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Dein Schmerz auf meiner Haut

von

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Prolog

Von kaltem Blau waren seine Augen, als er die Waffe hob.

Sein Freund schaute zu ihm hinüber und betrachtete stumm das harte Profil, welches von ihm abgewandt war. Er wischte sich die schweißverklebten Locken aus dem Gesicht, bevor sein Blick unberührt in die Richtung fiel, auf die der Lauf der Beretta zeigte.

Distanz und Lärm bauten zwischen ihnen eine unüberbrückbare Barriere auf.

Und über die Angst legte sich Stille.

Kapitel 1

„Ich liebe dich.“

Die Worte durchdringen erbarmungslos meinen Körper, der Klinge eines Messers gleich. Auf seinen Lippen zeigt sich ein Lächeln, so flüchtig wie ein Hauch von Kälte.

„Daniel?“ Der fragende Ton in meiner Stimme birgt keinerlei Emotionen. Menschen verstecken ihre wahre Persönlichkeit hinter einer Wand aus Lügen, die sie selbst glauben. Nichts ist ehrlicher als dieser Gedanke. Es gibt keine Wirklichkeit in der Realität.

Daniels Lächeln wird breiter, während er mit der Hand durch seine langen Locken fährt, um die Verlegenheit zu überspielen. Noch vor ein paar Sekunden entstellte Verzweiflung seine gut aussehenden Züge. Doch diese Empfindung ist nun verschwunden, zumindest aus seinem Gesicht. Es ist erstaunlich, wie gut er sich verstellen kann.

Er lacht und legt mir eine Hand auf die Schulter.

„Komm schon, Henri. Du hättest dein Gesicht sehen müssen.“ Es scheint ihn zu amüsieren. „Das war doch nur Spaß.“

„Wirklich?“

Für einen Moment wird Daniels Blick ernst und er entgegnet:

„Natürlich war es das.“

Seine Worte haben mich mehr aufgewühlt, als er glaubt. Doch er kann es nicht sehen, denn meine Maske sitzt genauso gut wie seine.

Ich habe ein seltsames Gefühl, schon die ganze Zeit. Eine ungenaue Vorahnung beschleicht mich, ein Stechen in der Magengegend oder ein Atemstocken. Was auch immer es ist, seine Kraft ist zerstörerisch und kaltblütig. Es fühlt sich nach Menschlichkeit an.

Noch einmal gehen mir Daniels Worte durch den Kopf, seine braunen Augen, die mich beobachteten, während sich das Schweigen zwischen uns ausgebreitet hatte. Ich weiß nicht, was für Gedanken ihm während dieses Moments in den Sinn kamen. Wahrscheinlich hat er gar nicht nachgedacht.

Für die Worte, mit denen er schließlich die Stille durchbrach, hätte ich ihn töten können.

Die Entschuldigungen helfen ihm nicht, auch nicht die Verlegenheit. Dafür war dieser Satz zu unbedacht und ernst gesetzt, als dass er ihn nicht schuldig werden ließ. Schuldig für eine Lüge, die der Wahrheit zu nahe kam.

„Daniel?“ Er schaut mich fragend an, sodass ich kühl fortfahre. „Der Gedanke ist widerlich.“

„Was?“ Kaum merklich weiten sich seine braunen Augen. Er muss noch einiges von mir lernen, wenn er das nicht erwartet hat. Ich lege Desinteresse in meine Stimme.

„Du hast es nicht ernst gemeint, aber der Gedanke, du würdest mich lieben, ist regelrecht abartig. Findest du nicht?“

„Nun, das... ja, das stimmt schon. Irgendwie...“

Es ist amüsant, ihn stocken zu sehen. Diese zurückhaltende Verwirrung ist ungewöhnlich für ihn. Er weiß, dass er einen Fehler begangen hat.

„In Zukunft, Daniel, solltest du davon absehen, derart ekelhafte Scherze zu machen.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass du so intolerant bist.“

„Das hat nichts mit Intoleranz zu tun. Es geht ums Prinzip.“

Daniel scheint sich wieder gefangen zu haben. Ich hasse seine Selbstsicherheit, mit der er mich zu unterdrücken versucht. Manchmal würde ich dieses Vertrauen gern zerschlagen, doch der Gedanke, Daniel könnte dadurch für mich langweilig werden, hält mich noch zurück. Ich weiß, dass es in meiner Macht liegt, ihn komplett zu vernichten. Dieses Wissen macht mich überlegen. Am Ende wird Daniel es sein, der den Kampf verliert.

Ich wende mich ab. Damit ist das Thema für mich abgeschlossen. Daniel sieht aus, als wolle er noch etwas hinzufügen, doch mein Verhalten hindert ihn daran.

Schließlich wendet auch er sich ab.
 

Ich stehe in einer riesigen Halle. Warmes Ocker fließt über die Wände wie schmutziges Wasser. Unter meinen nackten Füßen spüre ich die kalten Fliesen, die durch die hohe Lufttemperatur feucht erscheinen. Mein Blick schweift durch die Halle, über die hinaufführenden Stufen, die seltsam unwirklichen Pflanzen und die Steinwände, die alles in einen Braunton tauchen. Es sieht aus, als befände ich mich wieder in den Hallen der Sanatorien, die wir damals belagerten.

„Henri.“

Jemand ruft mich. Ich kenne diese Stimme, die mir kindliche Freude entgegenbringt und doch nur ein geheucheltes Abbild dieser Begeisterung darstellt.

Langsam drehe ich mich um.

Daniel kommt die Stufen hinunter, ein Lächeln auf dem schönen Gesicht. Doch diese Art von Lächeln sieht man selten bei ihm. Es ist vielmehr ein anzügliches Grinsen, zu falsch für die Unschuld, die er in meinen Augen selbst als Mörder verkörperte. Er kommt auf mich zu.

Plötzlich durchfährt mich meine Sehnsucht wie ein Blitz.

Dann steht Daniel vor mir. Das lange dunkelbraune Haar fällt ihm in Locken über den Rücken, die kastanienfarbenen Augen durchdringen meine Haut und beißen sich wie eine ätzende Glut in mein Fleisch.

Er nimmt meine Hand und hebt sie an seine Lippen. Sofort möchte ich mich von dieser widerwärtigen Geste befreien, doch Daniel führt meine Finger zu seinem Hals und sieht mich herausfordernd an.

Mein Atem stockt, meine Glieder bewegen sich nicht, ich bin wie versteinert.

Noch immer ist Daniels Blick auf mich gerichtet und die Sekunden dehnen sich zur Ewigkeit. Auf einmal verschwindet sein Lächeln und er fragt mich genervt:

„Was ist los mit dir, Henri? Willst du nicht?“

Ich reagiere nicht, als er mich hart wegstößt, und stürze zu Boden. Irritiert sehe ich zu Daniel auf, der mich von oben herab erneut angrinst. Die Überheblichkeit in seinen Augen lässt mich die Kontrolle über meinen Körper wiedergewinnen. Das herablassende Lachen, mit dem er mich erniedrigen will, passt nicht zu ihm. Ich hasse dieses Gesicht, die Maske über seiner Schutzlosigkeit. Ich hasse Schwäche.

Sogleich bin ich auf den Beinen und zerre ihn am Arm zu Boden. Er ist überrascht, seine Augen sind weit geöffnet.

Nachdem sein Körper auf die Fliesen schlägt, bin ich sofort über ihm und hindere Daniel mit meinem Körpergewicht am Fliehen, doch dieser macht keine Anstalten, mich von sich zu stoßen.

Ein Lächeln legt sich erneut auf seine Züge und diesmal ist es sanft, fast zärtlich.

„Henri, ich liebe dich.“

Jetzt erwidere ich das Lächeln und streiche ihm durch das braune Haar, über sein Gesicht, über die geschlossenen Augen. Ich kann nicht mehr denken, beuge mich zu ihm hinab und küsse seine leicht geöffneten Lippen. Widerwillig löse ich mich von Daniel. Ich sitze auf seinem Schoß, er öffnet die Augen und schaut mich auffordernd an.

Meine Finger berühren behutsam die Haut über seiner Arterie. Mir ist nie aufgefallen, wie dünn und anziehend Daniels Hals ist. So anziehend, dass ich ihn leicht mit den Händen umschließen muss, während Begierde sich in meinen Fingerspitzen sammelt.

Ich fühle das Blut, welches in den Venen pocht, in meinen Händen und drücke mit den Daumen dagegen. Sofort kann ich den pulsierenden Rhythmus noch deutlicher spüren und verstärke meinen Druck rechts und links von seiner Kehle.

Ein unbekanntes Gefühl durchströmt meinen Körper, ein Gefühl von Macht und völliger Kontrolle. Ich sehe in Daniels Gesicht und sehe ihn doch nicht. Als wären seine Umrisse zu scharf, wird das Bild von ihm plastisch, aber dennoch seltsam unwirklich.

Seine Augen sind wieder geschlossen. Auch wenn er nicht völlig entspannt wirkt, umspielt das Lächeln noch immer seine Mundwinkel.

Völlig blind drücke ich weiter auf seine Hauptschlagader und merke dabei nicht, dass mir die Kontrolle, die ich zu verspüren glaubte, langsam entgleitet.

Daniel schluckt, sodass sich sein Kehlkopf für einen Moment hebt. Ich fühle die Bewegung unter meinem festen Griff und reiße die Augen auf, denn jetzt realisiere ich zum ersten Mal das Geschehen.

Was mache ich hier?
 

Ich sitze aufrecht im Bett.

Mein Atem ist unkontrolliert. Fieberhaft sehe ich mich um, aber ich kann durch die Schwärze nicht erkennen, wo ich bin. Doch langsam zieht mich die gewohnte Nüchternheit in die Realität zurück. Die Hände, welche ich fast schmerzhaft in der Decke verkrampfe, lockern sich nun mit jeder Sekunde, die verstreicht.

Ich bin in meiner Wohnung.

Mein Blick fällt auf die Digitalanzeige meines Weckers. Es ist kurz nach drei Uhr.

Für ein paar Minuten bleibe ich still sitzen und lausche meinem sich beruhigenden Atem, der meine Brust gleichmäßig hebt und senkt. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Ich erkenne die schattenhaften Umrisse der Möbel in meinem Zimmer. Die dünne Decke landet auf dem Boden, als ich aufstehe. Mein Traum begleitet mich noch immer, wie unsichtbare Fesseln umhüllt er meine Sinne. Aus dem Spiegel an meinem Schrank schaut mich ein junger Mann ernst mit seinen blauen Augen an, das dunkle Haar ein wenig zerzaust, die sehnigen Muskeln zeugen von einem harten Training.

Das bin ich. Henri.

Es ist nur ein Traum gewesen. Dieser seltsame Ort, die Halle, in der verschiedene braune Farbtöne ineinander verschwammen, war nur meiner Phantasie entsprungen. Was dort mit mir geschah, was mit Daniel und mir geschah, ist nicht real. Obwohl es mir so vorkommt, als hätte mich mein Traum in einen anderen geführt, dessen Ursprung nicht mehr bei mir lag. Die surrealen Bilder zeigten mir einen Weg zu Daniel.

Irre ich mich auch nicht? Die Person, die mir so fremd erschien, ist das wirklich Daniel gewesen?

Mir wird übel. Je mehr die Erinnerung an den Traum verblasst, desto tiefer scheint er sich in meine Eingeweide zu graben. Ich sehne einen Ausweg, ein Entkommen vor mir selbst herbei.

Trotz meiner Flucht versuche ich die Wirklichkeit zu greifen und gleichzeitig das undeutliche Hirngespinst von Daniel festzuhalten.

Nichts zählt mehr, ich spüre es. Nichts zählt.
 

Ich sehe mich um. Wie lange bin ich hier nicht mehr gewesen? Damals war dieser verlassene Bahnhof noch häufiger in Betrieb, bevor der Krieg die Häuser der Umgebung leerfegte. Mittlerweile dient er nur noch der Durchfahrt von Güterzügen.

Daniel läuft neben mir und lächelt mich an.

„Das machen wir sonst nie, Henri, einfach nur spazieren gehen.“

Der Wall schirmt links von uns jegliche Geräusche ab. Daniels Stiefel verursachen, im Gegensatz zu meinen Turnschuhen, einen dumpfen Klang auf den bewachsenen Steinplatten. Neben dem schmalen Bahnsteig, auf dem wir laufen, winden sich die Gleise ohne Ende weiter und verschwinden hinter uns in einer Kurve. Ein Stück weiter fällt das Gelände ab und geht in einen dicht bewachsenen Forst über.

„Es ist so ruhig“, höre ich die Stimme meines Kameraden.

Mein Blick fällt wieder auf Daniel, der die Augen zum Himmel gekehrt hat. Die Abendsonne steht glühend am Horizont und eine leichte Brise kommt auf, die Daniels langes Haar im Wind kräuselt.

Er seufzt und fährt fort.

„Ich kann es noch immer nicht begreifen.“

„Dass der Krieg vorbei ist?“

Mein Freund nickt, doch dann schüttelt er langsam den Kopf.

„Ist er das denn wirklich? Ich meine...“

„Daniel.“ Ich weiß, was er sagen möchte, aber ich will es nicht hören. „Haben wir über dieses Thema nicht schon oft genug geredet? Es ist Vergangenheit. Wenn du das nicht akzeptierst, wird es für uns niemals ein normales Leben geben.“

Daniel schweigt und sieht zu Boden. Während wir weitergehen, hört man noch immer das Geräusch seiner Stiefel und aus weiter Ferne das leise Rauschen eines Zuges.

Seine Miene ist nachdenklich. Bei seinem Anblick kommen mir plötzlich wieder die Bilder meines Traumes in den Sinn, welchen ich nicht zum ersten Mal träumte und wie ein ätzendes Geschwür tief in meinem Inneren begraben wollte.

Zu allen Zeiten war ich stolz darauf gewesen, dass niemand es kennt, dieses Selbst, das ich stets unter Verschluss halte. Doch nun ergreift mich das Verlangen, es Daniel spüren zu lassen.

Wieder höre ich seine Stimme.

„Dass gerade ich damit anfange, ist erstaunlich.“

„Sonst war ich es immer, der Zweifel an der Richtigkeit unseres Kampfes hatte“, helfe ich ihm, „doch das ist vorbei, Daniel.“

Er schaut mich an und lächelt gequält. Noch immer ist das Rauschen der Wagons weit entfernt.

„Die Waffen, Panzer, Kampfflieger, das alles ist zerstört, Henri, und ich habe das Gefühl, nicht mehr existent zu sein. Natürlich ist mir klar, dass sich das aus meinem Mund für dich seltsam anhören muss. Aber das Gefühl einer Schusswaffe in der Hand hat mich zu einem Menschen gemacht, der noch eine Aufgabe hat. Was bin ich jetzt noch, ohne sie?“

„Wieso ist dir das Wesen des Todes so wichtig? Reicht dir der Frieden nicht?“

Daniel schaut betreten weg, während ich ihn mit einem kühlen Blick mustere. Ein wenig überrascht muss ich feststellen, meinen Entschluss schon längst gefasst zu haben. Das Rauschen des Zuges kommt näher.

Ohne nachzudenken packe ich Daniel bei den Schultern und stoße ihn auf die Schienen. Überrumpelt taumelt er über den hohen Absatz und stolpert bei dem ersten Gleis, um gleich darauf mit ausgestrecktem Arm auf den Holzsparren zu landen, die sich in einem endlos gleichmäßigen Rhythmus fortsetzen.

„Wenn du den Tod verkörpern willst, Daniel, dann solltest du zuerst wissen, wie er sich anfühlt.“

Er steht unsicher auf und sieht mich an, sodass mir seine Verwirrung nicht verborgen bleibt. Sein Blick scheint stumm nach einer Erklärung zu fragen. Doch nicht er wird es sein, der die Fragen stellt.

„Hörst du es?“

Noch immer schaut er mich verständnislos an, doch dann blickt er zur Seite, sein Gesicht ist konzentriert und gespannt. Seine Augen weiten sich für einen Moment, dann wendet er sich wieder an mich und streckt seine Hand nach mir aus. Das Rattern ist nun deutlicher zu hören.

„Hilf mir hoch, Henri.“

„Was siehst du?“

Langsam sinkt seine Hand.

„Ich sehe dich, Henri.“

Ich lächle leicht.

„Richtige Antwort. Und kennst du mich?“

Die Verzweiflung schleicht in seine braunen Augen und er schaut die Gleise entlang. Dann wendet er seinen Blick wieder ab, um ihn auf mir ruhen zu lassen.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich kenne dich als meinen Freund.“

„Nun gut. Spürst du es denn nicht, mein Freund?“

Daniel antwortet nicht und zieht die Augenbrauen zu einem nervösen Ausdruck zusammen. Ich warte noch einen kurzen Moment und wende mich in die Richtung, aus der das Geräusch des herannahenden Zuges zu uns getragen wird. Doch nun kommt Daniel näher, versucht an dem steinernen Absatz wieder nach oben zu klettern. Sofort stoße ich meinen Fuß gegen seine Schulter, damit er zurückweicht. Er versucht es erneut, doch wieder bin ich ihm ein Hindernis, das ihn auf die Gleise drängt. Sein flüchtiger Blick streift den Hang, der hinter ihm liegt.

Ich rede weiter.

„Fühlst du es nicht? Fühlst du das verborgene Etwas in deinem Inneren?“

„Wovon redest du?“

„Antworte, Daniel. Was ist in dir?“

Er versucht weiter an mir vorbeizukommen, doch es gelingt ihm nicht. Dann zögert er kurz, hält inne und sieht mich an.

„Meine Angst.“

„Falsch.“

Daniel setzt sich wieder in Bewegung und man könnte fast meinen, dass wirklich Angst in seinen Augen liegt. Der Zug kommt nun in Sicht. Mein Redeschwall hört nicht auf.

„Weißt du, was dir fehlt? Du kannst mir nicht erzählen, dass du es nicht ahnen würdest. Sag mir, was dich zerbricht, du spürst es doch, wenn deine Seele von unbekannten Dingen zermartert wird. Was zerbricht dich, Daniel?“

„All die Lügen.“

„Falsch. Du hättest dich längst umgebracht, wenn du die Lügen, deine Lügen, nicht ertragen könntest.“

Daniel bleibt stehen. Der Zug kommt immer näher, seine Fahrt verlangsamt sich nicht. Ich wundere mich über die nebensächliche Frage, die mir in diesem Moment durch den Kopf geht; warum hält der Zug nicht an, sieht uns niemand?

„Daniel, du weißt es. Wer spricht zu dir?“

Die braunen Augen sind plötzlich leer. Dann antwortet er:

„Du, Henri. Du sprichst zu mir."

„Und was bin ich?“

„Mein Schmerz.“

„Richtige Antwort.“

Ein weiches Lächeln liegt auf meinen Lippen und ich strecke meinem Freund die Hand entgegen, doch Daniel rührt sich nicht. Seine Augen sind noch immer emotionslos. Meine Stimme ist plötzlich unsicher.

„Daniel?“

Kein Zucken. Er sieht mich weiterhin an und scheint zu warten. Zu warten auf den Zug, der mit einem lauten Rattern die Worte von meinen Lippen reißt.

Wir sehen uns an. Ich stehe auf dem Bahnsteig, Daniel auf den Gleisen.

Dann wird es mir zu viel. Ich stürze mich auf ihn und reiße seinen Körper mit, sodass wir beide das Gestrüpp des Hangs nach unten durchbrechen. Schützend halte ich Daniel an mich gedrückt, spüre meine aufgeschürfte Haut und jede einzelne Prellung.

Von oben dringt das Tosen des Zuges ohrenbetäubend zu uns herunter. Der starke Luftzug zerrt an unseren Sachen. Daniel presst sich an mich und der aufgepeitschte Wind lässt seine langen Haare um meinen Körper wehen.

Eine Ewigkeit lang rattert ein Wagon nach dem anderen an uns vorüber.

Dann ist es vorbei. Wir bleiben liegen, während das Rauschen des Zuges nach ein paar Minuten in der Ferne verklingt.

„Kennst du mich nicht, Daniel?“

Als sei nichts geschehen, wiederhole ich die Frage, die ich ihm bereits vorhin gestellt habe und auf die er mir ewig eine Antwort schuldig bleiben wird. Langsam erhebe ich mich und sehe zu Daniel hinab. Das Braun seiner Augen ist nicht mehr leer. Er schaut fragend zu mir auf, während ich zum erneuten Mal zu sprechen ansetze:

„Du bist für mich unentbehrlich. Du gehörst mir und hast nicht das Recht, vor mir zu fliehen. Wenn du so weitermachst, wirst du mich nicht überleben.“

Daniel mustert mich jetzt traurig, vielleicht ein wenig verzweifelt, vielleicht bedauernd. Es ist der gleiche Blick, mit dem er mich bedachte, als er mir von seiner Liebe erzählte. Ich starre ihn wütend an.

„Du wirst dir an mir die Finger verbrennen, Daniel, wenn du nicht siehst, wer ich bin. Unterschätze den Menschen niemals, denn er ist zu blind, um immer die Kontrolle zu behalten. Kannst du mich verstehen? Oder dich selbst?“

Daniel antwortet mir nicht und ich beuge mich näher zu ihm herunter.

„Oder möchtest du sterben? Soll ich dir zusehen, wie du elendig verreckst? So nett bin ich nicht. Ich werde dir nicht vergeben. Vergiss das nicht, denn ich werde es ebenso wenig vergessen.“

Kapitel 2

Es ist dunkel, die Nacht greift wie ein Schatten durch das Fenster. Ich sehne mich nach dieser Finsternis, weil mich in meinem Wohnzimmer das Licht der Deckenlampe blendet und fast wie Salz in meinen Augen brennt. Der Himmel war schnell schwarz geworden, nachdem die Dämmerung vollständig einsetzte und wir an diesem Abend zu mir nach Hause gingen. Auf dem Weg vom Bahnhof wechselte Daniel mit mir kein einziges Wort mehr. Wir liefen schweigend zu meiner Wohnung.

Ich weiß, was ihn dazu trieb, mir zu folgen.

Aus dem ebenfalls erhellten Flur vernehme ich das Prasseln des Duschwassers. Warum braucht Daniel so lang?

Ich senke den Blick wieder auf die Schürfwunde an meinem Knie und presse das mit Jod durchtränkte Tuch darauf. Ein verzehrendes Brennen durchzieht mein Fleisch wie eine angenehme Berührung. Auch der Rest meines Körpers schmerzt zunehmend, sowie mein Schädel, in dem es heftig pulsiert.

Mir ist noch immer nicht klar, was geschehen ist. Plötzlich weiß ich, dass sich alles verändert hat, und auch Daniel muss es gefühlt haben.

Als wir vorhin in der Wohnung angekommen waren, verschwand ich sofort im Bad, ohne ein einziges Wort zu sagen. Daniel wartete auf dem Sofa. Nach fünf Minuten war ich fertig und anschließend betrat er das Bad. Das ist mittlerweile schon eine Viertelstunde her.

Langsam schüttle ich den Kopf, belasse das Tuch vorsichtig auf der offenen Wunde und streiche mit beiden Händen durch mein dunkles Haar, bevor ich die Handballen vor meine Augen drücke.

Mir ist schwindlig.

Eigentlich sah ich nie klarer, alles liegt deutlich vor mir, doch meine Gedanken drehen sich ständig im Kreis. Ich bin es nicht gewohnt, dass in meinem Denken ein solch unkontrollierbares Chaos herrscht.

Aus dem Flur höre ich unbewusst das knarrende Geräusch einer sich öffnenden Tür. Das fehlende Prasseln des Wassers ist mir entfallen, sodass ich nicht bemerkte, dass Daniel aus dem Badezimmer kam.

Nun, da er vor mir steht und mich mustert, beginne ich ihn langsam wieder wahrzunehmen.

Ich kann seinen Blick nicht deuten. Er sieht mich weder verständnislos, noch verabscheuend oder ängstlich an. Wenn ich es nicht besser wissen müsste, dann würde ich meinen, er schaut so normal wie immer.

„Was ist denn los, Henri? Hast du ein Gespenst gesehen?“

Zwar öffne ich meinen Mund, aber kein einziges Wort will meine Kehle verlassen. Ein eiskalter Schock durchfährt meine Kopfschmerzen. Ich kann nicht begreifen, dass Daniel sich völlig unverändert verhält.

„Du musst mir nicht antworten“, entgegnet er mit vorgetäuschter Beleidigung. „Ich mache uns etwas zu essen.“

Damit verschwindet er in der Küche. Durcheinander aufgrund dieser einfachen Worte bleibe ich sitzen und sehe nur verwirrt hinter ihm her zur offenen Tür. Wie kann Daniel so ruhig bleiben?

Es ist selbstverständlich, dass man mir meine Aufgelöstheit nicht anmerkt. Ich stehe auf und folge ihm.

In der Küche ist Daniel mit hochgekrempelten Ärmeln damit beschäftigt, Reis in Wasser auf den Herd zu stellen. Umständlich hält er noch das Messer in der Hand, mit dem er das Paket aufschnitt, während er Salz in den Topf schüttet. Die braunen Augen sind auf das Metall in seiner rechten Hand gerichtet.

Kein Laut erklingt in der Küche. Ich höre nie Musik, weshalb es in meiner Wohnung immer erdrückend leise ist. Nicht einmal das Ticken einer Uhr durchdringt die Stille; ich besitze nur Digitalanzeigen.

Endlich gehe ich zu Daniel hinüber, stelle mich dicht an seinen Rücken und nehme das Salz aus seiner Hand.

„Du verdirbst den Reis, wenn du so weitermachst.“

Er dreht sich um, doch ich weiche keinen einzigen Schritt zurück. Sein Blick ist durchdringend, ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen.

„Ich war abgelenkt.“

Wieder fixiert er die blanke Klinge, auf der die Lichtreflexe blitzen und milchige Übergänge von weiß zu grau malen. Als wir uns wieder anschauen, kann ich den Ausdruck in seinem Gesicht mit Gewissheit deuten. Seit wie vielen Nächten plagen mich dieses selbstsichere Auftreten und die stumme Herausforderung in seinen Augen schon? Im Traum erschien es mir immer unerträglich, doch nun nehme ich die Aufforderung mit Freude an.

Ruckartig greife ich nach seiner Hand, entwinde ihm das Messer und drücke es an seinen Unterarm. Ich will seine Angst sehen, aber Daniel vermittelt mir eher Erregung, als dass er auch nur vor Schreck mit der Wimper gezuckt hätte. Ich sehe ihm tief in die Augen und zögere.

Eigentlich herrscht momentan ein Gleichstand. Zwar habe ich ihm kürzlich bei unserem Gespräch nur unwesentlich eine Lektion erteilt, doch an den Bahngleisen zog ich eindeutig den Kürzeren, als mir Daniel unerlaubt meine Kontrolle entriss. Das soll er bereuen.

Mein Druck verstärkt sich mit dem Messer auf seiner Haut. Langsam ziehe ich es den Arm hinab. Ein schmaler roter Streifen folgt der Schneide. Wie an einer Perlenkette reiht sich das hervorquellende Blut daran auf. Der Schnitt ist nicht tief, wandert nur flüchtig durch die Haut. Ich wollte Daniel lediglich in seiner Ruhe erschüttern, ihm zeigen, wie ernst es mir ist, doch er gibt keinen Ton von sich und lehnt mit geschlossenen Augen leicht an der Tischkante in seinem Rücken.

Unbarmherzig halte ich sein dünnes Handgelenk weiterhin fest und drücke seinen Arm entschlossen nach unten gegen das Holz der Anrichte. Das Messer ritzt erneut über dieselbe Stelle im Fleisch und vertieft die Wunde, sodass sie ein Stück weit aufklafft. Diesmal schnappt Daniel kurz nach Luft und zieht die Kälte meiner Wohnung scharf zwischen seinen Zähnen ein. Sein unterdrücktes Keuchen hetzt ein wohliges Fieber durch meinen Körper und bringt mich gleichzeitig wieder zu Bewusstsein. Mit vollkommener Klarheit sehe ich in sein schmerzlich lächelndes Gesicht, meine Lippen sind an seinem Arm und meine Zunge leckt über die raue Wunde.

Plötzlich spüre ich, wie seine andere Hand das Messer aus meinen Fingern entwindet und an sich reißt. Als meine Lippen von Daniel ablassen müssen, greift er mit seinem verletzten Arm nach meinem Kinn und zieht mein Gesicht zu sich heran. Im nächsten Moment hält er mir das kalte Metall an den Hals.

„Gefällt dir dieses Spiel?“

Seine Worte hallen fragend in meinem Kopf wider. Befriedigende Gelassenheit durchströmt meinen Körper, sodass es mir nicht schwer fällt, kalt zu antworten:

„Ja.“

Ich kann Daniels Gesichtsausdruck in diesem Augenblick nicht deuten, denn sein Lächeln erreicht nicht die Augen hinter seinen halbgeschlossenen Lidern. Dann erwidert er:

„Es ist alles nur ein Spiel.“

Er führt die Schneide sanft über die Erhöhung meiner Hauptschlagader, hinterlässt die Haut unversehrt, bis die Spitze des Messers an meiner Kehle innehält. Ich verspüre einen leicht unangenehmen Schmerz.

„Nicht wahr, Henri? Was meinst du, wie ich dieses Spiel gewinnen könnte? Vielleicht...“

Er grinst mich aus seinen braunen Augen höhnisch an und verstärkt den Druck des gefährlichen Metalls. Noch immer läuft sein eigenes Blut den Arm hinab und tropft lautlos auf die Küchenfliesen, aber seine Hand bleibt ruhig. So ruhig wie meine Stimme:

„Dann stich doch zu.“

Er rührt sich nicht und das Grinsen auf seinem Gesicht gefriert.

„Tu dir keinen Zwang an, Daniel. Allerdings solltest du aufpassen, denn mein Blut wird wahrscheinlich durch den Raum und an die Wände spritzen. Eine Unannehmlichkeit, die mich dann nichts mehr angeht, aber die für dich ein Problem darstellt.“

Daniel lächelt nicht mehr, doch Verwirrung ist in seinem Blick ebenso wenig zu lesen.

Ich darf mich nicht fallen lassen, dennoch schreit meine Seele in diesem Moment nach Erlösung. Vielleicht kann die heutige Nacht mich von mir selbst befreien. Ich will mich nicht länger im Griff haben müssen, auch wenn ich sonst nichts mehr in meinem Leben besitze, abgesehen von meinem schwächlichen Herzen, welches noch immer unerträglich in mir schlägt. Die Macht in meinen Händen wird von Tag zu Tag schwerer.

Doch ich weiß, Daniel wird es nicht tun.

Plötzlich zuckt er mit den Schultern, drückt mir das Messer in die Hand und wendet sich ab.

„Dann eben nicht. Ich verschwinde, Henri.“

Mit diesen Worten verlässt er die Küche.

Ich bleibe stehen, bewege mich nicht, kein einziger Gedanke ist in meinem Kopf, nichts. Nach ein paar Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, senke ich den Blick. Dort auf den Fliesen sieht man die Farbe von Daniels Blut, rot auf weißem Grund. Aus dem Wohnzimmer höre ich das leise Rascheln, als Daniel nach seinem Mantel greift, um zu gehen.

Dann bin ich wieder ich selbst, spüre meinen Körper und mein Verlangen.

Sofort löse ich mich aus meiner Starre und gehe mit schnellen Schritten aus der Küche hinter ihm her.

Im Flur dreht er sich zu mir um und wirft seine langen Haare in den Nacken. In seinem Gesicht liegt ein hochmütig herausfordernder Blick, der das Blut in meinen Adern kochen lässt. Ich verliere für einen Moment die Kontrolle über mein Handeln, packe seinen Arm und schleudere Daniel gegen die Wand. Er stößt einen erschrockenen Schrei aus. Mit meinem ganzen Körper presse ich ihn gegen die Wand, will ihn nicht gehen lassen. Seine Stimme zittert leicht unter der Gelassenheit, mit der er mir sagt:

„Lass mich los.“

Ich vergrabe mein Gesicht im Duft seines Haares und beuge mich schließlich tiefer. Meine Sinne sind wie benebelt. Ich kann nur einen Gedanken fassen, der ihm verborgen bleibt, weil ich ihn nie aussprechen werde.

‚Ich will dich wieder schreien hören.’

In meinen Träumen zerbreche ich seinen Hohn, die herablassende Überlegenheit. Ich zwinge ihn unter mich, mache ihn blind und entfremde ihn seines hochmütigen Blickes, bis er schreit, bis er mich anfleht, dass ich aufhören soll. Erst später, viel später, wird er wieder seinen Besitzanspruch auf mich verdeutlichen. Er wird wollen, dass ich weitermache. Plötzlich zwingt mich mein Gehirn zu diesen Wünschen. Kann ich es wirklich aussprechen, mein Verlangen?

Meine Lippen gleiten über die Haut seines Halses. Daniel bleibt ruhig. Auch wenn er sich nicht bewegt, ist sein Körper keinesfalls verkrampft.

Er will mich erniedrigen und ich will es auch. Warum wehrt er sich dagegen, mich zu verletzen? Ich schrecke nicht davor zurück.

Meine Zunge spürt den Geschmack seiner Haut und das Blut, welches darunter pocht. Seinen beschleunigten Herzschlag kann er nicht vor mir verbergen. Ich beiße in sein Fleisch, doch er zuckt nicht zurück, sodass ich meinen Druck verstärke. Er soll den Schmerz so deutlich spüren, wie ich ihn in meinem Inneren erleiden muss.

Daniel presst ein leicht ersticktes Stöhnen zwischen seinen Zähnen hervor. Mich durchströmt in diesem Augenblick eine unendliche Genugtuung.

Ich vernachlässige den Druck auf ihn, doch er stößt mich von sich. An der ihm gegenüberliegenden Wand kann ich mich abfangen und sehe in sein Gesicht. Ich denke, dass mein Blick auf ihn gierig und brutal wirken muss. Tatsache ist, dass er mich verwirrt und erschrocken mustert. Dann schüttelt er kurz den Kopf, bevor er sich abwendet, um zu gehen.

Erneut will ich ihn daran hindern. Meine Hand greift nach der seinen, aber Daniel entwindet sich mir mit einem Ruck und weicht zurück. Jetzt stehe ich zwischen ihm und der Ausgangstür und gehe einen Schritt auf ihn zu, doch er flüchtet in das nächste Zimmer.

Kurz erwäge ich die Möglichkeit, ihm zu folgen, allerdings ist meine Wohnung groß und die meisten Zimmer sind nicht nur mit dem Flur, sondern auch untereinander verbunden. Das ermöglicht eine zu leichte Flucht; er könnte mir entkommen.

Langsam drehe ich mich zur Eingangstür um. Ich nehme den Schlüssel vom Regalbord und schließe ab, bevor ich ihn lautlos in meiner hinteren Hosentasche verschwinden lasse. Dann sehe ich neben mich; ein weißer Kasten ist links vom Eingang an der Wand montiert. Ich öffne ihn, um über die vielen Schalter der Stromregulierung zu schauen. Ohne nachzudenken lege ich die Hauptsicherung um.

Augenblicklich geht das Licht aus. In der Dunkelheit schärfen sich meine Sinne und ein angenehmes Zittern durchläuft meinen Körper vom Nacken bis in die Fingerspitzen. Leise schließe ich den Sicherungskasten.

Ich kenne mich auch im Dunkeln in meiner Wohnung aus, ein unbestreitbarer Vorteil. Meine Schritte lenken sich zur Küche. Kein Laut ist zu hören, als würde alles den Atem anhalten. Ich male mir aus, dass auch Daniel in diesem Moment die Luft ausgeht und er von seiner Angst zermartert wird.

In der Küche angekommen erahne ich die Stelle, wo das Messer noch immer auf dem Tisch liegt. Nach einigem ziellosen Herumtasten spüre ich den Griff in meiner Hand und hebe das Instrument, dessen Silhouette das Einzige ist, das ich in der Dunkelheit ausmachen kann, näher zu meinem Gesicht. Sollte ich es mitnehmen?

Nein, denke ich, heute Nacht will Daniel nicht meinen Tod, darum will ich auch nicht sein Leben einfordern. Es ist mir ohnehin viel zu kostbar. Warum sollte ich mit der Klinge spielen, wenn ich ihn nicht verletzen will? Zumindest habe ich nicht vor, das Messer dazu zu benutzen.

Behutsam und leise lege ich es wieder auf den Küchentisch und gehe zurück ins Wohnzimmer. Einen Augenblick bleibe ich wieder zögernd stehen und atme noch einmal die Luft meiner Wohnung ein. Was ich glaube zu vernehmen ist nicht der Geruch von Angst, Hass, Verzweiflung oder Liebe. Vielleicht liegt ein Hauch Erregung in der Finsternis.

Ich höre nichts, sehe nichts, schmecke noch immer Daniels Blut auf meiner Zunge.

Und dann fühle ich es. Völlig unvermittelt denke ich plötzlich wahrzunehmen, dass ich die ganze Zeit über seine Gegenwart spürte, ohne es selbst bewusst mitzubekommen. Es war schon die ganze Zeit da.

Unaufhaltsam folge ich mit leisen Schritten der Präsenz meines Freundes. Während ich durch die verschiedenen Zimmer laufe, halte ich mich im Schatten, verschmelze mit der Dunkelheit. Dann scheint mir seine Gegenwart zum Greifen nah. Ich warte nicht und packe zu.

Meine Hand liegt auf seiner Schulter. Er fährt erschrocken hoch, sagt allerdings kein Wort. Er will sich umdrehen, doch ich hindere ihn daran und ziehe ihn an mich. Mit dem Rücken zu mir gewandt umschlinge ich ihn mit meinen Armen. Daniel wehrt sich nicht.

Vorsichtig setze ich meinen Fuß zurück, gehe ein paar Schritte rückwärts, bis ich gegen die Wand stoße, zusammen mit dem fremden warmen Körper, der sich mir nicht widersetzt. Die Atmosphäre der Nacht zerrt nun an mir, zieht mich hinab in die Tiefe, sodass ich an der Wand hinabrutsche, mit Daniel in den Armen.

Nach einigen Minuten erst, in denen wir nur still dasitzen, erhebt er das Wort.

„Henri? Was ist los?“

„Daniel...“ Sein Name ist ein Flüstern auf meinen Lippen und ich muss mich konzentrieren, um meiner Stimme wieder Festigkeit zu verleihen, bevor ich erneut beginne. “Daniel, die Dunkelheit ist der Tod. Stell es dir für einen Moment vor, dass du nicht mehr bist. Was würdest du tun, wenn ich dich jetzt töten wollte?“ Ich hebe demonstrativ die Hand und lege sie an seinen Hals. Er schmiegt sich näher in meine Umarmung.

„Es wäre schade.“

Ich warte einen Augenblick, aber er redet nicht weiter.

„Das ist alles?“

„Das ist alles.“

„Ich würde dich töten und du fändest es schade?“

„Ja...“ Nach einer Weile ergänzt er: „Ich habe noch einiges vor. Wenn ich tot bin, kann ich das nicht mehr nachholen. Das ist schade.“

Wieder umgibt uns die Stille wie ein dichter Vorhang, der von der Bühne des Lebens hinab gelassen wurde, um zu verdecken, was sich hinter dem Schauspiel in der Wirklichkeit ereignet. Ich denke an Gott und wie lächerlich es ist, an seine Existenz zu glauben. Hat Daniel seinen Glauben verloren? Es gibt kein Jenseits, kein Nirwana, keinen Himmel, nicht einmal eine Hölle oder Unterwelt, nur das Nichts, in das man fliehen kann. Hat er davor Angst?

„Wenn du noch etwas vorhast, warum würdest du mich nicht daran hindern, dir dein Leben zu nehmen?“

„Wieso sollte ich? Ob ich jetzt sterbe oder später, das spielt doch keine Rolle. Sobald ich tot bin, interessiert es mich sowieso nicht mehr. Egal, ob ich noch etwas unternehmen wollte, ob ich alles erreicht habe, was ich wollte, ob ich den Tod wollte oder ob ich glücklich war und leben wollte. ...Was rede ich eigentlich? Du weißt doch, was ich meine.“

„Ja.“

Das ist alles, was ich sage. Ja.

Daniel schweigt wieder. Mein Kopf ist völlig leer und dabei so überfüllt, dass ich nicht weiß, was ich denken soll. Bin ich unsicher? Nein, das ist es nicht. Irgendetwas fehlt.

„Daniel.“ Ich ringe mit den Worten. „Es ist lange her... Damals fühlte ich die Angst vor dem Tod. Ich stellte mir vor, wie es sein würde. Nichts wäre von mir übrig, nur mein verrottender Körper in irgendeinem Grab zwischen vielen anderen Toten, die genauso wenig wie ich wissen, dass sie nicht mehr leben. Niemand würde sich später an mich erinnern, auch wenn am Anfang Blumen die Erde über mir schmücken, Blumen, die mich nichts mehr angehen, wenn ich nicht mehr lebe. Man würde mich vergessen, und sollte es doch nicht so sein, dann hilft mir das auch nicht, denn ich lebe nicht mehr. Verstehst du? Ich lebe nicht mehr.“

Ich halte inne. Warum erzähle ich das alles?

„Ich versuche es noch heute, versuche mir das Bild vor Augen zu rufen. Ich sage es mir unaufhörlich; du stirbst, du stirbst, du stirbst, du stirbst, du stirbst. Aber da ist nichts, keine Angst, keine Verzweiflung. Vielleicht fordere ich es heraus, um durch meine Todesangst zu spüren, dass ich lebe. Am Ende spüre ich jedoch gar nichts.“

Mir ist einen Moment schwindlig von den vielen Worten, die mein Mund nicht zu sprechen gewohnt ist. Daniel fragt sarkastisch:

„Ist deine fehlende Todesangst möglicherweise auf deine Sehnsucht danach zurückzuführen?“

„Daniel, diese Frage könnte ich genauso gut dir stellen. Jeder verspürt doch Todessehnsucht. Den Tod will ich nicht unbedingt, aber das Sterben würde mich schon reizen.“

Daniel sagt nichts, aber ich bin mir sicher, dass er lächelt, auch wenn es in der Dunkelheit nicht zu erkennen ist. Schon lange habe ich, ohne es zu merken, den kalten Ton abgelegt und rede mit ihm, meinem besten Freund, wie nie zuvor. Auch jetzt spreche ich weiter.

„Jeder kann nur einmal sterben. Ich würde das nicht vergeuden, sondern den Todesengel persönlich bitten, mein Leben auszuhauchen.“

Daniel lacht und fragt:

„Soll das eine Liebeserklärung sein?“

„Auf keinen Fall. Liebe ist nur ein Spiel, bei dem es keinen Gewinner gibt.“

„Wer sich verliebt, verliert“, antwortet er.

Kapitel 3

Langsam öffne ich die Augen und sehe für einen Moment orientierungslos in die Finsternis. Neben meinem Bett steht die Hülle meines eigenen Körpers, den Blick mit einem Lächeln auf mich gerichtet. Mein Herz schlägt schneller und unkontrolliert, als wolle es meine Brust in Fetzen reißen.

„Du bist nicht echt“, höre ich meine Stimme im Zimmer widerhallen, mit einer Sicherheit, die ich selbst kaum fühle, „du existierst nicht wirklich.“

„Ich bin nicht echt“, antwortet mein anderes Selbst lächelnd, „ich existiere nicht wirklich.“

Auch wenn dieser Gedanke mich fasziniert und fast beruhigend auf meine Wahrnehmung wirkt, rinnt kalte Angst meinen Nacken hinab. Reglos bleibe ich liegen und starre in das Gesicht, welches dem meinen bis zu den eisfarbenen Augen gleicht.

Das Bild könnte verschwinden, wenn ich meine Lider schließe.

Sekunden verstreichen, in denen ich zu keiner Handlung fähig bin.

In der Dunkelheit sehe ich, wie mein gespiegeltes Selbst die Hand hebt und mit einer Schusswaffe auf meine Stirn zielt. Einen kurzen Moment blicke ich in den schwarzen Lauf, bevor das Geschoss mit einer Explosion meine Schädeldecke durchdringt.
 

Ich schrecke hoch.

Mein Zimmer ist still und trübes Morgenlicht malt graue Streifen an die Wände. Es ist noch nicht hell genug, als dass man jegliche Konturen klar zu erkennen vermag. Dennoch sehe ich Daniels Gestalt deutlich vor mir.

„Was ist?“, fragt er leise. „Hattest du einen Alptraum?“

Mein Freund sitzt auf der Bettkante und hebt nun die Hand, um behutsam über meine Stirn zu streichen. Schmerz verbreitet sich bei dieser Berührung genau an der Stelle, wo die Kugel im Traum meinen Kopf durchbohrte.

„Ich weiß es nicht“, entgegne ich flüsternd. „Wenn, dann verfolgt mich dieser Albtraum noch immer, auch in der Wirklichkeit.“

„Kannst du dich denn niemals von deiner Schuld lösen, Henri?“

Ein leichtes Lachen stiehlt sich aus meiner Kehle.

„Dafür bin ich zu besitzergreifend“, erwidere ich traurig. „Bei dir ist es doch Dasselbe. Ich komme einfach nicht klar ohne dich.“

Nichts ist in Daniels Miene zu lesen, während er sich langsam über mich beugt. Seine Finger streichen noch immer über die Haut meiner Wange und schließlich meinen Hals hinab. Dann fühle ich eine Klinge an meiner Hauptschlagader nah über dem Schlüsselbein.

„Soll ich dich von dieser Qual erlösen?“

Noch bevor ich antworten kann, verstärkt sich der Druck auf die Rasierklinge.

Ein rascher Schnitt durchtrennt die Ader an meinem Hals, öffnet die Blutgefäße und füllt meine Kehle mit dem metallischen Geschmack des Todes.

In Panik erwache ich.
 

Wir sitzen auf dem Dach eines Parkhauses. Vom Geländer aus kletterten wir zu den Anlagen der Belüftungsgeräte, denn hier oben hat man einen guten Ausblick auf die Dächer der Stadt. Ich fühle mich wie ein kleines Kind, wenn ich mit Daniel auf dem Dach in den von Wolken verhangenen Himmel sehe.

Wir reden nicht. Mir wird kalt und ich schließe meine Jacke, bevor meine Hand erneut in die Tasche gleitet. Ich kann es spüren, das kleine metallische Instrument, welches ich ohne ersichtlichen Grund mitnahm.

Warum habe ich das getan?

Ich sehe zu Daniel hinüber, doch er beachtet mich nicht.

Vorhin rief er mich an, um zu fragen, ob wir uns treffen wollten. Wieder geht mir unser Gespräch am Telefon durch den Kopf.

„Hallo?“

„Henri?“

„Daniel? Du lebst ja auch noch.“

„Ja.“

„Wie lange ist es her, seit wir uns das letzte Mal sahen? Zwei Wochen?“

„Ja.“

„Was willst du?“

„Wollen wir uns treffen? Jetzt?“

„Von mir aus. Wo?“

„Auf dem Parkhaus bei der Versicherungsfiliale.“

„Ich komme.“

Jetzt sitzen wir hier und Daniel hat noch kein einziges Wort gesprochen, während ich mit der Rasierklinge in meiner Tasche spiele. Da ist er wieder; der Gedanke an das kleine Stück Metall in meiner Jacke. Bevor ich mich auf den Weg machte, war ich automatisch ins Bad gegangen und hatte sie mitgenommen. Vielleicht kann ich es nicht verstehen, aber ich weiß zumindest den Grund für mein Handeln; beim letzten Mal habe ich Blut geleckt, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich will mehr, will seinen Schmerz und dass er ihn endlich in meinen Armen auslebt.

„Woran denkst du?“

Ich sehe in Daniels Gesicht, der mich mit seiner Frage völlig überraschte. Er mustert mich und ich kann nicht sagen, wie lange er mich schon beobachtet. Eine Antwort muss ich ihm schuldig bleiben.

Wieder schaut er über die Kulisse der Stadt, die grauen Wolken, die nebensächliche Trostlosigkeit. Nach einer Weile fragt er:

„Wenn du die Möglichkeit dazu hättest, etwas an dieser Welt zu ändern, was würde es sein?“

Daniel verwundert mich heute mit seinen Fragen. Seit wann hat er begonnen, über sinnlose Dinge zu philosophieren?

„Das habe ich doch schon, Daniel. Ich hatte die Möglichkeit und habe sie ergriffen.“

„Also reicht dir das.“

„Ich bin müde, Daniel.“ Er bedenkt mich mit einem traurigen Blick, und in diesem Moment fühlen sich meine Glieder tatsächlich an wie Blei, schwer und erdrückend. „Ich werde mir niemals etwas erhoffen, das ich nicht selbst beeinflussen kann. Du kannst nicht von mir verlangen...“ Ich rede nicht weiter, denn plötzlich muss ich lachen. Ich hasse Situationen, in denen mir alles nur noch lächerlich erscheint. Fast kann ich es nicht ertragen, dass mich das Lachen befällt, während Daniel mir zusieht. Seine Augen weiten sich bestürzt, doch ich kann nicht aufhören. Mit einer fahrigen Bewegung stiehlt sich meine Hand erneut in die Jackentasche.

Ich unterdrücke mein albernes Kichern und presse hervor:

„Eigentlich ist es Blödsinn. Ich möchte nichts ändern, denn die Welt gefällt mir so, wie sie ist. Das Einzige, was geändert werden müsste, ist dein seltsames Gefasel, Daniel.“

„Ich sagte nichts.“

Seine nüchterne Antwort bewegt auch mich dazu, mit dem Lachen aufzuhören, um fortzufahren.

„Ich beeinflusse mein Leben, wenn ich es leichter oder schwerer haben möchte. Ich hätte mich genauso für den Krieg einsetzen können. Zwing mich nicht dazu, meine Gedanken an Banalitäten zu verschwenden.“

„Und was ist mit dir selbst? Stell dir vor, du könntest etwas an dir ändern, das dir nicht gefällt.“

„Dann hätte ich es schon getan. Glaube mir, ich bin nicht so schwach, um das nicht zu können.“

Daniel senkt die Lider und wendet sich wieder ab, sodass ich nur sein braunes Haar sehe, das über den schmalen Rücken fällt. Warum kann ich ihn jetzt nicht an mich ziehen? Ich möchte ihn mit meinen Armen umfangen, um ihn dann wieder von mir zu stoßen. Mein Blick fällt nach unten auf meine Hände, die ich zum Gesicht hebe und anschaue. Jedoch fühle ich sie kurze Zeit später wieder in meinen Taschen bei der Packung Taschentücher, meinem Mobiltelefon und der Rasierklinge.

„Ist dir überhaupt etwas wichtig, Henri?“

„Ist dir keine Frage zu sinnlos, sie mir zu stellen, Daniel?“

„Könntest du aufhören mir als Antwort Gegenfragen aufzutischen?“

„Du tust es doch selbst.“

Wir schweigen. Ich ziehe die Hand aus der Tasche und male mit dem Zeigefinger eine liegende Acht auf den Untergrund, bis mir einfällt, dass ich noch nicht geantwortet habe.

„Kontrolle.“

Daniel sieht mich fragend an, doch realisiert er schnell, was ich meine. An seinem Blick sehe ich, dass er mehr hören will, aber ich gehe nicht darauf ein und lasse seine stumme Bitte unbeachtet. Schließlich redet er, als würde er beschließen das Gespräch ohne mich weiterzuführen.

„Dir ist Kontrolle wichtig. Sicherlich meinst du Kontrolle im Allgemeinen, über das Handeln der Menschen, Vorausahnen ihrer Reaktion, das Spielen mit ihrer Dummheit, ihren Gefühlen. Was denkst du über mich, Henri? Meinst du, dass ich es verstehe oder dass ich es nachempfinden kann? Du hast Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, darum ist sie dir so wichtig.“

„Du hättest das nicht tun dürfen.“

Ich kann nicht ausmachen, ob Daniel sich mir überlegen fühlt, doch ich sehe, dass er weiß, wovon ich spreche: Der Bahnsteig.

Er betrachtet mich nur, ohne etwas zu sagen.

„Damals... es war nicht gerecht. Weißt du, dass ich dich dafür hasse? Ich dulde nicht, dass man mir mein Eigentum wegnimmt. Als ich dir die Hand anbot, hast du sie nicht ergriffen. Wiederholt sich das, werde ich dich umbringen.“

„Hast du das nicht sowieso vor?“

„Ja. Dennoch könnten wir unsere gemeinsame Zeit doch auskosten.“

Wir sehen uns an und unser Lächeln ist ungezwungen. Daniel weiß, dass er mir gehört. Einer plötzlichen Erinnerung folgend rücke ich näher an ihn heran, greife nach seinem Arm und streife den Ärmel hoch. Darunter sehe ich die rote Linie, welche sich seinen Arm entlang zieht, keine Narbe, sondern nur eine Kerbe in ausgefranst schimmerndem Weinrot. Warme Zärtlichkeit durchläuft bei diesem Anblick meinen Körper und ich spreche aus, was alle Welt im Stillen wissen soll.

„Du gehörst mir.“

Nun merke ich, dass Daniel viel näher bei mir ist, als ich glaubte. Er hat seine Hand um meine Hüfte geschlungen und kramt mit der anderen in meiner Jackentasche.

Sofort weicht er wieder zurück, nachdem seine Suche scheinbar erfolgreich war. Er grinst mich an und hält die Rasierklinge zwischen den Fingern. Völlig desinteressiert schaue ich auf das bedeutungslose Stück Billigmetall, sage allerdings nichts.

„Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt...“

„Nicht schon wieder Fragen“, unterbreche ich ihn theatralisch.

Er fährt unbeirrt fort: „...was du in der Tasche hast. Du warst ständig damit beschäftigt, mit irgendetwas rumzuhantieren.“

„Vielleicht mit meinen Taschentüchern?“

Ohne darauf einzugehen verrollt er die Augen und betrachtet die Klinge genauer. Wahrscheinlich hat er ein seltsames Faible dafür, sich jegliche Art von Messern lieber anzusehen als sie zu gebrauchen. Plötzlich lacht er kurz auf.

„Was ist los?“

„Hast du gelesen, was draufsteht?“

Er hält sie mir vor das Gesicht und ich sehe auf der einen Klingenseite ein paar dunkelgraue Buchstaben, die sich von dem gespiegelten Himmel abheben: LONG LIFE BLADE.

„Das steht doch auf fast jedem scharfen Haushaltsmetall.“

„Paradox ist nur, dass gerade diese kleinen Rasierklingen vielen Menschen auf freiwilliger Basis ihr langes Leben verkürzen.“

„Es geht doch nicht um den Menschen.“

Daniel lacht und steht auf. Er schlendert unbedacht über die Anlage, als hätte man ihn schon lange der Angst vor dem Fall beraubt, wobei er zu mir herüber ruft:

„Das Einzige, was zählt, ist die Kontrolle, denn der Mensch zählt nichts mehr. Nichts, nichts, nichts. Bin ich dir genauso unwichtig?“

Mit einem breiten Grinsen steht er am anderen Ende, wirft einen kurzen Blick in die Tiefe und sieht mich schließlich an. Leise weht ein Flüstern von seinen Lippen zu mir herüber, sodass ich es mehr anhand der Bewegung seines Mundes erahnen muss, als dass ich es höre.

„Soll ich...?“

Wieder liegt der herausfordernde Blick auf seinem Gesicht. Ich muss ruhig bleiben, doch ich kann es nicht. Er würde es wirklich tun. Ich nehme kein einziges Gefühl in meinem Körper wahr, vielleicht ein leichtes Ziehen, aber nicht mehr. Meine Stimme ist kalt und bestimmt.

„Ich habe dich gewarnt. Du wirst mich nicht dazu veranlassen, zu verlieren.“

„Also bin ich unwichtig? Du hast mir keine Antwort gegeben. Soll ich springen?“

Ich antworte nicht.

„Du Lügner. Du findest es toll, die Kontrolle zu verlieren. Ich wollte dich aus der Reserve locken und dein Handeln bestätigt meine Vermutung. Es hat dich gereizt, nicht mehr alles im Griff zu haben.“

Ich antworte noch immer nicht.

„Erzähle mir nicht, du wolltest mich unterdrücken. Es wäre eine Schande für dich, wenn du zugeben müsstest, dass der selbstbeherrschte Henri, ein Soldat, der kaltblütig im Krieg töten konnte, behandelt werden will wie ein Stück Dreck.“

Als ich aufstehe, muss ich schmunzeln. Daniel hat Recht. Alles soll mir unterlegen sein, damit ich mit meiner Macht spielen kann. Allerdings brenne ich darauf, hilflos dieser Macht beraubt zu werden. Ich will ihn unter mein Antlitz schleifen; ich will, dass er sich aufbäumt, sich mir widersetzt; ich will, dass ich mich ihm widersetzen muss und dass er mich schließlich erniedrigt, wie ich ihn erniedrigt habe. Mein Schmerz soll ein Schrei in seinem Mund sein.

Wir sehen uns an und ich weiß, dass er meine Gedanken kennt.

Noch immer spielt er mit der Rasierklinge in seiner Hand und geht einen Schritt auf mich zu, während ich wie angewurzelt stehen bleibe. Beim zweiten Schritt wird er schneller, der dritte ist hastig, beim vierten hebt er den Arm und mit dem fünften hat er mich erreicht. Ich will nicht zurückweichen, doch verliere ich das Gleichgewicht. Daniel fängt mich auf, stürzt sich über mich, bis er mi
 

Ich liege auf dem Boden und starre in den Himmel. Offenbar habe ich kurzzeitig das Bewusstsein verloren. Daniel ist über mir, meine Jacke neben mir. In seiner einen Hand sehe ich braun verkrustete Taschentücher, wahrscheinlich meine eigenen, mit der anderen hält er mich fest, legt den Arm um meine Schulter und zieht mich hoch in eine Umarmung. Ich fühle mich seltsam und lasse alles geschehen.

Dann drückt er mich von sich. Seine linke Hand löst Daniel kein einziges Mal von meinem Unterarm. Jetzt fühle ich, wie fest er mir seinen Griff aufzwingt. Durch die fehlende Durchblutung sind meine Fingerspitzen eiskalt.

Neben mir kniend lockert mein Freund den Halt und hebt vorsichtig das Taschentuch von meinem Unterarm. Für einen Moment kann ich nur auf das Stück Zellstoff sehen, welches von einer dunkelroten Flüssigkeit durchtränkt ist. Erst dann schaue ich auf meinen rechten Unterarm, auf dem waagerecht zu meinem Knochen eine klaffende Wunde die Hand von meinem Arm zu trennen scheint.

Ich stöhne kaum merklich auf und versuche die Finger meiner rechten Hand zu bewegen. Es gelingt mir ohne Probleme. Fasziniert betrachte ich die hellen Sehnen und Muskelstränge, die sich bei dieser Bewegung unter meiner Haut verschieben, so funktionstüchtig, als hätte man eine Maschine geöffnet. Nicht einen Menschen.

Daniel mustert mich, als wolle er in meinen Gedanken lesen. Dann sagt er:

„Gut, dass ich es auf der Außenseite gemacht habe. Ich habe keine Hauptschlagader getroffen.“

Ich spare es mir, ihn danach zu fragen, was geschehen ist, und antworte nur:

„Gib mir noch ein Taschentuch.“

Er reicht es mir und murmelt mit einer Mischung aus Schuldgefühl und freudiger Überraschung:

„Ich wusste nicht, dass Rasierklingen so scharf sind.“

„Die war neu.“

„Sind alte etwa harmlos?“, fragt er sarkastisch.

Ich drücke stark auf die Wunde und versuche mich zu beruhigen. Mein ganzer Körper zittert, ich kann es nicht unterdrücken. Mit ruhiger Stimme antworte ich:

„Im Vergleich könnte man sogar sagen, dass sie sehr schnell abstumpfen. Dadurch werden sie aber nicht ungefährlich. Berechenbarer, ja, aber nicht ungefährlich. Du konntest die Auswirkungen einer neuen Rasierklinge nur schwer abschätzen.“

„Soll mich das beruhigen?“

Immer mehr Blut sickert auf meine Hose, die sich schnell dunkler färbt. Ich sehe zu Daniel auf, dessen Blick fragend und misstrauisch ist. Aus einem Impuls heraus schüttle ich den Kopf. So geht es nicht.

„Nimm mein Handy. Du kennst die Nummer.“

Sofort greift Daniel danach, während ich mühsam aufstehe. Er wählt und hält inne, bevor er die Wahltaste betätigt.

„Was soll ich sagen?“

Ich blicke ihm prüfend in die Augen und entgegne kalt:

„Schnittwunde am Unterarm. Dann nennst du die Straße. Wir warten unten vor dem Gebäude.“

Ich drehe mich um und springe mit einem Satz zurück auf das Parkdeck. Scharf muss ich die Luft zwischen den Zähnen einziehen, als ich mit einem Ruck aufkomme. Doch ein Stöhnen unterdrücke ich. Dann lenke ich meine Schritte zur Autoabfahrt des Parkhauses. Auf halbem Weg über den gesamten Platz holt mich Daniel wieder ein. Unvermittelt fragt er mich:

„Was wirst du sagen?“

Ich gehe weiter, auch wenn das Schwindelgefühl von mir Besitz ergreift.

Kapitel 4

Leise klappern die Behandlungswerkzeuge auf dem sterilen Metall, während ich ruhig liegen bleibe und ihrem verhaltenen Echo lausche. Wieder zieht etwas an meinem leblosen Arm. Der Schmerz pulsiert durch meinen gesamten Körper.

Ich starre an die Kacheln.

Es ist kalt.

Daniel hat gelächelt, als er auf mich zukam. Wie Nadelstiche durchdringen Erinnerungen meine Gedanken, szenenartige Eindrücke, die ich für kurze Zeit vergessen hatte.

Das Parkdeck, ich taumle, falle zurück, doch mein Freund fängt mich auf. Über mir ist weißer Himmel. Eine plötzliche Taubheit ergreift Besitz von mir, als die Rasierklinge mit einer raschen Bewegung über die Außenseite meines rechten Armes fährt. Ich höre ein seltsames Geräusch, ein zischendes Flüstern, als die Schneide meine Haut und das Fleisch darunter auseinander zerrt. Als würde man Papier zerreißen. Diesen Klang werde ich niemals vergessen.

Im nächsten Moment wird es schwarz um mich herum.

Als ich die Augen wieder öffne, bin ich bereits auf dem Boden. Daniel holt die Packung Taschentücher aus meiner Jacke. Er wirkt nervös. Die Wunde klafft so weit auf, dass das Blut sich nur langsam an ihren Rändern sammelt und ungehindert über meinen Arm läuft. Es durchtränkt meine Sachen, tropft auf den Boden und klebt an Daniels Händen.

Seine Hände haben gezittert?

Erneut wird alles schwarz.
 

Im kühlen Treppenhaus stehe ich vor dem Fahrstuhl. Der Duft des Abends weht durch die offene Tür herein. Noch immer bleibe ich stehen und nehme den vertrauten Geruch in mich auf, den ich glaubte vergessen zu haben, weil mein Kopf noch von dem sterilen Krankenhaus benebelt ist.

Die linke Hand hebt sich zum Fahrstuhlknopf, doch kurz davor halte ich inne und wende mich zur Treppe.

Stufe für Stufe lasse ich hinter mir. Es ist ein langer Weg bis zu meiner Wohnung, doch ich frage mich nicht, warum mir die Treppe im Moment lieber ist als der Fahrstuhl. Eigentlich kenne ich den Grund.

Er wird oben auf mich warten. Kurz bevor ich in den Krankenwagen einstieg, gab ich ihm den Haustürschlüssel. Ich werde klingeln müssen. Nun muss ich lächeln, denn unbewusst breitet sich Aufregung in mir aus. Ich möchte ihn wiedersehen.

Dann stehe ich endlich in dem grauen Flur vor meiner Eingangstür. Ohne Zögern drücke ich mit dem Finger der linken Hand auf die Klingel. Von drinnen sind hastige Schritte zu hören und einen Augenblick später steht Daniel im Türrahmen. Er sieht mich mit einem freudigen Lächeln an und gleichzeitig ist sein Blick berechnend.

„Komm rein.“

Der Aufforderung folgend trete ich in meine Wohnung. Es riecht fremd, aber angenehm nach Daniel. Er weicht einen Schritt zur Seite, als hätte er Angst, mich wieder zu verletzen. Dabei war es Absicht gewesen. Ich bin mir auch jetzt noch nicht sicher, ob er die Auswirkungen der Rasierklinge besser berechnete als ich glaubte.

Im Wohnzimmer setze ich mich und bette meinen Arm auf ein Kissen. Die genähte Wunde pulsiert unter dem Verband und trotz der Schiene habe ich das Gefühl, ich sei zu schwach, um die Gelenke bewegen zu können.

Daniel setzt sich mir gegenüber in den Sessel und schaut mich an. Für einen Moment glaube ich, er wolle mir etwas anbieten, doch er tut es nicht. Dann kommt mir der Gedanke absurd vor, weil ich mich in meiner eigenen Wohnung befinde.

„Wie war es?“

„Wie war was?“, entgegne ich kalt und meine Stimme klingt unbeabsichtigt gereizt. Mir ist nicht klar, wieso ich diese Frage stelle, obwohl es keine Antwort darauf verlangt. Daniel holt genervt Luft.

„Im Krankenhaus, auf der Intensivstation, keine Ahnung, wo sie dich behandelt haben.“

„Ja, es war toll.“

„Was ist denn das für eine Antwort?“

Ich schaue ihn verdutzt an und muss lachen. Wieder hat er einen irritierten Ausdruck im Gesicht, weil er genau weiß, dass ich nie lache. Doch dann sollte er auch wissen, dass ich nicht viel rede. Ich setze hinzu:

„Die Ärzte haben den Arm zufriedenstellend behandelt.“

„So genau wollte ich es gar nicht wissen, Henri“, erwidert er ironisch.

„Wenn du so willst.“ Ich lehne mich zurück und lege meinen Arm ein Stück höher, damit ich den Schmerz ohne das verstärkte Pochen des Blutes genießen kann. „Nachdem ich dir den Schlüssel gab, fuhr ich mit dem Krankenwagen zur Notaufnahme. Der Arzt diagnostizierte, die Schwester hat genäht. Örtliche Betäubung mit mehreren Spritzen in die Ränder der Wunde. Organische Fäden für die innere Muskulatur und Nerven, feste Fäden für Fettgewebe und Haut. Du kennst das Prinzip. Der Rest war Stabilisation.“

Daniel nickt, denn diese Berichterstattung scheint ihm zu genügen. Dennoch sieht es so aus, als würde er auf eine einzige Aussage meinerseits warten. Ich weiß, was er hören will, doch das wird warten müssen. Plötzlich grinst er und sagt:

„Das klingt, als hätte es gar nicht wehgetan.“

„Sei nicht zu früh betrübt. Die Reinigung der Wunde hat höllisch gebrannt, obwohl die Betäubung auch nicht zu verachten war. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn man dir in eine frische Wunde Nadeln hineinsticht? Sobald der Schmerz nachließ, hatte ich beim Nähen das Gefühl, ich sei nur ein Stück Fleisch. Es zog und zerrte im Inneren meines Armes, ohne dass ich ihn wirklich als einen Teil von mir wahrnahm.“

Daniel wendet sich ab, doch ich sehe, dass sein Grinsen breiter wird, auch wenn er es zu unterdrücken versucht. Schließlich wird sein Gesicht wieder ernst. Jetzt will er es wissen.

„Henri... was hast du den Ärzten gesagt?“

„Sollten sie mich denn etwas fragen?“

„Ich bitte dich, bei solchen Vorfällen will man immer die Ursache wissen, um auf mögliche Umstände Rücksicht zu nehmen.“

Ich lächle süffisant und antworte vorerst nicht, sondern lege meinen Arm zurecht, um die Zeit verstreichen zu lassen. Endlich antworte ich:

„Glas.“

„Glas?“

„Ja, mehr habe ich nicht gesagt.“

Er sieht mich an und lächelt ebenfalls. Diesmal ist es das freundliche Lächeln, das ich zu jeder Zeit von Daniel gewohnt war, mild und warm. Ein Lächeln, das er selbst zerstörte und das auch mir, trotz meines destruktiven Einflusses, ein gutes Gefühl vermittelt.

Ich denke an früher, als mir Daniel noch nichts bedeutete. Sein Haar war damals so lang wie heute, dunkle Locken auf seinen schmalen Schultern, die einzige Last, die ich ihm zu dieser Zeit zugetraut hätte. Die braunen Augen besaßen noch einen vergnügten Glanz. Fast würde ich es Unschuld nennen. Für uns gab es noch keinen Krieg.

Doch das alte Bild verschwimmt vor meinen Augen. Er war mir egal.

Jetzt sehe ich in das Gesicht meines Freundes, der vor mir im Sessel sitzt, mit seinen Händen spielt und mich ohne das bedrückende Gefühl einer peinlichen Stille betrachtet.

Er hat sich nicht verändert. Ich habe ihn damals nur mit anderen Augen angesehen, weil er mir nicht wichtig war und ich nicht den Drang verspürte, ihn näher kennen zu lernen. Es war nicht meine Schuld. Er hat sich nicht verändert.

Vielleicht hätte ich es begrüßt, wenn ich Daniel durch meinen Einfluss geformt hätte. Doch das ist nicht der Fall. Vielleicht hätte ihn auch kein einziger Kampf, den wir bestreiten mussten, zu einem anderen gemacht.

Der Krieg ist vorbei. Er herrscht nun in unseren Köpfen.

„Dein Heiligenschein...“, flüstere ich.

Daniel hat meine Worte verstanden und fragt stumm nach einer Erklärung.

„Ich war nie der richtige Mann für diesen Krieg, erst recht nicht in der Position eines Piloten, denn ich bin nicht gutherzig. Nichts liegt mir ferner. Allerdings trägst auch du keinen Heiligenschein, Daniel.“

Zu meinem Erstaunen ist er nicht irritiert. Er lächelt und sagt nur:

„Es ist nicht deine Schuld.“

Er hat offensichtlich Gefallen an der Kühle gefunden, auch wenn ich nicht sein Vorbild war. Ich schaue hinab auf meinen verletzten Arm, der immer stärker in seinem eigenen Rhythmus zu leben scheint. Dann lege ich meine linke Hand darauf.

Diese Hände haben nichts und alles getan. Es war nicht meine linke Hand, die Daniels Herz glatt und schwer werden ließ. Er hat wie ich ein Eisenherz, das ich nicht formte. Leider ist es nicht wahr, dass er irgendwann entzweigebrochen wäre.

Ich bin noch in meinen Gedanken versunken, als Daniel aufsteht und zu mir geht. Er kniet sich nieder, hält meinen Blick dabei fest, während er die Hand mit Bedacht auf meinen rechten Arm legt. Ich zucke innerlich zusammen, aber ein Gefühl von Kontrollverlust hält mich davon ab, ihm den Arm zu entziehen. Das Schmerzmittel lässt mit der Zeit nach, sodass mir die angenehmen Wellen der Pein mit einem harten Rhythmus in den Adern glühen. Nach langem Schweigen fragt Daniel:

„Du kannst die Hand nicht bewegen, oder?“

Ich nicke und füge hinzu:

„Das ist allerdings nur vorübergehend. Die Schiene behindert mich.“

„Und später?“

„Ich werde sie bewegen können, aber ich hatte verdammtes Glück. Die Sehnen der äußeren Muskulatur hat es mehr erwischt. Der Arzt meinte, dass mögliche Schwächen bei hoher Belastung nicht auszuschließen wären.“

Daniel sieht hinab auf den Verband. Er streicht leicht darüber, bevor er die Hand fortzieht und sie betrachtet. Nach einer Weile entgegnet er leise, jedoch mit einem offensichtlich euphorischen Unterklang:

„Es ist, als würdest du nun mir gehören. Meine Hände...“

Er hält inne und hat plötzlich wieder ein seltsames Lächeln auf den Lippen.

„Meine Hände waren voller Blut. Ich stand am Straßenrand und habe dem Krankenwagen hinterher gesehen. Doch als ich auf meine Hände sah...“

Ich betrachte ihn durchdringend und weiß in diesem Augenblick, dass sich das abdriftende Funkeln in seinen Augen bei mir spiegelt. Auch ich lächle.

„Daniel, das war nicht das erste Blut an deinen Händen.“

„Ja, aber...“ Er hält inne und betrachtet mich entrückt. „Es war dein Blut. Ich habe dein Blut vergossen und es hat mir Spaß gemacht. Darum danke ich dir für dieses... unbeschreibliche Gefühl.“

„Bitte. Ich hoffe, es wird nicht bei diesem einen Mal bleiben.“

An seinem Blick erkenne ich die Antwort. Ich kann es spüren, die Verbundenheit, die er für mich empfindet. Ein Verstehen, das ich ihm ebenso entgegenbringe. Ein Verlangen, das sich nur mit Schmerz stillen lässt. Mir reicht es nicht.

Ich will seine Erniedrigung, seinen seelischen Wahnsinn, sein Herz, das in meinen Händen zu Eis wird und schließlich zerbricht. Daniel soll an mir untergehen.

Plötzlich spüre ich wieder einen sanften Druck auf meiner Wunde. Das Gefühl ist kribbelnd und unecht, als würde der Teil des Armes nicht wirklich zu mir gehören. In Daniels Gesicht ist auf einmal kein Lächeln mehr. Eher scheint es mir, als wäre sein Blick verschleiert, die Augen trüb. Er atmet schwerer.

„Soll ich fortführen, was ich begonnen habe?“

Er verstärkt den Druck, doch ich kann es noch immer nicht unter meiner Haut fühlen. Trotzdem ist es unangenehm.

„Ich kann ihn dir gänzlich ausreißen, dann gehört dein Arm mir.“

„Und was gedenkst du damit zu tun?“, frage ich kühl.

Er schließt kurz die Augen - seine Lider sind dunkel, wie von schlaflosen Nächten – und schüttelt leicht den Kopf. Aber ich merke, wie er immer fester zudrückt, als wollte er die Fäden zerfetzen, das Fleisch aus der Wunde quellen lassen, das Mark meiner hervorbrechenden Knochen zerschlagen.

„Henri...“ Wieder ist es nicht mehr als ein Flüstern, das ich aus seiner Kehle höre. „Wir sind an nichts gebunden, können tun, was wir wollen. Ich habe...“

„Es wird nicht aufhören.“ Von meiner eigenen sanften Stimme überrascht stelle ich fest, dass ich es schon lange akzeptiert habe. „Du weißt, wie das alles enden wird, Daniel.“

„Ja, ich weiß es.“

Er lässt meinen Arm kurzentschlossen los, bleibt aber vor mir auf den Knien und sieht zu Boden. Jetzt, da der Druck verschwunden ist, pulsiert meine Wunde immer intensiver, steigert sich ins Unermessliche. Es ist nur eine Illusion, die mir mein Geist vorgaukelt. Weiter nichts.

„Wie kann dieses Gefühl nur so wahnsinnig sein?“

Er schaut mich nicht an. Seine gesprochenen Worte hallen immer lauter in meinem Kopf wider. Zuerst glaube ich, in Daniels Stimme ein Flehen zu vernehmen, aber ich habe mich geirrt. Meine Antwort hat noch nichts von der Sanftheit eingebüßt.

„Egal, was du machst, es wird nicht verschwinden. Wenn du aus Wollust in diesem Leid badest, wirst du irgendwann ertrinken.“

„Das macht nichts.“

„Darum geht es auch nicht. Ich weiß nicht, ob die Menschheit diese Sache zwischen dir und mir krank nennen würde. Vielleicht war es der Krieg, der uns beide so werden ließ. Doch das ist mittlerweile nur noch eine Ausrede. Meine Gefühle gehören zu mir, dieser Irrsinn in meinem Kopf, das kann man nicht einfach so unterbinden und mit einem einfachen Wort erklären. Wie soll es Worte für etwas geben, das ich nicht einmal mit meinem eigenen Verstand wirklich begreifen kann? Wenn ich daran denke...“ Ich halte inne. So vieles schwirrt mir durch den Kopf, dass ich kaum mehr weiß, was ich meinem Freund erzählen kann und welche Aussagen mein eigenes Verhängnis sein würden.

Daniel schaut mich ausdruckslos, fast resignierend an, als hätte er nur noch die Kraft, mir zuzuhören. Selbst wenn er es wollte, er kann mich nicht mehr erniedrigen. Trotz des Abgrundes, an dem wir stehen.

„Es erregt mich, dich leiden zu sehen“, fahre ich leise fort, „dich zu besitzen, dein einziger Ausweg zu sein und der einzige Mensch, der dich in dieser zerstörten Welt noch verstehen kann. Gibt es denn sonst noch jemanden, der so fühlt wie wir? Ist das etwa nicht richtig? Bin ich so kaputt, dass ich nicht einmal mehr zwischen Schwarz und Weiß unterscheiden kann?“

Daniel lächelt mutlos und entgegnet:

„Ich weiß es nicht.“

„Wir werden uns immer weiter in diese Sache hineinsteigern. Sag mir wenigstens, dass du es genießen wirst.“

„Ich werde es genießen“, antwortet er gefügig. Noch immer trägt er das traurige Lächeln auf den Lippen, während er so tut, als würde er nicht merken, wie lächerlich all unsere Worte klingen, sobald wir sie aussprechen. Manchmal kommen mir meine Gefühle übersteuert vor, wie bei der zu stark kontrastierten Farbgebung eines Röhrenfernsehers.

„Wie lange noch?“ Ich vernehme die Frage meines Freundes, doch ich verstehe sie nicht. „Wie lange kann man sich zurückhalten, wenn man immer weiter abdriftet, immer mehr versinkt? Immer mehr, immer weiter? Wie lange noch, Henri?“
 

Mein Körper ist leicht und schwebt in dieser Schwärze, als wäre er aus Licht. Ich kann nichts sehen. Vielleicht sind meine Augen verschlossen. Habe ich mich nicht mehr im Griff?

Ich öffne die Augen und muss blinzeln, denn die Grelle der Sonne blendet mich. Im nächsten Moment ist alles blass und farblos, die Helligkeit existiert noch, doch wirft sie keine Schatten. Vor mir liegt das Meer und ich kann überall nur zwei Farben in verschiedenen Nuancen sehen; das gräuliche Blau des Himmels und das der Meeresoberfläche sowie ein verschleiert rostiges Gelb in der Sonne und im Strand, der sich hinter mir bis zum Horizont ausbreitet.

Ich sehe an mir hinab und stelle fest, dass die Narbe an meinem Arm verschwunden ist. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Als ich aufblicke, steht Daniel vor mir.

„Hey, Henri.“

Er packt mit beiden Händen zu und stößt mich ins Wasser. Ich kann die Nässe nicht fühlen. Dann ist er über mir, greift nach meinem Haar und drückt mich hinunter, sodass ich das Salz des Wassers schmecken müsste. Die Glieder sind mir zu schwer, um mich wehren zu können. Daniel lässt nicht los. Alles reißt mich hinab. Ich kann nicht mehr atmen. Ich ersticke.

Dennoch höre ich seine Stimme:

„Gib mir deine Hand, Henri.“

Plötzlich zerrt er mich wieder hoch, zieht mich zurück auf den Bahnsteig. Der Zug rattert mit einem heftigen Windzug, der uns fast von den Füßen reißt, an uns vorbei. Daniel hält mich fest.

Im nächsten Moment packe ich seinen Ellenbogen, meine beiden Hände liegen auf dem Unterarm. Ich wende alle Kraft auf, grabe meine Fingernägel tief in das Fleisch und versuche ihn zu zerreißen. Mit einem kaum unterdrückten, heiseren Aufschrei von Daniel spannt sich die Haut, klafft auf und seine Muskelfetzen können den Unterarm nicht mehr halten.

Ich spüre Daniels Schmerz wie meinen eigenen und labe mich an seinem verzerrten Gesichtsausdruck.

Mein Blick fällt auf den Arm. Völlig surreal rinnt das Blut in dicken Klumpen aus dem Riss. Ich sehe unter der Haut die kleinen weißen Kammern der Fettzellen, dann die roten Stränge des Muskelfleisches und die zersplitterten Knochen. Ich werfe den Arm fort. Daniel liegt am Boden und ich sinke neben ihn auf die Knie.

Jetzt schaut er mich an und lächelt. Jegliche Qual ist aus seinem Gesicht gewichen. Er fragt:

„Du weißt, dass das nur ein Traum ist?“

„Ja.“

„Würdest du mir das auch antun, wenn es die Realität wäre?“

Kapitel 5

Ein Schritt nach dem anderen durchquere ich das Zimmer und stelle meine Lektüre zurück in den Bücherschrank. Eine Weile bleibe ich stehen und betrachte die verschiedenen Buchrücken, bevor ich mich umdrehe, wieder zurückgehe und auf dem Sofa niederlasse. Kurze Zeit später bin ich erneut auf den Beinen, verlasse den Raum und halte vor dem Fenster in meinem Wohnzimmer inne.

Völlig ruhelos, meine Gedanken verschwimmen, ein ewiges Hin und Her.

Was soll ich nur tun?

Die Zeit ist etwas Kostbares, das ich momentan nur zu verschwenden weiß. Mein Blick fällt auf das Telefon und ich trete näher an den kleinen Schrank, auf dem es steht. Das Display zeigt mir die Uhrzeit. Es ist bald so weit.

In meinem Arm spüre ich einen leichten Schmerz, der sich verstärkt, sobald ich ihn bewege. Dieses Gefühl wird mich für immer begleiten, mich mit Freude erfüllen und erniedrigen, bis in alle Ewigkeit, bis zu meinem Tod. Die erhobene rechte Hand fällt schlaff hinab, ohne ein Zögern hebe ich mit der linken den Hörer ab und drücke die Wahlwiederholung.

Ich warte.

Dann meldet sich Daniels Stimme.

„Henri, bist du das?“

„Ja.“

„Was ist los?“

„In einer halben Stunde muss ich beim Arzt sein. Hol mich von dort ab. Ich komme mit zu dir.“

„Von der Klinik?“

„Nein, ich muss in die Praxis bei der Passage zum Polizeirevier.“

„Okay.“

Ich lege auf.

Seit ich an diesem Morgen aufgestanden bin, gehen mir die Worte durch den Kopf, die Daniel und ich damals an den Gleisen wechselten. Seine Antworten entsprachen ausgeblichenen Inhalten und den üblichen zwischenmenschlichen Heucheleien, doch etwas verankerte sich in meinen Gedanken; wir sprachen von den Lügen, die wir jedes Mal uns und unserer Umgebung vorsetzen. Diese Wahrheiten sind längst zu einer Belanglosigkeit geworden.

Weil sie uns belustigten, gaben wir sie nicht auf. Weil sie uns erfreuten, schmerzte keine einzige Lüge.

Ich war nicht gern das, wofür mich alle hielten, aber ich mochte es, von den anderen nicht durchschaut zu werden. Ich wollte mehr sein, mehr als meine Tarnung. Die Angst vor mir selbst machte ich mir nur vor.

Was ist die Welt? Etwa nichts weiter als der verrottende Traum eines schillernden Insekts? Dann will ich schlafen. Schlafen und träumen, wie ich erwache.
 

Ohne Vorsicht löst er den Verband und befreit meinen Arm von der Schiene. Während er meine Muskelfähigkeit untersucht, habe ich das Gefühl, dass mein Arm jeden Moment entzweibräche. Diese ungewohnte Schwäche bringt etwas Befreiendes mit sich.

Der Arzt legt seine Brille zur Seite und langt nach einer kleinen metallischen Klinge, mit der er geübt die einzelnen Fäden aufschneidet und, begleitet von einem innerlich saugenden Schmerz, herauszieht.

„Jetzt bleibt nur noch das Pflaster auf dem Arm. Ansonsten ist es gut verheilt. Sie können gehen.“

Er rät mir zu einem leichten Training, um die Muskulatur wieder zu stärken. Mit wenigen Worten verabschiede ich mich und verlasse den Behandlungsraum.

Als ich hinaustrete, wartet Daniel vor der Tür auf mich. Er schaut mich an, sein Blick ist zu meinem Erstaunen von Trauer verhüllt. Dann packt er meinen linken Arm und zieht mich an sich. Ich bin zu überrascht, um mich zu wehren. Ich spüre seinen Atem auf meiner Haut und dicht an meinem Ohr flüstert er:

„Warum hast du das getan?“

Ich antworte nicht und schiebe ihn von mir. Jetzt fällt mir auf, dass er sich verändert hat, seit ich ihn das letzte Mal sah. Mir ist nicht klar, was es ist.

Irre ich mich?

Erst eine ganze Weile später, als wir nebeneinander auf dem Fußweg laufen, hält Daniel plötzlich meine rechte Hand fest. Diese Berührung betäubt mich wie ein Schlag, der zu unerwartet kam, um ihn abzuwehren. Abrupt bleibe ich stehen. Er lässt mich los.

Ich blicke mich nicht um, sondern fixiere meinen Freund, der nun zu Boden sieht. Seine Stimme ist hart und er fragt erneut:

„Warum hast du das getan?“

„Was?“

Er schaut zu mir auf, sein Blick ist hochmütig. Schließlich antwortet er gelassen:

„Es ist nicht wichtig.“

Es schnürt mir die Kehle ab, das aus seinem Mund hören zu müssen. Unzählige Gedanken und Empfindungen strömen in diesem Augenblick auf mich ein, hervorgerufen von einer unbedeutenden Aussage. Eine eiskalte Faust drückt meine Gedärme zusammen. Den Bruchteil einer Sekunde später habe ich wieder die Kontrolle und setze mit einem gleichgültigen Schulterzucken den Weg fort.

Daniel folgt mir und redet ungerührt weiter:

„Es ist lange her, nicht wahr? Ich nehme an, du warst beschäftigt, Henri?“

„Möglicherweise.“

„Ich konnte dich nicht erreichen.“

„Kann sein.“

„Warst du vielleicht nicht da?“

„Ich weiß nicht.“

Ihm ist bewusst, dass ich nicht die Wahrheit sage. Nach einem kurzen Schweigen spricht er dennoch weiter.

„Und dann hattest du auf einmal Lust dazu, mich anzurufen?“

„Ja.“

Daniel lacht und klopft mir freundlich auf die Schulter. Seine Hand gleitet hinab, sodass ich spüre, wie er sanft meinen rechten Unterarm streift. Ich muss lächeln.
 

„Milch.“

Daniel sieht mich fragend an, während ich vor dem Kühlschrank in seiner Küche stehe. Mein Blick fällt auf die noch unangetastete Butter, auf das halbleere Marmeladenglas und auf den Käse, der an den Rändern dunkel geworden ist und sich nach oben wölbt. Zuletzt sehe ich wieder auf die Milchflasche.

„Milch?“, fragt Daniel.

„Das ist das Einzige, von dem man sich aus deinem Kühlschrank ernähren kann.“

„Da ist noch Marmelade.“

„Du hast kein Brot.“

Mein Freund murmelt etwas und antwortet schließlich:

„Stimmt.“

Ich greife nach der Milch, erspare es mir, ein Glas zu nehmen, und trinke aus der Flasche. Nachdem ich sie zurückgestellt habe, schließe ich die Kühlschranktür und sehe Daniel mit einem Seufzen in sein unschuldiges Gesicht.

„Wovon ernährst du dich eigentlich?“

Er zuckt mit den Schultern ohne auf meine Frage einzugehen.

Ich schaue aus dem Fenster. Die Wolken ziehen in stürmischen Wogen daran vorbei, kontrastieren untereinander in ihren verschiedenen Grautönen, lassen keinen Platz für das Licht, die Wärme oder eine einzige Farbe.

„Das Wetter ist schön“, sage ich. „Wollen wir rausgehen?“
 

Daniels Hand ist kühl, als er mir über die Steine hilft. Zu oft muss ich feststellen, dass die Kraft meinen Fingern entgleitet. Das anhaltende Ziehen und Vibrieren in meinem rechten Arm ist zwar angenehm, aber in meiner eigenen Unbeweglichkeit fühle ich mich hilflos.

Am Rand des Schutthaufens bleibe ich stehen, um das Bild in mich aufzunehmen.

Dieser abgelegene Teil der Stadt ruht schon seit langem in seinen eigenen Trümmern, ein Mal des Krieges, der hier wütete. Der Fluss trennte die Häuser von den Feldern und der Landschaft, welche sich dahinter ausbreitet. Nun ist der Schutt unter Moos und vertrocknetem Gras begraben. Das ganze Gebiet ist von Stacheldraht umgeben. Doch dieser stellt für Daniel und mich kein Problem dar.

Mein Freund legt mir die Hand auf die Schulter und deutet nach vorn.

„Der Eingang.“

Ich sehe ihm in die braunen Augen und gehe schließlich weiter. Durch das Geröll kommt man nur schwer vorwärts. Dann stehe ich vor einer durchbrochenen Wand und kann in das Innere der riesigen Ruine sehen. Die Papiermühle wurde damals gebaut, um die Wasserkraft zur Energiegewinnung zu nutzen, und ragt deshalb in den Fluss hinein. Später diente sie als militärischer Stützpunkt. Im Augenwinkel sehe ich, dass mich Daniel mittlerweile eingeholt hat.

Ich schweife mit dem Blick an der Hausfassade nach oben. Die Wolken wallen noch immer tiefgrau über der Stadt. Dann trete ich ein. Daniel folgt mir wortlos.

Ein klaffender Spalt zieht sich vom Dach bis zum Fundament, wo der Fluss in schneller Strömung dahingleitet. Mehrere Balken und Steine versperren teilweise den Weg zur Treppe. Wir steigen darüber, um in den oberen Teil des Gebäudes zu gelangen.

„Regen.“

Daniel und ich stehen nebeneinander am Abgrund in der höchsten Etage, wo die Wände zur Innenseite weggerissen sind. Die Augen meines Freundes sind nach oben gerichtet auf die offene Wunde in der Decke, welche die Sicht auf den Himmel freigibt. Ein Regentropfen fällt mir auf das Gesicht und läuft wie eine Träne meine Wange hinab. Unter uns, tief hinunter bis in das Erdgeschoss, sieht man den Fluss an den Stützpfeilern lecken.

„Ja“, antworte ich, „es fängt an zu regnen.“

Ich spüre, wie er sanft meine rechte Hand ergreift.

„Henri.“

Weiterhin schweife ich umher und wandere über das zerstörte Gewebe des Gebäudes, den Himmel über uns, das Wasser unter uns. Mein Blick fällt nicht auf meinen Freund.

„Henri, wollen wir springen?“

Endlich schaue ich ihn an. Es wundert mich, dass seine Augen so leidvoll zu mir aufblicken. Ein dumpfes Gefühl breitet sich in mir aus und die Antwort kommt mir nur schwerlich über die Lippen.

„Es ist mir gleich.“

Daniel senkt den Kopf, sodass seine Miene halb hinter den Haaren verborgen liegt. Der Wind spielt mit einzelnen dunklen Strähnen.

Ich löse meine Hand aus seiner und hebe sie an sein Gesicht, um es mir zuzuwenden. Die Haut liegt weich unter meinen Fingern.

„Was ist mit dir, Daniel?“

Er versucht mir auszuweichen und sagt nichts.

„Ich dachte, du wolltest leben. Du hast mir selbst gesagt, dass du noch einiges vorhast.“

„Henri“, unterbricht er mich, „was spielt das für eine Rolle? Egal, was man aus dem Leben macht, irgendwann stirbt jeder den gleichen Tod.“

Daniel schließt die Augen und ich streiche mit meinem Finger über seine geschlossenen Lider. Ich muss mir keine Sorgen machen, denn er redet nur über gegebene Fakten, die nicht seinen Prinzipien entsprechen. Man muss nicht immer nach Verstand oder Gefühl handeln.

Ich kann meine rechte Hand nur begrenzt bewegen, dennoch gleite ich leicht durch Daniels Haar. Die weichen Strähnen kribbeln auf meiner rauen Handfläche.

Ich packe zu und ziehe seinen Kopf in den Nacken, sodass sein Hals entblößt ist. Er stöhnt auf und hält die Augen schmerzvoll verschlossen, während ich meinen linken Arm um seine Hüfte schlinge.

„Du hast Recht, Daniel. Im Endeffekt stirbt jeder für sich allein seinen grausamen oder erleichternden Tod. Nichts kann ihn dann zurückbringen. Wollten wir es nicht ausnutzen oder hast du dich dafür entschieden, dass du schon jetzt des Lebens überdrüssig bist?“

Er bleibt stumm.

Ich drücke ihn fester an mich und berühre mit meinen Lippen sanft seinen Hals. Er erfasst meine Schultern und versucht sich aufzurichten, doch ich zerre noch stärker an seinem Haar. Wenn ich wollte, könnte ich ihn in die Tiefe stürzen.

„Mir ist vieles völlig gleichgültig“, sage ich mit leiser Stimme, „doch diese Gleichgültigkeit stellte sich durch meine eintönigen Tage ein. Eines weiß ich ganz sicher; ich werde mit dir weiterleben, bis wir uns gegenseitig in den Abgrund reißen.“

Ich spüre seinen schweren Atem auf der Haut, die Augen sind weiterhin geschlossen und er schluckt hart. Ein ersticktes Lachen entflieht seiner Kehle.

„Also willst du mich noch nicht erlösen, Henri?“

„Erlösen?“ Ich lächle. „Die Erlösung ist wie das Grauen, mein Freund; sie kann sich unbemerkt anschleichen, aber auch ganz plötzlich vor dir stehen.“

„Dann ist es wohl mir selbst überlassen“, antwortet er und öffnet die Augen, um mir ins Gesicht zu blicken, „wie ich ihren Gesichtsausdruck interpretiere. Entweder ist ihr Lächeln zuversichtlich oder...“

„Oder?“, frage ich.

Daniel zögert und sieht mich forschend an.

„Es könnte auch ein hinterhältiges Grinsen sein.“

Mein Freund starrt in den Himmel über uns, während Regentropfen auf sein Gesicht fallen. Die Kälte zerrt an meinen Sachen und eine Gänsehaut zieht sich von meinem Nacken über den gesamten Körper. Meine Hand zittert, sodass ich sein dunkles Haar fester packe, um meine Unruhe zu unterbinden. Schließlich gehe ich einen Schritt voran, wobei Daniel fast das Gleichgewicht verliert und sich an mich klammert. Mein Griff lockert sich, ich stoße ihn mit dem Rücken gegen den zerstörten Beton und halte seine Hände fest. Die aufgerissenen Stahlklingen bohren sich in seinen Arm, den ich gegen die Wand presse.

Daniel stöhnt gequält auf. Dann lächelt er mich an.

Ich erwidere das Lächeln und löse meine linke Hand von seinem Arm, während ich den anderen stärker gegen das Gestein drücke. Das rostige Material kratzt über seine Haut und schabt sie stellenweise ab, sodass darunter helles Fleisch zum Vorschein kommt und nach kurzer Zeit klebrige Wundflüssigkeit abgesondert wird.

Daniel setzt sich nicht zur Wehr.

Ich streiche sanft über sein Haar, fange noch einmal die langen, momentan zu einem Zopf gebundenen Strähnen auf, bevor ich sie erneut dem Wind zum Spiel überlasse, fahre dann leicht über sein Gesicht und den Hals entlang.

Die Fingernägel in sein Handgelenk gekrallt, beginnt mein Arm erneut zu zittern und Daniel ballt seine Hand krampfhaft zur Faust.

„Ich liebe dich“, sage ich mit gedämpfter Stimme. „Tut es weh?“

Daniel antwortet gepresst:

„Deine Worte tun mehr weh als jeder physische Schmerz.“
 

Wir laufen über das Gras, vorbei an Gesteinstrümmern, zersplittertem Holz und Stahl. Die Papiermühle liegt hinter uns. Man hört das Wasser noch immer rauschen, doch wird es langsam vom Regen übertönt.

Daniel holt zu mir auf und sagt:

„Alles wurde so gelassen, wie es war. Die Bunker sind in einem unveränderten Zustand, man kann sie noch betreten.“ Er deutet mit dem Finger auf eine Ansammlung von Hügeln, die mit grünem Moos und Farnen bewachsen sind. „Ich möchte sie mir ansehen.“

Mein Blick ist starr auf die Grashügel gerichtet, welche jeweils auf einer Seite durch einen geraden Abschluss wie abgeschnitten wirken und den Versuch eines natürlichen Aussehens Lügen strafen. Je näher wir kommen, desto deutlicher sind die Tore zu sehen, die an dieser Stelle in das Innere der Bunker führen. Direkt vor der ersten Unterkunft betreten wir eine lange, aus unregelmäßig hervorstehenden Steinplatten gefertigte Bahn, auf der sich große Pfützen sammeln. Ich bleibe stehen und wende mich an Daniel.

„Eine Landebahn. Befinden sich in den Bunkern noch immer Flugzeuge?“

„Lass uns doch nachsehen. Dann können wir auch Schutz vor dem Regen finden.“

„Ich persönlich finde das Wetter sehr angenehm.“

Ohne noch einen Augenblick zu warten, gehe ich auf die rostige Stahltür zu. Sie lässt sich nicht öffnen, da sie sich im Laufe der Jahre verzogen hat und der Rost die Tür im Rahmen hält. Ich werfe Daniel einen kurzen Blick zu und er versteht sofort. Gemeinsam treten wir mit aller Wucht gegen den Stahl, sodass er sich Millimeter für Millimeter bewegt. Schließlich bricht die Tür aus den Angeln und fällt mit einem lauten Donnern zu Boden. Wir überqueren die Schwelle, um in die Eingeweide des Bunkers zu gelangen.

„Wow“, ruft Daniel und geht weiter. „Eine Propellermaschine. Die muss uralt sein.“

Das Flugzeug ist mit dem Fahrgestell im Boden verankert. Mein Freund greift nach der Tragfläche des rechten Querruders und zieht sich hinauf. Ich schaue ihm gelangweilt zu, wie er über den Rumpf auf die Kabine klettert und das Maschinenfach öffnet.

„Ausgeschlachtet“, kommentiert er mit einem Seufzen.

Ich wende mich ab und laufe zielsicher an der Maschine vorbei, um in den hinteren Teil zu gelangen. Hier ist es dunkler, sodass man nicht mehr viel erkennen kann, doch sobald sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt haben, kann ich ein von Glas umschlossenes Büro erkennen. Die Holztür öffnet sich mit einem lauten Knarren.

Als ich hinter mir Schritte vernehme, drehe ich mich um. Ein grelles Licht blendet mich und ich kneife erschrocken die Augen zusammen.

„Entschuldige“, höre ich Daniels Stimme, der die Taschenlampe wieder von meinem Gesicht abwendet, „die habe ich in der Kabine des Flugzeugs gefunden.“

Er leuchtet vor mich in den kleinen Raum hinein, der von Schränken und einem Schreibtisch zugestellt ist. Viele Papierfetzen, auf denen die Druckerschwärze verblichen ist, säumen den Boden. Der Lichtkegel wandert durch den Raum. Ich sehe in Daniels Gesicht und er grinst mich an.

„Fühlst du dich wieder wie ein Kind?“, frage ich spöttisch. „Die Neugier treibt zu Erkundungstouren. Was wollen wir noch hier?“

„Ich weiß es nicht.“

Sein Blick bleibt am Schreibtisch haften. Er geht an mir vorbei und langt über die Tischplatte nach einer verstaubten Stiftdose. Es klappert gedämpft, dann hält er eine Metallschere in der Hand und schwenkt mit der anderen die Taschenlampe erneut in meine Richtung. Ich greife nach seinem Arm und nehme ihm die Lampe ab. In der Dunkelheit sehe ich seine Augen leuchten. Seine Nähe ist ein Impuls in meinen Adern, der vielfach durch die Einschränkung meiner anderen Sinnesorgane verstärkt wird.

Ich streiche mit meinen Fingern über Daniels Gesicht und ziehe ihn an mich. Meine Hand wandert über seine Schulterblätter, während der Schein der Lampe das Haar in seinem Rücken bestrahlt. Mein Atem geht schwer, als ich ihm zuflüstere:

„Du bist wie eine Sucht.“

Ich höre ihn leise lachen.

„Das bin ich nicht. Es ist dein eigenes Gefühl, das du ersehnst; das Begehren an sich, nicht das Begehrte.“

Plötzlich spüre ich einen stechenden Druck im Rücken. Ich muss lächeln, als ich realisiere, dass Daniel mir die Schere mit sanfter Gewalt in den Nacken bohrt. Ich streife mit meinen Fingern den geflochtenen Zopf entlang und sage leise:

„Dein Haar ist wunderschön.“ Die Lichtreflexe zeichnen es in der Dunkelheit in einem dunklen Gold, rötlich, ein Schimmer Bronze. „Schneide es dir ab.“

Der Druck in meinem Rücken verschwindet, als Daniel mich von sich drückt. Seine Augen sind geweitet.

Dann greift er nach meiner Hand, entwindet mir die Taschenlampe und einen Moment später herrscht völlige Schwärze. Ich höre ein leises Geräusch. Mein Freund nimmt erneut meine Hand und legt sie an sein Gesicht. Ich streiche über seine Wange, berühre nur leicht seine Lider und fahre hinab zu seinem Hals. Ich wandere weiter in seinen Nacken.

Kurz über dem Halswirbel greife ich in sein kurzes Haar, dessen Spitzen weich in meiner Hand liegen.

Schwärze umhüllt mich. Ich atme schnell und unkontrolliert, mein Herz rast.

Ich liege in meinem Bett, die Decke fest um mich geschnürt, als hätte ich mich in einem ruhelosen Traum verfangen. Doch ich erinnere mich an nichts.

Langsam streiche ich mit der Hand über die Erde des Grabens. Neben mir müsste Daniel liegen, aber ich fühle ihn nicht. Dann erkenne ich jedoch seine Umrisse in der nächtlichen Dunkelheit. Eine Silhouette, die am Rand des Grabens verweilt, das Gewehr an den eigenen Körper gepresst, grelle Lichtblitze flammen über den Horizont.

Alles ist still.

Ich drehe mich auf die andere Seite und schaue in das Innere meines Zimmers. Der Raum ist völlig mit Finsternis angefüllt. Daniels leises Atmen verklingt darin ohne Widerhall.

Angst und Trauer dringen wie eine Wand erbarmungslos auf mich ein, bis ich den Mut finde, mich zu bewegen. Unaufhörlich kratze ich mit den Fingernägeln über meine Kopfhaut. Mein kurzes Haar ist feucht, ich weiß nicht, ob vom Blut oder von den Tränen.

Daniel rührt sich nicht und lehnt weiterhin mit angewinkelten Beinen an dem hölzernen Bettgestell in seinem Rücken.

Warum sagst du nichts, frage ich ihn in Gedanken.

Doch kein Wort dringt über meine Lippen.
 

Eine leichte, kühle Brise weht uns den Geruch von Regen und taunassem Gras entgegen. Der Kies knirscht unter unseren Schuhen, während wir schweigend zwischen den Grabplatten, Steinen und Pfählen wandern. Vereinzelt fällt das Wasser von den schweren Zweigen und belebt mich mit der Frische, die die Stickigkeit zwischen menschlichen Körpern mir genommen hat.

Ich werfe Daniel einen Blick zu. Er schaut abwesend über den Friedhof und streicht manchmal sacht über einen Grabstein. Sein Haar fällt ihm unregelmäßig ins Gesicht. Es ist so kurz, dass es nicht einmal mehr seine Schultern berührt.

Er senkt die Augen zu Boden, wenn ich ihn ansehe, ein Ausdruck von Erniedrigung, den ich mir immer wünschte.

„Erzähl mir davon“, sagt Daniel unvermittelt, blickt mich dabei jedoch nicht an. Das Gelände steigt merklich, als wir einen mit Pflastersteinen ausgelegten Weg betreten, der den Hang zu den älteren Gräbern hinaufführt.

„Wovon?“

„Du sagtest damals“, beginnt er, „dass du nicht der richtige Pilot für diesen Krieg gewesen wärst.“

„Ironie“, antworte ich tonlos.

Ich bleibe stehen und lehne mich erschöpft gegen einen groben Stein, der den Übergang zu dem geweihten Kirchacker markiert. Schließlich fahre ich fort:

„Es ist nicht wichtig, was man für einen Charakter besitzt, um einen Flieger zu steuern, der Menschen den Tod bringt. Ich habe das damals nur wegen der Ironie gesagt. Die schneeweißen Flügel rechts und links von mir erschütterten mich jedes Mal.“

„Ich weiß, was du meinst“, entgegnet Daniel mit einem Lächeln, „aber mich haben diese unechten Schwingen beruhigt.“

Leise und schwermütig entrinnt ein Lachen meiner Kehle, welches im Rauschen der regennassen Blätter untergeht.

„Damals, dort bei den Gleisen, habe ich dich gefragt, ob du mich kennst“, setze ich unseren tristen Wortwechsel fort, „du hast mich als deinen Freund bezeichnet. Ist das wirklich das Einzige, das du in mir siehst, Daniel? Was denkst du, was ich in dir sehe? Hast du alles vergessen, als wir keine Freunde, sondern Kameraden sein mussten?“ In diesem Moment hoffe ich, er möge mich nicht falsch verstehen. Was ich für ihn empfinde geht über Brutalität und Zärtlichkeit hinaus und hat schon lange nichts mehr mit der Kälte des Krieges zu tun. Und dennoch sind die Erinnerungen ein Teil von uns. „Ich weiß noch genau, wie empfindungslos deine Augen waren, wenn du mir zugesehen hast, während ich einem Menschen den Schädel wegblase.“

Gedankenversunken schaut Daniel auf die von Moos überwucherten Pflastersteine. Er wirkt traurig, fast schuldvoll. Schließlich entgegnet er mit einer seltsamen Monotonie in der Stimme:

„Ich fühle schon längst keine wirkliche Reue mehr. Vielleicht hätte ich anders handeln können, aber wie? Diese Grausamkeit ist in jedem von uns. Meinst du nicht, dass wir die Qual schon früher mit eigenen Augen sehen wollten?“

„Es ist nicht nur die Unmenschlichkeit des Mordens oder die Obsession unserer Beziehung“, spreche ich offen meine Gedanken aus, „mit der Zeit haben wir die Angst, unser eigenes Leben zu verlieren oder physisch verletzt zu werden, als Buße abgelegt.“

„Wie haben wir dann überlebt, wenn das stimmen sollte? Dann hätten wir uns längst selbst aufgeben können und...“

„Ich hatte vor einiger Zeit einen Traum“, unterbreche ich ihn übergangslos, „ich frage mich… Was meinst du, hört man den Schuss, wenn man sich selbst die Kugel gibt?“

Seltsamerweise ist Daniels Blick nicht verständnislos. Eher gleichgültig.

„Es stimmt“, fahre ich fort, „wir hätten kaum überlebt, wenn uns die Angst nicht dazu getrieben hätte. Dort war es anders. Wenn du den Schuss gehört hast, dann konntest du aufatmen. Die Kugel, die dich selbst trifft, hörst du nicht.“

Daraufhin verstummen wir. Mit jeder entschwindenden Sekunde, erscheint es mir, als hätte ich nur um des Redens Willen gesprochen. Dann sage ich jedoch, was mir tatsächlich durch den Kopf ging, als meine Sätze keinen Zusammenhang mehr besaßen.

„Ich will nur wissen, was als nächstes kommt. Was werden wir noch verlieren? Unsere Gefühle? Oder ist es dafür schon zu spät?“

Resignierend schließt Daniel die Augen und scheint durch sein Schweigen sagen zu wollen, dass er diese Worte nicht hören wollte. Schließlich entgegnet er unberührt:

„Wenn es soweit ist, kannst du dich noch immer umbringen.“

Ich stoße mich plötzlich von dem Stein ab und deute auf das Stück Land, das als geweihter Acker von wenigen Gräbern gesäumt ist.

„Wenn ich sterbe, egal wie, will ich weit von hier entfernt begraben werden.“ Mein Arm sinkt hinab und nach ein paar Sekunden füge ich hinzu: „Eigentlich möchte ich überhaupt nicht begraben werden. Ich will vergessen sein.“
 

Bei den alten Familiengräbern, die mit Moos und Efeu überwuchert sind, lässt das Blätterdach fast kein Licht mehr durch und wirft grüne Schatten auf unsere Gesichter. Erst in diesem fahlen Licht fällt mir auf, dass Daniel seltsam blass ist; seine Lippen schimmern bläulich.

Er wischt das dreckige Tauwasser von einer Steinplatte und fragt:

„Würdest du keinen Platz an meiner Seite suchen wollen?“

„Auf einem Friedhof?“

Als er mich betrachtet, sehe ich mich selbst. Er ist mir meilenweit entfernt und doch so verwandt, dass es mir einen brennenden Schauer über den Rücken jagt. In diesem Moment werde ich von meinem sehnlichen Wunsch fast zerfressen.

Daniel wendet abrupt den Blick ab und lässt ihn verschleiert über die Steine, das Holz, den Tod wandern. Er stützt sich auf die Platte, verlagert plötzlich das Gewicht, greift nach meiner Hand, um Halt zu suchen. Wieder schaut er mir in die Augen, aber ich sehe, dass er mich nicht mehr erkennen kann.

„Was hast du, Daniel?“ Meine Worte sind nur ein Keuchen, das aus meiner Kehle rinnt, als würde mir die Stimme versagen.

„Henri“, flüstert er und verliert die Kraft, sich von selbst aufrecht zu halten. Jegliches Leben scheint aus seinem Körper zu fliehen, sodass er völlig verlassen meiner Macht ausgesetzt ist.

„Henri“, flüstert er erneut, „mir ist so kalt.“

Ich gehe mit ihm auf die Knie, sinke auf den harten Kies, während er sich krampfhaft an mir festhält. Ich streiche mit der Hand über seine Stirn; sie ist heiß.

„Bist du das?“ Er redet im Delirium, sein Blick ist nach oben gerichtet, als hätte er mich schon längst zurückgelassen. „Bist du diese Kälte, Henri?“

Ich lächle.

„Nein. Du selbst bist es, der dich zerstört.“

„Was redest du?“ Daniel ringt nach Atem. „Willst du mein Leben einfordern?“

„Ja.“

Daniel lacht rau und schließt die Augen. Seine Hände klammern sich an mich, als er den Kopf an meine Brust lehnt. Leicht streife ich durch sein kurzes Haar. Sein ganzer Körper zittert. Was ist nur los mit ihm? Konnte er sich nicht dagegen wehren, dass er mir so unerwartet ausgeliefert ist? Ich höre seine Stimme, die sich aufgebend verliert:

„Ich kann nicht mehr.“
 

Ich stehe in meinem Wohnzimmer und schaue von Daniel, der auf dem Sofa liegt, auf das Thermometer in meiner Hand. Er hat vierzig Grad Fieber. Ich kann seinen stockenden Atem vernehmen, spüre den Wind, der seine Seele durchdringt, während er Abstand zu seiner menschlichen Hülle sucht; ein intensives Gefühl, welches mich durch die Verbundenheit mit ihm fast in die Bewusstlosigkeit treibt. Wie ist es möglich, dass ich ihn so stark fühlen kann?

Plötzlich ruft Daniel nach mir. Seine Stimme hallt in meinen Sehnen wieder, vibriert in jeder Faser meines Körpers. Unbedacht hebe ich die Hand an meinen Kopf und wundere mich, dass ich nicht vor Hitze glühe.

Ich sehe zur Couch hinüber. Daniel windet sich im Schlaf, auch wenn seine Augen geöffnet sind und er verwirrend an die Decke starrt. Erneut ruft er meinen Namen. Für einen Moment wird mir schwarz vor Augen, sodass ich das Gleichgewicht zu verlieren drohe.

Wie in Trance gehe ich auf das Sofa zu, welches sich plastisch vor meinen Augen verzerrt und viel ferner scheint, als es ist. Ich knie mich zu ihm hinab und ergreife seine Hand, die kalt und feucht vom Schweiß ist. Daniel zittert am ganzen Leib.

„Henri.“

Ich drücke seine Hand fester und berühre mit meinen Lippen leicht seine erhitzte Stirn.

„Henri, wo bist du?“

„Ich bin hier“, antworte ich erstickt. Ein Stechen in der Brust nimmt mir den Atem und pumpt jegliche Luft aus meinen Lungen, sodass ich mich an der Schulter meines Freundes festhalten muss.

„Wo bist du?“, ruft er wieder und wieder. „Warum lässt du mich allein?“

Ich ringe mit meiner Stimme und sage schließlich kalt:

„Das ist nicht wahr. Du bist es, der mich allein lässt.“

Als Daniel mir gegen die Brust stößt, taumle ich zurück. Er keucht und ruft:

„Geh! Komm mir nicht zu nah. Ich will, dass du verschwindest.“

„Daniel...“, flüstere ich und weiche auf dem Boden vom Sofa zurück. Er murmelt unverständliche, sinnlose Satzfetzen. Sein Atem geht stoßweise, die Augen sind geschlossen. Ich beobachte, wie sich seine Brust unter dem schwarzen Hemd hebt und senkt, wie sich die längliche Narbe an seinem Arm deutlicher von der nun blassen Haut abzeichnet, wie seine Augen nicht mehr das sehen, was ich sehen kann.

Ich stehe auf. Ich fliehe Schritt für Schritt rückwärts, da ich meinen Blick nicht von Daniel abwenden kann. Endlich drehe ich mich um, stoße gegen eine Wand und versuche mich mit den Fingern darin festzukrallen. Ein irrsinniges Pochen kreist in meinem Kopf. Das Keuchen meines Freundes hat sich beruhigt, ich höre ihn nicht mehr murmeln.

Doch plötzlich streift mich ein Luftzug, sodass ich mich umwende und sehe, wie Daniel traumversunken zur Küche wandelt. Sein Gesichtsausdruck ist undefinierbar starr und abwesend.

Ich folge ihm.

Er greift nach dem Messer im Holzblock, setzt es auf der Rückseite seines linken Armes an und zieht die Klinge darüber. Rotes Blut sickert über seine kränklich weiße Haut und sofort setzt er die Klinge erneut an.

Stolpernd bin ich bei ihm und entwinde ihm das Messer. In diesem Zustand würde er sich umbringen. Er soll durch meine Hand sterben und kein Fieber darf mir meine Kontrolle entreißen. Warum kann ich nicht über die Welt verfügen? Wieso hat das Schicksal ein Recht dazu, mir Daniel wegzunehmen?

Seine Stimme bricht, als er flüstert:

„Nicht.“ Die braunen Augen sind auf mich gerichtet, während er die Hand nach mir ausstreckt, um nach dem Messer zu langen. Ich setze einen Schritt zurück. Er verkrampft sich und ein Beben geht durch seinen ganzen Körper. Eine Welle aus Schmerz erfasst mich, als Daniel zusammenbricht.

Wie erstarrt bleibe ich stehen; langsam entgleitet mir die Kontrolle über meinen Körper. Mir ist schwindlig und kalt, sodass ich selbst zittern muss. Mein Freund liegt am Boden und hält sich verzweifelt umschlungen. Jegliches Denken blockiert, als mein Blick auf sein Schlüsselbein fällt, welches durch das verrutschte Hemd entblößt ist. Ich kann das Pulsieren seiner Hauptschlagader innerlich spüren, während ich abwesend den Hals betrachte.

Daniel reißt die Augen auf. Mühsam zieht er sich an der Anrichte hoch.

„Henri.“ Seine Worte sind hart. „Ich will das Messer.“

Ich kann ihn nur bewegungslos ansehen, denn jedwede Verfügung über mein Handeln ist mir entglitten.

„Ich will...“ Ihm schlägt die Stimme um und er stößt flehend hervor: „Bitte. Das Messer.“

Als er wieder den Boden unter den Füßen zu verlieren droht, weil seine Kraft nicht ausreicht, um sich aufrecht zu halten, fange ich ihn auf. Er zerrt mit der rechten Hand an meinen Sachen und versucht mit der anderen nach dem Messer zu greifen. Ich gebe es ihm nicht.

„Nein“, keucht er, „Henri, tu mir das nicht an.“

Daniel drückt gegen meine Brust, um sich von mir zu lösen, doch ich kann ihn nicht gehen lassen und presse ihn fester an mich. Sein heißer Atem, die stockende Stimme und der zitternde Körper treiben mich langsam in den Wahnsinn. Warum hört er nicht auf, meinen Namen zu sagen?

„Henri...“

Ich schaue zu meiner rechten Hand, die das Messer umklammert hält, und betrachte den Einschnitt auf meinem Arm. Man kann die Ränder erkennen, wo das Pflaster abgelöst wurde, und die braune Verfärbung, welche vom Desinfektionsmittel herrührt. Schließlich wende ich mich ab und fixiere das bleiche Gesicht meines Freundes. Alles um mich herum scheint sich zu drehen, ich ringe unkontrolliert nach Luft.

„Daniel“, sage ich und zwinge ihn, mir in die Augen zu blicken, „gib dich mir hin.“

Er versucht noch immer sich aus meinem Griff zu entwinden, seine Fingernägel bohren sich in meine Schultern.

Dann gibt er auf und lässt sich in meine Umarmung zurückfallen.

Die kochende Hitze, welche sein Körper ausstrahlt, lastet schwer auf mir. Verzweifelt suche ich danach, mich zu beruhigen.

Als ich den Griff des Messers nach oben wende, zittert meine Hand. Ich lasse sie unter Daniels Hemd über seinen Rücken gleiten und ziehe ihn näher an mich, während ich mit der anderen Hand den Stoff über seinen Kopf ziehe. Er lässt es geschehen.

Gierig fahre ich mit der Klinge über sein Schlüsselbein den Oberkörper hinab. Mein Verstand ist noch nicht vollständig benebelt, sodass ich nicht zu stark aufdrücke. Dennoch quillt das Blut sofort aus der Wunde, läuft über die Rippenknochen, die sich unter seiner glasigen Haut abzeichnen. Daniel stöhnt und wirft den Kopf in den Nacken.

Alles in mir schreit. Nein...

Es gibt für uns keine zweite Chance. Warum habe ich mich nicht mehr im Griff? Kann er mich nicht retten?

Geistesabwesend lecke ich das Blut von der Klinge. Grausam zieht mich die bittere Süße noch tiefer hinab in meinen Rausch.

Nein...

Hätte mir das keine Warnung sein sollen?

„Henri.“ Als ich meinen Namen höre, wird mir wieder schwarz vor Augen; meine Beine geben unter mir nach, sodass ich mit Daniel zu Boden sinke. „Mir ist kalt.“

Ich lasse ihn behutsam zurückfallen. Sein glühender Körper berührt mit dem Rücken die kalten Fliesen.

„So kalt…“, flüstert er.

„Niemand wird dich jemals so lieben“, entgegne ich sanft und kann nur unklar wahrnehmen, dass ich mich langsam immer mehr verliere.

Nein...

Die Klinge schneidet quer über seine Brust. Ich beuge mich hinab, um das Blut von seinem bebenden Körper zu küssen.

„Nie wird dich jemand so lieben“, wiederhole ich trunken von der metallischen Süße, „so lieben wie ich.“

Ich fahre mit dem Messer seine Schulter hinauf. Ein dünner roter Streifen wandert den Schwung seines Schlüsselbeins entlang und trifft auf die andere Wunde, die sich tiefer in die Haut gräbt.

Daniels rechte Hand irrt unbestimmt über den Küchenboden, seine andere hat sich Halt suchend in den Stoff meines Hemdes geklammert.

Ich hebe das Metall an und lasse es leicht an seinem Hals innehalten, berühre sanft die pulsierende Vene auf der rechten Seite. Meine Hand zittert noch stärker.

Nein... Kann mich nichts mehr zurückhalten?

Daniel keucht. Ich blicke unverwandt auf die vibrierende Klinge, welche vom Blut meines Freundes getränkt ist.

Eine Träne fällt von Daniels Wange hinab in das Rot und lässt mich erstarren.

Ich schaue ihm ins Gesicht. Stumm rinnen ihm die Tränen über seine völlig weiße Haut, während er mich direkt ansieht. Dunkle Schatten liegen um seine Augen, die blassen Lippen sind spröde und seine Stimme klingt plötzlich anders:

„Henri.“

Das Messer entgleitet meinen Händen und fällt klirrend mit der Klinge auf die Fliesen. Verwirrt blicke ich an Daniels Oberkörper hinab, über die Wunden, das Blut. Ich umschließe ihn mit den Armen, richte ihn auf, um ihn an meinen eigenen Körper zu lehnen. Dann spüre ich für einen Augenblick nichts mehr und weiß, dass Daniel das Bewusstsein verloren hat.

„Danke“, sage ich mit leiser Stimme und küsse seine Lippen.

Ich streiche ihm durch das kurze Haar. Mein Blick wandert zu dem Messer. Rote Flecken breiten sich über den Boden aus.

Schließlich lächle ich.

„Niemals“, hauche ich ihm sacht ins Ohr, „wird dich jemand so lieben wie ich.“

„Ich sah dein rotes Blut, das über meine Haut perlte.“

Gleißendes Licht blendet mich. Ich realisiere die Deckenbeleuchtung. Als ich den Blick senke, sehe ich Daniel vor mir stehen. Er war es, der zu mir sprach. Mein Blick schweift umher; wir stehen in einer Küche.

„Dein Herz lag in meinen Händen.“ Daniels Stimme klingt verzerrt und schallend. „Ich habe es rücksichtslos zerquetscht, Henri.“

Während ich ihn anschaue, verschwimmen seine Züge vor meinen Augen zu einer grotesken Ansammlung von Farben und Linien. Ohne auf ihn zu achten, sehe ich mich weiter um. Alles in diesem Raum ist Braun, durchtränkt von roten Flecken, doch so hell, dass ich die Lider fast schließen muss.

Ein Haushaltsbeil liegt auf dem Tisch.

„Wenn ich jetzt gehen wollte“, nehme ich Daniels Worte von der Seite wahr, „was würdest du mir bieten, um es zu verhindern?“

Ich werfe meinem Freund einen flüchtigen Blick zu. Mein Schädel fühlt sich an, als wolle er jeden Moment bersten durch den Schmerz, der in meinen Schläfen pulsiert. Ich greife nach dem Beil.

Meine Lippen bewegen sich nicht, als ich antworte:

„Reicht dir mein Arm?“

„Das würdest du nicht tun“, sagt er spöttisch.

Gefühle überschwemmen mich wie eine Flut, gegen die ich nichts ausrichten kann; Angst, Ekel, Verzweiflung, Erniedrigung.

Ich lege meinen linken Arm auf die Anrichte und hebe den rechten, der das Beil hält. Mit meinem ganzen Körpergewicht schlage ich zu.

In dieser kurzen Sekunde, in welcher das Metall auf meinen Arm zusaust, kann ich nur an eine Sache denken, die mir so lächerlich scheint, dass ich fast lachen möchte:

Hoffentlich ist es nicht zu schwer, den Knochen zu zerschlagen.

Ein Ruck durchfährt meinen gesamten Körper; ein Ruck, der sich nicht nach Schmerz anfühlt. Ich spüre, wie Luft in meine Zellen dringt, wie die Klinge in meinem Fleisch steckt und wie ich meine Hand im nächsten Moment nicht mehr fühlen kann. Zögerlich sehe ich hinab. Blut spritzt auf, sodass ich glaube nichts mehr erkennen zu können.

Im nächsten Augenblick ist mir klar, dass ich es nicht geschafft habe.

Sofort hebe ich das Beil erneut und lasse es auf den Arm schnellen.

Das kann nicht sein...

In völliger Panik schlage ich immer und immer wieder auf den Knochen ein, der nicht unter meiner Kraft nachgibt. Schweiß mischt sich unter das Blut. Ich hiebe weiter auf meinen Arm ein. Immer und immer und immer wieder...
 

Mit einem Schrei fahre ich aus dem Schlaf hoch.

Ich sitze in meinem Bett und völlige Finsternis umgibt mich. Es war wieder nur ein Traum, wieder nicht real und dennoch grausam echt. Mein Herz rast, schlägt mir hart gegen die Brust, sodass ich mich nicht beruhigen kann.

Warum?

Warum kann ich mich nicht mehr kontrollieren?

Ruckartig stehe ich auf und verliere für einen Augenblick die Orientierung, da durch die plötzliche Bewegung Übelkeit über mir zusammenbricht. Ich stolpere vorwärts und erfasse die Tischkante, an der ich mich abstütze, während meine Lungenflügel unbarmherzig Luft in meinen Körper und Blut durch meine Adern pumpen. Meine Hand gleitet fahrig über die Holzplatte.

Plötzlich sacke ich zusammen. Ich fühle meinen linken Arm nicht mehr.

In der Dunkelheit der Nacht kann ich nicht erkennen, wo ich mich befinde. Mein Geist ist zu verschleiert, um es mir mitzuteilen. Mit der rechten Hand fahre ich erneut über den Tisch und erfasse ein Instrument, welches Erinnerungen in mir wach ruft.

Sofort hebe ich den Cutter nah vor meine Augen, sodass ich ein schwaches Schemen erkennen kann. Ohne einen einzigen Gedanken bewegen sich meine zittrigen Finger, ein klickendes Geräusch erklingt.

Mein Kopf hämmert in einem unerbittlichen Rhythmus, kalte Schauer jagen mir über den Rücken, mein ganzer Körper ist angespannt und das Atmen fällt mir schwer.

Im nächsten Moment fühle ich mich wie in Trance. Ich kann meinen Arm wieder spüren, da mit dem Schmerz Leben durch meine Adern flutet.

Zu spät realisiere ich die warme Flüssigkeit, die über meinen linken Arm fließt. Ich erwache aus meinem Traumzustand, erhebe mich vorsichtig und durchquere mein eigenes Zimmer, um das Licht anzuschalten.

Grelles Weiß brennt in meinen Augen, sodass ich sie schließen muss. Als ich mich daran gewöhne, fällt mein Blick hinab auf meinen linken Arm und ich bin nicht überrascht, dass sich mehrere Schnitte wie eine Gravur in das Fleisch zeichnen.

Ich kann mich spüren. Ich lebe noch.

Völlig erschöpft lehne ich mich gegen die Wand, meine Augen sind weiterhin auf die Wunden gerichtet, aus denen das Blut sickert und zu Boden tropft. Wenn mit diesem Blut alles Widerwärtige aus meinem Körper quellen würde...

Noch immer hämmert es in meinen Schläfen, doch langsam wird mein Denken wieder klar und eine Frage bohrt sich wie Eis in meine Gedärme.

Bin ich das wirklich? Dieses Selbst, das mir nicht mehr unbekannt scheint, bin das wirklich ich? Oder habe ich mich verändert?

Von einem unbestimmten Instinkt angetrieben, verlasse ich das Zimmer, um im Bad nach dem Medizinkasten zu greifen. Während ich die Mullbinden und das Desinfektionsmittel herausnehme, betrachte ich meinen Arm, von welchem ununterbrochen das Blut auf die Fliesen tropft. Schließlich wische ich mit einem getränkten Tuch durch die Wunden.

Früher wäre mir das nie passiert. Verzweifelt hänge ich noch an dem letzten Rest meiner Seele und versuche diesen einen Wunsch aus meinem Gedächtnis zu verbannen, welcher mir so fremd erscheint.

Ich möchte sterben.
 

Am Morgen sitze ich in der Küche. Wieder ist eine Nacht vergangen, in der ich kaum schlief, seit Daniel nach seinem Fieber gegangen war. Und noch immer habe ich das Bild vor meinen Augen, als er an meiner Haustür stand, die Hand auf der Klinke und den Blick auf mich gerichtet. Nie sah er mich so abweisend an wie in diesem Moment. Dann war er hinausgetreten, ohne ein einziges Wort zu sagen.

Ich stelle die Tasse zurück auf den Tisch, da ein Zittern durch meinen Körper geht. Mein linker Arm, der völlig mit Mullbinden umwickelt ist, fällt schlaff herab. Mit einem Seufzen lehne ich mich im Stuhl zurück und lege den Kopf in den Nacken.

Schmerz durchflutet meinen Körper. Schmerz, den ich mir selbst zufügte, und Schmerz, welchen mein Freund verschuldete. Doch letztendlich gibt es keine Schuld mehr.

Ich flüchte, bin zerrissen und ertrinke in meiner eigenen Verlorenheit.

Das Einzige, das mich noch am Leben hält, ist Daniel.
 

Ich schrecke hoch und fasse mich irritiert an die Stirn. Irgendetwas durchschnitt meine Gedanken, während ich tief versunken war. Ich sitze auf dem Sofa und schaue verwirrt durch das Fenster in die Dunkelheit, welche sich schon ausgebreitet hat. Seit wann ist es Nacht?

Bedacht fahre ich mit der Hand durch mein Haar und schüttle langsam den Kopf.

Plötzlich klingelt es erneut an der Tür.

Ich stehe auf und bleibe einen Moment nur benommen auf den Beinen. Als es zum dritten Mal klingelt, setze ich mich langsam in Bewegung, um die Wohnungstür zu öffnen.

Daniel steht vor mir und schaut mich mit einem undurchdringlichen Gesichtsausdruck an, der teilweise traurig scheint. Er sagt nichts.

„Daniel“, flüstere ich, doch dann festigen sich meine Worte, „was ist denn?“

Er sieht zögerlich zu Boden und fragt mit leiser Stimme:

„Hast du Zeit?“

„Natürlich.“ Mit einem Schritt möchte ich ihm Platz machen, doch er schüttelt den Kopf und entgegnet:

„Können wir rausgehen?“

Ich mustere ihn noch einen Moment, greife dann nach meiner Jacke und dem Schlüssel und gehe aus der Wohnung.

Daniel setzt seinen Weg augenblicklich fort, als wir aus dem Haus in die nächtliche Kälte treten. Während ich neben ihm laufe, reißen die Gedanken an mir, als wollten sie mich zerfetzen. Mir ist klar, dass ich noch immer versuche, meine Klarheit zu bewahren, doch das alles ist nur eine Lüge. Diese Wahrheit ist bitter, aber zu allen Zeiten eine gegebene Tatsache für mich. Ich werfe meinem Freund einen Blick zu und muss feststellen, dass ich zärtliche Zuneigung für ihn empfinde.

Daniel schaut nicht zu mir auf und streicht nur nervös eine kurze Haarsträhne zurück. Wieder packt mich das Verlangen, ihn in die Tiefe zu zerren und zu vernichten.

„Wo soll das alles noch enden?“, sagt Daniel plötzlich und starrt weiterhin vor sich auf den Gehweg zwischen den ruhigeren Häuserblocks.

Irritiert schweige ich.

„Henri, ich wollte mich nie so gehen lassen.“

„Wovon redest du?“, falle ich ihm kalt ins Wort.

Er sieht zu mir auf und entgegnet mit einem Anflug von Wut:

„Ich war im Fieber. Wieso hast du das getan?“

„Du gehörst mir“, antworte ich schlicht, „ich kann mit dir machen, was ich will.“

Er schaut mich verzweifelt an und wendet kurz darauf den Blick ab, während wir weiter durch die Straßen gehen. In meiner Selbstverblendung stellt sich mir die Frage, ob Daniel unterliegt. Ist er mir ausgeliefert? Habe ich nun endlich gewonnen?

„Du hast Angst“, fahre ich fort, mit völliger Kühle und Spott in der Stimme, „diese Sache zwischen uns hätte nie anders enden können. Hast du das vergessen? Oder ist es dir erst jetzt klar geworden?“ Ein Lächeln umspielt für den Bruchteil einer Sekunde meine Lippen.

Dann bleibt Daniel stehen und fragt:

„Und was hat das für einen Sinn?“ Er sieht mich erwartungsvoll an, doch ich schweige. „Wir werden uns gegenseitig in den Untergang treiben, Henri. Aber wozu?“

Mein Blick verfinstert sich. Bevor ich eine Antwort geben kann, fährt Daniel fort:

„Sag nichts. Ich will es nicht hören. Wir machen uns nur gegenseitig fertig, denn du kannst nicht leugnen, dass du mich hasst. Habe ich Recht?“

Er schaut mich durchdringend an und wartet. Ich antworte:

„Ja. Ich hasse dich.“

„Und...“, ein Lächeln legt sich auf Daniels Züge, „du liebst mich.“

Die Augen vor Kälte erstarrt, blicke ich ihm ins Gesicht, während er meinen Blick weiterhin festhält und sagt:

„Henri, ich liebe dich und du weißt, dass es stimmt. Auch wenn diese Worte hart sind, habe ich sie damals akzeptiert, sowohl von mir als auch von dir.“

Er tritt an mich heran und hebt seine Hand, berührt leicht meine Wange, um über meine Haut zu streichen. Ich gebe mich dem Schmerz hin, der wohltuend in meiner Seele brennt, und öffne mich dem süßen Begehren, welches langsam mein Selbst zerstört.

„Aber...“, ich höre das Vibrieren in seiner Stimme, „es hat alles keine Bedeutung mehr, Henri.“

Ein seltsames Gefühl schleicht sich in meinen Körper und verzehrt von innen mein Fleisch, sodass alles in mir zu kochen scheint. Ich kann den Sinn in Daniels Gesagtem nur schwer erfassen, als wäre alles von einem spürbaren Nebel verschleiert.

„Du liebst mich jetzt“, spricht er weiter, „aber was wird später sein? Vielleicht hast du Recht und ich habe wirklich Angst.“ Mit zweifelnder Miene schweifen seine braunen Augen zu Boden, um kurz darauf erneut auf mir zu ruhen.

„Doch in einer Sache irrst du dich möglicherweise...“

Ich verstehe es nicht...

Wieso kann ich nicht verstehen, was er sagt?

„...Ich habe keine Angst vor dem Abgrund, auf den wir zusteuern, Henri. Ich fürchte eher, dass wir ihm ausweichen könnten, wenn wir uns irgendwann nicht mehr so wichtig sind.“

„Was redest du?“, bringe ich endlich stockend hervor.

„Wir wissen nicht, was die Zukunft für uns bereit hält“, sagt er traurig, „das bringt doch alles nichts. Wir sollten...“

„Wovon redest du da?“, fahre ich ihn an. „Das ist feige, Daniel.“

„Ja.“ Er seufzt. „Mir ist klar, dass ich feige bin. Es tut mir auch Leid.“

„Was tut dir Leid? Ich begreife nicht, was du eigentlich willst.“

„Das ist es, Henri. Ich will nichts, denn ich kann nicht mehr. Lass uns aufhören.“ Bedächtig geht er einen Schritt zurück.

Alles um mich herum dreht sich. Das kann er nicht machen...

Daniel lächelt mich an, sodass ich mich verraten fühle von seinen sanften und kalten Händen, die mein Herz berührten, um mir die Wahrheit über mein abscheuliches Dasein zu zeigen.

„Unsere Wege sollten sich hier trennen, Henri.“ Er dreht sich um. „Es ist besser so, glaube mir.“

Als er gehen will, bin ich hinter ihm und halte ihn am Mantel fest. Daniel bleibt stehen, wendet sein Gesicht jedoch nicht zu mir.

„Glaubst du wirklich, dass das so einfach geht?“, flüstere ich mit zitternder Stimme. „Was soll das? Gib dich nicht der Illusion hin, du könntest dich von mir befreien.“

„Lass mich los.“ Daniel klingt unruhig, aber auch entschlossen und kalt.

„Nein“, antworte ich.

Soll das die Strafe dafür sein, dass ich glaubte die Kontrolle über die ganze Situation zu besitzen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es uns auseinander reißen soll und auch wenn ich wusste, dass das Warten bald ein Ende haben würde, hätte ich wahrscheinlich nie die Kraft dazu besessen, mir die jetzige Situation bewusst vor Augen zu führen. Meine eigene Kaltblütigkeit entlarvt sich plötzlich als nutzlos.

„Lass mich, Henri. Bitte.“

„Das kann ich nicht.“ Meine Stimme ist ebenso unsicher wie seine.

„Was willst du denn jetzt machen?“, fragt er mich.

Ein schwaches Keuchen entrinnt meiner Kehle und ich grabe meine Hände fester in das Material seines schwarzen Mantels.

„Ich weiß es nicht.“ Panisch sehe ich mich um, als sollte der Ausweg nahe liegen. Eisige Kälte ergreift von mir Besitz, sodass ich das Gefühl habe, unausweichlich erfroren zu sein. Ich könnte ihn jetzt töten.

Doch ich will Daniel nicht verlieren.

„Was kann ich denn tun?“ Die Frage ist leise und drängend. „Sag mir, was ich machen soll.“

Er antwortet nicht. Ich spüre, dass sein Körper zittert, als er endlich sagt:

„Mach es mir nicht unnötig schwer.“

„Bitte“, flüstere ich verzweifelt, fast flehend, „ich würde alles tun, Daniel.“

„Dann...“ Während ich noch stärker zupacke, um meinen Freund leicht an mich zu ziehen, bricht seine Stimme und wird plötzlich kühl. „Dann knie nieder.“

Ohne Zögern lasse ich den Mantel los und sinke hinab auf die Knie.

Augenblicklich geht Daniel fort und scheint sich nicht noch einmal nach mir umzudrehen. Seine Schritte sind gleichmäßig. Dumpf nehme ich wahr, wie sie sich ohne innezuhalten von mir entfernen, bis nur noch das Surren der Laternen zu hören ist.

Langsam schmerzt der harte Stein unter meinen Kniescheiben und mir wird unendlich kalt, sodass ich zittere. Ich hebe meinen Blick und sehe vor mir die leere Straße.

Wo ist Daniel?

Schwere zieht mich immer weiter hinab, als wollte sie mir zeigen, dass ich etwas vergessen habe.

Hat er mich allein gelassen?

„Daniel.“ Das Flüstern verklingt ungehört in der Nacht.

Während mein Atem in der Luft kondensiert, sind sämtliche Gefühle, die mich vorher quälten, taub und meinem Körper seltsam fremd geworden.

Mir ist zum Lachen zumute, aber ich kann nicht.

Nicht mehr.

Ich dachte, ich würde um uns kämpfen.

War es so einfältig, daran zu glauben, obwohl wir nie eine Chance hatten?

Ich dachte, ich könnte mich gegen alles zur Wehr setzen.

Nun bin ich verloren, kann mich nicht mehr finden, weil Daniel das Verlangen ist, durch das ich erkannte, wer ich wirklich bin. Kein einfacher Soldat, dessen Seele im Krieg gestorben ist, kein Mensch, der zu lieben gelernt hat. Das alles sind Lügen.

Was soll ich jetzt tun?

Ich sehe zu Boden und fühle, wie Tränen über meine Wangen rinnen und auf die Steine tropfen. Sie sind mir lästig, doch hindere ich sie nicht daran, sich eisig in meine Haut zu beißen. Nie war ich so schwach, wie in diesem Moment.

Meine Erlösung.

Mein Tod.

Wo bist du?

Ein Schatten fällt auf mich und als ich hochsehe, steht Daniel vor mir, dessen Silhouette von einer Straßenlaterne in seinem Rücken bestrahlt ist, sodass ich sein Gesicht nicht erkennen kann. Dann höre ich ihn sprechen:

„Unsere Beziehung hatte nie eine Chance, Henri.“ Er beugt sich hinab und streicht mir über die Wange, um die Tränen fortzuwischen. „Wie gut, dass es noch immer die Hoffnung gibt.“

Behutsam legt er die Arme um mich.

Ich schlucke und antworte mit rauer Stimme:

„Ich hasse Hoffnung.“

Daniel schmunzelt in meinem Nacken und entgegnet:

„Ich wollte mir nur einen kleinen Spaß mit dir erlauben, doch einmal ausgesprochen hatte ich keine Kontrolle mehr über meine Worte. Sie haben mir selbst Angst gemacht. Es stimmt zwar, was ich sagte, aber du hast Recht; so einfach komme ich nicht von dir los.“

„Außerdem“, ich hole Luft und lasse meine Tränen langsam versiegen, „spielt es keine Rolle, was später ist. Wir leben jetzt.“

„Ich weiß.“

Mein Freund zieht mich enger an sich und ich lächle. Immer werde ich mich an ihm abmühen.

„Ich wollte dir noch etwas sagen“, setzt er schließlich wieder an, „ich hasse dich auch.“

Im Zimmer ist es dunkel. Das Fenster steht offen, sodass kühler Wind von draußen hereinweht und sanft über unsere Haut streicht. Dennoch dringt die Luft nur schwer in meine Lungen, während ich neben Daniel auf dem Bett liege und in die Finsternis starre.

„Es tut weh...“, höre ich meinen Freund flüstern, in die Stille, welche in meiner Wohnung immer allgegenwärtig ist.

Die Nacht bricht über unsere Sinne herein, als ich ihn frage:

„Was meinst du?“

„Alles“, antwortet er stockend, „ich bin erschöpft, als müsste ich mich nur fallen lassen, um für immer verloren zu sein.“

„Meinst du nicht“, meine Stimme zittert leicht, „dass du schon längst verloren bist?“

Er seufzt.

Langsam zieht die gesamte Situation an mir vorbei und ich sehe mich und Daniel auf dem Bett in meinen Zimmer liegen, nebeneinander, den Blick zur Decke gerichtet. Ich glaube fast die Leere in unseren Augen erkennen zu können.

Leise redet Daniel weiter:

„Ich hatte nicht erwartet, dass es so leicht passieren könnte.“

„Das Ende?“

„Ja.“ Er ringt nach Atem. „Heute Nacht wollte ich mit dir reden. Ich wollte dir sagen, dass ich mich im Fieber nur dir hingegeben hätte.“

Ich schließe die Augen und versuche, das berstende Pulsieren in meinem Kopf mit meinen Gedanken zu überdecken. Die erwartete Freude oder Erleichterung bleibt aus. Zu viele Gefühle überschwemmten mich in letzter Zeit und nun ist mein Geist ausgelaugt, der Körper von einer unsichtbaren Last erdrückt, meine Sinne sind taub geworden.

„Im Fieber?“, sage ich leise. „Ja, wir leben wie im Fieber, völlig krank und ohne zu wissen, was um uns geschieht.“

Ich höre den schweren Atem meines Freundes und spüre, dass es ihm Anstrengung bereitet, wenn sein Brustkorb sich hebt und senkt. Dann entgegnet er:

„So etwas hast du noch nie gesagt.“

„Wirklich?“, schmunzle ich. Kurz darauf fange ich an zu lachen und lege die Hände über meine schmerzenden Augen. Meine Kehle brennt und ist wie zugeschnürt, während ich das Lachen noch immer nicht unterbinden kann. Wieso nur scheint alles so unerträglich?

Langsam versuche ich mich wieder unter Kontrolle zu bringen und frage ihn schließlich:

„In dieser Nacht wolltest du dich von mir trennen. Und nun sagst du mir, dass alles nicht deine Absicht war? Es ist ein Spiel für dich gewesen, Daniel, das weißt du.“

„Ein Spiel“, entgegnet er kalt, „du hast genauso wie ich mitgespielt.“

„Es war“, ich wende meinen Kopf zur Seite, um in der Schwärze seine Silhouette auszumachen, „mir vollkommen ernst.“

Den Schmerz, welcher in diesem Moment sicher wie ein Schauer durch seine Venen flutet, spüre ich als Prickeln auf meiner Haut, während seine lautlose Stimme mir entgegen schreit, dass ich endlich begreifen muss.

Leicht schüttle ich den Kopf und fixiere erneut die dunkle Decke. Dann spricht Daniel weiter:

„Ich weiß nicht, was mit mir los war. Es gab keinen bestimmten Auslöser, weswegen ich anfing zu reden. Und je mehr ich dich anlog, desto mehr musste ich erkennen, dass es die Wahrheit war.“ Seine Worte zittern in kränklicher Belustigung. „Und plötzlich konnte ich nicht mehr aufhören.“

Endlich setze ich mich auf. Ich streiche bedacht über meinen bloßen rechten Arm, durch den bei dieser Berührung ein kribbelndes Stechen wandert, welches sich verstärkt, sobald ich meine Finger bewege. Den Verband am linken Arm entfernte ich, sodass ich mich unstabilisiert und verletzlich fühle.

„Innerlich habe ich mich angeschrien“, fährt mein Freund fort, ohne sich aufzurichten, „ich konnte mich nicht gegen mich selbst wehren. Als ich gegangen war, wollte ich nur noch umkehren. Alles war so unwirklich, unbegreiflich und brachte mich zur völligen Verzweiflung. Ich...“ Daniel hält inne. Ich spüre seinen Blick auf mir ruhen, während ich weiterhin auf dem Bett sitze und zu ihm hinab sehe. Vorsichtig fährt er fort:

„Ich konnte nichts machen.“

„Du bist dennoch umgekehrt.“

„Ja. Ich weiß nicht, wie. Auf einmal stand ich wieder vor dir.“

Kaum hörbar lache ich und rutsche näher an ihn heran, als er hinzufügt:

„Henri. Je mehr ich versuche, vor dir zu fliehen“, er hebt die Hand und lässt sie sanft über meine Wange zu meinem Hals gleiten, „desto näher bin ich dir.“

Er streicht langsam über meinen Kehlkopf. Seine Finger wandern auseinander, sodass er den leichten Druck links und rechts an meiner Kehle verstärkt. Mit einem Lächeln greife ich nach seiner Hand und schiebe sie fort.

„Nicht doch...“

Ich beuge mich zu ihm hinab, halte noch immer sein Handgelenk fest und fahre schließlich durch sein kurzes weiches Haar.

Dann küsse ich zärtlich seine Wange.

Ich spüre, wie er unter mir verwirrt die Augen schließt. Der Kuss hat ihn verunsichert.

Doch nun löse ich meine Hände, lege sie an seinen Hals und drücke zu.

Daniel bleibt stumm liegen, bewegt sich nicht, setzt sich nicht zur Wehr. Er schluckt und ich kann die Bewegung deutlich fühlen, sodass ich härter zudrücke, während mein Freund sich in meine Gewalt fallen lässt. Jedes Mal, wenn er schluckt und mit mehr Anstrengung um Luft ringen muss, festigt sich mein Griff. Irgendwann scheint es ihm egal zu sein. Jegliche Anspannung weicht aus seinem Körper, als hätte er es längst erwartet. Unendlich dehnen sich die Sekunden, in denen ich letztendlich seine Sauerstoffzufuhr so rückhaltlos abschnüre, dass es für Daniel gefährlich wird.

Ich schaue in sein Gesicht, doch ich sehe ihn nicht.

Meine Fingernägel graben sich in seine Haut.

Vernebelt, mit zu vielen Gedanken, die sich in meinem Kopf festsetzen, beuge ich mich hinab und flüstere ihm seinen Namen ins Ohr:

„Daniel.“ Ich weiß, dass er mich nicht hören kann. Sein Brustkorb hebt und senkt sich unkontrolliert.

Wieder geht mir der Wunsch durch den Kopf.

Ich will ihn nicht verlieren...

Zögernd lockere ich den Griff an seinem Hals und entferne mich von meinem Freund. Ich schaue auf meine Hände, während Daniel in tiefen Zügen die Luft einatmet und unterdrückt hustet. Dann richtet er sich auf und schaut mich an. Sein Lächeln kann ich in der Dunkelheit nur undeutlich wahrnehmen, doch seine Traurigkeit fühle ich so stark wie meine eigene.

„Wir wussten, dass es keinen Gewinner gibt“, sagt Daniel dumpf und berührt meine kalte Hand.

Ich fange seinen Blick auf und entgegne:

„Letztendlich haben wir beide verloren.“
 

Am frühen Morgen wache ich auf. Meine Sachen hängen schwer an meinem Körper, als ich mich vom Bett erhebe und in Daniels schlafendes Gesicht schaue.

Schließlich trete ich an das Fenster und öffne es weit, um hinauszusehen. Der Himmel ist weiß und von Wolken verhangen, die Stille der Nacht liegt noch bedrückend in der klirrenden Luft, welche nach frischem Regen riecht. Die schneidende Kälte lässt mich frösteln.

In diesem Moment ist mir mein Wunsch so klar und ehrlich vor Augen, dass ich ihn endlich akzeptieren kann. Warum soll ich noch weiter warten? Irgendwann wird es zu spät sein.

Der Wind umhüllt mich nur leicht. Ich hebe meine Hand und versuche ihn einzufangen, doch es misslingt mir. Meine Zeit entschwindet.

Ich bin nicht mehr...

Noch einmal atme ich tief ein und wende mich dann um.

Mein Freund liegt noch immer auf dem Bett und schläft.

Ich gehe leise in das Bad und öffne einen Schrank.

Als ich zurückkomme, setze ich mich auf das Fensterbrett und sehe in die Tiefe hinab. In der Hand halte ich die Rasierklinge und lächle sanft, während meine Augen wieder zu Daniel wandern.
 

Langsam höre ich, wie Daniel sich auf dem Bett bewegt. Das leise Rauschen des Regens erfüllt die gläserne Atmosphäre im Raum. Es ist kalt, aber der Wind ist kaum zu spüren.

Mein Freund richtet sich auf und sieht zu mir hinüber. Sein Blick prickelt mir auf der Haut.

Zwischen meinen Fingern halte ich die Klinge und biege das blanke Metall leicht durch, sodass mir die Schneide in die Haut dringt. Still tropft das Blut auf die Fensterbank.

„Wieso kann ich so einfach gehen?“, flüstere ich fragend, sehe Daniel dabei jedoch nicht an. Er hat meine Worte nicht verstanden und bittet leise:

„Was hast du gesagt?“

„Wie können wir alles hinter uns lassen“, meine Stimme ist nun lauter, hat allerdings noch nichts von ihrer resignierenden Gleichgültigkeit eingebüßt, „wenn niemand diese Verzweiflung sieht? Wenn niemand sieht, dass wir trauern, dass wir sterben?“

Ein Rascheln verrät mir, dass er vorsichtig aufsteht. Seine Schritte nähern sich mir.

Ohne ein Wort wende ich mich zu ihm um und lege ihm die Rasierklinge in die Hand. Er betrachtet sie und sieht dann schmerzlich zu mir auf.

„Wieso...?“

„Ich bin müde, Daniel“, beantworte ich ihm seine Frage und lächle schwach.

All die Zeit, die ich hier verweilen muss, zieht mich in den Himmel hinab. Meine Gedanken und die Szenerie, die sich um mich herum aufbauen, sind so grotesk, dass ich fast die Harfen singen hören kann. Als ich nach draußen sehe und den Regen beobachte, erfasst mich eine tiefe Ruhe. Das gesamte Firmament ist so hell, dass es fast angenehm blendet. Ich muss mich nicht dafür um Verzeihung bitten, dass ich mich aufgegeben habe. Vergebung ist ein Geschenk, welches mir für immer verwehrt bleibt.

Dann spüre ich Daniels Hand auf meiner Schulter. Sie strahlt kühle Wärme aus, während er zögerlich meinen Arm hinab fährt. Seine eisige Berührung kitzelt auf meinen Narben und Wunden. Er tritt näher an mich heran und streicht leicht durch mein Haar, lässt die dunklen Strähnen durch seine Finger gleiten. Ich drehe mich zu ihm um.

Er weint.

Seine Tränen benetzen meinen Arm, den er nun hält, als hätte er Angst, mich zu verlieren.

„Drück über dem Ellenbogen fest zu“, sage ich eindringlich und zeige ihm ein aufmunterndes Lächeln. Daniel folgt meiner Anweisung. Ich verkrampfe meine Hand zur Faust, während mein linker Arm langsam taub wird.

„Wo?“, fragt er resignierend.

„Die Ader an der Seite“, ich spüre das Pulsieren in meiner Vene und weiß, dass Daniel es auch fühlt, „meinen Unterarm hinab.“

Er beißt die Zähne aufeinander und reißt den Blick von meinen Narben los, um mich mit seinen braunen Augen zu fixieren. Ich beuge mich nach vorn und küsse ihm die Tränen von den Wimpern. Dann frage ich ihn:

„Hast du es damals ernst gemeint, als du das erste Mal zu mir sagtest, du würdest mich lieben?“

„Ich weiß es nicht.“ Er schaut mich traurig an und fügt hinzu: „Ich glaube... wahrscheinlich nicht.“

Gedämpft lachend senke ich den Kopf und meine, mehr zu mir selbst als zu meinem Freund:

„Das ist wohl die einzige Sache, bei der dich dein Glaube nicht täuscht.“

„Aber“, seine Augen dringen durch meine Haut, als er den Druck auf meinen Arm für einen Augenblick lockert, „ich habe es nie vergessen.“

„Solange du lebst“, ergänze ich sarkastisch.

„Solange ich lebe“, sagt er bestimmt.

Er dirigiert mich zur Seite und lässt sich hinter mir auf der Fensterbank nieder, um sich an meinen Rücken zu lehnen und Halt zu suchen. Als er mich von hinten umfängt, lege ich den Kopf auf seine Schulter und sehe die Angst in seinem Blick. Mit zitternder Hand setzt er die Klinge an meinem Unterarm an.

Er schluckt hart und rührt sich nicht, während ich mich an ihn schmiege und warte. Der Regen prasselt auf die Erde. Langsam hebe ich meine Hand, fange seine Tränen von den Wangen auf und streife seinen Atem. Endlich sind der Schmerz und die Erinnerung an all das, was wir hinter uns gelassen haben, nicht mehr bloß eine Last für mich. Auch wenn ich mich nie davon befreien konnte, so ist die Traurigkeit ein angenehmer Teil von mir geworden.

Angespannt versucht Daniel seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, bis er sich weiter vorlehnt. Tränen benetzen mein Oberteil. In kurzen Zügen zieht er die Luft durch seine Zähne ein.

Endlich schneidet mein Freund mit einem schnellen Ruck die Klinge durch mein Fleisch.

Plötzlich und pulsierend quillt das Blut hervor und beraubt mich in erschreckend kurzer Zeit meiner Wahrnehmung, sodass sich das qualvolle Brennen, welches sich durch meinen Körper zieht, unaufhaltbar von mir entfernt.

Daniel spricht leise in mein Ohr:

„Bis zu diesem Augenblick, hat sich das Leiden dafür nicht gelohnt?“

Ich lächle betäubt und kann langsam den Himmel nicht mehr erkennen. Mir wird unglaublich kalt. Ich hatte erwartet, dass es mich warm durchfließen würde, dass es heller um mich werden würde, dass es mehr schmerzen würde. Allerdings wird es immer dunkler und ich kann fast nichts mehr fühlen.

Ich dränge mich näher an Daniel, doch auch ihn spüre ich nicht mehr.

Ja, dafür hat es sich wirklich gelohnt.

Meine Lider werden schwer, sodass ich sie schließe.

Doch ich muss ihn noch um etwas bitten.

Ich hebe meinen Kopf. Unter Anstrengung öffne ich die Augen, sehe in sein Gesicht und betrachte die Tränen, die nicht zu versiegen scheinen.

„Daniel“, flüstere ich und wundere mich über die fehlende Kraft in meiner Stimme, „versprich mir...“

Ich atme aus und schließe meine Augen.

„Henri.“

Zaghaft lächle ich und setze erneut an:

„Versprich mir, dass du nicht weiterlebst.“ Daniel antwortet nicht und drückt sich näher an mich. „Ich will, dass du stirbst.“

„Ich wollte sowieso nicht ohne dich leben.“

Er lacht leise. Der Regen rauscht in meinem Körper, so warm wie Daniels Umarmung, so kalt wie das Blut in meinen Adern und so klar wie ein beruhigender Schlaf. Dunkelheit ist um mich.

Schwärze.

Finsternis.

Ich höre Daniels Worte in der Ferne:

„Ich verspreche es...“

Epilog

Der junge Mann stand im kalten Wind des Abends. Seine Gestalt war von einem schwarzen Mantel umhüllt, den seine dunklen Locken kaum berührten. Die braunen Augen betrachteten den Stein vor sich, in den der Name seines Freundes eingraviert war.

Das Rauschen der Blätter deckte den gesamten Friedhof ein. Niemand war hier; nur er.

Endlich beugte der junge Mann sich hinab. Der Wind zerrte nun an seiner Kleidung, als er die Fingerkuppen an die Lippen legte und mit ihnen schließlich sacht den Namen auf dem Grabstein berührte.

„Ich werde dich niemals vergessen, Henri, auch wenn ich mein Versprechen nicht halten kann“, sagte er leise, „denn du warst mein Schmerz und ich spüre dich noch immer auf meiner Haut.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Von:  TheRiver
2017-06-06T18:46:09+00:00 06.06.2017 20:46
Ich finde die Geschichte unglaublich gut.
Ich bilde mir ein, die beiden verstehen zu können, aber ich glaube da steckt unglaublich viel mehr dahinter. Die Gespräche sind einfach nur super. Mehr kann ich dazu nicht sagen, einfach weil sie mich gerade so traurig und sehnsüchtig gemach hat.
Antwort von:  halfJack
07.06.2017 14:53
Oh.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich hierauf noch eine Rückmeldung bekomme, da die Geschichte schon so alt ist und dringend mal eine Überarbeitung nötig hätte. Doch vermutlich sollte man in einer Story, die ein bestimmtes Lebensgefühl und Alter widerspiegelt, nicht herumpfuschen und etwas völlig anderes daraus machen.
Vielen Dank für deine Rückmeldung! Es freut mich sehr, dass diese Geschichte sogar heute noch jemanden emotional berühren konnte.
Von:  Schreiberliene
2009-12-18T21:15:12+00:00 18.12.2009 22:15
Der erste Satz ist nicht optimal gewählt, wenn du mich fragst; aber auch darüber haben wir schon geredet. ;D

Der letzte gefällt mir dafür sehr gut; überhaupt habe ich das Gefühl, dass das Kapitel relativ schwach anfängt und dann gegen Ende wieder fahrt aufnimmt.

Es wird immer deutlicher, wie Ich-orientiert die beiden sind; alles andere tritt dagegen in den Hintergrund.

Um ehrlich zu sein, war mir das Leiden Henris aber ein bisschen zu viel...
Altes Thema, ich weiß.

Irgendwie habe ich ein Gefühl, wie es ausgehen könnte. Es ist echt schade, dass die Dialoge so steif sind; das nimmt der Geschichte den Biss.

Alles Liebe,

anna abgemeldet
Von:  Schreiberliene
2009-12-17T19:20:02+00:00 17.12.2009 20:20
Hallöle,

also, das war ein bisschen übertrieben...
Sehr übertrieben.
Das Gespräch der Beiden klingt ziemlich gestellt, da hätte ein auktorialer Erzähler eher zu den Weisheiten gepasst, aber über das übertriebene haben wir ja schon gesprochen.


„Ich weiß noch genau, wie empfindungslos deine Augen waren, wenn du mir zugesehen hast, während ich einem Menschen den Schädel wegblase.“

Wegbließ?

"Daniel windet sich im Schlaf, auch wenn seine Augen geöffnet sind und er verwirrend an die Decke starrt."

Meinst du hier wirklich verwirrend? Nicht verwirrt?

Ich musste mir die Frage stellen, ob Henri überhaupt gerettet werden will - es war ein bisschen viel.

"Eine Träne fällt von Daniels Wange hinab in das Rot und lässt mich erstarren."

Sehr pathetisch.


Alles in allem fand ich das Kapitel ein bisschen... arg emo? Keine Ahnung, ob man das so sagen kann, aber so langsam verliere ich leider den Faden. Ich kann auch mehr und mehr verstehen, was du am liebsten ändern würdest, aber vermutlich würde wirklich eine ganz andere Geschichte entstehen...

Mal schauen, ob du dich in den folgenden Kapiteln wieder fängst.

Alles Liebe,

Anna

abgemeldet
Von:  Schreiberliene
2009-12-15T20:21:42+00:00 15.12.2009 21:21
Hallo,

also, zum ersten Mal hatte ich hier wirklich das Gefühl, dass du es als Schreiber übertreibst.

"„Ich liebe dich“, sage ich mit gedämpfter Stimme. „Tut es weh?“

Daniel antwortet gepresst: „Ja. Deine Worte sind härter als jeder physische Schmerz, fast wie Eis, das erbarmungslos meinen Körper durchbohrt.“"

Das klingt nicht wie etwas, dass man als Antwort schreiben kann...

Trotzdem, die beiden leben sehr intensiv, auch wenn ich persönlich das Gefühl habe, dass sie mehr und mehr aus ihren Rollen fallen - zudem frage ich mich, ob es noch eine eindeutige Steigerung geben wird.

Mal schauen, was du dem Leser in den nächsten Kapiteln präsentierst.

Alles Liebe,

Anna
Von:  Schreiberliene
2009-12-09T12:01:40+00:00 09.12.2009 13:01
Guten Tag,

am Anfang habe ich gedacht: Die beiden werden menschlicher. Irgendwie hat man das Gefühl, dass sie in ihrer Handlung doch nicht so absolut sind, wie es am Anfang den Anschein hatte. Ich würde sogar fast sagen, dass sie sich in ihrem Schmerz suhlen, weil sie wollen, und somit eine künstlicher Situation schaffen.

Für mich entspannt sich die Lage im Ganzen ein bisschen, gerade dadurch, dass es sich immer weiter einebnet. Vielleicht hat das auch ein wenig mit Abstumpfung zu tun, wer weiß?

Als ich auf die Kapitelübersicht gegangen bin, ist mir als erstes in den Sinn gekommen, dass Überschriften fehlen. Das wäre der letzte Schliff, um die Form zu beenden...

Aber ich bin generell ein Befürworter von aussagestarken Überschriften, andere mögen das vielleicht nicht so empfinden.

Sehr interessantes Kapitel. Danke dafür.

Alles Liebe,

Anna abgemeldet
Von:  Schreiberliene
2009-12-08T11:38:27+00:00 08.12.2009 12:38
Die Charaktere werden immer komplexer, und ich als Leser kann sie, unfassbarer Weise, irgendwie verstehen. Deine Beschreibung war sehr plastisch, aber was mich eigentlich fesselt, sind die Aussagen, die hinter deinen Bildern stecken. Es gibt so viel Interpretationsspielsraum, dass ich nach dem Kapitel eine Pause machen muss, um es sinken zu lassen.

Ich kann verstehen, dass dir die Geschichte wichtig ist; man merkt, dass da sehr viel Handwerk hineingeflossen ist.

Ich finde sie immer noch sehr beeindruckend, sehr bedrückend - sehr gut geschrieben.

Alles Gute,

Anna abgemeldet
Von:  Schreiberliene
2009-12-05T23:23:32+00:00 06.12.2009 00:23
Hallo,

nun ist es viertel nach eins, und schweren Herzens werde ich die Lektüre unterbrechen müssen, um Morgen in meinem Kurs wenigstens halbwegs zu funktionieren. Bevor ich mich aber verabschiede, muss ich einfach noch eine erste Rückmeldung zurück lassen:

Ich finde die Geschichte wahnsinnig. Die Atmosphäre ist zum schneiden, die Charaktere so lebendig und doch irgendwie entrückt, nicht Teil der Welt, die ich kenne. Deine Wortwahl gefällt mir ausgesprochen gut, der Aufbau ist toll und ich kann mich wirklich kaum losreißen von dem, was ich lese. Es ist aus einem Guss und so fesselnd, dass mir manchmal der Atem stockt.

Natürlich kann ich nicht sagen, wie es sich entwickelt, aber bisher verspricht deine Geschichte, eine oder sogar die beste Geschichte zu sein, die ich jenseits zweier Buchrücken gelesen habe. Was mich vor allem freut, ist die handwerkliche Sicherheit, mit der du arbeitest; das hast du einfach sehr, sehr gut gemacht.

Alles Gute,

Anna - Schreibzieher
Von: abgemeldet
2009-11-26T20:38:49+00:00 26.11.2009 21:38
Also ich kann mich meiner Vorgängerin nur anschließen.
Teilweise hast du wirklich stilistische Mittel verwendet, die ich persönlich so niemals hinkriegen würde. Teilweise sind Aussagen widersprüchlich, bspw. wie Henri empfindet und dies dann schildert. Ich weiß auch nicht, ob du das beabsichtigt hast oder es nur zufällig mit eingeflossen ist.
Das soll im Endeffekt eigentlich nur heißen, dass ich davon begeistert bin, weil es dem Leser Stoff zum Interpretieren gibt. Ich persönlich mag Geschichten nicht so sehr, die in sich "rund" sind und dem Leser keinerlei Spielraum mehr lassen, um darüber zu nachdenken.

Midoriyuki erwähnte bereits die wenigen Kommentare und es ist auch mir völlig schleierhaft, dass diese Geschichte bisher kaum welche erhalten hat, denn sie ist ein wahres "Masterpiece".
Du kreierst eine Stimmung, die durch Mark und Bein geht und das Ende lässt einen verstört und todtraurig zurück, denn man hofft innerlich auf einen Lichtblick, auch wenn er noch so klein ist.
Andererseits hat man nichts anderes erwartet. Ein Happy End wäre völlig unangebracht gewesen, daher auch an dieser Stelle ein ganz großes Lob.

Ich sehe schon, ich widerspreche mir etwas, deswegen werde ich jetzt mal aufhören (:

lg, imitation
Von:  midoriyuki
2008-10-04T23:39:27+00:00 05.10.2008 01:39
Wow.
Viel mehr fällt mir dazu wirklich nicht ein.
Obwohl die Story an sich wirklich abstrakt ist hast du das unglaublich umgesetzt.
Die Beiden sind absolut lebendige Charaktere, die einen einfach nicht mehr loslassen...Besonders Henri als Ich-Erzähler ist wahnsinnig eindringlich.
Vor allem tut es schon fast körperlich weh immer weiter zu lesen, weil man irgendwo schon längst weiß wie das ausgehen wird und trotzdem kann man nicht aufhören.
Du hast für diese FF wirklich meinen vollsten Respekt, Anerkennung und was auch immer das sonst beschreiben kann.
Und verdammt noch mal warum hast du für sowas extrem gutes keine Kommis gekriegt???
Das will mir wirklich nicht in den Kopf~_~

lg~


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