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Lyra

von

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Du?

„Ich komme!“ Schnell renne ich die Treppe hinauf zur Krankenstation. Mein Name ist Lyra Timpson. Ich habe mittellange, schwarze Haare und grüne Augen. Ich arbeite als Praktikantin auf einer Krankenstation in einem Hochsicherheitsgefängnis. Eigentlich dürfte ich nicht hier sein. Ein Mädchen von 16 Jahren zwischen all diesen vielen Männern und keine Frau außer einer Krankenschwester und der Ärztin? Wegen eines schrägen Tippfehlers bin ich hier. Anstatt Nordlion, was der Name eines Frauenknastes ist, hat irgendjemand beim Erstellen meines Praktikumsplatzes Northlion eingegeben und ich bin hier gelandet. Eigentlich ist es mir egal, dass ich hier bin. Obwohl es mich natürlich manchmal schon nervt, dass ich andauernd von ekelhaften Typen angemacht werde. Aber es gibt hier auch ein paar, die ganz gut aussehen. Eigentlich können diese Typen aussehen, wie sie wollen, ich will eh keinen Freund. Ich habe gelernt, dass es einen nur schmerzt, wenn man etwas liebt. Es kann einem nur weh getan werden. Mein Vater war ein Trinker und Schläger gewesen. Er hat meinen Bruder und mich nur verprügelt, egal was wir getan haben. Dann hat er sich wieder in den Sessel gesetzt, hat seine Alkoholflaschen auf den Schoß genommen und hat weiter getrunken. Meine Mutter hat das nicht gekümmert. Sie war froh, wenn sie wenigstens nicht geschlagen wurde. Um uns etwas essen kaufen zu können, ging sie anschaffen. Doch das Geld gab sie meistens bloß für Klamotten und Schmuck und natürlich für Alkohol aus. Die Lebensmittel, Essen und Trinken, mussten mein Bruder und ich klauen. Ich war elf gewesen und mein Bruder fünfzehn, als wir eines Tages nach Hause kamen. Unsere Taschen randvoll mit Essen, das uns sowieso weggegessen wurde von unseren Eltern und von dem wir, wenn wir Glück hatten, nur noch den Rest bekamen. Doch an diesem Tag hatte mein Bruder Jack für jeden von uns einen Apfel hinter dem Baum im Garten versteckt. Brav gaben wir unsere Beute ab und gingen dann hinaus. Doch Vater folgte uns und prügelte mich so durch, dass Jack dazwischen ging. Ich hatte überall offene Stellen und eine Platzwunde an der Stirn, aber Jack sah auch nicht besser aus. Trotzdem half er mir. Zum ersten Mal stellte er sich gegen Vater. Der ließ uns verdutzt stehen, nachdem er uns die Äpfel geklaut hatte. Am Abend lief Jack dann davon. Aber er versprach wiederzukommen und sich um mich zu kümmern, wenn er das konnte. Zwei Wochen danach hatte Vater einen Herzinfarkt und starb. Mutter beging Selbstmord vor meinen Augen und ihre letzten Worte waren:

„Du bist Schuld an allem! Wärst du doch nur nie geboren worden!“ Dann erhängte sie sich. So hatte ich alle verloren. Meinen Vater, meine Mutter, darüber war ich gar nicht traurig, denn ich hasste beide. Doch auch Jack kehrte nicht mehr zurück. Ich verbrachte meine Zeit im Kinderheim. Wurde dort auch ausgegrenzt, verprügelt und ausgelacht. Jeder Fluchtversuch wurde vereitelt und man schickte mich hierhin, damit ich hier erkenne, was aus mir werden wird, wenn ich so weitermache.

Als ich nun auf der Krankenstation ankomme, ist Anni, die Ärztin, noch nicht da. Ich setze mich auf einen Stuhl und beobachte Joe, einen der Wärter hier, der gegenüber von mir steht und einen Gefangenen fest im Griff hat. Dieser ist mindestens drei Köpfe größer ist als ich, was aber auch bei meiner Körpergröße von knapp 1,60 m kein Wunder ist, kleine schwarze Haarstoppel und einen braunen Bart hat. Er behauptet zwar immer, dass er seine Haare nicht gefärbt habe, aber ich glaube ihm das nicht.

„Hey Joe! Hey Mark!“, begrüße ich beide. Seit ich hier bin, hat sich eigentlich jeder Häftling schon mindestens zehnmal bei mir vorgestellt und mich mindestens schon zwei bis dreimal begrapscht. Auch wenn ich das, wie natürlich jedes Mädchen eigentlich, überhaupt nicht ausstehen kann, ist es hier immer noch besser als im Heim.

„Hey Ly!“, begrüßt der dicke Wärter mich und grinst mich breit an. Mark blickt mich jedoch nur finster an. Er ist scheinbar der einzige, der mich in diesem Gefängnis überhaupt nicht zu leiden scheint. Er redet selten mit mir und wenn er etwas sagt, dann ist es etwas Böses oder eine Morddrohung. Aber meine große Klappe verbietet es mir, bei ihm den Mund zu halten. Auch wenn ich weiß, dass es besser wäre, das zu tun.

„Ach Mark, ist das nicht ein wunderschöner Morgen? Ist dir eigentlich schon einmal aufgefallen, dass wir dieselbe Haarfarbe haben?“ Während sich ein dickes Grinsen auf meinem Gesicht abzeichnet, färbt sich Marks Gesicht dunkelrot und er knurrt mich an. Er hasst es, wenn ich an seiner Naturhaarfarbe zweifele.

„Wenn ich hier draußen bin, dann bist du so gut wie tot, Kleine!“, grummelt Mark.

„Wie gut, dass du für deinen zweifachen Mord Lebenslänglich gekriegt hast“, erwidere ich. In diesem Moment betritt Anni das Zimmer. Die Ärztin hat strahlend blaue Augen und lange, blonde Haare, die leicht gelockt sind. Sie ist ziemlich dünn und hat ein furchtbar nettes Wesen. Ich habe ihr schon am ersten Tag, als ich hier gelandet bin, gesagt, dass sie sich lieber um eine Karriere als Model bemühen sollte. Doch sie erzählt mir immer wieder, dass sie davon nichts hält und den Menschen hier lieber helfen will. Mark gibt keinen Mucks von sich und verlässt das Krankenzimmer nur mit einem bösen Funkeln in den Augen, das selbstverständlich an mich gerichtet ist, nachdem er seine Impfung bekommen hat. Ich lächle ihn nur an und winke ihm hinterher.

„Warum musst du ihn immer reizen, Ly?“

„Ich hasse solche Machoarschlöcher wie ihn einfach, Anni! Und dann kann ich einfach meine Klappe nicht halten, wenn er wieder so mies drauf ist und so aussieht, als ob er mich gleich zerfleischen wollte.“ Mit einem Stöhnen schüttelt Anni den Kopf und blättert in den Krankenakten.

„Direktor Gold hat dich eben auch schon gesucht!“

„Ich gehe ja schon!“ Schnell verlasse ich das Krankenzimmer. Direktor Gold ist genauso ein schmieriger Typ, wie die Insassen hier. Nein, eigentlich ist er noch schlimmer. Schon am ersten Tag hier wollte er mir an die Wäsche, doch das glaubt mir keiner hier. Seitdem ich ihn so forsch zurückgewiesen habe und das einer der Insassen zufällig beobachtet hat, schikaniert er mich nur noch, weil er von den Gefängnisinsassen nur noch >Looser< oder >Weichei< genannt wird. Und weil er sich auch noch so Sprüche anhören darf wie: „Hey Gold, sind Sie wirklich echt Gold oder bloß Modeschmuck?“ Dafür lässt Gold mich jetzt leiden. Letzte Woche musste ich Chemikalien aus seinem kleinen, eigenen Labor entfernen. Die waren aber ätzend und haben fast meine gesamten Hände oberflächlich verätzt, da ich auf keinen Fall Handschuhe tragen durfte. Das ist das einzige, das ich hier am Gefängnis wirklich hasse. Direktor Gold. Als ich bei seinem Büro ankomme, klopfe ich an die Tür und warte nicht einmal ab, bis der Direktor mich hereinbittet, denn ich weiß, dass er mich sowieso anmeckern wird.

„Sie wollten mich sprechen?“ Gold dreht sich zu mir um. Schon bei seinem Anblick stehen mir alle Haare zu Berge. Er ist ziemlich dick, hat einen gekräuselten Schnauzbart, eine kleine Halbmondbrille und gelblich wirkende Augen, die immer bösartig funkeln.

„Ja! Warum hat das denn so lange gedauert? Mein Spiegel ist zerbrochen! Bring die Scherben nach draußen in die Container.“

„Aber was ist mit dem Mülleimer hier?“

„Der geht kaputt davon!“

„Aber er ist aus Plastik.“

„Er geht kaputt! Und nun geh und tu, was ich dir sage!“

„Was ist mit Handschuhen?“

„Hab ich jetzt nicht! Und du brauchst auch keine zu suchen, denn die Wärter und Insassen brauchen ihre selbst!“ Da mir klar ist, dass weiteres Meckern nichts bringen wird, hocke ich mich vor die Glasscherben und lege sie einzeln vorsichtig auf meine Handflächen. Ein Räuspern von Gold signalisiert mir, dass ich mich beeilen soll. Böse funkele ich ihn an, obwohl ich natürlich weiß, dass ihn das nicht wirklich stört. Er blickt mich bloß mit schief gelegtem Kopf und fiesem Grinsen an. Zögernd lege ich meine Hände auf den Boden und kehre damit die Scherben zusammen. Ich zucke unweigerlich zusammen, als sich einige der spitzen Überreste des Spiegels in meine Haut bohren und fühle wie das warme Blut meine Handflächen hinunter läuft. Schnell stehe ich auf und verlasse den Raum ohne Gold auch nur eines Blickes zu würdigen. So schnell ich kann, laufe ich aus dem Büro. Ich muss diese Scherben sofort loswerden. Der schnellste Weg nach draußen führt einen schmalen Weg neben der eingezäunten Fläche, auf der die Insassen die Zeit außerhalb ihrer Zellen verbringen, entlang. Noch schneller wäre der Weg über eben diese Fläche, die ich persönlich >Freiluftgehege< nenne, doch um nichts auf der Welt würde ich dort entlang gehen. Die Bedingungen dafür, dass ich hier bleiben darf sind im Grunde ganz einfach. 1. Keine Annäherungen an Personal oder Insassen männlicher Art auf mehr als 2 Meter. 2. Keine Liebe zwischen ebendiesen und mir. 3. Keine Widerrede bei Befehlen von höher stehenden Instanzen. Eigentlich wirklich ganz einfach. Doch das zu befolgen, fällt mir schwerer, als ich gedacht hätte.

„Hey Kleine, komm doch mal her!“ Erst jetzt bemerke ich, dass ich wieder einmal gedankenverloren stehen geblieben bin. Neben mir am Zaun hat sich schon eine Gruppe Insassen versammelt und versucht, mich durch das Gitter zu erreichen. Plötzlich fühle ich mich, als ob ich eingesperrt wäre. Als ich nun eine Hand auf meiner Schulter spüre, drehe ich mich erschrocken um. Joe blickt mich an und beißt in seinen Donat.

„Du weißt genau, dass du hier eigentlich nicht sein solltest!“, meint er und schmatzt laut. Ich nicke und versuche zu lächeln.

„Ich weiß, aber ich muss schnellstmöglich zum Container.“ Erst jetzt erblickt Joe meine blutroten Hände.

„Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“ Ich überlege, ob ich dem Wärter die Wahrheit sagen sollte, entscheide mich dann aber dagegen, da ich weiß, dass er mir nicht glauben wird. Bei den Wärtern und auch bei Anni ist Gold nichts weiter als der liebe, alte Direktor, der genauso gut mein Großvater sein könnte. Ihrer Meinung nach könnte er keiner Fliege etwas zu leide tun. Wieder lächle ich den dicken Wärter an.

„Ich hab einen Spiegel zerdeppert und wollte bloß die Beweise vernichten. Dabei muss ich mich wohl geschnitten haben!“ Ich lächele den dicken Wärter gespielt an. Ja, lügen konnte ich schon immer gut. Von klein auf war ich ja nichts als lügen gewohnt. Schauspielerin hätte ich werden sollen. Erst jetzt bemerke ich den neuen Gefangenen, der neben Joe steht. Er blickt mich mit seinen grün-blauen Augen an. Der Neue hat kurze, dunkelbraune Haare und sein Blick wirkt erschrocken. Doch das ändert sich sofort, als er mir tief in die Augen schauen kann und er sieht mich nur noch lächelnd an.

„Kennt ihr euch?“, fragt Joe mich. Ich schüttele viel zu schnell den Kopf.

„Nein! Nicht das ich wüsste!“ Als ich weitergehe, hält Joe mich jedoch am Arm fest. Ich halte den Atem an und drehe mich wieder zu ihm um.

„Du… lässt Anni das nachher aber angucken. Das muss bestimmt genäht werden, Ly.“ Ich nicke und gehe weiter. Erleichtert schließe ich die Augen und atme tief aus. Das war knapp. Vorsichtig schmeiße ich die Scherben in den Container und ziehe ein paar Splitter aus meiner Haut. Langsam gehe ich zurück und begutachte das Gefängnis. Northlion ist nicht sonderlich groß, obwohl es einen A-, B- und C-Flügel hat, was viele vermuten lässt, hier ein überaus riesiges Gefängnis vorzufinden. Es sind hier nicht viel mehr als 300 Insassen vorzufinden. Plötzlich bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich wirklich zurück gehen sollte. Verstohlen blicke ich zum Eingangstor. Ich könnte hinauslaufen und verschwinden. Kein Heim, kein Gefängnis. Doch auch nichts, wo ich hinlaufen könnte. Keine Familie, kein Zuhause. Ich seufze auf und laufe wieder am Freiluftgehege vorbei ins Gebäude und in mein Zimmer. Dort verbinde ich mir meine Hände provisorisch und lege mich auf mein Bett und starre die Decke an. Mein Zimmer gleicht einer Zelle, nur dass ein komfortableres Bett darin steht, der Raum kaum größer ist und ich ein eigenes Bad habe. Die Wand ist kahl und grau, denn ich habe weder Bilder noch Poster. Einen Kleiderschrank brauche ich auch nicht, denn meine gesamten Klamotten passen auf den kleinen Holztisch, der in der Ecke unter dem vergitterten Fenster steht. Nun klopft es. Ich setze mich aufrecht hin und bitte den Besucher herein. Anni steckt ihren Kopf durch die Tür und schenkt mir ihr schönstes Lächeln.

„Ich habe gehört, hier wird ein Arzt verlangt?“ Immer noch lächelnd schwenkt sie mit ihrem Verbandskoffer vor meiner Nase herum und setzt sich dann neben mich. Vorsichtig hebt sie meine Hände und begutachtet sie.

„Entschuldige, aber das muss genäht werden, meine Liebe. Was machst du auch für Sachen? Welchen Spiegel hast du eigentlich zerdeppert? Du weißt, das bringt Unglück!“ Anni kann reden wie ein Wasserfall. Und wenn sie dann erst einmal anfängt, hört sie aber nicht mehr auf. Ich grinse sie an.

„Ich sitze als 16jähriges Waisenkind mit aufgeschnitten Händen in einem Gefängnis? Wie kann es denn noch schlimmer kommen?“ Ich grinse die Ärztin an. Diese fasst meinen Arm und zieht mich mit sich in die Krankenstation. Dort muss ich mich auf eine Liege setzen und Anni holt Nadel und Faden. Joe betritt das Zimmer und schiebt den neuen Gefangenen vor sich her.

„Anni soll ihn sich ansehen! Wegen Krankheiten und so!“, erklärt er mir. Ich zucke mit den Schultern.

„Hast du was dagegen? Ich muss mal ganz dringend… er trägt ja Handschellen…“, stammelt Joe und sieht mich hoffnungsvoll an. Am liebsten hätte ich nein gesagt, denn ich will nicht alleine mit dem Neuen bleiben, doch ich kann dem dicken Wärter keinen Wunsch abschlagen. Ich nicke und Joe verschwindet auf Toilette. Es ist ihm strikt verboten, mich alleine zu lassen mit einem Insassen, doch Joe weiß, dass ich mich gut verteidigen kann und er ist außerdem nicht wirklich sonderlich verantwortungsbewusst. Stille kehrt ein. Erst beobachtet mich der Neue nur, dann setzt er sich schweigend neben mich. Ich vermeide jeglichen Blickkontakt.

„Und du, du kennst mich nicht mehr?“ Nun blicke ich ihn doch an.

„Nein!“ Er grinst und blickt zu Boden.

„Wirklich nicht?“

„Nein!“

„Hab ich dich so lange alleine gelassen, dass du mich einfach vergessen hast?“

„Ja!“

„Dann entschuldige ich mich dafür, Schwesterchen. Das wollte ich nicht!“ Jack fasst meine Hand. Ich ziehe sie weg. Einerseits aus Schmerz, doch andererseits auch aus Stolz.

„Ich war immer alleine… also lass mich auch jetzt in Ruhe!“ Ernst sieht mein Bruder mich an.

„Was ist wirklich mit deinen Händen? Niemand hat jemals erkannt, wenn du gelogen hast! Nur ich… mich konntest du nie anlügen.“

„Ich habe mich an Spiegelscherben geschnitten.“

„Du bist doch nicht so dumm, dass du dir solche Verletzungen selbst zufügst!“ In diesem Moment betritt Anni den Raum und begutachtet Jack genau. Dieser steht auf und kratzt sich verlegen am Kopf.

„Kennt ihr euch?“, fragt die Ärztin. Diesmal ist die Frage an Jack gerichtet. Dieser sieht mich erst an und grinst dann.

„Nein, aber sie sah so süß aus, dass ich mich einfach neben sie setzen musste!“ Anni sieht mich forschend an, doch ich zucke nur mit den Schultern und verlasse den Raum. Ich laufe nach draußen. Würde ich rauchen, wäre das jetzt der perfekte Zeitpunkt gewesen, denn ich muss mich irgendwie beruhigen. Dass ich Jack wirklich wiedersehen würde, daran habe ich einfach nicht mehr geglaubt. Für mich gab es ihn einfach nicht mehr. Er hat mich allein gelassen, ist nicht zurückgekehrt, als ich ihn wirklich gebraucht hätte. Die schwere Tür zu meinem Zimmer lasse ich einfach zufallen und schmeiße mich auf mein Bett. Ich könnte ihn einfach ignorieren. Aber wie soll man seinen eigenen Bruder ignorieren? Oh mein Gott, wäre er doch nur nicht hierher gekommen. Aber auf jeden Fall darf niemand erfahren, dass Jack mein Bruder ist, denn wenn das rauskommt, werden sie mich von hier wegschicken. Ein so enges Verhältnis zwischen einem Insassen und einer Praktikantin werden sie nicht dulden. Niemals! Langsam hebe ich meine Hände und begutachte sie. Ich trage immer noch die provisorischen Verbände um meine Hände, doch diese sich schon fast gänzlich durchgeblutet. Sollte ich nicht einfach von hier verschwinden? In einer Kleinstadt würde ich sicher einen Job in einem Supermarkt oder ähnlichem finden. Nein! Ich werde bleiben, denn hier habe ich wenigstens einige Menschen, wie Anni oder Joe, die ich wirklich gern habe und die ich nicht verlieren möchte.

„Zurück in eure Zellen! Einschluss!“, donnert Joe nun und auch ich schließe meine Augen, doch ich weiß, dass ich sowieso nicht einschlafen werde. Dazu muss ich viel zu viel nachdenken. Wieder klopft es an meine Tür.

„Herein“, rufe ich, öffne die Augen und setze mich auf. Der dicke Wärter räuspert sich und lächelt mich gestellt an. Ich verdrehe die Augen. Wenn Joe so vor mir steht, besonders Abends, hat Gold ihm irgendetwas aufgetragen, dass er an mich weitergeben soll. Es liegt unter seiner Würde, selbst her zu kommen.

„Du sollst die Gänge vor den Zellen in unserem Sektor, also Sektor A, putzen!“

„Jetzt?!“

„Ja, er hat es so gesagt.“

„Und warum heute Abend noch?“

„Er sagt, dass es heute ja so geregnet hat und der Matsch morgen fest ist und die Gefangenen ihn dann auch noch festtreten und so…“

„Und ich wette, du verstehst ihn da..?“

„Nun ja…“

„Schon klar!“ Mit einem kunstvollen Seufzer stehe ich auf und gehe langsam zur Putzkammer, in der die gesamten Putzmittel, Besen und ähnliches gelagert werden und zu der die Insassen keinen Zugang haben. In einen Eimer lasse ich eiskaltes Wasser laufen, das warme Wasser ist abgestellt, und schütte das Putzmittel hinein. Der Mopp steht da, wo ich ihn stehen gelassen habe. Gold, der Geizhals, braucht keine Putzfrauen einzustellen, denn ich muss eigentlich jede Woche das gesamte Gefängnis putzen. Doch das ich dies tun muss, während die Insassen in ihren Zellen sitzen und mich dabei beobachten, das ist neu. Eine neue Grausamkeit.

Etwa eine Stunde dauert es, um allein den unteren Hallenboden von dem ganzen Schmutz zu befreien. Selbst völlig verdreckt und total abgenervt von den dauernden Rufen und Kommentaren der Gefangenen, gehe ich die Stufen zur ersten Etage hoch und stelle den Wassereimer ab. Total übermüdet lehne ich mich an die Wand an und schließe die Augen. Laut gähne ich. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Ruckartig gehe ich einen Schritt nach hinten und drehe mich um. Jack grinst mich breit an.

„Na, was sind wir heute denn so schreckhaft?“, meint er. Ich sehe ihn nur schweigend an.

„Warum hasst du mich so?“, fragt er und in seinen Augen scheint sich Trauer widerzuspiegeln.

„Ich… hasse dich nicht!“

„Und warum behandelst du mich dann so?“

„Du warst nicht für mich da, als ich dich gebraucht habe, also warum sollte ich dich gerade jetzt wieder in meinem Leben akzeptieren?“

„Ich bin dein Bruder!“

„Aber du hast dich nicht so verhalten.“

„Ich bin gegangen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Davor habe ich dich doch gut versorgt.“

„Du wolltest wiederkommen und mich holen! Stattdessen habe ich im Heim meine Zeit abgesessen und bin nun hier!“

„So schlecht ist es hier nun auch nicht. Jedenfalls nicht für dich.“

„Was weißt du denn schon?“ Nachdenklich blicke ich auf meine Hände. Der provisorische Verband ist nun blutgetränkt.

„Was ist mit deinen Händen? Wer war das?“ Schweigend und immer noch nachdenkend blicke ich meinen Bruder an. Macht er sich etwa Sorgen?

„Das kann man sich ja nicht anhören! Gold war das! Wer denn sonst?“ Mark erscheint hinter Jack. Ich funkele ihn böse an.

„Na da hast du ja den besten Zellenkumpel erwischt, Brüderchen!“

„Tja… jeder hier weiß doch, dass Gold dich nicht mehr ab kann, seit du ihn nicht rangelassen hast.“

„Was interessiert es dich?“

„Nun ja, das kann dein Brüderleinchen doch erfahren.“

„Er ist allein mein Problem.“

„Dein Problem ist auch mein Problem!“, mischt Jack sich nun auch ein, „Dafür sind Geschwister nun einmal da!“ Tränen treten in meine Augen und ich schreie ihn nun fast an:

„Und wo warst du, als Mum sich vor meinen Augen erhängt hat und sagte, dass ich allein die Schuld an allem tragen würde? Wo warst du, mein geliebter Bruder?“ Ich spüre die kalten Wassertropfen meine Wangen hinunterlaufen und Jack sieht mich nur geschockt an. Durch meinen Aufschrei ist es im ganzen Zellenblock ungewöhnlich still geworden. Obwohl ich noch immer nicht fertig bin, schnappe ich mir den Putzeimer und den Besen und renne zurück in mein Zimmer. Jack schreit mir hinterher, doch ich ignoriere es einfach. Im meinem kleinen Raum schmeiße ich die Putzutensilien ungeachtet in eine Ecke, schmeiße mich auf mein Bett und schalte meinen iPod, den mir Anni zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hat, so laut es geht. Um meinen Tränenfluss zu stoppen, schließe ich die Augen. Gerade war doch mein Leben noch so normal und einfach verlaufen, warum muss ausgerechnet jetzt Jack auftauchen? Ich brauche ihn nicht mehr in meinem Leben! Ich brauche keine Familie. Nicht einmal Freunde. Denn die Familie kann einen verletzen und die Freunde einen verraten. Ich bin zu einem Einzelkämpfer geworden und habe mich damit abgefunden. Obwohl ich eine Freundin habe. Eine wirklich gute Freundin, der ich sogar mein Leben anvertrauen würde. Kitty. Früher im Heim habe ich sie immer damit aufgezogen, dass ihr Name der einer Katze war. Viele Jahre waren Kitty und ich unzertrennlich gewesen, doch dann wurde sie von einer sehr netten Familie adoptiert. Das war die härteste Probe unserer Freundschaft gewesen. Die Familie entschied sich zwischen Kitty und mir. Als sie Kitty auswählten, weil sie viel ruhiger war als ich, war ich nicht im Geringsten sauer gewesen. Kitty tat es leid um mich, doch ich redete ihr das gleich aus. Im Grunde war ich sogar froh. Ich denke nicht, dass ich mich in eine fremde Familie hätte eingliedern können. Kitty und ich schrieben uns nach ihrem Auszug aus dem Heim und besuchten uns auch. Eher besuchte ich sie. Aber auch das verebbte mit der Zeit. Schon lange habe ich nichts mehr von meiner einzigen, besten Freundin gehört. Vielleicht wollen ihre neuen Eltern nicht, dass sie etwas mit einer wie mir zu tun hat. Laut atme ich aus und schalte meinen iPod aus. Die Stille umhüllt mich und ich genieße es. Ich genieße es so, dass ich schnell einschlafe.
 

Der nächste Tag beginnt so früh wie immer. Um sechs Uhr morgens stehe ich vor der verschlossenen Tür zur Krankenstation und warte auf Anni. Seufzend setze ich mich auf den leeren Tisch, der wie immer neben der Tür steht. Anni ist nie zu spät. Wirklich nie. Sonst meckert sie mich immer an, weil ich eigentlich immer zu spät da bin. Grinsend sehe ich nun der schnaufenden Anni entgegen, die um die Ecke gestürmt kommt.

„Mein Wecker! Mein Auto! Das Taxi… Stau“, wirft sie mir entgegen.

„Kann doch mal passieren“, erwidere ich und mein Grinsen wird breiter. Eigentlich ist das Annis Spruch und ich wollte ihn schon immer mal sagen. Schnell schließt die Ärztin die Tür auf, zieht ihre Jacke aus und wirft sich ihren Kittel um. Ich reiche ihr die Liste von allen Insassen, die heute hier einen “Termin“ haben. Dann beginne ich, etwas aufzuräumen, stelle einige Verbände und Pflaster griffbereit hin und tausche den Bezug auf der Liege aus. Anni sucht indessen die Akten der ersten Patienten raus. Plötzlich ertönt ein lautes, dumpfes Geräusch, das mich irgendwie an die Schulglocke erinnert, durch die Lautsprecher. Nun werden die Gefangenen aus ihren Zellen gelassen. Um halb sieben Uhr morgens. Jetzt werden sie frühstücken und dann werden sie nach draußen ins Freiluftgehege gesteckt. Einige anderen arbeiten. In diesem Gefängnis läuft nicht alles so sauber ab, wie man es denken würde. Viele von den Gefangenen hier sind durch frühere Verbrechen reich geworden und bestechen die Wärter, die ihnen dann alles Mögliche erlauben, was normalerweise verboten wäre. Zum Beispiel einen geheimen Pokerraum. Durch Zufall habe ich ihn entdeckt, als ich ein paar Medikamente aus der Vorratskammer holen sollte. Doch ich würde niemals Karl, den bestochenen Wärter, verraten. Außerdem bin ich mir sicher, dass auch Gold von mehreren Insassen hier bestochen wird. Ich halte mich daraus, denn ich will keinen Ärger provozieren. Anni lässt sich in ihren Stuhl fallen und sieht mich an.

„Unser erster Patient kommt erst um sieben. Also können wir uns noch ein bisschen unterhalten. Erzähl mir doch ein bisschen von dir“, meint sie und sieht mich erwartend an. Das macht Anni am liebsten. Sie ist ja so neugierig. Doch ich habe nicht vor, ihr auch nur zu viel von mir zu erzählen.

„Das haben wir doch schon so oft durchgekaut, Anni. Ich bin in einem Heim aufgewachsen…“

„Und was ist mit deinen Eltern?“

„Was ist denn mit deinen Eltern?“

„Meine Eltern wohnen immer noch in diesem schönen alten Landhaus. Weißt du, es liegt direkt am See und es ist einfach wunderschön dort. Als ich 5 Jahre alt war, bin ich fast mal dort ertrunken. Mein erster Freund, er hieß Neil, was für ein netter Junge, jedenfalls bis er mich mit Michaela betrogen hat. Weißt du, ich konnte Michaela nie leiden, aber er hat gesagt, da lief nichts. Er hat gesagt, sie wäre bloße eine arrogante Zicke. Aber dann hat Rebecca, meine beste Freundin, damals, mir gesagt, er hätte mich schon 3 Monate lang mit ihr betrogen. Dann war es aus. Was wollte ich eben erzählen? Ach ja, unser Haus. Der See. Mitten im See war eine Insel. Man, war die schön. Jedenfalls ist Neil, dieser Schuft, denn er hat mich ja betrogen. Neil ist immer dort mit mir hingefahren…“, sprudelt Anni los. Anni von einem Thema abzubringen ist einfach. Man fragt sie einfach etwas über sie selbst und schon fängt sie an, doch sie hört nicht mehr auf. Ich lächele sie bloß an, höre ihr aber nicht zu. Plötzlich klopft es. Joe und Karl stützen den humpelnden Mark. In seinem rechten Fuß steckt ein Messer, das anscheinend aus einer Glasscherbe geformt ist.

„Legt ihn dorthin!“, befiehlt Anni ihnen. Als sie ihn abgelegt haben, verlassen die Wärter den Raum.

„Das sieht schlimm aus. Ich muss wohl neuen Verband holen“, meint die Ärztin.

„Ich habe doch eben dort neuen hingestellt“, erkläre ich und deute auf den kleinen Tisch, doch dort sind nur noch die Pflaster, „Ich hätte schwören können…“ Anni zuckt mit den Schultern und zieht schnell das Messer aus Marks Fuß. Dieser schreit seinen Schmerz raus.

„Stell dich nicht so an“, murmelt die Ärztin, während sie ein Tuch um den Fuß bindet, um den Blutfluss zu stoppen. Dann ist sie auch schon verschwunden. Ich verstehe nicht, warum sie die Verbände holt, weil das sonst meine Aufgabe ist, doch es ist mir eigentlich egal, da ich wenigstens nicht laufen muss.

„Was ist denn passiert?“, frage ich Mark interessiert. Dieser mustert mich erst. Es scheint, als ob er mit sich selbst ringt, da er nicht weiß, ob er mir antworten soll oder nicht. Schließlich setzt er wieder sein fieses Grinsen auf:

„Es muss doch da tatsächlich ein Messer in meinem Fuß gelandet sein, als im Speiseraum alle einen Aufstand geprobt haben. Die Wärter haben gar nicht lange gefackelt und Rauchbomben geworfen.“

„Wem gehört das Messer, dass in deinem Fuß gesteckt hat?“

„Ich würde mal sagen… deinem lieben Brüderchen!“

„Jack?“

„Hast du noch eins, von dem niemand etwas weiß?“

„Wieso hat er das getan?“

„Vielleicht ist er einfach nur brutal, schlecht und böse?“

„Das glaub ich nicht! Du hast ihn bestimmt gereizt!“

„Ach, und dann darf er mir also ein Messer in den Fuß rammen?!“

„Nein… natürlich nicht“, murmele ich. Überlegen wird Marks Grinsen noch breiter. Nun betritt Anni wieder das Zimmer. Sie blickt mich erschrocken an und erst jetzt merke ich, dass Tränen aus meinen Augen laufen. Schnell und ohne ein Wort verlasse ich das Krankenzimmer und laufe in den Sektor A. Langsam schleiche ich vor Jacks Zelle. Wegen dem Aufstand im Speiseraum wurden alle Insassen wieder in ihre Zellen gesperrt, aber ich denke, dass sie bald wieder ins Freiluftgehege dürfen. Und wenn es nur so ist, weil jemand wieder Gold bestochen hat. Mein Bruder erhebt sich sofort von seinem Bett und stellt sich an die Tür.

„Ich weiß, warum du hier bist.“

„Seit wann bist du so …?“

„Wie?“

„So… herzlos?“

„Und wenn es aus dem Affekt heraus passiert ist?“

„Ich kenne dich! Bei dir geschah noch nie etwas einfach nur so aus dem Affekt. Du hattest immer einen Plan. Also, was hast du vor?“

„Und wenn ich mich verändert habe in den letzten fünf Jahren?“

„Das glaube ich nicht…“

„Was ist, wenn ich mich bloß vertreidigt habe, weil mein lieber Zellengenosse mich töten wollte?“

„Was hätte Mark davon, dich zu töten?“

„Vielleicht wollte er dich bloß ärgern?“

„Vielleicht würde Mark dich quälen, aber nicht töten, denn dann hätte er nichts mehr, um mich zu ärgern.“

„Dann hätte ich ihn töten sollen?“ Auf diese Frage gebe ich keine Antwort und drehe mich um. Blitzschnell schnellt Jacks Hand aus dem Gitter, fasst mich hart am Ellbogen und zieht mich zu sich hin.

„Was würdest du sagen, wenn ich dich fragen würde, ob du mir hilfst, auszubrechen?“

„Dann würde ich sagen, dass du aufpassen musst, denn ich bin verpflichtet alles zu melden, was du mir diesbezüglich sagst.“

„Wem denn? Den geldgierigen Angestellten, dem sardistischen Direktor oder den verurteilten Insassen?“

„Lass mich in Ruhe! Du bist mir fremd geworden, Jack. Du bist nicht mehr der Bruder, den ich mal so verehrt, geliebt und respektiert habe.“

„Ich habe mich weiterentwickelt und ich rate dir, das auch zu tun.“

„Soll ich auch ins Gefängnis kommen? Wünscht du dir das für mich, Brüderchen?“ Ich versuche mich loszureißen und gehe einen Schritt nach vorne, doch wieder zieht mich Jack unsanft zu sich zurück. Mit voller Wucht knalle ich an das Gitter. Ängstlich schaue ich mich nach einem Wärter um und entdecke Karl, doch bevor ich nach ihm rufen kann, hält mir mein Bruder den Mund zu und flüstert mir ins Ohr:

„Nun hör mir mal zu, Kleine, du kennst doch sicher noch Ray, oder? Nicke einfach!“ Ich nicke vorsichtig. Ray und Jack waren früher unzertrennlich. Beste Freunde für immer. Ray war ein Waisenkind gewesen, das aus dem Heim geflohen war. Mein Bruder versteckte ihn immer im Schuppen, damit unsere Eltern ihn nicht sahen und meist klaute Ray sich sein Essen mit uns zusammen. Er haute damals gemeinsam mit Jack ab. Nach einer kurzen Pause redet Jack weiter:

„Du wirst jetzt in dein Zimmer gehen und warten. Er wird dich heute noch anrufen und dir etwas mitteilen. Tust du etwas anderes oder erzählst jemand etwas, wird etwas sehr, sehr schreckliches geschehen und daran wirst du dir für immer die Schuld geben, also hör auf mich. Du weißt genau, angelogen habe ich dich noch nie!“ Nun lässt Jack mich los. Traurig blicke ich ihn an und murmele:

„Bist du dir da sicher?“ Dann gehe ich, ohne ein Wort zu verlieren. Endlich entdeckt auch Karl mich, doch er schreit mich nur an:

„Was tust du denn da oben? Gold hat dir verboten dort oben zu sein! Sehe ich dich noch einmal da oben, melde ich es.“ Normalerweise hätte ich eine schnippische Antwort gegeben und ich merke auch, dass Karl darauf wartet, doch ich nicke nur und gehe an ihm vorbei. Der Wärter legt seine Hand auf meine Schulter.

„Ist irgendetwas passiert?“ In seiner Stimme schwingt Besorgnis mit. Ich sehe ihn an und lächele.

„Nein, es ist…“, vorsichtig schaue ich zu Jacks Zelle. Dieser beobachtet mich mit einem hämischen Grinsen auf dem Gesicht. So hämisch, dass es mich an Mark erinnert. Meinen Blick wende ich ab.

„….nichts…“ Langsam gehe ich zurück in mein Zimmer, schließe die Tür und nehme mein Handy in die Hand. Es ist uralt. Es hat Anni gehört und als sie sich ein neues gekauft hat, hat sie mir ihr altes geschenkt. Anni und Joe sind die Menschen, zu denen ich nach langer Zeit mal wieder eine wirkliche Beziehung aufgebaut habe. Die Ärztin ist so etwas wie eine Mutter für mich geworden, die ich nie hatte. Vorsichtig wende ich meinen Blick auf das Display, doch dort steht nichts. Kein verpasster Anruf. Das heißt, dass Ray noch nicht angerufen hat. Erst jetzt bemerke ich, dass ich zittere. Was soll das alles? Was will Ray von mir? Und vor allem: Was hat Jack nur vor? Diese Attacke auf Mark mit diesem komischen Messer… er war doch nie brutal, sollte er sich so geändert haben? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Und das will ich mir auch nicht vorstellen! Ich atme tief aus, lege das Handy auf den Boden neben meinem Bett und lege mich ausgestreckt hin. Langsam schließe ich die Augen. Doch dann schrecke ich hoch, nehme das Handy in die Hand und merke erst dann, dass es nicht die Vibration des Handys war, die ich gehört habe. Wahrscheinlich habe ich gar nichts gehört. Bin ich denn so aufgeregt? Was soll denn so schrecklich sein? Was soll das ganze überhaupt? So viele Fragen schwirren in meinem Kopf. Warum war Jack eben so kühl mir gegenüber? Ich habe echt Angst vor ihm bekommen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst vor Jack. Besonders nach seiner Aussage, dass etwas sehr, sehr Schlimmes geschehen soll. Zu meinem Zittern kommt nun auch noch schnelles Atmen. Was rege ich mich eigentlich so auf? Es ist nur ein Anruf… aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich durch diesen Anruf alles verändern wird!

Ich sitze noch gegen Abend auf meinem Bett, bis mein Handy endlich vibriert. Anrufer unbekannt.

Wieso?

Zum Frühstück ziehe ich mir eine einfache Jeans, ein orangenes T-Shirt an und schwarze Turnschuhe an. Es ist acht Uhr. Langsam gehe ich nach unten in die Eingangshalle. Immer noch denke ich darüber nach, was da in meinem Zimmer passiert ist. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Sache unten in der Stadt einfach nur der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Nun bin ich wieder völlig ruhig. So wie normalerweise auch. Das muss ich auch sein, denn wenn ich anfange, so viele Emotionen zu zeigen, werden die anderen mich viel zu einfach manipulieren können. Auch eine Lektion, die ich im Heim gelernt habe. Früher war ich so damit beschäftigt, unbedingt Freunde finden zu wollen, dass ich damit alle von mir vertrieben habe. Ich habe damals einfach zu viele Emotionen gezeigt, habe die anderen viel zu leicht in meine Gedanken sehen und meine Wünsche erkennen lassen. Ich war für sie wie ein offenes Buch und genau das war das Problem. Nun schleiche ich fast durch die Gänge und komme dann endlich in der Halle an. Die zwei Dienstmädchen von gestern erwarten mich dort schon. Förmlich verbeugen sie sich vor mir.

„Erstens: Ihr braucht euch nicht vor mir zu verbeugen. Zweitens: Ihr könnt mich ansehen, ich bin nicht besser oder schlechter als ihr und außerdem könnt ihr mich ruhig duzen.“ Verwirrt blicken sich die Dienstmädchen an und heben dann ganz langsam ihre Köpfe. Zaghaft sehen sie mich an.

„Seht ihr, war doch gar nicht so schwer!“ Ich grinse sie an. Sie lächeln zögerlich zurück.

„Hier entlang.“ Sie führen mich in einen riesigen Saal, in dem ein riesiger Tisch steht. Es stehen mindestens dreißig Stühle daran. Auch hier hängt unter der Decke ein riesiger Kronleuchter. Direkt mir gegenüber sitzt Jack vor Kopf und neben ihm Ray. Sie tragen beide dunkle Jeans und schwarze T-Shirts. Ray deutet mir, mich ihm gegenüber zu setzen. Schweigend tue ich dies auch sofort.

„Willst du nichts essen?“ Ich schüttele nur den Kopf. Jack interessiert meine Antwort jedoch scheinbar nicht. Er schiebt mir einen Teller mit einem mit Marmelade beschmierten Weißbrot direkt vor die Nase.

„Ich weiß doch, dass du Himbeeren am liebsten mochtest.“ Schweigend sehe ich von seinem grinsenden Gesicht zu dem Weißbrot. Stolz schiebe ich es von mir.

„Was ist mit Kitty?“

„Später… Lass uns erst einmal essen!“

„Später?!“, schreie ich, springe auf und reiße dabei den Stuhl, auf dem ich gesessen habe, mit mir um, „Ich kann es nicht mehr hören. Sagt endlich, was ihr von mir wollt, damit Kitty endlich frei kommt. Ich will endlich Gewissheit.“

„Na, ich sehe schon… Du bist da jemandem sehr ähnlich!“ Erschrocken drehe ich mich um. Ein älterer Mann von etwa 40 Jahren hat den Saal betreten. Er trägt einen schwarzen Designeranzug und Lederschuhe. Seine grauen Haare sind ordentlich nach hinten gegelt und er trägt vor seinen schwarz wirkenden Augen eine kleine, rechteckige Brille. Ray und Jack springen auf und verbeugen sich.

„Vater.“ Dieser Ausdruck macht mich noch sprachloser, als ich sowieso schon bin. Das ist also Mr. Black. Der Mr. Black.

„Guten Tag, Lyra. Ich habe schon viel von dir gehört“, meint Mr. Black und ignoriert seine beiden Söhne dabei völlig. Ich nicke immer noch sprachlos.

„Ich sehe, ihr habt Geschäfte zu besprechen. Nun, ich werde sowieso erwartet.“ Mit diesen Worten verlässt er den Raum. Wieder verneigen sich Ray und Jack. Wie Soldaten. Sie wirken nicht mehr so wie früher in diesem Moment. Sie wirken wie… Ja, wie Soldaten. Wie jemand ohne Persönlichkeit. Wie Marionetten von diesem Mr. Black.

„Nun denn, Ly. Sagen wir dir endlich, was wir von dir erwarten!“ Dankend nicke ich. Endlich! Jack und sein Freund erheben sich und ich tue es ihnen gleich. Sie führen mich in weiteren Raum, in dem ein Tisch in einem Halbkreis steht und an der riesigen Wand, die schwarz gefärbt ist, hängt eine große Karte mit der Überschrift:

„Breakville“, lese ich.

„Ja, Breakville ist die Stadt, in der du vorhin verschwunden bist.“ Verlegen lächelnd kratze ich mich am Kopf.

„Ein Mädchen braucht halt seine Freiheit.“ Ich ignoriere den bösen Blick, den Jack mir zuwirft und den mahnenden Blick, den Ray mir schenkt.

„Also, was ist mit Kitty?“

„Deine Freundin lebt und es geht ihr den Umständen entsprechend.“

„Ich will sie sehen!“

„Wir lassen sie frei, wenn du deinen Auftrag erledigt hast!“

„Woher soll ich wissen, dass sie nicht schon längst tot ist?!“

„Glaubst du, dass ich dich anlüge? Vertraust du mir nicht?“, fragt Jack mich vorwurfsvoll.

„Kann ich das denn?“, flüstere ich und starre meinen Bruder an. Ich weiß nicht, wie lange wir uns so schweigend ansehen, jedoch unterbricht dann Ray die Stille:

„Also, im Endeffekt geht es um die Stadt?“ Fragend wende ich meinen Blick von Jack ab.

„Wo sollen wir anfangen? Pass auf, die Stadt besteht eigentlich aus drei großen Gruppen, Banden, Gangs. Nenn es, wie du es für richtig hältst.“ Ray legt seinen Finger auf die Karte.

„Das hier ist unsere Villa. Die Villa von Mr. Black, unserem…“

„Vater?“ Jack sieht mich schweigend an. Ich kenne diesen Blick. Er versucht herauszufinden, wie ich diese Neuigkeit aufnehme.

„Mr. Black hat uns aufgenommen, Ly. Und Jack und ich sind jetzt so etwas wie seine Söhne, aber wir sind auch die Anführer einer der Banden. Wir nennen uns die Blacks.“

„Ahja.“ Ich verstehe nur Bahnhof. „Was hat das alles mit mir und vor allem mit Kitty zu tun?“

„Hör einfach weiter zu.“ Ich zucke mit den Schultern und setze mich auf den Tisch direkt gegenüber der Karte. Nun fährt Ray mit dem Finger zu der zweiten Villa, die ich auch von meinem Zimmer aus gesehen habe.

„Das hier ist der Sitz der Greys. Sie sind die Anhänger von Mr. Drag.“ Er legt seinen Finger auf die dritte Villa.

„Das hier gehört den Blues. Ihr Anführer ist Diego. Sie sind unsere Erzkonkurrenten, doch im Moment bleiben sie im Hintergrund. Dich haben im Moment eigentlich nur die Greys zu interessieren.“ Den Namen des Anführers der Blues spricht Ray mit einem wütenden Zähneknirschen aus. Wohl ein wunder Punkt.

„Warum habt ihr euch alle nach Farben benannt?“

„Wir haben uns nach unserem Vater benannt, die anderen haben uns bloß nachgeäfft. Ihre Namen haben keine wirkliche Bedeutung für sie.“

„Ok. Aber ich verstehe immer noch nicht, was das alles mit mir zu tun haben soll!“

„So weit sind wir doch noch gar nicht. Also, bei deinem schönen Spaziergang wirst du doch bestimmt das Parlamentsgebäude gesehen haben“, mischt sich nun mein Bruder ein. Ich nicke.

„Also, Mr. Black, Mr. Drag und auch Diego sind Parlamentarier, das heißt, sie haben einen Sitz im Parlament und können bei wichtigen Entscheidungen, die die Stadt betreffen, mitbestimmen. Nun stehen aber bald die Präsidentenwahlen an. Die einzigen Kandidaten, die sich haben aufstellen lassen, sind Mr. Black und Mr. Diego, verstehst du.“

„Ich kapiere immer noch nicht, was das mit mir zu tun hat. Natürlich glauben wir als Blacks an das was unser Vater und Vorbild tun wird, aber den neusten Umfragen zufolge, wird dieser Decksack Drag gewinnen.“

„Dann würde ich sagen, müsste euer… Vater…“ Es fällt mir schwer, dieses Wort auszusprechen, wenn ich daran denke, welche Bedeutung es hat. „… ein neues Wahlprogramm aufstellen.“

„Apropos, Jack, wir müssen los!“ Ray erhebt sich. Jack fasst mich am Arm und zieht mich hinter sich her.

„Wo wollen wir denn hin?“, frage ich genervt.

„Es werde heute die Reden von Mr. Drag und Mr. Black gehalten. Du weißt schon, sie erzählen, was sie machen wollen, wenn sie Präsidenten sind und so. Wir müssen dabei sein. Dann wirst du auch sicher verstehen…“

„Was denn? Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, was ich tun soll, um Kitty zu befreien.“

„Später!“ In diesem Moment bin ich nahe dran, meinem Bruder mitten ins Gesicht zu schlagen. Ray nimmt meine Hand und zieht mich lachend von Jack los.

„Komm.“ Er schiebt mich in die Limousine, die vor der Tür geparkt ist und wir fahren den kurzen Weg runter in die Stadt.

„Schon mal was von laufen gehört?“

„Mit einer Limo vorzufahren ist viel cooler…“, erklärt Ray und schon sind wir da.

„Toll, das hat es jetzt gebracht“, meine ich, als ich hinter Ray aussteige.

„Sei jetzt still!“ Vor uns hat sich eine riesige Menschenmenge aufgebaut, durch die sich mein Bruder und sein bester Freund jetzt den Weg bahnen. Dabei verliere ich sie Augen und stehe plötzlich völlig allein mitten in der Menge, die sich vor dem Parlamentsgebäude versammelt hat. Langsam dränge auch ich mich durch die Menschenmasse nach vorne. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Ruckartig drehe ich mich um.

„Hi.“ Nick grinst mich an. Ich lächele zurück.

„Hi.“

„Wo ist mein Eis?“ Nun lache ich auf.

„Sorry, aber ich habe kein Geld bei mir.“

„Dann das nächste Mal.“

„Sicher.“

„Willst du dir das Geschwätz unserer neuen Oberhäupter anhören?“

„Scheint so.“

„Dann folg mir, ich weiß einen guten Platz für uns.“ Er nimmt meine Hand und zieht mich hinter sich her. Er zieht mich in ein Nebengebäude und läuft mit mir die Treppen hinauf. Es scheinen mindestens 10 Stockwerke zu sein. An einer stählernen Tür hält er an. Er öffnet sie schwungvoll.

„Nach Ihnen, junge Dame.“ Ich mache einen Knicks und gehe dann lächelnd an ihm vorbei. Wir sind auf dem flachen Dach des Hauses angekommen. Es ist mit Kies ausgelegt. Schnell renne ich bis an den Rand und halte, kurz bevor ich nach unten falle, an.

„Wow, was für eine Aussicht.“

„Und ein Herzinfakt!“

„Was?“

„Mach das nicht noch einmal! Das sah gerade so aus, als wolltest du Selbstmord begehen.“

„Warum nicht?“ Ich erschrecke mich selbst über die Ernsthaftigkeit in meiner Stimme.

„Sag so etwas nicht!“ Macht sich Nick etwa Sorgen um mich? Warum machen sich anscheinend alle Sorgen um mich? Sehe ich so aus, als bräuchte ich Hilfe? Natürlich bräuchte ich Hilfe, aber sieht man mir das sofort an? Genervt schüttele ich den Kopf, um diese Gedanken so schnell wie möglich zu vertreiben. Ich kann mich doch nicht so mit mir beschäftigt sein, während Kitty vielleicht Höllenqualen erleiden muss.

„Sag mal, weinst du?“

„Nein!“ Mit dem Handrücken wische ich mir die nassen Augen ab. Und bevor Nick noch etwas erwidern kann, öffnet sich hinter uns wieder die Tür. Drei weitere Jungen betreten das Dach. Der eine hat sich seine langen, braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und blickt mich mit seinen dunkelblauen Augen neugierig an. Der zweite hat fast eine Glatze und gräulich wirkende Augen und der dritte hat kurze verwuschelte braune Haare und grau-blaue Augen. Alle drei haben ein schiefes Grinsen auf dem Gesicht.

„Na, willst du uns deine kleine Freundin nicht vorstellen?“ Nick seufzt.

„Leon.“ Er zeigt auf den mit dem Pferdeschwanz.

„David.“ Der mit den verwuschelten braunen Haaren.

„Alex.“ Er beutet auf den dritten Jungen.

„Jungs, das ist Lyra.“

„Hi.“ Ich grinse die drei an und knie mich an den Rand des Daches.

„Halt!“ Alle vier Jungs stürmen auf mich zu.

„Noch mal zum Mitschreiben. Ich…will…nicht…springen“, meine ich genervt, setze mich an den Rand, lasse die Füße baumeln und schaue nach unten, wo sich gerade Mr. Black an das Redepult stellt. Er sieht entschlossenen in die Menge und redet ernst in das Mikrofon vor ihm:

„Meine sehr geehrten Bürger und Bürgerinnen, liebe Freunde. Nun da die Präsidentenwahl vor der Tür steht, liegt auch euch allen ein großer Druck, den ich, wir, euch allen abnehmen wollen. Schon immer habe ich dieser, unserer, Stadt gute Dienste erwiesen, habe all meine Kraft eingesetzt, um unsere, meine, Heimat zu stärken und das werde ich auch in Zukunft tun. Mit all meiner Stärke werde ich eure Interessen vertreten und durchsetzen. Nach einer von mir erstellten Umfrage habe ich erfahren, was die notwendigsten und wichtigsten Dienste sind, die euch, meine lieben Wähler und Wählerinnen, interessieren und die sich für euch verändern müssen. Als eine meiner ersten Amtshandlungen werde ich die Arbeitslosigkeit in Breakville verringern, denn ich werde dafür sorgen, dass hier und in unseren umliegenden, zu Breakville gehörenden Dörfern Fabriken ansiedeln werden, die Arbeitsplätze für euch und eure Kinder schaffen werden. Außerdem werde ich unser städtisches Waisenhaus und unseren Seniorensitz renovieren lassen, damit sich jung und alt auch wirklich wohlfühlen. Ich werde ein Jugendzentrum errichten lassen, in dem sich unsere zukünftigen Wähler aufhalten können. Darin wird sich auch ein neuer Kindergarten befinden, der es den jungen Müttern erlaubt, ihre Kinder in gute Hände zu geben, während sie wieder ihrer Arbeit nachgehen können. In diesen Zentren werden geschulte Fachkräfte eingestellt, die sich mit den Sorgen und Problemen der Jugend beschäftigen können und werden. Zu diesem Zentrum wird ein neuer Fussballplatz, eine neue Sporthalle und ein dazugehöriger Tennisplatz gebaut werden. Ebenso wird in Breakville ein neues Einkaufszentrum errichtet werden, in dem die Waren frisch und billig verkauft werden. Ich werde einen Mindestlohn von 15 Euro einführen, die Öl-, Benzin- und Gaskosten senken, ebenso wie die Steuern. Dieser Stadt werde ich zu neuem Ruhm verhelfen und sie so bedeutend werden lassen, wie sie es noch nie war. Ich werde den Menschen hier, euch, so gut helfen, wie ich es vermag. Danke für eure Aufmerksamkeit.

Mr. Black dreht sich um und setzt sich wieder auf seinen Platz einige Meter von dem Redepult entfernt.

„Das hört sich doch sehr gut an“, murmele ich. Mr. Black scheint ein netter Mann zu sein. Verächtlich schnaubt David hinter mir:

„Von wegen. Nichts als leere Versprechungen.“

„Ja, er erzählt so viel, aber das kann er gar nicht alles realisieren.“

„Das will er doch auch gar nicht, Leon! Er will bloß dieses Amt. Wenn er erst einmal gewählt ist, wird er sich einen Dreck um die Bürger da unten scheren.“ Nachdenklich blicke ich die drei Jungs an. Anscheinend haben sie etwas gegen Mr. Black.

„Aber…“

„Was aber, Ly?“, mischt sich nun auch Nick ein, „Es klingt alles sehr schön und gut, was der alte Black da unten verspricht, aber einhalten wird er das alles nicht. Das ist unmöglich und das weiß er besser als alle anderen. Deshalb wählt ihn auch kaum jemand.“

„Kaum jemand wählt ihn?“

„Ja! Die Mehrheit wählt Drag.“ Nachdenklich nicke ich und blicke von einem Jungen zum anderen.

„Seid ihr alle Greys?“ Verächtlich lachen die drei auf. Nick blickt mich nur schweigend an.

„Nein, wir… wir sind Blues“, erklärt Alex stolz.

„Und du?“, fragt Nick und sieht mich eindringlich an. In seinem Blick scheint sich sogar etwas Trauer widerzuspiegeln.

„Ich? Ich bin.. nichts. Nur jemand, der unfreiwillig in diese Sache hineingezogen worden ist.“

„Unfreiwillig?“ Nick blickt mich immer noch genau an. Ich zwinge mich, ihn nicht anzusehen.

„Schaut, es geht weiter.“ Tatsächlich hat sich ein zweiter Mann auf den Weg zum Redepult gemacht. Er scheint so alt zu sein wie Mr. Black. Doch er wirkt nicht so wie dieser. Mr. Black wirkt auf mich wie ein Geschäftsmann, der hart und unberechenbar ist. Dieser Mann jedoch scheint eher so etwas wie ein liebes, altes Großväterchen zu sein. Er hat einen grauen Vollbart und graue Haare. Trotzdem wirkt er noch relativ jung. Er trägt einen grauen Anzug. Gemächlich schreitet er zu dem Pult und sieht die Menge erst lange an, bevor er lächelnd anfängt zu sprechen:

„Meine lieben Wähler und Wählerinnen, wie ihr schon längst wisst, bin ich kein Mann der großen Worte, aber ich kann euch sagen, dass ich jetzt nichts lieber tun würde, als mich ebenso wie mein Vorredner hier hinzustellen und euch das Blaue vom Himmel zu versprechen. Ich wäre froh, wenn ich auch all das zu euch sagen könnte, aber dann müsste ich lügen und ich will euch nicht anlügen, das habt ihr nicht verdient. Ich stehe nun vor euch und soll euch berichten, was ich tun werde, wenn ihr mich wählt. Nun, auch ich werde all meine verbliebenen Kräfte dafür einsetzen, euch ein Leben ohne Sorgen bieten zu können. Es wird nicht von heute auf morgen, ein sorgloses Leben für euch geben, egal wen von uns beiden ihr wählen werdet, doch auch ich werde mein Bestes tun und nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Durch Spendensammlungen werde auch ich versuchen unseren Nachwuchs zu unterstützen und auch ich werde mich um Arbeitsplätze bemühen. Ich werde alles geben, einige Firmen dazu zu bringen, sich hier anzusiedeln, doch das alles benötigt Zeit. Zeit, die ich opfern werde, wenn ihr bereit seid, sie mir zu geben. Jederzeit werde ich mein Möglichstes versuchen und euch nicht enttäuschen, solltet ihr eure Hoffnung in mich setzen.“

Ich kann die Bewohner von Breakville verstehen. Dürfte ich wählen, wäre meine Wahl auch Mr. Drag. Mr. Black verspricht so viel und es hört sich auch gut an, doch er kann das niemals einhalten, da haben David, Leon, Alex und Nick schon Recht. Langsam setzen sich die Massen unter mir in Bewegung. Es sieht schön aus, denn von hier oben wirken die Menschen da unten so klein. Ich muss grinsen.

„Was grinst du so?“, fragt Nick. Erst jetzt fällt mir auf, dass auch Leon, Alex und David schon gegangen sind.

„Ich finde es so schön hier oben.“

„Ich bin oft hier. Hier kann man so schön nachdenken.“ Ich nicke und schaue wieder nach unten. Erst jetzt entdecke ich Ray und Jack wieder, die mich anscheinend suchen. Erst jetzt fällt Rays Blick nach oben. Ich winke ihm grinsend zu und schiebe Nick ein Stück nach hinten, damit er ihn nicht sieht. Sind nicht die Blacks und Blues so etwas wie Erzfeinde? Nun deutet Ray nach oben und so entdeckt mich auch Jack. Er sieht mich böse an und zeigt mir an, dass ich nach unten kommen soll. Ich erhebe mich.

„Ich muss los.“ Nick fasst mich am Arm.

„Wieso?“

„Mein Bruder wartet.“

„Ach ja, Jack. Sag mal, was meintest du eigentlich mit unfreiwillig?“

„Hm?“

„Du sagtest doch eben…“ In diesem Moment öffnet sich die Stahltür. Blitzschnell hat sich Nick hinter ebendieser versteckt.

„Komm“, brummt Jack, packt unsanft meine Hand und schiebt mich vor sich die Treppen nach unten. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren drückt er mich vor sich in die Limousine.

„So herzlich wie immer, Brüderleinchen.“

„Was sollte das?“

„Was?“

„Was machst du auf dem Dach?“

„Ich habe nur den Rednern zugehört“, erwidere ich ehrlich.

„Das sah aus…“

„Ich wollte keinen Selbstmord begehen“, stöhne ich genervt.

„Sah aber so aus.“

„Und? Wen würdest du wählen?“, mischt sich Ray nun ein. Erst jetzt bemerke ich, dass er neben mir sitzt.

„Willst du eine ehrliche Antwort.“ Er nickt erwartend.

„Meine Stimme würde Drag gehören.“ Jack knirscht wütend mit den Zähnen. Schweigend steige ich hinter Ray aus der Limousine, die gerade angehalten hat. Er wollte doch die Wahrheit hören. Keiner von uns spricht auch nur ein Wort, bis wir wieder in dem Raum mit der Karte ankommen. Ich setze mich wieder auf den Tisch und merke erst dann, dass Jack und Ray mich beobachten.

„Also, du würdest Drag wählen. Warum?“

„Weil… weil er mir sympathischer ist“, erkläre ich und zucke mit den Schultern.

„Sympathischer, ach so“, murrt Jack und ich wende meinen Blick ab.

„Deine Aufgabe ist eigentlich ganz einfach.“ Ray deutet auf ein Foto, das neben der Karte von Breakville hängt. Vorher ist es mir noch nicht aufgefallen. Es stellt einen Jungen mir strohblonden, glatt gegelten Haaren und hellblauen Augen dar, der eine kleine Sonnenbrille in den Haaren trägt.

„Das ist Marcus“, erklärt Ray mir.

„Marcus?“

„Marcus Drag. Mr. Drags Sohn.“

„Und… was hat das mir meiner Aufgabe zu tun?“

„Du wirst ihn anmachen“, erklärt Ray grinsend.

„Bitte was?!“

„Du wirst ihn angraben, mit ihm flirten. Nenn es, wie du willst.“

„Ihr habt mich und Kitty das alles durchmachen lassen, damit ich einen Typen angrabe?“

„Du bist hübsch, mutig, intelligent und gerade single, was wollen wir mehr?“

„Bitte?!“

„Meine Güte, Ly. Du wirst dich in sein Vertrauen einschleichen und damit erreichen, dass du in sein Haus kommst.“

„Sein Haus?“

„Schwer von Begriff heute, oder was? Wenn du drinnen bist, wirst du die Alarmanlage ausschalten und den Rest erledigen wir dann…“

„Den Rest?“ Ray und Jack grinsen mich an. Erst jetzt begreife ich ihren Plan.

„Ich soll mich an seinen Sohn ranmachen, in seine Villa gelangen, seine Alarmanlage ausschalten und dann wollt ihr… ihr wollt ihn töten?!“, schreie ich hysterisch. Jack hält mir die Hand vor den Mund.

„Geht’s noch lauter?“

„Du hast doch gehört, Mr. Black wählt niemand.“

„Deshalb wollt ihr seinen Gegenkandidat töten?! Seid ihr krank?! Wegen eines blöden Präsidentenamtes?!“

„Es geht um mehr.“ Ich springe von dem Tisch. Ich bin zu nervös, um einfach nur rumzusitzen.

„Um was denn dann?“

„Mehr können wir dir noch nicht sagen.“

„Lass mich raten. Später?“

„Marcus wird in einer Woche von einem Urlaub in der Südsee zurückkehren. Dann wirst du seine Freundin werden.“

„In einer Woche? Und Kitty….“

„Deiner Freundin geht es gut. Sie bekommt essen und trinken. Das Einzige, was ihr fehlt, ist vielleicht etwas Liebe, aber sonst…“ Ray grinst. Ich ohrfeige ihn mit aller Kraft.

„Ihr denkt, das hier ist ein Spiel, oder?! Ihr denkt, dass Kitty und ich einfach nur Spielfiguren in eurem kranken Spiel sind, oder? Wenn das hier vorbei ist, will ich euch nie wiedersehen“, schreie ich Ray ins Gesicht und gehe aus dem Raum. Kurz bleibe ich neben Jack stehen und setze dazu an, etwas zu sagen, doch dann verlasse ich einfach nur schweigend den Raum und begebe mich wieder zurück in mein Zimmer. Was soll ich sonst tun? Was bleibt mir denn für eine Wahl? Ich habe keine Wahl!

Den ganzen restlichen Tag verbringe ich in meinem Zimmer. Erst als es schon längst dunkel ist, klopft es. Obwohl ich in nicht hereinbitte, öffnet Jack die Tür und setzt sich neben mich.

„Warum ich?“, frage ich ihn flüsternd.

„Weil wir dachten, dass… nun ja, wir wollten dich wieder bei uns haben. Die gleichen krummen Dinger drehen wie früher.“ Ich springe auf und stelle mich vor meinen Bruder.

„Wir waren Kinder und haben Essen gestohlen.“

„Aber es war eine schöne Zeit.“

„Es war eine schreckliche Zeit, Jack. Mutter und Vater…“ Ich weiß nicht, wann ich zuletzt diese Worte in den Mund genommen habe. Schweigend sehe ich meinen Bruder an.

„Ja, ja unsere Familie.“

„Unsere Familie, oder deine?“ Jack seufzt.

„Ich wusste, dass das kommt. Hör zu, Ly. Nachdem Ray und ich von zu Hause angehauen sind, mussten wir uns überall verstecken und uns vieles klauen, um zu überleben. Zwei Jungen allein in der weiten Welt. Es war nicht so einfach, besonders weil uns die Polizei zu oft auf den Fersen war. Doch dann kamen wir nach Breakville. Hier nahm uns Mr. Black auf. Er war wie ein Vater, den wir nie hatten und er war für uns da, als wir ihn brauchten.“

„Toll.“ Mehr Ironie vertrug meine Stimme nicht.

„Ray und ich werden alles tun, um ihm zu helfen, seine Ziele zu erreichen. So wie er uns geholfen hat.“

„Ihr seid also seine Marionetten. Genauso wie ihr mich zu einer macht?“ Ruckartig zieht Jack mich zu sich und umarmt mich. Ich lasse ihn verwirrt gewähren.

„Du wirst eine von uns werden. Versteh uns doch, uns wird es so gut gehen, wenn Mr. Black erst einmal an der Macht ist.“ Ich drücke Jack von mir und stelle mich an das Fenster.

„Macht?! Er wird Präsident dieser Stadt!“

„Und der umliegenden Dörfer.“

„Oh, wie toll. Meinetwegen, aber ich will da nicht mit reingezogen werden! Ich war mal wieder einigermaßen glücklich gewesen, bevor du aufgetaucht bist, Jack. Lass mich doch einfach in Ruhe.“ Während ich diese verdammten Tränen unterdrücke, stehe ich in die Nacht hinaus. Es regnet in Strömen und das herabfallende Wasser prallt gegen mein Fenster.

„Ich bin aber doch der einzige, den du hast!“, murmelt Jack plötzlich.

„Du warst der einzige, den ich hatte. Du bist gegangen und nicht zurückgekehrt. Ich habe mir mein eigenes Leben ausgebaut und das… das musstest du auch zerstören!“ Wütend drehte ich mich um und legte Jack einen Finger auf die Brust.

„Das war doch kein Leben. Du hast in einem Gefängnis mit lauter ekelhaften Kriminellen gearbeitet und hattest keine Familie!“

„Aber ich war wenigstens nicht mehr so allein. Ich hatte so etwas wie Freunde! Anni, Joe…“

„Das waren Arbeitskollegen, keine Freunde, keine Familie. Versteh doch endlich, dass du mich brauchst.“

„Vielleicht brauchst du mich mehr, als ich dich!“

„Ich bin dein großer Bruder, dein einziger Verwandter… natürlich mache ich mir Sorgen um dich!“

„Das kommt aber reichlich spät, großer Bruder!“

„Wie lange willst du mir das denn noch vorwerfen?“

„Frag lieber, wann ich dir vergebe. Und jetzt geh!“

„Aber…“

„Geh einfach!“

„Nein! Erst will ich wissen, ob du auf unserer Seite stehst?“

„Ob ich auf eurer Seite stehe?! Ob ich auf eurer Seite stehe?! Ich soll dafür sorgen, dass ihr euren Menschen töten könnt. Einen Menschen, Jack! Ihr wollt ein Leben auslöschen, nur damit ihr so ein doofes Amt bekommt!“ Erst jetzt bemerke ich, dass ich schreie.

„Beruhige dich!“

„Ich will mich nicht beruhigen! Du willst jemanden töten, Jack! Das ist das schlimmste Verbrechen, das man begehen kann und ich muss dir dabei helfen! Du zwingst mich dazu! Zerstör meinetwegen dein Leben, aber warum musstest du meines auch zerstören?!“

„Niemand wird uns etwas anhaben wegen dieser Verbrechen! Nicht solange wir bei Mr. Black bleiben! Er hat gute Kontakte. Verstehst du, er wird dich beschützen! Selbst wenn diese Leute aus dem Gefängnis dich verraten, dann wird Mr. Black für dich da sein! Er wird auch für dich ein Vater sein!“

„Ist es das, was du willst? Dass ich ein Mitglied deiner kleinen, schönen Familie werde? Dein Vater als Präsident und wir die kleinen, lieben, gehorsamen Präsidentenkinder?!“

„Dabei wird es nicht bleiben. Als Präsident wird Mr. Black immer weiter aufsteigen und wird Kanzler des ganzen Staates werden.“

„Darum geht es?! Nichts als Macht? Er will die Macht über den gesamten Staat?! Er macht leere Versprechungen, um so weit aufzusteigen, dass er so viel Macht hat und reich wird, aber die Menschen sind egal! Ihre Sorgen sind euch egal! Ihre Leben sind euch egal!“

„Ly, wir….“

„Ihr seid schrecklich! Du bist schrecklich! Niemals hätte ich gedacht, dass ich dich, meinen Bruder, so verabscheuen könnte! Ja, ich werde tun, was ihr wollt... Aber denk nicht, dass ich das tue, um deine kleine Familie glücklich zu machen und ich werde auch nicht zu deiner kleinen, glücklichen Familie jemals dazugehören. Vergiss das! Ich rette Kitty und dann verschwinde ich!“

„Wenn du uns verlässt, dann…“

„Auch wenn ich im Gefängnis lande, oder sonst irgendwo! Alles ist besser, als hier zu sein!“ Schnell renne ich nach an Jack vorbei nach draußen.

„LY!“, höre ich meinen Bruder schreien. Ich bemerke auch, dass er mir hinterher läuft. Schnell stoße ich die große Eingangstür auf und renne durch den strömenden Regen bis vor den Zaun. Ohne große Umschweife klettere ich darüber. Es stört mich nicht, dass die scharfen Spitzen sich in meinen Arm schneiden. Ich renne einfach weiter und weine. Wieso muss ich bloß immer weinen?! Kurz drehe ich meinen Kopf, während ich den Hügel zur Stadt hinunter renne. Jack hat vor dem Tor angehalten und sieht mir nur noch hinterher. Er weiß, dass er mich nicht einholen kann. Ich war schon immer schneller als er. Plötzlich verliere ich das Gleichgewicht und stürze in den Schlamm. Schnell raffe ich mich wieder auf und renne weiter. So schnell mich meine Füße tragen laufe ich in die Stadt, zu dem Platz vor dem Präsidentengebäude. Es ist mir egal, dass meine ganze Kleidung triefend nass und mir furchtbar kalt ist. Ich versuche, es einfach zu verdrängen. So schnell ich kann, laufe ich die Treppen des Hauses hinauf und stürme bis an die Kante des Daches. Es ist Nacht und es regnet. Niemand ist auf den Straßen. Man hört nichts außer dem Regen. Dem endlosen Regen. Sogar mein Schluchzen geht in dem Lärm des Regens unter. Ich schließe kurz die Augen, öffne sie dann aber blitzschnell wieder und schreie so laut ich kann. Dann sacke ich lautlos auf den Boden und sehe direkt nach unten. Einen Schritt weiter und alles wäre vorbei. Mein Schmerz, meine Trauer. Doch dann wäre auch für Kitty alles vorbei. Wieso nur muss alles so kompliziert sein?! Wieso passiert so etwas gerade mir?!

„Habe ich denn nicht schon genug gelitten?!“, schreie ich in die Nacht und übertöne damit sogar fast den Regen. Schluchzend stehe ich wieder auf und stelle mich so nah an den Rand, dass ich fast hinunterfalle. Sollte ich es vielleicht doch tun? Plötzlich werde ich nach hinten gezogen. Nick drückt mich fest in seine Arme.

„Denk nicht mal dran“, mahnt er mich flüsternd. Ich sacke wieder zu Boden und ziehe Nick mit mir. In seinen Armen muss ich noch mehr weinen. Und er lässt mich gewähren. Er drückt mich noch fester an sich und wartet geduldig, bis ich aufhöre zu schluchzen. Als es endlich soweit ist, bleiben wir trotzdem weiter so eng umschlungen am Boden sitzen. Sanft streicht Nick durch meine triefend nassen Haare.

„Was ist bloß los mit dir, Mädchen? Du folgst deinem Bruder und seinem Freund wie ein kleines Schoßhündchen, aber eigentlich bist du gar nicht der Typ dafür. Und eben… hast du echt darüber nachgedacht zu springen? Was ist denn nur los mit dir?“ Er sieht mich mit seinen schönen, kastanienbraunen Augen forschend an. Ich wende meinen Blick ab.

„Ich kann nicht“, murmele ich und spüre wieder die Tränenflut, die über meine Wangen rennt und sich mit dem Regenwasser vermischt. Nick nimmt mein Gesicht in seine Hände. Ich kann ihn immer noch nicht ansehen.

„Aber irgendetwas stimmt doch nicht.“

„Ich kann nicht!“, schreie ich nun.

„Ly, ich weiß, dass ich dich noch nicht lange kenne.. eigentlich weiß ich nur von dir, wie du heißt und dass du die Schwester von Jack bist, aber … ich sehe, dass du Probleme hast und ich will dir helfen!“

„Das verstehst du nicht“, flüstere ich.

„Dann erkläre es mir!“

„Ly, ich will dir helfen.“ Nick legt seine muskulösen Arme wieder um mich. Ich entwinde mich ihm und traue mich nun endlich, ihn anzusehen. Er hat Recht, ich kenne ihn nicht und doch habe ich das Gefühl, das ich ihm vertrauen kann. Dieses Gefühl hatte ich zuletzt bei Kitty und selbst bei ihr nicht so stark. Ich stehe auf und merke plötzlich, wie kalt es mir doch ist.

„Du hast Recht“, höre ich mich bestimmt sagen. Es bricht einfach so aus mir heraus.

„Ich brauche Hilfe!“ Nick sieht mich noch eindringlicher an.

„Wie kann ich dir helfen?“

„Ich weiß nicht wieso, Nick, aber ich habe das Gefühl, dass ich dir vertrauen kann und dieses Gefühl hatte ich noch nie so stark bei einem Menschen und ich brauche einen Kumpel. Jemandem, dem ich wirklich vertrauen kann und deshalb … hör zu, auch du musst mir vertrauen, denn ich kann dir nicht sagen, was genau los ist. Nur soviel kann ich dir sagen. Ich muss etwas finden, das sich wahrscheinlich in einer der umliegenden, leerstehenden Lagerhallen oder Häuser befindet. Und ich möchte, dass du mir die besten Verstecke zeigst, ja?“

„Verstecke wofür?“

„Ich kann dir nichts verraten. Bitte glaub mir, dass ich nichts lieber täte und wenn ich das finde, was ich brauche, dann werde ich dir alles erzählen. Versprochen!“

„Wenn es dir hilft… ok…“

„Aber wir haben nur eine Woche Zeit!“

„Eine Woche? Alle Lagerhäuser?!“

„Und Jack und auch niemand sonst darf davon erfahren, ja? Auch deine Freunde nicht!“

„Geht klar! Aber dann musst du mir auch etwas versprechen!“

„Was denn?“

„Denk nie wieder auch nur darüber nach, dort hinunter zu springen.“ Die Tränen verschwinden und auf meinem Gesicht breitet sich nun ein dickes Grinsen aus.

„Ok!“

„Ok. Dann lass uns aber endlich mal ins Trockene gehen!“ Diesmal bin ich es, die nicke. Ich folge Nick schweigend durch die Stadt bis zu einer kleinen Kneipe, die sich >Golddragon< nennt. Darin sind bereits viele andere Leute, so etwa in unserem Alter. Jeder von ihnen begrüßt Nick erst einmal. Ich warte geduldig, bis er alle gegrüßt hat. Doch ich merke, dass Nick mich nie aus den Augen lässt. Fast so als hätte er Angst, ich könnte jede Sekunde davon laufen. War es wirklich richtig, Nick von der Sache zu erzählen, ihn da mit reinzuziehen? Aber eigentlich habe ich ja nichts verraten. Jedenfalls nichts wesentliches. Und mehr wird er von mir auch nicht erfahren, denn ich werde ihn nicht unnötig in Gefahr bringen! Doch … habe ich das nicht längst? Wenn die Blacks herausfinden, dass Nick auch nur Ansatzweise Bescheid weiß, dann werden sie ihn sicherlich…. Da ist er wieder, der Tod. Warum scheint er hier in Breakville nur eine so große Rolle zu spielen? Ich hasse diese Stadt und ich bin mir sicher, dass ich niemals wieder hierher zurückkehren werde, wenn das alles vorbei ist! Niemals wieder und Jack kann vergessen, dass ich dann auf heile Familie mit ihm mache. Ich werde keine Black! Niemals!

„Ly?“ Nick reißt mich aus meinen Gedanken. Wir haben uns an einen kleinen Tisch in der hintersten Ecke der Kneipe gesetzt.

„Ich habe uns zweien ein Bier bestellt.“

„Ich trinke nicht“, murmele ich.

„Ach so…“ In diesem Moment bringt der Wirt uns die zwei Biere. „Hast du etwas dagegen, wenn ich….?“

„Nein?“ Ich lächele gequält. Vorsichtig nippt er an seinem Bier und beobachtet mich so, als wäre ich sein Vormund.

„Alkohol macht dumm…“, murmele ich grinsend. Nick sieht auf sein Glas. Ich lache.

„Irgendwann erzähle ich dir mal die Geschichte von Karl Stumper“, entscheide ich.

„Karl Stumper?“

„Ja!“

„Wer ist das?“

„Das erzähle ich dir mal wann anders… Später.“

„Das ist mies! Jetzt hast du mich neugierig gemacht, los sag!“ Nick schnellt um den Tisch und beginnt, mich durchzukitzeln. Ich kann ihm nicht entkommen.

„Nein, lass das… Nein… nein…“, bringe ich unter meinem Lachen zustande.

„Ich bin einfach zu neugierig…. Erzähl! Erzähl!“ Plötzlich taucht Leon neben uns auf.

„Hey Nick.“ Dieser lässt von mir ab und begrüßt diesen so wie alle anderen auch. Auch ich setze mich wieder hin und rücke meine Klamotten zurecht. Tatsächlich habe ich für einen Augenblick meine Probleme vergessen. Leon blickt mich grinsend an.

„Du wirst vermisst! Die Blacks durchsuchen die Stadt nach dir.“ Da sind meine Probleme wieder.

„Jack wird sie geschickt haben!“, erklärt Nick mir. Ich nicke.

„Wie viele Blacks gibt es denn?“, frage ich neugierig und gleichzeitig traurig.

„Etwas an die Hundert? Ebenso viele wie es Blues und Greys gibt“, erklärt Leon und zuckt mit den Schultern. Ich stehe auf.

„Dann gehe ich mal.“

„Bleib hier. Die Blacks werden dich hier nicht finden und wir können dir helfen, dass du nicht mehr zurück musst zu deinem Bruder.“

„Ich muss zurück!“, flüstere ich, „Ich bitte dich nicht, dass du mich verstehst. Aber ich bitte dich, dein Versprechen zu halten.“ Mein neuer Freund nickt mir zu.

„Was geht hier denn vor?“, mischt sich der nun völlig verwirrte Leon ein. Lächelnd gehe ich an ihm vorbei. Hart fasst mich Nick am Arm.

„Pass ja auf dich auf!“ Ich nicke lächelnd und gehe nach draußen.

„Was ist denn hier los?“, höre ich Leon fragen.

„Nichts!“, erwidert Nick.

„Nun komm schon, Kumpel.“

„Nein!“ Ja, ich weiß, dass Nick sein Versprechen halten wird. Langsam schließe ich die Tür hinter mir und laufe die Straße entlang. Es hat aufgehört zu regnen und erst jetzt merke ich, wie nass ich bin und wie kalt mir ist. Zitternd gehe ich die Straße entlang und plötzlich stürmen drei Jungs auf mich zu und packen mich unwirsch am Arm.

„Hey!“, rufe ich aus. Mit aller Kraft versuche ich mich los zu reißen, doch die drei Jungen sind zu stark für mich. Nun tritt eine Gestalt aus dem Dunkeln. Und obwohl ich die Person nur schemenhaft erkennen kann, weiß ich sofort, um wen es sich handelt.

" Ray, sag deinen Freunden, dass sie mich loslassen sollen! ", fahre ich den besten Freund meines Bruders an. Dieser tritt nun ganz aus dem Dunklen und funkelt mich böse an. Stolz halte ich seinem Blick stand. Plötzlich bildet sich ein Grinsen aus seinem Gesicht und er nickt seinem Schergen zu. Die Jungen, die mich eben noch festgehalten haben, verschwinden aus meinem Sichtfeld. Einen Moment lang weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich weiß auch nicht, ob ich irgendetwas falsch gemacht habe. Natürlich konnte ich mir denken, dass Jack und Ray auf mich sauer sein werden, weil ich ohne sie das Haus verlassen habe und sozusagen vor ihnen geflüchtet bin, doch ich wusste mir in diesem Moment einfach nicht anderes zu helfen. Ich habe mich immer als selbstbewusstes, stolzes Individuum bezeichnet, wenn mich jemand fragte, wie ich denn so sei, doch nun muss ich mich anderen unterordnen und nach ihren Befehlen handeln. Das ist etwas, was ich noch nie getan habe. Im Heim war ich nie sonderlich aufgefallen, das ist wahr, aber ich tat das, was ich wollte und stand auch dazu. Indem er mich unangenehm fest am Arm packt und hinter sich her zieht, reißt Ray mich aus meinen Gedanken.

" Wehe, du haust noch mal ab! Deine Freundin wird für dein Fehlverhalten bestraft werden!"

" Was?! Kitty kann nichts dafür! Außerdem bin ich doch wieder da, ich musste nur mal allein sein. Nachdenken…“

" Das nächste Mal wird dich einer unserer Leute beim Nachdenken begleiten!" Ray scheint wirklich sauer zu sein, doch das ist mir im Moment egal. Ich bin diejenige, die einen Grund dazu hat, sauer zu sein.

" Spinnst du?!", fahre ich ihn an, „Ich werde jawohl noch alleine nachdenken dürfen! Warum darf ich nicht mal allein sein? Wenn ihr mir schon alles wegnehmen müsst, kann ich dann nicht wenigstens meine Freiheit behalten, oder?! "

" Wir machen uns nur Sorgen um dich."

"Das ich nicht lache! Ihr habt nur Angst, dass ich davon laufe und ihr eure Scheiße alleine machen müsst." Ray lässt meinen Arm los und drängt mich an eine Hauswand. Doch diesmal ist er nicht so hart. Sein Blick ist plötzlich so weich und als er mir zärtlich über die Wange streicht, kommt er mir plötzlich vor wie ein anderer Mensch.

"Was...", fange ich an, doch Ray unterbricht mich, indem er mir einen Finger auf den Mund legt.

"Wir... ich sorge mich sehr um dich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr dein Bruder und ich uns freuen, dass du endlich hier bei uns bist. Wir beide mussten die ganze Zeit an dich denken. Du bist ein wichtiger Teil in unserem Leben und ohne dich können wir nicht sein, denn du gehörst zu uns. Du gehörst zu mir! " Sanft nimmt Ray meinen Kopf in seine Hände und legt seine Lippen auf meine. Erschrocken reiße ich die Augen auf und sehe, dass sie Ray seine geschlossen hat. Automatisch kreuze ich meine Arme hinter seinem Nacken und schließe meine Augen auch. Zögernd erwidere ich seinen Kuss. Doch plötzlich stocke ich. Irgendetwas läuft hier wirklich falsch. Schnell stoße ich den besten Freund meines Bruders von mir und sehe ihn mit gemischten Gefühlen an. Ray hingegen lächelt mich an und streicht eine Haarsträhne aus meinem Gesicht.

"Du gehörst mir." Ohne eine Antwort abzuwarten, küsst er mich wieder und zieht mich hinter sich her. Ich bin zu verwirrt, um zu reagieren. Was ist hier gerade geschehen?

Mit geöffneten Augen sehe ich an die Decke meines Zimmers und gebe keinen einzigen Laut von mir. Seit Ray mich hierher gebracht hat, habe ich nicht gesprochen, sondern mich nur im Stillen gefragt, warum er mich geküsst hat und vor allem, warum ich seinen Kuss erwidert habe. Geschlafen habe ich auch nicht viel. Ich weiß nicht einmal, wann die Sonne aufgegangen ist. Immer noch schweigend stehe ich nun endlich auf und begebe mich ins Bad, um mich zu duschen. Während das warme Wasser meinen Körper hinunter läuft, bemerke ich zum ersten Mal die Wunde wieder, die meinen linken Oberarm ziert. An meinem Arm klebt das geronnene Blut, das ich nun versuche, von ebendiesem abzukratzen. Doch dieser Versuch misslingt kläglich und ich steige mit der nun wieder blutenden Wunde aus der Dusche, binde ein weißes Handtuch um meinen zierlichen Körper und schmeiße mich wieder auf mein Bett. Kaum habe ich die Augen wieder geschlossen, höre ich, dass die Tür sich öffnet. Stöhnend öffne ich ein Auge wieder und bemerke nur noch, dass sich Ray über mich beugt.

„Ich wusste, dass du nicht schläfst“, flüstert mir der beste Freund meines Bruders ins Ohr und küsst erst meinen Hals und dann meinen Mund. Unsanft drücke ich ihn von mir und versuche aufzustehen. Doch Ray drückt mich zurück in die Laken.

„Ray, bitte…“ Tränen steigen in meine Augen und endlich lässt der Mann über mir mich los. Schnell richte ich mich auf und gehe auf Distanz zu Ray. Dieser funkelt mich wieder wütend an und der Mann, der mich gestern so liebevoll angesehen hatte, war verschwunden. Der Ray stand vor mir, der mich ängstigte und der zu allem fähig war.

„Gestern noch hast du mich geküsst! Und lüg nicht, du hast es genossen.“

„Ich… ich…“, murmele ich verwirrt, „Ich weiß nicht, was gestern los war, Ray, ich…“

„Sag, liebst du mich so wie ich dich?“ Geschockt sehe ich Ray an. War das gerade eine Liebeserklärung?

„Ray… ich…“

„Nichts >Ray<! Antworte!“, schreit Ray mich an und ich blicke traurig zu Boden.

„Nein, ich liebe dich nicht…“ Plötzlich spüre ich einen Schmerz und sacke zu Boden. Über mir steht der, der mir eben noch seine Liebe gestanden hat, und sieht mich wutentbrannt an.

„Ist es Nick? Liebst du diesen… diesen…“

„Ich liebe niemanden, Ray. Wie könnte ich in diesem Moment lieben, wo ich mir doch soviel Mühe gebe, meine Entführer nicht zu hassen!“ Grob fasst Ray mich am Arm, zieht mich auf die Beine und wirft mich ebenso wieder auf mein Bett. Dabei verliere ich mein Handtuch. Völlig entblößt liege ich zitternd vor dem besten Freund meines Bruders. Ich habe Angst. Angst vor ihm und Angst vor dem, was er jetzt tun wird, nachdem er mich mit seinem gierigen Blick gemustert hat. Mit einem fiesen Grinsen, entblößt auch er sich und fängt an, meinen Körper zu küssen. Meine Schreie belohnt er mit Schlägen und niemand kommt mir zu Hilfe. Nicht einmal Jack. Mein eigener Bruder lässt mich das schlimmste Erlebnis meines Lebens durchleben und hilft mir nicht, obwohl ich genau weiß, dass er mein Schreien gehört hat.

„Du gehörst mir“, raunt mir Ray ins Ohr und seine gesamte Zärtlichkeit ist verschwunden. Vielleicht habe ich sie mir auch nur eingebildet.

Kraftlos?

Kapitel 3
 

Zitternd sah ich zu dem schlafenden Mann neben mir. Vorsichtig hob ich die Bettdecke an, stieg aus dem Bett und stellte mich vor den Spiegel. Tränen liefen über meine Wangen, als ich meinen geschundenen Körper erblickte, der mit viel zu vielen blauen Flecken übersät war. Schnell kramte ich eine khakifarbene Hose und einen schwarzen Pullover aus dem Schrank und verließ das Zimmer. Im Garten kniete ich mich vor den Teich und sah hinein. Es war eine sternenklare Nacht und der Mond erleuchtete die Dunkelheit. Niemals in meinem Leben hatte ich mich so dunkel, leer und dreckig gefühlt. Warum war ich so schwach? Warum konnte ich mich nicht wehren? Nicht körperlich und auch nicht mit meinen Schreien.

Wörter. Was brachten sie, wenn sie doch nicht gehört wurden? Meine Schreie wurden ignoriert. Sowohl von Ray als von Jack. Warum reden, wenn die anderen es doch nicht wahrnahmen? Mit Tränen in den Augen blickte ich mein Spiegelbild an. Ich würde nicht mehr reden. Nicht, solange ich Kitty nicht befreit und von hier verschwunden war. Seufzend berührte ich die kalte Wasseroberfläche. War Kitty das alles wert? Würde sie wollen, dass ich das alles hier für sie tue? Ich wusste nicht, ob sie das wollen würde, aber ich wusste genau, dass sie es wert war. Jeder Mensch wäre es wert gewesen, gerettet zu werden! Mit dem Handrücken wischte ich mir die letzten Tränenspuren aus dem Gesicht. Ein Geräusch ließ mich zusammenzucken.

„I…I.. ich bin es nur“, murmelte eine mir vertraute Stimme aus der Dunkelheit. Schnell wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und drehte mich um. Maria stand halb hinter einem Baum und sah in meine Richtung. Stumm blickte ich zu ihr und konnte an ihren Augen erkennen, dass sie traurig zu sein schien. Mit einem fragenden Gesicht wartete ich darauf, dass sie sprach.

„Ich… ich weiß, dass meine Worte nun nichts mehr nützen, aber ich will, dass du weißt… ich will für dich da sein. Ich weiß, wie es ist, in dieser Hölle ganz allein zu sein. Ich meine, sicher ergeht es dir viel schlechter als mir. Weißt du, meine Eltern leben aus Afrika, wir stammten von hier, sind aus dieser gottverdammten Stadt und sie haben mich an Mr. Black verkauft. Sie… egal. Ich bin hier eine Sklavin, werde auch so behandelt. Deine Schreie… ich war eingesperrt und ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist. Ich weiß nicht einmal, ob ich dir geholfen hätte, wäre es anders gewesen. Hier regiert die Angst, Lyra und sie versuchen dich zu brechen, aber sie scheinen dich auch zu mögen… zu lieben. Der wehrte Herr Ray will dich besitzen und er hat Angst, dich zu verlieren. Du kannst immer zu mir kommen und mit mir sprechen, dich ausheulen… was weiß ich. Natürlich muss ich mich in Acht nehmen. Die Herren töten mich schneller, als ich gucken kann.“ Maria lächelte gezwungen.

„Na ja, ich wollte bloß, dass du weißt, dass du nicht allein bist und… das mir das leid tut, was dir passiert ist. Besonders gestern Abend. Ich bewundere dich. Für eine Freundin… ich weiß nicht, ob ich so treu wie du wäre.“ Nach diesen Worten herrschte eine bedrückende Stille zwischen uns. Ich durchbrach sie nicht, sondern lächelte nur und nickte. Maria verstand das wohl als Aufforderung zu gehen, denn sie drehte sich um und verschwand ohne einen weiteren Laut in der Dunkelheit der Nacht. Seufzend ließ ich mich ins Gras fallen und blickte in den Himmel. Die Sterne funkelten und der Mond erhellte die Nacht, obwohl er noch nicht voll war. Ich musste so schnell wie möglich Kitty finden, damit Ray nicht noch einmal…Eine einzelne Träne bahnte sich wieder den Weg über meine Wange und ich schloss meine Augen. Ich merkte gar nicht, dass mich endlich der geliebte Schlaf übermannte, der mich bisher nicht hatte überwältigen können. Eine zweite Sache, die ich nicht wusste, war wohl, ob ich überhaupt wieder aufwachen wollte.

Ich wachte jedoch auf, als ich zwei Hände an meinem Körper spürte. Ruckartig öffnete ich meine Augen und erblickte meinen Bruder vor mir, der mich auf seinen Arm heben wollte. Ohne irgendeinen Ton von mir zu geben, entwendete ich mich seinen Händen und wich einige Meter zurück. Ja, es war Ray gewesen, der mich… aber das minderte die Schuld meines wissenden Bruders nicht im Geringsten.

„Lyra, ich…“ Hätte ich sprechen gekonnt oder gewollt, dann hätte ich Jack jetzt wohl angeschrien. Ich wollte ihn nicht mehr sehen. Er hatte mir nicht geholfen. Wie stellte er sich das vor?! Ray schlief mit mir, ob ich wollte oder nicht und dann würde ich hier bleiben wollen?! Mit diesen Aktionen trieben sie mich immer weiter von sich und die Drohung, dass ich dann wegen der geplanten Flucht ins Gefängnis musste, schockte mich keinesfalls. Lieber ging ich elendig im schlimmsten Gefängnis der Welt zu Grunde, als auch nur ein Tag länger hier zu bleiben!

Flehend streckte mein Bruder eine Hand nach mir aus, doch ich wich nur trotzig zurück. Ich hasste meinen Bruder schon für das, was er Kitty angetan hatte und das, was er ihr noch antun wollte, doch nun war es ganz vorbei. Das hier vor mir war nicht mehr mein Bruder Jack sondern ein Fremder.

„Lyra. Ray liebt dich und du liebst ihn doch auch!“ Ich schüttelte den Kopf und wieder liefen die verhassten Tränen meine Wangen hinunter.

„Aber er sagte, dass du ihn geküsst und es genossen hast.“ Seufzend schloss ich die Augen. Vielleicht war es so gewesen, aber das war noch, als ich den alten Ray gesehen hatte. Die Vergangenheit war vorbei. Jack und Ray waren gestorben, als sie mich verließen. Ohne etwas zu sagen, öffnete ich die Augen wieder.

„Du gehörst hierher. An Rays Seite.“ Wieder schüttelte ich den Kopf.

„Was willst du?! Zurück in dieses Gefängnis?! Das war doch kein Leben! Wir, Ray und ich, wir können dir hier ein wirkliches Leben bieten. Bei uns! Es gibt kein zurück.“ Ich antwortete meinem Bruder nicht, sondern blickte in nur traurig an. Was war nur aus ihm geworden? Hart packte er mich an meinen Schultern und rüttelte daran.

„Ly, rede mit mir!“ Ich stieß meinen Bruder von mir und rannte zurück ins Haus. In eines der vielen Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Zögerlich schaltete ich das Licht ein und sah mich um. Vor mir standen ein alter, grüner Sessel und ein Billardtisch. Ich konnte kein Billard spielen, aber im Heim machte es mir immer Spaß, die Kugeln zu versenken, auch wenn es oft sehr lange gedauert hatte. Weiter standen in dem riesigen Raum nur noch ein Tisch mit vier Stühlen und ein Regal, in dem mehrere Brettspiele und Karten lagen. Das hier schien eine Art Spiel und Gemeinschaftsraum zu sein. Schnell nahm ich einen der Kös.

„Ly… LY! MACH AUF! MEINE GÜTE, SEI DOCH NICHT SO STUR! WIR WOLLEN DOCH NUR DEIN BESTES!“ Am liebsten hätte ich meinem Bruder seine Lügen ins Gesicht geschrien, doch das hätte nichts gebracht. Nein, meine Schreie, mein Flüstern und Gemurmel brachte nichts. Es hatte bis jetzt nichts gebracht und das würde es in Zukunft auch nicht. Ich musste handeln und das war mir klar. Das was Ray… getan hatte, tat mir immer noch weh und doch musste ich immer noch Kitty befreien und das hatte jetzt absolute Priorität. Meine eigenen Gefühle musste ich einfrieren. Das tun, was mein Bruder von mir verlangte und dann würde ich verschwinden. Vergessen und … überwinden. Während ich immer noch Jacks Rufen ignorierte, setzte ich den Stab an und beförderte eine volle blaue und eine halbe gelbe in zwei gegenüberliegende Löcher.

„Ly…“ Erschrocken ließ ich den Schläger fallen. Es gab einen lauten Schlag, denn er stürzte nicht gleich zu Boden sondern erst auf eine Ecke des Billardtisches.

„Ly, öffne mir doch, meine Liebste.“ Unwillkürlich fing ich an zu zittern, als ich Rays Stimme vernahm. Ich wollte ihn nicht hören, nicht sehen, nicht wissen, dass er da war. Plötzlich knallte es kurz und ich stand im Dunkeln. Die Glühbirne war durchgebrannt und ich war noch nie so froh über eine kaputte Glühbirne gewesen. An der Wand ließ ich mich hinunter gleiten und vergrub mein Gesicht zwischen meinen angewinkelten Knien.

„Ly…“ Ich wusste, dass Jacks bester Freund sich bemühte, seine Stimme so sanft wie möglich klingen zu lassen, aber für mich war alle Sanftheit von ihm gegangen. Angst. Das war das einzige, das ich noch fühlte, wenn ich seine Stimme vernahm. Wenn ich meinen Namen aus seinem Mund vernahm.

„Ly…“ Hart presste ich meine Hände an meine Ohren und wollte nur eins. Dass es aufhörte. Dass er aufhörte. Ich wusste nicht, wie lange ich dort saß, aber es ging schon langsam die Sonne auf, was ich durch die Schlitze in den Vorhängen der Fenster erkennen konnte. Mein Bruder und sein Freund waren verstummt und ich war so unendlich glücklich darüber. Ich hatte nicht viele Tage, um Kitty zu finden, bevor ich das tun musste, was meine Entführer von mir verlangten, aber diese Tage würde ich nutzen. Einen, dem ich vertrauen konnte, hatte ich noch, obwohl ich ihn so viel weniger kannte, als die jungen Männer, die eben noch an diese Tür gepocht hatten. Seufzend erhob ich mich und legte meine Hand an die Klinke der Tür. Sofort hielt ich inne. Draußen würde er sein. Wieder fing ich an zu zittern und holte tief Luft, bevor ich den Schlüssel umdrehte und die Klinke vorsichtig nach unten drückte. Lautlos spähte ich durch den kleinen Spalt in den Flur und sah niemanden. Langsam und vorsichtig öffnete ich die Tür gänzlich und setzte einen Fuß vor den anderen. Hektisch blickte ich mich um und erblickte schon die große Eingangstür, durch die ich entkommen konnte. Erstmal.

„Ich wusste, dass du bald herauskommen würdest.“ Ich schloss die Augen. Es wäre auch zu schön gewesen. Ray trat vor mich und blickte mich an. Ich wendete meinen Blick ab. In seine Augen konnte ich einfach nicht sehen. Aber das war ihm nicht recht. Sanft versuchte er meinen Kopf anzuheben, doch als ich mich wehrte, tat er dies auch grob.

„Hast du Angst?“, hauchte er in meine Ohren und küsste meinen Nacken. Blitzschnell entwendete ich mich ihm und ging einen Schritt rückwärts. Ray grinste.

„Nicht mehr so vorlaut und wild, meine Liebste? Wurde die Katze etwa gezähmt?“ Wortlos blickte ich ihn an. Gezähmt?

„Keine Widerworte? Schreist du mich nicht an?“ Nun trat der beste Freund meines Bruders einen Schritt nach vorne. Ihm synchron ging ich rückwärts.

„Du bist mein, meine Schöne und ich werde dich niemals teilen.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Rayligh
2010-02-01T18:56:02+00:00 01.02.2010 19:56
Auch dieses Kapitel mag ich gerne.
Zwar ist Marie wieder recht plötzlich aufgetaucht- man bekommt das Gefühl, Lyra kenne sie schon und wüsste, wer sie ist- aber ansonsten hast du speziell die Gefühle Lyras nach diesem Erlebnis gut rübergebracht,gefällt mir gut
Von:  Rayligh
2010-01-31T18:47:58+00:00 31.01.2010 19:47
Hey
Ich kann mir denken, dass aus dem Plot noch so einiges werden könnte. Alles in allem beschreibst du Dialoge recht gut, allerdings wirkt die Geschichte durch fehlende Details recht hektisch. Sie bleibt dem Leser nicht in Erinnerung, weil es keine wirklich markanten Stellen gibt und man sich auch ohne Details nicht hineinversetzen kann; es fehlt dieses "Zuschauerfeeling".
Aus der Ich-Perspektive lässt sich echt so einiges mehr machen: Emotionen holst du zwar schon recht gut raus, aber ich denke da ginge noch mehr. Trotzdem mag ich die Story alles in allem wirklich recht gerne, auch wenn es so scheint, als ob du mitten drin ein Kapitel ausgelassen hättest, was viele Fragen aufwirft:
Wer ist Nick?
Was ist seit dem Telefonanruf geschehen?
Es ist natürlich möglich, dass da irgendwas bei Mexx schief gelaufen ist, aber wenn nicht... Absicht?
Hätte auf jeden Fall gerne eine ENS, wenn es weitergeht
LG
Jiyu


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