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Luna momentum

Ich liebe dich doch so sehr
von

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Helles Mondlicht

Der Mond war klar und deutlich zwischen den Wolken auszumachen, die als große Schwaden den Himmel bedeckten. Sein weißes Licht schien durch die dichte Wolkendecke und bündelte sich scheinbar an dem Fenster eines kleinen Mädchens. Dieses Mädchen lag leise auf seinem Bett und versuchte, einen Eindruck zu erwecken, dass sie schlief, sollte jemand hereinkommen und nach ihr sehen.
 

Ihre dünnen Finger hielten die Decke, die sie vor Kälte schützen sollte, fest. Ja, die Decke schützte vor den eisigen Temperaturen, aber sie bewahrte das Mädchen nicht vor dem Erfrieren. Der eisige Block in ihrem Inneren, der einmal pulsiert und Blut durch ihre Adern gepumpt hatte, fraß sie von innen auf. Ihre großen, blauen Augen suchten das karge, steril wirkende Zimmer nach etwas neuem ab.
 

Aya zitterte in dem Gewand, das ihren schmalen Körper umhüllte. Ihr Brustkorb war einmal üppig gewesen, nun war er eingefallen und bleich. Ihre Haare ließ Aya sich seit einer Ewigkeit, so schien es ihr, wachsen. Es war lang, braun und lockig und sie weigerte sich, es zu einem Pferdeschwanz oder einem Zopf binden zu lassen. Auch wenn dies bedeutete, dass sie immer auf ihrem eigenen Haar lag, das immer verworrener wurde und sich kaum noch bändigen ließ.
 

Das Licht des Mondes fiel auf ihre Decke. Dieses Licht war das einzige, was ihr einen kleinen Eindruck von Wärme überlieferte. Jedes andere Licht verbrannte ihre Augen und sie verkroch sich davor unter ihrer Decke.
 

„Aya?“

„Du weißt, dass das nichts bringt. Sie hat seit Wochen nichts mehr gesagt.“

„Ich wünschte, sie würde mal aus dieser Decke kommen. Sie muss doch ersticken!“

„Meinst du, sie weiß, wer wir sind?“

„Schwer zu sagen. Soweit ich weiß, ist sie nicht einmal rausgekommen, als ihre Mutter sie besucht hat.“

„Oh Gott.“

„Sie tut mir so leid...“
 

Die Stimmen ihrer Freunde hallten in Ayas Kopf nach. Jeden Tag wurde sie besucht und musste sich anhören, wie ihre Freunde sich über ihren Zustand sorgten oder versuchten, sie dazu zu bringen, aus der Decke herauszukommen oder etwas zu sagen.
 

Jeder Versuch war kläglich gescheitert.
 

Ayas Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte eigentlich gedacht, ihre Tränen wären längst verbraucht, so oft, wie sie anfangs geweint hatte. Sie dachte, sie wäre nun fertig damit, Schwäche zu zeigen.
 

Weit weg schlug eine Kirchturmuhr. Es war Viertel vor Mitternacht, konnte Aya an den Schlägen erkennen. Die Pflegerinnen würden sich nun zur Ruhe legen, bis auf die, die Nachtschicht hatten. Es war nun sicher.
 

Ihr Bein bewegte sich langsam aus dem Bett. Ihre Waden waren dürr, ihre Haut blass. Mit aller Kraft schob Aya die schwere Decke von ihrem Körper und auf einmal fiel das Mondlicht auf ihre Haut.
 

Einst war sie relativ schlank gewesen, hatte sich jedoch um ihren Bauch Sorgen gemacht. Nun kümmerte sie sich nicht mehr um ihren Körper. Ihre Biene waren dünn und wankten bedrohlich unter ihrem Gewicht. Sie stand kaum noch. Ihre Arme waren dünn genug um sie mit der Hand zu umfassen und an ihren Händen und Füßen trat jeder Muskel vor. Ihre Haut war weiß und Adern schimmerten hindurch. Ihre Augen strahlten schon lange nicht mehr, sondern waren trüb und trostlos. Jeder Funke war aus ihnen gewichen und sie schienen nichts wirklich anzusehen. Ihr Haar war schlaff und reichte bis an ihre Kniekehlen und ihre Wangen waren eingefallen.
 

Aya fühlte sich an der Schwelle zum Tod.
 

Ihr Blick schweifte zu den Blumensträußen neben ihrem Bett. Chrysanthemen, Lilien, Pappeln... aber keine Rosen. Aya war allergisch gegen Rosen. Und trotzdem wünschte sie sich nichts sehnlicher, als zumindest eine von ihnen zur Genesung geschenkt zu bekommen.
 

Mit ihren zierlichen Füßen machte sie ein paar Schritte. Sie taumelte und geriet ins Wanken, konnte sich aber gerade noch am Fensterbrett festhalten. Sie stützte sich mit aller Kraft auf und sah in den Himmel hinauf.
 

Das Mondlicht spiegelte sich in ihren Augen wieder. Das war das einzige Licht, das diese Augen jemals betrat. Ihre Haut schimmerte weiß und fahl.
 

Ayas Blick wurde einen Moment trüb, dann zog die Wolke, die sich eben vor den Mond geschoben hatte, weiter durch die Dunkelheit. Auf Ayas Lippen, die als Einzige ihre Fülle behalten hatten, bildete sich ein Lächeln. Und trotzdem, ihr Gesicht wirkte nicht fröhlich. Es gab eine Menge Wörter, die den Ausdruck in ihrem Gesicht beschreiben könnten.
 

Eine Menge Wörter, die aber den inneren Schmerz und die Kälte niemals treffend formulieren könnten.
 

Melancholisch, depressiv und nostalgisch waren nur drei von den Wörtern, die man zu einem ganzen verschmelzen und dann noch den traurigen Effekt verstärken müsste, um Ayas Gemütszustand einigermaßen treffend beschreiben zu können.
 

Ayas Mund öffnete sich leicht, gerade weit genug, um ein Wort hindurchschlüpfen zu lassen, ein einziges nur.
 

„Aoru...“ Das Wort war nicht mehr als ein Hauch schall, der sich nicht sehr weit ausbreitete. Aya hatte ganz vergessen, wie es war, zu sprechen.

Und trotzdem, die Wolken schienen sich zu verformen, um noch mehr des Lichtes hindurchzulassen. Die Strahlen kamen alle an einem bestimmten Punkt zusammen und formten langsam einen Körper nach. Einen Körper, den nur Aya sehen und seine Bedeutung verstehen konnte.
 

Einen menschlichen Körper.
 

Die blauen Augen eines Jungen blickten traurig durch die gläserne Brille auf seiner Nase direkt zu ihr. Sein Körper war ebenfalls dünn, aber nicht wie bei Aya. Er trug eine weiße Hose und ein weißes Hemd, und große Flügel kamen aus seinem Rücken.
 

„Aya...“
 

Er sprach nicht, dennoch konnte Aya genau spüren, was er ihr mitteilen wollte. Eine Hand abllte sich leicht zu einer Faust, doch sie hatte schon lange nicht mehr die Kraft, um jemanden damit verletzen zu können.
 

„Aoru... Ich vermisse dich.“

„Aber du sollst nicht immer nach mir Ausschau halten.“ Sein Blick wurde traurig. „Begreif doch, Aya. Ich bin tot. Seit über einem Jahr.“

„Ja...“
 

Aya sah nach unten. Bilder einer Erinnerung kamen in ihr hoch. Ein Kino. Viele Paare, die herauskamen. Ein Junge und ein Mädchen, Hand in Hand.

Ein Auto.

Ein Aufschrei und ein klirrendes Geräusch.

Ein Mädchen, das unsanft auf dem Asphalt landete.

Kurze Schreckensstille.

Dann ein schmerzvolles Kreischen, gefolgt von gerufenen Worten, vermischt mit Schluchzern.

Die Sirene eines Krankenwagens.

Verzweifelte Rufe eines Mädchens, das mit einem weiteren Mädchen und einem Jungen versuchte, im Krankenwagen mitfahren zu dürfen.

Dann ein verregneter Friedhof. Eine große Traube Menschen, um einen weißen Sarg versammelt. Manche von ihnen nicht älter als fünfzehn. Sieben Jungen und drei Mädchen, die einander fest umschlangen und schluchzten. Ein Mädchen in einem schwarzen Kleid und einem schwarzen Schleier auf dem Kopf mit schwarzen Handschuhen. In ihren Händen ein Blumenkranz mit weißen Rosen.

Ein paar Junge Frauen, die ein Mädchen in ein Zimmer sperrten, in der Hoffnung, ihre Geistesverwirrung würde sich bessern.
 

„So lange... bin ich nun hier.“ Ayas Hand strich über die Fensterbank.

Aoru sah sie traurig an. „Wie geht es dir?“

„Ich denke immer nur an dich.“ Aya lächelte wieder, ohne glücklich auszusehen.

„Tu das bitte nicht. So wirst du niemals glücklich.“

„Versteh doch, Aoru.“ Aya sah ihm ins Gesicht. „Ich kann ohne dich nicht glücklich sein. Ich konnte es vielleicht mal, aber das war nicht wahres Glück. Es war nicht mit dir.“
 

Aorus Bild schwebte näher an das Fenster. Er berührte die Glasscheibe mit der Hand. Aya rührte sich nicht.
 

„Aya, solange du mich nicht vergisst, kann ich nicht glücklich sein. Genauso wenig wie du.“

Sein Blick bohrte sich in ihre Seele.

„Mach uns nicht beide unglücklich.“

Aya sah zurück. Ihre Blicke trafen sich und ein Knistern entstand in der Luft.

„Ich will ohne dich nicht mehr sein“, hauchte Aya mit zitternder Stimme. „Ich will tot sein, so wie du.“

„Aya...“

„Nimm mich mit zu dir nach oben.“ In ihrer Stimme lag ein Ton von Befehl. Aoru seufzte.

„Wieso willst du so dringend zu mir nach oben?“

„Weil du dort bist.“ Ayas Augen wurden feucht.

Aoru sah in die Ferne. Beunruhigt starrte Aya ihn an.

„Na gut.“

Ayas Augen hellten sich etwas auf. „Was?“

„Gib mir deine Hand.“

Gehorsam hob Aya ihre Hand und streckte sie nach ihm aus. Sie erwartete, das kalte Glas der Fensterscheibe zu berühren, doch ihre Finger glitten hindurch wie nichts und Aya spürte die Kälte der Nacht auf ihrer Haut.

„Noch eins...“

„Ja?“ Aya sah zu Aoru herauf. In seinem Blick bildete sich eine Träne.

„Egal, was auch passieren mag... Ob hier, in diesem Leben, oder in einem nächsten Leben...“

Aya musste schlucken. Ein nächstes Leben? Also konnte sie irgendwann wieder mit ihm auf der Erde leben...
 

Lächelnd streckte Aya ihren Arm komplett aus, und ihre Hände berührten sich.
 

Ein Leuchten entstand dort, wo ihre Finger sich umschlangen. In dieses Licht wurde Aya hineingesogen. Ein Blitz, ein Rauchschwade, dann war alles vorbei. Das Licht des Mondes fiel wieder ganz normal durch das Glas, die Wolken zogen ihre Bahnen und die Decke lag auf Ayas Bett, so wie sie es immer tat. Die Kirchturmuhr schlug gerade zwölf Uhr, und die Nacht lag wieder still da.

Friedhofgespräch

Es war ein verregneter Tag, als Naomi in einem schwarzen Kleid mit einem Strauß Rosen im Arm den Friedhof betrat. Ihr Bruder würde sich über die weißen Blumen freuen.
 

Als sie so gedankenverloren über den kalten Rasen schritt und die Grabsteine musterte, fiel ihr ein neuer auf.
 

Ein Engel aus weißem Marmor. Ein Mädchen mit einer Rose in der einen Hand und einer Taube auf der anderen Hand. Das Mädchen hatte langes Haar und trug ein langes Kleid. Beides flatterte etwas im Wind, der der Steinskulptur eigentlich nichts anhaben sollte.
 

Vor dem Grab standen zwei Frauen und legten einen kleinen Strauß auf eine Steinplatte, auf der ein Name stand, den Naomi nicht entziffern konnte. Die Frauen sahen aus wie Krankenschwestern. Sie unterhielten sich gedämpft, und als Naomi an das Grab ihres Bruders trat, konnte sie hören, worüber die Frauen sprachen.
 

„Ihre Mutter war ja untröstlich.“

„Ich habe gehört, sie trifft sich jetzt regelmäßig mit der anderen Mutter, um über ihre Kinder zu sprechen. Sie war neulich da und hat es mir erzählt.“

„Weißt du, was seltsam war?“

„Was denn?“

„Aya hat ja ihre Haare lang wachsen lassen.“

„Ja.“

Die eine, eine etwas üppige Frau mit rosigen Wangen, senkte ihre Stimme, doch Naomi verstand sie trotzdem.

„Als ich um Mitternacht nach ihr gesehen habe...“

„Da war sie tot, oder?“

„Ja. Aber das war nicht das Seltsame.“ Die Frau streckte sich. „Ihr Haar war bis auf Kinnlänge abgesäbelt und ich konnte weder eine Schere, noch ein einziges Haar in dem Zimmer finden. Unter dem Fenster war auch nichts.“

„Was?“

Die andere, eine sehr dünne Frau, die mit ihrem harten Gesicht einen Kontrast zu der anderen bildete, sah geschockt aus. Die andere nickte.

„Ich schwöre.“
 

Stille.
 

„Sie tat mir so wahnsinnig leid.“ Die Knorrige sah auf das Grab. „Wusstest du, warum sie eingeliefert wurde?“

„Hmmm...“ Die andere legte die Stirn in Falten. „Jetzt, wo du es erwähnst... ist sie nicht mit dem Tod ihres Freundes fertig geworden?“

„Genau.“ Die Alte sah auf einen Zettel. „Alles, was ich sie je habe sagen hören, bevor die in Stillschweigen verfallen ist, war ‚Aoru’.“

„Das war dann wohl sein Name?“

„Sieht ganz so aus. Und weißt du noch was?“

„Nein, was denn?“

„Auf einem Zettel, der auf dem Boden gefunden wurde, stand in einer ganz komischen Handschrift, die ganz sicher nicht ihre eigene war, ‚Ich liebe dich’.“

Naomi schalt sich selbst dafür, dass sie die beiden belauschte, doch sie konnte nicht anders. Dieser Tod schien so faszinierend...
 

„Weißt du, was sie mir einmal gesagt hat?“ Die mollige Frau ließ einen vielsagenden Ton in ihre Stimme gleiten.

„Sie mochte schon immer weiße Rosen, aber sie konnte nie welche bekommen, weil sie allergisch dagegen war.“

Naomi schielte auf das Grab ihres Bruders. Dann schüttelte sie den Kopf, warf den Gedanken beiseite und betete für ihren Bruder.
 

Marco... Du konntest nur ein paar Jahre leben... das ist so unfair...

Aber ich weiß, dass es dir dort, wo du bist, besser geht. Deine Krankheit war schwer und qualvoll, und du hast furchtbar gelitten...
 

Naomi dachte nach. Ein Lächeln bildete sich auf ihren Lippen, dann setzte sie noch einen letzten Teil an ihre übliche Verabschiedung:
 

Wenn du da oben jemandem begegnen solltest, der Aoru oder Aya heißt, dann grüße sie bitte herzlich. Und es scheint, als hätten sie sich geliebt, wünsche ihnen alles Gute von mir.
 

Naomi richtete sich auf und wollte den Friedhof gerade verlassen, als sie an dem nun verlassenen Grab vorbeikam und ein Gesprächsfetzen in ihr Gedächtnis kam.
 

„Sie mochte schon immer weiße Rosen, aber sie konnte nie welche bekommen, weil sie allergisch dagegen war.“
 

Naomi drehte sich um. Sie lächelte noch einmal, dann lief sie zu Marcos Grab zurück und zog eine einzelne Rose aus dem Strauß. Sie nickte dem grauen Stein entschuldigend zu.
 

Tut mir leid, Marco... eine kannst du ja wohl verschmerzen, oder? Ich will sie jemandem schenken...“
 

Sie legte die weiße Rose auf das Grab. Nach kurzem Zögern kniete sie sich ins Gras und wünschte Aya alles Gute für ihre Zukunft. Lächelnd und mit dem Gefühl, etwas Gutes getan zu haben, hüpfte Naomi aus dem Friedhof.
 

Die Haarsträhne, die im Wind vorbeiwehte, fiel ihr nicht auf.



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