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Swan

von

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Längst vergangene Zeiten

sie war die Kleine auf dem Schulhof

der keiner Briefchen schreibt

das zahnbespangte Lächeln

das immer unerwidert bleibt

dessen Name niemals fällt

wenn man Sportmannschaften wählt

chancenlos

eine Schleife unter vielen

dessen Knoten niemals hält

dessen Brötchen eigentlich immer

auf die Butterseite fällt

damals hat sie dich gewollt

mehr als alles auf der Welt

chancenlos
 

(Annett Louisan – „Chancenlos“)
 

Es war nur eine Nachricht bei einer dieser Communities. Ich hatte in meinem Leben schon unzählige davon bekommen. Jeden Tag kamen viele solcher Nachrichten bei mir an, Antworten auf Nachrichten meinerseits, Nachrichten von Freunden, die sich nach einer längeren Weile wieder meldeten, Nachrichten von neuen Personen, die zufällig über mein Profil gestolpert waren und die aus irgend einem Grund Lust hatten, mich einmal anzureden, oder sogar reine Spam-Nachrichten. Aber noch nie hatte mich eine Nachricht so sehr irritiert wie diese, und im ersten Moment denke ich, dass das irgend so ein Scherz sein muss. Eine ziemlich grausame Art von Scherz, muss ich hinzufügen. Aber wenn ich darüber nachdenke – eigentlich weiß keiner meiner Freunde besonders viel von diesem Abschnitt meines Lebens. Nicht genug, um auf die Idee einer solchen Nachricht zu kommen. Das ist alles Ewigkeiten her, zum Glück vielleicht, es ist eine andere Galaxie in meinem Universum, und ich bin wirklich nicht sehr darauf aus, sie wieder aufzuwärmen.
 

Aber ich sehe einfach nur seinen Namen, und es gibt keinen Zweifel daran, dass es eben dieser ist, denn es ist ein Name, den ich niemals in meinem ganzen Leben wieder vergessen werde, denn er hatte Jahre davon dominiert – und höchst wahrscheinlich weiß der Besitzer dieses Namens gar nichts davon. Ich kann nicht gut beurteilen, ob und wie offensichtlich ich mich damals aufgeführt habe, denn ich habe zu dieser Zeit nicht so viel über mein eigenes handeln nachgedacht – irgendwann wäre es einfach zu deprimierend geworden. Weiß er möglicherweise doch davon? Denn wie ließe sich diese Nachricht sonst erklären?
 

Ich kann sie noch nicht anklicken. Der Name allein ist in meinen Augen schon schockierend genug. Ich muss mich erst einmal beruhigen, bevor ich diesen Knopf drücken und lesen kann, was Nathan Grean mir nach all diesen Jahren geschrieben hat.
 

*
 

Glaub mir, niemand vom Gymnasium würde mich heute, vier Jahre später, noch erkennen. Nicht, weil ich mich so radikal verändert habe. Na gut, das könnte wohl auch ein Grund sein, denn rein äußerlich verbindet mich sehr wenig von meinem früheren Erscheinungsbild – von der Kleidung über die Brille bis zum Haarschnitt hat sich so gut wie alles an mir verändert. Aber vor allem bin ich nicht mehr so schüchtern, beinahe panisch, wenn es darum geht, mit anderen Leuten zu sprechen, wie ich es damals war, und ich bin auch nicht mehr das Mauerblümchen von damals. Ich habe Freunde gefunden, ich habe einen Weg gefunden, mein eigenes leben zu führen, ich habe irgendwie sogar mich selbst gefunden. Ich habe gelernt, Spaß zu haben, ohne dass ich dafür mich selbst aufgeben musste.
 

Sie würden mich nicht mehr erkennen, weil sie mich damals gar nicht wirklich gesehen haben. Auf eine seltsame Art und Weise schien ich unsichtbar zu sein, und es war in den seltensten Fällen ein Vorteil. Ich war, rein von der Veranlagung her, wohl durchschnittlich hübsch und durchschnittlich intelligent, was im Grunde eigentlich nicht der Weltuntergang gewesen wäre, aber gepaart mit überdurchschnittlicher Schüchternheit, einer ganzen Menge an Tollpatschigkeit, Brille und Zahnspange kam es dem ziemlich nahe.
 

Damals hätte vieles passieren können. Ich hätte in eine Depression abrutschen können, und es wäre niemand da gewesen, der mich aufgefangen hätte. Oder ich hätte so bleiben können, wie ich damals war, was geheißen hätte, dass ich nie die Freunde gefunden hätte, die ich immer so sehr brauchte und gebraucht hätte, dass ich immer noch auf mich ganz allein gestellt war. Natürlich war es nicht vollständig meine eigene Schuld. Vielleicht fing es schon ganz früh an, dass ich das Selbstvertrauen verlor: es gab so viele Kinder in meinem Alter, ich hätte mit jedem gespielt oder geredet, wenn sie mich – zumindest in frühesten Jahren – danach gefragt hätten. Aber Kinder können ignorant sein, und sie hatten alle bereits ihre Gruppen, zu denen sie gehörten. Und später, wenn aus diesen Kindern Jugendliche wurden, die durchaus offen dafür waren, einmal mit neuen Leuten zu reden, dann traute ich mich nicht mehr.
 

Ich war im Grunde in der Lage, mit all dem umzugehen. Wirklich. Über die Jahre verwandelte ich mich in eine komplette Einzelgängerin, und in all der zeit gewöhnte ich mich auch daran.
 

Und dann kam da diese Situation, in der ich erstmals darüber verzweifelt war, unbeliebt zu sein oder sogar unsichtbar, und darüber, dass ich es nicht schaffte, mich dagegen zu wehren. Diese Situation hieß Nathan Grean.
 

Das erste Mal, als ich Nathan Grean gesehen habe, fand ich ihn gar nicht so toll. Nicht im abwertenden Sinne, einfach nicht aus der Masse hervorstechend. Nicht, weil er nicht gut aussah, im Gegenteil. Ich bin wirklich nicht oberflächlich. Wenn ich es wäre, wäre damals vielleicht alles anders gelaufen. Ich hätte mir teure Markenklamotten gekauft oder meine Eltern darum gebeten, mir sie zu finanzieren. Daran hat es nie gescheitert. Wir sind nicht arm, das ist nicht der Grund, aus dem ich damals in alten, viel zu großen Sweatshirts herumlief. Der Grund war so simpel und banal, dass die meisten Jugendlichen ihn nie nachvollziehen könnten, damals wie heute; nicht einmal, wenn sie nachgefragt hätten, denn sie alle definierten sich über ihre Kleidung und ihren materiellen Besitz. Ich trug diese unattraktiven Shirts, weil ich sie ganz einfach bequem fand. Ich wusste nicht, wie es sich anfühlt, andauernd an einem Top herumzupfen zu müssen, weil der Ausschnitt ungefähr bis zum Bauchnabel reicht und bei einer falschen Bewegung zu viel preisgeben könnte. Wie nervig ein kneifender String ist, der nur dazu da ist, um eine sexy Rückenansicht zu verschaffen. Wie unangenehm eine zu enge Hose sein kann, in die man sich gezwängt hat, weil der Stolz es verbietet, einfach die nächste Größe zu nehmen. Wie es sich anfühlt, von einem Piercing oder auch nur von Ohrsteckern eine Entzündung zu bekommen. Wie es ist, von den neuen supersexy hohen Riemchensandalen schmerzhafte Blasen an Zehen und Fußballen zu bekommen, die sich bei jedem Schritt noch mehr bemerkbar machen, diese Schuhe aber um alles in der Welt nicht ausziehen zu wollen, nur um umwerfend auszusehen. Bis zu einem gewissen Grad bin ich mir selbst dafür dankbar, dass ich mir all das immer erspart habe. Aber es gibt immer ein Mittelmaß. Auch zwischen dem extremen Beispiel einer oberflächlichen Tussi, wie ich es eben angeführt habe, und einem hässlichen Entchen, wie ich es war.
 

Wäre ich von einem Tag auf den anderen plötzlich oberflächlich, fixiert auf mein Äußeres gewesen, hätte ich den Blick in den Spiegel wohl nicht mehr ertragen. Das zahnbespangte, unbeholfene Lächeln; die Brille mit den dicken Gläsern, die mir sogar hätte stehen können, wenn ich nur das richtige Modell ausgewählt hätte; die unreine Haut, die nur mit irgendeiner Lotion oder einer Gesichtscreme behandelt werden hätte müssen, um akzeptabel auszusehen und sich halbwegs weich anzufühlen; der lieblose, unspektakuläre Haarschnitt und das dazugehörige strohartige Haar, das meist auch noch einfach und langweilig zurückgebunden wurde. Mir sagte damals keiner, dass ich teils aus dem Grund eine Außenseiterin war, weil ich mich eben schon äußerlich nicht an die anderen anpasste, noch nicht einmal den Standards gerecht wurde.
 

Heute sagen mir manche, dass diese Einstellung doch gar nicht schlecht war. Dass es nicht um das Aussehen geht, und so weiter. Ich fühle mich geschmeichelt, dass man mich damit trösten möchte. Aber davon abgesehen, dass ich das damals nicht aus Überzeugung machte, sondern aus purer Unwissenheit, gibt es einen Unterschied. Den Unterschied zwischen der natürlichen Veranlagung, schön oder hässlich (was übrigens die wenigsten von Natur aus sind), dick oder dünn, groß oder klein zu sein, und dem, was man aus diesen natürlichen Begebenheiten macht. Ich hätte mich ja nicht etwa auf einen OP-Tisch legen müssen, noch nicht einmal eine peinlich genaue Diät mit Kalorienzählerei führen (ich war eigentlich sowieso recht hager damals) oder teure Schminke kaufen müssen, sondern lediglich das hässliche Haarband abnehmen, die furchtbaren Stirnfransen und den Spliss loswerden, eine andere Brille oder Kontaktlinsen aussuchen und mir Kleidung kaufen müssen, die nicht drei Nummern zu groß war, die ich dann nur noch farblich zusammenpassend mischen hätte müssen.
 

Soweit zu diesem Aspekt. Ich hätte ihn selbst ändern können, hätte ich nur ein Problem in dieser Richtung gewittert.
 

Dann gab es natürlich noch ein weiteres, ich möchte nicht ausnahmslos alles auf die gesellschaftliche Oberflächlichkeit schieben. Und es war sogar noch um einiges gravierender als das erste. Ich war schüchtern. Und damit meine ich nicht nur, dass ich mich nicht traute, auf neue Personen zuzugehen. Das war natürlich noch zusätzlich der Fall. Nein, ich meine eine geradezu krankhafte Form der Schüchternheit. Wenn ich einmal angesprochen wurde, was ohnehin nur in den seltensten Fällen vorkam, dann tat ich oft so, als hätte ich es nicht gehört oder nicht mitbekommen, dass ich gemeint war. Und wenn ich dann, meist gezwungenermaßen, doch noch eine Antwort gab, fiel sie sehr, sehr leise aus, in der absurden Hoffnung, dass eine mögliche blöde Aussage nicht verstanden, sondern der Einfachheit halber einfach hingenommen und ignoriert wurde.
 

Im Gegensatz zu dem Problem mit meinem äußeren Erscheinungsbild war ich mir dieses anderen durchaus bewusst. Mir war klar, dass ich schüchtern war, viel zu schüchtern. Das hieß allerdings nicht, dass ich in der Lage war, es zu ändern. Denn einmal damit angefangen, wurde ich in einen immerwährenden Teufelskreis katapultiert. Es hatte damit angefangen, dass ich nie auf Leute zugegangen war, woraus sich ergab, dass wenige mit mir redeten, woraus sich wiederum ergab, dass ich im Reden ungeübt war und mir, sobald ich etwas sagen sollte, dessen niemals sicher war. Und so wiederum sank mein Selbstvertrauen, ich traute mir immer noch weniger zu, andere anzusprechen, fing auch noch an, das Antworten zu meiden. Und daraus ergab sich schließlich, dass selbst wenn jemand versuchte, mit mir ein Gespräch zu beginnen – was im Laufe der Jahre, in denen ich mich immer mehr verkroch, immer seltener und seltener vorkam – ich nicht mehr darauf einging, keinen Mucks herausbrachte und denjenigen, der mich ansprach, nur noch aus großen Augen anstarrte.
 

Es ist kein schales Klischee, dass ich damals eine absolut weltfremde Person war; ich war es tatsächlich. Und manchmal war es mir auch absolut egal, ich registrierte es noch nicht einmal so richtig. Ich musste eigentlich nicht beliebt und von Menschen umgeben sein, um glücklich zu sein. Wenigstens nicht ständig. Doch dann gab es diese dunklen, hoffnungslosen Momente, in denen ich mir meiner Einsamkeit bewusst wurde und Angst bekam, immer so alleine zu sein. Damals konnte ich mir nicht erklären, warum mich alle mieden, ich verstand nicht, dass es im Grunde genommen eine Situation war, die sich – auch durch mein eigenes Verhalten – immer weiter zugespitzt hatte. Ich hatte keine Freundinnen und Freunde natürlich schon gar nicht. Ich konnte mich schlicht und einfach an niemanden wenden und fing darum noch dazu an, Probleme in mich hineinzufressen, und davon hatte ich genügend.
 

Wenn man nicht in einer Situation ist wie ich damals, weiß man vielleicht nicht, wie viel Verzweiflung es bedarf, bis man sich endlich aufrafft und sich sagt, dass man etwas dagegen unternehmen muss, bevor es zu spät ist. Vielleicht läuft es unter normalen Umständen genau umgekehrt. Man verliert Tag für Tag mehr vom letzten Rest der Motivation, bis man sich einfach ergibt, sich sagt, dass es doch keinen Sinn hat und man für den Rest seines Lebens dieser ungeliebte Außenseiter bleiben wird. Ich weiß nicht, ob es an einem gewissen Kämpfergeist liegt, der trotz des mangelnden Selbstvertrauens irgendwo unter der Unsicherheit verborgen zu liegen schien, aber von einem Tag auf den anderen, vielleicht sogar von einer Stunde auf die andere, habe ich beschlossen, dass ich mich da wieder herausziehen musste. Und als ich mir dieser Sache erst sicher war, war es gar nicht so schwierig, wie man vielleicht erwarten möchte.
 

Aber dieser Teil der Geschichte soll später noch folgen. Bleiben wir bei der chronologischen Reihenfolge, so, wie ich es selbst erlebt habe. Eigentlich wollte ich diese Erzählung mit Nathan Grean beginnen, bevor ich zu ganz anderen Dingen abgeschweift war, von denen es aber vielleicht wichtig war, sie im Vorfeld zu erklären.
 

Es ist auch heute nicht leicht, von ihm zu sprechen. Der Schmerz von damals, einer von vielen, aber einer der größten, vielleicht sogar der tiefgehendste, sitzt tief, wird vielleicht niemals ganz verblassen, und das ist mit Sicherheit auch der Grund, aus dem mich seine plötzliche Nachricht so sehr irritiert, noch bevor ich sie gelesen habe. Nathan Grean hat mich niemals abgewiesen. Aber das musste er gar nicht, denn so weit kam es natürlich nie. Ich habe ihn nie angesprochen, wie ich es auch sonst bei niemandem getan habe. Der einzige Grund, aus dem er vielleicht wenigstens meinen Namen kannte, war, dass er in der selben Klasse war wie ich. Allerdings soll das meine damalige Liebe zu ihm nicht abwerten. Vielleicht habe ich kaum je ein Wort mit ihm persönlich gewechselt, aber das tat ich mit niemandem, und trotzdem konnte ich mir von den meisten ein – wie gesagt nicht ausschließlich, nicht einmal Großteils oberflächliches – Urteil bilden. Statt der aktiven Erzählerin, Kommentatorin oder gar Entertainerin war ich die passive Zuhörerin und Beobachterin, und allein dadurch kann man so vieles über andere Menschen erfahren und erkennen. Ich kannte viele Leute genau, die noch nie einen Blick in meine Richtung geworfen hatten. Dafür, dass ich selbst nicht in der Lage war, gesellschaftliche Regeln umzusetzen, kannte ich sie eigentlich ziemlich gut.
 

Nathan Grean war, wie gesagt, ein Junge aus meiner Klasse. Er war da schon seit der vierten Klasse, und ich hatte ihn schon früher faszinierend gefunden, aber damals übten beinahe alle Menschen eine Art Faszination auf mich aus. Die freundlichen, sozialen Menschen, die mir vollem Bewusstsein durch die Welt wandelten, lösten Ehrfurcht bei mir aus; darüber, dass sie, trotz eines gesunden Selbstbewusstseins, das Wohl der anderen über das eigene stellten. Ehrgeizige Menschen, auch Streber, wie man sie ja abfällig zu nennen pflegt, bewunderte ich für ihre Selbstdisziplin, die wichtigen Dinge, die Pflichten, von denen zu trennen, die Spaß machten, und die Freizeit auch einmal für Dinge zu nutzen, die vielleicht nicht so erfreulich waren. Gutaussehende Menschen bewunderte ich aus naheliegenden Gründen; für die Schönheit, die die Natur ihnen beschert hatte, das sichere Händchen, mit dem sie sie betonten. (Ich kam aber gar nicht au die Idee, sie als Vorbilder zu sehen. Irgendwie schien das ein Privileg zu sein, das ich mir selbst nicht zugestand.) Kurz, ich konnte eigentlich an jedem etwas Bewundernswertes finden, außer an mir selbst vielleicht. Bis zu einem gewissen Grad ist diese Eigenschaft mir bis heute erhalten geblieben, nur dass ich heute nicht mehr vor jedem aus diesem Grund kusche, und ich bin fast ein wenig stolz auf sie. Ich erkenne nun lediglich in jedem Menschen etwas, was mir Grund gibt, ihn zu respektieren.
 

Irgendwann, als ich zwölf oder dreizehn war – den Anfang meiner Schwärmerei kann ich tatsächlich nicht genau festlegen, da das sich Verlieben ein längerer, sich steigernder Prozess ist, der sich nicht plötzlich einstellt, und weil das verliebt sein für mich außerdem niemals etwas wirklich Schönes, sondern eher eine Kette aus frustrierenden Ereignissen darstellte – begann er, mir aufzufallen. Im Sinne von „aus der Menge herausstechen“. Anfangs, abgesehen von meiner Grundbewunderung, gar nicht besonders. Nathan hatte dunkelbraunes, beinahe schwarzes Haar, das meist eigentlich einigermaßen ordentlich gekämmt war. Und er hatte äußerst blaue Augen. Seine ganze Mimik war interessant, und vielleicht war sie eines der ersten Dinge, die mich an ihm so begeisterten. Meist wirkte er nachdenklich. Wenn man ihm etwas erzählte, konnte man an seinem konzentrierten Gesichtsausdruck erkennen, dass er gebannt zuhörte, unabhängig davon, worum es ging. Seine Brauen waren meist zusammengezogen, was eigentlich nicht sehr freundlich hätte wirken können, und doch war er auf eine absurde Art und Weise sympathisch und vertrauenswürdig. Aber möglicherweise fasste ich das ja auch nur persönlich so auf.
 

Er zeigte aber ansonsten ungewöhnlich viel Gefühl. Nicht nur ungewöhnlich viel für einen Jungen, sondern für alle Teenager, die ich kannte. Oder vielleicht sogar einen Menschen im Allgemeinen. Auf der einen Seite, was ja noch nicht so besonders war, konnte er sehr aufbrausend sein. Dann legte er die Stirn noch tiefer in sorgenvolle Falten, um seine Mundwinkel bildeten sich angespannte Grübchen. Er schrie und brüllte niemals herum. Aber seine Wut war eiskalt. Seine durchdringenden Augen wirkten, sobald er zornig war, wie Eis, beinahe beängstigend. Nicht nur für jemanden wie mich.
 

Und Nathan konnte auch fröhlich sein, auf jeden Fall. Das klingt nun vielleicht ein wenig widersprüchlich zu der Aussage, er sehe meistens böse aus. Aber wenn er sich amüsierte, dann hob er die Augenbrauen, und im Gegensatz zu seinem ständigen Stirnrunzeln sah es beinahe aus, als wollte er sich über jemanden lustig machen. Die Grübchen, die die Wut in seine Mundwinkel zauberte, erschienen auch, wenn er lachte, nur, dass sie dann als fröhliche Lachfältchen auftauchten. Und zu guter Letzt waren da wieder die Augen. Ich kann nicht erklären, wie man die Freude in den Augen anderer sehen kann, und vielleicht hängt es ja doch nur mit dem gesamten Gesichtsausdruck zusammen. Vielleicht war das Blau seiner Augen etwas leuchtender, nicht mehr so kalt.
 

Und letztendlich – nun ja, nicht letztendlich, denn Nathan war noch zu sehr vielen weiteren Emotionen fähig, die er niemals verbarg – konnte er traurig sein. Und das konnte man selbst erkennen, wenn man absolut nicht empfänglich für die Gefühle anderer war, denn er ließ etwas zu, was unmissverständlich ist: er hatte keine Angst davor, zu weinen. Das klingt jetzt möglicherweise peinlich, unmännlich und was sonst noch alles unglaublich verheerend für einen Jungen dieses Alters sein könnte. Aber er flennte schließlich nicht, er heulte nicht, er schluchzte nicht, sondern er ließ einfach die Tränen fließen. Er sah beim Weinen nicht lächerlich, hilflos oder schutzbedürftig aus, sondern einfach nur traurig. Und vielleicht, nur vielleicht, war es das, was mich an ihm am meisten fesselte und erstaunte. Niemand machte sich über Nathan lustig, wenn er weinte, oder hänselte ihn deshalb. (Übrigens war er wahrscheinlich auch nicht überdurchschnittlich nahe am Wasser gebaut. Er traute sich nur, sofort zu weinen, anstatt zu warten, bis er irgendwo alleine war und nicht gesehen wurde.) Damals war ich natürlich überzeugt, dass er diese Faszination auf jeden ausübte. Aber mittlerweile glaube ich, dass es auch daran lag, dass er beliebt war. Er war sportlich, klug, spontan und witzig, die Eigenschaften, die nun einmal alle anziehen. Auch wenn ich ihn aus anderen Gründen mochte.
 

So wurde ich auf Nathan aufmerksam. Er war beliebt, das exakte Gegenteil von mir, und beachtete mich selbstverständlich nicht. Aber nachdem mir erst einmal aufgefallen war, wie unbeschämt und offen er mit seinen Gefühlen umging, vielleicht von seinem manchmal doch spärlichen Lachen abgesehen, begann er mich erst wirklich zu interessieren. Ich war zufällig in der Nähe, wann immer er mit jemandem ein Gespräch führte, egal mit wem, denn mich bemerkte sowieso niemand. Das ermöglichte es mir schließlich ständig, zuzuschauen und zu lauschen. Keiner fragte sich, warum ich da herumlungerte. Selbst wenn ich bemerkt wurde, dachte man sich höchstwahrscheinlich nichts dabei. Ich war nur der Freak, der irgendwo am Rande herumstand und sich vielleicht danach sehnte, dazuzugehören. Indem ich Nathan niemals aus den Augen ließ, erfuhr ich, wie er in den verschiedensten Situationen reagierte. Wie unterschiedlich er mit Mädchen und Jungen sprach, mit den ganz Beliebten, mit Gleichaltrigen und Erwachsenen, mit Autoritätspersonen, mit Freunden, mit nur flüchtig Bekannten und sogar Rivalen oder Missgönnern, wie jeder gutaussehende, reiche oder talentierte Teenager sie nun einmal auch hat.
 

Und natürlich gefiel mir das, was ich da hörte. Ich habe zwar vor jedem Respekt, damals möglicherweise oft ein bisschen übertrieben viel davon, aber trotzdem war ich nicht vollkommen naiv und leichtgläubig. Ich erkannte es durchaus, wenn jemand im Grunde genommen ein Mistkerl war, und davon gab es an unserer Schule und der restlichen Umgebung wirklich genügend. Und auch wenn ich meinen Respekt nichtsdestotrotz behielt, hätte ich mich in so jemanden mit Sicherheit niemals verliebt. Dazu gehörte bei mir mehr als nur Beliebtheit und die typischen Werte, die dazu führen – wieso hätte auch gerade ich derartige Anforderungen stellen sollen.
 

Nathan war niemals irgendjemandem gegenüber herablassend, und er verhielt sich grundsätzlich nicht wie ein Idiot. Ja, er konnte witzig sein, aber nicht auf die Art, wie es die meisten Jungen waren, mit derben Witzen, über die sie dann selbst am lautesten lachten und für die sie Schulterklopfen ihrer Kumpel einheimsten. Wenn Nathan Witze machte, dann klang es nicht, als lege er es darauf an. Es war eher so, als spreche er Wahrheiten aus, die er in eine sarkastische oder zynische Hülle verpackte, und seine Miene blieb dabei selbst ernst, als wäre es gar nicht als amüsante Bemerkung gedacht. Sein Humor war intelligent, geistreich.
 

Er redete mit Jungen nicht viel anders als mit Mädchen, was ich sehr erstaunlich fand und was mich noch heute einigermaßen fasziniert. Die meisten anderen Jungen haben vor ihren „Artgenossen“ das Gefühl, sie müssten sich zum vollkommenen Deppen machen, um cool herüberzukommen. Die Logik ist nicht nachvollziehbar, aber so läuft es nun einmal. Derbe Witze zum Beispiel, aber wie ich bereits erklärt habe, war das absolut untypisch für Nathan, der mit seinem Humor, mit seinen Begabungen oder auch nur mit seinem Aussehen anscheinend absolut nicht angeben wollte. Was er ja auch wirklich nicht nötig hatte.
 

Und er hielt sich anscheinend grundsätzlich nicht für etwas besseres. Eigentlich wäre es schön, wenn man diese Eigenschaft von Grund auf erwarten könnte, aber so war und ist es nun einmal leider nicht. Nicht bei jedem. Nathan lachte niemanden aus, nur weil er dessen Gedankengänge oder Einstellungen nicht verstand. (Wobei, eigentlich lachte er ja überhaupt niemanden aus.) Und heute halte ich es für durchaus möglich, dass er auch zu mir nett gewesen wäre, wenn ich es nur versucht hätte.
 

Bis ich vierzehn wurde, schaffte ich es, mich vollkommen hoffnungslos in Nathan zu verlieben. Den lieben, klugen Jungen, der mitten unter all den anderen Beliebten steckte und trotzdem, was seinen Charakter anbelangte, so grundlegend anders war als die anderen. Ich weiß gar nicht, ob mir mein eigener Zustand überhaupt bewusst war. Natürlich hätte ich, falls mich jemand gefragt hatte... nun, das müssen wir anders formulieren, falls mich jemand, dem ich vertraute, gefragt hätte – damals gab es davon zwar eigentlich niemanden, aber sehen wir es hypothetisch – ob ich ihn liebte, hätte ich ohne zu Zögern genickt. Oder sogar irgend etwas Blödes wie „Von ganzem Herzen!“ von mir gegeben. Aber ich hätte mit Sicherheit zugestimmt. Und was besonders erstaunlich war, war, dass ich irgendwann beinahe eine Art Auftrieb bekam, das Gefühl, etwas tun zu müssen, damit ich mich besser fühlte. Nur, dass ich damals noch nicht die Kraft dazu hatte. Dazu war es noch ein langer, langer Weg.

Das neue Mädchen

Ich habe mir einen Tee geholt. Ich trinke nicht oft Tee, nur wenn ich mich beruhigen muss. Vor Prüfungen, vor Dates (die ich mittlerweile tatsächlich habe, aber auch nicht gerade en masse). Und bevor ich solche Nachrichten wie diese lese. Wobei ich mich an keine auch nur ansatzweise mit dieser vergleichbare Situation erinnern kann.
 

Ich klammere mich geradezu an der warmen Tasse fest, wärme meine Hände und mein Gesicht daran und inhaliere den beruhigenden, matten Teeduft. Dann nippe ich daran. Das heiße Getränk brennt auf meiner Zunge, und ich klappe die Augen wieder auf. Ich stehe jetzt vor dem Spiegel. Die Tasse dampft, ich habe mir den warmen Rollkragenpulli bis zum Kinn gezogen. Nur für einen Moment stelle ich die Tasse ab.
 

All die nostalgischen ... Moment, kann man es überhaupt so nennen? Verbindet man mit Nostalgie nicht etwas Positives, eine wehmütige Erinnerung an bessere Zeiten? Dann ist das bei mir eindeutig das falsche Wort. Die guten Zeiten sind jetzt, heute, und möglicherweise kann es noch besser werden, weil ich es nie wieder so weit kommen lassen werde wie damals.
 

Also all die Gedanken an früher haben mich ziemlich in diese Zeit zurückversetzt. Ich fühle mich wieder wie dieses kleine, unsichere Mädchen, das so unscheinbar ist wie ein grauer Fleck zwischen bunten Regenbogenfarben, das sich nicht traut, den Mund aufzumachen, das lieber ignoriert wird als von den anderen noch mehr gedemütigt zu werden, wie es sich selbst demütigt. Und so kann ich diese Nachricht auf keinen Fall lesen. Ich muss mich wieder in das Hier und Jetzt zurückversetzen, wieder die einigermaßen selbstbewusste junge Frau sein, zu der ich mittlerweile geworden bin. Ich starre mich im Spiegel an, und ich habe keine Ähnlichkeit mehr mit dem kleinen Mädchen. Das gesunde, rotbraune Haar fällt in weichen Wellen bis zu den Schultern, die blauen Augen werden nicht mehr von irgendwelchen Brillengläsern verdeckt. Die paar Sommersprossen auf der Nase sind nicht hässlich, sondern vielleicht sogar ein bisschen süß. Die Zähne sind gerade, wie sollten sie das auch nicht sein, nachdem ich jahrelang diese blöde Zahnspange getragen habe. (Wieso eigentlich? Damals war mir mein Aussehen egal oder nicht bewusst. Und wenn meinen Eltern meine schiefen Zähne aufgefallen sind, wieso konnten sie nicht auf den Rest achten und mir raten, etwas zu ändern?) Ich habe schon immer so ausgesehen, aber es ist, als hätte ich irgendwann eine graue Folie von mir abgezogen und wäre dann endlich selbst zum Vorschein gekommen.
 

Was sich inzwischen auf psychischer Basis geändert hat, an meiner Einstellung, meinem Charakter, kann man im Spiegel natürlich nicht sehen. Aber ich weiß es, und die äußerliche Veränderung erinnert mich noch zusätzlich daran, und das genügt. Ich atme tief durch, setze mich an den Schreibtisch vor den Computer.
 

Noch ein Schluck Tee, noch ein tiefer Atemzug. Reiß dich zusammen. Der unsichere, ängstliche Teil von mir, der wohl oder übel noch immer in mir schlummert und den ich zu allem Überfluss eben vorher aufgeweckt habe, hofft auf irgend etwas Absurdes, dass mein Computer abstürzt, oder dass ich aufwache und nur geträumt habe. Aber wie schlimm kann es sein? Nathan war niemals gemein. Er wird es auch jetzt, nach den ganzen Jahren, nicht geworden sein.
 

Klick.
 

*
 

Hey Olivia!
 

Ich habe gerade eben dein Profil hier entdeckt und nicht die geringste Ahnung, ob du dich noch an mich erinnerst. Wir waren einmal zusammen in einer Klasse, weißt du noch? Ich kannte dich leider nicht so gut, weil du nie was gesagt hattest, zu mir wenigstens nicht. Ich war der, der manchmal in der Öffentlichkeit geheult hat. (Ich würde ja etwas hinzufügen wie „blöd, was?“, aber ich fürchte, ich mach das immer noch ab und zu.) Ich glaube, ich plappere zu viel, entweder weißt du es eben noch oder nicht.
 

Hmm, falls du dich wunderst... ich bin über irgendwelche Umwege und Zufälle über deinen Namen gestolpert, du kennst das ja bestimmt, und mir ist eingefallen, dass ich dich ja mal kannte. Ich dachte aber im ersten Moment ganz ehrlich, dass das jemand anderer mit dem selben Namen ist, auch wenn ‚Olivia Candace’ vielleicht nicht gerade der häufigste Name ist... aber ich hab mal dein Fotoalbum angesehen und bemerkt, dass du es tatsächlich sein musst, außer natürlich, du bist irgend eine gleichaltrige Cousine von dir, die den selben Namen trägt und die selben Augen, die selbe Nase und die selben Sommersprossen hat... Ich meine es nicht aufdringlich oder anmaßend, aber du siehst irgendwie um einiges glücklicher und selbstbewusster aus als früher, das steht dir.
 

Wie ich gerade bemerke, habe ich wahrscheinlich noch nie so viele Worte auf einmal mit dir gewechselt, obwohl, ich hätte viel mehr zu dir gesagt, wenn du dich nicht immer so schnell zurückgezogen hättest – das soll jetzt kein Vorwurf sein oder so – und hoffentlich lag es nicht daran, dass du mich nicht mochtest oder so etwas, denn dann nehme ich an, du würdest diese Nachricht jetzt gleich löschen und dann hätte ich sie umsonst getippt. Ich weiß gar nicht, worüber ich mich mit dir nun unterhalten könnte, ich wusste ja nie so viel von dir, und wahrscheinlich hast du dich in der Zeit auch noch ziemlich verändert, vier Jahre sind ja auch eine halbe Ewigkeit... ich könnte zwar versuchen, mir anhand de Gruppen, in denen du Mitglied bist, ein ungefähres Bild zu machen, aber ich weiß nicht, ob du zu denen gehörst, die immer lange erwägen, ob sie sich in den Gruppen anmelden, oder sich gleich zu denen gesellen, bei denen ihnen bloß der Name gefällt...
 

So, jetzt habe ich eine ganze Menge Blödsinn geschrieben, und ich hoffe, ich habe dir nicht allzu viel von deiner Freizeit gestohlen... auf jeden Fall würde ich mich natürlich sehr freuen, mal wieder von dir zu hören. Ich bin sehr gespannt, ob du mittlerweile gesprächiger geworden bist :)
 

Liebe Grüße,
 

Nat
 

*
 

Ich lese die Nachricht, und ich lese sie gleich noch einmal. Einzelne Absätze lese doppelt und bleibe sogar an Worten hängen. Ich sauge diesen Text am Bildschirm so gierig auf, als wären sie eine Art Süßigkeit oder gar Droge. Ich bin überwältigt, erstaunt und vor allem positiv überrascht.
 

Vor allem anderen kann ich ganz einfach nicht glauben, dass er sich an mich erinnern kann. Ich versuche, irgendeine Erklärung zu finden, irgend eine Information, der er entnommen haben kann, dass wir einmal auf der selben Schule waren, aber ich finde es nicht heraus. Es ist ganz überwältigend, er muss es wirklich noch wissen. Meinen vollen Namen, und er hat mein Gesicht erkannt. Mein Gesicht! Trotz all der Veränderungen – so genau kennt er es, dass es ihm versichert hat, dass ich es sein muss, auch wenn ich ein paar... Veränderungen vorgenommen habe. (Oh du meine Güte – das klingt ja, als wäre ich Michael Jackson. So drastisch ist es dann vielleicht doch wieder nicht.)
 

Und er glaubt auch noch, ich könnte ihn vergessen haben. Bei manchen Leuten könnte man ja glauben, dass sie so etwas nur sagen, um andere genau das denken zu lassen – „Oh nein, den könnte ich nie vergessen!“ Eine Masche, um noch mehr auf sich aufmerksam zu machen. Aber Nathan ist nicht so jemand, das weiß ich. Nicht wegen getrübter Wahrnehmung, da er schließlich jemand ist, in den ich einmal schwer verliebt war, sondern weil ich ihn lange und oft genug beobachtet habe, um das mit Sicherheit sagen zu können.
 

Auch sein Schreibstil verwundert mich ein wenig... er klingt anders als früher, was vielleicht auch daran liegt, dass man sich in geschriebener Sprache eben anders ausdrückt. Aber vielleicht hat ja auch er sich geändert. Was gleich geblieben ist, ist die Höflichkeit und der Respekt, der unterschwellige, leicht ironische Humor, der mitschwingt. Aber was neu ist, ist die Selbstironie. Es wirkt wie vertauschte Rollen, als hätte ich ihm geschrieben. Aus Ehrfurcht vor ihm, die ich mit Sicherheit noch immer besitze, hätte ich mich nicht getraut, einen nur ansatzweise anmaßenden Satz zu schreiben. Aber er – Nathan kann es sich noch leisten, oder etwa nicht?
 

Und aus irgend einem Grund bringt mich diese seine Art zu schreiben wieder auf den Boden zurück. Nicht in dem Sinne, dass ich ihn nicht mehr toll finde oder Ähnliches – hey, ich weiß es besser – sondern in dem, dass auch er nur ein Mensch ist, dass ich mich nicht vor ihm fürchten muss, auch wenn ich damals einen ganz anderen gesellschaftlichen Stand hatte als er. Ich fasse mir ein Herz und beschließe, gleich zurückzuschreiben. Schließlich wollte er das ja auch, er hat es geschrieben. (Und er hätte mir doch gar nicht erst eine Nachricht geschickt, wenn das nicht das Ziel wäre.) Nat. Diesem Spitznamen habe ich noch nicht gehört. Aber er gefällt mir und besonders, dass er eine Nachricht an mich so unterschreibt. Es ist kumpelhaft und ungezwungen.
 

Ich werde in diese Nachricht Selbstbewusstsein und Unbeschwertheit stecken, damit zeigen, dass ich mich verändert habe. Eigentlich nicht, weil ich ihn beeindrucken will, sondern weil ich das Gefühl habe, dass ihn das freuen würde. Früher hätte ich niemals gewagt, so zu denken – viel zu hoffnungsvoll, das wird meistens nur enttäuscht. Aber jetzt bin ich die neue Olivia – ebenfalls mit einem ungezwungenen Spitznamen übrigens, ich werde inzwischen meistens Liv genannt – und traue Nathan Grean, der sich in Nat verwandelt hat, durchaus zu, dass er sich auf diese Weise für Mitmenschen freuen kann.
 

Ich sehe mir noch einmal kurz sein Profil an, finde aber nicht viel. Offensichtlich ist er erst seit zwei Tagen registriert. Das wundert mich nicht. Ich gebe seinen Namen regelmäßig ein, um danach zu suchen. Ich sage doch – ich kann ihn nicht wirklich vergessen. Noch hat er sein Profil nicht ausgefüllt, ist nur bei ein paar Gruppen angemeldet, die nichts aussagen, da sie nur mit seinem Namen und seinem Geburtsdatum zu tun haben, noch nicht einmal ein Foto. Das ist schade... ich hätte gern wieder einmal ein Bild von ihm gesehen. Aber der Mangel an den restlichen Informationen gibt wenigstens ein wenig Gesprächsstoff.
 

Ich klicke auf „antworten“, fange an zu tippen, und es geht erstaunlich leicht. So leicht, dass ich ein melancholisches Gefühl bekomme. Warum habe ich nie zugelassen, dass er ein Gespräch mit mir führt? Wieso habe ich immer dümmlich geschwiegen? Mit Nathan kann man sich unterhalten, das weiß ich, und man konnte es auch früher. Nur habe ich mich nicht getraut.
 

*
 

Hallo Nat,
 

Ich freu mich sehr, von dir zu hören. Ich hätte eher geglaubt, dass du dich nicht mehr an mich erinnerst, du weißt ja sicher noch, dass ich damals nicht gerade auffällig war. An dich kann mich noch genau erinnern, und nicht nur, weil du geweint hast (das fand ich übrigens immer gut!). Aber du warst ein etwas anderes Kaliber, das musst du zugeben.
 

Was machst du denn eigentlich inzwischen? Studierst du, und was? (Ich nehme es mal an, da du beim StudiVZ angemeldet bist... aber vielleicht gehörst du ja zu denen, die schummeln!) Hast du denn noch zu irgendwelchen Leuten aus dem Gymnasium Kontakt?
 

Ich selbst habe mit Philosophie und Psychologie angefangen, ich bin jetzt im ersten Semester. Besonders Zweiteres klingt vielleicht komisch, das weltfremde Mädel, das nie den Mund aufbrachte, als Psychologin – aber ich bin zum Glück nicht mehr so schlimm (dran) wie damals, wie du richtig erkannt hast, und ich war schon immer eine kleine Beobachterin, das könnte mir durchaus liegen. Aber es ist wahr, das wirst du nicht beurteilen können, weil ich früher nie geredet hab. Um mich nachträglich zu entschuldigen: es lag nicht daran, dass ich dich irgendwie nicht mochte oder so etwas, das hab ich früher immer gemacht. Ich habe keine autistischen Veranlagungen, ich war einfach nur ziemlich, ziiiemlich schüchtern.
 

Schade, dass dein Profil noch so leer ist! Ich hoffe, du füllst da noch ein bisschen was aus – aber du kannst mir ja genauso gut in einer Nachricht erzählen, was du inzwischen so gemacht hast. Ich freu mich auf jeden Fall auf deine Antwort, und danke, dass du dich mal gemeldet hast!
 

Liebe Grüße,
 

Olivia
 

*
 

Ich lese alles noch einmal durch, überlege. Erst will ich die Anrede doch in „Nathan“ zurückändern, überlege mir dann aber, dass er diesen Spitznamen schließlich selbst angeboten hat. Ich kann ihn also getrost verwenden. Aber die Klammer, das auf das Weinen bezogene „(das fand ich übrigens immer gut!)“, das lösche ich wieder. So mutig bin ich noch immer nicht, und ich weiß nicht recht, ob ich es denn je sein werde.
 

Dann sehe ich meine Unterschrift an, und beschließe, dass wenn Nathan sich Nat nennt, ich mich genauso gut Liv nennen kann. Und ändere es. Die neue Liv, neues Selbstbewusstsein, das erste mal, dass ich – und das auch noch ausführlich – auf Nathans Worte antworte.
 

*
 

Diese neue Liv entstand langsam, als Olivia vierzehn war. In dem letzten Jahr, in dem ich an diesem Gymnasium war. Ich weiß nicht, wieso ich gerade da plötzlich das Gefühl hatte, etwas ändern zu müssen, warum ich es nicht schon lange zuvor gehabt habe oder erst, als ich in der neuen Umgebung war, wo ich – als die „Neue“ – vielleicht sowieso wieder beachtet worden wäre. Ich habe damals, als ich meine Drehung um hundertachtzig Grad begann, noch keine neuen Leute kennen gelernt, das kam erst, als ich dann nach dem Umzug auf der neuen Schule war.
 

Ich wusste natürlich vorher, dass wir umziehen würden, und möglicherweise war das ja das Ausschlaggebende. Ich wusste irgendwo tief drin, dass ich nicht den anderen die Schuld dafür geben konnte, dass ich mich nicht traute, auch nur einmal etwas zu sagen. Ich musste mich ändern, aus mir herausgehen, und ich war im Begriff, eine richtige Chance zu bekommen, um aus diesem ewigen Teufelskreis des ignoriert werden und sich ignorieren lassen herauszukommen. Nur die Basis dafür musste ich schon vorher schaffen.
 

Ich hatte auf einmal die ersten selbstbewussten Gedanken. Plötzlich waren da ganz große Ideen, Vorsätze. Teilweise waren sie viel zu groß für die damalige Olivia, sie konnte sie noch nicht umsetzen. Als erstes wusste ich, dass ich lernen musste, mit den anderen zu reden. Dann wusste ich, dass es da noch einen Aspekt geben musste, was mit mir nicht stimmte, denn sonst wäre es nie so weit gekommen, dass ich erst unsichtbar wurde. Und letztendlich steckte ich mir das Ziel, mit Nathan zu reden. Ich wollte ihn ansprechen, ihm ein Liebesbriefchen schreiben oder irgend so etwas. Ich weiß gar nicht mehr, was davon wirklich Pläne und was nur als Hirngespinste und Träumerein zu bezeichnen war.
 

Meine Charakterveränderung begann ich sofort durchzusetzen, im letzten Monat vor den Sommerferien, nur dass sie nicht so drastisch herüberkam: mittlerweile versuchte so gut wie niemand mehr, mich anzusprechen, da ohnehin schon jeder wusste, dass ich wahrscheinlich nicht antworten würde. Aber falls doch jemand etwas zu mir sagte, riss ich mich ernsthaft zusammen und gab eine Antwort. Anfangs sehr leise und zögerlich, aber deutlich genug, um verstanden zu werden. Dies steigerte ich in den letzten Wochen so weit, dass ich mit fester Stimme sprach, bereits auch lauter wurde, so dass meine Äußerungen, die ich als Antworten auf Lehrerfragen gab, auch in der letzten Reihe in der Klasse gehört wurden. Ich traute mich sogar ab und zu, selbst aufzuzeigen. Einige schienen schon zu staunen, dass ich mich plötzlich doch meldete. Es fiel mir nicht einmal so schwer, da ich immer das Mantra im Hinterkopf behalten konnte, dass ich, falls ich doch irgendeinen Blödsinn sagte oder mich verplapperte, all diese Leute bald höchstwahrscheinlich nicht mehr wiedersehen würden. Wir standen kurz vor einem Umzug in eine andere Stadt, und ich hatte einem Schulwechsel – auch wenn es nicht übermäßig problematisch gewesen wäre, auf der selben Schule zu bleiben, und nur mit einer längeren Busfahrt verbunden gewesen wäre – sofort zugestimmt. Ich witterte es sofort als eine Chance, neu anzufangen, und diese Chance ergriff ich auch; einer meiner Schritte und Handlungen, auf die ich am stolzesten bin. Ich konnte tatsächlich mein Leben verändern, und ich machte es. Ich zog mich aus der Misere.
 

Natürlich fiel mir auf, dass niemand zu mir sagte „Wer bist du und was hast du mit Olivia gemacht?“ Ich hatte nicht gerade erwartet, dass sich gleich meine ganze Welt ändern würde, aber über eine kleine Veränderung, die über leicht erstaunte Gesichter hinausging, hätte ich mich schon gefreut. Ich überlegte mir, dass das alles nicht nur daran liegen konnte, dass ich so schüchtern war.
 

Dass der fehlende Aspekt vielleicht sein konnte, dass ich mich äußerlich so wenig anpasste, fiel mir erst nach meinem letzten Schultag an dem Gymnasium ein, ansonsten hätten die anderen sich über die folgende Veränderung mit Sicherheit tatsächlich gewundert. Im ersten Moment gefiel mir der Gedanke nicht, er schockierte mich fast: man sollte doch nicht oberflächlich sein und so weiter. Aber wenn man darüber nachdachte, war das Problem nicht, dass ich nicht hübsch genug war, sondern weil ich mich unsichtbar machte. Unvorteilhafte Brille, langweiliger Haarschnitt, trostlose Kleidung. Das höchste der Gefühle war vielleicht noch, dass ich etwas „Freakiges“ an mir hatte, aber nichts Hübsches oder Schönes.
 

Ich glaubte, gar nicht zu wissen, wo ich mit der Verbesserung überhaupt anfangen sollte. Ich wusste doch nicht, wie man sich hübsch machte, das hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie versucht. Aber dann nahm ich mir das viele Geld, das ich mir im Laufe der Jahre zusammengespart hatte – ich hatte mich nie sehr für teure Dinge interessiert und Schminke und Kleider kaufte ich ja ohnehin nicht, das Einzige, wofür ich ab und zu etwas ausgab, waren Bücher – und ging shoppen. Wohl zum ersten Mal in meinem Leben, so unglaublich es klingen mag. Es war gar nicht so schwierig. Was gerade in war, wusste ich eigentlich von meinen Mitschülerinnen, denn ich beobachtete sie ja schließlich und wusste genau, was momentan häufig getragen wurde; wie ich es kombinieren konnte, zeigten mir die Ankleidepuppen, die in den Geschäften posierten, und was mir stand, erklärten mir freundliche Verkäuferinnen. Das Kombinieren war gar nicht schwer. Ich hatte einen guten Sinn für Farben, wie ich feststellte, konnte auch verschiedene Stile auseinanderhalten. Ich merkte, was elegant und was dagegen eher lässig war.
 

Das erste mit etwas Hilfe selbst zusammengestellte Outfit war immer noch ein wenig langweilig, aber für meine damaligen Verhältnisse fast ausgeflippt. Ich war mir nie richtig meines Körpers bewusst gewesen. Als ich in einen roten, anliegenden Rollkragenpulli schlüpfte und dazu dunkelgraue Jeans anzog, kam ich mir plötzlich so bunt, so fröhlich vor, und ich war erstaunt darüber, wie schlank ich eigentlich war, wie viel Oberweite ich hatte. Ich war nie vor dem Spiegel gestanden, denn ich hatte nie überprüft, ob ich in meinen Sweatshirts und Jogginghosen gut aussah, und ich hatte nie anliegende Kleidung getragen. Die freundliche Verkäuferin drehte mir auch noch eine lange Kette mit verschiedenförmigen, schwarzen Perlen an. Als ich mich damit im Spiegel sah, gefiel ich mir wirklich gut, die Brille und die Haare machten gar nicht mehr so viel aus. Aber die Kette war zu viel des Guten, wenigstens für den Anfang. Sie lag ein gutes Jahr nur in irgend einer Schublade.
 

Die letzten äußerlichen Veränderungen kamen eher schleichend. Die ganzen Sommerferien lang hatte ich neue Ideen, was ich machen konnte. Erst einmal folgte der Haarschnitt. Ich machte nichts Großartiges, ich ließ mir nur die langweiligen Stirnfransen anders schneiden, um sie irgendwann wachsen zu lassen, und ließ mir von der Frisörin einen leichten Stufenschnitt einreden. Wie bei der Kleidung war die erste Reaktion, dass es viel zu drastisch sei. Aber im Gegensatz zu meinem alten „Stil“ wäre wahrscheinlich alles drastisch gewesen.
 

Danach folgte, dass ich endlich die Zahnspange loswurde. Ich hatte sie bereits jahrelang, und meine Zähne waren im Grunde perfekt. Ich brauchte das Ding mit Sicherheit nicht mehr. Und dann schlugen meine Eltern vor, vielleicht angestachelt davon, dass sie mich plötzlich so erblühen sahen, dass ich es mit Kontaktlinsen versuchen könnte. Und dem stimmte ich ebenfalls zu.
 

Im Juli hatte ich Geburtstag, ich wurde fünfzehn. Und wenn man die Fotos von meinem fünfzehnten Geburtstag mit denen der Jahre zuvor vergleicht, hat man das Gefühl, man sähe Olivias große Schwester. Liv eben.
 

Ich hatte mich tatsächlich geändert, äußerlich, im Umgang mit anderen und mit mir selbst. Ich hatte dafür nicht meinen Charakter oder mich selbst aufgegeben, wie viele mir vielleicht gerne einreden möchten. Ich hatte überhaupt nichts aufgebeben, ich hatte eher mich selbst gefunden. Ein Mensch, der irgendwo in mir schlummerte, sich aber bis jetzt nie herausgetraut hatte. Mein Charakter hatte sich nicht geändert, ich hatte ihn noch nicht gekannt. Natürlich behielt ich einige Eigenschaften noch immer. Etwa war ich anfangs noch immer nicht besonders selbstbewusst, denn aus jahrelangen Enttäuschungen kann man keines schöpfen. Und meinen Respekt vor allem Menschen behielt ich, wie gesagt, noch immer bei, ohne mich ihnen zu unterwerfen, sondern einfach, indem ich ein natürliches Interesse zeigte und niemanden verurteilte. Das Gute war, dass ich dieses Interesse nun auch noch zeigen konnte, indem ich diese Leute anredete und ihnen Fragen stellte, was ich mich nach einer gewissen Zeit auch traute. Es bedurfte nur ein wenig Übung, aber dazu war es mit fünfzehn Jahren noch lange nicht zu spät. Noch dazu blieb mir natürlich auch die Beobachtungsgabe und vor allem das Interesse daran, zu beobachten. Ich konnte es nicht mehr so gut ausüben wie früher, klar, denn ich wurde nun bemerkt, war ein Mitglied der Gesellschaft, der neuen Klasse, wie jeder andere auch, und es fiel mehr auf, wenn ich irgendjemanden eine Weile lang anstarrte. Aber nur weil ich nicht mehr offensichtlich beobachten konnte, bedeutet es nicht, dass ich es gelassen habe. Ich schielte nun zu den einen, während ich mich gerade mit jemand anderem unterhielt, um aus dem Augenwinkel mitzubekommen, oder im Unterricht, während ich mit einem Ohr zuhörte. Ich lernte so alle schnell kennen und ließ ihnen trotzdem noch die Chance, auch umgekehrt mich kennen zu lernen.
 

Und als ich an der neuen Schule war und mich schneller eingelebt hatte, als es jemals in meinem Leben in irgend einer Situation gegangen war, zeigte sich, dass sich diese Mühe auf jeden Fall gelohnt hatte. Ich konnte mein Glück überhaupt nicht fassen. Ich redete mit einigen Mädchen aus meiner Klasse, und auch, wenn sie eigentlich schon einen gefestigten Freundeskreis besaßen, lehnten sie mich nicht ab, sondern eine von ihnen bot mir schon in der zweiten Schulwoche an, zu ihrer Geburtstagsfeier zu kommen. Ich war noch nie bei einer Geburtstagsfeier eingeladen gewesen. In der nächsten Pause verzog ich mich auf die Toilette und weinte vor lauter Freude.
 

Und tatsächlich waren diese drei Mädchen bald meine besten Freundinnen. Sie waren alle so nett und zuvorkommend, und ich hatte wohl auch noch besonderes Glück – es ist nicht immer leicht, in eine Klasse zu kommen, in der sich alle schon gut kennen, und dann gute Freunde zu finden, denn meist haben sich schon längst Gruppen gebildet. Gemma – das Geburtstagskind – war ein großes, fröhliches Mädchen mit zierlichen Gesichtszügen, heller Haut und weichen, dunkelbraunen Locken, ein kleines Schneewittchen sozusagen; Meredith war honigblond, war vorlaut und sarkastisch und hatte immer unglaubliche, kuriose, aber auch äußerst kreative Ideen; und Samantha, von allen nur Sammy genannt, war ruhig und höflich, so dass sie mich im ersten Moment beinahe an mein voriges Selbst erinnerte, bis ich merkte, dass sie einfach nur eine ruhige Persönlichkeit war, die jeden Streit sofort schlichten konnte, und außerdem war sie sehr hübsch, mit hellbraunen Haaren, sanften Augen mit der Farbe von Milchkaffee und einer bemerkenswerten Stilsicherheit. Die drei blieben meine besten Freundinnen bis nach unserem Schulabschluss, und sie sind es noch immer. Sie kennen die ganze Geschichte von meinem früheren Dasein als graue Maus, Mauerblümchen und hässliches Entlein. Sammy, der ich am meisten vertraue – natürlich vertraue ich auch Gemma und Meredith, aber bei Sammy hat man einfach das Gefühl, alles zu erzählen und sich von der Seele reden zu können – habe ich als Einziger noch von einem weiteren Detail erzählt: sie weiß auch von Nathan. Sie versteht, was ich damals durchgemacht habe, in meiner ständigen Angst, etwas falsches zu sagen oder zu tun, obwohl ich ja sowieso kaum etwas sagte oder tat, und in der ausweglosen Situation, die sich dadurch ergab. Sammy war nie so schüchtern wie ich, aber trotzdem war sie immer sehr ruhig, was die anderen oft irritiert hat, denn die meisten reden ja unheimlich gerne, am liebsten über sich selbst. Ich bin nicht sicher, ob sie vielleicht selbst schon einmal unglücklich verliebt war. Sammy tendiert mehr dazu, zuzuhören – was sie sehr gut macht, man fühlt sich nachher grundsätzlich besser – aber wenn es um sie selbst geht, erzählt sie selten etwas, lässt es sich aus der Nase ziehen und weicht manchmal sogar aus. Ich habe sie noch nie auf das Thema angesprochen, aber höchstwahrscheinlich wäre es, falls ich Recht habe, genau so ein Ausweich-Thema.
 

*
 

Nachdem ich Nathan geschrieben habe, habe ich sofort das Bedürfnis, Sammys Zuhör-Talent in Anspruch zu nehmen. Es ist erst acht Uhr abends, also kann ich sie getrost noch anrufen, und ich bin sehr gespannt, wie sie reagiert. Ich weiß nicht, ob ich beraten oder beruhigt werden muss. Jetzt, wo ich die Nachricht schon versendet habe, bin ich nicht mehr so angespannt. Nur regt sich irgendwo in mir ein leises Glücksgefühl, so dass ich nicht weiß, ob ich befürchten soll, dass ich noch immer etwas für ihn empfinde. Vielleicht ist dieser Verdacht, denn mehr ist es im Moment nicht, noch unbegründet, denn man sich einmal richtig in jemanden verliebt hat, hat es auch lange danach noch diese Nachwirkungen, und das Kribbeln, falls man mit dieser Person wieder einmal redet, geht niemals ganz weg. Zumindest meiner Erfahrung nach nicht. Aber falls er mir nun weiter schreibt und ich mich wieder verliebe, diesmal vielleicht in seine Worte anstatt in sein Auftreten... nun, was ist dann eigentlich? Wäre es denn überhaupt so schlimm wie damals? Ich habe mittlerweile den Mut, mich Leuten zu „stellen“ und sogar den ersten Schritt zu machen, wie wäre so ein Neuanfang? So etwas nennt man, glaube ich, Aufarbeitung.
 

Ich schnappe mir den Telefonhörer und wähle Sammys Nummer. Ich bin leicht aufgeregt, aber eher wegen der Vorfreude, ihr davon zu erzählen. Sammy teilt nämlich freudige Dinge so mit dir, dass sie sich zu verdoppeln scheinen, und wenn du traurig bist, schafft sie es, dir mit wenigen Worten einen Großteil der Last abzunehmen. Auch Sammy studiert Psychologie, was bei ihr tatsächlich eine großartige Wahl ist. Sie muss unbedingt Therapeutin werden.
 

„Samantha Devon?“, meldet sie sich. Die Stimme ist wie immer ruhig, ausgeglichen freundlich und ermuntert sofort, ein Gespräch mit ihr zu beginnen.
 

„Ich bin’s, Olivia.“, antworte ich.
 

„Liv! Ist etwas passiert oder willst du nur plaudern?“, will Sammy wissen. „Du klingst fröhlich.“
 

Niemand außer ihr kann drei neutralen Wörtern eine Stimmung entnehmen. Dabei bin ich mir selbst gar nicht so bewusst, wie gut ich drauf bin. Aber jetzt wo sie es sagt, die Nachricht muss tatsächlich meine Stimmung gehoben haben.
 

„Du wirst es nicht glauben können.“, sage ich, obwohl Sammy immer alles glaubt, von dem sie nicht erkennt, dass es eine Lüge ist. Das hat bei ihr übrigens nichts mit Naivität zu tun. „Ich habe eine Nachricht beim StudiVZ bekommen. Von Nat.“
 

„Nat?“, wiederholt sie. Kurze Stille. „Du meinst doch nicht etwa... nein! Nathan? Ehrlich?“ Und schon klingt sie überglücklich, als hätte sie selbst eben eine wunderbare Nachricht erhalten. Ich sage es doch.
 

„Nathan.“ Ich nehme mir einen Moment, um andächtig zu lächeln, auch wenn Sammy es nicht sehen kann. „Ich weiß nicht so wirklich, was ich denken soll. Er war aber sehr nett. Er hat mich noch gekannt. Klar, sonst hätte er mir ja nicht geschrieben.“
 

„Siehst du. Ich hab es dir doch immer gesagt.“, meint Sammy, ihrer Stimme nach zu urteilen strahlt sie. So oft hat sie mir es aber gar nicht gesagt, sonst hätte ich auf jeden Fall angefangen, es zu glauben.
 

„Ja.“, sage ich trotzdem. „Er war irgendwie genauso, wie ich ihn von damals kenne, und dann irgendwie auch wieder nicht. Ich weiß nicht, woran es liegt.“
 

„Lies mir die Nachricht vor.“, bittet sie. Ich komme dem sofort nach, setze mich an den Computer und öffne das, was Nathan mir geschrieben hat. Als ich geendet habe, fährt Sammy fort: „Hmm. Er ist wirklich sehr freundlich. Er scheint lieb zu sein. Aber er scheint sich irgendwie nicht so wirklich zu trauen, er entschuldigt sich ja die halbe Zeit... meintest du nicht, er sei beliebt gewesen? Warum ist er dann so zaghaft?“
 

Ich halte einen Moment inne, überfliege alles noch einmal. Sie hat Recht. Ist es das, was mich so wundert? Dass sein Selbstbewusstsein auf einmal gar nicht mehr ausgeprägt zu sein scheint? Früher hatte er es doch, soweit ich mich erinnere. Aber vielleicht erkennt man Eigenschaften, die man selbst nicht besitzt, bei anderen nicht so gut.
 

„Du hast Recht“, sage ich, direkt ein wenig erstaunt, zu Sammy. „Er war früher wirklich einmal selbstbewusster. Er hatte ja auch keinen Grund dafür, es nicht zu sein. Glaub mir, ich war bei weitem nicht die einzige, die ihn toll fand. Er wurde von vielen bewundert.“
 

„Aber irgend etwas muss doch passiert sein, wenn er es jetzt nicht mehr ist.“, meint sie nachdenklich. Der Gedanke gefällt mir eigentlich nicht, ganz und gar nicht. „Vielleicht haben sich ja eure Rollen getauscht – jetzt hast du es geschafft, dich zu ändern, dafür ist er nun der Außenseiter.“
 

„Du sprichst aus, was ich befürchte.“, sage ich traurig. „Aber... Sammy, das gibt’s doch nicht. Davon abgesehen, dass es ganz und gar keine vertauschten Rollen sind, da ich jetzt zwar normal, aber trotzdem nicht das bin, was weitgehend unter der Bezeichnung ‚beliebt’ verstanden wird – nicht dass ich das überhaupt sein möchte – also, davon abgesehen, was soll passiert sein, um Nathan zu einem Außenseiter zu machen? Er hatte damals einen Freundeskreis, und er hätte ihn ohne weiteres noch weiter aufbauen können. Schließlich hatte er ja nie das Problem, dass er sich nicht an Leute herantraute. Entweder man kann mit Leuten reden oder nicht, und dann kann man es immerhin trotzdem noch lernen.“
 

„Ich glaub dir, dass du dir das nicht vorstellen kannst.“, sagt Sammy sanft. „Aber vielleicht wollte er die Beliebtheit nicht. Du sagst doch selbst, dass du dir das überhaupt nicht wünschen würdest. Und nach dem, was du immer von ihm erzählt hast, war er, auch wenn so viele ihm nachgerannt sind, ob aus Liebe oder auch nur Bewunderung, sehr bodenständig. Möglicherweise wollte er sich einfach von all dem abkapseln.“
 

„Aber das erklärt doch nicht, wie daraus mangelndes Selbstbewusstsein, sogar unterschwellige Selbstironie wird!“, sage ich bestimmt. „Wenn er sich aus eigenem Willen von den anderen abgesondert hat, dann braucht er sich doch gar nicht zu überlegen, wieso keiner mit ihm redet, wieso er nicht mehr richtig beachtet wird. Wenn er das selbst so wollte... und er könnte es doch jederzeit wieder rückgängig machen. Er bräuchte nur in ein Lokal spazieren, wo ihn vielleicht auch noch gar niemand kennt, und jemanden ansprechen. Er sieht gut aus, würde – du kennst ja unsere Gesellschaft – dadurch gleich einmal als Gesprächspartner akzeptiert werden, und dann würde er sich gut unterhalten. Er hat diese unaufdringliche Art von Humor und gibt in Gesprächen niemals das Gefühl, sich für etwas Besseres zu halten.“
 

„Liv, ich weiß, dass das traurig ist, aber das sind Eigenschaften, die nicht mehr so gerne gesehen werden. Was unter ‚cool’ fällt, sind Typen, die herumgrölen, sich nicht beherrschen können und vielleicht noch den Aufreißer spielen. Was in der Unterstufe damals gut auf andere wirkte, ist jetzt uninteressant.“
 

Wenn mir das jemand anderer sagen würde oder ich um einen Deut zickiger wäre, wäre ich jetzt eingeschnappt, würde vielleicht einen beleidigten Kommentar erwidern. Aber bei Sammy weiß ich, dass sie Recht hat.
 

„Ich wünsch ihm das nicht.“, murmle ich. „Ich weiß doch genau, wie es ist, sich einsam zu fühlen und Angst zu haben, dass man da nie wieder rauskommt. Niemand weiß es besser als ich.“
 

„Ich weiß.“, sagt Sammy mit weicher Stimme. „Aber so schlimm ist es sicherlich nicht. So verkrochen wie du damals kann er sich doch noch nicht haben. Er hat sich beim StudiVZ angemeldet, er hat nach Leuten gesucht, er hat dich angeschrieben.“
 

„Weil er weiß, dass ich nicht so den besonderen Leuten gehöre, bei denen es egal ist, wenn sie eigentlich keine Lust auf Kontaktwiederaufnahme haben.“
 

„Hör auf, das zu sagen, Liv.“, sagt Sammy fast scharf. Nicht so, dass ich schuldbewusst werde oder zusammenzucke, aber fest und bestimmt, so dass ich darüber nachdenke, dass meine Aussage vielleicht nicht wahr ist. Das wollte sie bezwecken. „Es gibt keine nicht besonderen Leute. Und er hat sicherlich nicht aus diesem Grund gerade dich angeschrieben. Möglicherweise hat er noch mehrere aus deiner alten Klasse gefunden, falls dich das tröstet. Aber Liv, es steht mit Sicherheit nicht so schlimm um ihn. Er hat bestimmt noch ein gesundes Selbstvertrauen, und das, gepaart mit etwas Selbstironie, ist besser als zu viel davon. Oder etwa nicht? Du magst doch selbst keine Leute, die sich unerschütterlich cool und überheblich benehmen.“
 

„Ja.“, stimme ich etwas kleinlaut zu. „Das stimmt schon. Ich mach mir nur Sorgen, dass er... dass er auch so abrutscht.“
 

„Für diesen Fall bist du ja jetzt wieder da.“, sagt Samantha. „Du kannst den Kontakt doch halten, wenn du willst. Mittlerweile hast du den Mut dazu.“
 

„Das hab ich.“ Ich schlucke. Ich hab mich schon ein bisschen beruhigt. Und ihr letzter Kommentar freut mich irgendwie. Es klingt fast, als meinte sie, dass eine neue Chance auf mich warten könnte. So viele Dinge, die ich damals nicht getan habe... und sie hat Recht. Ich kann dafür sorgen, dass wir den Kontakt beibehalten, wenn ich möchte, und das will ich auch versuchen. „Vielen Dank, Sam.“
 

„Das ist selbstverständlich, Olivia. Und mach diesmal das Richtige.“
 

Es ist keine Beleidigung, sondern ein Rat. „Das werd ich. Danke. Gute Nacht, Sammy, schlaf gut.“
 

„Und du auch, Liv. Gute Nacht, und träum was Schönes.“
 

Das sagt sie nicht nur so. Sie weiß wahrscheinlich genau, wovon ich träumen werde.

Das ist deine Chance

Aber ich habe schon mal Schöneres geträumt. In meinen Träumen kommen wilde Mischungen aus Vergangenheit und Gegenwart vor. Die frühere Olivia und die heutige, der alte Nathan und ein neuer, der aber im Traum gesichtslos ist, weil ich keine Ahnung habe, wie und wie sehr er sich verändert hat. Die dreizehnjährige Olivia mit ihrer Zahnspange und den viel zu dicken Brillengläsern beobachtet den heutigen Nathan, der allein inmitten von Menschen sitzt und ignoriert wird. Zwischendurch gibt es einen anderen Nathan, einen „coolen“, der laut redet, die Arme um die Schultern zweier Tussis geschlungen, eine Bierflasche in der anderen. Wie es mit Träumen nun einmal so ist, springt er von der einen Sequenz zur nächsten, Menschen verwandeln sich in andere, zwischendurch gibt es zwei Nats auf einmal oder zwei Olivias. Ich wälze mich im Schlaf unglücklich hin und her, und ich erwache ein paar Mal, nur um festzustellen, dass es um mich herum noch immer dunkel ist.
 

Zum Glück kann ich mich wenigstens ausschlafen. Irgendwann in den Morgenstunden muss ich doch in den Tiefschlaf gefallen sein, und als ich aufwache, fühle ich mich trotz der eher unschönen Nacht ausgeruht.
 

Ich gehe in Ruhe duschen, mache mir ein leichtes Frühstück mit Kaffee und einem Honigbrot, und ich fühle mich irgendwie sehr glücklich. Es ist bereits elf Uhr, aber ich mache mir keine Gedanken. Als Studentin darf ich auch bis mittags schlafen.
 

Ich bin nicht hektisch oder ungeduldig, mache mir nicht einmal sinnlose Hoffnungen, dass schon eine Nachricht zurückgekommen sein könnte, immerhin habe ich schon früher gelernt, das Hoffen einzustellen, egal ob es sinnvoll wäre oder nicht. Darum bin ich sehr überrascht, als ich beim Checken meiner E-Mails eine Meldung erhalte, dass mir jemand beim StudiVZ eine Nachricht geschickt hätte, und dieser jemand heißt Nathan Grean.
 

Diesmal zögere ich nicht, mir die Nachricht anzusehen. Denn jetzt weiß ich wenigstens ungefähr, was mich erwartet: Nathan, wie er früher auch war, nur vielleicht in etwas zögerlicher Ausführung. Aber nichts, wovor ich Angst zu haben brauche.
 

Als ich hinklicke, sehe ich, dass neben der Nachricht ein kleines Foto zu sehen ist. Das muss er hineingestellt haben. Es ist kein besonders gutes Foto, aber zumindest ist darauf etwas zu erkennen. Nat hat noch immer die selben Gesichtszüge. Die durchdringenden Augen, die leicht zusammengezogenen Brauen, ein ernster, aber nicht unfreundlicher Gesichtsausdruck. Die Wangenknochen sind etwas ausgeprägter als früher, die Frisur ein bisschen anders, wuscheliger und weniger brav. Er sieht aus wie ein unordentlicher, aber auch unbekümmerter Student. So, dass ich mir, bevor ich lese, fast nicht mehr vorstellen kann, dass Sammy mit dem dahingeschmolzenen Selbstbewusstsein Recht hat. Aber schließlich habe ich es doch selbst herausgelesen.
 

*
 

Hallo Liv!
 

Deine Nachricht hat mich mehrfach überrascht. Erst einmal die schnelle Antwort, und außerdem die Art, wie du schreibst. Ich denke, auch ohne mit dir sehr oft gesprochen zu haben, kann ich mich trauen zu sagen, dass aus dir ein anderer Mensch geworden ist... du bist nun sicher nicht mehr so schüchtern, nicht wahr? Ich weiß noch, wie du kurz, bevor du die Schule gewechselt hast, plötzlich mehr aus dir herausgegangen bist. Ich habe es leider versäumt, dir damals viel Glück zu wünschen, aber wie es scheint, hast du es auch ohne meine Glückwünsche geschafft.
 

Was meinst du mit dem anderen Kaliber? Ich scheine damals nun mal genau in das Motiv gepasst zu haben, das der Allgemeinheit gut gefällt, Talente und Interessen an den richtigen Stellen. Ich denke, was meinen Charakter angeht, war ich immer ein klein wenig eigen, nur dass es nicht bemerkt wurde. Gibt es ein anderes Kaliber? Sind manche Menschen besser als andere? Schwingt da noch ein Fünkchen der Unsicherheit von früher mit? Leg sie ab, Olivia. Ich kenne dich noch nicht, wie du jetzt bist, aber du bist bestimmt fantastisch, so wie du bist. Und warst es sicher auch früher. Das einzige Problem war, dass du niemanden nahe genug herangelassen hast, um das zu zeigen.
 

Um auf deine Fragen zurückzukommen: ja, auch ich habe gleich angefangen zu studieren – und ganz ehrlich, die Entscheidung fiel mir schwer. Es gibt plötzlich so eine riesige Auswahl an Themenbereichen, in die du tief eintauchen kannst. Und ich soll mir gerade einmal zwei davon aussuchen... ich habe mich letztendlich für Politikwissenschaften und Informatik entschieden. Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, dass ich diese Richtung eingeschlagen habe, das Interesse für Politik prägte sich eigentlich erst ein Weilchen später aus. Bei dir dagegen kann ich mir Psychologie gut vorstellen. Du hast die Leute – ja, unter anderen mich – immer so angesehen, als könntest du dir genau vorstellen, was sie denken.
 

Die Kontakte habe ich leider Großteils verloren, wobei man bei einigen das „leider“ getrost streichen könnte. Wie gesagt, niemand ist mehr wert als die anderen, aber wer glaubt, es zu sein, ist meistens unerträglich, und von diesen Menschen kannte ich eine ganze Menge. Jetzt habe ich keine Bewunderer (- ich hoffe, das klingt nicht eitel, aber ich glaube, das waren die damals, auch wenn ich es nicht nachvollziehen kann -) mehr um mich, sondern echte Freunde, und das ist mir um Einiges lieber.
 

Zuletzt noch, wie du gewünscht hast, habe ich mein Profil ein bisschen ausgefüllt und ein Foto reingestellt. Ich freu mich sehr, dass du mich noch kennst und geantwortet hast!
 

Einen schönen Samstagmorgen noch,
 

Nat
 

*
 

Seine Nachrichten fesseln mich. Die paar klaren, intelligenten Worte, tröstend, aufmunternd und sogar ein bisschen rührend. In jedem Absatz steckt ein Detail, das zeigt, dass er mich damals schon bemerkt hat, ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe; in jeder Zeile steckt das Gefühl, das ich von ihm kenne, nur mit einem neuen Hauch von Verletzlichkeit, der jetzt dazukommen ist, und in all dem liegt diese Ehrlichkeit, man merkt immer noch, dass er das, was er sagt, auch so meint. Sogar schriftlich.
 

Ich möchte mehr von diesen Nathan, der eigentlich noch der selbe ist, nur dass ich ihn früher nur beobachtet habe, wie in einem Museum. Und jetzt bin ich eher etwas wie die Archäologin, die die Schätze ausgräbt, die sie früher bewundert hat. Ich habe erst angefangen, aber ich weiß, dass ich damit reich werden kann. Nur dass ich dabei viel mehr fühle, als es diese Metapher beschreibt.
 

Ich bin schon jetzt dabei, mich wieder in ihn zu verlieben. Und das nur nach zwei Nachrichten. Ich glaube, nach einer längeren Zeit könnte es mich noch viel mehr erwischen als früher. Das ist doch eigentlich logisch. Man kann einen Schatz, den man selbst gefunden, ausgegraben und von allen Seiten betrachtet hat, doch viel mehr lieb gewinnen als ein Stück, nach dem man sich im Museum sehnsüchtig die Nase an der Scheibe plattgedrückt hat.
 

Darf ich es zulassen, mich wieder zu verlieben? Sammy klang gestern, als wollte sie mir vorschlagen, genau das zu versuchen. Die zweite Chance. Und wenn es auch diesmal nicht klappt? Vor allem, wenn ich es versuche und es trotzdem nicht funktioniert, wenn er mich abweist oder mich einfach nicht zurücklieben kann... jetzt, wo mit mir endlich alles in Ordnung ist, kann ich mir das eigentlich nicht leisten. Ich weiß nicht, ob ich mich davon wieder erholen könnte, auch, wenn die ganze Enttäuschung diesmal nur von einer Person abhängen würde und nicht von... nun, im Grunde allen.
 

Ich denke, ich muss noch einmal telefonieren, bevor ich jetzt irgendwie zurückschreibe.
 

Sammy hat mir schon geholfen, sie kann das wie niemand sonst. Aber ich glaube, es ist Zeit, auch den anderen gegenüber einmal neues Vertrauen zu zeigen und ihnen das zu erzählen, was mich in meiner Mauerblümchen-Zeit tatsächlich am meisten beschäftigt hat. Diesmal rufe ich bei Gemma an.
 

„Sparks.“, meldet sich eine tiefe, weiche Frauenstimme. Das ist Gemmas Mutter Ellen, die mit Mitte vierzig beinahe noch die selben ebenmäßigen Gesichtszüge hat wie ihre Tochter. Von ihr hat Gemma die Porzellanhaut und die dunklen Haare, die so an Schneewittchen erinnern. Gemma wohnt als einzige von uns vieren noch zu Hause. Vielleicht mag man sich fragen, warum wir nicht in eine gemeinsame Wohnung gezogen sind, aber wir brauchen alle immer genügend Gelegenheit, uns zurückzuziehen. Bis auf die aufgeweckte Gemma eben, die sich zu Hause bei ihren Eltern und ihren beiden jüngeren Geschwistern sehr wohl fühlt.
 

„Hallo, Ellen, hier ist Olivia. Ist Gemma gerade da?“, frage ich.
 

„Ja. Einen Moment, ich geb sie dir.“
 

Kurzes Rascheln und Murmeln, dann wird der Hörer offensichtlich weitergereicht und Gemma selbst ist am Apparat. „Ja, hallo?“
 

„Ich bin’s.“, sage ich.
 

„Hallo Liv. Was gibt’s denn?“ Ich höre, wie eine Tür geschlossen wird, noch mehr Rascheln, wahrscheinlich bewegt Gemma sich durchs Zimmer. Wahrscheinlich legt sie sich nun auf ihr Bett, um zu telefonieren.
 

Ich atme kurz durch. „Ich... hm, weiß nicht... ich dachte, ich erzähl dir was von früher.“
 

„Von früher?“ In Gemmas Stimme liegt eine leichte Mischung aus gezügelter Neugierde und verhaltener Verwunderung.
 

„Bevor ich euch kannte.“, sage ich, und nun weiß sie, was gemeint ist.
 

„Die graue-Maus-Zeit.“ Ich kann mir gut vorstellen, wie Gemma darauf nickt, auf dem Gesicht eine leicht übertriebene, mitfühlende Verzweiflung.
 

„Ich hab... es gab da etwas Wichtiges, was ich euch nicht erzählt habe. Na ja, Sammy schon. Aber eigentlich wollte ich damit abschließen. Und jetzt... hmm, jetzt scheint es, als müsste ich es vielleicht gar nicht.“, erzähle ich langsam. Ich druckse ein bisschen viel herum, fällt mir auf.
 

„Ein Junge.“ Gemma scheint manchmal unbekümmert zu sein und lange zu brauchen, um etwas mitzubekommen. Aber dann überrascht sie dich plötzlich wieder damit, dass sie auf einmal doch deine Gedanken lesen kann. Und jetzt hat sie das wieder einmal geschafft.
 

„Ja. Ein Junge, genau richtig.“, sage ich seufzend. Aber warum seufze ich? Es sollte doch keinen Grund zum Seufzen geben. „Du kennst mich... er war kein im Grunde blöder Typ, der nur gut aussah und sich aufspielte. Er war wirklich... er hatte Charakter.“
 

„Und ich nehme an, das hat er immer noch, wenn du mich nun anrufst, um mir das zu erzählen.“, schlussfolgert Gemma ganz korrekt.
 

„Genau. Wenn nicht noch mehr als damals. Er... weißt du, er hat mich beim StudiVZ angeschrieben. Aus heiterem Himmel. Er kennt mich tatsächlich noch von früher, und er konnte sich an überraschend viele Details erinnern... sogar daran, wie ich mich in den letzten Schulwochen zu verändern begonnen habe.“ Das war eines der Dinge in seiner Nachricht, die mich am meisten berührt hatten. Er hatte meine Bemühungen mitbekommen, und er hatte sich für mich gefreut, damals wie heute.
 

„Das klingt schön, Liv.“ Jetzt ist Gemmas Stimme ruhig, sanft und träumerisch. Wenn man sich ihr anvertraut, spiegelt sie immer deine Gefühle wieder, nur wie durch ein starkes Vergrößerungsglas betrachtet. „Aber du hast trotzdem Angst?“
 

„Ja. Ich hab Angst, dass ich mich wieder verliebe, und dann wird es wieder nichts. Oder noch schlimmer, ich bekomme diesmal die Bestätigung, dass es nie etwas werden wird. Vielleicht werde ich dann wieder wie früher, rede mit niemandem mehr, und...“
 

„Hey, Liv. Das lassen wir dich doch gar nicht.“ Der Beschützerton, die in Worte gefasste Freundschaft. „So etwas kann dir gar nicht mehr passieren. Du hast dich jetzt verändert, und du weißt, dass das gut so war, und du wirst niemals wieder in das alte Verhalten zurückfallen. Wenn es nicht klappen sollte, und ich bin sicher, das tut es, dann hast du ja uns.“
 

Ich muss lächeln. Gemma ist ein Schatz. „Ja, Gemma, das stimmt. Ich hab euch.“ Es ist nicht wie früher, als ich niemandem etwas erzählen konnte, wenn es mir schlecht ging. Und zu dieser Zeit ging es mir fast laufend schlecht, weil ich einfach keine positiven Erlebnisse im Alltag hatte, um das wieder aufzuwiegen. Jetzt habe ich drei beste Freundinnen, die ich im Falle von Liebeskummer jederzeit anrufen kann, die sofort – Klischee lässt grüßen – mit Taschentüchern und Schokolade vorbeikommen würden, wenn irgend etwas schief läuft. Es kann wirklich nie wieder so werden wie früher. Diese Zeit habe ich ein für alle mal abgeschlossen, es kann nur mehr laufend besser werden. „Vielen Dank, Gemma.“
 

„Mmh, gern, Liv.“ Gemma weiß nie, wie sie auf Dankbarkeit reagieren soll.
 

„Ich hab dich lieb. Wünsch dir einen schönen Samstag.“, verabschiede ich mich.
 

„Hab dich auch lieb. Schönen Tag, baba.“
 

Nachdem ich aufgelegt habe, setze ich mich wieder an den Computer.
 

Nathan hat doch geschrieben, dass er sein Profil mittlerweile ausgefüllt hat. Vorher war ich zu aufgeregt über die Nachricht selbst, um mir darüber Gedanken zu machen, aber jetzt habe ich Lust, noch ein wenig über ihn zu erfahren. Sogar sehr große Lust. Ich will genauer wissen, was er jetzt macht, was er jetzt für Freunde hat, was in seinem Leben inzwischen geschehen wird. Das Profil wird mir diese Informationen aber wahrscheinlich nicht geben, leider. Das muss ich in Privaten Nachrichten herausbekommen.
 

Ich sehe das Foto, dass ich vorher neben seiner Nachricht gesehen habe, nur ein bisschen vergrößert. Noch einmal mustere ich ihn genau. Er hat sich auf diesem Foto nicht wie die meisten in Pose geworfen, schneidet irgend eine Grimasse oder schwenkt eine Alkoholflasche oder eine Zigarette herum, sondern sitzt ganz natürlich da, den Kopf auf eine Faust gestützt. Und auf den Lippen hat er ein kaum merkliches Lächeln.
 

Aber als ich weiterlese, bekomme ich nicht besonders viel Neues mit. Wie er geschrieben hat, steht auch hier, dass er Politikwissenschaften und Informatik studiert, außerdem hat er ein paar Felder wie seine Interessen, Lieblingsbücher und die Musik, die er hört, ausgefüllt. Er fährt noch immer gerne Rad beziehungsweise Mountainbike, spielt gern Volleyball und macht noch einige andere Sportarten, von denen ein paar neu sind und einige schon früher zu seinen Hobbies gehörten, scheint aber mittlerweile auch ziemlich gerne zu lesen, was bei männlichen Wesen ja zumindest meiner Erfahrung nach selten ist, und dafür sieht er entweder nicht viel fern oder hat zumindest vergessen, das dazuzuschreiben. Musik hat er auch noch dazugeschrieben, wobei nicht ersichtlich ist, ob er sie nur gerne hört oder auch selbst musiziert. Unter den Lieblingsbüchern und den Lieblingsfilmen hat er ein paar hingeschrieben, die ich leider nicht kenne, die aber hauptsächlich nach Krimis oder, was die Filme angeht, Komödien klingen. Seinen Musikgeschmack hat er dagegen nicht besonders nah ausgeführt, er schreibt: „bunt gemischt, großteils Rock, Jazz und etwas Pop, aber auch andere Richtungen, sofern der Song ins Ohr geht...
 

Über sich selbst schreibt er auch ein paar Sätze, und mir gefällt seine Selbsteinschätzung. Ziemlich genau, wie ich ihn beschrieben hätte. „Ich bin kein Draufgänger oder Partymensch, sondern eher ruhig und gern mal für mich. Ich würd sagen, ich interessier mich einigermaßen für meine Mitmenschen, gebe mein bestes, möglichst zuvorkommend zu sein und respektiere eigentlich jeden, sofern er mir ein bisschen Grund dazu gibt... bin auch relativ offen, sage im Prinzip schon, was ich denke und bin auch einigermaßen durchschaubar.“ Nur scheint er sich selbst nicht so sicher zu sein, ob er sich richtig beschreibt. Ich kann ihm ja in der nächsten Nachricht ein paar bestätigende Worte zukommen lassen.
 

Hm, ach ja, die nächste Nachricht. Ich möchte ihm eigentlich gleich wieder zurückschreiben. Aber erst sehe ich noch kurz nach, ob er bereits Pinnwandeinträge oder Freunde hat. Geschrieben hat ihm noch niemand, unter den Freunden zwei Typen, die ich nicht kenne. Aus irgendeinem (na ja, aus gutem) Grund bin ich froh, dass noch keine Mädchen darunter sind. Um die erste zu sein, schicke ich ihm eine Freundschafts-Einladung. Das zeugt übrigens nicht wirklich davon, dass ich viel mutiger geworden bin – im StudiVZ fügt man doch jeden, den man nur irgendwie erkennt, zu seinen Freunden hinzu. Währenddessen fällt mir ein, dass er das Feld über seinen Beziehungsstatus nicht ausgefüllt hat. Und gleichzeitig kommt mir diese Idee: was, wenn er eine Freundin hat? Egal, ob er jetzt nicht mehr so beliebt ist wie früher, das kann trotzdem sehr leicht sein. Er sieht immer noch gut aus und ist offensichtlich intelligent. Da sind schon einmal die meistgenannten Kriterien abgedeckt. Ach verdammt. Danach kann ich auch nicht unterschwellig fragen. Ich muss aber wenigstens im Hintergrund behalten, dass es sein könnte, denn wenn ich es plötzlich durch Zufall erfahre, wird es gleich noch einmal so weh tun, wenn ich mir schon Hoffnungen gemacht habe.
 

Mache ich mir Hoffnungen? Nein, keine Ahnung. Das kann ich noch nicht sagen, nur weil er mir eine – nun, mittlerweile schon zwei Nachrichten geschickt hat. Immer dran denken: er ist zu jedem nett, das war er immer.
 

Ich seufze leicht. Vielleicht denke ich einfach dazu nach, sollte mal sehen, wo es hinführt. Ich mache mich daran, seine Nachricht zu beantworten.
 

*
 

Hallo Nat,
 

Danke für deine Antwort. Auch ich bin überrascht, wie viel du noch von mir weißt... ich dachte immer, dass mich niemand bemerkt. Vor allem, dass du meine Veränderung in den letzten Schulwochen bemerkt hast, erstaunt mich. Du hast Recht, das war die Zeit, in der ich mich dann aufgerafft habe. Und mittlerweile habe ich es ganz weit gebracht, ich traue mich jetzt auch, Leute anzusprechen, die ich noch nicht kenne und hab ein paar Freunde. Ich hätte schon früher so anfangen sollen, für sich allein zu leben ist auf Dauer einfach nicht schön... man fühlt sich so einsam.
 

Ich fühle mich sehr geschmeichelt, dass du meinst, dass ich so, wie ich bin, in Ordnung bin. Mit dem anderen Kaliber meinte ich aber eigentlich eher das, was – wie du sagst – der Allgemeinheit gefällt. Du warst in der Gesellschaft anders gestellt, was ich auch nicht unbedingt gutheiße, aber damit möchte ich dich als Person nicht irgendwie herabsetzen. Grundsätzlich bin ich ja mit dir einer Meinung und finde, man sollte jedem eine Chance geben und Respekt vor ihm haben. Aber jeder kann aus seinem Charakter und einzelnen Eigenschaften etwas machen, sie verbessern und so sich selbst und vielleicht auch die Mitmenschen im Grunde glücklicher machen, wie ich es versucht habe.
 

Dass du dich jetzt für Politik interessierst, wundert mich auch keineswegs. Das ist schließlich ein Bereich, für den sich zumindest teilweise diejenigen interessieren, die etwas verbessern wollen oder die etwas daran liegt, was im Land oder in der Welt passiert. (Hmm, diese Eigenschaften habe ich im Grunde auch, aber ich kenne mich leider nicht besonders gut aus.) Und wie so jemand bist du mir auf jeden Fall schon früher vorgekommen. Und Informatik, heißt das, dass du nun viel mit Computern machst oder zu tun hast?
 

Du hast ganz richtig mitbekommen, dass ich früher sehr viel beobachtet habe. Es war auch ganz leicht, da wenige bis gar niemand mit mir gesprochen haben und ich so getrost am Rande stehen und Gespräche mitverfolgen konnte. Ich glaube schon, dass ich mir da von einigen ein ganz gutes Bild machen konnte.
 

Zuletzt noch ein kleiner Kommentar zum Profil, das ist schön, dass du jetzt das meiste ausgefüllt hast. Was deine Selbsteinschätzung angeht, wirkst du so unsicher. Falls dir das hilft, all das, was du da geschrieben hast, würde ich, soweit ich dich noch kenne, auf jeden Fall bestätigen. Hat es denn einen Grund, dass du – wenn ich das richtig mitbekommen habe – nicht mehr so... na ja, selbstbewusst bist wie früher einmal? Ich glaube nicht, dass es daran liegt, dass du keine „Bewunderer“ mehr hast, oder? Denn ich hoffe, deine Freunde geben dir auch das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, wie es ja ihre Aufgabe ist. :)
 

Viele liebe Grüße,
 

Liv
 

*
 

Ich überlege eine längere Weile, ob ich den letzten Absatz stehen lassen kann und soll. Bin ich zu direkt? Stört ihn eine derartige Frage? Oder wird das einfach nur zu einem tiefgründigeren Gespräch führen? Wir sind damit ja schon einigermaßen weit gekommen, er hat ja immerhin schon damit angefangen, davon zu sprechen, dass Menschen in seinen Augen immer gleich viel wert sind. Ich hätte ihn ja auch noch nach seiner politischen Richtung gefragt, aber wahrscheinlich hätte das nur dazu geführt, dass ich dem nur ein „aha“ zuzufügen hätte. Ich kenne mich da einfach nicht genügend aus, um mich zu trauen, zu sagen, was ich gut finde und was nicht. Das sollte ich bei Gelegenheit auch noch einmal nachholen.
 

Auf jeden Fall finde ich es okay so. Ich schicke die Nachricht ab. Und ich kann mich sicher auf eine baldige Antwort freuen, wenn er so schnell zurückschreibt wie bisher.

Aus Raupen werden Schmetterlinge

Es schüchterte mich anfangs trotz der vielen positiven Veränderungen, die ich an mir selbst vorgenommen hatte, sehr ein, auf eine neue Schule zu kommen. Diese Situation hatte ich schon bei der Einschulung in Grundschule und Gymnasium nicht gemocht, und jetzt, wo ich mich nicht mit einem unbedeutenden oder gar schlechtem Ersteindruck zufrieden geben wollte, war es sogar noch schwieriger als früher. Nur, dass ich mittlerweile schon ein bisschen mehr Selbstsicherheit besaß. Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mein neues Ich im Bezug auf meine Mitmenschen zu testen, ob ich tatsächlich anders reagieren würde, umgänglicher. Aber ich hatte dafür auch eine optimistischere Einstellung. Ich dachte nicht von vornherein, dass ich sowieso keine Freunde finden würde, sondern dass es diesmal die Möglichkeit dazu durchaus gab, weil ich es wollte und versuchen würde.
 

Der große Nachteil war, dass ich zum ersten Mal in eine bereits gefestigte Klassengemeinschaft „eindrang“. Die anderen hatten nicht das Problem, sich erst einmal zurechtfinden zu müssen. Und wenn sie alle kein Interesse gezeigt und mich links liegen gelassen hätten, diesmal eben nicht aus dem Grund, dass ich zu langweilig und verschlossen war, sondern einfach, weil ich nun einmal die einzige neue Schülerin war, dann wäre wieder das Selbe passiert. Alles, was ich mir über die Ferien aufgebaut hatte, wäre wieder in sich zusammengefallen, die neue Kleidung wäre unten im Schrank verschwunden und ich hätte wieder die Brille aufgesetzt, die zwar hässlich, aber ein bisschen praktischer war als die Kontaktlinsen. Und dann wäre es genauso weitergegangen wie auf der alten Schule und dann hätte ich mich mit Sicherheit nie wieder aufgerappelt, mit dem Wissen, dass mein einziger Versuch gründlich danebengegangen war. Na gut, vielleicht wäre es auch nicht ganz so drastisch gelaufen. Ich hätte vielleicht zugelassen, in ein Gespräch verwickelt zu werden, wie ich es noch in der letzten Schulwoche einigermaßen versucht hatte.
 

Aber ich hatte Glück. Natürlich war es Gemma, die mich als erste ansprach. Sie war schon immer neugierig, interessierte sich sowohl für Veränderungen und neue Dinge als auch für neue Dinge. Ich glaube, sie würde jedem eine Chance geben. Sie hat nicht die Fähigkeit, jeden zu mögen, sie kommt durchaus nicht mit allen aus und denjenigen gegenüber, mit denen sie nicht so gut zurechtkommt, wird sie manchmal schon ein bisschen schnippisch oder ungeduldig. Aber sie versucht es.
 

Sie kam schon am ersten Schultag zu mir, wie gesagt, weil sie neugierig war. „Ich heiße Gemma.“, sagt sie freundlich. „Sparks.“, fügte sie ein wenig verwirrend nachträglich hinzu. Ich war ein wenig verblüfft darüber, dass ich schon jetzt bemerkt wurde. Ich hatte an diesem Tag einen leuchtend blauen, extra grob gestrickten Pulli über einem weißen Shirt an, dazu Jeans und außerdem die schwarze Kette. Ich weiß es noch genau. Nach langem Überlegen habe ich mich getraut, die Kette endlich einmal zu tragen. Die Haare dagegen hatte ich zur Abwechslung einmal offen, und man konnte meinen neuen Haarschnitt gut erkennen. Nur die Stirnfransen waren noch ein bisschen störend, auch wenn sie nicht mehr so brav und gerade waren.
 

„Ich... ich heiße Olivia Candace.“, antwortete ich ihr und ärgerte mich daraufhin, dass ich schon wieder so unsicher herüberkam. Genau das hatte ich ja in erster Linie ändern wollen. Ich räusperte mich ein bisschen und beschloss, mehr Information zu geben, als verlangt worden war (wobei sie ja theoretisch noch nicht einmal nach meinem Namen gefragt hatte), etwas, was mir völlig neu war, aber zu gut funktionierender Kommunikation einfach gehört. „Ich hab die Schule gewechselt, weil wir umgezogen sind. Ich hätte theoretisch schon an der alten Schule bleiben können, aber dann hätte ich weiter fahren müssen.“
 

Gemma ließ sich auf einem Stuhl neben mir nieder und stützte den Kopf auf einer Hand auf. Sie sah ein bisschen mitleidig aus. Damals kannte ich sie noch nicht und wusste noch nicht, dass sie sich zu jeder Mitteilung eine ihrer Meinung nach passende Emotion aussuchte. Es wunderte mich ein wenig. „Wo habt ihr denn früher gewohnt? War es schön da?“
 

Ich nannte ihr die Stadt. „Wir hatten ein hübsches Haus, aber es war ein bisschen zu groß. Wir sind nur eine dreiköpfige Familie, und wir hatten mitsamt Gästezimmer trotzdem noch ein, zwei leerstehende Zimmer. Das machte einfach nicht so viel Sinn, deshalb haben meine Eltern entschieden, umzuziehen. Das ist nicht so schlimm“, setzte ich schnell hinzu, als ich ihren immer noch Mitgefühl andeutenden Gesichtsausdruck bemerkte. „Sie haben mich ja gefragt, ob ich das in Ordnung finde. Und ich dachte mir, die neue Schule brächte bestimmt... neue Chancen, weißt du.“
 

„Da hast du auch wieder Recht.“, nickte Gemma und setzte ein breites Lächeln auf. „Aber vermisst du denn nicht deine Freunde?“
 

Ich zögerte. „Ich... ach... die wohnen ja nicht so weit weg.“ Nachdem ich einen Moment lang überlegt hatte, fügte ich noch hinzu: „Ich hatte auch nicht so besonders viele Freunde dort. Ich war nicht so...“ Beliebt, wollte ich sagen. Aber ich war nicht sicher, ob es gut war, schon mit solchen Berichten anzufangen. „... nicht so glücklich da. Ich hoffe einmal, dass es hier besser wird.“
 

„Bestimmt.“, sagte Gemma zuversichtlich. „In unserer Klasse sind alle ziemlich nett. Du musst auch meine beiden besten Freundinnen kennen lernen, sie heißen Samantha und Meredith.“ Sie drehte sich halb um und richtete den Blick auf zwei Mädchen, die sich unterhielten, die Blonde davon saß auf dem Tisch und die mit den hellbraunen Haaren, an der ich gleich bemerkte, dass sie beim Reden nur wenig gestikulierte, stand daneben. „Ich denke, hier werden alle freundlich zu dir sein. Aber ich kann mir vorstellen, dass es vielleicht nicht so leicht ist, zu einer geschlossenen Gemeinschaft dazu zu kommen.“ Sie unterstreicht das mit einem übertrieben traurigen Gesichtsausdruck. „Besonders wegen den Freundschaften. Aber das wirst du schon schaffen. Wenn du was brauchst, meld dich einfach bei mir, ja?“
 

So ist Gemma. Und das war ihr anfängliches, indirektes Freundschaftsangebot, das eine große Stütze für mich darstellte. Ich traute mich dadurch nämlich auch, Samantha und Meredith anzusprechen.
 

Auch das erste Gespräch mit Samantha war leicht. Sie ist jemand, zu dem man sofort Vertrauen gewinnt, weil sie mit dieser ruhigen, verständnisvollen Stimme spricht und unverfängliche Fragen stellt. Sie wirkt nie neugierig oder drängend, eher, als könnte man jederzeit sagen, dass man ihre Frage lieber nicht beantworten wolle.
 

„Warum hattest du denn so wenige Freunde an der alten Schule, wenn ich das fragen darf?“, fragte sie in einem unserer ersten Gespräche. Bei jemand anderem hätte es vielleicht aufdringlich gewirkt, aber sie sah mir dabei in die Augen und verschaffte den Eindruck, als wollte sie sich nur um mich kümmern. Angesichts dessen musste ich ein bisschen lächeln.
 

„Ich hab mich nicht so wirklich getraut, mit den anderen zu reden. Auch wenn sie mich angesprochen haben. Und dadurch habe ich mich wohl ein bisschen verkrochen. Irgendwann war es dann zu spät, noch Freundschaften zu schließen.“, sagte ich bedauernd.
 

„Aber dazu ist es nie zu spät.“, sagte Sammy. „Es ist vielleicht leichter, wenn man eine Gelegenheit hat, neu anzufangen.“
 

„Genau, deshalb habe ich auch gleich zugestimmt, als meine Eltern umziehen wollten. Schon in den letzten Wochen an der alten Schule habe ich sozusagen die Vorkehrungen getroffen, um mich zu ändern. Ich habe mich ein bisschen mehr getraut, auch einmal den Mund aufzumachen. Ich habe zum Glück rechtzeitig angefangen, sonst wäre ich hier wieder so unbeholfen wie zuvor.“ Man muss bedenken, dass ich all das noch niemals ausgesprochen hatte. Es war das erste Mal, dass ich jemandem anvertraute, welche Probleme ich gehabt hatte und immer noch hatte. Und so, wie Sammy es aufnahm, wusste ich auch, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, gerade ihr davon zu erzählen.
 

Um mit Meredith ins Gespräch zu kommen, brauchte ich ein bisschen länger als bei den anderen beiden. Ich redete nur ein bisschen mit ihr, wenn ich mich auch mit Gemma und Sammy unterhielt, aber mit ihr allein wechselte ich in den ersten Tagen nur wenige Worte. Sie wirkte auf den ersten Blick ein bisschen abweisend, und sie hatte manchmal die Wirkung, als wollte sie jemanden verhöhnen, da ihre Augenbrauen immer ein kleines bisschen erhoben waren, was ihr einen spöttischen Gesichtsausdruck verlieh. Außerdem lästerte sie öfters ein wenig. Nicht auf eine gemeine Weise, durchaus niveauvoll und sie sagte dabei auch die Wahrheit, aber es schreckte mich im ersten Moment ein bisschen ab. Meine alten Ängste brachen sofort durch, und ich fürchtete, von ihr ausgelacht zu werden, wenn ich etwas Falsches sagte. Eben genau der Grund, aus dem ich zuvor so schüchtern geworden war. Bald bemerkte ich aber, dass sie nicht hinter dem Rücken von anderen über sie herzog, nicht einmal im Kreise der Freundinnen, sondern sofort sagte, was ihr nicht passte oder eben einfach nur negativ auffiel. „Hey, tut mir Leid, aber das T-Shirt solltest du wegwerfen.“, sagte sie zum Beispiel einmal zu einem Jungen aus der Klasse. Oder ein andermal zu einem Mädchen, das immer ein etwas übertriebenes Styling an den Tag legte: „Willst du nicht einmal ein bisschen weniger Schminke nehmen? Du siehst ein bisschen aus, als hättest du dich geprügelt.“ Was man aber niemals von ihr hörte, waren persönliche Angriffe oder Kommentare zu Dingen, für die man nichts konnte, ob es nun um Pickel ging oder eine Rechtschreibschwäche. Sie verpackte lediglich ihre Kritik in leicht sarkastische Bemerkungen, die auf lange Sicht nicht beleidigend, sondern hilfreich waren. Auch wenn das überschminkte Mädchen Meredith im ersten Moment böse ansah, hatte sie am nächsten Tag deutlich weniger Lidschatten aufgelegt, und der Junge mit dem hässlichen T-Shirt (wobei Meredith übrigens tatsächlich recht hatte) trug es zwar, wohl aus Trotz, am nächsten Tag noch einmal, aber danach habe ich es nie wieder an ihm gesehen.
 

Bevor ich das herausbekam, versuchte ich, in Merediths Gegenwart nichts falsch zu machen. Ich zog vor Scheu beinah den Kopf ein, und als ich das bemerkte, versuchte ich wieder, meine Haltung zu straffen, damit sie nichts sagte. Ich dachte über meine Worte nach und schielte immer wieder zu ihr, um in ihrem Gesicht nach Bestätigung zu suchen. Das auf ihrem Gesicht ständig dieser zynische Zug lag, half mir dabei überhaupt nicht. Und selbst, als ich bemerkte, dass sie Kritik immer direkt ausdrückte, wurde ich noch nicht erheblich lockerer. Wenn sie dann den Mund aufmachte, zuckte ich jedes Mal zusammen und glaubte, jetzt wäre der Zeitpunkt gekommen, in dem sie etwas an mir auszusetzen hatte.
 

Es war durchaus nicht schlimm, von Meredith auf etwas hingewiesen zu werden. Sie machte auch vor ihren eigenen Freundinnen nicht Halt, und im Grunde war es ja positiv, von jemandem zu erfahren, welche Angewohnheiten man besser abstellen sollte. „Gemma, übertreib es nicht, die Welt geht nicht unter.“, meinte sie zum Beispiel einmal, als Gemma auf eine Erzählung von Sammy ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter machte. Vielleicht fühlte man sich im ersten Moment ein bisschen bloßgestellt, aber Meredith verpackte es ja – besonders bei ihrem engen Freundeskreis – nicht auf gemeine Weise, so dass alle Umstehenden das „Opfer“ auslachten.
 

Meredith sagte lange nichts zu mir, obwohl ich ihr mit Sicherheit genug Grund gegeben hätte. Ich verhielt mich wie ein Kaninchen, mied jeden Blickkontakt und sogar Meredith selbst. Doch gegen Ende der ersten Schulwoche kam sie einmal alleine auf mich zu und sagte: „Olivia, irgendwie wirkst du, als würdest du dich vor mir fürchten. Seh ich aus, als würde ich beißen?“
 

Wahrscheinlich zitterte ich auf diese Frage hin, und ich brachte nur kleinlaut heraus: „Das nicht, aber... ich... du sagst immer...“ Ich wollte nicht sagen, dass sie gemein war, und sonst fiel mir nichts ein. Darum brach ich den Satz an dieser Stelle ab.
 

Meredith neigte den Kopf ein wenig und sah mir so über ihre schwarze, elegante Brille mit den niedrigen, eckigen Gläsern hinweg in die Augen. „Du meinst, ich sage direkt, was ich kritisieren möchte.“
 

Ich nickte ein bisschen verzweifelt.
 

„Dir ist wahrscheinlich aufgefallen, dass ich zu dir noch nichts gesagt habe, weil ich nämlich ein bisschen das Gefühl habe, dass du dann in Tränen ausbrechen würdest.“, vermutete sie.
 

Das war das erste mal, dass sie so etwas direkt auf mich richtete, aber seltsamerweise ergriff ich nicht völlig am Boden zerstört die Flucht, sondern verlor sogar ein wenig die Angst. Nein, es war wirklich nicht so schlimm, kritisiert zu werden, und das realisierte ich wohl mit diesem Kommentar. Und dann überlegte ich: wovor hatte ich so große Angst? Sie würde nicht mehr machen, als etwas zu sagen. Ich könnte, wenn ich wollte, einfach darüber lachen, oder über meinen eigenen Fehler. Sie gab Anregungen, die ich umsetzen konnte.
 

Ich senkte den Kopf. „Ich hab Angst davor, dass jemand mich kritisiert. Weißt du, früher mal... an der alten Schule... da war ich sehr schüchtern und habe kaum ein Wort gesagt, eben aus diesem Grund. Und das, obwohl mich zu dieser Zeit noch nie jemand ausgelacht hat. Ich wollte es nur erst gar nicht so weit kommen lassen.“
 

„Ich lache dich doch nicht aus.“ Meredith klang nicht sanft, sondern eher schroff, als würde diese Annahme sie beleidigen. „Ich gebe dir Tipps, wenn du es so ausdrücken willst.“
 

„Ich... ich weiß... aber ich komme momentan noch nicht einmal selbst mit mir zurecht. Wenn jemand anderer das auch nicht tut, dann verunsichert mich das total.“, erklärte ich ihr. Und das war das erste mal, dass ich mit Meredith offen redete. Nun gab es schon drei Personen, bei denen ich mich dazu überwunden hatte, und so viel Überwindung hatte es mich auch gar nicht gekostet.
 

„Ich komme nicht nicht mit dir zurecht, wenn ich dich kritisiere.“ Eine Augenbraue hob sich schon wieder kaum merklich. „Ich erkenne lediglich Schwächen, die man noch verbessern könnte, und berichte dir davon.“
 

Das sah ich ein. Ich verstand, was sie mir sagen wollte. Ich war nur nicht sicher, ob ich das auch meiner Psyche klarmachen konnte. „Ja... ja, du hast Recht.“, murmelte ich erst einmal nur.
 

Aber seit diesem Gespräch regelte es sich von alleine. Ich hatte bemerkt, dass Meredith auf eine seltsame Art nett war – sie würde keine unnötigen Komplimente austauschen und ihre Stimme klang so gut wie niemals weich oder sanft, aber genau diese Art konnte motivierend wirken, wie ich später noch feststellen sollte. Ab diesem Zeitpunkt kauerte ich mich nicht mehr zusammen, wenn sie am selben Gespräch beteiligt war wie ich. Ich traute mich, Kommentare abzugeben, und als ich das erste Mal ein Wort der Kritik von ihr hörte, hatte ich nicht das Gefühl, vor Scham rot zu werden, sondern lächelte sogar noch ein kleines bisschen, denn ich wusste, dass sie mir jetzt zutraute, damit fertig zu werden und mir ihren Kommentar vielleicht auch – auf positive, nicht auf belastende Weise – zu herzen zu nehmen.
 

Und trotzdem, habe ich heute bei Meredith noch am ehesten Bedenken, wenn ich meinen Freundinnen eine Art Geheimnis erzählen will. Ich lasse mich erst von Samantha und Gemma beraten, achte darauf, dass die beiden mir versichern, dass ich nicht etwa überreagiere oder mich irgendwie blöd anstelle, und dann erst traue ich mich, vor Meredith damit herauszurücken. Meredith scheint dadurch, dass sie immer als letzte eingeweiht wird, zum Glück nicht auf irgend eine Weise verletzt zu sein. Vielleicht weiß sie ja irgendwo den Grund, besonders jetzt, wo sie mich näher kennt. Auch sie weiß, dass meine schlimmsten Schwächen sich zwar erheblich reduziert haben, aber immer noch ein Rest von ihnen übrig ist, der wahrscheinlich nie ganz verschwinden wird.
 

Jede meiner drei besten Freundinnen hat nun eine wichtige Rolle für mich eingenommen. In jeder Situation gibt es eine, die ich am liebsten zu Rate ziehe und die mir mit ihren Worten am meisten helfen kann. Gemma ist die Fröhliche, Aufmunternde, die immer versucht, sich in dich hineinzuversetzen, auch wenn sie mit ihrer Annahme vielleicht manchmal ziemlich danebenliegt. Sie gibt oft Kommentare, bei denen man das Gefühl hat, dass sie einem die eigenen Gedanken vorliest, und dann wieder solche, die man belächelt und ihr dann erzählt, wo tatsächlich das Problem liegt. Auf jeden Fall merkt man, dass sie ihr Bestes gibt, dich verstehen und trösten möchte.
 

Bei Sammy dagegen glaubt man oft, bei einer Psychotherapeutin zu sitzen. Natürlich fällt ihr das viel leichter als Gemma. Sie sagt dir oft Dinge, bei denen du selbst nicht realisiert hast, dass du sie so empfindest, bevor sie es ausgesprochen hat. Sie gibt dir auch den Standpunkt der möglichen anderen Seite wieder, da sie eine objektive Sicht auf die Dinge hat, und sie weiß, was sie sagen muss, um jemanden zu beruhigen. Gespräche mit Samantha verschaffen Klarheiten, durch die man sich nicht immer, aber meistens besser fühlt.
 

Und Meredith schließlich betrachtet jede Situation kritisch und scharfsinnig. Sie sagt dir auf Anhieb, was du an welcher Stelle falsch gemacht hast, und wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, ist es nicht mehr so irritierend. Man denkt sich eher: „Oh mein Gott, daran liegt es also! Das ist doch eigentlich völlig klar!“ Und dadurch, dass sie sofort eine Ursache anbringt, an der man selbst arbeiten kann, kann man mit ihrer Hilfe Probleme am leichtesten lösen. Falls man dagegen selbst nichts für die Lage der Dinge kann, hat sie geniale Ideen, sie trotzdem zu ändern. Merediths Kopf ist eine kleine Ideenwerkstatt. Sie schmiedet Rachepläne, Versöhnungspläne oder Feldzüge vom Flirten bis zum ersten Date. Wenn man – oder sagen wir, ich, denn die anderen haben dabei möglicherweise weniger Probleme – sich traut, zu ihr zu kommen, wird es sich mit Sicherheit lohnen.
 

*
 

Und genau darüber denke ich jetzt wieder einmal nach. Nachdem Gemma mich vorher so lieb aufgemuntert hat, mir ein wenig Sicherheit gegeben hat, sogar das Gefühl, dass ich mich durchaus trauen kann, mich zu verlieben, weil es sicherlich nicht in einem Weltuntergang resultieren wird, muss ich irgend etwas machen. Ich habe schon früher zu viele Gelegenheiten verstreichen lassen – Nathan ist zwar der erste, aber nicht der einzige gewesen, bei dem ich nicht gehandelt habe. Eigeninitiative zu ergreifen, fällt mir ganz und gar nicht leicht. Und ich weiß auch gar nicht, was ich diesmal anstellen könnte, außer unseren Nachrichtenwechsel aufrecht zu erhalten. Wir können weiter schreiben und schreiben, aber was sollte dann passieren? Soll und kann so eine Beziehung anfangen?
 

Merediths Ideen und Rastschläge müssen her, eindeutig. Ich bin nun einmal noch recht hilflos, wenn ich auf mich alleine gestellt bin – aber das bin ich ja zum Glück nicht wirklich.
 

Als ich ihre Nummer wähle, klingelt es einige Male, bis endlich jemand abhebt, und es ist mit Sicherheit nicht Meredith selbst. „Loop?“, meldet sich eine mir bis dato unbekannte, leicht verschlafene (es ist immerhin zwölf Uhr, aber mich geht es ja nichts an) Männerstimme. Nun ja, Meredith tobt sich zur Zeit vielleicht ein bisschen mit den Kerlen aus. Ich fürchte ja am meisten, dass sie sich dadurch den Ruf eines Flittchens einhandelt, doch gegen diese Möglichkeit wehrt sie sich vehement. „Hallo?! Ein Flittchen ist so ein Mädel, das sich so freizügig kleidet und gibt wie möglich, weil sie sonst nicht an die Typen herankommt, und sie durch diese Taktik für sich einnimmt, weil Männer nun mal so ticken. Ich dagegen sag nur nicht nein, wenn ich mal jemanden kennen lerne, denn ich will eben meinen Spaß haben.“ Wenigstens weiß ich, dass sie verantwortungsbewusst ist. Sie schluckt brav die Pille, und sie lässt auch nichts mit sich machen. Egoistische Kerle schubst sie augenblicklich von der Bettkante. Sie ist der Boss. Als Mann würde ich direkt vor ihr Angst haben, aber vielleicht macht das manche ja an.
 

„Ähm hallo, und mit wem habe ich die Ehre?“, will ich wissen. Nicht, dass ich es mir merken würde oder wahrscheinlich noch einmal zu einem Gespräch mit ihm kommen würde. Ich frage es ganz automatisch.
 

„Joseph“, nuschelt er, zumindest wenn ich das richtig verstehe.
 

„Ach ja, hallo Joseph. Könntest du mir bitte Merry geben? Falls ihr nicht zu beschäftigt seid?“, bitte ich.
 

Kurze Pause, gedämpfte Stimmen. „Sie ruft dich zurück.“, sagt er kurz und knallt den Hörer auf, bevor ich etwas erwidern oder fragen kann, wann das in etwa sein wird. Ich seufze. Besonders höflich ist er ja nicht, aber bitte.
 

Breits knappe fünf Minuten später klingelt mein Telefon, und ich hebe ab. „Ja, Olivia Candace?“, sage ich. Eigentlich sinnlos, ich kann mir ja denken, dass es Meredith ist.
 

„Ich bin’s, Meredith.“, sagt sie. Sie wirkt nicht verschlafen im Gegensatz zu ihrer Eroberung vorher. Vielleicht hat sie ihn ja pennen lassen, während sie sich mal ein Frühstück gemacht hat. (Und dabei hat sie mit Sicherheit nicht auf ihn Rücksicht genommen.)
 

„Morgen, Merry.“, sage ich trotzdem. „Und? Kannst du reden, oder ist... Joseph noch da?“
 

„Nein. Den ich rausgeworfen.“, berichtet sie trocken. Auch wenn es nicht gerade nach einer rührenden Aussage klingt, hat sie trotzdem eine gewisse Wirkung auf mich – ich sie habe angerufen, und als Freundin gehe ich vor. Ohne zu zögern ist sie Joseph losgeworden, um dann mir zu helfen.
 

Doch angesichts dieser Lockerheit, wenn nicht sogar Gleichgültigkeit im Umgang mit ihren Mitmenschen traue ich mich fast nicht mehr, anzusprechen, dass ich vorhabe, wieder einer Jugendliebe nachzulaufen. Aber sie weiß ja sowieso, dass ich Liebesangelegenheiten nicht ansatzweise ähnlich angehe wie sie, darum überwinde ich mich.
 

„Hmm... ich muss dir was erzählen, von früher. Ich hab es bis jetzt ausgelassen...“, fange ich einmal an, doch sie unterbricht mich.
 

„Weil du nicht allzu lächerlich wirken wolltest. Liv, ich weiß ja, dass du mittlerweile über dieses Verhalten hinweg bist, also kannst du mir ruhig davon erzählen, damit wir es verbessern können.“
 

Ich lächle ein bisschen. Ach, sie hat ja schon irgendwie Recht. „Ja, ja. Also, es war ein Junge. Und er war wirklich toll, ich hab mich nicht einfach so in ihn verliebt, weil er beliebt war und so –“
 

„Weiß ich doch, Liv. Erstens kenne ich dich, und zweitens: die Leute, in die man sich verliebt, sind immer ‚wirklich toll’. Aus subjektiver Sicht wenigstens.“, fällt sie mir erneut ins Wort.
 

Ich verzeihe ihr und versuche nicht extra, ihr weiter Nathans Vorzüge näher zu bringen. Ich schildere ihr lieber einmal die Situation. „Auf jeden Fall... hmm, er hat sich gestern wieder gemeldet und konnte sich wider meiner Erwartungen noch ziemlich genau an mich erinnern. Und ich hab eben gemerkt, dass ich ihn noch immer gerne hab. Er hat sich nicht so verändert, und er ist auch noch nett zu mir, was ich damals ja noch nicht einmal ausprobiert habe.“
 

„Und jetzt willst du ihn haben.“, stellt sie fest. Na ja, so könnte man es auch formulieren.
 

„Ja... schon. Ich will nicht wieder die Chance tatenlos verstreichen lassen.“
 

„Gute Entscheidung.“, lobt sie, allerdings klingt es nicht wirklich ernst.
 

„Was soll ich machen? Nur durch Schreiben werde ich doch nicht erheblich weiterkommen.“, sage ich ein wenig hilflos.
 

„Nein, allerdings nicht. Aber du gibst dir doch schon selbst die Antwort.“, behauptet Meredith.
 

„Äh, hä? Tu ich das?“ Ich weiß nicht, wovon sie redet.
 

„Na, Schreiben ist nicht die Lösung, nächste Stufe?“
 

„Mh... Telefonieren vielleicht?“, rate ich.
 

„Ja, meinetwegen, Telefonieren“, sagt sie und ich kann förmlich sehen, wie sie die Augen verdreht, „aber das meine ich nicht. Auf lange Sicht bringt das genauso viel oder wenig. Treffen musst du ihn.“
 

„Ihn treffen...?“, wiederhole ich dümmlich. „Aber...“
 

„Aber ihr habt euch vier Jahre nicht gesehen, es ist dir zu peinlich, das zu fragen, weil er vielleicht gar nicht will, du fürchtest dich davor, weil du dann nicht weißt, wie du dich verhalten sollst...“, zählt sie sämtliche Argumente auf, die mir spontan eingefallen wären. Mist. Sie hat mir ganz schön den Wind aus den Segeln genommen. Mit vor Sarkasmus triefender Stimme fährt sie fort: „Ja, schon klar. Dann sehe ich ein, dass Schreiben vielleicht doch intelligenter ist. Irgendwann, bevor ihr beide achtzig seid, wird sich dann schon etwas anbahnen.“
 

Nun ja, Meredith ist nicht die Freundlichkeit in Person und auf den Schleimerpreis 2007 hat sie keine Chance, aber sie weiß, wovon sie redet. „Na gut... ja... du hast Recht.“, sage ich etwas kleinlaut.
 

„Weiß ich doch.“, meint Meredith trocken. „Also los, schwing die Hufe.“
 

Angesichts dieses liebevollen Kommentars fühle ich mich schon ein wenig ermutigt. „Gut, mach ich. Muss ich das sofort, oder kann ich noch ein paar Tage warten –“
 

„Natürlich kannst du ein paar Tage warten, kommt drauf an, wie eilig du es hast. Wahrscheinlich ist er nicht zufällig gerade dabei, ein anderes Mädel aufzureißen, also wird es auf ein paar Stunden, Tage oder Wochen auch nicht ankommen.“
 

Irgendwie hat dieser Kommentar genau die umgekehrte Wirkung. Vor meinem geistigen Auge formt sich ein Bild, bei dem Nathan von haufenweise Mädels umgeben ist und von jedem angeschmachtet wird. „Ach, ich hab’s verstanden.“, sage ich. „Danke, Merry. Du hast Recht. Ich schwing die Hufe.“
 

„Braves Mädchen.“, gibt sie sarkastisch zurück. „Und viel Erfolg.“
 

„Danke. Schönen Tag noch. Und übertreib es vielleicht nicht.“, rate ich ihr, obwohl ich nicht weiß, ob sie sich das zu Herzen nehmen wird.
 

Gut. Jetzt habe ich also eine neue Aufgabe. Ich weiß noch nicht genau, wann ich den Mut fassen werde, sie umzusetzen, aber ich will mich zusammenreißen. Auf jeden Fall schließe ich es aus, jetzt gleich noch eine Nachricht hinterherzuschicken, ob er Lust auf ein Treffen hätte. Es soll nicht zu enthusiastisch klingen, mehr beiläufig, als wäre es mir gerade eingefallen, dass ich durchaus ein bisschen freie Zeit habe, in der ich in irgend ein Lokal gehen könnte.
 

Als ich über den Vorschlag nachdenke, kommt er mir tatsächlich nicht so undurchsetzbar oder peinlich vor. Wir wohnen, sofern er nicht erheblich umgezogen ist, nicht allzu weit voneinander entfernt. Ich bräuchte mich bloß ins Auto oder in einen Bus zu setzen, um in den nächsten Ort zu fahren. Ich gehe am Wochenende sowieso aus, und er wahrscheinlich auch, und es ist auch nicht das erste Mal, dass ich plane, mich im Laufe des Abends mit jemandem zu treffen, auch wenn ich denjenigen nur flüchtig kenne. Noch dazu würde es sich nicht einmal um ein klassisches Blind Date handeln, da ich Nathan doch kenne, wenigstens von früher. Nein, an dem Vorschlag ist nichts Verkehrtes.
 

Aber ich weiß, dass so ein Treffen erst ein Anstoß ist. Es heißt noch nicht viel. Ich werde ihm gegenüberstehen, mit ihm sprechen, aber daraus muss sich noch nichts ergeben. Höchst wahrscheinlich werde ich dann bald noch einmal bei Meredith anrufen müssen, damit sie mich ein wenig berät. Nur muss ich zuerst einmal meine Hausaufgaben machen.
 

Mit diesem Vorhaben logge ich mich in den nächsten Stunden viel zu oft beim StudiVZ ein und sehe nach meinen Nachrichten. Natürlich geht das nicht so schnell, das kann ich mir schon denken. Nathan muss immerhin erst an den Computer kommen, selbst nach seinen Nachrichten sehen und Lust und Zeit haben, um mir zu antworten. Und trotzdem kann ich mich nicht davon abhalten, alle paar Minuten noch einmal nachzusehen.
 

Es gibt kaum Frustrierenderes, als im zwanzig Minuten-Takt die selbe Seite anzuklicken, während sich absolut nichts verändert. Es scheint, als würde sich unter der stetigen Beobachtung erst recht nichts rühren Vor allem verdirbt man sich damit außerdem weitgehend die freudige Überraschung, wenn dann doch endlich etwas passiert – man empfindet lediglich Erleichterung. Als ich um neun Uhr abends endlich die lange (oder vielleicht auch nicht so besonders lange, wenigstens kam es mir so vor) ersehnte Nachricht erhalte, verhält es sich zumindest so. Ich kann gar nicht erwarten, sie zu lesen, zu antworten, ihm zu schreiben, ob wir uns nicht treffen wollen, so beiläufig wie ich es eben geplant habe, und vor allem die Rückantwort zu erhalten. Zur Abwechslung bin ich einmal zuversichtlich. Er kann doch schlecht nein sagen. Wenn er nichts mit mir zu tun haben wollte, hätte er mich gar nicht erst angeschrieben, und dann wird er sicher auch nichts gegen ein Treffen, oder nennen wir es eher nur eine kurze Begegnung, einzuwenden haben.
 

Diesmal ist die Nachricht besonders lang, und ich lese sie aus Ungeduld erst einmal schneller als sonst, überfliege sie eher. Ich bekomme den Inhalt im Groben mit, einige Sätze bringen mich zum Lächeln, andere verblüffen mich, weil sie so genau das treffen, was ich mir selbst gedacht habe, aber ich erfasse in der Eile trotzdem nicht jedes Wort. Dann tut es mir deshalb irgendwie doch Leid darum, und ich lese den Text erneut, diesmal genauer.
 

*
 

Liebe Liv,
 

Schön, dass du wieder so schnell zurückgeschrieben hast.
 

Es wundert mich, dass du glaubst, nicht bemerkt worden zu sein. Du hast dich vielleicht nicht so darum bemüht, gesehen zu werden, wie es viele tun, besonders um positiv aufzufallen, aber ein Mensch kann sich nicht unsichtbar machen. Mir bist du früher besonders darum aufgefallen, weil du immer so alleine warst, fast nie etwas gesagt hast. Und trotzdem habe ich bemerkt, dass du, während du fremden Gesprächen gelauscht hast, oft gelächelt hast oder irritiert geblickt, genau so, als wärst du eigentlich an der Diskussion beteiligt. Du trugst nicht die Kleidung, die gerade in war, oder hast dich durch irgend etwas hervorgetan, aber du warst trotzdem präsent. Aber trotzdem, natürlich hat es für dich selbst viel gebracht, dich zu verändern und aus dir herauszugehen, das ist ganz klar. Du hast dadurch bestimmt nicht dich selbst verloren, denn das, was du nun bist, ist wohl der Charakter, den du vorher unwillkürlich unterdrückt hast.
 

Was mich angeht – ich habe mich, ob du es glaubst oder nicht, auch oft einsam gefühlt. Obwohl oder gerade weil sich so viele um mich geschart haben, aber die hat es doch gar nicht interessiert, was ich sage oder denke. Zu allem wurde einfach blind genickt, ohne dass sich jemand mit meiner Meinung auseinandergesetzt hat. Natürlich klingt das andere Extrem, wenn man einfach übergangen wird, noch viel schlimmer, aber ist es das? Nein, ich will damit nicht sagen, dass es mir gleich ging wie dir, nur möchte ich näher bringen, dass das „beliebt sein“ auch nicht ganz so toll ist, wie es klingen mag. Sonst hätte ich mich auch nicht davon distanziert.
 

Und nun, Beobachterin, darf ich die typische egozentrische Frage stellen? Wie hast du mich damals gesehen? (Ich würde dich ja nach jemand anders fragen, aber ich schätze, bei mir selbst kann ich deinen Eindruck am ehesten bestätigen oder berichtigen...) Ich hoffe, das klingt für dich jetzt nicht eitel... mich würde nur interessieren, wie ich einmal auf andere gewirkt habe... für diejenigen, wie dich, die sich nicht blindlings um mich geschart haben, meine ich...
 

Mir gefällt deine Ansicht, vor jedem Respekt zu haben. Das sehe ich grundsätzlich genau so. Die Schwächen, die man hat, haben ja irgend eine Ursache. Ob es an Erziehung, der Umwelt oder Erlebnissen liegt... und dazu, dass es den perfekten Menschen geben könnte, ist die menschliche Psyche einfach viel zu kompliziert. Nur gibt es diejenigen, die sich ihrer Fehler durchaus bewusst sind, sie aber ignorieren, weil sie sich selbst damit nicht so sehr schaden, dafür vielleicht anderen. Da hört mein Verständnis auf. Das ist es, was ich als Ignoranz definiere, und das ist eine der wenigen Eigenschaften, mit denen ich mich einfach nicht abfinden kann, weil jeder sie im Griff haben könnte, wenn der Wille da ist.
 

Es freut mich, dass du mich – wie ich es jetzt aufgefasst habe – für eine einigermaßen soziale Person hältst. Ich gebe mein Bestes, und ja, ich interessiere mich dafür. Auf diese Weise zeige ich ja, dass ich, auch wenn ich andere schlechte Eigenschaften habe, wenigstens nicht ignorant bin... na ja.
 

Was Informatik angeht, na ja, es ist wahrscheinlich nicht so, wie man es sich vorstellt. Es hat weniger mit Computern zu tun als mit dem ganzen theoretischen Kram darum herum. Ich habe mich auch deshalb für das Informatik-Studium entschieden, weil ich wissen wollte, wo all das, was wir heute am Computer machen können, für einen Ursprung hat. Ich glaub, das muss man sich erst einmal klar machen, bevor man das als Studienfach auswählt... ich persönlich finde es wirklich nicht uninteressant, nur ist es weniger ein angewandtes Fach, sondern behandelt mehr die Hintergründe. Aber natürlich, irgendwo muss das Interesse ja kommen, ich habe in den letzten Jahren mehr mit Computern gearbeitet, auch mit HTML, PHP und dergleichen, zum Beispiel hab ich die Homepage für unseren Abschlussball gemacht (was ja nicht viel heißen muss) oder ein paar Homepages für Freunde, war kein schlechter Nebenjob.
 

Mein Selbstbewusstsein... du hast vielleicht Recht, es hat sich möglicherweise reduziert, und ich weiß nicht genau, ob das gut oder schlecht ist. Ich wollte niemals jemand sein, der sich überschätzt, da unterschätze ich mich lieber, da ich so erstens nicht überheblich herüberkomme und mich zweitens auch einmal selbst überraschen kann. Ich denke mal nicht, dass ich schon in den ungesunden Bereich abgerutscht bin. In erster Linie versuche ich, so höflich zu sein wie möglich, auch wenn das unter Umständen heißt, dass ich mich für meine Worte entschuldige.
 

Ach ja, ich hoffe, du hast den Nerv, dir diesen langen Text jetzt tatsächlich durchzulesen... falls du etwas besseres oder wichtigeres zu tun hast, musst du nicht auf jeden Satz eingehen, also mach dir bitte nicht zu viel Mühe :)
 

Bis bald,
 

Nat
 

*
 

Hat er wohl gemerkt, dass er gleich nach der Erklärung für sein gesunkenes Selbstbewusstsein oder meinetwegen auch die etwas überspitze Höflichkeit gleich einen Absatz geschrieben hat, in dem er sich übertrieben entschuldigt? Wahrscheinlich hat er im Nachhinein seine Nachricht betrachtet und sich gedacht: „Himmel, ist das viel. Ist es nicht peinlich, das abzuschicken?“ Das Gefühl habe ich zumindest selbst häufig. Dabei freue ich persönlich mich über sehr lange Mails und Nachrichten ganz besonders. Die kann man auch später noch einmal durchlesen, im Gegensatz zu einem schalen „Hi, wie geht’s, was hast du heute gemacht?“, und man kann sich freuen, dass der Gesprächs- oder Mailpartner nicht nur aus Nettigkeit ein paar Zeilen hinwirft, sondern sich wirklich Zeit nimmt und sich mit deinen und den eigenen Gedanken beschäftigt.
 

Mich juckt es bereits in den Fingern, und ich haue in die Tasten. Ich möchte ihn treffen, treffen, treffen. Am besten schon nächstes Wochenende.
 

*
 

Lieber Nat,
 

Danke auch dir für die schnelle Antwort – aber langsam können wir diese Floskel wohl weglassen, sei dir einfach sicher, dass ich mich immer freue, eine neue Nachricht von dir zu bekommen :)
 

Ich staune vor allem über deinen Satz, dass ich nur endlich meinen Charakter freigelassen hätte. Genau so habe ich das nämlich auch selbst immer gesehen. Von vielen Leuten, denen ich von meinem „früheren Ich“ erzählt habe, musste ich mir anhören, dass das ja nicht schlecht wäre: nicht mit dem Strom zu schwimmen, mich äußerlich nicht anzupassen, weil schließlich andere diese Regeln gemacht haben und es jedem frei steht, sie zu brechen, und so weiter. Aber sie verstehen nicht richtig, was mein Problem war: ich habe mich nicht über die anderen hinweggesetzt, sondern mich nur nie getraut, mich frei zu bewegen, einmal Gefühle, Worte oder auch nur Gesten herauszulassen, lieber hab ich mich versteckt, indem ich mich unauffällig gekleidet und wenig gesagt habe. Wie du sagst, hab ich mich selbst unterdrückt. Und das ist nicht bewunderns-, sondern nur ändernswert, wie ich letzten Endes zum Glück auch gemerkt habe.
 

Und jetzt zu dir... ich glaube, ich kann das nachvollziehen. Wie gesagt, ich fand diese Bewunderer nie besonders toll und sinnvoll. Die machen sich doch nie die Mühe, denjenigen kennen zu lernen, für den sie schwärmen, und sie achten gar nicht darauf, dass er genauso Schwächen und somit Menschlichkeit besitzt...
 

Ich habe sehr viel über dich gedacht. Und nein, diese Frage ist nicht eitel, ich habe sie dir doch indirekt auch gestellt. Also... in erster Linie habe ich in dir sicher etwas anderes gesehen als die meisten. Mir ist immer aufgefallen, dass du ziemlich emotional bist (was jetzt kein Synonym für „verweichlicht“ sein soll, sondern definitiv eine positive Eigenschaft). Du hast gelacht, geweint, dich geärgert... nicht wie andere, die all das gerne verbergen. Und du hast (oder hattest?) auch nicht diesen typischen Humor der Leute, die nur auffallen möchten, sondern deine Witze waren immer geistreich, haben gezeigt, dass du nicht jedes Thema ins Lächerliche ziehst, sondern dich nur nicht so hineinsteigerst, dass du keine lustige Seite mehr daran entdecken kannst. Und letztendlich habe ich noch bemerkt, dass du dich im Gespräch mit jedem gleich verhalten hast, egal ob es sich um enge Freunde handelte, um einen Lehrer oder jemand Fremden. Genau dieser Respekt, von dem wir ja auch gerade reden.
 

Na ja, Informatik klingt wirklich nicht nach etwas, was mich sonderlich interessiert ;) Aber ich habe auch allgemein mit Computern nicht so viel am Hut, bis auf dass ich ab und zu im Internet herumsurfe. Wo du mich gerade an euren Abschlussball erinnerst – daran habe ich überhaupt nicht gedacht, wie schade, dass ich nicht gekommen bin! Dann hätte ich euch alle noch einmal wiedergesehen und offensichtlich hättest zumindest du mich wiedererkannt... aber jetzt ist es zu spät.
 

Was mich auf eine Idee bringt, sofern du nicht umgezogen bist, wohnen wir ja immer noch nicht allzu weit entfernt voneinander – wie wär’s, wenn wir uns mal irgendwo treffen würden? Du könntest mir ein Lokal nennen, das du öfters besuchst, dann fahre ich gerne mit dem Bus rüber. ;) Wäre nett, uns mal wieder zu sehen, oder nicht?
 

Und ich find's schön, dass du höflich bist (diese Qualität haben heute nicht mehr viele!), aber übertreib es nicht... ich weiß ja, dass du nicht ignorant, egozentrisch oder arrogant bist, also kannst du gerne ein bisschen lockerer sein :)
 

Einen schönen Abend,
 

Liv
 

*
 

Ich hatte in dieser Nachricht mehrere Smileys gebraucht als sonst, weil ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, ansonsten böse zu klingen. Im Grunde hatte ich damit wohl die selbe Neurose wie Nat, nur dass ich nicht jedes Wort entschuldigte, sondern es möglichst freundlich umschrieb.
 

Aber ich war schon ein bisschen stolz auf meine tatsächlich beifällige Überleitung. Ich hatte nicht einmal groß darüber nachgedacht, es war mir einfach in den Sinn gekommen. Nur bereute ich es jetzt tatsächlich irgendwie, dass ich nicht beim Abschlussball meiner alten Klassen dabei gewesen war. Ich hätte alle wiedergesehen, ihnen zeigen können, was aus mir geworden ist, und der Gedanke erfüllt mich natürlich schon wenigstens ein bisschen mit Genugtuung. Und wenn Nathan mich jetzt noch erkennt, hätte er es vor einem halben Jahr auch getan, wir wären wahrscheinlich schon da ins Gespräch gekommen... aber egal. Es ist keine verpasste Chance, denn meine Chance habe ich ja jetzt.
 

Ich bin zwar immer noch aufgeregt darauf, eine Rückantwort zu bekommen, in der Nathan mir möglicherweise gleich ein Lokal für das Treffen vorschlägt, denn immerhin habe ich ihm auch das schon nahegelegt. Aber ich bin nicht mehr so ungeduldig. Ich weiß, dass ich höchst wahrscheinlich heute nicht mehr die neue Nachricht bekommen werde. Also beschließe ich, gleich den Computer zu beenden.
 

Ins Bett werde ich jetzt, um kurz vor zehn, natürlich noch nicht gehen. Aber ich lasse mich gemütlich vor dem Fernseher nieder, um mir auf Video ein paar Serien anzusehen, die ich mir aufgezeichnet habe.
 

Ich liebe das, besonders im Winter: mich in einen dicken Pulli kuscheln, mich mitsamt einer Decke und weichen Kissen aufs Sofa legen und nebenbei fernsehen. Manchmal will ich dann gar nicht mehr extra aufstehen, um ins Bett zu gehen. Aber ich wäre auch sehr damit zufrieden, in dieser bequemen Lage einfach ein gutes Buch zu lesen. Ich mag den Winter, weil er so gemütlich ist. Es ist früher dunkel, und so kann man sich schon früh abends Teelichter aufstellen, am besten solche, die duften. Der Winter ist eine Jahreszeit voll verschiedener Eindrücke und Gerüche. Es beginnt schon im Herbst mit Maroniduft, und im Dezember sammeln sich dann die ganzen Weihnachtsgerüche wie Tannennadeln, Kerzen, Weihrauch, Kekse und Glühwein. Wenn ich in einem dunklen, duftenden Zimmer liege und dann noch ganz laut Musik aufdrehe – in so einer Situation ist auch klassische Musik genau richtig – fühle ich mich am wohlsten.
 

Heute ist ein Dezemberabend, draußen schneit es stark, und ich beobachte vom Sofa aus eine ganze Weile die Schneeflocken, bevor ich mich meinen Serien zuwende. In den Händen halte ich eine heiße Tasse mit Kakao, und obwohl in meiner Wohnung gut geheizt ist, wärme ich meine Hände daran. Erst, als ich mit dem Kakao fertig bin, schalte ich den Fernseher an.

Willst du nun etwas tun?

Wie beinahe erwartet, wache ich genau da wieder auf, wo ich mich Stunden zuvor hingelegt habe: auf dem Sofa. Ich setze mich ein wenig verwirrt auf, gähne und reibe mir die Augen. Der Fernseher läuft leider immer noch, ich versuche mich an das Letzte zu erinnern, was ich noch mitbekommen habe. So interessant kann es nicht gewesen sein, wenn ich dabei eingeschlafen bin. Ich seufze und spule die Kassette auf den Anfang zurück, weil ich nicht mehr genau weiß, wie weit ich gekommen bin. Das werde ich wohl ein anderes Mal nachholen. Aber was hat mich gerade geweckt? Verschlafen, wie ich bin, brauche ich eine Weile, bis es mir auffällt: das Telefon hat vorher geläutet. Und wieder aufgehört.
 

Ich versuche mich von der Decke freizukämpfen und laufe in den Flur hinaus. Dann schnappe ich mir den Hörer und drücke auf Wiederwahl. Ich kenne die Nummer leider nicht, deshalb muss ich mich mal überraschen lassen. Während ich darauf warte, dass jemand abhebt, sehe ich auf die Uhr. Es ist neun Uhr morgens, also habe ich ziemlich lange durchgeschlafen... es muss ungefähr elf oder zwölf gewesen sein, als ich dann eingeschlafen bin. Ach, aber viel zu tun habe ich ja nicht, nur eine Vorlesung am Nachmittag.
 

„Nathan Grean.“, höre ich. Ja, stimmt, Nathan, ich muss dann noch mal die Mails checken...
 

Moment... WAS? Ich kann mich gerade noch davon abzuhalten, das in den Hörer zu keuchen. Nathan ruft mich an. Okay. Ein bisschen Vorbereitungszeit wäre nicht schlecht gewesen, aber ... ruhig Blut.
 

Als mir auffällt, dass ich wahrscheinlich schon eine Minute lang in den Hörer schweige wie einer dieser perversen Anrufer, beschließe ich mich, doch den Mund aufzumachen. „Ähm ja hallo, hier ist... Olivia. Hast du mich gerade vorhin angerufen?“ Oh, fängt schon gut an. Was für eine intelligente Frage ist denn das? Wie hätte ich sonst zu der Nummer kommen sollen?
 

„Oh, hallo, Liv! Ja, das war ich, ich hoffe, ich hab dich nicht geweckt?“, kommt es zurück. Er ist es tatsächlich, und mir fällt siedend heiß auf, dass das wohl unser erstes richtiges Gespräch sein muss. Denn früher habe ich nie geantwortet. Welch Ironie – er hätte anhand meines Schweigens gleich merken müssen, dass ich am Telefon bin.
 

Ich ziehe kurz in Betracht, ob ich schwindeln soll, aber dann überlege ich es mir anders. Neun Uhr ist nun ehrlich keine Zeit, für die man sich schämen muss, und Studentenstandards sind normalerweise ja sowieso anders. „Ja, schon, deshalb bin ich auch noch ein bisschen langsam. Aber macht nichts, ich bin schon ausgeschlafen. Nur noch nicht ganz aufgewacht.“ Ich habe eher noch ein bisschen zu viel geschlafen.
 

Ich gehe mit dem Telefon zurück ins Wohnzimmer und lasse mich auf dem Sofa nieder. Ich streiche mir mit der freien Hand ein paar Haare aus der Stirn.
 

„Hmm, ich dachte es mir schon, weil du nicht angehoben hast... tut mir Leid. Ich hätt mich noch ein paar Stündchen gedulden können.“
 

Stimmt. Wieso ruft er um diese Zeit schon an? Wow. Dass er ungeduldig ist, freut mich irgendwie ganz besonders. Und außerdem hätte ich seinen Anruf ja niemals erwartet. „Das macht doch nichts. Aber woher hast du denn überhaupt meine Nummer?“ Argh. Darf ich das wieder zurücknehmen? Ein Vöglein wird sie ihm gezwitschert haben... wozu gibt es Telefonbücher und die Auskunft?
 

„Aus den gelben Seiten natürlich.“, antwortet er mit einem Grinsen in der Stimme. Mit meinem alten Selbstbewusstsein würde ich mich sofort schon wieder ausgelacht fühlen, aber heute verkrafte ich das.
 

„Ja, stimmt, klar. Hey, warum rufst du an? Hätte ich überhaupt nicht erwartet.“, lache ich. Und dann, als das meiner Meinung nach nicht so freundlich klingt, hänge ich an: „Ist aber eine nette Überraschung.“
 

„Hmm ach, du hattest ja diesen Einfall mit dem Treffen.“, erinnert er. Na klar. Ich weiß es natürlich noch. Und wenn er deshalb extra anruft, wird er mir – hoffentlich zumindest – nicht gerade erklären, dass er jetzt in Timbuktu lebt und sich nicht extra wegen mir ein Flugticket kaufen möchte. (Wäre auch bescheuert, das Geld für ein Auslandstelefonat hätte er ja dann immerhin. Aber soweit ich mich erinnere, wies die Nummer nicht auf ein anderes Land hin.) „Ich finde, das ist echt eine tolle Idee.“
 

So kurz vor dem Ziel, zumindest dem, das ich mir vorerst gesteckt habe (so hoch liegt die Latte damit ja auch nicht), bricht der Pessimismus durch. Aber er findet, wir sollten das gleich in ein Klassentreffen verwandeln? Das ist noch der harmloseste Anti-Gedanke. Aber er ist zu einem Einsiedler und Soziopathen geworden und kennt leider keine Lokale? Auch noch erträglich, dann könnte ich etwas anderes vorschlagen. Er würde sich gern mit mir treffen, aber seine fürchterlich eifersüchtige Freundin hat Einwände? Okay, genug nachgedacht.
 

„Und ich dachte, ich rufe dich lieber an, weil es so viel leichter ist, etwas auszumachen.“ Oh. Halleluja. Heißt das...? „Ich kenne da schon ein gutes Lokal, wo du leicht mit dem Bus hinkommst... also, falls du keinen Führerschein hast... ich meine, vielleicht wäre es ohnehin besser, mit dem Bus... schließlich ist es vielleicht schwer mit den Parkplätzen, weißt du...“
 

Er klingt ja ganz nervös. Ich rutsche tiefer in die Sofapolster und ziehe die Beine an. Auf meinem Gesicht breitet sich ein seliges Lächeln aus. „Wie heißt das Lokal?“, will ich wissen.
 

„Ach so, ja, ganz vergessen.“, sagt er, ein bisschen schnell, wie mir vorkommt. „Chilli heißt es, mit ‚i’ am Ende, soll wohl ein Wortwitz sein... aus ‚chilly’ und ‚chili’... oh, sorry, ich wette, darauf wärst du auch alleine gekommen.“ Er klingt ein bisschen genervt über sich selbst, und er ... er plappert zu viel. Mein Schmunzeln wird breiter. Ich bin also nicht die Einzige, die hier nervös ist.
 

„Das klingt sehr... gemütlich.“, sage ich dümmlich, wie mir vorkommt, aber egal. „Wann hättest du denn Zeit, Nathan? Am Wochenende?“
 

„Meinetwegen auch ruhig unter der Woche. Aber... natürlich muss es jetzt nicht stante pede sein, also...“ Wahrscheinlich hätte er noch weitergestammelt, aber er unterbricht sich. Mittlerweile tut er mir fast Leid. Nein, früher war er mit Sicherheit nicht so. Ich finde es süß, aber ich frage mich, was passiert ist. Oh je, oh je – vielleicht hat er ja doch eine eifersüchtige Freundin und sitzt auf glühenden Kohlen, weil er Angst hat, dass sie jeden Moment auftaucht und ihm die Hölle heiß macht. „Ich hab fast jeden Abend Zeit“, erklärt er mir mit festerer Stimme. „Also kann ich mich ganz nach dir richten.“
 

Ich auch. Aber das sage ich nicht. Erstens, weil ich weiß, dass ein Hin und Her à la „Mir ist es egal, und dir?“ – „Mir ist es eigentlich auch egal...“ nervt und zu nichts führt, und zweitens, weil ich ihm ja nicht unter die Nase reiben muss, dass ich auch nicht gerade viel beschäftigt bin. Am Donnerstag treffe ich mich mit den Freundinnen. Gleich morgen ist vielleicht ein wenig übertrieben. Vielleicht wäre Freitag nicht schlecht, aber das kann ich höchstwahrscheinlich gar nicht erwarten. „Wie wäre... Mittwoch? Wär dir Mittwoch recht?“, höre ich mich fragen. Ist ja auch okay so.
 

„Schon Mittwoch?“, fragt Nathan recht erstaunt. Oh je, doch zu früh? „Aber... ja klar, das ist mir recht. Ist ja super. Und wann sehen wir uns dort?“
 

„Acht Uhr abends?“, schlage ich vor. Faszinierend, wie stark ich hier die Initiative ergreife. Was den Termin angeht, meine ich.
 

„Acht Uhr. Super.“ Er scheint zu überlegen, ob er noch etwas vergessen hat. „Findest du das Chilli?“, fragt er.
 

„Ich kenne es nicht. Ich bleibe eigentlich immer bei uns in der Innenstadt, und vor dem Umzug... war ich noch zu jung zum Ausgehen.“ Na ja, nicht direkt. Eher zu distanziert von der Gesellschaft. Aber ich erinnere Nathan nicht daran.
 

Er gibt mir die Straße, sagt mir sogar noch eine passende Buslinie, gibt eine genaue Beschreibung ab, damit ich es auch finde. Ich bedanke mich noch einmal. „Das ist super. Also dann... bis Mittwoch.“
 

„Bis Mittwoch. Und einen schönen Tag noch.“
 

Nachdem er aufgelegt hat, muss ich – entschuldigt das Klischee – einen kurzen Freudentanz machen. Und anschließend gleich wieder zum Telefon greifen, um die freudige Nachricht zu teilen.
 

Gemma ist am besten zum Freude teilen. Enthusiastisch wähle ich ihre Nummer, erst als es anfängt, zu klingeln, fällt mir auf, dass sie um zehn wahrscheinlich auch noch in den Federn stecken wird.
 

„Sparks.“, meldet sich wie erwartet ihre Mutter.
 

„Hallo, Ellen, hier ist Olivia.“, sage ich. „Ist Gemma schon wach?“
 

„Eher nicht.“, meint Ellen und lacht ein bisschen. „Um halb zehn – du solltest sie kennen.“
 

„Kannst du sie für mich aus den Federn werfen? Bitte?“, frage ich mit zuckersüßer Stimme. „Ich muss ihr was Tolles sagen.“
 

„Klar. Wird sowieso langsam Zeit.“
 

Ich höre, wie sie durchs Haus geht und dann lautstark versucht, ihre Tochter zu wecken. „Gem! Du hast einen Anruf! Gut, dass du ab und zu diese Weckrufe bekommst.“, höre ich Ellen sagen. Ich kichere ein bisschen.
 

„Mhh... jaa?“, meldet sich Gemma nun verschlafen. „Meine Güte, seit wann rufst du um halb zehn schon an? Geht das nicht ein bisschen weniger grausam? Ich schlaf doch erst seit fünf Stunden...“ Sie war wohl wieder ein bisschen feiern. „Gerade, wo meine Mutter sich abgewöhnt hat, mir spätestens um zehn die Decke wegzunehmen...“
 

„Entschuldige, hab nicht so genau nachgedacht.“, sage ich fröhlich. „Ich bin auch vom Telefon geweckt worden. Aber dafür treffe ich jetzt Nathan.“
 

„Was... wie, du triffst ihn?“ Sie klingt schon ein bisschen wacher angesichts der Neuigkeit.
 

„Mittwoch abend. Er hat mich vorher angerufen.“
 

„Angerufen...? Aber wie...?“, murmelt sie verwirrt. Es ist ganz lustig: wenn sie noch halb schläft, dann hat Gemma diese "Übertriebene Gefühle"-Sache nicht drauf.
 

„Na, die Nummer hat er aus dem Telefonbuch.“, sage ich nachsichtig. Schließlich hab ich ihm vorher die selbe dumme Frage gestellt. „Er sagte, am Telefon wäre es leichter auszumachen.“
 

„Mmh. Das ist ja super.“, sagt sie freudig. Langsam wird Gemma schon ein wenig munterer. „Heißt das jetzt, du traust dich, dich zu verlieben?“
 

„Ja, genau. Ich hab ja euch.“, wiederhole ich ihre Aussage von gestern.
 

„Genau. Gut so. Hatte er denn die Idee mit dem Treffen?“, will Gemma wissen.
 

„Nein. Merry.“, sage ich wahrheitsgemäß. „Ich habe es ihm gestern in einer Nachricht vorgeschlagen. Und anscheinend fand er das gut. Ist ja auch keine große Sache, theoretisch zumindest.“
 

„Für dich schon, weil du ihn seit Jahren nicht gesehen hast und immer noch in ihn verliebt bist.“ Sie gibt ein selig klingendes Seufzen von sich.
 

„Das weiß ich nicht. Vielleicht ist es ja auch nur Gewohnheit, dass ich so reagiere. Vielleicht merke ich dann ja, dass ich doch nicht mehr verliebt bin.“ Ich glaube es ehrlich gesagt nicht, aber es ist möglich.
 

„Dann verliebst du dich eben wieder neu in ihn.“, ist Gemmas unkomplizierter Vorschlag. Darauf muss ich lachen.
 

„Ja, ja, genau. Aber ich weiß noch immer nicht, ob er eine Freundin hat. Das muss ich irgendwie noch diskret in Erfahrung bringen.“, gebe ich zu bedenken.
 

„Ach was. Selbst wenn, dann spannst du sie ihm halt aus.“ Nach Gemmas Regeln ist das Leben ganz einfach. Vielleicht, weil sie selbst beständiges Glück hat. Für mich läuft es nicht immer so leicht, aber ich rede es ihr nicht aus. Wenn man schon einen optimistischen Gedanken zugeworfen bekommt, kann man ihn auch festhalten.
 

„Du hast Recht. So, Gem, ich freue mich jetzt weiter, und du kannst meinetwegen weiter schlafen.“
 

„Grml. Nein, zu spät, jetzt bin ich ja doch schon wach, danke vielmals.“, sagt sie pseudo-schmollend. „Na, dann viel Spaß beim Freuen.“
 

„Danke.“ Ich grinse. „Bis dann.“

Warum Menschen sich verändern

Die Tage vergehen, wie zu erwarten, nur schleichend. Nathan und ich bleiben im Nachrichten-Kontakt, stellen und erst einmal auf E-Mails um, was leichter zu handhaben ist als die Nachrichten im StudiVZ, und setzen unser Gespräch fort. Aber wir reden erst einmal lange um die bestehenden Themen herum und keiner traut sich wohl so recht, eines dieser Themen abzuschließen. Vielleicht auch, weil uns immer noch ein paar Worte dazu einfallen oder weil es schwer fällt, etwas, das so persönlich umschrieben worden ist, einfach fallen zu lassen.
 

Wir schneiden auch kurz neue Themen an, kommen zum Beispiel unter anderem noch einmal auf die alte Klasse zu sprechen. Er erzählt mir von ihrem Abschlussball, den er aber von der Planung und Ausführung her selbst nicht als so großartig empfand, weil sie bei der Mitternachtseinlage technische Probleme hatten. Ich rede mit ihm noch einmal über die anderen Mitschüler, die scheinbar das Interesse an ihm verloren haben, als es ihm reichte und er meinte, er könne keine „Freunde“ brauchen, die ihm bloß alles nachsagen, und als ich darauf geschockt reagiere, meint er, er sei froh darüber – lieber gar keine Freunde als falsche Freunde, das ist seine Ansicht. Ich kenne den Vergleich nicht und bin nicht sicher, ob ich das auch so sehe – früher hätte ich sehr oft jemanden brauchen können, mit dem ich reden kann, nur um einmal den Ballast loszuwerden, den ich immer mit mir herumgeschleppt habe, selbst wenn derjenige sich dann hinter meinem Rücken über mich gelacht hätte... was ja bei Nathan niemals der Fall war. Es waren nur keine Leute, die ihn selbst und seinen Charakter mochten, sondern solche, die sich eben dachten, es wäre toll, mit ihm in Verbindung gebracht zu werden, da er gut aussah und ein toller Sportler war. Vielleicht war es aber genau das: wenn er etwas sagen wollte, musste, dann hörten sie ihm nicht richtig zu, sondern standen nur da und nickten wie Zombies.
 

Diejenigen, die er an der Uni kennen gelernt hat, scheinen zum Glück über so etwas erhaben zu sein. Sie sind mit ihm ins Gespräch gekommen, und er hat sich dann auch öfter mit ihnen getroffen, etwa abends zum Ausgehen oder nachmittags zum Sport machen. Und jetzt hat er einen richtig guten Freundeskreis. Wahrscheinlich keinen so engen, wie ich ihn habe, denn Männerfreundschaften sind einfach anders (was ich ihm aber nicht so sage).
 

Auch ich erzähle von meinen Freundinnen, und er scheint sich darüber zu freuen, dass ich jetzt einen Platz gefunden habe. Er erkundigt sich mit ehrlichem Interesse nach ihnen und scheint auch sehr besorgt darum zu sein, ob sie auch wirklich echte Freundinnen sind. Das kann ich ihm versichern, denn ich beschreibe ihm Merry, Gemma und Sammy liebevoll und ehrlich.
 

Aber auch wenn wir täglich jeweils zwei oder drei Mails schicken – die Abstände werden also nicht größer, sondern noch kleiner – kann ich es nicht erwarten, Nathan wieder wirklich zu treffen. Ihn zu sehen, seine Gesichtsausdrücke, während er redet, und was sich daran verändert hat. Was er sagen wird. Seine Stimme. Ich habe sie schon am Telefon gehört, und sie klingt anders als früher, natürlich... viel erwachsener, denn als ich ihn kannte, war er noch nicht einmal wirklich im Stimmbruch. Sie ist immer noch weich, ruhig und klar, aber er hat viel gestammelt, mehr, als ich es jemals bei ihm erlebt habe. Ist er nur am Telefon anders, oder liegt es an mir? Und nur daran, dass er mit mir so lange keinen Kontakt hatte, ganz zu schweigen davon, dass er nie wirklich mit mir geredet hat?
 

Ich bin relativ sicher, dass ich einige dieser Antworten am Mittwoch finden werde. Und der ist nun endlich gekommen. Es ist sechs Uhr dreißig am Abend, und ich komme gerade von der Dusche. Die nächste Stunde lang werde ich mir wohl überlegen müssen, was ich anziehe, wie ich mir die Haare mache, was ich sagen und tun werde. Na gut, vielleicht sollte ich mich ganz natürlich geben. Ich wollte nur nicht so typisch mädchenhaft wirken, aber es ist nun einmal von Belang, wie ich mich kleide: nicht so, dass er sich denkt „Sie trägt ja doch noch die selben unvorteilhaften Fetzen wie früher, ich dachte, es hätte sich gebessert...“, aber auch nicht, dass ein Eindruck entsteht à la: „Holla, ich wusste ja, dass sich was verändert hat, aber warum gleich so ein ‚Willst du mit mir ins Bett’-Outfit?“ Überzeichnet dargestellt natürlich. Ach du liebe Güte, es ist ja kein Date. Es kann nicht so schwer sein. Ich ziehe mich einfach so an, wie ich mich beim Ausgehen immer anziehe.
 

Das Problem ist: wenn man sich ganz normal kleiden möchte, fällt einem nicht mehr ein, was überhaupt normal ist. Nach ewigem Ein- und Ausräumen meines Kleiderschrankes entscheide ich mich für ein paar Lagen, damit ich weder in der Hitze eines Lokals verlaufe noch im Freien erfriere. Ein gelbes Top, darüber ein schulterfreies, saphirblaues Langarmshirt mit gelben Punkten und ein Pullover in einem ähnlichen Blau mit einem weiten, umklappbaren Kragen. Dazu schwarzgraue Jeans. Die Haare werden simpel in einem Knoten hochgebunden. Und obwohl ich mindestens noch eine Viertelstunde so an mir herumzupfe, mich äußerst vorsichtig schminke – bloß nicht zu viel, denn sonst sehe ich fürchterlich aus –, mir die Haare wieder aufmache und erneut hochbinde, selbst das ausgewählte Paar Schuhe vor dem Gehen noch einmal wechsle, sehe ich am Ende eigentlich ziemlich natürlich aus. Mir fällt ein, dass sich Männer immer darüber wundern, dass es einen „natürlichen“ Schminklook gibt, bei dem man Ewigkeiten mit Schminke vor dem Spiegel verbringt, nur um dann ungeschminkt auszusehen. Aber man will ja „natürlich gut“ aussehen, nicht „natürlich, hab mir aber keine zwei Sekunden Zeit genommen, auch nur in den Spiegel zu schauen“. Der letzte Blick in den Spiegel macht mich sogar ein klein wenig wehmütig: früher war mir das völlig egal, ob auch ja alles passt oder nicht. Ich habe nicht einmal in den Spiegel gesehen. Und Nathan hätte damals trotzdem mit mir gesprochen. Ich hätte ganz sicher zumindest seine Freundschaft gewinnen können und hätte dazu nicht einmal etwas tun müssen, außer auf seine Fragen zu antworten und auf ein Gespräch einzugehen. Dem Problem, vor dem die meisten wohl Angst haben, den ersten Schritt zu machen, hätte ich mich gar nicht stellen müssen. Ich hätte nur kooperieren, ein Gespräch passieren lassen müssen.
 

Als ich das Haus verlasse, spüre ich den kalten Wind auf meinem Gesicht und Schneeflocken fliegen mir ins Gesicht. Ich schlüpfe in die Handschuhe, rücke den Schal zurecht, ziehe den Reißverschluss des Mantels etwas höher und rutsche mir die Mütze tiefer über die Ohren. Es ist wirklich verdammt kalt.
 

Ich beeile mich zur Bushaltestelle, weil ich nicht weiß, ob meine Uhr genau geht. Laut ihr wird der Bus in vier Minuten abfahren, aber ich will ihn keinesfalls verpassen. Nicht nur, weil ich dann eine halbe Stunde auf den nächsten Bus warten müsste und bis dahin höchst wahrscheinlich hier draußen erfrieren würde. Wir haben kein Date, ein Treffen in einem Lokal ist bei Weitem nicht so verbindlich oder ernst, aber zu spät möchte ich trotzdem nicht kommen. Ich halte überhaupt nichts von diesen Tricks wie „sich rar machen“ oder „den anderen eifersüchtig machen“. Sie wecken höchstens den menschlichen (oder nur den männlichen?) Spieltrieb und regen dazu an, zu kämpfen. Aber ich glaube, dass ich auch heute kein Mädchen bin, um das man kämpft. Das sage ich gar nicht nur aus mangelndem Selbstbewusstsein. Ich bin mindestens durchschnittlich hübsch, mit dem Unterschied, dass ich keine Mode-Mitläuferin bin und nicht das typische Outfit der Mädchen in meinem Alter trage (wobei es bei den Studenten ja nicht ganz so schlimm ist wie bei den Jugendlichen mit ihren Must-Marken und Accessoires), und ich bin nicht sicher, ob die Allgemeinheit das eher als Minus- oder Pluspunkt sieht. Ich gehe oft genug aus, verstehe mich einigermaßen schnell mit neuen Personen. Aber ich bin keines dieser Mädchen, denen alle männlichen Wesen nachrennen. Und genauso wenig bin ich besonders selbstbewusst, wenn es ums Flirten oder den ersten Schritt im Allgemeinen geht. Bis jetzt hatte ich einfach eher das richtige Maß an Glück. Und überhaupt – um jemanden kämpfen, kommt das in der Wirklichkeit auch vor oder doch nur im Film?
 

Auf jeden Fall bemerke ich ein paar Minuten später, dass meine Uhr tatsächlich richtig zu gehen scheint, und warte weitere zwei Minuten in der Kälte auf den Bus. Als ich einsteige, bin ich sehr froh darüber, dass er gut geheizt ist. Ich würde während der zwanzigminütigen Fahrt eigentlich gerne etwas machen, aber als ich Musik einschalte, klicke ich erst mich einmal durch ein Dutzend der durch Zufall ausgewählten Lieder, bis ich resignierend zur Kenntnis nehme, dass ich gerade auf gar nichts so richtig Lust habe. Liebeslieder lösen eine gewisse Wehmut aus, denn ich weiß, selbst wenn ich Nathan auch im direkten Treffen noch so toll finde und wir uns auch entsprechend gut verstehen, wir noch lange nicht zusammen sind. Trennungslieder kommen mir äußerst pessimistisch vor, und dann gibt es noch die Handvoll Lieder auf meinem iPod, die nichts mit Liebe zu tun haben, die mir im Moment entweder zu deprimierend sind oder so fröhlich, dass ich davon ungeduldig werde, am liebsten herumspringen würde, und das werde ich hier jetzt mit Sicherheit nicht anfangen. Darum schalte ich den iPod wieder aus und räume ihn wieder in meine Tasche. Stattdessen schaue ich aus dem Fenster, obwohl es natürlich so dunkel draußen ist, dass ich kaum etwas ausmachen kann und nur die hellen Schneeflocken vorbeiziehen und ab und zu ein paar Straßenlaternen leuchten sehe. Aber trotzdem erkenne ich die Gegend, auch wenn sie im Dunkel der Nacht liegt, noch genau. In mir bricht dieses nostalgische Gefühl aus, das an die Kindheit erinnert und an ein paar Jahre meiner Jugend, aber das ist bei mir niemals mit ausschließlich positiven Gefühlen verbunden. Darum denke ich lieber an Nathan, den ich ja so oder so gleich treffen werde.
 

Ein oder zwei Stationen, bevor ich aussteigen muss, werde ich langsam, aber sicher nervös. Ich treffe Nat wieder, den damals zumindest scheinbar unerreichbaren Nathan Grean, und ich habe keine Ahnung, ob ich mich in seiner Gegenwart nicht vielleicht doch wieder in das kleine, schüchterne Mädchen verwandeln werde, das höchstens noch ein Nicken oder Kopfschütteln zustande bringt, scheu den Kopf einzieht und sich unsicher auf die Unterlippe beißt. Ich weiß nicht, ob sich Liv wieder zurückzieht, wenn sie mit Nathan reden soll, auch wenn auch er sich inzwischen auch verändert hat, vielleicht nicht äußerlich so wie ich, aber unter der Oberfläche.
 

Der Bus hält, ich drücke auf den Knopf, der die Türen öffnen lässt, und steige aus. Nur mehr ein paar Schritte bis zum „Chilli“. Nur mehr ein paar Schritte zu Nathan. Nur mehr ein paar Schritte zu einer Zeitreise? Ich hoffe es nicht. Wirklich nicht. Denn das würde bedeuten, dass gar nichts mehr geht.
 

Ich atme tief durch. Um Zeit zu schinden, noch einmal. Am liebsten würde ich anfangen, noch ein paar Yoga-Übungen zu machen, auch wenn es hier draußen wirklich kalt ist (wie bereits mehrmals erwähnt), nur um mich noch nicht dem Wiedersehen stellen zu müssen. Die ganze Woche lang habe ich mich so darauf gefreut und konnte es kaum erwarten, und jetzt bricht wieder die alte Devise durch, den Kopf in den Sand zu stecken: wenn ich gar nichts mache, kann ich auch nichts falsch machen. Und weil ich daran denke, was für ein schlechtes Lebensmotto das ist, dass es einfach zu gar nichts führt außer Unglück und Frustration, und weil die Wiederaufnahme dieser Einstellung außerdem der erste Schritt dazu ist, wieder zur ängstlichen Olivia zu werden, gebe ich mir einen Ruck, überwinde ich und gehe weiter.
 

Ich muss nur die Straße entlang, Nathan hat es mir erklärt, aber ich hätte es auch so gefunden, denn das große Schild mit dem Schriftzug „Chilli“ mit einer großen Chili-Schote auf dem Logo, das mir schon von weitem in Rot und Grün entgegenleuchtet, ist kaum zu übersehen. Meine Schuhsohlen knirschen im frischen Schnee, mein Puls beschleunigt sich mit jedem Schritt. Meine Knie werden zunehmend weicher und mein Gang umso wackliger, ich drohe mit meinen hochhackigen Stiefeln beinahe umzuknicken. Himmel, ich muss mich beruhigen. Ich weiß genau, dass ein leichtes Zittern in meiner Stimme liegen wird, aber hoffentlich wird es sich, nachdem wir ein paar Worte gewechselt haben, legen. Hoffentlich.
 

Ich bin vor dem Lokal angekommen. Eine Minute lehne ich mich noch an die Hauswand, sehe kurz auf die Uhr. Es ist fünf nach acht. Vielleicht sollte ich hineingehen. Ja, natürlich sollte ich hineingehen.
 

Endlich überwinde ich mich. Ich gehe die zwei Stufen zur Tür hinauf und drücke sie auf. Natürlich schlägt mir als erstes stickige, nikotinschwangere Luft entgegen und die gesamte Gegend ist vernebelt wie in einem Dampfbad, aber ich kann Nathan allein wegen dieser Tatsache die Wahl des Lokals nicht verdenken, denn man findet kaum eines, in dem man ungehindert wirklich atmen kann. Die Musik ist in Ordnung und auch nicht zu laut, so dass man noch die Möglichkeit hat, sich zu unterhalten, ohne dass man heiser wird (das heißt, wenn der Zigarettenqualm nicht schon sein Übriges tut).
 

Ist schlüpfe erst einmal aus dem Mantel, da es hier angesichts der vielen Menschen auf kleinem Raum recht warm ist – was mich aber nicht stört, es ist ziemlich angenehm, wenn man aus der Kälte hier hereinkommt – und stelle mich dann meinem Problem oder meinem Glück, vielleicht auch beides, wie auch immer man es sehen möchte. Ich schaue mich nach Nathan um. Für eine Weile hat mein Herzschlag sich normalisiert, aber das ist die Ruhe vor dem Sturm, wie ich weiß. Sobald ich Nathan sehe, beginnt er mit Sicherheit wieder zu rasen. Ein Blick nach links, einer nach rechts, ich drehe mich rundherum – und erblicke ihn dann, wie er alleine irgendwo an der Wand lehnt, mit einem Glas in der Hand. Es sieht aus wie Cola, und das ist gut so. Ich hoffe nicht, dass er sich betrinken muss, um sich mit mir zu unterhalten, und umgekehrt will ich auch nicht mit jemandem reden, der vollkommen zu ist. Er hat auch nicht ein halbes Dutzend Freunde mitgebracht, und ich glaube, darüber bin ich ganz froh. Aber sobald das erste dreißigsekündige Schweigen eintritt, werde ich mir wohl eine riesige Gruppe wünschen, die das Gespräch in Gang halten könnten.
 

Bevor ich darüber nachzudenken anfange, dass mir jetzt ziemlich schlecht wird, bewege ich mich in seine Richtung. Als er hersieht, erhellt sich sein Gesicht und er richtet sich auf, kommt aber nicht mich zu, sodass ich meinen Gang ein wenig beschleunige. Er stellt sein Glas auf das Fensterbrett hinter ihm und kommt mir die letzten Schritte entgegen.
 

„Hallo“, sagt er, und „Hallo“ sage ich. Ich nehme die Hand, die er mir entgegenhält, und wir tauschen die obligatorischen Küsse auf beide Wangen aus. Er riecht gut, nicht nach Rauch, Alkohol oder auch nur einem Aftershave, sondern nach sich selbst, und ich war früher nie nahe genug an ihm dran, um diesen Geruch wahrzunehmen.
 

In dem Moment, in dem wir uns voneinander lösen, ist die Angst, dass wir nun schweigen, am größten. Es sind nur zwanzig Sekunden, in denen ich sie aushalten muss, aber alles in mir spannt sich an, bin Nathan wieder etwas sagt.
 

Er sagt nichts wie „hübsch bist du geworden“ oder auch „gut siehst du heute Abend aus“, und auch wenn ich mich dadurch natürlich geschmeichelt gefühlt hätte, hätte es nicht zu ihm gepasst. Ich weiß doch selbst, dass ich besser aussehe als früher, dass das in keinem Vergleich steht, und da er mich schon damals, wie es scheint, zumindest leiden konnte, brauche ich die Bestätigung nicht zwangsläufig.
 

Seine Augen kommen mir blauer und intensiver vor als früher, was wohl nur damit zusammenhängt, dass ich ihn so lange nicht gesehen habe. Ja, seine Gesichtszüge sind markanter, wie ich es auf dem kleinen Foto erkannt habe, und auf Wangen- und Kinnpartie sind die dunklen, aber nicht ungepflegten winzigen Stoppeln eines Ein-Tage-Bartes zu sehen. Er runzelt die Augenbrauen nicht mehr so wie früher, sieht dadurch freundlicher und vielleicht auch noch sympathischer aus.
 

„Wie geht es dir?“, fängt er unbefangen an und rückt mir einen Stuhl zurecht. Zum Glück nimmt er mir nicht auch noch den Mantel ab oder so etwas, denn ich habe etwas gegen übertriebenes Kavaliergehabe. Während ich den Mantel und meine Tasche an die Lehne hänge und mich hinsetze, nimmt er sich sein Glas mit Cola oder was auch immer und setzt sich mir gegenüber hin.
 

„Momentan sehr gut.“, antworte ich. Ich mag die Frage nicht, aber man kommt wohl kaum darum herum. „Bis zur ersten Prüfung ist es zum Glück noch eine Weile hin, also auch nicht sehr stressig. Ich genieße den Winter.“ Ich lächle ein bisschen und sehe auf den Tisch. Ich habe etwas gesagt, das ist schon einmal gut. Aber ich rede zu viel. Ich wende den Blick von der Tischplatte ab und sehe Nathan lieber ins Gesicht, was um einiges höflicher ist. „Und wie geht’s dir?“
 

„Mir geht es auch sehr gut. Hab mich auf heute Abend gefreut.“ Er erwidert das leichte Lächeln und angesichts der Aussage überlege ich mir, ob er vielleicht doch nicht so viel von seinem Selbstbewusstsein eingebüßt hat, aber dann sehe ich, dass auch er sich nicht hundertprozentig traut, mich direkt anzusehen, und seine Hände, die ein wenig nervös mit seinem Cola (oder auch nicht)-Glas spielen. Ich weiß nicht, ob ich nicht froh darüber bin. Er hat schöne Hände, beobachte ich. Gott, ja, es klingt klischeehaft. Aber es ist wahr: lange, schmale Finger, gepflegte (aber nicht zu gepflegte, manikürt sind sie nicht) Nägel. Ich habe seine Hand doch vorher berührt, fällt mir ein. Ob sie weich war, weiß ich nicht mehr. Es sieht auf jeden Fall so aus.
 

Mist, ich denke zu viel Belangloses. Ich sollte vielleicht etwas antworten. „Ja, ich mich auch.“, sage ich. Diese Direktheit bringe ich nur zustande, weil Nathan es auch getan hat. Ich fühle mich, als sollte ich dem noch etwas hinzufügen, aber ich weiß nichts. Vielleicht ist es ja okay so.
 

„Und, wie war dein Tag heute?“, wechselt er das Thema und sieht wieder auf.
 

„Ich habe nicht viel gemacht.“, gebe ich zu. „Bloß eine Vorlesung am Nachmittag. Sie war nicht sehr interessant. Sie ließ mich zweifeln, ob ich das Philosophie-Studium nicht doch abbrechen möchte.“ Ich seufze.
 

„Ich kann ehrlich gesagt nicht nachvollziehen, dass du es überhaupt gewählt hast.“, sagt Nathan mit einem freundlichen Lachen. Geschrieben hätte er das mit Sicherheit nicht, aber jetzt, wo ich an seinem Gesichtsausdruck sehen kann, dass er es nicht böse meint, traut er es sich. „Entschuldige“, fügt er aber dennoch hinzu. „Ich habe mit dem Fach noch nie viel anfangen können. Was diese Philosophen sagen, ist mir einfach nicht greifbar genug. Verschwommenes, fadenscheiniges Gerede, das eigentlich nicht viel bringt, sondern eher alles, was schon von der Menschheit, von der Wissenschaft erarbeitet wurde, in Frage stellt.“
 

Er hat das Cola (oder was auch immer)-Glas jetzt abgestellt, dreht aber stattdessen einen Ring, den er von irgendwo her gezaubert hat, zwischen den Fingern hin und her. Oh Gott, vielleicht ist er ja schon verlobt oder so. Es soll ja Leute geben, die sich schon mit achtzehn oder neunzehn binden wollen. Beängstigt sehe ich den Ring an, zwinge mich aber zum Weiterreden.
 

„Das denke ich mir mittlerweile auch fast. Bevor ich mit dem Studium begonnen habe, dachte ich mir, dass es toll ist, wie sich diese Leute mit dem Leben, der Welt und dem Denken auseinandergesetzt haben... sie haben versucht, die Dinge auf eine weniger rationale Weise zu erklären.“
 

„Nicht rational? Da bin ich aber anderer Meinung. Schließlich haben gerade die Philosophen viele Modelle und Denkmuster aufgestellt, um Handlungsweisen, Geschehnisse oder die ganze Welt logisch zu erklären. Was nicht heißt, dass sie ihr Ziel erreicht haben. Immerhin haben sie, wenn überhaupt, mit ihren Theorien alles noch komplizierter gemacht. Die meisten davon führen nur dazu, dass man so lange im Kreis denkt, dass man Kopfweh bekommt.“ Er zuckt die Schultern und lässt sich nicht nehmen, hinzuzufügen: „Ich zumindest.“
 

„Das mag schon stimmen...“, gebe ich zu. „Aber sie waren diejenigen, die sich nicht damit zufrieden gegeben haben, was sich die Menschen bereits alles aufgebaut haben. Sie waren diejenigen, die sich gedacht haben, dass man hinter allem erst einmal einen tieferen Sinn finden sollte, bevor man sich an die größeren Dinge wagt.“
 

„Bist du dir sicher? Ich glaube eher, dass es Menschen waren, deren Gerede sowieso niemand verstanden hat, und die sich dann dachten, sie könnten es wenigstens zu ihrem Beruf machen.“ Als er die Mundwinkel zu einem Grinsen verzieht, funkeln seine Augen, und das ist mindestens zu zehn Prozent der Grund dafür, dass ich zurückgrinse.
 

„Ach, verdammt. Ich füchte, damit hast du auch Recht.“
 

Einen schönen Moment an lächeln wir uns so an, doch dann wird Nathan wieder ernst. „Tut mir Leid. Ich wollte eigentlich nicht die Philosophie niedermachen. Wenn es dich interessiert, will ich es dir natürlich nicht ausreden.“ Wieder richtet er den Blick etwas verlegen auf die eigenen Hände. Er verbirgt den Ring nun in der Faust und reibt die Daumen aneinander, so dass seine Hände eine Herzform bilden. Es ist wahrscheinlich keine Absicht, sage ich mir und wende den Blick ab.
 

„Das hast du nicht. Natürlich, ich bin seit einer Weile am Überlegen, ob ich das Studium wirklich noch fortsetzen will. Nicht nur, weil es mir beruflich wahrscheinlich wenig bringt, sondern auch, weil ich mir nicht mehr sicher bin, was ich von diesen ganzen Ansichten halte. Ob sie sinnvoll sind. Ob sie nicht, wie du sagst, und mehr verwirren als in irgend einer Art und Weise weiterbringen.“ Ich hebe leicht die Schultern. „Wenn es mich wirklich noch so interessieren würde wie anfangs, würden mich deine Worte auch nicht davon abbringen.“ Ich sehe noch einmal auf und warte, bis er mich ansieht. „Außerdem weiß ich nicht, warum du dich nicht mehr traust, direkt zu sein, deine Meinung auszusprechen.“
 

Nathan hält meinem Blick stand und sieht mich ernst an. Mit diesem Gesichtsausdruck, dem leicht unordentlichen, aber auf keinen Fall ungepflegten Äußeren, den etwas ungekämmt wirkenden Haaren, von denen ihm einige schwarze Strähnen in die Stirn fallen, sieht er irgendwie... heiß aus. Ich muss fast lächeln, aber ich will nicht, dass er meint, ich mache mich über ihn lustig.
 

„Ich weiß nicht, ob du das wissen willst. Es ist eigentlich eine blöde Geschichte.“ Jetzt hat er wieder den Ring zwischen den Fingern.
 

„Warum blöd?“
 

„Es ist blöd, dass die Sache mich verändert hat. Dass ich mich von der Sache verändern lassen habe.“ Nathan lässt den Ring los, und er rollt in die Mitte des Tisches, wo er sich einige Male um sich selbst dreht, bis die Drehungen immer flacher werden und er schließlich leise scheppernd auf dem Tisch liegenbleibt.
 

Er hat sie also auch, diese Bürde. Sie ist jünger als meine, er trägt sie wahrscheinlich nicht mehr mit sich herum, sondern zieht sie nur mehr hinter sich her wie einen Klotz am Bein, und wahrscheinlich ist sie nicht ganz so tief verwurzelt wie die meine. Aber sie ist trotzdem etwas, das ihn davon abhält, einfach so zu leben und zu handeln, wie er ist, und darum finde ich es traurig.
 

„Auch meine Sache war blöd.“, erinnere ich. Ich sage es nicht drängend, zumindest lege ich es nicht darauf an. „Aber dadurch, dass ich das bemerkt habe, habe ich es geschafft, sie weitgehend hinter mir zu lassen.“ Meine Bürde läuft mir nur noch nach, und ich brauche mich bloß nach ihr umzudrehen, um mich wieder in aller Klarheit daran zu erinnern, dass es sie irgendwo immer noch gibt. Wahrscheinlich wird sie mich immer verfolgen, aber ich weiß, dass ich sie nicht mehr mit mir herumschleppen muss.
 

Nathans Ring liegt zwischen uns, als hätte er eine Bedeutung. Es ist ein schlichter Ring, vielleicht vier oder fünf Millimeter breit, glatt und versilbert, ohne jegliche Verzierung. Durchaus ein Ring, den auch ein Mann tragen kann. Selbst, wenn es sich nicht um einen Verlobungsring handelt.
 

Wie um diesen Gedanken über den Haufen zu werfen, spricht Nathan wieder. Mir fällt auf, dass wir gerade zwei oder drei Minuten lang geschwiegen haben. Aber es war keine beklemmende oder peinliche Stille, die nicht enden wollte, sondern eher eine nachdenkliche. Das ist in Ordnung. „Es war ein Mädchen.“, sagt er ziemlich leise, aber ich muss nicht nachfragen, um mir sicher zu sein, was er gesagt hat, und schon gar nicht, in welchem Zusammenhang. Ich bin nicht überrascht, der Gedanke ist schon Sekunden, bevor er es ausgesprochen hat, durch meinen Kopf gekrochen, langsam und träge wie eine Schnecke. Jetzt, wo er Substanz gewinnt, rollt er los wie eine Murmel gegen einen Haufen anderer, die sich daraufhin in Bewegung setzen.
 

Eine Beziehung, über die Nathan noch nicht hinweggekommen ist. Und ich weiß nicht, ob es mir lieber wäre, wenn sie lange zurückliegt oder wenn sie gerade erst beendet wurde. Falls sie schon seit Jahren vorbei ist, ist der Schmerz, der zurückgeblieben ist, gravierend. Dann liebt er sie noch immer, und er wird sie vielleicht ... sagen wir nicht „für immer“, denn das ist eine viel zu starke Phrase, aber mit Sicherheit noch für sehr lange Zeit lieben. Und wenn die Beziehung erst seit Kurzem beendet worden ist, ist der Schmerz noch frisch, hat ihn nach Jahren von gesundem Selbstbewusstsein ins Stolpern gebracht. Dann muss er diese Sache erst überwinden, bis er einen neuen Menschen an sich heranlässt.
 

Und in jedem Fall hasse ich sie. Nicht, weil sie Nathans Exfreundin ist, denn ich beurteile Menschen nicht nach solchen Kriterien, die nicht einmal etwas über ihre Persönlichkeit aussagen. Es sieht mir nicht ähnlich, Menschen zu hassen, besonders, wenn ich sie gar nicht kenne. Ich respektiere so gut wie jeden. Aber ich hasse sie, weil sie das mit Nathan gemacht hat. Die blöde Sache, von der er sich verändern hat lassen.
 

„Zwei Jahre...“, sagt er langsam. „Ich meine... es ist fast zwei Jahre her. Und ich habe es immer noch nicht geschafft, es hinter mir zu lassen.“
 

Ich sage nichts. Ich sehe ihn nur an und höre ihm zu.
 

„Ich weiß, dass das, was sie gemacht hat, nicht meine Schuld war. Jetzt weiß ich es schon.“ Er ändert seine Sitzposition ein wenig, ohne mich anzusehen. Ich bin ihm nicht böse. „Aber erst, nachdem so viele Gedanken in Gang gebracht werden wollten, von denen ich nichts wissen wollte.“
 

Sein Glas Cola (ich bin mir fast sicher, dass es sich um Cola handelt) ist noch fast voll. Er nimmt, wahrscheinlich nur, um nicht sofort weitersprechen zu müssen, wieder einmal einen Schluck davon. „Sie hat mich betrogen. Aber damit hat es eigentlich nur angefangen.“, sagt Nathan leise. „Ich hatte damals noch genug Selbstwertgefühl, um zu wissen, dass ich Schluss machen muss. Nicht, weil sie mit einem anderen geschlafen hat, sondern weil sie es nicht bereut hat. Sie wirkte, als wüsste sie, dass ich sie zu sehr liebe, um sie wegen ... ‚so etwas’ fallen zu lassen.“ Ein kurzes, freudloses Schnauben entfährt ihm. „Sie hat geweint, als ich Schluss gemacht habe. Ich wollte ihr nicht in die Augen sehen, aber das fand ich nicht fair. Wenn man eine so lange Beziehung beendet, eine so lange persönliche Bindung, dann muss man sie genauso persönlich zu Ende bringen.“
 

Er sagt es nicht, aber ich weiß es. Er hat damals selbst geweint. Trotzdem hat er ihr ins Gesicht gesehen. Und in diesem Augenblick erkannte sie eine Schwäche.
 

„Sie hat mir Nachrichten geschickt. Auf den Anrufbeantworter gesprochen, mir SMS und E-Mails geschickt. Das waren keine verheulten Nachrichten, in denen sie mir ... keine Ahnung, anbot, unverbindlich mit mir zu schlafen, nur um nicht einsam zu sein oder so etwas. Sie hat eher geklungen, als hätte sie eine Amnesie gehabt, als glaubte sie, immer noch mit mir zusammen zu sein. Sie fragte, ob ich mit ihr da und dorthin gehen wollte, was ich von bestimmten Sachen halte. Sie besaß sogar die Dreistigkeit, mir ein Referat zu schicken, damit ich es mir durchlese und Feedback dazu gebe.“ Nathans Augenbrauen ziehen sich wieder zusammen, und seine Mundwinkel zucken. „Ich habe ihr natürlich nicht gesagt, sie solle sich zum Teufel scheren, akzeptieren, dass ich unsere Beziehung beendet habe – na, eigentlich hat sie das ja selbst mit ihrem Verhalten – aber das habe ich natürlich nicht gemacht. Ich war ein immer noch verliebter Trottel und sie ein ignorantes Mädchen, das wollte, dass alle nach ihrer Pfeife tanzen. Und ich hab das auch noch mit mir machen lassen. Ich dachte, dass wir doch auf jeden Fall eine Freundschaft beibehalten könnten, dass ich mich dazu auch bemühen musste, wenn sie das schon tat.“ Erneut gibt Nathan dieses freudlose Lachen von sich. „Ich las mir das durch, was sie mir geschickt hat, unterschrieb die Antwortmail mit freundlichen Grüßen und solchem Blödsinn. Wahrscheinlich hat sie mich ausgelacht, nachdem sie die E-Mail erhalten hat. Und sie hat natürlich weitergemacht. So, dass ich nicht um den Gedanken herumkam, dass sie mich immer noch liebte, dass sie es vielleicht doch bereute, mich betrogen zu haben. Nachdem sie es geschafft hatte, mir diese Idee indirekt einzutrichtern, habe ich sie irgendwann ausgesprochen. Am Telefon, ich schreibe das nicht in einer SMS oder Mail. Ich habe sie gefragt, ob sie noch mit mir zusammen sein will.“
 

Ich weiß, wie es ausgeht, dazu brauche ich nicht allzu viel Fantasie. Am liebsten will ich es gar nicht hören, weil es mir so Leid tut. Nathan hat Recht, es ist blöd. Aber wenn man verliebt ist, wird man eben leichtgläubig.
 

„Sie wollte. Dann waren wir wieder zusammen.“ Er sagt das kurz, weil es nicht relevant ist, wie genau es passiert ist. „Und dann bin ich darauf gekommen, dass ich nicht der einzige war, mit dem sie zusammen war.“ Nathan greift nach dem Ring und steckt ihn in seine Hosentasche. „Es tat beim zweiten Mal noch viel mehr weh als beim ersten Mal. Weil ich wusste, dass ich so blöd war, dass ich es besser hätte wissen müssen und trotzdem darauf hereingefallen bin. Ich habe mich... ich hab mich einfach verarschen lassen.“
 

Es stimmt, er hätte es besser wissen sollen. Aber wie auch? Von Menschen, die man liebt oder auch nur solchen, die man mag, will man nur das Beste denken.
 

„Das Beste ist, dass sie sich auch dann noch keiner Schuld bewusst war.“ Zum dritten Mal höre ich das zynische Lachen, und seine Bitterkeit beunruhigt mich. Keine Traurigkeit, das würde ich sofort an seinem Gesichtsausdruck erkennen, den er niemals zu verbergen versucht, sondern wirklich Bitterkeit, wie man sie in seinem Alter noch nicht ausdrücken sollte. „Sie sagte, ich hätte nur gefragt, ob sie mit mir zusammen sein wolle. Nicht, ob sie den anderen schon fallen gelassen hätte.“
 

Ja, ich hatte Recht. Ich hasse sie, und jetzt, wo ich die Geschichte gehört habe, hasse ich sie noch mehr.
 

Vielleicht könnte man sagen, dass die beiden mit sechzehn noch jung waren, dass man sich denken könnte, dass man sich in diesem Alter sowieso noch nicht bindet und es da nicht so gravierend sein sollte, wenn die Freundin mit einem spielt. Aber ich glaube, dass genau das Gegenteil zutrifft: in einer der ersten richtigen Beziehungen (vielleicht sogar der ersten, aber das kann ich mir eigentlich auch nicht wirklich vorstellen) wurde das Vertrauen so sehr missbraucht – auf den Boden geworfen und darauf herumgetrampelt, genauer gesagt – dass es schwer ist, es neu zu gewinnen. Weil Nathan so viel mit sich machen hat lassen, nur weil er dieses Mädchen so sehr gemocht hat, weil er sich blind von ihr einwickeln hat lassen, hat er auch sein Selbstbewusstein verloren. Nicht ganz, aber vieles davon. Er traut sich selbst nicht mehr, weil er sein Vertrauen zu schnell verschenkt hat und zu großzügig damit war.
 

Ich kenne mich selbst kaum, als ich die Hand ausstrecke und auf seine lege. Es soll kein Annäherungsversuch sein, sondern nur eine tröstende Geste. Als meine Handfläche seinen Handrücken berührt, zuckt er leicht zusammen, aber er bleibt ansonsten ruhig.
 

„Ich glaube, ich weiß, warum dich all das so verändert hat.“, sage ich ruhig. „Aber du musst weitermachen. Du darfst nicht glauben, dass jeder dich so hintergehen wird. Vertrau dir selbst, dass du daraus gelernt hast und dich das nächste Mal nicht mehr einwickeln lassen wirst. Lass wieder den alten Nathan an die Oberfläche, der sich getraut hat, zu sagen, was er denkt, der ironisch und überlegen war, ohne überheblich zu sein.“
 

Nat ist keine neue, verbesserte Version von Nathan. Nat ist nur ein Bruchteil von Nathan, und der andere Teil von ihm, der so umgänglich, emotional und selbstsicher war, hat sich versteckt, weil dieses Mädchen und alles, was sie getan hat, ihn so erschreckt hat.
 

„Ich weiß“, sagt dieser Nat so leise, dass es fast ein Flüstern ist. „Ich weiß nur nicht wie. Ich habe solche Angst, wieder auf so etwas hereinzufallen.“
 

„Ich kenne das Gefühl.“ Es ist die Angst, die davor blockiert, neu anzufangen. „Früher hatte ich so furchtbare Angst davor, etwas Falsches zu sagen, dass ich einfach gar nichts gesagt habe. Ich habe gemurmelt, damit meine Aussage nicht verstanden wird, den Kopf geschüttelt oder so getan, als würde ich nicht hören, nur um nicht antworten zu müssen.“ Ich ziehe die Hand weg, aber nur ein Stückchen. Meine Finger berühren immer noch seine. „Bis ich dann darauf gekommen bin, dass es genau der falsche Weg ist, nichts zu sagen.“
 

Liv dagegen ist die bessere Olivia, weil die Ängste und Unsicherheiten, die sie umgeben haben, sich verzogen haben und Liv jetzt in Ruhe lassen.
 

„Und bei dir ist es sicher noch frustrierender, gar nichts mehr zu machen. Du kannst keine Liebe finden, wenn du es nicht zulässt.“, fahre ich fort. „Außerdem wären wir da bei einer verheerenden Denkweise, die man auf alles anwenden kann: wenn ich nicht von einem Auto angefahren werden will, bleibe ich zu Hause, dann kann das nicht passieren. Natürlich kann man Schmerz und unangenehmen Erfahrungen aus dem Weg gehen, indem man sich gar nicht die Möglichkeit dazu bietet... aber dann verpasst man dafür die Hälfte.“
 

Nat schenkt mir ein ehrliches Lächeln. „Ich weiß. Nur ist dieser Gedanke noch nicht verwurzelt genug, dass ich ihn umsetzen kann.“, erklärt er ein bisschen kläglich.
 

„Solange du es willst, funktioniert es irgendwann.“, sage ich ihm. Das ist keine bloße Aufmunterung, das weiß ich. Bei mir hat es von Gedanken bis zur Umsetzung zwei oder drei Jahre gebraucht. Also kann es bei Nathan nicht mehr so lange dauern, bis er sich aufraffen wird. Das hoffe ich. Ich werde versuchen, ihm dabei zu helfen, mit Sicherheit. Und dann kann es ja nur funktionieren. Ich habe das alles sogar noch ganz alleine geschafft.
 

„Bist du eigentlich nicht durstig?“, fragt Nathan. Obwohl, eigentlich ist er ja noch Nat. Er dreht schon wieder mit einer Hand an seinem – mittlerweile halbvollen – Glas. Er scheint zu merken, dass er eigentlich selbst nicht ganz mit seinem Getränk (bei dem es sich höchstwahrscheinlich um Cola handelt) weiterkommt, und nimmt daraufhin schnell einen Schluck.
 

Ich überlege kurz. „Ich will eigentlich nichts Alkolisches trinken. Ich möchte heute Abend einen klaren Kopf behalten.“, sage ich dann mit voller Absicht.
 

„Ist doch kein Problem. Dann nimm doch einfach ein Cola, so wie ich.“
 

Ich wusste es doch.

Zwei Schritte nach vorn und einer zurück

Am Ende der neunten Klasse hatte ich mich schon vollkommen eingelebt. Ich hatte meine drei neuen Freundinnen, die mir den Einstieg sofort noch mehr erleichterten, begann, nicht nur meine Probleme auszusprechen, sondern auch Dinge zu erzählen, die ich im Alltag erlebt hatte, die ich in der Zeitung gelesen hatte und die mich gerade so interessierten. Ich kommunizierte normal, gab normale Antworten und reagierte normal darauf, wenn ich angesprochen wurde. Selbst mit meinen Eltern, die meine Veränderung zwar überrascht zur Kenntnis nahmen, das aber so wenig wie möglich zum Ausdruck brachten, redete ich mehr als je zuvor.
 

Bis zu den ersten Sommerferien hatte ich an Selbstbewusstein gewonnen, das vorher scheinbar überhaupt nicht existiert hatte, war sozusagen zu Kräften gekommen. Ich war nicht mehr unglücklich, sondern einfach nur froh, weil sich alles gebessert hatte.
 

Und trotzdem war natürlich immer noch der Gedanke an Nathan da. Man vergisst nicht einfach so jemanden, den man jahrelang geliebt, meinetwegen auch verehrt oder bewundert hat. Jetzt, wo ich endlich meine wichtigsten Ziele erreicht hatte, um mein Leben von Grund auf zu verändern oder zu verbessern, beschloss ich, mir neue zu setzen. Ich übertrieb es nicht, denn ich hatte gelernt, mich selbst einzuschätzen. Die Zeitspanne, die ich mir ausdachte, war ein ganzes Jahr. In dieser Zeit konnte sich noch sehr vieles verändern, und das tat es auch: ich begann, mit meinen Freundinnen am Wochenende auszugehen, traf noch mehr Leute und konnte bald nicht nur mit meinem kleinen Freundeskreis normal kommunizieren, sondern auch mit neuen, fremden Personen. Das Ziel, das ich mir setzte, war, mich am Ende des kommenden Schuljahres, also irgendwann in den nächsten Sommerferien, mit Nathan in Verbindung zu setzen.
 

Ich wusste, das mir das im Moment noch absolut nicht möglich war. Das Telefon zu benutzen war schwieriger als die direkte Konfrontation mit jemandem. Ich konnte keine Mimik sehen, wusste nicht, wie mein Gegenüber reagierte, und genau das was das, worauf ich am meisten achtete, weil ich es jahrelang geübt hatte, die anderen zu beobachten. Ich musste lernen, mich auch einmal nur auf Worte zu verlassen. Noch dazu hatte ich noch nie ein Gespräch mit Nathan geführt. Ja, er hatte schon mit mir geredet, was aber mit Sicherheit nicht heißt, dass ich ihm geantwortet hatte.
 

Mir stand ein ganz schönes Stück Arbeit bevor, aber ich war das ganze Jahr lang darauf vorbereitet. Ich bemühte mich. Ich telefonierte so viel mit anderen – in erster Linie natürlich mit meinen Freundinnen, ich machte mir Arzttermine aus, ich wählte die Nummer der Auskunft, statt einfach im Telefonbuch nachzusehen und ich rief in Geschäften an, wenn ich etwas brauchte und nicht hundertprozentig sicher war, ob es den Gegenstand dort gab. Ich ließ mir von Leuten, die ich beim Ausgehen kennen lernte, die Telefonnummer geben und rief sie an, um sie dann wieder einmal zu treffen. Dabei nahm ich es auch in Kauf, dass sie sich vielleicht gar nicht mehr an mich erinnerten – bis ich mich dazu überwinden konnte, brauchte es auch erst einmal ein paar Monate, denn es hätte bedeutet, dass ich mich lächerlich gemacht hätte, und das fürchtete ich immer noch. Als ich das erste Mal gesagt bekam: „Tut mir Leid, aber dein Name sagt mir jetzt ehrlich nichts mehr...“, war es ein ähnliches Gefühl wie damals, als Meredith mich zum ersten Mal direkt kritisiert hatte: es war bei Weitem nicht so schlimm, wie ich es erwartet hatte.
 

„Das macht doch nichts. Ich kann mich aber noch erinnern, dass du ziemlich nett warst.“, antwortete ich gelassen, während ich belustigt feststellte, dass ich eigentlich auch keine Ahnung mehr hatte, mit wem ich da überhaupt redete. Ich hatte die Nummer einfach nur gespeichert und war jetzt wieder darauf zurückgekommen. „Wir könnten ja heute Abend ins selbe Lokal gehen, vielleicht laufen wir uns ja über den Weg.“
 

„Aber klar, das ist in Ordnung. Also wir hätten vor, heut Abend ins ‚Pharao’ zu gehen.“, antwortete meine unbekannte Gesprächspartnerin.
 

„Super, dann schau ich da vielleicht mal vorbei. Vielleicht erkennst du mich ja wieder, wenn du mich siehst.“ In Wahrheit hoffte ich das von mir selbst, sonst würde ich das Mädchen, mit dem ich da telefonierte, gar nicht erst finden.
 

Auf jeden Fall kam ich mit dieser Art „Trainingseinheit“ gut weiter. Vielleicht denkt man sich ja, dass es ein wenig bescheuert ist, sich so anzustrengen, nur um sich bei jemandem zu melden, von dem man nicht weiß, was aus ihm geworden ist und ob er sich überhaupt noch an einen erinnert, aber schließlich hat mir das Ganze ja nicht nur in Sachen Nathan etwas gebracht. Ich schaffte es allgemein, ein klein wenig mehr zu riskieren.
 

Irgendwann war auch das zehnte Schuljahr vorbei, in dem ich zur Bestform aufgelaufen war (nun ja, vielleicht ist das übertrieben – schlechter würde es nicht mehr werden, und besser ging es immer noch), und kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag, zwei Jahre, nachdem ich Nathan das letzte Mal gesehen und gehört hatte, wollte ich mich wieder melden.
 

Es war aber etwas ganz anderes, als irgendwelche Leute anzurufen, die man selbst nicht wirklich kannte, bei denen es vollkommen egal war, wenn man sich am Telefon zum Idioten machte, vor allem, wenn sie einen ohnehin nie wieder erkennen würden.
 

An dem Tag, an dem ich plante, es endlich zu machen, saß ich mit einem Telefon und einer Klassenliste auf dem Bett und versuchte, mich zu sammeln. Mich auf den Anruf vorzubereiten. Wahrscheinlich saß ich eine Stunde nur herum, gab erst einmal die Nummer ein, ohne sie dann zu bestätigen, und wartete stattdessen so lange, bis sie wieder vom Display verschwand. Irgendwann warf ich das Telefon auf einem Haufen Kissen und stöhnte. Ich wusste, dass ich das so nicht hinkriegen würde.
 

Ich begann, mir etwas zu überlegen. Was konnte ich sagen? Was würde ich schon einmal sagen, wenn er sich nicht selbst meldete, sondern seine Mutter oder sein Vater? Oder seine Geschwister – ich wusste nicht einmal, ob er welche hatte. „Hier ist Olivia Candace. Ich bin eine frühere Mitschülerin von Nathan, und ich wollte mich wieder einmal melden.“ Und was würde ich antworten, wenn ich gefragt würde, warum ich mich denn überhaupt meldete? Gerade bei ihm? Ich wusste es nicht.
 

Trotzdem riss ich mich zusammen und überlegte weiter. Ich wollte mich wieder einmal melden, ja. Dieser Satz musste reichen. Sie würden nicht weiter fragen. Und dann konnte ich zu Dingen übergehen, wie es ihm ginge, was er inzwischen so machte, ob er mich überhaupt noch kenne.
 

Nach einer Weile hatte ich eine ungefähre Vorstellung davon, was ich sagen konnte. Ich schrieb es nicht auch noch auf, auch wenn ich mit diesem idiotischen Gedanken auch spielte, denn schließlich war es kein Referat und ich hatte doch gelernt, mich richtig mit jemandem zu unterhalten, aber ich hatte ein bisschen mehr Mut.
 

Ich nahm das Telefon wieder auf, und bevor ich wieder einen Rückzieher machen konnte, wählte ich die Nummer. Ich hielt mir den Hörer ans Ohr, wartete. Das Freizeichen ertönte nicht. Stattdessen eine penetrante Aneinanderreihung von Pieptönen und eine Frauenstimme, die mir sagte: „Kein Anschluss unter dieser Nummer...“
 

Ich legte auf, ließ die Hände sinken und starrte minutenlang an die Wand, mit einem Gefühl, als müsste ich gleich anfangen, zu weinen. Ich hatte es versucht, und es hatte nicht funktioniert. Welch Ironie. Diese Möglichkeit hatte ich noch nicht einmal in Betracht gezogen.
 

Aber mein Kämpfergeist war gerade erst erwacht, darum hatte ich noch nicht vor, aufzugeben. Ich legte das Telefon zur Seite und ging nach draußen in den Flur, um ein Telefonbuch zu holen. In zwei Jahren konnte sich so etwas leicht verändern, sie konnten umgezogen sein oder einfach nur eine neue Telefonnummer haben.
 

Es gab mehrere Greans im Telefonbuch, und ich hatte keine Ahnung, zu welcher Familie Nathan gehörte, denn ich wusste ja auch nicht, wie seine Eltern hießen. Ich fragte meine Mutter, ob sie es wusste, denn sie hatte die anderen Elternpaare ja schließlich an Elternabenden kennen gelernt. Nathans Vater hieße Thomas Grean, sagte sie mir.
 

Und so wählte ich die Nummer von Thomas Grean, diesmal, ohne zu zögern, und ich war diesmal sicher, dass ich es hinkriegen würde. Es konnte nicht mehr viel schief gehen. Ich hatte eine Nummer, und ich konnte dort anrufen.
 

Diesmal hörte ich das Freizeichen. Tuut. Tuut. Tuut. Und noch ein paar Mal. Nach einer schieren Ewigkeit meldete sich der Anrufbeantworter, und auch noch mit einer ziemlich langweiligen Nachricht. „Die Familie Grean ist zur Zeit leider nicht erreichbar...“, und so weiter.
 

Ich hörte gar nicht richtig zu, ich überlegte angestrengt, was ich sagen könnte, ob ich überhaupt etwas sagen wollte. „Hier ist Olivia, eine frühere Mitschülerin von Nathan... ich würde so gerne wieder einmal mit ihm reden, könnte er mich bitte zurückrufen...?“
 

Ich dachte skeptisch über diesen Satz nach. Irgendwann kam der Piepton. Ich öffnete den Mund, wusste aber noch immer nicht, was ich sagen sollte. Sekunden verstrichen, und dann legte ich auf.
 

Ich traute mich nicht, ich konnte nicht auf den Anrufbeantworter sprechen – das war schon einmal etwas, was ich nicht geübt hatte – und ich war jetzt entmutigt, ich wusste nicht, ob ich mich noch einmal überwinden konnte. Das war ein Fehlschlag gewesen, und ich neigte dazu, bei Misserfolgen schnell aufzugeben. Solche Misserfolge hatte ich in den letzten Jahren kaum gehabt, weil ich genug Glück gehabt hatte. Aber dieser eine reichte.
 

Ich legte das schnurlose Telefon wieder im Flur auf seiner Ladestation ab, und dann verzog ich mich zurück in mein Zimmer. Ich probierte es nicht noch einmal. Nicht an diesem Tag, und auch nicht an einem anderen. Und ich wurde auch nicht zurückgerufen.
 

*
 

Weitere zwei Jahre hatte ich nun wieder einmal mehr Glück als Mut. Jetzt hat sich Nathan bei mir gemeldet, über eine Nachricht in einer Community, und ich musste nichts machen. Ganz von alleine gewinne ich neuen Mut, wie man ihn durch positive Erlebnisse nun einmal erlangt, und jetzt sitze ich hier in meinem warmen Wohnzimmer, trinke eine Tasse Kakao und muss nebenbei nichts machen, außer mir den ganzen Abend noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen.
 

Das gefährliche Schweigen ist nie eingetreten. Natürlich, das Eis, das vielleicht gar nie existiert hat, war schon nach dem kurzen Gespräch über Philosophen gebrochen. Indem er mir dann erzählt hat, woher seine neuen Sorgen und Unsicherheiten kommen, hat er mir eigentlich schon ziemlich viel Vertrauen entgegen gebracht, möglicherweise schon einmal ein erster Schritt, um seine Art von Beziehungstrauma zu verabreiten. Ich bin froh und auch ein bisschen stolz, dass ich ihm schon jetzt irgendwie geholfen habe.
 

Nachdem ich mir ebenfalls ein Cola geholt habe, haben wir uns wieder über fröhlichere Themen unterhalten. Es war, als hätten wir Nathans unerfreuliche Geschichte überhaupt nicht angerissen, aber das ist ja auch in Ordnung. Es hilft nicht immer, alles auseinanderzunehmen. Manchmal muss man sich auch einfach von diesen Themen ablenken können.
 

Es ist gut gelaufen. Ab jetzt werde ich nicht mehr nervös sein, wenn wir uns wiedersehen, und ich bin sehr zuversichtlich, dass das passieren wird. Ich habe die große Hürde überwunden. Das Problem ist nur, dass Nat erst einmal wueder zu Nathan werden muss, bevor ich irgendwelche Chancen habe.
 

Ich überlege ein Weilchen, welche Freundin ich jetzt am besten anrufe. Weil ich mich gerade selbstsicher fühle, entscheide ich mich für Meredith. Es gibt nicht viel, was sie mir im Moment raten kann, denke ich, und vielleicht ist es auch gar nicht so sinnvoll, mich an sie zu wenden, aber auf jeden Fall werde ich mir nicht viel Kritik anhören müssen.
 

„Merry Loop.“, meldet sie sich ziemlich leger. Das könnte ein Künstlername sein, finde ich. Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass Meredith einmal etwas in dieser Richtung machen wird: Malen, Fotografieren, Singen, Schauspielen. Das alles scheint ihr irgendwie zu liegen und Spaß zu machen, es muss sich nur mehr herauskristallisieren, was ihr am meisten Freude bereitet. Sie darf sich auf keinen Fall auf Dauer damit langweilen, denn sonst wird sie nach kurzer Zeit die Flinte wieder ins Korn werfen.
 

„Hey, ich bin’s, Liv.“, sage ich. „Wow, gar nicht unterwegs um diese Zeit?“ Es ist nach Mitternacht, aber ich weiß, dass ich immer noch bei meinen Freundinnen anrufen kann. Gemma rufe ich zu späten Zeiten höchstens am Handy an (außer es handelt sich um einen Notfall), und wenn sie schon schlafen geht, schaltet sie es aus, bevor sie sich ins Bett legt. So kann es eigentlich nicht passieren, dass man sie aus dem Schlaf reißt. Sammy dagegen ist es vollkommen recht, wenn sie noch zu später Zeit angerufen wird, denn sie kann immer und überall sofort schlafen, also legt sie sich einfach wieder aufs Ohr, sobald wir aufgelegt haben. Und nebenbei freut sie sich über jede gute Neuigkeit oder tröstet bei Notfällen sofort. Meredith letztendlich braucht man sowieso nicht freundlich oder rücksichtsvoll zu behandeln, davon hält sie nichts. Unter der Woche ist sie außerdem kaum einmal vor zwei oder drei Uhr nachts im Bett, sie kostet es voll aus, dass sie als Studentin so gut wie nie früh aufstehen muss. Sie geht in Lokale, lädt irgendwelche Typen zu sich aus oder betätigt sich abends künsterlisch. Ich hoffe im Moment, dass sie nicht schon wieder einen jungen Mann im Haus hat.
 

„Nein. Ich bin am Malen.“, antwortet sie zum Glück. „Und, kommst du gerade vom Treffen mit Nattie?“
 

Oh je, das wird ja immer schlimmer. Auch wenn er nicht mehr ist, was er einmal war, ein „Nattie“ ist er zum Glück auch noch nicht. „Genau.“, bestätige ich. „Theoretisch ist es gut gelaufen. Ich meine, in dem Sinne, dass wir uns verstanden haben und uns nicht angeschwiegen haben.“
 

„Klingt okay. Aber irgendwas hast du jetzt trotzdem daran auszusetzen.“, schlussfolgert Meredith. Nebenbei kleckst sie wahrscheinlich auf einer Leinwand herum.
 

„Hm, ja. Er ist nicht ganz... also, er hat jetzt...“ Ich weiß nicht ganz, wie ich das formulieren soll. Ich bin gar nicht sicher, ob es ihm recht wäre, wenn ich das weitersage. Auch wenn er mir nicht explizit verboten hat, mich damit an Freundinnen zu wenden – wäre es nicht wieder ein Vetrauensbruch, wenn auch ein sehr kleiner, und würde ihn wieder zurückwerfen?
 

„Was ist er? Sieht er nicht mehr gut aus?“, rät Merry. Ach ja, typisch. Nett gesagt: sie ist ein visueller Typ. Oder weniger nett: sie ist einfach nur oberflächlich, denn um ihren Spaß mit den Kerlen zu haben, braucht sie keinen, mit dem man gut über das Leben philosophieren kann. „Wenn er sich nur fürchterlich kleidet, könnte eine einfache Typberatung helfen. Schick ihn zu mir und ich schaue, was ich machen kann.“
 

Oh ja. Ich bin doch nicht lebensmüde. Und so lieb ich sie habe – Meredith wäre genau das, was Nat momentan am wenigsten brauchen kann.
 

„Nein. Er hat ein Beziehungstrauma.“, erzähle ich ihr doch. Sie wird ihn vielleicht gar nicht so bald treffen (wenn ich mit ihm zusammenkommen will, wird sie das in ferner Zukunft wohl schon tun, aber erst, wenn er besagtes Trauma überwunden hat), also wird er wohl auch nicht erfahren, dass ich ihr das gesagt habe. „Er hatte eine Freundin, die ihn ein paar Mal betrogen hat. Er hat zwar Schluss gemacht, aber sie hat ihn aber immer wieder eingewickelt, und er hat ihr leider blind vertraut. Stell dir vor, mit fünfzehn oder sechzehn schläft die schon mit zwei Jungen auf einmal...“ Ich halte kurz inne. „Oh je, wahrscheinlich fällt dir diese Vorstellung gar nicht so schwer.“
 

„Hey! Ich mag vielleicht meinen Spaß haben und nicht immer sehr rücksichtsvoll sein, aber betrogen habe ich noch keinen.“, protestiert Meredith. „Außerdem habe ich noch keinen kennen gelernt, der es wert wäre, ihm nach der Trennung noch weiter nachzulaufen.“ Oh ja. Das ist Meredith. Irgendwann wird sie damit aufhören und sich bei jemandem niederlassen, aber davor wird sie noch ein paar Jahre lang das Partygirl sein, das sie momentan ist.
 

„Du hast Recht, sorry. Auf jeden Fall muss er das ganze noch aufarbeiten, bevor er eine neuen Beziehung anfängt. Das ist natürlich nicht so vorteilhaft für mich...“
 

„Wieso? Wenn du die bist, zu der er wieder Vertrauen fasst – du bist ja eine von diesen Vertrauens-Menschen...“ Wow, ich denke, niemand schafft es, ein Kompliment so unsensibel anzubringen wie Merry. Mir entfährt ein kurzes Lachen. „Dann könntet ihr schneller zusammen sein, als du denkst. Du bist auf dem richtigen Weg, Liv.“
 

„Danke.“, sage ich, einfach, weil es sehr ermunternd ist, von Meredith etwas Positives zu hören. Es war doch die richtige Entscheidung, sie anzurufen. „Dann will ich dich nicht weiter stören. Sei schön kreativ und erschaffe ein tolles Gemälde, mit dem du dann berühmt wirst.“
 

„Mache ich.“, sagt Merry ohne eine Spur von Humor. Ja, sie meint es wirklich ernst. Also momentan scheint ihre Karriere in Richtung Malerei zu tendieren. Vielleicht singt sie ja übermorgen wieder, in einer Band, die sie morgen Abend auftreibt. „Ciao.“

Behalt den Optimismus

Ich wache am nächsten Morgen einigermaßen früh auf, es ist erst halb neun, und diesmal liegt es nicht daran, dass das Telefon mich aus dem Schlaf reißt. Ich staune über meine biologische Uhr, aber ich fühle mich ausgeruht und ruhig. Die Nervosität, der Nervenkitzel, die freudige Erwartung auf das Treffen mit Nat hat sich jetzt eingestellt, und zurück bleibt nicht etwa Trauer darüber, dass es jetzt vorbei ist, sondern neue Vorfreude. Die Barrieren sind verschwunden – Leute, die ich kenne, kann ich ohne weiteres anrufen und anschreiben, wie ich ja erzählt habe.
 

Ich beschließe, mir Zeit zu lassen, weil ich noch viel Zeit habe, bis ich heute etwas unternehme. Ich muss mal wieder einkaufen, aber das kann mindestens bis Mittag warten. Erst einmal plane ich, mir jetzt gemütlich ein Frühstück zu machen und dann... mal sehen. Vielleicht telefoniere ich noch einmal mit Gemma oder Sammy, um ihnen von den Neuigkeiten zu erzählen, oder ich rufe bei Nat selbst an. Vielleicht kann ich ganz beiläufig das nächste Treffen mit ihm ausmachen. Mit einer einfachen Frage, wohin er heute oder morgen Abend geht.
 

Ich schlüpfe in ein paar bequeme Kleider – nicht so bequem wie das, was ich früher immer getragen habe, aber das war auch einigermaßen übertrieben. Ein warmer Pulli, weiß-blau geringelte Stulpen über die Wollsocken und eine Jogginghose. So gehe ich ins Wohnzimmer, um die Stereoanlage aufzudrehen, auch wenn ich es um diese Zeit noch nicht mit der Lautstärke übertreiben sollte, und mache mir mit meiner Lieblingsmusik im Hintergrund einen Kakao und Brötchen mit Butter und Marmelade. Ich bemerke, dass ich ziemlich fröhlich bin, und in den letzten Jahren ist meine Stimmung zwar allgemein vollkommen in Ordnung, aber trotzdem kaum je so ausgelassen wie jetzt.
 

Und das, obwohl eigentlich gestern nicht viel war, außer dass ich mich mit Nat unterhalten habe. Er hat mir Vetrauen geschenkt, ja, aber ich habe immerhin doch erfahren, dass es nicht leicht sein wird, an ihn heranzukommen. Vielleicht würde er beim ersten Annäherungsversuch einen Rückzieher machen. Also hat mich das bloße Wiedersehen, die Unterhaltung, so glücklich gemacht. Ich glaube, damit ist es wirklich so weit: ich fange wieder an, mich wirklich zu verlieben. Ich kenne es, nicht nur von damals, als ich dreizehn oder vierzehn war, auch nach den Zeiten mit Nathan habe ich mich ein paar mal verguckt. Grundsätzlich ist es ja eigentlich schön, man ist niemals sonst so anfällig dafür, durch die kleinsten Erlebnisse und Ereignisse Glücksgefühle zu verspüren. Eine gute Unterhaltung – Endorphine. Ein Lächeln – Endorphine. Ein nettes Wort oder gar ein direktes Kompliment – noch mehr Endorphine. Und Rückschritte, sich etwa ignoriert zu fühlen, sind nur von kurzer Dauer, lösen vielleicht einen Moment lang ein wenig Pessimismus aus, der sich dann aber wieder legt, um neuer Hoffnung Platz zu machen.
 

So schlecht stehen meine Chancen auch gar nicht. Da, da hat man es wieder, der ganze Optimismus fängt auch schon wieder an. Tatsache ist aber, dass Nat schon in den Mails mit mir über ein paar tiefergehende Themen gesprochen hat und das auch gestern Abend nicht abgelegt hat. Er hat mir erzählt, was sein Leben verändert hat. Von meiner Seite aus kann ich sagen, dass ich das nur Menschen anvertraue, die ich gut kenne. Wie eben zum Beispiel meinen Freundinnen. Auch Nathan habe ich das meiste davon gesagt, was nicht nur damit zusammenhängt, dass ich ihn noch immer sehr mag, sondern auch damit, dass er in seinen Nachrichten und mit seinen Worten sofort gezeigt hat, dass er eine ähnliche Einstellung hat wie ich: er respektiert andere, ist nicht oberflächlich, urteilt nicht vorschnell.
 

Aus all diesen Gründen bin ich sehr zufrieden mit mir, Nathan und der Welt, genieße mein Frühstück und die Musik, die durch die Wohnung tönt. Ich lasse mir Zeit für mich und meine Gedanken, und es ist alles in Ordnung. Als ich fertig bin, gehe ich kurz in die Küche, wasche den Teller ab, mache mir noch mehr Kakao und werfe mich dann wieder auf Sofa im Wohnzimmer. Ich sehe endlich die Serien an, die ich mir letzte Woche reinziehen wollte, futtere nebenbei ein bisschen Schokolade.
 

Als ich mit den ganzen Videos durch bin, ist es Mittag. Ich schiebe das Einkaufen noch ein wenig hinaus, denn die Vorlesung, zu der ich heute muss, ist erst um vier Uhr Nachmittags, und ich brauche für mich alleine nicht viel einzukaufen, das dauert höchstens eine halbe Stunde. Es würde sich sogar nach der Vorlesung noch ausgehen. Ich bin gerade so im fröhlichen Faulenzen drin, dass ich damit gleich weitermachen will. Eine Tätigkeit, die man besonders gut im Liegen machen kann, ist Telefonieren, denn man muss sich nicht bewegen, muss muss nur etwas sagen. Einfach und bequem. Aber ich weiß noch eine andere – den Laptop holen und ins Internet gehen, um Mails zu schreiben.
 

Da ist noch eine ausstehende Nachricht von Nat. Sie stammt von gestern, und ich habe sie mir nur kurz durchgelesen, bevor ich dann noch schnell unter die Dusche gehüpft bin, bevor ich mich mit ihm getroffen habe. Weil ich nur Wortfetzen wahrgenommen habe, lese ich sie noch ein weiteres Mal durch.
 

*
 

Liebe Liv,
 

Zu meinen Freunden: ich habe mittlerweile einen größeren Freundeskreis, ich versteh mich mit vielen (das wirst du ja selber kennen), nur gibt es natürlich immer favorite people. Es haben sich eigentlich gleich zu Anfang zwei „herauskristallisiert“, die ich als meine beiden besten Freunde bezeichnen würde.
 

Also... gegenseitig haben sie sich gar nicht gekannt, als ich sie kennen gelernt habe. Ich kenne Hector schon ein bisschen länger, etwas über zwei Jahre. Er studiert auch Politikwissenschaften, natürlich ebenfalls erstes Semester, und vorher ging er in meine Parallelklasse. Ich bin dann einmal mit ihm ins Gespräch gekommen, wobei wir bemerkt haben, dass wir ungefähr die selbe politische Einstellung haben (links-Mitte, falls es dich interessiert), und wir haben ein bisschen diskutiert oder eher über die selben Dinge gelästert, und das Gespräch ist dann eben abgeschweift. Ich bin übrigens froh, dass ich seine Meinung meistens teile. Du solltest ihn mal in einer Diskussion sehen. Du kannst einfach nicht gegen ihn argumentieren, er schlägt nämlich alles.
 

Den anderen, Immanuel, habe ich letztes Jahr in irgend einem Lokal kennen gelernt, ich habe echt keine Ahnung mehr, in welchem... ich weiß nur noch, dass er da rumsaß, ganz klischeehaft trübselig in sein Glas starrte, sodass man ihn direkt anreden musste, um zu fragen, was denn mit ihm los sei, und er erzählte dann aufgelöst (dreimal darfst du raten), dass ihn seine Freundin (er sagte mir damals nicht, wie lange sie zusammen gewesen waren, mittlerweile weiß ich, dass es bloß ein Monat war) gerade verlassen hatte. Eine Woche später, als ich dann aus Sympathie noch immer im Kontakt mit ihm war (ich wollte eben ein bisschen trösten und hab ihn mal zu einer Party mitgeschleppt, damit er sich amüsiert, anstatt in Gläser zu starren), stellte sich dann heraus, dass der Verlust gar nicht sooo schlimm war und er nur überdramatisierte, was übrigens ziemlich typisch für ihn ist. Manchmal ist er ein... entschuldige den Ausdruck, ein Klugscheißer. Es hilft nur, wenn man dann zeigt, dass man ihn nicht ganz ernst nimmt (das kann ich ganz gut, falls du dich noch erinnerst), dann schraubt er meistens schon einen Gang runter.
 

So, jetzt habe ich, denk ich, genug über meine Freunde geredet... jetzt muss ich auf deiner Seite mal weiterfragen. Du hast mir ja bis jetzt nur erzählt, dass du drei beste Freundinnen hast, denen du sehr vertraust. Wie sind sie so, woher kennst du sie? Ich will nicht zu neugierig sein oder nachbohren, aber ich finde, man sollte Leuten, die man gerne hat, auch eine Persönlichkeit zugestehen. :-) Falls du nicht so viel über sie sagen möchtest, musst du es ja auch nicht.
 

Ich freu mich, was darüber zu hören... und ich freu mich vor allem auf heute Abend. Einen schönen Nachtmittag bis dahin!
 

Liebe Grüße,
 

Nat
 

*
 

Ich werde sehr bereitwillig über meine Freundinnen schreiben, vor allem, wenn ich mit echtem Interesse nach ihnen gefragt werde. Normalerweise würde ich es aus Angst, andere damit zu langweilen, nicht machen, aber da es Nat wirklich zu interessieren scheint, werde ich über meine drei Schätze gerne ein bisschen schwärmen.
 

Was er erzählt, klingt auf der einen Seite typisch männlich, vor allem Immanuel und Nats Umgang mit ihm, und diese Art von Freundschaft hat einen gewissen ungezwungenen Charme. Man ist sich nicht böse, auch wenn man sich die ganze Zeit gegenseitig stichelt. Und trotzdem klingt es, als würde er die beiden ehrlich schätzen. Sonst würde er wahrscheinlich die schlechten Seiten gar nicht erst aufzählen, denn das macht man nur bei Menschen, bei denen es sowieso klar ist, dass man sie nicht schlecht machen möchte.
 

Ich beginne, in die Tasten zu hauen, um eine angemessene Antwort hinzukriegen.
 

*
 

Hallo Nat,
 

Erst einmal: der gestrige Abend hat echt Spaß gemacht, ich freue mich, dass wir uns so gut unterhalten konnten, denn es ist immer ein bisschen meine Sorge, dass mein Gegenüber und ich uns nichts zu sagen haben. Ich muss sagen, es ist wirklich schade, dass ich mich vor vier Jahren und länger nie auf ein Gespräch eingelassen habe.
 

Bei dieser Gelegenheit möchte ich dir auch einmal für dein Vetrauen danken. Du hast mir diese Geschichte erzählt, die dir wirklich am Herzen liegt, und das auch noch in einem direkten Gespräch. Und um dir das noch einmal zu versichern: mit der Zeit wirst du darüber hinwegkommen, so wie ich es auch geschafft habe. Vielleicht braucht es einen Auslöser, vielleicht sagst du dir irgendwann selbst: so will ich nicht weitermachen, ich verpasse zu viel.
 

Nun hast du mich nach meinen Freundinnen gefragt, und ich werde dir sehr gerne von ihnen erzählen. Sie sind alle drei etwas ganz Besonderes, aber jetzt könnte man vielleicht sagen, dass das jeder ist. Ich habe sie alle zum gleichen Zeitpunkt kennen gelernt, schon am ersten Schultag an der neuen Schule, und sie waren sofort nett und zuvorkommend, du kannst dir vorstellen, dass ich damit großes Glück hatte, denn sie hätten auch gemein sein können, was bei neuen Schülern auch oft genug vorkommt... leider.
 

Als erste hat mich aber Gemma angesprochen, das ist ganz typisch für sie. Sie ist aufgeweckt, auf ihre eigene Art dramatisch und neugierig. Das Besondere an ihr – oder eine ihrer vielen Besonderheiten, sagen wir bessser – ist, dass sie bei Unterhhaltungen immer versucht, sich der Stimmung des Gesprächspartners anzupassen. Also wenn sie das Gefühl hat, das Thema ist irgendwie fröhlich, dann grinst sie unkontrolliert, und wenn es etwas tragisch ist, zieht sie die Mundwinkel runter und sieht aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu heulen. Sie übertreibt ein wenig, aber es ist echt süß.
 

Als zweites ist da Sammy, eigentlich Samantha. Sie ist ruhig, lieb und verständnisvoll, sie studiert auch Psychologie und wird einmal die perfekte Therapeutin sein. Sie weiß genau, was sie sagen muss, um dich aufzubauen, und was sie besser nicht sagen sollte.
 

Letztendlich ist da noch Meredith, auch eine ganz extravagante Persönlichkeit. Anfangs, weil ich noch schüchtern war, hatte ich ziemlich große Angst, mit ihr zu reden. Klingt blöd, aber sie war ehrlich einschüchternd. Weißt du, Merry ist eine extrem harte Kritikerin. Sie lästert nicht, aber sie sagt jeden direkt ins Gesicht, was ihr nicht passt. Manchmal wirkt sie dadurch ein bisschen rücksichtslos, aber sie ist einfach nur brutal ehrlich. Und man ist meistens doch irgendwie froh, wenn sie einen auf etwas aufmerksam macht. Sie ist übrigens auch extrem vielseitig, ich weiß nicht (und sie selbst wohl auch noch nicht), ob sie nun Malerin, Sängerin, Schauspielerin oder doch etwas anderes wird. Vielleicht ja alles zusammen.
 

Ich hoffe, das war ausführlich genug. Ich hätte gute Lust, sie dir alle einmal vorzustellen. Hey, was mich zum nächsten Punkt bringt: wohin gehst du denn an deinem nächsten freien Abend? Wir könnten uns ja wieder absichtlich über den Weg laufen – ich würde mich echt freuen.
 

Schönen Abend und Nachmittag noch,
 

Liv
 

*
 

Ich schicke die Mail ab und bin, wider Erwarten, doch wieder ein bisschen aufgeregt... ob er auch diesmal wieder zusagen wird? Aber warum sollte er das nicht? Schließlich bin ich mir sicher, dass er sich gerne mit mir unterhält, das bilde ich mir nicht ein. Denn wenn man sich mit jemandem versteht, sich mit dieser Person auf einer Wellenlänge fühlt, dann ist das keine einseitige Sache. Wäre es das, dann wäre Nathan gar nicht erst auf das Gespräch eingegangen, und dann wäre vielleicht dieses gefürchtete Schweigen eingetreten.
 

Er wird auch nicht wegen seinen durch das Beziehungstrauma verursachten Ängsten plötzlich einen Rückzieher machen. Noch habe ich in keinster Weise durchblicken lassen, dass ich mehr von ihm möchte als Freundschaft und ein paar lockere Unterhaltungen. Vielleicht könnte ihn ein plötzlicher Annäherungsversuch in die Flucht schlagen, aber nicht, wenn ich es langsam angehe. Ich habe ja keine Eile. Zumindest theoretisch nicht: wenn ich vier Jahre warten konnte, meine Verliebtheit mit eingerechnet sogar sechs Jahre, dann werde ich auch jetzt noch ein paar Wochen oder sogar Monate aushalten. Geduld ist keien Schwäche von mir, normalerweise nicht. In diesem Zusammenhang habe ich sie eigentlich noch nie zu strapazieren versucht.
 

Ich werde sehen, was passiert. Erst einmal sollte ich nicht hier herumsitzen und warten, denn ich muss noch immer einkaufen. Es ist halb drei, vielleicht sollte ich langsam doch weitermachen... ein halbes Stündchen einkaufen, eine Viertelstunde Fahrt zur Uni, ab jetzt noch eineinhalb Stunden bis zur Vorlesung. Ich schnappe mir den Einkaufszettel, der in der Küche liegt, auf den ich unstrukturiert ein paar Lebensmittel gekritzelt habe, die mir gerade abhanden gekommen sind. Ich werfe einen kurzen Blick in den Kühlschrank und in die Brotdose, füge meinen Notizen noch ein paar Sachen hinzu und stopfe den Zettel dann in meine Geldbörse. Dann schaue ich, dass ich aus dem Haus komme.
 

Wie es der Zufall will, treffe ich Sammy im Supermarkt. Das ist typisch, ich sehe meine Freundinnen öfter wegen irgend eines Zufalls als weil wir uns verabredet haben. Das tun wir momentan übrigens viel zu selten, weil wir alle mit anderen Dingen beschäftigt sind. Gut, dass wir im Mail- oder Telefonkontakt bleiben, sonst würden wir es im Ernstfall noch schaffen, uns aus den Augen zu verlieren.
 

„Hallo Sammy!“, grüße ich sie fröhlich.
 

„Hi. Dass wir immer zur gleichen Zeit einkaufen gehen...“, lacht sie.
 

„Ja, ich schiebe es schon seit einer Weile hinaus. Also bist du auch schon ein wenig knapp dran? Du wirst doch heute Nachmittag auch zu der Vorlesung gehen, oder?“, will ich wissen, während ich eine Packung Nudeln aus einem Regal nehme.
 

„Klar. Aber das geht sich leicht noch aus. Und? Du musst mir noch was erzählen.“, erinnert Sammy.
 

„Oh, ja, das Treffen mit Nat! Es war toll, echt. Wir haben uns total gut unterhalten.“, erkläre ich in der Kurzzusammenfassung.
 

„Das glaube ich dir. Aber da ist noch was, oder?“ Sie hält den Kopf ein bisschen schief. Ich frage mich, wie Sammy das heraushören konnte.
 

Wenn ich es Meredith erzählen konnte, geht das bei Sammy erst recht. „Hmm... ich weiß jetzt, woran es liegt, dass er nicht mehr so selbstbewusst ist wie früher mal.“ Ich hebe bedauernd die Schultern.
 

„Woran denn?“, will sie sanft wissen. Wir stehen mittlerweile an der Wursttheke, aber vor uns ist eine relativ lange Schlange.
 

„Er hat ein... ähm, Beziehungstrauma. Eine Ex-Freundin von ihm hat ihn damals betrogen, ihn dann nach der Trennung so sehr eingewickelt, dass er ihr verziehen hat, und sie daraufhin wieder betrogen. Kurz gesagt – sie ist mit ihm so umgesprungen, wie es ihr gerade in den Kram gepasst hat.“, erzähle ich. Beim Gedanken an dieses Mädchen steigt wieder Wut in mir auf. Ich verstehe nicht, wie man so rücksichtslos sein kann. Meredith hat Recht: auch sie hat ihren Spaß, aber sie legt es nicht darauf an, andere so dauerhaft zu verletzen.
 

„Ich kann mir vorstellen, dass Nathan das sehr an die Nieren gegangen ist.“, meint Sammy mitfühlend. „Von dem her, was du mir von ihm erzählt hast, ist er ein sensibler Mensch.“
 

„Emotional auf jeden Fall. Aber ja, wahrscheinlich auch sensibel.“ Ich kann nicht weiterreden, denn ich komme jetzt endlich mit meiner Bestellung dran. Ich bitte um Extrawurst und Salami. Auch Sammy bestellt sich ihre Wurst, dann reden wir auf dem Weg zur Kassa weiter.
 

„Es ist zwei Jahre her, und noch immer schafft er es nicht, in einer Beziehungen Vertrauen zu gewinnen. Und, um einmal eigennützig zu sein, mir hilft das auch nicht besonders weiter.“, seufze ich.
 

„Es ist langsam Zeit, dass das verjährt, denke ich.“, meint Sammy. „Du kannst ihm dabei helfen, indem du ihm Grund gibst, dir zu vertrauen. Und wie ich dich kenne, schaffst du das auch.“ Sie drückt freundlich meinen Arm. Diese Geste gibt mir auf seltsame Weise Mut.
 

„Danke, Sam.“, nicke ich lächelnd.
 

Wir bezahlen, und nachdem wir unsere Einkäufe jeweils in Tüten gepackt haben, verabschiedet sie sich. „Ich muss noch schnell mal unter die Dusche.“, sagt sie mit einer kurzen Geste auf ihr leicht strähniges Haar.
 

„Gut. Na dann, bis später.“,
 

„Ja, bis später.“ Damit geht sie aus dem Geschäft und schnellen Schrittes nach Hause.
 

Auch ich gehe kurz darauf mit Sack und Pack heimwärts. Nachdem ich dort die Einkäufe in den Kühlschrank beziehungsweise in die Brotdose geräumt habe, ist es mittlerweile kurz nach drei. In einer halben Stunde muss ich losfahren. Ich sehe noch einmal kurz nach, ob Nathan mir irgend etwas zurückgeschrieben hat, aber ich habe keine E-Mail von ihm erhalten. Aber egal, ich könnte sie jetzt sowieso nicht gleich beantworten und nur überfliegen. Also gehe ich mich besser einmal umziehen.

Es kann auch zu leicht sein

Die erwartete Antwort kommt erst am nächsten Vormittag. Nathan sagt, er sei ein wenig im Stress, da er bald Prüfungen in Informatik hätte, und er klingt auch so, denn in der Nachricht hält er sich kürzer als sonst. Aber das Gute ist, dass er einem neuen Treffen zustimmt. Er sagt, dass diesmal ruhig er das Stückchen in meine Stadt fahren könnte und dass ich doch etwas vorschlagen soll.
 

Jetzt bin ich am Überlegen, ob ich bei ihm anrufen soll. Mir ist der Gedanke schon gekommen, nachdem ich die Mail geschrieben habe, aber dann habe ich mir gedacht, dass es ein bisschen aufdringlich wäre, nach dem Mailen sofort auch noch anzurufen. Jetzt bietet es sich zwar an, aber wenn er im Stress ist, weiß ich nicht, ob er ein Telefonat auch noch gebrauchen kann.
 

Mit dem Gedanken an meinen Versuch vor zwei Jahren entscheide ich mich dafür, dass ich es ruhig machen kann. Ich werde eben einfach fragen, ob ich ihn im Moment störe und später noch einmal anrufen soll. Es ist doch eigentlich kein Problem, ich mache es nur zu einem, wenn ich zu lange zögere.
 

Und falls er diesmal wieder nicht ans Telefon gehen sollte, wie das erste, letzte und einzige Mal, als ich versucht habe, ihn anzurufen (das eine Mal nicht mitgerechnet, als er mich letzte Woche aus dem Bett geklingelt hat und ich dann zurückgerufen habe), werde ich nicht demotiviert sein wie damals. Ich werde es einfach ein anderes Mal wieder probieren. In den weiteren zwei Jahren hat sich nämlich noch mehr geändert.
 

Ich habe mir Nathans Nummer aufgeschrieben, als ich ihn vergangene Woche zurückgerufen habe. Sie steht auf einem einfach gelben Post-It, das an der Heizung im Flur klebt. „Nathan Grean“ habe ich dazugeschrieben, und eigentlich hätte es auch ein einfaches „Nat“ getan. Aber ich dachte mir, unter der Flut von ausgeschriebenen Namen, die sich da schon sammeln (es ist fast ein halber Block Post-Ist), sähe es seltsam aus. Zu differenziert von den anderen.
 

Ich wähle und stelle fest, dass ich überhaupt nicht nervös bin. An das Telefonieren habe ich mich schon seit langer Zeit gewöhnt und an Nat mittlerweile ebenfalls. Es ist keine so große Sache mehr. Nicht mehr so ein nervöses Prickeln, das mich minutenlang überlegen lässt, ob ich das auch wirklich machen soll, ob ich denn auch weiß, was ich sagen kann. Jetzt, wo sich das Gefühl eingestellt hat, vermisse ich es fast ein wenig. Manchmal ist es ganz nett, ein wenig aufgeregt zu sein, denn die Freude steigert sich dadurch, und selbst Entäuschungen werden abgeschwächt, da man sich dann zumindest nicht mit der gefürchteten Situation konfrontieren muss und sie noch ein bisschen hinauszögern kann.
 

Diesmal ertönt das Freizeichen, natürlich. Und nachdem ich es viermal läuten lassen habe, hebt Nathan ab. „Nathan Grean.“, meldet er sich.
 

„Nat. Ich bin’s, Olivia.“, antworte ich.
 

„Ah, Liv.“ Ich höre ein Lächeln in seiner Stimme. „Wie geht es dir?“
 

„Gut.“ Ich überlege, ob ich das noch weiter ausführen kann, aber mir fällt nichts ein. Dass heute noch nicht viel bis gar nichts passiert ist, muss ich ihm ja wohl nicht erzählen. „Und dir?“
 

„Auch gut, danke.“
 

„Also, ich glaube, du kannst dir denken, wieso ich anrufe... wir wollten uns doch noch mal treffen.“, erinnere ich.
 

„Aber ja, natürlich. Und diesmal werde ich das Stückchen fahren, wie gesagt.“, beteuert er noch einmal.
 

„Ja, das ist mir Recht.“, sage ich belustigt. „Wie wäre es mit dem ‚Pharao’? Das ist nicht mehr so voll wie früher, aber immer noch mein Lieblingslokal.“ Es war eines der ersten, die ich besucht habe. Ich war bereits mit sechzehn dort, als es verraucht war, auf jedem Tisch ein Grüppchen Jugendlicher mit Wasserpfeife saß und die Musik viel zu laut und nebenbei auch vom Stil her eher Lärm war. Das alles hat sich im Laufe der Jahre verändert, und das „Pharao“ ist für Jugendliche out geworden. Für mich war es immer genau richtig, es ist sozusagen mitgewachsen.
 

Als Nathan zustimmt (viel wird ihm ja nicht übrigbleiben, man schließt ein Lokal ja nicht von vorneherein nur wegen dem Namen aus und mehr weiß er ja doch nicht davon), erkläre ich ihm die Buslinie und den Weg von dort zum Lokal, der leider ein bisschen komplizierter ist als der, den ich gehen musste, aber ich traue ihm schon zu, dass er sich nicht gleich verirren wird.
 

Heute ist Freitag, wir verabreden uns für morgen um halb neun. Ich sage Nathan noch, dass ich wahrscheinlich meine Freundinnen mitbringen werde, und schlage ihm vor, dass er das ruhig auch machen kann. Ich weiß nämlich, dass sich momentan wahrscheinlich sowieso nicht viel zwischen Nat und mir ergeben wird, und selbst wenn, können wir uns immer noch zurückziehen, seine Freunde werden sich schon mit meinen verstehen.
 

*
 

Bis zum Freitag Abend passiert nicht viel – es passiert sogar erschreckend wenig. Ich rufe irgendwann noch Sammy, Gemma und Meredith an, die sich alle drei die Zeit nehmen wollen. Das wundert mich auch absolut nicht, meine Vermutungen: Gemma, weil sie neugierig ist, Sammy, weil sie nett ist und Merry, weil sie gute Aussichten wittert, wenn Nathan seine beiden Freunde mitbringt.
 

Der Nervositätskontrast zwischen Mittwoch und heute, auch wenn nur zwei Tage dazwischen liegen, ist verheerend und fast unglaublich. Es ist wie wenn man vor einem Erlebnis steht, das man sich fürchterlich vorstellt, und nachdem man gemerkt hat, dass es das gar nicht ist, ist man beim nächsten mal gelassener. Nur, dass ich mir ein Treffen mit Nathan weder am Mittwoch noch heute in irgend einer Weise furchtbar vorstelle.
 

Ich ziehe ohne besonders langes überlegen ein schwarzes Shirt im Empireschnitt, das mit pinkfarbenen Kirschen bedruckt ist, und meine Röhrenjeans an. Dann ziehe ich wegen der lausigen Kälte draußen noch einen schwarzen, weichen Wollpullover mit weitem Rollkragen an.
 

Es ist erst kurz vor acht, als ich aus dem Haus gehe, und ich bin in fünf bis zehn Minuten drüben beim „Pharao“. Ich habe mit Meredith, Samantha und Gemma ausgemacht, dass wir uns früher treffen, allerdings ohne einen besonderen Grund dafür zu haben.
 

„Heeey, Liv.“, werde ich schon beim Eintreten empfangen. Gemma, die erste, die ich dort antreffe, sieht freudig und aufgeregt aus. Ich habe sie jetzt sicher schon eine Woche nicht mehr gesehen und schließe sie erst einmal in die Arme. Ihre dunklen Haare ringeln sich an den Spitzen elegant, und sie riecht irgendwie nach Fruchtgummi. Das liegt an dem Duschgel, das sie verwendet, irgend etwas von Body Shop, glaube ich. „Wie war deine Woche?“, fragt sie, während sie ein Glas mit irgend einem Getränk (bei Gemma tendiere ich zu der Annahme, dass es sich sehr wohl um etwas Alkoholisches handelt), das sie irgendwo abgestellt haben muss, wieder herzaubert, und ich meine Jacke ausziehe und auf einen bereits behängten Garderobenständer in einer Ecke hänge.
 

„Angenehm, wenige Vorlesungen, nicht sehr stressig.“, fasse ich kurz. „Und wie war’s bei dir?“
 

„Auch so in der Art.“ Sie zuckte ihre Schultern und geht in Richtung eines Tisches, und ich folge ihr. „Sammy ist noch nicht da, Mer ist da irgendwo. Sie hat sich unter irgend eine Gruppe gemischt.“ Gemma hebt ein bisschen ihre Augenbrauen und nippt an ihrem Drink. Ich schiele durchs Lokal und erblicke irgendwo zwischen ein paar fremden Mädchen- und Männerrücken den bekannten honigblonden Haarschopf. Seit dem Sommer hat Meredith sich einen frechen Kurzhaarschnitt verpassen lassen, einen Bob, bei dem ihre Haare in alle Richtungen stehen. Jetzt kann man selbst an ihrer Frisur ihren Charakter erkennen. Es steht ihr ausgezeichnet.
 

Meredith trägt einen weinroten, dünnen Pulli und darüber ein elegantes schwarzes Gilet zu einer ebenfalls schwarzen, eng sitzenden Hose und Stiefeln mit hohen Absätzen. Wie immer stilvoll, wenn auch nicht ganz so extravagant wie sonst.
 

Ich grinse Gemma zu. „Vielleicht gesellt sie sich ja später doch irgendwann zu uns.“
 

„Ich nehme an, das kommt darauf an, wie gut Nathan und seine Freunde aussehen.“, vermutet Gemma und schürzt die Lippen.
 

„Hey, Mädels.“, kommt es auf einmal von links, und Sammy ist aufgetaucht. Schon wieder hat sie ganz seidige, frisch gewaschene Haare und sieht sanfter und entspannter aus denn je. Ich drücke ich sie kurz, und Gemma tut es mir gleich.
 

„Und? Ist unsere Partykönigin auch schon da?“, fragt Sammy sinnloserweise. Gemma und ich nicken unisono mit den Köpfen in Merediths Richtung. Samantha stößt ein kurzes, helles Lachen aus und lässt sich dann auf dem dritten Stuhl an unserem Tisch nieder.
 

„Und, wie geht es euch momentan? Auch keinen Stress momentan?“, fragt sie, nachdem sie sich ein bisschen zurückgelehnt und die Beine übereinandergeschlagen hat. Sammy trägt einen Tweedrock und dunkelbraune Stiefel, und sie hat wie immer eine gewisse Eleganz an sich. Die Frage stellt sie eigentlich grundsätzlich eher Gemma, denn mich trifft sie regelmäßig und teilt immerhin auch ein Studienfach mit mir.
 

„Noch nicht. Die Prüfungen rücken dann sicher früher näher. als mir lieb ist.“, sagt Gemma ein wenig gleichgültig. Momentan sind wir in Smalltalk vielleicht alle nicht so bewandert. Aber mir fällt gerade etwas ein.
 

„Ich bin am Überlegen, pb ich Philosophie schmeißen soll.“, verkünde ich. Die Entescheidung hängt übrigens wirklich nicht ausschließlich mit Nathan zusammen – ich habe schon vor dem Gespräch mit ihm darüber nachgedacht, es zu lassen. „Am Anfang fand ich es noch interessant und fesselnd, aber mittlerweile kommt mir vor, am Philosophieren ist überhaupt nichts Besonderes. Irgendwie scheinen das alle Leute zu werden, die entweder nichts Vernünftiges studiert haben oder zu viel.“
 

„Am Anfang fandest du die ganzen verschiedenen Philosophien doch noch interessant.“, meint Sammy.
 

„Hmm, schon. Da kannte ich mich auch noch nicht so aus... wir haben in der Schule ja ein paar kurz angeschnitten, und da haben mich die komplexen Modelle fasziniert. Ihr wisst schon, die Erkenntnistheorie mit a priori und a posteriori...“, erinnere ich.
 

„Ooh je. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich glaub, das habe ich schon damals nicht gecheckt.“, stöhnt Gemma.
 

„Ich auch nicht, und gerade das fand ich so anziehend daran.“, grinse ich.
 

„Du bist schon ein bisschen irre.“, sagt Gemma liebevoll.
 

Mittlerweile ist es kurz vor halb. Ich gehe mir etwas zu Trinken bestellen, wieder nur ein Cola, denn an einen eher auf Gespräche ausgerichteten Abend wie diesem habe ich schließlich keine Lust, mit lauter Besoffenen reden zu müssen, also werde ich mich selbst auch nicht vollaufen lassen.
 

Kurz nachdem ich mich wieder niedergelassen habe, taucht auch schon Nathan mitsamt zwei anderen Typen auf. Der eine ist blond, mit wirren Haaren, einem offenem, daueramüsiertem Blick und einem schelmischen Blitzen in den blauen Augen und wirkt ein wenig überheblich, aber durchaus nicht auf unsympathische Art. Der andere hat schwarze Locken, einen Drei-Tage-Bart und sieht intelligent aus, aber nicht auf unsympathische Klugscheißer-Art. Ich wette, der Blonde ist Immanuel und der mit den Locken Hector.
 

„Hallo, Liv.“, sagt Nathan, gibt mir die Hand und küsst mir links und rechts auf die Wange. Dann geht er sofort zur Vorstellung über. „Das ist Immanuel, und das ist Hector.“ Na also, ich hatte Recht. Ich gebe auch ihnen die Hand.
 

„Das ist Gemma, und das ist Samantha.“, stelle auch ich meine Freundinnen vor. Kollektives Händereichen. Auch Meredith scheint gewittert zu haben, dass langsam ein paar Leute mehr auftauchen, und löst sich von der Gruppe, die sie vorher neu kennen gelernt hat. Sie begrüßt Sammy und mich und dann die männlichen Neuankömmlinge.
 

Irgendwann ist die ganze Begrüßerei endlich abgeschlossen, und wir quetschen uns zu siebt um einen Tisch. In der großen Runde ist es kaum möglich, dass Mangel an Gesprächsthemen herrscht, aber diese Furcht hätte ich diesmal ohnehin nicht gehabt. Wir plaudern, alle lernen sich kennen. Meredith versteht sich wie angenommen sofort mit den Jungs, besonders mit Immanuel – Charakter wie die beiden ziehen sich einfach an – und beginnt sofort zu flirten, was sie aber auf erstaunlich unaufdringliche Art beherrscht. Hector erzählt eine ganze Menge, aber nie auf die Weise, dass man den Verdacht bekommt, dass er sich gern reden hört. Er verblüfft uns mit irgendwelchen Fakten, bringt Anekdoten an und macht dann immer wieder zurückhaltende Pausen, da er sich offensichtlich trotz seiner Redseligkeit nicht in den Vordergrund drängen will. Ich mag Nathans Freunde auf Anhieb, und umgekehrt scheint auch er sich mit meinen Mädels zu verstehen.
 

Als ich mir aber ein neues Getränk holen gehe, folgt Nat mir überraschenderweise.
 

„Hey.“, sage ich sinnloserweise.
 

„Hey.“, grinst er. „Sie verstehen sich ja scheinbar alle gut.“
 

„Allerdings.“ Ich lächle und hieve mich auf einen Barhocker. Ich bestelle mir mein neues Getränk, und Nathan tut es mir gleich, während er sich auf den Hocker neben mir setzt. Dann werde ich eben eine Weile an der Theke sitzen bleiben, solange mir Nathan Gesellschaft leistet. Die Gruppe ist nett, aber Zweisamkeit momentan noch netter. Da ich keine Erwartungen habe, können sie ja auch nur übertroffen werden. „Und, wie gefällt es dir hier?“, frage ich, weil mir sonst nichts einfällt.
 

„Ich finds gut hier. Nicht zu düster und stickig, die Musik ist auch gut.“, sagt er mit einem zufriedenen Nicken.
 

„Ja. Darauf haben sie auch lange hingearbeietet.“, lache ich. Er lächelt zurück, und wir schweigen einen Moment. „Wie geht es dir eigentlich?“, will ich schließlich wissen. Er kann die Frage auslegen, wie er will. Entweder auf den Stress bezogen oder auf sein Beziehungstrauma, wobei ich nicht glaube oder sagen wir: nicht zu hoffen wage, dass es sich in den letzten Tagen gravierend gebessert haben kann.
 

„Die Prüfung war gestern, also hat sich der Stress wieder ein bisschen gelegt.“ Natürlich entscheidet er sich für diese Richtung.
 

„Und wie war’s? Wie ging es dir bei der Prüfung?“
 

„Ich glaube, das hat schon gepasst.“ Er zuckt die Schultern.
 

Ich ziehe in Betracht, doch noch nach der anderen Sache zu fragen. Aber was sollte ich denn genau sagen? ‚Hast du in den letzten Tagen zufällig wieder gelernt, Vertrauen zu fassen?’ Das geht nicht wirklich, also verwerfe ich die Idee.
 

Die Situation ist ein wenig angespannter als vor ein paar Tagen. Auf meiner Seite liegt es daran, dass ich im Moment einen Handlungsdrang habe. Ich möchte irgend etwas sagen oder tun, bin auf einmal ungewohnt ungeduldig, würde ihn gerne küssen oder wenigstens richtig flirten. Aber all das traue ich mich nicht, solange die Gefahr besteht, dass eine falsche Bewegung ihn in die Flucht schlägt.
 

Nathan scheint irgendwie meine Gedanken lesen zu können. „Ich hab über das nachgedacht, was du mir gesagt hast... und ich glaube, ich sollte echt langsam über all das hinwegkommen.“, sagt er. Ich sehe ihm fragend ins Gesicht und versuche, irgendwie zu ergründen, ob das irgend eine Aufforderung sein soll, oder ob er mir das bloß sagt, weil er mir damit danken will. Und meint er es ernst? Will er sofort damit anfangen, etwas zu ändern? Ich finde die Antworten nicht, und darum weiß ich auch jetzt nicht, ob ich etwas machen soll.
 

„Das ist gut. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, und du solltest langsam einfach wieder du selbst werden.“, sage ich einfach und nicke ihm lächelnd zu. Dann nippe ich einmal an meinem Getränk, um eine Weile nichts sagen zu müssen.
 

Nat dreht sein Glas wieder zwischen den Händen hin und her, wie am Mittwoch. Er wirkt, als wollte er gleich noch mehr erzählen – noch mehr Persönliches. Ich liege mit der Annahme richtig, wie sich herausstellt. „Ich selbst... ich selbst war mal sehr extrovertiert. Ich habe alle Leute angesprochen, die mir interessant vorgekommen sind, und das sind für mich sehr viele. Ich muss an ihnen nur einen besonderen Gesichtsausdruck, extravagante Gestik oder auch einen ungewöhnlichen Kleidungsstil entdecken, dann wird schon mein Interesse geweckt. In den letzten Jahren hat sich diese Ansicht gewandelt. Ich wollte nicht mehr mit Leuten reden, nicht dazu gedrängt werden, neues Vetrauen aufzubauen. Dieses Mädchen hat mir den Reiz am Vetrauen, wenn man es überhaupt so nennen kann, zunichte gemacht. Sie ist auf dem Vertrauen, das ich ihr entgegengebracht habe, herumgetrampelt und hat es gegen mich verwendet, selbst dann noch, als es mit uns eigentlich schon vorbei war oder vorbei sein hätte müssen.“ Er sieht auf. „Wie kann es sein, dass eine einzige Erfahrung alles so umkrempelt? Wie können sich all meine Prinzipien wegen einer einzigen Person verändern? Wie kann sich mein Leben wegen jemandem verändern, an dem mir nicht einmal mehr etwas liegt, seitdem ich eingesehen habe, wie unfair, wie brutal – eben auf psychische Weise – sie mich eigentlich behandelt hat?“
 

Er ist nicht traurig darüber, sondern wütend. Seine Mundwinkel zittern, und seine Faust, die auf der Theke liegt, sieht verkrampft aus. Es zeichnet sich alles auf seinem Gesicht ab: er spürt, wie die beiden letzten Jahre einfach so an ihm vorbeigezogen sind, eine Art Trance, aus der er sich einfach nicht befreien konnte. So viele Monate sind ihm einfach durch die Finger geschlüpft, verronnen wie der Sand in einer Sanduhr, ohne dass sich etwas verändert hat. Er hat es trotzdem geschafft, Freunde zu finden, aber auch ihnen vertraut er wahrscheinlich nicht nicht vollkommen. Er kann sich einfach noch nicht wieder hingeben. Sich fallen lassen, auch wenn er merkt, dass jemand hinter ihm steht, denn er weiß einfach nicht sicher, ob derjenige ihn wirklich auffangen will.
 

Ich habe das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen, aber ich muss mich gar nicht erst entscheiden, ob das überhaupt sinnvoll ist, ob es ihm den Halt geben würde, den er braucht. Wir sitzen auf Barhockern, und in dieser Position ist es ohnehin kaum möglich. Allerdings lege ich tröstend eine Hand auf seinen Arm. Ich merke, wie er sich wieder ein wenig entspannt. Seine Faust löst sich, er streckt die Finger wieder aus. Seine Gesichtszüge glätten sich kaum merklich.
 

„Liv...“ Jetzt adressiert er mich direkt, und es wird auch ein Satz kommen, den er auf mich selbst richtet. „Irgendwo weiß ich doch, dass du jemand bist, dem ich vertrauen kann. Du bist jemand, der nicht auf den ersten Blick urteilt. Vielleicht urteilst du gar nicht. Ich weiß, dass du Dinge, die ich dir erzähle, nicht gegen mich verwenden würdest. Und trotzdem kann ich mich noch nicht vollkommen entspannen, die Barriere ist noch immer da... sie ist im Weg. Auch wenn ich sie schon lange durchbrechen will, und jetzt besonders.“
 

Mein Herz summt in meiner Brust, friedlich, froh und erwartungsvoll. „Aber du hast doch bereits Vertrauen gezeigt. Du hast mir erzählt, was deine Probleme sind, du hast mir sogar den Grund dafür erzählt. Das ist doch das, was du auf dem Herzen hast. Oder ist da etwa noch etwas? Etwas tieferliegendes?“ Dass ich das sage, ist eher ein Bluff. Ich bin mir sicher, dass es nicht noch mehr Ursachen gibt. Als er mir die Geschichte erzählt hat, war da viel zu viel Emotion, als dass er sie erfunden haben könnte. Und ich möchte das auch gar nicht herunterspielen, denn wie ihn dieses Mädchen behandelt hat, genügt schon für eine emotionale Krise. Vielleicht müssen schon vorher Zweifel da gewesen sein, aber auch die sind begründet. Gerade mit dreizehn und vierzehn hatte er noch diese ganzen Bewunderer, ungefähr die Zeit, in der es vielleicht mit den ersten jugendlichen Problemen beginnt. Er hatte damals niemanden, der sich für ihn persönlich interessierte. Gerade, als er erste beste Freunde und Vetraute bekam, muss kurze Zeit später auch diese Freundin gekommen sein, die dieses neu erworbene, erstmalige Vertrauen wieder in Stücke riss.
 

„Nein.“ Er schüttelt den Kopf. „Nein, das meine ich überhaupt nicht... ja, ich habe dir etwas anvertraut, aber...“ Er macht eine kurze Pause. „Vertrauen in diese Richtung habe ich wieder erlernt. Ich rede auch mit meinen Freunden, ich weiß, dass sie mir zuhören und nach Möglichkeit helfen werden.“
 

Dann meint er also wirklich die andere Art von Vertrauen. Und zwar die Art, dass man seine Gefühle an jemanden verschenkt. Immer noch sieht er die Gefahr, dass am Ende damit gespielt wird, dass sie ausgenutzt oder einfach nicht erwidert werden. Aber wenn er so denkt, müssen diese Gefühle bereits irgendwo vorhanden sein, versuchen wollen, durch die Oberfläche zu brechen, auch wenn er sie noch unterdrückt. Atemlos sehe ich ihn an.
 

„Ich habe Angst.“, sagt er ganz leise, kaum hörbar. Aber dieser Satz trägt so viel Verletzlichkeit in sich, so viel Schutzbedürftigkeit und doch auch Offenheit, dass ich davon gerührt bin.
 

„Es gibt immer beide Seiten. Um zu Glück zu kommen, muss man Risiken eingehen. Das Glück ist auf der anderen Seite eines Flusses, über den man irgendwie kommen muss. Und es kann sein, dass der Strom zu reißend wird und man abgetrieben wird, aber wenn man nicht versucht, hinüberzukommen, muss man immer auf der anderen Seite bleiben.“ Ich weiß nicht, ob ich mit der Metapher nicht zu dick auftrage. Aber ich finde sie überzeugend und anschaulich.
 

„Und wenn am Ende des Flusses ein Wasserfall ist? Ich glaube, noch einmal ertrage ich es nicht, wenn es schief geht. Dann werde ich mich niemals wieder trauen.“
 

„Wenn du dich nie traust, weil die Gefahr besteht, dass du dich bei einem Fehlschlag nicht mehr traust, dann traust du dich doch erst recht nicht.“, grinse ich. Aber ich lege den belustigten Gesichtsausdruck sofort wieder ab. Bei diesem Thema, wo so viele Unsicherheiten liegen, sollte ich keinen Humor einbauen. Nathan könnte sich schnell ausgelacht fühlen. Doch er lächelt zurück.
 

„Das klingt zwar ziemlich kompliziert, aber ich glaube, dass du damit völlig Recht hast.“ Er rutscht vom Barhocker, und ich weiß nicht, was er jetzt vor hat. Ist er im Begriff, zurück zu den anderen zu gehen? Ich stehe selbst auch auf und stehe ihm direkt gegenüber. Nathan rührt sich nicht, wirkt unschlüssig, und so bleibe auch ich, wo ich bin, und warte ab. Ich atme seltsamerweise vollkommen ruhig, obwohl ich so eine Ahnung habe, was jetzt passieren könnte.
 

Seine Hand hebt sich kaum merklich, dann lässt er sie wieder sinken. Ach du meine Güte, ich kann diesen Moment doch nicht einfach verstreichen lassen. Er traut sich nicht, den Schritt zu tun, aber wieso kann ich nicht nachhelfen? Wieso muss es von ihm ausgehen?
 

Ich warte noch ein paar Sekunden, obwohl mir kein Grund einfällt, warum ich das tun sollte. Doch als ich sehe, dass er den Kopf senkt, scheinbar im Begriff ist, loszugehen, trete ich nach vorne. Ich greife nach seinem Handgelenk, damit er nicht geht, er bleibt stehen, und ich küsse ihn. Noch während ich es tue, habe ich auf irgend eine Weise das Gefühl, dass es keine gute Idee ist.
 

Ein Kuss mag noch nicht viel sein. Er mag zu nichts binden, nicht viel beweisen und in einem Fall wie diesem eine sehr impulsive Aktion sein. Aber er kann etwas bedeuten, etwas hervorrufen, und für Nathan heißt es, dass er es zulassen muss, etwas zu fühlen. Es muss noch keine Liebe sein, aber falls da irgendwo Gefühle in irgend einer Art für mich in ihm schlummern, dann kommen sie jetzt mit Sicherheit hoch.
 

Vielleicht hätte ich ihm diese Entscheidung lassen sollen.
 

Es ist kein schlechter Kuss, aber es ist auch kein langer Kuss. Es liegt daran, dass ich ihn beende, als mir klar wird, dass es nicht... was überhaupt? Nicht fair war? Nicht passend? Einfach nicht notwendig?
 

„Tut mir Leid.“, sage ich und lasse meine Stimme mit voller Absicht emotionslos klingen. Eher so, als wäre ich ihm auf den Fuß getreten oder so etwas. Ich möchte einfach nicht zu ergeben klingen.
 

Ich beiße mir auf die Unterlippe, drehe ich mich herum und gehe zurück zur Gruppe. Sekunden nach mir setzt sich auch Nathan in Bewegung und folgt mir.

Ein Schlag ins Wasser

Ich liege auf der Couch, halb in meine warme, bunte Patchwork-Decke eingewickelt, und starre auf die Zimmerdecke. Ich bin schon wieder hier eingeschlafen, diesmal mitten unter dem Lesen. Das Buch liegt aufgeschlafen auf meinem Bauch, was mir nicht gefällt, weil der Buchrücken dadurch einen Knick bekommen hat, den ich normalerweise zu vermeiden versuche, und weit bin ich auch nicht gekommen. Ich konnte mich nicht so recht auf das Lesen konzentrieren, mir sind ständig die Augen zugefallen und irgendwann war ich dann, wie es scheint, ganz weg.
 

Als mir der gestrige Abend wieder einfällt, bekomme ich irgendwie keinen Schock irgendeiner Art. Ich denke bloß resignierend „Ach das...“ und fühle mich ein wenig niedergeschlagen. Nicht wegen Nathans Reaktion auf den Kuss, die ja im Grunde gar nicht da war, oder zumindest nicht so, dass ich es gemerkt hätte. Als wir zurück bei den anderen waren, die sich angeregt unterhalten haben, haben wir uns nach kürzester Zeit wieder an den Gesprächen beteiligt, aber wir haben uns nicht mehr in die Augen gesehen. Vielleicht liegt es auch an mir. Schließlich bin ich seinem Blick ausgewichen. Ob er es auch so gemacht hat, kann ich darum gar nicht sagen.
 

Allerdings hat Nathan auch nicht gegen meine Entschuldigung protestiert. Er hat nichts gesagt, ich habe nicht einmal gesehen, ob er geschockt, erfreut oder verärgert war. Habe ich ihn nur zu wenig angesehen oder hat er erstmals seine Emotionen verborgen? Hat er vielleicht selbst gar nicht gewusst, was er denken soll?
 

Wenn überhaupt, fühle ich nur verhaltenen Zorn gegen mich selbst. Ich hätte mich ganz einfach gedulden sollen, das war doch noch niemals zuvor eine Schwierigkeit für mich. Allerdings habe ich auch noch nie zuvor aus eigener Initiative jemanden geküsst, mit dem ich noch nicht zusammen war, ich habe immer darauf gewartet, dass der andere diesen Schritt tut. Vielleicht war das auch gar nicht so blöd, wie es aussieht. Dieses Mal habe ich damit ziemlich danebengehauen.
 

Das Schlimmste ist nicht, dass ich mich blamiert haben könnte. Das glaube ich gar nicht, denn er hat eindeutig selbst in Betracht gezogen, mich zu küssen. Wieso sonst diese Gestik, die Haltung und das unschlüssige Anstarren? Das kann ich durchaus deuten. Nur dass er es eben nicht durchgezogen hat. Das Schlimmste ist, meines Erachtens, dass es in Zukunft schwierig werden wird, sich mit ihm zu unterhalten. Ich habe die verdammte Freundschaftsgrenze überschitten, und jetzt kann man nicht mehr einfach so tun, als wäre nichts gewesen. (Wobei ich mich nicht beschweren würde, wenn das Nathan erst einmal täte.) Das ist auch das Blöde daran, dass ich so selten etwas trinke, denn jetzt kann ich es nicht einmal auf den Alkohol schieben.
 

Aus diesem Grund, wegen dem Ärger auf mich selbst, bin ich jetzt auch einigermaßen niedergeschlagen. Ich robbe von der Couch, wickle die Decke zusammen und schlurfe in die Küche, wo ich mir einen Kaffee mache.
 

Ich mache mir so gut wie nie Kaffee. Den trinke ich noch um Einiges seltener als Tee. Ich muss also wirklich sehr schlecht drauf sein.
 

Während ich am Küchentisch sitze und mir schnell ein Honigbrot streiche, betrachte ich, wie die Kaffeemaschine dampft. Ich mag den Geruch, aber den Geschmack von Kaffee habe ich noch nie besonders geliebt. Woher die plötzliche Lust darauf kommt, weiß ich nicht.
 

Mein Telefon läutet. Automatisch werfe ich einen Blick auf die Uhr. Es ist bereits kurz vor zwölf, ich habe lange geschlafen, aber immerhin bin ich auch spät heimgekommen. Ich stehe auf und gehe zum Telefon.
 

„Candace.“, murmle ich in den Hörer, ohne dass ich nachgesehen habe, wer anruft. Mir fällt auf, dass ich etwas unhöflich bin, obwohl der Anrufer, wer immer es ist, mit Sicherheit nichts für meine Laune kann, und würde gerne irgend etwas Versöhnliches nachschieben, aber mir fällt nichts ein. Darum warte ich auf die Antwort. Ich hoffe, es ist Nathan, der sich ganz normal verhält.
 

„Hier ist Gemma. Du klingst ja nicht so fröhlich.“, ertönt ihre überraschte Stimme.
 

„Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht so anblaffen.“, sage ich entschuldigend.
 

„Was hast du denn eigentlich? Müsstest du nicht ausgesprochen fröhlich sein?“, wundert Gemma sich.
 

Oh ja. Warum bin ich so fröhlich, so fröhlich, so fröhlich, so ausgesprochen fröhlich – so fröhlich war ich nie. „Nein.“, murmle ich. Mist, jetzt fange ich schon wieder damit an. „Warum sollte ich fröhlich sein?“, frage ich ein bisschen freundlicher.
 

„Äh, habe ich das falsch beobachtet? Du und Nathan habt euch doch gestern geküsst, oder nicht?“
 

„Erinner mich nicht...“ Ich seufze, mache eine kurze Pause. „Nein, er hat gar nichts gemacht.“, erkläre ich. „Er war anscheinend im Begriff, er stand unschlüssig vor mir und hat mich angesehen. Aber er hat nichts gemacht. Und dann habe ich es eben getan.“
 

„Und, war das so falsch? Wie es aussieht, wollte er dich doch ohnehin küssen. Wenn er sich nicht traut, dann musst du es eben machen. Das ist doch nicht abwegig.“ Und wieder einmal stellt Gemma das Leben simpler dar, als es ist.
 

„Ich hätte ihn nicht auf die Weise drängen sollen.“, sage ich. „Ich habe dir noch nichts von seinem Beziehungsdrama erzählt?“ Drama, sage ich. Das klingt ja schon fast abfällig. „Trauma.“, verbessere ich mich. Nat kann nichts dafür, dass ich Scheiße gebaut habe.
 

„Nein, nicht dass ich wüsste.“ Noch immer setzt Gemma den verwunderten Tonfall nicht ab, und es nervt mich ein bisschen. Auch Gemma kann nichts dafür.
 

„Seine Freundin vor zwei Jahren hat ihn betrogen.“, fasse ich kurz, obwohl ich weiß, dass das gar nicht der Punkt ist.
 

„Schon mit sechzehn? Oh je.“, kommentiert Gemma mit ihrem übertriebenen Mitleidston. „Aber was hat das mit dir zu tun?“, fragt sie nach kurzem Schweigen.
 

„Sie hat ihn allgemein emotional... durcheinandergebracht.“ Ich möchte nicht zerrüttet sagen, weil mir das übertrieben vorkommt. Vielleicht ist es das nicht, aber wenigstens würde Gemma dann übertrieben reagieren. „Als er sich sofort von ihr getrennt hat, als er davon erfahren hat – wie es auch sein sollte – hat sie ihn nicht in Ruhe gelassen, sondern ihn weiterhin eingewickelt, ihn um Dinge gebeten und wollte wieder mit ihm zusammen sein, während sie mit dem anderen Kerl noch immer was am Laufen hatte.“
 

„Oh.“, sagt Gemma. „Das ist... das ist total...“
 

„Rücksichtslos, egoistisch, unfair.“, schlage ich vor. „Und jetzt hat er so ziemlich die Fähigkeit verloren, jemandem zu vertrauen. Nicht seinen Freunden, das ist etwas anderes, er traut sich nicht, eine Beziehung anzufangen oder irgend jemandem gegenüber Gefühle zuzulassen. Darum hat er auch gestern so lange gezögert, und ich habe mich trotzdem darüber hinweggesetzt, mir gedacht, ein Kuss kann nicht so viel bewirken. Aber im Nachhinein gesehen kann er das schon. Ich habe ihn sozusagen dazu gezwungen, sich zu überlegen, ob er jetzt etwas von mir will oder nicht. Ich hätte doch einfach nur Geduld haben müssen, aber nein, gerade in der unpassendsten Situation muss ich zum ersten Mal in meinem Leben Eigeninitiative ergreifen...“
 

„Hey, Liv.“, unterbricht Gemma. „Du musst dich darüber doch nicht so ärgern. Steiger dich da doch nicht so hinein. Wahrscheinlich ist es überhaupt nicht so schlimm.“
 

„Oh ja, bis auf dass wir uns ab jetzt nicht mehr normal unterhalten können werden.“, antworte ich bitter.
 

„So kenn ich dich doch gar nicht. Seit wann bist du so pessimistisch?“, fragt sie sanft. Die Frage müsste lauten, seit wann ich eigentlich nicht mehr so pessimistisch bin. Früher war ich das immer, zumindest wenn es darum ging, dass ich Glück haben sollte. In den letzten Jahren gab es einfach keinen Grund dazu. Vielleicht sollte ich nicht beim ersten Misserfolg nach Ewigkeiten wütend auf mich und die ganze Welt sein. Aber... wie konnte ich gerade bei Nathan einen Fehler machen? Ich war so lange in ihn verliebt, und jetzt sieht es so aus, als wäre ich es wieder, nur nach kurzen ersten Gesprächen, jetzt habe ich die Chance, auf die ich ein Drittel meines Lebens gewartet habe, und ich schieße sie einfach so in den Wind. Wie kann das nur sein?
 

„Das ist nicht pessimistisch. Wenn er vorher schon unschlüssig und angespannt war, ist er es jetzt erst recht. Wenn ich Pech habe, habe ich jetzt alles kaputt gemacht.“, sage ich, aber nicht mehr bitter, sondern nüchtern, damit sich Gemma nicht auch noch über meinen Tonfall beschweren kann.
 

„Ach komm schon.“, beschwichtigt mich Gemma. „Mit einem Kuss? Es gibt viele Mädels, die auf Partys miteinander knutschen, und das heißt trotzdem noch lange nicht, dass sie ihre Freundschaft danach vergessen können.“
 

„Erstens: das ist etwas ganz anderes. Die machen das zum Spaß, vielleicht um ein wenig aufzufallen, es ist nicht ansatzweise mit der Situation von gestern zu vergleichen. Zweitens: vielleicht ist es dir nicht ganz klar, aber Nathan und ich gehören nicht zu den draufgängerischen Partyleuten, wie du und Merry es vielleicht seid. Wir brauchen länger, um auf jemand anders zuzugehen, und wenn es dann daneben geht, sagen wir nicht einfach ‚ups’ und machen normal weiter.“, sage ich viel schärfer als beabsichtigt.
 

„Draufgängerische Partyleute?“, wiederholt Gemma wenig begeistert. „Wann verhalte ich mich draufgängerisch?“
 

Ich lasse mich auf einen Stuhl in der Küche sinken. „Sorry. So hab ich es nicht gemeint. Ich meine einfach...“ Ich suche nach einer freundlicheren Formulierung. „Wir trauen uns nicht so schnell, uns jemand anderem zu nähern, und sind auch vielleicht verunsichert, wenn der andere zu schnell etwas unternimmt.“
 

„Okay.“, sagt Gemma, ohne noch in irgend einer Weise zu widersprechen. „Aber Liv, das wird bestimmt schon wieder mit euch beiden. Ruf ihn an oder schreib ihm, und dann wird er mit dir reden müssen. Du kannst doch einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Und wenn er dich doch darauf anspricht, entschuldigst du dich eben noch einmal.“
 

Ich habe mich zwar schon entschuldigt, aber ich erwähne es nicht. Gemma hat schon versucht, mir zu helfen. „In Ordnung, Gem. Ich hoffe wirklich, dass es nicht so schlimm ist. Vielleicht hast du ja Recht.“ Ich bezweifle es nur. „Mach dir einen schönen Samstag. Du weißt schon, einen draufgängerischen Partyabend.“
 

Gemma kichert ein bisschen. „Gut, werde ich machen.“, sagt sie. „Viel Glück mit Nathan.“
 

„Ja, danke, baba.“
 

„Baba.“
 

Ich stehe auf und lege das Telefon wieder auf die Ladestation. Mein Kaffee ist inzwischen fertig, aber ich habe gar nicht mehr solche Lust darauf. Trotzdem schenke ich mir eine Tasse ein und schütte viel Milch und Zucker dazu, um den starken Kaffeegeschmack zu überdecken. Viel Sinn hatte es wirklich nicht, mir Kaffee zu machen.
 

Gut, ich könnte mich jetzt nach meinem Frühstück vor den Computer schicken und Nathan eine Nachricht schicken. Am besten mache ich genau das. Aber wenn er nicht antwortet, dann habe ich wohl ein Problem.
 

Ich stelle den Teller in die Spüle, den Honig zurück in den Schrank und nehme die Kaffeetasse mit in mein Schlafzimmer, wo der Computer steht. Ich öffne Outlook Express, habe keine neuen Nachrichten und vor allem keine von Nathan, und deshalb fange ich eben an, eine Mail zu schreiben.
 

Mir fällt nicht wirklich etwas ein. Ich habe kein Thema. Vielleicht einfach drauflos schreiben.
 

*
 

Lieber Nathan!
 

Es war ja echt nett mit euch gestern Abend. Ich mag deine Freunde wirklich, Hector scheint sehr intelligent zu sein, und trotzdem in keiner Weise überheblich. Die meisten schlauen Leute meinen ja, damit angeben zu müssen. Und Immanuel ist auch sympathisch, genau so, wie du ihn beschrieben hast. Tut mir nur Leid, dass ich ein bisschen früher verschwunden bin als die anderen, ich war ein bisschen müde. Ich gehe wahrscheinlich zu wenig aus, weil ich das nicht gewohnt bin. Nebenbei genehmige ich mir meistens nicht einmal einen Drink – ich bin wohl einfach nicht so ein Partymensch. Ach ja, wie ich bemerkt habe, trinkst du ja auch kaum Alkohol. Meinst du, wir müssten ein bisschen mehr über die Stränge schlagen?
 

*
 

Ich bin nicht ganz zufrieden mit dem letzten Satz. Er klingt ein bisschen, als wäre ich enttäuscht über seine Reaktion gewesen (na gut, das war ich ja eigentlich auch) und würde ihm nun vorwerfen, dass es mit Alkohol besser funktioniert hätte. Ich ändere es.
 

*
 

Aber ich nehme an, das ist nicht so schlimm für dich – wie ich bemerkt habe, trinkst du ja auch kaum Alkohol, oder?
 

*
 

Ich finde es schon besser so. Aber das hilft mir auch nicht weiter. Ich weiß nicht, worüber ich noch schreiben könnte. Nicht schon wieder über das Studium. Und auch nicht darüber, wie Meredith mit Immanuel geflirtet hat – selbst wenn er das nicht daneben findet, könnte er es für eine Anspielung halten, dass unsere Freunde es mehr verstehen, Spaß zu haben, als wir.
 

Ach verdammt, das wird jetzt nichts. Ich seufze genervt und rolle mit dem Drehstuhl vom Schreibtisch weg. Dann telefoniere ich eben wieder. Nicht mit Nathan, das geht mit Sicherheit wieder daneben, denn jetzt könnte ich mir durchaus vorstellen, dass wir vor uns hinstottern werden und eine einigermaßen unangenehme Situation entsteht.
 

Ich wähle Merediths Nummer und hoffe, dass sie mir ein paar Gesprächsthemen vorschlagen kann.
 

„Loop.“, meldet sich jemand. Nicht Meredith, wieder einmal. Aber die Stimme ist mir durchaus bekannt – von gestern Abend. Ach du meine Güte. Ich überlege mir, ob zwei Wochen zu früh für einen Kuss sind, und sie braucht gerade mal einen Abend, um jemanden abzuschleppen.
 

„Immanuel?“, frage ich vorsichtshalber noch einmal.
 

„Ja. Bist du Olivia?“, fragt er zurück.
 

„Hm. Ja, ich schätze, die bin ich. Kannst du mir Merry geben? Sag ihr, sie muss dich nicht gleich verjagen.“, seufze ich.
 

„Okay.“ Ein paar Sekunden später meldet sich Meredith. „Ja? Liv?“
 

„Himmel, Merry. Übertreibst du es nicht ein bisschen?“, sage ich säuerlich. Ich weiß gar nicht, wieso ich mich so ärgere. Wohl weil ich heute allgemein einen ärgerlichen Tag habe.
 

„Wieso? Meinst du etwa Manu?“, fragt sie unschuldig.
 

„Manu. Ja, ich meine Manu.“, murmle ich. „Musst du gleich mit ihm ins Bett hüpfen?“
 

„Hey, wenn es gleich funkt, wieso sollte ich dann noch ewig warten? Und was ist dir überhaupt über die Leber gelaufen? Du hast dich noch nie über meine One-Night-Stands geärgert.“, sagt sie, ebenfalls ein bisschen gereizt. Dann höre ich im Hintergrund Immanuel etwas sagen und eine genervte Antwort von Meredith darauf. „Warte mal einen Moment.“ Sekunden später meldet sie sich zurück. „So. Jetzt können wir wieder reden. Ich sitze jetzt im Bad, da kann er nicht mehr alles kommentieren. Weißt du, er hat sich über die Bezeichnung One-Night-Stand aufgeregt.“
 

„Das würde ich auch tun.“, gebe ich zurück. „Besonders schmeichelhaft ist sie nicht.“
 

„Ja, ja. Wenn sich noch weiteres ergibt, dann ist mir das auch Recht. Aber bisher hat es erst eine Nacht gehalten, also kann ich es auch so nennen.“
 

Tja – Meredith hat irgendwie eine andere Herangehensweise an Beziehungen als ich. Vielleicht anders als sehr viele Menschen. Was weiß ich, wie das heute bei den Partymenschen so ist. Immerhin bleiben die Typen bei ihr aber immer bis zum nächsten Morgen beziehungsweise Mittag, je nach Ansichtsweise, und verschwinden nicht wieder bei Nacht und Nebel.
 

„Wenn du meinst. Ich rufe an, weil ich – und der, mit dem ich momentan etwas anfangen will – das nicht ganz so einfach handhabe wie du.“
 

„Hmm, das sah aber gestern nicht so aus. Oder waren das Halluzinationen? Nein, so viel habe ich definitiv nicht getrunken. Ihr habt euch doch geküsst.“, stellt Meredith fest.
 

„Ja. Das heißt, eher habe ich ihn geküsst.“, murmle ich verärgert.
 

„Wer bist du und was hast du mit der zurückhaltenden Olivia gemacht? Und warum klingst du jetzt so grantig?“, will sie wissen.
 

„Weil es blöd war.“
 

„Oh, das klingt schon mehr nach dir. Olivia – wenn du dich das traust, ist es nicht blöd. Es war ein erster Schritt, und das kann das Ganze ins Rollen bringen. Weiter so, dann...“
 

Ich unterbreche sie. Normalerweise wäre ich froh über so positive Kritik von Meredith, aber leider ist sie diesmal nicht ganz gerechtfertigt. „Nein, du verstehst nicht. Ich wäre durchaus stolz auf die Aktion, wenn es andere Umstände wären. Aber du erinnerst dich doch noch an sein Trauma, von dem ich dir erzählt habe? Ich weiß nicht, ob du so was nachvollziehen kannst...“
 

„Liv, ich bin niemand, der sich durch so etwas aus der Fassung bringen lässt, dazu ist es mir viel zu wichtig, das Leben zu genießen, solange ich noch jung bin und so ein Scheiß.“, winkt sie ab. „Aber ich weiß, dass es durchaus Menschen gibt – du warst immerhin auch so jemand – die sich leicht aus der Bahn werfen lassen, auf die Enttäuschungen so eine starke Wirkung haben, dass sie ihnen lieber aus dem Weg gehen. Ich verstehe, denke ich, was mit ihm los ist: er kann jetzt nicht mehr vertrauen, oder? Er hat Angst, dass dann wieder so etwas passiert?“
 

„Wow – gut zusammengefasst. Ja, genau so ist es. Und die Situation gestern... na ja... also ich bin mir ziemlich sicher, dass er selbst im Begriff war, mich zu küssen. Nur hat er es nicht durchgezogen, und wahrscheinlich aus dem Grund, dass er dann...“ Ich halte kurz inne, weil mir diese Worte komisch vorkommen, wenn sie an Meredith gerichtet sind. Aber vielleicht unterschätze ich ja ihre Fähigkeit, mit Gefühlen umzugehen. „Er hätte sich dann darüber klar werden müssen, ob er was von mir will.“
 

„Ach, ihr emotionalen Menschen seid süß.“, seufzt Meredith. Ich will mich schon aufregen, aber sie redet weiter. „He, ein Kuss kann jetzt auch nicht die Welt verändert haben. Ignorier eben vorerst einfach, dass du das gemacht hast. Tu so, als wäre nichts gewesen.“
 

„Ja, ich weiß. Hab ich doch auch vor. Aber ich weiß nicht... ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Deshalb hab ich dich eigentlich angerufen.“, sage ich kleinlaut.
 

„Du könntest ja auch anrufen, dann ergibt sich ein Gespräch höchst wahrscheinlich von selbst.“, schlägt Meredith vor.
 

„Da bin ich nicht so sicher. Wenn wir uns anschweigen? Das wäre furchtbar. Viel schlimmer noch als eine kurze E-Mail. Dann müssten wir fast gezwungenermaßen zu dem anderen Thema übergehen. Und außerdem würde es zeigen, dass da doch eine Befangenheit zwischen uns ist.“, gebe ich zu bedenken.
 

„Bis jetzt hast du es doch auch geschafft, dich mit ihm normal zu unterhalten, wieso sollte es jetzt nicht funktionieren? Redet halt über gestern. Über seine Freunde zum Beispiel. Dass sie sympathisch sind oder irgend so was, in Manus Fall kann ich das eindeutig bestätigen...“
 

„Du hast da eine andere Sichtweise als ich.“, werfe ich zerknirscht ein.
 

Sie übergeht mich. „... sag, dass deine Freundinnen sich auch gut mit ihnen verstanden haben, und dann fragst du ihn noch, wie er das Lokal gefunden hat.“
 

„Hab ich gestern schon gefragt.“
 

„Egal, frag es noch mal, wenn dir gar nichts mehr einfällt. Du kannst auch noch bis zum Abend warten, dann kannst du ihn noch fragen, wie sein Tag heute war. Dann redet ihr über irgendwelche Vorlesungen, fangt ein neues philosophisches Thema...“
 

„Er hat was gegen Philosophen.“, sage ich, aber Meredith ignoriert mich schon wieder.
 

„... an und dann unterhaltet ihr euch eben ein Weilchen, bis ihr wieder auflegt. Dann ist wieder alles okay und ihr müsst überhaupt nicht über Küssen und dergleichen sprechen, bis er bereit ist oder was auch immer.“
 

Ich seufze. „Du hast vielleicht Recht...“
 

„Ja, ich weiß dass ich Recht hab. Also ruf ihn jetzt brav an.“ Ich höre sie wieder durch die Gegend gehen. Anscheinend ist sie der Meinung, dass Immanuel jetzt wieder mithören kann. „Mach dir einen schönen Tag und nicht zu viel Stress wegen der Sache, Liv. Wenn man Freundschaften so schnell kaputt machen könnte, hätte ich nicht mehr viele.“
 

„Immer noch mehr als ich.“, murmle ich leise.
 

„Liv, brav das hart erkämpfte Selbstvertrauen erhalten.“, mahnt Meredith. „Also viel Glück, Mädel. Wirst schon sehen, es ist nicht ganz so schlimm, wie du dir das vorstellst.“
 

„Ja ja.“, sagte ich. „Danke. Und viel Spaß mit Manu.“
 

„Oh, wird ich haben.“, meint Meredith fröhlich. „Ciao.“
 

Nachdem ich aufgelegt habe, warte ich noch eine ganze Weile. Ich lese – interessanterweise kann ich mich darauf einigermaßen gut konzentrieren, ich sehe fern, ich klicke im Internet herum, ich esse zu Mittag. Und erst abends greife ich wieder zum Telefonhörer. Wie Meredith sagte, aus eben dem Grund, dass es dann mehr zu besprechen gibt, als wenn ich mich schon morgens melde. Noch dazu finde ich es weniger aufdringlich.
 

Als ich aber das Freizeichen gehört habe, geht niemand dran. Ich lasse es einige Male läuten, bis sich der Anrufbeantworter meldet.
 

Ich fühle mich in die Situation vor zwei Jahren zurückversetzt. Es ist ganz genau wie damals. Ich rufe die selbe Person an, sie hebt auch diesmal nicht ab, und ich habe das Gefühl, dass ich auch in Zukunft nicht mehr zu einem Telefonat mit ihr kommen werde.

Funkstille

Meine Laune ist und bleibt, gelinde gesagt, schlecht. Ich versuche gar nicht erst, Nathan eine E-Mail zu schicken. Mir fällt nichts ein, und ich habe ohenhin das sichere Gefühl, dass er mir nicht antworten wird.
 

So fängt die Woche an, und natürlich ruft Nathan auch nicht von selbst an oder mailt mir. Ich bin niedergeschlagen, und eher aus dem Grund, dass ich es bin, die alles verbockt hat. Es ist ein Fehlschlag, und das tut mir auch jetzt, wo ich wieder Selbstvertrauen gewonnen habe, absolut nicht gut.
 

Vielleicht sollte ich handeln. Vielleicht sollte ich diesmal versuchen, ihn mit Mails, Anrufen und SMS zu bedrängen, bis er sich wieder meldet. Vielleicht sollte ich mich einfach durchsetzen, anstatt mich wie früher zurückzuhalten.
 

Aber mir ist eigentlich klar, dass die jetzige Situation ein bisschen anders ist als damals. Denn damals war mein Problem, dass ich mich gefürchtet habe, einen Fehler irgend einer Art zu machen. Diesmal ist es anders. Ich weiß, dass ich den Fehler bereits gemacht habe. Ich bin ihm zu nahe gekommen, und das werde ich nicht wieder ausbügeln, indem ich ihm weiter auf die Pelle rücke.
 

Allerdings ruft mich am Mittwoch jemand an, und auch wenn es nicht Nathan ist, hebt es meine Laune ein wenig. Woher auch immer er meine Nummer hat, wo er doch soweit ich weiß noch nicht einmal meinen Nachnamen weiß, es ist Hector.
 

„Olivia Candace?“, frage ich erst einmal, ohne etwas Besonderes zu erwarten. Ich habe wieder einmal nicht auf das Display gesehen, von welcher Nummer aus ich angerufen werde.
 

„Olivia? Hier ist Hector. Einer von Nathans Freunden, weißt du noch?“, kommt es vom anderen Ende.
 

Ich bin sehr überrascht. „Hallo, Hector. Klar erinnere ich mich. Aber warum rufst du mich an?“ Eigentlich kann ich mir es denken. Es muss um Nathan gehen, immerhin verbindet Hector und mich ansonsten nicht sonderlich viel, und höchst wahrscheinlich hat es auch noch mit dem Kuss zu tun.
 

„Wegen Nathan...“, sagt Hector langsam. „Ich weiß, dass es seltsam ist, dass ich dich jetzt deswegen anrufe, denn ich kenne dich schließlich nicht besonders gut. Also falls es dir nicht recht ist, dass ich mich da einmische, dann...“
 

„Nein, ist schon okay.“, unterbreche ich sofort. „Von Nathan selbst höre ich ja nichts mehr, also lieber das als gar nichts.“ Im Nachhinein gefällt mir die Formulierung nicht, aber ich lasse ihn weitersprechen.
 

„Du hast also schon mitgekriegt, dass er sich nicht mehr meldet.“, sagt Hector in fragendem Ton. „Entschuldige, blöde Frage. Wie auch nicht. Vielleicht... nein, warte, bevor ich zu viel sage, hat er dir etwas über sich erzählt? Seine... Vergangenheit?“
 

„Ja... er hat mir von seinem Beziehungstrauma vor zwei Jahren erzählt.“ Ich erwähne es ohne Bedenken, weil ich mir absolut sicher bin, dass seine Freunde davon wissen. Soweit ich mich erinnere, kannte Hector ihn ja damals auch schon. „Und was daraus alles resultiert ist. Dass er jetzt Angst hat, wieder Vetrauen aufzubauen.“
 

„Dann war er ja erstaunlich ehrlich zu dir... ja, ich glaube, dass weißt du ohnehin, was jetzt mit ihm los ist. Ich glaube, du hast ihn letzte Woche einfach... ach, verschreckt ist das falsche Wort. Er hatte vor, dich zu küssen, bevor du es gemacht hattest, wirklich. Nur hat er es dann nicht durchgezogen, weil er Angst hatte dadurch, etwas ins Rollen zu bringen.“
 

„Ich weiß.“, murmle ich. „Jetzt im Nachhinein ist mir das alles klar, und ich weiß, dass ich es nicht hätte tun sollen. Zu mir solltest du vielleicht auch wissen, dass ich früher einmal fürchterlich schüchtern war und mich zu sehr davor gefürchtet habe, etwas Falsches zu sagen, um mit jemandem zu reden. Darum habe ich es natürlich auch damals nicht geschafft auf Nathan zuzugehen, also...“ Ich unterbreche mich. Jetzt ist es mir herausgerutscht.
 

„Damals? Als ihr zusammen in einer Klasse wart? Hast du ihn damals also schon gemocht?“, wundert sich Hector. Er sagt es nicht mit beißender Neugierde oder gar entsetzt, sondern einfach nur überrascht.
 

„... Ja.“, sage ich nach kurzem Überlegen. Es ist egal, wenn Hector es weiß, da ich ihn gar nicht kenne und ihn unter Umständen, wenn Nathan sich wirklich entschließt, sich nicht mehr zu melden, gar nicht mehr treffen werde, und eigentlich fände ich es ja auch nicht so schlimm, wenn Nathan selbst davon wüsste, dass ich schon vor Jahren in ihn verliebt war. Vielleicht würde es ihm zeigen, dass ich es ernst meine. Dass ich niemals mit ihm spielen oder ihn gar betrügen würde. „Nur hatte ich wie gesagt nicht einmal den Mut, mit irgend jemandem zu sprechen. Da konnte ich mich natürlich erst recht nicht an meinen Schwarm wenden.“
 

„Das ist schade.“, sagt Hector ehrlich. „Er wäre mit Sicherheit freundlich gewesen, denn das ist er immer. Ich kannte ihn damals noch nicht, aber ich wette, er war da auch schon so. Wer weiß, vielleicht hätte es ihm die Erfahrung zwei Jahre später erspart, wenn sich etwas zwischen euch ergeben hätte.“
 

„Ich weiß, dass er nett mit mit geredet hätte, und das wusste ich im Grunde schon damals irgendwie. Aber ich hatte es einfach verlernt oder gar nie erst erlernt, mit anderen Gespräche zu führen, also wusste ich nicht, wie ich anfangen sollte. Auch wenn die Möglichkeit, dass ich seine schlechte Erfahrung hätte verhindern können, schön klingt... aber es ist nun einmal zu spät, es zu ändern.“ Ich denke daran, dass ich gerade vor zwei Jahren versucht habe, bei ihm anzurufen. Es war Anfang Juli, das weiß ich noch genau. Vielleicht hätte ich auch zu diesem Zeitpunkt noch etwas verhindern können. „Hector... weißt du, wann diese Beziehung stattfand, die so schief gelaufen ist?“
 

„Natürlich, ich habe es schließlich miterlebt, auch wenn ich ihn erst ein knappes halbes Jahr kannte. Es war... irgendwann im Juli vor zwei Jahren. Ich glaube, Anfang Juli hat er sich zum ersten Mal von ihr getrennt, dann hat sie ihn zu bedrängen angefangen, bis er wieder nachegegeben hat.“
 

Ich lache bitter. Hätte ich einen Tag später noch einmal versucht, bei ihm anzurufen, hätten wir uns gut unterhalten, vielleicht ein Treffen vereinbart und so gut verstanden, wie wir es jetzt tun oder tun würden, wenn im Moment noch irgend ein Kontakt bestünde, dann hätte ich vielleicht schon damals all das haben können, was ich mir heute wünsche und vor zwei Jahren schon genauso. Es wäre warhscheinlich sogar leichter gegangen. Ich wäre möglicherweise für erste Schritte noch nicht weit genug gewesen, aber Nathan müsste noch in seiner Bestform gewesen sein, selbst nachdem das Mädchen ihn zum ersten Mal betrogen hat.
 

„Was ist?“, will Hector auf mein Lachen hin wissen.
 

„Ach, nichts.“, sage ich. „Ich hatte meine Chance, sogar mehrmals, und ich habe sie so oft vertan, und letztendlich habe ich zu früh gehandelt. Ich hätte noch warten können, aber das habe ich schon jahrelang gemacht. Ich hatte es einfach satt.“
 

„Das tut mir Leid, Liv. Es war grundsätzlich mutig von dir, wirklich. Du konntest ja nicht wissen, dass es Nathan so verschreckt.“, tröstet Hector. Ich finde ihn wirklich sympathisch. Er kennt mich kaum, und trotzdem ist er so nett zu mir.
 

„Doch, Hector, das konnte ich. Hätte ich ein bisschen nachgedacht... mir ist es sofort danach eingeleuchtet. Aber ich habe einfach nicht früh genug überlegt.“, seufze ich. „Danke, dass du mich deswegen anrufst, das schätze ich. Aber ich nehme an, du kannst auch nicht viel machen.“
 

„Ich dachte, ich sage dir wenigstens, was los ist, allerdings weißt du es ja anscheinend ohnehin schon. Ich könnte mit Nathan reden, wenn du willst.“, schlägt er hilfsbereit vor.
 

„Das ist echt total nett von dir... aber momentan glaube ich nicht, dass das sinnvoll ist.“, sage ich schweren Herzens. Ich weiß gar nicht genau, warum. Vielleicht, weil ich glaube, falls Nathan sich wieder einkriegt, wird er sich selbst bei mir melden. „Aber... es wäre super, wenn du mir deine Telefonnummer geben könntest. Dann habe ich wenigstens noch um eine Ecke Kontakt zu Nathan und kann im Notfall etwas nachfragen...“
 

Hector gibt mir seine Nummer bereitwillig, und ich bin ihm sehr dankbar.
 

„Vielen Dank noch mal. Ich kann mich melden?“
 

„Natürlich. Dafür hast du die Nummer.“
 

„Danke, danke.“ Ich weiß, ich übertreibe. „Also dann ciao. Und Immanuel einen schönen Gruß.“ Zu Nathan sage ich besser nichts.
 

„Deinen Freundinnen ebenfalls einen schönen Gruß.“, lacht Hector. „Ciao.“
 

Ich lasse den Hörer sinken und starre ihn ein Weilchen abwesend an. Dann lasse ich ihn sinken und lege mich in die Couchpolster zurück. Ich weiß nicht genau, was ich jetzt fühle. Ich freue mich und bin dankbar, dass Hector mich angerufen hat, aber was Nathan angeht, hat er mir jetzt auch nichts Neues mitgeteilt. Aber ich bin nicht niedergeschlagen, zumindest nicht, weil er sich nicht meldet. Höchstens aus den selben Gründen, aus denen ich schon die restliche Woche verärgert und unzufrieden bin, wegen meinen eigenen Fehlern.
 

Wie kann das sein? Früher war ich die ganze Zeit wegen meinem unglücklichen Verliebt sein am Boden. Ich war nicht nur traurig, weil ich Nathan unmöglich ansprechen konnte. Das war natürlich ein Dauerfaktor, der mich fertig machte. Aber es war sogar schlimm für mich, wenn ich ihn nur ein paar Tage einmal nicht sehen konnte, ob es nun Wochenende war oder ob einer von uns beiden krank zu Hause lag. Ich habe ihn einfach vermisst, obwohl ich ja nicht einmal mit ihm geredet, sondern ihm höchstens beim Gespräch mit anderen zugehört habe – welch Ironie.
 

Und jetzt? Er hat sich seit fast einer Woche gar nicht gemeldet, und ich bin bloß ein bisschen grantig. Vielleicht bin ich nicht mehr so verletzlich wie damals? Aber ich weiß nicht, ob es damit zusammen hängt.
 

Ich gehe an den Computer, weil ich nicht weiß, was ich jetzt sonst anfangen soll, und besuche Nats Profil beim StudiVZ. Er hat ein anderes Bild hineingestellt, er war also sogar online. Einen Moment lang überlege ich, ob ich ihm jetzt doch eien Private Nachricht oder eine E-Mail schreiben soll, aber dann komme ich zu dem Schluss, dass er sich von selbst wieder melden wird, wenn es für ihn okay ist.
 

Er gefällt mir auf dem neuen Bild. Es ist kein ganz so erstes wie das letzte Mal, aber er lacht ein ehrliches, nicht übertriebenes Lachen. Seine Augen sind durch das Lachen leicht zusammen gekniffen, aber die funkelnden Augen sind noch sichtbar. Ganz aktuell ist es nicht, seine Haare sind ein bisschen kürzer als jetzt und er ist im T-Shirt zu sehen, also bezweifle ich, dass es von den letzten paar Tagen stammt und er sich nur die Haare schneiden lassen hat. Ich betrachte genau seine Gesichtszüge, soweit es bei diesem kleinen Bild, dessen Qulaität auch nicht gerade umwerfend gut ist, geht. Er sieht wirklich gut aus, und seine Augen sind fesselnd.
 

Aber ich bemerke, dass ich das Bild nicht so liebevoll ansehe, wie ich es früher einmal getan hätte. Nathan gefällt mir, allerdings würde er den meisten gefallen. Mir gehen nicht alle Erlebnisse mit ihm durch den Kopf, ich denke nur daran, dass er sympathisch ist, dass man mit ihm gute Gespräche führen kann.
 

Ich bin überhaupt nicht in Nathan verliebt. Nicht mehr. Ich mag ihn, aber ich bin nicht mehr verliebt.
 

Und genau deshalb vermisse ich ihn nicht so sehr, wie es zu erwarten gewesen wäre. Vielleicht ist es sogar der Grund, aus dem ich es geschafft habe, ihn zu küssen, auch wenn es paradox klingt. Damit wollte ich mir selbst etwas beweisen, was mir vor vier Jahren noch nicht möglich war. Damals konnte ich mir noch nicht das „holen“, was ich wollte, wenn man es so ausdrücken will. Ich hatte mit so vielen Dingen Probleme, die ich jetzt gelernt habe. Dann taucht diese Person wieder auf, die ich damals so sehr geliebt und gewollt habe, und natürlich war mir klar, dass ich jetzt, heute, diese Chancen habe, die ich früher nicht hatte.
 

Ich war nervös vor unserem ersten Treffen im „Chilli“, natürlich. Aber man ist aus vielen Gründen nervös, besonders, wenn man jemanden wiedersieht, von dem man jahrelang nichts gehört hat, von dem man glaubt, dass man immer noch oder schon wieder in ihn verliebt war. Wenn man dieses Gefühl einmal einem Menschen entgegen gebracht hat, vergisst man es nicht mehr und fühlt es aus Gewohnheit auch später noch, wenn man dieser Person begegnet. Es ist sehr leicht zu verwechseln.
 

Aus irgend einem Grund bin ich froh über diese Erkenntnis, und ich weiß gar nicht, wieso. Vor allem, weil sie noch einen weiteren Haken hat: das heißt, ich habe mit Nathan gespielt, als ich ihm diesen Kuss gegeben habe. Nicht bewusst, aber ich habe falsche Signale abgegeben. Was, wenn er sich nun doch noch meldet, mir sagt, dass er jetzt doch bereit für eine Beziehung ist, und ich es nicht mehr kann? Wie verbindlich war dieser Kuss für ihn? Wie sehr würde es ihn verletzen, wenn ich nun sagen würde, dass ich nicht in ihn verliebt sei, nicht mehr? Wäre es die gleiche Art von Schmerz wie der, den ihm vor zwei Jahren dieses Mädchen zugefügt hat?
 

Ich kann ihm jetzt nicht sofort schreiben, um ihm das zu sagen. Ich will nicht vorschnell handeln und ihn damit verletzen. Ich brauche Beratung, dringend. Und mir kann nur meine liebe, persönliche Psychologin helfen. Ich wähle Sammys Nummer.
 

„Samantha Devon?“, meldet sie sich sofort.
 

„Ich bin’s, Olivia.“, sage ich.
 

„Oh, hey. Und, wie geht’s dir? Wieso rufst du denn an?“ Sie wittert natürlich wie immer sofort, dass ich nicht grundlos anrufe.
 

„Also... mir ist gerade etwas klar geworden.“, berichte ich. „Und es ist ziemlich irre, denn bei den meisten Menschen ist es, denke ich, umgekehrt. Aber ich bin nicht in Nathan verliebt.“
 

„Oh Liv. Und... bist du froh darüber? Oder findest du es schade?“, will Sammy mitfühlend wissen.
 

„Ich glaube, ich bin froh. Aber ich weiß gar nicht, warum. Dann ist es für ihn doch erst recht ein Grund, sich nicht mehr zu melden, schließlich war der Kuss wirklich nicht ernst gemeint.“, sage ich schuldbewusst. Natürlich habe ich Sammy diese Geschichte mittlerweile auch erzählt.
 

„Du hast ihn aber nicht mit Absicht verletzt.“, tröstet sie. „Du warst dir des Gefühls so sicher, dass du gar nicht daran gezweifelt hast. Und damit siehst du übrigens, dass ein Kuss nicht unbedingt dazu zwingt, sich über die Gefühle klar zu werden, sonst wärst du nicht erst heute darauf gekommen.“
 

„Das stimmt... aber ich habe Nathan damit etwas Falsches vermittelt.“, gebe ich zu bedenken. „Übrigens hat mich heute Hector angerufen, du weißt ja, einer von Nathans Freunden. Er hat mir erzählt, warum Nat sich nicht meldet, aber er hat bloß die Gründe angebracht, die ich sowieso schon wusste.“
 

„Das ist aber nett von ihm. Hey, Liv. Wie wäre es, wenn du das mit dem nicht verliebt sein erst einmal ihm sagst? Er hat vielleicht einen Überblick auf Nathans momentane Situation. Ob es ihn sehr verletzen würde, ob er es sich schon gedacht hat oder so etwas.“, schlägt Sammy vor.
 

„Du hast Recht. Ja, ich wende mich am besten erst an ihn.“, seufze ich. „Wusstest du übrigens, dass Meredith letzte Woche was mit Immanuel hatte?“, wechsle ich abrupt das Thema, weil es mir gerade so einfällt.
 

„Letzte Woche? Du meinst, gleich nach dem Treffen von uns sieben?“, fragt Sammy verwundert.
 

„Genau. Aber was überrascht dich der Zeitpunkt? Meredith ist doch immer so schnell. Ich finde es nur lustig, dass sie sich gerade einen von Nathans Freunden ausgesucht hat.“, grinse ich.
 

„Und es kommt noch härter, Liv. Ich habe sie heute mit ihm gesehen.“, kommt es triumphierend von ihr.
 

„Was? Aber jetzt ist doch schon eine Woche vergangen, so lang halten Merrys Beziehungen in der Regel nicht.“, sage ich lachend.
 

„Ja, und sie haben sich sogar geküsst. Ich verwende bewusst nicht das Wort ‚geknutscht’. Sie standen da vor der Einkaufspassage und haben gelacht und sich dann geküsst. Ich dachte, ich seh nicht recht. Aber es war eindeutig Immanuel, und noch eindeutiger war es Meredith. Ich bin dann schnell weiter und habe so getan, als würde ich sie nicht sehen.“, berichtet Sammy.
 

„Oh wow. Meredith hat eine Beziehung – dass ich das noch erlebe. Und ich übrigens schon wieder nicht. Wie kommt das nur?“
 

„Dazu musst du dich schon richtig verlieben, Liv.“, sagt Sammy belustigt, aber freundlich. „So. Jetzt rufst du vielleicht besser bei Hector an. Du kannst dich ja unterschwellig auch nach Merry erkundigen.“
 

„Das mach ich.“, grinse ich. „Danke für die Sitzung. Baba.“
 

„Baba, Olivia, mach’s gut.“

Freunde bleiben?

Ich warte noch eine ganze Weile, bis ich wieder bei Hector anrufe. Einerseits, weil nach meinem Telefonat mit Sammy noch nicht einmal eine Stunde seit meinem vorigen Telefonat mit ihm vergangen ist und ich mich ihm nicht aufdrängen möchte, wo er doch so freundlich ist. Und zweitens, weil ich mich wohl auch nicht so richtig traue. Ich muss erst einmal die Worte finden. Dass ich dachte, ich wäre in Nathan verliebt, aber gemerkt habe, dass ich es doch nicht bin, und vor allem, dass ich ihn aus diesem Grund geküsst habe, nicht aus Versuchsgründen oder zum bloßen Herumspielen. Mir ist wichtig, dass Hector als ein Freund von Nathan das weiß, da man sonst sehr schnell dazu neigt, in Verteidigungsposition zu gehen und den anderen zu verurteilen, auch wenn man ihn noch nicht besonders gut kennt oder eben gerade deswegen.
 

Abends habe ich mich soweit gesammelt, dass ich erneut zum Telefon greife. Ich rufe wieder bei Hector an.
 

„Hector Turner.“, sagt er. „Bist du das, Olivia?“ Er hat sich offensichtlich meine Nummer gemerkt, gutes Gedächtnis.
 

„Genau. Hallo.“, sage ich etwas dümmlich. „Ich rufe... ich rufe natürlich wegen Nathan an.“
 

„Wegen Nathan? Hat sich denn in den letzten Stunden etwas geändert?“, fragt Hector leicht verwundert.
 

„Nicht direkt. Mir ist nur etwas klar geworden.“, sage ich langsam. Ich hole tief Luft und weiß nicht, wie ich den Satz beginnen soll. „Ich dachte... ich war mir eigentlich sicher... ich dachte, ich hätte mich in ihn verliebt. Wieder. Wie damals.“ Es ist seltsam und ungemein schwierig, das einem Fremden zu sagen. Und gleichzeitig ist es auf gewisse Weise auch leichter, als es einer Freundin zu sagen. Man fürchtet nicht, beurteilt zu werden, mit Ratschlägen überhäuft zu werden oder neugierig ausgefragt zu werden. Es wird einfach nur angenommen. „Nur... ich war so fest darauf eingestellt, ich habe das Gefühl eher aus Gewohnheit angenommen. Ich wollte früher so gerne einmal mit Nathan reden, das hätte mir damals schon gereicht, und nicht einmal das habe ich geschafft. Und jetzt, wo ich wieder mehr Selbstbewusstsein habe, dachte ich einfach: jetzt kann ich es. Ich kann auf ihn zugehen, ich habe den Mut dazu, und ... entschuldige, dass es abschätzig klingt... ich dachte mir, ich kann mir jetzt nehmen, was ich will. Ich habe einfach einmal auf mich geachtet, und auch wenn du mich nicht gut kennst, früher habe ich das selten getan.“
 

„Ich verstehe es gut, Olivia.“, unterbricht Hector. Dass er meinen vollen Namen ausspricht, löst ein seltsames Gefühl in mir aus. Kein Negatives, auch wenn es mich an früher erinnert, an die schlechte Zeit. Es gibt mir eher das Gefühl, dass ich noch Fehler machen darf, einmal unsicher sein darf. „Es klingt nicht egoistisch. Aber das hast du mir doch alles schon gesagt, in anderen Worten.“
 

„Du hast Recht, ja. Ich wollte es nur noch einmal klarstellen. Was ich eigentlich sagen wollte, ist... ich habe mich nicht in ihn verliebt. Ich habe Nathan gern, ich schätze ihn absolut. Er ist einer der Menschen, die es einem besonders leicht machen, sie zu würdigen und ihnen Respekt entgegenzubringen.“
 

„Ich weiß, ich kenne ihn.“, sagt Hector und lacht ein bisschen. „Olivia, du brauchst keine Schuldgefühle zu haben, weil du dich nicht verliebt hast. Und auch nicht, weil du das fälschlich angenommen hast. Wo Nathan sich vor Gefühlen fürchtet, nimmst du sie vielleicht zu freudig an. Du greifst nach der Chance, weil du es inzwischen gelernt hast, und er versteckt sich vor ihr, weil er von einem Mädchen erfahren hat, dass es angenehmer gewesen wäre, eine Beziehung gar nie zuzulassen, als dass sie auf diese Weise endet.“
 

„Danke, dass du mir keinen Vorwurf machst.“, sage ich ehrlich. „Obwohl du ein guter Freund von ihm bist, bleibst du objektiv.“
 

„Weil ich mir durch das, was du mir von dir erzählt hast, ein Bild von dir machen konnte. Aber warum hältst du es überhaupt für schlimm? Weil du ihn trotzdem geküsst hast?“, möchte er wissen.
 

„Ja. Wenn er nichts von mir will, ist es nicht so schlimm, aber falls doch und ich ihm falsche Hoffnungen gemacht habe... dann habe ich ihn auch verletzt. Auch wenn es keine Absicht war. Wenn er noch tiefer fällt, vielleicht kann er sich nicht mehr aufrichten...“
 

„Olivia... ich glaube, ich kann es dir sagen, ohne dass du verletzt bist. Nathan ist auch nicht in dich verliebt.“, sagt Hector ruhig.
 

Ich hätte erwartet, dass so eine Information, auch wenn ich selbst für Nathan doch außer freundschaftlichen Gefühlen nichts empfinde, mich trotzdem berühren müsste. Aber ich fühle nichts als Erleichterung. „Oh, Gott sei Dank.“, stoße ich hervor. „Ich weiß nicht, wie ich das sonst wieder in Ordnung gebracht hätte.“ Dann halte ich kurz inne. „Warum meldet er sich dann eigentlich nicht mehr?“
 

„Er...“ Hector scheint kurz zu überlegen, was mich beunruhigt. „Ich glaube, er denkt noch darüber nach. Vielleicht solltest du wissen, dass er mir nicht gesagt hat, dass er nicht in dich verliebt ist. Aber ich erkenne es. Ich habe ihn schon damals gekannt, als er diese schrecklichste aller Beziehungen erleben musste, und da war er ganz anders. Er hat sie verträumt angesehen, war charmant zu ihr, hat auf eine ganz andere Weise mit ihr geredet. Dich sieht er beim Reden nicht so an, sondern er fixiert dich, wie er es mit einem ernst zu nehmenden Gesprächspartner tut. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich weiß es einfach.“
 

Ich glaube es ihm. Ich weiß, dass man mit der Zeit lernt, Freunde zu durchschauen. „Dann waren vielleicht seine Bedenken eher, dass er sich nicht auf etwas einlassen will, wenn er sich nicht sicher ist.“, überlege ich.
 

„Genau... und wenn ich mit ihm rede und klarstelle, dass du dich in gewisser Weise nur geirrt hast, dann wird er vielleicht auch wieder gerne bereit zu sein, Kontakt zu dir aufzunehmen.“, bietet er an.
 

„Würdest du das tun? Das ist wirklich total lieb von dir.“
 

„Natürlich.“, versichert Hector. „Nicht nur für dich, sondern auch für ihn.“
 

„Es ist mir wichtig, dass wir Freunde bleiben. Wenn ich mit ihm rede, habe ich das Gefühl, dass er mich wirklich versteht. Ich liebe ihn nicht auf diese Weise, aber ich denke, er ist irgendwie... seelenverwandt mit mir.“, erkläre ich.
 

„Das glaube ich schon. Du klingst in gewisser Weise sogar ein bisschen wie er.“ Ich kann mir gut vorstellen, dass Hector jetzt lächelt. „Ich rede mit ihm.“
 

„Vielen Dank, Hector. Für deine ganze Hilfe und fürs Reden.“
 

Nachdem wir das Gespräch beendet haben, fühle ich mich wieder wohler. Es wird sich wieder einrenken, ich werde wieder mit Nathan befreundet sein und ihm, auch ohne Beziehung, einfach als gute Freundin, helfen, sich selbst wiederzufinden. Durch die ganze Begegnung habe ich einen Freund und Erfahrungen gewonnen. Ich habe gelernt, einmal selbst zu handeln, auch wenn ich bemerkt habe, dass ich das oder in dem Fall den, den ich zu erreichen versucht habe, eigentlich gar nicht so wirklich wollte. Irgendwie bin ich froh um das Ganze, und ich hoffe von ganzem Herzen, dass Hector Recht hat.
 

*
 

Ich bin nicht überrascht, als ich am folgenden Tag, einem Donnerstag, eine Nachricht von Nathan erhalte. Ich wusste doch, dass er sich wieder melden würde. Auf jeden Fall bin ich darüber ziemlich erleichtert.
 

*
 

Liebe Liv,
 

Es tut mir echt Leid, dass ich die letzten Tage so ... ähm, ruhig war. Du hast ja schon von Hector erfahren, was los war. Vielleicht hätte ich es dir selbst nicht berichtet, aber ich bin ihm nicht böse, weil ich weiß, dass er sich nur Gedanken gemacht hat. Ich bin mir sicher, er war nett zu dir. Auf jeden Fall war er uns in dem Sinn eine Hilfe, dass er Einiges klargestellt hat.
 

Ich glaube, es ist vielleicht doch angebracht, dass ich das Ganze noch einmal aus meiner Sicht erkläre, anstatt es nun totzuschweigen. So schlimm war es nun ja auch gar nicht. Ich hatte letzte Woche tatsächlich selbst einen Moment lang vor, dich zu küssen. Ich dachte mir: du magst sie doch wirklich, und es ist langsam nach den zwei Jahren Zeit, aus diesem Tief auszubrechen. An irgendwas hat es dann doch gefehlt, und mittlerweile weiß ich, wie du wohl auch, was das höchst wahrscheinlich war. Und, ja, auch wenn es blöd klingt, als du mir dann die Entscheidung abgenommen hast, die ich eigentlich selbst schon negativ ausgehen lassen hatte, habe ich mich irgendwie eingeengt gefühlt und dachte mir, ich müsste irgendwie reagieren – was ich nicht getan habe, okay – und dass sich dann zwangsläufig etwas entwickeln müsste, was über Freundschaft hinausgeht, und schon hatte ich wieder die ganzen Ereignisse von vor zwei Jahren im Kopf. Und schwupps, schon hatte ich Panik und habe lieber den Kopf in den Sand gesteckt. Das tut mir jetzt ehrlich Leid. Hätte ich beziehungsweise wir nicht Hector, dann hätte ich wahrscheinlich mit diesem blöden Davonlaufen eine echt tolle Freundschaft kaputt gemacht. Denn als wir angefangen haben, uns zu schreiben, war ich begeistert von dem, was du schreibst, von dir, von deiner Veränderung (vielleicht war ich auch ein kleines bisschen neidisch, dass du dich positiv verändert hast und aus mir nur ein zurückhaltender, schüchternder Kerl geworden ist). Du hast meine ganzen Ansichten geteilt, es war sehr aufregend, auf einmal eine Person kennen zu lernen, von der ich bisher noch nie ein Wort gehört habe, sondern sie nur herumstehen und beobachten sah. Wir haben uns, wie du es wahrscheinlich auch empfunden hast, einfach gut unterhalten, sagen wir, wir sind auf einer Wellenlänge oder, ich hoffe der Ausdruck stört dich nicht, vielleicht sogar ein bisschen seelenverwandt. Aber, und das kann ich dir nun auch sagen, wobei ich mich ganz auf das verlasse, was Hector wiedergegeben hat, und deshalb stark hoffe, dass es nichts Neues oder Verletzendes für dich ist: ich habe mich trotz allem nicht in dich verliebt. Vielleicht stellt sich die Frage, welche Faktoren dafür notwendig sind, ich habe keine Ahnung – es ist weder das Gesamtbild noch Einzelheiten, die es offensichtlich ausmachen, sondern eine besondere Art von Chemie. Ist es schlimm, dass diese fehlt? Oder ist es vielleicht sogar gut? Freundschaften halten doch manchmal sogar länger als die Liebe.
 

Hector hat mir also gestern mitgeteilt, dass du auch nicht in mich verliebt bist. Ehrlich gesagt fiel mir ein Stein vom Herzen wie wahrscheinlich auch dir, denn so fällt diese Verpflichtung ab, das Gefühl, den anderen zwangsläufig verletzen zu müssen, auch wenn man im Grunde nichts dafür kann. (Weil ich ja letztens die Philosophen ziemlich herumtergemacht habe, zur Versöhnung ein Zitat von Schopenhauer: „Der Mensch kann tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“) Ich habe mich daraufhin über den Kuss gewundert und er hat mir gesagt, dass du sozusagen einmal deinen Mut zusammengenommen hast und es bei der Sache eher darum ging, dir dein neu gewonnenes Selbstbewusstsein zu beweisen als tatsächlich um irgendeine Art von Anziehung. Ich glaube, die Erfahrung war auch für dich wichtig, denn auch wenn du wahrscheinlich das meiste von früher aufgearbeitet hast, wirst du immer noch von Tag zu Tag stärker. Deshalb bin ich – als ein guter Freund – stolz auf dich. :)
 

Liebe Grüße und noch einmal eine große Entschuldigung für mein Straußensyndrom, ich hoffe du verzeihst diese Feigheit.
 

Nathan
 

*
 

Die Mail bringt mich zum Lächeln, und ich bin sehr froh über alles, was er geschrieben hat. Mit einer neuen Freundschaft bin ich jetzt einfach absolut glücklich und zufrieden. Die nächste Beziehung kann warten. Ich weiß ja jetzt, dass ich Mut aufbringen kann, wenn ich es wirklich will.
 

Was mir übrigens noch aufgefallen ist, ist, dass er zum ersten Mal, seit ich mit ihm wieder im Kontakt bin, mit „Nathan“ unterschrieben hat. Und ich bin zuversichtlich, dass das bedeutet, dass er dabei ist, sich wieder zurückzuverwandeln, sozusagen.
 

*
 

Zwei Wochen später finde ich in einem Telefongespräch heraus, das Meredith noch immer mit Immanuel zusammen ist. Das ist ihre längste Beziehung, seit... nun, seit ich sie kenne. Und da ich bezweifle, dass sie vor ihrem vierzehnten Lebensjahr bereits eine fast monatslange Beziehung hatte, ist es wahrscheinlich überhaupt ihr Rekord, auf die Gefahr hin, dass das nun ein bisschen unromantisch klingt. Aber das macht nichts, denn als wir am Wochenende darauf wieder alle zu siebt ausgehen – das heißt, Nathan, Sammy, Meredith und Gemma, Hector und Immanuel und natürlich ich, stellt sich heraus, dass „romantisch“ ohnehin nicht das richtige Wort für ihre Beziehung ist. Sie flirten heftig, knutschen in Gesprächspausen immer wieder mal, und wenn sie reden, tauschen sie sicher keine Zärtlichkeiten aus, sondern ziehen sich eher gegenseitig auf. Im Grunde schon das, was ich von einer Beziehung von Meredith erwartet hätte, hätte ich es mir denn vorstellen können. Der Unterschied zu den anderen Kerlen ist: Immanuel lässt Merediths harte Kritik und Skepsis nicht einfach über sich ergehen, sondern kontert entsprechend. So jemanden braucht sie eben.
 

Nathan wird tatsächlich wieder er selbst. Er klebt nicht steif an der Gruppe, sondern bewegt sich durchs Lokal, redet Leute an und darunter auch Mädchen. Schmunzelnd beobachte ich, wie mit einem Mädel mit blonden Locken und hübschem rotem Top – hübsch, aber nicht zu modelmäßig oder tussig, ich bin ziemlich sicher, dass das nicht Nathans Geschmack wäre – ins Gespräch kommt.
 

Neben mir erzählt Hector wieder einmal etwas, was ihn nicht in den Mittelpunkt zieht, sondern vielmehr Diskussionsstoff bietet. Gemma ist im Moment nicht auffindbar, höchst wahrscheinlich sucht sie nach Partystimmung, denn sie hat in letzter Zeit die momentan gebundene Merry damit abgelöst. Auch unsere Liebesvögel Meredith und Immanuel (es klingt noch immer verrückt!) haben sich irgendwohin verzogen, also können sich momentan nur Sammy und ich an dem Gespräch beteiligen, was ich auch eifrig mache. Es macht großen Spaß, Hector zuzuhören. Ehrlich, er ist auf irgend eine Weise besonders. Dieser ernste, fast weise Gesichtsausdruck, die überzeugte, aber gleichzeitig nicht überhebliche Art zu sprechen, die anschauliche Gestik, die Intelligenz, die er ständig beweist, ohne ein Klugscheißer zu sein. Und nebenbei ist er absolut zuvorkommend, wo er kann, setzt er sich für etwas ein, er ist nicht der Typ, der aufgibt. Auf jeden Fall bin ich Hector natürlich auch immer noch dankbar dafür, wie er das mit Nathan und mir geregelt hat.
 

Einen Moment lang habe ich nicht zugehört, und Hector macht gerade eine interessante Geste mit der rechten Hand, eine leichte Kreisbewegung. Ich habe zwar absolut keinen Schimmer, worum es gerade geht, aber ich bemerke, dass ich ihn gebannt anstarre. Als er mich fragend ansieht, fühlt sich mein Herz auf einmal an wie ein Gummiball.
 

Hey, was ist los?, frage ich mich, und habe gleichzeitig so eine Ahnung. Sammy wirft mir einen Seitenblick zu. „Ich muss mal aufs Klo.“, sagt sie, und auch wenn sie nicht zwinkert, sondern mich nur anstrahlt, weiß ich genau, dass das kein Zufall ist.
 

Und diesmal verunsichert mich die Situation nicht. Immerhin weiß ich, dass ich längst kein hässliches oder schüchternes Entlein mehr bin, sondern damit umgehen kann. Auf einen neuen Versuch.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  BoogiePen
2008-02-16T12:40:18+00:00 16.02.2008 13:40
So, dann wollen wir mal den Anfang wagen =)

Zugegebener Maßen muss ich vorweg sagen, dass ich schon von der Vorstellung deiner Geschichte im Forum nicht angetan war: Die Grundidee schien mir recht plump, die Inhaltsangabe ließ erste Klischees durchscheinen und deine Beschreibung, du hättest einfach drauflosgeschrieben, spricht nicht unbedingt für die Geschichte. Zu deiner Verteidigung muss ich jedoch anmerken, dass ich das bisher auch sehr oft so gemacht habe mit dem Drauflosschreiben :P.
Jedenfalls hab ich mich schließlich doch durchgerungen, schließlich sollte deine Geschichte auch eine Chance haben. Jetzt, da ich das erste Kapitel fertig gelesen habe, stelle ich fest:
Alle meine Befürchtungen haben sich leider bewahrheitet~
Dabei liegt es nichteinmal an deinem Schreibstil oder der Perspektivenwahl, was ich bemängeln könnte; nein, vielmehr ist - Hand aufs Herz - die Grundidee einfach total langweilig. Natürlich ließe sich daraus trotzdem noch etwas halbwegs Schönes basteln, doch deine Geschichte ersäuft in Klischees. Mal ehrlich, das ganze Konzept, die ganze Ausführung ist einfach nur banal und ist so, oder ein kleinwenig anders, schon x-mal da gewesen.
Ich würde dir auch gar nicht unterstellen, dass deine Geschichte niemandem zusagt. Mädchen unter vierzehn, die gern diese Jugend-Liebesromae lesen, dürften durchaus begeistert sein und dir ein paar "suuuuuuupi!!!^^"-Kommentare spendieren, aber alle anderen Leser - zu denen ich mich jetzt einfach mal zählen würde :P - lesen vielleicht noch das erste Kapitel und damit hat es sich dann.

Also um es nocheinmal zusammenzufassen:
Ich behaupte nicht, dass du nicht schön schreiben kannst - im Gegenteil! Dennoch ist es eine nicht zuübersehende Tatsache, dass die Geschichte sehr langweilig und viel zu ausführlich geraten ist. Daher mein Tipp: Versuch es mal mit einem ganz anderen Genre, auch wenn dir das jetztige Thema am Herzen zu liegen scheint.

Nja, wahrscheinlich klingt mein Kommentar mal wieder schlimm wie es eigentlich ist, also bitte keine Drohbriefe auf die Pinwand^^


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