohne Grund, hast du vergessen?“ Sie wandte sich ab und stampfte davon, die Treppe hinauf. Der Senator brauchte eine Weile, bis er sich sammelte und ebenfalls aufstand, um ihr zu folgen.

Er fand seine Frau im Schlafzimmer. Sie hatte ihr Nachthemd angezogen und sich auf die Seite des Bettes gelegt, seiner Seite stur den Rücken kehrend. Puran seufzte und setzte sich voll angezogen zu ihr und begann, ihren Rücken zu streicheln.

„Leyya… ich verstehe dich doch.“, murmelte er, „Ich verstehe doch, was du denkst. Glaub mir, ich finde es auch nicht gut! Aber was willst du stattdessen tun? Du weißt nicht mal, wer der Knirps ist… wer der Mann war, von dem du ihn bekommen hast! Warum er verfolgt wurde. Hast du mal daran gedacht, dass er wegen des Kindes verfolgt worden sein kann? Was, wenn es das Kind ist, das sie wollen? Sie werden überall suchen, und eines Tages werden sie herkommen und uns vielleicht alle umbringen, willst du das? Deine Muttergefühle für einen fremden Jungen in allen Ehren, meine Liebe, aber denke bitte auch an unseren eigenen Sohn, der mindestens genauso unschuldig ist, wie du es diesem Kleinen da nachsagst!“ Darauf hatte sie keine Antwort. Sie schauderte nur und flüsterte dann ganz leise.

„Du hast das Gesicht des Mannes nicht gesehen, Puran. Du hast seinen Blick nicht gesehen… du magst es für das Geschwafel einer zu emotionalen Frau halten, aber dieser Blick kann keinem schlechten Mann gehört haben! Das geht einfach nicht! Es hat mich tief in meinem Inneren berührt, wie er mich anflehte, das Kind zu schützen! Da kann ich sowas doch nicht zulassen… was immer er getan hat, er hat nur für das Wohl des Kindes sorgen wollen, als er es mir gab. Da bin ich völlig sicher.“ Puran brummte.

„So, schön, dass dich also schon andere Männer tief berühren, wirklich, das versüßt mir den Tag.“ Sie schnaufte.

„Du weißt ganz genau, dass ich es nicht so gemeint habe!“ Er wusste das, ja, und er setzte sich aufrecht hin, kehrte seiner Frau den Rücken und fing an, sein Hemd aufzuknöpfen. Jetzt spürte er die Müdigkeit zurückkehren, die der Kaffee kurzzeitig verdrängt hatte. Es wurde dringend Zeit, zu schlafen.

„Hör zu, ich mache dir einen Vorschlag.“, sagte er dabei ernst, „Ich versuche ab morgen, herauszufinden, was da passiert ist. Wer dieser Kerl war und was es mit diesem Jungen, Simu, auf sich hat. Wenn ich mehr weiß, dann sehen wir weiter… bis dahin bleibt er vorerst hier bei uns.“ Leyya seufzte, offenbar erleichtert, und es beruhigt ihn, dass sie nicht mehr wütend war. Sie sollte sich doch nicht aufregen… sie war hochschwanger. „Bist du damit einverstanden?“

„Ja.“, machte sie leise.

„Der Junge ist ja nicht vom Himmel gefallen, er muss irgendwo Eltern haben – zumindest gehabt haben. Irgendwo muss er ja hingehören, ich versuche, das herauszufinden, und was dieser verfolgte Typ damit zu tun hatte, sei es nun sein Vater oder irgendjemand anderes. Wenn wir wissen, wo er hingehört, kann er vielleicht problemlos dorthin zurück, zu seiner Familie.“

„Und wenn du nichts herausfindest?“, wunderte sie sich dumpf, als er aufstand, seine Hose öffnete und ebenfalls auszog, um sich dann in Unterhosen zu ihr zu legen und sie von hinten zärtlich zu umarmen.

„Keine Ahnung… so weit bin ich ja noch nicht, Liebes. Was sagt eigentlich Karana zu dem Knirps?“

„Karana mag ihn gern!“, erklärte die Heilerin und kuschelte sich müde in Purans Arme, „Er hat ihn umarmt und sofort akzeptiert… das heißt, der Kleine kann kein schlechter Mensch sein. Karana spürt instinktiv, wenn jemand ein Mistkerl ist. Er umarmt die Leute, bei denen er spürt, dass sie gut sind.“

„Sofern du den nicht ausgereiften und noch nicht greifbaren Instinkten eines Zweijährigen mehr vertraust als gesundem Menschenverstand, ja.“, seufzte er und sie boxte ihn liebevoll in die Rippen. „Au…“

„Was soll denn bitte an einem kleinen Jungen schlimm sein?“

„Keine Ahnung, das musst du schon die Zuyyaner fragen. Jetzt lass uns endlich schlafen, ich sterbe gerade vor Müdigkeit.“ Sie seufzte abermals und schloss ebenfalls die Augen, als er sie nur flüchtig in den Nacken küsste. Kurz herrschte Stille und sie konzentrierte sich bereits darauf, einzuschlafen, als er doch noch mal sprach. „Bist du mir böse wegen eben?“

„Nein… du Trottel.“, flüsterte sie und lächelte dabei müde, „Das musst du doch selbst wissen. Gute Nacht, Puran.“

„Gute Nacht, Liebes.“
 

Simu war ein intelligentes Kind. Leyya fand am nächsten Tag heraus, dass er zwei Jahre alt war, genau wie Karana. Das zeigte er ihr mit zwei Fingern, als sie eigentlich mehr rhetorisch nach seinem Alter fragte; sie hatte nicht erwartet, dass er ihr tatsächlich antworten würde. Karana wusste jedenfalls nicht bewusst, wie alt er war, wenn sie ihn danach gefragt hätte, hätte er nur doof gelacht. Abgesehen von seiner vermutlich nicht geringen Intelligenz war der fremde Junge absolut unauffällig. Leyya hatte ihrem Mann versprochen, niemandem im Dorf zu erzählen, dass der Kleine bei ihr war, und sie blieb mit beiden Jungen im Haus; so sollte es sein, bis Puran etwas über Simus Herkunft herausgefunden hätte. Die beiden kleinen Jungen waren verblüffenderweise vom ersten Tag an ein Herz und eine Seele. Sie spielten zusammen in Karanas Zimmer und teilten sich nachts sein Bett; Leyya fragte sich, ob es sich lohnte, ein zweites Kinderbett zu besorgen. Wenn Puran schnell die Herkunft des Kleinen herausfand und er wieder weg musste, war es unnötig, aber wer wusste das?

Die Heilerin hatte keine Ahnung, woher er kam. Alles, was sie feststellte, war, dass er kein Schamane war. Schamanen, vor allem Heiler, konnten mit einer speziellen Technik erkennen, ob ein Mensch Schamanengene in sich trug. Aber dass Simu kein Schamane war, hieß wenig. Er konnte ein Mensch sein… für einen Lianer war er nicht blass genug. Er war zwar hellhäutig, etwa so wie sie selbst auch, und auch blond und blauäugig, aber Lianer waren extrem blass, hatten extrem helle, fast weiße Haare und extrem helle Augen mit bläulichem Stich. Das schloss aber nicht aus, dass Simu vielleicht Halblianer war. Soweit Leyya wusste, konnte ein Halblianer durchaus die Fähigkeit des Beschwörens haben, ohne dabei die typischen äußerlichen Merkmale der Lianer zu erben. Oder andersrum. Sie hatte eigentlich noch nie wirklich Lianer aus der Nähe gesehen. Jetzt, wo Scharan, der eigentlich Ulan Manha war, die Beschwörer alle nach Ghia getrieben und versklavt hatte, erst recht nicht mehr.
 

Sie fanden absolut nichts über den Kleinen heraus. Puran hatte durch die Senatoren, Dasan Sagal und den König von Kisara sehr viele Kontakte und Beziehungen fast im ganzen Zentrum. Er schickte sogar Meoran einen Brief nach Janami, ließ den König in allen verbündeten Ländern wie Senjo oder Intario oder gar in Tejal nach dem Jungen fragen; alles, was er hatte, war der Name Simu. Niemand wusste etwas, egal, in welchem Land. Den König von Kisara allerdings empörte der seltsame Ausflug der Zuyyaner nach Thalurien und er fragte die Gesandten des Kaisers, die ab und zu an den Hof kamen; aber von denen wollte niemand etwas über ein solches Szenario wissen. Puran wusste, dass die Zuyyaner gute Lügner waren und versuchten, den Fall zu vertuschen. Einen Simu kannten sie aber auch nicht. Dabei war er klug genug, den König den Gesandten nicht direkt erzählen zu lassen, dass er, Puran, einen Jungen namens Simu bei sich hatte, den ein von Zuyyanern verfolgter Fremder abgegeben hatte – er legte es so aus, dass der fliehende Fremde irgendetwas von einem Simu geredet hätte, womit aber niemand etwas anzufangen wusste. Vielleicht kannte auch einfach niemand den Namen des Jungen – oder Simu war überhaupt nicht sein Name. Es gab einfach nichts, wonach Puran suchen konnte, eigentlich war er wenig überrascht, dass er nichts fand, egal, wo und wie verzweifelt er suchte. Durch Meorans Kontakte zum Königshaus von Janami erfuhr er, dass auch in Janami absolut nichts von solch einem seltsamen Vorfall bekannt war und auch niemand den Namen Simu je gehört hatte. Auf den südlichen Inseln von Dhimorien wusste ebenfalls niemand etwas; damit waren die beiden Entwicklungsländer Kuyala und Fann die einzigen im Zentrum, aus denen er keine Informationen bekam. Aber Puran war sich sehr sicher, dass der Kleine nicht aus dem Südosten des Zentrums kam; die Menschen dort waren dunkelhäutiger und niemals blond oder blauäugig, wie der Knirps es war, und nach Leyyas Beschreibung war auch der Fremde das gewesen, der Simu in Lorana gelassen hatte. Die Kleider, die der Kleine bei seiner Ankunft in Lorana getragen hatte, waren schlicht, aber nicht wirklich armselig; sie ließen auf den Stand des Jungen auch nicht schließen. Er war sicher kein Königssohn oder Adeliger, dafür war die Kleidung zu einfach, aber das ließ nur schlussfolgern, dass er aus ziemlich jedem anderen Stand und jedem kleinen Dorf kommen könnte. In seiner letzten Verzweiflung war es wieder Meoran, bei dem er sich letztendlich ausheulte, nachdem er mehr als einen Mond lang erfolglos nach der Identität der Jungen gesucht hatte.

Puran war viel zu selten bei seinem Lehrmeister in Janami, fand er; aber es war anstrengend, nach Janami zu reisen. Die Grenzen wurden sehr streng bewacht, wer sich nicht ausweisen konnte, durfte nicht ins Land. Für gewöhnlich reichten aber die Auskunft, dass er Puran Lyra, Senator von Thalurien, war und der Name Meoran Chimalis, dann wussten die Menschen an den Grenzposten Bescheid. Wegen seiner Arbeit in Thalurien konnte Puran seinen engsten Familienfreund eigentlich auch nicht einfach so besuchen fahren; der Weg war sehr weit, es dauerte Tage, um von Lorana nach Minh-În zu reisen, in die gigantische Stadt, die direkt am Fuße der D’anbahr-Berge lag. So kombinierte Puran seine seltenen Besuche bei Meoran immer mit zufällig in der Gegend liegenden Anliegen, die mit Taiduhr zu tun hatten.

Minh-În war riesig. Es war die Provinzhauptstadt von Antamiah, der südwestlichsten Provinz von Janami; eigentlich war die Stadt mehr als das, es war wie eine zweite Hauptstadt des Landes. Die eigentliche Hauptstadt, Dan-morough, lag ganz im Nordosten des Landes und war in etwa so groß wie Vialla; und auch etwa genauso bedeutsam für das Zentrum. Kisara und Janami waren, was die Stellung im Zentrum anging, seit jeher Konkurrenten, und Vialla hatte nur passender Weise die zentralere Lage, um als Kapital des gesamten Zentralreiches fungieren zu können. Dafür hatte Janami quasi zwei Hauptstädte, denn die Herrscher der Stadt Minh-În, die gleichzeitig auch Regenten der Provinz waren, waren Verwandte des Königshauses, und so arbeiteten natürlich beide Städte zusammen.

Meorans Haus war nicht in der Stadt, sondern im Gebirge, von Minh-În aus musste man noch einen ziemlich steilen Pfad hinaufgehen, bis man zu dem einstmaligen Wachhaus hoch oben im Gebirge kam, in dem der Führer der Sicherheitstruppe mit seiner Tochter und seinem schwulen Kindermädchen lebte.

„Weißt du was, dir wird nichts anderes übrig bleiben, als den Kleinen zu behalten.“, war Meorans weiser Rat, und für Puran fühlte er sich an wie ein Schlag ins Gesicht, als er mit seinem Lehrmeister in dessen Küche saß und Tee trank. „Was ist mit den Zuyyanern? Sind sie noch mal aufgetaucht?“

„Nein…“, stöhnte der Jüngere und ließ den Kopf auf den Tisch fallen, „Aber wer weiß! Ich meine… ich kann ihn doch nicht einfach behalten! Was sagen die Leute im Dorf dazu?“

„Deine Frau hat sich, so wie sich das anhört, überdies längst entschieden, Simu zu adoptieren.“, meinte der Lehrmeister gelassen, „Ich glaube kaum, dass du ihr den Kleinen wegnehmen kannst, sofern du nicht seine echte Familie findest. Und offenbar scheint er ja keine zu haben, was mir leid tut.“

„Es ist nicht so, dass es mir widerstrebt, ihn aufzuziehen! Er ist uns ans Herz gewachsen, er ist sehr wohlerzogen und scheint sich bei uns wohl zu fühlen, soweit man das nach einem Mond sagen kann… und ich weiß, dass Leyya ihn nicht hergeben will. Sie fühlt schon für ihn, als wäre er ihr leiblicher Sohn. Ich… bin noch nicht soweit, Meoran. Ich… meine… ich habe immer noch Angst davor, dass man ihn sucht und dabei Lorana niederbrennt, weil wir ihn versteckt haben!“

„Denkst du nicht, dass sie dann längst gekommen wären? Es ist einen Mond her. Ich würde sagen, die Zuyyaner haben sich damit zufrieden gegeben, den Kerl zu fangen. Vielleicht wollen sie das Kind gar nicht. Fest steht, du kannst Simu nicht ewig in deinem Haus verstecken. Sprich mit deinem Freund Sagal, ich denke, der hat da das Sagen? Du weißt nicht, wo Simu hingehört… du kannst ihn nicht einfach auf die Straße setzen. Und das würdest du auch niemals tun… das weiß ich, Puran.“ Puran seufzte nur, den Kopf wieder hebend, und blickte zur Seite.

„Nein… das könnte ich wirklich nicht. Es ist, wie Leyya einst sagte, er… ist nur ein Kind.“

„Das ist er.“, sagte der Lehrmeister ernst, „Und du bist jetzt sein Vater, Puran. Kümmere dich gut um den Jungen. Er hat vermutlich ein grausiges Schicksal erlitten, wenn er nirgends eine Heimat hat. Deine Familie ist alles, was er hat, so, wie es aussieht. Gib dir Mühe, mein Freund. Das Kind verdient eine Familie.“
 

Eine Familie bekam der kleine Simu jetzt. Er bekam einen Vater, eine Mutter und einen großen Bruder; und die Familie bekam kurz vor dem Vollmond des Regenmondes noch Zuwachs.

Als Leyyas Wehen kamen, war sie mit den beiden Jungen alleine im Haus. Puran war bei der Arbeit in Taiduhr, er würde vor dem späten Abend nicht zurück sein. Die Wehen kamen ganz unverhofft mitten im Spiel mit den Kindern und die beiden Jungen waren verwirrt, als die Mutter plötzlich keuchte und nach ihrem kugelrunden Bauch fasste.

„Was ist?“, wollte der kleine Simu besorgt wissen, während Karana erbleichte, als wüsste er ganz genau, dass seine Mutter jetzt Schmerzen bekäme.

„Das Baby!“, keuchte die Frau ungehalten und kam auf die Beine, „Oh nein, was mache ich denn jetzt mit euch?! Rasch, in den Flur, wir gehen fort!“ Die beiden verstanden nicht, was passierte, als Leyya beide an die Hand nahm und mit ihnen in den Flur eilte, um ihnen rasch die Schuhe anzuziehen. Sie konnte die Jungen nicht alleine hier lassen, sie konnte aber auch nicht das Baby alleine hier gebären… sie brauchte Chitra, sie betete, dass ihre Kameradin, die Heilerin, auch zu Hause war.

„Wo gehen wir hin?“, wunderte sich Simu, der viel lieber in ganzen Sätzen sprach als Karana, der nur vereinzelte Worte vor sich hin brabbelte und ziemlich verschreckt wirkte. Leyya zischte und ließ ihn kurzzeitig los, um wieder nach ihrem Bauch zu fassen, durch den ein grausamer Schmerz zog. Die Kinder hatten ihre Schuhe jetzt an und sie schlüpfte ebenfalls schnell in ihre leichten Sommersandalen, ehe sie rasch und unter heftigem, ungleichmäßigem Atmen mit den Jungen das Haus verließ. Sie spürte, dass es wichtig war, sich zu beeilen – das Baby in ihrem Bauch hatte es eilig… Der Weg zu Dasan Sagals Haus war eigentlich nicht weit. Aber es kam Leyya wie eine Ewigkeit vor, als sie keuchend mit den Kindern durch das Dorf stolperte; und wie ein Fluch war es, dass ihr gerade jetzt mal niemand auf der Straße begegnete, wo sonst immer irgendwer herum lief… erst, als sie gerade das Anwesen der Sagals erreicht hatte, traf sie auf die Tochter der alten Ansos.

„Was ist denn los?!“, fragte diese sofort bestürzt und ahnte, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte, „Leyya?“

„D-die Wehen…“, stöhnte die Heilerin nur, „Das Baby kommt! B-bitte, kannst du… kann irgendjemand auf die Kleinen aufpassen…? Weißt du, ob Chitra daheim ist…?“ In dem Moment öffnete sich die Tür des Anwesens schon von selbst und Leyya sah Chitra gefolgt von ihrem Vater heraus kommen. Der alte Sagal musste bereits vorausgesehen haben, dass sie kommen würde.

„Du hast Wehen?!“, fragte Chitra sofort, die die Stufen von der Veranda herab eilte, um Leyya zu stützen, als diese japsend erneut nach ihrem Bauch griff. „Rasch, ins Haus. – Vater, nimmst du die Jungs?“ Dann wandte die Heilerin sich an Chata Ansos Tochter: „Einer muss Puran Bescheid sagen, jetzt gleich!“

„Jawohl!“, wandte sich die Jüngere schon ab, und Dasan Sagal hielt sie noch auf.

„Warte… ich mache das. Die lassen mich im Senat eher vor als dich, Frau. Kümmere du dich um die Kleinen… außerdem bin ich schneller in Taiduhr. Wozu hat man Teleport?“ Er nickte seiner Tochter zu, die jetzt gemeinsam mit Leyya und gefolgt von der anderen Frau und den Jungen ins Haus eilte. Der Mann blieb draußen, und während Leyya drinnen unwillkürlich aufschrie, hob er eine Hand und war dann verschwunden.
 

Karana und Simu hockten in der Stube der Sagals und waren verwirrt. Ein paar Räume weiter war ihre Mutter mit Chitra und schrie jetzt; auch, wenn beide Jungen keine Ahnung hatten, was los war, dass die Mutter Schmerzen hatte, war unüberhörbar. Sie wussten nicht, was das zu bedeuten hatte… abgesehen davon fand niemand wirklich Zeit für die beiden. Chitra und Chata Ansos Tochter halfen beide eifrig mit, alles vorzubereiten, während Leyya schon mitten in den Wehen lag. Eilig rannten beide Frauen abwechselnd durch den Flur, holten Wasser, Tücher und Laken, ab und zu kam eine in die Stube und brachte den Kindern erst Kekse, dann alte Puppen von Chitra zum Spielen; die Söhne von Dasan Sagal waren alle längst ausgezogen und ihr Spielzeug war gar nicht mehr im Haus. Chitra war die Einzige, die alleine mit ihrem Vater hier lebte, obwohl sie längst erwachsen war und eigentlich hätte heiraten können. Den Jungen war es reichlich egal, ob sie jetzt Mädchenspielzeug bekamen; sie konnte gar nicht ans Spielen denken. Immer wieder hörten sie die Schreie der Mutter, und Karana wollte hinüber rennen, um nach ihr zu sehen – aber in dem Moment kehrte Chata Ansos Tochter zurück in die Stube.

„Mutti?“, jammerte Karana unglücklich und tapste dabei von einem Fuß auf den anderen.

„Deine Mutter bekommt ein Baby.“, erklärte sie ruhig und strich ihm über die Haare, „Keine Angst, das Schreien hört bald auf! Kommt zu mir, ich lese euch eine Geschichte vor… einverstanden?“

Die Kinder waren nur schwer zu beruhigen; die Frau konnte sie verstehen. Jedes Mal, wenn Leyya drüben schrie, fuhren beide Jungen zusammen, und Karana versuchte mehrmals, Reißaus zu nehmen und hinüber zu rennen. Zum Glück konnte die junge Frau ihn immer rechtzeitig schnappen, denn im Schlafzimmer wäre er Chitra oder seiner Mutter keine große Hilfe. Die Geburt von Leyyas zweitem Kind ging sehr viel rascher als Karanas vor zweieinhalb Jahren. Das kleine Mädchen, Karanas Schwester, kam ganz plötzlich und leicht wie ein Frühlingswindhauch zur Welt, schneller als Leyya oder Chitra es erwartet hätten. Und als das Schreien nicht mehr nur von Leyya kam, sondern auch von dem Neugeborenen, riss Karana sich ungestüm aus dem Griff seiner Aufpasserin los und stürzte gefolgt von dem etwas braveren Simu und besagter Frau hinüber.

„Mutti, das Baby ist da!“, grölte er begeistert, als müsste er ihr das sagen – dann sah er zum ersten Mal das kleine Mädchen, das seine Schwester war.

Chitra lachte, während sie das zappelnde Mädchen vorsichtig wusch und es dann sorgsam in ein Leinentuch wickelte.

„Schau!“, machte sie dabei, „Das ist eure Schwester, Karana und Simu! Wollt ihr mal schauen? Sie ist ganz winzig und zerbrechlich, ganz vorsichtig…“ Sie beugte sich mit dem Bündel herab zu den beiden Jungen, die staunend das kleine Wesen anstarrten, das ihnen dort entgegen blickte. Das Mädchen blickte eigentlich noch nicht richtig, es hatte die Augen zusammengekniffen und plärrte noch immer.

„Baby?“, fragte Karana und grinste Chitra an, „Mein Baby!“ Er zerrte plötzlich an dem Tuch und wollte die Kleine an sich reißen, aber die Heilerin erhob sich rasch wieder und schnaubte.

„Erst mal bekommt deine Mutter sie, Karana! Das Baby ist noch zu klein, um mit dir zu spielen!“ Mit diesen Worten übergab sie der erschöpften Leyya das Bündel. „Deine Tochter ist kerngesund. Puran wird Augen machen, wenn er herkommt, haha…“ Leyya schaffte es nicht, zu lachen. Sie brachte nur ein müdes, aber überglückliches Lächeln zu Stande, als sie vorsichtig das Baby an sich nahm und zitternd mit einer Hand über das nackte Köpfchen streichelte.

„Das Kind…“, wisperte sie dabei, „Das ist… mein eigenes Kind… ich bin so glücklich…“ Chitra lächelte versonnen, während sie begann, gemeinsam mit der anderen Frau auch die frisch gebackene Mutter zu säubern.

„Ich wünschte, so einfach könnte es mir auch in ein paar Monden bei meinem eigenen gehen.“ Trotz ihrer Müdigkeit sah Leyya sie verdutzt an, ebenso Chata Ansos Tochter.

„Wie, du bist schwanger?“, fragte erstere und strahlte, „Aber das ist doch wunderbar!“

„Wunderbar? Wohl kaum, das ist nicht gut.“, warf die Nichtmagierin ein, „Ich meine… wer ist der Vater, Chitra?“ Die blonde Heilerin senkte den Kopf.

„Seid mir nicht böse, wenn ich es für mich behalte. Mein Vater dreht mir so schon genug den Hals um. Ein uneheliches Kind… das ist eine Schande, du hast recht. Und dennoch kann ich… es nicht einfach in meinem Leib töten. Dafür bin ich nicht gemacht…“ Leyya und die andere Frau sahen sich bestürzt an.

„Und wieso heiratest du den Vater dann nicht einfach?“, fragte die kleine Heilerin naiv, und Chitra gab ein trockenes Lachen von sich.

„Das ist nicht möglich, Leyya.“
 

Als Dasan Sagal und Puran zurück nach Lorana kamen und ins Anwesen stürzten, Letzterer etwas eiliger als der hinkende Telepath, war Leyya gewaschen und umgezogen worden, jetzt lag sie im Bett mit dem Neugeborenen im Arm, das an ihrer Brust seine erste Mahlzeit zu sich nahm.

„Leyya!“, jammerte ihr Gemahl sofort, als er an Chitra vorüber ins Zimmer stürzte, und die ältere Heilerin kicherte verhalten, bis ihr Vater ebenfalls dazu kam und ihr einen anerkennenden Blick schenkte.

„Gute Arbeit, Chitra.“, ließ er verlauten und sie neigte verlegen den Kopf.

„Ich tue, was ich kann.“

„Leyya! Oh nein, so ein Unglück, ausgerechnet dann, wenn ich weg bin!“, jammerte Puran weiter und küsste seine Frau zur Begrüßung, „Herr Sagal kam in den Senat und erzählte, du hättest Wehen, ich war, ähm, ziemlich entsetzt…“

„Ziemlich entsetzt? Er ist fast ohnmächtig umgefallen…“, korrigierte Dasan Sagal grinsend, „Glückwunsch zur gesunden Tochter, gute Frau.“ Leyya strahlte und Puran warf jetzt auch einen Blick auf das Baby.

„Da ist sie ja… das ist unsere Tochter…“, stammelte er erbleichend und seine Frau lachte leise, als er sich zu ihr ans Bett setzte, die Hand ausstreckte und vorsichtig das winzige Köpfchen des Babys streichelte. „Geht es dir gut, Leyyachen? Es tut mir leid, dass ich nicht da war… ich hätte den Geistern befohlen, deine Schmerzen gering zu halten!“

„Selbst du als Herr der Geister kannst eine Geburt nicht einfach so schmerzfrei machen.“, kicherte sie. Das Baby war jetzt satt und ließ zufrieden von ihrer Brust ab. „Willst du sie halten? Dein kleines Mädchen, Puran… sie braucht einen Namen!“

Puran hörte ihr nicht richtig zu. Er war zu fasziniert von dem winzigen Geschöpf, als er es sanft auf die Arme nahm, und das Kind hickste. Er fühlte sich an den Tag von Karanas Geburt zurückversetzt… als er zum ersten Mal seinen Sohn auf den Armen gehalten hatte, hatte ihn dasselbe, unglaubliche Glücksgefühlt überrollt, wie es jetzt der Fall war.

Das war seine Tochter… sein Kind.

Erst als Leyya ihn sanft in die Seite piekte, riss er sich von dem Baby los und blickte sie blöd an.

„Was?“

„Sie hat noch keinen Namen.“, erinnerte seine müde, glückliche Frau ihn, „Sie braucht einen Lebensgeist… es sei denn, du erwägst, sie nicht anzunehmen…“ Das glaubte niemand der Anwesenden wirklich und Puran hatte auch nicht vor, der Kleinen das Leben zu verwehren. Kindern das Leben zu verwehren war allein das Recht des Vaters. Puran fand, es war Verschwendung, ein Neugeborenes einfach nicht leben zu lassen, abgesehen davon war es nicht gerecht; schließlich konnte das Baby nichts dafür. Es hatte sich nicht ausgesucht, geboren zu werden. Und dennoch waren es die Kinder, die büßen mussten, wenn sie ausgesetzt oder gleich getötet wurden; meistens war es gnädiger, wenn ein Vater dem Kind seiner Frau das Leben verwehrte, es sofort zu töten, denn es auszusetzen bedeutete in so gut wie allen Fällen ebenso den Tod des seelenlosen Geschöpfes; sei es durch Raubtiere oder das harsche Wetter oder einfach durch Verhungern. Wenn der Winter hart war und der Ort nicht genügend Mittel hatte, um einen weiteren Bürger durchzufüttern, oder wenn es Grund zur Annahme gab, dass der offizielle Vater des Babys nicht wirklich der Vater war, mochte es angeblich ehrenhafter sein, einem solchen Kind das Leben zu verwehren… Puran fragte sich, was er täte, wenn er annähme, seine Frau hätte einen Seitensprung gehabt und bekam darauf ein Kind. Er konnte sich weder vorstellen, dass seine treuherzige Frau ihn jemals auch nur im Traum betrügen würde, noch, dass er jemals auch nur im Traum irgendeinem Baby das Leben verwehren könnte. Davon abgesehen hatte er geschworen, nie wieder einen Menschen zu töten… das galt auch für Menschen ohne Lebensgeist.

„Gut.“, sagte er dann, „Dann vermute ich, dass der Name des Mädchens Neisa sein wird, richtig, Leyya?“ Leyya lächelte. Sie hatten während ihrer Schwangerschaft natürlich überlegt, welchen Namen sie dem neuen Sprössling geben würden. Sie hatten sowohl Jungen- als auch Mädchennamen gesucht; nach einigem Diskutieren hatte Puran sich entschlossen, es wie seine Mutter anzugehen. Das Kind sollte keinen Namen längst toter Vorfahren erhalten. Es sollte einen eigenen Namen, einen selbstständigen Geist bekommen, der nicht von dem beeinflusst wurde, was sein voriger Namensträger so fabriziert hatte. Und bei der Wahl der Namen für ein Mädchen hatten sie sich für Neisa entschieden.

„Ja.“, sagte diese dann strahlend, „Das ist ein schöner Name.“ Puran lächelte, ehe er das Baby auf seinen Armen wieder ansah und mit zwei Fingern das kleine Köpfchen streichelte.

„Dann gewähre ich dir das Leben, Neisa. Möge der Name dir einen starken, guten Geist bescheren.“ Das Baby bewegte sich leicht und die Eltern lächelten einander liebevoll zu, ebenso wie der Rest der Anwesenden sich mit ihnen freute.

Karana stand an Dasan Sagals Seite und beobachtete die Freude über seine kleine Schwester schweigsam. So besitzergreifend der Kleine auch vorher gewesen war, jetzt war er plötzlich distanziert und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Die Unruhe, die er plötzlich spürte, ging nicht von dem Baby aus, das wusste er, und dennoch machte es ihn nervös, die Schwester länger anzusehen.

„Sie ist das Mädchen vom Seelenfänger, nicht?“ Da sprach er mal einen ganzen Satz und keiner würdigte es, weil die Freude über das Neugeborene alle Sorgen verdrängte – keiner außer dem alten Sagal, der Karana plötzlich einen verdutzten Blick schenkte.

„Was hast du gesagt?“, keuchte er und der kleine Junge sah den Telepathen nur flüchtig an, ehe er sich hinter Chitra versteckte, bei der auch Simu stand.

„Nichts…“ Dasan Sagal zog nachdenklich die Stirn in Falten, während er das kleine Mädchen noch einmal musterte.

Das Mädchen des Seelenfängers? Meine Ahnungen liegen im Schatten… aber sie verheißen eigenartige Dinge, so fürchte ich. Der Knirps sieht mehr, als er in seinem Alter sollte… ich frage mich, was mir mehr Sorgen macht. Seine Worte oder die Tatsache, dass er sie gesagt hat…

Er sagte aber nichts weiter dazu und behielt seine Sorgen für sich, um den schönen Moment nicht zu zerstören. Es würde noch genug Momente der Schatten geben in der Zukunft, da war er sich sicher.
 


 

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Jetzt hätte ich das Kapitel fast mit Ketchup-Song betitelt o_o *Schwester doof anguck die Youtube-Videos guckt* hach, wie nostalgisch <3 und ja... Simu! BÄM! xD und Neisa! BÄMBÄM! xDD Sonst was? Nö... Kiiihiitsch! Aber Nodin Ayjtana rult, alta! xD

Die Rückkehr des Unheils

Sie hatten sich nicht geirrt mit der Skepsis den Zuyyanern gegenüber. In dem Sommer, in dem Neisa drei Jahre alt wurde, kehrten sie nach Tharr zurück und versuchten ein zweites Mal, ihre Machtposition zu verbreiten. Der neue Kaiser, der eigentlich schon eine ganze Weile an der Macht war – immerhin war sein Vorgänger noch vor Karanas Geburt verstorben – zog seine Pläne aber anders auf als der alte; statt immer aus derselben Richtung zu kommen und eine dicke, unüberwindbare Mauer aus Kriegern immer weiter nach Süden vorrücken zu lassen, griffen die Zuyyaner verstreut an allen Ecken des Zentralreiches an. Die Zuyyaner waren es, von denen die Flugschiffe stammten; das bedeutete, sie hielten den gesamten Flugverkehr in ihren Händen und konnten ihre Schiffe landen lassen, wo sie Lust hatten. Offiziell gab es im zentralreich drei Flughäfen, von denen aus Fähren nach Zuyya oder auch nach Ghia übersetzten; einer lag in Vialla, einer in der Hauptstadt von Senjo, Yuron, und einer in Dan-morough, dem Kapital von Janami. Nachdem die zweite Angriffswelle über Tharr hereinbrach, klappte der Verkehr komplett zusammen. Das war keine gute Sache, und es beunruhigte die Regierungen von Tharr.

„Die Zuyyaner sind hinterhältige Schweine.“, erklärte Kisaras König zu dem Thema vor seinem versammelten Senat und den obersten Führern der Armee, „Wir merken uns, wir trauen niemals einem mit bunten Haaren, sie tun diplomatisch und stechen uns dann in den Rücken, so wie jetzt! Es ist extremst beunruhigend zu wissen, dass diese Scharlatane den gesamten Flugverkehr kontrollieren können… sie können uns mal eben so verwehren, diese Welt zu verlassen oder zu betreten, dasselbe gilt für die Ghianer, die auch keine Fähren mehr bekommen momentan. Diese… diese Bastarde fliegen einfach im Himmel herum und machen alles dem Erdboden gleich, was ihnen gerade in den Kram passt!“

„Wohl wahr.“, entgegnete einer der Ratsmänner, „Vielleicht, mein König, sollten wir uns mit den Janaminern arrangieren… immerhin sind die das Land mit der Luftwaffe.“

„Na, wenn das so einfach wäre!“, empörte der König sich darauf und rang die Hände in die Luft, „Die sitzen auf ihren Türmen in den Bergen und finden das ganz lustig, dass sie die fliegenden Zuyyaner vom Himmel schmeißen können und wir nicht!“ Allgemeines Schweigen erfüllte den Saal, schließlich seufzte der Monarch und stützte sich mit den Händen am Tisch ab, um den sie saßen und vor dem er stand. „Meine Herren; wir befinden uns in einem… kritischen Moment. Obwohl wir ja davon ausgegangen sind, dass so ein Waffenstillstand nicht alles besiegelt… machen uns die verteilten Angriffe der Zuyyaner zu schaffen. Und da sie im Gegensatz zum letzten Mal keine einheitliche Welle machen, ist es schwer für uns, uns dagegen zu wappnen. Am Sinnvollsten erscheint es mir so, das in die Hände der jeweiligen Provinzialregierung zu legen. Ich werde Boten nach Dan-morough schicken, wenn die lebend da ankommen… ich hoffe ja noch auf ein Wunder, auf irgendetwas, das den Zuyyanern ihre gesamte Armada zerschmettert, irgendein Zorn der Himmelsgeister, das wäre doch mal was… andernfalls kann ich leider nicht sagen, wie lange wir hier im Zentrum diesen Streuangriffen noch standhalten können.“
 

So hatte der König gesprochen, kurz nachdem die Angriffe begonnen hatten; seitdem waren zwei Jahre ins Land gezogen und es machte wirklich den Eindruck, als hätte er recht behalten. Die Zuyyaner waren überall und nirgends. Sie konnten aus dem Nichts auftauchen und angreifen und genauso spurlos wieder verschwinden. Es hieß, die neuen Machthaber des Imperiums wären gnädiger – sie gaben den Opfern immerhin die Wahl, ob sie freiwillig die weiße Fahne schwenkten oder ob sie niedergemetzelt würden. So hieß es… Puran Lyra fragte sich, was daran gnädig sein mochte, und er verfluchte die Zuyyaner und ihre ganze, verdammte Welt mit allem Zorn, den er in seinem Inneren schürte, als er auf dem Grasberg stand und in den flammend roten Sonnenuntergang nach Westen starrte. Es wehte kein Wind; die Grillen, die im Sommer sonst im Gras nahe der Dörfer zirpten, schwiegen jetzt. Es stand Unheil bevor, er wusste es genau… er wusste nur nicht, aus welcher Richtung es kommen würde. Und das wurmte ihn, schon seit Tagen. Oder Wochen… er wusste es nicht mehr.

Der Sommer war schleichend gekommen. Die helle Jahreszeit ging jetzt auf ihren Höhepunkt zu, den Mittsommertag. Das war der Geburtstag seiner Mutter gewesen, erinnerte Puran sich flüchtig, als er an die bevorstehende Sommersonnenwende dachte. Am Tag der Sonnenwende war Ratstreffen in Vialla… ihm grauste davor, Lorana zu verlassen. Er hatte ein ungutes Gefühl dabei… und dass er besser bleiben und auf seine Provinz aufpassen sollte.

„Sprecht mit mir, Geister!“, befahl er barsch in den sich rötlich färbenden Himmel und spürte, wie der Wind auffuhr, um ihm ins Gesicht zu lachen. „Ich bin es leid, auf eure Antworten zu warten! Ich verfluche euch, Zuyyaner, ihr Barbaren, die ihr unsere Welt niederschmettern wollt! Mögen die Geister von Himmel und Erde euch grausam bestrafen für eure Barbarei!“

Die Geister sagten nichts – es war jemand anderes, der antwortete.

„Vati, Vati, Vati, Vati!“ Puran fuhr herum und vergaß seinen Zorn beinahe, als er seinen ältesten Sprössling den Grasberg herauf rennen kommen sah. Ehe er Zeit bekam, ein väterliches Lächeln zu zeigen, hing Karana schon in seinen Armen und lachte. „Ich hab dich als Erster, haha!“

„Na, sowas.“, machte der Vater, während der Junge ihn losließ und aufgeregt von einem Fuß auf den anderen sprang wie eine tänzelnde Antilope. Er war schon sieben… die Zeit verging einfach so schnell. Puran hatte sich so an den Anblick von Karanas scharfen Eckzähnen gewöhnt, dass sie ihn eigentlich gar nicht mehr besorgten… und das war nicht gut. „Was tollst du bitte hier herum, Karana, weiß deine Mutter, dass du das Dorf alleine verlassen hast?“ Der Kleine grinste aufgeregt.

„Hab ich gar nicht, Simu ist mitgekommen! Aber er ist so lahm wie ein altes Kamel, haha! Und eigentlich hat Mutti sogar gesagt, dass wir dich rufen sollen! Es ist was ganz Spannendes passiert!“ Der Senator hustete, während sein Sohn aufgeregt an seinem Arm zerrte, um ihn dazu zu bewegen, zurück nach Lorana zu kehren und den Grasberg zu verlassen. Der Grasberg war der höchste Hügel der Umgebung, das Wort Berg stand ihm eigentlich nicht ansatzweise zu; Puran hatte die Berge von Kadoh gesehen und die kleinsten Ausläufer der noch sehr viel gigantischeren D’anbahr-Berge… der Grasberg war dagegen eine Delle im Erdboden. Aber die Bewohner von Lorana fanden, es wäre ein Berg, deswegen wurde das Hügelchen liebevoll Grasberg genannt. Puran kam oft hierher, um mit den Geistern zu sprechen.

„Was Spannendes passiert?“, wiederholte der Mann jetzt alarmiert die fröhlichen Worte des Kindes, das an ihm zerrte, „Moment, was soll das heißen?“ Passiert klang nie gut.

„Da ist ein Gesandter des Königs gekommen, der war total lustig angezogen, und er hat eine Botschaft für dich gebracht! Ein Brief vom König, das ist total aufregend, weißt du? Die Sagals haben auch ganz blöd geguckt, haha! Du hättest ihre Gesichter sehen sollen! Die haben gesagt, sie hätten nie Leute des Königs gesehen, dabei dachte ich, dass irgendein Onkel von denen auch am Hof arbeitet.“

„Na ja, aber der Onkel wird die beiden wohl kaum mit nach Vialla nehmen…“ Während sie vom Hügel herabstiegen, kam ihnen auch Simu entgegen. Der blonde Junge war ein bisschen größer als sein Ziehbruder Karana, aber sehr viel ruhiger und vernünftiger. Jetzt schnaufte er außer Atem, als er die beiden erreichte, und stützte sich keuchend an seinen Knien ab.

„Das bringt ziemlich wenig, Karana, wenn wir zusammen gehen sollen und du einfach wie der geölte Blitz vorweg rennst!“, beschwerte er sich kleinlaut, „Ich bin nicht so schnell wie du…“ Puran tätschelte dem Blonden den Kopf.

„Du bist tapfer, Simu. Und recht hast du! Hörst du, Karana? Es ist viel wichtiger, dass ihr gemeinsam geht, als dass einer als erster da ist! Gerade ein diesen Zeiten…“ Karana verdrehte die Augen.

„Ja, ja, die Zuyyaner, ja, ich hab keine Angst vor denen! Weißt du was, in der Schule haben sie erzählt, Zuyyaner haben manchmal Haare in der Farbe von Petersilie! Oder Tomaten. Ich glaube, die essen nur Gemüse, das heißt, fressen werden sie uns nicht.“ Das war eine optimistische Vorstellung und der Vater stöhnte.

„Das mit den Farben stimmt, aber dass sie Vegetarier sind, glaube ich nicht…“ Sie machten sich auf den Weg zurück ins Dorf, Puran flankiert von seinen beiden etwa gleich alten Söhnen. Niemand wusste, wann Simu geboren war, aber auf die Frage, wie alt er war, hatte er schließlich geantwortet und zwei Finger gezeigt – Karana war in dem Jahr, in dem Simu gekommen war, auch zwei gewesen, also waren sie gleich alt. Sie feierten den Tag, an dem sie Simu vor Jahren bekommen hatten, als seinen Geburtstag, weil sie es nicht besser wussten.

„Karana hat sicher erzählt, dass ein Brief vom König gekommen ist, oder?“, unterbrach Simu dann seine Gedanken und Puran nickte kurz. Er hoffte, es wäre nichts Schlimmes… aber etwas Dringendes würde wohl nicht in einem einfachen Brief nach Lorana gebracht werden…

Die unguten Vorahnungen, die ihn noch auf dem Hügel beschlichen hatten, wurden immer etwas gedämpft, wenn sie im Dorf waren. Unter all den freundlichen Menschen war es schwer, schlechte Dinge zu sehen, fand Puran oft; deswegen war er ja meist außerhalb von Lorana, wenn er Ruhe brauchte. Vor dem Haus trafen die drei Ankömmlinge auf Neisa und Niarih, die zusammen auf der Stufe vor der Haustür mit Stoffpuppen spielten. Chitras Tochter war etwa ein halbes Jahr nach Neisa geboren worden und würde im Winter fünf werden. Die beiden Mädchen waren seit jeher ein Herz und eine Seele.

„Vati, Vati, ein Brief ist gekommen!“, rief Neisa ihren Brüdern und ihrem Vater johlend entgegen, sobald sie sich dem Haus näherten, dabei unterbrach sie das Puppenspiel mit ihrer kleinen Freundin. Niarih steckte einen Finger in ihren Mund und sagte nichts. Das zierliche blonde Mädchen war in Gegenwart von Erwachsenen meistens scheu und reserviert. Puran konnte es ihr nicht verdenken… sie würde es auf Dauer sehr schwer haben im Dorf, hatte er das Gefühl. So sehr er seinen Freund und Ratgeber Dasan Sagal, Chitras Vater, auch schätzte, in der Sache war er sicherlich kein Wohltäter. Chitra war nicht verheiratet und war trotzdem schwanger geworden – ein Umstand, der in Thalurien ungern gesehen wurde. Uneheliche Kinder hatten keine Rechte und keine Ansprüche auf gar nichts. Und da Chitra keine andere Bleibe hatte als das Elternhaus, in dem sie schon solange Puran sie kannte mit ihrem Vater alleine lebte, hatte der Patriarch gütiger Weise versprochen, seine Enkelin leben zu lassen und durchzufüttern, wenn schon kein Mann als Vater für sie sprechen würde. Und dass sich niemand freiwillig als Vater des unehelichen Kindes zu erkennen gab war keine Überraschung. Puran fragte sich selbst auch, wer wohl Niarihs Vater war… das Mädchen kam nach ihrer Mutter, an ihrem Aussehen war bislang nicht wirklich etwas festzustellen. Er hatte manchmal das Gefühl, dass Leyya es – vielleicht als einzige Unbeteiligte im Dorf – wusste, schließlich waren sie und Chitra zusammen als Heilerinnen tätig.

Karana verdrehte die Augen, als er an den kleinen Mädchen vorbei ins Haus eilte.

„Ja, das haben wir ihm schon erzählt, Neisa!“, erklärte er großkotzig und seine blonde Schwester streckte ihm beleidigt die Zunge heraus, während sie aufstand und ihre Puppe an sich drückte.

„Vati, Vati, Karana redet in diesem Ton mit mir, er ist gemein!“

„Hört auf, euch zu zanken, und kommt mit rein!“, ordnete der Senator bloß an und blickte dann auf die kleine Niarih, „Was ist mit dir? Möchtest du mit uns essen, Niarih? Deine Mutter holt dich bestimmt nachher ab.“ Das Mädchen nickte schweigend, wobei Puran nicht wusste, wozu sie jetzt Ja sagte, dann folgte sie ihrer älteren Freundin und deren Brüdern ins Haus. Puran seufzte, als er die Tür hinter sich schloss. Sie tat ihm leid… hier in Lorana waren die Leute freundlich, aber sobald Niarih in die Schule von Mitonha gehen würde und jemand erfuhr, dass sie ein uneheliches Kind war, würden sie sich über das zierliche Ding das Maul zerreißen. Aber vielleicht hatte sie Glück und dank ihres Nachnamens – sie trug in Ermangelung eines Vaters natürlich den Namen ihrer Mutter, Sagal – würden die Leute nicht wagen, viel über sie herzuziehen, besonders, weil sie die Enkelin des Clanoberhauptes war. Sich mit den Sagals anzulegen konnte hier in Thalurien üble Folgen haben, hatte Puran im Laufe der Jahre gelernt, und er seinerseits war sehr froh, dass er sich mit ihnen gut verstand.

Puran hatte keine Zeit, weiter über Chitras ominöses Kind nachzudenken, oder den noch ominöseren Vater, denn in der Küche wurde er von allen Kindern und Leyya umringt – letzte hielt ihm den Brief entgegen, von dem alle sprachen.

„Ein Gesandter des Königs ist gekommen, ich hoffe, es ist nicht passiert…“, sagte sie dabei nervös, als ihr Mann seufzte und den Brief nahm, um ihn zu öffnen.

„Was steht drin? Was steht drin?“, johlte Karana.

„Werde ich Prinzessin?“, freute sich Neisa, und Simu schnaufte sie an:

„Warum solltest du Prinzessin werden?!“

„Ich wollte schon immer mal Prinzessin werden!“, ereiferte sich die kleine Schwester und hüpfte dabei auf und ab. Simu war sehr viel klüger und realistischer als die anderen:

„Vielleicht warnen sie uns, dass die Zuyyaner kommen?“ Doch Puran lachte plötzlich nervös und hob den Kopf vom Brief, den er überflogen hatte. Dass er lachte war seltsam – aber nicht schlecht, dachte Leyya besorgt, die ähnliches befürchtet hatte wie ihr Ziehsohn. Niarih hielt sich an der Schürze der Heilerin fest und schmiegte sich schüchtern gegen ihr Bein.

„Das amüsiert mich gerade…“, seufzte Puran dann, „Nein, keine Angst, es ist nichts Schlimmes. Der König feiert das Fest der Sommersonnenwende in seinem Palast, am Abend des Tages, an dem sowieso Rat ist. Also nichts Schlimmes.“ Die Kinder strahlten.

„Ein Fest beim König zu Hause?“, rief Neisa, „Dürfen wir mit?“

„Au ja, ich war noch nie in einem Palast!“, erklärte Karana, „Wenn ich das in der Schule erzähle, küssen sie mir vor Neid die Füße, muahaha!“ Puran schnaubte. So etwas wie Bescheidenheit war etwas, was man dem Erben des Lyra-Clans beizubringen versäumt haben musste, stellte er mit Bedauern immer öfter fest.

„Bekomme ich ein schönes Kleid dafür?“, freute sich seine Schwester und zerrte ungezügelt an des Vaters Hose, „Bitte, bitte?“

„Moment mal, ich habe mit keinem Wort gesagt, dass ihr mit dürft!“, entrüstete der Mann sich und augenblicklich verstummten die Kinder. „Das ist kein Kinderfest, ihr drei habt da nichts verloren, ihr würdet euch nur langweilen. Ihr bleibt hier, Chata passt auf euch auf, während Mutti und ich fort sind, so, wie es für die Tage des Rates sowieso geplant war.“ Er erntete enttäuschte und böse Blicke.

„Das ist so ungerecht!“, meckerte Karana erbost, „Wir müssen immer hier bleiben! Das ist so unglaublich langweilig! – Gell, Simu, sag auch mal was!“

„Also, ich…“, stammelte der Blonde nur bescheiden lächelnd und wagte einerseits nicht, sich dem Vater zu widersetzen, andererseits wollte er seinen Bruder nicht verärgern.

„Ich will ein Kleid und eine Prinzessin sein!“, schimpfte Neisa, von Karanas Trotz inspiriert, und stampfte mit dem Fuß auf.

„Genau!“, empörte Karana sich, dann fiel ihm auf, was er gesagt hatte, und er setzte hinterher: „Also, ich will kein Kleid und keine Prinzessin sein, aber ich will mitkommen!“

„Schluss jetzt!“, zischte Puran mit Blick auf die Kinder, „Ich habe gesagt, ihr bleibt hier, damit hat sich die Sache, Karana, verstanden? Ihr braucht gar nicht so herum zu nölen, wir haben genug andere Probleme.“ Ohne die Kleinen noch eines Blickes zu würdigen wandte Puran sich an seine Frau. „Gibt’s jetzt Essen?“
 

Nachdem Chitra gekommen war, um Niarih abzuholen, und sie sich höflich dafür bedankt hatte, dass sie die Kleine hier hatte abgeben können, brachte Leyya zuerst Neisa und danach auch die älteren Jungen ins Bett. Das Zimmer, das einmal Karanas Kinderzimmer gewesen war, war durch eine neu gezogene Wand in zwei geteilt worden – eins gehörte Neisa, das andere teilten sich die Jungen.

Karana hasste es, ins Bett zu gehen. Vor allem im Sommer, wenn es noch gar nicht richtig dunkel war, wenn man sie ins Bett schickte. Und er war nie müde, wenn er schlafen sollte… an diesem Abend erst recht nicht. Der Junge stierte verdrossen an die Wand, während er in seinem Bett lag und Simu im Bett daneben den Rücken kehrte. Es war nicht nur der Ärger über das Fest des Königs, auf das er und seine Geschwister nicht gehen würden, es war eine viel beklemmendere Unruhe in ihm, die ihn wach hielt und die seinen Kopf schmerzen ließ. Karana war nervös, weil die Geister des Himmels und der Erde es auch waren. Er konnte es genau spüren, das leichte Zittern von Mutter Erdes Haut, das Vibrieren in der Luft… es würde etwas passieren, und Karana ahnte, dass es nichts mit dem Brief oder der Sommersonnenwende zu tun haben konnte.

„Simu? Bist du wach?“, nuschelte er kleinlaut und sein Ziehbruder drehte sich hinter ihm um; Karana hörte die Decken rascheln.

„Hmm.“, machte der Blonde dann, „Was ist denn?“

„Die Geister sind unruhig… ich kann nicht schlafen, wenn sie mit mir reden.“ Simu sagte erst nichts.

„Was sagen sie, Karana?“, kam dann, und der Braunhaarige brummte, als er sich von der Wand ab und seinem Bruder zuwandte. Er wusste, dass Simu nicht mit den Geistern sprechen konnte… Simu war kein Schamane. Beide Jungen wussten genau, dass Simu kein leiblicher Bruder von Karana war; und dennoch waren sie wie Brüder. Der kleine Magier konnte sich nicht vorstellen, ohne Simu an seiner Seite zu sein. Simu war immer da, sie machten alles zusammen. Darüber war es egal, ob einer von ihnen nicht das konnte, was der andere konnte.

Karana sprach nicht nur mit den Geistern. Er konnte sie beherrschen, wenn er wollte. Er konnte ihnen sagen, Dinge zu tun, wenn er Lust hatte, und – darauf war er überaus stolz – er konnte es viel besser als seine Schamanenfreunde im Dorf, obwohl er jünger war. Er war ja auch der Sohn des Herrn der Geister… das schindete in der Dorfschule enorm Eindruck. Aber je älter Karana wurde, desto mehr begriff er, dass seine mächtigen Gaben des Sehens ohne Augen, des Hörens ohne Ohren und des Rufens der Geister ihren Preis hatten. Er war bereit, den Preis zu akzeptieren, egal, wie hoch er war. Wie sonst sollte er eines Tages, wenn er mal ein Mann sein würde, in die Fußstapfen seines Vaters treten und ein Herr der Geister werden?

Der Kleinere rollte sich auf den Rücken, pustete die Luft aus und starrte an die dunkle Zimmerdecke.

„Sie… sprechen von Unheil. Ich kann Schatten sehen…“

„Das kannst du jedes Mal, oder?“

„Ja, aber… aber es ist dieses Mal anders, Simu!“, versuchte der Junge ihm zu erklären, und er rieb sich mit dem Finger hektisch die Nase. „Es ist wie eine Warnung…“ Er brach mitten im Satz ab, als er es plötzlich in der Ferne laut donnern hörte. Sofort saß Karana kerzengerade in seinem Bett und riss die grünen Augen weit auf, während in seinem Kopf die Himmelsgeister zischten.

„Steh auf, Karana!“, sprachen sie, „Steh auf, jetzt!“

„J-jetzt…?“, stammelte er noch und Simu setzte sich auch alarmiert auf, als Karana rein instinktiv den Befehl befolgte. Es kribbelte in seinem ganzen Körper, diese Verbindung zu den Himmelsgeistern, er konnte sie auf jedem Zoll seiner Haut wahrnehmen wie einen grausigen Schauer aus Macht, der sich über ihn rollte wie eine zerstörerische Welle.

„Karana?“ Der Junge hörte seinen Namen, reagierte aber nicht, als er zum Fenster eilte und den Vorhang zurückschlug, um zu sehen, was draußen vor sich ging; in dem Moment, in dem die Geisterstimmen in seinem Kopf erneut nach ihm riefen, ertönte von draußen ein ohrenbetäubendes Krachen, das beiden Jungen durch Mark und Bein ging. Simu schoss aus dem Bett, als sein Bruder an ihm vorbei zur Tür stürzte und sie aufriss.

„Die Zuyyaner, die Zuyyaner!“ Zur selben Zeit, in der Karana gefolgt von Simu aus dem Zimmer stolperte, flogen auch die Türen zu Neisas Zimmer und dem Schlafzimmer auf. Neisa heulte vor Angst über den Lärm.

„Mutti, Vati, es ist Gewitter, Vati soll es weg machen…“

„Das ist kein Gewitter!“, rief Puran alarmiert, während seine Frau an ihm vorbei stürzte und die heulende Neisa auf den Arm nahm. „Sie kommen her, rasch, raus aus dem Haus! Runter, Karana, Simu, auf der Stelle!“ Die Kinder fuhren zusammen und der Vater packte beide Jungen am Kragen, um sie unsanft und rasch die Treppe herunter zu schieben, gefolgt von seiner Frau und der schreienden Tochter, die sich an Leyyas Hals klammerte. In dem Moment, in dem sie aus dem Haus stolperten, ging vor ihnen der Himmel in Flammen auf. Ein weiteres Krachen gefolgt von einem Beben der Erde riss die Familie von den Beinen und Neisa schrie immer lauter. Puran schnappte nach Luft, als er sich aufrappelte und Karana und Simu zu Leyya herüber schob. Aus dem Süden kamen die Zuyyaner, sie griffen das Dorf an und warfen mit Feuer und Eis nach den schreiend fliehenden Bewohnern. Ein paar Häuser standen in Flammen und Puran schnappte erneut nach Luft, als er auf das Inferno starrte – die Geister hatten ihn nicht gewarnt; oder zu kurz davor. In der Nacht war er plötzlich wieder nervös geworden und als er die Stimmen gehört hatte, die ihn gewarnt hatten, waren die Feinde schon beim Dorf angekommen.

„Himmel, Puran!“, rief Leyya panisch und Karana neben ihr fuhr zurück, als von links Chata Anso und sein Sohn Mujak gerannt kamen.

„Die Zuyyaner, sie greifen Lorana an!“, rief ersterer und Puran keuchte.

„Dann verlieren wir keine Zeit und schlagen sie zurück!“, entgegnete er dem Dorfoberhaupt, ehe vor ihnen ein weiteres Krachen ertönte. Im Getümmel der fliehenden Dorfbewohner sahen sie schon die erwachsenen Söhne von Dasan Sagal umher laufen und mit gekonnten Schlägen von Telekinese versuchen, die Angreifer zu zerschmettern. Das alte Clanoberhaupt war auch nicht weit.

„Diese Teufel!“, schimpfte Mujak, der seinen Jagdspeer umklammerte, „Wir werden unser Dorf sicher nicht hergeben, Vater!“

„Wo sind jetzt die Diplomaten, von denen man erzählte? Von wegen vor die Wahl stellen.“, seufzte der Geisterjäger und schob die anderen Männer zur Seite, „Ich habe zwar geschworen, nie wieder einen Menschen zu töten, aber ich kann den Geistern dennoch befehlen, das Dorf zu schützen… - mit Speeren werden wir kaum gegen sie ankommen, Mujak. Die haben gepanzerte Rüstungen.“

„Ich werde sicher nicht daneben stehen und klatschen.“, entgegnete der Jäger, ehe er laut brüllte und seinen Speer schüttelte. „Kommt zu mir, Männer! Wir vernichten diese Bastarde!“

Mit einem weiteren Krachen aus der Ferne und einer Flamme, die von irgendwo in den Himmel schoss, schubste Puran seine Familie zurück zum Haus.

„Bleibt hier, rührt euch nicht! Wenn etwas passiert, schreit, es… es wird alles gut! Leyya, sieh mich an!“ Leyya wimmerte panisch, als er ihr Kinn hochzog.

„Wohin gehst du?!“

„Den anderen helfen, hier hinten seid ihr momentan recht sicher, solange die Zuyyaner nicht bis hierher vordringen – und das versuchen wir ja zu verhindern. Also bleibt hier. Karana, hörst du? Pass gut auf deine Mutter und deine Geschwister auf.“ Karana japste, als sein Vater ihm den Rücken kehrte und zusammen mit dem Dorfältesten, dessen Sohn und einer Handvoll anderer Jäger nach Süden rannte. In seinem Kopf zischten die Geister Worte, die der Junge nicht verstand, und er erzitterte, als er fassungslos mit ansah, wie die Zuyyaner über das Dorf herfielen und Häuser in Brand steckten. Er hörte in der Ferne die Menschen schreien, kleine Kinder weinten und die Männer brüllten, während sie zum Kampf übergingen.

„Was ist, wenn Vati was passiert?“, fragte Simu unruhig, der neben seinem Bruder vor seiner Mutter stand und unruhig umher starrte. Er fürchtete die Zuyyaner mehr als er zugeben würde, Karana wusste das ganz genau. Von plötzlichem Heldenmut ergriffen schnaubte der kleine Magier und verschränkte die Arme.

„Vati ist der Herr der Geister! Dem passiert nichts! Pah, hast du etwa Schiss vor den doofen Gemüsemännern?“ Simu keuchte.

„Sie sind gefährliche Soldaten mit Waffen, Karana.“, erinnerte er seinen Bruder ernst, „Das ist nicht komisch! Du hast doch gehört, was sie in der Schule gesagt haben! Sie sind in vielen Dörfern gewesen und haben viele dem Erdboden gleich gemacht, einfach so!“

„Na, hier endet jedenfalls ihre Eroberungsreise!“, verkündete der Kleinere trotzig, „Sollen sie nur wagen, Lorana zu vernichten, dann werden die Geister sie bestrafen!“ Die Jungen fuhren zusammen, als es unmittelbar vor ihnen erneut krachte und plötzlich eine brennende Kugel vom Himmel stürzte, die nur wenige Fuß von ihnen entfernt in die Erde einschlug und sie zum Zittern brachte. Neisa kreischte vor Angst und Karana stolperte zur Seite, von der Wucht des Einschlags beinahe von den Beinen gerissen. Als er herumfuhr und zur Seite blickte, sah er in der Ferne die Zuyyanischen Krieger die Straße hinauf stürmen. Seine Mutter hinter ihm griff jammernd nach seinem Arm.

„Karana, komm hinter mich, schnell! Bleibt in der Haustür!“ Karana keuchte und ehe er selbst wusste, was er machte, riss er sich aus Mutters Griff los.

„Ich hab keine Angst vor denen!“, empörte er sich, „Ich kann auf mich selbst aufpassen!“ Leyya starrte ihn an, ebenso Simu und Neisa, letztere hockte noch immer auf dem Arm ihrer Mutter mit verheultem Gesicht.

„Karana!“, schrie Leyya in hellem Entsetzen, „Darum geht es hier nicht! Komm auf der Stelle zu mir, hörst du?!“

„Denkst du nicht, dass diese Bastarde bestraft werden sollten für ihren Größenwahnsinn?“, fauchte der Junge zurück und Leyya erbleichte, als er seine spitzen Eckzähne fletschte wie ein hungriger Löwe, ehe er wieder herum fuhr und ein paar Schritte von ihr weg stolperte. „Die Geister von Himmel und Erde werden das tun, ja! Und ich werde ihnen befehlen, das zu tun, ich bin der Sohn des Herrn der Geister!“

„Karana!“, schrien Simu und Leyya jetzt im Chor, und der Adoptivsohn schnellte hinter ihr hervor, um nach seinem Bruder zu packen, der in einer wahnsinnigen, irren Laune offenbar den Verstand verloren hatte. Der Kleinere rannte los, weg vom Haus, direkt auf die Zuyyaner zu, und Simu versuchte verzweifelt, ihn einzuholen.

„Karana, bleib sofort stehen! Hörst du schlecht?! Du bist zwar Purans Sohn, aber du bist noch ein Kind, du kannst die Geister sowas nicht machen lassen!“ Der Bruder hielt an, wirbelte herum und schubste Simu brutal rückwärts.

„Du hast keine Ahnung, oder?! Bist du Schamane, Simu? Du weißt gar nicht, was ich kann und was nicht, also pass gut auf!“

„Nein – halt! Du Hornochse, halt!“, schrie der Blonde hysterisch, als er sein Gleichgewicht wieder hatte, und panisch fuhr er herum und suchte nach irgendjemandem, der ihm helfen konnte; jemand musste diesen Verrückten aufhalten! So laut er konnte rief er nach seinem Ziehvater und hoffte, Puran würde ihn hören. Karana vor ihm erstarrte, als die zuyyanischen Krieger vor ihnen jetzt auf ihr Geschrei aufmerksam gewordne waren und einer von ihnen direkt auf sie beide zu kam. Instinktiv riss der Junge die Arme in den Himmel, als das Zischen der Geister in seinem Kopf so laut wurde, dass es alles andere übertönte – Simus Schreien, das Krachen im Hintergrund, das panische Heulen seiner Schwester und seiner Mutter… und die seltsamen Worte des Kriegers, der jetzt direkt vor ihm war und mit seinem kunstvoll vertierten Schwert nach dem Kind schlagen wollte.

„Wehr dich, Sohn!“, forderten die Geister gehässig in Karanas Kopf, „Zeig ihnen, wer du bist.“

Im selben Moment, in dem Simu noch immer nach Puran schrie und der Krieger vor Karana sein Schwert auf ihn zu sausen ließ, riss das Kind den Kopf hoch und mit einem gewaltigen Krachen aus dem Himmel und einem aufbrausenden Windstoß begann es plötzlich zu regnen. Simu starrte Karana fassungslos an und war verstummt, ebenso der Mann vor ihm, der in das herrische Gesicht des Kindes starrte. Der Wind wurde stärker, als Karana die Arme höher riss, ehe er grinste und den Mund auftat. Er spürte das Kribbeln in seinem Körper stärker als jemals zuvor; er hatte schon mal Regen gerufen. Er kannte das Gefühl der Macht schon, seit er klein war… aber dieses Mal war es stärker, unbarmherziger, und das Kribbeln verwandelte sich in ein stechendes Schmerzen in seinem ganzen Körper, als er zusammenfuhr.

„Ich habe… keine Angst vor dir, Zuyyaner!“, empörte er sich dann laut, „Die Geister von Himmel und Erde… werden… euch verfluchen!“

„Karana!“, schrie Simu hinter ihm und taumelte erbleichend rückwärts, als der Wind mit einem mal so gewaltig auffuhr, dass er beide Jungen fast von den Beinen gerissen hätte. Dann schlug ein Blitz aus dem krachenden Himmel zwischen Karanas zitternde Hände ein, worauf der Krieger vor ihm zurückfuhr. Er fürchtete sich, Karana konnte es genau sehen. Und es amüsierte ihn…

Es gefiel ihm, wenn andere Angst vor ihm hatten.

Er zeigte seine Raubtierzähne und riss die Arme samt der gewaltigen Macht des Gewitters nach vorne, um sie auf seinen Gegner zu schmettern. In dem Moment, in dem die Macht am größten war und er das Gefühl bekam, die Kontrolle darüber zu verlieren, genauso wie den Boden unter seinen Füßen, in dem Moment, in dem der Blitz den Zuyyaner erreichte und ihn in Stücke riss, hörte Karana wieder Simus Rufen hinter sich, dann spürte er, wie er plötzlich von hinten gepackt wurde. Plötzlich hatte er wirklich keinen Boden mehr unter den Füßen, und er dachte, er würde fliegen – dann ertönte vor ihm ein grauenhaft lautes Donnern und Himmel und Erde schienen zusammenzubrechen, so sehr zitterte die ganze Welt, bevor mit einem mal alles vorüber war. Der dunkle Schatten, den Karanas Gewitter hervor gerufen hatte, war verschwunden, mit ihm der Blitz und der Regen. Und die Zuyyaner, die eben noch auf der Straße vor ihm gewesen warne. Einer war vermutlich Pulver geworden und der andere geflohen… Karana wusste es nicht. Er lag auf dem Boden, hinter ihm war ein neuer Schatten aufgetaucht; aber es war der eines Menschen. Als er benommen blinzelte, erkannte Karana das Gesicht seines Vaters, der die Arme noch in den Himmel erhoben hatte und sie jetzt sinken ließ.

„Vati…?“, keuchte der Kleine am Boden und rappelte sich auf, aber sein Vater hatte gerade keine Zeit, ihn anzusehen, weil der alte Sagal nach ihm rief. Als Karana sich umdrehte, waren Leyya und Neisa dichter heran gekommen, die Mutter erfasste Simus Schultern, der irgendwie desorientiert wirkte. Das Krachen war verstummt, ebenso das Grollen des zornigen Himmels. Als Karana hinauf sah, erblickte er nur die tief hängenden, erdrückenden Wolken, die das Gewitter übrig gelassen hatte, das er gerufen hatte. „Öh… wo sind die anderen Zuyyaner?“, fragte er blöd, und von hinten kamen jetzt Dasan Sagal, zwei seiner Söhne und Chata Anso dazu. Sie sahen alle etwas angeschlagen aus, waren aber lebendig.

„Sie sind weg.“, verkündete der alte Sagal keuchend und fuhr sich mit der Hand, die nicht seinen Gehstock hielt, über das Gesicht, das einige Blutspritzer und Kratzer zierte. „Was war hier los?“

„Plötzlich gab es Gewitter.“, stellte Chata Anso verblüfft fest, „Die Krieger, die wir nicht erwischt haben, sind geflohen… nach Süden, woher sie gekommen sind.“ Puran nickte und Dasan Sagal machte einen Handschwenk in Richtung seiner Söhne.

„Geht sie suchen.“, befahl er schroff, „Seht zu, dass keiner von denen den Kreis lebend verlässt.“ Die jüngeren Männer nickten und verschwanden sofort mittels Teleport. Puran sah seinen älteren Freund verblüfft über die unverblümte Brutalität seiner Absichten groß an.

„Sie sind tatsächlich weg? – Gab es Verluste, Chata?“ Chata Anso zog eine Braue hoch und Dasan Sagal lachte.

„Ah, ja, man hört, dass Ihr lange in der Armee gewesen seid. Nein, es gab keine Toten, zum Glück, ein paar sind verletzt. Chitra kümmert sich bereits, Mujak hat ganz schön was abgekriegt, aber er kommt durch.“ Der Senator seufzte und sah sich im Dorf um. Viele Häuser hatten den Angriff unbeschadet überstanden, nur die südlichsten Häuser waren stark mitgenommen. Lorana war bei dem Angriff der Zuyyaner glimpflich davongekommen… vielleicht war es ihr pures Glück, dass sie hier viele Bewohner hatten, die Kontakt zu den Geistern hatten… Puran seufzte leise und dankte den bockigen Himmelsgeistern für die immerhin noch rechtzeitige Warnung. Es war gut ausgegangen… er sollte sich nicht beschweren. Sein Blick fiel auf seinen Sohn, der noch immer etwas verblüfft dreinschaute und keine Ahnung zu haben schien, was vorging.

„Wenn Ihr mich entschuldigen würdet, Herr Sagal… ich muss noch ein dringendes Wort mit meinem Sohn wechseln. Wenn ich irgendwie helfen kann, stehe ich danach gern zur Verfügung.“

„Einverstanden.“, sagte Dasan Sagal und Karana fuhr hoch, als er merkte, dass man von ihm sprach. Der alte Telepath bedachte ihn eines langen, scharfen Blickes, den der Kleine nicht verstand. „Am besten kommt ihr zu mir, beide, Puran. Wir haben noch einiges zu bereden in Sachen Zuyyaner, so fürchte ich.“
 

Während Leyya zusammen mit Simu und der verheulten Neisa gleich dem Telepathen zum Anwesen der Sagals folgte, um zu schauen, ob sie sich als Heilerin nützlich machen konnte, nahm Puran seinen Sohn zur Seite und blieb mit ihm vor ihrem Haus. Sie warteten, bis die Menschen alle etwas entfernt waren, und als Karana mit seinem Vater alleine war, begann er, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten. Er fragte sich, was es zu besprechen gäbe – vermutlich hatte es etwas mit dem zu tun, was er zuvor gemacht hatte. Es war die Macht der Geister gewesen, er hatte es genau gespürt – und es hatte den Angreifer pulverisiert! Er war stolz auf sich… er hatte doch eindeutig bewiesen, dass er es wert war, der Erbe des Lyra-Clans zu sein, oder? Das musste es sein, sein Vater würde ihm sowas vermutlich auch gleich erzählen – vielleicht gab es ja Geschenke.

Als der Junge allerdings zu seinem Vater aufsah, fand er dort nicht den erhofften Stolz, sondern Zorn.

„Vati-…?!“, keuchte er noch, im nächsten Moment erntete er plötzlich aus heiterem Himmel eine saftige Ohrfeige. Karana hustete und rieb sich die schmerzende Wange, ehe er seinen Vater fassungslos anstarrte.

„Was hast du dir dabei gedacht, Karana?!“, fuhr er den Kleinen da schon an, „Was habe ich dir gesagt bezüglich deiner Gaben?!“

„D-dass ich… große Gaben habe…?“, wimmerte das Kind entsetzt und rieb sich noch immer die feuerrote Wange – so wütend hatte er seinen Vater selten erlebt. Er verstand gar nicht, was los war…

„Dass du nicht mit ihnen spielen sollst!“, empörte der Herr der Geister, „Gerade weil du mächtige Gaben besitzt! Das ist gefährlich, weißt du, was du hättest anrichten können mit dem Gewitter, das du gerufen hast?!“

„I-ich habe aber den Zuyyaner erledigt, er hätte mich doch sonst getötet!“

„Du Wahnsinniger bist auf ihn zu gerannt, das ist ein gewaltiger Unterschied, Sohn!“ Der Schrecken des Kindes war jetzt vorüber und es setzte zum Trotz über.

„Aber ich habe ihn erledigt, Vati! Das ist doch gut!“ Er erntete noch eine Ohrfeige, dieses Mal auf der anderen Seite, aber er spürte, dass sein Vater sich heftig zu bremsen bemühte, der Schlag war viel weniger hart als der erste.

„Wie kannst du es wagen, die Lebensgeister so zu demütigen?! Gut?! Töten ist niemals gut, Karana, merk dir das!“ Er schnappte aufgebracht nach Luft. „Du hast deine Gaben noch lange nicht unter Kontrolle, sie sind zu mächtig für dich! Du hättest das ganze Dorf zerfetzen können, du konntest die Geister nicht festhalten! Hätte ich sie nicht für dich gebändigt und fortgeschickt, hätten sie zuerst das Dorf und dann dich zermalmt, willst du das?!“ Karana schnappte nur nach Luft und konnte nicht antworten. Sein Gesicht schmerzte; was aber viel mehr wehtat als die Ohrfeigen war des Vaters Zorn.

„A-alles… alles, was ich wollte-… i-ich… wollte doch nur beweisen, dass ich… dass ich auch so gut sein kann wie du!“, stammelte er dann und Puran schnaubte.

„Ich bin älter, größer und stärker als du! Wenn du einmal ein Mann bist, wirst du vielleicht auch so sein wie ich, wenn du dir Mühe gibst! Aber du bist erst sieben, du bist noch ein Junge! Solche Mächte in diesem Ausmaß sind einfach noch zu viel für dich! Dein Geist und dein Körper würden die Macht nicht aushalten, wenn du sie zu sehr heraufbeschwörst… verstehst du, was ich sage?“ Karana schmollte und Puran hockte sich vor ihn auf den Boden, um sein Gesicht besser sehen zu können. Er griff den Kleinen an den Schultern und zwang ihn, ihn anzusehen. „Verstehst du mich, Karana?“, wiederholte er sich mit Nachdruck. Der Sohn starrte ihn nur verbiestert an und die grünen Augen beider ruhten eine Weile aufeinander. „Ich hatte Angst um dich, Karana. Ich… hatte wirklich Angst um dich, als ich das Gewitter gesehen habe. Du hättest umkommen können… und dabei noch andere umbringen. Simu stand direkt hinter dir, er hätte den Blitz beinahe abbekommen!“ Karanas Ausdruck wurde weicher und trauriger, als er beschämt den Kopf senkte.

„I-ich… ich… dachte, ich könnte… das so einfach, wie du das kannst… ich kann doch auch den Regen rufen, ohne dass etwas geschieht!“

„Regen ist auch ungefährlicher als Gewitter.“, erklärte der Vater leise. „Du hast die Gabe des Sehens und des Rufens… ich habe sie auch schon als Kind gehabt, aber ich war nicht so versessen darauf, allen zu zeigen, was ich kann, weil ich gewusst habe, wie gefährlich die Macht der Himmelsgeister ist – in den Händen von Kindern, die sie noch nicht richtig beherrschen, ist sie viel gefährlicher als bei Erwachsenen. Ich möchte, dass du mir versprichst, das niemals wieder zu tun, bis du deine Ausbildung zum Schwarzmagier beendet hast.“ Der Sohn senkte den Kopf weiter. Das dauerte noch so lange… die Lehre würde er erst machen können, wenn er um die vierzehn war, hatte er gehört. Der Lehrmeister, der auch seinen Vater einst gelehrt hatte, würde auch Karanas Lehre übernehmen, und der Junge war stolz darauf, erzählen zu können, dass er vom selben Mann lernen würde wie sein großartiger Vater.

Es gab keinen Mann auf der Welt, den Karana mehr respektierte und bewunderte, den er mehr liebte als seinen Vater.

Karana nickte zustimmend.

„Ich verspreche dir, meine Gaben nicht leichtfertig zu benutzen.“, sagte er leise, und Puran seufzte, ehe er seinen Sprössling liebevoll umarmte.

„Ich liebe dich viel zu sehr, um dir lange böse zu sein, Karana… das ist wohl meine größte Schwäche.“, meinte er dazu, und der Junge verstand das nicht ganz und ließ es gut sein. „Hast du begriffen, worum es mir geht?“, fragte er dann, als er sich wieder erhob und den Jungen losließ. Karana nickte erneut, wenn auch zögerlich.

„Ich glaube schon.“ Der Vater sah in das hübsche und dennoch leicht trotzige Gesicht seines Sohnes und versuchte, daraus zu lesen, ob der Kleine es ernst meinte oder einfach nur die Moralpredigt beenden wollte. Karanas Geist war schwer zu lesen. Puran konnte einem Menschen normalerweise fast immer bis in die Tiefen seiner Seele sehen, worauf die Geister ihm sagten, was er sah – bei manchen ging das schwer oder nicht, und der Knirps war verblüffenderweise einer der unlesbaren Kandidaten. Vielleicht lag es daran, dass Karana selbst ein begabtes Kind war… der Herr der Geister zweifelte wenig daran, dass sein Sohn eines Tages genau wie er selbst dem Rat der Geisterjäger beitreten würde. Der Kleine redete ununterbrochen davon, dass er das eines Tages tun würde; bis dahin hatte er allerdings noch den harten Weg vor sich, den sein Vater auch hinter sich gebracht hatte. Den Weg, die mächtigen Gaben zu kontrollieren und fest in der Hand zu halten.
 

Bei Sagals gab es Tee. Selbst Puran trank Tee, weil er das Gefühl hatte, Kaffee würde ihn zu sehr aufregen nach all dem Tohuwabohu. Die Verletzten waren zum Glück alle soweit geheilt, dass sie problemlos überleben würden, das war vor allem Chitra und Leyya zu verdanken. Die kleine Niarih, Chitras Tochter, war trotz geringen Alters ihrer Mutter zur Hand gegangen und hatte Verbände und Salben geholt, die Chitra gebraucht hatte.

„Sie lernt eben früh.“, sagte Chata Anso lächelnd und sah auf die Kleine, während Dasan Sagal mit dem Dorfoberhaupt, Chitra, den Lyras und noch ein paar anderen Dorfmännern in seiner Küche saß. „Damit sie eines Tages in die Fußstapfen ihrer Mutter treten kann…“ Niarih spielte mit Neisa am Boden der Küche. Die Mädchen lenkten sich gegenseitig von dem Schrecken ab und flochten sich gegenseitig Zöpfchen in die blonden Haare. Chitra sah Chata Anso verblüfft an.

„Was? Niarih ist gar keine Heilerin, ich glaube, in meine Fußstapfen wird sie nicht richtig treten können.“

„Oh.“, war die Antwort, und Dasan Sagal sah abwechselnd seine Tochter und den älteren Mann an. „Das ist ja komisch, ich dachte, sowas vererbt sich?“

„Das kommt auf den Vater an…“, murmelte Chitra, „Ich habe nur ein Heilergen, und ich habe ihr das eben nicht vererbt. Wenn ihr Vater auch Heiler wäre, wäre es wahrscheinlicher, dass sie ebenfalls-…“

„Chitra, jetzt erzähl keinen Blödsinn von Genen!“, fuhr ihr Vater ihr barsch ins Wort und alle sahen ihn verblüfft an, nur Leyya ermahnte die kleinen Mädchen, sich nicht zu doll an den Haaren zu ziehen. „Wir haben hier Wichtigeres zu tun. Ich hoffe doch, die Zuyyaner lassen sich nach dem Desaster nicht mehr blicken.“ Er warf einen Blick auf Karana, der mit Simu und Herrn Sagals fast gleichaltrigen Enkelsöhnen auf der Eckbank herum lümmelte. „Du hast das geklärt, Puran, hoffe ich.“, fuhr der Telepath ernst fort und der Herr der Geister nickte; er wusste genau, dass auch der alte Sagal sehr gut wusste, warum Karanas Aktion gefährlich gewesen war. Er hatte keinen Grund, seine Beunruhigung vor dem Vater des begabten Jungen zurückzuhalten, und wenn Puran diesen Mann für etwas schätzte, dann auch für seine gnadenlose Ehrlichkeit. „Wenn meine Söhne zurückkommen, sind die letzten Flüchtigen hoffentlich auch weg und wir haben etwas Ruhe hier. Wir müssen auf jeden Fall im Auge behalten, wie das weitergeht.“

„Diese verflixten Zuyyaner!“, schimpfte Chata Anso, „An den Galgen mit ihnen, verdammt, was haben wir ihnen hier getan?“

„Puran hat ihren Kaiser getötet.“, sagte Dasan Sagal verdrossen und der Erwähnte hustete.

„Moment, Ihr meint doch nicht, sie wären meinetwegen…?!“

„Nein, nein, ich sage nur, was auf der Hand liegt.“

„Kann denen nicht einfach der Himmel auf den Kopf fallen oder so?“, fragte einer der anderen Dorfmänner kleinlaut, „Ich meine, was ist mit den Geistern, sollten sie die Bastarde nicht bestrafen für das, was sie hier anrichten?“

„Schreibe den Geistern nicht vor, was sie tun oder lassen sollten, sonst wenden sie deine vorlauten Wünsche gegen dich.“, warnte Puran den Mann schroff und der Bauer sank in sich zusammen. Dasan Sagal war wie immer klüger als die anderen.

„Soweit ich weiß, ist ihnen der Himmel schon letztes Jahr auf den Kopf gefallen. Offenbar ist ihnen das egal.“

Er erntete eisernes Schweigen von seinen Gästen. Sogar Karana und die anderen Jungen starrten ihn an und Simu war es, der heiser flüsterte:

„D-der… Himmel ist den Zuyyanern auf den Kopf gefallen?“ Ehrfürchtig sprach er es aus, als wäre die Hoffnung darauf zu zerbrechlich, um sie laut auszusprechen. Simu fürchtete die Zuyyaner. Er fürchtete sie viel mehr als die anderen Kinder in der Schule, und es war ihm egal, wenn die anderen Jungen ihn deshalb einen Angsthasen nannten. Er wusste tief in seinem Inneren vermutlich noch Bruchstücke von dem, was ihm widerfahren war, ehe er zu Lyras gekommen war, so hatte Puran ihm das jedenfalls erklärt. Vielleicht wusste ein Teil von Simus Geist noch, dass er und der Mann, der ihn zu Lyras gebracht hatte, von den Zuyyanern gejagt worden waren. Diese tief verwurzelte Furcht war alles, was der Junge an Erinnerungen an sein Leben vor dem in Lorana hatte. Er wusste nicht, was mit seinen Eltern passiert war, woher er kam oder wieso die Zuyyaner ihn verfolgt hatten. Eines Tages würde er es vielleicht erfahren… oder auch nicht.

„So in der Art.“, räusperte sich Dasan Sagal, „Da der Verkehr lahmgelegt wurde, erfährt man wenig von Zuyya; aber ich habe von meinem Neffen fünften Grades aus Vialla gehört, dass Zuyyas halbe Landmasse bei einer Explosion weggefegt worden ist. Der Mann ist Astrologe und hat das Inferno mit einem Teleskop verfolgt. Was da passiert ist, weiß er auch nicht, aber auf der Oberfläche des Mondes Zuyya ließen sich letztes Jahr plötzlich verheerende Veränderungen erkennen. Ich habe das auch aus anderen Quellen gehört. Was immer da geschehen ist, wenn es groß genug war, dass man es von hier aus mit dem Teleskop sehen konnte, muss es ungeheuerlich sein. Ich schätze, die Strafe der Geister ist eingetroffen… aber dennoch ziehen sie noch über unsere Lande.“ Wieder trat Schweigen ein und die anderen warfen einander bestürzte Blicke zu.

„Die halbe Landmasse ist explodiert?“, fragte Puran noch mal, und Karana japste:

„Wie aufregend!“ Er erntete einen Stoß in die Rippen von Simu.

„Respektloser Knilch…“
 

Es gab nicht wirklich etwas zu besprechen, was die Kinder interessiert hätte. Die Jungen trollten sich bald aus der Küche, um im Flur zu spielen, obwohl der Großvater Sagal seinen Enkeln nahelegte, ja nichts kaputt zu machen. Die Mädchen hatten irgendwann auch genug davon, sich die Haare zu flechten, und schlossen sich den Jungen an dabei, im Flur herum zu toben. Wobei die Mädchen lieber ruhigere Dinge gespielt hätten, aber die Älteren ließen sich nicht dazu breitschlagen, Mutter-Vater-Kind oder Heiraten zu spielen.

„Du darfst sowieso nicht heiraten.“, sagte der ältere der Sagal-Jungen zu seiner Cousine Niarih, „Du hast keinen Vater.“ Die Kleine wiegte sich hin und her.

„Ach, du lügst.“

„Gar nicht, Großvater hat selbst gesagt, dass du nie heiraten darfst.“

„Ich heirate Karana und Simu!“, freute sich Neisa und während Karana sich gegen die Stirn schlug und seine Schwester als dumme Trulla bezeichnete, versuchte Simu ihr – sehr erwachsen – zu erklären:

„Das geht nicht, du bist unsere kleine Schwester, Neisa! Du musst jemanden anderes heiraten. Davon abgesehen, dass hier keine Frau mehrere Männer haben darf.“ So diskutierten sie ein wenig albern herum, bis schließlich ihre Eltern kamen, um sie heim und in ihre Betten zu bringen.

Die Nacht war fast um, als Puran gemeinsam mit Leyya und den Kindern wieder zu seinem Haus zurückkehrte. Neisa döste bereits auf den Armen ihrer Mutter und die beiden Jungen schlurften müde hinter den Eltern her.

„Wieso darf Niarih nicht heiraten?“, wunderte Simu sich irgendwann, „Nur, weil sie keinen Vater hat? Dafür kann sie doch nichts. Was soll sie denn sonst machen, wenn sie groß ist?“

„Nun, das ist nicht unsere Sache.“, meinte Leyya, ehe Puran etwas sagen konnte, „Das entscheidet ihr Großvater, weil sie keinen Vater hat. Es gilt als Schande, das Kind zweier nicht verheirateten Leute zu sein… und erst recht, wenn der Vater sich nicht mal zu erkennen gibt.“

„Meinst du, einer aus dem Dorf ist ihr Vater?“, staunte Karana, „Echt?“ Seine Mutter seufzte und er fragte weiter: „Wieso sagt er denn dann nicht, dass er ihr Vater ist, damit sie heiraten kann und keine Schande ist?“

„Weil es den Kerl vermutlich selbst sehr beschämen würde!“, erwiderte Puran, „Vermutlich ist er mit einer anderen Frau verheiratet, und wenn er dann mit Chitra… auch ein Kind hat, ist das eben peinlich und noch viel schändlicher als ein vaterloses Kind sowieso. Kein Mann wird freiwillig zugeben, Niarihs Vater zu sein, wir werden nie wissen, wer es ist, und für den Mann ist es auch besser so.“

„Aber Niarih tut mir leid.“, meinte Simu, „Wieso kannst du nicht ihr Vater sein, Vati? Du bist auch meiner, obwohl ich nicht echt dein Kind bin.“ Puran hustete.

„Das… ist etwas vollkommen anderes.“

„Warum?“, wollten die Kinder wissen und Puran verdrehte die Augen. Er war das Thema leid; er war zwar etwas beleidigt, weil Leyya es mit großer Wahrscheinlichkeit wusste und nicht daran dachte, es ihm zu sagen, aber andererseits ging es ihn wirklich nichts an, wer Chitra dieses Kind eingepflanzt hatte. Und die Kinder ging das erst recht nichts an, die nicht einmal wussten, wie Kinder entstanden. Verdammt, sie waren erst sieben! Er wechselte also etwas ungalant das Thema.

„Ich habe nachgedacht über das Mittsommerfest des Königs. Nach dem Theater heute halte ich es… tatsächlich für besser, euch drei mitzunehmen… ich möchte euch nicht hier alleine lassen.“ Sofort war das Thema Niarihs Vater egal.

„Ehrlich? Hurra!“, jubelte Karana aufgeregt und plötzlich hellwach, „Das wird so aufregend, gell, Simu!“ Der Blonde nickte eifrig und beide Jungen kicherten. „Werden viele Leute da sein? Richtige hohe Leute und so? Und die Geisterjäger sicher auch, oder, Vati?“

„Natürlich, vorher ist ja Ratssitzung.“

„Hast du kluger Aufpasser auch darüber nachgedacht, wo du die drei Racker unterbringst, während wir beide auf eben jenen Sitzungen sind?“, fragte Leyya ihren Mann unverblümt und er zuckte die Achseln.

„Ich schicke Senol einen Brief, seine Frau und seine Tochter leben in Vialla, da könnten wir die drei solange lassen, wenn Shiva nichts dagegen hat.“

„Ist das nicht aufregend?“, kicherte Karana, „Wir fahren nach Vialla, hurra!“
 

Die Reise nach Vialla war ungemütlich. Das war sie immer, Puran kannte das ja. Die Straße, die in die Reichshauptstadt führte, war schlecht gepflastert und hätte schon vor Jahren saniert werden sollen, aber offenbar sah sich niemand zuständig dafür, die Hauptstraße zu reparieren. So holperte die Kutsche, die Puran für die Familie hatte bestellen lassen, unangenehm über die Schlaglöcher und warf die drei Kinder damit des Öfteren fast von der Sitzbank. Karana und Simu fanden das äußerst aufregend und johlten bei jedem Loch und jedem Poltern der Kutsche, Neisa hatte eher Panik, das Gefährt könnte umkippen. Puran bezweifelte, dass die Kutsche umkippte, aber dass die Achsen brachen war nicht abwegig bei so einer Fahrt. Davon abgesehen, dass jedes Holpern einen grauenhaften Schmerz durch seinen ohnehin brummenden Schädel jagte. Es war heiß und stickig in der verdammten Kutsche; der Mann verfluchte den Sommer in Thalurien und wünschte sich sehnsüchtig die Kühle seiner Heimat zurück, den salzigen Meerwind und das Kreischen der Möwen. Sommer in Dokahsan war angenehm gewesen… Sommer in Thalurien war ein Desaster, fand er zumindest. Leider schien er da der Einzige zu sein. Sobald sie bei Senol Kitas Haus angekommen wären, müsste er sich dringend umziehen, wenn er nicht wie ein Schwein schwitzend in den Palast gehen wollte.

„Du schaust so grimmig.“, flüsterte Leyya ihm mit einem mitleidigen Lächeln zu, als Karana und Simu neben ihr wieder aufjohlten beim nächsten Loch in der Straße. Puran stöhnte, wischte sich mit einem Taschentuch über die verschwitzte Stirn und fluchte ungehalten.

„Diese Straße! Sie ist eine Schande für unser Land, verflucht, jeder wichtige Besuch aus Senjo kommt über diese elende Straße nach Vialla! Schämen die sich nicht? Ich war in Senjo, ich sage dir, die Straßen nach Yuron sind viel schöner als diese hier! Mit vollem Magen sollte man diese hier lieber nicht befahren.“ Leyya strich ihm tröstend über den Oberarm.

„Wir haben es ja bald geschafft, Liebster… halt noch ein bisschen durch.“

„Himmel, ich hoffe, du hast nicht vergessen, die Wurzeln gegen Kopfschmerzen mitzunehmen.“, jammerte er, „Wenn ich nicht bis wir da sind vor Schweißausbrüchen dehydriert bin, sterbe ich wegen eines platzenden Kopfes, garantiert.“

„Na, jetzt machst du aber einen auf Dramatiker.“ Sie schmunzelte nur, als er ihr einen bösen Blick zuwarf. „War nicht böse gemeint.“ Die Jungen jubelten wieder, als sie abermals ein Schlagloch passierten und selbst die Pferde vor der Kutsche empört wieherten.

„Hurra, das macht Spaß!“

„Himmel, verdammt, diese Löcher!“, empörte Puran sich abermals, und er beugte sich zornig nach vorne und hämmerte gegen das vergitterte Fenster, um den Kutscher auf sich aufmerksam zu machen, der davor saß. Der Mann sah zurück durch das Fenster. „Warum fahren wir nicht gleich im Straßengraben?!“

„Sollen wir?“, fragte der Kutscher verblüfft, und Puran verdrehte die Augen.

Ja, unbedingt, wenn du willst, dass mir der Kopf platzt! Und die Schweinerei wird meine Frau sicher nicht sauber machen.“ Der Mann auf dem Bock errötete ob seiner Dummheit, das ernst genommen zu haben, drehte sich wieder um und versuchte jetzt, den Löchern auszuweichen, was aber nur schwer möglich war. Und das Fahren im Slalom machte die Fahrt auch nicht besser. „Auf dem Rückweg gehen wir zu Fuß, damit das klar ist, und ich will kein Gejammer über müde Füße hören.“
 

Senol Kita hatte ein kleines Haus im Süden von Vialla, in einer hübschen Wohngegend der Stadt. Karana, Simu und Neisa waren einfach noch zu klein, um während der Ratssitzungen am Nachmittag alleine in Purans kleiner Wohnung im Beamtenviertel zu bleiben, deswegen war der Senator seinem Kollegen Senol mehr als nur dankbar dafür, dass er seine Frau gebeten hatte, bis zum Abend auf die drei Kinder aufzupassen. Am Abend des Mittsommertages würde das Fest im Palast des Königs stattfinden, zu dem dann auch die Kinder mitkämen; Senols Frau Shiva und seine kleine Tochter Sora natürlich auch.

Die kleine Sora war etwa ein Jahr älter als Neisa und genauso blond wie ihr Vater Senol. Puran war verdutzt, sie so groß zu sehen – das letzte Mal, dass er sie gesehen hatte, war sie noch ein Baby gewesen. Er war selten bei Senol Kita zu Besuch. Auf ihrer Stirn prangte gerade eine große Beule, weil sie, wie ihre Mutter erklärte, kurz zuvor gegen die Tischkante gerannt war. Puran fand, dafür sah das Mädchen aber ziemlich fidel aus – Neisa wäre an ihrer Stelle wohl in einen Heulanfall verfallen.

„Ach, das passiert öfter.“, lachte Shiva Kita darauf nur und tätschelte Soras Kopf, während die Kleine ganz aufgeregt neben ihr herum hopste. Offenbar hatte sie sich riesig auf ihren Besuch gefreut.

„Kommt, wir können Kissenschlacht im Bett meiner Eltern spielen!“, freute sie sich, und die Gäste waren sofort hellauf begeistert und folgten dem Fingerzeig des Mädchens durch eine Tür aus der Stube. Die kleine Gastgeberin rannte johlend hinterher und lief dabei mit voller Wucht gegen die halb offene Tür, worauf sie zu Boden kippte und ihr Horn auf der Stirn noch größer wurde. „Aua…“

„Du liebe Güte.“, machte Leyya, „Das ist aber nicht gesund.“

„Oh, keine Sorge, ihr Schädel ist hart, das hält sie aus.“, erklärte der blonde Geisterjäger glucksend, als seine kleine Tochter sich auch schon erhob, sich den Kopf rieb und dann den anderen nachsetzte.
 

Es gab nicht viel zu besprechen in den Ratssitzungen. Die Sachen über die Katastrophe auf Zuyya, die die halbe Landmasse weggesprengt haben sollte, wurden allerdings bestätigt, was alle bestürzte – weniger wegen der zerstörten Zuyya als deshalb, dass die Zuyyaner selbst nach so einer Katastrophe keinen Grund zu sehen schienen, ihre Angriffe einzustellen. Sie waren und blieben unberechenbare, kaltblütige Monster, so viel war klar.

Als Senol Kita gemeinsam mit Puran und Leyya zurück zu seinem Haus kam, war es an der Zeit, sich für das abendliche Fest im Palast vorzubereiten. Die Heilerin hatte für ihre drei Kinder extra passende Kleidung mitgenommen; schließlich mussten die Kleinen sich vor dem König des Landes präsentieren können. Vor allem Neisa freute sich, weil sie ihr neues Kleid anziehen durfte und ihre Mutter ihr die blonden Haare zusammen steckte. Karana hatte normalerweise nie Lust, ordentlich angezogen zu sein, aber in diesem Fall überwog seine Aufregung wegen des bevorstehenden Besuches im königlichen Palast von Vialla.

Die Kinder waren noch nie im Palast gewesen. Puran verstand ihre Aufregung und die riesigen, staunenden Augen, die sie machten, als sie das gigantische Gebäude später betraten, gemeinsam mit den drei Kitas. Natürlich waren die Räte der Magier nicht die einzigen Gäste – die gesamte Oberschicht Viallas und die höchsten Tiere aus den Provinzen mussten anwesend sein. Der Herr der Geister war verdutzt, seine Cousine noch nicht gesehen zu haben; sie als Mitglied des Telepathen-Ordens musste auch hier sein. Überdies hatte der Mann sich auch schon gefragt, wieso Dasan Sagal nicht im TO war. Bei seiner Position und seinen Fähigkeiten wäre es nur verdient, dass er dort wäre. Der Mann hatte Puran einst erklärt, dass er kein Interesse daran hätte, sich in der Politik zu betätigen. Es reichte, wenn einer aus seiner Familie im TO saß, hatte er gesagt, mehr brauchte er nicht – und sein Verwandter wie-auch-immer-vielten Grades war sein Informant bezüglich des Rates. Das Netz der Sagals, hatte der Senator gelernt, ging weit über Thaluriens Grenzen hinaus. Dasan Sagal zum Feind zu haben musste gnadenlos tödlich sein, denn verstecken konnte man sich nicht vor ihm.

Kinder waren nicht sehr viele auf dem Fest. Puran hatte am Nachmittag schon von Meoran gehört, dass er alleine aus Janami gekommen war. Saidah war bei dem schwulen Kindermädchen geblieben. Leyya bedauerte das sehr, wie sie verkündete, als sie Meoran im Getümmel der glitzernden Hallen des Palastes gefunden hatten.

„Ehrlich gesagt wäre es mir einfach im Moment unrecht gewesen, sie in ein Getümmel hoher Leute zu werfen.“, erklärte der Lehrmeister der Frau seines Freundes behutsam, „Sie ist jetzt zwölf und… na ja, in diesem gewissen Alter eben.“

„Na, gut, dass dein Kindermädchen schwul ist.“, sagte Puran und Leyya weitete die Augen:

„Saidah ist jetzt eine Frau? Liebe Güte! Wie schnell das doch ging, ich erinnere mich noch daran, wie sie ein Baby gewesen ist!“

„Eine Fastfrau, Leyya.“, korrigierte ihr Mann sie und drehte sich um, um nach seinen Kindern zu sehen, die johlend in der Menge verschwunden waren, um zu spielen, während die Erwachsenen herum standen. Meoran verblüffte ihn, als er sprach.

„Nein, eine Frau, Leyya hat schon recht. Sie ist jetzt tatsächlich schon erwachsen.“ Der Jüngere drehte sich abrupt wieder zu ihm um und starrte ihn an.

„Was? Wie jetzt? Seit wann denn das?“

„Seit drei Wochen.“

„Wer hat sie denn zur Frau gemacht?“

„Ich selbst, in Ermangelung eines Besseren. – Ich konnte das ja nicht Tanuq auftragen, erstens ist er gar kein Schamane, zweitens mag er keine Frauen.“ Sein Freund blinzelte fassungslos.

„Wieso hast du mich nicht gefragt? I-ich hätte dir das doch abnehmen können, Himmel!“

„Na ja, ein Grund könnte gewesen sein, dass du einfach so derart weit weg wohnst… ich wollte das schnell erledigt wissen. Ich wusste gar nicht, dass dir etwas daran lag, meine Tochter zu entjungfern…“ Puran errötete, weil die Worte seines Meisters definitiv anders rüber kamen, als er sie gemeint hatte. Er erntete auch schon einen verblüfften Blick seiner Frau und trank hastig sein Weinglas aus, ehe er den Kopf verlegen wegdrehte.

„Himmel, so meine ich das doch nicht… ich… dachte nur, ich meine, ich…“ Er sah, wie sein Meister belustigt eine Braue hochzog und fühlte sich veräppelt, so räusperte er sich und beschloss, tapfer zurückzuschlagen: „Ich könnte nie mit meiner eigenen Tochter schlafen, du Unhold.“ Zu seiner Empörung errötete sein Gegenüber nicht mal.

„Das Blutritual ist etwas anderes, Puran, das weißt du doch – ach, nein, bei dir laufen ja grundsätzlich alle Rituale falsch und mit zu viel Gefühl…“ Der Jüngere zischte.

„Meoran! Habe ich dir was getan, oder warum machst du mich so fertig?!“

„Entschuldige, ich habe es nicht böse gemeint.“ Der Ältere lächelte amüsiert, „Du regst dich immer so auf… jetzt mal im Ernst, so ein Ritual hat nichts mit Emotionen zu tun. Es ist nur eine Zeremonie, es ist schnell vorüber. Weder Saidah noch ich haben einen Schaden davongetragen, Puran. Mach dir keine Sorgen, es war einfach so am praktischsten. Das verstehst du doch?“ Der Senator seufzte.

„Ich denke schon. In meiner Familie ist es seit Jahrhunderten strafbar, so etwas innerhalb des Blutskreises zu tun… meine Mutter hat dir sicher mal diese Geschichten erzählt, wie einer dieser Idioten durch eine Liaison mit seiner eigenen Schwester fast den ganzen Clan zerstört hätte… wenn Neisa eines Tages soweit ist, werde ich mir wohl etwas ausdenken müssen.“ Sein Gegenüber gluckste.

„Du hast noch Zeit, mein Freund… mach dir nicht unnötig Umstände. Apropos Neisa, wo stecken die Kleinen? Dürfen die hier einfach herum tollen?“

„Solange sie nicht irgendetwas zerstören oder Karana wieder versucht, Gewitter zu rufen…“ Bei der Ansage verschluckte sich Meoran und hustete erst einmal, ehe er seinen Freund anstarrte.

„Gewitter rufen? Karana… ruft das Gewitter? Wie alt ist er gleich, noch nicht einmal acht?“

„Ja, ich bin auch leicht bestürzt. Dass er Regen ruft, war schon ungewöhnlich genug, aber das Gewitter neulich war etwas zu viel.“ Die Männer warfen einander einen bedeutsamen Blick zu und Meoran senkte schweigend den Kopf. „Deshalb bist du es, der ihn unterrichten muss… kein anderer. Du bist selbst Geisterjäger, du kennst die Gefahren und die Mächte, die Karana besitzt. Nur einer von deinem Kaliber kann dem Jungen beibringen, wie er es kontrollieren kann… du hast es mich auch gelehrt.“ Der Ältere seufzte schwer und Puran wurde das Gefühl nicht los, dass seinem Freund mehr auf der Seele lag als die Unruhe über Karanas Gewitter.

„Ein paar Jahre sind eine lange Zeit, Puran, mein Freund. Er ist erst sieben. Noch dauert es, bis er daran denken kann, die Lehre zu machen. Wenn es eines Tages soweit ist, reden wir weiter.“
 

Man traf viele komische Leute auf einem Fest des Königs, stellte Puran verblüfft fest, während der Abend sich dahin zog. Gouverneure aus anderen Provinzen, andere Senatoren, hohe Beamte, Generäle… manche kannte er von seinen beruflich bedingten Reisen durch das Land. Einige der Politiker kannte er noch aus seiner Zeit in der Akademie, aber nur wenige von ihnen bekleideten jetzt annähernd so hohe Ämter wie er selbst, daher waren die meisten nicht im Palast.

Es gab ein Buffet mit allen erdenklichen Speisen; nicht nur typische Gerichte für das Land Kisara, auch merkwürdige Sachen aus dem Ausland. Der König, den Puran zwischendurch öfter auf dem Fest antraf, erklärte stolz, dass er aus vielen Ländern Köche hatte, die für ihr Land typische Speisen angefertigt hatten. So zum Beispiel seltsame Pasteten mit aufwendig dekoriertem Fisch aus Dhimorien oder Salate aus abstrusen Früchten und Obstsorten, die Puran niemals zuvor gesehen oder gar gegessen hatte, aus dem Süden von Senjo. Es gab mit Fleisch und Gemüse gefüllte Brote aus Kuyala und kleine Fleischspieße mit Ei überbacken aus Janami. Puran konnte nicht sagen, was für Fleisch das war, das an den Spießen war, aber eigentlich war es ihm auch egal.

Seine Cousine Alona traf er erst sehr spät am Abend, als viele der weniger ranghohen Gäste schon gegangen waren und sich die Hallen etwas leerten; das war in sofern gut, dass er jetzt seine Kinder immer sehen konnte, die immer noch herum tobten und gar nicht müde zu werden schienen. Als er Alona schließlich entdeckte, machte sie den Eindruck, als wäre sie schon ewig auf dem Fest, aber dagegen sprach, dass er sie die ganze Zeit nirgends gesehen hatte.

„Wo hast du denn gesteckt?!“, empörte er sich so, als er sie endlich eingefangen hatte und sie einander zur Begrüßung umarmten. „Ich habe mich schon gefragt, ob du das verpennt hast!“

„Ach, Schmarren, ich hatte noch genug mit dem TO zu besprechen, deswegen haben wir uns mit Erlaubnis des Königs für eine Weile zurückgezogen.“

„Die Sitzung heute Nachmittag hat wohl nicht gereicht? Kein Wunder, dass solche Gerüchte entstehen. Ihr spielt… Karten, habe ich gehört…“ Seine Cousine schnappte sich vom Tablett eines umher gehenden Dieners ein Glas Wein und feixte.

„So? Ah, vermutlich so, wie ihr euch besauft und raucht und die Heiler Kräutertee trinken. Diese braven Flaschen.“

„Ihr… spielt Karten!“, wiederholte ihr Cousin entrüstet, „Das ist viel verwerflicher als Tee oder Wein zu trinken! Wie wollt ihr so arbeiten?“

„Ist ja interessant. Sagen die Leute denn auch, was wir spielen?“

„D-du streitest das nicht ab, ihr spielt ernsthaft Karten?! – Willst du mir sagen, ihr habt euch aus dem königlichen Mittsommerfest zurückgezogen, um Karten zu spielen?!“ Puran war entsetzt und seine Cousine amüsiert – offenbar war es ihr auch egal, dass alle, die an ihnen und dem Buffet vorbei gingen, sie verblüfft anstarrten – bis der Herr der Geister plötzlich einen Schlag auf die Schulter bekam. Er fuhr schon empört herum, aber überrascht war er nicht, als er seinen Kollegen Neron und dessen Frau Saja erblickte, die beide amüsiert grinsten, einander eingehakt, beide mit ihren schwarzen Umhängen und Pentagramm-Ansteckern bewaffnet; Saja war seit drei Jahren auch Mitglied des Rates, was niemanden überrascht hatte. Jetzt war sie die einzige Frau im Rat, schlug sich aber tapfer.

„Hallöchen!“, grüßte der Schwarzhaarige emsig, „Wer hat dir denn in die Fresse gehauen, Puran, du siehst aus, als hättest du was kassiert… war er nicht brav, Alona?“ Alona feixte.

„Er hat ein Problem mit Spielkarten.“

„Ein Problem?!“, fauchte Puran, sah auf seine Kollegen und zeigte auf seine Cousine, „Die spielen Karten im TO! Ihr kennt doch die Gerüchte?“

„Natürlich. Poch, wer zuerst raus ist, muss sich ausziehen.“ Er grinste und Purans Gesichtszüge entgleisten.

„Du wusstest das, Neron Shai?“, fragte er bedrohlich, aber der ältere Geisterjäger schien kaum beeindruckt und grinste noch breiter.

„Klar. Wir haben auch mal mitgespielt, als uns langweilig war, Saja und ich.“ Der Herr der Geister starrte ihn an und Neron lachte doof. „Was?“

Die mit einem lauten Krachen aufgehende Tür zum Festsaal unterbrach das erhitzte Gespräch und alle Gäste, Diener und der König fuhren herum, um zu sehen, was geschehen war. Ein bestürzter, aufgeregter Wachmann stolperte hysterisch herein.

„Majestät, Eindringlinge im Palast!“, schrie er gellend, „W-wir haben es erst gesehen, als es zu spät war, dann haben wir versucht, den Mann aufzuhalten, a-aber er wollte nicht auf mich hören, Majestät! Er-…!“ Weiter kam der Wachmann nicht und der König zischte entsetzt, als er sah, wie der gute Mann plötzlich taumelte und zu Boden sank, um damit den Blick freizugeben auf den Eindringling, der sich jetzt in der offenen Saaltür breit machte. Purans Augen weiteten sich in blanker Panik, ebenso die von Meoran und Leyya, die an einer anderen Ecke zusammen mit Tare Kohdar und ein paar Heilern gestanden hatten, als sie den Schwarzhaarigen in der Tür wiedererkannten. Es war einige Jahre her, dass sie Henac Emo zuletzt gesehen hatten… aber eigentlich hatte er sich fast nicht verändert.
 

Der uneingeladene Gast kicherte, als plötzlich der gesamte Saal verstummte und ihn anstarrte. Er klatschte in die Hände und grinste.

„Nein, welche Ehre! So viel Aufmerksamkeit, wirklich, das freut mich in der Tiefe meines Herzens, Euer Majestät! Entschuldigt meine Verspätung, es war nicht ganz leicht, hierher zu gelangen…“ Es war Meoran, der ihm ins Wort fiel. Puran war verdutzt darüber, wie selbstbeherrscht sein Lehrmeister sein konnte; er sah ihm selbst von weitem an, dass er vor Zorn bebte beim Anblick des Verräters.

Das war kein Wunder… er fühlte ähnlich wie sein bester Freund.

„Was lässt dich annehmen, du wärst eingeladen, Emo?“

„Na.“, grinste der Schwarzhaarige, während er vorwärts in den Saal schritt, wobei seine Schritte auf dem Marmorboden widerhallten in der Stille der entsetzten Gäste. Niemand hielt ihn auf, als er so daher stolzierte. „Ich habe mir sagen lassen, dass alle Mitglieder des Geisterjägerrates eingeladen seien. Deswegen bin ich hier, genau wie du, oder?“ Er blieb jetzt direkt vor Meoran stehen, der nur die Augen zu Schlitzen verengte. Sein linkes Auge starrte wie immer ungesund nach außen, und nur das rechte sah dem Verräter feindselig in das höhnische Gesicht.

„Du bist kein Mitglied des Rates. Wir haben dich verbannt, hast du das vergessen oder ist dein Gehirn so klein wie deine Klappe groß ist? Soll ich dir noch einmal für Dumme erklären, was verbannt bedeutet, Emo?“

„Du bist aber böswillig, Meoran…“, gluckste der Jüngere, „Kannst du mich dabei auch mit beiden Augen ansehen oder traust du dich das nicht?“ Meoran versteifte sich vor Anspannung und Puran hielt es für klug, seine Cousine jetzt zur Seite zu schieben und einzugreifen.

„Halt den Mund!“, blaffte er den verhassten Überläufer an, „Du hast hier nichts verloren, du bist ein Verräter und kein Mitglied des Rates! Was machst du bitteschön hier?“ Er verzog angewidert das Gesicht, „Will dein neuer Freund Ulan Manha dich nicht mehr haben? Hat er etwa keine Verwendung mehr für dich?“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, Junge.“, gackerte der ältere Geisterjäger und fuhr dich durch die strähnigen, schwarzen Haare.

„Tu nicht so, wir alle wissen, dass du mit dem elenden Koch unter einer Decke steckst.“, bemerkte Tare Kohdar aus einer anderen Ecke und schnaufte, „Wer weiß, in wie vielen Sinnen, dir Perversling traue ich alles zu.“ Leyya, die neben ihm stand, riss mit einem empörten Quietschen die Augen auf und sah zu, dass sie ihre tobenden Kinder einsammelte – wenn dieser Kerl hier war, durfte sie die drei auf keinen Fall unbeaufsichtigt lassen.

Der König von Kisara räusperte sich, sodass alle Streithähne sich zu ihm umdrehten.

„Ich habe keine Ahnung, was hier vorgeht und wie Ihr hier herein gelangt seid, Herr, aber wie es aussieht, steht Ihr weder auf der Gästeliste noch seid Ihr erwünscht. Kraft meines Amtes als König dieses Landes werde ich dich schon dahin bringen, wohin du gehörst, nämlich in den Kerker! – Wachen! Ergreift den Eindringling!“ Ein aufgeregtes Rufen und panisches Keuchen erfüllte den Raum, als die Türen des Saals erneut aufflogen und die bewaffneten Garden herein stürmten. Puran hob die Hände empor.

„Halt, wartet!“, rief er und der König gab seinen Männern das Zeichen zum Anhalten. Henac Emo lachte blöd und sah den Herrn der Geister süffisant an.

„Ach… hat es sich da etwa jemand anders überlegt?“

„Glaub ja nicht, dass ich mit dir Kaffee trinken will.“, entgegnete der Jüngere kalt, „Aber du bist Jahrelang weg gewesen und dass du ausgerechnet jetzt zufällig hier auftauchst, hat sicher einen Grund. Und der lautet bestimmt nicht Ich habe mich nach meinen alten Kameraden gesehnt.“ Er wandte sich an den König und verneigte sich. „Majestät, ich würde Euch bitten, den Rat mit ihm sprechen zu lassen. Ich versichere Euch, es wird nicht sehr lange dauern…“ Der König sah ihn an und nickte dann ohne große Umschweife, was Henac Emo verblüfft glucksen ließ. Der Monarch deutete einem Diener an, den Rat der Geisterjäger in einen geschlossenen Raum zu bringen, wo sie unter sich reden konnten. Als die Männer und Saja Shai als einzige Frau des Rates dem Mann nach aus dem Saal trotteten, kam Emo an Puran vorbei und kicherte.

„Wirklich liebenswürdig von dir, ich bin tief gerührt von deiner Mühe… Kaisertöter.“ Puran fuhr zusammen bei dem fragwürdigen Titel und zischte. Musste der das jetzt noch mal betonen? Emo war ein Mistkerl, schoss dem Senator durch den Kopf, er wusste ganz genau, womit er seine Kollegen am besten ärgern konnte. Und der Hieb wegen Meorans Auge war abartig gewesen.

Sie gelangten in einen großen, verzierten Saal, in dem es einen Kamin gab und ein paar Sessel, die um einen kleinen Couchtisch herum standen. An den Wänden hingen uralte Gemälde von irgendwelchen Königen der Vorzeit, die keiner der Geisterjäger zuordnen konnte. Sobald die Tür ins Schloss gefallen war und der Diener verschwunden, richteten sich alle bohrenden, strafenden Blicke auf den Verräter. Henac Emo kicherte.

„Dass ihr euch alle so aufregt macht es nur lustiger.“, erklärte er, „Und niemand freut sich, mich zu sehen, was seid ihr doch für Kameradenschweine.“

„Hast du noch alle Tassen im Schrank, hier aufzukreuzen und zu tun, als wäre alles in Ordnung?!“, brauste Neron jetzt auf, „Was denkst du eigentlich, wer du bist oder wer wir sind?!“

„Nun, letzteres lässt sich schnell feststellen.“, sagte der Schwarzhaarige glatt und sah in die Runde, „Aha, zwei neue Gesichter sehe ich – was denn, Neron, du hast deine Frau in den Rat geschleust? Wie umsichtig von dir. Was haben wir noch? Einen Einäugigen, einen mit zitternder Hand, einen Kettenraucher und einen Idioten, Mensch, was für ein kultivierter Haufen ihr doch seid.“

„Da passt du ohne Gehirn ja auch ganz gut dazu.“, meinte Saja Shai und rümpfte die Nase. Emo gluckste und wandte sich an Puran.

„Du warst wohl auch nicht untätig während meiner Abwesenheit, was? Der König frisst dir ja aus der Hand! Himmel, hast du etwa vor, Kisara an dich zu reißen, du Wolf im Schafspelz?“

„In deinen Träumen, Emo.“, war Purans Antwort, „Was denkst du von mir? Ich bin Diplomat, ich sorge dafür, dass das Verhältnis zwischen den weltlichen Königen und den Räten der Schamanen gut bleibt, nichts weiter.“ Er räusperte sich. „Was hast du jetzt hier zu suchen?“

„Ehrlich gesagt habe ich euch gesucht. Ich möchte eurem bescheuerten Rat allen Ernstes wieder beitreten… das ist alles.“ Er grinste, als hätte er gerade nach einem Glas Wasser verlangt.

Die anderen Geisterjäger starrten ihn an und fanden lange keine Worte. Dann brummte Meoran.

„Ah, und dass du es bescheuerten Rat nennst, steigert deine Chancen auf Erfolg bei deinem Vorhaben überdies enorm. Hast du den Schuss nicht gehört? Du stehst da und sagst, du willst in den Rat?!“ Er wurde jetzt richtig wütend und Puran schnappte nach Luft.

„Meoran!“, warnte er ihn, doch sein Lehrmeister zischte und spuckte Emo vor die Füße.

„Ferkel, der schöne Teppich.“, war Nerons einziger Kommentar.

„Du solltest erst mal auf Knien kriechen, bevor du überhaupt auch nur wagst, daran zu denken, uns um irgendetwas zu bitten!“, blaffte Meoran Emo ungeahnt wütend an, „Wie kannst du die Geister von Himmel und Erde derart beleidigen, du… du Lästerung des Lebens?!“

„Meoran!“, fuhr Puran dazwischen, „Das reicht jetzt!“ Er drehte sich dem Verräter zu und schnaubte. „Du willst also in den Rat zurück? Das stellst du dir sehr einfach vor, nicht wahr?“

„In der Tat.“, grinste der Schwarzhaarige. „Ich weiß, dass ihr mich mit offenen Armen aufnehmen werdet.“

„Ah, tatsächlich.“, machte der Jüngere grantig, „Was lässt dich annehmen, dass wir das täten?“

„Ihr braucht mich, Puran.“ Das Selbstbewusstsein in seinem Gesicht war unglaublich – der meinte das wirklich ernst, kam dem Herrn der Geister in den Sinn.

„Wir… brauchen dich?“, wiederholte er kalt. „Aha. Tun wir das? Warum?“

„Wegen meiner Fähigkeiten, Informationen zu sammeln, ohne bemerkt zu werden. Meorans Krähen mögen einerlei sein, aber sie können gesehen werden. Ich nicht.“

„Die letzten neun Jahre sind wir gut ohne dich ausgekommen.“, bemerkte Tare Kohdar. „Was für Informationen sollten wir denn haben wollen, die du uns angeblich bringen könntest?“

„Wie wäre es mit eurem besten Freund Manha?“

Puran straffte die Schultern und schnaubte abermals.

„Ach. Dann gibst du also doch zu, mit ihm zusammen gearbeitet zu haben?“ Emo lachte ihn aus.

„Du schnallst es nicht, was mein Metier ist, oder? Spionage, Puran, Häuptling Zitterhand. Ich weiß Dinge über diesen Kerl, die ihr nicht wisst, weil ich mich mit ihm beschäftigt habe. Was denkst du, dass ich zu ihm gewechselt habe, weil er einen schöneren Kuchen für mich hatte als ihr? Was für einen, vielleicht einen Lianer-Sklavenkuchen?“ Er grinste und die anderen sahen sich eine Weile an. Puran versuchte, aus den Zügen des Mannes zu lesen, ob er log. War er nur deswegen mit dem Kerl verbündet gewesen, um Informationen zu sammeln? Wozu ausgerechnet Ulan Manha? Und egal, was immer seine Gründe gewesen sein mochten, er war Schuld an Rujas Tod.

„Ulan Manha – oder auch Scharan – kann uns hier egal sein.“, war Purans lange überlegte Antwort nach langer Pause. „Er ist auf Ghia. Also weit weg von uns, und er interessiert sich nicht mehr für uns, sondern für die Lianer, die jetzt auch fast alle auf Ghia sind. Auf Ghia haben wir keinen Einfluss, das ist nicht unser Bier.“

„Er ist gefährlich.“, war Henac Emos Kommentar und plötzlich verschwand sein Grinsen, was Puran beunruhigte. Der Kerl grinste immer – wenn er es nicht tat, war die Bedeutung dessen verhängnisvoll. „Er ist Schwarzmagier und obwohl er aus einer popeligen Bauernfamilie stammt, ist sein Potential gefährlich. Und nicht, weil er monströse Blitze vom Himmel ruft. Es ist sein bloßes Auftreten, das Macht versprüht, und es infiziert alle, die seinem Blick zu lange standzuhalten versuchen. Er versteht es, sich Leute auf seine Seite zu ziehen und sie dabei heimlich als seine Sklaven abzutun – ich rede nicht von Lianern, sondern von den Ghianern. Er arbeitet sich dort nach oben und ist auf Ghia schon ein fest etablierter Teil der hohen, mächtigen Gesellschaft. Es wird nicht lange dauern, da wird Scharan auf Ghia mächtiger sein als die Großkönige. Und wenn das passiert, ist er wirklich eine Bedrohung für uns. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich wirklich nicht mehr für uns interessiert. Was er will, ist Macht… und wir sind es, die ihm dabei im Weg sind.“ Wieder herrschte Schweigen. Dann räusperte sich Tare Kohdar.

„Das… würde jedenfalls einleuchtend machen, dass er meinen Vater und meinen Bruder getötet hat. Und Nalani. Und dann wird er vermutlich auch hinter uns her sein. Vielleicht hat er das mit den Lianern gemacht, um sich eine hörige Armee zu züchten… wir mögen Geisterjäger sein, aber wenn er – falls Emo nicht lügt – wirklich so etwas wie der Kaiser von Ghia wird, ist das wirklich gefährlich.“

„Siehst du, Puran?“ Jetzt kehrte Emos Grinsen zurück, „Der Kettenraucher ist klug, so zu sprechen.“ Der Herr der Geister zischte. Das war keine schöne Lage. Wenn Emo die Wahrheit sagte, täten sie gut daran, seine Informationen über Ulan Manha zu behalten. Andererseits könnte er auch genau das Gegenteil planen und in Wahrheit für Scharan bei ihnen spionieren, um später wieder zu ihm zu kommen. Das war überhaupt ein Knackpunkt, der ihn verblüffte.

„Du bist bei Scharan gewesen, auf Ghia?“, fragte er kaltherzig und der Schwarzhaarige nickte.

„Klar. Vergib mir, dass ich vorhin so dumm getan habe, aber das ist etwas, was nicht unbedingt die ganze Teeparty des Königs hören muss.“

„Und er hat dich einfach ziehen lassen, nachdem du jahrelang so getan hast, als wärst du sein höriger Lakai?“

„Ich habe ihm natürlich nicht erzählt, dass ich ihm in den Rücken fallen würde! Er denkt, es würde andersrum laufen, dass ich euch ausspioniere.“

„Dasselbe könntest du uns auch erzählen, entweder lügst du ihn an oder uns.“, war Purans Antwort. „Ich traue dir beides zu.“

„Wen würde ich wohl eher belügen? Den komischen Kauz, der sich gerade zum Kaiser einer Welt mausert, oder meine eigenen Landsmänner, unter denen ich aufgewachsen bin und von denen ich vor den Geistern unweigerlich noch ein Teil bin?“

„Du bist nicht gerade für deine Treue zum Vaterland oder uns bekannt, Emo.“, merkte der Senator schroff an, „Ich soll dir also einfach blind vertrauen, dass du Scharan belügst und mit uns am selben Strang ziehst und nicht andersrum? Das kann ich nicht, dazu hast du zu viel angerichtet. Ich habe nicht vergessen, dass du an Rujas Tod mitschuldig warst. Denkst du, das würde Meoran oder mich dazu auffordern, dich freundlich in die Arme zu schließen?“ Er sah zu Meoran, der bei der Erwähnung seiner toten Frau ein sehr gequältes Gesicht machte, obwohl er es offensichtlich zu unterdrücken versuchte. Puran wusste, dass sein Lehrmeister immer noch um seine Frau trauerte, obwohl sie seit neun Jahren tot war. Der Jüngere konnte es ihm nicht verübeln… er wollte sich gar nicht vorstellen, wie er sich fühlen würde, würde Leyya etwas zustoßen.

„Wollt ihr über Rujas Tod hören?“, fragte der Verräter prompt und riss die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Alle starrten ihn an und ehe Puran sich dazu durchringen konnte, etwas zu sagen, sprach Meoran.

„Nein, danke. Es reicht mir, zu wissen, dass sie tot ist und du sie getötet hast. Mir ist gleich, was du für noble Gründe gehabt haben mochtest, um meine Gemahlin zu ermorden, die niemals einem ein Haar gekrümmt hat. Mir reicht zu wissen, dass meine Frau tot ist und meine Tochter eine Halbwaise. Mehr möchte ich nicht wissen.“ Die anderen schwiegen bedrückt. Puran verstand seinen Freund gut und er ließ die Sache damit auf sich beruhen, ehe er Emo wieder ansah.

„Du hast ihn gehört. Und jetzt geh. Wir kommen ohne deine Techniken zurecht, du hast uns ja schon alles Wissenswerte über Ulan Manha gesagt, danke. Mir ist gleich, wohin du gehst, Schlange, aber halte dich fern von uns. Das ist mein letztes Wort, Emo.“ Demonstrativ kehrte Puran dem Mann den Rücken und der senkte für einen Moment die Brauen. Dann seufzte er theatralisch.

„Dumm von dir, mir den Rücken zu kehren, Häuptling… aber gut, ich habe verstanden. Du wirst es bitter bereuen, und du wirst noch vor mir kriechen und mich anflehen, zurückzukommen, großer Erbe des Lyra-Clans.“ Er machte auf dem Absatz Kehrt und wollte schon zur Tür hinaus, da war es Senol Kita, der sprach.

„Sag mal, wenn du auf Ghia warst, wie bist du hergekommen, wo doch der Verkehr unterbunden wird?“

Alle Blicke richteten sich auf den blonden Mann, der darauf fast etwas zusammenschrumpfte, plötzlich von lauter Blicken durchbohrt. Emo blieb stehen und sah den Mann auch an.

„Das ist eine gute Frage, Kita.“, stimmte Neron seinem Kollegen verblüfft zu, ehe er wieder Emo ansah. „Wie bist du hergekommen?“

„Tja.“, machte der Ältere süffisant und schien sich alle Zeit der Welt lassen zu wollen mit seiner Antwort. „Die Zuyyaner unterbinden den Verkehr und passen auf ihre Schiffe gut auf. Aber wenn man weiß, was man denen sagen muss, damit sie einen toll finden, kriegt man von denen auch eine Fahrt spendiert. Sozusagen.“

Er wollte gehen, aber plötzlich hielt Puran ihn auf.

„Warte.“ Der Schwarzhaarige grinste zufrieden über die Wandlung und blieb stehen, um sich betont langsam zu seinen Kollegen umzudrehen.

„Was denn, Puran? Hast du deine Meinung geändert, was meine Rückkehr in den Rat anbelangt?“ Der Herr der Geister schenkte ihm einen kalten Blick.

„Für dich bin ich Senator Lyra. Vergiss deinen Platz nicht, Schlange, sonst überlege ich mir vielleicht, meine Busenfreundschaft zum König auszunutzen und dir damit die Hölle heiß zu machen.“

„Haha, daran habe ich keinen Zweifel.“ Die beiden Männer sahen einander eine Weile an, Puran feindselig und Henac Emo im höchsten Maße von sich selbst überzeugt und zufrieden.

„Dass ich dich wieder rein lasse, hat rein pragmatische Gründe. Das hat nicht mit Gnade zu tun, und erwarte von niemandem von uns, kooperativ zu sein, solange du es nicht auch bist. Das ist die einzige Chance, die du bekommen wirst, also schickst du dich besser gut und… entscheidest dich für die richtige Seite.“

„Hört an, die richtige Seite…“, murmelte Emo, ging aber nicht weiter darauf ein und grinste nur. Dann neigte er in einer übertriebenen und dadurch eindeutig sarkastischen Geste den Kopf. „Ich danke dir für deine Einsicht, großer Häuptling.“

Senator Lyra, immer noch.“

„Ah, vergebt mir meine Unwissenheit, gnädiger Herr.“ Puran ignorierte den sarkastischen Unterton und nickte in Nerons Richtung.

„Bitte geh mit Senol und Emo zurück zum König und erstatte ihm Bericht von dem, was wir besprochen haben. Wir sollten ihn nicht länger warten lassen.“ Neron gluckste und Senol Kita schenkte Henac Emo einen beunruhigten Blick, ehe die drei Männer gehorsam den Raum verließen. Sobald die Tür wieder zu war und sie einige Momente gewartet hatten, bis die drei außer Hörweite sein mussten, räusperte Puran sich. „Ich weiß, das passt euch nicht – mir ebenso wenig. Vergebt mir, dass ich mich so dreist über eure Meinung hinweggesetzt habe, Meoran, Tare… und auch Saja natürlich. Aber der Kerl verhandelt mit den Zuyyanern, wie es aussieht. Das… ist vielleicht noch unheimlicher als das, was auch immer er mit Scharan getrieben haben mag.“ Die anderen Geisterjäger nickten und Meoran verzog zischend das Gesicht.

„Ganz ehrlich, allein seine Anwesenheit löst in mir Brechreiz aus, Puran.“ Der Jüngere seufzte.

„Ich weiß… ich verstehe dich. Aber ich habe mir Gedanken gemacht. Als das mit den Zuyyanern fiel, hielt ich es einfach für besser, ihn nicht frei ziehen zu lassen. Wenn Emo bei uns im Rat ist, haben wir Kontrolle über ihn… wir können ihn beobachten und wissen, was er tut. Ich halte es einfach für den sichersten Weg, wenn wir ihn im Auge behalten.“

„Denkst du wirklich, dass er plötzlich wieder unser Kumpel sein will?“, fragte Tare Kohdar nachdenklich, „Und nicht doch eher, dass er für Scharan uns ausspioniert? Das wäre irgendwie logischer.“

„Ich bin mir sicher, dass er nicht aus Liebe zu uns zurück gekommen ist. Gerade deswegen sollten wir ihn machen lassen, was er vorhat, und ihn dabei beobachten.“

„Denkst du nicht, er weiß genau, dass wir ihn durchschauen? Er wird sicher nicht so dumm sein, uns zu verraten, dass er heimlich weiter für Scharan arbeitet – falls er es tut. Ich würde es ihm zutrauen, aber er ist ein erstklassiger Lügner. Ich kann überhaupt nicht sagen, wann er lügt und wann nicht. Vielleicht erwartet er auch, dass wir denken, er lügt, und hat in Wahrheit was völlig anderes vor.“ Tare kratzte sich am Kopf. Er war alt geworden… das waren sie alle. Puran war abgesehen von Saja noch immer der Jüngste im Rat und er war schon dreißig. Er fühlte sich älter als er war, getrieben von den Sorgen, die ihm die Welt bereitete, sei es wegen Emo, Scharan oder der Zuyyaner, die vor nicht allzu langer Zeit sein Dorf angegriffen hatten. Er fragte sich, ob sein Sohn tatsächlich eines Tages einmal an seiner Stelle Führer des Rates sein würde. Vielleicht würde Karana die Aufgaben besser bewältigen… vielleicht gerade weil er schon solange er lebte mit aller Kraft das werden wollte, was sein Vater nie hatte sein wollen und jetzt trotzdem war.

„Wir müssen unser bestes geben, wenn wir ihn beobachten wollen.“, erklärte der Herr der Geister und fuhr sich erschöpft über das Gesicht, „Verdammt… irgendwie habe ich von Anfang an gespürt, dass der Tag Schatten bringen würde. – Saja, du richtest Neron aus, was wir noch gesagt haben, Senol übernehme ich dann selbst. Mann… grausiger Tag. Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee.“
 

Der König war offenbar einverstanden mit dem Entschluss des Rates, Henac Emo wieder aufzunehmen. Besagter Verräter, der jetzt wieder zum Rat gehörte, belächelte den Monarchen, der sich in seinen Augen komplett lächerlich machte, weil er offenbar genau wusste, dass er Argwohn in den Reihen seiner nichtmagischen Untertanten – vor allem Politikern – erntete, wenn er den Geisterjägern blindlings vertraute; darum tat er zumindest so, als müsste er sich das durch den Kopf gehen lassen, was Neron ihm schilderte, und machte wenigstens ein skeptisches Gesicht. Aber Henac Emo spürte genau, dass dieser Kerl nicht den geringsten Zweifel daran hatte, dass der Rat schon wüsste, was er täte.

Was für ein Narr. Wie hat der sich so lange auf dem Thron gehalten? Kann er von Glück reden, dass unser Häuptling Puran so ein absoluter Altruist und das Gegenteil von machthungrig ist. Der Typ vertraut ihm blind, das mit den neuen Rechten für die Magier, die sein Vater sehr eingeschränkt hat, hat der Kerl aber nicht ganz verstanden…

Nein, er hatte es damit leicht übertrieben, fand der Schwarzhaarige, aber er würde nicht wagen, den König zu beleidigen, das brächte ihm keine Vorteile. Und das war es schließlich, was er wollte – Vorteile. Ihn interessierte weder der Rat, noch interessierte ihn das Land Kisara, in dem er geboren und aufgewachsen war. Solange er von dem, was er tat, einen Vorteil hatte, war es Grund genug, es zu tun. Und netterweise sagten die Geister ihm immer, ob es Vorteile gab oder nicht. Henac Emo grinste den König mit gespielter Freundlichkeit und Demut ob seiner vergangenen Missetaten an, und schon schien der kleine Mann mit dem Schwanz zu wedeln wie ein Schoßhund. Auf Ghia kam es verblüffenderweise vor, dass Menschen sich Tiere im Haus hielten mit keiner besonderen Funktion außer der des Vergnügens, hatte der Mann in den letzten Jahren gelernt. Auf Tharr war es undenkbar, ein Tier zu halten, ohne es melken, scheren, auf ihm reiten oder schlachten zu wollen. Die Ghianer waren sehr eigenartige Menschen, und sie hielten sich für überaus klug und viel fortschrittlicher als die Tharraner. Was absoluter Blödsinn war, zumindest hatte der Geisterjäger im Exil auf Ghia nichts gesehen, das irgendwie fortschrittlicher als auf Tharr war – und wenn, dann war es ein Werk der Zuyyaner, wie die Raumschiffe.

Nachdem der König Bescheid wusste und der Mann sich gelangweilt auf dem Fest umgesehen hatte, noch immer eskortiert von seinen jüngeren Kollegen, fiel ihm etwas ins Auge, das ihn doch interessierte.

„Ah, sieh an, sieh an! Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hattest du noch nicht mal einen runden Bauch, und jetzt hast du schon drei Gören? Mein Himmel, unsere Meisterheilerin macht dem Ruf ihrer Rasse als Leute, die Leben machen, ja alle Ehre.“ Die junge Frau machte keinen erfreuten Eindruck, ihn zu sehen. Leyya war nicht wirklich viel größer geworden in den acht Jahren, die er sie nicht gesehen hatte, und wirklich fraulich sah sie immer noch nicht aus.

„Spar dir dein Geheuchel.“, zischte sie grantig und trat einen Schritt zurück, dabei ergriff sie die Hand des blonden Mädchens neben ihr, das augenscheinlich Purans Tochter sein musste. Obwohl sie ihm nicht viel ähnelte, abgesehen von ihrem rechten Auge, das dieselbe Farbe hatte wie die ihres Vaters. Und ihres großen Bruders, räumte Emo grinsend ein mit Blick auf die beiden Jungen, die rechts von Leyya standen. „Dass du wieder hier bist, Emo, macht uns allen nicht wirklich Freude, du verstehst das hoffentlich.“

„Das versteht er natürlich nicht, wo denkst du hin?“, feixte Neron frech, „Er hat kein Gehirn, schon vergessen?“ Der Schwarzhaarige ignorierte den schlechten Witz, während Senol Kita ihn nur gelangweilt ansah.

„Wer wird denn gleich so unhöflich sein, Leyya?“, fragte der Schwarzhaarige kichernd, „Ich wollte dich eigentlich beglückwünschen. Oder vielmehr deinen Mann, zu seiner Kinderschar. Ihr wart echt fleißig.“ Er schenkte dem kleinen Blonden einen kurzen Blick, der noch sehr viel weniger Ähnlichkeit mit seinen Eltern hatte als das Mädchen. Das Kind sah unverwandt zurück und sprach kein Wort, dann neigte es wohlerzogen den Kopf.

„Guten Abend. Mein Name ist Simu.“, stellte er sich höflicher als seine Mutter vor, und Emo gluckste.

„Ah, na sowas, freut mich! Seid ihr Zwillinge? Ihr seht gleich alt aus.“

„Nein, nicht ganz.“, sagte Simu verlegen und hielt es für klüger, vorerst nicht zu sagen, dass er nicht das leibliche Kind der Familie war. So, wie seine Mutter reagiert hatte, war der Mann kein freundlicher Nachbar.

Karana hatte keine Skrupel und grinste sein Gegenüber breit an, ehe es jemand verhindern konnte.

„Ich bin älter als Simu, ich bin Karana! Bist du auch ein Geisterjäger? Wenn ich groß bin, werde ich auch mal einer.“ Leyya fuhr herum.

„Karana!“, mahnte sie ihn, obwohl Emo eigentlich auch kein gutes Benehmen verdient hatte, und jener blickte den ältesten Sohn verdutzt an und weitete die dunklen Augen.

Dieser Knirps…? Das ist ausgerechnet Purans Sohn? Die Bescheidenheit seines Vaters hat er zumindest nicht geerbt… dafür aber sein gesamtes Aussehen, wie es scheint. Beinahe…

Er grinste und beugte sich etwas zu Karana herunter, worauf Leyya wie eine Tiermutter in Alarmbereitschaft ging, als näherte sich ein gefährlicher Räuber ihrem schutzlosen Kind.

„Ach, wirklich? Ist ja aufregend, dann streng dich an, damit du mal so groß und weise wirst wie dein Vater.“ Er lachte innerlich über seine Worte, die er nicht im Entferntesten ernst meinte. Wobei, Puran war relativ groß. „Du hast aber spitze Zähne, mein Junge, deine Mutter hat dich wohl mit Wolfsmilch gesäugt?“ Karana fing an zu lachen und während Leyya verzweifelt keuchte, tauschten Neron und Senol Kita einen bedeutsamen, stummen Blick hinter Emos Rücken aus.

„Was, so ein Quatsch!“, gackerte der Junge, „Die sind schon immer so gewesen, die sind praktisch! Ich hab mal Loron damit gebissen, der ist schreiend weggerannt wie ein abgestochenes Schwein.“

„Karana!“, rief Leyya schrill und offenbar sehr wütend, und ihr Sohn gluckste amüsiert, schwieg zwar jetzt, aber schien keine Schuldgefühle zu haben. Die Frau sah den Verräter streng an. „Halte dich lieber fern von meiner Familie, Emo. Bevor mein Mann zurückkommt und dir die Haut abzieht dafür, dass du unseren Kindern auch nur einen Schritt zu nahe kommst.“ Der Schwarzmagier hatte nicht vor, sich häuten zu lassen, wobei er dem elenden Pazifisten Puran nicht zutraute, jemanden zu häuten. Er verneigte sich theatralisch vor der Heilerin und trat zurück.

„Vergebt mir, Königin Lyra, dass ich unfreundlich erschienen bin. Ich wollte euch nicht kränken.“ Er grinste süffisant, als er Leyyas erbosten Blick fing, und er sah noch zu den Jungen. „Wir sehen uns sicher noch mal. Spätestens, wenn du mal in den Rat kommst, Karana.“ Purans ältester Sohn grinste breit und entblößte erneut seine scharfen Eckzähne, was dem Mann glatt einen Schauer über den Rücken jagte.

Oh ja, er kannte diese Zähne, er wusste, woher er sie hatte und zu was sie fähig waren. Es war interessant, dass ausgerechnet Purans Sohn dieses seltsame Merkmal genauso trug wie ein anderer, etwas entfernterer Verwandter des Herrn der Geister.

Als Emo mit wehendem Umhang und verfolgt von Senol Kitas seltsamen Blicken durch den Saal davon schritt, hörte er Purans Sprössling noch zu seinem Bruder sagen:

„Guck nicht so, Simu, Loron ist nur ein elendiger Wurm und wertlos, er hatte es verdient, gebissen zu werden!“

Oh ja, dachte der Geisterjäger sich grübelnd, Das Kind ist entweder spannend oder gefährlich. Ich sollte mir ein Pergament und eine Feder besorgen.
 


 

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Jah, der Titel ist lahm xD Wenn wem was besseres einfällt, bitte úù Aber yay, Emo xD

Verrat

Dem Sommer folgte ein rascher, kurzer Winter, den die meisten ohne große Blessuren überstanden. Im Frühling lösten die Zuyyaner ihr Verbot des Verkehrs wieder auf – zwischen Ghia und Tharr war der Flugverkehr wieder relativ ungestört, nach Zuyya kam allerdings niemand ohne Erlaubnis oder triftigen Grund – davon abgesehen, dass der Krieg offiziell immer noch nicht vorüber war und niemand freiwillig einen Fuß nach Zuyya setzen wollte. Die Angriffe der Zuyyaner wurden weniger, fielen aber noch immer nicht aus – besonders die Entwicklungsländer wie Kuyala hatten noch schwer zu kämpfen. Obwohl Kuyala zum Zentralreich gehörte und somit ein Verbündeter von Kisara war, konnte der König nicht viele Männer nach Südosten entsenden, um den Verbündeten zu helfen. Zu groß war die Panik im Volk, dass die Zuyyaner nur darauf warteten, dass die Großmächte ihre Krieger nach Kuyala schickten und sich selbst entblößten. Und Janami dachte nicht im Traum daran, irgendjemandem seine Armee zu entsenden. Janami war das unkooperativste Land mit dem eingebildetesten Herrscherhaus ganz Tharrs, so hatte der König behauptet, und Puran konnte ihm insgeheim nur zustimmen. Zwischen Janami und Kisara hatte es schon seit vielen Jahrhunderten einen ewigen Nachbarschaftskrieg gegeben, der zwar ohne Waffen ausgetragen wurde, aber alle Beteiligten genügend nervte. Und wenn Janami alle Truppen im Land behielt, konnte Kisara es sich nicht leisten, viele zu entsenden; auch, wenn die Herrscher von Janami in den letzten Jahren sehr friedlich gewesen waren, traute ihnen jeder zu, plötzlich auch noch von Osten ins Land einzufallen, um fröhlich auszunutzen, dass alle mit den Zuyyanern beschäftigt waren.

Mit dem nächsten Sommer kam die Dürre nach Thalurien. In Senjo musste es noch schlimmer sein, aber Puran war nicht für Kamien zuständig, in sofern war es ihm eigentlich ziemlich egal, wie es dort aussah. Er hörte immer in den Dörfern nahe der Grenze zu Senjo, dass es drüben echt furchtbar sein sollte, und wenn Karana und Simu aus der Schule kamen, erzählten sie auch mitunter, dass ihre Schulkameraden aus Kamien alle leicht gereizt waren.

„Ich hab zu Loron gesagt, wenn er vor mir im Staub kriecht und bettelt, rufe ich Regen über sein Dorf.“, gackerte Karana einmal beim Abendessen, und Simu neben ihm verschluckte sich vor Schreck an einem trockenen Stück Brot. „Na ja, aber er ist nicht darauf eingegangen, der Sack, selbst Schuld…“

„Karana!“, japste Simu schon erbleichend, der ganz genau ahnte, dass es nicht klug gewesen war, das so vorlaut auszusprechen – als die Jungen die Köpfe zu ihren Eltern drehten, sahen sie in das schockierte Gesicht der Mutter und das wutentbrannte des Vaters. „Vati, er hat nur Spaß gemacht…“, versuchte der blonde Adoptivsohn wie immer, sich als Streitschlichter zu verdingen, und Puran knallte heftiger als nötig seine Gabel auf den Teller und funkelte Karana an.

„Was habe ich dir wegen deiner Gaben gesagt?“

„Ich weiß es, ich weiß es!“, johlte Neisa, aber niemand schenkte ihr Beachtung, was sie etwas missbilligte. Sie war die Prinzessin des Lyra-Clans, sie verdiente Beachtung! Fand das inzwischen sechs Jahre alte Mädchen zumindest. Ihr Vater sah jedoch nur ihren ältesten Bruder grimmig an, und Karana stierte grimmig zurück.

„Du hast gesagt, Regen ist nicht gefährlich, Vati!“

„Das heißt noch lange nicht, dass du ihn einfach rufen sollst! Es erzürnt die Wettergeister, wenn du einfach so mit ihnen herum spielst, nur, weil du deinem Freund Loron eins auswischen willst!“

„Der ist doch nicht mein Freund!“, gackerte der Sohn vorwitzig, „Loron ist ein totaler Idiot! Sein Vater ist Häuptling von Holia, und er bildet sich deshalb ein, er wäre der König der Welt!“

„Ach wirklich?“, fragte Leyya plötzlich auch etwas ergrimmt, „Da kenne ich aber noch einen Jungen, der sich wegen der Position seines Vaters offenbar ziemlich viel herausnimmt.“ Karana verstand den Wink mit dem Zaunpfahl entweder nicht oder ignorierte ihn; er war ein sehr intelligenter Junge, daher ging die Mutter eher von letzterem aus. Was nicht unbedingt erfreulicher war. Wer jedenfalls ganz genau verstand, worum es hier ging, war Simu, und er wurde ganz klein mit Hut hinter seinem halb vollen Teller und wagte gar nicht mehr, zu sprechen. Offenbar kam er sich schuldig vor, weil er tatenlos mit ansah, wie Karana ganz offensichtlich mit den anderen Kindern der Schule umging.

Puran brummte. Von dem Jungen namens Loron Zinca hatte er schon öfter gehört; dass der Junge aus Holia kam, so wie Ulan Manha, machte es nicht leichter, ihn sympathisch zu finden; oder gar seinen Vater Arlon. Was Karana sagte, war nicht ganz zu Unrecht, der selbsternannte Häuptling von Holia führte sich wirklich auf wie der König vom Affenland. Und sein Sohn, der mit Karana zur Schule ging, schien da nicht besser zu sein und vor allem einen Spaß daran zu haben, alle anderen Kinder zu schikanieren. Der Senator war dem Häuptling von Holia nur einmal begegnet, als es ein großes Spektakel wegen einer Prügelei auf dem Schulhof gegeben hatte, an der Karana und Loron offenbar nicht nur beteiligt, sondern recht ausschlaggebend gewesen zu sein schienen. Puran war nicht verblendet genug, um zu glauben, dass sein eigenes Kind die Unschuld in Person war, und das hatte er sowohl Karana als auch den zornigen Eltern der anderen Kinder klar gemacht. Arlon Zinca war das relativ egal gewesen, er hatte jedenfalls keinen Atemzug ausgelassen, um seinen Hass sowohl auf Thalurien als auch – speziell – auf dessen Oberschicht kundzutun.

„Wie auch immer, Karana.“, sagte der Mann jetzt streng, nahm seine Gabel wieder auf und aß weiter, „Du wirst die Geister nicht rufen, weil du gerade Spaß daran hast. Das gilt für jegliches Wetter, hast du verstanden?“ Der Sohn schnaubte trotzig. Je älter Karana wurde, desto schwieriger wurde es offenbar, ihn zur Einsicht zu zwingen.

„Ja, in Ordnung, ich habe es doch gar nicht gemacht, Vati. Du brauchst nicht gleich wieder meckern.“ Das war der falsche Ton, er beinhaltete einfach zu wenig Reue. Puran zischte warnend.

„Nicht in diesem Ton, mein Junge! Ich warne dich, ich bin kurz davor, richtig wütend zu werden, willst du das?! Also halt deine freche Zunge fest! Ich meckere, weil ich einen guten Grund dafür habe, den du kennen solltest! Ich habe dir tausendmal erklärt, wie gefährlich es ist, Mächte zu rufen, die noch zu groß für einen sind.“

„Aber ich habe ja gar nichts gemacht!“, protestierte der Sohn verärgert.

„Nein, aber allein, dass du daran denkst, macht mich schon zornig, Karana! Und halte dich von diesem Loron fern, der ist offenbar auch kein guter Umgang für dich.“ Puran wunderte sich oft, woher sein Sohn diese furchtbar herrische, arrogante Ader hatte. Und der Gedanke, dass der eingebildete Prinz aus Holia mit Schuld daran hatte, gefiel ihm sehr viel besser als die Alternative, die unweigerlich mit den verfluchten Eckzähnen zu tun hatte.

„Loron ist ein Penner, der verdient gar nicht, dass wir uns überhaupt mit dem abgeben.“, erklärte Karana dann, offenbar hielt er es für klug, in die vom Vater angeritzte Kerbe zu schlagen und gleich mal zu betonen, dass er ihn auch nicht leiden konnte. „Er verhaut mit seiner Schlägerbande aus Holia immer alle, die nicht machen, was er will, aber vor mir hat er Angst, der Sack.“ Er lachte dreckig und zeigte dabei seine spitzen Eckzähne, und der euphorische Blick in den grünen Augen des Kindes ließ seinem Vater einen kalten Schauer über den Rücken fahren. „Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, wird er kriechen, und wenn ich ihn mit Gewalt zu Boden treten muss.“

„Das reicht!“, schrie der Vater unverhofft laut und neben ihm fuhren Neisa und Leyya vor Schreck zusammen. Simu wurde immer kleiner vor Furcht, seine Schwester starrte ihren Vater nur verblüfft mit neugierigem Interesse an. „Raus, Karana! Geh auf dein Zimmer, auf der Stelle, und du wirst es nicht wieder verlassen, bis ich es dir erlaube! Niemand wird hier kriechen, hast du mich verstanden?!“ Wortlos und mit dem Stolz eines gefangenen Kriegers erhob sich der Sohn und stieß heftiger als nötig seinen Teller quer über den Tisch, um seinen Zorn kundzutun.

„Schrei mich nicht an, ich gehe ja!“, blaffte er zurück und machte ein wütendes Gesicht. Puran packte ihn am Arm, als er an ihm vorbei stampfen wollte, und hielt ihn fest.

„Hast du mich verstanden, Karana?“, fragte er noch einmal mit Nachdruck, und beide sahen sich für einen Moment zornig in die Augen, ehe Karana den Kopf senkte und murmelte:

„Ja, Vati.“ Der Senator ließ ihn los und schnell wie der Blitz rannte Karana aus der Stube und die Treppe hinauf, kurz darauf knallte eine Tür oben. Die anderen schwiegen bedrückt und aßen nur zögerlich weiter. Schließlich wagte Leyya es, zu sprechen.

„Puran, denkst du nicht, dass du etwas zu sehr-…“

„Halt den Mund.“, unterbrach er sie garstig und sie fuhr zusammen. Es schmerzte sie, wenn er zornig war, und erst recht, wenn er sie anblaffte, was er an sich nicht oft tat. „Du weißt ganz genau, wieso ich in diesem Punkt so kleinlich bin.“ Leyya sagte nichts.

„Wieso denn, Vati?“, wollte Neisa fröhlich wissen, die es offenbar amüsant fand, wie ihr Bruder und ihr Vater sich anfauchten.

„Frag das nicht.“, wimmelte der Vater sie kaltherzig ab, „Das geht dich nichts an, Neisa, das ist Karanas Problem und nichts deins.“

„Bekomme ich einen Keks?“

„Nein. Warum solltest du?“

„Weil ich braver bin als Karana.“

„Du bist eine kleine Heuchlerin, weißt du das? Wenn du einen Keks willst, verdiene dir einen, Neisa. Hilf deiner Mutter beim Abwasch.“

„Sagst du mir dann, wieso Karana immer angemeckert wird?“

„Nein; wie gesagt, das geht dich nichts an. Ich sage es zum letzten Mal.“ Puran bedachte Neisa mit einem strengen Blick und das kleine Mädchen senkte schmollend den Kopf. Sie hasste es, nicht zu kriegen, was sie wollte… in dem Punkt war sie ihrem Bruder ähnlich, davon abgesehen, dass sie nicht zu Arroganz neigte. Aber es war besorgniserregend genug, fand Puran.

Es war unnötig, dass die Kleine wusste, was ihr Vater für Paranoia hatte bezüglich ihres Bruders und vor allem seiner Eckzähne.

Vielleicht ist es nur Zufall… nur ein dummer Zufall, dass er so ein herrischer kleiner Scheißkerl ist… und diese Zähne hat. Oder vielleicht hat der bösartige Geist meines Großvaters doch einen Weg gefunden, zurück in die Welt der Lebenden zu kehren… und das wäre unser aller Verdammnis.
 

Es war heiß und stickig in der kleinen Taverne am Südtor von Vialla. Obwohl die Fensterläden zu waren, um die grelle, erbarmungslose Sommersonne fernzuhalten, war die Luft furchtbar, und Meoran wünschte sich, er hätte einen Fächer mitgenommen. In Ermangelung eines solchen wedelte er sich unbeholfen mit den Händen Luft zu.

„Ich weiß, ist nicht gerade das, was deinen Standards entspricht.“, lächelte sein gegenüber guter Laune, und was Meoran viel mehr empörte als die Anspielung darauf, er wäre verwöhnt, war, dass Senol Kita offenbar kein Problem mit der Hitze zu haben schien. Der Sack, Gemeinheit. „Aber hier kommen oft komische Leute her, die komische Dinge besprechen, ich kenne mich aus.“ Meoran zog eine Braue hoch und nestelte murrend am Kragen seiner Uniform, was nicht wirklich viel half. Der Wirt brachte den Männern zwei Gläser Wasser und Senol Kita grinste ihn fröhlich an, ehe er, nachdem der Mann weg war, eine Antwort von seinem älteren Kollegen bekam.

„Aha, zwielichtige Personen? Na, Senol, das beruhigt mich aber jetzt ungemein, dass du dich gerade hier mit mir treffen wolltest.“

„Ich meine, hier fallen wir nicht auf, wenn wir komische Sachen reden. Hier reden alle komische Sachen. Als ich gewartet habe, dass du kommst, hat ein Typ, der an der Theke saß, ungehemmt gemeckert, dass er nicht einfach über die Grenze kommt und seine Drogen nicht nach Janami schmuggeln kann. Das hat auch niemanden interessiert, vielleicht war er nur sternhagelvoll.“

„Um diese Tageszeit?“, fragte der Ältere verdutzt und trank sein Wasser in einem Zug halb aus, ehe er hustete. „Himmel… ist das furchtbar. Oben in den Bergen bei mir daheim ist es nicht so schwül wie hier. – Also, wie auch immer, Senol. Was gibt es denn, das du mir erzählen willst?“

„Eigentlich ist es vielleicht gar nichts Besonderes.“, räumte der Blonde ein, jetzt offenbar etwas verunsichert über sein Anliegen, und er trank auch einen Schluck und kratzte sich am Kopf. „Ach, übrigens, entschuldige, wenn du lieber Wein trinken willst, oder so, ich Antialkoholiker denke nie daran, etwas anderes als Wasser zu bestellen…“

„Das ist schon in Ordnung. Um diese Tageszeit… außerdem bin ich geschäftlich hier, sozusagen, und darf mich nicht mitten am Tag besaufen… ganz davon abgesehen, dass der Alkohol vermutlich verkocht wäre, bevor ich das Glas an meinen Lippen hätte, bei dieser Affenhitze.“ Senol gluckste.

„Du klingst ja schon fast wie dein Liebling Puran.“

„Mein Liebling? Also, das verbitte ich mir, du hast wohl zu viel mit Neron gequatscht, der immer noch davon überzeugt ist, ich hätte das Ufer gewechselt und hätte eine sexuelle Beziehung zu meinem Hausjungen.“ Der Blonde errötete und trank hastig etwas Wasser, ehe er sich verlegen entschuldigte.

„Ich wollte dich nicht ärgern, ehrlich.“

„Ist ja schon gut – sei mir nicht böse, dass ich so hastig bin, aber könntest du jetzt auf den Punkt kommen, Senol? So gern ich mit dir plaudern würde, ich habe noch eine Verabredung mit dem Herrn von Minh-În, und der verschenkt seine Gunst nicht in Gutscheinen, weißt du?“ Der Jüngere nickte, trank erneut etwas und räusperte sich dann.

„Es geht um Emo. Da er ja jetzt offiziell auch hier in Vialla ein Appartement hat, ist es wohl am sinnvollsten, wenn ich ab und zu ein Auge auf ihn werfe. Natürlich nicht so, dass es ihm auffällt, das wäre wohl ungünstig.“

„In der Tat. Offiziell, betonst du? Er ist vermutlich nicht oft zu Hause, nehme ich an.“

„Ja, so sieht es aus, meistens ist das Haus dunkel. Was der den ganzen Tag treibt, ist mir auch egal, offenbar hat er jedenfalls keine Probleme, seine Wohnung zu bezahlen, obwohl mir schleierhaft ist, womit er Geld verdienen mag.“

„Na ja, als Mitglied des Rates steht er unter der direkten Anweisung des Königs von Kisara. Aber wie auch immer, ja, das ist wohl wahr. Und dann?“

„Er bekommt manchmal Besuch, das ist es eigentlich, was mich verblüfft.“

„Nun.“, machte Meoran gedehnt und räusperte sich, „Auch, wenn wir ihn alle nicht mögen, Emo ist ja kein hässlicher Kerl. Und er hat keine Ehefrau, dass er also manchmal-…“

„Nein, er kriegt ja Besuch von Kerlen.“ Der Ältere räusperte sich und schwieg einen Moment.

„Na, wenn ihr mir vorwerft, was mit meinem Hausjungen zu haben, kann Emo ja wohl auch mit Kerlen das Bett teilen, mir soll es egal sein.“

„Nein.“, machte Senol Kita und kam sich dämlich vor, weil sein Kollege offenbar dachte, er wollte wegen solchem Unsinn seine Zeit verschwenden. „Es waren Lianer, da bin ich ziemlich sicher. Warum genau sie da waren, tut vielleicht weniger zur Sache, ich glaube gar nicht mal, dass sie wirklich aus… ähm… solchen Gründen kommen. Aber wenn er ausnahmslos Lianer kontaktiert, warum auch immer, wirkt das doch sehr eigenartig.“

„Bist du dir sicher, dass es Lianer sind?“

„Ja, völlig. Sie hatten meistens Hüte auf, um ihre Haare zu verstecken, aber die weiße Haut können sie schlecht verbergen; ganz in Schleiern einher zu marschieren wie in der Wüste von Fann würde sie ja noch auffälliger machen. Sie sind nicht lange bei ihm im Haus, irgendwann kommen sie wieder raus und gehen dahin, woher sie kamen.“

„Hmm.“, machte Meoran verblüfft, „Und woher kamen sie? Hast du mal einen von Emos bleichen Bettgespielen verfolgt, oder so?“

„Nein, bisher nicht… ich dachte, ich beobachte es lieber erst mal stumm und wollte mich mit einem von euch kurzschließen, bevor ich mich da einmische. Und als ich hörte, dass du zufällig gerade in Vialla bist, musste ich dich unbedingt sprechen. Neron, Saja und Tare lassen sich ja außer zur Ratszeit nie hier blicken und Puran scheint im Moment ganz und gar in seiner Provinz beschäftigt zu sein.“ Der Ältere trank den Rest seines Wassers aus und nestelte fluchend wieder an seinem Kragen. Senol feixte. „Na, mein Guter, du bist aber auch wirklich sehr warm angezogen für die Jahreszeit in deiner schicken Uniform.“

„Das, mein Freund, ist meine Arbeitskleidung, ich kann doch nicht in Unterhosen zum König kommen, oder zum Herrn von Minh-În. Wobei mir das bei den Temperaturen beinahe lieber gewesen wäre. Zumindest, wenn ich jünger wäre und weniger Schamgefühl hätte.“ Er hob sein Glas erneut, stellte aber bedauernd fest, dass es leer war, und stellte es wieder hin, ehe er seufzte. „Gut… das mit den Lianern hat nicht zwingend etwas zu heißen, aber seltsam ist es schon; es gibt nicht mehr sehr viele Lianer, die hier herum laufen. Wenn, dann in Tejal, da wohnen sehr viele von ihnen. Aber hier in Kisara hat Scharan – oder auch Ulan Manha – wirklich ganze Arbeit geleistet. Wenn Emo mit Scharan Kontakt aufnehmen will, funktioniert das über einen Läufer sicher am besten… es ist immerhin sicherer, als wenn er selbst nach Ghia verschwände, so ganz zufällig. Allerdings wäre es schlauer gewesen, einen menschlichen Sklaven zu nehmen, wenn er schon dabei ist. Das heißt entweder, Scharan – oder Emo – hält uns für überaus dumm, oder er will, dass wir falsche Schlüsse ziehen, um von etwas anderem abzulenken.“

„Ja… das ist das Problem. Ich habe keine Ahnung, was er vorhat. Ob Emo uns anlügt und Scharan weiterhin ein treuer Lakai ist, oder ob er Scharan anlügt und tatsächlich für uns spioniert.“

„Tja, das Gute für ihn ist, in seiner Position kann er vermutlich einfach beides tun. Scharan ist vermutlich nicht so dumm, ihm blind zu vertrauen. Und Emo sucht sich zu gegebener Zeit vermutlich aus, wohin er sich wendet… dorthin, wo es besseres Fleisch gibt.“ Der Mann seufzte, zog aus seiner Brusttasche ein Taschentuch und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. „Denmor, Henac Emos Onkel zweiten Grades, war einst ein Mitläufer des Tyrannen Kelar. Als er seine Arbeit einmal vermasselt hat – damals wollte Kelar seine Frau töten und Denmor sollte ihm dabei helfen – hat der König von Lyrien den Emo-Clan verflucht und verwunschen. Eigentlich wundert es mich wenig, dass Emo nach seinem Vorfahren schlägt… und im Schatten der Mächtigen lustwandelt, wie es scheint. Ulan Manha hat sich auf Ghia zu so etwas wie dem König der Welt gemausert, selbst die Monarchen fürchten ihn, heißt es.“ Die Männer schwiegen eine Weile und Senol Kita seufzte jetzt auch.

„Ich werde mich dann weiter darum kümmern.“, versprach er, „Wenn ich den nächsten Lianer bei Emo kommen und gehen sehe, werde ich ihn verfolgen, um herauszufinden, wohin er geht.“

„Nicht nur das.“, sagte Meoran und erhob sich, in seiner Hosentasche kramte er nach Geld, um die Getränke zu bezahlen. „Dann wirst du am besten gleich herausfinden, was er eigentlich macht, der ominöse Lianer. Er wird ja wohl nicht mit Emo Kaffeeklatsch halten, zurück nach Ghia rennen und Scharan auswendig erzählen, was es zu erzählen gibt.“ Senol erhob sich auch und hob abwehrend lächelnd die Hände, als sein Kollege schon das Geld aus der Tasche holte.

„Nicht doch, ich bezahle. Ich habe dich schließlich von der Arbeit abgehalten, Meoran, vergib mir.“

„Wo ich aufgewachsen bin, zahlt grundsätzlich der Älteste.“, feixte sein Kollege grinsend, „Und der bin definitiv ich. Ich könnte wunderbar dein Vater sein, Senol.“ Der Blonde seufzte und wusste darauf nichts zu erwidern. So ließ er Meoran bezahlen und verneigte sich mit einem höflichen Dank für die Einladung. Als sie die Taverne verließen, war es kühler geworden. Als Meoran sein Pferd holte und die beiden Geisterjäger sich voneinander verabschiedeten, spürten sie beide die Schatten, die über der Stadt lagen. Und es war das erste Mal, dass sie beide unabhängig voneinander sicher waren, dass es nichts mit den Zuyyanern zu tun hatte.

Meoran hatte kein gutes Gefühl, als er auf seinem Pferd zurück nach Osten ritt. Senol mit der Sache alleine zu lassen war fahrlässige Tötung, fand er. Vermutlich war es besser, auf Nummer sicher zu gehen. Was immer Emo für eine Rolle spielen mochte, viel wichtiger war eigentlich die Frage, was der Mann namens Ulan Manha auf Ghia trieb, hinter ihren Rücken, und ob es irgendetwas gab, das sie tun konnten, um ihn aufzuhalten.

Ghia war so weit weg…
 

Die Nächte im Spätsommer waren schwül und brachten kaum Abkühlung. Selbst Leyya, die sonst sehr nachsichtig mit der Hitze in Thalurien war, verwünschte sie in dieser Zeit, wenn sie morgens verschwitzt und klebend aufwachte; egal, wie dünn die Decke gewesen war, die sie auf sich gehabt hatte, und egal, ob alle Fenster sperrangelweit offen gestanden hatten, sie klebten morgens trotzdem alle. Jetzt konnte sie ihrem Mann wirklich nicht verübeln, dass er fluchte und meckerte, wenn er aufstand, sich den Schweiß aus dem Gesicht wischte und sich dann nackt wie er war zum Badezimmer aufmachte, um sich gründlich zu waschen. Leyya schüttelte die Laken aus, die sie im Sommer als Decken benutzten, und klopfte die Kissen auf der Fensterbank aus. Der Morgen graute gerade erst, es war noch sehr früh. Die Kinder schliefen noch; Leyya würde sie später wecken, damit sie zur Schule gingen.

Die Frau war unruhig gewesen in der Nacht. Sie hatte kaum Schlaf gefunden, hatte sich hin und her gewälzt und sehr lange wach gelegen. Jetzt fühlte sie sich elend, sie war verschwitzt und ihr Unterleib schmerzte. Die Zeit im Mond war wieder gekommen, und es stimmte sie jedes Mal unglücklicher, wenn sie wieder ihre Blutung bekam. Und nicht nur, weil es unangenehm war (im Sommer noch mehr als ohnehin schon), sondern, weil es zeigte, dass sie wieder nicht schwanger geworden war.

Seit sie Neisa vor Jahren abgestillt hatte, versuchten sie, ein drittes (oder viertes, wenn man Simu mitzählte) Kind zu zeugen. Bislang erfolglos, was die Heilerin extrem frustrierte. Neisa war schon sechs, es wurde langsam wirklich Zeit für ein neues Baby, fand sie. Aber Mond um Mond verstrich und jedes Mal bekam sie wieder ihre Blutung, die zeigte, dass sie nicht schwanger war.

Unglücklich legte sie die Kissen zurück ins Bett und strich sich über den schmerzenden Unterleib, ehe sie das Schlafzimmer verließ und zu ihrem Gemahl ins Bad kam. Puran hatte sich inzwischen gewaschen und seine Unterwäsche angezogen, jetzt stand er vor dem Spiegel und rasierte sein Gesicht.

„Du siehst fertig aus, Liebes.“, murmelte er, ohne sie angesehen zu haben, und sie war für einen Moment verblüfft – dann fiel ihr ein, dass er ein Geisterjäger war und durchaus fähig, durch bloße Gedanken zu erkennen, wenn es ihr schlecht ging.

„Ja… du weißt ja, diese Zeit im Mond, die alle Frauen krank macht.“ Er seufzte leise, als sie die Tür hinter sich schloss, mit dem Zauber Alara Wasser in die Badewanne füllte und sich hineinsetzte, um sich auch zu waschen. Sie fühlte sich eklig und unrein, wenn sie ihre Blutung hatte, und das Schwitzen der vergangenen Nacht machte es auch nicht besser.

„Tut mir leid.“, murmelte Puran hinter ihr, „Ich… habe auch kaum geschlafen. Die Geister sind nervös, ich frage mich, was das bedeuten mag. Irgendwie habe ich ein mieses Gefühl… als würde irgendetwas Schlimmes kommen.“ Leyya sagte nichts und wusch sich schweigend mit einem Lappen den Schmutz von der Haut. Je länger sie da saß und sich wusch, desto schlimmer wurden ihre Unterleibsschmerzen und desto heftiger wurde die Trauer in ihr ob des nicht vorhandenen Kindeskeims. Sie unterdrückte ein Schluchzen, spürte aber, dass ihr Hals brannte von dem Verlangen, zu weinen. „Ich werde ein paar Tage weg sein.“, sagte Puran dann, „Das habe ich dir ja gesagt. Ich habe Termine in Aleu, das ist ein Stück weg… ich hoffe bis Ende der Woche wieder hier zu sein. Ach, mit dieser depperten Hitze passt mir das gerade überhaupt nicht, verflucht! Ich weiß es schon, wenn ich in Aleu ankomme, sehe ich wieder aus wie ein Penner, weil ich wie ein Schwein schwitze und meine Haare in alle Richtungen abstehen! Himmel, das ist doch nicht auszuhalten.“ Er wusch sich das Gesicht und fuhr dann plötzlich alarmiert herum, als er seine Frau hinter sich schluchzen hörte. Seine Augen wurden vor Besorgnis groß. „L-Leyya? Was… was hast du denn?“

„Ich wünsche mir so sehr ein Kind…“, schluchzte die Frau, die noch immer in der Wanne saß, und sie fuhr sich über die tränenden Augen. Puran zog die Brauen hoch und hockte sich vor die Wanne, strich seiner Frau sanft über die nassen Haare und den Rücken.

„Ach, Liebes… es tut… mir leid, dass ich offenbar unfähig bin, dir diesen Wunsch zu erfüllen…“ Er errötete etwas beschämt. Die Aussicht, aus irgendwelchen ihm unbekannten Gründen zeugungsunfähig geworden zu sein, war grauenhaft; was war denn ein Mann ohne das Vermögen, Leben zu zeugen? Aber so oft, wie sie sich vereinten, wenn sie denn beide mal Zeit hatten, kam es ihm seltsam vor, dass Leyyas Bauch immer noch nicht wieder von neuem Leben anschwoll. Das Problem war, dass Leyya seine Befürchtung nicht richtig teilte.

„Wieso du?“, schniefte sie, „Es liegt bestimmt nicht an dir, sondern an mir, dass es nicht klappt! Vielleicht bin ich kaputt gegangen, irgendwie, und mein Körper kann keine Kinder mehr empfangen…“ Puran wollte ihr widersprechen, dass die Möglichkeit viel größer war, dass es an ihm lag – aber er war kein Heiler. Er hatte keine Ahnung, ob es wirklich so war. Er wollte keinen Schwachsinn reden, vermutlich wusste sie es besser als er.

„Hast du mal mit Chitra gesprochen? Ich meine, hast du dich denn untersucht?“

„Natürlich habe ich das… aber ich habe nichts feststellen können, das ungewöhnlich wäre…“

„Na, schau, dann liegt es ja wohl doch an mir.“, sagte er mit einem Trost in der Stimme, den er nicht empfand; auch, wenn er viel dafür gab, seine Frau zu trösten, machte es ihn auch nicht gerade glücklich, dass er zukünftig wohl ein Versager im Bett sein sollte. Wobei, vielleicht urteilten sie einfach zu früh. „Gib nicht auf.“, sagte er und beugte sich vor, im Leyyas zitternde Lippen zu küssen. „Ich gebe auch nicht auf. Vielleicht spielen die Geister uns böse Streiche… vielleicht bekommen wir eines Tages noch ein Baby! Sei nicht so traurig, Leyyachen… ich liebe dich, und ich werde die Erdgeister weiterhin um das Geschenk bitten, das wir uns so sehr wünschen.“ Er lächelte sie an und sie tat es ihm gerührt gleich, bevor sie einen weiteren, innigen Kuss teilten. Die Frau hob zitternd eine nasse Hand und strich ihm über die Brust, als seine Zunge zwischen ihre Lippen drang, und sie seufzte wohlig beim angenehmen Gefühl des tiefen, verlangenden Kusses…

Dann löste er sich von ihr und räusperte sich verlegen.

„Nicht… ich… ich bekomme gerade tierische Lust, mit dir zu schlafen, und ich… muss jetzt eigentlich arbeiten…“ Leyya sah ihn erst enttäuscht an, weil er sich von ihr gelöst hatte, dann musste sie doch lächeln und linste auf seine Hose, der man deutlich sein Verlangen ansehen konnte.

„Ja, so ein Jammer.“, seufzte sie dann und kicherte leicht, als er sich brummend umdrehte und versuchte, seine Erregung wieder loszuwerden. „Ich werde dich vermissen, Puran… ich werde jede Nacht alleine im Bett liegen, auf dich warten und hoffen, dass wir beide in den nächsten Tagen etwas mehr Schlaf finden.“

„Ja… und ich werde alleine in irgendeiner Pension in Aleu liegen und mich darauf freuen, bald nicht mehr nur meine Hände zur Verfügung zu haben.“ Er räusperte sich und sie musste leicht grinsen. „Pass auf die Kinder auf, Liebes. Ich bin bald wieder zurück.“
 

Neisa ging jetzt seit kurzer Zeit auch zur Schule. Ihre Brüder waren ganz stolz, sie jetzt jeden Tag mitnehmen zu können ins Dorf Mitonha, wo die Schule lag. Und das kleine Mädchen war noch stolzer, zusammen mit ihren Brüdern in die Schule gehen zu können. Neisa mochte ihre Brüder. Auch sie wusste, dass Simu nicht ihr biologischer Bruder war, aber das änderte ihre Gefühle für ihn überhaupt nicht. Genau wie Karana war Simu ihr Bruder und sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass er nicht bei ihnen sein könnte.

Schule war aufregend, fand die Kleine, als sie an jenem Morgen mit ihren Brüder in Mitonha ankam und auf dem Hof der Dorfschule schon viele andere Kinder herum tollten. Ihre Lehrerin war nett und die Kinder in ihrer Klasse größtenteils auch. Aber an sich noch aufregender waren die älteren Kinder, die in Karanas und Simus Klasse gingen, denn es gab einige sehr komische Gestalten darunter. Und eine davon war Loron Zinca, der selbsternannte Prinz von Holia.

Alleine schon Prinz von Holia zu sein machte ihn lächerlich; sogar die kleine Neisa wusste, dass Holia ein absolutes Kuhkaff war, in dem es nichts gab aus Sand und vielleicht eine magere Ziege. Wer stolz darauf war, Prinz eines solchen Lochs zu sein, konnte ja nur komisch sein, behauptete Karana. Ihr Bruder warnte Neisa immer davor, sich ja vor Loron in acht zu nehmen.

„Er ist zwar etwas plemplem, aber das macht ihn nicht ungefährlich. Er verhaut dich ganz einfach, also halte dich von ihm fern.“, erklärte er immer wieder, und Neisa kicherte darauf meistens. Sie hatte keine Angst vor dem Herrn über Sand und eine magere Ziege. Auch nicht vor seinem Schlägertrupp, der aus molligen Drillingen bestand, die ebenfalls aus Holia waren. Als die drei an diesem Tag den Schulhof betraten, stellten sich die Schläger aus Holia gemeinsam mit dem selbsternannten Prinz in ihren Weg. Die Drillinge waren wie immer am Essen und sahen mit den vollen Backen noch dämlicher aus als ohnehin schon. Loron, der Prinz, war im Gegensatz zu seinen Kumpels überhaupt nicht dick. Er war sehr groß und schlank, seine Haare waren eigentlich dunkel, aber meistens staubig und daher leicht gräulich, außerdem schien der Kerl noch nie einen Kamm gesehen zu haben.

„Was ist?“, fragte Karana ungehalten, als die Bande vor ihnen stand und der Prinz von Holia ihn herablassend angrinste, „Hast du etwas zu sagen, Loron?“ Unwillkürlich griff Karana nach Neisas Hand, was diese als überflüssig empfand; sie hatte keine Angst! Aber sie wehrte sich nicht und sah trotzig hinauf zu dem großen, hässlichen Kerl.

„Geh aus dem Weg, Loron!“, sagte sie dann vorlaut, „Wir wollen durch!“

„Sieh an, ein freches Mundwerk hast du für ein Mädchen.“, erklärte der Ältere süffisant, „Du hältst dich wohl für klug, was?“ Er wandte sich an Karana und sein Grinsen wurde breiter. „Oh, ich habe eine gute Nachricht für dich! – Obwohl, nein, für dich ist sie eigentlich schlecht.“

„Wenn du doch noch willst, dass ich euch Regen rufe, halte dich an mein Angebot, du Made.“, sagte der Schamane und streckte den rechten Fuß vor, „Kriech im Staub und küss meinen Fuß, Loron, dann erhöre ich deine Bitte vielleicht.“

„Alter, hör dich mal reden.“, gackerte der Prinz von Holia, „Auch, wenn dein Vater Geisterkönig ist oder so, spiel dich hier nicht so auf! Dein Hochmut wird bald ein Ende finden, du wirst dein blaues Wunder erleben! Ich habe jetzt nämlich die perfekte Lösung, wie ich Prinz Karana zu Fall bringen kann. Und dann wirst du im Staub kriechen und mich anflehen, aufzuhören, haha!“ Neisa zog die Brauen hoch, ebenso wie Simu. Karana war sehr unbeeindruckt.

„Aha.“, sagte er monoton, „Ist das alles oder hast du noch mehr kleingeistigen Müll, mit dem du mein Hirn blockieren willst, Loron? Tut mir leid, wenn ich deinen Frohmut an dieser Stelle beenden muss. Mein Vater ist kein Geisterkönig, sondern der Herr der Geister. Hast du deine… tolle Lösung, mich, wie war das, zu fall zu bringen, denn mitgebracht? Oder soll ich Wurzeln schlagen und darauf warten, dass du dir was Tolles einfallen lässt?“ Loron wurde sonst wütend, wenn Karana so mit ihm redete, aber dieses Mal grinste er einfach weiter. Neisa fragte sich, was er wohl im Schilde führte; offenbar hatte er tatsächlich irgendetwas, was beunruhigend war.

Oder aufregend, wie Neisa eher fand.

„Du wirst in einigen Tagen nicht mehr lachen, Karana.“, feixte der Junge aus Holia selbstbewusst und verschränkte die Arme, „Und deinen albernen Regen habe ich nicht mehr nötig. Finde jemanden anderes, der dir bestätigt, dass du ein Gott bist, wie du offenbar selbst glaubst. Ich bin so gespannt auf dein Gesicht… das wird toll!“ Er lachte schäbig und die Drillinge lachten doof mit, ehe der Prinz von Holia sich zum Gehen wandte. Karana zischte.

„Verpiss dich einfach, du bist ja nur neidisch, weil du genau weißt, dass du immer in meinem Schatten stehen wirst! Eines Tages werde ich Herr der Geister sein wie mein Vater, und oh, bete, dass ich den Zorn des Himmels nicht aus einer Laune heraus über dein Königreich lenke, Prinz Loron! Eines Tages werde ich dir mehr Regen geben als du jemals brauchen würdest und werde dein Land wegspülen wie eine zappelnde Ameise!“ Loron lachte nur dumm.

„Du bist so geisteskrank, Karana… du bist doch echt voll behindert! Aber eigentlich dürfte es mich nicht wundern, vielleicht schlägst du ja nach deinem Vater, dem Kinderschänder.“

Karana war drauf und dran, sich auf Loron zu stürzen, und er zischte und entblößte wie ein geiferndes Raubtier vor Wut seine spitzen Zähne, während Simu ihn hastig packte und zurückriss.

„Lass ihn!“, rief der Blonde laut, „Verdammt, er verdient deinen Zorn gar nicht, Karana!“ Der Ältere spuckte Loron verachtungsvoll vor die Füße und fletschte die Zähne. Die erwünschte Wirkung zeigte sich auch sofort, als der andere Junge jetzt doch zu grinsen aufhörte und einen Schritt rückwärts trat. Er schien sich aber schnell wieder zu fangen und kicherte.

„Was denn, ist doch wahr. Ich hab gehört, deine Mutter war noch ein kleines Mädchen, als er sie gefickt hat und du in ihrem Bauch gelandet bist.“ Der Magier hatte sich jetzt ebenfalls wieder gefasst; zumindest halbwegs, denn seine Stimme bebte vor Zorn und Verachtung, als er Loron erneut vor die Füße spuckte.

„Vielleicht. Aber mein Vater hat meine Mutter wenigstens nicht zu Tode gefickt, wie deiner es offenbar gemacht hat.“

Simu war froh, dass in dem Moment die Lehrerin über den Hof kam und sie aufrief, in die Klassen zu gehen, und damit den Streit der Jungen unterbrach, bevor er noch tiefer unter die Gürtellinie sinken konnte.
 

Der Sommer endete plötzlich mit einem fürchterlichen Unwetter, das sich über Thalurien ergoss. Es war, als würden die Geister die vorangegangene Dürre ausgleichen wollen, indem sie jetzt allen versäumten Regen nachholten. Es ging schon los, als Puran mit den Vertretern aus Aleu beim Essen saß, und es goss den Rest des Tages und auch fast den gesamten folgenden Tag durch wie aus Kübeln. Der Himmel grollte zornig und während Puran zusammen mit den Vorsitzenden der Kleinstadt die Statistiken durchging, wurde der Sturm draußen wirklich beunruhigend. Er war sich nicht sicher, ob es das Wetter an sich war, das ihn beunruhigte. Die Nervosität der Geister schlug immer auf ihn über, wenn etwas passierte, und in diesem Moment ließ es ihm gar keine Ruhe. Die Geister zischten in seinem Kopf und sprachen von Tod und Unheil, und als er das Lachen von Ulan Manha aus dem Nichts hörte und plötzlich fürchtete, der Koch aus Holia würde gleich hinter ihm auftauchen, erhob er sich plötzlich und fing die verblüfften Blicke der Vertreter.

„Herr? Stimmt etwas nicht?“, fragte der Bürgermeister von Aleu, und Puran fasste nach seinem pochenden Schädel, als vor seinen Augen die Traumbilder von den scharfen Eckzähnen seines Großvaters und dem blutigen, zornigen Himmel mit dem wirklichen Raum verschmolzen, in dem er stand.

„Nein-… ich… vergebt mir, bitte, ich muss… nur einen ganz kurzen Moment an die frische Luft, fürchte ich.“ Sein Gegenüber nickte verständnisvoll und ließ ihn das Amtsgebäude verlassen. Draußen goss es noch immer, aber die Veranda vor dem Haus war überdacht, so lehnte der Mann sich neben der Haustür gegen die Wand und fuhr sich zitternd mit den Händen über das blasse Gesicht. Die Vertreter aus Aleu waren Nichtmagier; sie hatten keine Ahnung, was er durchmachte und wie es sich anfühlte, wenn die Himmelsgeister Warnungen sendeten.

„Warnungen wovor?“, murmelte er beunruhigt, zog aus seiner Hosentasche eine zerknautschte Zigarette und steckte sie sich zwischen die Lippen, um sie mit Vaira anzuzünden. Seit er in Lorana lebte, rauchte er seltener als früher; zu Hause tat er es aus Prinzip nicht, immerhin war es ungesund für die Kinder, und bei der Arbeit hatte er nie Zeit dafür.

Die Geister wisperten in seinem Kopf und er wusste nicht, was es war, das ihn beunruhigte.

„Fürchte dich, Lyra…“, zischte die Stimme des verhassten Mannes Manha in seinem Kopf und der Herr der Geister fuhr zusammen. „Ich habe dich gewarnt, oder? Nur ein Wort, Lyra. Macht. Weißt du… wie sie sich anfühlt? Du weißt es genau, nicht wahr…? Ich weiß es auch… und ich werde sie bekommen, genauso wie du sie bekommen hast. Ich werde dafür sorgen, Lyra… ihr werdet mir nicht im Weg stehen!“

„D-dieser… dieser elende…!“, keuchte Puran und fasste abermals nach seinem Kopf, als der Schmerz darin heftiger wurde und er von einer Flut aus Bildern der Vergangenheit fast in den Wahnsinn gespült wurde. Ulan Manha, der seine geliebte Ruja getötet hatte, die gesamte Familie Kohdar und letztlich auch seine Mutter, Nalani. Er sah das höhnische Grinsen, das Gesicht, das seinem eigenen gar nicht unähnlich war, die spitzen Zähne, die auch Karana hatte – und er hörte das kehlige Lachen seines gefürchteten Großvaters. Vor seinen inneren Augen ging die Stadt Vialla in lodernden Flammen auf und Puran keuchte, als über ihm der Himmel einzubrechen schien.

Ein gewaltiges Krachen aus dem realen Himmel riss den Magier zurück zur Besinnung und er schnappte fassungslos erbleichend nach Luft.

„Ulan Manha…“, zischte er grantig, „Oder auch Scharan, König der Lianer… du grausame Bestie, was treibst du, dass mir von deinen Scharaden der Kopf platzt?“

Etwas Furchtbares würde geschehen… er wusste es.

Und Vialla würde lichterloh brennen.

Er hatte keine Zeit für die Männer aus Aleu. Er brauchte sein Pferd, und zwar schnell, und die Straße, die hinauf führte in die Hauptstadt des Zentralreiches.
 

Saidah starrte aus dem Fenster in den Regen hinaus, der das Panorama der D’anbahr-Berge verschwimmen ließ. Das Wasser spülte die schwüle Hitze des Sommers davon, was eigentlich angenehm war. Aber die Kälte, die folgen würde, war auch keine sehr angenehme Aussicht; im Gebirge konnte es eisig werden. Im vergangenen Winter war Tanuq unerwartet krank geworden; das war nicht das Hauptproblem gewesen, denn die da schon junge Frau hatte sich rührend um ihr männliches Kindermädchen gekümmert, dummerweise hatte ihr Vater darüber vergessen, dass niemand Holz hackte, wenn Tanuq es nicht tat, und so war ihnen das Brennholz ausgegangen und sie waren beinahe erfroren. Mitunter belächelte Saidah die Zerstreutheit ihres Vaters. Er wurde eben älter und er hatte viel um die Ohren, es war nicht verwunderlich, dass ihm da so etwas Banales wie Brennholz entging. Er war Führer der Sicherheitstruppe, das war Verantwortung genug, wie die junge Frau wusste. Sie begegnete mitunter den seltsamen Gestalten, die versuchten, sich oder ihre Familie über die Grenze zu schmuggeln; das große Problem der Zuwanderer, die Janamis Herrscherhaus gerne fern halten wollte. Meistens waren es Leute aus Fann, die irgendwie ungesehen ins Land vorzudringen versuchten und spätestens hier scheiterten. Die Späher in Form von Krähen und Kondoren waren dafür sehr nützlich, Leute aufzuspüren, und dass jemand entwischt war, war ihrer Erinnerung nach noch nie vorgekommen. Wer dabei ertappt wurde, ohne Erlaubnis ins Land zu wollen, erst recht fernab jedes Grenzpostens auf illegale Weise, weil es so billiger war, dem blühte Böses.

Saidah wusste, dass ihr Vater ein gutmütiger Mann war, der nicht aus Spaß Menschen schikanierte. Was er tat, war seine Arbeit und es waren die Befehle aus Minh-În, die es zu befolgen galt. Für einen gebürtigen Ausländer war Meoran Chimalis erstaunlich schnell an einen derart hohen und geschätzten Posten geraten, und Saidah wusste, dass der Herr von Minh-În ihm seine Gunst wegen seiner Fähigkeiten und vor allem wegen der Späher-Vögel zukommen ließ. Die junge Frau war den hohen Tieren der Großstadt schon das eine ums andere Mal begegnet, wenn sie ihren Vater begleitet hatte. Der Herrscher der Stadt war ein Vetter des Königs von Janami, stand also in direkter Verbindung zum Herrscherhaus und hatte deswegen einiges zu sagen. Minh-În war der wichtigste, größte und mächtigste Posten des Landes im Westen und so etwas wie die Kontrollstelle bezüglich der anderen Länder, die westlich von Janami lagen. Von Minh-În aus konnte man Kisara, Senjo und Kuyala beobachten und in Schach halten, wenn es Ärger geben sollte. Kein Land Tharrs war so auf seine Sicherheit versessen wie Janami. Nach außen hin versuchte der König in Dan-morough, es so aussehen zu lassen, als bemühte er sich um eine relative Kooperation mit seinen Nachbarn, vor allem Kisara; aber eigentlich waren es pures Misstrauen und Skepsis, die hinter allen angeblich guten Bestrebungen lagen. In der letzten Zeit pflegte der Herr von Minh-În seinen Sicherheitstruppenführer als Gesandten nach Kisara zu schicken, um das Verhältnis zwischen dem Reichskapital und der zweiten Hauptstadt von Janami in Sicherheit zu wissen; dass er ohnehin viermal im Jahr nach Vialla reisen musste, um seinen Ratssitzungen beizuwohnen, hatte sich für die Regierung als praktischer erwiesen als zuerst angenommen. In den vergangenen Wochen war ihr Vater oft nach Minh-În zum Palast eingeladen worden, um anschließend nach Vialla geschickt zu werden und so den Vermittler zwischen dem König von Kisara und dem Herrscher von Minh-În zu spielen. Währenddessen führte ein Stellvertreter die Truppe im Gebirge, und wie es die Truppe unter Meorans Führung ab und zu machte, kamen die Soldaten jetzt auch ohne den eigentlichen Truppenführer mitunter zu dessen Haus und ließen sich mit ein bisschen Wein und Brot versorgen. Die Männer mochten Saidahs Gesellschaft, und sie wusste auch genau wieso – ebenso wusste sie aber, dass niemand der Kerle es jemals wagen würde, ihr auch nur zu nahe zu kommen, wenn er keine ausdrückliche Erlaubnis ihres Vaters bekäme. Und Meoran konnte ziemlich garstig werden, wenn es um seine Tochter ging.

Es war weder das Wetter noch waren es die Krieger, die Saidah besorgten, als sie jetzt am grauen Vormittag in den Regen starrte. In der Küche klapperte das Geschirr, das Tanuq abwusch, das noch vom vergangenen Besuch der Truppe benutzt war. Saidah zog auf dem Stuhl die Beine an und umschlang sie mit ihren schlanken Armen, während sie weiter hinaus starrte. Draußen grollte der Himmel bösartig vor sich hin. Sie war müde… es hatte nicht viel Schlaf gegeben für sie in der vergangenen Nacht. Das Gewitter war heftig gewesen, das über den Bergen gehangen hatte, und als die Unruhe der Geister in ihrem Kopf zu viel Angst heraufbeschworen hatte, war sie zu ihrem Vater ins Bett gekommen und hatte die Nacht dort verbracht. Sie war schon über dreizehn, es war gewiss ungewöhnlich in ihrem Alter, das wusste sie selbst. Und dennoch war ihr Vater doch alles, was sie hatte, und er war auch der Einzige, der ihre Unruhe verstand. Er empfand sie ja selbst… auch ihm berichteten die Geister von Unheil. Und er hatte genauso wenig geschlafen wie sie.

„Sag mal.“, riss Tanuq sie aus ihren Gedanken, der aus der Küche lugte, „Wann hat dein Vater vor, zurückzukommen? Ich habe ihn heute früh gar nicht gesehen, er muss irre früh weg gegangen sein. Ist er wieder nach Vialla?“

„Nein, nach Minh-În.“, erwiderte die junge Frau und strich sich gedankenverloren durch ein paar schwarze Haarsträhnen, die ihr widerspenstig aus den geflochtenen Zöpfen hingen. „Aber ja, er ist noch vor dem Morgengrauen weggegangen, du hast noch geschlafen. Er war sehr durcheinander heute Morgen und… es hat mir ziemliche Sorgen gemacht. Ich weiß nicht genau, was los war, nur, dass die Geister in der Nacht die ganze Zeit geflüstert haben. Ich habe sie nicht verstanden, aber ich habe ein schreckliches Gefühl… ich… weiß nicht, woran es liegt.“ Tanuq sah sie besorgt an.

Schatten und Tod… wohin sie nur sah. Das Ende der Welt war nicht das, was ihr am meisten Sorgen machte. Es war viel mehr eine schleichende Bosheit, die sich aufbaute wie eine Gewitterwolke, die um einiges verheerender sein würde als das Ende der Welt, das sie in ihren Träumen sah.

„Meinst du, seine Verwirrung lag an den Geisterstimmen?“, fragte das Kindermädchen kleinlaut, als wagte er nicht, es laut auszusprechen. Saidah seufzte.

„Also, er war schon zurechnungsfähig, wenn du das meinst. Du weißt… das, was ich am meisten auf der ganzen Welt fürchte, ist dass er wieder einen Schlaganfall bekommt. Wenn so etwas noch mal passiert, verliert er vermutlich mehr als nur ein Auge und… ich will gar nicht daran denken.“ Tanuq stimmte ihr verhalten nickend zu. Sie beide wussten, dass Meoran schon bei besserer Gesundheit gewesen war, und je älter er wurde, desto mehr Angst bekam seine Tochter, ihn zu verlieren. Das Trauma vom Tod ihrer Mutter saß ihr noch nach all den Jahren unweigerlich in den Gliedern und noch immer nagten die Alpträume an ihr von jener Nacht, in der Ruja einen grauenhaften Tod gestorben war.

Die junge Frau drehte den Kopf wieder zum Fenster und schauderte.

„Nein, es war irgendetwas anderes, was ihm Sorgen machte. Ich glaube, es hatte mit Ulan Manha zu tun… mit diesem Mann, der meine Mutter und Tante Nalani ermordet hat. Ich glaube, Vater wollte einen Späher nach Vialla schicken, um den Schattenmann zu überwachen.“
 

An dem Morgen, an dem Puran noch in Aleu mit den Vertretern saß, nur wenig beunruhigt vom starken Unwetter, das über dem Südwesten von Kisara wütete, saß Shiva Kita, Senols Frau, in ihrer Küche in Vialla und kochte Gemüse. In Vialla regnete es auch, allerdings war es mehr ein fader Nieselregen, der die Stadt überzog und die Temperaturen des Sommers deutlich herunterkühlte. Die Telepathin fragte sich, wo ihr Mann blieb; er war am vergangenen Spätnachmittag weggegangen und hatte gemeint, er müsste etwas Wichtiges für den Rat erledigen. Dummerweise war er nicht zurückgekommen, was die Frau ungemein beunruhigte. Nicht etwa, weil sie ihm vorwarf, sich heimlich mit einer anderen Frau zu treffen; Shiva kannte ihren Mann. Er wäre vermutlich der Letzte, der jemals fremdgehen würde, in dieser Beziehung vertraute sie ihm blind. Es war mehr etwas anderes, das ihr Sorgen machte… in seinem Eifer bei der Arbeit machte er mitunter Dinge, die nicht besonders klug waren, ohne es böse zu meinen. Aber solange sie diesen Mann kannte, neigte er irgendwie dazu, in Schwierigkeiten zu geraten – vermutlich hatte ihre dusselige Tochter das von ihm, die sich dauernd den Kopf stieß, dachte die Frau mit einem Lächeln. Auf Sora wartete sie auch, wenn auch nicht ganz so lange. Sie hatte die Kleine zuvor zum Einkaufen geschickt, ihr fehlten noch Rüben für ihren Eintopf.

Als sich die Haustür öffnete, schnellte die Frau aus der Küche und fragte sich, wen sie mehr erwartete, ihren Mann oder ihre Tochter – jedenfalls war es tatsächlich ihr tot geglaubter Gemahl, der herein schneite, die Tür hastig hinter sich zu warf und sich keuchend dagegen lehnte, als wäre er vor jemandem geflüchtet.

„Du liebe Zeit!“, keuchte sie, „W-was ist denn mit dir geschehen, hast du im Abwassergraben übernachtet?!“ Senol keuchte auch.

„Nein – vergib mir, dass ich die Nacht über weg war… und dass ich so dreckig bin liegt daran, dass es nicht leicht ist, Leute zu verfolgen, ohne sie merken zu lassen, dass man sie verfolgt – Himmel, Shiva, ich habe mich doch nicht getäuscht mit den Lianern, die zufällig Henac Emo besuchen kommen! Ich… ich kann noch gar nicht fassen, was der Kerl da treibt!“

„Was meinst du damit?“, fragte sie beunruhigt, während sie in die Küche eilte und ihren Eintopf umrührte, „Was ist mit denen?“

„Emo!“, japste Senol Kita und riss sich seinen schwarzen Umhang vom Leib, um ihn ungestüm über den Haken an der wand zu hängen, „Der Kerl, er hat den Rat belogen, er führt Briefverkehr mit Scharan auf Ghia – und diese Lianer sind die Briefträger, die von einem zum andere wandern.“ Shiva ließ ihren Kochlöffel fallen.

„Was? – B-bist du dir sicher?!“

„Ich habe den Typen ja extra deshalb verfolgt, den Lianer, meine ich. Und – Überraschung – er ist tatsächlich zum Flughafen gegangen, wenn auch auf Umwegen, vermutlich hat er gedacht, er könnte so mögliche Misstrauische abhängen. Ich bin durch Büsche gekrochen und habe im Sand gewühlt, und bin ihm über jeden noch so komischen Weg um die halbe Stadt herum gefolgt. Als ich sicher war, dass er zum Flughafen wollte, hab ich ihn dann angehalten und ihm den Brief abgenommen. Also, ich wusste natürlich vorher nicht, dass er etwas bei sich hatte, aber ich habe einen Brief gefunden, schau!“ Seine Frau weitete die Augen, als er aus seiner Hosentasche ein zerknülltes Pergament zog. „Er berichtet diesem Bastard auf Ghia, was hier so abgeht, und, verdammt, wo wir leben, bei jedem einzelnen von uns, als hätte er vor, Attentäter von Ghia schicken zu lassen – Himmel, Shiva, weißt du, was das bedeutet? Der Kerl ist nur deshalb wieder in den Rat gekommen, damit er Scharan den Weg ebnen kann, uns einen nach dem anderen umzulegen… w-wie er es schon mit Kohdars und Nalani getan hat!“ Shiva erbleichte und riss ihm den Brief aus der Hand, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

„Senol, bist du noch zu retten, das Ding mitzunehmen? D-du kannst doch den Kerl nicht zusammenschlagen und den Brief mitnehmen, was denkst du, wird Scharan – oder Henac Emo, oder wer auch immer – tun, wenn der Brief nicht ankommt und sie wissen, dass jemand um sie Bescheid weiß? H-hast du es den anderen gesagt?“

„Ich habe vor ein paar Tagen mit Meoran gesprochen, er weiß, was ich zu tun hatte – Shiva, ich bin nun mal der Einzige, der regelmäßig genug hier ist, um sich darum zu kümmern, den Kerl im Auge zu behalten…“

„So edelmütig das von dir ist, aber damit bist du auch der Einzige, den sie verdächtigen werden, dahinter gekommen zu sein, du Idiot!“ Darauf starrte er sie nur groß an und sagte lange keinen Ton. Als er wieder sprach, schien ihm zu dämmern, was sie da sagte, und die Frau begriff es selbst er in dem Moment, in dem er fortfuhr.

„Wo ist Sora?“

Shiva Kita kam nicht dazu, zu antworten. Mit einem lauten Krachen flog die Haustür auf, sprang aus den Angeln und kippte zu Boden, und die Telepathin schrie vor Schreck, während Senol sie hinter sich schob und sich japsend zum Flur umdrehte. Und er erstarrte, als er den Mann erkannte, der jetzt herein schneite, die kaputte Tür zur Seite trat und sich vor ihm und Shiva in der Küche aufbaute. Dass der Eintopf überkochte, interessierte gerade keinen.

„Emo!“
 

Henac Emo schnaufte und sah sich gehässig grinsend um.

„Tag auch, ich dachte mir, ich statte dir einen kleinen Besuch ab. Wir sind ja fast Nachbarn, du wohnst nur zwei Blocks weiter südlich, welche passender Zufall! Und ich habe gedacht, Ei, geh doch mal Herrn Kita besuchen, seine Frau macht sicher gerade leckeres Essen. Und, siehe da, Eintopf, mein Leibgericht. Wirklich, so ein passender Zufall!“ Senol Kita erbleichte und fragte sich, was das sollte.

„Du bist doch… nicht wegen des Eintopfs hier!“, entfuhr es ihm, und Henac Emo lachte lauthals los, ehe er plötzlich ernst wurde und brüllte:

„Nein, du Hornochse, dein Eintopf kann mich mal am Arsch lecken, du weißt genau, warum ich hier bin!“ Ehe der Blonde sich versah, hatte er einen so saftigen Schlag ins Gesicht geerntet, dass er zu Boden ging. Shiva kreischte und der Schwarzhaarige schleuderte sie mit einer unsichtbaren Druckwelle zurück gegen die Wand, wo sie keuchend zu Boden sank.

„Nicht!“, schrie Senol am Boden, der nach seiner Nase fasste, „B-bitte! Bitte verschone Shiva, sie hat dir nichts getan!“

„Weißt du, wie egal mir das ist, du Schnüffler? Sei froh, dass ich sie hässlich finde, sonst hätte ich sie vor deinen Augen besudelt, einfach so zum Spaß. Wo ist er, Kita? Raus damit, und zwar auf der Stelle!“

„I-ich weiß nicht, wovon du redest!“ Senol erntete einen weiteren Schlag ins Gesicht.

„Oh, lüg mich nicht an, Lügen ist mein Fachgebiet, du hirnloser Affe! – Was hast du gedacht, dass ich blind und taub wäre, oder so? Dass ich nicht merke, dass du Tag und Nacht vor meinem Haus herum hockst und meinen Besuch beschattest?“

„Wenn du nichts zu verbergen hättest, wäre dir das völlig egal.“, bemerkte der Geisterjäger, spuckte Blut und rappelte sich halb auf – dann packte der Ältere ihn unsanft am Kragen.

„Hör mir mal gut zu, du Klugscheißer. Du bist noch nicht lange genug Geisterjäger, um zu wissen, wie grausam wir sein können. Und das gilt nicht nur für mich persönlich, sondern für alle von uns. Auch für Puran, den pazifistischen Häuptling Zitterhand, der vermutlich tausende Zuyyaner geschlachtet hat im Krieg, und auch für Meoran, der unschuldige Menschen aus Fann hinter dem Rücken der Öffentlichkeit meuchelt, wenn sie die Berge passieren wollen, und das mit dem Siegel des Fürsten von Minh-În. Was du nicht kannst, Kita, ist, einschätzen, wann du richtig tief in der Scheiße steckst. Nämlich jetzt, zum Beispiel! Wo ist der verdammte Brief?!“

„Welcher Brief?!“, fauchte Senol, obwohl er nicht wirklich daran glaubte, dass er eine Chance hatte, wenn er log. Er wusste nicht, was er machen sollte, und sah keuchend zu Shiva, die sich benommen aufrappelte. Er wünschte, sie würde weglaufen… und wo war Sora? Himmel, wenn sie jetzt die Treppe herab kam…

„Du dachtest doch wohl nicht, dass ich nicht wüsste, wer meinen Brief geklaut hat, wenn der Lianer eingefroren am Flughafen liegt! Wer ist denn hier der Eisdepp?! – Ja, glotz mich nur verblüfft an, das verrät dich ohnehin. Du tust jetzt besser daran, mir den vermaledeiten Brief zu geben, Kita. Wenn ich herausfinde, dass jemand davon weiß, wird jeder verdammte Mensch, der dir jemals am Herzen lag, brutal sterben. Und dieses Mal sage ich die Wahrheit…“ Er grinste böse und der Jüngere schauderte. „Haben wir uns verstanden?“ Der Blonde schloss zitternd die Augen. Er wollte ihn wegstoßen. Er wollte die Hände hochreißen und ihn ebenfalls einfrieren, genau wie den Boten, der Scharan die Nachricht bringen sollte. Aber er fürchtete zu sehr um das Lebens einer Frau und seiner Tochter, um sich richtig zu wehren… es würde Emo nur eine Handbewegung kosten, seine Frau zu töten. Als er die Augen wieder öffnete, sah er in die pechschwarzen seines Kollegen. Es war in diesem Moment, dass Senol Kita wusste, dass nur einer von ihnen diesen Tag überleben würde.

„Dein wertvoller Brief liegt da am Boden, Emo.“ Es war kaum mehr als ein krächzen, das aus seiner Kehle kam, und erleichtert seufzte er, als der Ältre ihn wirklich losließ und das Stück Papier aufhob, das Shiva bei seinem Angriff fallen gelassen hatte.

„Sehr schön. Dann weiß noch niemand der anderen Geisterjäger davon, hoffe ich für dich?“

„Nein, niemand. Ich schwöre.“

„Senol…!“, japste seine Frau panisch, weil er jetzt unweigerlich alle Schuld auf sich zog, und sie wurde noch bleicher, als der Schwarzhaarige sie süffisant angrinste.

„Was denn? Ist es nicht edelmütig von deinem Gatten, seine Kollegen so zu schützen? Du solltest stolz auf ihn sein… er ist wirklich tapfer, wenn er glaubt, er könnte jetzt noch etwas ändern…“ Senol Kita hob jetzt kampfbereit die Arme und der Ältere trat glucksend zurück.

„Scher dich fort!“, rief der Blonde, „Raus aus meiner Küche, und wenn du meiner Frau ein Haar krümmst, sorge ich dafür, dass du eine neue Art von Schmerzen kennenlernst!“

„Klingt interessant. Ich frage mich, was für eine Art von Schmerzen das sein soll, ich denke, ich kenne alle. Ausnahmslos alle. Wobei mich keine wirklich beeindruckt hat, weißt du?“ Der Blonde fuhr zurück, als Emo die Hand hob und mit einem einfachen Schwenk die ganze Küchenzeile in Flammen aufgehen ließ. Shiva schrie und ihr Mann schob sie in Richtung Tür, sie hinter sich behaltend, damit Emo nicht an sie heran kam.

„Um Himmels Willen, Senol!“, jammerte die Frau, und Henac Emo grinste diabolisch. Er warf den Brief ins Feuer, worauf der Blonde die Augen weitete.

„D-du hast doch gerade…?“

„Denkst du, ich lasse Beweismaterial übrig? Das wäre töricht, Kita. Und, bevor ihr weglauft, haben wir ein kleines Problem. Ihr wisst Dinge, die ihr nicht wissen solltet. Wenn ich euch laufen lasse, bekomme ich Ärger und das passt mir nicht. Wo ist denn deine reizende Tochter eigentlich? Die habe ich gar nicht gesehen…“

„Nicht, bitte!“, schrie Senol Kita, und Shiva japste:

„S-sie schläft oben! Was immer du vorhast, lass sie in Ruhe, ich flehe dich an!“ Ihr Mann starrte sie fassungslos an, dass sie preiszugeben schien, wo das Kind war – Shiva schloss bebend die Augen und wusste, dass es nicht mehr wichtig war, dass sie ihren Mann anlog. Sora war nicht im Haus. Und es war besser, wenn Emo dachte, sie wäre es.

Der Schwarzhaarige fragte sich, ob sie wirklich so ruhig hier stehen würde, wenn das Kind oben schlief. Wohlgemerkt am helllichten Tage. Aber wo immer die kleine Göre war, eigentlich konnte es ihm völlig egal sein. Sie war ein kleines Kind, ohne ihre Eltern würde sie nicht lange leben und sie war zu klein, um zu begreifen, was geschah. Er ließ es also gut sein und seufzte theatralisch.

„Einverstanden, Weib. Ich werde deiner Tochter kein Haar krümmen. Vorerst.“ Senol zischte und hob die Arme drohend höher.

„Ich warne dich ein letztes Mal, Emo!“, sagte er, „Verschwinde, wenn du willst, dass ich den Mund halte über das, was ich weiß über diene Machenschaften mit Ghia! Mit Scharan, besser gesagt!“

„Du kannst so heldenhaft klingen.“, grinste der andere, „Schade nur, dass du absolut in der falschen Position bist, um Bedingungen zu stellen, Kita. Für wie dumm hältst du mich? Die Würfel sind längst gefallen.“ Und das Grinsen in seinem Gesicht ließ keinen Zweifel am Schicksal des Geisterjägers und seiner arglosen Frau.
 

Eine Krähe flog schreiend über sie hinweg und verleitete die kleine Sora, verblüfft in den wolkigen Himmel zu starren. Dummerweise achtete sie dabei nicht auf ihre Füße und stolperte, wobei die Einkaufstasche aus ihren Armen flog und ihren Inhalt auf der Straße verteilte.

„Oh nein!“, jammerte die Kleine, rappelte sich auf und begann, die Rüben einzusammeln – eine wurde gerade von einer daher rasenden Kutsche zerquetscht und die kleine Magierin schimpfte. „Du blödes Ding! Roll doch nicht über meine Rüben! Ach, verdammt!“ Sie hatte die übrigen Rüben eingesammelt und hastete weiter in Richtung Heim – sie war spät dran. Das kam alles nur daher, dass sie so unaufmerksam war und sich immerzu umsehen musste… wie bei dem schwarzen Vogel, den sie gesehen hatte. Krähen waren Aasfresser und unschöne Vögel, aber Sora hatte keine Angst vor ihnen, hatte sie festgestellt. Als ziemlich einziges Mädchen ihrer Schule, worauf sie stolz war. Ihr Vater sagte, sie würde sicher einmal eine gute Geisterjägerin sein. Sie hoffte es sehr… sie war zwar erst sieben, aber wenn sie einmal erwachsen war, wollte sie unbedingt auch in den Rat und für das Gute sein, wie eine richtige Heldin. Ihre Mutter lachte sie immer liebevoll aus, wenn sie so sprach… aber Sora fand, dass die Geisterjäger Helden waren.

Dass etwas nicht stimmte, spürte sie instinktiv lange, bevor sie das brennende Haus sah. Als sie um die Ecke bog, ließ sie die Tasche achtlos fallen und fing an, wie am Spieß zu schreien – es war ihr Elternhaus, das da brannte! Es war ein bösartiges, grausames Feuer, das trotz der Nässe schon auf die anderen Häuser überschlug, als die Kleine näher hastete. Die Menschen der Straße schrien und versuchten, das Feuer mit Wasser zu löschen, aber es schien nicht richtig zu wirken.

„Mutti, Vati! Oh nein, wo seid ihr?!“, schrie das kleine Mädchen verzweifelt, und sie hastete zwischen den rufenden Menschen hindurch, um ihre Eltern zu suchen. Was war denn passiert? Wieso brannte es plötzlich? Das war ein schlechter Traum… sie fand ihre Eltern nicht, sie rief, so laut sie konnte, aber das Tosen der Flammen erstickte ihre Schreie in der Menge. Dann spürte sie mit einem Mal, wie jemand sie an der Schulter packte, doch als sie sich umdrehen wollte, griff ihr jemand auf den Mund, um ihre Stimme zu ersticken, und sie fühlte einen betäubenden, harten Schmerz in ihrem Nacken, ehe die Welt um sie herum dunkel wurde.
 

Der Himmel grollte finster über dem Land und die Geister versetzten Puran einen schmerzhaften Stich im Kopf, als er die Stadt Vialla in der Ferne erkannte. Und die Rauchschwaden, die im Süden der Stadt zu sehen waren.

Es ist wie in meinem Traum – s-sie brennt tatsächlich!

„Verdammt noch mal!“, fluchte er ungehalten und rammte dem armen Gaul die Hacken in den Bauch, damit er lospreschte und auf die Stadt zu. Was immer hier geschah – die Geister hatten gewusst, dass es geschehen würde. Er fragte sich, wieso sie es ihm erst so spät gesagt hatten… was war das für ein furchtbares Feuer in der Stadt? Dazu bei dem Regen?

Je näher er der Stadt kam, desto schlimmer wurde das üble Gefühl in seinem Magen, als er genau zu wissen begann, wo es tatsächlich gebrannt hatte. In welcher Gegend… er kannte die Blöcke im Süden. Die Blöcke, in denen unter anderem die Kitas lebten. Er wusste nicht, ob es seine Paranoia oder die grausamen Instinkte waren, die ihm sagten, dass er genau das Richtige dachte.

„Kitas – verdammt, Kitas!“ Mehr brachte er nicht hervor, als er schließlich die Straße erreichte, in der das Haus seines Kollegen stand – gestanden hatte. Hier stand nichts mehr, nur eine Reihe verkohlter Ruinen, die jetzt zu brennen aufgehört hatten. Die dicken Rauchschwaden hingen wie schwarzer Nebel über dem Viertel, und Puran hustete, als er von seinem Pferd sprang, es am Ende der Straße stehen ließ und zu Fuß vorwärts hastete.

„Was ist hier passiert?!“, fragte er laut, als er einen Trupp Menschen sichtete, die jammernd herum standen.

„Was passiert ist?!“, fuhr ein Mann ihn erbost an, „Siehst du das nicht, du reicher Lackaffe?! Mein Haus ist weg, ja?! Einfach weg, plötzlich hat es gebrannt! Einfach so! Was für eine Laune der Geister! Ich habe alles verloren, alles ist hin! Mein Sohn ist da drin verbrannt, ja?! Hast du auch einen Sohn, du Schnösel?! Weißt du, wie das ist?!“

„Was ist mit den Leuten aus dem Eckhaus passiert?!“, fragte Puran gegen an und ignorierte die Beleidigungen – er konnte es dem armen Schlucker nicht verübeln.

„Weißt du, wie scheißegal mir das ist?! Keine Ahnung, wer hat da gewohnt?! – Ah, warte, der Blonde mit dem Umhang! Äh, weiß nicht, hab ihn nicht gesehen!“ Puran schnappte verzweifelt nach Luft, atmete dabei Rauch ein und hustete erneut. „Ich verfluche die Himmelsgeister für diesen Zorn, den wir nicht verdient haben! Ich werde sie umbringen!“, heulte der Mann neben ihm, dann zerrte er an Purans schwarzem Umhang und schrie ihn an. „Mach was, du Schnösel! Du hast sicher das Geld, unsere Häuser zu bezahlen! Los, mach was, oder verschwinde von hier, wenn du nur gaffen willst! Begaffst das Elend anderer, wirklich nett!“ Puran zischte, da bekam er unerwartete Unterstützung, als hinter ihm plötzlich eine sehr bekannte Stimme zu vernehmen war.

„Scher dich weg, du Lümmel, er ist es nicht, dem du dein Elend zu verdanken hast, du Hurensohn! Eigentlich solltest du vor Senator Lyra im Staub kriechen, wenn du willst, dass er dich überhaupt mit dem Hintern ansieht!“ Puran fuhr herum und erblickte verblüffenderweise Dasan Sagal hinter sich. Auf seinen Gehstock gestützt und in schwerem Regenmantel machte er tatsächlich einen ziemlich imposanten Eindruck, und der Obdachlose vor Puran ließ ihn rasch los und trat zaudernd zurück.

„Ihr Barbaren!“, heulte er, „Mein Sohn ist tot!“

„Ja, ich weiß. Es tut mir leid, ich habe auch schon mal einen Sohn verloren.“, sagte Herr Sagal barsch, „Das ist aber jetzt nicht unser Problem, vergebt uns. Dann sieht Senator Lyra vielleicht über die Belästigung hinweg.“ Er warf dem Jüngeren einen scharfen Blick zu, der ihm bedeutete, ja nichts einzuwenden, und Puran schnappte nur ratlos nach Luft. „So. Kommt mit, Herr, wenn wir noch etwas über Kitas Verbleib erfahren wollen, gehen wir zwei Haufen Trauernder weiter.“ Der Senator sah nur hilflos nach den elenden Opfern der Brände, die sie jetzt hinter sich ließen und sie ihnen nur teils empört, teils weinend nachstarrten.
 

Emo stand auf der Stadtmauer und sah in der Ferne die verkohlte Straße. Er zischte, während er Puran und Dasan Sagal beobachtete, die da durch den Regen und die Obdachlosen stapften. Zu schade… was musste der Telepath jetzt hier auftauchen? Er hatte gar nicht damit gerechnet, dass der Herr der Geister plötzlich in Vialla auftauchte. Und zuerst hatte es ihm auch nicht in den Kram gepasst… aber eigentlich war es egal. Kitas waren tot, und auch Puran würde sie nicht wiederbeleben können. Er sollte froh sein, wenn er ihre Reste identifizieren konnte. Dann, als er ihn so im Regen bei den Armen beobachtete hatte, war Emo der Gedanke gekommen, ihn unerwartet und rein zufällig gleich mit umzulegen. Puran war viel mächtiger als er selbst, aber wenn er einen Überraschungsangriff startete, hatte er vielleicht eine Chance… und man konnte es so tarnen, dass er leider im Inferno umgekommen war, bei dem heldenhaften Versuch, die Menschen zu retten, die dann leider alle mit ihm krepiert waren… aber dann war Sagal aufgetaucht und hatte Emos Pläne vernichtet. Mit zwei solchen Kronjuwelen der Schamanen zugleich konnte er es selbst als Geisterjäger nicht aufnehmen. Telepathen waren für ihn als Schattenmagier gefährliche Gegner. Ein Mann von Sagals Kaliber konnte vorhersehen, was Emo machen würde, bevor er es selbst wüsste. Nein… da hatte der Herr der Geister und ehrenwerte Senator von Thalurien noch einmal Glück gehabt, dachte der Verräter gehässig, und er wandte der Straße den Rücken zu. Er hatte jetzt genug zu tun. Er musste einen neuen Brief schrieben, den Lianer ersetzen und außerdem brauchte er ein Alibi – bei Purans elendigem Misstrauen und Sagals Scharfsinn war es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich fragten, ob er damit zu tun hatte.

Er seufzte und beschloss, sich im nächsten Bordell eine Hure zu leihen. Nach all dem Tumult brauchte er jetzt dringend Erleichterung.
 

„Was macht Ihr hier?“, wagte Puran Herrn Sagal verblüfft zu fragen, obwohl das eigentlich eher eines der letzten Dinge war, die ihn momentan wirklich brennend interessierten. Die Panik schnürte ihm noch immer den Hals zu, gemeinsam mit dem beißenden Rauch, als die beiden Männer die Straße hinab eilten (so schnell Dasan Sagal mit seinem Hinkebein konnte), vorbei an weiteren, verzweifelten Überlebenden, die in einem kurzen Moment alles verloren hatten, was sie jemals besessen hatten.

„Ich kam per Teleport, weil die Geister mich gewarnt haben.“, knurrte der Ältere vor ihm, und Puran senkte den Kopf. „Allerdings – wie man sieht – ist das Chaos schon vorbei, diese Verräter haben mich etwas zu spät gewarnt.“

„Nicht nur Euch, Herr… ich war ja kaum einen Moment vor Euch hier. Ich habe ebenfalls ein schlechtes Gefühl gehabt und habe deshalb die Politiker in Aleu hängen lassen-… ich habe nicht geahnt, dass Kitas Haus-… verdammt, w-wo steckt der Sack?! Das kann doch nicht wahr sein!“

„Die Politiker in Aleu übernimmt dann mein Sohn.“, erklärte der Kopf des Spionageclans, der einfach überall seine Finger drin hatte, „Er wohnt in Aleu, er wird die alten Säcke schon darüber vertrösten, dass Ihr weggelaufen seid. Sofern Ihr vorhabt, demnächst zurückzukehren.“ Puran fragte sich, was er damit meinte, aber zum Fragen kam er nicht. Der hinkende Mann blieb vor einer anderen Rotte von Trauernden stehen, verneigte sich höflich und zeigte auf das Eckhaus, das Kitas gehört hatte.

„Was ist mit der Familie Kita passiert? Hat sie irgendjemand gesehen?“

„Nein!“, keuchte eine aufgelöste Frau und verbeugte sich ebenfalls rasch, als ihr gewahr wurde, dass sie vor offenbar ziemlich wichtigen Männern stand, „Nein, Herr, aber das Feuer hat in ihrem Haus angefangen! Danach ist es auf unseres übergegangen… ich habe niemanden aus dem Haus kommen sehen, aber als es bei uns anfing zu brennen, rannten wir hinaus… und bei Kitas war die Tür eingetreten, vielleicht sind sie weggelaufen.“

„Es gab Geschrei im Haus, bevor das Feuer kam.“, addierte ein Mann kleinlaut, „Ich glaube, sie haben sich gestritten, oder so.“

„Was?“, fragte Puran, „D-das glaube ich nicht, Senol und seine Frau sind doch ein Herz und eine Seele!“ Dasan Sagal seufzte und sah zu den Trümmern des verbrannten Hauses, als etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Ein Vogel war auf der Spitze der Ruine gelandet und krähte kläglich, dabei mit den schwarzen Flügeln schlagend. Herr Sagal zerrte an Purans Arm.

„Nein, ich wage auch zu bezweifeln, dass sie das Feuer selbst gelegt haben. Und dass sie weg sind, bezweifle ich auch.“ Puran keuchte und taumelte zu dem Haus herüber, oder dem, was davon übrig war, während Dasan Sagal den Trauernden Unterstützung zusprach, damit sie bald ein neues Heim fanden. Der Herr der Geister stolperte über die Reste der Haustür, die quer im Flur lag. Die Reste des Gebäudes waren jetzt brüchig und er musste aufpassen, dass er nicht lebendig begraben wurde, als er ohne große Hoffnung nach seinem Kollegen rief. Niemand antwortete, und er tastete sich durch das stinkende, verkohlte Haus, um Senol, Shiva und die kleine Sora zu finden. Es war ein grauslicher Anblick, und der Mann schauderte, als die Krähe oben auf dem Dach erneut krächzte.

Warte… Krähe?

Er fuhr zusammen, als er die Reste der Küche betrat. Hier musste das Feuer ausgebrochen sein, denn es war nichts mehr übrig von der Einrichtung. Und am Boden erkannte er die Reste zweier Menschen, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Er schnappte nach Luft und ein übler Brechreiz erfüllte ihn bei dem Anblick und der plötzlichen, instinktiven Gewissheit, dass sein Kollege und seine Frau hier im Feuer ums Leben gekommen waren.

„N-nein-…!“, stammelte er und strauchelte – Dasan Sagal tauchte hinter ihm auf und stützte ihn rechtzeitig.

„Ich fürchte fast, dass sie das sind.“, murmelte der Telepath beklommen. „Es… tut mir leid, Herr.“

„D-das – das fasse ich nicht!“, japste der Jüngere und sank jetzt doch zu Boden, kämpfte mit aller Macht gegen den Brechreiz an, um den Toten nicht noch vor die Füße zu kotzen. Nicht, dass die das gestört hätte… Er streckte zitternd die Hand aus und wühlte aus dem verkohlten Schrott vor ihm den Pentagramm-Anstecker, den Senol getragen hatte. Dass er hier, halb angesengt, im Ruß lag, ließ wenig Zweifel offen, um wen es sich bei den beiden Gestalten hier handelte. Er umklammerte das Schmuckstück zitternd und schnappte atemlos in der rauchigen Bude nach Luft, unfähig, wieder aufzustehen, obwohl sein Kamerad an ihm zerrte.

„Steht auf, Herr. Jetzt, sofort. Das Haus kann jeden Moment zusammenfallen, wir müssen hier raus. Wir können nichts mehr für sie tun, fürchte ich.“

„Aber – aber gestern… war noch alles in Ordnung!“, jammerte Puran und fing vor Verzweiflung hemmungslos an zu heulen. Es war ihm völlig egal, wie ehrlos und demütig er hier im Ruß flennend am Boden hockte, es war ihm völlig egal, wer ihn jetzt hinterrücks als Heulsuse beschimpfen würde… verdammt, Senol Kita war tot!

„Ich weiß. Wir müssen hier raus, Herr, jetzt. Sofort.“ Der Ältere verlieh seinen Worten unweigerlichen Nachdruck und Puran kam stolpernd auf die Beine, dabei den angesengten Anstecker in der Hand behaltend. Die beiden Männer hatten das Haus gerade eben verlassen, als ein unschönes Knarren durch die Ruine dröhnte und das obere Stockwerk krachend herab stürzte, die Leichen und die restlichen Trümmer unter sich begrabend. Puran fuhr herum und erschauderte bei dem Anblick, der ihm durch Mark und Bein ging. Vor kurzer Zeit hatte hier noch ein Haus gestanden, in dem eine Familie gelebt hatte. Moment, Familie – wo war eigentlich die kleine Sora? In der Küche hatte er nur zwei Leichen gesehen…

Der Senator beobachtete fassungslos, wie das Haus in sich zusammenfiel, während die Krähe sich in die Luft erhob und davon flatterte.

„Die Geister haben mich verraten…“, stöhnte er kraftlos, „Sie… sie hätten mir sagen sollen, dass so etwas geschieht! Wie… wie konnte es nur zu so etwas kommen?!“

„Die Geister spielen… seltsame Spielchen, Herr.“, sagte Dasan Sagal monoton, während er den Kopf drehte, den Vogel ebenfalls verfolgend, der jetzt hinab stürzte und landete; auf dem ausgestreckten Arm eines Mannes, der aus der Seitengasse gekommen war und jetzt apathisch auf die Ruine starrte, die von Kitas Heim übrig war. Als Puran Herrn Sagals Blick nach Südosten folgte, fuhr er gleichzeitig verblüfft und irgendwie auch erleichtert zusammen.

„Meister!“
 

Meoran sah hundeelend aus. Abgesehen vom Moment seines Schlaganfalls in Kadoh hatte Puran ihn nie derart fürchterlich gesehen. Die Krähe flog nach einem müden Blick aus den Augen ihres Herrn wieder davon, während die beiden anderen Männer zu ihm herüber eilten.

„Meoran!“, fuhr Puran auf und keuchte, „W-was… was machst du hier? Was… ist hier eigentlich los?! Kitas… Kitas sind tot und… d-das Haus-… die Geister haben kein Wort gesagt!“

„Die Unruhe haben wir alle gespürt.“, stöhnte Meoran verzweifelt, „Es ist meine Schuld, verdammt… ich hätte auf das üble Gefühl hören müssen, von Anfang an. Ich – Himmel, ich habe Kitas getötet!“

Was?!“

„Na ja, n-nicht… ich direkt… aber wenn ich anders gesprochen hätte neulich, als ich Senol getroffen habe, wäre alles anders gewesen…“ Er vergrub bebend das Gesicht in den Händen, fuhr sich dann ein paar Mal zerstreut durch die Haare und sah die fassungslosen Gesichter von Puran und Dasan Sagal vor sich. „Ich bin heute Morgen mit der scheußlichen Gewissheit aufgewacht… dass jemand sterben würde. Ich habe… ich habe es die ganze Zeit gewusst, und dennoch war ich in Minh-În und… ich konnte nicht rechtzeitig kommen… ich hätte es wissen müssen… der Bote, den ich auf der Stelle geschickt habe, um Kitas rauszuholen, kam zu spät, wie ich fürchte… ich – ich habe sie verdammt noch mal in den Tod gejagt, alle drei! Himmel, was bin ich eigentlich für ein abscheulicher Kerl?!“ Puran konnte nicht fassen, was er hörte, und er verstand kein Wort.

„Meoran – sieh mich an! Was faselst du, wieso bist du Schuld?! Was ist passiert? Wie bist du hergekommen?“

„Ich habe einen Mann in Minh-În dafür bezahlt, dass er mich her teleportiert…“, keuchte der Ältere und fuhr sich abermals durch die Haare, „Als das Gefühl zu grausam wurde und ich wusste, dass der Bote niemals rechtzeitig kommen würde… ich habe heute Morgen geahnt, dass sie… sterben würden. Verdammt, ich hätte einfach herkommen sollen!“

„Nun mal langsam.“, schärfte Herr Sagal ihm ein, „Immer der Reihe nach. Verdammt, wir können nicht hier sprechen, wo alle uns hören. Ihr wisst, was mit Kitas geschehen ist, Chimalis? Dann sprecht.“

„Ich weiß… einen Ort, an dem wir ungehindert reden können. Ich… erwarte den gescheiterten Botschafter dort, der eigentlich versuchen sollte, die Familie hier rauszuholen, bevor er sie platt machen kann.“

P-platt machen?!“, rief Puran lauter als nötig, „Wer, Himmel noch mal?!“

„Unser Busenfreund Henac Emo. Wer sonst?“
 

Die Taverne am Südtor schien Puran ein sehr seltsamer Ort für ungehinderte Gespräche, aber trotz seiner durchaus merkbaren Geistesabwesenheit wirkte Meoran in diesem Punkt zuversichtlich, was die Möglichkeit ausschloss, dass er nur vor Verwirrung den falschen Weg genommen hatte. Jetzt, nach dem Unwetter – es regnete immer noch – war es nicht so muffig drinnen, wie es von außen den Anschein gemacht hatte.

„Ich habe hier mit Senol noch gesprochen.“, stöhnte Meoran, der sich achtlos auf einen Hocker am nächsten Tisch plumpsen ließ und dann da hing wie ein nasser Sack Kartoffeln. Puran konnte ihm das nicht verdenken, er fühlte sich ähnlich. „Hier gibt es nur Verrückte und Besoffene, auf ein komisches Gespräch mehr oder weniger kommt es hier auch nicht an.“

„Raffiniert.“, bemerkte Dasan Sagal und sah sich um, „Ich hoffe, dass dein Verdächtiger bei all den zwielichtigen Genossen hier nicht auch heimlich Stammgast ist. Also, dazu passen würde er jedenfalls.“ Er klopfte Puran kurz auf die Schulter, ehe er sich aufmachte, um Getränke zu ordern. Die beiden Geisterjäger blieben sitzen und schwiegen eine kurze Weile, in der der Senator seinen Lehrmeister besorgt anblickte, während der sich wieder durch die inzwischen völlig zerzausten und obendrein nassen Haare fuhr.

„Was ist passiert, Meoran?“, fragte er dann und zwang sich, den Schock über Kitas Tod zur Seite zu schieben – es gab hier Wichtiges zu klären, dafür brauchte er einen klaren Kopf.

„Neulich hat Senol mich hergebeten, als ich als… Laufbursche von Minh-În quasi zum König kam, um mit ihm zu sprechen über die Verhältnisse an der Grenze. Er hat mir erzählt, Emo bekäme Besuch von Lianern, was uns etwas stutzig gemacht hat…“ Er brach unschlüssig ab, fuhr sich wieder durch die Haare und erschauderte in einem Schwall von Elend, der ihn wohl überkam, und Puran fühlte sich gleich mit elend, weil er das Gefühl hatte, sein Freund finge gleich an zu weinen.

„Ganz ruhig.“, versuchte er es mit einer Zuversicht, die er nicht empfand; er war doch selbst kaum weniger aufgewühlt. „Ruhig, stress dich nicht. Das heißt, Senol hat Emo nachspioniert?“

„Es war seine eigene Idee.“, wimmerte Meoran, beugte sich vor und ließ den Kopf wie ein Betrunkener auf den Tisch fallen, was ein unschönes Rumms gab. „Es war seine Idee, ich hätte – ich hätte ihn daran hindern sollen, ich habe von Anfang an kein gutes Gefühl gehabt… u-und… und dennoch habe ich ihn noch bestärkt, wir müssten herausfinden, was der Sack treibt, und… damit habe ich Senols Todesurteil unterzeichnet! Himmel, ich begreife noch gar nicht, was ich angerichtet habe, ich bin ein Familienmörder!“

„Nun macht aber mal kein größeres Drama als nötig, Herr.“, unterbrach Dasan Sagals Stimme Meorans Heulen, „Das wart Ihr doch schon vorher, soweit ich weiß, oder waren die Flüchtlinge aus Fann etwa keine Familien?“ Puran schnappte nach Luft über diese Taktlosigkeit.

„Sagal, das reicht!“, machte er seinen Standpunkt klar, doch der Ältere stellte die Getränke auf den Tisch und seufzte schwermütig.

„Vergebt mir, ich habe es nicht böse gemeint. Ich bin nur nach all den Jahren, die ich schon lebe, etwas zu pragmatisch für diese Gefühlsduseleien.“ Meoran hob seinen Kopf wieder und wischte sich hastig über die glänzenden Augen, ehe er sich räusperte und nach dem Schnapsglas griff.

„Vielleicht hilft das.“, seufzte er, „Sagal hat ja recht, Puran. Wir haben keine Zeit dafür, mit meinen Schuldgefühlen muss ich selbst klar kommen. Auf dein Wohl, Puran.“ Puran sagte nichts und senkte nur bedrückt den Kopf, während sein Lehrer den Schnaps in einem Zug austrank und das Glas mit unnötiger Heftigkeit zurück auf den Tisch knallte. Da sagte er so tapfer, er musste selbst klar kommen, davon sah der Herr der Geister aber noch nicht viel; der arme Kerl war ja vollkommen psychisch im Keller.

„Dann meinst du, Emo hat Kitas Haus angezündet?“, fragte er, um das Thema wieder auf den Punkt zu bringen, „Weil er gemerkt hat, dass Senol ihn bespitzelt?“

„Vielleicht hat er etwas herausgefunden bezüglich der Lianer.“, orakelte Herr Sagal, „Wenn der Typ wirklich Lianer bei sich hat – die sind Mangelware seit einigen Jahren, wie wir wissen – könnte es entweder ein dummer Zufall sein, ich meine, bestimmte Vorlieben gibt es überall, oder es sind tatsächlich Botschafter, die von Scharan kommen. Allerdings erscheint mir das Senden von Boten, die dauernd zwischen Ghia und Tharr pendeln, als sehr umständlich.“

„Davon abgesehen, dass Scharan ziemlich dumm wäre, gerade auffällige Lianer als Boten zu nehmen.“, erklärte Puran und versuchte mit einem Schluck Alkohol, ebenfalls so pragmatisch denken zu können.

„Nicht unbedingt, vielleicht hat er es vorsätzlich getan. Wenn er überhaupt etwas damit zu tun hat, das wird schwer zu beweisen sein. Wenn Henac Emo damit zu tun hat, wäre es vielleicht am besten, den Schurken einzufangen und zur Rede zu stellen. Je länger wir damit warten, desto mehr Zeit hat er, sich eine Geschichte auszudenken, um die Wahrheit zu vertuschen.“ Dasan Sagal trank seinen Schnaps ebenfalls und addierte dann: „Sofern es tatsächlich etwas zu vertuschen gibt.“

„Ihr denkt also, Emo ist nicht daran beteiligt?“, wunderte Meoran sich, „Wer soll sie sonst umgebracht haben? Senol war zwar etwas trottelig, aber deshalb hätte er noch lange nicht sein eigenes Haus angezündet.“

„Unterschätzt Emo besser nicht.“, meinte Sagal nur und räusperte sich, „Er ist ein zwielichtiger Typ und seine wahren Ziele und Absichten weiß er offenbar vor jedem zu verschleiern. Kann sein, dass er Euch anlügt. Dass er in Wahrheit Scharans treuer Hofhund ist und Kitas getötet hat, weil sie irgendetwas wussten, was sie nicht sollten. Kann auch sein, dass er Scharan anlügt und tut, als wäre er sein Gefolgsmann, um irgendetwas anderes zu erreichen, und um ihm seine Treue zu beweisen hat er Kitas getötet. Oder er lügt alle Beteiligten an und hat vollkommen andere Ziele im Kopf, die nicht zwingend etwas mit Euch oder Scharan zu tun haben müssen. Welche Rolle Kitas Tod dabei spielt, wissen wir nicht; wir wissen nicht, ob und was Senol herausgefunden hat. Wir wissen auch nicht, ob Emo wirklich Kitas getötet hat. Vielleicht hatte Herr Kita ja in anderen Kreisen Feinde, und dass sie jetzt zuschlagen war eben Zufall. Oder Wille der Geister, wie man es nimmt.“

„Wille der Geister?“, fauchte Puran, dem der Pragmatismus jetzt zu weit ging, „Die Geister können doch nicht wollen, dass Senol und seine Familie im Feuer grausam sterben!“

„Oh, die können schon.“, erwiderte Dasan Sagal kaltblütig und dem Jüngeren lief es den Rücken herunter vor Entsetzen. „Wir reden hier nicht von einem unsterblichen Wohltätigkeitsverein, Senator Lyra. Sie können und sie tun es, glaubt mir. Ihr selbst solltet das doch am besten wissen. Die Geister sind sadistische Bastarde und sie spielen mit uns wie mit Schachfiguren, weil ihnen langweilig ist.“

Das hektische Öffnen der Tür unterbrach das Gespräch, und Meoran fuhr abrupt von seinem Platz hoch, als ein Mann mit Kapuzenumhang durch die Tür schneite, der den komischen Gestalten in der Taverne in nichts nachstand.

„Wer ist denn das?“, wollte Puran wissen, alarmiert, wer da kommen mochte, doch sein Meister schien nicht beunruhigt zu sein, als der Mann seine Kapuze zurückschlug und zu ihnen herüber eilte.

„Herr, das Haus stand in Flammen und die Familie war hin.“, erklärte er mit einer hastigen, steifen Verbeugung vor Meoran, „Aber das Mädchen habe ich schnappen können.“ Sofort war die Frage nach seiner Identität egal und Puran japste.

„Moment, Sora?! Sora lebt?!“ Meoran seufzte und nickte dem Neuankömmling zu.

„Er gehört zu meiner Sicherheitstruppe in Janami.“, klärte er die anderen zwei auf, „Ich habe ihn hergeschickt, um die Kitas aus Vialla zu bringen, leider war das etwas zu spät… wie wir wissen. Aber das Kind ist noch am Leben? Wo?“

„Ich habe sie in einen Sack gesteckt, sie ist ohnmächtig, Herr.“, berichtete der Soldat, „Ich wollte nicht, dass sie schreit und zappelt, weil ein fremder Mann sie verschleppt, das hätte nur Aufsehen erregt; ich hoffe, ich habe ihr nicht wehgetan.“

„Schon gut, das war schlau.“, meinte Meoran, „Wo ist sie?“

„Auf dem Wagen im Sack, ich will sie auch nicht lange alleine lassen, Herr. Sie sollte so schnell wie möglich hier weg.“

„Du bist nicht in der Position, mir Befehle zu erteilen, Kerl.“, sagte Meoran und trat vom Tisch weg, „Das weiß ich selbst. Wir bringen sie nach Janami, jetzt sofort.“

„Ihr wollt sie zu dir bringen?“, fragte Puran, „Und dann?“

„Von dort aus weg, weit weg, und sie darf nicht mehr zurückkommen, wenn sie am Leben bleiben will. Ich weiß, was ich tue, Puran, vertrau mir. Ihr beide solltet lieber Emo suchen, jetzt sofort.“ Die anderen Männer standen auch auf und Dasan Sagal zahlte die Getränke beim Wirt.

„Dann komme ich nach.“, antwortete Puran mit einem Nicken, „Soll ich Tare und Shais Bescheid sagen?“

„Ich schicke ihnen schon selbst eine Nachricht. Sorge lieber dafür, dass deine Politiker in Thalurien dich nicht vermissen, wenn du noch ganz nach Minh-În willst.“

Die vier Männer verließen rasch die Taverne, und während Meoran und sein Untergebener sich in dem Wagen eilig nach Osten aufmachten, machten die beiden andere sich auf den Weg zu Emos Wohnung.
 

Die Wohnung des Kollegen war nicht sehr weit weg von Kitas nicht mehr vorhandenem Haus. Weil Herr Sagal schlecht zu Fuß war, teleportierten sie sich. Als Puran wild an die Haustür hämmerte, spürte er zum ersten Mal den Zorn in sich aufflammen. Wenn der Kerl tatsächlich verantwortlich war für den Tod der Kitas, wäre das übel. Er hatte noch keine Zeit für ein schlechtes Gewissen darüber, dass er so dumm gewesen war, Emo wieder in den Rat zu lassen. Es war keine richtige Überraschung, dass er offenbar doch noch Ulan Manha kontaktierte, aber dass es so enden würde, hätte er ebenfalls ahnen müssen.

„Verdammt, Emo!“, brüllte der Herr der Geister wutentbrannt, als niemand öffnete, „Mach deine verdammte Tür auf, oder ich tue es und das wird teuer für dich!“

„Herr, beruhigt Euch doch.“, seufzte der alte Sagal hinter ihm und verengte die Augen zu Schlitzen. Puran fuhr schnaubend herum.

„Ich soll mich beruhigen?! Verflucht noch mal, ich war blind und naiv, verdammt! Das liegt wohl in der Familie, mein Vater war auch dumm genug, um jahrelang weder zu schnallen, dass sein Vater ein machtgeiler Arschsack war, noch dass seine Mutter verdammt noch mal Sex mit Zoras Chimalis hatte! Und ich werde gerade wahnsinnig darüber, dass alles, was ich in den Händen halten und kontrollieren sollte, mir gerade entgleitet wie schmelzendes Fett! Ich verfluche die Himmelsgeister, diese elenden, dreckigen, grausamen Verräter, die Kitas nicht rechtzeitig gewarnt haben oder-…!“ Ihm war nicht bewusst, dass er während seiner Schimpferei immer weiter gegen die Tür gehämmert hatte, so erschrak er sich zu Tode, als diese plötzlich doch geöffnet wurde und sein Kollege ihn anfauchte:

„Willst du einen Tritt in die Eier, du verdammter Penner, dass-… oh, na sowas, Häuptling Zitterhand!“ Er machte ein verblüfftes Gesicht, als er seinen Ratsführer vor der Tür erkannte, und Puran sah ihn jetzt auch an und musterte ihn pikiert, weil er nicht mehr anhatte als ein Handtuch um seinen Lenden.

„Du bist wohl gerade aus dem Bett gefallen.“, bemerkte er grimmig, „Hallo, Emo. Dass ich es überhaupt wage, deinen schmutzigen Namen in den Mund zu nehmen, du Hurensohn!“ Henac Emo lachte verwirrt, als Puran ihn rückwärts in die Wohnung stieß und gefolgt von Sagal ebenfalls eintrat.

„Ähm, nichts für ungut, Euer Besuch ehrt mich natürlich über alle maßen, aber es passt wirklich gerade nicht so gut, weißt du?“, versuchte er es etwas ungalant, „Ich habe nicht mir euch gerechnet, Puran.“

„Spare dir dein Gesülze!“, schrie der Herr der Geister ihn an, „Du verdammter Heuchler, du Lügner, ich glaube dir kein einziges Wort! Du hast Senol ermordet, ich werde dich verdammt noch mal zur Rechenschaft ziehen!“ Henac Emo erstarrte und seine Gesichtszüge entgleisten völlig. Puran stutzte und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihn das auch überraschte; er fragte sich, ob Emo das vortäuschte oder ob er es wirklich nicht gewusst hatte.

Was?!“, japste der Schwarzhaarige da, „Wie, tot? Senol ist tot?!“

„Verwirrt mich, dass Ihr nichts von dem Brand mitbekommen habt, die Rauchschwaden ziehen doch bis hierher.“, bemerkte Dasan Sagal, „Und zieht Euch endlich etwas an.“

„Brand? Was zum Geier? Ich war den ganzen Tag nicht außer Haus, verflucht, woher soll ich sowas wissen? Wieso ist Senol plötzlich tot?“

„Ja, das fragen wir uns auch.“, sagte Puran und stampfte an seinem unfreiwilligen Gastgeber vorbei in die kleine Stube der Wohnung. Die Fenster waren geschlossen und der Wohnraum wurde nur von einer Talglampe auf dem Schrank erleuchtet. Auf dem Schlaflager hockte eine nackte junge Frau und machte ein perplexes Gesicht, als die drei Männer herein kamen. Puran räusperte sich. „Bedeck dich, du Hure, ich bin verheiratet und habe kein Bedürfnis, deine Titten zu sehen!“ Emo lachte hinter ihm und warf der Hure, die er sich geliehen hatte, ein Laken über den Kopf, sodass sie nicht mehr zu sehen war. Sie quiekte, wehrte sich aber ansonsten nicht.

„So obszön heute, na, du hast aber einen sehr schlechten Tag, Puran, was? Im Gegensatz zu dir bin ich nicht verheiratet, kann mir also jeder Zeit so viele Nutten holen, wie ich will, und gegen Titten habe ich – abermals im Gegensatz zu dir, wenn man deine Frau so sieht – auch nichts.“

„Ich bin nicht hier, um mit dir über deine Vorlieben bei Huren zu sprechen.“, zischte der Herr der Geister und würdigte dem Haufen unter dem Laken in der Ecke keines Blickes mehr. „Du warst also den gesamten Tag nicht außer Haus?“

„Nein, frag die Kleine, sie wird es dir auch sagen.“, machte der Mann, der sein Handtuch jetzt weglegte und anfing, sich hektisch die Hosen anzuziehen.

„Ich bin schon seit gestern Nacht hier.“, jammerte die Nutte unter dem Laken, „Dieser lüsterne Kerl kriegt gar nicht genug, Himmel.“ Der Schwarzhaarige blaffte sie an:

„Halt den Rand, du elende Schlampe, sonst kriegst du keinen einzigen Krümel von mir!“ Er wandte sich den beiden Besuchern zu, jetzt immerhin in Hosen. „Was ist jetzt mit Senol?! Und wieso zum Geier soll ich ihn ermordet haben?!“ Dasan Sagal, der sich besser kontrollieren konnte als Puran, der vor Zorn zitterte, erzählte kurz, dass es gebrannt hatte und dass die Familie Kita dabei augenscheinlich ums Leben gekommen war, von Soras Überleben sagte er nichts. „Was, alle sind tot? Sogar die Kleine? Was für ein Jammer.“, machte Emo und fuhr sich durch die strähnigen, ungekämmten Haare.

„Als ob dir das nicht am Arsch vorbei ginge.“, grummelte der Herr der Geister.

„Ja – ja, du hast recht, an sich kümmert es mich wenig. Ich hatte keinen Bezug zu Senol, so lange kenne ich ihn ja noch nicht. Wie auch immer, und was soll ich jetzt damit zu tun haben?“ Puran beherrschte sich mit aller Macht, um nicht unüberlegt drauf los zu reden – Meoran sollte er am besten gar nicht erwähnen.

„Ich habe mich umgehört.“, sagte er so, „Ich habe aus vertraulichen Quellen entnommen, dass Senol wohl bei dir Lianer gesehen haben soll. Und wenn diese Lianer dein Draht zu Ulan Manha nach Ghia sind, rein zufällig, wäre es nicht unlogisch, wenn du ihn zum Schweigen bringen wollen würdest.“ Der Ältere starrte ihn an und fing dann an zu lachen. In seinem Gesicht erkannte Puran keine Geheimnisse, keine Lügen… aber das war leicht gesagt. Emo war der geborene Lügner. Er wusste genau, wie er aussehen musste, wenn er nicht auffallen wollte.

„Was, Lianer? Ja, das ist wahr.“, gab er verblüffenderweise zu und Puran stutzte. Moment, er gab es zu?

„Was soll das heißen?“

„Hast du mir nicht zugehört, seit ich wieder im Rat bin? Ich rede natürlich mit Manha, du Horst! Er soll doch schließlich glauben, ich würde für ihn arbeiten, und ohne Kontakt zu ihm kann ich schlecht Informationen über ihn für euch besorgen. Deswegen bin ich doch hier. Senol hat offenbar auch nicht zugehört. Wie auch immer, ich habe damit nichts zu tun. Vielleicht hat Manha, oder sein Bote, ja gemerkt, dass Senol sie beobachtet, und hat es deswegen selbst beendet. Er ist gut mit dem Feuer, soweit ich das aus meiner Zeit von Ghia weiß.“ Puran und Dasan Sagal sahen sich schweigend an und der Senator runzelte die Stirn. Ja, er erinnerte sich an Ulan Manha. An die Begegnung, die sie gehabt hatten, direkt nachdem Nalani gestorben war.

Er war tatsächlich gut mit Feuer.

„Aber ist es nicht reichlich umständlich, wenn Manha selbst nach Tharr reist, um solche Leute zum Schweigen zu bringen?“, hakte der alte Sagal dann nach, „Und außerdem, wenn diese Lianerboten kein Geheimnis waren, wozu musste Senol Kita dann überhaupt sterben? Dass er irgendetwas wusste, was er nicht wissen sollte, ist das einzige, was mir in den Sinn kommen mag. Und dass er jetzt tot ist kann nur heißen, dass irgendjemand nicht damit einverstanden war, dass er etwas gewusst hat.“

„Und was sollte er gewusst haben?“, stöhnte Henac Emo und suchte in dem Chaos der Stube nach einem Hemd, „Was sollte es Spannendes von einem Lianerboten zu erfahren geben, das irgendwem schaden könnte?“

„Wie wäre es mit Fakten über Manha selbst? Seine Herkunft und seine… Abstammung?“, fragte Dasan Sagal, dabei blickte er nur Emo an, doch sein innerer Blick galt Puran, obwohl dieser es in seinem Zorn nicht merkte. Henac Emo sah den Telepathen eine Weile schweigend an.

Abstammung? Der Kerl weiß viel. Mehr, als gesund für ihn ist. Es ist besser, wenn niemand weiß, wessen Enkel Ulan Manha tatsächlich ist… genau aus diesem Grund musste ja Nalani sterben, die Nutte, die das herausgefunden hat.

Der Geisterjäger senkte die Brauen ein wenig, ohne dabei mit seiner Mimik seine Besorgnis zu verraten. Er war ein Lügner. Er hatte schon sein Leben lang gelogen und sein Geist war fähig, sich so zu verschließen, dass nicht einmal der Kopf der Sagal fähig wäre, seine Gedanken zu lesen, sofern er sich nicht ausdrücklich extrem viel Mühe gäbe.

Ja… und wo hat sie das herausgefunden? In Thalurien, zumindest teilweise. Warum wundert es mich dann, dass dieser Mann, der quasi Herr über ganz Thalurien ist, wenn er nur will, das auch weiß? Sein Blick schweifte unwillkürlich auf Puran. Komisch, dass unser Blitzmerker vom Dienst es immer noch nicht geschnallt hat. Nun, die Zeit wird kommen, Puran, da wirst du es erfahren und dir vor Angst in die Hose machen, ganz sicher. Und bis dahin muss ich mit eurem dämlichen Rat herumhängen.

„Was soll es da geben?“, fragte Emo, „Ich weiß nicht viel über seine Abstammung. Er kommt aus Holia und hatte eine große Familie, das ist alles, was ich weiß. Und, dass die Lianer seinen Bruder ermordet haben, deswegen verabscheut er sie ja so. Ich weiß ja auch nicht, was Kita gewusst haben soll, aber was immer es war, wenn er dem Lianertypen nachspioniert hat, macht es für mich den größten Sinn, dass Manha selbst ihn ausgeschaltet hat; ob nun persönlich oder durch einen Mittelmann.“

„Mittelmann, ja.“, zischte der Senator vor ihm, „Und der bist nicht zufällig du, was?“

„Ich?! Alter, Puran, was hast du für Drogen genommen, dass du so auf Krieg aus bist gerade?! Ich habe nichts damit zu tun, verdammt, und Manha denkt, dass ich euch für ihn ausspioniere, wäre es da nicht sehr kontraproduktiv, ausgerechnet mich ihn töten zu lassen, wenn das bei euch doch Misstrauen weckt? Also wirklich, als erfolgreicher Absolvent der Akademie für Politikwissenschaften hatte ich dich für schlauer gehalten, Häuptling.“

„Senator Lyra, immer noch.“ Dass der Verräter so offen über Manha sprach, war verwirrend und was ihn noch mehr beunruhigte, war die Logik in seinen Worten. Was, wenn er tatsächlich nicht an Kitas Tod Schuld war? Zumindest wirkte der Schwarzhaarige absolut nicht, als würde er sich seine Gründe gerade aus den Fingern saugen. Entweder hatte er dieses Netz aus Lügen seit vielen Wochen oder gar Monden und Jahren gesponnen und eingeübt, oder er sprach wirklich einmal die Wahrheit. Puran hatte ein furchtbares Gefühl, dass er irgendeinen Fehler begehen würde, egal, was er tat. Und dass die Geister ihm dabei nicht helfen würden.

Sprecht zu mir… befahl er ihnen in Gedanken, Was soll ich tun?

Und die Geister verrieten ihn abermals, weil sie kein Wort sagten. Als sie es nach etlichen Momenten doch taten, war es nicht hilfreich.

„Das Ende der Welt wird bald kommen, Lyra. Und es wird Schlimmeres mit sich bringen als bloß Chaos.“
 

Der Abend war hereingebrochen, aber in Lorana war es noch hell. Im Sommer ging die Sonne spät unter. Der Regen hatte das Klima erträglicher gemacht – dabei hatte den Kindern die Hitze nur wenig ausgemacht.

„Versuch es noch mal. Du musst dich einfach auf das Feuer konzentrieren!“

„Verdammt, das tue ich doch!“ Karana stampfte wutentbrannt mit dem Fuß auf, ehe er seinen Freund empört ansah, der eine kleine, aber deutlich sichtbare, magische Flamme auf seiner Hand balancierte. Tilan Sagal war nur einige Monde älter als Karana, aber er konnte die Grundzauber zaubern – und der Sohn des Herrn der Geister nicht, was ihn zutiefst erzürnte. Ja, er konnte das Wetter rufen… aber so etwas Simples wie die Grundzauber verwehrten die Geister ihm. Ihm, obwohl er doch der Sohn des Herrn der Geister war!

„Offensichtlich tust du es nicht. Dein Geist ist nicht stabil genug dafür, glaube ich. Das heißt, du bist aufgewühlt, deswegen geht es auch nicht. Sei nicht so wütend, dann geht es besser!“ Es war nicht Tilan, sondern sein großer Bruder Azan, der geantwortet hatte. Der Älteste der vier anwesenden Jungen war schon elf und kannte sich natürlich besser aus. Jetzt saß er zusammen mit Simu auf der Türschwelle von Lyras Haus und sah dem Zauberunterricht interessiert zu. Es war seine Idee gewesen, Karana überhaupt die Grundzauber beizubringen, der Kleinere war nur offenbar kein besonders lernfähiger Schüler. Azan wusste, dass es nicht am Talent lag, sondern mehr am Fingerspitzengefühl. Er selbst war Telepath wie sein Vater und sein Großvater; an elementaren Zaubern würde er nicht mehr als die Grundzauber können, aber die konnte er relativ gut.

„Mein Geist hat stabil zu sein, wenn ich es ihm befehle!“, zischte Karana aufmüpfig, „In der Klasse sind viele andere Schamanen, und fast alle von denen können die Grundzauber! Nur ich nicht!“

„Du kannst dafür das Wetter beeinflussen, das ist doch viel schwerer!“, behauptete Tilan, „Jetzt reg dich nicht so auf, versuch es noch mal, Karana. Du lernst das schon noch. Wie früh oder spät jemand diese Grundzauber lernt, hat gar nichts zu heißen.“

„Ja, ein Onkel dritten Grades von mir hat sie erst mit zwölf gekonnt.“, sagte Azan schulternzuckend und Simu neben ihm sah ihn blöd an.

„Du redest schon wie dein Großvater! Kennt ihr eure ganze Familie persönlich?“

„Natürlich nicht, Himmel bewahre, das müssen hunderte sein, auf ganz Tharr verstreut!“

„Ich dachte, ein, äh, Ururonkel oder so wäre sogar mal nach Ghia ausgewandert.“, widersprach Tilan, und Simu keuchte.

„Himmel und Erde, ihr seid ja eine Seuche.“

Karana halfen die weit verbreiteten zweige der Sagals überhaupt nicht. Er brannte darauf, die stinknormalen Zauber zu lernen – gerade, wenn er Loron mal wieder verhauen wollte, war es nützlich, Zauber zu können, die nicht so gefährlich waren wie das Wetter; dann konnte er zaubern und damit angeben, ohne seinem Vater Ärger zu machen. Karana vermisste seinen Vater… er war jetzt schon einige Tage weg in Aleu. Der Junge seufzte und versuchte, sich auf das Feuer zu konzentrieren, um Vaira zu zaubern. Doch er wurde unsanft unterbrochen, als er seine kleine Schwester und Niarih johlen hörte, die gemeinsam mit ihren Müttern vom Brunnen zurückkehrten. Der Junge fluchte ungehalten und fuhr zu den kleinen Mädchen herum.

„Seid doch still, ihr dummen Gänse, ich kann mich so nicht konzentrieren!“ Niarih fuhr sofort eingeschüchtert zurück, doch Neisa streckte ihm nur die Zunge heraus.

„Dann streng dich mehr an, du Verlierer.“, sagte sie frech, und er zischte wütend, kurz davor, sie zu schlagen. Doch seine Mutter warf ihm einen strengen Blick zu, sodass er es ließ.

„Reiß dich am Riemen, Karana.“, sagte sie, „Auch, wenn du der Erbe deines Vaters bist, macht dich das noch lange nicht zu seinem Stellvertreter in seiner Abwesenheit, solange du nicht größer bist als ich.“ Der Junge murrte und schluckte seinen Frust tapfer herunter; einen Moment später erschrak er sich beinahe zu Tode, als Niarihs Großvater plötzlich hinter Chitra aus dem nichts auftauchte, in seinem Regenmantel und wie gewohnt mit seinem Gehstock, der sowohl sein Statussymbol als einflussreicher Mann als auch seine Stütze darstellte. Die anderen fuhren ebenfalls herum, Azan erhob sich rasch wie ein salutierender Soldat.

„Großvater!“, sagte er dabei, und seine Cousine Niarih klebte sofort an Dasan Sagals Beinen. Sie schien sich als einzige nicht erschrocken zu haben.

„Willkommen zurück, ich hab dich lieb.“, sagte sie dabei, und der Ältere fand einen winzigen Moment Zeit, um gerührt zu lächeln. Niarih hing mehr als alle seine anderen Enkel an ihm; was wohl daran lag, dass sie mit ihrer Mutter in seinem Haus lebte. Und da sie keinen Vater hatte, war ihr Großvater eben ihre liebste männliche Bezugsperson.

„Ich habe dich auch lieb, Niarih.“, seufzte er, ehe er Chitra und Leyya und am Ende auch Azan anblickte.

„Vater.“, sagte die Tochter überrascht, „Du bist zurück? Was ist geschehen, weswegen du so überstürzt nach Vialla gereist bist?“

„Ich soll Leyya von Puran eine Nachricht überbringen.“, sagte der Telepath steif, „Sorge dich nicht, es geht ihm gut. Er wird noch etwas länger weg sein, weil er jetzt auf dem Weg nach Minh-În ist.“

„Minh-În?“, keuchte Leyya und schlug die Hände vor den Mund, „Oh nein, i-ist etwa was mit Meoran passiert…?!“

„Nein, Meoran geht es gut. Es geht um Kitas. Es sind schlimme Dinge passiert… wir sollten das drinnen besprechen.“ Dann wandte er sich an Azan. „Pass gut auf die anderen auf, sei artig.“ Der braunhaarige Junge verneigte sich ehrfürchtig und stolz, dass er vom Großvater die Verantwortung bekam, auf die Jüngeren aufzupassen. Er würde ihn sicherlich nicht enttäuschen.
 


 

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buahaha. Ich mag Emo xD Mit dem zu schreiben bockt sich ja sowas von xD Er ist ja so ein dermaßener Arsch! xD Und Karana ist auch so ein Arschkind, muahahaha xD

Sohn der Blitzspeere

Die Reise nach Minh-În war lang und nass, weil es immer noch regnete. Als Puran den Bergvorsprung erreichte, auf dem Meorans Haus stand, wurde er von Saidah überschwänglich und etwas leidenschaftlicher als ihm geheuer war begrüßt. Die junge Frau warf sich in seine Arme und drückte ihren zierlichen Körper an seinen, das Gesicht in seiner Schulter vergrabend. Für ihre dreizehn Jahre war sie ziemlich groß gewachsen.

„Du bist da, endlich!“, keuchte sie, als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte nach dem Ansturm, „Oh Himmel, Puran, das ist alles so furchtbar. D-dass Kitas einfach so, und die arme Sora…“

„Dann sind dein Vater und sein Soldat also schon angekommen.“, seufzte der Mann beruhigt und schob die Tochter seines Lehrmeisters von sich, um sie zu mustern. Er sah sie nicht oft; und wenn er sie sah, galten seine ersten Worte zu ihr normalerweise der Tatsache, dass sie ihrer Mutter mit jedem Tag ähnlicher wurde. Tatsächlich sah sie jetzt schon wie eine noch sehr junge und zierlichere Ruja aus. Saidah war bildschön… Puran hoffte für seinen aufmüpfigen Sohn, dass er das zu schätzen wissen würde, wenn er alt genug sein würde, um Saidah zu heiraten. Karana und Saidah waren sich seit Sukutais Bestattung nicht mehr begegnet, aber Meorans Tochter fragte jedes Mal nach ihrem Verlobten, wenn Puran sie und ihren Vater besuchen kam.

„Geht es Karana gut?“, kam dann, und „Wird er auch ein hübscher Mann?“ Aber für sowas war jetzt keine Zeit.

Die junge Frau nickte ermüdet und strich sich ein paar wirre schwarze Locken hinter die Ohren.

„Ja, sie sind gestern Nacht angekommen. Vater geht es nicht gut… ich mache mir fürchterliche Sorgen. Ich bin so froh, dass du hier bist, jetzt bin ich nicht mehr mit Tanuq alleine für alles zuständig… ich komme mir so hoffnungslos verloren vor!“

„Was ist mit Meoran?“, fragte der Herr der Geister alarmiert, als sie rasch das Haus betraten, und er legte seinen klitschnassen Umhang ab und zog schnell die Schuhe aus, um nicht das ganze Regenwasser im Haus zu verteilen.

„Wir hatten zuerst Angst, dass es noch ein Schlaganfall wäre, als er hier ankam, ist er quasi umgefallen und ist seitdem völlig neben sich… ich glaube aber jetzt, dass es doch kein Anfall war, vermutlich ist es das Zusammenspiel seines anfälligen Herzens und der psychischen Zustände wegen dieser Sache…“ Puran erbleichte und starrte die Frau an, die sich sichtlich bemühte, so locker darüber zu sprechen, wie es ging, vielleicht, um sich selbst zu beruhigen.

„Wie bitte?! Um Himmels Willen, das hat noch gefehlt…“ Saidah fuhr zusammen, als er an ihr vorbei die Treppe hinauf zum Schlafzimmer hechtete, wohin sie ihm eilig folgte. Meoran saß zwar aufrecht im Bett, aber er sah wirklich fürchterlich aus, wie ein eingefallener alter Mann, der dabei war, seine letzten Atemzüge zu tun. Atmen tat er allerdings relativ besonnen, obwohl er etwas keuchte und sich, wie schon in Vialla immer, wieder und wieder nervös mit zittrigen Händen durch die braunen Haare fuhr, deren Farbe an vereinzelten Stellen bereits zu verblassen begann. Der Meister zwang sich zu seinem leichten Lächeln, als Puran und Saidah herein kamen.
 

„Du bist da, so ein Glück, Puran. Vergib mir, wenn ich dir einen Schrecken eingejagt habe, es ist halb so wild.“

„Himmel…“, stöhnte der Jüngere und ließ sich ans Fußende des Bettes sinken, „Du siehst scheiße aus!“

„Ja, ich weiß… es wird schon. Saidah hat mir Misteltee gekocht gegen den Bluthochdruck. Ich hatte plötzlich das Gefühl, mein Herz würde so sehr rasen, dass es mir davonläuft, und für einen Moment war mein Gleichgewicht dann weg… aber ich glaube, es wird schon wieder. Ich… ich bin immer noch fassungslos über das, was geschehen ist. Weiß Leyya, dass du hier bist?“

„Ja, ich habe Sagal zurück nach Lorana geschickt, er sollte ihr das sagen…“ Der Lehrer fuhr sich abermals durch die Haare, während seine Tochter artig die leere Teetasse wegbrachte und mit den Worten „Ich bringe dir noch einen, sicher ist sicher.“, den Raum verließ. Meoran sah seinen Schüler kurz an.

„Warst du bei Emo?“

„Ja, aber ich bin ehrlich gesagt nicht sicher, ob er es wirklich war. Vielleicht war es Scharan selbst, oder Handlanger, die von ihm aus kamen. Als wir zu Emos Wohnung kamen, war er, na ja…“ Puran räusperte sich gekünstelt, „Sagen wir, gerade mit einer Hure zugange, und angeblich war die schon den gesamten Tag mit ihm da in der Wohnung. Er ist ein guter Schauspieler, das wissen wir, es kann sein, dass er nur Scheiße erzählt… der Punkt ist, wir können es nicht beweisen. Wir können ihn nicht einfach ohne Beweise wieder aus dem rat treten. So gern ich das würde.“ Meoran brummte.

„Dein Vater konnte das auch, gab es jemals wirklich handfeste Beweise für seine Beteiligung an Rujas Tod?“ Der Senator zog bekümmert die Schultern zusammen bei der Erwähnung seiner ersten Flamme, die schon so lange tot war.

„Na ja, aber die Geister haben uns damals unterstützt. Momentan tun sie das nicht… sie haben mir keine Antworten gegeben.“ Die beiden Männer schwiegen sehr lange, bis Saidah mit dem Tablett zurückkam und ihrem Vater Tee brachte; für Puran hatte sie extra Kaffee gemacht, und der Mann bedankte sich verlegen bei ihr für die Mühe. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, meine Liebe, mach dir keinen Kopf. Wirklich, vielen Dank, Saidah.“ Sie lächelte ihn nur zärtlich an und setzte sich dann zu ihrem Vater ans Bett.

„Das Ende der Welt, Puran… macht uns alle nervös. Vermutlich sogar die Geister. Herr Sagal hat schon recht, wenn er sagt, sie wären sadistische Meuchler. Ich frage mich, wenn ich einmal sterbe und ein Teil der Geisterwelt werden sollte, ob mir dann auch so langweilig sein wird.“

„Jetzt lebst du bitte erst mal noch etwas.“, bemerkte Saidah streng und hinderte ihren Vater daran, sich abermals durch die Haare zu fahren. „Du machst mich verrückt mit dem Gefummel, leg dich doch einfach hin und ruh dich aus.“ Meoran lachte leise, aber der Herr der Geister am Fußende spürte, dass es kein wirkliches Lachen aus tiefstem Herzen war. Er war selbst beunruhigt und der Tod von Senol und seiner Frau saß ihm noch immer im Genick, genau wie Puran auch.

„Wo ist Sora überhaupt?“, fiel ihm dann ein; die kleine Tochter von Senol Kita hatte er über die Sorge um seinen Meister ganz vergessen. Saidah erhob sich.

„Am besten, wir lassen Vater schlafen und sehen nach ihr.“, meinte sie, „Brauchst du noch irgendwas, Vater?“

„Ach Quatsch.“, machte der Ältere mit einer abwinkenden Handbewegung, „Mir geht es gut, Saidah. Sorgt euch nicht… seht lieber zu, dass Tanuq die Kleine endlich wach bekommt… sie muss noch vor Sonnenuntergang hier verschwinden, je eher, desto besser. Hier kann sie nicht bleiben.“
 

Da war etwas dran, sagte der Herr der Geister sich, als er mit Saidah das Zimmer verließ und sie einen Raum weiter das Kindermädchen Tanuq vorfanden. Der Mann, einige Jahre jünger als Puran, saß neben dem Schlaflager des Zimmers, das offenbar Saidahs Zimmer war. Auf dem Lager lag die kleine Sora, unverletzt, aber vermutlich schlafend. Sie hatte neue Kleider bekommen, vermutlich alte von Saidah, die ihr längst nicht mehr passten und die so doch noch Verwendung fanden.

„Sie schläft immer noch?“, fragte die Hausherrin jetzt an Tanuq gewandt, und der Mann nickte.

„Offenbar. Guten Morgen Senator Lyra, Herr, ich hatte noch gar nicht die Gelegenheit, Euch anständig zu begrüßen.“ Er erhob sich und verneigte sich, worauf Puran seufzte.

„Setz dich, bitte, du machst mich wahnsinnig mit deiner unterwürfigen Ader. – Ist sie seit sie Vialla verlassen hat kein Mal aufgewacht?“

„Doch, natürlich, aber immer nur kurz, der Schock sitzt zu tief, fürchte ich.“, war die Antwort der Frau, „Sie hat gesehen, dass das Haus brannte, sie weiß mit großer Sicherheit, dass ihre Eltern tot sind, aber mehr auch nicht. Es ist ein zufälliges Glück, dass sie außer Haus war, als das Feuer ausbrach. Ob Emo, oder Scharan, oder wer immer dafür verantwortlich ist, das wohl weiß?“

„Ich habe Emo zumindest nicht gesagt, dass sie lebt. Er glaubt, sie sei tot. Was Scharan anbelangt, keine Ahnung, was der denkt… habt ihr schon eine Idee, wohin ihr sie schaffen wollt?“ Die Schwarzhaarige seufzte und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Ja, wir – das heißt, Vater hatte die Idee. Wir warten eigentlich nur auf die Sicherheitstruppe, die irgendwann im Lauf des Tages herkommen soll. Der Mann, der Sora gemeinsam mit Vati aus Vialla hergebracht hat, wurde gleich gestern Nacht losgeschickt zum Stellvertreter der Kriegertruppe.“ Der Senator sah auf das kleine Mädchen, das schlief und versuchte, der alptraumhaften Realität zu entfliehen, in der seine Eltern tot waren.

„Und was macht die Kriegertruppe dann mit ihr?“ Statt einer Antwort kam zunächst ein Befehl an Tanuq.

„Gehst du bitte und machst etwas Frühstück für uns? Und halte Ausschau, ob die Männer kommen.“ Tanuq nickte eifrig und tat, wie ihm geheißen, die Tür hinter sich schließend. Sobald er außer Hörweite sein musste, sprach Saidah mit Blick auf Puran weiter. „Wir lassen sie nach Fann bringen. Weiter weg kann sie nicht und Fann ist ein Ort, an dem Scharan sie niemals freiwillig suchen würde, wenn er erfahren sollte, dass sie lebt. Niemand würde sie dort freiwillig suchen.“

„In der Tat!“, keuchte der Herr der Geister, „Ich meine, ausgerechnet Fann?! Das Land der Barbaren und Wilden, denen man noch mehr Skrupellosigkeit nachsagt als Emo und Scharan zusammen?! Na, ob sie da besser aufgehoben ist…“

„Die Geister haben Vati diese Idee gebracht.“, behauptete die junge Frau ernst, „Sie werden uns unterstützen. Vertrau mir. Du darfst keiner Seele davon erzählen, es ist wichtig, wenn nur so wenige wie möglich wissen, wohin Sora kommt. Eigentlich wissen es nur Vati, die Krieger und ich. Und wir wissen nicht mal genau, wohin, nur, dass es nach Fann gehen wird. Ich habe kein schlechtes Gefühl dabei, deswegen bin ich auch nicht beunruhigt. – Versprich es mir. Niemand darf es erfahren, nicht einmal Leyya. Niemand.“ Der Mann sah sie lange an. In ihren Zügen stand keinerlei Zweifel an dem, was sie vorhatte, obwohl ihm der Gedanke doch etwas sauer aufstieß, die arme Sora, jetzt als Waise, ausgerechnet nach Fann zu bringen. Er nickte aber zustimmend; was blieb ihnen anderes übrig? Und wenn Saidah recht hatte und es Sora dort im Südosten gut ergehen konnte, war sie tatsächlich nirgends sicherer. Selbst Henac Emo fürchtete Fann, vor allem den östlichen Teil des Landes, der an sich nicht richtig zum Zentralreich gehörte. Alles, was Puran über Ostfann wusste, waren Vorurteile und Schauermärchen; er war selbst nie dort gewesen und hatte auch zeitlebens nicht vor, dort jemals hinzugehen. Davon abgesehen, dass es gruselig war, bestand Fann größten Teils aus Wüste, und allein der Gedanke an die Hitze, die dort herrschen musste, trieb dem Mann den Schweiß ins Gesicht.

„Ich verspreche dir, ich sage niemandem ein Wort. Was ist mit Tare, Neron und Saja?“

„Sie werden natürlich von Kitas Tod erfahren, aber vielleicht erwähnen wir Sora besser nicht. Es kommt glaubwürdiger, wenn Emo nicht der einzige Depp ist, der sie tot glaubt, außerdem traue ich Neron Shai durchaus zu, sowas aus Versehen auszuplaudern.“ Das war wohl wahr; dem musste man nur ein Glas Wein zuviel geben, dann plapperte der fröhlich den größten Schund daher.

„Dann werden sie auch nichts erfahren, ja. Himmel, dass du da persönlich jetzt mit drin hängst, besorgt mich, Saidah. Du bist noch so jung und zettelst jetzt schon zusammen mit uns Verschwörungen an… wie furchtbar.“ Sie seufzte leise und senkte den Kopf.

„Mach dir keinen Kopf, ich komme klar, Puran.“

„Ich weiß, du bist schließlich die Tochter deines Vaters. Trotzdem wünschte ich, du hättest einfach… ein Kind sein können.“ Sie zeigte ein flüchtiges Lächeln.

„Ich bin jetzt eine Frau, falls es dir entgangen ist, Puran.“ Dabei sah sie ihn nicht an und er räusperte sich.

„Deine Worte gehen mir in eine unangenehme Richtung. Du sollst nicht mir schöne Augen machen, sondern Karana, wenn er einmal alt genug ist.“

„Das weiß ich und das ist auch richtig so, keine Angst. Ich wollte nicht wie eine Hure rüberkommen. Aber ich fürchte…“ Jetzt sah sie doch wieder auf und er blinzelte, als er ihren nostalgischen Blick bemerkte, der in weite Ferne schweifte, „So etwas wie eine Kindheit war mir nie zugedacht. Das wusste ich schon, als ich noch klein war.“
 

Als Tanuq zurückkehrte und berichtete, dass die Truppe gekommen wäre, rappelte Meoran sich wieder auf, obwohl seine Tochter versuchte, ihn am Aufstehen zu hindern.

„Hol die Kleine, rasch.“, sagte er, „Auf dich hören die Männer nicht, Saidah, das kann nur ich übernehmen. Mir geht es gut, Himmel noch mal.“ Er verdrehte wohlwollend die Augen, oder zumindest eines, und Puran seufzte, als er gemeinsam mit ihm herab ging, um die Männer draußen zu begrüßen. Sein Meister war immer noch etwas wackelig auf den Beinen, kam aber offenbar zurecht.

Die Truppe bestand aus einem Dutzend Männern, die alle ordentlich in Uniform vor dem Haus versammelt waren; unter ihnen war auch der Mann, der in Vialla gewesen war. Hinter ihnen standen ein Mann und eine Frau in lumpigen Kleidern, die aussahen, als hätten sie kaum mehr bei sich als das, was sie trugen; die Frau trug nur ein Stoffbündel in der Hand. Beide waren in Ketten gelegt worden und erbleichten sichtlich bei Meorans Anblick.

„In den Staub mit euch, ihr Ratten!“, zischte einer der Soldaten und stieß die beiden mit dem stumpfen Ende seiner Lanze um, sodass sie zu Boden fielen, während die übrigen Krieger artig salutierten.

„Herr, willkommen zurück.“, sagten sie im Chor. Meoran schnappte eine Weile nach Luft; anscheinend war ihm der Gang die Treppe hinab doch etwas auf die Lunge geschlagen.

„Stellt euch bequem hin, und hebt die armen Schlucker wieder auf, mit gebrochenen Beinen kann ich sie nicht brauchen. Männer, bevor wir fortfahren, der Mann zu meiner Linken ist Puran Lyra, ich habe von ihm erzählt.“ Die Krieger nickten und salutierten auch vor Puran.

„Mögen die Geister Euch Ehre und Stolz geben.“, begrüßten sie ihn förmlich und Puran hüstelte. Die Leute in Janami brachten ihrem Militär komische Floskeln bei. Einige der Männer waren Schamanen, andere waren Nichtmagier. In Janami gab es bekanntlich genau wie in Kisara sehr viele Magier in allen Schichten.

Einer der Männer, der einen blauen Umhang trug und offenbar der Befehlshaber in Meorans Abwesenheit gewesen war, trat vor, machte eine hektische Verneigung und stand dann stramm, als er berichtete.

„Truppenführer, wir haben den Auftrag, den Ihr uns gegeben habt, ordnungsgemäß ausgeführt. Wie Ihr verlangt habt, haben wir die nächstbesten Flüchtlinge geschnappt und lebend hierher gebracht. Bei allem Respekt, es war zwar nicht abgemacht, aber wir haben ihnen auf dem Weg die Augen verbunden, damit sie nicht zurück finden, das wäre übel, Herr.“

„Gute Arbeit.“ Puran war verblüfft, wie knapp und in was für einem harschen Befehlston Meoran sprechen konnte; er war offenbar wirklich der geborene Heerführer. Der Braunhaarige verschränkte die Arme hinter dem Rücken und trat um die Truppe herum zu den beiden Flüchtlingen, die er dann musterte. „Woher kommt ihr?“ Der Mann sprach kein Wort und seine Frau senkte panisch erbleichend den Blick, dabei versuchte sie verzweifelt, ihre Hände aus den Ketten zu quetschen. Als immer noch keine Antwort kam, stieß der Soldat von zuvor die beiden wieder mit der Lanze an.

„Sitzt ihr auf euren Ohren? Der Truppenführer hat euch eine Frage gestellt, ihr Hurensöhne!“ Der Mann zischte nur und Meoran hob abwehrend eine Hand.

„Nicht, lass gut sein. – Hör mir zu, Mann. Weißt du, vor wem du stehst?“ Der Flüchtling bebte noch kurz und schien abzuwägen, wie seine Chancen zum Überleben standen, wenn er weiter schwieg. Er sprach dann doch noch.

„Ihr seid der, den sie Aasgeier nennen, weil er mit den Todesvögeln sprechen kann.“ Der Geisterjäger nickte.

„So in etwa. Aasgeier also? Das ist aber kein sehr angenehmer Spitzname. Wer sagt, ich würde so heißen?“

„Der Weise Mann in unserem Dorf hat gesagt, in den Bergen lebt der Aasgeier und niemand kommt lebend fort aus Fann, wenn er versucht, über die Berge zu gehen!“, rief die Frau hysterisch, weil ihr Mann schwieg. Sie sprach nur gebrochen die Hochsprache, aber die anderen verstanden sie.

„Der Weise Mann? Aha, und woher hat der das? Bekanntlich kehrt tatsächlich keiner lebend zurück, der mir über den Weg läuft und versucht, in das Land meines Herrn einzudringen. Folglich kann es ja schlecht einer berichten.“

„Die Geister haben es ihm gesagt, hat er gesagt.“, sagte der Mann jetzt etwas ehrfürchtiger, „Wir haben gedacht, wir versuchen unser Glück trotzdem. Dass niemand wiederkommt, kann auch heißen, dass sie in Janami geblieben sind.“

„Gut beobachtet, leider falsch gehofft. Die Knochen deiner Vorgänger hier liegen zerschmettert in den Bergen verteilt. Ich würde den Fürsten von Minh-În nicht für euch verraten, glaubt mir.“ Meoran machte eine Kunstpause. „Zumindest nicht, solange es nicht einen persönlichen Wert für mich hat. Ihr habt den einmaligen Glückstag erwischt mit eurer Flucht.“ Der Flüchtling zögerte kurz.

„Dann heißt das, wir werden nicht sterben?“

„Du bist von der klugen Sorte, wie ich sehe.“, bemerkte Meoran sarkastisch grinsend, bevor er keuchend die Luft einzog. „Du hast sicher studiert.“

„Ja, Meereskunde.“

„Was denn?“, fragte der Geisterjäger ungeduldig, „Meereskunde studiert in einem Land, in dem es nur Wüste gibt? Das ist verblüffend. Wie auch immer, ja, du hast es erfasst, ihr seid nicht hier, um zu sterben. Allerdings hat euer Weiterleben eine Bedingung.“ Wie gerufen kam jetzt Saidah aus der Haustür, bei sich hatte sie die kleine Sora, die jetzt wach war und verstört schweigend in die Runde starrte. Puran fragte sich, ob sie immer noch unter Schock stand oder ob Saidah ihr irgendetwas gegeben hatte, weil die Kleine doch sehr lethargisch und benommen wirkte… es war ein Jammer, daran zu denken, dass ihre Eltern für immer verloren waren. Das arme Kind…

„E-eine Bedingung?“, fragte die Frau aus Fann in ihrer gebrochenen Hochsprache verunsichert.

„Ganz genau. Und ihr werdet auch nicht nach Janami gelangen, in sofern betrüge ich den Fürsten von Minh-În ja auch nur halb, wenn ich euch am Leben lasse.“ Die beiden aus Fann brauchten etwas, um das zu verstehen, dann sprach der Mann.

„W-wie… wie, wohin sollen wir dann?“

„Nach Ostfann. Und ihr werdet dieses kleine Mädchen mitnehmen und in einen Ort bringen, an dem sie sicher ist. Ich werde euch einen Späher mitgeben, der mir genau sagt, was ihr tut… wird dem Mädchen nur ein Haar gekrümmt, sorge ich dafür, dass ihr den Tag verfluchen werdet, an dem ihr geboren worden seid. Und ihr werdet mich auf Knien anbetteln, eurem erbärmlichen Leben ein Ende zu machen.“ Die beiden aus Fann starrten ihn an.

„W-was, Ostfann?!“, japste der Meereskundler erschrocken und sah nach Osten, „Das können wir nicht, Herr! Im Osten gibt es bösartige Leute, im Osten hausen Dämonen!“

„Habe ich was verpasst oder wurdest du gerade befördert und bist jetzt in der Position, um mir Befehle zu erteilen?!“, fuhr der Truppenführer ihn an und Puran im Hintergrund hustete erschrocken über den plötzlichen Zorn in Meorans Stimme. Er erlebte seinen sonst so friedfertigen Lehrer gerade von einer Seite, die er noch nicht kannte; einer Seite, die ihn etwas erschreckte und ihn gleichzeitig enorm beeindruckte.

„Ich meine.“, räumte der Kerl aus Fann ein, dem wohl bewusst wurde, dass er sich auf dünnem Eis bewegte – wenn er Eis überhaupt kannte, wenn er in Fann gelebt hatte. „Das Mädchen, das Euch so teuer ist, wird dort nicht sicher sein!“

„Doch, das wird sie, und ihr zwei ebenso. Dafür garantiere ich euch mit meinem Wort. Ihr bekommt von mir die nötigen Reisemittel, Proviant und Geld. Die Männer meiner Truppe werden euch zur Grenze bringen, ab da seid ihr auf euch gestellt. Wenn ihr euch entscheidet, mein Angebot auszuschlagen… werdet ihr allerdings sterben, und meine Laune wird schlecht sein, das heißt, ich kann nicht dafür garantieren, dass es schmerzlos wird.“ Der Meereskundler zog skeptisch die Brauen hoch, doch seine Frau keuchte und nickte sofort.

„Ja, einverstanden! Wir nehmen das Mädchen und den Proviant und das Geld und gehen nach Ostfann. Auf Euer Wort, Herr!“ Der Mann wandte sich ihr zu und zischte irgendetwas auf Fannisch, was niemand der anderen verstand. Meoran seufzte und fasste nach seiner Brust, weil er sein Herz wieder rasen spüren konnte. Die Aufregung war ungesund… es war wichtig, dass er das hier schnell beendete, ohne die beiden armen Wichte merken zu lassen, wie angeschlagen er war. Eine echte Bedrohung war er an sich nicht für die zwei… sie sollten es nur nicht merken.

Er langte nach Saidah und zog Sora mit sanfter Gewalt zu sich herüber, die nur apathisch schaute.

„Das ist Sora, sie ist sieben Jahre alt. Ihr werdet in Ostfann für sie eine neue Heimat finden und niemandem sagen, woher ihr sie habt. Sagt, ihr hättet sie unterwegs gefunden.“ Er wandte sich an die Krieger. „Löst die Ketten. Und einer von euch holt den Proviant aus der Küche, jetzt sofort.“ Die Männer folgten den Befehlen umgehend und sobald die Ketten gelöst waren, rieben die Flüchtlinge sich verwirrt die Hände. Die Frau nahm Sora unter ihre Fittiche und versuchte, mit ihr zu sprechen, aber die kleine Tochter von Senol Kita sprach kein Wort. Der Mann, der Meereskunde studiert hatte, sah Meoran stirnrunzelnd an.

„Wieso denkt Ihr, dass Ihr uns vertrauen könnt? Wir könnten mit den Gütern abhauen und das Mädchen töten und braten.“

„Könntet ihr, ja.“ Der Ältere lächelte scheinheilig. „Aber ich würde herausfinden, wenn ihr das tätet, und glaubt mir, nicht einmal die Dämonen von Ostfann würden dann gerne in eurer Haut stecken.“ Der Mann sagte darauf nichts mehr und schien das zu durchdenken. „Also macht eure Sache gut. Ich habe einen Traum gehabt und in dem Traum gab es keine Dämonen. Ihr werdet es nicht bereuen. Verliert niemals ein Wort über das, was hier lief. Niemals. Oder ihr werdet zeitlebens nicht mehr glücklich werden, das schwöre ich.“ Darauf verneigte der Mann aus Fann sich kurz. Inzwischen kamen die Soldaten zurück und brachten den Proviant in einer Trage aus Knochen. Der Truppenführer trat zurück, als die Gruppe mit den Flüchtlingen und der apathischen Sora sich auf den Weg nach Südosten machte.

„Leb wohl, Sora Kita.“, sagte er dabei dumpf, das Mädchen ansehend, das ihm den Rücken kehrte, „Ich wünschte, du kämest auf legalere Weise in Sicherheit… und ich könnte wirklich dafür garantieren, dass es Sicherheit sein wird, die ihr findet.“ Mehr sagte er nicht und Puran sah der Gruppe noch lange nach, die in der Dunkelheit verschwand, während sein Lehrer sich schon etwas mühsam mit Hilfe seiner Tochter zurück ins Haus schleppte.
 

Die Nacht war angenehm kühl, die heraufzog, nachdem Sora mit den Flüchtlingen aus Fann verschwunden war. Die Stimmung am Abendbrotstisch war schweigsam, als sie zusammen mit Tanuq etwas Suppe aßen. Puran fragte sich, ob es gut war, Senols einzige Tochter leichtfertig an irgendwelche Fremden abzugeben… ob es ihr in Fann wohl gut gehen würde? Er hoffte es inständig. Was ihm aber, das musste er sich eingestehen, fast noch mehr durch den Kopf ging, war nicht die Frage nach Soras Wohlbefinden.

„Ich muss gestehen, ich bin… etwas ernüchtert, Meister.“, murmelte er nach dem Essen, als Tanuq gerade die Teller in die Küche brachte, wobei Saidah ihm zur Hand ging. Meoran atmete etwas heftiger als nötig ein und aus und fuhr sich ermattet mit den Händen über das bleiche Gesicht. Er sah immer noch furchtbar aus… aber seinen Scharfsinn hatte er offenbar nicht eingebüßt, denn er wusste genau, was sein Schüler meinte.

„Ich hab dich vorhin zu Tode erschreckt mit meiner sadistischen Ader, was?“

„In der Tat, und das ist, gelinde ausgedrückt, untertrieben…“

„Vergib mir, Puran. Lass mich versuchen, dich etwas zu beruhigen… ich rede mit diesen Leuten so, weil ich so reden muss. Denkst du, sie würden mich respektieren und mir nicht auf der Nase herumtanzen, wenn ich lieb Bitte sage? So läuft das im Militär nicht, Puran… und du wirst lachen, es fällt mir sehr viel leichter, so zu tun, als wäre ich ein Monster, als mich diplomatisch auszudrücken.“ Der Senator schauderte kurz.

„Das… war mir nicht bewusst. Ich… muss diese unbekannte Seite erst mal verdauen, fürchte ich.“

„Tut mir leid. Ich bin ein alter Mann, Puran, ich habe einfach zu viel erlebt, um noch viel um den heißen Brei herumreden zu wollen.“ Er lächelte entschuldigend und sein Gegenüber sah zum Fenster.

„Ist es wahr? Hast du wirklich die Flüchtlinge an den Bergen zerschmettern lassen?“ Zu seiner Überraschung musste Meoran lachen.

„Quatsch. Töten müssen wir sie, das stimmt leider, aber wir gehen da etwas diskreter vor als sie grölend gegen die Wände zu hauen. Ich bitte dich, Puran, wir sind doch keine Barbaren, und der Herr von Minh-În, unter dessen Befehl ich arbeite, würde auch nicht gutheißen, in seinem Volk als Schlächter berühmt zu sein.“ Meoran erntete ein dumpfes Nicken und wusste, dass sein Freund darüber erleichtert war. „Sorge dich nicht, mein Freund. Die Nummer da draußen war nur Mittel zum Zweck. Sollen sie mich fürchten, die Flüchtlinge, schließlich soll ich sie ja aus dem Land halten und nicht einladen zu Tee und Kuchen.“ Tee war ein gutes Stichwort und er schenkte dem Jüngeren ein mattes Grinsen. „Apropos Tee, du solltest so bald wie möglich aufbrechen und zu deiner Frau zurückkehren. Ich wette, sie vermisst dich fürchterlich, und bevor der Tee kalt wird…“ Puran hustete gekünstelt.

„Danke, das erinnert mich daran, warum ich immer nur Kaffee trinke zum Kuchen. Dieses Wort ist dank meiner Großmutter absolut zweckentfremdet.“

„In der Tat. Frag mich mal, ich habe sie immerhin in flagranti auf dem Kanapee erwischt…“
 

In einem hatte Meoran recht gehabt: Leyya hatte ihren Gatten wirklich furchtbar vermisst, und als er nach vielen Tagen der Abwesenheit endlich wieder nach Lorana kam, warf sie sich ihm noch viel stürmischer und ungezügelter an den Hals als es Saidah vor einigen Tagen getan hatte. In Lorana hatte der Regen aufgehört und der Himmel war mit dem letzten Sommerlicht wieder aufgeklart; die Farben des grüngelben Himmels kündigten bereits den Herbst an.

„Um Himmels Willen, Puran!“, keuchte die Frau, als sie an seinem Hals hing, „I-ich habe von Sagal gehört, was mit Kitas-…“ Er unterbrach sie ungalant, indem er sie leicht von sich schob, stattdessen ihr Kinn anhob und sie verlangend auf die Lippen küsste. Sie stutzte zunächst überrascht, gab sich ihm dann aber ohne weiteres Zögern hin, indem sie die Arme um seinen Nacken schlang und den tiefen Kuss erwiderte. „Liebling…“, stammelte die Heilerin dann etwas überrumpelt und sah ihn verblüfft an, als sie sich voneinander lösten.

„Vergib mir, ich konnte nicht länger warten. Ich war eben noch in Aleu, um den Rest dort zu klären, und ich war auf dem Weg hierher so aufgekratzt, verdammt…“ Er räusperte sich, weil ihm klar wurde, dass sie immer noch auf der Straße vor der Haustür standen und jeder ihn hören konnte. Als Leyya vor ihm leicht kicherte und sich reckte, um sanft seine Wange zu küssen, musste er flüchtig grinsen. „Und da bekam ich Angst, der Tee würde kalt werden…“

Da hatte Meoran sich geirrt; Leyya wusste zwar nicht, wovon er sprach, aber der Tee war definitiv nicht kalt geworden. Da am Vormittag alle Kinder in der Schule waren, machte Puran sich nicht die Mühe, seine Frau ins Schlafzimmer zu bugsieren. Und obwohl sie zuerst schüchtern spielte, war sie durchaus angetan, als er nicht länger ein Hehl aus seinem Verlangen nach ihr machte und sie einfach auf dem Flur nahm. Sie machten es, als hätten sie es seit Jahren nicht getan, und es tat unglaublich gut, den aufgebauten Druck endlich loszuwerden. Und es war nicht nur der körperliche Druck, der ihn verrückt machte, als er seine hübsche, zierliche Frau gegen die Wand pinnte und immer wieder zustieß, bis sie in ihrer Ekstase aufstöhnte, sich dabei an seinen Hals klammernd. Als er endlich den ersehnten Höhepunkt erreichte und sich in ihr ergoss, war es, als wäre er mit dem Samen auch alle Sorgen und Probleme der vergangenen Tage losgeworden. Erleichtert drückte er Leyya noch einen Augenblick gegen die Wand des Flurs, ehe sie ihre um seinen Rumpf geschlungenen Beine löste und er sich zurückziehen konnte, worauf sie beide verschwitzt und befriedigt auf die unterste Treppenstufe sanken. Leyya rückte ihr provisorisch hochgeschobenes Kleid zurecht, ehe sie sich räusperte und sich kichernd an Purans Schulter lehnte, der neben ihr saß.

„Du Schwerenöter…“, seufzte sie lächelnd, „Wie ein Verdurstender in der Wüste, Puran, wirklich.“

„Ach, du stehst da doch drauf.“, behauptete er und lehnte den Kopf in den Nacken, „Verdammt… jetzt muss ich wieder mit der Realität klar kommen, in der nur Mist passiert, den ich nicht kontrollieren kann.“

„Ich verstehe, was du meinst.“, sagte sie dumpf, hob ihre Unterwäsche vom Boden auf und zog sie wieder an. „Himmel, hoffentlich ist Neisa nicht aufgewacht.“ Puran starrte sie an.

Was? Neisa ist hier?! Um Himmels Willen, i-ich dachte, die Kinder seien in der Schule!“

„Neisa ist etwas erkältet, ich habe sie deswegen heute lieber daheim behalten. Sie schläft oben.“

„Das hättest du mir sagen können, bevor ich dich nach Strich und Faden an der Wand durchnehme!“, keuchte er errötend und sah die Treppe hinauf; auch, wenn seine Tochter nicht zum ersten Mal etwas von ihrem Liebesspiel mitbekäme, war es ihm doch unangenehm, daran zu denken, was er bei den armen Kindern für bleibende Schäden hinterlassen könnte. Die Kinder hatten es in den vergangenen Jahren alle schon öfter geschafft, mitten in der Nacht aus diversen Gründen genau zur falschen Zeit ins Schlafzimmer ihrer Eltern zu platzen. Es war ihnen vermutlich keine Neuigkeit, dass ihre Eltern nackt im Bett lagen und Erwachsenensachen machten, aber das war kein Grund, es offen für alle hörbar zu treiben ohne Rücksicht auf Verluste…

„Mach dir keine Sorgen, sie schläft sicher.“, sagte seine Frau, jetzt wieder angezogen, wenn auch etwas unordentlich, ehe sie sich von der Treppenstufe erhob und seufzte. „Möchtest du einen Kaffee, Liebling?“

„Ja, bitte… auf den Schreck.“
 

Sie saßen schließlich hinter dem Haus, weil Puran drinnen der Kinder zuliebe nicht rauchen wollte, und er hatte neben dem Bedürfnis an Kaffee jetzt wirklich eine Kippe nötig, während er seiner Frau knapp berichtete, was er erlebt hatte. Er erzählte nicht, wohin Sora gekommen war, stattdessen legte er es so aus, dass er nicht wusste, wohin Meoran sie gebracht hatte, nur, dass sie in Sicherheit war. Dann würde Leyya ihn wenigstens nicht dauernd schmollend fragen, warum er es ihr nicht sagte… er wusste, wie stur sie da war. Wobei es die gerechte Rache dafür gewesen wäre, dass sie ihm auch nicht das Geheimnis von Niarihs Vater verriet, was sie definitiv wusste, da war er sicher. Es war nicht so, dass es ihn etwas anging, wer der Vater von Chitras Tochter war, aber es wurmte ihn irgendwie trotzdem, dass er es nicht wusste.

„Als Herr Sagal von Kitas Tod erzählte neulich, dachte ich, mich trifft der Schlag.“, gestand Leyya unglücklich, als er seinen Bericht beendet hatte und nervös an seiner Zigarette zog. „Das ist so furchtbar, sie waren noch so jung und hatten doch gar nichts getan! Die Kinder hat das auch ziemlich mitgenommen. Neisa hat es noch nicht ganz kapiert, sie ist ja erst sechs, aber Karana und Simu waren ziemlich in sich gekehrt. Ich glaube, vor allem Karana hat euch Geisterjäger immer für unsterblich und unkaputtbar gehalten, oder so… es muss ihn ziemlich verwirren, dass selbst Geisterjäger sterben können.“ Puran seufzte leise.

„Ja… diese Erfahrung müssen wir alle einmal machen, während wir aufwachsen. Als mein Großvater starb, war ich noch so klein, dass ich es nicht richtig begriffen habe, aber als meine Großmutter gestorben ist, habe ich angefangen zu kapieren, dass alle einmal sterben, auch meine Eltern, Alona, alle, die mir lieb und teuer waren… das ist alles nicht einfach.“ Er machte eine Pause, drückte dann den Stummel der Kippe auf den Steinen hinter dem Haus aus und räusperte sich. „Apropos Karana… hat er Unfug angestellt, während ich weg war? Wir sind ja kurz bevor ich aufbrach ziemlich aneinander geraten wegen seiner… unangenehmen Ader.“ Leyya wusste genau, wovon er sprach. Niemand von ihnen sprach wirklich aus, dass sie noch immer fürchteten, Karana hätte nicht zufällig die Eckzähne seines Urgroßvaters. Dem Jungen hatte auch niemand gesagt, von wem er die hatte.

„Nein, er war… artig. Davon abgesehen, dass er zu Tobsuchtsanfällen neigt, weil er die Grundzauber noch nicht beherrscht. Tilan und Azan haben versucht, mit ihm zu üben, offenbar recht erfolglos… das macht ihn tierisch fertig.“

„Wie seltsam, dabei ist er doch schon bald neun.“, sagte der Vater und runzelte die Stirn, „In seinem Alter konnte ich die Zauber jedenfalls einwandfrei – allerdings nach ziemlich mühsamem Training.“

„Erzähle ihm das ja nicht, sonst fühlt er sich nur noch schlimmer.“, meinte Leyya besorgt, „Er versucht doch, mit Haut und Haaren wie du zu sein…“

„Davon ist er aber ein gutes Stück entfernt.“, brummte Puran, stand auf und nahm die leere Kaffeetasse mit, „Dann sollte er zuerst einmal lernen, mit seiner Arroganz umzugehen! Oh, ich freue mich, wenn er bei Meoran in die Lehre geht, da wird er aber sein blaues Wunder erleben, wenn er bis dahin immer noch so ein verzogener Prinz ist. Vielleicht tut es ihm ganz gut, dass die Geister beschließen, ihm die Grundzauber noch zu verwehren.“ Er schritt durch die Hintertür in die Stube und Leyya keuchte, ehe sie ihm folgte.

„W-wie kannst du so etwas sagen?! Er ist dein eigener Sohn, solltest du nicht mit Leib und Seele hinter ihm stehen, statt ihn so zu verurteilen?“

„Das tue ich, solange er nicht – vermutlich ohne es zu merken – zu einem Kelar im Taschenformat mutiert. Verdammt, ich habe jedes Mal tödliche Panik, wenn ich nur daran denke, was geschehen könnte… wenn Karanas Geist tatsächlich mit dem meines Großvaters verbunden ist…“ Er war jetzt ruhiger geworden und seine Frau senkte bedrückt den Kopf.

„Ich weiß… ich verstehe doch, was du fühlst, Puran… aber-…“ Wieder barscher fiel er ihr ins Wort:

„Nein, das weißt du nicht. Du hast keinen Schimmer, wie sich das anfühlt! Also maße dir nicht an, zu behaupten, du wüsstest es besser. Ich bin todmüde, ich hau mich aufs Ohr. Weck mich, wenn die Mittagshitze vorüber ist.“ Mehr sagte er nicht, stellte die Tasse mit unnötiger Heftigkeit auf den Küchentisch und stampfte die Treppe hinauf, seine Frau verletzt im Flur stehen lassend.
 

„Vaira!“ Nichts geschah und Karana fluchte ungehalten, ehe er sich wütend die braunen Haare raufte, die im Übrigen wie die seines Vaters in alle Richtungen abstanden, wenn er sie nicht mit sehr viel Mühe und einer Tonne Haarwachs platt machte; aber im Gegensatz zu seinem Vater hatte der Junge wenig bis kein Interesse an seinen Haaren. Viel mehr interessierten ihn die Grundzauber, die er allem Anschein nach noch immer nicht konnte. „Ich verfluche es! Ich verabscheue diese Scheiße!“, keifte der kleine Junge wutentbrannt, sammelte einen Stein vom Weg auf und schmetterte ihn in hohem Bogen so weit er konnte davon. Dabei stieß er noch einen cholerischen Schrei aus, und seine beiden Weggefährten fuhren kurz zusammen.

„Mann, beruhig dich mal…“, seufzte Simu, „Wir beide können auch nicht zaubern.“

„Ihr seid ja auch keine Schamanen!“, keifte Karana und wirbelte herum, um seinem Bruder und seinem besten Freund Tayson einen zornigen Blick zu schenken. Er zischte ergrimmt, bückte sich und hob einen weiteren Kiesel, den er weit von sich schleuderte. „Ich hasse es! Ich bin verdammt noch mal der Sohn des Herrn der Geister, ich sollte das können!“

„Du bist sein Sohn, ja, aber nicht der Herr der Geister selbst.“, räumte Simu ein, aber irgendwie war er froh, dass Karana ihn nicht gehört zu haben schien, denn im Moment fürchtete der Blonde, sein Bruder würde ihm die Kehle aufreißen, wenn er etwas falsches sagte. Taysons Beitrag war simpler, aber effektiver.

„Reg dich ab und denk an Loron, das erheitert ungemein.“ Dabei kicherte der Schwarzhaarige doof und Karana blieb kurz stehen, damit die anderen zu ihm aufschlossen, bevor er auch grinste.

„Ja, hast recht, seine Fratze war wirklich herrlich, als ich vorhin in der Pause einem seiner Dienerklöße die Fresse poliert habe…“ Er gackerte amüsiert, als er noch einen Kiesel aufhob und ihn gegen einen nahen Baum schmetterte, der den Weg säumte. „Ungefähr… so! Haha, das macht Spaß, Steine zu werfen und dabei zu denken, es wäre Loron, den man bewirft.“ Er lachte über die Kerbe, die er dem unschuldigen Baum verpasst hatte, und Tayson gackerte auch los. Simu entschuldigte sich stumm bei Mutter Erde für den Firlefanz, den sein Bruder und sein Freund offenbar komisch fanden, ohne dabei die Lebensgeister der Natur zu berücksichtigen.

„Hey, ich habe noch den gammligen Apfel in meiner Tasche, den meine Mutter mir mitgegeben hat, den kannst du auch werfen!“, gluckste Tayson gerade, und Simu verdrehte die Augen.

„Lasst das lieber, Leute-…“ Er brauchte nichts mehr zu sagen, Karana hatte schon Taysons etwas überreifen Apfel gegriffen und ihn mit Leidenschaft gegen den Baum geschleudert. Das Obst zersprang und die Stücke ergossen sich über den Weg, worauf die beiden Jungen schallend zu lachen anfingen. „Ihr seid echt behindert.“, seufzte der Blonde und Karana packte ihn am Arm, ehe er ihn diabolisch angrinste und seine spitzen Eckzähne fletschte.

„Hey, solange wir unsere zerstörerischen Triebe nur an Bäumen auslassen und nicht an anderen, so wie Loron es macht…“

„Am besten lasst ihr es ganz.“, entgegnete der Jüngere und entzog sich Karanas Griff mit einem ebenfalls diabolischen Grinsen, „Wir sind nämlich spät dran, und Mutti wird sicher nicht erfreut sein, wenn wir zu spät heim kommen. Ich weiß ja nicht, was deine Mutter in Gemi sagt, Tayson…“ Der Schwarzhaarige sprang darauf zur Seite und japste.

„Oh nein, ach, verdammt! Meine Mutter, die habe ich ganz vergessen, die schlägt mich blau, wenn ich zu spät komme!“ Simu feixte und fragte sich, ob dem Trottel das nicht mal gut täte, ebenso wie Karana, der immer noch gackernd Apfelstücke aufsammelte und abermals gegen den Baum warf. Manchmal fragte der Blonde sich, wieso er sich mit den beiden abgab… aber Karana war sein Bruder. Er hing einfach zu sehr an ihm, als dass er sich lange von ihm hätte trennen können. Und dem Schamanen ging es genauso. Und in einem hatte sein Bruder recht… abgesehen von Loron und seinen Schlägerdrillingen schikanierten sie wirklich keine anderen Kinder. Zumindest war es bisher so gewesen und Simu hoffte, dass es so bliebe.
 

Als die heim kamen und Karana erfuhr, dass sein Vater wieder da war, war er sofort Feuer und Flamme. Puran, inzwischen wieder wach, unterdrückte erfolgreich seinen Zorn von zuvor auf die Umstände von Karanas gruseligen Eckzähnen, als er seine kleinen Söhne liebevoll umarmte. Karana freute sich dermaßen, ihn zu sehen… wie konnte er ihm da böse sein? Er konnte nichts für das, was er war. Wie hatte Alona es doch gesagt? Es lag mit an ihm als Vater, dafür zu sorgen, dass der Junge auf dem richtigen Weg blieb.

Er fürchtete sich so sehr davor, in diesem Punkt zu versagen… abermals die Kontrolle zu verlieren, wie es doch gerade erst in einem anderen Punkt geschehen war.

„Jetzt bleibst du aber hier, oder?“, wollte Karana wissen, der immer noch an seinem Hals hing, während Simu ihn schon losgelassen hatte und artig daneben stand.

„Na ja, zumindest werde ich nicht weit weg müssen in der nächsten Zeit. Ich muss morgen nach Hikara und-…“

„Neiiin!“, entrüstete Karana sich und rüttelte des Vaters Arm, „Du darfst nicht, du musst bei uns bleiben!“ Puran sah ihn verblüfft an, als der Junge errötete und kleinlaut nuschelte: „Ich hab dich vermisst…“ Puran seufzte und nutzte die Chance, dass sein Sohn ihn endlich losgelassen hatte, um sich zu erheben.

„Na, wenn das so ist.“, machte er wohlwollend, „Vielleicht habe ich Glück und bin bis Nachmittags fertig, dann komme ich euch aus der Schule abholen.“

„Oh, ja, das ist toll!“, gab der Spross sich zufrieden und grinste wieder, „Dann warten wir auf dem Hof auf dich. Und was ist mit Neisa? Ist sie wieder gesund?“

„Mutti hat gesagt, sie wird morgen noch sicherheitshalber daheim bleiben.“, sagte Puran, indem er auf Leyya blickte, die gerade aus der Küche kam. „Hast du die etwa auch vermisst?“ Nicht, dass er es nicht gutheißen würde, wenn die Kinder sich mochten, aber dass Karana besonderes Interesse an Neisa zeigte, war er nicht gewohnt. Karana grinste wiederum und verdrehte die grünen Augen.

„Na ja… das nicht, aber man hat so wenig zu tun, wenn man sie nicht vor Loron beschützen muss.“
 

Der Sommer wollte sich offenbar noch nicht aus dem Land zurückziehen; am nächsten Tag herrschte wieder strahlender Sonnenschein, als Karana gemeinsam mit Simu und Tayson zur Schule nach Mitonha ging. Morgens war es noch angenehm kühl, aber der Junge spürte schon auf dem Hinweg, dass der Tag heiß werden würde, obwohl der Mond der Irrlichter beinahe vorbei war. Vom vergangenen Regen war nichts mehr zu spüren und die Luft war staubtrocken, als die Jungen die Schule erreichten.

„Himmel, nein!“, jammerte Tayson, der in seiner Tasche herumwühlte, während die drei gemeinsam mit den anderen Schülern darauf warteten, dass das Gebäude aufgeschlossen wurde. Es war schon sinnvoll, die Kinder nicht vor dem Unterricht in die Schule zu lassen, hatte Simu mal bemerkt, denn ohne Aufsicht war es einfach viel zu gefährlich. Das ganze Gebäude könnte demoliert werden… jetzt drehte er sich gemeinsam mit Karana zu dem schwarzhaarigen Jungen aus Gemi um.

„Was ist?“, fragte er verblüfft, und sein Kumpel zog einen gelb-bräunlichen Apfel aus seiner Tasche und verzog das Gesicht.

„Verdammt! Meine Mutter gibt mir immer dieses Fallobst von unserem Nachbarn mit in die Schule! Das Zeug ist doch völlig faul, sowas soll ich essen?“ Karana lachte seinen Freund aus.

„Ihr müsst eben zu uns ziehen, bei uns im Dorf gibt es erstens bessere Äpfel und zweitens auch noch anderes!“, erklärte er. Simu schnaufte.

„Dass wir immer besseres Essen für die Pause mit haben liegt nicht am Dorf, sondern daran, dass Vati Politiker ist und mehr Geld bekommt…“

„Ihr seid so ungerecht – gebt ihr mir was ab?“, jammerte Tayson und hielt mit spitzen Fingern seinen fauligen Apfel von sich weg, „Ich hasse diese ekligen Dinger, verdammt!“ Simu verdrehte über Taysons nicht wirklich vorhandene Probleme die Augen. Der Kerl kannte eigentlich nur zwei Probleme: entweder hatte er Hunger oder ihm war langweilig. Er war echt ein Primitivling, aber er war eigentlich ein netter Kerl.

Karana schnappte Taysons Apfel und holte weit aus.

„Warte, warte, wetten, dass ich das Tor zur Straße treffe?!“ Simu schnappte noch nach Luft über den Blödsinn, da war es schon zu spät und sein Bruder hatte den Apfel mit aller Kraft über die Menge der johlenden, tobenden Kinder hinweg auf das Tor geschleudert. Nur, dass er nicht das Tor traf, sondern den Kopf eines unschuldigen Jungen, der dummerweise davor stand und jetzt fluchend herumwirbelte.

„Karana! Du Idiot!“, schrie Simu noch, und Karana bemerkte seinen Fehler schon selbst, hastete herüber und packte den armen Kerl an den Oberarmen.

„Ach du lieber Himmel, entschuldige! Bist du verletzt? Tut mir leid, ich wollte dich gar nicht treffen…“ Der kleinere Junge riss sich schnaufend aus Karanas Griff los und stierte ihn auf seltsame Weise an – teils wütend, teils panisch, wobei der Schamane nicht sagen konnte, wovor er Angst haben sollte. Etwa vor ihm? Er hatte den Knirps noch nie gesehen, der es schaffte, tatsächlich noch kleiner zu sein als er selbst. Karana war nicht sonderlich groß für sein Alter, was ihn insgeheim immer etwas wurmte; Loron war größer als er, Tayson, selbst Simu, das war schon arg unbefriedigend, wenn man doch der Prinz des Lyra-Clans war.

„Fass mich nicht an, du Verrückter…“, brummte der Kleinere jetzt und trat unwillkürlich zurück, wobei er sich den Kopf rieb, den der faule Apfel getroffen hatte. Karana grinste ihn zufrieden an.

„Ja, also, tut mir leid, ist ja noch alles dran. Tschüß!“ Dann nahm er seinen (oder Taysons) Apfel wieder mit, der noch heil war, und hechtete zurück zu den beiden anderen, den komischen Typen stehen lassend.

„Mein Apfel, wieso schleppst du den denn wieder an?!“, jammerte Tayson, als er ihn erreichte, und Karana schnaufte und warf das Fallobst in hohem Bogen so weit er konnte davon, dieses Mal traf er hoffentlich niemanden.

„Das musste ja passieren, wenn du hier im Hof herum wirfst.“, tadelte Simu seinen Bruder altklug wie immer, und der Braunhaarige streckte ihm die Zunge heraus.

„Ach, war nur so’n kleiner Penner aus der ersten Klasse oder so, der war noch kleiner als ich… keine Ahnung, wer das war, hab den noch nie gesehen hier.“ Simu stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, von weitem einen Blick auf den armen Kerl zu erhaschen, aber er konnte ihn nicht mehr sehen. Was Karana dann sagte, verwirrte ihn auch viel mehr: „Aber er hatte echt gruselige Augen, ich hab fast Schiss bekommen, so, wie der mich angeglotzt hat. Irgendwie war es, als ob…“ Er sprach nicht weiter und Simu runzelte die Stirn über den plötzlich sehr ernsten Ton in Karanas Stimme, der selten anzutreffen war. Eigentlich nur, wenn die Geister ihm gerade irgendetwas Wichtiges erzählt hatten.

Er kam nicht dazu, weiter zu denken, weil in dem Moment die Lehrerin die Klasse zu sich rief, um sie ins Gebäude zu bringen.
 

Das Schulgebäude war stickig im Sommer und im Winter kalt. Es war kein wirklich angenehmer Ort, fand Karana, aber es war durchaus von Vorteil, lesen und schreiben zu können. In Kisara und Senjo bestand so etwas wie eine relative Schulpflicht; es wurde dringend empfohlen, seine Kinder in die Schule zu schicken, aber wer das für unnötig hielt, wurde auch nicht ermahnt. Manche Bauern brauchten jede Hand zum Helfen und konnten ihre Kinder nicht sechs Jahre lang den halben Tag entbehren; und für diese Kinder war es vermutlich auch vollkommen egal, ob sie lesen oder schreiben konnten, denn beim Bestellen von Feldern und Ernten brauchten sie weder das eine noch das andere. Karana wunderte sich, dass Kinder aus einem Kaff wie Holia dann zur Schule gingen, denn viel mehr als Bauern und schlechte Handwerker gab es da nicht. Aber Loron als selbsternannter Prinz von Holia musste offenbar Eindruck schinden; als Sohn eines Häuptlings war es durchaus ratsam, damit angeben zu können, dass man lesen und schreiben konnte. Und seine Schlägerdrillinge folgten Loron vermutlich nur aus Solidarität, nicht aus Interesse; jedenfalls war es Karana immer ein Rätsel gewesen, wie die überhaupt die jährlichen Abschlussprüfungen bestanden hatten, um in die nächste Klasse zu kommen. Die konnten doch kaum einen Buchstaben vom andere unterscheiden, geschweige denn zählen.

Aber eigentlich waren ihm die Idioten aus Holia egal, dachte er sich, als er sich im Klassenzimmer auf seinen Platz fallen ließ und die besagten Hohlköpfe aus Kamien breit grinsend an ihm, Simu und Tayson vorbeizogen.

„Pass auf, Karana, heute wirst du bluten!“, lachte Loron schäbig und offenbar sehr überzeugt von sich. Karana zeigte ihm den Vogel.

„Sicher, ich zittere vor Angst. Üb lieber schon mal deinen Hofknicks, wenn du mir imponieren willst.“ Loron lachte darauf nur höhnisch, indem er sich auch auf seinen Platz in der letzten Reihe setzte, in dem Moment rief die Lehrerin die Kinder zur Ruhe.

„Beruhigt euch!“, rief sie, indem sie laut auf das Pult vorne schlug, „Ruhe! – Guten Morgen, Klasse, ich habe wichtiges zu berichten. Ihr habt ab heute einen neuen Mitschüler. Ich hoffe, ihr vertragt euch gut. – Komm schon herein, stell dich zu mir, Junge!“

Als der Neue in den Raum kam, fragte Karana sich dumpf, ob das Ironie des Schicksals oder Wille der Geister war; es war ausgerechnet der Knirps, den er mit dem Apfel beworfen hatte,

„Sein Name ist Zoras Derran.“, stellte die Lehrerin den schwarzhaarigen Jungen fröhlich vor, „Er ist vor kurzem mit seinen Eltern nach Holia gezogen. – Ah, Holia? Dann kennt ihr euch sicher, Loron?“ Sie sah zu Loron, und Karana hatte das spontane Bedürfnis, den Kopf auf die Tischplatte knallen zu lassen. Holia. Ausgerechnet Holia, dieses Mistkaff!

„Toll, aus Holia, dann ist er sicher bald Lorons vierter Schlägertyp.“, orakelte Simu kleinlaut; auch alle, die nie in Holia gewesen waren, wussten, dass niemand lange eine Chance hatte, Loron zu widersprechen. Und der Kleine da war so mager, als hätte er jahrelang nichts gegessen, ein Schlag von den Drillingen könnte ihn locker durchbrechen, dachte Karana sich beklommen. Andererseits würde ein so spindeldürres, kleines Kind auch keine große Hilfe für Loron sein… es sei denn…

„Er sagt, er kann das Gewitter rufen!“, posaunte der Prinz von Holia in dem Moment in die Klasse, und augenblicklich wurde es still im Raum. Aber nur kurz, dann folgte lautes Gemurmel, und Karana drehte hastig den Kopf.

„Dein Hochmut wird bald ein Ende finden, du wirst dein blaues Wunder erleben! Ich habe jetzt nämlich die perfekte Lösung, wie ich Prinz Karana zu Fall bringen kann. Und dann wirst du im Staub kriechen und mich anflehen, aufzuhören, haha!“, erinnerte er sich an Lorons Worte, und er fragte sich, was das zu bedeuten hatte.

Er kann das Gewitter rufen?! Er kann das, was ich kann? Wer ist der Sack?

„Das will ich sehen.“, schnaufte er so in Lorons Richtung und verdeckte seine Besorgnis mit einem arroganten Grinsen. „Wer’s glaubt, Prinz Loron.“

„Du wirst dir vor Angst in die Hosen machen.“, lachte Loron diabolisch, „Wenn du das siehst…“ Karana drehte sich wieder zu dem Neuen, der Loron fassungslos anstarrte und nicht die Spur so überzeugt aussah wie der selbsternannte Prinz des Kuhkaffs. „Ich bin gespannt.“ Er spürte, dass Simu und Tayson neben ihm in unsicher anblickten, dann fing er sich eine Rüge von der Lehrerin.

„Ruhe, Karana! Äh, wie auch immer… willst du etwas über dich erzählen, Zoras? Wie alt du bist, woher du ursprünglich bist, und so…“ Sie versuchte offenbar, mit dem kleingeistigen Gerede die Spannung zu unterdrücken, die im Klassenzimmer aufgestiegen war; Karana konnte es instinktiv genau spüren.

Der Junge da vorne war Schamane; ein Schwarzmagier, genau wie er. Das an sich war nicht ungewöhnlich, hier in Thalurien gab es viele. Aber dass jemand behauptete, in dem Alter schon das Gewitter rufen zu können, war überaus selten; zumindest hatte sein Vater ihm das einmal gesagt.

Dann haben die Geister mich nicht belogen mit dem unguten, schicksalhaften Gefühl vorhin, als ich zum ersten Mal sein Gesicht gesehen habe… dieser Knirps ist nicht einfach nur irgendein Knirps, da bin ich sicher.

„Ich… bin acht.“, murmelte der Neue vorne jetzt dumpf, und Karana hörte ihn kaum, weil er sehr leise sprach, wobei seine giftgrünen, sehr schmalen Augen sich nervös auf den Fußboden richteten. „Ich, ähm… komme aus Chayneh.“ Mehr schien er nicht sagen zu wollen, und nach einer langen Pause entschloss die Lehrerin, die Vorstellung zu beenden.

„Gut, dann setz dich da drüben auf den freien Platz neben Tayson. Wir beginnen mit dem Unterricht!“ Karana blickte zu Tayson, der doof schaute, als der Zwerg sich neben ihn auf den einzigen freien Platz in der Klasse fallen ließ. Sowohl sein Banknachbar als auch Karana und Simu am Zweiertisch daneben blickten ihn kurz an. Zoras Derran verengte nur missmutig die schmalen Augen zu noch schmaleren Schlitzen, ohne dass einer der vier etwas sagte.
 

In der Mittagspause bekam Karana zum ersten Mal die Gelegenheit, mit dem Neuen zu sprechen. Und er hielt es für klug, mit ihm zu sprechen, wie er vorher seinem Bruder und seinem besten Freund erklärte, als sie vor der Klasse standen. Loron war zu Zoras gegangen, letzterer hing etwas müde auf seinem Platz und schien nicht die Bohne daran interessiert zu sein, mit Loron in die Pause zu gehen.

„Wenn er noch nicht lange in Holia ist, ist er vielleicht doch noch nicht Lorons vierter Schlägertyp. Wenn er wirklich das Gewitter rufen kann, wäre es für uns wirklich ungünstig, wenn er auf Lorons Seite ist; nicht nur für uns! Überlegt euch mal, wie die anderen Kinder der ganzen Schule tyrannisiert würden, wenn der Oberschläger plötzlich einen Schamanen als Geheimwaffe mit sich herumschleppt?“

„Ich finde das furchtbar.“, sagte Simu, „Ich komme mir vor wie ein Kriegsstratege, Karana. Können wir ihn nicht einfach als Jungen betrachten, der neu ist?“

„Willst du gerne von dem geröstet werden auf Lorons Kommando?“, schnaufte Karana, „Keiner ist dumm genug, freiwillig Lorons Diener zu spielen, wenn er das Gewitter rufen kann. Wäre doch gelacht, wenn ich Loron seine Pläne vermiese, den armen Zwerg zu seinem Soldaten abzurichten, pff… und Prinz Zinca denkt, ich hätte Angst!“ In dem Moment ging Loron aus der Klasse an ihnen vorbei, ohne ihnen Beachtung zu schenken, und der Schamane schnaubte, sah ihm nach und ging dann wieder in den Raum, um sich gefolgt von Tayson und Simu vor Zoras’ Tisch aufzubauen. „Du kannst also das Gewitter rufen?“, sprach Karana den Neuen direkt an, und der hob verpennt den Kopf vom Tisch, um die drei Jungen anzustarren.

„Das hat Loron gesagt, nicht ich.“

„Dann glaubst du also nicht, dass du es kannst?“

„Kommt auf die Situation an. Was interessiert es dich, Äpfelchen?“ Karana feixte.

„Ich heiße Karana.“, korrigierte er, „Entschuldigung, wir haben uns gar nicht vorgestellt – du bist doch nicht immer noch sauer wegen des Apfels? Das war wirklich nur ein Versehen! Das hier ist jedenfalls Tayson und der hier ist mein Bruder, Simu.“ Die Vorgestellten grinsten, Tayson mehr als Simu, der etwas bekümmert seufzte.

„Dein Bruder?“, brummte Zoras scharfsinnig, „Ihr seht euch absolut nicht ähnlich.“

„Das hören wir oft.“, sagte Karana, ehe Simu etwas sagen konnte. „Was ist jetzt mit dem Gewitter, stimmt es?“ Zoras Derran setzte sich gerade auf und pustete hörbar die Luft aus, ehe er sein Gegenüber argwöhnisch musterte.

„Nein.“, sagte er dann erstaunlich kalt, „Loron hat nicht den Hauch einer Ahnung, wovon er spricht. Was ich kann, ist sehr viel mächtiger als bloß ein Gewitter. Ich habe zumindest noch kein natürliches Gewitter diesen Ausmaßes gesehen.“ Karana pfiff durch die Zähne und grinste ihn herrisch an.

„Aah, so ist das, du bist ein kleiner Angeber, wenn du schon nicht mit Körpergröße imponieren kannst. Halt mal den Ball flach, Junge, bevor du den Mund zu voll nimmst. – Bist du sowas wie Lorons Freund?“ Simu schlug sich im Hintergrund innerlich gegen den Kopf. Mit so einem Spruch war ja garantiert, dass die beiden die besten Freunde wurden… Karana konnte echt ein Idiot sein. Manchmal fragte der Blonde sich, ob sein Bruder wirklich so verblendet war zu glauben, dass er nur dank seiner Abstammung von den Lyras alles bekam, was er wollte.

„Was geht’s dich an?“, fragte Zoras – wie Simu erwartet hatte – angesäuert zurück, und Karana verdrehte die Augen.

„Du hast ihn sicher schon kennengelernt, er hält sich für den König von Holia und bildet sich ein, aufgrund dieses Privilegs alle anderen nach Lust und Laune piesacken und schlagen zu können. Wenn du ein so tolles Gewitter rufen kannst, müsstest du da doch drüber stehen.“

„Ich weiß, was für ein Sack Loron ist, danke, du Klugscheißer.“, war die Antwort, „Verpisst euch jetzt, ich hätte gern meine Ruhe.“ Karana sah erst ihn, dann seine beiden Mitläufer an und seufzte. Gut, wurde Zeit, dem Knirps zu zeigen, wo es lang ging.

„Dann lassen wir ihn, kommt.“, sagte er gut gelaunt und freute sich plötzlich diebisch, „Offenbar kommt er alleine mit Loron klar.“ Tayson zuckte gelangweilt mit den Schultern und murmelte etwas davon, dass er Hunger hatte, während er gemeinsam mit Simu und Karana zur Klassentür ging. Sobald die beiden ersteren draußen waren und schon vorgingen, blieb Karana in der Tür stehen und drehte sich noch einmal zu Zoras Derran um.

„Was ist noch?“, fragte der nur grimmig, und Karana grinste ihn euphorisch an.

„Ich bin auch Schwarzmagier, wie du! Und ich kann auch das Gewitter rufen, wie du! Mein Vater ist Geisterjäger, und mein Großvater und quasi alle männlichen Vorfahren waren es ebenfalls… wenn ich groß bin, werde ich auch mal Herr der Geister sein! Wenn es soweit ist, werde ich jedenfalls sicher dafür sorgen, dass solche Maden wie Loron ihre Strafe bekommen… du solltest dir also überlegen, auf welcher Seite du stehen willst bis dahin, wenn du im Gegensatz zu deinem Kumpel Loron keine Lust hast, zu kriechen.“

Der Blick, den ihm Zoras Derran darauf schenkte, war die Übertreibung durchaus wert, fand der Junge, und er kicherte amüsiert über die entgleisten Gesichtszüge des Kleineren, ehe er sich abwandte und die Klasse verließ. Dass jemand auftauchte, der dasselbe konnte wie er selbst, gefährdete immerhin seine Stellung; Karana würde sicher nicht zulassen, dass ein dahergelaufener Penner aus Holia, der nicht mal einen großen Namen hatte, seine Ehre und die seines Vaters untergrub. Schließlich musste Karana seinen Clan als Erbe würdevoll vertreten, und dazu gehörte auch den übrigen zu zeigen, wem sie Respekt zu zollen hatten.
 

Der Respekt, den er von Zoras Derran bekommen sollte, war nicht ganz das, was der Sohn des Herrn der Geister gewollt hatte. Als die Schule aus war, hockte er gemeinsam mit Simu und Tayson auf dem Hof und wartete darauf, dass sein Vater sie wie versprochen abholen kam. Allerdings ließ Puran auf sich warten; vermutlich machten die Politiker nicht ganz das, was er wollte, was alles verzögerte. Die meisten Kinder waren bereits abgeholt worden oder waren alleine heim gegangen, nur einige warteten genau wie die drei noch auf ihre Eltern, die meisten davon waren Erstklässler.

„So richtig geschickt hast du das jedenfalls nicht angepackt.“, tadelte Simu seinen Bruder gerade dumpf, während er in den grünen Himmel sah. „Wenn du den Neuen zu deinem Freund machen willst, kannst du ihn doch nicht arrogant angrinsen!“

„Wer sagt, dass ich ihn zum Freund will?“, fragte Karana lachend, „Mich würde brennend interessieren, ob er wirklich das Wetter beherrscht – glaubst du es, Simu?“ Der Blonde zog seufzend die Schultern hoch.

„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Puran gesagt hat, die Gabe wäre vor allem in unserem Alter extrem selten…“

„Ja, aber irgendwie macht er auch nicht den Eindruck, als würde er sowas nur zum Angeben erzählen.“, grübelte sein Bruder weiter, „Was hat er eigentlich für ein Problem?“ Simu wollte gerade antworten, doch der Besagte selbst kam ihm zuvor.

„Als ob du das nicht genau wissen könntest, Karana!“ Die drei fuhren herum, als Zoras Derran plötzlich hinter ihnen aufgetaucht war, die Fäuste so fest geballt vor Zorn, dass die Knöchel hervortraten. Karana erhob sich und trat einen Schritt vor.

„Ah, du bist noch da! Was ist, hast du irgendetwas zu sagen?“

„Zeig es mir!“, befahl der Kleinere wutentbrannt und Karana blinzelte.

„Was?“

„Das Wetter! Das du angeblich so beherrschst wie ich! Zeig es mir, ich will es sehen!“ Der Braunhaarige keuchte.

„Hier?! Bist du verrückt, das geht nicht, das ist gefährlich! Ich-…“

„Du traust dich wohl nicht, was?“, zischte Zoras, „Oder du hast mich angelogen und kannst es in Wahrheit gar nicht. Wie war das, ich soll vor dir kriechen? Ich habe eine Weile darüber nachgedacht und frage mich, ob du dich ernsthaft für besser als Loron Zinca hältst, wenn du so großkotzig daher redest und dann dein Maul nicht aufbekommst, wenn es drauf ankommt! Los, beweis es mir, wenn du kein Schisser bist!“ Karana spürte rein instinktiv, wie hinter ihm Simu und Tayson einander erschrocken ansahen und sich erhoben, und der Schamane zischte.

„Sitzt du auf deinen Ohren, Kleiner? Ich sagte, es ist gefährlich, ich darf das nicht einfach!“ Doch der Zwerg ließ sich nicht erweichen und reckte mit einem Stolz und einem Trotz in der Miene das Gesicht, dass es dem größeren ernsthaft einen Schauer über den Rücken jagte. In dem Moment war es, dass er ernsthaft begriff, dass er es hier nicht mit einem Möchtegernmagier zu tun hatte, wie es sie in der Gegend oft gab.

Dieser Junge hatte gewaltige Gaben, genau wie er. Und er wusste sie genau zu benutzen. Aus ihm würde ein todbringender, gefährlicher Mann werden, wenn Karana nicht selbst dafür sorgte, ihn im Zaum zu halten.

Grantig riss er die Arme empor und erwiderte den zornigen Blick des Jungen vor sich mit derselben Energie.

„In Ordnung, du bekommst Regen, das muss dir fürs Erste reichen! Wage nicht wieder, an dem zu zweifeln, was die Geister mir vermacht haben… du weißt offenbar nicht, vor wem du stehst, Zoras Derran!“

„Karana!“, schrie Simu erschrocken, als der Himmel sich auf einen bloßen Wink des Jungen bezog und dunkel wurde. Es grollte unschön. „D-du weißt doch, was Vati gesagt-…!“

„Schnauze!“, bellte sein Bruder ihn an, „Das ist nicht dein Revier, Simu, du hast keine Ahnung von Magie, also halt dich da raus! Ich werde diesem Angeber zeigen, was Wetter ist!“ Simu wusste nicht, was er weniger fassen konnte; dass Karana in so einem Ton mit ihm sprach und es augenscheinlich ernst meinte (ganz zu schweigen von der üblen Wortwahl), oder dass er jetzt wirklich den Kopf in den Nacken warf und offenbar versuchte, dabei wie ein richtiger Geisterjäger auszusehen, während er mit lauter Stimme nach den Regengeistern rief. Aus den sich unnatürlich schnell zusammenbrauenden Wolken grollte es erneut, und im nächsten Moment ergoss sich ein Platzregen über dem Schulhof, wo zuvor noch strahlender Sonnenschein geherrscht hatte. Der Hof war binnen weniger Momente klitschnass, ebenso diejenigen, die nicht Schutz unter dem Vordach der Schule gefunden hatten, wie die beiden Schamanen und Simu oder Tayson, die noch immer mitten im Hof standen.

„Tss.“, machte Zoras Derran und schüttelte sich, dabei gelangweilt in den Himmel sehend, „Das… langweilt mich, Karana. Eben hast du noch so große Töne gespuckt! Ich zeige dir mal, was wirkliche Wettergeister sind!“ Karana riss die Augen auf, die Hände sinken lassend, als der andere jetzt seinerseits die Hände in den Himmel empor riss und mit einer Stimme voller Zorn und purer Macht zu den Geistern hinauf brüllte:

„Vater Himmel, schicke mir deinen Blitzspeer! Gib mir deinen Zorn, auf dass die Toren ihre gerechte Strafe bekommen!“

„Was, Strafe?!“, heulte Tayson panisch, „D-das meint der doch nicht ernst – Karana hat den Apfel geworfen, ja, nicht ich!“

„Seid ihr irre?!“, schrie Karana und sah nur kurz zu Tayson, denn das folgende, ohrenbetäubende Krachen zerriss das Rauschen des Regens und ließ ihn wieder herumfahren. Der Himmel war jetzt pechschwarz und mit dem grauenhaften, bebenden Donner war ein gigantisch großer Blitz zwischen Zoras’ ausgestreckte Hände geschlagen. Karana erinnerte sich spontan an den Angriff der Zuyyaner auf Lorana – gegen dieses Monstrum hier war sein Blitz damals ein Baby gewesen… „Um Himmels Willen, willst du uns alle ermorden, Zoras?! Hör damit auf, sofort!“, schrie der Junge alarmiert, als die bloße Präsenz des Blitzes und die damit verbundene Elektrizität alle Härchen in seinem Nacken sich sträuben ließ. Er fuhr keuchend herum und suchte nach irgendetwas, das er tun konnte, um das zu unterbinden – über so einen gewaltigen Blitz konnte Zoras unmöglich die volle Kontrolle haben!

„Ich zeige es dir, das habe ich ja gesagt, Karana!“, schrie Zoras vor ihm, der tatsächlich beträchtlich taumelte unter der gewaltigen Macht des Geisterblitzes, den er gerufen hatte – es musste ihm Körper und Geist zerreißen, wenn er das noch viel länger machte… „Ich… werde… sicherlich nicht kriechen, ist das… klar?!“ Karana erbleichte – für die Drohung hatte er keine Zeit.

„Simu, Tayson, haut hier ab, sofort!“, schrie er hysterisch, als ihm klar wurde, dass dieser Irre vorhatte, den Blitz tatsächlich auf sie alle loszulassen. „Haut ab!“ Wiederholte er lauter und wirbelte wieder herum, die Hände herum reißend, um irgendwie dieses Chaos zu bändigen, das sich gleich unweigerlich über sie ergießen würde – er hatte keine Ahnung, wie er das machen sollte. Ihn trieb nur die nackte Panik, die Todesangst, dass Zoras’ Gewitter ihn gleich zerschmettern würde wie eine nutzlose Fliege.

Ich bin verdammt noch mal der Sohn des Herrn der Geister! Ihr müsst mir gehorchen, Himmelsgeister, und diesen Wahnsinn auf meinen Befehl beenden!

In dem Moment, in dem Zoras vor ihm schrie und seinen Blitz auf ihn schleudern wollte, in dem Moment, in dem Karana die Arme weit ausbreitete und gerade zu den Geister empor brüllen wollte, sie sollten ihm gehorchen, krachte es plötzlich erneut. Karana spürte die Macht des Himmels und der Erde um sich herum erzittern in dem Augenblick, in dem mit einem weiteren, plötzlichen Blitzen und einem lauten Grollen von oben Zoras’ Gewitter im Nichts verschwand. Dann verlor der Junge den Halt, einen Augenblick später spürte er, wie er mit einem schmerzhaft festen Griff am Nacken gepackt und zurückgezerrt wurde.

Plötzlich war der Himmel wieder hell und die Wolken verschwunden; Karana sah, dass Zoras Derran ebenfalls gepackt worden war, hinter ihm stand plötzlich eine schwarzhaarige Frau, die ihn fest umklammerte. Dann hörte er Simu hinter sich verzweifelt japsen, dann erst nahm er wahr, dass er immer noch festgehalten wurde.

„Was im Namen von allen Mächten der Schöpfung ist hier los?!“, bellte sein Vater ihn da auch schon an, und Karana keuchte, als der Senator ihn unsanft losließ und ihn herum zerrte, um ihn wutentbrannt anzustarren.

„V-Vati-…“

„Was habe ich dir gesagt?! Du sollst nicht mit deinen Gaben spielen! Sitzt du eigentlich auf deinen Ohren oder rede ich Fannisch?! Bist du eigentlich des Wahnsinns, Karana?! Ihr hättet die ganze Stadt sprengen können!“ Karana erbleichte unter dem harschen Tadel; obwohl der Blitz von Zoras gekommen war, wusste er genau, dass er die Rüge verdient hatte, und es tat ihm weh, wenn sein Vater ihn so zornig anstarrte. Zu seinem Glück wendete der Mann seinen bohrenden Blick jetzt auf Zoras, als er Karana wieder packte und festhielt. „Und mit wem haben wir die Ehre?!“, blaffte er dann den Kleineren mit nicht weniger Geringschätzung und Argwohn an. „Hast du den Verstand verloren, einen derartigen Blitz hier aus dem Nichts zu rufen?! Hallo, ich rede mit dir, du Ganove!“ Zoras starrte ihn nur fassungslos an, und die Frau, die ihn festhielt, schob das Kind zur Seite und verbeugte sich tief.

„E-es tut mir leid, Herr!“, sprach sie, „Es wird nicht wieder vorkommen, ich verspreche es! Es… es war ein Versehen…“ Einen Moment herrschte Stille. Karana wartete darauf, dass sein Vater weiter meckerte; wenn er mit anderen schimpfte, mochte Karana das gern, das war lustig… aber nichts geschah, und als er seinen Vater doof ansah, weitete der gerade ungläubig die Augen, dabei die Frau anstarrend.

„Das… ist nicht möglich!“, keuchte er dabei, „Pakuna?!“
 

Puran fasste gar nicht, was er sah, als die Frau rasch den Kopf wieder hob und ihn aus riesigen, braunen Augen anstarrte, die schwarzen Haare hingen ihr noch etwas verwegen ins Gesicht. Unverkennbar. Das war Pakuna Kipu, die er als kleines Mädchen aus Dokahsan kannte! Das musste sie sein, ihr Gesicht war haargenau dasselbe, nur etwas größer. Er fragte sich, ob er sich wirklich nicht irrte, da sprach die Frau wieder und bestätigte seinen ersten Instinkt.

„Aber… Puran Lyra?!“

Nein, das – das gibt es doch nicht, du bist es wirklich!“, keuchte der Senator und vergaß seinen Zorn – das unerwartete Wiedersehen der alten Bekannten zauberte ihm ein Grinsen ins Gesicht. „Du… bist hier in Thalurien?! Das… ist doch wohl wirklich ein gnadenloser Zufall. Wer hätte gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe…“

„Du bist es auch wirklich!“, japste die Frau, offenbar freute sie sich ebenso wie er, und sie sah aus, als wollte sie weinen vor Freude. Na, so nahe hatten sie sich aber nun auch nicht gestanden…? „Ich – ich glaube es nicht! Himmel, ich hätte dich doch erkennen müssen… deine Stimme hat sich verändert, aber man trifft hier selten Menschen mit dem Norddialekt, den wir beide sprechen…“ Sie strahlte und Puran ignorierte Karana, der ihn fassungslos anstarrte.

„Vati, Moment, du kennst die?!“ Der Mann räusperte sich kurz und sah dann auf Zoras.

„Wie ich sehe, hast du… einen Sohn im selben Alter von meinem eigenen…“

„Ja, offenbar…“ Pakuna strich dem kleinen Jungen über den ungewöhnlich hübschen Kopf. Puran blinzelte einen Moment, als ihm auffiel, an wen der Knirps ihn erinnerte.

„Moment – das heißt, du und Ram Derran seid jetzt tatsächlich zusammen?“

„Was heißt jetzt, das sind wir schon eine Weile.“, kicherte die Frau, „Ja, Ram ist sein Vater, das hast du gut erkannt.“

„Hallo, wieso kennt ihr euch?!“, empörte Karana sich verwirrt, und er sah Simu an, der auch bloß doof mit den Achseln zuckte. Puran ließ sich jetzt dazu herab, seinem Sohn zu antworten.

„Wir, ähm, sind alte Bekannte… mit Pakunas Mann bin ich mal zur Schule gegangen.“ Karana, Simu und Tayson tauschten kurz einen verblüfften Blick, dann räusperte der Senator sich und sah Pakuna kurz an. Sie war bildhübsch geworden; an sich sollte es ihn nicht wundern, dass ihr Sohn ein so ansehnliches Kind war. Wobei der Kleine eindeutig die schmalen Augen von Ram Derran hatte…

Ram, Himmel. Wie lange ist es her, dass ich den gesehen habe?

Obwohl er ihn nie gemocht hatte, freute Puran der Gedanke, dass sein ewiger Feind noch am Leben war nach den Jahren des Krieges.

„Ich würde wirklich gerne weiter mit dir plaudern, Pakuna… aber ich fürchte, ich muss meine Kinder jetzt mitnehmen, meine Frau wird sich sorgen, wo wir so lange bleiben.“ Die schwarzhaarige Frau lächelte ihn mit aller Freude an, die ein Mensch nur besitzen konnte, so kam es ihm vor, während sie ihren kleinen Sohn an den Schultern fasste. Der Kleine sah nur grimmig auf Karana und die anderen Jungen, sagte aber kein Wort.

„Ich freue mich, zu sehen, dass du wohlauf bist, Puran.“, sagte seine Mutter dann und neigte leicht den Kopf, „Vielleicht sehen wir uns ja. Auf Wiedersehen…“

„Mach es gut, Pakuna, und, ähm – nein, grüß Ram besser nicht von mir, ich will ihm ja nicht den Tag vermiesen.“ Sie lachten beide, ehe sie sich verabschiedeten und dann beide in verschiedene Richtungen den Schulhof und das Dorf verließen; Pakuna wandte sich mit ihrem Sohn nach Westen, während Puran die drei anderen Jungen nach Nordosten begleitete.

„Du kennst die?“, wiederholte Karana brummend, als sie die Straße hinauf in Richtung Lorana gingen. Tayson musste noch ein Dorf weiter, nach Gemi, wo er alleine mit seiner Mutter lebte.

„Nicht gut, nur flüchtig.“, warf Puran ein, „Ähm, Ram Derran und ich sind nie wirklich gut miteinander ausgekommen.“ Karana seufzte.

„Na, dann wissen wir ja, von wem Zoras seine Ignoranz hat. Du hättest den sehen sollen, das mit dem Blitz war der Hammer-…“ Puran fiel ihm ins Wort und hätte sich vor Schreck fast an seinem eigenen Speichel verschluckt.

„Moment, was?! Wie heißt der?!“

„Na, Zoras.“, sagte Karana, sichtlich aus der Bahn geworfen, und sein Vater starrte ihn an.

Zoras? Bist du sicher?“

„Zumindest wurde er uns als Zoras Derran vorgestellt.“, sagte Simu, „Aber jetzt wo du es sagst, könnte er auch ein Spion aus Janami sein und eigentlich anders heißen…“ Puran war zu verblüfft von der Erkenntnis, um sich über Simus für sein Alter sehr ausgereiften Sinn für Sarkasmus zu wundern.

Zoras? Der kleine Sohn von Pakuna hieß ausgerechnet Zoras? Sofort versuchte Puran sich an das Gesicht des Jungen zu erinnern und festzustellen, ob er seinem Namensvetter Zoras Chimalis ähnlich sah – er hatte schwarze Haare und grüne Augen… aber das war doch unmöglich. Der Junge war der Sohn von Ram Derran. Vielleicht war es nur Zufall, dass der Junge ausgerechnet Zoras hieß…

Aber gerade Zoras? Soweit ich weiß, ist Zoras ein durchaus großer Name unter den Chimalis… ausgerechnet dieser Name, der über viele Jahrhunderte immer mal weitergegeben wurde, soll zufällig bei den Derrans auftauchen?

Vielleicht sollte er mit Meoran darüber sprechen… es gab noch ein anderes Indiz, das ihn wirklich verblüffte, jetzt, wo er den Namen des Kindes kannte. Die Macht, die er heraufbeschworen hatte mit dem Gewitter, war unmöglich dem Blut seines magieunbegabten Vaters entsprungen. Wenn der Name doch kein Zufall war, sondern mehr der Wille der Geister?

Aber wieso dann ausgerechnet das Kind von Ram Derran?

Puran verschwieg den verwirrten Kindern seine Gedanken. Es war nicht wichtig, dass sie wussten, was ihn verblüffte… dass er auch nur in Betracht zog, dass Karanas neuer Schulkamerad – mit dem er scheinbar nicht besonders zurecht kam – mehr als nur ein zufälliger Namensvetter eines der größten Geisterjäger des zehnten Jahrhunderts sein könnte.
 


 

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September 991, lange keine Jahreszahl mehr gesagt xDDD Zorchen! xDD

Geister des Schicksals

Puran sah Meoran eine sehr lange Zeit nicht, deswegen entfiel es ihm, seinen Meister nach dem Kind zu fragen, das zufällig Zoras hieß; eigentlich war das aber nicht der Hauptgrund dafür, wieso er die Sache in den hintersten Winkel seines Kopfes verschob. Ein triftigerer Grund dafür war vermutlich Zoras’ Vater, Ram Derran, Purans ewiger bester Freund. Da ihre Söhne in dieselbe Schulklasse gingen, ließ es sich nicht vermeiden, dass die beiden Männer sich über kurz oder lang begegneten, und der Senator beschloss prompt, von der Familie die Finger zu lassen; egal, was Zoras’ Name oder seine erstaunliche Begabung bedeuten mochte, er würde sich hüten, sich in Rams Familie einzumischen oder mehr Zeit mit ihr zu verbringen als zum Überleben notwendig war. Davon abgesehen, dass Leyya auf Simus Bericht, sein Vater wäre in der Schule einer alten Freundin namens Pakuna begegnet, nicht sonderlich erbaut schien; da half auch Purans hundertfache Beteuerung nichts, dass er mit Pakuna nicht einmal im entferntesten Sinne irgendetwas Sexuelles gehabt hätte. Das letzte Mal, dass er sie gesehen hatte, war sie sieben gewesen, Himmel…
 

„Um Himmels Willen, Karana!“ So wurde der Erbe des Lyra-Clans jedes Mal begrüßt, wenn er nach der Schule heim kehrte mit weiteren Blessuren, die er Schlägereien in der Schule zu verdanken hatte. Meistens mit besagtem Kind von Ram Derran, wie sein Vater ergrimmt feststellte – was war das denn, vererbte sich so eine Feindschaft etwa auch? Das Dumme war nur, dass es bei Karana und Zoras schlimmer war als bei Ram und ihm selbst früher; denn im Gegensatz zu Ram konnte Zoras zaubern. Und sobald Karana auch endlich die untere Magie gemeistert hatte, standen den magischen Schlägereien keine Hindernisse mehr im Weg. Puran konnte seinem Sohn tausendmal verbieten, die Magie zu solchem Schwachsinn einzusetzen, solange Karana damit nichts in die Luft jagte oder ernsthaft Menschen verletzte, würde ihn jeder andere auslachen, weil er so pingelig damit war, wenn es darum ging, wie sein Kind die untere Magie einsetzte.

„Alle anderen Schamanenkinder üben auch in der Pause zaubern.“, meckerte Karana dann jedes Mal, „Warum soll ich der einzige Depp sein, der es nicht darf? Du bist ein Spielverderber, Vati!“

Spielverderber, na, das sah der Senator etwas anders. Er sparte es sich aber, weiter darauf herum zu reiten – in der Schule konnte er Karana nicht kontrollieren. Der Junge würde auch mit Verbot trotzdem zaubern und versuchen, Zoras Derran darin zu besiegen… was brachte es also?

Die immer kleiner werdende Kontrolle über seinen Sohn wurmte den Mann extrem. Und es wurde schlimmer, je älter Karana wurde. Je älter und größer der Junge wurde, desto sturer und mächtiger wurde der Geist in seinem Inneren; desto größer wurde auch Purans Panik, er wäre irgendwie auf eine abstruse Weise beeinflusst von dem Geist seines Großvaters. Wie oft fragte er die Geister um Rat, was er tun sollte, sollte es tatsächlich eine Verbindung zwischen Karana und Kelar geben? Und wie oft weigerten sich die bockigen, sadistischen Mistkerle, ihm eine Antwort zu geben?
 

Puran sah sich vor einer blutigen Sonne stehen, die sich aus der Finsternis erhob wie eine bösartige, todbringende Kugel aus Feuer. Die Schatten lachten ihn auf verzerrte und böswillige Weise an.

„Das Ende der Welt wird kommen, Lyra… und Schatten wird sich über die Welt legen, die du kennst.“, sprachen die Himmelsgeister, und der Herr der Geister schnappte in der brennenden Hitze der rot glühenden Sonne vor ihm nach Luft. Statt Luft atmete er aber nur brennenden Himmel ein, und die ätzende Hitze des Feuers breitete sich in seinem Körper aus und drohte, seine Lungen zu zerfetzen.

„Was für Schatten?“, fragte er barsch, „Antwortet mir!“ Die Geister kicherten, während die Hitze schlimmer wurde, bis das Licht der Sonne plötzlich explodierte in einem gleißenden Blitz, der alles Leben um sich herum zu vernichten schien – dem folgte eine fürchterliche, tiefe Schwärze, ein finsteres Loch aus Verdammnis und Verzweiflung, in das Puran jetzt kopfüber stürzte; die brennende Hitze in ihm wich jetzt einer eisigen Kälte, die seine Kehle zu schnürte. Die Antwort der Geister hatte er schon einmal gehört; und sie sprachen mit der kehligen Stimme seines Großvaters, dessen spitze Zähne in der Dunkelheit auftauchten.

„Mit Feuer und Schatten… wird das Bündnis der drei Welten zerbrechen. Mit Donner und Finsternis… kommt das Ende der Welt, Lyra.“
 

„In Wahrheit werdet ihr alle von den Launen des Schicksals beherrscht… auch du, Herr der Geister, wirst am Ende knien.“
 

Er keuchte, als er aus dem unwirklichen Traum hochfuhr, dabei schlug er aus Versehen Leyyas Hand weg, die nach seinem Gesicht gefasst hatte. Erschrocken fuhr seine Frau zurück.

„D-diese Wahnsinnigen!“, stöhnte Puran, setzte sich benommen auf und fuhr sich mit den Händen über das schweißnasse Gesicht. Er wusste nicht, ob er wegen der Hitze schwitzte oder vor Panik… aber das Gefühl, das die Geister in ihm hinterließen, war furchtbar und verstörte ihn nur noch mehr. Sein Kopf schmerzte und in ihm zog sich alles schmerzhaft zusammen, als Leyya sich neben ihm im Bett ebenfalls aufsetzte und vorsichtig von hinten nach seinem Rücken fasste.

„Liebling…?“, wisperte sie besorgt, und er fuhr zu ihr herum und stierte sie aus schmalen Augenschlitzen an, in denen noch der Wahnsinn der Visionen stehen musste, wie er an ihrer Reaktion sah; die kleine Heilerin fuhr zurück und schnappte hysterisch nach Luft.

„Rühr mich nicht an!“, zischte er heiser und betete innerlich, dass sie es ihm nicht krumm nähme; er wollte sie nicht verletzen. Aber jede Berührung jagte einen brennenden Schauer durch seinen Körper, als sträubten sich sämtliche Lebensgeister in ihm, wenn sie ihn berührte. „Nicht… dass das Feuer und der Schatten meiner Träume auf dich übergehen…“ stöhnte er dann, um seine harsche Reaktion zu rechtfertigen, und Leyya machte ein bestürztes Gesicht.

„Soll ich dir Wasser bringen?“

„Nein… ist schon gut. Vergib mir, habe ich dich geweckt?“ Langsam flaute das schlechte Gefühl in ihm wieder ab, und er fuhr sich erneut über das Gesicht.

„Du hast plötzlich so gezuckt und komische Geräusche gemacht, da hatte ich Sorge…“ seufzte seine Frau leise, „Geht es dir wirklich gut?“

Sie wusste, wie sehr ihm die Visionen zu schaffen machen konnten; auf Dauer konnte das doch nicht gesund sein. Sie erinnerte sich an Erzählungen von Purans Großmutter, die durch ihre extreme Sehensgabe wahnsinnig geworden war… hoffentlich war Puran standhafter als seine Großmutter.

Die kleine Frau näherte sich ihrem Mann wieder und umarmte ihn zärtlich, beugte sich herüber und küsste zärtlich seinen Mundwinkel.

„Sprich mit mir, Liebster.“, flüsterte sie, „Was… beunruhigt dich so sehr?“ Puran seufzte und ließ zu, dass sie sich zärtlich an ihn schmiegte, ihre Hände sanft über seine Brust streichelten und ihre Lippen flüchtig seinen Hals liebkosten.

„Das Ende der Welt… mit jedem Tag entgleitet mir mehr die Kontrolle über das, was ich halten sollte. Ich komme mir… irgendwie unnütz vor. Wieso bin ich Herr der Geister, wenn die Geister mir nicht gehorchen?“

„Du bist nervös, das ist alles.“, sagte sie zuversichtlich, und er stellte erstaunt fest, dass sie noch immer die wundersame Fähigkeit hatte, ihn mit ihrer bloßen Anwesenheit zu beruhigen. Wenn sie bei ihm war, verblassten die Schatten…

„Nein, ich fürchte, ich werde alt.“, stöhnte ihr Mann, „Wird Zeit, dass sich etwas ändert…“

Und der Schatten verschwindet, der meinen Geist belagert…
 

Die Zeiten änderten sich tatsächlich, allerdings waren zu dem Zeitpunkt zwei Jahre vergangen, seit Karana zum ersten Mal auf seinen ominösen Mitschüler Zoras Derran getroffen war.

Der Krieg war endgültig vorbei.

Der zuyyanische Kaiser, der auf den unglaublich klangvollen Namen Igrajyo Zhunkan hörte – sämtliche Schreiber der Königs hatten den Namen zunächst zehnmal falsch geschrieben – kapitulierte im Sommermond des Jahres 993 und unterschrieb persönlich den eigens dafür angefertigten Friedensvertrag in der Reichshauptstadt Vialla. Das war ein Grund zu Jubel und Freude auf ganz Tharr, vor allem aber in Kisara, wo die Verwüstung durch die Zuyyaner über die vielen Jahre hinweg am schlimmsten ausgefallen war. Die Unterzeichnung dieses Vertrags in Vialla war fast schon etwas Heiliges, hatte Puran das Gefühl, als er in den Reihen der anderen Senatoren, Vertreter aller Provinzen, seiner Kollegen des Geisterjägerrates und einiger Vertreter der anderen Schamanenräte im Thronsaal des mächtigen Palastes in Vialla stand und zusah, wie der komische Kaiser vor einer ganzen Reihe von Königen über einen Tisch gebeugt den Vertrag unterzeichnete. Quasi Alle Könige des Zentralreiches waren gekommen: der aus Janami, der aus Senjo, der aus Intario, der aus Kuyala und der aus Westfann. Die Reiche Dhimorien und Tejal gehörten rein politisch gesehen zwar auch zum Zentrum Tharrs, aber beide Länder waren eigentlich nicht tangiert von dem Krieg mit Zuyya, weil sie geografisch gesehen schon im Ostreich lagen.

Puran war dem neuen zuyyanischen Kaiser, der seit Karanas Geburtsjahr das Imperium regierte, noch nie begegnet. Er war ein alter Mann, er wirkte viel älter als sämtliche Könige von Tharr, die mit im Saal waren, seine Haare waren weiß, waren aber unter einem pompös verzierten Kopfschmuck versteckt, sodass man sie kaum sehen konnte. Die aufwendigen Gewänder, die der Mann trug, ließen ihn um einiges protziger wirken als alle Monarchen zusammen – dabei hatten sich auch die Könige deutlich herausgeputzt für den wichtigen Termin, ebenso wie alle anderen Anwesenden. Der Senator selbst hatte den halben Tag damit zugebracht, seine Haare platt zu bekommen, dafür war wohl eine halbe Tonne Haarwachs draufgegangen, so fühlte es sich auf seinem Kopf zumindest an… na, wenigstens war er nicht so pompös angezogen wie der zuyyanische Kaiser, und wer wusste, was der mit einen Haaren unter dem Hut machte. Der Mann war flankiert von zwei unbewaffneten Wachmännern in Uniform, hinter ihm stand noch eine kurze Reihe von seriös gekleideten Politikern und eine unwahrscheinlich junge Frau mit hellblauen Haaren, die, wie Puran bereits wusste, des Kaisers höchste Beraterin war und damit so etwas wie die mächtigste Frau des Imperiums. Der Kaiser hatte keine Gemahlin, so hieß es, und selbst, wenn er eine hätte, so hätte diese Frau vermutlich dennoch mehr Macht inne als jede Kaiserin. Der Rat der Geisterjäger war der extrem jungen Beraterin bereits vor zehn Jahren hier im Palast begegnet – dank ihrer Verhandlungen war es damals zu einem immerhin kurzzeitigen Waffenstillstand gekommen. Puran faszinierte die Tatsache, dass sie nur wenig älter als Leyya sein konnte – jedenfalls sah sie aus, als wäre sie irgendwo in den Mittzwanzigern – und dennoch eine dermaßen hohe Position in einem so mächtigen Reich inne hatte. Und das als Frau, wohlgemerkt; so etwas war auf Tharr absolut ausgeschlossen.

„Na, sieh an, das Beratermädel vom Kaiser hat sich ja gemausert.“, gluckste Neron gerade neben ihm und ließ Puran kurz zusammenzucken.

„Was? Ja, definitiv, ich bin auch ganz verblüfft.“ Sein Kollege kicherte.

„Also, wenn ich etwas jünger und unverheiratet wäre, Himmel… wobei ihre gelben Augen mich schon vor zehn Jahren echt abgeschreckt hätten…“

„Sie ist zu jung für dich, Neron.“, fiel Meoran hinter ihnen ein, der gemeinsam mit seiner Tochter da war, „Sie ist dreiundzwanzig, Junge. Du bist sechsunddreißig, das sind über zehn Jahre.“

„Was?!“, japste Neron, „Dreiundzwanzig?! Sie ist erst dreiundzwanzig?! Wie jetzt, ich dachte, sie wäre mindestens drei Jahre älter… dann ist sie ja noch jünger als Leyya!“

„Dann wäre ich jedenfalls nicht mehr der, den sie pädophil nennen.“, brummte Puran verhalten, und Saidah hinter ihm kicherte verhalten.

„Aber, Alter, dreiundzwanzig – das heißt, sie war mit dreizehn schon die Beraterin?! Alter, schläft sie mit dem alten Tattergreis oder wie ist sie an diesen Posten gekommen?!“ Neron fing sich einen Fußtritt von Meoran, weil ein Schlag auf den Kopf zu viel Aufsehen erregt hätte und sie schließlich stramm in Reih’ und Glied zu stehen hatten, bis die Formalien erledigt waren.

„Halt deinen Rand, du Schwerenöter, das ist ja widerlich.“
 

Knien war keine Sache für die Zuyyaner; Puran erwischte sich dabei, sich mit Genugtuung zu wünschen, dass der überhebliche Imperator vor den Königen des Zentrums im Staub kriechen müsste, um um Vergebung für seinen verdammten Krieg zu bitten, aber leider wurde ihm das erspart. Er schaffte immerhin eine sehr tiefe Verneigung, was ihm sichtlich schwer zu fallen schien, wofür der Senator den aufgeblasenen Kerl jetzt schon verachtete. Er hatte hier kapituliert, da war eine Verneigung ja wohl das Allermindeste, was er zu bieten hatte. Seine Politiker, Wachen und die Beraterin rührten sich die ganze Zeit über keinen Zoll vom Fleck. Als der Vertrag unterzeichnet war, verabschiedete der Imperator sich mit knappen Worten – immerhin in perfekter, einwandfrei gesprochener Dreiweltensprache – und verließ flankiert von den Wachen und gefolgt vom Rest seiner Bagage den Thronsaal, vermutlich, um gleich wieder zurück nach Zuyya zu fliegen. So etwas wie ein Bankett im Palast in Vialla hatte er abgeschlagen, obwohl der König von Kisara ihn dazu eingeladen hatte; auch mehr der Form halber als aus Freundschaft, und eigentlich waren alle froh, dass der Kerl von Zuyya nicht bleiben wollte. So konnten sie in Frieden alleine speisen, das war doch viel ungezwungener. Nachdem die Gruppe der Zuyyaner an der Tür kurz inne gehalten hatte, drehte der Kaiser sich noch einmal um und sprach zu seinen Politikern; als er dann wirklich ging, blieben einer der Männer und auch die Beraterin zurück im Thronsaal und verneigten sich abermals vor den Königen des Zentrums.

„Was ist denn jetzt?“, fragte Neron neugierig, und Puran zog die Schultern hoch. Die Beraterin von Zuyya sprach.

„Der Imperator lässt sein Bedauern über seine nicht vorhandene Zeit ausdrücken, zu Eurem Bankett zu kommen, Eure Majestät. Er hat den Minister von Ahrgul und mich gebeten, ihn bei Eurem Fest zu vertreten, wenn Ihr nichts dagegen habt.“

„Nein, natürlich nicht.“, machte der König von Kisara nickend, „Es ehrt mich, dass er doch nicht so uninteressiert an Kommunikation zu sein scheint.“ Der Unterton in seinen Worten war eindeutig, und Puran war sicher, dass die junge Frau genau wusste, dass es unklug gewesen wäre, wäre tatsächlich keiner der Gruppe geblieben. Eine Einladung des Königs war eigentlich keine Einladung, sondern ein Befehl, zu bleiben – der zuyyanische Kaiser, der aufgegeben hatte, war nicht in der Position, Befehle auszuschlagen. Und es dennoch zu tun suggerierte deutlich ein nicht vorhandenes Interesse des Imperiums an friedlicher Kooperation mit Tharr. Der König von Kisara war da noch nachgiebig, aber der Monarch von Janami zum Beispiel hatte sehr ergrimmt gewirkt, als der Kaiser hatte verlauten lassen, dass er nicht zum Festmahl erscheinen würde. Und Puran wusste aus erster Hand von Meoran, dass das Herrscherhaus von Janami alles andere als humorvoll mit solcher Politik umging.
 

Wie oft hatte der Herr der Geister jetzt an des Königs Tafel gespeist? Öfter als einem normalsterblichen Mann gut täte, dachte er sich manchmal, wenn er von all dem strahlenden Glanz des Reiches umringt war und von Tellern aß, die vermutlich einzeln mehr wert wären als das gesamte Dorf Lorana. Die mannigfachen Speisen, die aufgetragen wurden, waren noch exotischer als sonst, aber immerhin hatten sie jetzt aus jedem Land einen Vertreter, der erzählen konnte, um was es sich handelte. Selbst die beiden zuyyanischen Gäste schienen mehr oder minder beeindruckt von dem, was ihnen geboten wurde. Als das Essen vorüber war und man sich in einen der gigantischen Salons zurückzog, gab das die Möglichkeit, mit diversen Leuten zu reden, die man nicht so oft traf.

Es dauerte nicht lange, bis die junge zuyyanische Beraterin zum halben Geisterjägerrat kam, der auf einem Haufen herum stand und über vergangene Zeiten gelabert hatte.

„Ach, sieh an, die zuyyanische Beraterin gibt sich die Ehre.“, kicherte Neron schon leicht angetrunken und prostete ihr mit seinem Weinglas zu, als sie kam, und er erntete einen Schlag von Tare Kohdar.

„Reiß dich zusammen, oder wir lassen dich sofort heim fahren, du Schussel!“ Neron gluckste nur und prostete ihm ebenfalls zu.

„Komm, trink noch einen mit mir, Tare, altes Haus! Sag mal, du hast ja immer noch keine Frau, langsam wirst du aber alt…“ Tare verdrehte die Augen. Jetzt mischte Nerons Frau sich ein, die ihren Mann anstieß.

„Du kriegst nie wieder Alkohol, du bist so peinlich!“, fauchte sie, ehe sie sich an die Zuyyanerin wandte, „Vergebt ihm, Herrin. Er meint es nicht so.“

„Ist schon gut.“, winkte die Jüngere flüchtig ab, „Ich wollte Euch nicht lange aufhalten. Ich wollte nur schnell kundtun, dass ich mich geehrt fühle, wieder vor Euch stehen zu können. Ich sollte mich in tiefster Demut vor Euren Füßen im Staub suhlen an Stelle des Kaisers, der offenbar den Schuss nicht gehört hat… ich hoffe, er hat die Regierung des Zentrums nicht zu sehr erzürnt.“ Meoran antwortete ihr, indem er ebenfalls lachte.

„Ihr sprecht über ihn, als wäre er ein bockiges Kind, das Ihr zu bändigen versuchtet, Herrin.“

„So in der Art komme ich mir auch vor.“, brummte die blauhaarige Frau und ließ ihre gelben Augen einen Moment auf dem Herrn des Chimalis-Clans ruhen. „Ihr… seid älter geworden, Herr Chimalis. Und Eure Tochter ebenfalls, als ich sie zuletzt sah, war sie erst fünf.“ Sie zeigte ein sehr kurzes, oberflächliches Lächeln, und Meoran räusperte sich. Puran seufzte innerlich bei ihrer Feststellung; ja, Meoran war älter geworden. Das war wohl eine unbeholfene Umschreibung dafür, dass er jedes Mal, dass der Senator seinen Freund sah, schlimmer aussah. Dass Saidah ihn begleitete, hatte seine Gründe; die junge Frau hatte Puran vor der Zeremonie kurz zur Seite genommen und ihm ihre aufrichtige Sorge um ihren Vater ans Herz gelegt.

„Er sagt zwar, es geht ihm gut, und natürlich weigert er sich, von mir zu viel Hilfe anzunehmen, er hat ja seinen Stolz… aber er geht so schrecklich schlecht. Er keucht schon nach einer kurzen Anstrengung, er ist nervös, und dann dieser furchtbare Bluthochdruck… ich habe einfach Angst, ihn alleine gehen zu lassen. Also habe ich ihm weisgemacht, ich wollte unbedingt nach Vialla und dich sehen, Puran, da hat er mich mit gelassen. Es tut mir so schrecklich weh, ihn so leiden zu sehen…“

„Ah, du bist natürlich nicht gekommen, um mich zu sehen? Oh, jetzt bin ich aber gekränkt.“, hatte er prompt erwidert, und sie hatte verlegen gelächelt, sich etwas gestreckt und ihn zärtlich geküsst.

„Idiot. Natürlich bin ich auch deinetwegen gekommen… ich musste nur dringend mit jemandem darüber sprechen… bitte achte auf Vater. Er ist doch alles, was ich noch habe, und… ich fürchte mich so sehr vor dem Tag, an dem er nicht mehr sein wird…“

Und wenn man Meoran so ansah, wirkte er wirklich so, als stünde er bereits mit einem Bein im Grab. Er war blass geworden und ging tatsächlich ziemlich schwerfällig, meistens vermied er es, sich viel zu bewegen. Puran wünschte sich so sehr, dass er einfach durch einen Segen der Geister seine ursprüngliche Gesundheit zurückbekäme; aber offenbar war das nicht machbar. Als würden die Geister jemals auf ihn hören.

„Ja, Saidah ist ziemlich groß geworden.“, stimmte Meoran jetzt der Zuyyanerin zu und grinste stolz, „Nicht, meine Kleine?“ Saidah verdrehte mit einem wohlwollenden Lächeln die Augen, als er ihre Schulter tätschelte, und die Zuyyanerin schenkte der jungen Frau einen langen, durchdringenden Blick – dann war es Henac Emo, der zur Gruppe stieß und die Diskussion unterbrach.

„Na, da hast du ja wenigstens etwas Gutes in deinem Leben zustande gebracht, Meoran, was?“ Alle drehten sich zu dem schwarzhaarigen Mann um, der bis eben noch mit irgendwelchen Generälen des Königs geredet hatte und jetzt mit einem fast leeren Weinglas dazu stieß. Er grinste erst Meoran an, dann Saidah, und das auf eine Art, die weder ihr noch ihrem Vater gefiel.

„Mehr als du, Henac.“, war der bissige Kommentar des Lehrmeisters, und er hob sein Glas, um ihm zuzuprosten. „Auf was sollte ich mit dir anstoßen? Auf deine immerwährende Treue dem Rat und dem Königshaus gegenüber vielleicht… das wäre doch mal lustig.“ Emo grinste süffisant, während die anderen besorgte Blicke austauschten und Puran zu Saidah sah, die sich etwas verärgert über den älteren Mann hinter ihren Vater zurückgezogen hatte. Neron, stockbesoffen, lachte blöd.

„Oh ja, Meoran, du hast immer wieder gute Ideen!“ Saja schlug ihrem Mann ins Genick.

„Königstreue willst du?“, erhob Emo dann wieder aalglatt die Stimme, „Ausgerechnet der, der sein Land verlassen hat und jetzt für den Fürsten von Minh-În den Schoßhund spielt? Was bist du doch treu, Meoran. Du hast wohl schon ´ne Menge Wein intus, du redest echt Scheiße.“

„Wenigstens kann er in der Gegenwart von jungen Damen seine Zunge zügeln, im Gegensatz zu dir.“, mischte Puran sich jetzt ein, als Saidah pikiert wieder vortrat und ihren Vater schon am Arm fasste. „Na, lange nicht mehr den ganzen Tag mit deiner Hure verbracht und dabei verpasst, dass die halbe Stadt brennt?“

„Ihr redet alle Schwachsinn, wenn ihr blau seid.“, bemerkte der Ältere langsam und grinste immer noch, „Senol würde euch schlagen, der ewige Antialkoholiker. So ein Jammer… dass er nicht mehr unter uns weilt.“

Meoran wäre beinahe auf ihn losgegangen. Seine Tochter konnte ihn mit Tares Hilfe gerade noch festhalten, und der Mann spuckte seinem gegenüber ins Gesicht und schnappte gleich darauf keuchend und röchelnd nach Luft, als die Spannung ihm definitiv nicht gut tat.

„Du elender Meuchler, du verfluchter Bastard! Ich kriege dich am Arsch, Emo, eines Tages kriege ich dich am Arsch und du wirst dir wünschen, dich nicht mit mir angelegt zu haben!“ zischte er dabei und keuchte immer heftiger, sodass Saidah verzweifelt wimmerte, weil sie Angst bekam, er könnte ersticken.

„Vater! Himmel, beruhige dich! Komm, wir gehen lieber etwas hinaus-… ich bringe dir Misteltee…“

„Ich bin kein Greis! Lass mich los!“, fauchte Meoran, ließ sich aber gehorsam von seiner Tochter aus dem Salon eskortieren. Im Hintergrund sahen bereits die anderen Gäste zu ihnen herüber. Die zuyyanische Beraterin zog eine Braue hoch.

„Ich werde mich nicht weiter einmischen.“, sagte sie mit einem aufgesetzten, aber gekonnten Lächeln. „Wenn Ihr mich entschuldigen würdet.“ Sie warf zuletzt Emo einen seltsamen Blick zu, der sie nur genauso anzüglich angrinste wie Saidah zuvor, ehe sie den Geisterjägern den Rücken kehrte. Puran zischte und stieß Henac Emo kurz zurück.

„Du hirnloser Affe, was denkst du dir? Solange ich hier Ratsführer bin, hast du nach meiner Pfeife zu tanzen, Emo. Und halt deine gespaltene Zunge fest, Verräter, wenn du unser Vertrauen willst. Besonders schlau bist du nicht, was, Emo?“ Er drängte sich dann an ihm vorbei und verließ den Raum ebenfalls, um Saidah und Meoran wiederzufinden. Er merkte nicht, wie der Schwarzhaarige ihm einen langen, bitteren Blick zuwarf.

Ja… noch tanze ich nach deiner Pfeife, Puran, zumindest so halb. Wenn das Ende der Welt kommt, drehen wir den Spieß um und du wirst es sein, der mir zu Füßen kriechen wird… aus Furcht vor dem Mann, der dich zu Fall bringen wird, du großartiges, geniales Wunderkind.
 

Puran fand seinen Lehrmeister und Saidah nach langer Suche auf dem Innenhof, wo beide auf der steinernen, breiten Treppe saßen, die vom Schloss hinaus führte. Offenbar hatte die junge Frau ihrem Vater wirklich Tee machen lassen, jedenfalls stand die leere Tasse neben Meoran am Boden. Beide sahen auf, als der Herr der Geister zu ihnen kam.

„Darf ich mich zu euch setzen?“, murmelte er betreten, und Meoran schmunzelte.

„Jeder, nur du nicht.“, scherzte er, und Puran ließ sich neben Saidah auf die Stufen sinken und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht.

„Hör nicht auf Emo, Meister. Er redet Scheiße, das wissen wir alle.“ Der Ältere stöhnte matt.

„Ich weiß. Am besten erwähnst du ihn nicht mehr.“

„Vergib mir, ich… geht es dir besser?“ Die Frage war offenbar auch nicht besser, Meoran warf ihm einen kurzen Blick zu und murrte.

„Mir geht es blendend, ging es mir auch vorher, Puran. Ich komme klar.“

„Vater!“, mischte die Tochter sich ungeahnt scharf ein und fasste seinen Arm, „Lass das. Puran hat es nur gut gemeint, du hast keinen Grund, ihn anzufahren. Du solltest dich beruhigen, soll ich dir noch einen Tee machen?“

„Nein!“, blaffte er sie an und Puran erhob sich rasch, als Meoran sehr schnell für seine Verhältnisse auf die Beine sprang. „Verdammt, Saidah, hör auf, mich wie einen altersschwachen Großvater zu behandeln! So alt bin ich noch nicht, mir geht es gut!“ Er sah die Fassungslosigkeit und den Schmerz im Gesicht seiner schönen Tochter, und das machte es nicht besser. Er wusste doch, dass sie alles für ihn aus Liebe tat… aber verdammt, sollte er zulassen, dass sie ihn beschützen musste? Es sollte andersrum sein… sie war seine Tochter. Sie sollte sich auf ihn verlassen können und nicht andersrum… sie war doch erst fünfzehn. Meoran unterdrückte das Verlangen, an seine plötzlich stechende Brust zu fassen, und er zog schwer keuchend die Luft ein, was unangenehm schmerzte. „Seht ihr, ich kann wunderbar gehen und mir fehlt nichts!“, erklärte er lauter als nötig, um seinen Standpunkt beizubehalten, und er erntete besorgte und bestürzte Gesichter. „Also hört auf, mich zu bemuttern. Ich hole mir jetzt einen starken Schnaps, jawohl. Das macht Müde morgens munter.“ Damit schritt er von dannen, zurück ins Schloss, so schnell er irgendwie konnte, um nicht den Eindruck zu erwecken, er wäre krank.

Was er definitiv war. Und das war er seit vielen Jahren. Das wusste er selbst.

Als er weg war, begann Saidah unverhofft zu weinen. Puran setzte sich wieder zu ihr und nahm sie schweigend in den Arm, worauf sie sich schluchzend an ihn klammerte.

„Ich… weiß einfach nicht, was ich machen soll!“, jammerte sie dabei, „Hilf mir, Puran… bitte… ich verstehe ja, dass er nicht verhätschelt werden will, aber… aber… jeder Blinde sieht, dass es immer schlimmer wird! Kein Heiler kann genau sagen, was ihm fehlt, nur, dass er ein fürchterlich schlechtes Herz hat… oben in den Bergen fühlt er sich auch besser als in dieser Hitze hier… ich habe nur Angst, dass er es nur noch schlimmer macht, wenn er dauernd so tut, als wäre er kerngesund!“

„Ich weiß.“, machte Puran benommen, „Mir ist genauso zum heulen zu Mute wie dir, meine Liebe.“ Saidah ließ ihn schluchzend los und wischte sich vorsichtig über die hübschen Augen.

„Vergib mir.“, wisperte sie, „Dass ich mich dir so… an den Hals werfe, meine ich.“

„Ist schon gut. Ich kenne dich seit du geboren wurdest, das ist doch selbstverständlich.“ Sie senkte den Kopf etwas, er war sich nicht sicher, ob sie errötete, im Dunkeln war es schwer auszumachen. Die Nacht war längst hereingebrochen. Puran entsann sich grübelnd, dass sie ihn vorhin geküsst hatte – rein automatisch ging er immer davon aus, dass alles, was sie tat, rein platonisch war. Immerhin war sie Meorans Tochter. Und in seinen Augen noch immer das kleine Mädchen, dessen Geburt er miterlebt hatte in Iter.

Nein… Saidah war längst kein kleines Mädchen mehr. Sie war jetzt erwachsen. Und sie war genauso bildschön geworden wie ihre Mutter.

„Vater ertrinkt in seinem Schuldbewusstsein.“, sagte die junge Frau da plötzlich und riss ihn aus seinen zweifelhaften Gedanken. „Er gibt sich immer noch die Schuld an Senols Tod und obwohl die Geister die Aktion mit Sora gutgeheißen haben, macht er sich immer Sorgen, er könnte auch sie ins Verderben geschickt haben. Schließlich verraten die Geister uns manchmal… abgesehen davon macht die ewige Einsamkeit ihn wahnsinnig…“ Sie brach hier unschlüssig ab und Puran seufzte erneut.

„Er hat doch dich… und Tanuq. Ich glaube eher, er grämt sich, weil er fürchtet, dich verlieren zu können… oder was aus dir wird, wenn er…“

„Das sicher auch, ja.“, räumte sie leise ein, „Aber ich spreche von meiner Mutter. Es ist schon so viele Jahre her, dass sie gestorben ist, aber er vermisst sie… ich weiß es genau. Er weint so oft im Schlaf und ruft ihren Namen…“ Puran sah sie bestürzt an. So schlimm war es, noch immer? „Manchmal…“ flüsterte Saidah dann, „Manchmal schlafe ich nachts bei ihm im Bett, damit er nicht so alleine ist. Aber ob meine Anwesenheit ihm wirklich hilft-… ich habe eher das Gefühl, wo ich jetzt daran denke, dass es es nur schlimmer macht, wenn ich wie meine Mutter aussehe und neben ihm liege…“

„Hör mir zu.“ Puran nahm ihre Hand in seine und sie sah fragend zu ihm auf, als er sie anblickte. „Ich spreche mal mit ihm. Ich bin sicher, Meoran weiß deine Bemühungen sehr zu schätzen. Dass er so hart reagiert, kommt sicher nur daher, dass er sich Vorwürfe macht, weil er dir so zur Last fällt… gib nicht auf, Saidah. Sei für ihn da, ihr beide habt euch doch nur gegenseitig. Er braucht dich genauso wie du ihn… Meoran will sicher nicht, dass du jetzt weinst.“ Er lächelte und strich ihr zärtlich die Tränen von den Wangen. „Was immer passiert, ich bin für dich da, Saidah. Dein Vater ist der beste Freund, den ich je hatte. Er hat sein Leben lang so viel für mich getan… wenn es irgendetwas gibt, das ich für euch tun kann, dann sprich mit mir.“ Sie sah ihn an, dann senkte sie abermals vermutlich errötend den Blick und drückte seine Hand fester.

„Du bist ein wundervoller Mann.“, murmelte sie dann dumpf. „Darf ich ehrlich sein, Puran?“ Sie sah wieder auf und er zog fragend eine Braue hoch. „Ich beneide Leyya um dich. Ehrlich… das ist vollkommen ernst gemeint.“ Sie beugte sich vor und küsste ihn; er ließ sie gewähren, erwiderte ihren zärtlichen Kuss aber nicht, unfähig, sich zu rühren, als sie ihre Lippen gegen seine drückte. Das hier hatte etwas Verbotenes… wie der einzige Kuss, den er jemals mit Ruja geteilt hatte. Verboten, aber nicht unangenehm.

Als sie sich von ihm löste, erhob sie sich gleich und sah in den Himmel.

„Bitte kümmere dich gut um Karana… damit aus ihm eines Tages auch ein so wundervoller Mensch wird wie du es bist. Ich freue mich schon, ihn eines Tages zu sehen und festzustellen, dass er ein Mann ist. Ich habe ihn noch immer als den kleinen Schreihals im Kopf, der er war, als wir in Yiara waren… seitdem ist er sicher groß geworden.“

Ja, das war er, dachte Puran sich etwas benommen, als er auch aufstand. Groß, aber davon, ein wundervoller Mann zu werden, war er in den Augen seines Vaters noch sehr weit entfernt.
 

In den nächsten Tagen folgten Wolkenbrüche. Vater Himmel schien entweder vor Freude zu weinen, dass der Krieg endlich vorüber war, oder aber er bemitleidete die Zuyyaner, was irgendwie an Hochverrat grenzte.

„Wäre doch irgendwie ironisch, wenn die Himmelsgeister es betrauern, dass die Zuyyaner unsere Welt nicht einnehmen oder zerstören konnten. Da würde ich mich an Purans Stelle jedenfalls fragen, ob sie tatsächlich hinter uns stehen, so wie sie es sollten…“ Henac Emo kicherte dreckig, während er unter einer kleinen, schäbigen Bogenbrücke Schutz vor dem Regen suchte, in seine Manteltasche griff und eine Zigarette hervorzog, die er gemächlich ansteckte. Oben auf der Brücke führte die Südstraße hinauf in Richtung Palast; die großen, guten Straßen liefen immer oberhalb der schäbigeren Viertel von Vialla. Die Gasse, die sich unter der Brücke hindurch schlängelte, war gefüllt von schmutzigem Regen- und vermutlich auch Abwasser, dem Geruch nach zu urteilen jedenfalls, und der Geisterjäger verfluchte die Maden, die hier lebten. Konnten die nicht sauber leben oder machte es denen Spaß, ihren Scheiß auf die Straße zu kippen? Eine bucklige alte Frau torkelte unter der Brücke hindurch an ihm vorbei, wo sie ihm einen schrägen Blick schenkte. Ja, er musste komisch aussehen im Armenviertel mit seinem teuren Umhang und den allgemein viel besseren Kleidern. Emo schenkte der alten Frau ein gehässiges Grinsen.

„Glotz mich nicht so neidisch an, du hast es doch eh’ bald hinter dir, alte Schrulle.“ Die Frau fuhr zusammen und machte, dass sie weg kam, und er lachte amüsiert über ihren Missmut. Die sollte sich nicht so anstellen…

Als er seinen Blick nach links wendete, fiel ihm ins Auge, wonach er eigentlich gesucht hatte, und seine dunklen Augen verengten sich grübelnd, als er zwei Männer die Gasse herauf zur Brücke kommen sah. Beide waren in einfaches Ölzeug gehüllt gegen den heftigen Regen, sie mochten etwas jünger als der Geisterjäger sein, aber sicher immer noch älter als Baby-Senator Puran. Ihre Gesichter waren wettergegerbt und ließen eine einfache, niedere Herkunft erkennen; dem größeren der beiden fehlte ein Ohr. Die beiden Rüpel hatten ihn offenbar auch bemerkt und kamen jetzt zügiger zur Brücke; dort angekommen nahmen sie ihre Kapuzen ab und musterten den Älteren knapp.

„Du bist Emo?“, fragte einer in sehr schlecht gesprochener Hochsprache, und der Geisterjäger pustete den Rauch seiner Kippe den Männern ins Gesicht.

Du schon mal gar nicht. Für euch bin ich Plural, hat euer Herr euch das nicht gesagt?“

„Vielleicht hält er dich nicht mehr für wertvoll genug, um uns zu sagen, wir sollten dir Respekt zeigen.“, konterte der zweite Mann grinsend und entblößte dabei eine hässliche Zahnlücke.

„Vorsicht, Kerl, pass auf, mit wem du sprichst, ich könnte dir mit einer Handbewegung die Zunge abschneiden. Oder viel Wertvolleres, wenn ich gerade gute Laune habe.“ Er sah zu seiner Zufriedenheit, wie die Gesichtszüge der Männer entgleisten, und er reckte seinen Kopf etwas höher. „Das hat der Herr wohl auch vergessen zu erwähnen.“

„Wir wissen, dass du – ähm, Ihr… dass Ihr Geisterjäger seid.“, murmelte der erste Mann wieder, und Emo verzog das Gesicht.

„Euer Akzent ist ja grauslich. Habt ihr jemals wirklich Tharranisch gelernt?! Oder sprecht ihr nur Ghianisch?“

„Wir haben so viel gelernt, wie nötig war, um nicht groß aufzufallen während der Forschungen hier.“

„Ja, so viel wie nötig, das sehe ich, und kein Wort mehr. Versager. Was habt ihr jetzt zu berichten? Ich habe eure Nachricht bekommen, gibt es etwas Spannendes?“

„Wir haben die Spur des Kita-Mädchens wiedergefunden.“

Das war in der Tat spannend. Henac Emo zog eine Braue hoch, kramte großzügig in seiner Tasche und bot den beiden Schergen von Ghia jedem eine Kippe an. Mit Vaira zündete er ihnen netterweise auch die Zigaretten an, ehe er sprach.

„Dann heißt das, sie lebt tatsächlich noch? – Und das erzählt ihr mir zwei Jahre später? Seid ihr noch zu retten?“

„Der Meister hat uns gesagt, wir sollten nach Tharr gehen, ursprünglich hatten wir einen anderen Auftrag – aber als Ihr die Kitas getötet habt, und der Tod des Mädchens nur anzunehmen war, aber nicht bewiesen, hat er gesagt, wir sollten versuchen, herauszufinden, ob sie nicht doch entkommen konnte. Und offenbar sieht es so aus.“

„Hmm.“, machte der Ältere, „Ist das von Bedeutung? Ich meine, sie ist bloß ein kleines Mädchen. Sie ist nicht mal eine Zeugin.“

„Karana Lyra ist auch bloß ein kleiner Junge. Und trotzdem sagt der Meister, er müsse sterben.“

„Ja… das ist mir bewusst.“ Der Schwarzhaarige drehte brummend den Kopf, als er an seine unheilvolle Aufgabe dachte, die ihm definitiv noch bevorstand. Ulan Manha war ein kluger Kerl. Aber er war auch definitiv gnadenlos mit Leuten, die versagten…
 

„Die Bratzen der Geisterjäger sind mir genauso ein Dorn im Auge wie ihre Väter, Emo!“, zischte der Mann und fixierte ihn mit seinen grünen Augen eine Weile grimmig, indem er in seinem Arbeitszimmer auf und ab ging. „Denn aus ihnen werden mit viel Pech auch eines Tages Geisterjäger werden, und das passt mir nicht so. Und sie werden schlimmer als ihre Väter, weil sie mit dem Wissen aufwachsen, dass ich böse bin, und mehr Zeit haben, sich dafür zu wappnen.“

„Das klingt logisch, aber irgendwie auch paranoid, denkt Ihr nicht?“, seufzte der Ältere und fuhr sich durch die schwarzen Haare, „Worauf wollt Ihr hinaus?“

„Dass du deine Kollegen nicht einfach so abmurksen kannst, sehe ich ein. Aber mit ihren Gören solltest du ja wohl wenige Probleme haben. Ganz besonders meine ich… Purans Gör. Karana heißt der Junge, habe ich recht? Ich hatte Angst, er würde seinen Sohn nach seinem Vater benennen. Mit einem Tabari hätte ich größere Schwierigkeiten, fürchte ich, als mit einem Karana. Wie auch immer – der Fratz vor allem. Genau genommen ist er mein, äh, Halbneffe zweiten Grades, irre ich mich?“ Emo war kein Kenner von Verwandtschaftsgraden und so zog er nur irritiert eine Braue hoch.

„Vermutlich. Die Sache hat aber einen gemeinen Widerhaken, den Ihr zu übersehen scheint in Eurer Großartigkeit. Natürlich ist es einfach, ein Kind zu töten – schwer wird nur sein, an es heranzukommen. Wir sprechen hier über Purans Sohn. Und Puran hat von allen die größte Paranoia, er wird den Knirps niemals unbeaufsichtigt lassen. Wobei er im Gegensatz zu Meoran wenigstens keine Späher in Vogelform hat, die mir die Tour vermasseln könnten.“

„Ich sagte nicht, dass es Zuckerschlecken wird, du Horst!“, fauchte der Lianerkönig und wirbelte zornig herum, „Und wage nicht, an meiner Genialität zu zweifeln, oder ich lasse sie dich spüren, und zwar am eigenen Leib!“

„Glaubt mir, ich freue mich darauf.“ Der Jüngere fluchte und warf mit einem kleinen Feuerzauber nach seinem Untergebenen, den der Geisterjäger breit grinsend mit einer Hand in Schatten auflöste.

„Du nimmst dir zu viel heraus, du Köter!“, empörte Scharan sich grantig, „Knie, Emo! Los, jetzt!“ Er stampfte zu ihm herüber durch den Raum, und der Schwarzhaarige verdrehte die Augen.

„Können wir nicht erst mal klären, was es zu klären gibt, und danach zum delikaten Teil der Konversation übergehen?“

„Vergiss nicht, wer von uns beiden hier die Oberhand hat.“, warnte der Mann ihn bloß und stierte auf ihn herunter, jetzt direkt vor ihm stehend, während der Ältere auf seinem Sessel saß und ein Bein über das andere geschlagen hatte. Emo grinste ihn nur an und sagte nichts weiter, also fuhr er nach grimmiger Pause fort. „Die Sache mit Kitas war brenzlig. Verhindere gefälligst, dass sie dich verdächtigen, Idiot. Wenn du morgen zurück nach Tharr kehrst, hast du eine Aufgabe zu erfüllen. Mir egal wie, mir egal wann. Aber töte Purans Sohn. Und wenn du ganz Thalurien in die Luft jagen musst. Alles andere ist zweitrangig; um Meorans bezaubernde Tochter kümmern wir uns später und was die Bälger von Shais angeht, ich kann schwer einschätzen, was die draufhaben, die sterben irgendwann anders. Gerade weil Puran so ein paranoider Schisser ist… hast du nur einen einzigen Versuch. Wenn er daneben geht, können wir es fürs erste vergessen. Hast du das verstanden, du Superspion? Der Knirps darf nicht zum Mann heranwachsen. Sorge dafür!“ Emo schenkte dem Sklaventreiber einen langen, unschlüssigen Blick, ehe er nickte und dann doch noch Einwand erhob.

„Warum Karana Lyra? Nur so zur Vorsicht, weil sein Vater vermutlich der mächtigste Gegner ist, den Ihr jemals haben werdet, und Ihr fürchtet, der Zwerg könnte auch zu so einem werden?“

„Nein… was Karana werden wird, ist etwas anderes. Und es besorgt mich viel mehr als sein hypertalentierter Vater. Der Junge ist gefährlicher als sein Vater. Ich hatte eine Vision… und die hat mir nicht gefallen. Frag nicht weiter sondern mach deine Arbeit, du Schnüffler. Wenn du versagst, wirst du die nächste Zeit nichts mehr zu grinsen haben…“
 

„Verstehe.“, brummte der Geisterjäger dann und sah wieder die beiden schrägen Vögel an, die Sklaven von Scharan waren. Sie waren Menschen, die waren im Gegensatz zu Lianern nicht auffällig. Dass sie die Einheitssprache von Tharr nur wenig konnte, machte sie nicht automatisch als Ghianer erkennbar. Ihre sonnengebräunte Haut könnte sie auch aus Kuyala oder Fann stammen lassen, Ländern, in denen eigene Volkssprachen noch viel verbreiteter waren als in den hochkultivierten Ländern wie Kisara oder Janami. Solche Männer als Spione zu benutzen war wesentlich ungefährlicher, das war den beiden Verschwörern ziemlich schnell klar geworden… „Wenn das Mädel noch lebt, haben wir eine potentielle Geisterjägerin mehr, die beseitigt werden sollte. Weiß Manha das?“

„Nein, noch nicht – er gab uns Anweisung, als Erstes Euch zu kontaktieren, wenn wir irgendetwas fänden.“

„Wo?“, fragte der Ältere nur grob, und der zweite der Männer nickte nach hinten.

„Soweit wir erfahren haben, und das war nicht leicht, ist sie in der Nähe des Hauses von einem Mann in Uniform verschleppt worden.“ Emo zog eine zweite Braue hoch und wartete. Als nichts kam, pflaumte er die Trottel an:

„Ja, und weiter?! Soll ich euch alles aus der Nase ziehen?! Wohin?!“

„Wir haben die Spur in Richtung Osten wiedergefunden, mit großer Wahrscheinlichkeit sind sie nach Janami geflohen. Wir sind recht sicher, dass es nach Minh-În ging.“

„Minh-În?“, fragte der Schwarzhaarige verblüfft. Dann verengte er die Augen zu schmalen Schlitzen. „Soso, Minh-În… na, so ein Zufall… ein Mann in Uniform, habt ihr gesagt? Dunkelblau?“

„Ja, soweit wir gehört haben.“

„Ihr habt nicht zufällig auch gehört, ob der Mann in Uniform rein zufällig auf dem linken Auge nach außen geschielt hat?“

„Nein, also, davon wurde nichts berichtet.“ Der Geisterjäger kratzte sich am schlecht rasierten Kinn und grübelte.

„Hm, na ja, Meoran wird wohl auch nicht so dermaßen dumm sein, da persönlich hinzulatschen und das Gör zu verschleppen. Dann war es vermutlich eher einer seiner Kampfhunde aus der Truppe… verdammte Scheiße, ich hätte wissen müssen, dass dieser Arsch da mit drin hängt!“ Die beiden Kerle sahen sich doof an, während der Geisterjäger eher mit sich selbst sprach. Ein dämonisches Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, aber es war kein erfreutes. „Scheiße, und Puran hat das ganz genau gewusst. Diese heuchlerischen Ärsche… na wartet, dafür werdet ihr büßen.“ Er zischte, dann fuhr er wieder herum zu den Schergen und zeigte auf sie. „Ich bin Manhas erster Mann in allen Dingen, ich habe freie Verfügung über euch, sage ich jetzt mal. Das heißt, wir setzen alles auf eine Karte und ihr bekommt von mir einen neuen Auftrag.“ Die Männer sagten wieder nichts und er brummte. „Ihr fahrt nach Minh-În. Mir egal wie, klaut euch ´nen Wagen oder so. Aber erregt auf dem Weg möglichst kein Aufsehen.“

„Minh-În, Herr?“, fragte einer der Typen, „Um dort weiter Kitas Göre zu suchen?“

„Nein – also, ja, wenn ihr die zufällig da seht, macht sie kalt. Mir geht es aber mehr um Chimalis. Ich habe meine eigene Aufgabe… und während ich nach Thalurien reise, macht ihr für mich Chimalis’ fertig. Alle beide.“ Emo erntete eisernes Schweigen. „Was ist?!“

„Ist Meoran Chimalis nicht ebenfalls Geisterjäger? Glaubt Ihr, wir als Nichtmagier haben eine Chance, ihn zu töten?“ So etwas hatte der Ältere geahnt, deswegen grinste er süffisant und reckte das Kinn.

„Schnappt euch seine Tochter. Dann frisst er euch aus der Hand… Meoran würde sterben für seine schöne Saidah, da bin ich mir… absolut sicher.“
 

Der Sommer hatte seinen höchsten, heißesten Punkt überschritten. Der Sommermond war vorüber und der Mond des vielen Fleisches war angebrochen, als die Himmelsgeister den Regen aufhielten und stattdessen wieder gnadenlose, knallende Sonne nach Thalurien schickten. Puran fluchte über die Hitze, weil er schon gehofft hatte, dieses Jahr nur einen kurzen Sommer erleiden zu müssen; die Kinder freuten sich aber über das bessere Wetter, und sobald das Dorf halbwegs getrocknet war, spielten sie ausgelassen auf den Straßen. Als Puran kurz vor Sonnenuntergang aus Taiduhr zurück nach Lorana kehrte, fand er seine drei Kinder vor Dasan Sagals Anwesen auf der Straße; die kleine Neisa spielte mit Niarih vor der Tür des Anwesens mit Stoffpuppen, während Simu auf der Stufe vor dem Eingang hockte und Karana zusammen mit Tilan und Azan offenbar zaubern übte.

Der Junge konnte inzwischen mit seinen zehneinhalb Jahren natürlich längst die Grundzauber. Mit Vaira hatte er sich tatsächlich speziell etwas schwer getan, aber seinen Vater hatte es wenig bis nicht überrascht, dass seine größte Stärke genau wie bei all seinen Ahnen väterlicherseits der Windzauber Katura war.

Die Sagal-Jungen waren sehr geeignete Partner zum Üben von Zaubern. Sie waren Telepathen und daher auf Teleport und Barrieren spezialisiert – also auf Ausweichen und Defensive. Und so war es praktisch, wenn Karana versuchte, die Freunde mit Magie zu erwischen und die sich Mühe gaben, sich nicht treffen zu lassen. Und jetzt, als Puran aus der Ferne das Treiben der Kinder beobachtete, merkte er verblüfft, dass sein Sohn sein Talent für die Grundzauber extrem rasch ausgefeilt hatte, sobald es dann endlich da gewesen war. Azan war der Ältere der Sagal-Jungen und über zwei Jahre älter als Karana, der war schon geschickt genug mit seinen Barrieren, um unbeschadet den Tag zu überstehen; aber sein kleiner Bruder Tilan war nur ein paar Monde älter als Karana und wesentlich malträtierter. Der Senator fragte sich besorgt, wie lange die da schon übten… der arme Tilan sah aus, als hätte man ihn durch einen Dornenbusch gezerrt und anschließend angezündet…

„Demora!“, hörte er Karana da rufen und er zog eine Braue hoch, als aus den Händen seines Sohnes ein beachtlicher Blitzzauber entsprang, der auf sein Gegenüber geschleudert wurde. Tilan riss keuchend die Hände hoch, um gerade noch rechtzeitig eine flimmernde Barriere aus purer Magie zu errichten, die wie ein Schutzschild wirkte und an der Karanas Blitz abprallte. Der Jüngere zischte, sprang zurück und wollte noch einen Zauber auf Tilan werfen, aber jetzt war der Telepath schneller und schubste seinen Freund mit einer Handbewegung und einem Schlag Telekinese zurück und zu Boden.

„Schönes Ding, haha.“, gluckste Azan, der sich als Ältester der Jungs wohl als eine Art Trainer machte. Er lehnte an der Wand des Hauses gegenüber und verschränkte jetzt wichtigtuerisch die Arme. „Los, Karana, steh' auf, oder bist du müde?“

„Pah, Tilan ist viel müder als ich!“, feixte der Junge und rappelte sich hustend auf, „Der sieht aus wie überfahren!“

„Du bist zu schnell für mich, das ist totaler Wahnsinn.“, stöhnte Tilan und fuhr sich durch die Haare, „Ich glaube, ich brauche eine Pause…“

„Ah.“, machte Azan, ehe Karana antworten konnte, „Das hat sich erledigt, wir machen Schluss für heute. Karanas Vater kommt.“ Puran war jetzt dicht genug, um die letzten Worte genau gehört zu haben, und er bedachte Dasan Sagals Enkel mit einem schrägen Blick.

„Moment, was hat das denn zu heißen, tut ihr Dinge, die ich nicht mitbekommen sollte, Azan?“

„Vati!“, johlte Neisa auf der Veranda und winkte, während Simu sich erhob. Azan Sagal lächelte wohlerzogen und neigte höflich den Kopf.

„Nicht doch, Herr. Ich dachte nur, wo Ihr gerade des Weges kommt, wollt Ihr Eure Kinder sicher mitnehmen – abgesehen davon hielt ich es für eine passende Gelegenheit, meinen Bruder vor weiteren Blessuren zu bewahren. Gut, dass Tante Chitra ihn gleich heilen kann.“ Tilan maulte etwas von wegen, er bräuchte keine Heilung, und Puran musste glucksen.

„Mein lieber Schwan, so, wie du redest, könnte man denken, du wärst bei piekfeinen Aristokraten aufgewachsen, dabei sind wir hier doch so ein kleines Dorf…“

„Ich kann auch wie ein ungewaschener Penner sprechen, wenn es sein muss, Herr.“, sagte Azan und zuckte mit den Achseln, „Das kommt darauf an, wo, mit wem und warum ich arbeite und was für Informationen ich will.“ Der Senator weitete kurz die Augen.

„Ach, so ist das – dein Vater bildet dich wohl jetzt zum Spion der nächsten Sagal-Generation aus? Mensch, ihr seid aber auch echt ein festes Netz. Keine Chance für Eindringlinge.“

„Nicht mein Vater, mein Großvater.“, meinte der Junge glatt, „Großvater ist ein besserer Lehrer.“

„Aah, Himmel.“, machte der Senator und lachte, „Da muss ich dann jetzt ja echt aufpassen, über wen ich in deiner Gegenwart lästere, wenn das alles sofort zu deinem werten Großvater sickert! Du machst deine Sache bestimmt gut, Azan. – Karana, Simu, Neisa, wie ist es, wollt ihr mit heim kommen? Vielleicht sollten wir uns langsam auf den Weg machen.“

Die Kinder folgten ohne groß zu meckern, und als sie gingen und der Straße hinauf folgten, sah Azan Sagal ihnen eine Weile nach, ehe er seinen Bruder und seine Cousine ins Haus schickte.

Der Himmel war klar, der Sonnenuntergang verlieh dem sonst grünlichen Himmel auf Tharr eine gefährliche, gelbe Färbung, die ihn wie brennend aussehen ließ. Puran wusste nicht genau, was es war, das ihn plötzlich besorgte, aber es war ein schlechtes Gefühl, das ihn überkam.

„Du hast den armen Tilan ganz schön zugerichtet, Karana…“ murmelte er nebenbei, während er in den Himmel sah und nicht wusste, woher das verdammte Pochen in seinem Schädel kam. „Du solltest es nicht so hart angehen, immerhin soll er hinterher noch leben, oder?“

„Ja… ist nicht so einfach, Vati. Wenn ich Kurzhöschen haue, kann ich mich auch nicht einfach zurückhalten, sonst grillt der mich!“

„Wen haust du?!“

„Na, Kurzhöschen. Zoras, von mir aus auch.“

„Wieso heißt er Kurzhöschen?“, wunderte Puran sich verstört, und Simu seufzte.

„Weil er Hemden ohne Ärmel trägt…“ Puran gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.

„Na, das hab ich genau gehört!“ Er ließ es auf sich beruhen, dass Zoras offenbar den klangvollen Spitznamen Kurzhöschen erhalten hatte, und wandte sich wieder Karana zu. „Dass du übst, ist wundervoll, aber diese brutalen Schlägereien heiße ich noch immer nicht gut, ist dir das klar, Karana? Weder mit diesem Spinner Loron Zinca noch mit Ram Derrans Gör! Warum, verdammt, musst du immer andere schlagen?! Wieso bist du nicht so wohlerzogen wie Simu?“

„Das liegt an den Genen.“, grübelte der blonde Adoptivsohn feixend, wurde dieses Mal zu seinem Glück aber überhört. Karana blieb stehen und brummte.

„Fällt dir denn eine effektivere Art ein, mit der ich meinen Clan würdevoll vertreten kann?“, fragte er bissig und jetzt blieb Puran auch stehen. Als Karana seinen Blick fing, wusste er sofort, dass er jetzt ins Fettnäpfchen getreten war, und instinktiv keuchte er und trat zurück, als der Blick des Vaters sehr grantig wurde. „I-ich meine-…!“, setzte er sofort planlos hinterher, doch sein Vater stierte ihn schon wütend an.

„So, mein lieber Junge, jetzt hörst du mir mal gut zu! Erstens ist das noch mein Clan, sofern du nicht vorhast, mich heute Nacht zu erdolchen und mich so vom Platz des Clanführers zu schmeißen. Zweitens ist andere schlagen und unterwerfen weder effektiv noch würdevoll! Drittens sorgt dein abartiger Ton gerade dafür, dass mir wirklich die Galle hochkommt, und ich habe wirklich die Nase voll von deinen Spielchen, Sohn!“ Karana keuchte abermals und versuchte vergeblich, dem bohrenden Blick des Vaters standzuhalten, bis er schließlich wütend zischte und reflexartig seine spitzen Zähne entblößte wie ein in die Enge getriebenes Raubtier. Was er dann sagte, hatte er niemals sagen wollen – eigentlich nicht einmal denken. Und er hatte keine Ahnung, wieso es plötzlich in seinem Kopf oder auf seiner Zunge war – und wieso es dann herauskam.

„Die Macht der Geister gehört mir! Und es wird der Tag kommen, da werden Vater Himmel und Mutter Erde vor mir knien und mich anflehen, mir dienen zu dürfen! Und du wirst daneben stehen und dich daran erinnern, mir einst gesagt zu haben, das wäre nicht effektiv, du Hurensohn!“
 

Puran wusste nicht, wofür er ihn in erster Linie ohrfeigte. Er vermutete, dass es nicht der Hurensohn war, sondern viel mehr die Worte davor – Worte, von denen der Herr der Geister in grauer Vorzeit schon einmal gehört hatte.

Worte, die ein ganz bestimmter Vorfahre von ihm einst gesagt hatte… einer, der dieselben Eckzähne gehabt hatte wie Karana.

Die Ohrfeige kam aus blinder Panik und absolutem Entsetzen heraus und war viel zu kräftig für einen zehn Jahre alten Jungen. Karana japste und stürzte rückwärts zu Boden, Neisa quietschte vor Schreck und versteckte sich hinter Simu. Letzterer erbleichte und drängte seine Schwester geistesgegenwärtig zurück, als er den grauenhaften, ungebändigten Zorn in des Vaters Gesicht sah – er hatte ihn nie so dermaßen zornig und fassungslos erlebt.

„V-Vati?! Karana, w-was zum-…?!“, stammelte er, leicht aus der Bahn geworfen, und Puran schnappte bebend vor Zorn nach Luft, als Karana sich erbleichend aufrappelte und nach seiner aufgeplatzten Lippe fasste. Der Kleine brachte kein Wort heraus und sah seinen Vater so verletzt, entgeistert und panisch an, dass Puran sich fragte, was ihn geritten hatte – verdammt, wie hatte er seinen eigenen Sohn so hart schlagen können? Der Junge, dem er jetzt fuchsteufelswild ins Gesicht stierte, war garantiert nicht der, der seinen eigenen Vater gerade auf offener Straße Hurensohn genannt hatte…

Die Geister trieben bösartige Spielchen.

Ohne ein Wort zu sagen rannte Karana davon, die Straße hinab und hinaus aus dem Dorf. Niemand hielt ihn auf, nur Neisa fing vor Schreck an zu weinen und klammerte sich an Simu. Puran konnte nur da stehen und seinem Kind sprachlos nachsehen, wie es davon rannte.

„Du bist sein Vater. Du musst dafür sorgen, dass er auf dem richtigen Weg bleibt.“, hatte Alona einst zu ihm gesagt. Traumatisiert von dem Erlebnis eben musste Puran sich eingestehen, dass er als Vater versagt hatte.

Und dieses Eingeständnis tat so weh, dass er plötzlich weinen wollte.
 

Karana rannte, so schnell er konnte. Er hatte Lorana längst hinter sich gelassen und stolperte jetzt japsend und keuchend über die hoch gewachsenen Wiesen der Umgebung in Richtung Osten. Er hatte keine Ahnung, wo er hin wollte… Hauptsache nicht zurück nach Hause. Nicht zurück zu seinem Vater, der ihn so voller Abscheu und Zorn angesehen hatte… Karana hatte seinen Vater oft wütend erlebt, aber niemals war es so heftig gewesen. Und das Beste war, er wusste nicht einmal genau, was eigentlich passiert war.

Er hatte Dinge gesagt, die er nicht gedacht hatte, die er gar nicht hatte sagen wollen. Er wusste nicht mal, wieso diese Worte plötzlich in seinem Geist gewesen waren… vielleicht wusste sein Vater es besser… vielleicht wusste er, was da passiert war, und war deswegen wütend? Der Junge zog durch die Nase hoch und kämpfte gegen die Tränen an, die ihm schmerzhaft empor stiegen. Er war wütend, verzweifelt und verletzt durch des Vaters unglaublich bösartigen Blick.

„Ich wollte doch nicht, dass du sauer wirst, Vati…“ wimmerte das Kind unglücklich und rannte wieder schneller, über das Grasland hinweg, bis er plötzlich stolperte, kurz aufschrie und dann zu Boden stürzt. Fluchend rappelte er sich auf, bis er saß, schluchzte und rieb sich das schmerzende Knie, das er sich aufgeschürft hatte. „Ach, verdammt!“, heulte er, „Was soll denn das, Geister?! Ich… ich bin doch der Sohn des Herr der Geister, i-ihr… ihr solltet vor mir Respekt haben!“ Die Geister antworteten ihm nicht, als er verbiestert in den Himmel starrte, und vor Wut heulte er erneut auf, weil niemand zu ihm sprach. Vielleicht hatte er die Geister vergrault… mit dem, was er zu seinem Vater gesagt hatte. Kein Sohn sollte so mit seinem Vater sprechen, Karana wusste das – und er hatte es nicht gewollt…

Du Hurensohn.

Er hatte seinen eigenen Vater einen Hurensohn genannt – was, verdammt, war denn in ihn gefahren? Er fand nicht, dass sein Vater ein Hurensohn war. Er verehrte ihn doch eigentlich, um alles in der Welt wollte er so werden wie er… war es dann nicht extrem dumm, die Person, der man nacheifern wollte, dermaßen zu erzürnen, dass sie einen verabscheute? Vermutlich tat der Herr der Geister das jetzt…

Karana schluchzte herzergreifend und wollte sich selbst bemitleiden. Sein Vater hasste ihn – und wenn er es der Mutter erzählte, würde die ihn auch hassen, denn seine Mutter würde immer zum Vater halten. Vielleicht würden sie verhindern, dass er jemals wieder heim kehrte – wo sollte er denn jetzt wohnen? Etwa draußen? In einer Höhle? Bei den wilden Tieren? Der Junge fluchte, heulte und jammerte vor Verzweiflung – bis er plötzlich in seiner Nähe ein weiteres Wimmern vernahm und aufhorchte.

„Hallo?“, wisperte er verwirrt, „W-wer ist da?“ Plötzlich ergriff ihn Furcht – und nicht an erster Stelle, weil jemand ihm etwas antun könnte, sondern mehr deshalb, weil jemand vielleicht gehört hatte, wie erbärmlich er hier am Boden mitten in der Pampa saß und flennte wie ein Mädchen. Der Junge wischte sich hastig über das Gesicht und die geröteten Augen, während er verlegen rot wurde und sich halb im hohen Gras erhob, um sich umzusehen. Da war das Wimmern wieder – aber er konnte niemanden sehen. Um ihn herum war nur Wiese, in der Ferne war ein kleines Wäldchen. Irgendjemand war noch hier im Gras und wimmerte… „Hallo?! Antworte, du Heulboje!“, rief Karana etwas fester und stand jetzt auf, sich abermals mit dem Handrücken über die Nase fahrend; er hoffte mal, dass man ihm nicht ansah, dass er selber eben noch geheult hatte. Er horchte noch einmal, als das Wimmern ertönte, und runzelte die Stirn. Es klang an sich überhaupt nicht menschlich, fiel ihm jetzt auf – es klang mehr wie ein verwundetes Tier. Neugierig wagte er sich in die Richtung, in der er das Wimmern geortet hatte, und teilte das Gras vor sich, um etwas mühsam voran zu tapsen. Sein Knie brannte wie Feuer, es musste Dreck in die Wunde gekommen sein… das Wimmern war verstummt und der Junge hielt inne. „Hallo?“, machte er wieder, aber es kam keine Antwort. Instinktiv wandte er sich etwas nach links und schob sich weiter durch die Pampa, deren Gras so hoch ragte, dass es ihm teilweise bis zur Stirn reichte. Dann, als er die nächsten Halme zur Seite bog, fand er plötzlich unverhofft die Quelle des Wimmerns, und er blieb abrupt stehen und weitete die Augen.

Wie er geahnt hatte, war es kein Mensch. Es war ein schwarzes Fellknäuel, das am Boden lag, das sich bei näherem Hinsehen als Wolfshund entpuppte. Von denen gab es manchmal welche in der Gegend, aber eigentlich kamen sie mehr aus dem Hochland, soweit Karana wusste. Dieser hier war jedenfalls noch sehr jung, fast noch ein Baby, so klein wie er war. Das kleine Tier starrte erschrocken in das Gesicht des Jungen, so wie der Junge erschrocken auf ihn herab sah, und Karanas grüne Augen trafen auf die blauen des Hundes. Kurz verharrten sie beide so und starrten einander an – dann hockte der Junge sich vorsichtig hin, um dem Tier näher zu kommen. Alarmiert fletschte der Welpe die Zähne, wirkte aber absolut nicht bedrohlich. Sein schwarzes Fell sträubte sich ängstlich und Karana fragte sich, wieso er nicht weglief – ein weiterer Blick auf den Kleinen ließ ihn feststellen, dass er am Hinterbein verletzt war.

„Oh nein… du armer Kerl.“, machte der Junge mitleidig und blieb, wo er war, um das Tier nicht unnötig zu verschrecken. „Du bist ja verwundet… wo ist denn deine Mutti? Die wird dich doch nicht hier liegen gelassen haben?“ Das war überhaupt ein Problem – mit einem Welpen wurde Karana fertig, aber wenn die Mutter zurückkehrte, wäre er schneller zerfleischt, als er schreien könnte… vielleicht sollte er einfach gehen…

Das Tier winselte herzerweichend und Karana seufzte. Nein, er konnte nicht gehen. Er hatte das Gefühl, hier richtig zu sein – die Geister hatten ihn doch nicht verlassen.

„Ganz ruhig.“, flüsterte der Junge leise und setzte sich ganz auf den sandigen Boden, ehe er vorsichtig und ganz, ganz langsam die Hände in Richtung des Welpen schob. Auch, wenn es nur ein Baby war, so ein Biss konnte sehr schmerzen. Doch zu Karanas Verblüffung beruhigte sich das Tier sofort, als er es abermals eindringlich ansah. Das Winseln verstummte und völlig ruhig ließ es zu, dass der Junge es berührte. Karana kam etwas näher und fixierte kurz mit dem Blick das verletzte Hinterbein des Welpen, ehe er die Hand danach ausstreckte. Er könnte es mit Lira versuchen… den einfachen Heilzauber konnte jeder Depp lernen, auch als Schwarzmagier oder Telepath – nur waren die Heiler natürlich von Natur aus viel begabter damit. Der kleine Hund jaulte, als er das verletzte Bein mit der Hand umfasste und versuchte, die Energie für den Heilzauber in seine Finger zu lenken. Jetzt versuchte er doch, abzuhauen, aber Karana legte sachte die andere Hand auf den Kopf des Tieres.

„Ruhig, bleib hier. Ich tue dir nichts, ich will dich doch nur heilen! Halt still, Hund!“ Das Tier schien seine Stimme tatsächlich als beruhigend zu empfinden, jedenfalls hörte es zu jaulen auf und der Junge beobachtete verblüfft, wie es ganz ruhig da lag und wartete, bis Karana den Zauber beendete. Er hob seine Hand von dem Bein und seufzte frustriert. Die Wunde war zwar geschlossen, aber irgendwie sah es noch immer nicht richtig heil aus… „Steh auf, lauf!“, befahl er dem Tier und tatsächlich versuchte es, seinem Befehl zu folgen – allerdings erfolglos. Karana seufzte besorgt und zog die Brauen hoch. „Oh nein, das war wohl noch nicht richtig so… verdammt, ich bin kein Heiler… aber ich kann dich doch hier nicht verrecken lassen, du armer Kerl!“ Er erwartete nicht wirklich eine Antwort, als er frustriert in das trauriges Gesicht des Tieres blickte. „Ich bin übrigens Karana.“, erklärte er dann mit einem dumpfen Lächeln, „Mir geht’s wie dir, ich glaube, meine Familie will mich auch nicht mehr haben… und mein Bein ist auch kaputt, schau…“ Er deutete auf sein aufgeschürftes Knie und der Hund winselte, als hätte er wirklich Mitleid. Karana keuchte fasziniert, als ihm ein Gedanke kam. „Moment – du verstehst, was ich sage, oder? Du verstehst mich, Hund! Vielleicht übersetzen die Geister ja netterweise für dich…?“ Der Hund sah ihn nur an, aber Karana hatte das Gefühl, dass er nicht bekloppt wurde – das Tier verstand ihn tatsächlich, er war sicher. Die Idee beeindruckte ihn enorm, und sein eigenes Dilemma ganz vergessend begann er, aufgeregt auf den kleinen Hund einzureden.
 

Der kleine Wald südlich der Pampa spendete etwas Schatten. Dank des Sonnenuntergangs sahen die Schatten bizarr aus und waren extrem dunkel.

Henac Emo war Realist; dass sein Instinkt ihn an diesem Tag, einige Wochen nach seinem Treffen mit den ominösen Männern unter der Brücke, gerade hier in diesen Wald geführt hatte und er tatsächlich wie zufällig Karana Lyra antraf – und das mutterseelenallein – erschien ihm doch etwas zu schön um wahr zu sein. Der Junge hockte im Gras und redete offenbar mit sich selbst, und es würde den Geisterjäger nur einen Schwenk mit der Hand kosten, um Purans Sohn zu töten. Das erschien ihm doch etwas sehr einfach… die Geister waren gerne sadistisch, aber nur, weil sie sich bei Kitas Tod zufällig auf seine Seite geschlagen und Puran verschwiegen hatten, dass er, Emo, da mit drin hing, hieß das nicht, dass sie es dieses Mal wieder tun würden.

Und sein Verdacht wurde bestätigt, in dem Moment, als er gerade seine Hand hob und mit sich rang, ob er es wirklich wagen sollte – er wusste noch bevor er das Geräusch hinter sich hörte, dass er beobachtet wurde, und ließ die Hand sinken, um mit einem dämonischen Grinsen den Kopf zu drehen. Er war wenig überrascht beim Anblick seines Gegenübers, das einen Arm halb erhoben hatte, bereit, ihn jeder Zeit mit einem Zauber zu enthaupten.

„Das würde ich an deiner Stelle lassen, Henac Emo… es sei denn, du bist dir sicher, du kannst mit mir fertig werden, nachdem du die wahrlich heldenhafte Tat vollbracht hast, ein unbewaffnetes Kind zu ermorden.“

„Ah…“ machte der Geisterjäger, sich der Tatsache bewusst, dass der Junge drüben in der Pampa sie nicht hören konnte, weil der Wind ihnen entgegen blies, „Ja, ich habe gewusst, es ist zu einfach. Ich hätte Euch erwarten sollen, Sagal, nicht wahr?“

Dasan Sagal erwiderte das Grinsen nicht. Er blieb, wo er war, mit einer Hand stützte er sich auf seinen Gehstock, die andere hielt er noch immer in Emos Richtung.

„In der Tat… du hast wirklich auch nur einen Moment lang geglaubt, mein Netz in Thalurien würde eine Lücke für dich lassen? Du kannst hier keinen Schritt gehen, ohne dass ich genau weiß, wo du bist. Und dein Liebling Manha ebenso wenig.“ Der Schwarzhaarige wusste, wann es Zeit war, mit dem Grinsen aufzuhören. Er räusperte sich und nickte in Karanas Richtung. Das hohe Gras verdeckte den Jungen völlig, nur die Bewegungen in den Halmen verrieten ihn.

„Woher habt Ihr denn gewusst, dass er hier sein würde?“

„Mein Enkel hat mir gesagt, dass Karana das Dorf verlassen hat. Weil ich in den letzten Tagen ein ungutes Gefühl betreffend den Kleinen hatte, habe ich Azan auf ihn angesetzt, und als er mir berichtete, Karana wäre weggelaufen, bin ich ihm gefolgt.“

„Ah, clever.“, machte der Geisterjäger grimmig, „Ihr seid aber auch ein Aufschneider, Ihr benutzt Eure kleinen Enkelsöhne als Spione?“

„Azan ist kein Kind mehr, und als Mitglied der Sagal ist es ohnehin seine Bestimmung, einmal Spion zu werden. Er macht seine Sache gut und freut sich über sein zusätzliches Taschengeld. – Jetzt gebe ich dir einen Moment Zeit, um zu verschwinden, andernfalls reiße ich dich in Fetzen, Verräter.“ Henac Emo sagte erst mal nichts, dann kehrte sein Grinsen zurück.

„Ihr denkt also, ich würde einfach den Schwanz einziehen und weglaufen? Das… stellt Ihr Euch reichlich einfach vor, Sagal.“

„In der Tat. Ich sitze hier definitiv am längeren Hebel, das ist dir ja wohl klar. Das hier ist mein Territorium.“ Als der Jüngere nicht antwortete, hob der Telepath den Kopf etwas und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Und du willst doch nicht übersehen, wer hier die Oberhand hat, was?“ Emo senkte die Brauen.

„Vorsicht, Sagal. Ihr seid vielleicht gar nicht so im Vorteil, wie Ihr denkt…“ Er musste sich genau überlegen, was er jetzt zu sagen hatte – Emo war kein Dummkopf. Er hatte die Möglichkeit mit einkalkuliert – als schlimmsten Fall – dass ihm der Kopf des Sagal-Clans begegnen könnte. Obwohl er so ein Krüppel war, war er ein gefährlicher Gegner, der Geisterjäger wusste das. Aber als Spion war er nicht weniger talentiert als die überall verteilten Sagals. Er hatte zwar nicht in jede, noch so kleinen Dorf einen Finger, aber an Wissen, das er eigentlich nicht haben dürfte, kam er auch so. So reckte der Mann den Kopf ebenfalls hoch und grinste wieder. „Oder wollt Ihr, dass ich die Identität des Vaters Eurer… Enkelin publik mache?“

Das saß. Dasan Sagal bewegte sich keinen Zoll, aber Emo spürte genau, wie der Herzschlag des Mannes einen winzigen Moment lang aussetzte. Die Überlegenheit fühlte sich gut an… obwohl es an sich keine war. Der Telepath senkte ebenfalls die Brauen.

„Interessiert das irgendjemanden?“, fragte er barsch, und Emo gluckste.

„Das fragt Ihr noch? Dann schert es Euch wohl wenig, wenn ich Eure widerliche Blutschande überall herum erzähle… na ja, vielleicht ist es hier in Thalurien ja Sitte, dass verkrüppelte Männer mit ihren Töchtern-…“ Der Telepath fiel ihm ins Wort.

„Halt deine Schnauze oder ich ziehe andere Saiten auf.“

„Aah, dann interessiert es Euch also doch…?“ Der Schwarzhaarige grinste und trat einen Schritt zur Seite, lässig die Hände in den Taschen vergrabend. „Was machen wir also? Ihr habt einen Ruf zu verlieren, Herr von Thalurien… es kostet mich kaum mehr als einen Atemzug, um der ganzen Welt mitzuteilen, wer… das scheußliche Inzestkind gezeugt hat. – Seht mich nicht so an, ich kann es ja irgendwie nachvollziehen. So jahrelang alleine mit der hübschen Tochter zu leben, da muss es einen ja irgendwann überkommen… war sicher ´ne tolle Nummer. Ihr seid echt weicher als ich dachte, wenn Ihr zu feige wart, den Embryo zu töten, der Euch Eure ganze Stellung kosten kann… mal ganz abgesehen von der Schande, die dem Kind angetan wird… wirklich. Wobei mir solche bösen Jungs ja normalerweise gefallen.“

„Ich teile mir mein Bett im Gegensatz zu dir nicht mit Männern. Erst recht nicht mit Bestien wie Manha.“

„Ja, Ihr habt völlig recht, ich würde auch lieber meine Tochter nageln als einen Kerl.“

„Mir ist gerade nicht nach scherzen zu Mute, Emo. Verschwindet aus Thalurien oder ich überlege es mir anders und ziehe Euch die Haut ab, um einen Bettvorleger draus zu machen. Ich weiß, mit wem du unter einer Decke steckst, sei also vorsichtig mit dem, was du sagst. Es gilt mein Wort gegen deines, Emo… und wem wird man wohl mehr zuhören?“ Der Geisterjäger sah sein Gegenüber scheel an und zischte schließlich. Er wusste, dass er die einzige Chance vertan hatte, Karana zu töten – Manha würde ihn dafür häuten… es galt, zu retten, was zu retten war. Und es hatte auch etwas Gutes, dass er hier entdeckt worden war, fiel ihm ein – sofern der andere Teil seines Plans klappen würde.

„Gut, wir sind quitt, Sagal. Euren Ruf für meinen – ich bin so gütig, Eure Enkelin nicht als Eure Tochter zu entlarven und Ihr haltet den Mund bezüglich Manha.“

„Das kommt auf meine Laune an.“, erwiderte Sagal grimmig, „Ihr seid ein Hochstapler, das wisst Ihr, denke ich. Sagen wir, solange du dich mit deinen widerlichen Angelegenheiten von Thalurien fern hältst, soll es mir egal sein. Was auf Ghia passiert, ist mir gleich. Aber merk dir meine Worte, Verräter, und mach endlich, dass du verschwindest, bevor ich mir meine Großzügigkeit anders überlege.“

„Ob es da viel zu überlegen gibt?“, grinste Emo, ging aber brav an Sagal vorbei und machte sich daran, aufzubrechen. „Wenn ich Euren Ruf ruiniere, habt Ihr hier gar keinen Einfluss mehr… und wer beschützt dann Thalurien?“
 

Saidah schloss die Fenster in der Küche und erntete ein Maulen von ihrem eigentlich nicht mehr benötigten Kindermädchen.

„Wieso machst du sie zu? Jetzt wird die Luft doch schön draußen!“

„Ja, aber es ist dunkel, weil hier Licht brennt, kommen dann die Motten.“, erwiderte die junge Frau kopfschüttelnd, „Solange wir hier sitzen und Licht haben, sollten wir die Fenster zu haben.“ Der junge Mann seufzte und stützte den Kopf auf die Hände, während er Saidah dabei zusah, wie sie die Teetassen vom Tisch räumte. Ihr Vater grinste verhalten.

„Siehst du, von ihr kannst du noch was lernen, Junge. Sei artig und höre auf sie.“

„Ach, und dabei dachte ich, ich sei das Kindermädchen. Irgendwie finde ich es diskriminierend, dass es keine männliche Form davon gibt, genau genommen bin ich ein Kinderjunge.“

„Ach, stell dich nicht an, hinsichtlich deiner Vorlieben passt Kindermädchen wunderbar.“

„Oh, ich weiß Euren Humor wirklich zu schätzen, Herr.“, sagte Tanuq, und Meoran erwiderte den scheelen Blick mit einem Grinsen.

„Ich wollte dir immer mal eine Rüschenschürze schenken, aber ich habe nie eine in deiner Größe gefunden, also vergib mir…“

„Oh, Vater, jetzt hör aber mal auf, Witze auf seine Kosten zu machen, das ist nicht sehr höflich.“, fiel Saidah ein und spielte empört, während die beiden Männer glucksten. Sie wussten alle, dass Meoran seine Sprüche nicht ernst meinte… in den ansonsten eher düsteren Zeiten war es angenehm, mal Spaß machen zu können.

„Ach!“, machte ihr Vater da, „Ich bin ein Krüppel mit nur einem normalen Auge, ich darf das.“ Die Tochter gluckste und tätschelte ihm den Kopf.

„Soll ich noch Tee kochen? Oder wollt ihr schon ins Bett?“

„Nein, mach ruhig noch einen.“, entgegnete Meoran und fuhr sich gähnend mit den Händen über das Gesicht, „Einen letzten noch, dann gehe ich wirklich schlafen… ich bin völlig erschossen.“

Saidah konnte ihrem Vater das kaum verübeln. Mit einem leisen Seufzen verließ sie das Haus, um neues Feuerholz für den Ofen zu holen. Ihr gingen die Misteln aus; sie müsste demnächst hinunter in die Stadt, um neue zu kaufen. Der Misteltee war gut, er regulierte den gestörten Blutdruck ihres Vaters einigermaßen; die junge Frau bekam ein schlechtes Gewissen, wenn sie jetzt daran dachte, dass der Tee aber auf Dauer nichts bessern würde. Sie war keine Heilerin… sie war nur Schwarzmagierin. Sie konnte ihrem Vater nicht helfen, wenn er ernsthaft krank würde – das war er schon, aber immerhin konnte er noch arbeiten und sich bewegen. Sie verdrängte den Gedanken daran, dass Meoran eines Tages sterben und sie alleine lassen würde, immer wieder… zu grauenvoll war es, es tat zu sehr weh, daran zu denken. Sie blendete die Zukunft aus ihrem Geist aus, als sie das Haus verließ. Die Luft war kühl geworden, jetzt mit der einkehrenden Dunkelheit. Im Gebirge gab es natürlich keine Straßenlaternen, deswegen war es schnell zappenduster, wenn die Sonne erst einmal untergegangen war. Abgesehen von ihnen, die hier wohnten, kam auch keiner abends hier herauf, wozu hätte man da Laternen gebraucht? Saidah konnte gut im Dunkeln sehen und brauchte auch keine Kerze mitzunehmen, als sie die paar Fuß über den kleinen Hof schritt zum kleinen Verschlag, in dem das Feuerholz aufbewahrt wurde. Sie hatte gerade einen Scheit ergriffen, als sie plötzlich ein Knacken in unmittelbarer Nähe vernahm. Das alleine hätte sie nicht weiter beunruhigt – es war ihr Instinkt, der sie warnte, dass etwas nicht in Ordnung war. Ohne ein Wort zu sagen und versuchend, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie nicht so ahnungslos war, wie vielleicht erhofft wurde, hob sie einen weiteren Holzscheit auf und überlegte dabei, aus welcher Richtung die Gefahr kam.

Gebt mir Licht im Dunkeln, Geister… nur ein wenig.

Im nächsten Moment, in dem sie einen Schritt zurück in Richtung Haus tat, wurde sie plötzlich von hinten brutal gepackt und zurückgezerrt. Reflexartig fuhr sie herum, so gut sie konnte, und warf demjenigen, der sie packte, einen Holzscheit gegen den Kopf, worauf ein unschönes Fluchen auf einer Sprache folgte, die Saidah nicht kannte. Der Typ – die Stimme war unverkennbar männlich – ließ sie augenblicklich los und Saidah stolperte vorwärts, ehe sie ganz herum fuhr und ihren Angreifer mit einem Schwung ihrer rechten Hand und einem lauten Donnern aus dem Himmel zurück gegen den Verschlag schleuderte. Dann schrie sie, so laut sie konnte:

„Bilde dir ja nicht ein, es wäre einfach, du Hurensohn, und jetzt mach, dass du weg kommst, ehe ich dir die Kehle zerfetze!“

Sie hörte drinnen das Geräusch von über den Boden geschobenen Stühlen – zweifelsohne hatten Tanuq und ihr Vater sie schreien gehört und kamen jetzt heraus. Doch ehe sie sich noch darüber freuen konnte, machten die Himmelsgeister ihr einen Strich durch die Rechnung, und sie sah gerade noch vor ihren inneren Augen, wie ein zweiter Kerl plötzlich aus dem Schatten auf sie zu gestürzt kam. Wieder fuhr sie herum und warf den zweiten Holzscheit, verfehlte den Angreifer aber. Der zweite Kerl rappelte sich wieder auf und fluchte erneut auf seiner komischen Sprache, während der andere ihm etwas zurief, was Saidah nicht verstand.

„Verdammt, was seid ihr denn für Typen?!“, empörte sie sich noch und spürte, wie in ihr ein ungutes Gefühl der Angst empor stieg. Normale Räuber würden nicht so hoch hinauf ins Gebirge klettern, in der Stadt war es doch viel einfacher, eine gute Gelegenheit zum Stehlen zu finden. Diese Kerle waren nicht zufällig vorbei gekommen und hatten sich gedacht, sie könnten ja mal gucken, ob es hier etwas zu holen gab… diese Kerle waren speziell wegen dieses Hauses hier.

Oh nein… dann sind sie Attentäter…?!

Sie sah ihren Vater die Haustür aufreißen und nutzte den Moment, in dem der vordere Angreifer blitzschnell herumfuhr, um ihrerseits die Hände hoch zu reißen und einen Schwall Flammen aus ihren Händen auf den Kerl zu schleudern. Doch die Kerle waren klüger, als sie angenommen hatte, denn der eine wich fluchend aus und sprang zurück, während der zweite schon zuvor nach vorne gehechtet war und jetzt nach Saidahs Arm schnappte. Sie riss sich japsend von ihm los und schlug nach dem Kerl, er versuchte, sie an den Haaren zurück zu reißen.

„Schert euch von meiner Tochter, ihr Wahnsinnigen!“, brüllte ihr Vater wutentbrannt quer über den Hof, und der Himmel grollte bereits vor Zorn, als Meoran und Tanuq das Haus verließen und ebenfalls über den Hof rannten. Der eine Fremde rief seinem Kumpanen erneut etwas zu, dann fuhr die junge Frau erneut herum und duckte sich gerade noch unter einem Messer hinweg, das plötzlich auf sie geschleudert wurde. Als sie so auswich, hätte der zweite Typ sie beinahe gepackt, und sie sprang rückwärts und rannte dann davon, von blinder Panik ergriffen.

Sie hörte Tanuq ihren Namen schreien. Der Himmel donnerte laut über ihrem Kopf und sie schrie ebenfalls, aber ob der Hysterie, die sie mit einem Mal ergriff, als sie merkte, dass einer der Typen sie verfolgte. Seine Schritte klangen schwer, aber schnell auf den Steinen, als Saidah den Weg herab rannte, ahnungslos, wohin sie wollte. Runter. Im selben Moment spürte sie die Gewissensbisse, weil sie daran dachte, dass sie ihren kranken Vater und Tanuq einfach zurück ließ. Die Panik pochte in ihrer Brust; Panik, ermordet zu werden, Panik, was man ihrem Vater oder Tanuq antun könnte. Sie dachte an die kleine Sora, die sie nach Fann geschickt hatten… an ihre Eltern, die einen brutalen Tod im Feuer gestorben waren.

Wenn das dieselben Leute sind, die dafür gesorgt haben, dass Kitas sterben…?

Sie zögerte nur einen kurzen Moment, angehalten von der Mischung aus der wahnsinnigen Panik in ihrem Inneren und dem schlechten gewissen, die anderen einfach zurückzulassen. Dieser eine, flüchtige Moment war es, der ihr Schicksal besiegeln sollte.

Der Kerl, der sie verfolgt hatte, packte ihren Arm, und reflexartig schrie sie auf, wirbelte herum und entriss sich mit dem Schwung dem Griff. Dabei stolperte sie rückwärts, und als sie merkte, dass sie an die Kante des Serpentinenweges gelangte, war es schon zu spät. In dem Moment, in dem sie das Gleichgewicht verlor, starrte sie mit weit aufgerissenen Augen ihrem Gegenüber ins Gesicht, das ebenso fassungslos zurückstarrte. In den Augen war reiner Pragmatismus.

Verdammt, wenn sie krepiert, was wird aus meinem Auftrag?

Das war alles, was Saidah in dem fremden Gesicht las, ehe sie rückwärts den steilen Abhang hinab stürzte, den Blick in den pechschwarzen Himmel, der sie auszulachen schien-
 

Leyya öffnete die Haustür und keuchte vor Erleichterung, als sie Herrn Sagal zusammen mit Karana vorfand.

„Um Himmels Willen… Karana, dir geht es gut!“ Sie war erleichtert, ihren Sohn lebend zu sehen; sein Verschwinden und der vorangegangene Streit mit Puran hatten der ganzen Familie gründlich den Abend versaut. Es war jetzt beinahe ganz dunkel.

„Ich fand ihn draußen auf der Wiese und habe ihn hergebracht.“, sagte Sagal ernst und klopfte Karana dabei auf die Schulter, der bedrückt und beschämt zur Seite blickte, nicht fähig, seine Mutter anzusehen. Leyya merkte erst jetzt, dass er etwas Schwarzes, Wuscheliges auf dem Arm hatte. „Ich habe ihn nicht überzeugen können, das Tier da zu lassen… ich hoffe, das geht in Ordnung.“ Leyya blinzelte. Tier?

„W-was hast du denn da, Karana?“, fragte sie schon, da ertönte lautes Trampeln hinter ihr, weil Neisa und Simu die Treppe herab kamen.

„Karana ist wieder da!“, jubelte die kleine Schwester glücklich, als sie neben ihre Mutter trat, und Simu neigte höflich vor dem Telepathen den Kopf.

„Guten Abend, Herr.“

„Passt gut… auf Karana auf.“, murmelte Sagal nur, indem er sich abwandte und dem Braunhaarigen Jungen einen letzten Blick schenkte. Dann sah er noch einmal intensiv auf Leyya. „Da draußen ist es gefährlich. Er sollte nicht alleine dort herum laufen… gerade, wenn man bedenkt, von wem er abstammt.“ Mit einer Verneigung und einem Wort des Abschieds ging der Mann, und jetzt zogen die Kinder Leyyas Aufmerksamkeit zurück auf Karanas Mitbringsel.

„Schau nur, Mutti, Karana hat einen Babyhund!“, schrie Neisa gerade aufgeregt und mit vor Entzücken strahlenden Augen, „Wie niedlich, schau doch!“

„Shht, schrie doch nicht so, du erschreckst ihn!“, sagte Karana dumpf und trat nervös von einem Fuß auf den anderen, ehe er es wagte, seine Mutter anzusehen. „I-ich – ich habe ihn draußen gefunden, er war ganz alleine und verwundet, ich… habe versucht, ihn mit Lira zu heilen, aber Herr Sagal hat gesagt, sein Bein ist vielleicht gebrochen… bitte, bitte hilf dem armen Kerl, Mutti! Er ist doch noch ein Baby…“

„Mir kommen keine Viecher ins Haus!“, machte Leyya sofort streng, „Weißt du, was das ist? Das ist ein Raubtier, Karana, das ist nicht zum Spielen da!“

„Aber Mutti!“, machte Karana unzufrieden, „Ich – er redet mit mir!“ Kurz herrschte Schweigen. Simu zog skeptisch eine Braue hoch und betrachtete den kleinen Hund, der auf Karanas Armen ganz still lag.

„Alles klar.“, machte der Blonde, „Das ist ein Hund, Karana, der kann nicht sprechen.“

„Natürlich nicht wirklich, aber im Geist!“, schnaufte sein Bruder, „Tut er wirklich, er hatte gar keine Angst vor mir!“

„Das kommt daher, weil er nicht weglaufen kann.“, erwiderte Leyya, und Simu addierte:

„Vor dir hätte ich auch keine Angst, vermutlich macht er sich innerlich über dich lustig, weil du denkst, er könnte reden.“

„Haha, sehr witzig!“, murrte der Ältere, „Bitte, Mutti… er kann doch nichts dafür, dass er ein Hund ist! Ich verspreche dir, er wird keinen Unsinn anstellen! Er darf auch in meinem Zimmer bleiben!“

„Das würde dir so passen!“, jammerte die Mutter, während der Welpe auf Karanas Armen herzergreifend winselte. Sie hatte Mitleid mit dem Tier… aber Tiere gehörten nicht in Häuser. Zumindest nicht in Kisara, in anderen Ländern war es, so hatte sie gehört, sogar üblich, Hunde als Haustiere zu halten.

„Aber ich kann ihn doch nicht einfach da draußen aussetzen!“, schmollte ihr Sohn weiter, „Er würde sterben, wenn er nicht laufen kann, er ist noch zu klein, um alleine zu jagen! Bitte heil sein Bein…“ Er machte ein so wehleidiges Gesicht, dass die Mutter seufzte und dann nachgab. So halb, denn als Karana schon triumphierend grinste, wurde ihr Blick streng.

„Ich verlange, dass du dich bei deinem Vater für das entschuldigst, was vorhin passiert ist. Wenn Vati es erlaubt, heile ich den Hund. Ansonsten, so leid es mir tut, musst du ihn wieder aussetzen. Verstanden?“ So streng war sie selten; aber es musste sein, das wusste die Frau. Karana wusste es offenbar auch, denn er nickte, wenn auch etwas zögerlich. Die Heilerin trat zur Seite und machte die Haustür frei. „Lass das Tier hier unten vor der Tür. Dein Vater ist im Schlafzimmer. Ich hoffe für dich und den armen Kleinen hier, dass er bereit ist, mit dir zu sprechen.“

Puran schlief nicht. Er brummte, als Karana zaghaft an die Tür klopfte; sein Instinkt verriet ihm, wer kam, bevor die Tür aufging und ein zutiefst bedrückter und verlegener Karana sich ins Zimmer schob. Der Vater lag voll angezogen auf dem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er versuchte, sich keinerlei Erleichterung über Karanas Wohlbefinden anmerken zu lassen, was schwer war… am liebsten hätte er seinen Sohn sofort in die Arme genommen und ihm ewige Liebe und Zuneigung geschworen. Es war sein Kind… er liebte Karana doch. Aber erziehungstechnisch wäre es unklug, sofort nachzugeben…

„Du bist also wieder da.“, sagte er deshalb kalt, „Schön, dass du den Weg allein gefunden hast.“

„Ich bin schon zehn!“, maulte Karana, „Außerdem hat Herr Sagal mich gebracht…“

„Ah.“, machte der Vater desinteressiert und setzte sich im Bett auf. „Nun? Warum kommst du zu mir?“ Karana sagte lange nichts, er scharrte nur verlegen mit dem Fuß auf dem Boden herum. Dann räusperte er sich kleinlaut und murmelte:

„Tut mir leid.“

„Was tut dir leid?“, fragte Puran ihn hart, und der Kleine schrumpfte immer mehr zusammen.

„Dass ich… diese Dinge gesagt habe. Vorhin. Tut mir leid, Vati.“

„Was genau hast du denn gesagt, weißt du das überhaupt?“, schnarrte der Senator und schielte ihn kurz an, „Ist dir klar, was du zu mir gesagt hast?“

„Ich… hab dich Hurensohn genannt.“

„In der Tat. Eigentlich gehört dir dafür der Hintern versohlt, mindestens. Du hast deine Großmutter, meine Mutter, nicht einmal gekannt, wie kannst du es also wagen, auch nur zu denken, sie wäre eine Hure gewesen? Dir ist ja wohl die Härte dieses Schimpfwortes klar, oder? Es ist ein abscheuliches Wort, das du generell zu keinem sagen solltest – aber zu mir, deinem eigenen Vater, Hurensohn zu sagen, ist schlichtweg eine Lästerung der Lebensgeister – deinen verdammten Lebensgeist verdankst du nämlich zur Hälfte mir, weil ich dich gezeugt habe! Ist das angekommen?“ Karana nickte beklommen und senkte sein Gesicht tief.

„E-es tut mir leid. Ich… ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe! Es ist mir rausgerutscht… ich wollte so etwas nicht sagen, ehrlich!“ Der Vater runzelte die Stirn und seufzte.

„Gut, so viel zum Hurensohn. Aber was du sonst noch gesagt hast, hat mich eigentlich sogar noch mehr erbost. Weißt du noch, was du gesagt hast, Karana?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich helfe deinem Gedächtnis auf die Sprünge, mein Sohn. Du hast gesagt, Vater Himmel und Mutter Erde sollten vor dir knien. Das waren Worte von purer Bosheit, von purer Abscheulichkeit, es ist widerwärtig, so etwas auch nur zu denken. Vater Himmel ist unser aller Vater, Mutter Erde ist unser aller Mutter. Gemeinsam haben sie diese Welt geschaffen, in der wir leben – wie kannst du verlangen, sie sollten knien? Sie knien nicht vor uns Sterblichen. Merke dir das, Karana!“ Der Junge nickte hastig.

„Vergib mir, Vati.“, sagte er abermals, „I-ich… ich weiß nicht mal, wieso ich das gesagt habe… ich wollte dich nicht wütend machen… ich hatte… hatte Angst, du würdest mich jetzt verstoßen…“ Der Vater seufzte tief. Die Worte jetzt mit der nötigen Kälte herauszubringen war schwerer, als er gedacht hatte, während er sich erhob.

„Wenn du so etwas noch einmal sagst, Karana, werde ich das auch tun. Verlass dich darauf… also halt deine Zunge in Zukunft fest… und deine Gedanken besser auch, weil ich dir bis in deinen verdammten Geist sehen kann… Karana.“ Beinahe hätte er Kelar gesagt, fiel ihm auf, und er schalt sich einen Narren. Er ging zur Tür, um ins Bad zu gehen, aber sein Sohn hielt ihn noch einmal auf, druckste etwas herum und sprach dann.

„Vati… ich habe eine ganz große Bitte an dich… wenn ich verspreche, sowas nie wieder zu sagen…“
 

Leyya hatte noch nie versucht, ein Tier zu heilen – aber da die Knochen eines Hundewelpen an sich nicht anders waren als die eines Menschen, war es kein weiteres Problem für sie, das gebrochene Bein zu richten, sodass der kleine Hund wieder laufen konnte. Das schwerere Problem folgte eigentlich erst danach, stellte die Heilerin fest, als sie zu eigentlich längst nachtschlafender Zeit durch die Hintertür auf die kleine Terrasse kam und die Kinder sah, die mit dem Welpen spielten. Die Mutter nicht bemerkend kicherten die Kinder und streichelten abwechselnd das zutrauliche Tier, das mit dem Schwanz wedelte und aber vor allem Karana seine Zuneigung entgegen zu bringen schien. Die Heilerin grübelte gerade, ob der Hund wohl wirklich über Gedanken mit Karana kommunizierte, da trat Puran hinter sie und räusperte sich.

„Neisa, du solltest längst im Bett sein! Und ihr Jungs eigentlich auch, es ist gleich Mitternacht! Was wird das hier mit dem Hund? Er ist jetzt geheilt, du solltest ihn frei lassen, Karana.“ Der Junge starrte seinen Vater entsetzt an.

„Was? Ihn – ihn frei lassen? Aber Vati, ich… ich möchte ihn behalten!“

„Du kannst ihn nicht behalten. Das ist ein wildes Tier, es gehört in die freie Natur und nicht zu den Menschen. Der Hund würde sich hier nicht wohlfühlen.“

„Aber er hat doch niemanden, der für ihn sorgt!“, machte Neisa auch, „Bitte, Vati, lass ihn uns behalten!“

Mich.“, korrigierte Karana, und Puran zeigte ins Haus.

„Abmarsch, Neisa, auf der Stelle, du gehst ins Bett! Jetzt.“ Sein Ton duldete keine Widerrede und die Kleine erhob sich grummelnd, ehe sie dem Befehl folgte uns ins Haus ging. Simu stand auch auf und putzte sich den Staub vom Hosenboden, während Karana demonstrativ sitzen blieb. Der Hund vor ihm saß genauso steif am Boden und beide sahen zu Puran auf, mit demselben Blick. Der Senator brummte. „Du kannst auch nicht für ihn sorgen, Karana. Er ist und bleibt ein wildes Tier, ein Raubtier. Noch ist er klein, aber sobald er größer wird, wird er dich als Mittagessen ansehen.“

„Quatsch.“, behauptete der Sohn, „Er wird mich nie angreifen, weil ich es war, der ihn gerettet hat!“

„Genau genommen war das deine Mutter.“, widersprach sein Vater streng, „Keine Widerrede, wir gehen jetzt zum Tor und bringen den Köter weg.“

„Sein Name ist Aar.“

„Wie bitte?“

„Aar, so heißt er. Ich habe ihn so genannt.“ Karana tätschelte dem Welpen liebevoll den Kopf und der bellte. Oder machte so etwas Ähnliches. Puran schnaubte.

„Du kannst einem Tier nicht einfach einen Namen geben. Und wieso ausgerechnet Aar? Das ist doch kein Name, das klingt mehr wie Lautmalerei.“

„Hör dir an, wie er bellt, es klingt wie Aar.“, lachte Karana, „Deshalb heißt er so.“

„Wie überaus kreativ.“, sagte sein Vater zickig, „Wenn alle so denken würden, würdest du heute Rabääh heißen.“ Simu musste bei den Worten lachen, Karana schmollte.

„Neisa wollte ihn Hundileinchen nennen, ja? Ist das etwa besser?“ Der Vater verdrehte die Augen.

„Wie auch immer – wir bringen ihn jetzt gemeinsam weg. Simu, ab ins Bett.“ Er wandte sich zum Gehen und blickte Karana über die Schulter an, der mit finsterem Gesicht aufstand. „Du kannst ihn nicht behalten, Karana. Der Hund braucht seine Freiheit, er will nicht hier eingesperrt sein.“

„Wetten?“, machte der Kleine, und der Herr der Geister fühlte sich unwillkürlich an seinen Lehrmeister erinnert, der früher auch so gerne gewettet hatte. Er blieb wieder stehen und ließ zu, dass Simu sich brav an ihm vorbei ins Haus drängelte, um ins Bett zu gehen. Leyya zog die Brauen hoch, als Karana grinste. „Wetten, er möchte bleiben? Wenn er wegläuft, darf er gehen. Aber wenn er bleibt, darf ich ihn behalten. Abgemacht, Vati?“
 

Am Tor war es dunkel. Puran hatte seine Frau gebeten, schon mal ins Bett zu gehen und auf ihn zu warten, während er mit Karana und dem Hund, Aar, hinaus durch das Dorf ging. Kein Mensch war mehr auf den Straßen. Karana war nicht nervös, als sie das Tor erreichten; auf dem Weg hierher war der Welpe dem Jungen brav gefolgt und nicht von seiner Seite gewichen. Jetzt, da sie angekommen waren, seufzte der Junge und zeigte auf Aar.

„In Ordnung, ich stelle dir frei, zu gehen, Aar. Möchtest du da raus? Dann geh, ich möchte dich nicht gefangen halten!“ Puran seufzte.

„Du scheinst dir ja sehr sicher zu sein, dass er bleibt.“

„Bin ich auch, sieh.“ Karana verschränkte die Arme und sah auf Aar – der kleine Hund setzte sich neben Karana auf die Erde, sah auf und rührte sich nicht vom Fleck. Der Senator fuhr sich müde durch die Haare. Jetzt ging er ohnehin gleich zu Bett, da war es egal, wenn seine Frisur versaut war…

„Ist gut… offenbar hat der Hund vor, dir treudoof zu folgen. Glück gehabt… aber du alleine sorgst für das Tier. Ich mache keinen Finger krumm und wenn ich dich erwische, wie du diese Arbeit auf Mutti oder deine Geschwister abschiebst, erlebst du aber was. Verstanden?“ Der Junge strahlte und nickte.

„Ja, Vati. Versprochen! Bruder Hund wird euch keinen Ärger machen!“
 

Ein dumpfer Schlag auf den Kopf brachte den Kerl zu Fall und raubte ihm prompt das Bewusstsein. Wie ein nasser Sack stürzte der Fremde auf dem Hof zu Boden, während Tanuq kurz triumphierte.

„Der hat gesessen, Herr.“, erklärte er stolz und wedelte dabei mit seiner Bratpfanne. Meoran zischte und fuhr herum, er hatte keine Zeit für den Triumph.

„Fessele und knebele den Bastard, der zweite ist Saidah nachgerannt, bevor ich den nicht habe, werde ich hier sicherlich nicht vor Freude tanzen.“ Tanuq verstand das und tat wie ihm geheißen, als Meoran den Weg hinab hastete in die Richtung, in der seine Tochter und der zweite Kerl in der Finsternis verschwunden waren. Er hatte sie schreien gehört… oh, wenn ihr auch nur ein Haar gekrümmt worden war, würde er diesen Typen in Stücke reißen… es reichte ja einer von ihnen lebend, um herauszufinden, wer sie waren und was zum Geier sie hier verloren hatten. „Saidah!“, japste der Mann panisch, als er weiter unten am Weg bereits eine Gestalt ausmachen konnte – er stellte wenig später verblüfft fest, dass es nicht seine Tochter sein konnte, dafür war die Gestalt zu breit. Aber sie war alleine am Wegrand und bewegte sich gar nicht, als Meoran näher kam – als er dicht genug dran war, registrierte der Mann, dass der Fremde fassungslos den Hang hinab starrte und keinerlei Anstalten zu machen schien, ihn anzugreifen.

Moment. Warum starrte er da hinunter?

„Sag, dass das ein böser Scherz ist!“, keuchte Meoran, rannte schneller und ignorierte das böse Stechen in seiner Brust dabei; die Panik, die seine Kehle zuschnürte, war im Moment viel präsenter. In dem Moment erreichte er den fremden Kerl, packte ihn wutentbrannt am Kragen und schleuderte ihn zurück auf den Weg. „WO IST SIE, DU HURENSOHN?!“

„D-da – s-sie ist gefallen!“, japste der Fremde, offenbar war er selbst völlig erschrocken von der Wendung der Dinge. Meoran hielt für einen Moment inne, um zum Wegrand zu starren – der eine Moment reichte für den Feind, um sich zu fassen, kurz darauf warnten den Geisterjäger seine Instinkte gerade noch, sodass er dem gezückten Messer nur knapp entkam, mit dem der Kerl nach ihm zu schlagen versuchte. Er war verblüfft darüber, dass er überhaupt reagierte – alles, was in seinem Kopf war, war das Schicksal seiner einzigen, geliebten Tochter.

Sie ist gefallen.

„Du Bastard… du elender, verfluchter… du dreckiger Hurensohn!“, brüllte Meoran außer sich ob des Schwalls an Emotionen, der ihn jetzt überkam – es war eine Mischung aus Panik, Zorn, Entsetzen und einem fürchterlichen Schmerz. Er packte den Kerl mit einer Hand wieder am Kragen und stieß ihn wütend gegen die Felswand auf der anderen Seite des Weges, während er mit der freien Hand eine schwarze Feder aus seiner Tasche zückte und sie wie ein Schwert an die Kehle des Mistkerls presste. Der Typ japste panisch.

„Ich habe nichts getan! Sie ist von selbst gestürzt!“

„LÜG MICH NICHT AN!“, schrie der Ältere und presste die Feder fester gegen seine Kehle, sodass tatsächlich ein blutiger Schnitt entstand. „Ich zerreiße dich in Stücke und verfüttere dich an die Schweine, du widerlicher, abscheulicher…! Du hast mir mein Kind genommen! Du hast sie verdammt noch mal umgebracht!“ Der Fremde weitete in blankem Entsetzen die Augen unter den hysterischen Schreien des Magiers, der ihn zurück gegen die Wand stieß und ihn losließ, um die Feder mit einem Schwung gen Himmel zu erheben. Der Blick aus den komischen Augen des Geisterjägers war wahnsinnig und verzerrt von den übelsten Schmerzen der Welt – der Typ von Ghia hatte keine Chance mehr, sich zu bewegen, bevor mit einem lauten Krachen aus dem Himmel ein Blitz herab fuhr und den Kerl direkt erwischte. Er war sofort tot, als die Macht der Geisterwinde ihn in tausende Fetzen zerriss, wie Meoran angekündigt hatte.

Meoran hatte keine Zeit, groß nachzudenken. Er bat die Lebensgeister zerknirscht um Verzeihung für den brutalen Mord, den er an sich aber nicht bereute, als er herum fuhr und zum Rand des Weges stürzte, um herab zu spähen.

„Saidah!“, schrie er in der verzweifelten Hoffnung, sie könnte vielleicht nicht so tief gestürzt und noch lebendig sein. „Saidah, mein Mädchen… s-sag doch was… bitte…“ Seine letzten Worte verloren sich in bitteren Schluchzern, ehe er nicht mehr als ein schmerzerfülltes Heulen aus seiner Kehle brachte. Niemand antwortete ihm… die Finsternis umschloss ihn in dem einen Moment, da ihm klar wurde, dass er jetzt auch den letzten Menschen für immer verloren hatte, den er je geliebt hatte. Wie sollte er so, wenn er starb, seiner Frau ins Gesicht sehen können, sobald er sie wieder traf? Er hatte ihr gemeinsames, einziges Kind nicht beschützen können… „Ruja… m-meine… geliebte Ruja, wie sollst du nur… j-jemals Frieden finden so…? Und Saidah…“ Er brach heulend am Wegrand in sich zusammen und missachtete die Schritte, die auf ihn zu gerannt kamen. Erst, als er Tanuqs Stimme neben sich vernahm und spürte, wie der Jüngere ihn sanft rüttelte, versuchte er wieder, sich zu artikulieren.

„Herr! Herr, um Himmels Willen, w-was ist mit Saidah…?“, fragte das Kindermädchen keuchend, und als Meoran bebend und immer noch heulend den Kopf hob, sah er den Lichtschein, der von der Laterne ausging, die Tanuq mitgebracht hatte. „Herr, so sprecht doch…“

„S-sie ist… hinab gefallen-… d-dieser scheußliche Bastard, dieser Hurensohn, ich habe ihn in Stücke gerissen!“, schrie Meoran lauter als nötig und in seinem einen Auge funkelte blanker Wahnsinn, was Tanuq zurück schrecken ließ. „Mein Kind, m-mein einziges Kind ist tot, verdammt! Meine arme Saidah…!“ Er heulte weiter und der Jüngere beugte sich vor, die Laterne hebend, um den Abhang verunsichert zu erleuchten. Dann fuhr er zurück und japste.

„Herr! – I-ich glaube, ich habe sie gesehen! Sie ist gar nicht so tief gefallen, sie hängt im Gestrüpp…“ Meoran hob keuchend den Kopf, in dem Moment ertönte von unten ein leises Stöhnen.

„Vater…?“

„Das war sie!“, japste Meoran und kam strauchelnd auf die Beine. Sein Herz klopfte wild in seiner Brust, als er die Stimme seiner Tochter hörte. „S-sie ist noch am Leben?!“

„Rasch!“, rief Tanuq, der mit dem Licht voraus eilte, und Meoran entzündete über seiner Handfläche den Feuerzauber Vaira, um selbst Licht zu haben, bevor sie zu zweit den Weg herunter hasteten zu der Stelle, wo Tanuq die junge Frau gefunden hatte. Sie hing tatsächlich in einem aus den Felsen wuchernden, festen Geäst, und hob keuchend den Kopf, als sie merkte, dass Hilfe kam.

„Vater… d-du bist… g-ge-…kommen-…“

„Um Himmels Willen, du lebst!“, japste ihr Vater erleichtert und Tanuq hob die Laterne.

„Das Gestrüpp hat dich gefangen und vor einem schwereren Sturz bewahrt? So ein Glück.“, seufzte er noch, „Kannst du da runter? Bist du verletzt?“

„D-der Ast…“, stöhnte Saidah kraftlos und eine Hand griff zitternd nach ihrem Bauch, „D-der… Ast hat… m-meinen Bauch durchbohrt-… e-es tut so fürchterlich weh… hilf mir, Vater…“

So schnell, wie die Erleichterung gekommen war, verschwand sie wieder. Meorans Gesichtszüge entgleisten und Saidah weinte, als sie die Hand nach ihm ausstreckte, noch immer in dem Gebüsch hängend.

„Bitte, Vater… h-hilf mir… ich bin genau… a-auf diesen… Ast gefallen und er… hat mich wie ein Schwert… durchbohrt…“

„Du Scheiße!“, schrie Tanuq sofort, stellte die Laterne auf den Weg und kroch ein Stück näher an das Gebüsch, um zu sehen, wie sie die junge Frau am besten da heraus bekämen. Saidah schrie, als er die Stelle ertastete, wo der Ast ihren Körper durchbohrte, und das Kindermädchen blickte zu ihrem Vater. „Herr! Könnt Ihr den Ast vom Busch abschneiden mit Magie? Ich halte sie fest, damit sie nicht runter fällt… wir kriegen sie nicht anders hier weg, den Ast rauszuziehen könnte alles noch schlimmer machen!“ Das war wahr, und Meoran zwang sich, einen kühlen Kopf zu bewahren – vielleicht konnte ein Heiler Saidah noch retten… noch war nichts verloren.

Das wird schon. Das hätte sein verstorbener Freund Tabari an seiner Stelle gesagt… er hoffte, er könnte auch einmal so zuverlässig auf diesen einfachen Spruch vertrauen… indem er die Geister inständig um alle Hilfe bat, die sie bieten konnten, durchtrennte er mit dem Schneidezauber Sura den Ast unterhalb von Saidahs Bauch, sodass Tanuq die arme samt Ast im Bauch aus dem Gebüsch heben konnte, wobei sie vor Schmerzen wimmerte.

„Gib sie mir, rasch, Tanuq.“, befahl der Ältere und ließ sich seine keuchende, wimmernde Tochter in die Arme legen, „Ich bringe sie rauf. Du rennst nach Minh-În und suchst einen Heiler. Jetzt sofort, schnell!“ Der junge Mann nickte heftig und rannte davon, ohne den Befehl noch einmal in Frage zu stellen. Es ging um Saidahs Leben – zu spät kommende Hilfe könnte jetzt sinnlos sein… hoffentlich fand er in der großen Stadt schnell jemanden…
 

Der Morgen graute und dunstige Schleier bedeckten die Gegend um Lorana, während die Sonne sich ganz langsam über den Horizont im Osten schob. Leyya kicherte, während sie nackt auf dem Bauch in ihrem Bett lag und ihr Mann mit den Fingern durch ihre offenen Haare fuhr, dabei kitzelte er hin und wieder ihren Nacken. Nach dem Drama am vergangenen Abend war die Nacht doch sehr erholsam gewesen. Die Heilerin drehte den Kopf zu Puran, der auf der Seite neben ihr lag und sie jetzt angrinste.

„Das macht Spaß, dich zu kitzeln, wenn du dabei so niedlich kicherst.“, behauptete er, und sie kicherte abermals, als sie seine Finger in ihrem Nacken spürte.

„Spielkind!“, tadelte sie ihn, rollte sich dichter zu ihm und ließ sich auf die Wange und das Ohr küssen. „Ach… ich bin so erleichtert, dass du deinen Streit mit Karanachen gleich geregelt bekommen hast… gestern Abend war das ja furchtbar.“

„Ja, das ist wahr. Und was heißt geregelt… ich hoffe, sowas passiert nicht wieder. Mich besorgt jetzt erst mal viel mehr der Köter, den Karana behalten wollte. Was machen wir mit dem?“

„Ganz einfach, Karana bekommt die Chance, zu beweisen, dass er dafür die Verantwortung tragen kann – und wenn nicht, kommt der Hund eben wieder weg. Der Junge ist alt genug, um das zu verstehen… ein lebendes Tier zu behalten ist nicht wie eine Puppe, mit der man spielt und die man dann in die Ecke wirft, wenn man keine Lust mehr auf sie hat…“ Da konnte er ihr nur nickend zustimmen, ehe er sie fester in seine Arme zog und ihren Nacken zu küssen begann, seine Hände dabei über ihren Bauch hinauf zu ihren Brüsten gleiten lassend.

„Wo wir gerade bei Lust sind, Liebes…“, nuschelte er dabei, und Leyya feixte, ehe sie sich aus seinem Griff befreite und sich kokett aufsetzte. Mit einer flinken Bewegung hatte sie ihn hinunter ins Bett gepinnt und sich auf seinen Unterleib gesetzt, wo sie wieder kicherte und die Hände über seine Brust wandern ließ.

„Oh, du bist so ein schlimmer Junge, Puran.“, sagte sie verschwörerisch, „Du bist besessen, nicht wahr?“

„Allerdings. Von der bezauberndsten Frau der Welt.“, grinste er, und sie schnaubte gespielt empört und kniff seine Brustwarze, worauf er zusammenfuhr und japste. „Aua, verdammt!“

„Schleim dich nicht so ein…“, wisperte sie mit einem breiten Lächeln, bevor sie sich über ihn beugte und kurz vor seinen Lippen inne hielt. „Sag mir, was willst du, Puran?“ Er wollte sie küssen, doch sie zog ihr Gesicht zur Seite und küsste statt seinen Lippen seinen Hals. Er stöhnte und hob die Hände, um damit ihre Hüften zu ergreifen und ihre zarte Haut zu streicheln.

„Ich will dich, Leyya…“, murmelte er, und sie kicherte erneut, indem sie ihren Unterkörper gegen seinen presste, worauf er zischend die Luft einzog.

„Genauer, Liebling… was willst du?“

„D-dass… du dich auf mich setzt… und zwar jetzt gleich…“ Sie wollte wieder kichern, aber jetzt wurde er ungeduldig, packte ihr Kinn und zerrte ihr Gesicht zu seinem, um sie verlangend zu küssen. Leyya erwiderte seinen Kuss mit derselben Leidenschaft, während sie sich leicht über ihm bewegte und er ihre Hitze über sich spüren konnte; das Feuer brannte in seinen Lenden und er musste sich wirklich zusammenreißen, um seine Frau nicht einfach herum zu schubsen und sich zwischen ihre Beine zu legen –

Mitten im schönsten Zungenspiel unterbrach sie ein energisches, wüstes Klopfen an der Haustür unten. Es war so laut und energisch, dass sie es sogar durch die geschlossene Schlafzimmertür hörten, und beide fuhren erschrocken aus den zerwühlten Laken empor.

„Himmel, wer kommt denn jetzt?!“, zischte Leyya, sichtlich verärgert über die Störung, und Puran seufzte, ehe er rasch seine Hosen schnappte und aus dem Bett krabbelte, sich anziehend.

„Um diese Uhrzeit und mit dieser Intensität muss es was Dringendes sein…“

„Sicher nicht so dringend wie ich dich jetzt in mir brauche.“, meckerte Leyya, aber sie zog sich gehorsam auch etwas über, während ihr Mann sich räusperte und aus dem Zimmer eilte.

„Glaub mir, ich würde jetzt auch lieber weitermachen…“ Er rannte die Treppe herab zur Tür, während er sich wunderte, dass die Geister ihn nicht vorwarnten – etwas Schlimmes konnte es dann ja nicht sein…?

Er fiel aus allen Wolken, als er die Tür öffnete und verblüffender Weise Meoran davor stand.

„M-Meister…?!“, keuchte Puran und vergaß augenblicklich sein Liebesspiel – dass Meoran im Morgengrauen hier war, konnte nur Schlimmes bedeuten. Und dafür sprach auch seine grausame Gesichtsfarbe, die einem in Mehl gewälzten Schnitzel ähnelte.

„Ich will Leyya!“, japste der Mann vor der Tür hysterisch, „Sofort!“ Puran klappte die Kinnlade herunter und Leyya rief von oben:

„Was?! Also, Meoran, das hätte ich nicht von dir gedacht – ein Dreier, oder was? Na, wenn ihr unbedingt wollt…?“

„Verdammt, bitte hilf mir!“, heulte Meoran panisch vor der Tür, und Puran erbleichte, während auch Leyya halbwegs angezogen herab kam und jetzt mit sehr großer Sicherheit wusste, dass etwas Schlimmes passiert war. Puran fragte sich, warum die Geister ihn verrieten und ihn nicht warnten. „Saidah liegt im Sterben… du bist die Einzige, die mir einfiel, die mir noch helfen könnte, Leyya… ich weiß nicht mehr, was ich machen soll…“ Er zitterte am ganzen Körper und fing verzweifelt zu weinen an, während Puran und Leyya einander fassungslos anstarrten.

„Was sagst du da?! W-was ist mit Saidah?!“, keuchte ersterer entsetzt, doch Leyya schnitt ihm das Wort ab.

„Um Himmels Willen, das klären wir auf dem Weg! Natürlich kommen wir, Meoran! – Puran, rasch, lauf zu Ansos und bitte sie, auf die Kinder aufzupassen, ich suche schnell meine Sachen zusammen an Medizin. Schnell!“ Ihr Mann gehorchte ihr aufs Wort und verließ nur mit seinen Hosen bekleidet das Haus; die Frau selbst kümmerte sich nicht darum, dass sie nur ein Nachthemd trug. Jeder Moment zählte. „Meoran, was ist geschehen?“

„Ein Ast… ein Ast hat sie durchbohrt, durch den Bauch.“, stammelte der Ältere und schleppte sich kraftlos auf die Treppe, um sich hinzusetzen und sich wimmernd durch die Haare zu fahren. „Tanuq hat zuerst Heiler aus Minh-În gebracht, aber was sie getan haben, hat nicht gereicht… ich bin im Morgengrauen hinunter und habe einen Telepathen bezahlt, damit er mich her bringt… d-der Mann wartet draußen und kann uns alle nach Minh-În bringen.“ Die Heilerin nickte geistesgegenwärtig, so gut sie konnte, während sie aus der Kommode alles Mögliche an Kräutern, Salben und Medikamenten schnappte und in ihren Beutel stopfte, der immer neben der Haustür hing.

„Um Himmels Willen… ich werde tun, was in meiner Macht steht.“, versprach sie und eilte zurück zur Tür, ehe sie inne hielt und zu Meoran sah, der noch immer wimmernd auf der Treppe hockte. Unglücklich hockte Leyya sich zu ihm herunter und umarmte ihn dann spontan. „Meoran… es tut mir so wahnsinnig leid. Sei tapfer, bitte… Saidah wird es schaffen, wir müssen einfach… daran glauben.“

„Ich versuche das seit der Nacht.“, murmelte der Mann verzweifelt, „Meine Hoffnung schwindet mit jedem Moment mehr… ich… ich ertrage das nicht, wenn sie wirklich stirbt, Leyya. Ich… ertrage diesen Verlust nicht, nicht, nachdem ich schon Ruja verloren habe. Kein Vater sollte sein Kind zu Grabe tragen müssen… wenn Saidah das nicht überlebt, weiß… ich nicht, wie lange ich das noch… aushalte.“ Die Worte stimmten Leyya noch bedrückter als ohnehin schon, und tapfer unterdrückte sie die ihr aufkommenden Tränen. Sie musste mit ganzem Geist bei der Sache sein, wenn sie Saidah heilen wollte… Tränen verhinderten nur die Sicht.
 

Es sah schlecht aus. Saidahs Zimmer war von mehreren Laternen und Talglampen erhellt, damit Leyya genug Licht hatte, während sie die schwere Wunde zu heilen versuchte. Die Heiler aus Minh-În hatten den Ast schon entfernt und die Blutung gestoppt, aber die inneren Blutungen aufzuhalten war eine schwerere Aufgabe, die mehr Macht erforderte; und Leyya war eine großartige Heilerin, Mitglied des Heilerrates, dem nur die Besten angehörten. Meoran schalt sich einen Idioten – er hätte zu allererst Leyya holen sollen. Das hätte die halbe Nacht gespart und vielleicht würde es dann um seine Tochter jetzt nicht so schlimm stehen.

„Meoran… setz dich hin, bitte.“, murmelte Puran dumpf, während er mit seinem Freund und Lehrmeister auf dem Flur hockte – besser, er hockte, Meoran ging auf und ab und keuchte dabei bereits vor Anstrengung. Der Jüngere sorgte sich wirklich… Tanuq war herunter gegangen, um Misteltee zu kochen, aber der arme Meoran war so fertig mit den Nerven, dass vermutlich nicht mal der Tee helfen würde, um seinen Blutdruck zu regulieren. Die Männer hatten den Raum besser verlassen, damit Leyya ihre Ruhe hatte – niemand von ihnen wäre eine Hilfe beim Heilen.

„Sitzen? Ich kann nicht sitzen, verdammt, ich habe Angst!“, jammerte Meoran und fuhr sich durch die Haare, „Ich komme mir vor wie ein Vater bei der Geburt seines erstes Kindes… wie ironisch, dass ich jetzt nicht auf die Geburt, sondern auf den Tod warte…“

„Papperlapapp.“, schnaufte sein Freund, „Niemand sagt, dass sie echt stirbt, vertraust du Leyya so wenig? Dann hättest du sie nicht zu rufen brauchen.“

„Das ist es nicht, aber verdammt, ich habe blinde Panik, ja?! Ich sterbe vor Angst um mein einziges Kind, sag mir nicht, dass es dir an meiner Stelle anders gehen würde, Puran Lyra!“ Meoran zeigte zornig und verzweifelt mit dem Finger auf ihn. „Du bist zeitlebens immer die größere Heulsuse von uns beiden gewesen, vergiss das nicht!“ Puran seufzte und nickte ergeben.

„Ja, das stimmt… ich verstehe deine Panik doch, mein Freund. Aber du machst mir auch Angst, du weißt genau, dass du krank bist. Diese Aufregung wird dich umbringen.“

„Dann bin ich wenigstens vereint mit meiner Frau und meiner Tochter.“ Puran erhob sich und spuckte seinem Freund vor die Füße.

„Verflucht, Meoran! Sieh dich an, was wird aus dir?! Du lästerst über die Lebensgeister und verschmähst sie, willst lieber sterben?! Das ist abscheulich! Du weißt noch gar nicht, ob Saidah nicht vielleicht überleben wird, also reiß dich bitte so lange zusammen, bis du schlauer bist, Meister! Verdammt, von allen Menschen dieser Welt verehre und respektiere ich niemanden mehr als dich! Und es würde mich wirklich beschämen, wenn ich erfahren müsste, dass mein Lehrmeister ein suizidgefährdeter Feigling ist! Oder denkst du, Ruja würde das gutheißen?!“ Meoran starrte ihn fassungslos an und eine Weile herrschte Stille auf dem Flur. Tanuq kehrte mit dem Tee zurück, als Meoran sich endlich auf den zweiten Stuhl fallen ließ, der neben Saidahs Zimmer stand, und sitzen blieb. Er erzitterte vor Gram und der Senator seufzte, ehe er herüber trat und seinen Freund umarmte. „Vergib mir, alter Freund… das war hart von mir… ich… mache mir doch auch nur Sorgen.“

„Nein – nein, du hast recht.“, keuchte Meoran, „Ruja würde… nicht gutheißen, wenn ich aufgebe… Ruja hat immer… gehofft.“ Der Mann erwiderte traurig die Umarmung und nahm dann dankend den Tee seines Haushälters an, den dieser gebracht hatte.
 

Als Leyya zu ihnen auf den Flur kam, war es bereits später Vormittag. Die Frau seufzte ergeben und ermüdet, während sie sich mit der Hand über die Stirn fuhr. Die drei Männer auf dem Flur erhoben sich, Tanuq hob dabei die leere Teetasse auf.

„Und?“, fragte Puran, weil Meoran keinen Ton heraus brachte, und auf das Gesicht der Heilerin schlich ein dumpfes, müdes Lächeln.

„Sie wird es überleben, keine Angst. Ich habe die Wunde heilen können.“ Sie erntete auf diese Aussage erleichtertes Jauchzen von allen Seiten und Meoran sah aus, als wäre er am liebsten ohnmächtig umgefallen ob des Felsens, der ihm vom Herzen fiel.

„Um Himmels Willen, Leyya… d-du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir bin. Ich stehe den Rest meines kümmerlichen Lebens in deiner Schuld…“, murmelte er dabei und lächelte leicht. „Kann ich zu ihr?“ Die Frau schüttelte den Kopf.

„Sie schläft jetzt, lassen wir sie. Sie wird sich die nächsten Wochen ausruhen müssen… du und Tanuq solltet euch liebevoll um sie kümmern.“

„Um Himmels Willen, natürlich werden wir das!“, keuchte der Geisterjäger, „Sie lebt, d-du hast meiner Tochter das Leben gerettet, Leyya… ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich-… eben dachte ich noch, alles, wofür ich lebe, wäre verloren, aber… ach!“ Zu seiner Verblüffung seufzte die kleine Heilerin etwas unsicher, spähte zurück zu Saidahs Zimmer und lehnte dann die Zimmertür an, ehe sie sprach.

„Meoran, bitte lobpreise mich nicht… sie wird leben und gesund werden, ja, aber… es gibt ein Problem, von dem du wissen solltest.“ Jetzt verstummten alle wieder und Puran sah seine Frau alarmiert an.

„Was ist?“ Die kleine Frau schob sich eine wirre Haarsträhne hinter das Ohr und blickte bedrückt zur Seite.

„Der Ast hat… ihren Unterbauch durchbohrt und viel kaputt gemacht. Das meiste konnte ich wieder regenerieren, aber… ihre Gebärmutter ist leider nicht mehr zu retten gewesen. Natürlich wird sie problemlos ohne Gebärmutter leben können… aber das bedeutet, dass sie niemals ein Kind empfangen können wird.“

Hatte sie eben noch in drei erleichtert strahlende Gesichter gesehen, sah sie jetzt die Gesichtszüge erneut entgleisen.

„Sie… kann niemals Kinder bekommen?“, wiederholte Meoran leise, und die Heilerin nickte zögerlich.

„Es… tut mir leid. Ich bin unfähig, ich konnte… nichts mehr tun…“ Der Ältere schnitt ihr das Wort ab, indem er die Hände abwehrend hob.

„Das ist nicht deine Schuld, hör auf. Du hast getan, was du konntest. Und dass sie nur keine Kinder kriegen kann ist ein wahrlich kleines Übel verglichen mit dem, was hätte passieren können. – Gut, wenn sie schlafen sollte, wieso… gehen wir nicht herunter und essen was auf den Schreck der letzten Nacht? Also… jetzt habe selbst ich langsam wieder Hunger. Tanuq, geh doch bitte und koch uns Suppe… das wäre lieb von dir.“ Mit einer höflichen Verneigung in Richtung Leyya ging Meoran voran, schwerfälliger denn je, und Tanuq folgte ihm gehorsam. Puran und seine Frau blieben zurück und tauschten einen bestürzten Blick. Sie beide wussten genau, dass ihr Freund diese schlechte Nachricht herunter spielte und tapferer tat, als er war… dass Saidah unfruchtbar war, war gerade für ihre Familie eine Tragödie. Es bedeutete, dass spätestens mit Saidahs Tod – der hoffentlich noch fern war – der letzte Träger des Blutes der Chimalis’ aus dieser Welt gehen würde. Solange sie ein Kind hätte bekommen können, wäre wenigstens ihr Blut, wenn auch nicht ihr Name, weitergegeben worden, so jedoch starb der alte, ehrwürdige Clan restlos und ohne Spuren aus.

Als sie die Küche erreichten, machte Tanuq bereits Suppe. Meoran hatte eine Weinflasche geholt und vier Gläser, in die er jetzt sehr großzügig einschenkte und seine Verbitterung mit einem wohlwollenden Lächeln zu überspielen versuchte.

„Setzt euch doch – wir haben etwas zu feiern, Saidahchen lebt noch! Das haben wir dir zu verdanken, Leyya… kommt schon, setzt euch. Ich trinke auf dich, meine Teuerste!“ Er grinste ein bizarres Grinsen, als er überschwänglich sein Glas anhob, dabei die Hälfte verschüttete und den Rest des Weins dann in einem Zug austrank. Puran und Leyya setzten sich gehorsam, teilten das Grinsen aber nicht. Nur zögerlich nahm die Heilerin ihr Weinglas auch und zwang sich dann zu einem sehr verzerrten Lächeln.

„Ja, es… es ist schön, dass Saidah lebt. Ich bin heilfroh darüber…“

„Wirklich, es ist so erleichternd… und was diese Sache mit den Kindern angeht, das… spielt keine weitere Rolle, wirklich. Der Name meiner Familie stirbt ohnehin aus, ob nun mit oder ohne Blut, ist doch eigentlich Lachs.“ Er kicherte und setzte sich, um sich ein neues Glas einzuschenken. Puran seufzte, während Leyya auch einen Schluck Wein trank.

„Das… ist nicht egal, Meoran, und ich glaube auch nicht, dass dir das so gleich ist, wie du gerade behauptest… das ist ein großer Unterschied, ob nur der Name eingeht oder auch das Blut. Es tut mir leid…“

„Es ist nur so lächerlich.“, gluckste Meoran und trank sein zweites Glas aus, „Es war dein Großvater, der meine Familie verflucht hat. Es ist wirklich so… als würde sein Fluch hier Hand und Fuß finden. Wie er angedroht hat, hat meine Cousine kein männliches Kind geboren. Wie er angedroht hat, habe auch ich keinen Sohn bekommen. Und meine einzige Tochter wird jetzt ewig kinderlos bleiben… Kelar ist wirklich ein grausamer Mann, wenn er selbst in seinem Tod noch über meine Familie richtet… das beunruhigt mich echt.“ Der Senator senkte nur dumpf den Kopf, ehe er vorsichtig ebenfalls an seinem Glas nippte. Es herrschte eine lange Zeit Stille, bis Meoran plötzlich das Thema wechselte und sich zu Tanuq umdrehte, der am Herd Suppe kochte. „Sag mal, was ist aus dem Gefangenen geworden?“

„Gefangener?“, fragte Leyya.

„Ja, der eine der Kerle, die hier angegriffen haben… einen habe ich auf unsaubere Art zum Himmelsdonner geschickt, den anderen haben wir lebend gefangen und irgendwo gefesselt liegen lassen…“ Die anderen sahen sich an und das Kindermädchen seufzte.

„Zumindest sind sie Ausländer, sie sprechen kaum die Hochsprache. Was das andere ist, was sie sprechen, keine Ahnung. Ich weiß nur mit Sicherheit, dass es kein Fannisch ist. Fannisch hören wir hier natürlich oft…“

„War er denn äußerlich auffällig?“, fragte Puran sich, und Meoran erhob sich.

„Tanuq, wo hast du ihn hin getan?“

„In den Verschlag zum Brennholz.“

„Wundervoll – komm, wir gucken ihn uns an, vielleicht finden wir ja zufällig heraus, wer er ist und was er wollte.“

„Moment, und die Suppe?“, fragte die Heilerin bestürzt, als ihr Mann und sein Freund bereits aus der Küche gingen, doch Tanuq strahlte sie an.

„Das dauert schon noch… keine Sorge.“
 

Puran hatte den Mann noch nie gesehen, der noch gefesselt im Verschlag lag und beim Anblick der beiden Geisterjäger panisch die Augen weitete. Er versuchte, durch seinen Knebel zu sprechen, was natürlich nicht funktionierte, so nahm Meoran ihm gütiger Weise das Tuch aus dem Mund – bevor der Kerl jedoch sprechen konnte, erntete er einen so heftigen Schlag ins Gesicht, dass er fast wieder bewusstlos wurde.

„Du abscheulicher Arschkriecher!“, blaffte Meoran den Mann an, „Deinetwegen wäre meine Tochter beinahe gestorben! So, du hast die Wahl; entweder du antwortest sofort, wer du bist und was du wolltest, und bekommst einen kurzen, schmerzlosen Tod, oder du sagst nichts und wirst lange leiden.“

„Es ist nicht meine Idee gewesen!“, jammerte der Kerl, „Ehrlich nicht, i-ich bin nur ein einfacher Söldner! Ich habe Geld bekommen.“

„Von wem? Was war dein Auftrag?“ Der Mann überlegte einen Moment und Meoran wurde schon ungeduldig, da antwortete er rasch:

„W-wir sollten Euch töten! Euch und das Mädchen.“

„Hab ich mir fast gedacht. Und wer gab dir den Auftrag?“ Darauf schwieg der Mann eisern, offenbar bereit, Todesqualen zu leiden für das Leben seines Auftraggebers. Meoran versuchte es von der anderen Seite. „Woher stammst du, Kerl?“

„Aus Yuron.“ Er fing sich einen neuen Schlag ins Gesicht.

„Du kommst unter Garantie nicht aus Yuron, so, wie du sprichst!“, zischte Puran, während sein Freund nach Luft schnappte und sich die Faust rieb. „Ich war oft genug in Yuron, um zu wissen, dass selbst die erbärmlichsten Penner dort unsere Sprache beherrschen!“ Der Mann japste, als Meoran in die Hocke ging, ihn am Kragen packte und ihn diabolisch anstierte.

„Hör mir mal zu, Alter. Du hast eine neue Wahl. Entweder, du verrätst uns auf der Stelle, woher du stammst und wer dir den Auftrag gab, oder ich schneide dir langsam und auf brutalste Weise erst deinen Schwanz und die Eier ab, dann entferne ich deine Gedärme und zum Schluss steche ich dir mit einem Holzscheit in deinen Arsch. Also, wie entscheidest du dich?“ Der Mann starrte ihn fassungslos an und Meoran zückte seelenruhig eine Feder aus seiner Tasche. „Gut, du schweigst also…? In Ordnung, sag Lebewohl zu deinem Mannknochen. Welches Ei soll ich zuerst abschneiden, das linke oder das rechte?“ Der Mann schrie entsetzt und fing zu zappeln an, als der Geisterjäger mit seiner Feder näher kam, und dann schrie er lauter als nötig:

„Ist ja gut, ist ja gut, i-ich komme aus Haleigha! Das ist auf Ghia, bitte nicht…!“

Das reichte als Antwort und beide Geisterjäger fuhren abrupt zurück, als sie das hörten. Purans Kehle verließ nur ein heiseres Keuchen und sein Lehrmeister erhob sich sofort, ehe er seinen Blick verfinsterte.

„Scharan.“, war alles, was er sagte, ehe er dem Verschlag den Rücken kehrte und mit einer Handbewegung die Feder auf den Kerl schleuderte, die wie ein Messer seinen Kopf ohne Umschweife vom Körper trennte. Mit einem dumpfen Geräusch fiel der Kopf auf den Boden und Blut besudelte das Brennholz. Puran schenkte dem toten Schergen von Ulan Manha einen letzten, bitteren Blick, ehe er seinem Meister zurück ins Haus zu folgen begann. Kurz vor der Haustür blieb der Ältere noch einmal stehen und drehte sich schließlich um.

„Meister?“, fragte Puran verwirrt, und der Mann seufzte tief.

„Da meine Tochter jetzt… unfruchtbar ist… habe ich eine Bitte an dich. Ich weiß, es gehört sich nicht, ein Versprechen zu brechen, aber… ich… kann Saidah Karana nicht zur Frau geben. Er ist dein bisher einziger Sohn… dein einziger Erbe. Er muss Söhne zeugen, damit wenigstens dein Clan überlebt. Ich kann nicht verantworten, dass unsere beiden Familien sterben, indem wir unsere Kinder vermählen. Also bitte ich dich, Puran… gib mir die Hand meiner Tochter wieder, die ich deinem Sohn versprochen hatte… bitte.“ Der Senator seufzte ebenfalls.

„Meister, das… musst du nicht. Ich meine, Karana kann auch eine zweite Frau-…“

„Du willst ihm die Verantwortung für zwei Frauen aufhalsen, von denen eine nutzlos ist, nur, damit ich meine Ehre nicht verliere? Der arme Kerl, nein, das ist nicht gut. Saidah wird keinen Mann haben können so.“

„Aber… ist das nicht schlimm für sie? Sie wird doch einsam sein, wenn sie nie heiratet und…“

„Dann ist es ihr Schicksal. Du kennst sie, Saidah würde sich dir oder Karana unter diesen Umständen nicht aufdrängen, ich bin überzeugt, in ihrem Sinne zu handeln. Sie wird lieber die Einsamkeit wählen als die Demut, die sie erfahren würde als Zweitfrau, wenn sie immerzu sehen muss, wie sie sich ihren Mann teilen muss, wie ihre Feuerschwester im Gegensatz zu ihr Erben gebärt und damit ranghöher wird… glaub mir, die Ehe der beiden ist jetzt um Scheitern verurteilt. Sie kennen sich an sich nicht, keinen von beiden wird es sonderlich brechen, dass wir sie auseinander reißen. Ich denke, Karana weiß nicht mal, dass er eine Verlobte hatte?“

„Ich wollte erst mit ihm darüber sprechen, wenn er alt genug für das Blutritual ist. Wer soll das denn jetzt machen?“

„Ich denke, Saidah wird das problemlos machen können – so, wie ich das verstehe, wird sie ja nur keine Kinder bekommen können, das heißt nicht, dass sie nicht mit einem Mann schlafen kann, oder?“ Puran räusperte sich. „Es tut mir leid… aber ich kann dir Saidahs Hand nicht geben. Oder besser Karana. So, wie Saidah dich ansieht, hätte sie sie dir sicher auch gegeben.“

„Quatsch, das ist jugendliche Schwärmerei… vermutlich so, wie ich einst für deine Frau empfunden habe. Irgendwie hängen unsere Clans wirklich schicksalhaft aneinander.“ Meoran lächelte kurz bescheiden und sie schwiegen etwas. „Meoran… ich kann Karana aber trotzdem zu dir in die Lehre schicken, wenn er vierzehn ist? Ich werde deine Tochter dann fragen, ob sie bereit ist, auch sein Ritual zu übernehmen… falls nicht, findet sich hoffentlich jemand anderes, ich möchte sie ja nicht zwingen.“ Darauf senkte sein Meister langsam den Kopf und zeigte ein weiteres Lächeln, das aber irgendwie nostalgisch wirkte.

„Wie alt ist Karana?“

„Zehneinhalb.“ Der Ältere nickte, dann seufzte er abermals und wandte sich wieder zur Tür.

„Ich sollte bald anfangen, Saidah darin zu unterweisen, eine Lehrmeisterin der Magie zu werden. Es ist unserer Familie in vielen Generationen bestimmt, diese Aufgabe zu übernehmen. Ich habe es getan, wie auch mein Vater, dessen Großvater und viele andere vor ihm. Vermutlich ist diese Aufgabe genauso Wille des Schicksals wie die fatale Verbindung unserer Familien, Puran. Karana… wird seine Lehre hier bekommen, keine Sorge. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, um zu entschädigen, dass ich ihm seine versprochene Frau wegnehmen muss…“ Mit diesen Worten ließ er seinen Freund stehen und betrat das Haus. Puran war beunruhigt über die Worte, auch wenn er sich nicht erklären konnte, weshalb. Aber es jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken, so zog er es vor, seinem Freund zu folgen und in die Wärme des Hauses zurückzukehren.
 


 

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yeah - das war das vorletzte kapi, ich denke <3 es sei denn das nächste wir dunerwartet wieder so ätzend lang dass ich es teilen muss <_< Yay, Aar. Und Saidah ist arm dran, haha xD Mein hezr des Kapis geht an den armen Meoran, er ist echt DAS Opfer in ganz Fm... o__O Bis zum nächsten Kapi wird es etwas dauern^^

Die Schatten im Osten

Zweimal kam der Winter und ging wieder. Und jeder Sommer, der auf den Winter folgte, war wieder genauso heiß und unangenehm wie der vergangene. Leyya hatte sich an die Hitze des Sommers gewöhnt. Solange man nicht in der Mittagshitze hinausging und leichte, luftige Kleidung trug, sich die Haare hochsteckte und sich nur wenig bewegte, war es erträglich. Wie viele Jahre wohnte sie nun schon hier in Lorana? Es kam ihr vor, als wäre es gestern gewesen, dass ihr erster Sohn Karana geboren worden war… jetzt war er bereits zwölfeinhalb und seit einigen Monden fertig mit der sechsjährigen Schulsausbildung. Es schmerzte sie irgendwie, daran zu denken, dass er bald ein Mann werden würde… er würde eines Tages erwachsen sein und bräuchte sie dann nicht mehr, ebenso wie Simu und Neisa. Die Frau seufzte traurig und sah betrübt auf ihren einwandfrei flachen Bauch, in dem nach wie vor einfach kein Leben wachsen wollte. Ein teil ihrer Seele hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass sie jemals wieder schwanger würde, ein anderer klammerte sich an jeden noch so kleinen Strohhalm, der das Gegenteil versprach… wie ihren Mann, der noch immer zuversichtlich auf sie einredete, wenn es darum ging, wenn sie sich nachts das Bett teilten und dabei noch vor Ekstase japsend die Erdgeister um Gnade anflehten, ihnen noch einen Kindeskeim zu gewähren.

„Gib nicht auf, Liebes. Eines Tages werden die Geister unsere Gebete erhören, ich glaube daran.“, sagte er dann immer tapfer und grinste sie befriedigt an, während er sich von ihr herunter rollte und sie in seine Arme zog, und die Frau kuschelte sich jedes Mal schutzsuchend an seine nackte Brust, ohne etwas zu sagen.

Wie gerne würde sie seinen Worten Vertrauen schenken…

Ihre Gedanken kamen zu Karana zurück, worauf sie das Messer auf das Holzbrett legte, auf dem sie Gemüse für das Mittagessen geschnitten hatte. Gemüse essen war mit Kindern nie leicht; Simu aß gerne Gemüse, die anderen beiden schlugen da mehr nach ihrem verwöhnten Vater, vor allem Karana war der pure Fleischfresser… Gemüse könnte ja gesund sein, Himmel, nein.

„Simu? Simu, bist du da?“, rief die Mutter in den Flur und erntete aus der Stube ein Brummen – kurz darauf erschien ihr Ziehsohn eifrig lächelnd in der Tür zum Flur, in seiner Hand eine Landkarte, auf der er herum gemalt hatte.

„Ja?“

„Sag, ist Karana immer noch im Bett? Es ist ja schon Mittag durch, könntest du ihn endlich mal wecken, diesen elenden Faulpelz? Neisa kommt bald aus der Schule, dann wollen wir essen! Und dein Faulpelz von Bruder pennt immer noch, das darf doch nicht wahr sein! Er ist ja noch schlimmer als sein Vater, wenn man den lässt, schläft er auch bis Mittag!“

„Ich weiß, haha.“, kicherte der blonde Junge gehorsam, bevor er behände die Treppe hinauf sprang, „Ich gehe ihn holen, keine Sorge. Darf ich ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf kippen? Das wollte ich schon immer mal.“

„Lieber nicht, sonst ist ja sein Bett klitschnass, und dann schläft er bei mir, nein, ich will meine Ruhe, wenn euer Vater nicht da ist… ach, und was passiert mit dem verflixten Hund, war irgendjemand mit dem draußen?!“

„Na ja.“, machte der Junge während er hinauf hüpfte, „Da Karana gestern Nacht mit Sagals herum getobt ist und Aar mit war, wird er wohl genug Auslauf gehabt haben…“

„Ach!“, jammerte Leyya unten weiter, „Wenn ich nicht genau wüsste, dass Tilan Sagal vermutlich der einzige Junge in eurem Alter ist, dem ich euch wirklich anvertrauen kann, würde ich nachts kein Auge zutun, während ihr da herum turnt und der Geier was macht…“ Sie meckerte noch weiter vor sich hin und der Junge verdrehte wohlwollend die Augen – es war kein Wunder, dass sie so durch den Wind war. So war sie immer, wenn der Vater weg war; außerdem musste sie in einigen Tagen selbst nach Vialla, weil der Rat der Heiler ebenfalls tagte. Vermutlich würde sie aber dieses Mal wenigstens ihren Mann dort treffen, weil die Versammlungen der beiden Schamanenräte zufällig im selben Zeitraum lagen.

Karanas Zimmer war ein Chaos, wie immer, als Simu die Tür ohne zu klopfen öffnete und herein kam. Der Hund, Aar, sprang ihn sofort fröhlich an und wollte ihn ablecken, doch Simu war schlau genug, zurückzuweichen und das schwarze, zottige Tier zu beruhigen, ehe es ihn umwerfen konnte – in den zwei Jahren war der Hund gewaltig gewachsen. Aber obwohl er so einen wilden, gefährlichen Eindruck machte, musste man ihm lassen, dass er Karana aufs Wort gehorchte. Immer, ausnahmslos. Es war wirklich faszinierend zuzusehen, wenn Karana mit dem wuschigen Hund durch die Gegend zog – womit er sich schon diverse panische Schreie, schiefe Blicke und Getuschel eingefangen hatte, was weder ihn noch seinen Hund zu stören schien. In Thalurien war es ungewöhnlich, Tiere wie Hunde als Haustiere zu halten; man munkelte, Karana würde den Geist des Tieres kontrollieren und ihm seinen Willen aufzwingen, daraus folgten dann Gerüchte darüber, dass der Junge tatsächlich der Sohn eines Herrn der Geister mit gewaltiger Macht sein musste. Was Karana ziemlich gut gefiel und seinem Bruder und dem Rest der Familie nur Sorgen machte. Zu viel Lob bekam ihm nicht gut, er drehte immer so durch…

„Ist ja gut, Aar. Aus, los, mach Platz!“, empörte der Blonde sich und versuchte mit etwas Mühe, den hechelnden, fröhlichen Hund loszuwerden – von seinem Gemurre und Aars Bellen wachte Karana auf, der auf dem Bauch in seinem Bett lag und jetzt verpennt den Kopf aus dem Kissen hob.

„Was willst du denn?“, gähnte er dann und Simu schnaufte, während Aar endlich von ihm abließ und der Junge einen Blick auf seinen Bruder werfen konnte.

„Du fauler Sack, du schläfst den gesamten Vormittag, es gibt gleich Essen. Mutti hat mich geschickt, dich zu holen. – Aar, lass meine Hose in Frieden, verschwinde!“ Der Hund bellte und Karana ließ stöhnend einen Arm aus dem Bett hängen, um ihn nach dem Tier auszustrecken. Sofort kam es schwanzwedelnd zu ihm herüber und leckte seine Finger, worauf der Junge herzhaft gähnte.

„Hau ab, Simu, ich will pennen.“ Der Junge zog seinem Bruder unsanft die Decke vom Körper, worauf der sich jammernd zusammenzog wie ein Igel.

„Aufstehen, Mutti schimpft sonst! Was hast du gestern Nacht mit Tilan und Azan gemacht?“

„Wir haben zaubern geübt, was sonst? Das macht im Dunkeln viel mehr Spaß, da leuchtet alles…“ Der Blonde verdrehte die Augen.

„Du leuchtest auch gleich, und zwar in allen Farben, Mutti schlägt dich. Vati hat heute morgen, bevor er weggefahren ist, noch gesagt, er hätte gehört, wie du heim gekommen bist, weil du mit Aar geredet und auf der Treppe herum gestampft bist, er hat gesagt, er wäre beinahe aufgesprungen und hätte dir den Hals umgedreht.“ Da schreckte der Junge plötzlich aus dem Bett hoch und japste, sich hastig durch die Haare fahrend.

„Vati ist schon weg?! Oh nein, verdammt, ich wollte mich doch noch verabschieden! – Ach, Kacke… Alter, Simu, du elendiger Wurm, wieso hast du mich nicht eher geweckt?!“ Der Blonde starrte ihn lange schweigend an und Karana zischte und verengte die grünen Augen zu schmalen Schlitzen.

„Bist du schwanger? Oder was soll diese Wechselhaftigkeit?“ Darauf hatte Karana keine Antwort, er fauchte nur, sammelte dann seine Kleidung zusammen und zog sich meckernd an. Der Blonde hatte seinen Bruder gern… aber mitunter war er wirklich komisch. Im einen Moment ließ er den Tyrannen raushängen und wollte, dass alle krochen und seine Füße küssten, dann ganz plötzlich war das alles wie weggeblasen und er war mit einem Mal ein ganz anderer Mensch; der übrigens viel erträglicher war als der herrische Mistkerl, der er sonst war. Der Blonde fand das faszinierend und beunruhigend zugleich und fragte sich, ob seinen Eltern das eigentlich auch aufgefallen war.
 

Puran hatte keine Gedanken für seinen bockigen Erstgeborenen übrig, er war genug mit anderen Dingen beschäftigt, die ihn reizten. Unter anderem die alljährliche Hitze, die er wüst verfluchte, wie er es immer tat, während er aus der Kutsche die Treppen hinauf in den Palast eilte, in dem wie immer der Rat stattfinden würde. Und das früher als geplant, warum auch immer, was ihn im Übrigen auch etwas nervte. Da lagen der Rat seiner Frau und sein eigener einmal im selben Zeitraum und dann wurde die Versammlung der Geisterjäger nach vorne verschoben. Dabei hatte er sich schon darüber gefreut, einmal mit Leyya zusammen in Vialla sein zu können – so ein paar Nächte ohne Kinder und bellenden Hund würden so gut tun…

Obwohl er gleich im Morgengrauen abgefahren war, war es bereits schwül und heiß in der Stadt, als er ankam, und obwohl er vor der Mittagshitze gefahren war, klebten ihm die Kleider wie immer schweißnass am Körper, wofür er sie, sich selbst und den Sommer abermals verfluchte. Zum Glück hatte er für solche Situationen ja Untergebene im Rat, die er mit seiner schlechten Laune schikanieren konnte.

„Ich brate dich am Spieß, Neron Shai! Oh ja, das tue ich, und ich warne dich, wenn du mich noch einen Moment länger angrinst oder auch nur einen Gedanken daran verschwendest, dass ich scheiße aussehe!“, schimpfte er, als er seine Kollegen im Ratssaal des Palastes vorfand, wo Tare Kohdar sich genüsslich eine Zigarette ansteckte und Neron schon dabei war, allen Gläser zu füllen. Der Schwarzhaarige grinste und Saja und Henac Emo, die schweigend am Tisch saßen, machten blöde Gesichter.

„Ah, dir auch einen wunderschönen guten Tag, Herr Ratsführer!“, feixte Neron, „Komm, setz dich, entspann dich und ich geb dir ein Glas Wein, das hilft.“

„Bleib mir vom Leib mit deinem Wein!“, schnaufte Puran empört.

„Der ist aus Janami, nicht das Scheißzeug aus dem Süden, das ist richtig guter Wein.“

„Sag das doch gleich, dann ist gut. Aber nur ein halbes Glas, du weißt, ich werde peinlich, wenn ich zu viel trinke.“ Neron kicherte und der Ratsvorsteher ließ sich mürrisch auf seinen Platz am Kopf des Tisches fallen, ehe ihm ein halb gefülltes Weinglas hingeschoben wurde. Gut, dass Mittag inzwischen durch war – und vielleicht auch gut, dass Leyya nicht hier war, denn so früh am Tag Wein zu trinken widerstrebte ihm normalerweise.

„Was ist denn, warum schimpfst du eigentlich so?“, wollte Saja dann wissen, „Doch nicht wieder wegen der Hitze? Mensch, du stellst dich aber auch wirklich an, Puran.“

„Ach, nicht nur das!“, meckerte der Mann, hielt es aber für sinnvoll, nicht vor dem Rat über seine doch eher privaten Probleme wegen der Zeitverschiebung zu sprechen. Neron würde ihn nur auslachen, dieser Idiot. Darauf ansprechen musste er dennoch. „Was soll eigentlich die Verschiebung? Und wo steckt eigentlich Meoran?“ Er nippte an seinem Wein und die anderen sahen sich an.

„Wenn wir das wüssten.“, meldete sich Tare zu Wort, „Kippe, Puran?“ Der Jüngere nickte und der Herr des Feuerclans schob ihm seine Schachtel mit Tabak über den Tisch. „Aber das war Meorans Idee, soweit ich weiß.“

„Was denn?“, schnaufte Puran, „Dem werde ich aber was husten.“

„Vielleicht hat er Angst, nicht mehr lange genug zu leben, und will es deswegen vorher machen.“, grinste Henac Emo und erntete von allen böse Blicke. „Ach, seht ihn euch doch an, vermutlich ist es wirklich nur noch eine Frage der Zeit, bis er den Löffel ab-…“ Er kam nicht weiter und hielt mit Zigarette im Mund inne, als die Tür des Saals aufflog und der fragwürdige Grund für das Verschieben des Termins höchstpersönlich hereinkam, in Begleitung seiner bildschönen Tochter. Die anderen drehten sich auch zur Tür und Puran schluckte hastig alle bösen Sprüche für Emo herunter, als er seinen Lehrmeister und Saidah erblickte. So sehr er Emo auch verachtete und besonders seine Worte – sie waren vermutlich weniger unwahr, als sie alle sich wünschten.

Jedes Mal, wenn Puran seinen Freund und Meister nach einem Vierteljahr wiedersah, sah er fürchterlicher aus. Jedes Mal war er noch blasser, eingefallener und kränklicher, jedes Mal röchelte er mehr bei jedem Schritt, den er tat. Inzwischen hatte Meoran einen Gehstock, den er gekonnt als Statussymbol tarnte – aber jeder Blinde hätte gemerkt, dass der Geisterjäger seinen Stock noch mehr als Dasan Sagal wirklich als Stütze brauchte… ebenso wie seine schöne Tochter, die ihn am Arm festhielt. Wenigstens in dem Punkt war er einsichtig geworden – er war nicht mehr stark genug, um ohne Hilfe zurecht zu kommen. Und es musste seinen Stolz wirklich sehr ankratzen, sich so von seiner eigenen Tochter wie ein Greis umher führen lassen zu müssen… aber er war jedes Mal tapfer und schaffte es trotz seiner zunehmend heftigen Krankheit, deren Ursache offenbar kein Heiler bekämpfen konnte, nicht einmal Leyya, dem versammelten Rat ein flüchtiges Grinsen zu schenken, wobei sein linkes Auge wie immer ungesund nach außen schielte.

„Entschuldigt… wir sind etwas spät dran, mein Fehler. Ich hoffe, ihr wartet noch nicht zu lange…“

„Kein Problem, da du ja nur noch kriechen kannst, haben wir dafür Verständnis.“, sagte Emo leise, wurde aber überhört. Puran erhob sich.

„Meister.“, begrüßte er seinen alten Freund mit einem warmherzigen Lächeln, obwohl die Hitze ihn stresste, „Dann sind wir ja vollzählig. Wie geht es dir, Meoran?“ Der Ältere seufzte und sie umarmten einander kurz.

„Na ja, ich lebe noch, wie du siehst…“ Puran schenkte ihm ein kurzes Grinsen, ehe er sich Saidah widmete, während deren Vater mit Hilfe seines Gehstocks zum Tisch taumelte, um auch den Rest zu begrüßen – ausgenommen Emo, den alle ignorierten und der in aller Ruhe weiter rauchte.

„Ich sehe dich so selten, Saidahchen.“, seufzte der Herr der Geister und umarmte sie auch, ehe er sie kurz auf die Lippen küsste. „Du wirst jeden Tag hübscher.“

„Schleimer.“, tadelte sie ihn leise lachend, „Vor einigen Jahren hätte ich nackt auf dem Tisch getanzt, wenn du mich dafür so geküsst hättest.“

„Ich weiß… und ich tue es jetzt auch nur, weil ich weiß, dass ich keine Blicke mehr befürchten muss, die mir die Kleider vom Leib reißen… denk nichts Falsches von mir.“ Sie kicherte und beide setzten sich wieder zu den anderen an den Tisch, Saidah zu ihrem Vater, der gerade empört Nerons Wein und Tares Zigaretten ablehnte.

„Nein, nein, bitte, verschont mich, es sei denn, ihr wollt mich noch früher los werden.“, lachte er dabei, „Ich hätte nur gerne eine Tasse für meinen abscheulichen Tee. Er ist abscheulich, hilft aber gegen den Blutdruck; und das Rauchen habe ich auch aufgegeben, ohne Scheiß. Es war ein hartes Stück Arbeit, aber ich… brauche jede Zeit, die ich noch habe. Wer soll sonst meiner Tochter alles beibringen, das sie wissen muss, wenn sie einmal meinen Platz einnehmen wird?“ Saja, Puran und Tare Kohdar tauschten einen bedrückten Blick, Neron ließ sich nicht klein kriegen.

„Ach, nun jammere doch nicht so, als stündest du mit einem Fuß im Grab, Meoran.“, kicherte er aufmunternd, „Dann bist du ja wirklich zum Vorbild aller mutiert – kein Alkohol, kein Tabak, keine Frauen, meine Güte, du bist ein Heiliger.“ Er grinste blöd und Henac Emo pustete auf der anderen Tischseite den Rauch aus seinem Mund.

„Ja, sieh an, an wem du dir mal ein Beispiel nehmen solltest, du Säufer…“ Er grinste und Neron streckte ihm unbekümmert die Zunge heraus. Meoran räusperte sich und unterbrach das Gerede.

„Wie auch immer, es gibt einen Grund, warum ich… zu eurem Leidwesen, wie ich fürchte… die Sitzung verschieben lassen habe. Als ich neulich ohnehin aus geschäftlichen Gründen aus Minh-În hier war, habe ich den König gleich danach gefragt, ich hoffe, ich habe niemandem zu sehr die Pläne versaut. Es… geht um meine Tochter. Ich möchte, dass sie die Prüfung macht… sie ist reif genug dafür und es wird dringend Zeit, dass ich einen Vertreter im Rat bekomme.“

Darauf erntete der Mann stumme Blicke, selbst Neron Shai war plötzlich still. Puran wollte gerade etwas sagen, da fiel ihm Emo ins Wort.

„Saidah? Geisterjägerin? Jetzt schon? Wie alt ist sie noch gleich?“

„Dass das Alter kaum eine Rolle spielt, beweisen diverse Anwesende, oder?“, fragte Saja Shai verblüfft und sah dabei vor allem Puran und Tare Kohdar an, welcher ungeschlagen den Rekord hielt als jüngster Bestehender der Prüfung. Jetzt war er zwar nach Meoran der Älteste im Rat, aber das änderte nichts daran, dass er schon mit fünfzehn die Prüfung gemeistert hatte – im selben Jahr wie sein zwei Jahre älterer Bruder Barak. Und der amtierende Herr der Geister lag mit seinen siebzehn Jahren, mit denen er dem Rat beigetreten war, auch kaum dahinter.

„Ach, und deshalb sollten wir alle früher kommen? Wie clever von dir, wenn wir Saidah jetzt drei Tage auf Isolation schicken, ist sie pünktlich zum eigentlichen Ratstermin wieder da und da sicher keiner von uns Bock hätte, noch mal herzufahren, wird sicher keiner etwas dagegen haben…“, orakelte Tare Kohdar mit Blick auf den Ratsältesten, der darauf nur feixend grinste.

„Oh, du hast mich durchschaut…“

„Na ja, warum sollten wir auch dagegen sein?“, kicherte Neron und schenkte sich neuen Wein ein, „Mehr Frauen im Rat ist doch was Gutes!“ Er erntete einen Schlag auf den Kopf von seiner blonden Frau Saja.

„Ist gut, und ich freue mich dann auf Karana, mehr hübsche junge Männer im Rat, genau.“, sagte sie spöttisch und Puran hustete, während Neron Shai vor sich hin maulte und die anderen verstohlen kicherten.

„Soll das heißen, ich bin hässlich, Saja?“, jammerte ihr Gatte dann, und sie schnaubte ihn an.

„Potthässlich.“

„Dann hast du wohl einen sehr erlesenen Geschmack, meine Teuerste!“

„Wie auch immer…“, unterbrach Puran die beiden Meckerpötte, die ihre kleinen Zankereien für gewöhnlich nie ernst meinten. Er wandte sich Meoran zu und räusperte sich mit Blick auf Saidah.

„Bist du sicher, dass sie das jetzt machen soll, Meister?“ Meoran richtete sein eines Auge auf seine Tochter und nickte.

„Wir haben bereits darüber gesprochen, wir haben viel geübt in Minh-În. Sie wird dich nicht enttäuschen, Puran.“ Puran kam abermals nicht zu Wort, weil Emo ihn kichernd unterbrach.

„Sag mal, Meoran, während du das Gehen verlernst, hat deine Tochter neben dem Kinder gebären wohl auch das Sprechen verlernt? Kann sie nicht selbst für sich sprechen?“ Meoran senkte bedrohlich die Brauen.

„Halt den Mund, Emo, oder habe ich dich um deinen Senf gebeten?“

„Man wird ja wohl noch mal fragen dürfen, liebe Güte… was ist dir über die Leber gelaufen, Meoran?“, grinste der Jüngere, und Meoran zischte gefährlich.

„Um ehrlich zu sein möchte ich jedes Mal kotzen, wenn ich deine Visage nur sehen muss, und wenn du jetzt fragst, warum, nehme ich keine Rücksicht auf Verluste und springe dir an die Gurgel.“ Der Schwarzhaarige gluckste wenig beeindruckt.

„Ach, Meoran, du musst uns deinen Verlust doch nicht früher als ohnehin schon darbringen…“ Puran schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass alle verstummten und ihn anstarrten.

„Himmel, Puran. Keine Gewalt im Schloss, sonst kriegen wir Hausverbot!“, rief Neron, „Es wäre schade um den guten Braten, den es hier gibt…“

„Jetzt reicht es, verflucht!“, nörgelte der Ratsvorsteher, „Ja, Saidah, dann mache die Prüfung, natürlich lasse ich das zu. Wir fangen am besten sofort damit an, du wirst vermutlich von Meoran gehört haben, was auf dich zukommt?“

„Ja.“, sagte Saidah nickend und Emo warf theatralisch die Hände in die Luft.

„Ein Wunder, sie spricht!“ Meoran war drauf und dran, aufzubringen und ihn umzubringen, so fürchtete der Rest der Versammlung, als Saidah ihren Kopf drehte und den Schwarzhaarigen mit einem langen, kalten Blick bedachte.

„Noch freust du dich darüber, Spaltzüngler. Eines Tages wirst du vor mir kriechen und mich anflehen, nie wieder zu sprechen.“

Puran wusste nicht, worüber er sich mehr Sorgen machen sollte – dass sie so mit ihm sprach und ihn offenbar absichtlich provozierte, oder dass der ungeliebte Schattenmagier tatsächlich darauf den Mund hielt und sie ihr Duell stumm in Blicken weiter auszufechten schienen. Blicke, die Puran nicht verstehen konnte, weil die Geister ihn anschwiegen; aber es macht ihm Unbehagen und ließ einen eisigen Schauer über seinen Rücken fahren, der selbst die affige Hitze im Saal für einen Moment komplett verjagte.
 

Als Leyya drei Tage später für ihre eigene Ratsversammlung in die Reichshauptstadt kam, war sie verblüfft, ihren Mann im Palast anzutreffen und zu hören, dass der Rat der Geisterjäger noch gar nicht vorbei war.

„Wie, dann bleibst du ja doch noch in Vialla?“, fragte sie ihn verwirrt, als sie sich so auf dem Korridor getroffen hatten und einander intim umarmten. Er küsste ihren Hals herunter.

„Ich vermisse dich ganz schrecklich.“, stöhnte er dabei, „Ja, wir machen gleich Saidahs Prüfung, es ging deswegen drei Tage früher, damit sie noch für die Isolation weg kann. Das heißt, ja, ich habe jetzt drei Tage hier in Vialla herum gehockt, mich mit Nerons Wein besoffen und bin jetzt gerade wahnsinnig vor Lust auf dich, meine Hübsche. Zu dumm, dass wir bis heute Abend warten müssen.“ Sie errötete in seinen Armen und drückte sich mit einem leisen Seufzen an seine Brust.

„Saidah macht jetzt die Prüfung? Ach, wie aufregend – dann gibt es heute also den Kampf? Habt ihr schon gelost, wer es machen muss?“

„Nein, noch nicht, Tare hat alle Streichhölzer aufgebraucht, der Sack. Ich hoffe, es geht nicht zu viel kaputt, der König leiht uns extra seine Schlossgärten – ich habe ihn gewarnt, dass das nicht lustig ist, aber du kennst ja den König. Er war völlig aus dem Häuschen und will unbedingt zugucken und die Gärten könne man ja restaurieren…“ Leyya musste leise lachen, während sie immer noch in einem schattigen, etwas versteckten Winkel des Korridors standen und die Frau sich zärtlich an ihren Gemahl schmiegte.

„Der König hängt eben so an dir, Puran… wie so ein kleiner Bruder, denke ich manchmal, wenn er dich so anhimmelt.“

„Kleiner Bruder? Der ist doch viel älter als ich…“, gluckste ihr Mann, beugte sich herab und küsste sie innig, indem er sie an die kühle Wand hinter ihr drückte. Sie seufzte in den Kuss hinein und schlang die Arme um seinen Nacken, während sie ihr rechtes Knie leicht anhob und forschend gegen seinen Schritt rieb. Er keuchte und löste sich aus dem Kuss, um errötend den Gang hinunter zu spähen, ob jemand käme. „Himmel, du Luder, wir sind doch hier mitten auf dem Flur… und was wird aus deinem Heilerrat?“

„Nun.“, flüsterte sie verschwörerisch, „Ich denke, uns bleibt noch genügend Zeit für etwas kurzes zwischendurch… was meinst du, Liebster?“ Er hüstelte, sein Husten ging aber mehr in ein erregtes Stöhnen über, als sie ihr Knie erneut gegen seinen Schritt drückte und dann flink zwischen allen Umhängen und Kleidern, die sie trugen, hindurch mit einer Hand zum Verschluss seiner Hose wanderte. Er lehnte den Kopf in den Nacken und riss sich zusammen, um die Lautstärke gedämpft zu halten, während er sich hastig mit beiden Händen hinter ihr an der Wand abstützte, als ihre Finger in seine Hose glitten und sie begann, ihn auf so vertraute und erregende Art zu bearbeiten.

„Heute Nacht gehen wir in die Wohnung und machen es richtig.“, brummte er dabei und neigte das Gesicht zu ihrem, um sie verlangend zu küssen und damit zu verhindern, dass er lauter stöhnte, während sie ihn geschickt mit den Händen befriedigte. Sie waren beide geübt darin, so dauerte es kaum wenige Momente, bis er den Höhepunkt erreicht hatte und sie beide scheinbar unschuldig ihre Kleider wieder richteten, um hinter ihrer Säule hervor zu treten – und Puran erschrak beinahe zu Tode, als plötzlich wie aus dem Nichts der König höchstpersönlich mitten auf dem Gang stand und ihn freudig anstrahlte. Leyya erstarrte ebenfalls, als der Monarch aufgeregt wie ein kleines Kind mit der Hand nach Osten wedelte.

„Da seid Ihr ja, ich kam gerade hinauf und dachte, ich schaue mal nach Euch, Herr! – Wie ich sehe, ähm, ist Eure Gemahlin auch schon hier, willkommen.“ Leyyas Gesicht nahm die Farbe einer überreifen Tomate an, während Puran erbleichte. Moment, hatte der König etwa gehört, wie sie…? Er räusperte sich schnell und bemühte sich, Worte zu finden, um von diesem peinlichen Moment abzulenken.

„Ja, äh – Eure Majestät, verzeiht bitte, ich, ähm… habe gar nicht gemerkt, dass Ihr gerufen habt.“ Der König lächelte erfreut.

„Habe ich ja auch nicht, keine Sorge. Weshalb ich kam – die Tochter des Botschafters ist zurückgekommen, Eure Kollegen versammeln sich jetzt im Garten. Ich habe Tee bringen lassen und Kaffee, und die Feuerwehr, zur Sicherheit. Das wird sicherlich aufregend, Herr.“ Puran grinste gekonnt und verdrängte die Verlegenheit, während seine Frau sich mit einem höflichen Lächeln verneigte.

„Sehr gut, dann sollte ich wohl auch hinunter gehen. Ich danke Euch demütigste, Majestät. Leyya, geh jetzt besser zu deinen Heilern, die weinen sonst. – Majestät.“ Er verneigte sich auch und der König machte eine lässige Handbewegung.

„Himmel, Herr, ich bitte Euch. Ihr seid vermutlich der einzige Mann hier, der sich erlauben kann, sich nicht vor mir zu verneigen. – Sagt das besser nicht weiter. Aber, ganz unter uns, Herr…“ Er räusperte sich jetzt sehr kleinlaut, linste hinab und beugte sich dann zu Puran herüber, der ihn um ein großes Stück überragte, „Vielleicht solltet Ihr Euren Gürtel zu binden, bevor wir gehen.“
 

Saidahs Gegnerin im Prüfungskampf war Nerons Frau Saja. Das war unterhaltsam – dass eine Frau so einen Kampf bestritt, war schon sehr selten – vor Saja war Nalani die einzige Frau im Rat gewesen – aber dass zwei Frauen gegeneinander kämpften, hatte bisher niemand erlebt. Und während der sagenhafte Kampf zweier weiblicher Geisterjäger (wobei eine noch keine wirkliche war) im Garten lief, saßen die Männer guter Laune am Rand außerhalb der Schussweite – so hofften sie, tranken einen weiteren guten Wein aus Janami (den dieses Mal Meoran gestiftet hatte, obwohl er selbst nur Wasser trank) und amüsierten sich. Ausgenommen Puran, der als Herr der Geister den Schiedsrichter spielen musste, sofern keiner seiner unmittelbaren Verwandten am Kampf beteiligt war. Als Leyya gemeinsam mit ein paar ihrer Heilerkollegen nach ihrer Versammlung dazu stieß, war schon beinahe alles vorüber.

„Leyyachen!“, wurde die kleine Frau fröhlich von Neron begrüßt, der etwas angeheitert gackerte, „Du hast den Zickenkrieg fast verpasst, lange geht das bestimmt nicht mehr!“ Dann stieß er Meoran kameradschaftlich an, der darauf fast umgefallen wäre und entrüstet keuchte, als er sich gerade noch auf seinen Gehstock stützen konnte. „Sie is’ gut, deine Kleine, Meoran, weißt’e? Na ja, an sich ja kein Wunder, wir wissen ja, wo sie herkommt.“

„Du könntest wirklich seriöser bei der Sache sein, warum betrinkst du dich, wenn deine eigene Frau sich abrackert, du Unhold?“, tadelte ihn Tare Kohdar grinsend und zog ihn am Kragen, „Lass Meoran stehen, Mann. Kippe? Komm, ich geb dir Feuer, Alter.“

„Na ja, ich würde mich auch eher betrinken als mit ansehen zu müssen, wie meine Frau von einer Jüngeren geschlachtet wird.“, meinte Henac Emo amüsiert und kicherte, „Eins muss man dir lassen, Meoran. Du hast zwar nur eine Tochter gezeugt, aber sie hat es faustdick hinter den Ohren.“

„Damit habe ich immer noch eine Tochter mehr gezeugt als du.“, entgegnete der Ältere und hob sein Wasserglas, „Wenn dir Familie egal ist und du lieber die Weltherrschaft anstrebst, deine Sache, aber dann bewerte nicht andere Männer danach, wie viele Söhne sie gezeugt haben, das ist irgendwie unpassend.“

„Gut, ich werde es mir merken, Väterchen. Und was heißt hier Weltherrschaft?“ Der Schwarzhaarige sah zu Puran herüber, „Er ist doch hier der allerbeste Lieblingsfreund des Königs von Kisara. Ernsthaft, wie macht er das? Ich hätte ihn wirklich für treu seiner Frau gegenüber gehalten.“ Meoran schnaubte.

„Nicht jeder springt hier mit demjenigen ins Bett, von dem er die beste Stellung zu erwarten hat. – Verdammt, das mit der Stellung war zweideutig. Ich rede von Ansehen, Emo, du weißt das.“ Emo gackerte los.

„Aah, ja, aber du und dein schwules Kindermädchen.“

„Wie ich sagte, nicht jeder ist so gepolt wie du, Emo.“ Er schenkte dem ungeliebten Kollegen einen scharfen Blick. „Liegst du eigentlich auch mal oben oder nimmt Scharan dich immer nur durch?“ Er bekam keine Antwort – und hatte auch nicht wirklich eine gewollt – weil in dem Moment ein Donnern aus dem Himmel ihre Aufmerksamkeit nach vorne riss. In dem Moment hatte Saidah ihre Arme in den Himmel gerissen und mit Hilfe einer einzigen Kondorfeder alle elementaren Zauber ihrer Gegnerin im Nichts zerschmettert. Saja strauchelte und ehe sie hätte fallen können, war die Jüngere über ihr und die blonde Frau hatte jäh die Feder am Hals, worauf sie japste und ihre Waffe ebenfalls empor riss, sie der Jüngeren an die Kehle pressend. Stille kehrte über den Schlossgärten ein, als beide Frauen einander kurz schweigend anstarrten, dann erhob Puran das Wort und eine Hand.

„Ist gut, ich denke, das reicht langsam. Wenn ihr noch lange so weiter macht, seid ihr erschossen, ich denke, wir belassen es bei einem Unentschieden. Das heißt, Saidah hat die Prüfung bestanden und ist hiermit in den Rat aufgenommen.“ Es folgte eine weitere Stille und dann ein Grummeln aus dem bewölkten Himmel, als die gerufenen Gewitterwolken wieder verblassten und sich wieder Sonnenschein ausbreitete. Saja taumelte und stürzte zu Boden, die Waffe fallen lassend, während Saidah ihre Feder sinken ließ und sich vor dem Rest des Rates verneigte, ebenfalls sichtlich aus der Puste dank der vorangegangenen Aktion.

„Hurra, ein neues Ratsmitglied!“, freute sich Neron dann schon und schwenkte sein leeres Glas, „Applaus für Saidah!“ Die anderen jubelten, ebenso der König, der mit seiner Leibgarde und einigen anderen Schaulustigen auch dabei war, und Puran seufzte und raufte sich die Haare. Seine Frau kam strahlend zu ihm herüber und hängte sich an seinen Hals.

„Mist, ich habe das Beste verpasst – aber sie hat es geschafft! Ist das nicht toll?“, freute sie sich, und er gluckste und umarmte Leyya flüchtig, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und seufzte erneut.

„Ach, ich wäre bitter enttäuscht gewesen, wenn sie es nicht hätte! Hör mal, sie ist die Erbin des Chimalis-Clans. Himmel, hat das gedauert. Saidah und Saja waren einander wirklich überraschend ebenbürtig. Und gegen Saja zu kämpfen ist extremst mühsam, du erinnerst dich sicher noch an den letzten armen Schlucker, der letztes Jahr versucht hat, die Prüfung zu meistern, und kläglich an ihr gescheitert ist…“ Leyya musste lachen.

„Ja, der hatte es nicht leicht. Was passiert eigentlich, wenn man es nicht schafft? Darf man es dann einfach noch mal probieren?“

„Klar.“, machte ihr Mann, während die beiden Frauen jetzt zu den anderen stießen und Saidah von den meisten überschwänglich beglückwünscht wurde. „Nur sind die meisten demotiviert genug, es zeitlebens sein zu lassen, oder sie versuchen es in Janami. Wir sind ja nicht der einzige Rat von Schwarzmagiern… der Rat in Kisara gilt nur als der mächtigste und beste im Zentrum. Das heißt, wer es hier nicht schafft, versucht es in Janami, die haben auch einen Rat, sozusagen die zweite Klasse, aber immer noch gut genug, um Ansehen zu erlangen, wenn du als Schwarzmagier irgendetwas zu sagen haben willst. Die Leute in Janami sind ziemlich gut, musst du wissen.“ Er lächelte, küsste ihre andere Wange und schob sich dann mit ihr in Richtung der Traube, die sich bei den anderen gebildet hatte. „Komm, wir sollten auch mal ein Wörtchen sagen, denkst du nicht? Es gibt was zu feiern, das ist doch mal was.“
 

Es war immer wieder gut, dass Puran und der König sich so gut verstanden, fanden alle, als sie am Abend die kleine Feier für Saidahs Eintritt in den Rat im Schloss abhielten. Als Ratsvorsteher musste Puran eine kleine Rede halten, um das neue Mitglied willkommen zu heißen – eine Arbeit, bei der er wesentlich seriöser herüberkam als sein Vater seinerzeit – ehe die junge Frau einen eigenen Umhang und einen Anstecker bekam. Der aufgeregte kleine König hatte für genügend Essen und Getränke gesorgt; lange dauerte es nicht, bis Saja Shai ihren völlig betrunkenen Mann meckernd und murrend aus dem Raum schob.

„Ich gehe nie wieder mit dir auf eine Feier, Neron!“, zeterte sie, indem sie ihn weg schob, „Wir fahren jetzt heim nach Skelrod! Und elender Saufbold, Himmel noch mal!“

„Er sollte auch zu Wasser übergehen.“, seufzte Meoran, der in einer Ecke des Salons in einem gepolsterten Sessel saß, „Wirklich, ich hätte das auch früher tun sollen.“ Seine Tochter, die neben dem Sessel am Boden hockte, musste leise lachen und tätschelte seinen Arm.

„Ja, du bist ein gutes Vorbild, Vati.“

„Na ja, zumindest jetzt, auf den letzten Drücker. Vergib mir, Saidah… ich war dir an sich nie ein gutes Vorbild. Statt dir ein guter Vater zu sein, habe ich immer nach deiner Mutter gejammert… ach, sie ist so stolz auf ihr großes Mädchen. Vorhin, als ich dir zugesehen habe, hatte ich das Gefühl… sie stünde hinter mir und würde mir ins Ohr flüstern, wie stolz sie ist.“ Saidah hielt neben ihm inne, als er sein Wasserglas austrank, dann zu husten anfing und am Kragen seiner Uniform zu nesteln begann. „Ach, verdammt, dieser Kragen ist immer so grausam eng! Oder ich werde langsam fett…“ Saidah half ihm und öffnete den Knopf am Kragen, während er weiter hustete und bebend die Hand an seine Brust presste.

„Sprich nicht so.“, wisperte sie, „Du warst mir immer ein guter Vater. Shht, entspann dich, bitte. Hast du Schmerzen?“

„Das Übliche.“, seufzte er und sie sah auf seine zitternden Hände, ehe sie sich vorsichtig aufrichtete. Besorgt fasste sie ihm auch auf die Brust und zog die Stirn in Falten.

„Ich mache dir besser noch einen Misteltee… dein Herz schlägt so ungesund schnell, das macht mir Angst.“

„Ach, bitte.“, stöhnte ihr Vater und lehnte den Kopf zurück, als sie schon dabei war, zu gehen, „Ich hasse diesen Tee. Er schmeckt scheußlich! Ach, was gäbe ich jetzt für ein gutes Glas Wein? – Vergib mir, dass du meinetwegen Mühe hast, Saidah.“ Sie lächelte ihn müde an.

„Ach was, Mühe. Im Gegensatz zu dir strengt es mich nicht an, zu gehen oder zu sprechen… ruh dich aus. Wir fahren auch bald heim, der Weg ist lang.“ Sie eilte hinaus, um einem Diener aufzutragen, Tee zu kochen, und als sie weg war, richtete Meoran sich in seinem Sessel etwas auf und verlangte nach Puran, der mit Tare Kohdar Zigaretten gedreht hatte.

„Ach, Meister!“, kam es wehmütig von seinem besten Freund, „Du sitzt hier so kränklich herum, ich komme mir immer so ungerecht vor, weil ich nicht deine Probleme habe. Wo ist Saidah?“

„Sie lässt Tee machen. Und guck mich nicht so treudoof an, Puran, das ist irgendwie demütigend, wenn man weiß, dass einen alle bemitleiden. Der Fürst in Minh-În kann das auch sehr gut, ich würde ihn jedes Mal gerne mit meinem Statussymbol verprügeln, wenn er so guckt!“ Er tätschelte seinen verzierten Gehstock und grinste schräg, während Puran sich beschämt räusperte.

„Vergib mir, ich hab es nicht böse gemeint…“

„Ich weiß doch. Hör mir zu. Bitte, hör einfach nur zu. Wenn du mich unterbrichst, verprügele ich dich mit dem Stock. – Der nächste Rat ist erst in drei Monden. Das ist eine lange Zeit, und ich habe schon eine lange Zeit gelebt, Puran. Wir beide wissen das. Wenn mir etwas zustößt… bitte pass ein bisschen auf Saidah auf. Sie ist erwachsen und braucht keinen Vater mehr, das weiß ich… aber sie ist alles, was ich habe, sie ist mein ganzer Stolz und meine ganze Liebe gehört ihr. Es würde mich so grämen, wenn ich einst nicht mehr auf sie aufpassen kann, nicht zu wissen, was aus ihr wird. Ich verlange nicht… dass du sie bemutterst oder bei dir aufnimmst, das würde sie auch nicht wollen. Aber bitte sprich mit ihr und… zeig ihr, dass du für sie da bist. Bitte sag nichts, Puran… ich bitte dich wirklich. Du spürst es, tief in deinem Inneren, genau wie ich es seit langem spüre, dass ich… nicht ewig hier sein werde. Saidah… wird meinen Platz im Rat vermutlich bald ganz übernehmen, damit auch den Posten des Lehrmeisters. Sie muss tapfer sein, es ist viel verlangt von ihr, das weiß ich. Ich komme mir schäbig vor, dich um so viel zu bitten… wo ich dir gar nichts zu bieten habe, Puran. Du hast dir… meinen größten Respekt verdient, und ich respektiere nicht schnell Menschen. Und es erfüllt… mich mit so viel Stolz, wenn ich jemandem sagen kann, dass ich es war, der dich ausgebildet hat, als du noch ein dummer, kiffender Junge warst.“ Der Mann schmunzelte, während sein Gegenüber ihn erbleichend anstarrte und die Hände unmerklich zu verkrampften Fäusten ballte, sich schwer zusammenreißend, um nicht zu sprechen. „Ja, und jetzt sieh dich an. Was für ein Mann bist du geworden… ich habe deinen Vater immer sehr gemocht, deswegen kommt es mir barbarisch vor, so zu denken, aber in den vergangenen zwölf Jahren habe ich mit jedem Mal, das ich dich traf, mehr geglaubt, du seist… der Sohn, den ich nie gehabt habe. Ein Sohn, auf den ich stolz bin, Puran… du weißt das.“ Jetzt schwieg er und der Herr der Geister senkte zitternd den Kopf, bis ihm die Haare wirr ins Gesicht fielen. Der Tag war lang gewesen; seine mühevoll gewachsten Haare begannen langsam, sich zu dem wuscheligen Wirrwarr aufzulösen, das sie eigentlich waren.

„Ich weiß… was du meinst. Mir geht es genauso… nachdem mein Vater gestorben ist, bist du mir so wichtig geworden, wie… es nur ein Vater sein könnte.“ Er rang mit sich, um weiter zu sprechen. Er wollte empört schreien, er sollte nicht so reden; er würde doch noch leben und würde das auch noch lange tun, es gäbe keinerlei Grund, so eine dramatische Rede zu halten.

Aber er wusste genauso gut wie sein Meister, dass es gelogen gewesen wäre, so zu sprechen. Meoran war schwer krank, und das schon lange. Dass er die nächsten drei Monde noch überlebte, war wirklich vermutlich reines Wunschdenken… aber der Gedanke an das Gegenteil war so grauenhaft und schmerzte so sehr, dass Puran ihn einfach nur verdrängen und wegschließen wollte.

Aber er musste jetzt etwas sagen… etwas sagen und damit den Wunsch seines zweiten Vaters akzeptieren. Er holte tief Luft und war empört über sich selbst, als aus seiner Kehle nur ein wässriges Piepsen kam, das nur allzu deutlich seine schmerzhaften Gedanken verriet, egal, wie sehr er sich um Fassung bemühte.

„Ich… werde mich um deine Tochter kümmern, als wäre sie meine eigene. Ich verspreche es dir, Meoran.“ Er erhob sich zitternd, als er aus dem Augenwinkel besagte Tochter mit Tee wieder herein kommen sah, und Meoran räusperte sich mit einem flüchtigen Lächeln.

„Puran – warte.“ Der Jüngere drehte noch einmal das Gesicht zu ihm und unterdrückte mit aller Macht die Tränen, die ihm schon schmerzhaft im Halse steckten. „Ich gebe dir einen Rat, mein Junge. Heul nicht andauernd.“ Der Senator zwang sich zu einem Lächeln und verneigte sich.

„Ich werde mir die größte Mühe geben… das verspreche ich auch.“
 

„Was hast du dem armen Puran erzählt, während ich vorhin Tee gekocht habe?“, fragte Saidah ihren Vater amüsiert und lächelte, als sie in der Nacht gemeinsam in der Kutsche saßen, die sie zur Grenze von Janami bringen sollte. Dort würden sie die Kutsche wechseln und mit einem janamischen Kutscher weiter nach Minh-În fahren. Der Weg war weit, sie würden sehr lange unterwegs sein und Saidah hasste die langen Kutschfahrten. Irgendwann tat einem der Hintern weh vom vielen Sitzen und die Sitzbänke in den Kutschen waren nie sonderlich bequem. Selbst dann nicht, wenn sie vom König Kisaras persönlich gestellt wurden.

Die Nacht war sicher schon halb herum, dachte die junge Frau, als sie die Beine überschlug und hinaus spähte. Der Morgen würde längst da sein, ehe sie die Grenze erreichten.

„Was?“, riss ihr Vater sie aus ihren Gedanken, der etwas langsam auf ihre Frage reagierte und jetzt den Kopf drehte. „Wie, Puran?“

„Er sah so mitgenommen aus, als ich wiederkam, so, als hättest du ihm irgendetwas Gemeines gesagt. Irgendwie war er den Rest des Abends so neben sich, muss ja was Furchtbares gewesen sein.“ Sie gluckste und Meoran lächelte flüchtig, während er sich mit einem tiefen Seufzen zurücklehnte.

„Ich habe ihm gesagt, er solle sich zusammenreißen und nicht immer flennen.“, erwiderte er dann, „Vielleicht hab ich ihn damit unabsichtlich verletzt. Aber es täte ihm wirklich besser, er lässt sich für seinen Beruf einfach viel zu schnell aus der Bahn werfen von seinen Emotionen, Das Problem hatte er schon immer… das hat er von seinem Vater. Tabari war auch eine ziemliche Mimose mitunter.“ Seine Tochter sagte nichts und lächelte ebenfalls.

„Du solltest etwas schlafen, wenn du kannst, Vater. Wir fahren noch lange… wir müssten gleich bei den Stadttoren sein.“ Meoran drehte schweigend den Kopf zum Fenster der Kutsche und sah eine kurze Weile hinaus. Als er sprach, war seine Stimme belegt von einer seltsamen Apathie, die Saidah stutzig machte und sich aufrichten ließ.

„Der Schatten… wird über das Reich kommen. Ich kann es… in jedem Knochen spüren, es sind nicht nur die Gerüchte aus Fann, die sagen, die Bosheit regt sich im Land der blutigen Sonne. Wenn es… soweit ist, Saidah… ist das der Vorbote vom Ende der Welt. Merke es dir gut… es ist wichtig.“ Sie starrte ihn an.

„W-was sagst du? Wovon redest du?“

Es war in dem Moment, dass sie den Schatten selbst spüren konnte. Er kroch ihr wie eine furchteinflößende Kälte und schnürte ihr die Kehle zu, als sie keuchend die Augen weitete und die Himmelsgeister in ihrem Kopf wispern hörte. Sie wisperten von Schicksal… es war ein böses, lauerndes Zischen, das sie vernahm, das Zischen des Seelenfängers, der kam, um die Seelen der Lebenden ins Reich der Geister zu bringen.

„Ich habe oft davon geträumt, Saidah…“, murmelte ihr Vater da und sah sie verklärt an, sein Auge richtete sich nicht wirklich auf sie, sondern blickte durch sie hindurch auf etwas anderes. „Vom Schatten, der die Welt mit Flammen und Tod verschlingen wird… dein Schicksal liegt… im Schatten…“ Dann klärte sich sein Blick etwas und er sah sie direkt an… für einen kurzen Moment, in dem die Kutsche dahin nach Osten rollte. Und Saidah hielt die Luft an und starrte nur in seine dunklen Augen, in der Dunkelheit der Nacht nicht viel mehr als seine vom Mondlicht erleuchtete, bleiche Gestalt erkennend. In ihr zog sich etwas zusammen und löste die Angst in ihr aus, als er plötzlich zusammenzuckte und sich heftig keuchend an die Brust fasste. „S-sag… mir noch einmal meinen Namen… ein letztes Mal.“

„Vater?!“, japste seine Tochter panisch und fasste nach seinen Wangen, als er abermals zusammenfuhr und plötzlich schrie, die Hand fester gegen seine Brust pressend und dabei nach vorne kippend. Er schnappte hustend nach Luft und Saidah schrie auf. „Um Himmels Willen! ANHALTEN, SOFORT ANHALTEN!“ Als der Kutscher vorne hastig bremste und panisch fragte, was passiert sei, japste Meoran erneut und starrte durch Saidah hindurch, als sie ihn panisch wimmernd wieder hoch zog und sein Gesicht zu sich drehte.

Entsetzenderweise lächelte er verzerrt.

„Sag… meinen Namen… meine liebe Ruja…“
 

Puran wurde das üble Gefühl nicht los, das er seit dem Abend mit sich herum schleppte, seit Meoran mit ihm gesprochen hatte. Der Gedanke an seinen Tod war fürchterlich… er versuchte den ganzen Abend, es zu verdrängen, sich abzulenken und an irgendetwas anderes zu denken, aber immer wieder kamen die unheilvollen Worte zurück in seinen Geist.

„Pass auf meine Tochter auf.“

Der Schatten, der sich seiner bemächtigte, war zu groß für ihn, das spürte Puran ganz deutlich, als er nach der Feier beim König zusammen mit seiner Frau in die kleine Wohnung im Beamtenviertel kam, wo sie noch eine Nacht verbringen würden, ehe sie zurück nach Lorana kehrten. Nicht einmal das konnte ihn wirklich beruhigen… das beste Zeichen dafür, dass der Schatten zu stark war.

Er hatte panische Angst, die ihn aufwühlte… weil er das Gefühl nicht los wurde, dass die Geister ihm unschöne Dinge zu sagen hatten. Er hätte sich ohrfeigen können für seine andauernde Ohnmacht, seine Unfähigkeit, den Geistern einfach ins Gesicht zu sehen und zu akzeptieren, was sie sagen würden. Unruhig murrend schob er seine Frau verstört ein wenig zur Seite und schnappte nach Luft, worauf sie ihn schnaubend ansah.

„Himmel, was ist eigentlich los mit dir?“, beschwerte sie sich, „Wieso bist du denn so aufgewühlt…? Ist irgendwas nicht in Ordnung?“ Sie saß breitbeinig auf seinen Oberschenkeln mit nicht mehr an als ihrer Spitzenunterwäsche (die sie extra für diese eine Nacht fern von allen Kindern angezogen hatte) und schenkte seinem Unterleib, den sie gerade noch fleißig zu motivieren versucht hatte, einen schüchternen Blick. Puran stöhnte.

„Tut mir leid, Liebes, ich… fürchte, ich… kann heute nicht…“

„Ja, das sehe ich.“, seufzte sie schmollend, „Was ist los?“ Er stöhnte nur wieder und strich ihr entschuldigend über die Oberschenkel, bevor sie sich von ihm erhob und er sich im Bett aufsetzte, sich die zerzausten Haare raufte und seine Hose wieder zu knöpfte.

„Schatten.“, war alles was er sagte und Leyya weitete in stummem Entsetzen die Augen bei seiner Abgeschlagenheit. Sie spürte, dass es etwas sehr Ernstes sein musste, wenn er so knapp sprach…

Sie kam nicht dazu, weiter zu denken, denn in diesem Moment sprang ihr Mann plötzlich, die Hose jetzt zu, wie gestochen vom Bett auf und japste panisch – in dem einen Moment spürte selbst sie als Heilerin das Unheil, das die Geister verbreiteten. Die dunkle Ahnung, dass etwas Schlimmes geschehen würde –

Einen Augenblick später hämmerte es plötzlich wie wild an der Wohnungstür. Jemand schrie panisch um Hilfe und hämmerte und schlug gegen die Tür, als gäbe es kein Morgen. Als Puran zur Tür hechtete, hätte die Person, die davor stand, ihm beinahe ins Gesicht geschlagen. Sie beherrschte sich gerade noch und Leyya zog rasch ihr Nachthemd über, ehe sie dazu eilte. Sie schnappte nach Luft.

„Saidah?! W-was machst du denn hier?“

Eigentlich war keine Antwort nötig – sie war aus dem Gesicht der jungen Frau zu lesen, sie heulend und schreiend an Purans Schultern rüttelte, ergriffen von Frucht und einem fürchterlichen, seelischen Schmerz.

„Puran!“ wimmerte sie und brach ohne ein Halten in Tränen aus, ohne auch nur ein weiteres Wort heraus zu bringen, und der Geisterjäger wusste keine andere Lösung, als sie reflexartig in seine Arme zu ziehen und davor zu bewahren, dass sie zusammenbrach. „Um Himmels Willen, d-du bist da… Himmel sei Dank bist du da… i-ich weiß nicht, was ich tun soll…“

„Was ist passiert?“, krächzte der Mann und war verwundert, überhaupt Stimme zu haben – Er wusste genau, was passiert war. Er hatte es gewusst in dem Moment, in dem er Saidahs vor Gram und Panik verzerrtes Gesicht gesehen hatte.

In dem Augenblick, in dem die Geister in seinem Inneren verstummt waren und der Schatten sich über ihn legten, bereit, ihn niemals wieder frei zu lassen. Er sah Leyya im Hintergrund zusammensinken, als Saidah sprach.

„M-mein Vater ist gerade gestorben…“
 

Puran war überrascht, dass er noch stehen konnte. Dass er noch atmete und nicht einfach umfiel, genauso tot, nachdem er diese Nachricht erhalten hatte. Es war eigentlich nicht so, dass er es nicht geahnt hätte. Aber gerade das machte es noch schlimmer… das Gefühl, genau zu wissen, was das Gegenüber gleich sagen würde – und dennoch innerlich so fest zu hoffen, dass es etwas anderes zu sagen hätte.

Falsch gehofft.

Er ignorierte das Gelächter der zischenden Geister, als er sich an Saidah vorbei aus der Wohnung drängelte, in die Dunkelheit des Hofes. Er ignorierte seine Frau, die am Boden zusammengebrochen war und sich die Seele aus dem Leib zu schreien schien. Alles, was ihm durch den Kopf ging in diesem einen, leeren Moment, war die Nachricht.

Meoran ist tot.

Er brauchte eine ziemliche Weile, bis er sich gesammelt hatte, nach Luft schnappte und sich zitternd wieder zu Saidah herum drehte, die so verloren und wimmernd im Türrahmen stand und ihn fassungslos anstarrte.

Kümmere dich um meine Tochter, hatte Meoran gesagt. Und da stand sie, hilflos und ohne den Hauch einer Ahnung, was sie machen sollte… Puran wimmerte ebenfalls und überwand den Abstand zwischen ihnen wieder, um sie in seine Arme zu schließen. Saidah fing an seine Brust gepresst hemmungslos zu weinen an.

„W-wie… ist das passiert? Gerade eben?“, brachte der Senator gepresst heraus, indem er sich an den Türrahmen lehnte, versuchte, das Weinen noch so lange zurückzuhalten, bis er der armen Saidah etwas Halt hatte geben können… sie war viel ärmer dran als er. Es war ihr Vater gewesen… der einzige aus ihrer Familie, der ihr geblieben war. Die junge Frau kam nicht zum Sprechen und Puran sah es ihr nach. Er sah aus dem Augenwinkel die arme Leyya, die krampfhaft versuchte, sich aufzurappeln. „Wo ist er, Saidah?“

„I-in… der Kutsche, ich… es ist… einfach passiert, sein… Herz hat ganz plötzlich aufgehört… zu schlagen… ich habe den Kutscher s-sofort… u-umdrehen lassen, ich… ich weiß nicht, was ich machen soll, i-ich kann doch so nicht heim fahren… d-das passiert doch nicht einfach! Mitten auf der Fahrt und-… i-ich… kann nicht fassen, dass das… passiert… ich… fühle mich wie in einem bösen, furchtbaren Traum…“ Puran jammerte schmerzhaft und drückte sie fester an seine Brust.

„Es ist kein Traum… ich wünschte, es wäre einer. Aber du wirst… n-nicht aufwachen… ich weiß… wie das ist, seinen Vater zu verlieren. Glaub mir… es… es tut mir so leid…“
 

Er war unfähig. Er konnte nichts zu ihr sagen, das ihr geholfen hätte… er kam erst später zu dem Entschluss, dass es auch nichts gab, das ihr geholfen hätte. Keine Worte konnten Meoran wieder zurück ins Leben rufen… keine Umarmung konnte den Schmerz aus Saidahs Seele verbannen, kein Tut mir leid, keine Versprechen, zu helfen, für sie da zu sein, was auch immer… Puran selbst hatte das auch nicht geholfen, als seine Eltern gestorben waren. Er erinnerte sich mit Grauen an die Zeit zurück, die er so gut überwunden hatte… jetzt ging es erneut los.

Der Senator konnte die Leiche schlecht über Nacht in seiner Wohnung lassen, die einzige andere Lösung, die ihm kam, war der Palast; während er die beiden Frauen im Beamtenviertel zurückließ, ließ er sich von der Kutsche, die eigentlich nach Janami hätte fahren sollen, zurück zum Palast bringen. Sein Lehrmeister sah ganz unversehrt aus, wie er noch zurückgelehnt in der Kutsche saß, in der er gestorben war. Es war, wie Saidah gesagt hatte, es musste das schwache, kranke Herz gewesen sein, das jetzt aufgegeben hatte, nicht mehr bereit, länger zu kämpfen. Das Gesicht des Mannes war erstarrt, es zierte aber ein flüchtiges Lächeln, wie Puran im Dunkeln erkannte, während er mit der Leiche zurück zum Schloss fuhr.

„Niemand verübelt dir das, mein alter Freund…“, flüsterte er dabei dumpf und unterdrückte mit aller Macht das Zittern, während er eine Hand hob und Meoran über die Haare strich. „Du bist… jetzt die scheußliche Krankheit los. Und du hast… endlich deine geliebte Ruja zurück… deswegen lächelst du, nicht wahr, Meister?“ Er zwang sich zu einem Lächeln, spürte aber bereits den quälenden Schmerz in seiner Kehle, weil die Trauer so groß war, dass jedes noch so bittere Lächeln sich falsch anfühlte. „Es… es tut mir so leid…“, stammelte er dann und schnappte nach Luft, ehe er auf der Bank der Kutsche neben seinem Freund zusammenbrach und die Trauer ihn übermannte, „Ich – ich kann mein Versprechen nicht halten, nicht mehr zu heulen, verdammt! Du fehlst mir so schrecklich… es zerreißt mir… so dermaßen das Herz, dich niemals… niemals wieder sprechen hören zu können… ich kann… das nicht, Meoran. Bitte vergib mir… ich bin nicht… stark genug dafür… du hättest mir… da mehr Zeit mit lassen sollen…“ Es war nicht wirklich ein Vorwurf. Er hatte keine Vorwürfe, die er seinem Meister hätte machen können… er war immer gut zu ihm gewesen. Der Gedanke schmerzte und fühlte sich scheußlich an, dass er es niemals wieder sein würde… wie sehr wünschte Puran sich, sein Freund würde jetzt aufwachen und antworten? Ihm grinsend erzählen, er hätte doch bloß geschlafen… auch, wenn das ein wahrlich makaberer Scherz gewesen wäre, die Erleichterung darüber, dass er lebte, wäre so viel größer gewesen als es jede Wut jemals sein könnte.

Aber er wachte nicht auf. Er würde nie wieder aufwachen… und Puran auch nicht, um festzustellen, dass er nur geträumt hatte. Für einen Traum war das Zischen der Geister zu leise… sie waren komplett verstummt. Es war einer der seltenen Momente, in denen Puran sich wünschte, sie würden sprechen und wenigstens so tun, als würden sie ihn trösten wollen…
 

Der König war entsetzt, ebenso die übrigen Geisterjäger (mit Ausnahme von Emo, den niemand kontaktieren wollte), die als nächstes Nachricht von Meorans Tod erhielten. Wenn jemand starb, hatte Puran gelernt, ging es in erster Linie um Nachrichten. Er musste ebenso einen Eilboten nach Thalurien schicken, damit über das Sagal-Netzwerk so schnell wie möglich die Nachricht zu seinen Kindern kam, dass er und Leyya erst ein paar Tage später heim kommen würden. Die drei waren alt genug, um für sich selbst zu sorgen, zur Not würde der alte Sagal oder Chata Anso ihnen schon helfen.

Der Mittag war vorüber, als Shais und Tare Kohdar zurück nach Vialla gekommen waren und der Rat sich erneut im Salon traf, allerdings nicht zum Beraten, sondern für die Bestattungszeremonie ihres Kollegen. Für die anderen war es auch nicht leicht, sich richtig zu verhalten. Während Neron und Saja ganz und gar untröstlich waren und hundertmal bekundigten, wie furchtbar das wäre und dass es ihnen leidtat, sagte Tare kaum etwas dazu, als er zu Saidah ging, die zwischen Puran und Leyya auf dem Kanapee des Salons saß, den Kopf gesenkt hielt und sich mit ihren Armen selbst umschlang, als würde sie frieren.

„Das ganze Gequatsche hilft dir nicht weiter, Saidah.“, meinte er bloß, „Darum werde ich auch nichts sagen, was du ohnehin noch oft genug hören wirst, ob du willst oder nicht. Mir hat ein Gedanke damals, als mein eigener Vater starb, sehr weitergeholfen… denk daran, dass er nicht für immer stirbt. Er lebt doch in dir weiter, du bist sein Kind, du bist ein Teil von ihm. Für mich bist du das jedenfalls, und wenn wir uns viermal im Jahr zum Rat treffen, wird dein Vater durch dich auch anwesend sein, so wie Purans Eltern mit ihm und mein Vater mit mir. Und eines Tages wird vielleicht jemand seinen Sohn Meoran nennen und dann wird dein Vater wieder zurück in diese Welt kehren… bis dahin hat er wenigstens seine Frau wieder, Himmel, wie er die doch vermisst hat… es ist recht so, Saidah, glaub mir.“

„Ich danke dir, Tare.“, nuschelte sie beklommen und neigte den Kopf noch tiefer, „Ich… danke dir wirklich… ich danke euch allen, weil ihr… einfach nur da seid.“
 

Der König hatte einen Telepathen dafür bezahlt, dass er sich nach Minh-În teleportierte und das Kindermädchen Tanuq noch mitbrachte; schließlich würde auch er dabei sein wollen, wenn sein Arbeitgeber die letzte Ehre erhielt. Die Runde war klein, als sie im Innenhof des Palastes nach vielen Jahren einmal wieder einen Scheiterhaufen errichteten, auf dem Meoran jetzt ordentlich lag, die Hände über dem Bauch zusammengelegt und die Augen geschlossen, seinen Umhang und den Anstecker noch tragend, um mit allen Ehrenbeweisen ins Geisterreich zu gelangen.

Leyya weinte bereits, als sie an Purans Arm klammerte und vom Rande aus zusah, wie Saidah auf das Podest stieg und die Fackel in ihrer Hand mit Vaira entzündete. Saidah war so tapfer… die Heilerin war sicher, sie könnte niemals den Menschen anzünden, der ihr am meisten auf der ganzen Welt bedeutete, auch nicht, wenn er tot war. Den Gedanken, dass auch ihr geliebter Gatte eines Tages sterben würde, und dank des Altersunterschiedes mit großer Wahrscheinlichkeit vor ihr, sodass sie ihn zu Grabe tragen müsste, verdrängte sie sofort wieder… es machte nichts besser.

„Es ist… so komisch, zu denken, dass Meoran jetzt… wirklich tot ist.“, murmelte sie wimmernd und kuschelte sich an Puran, der nur traurig einen Arm um sie legte und sie streichelte.

„Frag mich mal. Ich kenne ihn viel länger als du… mich schmerzt es auch.“

Und das war weit untertrieben… er hatte sich in dem Tag, der vergangen war, seit Meoran gestorben war, gefragt, wieso er immer noch stehen konnte… wie lange er es wohl noch tun würde, bevor seine Füße nachgaben und er in das schwarze Loch fiel, das der Tod seines besten Freundes in seinem Geist hinterlassen hatte. Die Trauer war schneller verschwunden, als er gedacht hatte… aber zurück blieb eine eiserne Leere, ein Loch, in dem nichts war, das sich einfach wie der Schlund eines riesenhaften Raubtieres auftat und alles verschlucken würde, was jemals an Glückseligkeit kommen würde. Und die Gedanken daran, dass es auch noch Gutes im Leben gab, trösteten ihn nicht wirklich. Er liebte seine Frau und seine Kinder, aber auch die Gewissheit, dass sie – im Gegensatz zu Meoran – noch da waren, war nicht hilfreich. Vielleicht war es egoistisch, so zu denken… er war nicht der Einzige, der über den Verlust leiden musste. Sein Blick schweifte hinauf zu Saidah, die bebend die Fackel in der Hand in die Luft hielt, herab sehend auf ihren Vater, dessen sterbliche Überreste sie gleich in Brand stecken würde.

Sei tapfer, Saidah. Ich habe deinem Vater versprochen, auf dich aufzupassen… es war sein letzter Wunsch und ich werde mein Versprechen so gut halten, wie ich kann. Nach allem, was dein Vater für mich getan hat im Leben, bin ich ihm das mehr als nur schuldig.

„Geister von Himmel und Erde!“, durchschnitt Saidahs erstaunlich feste, kalte Stimme den kühlen Sonnenaufgang, an dem sie auf dem Hof standen, und sie hob ihre Fackel bebend ein Stück höher, dabei den Kopf in den Nacken werfend. „Hört mich an! Öffnet… jetzt die Tore zur Geisterwelt!“ Sie schnappte zitternd nach Luft, ehe sie den Kopf wieder senkte und die freie Hand nach ihrem Vater auf dem Scheiterhaufen ausstreckte, um sein Gesicht zu streicheln. Er war so kalt… es fühlte sich komisch an. „Geh zu Mutter, Vatilein. Sie… wartet auf dich… du musst nie wieder nachts im Bett nach ihr weinen… das… ist ein schöner Gedanke.“ Sie zeigte ein trauriges, sehnsüchtiges Lächeln, bevor sie die Fackel in den Scheiterhaufen steckte und das Holz damit entzündete. Sie erhob die Stimme, obwohl sie zittrig wurde und der Wind sie davon trug. „Geh, Geist von Meoran! Geh zu deinen Ahnen ins Reich der Geister! Möge der Seelenfänger dich wohlbehalten dorthin bringen…“ Sie trat mit gesenktem Haupt vom Podest zurück und kletterte schließlich herunter, während die Flammen das Holz und den toten Körper fraßen und den Sonnenaufgang hell und gefährlich erleuchteten. „Ich hab… dich lieb, Vater.“
 

Die Flammen ragten hoch in den Himmel hinaus. Das Feuer würde sicher den ganzen Tag brennen; jetzt war es an Saidah, der einzigen verbliebenen Chimalis, die fünftägige, traditionelle Totenwache für die Seele ihres Vaters zu halten, um aufzupassen, dass diese auch ins Geisterreich gelangte. Puran blieb mit Leyya bei ihr, während die anderen sich nach und nach alle verabschiedeten. Als die Sonne unterging, waren sie allein und saßen auf den Treppenstufen, die zum Schloss führten; einem Ort, an dem sie so oft gesessen hatten, mit verschiedenen längst toten Ahnen. Das Feuer brannte noch immer und die Hitze des Tages schwang langsam dahin, während der grüne Himmel sich langsam orange färbte. Aus dem Osten zog der Schatten herauf, der die Nacht bringen würde.

Leyya schlief mit dem Kopf auf Purans Schoß, während er ihr zärtlich versonnen durch die dunklen Haare streichelte und auf den brennenden Scheiterhaufen starrte, Saidah neben sich. Ein Diener des Königs hatte netterweise Kaffee gebracht.

„Es wird dunkel.“, stellte die schwarzhaarige Frau beklommen fest und sah dabei gen Osten, am Feuer vorbei. „Die Insekten werden kommen.“

„Der beißende Rauch wird sie schon abhalten.“, murmelte der Senator leise, „Von den hier lebenden Insekten und ihren Stichen ist auch noch keiner gestorben. Im Süden von Senjo sollen sie garstig sein und in Kuyala…“ Saidah seufzte leise.

„Ich glaube auch nicht, dass es die hiesigen Insekten sind, die uns Sorgen machen sollten. Mehr die, die aus dem Schatten im Osten… kommen und das Ende der Welt bringen.“

Der Ältere sah sie an und sie drehte apathisch ihre Kaffeetasse in den Händen, ehe sie einen großzügigen Schluck nahm.

„Was meinst du damit? Das Ende der Welt…?“

„Mein Vater… hat so etwas gesagt, kurz bevor er starb. Er hat wirres Zeug geredet, aber… es waren Worte der Geister, in dem Moment, in dem er dabei war, einer von ihnen zu werden. Er hat gesagt, aus dem Ostreich wird Schatten über uns fallen. Und es wäre ein Vorbote vom Ende der Welt… vielleicht ist das das Ende, von dem wir alle so lange schon träumen… ich sah es schon als ganz kleines Kind, genau wie du. Der Schatten, der uns verschlingt und dann in einem Inferno aus gewaltigen Flammen und Verderben explodiert. Ich habe mir sagen lassen, dass vor einigen Jahren auf Zuyya die halbe Welt explodiert ist, weil ein unterirdischer, gigantischer Vulkan ausgebrochen ist. Meinst du, wir haben auch so einen Vulkan?“

„In Intario gibt es eine Menge Vulkane.“, gab Puran dumpf zu bedenken, „Aber an sich nicht unterirdisch… das solltest du aber lieber die Leute in Intario fragen, ich weiß es nicht.“ Er schwieg lange und sah in das brennende Feuer, dessen Wärme bis zu ihnen auf der Treppe vordrang, was ihm ersparte, Leyya eine Decke holen zu lassen. Die kleine Heilerin schlief friedlich wie ein Baby und rührte sich nicht.

Schatten kamen von überall. Er hatte das ungute Gefühl betreffend den Osten auch schon gehabt und versucht, es in den Hintergrund zu drängen. Jetzt fiel es ihm schwer, überhaupt an so etwas Pragmatisches zu denken, während er noch auf der Totenwache seines besten Freundes und Vaterersatzes saß.

„Ich werde mit dem König über die Sache mit dem Ostreich sprechen.“, versprach er dann, „Die sollen zusehen, dass die Beziehungen stabil bleiben. Jetzt ist ein Krieg gerade vorbei, noch einen brauche ich nicht in meinem Leben. Der nächste soll gefälligst erst kommen, wenn ich tot bin.“ Die Jüngere zeigte ein mattes Lächeln, das nicht wirklich eines war. Er verübelte es ihr nicht… sie hatte ihren Vater bestattet. Ihm war auch nicht nach lächeln zumute. Indem er seine kleine Frau weiter streichelte und spürte, wie sie sich im Schlaf fester an ihn kuschelte, drehte er das Gesicht vom Feuer weg in den dunkler werdenden Himmel. „Ich habe mein Leben lang so viele Leute sterben sehen.“, murmelte er dabei, „Ich bin es… wirklich leid. Dass dein Vater jetzt auch dazugehört… schmerzt mich mehr als du dir vorstellen kannst.“ Saidah senkte den Kopf tiefer und umschlang mit ihren Armen ihre Knie.

„Mein Vater hat dich immer so geliebt… als wärst du sein Sohn. Du weißt das, Puran. Als er mich unterrichtet hat, hat er immer erzählt, was für Dummheiten du gemacht hast und wie begabt du dabei doch bist. Ihn zu beeindrucken war schwer, er hat so viel von dir geredet, dass ich als Kind oft dachte, ich müsste auch so werden wie du, was ich natürlich niemals schaffen werde…“ Puran schnaubte.

„Oh, bitte, sowas hat er sicherlich niemals erwartet. Wir beide standen uns sehr nahe, ja, aber du bist seine einzige Tochter, sein einziges Kind und der Mensch auf der Welt, den er mehr als alle andere zusammen geliebt hat. So sehr ein Vater seine Tochter nur lieben kann hat er dich geliebt, das weiß ich mit Gewissheit.“ Er seufzte leise. „Ich liebe dich auch, Saidahchen. Ich bin nicht dein Vater und ich kann, will und werde ihn nicht ersetzen. Aber unsere beiden Familien vereint seit vielen Jahrhunderten das Schicksal wieder und wieder. Es führt unsere Clans mal auseinander, mal wieder zusammen, als wären wir Sandkörner im Wind. Ich werde dich nicht alleine lassen, Saidah. Das habe ich deinem Vater vor zwei Tagen versprochen und das verspreche ich auch dir. Vergiss das nicht.“ Sie sah ihn an und erzitterte, als ein Windhauch sie streifte, worauf sie sich noch mehr zusammenfaltete.

„Ich hab dich so lieb, Puran…“, war alles, was sie flüsternd heraus brachte, und er ließ kurz von Leyya ab, um ihr über die Wange zu streicheln.

„Ich passe schon auf dich auf.“ Darauf musste sie wieder verzerrt lächeln.

„Du wirst Karana dann wohl zu mir in die Lehre schicken müssen… mein Vater wird das leider nicht übernehmen können.“

„Es wird mir eine Ehre sein, dir meinen Sohn anzuvertrauen. In zwei Jahren wird er wohl soweit sein… das ist keine lange Zeit. Ich hoffe, er weiß sich zu benehmen, ich… habe da mitunter meine Sorgen mit ihm.“ Er dachte kurz an seinen kleinen Sohn und seine herrische Ader, die er mit aller Macht zu unterdrücken versuchte… und seine spitzen Eckzähne, die ihm seit jeher Alpträume verschafften. Er fragte sich, ob er dem richtig entgegen ging… ob er sich richtig verhielt mit der seltsamen Ader seines Sohnes und der damit verbundenen Paranoia. Meoran hätte es sicher besser gemacht als er, wäre es sein Sohn gewesen. Der Senator blickte wieder zum brennenden Scheiterhaufen und folgte mit dem Blick den Rauschwaden, die in die Finsternis aufstiegen.

Was sagt ihr, Geister? All ihr Ahnen, die ihr da jetzt sitzt und auf uns herab starrt… was soll ich tun, wenn der Schatten kommt? Und was mache ich mit meinem Kind, dessen Geist mir verschleiert bleiben will…?

Die Geister antworteten nicht; es war Saidah, die sprach und jetzt auch wieder zum Feuer blickte.

„Keine Sorge. Auch, wenn wir nicht heiraten werden, die Geister haben Karana und mich auf eine eigentümliche Weise verbunden. Was immer dir Sorgen macht, ich werde mein Bestes geben, um dafür zu sorgen, dass es… verschwindet.“ Obwohl der Mann sie nicht ansah, spürte er instinktiv, dass sie mehr wusste, wovon genau er eigentlich sprach, als sie mit ihren Worten sagte. Der Gedanke beunruhigte und erleichterte ihn zugleich… es gab so viel Schatten auf der Welt.

Dann sprachen die Geister doch noch, nachdem sie lange geschwiegen und in die Dunkelheit gestarrt hatten, und kicherten in Purans Kopf.

„Das Ende des Zeitalters… ist nahe. Mit Feuer und Schatten wird das Bündnis der Drei Welten zerbrechen. Mit dem Schatten aus dem Osten kommt das Ende der Welt… und wenn sich der Zorn von Vater Himmel und Mutter Erde über der Welt ergießt, Puran Lyra… wirst du den letzten Teil deiner Bestimmung antreten. Du kannst nicht davonlaufen… vor dem Willen der Himmelsgeister.“ Der Mann sagte nichts und lauschte dem leiser werdenden, wissenden Kichern in seinem Kopf; den Stimmen, die er seit so vielen, vielen Jahren wieder und wieder vernahm, die er verfluchte, wenn sie da waren, und vermisste, wenn sie schwiegen. Die Geister waren unweigerlich ein Teil von ihm… das konnte er nicht leugnen. Es war, wie seine Großmutter zu ihm gesagt hatte, als er klein gewesen war; er war ein Kind der Geister.

Das würde er immer sein. Weglaufen hatte er aufgegeben…
 

In Lorana war es stockfinster, während Karana mit seinem Hund auf der Türschwelle der Haustür saß, die Tür sperrangelweit offen, und hinaus in die Stille des Dorfes starrte. Aar lag friedlich dösend neben dem Jungen und rührte sich nicht, während Karana in seiner Hand eine perfekte Vaira-Flamme balancierte, die sein bildschönes Gesicht erleuchtete; dass seine Schönheit in den Genen lag, war kein Geheimnis. Die Mitglieder der Lyras waren fast immer hübsch…

„Die Schatten werden bald kommen.“, zischte der Junge halb laut vor sich hin und stierte in das Licht der Flamme auf seiner Hand; oder durch sie hindurch, sein Blick richtete sich nicht wirklich auf das Feuer. Er war so vertieft in sein Gemurmel, dass er die Schritte nicht hörte, die hinter ihm leise die Treppe hinab tapsten und auf der untersten Stufe inne hielten. „Wenn sie kommen, wird das Reich fallen. Aus dem Osten kommen die Stimmen, die Stimmen, die… das Lied von Tod und Finsternis singen. Und wenn sie zu mir kommen, werden sie zu meinen Füßen kriechen wie Würmer im Sand, und ich werde auf sie herab starren und lächeln…“

„Karana?“

Der hübsche Junge fuhr wutentbrannt über die Störung herum und riss die Hand mit der Flamme nach vorne, um den dunklen Flur zu erleuchten, dabei fletschte er bedrohlich knurrend wie ein geiferndes Raubtier seine scharfen Eckzähne. Er sah seine kleine Schwester, die sich jetzt zurückschreckend an das Treppengeländer klammerte und ihn aus großen Augen anstarrte… Augen, in denen ein Wissen lag, das ihm nicht gefiel. Wie lange stand sie schon da?

„Du schnüffelnde, kleine Ratte! Wage es nicht, dich so anzupirschen!“, keifte er sie zischend an und zu seiner Verblüffung rannte Neisa nicht heulend nach oben zu Simu. Sie hob ihre Hand und schleuderte einen Wasserzauber nach ihm, der die Flamme erlöschen ließ, sodass es finster wurde. Karana japste und Aar hob jaulend den Kopf, weil er nass geworden war. Es wurde wieder hell, als die kleine Heilerin selbst eine Flamme über ihrer eigenen Hand entzündete und empor hielt.

Karanas Gesicht hatte sich verändert – da war es wieder, die komische Veränderung. Von einem Moment auf den anderen war das Raubtier in ihm verschwunden und er sah maulend an sich herab.

„Verdammt, Neisa! Du hast mich ganz nass gemacht, i-ich sehe aus, als hätte ich mich angepinkelt!“ Aar erhob sich und rannte schwanzwedelnd im Flur auf und ab, bevor sein Herrchen sich auch fluchend erhob und murrend auf seine Schwester sah. Er fuhr sich durch die braunen Haare. „Was hast du hier eigentlich verloren? Ich wollte die Tür noch etwas aufmachen, damit frische Luft ins Haus kommt, es war furchtbar heiß am Tag! Vati wird meckern, wenn er heim kommt und alles stickig ist, du weißt doch, wie sehr er die Hitze hasst. Warum schläfst du nicht, Neisa? Mitternacht ist schon durch!“ Das blonde Mädchen wiegte sich schweigend in seinem weißen Nachthemd hin und her, dabei die Hand mit der Flamme weit von sich streckend. Als es sprach, wunderte Karana sich über die Fremdartigkeit in ihrer Stimme – sie war anders, aber auf ferne Art auch unangenehm vertraut, was ihm einen Schauer über den Rücken jagte.

„Ich konnte nicht schlafen… ich habe Kopfweh. Da dachte ich, ich schnüffele ein bisschen herum… wie eine Ratte. Aber Ratten sind klein und flink. Sie knabbern deine Füße an und fressen dich auf, bevor du viel merkst. Und wenn du es merkst, sind es so viele, dass es… zu spät ist.“ Sie machte ein besorgtes Gesicht und der Junge schauderte, während er die Fäuste fest ballte, sodass die Knöchel hervortraten. „Ich werde um dich weinen, wenn du gefressen wirst, Karanachen.“ Er sagte nichts mehr, als sie die Flamme erlöschen ließ und sich daran machte, wieder hinauf zu gehen. Es stimmte wirklich, was Simu gesagt hatte über Karanas seltsame Stimmungsschwankungen… verwundert stellte die Kleine im Hinaufgehen fest, dass sie das gleichzeitig faszinierte und ihr auch Furcht machte.

Die Schatten würden kommen, hatte er gesagt. Und dann würde das Reich fallen. Neisa wusste nicht, ob es sie mehr besorgen sollte, dass er das gesagt hatte, oder dass sie es auch spüren konnte…

Die Schatten kamen. Und sie kamen rasch. Das Zeitalter war so gut wie vorbei.
 

_______________________________

So. Sommer 995, und es zu zu Ende! Hier endet diese Story, weiter gehts mit Buch eins!^^ Danke an meine treuen Leser und Schwarzleser! <3333 Ich hab euch lieb! ^o^

Herz des Tages an Meoran, einen meiner wirklichen Lieblinge, von dem ich mich hier leider verabschiedne musste.... .____.
 

mein Betababy -Izumi- schrieb mir den Satz unter das api, ich wollte ihn da lassen:

Danke für diese tolle Geschichte, für die ich dich zutiefst bewundere <3

Mama sagt: Liebt! Bitte! Hat Spaß gemacht!! ^o^



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Kommentare zu dieser Fanfic (199)
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Von:  Niua-chan
2012-12-11T08:52:50+00:00 11.12.2012 09:52
tut mir leid das ich solange nichts mehr gelesen habe, kam irgendwie nicht dazu
vorallem musste ich erst mal wiederfinden wo ich aufgehört habe zu lesen
also ehrlich gesagt weiß ich nicht genau was ich schreiben soll außer das ich irgedwie etwas erschüttert bin, ich hatte vergessen wie duster die ff bisher war
aber Puran ist ja ein Lichtblick^^
obwohl das mit dem Stillen schon heftig ist
naja ich hoffe ich komm bald wieder mal zum lesen
lg
niua
Von:  Enyxis
2012-07-14T16:07:53+00:00 14.07.2012 18:07
o___o Yay... Nalani und Tabari... ich hab einen Moment gedacht die machen da voll Ernst...
Dachte auch so: O__O Hilfe, was geht denn mit der ab?!
Naja ^^ YES! xD Kelar kriegt ordentlich eins aufs Maul! (mich regt es immer noch so richtig auf wie der über Frauen redet -.-*, da kann man ja richtig aggro werden xD)
Und Puran haben wir alle sehr lieb ^^ Der is so niedlich...
Von:  Enyxis
2012-07-14T14:42:41+00:00 14.07.2012 16:42
So erst mal:
Hallöchen, nach tausend Jahren bin ich endlich mal wieder zum Lesen gekommen ^^;
Muss mich erst mal wieder zurechtfinden xD
Öhm... Zoras hat glaub ich alles gesagt, was die meisten Kelar ins Gesicht äh... werfen würden...

Yay, Drama-Tode xD Nebencharaktere sterben lassen... Muss ja auch sein. Können ja nicht alle überleben, ne?

Das Kapi war lang, aber toll *Q* Ich mag deinen Schreibstil voll, aber das hab ich, glaub ich, schon so um die tausend Mal erwähnt. ^^

Und zum Schluss noch:

"Und ein getötetes Baby für die Sammlung <3"

O____O <-- meine Reaktion ^^; ( TT--TT Yuusuke, Yusaku, Naoya ....)

X__X Ich hab noch viel vor mir, wenn ich mir alle deine Teile um Khad-Arza ansehe o__o
Von:  Niua-chan
2012-02-16T17:15:59+00:00 16.02.2012 18:15
puhh bin echt weit gekommen^^
bis hierhin find ich die Geschichte sehr mitreizend
ich kann kaum aufhören
es ist wirklich erleichternd das sich Tabari und Nalani endlich zusammengerauft habe sie waren beide Dummköpfe
aber um die Großmutter des Kindes mache ich mir schon Sorgen

niua
Von:  Niua-chan
2012-02-14T16:14:56+00:00 14.02.2012 17:14
Hallo^^

Hab deine Fanfic gestern erst endeckt, nach langem Überlegen dachte ich, ich fang mal mit der Vorgeschichte an.
Ich befürcht ich kann nicht zu jedem Kapitel ein Kommentar schreiben aber immer mal wieder, hoffe das ist ok.

Der Prolog fängt ja schon mal viel Versprechend an, ich freu mich auf die nächsten Kapitel.

Niua
Von:  Enyxis
2012-01-14T16:11:30+00:00 14.01.2012 17:11
YAY! Das Baby ist da! XD
Hoffentlich wird der Kleine nicht unter seinem Großvater leiden (den am besten vom Fenster weg *hüstel hüstel* XD)

Das war ein langes Kapi O__O Aber ein verdammt gutes *Q*
Von:  Enyxis
2012-01-13T18:21:03+00:00 13.01.2012 19:21
Eehe...HEHEHEH XDDD okay... ich lache gerade dumm.... aber...Kekse mit Tomaten?! Das sagt schon alles XD

Tabari und Nalani tun mir aber trotzdem leid x.x Kein schönes Schicksal...

Tolles und Spannendes Kapi... x.x Hoffentlich schaffen Zoras und Salihah das
Von:  Enyxis
2012-01-13T17:40:54+00:00 13.01.2012 18:40
Als erstes:
*flenn* TTOTT Dass Nalani wieder zurück muss ey.... Das is dort doch fast die Hölle auf Erden...

Ich mag Tabari O.o aber ich mache mir dennoch meine Gedanken....

Tolles Kapi *__* Nalani ist so cool!

PS:
Hoffentlich bringen die Kelar um Ò_Ó Ich hab so nen Hass auf den xD
Von:  Enyxis
2011-10-10T20:50:04+00:00 10.10.2011 22:50
O.O
Das war echt lange...o.o Hallelujah... Und ich weiß gar nich wo ich anfangen soll....
O.o Nunya...sicher kann ich damit mal (wieder) anfangen wie geistesgestört und psychopathisch Kelar is u_û
Und das Saliha und die beiden jungs richtig leid tun...
Aber das mit der mistgabel war geil XDD
Und das Nalani SO stark ist o.o himmel...un jez soll sie auch noch mit ihrem Dolch dan anlatschen und Zoras töten...
>< Deine FF oder besser Geschichte is verdammt genial ausgedacht ^^

Von:  Enyxis
2011-10-08T13:26:17+00:00 08.10.2011 15:26
O.o WOW...Tabaris Gedanken sind...interessant o.o
Aber das Salihah immer böser wird o.o i-wie verwirren ô.ô

Aber Hamma Kapi... Ich finde Dialoge machen ya einen sehr wichtigen Teil einer Geschichte aus ^^


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