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In Nottingham

von  -Moonshine-

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Kapitel 1: Jacob Parker

Bewaffnet mit einem Schoko-Milchshake und einem Donut schob sich Jake auf den Platz gegenüber seiner Freundin, die, ohne von seiner Anwesenheit auch nur im geringsten gestört worden zu sein, seelenruhig die Seite in ihrem Buch umblätterte und ihre Lektüre fortsetzte.
Sie hatten sich in diesem Fast-Food-Restaurant getroffen, so, wie sie es immer taten, wenn sie beide zur selben Zeit eine Freistunde hatten.
Kate hatte sich dieses Mal für einen Platz am Fenster entschieden, von wo aus man die vorbeigehenden Menschen beobachten und gleichzeitig von ihnen beobachtet werden konnte.
Sie war über ihr Buch gebeugt und anhand der vergilbten Seiten und des schwer ramponierten Buchdeckels konnte Jake erkennen, dass es sich hierbei um ein Lehrbuch aus der Bibliothek handelte. Wahrscheinlich irgendetwas über Literatur, denn das war es, was Kate studierte. Englische Literatur.
Vielleicht erkannte er es auch anhand der Tatsache, dass Katie ihren Block neben das Buch gelegt hatte und hin und wieder mit einem Stift, den sie in der Hand hielt, abwesend etwas reinschrieb, ohne den Blick von ihrem interessanten Lesestoff abzuwenden.
"Was für ein Scheißtag."
Nachdem Jake seine Einkäufe - in Form von Gebäck und Shake - auf dem Tisch abgestellt und sich seiner Jacke entledigt hatte, ließ er sich in die weichen, roten Polster sinken und warf seiner besten Freundin einen nach Mitgefühl heischenden Blick zu.
Doch Katie beachtete ihn gar nicht, fast so, als wäre er auch überhaupt nicht da.
Das dunkelblonde Haar fiel ihr ins Gesicht, ihre aufmerksamen, braunen Augen waren kompromisslos auf Seite 78 geheftet, die die Überschrift "Edwardianische Phase (1901 bis 1914)“ trug. Jake konnte daraus nur schließen, dass die Phase wohl ziemlich spannend gewesen sein musste oder, dass Katie ihn bewusst und mit voller Absicht ignorierte.
Er versuchte es auf ein Neues, indem er einen tiefen Seufzer ausstieß und wieder auf eine Reaktion ihrerseits wartete.
Er wurde auch sogleich belohnt, denn Katie seufzte genervt, legte den Bleistift auf die aktuelle Seite und klappte das Buch zu, schob es zu Seite und wandte ihren Blick langsam ihrem Freund zu.
"Jacob Parker", sagte sie in ernstem Tonfall und sah ihn endlich an.
"Halt die Klappe."
Besagter grinste, froh über die Aufmerksamkeit, die sie ihm zukommen ließ, doch schnell fand sein Gesichtsausdruck wieder in die Melancholie zurück, süchtig nach ein paar aufheiternden Worten.
"Ich muss noch 20 Seiten bis morgen lesen und ich glaube nicht, dass mir bei dem Test darüber dein Liebeskummer sonderlich behilflich sein wird", sagte Kate trocken, fast schon verächtlich, noch bevor Jake den Mund aufmachen konnte.
Es war jede Woche dasselbe Theater, das sich Katie antun musste: Rachel hier, Rachel da, Rachel hat mich nicht angeguckt, Rachel hat nicht mit mir geredet, bla, bla, bla.
Man sollte meinen, ein 19jähriger Medizinstudent könnte es fertig bringen, sein verdammtes Liebesleben endlich mal auf die Reihe zu kriegen, wenn er schon in nächster Zeit dazu übergehen würde, Menschen aufzuschneiden und Leben zu retten, aber scheinbar erwartete Kate da etwas zu viel.
Vielleicht war sie auch unfair zu ihm, denn ihr erging es in dieser Hinsicht auch nicht viel besser... obwohl SIE einen sehr guten Grund dafür hatte. Wenigstens ging sie niemandem damit auf die Nerven. Nun gut, zumindest nicht Jake.
Als sie jedoch sein schmollendes Gesicht sah, das sie an einen kleinen Jungen erinnerte, dem sein Lieblingsspielzeugauto weggenommen wurde, rollte sie die Augen und ihr innerer Widerstand begann langsam zu bröckeln.
"Was ist es dieses Mal...?", fragte sie ergeben, doch ihr Tonfall ließ keine Zweifel daran, dass sie diese Prozedur nicht zum ersten Mal durchmachte. Sie wusste schon ansatzweise, was jetzt kommen würde.
Jake ließ sich nicht zweimal bitten und legte direkt los. Wenn ihm schon einmal die Gelegenheit dazu geboten wurde, durfte er sie nicht so einfach verstreichen lassen.
"Gestern Abend im Pub", setzte er an, doch Kate fiel ihm resolut ins Wort.
"Ihr wart schon wieder in diesem Drecksloch!?", wollte sie empört wissen und schaute ihren besten Freund fassungslos an. Er nickte und machte wieder den Mund auf, um fortzufahren, doch sie ließ ihn gar nicht erst Luft holen.
"Gott, das ist wirklich erbärmlich", kommentierte sie nun streng und schüttelte den Kopf, um ihrer Abneigung gegen diesen Ort noch mehr Ausdruck zu verleihen.
Jacob, von seinem gegenwärtigen Kummer abgelenkt, begann augenblicklich, zu protestieren.
"Was hast du nur-"
"Es ist schmutzig, dunkel, reine Geldabzocke und dort kommen nur zwielichtige Gestalten hin. Männer, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als sich die Rübe wegzusaufen und anschließend... ich will es gar nicht wissen...", schloss sie angewidert und dachte an die wenigen paar Male, an denen Jake sie in diesen Pub mitgenommen hatte, um ihr seine Freunde vorzustellen.
Ihr blonder, bester Freund setzte wieder eine beleidigte Miene auf, so wie immer, wenn sie nicht einverstanden war mit dem, was er tat.
"Das geht mich doch nichts an, was die dann machen", verteidigte er sich und sah gleichzeitig ein bisschen verwirrt aus. "Wieso reden wir jetzt eigentlich DARÜBER?"
Kate warf ihm einen überaus geduldigen Blick zu, der ihn ermunterte, wieder an das eigentliche Thema anzuknüpfen.
"Also, letztens hat Shinji doch gesagt, ich soll sie fragen, ob sie mit mir ausgeht, aber die Gelegenheit hat sich nicht ergeben und dann ist sie mit irgend so einem Trottel namens Mike verschwunden." Zum Ende hin wurde sein Tonfall immer anklagender und bei Mike's Namen rollte er genervt mit den Augen, als sei ihm noch nie so ein dummer Mensch untergekommen und als sollte es verboten werden, mit "so einem" etwas anzufangen.
Katie hob irritiert eine Augenbraue. "Ich dachte, du magst Mike?"
Diesmal war es an Jake, ihr einen genervten Blick zuzuwerfen.
"Das war DAVOR. Hörst du mir eigentlich nicht zu?", warf er ihr vor, fast schon gekränkt, dass sie seine Absichten nicht klar und deutlich erkannt hatte.
"Entschuldigung!", kommentierte Kate pikiert, doch ihr Freund überhörte ihren Missmut einfach. Er hatte wirklich das Talent, einfach alles auszublenden, was er nicht sehen oder hören wollte.
Katie wartete, dass noch etwas kommen würde, doch Jake blieb still und sah sie nur erwartungsvoll an, als hinge jetzt alles von ihr ab.
"Und jetzt...?", fragte sie vorsichtig, nicht sicher, was er nun von ihr hören wollte.
"Das wollte ich eigentlich von dir wissen", stellte der Blondschopf klar und bedachte sie mit einem vor Zuversicht nur so strotzendem Blick, sodass sie gar nicht anders konnte, als gottergeben zu seufzen und ihm irgendeinen guten Ratschlag zu erteilen, so, wie man nun mal von einer besten Freundin erwarten würde.
Normalerweise hätte sie auch gar nichts gegen Jake's Gejammer einzuwenden gehabt und sie hätte ihm auch gerne irgendwelche Ratschläge gegeben, aber in diesem speziellen Fall... nun. Da war sie wirklich die Letzte, die ihm irgendetwas raten konnte... sollte... oder wollte.
"Nun, dann... fragst du sie halt beim nächsten Mal?", sagte sie etwas lahm und selbst in ihren eigenen Ohren klang das eher wie eine Frage, als wie ein hilfreicher Ratschlag. Jake sah sie komisch an, als sei sie nicht mehr ganz dicht.
"Du hast gut reden", schnaubte er. "Für dich mag das so einfach klingen, aber-"
"Herrgott, Jake", fuhr sie wieder ungeduldig dazwischen - aufgebracht darüber, dass er meinte, IHR fiele alles in den Schoß. "Bist du ein Mann oder was?? Dann benimm dich endlich mal so!"
Für einen kurzen Moment herrschte Stille zwischen den beiden und Katie überkam das untrügliche Gefühl, sie sei zu weit gegangen. Sie räusperte sich kurz, während sie den Blick zum Fenster hinauswandte und strich sich eine Strähne des Haares hinter das Ohr. Das tat sie immer, wenn sie unsicher oder nervös war.
Ein Pärchen spazierte draußen am Fenster vorbei. Die junge Frau hatte sich bei ihrem Gefährten eingehakt und gestikulierte mit der freien Hand in der Luft herum, während sie ihm etwas erzählte und dabei entspannt lachte.
Kate wagte wieder einen zaghaften Blick zu Jake, doch anstatt sich in seinem männlichen Stolz verletzt vorzukommen, breitete sich auf dem Gesicht ihres Gegenübers ein großes Grinsen aus. Wie gesagt, Jake überhörte gerne unschöne Details.
"Schon gut, schon gut", beschwichtigte er sie lachend. "Du hast ja recht. Ich versuch's einfach weiter, irgendwann klappt das schon." Er nickte sich zuversichtlich selbst zu und Katie konnte schon beinahe sehen, wie sich das Szenario vor seinem inneren Auge abspielte, während er versonnen in die Luft starrte, als sähe er dort irgendetwas, was ihm außerordentlich gut gefiel.
"Schön", keifte sie gegen ihren Willen sarkastisch und handelte sich sogleich einen fragenden Blick von ihrem besten Freund ein.
"Wie läuft's eigentlich bei dir?", wollte er wissen. Da nun seine Probleme abgehandelt waren, schien er auch fähig, sich dem Rest der Welt anzunehmen.
"Irgendjemand in Sicht?"
Katie's Gesicht verzog sich angesichts dieser Ironie zu einem schiefen Grinsen, doch dieses Mal war es Jake, der sich gar nicht erst zu Wort kommen ließ. Das Kräftegleichgewicht schien sich je nach Problemfall zwischen ihnen zu verschieben.
Sie seufzte. "Jake, ich hab keine Zeit für so was...", wich sie nicht gerade geschickt aus und vermied seinen prüfenden Blick, fühlte sich leicht ertappt.
Dieser jedoch schien die Verlegenheit seiner besten Freundin gar nicht mitzubekommen, sondern runzelte nur verständnislos die Stirn.
"Hast du Dave nicht deine Telefonnummer gegeben?", hakte er nach, in der Annahme, dass die Tatsache, Dave besäße Katie's Nummer, alle ihre Probleme lösen würde.
"Nein", korrigierte Kate ihn scharf. "DU hast ihm meine Telefonnummer gegeben."
Der 19jährige grinste sie teils entschuldigend, teils spitzbübisch an und zuckte dann gleichmütig mit den Schultern.
"Er wollte sie unbedingt haben und..." Jake hielt inne und ließ des Rest des Satzes im Raum schweben, unmöglich für Kate, ihn zu greifen.
"Und was?", hakte sie misstrauisch nach und obwohl er eine wegwerfende Handbewegung machte, sprach er doch weiter.
"Er schien ziemlich begeistert von dir."
"Was du nicht sagst..." Über Dave zu reden war auf seltsame Art ermüdend für Kate, denn dieser Typ – Medizinstudent im selben Semester wie Jake – ging ihr schlicht und ergreifend nur auf die Nerven. Dass er nicht sonderlich intelligent war und überdies noch ziemlich aufdringlich, waren nicht gerade Pluspunkte, die Katie ihm zuschreiben würde.
Natürlich hatte sie sich anfangs geschmeichelt gefühlt, dass ein so gutaussehender Typ wie Dave sie unverhohlen anflirtete, mit seinen hellbraunen, kurzen Locken, dem charmanten Lächeln und dem Schlafzimmerblick, doch sobald er das erste Mal den Mund aufgemacht hatte, um etwas von seinen Weisheiten mit der Welt und insbesondere mit ihr zu teilen, hatte sich jegliche Spannung zwischen ihnen – zumindest von Kate’s Seite – in Luft aufgelöst. David schien das gar nicht mitzubekommen, was nicht gerade für seine überragende Auffassungsgabe sprach.
"Wirst du mit ihm ausgehen?", stellte Jake die Frage mitten in ihre Gedanken hinein, doch irgendetwas in seinem Tonfall hielt sie davon ihm, laut zu lachen und ihm zu sagen, dass sie David für einen dümmlichen Schleimer hielt, der meinte, mit seinem Geschnulze könne er die Frauen beeindrucken.
Etwas in ihrem Kopf setzte sich in Gang, zu schnell, um es verfolgen oder nachvollziehen zu können.
"Vielleicht..", räumte sie geheimnisvoll ein und wich, ihr Buch wieder aufschlagend, seinem bohrenden Blick aus.
Jake merkte schnell, dass aus seiner besten Freundin nicht mehr das Geringste über dieses Thema herauszubekommen war und lehnte sich in seinen Sitz zurück, fuhr sich mit der Hand durch sein blondes Haar.
"Na ja..." Er schien zu einem Entschluss gekommen zu sein, und doch bemerkte Katie, wie er für einen kurzen Moment zögerte. Sie blickte wieder zu ihm auf.
"Dave ist zwar nicht gerade der Hellste... aber es wäre eine Verschwendung, wenn so ein hübsches Mädchen wie du allein bleiben würde." Er zwinkerte ihr schelmisch zu und wandte seine Aufmerksamkeit, nun, da alle Probleme beseitigt schienen, seinem Milchshake zu.
Kate rollte wieder einmal genervt mit den Augen.
"Danke", erwiderte sie trocken. Dass Jake sie mit "nicht gerade dem hellsten" Dave verkuppeln wollte, ließ sie nicht gerade in Begeisterungsstürme ausbrechen, doch er ließ sich von ihrem Tonfall nicht aus der Ruhe bringen und überging ihre Skepsis einfach gekonnt – wie so oft.
Für einen Augenblick waren sie wieder beide still und schwiegen vor sich hin. Nur Jake’s lautes Schlürfen an seinem Milchshake unterbrach die Stille hin und wieder.
Katie dachte eine Weile über seine Worte nach.
"Ach, und... Jake?"
Der Blondschopf blickte fragend auf, den Trinkhalm immer noch in seinem Mund.
"Du bist ein so ein Schleimer."
Jacob, an dem Beleidigungen abprallten wie Bälle an einer Betonwand, grinste sie nur breit an.
"Nein", entgegnete er. "Nur ehrlich."
Kapitel 2: Dyke's End

Katie bog gerade nach Dyke's End ein, als der Bus seinen Weg durch die High Street der kleinen Ortschaft North Collingham fortsetzte.
North Collingham war die Kleinstadt, in der Katie aufgewachsen war und 18 Jahre ihres Lebens verbracht hat. Sie lag etwa 40 Kilometer nordöstlich von Nottingham und die Busverbindungen waren dementsprechend schlecht. Das war einer der Gründe, weshalb viele Jugendliche, wenn sie mit der Schule fertig waren, nicht bei ihren Eltern wohnen blieben, sobald sie anfingen, zu studieren. Wie auch viele ihrer Freunde hatte es Katie an die Universität Nottingham verschlagen, nur einige besonders schlaue Exemplare hatten Oxford oder Cambridge bevorzugt. Katie jedoch wollte nie allzu weit von Collingham wegziehen.
Die nächste Schule, die Kate, zusammen mit ihren Geschwistern, besucht hatte, lag zehn Kilometer weiter, in Newark.

Dyke's End war eine wohlhabenderen Gegenden Collinghams. Die breite, kaum befahrene Straße wurde links und recht von Bäumen gesäumt und war besonders im Herbst sehr hübsch anzusehen. Die Häuser in Dyke's End waren meist große, alte Villen im viktorianischen Stil.
Das Gras in den Vorgärten war immer ordentlich gestutzt und die Blumenbeete erblühten im Sommer in ihrer ganzen Pracht.
Momentan aber sahen die Bäume, die die Straße säumten und diejenigen, die in den Vorgärten standen, kahl und grau aus, doch Katie wusste, dass, wenn erst einmal alles schneebedeckt war, die Straße aussah, wie auf einer winterlichen Postkarte.
Das Haus ihrer Eltern war dasjenige mit der Hausnummer Neun. Schon während Kate sich näherte, konnte sie das Auto ihrer ältesten Schwester Judy in der Auffahrt stehen sehen.
Das Gebäude mit der Nummer Neun war eine typisch viktorianische Villa mit weiß-gelblicher Täfelung. Einen hübschen Kontrast dazu stellte das Dach dar, das von dunkelgrauen Schiefertafeln bedeckt wurde. Die Fensterrahmen und das Geländer der überdachten Veranda waren in reinem Weiß gehalten. Ihre Eltern ließen es jedes Frühjahr neu streichen, damit es nicht vergilbte.
Charakteristisch und ein besonderer Blickfang war das kleine Türmchen, das kaum höher reichte als der Schornstein. Es gehörte damals zu Judy's Zimmer, jedoch als diese ausgezogen war, hatte sich Lizzie das Zimmer unter den Nagel gerissen, denn es war heiß begehrt.
Katie kam erst in den Genuss, als auch Lizzie das elterliche Nest verlassen hatte und da war sie bereits 16 Jahre alt, was bedeutete, sie hatte nur zwei Jahre das schönste Zimmer des Hauses besessen, viel kürzer, als die beiden anderen Mädchen.

Katie zog sich den Schal fester um den Hals, als sie die kleine Treppe zur Veranda hochschritt. Die Verandaschaukel wippte langsam im Wind und knarrte dabei, wie man es von einer alten Schaukel auch nicht anders erwarten würde.
Noch bevor Katie die Klingel betätigen konnte, flog die Tür schon auf und ihre überglückliche Mutter stürmte ihr entgegen, warf sich ihr in die Arme und drückte ihre jüngste Tochter fest an sich.
"Mum..." Kate, überrascht von dem plötzlichen Angriff, drückte ihre Mutter mit sanfter Gewalt von sich weg, um erst einmal Luft schnappen zu können.
Die 48jährige ließ es bereitwillig geschehen, fasste Kate aber bei den Schultern und hielt sie eine Armeslänge von sich weg.
"Lass dich ansehen, Kind", sagte sie aufgeregt, als hätte sie Katie seit Jahren nicht mehr gesehen, dabei waren erst drei Wochen vergangen, seitdem Kate das letzte Mal am Wochenende zu Hause gewesen war.
Aus dem Inneren des Hauses drangen laute Fernsehgeräusche zu ihnen heraus und Kate's Mutter nahm sie am Ärmel und führte sie ins Haus hinein.
"Ein kalter Dezember dieses Jahr", stellte sie fest und rieb ihre Hände aneinander, während sie Katie, die sich ihrer Jacke und Schuhen entledigte, nicht aus den Augen ließ.
Dann folgte das Mädchen ihrer Mutter in die geräumige Küche, wo Judy bereits auf die beiden wartete.
"Hallo Kate", begrüßte sie ihre jüngste Schwester und lächelte sie warmherzig an.
Judy war sechs Jahre älter als Kate und hatte die dicken, braunen Haare ihrer Mutter geerbt. Mit 25 war sie bereits verheiratet und hatte einen dreijährigen Sohn namens Michael, gerufen Micky.
Judy hatte ein dreijähriges Studium zur Rechtspflegerin hinter sich und traf bei ihrem Praktikum auch ihren jetzigen Ehemann Alan.
Es dauerte nicht lange und die beiden zogen zusammen. Kurze Zeit später verlobten sie sich und heirateten.
Auch, wenn Katie Bedenken über die Richtigkeit dieser Entscheidung hatte, da Judy noch viel zu jung zum Heiraten war - für ihren Geschmack - schien ihre Schwester vollkommen zufrieden und ausgeglichen, fühlte sich sichtlich wohl in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter.
Seitdem Micky in den Kindergarten besuchte, war es ihr auch wieder möglich, ins Berufsleben einzusteigen.
"Hey, Jude. Wo ist Alan?", fragte Katie, nachdem sie einen flüchtigen Blick ins Wohnzimmer geworfen hatte, aber nur Micky vorfand, der zwei Meter vom Fernsehgerät entfernt saß und gebannt auf den Flimmerkasten starrte, ohne zu bemerken, was um ihn herum geschah.
"Muss heute arbeiten. Dad auch", antwortete Judy, wurde jedoch von dem Geräusch quietschender Reifen unterbrochen, das aus ihrer unmittelbaren Nähe zu kommen schien.
Judy, Kate und ihre Mutter, Bethany Winston, hatten gleichzeitig dieselbe Idee und drängelten sich zu Dritt an das Küchenfenster überhalb der Spüle und warfen einen Blick hinaus, nur um das festzustellen, was sie schon alle geahnt hatten.
"Liz ist da", stellte Judy vergnügt fest und winkte ihrer Schwester zu, nachdem diese den Wagen zum Stehen gebracht hatte, energisch aus dem Inneren sprang und gutgelaunt zu ihnen rübergrinste.
Elizabeth - Liz oder Lizzie - war die zweitälteste Tochter der Winstons und zwei Jahre jünger als Judy, momentan also 23.
Sie war schon immer die Verrückteste und Lauteste der Familie gewesen und hatte ihren Lebensstil auch nach ihrem Auszug zu Hause beibehalten.
Ihre Mutter sah das natürlich gar nicht gern und vor allem weigerte sie sich stets, Lizzie's Freunde - meist irgendwelche zwielichtigen Gestalten ohne Manieren udn Anstand - zu akzeptieren.
Was Lizzie's Äußere anging, so war sie, Katie's Meinung nach, die Hübscheste der drei Mädchen.
Ihre honigblonden, lange Haaren wellten sich und ihre Augen schienen immer angriffslustig zu funkeln, als würde sie ständig irgendeinen Unfug aushecken.
Liz war die pure Lebensfreude und aus irgendeinem Grund, den Katie nicht nachvollziehen konnte, waren sie und die verantwortungsbewusste Judy schon immer ein Herz und eine Seele gewesen. Allerdings könnte das auch an dem kleinen Altersunterschied von nur zwei Jahren liegen, der zwischen Liz und Judy lag.
Während sie die Verandatreppe hinaufgeeilt kam und ihre Mutter zur Tür lief, um ihre Tochter gebührend in Empfang zu nehmen, betrachteten Kate die neue Haarfarbe ihrer Schwester.
Liz hatte schon immer ein Faible dafür gehabt, ihr Äußeres zu verändern und in ihrer rebellischen Phase war sie oft mit ausgefallenen Haarfarben nach Hause gekommen - sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, die jedes Mal einen Aufstand machte, als stände sie kurz vor einem Herzinfarkt.
So schlimm war es diesmal nicht, denn Lizzie hatte sich nur auf eine Mischung zwischen roten und blonden Strähnchen eingelassen, was, das musste der Neid ihr lassen, ihr wunderbar stand.
Zumindest besser als das Blauschwarz, das sie sich mit 16 hat machen lassen. Zu ihrem eigenen Glück war es nur eine Tönung gewesen, doch diese Tatsache hat ihre Mutter auch nicht davon abgehalten, nach dem ersten Schock einen starken Scotch herunterzukippen.
Bei dem Gedanken daran musste Kate schmunzeln, doch sie hatte keine Zeit mehr, weiter in Erinnerungen zu schwelgen, denn Liz kam in die Küche gestürmt und beanspruchte sämtliche Aufmerksamkeit, wie auch früher schon, für sich allein.
Sie fiel Kate und Judy gleichzeitig um den Hals und strahlte. Lizzie war den ganzen Weg aus London nach North Collingham gefahren, nur, um zu diesem Mittagessen zu kommen und höchstwahrscheinlich würde sie, genauso wie Kate auch, über Nacht bleiben, denn der Weg zurück war viel zu lang und bei Kate fuhren keine Busse mehr.

Judy hingegen wohnte mit Alan und Micky in Lincoln, das weiter östlich lag und mit dem Auto nur wenige Minuten entfernt war.
Bethany kam mit einem seligen Grinsen hinter Liz hergestapft, als die Mädchen gerade voneinander ließen.
"Wo ist Daddy?", wollte die neu Hinzugekommene wissen, als sie sich in der Küche umsah und diesen nicht entdecken konnte.
"Auf einer Konferenz in London", antwortete Judy, während sie sich wieder daran machte, die bereits fertig gekochten Kartoffeln zu zerstampfen und mit ein wenig Butter und Salz zu verfeinern.
Liz seufzte entnervt.
"Da komm ich schon extra aus London her und er hat nichts Besseres zu tun, als eben dorthin zu entschwinden", beschwerte sie sich, doch ihr Missmut hielt nicht lange an - eine typische Eigenschaft von ihr: Liz konnte ihre Launen öfter wechseln, als andere Leute ihre Unterwäsche.
"Alan wird auch nicht kommen", informierte Kate ihre Schwester und setzte sich an den Tisch. Noch bevor Lizzie darauf etwas erwidern konnte, erschien, wie aus dem Nichts, eine fünfte Person im Türrahmen: ein schwarzhaariger Junge von 16 Jahren, der einen gebeutelten Eindruck machte.
"Sagt, dass das nicht wahr ist..", stöhnte er und verzog unglücklich das Gesicht.
Ohne auf sein offensichtliches Unglück zu achten, wirbelte Lizzie überrascht herum und Katie hob ebenfalls den Kopf, um ihren Bruder Daniel in Augenschein zu nehmen.
Danny war das - unfreiwillige - Nesthäkchen der Familie, 16 Jahre alt und kam ganz nach seinem Großvater.
Während Judy die braunen Haare ihrer Mutter geerbt hatte und Liz die blonden Haare und braunen Augen ihres Vaters, sah Danny mit seinen schwarzen Haaren und seinen grünen, intelligenten Augen ganz anders aus, als der Rest der Familie.
Er war äußerst schlaksig und groß, größer jedenfalls als die vier Frauen, unter denen er als einziger männlicher Nachkomme nicht wenig zu leiden und zu erdulden hatte.
"Danny!“, rief Liz begeistert aus, doch anstatt ihn ebenfalls zu umarmen, fuhr sie ihm stürmisch durch die Haare und hinterließ dort eine wild-verstrubbelte Verwüstung.
Daniel verzog gequält das Gesicht, ließ die Tortur aber über sich ergehen. Er wusste: ein falsches Wort und seine drei Schwestern würden ihn noch mehr quälen, als sie es ohnehin schon taten.
"Doch, es ist wahr", antwortete ihre Mutter, die nun abwesend im Kühlschrank nach etwas kramte, auf seine eher rhetorisch gemeinte Frage und Lizzie strahlte ihn wieder voller Begeisterung an, was für ihn nichts Gutes verheißen konnte.
Dan schlich wie ein geprügelter Hund durch die Küche und ließ sich neben Katie nieder, die ihm bereitwillig Platz machte.
Kate verstand sich mit Danny am besten, was vorwiegend daran lag, dass sie ihn in seiner Kindheit nicht als ihr Lieblingsopfer auserkoren hatte und ihm ihren Schrank zur Verfügung stellte, wenn Jude und Liz ihn mit Mädchenkleidern durch's ganze Haus jagten oder, in späteren Jahren, ihr Make-up an ihm testen wollten.
Unnötig zu sagen, dass diese, oft auch sehr einfallsreichen, Ideen meist von Lizzie kamen.
Katie war schon immer eher der ruhige, zurückhaltende Typ gewesen, der niemandem etwas zuleide tun konnte, deshalb hatte sie immer etwas gegen die Einfälle ihrer Schwestern und Mitleid mit ihrem Bruder gehabt.
Meist verkroch sie sich in ihre Bücher - sie konnte den ganzen Tag nichts anderes tun, als zu lesen und mit ihrer Liebe zu Büchern stellte sich auch irgendwann der Wunsch ein, Literatur zu studieren. Ein Studienfach, das zu ihr passte wie die Faust auf's Auge und niemanden wunderte.
"Daniel ist heute der einzige Mann im Haus", plapperte Mrs. Winston vergnügt vor sich her und bedachte ihren Sprössling mit einem liebevollen Blick voller mütterlichem Stolz. "Mal abgesehen von Micky, natürlich."
"Mann...", sinnierte Liz und musterte ihren Bruder kritisch mit einem Anflug von einem frechen Grinsen, natürlich in der Hoffnung, ihn wieder aus der Fassung zu bringen.
Doch Daniel war lernfähig. Mittlerweile hatte er gelernt, mit Lizzie's Attacken umzugehen. Das Beste, was er tun konnte, war sie zu ignorieren. Das klappte zwar nicht immer - Liz war hartnäckig - aber es ersparte ihm eine Menge Ärger.
Mit all den Schwestern, die ihn triezten, war er zu einem geduldigen Mann herangewachsen. Es überraschte Kate immer wieder, wie aus dem panischen Jungen, der sich in ihrem Kleiderschrank verkroch, dieser selbstsichere, Ruhe ausstrahlende junge Mann geworden war.
Katie warf ihrem Bruder ein entschuldigendes Lächeln zu, während dieser seelenruhig an seinem Glas nippte, Lizzie's Bemerkung völlig links liegen lassend.

Judy gesellte sich nun zu ihrer Mutter und schnitt die Tomaten für den Salat.
Ein paar Sonnenstrahlen drangen durch das Fenster hinein und machten den ganzen Raum noch viel freundlicher. Für einen kurzen Moment schwiegen alle Anwesenden und hingen ihren eigenen Gedanken nach, während aus dem Wohnzimmer noch immer die Geräusche von einem Zeichentrickfilm hereindrangen, in dem anscheinend sehr viele Trickfiguren sehr oft quietschten, kreischten und anderen Lärm veranstalteten.
Liz lehnte mit verschränkten Armen am Kühlschrank und schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein - es war einer der seltenen Augenblicke, in denen sie ausnahmsweise den Mund hielt und nicht sprach und es hatte den Effekt, dass auch alle anderen sich beruhigten und für eine Weile still waren. Lizzie's Lärm steckte an, genauso wie ihre Ruhe.
Mrs. Winston war die Erste, die die Stille wieder durchbrach.
"Das Essen ist fertig!" Sie klatschte in die Hände und drehte sich gutgelaunt zu ihren Kindern um. "Geht schon mal ins Wohnzimmer, Judy hat bereits den Tisch gedeckt. Ich hole noch das Hühnchen aus dem Backofen. Oh und - nehmt den Salat und das Püree schon mit."
Im Reden dirigierte sie ihre Kinder in altgewohnter Manier aus dem Raum in Richtung Esszimmer und widmete sich sogleich den im Backofen schmorenden Hühnchen.

Das Essen verlief wie immer: Die Mädchen wurden über ihre Freunde und deren Familienangehörige ausgefragt und mussten artig Auskunft erteilen. Daniel war von dieser Pflicht befreit, da er noch zu Hause wohnte und seine Mutter über alles - na gut, über vieles - im Bilde war.
"Wie geht es Jake?", wollte Bethany wissen, sich an Katie wendend, nachdem sie von Liz alle nötigen Informationen über deren alte Schulfreundin Anna eingeholt hatte.
Das Thema bezüglich Lizzie's Freund umschiffte Mrs. Winston immer sehr gekonnt, immer noch in der Hoffnung, er würde schon bald von einem anderen abgelöst werden.
Katie spießte sich ein Stück Tomate auf die Gabel und blickte ihre Mutter zweifelnd an.
"Gut", antwortete sie knapp. "Und Claire auch", fügte sie dann vielsagend hinzu, um ihrer Mutter zu verstehen zu geben, dass es auch noch Claire gab, die von zu Hause weggezogen war und es auch wert war, nach ihrer Befindlichkeit zu fragen. Jake war nicht der Einzige auf dieser Welt!
Sie konnte einfach nicht verstehen, warum ihre Mutter sich immer viel mehr um Jake sorgte als um ihre beste Freundin.
Mrs. Winston winkte lächelnd ab, beschäftigt mit ihrem Hühnchen.
"Ach, um Claire mach ich mir keine Sorgen. Sie war schon immer hart im Nehmen. Jake dagegen..." Sie ließ den Satz in der Luft hängen, doch auch so wussten alle am Tisch, was sie damit sagen wollte.
Jake war ein Tagträumer, ein kleiner Trottel und man kam nicht an ihm vorbei, ohne sich nicht mindestens einmal zu fragen, wie dieser weltfremde Typ es schaffte, in dieser Welt so lange zu überleben.
Trotzdem war Katie das Interesse ihrer Mutter an Jake nicht recht. Sie war nicht nach Hause gekommen, um auch hier ständig an ihn erinnert zu werden. Langsam ging seine Allgegenwärtigkeit ihr auf die Nerven.
"Jake packt das schon", erklärte sie, abweisender, als sie eigentlich beabsichtigt hatte und bekam gerade noch mit, wie Liz, die natürlich über alles im Bilde war - es war unmöglich, etwas vor ihr zu verheimlichen - eine Augenbraue hob und Katie ein anzügliches Grinsen zuwarf, woraufhin diese schnell den Kopf senkte.
Irritiert schaute Danny von einer Schwester zur anderen, doch Katie schien sehr interessiert in ihrem Kartoffelpüree und blickte nicht auf, Liz dagegen lief wieder zur ihrer Höchstform auf und war dazu übergegangen, die Familie mit den allseits beliebten Anekdoten aus ihrem Zeitungsverlag zu unterhalten.
"Übrigens", unterbrach Mrs. Winston Lizzie's Ausführungen über den dümmsten Trottel im Verlag, als Katie nichtsahnend an ihrem Glas Wasser nippte.
"Der Junge von den O'Leary's ist wieder zurück. Ihr wart doch früher so gut befreundet, nicht wahr?"
Kate verschluckte sich an ihrem Getränk und musste erst mal heftig husten - Daniel klopfte ihr behutsam auf den Rücken, während ihre Mutter den Salat auf ihrem Teller genauer inspizierte.
Kate schnappte nach Luft. "Gabe?", wollte sie ungläubig wissen, obwohl nur von einem Gabriel O'Leary die Sprache sein konnte. Die einzigen O'Learys, die sie kannte, wohnten in ihrer Straße und hatten nur zwei Kinder: Gabriel und seine jüngere Schwester Alysson.
"Ja, genau, Gabriel. So ein lieber Junge. Ich habe ihn vorgestern auf der Straße getroffen. Fast hätte ich ihn nicht erkannt, aber er hat ganz freundlich gegrüßt und da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen...", plapperte Bethany im ruhigen Plauderton daher - es schien, als bräuchte sie nicht einmal Luft zu holen, um alle diese Informationen an ihre Kinder weiterzugeben.
Doch Kate hörte ihr gar nicht mehr zu. Geistesabwesend starrte sie auf einen unsichtbaren Punkt irgendwo in der Tischmitte, während ihr ihre eigenen Gedanken zu Gabe durch den Kopf gingen.
Gabe war mit ihr zur Schule gegangen. Sie kannte ihn schon ewig und sie waren gute Freunde gewesen. Jake, Gabe, Claire und sie waren unzertrennlich gewesen, bis Gabe's Onkel diesen einlud, ihn in Australien besuchen zu kommen. Und zwar für längere Zeit.
Ohne zu Zögern hatte Gabe zugesagt, doch während Jake und sie - Kate - sich für ihn freuten, war Claire ganz und gar nicht begeistert. Sie war zu dem damaligen Zeitpunkt mit Gabe zusammen gewesen.
Katie konnte sich noch an den schwierigen Prozess erinnern, den Claire und Gabe durchlaufen mussten, um endlich zueinander zu finden, denn Claire war extrem stur und Gabe überaus beliebt gewesen.
Kein Wunder, dass Claire seitdem nicht gut auf ihn zu sprechen war. Soweit Kate wusste, war sie damals das erste Mal so richtig verliebt gewesen und wurde mittendrin wieder verlassen.
Aus verletztem Stolz und noch mehr verletzter Gefühle hatte Claire sich geweigert, auf seine vielen Mails zu antworten und irgendwann hatte auch Gabe aufgegeben, es noch weiter zu versuchen.
Mit Jake und Katie allerdings war er in Kontakt geblieben. Anfangs erreichten seine Nachrichten die beiden noch regelmäßig, doch schon nach kurzer Zeit wurden sie immer seltener.
Doch das lag nicht nur an Gabriel allein, denn auch Kate war beschäftigt gewesen mit dem Auszug und dem Studium. Gabriel's letzte Nachricht hatte sie schon vor mehreren Wochen bekommen und zu ihrer Schande musste sie gestehen, sie hatte noch nicht darauf geantwortet.
Die Mails glichen immer mehr ungeschicktem Smalltalk, denn seine Abwesenheit belastete die einst so gute Freundschaft, deshalb ließ Kate sich auch Zeit - doch auch Gabe schrieb immer erst nach Wochen zurück. Sie hatten nichts, worüber sie sich austauschen konnten, außer über Triviales, trauten sich beide nicht, irgendetwas Persönliches zu schreiben, aus Angst darüber, dass der jeweils andere es vollkommen desinteressiert auffasst, mittlerweile andere Interessen hat.
Bei dem Gedanken an ihre Inkompetenz wurde sie fast ein bisschen rot und schämte sich für ihr Versäumnis.
"Ich habe ihm erzählt, dass du heute vorbeikommst und er hat versprochen, dass er vorbeischaut", sagte ihre Mutter zuversichtlich in ihre Gedanken hinein und Katie hatte nun mit zwiespältigen Gefühlen zu kämpfen: das schlechte Gewissen quälte sie nun noch mehr, aber die Vorfreude, Gabe endlich wieder zu sehen - nach drei Jahren! - war ebenfalls überwältigend!
Ob er wohl noch genauso aussah wie damals? Unmöglich. Immerhin ein bisschen musste er sich verändert haben! Damals waren sie alle 16 gewesen, also MUSSTE er sich verändert haben.
Kate beschloss, das Wiedertreffen mit Gabe einfach auf sich zukommen zu lassen. Sie würde sich bei ihm entschuldigen und einfach schauen, wie es weiterlief. Wieso hatte er sie nur nicht vorgewarnt, dass er wieder zurückkommt?!
Bethany bemerkte, wie still ihre Tochter war, obwohl sie gerade das Wort an sich gerichtet hatte.
"Das ist doch in Ordnung?", hakte sie besorgt nach und holte Katie wieder aus ihrer Starre.
Abwehrend schüttelte diese den Kopf und lächelte.
"Natürlich! Ich freue mich auf Gabe", versicherte sie ihrer Mutter und machte sich daran, den mickrigen Rest ihres Püree aufzuessen.

Nach dem Essen spülten Beth und Judy das Geschirr ab, Lizzie führte ein sehr lautes, entzürntes Telefonat mit ihrem Freund in London, während Daniel sich zu Micky ins Wohnzimmer verzogen hatte und ihn dort ärgerte, indem er ständig die Sender wechselte.
Katie hatte sich dezent zurückgezogen und sich aus dem Haus gewagt. Ein paar Minuten lang hatte sie sich in die Verandaschaukel gesetzt, doch es wurde ihr schnell zu kalt und sie stand auf, musste sich wieder bewegen.
Als sie durch den Vorgarten zur Straße schlenderte, entdeckte sie auf der anderen Straßenseite eine Person, die direkt auf sie zukam, winkte und sie breit angrinste.
Gabe!
Mit geweiteten Augen betrachtete sie den Vermissten.
Er war um einige Zentimeter gewachsen, doch sein Haar war noch dunkelbraun, wellig und verwuschelt, wie immer. Und er trug dieses kecke Grinsen im Gesicht, das er sich ganz offensichtlich über die Jahre hinweg nicht abgewöhnt hatte.
"Katie!", begrüßte er sie, hielt sie eine Armeslänge von sich entfernt und musterte sie neugierig, bevor er sie fest in die Arme schloss und an sich drückte.
Kate, ein bisschen überrascht von der stürmischen Begrüßung, erwiderte die Umarmung.
"Gabe...", murmelte sie verwirrt. "Warum hast du mir nichts gesagt?"
Der Junge lachte - keine Spur davon, dass er in irgendeiner Art und Weise gekränkt sein könnte.
"Überraschung!", rief er dann aus und zwinkerte Katie schelmisch zu, was sie zu einem Lächeln veranlasste.
"Gelungene Überraschung." Anerkennend nickte Katie mit dem Kopf und betrachtete Gabriel nun ebenfalls genauer. Sie schätzte, er war sogar noch größer als Jake und er hatte einen gebräunten Teint, was wirklich ausgesprochen gut mit seinen braunen Haaren und Augen harmonierte.
Seine Augen funkelten angriffslustig, was Katie sehr an Claire und Lizzie erinnerte.
"Sollen wir...?" Er deutete vage auf den Weg vor ihnen, der zum Wald führte.
Kate nickte. "Gerne."

Langsam schlenderten sie die Straße entlang und Gabe erzählte ihr, wie sein Aufenthalt in Australien verlaufen war.
"Nach dem Schulabschluss wollte ich noch nicht zurück, aber ich wollte auch kein Studium anfangen." Er lachte. "Ich bin zu faul für so was", fügte er dann heiter hinzu. Katie grinste schief.
"Und eine Ausbildung kam auch nicht infrage, ich wollte ja bald wieder nach Hause. Also hab ich ein bisschen auf einer Farm gearbeitet, die einem Bekannten meines Onkel gehört."
Das Mädchen nickte, um zu zeigen, dass sie leicht folgen konnte.
"Und was hast du jetzt vor?", wollte sie wissen. Sie war neugierig auf Gabe's weitere Pläne. Soweit sie wusste, hatte er außerordentlich gute Noten auf dem Zeugnis gehabt.
"Jetzt ist erst einmal Bewerbungen schreiben und auf Antworten warten angesagt."
"Und als was möchtest du dich bewerben?"
Gabe grinste plötzlich ertappt, fast peinlich berührt und Katie fragte sich, was so schlimm sein konnte, dass es ihm so unangenehm war.
"Was würdest du zu einer Ausbildung bei der Polizei sagen?", fragte er verlegen und kratzte sich unsicher am Hinterkopf, warf ihr einen fragenden Blick zu.
Kate starrte ihn eine Sekunde lang fassungslos an, bis sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.
"Gabe!", rief sie begeistert aus. "Das ist wunderbar! Hoffentlich klappt das!"
Er lächelte erleichtert. "Das hoffe ich auch."
Für einen Moment kehrte Stille zwischen sie ein. Katie versuchte, sich Gabe als Polizist vorzustellen. Es war der perfekte Beruf für ihn. Der charismatische, gerechtigkeitsliebende Gabe machte sich hervorragend in einer Polizeiuniform!
Dann räusperte er sich.
"Du, Kate, sag mal..." Er klang zurückhaltend und unsicher, Katie blickte ihn fragend an.
Gabriel schien mit sich zu ringen, ob er die nächsten Worte aussprechen sollte oder nicht, entschied sich schließlich dafür.
"Ist Claire... ist sie sehr wütend auf mich?" Er schaute sie besorgt an und Katie fuhr urplötzlich der Gedanke durch den Kopf, dass ihm doch noch etwas an ihrer besten Freundin lag.
"Ähm..." Sie überlegte. Was sollte sie ihm sagen? Claire vermied es tunlichst, über Gabe zu sprechen. Das Thema wurde schon gar nicht mehr angeschnitten.
"Ich glaube, ja", sagte sie schließlich kleinlaut. Nein zu sagen wäre eine glatte Lüge gewesen, aber es war unnötig, zu erwähnen, dass Claire Gabe oder auch nur den Gedanken an ihn ganz aus ihrem Leben gestrichen hatte.
"Oh je." Gabriel lächelte gequält und Katie nickte. "Denkst du, es wird sehr schwierig sein, sie davon zu überzeugen, wieder mit mir zu sprechen?" Er versuchte, einen scherzhaften Tonfall einzuschlagen, doch Kate konnte die Sorge in seiner Stimme sehr gut heraushören.
Trotzdem musste sie grinsen. Als ob Gabe nichts selbst wusste, wie schwierig Claire sein konnte!
"Du kennst doch Claire!", antwortete sie und stieß ihm leicht den Ellbogen in die Seite, ihn anlächelnd.
Ein Ausdruck der Erkenntnis trat in sein Gesicht und nun musste auch Gabriel grinsen. Ein unglückliches, ergebenes Grinsen.
"Du hast recht", bestätigte er, mit seinem Schicksal hadernd.
Eine starke Windböe erfasste die beiden und trieb ihnen die ersten Schneeflocken ins Gesicht.
"Es schneit ja!", stellte Katie begeistert fest und hielt die Hände in die Höhe, die Handflächen nach oben gestreckt, um etwas von den Flocken aufzufangen.
Gabe, die Hände in die Jackentaschen vergraben, stand seelenruhig neben ihr und beobachtete Katie lächelnd, doch seine Gedanken schienen weit weg zu sein.
Dann änderte er abrupt das Thema.
"Wie lebt es sich so in Nottingham?", fragte er betont lässig.
Katie drehte sich zu ihm um und beide schlugen den Weg zurück ein, denn sie waren mittlerweile bereits am Waldrand angekommen. Dyke's End war eine Sackgasse und die Straße führte nicht mehr weiter.
"Sehr gut", antwortete sie. Ihre Laune hatte sich extrem gebessert, seit sie Gabe getroffen hatte. Es tat gut, von Freunden umgeben zu sein, die einen von den eigenen Problemen ablenkten.
"Das ist schön", seufzte Gabriel. "Meinst du, es würde zu viele Umstände machen, wenn ich euch mal besuchen käme?" Als Gabe Kate's kritischen Gesichtsausdruck sah, berichtigte er sich schnell wieder. "Dich und Jake, meine ich. Ich hab ja die nächsten paar Monate nicht viel zu tun..."
Kate lächelte ihn aufmunternd an. "Na klar, gar kein Problem. Ich kann dir ja auch eine Sightseeingtour meiner Vorlesungen anbieten", scherzte sie, woraufhin Gabe sofort das Gesicht verzog.
"Ich lehne dankend ab", sagte er lachend. "Gibt’s dich denn nur im Doppelpack mit Vorlesungen?"
"Nein, natürlich nicht. Vielleicht..." Kate überlegte. "Vielleicht könntest du dich bei Jake im Wohnheim einnisten? Ich meine..." Sie hielt inne und kaute auf ihrer Unterlippe.
Bei ihr und Claire konnte er nicht bleiben, er konnte sie dort nicht einmal besuchen! Doch Gabe schien zu ahnend, was sie sagen wollte.
"Ja, das ist eine gute Idee. Das machen wir so." Er klopfte ihr brüderlich auf die Schulter und umarmte sie noch einmal, bevor er sie wieder zu ihrer Familie entließ.
"Es gibt Kuchen. Möchtest du nicht mit reinkommen?", bot Katie an, doch Gabriel lehnte höflich ab.
"Dasselbe bei mir. Meine Mum wird fuchsteufelswild, wenn ich ihr Gebäck nicht haufenweise in mich reinschauffel."
Katie lachte und verabschiedete sich gutgelaunt von ihm. Das Bild der vier Freunde aus der Schule rückte wieder in greifbare Nähe.

Kate hatte sich gerade ihren Pyjama übergestreift und die Vorhänge ihres alten Zimmers zugezogen, in dem sie diese Nacht verbringen würde, als es leise klopfte und die Tür vorsichtig aufging. Wie üblich ließ das altbekannte Knarren, das sie schon aus ihrer Kindheit kannte, nicht auf sich warten.
Lizzie, ebenfalls bereits im Schlafanzug, bestehend aus einem Spaghettiträger-Top und einer kurzen Shorts, und Judy, noch voll bekleidet, betraten den Raum, der nur durch das spärliche Licht einer veralteten Leselampe auf dem Schreibtisch erleuchtet wurde.
Liz grinste der überraschten Katie schelmisch zu, während sie sich im Schneidersitz auf den Boden vor Kate's Bett niederließ. Judy nahm ganz sittsam auf dem Bett platz.
"Ganz wie in alten Zeiten", lächelte die Älteste der drei erinnerungsselig, als Kate sich ebenfalls auf's Bett hockte.
Das stimmte. Früher, als noch alle drei zu Hause gewohnt hatten, haben sich die drei Mädchen in einem ihrer Zimmer versammelt und Kriegsrat gehalten. Ob Liebeskummer, schlechte Noten, Ärger mit den Eltern oder einfach nur Schlaflosigkeit - es gab immer eine Entschuldigung oder einen guten Grund, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, in einer Decke gehüllt auf dem Boden zu hocken, sich flüsternd Geschichten zu erzählen und danach einzuschlafen - alle quer auf dem Bett oder die unbequeme Variante im Sessel.
"Stimmt." Liz zog ihre Knie an und schlang ihre Arme um ihre Beine herum, um es sich behaglicher zu machen. Eine kurze Schweigepause trat zwischen die drei ein.
"Wir hatten eine sehr glückliche Kindheit." Judy war die Erste, die das Schweigen brach. Sie sprach leise und es klang fast wehmütig. Kate sah sich in ihrem Jugendzimmer um. Dieselben Bilder hingen noch an den Wänden, an ihrer Pinnwand waren noch immer verschiedene Notizen angebracht, auf denen Universitätsadressen, Telefonnummern und sogar noch Notizzettel mit den Hausaufgaben aus ihren letzten Schultagen hingen.
Auf dem Schreibtisch stand ein gerahmtes Foto von Claire, Jake, Gabe und ihr selbst in der achten Klasse - schon Jahre her! Alles in diesem Raum war so... vorzeitlich! Es war fast so, als wäre das ein anderes Leben gewesen, eine andere Welt, in die sie nicht mehr zurückkonnte. Als wäre der Raum dreihundert Jahre alt und sie nur Besucherin in einem Museum. Und obwohl ihre Kindheit ihr erschien, als wäre es schon Jahre her, erinnerte sie sich an vieles noch so genau, als wäre es erst gestern gewesen.
Erst gestern hatte die sechzehnjährige Liz ihren ersten Freund - Jason - mit nach Hause gebracht und ihre Mutter dazu veranlasst, einen doppelten Scotch hinunterzustürzen.
Jason war nicht nur fünf Jahre älter als Liz - nein! Er hatte zu allem Überfluss einen Ohrring am linken Ohr und ein Tattoo, das ihm vom Nacken die Wirbelsäule herunterlief. Seine Klamotten waren die eines Bikers - schwarze, enge Lederhosen und die dazu passende Jacke, darunter nur ein Muskelshirt und eine nicht unerheblich dicke Kette - ein Anblick, der sogar Judy's Kinnlade zum Herunterklappen gebracht hatte.
George Winston, der Vater der drei Mädchen, hat die darauffolgenden paar Tage kein Wort mehr mit Liz gewechselt.
Natürlich erst, nachdem er auf drei verschiedene Arten versucht hatte, ihr den Kerl wieder auszureden: mach dem Versuch eines ordentlichen Gespräch mit Liz, das natürlich gescheitert war, hatte er seine Stimme erhoben und ihr mit Arrest und anderem gedroht. Zuletzt hatte er Judy vorgeschickt, damit diese ihrer Schwester ins Gewissen redete, was natürlich auch nicht gerade von Erfolg gekrönt gewesen war..
Sei stiller Protest war seine letzte Hoffnung auf Besserung und darauf, dass seine Tochter wieder zur Vernunft kam. Er gab es schon bald auf, denn Lizzie machte sich nichts draus - sie redete selbst so viel, dass sie einen schweigenden Mann, der sowieso nur abends daheim war, leicht kompensieren konnte.
Mit Jason hatte es nicht lange gehalten, genauer gesagt nur zwei Wochen, denn Lizzie fand schnell Zerstreuung und ihr wurde der Typ einfach zu langweilig.
Zu langweilig! Ihre Schwester war einfach unverbesserlich.
"Das hatten wir", pflichtete Kate Judy bei, wobei sie bei dieser speziellen Erinnerung ein leises Kichern unterdrücken musste.
Niemand merkte ihr ihre Heiterkeit an, denn Judy redete schon weiter.
"Ich hoffe, meine Kinder werden auch so glücklich sein", murmelte sie, mit ihrem verklärten Blick wohl ebenso in der Vergangenheit hängend, wie Kate.
Diese hätte wohl auch nichts bemerkt, hätte Liz nicht, scharfsinnig wie sie war, Judy einen fragenden Blick zugeworfen. "Kinder? Mehrzahl?"
Judy lächelte, fast schon entschuldigend, und nickte unmerklich.
Katie's Augen weiteten sich und sie blickte ihre älteste Schwester ungläubig an. Mit einem kurzen Seitenblick zu Liz versicherte sie sich, dass diese genauso überrascht von der Neuigkeit war, wie sie selbst.
"Wie lange schon?", japste Kate und ein Gefühl der Aufregung überkam sie. Judy würde ein Kind bekommen! Micky würde ein Geschwisterchen bekommen! Und sie und Liz waren die ersten, die davon erfuhren! Abgesehen von Alan vielleicht.
"Zweiter Monat", antwortete Judy, offensichtlich erleichtert und erfreut über die begeisterten Reaktionen ihrer beiden Schwestern.
"Ich hoffe, es wird ein Mädchen", stellte Lizzie sachlich klar und behielt somit ihren Standpunkt aus der Zeit von Judy's Schwangerschaft mit Micky. "Wir müssen die Winston-Weiber-Tradition doch fortführen!"
Judy und Kate lachten.
"Hoffentlich wird sie nicht wie Liz", kicherte Katie verhalten. "Sonst werden wohl auch für dich ein paar Flaschen Scotch aus Mum's Geheimbestand angebracht sein.“
Eben Genannte warf ihr einen bösen Blick zu, ging jedoch nicht weiter auf Katie's Neckerei ein.
"Sie sollte etwas von uns allen haben", entschied sie kurzerhand. "Judy's Warmherzigkeit, Kate's Intelligenz und meine-"
"Lieber nichts von dir", unterbrach Kate ihre redselige Schwester. "Sonst wird sie wirklich allzu verkorkst."
"Was soll das denn heißen?", wollte Liz aufgebracht wissen und warf Katie einen empörten Blick zu.
In diesem Haus gab ein eine Vielzahl von Beziehungen zwischen den Bewohnern und das hier war eine davon: Liz und Kate. Während Judy und Liz beste Freundinnen waren und Kate und Daniel Verschworene, neckten sich Lizzie und Kate andauernd, doch stritten sie nie ernsthaft.
Ein Gespräch zwischen den beiden verlief nicht ohne die ständigen Sticheleien, doch nie waren sie sich wirklich böse. Vielmehr galt hier das alte Sprichwort "was sich neckt, das liebt sich".
"Hey, hey", beschwichtigte Judy die Streithähne lachend und hielt abwehrend beide Hände in die Höhe. "Wir wissen noch nicht einmal, ob es überhaupt ein Mädchen wird."
Blitzschnell schnellte Liz's Kopf in ihre Richtung und sie fixierte die Älteste mit einem hypnotisierenden Blick.
"Das werde ich ihm dann aber übel nehmen!", drohte sie grimmig, als könnte sie dadurch das Schicksal in irgendeiner Art verändern.
"Hör auf, das ungeborene Kind einzuschüchtern", spottete Kate, wurde aber auch sogleich von einem ihrer Kopfkissen ins Gesicht getroffen.
"Heeey!", schrie sie anklagend, schnappte sich das Kissen, das nun zu ihren Fußen lag und konnte dadurch einen weiteren Angriff Lizzie's abwehren.
Ausgelassen stellten sie das Zimmer auf den Kopf, während Judy, auf dem Bett relativ sicher vor den Angriffen, vergnügt lachend das Szenario betrachtete.
Sie hörten auch erst auf, sich mit den Kissen zu bewerfen, nachdem ein mürrischer, schlaftrunkener Dan mit verwuscheltem Haar und halboffenen Augen seinen Kopf zur Tür hereinsteckte und missmutig etwas Unverständliches, aber ganz offensichtlich nicht Freundliches, murmelte. Doch er trollte sich wieder, nachdem Lizzie ihm mit voller Wucht eines der Kissen gegen den Kopf schleuderte und die drei Mädchen in unbeschwertes Gelächter ausbrachen.
Kapitel 3: Back in Hawton Crescent

Es war bereits später Sonntagnachmittag, als Kate, wieder zurück in Nottingham's kleiner Nebenstraße Hawton Crescent, den Schlüssel ins Schloss der Haustür steckte und ihn umdrehte. Das Wochenende mit ihrer Familie war lustig, aber dennoch sehr anstrengend gewesen. Alle Familienmitglieder auf einem Haufen ließen sich eben nicht so einfach ertragen wie jeder einzeln.
Dennoch war sie froh, dort gewesen zu sein und Zeit mit ihnen verbracht zu haben. Es erinnerte sie immer an früher, als noch alle zu Hause gewohnt haben und viel zu viel Unsinn angestellt und noch mehr Lärm gemacht haben. Es war nie still im Hause Winston gewesen.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und draußen war es schon beinahe dunkel, doch auch, als Katie das Innere der Wohnung betrat, musste sie feststellen, dass hier drin nirgends Licht brannte. War Claire etwa ausgeflogen?
Kate pellte sich aus ihrer warmen Jacke und hängte diese, zusammen mit dem Schal, an den Kleiderhaken. Ihre Tasche hatte sie bereits auf dem Boden gepfeffert und ließ diese erst mal ohne Beachtung liegen, während sie sich langsam in das Wohnungsinnere stahl.
Vom Flur aus betrat sie die Küche, die ihrerseits ins Wohnzimmer führte. Die Tür war angelehnt und durch den Türspalt drangen leise Stimmen und flackerndes Licht zu ihr durch. Also war doch jemand zu Hause.
Erleichtert durchquerte Kate die Küche und stieß die Tür auf.

Der Anblick der sich ihr bot, war Folgender: Ihre beste Freundin und gleichzeitig WG-Genossin Claire Greene hatte es sich mit Popcorn auf dem Sofa gemütlich gemacht. Sie trug ein weites, grünes T-Shirt und eine alte, dunkelgraue Jogginghose. Ihre gewellten, blonden Haare hatte sie offengelassen, sodass sie ihr in unregelmäßigen Wellen über die Schultern fielen und sie fast wie einen Engel erscheinen ließen.
Kate wusste nur allzu gut, dass Claire zwar bei manchen diesen Eindruck erwecken konnte, jedoch alles andere war als das.
Mit einer Hand in der Popcornschüssel schaute diese erschrocken auf, als Kate eintrat, doch bei der Erkenntnis, es handelte sich nur um ihre Freundin und nicht um irgendeinen ungebetenen Gast, entspannte sie sich wieder und lächelte Kate zur Begrüßung an, die etwas näher trat und sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
"Was ist denn aus dem Lern-Wochenende geworden?", wollte sie neckend wissen und wandte ihren Blick dem Fernseher zu, in dem Bemühen, den Film, den sich Claire da anschaute, zu identifizieren. Erfolglos.
Claire stöhnte nur genervt und winkte mit der freien Hand ab.
"Ich habe gestern genug gepaukt und fühle mich, als wäre ich 3 Kilogramm intelligenter." Sie warf bei diesem Satz einen argwöhnischen Blick auf das Popcorn.
"Könnte auch an anderen Dingen liegen...", murmelte sie dann nachdenklich vor sich her, bevor sie sich wieder Kate zuwandte.
"Jedenfalls ist heute offiziell der freie Faultag!", verkündete sie dann fröhlich und klopfte einladend auf den leeren Platz neben sich auf der Couch.
Kate ließ sich nicht zweimal bitten und kam der Aufforderung ihrer Freundin sofort nach. Diese reichte ihr auch unmittelbar die Schüssel mit Popcorn und Kate lehnte sich entspannt zurück.
"Was gucken wir da?", fragte sie, ihren Blick wieder auf das Fernsehprogramm gerichtet.
Claire zuckte die Achseln. "Keine Ahnung. Der Film heißt angeblich 'Liebesdinge', aber worum es da geht, weiß ich nicht wirklich. Obwohl er schon seit einer Stunde läuft!"
Kate lachte. Eine von Claires wunderbaren Eigenschaften war es, sinnlose Dinge aufzuspüren, diese ihrem scharfsichtigen Auge vorzuführen und sie dann mit ihrer Kritik ins Stücke zu zerreißen, wie ein gefürchteter Literaturkritiker.
"Warum schaust du ihn dir dann an?", wollte das Mädchen belustigt wissen und nahm sich dankbar eine Portion Popcorn aus der Schüssel, die Claire ihr wieder hinhielt.
"Wenn du wüsstest, was ich heut schon alles im Fernsehen gesehen habe...", setzte sie bedeutungsvoll an und warf Kate einen kritischen Blick zu, "dann würdest du gar nicht mehr mit mir befreundet sein wollen! Den ganzen Mist hab ich schon durch... Reality-TV, Talkshows, drittklassige Comedy - obwohl die ja noch das kleinere Übel war", fügte sie der Fairness halber hinzu und seufzte über ihre eigenen Untaten. "Der Film ist das Beste, was seit Stunden kommt. Traurig!"
Sie wandte sich wieder ab und griff nun zum Couchtisch nach der Fernbedienung. Offensichtlich hatte sie genug von der Sinnlosigkeit der "Liebesdinge" und zappte in einem entschlossenen Versuch, dieses Mal etwas Akzeptables zu finden, um.

Kate grinste, amüsiert über ihre beste Freundin. Anscheinend war sie heute viel zu gut drauf, um die Unmöglichkeiten im Fernsehen noch weiter auszuführen, denn normalerweise war das ein endloses Thema. Doch es nervte Kate nicht, ganz im Gegenteil - Claire hatte die einzigartige Gabe, die Dinge ironisch-lächerlich darzustellen und mit ihr zusammen zu sein bedeutete nie Langeweile oder Trübsal.
Die beiden Mädchen kannten sich schon seit der Grundschule. Obwohl sie sich anfangs gar nicht leiden konnten - Kate hielt Claire für zu laut und unfreundlich - hat sich im Laufe der Zeit ein starkes Band der Freundschaft zwischen ihnen entwickelt.
Doch nicht nur das - jeder von ihnen schätze die Gesellschaft des jeweils anderen. Claire, vom Gemüt her aufbrausend und direkt, schaffte es immer wieder, Kate mit ihrer Begeisterung anzustecken, von Unerfreulichem abzulenken oder sie zum Lachen zu bringen. Kate hingegen, eher ruhig und ausgeglichen, war gut darin, Claire von ihren Höhenflügen wieder auf den Boden der Realität zurückzubringen und sie ein bisschen mit ihrer Gelassenheit anzustecken.

Während Claire halbherzig umschaltete, richtete sie das Wort wieder an ihre Freundin.
"Und, wie war's zu Hause?", hakte sie nach und zögerte mit dem Zappen bei einer Nachrichtensendung. Nach kurzem Abwägen entschied sie sich, dass es das Beste war, was sie im TV finden konnte und legte die Fernbedienung beiseite.
Kate wartete, bis sie das Popcorn, das sie noch im Mund hatte, zu ende gekaut und runtergeschluckt hatte.
"Wie immer", antwortete sie. "Laut, fröhlich und anstrengend. Liz hat auch dort übernachtet, also kannst du es dir ja denken."
Claire lachte leise. Sie und Liz ähnelten sich sehr und Lizzie war auch diejenige von Kate's Geschwistern, die Claire immer am meisten bewundert hatte.
"Ja, allerdings", stimmte sie zu und nickte erinnerungsselig bei dem Gedanken an Kate's ältere Schwester. "Liz ist echt cool."
"Ja und... Dad und Alan waren geschäftlich in London, wovon Dan nicht allzu sehr begeistert war", plapperte Katie weiter und versuchte sich zu erinnern, ob noch irgendetwas Aufregendes oder Erzählenswertes passiert war, während sie in North Collingham war.

Ob sie Claire von Gabe's Rückkehr erzählen sollte? Und dass sie sich mit ihm unterhalten hatte?
Sie war sich der Reaktion ihrer Freundin nicht sicher. Würde es ihr etwas ausmachen oder war sie mittlerweile mit Gabe im Reinen? Sie hatte damals nicht sehr viel darüber geredet. Sturköpfig, wie sie war, hat sie es mit sich ausgemacht und Katie hat sie seitdem nie wieder seinen Namen aussprechen oder über ihn reden hören. Kate selbst hatte anfangs versucht, mit Claire über Gabe zu reden, doch sie blockte stets ab, sagte, es ginge ihr gut und wechselte schnell das Thema. Irgendwann hatte auch Kate aufgegeben, ihrer Freundin auf die Nerven zu gehen, doch das Gefühl, Gabe wäre ein Tabuthema, war immer haften geblieben, obwohl es nun schon drei Jahre her war, seit Gabriel weggeflogen war.
Und nun war er wieder zurück.
Letztendlich entschloss sie sich, dass sie es Claire nicht vorenthalten durfte. Wenn sie es ihr nicht sagte, würde Jake sich verplappern - und bei seinem Einfühlungsvermögen würde er das ganz sicher tun, das konnte Kate fast schon garantieren - und dann würde sie gegebenenfalls als die Böse dastehen, weil sie Claire nicht rechtzeitig gewarnt hatte. Gabe hatte ja angekündigt, Kontakt mit Jake aufzunehmen, immerhin waren sie früher beste Freunde gewesen.

"Da wäre noch eine Sache..." Katie zögerte und warf ihrer Freundin einen vorsichtigen Blick zu. Diese spürte auch sogleich die Anspannung und die Ernsthaftigkeit des Themas, richtete sich automatisch auf und sah Katie nun mit ihrem aufmerksamen Blick an.
"Ja?"
"Tja, also, ich hab... Gabe getroffen", gab Katie kleinlaut zu. Obwohl nichts Schlimmes an der Tatsache war, Gabe zu treffen, kam es ihr wie Hochverrat an ihrer Freundin vor, obwohl sie nicht genau wusste, wieso es so war.
Immerhin hatte sie mit der ganzen Sache nichts zu tun und sie war früher auch sehr gut mit ihm befreundet gewesen. Außerdem hatte sie auch nicht vor, zum "feindlichen Lager“ überzulaufen, falls Claire das befürchtete.
Die Überraschung war Claire auf jeden Fall anzusehen - damit hatte sie nun überhaupt nicht gerechnet, doch dann versteinerte sich ihr Gesicht wieder - wie immer, wenn das Thema "Gabe" aufkam und betont gleichgültig, aber unter extremer Anstrengung, zwang sie sich, die Schultern zu zucken und dabei so desinteressiert wie möglich zu gucken.

"Tatsächlich." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung und Kate verstand den Wink sofort: Das Thema musste fallen gelassen werden. Doch so einfach würde Claire dieses Mal nicht davonkommen, denn die Gefahr, dass sie Gabe irgendwo begegnete - Kate konnte es schon lebhaft vor ihrem geistigen Auge sehen, dass Jacob den Ahnungslosen in seiner ganzen unbegrenzten Naivität zu ihnen anschleppte, um die Freunde über seine Rückkehr mit ihnen zu teilen - war nun bedrückend real und konnte nicht mehr heruntergespielt werden. Es musste etwas geschehen!

"Claire", drängte Katie und bedachte ihre Freundin mit einem durchdringenden Blick, die diesem auszuweichen versuchte, indem sie sich äußerte konzentriert der Mattscheibe zugewandt hatte. "Was passiert nun?"
"Was soll denn passieren?", knurrte diese durch zusammengebissene Zähne. Sie war sichtlich verärgert, doch Kate wusste, dass Claire's Missmut nicht ihr galt - aber sie wusste auch, dass er schlimmstenfalls an ihr ausgelassen wurde.
Sie überlegte kurz und wählte ihre Worte mit Bedacht.
"Es kann durchaus passieren, dass wir... ihm über den Weg laufen... Er möchte wieder Kontakt zu uns herstellen, hat er gesagt", gab sie wahrheitsgemäß Gabe's Worte wieder und gleichzeitig tat ihr ehemaliger Freund ihr ein bisschen leid, da er nicht einmal annähernd das ganze Ausmaß des Schlamassels, das ihn unausweichlich erwartete, erahnen konnte.
Sollte es ihm tatsächlich gelingen, Claire in irgendeiner Art und Weise in seine Nähe zu bringen, würde es ihm sicherlich nicht sonderlich gut ergehen.

Zu Katie's Erleichterung schien diese Tatsache Claire nicht besonders aufzuregen. Vielmehr kühlte sich die kurzzeitig aufkeimende Wut wieder ab und ein gleichmütiger, gut eintrainierter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht.
"Er kann doch auch ruhig den Kontakt wieder aufnehmen", sagte sie gefasst. Katie machte den Mund auf, doch klappte diesen vor Erstaunen wieder zu. Es war auch nicht nötig, zu protestieren, denn Claire drehte sich nun zu ihrer Freundin um. Ihre Miene war ernst und ließ erkennen, dass sie keinerlei Widerworte dulden würde. "Zu euch."
Das Thema war erledigt und Katie kannte ihre Freundin viel zu gut, um jetzt noch zu widersprechen.
Kapitel 4: Disappointments and other diseases

Lustlos kritzelte Katie in ihrem Notizblock herum.
Wie immer war Jake zu spät, aber heute hatte sie so gar keine Lust, zu lernen. Ihre Motivation lag unter dem Gefrierpunkt und schon der kleinste Blick ins Lehrbuch strengte sie an.
Ihre linke Kopfhälfte schmerzte, wenn sie sich schnell bewegte, pochte sie sogar qualvoll auf.
Alles in einem fühlte Kate sich an diesem Tag miserabel, denn in der Nacht hatte sie kaum geschlafen. Was sie wach gehalten hatte, wusste sie allerdings auch nicht.
Mit einer Hand stützte sie ihren schmerzenden Kopf ab und starrte eine Weile lang gedankenversunken auf ihre Kritzeleien, doch auf keinen einzigen ihrer Gedanken konnte sie sich richtig konzentrieren. Sie wollte nach Hause, ins Bett, doch es wartete noch eine zweistündige Literaturvorlesung auf sie.

Plötzlich wurde ruckartig der Stuhl neben Katie nach hinten weggezogen, und das nicht gerade leise. Erschrocken zuckte sie zusammen und ihr Kopf schnellte zu dem Übeltäter herum, der hinter den Stuhl stand und gerade dabei war, seine Jacke über die Stuhllehne zu hängen.
Zu Kate's großem Entsetzen war es nicht Jake, der sie angrinste - nein, es war der Medizinstudent mit den braunen Locken und dem Schlafzimmerblick: David.
Innerlich stöhnte Kate auf und das Pochen in ihrem Kopf wurde nun heftiger und schmerzhafter.
Verwirrt starrte sie ihn an und bemerkte, wie hinter ihm Jake mit einem Tablett voller Essen und einem Mädchen im Schlepptau angeschlendert kam.
Das Mädchen hatte kurze, schwarze Haare und für Katie's Geschmack zu viel Make-up im Gesicht. Dazu trug sie eine viel zu kurze, enge schwarze Jacke und eine hüfthohe Jeans.
Ihr Lächeln wirkte engelsgleich, aber einstudiert, während Jake ihr frohgelaunt irgendetwas zu erzählen schien.

"Hallo Kate", begrüßte Dave sie und Katie zwang sich, ihren Blick von ihrem besten Freund und seiner Flamme, Rachel Clarke, wieder abzuwenden.
"Hi Dave", murmelte sie, ihre Kopfschmerzen ignorierend, und versuchte, ihre mangelnde Begeisterung über sein Auftauchen so gut wie es ging zu verbergen.
Jake hatte also zu ihrem wöchentlichen Treffen seine Studienfreunde mitgebracht. Klasse.
"Alles klar bei dir", wollte Dave wissen, während er sich auf seinem Platz niederließ und sie anlächelte.
"Ja, klar...", brummelte Katie wenig überzeugend.
Jake stellte sein Tablett vor ihr ab und nahm gegenüber Platz, so wie immer. Rachel setzte sich neben ihn.

Obwohl er sie freundlich grüßte, war das Einzige, was Kate's Aufmerksamkeit erregte, der Geruch der zwei Burger und der Pommes vor ihr, die zu Jake gehörten.
Ungewöhnlich stark schlug er ihr in die Nase und sie schien ihn auch mit allen anderen Sinnen wahrzunehmen.
Angewidert wand sie sich ab, denn schlagartig war ihr übel geworden und sie wünschte sich dringend irgendetwas Kühles, an das sie ihren Kopf lehnen konnte.
Dann kam ihr eine Idee und sie linste zur Glasscheibe herüber, doch sie konnte sich unmöglich so hängen lassen, gerade jetzt, wo Jake sich dazu entschlossen hatte, Besuch mitzubringen! Verdammter Jake!

"Was ist los, Kate?", hörte sie seine besorgte Stimme, die sie aus ihrer Benommenheit wachrüttelte.
"Geht's dir nicht gut?" Sie blickte zu ihm auf und hielt die Luft an. Jakes Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, er hatte sich über den Tisch zu ihr herübergelehnt und schaute sie prüfend, mit gerunzelter Stirn, an.
"Doch, doch", beeilte sie sich schnell zu sagen und wandte den Blick ab.
Heute war sie wirklich nicht sie selbst und hatte sich nicht ganz unter Kontrolle. Doch warum musste Jake ausgerechnet heute seine Freunde unangemeldet mitschleppen? Und dann ausgerechnet Rachel und Dave! Als hätte sie keine anderen Probleme!
Aber nun war es zu spät, sich zu ärgern. Sie musste das Beste aus der Situation herausholen, die sich ihr in folgender Form präsentierte:
Sie, Kate, saß in einem erbärmlichen Zustand und absolut unausgeschlafen vor Jake, ihrem besten Freund, Rachel, seiner neuen Flamme und dem Grund seiner schlaflosen Nächte und Dave, der anscheinend Interesse an ihr gefunden hatte.
Das alles wäre halb so schlimm gewesen, wenn sie nicht eine ausgewachsene Abneigung gegen Rachel empfinden würde und wenigstens ein bisschen etwas für Dave übrig hätte. Doch war beides nicht der Fall.
Sie würde Jake umbringen!

Aber erst, wenn sie geistig und körperlich wieder in der Lage dazu sein würde.
Im Moment hatte sie nicht einmal mehr die nötige Kraft, um Wut zu empfinden.
Alles, was sich in ihr regte, war mutlose Resignation. Und sogar ein bisschen Gleichgültigkeit. Ihr Kopf war viel zu benebelt, um komplexere Gedanken oder Emotionen zu produzieren.
Jake schaute sie zwar skeptisch an, widmete sich dann aber doch seinem Essen. Kate bemerkte, dass Rachel sie unverhohlen anstarrte.
Als sie ihren Blick erwiderte, stahl sich ein ausgesprochen falsches Lächeln auf Rachel‘s Lippen.
"Du siehst wirklich nicht so gut aus", beschien sie ihr, als sie Kate von oben bis unten musterte.
Müde wandte sich die Neunzehnjährige von Jake's Schwarm ab, ohne darauf etwas zu erwidern.
Selbst, wenn sie klar bei Sinnen gewesen wäre, hätte sie die eindeutig zweideutige Bemerkung auf sich sitzen lassen, denn sie wollte Jake auf keinen Fall verärgern, indem sie sich mit seinem Erdmittelpunkt anlegte.

Außerdem, und das musste sie zu ihrem Leidwesen, eingestehen, war sie bei Fremden ausgesprochen schüchtern und zurückhaltend, kaum sie selbst.
Sie fühlte sich oft auf eine niedere Stufe gestellt, vor allem in Momenten wie diesen, wenn so jemand wie Rachel, die sich offensichtlich für etwas Besseres hielt, sie so von oben herab behandelte und war, was das anging, nicht besonders selbstbewusst. Jedoch schien nur sie den Spott, der in Rachels Bemerkung mitgeschwungen hatte, wahrzunehmen, denn die Jungs blieben vollkommen ungerührt.
"Ich hab am Wochenende versucht, doch zu erreichen", ergriff nun Dave das Wort, der, und das hielt sie ihm in diesem Augenblick zu Gute, nur ein absolut geruchsneutrales Wasser gekauft hatte.
"Aber du warst nicht da."
Kate versuchte ein schwaches Lächeln.
"Ich war bei meinen Eltern", erklärte sie. "Tut mir leid."
Wieso entschuldigte sie sich? Und wieso konnte sie nicht einfach sagen, dass sie auf seine Anrufe gut verzichten konnte?
"Ja, ich wollte dich eigentlich fragen...", begann Dave mit gesenkter Stimme, doch Jake, der gute, alte Jacob, der das nicht mitzukriegen schien, da er schwer damit beschäftigt gewesen war, seinen Cheeseburger aus dem äußerst geräuschvollen Knitterpapier zu befreien, unterbrach ihn.
"Wie war's zu Hause?", wollte er wissen, ohne den Blick von dem Sandwich zu heben. Schließlich biss er genussvoll hinein.
Kate, froh über die Ablenkung, ließ sich nicht zweimal bitten.
"Ganz gut. Judy ist schwanger."
Vielleicht lag es an ihrem matten Tonfall, denn Jake hielt inne und starrte sie an.
"Oh...", sagte er vorsichtig und Kate musste unwillkürlich lächeln.
"Das ist gut", erklärte sie ihm und auf Jake's Gesicht breitete sich ein erleichtertes Grinsen aus.
"Richte ihr einen herzlichen Glückwunsch von mir aus."
"Ist Judy deine Schwester?", mischte sich David nun ein, der aufgrund der Unterbrechung bis dato schmollend neben Kate gesessen hatte, aber beschloss, es aufzugeben, nachdem niemand ihm Beachtung geschenkt hatte. Sie nickte.
"Die Älteste", klärte sie ihn freiwillig auf, doch Jake konnte schon wieder seinen Mund nicht halten.
"Kate hat zwei Schwestern und einen Bruder", sagte er im Kauen, und prompt meldete sich auch Rachel zu Wort.
"So viele Kinder?" Sie klimperte unschuldig mit den langen, künstlichen Wimpern. "Dann tritt deine Schwester wohl in die Fußstapfen deiner Eltern."
Rachel's rechter Mundwinkel zuckte kurz nach oben, doch ließ sich weiter nichts anmerken und beobachtete neugierig, wie Katie auf ihre Bemerkung reagierte.
Diese schien wieder die Einzige zu sein, die an dieser Aussage Anstoß nahm, denn weder Jake noch Dave zuckten auch nur mit der Wimper.

Langsam stieg doch die Wut in ihr hoch, bahnte sich ihren Weg durch Katie's müden Kopf, der vor lauter Schmerzen nun zu explodieren drohte. Schmerzerfüllt verzog sie das Gesicht, bekam überdies gar nicht mehr mit, was Dave sagte.
"...und ich wollte dich eigentlich nur persönlich einladen", schloss er nun seine Ausführungen und sah Kate fragend an. Das Mädchen starrte ihn abwesend an.
"Wozu?", hakte sie nach, mitten in die erwartungsvolle Stille hinein und fühlte sich wie eine komplette Idiotin in der Gesellschaft von Rachel, die nur starr lächelte.
"Mein Geburtstag", half Dave ihr auf die Sprünge und bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick. "Am 21. Claire ist natürlich auch eingeladen."
Natürlich. Dave hatte Claire schon einmal kennen gelernt, an einem jener Abend in diesen schmutzigen Drecksloch, wie Kate den Stammpub von Jake's Freunden nannte, und wollte wohl nur nicht unhöflich sein, doch Katie würde den Teufel tun und dort alleine auftauchen. Noch bevor sich bedanken oder etwas darauf erwidern konnte, sprang David nach einem Blick auf seine Armbanduhr hektisch auf und schnappte sich sein Wasser im Pappbecher.
"So, ich muss los. Bis dann", verabschiedetet er sich, sah aber nur Kate an und lächelte ihr zu. Benommen nickte sie mit dem Kopf, ihr war es gar nicht recht, dass er seine ganze Aufmerksamkeit ihr schenkte, obwohl sie doch so gerne darauf verzichtete hätte. Sie konnte Rachel's Gedanken schon geradezu laut hören: "Was findet der nur an DER?"
Zumindest würde das oder etwas ähnliches zu ihrem leicht spöttischen Lächeln passen. Hörte sie denn auf zu lächeln?

"Die Newton gibt momentan echt Gas", schmatzte Jake genüsslich in Rachels Richtung und holte somit Kate aus ihren düsteren Gedanken. Newton? Wahrscheinlich eine Dozentin.
"Ich komm kaum noch mit."
Rachel überlegte eine Weile und nickte dann. "Wahrscheinlich wegen dem Test in drei Wochen", mutmaßte sie und zog ihre perfekten Augenbrauen zusammen. Jake starrte sie unverhohlen an und Kate konnte regelrecht sehen, wie in seinen Augen kleine Sternchen funkelten. Musste Liebe schön sein!
Widerlich...

Sie wandte den Blick ab und hatte wieder die Tischplatte vor Augen. Wie gerne würde sie ihre Stirn an die kühle Platte legen... und sich vollends zum Gespött aller Anwesenden machen!
Genau in diesem Moment klingelte ihr Handy und für einen kurzen Augenblick dachte sie verwirrt, das Klingeln in ihren Ohren hätte deutlich zugenommen. Der Ton klang unnatürlich hell und überaus laut, sodass sie es schon fast nicht aushielt. Eine Kopfschmerztablette war angesagt...
Erschrocken kramte sie in ihrer Tasche und schaffte es schließlich, das klingelnde Ding herauszufischen. Claire‘s Name blinkte auf dem Display.
"Claire?", meldete Katie sich besorgt. Normalerweise hätte ihre Freundin just in diesem Moment in ihrem Seminar sitzen müssen, und dort war Telefonieren ausgeschlossen.
Eine vollkommen heisere Claire - sie hatte sie zu Anfang gar nicht richtig erkannt - war am Telefon und berichtete Kate, dass sie, nach einem Besuch beim Arzt, mit Grippe im Bett lag. Katie sollte aufpassen, sich nicht anzustecken.
"Zu spät", stöhnte Kate gequält in ihr Handy, während ihr plötzlich ein Licht aufging. Die verwirrten Sinne, ihre Übelkeit, die Schmerzen und diese fiebrige Benommenheit... diese Sehnsucht nach etwas Kühlem...
"Ich nehme jetzt Medikamente und geh schlafen", informierte Claire am anderen Ende der Leitung ihre Freundin. "Je schneller ich gesund werde, desto besser."
Schicksalsgebeutelt legte Kate das Handy weg.
"Claire hat die Grippe", gab sie die Information an Jake, und zwangsläufig auch an Rachel, weiter, die während des Telefonats ihr Gespräch abgebrochen und sie fragend angeschaut hatten.
Besorgt runzelte Jacob die Stirn.
"Stimmt. Der Grippevirus geht herum", murmelte er geistesabwesend, wandte sich aber sofort wieder seiner Freundin zu.
"Und du hast dich angesteckt!" Anklagend deutete er auf Kate, als hätte sie eine ansteckende Krankheit - war gewissermaßen leider ja tatsächlich stimmte - aber diese winkte lahm ab.
"Ich hab keine Zeit für so was..."!
Jake macht den Mund auf, um etwas zu sagen, doch Rachel kam ihm zuvor.
"Sorry, Leute. Ich muss gehen. Ich will mich ja nicht anstecken", erklärte sie mit ihrem Engelslächeln und stand hastig auf. "Bye bye", winkte sie den beiden, die ihr hinterher sahen, in Jake‚s Fall ziemlich verdattert, noch zu und suchte schnell das Weite.
Für einen Moment lang sah Jake aus wie ein begossener Pudel, bestellt und nicht abgeholt, doch dann sackte er regelrecht enttäuscht in sich zusammen, und Kate hätte ihn in diesem Augenblick am liebsten geohrfeigt.
"Tut mir leid", murmelte sie stattdessen betreten und Jake blickte auf, als hätte er sich wieder an ihre Anwesenheit erinnert.
"Hm?", machte er.
"Dass ich sie mit der Grippe verjagt habe...", erläuterte sie resigniert und hätte in diesem Augenblick am liebsten sich SELBST geohrfeigt. Seit wann musste man sich dafür entschuldigen, dass man krank war? Es war lächerlich - und es war typisch für sie!
Selbst, wenn jemand sie mit einer Pistole bedrohen würde, würde sie sich wahrscheinlich noch bei demjenigen entschuldigen - dafür, dass sie rein zufällig in der Nähe gewesen war!
Jake lächelte schwach.
"Du kannst nichts dafür", beruhigte er sie - anständig, wie er war - doch obwohl sie froh über Rachels Abgang war, nagten die Schuldgefühle, Jake etwas verdorben zu haben, an ihr. Wie immer befand sie sich im Zwiespalt der Gefühle: dass Jake jetzt so enttäuscht war, konnte sie nicht ertragen und es tat ihr leid, gleichzeitig aber hasste sie den Grund für sein Verhalten!

Er schluckte den Rest seiner Cola herunter und stand auf, nahm sein Tablett vom Tisch. "Komm, ich bring dich jetzt nach Hause", forderte er Kate sanft auf, doch sie protestiere. "Ich hab noch eine Vorlesung!"
Jacob rollte mit den Augen.
"Kate", sagte er, betont langsam und deutlich, als wollte er einem kleinen Kind Vernunft einreden. "Das kann unmöglich dein Ernst sein."
Als sie ihm einen widerspenstigen Blick zuwarf, stellte er das Tablett wieder ab und platzierte augenblicklich seine Hand auf ihrer Stirn.
Vor Überraschung zuckte Kate unmerklich zusammen. Seine Hand war zwar warm, fühlte sich auf ihrer glühenden Stirn aber dennoch angenehm kühl an. Für einen kurzen Augenblick vergaß sie zu atmen.
"Du hast Fieber, wie ich es gedacht hatte", stellte Jake fachmännisch fest und griff wieder nach dem Tablett. Auf seinem Gesicht erschien ein selten gesehener, ernster Ausdruck, der keine Widerworte dulden würde.
"Komm schon. Du gehörst ins Bett und nicht in einen stickigen Hörsaal voll gestopft mit lauter stinkenden Studenten."
Missmutig erhob sich nun auch Kate und folgte ihm leise murrend an die frische Luft, die ihren Kopf schlagartig ein bisschen klarer machte.
Jake hatte ja recht. Wenn sie sich das vorstellte... ihre Nase war heute so empfindlich und sich zwischen all den Studenten hindurchdrängen zu müssen, die staubtrockene Heizungsluft und die nicht gerade reizvollen Reden der Dozentin - normalerweise kein Problem, aber heute einfach undenkbar!
"Du brauchst nicht mitzukommen", versicherte sie Jake, der die Straßenbahnhaltestelle 20 Meter weiter ansteuerte, die Kate nach Hause in die Hawton Crescent bringen würde. Er blieb vor der roten Ampel stehen und wartete, bis es grün wurde.
"Ich find den Weg auch alleine."
Jake drehte sich zu ihr um, sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert.
"Du siehst so aus, als ob du gleich umkippst, glaubst du wirklich, dieses Risiko geh ich ein?" Seine Sorge rührte sie an, doch dass er sie wie ein unzurechnungsfähiges Kind behandelte, schmeckte ihr gar nicht.
"Aber du verpasst deine Vorlesung!", argumentierte sie, doch Jacob lachte nur kurz auf.
"Da könnte ich mir Schlimmeres vorstellen."
Der strenge Gesichtsausdruck war wieder dem Jake-typischen, gleichmütigen Grinsen gewichen, das sie vom dem sorglosen Jake kannte.
"Du solltest wirklich zum Arzt gehen", riet er ihr, nachdem sie eingehend studiert hatte. "Du bist so weiß im Gesicht, dass... du beinahe grün bist."
Katie stöhnte auf. "Kein Arzt", flehte sie kläglich, in der Befürchtung, Jake würde sie jetzt auch noch dahin schleifen! Doch ihr Freund runzelte nur die Stirn, während er, jederzeit eingriffsbereit, langsam neben ihr ging.
"Du magst keine Ärzte", stellt er sachlich fest, ein paar dunkle Erinnerungen aus seinem Gedächtnis herauskramend.
"Nein…", bestätigte sie leise. Alles, was mit Krankheiten zu tun hatte, war Katie suspekt. Den Geruch von Krankenhäusern konnte sie nicht ausstehen, wenn sie Blut sah, wurde ihr schwindelig und wenn andere detailliert über irgendwelche Verletzungen und Gebrechen redeten, wurde ihr übel und sie musste sich schnell hinsetzen.
Jake war in Gedanken.
"Ich studiere Medizin", informierte er sie, als sei ihm diese Tatsache jetzt erst bewusst geworden.
"Ich weiß das…", sagte Kate, immer noch halbflüsternd. "Solange du die unschönen Details für dich behältst..." Sie ließ den Satz unausgesprochen in der Luft hängen, denn Jake hatte auch so verstanden. Außerdem war er noch nie die Sorte Mensch gewesen, die widerliche und ekelerregende Sachen gerne ausführten und in allen Einzelheiten diskutieren mussten.

Die Straßenbahn war so voll, dass keine Sitzplätze mehr frei waren. Jake drängte sich vorsichtig, mit Kate im Rücken, durch die Menschenmenge, bis er an einen einigermaßen geeigneten Stehplatz stehen blieb.
Zwischen all den Leuten und durch die stickige Luft in der engen Straßenbahn wurde Katie wieder ganz flau im Magen und sie musste tief durchatmen. Das Stehen bekam ihr nicht gut, denn ihr Kopf schwirrte wieder irgendwo im Raum herum, das Innere der Straßenbahn schwankte bedenklich. Konzentriert darauf, die schwarzen Punkte, die vor ihren Augen tanzten, loszuwerden, starrte Katie auf ihre Füße und atmete gleichmäßig ein und aus.
Jake, der ihren Schwindel zu bemerken schien, beugte sich sachte zu ihr herunter.
Er fasste sie sanft an der Schulter und brachte sie dazu, sich leicht gegen ihn zu lehnen, während er sich mit der anderen Hand an der Haltestange festhielt.
"Schließ die Augen", flüsterte er ihr leise ins Ohr, denn sie versuchte verzweifelt, den aufkommenden Schwindel wegzublinzeln. "Dann geht es etwas besser."
Mit milder Verwunderung stellte er fest, dass Kate ohne Widerworte gehorchte und die restliche Fahrt mit ihrem Kopf gegen seine Schulter gelehnt blieb, während er sie sicher davor bewahrte, den Halt zu verlieren und umzukippen.
Nach nur wenigen Minuten kamen sie an der Haltestelle in der Nähe der Hawton Crescent an und zum wiederholten Male sog Katie gierig die kalte, beißende Winterluft ein.

Jake und Kate setzten ihren Weg fort durch das nasse, kalte Nottingham, Richtung Hawton Crescent, wo Claire wohl schon eingemümmelt in ihrem weichen Bett lag und ihre Grippe auskurierte.
Sie bogen in die Straße Hawton Spinney ein, die direkt an die Crescent angrenzte, als Kate kurzzeitig der Kopf schwirrte und als sie automatisch nach Jake's Jackenärmel griff, um sich festzuhalten, fasste er sie erschrocken am Arm und blickte sie überbesorgt an.
"Geht es? Kannst du gehen? Soll ich dich tragen?", bombardierte er sie mit Vorschlägen, doch Kate lehnte peinlich berührt ab.
"Mach dich nicht lächerlich", wehrte sie murmelnd ab. "Sonst kippen wir noch beide um."
Jacob, der sie weiterhin am Arm festhielt, schüttelte missbilligend den Kopf.
"Du spinnst, Kate."

"Himmel", stieß Jake entsetzt aus, als er die Küche betrat. Kate warf einen kurzen Blick hinein.
Auf dem Küchentisch türmten sich verschiedenen Packungen von Medikamenten, dazwischen lagen ein paar lose Tabletten herum und mehrere Päckchen Taschentücher.
"Ich hoffe, Claire hat das nicht alles genommen", murmelte er entgeistert, während er einige Verpackungen hochhob und sie genau inspizierte.
"Ich leg mich hin", informierte Kate ihn gleichgültig, fiebrig, und verließ die Küche, um langsam zu ihrem Bett zu schwanken.
Kaum einige Minuten später stand Jake auch schon wieder neben ihrem Bett, mit einem Glas Wasser und ein paar Tabletten.
"Gegen Fieber, Schmerzen und ein leichtes Schlafmittel. Nimm das!“, kommandierte er und hielt Katie, die ihn irritiert anstarre, das Wasser und die Medikamente hin.
Schließlich griff sie danach, nahm sie jedoch nicht sofort ein, sondern warf Jake einen fiebrig-strengen Blick zu.
"Versprich mir, dass du zurück zu deiner Vorlesung gehst", forderte sie, doch Jake schaute nur mit einem amüsierten Blick auf sie hinunter.
"Erstens ist es schon zu spät und zweitens kann ich es doch nicht verantworten, euch zwei kranke Hühner hier allein zu lassen. Claire liegt wie tot im Bett, dass sie atmet, konnte ich nur durch die verstopfte Nase hören - sie hat wohl den Tabletten-Overkill, die Gute", sagte er lachend, doch Kate fand das alles nicht so witzig, ließ sich auch nicht vom Thema ablenken.
"Aber das ist wichtig", beharrte sie, ohne auf Jake's Bemerkung einzugehen.
"Du wirst Arzt", erinnerte sie ihn. Ihr bester Freund lächelte angesichts der Dringlichkeit in ihrem Tonfall, doch schnell wich es einem bedrückten Ausdruck.
"Und du hasst es", sagte er leise. Kate antwortete nicht.
Stattdessen schwieg sie einen Augenblick lang und betrachtete das Wasser, schluckte dann die drei Tabletten, die Jake angeordnet hatte, hinunter.
Sie verstand einfach nicht, warum es ihm so wichtig war, was sie davon hielt. Es war doch vollkommen egal - jedem das Seine, pflegte Lizzie immer zu sagen und lebte auch danach - vollkommen vogelfrei durch ihre eigene Welt tänzelnd. Und sie hatte recht.
"Ich geh dann mal", verabschiedetet der Blondschopf sich und nickte Kate aufmunternd zu, jetzt wieder mit seinem sorglos-Grinsen im Gesicht.
Als er das Zimmer verlassen und vorsichtig die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sich Kate erschöpft in ihre Kissen zurück und schloss die Augen. Sie fühlte sich, als schwirrte ihr Kopf schon längst in anderen Sphären und sie konnte sich nicht länger dagegen wehren, ihm dorthin so schnell wie möglich zu folgen.


Es war das klappernde Fenster, gegen das der Wind hart schlug, und das ungewöhnlich laute Rascheln im Laubwerk der Bäumen draußen, die Kate letztendlich aus ihrem tiefen Schlaf rissen.
Verwirrt setzet sie sich im Bett auf. Sie brauchte einen kurzen Moment, um sich zu orientieren, wo sie war und weshalb. Im Zimmer war es dunkel, auf der anderen Seite des Fenster auch. Kate warf einen verwirrten Blick auf die Uhr. Fast Elf abends. Sie hatte also beinahe sechs Stunden lang geschlafen!
Die Braunhaarige schlug die Decke zurück und wankte in ihren verknitterten Jeans und T-Shirt aus dem Bett. Jetzt erinnerte sie sich, dass sie sich nicht einmal umgezogen hatte, als sie von Jake gewaltsam nach Hause geschleppt wurde.
Am Fenster angekommen warf sie einen kurzen Blick nach draußen. Offensichtlich hatte ein heftiges Unwetter eingesetzt, denn die Bäume wiegten sich stürmisch im Wind hin und her und große Regentropfen prasselten gegen die bereits nasse Fensterscheibe, an der das Regenwasser in Strömen hinunterlief.

Von irgendwoher konnte sie auch den Wind leise heulen hören, doch in ihrem Zimmer war es warm und trocken. Katie fröstelte trotzdem ein bisschen, aber ihre Kopfschmerzen waren zum Glück wie weggefegt, stattdessen brannte es heftig in ihrem Hals und schwindelig war ihr auch noch immer. Dennoch, das Fieber schien gesunken zu sein, denn sie fühlte sich zwar angeschlagen, aber keineswegs benommen oder duselig.
Katie schlich sich zu ihrem Schreibtisch, auf dem sich ihre Bücher stapelten, machte die kleine, schwarze Leselampe an, die den Raum sofort in dumpfes Licht tauchte, und wandte sich ihrem Schrank zu, aus dem sie kurzerhand einen ihrer "Gammelpullis" herausholte - Pullover, die sie nur noch zu Hause trug - und sich den schwarzen, weichen Pulli überstreifte.
Gerade, als sie das Zimmer verlassen wollte, um etwas zu Trinken zu holen - ihr Hals brannte nicht nut, er war auch nicht staubtrocken, sodass sie fürchtete, sie müssten jeden Moment verdursten - klopfte es leise an ihrer Tür.
Sogleich wurde diese auch schon einen Spalt breit geöffnet und Claire steckte ihren Kopf herein. Ihre Haare sahen ungekämmt aus und standen auf eine faszinierende Art und Weise seitlich von ihrem Kopf ab, wobei sie ein bisschen den Eindruck vermittelten, Claire sei ein Löwe mit prächtiger Mähne.
"Katie?", flüsterte sie und blickte sich schnell im Zimmer um, bis ihr Blick auf ihrer Freundin haften blieb, die halb hinter der Tür am Kleiderschrank stand.
"Bist du wach?", fragte sie dann überflüssigerweise, doch Kate verkniff sich einen passende Antwort und nickte nur.
"Du siehst genauso aus, wie ich mich fühle", beschien sie Claire stattdessen, die bereits eingetreten und die Tür hinter sich zugemacht hatte.
Kaum hatte sie ausgesprochen, fiel ihr auch auf, dass sie automatisch auch geflüstert hatte. Lächerlich. Es war doch niemand sonst zu Hause.
Claire hob die Augenbrauen. "Ich hoffe nur für dich, dass du dich wunderbar fühlst", warnte sie Katie streng, aber immer noch im Flüsterton.
Diese musste nun grinsen. "Natürlich."
Sie probierte es mit Zimmerlautstärke, doch da erkannte sie auch den Grund, weshalb Claire sich wispernd durch die Gegend stahl: aus Katie' Kehle kam nur ein krächzendes, kratzendes Geräusch heraus und das Sprechen tat auch ungemein weh. Diese Stimmbänder waren echt anfällig für jegliche Grippeviren!

"Sag mal, Kate..." Claire spähte argwöhnisch zu ihrer Freundin herüber.
"Was macht eigentlich Jake bei laufendem Fernseher schlafend auf unserer Couch?"
Katie hielt in der Bewegung inne.
"Was?", fragte sie entgeistert. "Jake ist noch hier?"
Das durfte doch nicht wahr sein! Hatte sie ihm nicht ausdrücklich gesagt, er sollte gehen? Hatte er nicht gesagt "Ich geh dann mal"?
"Schau doch selbst nach", forderte Claire sie auf und betrachtete Kate dabei genauestens. Diese stöhnte entnervt.
"Ich schick ihn nach Hause", entschied sie. Ihr war sichtlich unwohl bei dem Gedanken, Jake eine Nacht lang in ihrem Zuhause zu haben, wenn auch mehrere Zimmer zwischen ihnen lagen. Es war einfach nicht richtig.
Gleichzeitig fragte sie sich, warum sie so... streng mit ihm war. Bei Gabe beispielsweise hätte ihr das doch gar nichts ausgemacht, das musste sie sich zumindest in Gedanken eingestehen. Es laut vor Claire auszusprechen wäre vielleicht nicht die beste Idee gewesen...
Claire hingegen schien leicht entsetzt.
"Kate?! Hast du gesehen, was für ein Sturm draußen wütet?" Sie deutete mit einer ausschweifenden Handbewegung Richtung Fenster und unwillkürlich folgte Katie ihrem Wink.
Sie zögerte. Claire hatte Recht. Sie konnte Jake nicht einfach vor die Tür setzen, dazu auch noch um diese Uhrzeit. Aber die Wohnung wurde eindeutig von gefährlichen Grippeviren beherrscht - also was war schlimmer?

Sie entschied sich dazu, die Entscheidung auf Jake abzuwälzen. Wenn er sich bei diesem Sauwetter tatsächlich nach Hause würde begeben wollen, dann würde sie ihn nicht aufhalten - wenn sie auch ein mulmiges Gefühl hätte. Der Donner, der Regen, die Dunkelheit... alles Dinge, die sie lieber von drinnen aus beobachtete, anstatt mittendrin zu sein.
"Okay, okay...", gab sie nach. "Mal sehen, was Jake dazu sagt..."

Auf Zehenspitzen schlich Kate sich durch die Küche und stieß langsam die Tür auf. Wie Claire gesagt hatte, lief der Fernseher, die Lautstärke war runtergedreht worden - wahrscheinlich hatte er die Zwei nicht wecken wollen.
Jake selbst lag seit auf dem Bauch auf der Couch, sein linker Arm baumelte herab, sodass seine Finger leicht den beigefarbenen Teppich streiften.
Sein dunkelblauer Pullover war etwas hochgerutscht, auf der linken Seite stand eine Ecke seines Hemdkragens ab und verdeckte seine Wange. Passend zu dem Pullover trug er dunkelblaue Socken, an seinem Fußende lag eine weiche Wolldecke, ordentlich zusammengefaltet - und zwar von Kate. Sie fragte sich, warum er sie nicht benutzt hatte, denn die Heizung war aus und das Zimmer relativ kühl.
Kate trat näher und griff nach der Fernbedienung, die auf dem Couchtisch lag. Sie tippte auf eine Taste und der Fernseher wurde schwarz und verstummte. Dann wandte sie sich wieder Jake zu und betrachtete seine zerzausten, dunkelblonden Haare.
Durch das spärliche Licht, das aus der Küche ins Wohnzimmer drang, sahen sie noch dunkler aus und der karamellfarbene, leichte Rotstich, den seine Haare nur im Licht der Sonne annahmen, war nicht einmal zu erahnen.
Im Schlafen sah sein Gesicht erstaunlich ernst aus, das sorglose Grinsen war verschwunden, und doch wirkte er entspannt und... überlegt.
Katie musste unwillkürlich lächeln und löste sich aus ihrer Starre, schlich zu der Decke herüber und breitete sie vorsichtig über Jake aus, darauf bedacht, ihn ja nicht zu wecken.
Er bewegte sich tatsächlich keinen Millimeter vom Fleck und schlief seelenruhig weiter.
Nach einigen Sekunden drehte sich Kate von ihm weg und wollte wieder zurück schleichen, da aber bemerkte sie, wie Claire mit verschränkten Armen in der Tür zur Küche stand und ihre Freundin vielsagend angrinste.

Kate ging an ihr vorbei und schloss die Tür zum Wohnzimmer leise hinter sich.
"Und?", fragte Claire herausfordernd. "Jake bleibt also?"
Kate rollte mit den Augen. Als ob Claire das nicht vorausgesehen hätte.
"Jake bleibt", bestätigte sie krächzend - das Reden schmerzte sehr, deshalb bemühte sie sich nach Kräften, es möglichst zu vermeiden.
Claire hakte sich bei ihrer Freundin unter und zog diese aus der Küche raus, in Kate's Zimmer.
Dort ließ sie los und ließ sich auf Katie's großes Bett fallen.
"Zusammen krank sein macht viel mehr Spaß als alleine", seufzte sie, die Augen bereits geschlossen und schon halb im Traumland.
Kate sagte dazu nichts, ließ sich aber neben ihrer Freundin nieder. Wenn sie auch nur höchstens eine halbe Stunde wach gewesen war, sie fühlte sich schon wieder kraftlos und geschwächt, als wäre sie einen Marathon gelaufen oder ähnliches.
Sie schloss ihre Augen und ihre Gedanken kreisten augenblicklich um Rachel - die Perfektion in Person. Ihre Sprüche, ihre Blicke, die wie Pfeilgeschosse direkt ins Ziel einstachen, mit einer vorher noch nie dagewesenen Präzision. Und Jake, wie er sie ansah, wie er sie anhimmelte, als wäre sie - eine Göttin.
Kate wusste, dass ihre Fantasie ihr hier einen Streich spielte - oder war es gar Fieberwahn? - und trotzdem schaffte sie es nicht, den Anblick der zwei aus ihrem geistigen Auge zu verbannen.
Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihrem Brustkorb aus, in ihrem Zustand, kurz vor dem Einschlafen, kaum wahrzunehmen, und trotzdem wusste sie, dass es da war. Und es würde da sein, wenn sie wieder aufwachte.
Kate drehte sich mit dem Gesicht Claire zu, deren Atmung regelmäßig und ruhig ging. Das monotone Geräusch ihres Ein- und Ausatmens und das ebenfalls stetige Ticken der Uhr beruhigte Kate ein wenig und ließ auch sie innerhalb kürzester Zeit einschlafen.
Kapitel 5: About giving you up

"War doch ein nettes Wochenende." Claire lehnte am Türrahmen in der Küche und sah Kate dabei zu, wie diese den Tisch von den Taschentüchern und der restlichen Medizin befreite. Dann nahm sie einen Lappen und wischte ihn sorgfältig ab.
"Wenn du das sagst...", antwortete sie skeptisch nach einer Weile. Für sie war das Wochenende gar nicht so "nett" gewesen, denn sie hatte kaum etwas geschafft, weder für die Uni, noch im Haushalt. Das eigentlich Problem war nicht, dass sie dazu nicht in der Lage gewesen wäre - nein. Jake hatte sich bei den beiden für zwei Tage einquartiert - natürlich ebenfalls mit einer Grippe - und ihre beiden Freunde haben sie dazu genötigt, das ganze Wochenende mit ihnen auf der Couch vor dem Fernseher herumzulümmeln, sich nervtötende, sinnlose Sendungen anzuschauen und sich von ungesundem Zeug zu ernähren.
Claire war sehr begierig auf Schokolade gewesen, während Jake eher eine Pizza bevorzugte. Kate hingegen war ständig übel geworden von dem Geruch und sie fragte sich, warum es den anderen beiden nicht ebenfalls so erging.

Als Jake am nächsten Morgen aufwachte, war er topfit. Er verbrachte den Tag ganz sittsam in der Universität, doch als er am nächsten Tag, ein Samstag, mit einem gequälten Ausdruck im Gesicht vor Claire's und Kate's Haustür stand, war klar, dass es ihn im Nachhinein genauso schlimm erwischt hatte.
Mit Fieber quälte er sich auf die Couch, wo Claire, eindeckt in Papiertaschentücher, seelenruhig ein Buch las, und genau das war der Moment, in dem er anfing, zu jammern. Männer, die krank waren, waren doch wirklich unausstehlich!

Kate, mit einem Schal um den Hals und tränenden Augen, musste sich nun auch seiner annehmen, während Claire, die ja sowieso der Meinung war, krank sein machte zusammen "mehr Spaß", begann, das Wochenende zu planen.
Ihre Planung sah so aus, dass sie erstmal sämtliche Decken ins Wohnzimmer schleppte, die Couch ausklappte und ihnen ein weiches, gemütliches Lager herrichtete, während sie verkündete, dass im Hause Winston-Greene eine exklusive Pyjamaparty für "Aussätzige", wie sie es nannte, stattfinden würde. Sie war auch die Erste, die sich in die Kissen fallen ließ und gar nicht mehr aufstehen wollte.
Jake, der, seiner Aussage nach, überall Schmerzen hatte, wurde von Claire erbarmungslos mit Medikamenten zugedröhnt - sie konnte sehr herrisch und überzeugend sein, obwohl Kate eher vermutete, dass die Meisten einfach nur Angst vor ihr hatten - und schon kurze Zeit später fiel er in einen tiefen Schlaf, ähnlich wie Claire und Kate zwei Tage zuvor, während sich die Mädchen leise das Nachmittagsprogramm - Dokumentationen, Talkshows und sogar einen mittelmäßigen Spielfilm - anschauten.
Der Nachmittag zog sich lange hin, Kate schaffte es sogar noch, ein wenig in ihrem Roman zu lesen, einer von Vieren, den sie bis zum Semesterende gelesen haben muss, um die Prüfung erfolgreich zu bestehen.

Als es Abend wurde und Jake wieder wach war - auch bei ihm war das Fieber nach dem Schlafen sofort abgesunken - schaffte Claire sämtliche Cola und Schokolade aus der Küche ins Wohnzimmer. Jake formulierte den unfassbaren Wunsch nach einer Pizza, also wurde ihm kurzerhand das Telefon in die Hand gedrückt.
"Eigentlich ist es nicht förderlich, bei einer Grippe Cola zu trinken. Wegen dem Koffein und so", erklärte er selbstgefällig und nahm einen Schluck der dunklen, süßen Flüssigkeit aus seinem Glas.
Claire hob skeptisch die Augenbrauen. "Bringen sie euch so was in der Universität bei? Wie beeindruckend", spottete sie und wandte sich dann an Kate.
"Ich glaube, ich würde mich auch für ein Medizinstudium eignen. Allzu anspruchsvoll scheint es ja nicht zu sein." Sie holte Luft und setzte einen blasierten Gesichtsausdruck auf. "'Wegen dem Koffein und so'", ahmte sie Jacob nach.
Kate lachte, doch Jake rollte nur leicht genervt mit den Augen.
"Haha."

Nach einer Weile streckte sich Jake zufrieden auf der Couch aus und gähnte.
"Mit euch beiden lohnt es sich fast schon, krank zu sein."
Claire strahlte - genau ihre Meinung! Aber Kate sah das ganz anders. Sie hätte liebend gerne ihre Ruhe gehabt, aber andererseits - wann hatte sie die jemals? Zu Hause, in Dyke's End, war es auch nie wirklich still im Haus gewesen. Wie konnte sie nur glauben, dass sich nach ihrem Auszug so einiges verändern würde? Bei solchen Freunden - niemals!
Claire und Jake hatten schon eine Weile lang nichts mehr gesagt und so war sie ganz schläfrig geworden und hatte die schweren Lider geschlossen.
Irgendwann döste sie vor sich hin, die Geräusche des Fernsehers nahm sie nur noch irgendwo im Hintergrund ihres Kopfes wahr.

"Sag mal, Jake", sagte Claire mit gedämpfter Stimme - sie klang nachdenklich. "Wie laufen deine Bemühungen?"
"Mhm", machte Jake und das war das Letzte, woran Kate sich noch im Wachzustand erinnern konnte.

Morgen, ein Montag, würde das Leben wieder seinen ganz normalen Lauf nehmen und Kate war schon beinahe froh darüber. Es war anstrengend, den anderen beiden nicht aus dem Weg gehen zu können, vor allem Jake's Anwesenheit irritierte sie immer wieder. Es war seltsam, aber sie konnte ihn nicht über einen längeren Zeitraum hinweg ertragen. Jedenfalls nicht mehr...
Claire stieß sich vom Türrahmen ab, zog einen Stuhl zu sich heran und setzte sich an den Tisch. Auch ihr ging es wieder besser - eigentlich fast ein Wunder nach diesem ungesunden Wochenende. Ungesund im wahrsten Sinne des Wortes!
Kate setzte Wasser zum Kochen auf und holte Erkältungstee und Zucker aus dem Schränkchen, stellte beides neben den Tassen auf dem Tisch ab.
Claire schweig eine Weile.

"Wie lange soll das eigentlich noch weitergehen?", fragte sie dann ganz unvermittelt und blickte Kate prüfend an.
"Was meinst du denn?", fragte diese ahnungslos. Ihre Freundin hatte öfter Gedankensprünge, die keiner nachvollziehen konnte, aber Kate war schon daran gewöhnt.
Claire rollte genervt mit den Augen.
"Du weißt genau, was ich meine. Zwing mich also nicht, es laut auszusprechen", warnte die sie und es klang fast wie eine Drohung.
Kate zog die etwas ahnend Augenbrauen zusammen.
"Claire, was soll das?", fragte sie leicht gereizt, doch diese schüttelte nur verständnislos den Kopf.
"Weißt du, Jake ist ein Idiot", sagte sie dann und Kate starrte sie perplex an - das war nicht das Thema, wovon sie ausgegangen war.
"Ich versteh nicht...", murmelte sie verwirrt und versuchte in ihrem Kopf, Claire's Gedankengang zu folgen - vergebens.
"Dieser - wie hieß sie gleich?" Sie überlegte kurz. "Rachel! Dieser Rachel nachzutrauern. Oh man, ich hab sie einmal gesehen und das hat mir schon gereicht."
Claire redete sich regelrecht in Rage und verzog ihr Gesicht zu einer angewiderten Grimasse, als sie Rachel's Namen laut aussprach.
"Rache Clarke", spottete sie. "Die Dorfschlampe!"
Kate sog hörbar die Luft ein. "Claire!", rief sie empört, als es im selben Augenblick begann, im Wasserkocher verdächtig zu blubbern.
Claire ließ sich davon gar nicht beeindrucken und zuckte nur die Achseln.
"Ist doch wahr, Kate. Du weißt es, ich weiß es - alle Welt weiß es, nur Jake stellt sich mal wieder taub und blind. Und wer trägt den meisten Schaden davon?"
Sie sah Kate herausfordernd in die Augen.
"Du!" Der Wasserkocher klickte laut.
Kate wandte sich von Claire ab, um ihrem Blick auszuweichen.
"Das ist nicht wahr", protestierte sie lahm und ging dazu über, heißes Wasser in die beiden Tassen zu füllen. Es war doch das Thema, wovon sie ausgegangen war - Claire's Umweg war eine kluge Taktik gewesen, um sie in Sicherheit zu wiegen.
"Na klar." Sie glaubte ihr natürlich kein Wort.
"Mir macht das nichts aus, wirklich", versuchte sie ihre Freundin zu beschwichtigen, aber sie schnaubte nur verächtlich.
"Das sehe ich, wie sehr es dir nichts ausmacht." Sie machte eine vage Handbewegung und griff nach dem Löffel, um eine gehörige Portion Zucker in ihren Tee zu geben. Claire trank alles mit unglaublich viel Zucker - je süßer, desto besser, fand sie.
"Können wir...", fing Kate an, doch Claire unterbrach sie.
"Du bist viel zu weichherzig. Ich an deiner Stelle hätte ihm schon längst gezeigt, wo der Hammer hängt."
Kate biss die Zähne zusammen. Es war unfair - während sie sich an das Tabuthema "Gabe" hielt, konnte Claire einfach so, wie es ihr beliebte, alles ansprechen, was sie wollte - auch, wenn sie genau wusste, dass Kate nicht darüber reden wollte.
"So wie du es bei Gabriel gemacht hast, in etwa?", schoss sie bissig zurück und biss sich sofort auf die Unterlippe. Das ging zu weit, das merkte sie nun selber.
Claire's Miene wurde hart wie Stein, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde.
"Ja", sagte sie dann, erst etwas nachdenklich, doch dann veränderte sich ihre Mimik und ihr Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. Viel zu entschlossen für Kate's Geschmack...
"Ja, genau so!", ereiferte sie sich. "Und ich bin glücklich damit!"
Nun war es an Kate, argwöhnisch die Augenbrauen zu heben, doch sie traute sich nicht mehr, etwas darauf zu erwidern. Wenn Claire diese absolute Ignoranz "glücklich" machte, dann stimmte entweder etwas nicht mit ihr selbst oder ihrer Definition von "glücklich".

Beide schwiegen, während Claire leidenschaftlich in ihrem Tee herumrührte. Dabei stieß der Löffel permanent an die Wände der Tasse und verursachte klirrende Geräusche.
"Du hast zwar schon seit langem nichts mehr gesagt", sagte Claire, ihre Stimme glasklar und schneidend. "Aber ich weiß, dass du immer noch etwas für Jake empfindest."
Kate erstarrte und musste erstmal schlucken. Das war der Gegenschlag gewesen - und sie hatte ihn verdient. Sie machte sich nicht die Mühe, zu widersprechen.

Es war in der vorletzten Klasse gewesen, noch in der Schule und sie und Jake waren zu diesem Zeitpunkt schon viel zu lange beste Freunde gewesen. Irgendetwas anderes war plötzlich da und sie fing an, ihn mit anderen Augen zu sehen.
Seine Fröhlichkeit, wie er andere immer unwillkürlich zum Lachen bringen konnte und seine Unfähigkeit, etwas Schlechtes in anderen Menschen zu sehen - so naiv und freundlich. Zuvor hatte sie ihn für einen Träumer gehalten, für den Klassenclown, aber für eine gute Seele und plötzlich wurde alles ins andere Licht gerückt.
Sie hatte ihn nie ernst genommen - und sie bemühte sich nach Kräften, es noch immer nicht zu tun.
Sie spielte ein Spiel, jeden einzelnen Tag ihres Lebens. Und es wurde von Tag zu Tag schlimmer.

Natürlich hatte sie es Claire erzählt - sie erzählte Claire alles. Aber sie hatte in dieser Hinsicht nie etwas unternommen und damit den Groll ihrer Freundin auf sich gezogen. Jake war ihr bester Freund seit der Grundschule. Sie konnte das nicht so einfach außen vor lassen und das Risiko eingehen, ihn zu verlieren.
"Sehr viel sogar", setzte Claire hinzu - etwas sanfter nun, während sie die Regungen in Kate's Gesicht beobachtete.
"Und wenn schon." Kate machte eine wegwerfende Handbewegung und lachte nervös. "Das spielt überhaupt keine Rolle."

Irgendwann hatte sie aufgehört, mit Claire darüber zu reden. Es war anstrengend und es machte sie nur traurig. Sie hatte gehofft, Claire ließe sich auf eine falsche Fährte locken, aber da hatte sie die gute Claire falsch eingeschätzt - sie hatte schon immer wachsame Augen gehabt, diese grünen, aufmerksamen Augen, mit denen sie die Welt etwas eigensinniger betrachtete, als andere Menschen es taten.
"Kate", sagte sie, fast schon flehend. "So kann es aber nicht weitergehen."
Jetzt war es wieder an Kate, wütend zu werden.
"Es muss aber, Claire!", sagte sie aufgebracht. "Wir sind Freunde! Es geht nicht ohne... ich meine..." Sie verhaspelte sich etwas und suchte nach den richtigen Worten. "So ist es mir lieber..."
Claire schüttelte langsam den Kopf und nippte an ihrem Tee.
"Wieso gehst du nur davon aus, dass dann alles kaputtgeht? Es könnte... gut werden! Bestimmt sogar!" Sie klang ziemlich zuversichtlich, aber Kate wehrte ab.
"Bestimmt sogar NICHT", protestierte sie. "Du hast doch Rachel gesehen - und in der Schule, Audrey! Fällt dir irgendetwas auf? Perfekt und schön und..."
"Unerreichbar", unterbrach Claire bestimmt.
"Macht auch keinen Unterschied."
"Natürlich tut es das", regte sich Claire auf. "Irgendwann muss er doch mal auf dem Boden der Realität ankommen. Luftschlösser bauen zahlt sich am Ende nicht aus."
Kate wand sich unter Claire's Worten. "Was soll das bedeuten?"
"Das bedeutet, du bist der Boden der Realität, Kate", erklärte sie entschieden.
Kate runzelte die Stirn und wiegte Claire‘s Worte gegeneinander ab - schön, perfekt und unerreichbar auf der einen Seite und auf der anderen Seite der „Boden der Realität“ .
"Du sagst das so, als wäre ich ein Abstieg auf eine niedrigere Stufe..."
Aber Claire lachte nur ihr helles Lachen. "Nein, Kate. Jeder, der sich mit dir abgibt, KANN nur eine Stufe höher steigen. Was glaubst du, wieso Dave so offen sein Interesse bekundet?"
Sie zwinkerte Kate zu und war sichtlich zufrieden, ihre Freundin zum Schmunzeln gebracht zu haben.
Doch Kate wurde ganz schnell wieder ernst. "Du weißt, dass das nichts ändert."
Claire seufzte. "Ich weiß. Leider! Mensch, Kate, du bist der einzige Mensch auf der Welt, den ich kenne, der überhaupt nichts für sein Liebesglück unternimmt!", tadelte sie resigniert.
Diese starrte geistesabwesend an Claire vorbei zum Fenster hinaus.
"Es gibt immer ein erstes Mal...", murmelte sie.

"Das muss aufhören", sagte ihre Freundin bestimmt. Kate schüttelte widerwillig den Kopf. Nie im Leben.
"Das muss aufhören, Kate", setzte Claire noch einmal an, nachdrücklicher, und beugte sich über den Tisch näher zu Kate herüber, "bevor Jake Verdacht schöpft. Als du geschlafen hast, fragte er, was mit dir los ist."
Es lag eine neue, besorgte Dringlichkeit in Claire's Stimme, die Kate sofort in Panik versetzte.
Bevor diese den Mund aufmachen konnte, hob Claire auch schon beruhigend die Hände. "Bevor du doch jetzt aufregst: er macht sich nur Sorgen. Weil du traurig bist."
Kate hielt inne und sah ihre Freundin zweifelnd an. "Was...?"
"Er sagte, du seiest traurig", wiederholte diese geduldig und zuckte dann mit den Schultern.
"Ich finde, er hat schon recht."
Katie war extrem überrascht und brauchte einige Sekunden, um sich darüber klar zu werden, was das bedeutete. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass der innere Kampf, der in ihr tobte, auch nach Außen hin Spuren hinterließ.
Natürlich war sie nicht glücklich gewesen, kein einziges Mal, als Jake ihr von Rachel vorschwärmte, als er ihr beteuerte, dass er es irgendwie hinkriegen musste, sich mit ihr zu verabreden und überhaupt, jedes Mal, wenn er ihren Namen erwähnte...
Dass sie traurig war, das wusste sie selbst nicht. Sie war - frustriert und genervt und unausgeglichen, wütend und reizbar, aber... traurig. Sie ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen.
Es konnte sich nur um eine von zwei Möglichkeiten handeln: entweder sie hatte sich nicht so gut im Griff, wie sie dachte, oder Jake war viel aufmerksamer, als sie ihm zugetraut hatte.
Claire wartete und trank einen Schluck aus der Tasse. Ihre war bereits fast leer, während Katie noch kein einziges Mal getrunken hatte.
Ruckartig riss sie sich aus ihren Gedanken. "Wieso?", wollte sie verständnislos wissen.
Claire lachte. "Wieso er das merkt?" Als hätte sie ihre Gedanken gelesen!
"Du bist unglaublich reizbar und, wahrscheinlich merkst du es selbst nicht, aber du gehst ihm permanent aus dem Weg. Du setzt dich auf den entferntesten Platz, du willst nicht in seiner Nähe sein und du - und ich finde, das ist das Schlimmste - kannst ihn nicht mal lange genug ansehen, ohne seinem Blick auszuweichen!", ereiferte Claire sich. "Und du bist so unfreundlich! Manchmal tut er sogar mir schon leid. Mir!", setzte sie bedeutungsvoll hinzu und deutet auf sich selbst, mit weit aufgerissenen Augen.
Kate musste leicht lächeln. Claire hatte wirklich einen Hang zur Dramatik.

Schweigend saßen sich die beiden Mädchen gegenüber, bis Kate's Blick zufällig auf ihre Lesebrille fiel, die, einsam und verlassen, an der Tischkante lag, die an die Wand angrenzte.
Sie hatte sie schon lange nicht mehr benutzt…

Kate hatte sich bereits Sorgen gemacht, doch als die Tür zum Klassenzimmer geöffnet wurde, wusste sie automatisch, ohne aufzuschauen, dass es Jake war. Er war mal wieder zu spät - schon zum dritten Mal in diesem Monat!
"Jacob Parker", ertönte eine strenge Frauenstimme von vorn. "Du bist zu spät."
Kate konnte das Grinsen in seinem Gesicht regelrecht hören, als er sich heiter entschuldigte.
"Tut mir leid, Miss."
Nicht ganz so lautlos, wie er eigentlich sollte, schlüpfte er zwischen den Bänken zu seinem Platz, eine Reihe hinter Kate, und setzte sich hin. Er begann, geräuschvoll seine Sachen auszupacken und neben Kate kicherte Claire verhalten vor sich hin.
Doch Kate war ganz und gar nicht zum Lachen zumute... vor kurzem war sie beim Augenarzt gewesen, da sie andauernd über Kopfschmerzen geklagt hatte und nun hatte sie eine Brille verschrieben bekommen! Eine Brille!
Katie hatte nichts gegen Leute, die Brillen trugen - aber sie stand ihr einfach nicht. Sie fühlte sich seltsam ausgeliefert damit und hatte das Gefühl, jeder starrte sie an - es war einfach unangenehm und sie hörte schon die Sprüche, die bestimmt nur auf sie warteten: "Vierauge" oder "Klappgestell auf der Nase" und was es da nicht alles gab. Kate seufzte.
Sie hatte ihre neue Brille - eigentlich ein ziemlich unauffälliges, rechteckiges Ding mit abgerundeten Ecken, eher schlicht - erst aufgesetzt, nachdem sie bereits auf ihrem Platz saß, um so wenige Schüler wie möglich auf sich aufmerksam zu machen.
Zum Glück musste sie sie nur im Unterricht tragen und beim Lesen - so blind war sie dann doch nicht. Noch nicht.

"Danke, Will", sagte Miss Baker gerade zu einem schwarzhaarigen Jungen, der vor der Klasse stand und eben seinen Aufsatz zum Thema "englische Heldenfiguren" vorgetragen hatte, als Jake hereingepoltert kam.
"Du kannst dich nun setzen. Der nächste auf der Liste wäre dann..." Sie kramte nach der Klassenliste, Will machte sich auf den Weg zu seinem Stuhl in der letzten Reihe und Katie versuchte sich ganz klein zu machen.
"Kate. Kate, kommst du bitte zur Tafel?"
Sie stöhnte innerlich auf. Natürlich musste das passieren!
Widerwillig griff sie nach ihrem Heft und erhob sich. Mit gesenktem Kopf trottete sie nach vorne - sie hatte es nicht weit, denn sie und Claire saßen in der zweiten von vier Reihen - und drehte sich mit einem lautlosen Seufzer der Klasse zu, mit dem festen Vorsatz, niemanden anzuschauen, um den mitleidigen Blicken zu entgehen und ihren Aufsatz so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Doch sie hatte nicht mit Jake gerechnet - und im Nachhinein wunderte sie sich, warum, denn mit Jake musste man IMMER rechnen.

"Kate!", rief er verblüfft aus und starrte sie an. Genauso überrascht, aber viel mehr als das geschockt sah sie auf und erwiderte seinen verdutzten Blick.
Gleichzeitig machte sie sich auf das Schlimmste gefasst, was kommen konnte: er würde sie bloßstellen. Vor der ganzen Klasse!
"Du hast ja eine Brille", stellte er fast schon bewundernd fest und überging dabei das überdeutliche "Shhhh, Jacob" der Lehrerin, die ihn bereits unzufrieden anfunkelte und etwas in das Klassenbuch notierte.
Etliche Blicke hafteten nun auf Kate, sogar die von Leuten, die vor Jake's Ausbruch noch im Halbschlaf auf ihren Tischen hingen - was Kate wirklich lieber gewesen war - und schauten sie neugierig an. Kate fühlte sich wie ein Ausstellungsstück und warf einen verzweifelten Blick zu Claire herüber, die breit grinste. Claire fand Jake's Art immer unglaublich lustig, selbst, wenn er unnötig übertrieb.
"Die steht dir gut." Der fünfzehnjährige Jake lächelte von seinem Platz in der vorletzten Reihe Kate aufmunternd zu und nickte zur Bekräftigung seiner Worte, als Kate ihn ungläubig anstarrte.
Ein paar Mädchen weiter hinten kicherten und Kate fühlte, wie ihre Wangen und Ohren heiß wurden - eine Eigenschaft, die sie schon oft verraten hatte, wenn ihr eine Situation peinlich oder unangenehm war.
Sie zwang sich, sich aus ihrer Starre zu lösen und wandte sich dem Heft zu, das sie noch immer schützend vor der Brust in den Händen hielt. Etwas kopflos suchte sie die richtige Seite und die Sekunden schienen sich in Minuten zu verwandeln, bis sie endlich zu der Stelle mit dem Aufsatz kam.
Sie räusperte sich, um sicherzustellen, dass ihre Stimme nicht direkt beim ersten Satz versagen würde und heftete ihren Blick nun entschieden auf das mit blauer Tinte beschriebene Papier.
"Mein Aufsatz..." Ihre Stimme klang wackelig und unsicher und sie versuchte, sich zusammenzureißen. "Mein Aufsatz handelt von der Legende des Schwertes im Stein... König Arthur."

"Kate! Katiiiee, warte!"
Er holte sie ein und lief nun leichfüßig neben ihr her. "Was machst du am Wochenende?", fragte er und wartete nicht einmal die Antwort ab. "Du weißt ja, es ist der erste Sonntag im Monat, unser Kinotag!"
Jake hatte recht - der erste Sonntag im Monat war der Tag, an dem sie immer zusammen ins Kino gingen. Irgendwann ist beiden aufgefallen, wie langweilig die Sonntage waren und anstatt in den Vorgärten ihrer Elternhäuser herumzulungern, hatten sie sich entschlossen, ins Kino zu gehen. Da sie das aber nicht jeden Sonntag tun konnten, einigten sie sich nach einiger Zeit auf den Monatsersten. Mittlerweile war es beinahe schon Tradition geworden.
In North Collingham gab es zum Glück eins, auch wenn es klein, stickig und schlecht besucht war.
Aber diesmal war Kate wütend auf Jake.
"Geh alleine hin", erwiderte sie bissig und er warf ihr einen überraschten Seitenblick zu.
"Hab ich was gemacht?", fragte Jake instinktiv - Kate war selten wütend und wenn, dann meistens auf ihn.
Sie blieb nicht stehen, als sie ihn weiter ankeifte. "Nein, überhaupt nichts!", höhnte sie sarkastisch. "Du hast mich
ganz und gar nicht vor der ganzen Klasse bloßgestellt mit so einem dämlichen Spruch."
Das Mädchen hielt kurz inne und schluckte. "Das hätte echt nicht sein müssen…"
Jake verstand nicht und schüttelte verständnislos den Kopf.
"Was für ein Spruch und wieso bloßgestellt?", wollte er perplex wissen und dachte angestrengt nach, fest in der Annahme, er hätte etwas Entscheidendes verpasst.
"'Die steht dir gut'", äffte sie ihn erbost nach, um ihm auf die Sprünge zu helfen. "Sollte das vielleicht
witzig sein?"
"Häh? Wieso witzig?" Verwirrt schüttelte er wieder den Kopf. "Das habe ich ernst gemeint, warum regst du dich so auf?"
Voller Unschuld sah er sie an und ihre Wut fing langsam an, zu schwinden. Erschöpft seufzte sie. Wie konnte sie ihm böse sein, wenn er sich seiner Schuld noch nicht einmal bewusst war? Seine Naivität war wirklich zu beneiden...
"Warum hast du sie abgesetzt?", wollte er wissen, als sie schwieg.
"Ich hasse sie", war die schlichte, grimmige Antwort. Katie senkte den Kopf und beobachtete den Boden, mit ihrem Schicksal hadernd.
"Warum?", hakte Jake nach, noch immer sehr durcheinander, doch Kate zuckte bloß die Schultern und dachte selbst eine Weile darüber nach.
Warum?
"Oooh...", machte Jake und bekam große Augen, als wäre ihm soeben ein Licht aufgegangen.
"Jemand hat dich beleidigt, oder?" Er war so eingenommen von seiner Theorie, dass er sie gar nicht erst zu Wort kommen ließ.
"Sag mir, wer es war und was er gesagt hat, Kate", verlangte er entschlossen von ihr. "Das wird ihm Leid tun!"
"Nein, nein", wehrte Kate schnell ab. "So ist es nicht..."
Jake war nicht überzeugt. "Wie dann?", fragte er skeptisch und musterte sie prüfend.
Kate seufzte. Sie kam wohl nicht drum herum, ihm die Wahrheit zu erzählen, auch, wenn sie jetzt merkte, wie peinlich es war.
"Ich hatte nur befürchtet, dass..." Sie schluckte. "...dass jemand es tun würde, weißt du..."
Jake war nun wieder leicht durcheinander. "Wieso sollte jemand das tun?"
Kate lächelte entschuldigend. "Brillen sind nicht so hübsch..."
Jacob runzelte die Stirn und fing im selben Augenblick an zu lachen, sodass Katie ihre Angst plötzlich fürchterlich dumm und lächerlich vorkam.
"An den richtigen Leuten schon", sagte er dann und lächelte ihr bedeutsam zu.
Als Kate ihn kritisch ansah und widersprechen wollte, setzte er sich wieder in Gang und zog sie am Ärmel hinter sich her, noch immer grinsend über ihre Sorge bezüglich der Brille.
"Du bist dran mit Film aussuchen, Katie", erinnerte er sie noch, bevor er die Tür zur Cafeteria aufstieß, wo Claire schon, zusammen mit Gabe, an einem der Tische saß und den beiden zwei Plätze freihielt.


Kate schüttelte die Erinnerung ab und straffte die Schultern.
Nein, das konnte sie nicht so einfach aufgeben. Jake war immer an ihrer Seite gewesen und wenn sie traurig war, hatte er sie aufgeheitert und sie hatte ihm im Gegenzug bei seinen schwächeren Fächern geholfen. Sie hatten sich an den Sonntagen zusammen gelangweilt und noch viel mehr Spaß gehabt. So sorglos er immer sein mochte, man konnte sich im Notfall auf ihn verlassen.
Sie hatte um ihre Gefühle nicht gebeten, die sich, leise und klammheimlich, einfach hereingeschlichen hatten. Schon lange bevor sie verstanden hatte, warum sie so merkwürdig reagierte, wenn er nett zu anderen Mädchen war, wenn er von anderen redete und warum sie ihn daraufhin so patzig behandelte. Im Nachhinein fragte sie sich, wann das angefangen hatte. Warum hatte sie nichts bemerkt? Seit wann war er ihr so wichtig und seit wann so unverzichtbar für sie?
Ihre Eifersucht war sogar nicht einmal ihr als erstes aufgefallen - nein, es war natürlich Claire, die ihr eines Tages riet, sich mal zusammenzureißen und das Mädchen, dem Jake nur eine Schulaufgabe erklärte - und sich dabei viel zu weit zu ihr herüberlehnte und sie viel zu nett anlächelte, wie Kate fand - nicht mit ihren tödlichen Blicken zu vernichten.
Erst da fing sie an, sich über Claire's Worte Gedanken zu machen - und je länger sie nachdachte, desto mehr drängte sich ihr die undenkbare Wahrheit auf, die sie, je klarer sie wurde, immer weiter in den Hintergrund zu verdrängen versuchte. Und sie tat es immer noch!
Eine andere Wahrheit, so einfach und deutlich vor ihr, als wäre sie greifbar, war Folgende:
Für Jake war sie eine gute Freundin. Die Kummerkastentante, die manchmal etwas sonderlich reagierte. Mehr nicht und nicht mehr.
Er wollte sie nicht.
Kapitel 6: Thunder and lightning

"Kate? Kate!" Aus den Tiefen der Wohnung drang Claire's laute, helle Stimme glasklar zu ihr ins Zimmer. Katie saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und balancierte auf ihrem rechten Knie ein Buch, in das sie vertieft war.
"Kate!"
"Ja, was denn?", antwortete sie seufzend, die Augen nicht von den gedruckten, kleinen Buchstaben abwendend, die sie so in ihrem Bann hielten.
"Weißt du schon, was du anziehst?", rief Claire von irgendwoher - Katie vermutete, aus dem Badezimmer - und klang ziemlich verzweifelt.
Kate nickte dem Buch zu. "Ich bin schon angezogen", rief sie zurück.
In weniger als dem Bruchteil einer Sekunde stand Claire auch schon in Kate's Zimmer. Kate blickte auf.
Ihre Freundin hatte die Hände in die Hüften gestemmt und musterte Kate prüfend.
"So zugeknöpft kannst du unmöglich zu dieser Party gehen, Kate", maßregelte Claire sie und schüttelte empört den Kopf, als sei es eine Beleidigung für ihre Augen, Kate so zu sehen.
Kate hatte eine normale Jeans an, ein dunkelrotes Top, das sie nur bei besonderen Gelegenheiten anzog und einen Pulli drüber, sodass man das Oberteil gar nicht sehen konnte. Wahrscheinlich war es der Pullover, an dem Claire Anstoß nahm.
"Keine Sorge, der Pulli kommt an die Garderobe, Claire." Kate rollte mit den Augen ob der Begriffsstutzigkeit ihrer Freundin und musste sich dann doch ein Grinsen verkneifen, als sie Claire noch einmal anblickte. "Aber du kannst unmöglich so freizügig gehen."
Sie deutete mit einer Handbewegung auf Claire, die lediglich in Unterwäsche und geringelten Socken bekleidet in der Tür stand.
Claire verzog das Gesicht. "Sehr witzig, Kate. Ich kann mich einfach nicht entscheiden!", jammerte sie. "Soll ich einen Rock anziehen oder die Jeans, aber welche Schuhe ziehe ich dann an? Und dann kommt noch die Farbe des Shirts hinzu..."
Sie überlegte eine Weile und starrte angestrengt in die Luft, als sei die Antwort dort irgendwo zu finden. Kate wandte sich wieder ihrem Buch zu.
"Hast du mal auf das Thermometer geguckt? Ich glaube, deine Fragen würden sich dann erübrigen. Es ist so kalt da draußen, dass du kaum bis zur Straßenbahn kommst, ohne dir deine Zehen abzufrieren. Und vergiss nicht, dass wir nachher zu Fuß nach Hause gehen müssen, weil so spät keine Busse mehr fahren", erinnerte sie Claire sachlich, während ihre Augen regelmäßig über die Zeilen dahinglitten und das geschriebene in sich aufnahmen. “Außerdem“, fügte sie geistesabwesend murmelnd hinzu, “haben die im Wetterbericht behauptet, dass es schneien soll...“
Claire sah jetzt noch verunsicherter aus. "Du hast vielleicht recht, aber..." Sie fixierte Kate, die das jedoch nicht zu merken schien und runzelte verärgert die Stirn.
Mit drei großen Schritten war sie bei ihr und fischte ihr das Buch aus der Hand. "Was zum Teufel liest du da schon wieder?"
Claire warf einen abschätzigen Blick auf den stark mitgenommenen Einband - das Buch hatte schon eindeutig mehrere Jährchen auf dem Kasten. "Stolz und Vorurteil? Schon wieder?"
Das Mädchen schwenkte das zerlesene Buch verächtlich in der Luft umher, was Kate entsetzt beobachtete. Sie streckte die Hand nach dem Buch aus, das Claire abfällig in ihren Händen hielt und eroberte es sich pikiert zurück, strich liebevoll über den Einband und legte es neben sich auf das Bett.
"Lass das. Stolz und Vorurteil ist eine sehr schöne Geschichte, man kann sie nicht oft genug lesen", versuchte sie sich zu rechtfertigen und fragte sich im selben Augenblick, wieso sie das überhaupt nötig hatte.
Claire seufzte resigniert. "Das weiß ich - ich hab es schließlich auch gelesen. Aber Kate, mal ehrlich... findest du nicht, auch DU sollest mal langsam im 21. Jahrhundert ankommen?"
Sie blickte Kate erwartungsvoll an, doch diese warf Claire nur einen langen, geduldigen Blick zu, ehe sie zur Antwort ansetzte. "Und findest DU nicht, dass du dich langsam anziehen solltest? Wir müssen in einer Viertelstunde los."
Ruckartig richtete Claire sich auf und warf einen besorgten Blick auf die Wanduhr, die laut und vorwurfsvoll tickte. Ihr Gesichtsausdruck wurde leicht panisch, als sie der Wahrheit ins Gesicht blicken musste und blitzschnell wieder aus dem Zimmer rauschte.
"Diese Unterhaltung ist noch nicht beendet!", donnerte es dann drohend aus dem Badezimmer. Kate seufzte, war das doch der Standardsatz ihrer Eltern gewesen, den sie in mehrmals am Tag anbrachten, wenn eines ihrer vier Kinder mal wieder verrückt spielte, und erhob sich träge vom Bett, um zu Claire herüberzugehen und sie bei der Wahl ihrer Kleidung zu beraten - und darauf zu achten, dass sie nicht ein Outfit wählte, das aus luftigem Sommerkleidchen und Highheels bestand.


"Zum Glück haben wir im Vorverkauf Karten erstanden, sonst müssten wir jetzt noch in der Kälte anstehen."
Claire kicherte und zeigte schadenfroh auf die ziemlich lange Menschenschlange, die sich vor dem Eingang des Universitätsfestsaals versammelt hatte, während die beiden Mädchen sich durch die Menge zum Gebäude durchkämpften.
Claire hatte irgendwann Vernunft eingenommen und sich von Kate die etwas solidere Jeans anschwatzen lassen, doch anstatt einen Pulli mitzunehmen und in an der Garderobe abzugeben, hatte sie fest darauf bestanden, außer ihrer Jacke und Handtasche kein weiteres Gepäck mit sich herumzuschleppen.
"Je mehr gestohlen wird, desto schlimmer wird es nachher", waren Claire's selbstgefällige Worte gewesen und Kate hatte, nach einem Blick auf die Uhr, aufgehört zu protestieren.
Vierzig Minuten später hatten sie endlich das Haus verlassen, auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle. Zum Glück waren sie nur mit Jake verabredet, und dass der zu spät kommen würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche.
An der zweiten Kasse, die für jene, die die Karten schon vorher gekauft hatten, zeigten sie ihre Ausweise und Karten vor und wurden endlich in das warme Innere des Gebäudes gelassen. Sofort riss Claire sich ihre Jacke vom Leib und steuerte die Garderobe an, Kate folgte ihr etwas langsamer. Sie hatte es nicht so eilig und war eigentlich nur hier, weil Jake und Claire sie synchron angefleht haben - was sie überhaupt nicht leiden konnte. Leider konnte sie unter solchen Umständen auch nicht nein sagen...
"Wir müssen das Ende unseres ersten Semesters doch ausgiebig feiern, Kate!", hatte Claire es versucht, als wäre das ein äußerst überzeugendes Argument. Und nun stand sie hier - auf der "End of term"-Party im Festsaal der Universität von Nottingham.
Der Eingansbereich war mit ein paar Plakaten und Lichterketten geschmückt und überall lagen Flyer herum, die für irgendwelche anderen Partys oder Konzerte warben. Einige Plakate trugen das Wappen der Universität, andere wiederum verhießen das Ende des Semesters und auf ein paar wenigen prangten irgendwelche politischen Sprüche.
Kate erinnerte sich, dass bei der Einführung vor einem halben Jahr, als sie neu an die Universität gekommen waren, ähnliche Plakate gehangen haben und sogar von einigen älteren Semestern hochgehalten wurden, während der Rektor eine von diesen langweiligen Ansprachen hielt, die jedes Jahr dieselbe war.
Anscheinend verlangten sie den Abtritt des Direktors, jedoch hatte Kate sich nie wirklich mit den politischen Gegebenheiten der Uni beschäftigt. Sie war einfach froh, hier studieren zu können, wer irgendwo in den Tiefen des Hauptgebäude an seinem Schreibtisch saß und welche wichtigen Telefonate derjenige führte, war ihr ziemlich gleich.
Kate entledigte sich ihrer Sachen und gab diese an der Garderobe ab. Claire stand schon ganz aufgeregt und mit einem erwartungsvollen Grinsen im Gesicht an der Eingangstür zu dem Hauptsaal, aus dem schon laute Musik zu ihnen herüber dröhnte, vermischt mit Gemurmel und Gelächter.
Kate trat näher und Claire öffnete schwungvoll die Tür. Beide tauchten ein in eine dunkle Welt, die scheinbar nur aus Musik, Menschen und flackernden Lichtern bestand.
Kate schaute sich fasziniert um.
Der Saal hatte die Form eines in der Mitte abgeschnittenen Kreises und im Halbkreis verliefen die Tribünen nach oben. Auf der gerade Seite befanden sich lediglich drei Türen: Zwei Toiletten, jeweils rechts und links, und der Haupteingang, durch den Kate und Claire nun die Halle betraten.
Wie erwartet, waren die Tribünen durch einen Bauzaun abgesperrt, der, um nicht in aller seiner Hässlichkeit zu erscheinen, wiederum mit bunten Plakaten und teilweise mit einer Abdeckplane kaschiert worden war.
Die Tanzfläche befand sich in der Mitte des Raumes, jeweils rechts und links waren Theken aufgebaut, wo Getränke verkauft wurden. Ansonsten waren überall im Raum ein paar Stehtische verteilt.
Kate blickte nach oben, um die funkelnden Lichter an der hohen Decke zu bewundern und stellte überrascht fest, dass sich auch im zweiten Stockwerk Leute befanden. Hinter der Brüstung waren ein paar Tische und Stühle aufgebaut und es saßen bereits wenige Stundenten gemütlich da und unterhielten sich, während sie den ein oder anderen neugierigen Blick durch die gläserne Brüstung nach unten, auf das fröhliche Treiben, warfen.
Kate wusste, dass sich dort eine Cafeteria befand, also haben sich die Veranstalter wohl dazu entschieden, die Cafétische und Stühle zu behalten und so einen "ruhigen Bereich" zu schaffen.
Sofort besserte sich Kate's Laune. Sie hatte schon vermutet, den ganzen Abend auf den Beinen verbringen zu müssen, aber da es nun anscheinend doch nicht so aussah, freute sie sich schon fast. Vielleicht konnte sie sich einfahl zurückziehen, wenn es ihr zuviel wurde, und sich mit jemandem unterhalten? Immerhin mussten sich hier irgendwo ihre Kommilitonen und Kommilitoninnen herumwuseln.

Mit einem Ruck wurde sie jäh aus ihren Gedanken gerissen, denn Claire hatte sie am Arm gepackt und zog sie nun an ihrem Ärmel mit sich mit.
"Schau, da sind welche aus meinem Kurs", rief sie über die laute Musik hinweg und bewegte sich auf einen Jungen und ein Mädchen zu, die in etwa in ihrem Alter zu sein schienen. Als sie bemerkten, dass Claire auf sie zusteuerte, lächelten beide ihr zu.
"Hallo", begrüßte Kate's Freundin die beiden mit einem breiten Grinsen. "Colin, Lucy, das ist Kate, Kate, Colin, Lucy", stellte sie alle einander hastig vor uns Colin und Lucy nickten Katen freundlich zu.
"Hallo Kate", sagte Colin. Kate konnte in dem Schummerlicht nicht viel erkennen, aber anscheinend musste Colin helle Haare haben. Außerdem machte er einen ziemlich ausgeglichenen Eindruck, denn auf seinem Gesicht lag eine Art gleichmütiges, entspanntes Lächeln. Neugierig betrachtete er Kate, aber nur so lange, wie es angemessen war und wandte sich dann wieder Claire zu.
Lucy hingegen war sogar kleiner als Kate und hatte eine zierliche Figur. Sie hatte dunkle Haare, schien aber ebenso wenig abgehetzt zu wirken wie Colin. Beide machten einen sehr gelassenen, zufriedenen Eindruck.
"Claire hat dich schon oft erwähnt", sagte sie höflich zu Kate. "Du studierst Literaturwissenschaft, nicht wahr?" Ehrliche Neugier schwankte in ihrem Tonfall mit und sie schaute erwartungsvoll zu Kate auf. Diese nickte.
"Das ist bewunderwert", schwärmte Lucy mit leuchtenden Augen. "Ich bin leider viel zu lesefaul für so was." Sie lachte und Kate lächelte ihr freundlich zu. Sie mochte Lucy jetzt schon. Sie war erstaunlich direkt, aber nicht so, dass es einem unangenehm wäre, und sie sprach absolut frei von Ironie oder sonstigen Hintergedanken.
"Man muss wirklich eine Menge lesen", stimmte sie Lucy zu, als diese gerade von Claire wegen irgendeiner Sache "letzte Woche" angesprochen wurde. Überrascht drehte sich Lucy zu Colin und Claire um und schien eine Weile nachzudenken. Kate hatte wieder Zeit, sich im Raum umzuschauen.
Es waren noch nicht viele erschienen, zumindest war der Raum nicht brechend voll, was auch kein Wunder war, denn erfahrungsgemäß tauchten die meisten erst zwischen 22 und 23 Uhr auf. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr, die sie vor zwei Jahren zum Geburtstag bekommen hatte. Halb 10.

Als sie ihren Blick weiter schweifen ließ, bemerkte sie zwei ihr sehr bekannte Gestalten, die gerade durch die Tür traten. Kate schaute genauer hin, in dem flackernden Licht war es schwierig, etwas genaues auszumachen.
Doch dann stockte ihr der Atem. Einer von beiden war eindeutig Jake, doch das war nicht der Grund für ihren Schrecken - nein, der zweite der beiden Jungs war niemand anderer als Gabe!
Panisch blickte Kate wieder zu Claire herüber, dich nun in eine Diskussion mit Lucy vertieft war - und schnell schaute sie wieder zu Jake und Gabe, um die zwei ja nicht aus den Augen zu lassen.
Gabe und Claire in einem Raum! Das würde so etwas wie eine mittlere Katastrophe geben!
In diesem Moment verfluchte sie beide Jungs. Jake, weil er Gabe zu dieser Party geschleppt hatte und Gabe, weil er doch genau wusste, dass er so ein unglaublich trampelhaftes Verhalten an den Tag legte! Claire einfach so über den Weg zu laufen, während sie nichtsahnend einfach nur Spaß haben wollte - was für ein Idiot!
Zornig verfolgte sie jeden ihrer Schritte, als sich ihre Blicke plötzlich kreuzten.
Gabe schien von ihrer wütenden Miene etwas eingeschüchtert zu sein, denn er lächelte entschuldigend, als wüsste er bereits, worum es sich handelte. Dass Jake neben ihm sie in diesem Moment auch erblickt hatte, nahm sie kaum wahr, denn sie versuchte, Gabe telepathisch klar zu machen, sich Claire auf keine 10 Meter zu nähern.
Aber Telepathie funktionierte anscheinend nicht, denn Jake deutete eindeutig in ihre Richtung und sagte etwas zu Gabriel, woraufhin sich beide den Weg zu Kate und Claire durchbahnten
Panisch drehte sich Kate zu Claire, Colin und Lucy um und machte den Mund auf, doch noch bevor sie einen einzigen Ton herausbringen konnte, wurde sie unterbrochen.
"Wir gehen uns mal umgucken. Man sieht sich vielleicht noch mal, Kate", sagte Lucy gerade fröhlich und Colin hob zum Abschiedsgruß die Hand, bevor er sich umdrehte und beide sich auf die Suche nach weiteren bekannten Gesichtern machten.
Kate nickte nur abwesend und kaum hatten sie ihnen den Rücken zugewandt, wandte sie sich an Claire.
Viel Zeit, um etwas zu erklären, lieb ihr nicht. Claire runzelte die Stirn, als sie Kate's ernsten Gesichtsausdruck wahrnahm.
"Es tut mir so leid, Claire, ich wusste das nicht, sonst..."
Weiter kam sie nicht, denn Claire's Verwirrung gefror augenblicklich und sie starrte eisig über Kate’s Schulter hinweg.
Zu spät.
Reumütig, als hätte sie etwas mit der Situation zu tun, drehte sich Kate unwillig zu den beiden Jungs um, die ganz offensichtlich nun angekommen waren.
"Hi, ihr zwei", strahle Jake. Er schien ebenso aufgeregt, wie Claire noch vor wenigen Minuten, doch mittlerweile konnte nicht einmal diese seine Freude erwidern.
Claire sagte nichts.
"Hallo...", kam es kläglich von Kate, die sich immer unwohler zu fühlen schien und versuchte, Claire so gut es ging hinter ihrem Rücken zu verdecken. Leider war ihr Rücken für so etwas nicht breit genug.
Fasziniert haftete Gabe's Blick an Claire, die ihn eiskalt und völlig reglos erwiderte. Ihr Gesichtsausdruck war verschlossen, ihre Haltung steif, aber würdevoll. Sie wollte sich von ihm nicht in die Knie zwingen lassen, das spürte Kate sofort. Claire würde so lange stehen, wie es nötig wäre, auch, wenn sie ihm am liebsten sofort den Rücken gekehrt hätte, um zu flüchten. Doch das würde sie erst tun, wenn es die Situation erlaubte.
"Kate." Gabe nickte ihr kurz zu, ohne sie richtig zu beachten. Immer noch ruhten seine funkelnden Augen voller Überraschung auf Claire. "Hallo, Claire", sagte er dann und in seinem Tonfall klang so viel Wärme und Hoffnung mit, dass er Kate beinahe schon leid tat - für das, was als nächstes passieren würde.
Claire schwieg eisern und es hätte sich bestimmt eine peinliche Stille zwischen die kleine Gruppe gelegt, wenn nicht Jake wäre, der von der angespannten, ja fast tödlichen, Atmosphäre nichts mitzubekommen schien.
"Ganz schön cool hier", bemerkte er beeindruckt. “So groß und voll und... habt ihr die Getränkeliste gesehen? Sie haben hier echt ALLES!“
Seine Augen funkelten und er schaute sich verstohlen um, sicher, dass sein suchender Blick niemanden auffallen würde. Kate wurde sofort klar, nach wem er Ausschau hielt und sie fühlte sich plötzlich zunehmend deplazierter in diesem großen, lärmenden, unwirtlichen Ort mit all den unbekannten Menschen.
"Oh!", rief er dann erfreut aus und Kate folgte seinem Blick. Er hatte Rachel, die gerade zur Tür hereinkam, entdeckt und starrte sie beeindruckt an. Dann zwang er sich, sich von ihr abzuwenden und drehte sich wieder zu Kate um.
"Ich versuch mein Glück", informierte er sie gut gelaunt und zwinkerte ihr im Weggehen schelmisch zu, als teilten die zwei ein Geheimnis, was nur sie kannten. Kate rang sich ein halbherziges Lächeln ab, während sie ihm hinterblickte, als er sich den Weg frei zu Rachel bahnte. Rechtzeitig, noch bevor er bei ihr ankam, zwang sie sich, den Zweien den Rücken zu kehren und sich auf Gabe und Claire, oder, wie sie es in Gedanken nannte, "das Problem", zu konzentrieren, doch da kam sie nur vom Regen in die Traufe.
Claire, beharrlich schweigend, schaute mit unbeweglichem, fast gelangweilter Miene und vor der Brust verschränkten Armen in der Gegend herum, während Gabe, auf Sicherheitsabstand, Kate einen hilflosen Blick zuwarf.
Anscheinend fühlte er sich mittlerweile genauso unwohl wie Kate, mit dem einzigen Unterschied, dass er der Urheber dieser eigenartigen Situation war.
"Ähm... Wie geht's voran mit deinen Plänen?", fragte sie ihn, nur um diese unangenehme Stille zu durchbrechen. Der schuldbewusste Ausdruck schwand aus seinem Gesicht.
"Oh, ganz gut... ich bin zu einer ersten Aufnahmeprüfung eingeladen worden. Eher so ein Sporttest", erklärte er dankbar.
"Gabe will nämlich zu Polizei", fügte Kate für Claire erklärend hinzu, aber diese warf Kate nur einen unbeeindruckten Blick zu, bevor sie sich schnell wieder abwandte. Gabe strafte sie mit purer Ignoranz.
"Tatsächlich", sagte sie ausdruckslos, sich noch immer in der Menge umschauend. Kate und Gabe wechselten ratlose Blicke, doch bevor Kate einen weiteren Gesprächsansatz probierte, trat Claire einen Schritt vor und löste ihre Arme voneinander.
"Ich stürz mich dann mal ins Vergnügen", sagte sie zu keinem Bestimmten und stolzierte hoch erhobenen Hauptes langsam von dannen, nachdem sie Kate noch ein "Bis später" zugemurmelt hatte.
Diese atmete erleichtert aus und drehte sich nun abrupt zu Gabriel um, der Claire immer noch gebannt nachstarrte, obwohl sie in der Menge nicht mehr ausfindig zu machen war.
Er seufzte. "Ich schätze, das hab ich verdient...", murmelte er abwesend, noch immer auf die Tanzfläche stierend.
"Darf ich fragen, was du hier machst?", platze es vorwurfsvoll aus Kate heraus, ohne, dass sie auf seine merkwürdige Bemerkung einging und Gabe zuckte zusammen, als sei er aus den Gedanken gerissen worden.
"Das ist nicht gerade die richtige Art, Claire zu besänftigen, falls du das vorhast!"
Mit einem entschuldigenden Lächeln sah er Kate an. "Tut mir leid, euch so zu überfallen..."
"Allerdings!", unterbrach sie ihn empört. Jetzt, wo Claire weg war und sie in Ruhe mit Gabe reden konnte, steigerte sie sich richtiggehend in ihre Empörung über Gabe’s Auftauchen hinein. Wenn er dachte, er konnte damit irgendwen beeindrucken, lag er falsch gewickelt und Claire, die sich so sehr auf den Abend gefreut hatte, so hinterrücks zu überfallen, war einfach nicht fair. Der Abend war für sie eindeutig gelaufen. Wenn sie nicht einmal mit Kate über Gabe sprechen wollte, dann war das Allerletzte, was sie wollte, Gabe in Natura zu begegnen - ohne jegliche Vorwarnung!
"...aber Claire hätte sich doch nie auf ein Treffen eingelassen, wenn sie vorher bescheid gewusst hätte!", verteidigte Gabe sich, in seinem Tonfall schwang etwas Verzweifeltes, Dringliches mit.
Kate dachte einen Augenblick darüber nach. "Auch wieder wahr...", murmelte sie dann resigniert.
So stur, wie Claire war, würde sie ihr ganzes weiteres Leben alle Events und Veranstaltungen meiden, denen Gabe sich auch nur auf zwei Kilometer nähern konnte.
Gabe schaute sich um. "Sollen wir?", fragte er Kate und deutete auf einen der Stehtische in ihrer Nähe, von denen man einen wunderbaren Überblick über die Tanzfläche hatte.
"Ich hole uns was zu trinken", bot er an und war in wenigen Schritten schon bei der nahe gelegenen Theke, bevor Kate überhaupt protestieren konnte.

Schnell kam er wieder zurück und stellte zwei Cola auf den Tisch, eine davon schob er Kate zu.
"Ich hoffe, Cola geht in Ordnung?", wollte er wissen und nahm einen Schluck, als Kate nickte.
"Danke. Und jetzt erzähl, was es Neues gibt", forderte sie ihn auf und zwang sich, so gut gelaunt wie möglich zu sein. Sie war hier schließlich auf einer Party und konnte nicht mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter herumlaufen! Außerdem freute sie sich, Gabe wiederzusehen, wenn die Umstände auch etwas... nun ja, schwierig, waren.
Gabe lächelte bei Kate's Versuch, sich unbeschwert zu geben.
"Meine Bewerbung kam durch und das Gespräch lief auch ganz gut. Die nächste Hürde wird, wie gesagt, der Sporttest sein. Schwimmen, Laufen und so weiter... Ich werde die nächste Zeit wohl viel im Schwimmbad und auf dem Sportplatz verbringen." Er lachte leise.
"Zum Glück ist der erst in zweieinhalb Monaten, da hab ich noch genug Zeit."
"Mhm", machte Kate, die während Gabe's Ausführungen abwesend auf die Tanzfläche gestarrt hatte. "Wann genau?"
Gabe zuckte die Schultern und trank wieder etwas aus seinem Glas. "Anfang April, den genauen Termin kriege noch ich per Post zugeschickt. Es sind wohl mehrere Tage, an denen das stattfindet."
"Ach so." Kate hielt ihr Glas unbewusst mit beiden Händen umklammert, während ihre Augen auf zwei bestimmten Personen ruhten. "Du hast noch gar nicht gesagt, wo genau das stattfindet."
Einige Meter von ihnen entfernt hatte sich Jake gerade durch die Menge gewuselt und überreichte mit einem seligen Grinsen Rachel, die ihn kaum eines Blickes würdigte, das Bier, das er für sie geholt zu haben schien. Sie griff danach, ohne ihr Gespräch mit einem anderen Mädchen zu unterbrechen.
So unhöflich und unfreundlich und Jake umschwärmte sie trotzdem, wie die Motto das Licht!
"Wer ist das?", hörte sie Gabe's Stimme neben sich. "Du guckst so komisch..."
Sie wandte sich ertappt zu ihm um. Gabe hatte den Kopf in die Hände gestützt und beobachtete mit einer neugierig-interessierten Miene Jake und Rachel, genau, wie sie es noch vor zwei Sekunden getan hatte.
Kate suchte nach den richtigen Worten, doch Gabe kam ihr zuvor. "Ist das diese Rachel?"
Als er ihren überraschten Blick bemerkte, fügte er erklärend hinzu: "Jake hat mir von ihr erzählt."
Also hatte Jake noch eine Kummerkastentante gefunden, die er von Rachel zuschwärmen konnte. Und Gabe war eindeutig ein besserer Ratschlaggeber als sie, denn er war, und das ließ sich nun mal nicht leugnen, männlich und kannte sich besser mit Mädchen aus, als sie. Und bestimmt konnte er ihm auch einen besseren Rat geben, wie er sich in solch einer Situation, in der er sich gerade befand, verhalten sollte - Kate seufzte. Gut für Jake - sie musste sich für ihn freuen.
"Übel, oder?" Kate blickte Gabe fragend an, nicht verstehend, was er meinte und er nickte mit dem Kopf in Richtung Rachel und Jake. "Meine Abwesenheit hat Jake wirklich nicht gut getan", witzelte er dann grinsend, wurde aber schnell wieder ernst.
"Er ist immer noch ein Idiot."
Kate runzelte verwirrt die Stirn. Warum sagte Gabe so etwas über seinen besten Freund?
Gabriel bemerkte ihre Verwirrung und lächelte schwach.
"Und, was hältst du so von ihr?", fragte er möglichst beiläufig, aber Kate konnte ihm anhören, dass er Hintergedanken hatte.
"Na ja...", wich sie aus und lächelte nervös, entschloss sich dann, es mit einem Witz zu versuchen. "Sie ist nicht so mein Typ."
Gabe grinste. "Meiner auch nicht", gab er zu. "Aber Kate?"
"Hm?"
"Du lenkst ab." Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen amüsiert an, als sie versuchte, ganz unschuldig zu tun und ihn fragte, was er damit meinte.
Er lehnte sich über den Tisch zu ihr herüber und grinste sie nun offen an. "Ich weiß es von Claire."
Damit hatte er sie eindeutig festgenagelt. Kate's Herz machte einen unkontrollierten Sprung vor lauter Schreck, doch sie zwang sich, weiter ein- und auszuatmen.
"Was... ich dachte, ihr redet nicht miteinander?", hakte sie dann äußerst irritiert nach, doch Gabe winkte ab.
"Ich meine, noch bevor ich weggegangen bin", erklärte er und bewegte sich wieder in seine Ausgangsposition.
"Ich habe nur nicht erwartet, dass das so lange anhält. Aber deine Blicke sind eindeutig."
In einem ganzen Zug trank er den Rest Cola aus und stellte das leere Glas wieder auf dem Tisch ab, deutete dann auf das von Kate.
"Trink doch was. Oder möchtest du lieber etwas anderes?"
Kate versuchte gerade, ihre Gedanken zu ordnen und den Schreck zu verdauen und brauchte deshalb eine Weile, um zu verstehen, was er meinte. Dann schüttelte sie verwirrt den Kopf. Sie hatte ihr Getränk tatsächlich ganz vergessen und es diente ihr lediglich dazu, sich daran zu festzuhalten, während sie Jake und Rachel voller Groll beobachtet hatte.
"Nein, nein." Der Höflichkeit halber trank sie etwas, auch, wenn ihr gar nicht danach war.
"Sie hat es dir gesagt?", wollte sie dann wissen, ihre Stimme zitterte leicht panisch. Aus Erfahrung wusste sie, dass Jungs keinen Wert darauf legten, Geheimnisse so sicher zu bewahren, wie beispielsweise beste Freundinnen. Kate versuchte, den Kloß im Hals herunterzuschlucken.
"Ich hab nichts gesagt", bemerkte Gabe mit einem kritischen Blick auf ihr Gesicht. "Keine Sorge."
Bei diesen Worten fiel Kate ein ganzer Steinbruch vom Herzen und sie atmete hörbar erleichtert aus und warf Gabe einen dankbaren Blick zu.
"Ich finde", setzte er fort, "du solltest ihm das selbst sagen. Ich bin nicht so gut in Liebeserklärungen." Er lachte über seinen eigenen Witz, doch Kate's schmerzerfüllte Miene entging ihm nicht.
"Ich meine", beeilte er sich schnell zu sagen, "wäre das nicht besser?"
Kate senkte den Kopf. "Nein", murmelte sie leise in den lauten Lärm hinein, doch auch ohne es zu hören, wusste Gabe, was sie gesagt hatte.
Er runzelte ein bisschen verärgert die Stirn. "Aber Jake wird nie darauf kommen, wenn man es ihm nicht unter die Nase reibt", argumentierte er, Kate aber nickte nur bestätigend.
"Das soll er ja auch nicht." Überhaupt behagte es ihr nicht, mit Gabe über Jake zu reden. Bei aller Freundschaft, aber so nah standen sie sich ja nun auch wieder nicht - vor allem nach der langen Abwesenheit und dem eher dürftigen Kontakt. Sie blickte ihm fest in die Augen.
"Anderes Thema", verlangte sie und er seufzte tief angesichts Kate's Hartnäckigkeit, kam ihrer Bitte aber trotzdem nach.
"Schau mal."
Beiläufig nickte er mit dem Kopf Richtung Tanzfläche und Kate folgte automatisch seinem Blick. Sie musste nicht lange suchen, denn die tanzende Claire fiel jedem Beobachter sofort ins Auge. Ihre Bewegungen waren anmutig, aber nicht hektisch und ihr welliges Haar wirbelte betörend um sie herum. Sie hatte das Haar extra offen gelassen, nur ein paar längere Ponysträhnchen hatte sie mit einer Spange an der linken Seite festgeklemmt.
Ein bisschen Neid keimt in Kate auf, vermischt mit einem freundschaftlichem Stolz. Nicht jedem war es vergönnt, auf dem Tanzparkett so gut auszusehen wie Claire. Sie war hier eindeutig in ihrem Element.
Vor lauter Bewunderung fiel Kate der junge Mann, mit dem Claire tanzte, erst einiges Sekunden später auf. Sie konnte ihn nicht richtig erkennen, woran eindeutig die blitzenden Lichter und die Tatsache, dass Claire ihn halb verdeckte, schuld waren.
In diesem Moment klang das aktuelle Lied ab und ein Langsameres wurde eingeblendet. Die bunten Blitze verwandelten sich in warmes, orangefarbenes Licht und ein paar gelbe Scheinwerfer fuhren langsam über die tanzende Menge und wieder zurück.
Genauso gespannt wie Gabe beobachtete Kate, was als nächstes geschehen würde. Ohne zu Zögern näherte sich Claire's Tanzpartner ihr und legte seine Arme um ihre Hüften, zog sie ganz nah zu sich heran. Claire ließ es geschehen. Ihr Kopf ruhte auf seiner Brust und langsam bewegten sie sich zu der Kuschelmusik.
Kate runzelte die Stirn. Normalerweise vermied Claire es so gut es ging, mit fremden Männern zu langsamer Musik zu tanzen - sie behauptete, die wollten eh nur grabschen - aber heute schien sie ihre Prinzipien wohl über Bord geworfen haben. Irgendetwas stimmte nicht, und Kate ahnte schon, was es war. Sie warf einen verstohlenen Blick zu Gabe herüber, der resigniert dastand und Claire ebenfalls beobachtete.
Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. "Geschieht mir recht", seufzte er, wandte sich ab und schüttelte den Kopf über sich selbst.
Schon wieder sagte er so etwas, schoss es Kate durch den Kopf. Sie verstand nicht ganz, wieso er sich selbst die Schuld an Claire's sturem Verhalten gab.
"Du kannst doch nichts dafür", versuchte sie ihn zu beruhigen. "Glaub mir, an deiner Stelle wäre jeder gegangen, das war eine tolle Chance." Sie lächelte ihm aufmunternd zu, als er sie, etwas verblüfft, anschaute. Gerade wollte er etwas darauf sagen, als Kate etwas anderes ins Auge stach - eine Person, die sich unaufhaltsam auf die zwei zugbewegte. Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte sie und vergaß, zu atmen, als sie Dave über Gabe's Schulter hinweg auf sie zukommen sah.
"Oh nein...", stöhnte sie dann. Hier ging es ja zu wie in einem Taubenschlag! Mit David hatte sie überhaupt nicht gerechnet, dabei war es doch so klar gewesen, dass er auch anwesend sein würde! Warum hatte sie nicht vorher dran gedacht? "Nicht der auch noch..."
Irritiert drehte sich Gabe um, um zu gucken, von wem Kate da redete und stand Dave nun von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
Kate lächelte gezwungen. "Hallo Dave. Das ist Gabe", stellte sie ihn schnell vor. Wenn sie Gabe mit einbezog, würde das Zusammentreffen mit Dave vielleicht um einiges verkürzt werden.
Dave begrüßte sie und Gabe - sie freundlich, Gabe eher misstrauisch beäugend.
"Jake ist bei Rachel, wenn du ihn suchst", sagte Kate hastig, in der Hoffnung, er würde den dezenten Winkt mit dem Zaunpfahl verstehen und wieder seiner Wege gehen, doch weit gefehlt. Dave schüttelte den Kopf.
"Nein, ganz und gar nicht. Ich war eigentlich auf der Suche nach dir." Er grinste sein charmantes Schlafzimmerlächeln, in der Annahme, mit diesem Spruch hätte er soeben 100 Punkte gelandet. Kate drehte sich der Magen um, aber sie lächelte freundlich.
Gabe stand schweigend daneben und betrachtete die Szenerie zwischen den beiden.
David fuhr sich mit der Hand durch seine lockigen, braunen Haare und warf einen überdeutlichen Blick zu der Tanzfläche und dann wieder zu Kate, die schon schlimmes ahnte.
"Was hältst du..." Weiter kam er nicht, denn Gabe war näher an Kate herangetreten und legte ihr besitzergreifend einen Arm um die Schultern, zog sie an sich heran und warf Dave eine herausfordernden Blick zu, den dieser zunächst stark verwirrt erwiderte. Auch Kate war verblüfft, doch aufgrund des Blickduells bekam Dave es zum Glück nicht mit.
Schnell verstand sie, dass Gabe Dave für sie loswerden wollte und sie empfand plötzlich tiefe Dankbarkeit für Gabriel. Während Jake es nach Wochen immer noch nicht kapiert hatte, dass das einzige, was sie für Dave empfand, Abneigung war, hatte Gabe die Situation mit einem einzigen Blick erfasst und ging sofort zum Handeln über.
Der Lockenschopf hingegen blinzelte noch immer irritiert von Kate zu Gabe und kratzte sich dann ratlos, aber auch leicht verärgert, am Hinterkopf.
"Ach so", presste er dann hervor und bedachte Kate mit einem angesäuerten Blick. "Ich geh dann mal zu Jake rüber."
Kate wusste nicht mehr, zum wievielten Mal am heutigen Abend das Gefühl der Erleichterung sie durchströmte.
"Das war knapp", seufzte sie und beide drehten sich wieder zu ihrem kleinen Tisch um.
Automatisch schweifte ihr Blick wieder zu ihrem letzten Gesprächsthema - Claire.
Diese stand inmitten der Tanzfläche und schaute ausdruckslos zu Kate und Gabe herüber, der sich, völlig ahnungslos, wieder auf den Weg zur Theke gemacht hatte.
Kate's und Claire's Blicke begegneten sich - Schuldbewusstsein gegen Eiseskälte - und Claire wandte sich abrupt ab, um wieder im Inneren der Menge zu verschwinden.

Als Gabe wiederkam, mit zwei neuen Getränken in den Händen und sie auf dem Tisch abstellte, wo noch immer Kate's halbvolle Cola stand, schüttelte sie amüsiert den Kopf.
"Nächstes Mal hole ich die Getränke", schlug sie vor. Es war sehr nett von Gabe, ihr die Sachen auszugeben, doch trotzdem fühlte sie sich, als bliebe sie ihm etwas schuldig.
Er wirkte überrascht. "Das ist nicht nötig, Kate", wehrte er ab und schob ihr das Bier zu.
"Ich dachte, vielleicht magst du das lieber?", fragte er, etwas hoffnungsvoll und sah sie voller Erwartung an, bis sie lachen musste.
Bier mochte sie keineswegs, aber das eine konnte sie bestimmt herunterkippen, um Gabe's Gefühle nicht zu verletzen.
"Danke", sagte sie deshalb nur, statt ihn darüber aufzuklären, dass Bier überhaupt nicht ihr Fall war. Schnell stürzte sie ihre Cola herunter, um nicht unnötig viele halbvolle Gläser herumstehen zu haben und nahm einen Schluck von dem Bier. Es war eklig.
Gabe nippte an Seinem und schaute abwesend in die Menge. Kate folgte seinem Blick und blieb wieder dort hängen, wo sie angefangen hatte - wo sie immer hängen blieb und wahrscheinlich immer hängen bleiben würde: bei Jake. Und in diesem Fall: Rachel und Dave.
Dieser sagte gerade irgendetwas und deutete überraschenderweise in ihre Richtung. Als Rachel und Jake herüberblickten, verschluckte sich Kate fast an ihrem Bier.
Es war jedoch nicht sie, die von Rachel mit ihren Blicken fast ausgezogen wurde. Nein, es war Gabe, den diese von oben bis unten begutachtete und der, ohne das mitzukriegen, dazu übergegangen war, sich weiter im Raum nach Leuten - Claire - umzusehen.
Erschrocken beobachtete Kate, wie Rachel kurz etwas zu Jake und Dave sagte und sich dann, in Begleitung von dem dümmlich grinsendem Jacob, der etwas gehetzt aussah, auf den direkten Weg zu ihr und Gabriel machte. Erst jetzt fiel Kate ihr gewagtes Outfit auf - der kurze Minirock und die Stöckelschuhe mit ziemlich hohem Absatz, ganz zu schweigen von dem Ausschnitt ihres hautengen Tops mit silbrig-glitzernder Aufschrift. Obwohl Kate sich nie im Leben so aufreizend anziehen würde, wusste sie jetzt schon, dass sie sich in Rachel's Gegenwart wie ein graues Mäuschen fühlen würde.
Hüfteschwingend stolzierte diese auf sie zu und mittlerweile hatte ihre Ankunft auch Gabe's Aufmerksamkeit erregt.
Abrupt blieb sie stehen und lächelte ihr engelsgleiches, falsches Lächeln, wobei sie sorgsam darauf bedacht war, Kate nicht einmal eines Blickes zu würdigen.
"Willst du uns nicht vorstellen, Jay-coub?", flötete sie, ohne ihre Augen von Gabriel abzuwenden und verunstaltete Jake’s Namen in diesem einen Atemzug direkt mit. Kate atmete kontrolliert ein. Warum ließ sich ihr bester Freund nur behandeln wie ein ausrangierter Putzlappen? Hatte er denn gar keinen Stolz?
Besagter folgte sofort den Anweisungen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
"Gabe." Er deutete auf Gabriel, der Rachel mit höflicher Neugier musterte und dann auf Rachel. "Rachel."
Sie warf Gabe ein atemberaubendes Lächeln zu und Kate wurde ganz schlecht. Was war es für eine Person, die so offensichtlich mit jemand anderem flirtete, obwohl derjenige, der - noch offensichtlicher - was von ihr wollte, die ganze Zeit um sie herumschwirrte?! Und Rachel konnte nicht einmal mit ihrem unschuldigsten Augenaufschlag beteuern, dass sie nichts von Jake’s Intentionen ahnte - so dumm konnte noch nicht einmal sie sein.
Kate ballte die Hand zur Faust. Zu gerne hätte sie ihr die Meinung gesagt, aber ihr Blick blieb auf dem Boden haften und sie haderte mit sich selbst über ihre eigene Feigheit.
Anscheinend schien sich nicht nur Jake in Rachel's Gegenwart in einen Vollidioten allererster Güte zu verwandeln.
"Holst du uns noch etwas zu trinken?", säuselte sie in einem lieblichen Tonfall, ohne Jake anzusehen und dieser leistete sofort nickend Folge und wuselte in Richtung Theke davon.
"Sooo..." Rachel fixierte Gabe mit einem verführerischen Blick und kam ihm dann ganz nahe. "Du bist also dieser Gabe", hauchte sie in sein Gesicht und er lächelte, als er sagte: "Und du bist also diese Rachel. Ich hab schon viel von dir gehört."
Gespannt beobachtete Kate die Szene, die sich hier vor ihren Augen abspielte. Gabe hatte ja schon zum Ausdruck gebracht, dass er nicht sehr viel von Rachel hielt, aber andererseits ließen sich Männer ja sehr leicht beeinflussen... Und Rachel wusste ganz eindeutig, was sie tat, das konnte man ihr auf den ersten Blick ansehen.
"Ach wirklich?" Sie entfernte ihr Gesicht wieder aus seiner unmittelbaren Nähe und lächelte geheimnisvoll, wissend. "Ich hoffe, nur Gutes." Sie klimperte mit den Wimpern.
Wenn Kate dachte, ihr wäre vorher schlecht gewesen, dann war das eindeutig untertrieben. JETZT war ihr richtig übel. Unfassbar, was sich dieses Mädchen da leistete! Gabe war immerhin Jake’s bester Freund! Gab es da nicht so etwas wie ein Tabu?
Gabriel warf ihr ein charmantes Lächeln zu. "Eigentlich nicht", sagte er beiläufig, ohne auch nur das kleinste bisschen von seinem gutmütigem Gesichtsausdruck zu verlieren.
Kate riss überrascht die Augen auf und genau das war die Reaktion, die auch von Rachel kam.
In der kurzen Pause - Gabe sah immer noch sehr freundlich aus - kicherte jemand leise neben Katie's linkem Ohr. Sie drehte sich um und war noch überraschter, Claire anzutreffen, die ganz nahe hinter ihr stand und anscheinend die ganze Szenerie mitbekommen hatte.
In diesem Moment war Jake wieder da - flink wie der Wind - und hielt einen Cocktail in der Hand.
Kate schnaubte leise. Jetzt, da Claire da war, fühlte sie sich schon bedeutend selbstsicherer.
Als ob es nicht reichte, dass Rachel Jake wie ihren persönlichen Diener herumkommandierte und ihn bloßstellte, nein, sie ließ sich auch noch die teuersten Getränke von ihm ausgeben!
Claire schien so etwas ähnliches gedacht zu haben, denn mit einer einzigen fließenden Bewegung stand sie plötzlich neben Jake und nahm ihm das Getränk aus der Hand, noch bevor er es Rachel überreichen konnte.
"Danke, Jake, das ist so aufmerksam. Als könntest du Gedanken lesen." Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln und zwinkerte ihm zu, als er sie sprachlos anstarrte. Sie und Kate wussten beide, dass er Gentlemen genug war, es ihr nicht wieder zu entwenden und ihr zu erklären, dass es nicht für sie war.
Genussvoll sog Claire die süße Flüssigkeit durch den Trinkhalm hinauf und warf Rachel, die Claire boshaft anstarrte, einen zuckersüßen Blick zu. Ihre grünen Augen blitzen angriffslustig in dem flackernden Licht, doch schnell wandte sie sich wieder von der Schwarzhaarigen ab, die Claire - und mittlerweile auch Kate, als hätte sie irgendetwas mit der ganzen Situation zu tun - vernichtende Blicke zuwarf.
Sich im Klaren darüber, dass sie hier in eine Anti-Rachel-Front geraten war und nicht mehr gewinnen konnte, reckte sie das Kinn und brachte damit ihre Nase ziemlich weit in die Höhe. Also so wie immer.
"Jay-coub, lass uns..."
Gabe unterbrach, indem er Jake auf die Schulter klopfte. "Was hältst du von einem Bier nur unter uns Männern?", wollte er wissen und noch bevor dieser darauf etwas erwidern konnte, war es wieder an Rachel, das Wort zu ergreifen.
"Schön! Wir sehen uns dann!", schnappte sie äußert erbost und rauschte wie eine beleidigte Diva davon.
Claire schlürfte ungerührt ihren Cocktail. "Hoffentlich nicht", sagte sie trocken, dann drehte sie sich mit einem strahlenden Lächeln zu Kate um, das diese etwa stutzig machte. Die Frage, wie viel Claire schon intus hatte, drängte sich ihr automatisch auf, doch diese schien zum Glück noch einigermaßen bei Sinnen zu sein. Augenscheinlich hatte ihre seltsame Stimmung mehr mit der Tatsache zu tun, dass Gabe anwesend war und sie versuchte, ihn so gut wie möglich zu ignorieren - und dabei noch zu zeigen, wie gut es ihr ging - als mit dem Alkoholpegel in ihrem Blut.
Kate warf einen verstohlenen Blick zu Gabe und Jake, die um den Tisch herum standen und dazu übergegangen waren, sich zu unterhalten. Jake sah noch etwas mitgenommen aus, weil er von Gabe gewaltsam von Rachel getrennt wurde, und Gabe versuchte gar nicht erst, an Claire heranzukommen. Sie zog ihre Freundin am Arm ein Stück von den beiden weg.
"Claire, wegen vorhin..." Ihr ging der eisige Blick nicht mehr aus dem Sinn, aber sie musste Claire erklären, wie es wirklich gewesen war, bevor diese auf falsche Gedanken kam. "Es war nur, weil Dave wieder genervt hat und..."
Claire sah sie verständnislos an. "Na und?", wollte sie wissen, vollkommen unschuldig. Kate runzelte die Stirn.
"Was 'und'?", hakte sie misstrauisch nach.
"Mir ist das egal, schon vergessen?", erinnerte Claire sie eindringlich und warf ihr einen strengen Blick zu, der bedeuten sollte: 'Sei jetzt still oder du wirst es bereuen, das Thema Gabe wieder angeschnitten zu haben.'
Kate war still.
"Macht es dir etwas aus, wenn ich wieder...?" Sie ließ den Satz in der Luft hängen und deutete bittend auf die Tanzfläche, woraufhin Kate verneinend den Kopf schüttelte.
"Nur zu", ermutigte sie sie, freundlich, aber verwirrt. Höchste Zeit, dass auch sie sich langsam absetzte, denn es wurde ihr mittlerweile wirklich zu bunt hier...

Kate bahnte sich den Weg frei durch das Gewusel und trat erleichtert durch die Tür in den Eingansbereich, wo sich auch die Garderobe befand. Kühle Luft schlug ihr entgegen und brachte sie beinahe zum Frösteln. Erst jetzt merkte sie, wie heiß es im Saal gewesen war.
In der Vorhalle standen ein paar Stundenten herum und unterhielten sich, einige ruhten sich auf ein paar Stühlen aus. Vor der Tür standen weitere Leute in Grüppchen und rauchten.
Suchend blickte sich Kate um und steuerte dann zielstrebig auf die Treppe zu, die sie in den Cafeteriabereich führen würde.
Oben angekommen staunte sie nicht schlecht: auf jedem der kleinen, runden Tische befand sich ein Teelicht in einem ovalen Glasbehälter und die Pflanzen - es waren lauter kleine, eingetopfte Bäume, nicht größer als sie selbst - die regelmäßig verteilt zwischen den Tischen standen, waren mit leuchtenden Lichterketten dekoriert, von denen einige auch in einem großen Netz gespannt an der Decke hingen und diese wie einen klaren Sternenhimmel erscheinen ließen.
Überwältigt trat Kate an die gläserne Brüstung und blickte auf die tosende Menge herunter. Sie befand sich hier viel höher, als sie erwartet hatte. Die bunten Lichter tanzten auf den Köpfen der Menge herum, aber die Musik kam hier oben viel gedämpfter an. Alles in einem eine große Erleichterung.
"Kate, hierher!" Da rief doch jemand nach ihr?
Sie schaute sich um und entdeckte nicht weit von ihr entfernt eine Gruppe von ein paar Mädchen aus ihrem Studium. Stimmt ja, sie hatte fast vergessen, dass sie auch kommen würden.
Erfreut über diese nette Abwechslung ging Kate zu ihnen herüber und setzte sich auf einen der bequemen Stühle, die Sophie, ein fröhliches, blondgelocktes Mädchen, ihr hinschob. Was für eine Wohltat, endlich zu sitzen!
"Ich hab mich schon gefragt, wo du bleibst", lächelte Sophie ihr zu, nachdem sie alle begrüßt hatte. Sophie hatte schulterlange Locken, die sie für gewöhnlich als kurzen Pferdeschwanz trug. Doch heute ließ sie die Haare offen, wie auch Claire es getan hatte.
Sophie war meist zurückhaltend, freundlich und sehr sympathisch, weil sie stets um andere besorgt war und versuchte zu helfen, wo sie konnte.
"Du siehst etwas abgehetzt aus", fügte sie mitfühlend hinzu, als sie Kate näher betrachtete.
Die anderen Mädchen hatte ihre hitzige Diskussion fortgesetzt.
"Jaah..." Kate seufzte. "Wenn du wüsstest, was da unten los ist..."
Sophie warf einen interessierten Blick durch die Glasabsperrung nach unten.
"Was denn?", fragte sie dann neugierig, als ihr nach dem Offensichtlichen – der wuselnden Menge - immer noch nicht aufging, was Kate genau meinte.
Kate blickte auch auf die bunt-flackernden und glitzernde Köpfe des Getümmels, aber aus dieser Entfernung und auch noch von so weit oben konnte sie niemanden genau ausmachen. Dann wandte sie sich wieder Sophie zu, die geduldig wartete.
Plötzlich sprudelte es nur so aus ihr heraus.
"Mein bester Freund hechelt mit heraushängender Zunge einem Mädchen nach, das ihn kaum beachtet und wie Dreck behandelt, meine beste Freundin ist vor ihrem Ex-Freund auf der Flucht, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat und der hier plötzlich ohne Vorwarnung aufgetaucht ist, um sie anscheinend auf sich aufmerksam zu machen, und ich versuche, bei all dem Chaos nicht in Panik zu geraten, wenn David – übrigens der hartnäckigste Typ auf Erden - in meine Nähe kommt..."
Sie dachte kurz über ihre Worte nach. Dass bei all dem noch verschiedene Gefühle im Spiel waren, wie Claire's Stolz und ihre Versuche, es Gabe heimzuzahlen, ganz zu schweigen von ihren eigenen Gefühlen für ihren besten Freund und der Groll gegen Rachel... das ließ sie besser aus. Sophie hatte bestimmt auch eigene Probleme und sie wollte sie nicht unnötig überstrapazieren. Außerdem... je weniger Leute davon wussten, desto besser war es wahrscheinlich.
Sophie machte große Augen.
"Das klingt ja hoch-explosiv!", rief sie dann begeistert aus. "Ich wünschte, mein Leben wäre auch so spannend." Für einen kurzen Augenblick schloss sie dramatisch seufzend und in gespieltem Selbstmitleid versunken die Augen, doch dann war sie wieder ganz die Alte.
Kate verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. Ihr Leben und spannend? Bestimmt nicht – es war nur der Abend, der es seltsamerweise in sich hatte. Und trotzdem – sie zog die Ruhe und Abgeschiedenheit diesem Chaos vor.
"Besser nicht", murmelte sie daher kopfschüttelt
Sophie, nicht abzubringen von ihrer Vorstellungen von einem "spannenden Leben", stellte Kate noch ein paar faszinierte Fragen zu Claire, Gabe und den anderen Problemkindern.
So erfuhr sie, dass Gabe in Australien gewesen war, wovon Claire gar nicht begeistert zu sein gewesen schien und auch in Rachel's Methoden, sich einen Mann gefügig zu machen, bekam sie einen Einblick.
Sophie war zu Kate's Begeisterung genauso entsetzt über Rachel, wie sie selbst und sagte ein paar sehr unschöner Sachen über ihr Verhalten, doch noch lange nicht so schlimm, wie Claire es ausdrücken würde. Kate war schon so gewöhnt an Claire's harsche Ausdrucksweise, dass sie bei Sophie's Zurückhaltung, was das anging, leicht schmunzeln musste.
So verging die Zeit und dort oben, abseits des Lärms und des Getümmels, vergaß Kate die Zeit und schaffte es sogar, kurz ihren Sorgen zu entkommen.

Jemand tippte ihr auf die Schulter, während sie gerade mit den anderen Mädchen einen Kinobesuch plante.
Überrascht drehte sie sich um und fand Claire vor sich - müde und ziemlich erschöpft. Ihre Haare hingen wirr herunter und die Spange hatte sich gelöst. Ob Claire sie irgendwo verloren hatte?
Instinktiv blickte Kate auf ihre Uhr und erschrak. Hatte sie tatsächlich fast drei Stunden hier oben verbracht? Unfassbar!
"Da bist du ja", sagte Claire heiser, tonlos. "Ich hab dich schon gesucht."
War es die Erschöpfung oder warum klang sie so ausgelaugt und kraftlos?
"Tut mir leid", entschuldigte Kate sich zerknirscht. "Ich habe die Zeit total vergessen. Was gibt's denn?"
Claire blickte sich um und betrachtete eine Sekunde lang schweigend, wie Kate es sich mit den anderen gemütlich gemacht hatte. Dann sah sie ihre beste Freundin wieder direkt an.
"Meinst du, wir könnten schon nach Hause?"
Sie sagte es zögerlich, fast entschuldigend, dass sie "so früh" schon wieder weg wollte. Aber Kate sprang begeistert auf.
"Na klar, gar kein Problem!"
Claire nickte und murmelte etwas von "Garderobe", als sie sich entfernte, nachdem sie den anderen Mädels am Tisch noch kurz zugewunken hatte.
"Wir gehen dann mal", verabschiedete sich Kate gutgelaunt. "Sagt mir bescheid, auf welchen Tag ihr euch geeinigt habt, okay?"
Sophie nickte. "Sicher. Ich ruf dich an." Sie winkte Kate hinterher, als diese sich, auf Claire's Fersen, zum Ausgang hinbewegte.
Die Party war doch keine so komplette Katastrophe gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte - zumindest die zweite Hälfte der Party nicht, berichtigte sie sich.
Dann kam ihr ein anderer Gedanke: sollte sie sich noch von Gabe und Jake verabschieden?
Sie entschied sich dazu, es nicht zu tun. Jake war ein Idiot, und Gabe... hatte eine Strafe verdient, dass er Claire so hinterrücks überfallen hatte. Es ging ihr nicht gut... und wer weiß, was das zur Folge hatte! Kate jedenfalls würde es früher oder später herausfinden.
Am Fuße der Treppe angekommen, stand Claire schon mit den Klamotten da und wartete. Schweigend reichte sie Kate Pullover, Jacke und Tasche und zog sich auch ihre Eigene an.

Den ganzen Heimweg über schwieg Claire, gab nur hin und wieder knappe Antworten auf Kate's belanglose Fragen und diese traute sich auch nicht, Gabe’s Auftauchen zu erwähnen.
Zum einen wusste sie, wie die Reaktion ausfallen würde - eisiges Schweigen und hinterher eine gehörige Retourkutsche, auf die sie gut verzichten konnte - und zum andere brauchte auch Claire etwas Zeit, um darüber nachzudenken. Der Abend war für sie bestimmt am Schlimmsten gewesen.
Doch dann revidierte Kate ihre Meinung und kicherte leise vor sich hin.
Den schlimmsten Abend hatte bestimmt Rachel verlebt, die - bestimmt zum ersten Mal in ihrem Leben - von einem gutaussehenden Typen einen Korb bekommen hatte - und dann auch noch einen so Hinterhältigen. Natürlich war es gemein von Gabe gewesen, aber Kate schaffte es einfach nicht, das Gefühl der Schadenfreude loszuwerden und echtes Mitgefühl für die herzlose Rachel zu empfinden.
Vor sich hingrinsend fiel ihr da auch Claire's Aktion mit dem Cocktail ein. Sie und Gabe, sie waren schon immer so gewesen - ein unschlagbares Team, als verstünden sie sich blind, ohne etwas sagen zu müssen.

Irgendwo zwischen Cut Through Lane und Wemyss Gardens hatte es angefangen zu schneien. Dicke Schneeflocken fielen in aller Stille auf die zwei Mädchen herab und bedeckten sie und die Straße schon nach kurzer Zeit unter einer dünnen, weißen Schicht. Die Beiden zogen sich schweigend die Kapuzen über den Kopf und vor allem Claire, die keinen Pulli unter der Jacke trug, machte die Kälte zu schaffen.
Die Straßen von Nottingham waren wie leer gefegt, keiner befand sich draußen, die Fenster waren alle dunkel und nur ein paar Straßenlaternen hier und da erhellten die Nacht.
Da Claire eher ungesprächig schien - was schon ein sehr ungewöhnlicher Zustand war - hatte Kate viel Zeit, den Abend noch einmal revue passieren zu lassen und über ihn nachzudenken, sodass sie plötzlich, vollkommen in Gedanken versunken, vor ihrer Haustür standen.
"Das ging ja schnell", murmelte sie leise, während sie nach dem Schlüsselbund in ihrer Tasche kramte, und erntete einen merkwürdigen Blick von Claire.
Oben, in der Wohnung angekommen, entledigten sich die Mädchen ihrer Schuhe und nassen Jacke. Claire wünschte Kate eine "Gute Nacht" und verschwand ziemlich schnell in ihr Zimmer.
Verwundert putzte Kate sich noch die Zähne und ließ sich ebenfalls in die weichen Kissen fallen. Nicht lange dauerte es, bis auch der Schlaf endlich kam.
Kapitel 7: Hurting me, hurting you

Kate wusste nicht, warum sie so früh morgens schon aufgewacht war, nach nur sechs Stunden Schlaf, und sie ärgerte sich darüber - Sonntage waren doch zum Ausschlafen da. Und was sollte man an einem Sonntag Morgen anfangen, wenn man vier Stunden zu früh auf den Beinen war?
Mürrisch kroch sie aus ihrem Bett und warf einen Blick nach draußen.
Alles zugeschneit! Die Bäume, Häuser und die Straße waren mit einer dicken, weißen Schneeschicht bedeckt.
Gegenüber schaufelte ein älterer Mann den Schnee aus der Auffahrt. Er war dick vermummt und trug eine Kapuze über dem Kopf. Seine zwei kleinen Kinder tummelten sich fröhlich im Vorgarten und hatten angefangen, einen Schneemann zu bauen.
Ganz im Gegensatz zu ihrem Vater, der ein genervtes Gesicht machte - wahrscheinlich überlegte er sich, wie er am nächsten Morgen auf den vereisten Straßen zur Arbeit kommen sollte - machten die Kinder einen gelösten und glücklichen Eindruck.
Kate hingegen konnte das kalte, nasse Wetter auch nicht leiden. Es war nicht so, als würde sie den heißen Sommer vorziehen, in dem sich die Mücken an ihren Blut labten und die Straßenbahnen und Busse nach Schweiß stanken, aber sie bevorzugte doch lieber den Frühling und den Herbst - mit dem milden Wetter, weder heiß noch kalt. Die goldene, angenehme Mitte eben.
Zum Glück musste sie morgen nicht früh raus, denn wenn sie sich vorstellte, durch den, vielleicht schon geschmolzenen, dreckigen Schneematsch staksen zu müssen, verspürte sie nur Unlust.
Und selbst wenn der Schnee sich bis morgen hielt - die Straßen würden vereist sein und sie war einer dieser Menschen, die inmitten aller plötzlich ausrutschten und - im besten Falle - peinlich hin und her wankten, um sich doch noch auf den Beinen halten zu können. Im schlimmsten Falle landete sie unsanft auf dem Hintern. Unnötig zu sagen, warum sie den Winter nicht leiden konnte.
Zumindest, solange sie draußen war. Im Haus machte er ihr nicht so viel aus.

Sie wandte sich von dem Fenster ab und beschloss, in die Küche zu gehen und sich Frühstück zu machen. Die Hoffnung, die Welle der Müdigkeit würde noch einmal plötzlich über sie schwappen, hatte sich mittlerweile ganz verflüchtigt und Kate trat seufzend und in ihrem hellblauen Pyjama mit den weißen Sternen drauf den Weg in die Küche an.
Geistesabwesend, mit den Gedanken schon beim Essen, stieß sie die Tür auf und blieb dann wie angewurzelt stehen.
Das Fensterglas glänzte, das Geschirr vom gestrigen Abendessen, das sie und Claire nicht mehr geschafft haben, zu spülen - weil Claire ein riesiges Theater aus ihrem Outfit gemacht hatte - war aus der Spüle verschwunden, die Küche war tiptop aufgeräumt, kein Staub mehr auf dem Fensterbrett und auf dem Radio, die Pflanzen waren gegossen, der Tisch abgeräumt und alle sonstigen Flächen und auch die Herdplatten blitzen wie neu gebohnert.
Doch dann bemerkte Kate noch etwas anderes an ihren nackten Füßen. Sie waren kalt und feucht.
Jemand hatte den Boden geschrubbt und er war noch nicht ganz trocken!
Schläfrig und verwirrt durchquerte sie langsam die Oase der Sauberkeit.
Ein Einbrecher würde wohl kaum die Wohnung putzen, schoss es ihr vorwitzig durch den Kopf. War sie vielleicht selbst schlafgewandelt und hatte alles aufgeräumt? Aber Unsinn - sie war noch nie schlafgewandelt! Es konnte eigentlich nur eine Erklärung geben...

...und die sortierte gerade, als Kate das Wohnzimmer betrat, die Bücher in die Regale neu ein. Und zwar nach Größe.
"Claire?", platze es ungläubig aus Kate heraus. Anscheinend hatte ihre Freundin auch das Wohnzimmer auf Vordermann gebracht, es war gelüftet und frisch und von Staub war weit und breit auch nirgends etwas zu sehen.
Besagte drehte sich erschrocken zu Kate um und musste erst mal tief Luft holen.
"Man, hast du mich erschreckt", beschwerte sie sich leichthin bei Kate, als wäre nichts gewesen und als stände sie nicht am frühen Sonntagmorgen angezogen in Jeans und Pulli hier und räumte fröhlich alles um und ein.
Kate starrte sie entgeistert an und überging diese Bemerkung. "Was machst du denn da?"
"Na aufräumen", erklärte Claire überflüssigerweise, als sei es das Normalste auf der Welt. Sie hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, damit sie sie beim Arbeiten nicht störten.
"Das sehe ich auch", bemerkte Kate trocken, aber immer noch etwas verwirrt. "Warst du etwa die ganze Nacht auf?"
Ohne sich zu ihr umzudrehen, stopfte Claire die letzten zwei Bücher in das Regal und klatschte sich fröhlich in die Hände.
"So, fertig!", rief sie gutgelaunt und wandte sich nun endlich zu Kate um.
"Ich konnte nicht schlafen, weißt du", winkte sie unschuldig ab und grinste, aber das Lächeln erreichte ihre Augen nicht, die seltsam trüb und freudlos aussahen.
"Claire, hör mal...", setzte Kate besorgt an, doch sie wurde von Claire's herzhaftem Gähnen unterbrochen.
"Ich glaube, ich verschwinde ins Bett. Bin ganz schön müde."
Sie huschte an Kate vorbei und war gerade im Begriff, in ihr Zimmer zu verschwinden, als Kate einen Entschluss fasste. Wenn man wusste, dass Claire sonst alles andere dem Putzen vorzog und sich bis zum Letzten weigerte, so schien ihr Verhalten noch sonderbarer.
Und Kate ahnte schon, woran das liegen könnte...
"Wenn du wieder wach bist", sagte sie entschieden und versuchte so zu klingen, als duldete sie keine Widerworte, "müssen wir reden!"
Claire blieb ganz kurz in der Tür zum Flur stehen, drehte sich jedoch nicht um.
Dann drückte sie die Klinke herunter und hob die Hand.
"Nacht", murmelte sie und verschwand.
"Von wegen 'Nacht'", schnaubte Kate leise mit einem Blick zum Fenster hinaus, immer noch beunruhigt, und trottete zum Kühlschrank, um einen Blick hineinzuwerfen.
Aufbackbrötchen, Toast, Käse, Wurst, Butter, Marmelade, Milch, Eier und diverse andere, noch nicht geöffnete, Verpackungen türmten sich aufeinander...
Ihr kam der leise Verdacht, dass Claire heute Morgen auch schon beim 24-Stunden-Supermarkt um die Ecke gewesen war...

Kate goss sich heißes Wasser in ihre Tasse, das vom Teebeutel sofort rot gefärbt wurde, und brachte ihr Frühstück, bestehend aus Tee, einem Käsetoast und einem Marmeladentoast, ins Wohnzimmer.
Sie stellt den Teller und die Tasse auf dem Couchtisch ab. Da ihr heute ein sehr langer und langweiliger Vormittag bevorstand - Claire würde bestimmt nicht vor dem Nachmittag aufwachen - hatte sie sich dazu entschlossen, sich vor den Fernseher zu lümmeln und sich einfach berieseln zu lassen. Lesen war ihr jetzt zu anstrengend und sie brauchte irgendetwas, das sie ablenkte.
Die Bilder von Rachel und dem ihr hinterherlaufenden Jake geisterten immer noch durch Katie's Kopf herum und ließen ihr kaum Ruhe.
Sie lehnte sich zurück und griff nach der Fernbedienung. Sofort sprang der bis dato schwarze Bildschirm an. Ein Nachrichtensprecher erschien auf der Bildfläche, der die Sportergebnisse vom Vortag herunterratterte und Kate darüber hinaus nicht im geringsten interessierte. Sie biss ein Stück von ihrem Käsetoast ab und schaltete um. Zeichentrickfilme.
Nach diversen Anläufen hielt sie dann bei einem nicht allzu alten Film an, der vor ein paar Jahren im Kino aufgestrahlt wurde. Der würde sich sicher sehen lassen.
Kate legte die Fernbedienung weg und in diesem Moment klingelte das Telefon, das ebenfalls auf dem Couchtisch lag. Nach einem kurzen Blick auf das Display stellte sie fest, dass der Anruf aus North Collingham kam - genauer gesagt, war es die Hausnummer ihrer Eltern.
"Hallo?", fragte sie abwesend, den Blick auf den Bildschirm gerichtet, um den Anfang auch nicht zu verpassen. Wenn man bei einem Film den Anfang verpasste, konnte man auch getrost den Rest weglassen!
"Schätzchen, bist du das?", flötete es aus dem Hörer an ihr Ohr und Kate nickte automatisch.
"Ja, Mum. Was gibt's?"
"Geht es dir gut, Katie?", wollte ihre Mutter besorgt wissen. Das war ihr wöchentlicher Anruf und er lief immer gleich ab. "Brauchst du vielleicht irgendetwas?"
"Nein, mir fehlt nichts, ehrlich." Kate nahm einen Schluck von dem heißen Tee und verbrannte sich die Zunge. Typisch, dachte sie, während sie sich über sich selbst ärgerte. Das passierte ihr jedes Mal! Man könnte meinen, sie würde langsam dazulernen, aber nein! An der obligatorischen Zungenverbrennung beim Frühstückstee führte kein Weg dran vorbei.
"Und wie geht es euch?", stellte sie die übliche Frage, um von sich selbst abzulenken. Es gab nicht wirklich viel zu erzählen, es sei denn, ihre Mutter interessierte sich brennend für Claire's und Jake's nicht-vorhandenes Liebesleben, was sie getrost ausschließen konnte.
"Ach, es ist alles beim Alten", seufzte Mrs Winston und für einen kurzen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen. Kate wusste, dass das die Ruhe vor dem Sturm war. Ihre Mutter überlegte nämlich in dieser Zeit, ob und wie viel sie ausplaudern durfte.
Wie zur Bestätigung hörte sie auch sogleich die gedämpfte Stimme Bethany's am Ohr.
"Lizzie überlegt sich, ihren Job bei der Zeitung zu kündigen!", sprudelte es sensationslustig aus ihr heraus. Aber nun war auch Kate ganz Ohr. Das war ja mal was ganz Neues! Liz liebte ihre Arbeit als Journalistin in London!
"Warum denn das?" Kate klemmte sich den Telefonhörer zwischen Schulter und Kopf und fischte nach der Fernbedienung, um den Ton etwas leiser zu stellen. Das hier war viel spannender als jeder Hollywoodstreifen.
"Ach", sagte Bethany und man konnte die wegwerfende Handbewegung, die sie wahrscheinlich dazu machte, fast hören. "Sie behauptet, sie hätte die Schwachköpfe satt und will es bei der Times versuchen, wegen der größeren Aufstiegschancen, aber..."
Wieder legte sie eine Art Kunstpause auf, um die Spannung zu steigern. Es funktionierte. Kate presste sich den Hörer noch fester ans Ohr.
"Dein Vater und ich vermuten eher, dass sie die Nase voll von ihrem Freund hat!", schloss sie triumphierend.
Kate stutzte. Warum sollte Liz ihren Job bei einer Zeitung kündigen und zu einer anderen wechseln, wenn sie doch eigentlich nur ihren Freund loswerden wollte? Aber andererseits... Lizzie's Wege waren schon immer unergründlich gewesen!
"Aaach sooo...", machte sie vorsichtig, da sie von der Theorie ihrer Mutter nicht ganz überzeugt war. "Interessant..."
"Ehrlich, dieses Kind bringt mich noch um den Verstand!", klagte Mrs Winston. "Immer denkt sie sich so einen Schwachsinn aus. Ich hab gesagt, nein Liz, mach bloß keinen Unsinn, wer weiß, ob du überhaupt noch einen Job findest, aber sie hat mich nur ausgelacht. 'Mum', hat sie gesagt. 'Du machst dir zu viele Sorgen.' Aber ehrlich, Katie, die rosigen Zeiten, in denen der Arbeitsmarkt blühte, sind endgültig vorbei, also haltet euch an das, was ihr habt! Und das hab ich ihr auch gesagt und weißt du, was sie dann geantwortet hat?"
Bethany hatte sich so in Rage geredet, dass sie nach Luft schnappen musste. Der anklagende Tonfall in ihrer Stimme ließ Kate fast ein bisschen schmunzeln.
"Nein, was?"
"Sie sagte", regte sich Kate's Mutter auf, "dass das vielleicht 'früher so war'", zitierte sie. "Und dass wir nicht mehr 'im Mittelalter leben', wo man 'eine Arbeit sein ganzes Leben lang ausübt und nicht in den Genuss kommt, richtig zu leben.'" Sie klang ungläubig und zugleich vorwurfsvoll, als sie Liz’s Worte durch die Leitung schmetterte.
Kate bemühte sich, nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Das war mal wieder typisch Liz. Diese Sprüche brachte sie andauernd, sie gehörten praktisch schon zu ihrem Repertoire. Ein Wunder eigentlich, dass Mrs Winston sich noch nicht daran gewöhnt hatte, als "mittelalterlich" bezeichnet zu werden.
"Ach, Mum", beschwichtigte Kate ihre Mutter mit einem unterdrückten Lachen. "Du kennst doch Liz. Sie sagt so viel, wenn der Tag lang ist."
Am anderen Ende der Leitung seufzte es schwer. "Ja, du hast Recht, Schätzchen... Und dir fehlt wirklich nichts?"
"Nein, nein. Keine Sorge." Wie konnte ihr hier etwas fehlen, wenn Claire auf nächtliche Streifzüge in Supermärkte ging, um den Inhalt des Kühlschrankes aufzustocken?
"Ich komm euch bald wieder besuchen. Grüß Dad und Danny von mir, ja?"
"Mach ich, Liebes. Und du pass gut auf Claire und vor allem Jake auf."
Kate rollte die Augen. Wenn das so weiterging, müsste jemand auf SIE aufpassen. Und zwar, damit sie nicht den Verstand verlöre!
"Na klar", murmelte sie ins Telefon und legte zeitgleich mit ihrer Mutter auf, platzierte das Telefon neben sich auf der Couch und wandte sich wieder dem Film zu.
Mist, sie hatte wirklich den ganzen Anfang verpasst... vielleicht sollte sie in der Fernsehzeitung nachgucken, worum es überhaupt ging?
Es klingelte schon wieder. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter etwas vergessen.
Achtlos nahm sie den Hörer wieder in die Hand und drückte auf die Taste mit dem grünen Telefonsymbol drauf, um den Anruf entgegenzunehmen.
"Mum?", meldete sie sich, während ihre Augen den Raum nach der Zeitung absuchten.
"Höh?", grunze eine männliche Stimme aus dem Telefon.
Kate setzte sich sofort erschrocken auf und lief etwas rosa an. Wie peinlich!
"Oh, Entschuldigung. Wer ist denn da?", fragte sie verlegen.
"Ich bin's doch, Katie, schläfst du etwa noch?", wollte Jake amüsiert wissen, ließ sie aber gar nicht zu Wort kommen. "Ihr wart gestern so schnell weg, ohne überhaupt noch Tschüss zu sagen", sagte er vorwurfsvoll.
Kate schluckte. Jake war wirklich allgegenwärtig. Immer, wenn sie sich einen Tag ohne ihn erhoffte, um ein bisschen Abstand zu gewinnen, tauchte er in irgendeiner Form immer auf - SMS, Email, Telefon oder er stand gar vor ihrer Haustür - es gab anscheinend kein Leben ohne Jake und genau das war es, was Katie Angst einjagte. Was, wenn es wirklich kein Leben ohne Jake gab?
"Ja, wir... waren ziemlich müde und so...", wich sie lahm aus, doch dann fiel ihr wieder ein, dass es ja Jake's und Gabe's Schuld war, weshalb sie so früh gegangen sind und sich nicht einmal verabschiedet haben.
"Na ja, egal. Ich wollte eigentlich nur sagen..." Er zögerte und hielt inne. "Können wir Kino heute verschieben?"
"Kino?", hakte Kate verwirrt nach. Wovon redete er da bloß?
"Es ist der erste Sonntag", half er abwesend nach, wahrscheinlich nebenbei noch mit etwas anderem beschäftigt. Sie hörte ein Klicken im Hintergrund und noch eine andere Stimme. Gabe's.
"Ach ja, stimmt..." Das hatte sie ganz vergessen. Aber der Letzte, den sie heute sehen wollte, war Jake. Der Jake, der gestern Abend wie ein treudoofes Hündchen einer Frau nachgelaufen ist, die ihn mit Füßen getreten hatte. Die Erinnerung daran widerte Kate regelrecht an. Sie mochte Jake in Rachel's Gegenwart überhaupt nicht!
"Bist du böse?", kam es schuldbewusst aus dem Telefonhörer, nachdem Kate nichts mehr sagte.
Anfangs war sie ein wenig irritiert, da sie dachte, er hätte ihre Gedanken gelesen, aber dann wurde ihr bewusst, dass er von dem geplatzten Kinobesuch redete.
"Nein, schon gut. Kein Problem." Sie hätte Jake zu gern die Hölle wegen Claire heiß gemacht, aber heute hatte sie so was von keine Nerven für den Jungen. Alles, was sie wollte, war ein entspannter, jakefreier Sonntag.
"Wir holen das nach, okay?"
"Wie du willst", erwiderte sie lustlos. Im Moment war das Einzige, das sie für ihn übrig hatte, Abneigung. Wie konnte er sich so erniedrigen lassen? Sie konnte nur inständig hoffen, dass Gabe ihm gehörig den Kopf waschen würde.
Jake klang beleidigt. "Du scheinst ja sehr begeistert zu sein!"
Kate seufzte. "Bis bald, Jake", sagte sie entschieden ins Telefon und legte schnell auf, bevor er darauf noch irgendetwas erwidern konnte.
Es tat ihr ein bisschen leid, so gemein zu ihm zu sein, aber sie brachte es nicht über sich, so zu tun, als sei alles in Ordnung. Er sollte ruhig ein bisschen leiden, immerhin tat sie das auch schon seit einer ganzen Weile.

Kurz vor ein Uhr mittags betrat Claire, frisch geduscht und angezogen, das Wohnzimmer, in dem Kate gerade auf der Couch lungerte und ein paar Bücher durchguckte, während im Fernsehen der Musiksender lief.
Schweigend trat Claire näher und setzte sich leise an den Rand des Sofa, woraufhin Kate aufblickte.
"Schon wach?", fragte sie nach einem schnellen Blick auf die Uhr. "Du hast nur fünf Stunden geschlafen."
Claire zuckte die Schultern. Sie sah jetzt noch erschöpfter aus, als am Morgen oder gestern Nacht.
"Sonst kann ich heute Abend nicht mehr einschlafen", meinte sie gleichgültig und schaute eine Weile lang wortlos auf den Fernseher. Ihre Haare waren zusammengebunden und glänzen noch feucht von der Haarwäsche.
Dann wandte sie sich wieder Kate zu, platzierte ihre Beine ebenfalls auf der Couch und rutschte etwas näher, um es sich bequemer zu machen.
Jeglicher Glanz in ihren Augen war erloschen und ihre in sich zusammengesunkene Haltung verriet, wie schlecht sie sich fühlte.
"Alles in Ordnung?", fragte Kate besorgt, klappte die Bücher wieder zu und stapelte sie ordentlich aufeinander.
"Geht schon." Claire zuckte wieder die Achseln und gab sich betont gleichmütig, aber diesmal konnte sie Kate nicht täuschen.
"Ich verfluche Jake", platze es dann plötzlich aus ihr heraus. Kate nickte und rollte mit den Augen.
"Wem sagst du das?", schnaubte sie solidarisch, im Begriff, sich mit Claire gegen den gemeinsamen Feind zu verbünden.
Claire schwieg wieder, also musste sie wohl die Initiative ergreifen.
"Ähm, also um mal auf das Thema Gabe zu kommen..." Sie schluckte. Es war schwierig, ein Thema anzusprechen, von dem sie genau wusste, dass Claire es nicht höre wollte.
Besagte horchte sofort auf und schaute Kate aufmerksam an, was sie aus dem Konzept brachte.
"Es war echt hinterhältig von ihm, einfach dort aufzutauchen, aber..." Sie sprach schnell und hastig. "Meinst du nicht, du könntest ihm IRGENDWANNMAL verzeihen, dass er... na ja, weggefahren ist?" Als sie Claire's prüfenden Blick bemerkte, beeilte sie sich schnell, weiterzusprechen. "Ich meine, du wärst sicherlich auch ins Ausland gegangen, wenn sich die Gelegenheit ergeben hätte, oder? Das ist irgendwie nicht fair, deswegen wütend auf ihn zu sein..."
Kate wagte einen vorsichtigen Blick zu Claire, die sie mit unbeweglicher Miene anstarrte. So etwas wie Verwunderung machte sich in ihrem Gesicht breit.
"Kate...", sagte sie langsam. "Du hast wirklich keine Ahnung, oder?"
Kate war verwirrt. Wovon sollte sie Ahnung haben? Von Claire's Gefühlen? Nun, sie konnte sich gut vorstellen, wie verlassen sie sich gefühlt haben musste... Aber warum konnte sie sich denn nicht für ihn freuen?
"Äh, na ja...", stammelte sie, unwissend, was sie darauf erwidern sollte, doch Claire's schnitt ihr Gestotter ab.
"Ich bin nicht wütend, dass er gegangen ist", erklärte sie verständnislos und schüttelte den Kopf, als würde es vollkommen kindisch und albern sein, wenn dem tatsächlich so wäre.
"Warum dann?" Kate konnte sich einfach keinen anderen Grund denken und Claire hatte ja auch nie etwas erwähnt.
Diese senkte den Kopf und starrte eine Weile lang schweigend den Teppichboden an.
"Weißt du, wie ich davon erfahren habe?", fragte sie dann und Katie schüttelte ahnungslos den Kopf. Sie traute sich schon gar nicht mehr, etwas zu sagen, denn anscheinend lag sie ja wirklich mit allem daneben.
"Von dir." Claire blickte auf und sah Kate fest in die Augen, die verständnislos blinzelte.
"Bitte?"
"Ja, von dir. Er hatte es nicht einmal für nötig empfunden, es mir zu sagen. Stattdessen war er so seltsam in der letzten Zeit und dann..." Sie schluckte und Kate schluckte solidarisch mit. In ihrem Hals hatte sich ein Kloß gebildet. Wie konnte es sein, dass Claire die Neuigkeit über Gabe's Abgang von ihr erfahren hatte? Wieso hatte sie es nicht bemerkt?
Kate hatte es zumindest von Gabe selber, aber erst eine Woche vorher, erzählt bekommen. Er sagte, es wäre alles sehr kurzfristig und es war mitten in den Sommerferien. Sie hatte Claire damals nicht so oft zu Gesicht bekommen...
"Zwei Tage vorher. Ich hatte mich mit dir getroffen und du hast gesagt..." Sie räusperte sich. "'Ist es nicht toll, dass Gabe die Gelegenheit bekommt, nach Australien zu reisen?' Und dann hast du gestrahlt und dich so sehr für ihn gefreut."
"Oh Gott..." Kate erinnerte sich nur noch dunkel daran. Wie konnte sie nur so unsensibel gewesen sein? Auch, wenn sie nicht wusste, dass Claire keine Ahnung hatte, wie konnte sie sich in ihrer Gegenwart nur so offenkundig freuen? Ihr wurde bewusst, wie grausam sie auf Claire gewirkt haben musste und fühlte sich plötzlich ganz schön elend.
"Oh Gott, Claire, das tut mir so, so leid!" Schuldbewusst schaute sie ihre Freundin an, doch diese schüttelte nur den Kopf und winkte ab.
"Du kannst nichts dafür. Du wusstest es nicht. Und jeder normale Mensch würde jawohl erst seiner Freundin bescheid sagen... Kein Wunder, dass du davon ausgegangen bist, dass ich es weiß."
Sie sprach voller Verachtung und verletzter Gefühle und schnaubte leise. In dem Sonnenlicht, dass durch das Fenster ins Zimmer fiel, funkelten ihre grünen Augen anklagend.
Jähes Mitleid ergriff Kate. Es musste doch eine Erklärung dafür geben, dass Gabe so ein Mistkerl gewesen war... Kate kannte zwar seine Beweggründe nicht, aber sie wusste, dass er Claire wirklich gern gehabt hatte - und es noch immer tat - und dass er sie bestimmt nicht absichtlich verletzen hatte wollen.
"Hast du... ihn darauf angesprochen...?", fragte sie vorsichtig nach einer Minute Stille, in denen jede der Zwei ihren eigenen Gedanken nachgehangen hatte.
"Natürlich." Claire nickte bestimmt und lachte dann hart. "Er war ziemlich geschockt und zerknirscht und es tat ihm leid. Hat er zumindest behauptet."
Aus ihrem Tonfall konnte man nicht genau heraushören, ob sie ihm Glauben schenkte.
"Und wieso hat er es dir nicht vorher gesagt?", wollte Kate wissen.
Claire verzog das Gesicht. "Er hätte Angst gehabt vor meiner Reaktion und dass ich dann... Schluss mache oder was weiß ich. Deshalb hat er gezögert und dann... tja, den Rest kennst du ja." Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, aus ihrer Miene wurde Kate einfach nicht schlau.
Es war wie immer... Claire versuchte so gut es ging, ihre Gefühle unter Verschluss zu halten, doch innerlich brodelten sie vor sich hin. Sie war nicht in allen Dingen so, aber in dieser Sache gab es niemanden, der das besser konnte als Claire.
Kate wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie konnte verstehen, dass Gabe es hinausgezögert hatte und sie konnte seine Gründe nachvollziehen, aber trotzdem war es falsch gewesen und letztendlich hatte er damit alles kaputtgemacht... Es tat ihm bestimmt furchtbar leid.
"Was ist dann passiert?", hakte sie interessiert nach. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Gabe so schnell die Flinte ins Korn warf.
"Er hat ständig angerufen, auch aus Australien noch, aber ich bin nicht rangegangen. Danach hat er sich auf Emails verlagert, aber ich hab keine einzige davon beantwortet..." Sie seufzte und ein trauriger Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht.
Unwillkürlich drängte sich Kate eine Frage auf. "Hast du... sie gelesen?", fragte sie vorsichtig, darauf bedacht, bloß in kein Minenfeld zu treten und meinte fast schon zu sehen, wie Claire's Wangen sich etwas rot färbten.
Diese senkte schnell wieder den Blick und schien sich innerlich zu winden.
"...ja... Und ich bin nicht stolz drauf, das kann du mir glauben, aber..." Ihre Stimme versagte und sie seufzte noch einmal tief. Dann riss sie sich wieder zusammen.
"Irgendwann hat er dann aufgegeben und es ebbte ab."
Kate bedachte Claire mit einem mitfühlenden Blick.
"Und jetzt... ist er wieder da", sagte sie nachdenklich. "Wie geht's denn jetzt weiter?"
Sie blickte Claire ratlos an und diese erwiderte ihren Blick. In ihrem Antlitz spiegelte sich dieselbe Ahnungslosigkeit.
"Ihn so gut es geht zu meiden?", schlug sie unschlüssig vor und Kate verkniff sich ein Lächeln.
"Das wird hart", warf sie ein. "Ich glaube, er hat nicht vor, so schnell aufzugeben."
Ob Claire auch bemerkt hatte, wie fasziniert Gabe sie angestarrt hatte in der Nacht zuvor? Ob Claire auch noch... Gefühle für ihn hatte? Aber das zu fragen, nachdem Claire schon über ihren eigenen Schatten gesprungen ist und ihr alles erzählt hatte, wäre fast schon zu viel gewesen. Die Zeit würde es zeigen. Fest stand jedenfalls, dass Gabe's Verhalten Claire tief gekränkt hatte. Wer hatte eigentlich behauptet, die Zeit heilte alle Wunden? Viel mehr riss sie alte Wunden wieder auf...
Claire lächelte zum ersten Mal an diesem Morgen. "Ich doch auch nicht, vergiss das nicht", zwinkerte sie Kate zu, die ihre Freundin überrascht anschaute.
Das Kräftemessen hatte also begonnen.
"Ach übrigens." Claire griff nach der Fernbedienung und schaltete um. "Was war denn mit Jake los? Ist er zu einem Pantoffelhelden mutiert oder was?"
Kate rollte die Augen. "Du sagst es. Unmöglich!"
"Der braucht mal ein richtiges männliches Vorbild. Aber ein Gutes hat das Ganze", fügte sie hinzu. Kate schaute sie fragend an.
"Und das wäre?"
Claire lehnte sich entspannt zurück und grinste übers ganze Gesicht.
"So wird Miss Dorfschlampe ihn bestimmt nicht ernst nehmen."
Kapitel 8: Setback

"Ich bin drüben bei Gabe!" Mit diesen Worten schlüpfte Kate aus der Haustür, lief hastig de Auffahrt hinunter und überquerte die Straße.
Das Haus, in dem Gabe mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester wohnte, befand sich in derselben Straße, Richtung High Street. Kate kam immer daran vorbei, wenn sie zur Bushaltestelle ging.
Seit der "end-of-term"-Party in dem Festsaal der Universität war genau eine Woche vergangen und Kate war mal wieder in North Collingham, um ihre Familie zu besuchen. Diesmal wollte sie aber länger bleiben als nur übers Wochenende, denn die Semesterferien erlaubten es und außerdem hatte sie gerade gar keine Lust auf Nottingham. Eine kleine Ruhepause würde ihr gut tun.
Um Claire brauchte sie sich auch keine Sorgen zu machen, denn diese war für eine Woche zu ihrem Vater nach Dublin geflogen. Claire's Eltern waren geschieden und sie war Einzelkind, wenn man die angeheirateten Stiefgeschwister mütterlicherseits nicht dazuzählte, mit denen sie überhaupt nicht zurechtkam. Aus genau diesem Grund zog Claire es vor, lieber Zeit mit ihrem Vater statt mit ihrer Mutter und deren neuer Familie zu verbringen.
Kate konnte sich nicht vorstellen, wie man ein Elternteil dem anderen so vorziehen konnte, doch dann wiederum unterschied sich ihre Situation gewaltig von Claire’s, deren Eltern schon seit ihrer Grundschulzeit auseinander waren. Weil Claire's Vater kurz darauf einen neuen Job in Dublin angeboten bekommen hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als bei ihrer Mutter zu leben. Für Claire, die schon immer eher ein Papakind gewesen ist, war das die reinste Bestrafung und dementsprechend verschlechterte sich die Beziehung zu Mrs Greene, ihrer Mutter, erheblich. Die Situation spitzte sich aber so richtig zu, als Claire's Mutter eines Tages mit einem neuen Mann antanzte, der drei weitere "Blagen" - wie Claire sie nannte - mit sich gebracht hatte. Die Kinder waren - Kate rechnete kurz nach - mittlerweile wohl schon 18, 14 und 11, was bedeutete, dass das ältere Mädchen der Drei ein Jahr jünger war als Claire selbst.
Kate erinnerte sich, dass ihre beste Freundin damals sehr unglücklich und frustriert gewesen war. Je mehr Zeit verging, desto weniger wollte sie nach Hause zurückkehren und so nahm Kate sie nach und nach immer öfter nach der Schule mit nach Dyke's End oder ließ sie bei sich übernachten.
Kate’s Eltern hatten nichts dagegen gehabt - sie fanden Claire's Situation sei eine "Zumutung", mochten das Mädchen gut leiden und meinten, es machte sowieso keinen Unterschied, denn bei den Winstons herrschte ständiges Kommen und Gehen, kein Wunder bei all den Kindern und all den Schulfreunden.

Bei Gabe angekommen, wurde nach einem kurzen Klingeln die Haustür von einer enthusiastischen Allyson, Gabe's 13jähriger Schwester, aufgerissen.
"Hi, Ally", begrüßte Kate das deutlich kleinere Mädchen mit denselben, braun-gewellten Haaren, wie Gabe sie auch hatte. Nur, dass ihre viel länger und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren.
"Hi, Kate", schnaufte Allyson atemlos und trat zurück, um ihr Einlas zu gewähren. Während Kate ihre Schuhe auszog und die Jacke am Garderobenhaken aufhängte, wagte Allyson es nicht, den Gast aus den Augen zu lassen. Etwas irritiert lächelte Kate ihrer jungen Beobachterin zu, die sie neugierig musterte.
Dann platzte es aus dem Mädchen heraus. "Ist Danny auch zu Hause?", wollte sie aufgeregt wissen und starrte Kate hoffnungsvoll aus großen Augen und mit geröteten Wangen an.
Diese stutze kurz, bevor sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
"Ich glaube, ja", gestand sie, doch Allyson dachte nicht daran, sie schon vom Haken zu lassen, traute sich aber auch nicht, weiter zu fragen. Stattdessen hatte sie Kate noch immer mit ihren leuchtenden Augen fixiert, so dass Kate belustigt hinzufügte: "Ich glaube, er macht seine Hausaufgaben."
Allyson's Augen blitzten auf. "Wirklich?", sagte sie fasziniert, mehr zu sich selbst als zu Kate, und kicherte dann verhalten, bevor sie schnell aus dem Zimmer lief.
Kate konnte noch sehen, wie Ally das Telefon aus der Aufladestation herausriss und hastig eine Nummer wählte, dann wandte sie sich ab und ging die Treppe hoch ins zweite Stockwerk, klopfte kurz an Gabe's Zimmertür und trat ein.
Ihr Freund saß gerade im Schneidersitz auf dem Boden und stapelte CD-Hüllen aufeinander.
Als sie hereintrat, sprang er schnell auf und schob die kleinen Türme ein wenig zur Seite.
"Ich ordne gerade meine CDs", sagte er entschuldigend mit einer Geste in Richtung der CD-Hüllen. "Du wirst es nicht glauben, aber während ich weg war, hat hier irgendwer alles ziemlich durcheinandergebracht." Er lachte und zwinkerte Kate verschwörerisch zu. Es war klar, dass er von seiner Schwester sprach.
Kate lächelte. "Apropos... Ally hat sich gerade nach Dan erkundigt", teilte sie Gabe ein bisschen erstaunt mit. "Ich wusste gar nicht, dass die zwei befreundet sind."
Ihr sechszehnjähriger Bruder, befreundet mit Gabe's 13jähriger Schwester? Das konnte sie sich nun wirklich nicht vorstellen...
Aber Gabe winkte lachend ab. "In Ally's Träumen vielleicht."
Er deutete einladend auf seine Couch und bedeutete Kate, sich zu setzen. Sie kam seiner Aufforderung nach und machte es sich bequem. Gabe schnappte sich einer Drehstuhl, der vor seinem Schreibtisch saß und setzte sich umgekehrt darauf, sodass er die Arme auf der Lehne verschränken konnte.
"Was meinst du?", fragte Kate ahnungslos. Man verlor wirklich den Überblick über alles, solange man nicht mehr zu Hause wohnte und alles mitbekam, was um einen herum geschah.
"Och." Gabe macht eine wegwerfende Handbewegung und platzierte seinen Arm anschließend wieder auf der Lehne. "Wenn man zu Hause wohnt und eine kleine Schwester hat, die von mittags bis abends nur am Telefon hängt, kriegt man so Einiges mit. Jedenfalls, sie und eine Freundin von ihr scheinen es auf Dan abgesehen zu haben. Nur 'ne kleine Schwärmerei..." Er lachte angesichts der verdutzten Mine, die sich auf Kate's Gesicht abzeichnete, doch dann musste auch sie grinsen.
"Der arme Danny", bemitleidetet sie ihn, meinte es aber nicht wirklich ernst. "Erst seine älteren Schwestern, die ihn quälen und jetzt diese jungen Dinger."
"Ja, dein Bruder kann einem wirklich leid tun", spottete Gabe und verdrehte die Augen. "Ständig von Frauen umgeben! Das hält ja niemand aus!"
Kate griff sich lachend eines der kleinen Kissen, die zum dekorativen Zweck auf der Couch verteilt lagen und warf es nach Gabe, der es, durch seine Sitzposition etwas benachteiligt, ins Gesicht geschleudert bekam. Das Kissen landete auf dem Boden zwischen Kate's Füßen und Gabe’s Stuhl.
"Das konnte ja nur von dir kommen, Gabe", schimpfte Kate freundschaftlich, während er ganz unschuldig tat. Gabe war schon immer derjenige gewesen, der die Aufmerksam der Mädels auf sich zog und man konnte von ihm nicht gerade behaupten, dass er das verachtete.
"Ich weiß gar nicht, was du damit meinst." Er schaute übermäßig ahnungslos in der Gegend herum und anschließend brachen beide in lautes Gelächter aus. Es tat gut, einfach mal nicht ernst sein und sich Sorgen machen zu müssen, Quatsch zu machen. Das hatte sie vermisst, denn in Nottingham war sie ständig entweder von Claire umgeben, die momentan etwas angeschlagen war, oder von Jake, der sie nur zu deutlich an ihre eigene Misere erinnerte. Nicht mal mit ihm konnte sie mehr unbeschwert lachen, denn alles fühlte sich so merkwürdig und falsch an...
"Nein wirklich, Kate." Gabe hatte sich beruhigt und blickte Kate ratlos an.
"Meine Liebste verschmäht mich", beklagte er sich übertrieben theatralisch und seufzte tief, bis er schließlich doch noch grinsen musste.
Aber Kate hatte den Wink verstanden. "Claire...?", fragte sie vorsichtig. Sie hatte ja die ganze Zeit geahnt, dass Gabe noch Gefühle für Claire hatte, aber es aus seinem Mund zu hören verlieh dem Ganzen doch etwas Offizielles.
"Du hast es also bemerkt", stellte er grienend fest und zuckte dann die Schultern. "Nicht, dass ich versuche, es geheim zu halten." Bei diesen Worten sah er Kate durchdringend an und sie musste schuldbewusst den Blick abwenden.
"Sie ist ganz schön wütend auf dich", sagte sie dann schnell, um von sich abzulenken und wieder auf das eigentliche Thema zu kommen.
Gabe ließ es bereitwillig geschehen.
"Das habe ich vermutete. Es war trotzdem schön, sie zu sehen. Sie hat sich kein bisschen verändert." Er lächelte erinnerungsselig, mit den Gedanken ganz woanders - bei Claire.
Kate ließ ihm die Zeit, doch schnell fing Gabriel sich wieder.
"Was denkst du?", fragte er sie unvermittelt und Kate ahnte, was er von ihr hören wollte.
Sie runzelte kurz die Stirn und dachte eine Weile lang nach. Claire war stur, sehr stur sogar, aber sie war kein Unmensch.
"Ich denke, es wird anstrengend, hart und du wirst dich auf viele Rückschläge gefasst machen..."
Gabe nickte konzentriert.
"...bevor sie dich überhaupt mal eines Blickes würdigt", schloss Kate schmunzelnd.
Gabriel lächelte siegessicher. "Kein Problem", beschien er ihr und stützte nun auch sein Kinn auf seinen verschränkten Armen ab.
"Hmmm..." Er dachte kurz nach. "Vielleicht werd ich deine Hilfe brauchen?"
Es war mehr eine Frage und er blickte Kate hoffnungslos an, die, halb entsetzt, halb belustigt, hastig den Kopf schüttelte.
"Oh nein... ich halte mich da schön raus. Rein offiziell bist du der Feind und mit dem werde ich mich ganz sicher nicht verbünden."
Er hob zweifelnd eine Augenbraue. "Der Feind?"
"Der Feind", bestätigte sie ohne jeden Zweifel an ihrer Aussage. "Für Claire die Nummer eins unter den Feinden." Kate lachte. "Es würde mich meinen Kopf kosten, dir irgendwelche Infos zuzustecken, die du gar nicht haben solltest."
Gabriel ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen und seufzte dann resigniert. "Das dachte ich mir schon. Und was sagst du ihr, wenn sie dich fragt, worüber wir so reden?"
Kate konnte sich angesichts der besorgten Frage ein Grinsen nicht verkneifen.
"Das kommt drauf an...", wiegelte sie zögerlich ab und schmunzelte.
"Worauf?" Gabe sprang natürlich sofort auf ihre Provokation an.
"Darauf, was ich ihr sagen soll oder darf?"
Auf dem Gesicht des Jungen breitete sich nun auch ein ahnendes Grinsen aus, ein Zeichen dafür, das er verstanden hatte. "Ich dachte, ich bin der Feind?", neckte er sie lachend und Kate zuckte gleichmütig die Schultern.
"Ja, aber ich kann doch nichts für all das, was du so erzählst..."
Zwei verschwörerische Blicke trafen sich und Gabe lächelte seiner Freundin frech zu.
"Von mir aus brauchst du ihr nichts zu verschweigen", bot er großzügig an und Kate kam der Gedanke, dass er nicht nur so tat als wüsste er, was zu tun war - nein, er wusste es wirklich! Gabe hatte eine Strategie und sicherlich auch Asse im Ärmel, die er auch gnadenlos ausspielen würde.
Natürlich würde sie Claire nicht alles brühwarm erzählen, denn ihre Freundin wollte von ihm ja nichts wissen, aber sollte sie doch neugierig werden und fragen, oder aber das Gespräch entwickelte sich in diese Richtung, war es eindeutig, dass sie von dem, was Gabe über sie sagte, bestimmt nicht kalt gelassen werden würde. Dass Claire oftmals nur so tat, als ginge alles spurlos an ihr vorbei, hatte allein schon die Putzaktion vom letzten Wochenende gezeigt.
Kate wusste, dass das reiner Selbstschutz war, den Claire an den Tag legte. Sie war schon immer mehr der Typ gewesen, der alles mit sich selbst ausmachte, es war ihre Art, zu flüchten. Und das Flüchten, das hatte sie mit ihren neuen Stiefgeschwistern und der Wiederheirat ihrer Mutter für sich selbst perfektionieren können.
Ein kurzes Schweigen legte sich zwischen sie, während Kate ihren Gedanken nachhing und auch Gabe zu überlegen schien.
"Wolltest du heute nicht mit Jake den Kinobesuch nachholen?", fragte er dann unvermittelt und sah sie prüfend an. Kate kam der Gedanke, dass die Frage gar nicht so beiläufig gemeint war, wie sie klang. Natürlich hatten sie den Kinobesuch auf nächstes – also dieses - Wochenende verschoben und Gabe wusste das auch, denn er war zum Zeitpunkt des Telefonats bei Jake gewesen.
Kate suchte nach einer passenden Ausrede, obwohl sie genau wusste, dass sie nicht ziehen würde, denn Gabe wollte ganz offensichtlich auf etwas Bestimmtes hinaus.
"Stattdessen bin ich jetzt hier", wich sie aus und machte eine ausschweifende Handbewegung, um das "hier" anzudeuten: North Collingham, zu Hause, Gabe's Zimmer.
"Das sehe ich", erwiderte Gabe trocken. "Du hast dich mit einer Ausrede verdrückt. Du gehst ihm aus dem Weg", stellte er sachlich fest und traf damit genau ins Schwarze.
Kate hatte wirklich nach einer guten Ausrede gesucht, um sich nicht mit Jake treffen zu müssen, denn, so gerne sie ihn auch sehen wollte, so schwieriger wurde es von Tag zu Tag, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sie konnte nicht mehr mit ihm lachen, weil dieses schreckliche Gefühl immer in ihrem Hinterkopf hockte und sie nicht unbeschwert sein ließ und sie konnte ihm auch nicht ihr Herz ausschütten, weil er sie dann wahrscheinlich nicht mehr würde sehen wollen. Und auch wenn, dann würde sie ihm ganz bestimmt nicht mehr unter die Augen treten können.
Allein die Vorstellung, mit ihm Zeit zu verbringen, während er die ganze Zeit über wüsste, dass sie mehr als nur Freundschaft empfand, war doch so... erniedrigend und lächerlich!
"Kate?" Gabe holte sie aus ihren Gedanken heraus und schaute sie besorgt an, zog dann die Stirn in Falten und schwieg eine Weile bevor er augenscheinlich das Thema wechselte.
"Jake ist noch immer dieselbe treuherzige, alte Seele, die von nichts eine Ahnung hat, wie er es war, als ich weggefahren bin."
Er seufzte kurz und in Gedanken musste Kate ihm Recht geben.
Wenn es drauf ankam, war Jake zwar mit Herz und Seele dabei, aber ansonsten lebte er immer mit einem sorglosen Grinsen in den Tag hinein und bekam kaum mit, mit welcher Geschwindigkeit sich die Welt um ihn herum wirklich drehte.
"Was das mit Rachel soll, verstehe ich auch nicht", setzte Gabe seine Ansprache weiter fort und schüttelte verächtlich den Kopf. "Ich frage mich, was er an ihr findet... Überhaupt..." Er lachte kurz auf - ein freudloses Lachen. "Warum sucht er sich immer die Unerreichbahren aus?"
"Unerreichbahren?", echote Kate, als hätte sie das Wort noch nie zuvor gehört.
Es war interessant, Gabe zuzuhören.
Sie wusste zwar, dass er und Jake hervorragend miteinander auskamen - und anscheinend haben sie seit Gabe's Rückkehr genau dort angeknüpft, wo sie aufgehört hatten, als er "ausgewandert" ist, aber Gabe hatte noch nie besonders viel über Jake gesagt und niemand hatte danach gefragt.
Sie wusste nicht warum, aber dass Gabe so viel über Jake wusste und ihn so gut analysieren konnte, erstaunte sie. Sie hatte immer angenommen, Jungs denken nicht großartig über die Charaktereigenschaften anderer nach, doch da hatte sie sich wohl getäuscht.
"Na du weißt schon..." Gabe machte eine wegwerfende Handbewegung. "Die Mädels, die hübsch aussehen, es allerdings auch wissen und versuchen, Profit daraus zu schlagen. Glaubst du wirklich, die geben sich mit nur Einem zufrieden, wenn sie sie alle haben können?" Er sah Kate mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Ihr Mädels seid da nicht anders als wir Männer."
Kate schmunzelte angesichts der Tatsache, das Gabe sich zu den "Männern" zählte, aber er bekam ihre Belustigung gar nicht mit, sondern redete einfach weiter.
"Einmal größenwahnsinnig, immer größenwahnsinnig." Er nickte zu seiner eigenen Bestätigung ein paar Mal energisch, während Kate sich fragte, in welche Richtung er das Gespräch eigentlich lenken wollte.
"Was ich eigentlich sagen wollte", besann er sich, als hätte er ihre Gedanken gelesen, und kratzte sich kurz zerstreut am Kopf. "Dieses Mädchen weiß genau, wie sie ihn um den Finger wickeln kann und er hat davon leider überhaupt keine Ahnung..."
Kate lächelte resigniert. Das war nichts Neues für sie, denn soweit hatte sie es auch mitbekommen.
"Ja, das ist typisch Jake", pflichtete sie in mildem Tonfall bei und musste unwillkürlich lächeln, als ihr der verwirrte Ausdruck auf Jake's Gesicht wieder in Erinnerung kam, als Claire ihm Rachel's Cocktail abgenommen und ihn stattdessen selbst getrunken hatte.
Sich plötzlich bewusst werden, dass Gabe sie beobachtete, schreckte sie auf und blickte nun in dessen Gesicht, dass sie neugierig musterte.
Um ihre Verlegenheit zu überspielen, suchte sie schnell nach etwas, was sie sagen konnte.
"Ich hoffe, du hast ihm ordentlich den Kopf gewaschen, was sein Verhalten angeht. Das kann man sich ja echt nicht mit ansehen", schimpfte sie streng in der Hoffnung, das würde Gabe von ihr ablenken. Und das tat es tatsächlich. Nur sah der Braunhaarige jetzt mehr verwirrt und geknickt gleichzeitig aus.
"Ich wusste nicht, ob ich sollte", gestand er fast schon entschuldigend und verzog schmerzvoll das Gesicht, als hätte er etwas Falsches getan, das ihm Leid tat, sich aber nicht vermeiden ließ.
"Doch, doch", sagte Kate schnell, obwohl ihr sein Geständnis doch einen kleinen Stich versetzte. "Ist schon gut so. Bevor er sich noch ganz zum Idioten macht..." Sie zwang sich zu einem kurzen Lächeln und nickte.
Gabe schien nicht ganz so überzeugt, doch er wurde etwas mutiger und erzählte weiter.
"Am Morgen nach der Party hab ich ihn drauf angesprochen. Du musst wissen..." Er rollte mit den Augen, als fasste er es nicht, was passiert ist. "Er dachte wirklich, wenn er ihr jeden Wunsch von den Augen abliest, wird ihr das imponieren."
Kate blinzelte verdutzt. Natürlich hatte sie sich so etwas schon gedacht, aber die Tatsache, dass Gabe genau wusste, wie Frauen anscheinend wirklich tickten, versetzte sie immer wieder in großes Erstaunen. Zwar gab es wahrscheinlich keine Frau, die sich nicht schon wenigstens einmal jemanden gewünscht hatte, der ihre Wünsche 'von den Augen ablas', doch kam es mal wirklich dazu, wurden die jeweiligen Exemplare von einem Mann am Ende nur stehen gelassen mit dem Kommentar "wer will schon einen Pantoffelhelden zum Mann?"
Sprachlos lauschte sie weiter Gabe's Erzählung.
"Ich hab ihm dann erklärt, dass das nicht so ist... dass man wenigstens ein bisschen so tun muss, als sei man nicht immer vor Ort und dass man sich ein bisschen rar machen muss... Das macht viel mehr Eindruck und dann fangen sie an, sich für dich zu interessieren, weil sie wissen wollen, warum du ihnen nicht an Ort und Stelle erliegst."
Er lachte. "Ziemlich primitives System, oder?", wollte er sichtlich erheitert von Kate wissen und zuckte dann die Achseln. "Aber so läuft es in den meisten Fälle ab. Alles nur eine Frage der Manipulation und des Timings."
Immer noch fassungslos starrte Kate ihn an. Dass Gabe viele so komplizierte Sachen mit so einfachen Worten auf den Punkt brachte, frappierte sie sehr. Ihr fiel ein, dass er auch früher schon ziemlich scharfsinnig gewesen ist und alles mitbekam, was um ihn herum geschah.
Er aber missinterpretierte Kate's Ausdruck und ihr sprachloses Schweigen.
"Oder stimmt das etwa nicht?", hakte er leicht unsicher nach und rutschte auf dem Stuhl hin und her. "Ich meine, andersrum ist es doch genauso."
"Doch, ich denke schon", beschwichtigte Kate ihn. "Aber... fehlt bei dem Ganzen nicht noch etwas?" Manipulation und Timing konnten doch nicht alles sein, oder?
Gabe entspannte sich und grinste ein wenig.
"Du darfst das nicht falsch verstehen. Ich habe nicht gesagt, dass keine Gefühle im Spiel sein können. Aber wer die Spielregeln beherrscht, kommt besser und schneller ans Ziel und kann sie alle haben."
Kate überlegte eine Weile und stellte dann die Frage, die sie schon länger interessierte und, obwohl diese es nie zugeben würde, Claire sicherlich auch.
"Hattest du sie in Australien... äh, auch ’alle’?"
Auf Gabe's Gesicht zeichnete sich ein verlegenes Grinsen ab.
"Dacht ich's mir." Obwohl sie es nicht beabsichtigt hatte, klang Kate ein wenig abweisend. Sie wollte nicht über ihn richten, aber wofür hielt er sich, wegzufahren, dort seinen Spaß zu haben und, zurück in der Heimat, die Gefühle ihrer besten Freundin wieder absichtlich durcheinanderbringen zu wollen?
"Nein, nein", beruhigte er sie schnell. "Also, ich hatte zu keinem Zeitpunkt eine feste Beziehung dort, soviel kann ich dir versichern."
Kate runzelte die Stirn und eine weitere Frage drängte sich ihr automatisch auf, doch sie wollte Gabe's momentane Auskunftsbereitschaft nicht überschreiten und eigentlich wollte sie es auch gar nicht wissen.
"Na dann", murmelte sie ausweichend. Das würde sie Claire ganz sicherlich nicht erzählen...
Unangenehm berührt kratzte sich das Mädchen an der Wange, während Gabe, sich ebenfalls nicht wohl fühlend in seiner Haut, im Zimmer herumguckte, als könnte er dort etwas Neues, Interessantes erblicken.
"Gabe?", fragte sie zaghaft. Das Eine musste sie ihm noch sagen.
Er schaute sie an. "Ja?"
Kate holte tief Luft. "Wenn du... Claire noch einmal verletzen solltest, dann... solltest du dich nicht darüber wundern, wirklich zum 'Feind' zu werden."
Sie suchte sein zunächst verwundertes Gesicht prüfend nach einem Zeichen der Ablehnung oder des Verständnisses ab.
Gabe musterte sie nachdenklich und nickte schließlich ernst, ohne eine Miene zu verziehen. "Das versteh ich. Und ich meine es ganz sicher ernst, Kate", versicherte er ihr nachdrücklich.
Sie erhob sich und warf einen raschen Blick auf die Uhr. Es war alles gesagt, was gesagt werden musste und bald würde es Abendessen geben. Ihren Vater hatte Kate heute noch gar nicht zu Gesicht bekommen und so konnte sie ihrer Mutter noch beim Kochen zur Hand gehen.
"Ich denke ich geh dann mal."
Auch Gabe stand auf, um sie zur Tür zu geleiten. "Okay." Er war wieder so vergnügt wie eh und jäh. "Wenn du wieder hier bist, schau ruhig vorbei. Ich freue mich immer über Ablenkung."
"Ja, und wenn du wieder bei Jake zu Besuch bist..." Sie schluckte. "Dann äh... ruf doch an."
Gabe lachte. "Mach ich. Bis bald. Ach, und - Kate?"
Kate blickte von ihren Schuhen, die sie sich gerade anzog, zu ihm herauf. An der Wand lehnend und die Hände in die Hosentaschen vergraben betrachtete Gabe sie nachdenklich.
"Sei nicht allzu böse auf Jake..." Er sagte es fast so entschuldigend, als wäre ER für alles verantwortlich. Kate biss sich auf die Unterlippe und nickte zaghaft. Als könnte sie Jake je böse sein...
"Mach's gut." Sie schlüpfte aus der Tür und winkte Gabe noch kurz zu, bevor sie sich von ihm abwandte. Hinter ihr fiel die Haustür der O'Learys leise ins Schloss.

Schon als Kate an die frische Luft trat, merkte sie, dass irgendetwas sich verändert hatte. Nach kurzem Überlegen wusste sie auch, was es war: der bordeauxfarbene Alfa Romeo Spider Fastback, der vor der Garage der Winstons parkte.
Was bedeutete, dass Lizzie zu Hause war. Dabei hatte Kate's Mutter nichts vom Besuch ihrer zweitältesten Tochter erwähnt, wunderte sich Kate.
Neugierig und zugleich erfreut - sie brauchte dringend Ablenkung! - hastete sie über die Straße und stürmte durch die Haustür ins Innere.
Schnell hängte sie ihre Jacke auf, streifte ihre Schuhe ab und riskierte zur Sicherheit einen kurzen Blick ins Wohnzimmer, doch es war leer. Als sie gegangen war, hatte Daniel auf der Couch herumgelümmelt und gelangweilt durch die Sender gezappt.
In der Küche fand sie endlich, wen sie suchte: ihre Mutter kochte gerade Kaffee, während Liz verzweifelt in der Sitzecke saß, die Ellbogen auf den Tisch gestützt und vor sich hinbrütend.
"Oh!", entfuhr es Kate. Obwohl sie das Auto in der Auffahrt hatte stehen sehen, überraschte sie Liz's leibhaftiger Anblick dennoch. "Was machst du denn hier?"
Ohne die Antwort abzuwarten, zwängte sie sich ebenfalls hinter den Tisch und setzte sich.
Liz warf Kate einen säuerlichen Blick zu. "Was wohl? Ich besuche Mum und Dad."
Kate runzelte verwirrt die Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht und Lizzie's feindseliger Tonfall war der eindeutige Beweis dafür. Irgendetwas musste ihr völlig die chronisch gute Laune ruiniert haben.
"Aha." Kate schob die Schale mit Obst, die in der Mitte des Tisches stand, zu sich heran und suchte sich einen kleinen, grünen Apfel aus, rieb ihn ein wenig an ihrem Ärmel, bis er glänzte.
Bethany warf ihr einen kurzen Blick zu. "Sind gewaschen, Liebes."
"Wo ist eigentlich Dan?", fiel Kate in diesem Moment ein. Soweit sie wusste, hatte sie von draußen in seinem Fenster auch kein Licht brennen sehen.
"Der ist abgehauen, kurz, nachdem ich gekommen bin", mischte sich Liz leicht pikiert ein und starrte grimmig die Tischplatte an, als wäre sie an allem Schuld.
Kate verkniff sich ein Grinsen. Daniel's Flucht war so offensichtlich, dass es keiner Worte mehr bedurfte.
"Ach", sagte Bethany mild, in dem Bemühen, Liz wieder versöhnlich zu stimmen, "er ist bestimmt wieder zu seiner Freundin gefahren.“
Bei ihren Worten blickten die bis dato noch scheintote Liz und Kate, die gerade in ihren Apfel beißen wollte, geschockt auf.
"Freundin?", wiederholte Liz und wechselte einen überraschten Blick mit Kate.
"Er hat eine Freundin? Wieso kriegt man eigentlich nichts mehr mit, wenn man nicht mehr zu Hause wohnt?", beschwerte sie sich wieder mit einem verdrießlichen Tonfall, doch dieses Mal konnte sich Kate ihrer Meinung nur anschließen.
"Kaum ist man aus dem Haus, wird einem nichts mehr erzählt", stimmte sie zu, war jedoch nicht einmal halb so verärgert über diese Tatsache wie Liz. Aber Daniel hätte wirklich mal erwähnen können, dass er nun glücklich vergeben war... oder wenigstens ihre Mutter, die ja nun liebend gern aus dem Nähkästchen plauderte!
"Nun hört doch auf, Kinder." Mrs Winston holte zwei Tassen aus dem Hängeschrank und füllt diese bis zum Rand voll mit dem eben gebrühten Kaffee, der die ganze Küche mit diesem typischen Duft erfüllte.
Kate mochte den Duft von Kaffee, das Getränk selbst jedoch konnte sie nicht ausstehen. Schlimm genug, dass in der Uni jeder Zweite mit einem “Coffee-to-go“-Pappbecher herumrannte, als käme man ohne Kaffee nicht durch den Tag.
"Von wegen...", grummelte Liz leise vor sich hin und schnippte achtlos einen Krümel vom Tisch auf den Boden.
"Wer ist es denn?", wollte Kate neugierig wissen, während ihre Mutter die Kaffeetasse vor Liz stellte, die sofort danach griff wie nach einem Rettungsseil, das einer Ertrinkenden zugeworfen wurde. Begierig nahm sie einen Schluck und heulte sofort auf.
"Heiß!"
Anscheinend war das erblich.
Bethany betrachtete sorgenvoll ihre Tochter, die nun schlechtgelaunt die Tasse von sich schob und ein noch längeres Gesicht zog. Dann wandte sie sich Katie zu und beantwortete ihre Frage.
"Das weiß ich nicht. Irgendein Mädchen aus seiner Klasse, aber als Mutter weiß man ja sowieso nur so viel, wie es gut für Einen ist." Sie seufzte und warf Lizzie einen bedeutungsvollen Blick zu, den diese gekonnt ignorierte.
"Toll", spottete sie nun und rümpfte die Nase. "Für alle hängt der Himmel voller Geigen. Wie schön!" Aus ihrem Tonfall konnte man deutlich heraushören, dass sie es alles andere als "schön" fand.
Kate's Laune schwand augenblicklich dahin. Sei wann hing der Himmel denn für "alle" voller Geigen? Da hatte sie wohl etwas nicht mitbekommen. Aber Liz, in ihrem Selbstmitleid versunken, was auch immer passiert sein mochte, war natürlich wieder vollkommen blind für alles, abgesehen von ihren eigenen Problemen.
"Ach, halt doch die Klappe", knurrte Kate und biss voller Groll geräuschvoll in ihren Apfel, wobei sie sich einen verwunderten Blick ihrer Schwester einfing.
"Ach ja", sagte diese dann trocken. "Weiß er es noch immer nicht?"
Sie rührte aggressiv in ihrem Kaffee herum, als ginge es um Leben um Tod und starrte Kate durchdringend an.
"Wer weiß was nicht?", fragte die Mutter der beiden interessiert, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mit ihrer Kaffeetasse zu den Mädchen an den Tisch.
"Niemand", sagten beide wie aus einem Mund und wandten sich voneinander ab.
Bethany seufzte ergeben. "Genau das meine ich", beklagte sie sich, nicht wirklich in der Annahme, dass ihr jemand zuhörte, warf ein paar Zuckerwürfen in den Kaffee und rührte um.
"Und welche Laus ist DIR eigentlich über die Leber gelaufen?", hakte Kate mürrisch nach, ohne auf die Beschwerde ihrer Mutter zu achten, und sah Liz auffordernd an.
"Johnny", antwortete Liz mit einem Zähneknirschen und nahm das Gesicht, das ihre Mutter bei diesem Namen verzog, gar nicht erst wahr.
"Wer ist das?" Kate runzelte verwirrt die Stirn und schaute von einer zur anderen. Der Ausdruck ihrer Mutter machte deutlich, dass diese nichts von diesem "Johnny" hielt, aber sie konnte sich nicht erinnern, diesen Namen schon einmal gehört zu haben.
"Ihr Freund", warf Bethany unglücklich ein, aber Liz schnaubte nur und schüttelte den Kopf.
"Ex-Freund, besser gesagt!"
"Dein Freund heißt Johnny?", sinnierte Kate nachdenklich, während Mrs Winston äußerst vergnügt japste: "Ex-Freund?"
Liz rollte genervt die Augen. "Das war ja klar, dass du dich darüber freuen würdest, Mum."
Sofort versuchte Bethany, sich zusammenzureißen und schnellstmöglich das erfreute Grinsen von ihrem Gesicht abzustreifen, jedoch ohne viel Erfolg.
"Entschuldige, Liebes." Sie probierte, eine bekümmerte Miene aufzusetzen. "Was ist denn passiert?"
"Ihr werdet es nicht glauben!", ereiferte sich Liz empört. Nun, da sie die Aufmerksamkeit auf ihrer Seite hatte, lief sie zu Höchstform auf. Ihre Augen funkelten angriffslustig.
Bethany und Kate's Augen hingen praktisch an ihren Lippen und beide wartete, was Mr. Rockband-Johnny so Unglaubliches angestellt haben mochte, das selbst Liz verscheucht hatte - und, das musste man sagen, es war wirklich schwer, Liz abzuschrecken.
"Er hat..." Sie machte eine Kunstpause, um den Effekt auszuprobieren, bis Kate unruhig wurde und auf ihrem Sitz hin und herrutschte. "Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht!"
In der Küche herrschte Totenstille. Niemand wagte es, etwas zu sagen.
Liz schwieg triumphierend und blickte Kate und ihre Mutter Bestätigung heischend an.
Beide wussten im ersten Augenblick nicht, wie sie darauf reagieren sollten, doch es war Bethany, die als Erste den Mund aufmachte.
"Ooooh...", entschlüpfte es ihr ratlos, hin und her gerissen zwischen der Tatsache, dass jemand allen Ernstes ihre widerspenstige Tochter heiraten wollte und dass es Rocker-Johnny war, der um ihre Hand angehalten hatte.
Kate war in ihrer Wortwahl kreativer. "Oh nein, wie furchtbar", höhnte sie. "Jemand will sein restliches Leben mit dir verbringen, das muss wirklich schlimm sein."
Dafür kassierte sie von Liz einen vernichtenden Blick, diese entschied sich aber dafür, die Bemerkung zu ignorieren.
"Schon seit Wochen war er so seltsam und hat merkwürdige Andeutungen gemacht, aber als er mich dann in dieses piekfeine Restaurant eingeladen hat..." Sie verzog das Gesicht, als fände sie das unerhört und absolut ungehobelt von ihm. "Und ich habe noch gehofft, er schlägt mir nur einen Dreier vor oder so... aber DAS war jawohl der Gipfel!"
Kate und ihre Mutter wurden beide tiefrot im Gesicht - Bethany wegen der Schamlosigkeit ihrer Zweitältesten, Kate eher, weil ihre Mutter dabeisaß und bei Lizzie’s Ausdrucksweise scharf die Luft einsog. Den Spruch hätte ihre Schwester sich auch verkneifen können – viele Herzinfarkte kamen schließlich nicht von ungefähr und wenn Kate es sich recht überlegte, sah ihre Mutter in diesem Moment alles andere als gesund aus.
"Aber... Schätzchen...", stammelte Mrs Winston, nicht wissend, was sie auf all das sagen sollte, und immer noch erschüttert über das Treiben der jungen Leute heutzutage.
"Och, Mum, halt mir bitte keinen Vortrag. Echt, ich hab schon genug zu leiden. Ich dachte, Johnny wäre cool und nicht so ein altmodischer Spießbraten. Hätte ich von Anfang an gewusst, dass er Einer dieser gutbürgerlichen Stockkonservativen ist, die noch an die "Institution Ehe" glauben - oh Gott!" Sie fasste sich an den Kopf und atmete tief durch. "Dabei habe ich ihm nie das Gefühl gegeben, bis zum Ende meines Lebens mit ihm zusammen sein zu wollen..." Sie schüttelte verstört den Kopf und blickte verwirrt von Beth zu Kate, als könnten die ihr sagen, was sie falsch gemacht hatte.
"Wow", platzte es beeindruckt aus Kate heraus, die Lizzie's Monolog fasziniert mitverfolgt hatte. "Das muss ja echt die große Liebe gewesen sein."
Liz's warnenden Blick quittierte sie mit einem boshaften Lächeln.
"Ach, was weißt du schon, Schwesterherz", spöttelte diese nun. "Da draußen in der Welt gibt es mehr als nur Heirat und Kinder. Glaubst du, ich will den Rest meines Lebens als Hausfrau verbringen mit spuckenden und schmutzigen Gören, die mir am Rockzipfel hängen? Nein danke!"
Beth's Augen weiteten sich gefährlich und Liz hielt augenblicklich die Luft an. "Nicht alle Kinder können so pflegeleicht sein wie wir es waren", fügte sie freundlicher, schmeichelnd, hinzu, doch Bethany hob nur eine Augenbraue.
"Glaub mir, Kind, du warst alles andere als pflegeleicht und hast mich alle Nerven gekostet. Und nun muss ich mir so etwas von dir anhören?" Mit einem mütterlich-tadelndem Blick bedachte sie ihre Tochter, die sofort einlenkte.
"Du weißt, wie ich das meine Mum, also dreh mir nicht die Worte um Mund um." Liz seufzte resigniert. "Jedenfalls, ich hab ihm den Laufpass gegeben, bei Mel übernachtet und jetzt bin ich hier..."
Mel war Lizzie's beste Freundin und hieß eigentlich Melanie. Sie waren schon seit Schulzeiten befreundet und letztendlich beide in London gelandet, was kaum verwunderlich war, denn 70% aller Schulabgänger zog es letztendlich in die Hauptstadt. Auch Kate hätte nichts gegen London einzuwenden gehabt, aber es war zu weit weg von Zuhause und von ihren Freunden, außerdem hatte die University of Nottingham einen viel besseren Ruf.
Zwischen den drei Winstonfrauen breitete sich wieder Stille aus. Bethany warf ihrer jüngsten Tochter einen vielsagenden Blick zu und nickte bestätigend. Kate erinnerte sich wieder an das Telefon am letzten Wochenende. Also hatte ihre Mutter richtig gelegen, als sie die Vermutung aufgestellt hatte, bei Liz und ihrem Freund wäre etwas im Busch.
Trotzdem konnte Kate es nicht fassen, dass Liz so auf einen Antrag reagierte. Jede andere Frau an ihrer Stelle würde sich freuen, wenn ein Rockmusiker, die ja bekanntlich nicht so leicht an sich zu binden waren, sie heiraten wollen würde, aber Liz begegnete dieser Angelegenheit mit absoluter Abscheu. Nichts fand sie schlimmer, als sich in die - wie sie sagte - konservativen Strukturen der Gesellschaft einzufügen. Alles, was sie machte, musste abgehoben sein von dem Rest der Welt, wenn auch nur ein bisschen.
Mrs Winston ließ unruhig ihren Blick durch die Küche schweifen, bevor sie wieder Liz in Augenschein nahm.
Kate stützte einen Ellenbogen auf dem Tisch ab. "Und was machst du jetzt?", wollte sie wissen.
Liz zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Erst mal hier bleiben."
Beth verschluckte sich fast an ihrem Kaffee und starrte ihre Zweitälteste entsetzt an, während die ungerührt einen Schluck aus ihrer Tasse nahm.
"Hier... bleiben...?", wiederholte Beth unbehaglich, in der Hoffnung, sich verhört zu haben. Doch Liz nickte nur.
"Und was ist mit deinem Job?"
"Hab mir heute morgen gleich zwei Wochen Urlaub genommen. Wenn ich demnächst wirklich kündigen werde, muss ich doch noch meinen Resturlaub verbrauchen." Liz grinste heimtückisch, sich ganz offensichtlich für äußerst gewitzt haltend.
Kate und Bethany blieb bei dieser Ansage der Mund offen stehen.
"Dein Freund macht dir einen Antrag und du verlässt ihn und deinen gutbezahlten, sicheren Job willst du auch aufgeben? Was hast du eigentlich für ein Problem?" Kate konnte es nicht fassen. Dabei fehlte es Liz an nichts - sie hatte einen Freund, eine hübsche Wohnung und einen Job - gehabt. Und das alles gab sie auf für... wofür? Dafür, wieder arbeitslos und allein zu sein und bei ihren Eltern zu wohnen?
"Ergibt das in deinem Kopf vielleicht einen Sinn, der uns Normalsterblichen verborgen bleibt?", redete sie ihrer älteren Schwester weiter ins Gewissen, die sich davon allerdings kein bisschen beeindruckt zeigte.
"Erspar mir die Moralpredigt, Kate, bitte."
"Aber sie hat recht", ereiferte sich nun auch Bethany, die zuvor stumm und bleich am Tisch gesessen und sich an ihre Tasse geklammert hatte. "Was machst du nur mit deinem Leben, Kind?"
"Muuuum", stöhnte Lizzie genervt. "Ich bin 23 und hab noch viel vor. Denkst du, ich will auf ewig bei diesem Klatschblättchen arbeiten? Nein, danke." Naserümpfend warf sie einen Blick aus dem Fenster, wo gerade ein silberner Rover in die Auffahrt biegen wollte, in der bereits Lizzie's Spider Fastback stand.
Mr. Winston's Wagen kam abrupt zum Stehen und sogleich ertönte ein ungeduldiges, kurzes Hupen. Liz seufzte erneut und erhob sich gemächlich.
"Ich geh mal den Weg freimachen", murmelte sie brummend, nicht gerade erfreut über die Störung und dass sie ihren Aufenthaltsort von der warmen, gemütlichen Küche in die kalte Winterluft wechseln musste.
"Und ich dachte, sobald sie erst mal aus dem Haus sind, kommen sie nicht mehr wieder", bemerkte Kate's Mutter trocken, lächelte dann aber resigniert. "Na was soll's, Platz genug ist ja da und ich koche sowieso immer viel zu viel."
Kate grinste. "Armer Danny", bedauerte sie ihren Bruder neckend. "Liz wird ihn auseinandernehmen, genauso wie seine Freundin. Das würde ich zu gern sehen... War sie überhaupt schon mal hier?"
"Wer?" Abwesend blies Beth über den Rand ihrer Kaffeetasse, obwohl das koffeinhaltige Getränk schon längst abgekühlt sein musste.
"Dan's Freundin."
"Oh ja, schon oft." Mrs Winston nickte noch, bevor sie aufstand, ihren Kopf in den Kühlschrank steckte und etwas hineinmurmelte, das verdächtig nach "Ich sollte mich mal ans Abendessen machen" klang.



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Ich liebe Liz. *lach* Und ich hab’ ne Ewigkeit gebraucht, um das passende Auto für sie zu finden, aber letztendlich bin ich doch zufrieden mit meiner Wahl (übrigens, Baujahr 1966 XD http://www.selfbase.com/car_interior_database/photos/cars/100/1153401101.jpg). *nick* Das Auto von Mrs und Mr. Winston ist ein Rover 600 (von 1996, http://www.autoteile-scheinwerfer.de/images/ROVER%20600%200493-98.jpg). Ganz normal also... Ich kenne mich ja gar nicht mit Autos aus, aber das war schon cool... es gibt wirklich hübsche Dinger da draußen. Man könnte auf den Geschmack kommen. ^^ (Achso... und danke an meine Helferlein out there XD)

Kapitel 9: Someday or maybe never

"Da kommt er ja endlich." Claire warf einen ungeduldigen Blick auf ihre Armbanduhr und zog vorwurfsvoll die Augenbrauen in die Höhe, als Jake mit einem reumütigen Grinsen vor ihnen auftauchte,
Sie und Kate standen seit fast einer Viertelstunde an der Kreuzung zwischen Derby Road und St Helens Street und warteten auf Jake, der, mal wieder, nicht ohne Verspätung kam.
"Das war so was von klar, dass du dich wieder verspätest", schimpfte sie, als er keuchend neben ihnen zum Stehen kam und vor lauter Atemlosigkeit zum Gruß nur die Hand heben konnte.
Kate legte eine Hand auf die Schulter ihrer Freundin und schob diese sachte weiter. "Lass doch gut sein, Claire", beschwichtigte sie Claire in mildem Tonfall. "Wir haben uns ja extra früher verabredet."
"Ooh, na was hör ich da...?" Claire schaute Kate süffisant an. "Letzte Woche warst du aber noch nicht so gut auf ihn zu sprechen", raunte sie ihr im Flüsterton zu. Mit einem kurzen Blick zu Jake vergewisserte sich Kate, dass dieser nichts mitbekommen hatte und bedeutete Claire daraufhin mit einem ernsten Kopfschütteln, dass diese den Mund halten sollte.
"Sorry", entschuldigte sich Jake, als er endlich zu Atem kam. "Ich hab mich schon extra beeilt, aber ihr wisst ja, wie das ist..."
"Nein. Wie ist es denn?", provozierte Claire mit unschuldigem Gesichtsausdruck, doch Kate rollte nur genervt mit den Augen.
"Das ist so, wie wenn deine Freundin sich nicht entscheiden kann, was sie zur Party anzieht und du deshalb den Bus verpasst und eine Ewigkeit auf den Nächsten warten musst", erwiderte sie in scharfem Tonfall und brachte ihre Freundin, deren Mundwinkel sich zu einem anerkennendem Lächeln verzogen, damit endlich zum Schwiegen.
"Touché."
Jake schien jedoch etwas verwirrt von diesem mädchentypischen Dialog. "Äh, na ja, nicht so ganz...", stammelte er unsicher und schaffte es, beiden Mädchen ein Grinsen abzuringen.
"Haben wir uns schon auf einen Film geeinigt?", wechselte Claire gelangweilt das Thema, während sie aufmerksam den Verkehr beobachtete.
"Ich weiß nicht einmal, was läuft", gab Kate zu, den Blick auf die gegenüberliegende Ampel gerichtet, darauf wartend, dass sie auf grün springt und die Fußgänger über die Straße lässt.
Claire machte ein "Tz"-Geräusch. "Du bist so was von nicht up-to-date."
Jake steuerte zu dieser ganzen Unterhaltung ein ausgiebiges Gähnen herbei. "Ich, ehrlich gesagt, auch nicht." Claire's empörenden Blick ignorierend, grinste er Kate verschwörerisch zu.
"Was ist los, Jake?" Claire stieß ihm ihren Ellbogen in die Seite. "Du wirst doch nicht etwa schon schlapp machen? Wir haben gerade mal 19 Uhr!"
Dieser stöhnte schicksalsergeben. "Wir haben neuerdings eine Baustelle neben dem Wohnheim." Er konnte einem zweiten Gähnen nicht unterdrücken und unterbrach sich dadurch. "Die fangen schon früh morgens an. Und das in den Ferien!"
"Warum bist du denn dann nicht jetzt zu Hause und schläfst?" Claire unterzog den müden, mitgenommen aussehenden Jake einer genauen Musterung. Auf seinem Gesicht breitete sich ein schuldbewusstes Lächeln aus.
"Du weißt schon... Abendprogramm und so. Außerdem müssen wir den Kinobesuch doch nachholen." Er warf Kate einen fragenden Blick zu, die schweigend neben den beiden herlief und ihre Unterhaltung abwesend mitverfolgte. "Nicht wahr, Katie?"
"Ja, genau...", murmelte diese nicht gerade überzeugend, doch für Jake war das Bestätigung genug.
"Ehrlich, bei diesem Lärm kann man einfach nicht schlafen", fügte er noch einmal nachdrücklich hinzu, da ihn scheinbar niemand aufgrund seiner misslichen Lage bemitleidete.
Claire sprang sofort drauf an. "Naaa ja...", begann sie nachdenklich und tat so, als müsste sie stark überlegen, "du kannst ja mal bei uns übernachten, wenn es wirklich so unerträglich ist."
Jake fuhr sich erschöpft durch seine blonden Haare, die hinter seinem linken Ohr widerspenstig abstanden und sich ganz offensichtlich nicht der Richtung der anderen Haare oder der Bürste hatten unterwerfen wollen. "Danke, Claire." Er warf ihr einen dankbares Lächeln zu und sie nickte bestätigend.
"Gern geschehen. Kate's Bett ist ja groß genug." Bei diesen Worten warf sie eben Genannter einen hinterlistigen Blick zu und grinste boshaft. Kate zuckte unmerklich zusammen und erwiderte Claire's tückisches Grinsen mit einem fassungslosen, alarmierten Blick.
"Claire!", zischte sie warnend, gerade so leise, dass Jake es nicht hören konnte. Doch anscheinend dachte er sich bei Claire’s unmoralischem Angebot auch nichts, denn er gähnte noch einmal ausgedehnt und bestätigte, dass er, sollte er es nicht mehr aushalten, sicherlich auf das Angebot zurückkommen würde, während seine beiden Freundinnen ein stilles, unerbittliches Blickduell ausfochten: Todesblick vs. Killergrinsen.

"...als sie Mum und mir dann den wahren Grund für ihr Auftauchen erzählt hat, das war vielleicht ein Schock."
Sie waren beinahe am Kino angekommen und Kate erzählte gerade, auf Jake's Frage hin, wie ihr Wochenende gewesen sei und was es Neues gebe in Collingham, die Geschichte ihrer - wie sie sagte - "durchgeknallten" Schwester Liz, die ihren Freund verlassen hatte, weil er sie heiraten wollte.
Claire war vollauf begeistert von Liz's Verhalten - eine Reaktion, die vorhersehbar gewesen war, Jake jedoch schien genauso verwirrt, wie Kate und ihre Mutter es gewesen sind.
"Aber warum?", fragte er nun schon zum zweiten Mal verständnislos und brachte es tatsächlich fertig, Claire ein wenig zu verärgern. "Warum, warum", äffte sie ihn nach. "Darum!"
"Ich versteh's auch nicht", seufzte Kate, um den Streit der beiden nicht weiter ausarten zu lassen. "Vielleicht liebt sie ihn ja nicht."
Jake kräuselte die Stirn. "Aber warum war sie dann mit ihm zusammen?"
"Keine Ahnung."
Er schürzte die Lippen. "Frauen. Ich werde sie nie verstehen."
Claire stieß ein schnaubendes Lachen aus. "Das wirst du allerdings nicht, Jakey."
Ohne auf die Beleidigung einzugehen, wechselte er das Thema. Ihm schien etwas eingefallen zu sein.
"Apropos Freund. Dave hat mich letztens gefragt, ob du mit Gabe zusammen bist." Verwundert wandte er sich an Kate, der sofort Gabe's Aktion auf der Party einfiel, als dieser versucht hatte, Dave in die Flucht zu schlagen. Claire, die das Ganze natürlich durchschaut hatte, grinste dezent vor sich hin, während Kate Jake ängstlich anblickte, das Schlimmste erwartend.
Jake lachte und kratzte sich am Hinterkopf. "Ich hab ihm gesagt, dass das nicht stimmt. Wie kommt er bloß auf so etwas?" Kate's fassungslosen Blick und ihr leises, genervtes Stöhnen quittierend, blinzelte er irritiert.
"Oder?", versicherte er sich und warf einen schnellen Seitenblick zu Claire herüber, die schadenfroh kicherte und die Augen rollte.
"Nein", knurrte Kate zwischen den zusammengepressten Zähnen hervor und gab sich alle Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. "Ich bin natürlich nicht mit Gabe zusammen."
"Oh, gut." Jake sah erleichtert aus. "Ich dachte schon..." Er schaute Claire kurz vielsagend an. Es war klar, dass er das für einen Regelverstoß gehalten hätte, wenn dem tatsächlich so gewesen wäre. Kate jedoch beschäftigten momentan ganz andere Gedanken: im Klartext bedeutete Jake's großmütige Aufklärungsaktion, dass sie Dave wieder an der Backe hatte. Na halleluja!
Mit sichtlich schlechterer Laune beschloss Kate, zu diesem Thema nichts mehr zu sagen, denn Jake schien ihre Anstrengungen, Dave loszuwerden, einfach nicht in seinen Schädel zu bekommen. Sie brauchte es auch nicht, denn Claire, die, zu Kate's Missfallen, heute extrem angriffslustig war, übernahm schon wieder das Ruder.
"Wo wir gerade dabei sind: wie sieht's denn mit Rachel aus, Jake?", fragte sie in hinterhältigem Tonfall. Kate horchte auf und betrachtete mit unauffälliger Neugier, wie er gleichmütig die Schultern zuckte.
"Ich hab sie seit der Party nicht mehr gesehen." Seit der Party, an dem Claire und Gabe sie mit vereinten Kräften in die Flucht geschlagen haben.
Claire hob überrascht die Augenbrauen. "Sehr traurig scheint dich das ja nicht zu stimmen", bemerkte sie trocken, sich über die Ruhe wundernd, die er bei diesem Thema neuerdings an den Tag legte. Das war es auch, was Kate stutzig machte. Normalerweise mutierte er schon bei der Erwähnung des Namens zu einem jammernden Häufchen Elend, das nicht wusste, was zu tun war.
Jake begegnete dem Staunen der Mädchen mit neugewonnener Souveränität. "Man muss sich halt rar machen", belehrte er die Zwei altklug mit völlig erster Miene, was Claire ausnahmsweise in stummes Erstaunen versetzte.
Kate jedoch erkannte Gabe's Worte und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ganz offensichtlich hatte Jake seine Lektion gelernt.
Claire lehnte sich leicht zu Kate herüber und murmelte: "Wo hat er das denn her?"
"Gabe", formte Kate lautlos mit den Lippen und auf Claire's Gesicht breitete sich ein Ausdruck der Erkenntnis aus, der aber zu schnell einem verächtlichem, schiefem Lächeln wich.
"Natürlich", spöttelte sie leise. "Woher sonst?"

"Wir sind da", verkündete Jake laut und deutete auf das große Gebäude vor ihnen. Das "Cineworld"-Kino. "Lasst uns reingehen."
"Und der Kampf um den Film geht los", murmelte Kate, ein paar Meter hinter Claire und Jake zurückbleibend, während die beiden das Gebäude durch die große Glastür betraten.

Jake drückte Kate ihren Becher mit Cola in die Hand und hielt den Popcorn-Eimer sicher in seinem anderen Arm.
"Oh, danke." Abwesend griff sie danach und versuchte sich gleichzeitig, aus ihrer Jacke zu befreien, was sich als erfolgloses Unterfangen erwies, da sich ihr Arm vollkommen im Schal verhedderte. Mit einem gekonnten Handgriff befreite Jake sie aus ihrer misslichen Lage und Claire, die in diesem Moment mit einer Tüte Chips und einem Becher Wasser zu ihnen stieß, warf einen Blick auf ihre Eintrittskarte und kommandierte die zwei bestimmt hinter sich her, zum Kinosaal Nummer sieben.
Natürlich konnten sie sich nicht einigen, welchen Film sie sehen sollten, aber es war selbstverständlich Claire gewesen, die gewonnen hatte. Wehmütig dachte Kate an die Male, als sie noch allein mit Jake ins Kino gegangen ist - selten waren sie sich uneinig und wenn, dann gab Jake meistens nach und ließ sie gewähren. Ihm zuliebe ließ sie ihn dann beim nächsten Mal den Film aussuchen, aber so, dass er es nicht bekam. Aber dieses Mal hatte sie Claire gebeten, sie zu begleiten - mit Jake allein zu sein war momentan undenkbar.

"Es ist ja so leer hier", bemerkte Jake mit milder Verwunderung, als sie im schwach beleuchteten Saal die Treppen hoch zu ihren Plätzen in der letzten Reihe gingen. Außer ihnen war noch niemand drin, aber sie waren auch erstaunlich früh dran.
"Ist ja auch ein Werktag." Claire zuckte die Achseln und arbeitete sich zwischen den Stuhlreihe zu ihrem Platz vor, den sie schließlich nach langem hin und her ausfindig machen konnte. Neben ihr ließ sich Jake nieder und dem Platz neben ihm war für Kate bestimmt.
Während sie ihren trüben Gedanken nachhing - Dave, ihrem momentanen Problem mit Jake und ob seine, beziehungsweise Gabe's, Strategie bei Rachel wohl fruchten würde - erklärte Claire zwei Plätze weiter dem aufmerksam zuhörenden Jake, wovon der Film handelte.
Kate fragte sich, nicht zum ersten Mal in letzter Zeit, warum es ihr so schwer fiel, in Jake's Nähe zu sein. Es war nicht neu für sie, nein. Aber kaum tauchte er auf der Bildfläche auf, schon spielten ihre Gefühle verrückt. Wenn er lachte, überkam sie eine Welle der Zuneigung und wenn er niedergeschlagen war, wollte sie ihm am liebsten über den Kopf streichen und seine Haare verwuscheln. Doch wenn sie an den Grund seiner Bedrückung dachte, oder oft, wenn er nur den Mund aufmachte, erfasste sie eine Woge der Wut auf ihn, und das, obwohl er weder etwas dafür konnte, noch irgendetwas davon wusste. Sie war sich sicher, wenn er auch nur den Hauch einer Ahnung hätte, würde er nicht so gedankenlos vor sich hin plappern. Aber das wollte sie nicht. Er sollte so normal wie möglich sein. Kate wollte nicht alles kaputt machen, nur, weil sie ihre Gefühle nicht unter Kontrolle halten konnte.
Leider konnte sie nicht anders und reagierte hin und wieder patzig auf ihn, in Situationen, in denen er nichts getan oder gesagt hatte, was sie eigentlich hätte dazu veranlassen können. Doch zum Glück hielt sich Jake nie mit solchen Nichtigkeiten auf und schaffte es immer wieder unwillkürlich, sie zum Lachen zu bringen oder sie zumindest in den - ihr verhassten - Zustand der Zuneigung zurückzuführen. Wenn er dann lachte und ihr Recht gab und ihr stolz erzählte, er hätte sich einen Schirm gekauft, nur, weil sie ihn das letzte Mal darauf hingewiesen hatte, dass er bei Regen ganz nass werden würde...
Verzweifelt platzierte Kate ihren Ellbogen auf der freien Lehne rechts neben ihr und stützte ihren Kopf ab. Die Kinoleinwand war noch immer schwarz und leise Musik trällerte aus den Lautsprechern, die überall im Saal an der Decke angebracht waren.
Aber nicht nur, dass sie momentan so launisch war ihm gegenüber... sie musste zugeben, das sie leicht egoistisch war. Dass er Rachel mochte, das wollte sie gar nicht hören. Sie wollte es sich nicht anhören müssen. Sie wollte es nicht sehen und auch nicht daran denken müssen. Sie hasste es, dass dieser Gedanke ihr ständig im Kopf herumschwirrte und sie nicht in Ruhe ließ. Sie hasste ihre Eifersucht und sie konnte sich selbst dafür nicht mehr richtig leiden. Andererseits war sie nicht mehr fähig, ihre Gedanken auf etwas anderes zu fokussieren. Bei der Party vor fast zwei Wochen hatte sie ihre Augen kaum von Rachel und Jake abwenden können und obwohl es wehtat, wie nichts anderes, war sie nicht fähig, sich abzuwenden und sich auf andere Gedanken zu bringen.

"Hmmm..." Erschrocken fuhr Kate zusammen, als Jake's Gesicht neben ihr auftauchte. Er musterte sie prüfend und runzelte die Stirn.
"Du bist ja so still", stellte er treffend fest und ließ sie noch immer nicht aus den Augen. "Sag mal, Katie, warum bist du in letzter Zeit so trübselig?"
Claire lehnte sich auch weiter vor und blinzelte ihre Freundin unschuldig an. "Ja, Kate", stimmte sie zu. "Das ist mir auch schon aufgefallen."
Kate warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Anscheinend hatte die Gute es heute wirklich drauf angelegt. Es schien, als hätte Claire in Dublin neue Energie getankt, denn sie war, seitdem sie zurück war, besonders frech und offensiv.
"Ah!", rief Jake aus und strahlte Kate an. "Ich hab's!"
Damit lenkte er Kate's Aufmerksamkeit wieder auf sich. Verwundert blickte sie ihn an.
"Du bist unglücklich verliebt!", verkündete er zuversichtlich und sah sie erwartungsvoll an.
Kate's Augen weiteten sich vor Überraschung und sie konnte nicht verhindern, dass ihr Gesicht zu glühen begann. Unbehaglich sank sie etwas tiefer in den weichen Kinosessel und wich seinem fragenden Blick aus.
"Nein“, erwiderte sie zögernd, doch Jake glaubte ihr nicht.
"Komm schon, Katie. Wer ist es?" Er lächelte ihr aufmunternd zu.
Es war nicht nötig, ihm zu antworten, denn Claire meldete sich nun auch zu Wort.
"Also, als ich das letzte Mal unglücklich war...", überlegte sie nachdenklich und streichelte ihren nicht-vorhandenen Bart, "da war ich in meinen besten Freund verliebt..."
Die entsetzte Kate bemerkte, wie Claire's Mundwinkel unmerklich zuckten, doch sie behielt sich den ernsten Ausdruck bei.
Jake, vor Verblüffung ganz still geworden, starrte sie fasziniert an und Kate, die in Gedanken schon ihr letztes Stündlein geschlagen sah, verkroch sich noch mehr in den Polstern, bevor er seine Sprache wiederfand.
"Wirklich?", wollte er interessiert wissen. "Meinst du damit Gabe?"
Während Claire Jake fassungslos anstierte, gluckste Kate erleichtert und atmete auf. Jake's Ahnungslosigkeit hatte sie mal wieder gerettet. Wäre dieser nur halb so scharfsinnig wie Gabe, wäre spätestens das wohl ihr Ende gewesen... Aber es war verständlich, dass Jake neugierig war, denn er war damals in derselben Ahnungslosigkeit gelassen worden wie Kate.
Ärgerlich wandte Claire sich von Jake ab und schob sich frustriert einen Chip in den Mund, um Zeit zu gewinnen, denn mit ihrer Aktion hatte sie sich mal wieder selbst in Bedrängnis gebracht und blieb Jake eine Antwort schuldig.
"Ich wusste gar nicht, dass Gabe und du damals schon so gut befreundet wart?", stichelte Kate nun auch, um es ihrer Freundin heimzuzahlen. Sie hatte sich heute schon genug herausgenommen und das wusste Claire auch - Zeit, zurückzuschlagen!
Diese warf Kate einen verdrießlichen Blick zu. "Oh doch", bestätigte sie widerwillig. Eine glatte Lüge, wie Kate wusste.
Jake lächelte wohlwollend. "Und ich dachte immer, du warst mit Gabe nur befreundet, weil er mit mir, ich mit Kate und Kate mit dir so gut befreundet war?" In seinen Gedanken schien er seine bisherige Annahme zu revidieren und die hinzukommenden Infos zu einer neuen Ansicht zu formen, nicht wissend, dass er damit den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Kate schmunzelte leise vor sich hin, als Claire, überrascht von Jake's Erkenntnis, brummelte: "Falsch gedacht..."
Tatsächlich hatte Claire Gabe früher nur "geduldet", aber da Kate und Jake viel miteinander unternahmen, musste sie ihn zwangsläufig ertragen. Zwischen den beiden gab es viele Sticheleien, scheinbare Auseinandersetzungen und scharfe Wortgefechte, aus denen Gabe mit einem ruhigen Lächeln und Claire, nach Außen hin zwar kontrolliert, aber Innen vor Wut nur so brodelnd, heraustraten. Bis einen schönen Tages der Vorhang dann endlich fiel...

In diesem Moment gingen die gedämmten Lichter aus und die Leinwand erstrahlte für einen Moment in hellem weiß, bevor sich endlich ein Bild abzeichnete. Die obligatorische Kinowerbung ging los. Im Saal saßen mittlerweile schon mehr Leute, wenn auch unerheblich. Kate hatte sie gar nicht hereinkommen sehen.
Jake lehnte sich zu ihr herüber und wisperte ihr leise zu: "Du solltest es ihm sagen. Ich bin sicher, er mag dich auch."
Kate schüttelte langsam, unmerklich den Kopf über Jake's unerschütterlichen Optimismus. "Wenn du wüsstest...", murmelte sie kaum hörbar, als er den Mund gerade voller Popcorn hatte und geräuschvoll darauf herumkaute.
Sie versuchte, sich auszumalen, was gerade in seinem Kopf herumging, gab dann aber schnell auf, denn sie wusste absolut nicht, was überhaupt jemals in Jake’s Kopf vor sich ging – es war für sie genauso ein Rätsel, wie die Welt für ihn.
"Irgendwann sagst du's mir aber." Schon wieder war er zu nah an ihrem Ohr.
Der Satz ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Wusste er etwa doch bescheid...?
"Was...?", keuchte sie erschrocken, klammerte sich unbewusst an die Sitzlehne und eine Hitzewelle überkam sie, die plötzlich ihr Hirn vernebelte.
Jake lächelte. "Na, wer es ist. Sonst kann ich ihm gar nicht erklären, dass er mit mir zu tun bekommt, wenn er dich schlecht behandelt." Er wandte sich wieder der Leinwand zu, auf der die Werbung langsam ein Ende nahm. Der Nebel in Kate's Kopf lichtete sich.
Für einen kurzen Augenblick hatte sie tatsächlich geglaubt, dass er Claire's Anspielungen doch verstanden hatte!
Kate warf dieser einen kurzen Blick zu. Sie saß gemütlich in ihrem Sessel und grinste schweigend vor sich her, keinen Zweifel daran lassend, dass sie alles mitangehört hatte.
Kate verzog schmerzerfüllt das Gesicht, lehnte sich in ihren Sitz zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, um das Gefühl von quälendem Wehmut und wieder aufflammender Zuneigung zu unterdrücken. Was für eine Ironie des Schicksals, dachte sie bitter. Da saß er nun, neben ihr, sagte Sachen, die er besser nicht sagen sollte und hatte nicht mal den leisesten Hauch einer Ahnung, dass er für all das verantwortlich war.
"Klar...", krächzte sie und fügte in Gedanken hinzu: niemals.
Kapitel 10: Head-on collision

Kate wickelte sich ein Handtuch um die Haare und öffnete nach einem kurzen Blick auf den beschlagenen Spiegel das Badezimmerfenster. Sie drehte den Schlüssel um, drückte mit dem Ellenbogen die Klinke herunter und stieß mit einem Fuß die Tür auf.
Umständlich schlängelte sie sich an dem Regal, das in der Diele stand, vorbei und versuchte die Sachen in ihrem Arm nicht fallen zu lassen: Klamotten, ein Buch und die verdorrte Zimmerpflanze, die sie soeben aus dem Bad gerettet hatte.
"Kate?" Die Angesprochene blieb stehen und schaute auf. Claire stand vor ihr, in voller Montur: verwaschene Jeans, eine dunkelrote, schlichte Bluse und über dem Arm hing ein schwarzer Pulli. Das Eindrucksvollste an Claire waren aber ihre Haare. Sie hatte sie hochgesteckt und einige gelockte, Strähnen umrandeten elegant ihr Gesicht.
"Oh." Kate unterzog ihre Freundin einer verwunderten Musterung und die machte ihrerseits das Gleiche, nur dass sie Kate eher misstrauisch und leicht abfällig beäugte.
"Wie siehst du denn aus?" Belustigt wandte Kate sich ab und wollte schon den Weg zu ihrem Zimmer einschlagen, doch Claire stellte sich ihr verständnislos in den Weg.
"Dasselbe wollte ich dich gerade fragen", verkündete sie und runzelte die Stirn. Kate verstand nicht.
"Gehst du aus?", hakte sie nach und drängelte sich doch noch an Claire vorbei.
In ihrem Zimmer ließ sie ihre Kleidung und das Buch auf das Bett fallen und stellte die Pflanze ab.
Claire war hinter ihr hergekommen und ließ sich ebenfalls auf dem Bett nieder.
"Nein", sagte sie und beobachtete, wie Kate in ihrem Bademantel im Zimmer herumwuselte, um ihre Sachen in den Schrank einzuordnen.
"WIR gehen aus."
Kate's Kopf erschien augenblicklich hinter der geöffneten Schranktür. Sie runzelte die Stirn.
"Wir sind auf einem Geburtstag eingeladen", fügte Claire erklärend hinzu. "Schon vergessen?"
Als von Kate, die ihre Freundin schweigend anstarrte, immer noch keine Reaktion kam, ergänzte sie: "Dave."
Ihrer Freundin fiel fast die Kinnlade herunter und ihre Augen weiteten sich.
"Nein, nein", winkte sie schnell ab und hob abwehrend die Hände. "Ohne mich, Claire. Niemals."
Claire hob eine Augenbraue. "Doch", sagte sie seelenruhig. "Ich gehe nur mit dir dort hin."
Kate schloss die Schranktür und funkelte ihre Freundin böse an.
"Warum, um Himmels willen, sollte ich dort hingehen? Erstens mag ich Dave nicht, zweitens hab ich keine Lust, mir mit anzusehen, wie Jake..." Sie stockte. "Und außerdem haben wir gar kein Geschenk..." Kate hatte Dave's Geburtstagseinladung ganz vergessen und wollte den Abend eigentlich damit verbringen, im Bett zu liegen und zu lesen.
Ihr war ganz und gar nicht nach Gesellschaft zu Mute.
Claire lächelte nur überlegen. "Erstens", erwiderte sie souverän, "du musst ihn ja nicht mögen. Da werden noch viele Andere sein. Zweitens, müssen wir dort hin, um genau das zu unterbinden und drittens..." Sie machte eine kurze Pause und in ihren Augen funkelte es angriffslustig. "Ich habe bereits ein Geschenk besorgt, also keine Sorge."
Kate lies im stummen Erstaunen die Arme sinken. Sie wusste, dass Claire von ihrem Vorhaben nicht abzubringen war.
"Unterbinden?", wiederholte sie zweifelnd.
"Du weißt schon." Claire machte eine ausschweifende Handbewegung. "Wenn sie auftaucht, schnappst du dir Jake, wenn sie zu zweit sind, tauchst du wie aus dem Nichts auf und so weiter..."
Kate betrachtete ihre fröhlich vor sich hin plappernde Freundin argwöhnisch. Das konnte unmöglich ihr Ernst sein? Sie hatte keine, aber auch gar keine Ambitionen, sich in Jakes Liebesangelegenheiten einzumischen und genau deswegen wollte sie auch nicht anwesend sein, wenn es zu Diesen kam.
"Du spinnst doch", warf sie Claire verächtlich an den Kopf und schüttelte fassungslos den Ihren.
"Das geht mich alles doch nichts an. Sie sollen tun und lassen, was sie wollen, aber ich misch da sicher nicht mit."
Entschieden schob sie ein paar Blatter Papier, die auf ihrem Tisch lagen, zur Seite und zog sich das Handtuch vom Kopf.
"Oooch, Kate", lächelte Claire verschlagen. "Du wirst doch nicht kampflos aufgeben? Wie willst du da jemals gewinnen?"
"Ich will weder kämpfen noch gewinnen. Wenn du da unbedingt deine Nase reinstecken willst, dann bitte aber halt mich da raus. Ich habe schon genug im Kopf, ohne mir das freiwillig anzutun", schimpfte Kate und warf ihrer Freundin einen strengen Blick zu.
Claire legte den Kopf etwas schief und dachte einen Moment lang nach.
"Na gut", entschied sie dann und Kate atmete schon erleichtert auf, in der Annahme, dieses Duell tatsächlich gewonnen zu haben. "Dann gehe ich eben ohne dich und erkläre unserem Jakey mal, was Sache ist."
Kate kniff die Augen zusammen und musterte ihre Freundin prüfend, doch die hielt dem Blick mit einem dreist-freundlichem Lächeln stand.
"Du hast gewonnen", knurrte Kate schließlich wiederwillig.
Claire war in ihrer momentanen Stimmung alles zuzutrauen und nach dem Kinobesuch war sie viel vorsichtiger geworden. "Und was schenken wir ihm?"
Claires Grinsen wurde breiter. "Eine Aufblasbahre Gummipuppe, die Kate heißt", antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.
"Oh, schon gut, schon gut. Ein Scherz!", fügte sie augenrollend hinzu, als sie Kates geschockten Gesichtsausdruck bemerkte. "Einen Führer durch Londons beste Clubs und eine Flasche Sekt."
"Das hoffe ich sehr für dich", brachte Kate zwischen zusammengepressten Zähnen noch immer ein wenig ungläubig hervor und fügte dann hinzu: "Aber wir bleiben nicht lange."
Wenn sie gedacht hatte, dass Claire wenigstens diesen einen Kompromiss machen würde, hatte sie sich getäuscht. Claire grinste überlegen.
"Wir bleiben, solange es nötig ist."

"Bist du sicher, dass du die Haare so tragen willst?"
Das "so" besonders abfällig betonend, betrachtete Claire, die es sich auf Kate's Bett mit einer Klatschzeitschrift gemütlich gemacht hatte, ihre Freundin kritisch.
Kate, in der letzten halben Stunde damit beschäftigt, sich die Haare zu fönen und etwas zum Anziehen zu finden, das Claire zufrieden stellte, sah ihre Freundin entnervt an, während sie an ihren Haaren herumnestelte. "Was ist es denn diesmal?"
"Nichts. Ich dachte nur..." Claire bemühte sich, ihrer Stimme einen unschuldigen Tonfall zu verleihen, doch der Blick blieb noch immer unzufrieden an Kate hängen.
"Was?"
"Mit dem Pferdeschwanz siehst du aus wie 16." Augenblicklich ließ Kate von ihren Haaren ab und seufzte resigniert. "Na super."
"Lass sie doch einfach offen", schlug Claire aufmunternd vor.
Kate's Haare waren so glatt und gerade, dass man kaum etwas mit ihnen anfangen konnte, zumindest nicht ohne viel Zeit und noch mehr Aufwand, und beides war gerade in weiter Ferne.
"Mir bleibt wohl nichts anderes übrig." Schlechtgelaunt griff Kate nach ihrer Bürste, um die Haare noch ein letztes Mal durchzukämmen. Mit einer Haarnadel steckte sie eine längere Strähne ihres Ponys, die immer ungefragt ins Gesicht hing, fest und steckte für alle Fälle doch noch ein Haargummi und ein paar Spangen ein.
Mit einem Ruck erhob sich Claire vom Bett und grinste Kate siegessicher an.
"Kann's losgehen?", wollte sie fröhlich wissen und marschierte zielstrebig aus dem Zimmer, ohne die Antwort abzuwarten.
"Sicher." Kate, die ihrer Freundin weitaus weniger Begeisterung folgte und aus dem Zimmer trottete, wie ein Lamm, dass gerade zur Schlachtbank geführt wurde, warf noch einen letzten sehnsüchtigen Blick auf den Bücherstapel, den sie sich hatte vornehmen wollen und schloss schließlich die Zimmertür hinter sich.

"Woher weißt du, wo Dave wohnt?" Kate sah sich suchend um und betrachtete die Häuser rechts und links der Straße. Sie standen dicht aneinandergedrängt und sahen alle gleich aus, mit der Außenfassade aus rotem Ziegel und dem kleinen Vorgarten, in den gerade mal ein kleiner Apfelbaum passte. Claire warf einen Blick auf den Zettel mit Dave's Adresse, den sie aus ihrer Jackentasche holte.
"Er wohnt bei seinen Eltern", spulte sie automatisch ab. "In der Appledore Avenue Nummer 53, hat er gesagt."
"Hat er gesagt?", hakte Kate misstrauisch nach.
"Als er angerufen hat, um seine Adresse mitzuteilen", ergänzte Claire fröhlich. "Du warst gerade einkaufen."
Kate blieben die Worte im Halse stecken. Jetzt telefonierte ihre beste Freundin hinter ihrem Rücken schon mit Dave! Irgendwas lief schief, und das gründlich!
"Das hat dir ja wieder wunderbar in den Kram gepasst", beschwerte sie sich mürrisch, "mich nicht fragen zu müssen."
Claire lächelte. "Komm schon, Kate. Sei nicht so. Wir werden viel Spaß haben", sagte sie freundlich, versöhnlicher.
Jake, Rachel und Dave dicht gedrängt an einem Ort, was für ein Spaß!
"Und wenn ich persönlich dafür sorgen muss", drohte sie im Scherze und grinste selbstsicher.


"Noch können wir gehen", schlug Kate hoffnungsvoll vor und strich sich leicht nervös eine Strähne hinters Ohr, das Namensschild neben der Klingel betrachtend.
Claire betätigte diese prompt.
"Zu spät." Sie grinste, als sie Kate's besorgtes Gesicht sah. "Mach dir keine Sorgen um Jake und Rachel. Dafür hast du ja mich. Alles, was du tun musst, ist, dich zu amüsieren."
Genau darum machte Kate sich ja Sorgen...
Aus dem Inneren des Hauses drang laute Musik nach draußen, aber anscheinend dachte niemand daran, die Tür aufzumachen, was Kate zu naiven Hoffnungen verleitete. Unzufrieden runzelte Claire die Stirn und drückte ein zweites Mal auf den Klingelknopf, dieses Mal länger und drängender.
Kate kam der plötzliche Gedanke, dass Claire dadurch, dass sie nun auf Frontalangriff setzte, so ihre Misere mit Gabe kompensiert. Schließlich musste sie ihren Frust und ihre momentane Streitsucht ja an irgendwem auslassen und da kam ihr Rachel wahrscheinlich gerade recht.
Kate fühlte sich unbehaglich. Auch, wenn Rachel genau unsympathisch fand, wollte sie doch nicht, dass Claire sich ihrer "annahm", wie diese selbst es ausdrückte.
Bevor sie ihre Überlegungen jedoch weiter vertiefen konnte, wurde die Tür schwungvoll aufgerissen und ein rothaariger, schlaksiger Junge mit Sommersprossen auf der Nase, starrte die beiden Mädchen einen Augenblick lang emotionslos an. Claire starrte erbarmungslos mit demselben, regungslosen Ausdruck zurück, während Kare sich zwang, ihn tapfer anzulächeln.
"Äh, hallo...", sagte sie vorsichtig, als der Junge noch immer weder ein Wort von sich gegeben, noch die Zwei hereingebeten hatte. "Ist eh, Dave da?"
Dumme Frage. Die Musik und der Lärm waren ein unverkennbares Anzeichen dafür, dass die Party bereits in vollem Gange war.
Der sommersprossige Dreikäsehoch verdünnisierte sich und ließ die Mädchen einfach vor der offenen Tür stehen. Claire und Kate wechselten einen skeptischen Blick, aber da tauchte schon das Geburtstagskind auf der Bildfläche auf und fiel, ehe sie sich versah, Kate um den Hals.
Mit vor Schreck offenem Mund ließ sie die Prozedur - Tortur - über sich ergehen, während Claire ihr hinter Dave's Rücken frech zugrinste, einen Daumen nach oben streckte und David sie einen Moment länger als nötig in seiner Umarmung hielt. Das fing ja gut an!
Schließlich ließ er doch los und begrüßte sie und Claire, wobei es den Mädchen auffiel, dass er bereits leicht schielte und seine Augen hektisch hin und her huschten, nicht fähig, eine einzelte Person über einen längeren Zeitraum hinweg fest zu fixieren.
Er lotste sie in die Diele hinein, wo sie ihre Jacken einen großen Berg voller bunter Anderer ablegten, weil die Garderobe bereits brechend voll war.
"Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag." Mit diesen Worten drückte Claire dem braunlockigen Jungen eine Geschenktüte in die linke und griff nach seiner rechten Hand, um sie zu schütteln.
"Danke, danke." Überschwänglich schüttelte Dave Claire's Hand und schien sie gar nicht mehr loslassen zu wollen, während er einen Punkt überhalb ihrer rechten Augenbraue strahlend angrinste.
"Ich hole euch etwas zu trinken", bot er eifrig an, nachdem auch Kate ihre Glückwünsche losgeworden war. "Bin gleich wieder da." Er verschwand im Wohnzimmer und die Mädchen beschlossen, ihm zu folgen.

Beim Betreten des Zimmers schlug ihnen eine stinkende Wolke aus Dunst und Alkohol entgegen. Der Raum schien für die Menge an Leuten, die sich darin befanden, fast schon zu eng zu sein. Ein paar Jungs saßen auf der Couch, vor ihnen auf dem Couchtisch standen unzählige geöffnete Flaschen Bier und noch diverse andere, bestimmt keine alkoholfreien Getränke.
Auf einem, zum Sofa passenden, Sessel schienen zwei Personen weiblichen und männlichen Geschlechts, ineinander verworren und knutschten heftig herum, während der Typ, auf dessen Schoß das Mädchen saß, seine Hand alles andere als unauffällig auf ihrem Hintern platziert hatte.
Ein Grüppchen Kerle stand um die Musikanlage herum und diskutierte heftig und einige Mädels, nur wenige Meter weiter, warfen diversen männlichen Kandidaten interessierte bis begierige Blicke zu, tuschelten untereinander und kicherten. Ansonsten rannten ständig irgendwelche Leute im Zimmer herum, verschwanden durch eine Tür raus und andere kamen durch dieselbe wieder herein, mit neuen Flaschen Bier in den Händen. Dort musste also die Küche sein.
"Sie sind noch nicht da", raunte Claire Kate zu und brachte diese dadurch zurück ins Hier und Jetzt.
"Oh Gott." Kate schnappte nach Luft, die dringend nötig war. "Ich weiß schon, wieso ich nicht so gern auf Parties gehe." Sie warf Claire einen beschuldigenden Blick zu, den diese geflissentlich ignorierte.
"Hmmm..." Claire taxierte einen Schwarzhaarigen jungen Mann, der aus der Küche kam und zielstrebig durch den Raum schritt, bis er bei seinen Freunden ankam. "Lauter zukünftige Ärzte hier, was?" Sie grinste anzüglich. "Such dir einen aus, Kate, solange du die Gelegenheit dazu hast."
Die Angesprochene verdrehte die Augen. "Danke für den Ratschlag, mal sehen, was sich machen lässt", erwiderte sie trocken, als ihr in diesem Moment der Junge mit den Sommersprossen auffiel, der ihnen die Tür geöffnet hatte.
Er saß im Schneidersitz auf der gepolsterten Bank in der Fensternische und starrte Claire und sie immer noch ausdruckslos an, ohne auch nur einmal zu blinzeln.
Kate wandte sich schnell ab und befand, dass der Junge - er war vielleicht so um die 14 Jahre alt, wie sie schätzte - ihr unheimlich war und fragte sich gleichzeitig, warum so ein Kind auf so einer Feier dabei sein durfte.
Ihre Aufmerksamkeit wurde wieder von Claire abgelenkt, die sie am Ärmel zupfte und ihr bedeutete, ihr zu folgen. Beide bahnten sich einen Weg durch die Menge und blieben schließlich am Bücherregal stehen, inmitten all der schnatternden und lachenden Grüppchen.
Sofort besah sich Kate die Bücher an, doch Claire packte sie an der Schulter und drehte sie verärgert zu sich hin.
"Jetzt lass doch mal. Du bist nicht zum Lesen hier", wies sie sie zurecht und schaute sich prüfend um. "Der Plan sieht so aus..."
"Plan?", unterbrach Kate verwirrt. "Was für ein Plan?"
"Lass mich ausreden!" Claire sah ihre Freundin gereizt an. Das Lied wechselte.
"Dave scheint schon betrunken zu sein, also sollte er das geringste Problem darstellen."
Jetzt, wo Claire es erwähnte, fiel Kate auf, dass David gar nicht mehr mit den Getränken, die er für sie holen wollte, wieder aufgetaucht war. Erleichtert stellte sie fest, dass er, mit zwei Gläsern in beiden Händen, bei ein paar Mädchen stand und sich mit ihnen zu unterhalten schien. Er hatte sie bereits vergessen!
"Und weiter?", wollte sie von Claire wissen. Wenn der Plan beinhaltete, dass sie sich von Dave fernhalten sollte, wie schlecht konnte er dann sein?
"Und weiter schnappst du dir einen schmucken Kerl und verlebst mit ihm eine heiße Nacht." Sie kicherte, als sie Kate's entsetztes Gesicht sah. "Reg doch nicht auf, war nur Spaß." Claire lächelte entspannt, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit dem Rücken an das Regal, während sie ihren Blick im Raum schweifen ließ.

"Da, schau", wisperte Claire und deutete mit einem vagen Kopfnicken in Richtung Küche. Kate folgte dem Wink und erblickte die mehr als nur freizügig gekleidete Rachel. Ihr Top hatte einen enorm weiten Ausschnitt und entblößte darüber hinaus auch viel Bauch. Das knappe Röckchen und ihre schwarzen Stiefel trugen nicht gerade zur Verbesserung des Anblicks bei.
"So viel Selbstbewusstsein will ich auch haben, dass ich so was tragen kann, ohne rot zu werden", murmelte Kate abwesend, nicht so sicher, ob die Bewunderung für Rachel's Selbstsicherheit überwiegen sollte oder doch eher die Verachtung.
"Glaub mir, das willst du sicher nicht." Claire streifte Rachel mit einem "von oben herab"-Blick. Dass bei ihrer Beurteilung die Verachtung klar hervorstach, war nicht zu verkennen.
"Wie schrecklich", fuhr sie weiter fort und nippte an ihrem Lemon-Water, das sie sich in der Zwischenzeit geholt hatte. "Sie ist zweifellos eine von diesen 'für eine Nacht'-Tussen, mit denen sonst nichts anzufangen ist."
"Das weißt du doch gar nicht", verteidigte Kate Jake's Schwarm widerwillig fragte sich noch in selben Moment, was das sollte. Sie mochte Rachel doch ebenfalls nicht, empfand es aber als ihre Pflicht, Claire darauf hinzuweisen, keine allzu vorschnellen Schlüsse zu ziehen. Immerhin kannten sie Rachel ja wirklich nicht gut.
Claire warf ihr einen empörten Blick zu. "Also wirklich Kate. Ich bin auf deiner Seite, aber auf wessen Seite bist DU?"
Kate seufzte. "Du weißt schon, was ich meine. Vielleicht ist sie ja... ganz nett...", erwiderte sie zaghaft und nicht sehr überzeugend, wobei sie sich die letzten zwei Worte regelrecht herauswürgen musste. Das glaubte sie jawohl selbst nicht!
"Genau. Und treu und schüchtern." Claire lachte trocken. "Und Schweine fliegen."
"Man sollte nie zu schnell urteilen", beharrte Kate dennoch, obwohl sie insgeheim ahnte, dass Claire womöglich Recht haben könnte. Schüchtern war Rachel wirklich nicht... und was die Treue anging... so hatte sie von Jake so einiges aufgeschnappt, allerdings hatte Rachel auch mit keinem Einzigen ihrer Dates - und es waren wirklich eine Menge gewesen - etwas Ernstes angefangen.
Als ob sie ahnte, dass über sie geredet wurde, drehte Rachel sich just in dem Augenblick um und warf den Beiden einen verächtlichen Blick zu.
Kate wandte den Ihren schnell ab, doch Claire hielt stand und musterte Rachel ebenso abfällig von oben bis unten, wie dieses es auch tat.
Daraufhin lächelte Claire Kate zu. "Wenn Blicke töten könnten", bemerkte sie fröhlich, von Rachel's bohrenden Blicken kein bisschen eingeschüchtert, ja, sogar durch diese noch mehr angestachelt, ganz anders als Kate. "Ich frag mich bloß, was sie gegen dich hat." Mit einem unschuldigen, ratlosen Schulterzucken nahm sie einen Schluck aus ihrem Glas.
"Wieso mich?", wollte Kate alarmiert wissen. "Du hast sie letztes Mal wie einen Depp dastehen lassen."
Bei der Erinnerung musste Claire voller unverhohlener Schadenfreude grinsen.
"Hey", winkte sie arglos ab. "Ich bin nur dein Handlanger."
Kate knurrte unerfreut. "Ein selbsternannter Handlanger."
Bevor sie die Diskussion weiter ausführen konnten, ertönte die Türklingel.
Der Sommersprossenjunge fuhr blitzschnell auf und raste quer durch das Zimmer zur Haustür.
Seelenruhig schaute sich Claire, mit ihren Gedanken schon woanders, im Raum um und taxierte den ein oder anderen männlichen Gast.
Es war Kate, die desinteressiert zur Tür blickte, als vier weitere Gäste eintraten.
Erschrocken musste sie gleich ein zweites Mal hinsehen und verschluckte sich fast an ihrem Wasser. Es waren nicht vier neue Gäste, es waren drei und der Vierte war der rothaarige Junge. Doch das war es nicht, was sie so erschreckt hatte. Jake war gekommen... mit zwei seiner Freunde im Gepäck. Einer davon war Gabe.
Das ganze Szenario kam ihr unangenehm bekannt vor, es war so, als hätte sie ein Déja-vu, nur, dass das erste Erlebnis wirklich stattgefunden hatte und sie sich haargenau daran erinnern konnte.
"Claire!", japste sie aufgeregt und zupfte ungeduldig an deren Ärmel, bis sie sich endlich zu Kate umdrehte. Gespannt beobachtete Kate die drei neu Hinzugekommenen und stellte erleichtert fest, dass weder Jake noch Gabe bisher auf die Mädchen aufmerksam geworden waren. Sie gratulierten Dave und dieser machte eine vage Handbewegung, woraufhin die drei Jungs höflich lächelten. Der Dritte im Bunde war ein segelohriger Schwarzhaariger, den Kate schon einmal in dem sagenumwogenen Pub kennen gelernt hatte, aber sein Name wollt ihr einfach nicht mehr einfallen.
Nervös knabberte sie an ihrer Unterlippe. Gabe hatte vielleicht Nerven, hier aufzutauchen! Andererseits aber hatte sie doch gar nicht vorgehabt, auf den Geburtstag zu gehen und Jake hatte sie auch nichts gesagt, wie also konnte er wissen, dass sie und Claire heute hier anwesend sein würden?
Claire folgte Kate's besorgten Blick und hielt ebenfalls inne, doch anstatt, dass Kate's Unruhe auf sie abfärbte, blieb sie ruhig und kühl wie immer.
"Mhhm...", machte sie nachdenklich, während sie an ihrem Lemon-Water nippte.
Kate zwang sich, ihren panischen Blick von den Jungs abzuwenden. "Ich habe doch gleich gesagt, hierher zu kommen war 'ne schlechte Idee!", zischte sie verstimmt, doch ihre Freundin zuckte nur die Achseln, Jake und Gabe immer noch fest fixierend. In ihren Augen funkelte es wieder angriffslustig, als sie sich mit einem geheimnisvollen, kleinen Lächeln zu Kate umdrehte.
"Nein, nein", erwiderte sie verschmitzt. "Das erhöht nur den Schwierigkeitsgrad."
Fassungslos starrte Kate sie an, bis ihr klar wurde, dass Claire es absolut ernst meinte.


"Hallo Kate..." Gabe zögerte kurz. Er sah doch tatsächlich leicht verlegen aus.
"Hi Claire", tastete er sich vorsichtig heran. Er hatte noch immer die letzte Begegnung mit ihr im Kopf und die Standpauke, die Kate ihm gehalten hatte. Aber diesmal traf ihre Anwesenheit ihn ganz unvorbereitet. Genau so, wie das nächste, was passierte.
"Hi Gabe." Claire nickte ihm kurz geschäftig zu und beachtete ihn nicht weiter, aber allein, dass sie schon mit ihm redete brachte beide, Kate und auch Gabe, ziemlich aus dem Konzept. Sie wechselten einen überraschten Blick, während Jake schon dabei war, sich um den Verstand zu plappern.
"Ich wusste gar nicht, dass ihr auch kommt. Du hast doch gesagt, du wolltest nicht." Das war an Kate gerichtet und diese zuckte nur unmotiviert die Schultern und trank noch etwas aus ihrem Glas, um darauf nicht antworten zu müssen. Doch zum Glück bestand er nicht auf einer Antwort und redete schon weiter.
"Ich hatte es auch ganz vergessen, Gabe war ja zu Besuch... Aber dann hat Dave angerufen um seine Adresse durchzusagen und na ja... so hat sich das halt ergeben", erzählte er munter weiter, ohne, dass jemand danach gefragt hatte oder ihm tatsächlich zuhörte.
"Sag mal, Jake..." Claire schaute sich nachdenklich um. "Diese ganzen Typen, kennst du die alle?" Sie schwenkte vage mit ihrem fast leeren Glas in den Raum hinein.
"Äh, ja, die meisten sind aus meinem Studium", antwortete Jake unbeirrt und blinzelte verwirrt, als Claire ihn daraufhin lauernd anlächelte.
"Wirklich?", wollte sie wissen und machte einen Schritt auf ihn zu, sodass sie nun schräg neben ihm stand. "Willst du sie mir nicht vorstellen?"
"Wenn du möchtest...", erwiderte er zögerlich und warf Gabe einen ratlosen, hilfesuchenden Blick zu, doch dieser deutete nur freundlich eine Kopfbewegung an, die soviel sagte wie "nur zu".
Ohne auf den heimlichen Austausch zu achten, hakte sich Claire bei Jake ein und zog ihn mit sich fort zu dem Esten ihrer auserkorenen Ziele.
Kate verzog das Gesicht ob dem Verhalten ihrer Freundin. Auf lange Sicht gesehen konnte diese Methode doch nicht ewig fruchten, aber sie ahnte schon, dass Claire damit mehr bezweckte, als sich nur von Gabe fernzuhalten und ihn gegebenenfalls zu triezen. Sie hielt so ganz nebenbei auch Jake von Rachel fern.
"Das könnte ja interessant werden...", murmelte Gabe abwesend, während er Claire's Rückansicht bewunderte, die sich von ihm entfernte. Dann wandte er sich ab und widmete sch Kate.
"Ich schätze, du bist wohl auch nicht ganz freiwillig hier, hm?" Er lachte kurz auf. "Hat sie dich hergezwungen?"
Kate seufzte. "Ja. Du auch nicht?"
"Mir blieb nichts anderes übrig. Außerdem hatten wir sowieso nichts zu tun..." Bei diesen Worten zog er ein gelangweiltes Gesicht, das ziemlich schnell einem frohen Grinsen wich. "Aber ganz offensichtlich hat es sich gelohnt."
"Für dich vielleicht." Kate rümpfte abfällig die Nase und mit ihren nächsten Worten brachte sie Gabe zum Lachen. "Ich kann nicht gerade behaupten, mir macht das hier viel Spaß."
"So siehst du auch nicht aus", gab er belustigt zu und nickte dann mit dem Kopf in Richtung Fensternische, wo sich der rothaarige Junge wieder breit gemacht hatte und das Gewusel um sich herum stumm beobachtete. "Wollen wir uns setzen?"
Kate folgte ihm zum Fenster und ließ sich neben Gabe nieder. Der Junge machte sofort Platz, sprang auf und starrte Kate sekundenlang genauso ausdruckslos an, wie vorhin an der Tür. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie bis jetzt noch keinen anderen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen.
"Hast du 'nen Freund?", fragte er unvermittelt, sie immer noch anstierend.
Neben ihr gluckste Gabe vergnügt, während sie den kleinen Jungen irritiert anschaute.
"Bist du nicht noch ein bisschen zu kurz gewachsen für so eine Frage?" Kate hob zweifelnd die Augenbrauen und wusste nicht so recht, was das sollte.
Der Junge zuckte nur gleichgültig die Schultern und trottete gemächlich davon, nur, um sich am anderen Ende des Raumes auf einen Stuhl zu platzieren und wieder in die Menge zu glotzen.
Verunsichert wandte sich Kate zu Gabe um, der belustigt den Kopf schüttelte.
"Früh übt sich, was sich werden will", scherzte er und zwinkerte Kate zu.
"Du sagst es", erwiderte sie grimmig. "Der Junge ist sowieso seltsam. Was macht er überhaupt hier und zu wem gehört er?"
Gabe grinste. "Ich glaube, das ist Dave's jüngerer Bruder... Er hat irgendwas davon erwähnt, dass seine Eltern das Wochenende über nicht da sind. Wahrscheinlich muss er auf ihn aufpassen oder so was..."
Kate verdrehte die Augen und schnaubte leise. "Das nennt ihr Männer also 'aufpassen'?"
"Hey, zieh mich da nicht mit rein!" Gabe hob abwehrend die Hände und grinste.
"Ist doch wahr..." Mürrisch schaute Kate sich um und erblickte Claire, die, den scheinbar willenlosen Jake hinter sich herzerrend, auf sie zukam.
Sie parkte ihn vor Gabe und quetschte sich zwischen Kate und die Wand.
"Siehst du den blonden Schnuckel dort hinten?", raunte sie ihrer Freundin leise zu und schaute in die Richtung einer Gruppe von Medizinstudenten, die merkwürdigerweise alle blonde Haare in verschiedenen Abstufungen hatten.
"Äh... ja?", versuchte Kate es unsicher.
"Und, was sagst du?" Claire strahlte ihre Freundin erwartungsvoll an. Diese jedoch zuckte nur ratlos die Schultern, da sie immer noch nicht wusste, welchen von den Dreien Claire genau meinte.
"Sieht nett aus...", sagte sie vage, in der Annahme, Claire hätte sich einen von denen ausgeguckt, um Gabe ein bisschen zu ärgern.
"Ja? Soll ich ihn dir vorstellen?" Sie grinste anzüglich. "Sein Name ist Ben, er stu..."
"Nein, danke", unterbrach Kate gereizt. "Lass gut sein."


Irgendwann im Laufe des Abend hatten sich Kate und Claire in die Küche verzogen, wo sich die Gäste zu ihrem Glück nur wenige Augenblicke lang aufhielten. Genauer gesagt, nur so lange, bis sie sich ihr Bier aus dem Kühlschrank genommen hatten. Claire hatte Jake mitgeschleift, also war auch Gabe hinterhergetrottet, der von ihr immer noch erbarmungslos ignoriert wurde. Statt seine Nähe zu meiden, tat sie jetzt einfach so, als sei er gar nicht anwesend.
Kate ging das Ganze ein wenig auf die Nerven, aber sie war an diesem Abend sowieso schon zu schlecht gelaunt, um sich über diese Kleinigkeit zu beschweren. Beschwerden halfen bei Claire leider nicht weiter, sie machte ja ohnehin nur das, was sie wollte.
Erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl am Küchentisch nieder, legte ihre Brille ab und massierte sich kurz die Schläfen. Im Wohnraum wurde stark geraucht und ihre Augen tränten schon. Ein Glück, dass sie ihre Brille mitgenommen hatte. Darüber hinaus, dass sie so nicht sofort Augenschmerzen bekam, schützen die Gläser ihre Augen auch vor dem aggressiven Rauch.
Die Küche hingegen war wie ein Frischlufttempel - obwohl es mit der frischen Luft hier drin auch nicht weit her sein konnte, aber verglichen mit dem Wohnzimmer war alles besser.
Verdrießlich sah ihr Claire dabei zu, wie sie ihre Brille auf den Tisch legt und sich auf dem Stuhl zurücklehnte. Sie war gegen die Brille gewesen, aber Kate hatte nicht mit sich reden lassen. Wenn Claire sie schon zu einem Event schleppte, zu dem sie gar nicht gehen wollte, dann war es ihr gutes Recht, wenigstens ihre Brille mitzunehmen. Sie hatte schon so etwas geahnt... Und Kopfschmerzen hatte sie in letzter Zeit auch gehabt. Wenn ihr Augenarzt das wüsste, dachte Kate mit schlechtem Gewissen, das noch größer wurde, als ihr einfiel, wie lange sie einen Arztbesuch bei ihm schon aufschob.
"Oh man, ist die Party lahm", beschwerte sich ihre beste Freundin und fuhr sich mit der Hand über die Haare. "Und die Gesellschaft lässt auch zu wünschen übrig." Sie warf Gabe einen vielsagenden Blick zu, von dem dieser sich jedoch nicht stören ließ. Ganz im Gegenteil, er grinste seine Ex-Freundin nur schelmisch an.
"Ich für meinen Teil finde die Gesellschaft ganz reizend", schmeichelte er ihr bedeutungsvoll, doch sie wandte sich hochmütig von ihm ab, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Jake fischte sich aus dem Kühlschrank zwei Flaschen Bier und schob eine davon Gabe hin. Besorgt stellte Kate fest, dass ihr bester Freund an diesem Abend ziemlich viel trank, und auch sehr viel durcheinander. Es war sein drittes Bier, aber davor hatte er schon diverse gemischte, alkoholhaltige Getränke heruntergekippt, meist in einem Zug, und so richtig gut sah er auch nicht mehr aus. Ein seliges, entrücktes Lächeln schmückte sein Gesicht und er sah sogar noch argloser aus als schon im Normalfall.
Das, und der glasige Ausdruck in seinen Augen, waren die einzigen Anzeichen seines Rausches.
Kate kannte das schon - Jake sprach und benahm sich zwar meist unauffällig, wenn er einen über den Durst getrunken hatte, aber wenn er diesen weltabgewandten, versonnenen Ausdruck hatte, war klar, dass etwas nicht stimmte. Spätestens, wenn er anfing, irgendeinen Unsinn daherzureden, wusste man es ganz sicher: Jake war betrunken.
Kate wechselte einen kritischen Blick mit Gabe, der nachdenklich an seiner Flasche nippte – gerade mal seine Zweite.
Als Jake sich kurz auf die Toilette verdrückte, war es allerdings Claire, die Jake's übermäßigen Alkoholkonsum diesen Abend ansprach.
"Was soll das denn werden, wenn's fertig ist?" Missbilligend hob sie die Augenbrauen und blickte Kate fragend an, als sei es ihre Idee gewesne, Jake bis oben hin abzufüllen.
Gabe, der sich mittlerweile an sein Luft-Dasein gewöhnt hatte, antwortete statt Kate. "Er ist nur ein bisschen nervös..."
"Ah", unterbrach Claire und wandte sich nun zum ersten Mal direkt an ihren Ex-Freund. "Und ich dachte, das sei wieder eine von diesen 'ich muss mich rar machen'-Strategien."
Gabe schien überrascht und blickte sie verdutzt an, doch Claire hielt mit ihrem herausfordernden Blick den Seinen gefangen.
"Nein", sagte er dann schließlich langsam und versuchte, sich ein Grinsen zu verkneifen. "Nicht ganz. Diese hier nennt sich 'ich-trinke-bis-ich-umkippe'-Strategie."
Kate schmunzelte. Ganz offensichtlich hatte Claire eine andere Art gefunden, sich mit Gabe auseinander zu setzen und sie musste zugeben, diese hier war viel unterhaltsamer und zudem bestimmt noch gesünder für Claire selbst, als sich in Schweigen zu hüllen.
"Das zeugt natürlich von hoher Intelligenz", spottete Claire, verschränkte die Arme vor der Brust und spätestens jetzt grinste Gabe über beide Ohren. Ganz offensichtlich gefiel ihm das kleine Wortgefecht und auch Kate musste zugeben, dass es sie sehr an früher erinnerte. An die Anfänge, als Claire Gabe noch nicht ausstehen konnte - oder es zumindest behauptet hatte.
"Ich mach mir trotzdem Sorgen", warf Kate kurz unruhig in die Runde. "Bist du sicher, ihr kommt heil nach Hause?" Diese Worte waren an Gabe gerichtet.
"Na klar. Verlass dich auf mich." Ziemlich selbstsicher deutete er mir dem Daumen auf seinen eigene Brust und nickte überzeugt.
"Seit wann kann man das denn?", hakte Claire spitz nach. Scheinbar hatte sie sich zum Ziel gemacht, Gabe in jeder Art von Konversation auf seine Unzulänglichkeiten hinzuweisen. Kate ahnte, dass sie damit auf seine Abreise anspielte, von der er ihr gegenüber kein einziges Wort hat verlauten lassen.
Anscheinend wusste auch Gabriel das. Er musterte sie forschend, ernst und sie hielt seinem Blick locker stand, das Gesicht wie eine harte Mauer aus Stein, doch ihre grünen Augen sprühten herausfordernd und sprachen Bände.
In der Küche herrschte plötzlich angespanntes Schweigen und Kate hatte das Gefühl, sich ganz klein machen zu müssen, doch gerade, als Gabe zu einer Antwort ansetzte, schwang die Tür auf, die Geräusche aus dem Wohnzimmer drangen herein, die Musik wurde lauter und Jake spazierte munter in die Küche.
Erleichtert ließ Kate die Schultern sinken und atmete durch, Claire wandte sich sofort von Gabe ab, nur dieser stand ein bisschen ratlos und verloren in der Gegend herum.
"Bin wieder daahaa", flötete Jake im Singsang und drängelte sich an Claire vorbei, um sich auf seinen Stuhl zu setzen. Was vielleicht auch besser so war, denn seine Augen huschten schon ruhelos in der Gegend herum und sein Kopf wankte leicht hin und her, während er sich immer wieder mal verwirrt in der Küche umschaute.
Bevor irgendjemand etwas darauf erwidert konnte, stand auch schon der Sommersprossenjunge in der Tür und starrte mit seinem typischen Gesichtsausdruck Claire regungslos an. Die starrte wieder genauso regungslos zurück.
"Hast du 'nen Freund?", wiederholte er dieselbe Leier wie vorhin bei Kate und klang bei dieser Frage äußerst gelangweilt.
Einen Moment lang schien Claire etwas irritiert, doch dann grinste sie belustigt.
"Nein. Die Stelle ist noch frei." Sie musterte ihn kurz vergnügt. "Möchtest du sie haben?"
Abrupt fiel dem Jungen die Kinnlade runter und seine Augen wurden ganz groß. Er starrte die Blonde immer noch an, jedoch nicht einmal halb so gleichgültig wie noch einen Augenblick zuvor. Vielmehr war er ziemlich entgeistert und ihm fehlen ganz offensichtlich die Worte.
Bei seinem Anblick lachte Claire leise. "Komm in fünf Jahren wieder, vielleicht steh ich dann ja auf jüngere Männer. Soll’s ja geben." Sie zwinkerte ihm charmant lächelnd zu und wandte sich ab, während sie sich sachte eine Strähne ihres gewellten Haars aus dem Gesicht strich.
Oh ja, ging es Kate durch den Kopf. Claire wusste ganz genau, was sie da tat. Sie und Gabe waren würdige Gegner in diesem Spiel - denn etwas anderes schien es nicht zu sein.
Jake schaute neugierig von Claire zu Dave's kleinem Bruder und wieder zurück. Während dieser - immer noch davon fasziniert, dass eine so hübsche und ältere Frau mit ihm geflirtet hatte - sich aus der Küche trollte, formulierte er seine Bedenken.
"Denkst du wirklich, Claire, dass du später mal auf Jüngere stehen wirst?", fragte er vollkommen ernst.
Sie verdrehte fassungslos die Augen. "Klar. Was denkst du denn?", erwiderte sie trocken, doch Jake, in seiner Betrunkenheit, störte sich nicht dran.
"Und glaubst du, Darren ist der Richtige für dich?", schob er zweifelnd hinterher.
"Darren?"
"Dave's Bruder."
Sekundenlang starrte Claire Jake an, unschlüssig, was sie von ihm halten sollte. Dann wandte sie sich an Kate, ihn einfach übergehend. "Fangen deren Kinder alle mit dem Buchstaben 'D' an?", wollte sie wissen.
"Dave's Schwester heißt Diana", plapperte Jake schon wieder munter dazwischen. "Nach der Prinzessin." Als niemand darauf antwortete, ergänzte er: "Ihr wisst schon, die bei dem Autounfall gestorben ist, vor zehn Jahren. Sie wird jetzt übrigens bald zehn."
"Die Prinzessin?", witzelte Gabe, um die kühle Atmosphäre ein bisschen aufzulockern.
"Nee. Diana", erklärte Jake geduldig, kam aber selbst langsam durcheinander. "Die Schwester." Er kratze sich ratlos am Hinterkopf, als überlegte er selbst noch einmal, ob das Gesagte auch wirklich stimmte.
Eine eingeschworene Gruppe betrat die Küche, warf dem seltsamen Haufen, der sie waren, ein paar verständnislose Blicke zu und wuselte wieder nach einem Griff in den Kühlschrank heraus.
Nur Eine blieb.
"Jay-coooub", säuselte die Schwarzhaarige in gespielter Überraschung und kam näher. "Du hast mir ja noch gar nicht Hallo gesagt heute."
Sie klimperte mit den Wimpern und lächelte ihn hingerissen an. Doch Jake blickte sie an, als sähe er durch sie hindurch, was zweifelsohne seinem Zustand zu verdanken war.
"Rach, hey", nuschelte er und betrachtete äußerst interessiert die Tischplatte, sich streng an seine Strategie haltend, gerade, als Claire ganz leise "Unfassbar" murmelte, was mit hundertprozentiger Sicherheit auf Rachel gemünzt war.
Nicht gerade erfreut über Jake's lahme Begrüßung - sie hatte wohl mehr erwartet - warf sie einen Blick in die Runde und erkannte, mit wem sie es hier zu tun hatte: Kate kannte sie schon und Claire und Gabe hatte sie neuerdings ja auch schon kennen gelernt und das nicht unter allzu glücklichen Umständen.
Kate registrierte den Unwillen und die Missbilligung in ihrem Blick, als sie von Rachel gemustert wurde. Diese hatte eindeutig erkannt, dass sie, Kate, hier das angreifbarste Glied der Kette war.
Rachel stützte sich auf dem Tisch ab und setzte ihr bestes künstliches Lächeln auf. "Schön, dich noch mal zu sehen, Kathleen."
Kate war sich absolut sicher, dass Rachel sich sehr wohl an ihren Namen erinnern konnte, sie aber nur ärgern wollte.
"Katie", verbesserte Jake automatisch und Rachel lächelte weiter durch ihre zusammengepressten Zähne.
"Katie, also." Aus ihrem Mund klang ihr Name extrem eigenartig, sodass sich ihr die Nackenhärchen aufstellte. Sie wollte nicht, dass Rachel sie so vertraut ansprach. Es klang einfach falsch und... schmutzig.
"Ich geh dann mal wieder rein." Sie ließ eine Reihe perfekter Zähen aufblitzen und sah dann Jake an, der es nun tatsächlich gewagt hatte, einen kurzen Blick auf Rachel zu werfen. "Vielleicht kommst du nachher auch noch rüber? Wir haben uns ja schon so lange nicht mehr gesehen."
Sie erhob sich genauso langsam, wie Jake im Zeitlupentempo die Kinnlade herunterkippte, und wischte dabei mit einer unachtsamen Bewegung Kate’s Brille vom Tisch, die klirrend auf den Bodenfließen aufkam.
"Oh nein!", rief Rachel affektiert aus. "Das tut mir aber leid. Ist das etwa deine?"
Claire und Gabe standen fassungslos jeder an einem Ende des Tisches und starrten Rachel an, die einen gekünstelten, bestürzten Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte, während Kate erschrocken aufsprang, um die Einzelteile ihrer einstigen Brille aufzusammeln. Obwohl sie vor Wut kochen sollte - es war klar, dass diese Aktion nicht von ungefähr kam - fühlte sie sich einfach nur hilflos und niedergetrampelt. Die Tatsache, dass sie auf dem Boden hockte, während Rachel sich in voller Größe vor ihr aufgebaut hatte, ohne auch nur einmal daran zu denken, ihr zu helfen, machte es auch nicht besser.
"Katie, deine Brille", stellte Jake treffsicher, doch nicht ganz so allgegenwärtig, fest und deutete gen Boden, doch niemand beachtete ihn.
"Die war doch sowieso schon alt, oder?", gurrte Rachel. "Sah jedenfalls so aus. Na ja, mach dir keine Gedanken. Ruf einfach an, ich bezahl's, wenn's nötig ist." Sie schwang ihr Haare zurück und stolzierte aus der Küche.

"Ich fass es nicht", knurrte Claire, die Hände zu Fäusten geballt. "Wieso lässt du dir das bloß gefallen? Diese Hexe! 'Ruf einfach an'", äffte sie Rachel's geschraubten Tonfall nach. "Das hätte die blöde Kuh wohl gerne!" So außer sich hatte Kate Claire selten erlebt und sie musste fast ein bisschen über ihre beste Freundin lächeln.
"'Die war sowieso schon alt, oder?'", machte sie weiter. "Du hättest sagen müssen: 'und sieht trotzdem noch nicht so alt aus wie dein seniler Hintern!"
"Sie ist genauso alt wie wir", warf Gabe kleinlaut ein, doch Claire brachte ihn mit nur einem einzigen Blick zum Schweigen.
"Sieht aber eher aus wie eine über Jahre hinweg praktizierende Nu..."
"Claire!!", unterbrach Kate entrüstet. "Das reicht jetzt. Ich muss sowieso wieder mal zum Augenarzt..."
Claire gab ein fauchendes Geräusch von sich. Sie tobte vor Wut. "Und du nimmst das einfach so hin, wie immer!" Sie deutete anklagend auf Kate, die verzweifelt die kläglichen Überreste ihrer Brillengläser in den Händen hielt, als seien diese ein Schatz.
"Jetzt lass gut sein", beschwichtigte Gabe seine Ex-Freundin, nachdem er Kate einen Blick zugeworfen hatte. Wieder darum bemüht, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen trat er neben Claire und platzierte - in dem sicheren Wissen, dass dies nicht toleriert werden würde - seinen Arm auf ihrer Schulter.
"Wollen wir ein Tänzchen wagen?", grinste er sie an und wurde sogleich mit einem kritischen Blick bestraft. Langsam nahm Claire seinen Arm und entledigte sich dessen.
"Du bist wohl lebensmüde", knurrte sie gefährlich. "Noch so eine Aktion und du bist deinen Arm los."
Gabe tat auf Unschuldig. "Und das Tänzchen?"
"Wüsste nicht, seit wann du tanzen könntest", erwiderte sie kühl. "Mit so was wie dir lass ich mich doch nicht auf der Tanzfläche blicken."
Sprach's und verschwand im Wohnzimmer. Durch die Tür waren noch blitzende Lichter und eine herumtollende Menge aus Armen und Beinen erkennbar, bevor sie wieder zuging.
Gabe grinste anerkennend. "Autsch. Sie ist wirklich gut." Er zwinkerte Kate, die mittlerweile die Splitter in einem großen Müllsack, der extra für die Partygäste an der Wand lehnte, entsorgt hatte, zu und folgte Claire, ließ Kate mit Jake allein, der die ganze Zeit über still dagesessen und Claire angestarrt hatte.
"Ich glaube", sagte er nachdenklich und platzierte seinen Ellbogen auf dem Tisch, um seinen Kopf abzustützen, "sie mag Rachel nicht."
Kate schwieg beharrlich, hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, Jake mit einer Pfanne auf den Kopf zu hauen und ihrem schlechten Gewissen, dass er Claire's offensichtliche Abneigung so direkt mitbekommen hatte.
Einen Augenblick lang überlegte sie, was sie jetzt tun sollte. Es erschien ihr das Beste, sich auf den Heimweg zu machen, die Party war sowieso gelaufen - nicht, dass sie für sie jemals angefangen hätte. Aber Gabe und Claire lieferten sich feurige Wortgefechte, mit Jake war auch nichts mehr anzufangen und abgesehen von Rachel, die sie zu hassen schien, kannte sie hier niemanden mehr. Na gut, da war noch Dave und notfalls konnte sie auf seinen kleinen Bruder zurückgreifen... der würde bestimmt eine angenehmere Gesellschaft sein als ihr betäubter Kumpel oder die intrigante Schwarzhaarige.
Plötzlich richtete sich Jake in seinem Stuhl auf und blinzelte sie an.
"Das hat Rachel bestimmt nicht absichtlich gemacht", stellte er fest. "Das war nur ein Zufall..." Seine Stimme versagte und das alles endete in einem herzergreifenden Gähnen.
Kate blickte ihn mitleidig an und er wandte sich wieder seiner besten Freundin zu, nachdem er mit dem Gähnen fertig war.
Wie ein kleiner Junge blickte er sie mit einem fragenden Dackelblick an, wobei er versuchte, sich zu konzentrieren und dabei vor lauter Anstrengung die Nase kräuselte.
"Sie hat's bestimmt nicht böse gemeint. Du glaubst das doch nicht auch, oder?", wollte er zweifelnd wissen und Kate zwang sich zu einem Lächeln. Dieser dumme Junge, der immer nur das Gute in allem sehen wollte, wollte nun von ihr wissen, ob seine intrigante Flamme ein Guter oder ein schlechter Mensch war?
"Nein...", murmelte sie ergeben.
Auf seinem Gesicht zeichnete sich Erleichterung ab. Er seufzte.
"Bin ganz schön müde... Bauarbeiter, weißt du...", nuschelte Jake.
Als er sich lethargisch zurücklehnte und nach einer neuen Flasche grifft, zog Kate ihren Stuhl wieder unter dem Tisch hervor und ließ sich seufzend nieder.
Kapitel 11: Not with your eyes

Nachdenklich beobachtete Kate ihren besten Freund, wie er in einem Zug seine Flasche Bier leerte und diese zur Seite schob. Er grinste ihr betrunken zu.
"Jake", warf Kate stirnrunzelnd ein. "Wieso trinkst du heute eigentlich so viel?"
Jake's Alkoholkonsum an diesem Abend überstieg die Grenzen des Gewöhnlichen und sie machte sich langsam Sorgen. Sonst war er nie sonderlich scharf auf Alkohol gewesen und wusste sich zurückzuhalten.
Ihr Freund schaute sie verwundert an, als liege die Antwort auf der Hand, nur sei sie zu dumm, darauf zu kommen
"Aber Kate", setzte er bedeutend an - fast schon theatralisch, wenn man die Tatsache, dass er es in seinem betrunkenen Kopf wirklich ernst meinte, außer Acht ließ. "Ich muss mir doch Mut antrinken." Er nickte ein paar Mal bestimmt in die Leere.
"Mut antrinken", wiederholte Kate verächtlich. "Mut trinkt man sich nicht an. Entweder man hat ihn oder man hat ihn nicht." Im selben Moment fielen ihr Liz's Worte ein: "Erspar mir die Moralpredigt, Kate." Sie hielt inne, unbehaglich rieb sie ihre Wange mit der Hand. Sie wollte kein Spielverderber, Moralapostel sein, aber aus irgendeinem Grund, den sie zu ahnen begann, missfiel ihr Jake's Äußerung.
Er schaute sie verständnislos an. Ganz sicher hatte er keine Ahnung, wovon sie da eigentlich sprach, zumindest nicht in seinem jetzigen Zustand.
"Mut antrinken wofür?", hakte sie dann misstrauisch nach, um ihren Verdacht bestätigt zu wissen.
Er grinste sie wieder an. "Du hast es doch gehört... sie will, dass ich nachher noch rüberkomme!"
Kate hob eine Augenbraue. "Ich dachte, du wolltest dich rar machen?" In diesem Zustand konnte er doch unmöglich mit Rachel reden - oder mit irgendjemand anderem! Er konnte ja nicht einmal richtig reden!
Jake schien scharf nachzudenken und das, was ihn durch den Kopf ging, bereitete ihm offensichtlich Kopfzerbrechen.
"Du hast Reeheecht!", stellte er erschrocken fest, als habe er es vergessen, und blickte sie an wie eine Erscheinung. "Das hat Gabe auch gesagt!“, erklärte er und gluckste belustigt. "Man, ihr beide seid ECHT gut!"
Kate verdrehte die Augen, während er ihr anerkennend zunickte.
"Also mach ich mich am besten weiter rar, oder?" Er sprach mit keinem Bestimmten und murmelte nur vor sich hin, doch Kate antwortete ihm trotzdem.
"Am besten zu Hause in deinem Bett, wenigstens für heute Nacht."
Wie auf Kommando gähnte Jake genüsslich.
Kate schaute kurz auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass es bereits nach Mitternacht war. Sie war mehr als zwei Stunden länger geblieben, als sie eigentlich vorgehabt hatte - nämlich gar nicht zu bleiben, geschwiegen denn überhaupt her zu kommen. Aber war es möglich, Jake in Gabe's Obhut zu lassen?
Sie stand auf und räumte aus Pflichtbewusstsein die Flaschen vom Tisch, während Jake weiter vor sich hin döste. Als eine Flasche gegen eine andere stieß und es ein klirrendes Geräusch gab, richtete er sich wieder auf.
"Wohin gehst du?", wollte Jake alarmiert wissen, erstaunlich klar im Gesicht.
"Nach Hause", antwortete sie ihm und schob den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, unter den Tisch.
"Ich auch", sagte Jake unvermittelt und sprang auf, musste sich aber kurz am Stuhl festhalten, da er merkte, dass der Alkohol ihm wortwörtlich zu Kopf gestiegen war. "Ich gehe auch nach Hause", wiederholte er noch einmal, während er ausprobierte, inwieweit er gerade stehen konnte, ohne dass das Zimmer sich bewegte.
Kate zögerte einen Moment. "Äh, okay... dann suchen wir jetzt Claire und Gabe und gehen..."
Zusammen mit Jake verließ sie die Küche und blickte sich suchend im Wohnzimmer nach den Beiden um, während Jake zielstrebig zur Garderobe wankte.
Kate erblickte aber nur Claire, die sich gerade in einer zweisamen Unterhaltung mit einem der blonden Typen von vorhin befand. Sie ging hin und tippte ihrer Freundin auf die Schulter, woraufhin diese sich zu ihr umdrehte.
"Ich gehe nach Hause", informierte Kate sie. "Kommst du mit? Und wo ist eigentlich Gabe, ich kann ihn nirgends sehen?" Wie zum Beweis, dass er wirklich verschwunden war, schaute sie sich nochmal ratlos um und hob ahnungslos die Hände. Claire reagierte gereizt.
"Woher soll ich das wissen?", schnappte sie, als wäre es eine persönliche Beleidigung, anzunehmen, sie kümmerte sich großartig um Gabe's Aufenthaltsort. "Er ist eben mit irgendwelchen Kerlen verschwunden", zuckte sie dann gleichgültig die Schultern. "Keine Ahnung, wohin. Bin ja nicht sein Babysitter, wie du vielleicht weißt."
"Ich glaube", schaltete sich der Blondling nun auch ins Gespräch ein, "sie sich zum Mäc ein paar Straßen weiter. Hatten Hunger." Er lächelte freundlich, fast entschuldigend, dass seine Freunde eine Party verließen, um sich etwas zum Essen zu holen.
Kate stöhnte entnervt auf und warf einen Blick in Richtung Flur, wo Jake schon angezogen stand und auf sie wartete, Löcher in die Luft starrend.
Sie seufzte ergeben. "Okay... Ich bring Jake nach Hause und dann komm ich wieder, um Gabe den Schlüssel zu geben. Du bleibst hier und passt schön auf, dass er dir nicht entwischt." Aus der Traum vom nach Hause gehen, aber so würde sie wenigstens die Party verlassen können.
"Das werde ich ganz sicher nicht tun", empörte sich Claire augenblicklich. "Vergiss es." Sie verschränkte die Arme vor der Brust, wie so oft, und sah Kate voller Überzeugung an.
"Wie du willst." Kate tat gleichgültig. "Dann wird Gabe eben bei uns übernachten, weil er nicht in Jake's Wohnung kommt. Wenn es das ist, was du möchtest", schoss sie genauso entschieden zurück und fühlte sich zur Abwechslung endlich mal Claire überlegen, deren Launen sich momentan ganz sicherlich nicht mit Kate’s Missmut vertragen konnten.
"Dein Bett ist ja groß genug." Sie lächelte siegesgewiss und beobachtete mit Genugtuung, wie Claire's Widerstand zu bröckeln begann.
Ihre Freundin ließ die Arme sinken und gab sich geschlagen.
"Okay, gewonnen." Verdrießlich verzog sie das Gesicht.
"Du sollst ihn ja nicht sofort heiraten, sondern ihm nur bescheid sagen, dass ich mit dem Schlüssel wiederkomme, damit er nicht abhaut", beschwichtigte Kate ihre Freundin.
"Danke für den Tipp", brummte Claire griesgrämig und Kate konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Vergiss bloß nicht, wessen Idee es war, hierher zu kommen", erinnerte sie Claire, indem sie noch eins draufsetzte, und kicherte. "So wie es in den Wald hineinruft, so schallt es ja bekanntlich wieder raus."
Sie wandte sich ab, um Claire’s Augenrollen nicht mehr sehen zu müssen, und ging schnellen Schrittes zu Jake, bevor diese ihr noch an die Gurgel springen konnte.
Aus einem Berg von Jacken die Eigene herauszuziehen war fast ein Ding der Unmöglichkeit, doch es gelang Kate und nachdem sie ihre Schuhe angezogen hatte, öffnete sie die Tür, um diesem Haus schnell zu entfliehen.
Draußen war es kalt und es roch nach Schnee, doch es war trocken, was auch gut war, denn ihre Jacke hatte weder eine Kapuze, noch hatten sie einen Regenschirm mitgenommen.

Ohne Umschweife legte Jake in seliger Trunkenheit seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. Kate war zwar ein bisschen verblüfft, aber diente dieses Unterfangen Jake in aller erster Linie dazu, nicht auf offener Straße umzukippen, also ließ sie ihn gewähren.
Und irgendetwas Schönes hatte es ja auch, mit Jake durch die dunkle Nacht zu stiefeln - obwohl die Tatsache, dass er total betrunken war, schon hinderlich sein konnte.
Trotzdem, es war sonst niemand hier und niemand konnte sie sehen und Jake war so wenig bei Verstand, dass sie seine Nähe ruhig heimlich genießen konnte, ohne, dass irgendjemand auch nur den geringsten Verdacht schöpfte.
Sie wusste, dass sie sich damit nur selbst ins Fleisch schnitt, doch sie konnte nicht anders. Irgendetwas vernebelte ihren gesunden Menschenverstand. Ob es sein regelmäßiges Atmen war oder der Duft, der von ihm ausging oder seine Hand auf ihrer Schulter, das konnte sie nicht so genau sagen.
Plötzlich kicherte er leise und Kate schaute argwöhnisch zu ihm auf. Er grinste.
"Weißt du noch, als wir in der achten Klasse auf dem Ausflug waren..."

Eine kleine Ewigkeit war vergangen und sie waren beinahe bei Jake's Zuhause, dem Studentenwohnheim, angelangt. Zu Kate's großer Verwunderung hatte er in all der Zeit kein einziges Mal Rachel erwähnt - sonst sprach er ständig von ihr - sondern ihr lauter Geschichten von früher erzählt. In Erinnerungen schwelgend fiel ihm immer wieder etwas ein, was er preisgeben musste, ob es nun das ständige Rumgezicke von Claire und Gabe in der Schule war oder wie der zehnjährige Danny einmal in Kate's Zimmer gestürmt kam, als sie und Jake für eine Prüfung lernten, und sie anflehte, ihn im Schrank zu verstecken, weil Lizzie hinter ihm her war.
Das war mal wieder typisch für Jake... kaum hatte er Alkohol intus, schon wurde er sentimental. Doch wirklich erstaunlich war, dass er sich an jede Kleinigkeit erinnern konnte. An Sachen, an die Kate überhaupt nicht mehr dachte oder die sie schon längst vergessen hatte, aber Jake grub all die alten Geschichten, die Leichen im Keller, wieder aus und präsentierte sie ihr auf dem Servierteller.
Natürlich waren auch peinliche Geschichten dabei.
"Weißt du noch", lachte Jake in die Nacht hinein. "Wie du Freddy McGrason einen Korb gegeben hast?"
Irgendetwas regte sich in Kate's Erinnerung, doch es kam nicht schnell genug ans Licht. Wer war Freddy McGrason gleich noch?
"Du hast zu ihm gesagt, er sei dir nicht intelligent genug, und das vor der ganzen Klasse."
Jake grinste wie ein Honigkuchenpferd und amüsierte sich prächtig darüber.
Jetzt fiel es Kate wieder ein - sie war elf gewesen und hatte gerade die Schule gewechselt. In der neuen Klasse hatte sie auch Jake kennen gelernt, den Traumtänzer schlechthin.
"Oh Gott", rutschte er ihr geschockt aus. Der arme Freddy... mit elf gesagt zu bekommen, dass er dumm sei, ist sicherlich nicht die beste aller Methoden, aber sein "Willst du mit mir gehen"-Zettel war nun wirklich durchsät mit Rechtschreibfehlern gewesen. Nachdem sie "nein" angekreuzt hatte, sprach er sie vor versammelter Mannschaft darauf an und, nun ja, was hätte sie schon anderes tun sollen? Als Kind kannte man die ganze Bandbreite an Ausreden noch nicht und sie war damals sowieso der festen Überzeugung, dass man am besten immer die Wahrheit sagte.
Wie gesagt, damals.
Sie bogen in die East Drive ein, wo zu jeder Straßenseite die neuartigen, vierstöckigen Häuser standen, die ausschließlich von Studenten bewohnt wurden.
Sehr gemütlich sahen sie nicht aus, der Außenanstrich war in klinischem Weiß gehalten und jedes Gebäude verfügte über zwei Eingänge direkt nebeneinander.
Jake's Hausnummer war die 14 und Kate versuchte, durch das matte Licht der Straßenlaterne zu erkennen, an welchem Haus sie sich gerade befanden. Es war die Nummer 14.
"Das hat uns Jungs ganz schön eingeschüchtert", plapperte Jake immer noch weiter. "Aber Freddy hat am nächsten Tag schon den nächsten Liebesbrief verschickt."
Was für ein Schwein, fuhr es Kate durch den Kopf, bevor sie sich wieder entsann, dass sie erst elf gewesen waren.
Sie öffnete mit Jake's Schlüssel, den sie ihm aus der Jacke stibitzt hatte, damit dieser ihn nicht verlor, die Tür. Jake wohnte im zweiten Stock.
"Der hatte vielleicht einen Verschleiß..." Munter vor sich hin redend folgte er ihr die Treppe hinauf und hielt sich an dem Geländer fest.
"Weißt du, Katie, damals...", setzte er wieder zu einer seiner Geschichten an, als Kate ihn unterbrach.
"Da sind wir", atmete sie erleichtert auf. Jake war ziemlich schwer und jetzt war sie noch müder als zuvor schon.
Für einen kurzen Moment kehrte Stille ein und die Blicke der Beiden trafen sich, wobei Jake's plötzlich abdriftete und er taumelnd auf Kate zuwankte. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und bevor sie sich fragen konnte, was das sollte, vergrub er seinen Kopf in der Kuhle zwischen ihrer Schulter und ihrem Hals und atmete regelmäßig, während Kate’s Herz ganz unmittelbar ein paar Sprünge aussetzte, nur, um zu ihrer Verärgerung doppelt so schnell weiterzuschlagen.
"Jake...", begann sie unsicher und wollte ihn mit sanfter Gewalt von sich schieben, als er augenblicklich den Kopf hob und seine Lippen auf die Ihren presste.
Erschrocken wich Kate zurück und riss die Augen weit auf - für den Bruchteil einer Sekunde war sie wie erstarrt, doch dann schlug die Erkenntnis ein wie ein Blitz.
Entschlossen drückte sie Jake von sich weg und hielt ihn auf Armeslänge von sich entfernt, ihre Hände auf seine Brust platziert.
"Jake", keuchte sie etwas atemlos, das Gesicht puterrot, und suchte seinen Blick, doch er starrte nur ausdruckslos an ihr vorbei, die Augen glasig, die Gedanken nicht beieinander.
"Du bist betrunken", stellte sie flüsternd fest, halb erleichtert, halb beschuldigend und er schaute sie plötzlich an, als bemerkte er sie gerade zum ersten Mal.
"Sind wir schon da?", nuschelte er und wankte einmal zur Seite und wieder zurück, während er an der Wand hochschaute und das Gleichgewicht etwas verlor.
"J... ja..." Ihre Stimme zitterte und sie hatte auf einmal zu frieren begonnen.
"Du gehst jetzt rein und legst dich schlafen, okay?" Ohne ihn anzuschauen, schloss sie die Wohnung auf und gab ihm einen kleinen Schubs in die richtige Richtung, sodass er durch die Tür stolperte.
"Und du?", wollte Jake plötzlich wissen und sah sie mit diesem gläsernen Blick an. "Ich begleite dich nach Hause."
Kate lächelte schmerzerfüllt. Selbst in diesem Zustand vergaß er nicht seine Manieren - zumindest selten.
"Nein, keine Sorge", beschien sie ihm, in der Hoffnung, dass er Ruhe geben würde, doch vergeblich.
"Aber es ist dunkel", beharrte er und schaute sich suchend um, fand aber nur die Glühbirne auf dem Flur, die alles in fahles, dunkles Licht tauchte. "Oder?" Zweifelnd kratzte er sich am Hinterkopf und zerzauste das Haar hinter seinem linken Ohr noch mehr.
"Ich äh... Claire wartet unten auf mich. Ich bin also nicht allein", log Kate, ziemlich unglaubwürdig zwar, aber sie schien dennoch damit durchzukommen.
Jake griff sich an den Kopf und sah dadurch noch verwirrter aus. "Ich glaube..." Er streckte seinen Zeigefinger in die Luft, wie jemand, der plötzlich eine Erkenntnis oder einen genialen Einfall hatte. "Ich bin irgendwie betrunken."
Mitleidig betrachtete Kate ihn einen Moment lang und zwang sich dann, sich von ihm abzuwenden. "Nicht nur irgendwie...", murmelte sie leise.
"Gute Nacht, Katie", rief er ihr munter hinterher, als sie die Tür hinter sich schloss, den Schlüssel fest umklammernd, um ihn später Gabe auszuhändigen.
"Nacht, Jake..." Sie schloss für einen kurzen Augenblick lang die Augen, um tief durchzuatmen.

Kate wusste nicht mehr, ob es an ihrem schnellen Laufschritt lag oder an Jake's volltrunkener Aktion, dass ihr Herz so raste und ihr Atem besorgniserregend unruhig ging.
Ohne Umschweife drückte sie Gabe, der mit ein paar Leuten draußen auf dem Mäuerchen, das den Vorgarten von dem Bürgersteig trennte, saß, den Schlüssel in die Hand. Sie erinnerte sich nicht mehr genau, was sie zu ihm gesagt hatte, aber es musste etwas gewesen sein, denn er nickte nur, bereits informiert von Claire.
Claire schnappte sich ihre Jacke, als sie Kate erblickte, und beide verabschiedeten sich von Dave - der auch in keiner besseren Verfassung war als Jake.
"Tschüss, Gabe", murmelte Kate abwesend und hob die Hand zu einem schlappen Abschiedsgruß, während sie sich ein dünnes Lächeln abrang.
"Auf Wiedersehen", sagte dieser fröhlich und schaute dabei ausschließlich Claire mit seinem geheimnisvollen, kleinen Lächeln an.
Diese schnaubte verächtlich. "Soll das vielleicht eine Drohung sein?"
"Nein." Gabe grinste immer noch überlegen. "Ein Versprechen." Er zwinkerte ihr kurz zu, bevor sie sich langsam skeptisch von ihm abwenden konnte.
Ihm den Rücken zugewandt und verborgen vor neugierigen Blicken, schlich sich ein unmerkliches Lächeln auf ihr Gesicht, das sie sofort zu unterdrücken versuchte. Doch das bekam Kate gar nicht mehr mit.
Kapitel 12: Memory-deletion

In my own hell, I must forever stay
When you leave, I'll rue the day
That I lost my chance
At a great romance
So that with my death
and my last breath
I'll do naught but whisper your name
To have loved you in secret, was a shame....


(Auszug aus "Secret Love" / Lauren V. Berkery)

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Kate merkte gar nicht, wie Claire, schon fertig angezogen, morgens in die Küche kam, während sie selbst in ihrem Schlafanzug geistesabwesend an der Spüle lehnte und aus dem Fenster starrte.
Der Februarhimmel war wie erwartet durchzogen mit grauen Wolken und es nieselte. Die Straße schien unbelebt, nur vereinzelt fuhr ein Auto vorbei.
Mit den Gedanken war Kate bei dem gestrigen Abend, an dem der volltrunkene Jake sie aus heiterem Himmel... sie schluckte. Sie konnte diesen Gedanken nicht mal in ihrem eigenen Kopf ausformulieren, aber die Erinnerung hatte sich unwiderruflich festgesetzt, eingebrannt. Zwar war alles zu schnell gegangen, dass sie es gar nicht richtig mitbekommen hatte, doch jetzt, im Nachhinein, sah sie alles noch viel schärfer vor ihrem inneren Augen ablaufen und die Gefühle strömten nur so auf sie ein. Und Gott wusste, es waren keine positiven Gefühle.
Zu viel ging ihr durch den Kopf, als dass sie einen Gedanken davon richtig festhalten konnte, doch ganz an vorderster Stelle rangierten die Angst und die Unsicherheit.
Jake war betrunken, sagte sie sich immer wieder, aber was hatte das zu bedeuten? Es hatte sicherlich nichts zu bedeuten, redete sie sich ein, doch die Frage nach dem warum blieb dennoch. Was würde er ihr sagen, wenn er sie das nächste Mal sah? Wie sollte sie sich ihm gegenüber verhalten? Würde es eine peinliche Situation geben, in der er ihr, fälschlicherweise annehmend, sie hätte alles falsch verstanden, erklärte, dass es nur ein Ausrutscher war?
Kate presste sich die Hand gegen die Stirn und schloss die Augen. Der Gedanken löste bei ihr sämtliche Variationen von Scham aus. Natürlich war es ein Ausrutscher und das wusste sie auch, doch allein der Gedanke, sich in einer solchen Lage zu befinden, war unerträglich. Unerträglich peinlich.
"Alles klar?", fragte Claire argwöhnisch und beobachtete, wie Kate erschrocken zusammenfuhr. Sie sah müde und aufgescheucht aus und war unnatürlich blass, was Claire ein bisschen stutzig machte.
Hastig nickte Kate und wandte sich schnell ab, sich wohl bewusst, dass sie einen äußerst besorgniserregenden Anblick bieten musste. Sie hatte die Nacht nicht gut schlafen können und wenn sie kurz eingedöst war, schwirrten nur wirre Bilder durch ihren Kopf, die sie noch mehr anstrengten als einfach wach zu bleiben.

"Soll ich für dich auch Toast machen?", fragte Claire beiläufig, ein paar Scheiben des Weizenbrotes aus der Verpackung nehmend. Sie drückte die zwei Scheiben in den Toaster und schraubte das Marmeladenglas auf.
"Nein." Kate schüttelte kurz den Kopf und wandte sich wieder der Spüle zu, in der ein paar Tassen und Löffel lagen. Sie drehte das Wasser auf und regulierte die Schalter bis das herausfließende Wasser eine angenehme Temperatur hatte.
Claire’s Toastscheiben sprangen aus dem Toaster heraus. Eine von ihnen landete neben dem Gerät auf der Ablage und krümelte sie voll.
Claire nahm sich das Brot und platzierte es auf ihrem Teller, setzte sich an den Tisch und griff gerade nach einem Messer, als das Telefon klingelte, das, wie immer, auf dem Küchentisch lag.
Kate hob eine Tasse auf und hielt sie unter das warme Wasser, mit den Gedanken längst schon wieder beim gestrigen Abend. Bei Jake, wie er seinen Kopf an ihrer Schulter vergraben, nachdem er sie so seltsam angesehen hatte... Es wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen und sie fühlte sich schon ganz krank, weil sie an nichts anderes mehr denken konnte.
"Hey Jake", ertönte Claire’s fröhliche Stimme hinter ihr vom Tisch aus. Vor Schreck rutschte Kate die Tasse aus den Händen und landete polternd, aber heil, wieder auf dem Grund der Spüle, wo sie mit einer anderen Tasse zusammenstieß und ein klirrendes Geräusch verursachte.
"Äh, Kate?" Claire hielt sich den Hörer vom Ohr weg und blickte sie stirnrunzelnd an. "Alles okay?"
Mit zitternden Händen machte Kate den Wasserhahn zu und versuchte vergeblich, sich zu beruhigen. Jake war am Telefon... was würde er sagen, was würde er tun? Sie strich sich mit der nassen Hand die Haare aus dem Gesicht und drehte sich kontrolliert zu Claire um.
"Ja ja, alles okay", bestätigte sie mit einem gezwungenen Lächeln.
Nicht überzeugt hob Claire die Augenbrauen und presste sich wieder das Telefon ans Ohr.
"Nein. Nur 'ne Tasse. Weiß ich nicht... Warte."
Ein bisschen ungeduldig legte sie es wieder auf den Tisch und drückte eine Taste.
"Du bist jetzt auf laut", verkündete sie. "Kate ist auch hier."
Diese hielt die Luft an. Gleich...
"Hi Katie." Jake klang etwas verwirrt und – verständlicherweise - verkatert.
"Hey...", krächzte sie nervös und handelte sich wieder einen misstrauischen Blick von Claire ein, die dazu übergegangen war, seelenruhig ihren warmen Toast zu buttern.
"Wie geht's?", fragte er der guten Manieren halber und Kate wurde von Sekunde zu Sekunde noch angespannter.
"Gut."
"Schön... Ich hab nämlich tierische Kopfschmerzen." Jake hörte sich wirklich gequält an. "Und das Schlimmste ist", regte er sich auf und Kate holte schon mal vorsichtshalber tief Luft, um sich zu wappnen, "ich erinnere mich an gar nichts mehr!"
Erstarrte lauschte Kate in den Hörer hinein, doch am anderen Ende der Leitung war nun Stille. War das ein schlechter Witz?
Dann sprach Jake weiter. "Zumindest nicht daran, wie ich nach Hause gekommen bin." Kate atmete nach dem ersten Schock erleichtert aus. "Gabe hat gesagt, du hättest mich begleitet?"
"Ah, ja", sagte sie schnell.
Er seufzte erleichtert. "Danke... wenigstens ist nichts passiert."
So konnte man das nicht gerade nennen, ging Kate durch den Kopf.
Jake hielt plötzlich inne. "Oder?", hakte er dann alarmiert nach. "Ich hab doch nichts Peinliches gemacht oder... gesagt... zu Rachel...?"
"Oh...", entfuhr es Kate und sie schimpfte sich noch im selben Moment für ihren enttäuschten Tonfall, den sie nicht im Zaum halten konnte. "N... nein...", versicherte sie ihm mit zittriger Stimme. "Absolut gar nichts."
Claire hob mal wieder unmerklich ihre Augenbrauen, während sie auf ihrem Toast kauend desinteressiert in einem Klatschmagazin blätterte.
"Gott sei dank. Was würde ich nur ohne dich tun?" In seiner Stimme hörte sie sein befreites Lächeln und konnte sich richtig gut vorstellen, wie er gerade in seiner Wohnung saß, wahrscheinlich noch in Boxershorts, die Haare verwuschelt vom Schlaf, etwas angegriffen vom Alkohol, und in den Hörer hineingrinste.
Plötzlich wurde Kate schmerzlich bewusst, dass die ganze Situation jetzt noch schlimmer war, als sie es vorher gewesen ist, als sie noch angenommen hatte, er wüsste bescheid...
Bewusst wurde ihr auch die kleine, unterdrückte Hoffnung, die sie gehegt, sich aber nicht eingestanden hatte. Dass es eben doch etwas zu bedeuten hatte. Weil sie wusste, dass es dumm wäre. Und es weh tun würde. Und das tat es auch.
Er hatte sie geküsst und nun... hatte er keine Ahnung mehr. Dummer, dummer Alkohol. Dummer Jake. Dumme Kate, schimpfte sie sich.
Schweigend starrte Kate das Telefon an, und spürte, wie ihre Augen langsam nass wurden, doch sie wollte jetzt nicht weinen. Weder jetzt, noch irgendwann anders! Dummer Jake!
Claire streckte den Arm nach dem Telefon aus und entwendete es Kate’s lockerem Griff.
"Hör mal Jake. Wir frühstücken jetzt, also leg ich auf, okay?", sagte sie so freundlich wie möglich, wartete noch auf Jake's "Okay, bis dann" und legte auf.
Dann fasste sie Kate in Augenschein, die sich soweit wieder ganz gut zusammengerissen hatte.
"Okay", setzte sie an und schob das Magazin beiseite. "Was ist gestern passiert?"


Claire jubelte. Kate nicht.
"Das ist doch perfekt, Kate. Besser hätte es nicht laufen können."
Kate schnaubte, als Claire in die Hände klatschte und ihre Augen vergnügt funkelten.
"Es hätte besser laufen können, wenn wir einfach zu Hause geblieben wären...", murrte sie missmutig und seufzte. Sie konnte Claire's Enthusiasmus überhaupt nicht verstehen. Jake hatte Mist gebaut und konnte sich - zum Glück oder nicht - nicht mehr daran erinnern. Das war nichts, worüber sie, die sich - leider nicht zum Glück - daran erinnern konnte, sich freuen könnte.
"Ich geb ja zu, das war eine dumme Idee", räumte Claire ein, doch ihr angestrebter, zerknirschter Tonfall ging in ihrem Grinsen unter. "Aber es war doch auch sehr aufschlussreich, findest du nicht?"
"Nein?"
"Gestern, als ihr weg wart..." Ihre Freundin lehnte sich über den Tisch zu Kate herüber und sah sie verschwörerisch an. Kate imitierte die Sitzhaltung Claire's und tat es ihr unwillkürlich gleich.
"Hat unsere Lieblingsrachel noch mal kräftig in den Männertopf gelangt. Und ich kann dir sagen..." Sie schüttelte verständnislos den Kopf. "Die hat sicher nicht darauf gewartet, dass Jake noch vorbeikommt."
Kate war nicht wirklich überrascht, das zu hören. "Oh", überlegte sie stattdessen erleichtert. "Gut, dass Jake das nicht mitangesehen hat."
Claire verdrehte die Augen. "Ist das deine kleinste Sorge? Weißt du, was das bedeutet? Sie hat es auf ihn nur abgesehen, weil sie weiß, dass du auf ihn stehst."
"Ich 'stehe' aber nicht auf ihn", protestierte Kate widerwillig, ihr gefiel das Wort nicht, doch Claire warf ihr nur einen mitleidigen Blick zu.
"Die Diskussion können wir uns ja sparen", entschied sie. "Aber wenn da von seiner Seite nichts wäre, wie du sagst, was würde ihn sonst dazu bewegt haben, dich zu küssen?"
Kate errötete ein bisschen. Bis jetzt hatte sie das nicht so direkt angesprochen und als sie Claire die Situation geschildert hatte, hatte sie auch mehr oder weniger um den heißen Brei herumgeredet, bis Claire selbst darauf kam - was wirklich nicht sonderlich lange gedauert hat - aber dass ihre Freundin es so offen heraus sagte, war ihr dennoch unangenehm. Obwohl Jake es doch war, der diese Unmöglichkeit vollbracht hatte. Aber leider musste ER sich nicht mit der quälenden Erinnerung herumschlagen. Und mit Claire.
"Er war betrunken!", wiederholte Kate noch einmal, wie sie auch zuvor schon mehrmals betont hatte. "Er wusste nicht mehr, was er tut. Er ist ein Idiot." Sie zuckte gleichgültig mit den Achseln, doch so lässig, wie diese Geste den Anschein machte, war sie lange nicht.
"Eben", nickte Claire altklug. "Und heißt es nicht 'Betrunkene und Kinder sagen immer die Wahrheit'?"
"Das ist doch nur ein Sprichwort", seufzte Kate erschöpft. "Auch Kinder lügen und Betrunkene erzählen nur Mist. Die Wahrheit ist da schon eher die Ausnahme."
Claire verdrehte die Augen. "Du bist einfach zu pessimistisch. Hör mal, ich bin doch nicht blind."
"Das bist du ganz sicher nicht", bestätigte Kate, obwohl sie nicht wusste, worauf ihre Freundin hinauswollte. Immerhin war es nicht Claire, deren Brille kaputt gemacht worden war. Ein Glück nur, dass Kate’s Augen noch nicht ganz so schlecht waren, dass sie sich wie ein Maulwurf vorkam. Aber was sah Claire, was sie nicht sehen konnte?
"Na siehst du." Diese war ziemlich zufrieden mit sich selbst und lehnte sich entspannt zurück, lächelte überlegen. "Du und Jake, ihr seid ein Herz und eine Seele. Ihr ergänzt euch perfekt... Es ist fast so, als seid ihr zwei Seiten ein und derselben Medaille."
"Wir sind Freunde", widersprach Kate energisch und schüttelte den Kopf. "Da ist man irgendwann aufeinander eingespielt."
"Nein, nein... nicht so..." Claire überlegte eine Weile und zog die Stirn in Falten. "Ich will sagen... Findest du nicht, dass das darüber hinausgeht?"
Anscheinend hatte sie Schwierigkeiten, in Worte zu fassen, was sie meinte.
"Worüber?" Kate verstand nicht ganz.
"Über ganz gewöhnliche Freundschaft, meine ich. Es ist... seltsam zu beschreiben. Aber wenn man euch zwei sieht, ist es, als sähe man vielmehr ein altes Ehepaar, als zwei Freunde. Und vielleicht ist es auch das, was Rachel sieht?"
Kate beäugte ihre beste Freundin zweifelnd. Mit einem "alten Ehepaar" verglichen zu werden, war nicht gerade schmeichelhaft, fand sie. "Dave scheint das aber nicht zu sehen", warf sie als Gegenargument ein und fügte in Gedanken hinzu: leider.
Claire lachte. "Dave ist ja auch ein Kerl. Die raffen doch eh immer als Letzte etwas." Dann seufzte sie.
"Ach Kate... was passiert, wenn du in 30 Jahren von ihm erfährst, dass er dich ebenfalls mochte? Wirst du dann nicht denken: Verdammt, warum hab ich damals nur so viel Zeit verschwendet? Wirst du dich nicht fragen, was du verpasst hast? Ich meine, du wirst es nie erfahren, wenn du es nicht drauf ankommen lässt."
"Das Thema schon wieder", murrte Kate genervt. Sie hatte es wirklich langsam satt, Claire ihre Sicht der Dinge zu predigen. Es stand wohl außer Frage, dass sie auf keinen Nenner kamen, aber Claire wollte einfach nicht locker lassen.
"Wie sagte diese Berkery-Frau doch einst?
'So that with my death
and my last breath
I'll do naught but whisper your name
To have loved you in secret, was a shame...'", zitierte sie mit gewichtiger Miene. "So willst du doch nicht enden, oder?!"
Kate verdrehte die Augen. Dass Claire ihr hier schon Gedichte vortrug, ging eindeutig zu weit. Immerhin war SIE hier die Literaturstudentin und müsste eigentlich selbst anderen die weisen Zitate um die Ohren hauen.
"Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass das bis an mein Lebensende anhalten wird", argumentierte sie etwas empört. "Ich meine, irgendwann muss es ja auch reichen."
Claire schüttelte nur den Kopf. "Wer weiß. Es hätte schon LÄNGST gereicht, finde ich, aber so einfach, wie man es gerne hätte, ist es eben nicht, nicht wahr?" Ihr Blick schweifte ab und sie schwieg eine Weile gedankenverloren.
Kate war sich nicht mehr sicher, ob Claire nun von ihr und Jake oder von sich selber sprach.
Aber sie hatte Recht... so einfach, wie man es gerne hätte, war es nie.
"Trotzdem", sagte sie dann und stand energisch auf, sicherte sich wieder Claire's Aufmerksamkeit. "Du weißt es doch auch nicht und behauptest einfach irgendwas. Außerdem ist es besser so."
"Du bist so verdammt stur", knurrte Claire missmutig und warf ihrer Freundin einen unzufriedenen Blick zu, Kate jedoch grinste nur.
"Sagt die Richtige", konterte sie und brachte Claire ebenfalls zum Schmunzeln.
Für einen kurzen Moment sagte keine der beiden Mädchen etwas, bis Claire wieder das Wort ergriff.
"Und, was hast du jetzt vor?"
Kate seufzte. "Wenn ich das wüsste..."
"Ich meine... willst du... ihn darauf ansprechen?" Claire schmunzelte. Sie konnte sich die Antwort schon denken, die auch prompt kam.
"Nein, um Himmels willen!", rief Kate entsetzt aus. "Bloß das nicht. Es wird schon schwer genug sein, in nächster Zeit in seiner Nähe zu sein, auch ohne, dass ich ständig daran denken muss, dass er... na ja... vielleicht daran denkt." Sie runzelte die Stirn und überprüfte noch mal ihre Logik. Es war tatsächlich viel einfacher so, als nicht zu wissen, was in Jake's Kopf vorging. Was würde er sonst denken, jedes Mal, wenn er sie sah? 'Oh je, ich habe meine beste Freundin geküsst, ob sie sich jetzt etwas darauf einbildet?' Dieser Gedanke war so unangenehm, dass Kate vor Scham errötete und nicht weiter darüber nachgrübeln wollte.
Claire allerdings schien ihren Spaß zu haben. "Soll ICH mal mit ihm reden?", schlug sie verschwörerisch vor und funkelte ihre Freundin schon voller Vorfreude an. Diese stöhnte.
"Lass gut sein, die Situation ist für mich auch so schon unerträglich."
"Mhm", machte Claire und zog eine enttäuschte Schnute. "Ich wusste irgendwie, dass du das sagst..."
Beide Mädchen grinsten sich plötzlich einvernehmlich an. Claire hatte es wirklich drauf, jemanden wieder aufzumuntern und das wusste sie auch. Kate jedenfalls fühlte sich schon viel besser in dem Wissen, ihre beste Freundin immer an ihrer Seite zu haben. So schlimm diese auch sein konnte, im Notfall war doch immer auf Claire Verlass.
"Jake, diese Pflaume", schimpfte sie auch schon drauflos. "Mit seiner unbedachten Art macht der alles nur noch komplizierter!"
"Wie soll ich ihm denn jetzt begegnen, unmittelbar nachdem..." Sie brach ab und kratzte sich ratlos über dem Ohr. Sie konnte es noch immer nicht laut aussprechen. "Ich meine... ob er was merkt?"
Claire lachte laut los. "Das ist nicht dein Ernst? Das wäre das achte Weltwunder, wenn er tatsächlich etwas merken würde." Kate lächelte leicht. Da hatte Claire mal wieder Recht. Trotzdem traute sie sich nicht so recht zu, ihm in nächster Zeit zu begegnen. Zu präsent war der letzte Abend...
"Ich glaub, ich brauch' Urlaub...", stöhnte sie entnervt, lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Hand durch ihr Pony. "Einfach vergessen und Abstand nehmen..."
Sie seufzte und Claire richtete sich plötzlich gerade auf, blinzelte. Die Blicke der Beiden trafen sich.
"Was ist?", wollte Kate wissen, da ihre Freundin sie noch immer fassungslos anstarrte und nichts sagte.
"Dann fahr doch", erwiderte Claire verständnislos. "Du hast doch Ferien."
Kate schnaubte. "Ja klar. Und wohin? In die Karibik vielleicht?", konterte sie trocken und stützte ihren Ellbogen auf dem Tisch ab, legte den Kopf in die Hand. "Schön wär's..."
"Nein", grinste Claire nun überlegen. "Nach London natürlich."
Kate saß nun auch aufrecht da, ihr Ellbogen noch immer auf dem Tisch, aber ihre Hand hing bewegungslos in der Luft.
"Hast du nicht gesagt, Liz hat mit ihrem Freund Schluss gemacht und sich ein paar Wochen frei genommen?", fuhr sie fort. "Ruf doch an und sag ihr, dass du kommst!"
Das klang wirklich verlockend, aber Kate wurde mit der Idee noch nicht ganz warm.
"Das geht doch nicht... ich muss noch Hausarbeiten schreiben..", protestierte sie zweifelnd, obwohl Claire's Vorschlag wirklich etwas an sich hatte. Wirklich...
Diese verdrehte die Augen. "Du bleibst ja nicht für immer da und wenn's nötig ist, schreib ich sie halt für dich." Sie grinste. "Die kann außerdem doch warten, oder? Du nicht!"
Kate zögerte noch immer. "Ich weiß nicht so recht..."
"Warum denn nicht? Du machst dir 'ne schöne Woche in London und ich kümmere mich hier um alles." Ein diabolisches Lächeln erschien auf Claire's hübschem Gesicht. "Und nebenbei kann ich Jake das Leben ein bisschen zur Hölle machen...", griente sie drohend und rieb sich voller Vorfreude die Hände.
"Los!" Sie nahm das Telefon, das zwischen den beiden auf dem Tisch lag und hielt es Kate hin. "Ruf sie an. Jetzt. Wag mal was."
Unschlüssig starrte Kate das äußerst verführerische Display und die Tasten des Telefonhörers an. Claire hatte schon Recht. Sie war eigentlich frei, hatte Ferien und theoretisch KÖNNTE sie einfach abhauen. Und es wäre wirklich zu schön... Sie liebte London, sie liebte Liz und sie war sich sicher, dass beides zusammen noch toller war als ohnehin schon. Und außerdem würde sie von Jake abgelenkt werden und war es nicht das, was sie wollte? Allerdings war sie nie ein sonderlich spontaner Mensch gewesen und überdachte jede Entscheidung drei Mal, bevor sie zustimmte oder eben nicht.
Claire bemerkte, dass Kate angebissen hatte. "Na los doch", forderte sie sie leise auf, mit einem verschwörerischem Lächeln auf den Lippen.
Kate erwiderte nun das Lächeln ihrer Freundin und griff nach dem Telefon. Warum sollte sie nicht einfach flüchten und spontan sein? Liz würde sicher nicht nein sagen und Kate würde ihren verdienten Urlaub bekommen!
Zufrieden lehnte sich Claire zurück und betrachtete, wie Kate aufgeregt Liz's Nummer wählte.
Nach nur wenigen Minuten legte Kate auf und grinste über das ganze Gesicht.
"Ich fahr nach London!", jubelte sie atemlos.



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Das vollständige Gedicht: http://www.lovepoetry.com/poem.asp?x_id=36865
Kapitel 13: Escape

Kate stieg aus dem Zug, ihren Koffer hinter sich hievend, und stand plötzlich mitten auf dem Bahnhof King’s Cross im Herzen Londons.
Das Tageslicht, das durch das gläserne Kuppeldach über ihr fiel, erhellte die Ankunftshalle. Es sah ganz nach mildem Wetter aus, für London eher untypisch.
Nach einem kurzen Blick um sich herum stellte Kate nicht nur fest, dass sie sich auf Gleis 2 befand, sondern auch, dass auf dem Bahnhof reger Betrieb herrschte.
King’s Cross war nicht zu vergleichen mit dem relativ mickrigen Bahnhof in Nottingham und als Kate die ganzen geschäftigen, hektischen Leute bemerkte, die eilig an ihr vorbeihasteten, mit Koffern und Aktentaschen, besserte sich ihre Laune schon um ein Vielfaches. Im Zug bis nach London war sie kaum aus dem Grübeln herausgekommen und hatte sich nicht einmal auf ihr Buch konzentrieren können, aber nun schienen ihre Probleme in weite Ferne gerückt worden zu sein. Sie sah die vielen Menschen um sich herum, die alle in dieser wundervollen Stadt lebten und nun war sie selbst, Kate, auch hier.
Zuversichtlich griff sie nach ihrem Koffer und zog ihn hinter sich her, während sie dem Menschenstrom in Richtung Rolltreppe folgte. Irgendwo am Ausgang wartete ihre Schwester auf sie, wie abgemacht. Kate war schon gespannt, was Liz sich hatte für ihren Besuch einfallen lassen.
Kaum hatte sie den Gedanken zuende gedacht, erblickte sie auch schon ihre ältere Schwester am Fuße der Rolltreppe, wo diese aufgeregt winkte und hopste, um auf sich aufmerksam zu machen.
Kate winkte erfreut zurück und als sie endlich unten bei Liz ankam, fielen die Zwei sich in die Arme, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.
"Endlich kommst du mich mal hier besuchen, Schwesterchen", grinste Liz und nahm Kate den Koffer ab, bugsierte ihn zielstrebig zum Ausgang. "Ich dachte schon, du kommst nie. Wie kam's?" Sie warf ihrer jüngsten Schwester einen neugierigen Blick zu und zog die Schlüssel für ihren Spider Fastback aus der Tasche.
Kate zuckte die Schultern. "Einfach so", log sie. "Ich musste mal raus."
Liz nickte fachmännisch. "Hiergegen ist dein winziges Nottingham ein Loch, was?"
Sie traten aus dem Haupteingang und vor ihnen erstreckte sich weites Gelände mit unzähligen von Parkplätzen, Bussen, Autos und Menschen. Dahinter waren schon die ersten Londoner Gebäude zu erkennen, ebenso die prachtvolle "King's Cross Bridge".
"Willkommen in der richtigen Welt!", rief Liz fröhlich und breitete die Arme aus, als wollte sie ganz London umarmen.
Kate konnte sich an der Szenerie gar nicht satt sehen, während sie Liz zu ihrem Wagen folgerte.
Es war alles groß und wundervoll und obwohl es nur ein Parkplatz war, auf dem sie sich gerade befanden, fühlte sie sich doch schon etwas anders.
"Wenn du ankommst, schaltest du einfach deine Gedanken aus", hatte Claire ihr vor ihrer Abreise mit strenger Miene ausdrücklich befohlen. "Ich will, dass du dich amüsierst, klar?"
Kate lächelte. "Okay, Claire", murmelte sie leise, London's Skyline in der Ferne bewundernd. Es war wirklich Zeit, sich ein bisschen zu erholen. Und so weit weg würden vielleicht auch ihre Gedanken auf Distanz gehen.
"Ach, übrigens..." Liz holte sie in die Realität zurück und öffnete ihre Handtasche. "Ich hab doch hier noch was...", brummelte sie, während sie angestrengt darin kramte und etwas zu suchen schien. Dann beförderte sie ein Ticket ans Tageslicht, das sie Kate in die Hand drückte, die das Stück Papier interessiert beäugte.
"Ein Wochenticket für die U-Bahn", grinste Liz. "Die darfst du dir nicht entgehen lassen. Wenn wir Glück haben, passiert vielleicht was Spannendes!" Liz hievte den Koffer in den viel zu engen Kofferraum und klappte ihn mit lautem Krach zu. Kate drängte sich automatisch für einen kurzen Augenblick das Bild eines demolierten, zerdrückten Koffers vor ihr inneres Auge.
Sie steckte das Ticket in ihre hintere Hosentasche und beeilte sich schnell ins Auto einzusteigen, wo Liz bereits am Steuer saß.
"Zum Beispiel?", hakte sie misstrauisch nach und runzelte die Stirn. Was Liz sonst immer als "spannend" bezeichnete, war den meisten anderen suspekt, so auch ihr.
"Bombendrohungen oder so!", informierte ihre Schwester sie und ließ den Motor laut aufheulen, der anschließend in ein geräuschvolles Brummen und altersschwaches Husten überging, doch zu Kate's großer Überraschung nicht ausging. Lizzie's Fastback war ein äußerst schönes Exemplar, aber dafür auch ein sehr altes und widerwilliges Auto.
Dadurch, dass das Modell nicht mehr hergestellt wurde, war es sehr schwierig, an Ersatzteile zu kommen, und demnach auch sehr kostspielig. Aber Liz machte das nichts aus. Ganz im Gegenteil, sie genoss es, mit ihrer alten Karre aufzufallen und gab für ihr geliebtes Auto so viel Geld aus, wie es nötig war.
"Bombendrohungen...", wiederholte Kate etwas fassungslos. Sie konnte nur hoffen, dass ihnen nichts "Spannendes" widerfahren würde... Immerhin hatte sie schon oft genug in den Nachrichten von den Geschehnissen in und um London gehört und jedes Mal hatte sie sich große Sorgen um Liz gemacht. Nicht mal im Traum hätte sie daran gedacht, dass diese so etwas als aufregend empfand, anstatt als sorgenvoll.
"Relax, Katie", lachte Liz und kurvte schwungvoll an einem Mercedes Benz vorbei, dessen Fahrer ihr und ihrem Fastback sprachlos hinterher stierte, da sie ihm die Vorfahrt genommen hatte.
"Die Londoner Kids spielen hier ein Spiel, das heißt "Der Koffer in der Metro". Du verstehst?"
Kate ließ die Bemerkung erst einmal sacken, um sicher zu stellen, dass sie es richtig verstanden hatte.
"Soll das heißen, sie lassen extra Gepäckstücke liegen, um Aufsehen zu erregen?", fasste sie schließlich ungläubig zusammen und implizierte in ihrem Tonfall schon, wie dumm und gefährlich sie das alles fand. Doch Liz sah das nicht so, denn sie amüsierte sich immer noch prächtig.
"Genau", kicherte sie. "Meistens werden die von irgendwelchen Pennern oder so aufgegabelt, aber wenn eins mal tatsächlich auffällt, dann hat derjenige gewonnen, der es dort deponiert hat."
Kate schnaubte leise, Worte fand sie keine dafür, doch dann fiel ihr etwas anderes ein.
"Woher weißt du darüber eigentlich so gut bescheid?", wollte sie argwöhnisch wissen und bedachte ihre Schwester, deren Mundwinkel schon wieder vorwitzig zuckten, mit einem prüfenden Seitenblick.
"Was unterstellst du mir da bloß?", rief Liz theatralisch und fasste sich mit der linken Hand ans Herz, bevor sie in lautes Gelächter ausbrach, das Kate noch mehr irritierte.
"Nein, ehrlich, Katie", lachte sie noch immer und legte die zweite Hand wieder ans Steuer. "Ich bin Journalistin, schon vergessen? Ich muss über alles Bescheid wissen, dafür werde ich schließlich bezahlt."
Kate lehnte sich entspannt zurück und schaute geradeaus auf die verstopfte Londoner Straße.
"Ach ja", warf sie ein. Sie hatte es tatsächlich fast vergessen.
"Und was machen wir heute?", wechselte sie das Thema. Bombendrohungen und fragwürdige Spielchen in der Metro lenkten sie zwar von Jake ab, waren aber nicht weniger nervenaufreibend.
Liz huschte über eine Ampel, die gerade dabei war, rot zu werden und hupte einem wütenden Autofahrer zu.
"Erst mal deinen Koffer ausladen. Heute gehen wir dann essen und morgen..." Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und klopfte mit ihren Fingern ungeduldig gegen das Armaturenbrett, während sie an der Kreuzung wartete. Auf ihrem Gesicht bereitete sich ein vorfreudiges Grinsen aus.
"...spiel ich deinen persönlichen Fremdenführer und zeig dir die Stadt der Städte! Yeah!" Sie drückte auf das Gaspedal und Kate wurde in ihren Sitz gedrückt.
Touristentour á la Liz. Das könnte tatsächlich interessant werden.

Das vierstöckige Gebäude, vor dem Liz ihren Spider Fastback anhielt, war ein großer Altbau im Stadtteil Kensington, einer der nobleren Gegenden Londons, gleich in der Nähe des Hyde Parks, der erst vor kurzer Zeit neu gestrichen worden schien, und zwar in einem hellen Terrakotta Farbton.
Die Eingangstür wurde von einem großzügigen Rundbogen umrahmt und befand sich direkt in der Mitte des Hauses. Über ihr thronte eine prächtige Balkonzeile, behangen mit wunderschönen, grünen Pflanzen, die gar nicht darauf schließen ließen, dass es erst Ende Februar war. In den restlichen Stockwerken waren ebenso links und rechts über dem großen Balkon Kleinere angebracht, wurden jedoch von einem Fenster unterbrochen, doch auch sie waren hübsch bepflanzt.
Die Fenster waren groß und freundlich, verziert mit allerlei hübschen Schnörkeleien. Sie ließen darauf schließen, dass das Innere des Hauses genauso hell und freundlich wirkte, wie das Äußere. Kate konnte es kaum noch erwarten, Liz's Wohnung zu sehen.
Diese parkte in aller Seelenruhe ihren Wagen und schwatzte gerade im leichten Plauderton, was für ein Glück sie doch hatte, einen Parkplatz direkt vor der Haustür zu bekommen, da in London chronischer Parkplatzmangel herrschte.
Nachdem endlich Kate's – überraschenderweise unversehrter - Koffer aus dem Kofferraum gehoben worden war, schloss Lizzie die Eingangstür auf und bugsierte Kate mitsamt ihrem Koffer hinein. Sofort fiel Kate's Blick auf Liz's Briefkasten, der vor lauter Post nur so überquoll.
Mit eine wegwerfenden Handbewegung stolzierte Liz daran vorbei.
"Darum kümmere ich mich später", erklärte sie kurz, in gelangweilt-genervtem Tonfall und schleppte Kate's Gepäck die Treppenstufen hinauf.
"Wir sind leider noch nicht so fortschrittlich, dass wir einen Lift haben, aber so muss es eben auch gehen", grinste sie und zückte die Haustürschlüssel, die sie bis dato in der anderen Hand gehalten hatte als den Koffer, um sie sogleich in das Schloss zu stecken.
Neugierig folgte Kate ihrer Schwester in die Wohnung hinein. Sie konnte auf den ersten Blick sehen, dass es genau so war, wie sie es sich gedacht hatte: es war angenehm frisch und hell in der Wohnung, obwohl sie gerade erst in der Diele stand und noch nicht viel von dem Rest der Wohnung zu sehen war.
Beide entledigten sich ihrer Schuhe und Jacken - Liz hatte eine von diesen altmodischen Garderobenstangen, schwarz gestrichen und äußerst hübsch anzuschauen - und Liz parkte Kate's Koffer vorerst in einer Ecke.
Vier Türen führten aus dem Flur heraus in verschiedene Zimmer, eine links, die restlichen Drei rechts und ein Gang ganz ohne Tür führte direkt in den größten und wohl schönsten Raum der Wohnung: das Wohnzimmer.
Es war sehr modern eingerichtet, mit einer cremefarbenen Couch, einem nigalnagelneuen Fernseher - zumindest sah er sehr neu aus - und einem flauschigen Teppich, auf dem ein kleiner, gläserner Couchtisch thronte.
Ein großes Bücherregal aus Glas nahm fast eine ganze Wandseite für sich alleine ein und eine weitere Tür führte geradewegs auf den wunderschönen Balkon, den Kate von unten schon bewundert hatte.
Natürlich fehlte auch die obligatorische Stereoanlage nicht, die schräg zwischen der Couch und einem Sessel stand. Ein paar grüne Pflanzen und verschiedenste Bilder an den Wänden - darunter ein vergrößertes Foto von Liz und ihren drei Geschwistern - verliehen dem Raum die Gemütlichkeit und Wohnlichkeit, die er letztendlich ausstrahlte.
Als besonders hübsches Accessoire zierten dunkelrote, verschnörkelte Wandtattoos in Form von Blumen die hell gestrichenen Wände und verliehen so dem Raum einen ganz besonderen Flair.
Kate atmete tief ein. Es roch nach Leben, Freiheit und Eigenständigkeit.
"Wow", entfuhr es ihr unwillkürlich, als sie das Ganze mit großen Augen noch länger auf sich wirken ließ. "Es ist toll hier."
Liz lächelte. "Komm mit, ich zeig dir den Rest der Wohnung."

Der Rest der Wohnung bestand aus einem Gästezimmer, in dem Kate übernachten würde und das zwar klein, aber dennoch gemütlich eingerichtet war, einem Badezimmer, der Küche, Liz's Schlafzimmer und einem Arbeitszimmer, in dem Lizzie's Schreibtisch stand, an dem sie ihre Artikel für die Zeitung verfasste, wenn sie mal nicht im Büro war - also ständig.
Das Arbeitszimmer faszinierte Kate ganz besonders. Es grenzte an Liz's Schlafzimmer, an den Flur und an das Wohnzimmer an, da es praktisch mitten in der Wohnung platziert war und das Besondere daran war, dass es von zwei Seiten aus einer reinen Glasfront bestand, von der aus man direkt ins Wohnzimmer und in den Flur blicken konnte, jedoch nur in den Bereich, der zum Wohnzimmer führte.
"Stört dich das nicht irgendwie?", wollte Kate von ihrer Schwester wissen, mit einer Mischung aus Faszination und Argwohn. Es mochte ja ziemlich gut aussehen, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass es sich gut arbeiten ließ, wenn man den Blick auf so vieles frei hatte.
"Das ist ein Ersatz für die fehlenden Fenster", belehrte Liz sie. Dann griff sie nach einer Schnur und zog daran und sofort fielen weiße Jalousien herunter, die die Sicht auf Flur und Wohnzimmer blockierten. Lizzie grinste. "Und so schützt man sich vor Ablenkung."
Kate bewunderte ihre Schwester immer mehr. Sie hatte für jedes Problem eine Lösung parat und auf jede Frage eine Antwort. Gab es noch irgendwas, dass Liz überraschen oder sie aus dem Konzept bringen konnte? Sie glaubte mittlerweile nicht mehr dran.
Lizzie war schon immer ein cleveres Köpfchen gewesen und hatte sich durchzuschlagen gewusst. Für jemanden, der so geistreich und hartnäckig war, wie sie, war das auch nie ein großes Problem gewesen. Mit ihrer großen Klappe und ihrer liebenswerten, herzlichen Art - nun ja, meistens zumindest - schlossen die Menschen sie sofort ins Herz und fraßen ihr aus der Hand. Aber wahrscheinlich mussten sie das auch, denn warum sonst hätte ihre Schwerster den Beruf der Journalistin gewählt?
Informationen, wo man geht und steht, alles schien zum Greifen nah. Und Liz war schon immer diejenige, die danach gegriffen hatte.

Während Kate, noch immer in fasziniertes Staunen versetzt, sich weiter in der Wohnung umschaute und vor allem mit dem Balkon liebäugelte, bugsierte Liz ihren Koffer ins Gästezimmer und schmiss Kate's Umhängetasche, die sie sich selber umgehangen hatte, auf das Bett.
Vor der Tür traf sie ihre Schwester an.
"Komm Kate. Wir müssen feiern, dass du endlich auch hier angekommen bist", verkündete Liz heiter. "Ich hab uns einen Tisch in meinem Lieblingsrestaurant reserviert."
Sie zwinkerte, als sie Kate's ungläubigen Gesichtsausdruck sah.
"Keine Sorge, die Rechnung geht auf mich, außerdem ist es nur ein Italiener. Ich dachte mir, du seiest nicht so der Freund von Austern und Froschschenkeln, aber wenn du willst, kann ich auch..." Sie ließ den Rest des Satzes unausgesprochen in der Luft hängen und nickte vielsagend zum Telefon herüber, das, und das fiel den beiden erst jetzt auf, rot blinkte.
"Nein, nein", beeilte sich Kate schnell zu sagen. Der Italiener war einem exquisiten französischen Restaurant weitaus vorzuziehen.
Liz tat erleichtert und setzte sich in Bewegung, um die Nachricht abzuhören. "Da bin ich aber froh. Obwohl hin und wieder nichts gegen einen gut gepolsterten Krötenschenkel einzuwenden ist...", scherzte sie und drückte auf die Play-Taste des integrierten Anrufbeantworters. Der Text, den Kate nur allzu gut kannte, wurde abgespielt, gefolgt vom allseits bekannten Piepton.
Das nächste, das beide hörten, war eine sich räuspernde Männerstimme.
"Liz, bitte." Derjenige, der da sprach, hörte sich genervt und verzweifelt gleichzeitig an. Liz’s Miene verfinsterte sich augenblicklich. "Nimm endlich ab. Wir müs..."
Weiter kam er nicht, denn durch das Drücken einer einzelnen Taste wurde die Nachricht von Liz, deren Mund zu einer einzigen, dünnen Linie verzogen war, gelöscht.
Kate sah ihrer Schwester an, dass sie sich schwer zusammenreißen musste, um nicht loszuwüten und fragte sich gleichzeitig, ob dieser Jemand wohl Lizzie’s Ex-Freund John, der den wohl größten Fehler seines Lebens begangen und ihr einen Antrag gemacht hatte, sein könnte und was er wollte, jedoch war ihr noch immer schleierhaft, weshalb Liz ihn verlassen hatte und ihm anscheinend immer noch aus dem Weg ging.
"Lass uns gehen", sagte diese energisch, mit immer noch verkniffenem Gesichtsausdruck, und erreichte in wenigen, großen Schritten die Garderobe, nahm sich ihre und Kate's Jacke und warf diese ihrer Schwester zu.
Es war wohl klüger, zu diesem Thema den Mund zu halten, zumindest für den Augenblick, befand Kate und beeilte sich hastig, hinter ihrer Schwester, die bereits in der offenen Tür stand und auf sie wartete, hinterher. Doch sie hatte fest vor, dieses Mysterium noch während ihres Aufenthaltes bei ihrer äußerst eigenwilligen Schwester aufzuklären.
Kapitel 14: Tremors

Liz hatte Kate eine Karte des Londoner U-Bahnnetzes auf den Tisch gelegt, bevor sie in die Redaktion gefahren war und diesen Linienplan studierte Kate jetzt ausgiebig.

Drei Tage war es her, seit sie in London angekommen war und am Tag zuvor hatte Liz sie zu den wichtigsten Touristenattraktionen geschleppt: Madame Tussauds, Tower Bridge, natürlich zum Buckingham Palace und auf dem Trafalgar Square haben sie gemütlich den anstrengenden Tag ausklingen lassen, die Tauben gefüttert und sich empörte Blicke der Einheimischen zugezogen.
Kate konnte gar nicht verstehen, warum so viele Menschen etwas gegen diese Vögel hatten, und, das war am allerschlimmsten, sie "fliegende Ratten" nannten.
Lustig waren die Tauben um Liz und Kate herumgewatschelt und innerhalb weniger Minuten hatte sich das Ganze zu einer Taubeninvasion entwickelt, da anscheinend alle Vögel auf dem Platz - und Kate hatte das Gefühl, dass der Trafalgar Square der taubenbevölkertste Fleck Land auf der ganzen Erde war - ihre Chance gewittert und es darauf abgesehen hatten, eines der begehrten Brotkrumen für sich zu ergattern.
Liz, die nach John's Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter nichts mehr dazu gesagt hatte und es scheinbar schnell verdrängt zu haben schien, hatte sich köstlich über die angriffslustigen Tiere amüsiert, entspannt ihre Beine ausgestreckt und somit ein paar schreckhafte Tauben verjagt, die aber nicht lang auf sich warten ließen und schnell zurückkehrten.
Es war ein relativ warmer Tag gewesen, dafür, dass es erst Anfang März war, doch trotzdem konnten Liz und Kate es nicht lange aushalten, am kalten Steinrand eines der zwei Springbrunnen zu sitzen, die Nelsonsäule in ihren Rücken, weiter im Hintergrund die Spitze des Big Bens aufragend.
Als es dämmerte und die Touristen ebenfalls weniger wurden, begaben sich die zwei Schwestern zu Liz nach Hause, die angekündigt hatte, ein leckeres Abendessen zuzubereiten. Beide hatten zum Mittag nur ein Sandwich vertilgt und waren dementsprechend hungrig.

Lizzie hatte ihrer Schwester aufgetragen, sich nicht vom Fleck zu rühren und ihr ja nicht beim Kochen zu helfen und während sie in der Küche zugange war, saß Kate am Esstisch und las sich die kleinen Artikel in einem alten London-Reiseführer durch, den sie in den tiefen Tiefen von Liz's Bücherregal, das eine erstaunliche Breite an verschiedener Literatur bot, was Kate ihrer Schwester eindeutig nicht zugetraut hatte, gefunden hatte.
Das Büchlein musste schon mehrere Jahrzehnte alt sein, denn die zwei amüsierten sich hin und wieder über die ein oder andere besonders merkwürdige oder lustige Formulierung.
Liz informierte ihre jüngste Schwester, dass sie am nächsten Tag in die Redaktion musste, also sollte Kate sich doch, wenn sie wollte, einen schönen Tag in London machen, damit sie nicht allein zu Hause herumsitzen musste.
Irgendwo hatte sie dann extra einen Netzplan ausgraben und die heimische Haltestelle mit einem blauen Kugelschreiber eingekreist.

In der Wohnung war es ziemlich ruhig. Lizzie war vor rund einer Stunde, am frühen Nachmittag, ausgeflogen, und Kate hatte bis jetzt keine Lust gehabt, sich aus dem Haus zu bewegen. Obwohl das Wetter, wie auch am Tag zuvor, ungewöhnlich mild war, war sie doch etwas schlecht gelaunt. Sie sagte sich, dass es daran lag, wieder allein mit ihren Problemen und Sorgen gelassen zu werden. Liz war eine hervorragende Entertainerin und Kate hatte sich in den drei Tagen, zumindest bis jetzt, pudelwohl gefühlt.
Sie stand eine Weile lang am Balkongeländer und schaute auf die vorbeifahrenden Autos hinunter, hing ein bisschen ihren Gedanken nach, als das Telefon plötzlich klingelte und sie erschrocken zusammenfahren ließ.
Etwas misstrauisch näherte sie sich dem lärmenden Ding, nicht sicher, ob sie rangehen sollte oder nicht. Liz hatte dazu nichts gesagt und vielleicht war es ja sogar ihre Mutter, die etwas zu Danny's Geburtstag am kommenden Wochenende loswerden wollte.
Zögernd griff Kate nach dem Hörer.
"Hallo?"
Schweigen am anderen Ende, dann - "Lizzie?" Es war eine etwas irritierte Männerstimme.
Dieselbe, die Kate zwei Tage zuvor auf dem Anrufbeantworter schon gehört hatte. Instinktiv fühlte sie, dass sie gerade ins Fettnäpfchen getreten war.
"Nein... hier ist Kate", erklärte sie vorsichtig.
Der Mann, höchstwahrscheinlich John, wie sie vermutete, schwieg wieder einige Sekunden, bis er weitersprach. "Ach!", rief er aus, als fiele es ihm wieder ein. "Die Schwester?"
"Ja." Kate nickte. Sie war erstaunt, dass er bescheid wusste, obwohl doch weder sie noch Judy noch irgendwer anders aus der Familie John je kennen gelernt hatten. Liz musste also von ihnen erzählt haben... Ein bisschen überraschte das Kate, denn insgeheim hatte sie nicht damit gerechnet, dass Liz über ihre "spießige", wie sie selbst oft sagte, Familie sprach. Ein bisschen erfüllte es sie allerdings auch mit Stolz und Zuneigung für ihre doch recht oft so egozentrische Schwester.
"Hier ist John", stellte er sich vor, verzichtete aber darauf, sie darauf hinzuweisen, wer er war, nämlich der Ex-Freund. "Ist sie da?"
"Nein." Er tat Kate leid, wie er sie so flehentlich gefragt hatte und auch ihre einsilbigen Antworten behagten ihr selbst nicht, aber sie wollte nichts Falsches sagen und sich den heiligen ihrer Schwester Zorn aufladen.
John seufzte tief. "Sie ist in der Redaktion, stimmt's?", hakte er nach und fügte dann murmelnd eher an sich ans an Kate hinzu: "Das ist sie Mittwochs immer..."
Verblüfft schwieg Kate. Er wusste ja allerhand...
"Kate?"
"Ja?"
"Danke." Er klang erleichtert und schon viel energischer. "Bis nachher!" Ohne ein weiteres Wort legte er auf und Kate, mit dem unguten Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, blieb wie angewurzelt mitten im Wohnzimmer mit dem Telefonhörer in ihrer Hand stehen, den sie verstört anstarrte.
Bis nachher? Was hatte das zu bedeuten? Sie hatte sich ganz bestimmt nicht mit John verabredet und ihn auch nicht eingeladen, mal vorbeizuschauen, nicht mal zwischen den Zeilen. Oder hatte sie etwas verpasst?!

Wenig später, aber früher als erwartet, drehte sich ein Schlüssel im Schloss herum und Liz purzelte gutgelaunt in die Wohnung, als Kate gerade in dem weichen Polster versank und versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren. Das beunruhigende Telefonat mit John versuchte sie zu verdrängen, so gut es ging, und als Liz endlich nach Hause kam, zwei duftende Pizzakartons in den Armen, gelang ihr das schlussendlich auch.
"Meeresfrüchte und Schinken", verkündete sie und deutete auf beide Pizzas. "Welche darf's sein?"
Kate lächelte. Sie wusste, dass Liz sowohl Schinken, als auch Meeresfrüchte mochte und ihr selbst ging es da nicht anders.
"Von jeder die Hälfte", forderte sie daher und behielt Recht in ihrer Annahme, dass ihre Schwester mit ihrer Wahl vollauf zufrieden sein würde.
"Einen Moment noch, ich hüpf kurz unter die Dusche." Liz verschwand schnell in ihrem Schlafzimmer und wenige Minuten später hörte Kate das laufende Wasser im Badezimmer. Sie machte den Backofen an und stellte die Pizzas rein, damit sie heiß blieben.
Während Liz laut summend duschte, nagte das Telefonat mit John schon wieder an Kate. Ob sie ihrer Schwester etwas davon erzählen sollte? Sie entschied sich dafür, doch erst nach dem Essen. Sie wollte die gute Laune, die Liz momentan hatte, nicht gefährden, schon gar nicht, weil diese sich ganz offensichtlich sehr auf die Pizza freute.

Doch es kam alles ganz anders, als Kate geplant hatte. Kaum hatte Liz sich die Haare abgetrocknet, sich angezogen und war in die Küche gekommen, wo Kate schon vorsorglich die Pizzas in Scheiben geschnitten hatte, klopfte es an der Tür.
Überrascht wandte sich Liz um. "Für die Post ist es ein bisschen zu spät", murmelte sie vor sich hin, während sie zur Tür ging. Kate blieb in der Küche zurück und goss vorsorglich Limonade, die sie in Lizzie's Kühlschrank gefunden hatte, in zwei Gläser.
Was daraufhin folgte, war ein bitterböses Schnauben und Keifen Lizzie's, schnelle, laute Schritte auf dem Parkettfußboden und die Tür, wie sie krachend ins Schloss fiel.
Kate spitzte die Ohren, nachdem sie von der knallenden Tür so erschreckt worden war, dass sie zusammengezuckt ist.
"Wie zum Teufel bist du reingekommen?", ertönte Lizzie's schrille, aufgeregte Stimme und Kate wusste sofort, wer da geklopft hatte. Schuldbewusst zog sie sich auf einen Stuhl zurück, wollte sich einerseits nicht einmischen, andererseits nicht in Schussweite kommen, da sie an dem ganzen Schlamassel doch mit beteiligt war. Wäre sie bloß nicht ans Telefon gegangen... Liz würde sie umbringen!
John schien diese Frage zu ignorieren. "Wir müssen reden, Liz, und das weißt du genauso gut wie ich", beharrte er. "Warum bist du nur so störrisch?"
Er klang gar nicht wie ein Rockmusiker, schoss es Kate durch den Kopf. Zumindest bis jetzt noch nicht. Sie stellte sich Musiker immer leicht bekifft, mit einem verwirrten Grinsen im Gesicht und notfalls ein bisschen aggressiv vor, solche Typen eben, wie Lizzie sie jahrelang mit nach Hause geschleppt hatte. Sie konnten sich nicht anständig artikulieren und nahmen nichts ernst.
In John's Tonfall jedenfalls war nichts davon zu hören. Schon allein die Art, wie er sprach, hatte etwas würdevolles, anständiges, ernstes. Kate überkam das jähe Verlangen, ihren Kopf einmal aus der Tür zu stecken und einen Blick auf ihn zu werfen, doch die Furcht vor ihrer Schwester war zu groß, um dieses Risiko einzugehen.
"Wir müssen gar nichts!", giftete Liz angespannt. "Du bist hier nicht erwünscht, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest." Ihr Tonfall war kalt, bissig.
John holte hörbar Luft. Es schien, als versuchte er, sich unter Kontrolle zu halten. Seine nächsten Worte sprach er mit Bedacht aus, betont ruhig. "Ich gehe erst, wenn du wieder mit mir redest."
Liz schnaubte und setzte sich augenblicklich in Bewegung.
Kate hörte sie näherkommen und versteifte sich automatisch auf ihrem Stuhl. Kerzengerade saß sie da, als Liz rigoros in die Küche stürmte. Ihr Gesichtausdruck eisern, ihre Schritte bestimmt.
Das kannte Kate schon - Liz würde sich nicht so einfach von John einlullen lassen, was auch immer er von ihr wollte.
"Eine Stunde", entschied sie kühl.
Während Kate ihre Schwester dabei beobachtete, wie sie, äußerst unwillig und verdrießlich, nach ihrer Handtasche griff und nebenbei ihre Autoschlüssel vom Tisch aufsammelte, bemerkte sie gar nicht, wie John ihr in die Küche gefolgt war.
"Ich fahre", sagte er bestimmt, aber nicht unfreundlich, und Kate wandte sich etwas erschrocken zu ihm um. Er lehnte am Türrahmen, die Hände lässig in die Taschen seiner beigen Jacke vergraben.
John hatte braune, kurze Haare, braune, warme Augen, ein markantes Kinn, er war deutlich größer als Liz selbst, sicherlich auch älter, und äußerst anständig gekleidet - keine Spur von Lederkluft oder ähnlichen Vorlieben von Liz.
Mit geweiteten Augen betrachtete Kate diesen Mann, den sie sich so anders vorgestellt hatte. Das war, als hätte man das billigste Menü im Restaurant bestellt und aufgrund eines Irrtums des Kellners ein Fünf-Gänge-Menü mit allem drum und dran bekommen.
Liz steckte ihre Schlüssel dennoch trotzig in ihre Handtasche, schnaubte kurz und nahm sich ein Stück der Pizza, das sie sich in eine Serviette legte.
John wandte sich Kate zu und zwinkerte ihr verschwörerisch zu, ein unmerkliches Lächeln auf den Lippen, während Liz in der Küche zugange war, um noch mehr Zeit zu schinden. Kate blinzelte verwirrt.
"Ich werde dich wohl nie los", knurrte Liz in diesem Moment garstig und warf ihm einen abfälligen Blick zu, dem er oben Mühe stand hielt, ohne auch nur sein Gesicht zu verziehen. Und das alles mit einem aufmerksam-interessierten Ausdruck, als würde Liz's Verhalten ihm nicht im Geringsten nahe gehen.
Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und wartete geduldig, bis Liz endlich soweit war.
"Es dauert nicht lange", sagte sie brüsk zu Kate und bedachte John ein weiteres Mal mit einem misstrauischen Blick. "Ich bin bald wieder da, schau dich ruhig in der Stadt um, aber vergiss nicht die Haustürschlüssel."
Kate nickte benommen. Das hier war eindeutig zu seltsam, als dass sie irgendetwas sagen konnte. Und Liz schien noch nicht herausgefunden zu haben, dass das alles ihre Schuld war. Zum Glück!
"Bis nachher", verabschiedete sich Liz durch zusammengebissene Zähne, John immer wieder tödliche Blicke zuwerfend, die er gekonnt ignorierte.
Sie schritt so würdevoll wie möglich mit großen Schritten an ihm vorbei in den Flur, um sich die Schuhe anzuziehen. Er stieß sich locker von der Türkante ab und lächelte Kate aufmunternd zu.
"Bis dann, Kate. Wir sehen uns sicherlich wieder, dann hoffentlich unter glücklicheren Umständen." Er grinste schief, bevor er sich von ihr abwandte und Liz folgte.
Kate konnte nur hoffen, dass ihr Mund nicht offen stand.
John - der Freund ihrer flippigen Schwester - ein anständiger, höflicher, gutaussehender Kerl?
Sie konnte es gar nicht fassen - war das etwa der Grund gewesen, warum sie ihn nie hatte der Familie vorstellen wollen?
Kate schüttelte fassungslos den Kopf, gerade, als die Tür hinten den beiden ins Schloss fiel - dank Liz wohl lauter, als sie es musste. Ihre Schwester war Kate schon immer ein Rätsel gewesen, aber nun, wo sie einen netten Mann vor ihrer Familie versteckte, bloß, weil er nett war und den Erwartungen ihrer Eltern entsprach, erklärte sie sie für vollkommen übergeschnappt.
Geistesabwesend schob sie sich ein Stück Pizza in den Mund und biss ab, kaute gedankenverloren und dachte noch ein bisschen darüber nach. Es gab noch einiges, was sie nicht verstand, aber das würde sie Liz fragen, wenn diese von ihrem kleinen Ausflug zurückkommen würde. Kate musste grinsen. Ihre Schwester war echt ein Fall für sich!
Und wie konnte sich John nur so sicher sein, dass sie sich bald wiedersehen würden? Anscheinend kannte er ihre Schwester nicht richtig!

Kate beschloss, mit dem U-Bahnplan bewaffnet, die Gegend etwas genauer zu erkunden.
Es war nicht weit zu Fuß bis zur U-Bahnstation Knightsbridge und gleich um die Ecke von Liz’s Haus befand sich der Hyde Park, doch dort war Kate gestern schon gewesen und außerdem hatte sie keine Lust, alleine durch den Park zu spazieren.
Kate begutachtete ihre Karte. Bis zum Piccadilly Circus waren es nur drei Stationen und ein kleiner Schaufensterbummel würde ihr sicherlich gut tun, um sich abzulenken.

Im Stadtbezirk City of Westminster wurde Kate, als sie mit der Rolltreppe an die Oberfläche des Tageslichts gelangte, von Lärm, Verkehrsstau, dauerndem Hupen und einer Menge blinkender Lichter begrüßt. Viel imposanter aber waren die alten Gebäude, die sich majestätisch über die Menschen erhoben.
Beeindruckt und etwas eingeschüchtert, weil sie das erste Mal alleine in dieser Stadt unterwegs war, schaute sich Kate um und folgte anschließend den anderen Leuten, die aus der U-Bahn Richtung Einkaufsstraße Haymarket strömten.
Graue und weiße, große Häuser im georgianischen Stil reihten sich aneinander und säumten die Straße rechts und links. Im Erdgeschoss befanden sich große und kleine, flippige, bunte und schicke, elegante Geschäfte, ganz in der Nähe - wie konnte es anders sein? - ein Mcdonald’s.
Kate bewunderte die Farbenpracht, lauschte auf das aufgeregte Geplapper der Leute um sich herum - die meisten waren Touristen und sprachen andere Sprachen - und beobachtete sich fotografierende Familien. Mitten auf den Gehwagen standen in regelmäßigen Abständen irgendwelche Künstler, die mit Kreide ein Kunstwerk auf dem Asphalt hervorzauberten, Pantomimen, die besonders von Kindern belagert wurden und Musiker, mit Geigen oder Gitarren, die bekannte Hits, meistens alte, melancholische Lieder, spielten und mit sanfter, schmerzerfüllter Stimme dazu sangen, dass es Kate ganz schwer ums Herz wurde.
Vor einem jungen Mann mit langen, verfilzten, zusammengebundenen Haaren, der auf seiner Gitarre ein ihr bekanntes Lied spielte, blieb sie stehen und ließ sich einen kurzen Moment durch seinen ausdrucksvollen Gesang in eine andere, ihr nur allzu bekannte, Welt entführen, doch schnell fasste sie sich wieder, holte ein paar Münzen aus ihrer Tasche und ließ sie in das dafür vorgesehene Glas fallen, das zu den Füßen den jungen Mannes stand.
Er grinste sie dankbar an, wobei ein Grübchen in seiner rechten Wange sichtbar wurde, und nickte, während er die nächsten Zeilen des traurigen Lieds spielte. Kate ergriff die Flucht, bevor ihr sein Lied richtig nahe gehen und all ihre Sorgen mit einem Mal zurückbringen konnte.
Stattdessen versuchte sie, ihre Gedanken auf Claire zu lenken. Sie hätte gerne gewusst, wie es bei ihr zu Hause, in Nottingham, lief, aber Claire hatte ihr strikt verboten, anzurufen.
"Ruf ja nicht an!", hatte sie ihr mehrmals eingeschärft und sie dabei streng angesehen. Und das alles, damit sie ein bisschen abschalten und vergessen konnte und nicht ständig an das, was sie daheim wieder erwartete, denken musste.
Sie war sich sicher, dass Claire ihrem besten Freund das Leben nicht gerade leicht machte. Sie hatte Jake nicht Bescheid gesagt, dass sie weggefahren war und Liz's Telefonnummer hatte er ebenso nicht. Claire würde sie ihm sicherlich auch nicht aushändigen.
Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie das schadenfreudige Gesicht ihrer Freundin wieder vor sich sah, als diese ihr verkündete, dass sie sich schon um Jake "kümmern" würde. Nun, daran zweifelte Kate nicht eine Sekunde.


Es war schon nach sieben Uhr abends und dunkel, als Kate in Liz's Wohnung zurückkehrte und fast erwartete sie, ihre frustrierte Schwester vor dem Fernseher, an der Pizza kauend, die Kate vorsorglich eingepackt und in den Kühlschrank gestellt hatte, vorzufinden.
Doch in der Wohnung war es mucksmäuschenstill. Keine Musik, kein Radio, keine Fernsehgeräusche waren zu vernehmen und auch die Badezimmertür stand offen. Ganz offensichtlich war Liz noch nicht zu Hause und war es zwischenzeitlich wohl auch nicht gewesen, denn alle Sachen befanden sich noch am selben Platz, an dem sie waren, als Kate selbst die Wohnung verlassen hatte, was nun schon fast zwei Stunden her war.
Etwas verwirrt und besorgt ob dem Aufenthaltsort ihrer Schwester runzelte Kate die Stirn und überlegte nebenbei, ob sie lieber fernsehen oder ein Buch lesen wollte. Fernsehen machte ohne Claire's bissige Kommentare nicht so viel Spaß, also entschied sie sich für Letzteres.
In ihrem Zimmer machte sie das Radio an, stellte es leiser und nahm sich ein Buch, mit dem sie sich auf ihr Bett hockte.

Gegen 22 Uhr, von Liz noch immer keine Spur, legte Kate das Buch weg und machte sich bettfertig. Ein bisschen Sorge hatte sie schon um ihre Schwester, aber - und das war auch typisch für Liz - hatte diese ihr Handy auf der Ablage in der Küche liegen lassen und war nicht erreichbar.
Kate versuchte sich damit zu beruhigen, dass sie sich schon wehren konnte und sich in der Stadt auskannte. Außerdem war John bei Liz, und er schien ihr nicht gerade wie ein gefährlicher Serienkiller... oder? Man konnte ja nie wissen...
Kate überlegte hin und her, und immer, wenn ein panischer Gedanke auftauchte, versuchte sie, diesen irgendwie wieder zu verdrängen und sich gut zuzureden, bis sie bemerkte, dass ihre Fantasie ihr wieder mal Streiche spielte.
Irgendwann schlief sie erschöpft ein und wachte erst acht Stunden später wieder auf.

Kate duschte, putzte sich die Zähne, zog sich an. Langsam kroch die Panik in ihr hoch. Liz war noch immer nicht zurückgekommen und es war schon 8 Uhr am nächsten Morgen!
Während sie sich die Haare fönte, überlegte sie, ob sie irgendwo in Liz's Wohnung ein Telefonbuch finden würde, wo John's Nummer verzeichnet war.
Mit diesem Gedanken stürmte sie aus dem Bad und wollte gerade ins Wohnzimmer, um nach einem Adressbuch zu suchen, doch dann hörte sie das erlösende Geräusch: den Schlüssel im Schloss.
Für einen kurzen Moment setzte ihr Herz aus, als ihr durch den Kopf schoss, dass jemand Liz überwältigt und den Schlüssel geklaut haben könnte, um sie jetzt auszurauben, doch diese Panik hielt nur für den Bruchteil einer Sekunde an, bis sie sich zusammenriss.
Tatsächlich war es Liz, die auf Zehenspitzen durch die Tür getrippelt kam und diese besonders leise hinter sich schloss.
Fassungslos stand Kate im Flur, von Liz noch unbemerkt, und starrte ihre Schwester an, die sich ihrer Schuhe entledigte. Sie hatte dieselben Klamotten an, in denen sie am Vortag die Wohnung verlassen hatte. Als sie sich umdrehte, begegneten sich ihre Blicke und Liz konnte sich ein ertapptes, schuldbewusstes Grinsen nicht verkneifen.
"Wo warst du denn?!", wollte Kate alarmiert wissen, obwohl sie es sich schon denken konnte, denn Liz's unverschämtes Grinsen sprach Bände. "Es ist 8 Uhr morgens!"
Liz winkte ab und marschierte, immer noch grienend, an Kate vorbei in die Küche, wo sie sich sogleich daran machte, Kaffee zu kochen.
"Ach, komm schon Katie, sei doch nicht so." Sie hielt inne und versuchte, ernst zu gucken, was ihr nicht so recht gelingen wollte. Stattdessen wurde ihr glückliches Lächeln noch breiter. Sie kicherte in sich hinein. "Frühstück?"
"Ich hab mir Sorgen gemacht", versuchte ihre jüngere Schwester zu erklären, ein wenig verzweifelt, weil die Ältere nicht einsah, dass man nicht einfach mit einem "Bis gleich" wegging und erst 15 Stunden später zurückkam, und ignorierte Liz’s Frage.
"Das musst du nicht." Liz grinste. "Ich bin schon groß, weißt du?" Sie zwinkerte ihrer verwirrten Schwester verschwörerisch zu, ähnlich wie John vor ihr, und widmete sich wieder der Kaffeemaschine.
Mit einem amüsierten Glucksen fügte sie noch hinzu: "Aber erzähl Mum nichts, ja?"
Kate schnaubte leise, verächtlich. Liz war also "schon groß"...!
Kapitel 15: From me to you

From: ClaireGreene[at]yahoo.co.uk <Claire Greene>
To: Kate.W[at]mail.co.uk <Kate Winston>
Date: Thu, 27. Feb 2007, 14:09
Subject: Dein Exil

Hey Kate, alles klar bei dir und Liz?
Hoffe echt, du gabelst dir irgendeinen Kerl auf, der es wert ist, sodass Jake mal gucken kann, wo er bleibt.
Aber ich fürchte, ich kenne dich da besser. Na ja, kannst es dir ja trotzdem überlegen.
Weißt du schon, was du wieder zurückkommst? Es ist langweilig hier. Keiner da, der das Putzen übernimmt. ;-) Aber wenn du wieder zurück bist, hast du wenigstens was zu tun.
Jetzt mach nicht so ein Gesicht, war nur ein Scherz.
Was ich dir eigentlich erzählen wollte: habe Jake alles genauso gesagt, wie du mir aufgetragen hast, na ja, mit ein paar Freiheiten, die ich mir eingeräumt habe, aber bevor du gleich in Panik gerätst: er ist ahnungslos wie eh und jäh und wird wahrscheinlich auch niemals etwas anderes sein. Armer Irrer.
Ich hab ihm lediglich gesagt, dass du nach London gefahren bist, um deine Schwester zu besuchen und die Schnauze voll hattest von dem ein oder anderen hier, aber er hat nicht einmal Verdacht geschöpft. Du kennst das ja... nett gelächelt und sich nur beschwert, dass du ihm nicht Bescheid gesagt hast. Also es besteht kein Risiko, dass er dir verzweifelt hinterherfährt, weil er erkannt hat, dass du ihn liebst und er dich auch, um vor dir auf die Knie zu fallen und dich um Verzeihung anzuflehen.
Was er wirklich lieber mal machen sollte.
Habe noch mal über die Sache mit Miss Dorfsch*** nachgedacht (dein Optiker hat übrigens angerufen und du kannst nächste Woche deine neue Brille abholen) und bin zu dem Schluss gekommen, dass sie dich als eine Art Rivalin ansieht, was ich aber nicht nachvollziehen kann, denn 1. machst du keinerlei Andeutungen, dass du an Jake interessiert bist (leider!!!) und 2. ist sie es doch meiner Meinung nach auch nicht. Wahrscheinlich handelt es sich dabei nur um ein kleines Machtspielchen à la "ich kriege alles was ich will". Das nächste Mal trittst du ihr aber gewaltig in ihren bestimmt nicht mehr ganz jugendfreien Hintern oder ich nehme die Sache selbst in die Hand, da kannst du dir aber sicher sein!
Na egal jetzt. Ich weiß ja, dass du weg bist, um nicht mehr dran zu denken, aber ich fass es einfach nicht, was du dir alles gefallen lässt. Und Jake, dieser Trottel! Der würde die Wahrheit doch nicht einmal merken, wenn sie einen Striptease vor seiner Nase hinlegen würde (es sei denn, Rachel kommt ihr zuvor >:-( ).
Er nervt übrigens. Heute hat er schon zweimal angerufen, um zu fragen, ob er irgendein Buch hier hat liegen lassen. Und das zweite Mal wollte er mir wirklich nicht glauben, dass dem nicht so sei. Was er nicht weiß: auf der Couch liegt ein Buch, das dem, was er sucht, erstaunlich ähnlich ist... ;-) *evil grin*
Keine Sorge, ich gebe es ihm wieder, bevor er seine Prüfung hat, aber vorher werd ich ihn ein bisschen quälen. Wie gesagt: es ist sehr langweilig hier und du, mein Moralapostel, bist ja nicht da, um mir die Flausen auszutreiben.
Deine Schwester Judy hat übrigens angerufen, ich hab sie an Liz weitergeleitet, aber vorher hat sie mir noch verraten, dass es ein Mädchen wird! Und wieder gibt es bald einen besseren Menschen mehr auf der Welt.
Bis bald und genieß London, solange du noch kannst. Vergiss nicht, mir was schönes Teures mitzubringen und mach ein paar Fotos!
Lieb' dich!
Claire




From: Jake88[at]uk2.net <Jake Parker>
To: Kate.W[at]mail.co.uk <Kate Winston>
Date: Tue, 27. Feb 2007, 17:48
Subject: London?

Katie, habe vorhin Claire angerufen und sie behauptet, du wärst in London? Warum hast du nichts gesagt? Wir haben uns seit Dave's Geburtstag ja gar nicht mehr gesehen. Gabe hat erzählt, ich wär die meiste Zeit mit dir zusammengewesen, aber ich erinnere mich gar nicht mehr an alles. Eigentlich an fast gar nichts mehr. Doch, dass deine Brille kaputt gegangen ist, irgendwie, aber sonst eher nicht.
Hab ich eigentlich irgendetwas Peinliches getan oder gesagt zu irgendwem? Du weißt schon, Rachel oder so? Ich hoffe echt, ich hab's nicht vermasselt.
Aber du kannst dir ja gar nicht vorstellen, was ich am nächsten Morgen für Kopfschmerzen hatten! Nie wieder werde ich so viel trinken, ehrlich.
Aber ich wollte dich fragen, ob du vielleicht weißt, wo ich mein Anatomiebuch gelassen habe? Ich find's wirklich nirgends und Claire sagt, es ist auch nicht bei euch... Aber bei mir ist es auch nicht. Und das letzte Mal hab ich es, glaub' ich, bei euch auf dem Sofa gelesen, als ihr beide mit der Grippe im Bett lagt... ich kann mich aber auch irren.
Ich habe schon zwei Mal angerufen und langsam wird sie sauer, noch einmal und sie erwürgt mich bestimmt durch die Leitung hindurch mit der Telefonschnur. Hab schon mein ganzes Zimmer auf den Kopf gestellt. Vielleicht hab ich es schon wieder irgendwo verloren, genau wie letztes Jahr das Mathebuch in der Schule, weißt du noch? Mrs. Roberts war ziemlich wütend, weil das Eigentum der Schule war... Da musste ich ein Neues kaufen, aber ich hab dieses Mal nicht so viel Zeit. Also wenn du es irgendwo findest, dann sag Bescheid, okay? Ich such noch ein bisschen weiter.
Viel Spaß in London, meld dich wenn du wieder da bist, dann kannst du mir von Dave's Party erzählen und so.
Jake




From: Jake88[at]uk2.net <Jake Parker>
To: Kate.W[at]mail.co.uk <Kate Winston>
Date: Tue, 01. Mar 2007, 16:05
Subject: Buch!

Hi Katie, ich bin's noch mal: Ich wollte nur sagen, dass ich mein Buch wieder habe. Claire hat vorhin angerufen, dass sie es gefunden hat und ich hab es sofort abgeholt. Und das, nachdem ich sie gestern und heute noch angerufen habe, um nachzufragen und sie mich richtig angemeckert hat. Und dann hol ich das Buch ab und es geht weiter... warum ich nicht auf meine Sachen aufpassen könnte und so.
Das mit Claire ist wirklich anstrengend. Wenn du das Buch gefunden hättest, wär mir das viel lieber gewesen. Warum ist sie bloß so widerspenstig in letzter Zeit? Wie hältst du es bloß aus, mit ihr Tag für Tag aus engstem Raum?
Bis bald!
Jake




From: ClaireGreene[at]yahoo.co.uk <Claire Greene>
To: Kate.W[at]mail.co.uk <Kate Winston>
Date: Thu, 01. Mar 2007, 20:11
Subject: Jake >:-)

Habe heute Jake's Buch "wiedergefunden" und ihn benachrichtigt - konnte den Telefonterror und sein Geplärre nicht mehr ertragen. Wie hältst du es nur mit ihm aus?
Jedenfalls hab ich ihn ein bisschen angemotzt, auch wenn ich ihn viel lieber auf sein fehlendes Hirn angesprochen hätte, aber das hast du ja verboten, also muss es eben so auch gehen, hehe.
Also bist du am Samstag mit Lizzie erst mal in Collingham, um Danny's Geburtstag zu feiern und am Sonntag dann wieder hier, hab ich das richtig verstanden von deiner lieblos hingekritzelten Postkarte? ;-) Nein, natürlich hab ich mich gefreut.
Soll ich 'ne Willkommensparty für dich schmeißen, mit all deinen Lieblingsfreunden? Rachel, Dave? :-D
Ich seh schon, ein Candlelightdinner mit Pizza und mir reicht dir vollkommen aus, wäre mir so auch lieber. Ich erwarte dich also bald daheim, Schätzchen. Lass es dir gut gehen. Ich guck mir jetzt das langweilige Abendprogramm im TV an.
Claire

PS: Das Telefon stöpsle ich zur Sicherheit aus!



Kate drückte auf die "Power"-Taste auf Lizzie's Laptop. Der Bildschirm wurde schwarz.
Kapitel 16: Home sweet home

Als Kate mit ihren Schlüssel die Wohnungstür zu Claire's und ihrer Wohnung aufmachte, stieg ihr sogleich ein eigenartiger Geruch in die Nase, den sie nicht sofort zuordnen konnte. Seltsam eigentlich, denn Claire war eine außergewöhnlich gute Köchen und noch seltsamer, denn Claire kochte selten bis niemals. Kate vermutete, dass dahinter die Angst lag, zu einem Hausmütterchen abgestempelt zu werden. Sie war in dieser Hinsicht etwa ähnlich beschaffen wie Lizzie...
Als Kate ihren Koffer abstellte und ihre Jacke an den Haken hängte, hörte sie zwei sich streitende, dumpfe Stimmen aus der Küche herausdringen. Claire war also nicht alleine.

Kate lächelte. Es gab nur einen, mit dem Claire im Dauerclinch lag. Sie streifte ihre Schuhe ab und öffnete vorsichtig die Tür zur Küche.
Sie war selbst ganz erstaunt, wie sehr sie sich freute, Jake wiederzusehen. Sie hatte ihn ganz schön vermisst, seine stressfreie Art und sein Geplapper und London hatte ihr richtig gut getan, um ein bisschen Abstand von den Dingen zu nehmen. Obwohl das, was zwischen ihnen passiert war, wirklich dumm war, ließ es sich nicht rückgängig machen und sie durfte wegen so einem Fehltritt auf keinen Fall ihre Freundschaft mit Jake auf’s Spiel setzen. Vor allem, da sie sowieso die einzige war, die sich daran erinnern konnte.

Claire lehnte gegen den Küchentisch und hatte ihr den Rücken zugewandt und die Arme verschränkt. Jake hingegen hing über der Spüle, die Ärmel seines Pullovers hochgekrempelt, die Haare in der Stirn total nass, ebenso wie die Vorderfront seines Pullis. Das Wasser lief, der Boden unter ihm war klatschnass, sodass er mit den besockten Füßen in einer Wasserlache stand.
Auf der Ablage stapelten sich verschiedene, schmutzige Schüsseln und der Herd war so verdreckt wie noch nie. Eine matschige Tomatenscheibe lag auf dem Boden, der Rest davon auf einem Schneidebrettchen auf dem Tisch, neben einem Salatkopf.
"Du Vollidiot!", schimpfte Claire gerade. "Hast du verwöhntes Balg überhaupt jemals einen Lappen angefasst, geschweige denn einen einzigen Fuß in eine Küche gesetzt?!"
"Wieso machst du das denn nicht, wenn's dir nicht passt?", konterte Jake, allerdings klang er mehr als nur verzweifelt. Claire schnaubte nur genervt.
"Das würde dir so passen. Immerhin war das DEINE Idee!"
"Ich wollte Katie nur etwas Gutes tun, das kann man von dir ja nicht gerade behaupten", knurrte ihr bester Freund verdrießlich und schmiss einen Löffel, am dem er gerade viel zu lange herumgeschrubbt hatte, wieder in das Spülbecken.
Kate konnte ein Kichern nicht unterdrücken und sofort schossen die zwei Köpfe zu ihr herum.
"Katie", rief Jake, sprang auf sie zu und fiel ihr um den Hals. Mit milder Überraschung tätschelte sie verhalten seinen Rücken, ein bisschen peinlich berührt.
Claire betrachtete ihre Freundin, die von Jake umarmt wurde, von weitem. Fast meinte Kate, eine missbilligend hochgehobene Augenbraue bei Claire gesehen zu haben, aber sie könnte sie auch getäuscht haben. Diese lehnte sich mit dem Rücken gegen die Anrichte und lächelte. "Du siehst erholt aus", stellte sie fest und klang recht zufrieden, als wäre das ihr eigener Verdienst. Jake indessen trat ein paar Schritte zurück und musterte Kate, die ihrer besten Freundin begeistert zunickte.
"London war toll", erzählte sie fasziniert und ein gedankenverlorenes Lächeln umspielt ihre Lippen, als ihr Blick erinnerungsselig abschweifte und sie anfing, von ihrer Kurzreise in die große Stadt zu berichten. Allem voran von dem abenteuerlichem Aufenthalt bei ihrer Schwester Liz.
Jake zog einen Stuhl unter dem vollbepackten Tisch hervor und setzte sich schweigend, lauschte Kate's Schilderungen von dem plötzlichen Auftauchen John's und von Lizzie's stundenlangem Wegbleiben.
Claire grinste. "Ich dachte, 'Johnny' wär ein Bandmitglied?", hakte sie nach und verschränkte belustigt die Arme vor der Brust. "Dazu passt deine Beschreibung von seinem Aufzug aber gar nicht."
Kate nickte ernst. "Ich hab auch den Verdacht, dass das der Grund ist, warum sie ihn Mum und den anderen noch nie vorgestellt und ihn vor uns geheim gehalten hat. Weil er zu anständig ist, ihrer Meinung nach, und das ist ihr peinlich." Nebenbei entledigte sie sich ihres Pullovers und hängte ihn sich über den Arm, wandte sich zum Gehen und versuchte, so gut, wie es ihr möglich war, die unangenehme Tatsache zu ignorieren, dass Jake sie die ganze Zeit über von der Seite her anstarrte.
"Eine seltsame Schwester hast du", murmelte er schließlich leise und handelte sich einen weiteren - bestimmt an diesem Tag nicht gerade den ersten - abfällig-mitleidigen Blick von Claire ein.
"Du hast ja echt keine Ahnung", stichelte sie ihn und Kate seufzte. Sie musste aus diesem Stresszimmer schnellstens raus.
"Ich geh erst mal auspacken." Froh, wieder in ihr geliebtes Zimmer zurückzukehren, nahm Kate ihren Koffer und zog ihn hinter sich her, im Hintergrund die beleidigte Stimme Jake's.
"Hast du etwa eine?!"

Als sie die Tür aufstieß, die beiden Streithähne mit ihren irdischen Probleme hinter sich ließ und das Zimmer betrat, fiel ihr Blick sofort auf ihren Schreibtisch, der belagert wurde von einem riesigen Stapel Büchern. Interessiert trat sie näher, der Koffer war längst vergessen, und nahm das erste Buch, das oben drauf lag, in die Hand, las sich den Titel durch.
Es war eine Biographie über den englischen Dichter William Blake. Kate warf einen Blick auf das Buch darunter und auch das handelte von den Dichtern und Denkern der Literaturepoche der Romantik.
Verwirrt runzelte Kate die Stirn. Sie konnte sich nicht erinnern, vor ihrer Abreise in der Bibliothek gewesen zu sein und diese Bücher ausgeliehen zu haben.
Abrupt drehte sie sich um und schlenderte in die Küche, wo Claire und Jake noch immer ihren Kochkrieg ausfochten.
Ohne sich von dem Gekeife und den fliegenden Kochlöffeln beeindrucken zu lassen, schwenkte Kate abwesend das Buch hin und her.
"Claire? Woher kommen denn die Bücher?"
Claire drehte sich augenblicklich zu ihrer Freundin um und grinste selbstzufrieden.
"Ach, weißt du... ich hatte eine Menge freie Zeit und irgendwann wurde mir langweilig, also hab ich dir ein paar Bücher ausgeliehen, von denen ich dachte, sie könnten zu deinem Hausarbeitsthema passen. Es ist doch irgendwas über die Romantik, oder?"
Sie hielt inne und grübelte kurz nach. "Motivationen der romantischen Schriftsteller und Dichter? Ich hab die Bücher extra nach diesem Thema ausgesucht."
Gerührt nickte Kate. "Danke, Claire. Du ahnst ja gar nicht, wie viel Arbeit mir das erspart. Du bist die Beste!" Sie fiel Claire um den Hals und drückte sie an sich. Kate hatte ihre Freundin wirklich vermisst, immerhin verbrachte sie Tag für Tag mit ihr zusammen und nur sehr selten bekamen sie sich in die Haare. Ohne Claire war sie wie auf Entzug, niemand, der dumme Sprüche losließ und niemand, der ihr ins Gewissen redete und niemand, der sie nervte und sie dazu zwang, die Küche aufzuräumen.
Jake verzog das Gesicht zu einer Grimasse, während er die zwei beobachtete. "Ich hätte das auch machen können, wenn ich gewusst hätte, dass du so was brauchst", verteidigte er sich ein wenig eingeschnappt.
Kate schenkte ihm ein Lächeln, kam jedoch nicht dazu etwas zu sagen, denn Claire schaltete sich nun schon ins Gespräch ein. "Du würdest die Literaturabteilung in der Bibliothek doch nicht mal finden, geschweige denn die Suchmaschine im Computer bedienen können", spottete sie gehässig und grinste bis über beide Ohren, als Jake vor Wut rot anlief und nur ein fassungsloses Schnauben von sich gab.
"Lass dich nicht von ihr ärgern, Jake", riet Kate ihm gutgelaunt und stupste ihre Freundin warnend in die Seite. "Und du sei ein bisschen netter, klar? Ich will keine Schlägereien sehen."
Mit diesen Worten verließ sie die Küche wieder, um sich endlich dem Auspacken zu widmen. Außerdem wollte sie noch kurz in die Dusche hüpfen, denn der Rückweg war viel zu lang gewesen, da ihr Zug Verspätung gehabt hatte und erst nach fast einer Stunde aufgetaucht war.

Frisch geduscht, trocken und in sauberer Kleidung fühlte sich Kate schon viel besser, wunderte sich jedoch, weshalb überall Jake’s Klamotten herumlagen: im Bad hatte sie seinen Pulli ausfindig gemacht, im Flur lag eine von seinen Socken; die zweite war nirgends in Sicht. Hatte er etwa hier übernachtet? Es sah jedenfalls ganz so aus, als hätte er sich bereits heimisch gemacht.
"Sag mal, Claire", begann sie abwesend und rubbelte sich nebenbei die Haare mit einem Handtuch ab, schaute sich in der Küche um, "hattest du denn nichts zu tun?"
Diese verzog das Gesicht. "Ich sag ja, ich hatte etwas Zeit..."
"Hast du nicht bald Klausuren?" Kate trat an den Schrank heran, öffnete ihn und nahm sich ein Glas heraus, um sich etwas zu trinken einzugießen. Sie griff nach der Flasche, öffnete sie und ließ den dunkelroten, leckeren Cranberrysaft ins Glas ein.
"Doch. Aber ich konnte mich nicht auf's Lernen konzentrieren, weil unser lieber Freund hier..." Sie warf Jake einen ihrer missbilligenden Blicke zu, "einer Klettpflanze gleicht, die man nach zwei Tagen erst am Ärmel oder in der Kapuze seiner Jacke entdeckt."
Was nichts anderes heiß, als dass Jake Claire so lange nicht in Ruhe gelassen hatte, bis sie alle Versuche, ihn von sich fernzuhalten, aufgegeben hatte.
Jake war ganz und gar nicht Claire's Meinung, wagte aber nicht, sich zu beschweren und murmelte lediglich missmutig vor sich hin, Claire sei eine Sklaventreiberin und selber daran schuld.
Kate schluckte den Saft herunter und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. "Ihr hattet also Spaß", stellte sie amüsiert und nicht ganz so ernstgemeint fest, beförderte das Glas in das überquellende Spülbecken und betrachtete die griesgrämigen Gesichter ihrer beiden Freunde.
"So würde ich das nicht gerade nennen", kam die trockene, fast schon verächtliche Antwort von Claire.
Dann fiel Kate ein, was sie eigentlich hatte fragen wollen, als sie Jake's Socke auf dem Gang erblickt hatte, und seine Medizinbücher auf ihrem - ihrem! - Bett.
"Warum liegen hier eigentlich überall Jake's Klamotten herum?" Anstatt diesen direkt zu adressieren, war die Frage an Claire gerichtet und erst in diesem Augenblick fiel ihr so richtig auf, dass sie ihn unbewusst ignorierte - oder ihm aus de Weg ging. Irgendwie war ihr seine Anwesenheit unangenehm - das war ein neues Gefühl für sie, aber andererseits auch nicht verwunderlich: er machte sie zu der Person, die sie war, und die sie nicht sein wollte: eine traurige, hoffnungslose Gestalt. Verblüfft von dieser Erkenntnis hielt sie einen Moment lang inne, wagte es aber nun auch nicht mehr, Jake ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen, da ihr die ganze Situation irgendwie unangenehm war.
Claire merkte zum Glück gar nichts, schüttelte nur fassungslos den Kopf. "Der hat hier übernachtet", antwortete sie finster. "Um für heute 'alles vorzubereiten' - als käme ich ohne ihn nicht zurecht."
Sie war gerade mal eine Woche weg, aber das hat ihren beiden Freunden schon gereicht, um zu bemerken, dass sie allein doch irgendwie einsam waren. Das war der Grund, weshalb Jake hier war. Und es war auch der Grund, weshalb Claire ihn nicht weggeschickt hatte - was auch immer sie behauptete, Kate war sich sicher, dass sie es nicht aus vollster Überzeugung versucht hatte. Dazu kannte sie Claire viel zu gut.
Einen Augenblick lang stellte sie sich vor, ganz allein in dieser Wohnung zu sein, ohne Claire, und das für längere Zeit, und stellte fest, dass es ihr wohl ebenso ergehen würde. Diese Wohnung bestand nun mal aus Claire und ihr, und ohne eine von beiden war sie so schrecklich leer, als ob etwas nicht stimmte - als ob jemand fehlte, im wahrsten Sinne des Wortes. Normalerweise reiste Kate in den Ferien, wenn Claire ihren Vater in Dublin besuchte, nach Hause nach Collingham, deshalb fiel es ihr nie auf, aber wenn sie so recht drüber nachdachte, wusste sie auch, warum sie es so hielt. Müsste sie zwischen der leeren Wohnung ohne Claire und jedem anderen Ort wählen, würde sie jeden anderen Ort - vorausgesetzt, es waren Menschen anwesend - wohl vorziehen.
Sie lächelte ob der Loyalität ihrer Freunde und beschloss, das leidige Thema zu wechseln, denn Claire und Jake waren beide nicht besonders glücklich damit, was sie an ihren unwilligen Gesichtern erkennen konnte - wenn sie mal aufhörten, sich beleidigte und tödliche Blicke zuzuwerfen.
Gerade, als Kate den Mund aufmachen wollte, erfüllte ein grässlicher Gestank die Luft. Die drei Freunde schnupperten verwirrt, bis Jake plötzlich aufsprang - der Stuhl hinter ihm krachte scheppernd zu Boden - und blitzschnell den Deckel vom Topf herunterriss, aus dem zunächst nur dichter Dampf aufstieg. Bestürzt blickte er in den Topf hinein und bewegte sich nicht vom Fleck.
Nur wenige Sekunden später - Kate runzelte gerade die Stirn - war Claire an seiner Seite und schubste ihn mitsamt dem Deckel in seiner Hand zur Seite, nahm den Topf von der Platte und hielt ihn in die Höhe. "Du sollst nicht dumm rumstehen und da reingucken, davon wird es auch nicht besser", fuhr sie ihn entzürnt an, und warf dann selbst einen Blick in den Topf. "Na toll, jetzt hast du es vermasselt!"
"Was ist denn da drin?", wollte Kate neugierig wissen. "Das stinkt ja fürchterlich."
"Das waren Nudeln", antwortete Jake kleinlaut und hielt sich noch immer den Deckel vor die Brust, wie ein Schild, als könnte er damit Claire's Schimpftiraden abwenden.
Kate riss verblüfft die Augen auf. "Ihr habt Nudeln anbrennen lassen?" Dann brach sie in lautes Gelächter aus, sie konnte einfach nicht anders. "Wie schafft man denn SO etwas?"
Claire stellte kommentarlos den Kochtopf ab und nahm sich eine Gabel, versuchte, ein paar Nudeln zu retten, und schüttelte dann den Kopf.
"Die sind am Boden festgeschweißt und kohlrabenschwarz", gab sie zur Auskunft, und fügte dann ein gehässiges "Gut gemacht, Mister Chefkoch!" hinzu.
Jake, hin- und hergerissen zwischen dem Drang sich zu verteidigen und seinen Schuldgefühlen, entschied sich dafür, in die Defensive zu gehen. "Wenn du mir ein bisschen geholfen hättest, wäre das nicht passiert! Immerhin kannst du doch kochen!"
Oh ja, das stimmte. Claire war eine Superköchin - ihr gelang alles, was sie anfasste - nur, dass sie nie etwas anfasste. Sie hasste es und kochte nur, wenn es dringend erforderlich war. Ansonsten hielt sie sich mit Sandwiches und Fast Food über Wasser - eben alles, was schnell ging und zudem ungesund war. Claire machte das nichts aus.
"Und du nicht, wie wir deutlich sehen können", erwiderte sie darauf trocken und schob den Topf weg, entfernte sich ein paar Schritte von der Anrichte und lehnte sich wieder mit dem Rücken an die Wand, neben die Pinnwand, an der sämtliche Flyer von Bringdiensten hingen. Wie beiläufig riss sie die Broschüre des nächstgelegenen Chinesen von dem Korkbrett und wedelte damit in der Luft herum. "Noch ist es nicht zu spät", sagte sie bedeutungsvoll und warf Kate einen wissenden Blick zu, aber Jake ignorierte das.
"Du wolltest mir ja nicht helfen!", warf er Claire vor.
"DU hast dich aufgedrängt!", schoss sie zurück. "Außerdem... für irgendetwas musst du ja gut sein. Hätte ich bloß vorher gewusst, dass dieses irgendetwas nicht Kochen ist..."
Jake verzog sein schmollendes Gesicht. "Der Salat ist gut", verteidigte er sich und deutete auf eine Schüssel ganz in seiner Nähe, aus der große Salatblätter herauslugten, und hielt dann inne. "...glaube ich."
"Du hast ihn nicht mal gewaschen", argumentierte Claire unbeeindruckt und hob zweifelnd die Augenbrauen, was ihr einen sehr arroganten Gesichtsausdruck verlieh.
Jake resignierte, seine Schultern fielen in sich zusammen. "Dann ruf halt deinen Chinesen an", verkündete er grimmig mit dem kleinen Rest Stolz, der Claire noch nicht zum Opfer gefallen war.
"Das wollte ich nur hören", murmelte Claire zufrieden im Weggehen und blätterte durch den Flyer zu ihren Lieblingsgerichten auf der Speisekarte. "Kate, was soll ich für dich bestellen?", rief sie dann aus dem Wohnzimmer, wo sie sich bereits das Telefon geschnappt hatte und abwesend die Ziffern eintippte.
Kate war sich plötzlich nur allzu sehr des Alleinseins mit Jake bewusst, auch, wenn ihre Freundin nur einen Raum weiter hockte. Unbehaglich räusperte sie sich leise, eigentlich nur, um selbst zu hören, wie ihre Stimme klang. War noch alles da.
"Irgendwas mit Huhn!", antwortete sie Claire rufend und gesellte sich neben Jake, der niedergeschlagen und besiegt an der Spüle stand und die Salatblätter unter das Wasser hielt.
"Ich glaub, die Nudeln können wir wegschmeißen", sagte sie vorsichtig und zwang sich zu einem Lächeln. "Aber der Salat sieht gut aus. Irgendwo im Kühlschrank ist vielleicht noch Joghurtdressing?" Eigentlich wollte sie ihn darauf aufmerksam machen, aber es klang wie ein Vorschlag, eine Frage. Jake verstand trotzdem und, äußerst dankbar, dass wenigstens eine Person in diesem Haus nicht gegen ihn war, beeilte er sich, um selbige zu holen.
Ganz von sich selbst aus entsorgte er die verkochten und anschließend angebrannten Nudeln, wobei er ein wenig am Boden des Topfes kratzen musste, um sie wirklich alle herausbefördern zu können. Claire währenddessen beendete ihr Bestelltelefonat und gesellte sich wieder zu Kate und Jake in die Küche, die eifrig dabei waren, diese aufzuräumen. Kate ertrug es einfach nicht, wenn alles so schrecklich chaotisch und schmutzig war, und normalerweise war es das zum Glück auch nie. Aber normalerweise ließ sie auch nie zwei Streithähne tagelang herrenlos zurück, ohne hin und wieder nach dem Rechten zu sehen.
"In einer halben Stunde sollten sie da sein." Sie warf einen Blick auf den halbfertigen Salat in der Schüssel. "Soll ich die Paprika schneiden?"
Jake machte große Augen, doch bevor er etwas sagen konnte - sein Mund war schon offen, aber die Worte wollten noch nicht so recht heraus - sprang Kate hilfreich ein und bewahrte ihn vor einem erneuten Wutanfall Claire's. "Ja, danke, das wäre toll."
Erschüttert ließ der Junge sich auf einem Stuhl nieder und betrachtete schweigend beide Mädchen, die behände in der Küche herumhantierten. Dann schüttelte er fassungslos den Kopf, aber schwieg.
Kate, die dazu übergangen war, das dreckige Geschirr zu spülen, entschied sich für ein unverfängliches Thema, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen und auf einer lockeren Ebene zu bleiben. "Wie ich sehe, scheint ihr euch ja fabelhaft zu verstehen", scherzte sie.
Claire's Antwort war mehr ein tierisches Knurren. "Oh ja, wir sind während deiner Abwesenheit die besten Freunde geworden." Zur Bekräftigung ihrer ironischen Worte verdrehte sie genervt die Augen und glitt mit dem Messer kraftvoll durch eine grüne Paprika.
Jake rückte ein wenig von ihr ab, nachdem er ihr einen unsicheren Blick zugeworfen hatte, und lehnte sich mehr in Kate's Richtung. "Sie lügt", flüsterte er ernst, beinahe ehrfurchtsvoll, und handelte sich ein drohendes Augenverengen seitens Claire ein, entschied sich wohl aber dafür, sich nicht in die Enge treiben zu lassen.
"Ehrlich, Katie", sagte er dann etwas lauter und nun im Tonfall einer Beschwerde, "es kommt mir vor, als sei Claire nur solange nett, solange du dich noch innerhalb der Stadtgrenzen befindest."
Kate musste lachen, aber Claire durchbohrte ihn beinahe mit ihren Blicken. "Daran bist du selbst schuld, du Jammerlappen", erklärte sie ihm warnend, leise.
"Was hab ich denn getan?!", quengelte der Neunzehnjährige verzweifelt, als sei ihm jegliche Ungerechtigkeit der Welt zuteil geworden, nicht bloß die einer alten Schulfreundin.
Claire schnaubte nur und sparte sich die Antwort, die nicht laut ausgesprochen werden durfte. Obwohl Kate das ganze Ausmaß von Jake's Misere durchaus verstand und nachvollziehen konnte, fand sie die Frotzeleien ihrer beiden Freunde doch äußerst amüsant. Sicher, Claire ging ein wenig zu weit, aber sie beide wussten, dass sie es nicht wirklich böse meinte. Kate wusste sogar noch etwas mehr als das, aber die Tatsache, dass Claire momentan erbost auf die ganze Welt war, unter anderen wegen gerade erst aus Australien zurückgekommenen Gentlemen, die ihr das Leben wieder schwer machten, würde sie ihrer besten Freundin ganz sicherlich nicht auf die Nase binden. Sie sollte selbst herausfinden, dass es so war - und warum es so war, wie es nun mal war.
"Das reicht jetzt", beendete sie die Streitereien. "Euch kann man nicht mal ein paar Tage lang allein lassen, ohne, dass hier das Chaos ausbricht."
Jake setzte seine trotzige Miene auf. "Claire hatte AUCH Langeweile!", beharrte er und Kate glaubte ihm auf's Wort. Natürlich hatte Claire Langeweile gehabt. Claire hatte jemanden zum Aggressionen-auslassen gebraucht und das perfekte Opfer gefunden. Zu Jake's Unglück!
Ein eisiger Blick von Claire, den aber beide ignorierten, folgte. Kate legte den letzten sauberen Teller weg und wischte sich die nassen Hände an einem Handtuch ab.
"Da fällt mir ein." Jake kratzte sich ein bisschen nervös am Hinterkopf. "In meinem Wohnheim ist nächste Woche eine Party und da, na ja, vielleicht möchtet ihr auch kommen?"
Kate's und Claire's skeptischer Blick trafen sich und beide wussten schon sogleich die Antwort auf diese Frage.
"Nicht schon wieder eine Party", stöhnte Kate und schüttelte gequält den Kopf. "Macht ihr Mediziner eigentlich noch irgendetwas Anderes?"
Jake merkte, dass das nicht ganz so gut lief. "Gabe kommt nicht, wirklich", sagte er ein wenig kleinlaut und sah Claire ganz kurz ehrfürchtig an.
Diese ließ sich absolut nichts anmerken und zuckte nur mit den Achseln. "Wen interessiert das?"
"Na ja, ich dachte nur, weil..."
"Wir haben schon was vor", verkündete Kate's Freundin ziemlich selbstsicher, doch die Tatsache, dass sie und Claire tatsächlich etwas vorhatten, war ihr neu. Neugierig betrachtete sie ihre Freundin.
Jake blinzelte irritiert. "Was denn?"
"Mädchenabend", verkündete Claire sogleich munter und setzte ein freches Grinsen auf. "Du weißt schon, sich gegenseitig die Beine rasieren, über Mädchensachen reden und aneinandergekuschelt in einem Bett einschlafen - nur in Unterwäsche, versteht sich."
Jake wurde augenblicklich rot, Kate hingegen wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Es war klar, worauf Claire es abzielte, und ganz eindeutig hatte sie bei Jake genau die erwünschte Reaktion herbeigerufen, doch die Wahrheit war, dass keiner ihrer Mädchenabende so ablief - zumindest teilweise nicht. Der Part mit dem Mädchenzeugs stimmte durchaus, aber das taten sie sowieso immer und nicht nur an sogenannten "Mädchenabenden". Jake jedoch war so verlegen, dass er sich gar nicht mehr traute, irgendetwas zu diesem Thema zu bemerken. Er erweckte Kate's Mitleid.
"Wir könnten vielleicht zum Frühstück vorbeikommen?", bot sie an und handelte sich zwei verwunderte Blicke ein, die sie ein wenig verunsicherten. "Na ja, mit.. ihr wisst schon, Kaffee und so..."
Claire verdrehte genervt die Augen, kommentierte das jedoch nicht, Jake zeigte sich jedoch viel versöhnlicher und stimmte sogleich begeistert zu. Er würde nie etwas zu essen ablehnen, und schon gar nicht, wenn dieses Etwas aus Zucker bestand oder zumindest welchen beinhaltete.
"Dann wäre das ja geklärt", verkündete er zufrieden und warf sogleich einen Blick auf die Uhr. "Wann kommt das Essen, Clairie-Bear?"
Unnötig zu erwähnen, was als nächstes passiert ist...


Oh Gott, ich weiß, ich hab ewig gebraucht! Schande über mich und meine Kuh. ^^ War auch ein bisschen holprig, der Einstieg. Aber jetzt beginnt der zweite Teil der ganzen Story. ^^ Danke für's Lesen!

PS: Alle, die 'ne Liebeserklärung an Claire abgeben wollen, stellen sich bitte hinten an. XD

Kapitel 17: The end of what was known before

"Warum machen wir das doch gleich?" Claire nahm die Tüte entgegen, die der Bäcker ihr hinhielt, während Kate ihm das Geld reichte, dass sie ihm für die Brötchen und das süße Gebäck schuldeten. Sie hatten auch Donuts, Scones und andere Leckerbissen eingekauft und zumindest Kate freute sich schon auf einen entspannten Morgen im Kreis ihrer besten Freunde. Sie hatte heute unglaublich gute Laune, denn es war Samstag und vor ihr lag ein entspanntes Wochenende, an dem sie nichts anderes tun würde, als faulenzen und ihre Freizeit zu genießen. Die ganze letzte Woche hatte sie damit verbracht, ihre Bücher, die Claire ausgeliehen hatte, zu lesen und hatte damit angefangen, die Hausarbeit zu schreiben. Nun fehlten nur noch die Einleitung und der Schluss, aber dafür war auch nächste Woche noch Zeit und eine Auszeit brauchte jeder mal.
Der Tag versprach schön zu werden - bereits jetzt strahlte die Sonne und es war erstaunlich warm; der Frühling machte sich schon bemerkbar und das beflügelte viele dazu, das warme, gemütliche Haus zu verlassen und die müden Glieder wieder ein wenig zu beanspruchen und in der frischen Luft zu recken.
"Weil wir hilfsbereite und nette Mädchen sind." Kate bedachte ihre missmutige Freundin mit einem Grinsen, doch sie wusste, dass Claire gar nicht wirklich schlechte Laune hatte - sie tat einfach nur gerne so, als wäre sie ein Miesepeter.
Diese verdrehte die Augen. Dass sie soeben als "nett und hilfsbereit" bezeichnet wurde, ging ihr ziemlich gegen den Strich. "Und wenn unerwünschte Leute da sind?", wollte sie skeptisch wissen.
Kate zuckte mit den Schultern. "Jake hat doch gesagt, Gabe wird nicht da sein, also würde ich mir an deiner Stelle keine Sorgen machen."
"Ich habe von Dave geredet", brachte Claire gepresst hervor und konnte ein leises Knurren aus den Tiefen ihrer Kehle nicht unterdrücken.
Kate versuchte, nicht zu lächeln. "Glaub ich nicht. Der wird wohl kaum dableiben uns bis in die frühen Morgenstunden noch mit aufräumen, oder?"
Ihre Freundin dachte eine Weile darüber nach und musste ihr schließlich Recht geben. Niemand - vor allem niemand, der sich so abgeschossen hatte wie Dave letztes Mal - blieb noch bis zur Frühe, nur um nachher seinen Dreck wegzuräumen.
"Gleich sind wir da." Kate deutete auf eine Wohnsiedlung von weißen, sterilen Hochhäusern, die vor ihnen lagen und die Studenten beherbergten. Es war kaum etwas los auf den Straßen; die meisten schliefen entweder noch oder waren während der vorlesungsfreien Zeit zu Hause bei ihren Eltern.
"Juhu", machte Claire trocken und schwenkte die Brötchentüte hin und her. "Hier ist es ja wie ausgestorben. Schlafen die alle noch ihren Rausch aus oder was?"
Kate lachte. "Vielleicht."

An dem Haus mit der Nummer 14 bogen sie in die Auffahrt und klingelten bei "Parker" - Jake's Appartement war mit der 204 versehen. Die zwei für den zweiten Stockwerk, die vier für das Appartement Nummer vier.
Lange Zeit machte ihnen niemand auf und Kate runzelte schon besorgt die Stirn, als Jake's gehetzte Stimme durch die Sprechanlage zu hören war: "Wer ist da?!"
"Der Weihnachtsmann und er bringt dir milde Gaben", scherzte Claire, ihre Stimme aber blieb dabei todernst.
Jake schwieg einen Moment lang. "...Claire?"
"Ja, wer sonst?", fragte sie genervt und verdrehte wieder die Augen.
"Wir bringen Frühstück", fügte Kate gutgelaunt hinzu. Sie wollte sich heute von Jake's und Claire's Streitereien auf keinen Fall die Stimmung verderben lassen.
Wieder Stille am anderen Ende der Leitung. "Stimmt", sagte Jake dann nervös. "Hatte ich ganz vergessen. Äh... wartet kurz..." Er tuschelte mit irgendjemandem und Kate und Claire tauschten verwirrte Blicke aus. War noch jemand bei ihm oben? Gabe vielleicht?
"Was ist los mit ihm?", fragt Claire leise und äußerst misstrauisch. Kate zuckte nur mit den Schultern. Sie war plötzlich selbst irgendwie nervös.
"Äh", meldete Jake sich wieder, "ich mach euch auf, okay?"
Schon betätigte er den Summer und die Tür sprang auf, als Claire schnell dagegen drückte. Sie seufzte laut. "Jetzt bin ich mal gespannt", sagte sie düster und Kate wusste, wen sie oben in Jake's Wohnung erwartete. Hatte Jake sie angelogen und Gabe doch eingeladen? Das konnte sie sich nicht vorstellen.
Schweigend gingen sie die wenigen Treppestufen hinauf und ein ungutes Gefühl machte sich in Kate breit. Sie konnte es nicht genau einordnen und wusste auch nicht, woher es kam, aber es reichte schon, dass es überhaupt da war.

Oben angekommen klopfe Claire kurz an der Tür, die auch sofort aufgerissen wurde. Kate fiel fast die Kinnlade herunter, denn vor ihnen stand ein halbnackter Jake, der gerade mal eine Boxershorts und seine Socken anhatte und - zu seiner Verteidigung – eine Jeans in den Händen hielt.
Seine blonden Haaren waren nass – wahrscheinlich kam er gerade aus der Dusche – und sahen deswegen etwas dunkler aus, als sie wirklich waren. Zu allem Überfluss hatte er ein dämliches, schuldbewusstes Grinsen im Gesicht, von dem Kate nicht wusste, wie sie es interpretieren sollte.
Sie schwieg. Claire jedoch nicht.
"Oh. Mein. Gott." Ihre beste Freundin musterte Jake von oben bis unten mit einem Blick, der über Skepsis schon meilenweit hinausging. "Das ist etwas, was ich nie wissen wollte."
Kopfschüttelnd wandte sie sich ab.
"Äh... guten Morgen", brachte Kate errötend hervor und hob die Papiertüte mit dem süßen Gebäck vor ihre Brust, als könnte sie dadurch mehr Abstand zwischen ihn und sich bringen. So sehr hatte er sie noch nie verwirrt und obwohl sie ihn schon in Boxern gesehen hatte, hatte er zum Schlafen immerhin ein T-Shirt angezogen. Aber das hier - kam zu plötzlich, zu unerwartet.
"Morgen", antwortete er, wobei er noch immer nicht dieses glückliche, dümmliche Grinsen aus seinem Gesicht wischen konnte. Warum hatte sie das nicht gleich misstrauisch gemacht?
Mit einem gezwungenen, wackeligen Lächeln drückte sie sich an ihm vorbei, um in die Küche zu gehen und die Sachen dort abzuladen. Claire folgte ihr, wobei sie wirklich mit aller Macht versuchte, ihre Belustigung zurückzuhalten.
Plötzlich bleiben beide stehen und starrten die zweite Erscheinung an, die sich in der Küche aufhielt, in Jake's Bademantel gehüllt, mit einer dampfenden Kaffeetasse in der Hand, die beiden Mädchen berechnend anlächelnd.
"Hallöchen", flötete Rachel. Sie schien sich offensichtlich ganz heimisch zu fühlen, so, als wäre das ihr rechtmäßiger Platz und als gehörte sie hierher.
"Hi", erwiderte Kate tonlos und zwang sich, ihren entsetzten Blick von Rachel abzuwenden. Claire hingehen starrte sie weiter angewidert an und sagte nichts. Dann drehte sie sich zu Jake um, bedachte ihn mit demselben angewiderten Blick, drehte sich wieder zu Rachel um.
"Was für eine Überraschung", sagte sie kalt und stellte betont langsam die Bäckertüte auf den Tisch, nahm der sprachlosen Kate das Paket mit den Donuts ab. "Das ist noch etwas, was ich nie wissen wollte."
Rachel setzte ihr falsches Lächeln auf, das das Potenzial dazu hatte, einen bis in die unangenehmsten Träume zu verfolgen.
Jake's Gesicht hatte einen bisher ungekannten, leichten Rotton angenommen und er lächelte verlegen. "Setzt euch doch, ich mach euch... Tee und dann können wir, äh, frühstücken", stammelte er.
Kate wurde übel. Jetzt daran zu denken, irgendetwas essen zu müssen, brachte ihren Magen in Aufruhr, aber darüber hinaus rauschten ihre Gedanken durcheinander und keiner von ihnen war zu fassen. Außer einem vielleicht. Jake hatte die Nacht mit Rachel verbracht. Das war unübersehbar.
Wenigstens wusste sie jetzt, was dieses flaue Gefühl war, das sie verspürt hatte, sobald er ihnen die Tür unten aufgemacht hatte.
"Nee, lass mal", winkte Claire ab und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. "Wir können nicht bleiben. Wir müssen ganz kurzfristig nach Collingham."
Stirnrunzelnd warf Kate ihrer Freundin einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts. Es war ihr lieber, jetzt einfach zu gehen, denn zu bleiben hätte sie sicherlich umgebracht. Und wenn Claire dazu lügen musste, war ihr das auch recht.
"Aber ich dachte ihr kommt zum Frühstück?" Jake verstand gar nichts und schaute erst Claire, dann Kate verwirrt an. "Jetzt seid ihr doch hier?"
Claire verdrehte wieder die Augen. "Hast du denn die SMS nicht bekommen, die Kate dir geschickt hat? Dass wir nur die Brötchen vorbeibringen? Immerhin haben wir das versprochen", log sie ungehemmt und schien sogar Spaß daran zu haben, Jake an der Nase herumzuführen, was ihr wunderbar gelang. Der Junge verzog irritiert das Gesicht.
"Nein, hab ich nicht." Dann dachte er kurz nach. "Warum müsst ihr so plötzlich hin? Ist irgendwas passiert?" Da er so besorgt klang, konnte Kate nicht umhin, wenigstens ein bisschen ehrlich zu sein.
Ihre Stimme klang brüchig, als sie den Mund aufmachte. "Nein, es ist nichts, ich..." Dann fiel ihr das Telefonat vom Vorabend ein. "Judy hat mich nur gebeten, zu kommen und auf Micky aufzupassen..."
Das klang wie eine lahme Ausrede, aber Jake schien sie ihr abzukaufen. Zumindest entspannte er sich wieder und nickte. "Ach so. Na gut. Danke für das Zeug." Dann grinste er wieder, als er Rachel einen seiner dümmlichen Blicke zuwarf. "Müssen wir es uns wohl allein gemütlich machen."
Kate fühlte sich, als ob sie sich gleich übergeben würde. Sicherlich war ihr sämtliches Blut aus dem Gesicht gewichen. Zumindest fühlte sie sich ziemlich blutleer und krank. Schnell wandte sie sich ab und ging zur Tür, Claire folgte ihr. Beide konnte den genervten Blick nicht sehen, den Rachel Jake zuwarf, als er sich von ihr wegdrehte und die beiden zur Tür begleitete.
"Bis dann", murmelte Kate, wagte es aber nicht, ihm in die Augen zu sehen, und trat auf den Hausflur.
"Ja, ruf an, wenn du wieder zurück kommst", erwiderte er fröhlich.
Claire sparte sich die Abschiedsformel und knallte die Tür Jake vor der Nase zu.

Die Mädchen schlenderten schweigend nebeneinander her, beide mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, obwohl Kate's eindeutig düsterer waren.
Das war's also. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie sich doch die ganze Zeit Hoffnungen gemacht hatte, aber anscheinend war es wirklich so gewesen, denn so, wie es jetzt wehtat, kann es gar nicht anders gewesen sein.
Sie atmete bewusst ein und aus, aus Angst, ihre zugeschnürte Brust würde ihr auch die Luftaufnahme verwehren, wenn sie sich nicht vorsätzlich darauf konzentrierte. Außerdem hatte sie so das Gefühl, als könnte sie etwas tun, als wäre sie nicht komplett machtlos. Obwohl es natürlich nur eine willkommene Illusion war.
Claire räusperte sich. "Kate?"
"Mhm?"
"Was hältst du davon..." Sie hielt inne und warf ihrer Freundin einen prüfenden Seitenblick zu, bevor sie fortfuhr, "wenn wir wirklich nach Collingham fahren? Und auf Micky aufpassen? Wir haben das Haus für uns allein und na ja..." Den Rest verschwieg sie, aber Kate wusste auch so, was sie hatte sagen wollten.
Sie nahm Claire in Augenschein und runzelte die Stirn. "Du willst nach North Collingham? Mit mir? Wo doch Gabe zwei Häuser weiter wohnt?"
Claire zuckte die Schultern, als wäre ihr diese klitzekleine, unbedeutende Tatsache egal. "Wir müssen ihn ja nicht zur Pyjamaparty einladen, oder?" Sie zwang sich zu einem schiefen Lächeln.
Kate lächelte ebenfalls müde, schwach. "Genau..."
"Also rufst du an und sagst zu?", wollte sie hoffnungsvoll wissen.
"Na gut", seufzte Kate. Sie hatte sowieso nichts Besseres zu tun, als nach Hause zu fahren. Es war schön da, ruhig, und sie würde ein wenig Ablenkung haben, denn Micky hielt einen ganz schön auf Trab. Alan und ihr Vater gingen auf Geschäftsreise, und nahmen gleich ihre Frauen mit, damit diese sich ein schönes Wellnesswochenende im Hotel machen konnten. Montag bis Freitag würden sie wegbleiben, also hatten Kate und Claire genug Zeit, um auf andere Gedanken zu kommen. Außerdem hatten sie sturmfreie Bude - mal von Danny abgesehen, aber der störte sowieso nie.

Nachdem das geklärt war, legte sich wieder Schweigen zwischen die zwei. Zu Hause angekommen verkroch sich Kate in ihr Zimmer, nachdem sie Judy fürs Babysitting zugesagt hatte, und steckte die Nase wieder in ihre Arbeit, um sich abzulenken, um nichts zu fühlen.
Sie vergrub sich in Blake's und Wordsworth's Gedichten und skizzierte kurz auf einem losen Blatt Papier, wie der Roman in dieser Zeit mehr Ansehen bekam und es sogar schaffte, dramatische Stücke ganz und gar aus dem Bewusstsein der Gesellschaft zu verdrängen - zumindest für diese kurze Zeit, die die Literaturepoche andauerte. Diese Notizen würde sie später als Grundlage für ihr Fazit verwenden, das erst noch geschrieben werden musste.
Claire indessen machte sich in der Küche alleine etwas zu essen und dachte darüber nach, wie sie die Situation entschärfen konnte. Ob es reichen würde, wenn sie Jake einfach köpfte?
Missmutig schüttelte sie den Kopf und steckte den letzten Rest Toast in ihren Mund, kaute, schluckte. Sie hätte Kate gerne irgendwie getröstet, aber was sollte sie schon sagen? Dass Jake ein Idiot war, war allgemein bekannt und bedurfte keiner Worte. Aber jetzt hatte er es endgültig vermasselt, und zwar ganz zweifellos.
Kapitel 18: Feeling 'okay'

Kate's Arme waren gerade bis zu den Ellbogen im Spülwasser versunken, als es an der Haustür klingelte. Niemand bequemte sich zur Tür.
"Kann mal einer aufmachen?", bat sie ein wenig genervt, mit einem Blick zu Claire und Danny, die gerade hochkonzentriert Karten spielten. Micky saß ebenfalls mit am Küchentisch, hatte die Zunge vor Anstrengung zwischen den Lippen und bemalte mit seinen bunten Wachsmalstiften ein Stück Papier.
Ihre Aufforderung stieß anscheinend auf taube Ohren, denn keiner von den dreien - zweien, denn man konnte den kleinen Jungen nicht wirklich mitrechnen - bewegte sich von der Stelle.
Seufzend trocknete sich die Literaturstudentin notdürftig die Hände ab und öffnete die Haustür, vor der sie ein braunlockiges, junges Mädchen vorfand, das sie zweifelsfrei als Gabe's jüngere Schwester identifizierte.
Verwundert runzelte Kate die Stirn. "Ally, hi."
"Hi." Sie grinste verlegen und lugte ziemlich auffällig an Kate vorbei ins Innere des Hauses. "Ähm, du... ist Daniel da?"
'Daniel', dachte Kate irritiert. Das klang so erwachsen. Niemand nannte ihren Bruder so, außer hin und wieder ihre Mutter, aber nur, wenn sie etwas an ihm auszusetzen hatte.
"Äh, ja. Soll ich... soll ich ihn holen?", hakte sie vorsichtig nach, doch hastig schüttelte Allison den Kopf.
"Nein, nein", verneinte sie beinahe atemlos, "aber könntest du ihm das geben? Es ist... na ja, gar nichts eigentlich." Sie senkte beschämt den Kopf und wurde ziemlich rot, während sie Kate in eine Plastiktüte verpacktes Päckchen hinhielt, was diese nur noch viel mehr verwirrte. Was hatte das Ganze zu bedeuten? Trotzdem nahm sie das Päckchen an sich und nickte, wenn auch etwas zögerlich.
"Ja, gut, mach ich." Eine kurze Stille entstand zwischen ihnen, während sie sich beide nicht vom Fleck rührten. "Sonst noch etwas?"
Allison schüttelte schnell den Kopf. "Nein, das war's, danke..." Gerade, als sie sich abwenden wollte, hallte aus der Küche Claire's Gewinnerschrei zu ihnen herüber. Sie hatte Danny ganz offensichtlich besiegt.
"Ha! Ich hab's dir doch gesagt, mein Lieber!", triezte sie ihn schadenfroh. "Ich bin nicht zu schlagen."
Daraufhin folgte Daniel's nur allzu deutliches Gemurre, das in etwa die Worte "größenwahnsinnig" und "geschummelt" enthielt.
"Schlechter Verlierer", lachte Claire laut und wandte sich dann Micky zu. "Nicht wahr, Micky? Daniel ist ein griesgrämiger, schlechter Verlierer!"
Kate rollte mit den Augen.
"Jaa", bestätigte Micky, augenscheinlich immer noch voll konzentriert auf sein Werk, ohne zu bemerken, was er da gerade verbal unterschrieben hatte. "Ein Verlierer."
Ängstlich lugte Ally wieder an Kate vorbei und irgendwie bekam diese Mitleid mit dem jungen Mädchen, also fühlte sie sich genötigt, die Lage aufzuklären: "Das ist Claire. Die beiden spielen gerade Karten. Möchtest du vielleicht reinkommen und mitspielen?" Sie wusste nicht, wieso sie das vorschlug, denn keiner von ihnen hatte besonders großen Kontakt zu Allison gehabt - sie war nun mal viel jünger und "nur" die kleine Schwester eines Freundes.
"Ach so." Allison schien beruhigt, und gleichzeitig fingen ihre Augen an zu leuchten, als sie Kate beinahe schon begeistert anschaute. "Ich muss schnell nach Hause", verkündete sie, nun irgendwie in Eile, und winkte ihr noch schnell zu, bevor sie sich abwandte und die Auffahrt hinunterlief.
Gleichgültig zuckte Kate die Schultern und kratzte sich am Arm, der noch ein wenig feucht vom Spülwasser war.
"Wer war es?", wollte Claire wissen, als sie wieder zurückkam, das Paket beiseite legte und den Stöpsel aus dem Spülbecken nahm, um das Wasser ablaufen zu lassen.
"Ally. Sie hat das hier für dich abgegeben." Sie nickte in Richtung des Päckchens.
"Oh nein", stöhnte Danny und Claire fragte gleichzeitig: "Wer ist Ally?"
"Was ist?", wollte Kate wissen und ignorierte ihre beste Freundin, die abwechselnd sie und dann Danny erwartungsvoll ansah.
"Nicht schon wieder", beklagte er sich weiter. "Ich hab das Gefühl, ich werd sie gar nicht mehr los..."
"Wer ist Ally?", funkte Claire wieder dazwischen, diesmal ungeduldiger.
"Gabe's Schwester, weißt du nicht mehr?"
Claire überlegte einen Moment und stöhnte dann gequält auf. "Oh nein!"
"Was ist?" Kate nahm das Päckchen und legte es vor Danny auf den Tisch. "Willst du es nicht aufmachen?"
Er schüttelte unglücklich den Kopf und Claire antwortete: "Du hast ihr gesagt, dass ich hier bin, oder? Sie wird es sicherlich weitergeben."
Kate wusste auch, ohne zu fragen, wen ihre Freundin meinte. Daran hatte sie im ersten Moment nicht gedacht, aber Ally und Danny und Claire und Gabe waren im Moment ein paar ihrer kleineren Sorgen. Sie waren - fast - alle erwachsen und würden das schon für sich selbst klären können.
"Stellt euch nicht so an", ermahnte sie ihren Bruder und Claire streng und Micky schaute von seiner Zeichnung auf, weil er diesen Ton kannte und glaubte, er sei für ihn bestimmt. Als er merkte, dass Kate die beiden Erwachsenen ausschimpfte, vertiefte er sich wieder in seine Malerei. "Gabe wird jawohl kaum hier vorbeikommen und was ist eigentlich mit dir und Allison? Ist sie etwa deine neue Freundin?"
Danny schaute sie überrascht an, wobei der Ausdruck von Überraschung sich langsam in Empörung verwandelte. "Nein! Natürlich nicht! Ally verfolgt mich!"
Für einen Augenblick war Kate still und starrte ihren Bruder an, nicht wissend, ob sie nun in Lachen ausbrechen oder ihn wirklich ernst nehmen sollte.
"Die kleine Allison? Sie verfolgt dich?", hakte Claire dann schließlich amüsiert nach.
"So klein ist sie nicht mehr. Sie ist immerhin schon 13. Und sehr hartnäckig", fügte Danny grimmig hinzu.
"Mach das auf", kommandierte Kate, ohne die beiden zu beachten. "Wenn es etwas Wertvolles ist, bringst du es ihr zurück."
Danny rührte sich nicht vom Fleck, deshalb ergriff Claire die Initiative. "Ich mach das auf." Sie zog die Tüte an sich heran und entfernte die Klebestreifen, sodass sie hineingreifen konnte. Dann zog sie eine Plastikdose heraus.
Alle drei starrten die Frischhaltedose schweigend an, bis sich Kate endlich zu Wort meldete: "Das ist etwas zu Essen. Warum bringt sie dir etwas zu Essen her?"
"Wahrscheinlich hat sie von irgendwem gehört, dass Mum und Dad für 'ne Woche wegfahren", seufzte Danny, konnte es aber dennoch nicht lassen, den Deckel ein wenig anzuheben und zu schnuppern.
"Das ist ja lieb." Claire war gerührt, aber ihre praktische Seite meldete sich sogleich wieder zurück: "Leider reicht das nicht für uns drei. Vier", fügte sie mit einem kurzen Seitenblick auf Micky hinzu und verbesserte sich dann: "Dreieinhalb."
Das hatte der Kleine anscheinend mitbekommen, denn voller kindlicher Empörung stierte er sie an. "Ich bin kein Halber!", rief er aufgebracht und richtete drohend seinen Wachsmalstift auf Claire, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
"Nein, aber eine halbe Portion."
Micky schien einen Moment lang nachzudenken und dann zu dem Entschluss zu kommen, dass daran nichts auszusetzen war, also nickte er nachdrücklich, als wäre er als Sieger aus diesem kleinen Wortgefecht herausgegangen, und malte weiter sein Auto an, dem er die Farbe rot mit lila Punkten verpasst hatte.
"Frag doch Gabe, er bringt dir sicher gerne noch etwas vorbei", murmelte Kate trocken, nahm die Frischhaltebox und beförderte sie seufzend in den Kühlschrank.
"Der bringt zuallererst sich selbst vorbei", erwiderte Claire darauf augenverdrehend und ahnte zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, wie recht sie damit hatte.
"Claire, du studierst doch Anglistik", unterbrach Danny das Gespräch zwischen den beiden und stand auf, bereit, in sein Zimmer zu gehen. "Meinst du, du kannst mir eben bei den Hausaufgaben helfen? Es geht um moderne Medien und irgendwelche Kontroversen oder so."
Kate's Freundin erhob sich ebenfalls, um Danny in sein Zimmer zu folgen. "Klar, kein Problem. Lass mal sehen, was du machen musst." Beide verschwanden ohne ein weiteres Wort zu Kate nach oben, die ganz froh war, die zwei mal für einen kurzen Augenblick los zu sein, denn mit der Zeit wurden sie doch ziemlich anstrengend. Danny schien sich gut mit Claire zu verstehen, allerdings war beiden so langweilig, dass sie nur herumnörgelten und Schwachsinnigkeiten machten. Dabei waren sie erst seit einem Tag alleine zu Hause und ganze fünf folgten noch. Trotzdem war ihre Gesellschaft viel angenehmer, als alleine irgendwo herumzuhocken. Wenn Danny und Claire dabei waren, lenkten sie Kate ein wenig ab und sie musste nicht andauernd an das Schreckensbild denken, dass sich in ihre Netzhaut gebrannt hatte. Jake und Rachel. Ihre persönliche Hölle.
Jetzt, wo sie das Geplapper von Danny und Claire nicht mehr hören konnte und es still in der Küche war, merkte sie erst, wie gut es war, unter Menschen zu sein. In dieser Stille sammelten sich mit Leichtigkeit Gedanken an, die sie nicht hätte haben sollen, und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.

Es klingelte schon wieder, und Kate, die sich gerade neben Micky gesetzt hatte und kurz davor war, wieder in Trübsal zu versinken, schreckte auf.
Es wunderte sie wenig, dass es tatsächlich Gabe war, der vor der Türe stand. Allerdings brachte er keine milden Gaben in Form von Nahrungsmitteln, sondern lächelte sie entschuldigend an.
"Tut mir leid", war das Erste, was er sagte. "Das mit Jake, meine ich. Wenn es dich beruhigt, ich hab ihm die Hölle heiß gemacht deswegen."
Entgeistert schaute Kate ihn an. "Was?", rang sie doch dann doch noch fassungslos ab.
"Äh, nein, ich hab es natürlich anders verpackt und dich mit keinem Wort erwähnt", beeilte Gabe sich zu sagen. Er schien sich wirklich unwohl zu fühlen. Immerhin stand er jetzt zwischen Jake, seinem besten Freund, und Kate, einer guten Freundin, die er mindestens ebenso sehr mochte und von der schließlich abhing, ob Claire ihm irgendwann in den nächsten fünfzig Jahren mal verzeihen würde oder nicht.
"Aha." Kate wollte nicht darüber reden. Nie wieder, mit niemandem. Die Sache war für sie abgeschlossen, die Akte für immer geschlossen. "Ist ja egal. Möchtest du zu Claire?", wechselte sie schnell das Thema.
"Ähm, nein", druckste er herum und lächelte schon wieder, fast ein wenig ertappt. "Obwohl... vielleicht doch, aber nicht direkt."
Kate hob fragend eine Augenbraue.
"Ich wollte euch fragen, ob ihr am Freitag Abend mit zum Jahrmarkt kommt. Du weißt doch, jeden Frühling in Colchester findet einer statt", erinnerte er sie hoffnungsvoll, und noch bevor Kate ihre Bedenken bezüglich Claire zum Besten geben konnte, tauchte plötzlich der kleine Micky auf und seine Augen leuchtete erwartungsvoll, als er Gabe wie den Ritter in der glänzenden Rüstung anschaute.
"Ein Jahrmarkt!", krähte er begeistert. "Da gibt es Karusselle! Gehen wir hin? Bitte, bitte!" Mit großen Hundeaugen sah er flehend zu Kate hoch und zupfte an ihrem Pullover.
Große Hunde-Kinderaugen waren das Schlimmste, befand Kate in diesem Moment und wagte es nicht, Einspruch einzulegen.
"Mal sehen, vielleicht", wich sie dem Jungen aus und wandte sich dann an Gabe. "Ich weiß nicht, ob Claire mitkommt..." Sie räusperte sich, aber Gabe tat ganz so, aus würde es ihm nichts ausmachen.
"Schon okay, dann gehen wir eben zu dritt. Ich fahre." Er zwinkerte dem begeisterten Micky kumpelhaft zu, dessen Gesicht vor lauter sich überschlagender Freude strahlte. Kate wünschte sich für einen kurzen Moment, auch solche Freude verspüren zu können. Wie schön war es doch, ein Kind zu sein. Da reichte allein schon der Gedanke an ein Karussell aus, dass alles Leid der Welt vergessen war. Vielleicht brauchte sie auch einen Jahrmarkt.
"Ich werde es ihr vorschlagen", versprach sie Gabe.
"Also bis Freitag, Kumpel", verabschiedete er sich von Micky und wuschelte ihm durch die Haare. "Ich halt dir einen Platz im Auto frei."
Der Kleine nickte begeistert.
"Bis dann", sagte er auch zu Kate, die schwach lächelte und dann die Tür hinter Gabe schloss. Während sie ins Wohnzimmer ging, begleitet von dem plappernden Micky, der ihr ohne Luft zu holen von all den Attraktionen berichtete, die er schon mal im Fernsehen gesehen hatte und auch von all denen, auf denen er schon mal war - was deutlich weniger waren -, überlegte sie, wie sie diese Idee Claire schmackhaft machen konnte. Leider fiel ihr nichts ein. Aber ihre Freundin musste selber für sich entscheiden, ob sie noch Kontakt zu ihrem Ex-Freund haben wollte oder nicht.

Als Claire und Danny wieder runterkamen, klingelte es schon wieder an der Tür.
"Das geht ja hier zu wie in einem Taubenschlag", beschwerte sich Kate, der die ganzen Besuche schon langsam auf die Nerven gingen, doch Danny kam ihr zuvor.
"Das ist für mich", verkündete er und öffnete die Tür. Herein kam ein Mädchen, etwa in Danny's Alter, schlank, mit braunen Haaren und ziemlich hautenger Kleidung.
Claire und Kate schauten fassungslos zu, wie Kate's Bruder ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange drückte und sie schließlich vorstellte: "Das ist Belinda. Belinda, das sind Claire und Kate, meine Schwester."
Belinda lächelte zwar dünn, schien jedoch ziemlich unsicher - und vor allen Dingen sehr unerfreut, dass Danny allein mit zwei "älteren Frauen" eine Woche lang das Haus teilte. Auch, wenn eine davon nur seine Schwester war.
"Wir gehen dann nach oben", kündigte Danny an und Claire konnte mal wieder ihren Mund nicht halten.
"Geht's nicht allzu wild an!", rief sie ihnen hinterher und kicherte verhalten.
"Claire!", zischte Kate empört und bedachte ihre Freundin mit einem vorwurfsvollen Blick. Das konnte doch nicht wahr sein!
"Was ist?"
"Das ist immer noch mein kleiner Bruder!" So etwas wollte sie nicht hören - geschweige denn, sich irgendetwas "Wildes" vorstellen.
Claire gluckste. "Stimmt. Hab ich vergessen."
Kate verdrehte die Augen und ihr fiel wieder Gabe's Besuch an. Claire schien ganz gute Laune zu haben, also sollte sie sie so schnell wie möglich fragen. "Gabe war vorhin da", tastete sie sich vorsichtig heran.
"Ach so?", hakte Claire desinteressiert nach, während sie sich einen roten Apfel besah, der in einem Obstkorb in der Mitte des Tisches lag, und ihn schließlich an ihrem Pullover glänzend rubbelte. "Hat er etwas zu essen mitgebracht?"
"Nein, aber... er hat uns zum Jahrmarkt eingeladen. Am Freitag."
Claire schwieg. "Mhm", machte sie nur nachdenklich und mied Kate's fragenden Blick. Diese seufzte. Anscheinend provozierte ihre Freundin es, dass sie wirklich alle Details laut aussprechen musste.
"Micky war so begeistert und..." Sie räusperte sich unwohl und ließ den Satz unausgesprochen in der Luft schweben.
Claire schien nachzudenken, aber sie wirkte dabei so interesselos, als würde sie sich eine sinnlose Daily-Soap anschauen, einfach nur aus Langeweile. Dann nickte sie. "Okay."
Kate blieb vor Überraschung fast die Luft weg. "Okay?", wiederholte sie fassungslos und starrte ihre Freundin an, die sich jedoch weiterhin keine Gefühlsregung erlaubte.
"Ja", bestätigte Claire schulterzuckend und biss in den Apfel. "Okay."
Kapitel 19: Fair

Micky machte große Augen, als er die vielen bunten, blinkenden Lichter sah. Das Riesenrad drehte sich, zu schnell für Kate's Geschmack, und andere Attraktionen leuchteten ebenfalls blau, grün, gelb und rot auf, während sie sich hin und her, vor und zurück bewegten. Überall waren Essensstände aufgebaut und es roch nach gebackenem Fisch und Essig, nach Fish and Chips, dem englischen Nationalgericht. Verschiedene Lieder und Musikstile trafen aufeinander, da an jedem Karussell etwas anderes gespielt wurde, und stand man ganz n der nähe von so einem, war es viel zu laut, als dass man sich noch hätte anständig unterhalten können.
Jake würde es hier auch gefallen, schoss es Kate unwillkürlich durch den Kopf. Er würde es sogar lieben. Aber dann zwang sie sich, nicht mehr an ihn zu denken. Am besten nie mehr.
Missmutig trottete sie hinter Claire her, die den kleinen Micky an der Hand hielt, damit er vor lauter Begeisterung nicht ausriss.
Hinter sich hörte sie Gabe, der sich mit seiner kleinen Schwester stritt. Allyson war in allerletzter Sekunde noch mit ins Auto gesprungen und hatte sich geweigert, auszusteigen. Auf Gabe's Hinweis hin, das wäre keine Kindergartenveranstaltung und er nicht der Babysitter, brachte sie Micky als Argument an und hatte somit natürlich die Oberhand gewonnen. Jedem im Auto, außer Michael, der mit seinen vier Jahren mit solchen Sachen ganz offensichtlich noch nicht so vertraut war, war klar, dass Ally nur wegen Daniel mit wollte, denn irgendwie schien sie herausgefunden zu haben, dass er auch da sein würde. Allerdings war Danny mit seiner Freundin hergekommen und musste irgendwo in diesem Getümmel sein. Bis heute hatte Kate das Mädchen, mit dem ihr Bruder zusammen war, noch nie gesehen.
Sie waren ein lustige Runde: Zwei liebeskranke Geschwister, die von ihren Angebeteten ignoriert wurden, eine genervte, junge Frau, die sich wahrscheinlich fragte, was sie hier überhaupt zu suchen hatte und Kate, die selbst mit ihrem gebrochenen Herzen zu kämpfen hatte. Nicht zu vergessen das Kleinkind, das sich vermutlich den ganzen Vorrat an Zuckerwatte in den Mund stopfen würde, wenn man es ließ.
Kate grinste unwillkürlich bei diesem Gedanken und fand es plötzlich tröstlich zu wissen, dass irgendetwas immer schief ging, und zwar nicht nur bei ihr. Sicherlich war es auch für die anderen nicht einfach, so zu sein, wie sie waren, und die jeweilige Situation erhobenen Hauptes zu ertragen. Aber sie gaben alle ihr Bestes. Nur Jake fehlte, der auch sein Päckchen zu tragen hatte, aber heute war er von der Gesellschaft seiner Freunde ausgeschlossen, weil er ganz einfach Mist gebaut hatte. Und niemand war so schnell willig, ihm das zu verzeihen, außer vielleicht Gabe, aber der war hinter Claire her und verpflichtete sich so automatisch, auf ihrer Seite zu sein. Zumindest, bis er sie endlich da hatte, wo er sie haben wollte. Ob das allerdings jemals passieren würde, das, so dachte Kate, stand wohl in den Sternen geschrieben.
Der alte Schleimer, dachte sie amüsiert, als sie beobachtete, wie ihr Freund versuchte, seine plappernde Schwester loszuwerden und gleichzeitig mit Claire ins Gespräch zu kommen, die sich ausnahmslos nur Micky widmete und gerade dabei war, ihn zu überreden, doch nicht auf die Loopingattraktion zu gehen, bei der man immer wieder sekundenlang kopfüber in der Luft hing. Micky würde wohl mal ein echter Draufgänger werden! Bei solchen verantwortungsvollen Eltern wie Judy und Alan eigentlich eine echte Überraschung, aber wenn man bedachte, dass auch Lizzie's Gene irgendwo in ihm schlummerten, eigentlich doch nicht weiter erstaunlich.

Gabe gesellte sich zu ihr, nachdem er es irgendwie doch geschafft hatte, sich seiner Schwester zu entledigen. Sie schien Freundinnen getroffen zu haben, oder aber, sie war auf der Suche nach Danny.
Gabe seufzte. "Sie redet nicht mal mit mir. Echt stur, diese Frau", beklagte er sich, aber irgendwie klang er auch, als ob ihn dieses Spiel tatsächlich amüsierte.
Kate zuckte mit den Schultern. "Du hast dich ja auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert in der Vergangenheit", wies sie ihn auf sein feiges Benehmen gegenüber Claire hin, und er lachte zustimmend und nickte.
"Warum wird uns Männern eigentlich immer die Rolle des Arschlochs zugewiesen, obwohl wir nur gewöhnliche, menschliche Fehler machen?", fragte er vergnügt und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, während er sich entspannt umsah.
Kate kniff die Augen zusammen und beäugte ihn misstrauisch. "Soll das eine Anspielung sein?"
Er lächelte. "Nein, eigentlich nicht, aber es ist natürlich deine Sache, wie du das siehst."
Sie schwieg und Gabe nahm dies als Einladung, seine Theorien weiter auszuführen. "Wenn er wüsste, dass du ihn magst, wäre es sicherlich nicht soweit gekommen, oder?"
"Soll das eine etwa eine Predigt werden?", wollte Kate argwöhnisch wissen. "Du entwickelst dich in letzter Zeit ja zu einem richtigen Moralapostel."
"Und so sarkastisch kenn ich dich gar nicht, Katie", erwiderte Gabe keine Spur beleidigt. Sie bahnten sich einen Weg durch die dichte Menschenmenge, ohne eventuelle Bekannte oder Freunde wahrzunehmen. An einem Süßigkeitenstand machten sie Halt und Gabe kaufte eine Tüte Popcorn für sich und Kate.
Sie musste zugeben, dass er recht hatte. Sie hatte schon immer einen leichten Hang zum Pessimismus gehabt, aber erst, seitdem es mehr oder wenig bergab ging mit ihrem nichtexistenten Liebesleben, erwischte sie sich immer wieder dabei, wie sie in düsteren Gefilden schwebte. Als Gabe wegging, hatte er sie noch als normales, halbwegs fröhliches Mädchen in Erinnerung, doch jetzt erlebte er sie als zynische, verbitterte Meckertante ohne Hoffnung auf Besserung, musste Kate feststellen, und es war ihr fast ein wenig peinlich, sich so derart zum Schlechten verändert zu haben.
Als hätte Gabe ihre Gedanken gelesen, sprach er sie auch prompt darauf an. "Willst du wissen, was ich denke?"
Kate sah ihn unschlüssig an. "Ich bin mir nicht sicher..."
"Früher warst du richtig schlagfertig und hast Jake immer in die richtige Richtung geschubst, auch, wenn du ihm dazu in den Arsch treten musstest." Er grinste über seine Metapher. "Und jetzt lässt du dich zu sehr mit deinen Problemen behängen, anstatt ihm mal richtig die Meinung zu geigen. Dabei würde gerade das euch beiden gut tun."
Kate dachte eine Weile über Gabe's Worte nach und schüttelte dann belustigt den Kopf. "Wo hast du nur deine Weisheit her, Gabriel O'Leary?"
Der Junge grinste und zwinkerte ihr zu. "Das bleibt mein Geheimnis." Dann wurde er wieder ernst. "Was ich eigentlich sagen wollte, war... Jake ahnt schon etwas und vielleicht wäre es besser, mit offenen Karten zu spielen. Viel mehr verlieren als jetzt kannst du sowieso nicht mehr."
Kate filterte bei dieser Ansage nur die für sie relevante Information heraus. "Was meinst du mit 'er ahnt etwas'?"
Gabe schien sich plötzlich unbehaglich zu fühlen und wand sich innerlich, das konnte sie an seinem gequälten Gesichtsausdruck erkennen. "Ich fürchte, das ist meine Schuld. Er wollte wissen, was los ist und warum niemand mehr mit ihm redet, also hab ich gesagt, dass ihr seine Aktion mit Rachel leicht daneben fandet..." Er räusperte sich unwohl. "Da war er still und hat überlegt und mich dann gefragt, was du mir dazu gesagt hast... Ich hab gesagt, nur das Offensichtliche und dass du dir nur Sorgen machst, und er wollte wissen, ob du dir Sorgen darüber machst, dass das mit Rachel ganz offensichtlich eine einmalige Sache war oder ob du dir eher... wegen euch beiden Sorgen machst..."
Kate hatte die ganze Zeit schweigend zuhört, aber nun begann ihr Herz wild zu schlagen. Eine einmalige Sache?! Sorgen wegen ihnen beiden? "Was... soll das heißen?"
"Ich hab keine Ahnung. Als ich gefragt habe, hat er irgendwas Undeutliches von wegen Freundschaft und so gemurmelt und musste dann ganz schnell auflegen." Auch Gabe war ratlos. "Weißt du", fügte er dann an, "alle halten Jake immer für blöd, aber das ist er nicht."
Kate schwieg. Sie hatte sich immer auf Jake's Ahnungslosigkeit verlassen und vielleicht hatte sie damit einen Fehler begangen. Aber was sie noch viel mehr erschreckte, als die Tatsache, dass Jake ahnen könnte, was vorging, war ihr mangelndes Entsetzen dem gegenüber. Sie fühlte keine richtige Angst, wenn sie daran dachte, dass alle ihre Gefühle auffliegen könnten, keine Nervosität, wenn sie daran dachte, sich Jake endlich stellen zu müssen, keine Furcht, wenn sie daran dachte, dass er alles über sie wissen könnte, würde oder es womöglich schon tat. Alles, was da war, war Gleichgültigkeit... oder nein, es war vielmehr so etwas wie Erleichterung. Darüber, diese, gewiss auch höchst anstrengende, Farce nicht mehr aufrechterhalten zu müssen.
"Alles klar?", wollte Gabe wissen, als sie eine Zeitlang schwieg und ihren widersprüchlichen Gedanken nachhing. "Tut mir echt leid, ich... hätte besser die Klappe gehalten, was?" Er lächelte nervös, aber Kate schüttelte nur den Kopf.
"Schon gut, Gabe. Ich weiß ja, dass du recht hast, aber ich kann mich einfach nicht dazu durchringen." Sie fühlte sich plötzlich müde und erschöpft, aber zugleich war sie auch seltsam aufgeregt. Es war ähnlich dem Gefühl, im Bett zu liegen und die Augen nicht mehr offen halten zu können, aber gleichzeitig lief das Gehirn heiß und hielt einen stundenlang vom Einschlafen ab.
Gabriel grinste schief. "Ja, das kenn ich."
Sie begriff, dass es bei ihr genauso war, wie damals bei Gabe, als er ihrer besten Freundin nicht mitteilen wollte, dass er für lange Zeit weggeht. Und mit dieser Erkenntnis fiel auch das letzte kleinste bisschen Missbilligung, das sie bis heute noch für Gabe's Verhalten empfunden hatte.
Es war immer die Angst und die Sorge, alles kaputt zu machen, alles zu verändern. Aber wenn es schlecht lief, war eine Veränderung vielleicht ganz gut. Mehr verlieren als ohnehin schon konnte sie sowieso nicht mehr, da hatte Gabe ganz recht gehabt. Jake in die Augen sehen zu müssen, mit dieser Gewissheit im Hinterkopf, dass er und Rachel... das würde sie nicht aushalten. Genauso wenig, wie sie es schaffen würde, ihm in die Augen zu sehen, nachdem er erfahren würde, was sie wirklich für ihn empfand. Es war eine verzwickte Situation, und sie konnte sich mit keiner von beiden anfreunden. In Kombination miteinander schienen sie sogar noch furchteinflößender zu sein.
"Wie würde er bloß reagieren?", seufzte sie resigniert und handelte sich einen erstaunten Blick von Gabe an, der sich schnell beeilte, sie aufzumuntern.
"Bestimmt nicht blöd oder so, du kennst ihn doch. Und bei dir schon gar nicht."
Da war sich Kate nicht so sicher, denn sie kannte Jake's Bandbreite an unpassenden Reaktionen am besten. Trotzdem nickte sie abwesend, während ihr dieser alte, aber plötzlich nicht mehr erschreckende Gedanke immer und immer wieder durch den Kopf ging.
"Wollen wir auf's Riesenrad?", fragte Gabe zuvorkommend und deutete mit dem Finger auf das Karussell, das bis in den Himmel ragte und, so kam es Kate zumindest vor, sich viel schneller drehte, als es eigentlich gut für ihren Magen sein würde. Sie zögerte, denn große Höhen, Loopings und andere, wagemutige Sachen waren eigentlich nichts für sie, aber zum Antworten kam sie gar nicht, denn schon stand Claire bei ihnen, die immer wie aus dem Nichts auftauchte, und ihr seufzend Micky's Hand in ihre legte.
"Jetzt bist du mal dran", verkündete sie. "Wenn ich noch eine Minute am Kinderkarussell verbringen muss, flipp’ ich aus."
"Gabe wollte gerade auf's Riesenrad", erwiderte Kate, ohne so recht zu wissen, warum sie das eigentlich sagte. Scharf darauf, mit ihm draufzugehen, war sie ja sowieso nicht und sie hatte auch nichts dagegen, ein wenig auf Micky aufzupassen - immerhin war er ihr Neffe und nicht Claire's.
Diese warf einen kurzen, abschätzigen Blick auf die hohe Attraktion und zuckte dann gleichgültig mit den Schultern. "Ich geh mit ihm."
Kate wusste nicht, wer überraschter war, sie selbst oder Gabe, aber beiden stand der Mund für einen kurzen Augenblick weit offen.
Es war allerdings Gabe, der sich schneller wieder fing. "Wie bitte?", grinste er siegessicher. "Dürfte ich das noch einmal hören?"
Claire blickte ihn nur tonlos an, ihr Gesichtsausdruck verriet Gleichgültigkeit und gleichzeitig war es eine Provokation. Es war klar, dass sie es nicht noch einmal wiederholen würde, und ebenso klar war, dass sie ihren Vorschlag sofort zurückziehen würde, wenn Gabe vorhatte, sie weiterhin zu triezen.
"Okay, okay", gab dieser sich geschlagen, konnte sich aber ein schelmisches Lächeln nicht verkneifen. "Lass uns gehen."
Kate sah ihnen nach, wie sie nebeneinander hergingen, in zügigem Tempo, das natürlich Claire vorgab. Ihr war wohl nicht nach gemächlichem Spaziergang, und Kate fragte sich, was dieser Sinneswandel eigentlich sollte und ob Claire heute etwas Falsches gegessen oder womöglich bewusstseinsverändernde Drogen genommen hatte. Aber sie hatte nicht viel Zeit, sich weiter darüber Gedanken zu machen, denn Micky zupfte an ihrem Ärmel und sah sie bittend an.
"Können wir noch mal zu dem Autokarussell gehen?", fragte er und machte ganz traurige Hundeaugen.
Kate überreichte ihm die Tüte Popcorn, die Gabe gekauft hatte, und er stopfte sich gierig eine handvoll in den Mund. "Willst du nicht mal was anderes ausprobieren?", schlug sie hoffnungsvoll vor. Sie wusste, dass, wenn Micky sich auf eine Sache versteifte, er nicht mehr davon loszueisen war. Noch eine Eigenschaft, die er mit Liz gemeinsam hatte.
Der Junge dachte ernsthaft darüber nach und zog vor Anstrengung die Nase kraus, doch dann schüttelte er den Kopf. "Nein."
Kate seufzte erneut auf. "Dann komm. Wir machen eine Runde und schauen uns alles an, vielleicht findest du ja noch etwas, das die Spaß machen könnte. Und wenn nicht, dann gehen wir auf's Autokarussell, okay?"
Micky steckte nochmals seine Hand in die Popcorntüte und zog sie wieder heraus, verlor dabei in paar der weißen Maiskörner, die kullernd auf den Boden fielen. "Kaufst du mir eine Zuckerwatte?", fragte er, statt auf Kate's Vorschlag einzugehen. "Eine Blaue."
Diese entschied sich, das als eine Zustimmung zu betrachten. "Sicher, das hab ich dir doch versprochen."
Auf dem Weg zum Zuckerwattenstand blickte Kate empor in den Himmel und betrachtete die in dieser Höhe klein aussehenden, instabilen Kabinen des Riesenrads. In einer von ihnen hockten nun vermutlich Gabe und Claire, und Kate hätte nur allzu gern gewusst, wie sie auf so engem Raum miteinander auskamen und was sie da überhaupt zu suchen hatten.
Kapitel 20: Love

Als der alte Fastback Spider in die Einfahrt der Winstons einbog, rissen Kate und Claire überrascht die Augen auf. Sie waren gerade mit Micky im Garten und machten ein Picknick, denn das Wetter war wieder umgeschlagen und es fing langsam an, schöner zu werden. Micky grub dauernd Löcher in den Boden, auf der Suche nach Würmern, die er zum Angeln verwenden wollte. Natürlich konnte er nicht angeln und hatte es noch nie gemacht, aber auf dem Jahrmarkt hatte er ein Angelspiel mitgespielt, bei dem jedes Kind einen Stock mit einem Magneten am Ende bekam, mit dem es dann Fische fangen sollte, die ständig ihre Münder auf und zuklappten. Das hatte ihn auf den Geschmack gebracht.
Kate stand auf und schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab. "Liz?"
Lizzie stieg aus dem Auto, jedoch war sie nicht alleine, denn auch John, ihr Freund, verließ das Auto. Und auch dieses Mal trug er nicht die erwartete Lederkluft, sondern ganz normale Jeans und einen dunkelgrünen Pulli, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Am rechten Handgelenk funkelte eine silberne Uhr.
Beide kamen auf die Mädchen zu, doch Liz erschien Kate nicht gerade gut gelaunt zu sein. John hingegen war freundlich wie immer und lächelte die jüngere Schwester an.
Auch Claire erhob sich, runzelte die Stirn und wischte sich die staubigen Hände an ihren Jeans ab, um John, der beiden die Hand ausstreckte, begrüßen zu können.
"John, das ist Claire", stellte Liz lustlos vor. "Kate kennst du ja schon."
Kate fand das Verhalten ihrer älteren Schwester unmöglich, aber vor John wollte sie sie nicht darauf hinweisen. "Was machst du hier?", fragte sie stattdessen, denn sie konnte sich nicht entsinnen, etwas von Lizzie's Besuchsankündigung mitbekommen zu haben.
"Dasselbe wollte ich gerade fragen. Wo sind Mum und Dad?" Liz schaute sich nach dem silbernen Rover um, der für gewöhnlich immer in der Auffahrt stand, nun aber fehlte.
"In Aberdeen, auf Geschäftsreise", antwortete Kate verwirrt.
Plötzlich grinste Liz hinterlistig und drehte sich triumphierend zu John herum. "Ha! Hast du gehört? Wir können also wieder fahren!" Sie machte sich auch den Weg zum Auto, aber John lächelte nur nachsichtig und legte seine Hände auf Lizzie's Schultern, drehte sie sanft wieder herum.
"Und wann kommen sie wieder?", erkundigte er sich höflich.
Kate, die noch immer nicht wusste, was eigentlich los war, zuckte mit den Schultern. "Heute Nachmittag irgendwann." Deshalb hatten sie und Claire schon ihre Taschen gepackt, um am Abend zurück nach Nottingham zu fahren. Zurück in die alte, unangenehme Realität.
John schien zufrieden. "Na dann warten wir doch, oder, Liz?"
Kate's Schwester brummte etwas nicht Jugendfreies und warf ihm einen vernichtenden Blick zu, den er ignorierte. Stattdessen holte er eine Tasche aus dem Kofferraum des Wagens und folgte der grimmigen Liz ins Hausinnere, nicht, nachdem er Kate und Claire noch mal zugezwinkert hatte.
Irritiert sahen sich die beiden Mädchen an.
"Was geht hier eigentlich vor?", wollte Claire ratlos wissen und schaute den beiden hinterher.
"Keine Ahnung. Ich wusste gar nicht, dass die zwei wieder zusammen sind", erwiderte Kate ebenso ahnungslos und hockte sich dann wieder zu Micky herunter, der noch keinen einzigen Wurm hatte ausfindig machen können. Frustriert rammte er immer wieder seine Plastikkinderschaufel in den Boden, doch es nützte ihm nichts.
"Das macht keinen Spaß!", verkündete er patzig und stand auf, wischte sich seine dreckverschmierten Hände an der Hose ab, so wie Claire zuvor.
"Lass uns reingehen und Pudding kochen", schlug Kate vor, denn sie wusste, dass das Micky‘s Leibgericht Nummer eins war. Er war sofort begeistert, und Claire auch.
"Und herausfinden, was Liz und ihr Freund hier suchen!", fügte diese grinsend hinzu.

Dieses Unternehmen gestaltete sich einfacher, als gedacht. Obwohl Liz dagegen zu sein schien, griff John nach ihrem Handgelenk und präsentierte so den silbernen Ring mit Diamantenfassung, den Liz am Finger trug.
Kate und Claire machten große Augen, während Liz John grimmig ihre Hand wieder entriss.
"Musst du das immer so breittreten?", zischte sie und warf den beiden Mädchen einen vernichtenden Blick zu, der sagen sollte: "Wenn ihr auch nur einen Mucks macht, mach ich euch kalt!"
Deshalb verkniff Kate sich die Glückwunschbekundungen, aber Claire schien skeptisch, obwohl sie nichts weiter dazu sagte.
"Wie... wie kommt das?", hakte Kate nach, während sie ein Puddingpäckchen aufriss und das Pulver gleichmäßig in die Milch einrührte.
"Tja", kommentierte Lizzie düster, "das wüsste ich auch gern."
John lachte. Ihm schien es gar nichts auszumachen, dass Lizzie sich so gegen alles sperrte. "Liz tut zwar immer gern, als würde sie alles schlecht finden, aber im Grunde ihres Herzens..." Er warf ihr einen liebevollen Blick zu, den sie ganz und gar nicht erwiderte.
Stattdessen schnaubte sie und sah demonstrativ weg. "Und dann zwingt er mich noch, hier herzufahren und ihn Mum und Dad vorzustellen!"
John nickte. "Das gehört sich ja auch so. Du kannst mich nicht ewig versteckt halten."
"Ich halte dich nicht versteckt", knurrte Lizzie durch ihre zusammengebissenen Zähne hindurch und verdrehte die Augen.
"Doch", widersprach John. "Du schämst dich dafür, dass ich nicht in dein Beuteschema passe und eine Arbeit habe, bei der ich Anzug und Krawatte trage und die nicht illegal ist." Er grinste und man konnte sehen, dass ihn das alles schrecklich amüsierte. Er blieb absolut unberührt von Liz’s unmöglichem Benehmen und der Tatsache, dass sie scheinbar teilweise ablehnte, was er war und was er machte.
Kate verstand die Welt nicht mehr. Liz war nie der Typ gewesen für Anzugträger oder für Hochzeiten. Stattdessen hatte sie schon früh angefangen, für ihre Unabhängigkeit und Freiheit zu kämpfen und ließ sich nur auf vorübergehende Beziehungen ein. Und die beiden schienen gar nicht wie ein frisch verlobtes Pärchen. John war nett, sehr nett sogar, und Kate mochte ihn, aber verstehen konnte sie es trotzdem nicht. Als sie Claire einen kurzen Blick zuwarf und deren ratlose Miene sah, wusste sie, dass es ihrer Freundin genauso ging.
"Quatsch", widersprach Liz, aber es war ihrer Schwester nicht entgangen, dass sie leicht rot wurde und den Blickkontakt mit John mied.
Als dieser sich mal kurz aus dem Staub machte, um die Toilette aufzusuchen, stürzten sich beide Mädchen auf Liz.
"Was geht hier eigentlich vor?", fragte Kate irritiert und rührte den Pudding weiter an. "Ich verstehe gar nichts mehr. Hast du nicht Schluss mit ihm gemacht, eben weil er dir einen Antrag gemacht hat?"
Claire nickte. "Und wie... wie kam es jetzt dazu?" Sie deutete ehrfürchtig auf Liz‘ Hand.
Diese zuckte nur mit den Schultern und plötzlich umspielte ein leichtes Lächeln ihre Lippen, als erinnerte sie sich an etwas. "Ich kann es auch kaum glauben, ehrlich", beteuerte sie. "Aber er… ach, ich weiß auch nicht." Sie seufzte resigniert. "Er hat mich gezwungen, mit ihm zu reden, und dann..." Sie lehnte sich über den Tisch zu den beiden Mädchen hinüber und fing plötzlich an, zu flüstern. "Mein Gott, kann der Mann vielleicht gut küssen!"
Das war die Sprache, die auch Claire verstand, und beide grinsten sich einvernehmlich an. Kate allerdings war eher skeptisch ob diesem Geständnis.
"Was?", hakte sie nach. "Und deswegen willst du ihn heiraten?"
Liz rollte mit den Augen. "Mensch, Katie. Stehst du auf dem Schlauch?"
Kate stand allerdings auf dem Schlauch und fürchtete, sie sah auch genauso aus.
"Ihr wisst schon", erklärte Liz, "er hat diese arrogante Art, alles zu bekommen, was er will, und manchmal beiß ich mir an ihm die Zähen aus. Und dann trägt er diese grässlichen, spießigen Anzüge, sogar, wenn wir essen gehen!" Sie schüttelte verständnislos den Kopf. "Und er lässt nie locker. Nicht mal streiten kann man mit ihm, weil er immer so schrecklich verständnisvoll ist, einen nie anschreit und immer nur über alles reden will."
Kate war nun nur noch mehr verwirrt. "Und ist das jetzt etwas Gutes?", tastete sie sich langsam vorwärts. Claire hingegen hörte interessiert zu.
Liz verzog ratlos das Gesicht. "Es macht mich verrückt. Ich möchte Vasen nach ihm schmeißen und ihn anbrüllen, aber er lässt mich nicht! Doch immer, wenn ihn wegschicke, kommt er wieder zurück."
"Das klingt..." Kate zögert. "Nach wenig Selbstbewusstsein?"
Liz lachte auf. "Ganz im Gegenteil. Und wisst ihr was?"
Beide schüttelte gespannt den Kopf.
Ihr Blick verklärte sich und sie lächelte wieder. "Er macht mich total wahnsinnig."
Anscheinend war es doch etwas Gutes, ging es Kate durch den Kopf. "Na ja, ich schätze, das macht Sinn", formulierte sie ihre Gedanken in Worte und die beiden anderen schauten sie fragend an. "Ich meine, du brauchst jemanden, der deinem Temperament etwas entgegensetzt und nicht sofort abhaut, wenn du mal ausflippst."
Liz starrte sie an und grinste dann. "Was denn, bist du jetzt eine Psychotante, Katie?"
"Ich meinte nur...", wollte diese sich verteidigen, aber Liz schnitt ihr wieder das Wort ab.
"Was auch immer. Ich muss es Mum und Dad mitteilen, das ist schlimm genug."
"Sie werden sich sicher freuen", schaltete sich Claire ein, die bis jetzt noch nicht so viel zu dem Ganzen gesagt hatte. Und das glaubte Kate auch. Ein anständiger Kerl mit anständigem Job und anständigen Klamotten - alles durchweg anständig also! Mrs. und Mr. Winston würden hellauf begeistert sein!
Liz' Blick verdüsterte sich wieder und sie stemmte die Ellbogen auf den Tisch und ließ den Kopf in die Hände sinken. "Das ist ja das Problem."
Kate sah überhaupt kein Problem, aber irgendwo in den verkorksten Hirnwindungen ihrer verrückten Schwester musste das wohl einen Sinn ergeben. In diesem Augenblick kam John von der Toilette wieder und rutschte wieder neben Liz auf die Bank. Er legte einen Arm und sie und drückte das kleine Häufchen Elende an sich.
"Arme Liz", sagte er belustigt. "Jahrelang hast du versucht, allen vorzumachen, du wärst die coole, toughe Braut, und dann kommst du mit einem Spießer wie mir an. Was werden nur deine Freunde von dir denken? Tststs..." Er schnalzte mit der Zunge. "Und nun werden auch deine Eltern sehen, dass sie in deiner Erziehung anscheinend doch etwas richtig gemacht haben. Das musst wirklich frustrierend sein."
Lizzie konnte sich ein gequältes Lächeln nicht verkneifen. "Ach, halt die Klappe, John, sonst verpass ich dir einen Kinnhaken."
"Das hast du mir schon so oft versprochen, aber nie eingelöst", lachte er.
"Dann wird es heute halt das erste Mal sein", drohte sie, halb ernst, halb im Scherz.
"Ob das wirklich gut ankommt, wenn ich mit blauem Kinn vor deinen Eltern stehe?", sinnierte er. "Und was soll ich sagen? Dass meine Verlobte mich verprügelt hat?"
Kate lachte und bewahrte den Pudding gerade noch so davor, überzukochen. Dann nahm sie den Topf vom Herd und holte ein paar Schüsseln raus. Micky mochte den Pudding am liebsten warm, während er noch dickflüssig und nicht fest war.
Das lustige Streitgespräch ging indessen weiter. "Vielleicht hast du dann keine Verlobte mehr", sagte Liz und John erwiderte stöhnend: "Nicht schon wieder!"
Dann boxte die junge Frau ihren Freund in die Schulter und er ließ sie los, um sich die schmerzende Stelle zu reiben.
"Das ist alles deine Schuld. Hättest du mir nicht vorgemacht, du spielst in einer Band, wäre ich nie auf dich reingefallen und würde mich jetzt nicht in dieser blöden Situation befinden."
John grinste. "Hey, Ich hab dir nie was vorgemacht. Du bist einfach selber davon ausgegangen, dass ich ein Bandmitglied bin. Und außerdem kann ich nichts dafür, dass du mich liebst."
Er war wirklich ein Schlawiner und Kate hatte ihn schon längst ins Herz geschlossen. Liz wandte sich an die beiden Mädchen und erklärte: "Ich war in diesem Club... irgendein Club in London, keine Ahnung-"
"The Flyfishers", warf John hilfreich ein.
"Und da spielte diese Band. Irgendeine Rockband. Und er spielte mit. Nach dem Auftritt kam er an die Bar und hat mir etwas ausgegeben."
"Allerdings ist nur ein Freund ausgefallen und ich bin kurzfristig eingesprungen, weil ich irgendwann mal Gitarren-Unterricht hatte vor... Ewigkeiten", erklärte John freundlich. "Liz ging dann automatisch davon aus, dass ich ein Bandmitglied sei..."
"Und du hast dir keine Mühe gegeben, mich aufzuklären", warf sie ihm vor.
Er zuckte belustigt mit den Schultern. "Warum auch? Hätte ich vorher gewusst, dass Bands bei Frauen so gut ankommen, hätte ich schon längst eine eigene gegründet." Er zwinkerte Kate komplizenhart zu und sie lächelte.
"Na ja, jedenfalls... der Rest ist nicht jugendfrei. Und seitdem werd ich ihn nicht mehr los, wie ihr seht." Sie klang überhaupt nicht so, als machte ihr das etwas aus.
John lehnte sich entspannt zurück. "Wenn sie wirklich wollte, hätte sie das schon längst geschafft", gab er seelenruhig zur Auskunft.
"Mein Gott", erwiderte Kate nach einer kurzen Schweigepause fassungslos. "Ihr seid schon wie ein altes Ehepaar."
"Wie bitte?!", kreischte Liz empört und Kate hob abwehrend beide Hände und lächelte gequält.
"Ich meine, ihr beendet eure Sätze gegenseitig und all das Zeug. Das ist... schön..."
Liz Miene sagte, dass sie das alles andere als "schön" fand.
John hingegen schien äußerst zufrieden. "Siehst du? Du hast nicht umsonst behauptet, dass Kate die Klügste in der Familie ist. Wir zwei passen gut zusammen."
Kate wurde bei diesen Worten rot. Nicht, weil John das so einfach sagte und bestätigte, sondern weil Liz ihm das anscheinend irgendwann erzählt haben musste. Dass ihre Schwester so über sie dachte, war unendlich schmeichelhaft für Kate.
"Ich nehm's wieder zurück", knurrte Liz, aber das konnte Kate's Freude über die Worte ihrer Schwester trotzdem nicht mehr lindern.
Kapitel 21: Crisis

Claire und Kate kamen vollkommen durchnässt zu Hause an, denn draußen schüttete es wie aus Eimern. Obwohl sie nur zwei Minuten von der Straßenbahnhaltestelle bis zur der Wohnung brauchten, hatte es sie dennoch gründlich erwischt.
Claire ließ ihre Packtasche stehen und holte sich ein frisches Handtuch aus dem Badezimmer, mit dem sie ihre Haare abtrocknete. "Tolles Wetter", murrte sie missmutig. "Hätte ich das gewusst, hätte ich mir heute Morgen die Haare gar nicht erst waschen brauchen."
Kate lächelte erschöpft und schleppte ihre Tasche in ihr Zimmer. Als sie das Licht einschaltete, wurde sie sofort in die Wirklichkeit hineinkatapultiert, denn es sah noch genauso aus, wie sie es verlassen hatte. Auf dem Schreibtisch häuften sich die Bücher, die Claire für sie ausgeliehen hatte, und auch sonst sah es eher aus, als sei man überstürzt von hier geflüchtet, und genauso war es schließlich auch gewesen.
Sie schob das Zeug auf ihrem Tisch beiseite, um ein wenig Platz zu schaffen, und ihr war unangenehm bewusst, dass nun alles wieder von vorne anfing. Wie oft war sie schon geflüchtet, doch immer wieder musste sie wieder zurückkommen. Es war wohl unvermeidlich, sich mit ihrem Leben zu befassen, obwohl sie es lieber bis zum Sankt Nimmerleinstag hinausgeschoben hätte.
So durchnässt, fröstelnd und mit dem stetigen Geräusch des gegen die Fensterscheibe prasselnden Regens fühlte sie sich plötzlich allein und deprimiert. Das Licht des Zimmer erschien ihr auch irgendwie fahl und kalt, also schaltete sie es schnell wieder aus und verließ es.
Auf dem Weg ins Bad begegnete ihr Claire, sie soeben auch aus ihrem Zimmer kam, schon komplett umgezogen, und immer noch das Handtuch um die Schultern gelegt. Claire benutzte selten einen Fön und ließ ihre Haare meist an der Luft trocknen, wenn die Zeit es ihr erlaubte.
"Keine Lust, jetzt auszupacken", verkündete ihre Freundin schulterzuckend und machte sich auf den Weg in die Küche. "Lust auf Toast und Tee?"
Kate nickte dankbar. Tee und Toast klangen wundervoll.
Obwohl Kate und Claire die meiste Zeit über gemeinsam verbrachten und auch noch zusammen wohnten, schienen sie nie die Nase voll zu haben voneinander. Natürlich gab es Stunden, oder manchmal sogar Tage, wo sie nicht so viel miteinander unternahmen, aber das lag dann daran, dass eine von ihnen oder sogar beide viel zu tun hatten. Es gab auch Tage, an denen sie sich auf die Nerven gingen, aber anstatt sich zu streiten, wie Mädchen es angeblich gerne taten, ließen sie sich gegenseitig in Ruhe und waren nach ein paar Tagen schon wieder ganz die Alten.
"Und was machst du jetzt?", wollte Claire noch wissen und schob mit dem nackten Fuß ihre nassen Sneakers beiseite, die mitten im Raum herumlagen, so, wie sie sie sich ihrer entledigt hatten, als sie hereingekommen waren.
"Ich gehe erst mal duschen", antwortete Kate und deutete auf ihren sauber gefalteten Schlafanzug, den sie in den Händen trug.
Claire verdrehte sie Augen. "Ich meine mit Jake."
"Oh." Kate schwieg einen Augenblick und dachte nach. Darüber dachte sie schon die ganze Zeit nach, aber sie wusste einfach nicht, wie es weitergehen sollte. "Ich weiß nicht... ich gehe jetzt erst mal duschen..", wich sie zögernd aus und verschwand im Badezimmer. Sie wusste, dass das Gespräch gleich weitergehen würde, und vielleicht wäre das ganz gut so, denn Claire sah die Sache von einem anderen, objektiveren Standpunkt aus - mal abgesehen von ihrer Abneigung gegen Jake -, und würde ihr vielleicht den ein oder anderen guten Ratschlag geben können. Im Grunde wusste Kate schon, was Claire sagen würde, aber möglicherweise würde es sie dieses Mal ja überzeugen. Denn irgendetwas hatte sich geändert, Kate wusste nur noch nicht genau, was das war.

Claire hatte ein paar Schinken-Käse-Sandwiches getoastet, die einfach wunderbar schmeckten. Selbst für Toasts hatte sie ein Händchen.
"Mhm. Du hättest Köchin werden sollen", lobte Kate, aber ihre Freundin verzog nur das Gesicht.
"Na danke. Da studier ich lieber ein paar Jahre und mach was Richtiges aus mir."
"Eine Fünf-Sterne-Köchin oder ein Chef de Cuisine IST etwas Richtiges", korrigierte Kate. Sie konnte nicht verstehen, dass Claire das nicht für einen anständigen Beruf hielt. Aber das sollte nicht ihre Sorge sein. Sie rührte einen Moment lang gedankenverloren mit dem Löffel in ihrem Tee herum.
Es war Claire, die das Gespräch wieder aufnahm, aber dieses Mal überraschte sie Kate.
"Gabe hat es in Australien ziemlich gefallen, was?"
Kate hörte auf zu rühren und nickte zögernd. Sie wusste noch nicht, weshalb Claire jetzt über ihren Ex-Freund sprach, aber es war etwas sehr Ungewöhnliches, und deshalb wollte sie so gut zuhören, wie es ging, um nichts zu verpassen.
"Mhm", machte Claire. "Das dachte ich mir." Dann stützte sie ihr Kinn auf der Hand ab und schaute die Wand links von ihr an, überlegte.
Irritiert schüttelte Kate ein wenig den Kopf. "Was...? Ich meine, habt ihr euch wieder vertragen?" Sie glaubte es zwar nicht, aber nach der Aktion auf dem Riesenrad... was auch immer dort oben geschehen war.
Claire lachte unfroh auf. "Sei nicht albern. Wir haben uns nie gestritten."
Kate zog eine Augenbraue hoch.
"Jedenfalls nicht richtig", lenkte Claire grinsend ein, da sie wusste, dass sie Kate nicht überlisten konnte. "Nein, wir haben eher über... dich geredet."
Kate verschluckte sich an einem Stückchen Schinken. "Wie bitte?"
"Na ja, es ist so... Ich weiß gar nicht, ob du das hören willst..." Ungewohnt verlegen berührte Claire ihren Nacken und wich Kate's Blick aus. Diese wurde erfasst von einer schrecklichen Vorahnung und wurde auf der Stelle blass.
"Claire..." Ihr war schlecht.
"Er hat mich die ganze Zeit auf dem Handy angerufen", erklärte Claire sachlich. "Irgendwann hab ich's ausgeschaltet, und da hat er SMS geschickt. Der Junge ist schrecklich nervig. Schließlich hab ich doch abgenommen, weil ich fand... das geht so nicht weiter."
Kate schluckte. Ihr Mund fühlte sich staubtrocken an. Sie hätte sich am liebsten geräuspert, aber sie war sich nicht sicher, ob sie die dafür nötige Kraft noch aufbringen konnte.
"Es war eigentlich nichts Besonderes. Er wollte wissen, wo wir stecken und was mit uns nicht stimmt. Und warum du so komisch reagiert hast", fügte sie nach einem kritischen Blick auf die stumme Kate vorsichtig hinzu. Diese atmete ganz flach und nickte, um ihr zu bedeuten, fortzufahren. "Ich habe gesagt, dass wir babysitten müssen, aber er fragte nur, ob wir Rachel wirklich so verabscheuen und ich habe ja gesagt."
Kate hätte gerne gegrinst ob der Direktheit ihrer besten Freundin, aber ihre Gesichtszüge waren irgendwie taub. Sie nickte nur.
"Er sagte einfach nur: 'Oh.' Damit hat er wohl nicht gerechnet." Claire lächelte ein bisschen bei der Erinnerung daran. "Und wollte dann wissen, ob es etwas mit ihr zu tun hat, dass wir abgehauen wären. Ich habe ihm gesagt, dass die wenigstens Leute mit der Bettbekanntschaft ihres besten Freundes frühstücken wollen und er hat das verstanden."
Kate fand ihre Sprache wieder. Das hörte sich doch gar nicht so schlecht an. "Aha", sagte sie. "Ist das alles?"
Claire schüttelte den Kopf. "Er meinte, das hättest du ihm früher sagen sollen, weil er dich dann nicht zu all den Partys mitgeschleppt hätte und all sowas."
Kate lachte ein wenig. "Zu denen hast du mich doch geschleppt", erinnerte sie Claire und diese nickte, froh, dass ihre Freundin wieder lächeln konnte.
"Ja, stimmt. Aber das hab ich ihm nicht gesagt."
"Stattdessen bist du drauf herumgeritten, stimmt's?" Kate grinste und Claire stimmte mit ein.
"Du kennst mich zu gut."
"Und dann?", hakte Kate neugierig nach. Das Gespräch schien ganz interessant gewesen zu sein und sie verstand nicht, warum Claire ihr das nicht früher erzählt hatte.
"Er sagte, dass er nur getan hat, was du ihm geraten hast. Irgendwas von wegen Mann oder Maus, oder so was?" Sie schaute Kate fragend und mit hochgezogenen Augenbrauen an, auf eine Erklärung wartend.
Diese brauchte eine Weile, um sich das gemeinte Gespräch wieder in Erinnerung zu rufen, und rollte dann mit den Augen. "Ich war so genervt und er wollte unbedingt einen Ratschlag, also hab ich ihm gesagt, er soll nicht so rumheulen."
"Tja, das hat er sich wohl zu Herzen genommen." Claire zuckte mit den Schultern. "Weißt du, ich glaube, da wäre gar nichts gelaufen, wenn er sich nicht ständig von dir beeinflussen lassen würde. Oder wenn du ihm sofort gesagt hättest, dass diese Kuh Gift für ihn ist und er stattdessen dich nehmen soll."
Kate lachte. "Hör auf." Dann wurde sie wieder ernst und blickte ihren leeren Teller an. "Er wollte sie, er hat sie gekriegt." Die altgewohnte Melancholie überfiel sie wieder, während die Bilder von dem halbnackten Jake und der aus der Dusche kommenden Rachel durch ihren Kopf gingen.
"Warum hat er eigentlich nur dich angerufen?", fiel es ihr dann ein.
"Das hab ich ihn auch gefragt. Ich bin schließlich nicht jedermanns Kummerkastentante. Aber ich glaube, er wollte erst vorfühlen, wie kritisch die Lage so ist."
"Wieso denn kritisch?", runzelte Kate die Stirn.
"Tja, frag dich das selbst. Wenn man bedenkt, was er Gabe erzählt hat, ist es eigentlich kein Wunder." Claire zuckte mit den Schultern. "Ich denke, das ist der richtige Zeitpunkt."
Kate dachte einen Augenblick nach über all die Sachen nach, die Gabe ihr bei ihrem Besuch in Collingham anvertraut hatte. "Der richtige Zeitpunkt wozu?", fragte sie dann geistesabwesend nach.
Claire grinste. "Tu doch nicht so. Ich weiß, dass du clever genug bist, um es selbst zu wissen, also erspar uns die Ahnungslosennummer." Das war Claire, wie sie leibte und lebte. "Ach ja, noch was", fügte sie dann beiläufig hinzu und trank einen Schluck bereits kälter gewordenen Tees.
"Ja?"
"Rachel hat Jake gesagt, dass du wahrscheinlich auf ihn stehst."
Zum Glück hatte Kate gerade nichts im Mund, denn entweder hätte sie es ausgespuckt oder sich wahrhaftig daran verschluckt. "Was?!" Gerade hatte sie angefangen, sich wieder zu entspannen, doch nun saß sie stocksteif da, starrte ihre Freundin mit einem furcherregenden Blick an und war ganz weiß im Gesicht.
Claire schluckte. Sie hatte sich das Beste mal wieder bis zum Schluss aufgehoben. "Ja. Ich glaube, ihre genauen Worte waren... warte, was sagte er doch gleich?", überlegte sie laut. "Ach ja... 'Das muss ein harter Schlag für deine kleine Freundin sein.' Und er fragte warum und sie sagte... na ja, eben, dass du auf ihn stehst und ob er denn blind wäre." Sie seufzte. "Womit sie nicht ganz unrecht hat, das muss man ihr lassen."
"Und deshalb hat er dich angerufen", stellte Kate apathisch fest. Ihr Kopf schien ganz leergefegt und obwohl sie so vieles hätte sagen können, brachte sie nur das heraus.
"Äh, ja", sagte Claire verwirrt, und auch ein bisschen beunruhigt über die Reaktionslosigkeit ihrer Freundin, "ich denke, ja. Er wollte wohl von mir hören, ob es stimmt..."
Kate schluckte und blickte Claire nun direkt in die Augen. "Und?"
Claire schloss die Augen und lächelte gequält, während sie tief einatmete, als ob sie sich für den vernichtenden Schlag vorbereitete. "Du wirst mich umbringen. Aber mir ist so kurzfristig nichts Intelligentes eingefallen. Ich war in Panik, weißt du?"
"Claire...", warnte Kate sie.
"Ich hab so getan, als wäre die Verbindung plötzlich schlecht und ich könnte ihn nicht hören. Dann hab ich aufgelegt." Sie lachte verlegen und zuckte dann die Schultern, als Kate sie fassungslos anstarrte.
"Du bist doch sonst nie in Panik", stellte sie wieder seelenruhig fest und jagte ihrer Freundin langsam aber sicher mit ihrer Ruhe Angst ein.
"Tja, da siehst du mal, wie weit ihr mich getrieben habt. Ich weiß, es war nicht die beste Idee... und wahrscheinlich ist ihm jetzt alles noch viel klarer... Mein Gott." Sie schlug sich selbst mit der flachen Hand vor die Stirn, als würde ihr die Lächerlichkeit ihrer Aktion erst jetzt so richtig bewusst werden.
Kate hingegen fühlte sich wie in einer anderen Sphäre. In einer, wo man nicht viel empfand und irgendwie gefühlstaub war. Wahrscheinlich war es ein ganz natürlicher Impuls, um sie vor sämtlichen Erkenntnissen, Gedanken und Gefühlsstürmen zu schützen, denen sie jetzt sonst ausgesetzt gewesen wäre. Sie versuchte, ein paar Mal tief ein und aus zu atmen und zu verstehen, was das alles bedeutete, aber sie konnte es noch nicht so recht greifen und begreifen. Claire saß nur da und wartete darauf, dass sich irgendeine Reaktion einstellte, aber es passierte nichts.
Doch dann kam etwas durch. Das erste, was Kate wieder fühlte, war wohl so etwas wie Scham, denn sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände. "Oh je", seufzte sie erschöpft. "Wie soll ich ihm je wieder in die Augen sehen können?"
Claire musste die Stimmung dringend auflockern. "Und ich erst!", fügte sie theatralisch hinzu. "Nach meiner peinlichen Darbietung!"
Unwillkürlich musste Kate lächeln. "Wir haben versagt", stellte sie bedauernd fest und Claire nickte zustimmend.
"Das haben wir. Aber wir kommen da wieder raus."
Kate blickte wieder zu ihrer Freundin auf. "Meinst du?", fragte sie zweifelnd.
Claire wog den Kopf ein paar Mal hin und her und überlegte. "Klar. So oder so." Sie tätschelte die Hand ihrer Freundin und spendete ihr damit mehr Trost, als sie selbst annehmen konnte. Jemanden zu haben, auf den man sich verlassen konnte, war sehr tröstlich, fand Kate. Besonders in Krisensituationen, wo alles unterzugehen schien, was einem lieb und teuer war.
Kapitel 22: Confrontation

Kate zog sich gerade ihre Schuhe an und schnappte sich den Regenschirm, als Claire aus ihrem Zimmer kam. Sie sah noch sehr verschlafen aus und blinzelte, als sie Kate fertig angezogen im Flur stehen sah.
"Wo willst du denn hin?" Dann warf sie einen Blick auf die runde Wanduhr. "Wir haben erst kurz vor zehn!"
"Zu dieser freiwilligen Literaturvorlesung, weißt du nicht mehr?" Sie hatten vor einiger Zeit mal Flyer bekommen, in denen diese Vorlesung angekündigt wurde. Sie war für sämtlich Sprachwissenschafts-, Literatur- und Journalistikstudenten und für alle, die sich sonst noch dafür interessierten. Kate jedenfalls war interessiert, denn eine berühmte Harvard-Literaturprofessorin würde diesen Vortrag halten. Und auch Claire hatte groß rumgetönt, dass sie sicherlich auch anwesend sein würde. "Wolltest du nicht auch mit?"
Claire gähnte demonstrativ und fuhr sich mit der Hand durch die ungekämmten, ungezähmten blonden Haare. Sie erweckte den Eindruck, wild und verrucht zu sein, aber ihr müder Gesichtsausdruck sprach da eine ganz andere Sprache. "Hab's mir anders überlegt. Und du willst da nur hin, um nicht zu Hause herumsitzen und nachdenken zu müssen", warf sie ihrer Freundin vor.
Kate verdrehte die Augen. "Ich will da hin, weil es interessant wird." Sie wussten natürlich beide, dass Claire recht hatte, aber warum nicht etwas gegen das Trübsalblasen tun? Sich in die Arbeit stürzen war eine gute Möglichkeit, und so würde Kate ein paar ihrer Freunde aus der Uni treffen, mit denen sie sich auch gut verstand. Sophie zum Beispiel würde auch da sein und diese hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Ein bisschen Ablenkung tat ganz gut.
Claire starrte sie an. "Aha."
"Warte noch", murmelte Kate plötzlich, bevor Claire wieder in ihr Zimmer gehen und weiterschlafen konnte, und kramte in ihrer Jeanstasche, bis sie schließlich ein gefaltetes Blatt Papier herauszog. "Hier steht, die Vorlesung findet im Saal... MI 5.30 statt. Weißt du zufällig, wo das ist?"
Claire blinzelte noch einmal. So früh nachdenken war sie nicht gewöhnt. "Ich glaub, das ist irgendwo hinten bei den Physikern. Oder den Naturwissenschaften oder so. Im fünften Stockwerk."
Das war ihr keine wirklich große Hilfe gewesen, aber sie bedankte sich dennoch und steckte den Zettel wieder ein.
"Bis dann", verabschiedete sie sich von Claire.
"Erzähl mir nachher, wie's war", rief diese ihr nach und hob zum Abschiedgruß die Hand, um dann, entgegen Kate’s Vermutungen, ihren Weg ins Bad anzutreten.

Kate hätte nie erwartet, sich in ihrer eigenen Uni zu verirren, aber genau das war jetzt eingetreten. Sie kannte die Gebäude, in denen sie täglich ein und aus ging, wie ihre eigene Westentasche, aber hier befand sie sich auf fremdem Terrain. Sie konnte nicht einmal genau sagen, wo sie war, denn sie wusste es einfach nicht! Wie Claire ihr geraten hatte, war sie zu den Physikern gegangen, aber dort, wo sie das Physikgebäude erwartet hätte, waren plötzlich Sportstudenten unterwegs gewesen. Das hatte sie erfahren, nachdem sie einen von ihnen angehalten und gefragt hatte, wo sie sich befand. Er hatte sie zwar seltsam angeguckt, aber ihr dennoch erklärt, sie wäre im Sporttrakt.
Gott, wie groß konnte diese Uni denn nur sein? Nach dem reichlich merkwürdigen Blick des Sportheinis hatte sie sich nicht mehr getraut, ihn zu fragen, wo es zu den Physikern ging und ansonsten befanden sich auch nicht allzu viele Stundenten an der Uni, es waren ja Ferien.
Langsam bekam sie schlechte Laune vom vielen Herumirren. Wenn das so weiterging, würde sie bestimmt zu spät kommen oder gar die ganze Vorlesung verpassen.
Missgelaunt blieb sie in einem größeren Raum stehen, von dem es in zwei Hörsäle, in die verschiedenen Treppenhäuser und zu den Toiletten ging. In einer Ecke standen ein paar Bänke zum Hinsetzen. Sie hätte gerne Platz genommen, aber sie konnte es sich nicht leisten, noch mehr Zeit zu verlieren. Hätte sie doch daran gedacht, einen Gebäudeplan auszudrucken! Erst jetzt fiel ihr ein, was sie alles hätte tun können, allerdings hatte sie den Entschluss, hierher zu kommen, direkt nach dem Aufwachen gefasst und hatte sich dann schnell fertig machen müssen. Es war mehr ein Wegrennen vor der Realität gewesen, wie immer, denn als sie die Augen aufschlug, nein, vielmehr genau zwei Sekunden danach, war ihr alles vom Vorabend wieder eingefallen und sie hätte sich am liebsten wieder unter der Decke verkrochen und nie wieder daran gedacht. Wie selig waren Schlafende doch, so unwissend und sorglos! Sie wünschte, sie könnte diese Phase ihres Lebens einfach durchschlafen und wenn sie aufwachte, wären all ihre Probleme bereits von alleine gelöst. Sie war allerdings klug genug, um sich eingestehen zu können, dass wohl jeder diesen Wunsch hatte und man seine Sorgen immer selbst in die Hand nehmen musste, anstatt davor zu fliehen. Und trotzdem tat sie gerade nichts anderes. Und sie würde wohl so lange nichts anderes tun, bis sie endlich wusste, was sie zu tun und wie sie auf das alles angemessen zu reagieren hatte.
"Verdammt noch mal", fluchte sie, was sehr untypisch für sie war, und seufzte dann, was sich eher wie ein unzufriedenes Knurren anhörte. Sie trottete ein Treppchen hoch, das zum nächsten langen Gang mit irgendwelchen Stundenten, die höchstwahrscheinlich auch keine Physiker waren, und noch mehr geschlossenen Bürotüren führte. Die Raumnummern waren von MI 5.30 weit entfernt und, warum, verflixt noch mal, war hier eigentlich nirgends etwas ausgeschildert? Ihr war das vorher nie aufgefallen, aber sie wusste ja normalerweise immer auch ohne Schilder, wohin sie zu gehen hatte. Zumindest in ihrem Gebäudetrakt.
Auf dem Treppchen abgekommen, blieb sie noch einmal stehen und drehte sich um, um sich den Raum genauer anzusehen, nur für den Fall, dass sie im Kreis lief und hier gleich noch mal vorbeikommen würde. In diesem Moment kamen aus einem anderen Gang ein paar männliche Stundenten, die sich fröhlich unterhielten und lachten. Einer, ein schwarzhaariger Typ mit einem Pferdeschwanz in der vorderen Reihe, gestikulierte wild mit den Händen und schien eine witzige Geschichte zum besten zu geben.
Sie wollte gerade zu ihnen herüber und sie nach dem Weg fragen, ganz egal, wie sie sie angucken würden, als ihr etwas - oder besser gesagt, jemand - auffiel.
Ihre Blicke trafen sich genau gleichzeitig, und sie erstarrte auf den Stelle, unfähig, wegzusehen. Er schien genauso erschrocken, aber an einer hastigen Bewegung vorwärts bemerkte sie, dass er zu ihr herüberkommen wollte. Jake versuchte sich durch die Menge zu kämpfen und Kate's Herz klopfte unsagbar laut und schnell. Sie wollte weglaufen, zumindest sendete ihr Körper sämtliche Signale aus, aber wie sähe das denn aus, wenn sie jetzt einfach abhauen würde? Außerdem war sie viel zu erstarrt, um sich zu bewegen.
Panik füllte ihren Kopf aus und ihr sonst so klarer Verstand setzte vollkommen aus. Oh Gott, oh Gott, war das einzige, das sie noch denken konnte, während sie gleichzeitig ihr Gehirn nach einer schnellen und einfachen Lösung durchscannte. Vergeblich.
Jemand tippte ihr auf die Schulter.
Als sie nicht reagierte, schob sich von hinten ein großer Typ vor sie. Er verdeckte ihr die Sicht auf Jake und beugte sich zu ihr herunter, um Kate direkt ins Gesicht zu schauen.
"Hey", sagte er und lächelte sie an, da sie scheinbar gar nicht auf ihn reagierte.
Kate blinzelte und schüttelte leicht den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. Sie starrte den Kerl unbeteiligt an, denn ihr wollte partout nicht einfallen, wer das war. Mit den Gedanken war sie noch immer bei ihrem besten Freund, der... irgendwo da hinten war.
"Hi", krächzte sie, um ihre Stimme auszuprobieren. Sie funktionierte anscheinend noch, wenn sie auch ein wenig in Mitleidenschaft gezogen war.
"Du bist doch Kate, oder? Ich bin Colin, weißt du noch?"
Wieder blickte sie ihn an und versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, aber sie kam einfach nicht drauf.
"Auf der Semesterabschluss-Party", half er ihr freundlich nach.
Da klingelte es. "Ach ja. Colin! Entschuldige." Sie lachte nervös, was allerdings weniger an Colin lag. "Der Freund von Lucy. Ich bin ein bisschen verwirrt."
Er hob fragend eine Augenbraue. "Und anscheinend auch verirrt. Willst du auch zu dieser Vorlesung?"
Sie nickte unbehaglich und war sich vollkommen dessen bewusst, dass Jake irgendwo da hinten herumlungerte und sie höchstwahrscheinlich beobachtete. Der Teil der Gruppe, den sie sehen konnte, stand gerade vor dem Aufzug und wartete darauf, dass die Türen sich endlich öffneten. Wenn Jake wollte, wäre er schon längst hier herübergekommen. Aber entweder wollte er nicht, oder Colin war tatsächlich ihre Rettung gewesen. Das gewährte ihr noch ein paar Minuten, Stunden oder Tage Aufschub, in denen sie sich weiterhin mit ihrem Problem befassen konnte. Momentan jedoch konnte sie es noch nicht.
"Tja, ich auch. Ich hab mich ein bisschen verlaufen, aber jetzt weiß ich, wohin wir müssen. Kommst du mit?" Er nickte mit dem Kopf in Richtung des Ganges, in den sie gerade sowieso hatte einbiegen wollen.
Erleichtert stimmte Kate zu. Als er an ihr vorbeiging, erhaschte sie noch einen kurzen Blick auf Jake, der sie aus Argusaugen beobachtete. Sein Gesichtsausdruck war ernst, aber auch ein bisschen verloren, doch so richtig einschätzen konnte sie ihn nicht. Sie schaffte es nicht, ein Lächeln zustande zu bringen, nicht einmal ein klägliches, und wand schnell den Blick ab. Sollte es wirklich so weit gekommen sein, dass sie und ihr bester Freund nicht einmal mehr miteinander reden konnten?
Schweigend und in ihre Gedanken versunken folgte sie Colin.
"Wie kommst du eigentlich darauf, dass Lucy meine Freundin ist?", hakte er amüsiert nach.
Kate zuckte mit den Schultern und versuchte, sich Colin zuliebe ein wenig zu konzentrieren. Sie erinnerte sich an diese Party, und wie Claire ihr ihn und Lucy vorgestellt hatte. Tatsächlich hatte sie nichts davon gesagt, dass die beiden zusammen waren, aber Kate hatte es automatisch angenommen. Beide waren ähnlich attraktiv und gleich und gleich gesellte sich ja bekanntlich gern.
"Ist sie nicht?", fragte sie deshalb, nur der Höflichkeit halber.
Colin schüttelte den Kopf. "Sie ist meine Schwester", erklärte er grinsend. "Das wird sie gar nicht freuen, zu hören, dass jemand uns für ein Pärchen gehalten hat."
Kate verzog ihr Gesicht und wurde ein bisschen rot. "Oh. Das wusste ich nicht, entschuldige."
"Hey, kein Problem." Er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Schau, gleich sind wir da. Sie haben den Saal bei den Medizinern gebucht, weil die da meistens viel größer sind."
Kate hätte sich am liebsten die Hand vor's Gesicht geschlagen. Die Raumbezeichnung MI stand für den Medizinertrakt! Sie hätte es wissen müssen, vor allem, da Jake Medizin studiert und ihr täglich etwas von seinen verschiedenen Hörsälen und Räumen vorfaselte. Allerdings hätte es ihr nichts genützt, denn sie war noch nie bei den Medizinern gewesen. Jetzt war ihr auch klar, warum sie auf Jake getroffen war. Was, in Herrgotts Namen, machte er an einem Ferientag in der Uni?! Von allen Menschen, die sie hatte treffen können, musste sie natürlich ausgerechnet ihm begegnen. Das Schicksal meinte es wirklich nicht gut mit ihr. Andererseits hatte Colin sie vor Schlimmerem bewahrt, also hatte sie noch mal Glück im Unglück gehabt.
Als sie in den Hörsaal kamen, war es schon brechend voll, doch Colin’s Freunde hatten ein paar Plätze reserviert, also musste sie weder auf der äußerst unbequemen Treppe sitzen, noch stundenlang herumstehen. Sie war zwar noch immer nicht ganz über die Begegnung mit Jake eben hinweg, aber hier fühlte sie sich seltsam sicher und konnte endlich entspannen. Vielleicht konnte sie Colin zu ihrem persönlichen Bodyguard machen, ging ihr durch den Kopf, doch dann musste sie grinsen, als ihr bewusst wurde, was sie da eben gedacht hatte.
"Danke", sagte sie zu ihm und meinte es wirklich ehrlich. Und sie bedankte sich nicht nur dafür, dass er sie hierher begleitet hatte, aber das wusste er natürlich nicht.
Colin lächelte, aber bevor er etwas sagen konnte, fing die Vorlesung schon an.

Nach einem so katastrophalen Start in den Tag hätte man erwarten können, dass es nur besser werden konnte. Und so entspannte sich Kate auch, sich wissend in der Sicherheit einer für Jake vollkommen uninteressanter Vorlesung über neuzeitige Literatur und deren Zusammenspiel mit den modernen Medien und eines überfüllten Hörsaals, in dem er sie sicherlich nicht würde ausfindig machen können. Und wenn doch, würde er es nie und nimmer schaffen, bis zu ihr vorzudringen. Sie lehnte sich zurück und nach wenigen Minuten war sie voll und ganz in den Stoff der Vorlesung vertieft, die wirklich sehr interessant war. Außerdem sprang für den Besuch dieser Lesung noch ein Credit Point heraus, den man an irgendeinen anderen Kurs dranhängen konnte. Schon allein dafür lohnte es sich, hier zwei Stunden zu sitzen und zuzuhören.
Kate spinkste heimlich neben sich. Colin hatte seine Kinn in die Hand gestützt und hörte interessiert zu, machte sich jedoch keine Notizen, obwohl sein Block und sein Stift bereit auf dem ausklappbaren Tischchen lagen. Neben ihm auf der anderen Seite saßen seine Freunde, etwas weiter weg Lucy. Erst jetzt erkannte Kate die Ähnlichkeit zwischen den beiden Geschwistern und stellte zudem noch fest, dass sie womöglich sogar Zwillinge sein könnten. Zumindest schienen sie denselben Freundeskreis zu haben. Unwillkürlich überlegte sie, ob sie es gut fände, mit einer ihrer Schwestern dieselben Freunde teilen zu müssen, aber wegen dem großen Altersunterschied zu Judy und der riesigen Kluft zwischen ihr und Liz konnte sie sich das einfach nicht vorstellen.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Colin zu und musterte ihn kurz. Nun hatte sie ja die Zeit dazu. Damals, im Halbdunkel, hatte sie ihn kaum gesehen, aber nun erkannte sie seine genaue Haarfarbe: ein mittleres Blond. Die Nase lief spitz nach oben zu, seine gewellten Haare erinnerten sie ein bisschen an Dave, aber nur vom Schnitt her. Er hatte eine einfache Jeans und ein dunkelgrünes T-Shirt mit irgendeiner Aufschrift, die sie nicht sehen konnte, da Colin sich weit nach vorne gebeugt hatte.
Mit schlechtem Gewissen, da sie gar nicht richtig zuhörte, richtete sie den Blick erneut auf die Dozentin und versuchte, sich wieder zu konzentrieren. Gerade in diesem Moment stieß Colin ihr seinen Ellbogen in die Seite. Erschrocken zuckte sie zusammen und schaute ihn zerknirscht an, da sie schon dachte, er hätte es mitbekommen, wie genau sie ihn eben gemustert hatte. Er beugte sich näher zu ihr hin, damit er nicht so laut sprechen musste, und flüsterte: "Wir gehen nachher noch in dieses MaxFood, kennst du das?"
Kate nickte. Es war Jake's Lieblings-Fast-Food-Restaurant und noch vor nicht allzu langer Zeit hatten sie sich dort regelmäßig zwischen den Kursen und manchmal nach der Uni verabredet.
"Komm doch mit. Je mehr wir sind, desto lustiger wird es", schlug er vor. "Oder hast du vielleicht schon was vor?"
Kate's Mund wurde trocken. Sollte sie da wirklich hin? An einen Ort voller Erinnerungen? Aber dann befand sie, dass sie sich albern benahm. Es war nur ein blödes Burgerrestaurant und aus Angst vor Jake konnte sie sich doch nicht ewig in ihren vier Wänden verkriechen. Oder auswandern, woran sie zugegebenermaßen auch schon gedacht hatte. Schließlich stimmte sie zu. Man traf schließlich nicht jeden Tag auf Leute, die so nett waren wie Colin. Das war eher die Ausnahme von der Regel.
Dieser schien sich zu freuen. "Dann kannst du ein wenig von Claire erzählen. Ich hab sie schon ewig nicht mehr gesehen, geschweige denn gehört. Wo treibst sie sich rum?"
Mit mir in der Weltgeschichte, dachte Kate mit schlechtem Gewissen. Doch Colin erwartete gar keine Antwort, sondern widmete sich wieder dem Vortrag und Kate tat es ihm gleich. Immerhin wollte sie noch ein wenig Wissen mitnehmen, wenn sie schon hier war.

Erst, als die Lesung vorbei war und an die fünfhundert Studenten aus dem Saal stürmten, konnte Kate erkennen, was auf Colin's T-Shirt aufgedruckt war. "Mädchenfußball Kimberley". Sie kannte die Kleinstadt, die nur wenige Meilen von Nottingham entfernt war, nur vom Hörensagen, war noch nie selbst dort gewesen.
"Mädchenfußball?", fragte sie erstaunt und konnte sich einfach keinen Reim darauf bilden.
Colin folgte ihrem Blick und nickte lächelnd. "Lucy und ich trainieren die Mädels in Kimberley. Dort fehlte bis vor kurzem noch eine Mädchenfußballmannschaft und wir haben kurzerhand die Leitung übernommen."
Kate war schwer beeindruckt. "So einfach?"
"Na ja, wir haben jahrelang selbst gespielt und unser Dad ist Trainer der dortigen Jungenmannschaft, also ja, so einfach", lachte er über ihre Verwirrung und erzählte dann weiter: "Die Mädels sind zwischen 11 und 16 Jahren und richtige Zicken, du würdest es nicht glauben!"
Kate dachte an ihre beiden Schwestern und an ihre Kindheit zusammen mit den beiden und Danny, dem ewigen Außenseiter, weil er ein Junge ist. "Oh doch", sagte sie mit einem schiefen Lächeln, "das würde ich."
Das Grüppchen um Colin und Lucy machte sich plaudernd und lachend auf den Weg nach draußen, zum MaxFood.
"Spielst du auch?", fragte Colin, doch Kate schüttelte nur den Kopf.
"Gar nichts?"
"Nein." Sie zögerte. "Ehrlich gesagt... ich bin nicht so der Sportfan", gab sie verlegen zu, doch Colin schien das gar nicht zu stören. Er zuckte nur mit den Schultern.
"Ich spiele auch nur Fußball. Lucy hingegen..." Er nickte mit dem Kopf zu seiner Schwester, die vor ihnen lief und einem anderen Mädchen gerade etwas verzweifelt händeringend zu erklären versuchte, "ist ein richtiger Sportfreak. Deshalb hat sie sich für Sport als zweites Studienfach angemeldet. Nächsten Monat soll das Auswahlverfahren stattfinden."
Kate spitzte die Ohren. "Was muss man da machen?"
Colin zuckte wieder mit den Schultern. "Sport halt. Keine Ahnung. Rumlaufen, Saltos machen, Tennis spielen, Teamfähigkeit und all das Zeug, nehme ich an."
Er wusste es also wirklich nicht und Kate musste sich ein Lachen verkneifen. Doch dann erinnerte sie sich wieder daran, dass es in ihrer momentanen Lage gar nichts zu lachen gab, also wurde sie wieder ernst und schaute sich mit einem mulmigen Gefühl um. Ob Jake irgendwo in der Nähe war?

Er war. Eigentlich hätte sie nicht überrascht sein dürfen, aber sie war es trotzdem, als sie ihn mit Dave, Rachel und ein paar anderen im MaxFood sitzen sah. Während sich die anderen allerdings unterhielten, sah Jake eher nachdenklich aus und beteiligte sich nicht am Gespräch. Kate überlegte sich gerade eine Ausrede, um schnell zu verschwinden, doch da hatte Jake sie schon durch das Fenster erblickt und war, noch bevor Colin und Co. das Café betreten hatten, aufgestanden und eilte auf sie zu. Für einen kurzen Augenblick erstarrte sie, so wie vorhin, aber es dauerte nur einen Moment, bis sie sich schnell wieder sammelte. Hier war sie in Gesellschaft und durfte und konnte nicht so einfach die Kontrolle über sich verlieren. Sie würde Jake höflich darauf hinweisen, dass... ja, worauf eigentlich? Dass sie nicht mit ihm sprechen wollte? Dass sie keine Lust mehr auf seine Kindereien hatte? Auf ihn?
Noch während sie überlegte, war er bei ihr und sah sie bittend an. Red mit mir, sagten seine flehenden Augen, und sie schaute schnell weg, weil sie nicht mit ihm reden wollte.
"Geht schon mal rein", erklärte sie Colin, der erst Jake und dann Kate neugierig musterte. "Ich komme sofort." Er nickte und folgte den anderen, nicht, ohne einen letzten, neugierigen Blick auf Jake zu werden. Zu ihrem großen Ärger nahmen sie direkt am Tisch neben Jake's Freunden Platz.
Kate seufzte und widmete sich dem Unvermeidlichen. "Was ist, Jake?" Das klang viel unfreundlicher, als sie geplant hatte. Irgendwie genervt und resigniert gleichzeitig. Noch immer vermied sie es, ihn direkt anzusehen.
Der Junge war sichtlich verwirrt. "Ich weiß nicht. Ich verstehe nicht mehr, was mit euch los ist", beharrte er naiv und sie verdrehte sie Augen. Entweder er hatte es noch immer nicht mitgekriegt, oder er tat nur so. Sie jedenfalls würde den Teufel tun und ihm die ganze Wahrheit Stück für Stück auseinander nehmen. "Du redest nicht mehr mit mir, du fährst weg, ohne was zu sagen. Und Claire...", fuhr er fort, hielt aber inne und sah sie besorgt an. "Dabei hab ich nichts gemacht!"
Die Wut kochte in Kate hoch und sie musste sich sehr beherrschen, um nicht laut zu werden. Normalerweise wurde sie nicht so schnell wütend, aber ihre Gefühle hatten sie schon so zum Äußersten getrieben, dass sie es nicht mehr zurückhalten könnte, wenn alle sofort überbrodelte.
"Stimmt", erwiderte sie sarkastisch, "du hast nichts gemacht. Warum gehst du nicht zurück zu deiner Freundin und machst weiter einfach nichts", giftete sie ihn unwillkürlich an. Den Teil mit der Freundin hatte sie in ihre kleine Rede nicht eingeplant gehabt, aber nun war es ihr doch rausgerutscht und sie wusste, dass sie weder das, noch den eifersüchtigen Unterton nicht wieder zurücknehmen konnte, so sehr sie sich das auch wünschte.
Jake schüttelte irritiert den Kopf. "Freundin?", plapperte er ratlos nach.
Kate schnaubte. "Vergiss es, Jake."
"Meinst du etwa Rachel?", beharrte er. "Geht es etwa darum? Du musst doch nicht... sauer sein, wegen dem Frühstück", flehte er. "Oder stimmt es, wa-" Er verstummte abrupt.
"Was?" Nun war es an Kate, verwirrt zu sein. Was für ein Frühstück? Doch dann fiel es ihr wieder ein und sie hätte fast laut aufgelacht. Er dachte, sie wäre wegen dem Frühstück sauer! Das gab's doch nicht!
Jake schien total aus dem Konzept gebracht. "Erst sagst du, ich soll mich an sie ranmachen, dann bist du sauer deswegen", warf er ihr vor und zum ersten Mal seit... wahrscheinlich seit immer sah sie ihn wütend und irgendwie auch verzweifelt. Der Arme hatte absolut keine Ahnung, was vor sich ging und versuchte nur, die Informationshäppchen, die ihm hin und wieder zugeworfen wurden, wie Brotkrummen einer Taube, zusammenzupuzzeln. Doch leider war sie selbst viel zu zornig, um Mitleid mit ihm zu empfinden.
"Was soll ich denn dann tun?!", fragte er aufgebracht.
"Deinen eigenen Kopf benutzen. Wozu hast du denn einen?!"
Er starrte sie schweigend an, und sie ihn. Zu ihrer großen Überraschung fing Jake plötzlich an zu grinsen, und sie, sich ein wenig auf den Arm genommen fühlend, verstand plötzlich überhaupt nichts mehr.
"Was ist so lustig?", fragte sie irritiert.
Jake's Grinsen wurde noch breiter, was Kate sehr unpassend fand in einer Situation wie dieser. "Jetzt bist du endlich wieder die Alte", erklärte er und schien seltsamerweise erleichtert zu sein, obwohl sie ihn doch eben noch angegriffen hatte.
Kate verstand nicht. "Was?"
Doch statt einer Erklärung schüttelte Jake nur den Kopf und lächelte, beinahe schon selig. "Ich hab das vermisst. Du warst in letzter Zeit nicht mehr du selbst."
Das verschlug ihr die Sprache und sie beschränkte sich darauf, ihn einfach nur fassungslos anzuschauen.
"Du weißt schon... du warst so komisch?", versuchte er ihr auf die Sprünge zu helfen, doch es klang vielmehr nach einer Frage, als nach einer Aussage.
"Jake." Kate's Stimme klang selbst in ihren Ohren irgendwie hohl und tonlos. Doch irgendwo tief in ihr drin fing die Hoffnung an zu keimen.
"Ja?"
"Erinnerst du dich eigentlich noch an Dave's Geburtstagsfeier?"
"Deine Brille ist kaputt gegangen", warf er hilfreich ein.
Nicht kaputt gegangen, korrigierte Kate ihn in Gedanken, kaputt gemacht worden.
"Danach", sagte sie und blickte ihn auffordernd an. "Was war danach?" Sie wusste nicht, warum sie das von ihm wissen wollte, aber irgendetwas hatte Klick gemacht in ihrem Kopf und sie hatte das Gefühl, sie müsste dringend erfahren, was damals in seinem Schädel vorgegangen war.
Jake überlegte. "Wir sind nach Hause gegangen?", probierte er es.
Sie nickte. "Ja. Danach."
Er war ratlos. "Ähh."
Der Hoffnungskeim erstarb wieder. "Vergiss es." Kate gab auf. Dann warf sie einen Blick durch das Fenster und betrachtete Colin und seine Freunde, die an ihrem Tisch saßen und sich weiterhin unterhielten. Jake folgte ihrem Blick.
"Wer ist das?", wollte er wissen und musterte einen nach dem anderen. "Kennst du die?"
"Das ist Colin." Kate deutete mit dem Kopf in seine Richtung. Irgendetwas juckte sie gerade in den Fingern und sie konnte sich auch die nächste Bemerkung nicht verkneifen. "Er trainiert eine Mädchenfußballmannschaft. Ziemlich cool, nicht?" Sie klang gemein. Furchtbar gemein.
Jake betrachtete sie von der Seite. "Seit wann interessierst du dich für Fußball?", fragte er misstrauisch.
Sie schwieg, anstatt ihm zu antworten, und machte dann auf dem Absatz kehrt. Sie konnte da nicht reingehen, denn so würde sie Jake noch die ganze Zeit an der Backe haben. Und außerdem war sie nicht scharf auf Rachel als Sitznachbarin, die sie mit unfreundlichen Blicken und schikanierenden Kommentaren beglücken würde. Zu Hause, bei Claire, war sie wenigstens vor ihm und seiner schmerzlichen Ahnungslosigkeit sicher. Und natürlich auch vor Rachel.
Jake lief einige Schritte neben ihr her. "Wollen wir am Sonntag ins Ki-"
"Nein", unterbrach sie ihn bestimmt und beließ es bei ihrer knappen Absage.
"Warum nicht?", fragte er enttäuscht und auch ein wenig beleidigt. Wahrscheinlich hatte er bereits angenommen, alles wäre in bester Ordnung, aber so leicht wollte sie es ihm bestimmt nicht machen.
"Weil..." Sie hielt inne und überlegte. "Weil ich keine Zeit habe."
"Das ist doch gelogen", widersprach er ihr empört und schlussfolgerte dann ganz Miss Marple-like: "Also bist du immer noch sauer."
"Ich bin nicht sauer", erklärte Kate ganz ruhig und ging langsam weiter, obwohl es mittlerweile wieder in ihr brodelte. Wegen Jake's Ahnungslosigkeit, wegen seiner Hartnäckigkeit, weil er ihr überall über den Weg lief, weil er sie geküsst hatte und sich nicht mehr daran erinnern konnte, einfach wegen allem.
Er überhörte das. "Was hab ich denn getan?", nörgelte er wieder, ganz das Kind im Manne, und stellte sich ihr in entschlossen in den Weg, das Gesicht verzogen zu einer unzufriedenen, frustrierten Maske.
Es tropfte, aber das Fass war ohnehin schon voll.
"Wie wär's mit... du bist ein ahnungsloser, gefühlloser Vollidiot, der seine beste Freundin küsst und eine Woche später mit einer Giftspritze ins Bett springt?!", fauchte sie erbost, angestachelt von ihrem Zorn. "Ist das schlimm genug, oder brauchst du noch mehr?!"
Jake's Kinnlade klappte nach unten und er wich erschrocken einen Schritt zurück. Diese Gelegenheit nutzte sie, um an ihm vorbeizuhasten, zur nächsten Straßenbahn, die gerade um die Ecke bog. Perfektes Timing.
In der Bahn presste sie keuchend ihre Faust an das schmerzende, pochende Herz, schloss die Augen, als würde das Sonnenlicht nur Qualen verursachen und stöhnte innerlich auf.
Was hatte sie nur getan?
Kapitel 23: Playing at fate

"Oh Gott, ich hasse mich." Kate stöhnte. Es fühlte sich an, als hätte sie einen Kater, den sie aber tatsächlich erst einmal in ihrem Leben gehabt hatte. Allerdings hatte sie dieses Mal nichts getrunken. Ihr Kopf hämmerte trotzdem, auch ganz ohne durchzechte Nacht und Alkohol, und die Bauchschmerzen, die auch noch hinzu kamen, machten ihr die ganze Sache nicht gerade einfacher.
Sie lag nun schon den ganzen Tag in ihrem Bett, die Jalousien heruntergelassen, das Zimmer verdunkelt. Sie las nicht, sie sah nicht fern, sie aß nichts, sie trank nichts – nein, sie lag nur da, hasste sich selbst, ergab sich endlich ihrem gebrochenen Herzen und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Es war interessant, was ihr alles in den Sinn kam, wenn sie einfach nur da lag und zuhörte, was sie dachte.
Zum Beispiel dachte sie, dass sie viel zu brav war. Aber war es nicht auch das, was ihre Schwester Liz ihr ständig vorpredigte? Oder Claire? Beide waren zwar anständig - irgendwo tief in ihrem Inneren zumindest -, aber viel draufgängerischer. Gelassener. Brachen Regeln, setzten sich über andere hinweg. Während sie immer nur versucht hatte, folgsam zu sein. Hatte niemals eine Zigarette auch nur angefasst. Hatte - außer diesem einen Mal - nie besonders viel Alkohol getrunken. Hatte immer nur fair gespielt. Nie geschummelt. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, Gerüchte zu verbreiten, jemandem ins Gesicht zu sagen, dass sie ihn oder sie nicht mochte, sich jemandem gegenüber einfach unverschämt zu verhalten, zu intrigieren, zu lügen, zu... ach, einfach alles. Jetzt, in diesem Stadium des neugewonnenen Wissens, dieser klaren "die Gedanken sind frei"-Phase, glaubte sie, dass all diese Dinge das Leben viel einfacher machten. Was im Umkehrschluss bedeutete, dass sie sich das Leben selbst schwerer gemacht hatte als nötig.
Was das mit Jake zu tun hatte? Sie wusste es in diesem Moment auch nicht. Aber es gab da eine Verbindung, da war sie sich ganz sicher. Und wenn es nur die absurde Idee war, dass sie ihn Rachel hätte ausspannen können, bevor es zu spät gewesen war. Wenn sie klüger gewesen wäre. Wenn sie hinterlistiger gewesen wäre.
Aber sie war nur Kate.

"Das hast du schon mindestens hundert Mal behauptet heute." Claire, wie aus dem Nichts auftauchend, betrat Kate's Zimmer und rümpfte die Nase. "Bist du immer noch im Bett? Wir haben zwei Uhr nachmittags! An einem Samstag!"
Kate drehte sich nur auf die andere Seite herum und murmelte missmutig: "Halt die Klappe, Claire."
Plötzlich wurde es taghell im Raum und es kam für Kate so unerwartet, dass sie die Augen vor Schmerzen zusammenkneifen musste. Verwirrt setzte sie sich auf, hielt sie sich den Arm vor das Gesicht und blinzelte. "Was soll das?"
Claire hatte die Rollladen hochgerissen und baute sich nun in voller Größe vor Kate auf, die Arme vor der Brust verschränkt. "Das reicht", befahl sie im Ton eines Oberfeldwebels. "Genug jetzt. Raus aus den Federn! Solltest du nicht lernen oder so?!"
Kate blickte ihre Freundin grimmig an. "Das kann warten. Ich hab mein Leben lang genug gelernt."
Claire blinzelte, anscheinend ein wenig aus dem Konzept gebracht. "Wird das hier etwa eine Art Lebenskrise?", fragte sie dann zögernd. "Nur wegen Jake? Das ist der doch gar nicht wert."
Kate schnaubte.
"Okay, okay", lenkte Claire ein. "Ich sehe das Problem. Lass es uns lösen."
Kate stand endlich auf und erhaschte im Spiegel einen kurzen Blick auf ihre zerzausten Haare und ihren zerknitterten Schlafanzug. Sie sah furchtbar aus. "Das kann man nicht mehr lösen, Claire. Ich hab's vermasselt."
"Ich finde eher, er hat es vermasselt", warf Claire ein.
Kate zuckte mit den Schultern. "Wer auch immer. Irgendwer hat es vermasselt, zufrieden? Sag mir, wie es jetzt weitergeht."
Ihr Blick war derart flehend, dass Claire ratlos die Schultern hängen ließ. "Er liebt dich auch, ihr kriegt drei süße Kinder - die hoffentlich nicht seine kümmerliche Intelligenz erben -, und seid glücklich bis an euer Lebensende?", schlug sie hoffnungsvoll vor.
Kate verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln. "Mädchen oder Jungs?", fragte sie.
"Zwei Mädchen, einen Jungen", kam es von Claire wie aus der Pistole geschossen, und spätestens da musste Kate ehrlich lachen, und auch Claire grinste erleichtert. "Bei dem Jungen musst du aufpassen", fügte sie noch hinzu. "Männer sind anfälliger für dumme Gene als Frauen. Das ist wissenschaftlich erwiesen."
Kate warf ihr einen liebevoll-genervten Blick zu. "Jake ist nicht dumm. Er ist einfach nur zu sorglos."
"Tja, jetzt nicht mehr", feixte Claire, hielt dann aber inne, weil sie Kate nicht das Gefühl geben wollte, sich über die ganze Situation lustig zu machen. Doch diese nahm es auch gar nicht persönlich.
"Fragt sich nur, ob das gut oder schlecht ist. Wenn dem denn wirklich so ist."
"Ich würde sagen, gut. Ein bisschen über seine Handlungen und Worte nachdenken würde Jake nicht schaden, oder?"
"Wahrscheinlich nicht", seufzte Kate und warf einen Blick in ihren Kleiderschrank. Höchste Zeit, sich zu duschen, anzuziehen und wieder wie ein richtiger Mensch auszusehen. Vierundzwanzig Stunden in Selbstmitleid suhlen waren wirklich mehr als genug. "Ach, Claire, was würde ich ohne dich nur machen?"
Auch darauf wusste Claire eine Antwort. "Noch immer im Bett liegen höchstwahrscheinlich." Dann grinste sie. "Fahren wir zum Schloss."
"Zum Schloss?", echote Kate überrascht.
"Schloss Nottingham", präzisierte Claire. "Da läuft uns die Plage sicherlich nicht über den Weg und wir bilden uns sogar fort."
Kate zog einen braun-beige-gestreiften Pulli aus dem Schrank, dazu ein hellblaues Poloshirt. "Ich war schon hundert Mal dort."
"Tja, dann wird das eben das hundertunderste Mal. Was dagegen?"
Sie lächelte. "Rein gar nichts."

Kate hatte gar nicht erwartet, dass es draußen bereits so warm war. Innerhalb von einigen wenigen Tagen hatten auch die Bäume begonnen zu sprießen und die einst so karge, kahle Winterlandschaft wich einem freundlichen, grünen Farbton. Es roch geradezu nach Frühling und, wie zu erwarten war, waren auch die ersten Pärchen aus ihren Löchern gekrochen, um im Schlosspark aneinander herumzugrapschen. Für solch öffentliche Zurschaustellung von Gefühlen hatte Kate noch nie etwas übrig gehabt, deshalb schaute sie dezent weg, als sie und Claire ein paar dieser Exemplare kreuzten.
Sie kamen an der Statue von Robin Hood vorbei, der einen riesigen Bogen in den Händen hielt, und Kate musste daran denken, wie Judy ihr und Liz immer wieder diese Geschichte vorgelesen hatte, als sie noch klein waren. Es war Judy's Lieblingsbuch gewesen, aber irgendwann hatten Liz und sie, Kate, die Nase voll gehabt von demselben, alten Trott, und Judy fristlos als ihre Vorleserin gekündigt. Stattdessen hatten sie ihre Mum belagert, genauso wie Judy, die neues Publikum brauchte. Beth Winston, die zu dieser Zeit einen Säugling, drei kleine Kinder und einen schwer schuftenden Mann zu versorgen hatte, hatte Liz geraten, in der Schule besser aufzupassen, um so schneller lesen zu lernen - Liz hing damals ziemlich hinterher und war extrem unwillig, was Buchstaben anging -, und Judy hatte sie an Daniel verwiesen, der mit seinen zwei Monaten einfach friedlich vor sich hinschlummerte, während Judy die Geschichte von Robin Hood rauf und runter las, ja schon fast auswendig beten konnte.
"Ah, Robin Hood, der edle Held. Er nahm von den Reichen und gab den Armen", sagte Claire mitten in Kate's sentimentale Erinnerungen hinein, und lachte dann leise. "Mein Lieblingsbuch früher, weißt du?"
Kate stöhnte. "Ist auch kein Wunder, wenn man in Nottinghamshire aufwächst." Sie verkniff sich die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag; nämlich, dass Lizzie, Claire's großes Vorbild, Robin Hood früher mehr als nur verabscheut hatte. Dank Judy's gütlichem Zutun natürlich.
Sie kehrten dem Schloss den Rücken zu und machte sich auf den Weg ins Grüne, denn ein bisschen den Abhang hinunter stand ein steinerner Pavillon, ziemlich abgelegen und ruhig.
"Ich mag den Frühling nicht", sagte Kate schließlich nach einer langen Schweigepause. "Er erinnert mich immer an-"
"Verliebte Paare? Verliebtsein? Glücklichsein?", grinste Claire verschlagen.
"Nein", korrigierte Kate verdrießlich. "An meine Allergie." Sie verdrehte die Augen, als Claire lachte. "Das ist nicht witzig, weißt du?"
"Ich verstehe", gluckste ihre beste Freundin. "Du leidest darunter, schon klar. Ich hätte nur gedacht, du wärst-"
"Voller Bitterkeit?", unterbrach Kate nun ihrerseits grimmig, aber Claire schüttelte amüsiert den Kopf.
"Gewöhnlicher." Sie grinste. "Aber anscheinend bist du doch nur voller Bitterkeit."
Kate seufzte und atmete die frische Luft ein, solange sie noch problemlos konnte. "Das ist doch gar nicht wahr“, widersprach sie resigniert, hatte nicht mehr die Kraft, das Thema wieder und wieder durchzukauen und sich zu verteidigen.
"Wir sind alle verwirrt", stellte Claire klar. "Na ja, fast alle. Du und Jake zumindest, ihr seid es."
"Und Gabe", fügte Kate hinzu, weil sie Claire unbedingt noch eins auswischen wollte, "weil du mit ihm flirtest und ihn dann zum Teufel jagst. Und du, weil du... du mit ihm flirtest halt."
Claire rümpfte die Nase. "Erstens, das tu ich nicht, und zweitens - oh!" Sie hielt inne und kniff die Augen zusammen, dann winkte sie jemandem.
Kate folgte ihrem Blick und ihr blieb fast das Herz in der Brust stehen. Dort, vor dem Pavillon, stand das gegenwärtige Gesprächsthema höchstpersönlich. Gabe. Und wo Gabe war, konnte Jacob nicht weit sein...
"Was soll...?", wollte sie fassungslos wissen, doch Claire winkte ab.
"Wenn ihr es selbst nicht hinkriegt, dann müssen wir euch eben zu eurem Glück zwingen." Sie zwinkerte Kate zu und ignorierte die Tatsache, dass Kate kreidebleich geworden war.
"Du... hast nicht..." Sie fand gar keine Worte, und gleichzeitig fragte sie sich, wo Jake sich versteckt hielt, während Gabe mit schnellen Schritten und einem freundlichen Lächeln auf den Lippen auf sie zukam. Er kam Kate vor wie der Vorbote des Teufels.
"Da gibt es etwas, das du wissen musst", wisperte Claire ihr noch schnell und leise aus dem Mundwinkel zu, damit Gabe es nicht mitbekam, und schon stand er vor den beiden Mädchen.
Als er Kate's Gesicht erblickte, die ihn skeptisch und angespannt ansah, lächelte er ihr zu. "Er ist nicht hier", beruhigte er sie.
Es war, als wären hundert Tonnen Last von Kate abgefallen und sie atmete ein zweites Mal erleichtert durch. Sie war noch nicht bereit für dieses Treffen, ganz egal, wie sehr Claire sie dazu zwingen wollte. Irgendwann würde sie das klären - es klären müssen -, aber nicht hier und jetzt. Hier und jetzt fühlte sie sich noch vollkommen verloren und verwirrt. Und ja, möglicherweise auch ein wenig bitter.
Claire empfand ganz offensichtlich nicht dasselbe wie Kate, denn sie starrte ihren Ex-Freund ungläubig an und sagte dann, mit einem drohenden Unterton in der Stimme schwingend: "Was meinst du mit 'Er ist nicht hier'?"
Gabe steckte die Hände in die Hosentaschen, mied ihren Blick, schaute gen Himmel, und dann wieder zu Claire. Ein schuldbewusstes Grinsen zuckte um seine Mundwinkel. "Ich meine damit, dass ich ihm nicht Bescheid gegeben habe."
Claire's Augenlid zuckte unkontrolliert, und Kate, die sich ein wenig näher zu Gabe gesellt hatte, da er ihr im Moment wie der einzig loyale Freund vorkam, musste schwer an sich halten, um nicht ebenfalls zu grinsen.
Es war Claire deutlich anzusehen, wie sehr sie um Fassung rang, und wie sehr sie sich eigentlich wünschte, Gabe just in diesem Augenblick dem Erdboden gleich zu machen. "Eigentlich sah ich dieses Treffen als eine gute Gelegenheit... ich meine, da du ja auch da sein würdest..." Er hielt kurz inne.
Claire brodelte, ja kochte schon innerlich vor Wut. "Ja?", hakte sie gepresst nach und man sah in ihren Augen ein Funkeln, das Kate schon lange nicht mehr gesehen hatte im Bezug auf Gabe - ihm war sie in letzter Zeit mit Gleichgültigkeit begegnet.
"...ein bisschen Zeit mit dir zu verbringen." Er grinste wie ein kleiner Schuljunge, der etwas ausgefressen hatte und nun hoffte, durch seinen Charme der Strafe zu entgehen.
Kate kicherte über Gabe's Unverschämtheit, aber ein Blick von Claire brachte sie wieder zum Schweigen. Sie verkniff sich ein Lächeln und trat ein paar Schritte zurück. Sicherheitsabstand zum feuerspeienden Drachen. Gabe musste verrückt sein, sie so zu verärgern, aber vielleicht war er auch einfach nur mutig. Was Kate von sich selbst nicht unbedingt behaupten konnte. Aber vielleicht war Gabe doch einfach nur verrückt. Es war jedenfalls ziemlich klar, dass er verrückt nach Claire war - und das wusste die Gute auch.
"Du spinnst wohl?", fauchte diese entzürnt. "Wir hatten eine Abmachung, mehr nicht - und du hast mich schon wieder angelogen!" Als ihr bewusst wurde, was sie ebn gesagt und worauf sie unbewusst die Betonung gelegt hatte, zögerte sie kurz und schüttelte wütend den Kopf, machte wieder den Mund auf, um etwas zu sagen.
Gabe nutze die kurze Gelegenheit. "Und genau da", sagte er ziemlich ernst, "sollten wir ansetzen."
Er schaute Claire direkt an, und sie hielt seinem Blick problemlos stand, ihre Augen hart wie Granit.
Einen Augenblick lang herrschte angespanntes Schweigen.
"Bitte", bat Gabe dann, und Claire wandte sich ab, verlor das Blickduell, und verschränkte die Arme vor der Brust, als ob sich alles von sich abschirmen wollte.
Kate, der es mittlerweile peinlich war, Zeugin dieses doch so privaten Aufeinandertreffens und Gesprächs geworden zu sein, entschied sich dafür, die zwei allein zu lassen und langsam wieder nach Hause zu spazieren. Für den Rückweg von drei Kilometern würde sie sicherlich nicht ganz eine Stunde brauchen, aber vielleicht konnte sie noch in dem einen oder anderen Supermarkt vorbeischauen und etwas besorgen, um ihren Kühlschrank zu füttern. So würde sich zumindest die Zeit totschlagen.
Sie wagte es nicht einmal, sich von beiden zu verabschieden, denn Claire war ein paar Schritte gegangen, und Gabe folgte dieser in gebührendem Abstand. Auch Kate drehte sich dann um und machte sich auf den Rückweg.
Sie musste fast ein bisschen lächeln angesichts dieser Ironie. "Tja, Clairie", murmelte sie vor sich hin, "wer anderen eine Grube gräbt..."
Kapitel 24: Too good

In Gedanken versunken hämmerte Kate einen Nagel in die Wand, genau an die Stelle, an die sie später ein gerahmtes Bild ihrer ganzen Familie hängen wollte. Es stand schon seit Ewigkeiten in ihrem Zimmer und verstaubte hinter dem Bett, wo es sich auch ganz einfach vergessen ließ.
Claire war vor zwei Tagen, nach ihrem ungewollten Treffen mit Gabe, der sie ganz offensichtlich reingelegt hatte, spät abends nach Hause gekommen, hatte jedoch nichts gesagt und war auch die nächsten Tage ziemlich schweigsam und nachdenklich gewesen. Sie sagte auch nicht mehr allzu viel zu der Sache mit Jake, was Kate ziemlich seltsam, aber auch erleichternd fand. So hatte sie es nicht immer wieder vor Augen und konnte sich ein wenig entspannen und sich darin üben, die Dinge objektiver zu betrachten. Was zwar schwierig war, aber ein bisschen Ruhe und Weitblick waren nie fehl am Platz. Trotzdem war sie gleichzeitig auch furchtbar neugierig, was Claire im Kopf herumging und vor allen Dingen, was sie und Gabe die ganze Zeit gemacht und besprochen hatten. Die letzten zwei Tage war ihre Freundin kaum zu Hause gewesen und Kate hatte das Gefühl, dass diese jede sich bietende Gelegenheit nutzte, um sich abzulenken, indem sie sich mit Freunden verabredete und sogar ein Treffen zum Lernen ausgemacht hatte. Claire! Lernen! In den Semesterferien! Das war höchst verdächtig. Außerdem wurde Kate den Eindruck nicht los, dass ihre Freundin versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen, um sich keinen Fragen stellen zu müssen, die definitiv kommen würden.
Sie hängte das Bild auf, entfernte sich ein wenig und besah es sich. Zufrieden nickte sie. Es war gerade und sah hübsch aus, so, wie es da über ihrem Schreibtisch hing. Da sie sowieso gerade handwerklich tätig war, beschloss Kate, sich einen Schraubenzieher zu schnappen und die Schrauben des Küchenregals endlich anzuziehen. Schon seit Tagen wackelte es. Das machte zwar nicht viel aus, da sowieso selten jemand an das Regal wollte, aber sicher was nun einmal sicher, und je schneller etwas erledigt wurde, umso besser.
Es waren viele Schrauben, alles lauter kleine Dinger, und sie zog jede einzelne akkurat an, bis es plötzlich an der Tür klingelte. Nach einem Blick auf die Uhr war Kate sich sicher, dass es der Postbote war, wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn, da es unerwarteterweise doch etwas anstrengend war, an alle Winkel des Regals zu kommen, und machte sich arglos auf den Weg zur Tür.
Sie öffnete und lächelte den Postboten an.
Doch es war nicht der nette, alternde Mann mit seinem schütteren Haar, der ihr entgegenblickte, sondern Jake.
Er schaute sie unsicher an und lächelte dann etwas gezwungen.
"Hi, Katie."
Kate schluckte schwer und strich sich unbewusst eine Strähne aus der Stirn; hatte urplötzlich das Verlangen, sich an ihren Haaren festhalten zu müssen. Oder diese zu raufen. "Hey", krächzte sie und zwang sich zur Ruhe, zumindest äußerlich.
Jake's Blick fiel auf den Schraubenzieher in ihrer Hand und sie konnte eine kaum deutliche Veränderung in seinem Gesicht wahrnehmen. Verwunderung. Sie kannte dieses Gesicht in- und auswendig. Jede noch so kleinste Regung, jedes Muskelzucken. Sie kannte ihn so gut, dass es schon beinahe weh tat, sich jetzt in dieser Situation zu befinden. Kate umklammerte den Schraubenzieher fester und wappnete sich innerlich für die letzte, alles entscheidende Schlacht.
"Kann ich... kann ich reinkommen?", fragte Jake zögerlich. Sein ernster Gesichtsaudruck war ungewohnt für sie. Er schien ebenfalls nervös und sein helles Haar war feucht; auf seiner Jacke hingen ein paar perlenförmige Regentropfen. Anscheinend regnete es draußen.
Kate machte den Weg in die Wohnung frei und fragte sich, was ihr bevorstand. Seltsamerweise war sie jetzt, wo sie keine Fluchtmöglichkeiten mehr hatte, erstaunlich ruhig. Es war eine beunruhigende Stille in ihr, der sie selbst nicht traute. Aber es war besser, als in Panik zu geraten, und irgendwie würde ihr das da durch helfen. Trotzdem fühlte sie sich ein bisschen unwohl, als Jake die Tür hinter sich ins Schloss zog und ganz automatisch seine Sneakers abstreifte, so wie immer. Er wusste, dass sie es nicht mochte, wenn man mit Schuhen die restliche Wohnung betrat.
"Wie geht’s dir?", fragte er, wahrscheinlich nur der Höflichkeit halber, und auch Kate besann sich auf ihre Manieren zurück. Sie konnte ihn schlecht die ganze Zeit anschweigen, auch, wenn ihr das lieber wäre.
"Gut. Dir?"
"Ja, ähm... geht so." Er schaute sich unsicher um. "Ist Claire gar nicht da?"
Kate lauschte der Stille in der Wohnung. Sie konnte nachvollziehen, warum Jake das fragte. Ohne Claire schien alles viel stiller und ruhiger zu sein. "Nein, sie..." Kate zögerte, aber je länger sie Smalltalk mit Jake betreiben konnte, desto später würden sie zu des Pudels Kern kommen. "Sie ist mit Freunden zum Brunch verabredet."
Sie hätte Jake gerne gefragt, ob er etwas über das Treffen mit Gabe am Schloss wusste, und ihr wurde klar, dass sie ihn das auch gefragt hätte, wenn sie... noch befreundet gewesen wären. Der plötzliche Gedanke, dass sie es nicht mehr waren, war erschreckend und überraschend, sodass ihr fast der Mund offen stehen geblieben wäre, hätte sie ihn nicht geistesgegenwärtig schnell zugeklappt.
Jake nickte. "Ach so." Er bewegte sich kein Stück mehr vom Fleck, als wäre er festgewachsen.
Kate räusperte sich. "Komm ruhig rein. Du weißt ja, wo alles ist...", sagte sie leise, und gab sich selbst einen imaginären Tritt in den Hintern für ihre Zaghaftigkeit. "Willst du etwas trinken?"
Jake lächelte gequält. "Nein, danke."
Es war seltsam, dass er so höflich und formell war, und es war seltsam, dass sie ihm ebenso höflich und formell begegnete. Als wären sie Fremde. Und es war schwer, das zu ertragen. Alles war doch besser, als dieser Zustand.
Jake schien wie angewachsen, machte keinen einzigen Schritt Richtung Wohnzimmer oder Küche, wo sie sich hätten setzen und reden können.
"Jake-"
"Katie", sagte er gleichzeitig, und beide schwiegen wieder, um den jeweils anderen ausreden zu lassen. Es war wie in einem schlechten Film.
"Ja?", wollte sie schließlich wissen und wagte es nicht, ihn anzusehen. Gleich würde er es ihr sagen. Gleich. Dass er nichts für sie empfand und dass sie nur eine gute Freundin war. In ihren Gedanken hatte er es ihr schon tausendmal gesagt.
Jake machte den Mund auf, doch sie kam ihm zuvor. Wenn sie die Worte aussprach, bevor er tun konnte, würde es vielleicht nicht so weh tun. "Ich... es tut mir leid. Ich meine, was ich zu dir gesagt habe. Eigentlich... geht es mich nichts an, dass du..." Sie schluckte und zwang sich, weiter zu reden. "...in Rachel..." Das Wort widerte sie an und es kam ihr nicht über die Lippen. "Ich hätte mich nicht einmischen sollen, wirklich. Du kannst tun und lassen, was du willst. Ich war nur... na ja... möglicherweise", stotterte sie nun herum, "hab ich mich ein bisschen außen vor gelassen gefühlt..."
Es war peinlich. So peinlich. Aber es war gut, das wurde ihr plötzlich klar. Sie hatte es ursprünglich nicht so sagen wollen, doch die Worte waren ihr einfach so über die Lippen gekommen, bevor sie darüber nachdenken konnte. Sie log ihn nicht an, aber sie sagte ihm auch nicht die ganze Wahrheit. Das, was sie da erzählte, klang wie... eine beste Freundin, die ein bisschen eifersüchtig auf die neue Freundin ihres Kumpels war, mit der er viel Zeit verbrachte. Hey, es war sogar eine gute Idee. Und Ausfallerscheinungen hatte jeder mal. Jake müsste das selbst am besten wissen.
Sie konnte seinen Ausdruck nicht interpretieren, aber er sah überrascht und misstrauisch zugleich aus. "Wirklich?"
Sie machte eine vage Kopfbewegung und hoffte, Jake würde das als ein Nicken auffassen.
Er schwieg, und dann trat er einen Schritt zurück, bewegte sich endlich von der Stelle. Er sah... verwirrt aus. Irritiert. "Ach so...", überlegte er langsam und nachdenklich, aber ihm war anzusehen, dass er gar nichts verstand. "Das... musst du nicht. Du wirst immer..." Er stockte und wand sich ab.
Kate zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihr ganzes Gesicht schmerzte. Das Schlimmste war überstanden. Sie würden einfach zurück in ihre Rolle schlüpfen, als wäre nichts gewesen. Vielleicht würde sie sich verabreden, mit anderen Jungs. Es war gar nicht so schlimm.
"Wir haben noch Cola und Pizza hier irgendwo..." Sie drehte sich um und wollte in die Küche, tat gezwungen fröhlich, damit er keinen Verdacht schöpfte.
Aber Jake griff nach ihrem Ärmel und zog sie zurück. Überrascht drehte sie sich zu ihm um und stellte fest, dass sein ernster, gequälter Ausdruck im Gesicht noch immer nicht verschwunden war. "Was ist?", fragte sie beinahe ängstlich, fürchtete sich vor dem, was jetzt kam.
"Da wäre noch etwas, Katie." Er sah sie eindringlich an. "Hab ich dich wirklich geküsst?"
Sie schnappte unwillkürlich nach Luft. Dass er es so offen aussprach, schockierte sie und brachte sie in einen ziemlich unangenehme Lage. Sie, die doch immer lieber um den heißen Brei herumredete.
Schweigend nickte sie.
Jake schlug sich bei dieser Bestätigung die Hand vor die Stirn und stöhnte. "Oh nein..."
Kate war auch von Anfang an klar gewesen, dass es nicht eine seiner besten Ideen gewesen war, doch diese so unerwartet reumütige Reaktion von ihm verletzte sie viel mehr, als sie es sollte.
Aber Jake war immer für eine Überraschung gut. Er grinste getroffen. "Da küss ich dich das erste Mal und kriegt es nicht mal mit..."
Kate, immer noch darum bemüht, sich nicht durch irgendetwas zu verraten, fragte sich, was das sollte. "Keine Sorge, es war gar nicht so toll. Ist vielleicht besser, wenn du dich nicht daran erinnerst", erklärte sie ihm peinlich berührt, ohne darüber nachzudenken, was sie eigentlich sagte. Als sie Jake wieder anblickte, wurde es ihr schlagartig bewusst. Der Gute sah aus wie ein getretener Hund, so bestürzt schaute er drein. "Ich wollte damit nicht sagen, dass es schle-" Sie unterbrach sich selbst und entschied sich für etwas Unverfänglicheres. Für eine Tatsache. "Du warst betrunken."
"Ja", sagte Jake ernst. "Tut mir leid."
Kate war verwirrt. "Was?"
"Tut mir leid, es war nicht... Ich hätte das nicht tun dürfen."
Sie sah ihn skeptisch an und verdaute seine Worte. Es war nicht richtig. Ich hätte dich nicht küssen dürfen. Das wollte er doch sagen, oder? Er wollte sagen, dass es ein Fehler war, dass es bedeutungslos war, dass sie sich keine Hoffnungen zu machen brauchte, dass es für ihn unangenehm war - oder gewesen wäre, würde er sich noch daran erinnern.
"Ja, schon klar", erwiderte sie unwillkürlich bissig und merkte, dass sie wieder in die Defensive ging.
"Du bist noch immer wütend", stellte er resigniert fest. "Jetzt weiß ich zwar, warum, aber nicht, wie ich es wieder gutmachen kann."
Das erweichte sie, obwohl sie nicht wusste, warum. Wahrscheinlich, weil Jake, wenn er den Kopf hängen ließ und so trostlos aussah, sie immer erweichte.
"Ist schon okay, Jake", munterte sie ihn auf, "du brauchst nichts wieder gut zu machen."
Er sah erleichtert aus und folgte ihr dann endlich ins Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch setzten. Kate schob Jake eine Schüssel mit Chips hin, und er griff beherzt zu, lehnte sich dann zurück und schien sich endlich zu entspannen.
Ein paar Sonnenstrahlen fielen durch das verregnete Fenster, und Jake's Haar nahm einen leichten Rotschimmer an. Faszinierte betrachtete Kate das Lichtspiel, bis sie sich wieder besann und den Blick abwandte. Gerade wollte sie ihn doch noch nach Claire und Gabe fragen, als er das Wort ergriff.
"Weißt du", begann Jake, "als Rachel behauptet hat, du wärst..." Er hielt verlegen inne und kratzte sich hinter dem Ohr. "Na ja, du weißt schon. Da war ich echt erschrocken."
Kate's Mund wurde ganz trocken.
"Ich meine", fuhr Jake plaudernd fort, "nie im Leben hätte das funktioniert."
Kate gab sich wirklich Mühe, ruhig zu bleiben und nicht am Boden zerstört auszusehen.
"Du bist viel zu klug für mich."
Der Mund klappte ihr auf. "Was?"
"Ich weiß schon, dass ihr mich alle für einen Trottel haltet. Also", korrigierte er sich schnell, "Claire tut das zumindest, das ist ziemlich deutlich. Und na ja, meine Eltern. Ich bin auch nicht der cleverste Typ auf der Welt, das ist klar. Deshalb hab ich das auch nicht geglaubt - es wäre einfach zu abwegig." Er lächelte sie freundlich an.
Kate's Gedanken rasten, und sie bekam keinen einzelnen davon zu fassen. Es war wichtig, dass sie schnell reagierte, doch sie wusste einfach nicht, was er ihr damit sagen wollte.
"Jake", sagte sie schließlich nach einigem Überlegen, und war noch immer sehr verwirrt, "du bist nicht dumm. Und kein Trottel. Vergiss Claire jetzt mal", fügte sie schnell auf seinen ungläubigen Blick hin hinzu. "Die zählt nicht. Und ansonsten hat das nie jemand behauptet."
Er sah sie starr an und seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen, fast schon ironischen Lächeln. "Doch", widersprach er ihr. "Du."
Kapitel 25: Truthfully

Kate wusste nicht, was sie sagen sollte, also starrte sie ihn schweigend an und versuchte gleichzeitig, in ihrer Erinnerung einen Moment einzugrenzen, einen Tag, eine Uhrzeit, irgendetwas, wo sie etwas derartiges zu Jake gesagt haben sollte. Doch da war nichts. Sicher, sie hatte vieles gesagt während den letzten Jahren. Seine Männlichkeit infrage gestellt, als er sich nicht getraut hatte, sich an Rachel heranzumachen, sie hatte ihn beschimpft, wenn er sie geärgert hatte, oder wenn sie sich über ihn geärgert hatte, sie hatte ihm gesagt, dass sie nur Freunde waren... gerade eben noch. Aber nichts davon hatte sie wirklich ernst gemeint. Und sie war sich sicher, dass auch Jake das wusste - mal abgesehen von letzterem. Sie hatte nie zu ihm gesagt, er sei dumm. Niemals hatte sie das auch nur gedacht!
"So genau hast du das nicht gesagt", räumte er nun auch ein, und sie verdrehte die Augen. "Zumindest nicht mit diesen Worten."
Kate stutzte. "Ich versteh gar nichts mehr."
Jake schweig eine Weile, schien zu überlegen. Kate setzte sich im Schneidersitz bequemer auf die Couch, beugte sich ein bisschen in seine Richtung und musterte sein nachdenkliches Gesicht.
"Erinnerst du dich noch an Freddy McGrason?"
Kate stöhnte, denn der Anfang dieses Gesprächs kam ihr sehr bekannt vor. Anscheinend war Freddy McGrason Dreh- und Angelpunkt der ganzen Sache, was auch immer Jake ihr zu sagen hatte. Ihr fiel ein, dass er auch damals, in der Nacht, als Dave Geburtstag gehabt und sie Jake nach Hause begleitet hatte, von Freddy geredet hatte, dass sie ihn aber unterbrochen hatte, ehe er die Geschichte zu Ende erzählen konnte. Damals hatte sie das gar nicht wahrgenommen, aber jetzt konnte sie sich in aller Klarheit an die Situation und an seine Worte erinnern.
"Er hat dir einen Liebesbrief geschrieben", fasste Jake in aller Kürze zusammen, wie auch in jener Nacht schon, "aber du hast ihn abblitzen lassen."
Kate schüttelte belustigt den Kopf. Was hatte Freddy mit Jake zu tun? Sie verstand es noch immer nicht. "Die Geschichte hast du mir schon an dem Tag erzählt, als... äh, Dave Geburtstag hatte." Ihr fiel wieder ein, welches Ereignis es genau war, das Jake und sie an diesem Tag verband und sie wandte sich ab, damit er nicht sehen konnte, falls sie errötete. Das Ganze war ihr noch immer peinlich.
Jake hingegen grinste und zog die Schultern amüsiert hoch. "Deshalb musste ich also an ihn denken, als ich aufgewacht bin. Ich muss sagen, Freddy McGrason als ersten Gedanken am Morgen zu haben ist ziemlich verstörend."
Er zwinkerte ihr zu - etwas, das er niemals machte -, und erneut fühlte sie sich seltsam nervös und hibbelig. Konnte es etwa sein... flirtete Jacob Parker mit ihr? Sie schüttelte langsam, kaum merklich den Kopf. Nein. Das konnte nicht sein.
Weil er aber erwartete, sie damit zum Lachen zu bringen, rang sie sich zu einem Lächeln durch, mit ihren Gedanken jedoch ganz woanders.
"Wir waren alle neu in der Klasse. Und ich war..." Er machte eine kurze Pause und betrachtete Kate eingehend, während ihr ziemlich warm wurde. Was tat Jake hier? Was machte er mit ihr? Dann lachte er wieder, als sei alles ein großer Witz. "Ich war damals ziemlich in dich verknallt, weißt du." Er sah sie prüfend ab, als erwartete er eine Reaktion, aber Kate schluckte nur und dachte an ihren viel zu trockenen Mund. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie hatte es nicht gewusst.
"Du hast Freddy ganz schön abblitzen lassen, damals", fuhr er mit seiner Geschichte fort. "Du hast ihm gesagt, er sei dumm, weißt du noch?" Diesmal lächelte er nicht, obwohl er es das letzte Mal als eine ziemlich lustige Situation beschrieben hatte. Kate nickte, unfähig, sich von der Stelle zu rühren.
"Und dann..." Jake grinste wieder schief, ganz und gar nicht fröhlich. "Dann hast du vor versammelter Klasse zu ihm gesagt, er sollte gefälligst richtig Schreiben lernen, bevor er Liebesbriefe verteilt."
Kate erinnerte sich wieder. Es war nur eine dunkle, schummrige Erinnerung, so wie alles, was sich damals in der Schulzeit abgespielt hatte, aber Jake hatte recht.
Abermals schüttelte sie den Kopf, diesmal vollkommen entsetzt über sich selbst und blickte Jake verzweifelt an. "Wie schrecklich", sagte sie leise. "Der arme Freddy. Das war... das hat..." Sie schämte sich, obwohl es schon acht Jahre zurücklag. Damals war sie elf gewesen, und sie hatte die Schnauze gestrichen voll gehabt von Freddy, der auch schon mit seinen elf Jahren jedem Rock hinterhergejagt war, der in seinem Blickfeld auftauchte. "Das tut mir furchtbar leid", seufzte Kate zerknirscht.
Jake zuckte mit den Schultern. "Wir waren elf. Und ich glaube, er hat es sich nicht sonderlich zu Herzen genommen."
Kate dachte noch eine Weile über Freddy nach, doch was sie wirklich interessierte, war die Frage, warum Jake ihr das alles erzähle. Und was es im Endeffekt mit ihm zu tun hatte.
"Die Sache ist die... du wirst das wahrscheinlich ziemlich blöd finden..." Er lächelte versonnen. "Am Nachmittag desselben Tages hat meine Mum meine Hausaufgaben kontrolliert. Du weißt ja, wie streng sie ist", fügte er noch schnell hinzu. Jake redete nicht gern über seine Eltern, und seine Eltern redeten wahrscheinlich nicht gern über ihn. Sie waren strenge, ernste, konservative Leute, beide Ärzte, und Jake, als ungeplantes Kind, das nur Enttäuschungen mit sich brachte, wie sein Vater stets zu sagen pflegte, war zwar geduldet, aber nie wirklich gewollt gewesen. Aus dieser Tatsache hatten seine Eltern nie einen Hehl gemacht.
Kate nickte.
"Sie sagte fast das Gleiche zu mir wie du zu Freddy. 'Wann wirst du endlich richtig Schreiben lernen?'"
Kate sah anscheinend so verwirrt aus, dass Jake gleich noch mal zu einer Erklärung ansetzte. "Ich meine, du hättest auch mich dumm gefunden, wenn ich so etwas gemacht hätte, wie Freddy..." Jake sah kurz verlegen nach unten und wurde einen Hauch dunkler im Gesicht. "Da wusste ich es."
Kate war geschockt und für einen kurzen Moment fehlten ihr wirklich die Worte, aber sie musste wieder gutmachen, was sie Jake - und Freddy! - vor Jahren angetan hatte. Ganz unwissentlich, unabsichtlich, mit dem kindlichen Ernst einer Elfjährigen hatte sie Frederick verletzt und nicht einmal gewusst, dass sie einem besonderen Menschen noch mehr wehgetan hatte als ihm.
"So habe ich nie über dich gedacht, Jake", flüsterte sie, weil sie das Gefühl hatte, ihre Stimme würde sofort zusammenbrechen, sollte sie auch nur einen lauten Ton von sich geben. "Und Freddy... war es auch nicht. Ich war nur... klein. Und selbst dumm."
Jake lächelte, ganz und gar nicht beleidigt. "Schon okay. Ich hätte ja auch fragen können."
Er kam ihr plötzlich vor, wie ein ganz anderer Mensch. Wo war der Jake, der immer Witze machte und nichts verstand? Jetzt war sie diejenige, die auf der Leitung saß, und das gefiel ihr ganz und gar nicht. Er war der Geschichtenerzähler, der Erklärer, derjenige, der mit einem gutmütigen Lächeln auf die Absurditäten herabsah und sich nicht an ihnen störte. Aber dann fiel ihr ein, wie liebevoll er sich um sie - und Claire, aber die zählte nicht -, gekümmert hatte, als sie krank war, und wie er sich Sorgen gemacht hatte, sobald es ihr nicht so gut ging. Sobald sie diejenige von beiden gewesen war, die schwach war, körperlich, oder auch geistig, hatte er automatisch den beschützenden und stützenden Part übernommen. Und auch jetzt, nachdem sie sich tagelang nicht dazu hatte durchringen können, sich bei ihm zu melden, stand er vor ihrer Tür und wollte die ganze Angelegenheit ein für alle Mal klären. Etwas, wofür sie zu feige gewesen war. Jake war nicht dumm. Und er war auch nicht viel zu sorglos, wenn es wirklich darauf ankam. Er war eben einfach... Jake. Ihr bester Freund.
"Katie." Er räusperte sich. "Darf ich, ähm, dich etwas fragen?", hakte er dann etwas unsicher nach und blickte sie fragend an.
Nervös nickte sie. Es schien, als sei sie nur noch zu diesen beiden Bewegungen fähig: Nicken und Kopfschütteln. Viel zu erschreckend waren die Offenbarungen, mit denen im Gepäck Jake ihre Tür eingerannt hatte. Sie wusste immer noch nicht, wo sie anfangen sollte, die ganze Geschichte zu rekapitulieren, um es besser nachvollziehen zu können.
"Hätte ich... also, ich meine damals..." Man sah ihm an, dass er sich unter seinen Worte wand, aber Kate hatte das Gefühl, schon zu wissen, was er sie fragen wollte. "Hätte ich eine... Chance gehabt?"
Verlegen blickte er zu ihr auf. "Damals?"
Kate räusperte sich. Sie war mindestens genauso peinlich berührt, wie er, aber seine Ehrlichkeit rührte sie, und deshalb war sie ihm eine Antwort schuldig. "Damals... nicht", brachte sie heraus und fühlte den trockenen Frosch in ihrem Hals. Wusste Jake, was sie ihm damit sagen wollte? War er vielleicht besser in Zwischen-den-Zeilen-lesen, als sie angenommen hatte? Wieso kam er erst jetzt mit der Wahrheit heraus? Das hätte so vieles so viel einfacher gemacht...
Er rutschte näher an sie heran und wenn er wollte, hätte er sogar ihr Knie mit seinem berühren können, aber hielt sich zurück, und sie war ziemlich froh drum, denn ihr Herz schlug ihr sowieso schon bis zum Hals, sie litt an akuter Atemnot und fühlte sich ohnehin, als wäre sie kurz davor, sich zu übergeben. Nicht das schönste Gefühl auf der Welt.
"Und..." Er stockte kurz. "...jetzt?"
Kate wollte etwas sagen, konnte aber nicht. Sie machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu. Sie kannte die Worte, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, sie über ihre Lippen hinausschlüpfen zu lassen. Stattdessen nickte sie. Es fühlte sich an, als sei ihr Kopf zentnerschwer bei dieser Bewegung, und trotzdem brachte sie diese kleine, bedeutungsvolle Geste zustande.
Zwischen ihnen entstand eine fassungslose Stille, in der Jake sie nur sprachlos anstierte und sie sich Sorgen machte, dass ihm gleich die Augen aus dem Gesicht kullern würden. Gleichzeitig fragte sie sich, ob ihre Reaktion falsch gewesen war, und ob sie nicht besser hätte lügen sollen - schon wieder.
Dann fing er an zu husten, wie vor Überraschung, und wieder blickte er sie verständnislos an. "Du meinst... das stimmt also?!", fragte er fast schon panisch.
Kate war so elend zumute, dass sie fast laut aufgelacht hätte. Das war so typisch. Sie hätte wissen müssen, dass er die Wahrheit eigentlich gar nicht hatte erfahren wollen. Was Jake wollte, war schlicht und ergreifend Einfachheit. Keinen Stress. Keine beste Freundin, die Gefühle für ihn hatte. Nicht diesen Zwiespalt. Aber dafür war es jetzt zu spät.
"Was Rachel gesagt hat... stimmt?", hakte er noch einmal nach, aber Kate hatte vielmehr das Gefühl, er redete mit sich selbst, versuchte irgendwie, es sich selbst begreiflich zu machen.
Dann blickte er sie hilflos an. "Das wusste ich nicht. Wie... wieso hast du es mir nicht gesagt?"
Kate zweifelte mittlerweile an Jake's gesundem Menschenverstand. Aber in Stresssituationen, die er nicht unter Kontrolle hatte, flippte er immer ein bisschen aus und war ganz ratlos. Typisch Mann eigentlich...
"Das war... du warst... wir sind Freunde", erklärte sie zögernd. "Und Rachel-"
Er winkte entschieden ab. "Das war nur... ich wusste doch nicht..."
Anscheinend hatten sie beide die Fähigkeit verloren, in ganzen Sätzen zu sprechen, und hätten sie sich nicht in dieser Situation befunden, die für beide ein wenig unangenehm war, hätte Kate das sicherlich lustig gefunden.
"Was war es?", hakte Kate leise nach, in der Hoffnung, er würde das sagen, was sie hören wollte.
"Das war... hätte ich das gewusst, mit... dir, mein ich..." Er räusperte sich schon wieder. "Ich hätte sie dir gegenüber niemals erwähnt. Das war sicher... hart." Voller Mitgefühl sah er sie an.
Kate atmete einmal kurz durch. Das war ganz sicher nicht, was sie hatte hören wollen, und es klang ganz und gar nicht danach, als hätte es noch irgendeinen Sinn, das Thema weiter zu vertiefen. Sie konnte sein Mitleid nicht ertragen. Jake hatte nichts für sie übrig, zumindest nicht in dieser Hinsicht, und sie machte sich nur noch weiter lächerlich, wenn sie von ihm irgendwelche Sachen zu hören verlangte, die er nicht bereit war, ihr zu sagen.
Sie versuchte, sich zusammenzureißen und nicht allzu verletzt zu wirken. "Gut. Okay. Ich meine... wieso vergessen wir diese kleine, peinliche Episode nicht einfach?", fragte sie, verzweifelt Professionalität und Kühle heuchelnd. Es war manchmal immer noch das beste, so zu tun, als wäre nie etwas gewesen.
Jake schien überrascht, und dann lachte er. "Das werde ich sicherlich nicht vergessen, Katie. Schlag dir das aus dem Kopf."
Und grausam war er auch noch.
"Okay, Jake." Ihr war zum Heulen zumute, und wahrscheinlich würde sie dem Drang auch nachgeben, sobald sie es geschafft hatte, ihn endlich aus der Wohnung zu bugsieren. "Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen. Eh... Claire kommt bestimmt gleich zurück und... ach."
Er legte den Kopf schief und sah sie bedrückt an. "Katie?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nein, ehrlich, Jake, geh einfach. Bitte."
Aber er hörte nicht auf sie. Stattdessen fing er wieder an zu erzählen. "Als Rachel das gesagt hat, dachte ich, dass das eigentlich unmöglich ist. Trotzdem war ich für einen kurzen Moment echt glücklich - und auch total erschrocken."
Kate blickte ihn prüfend an. "Warum?", wollte sie leise wissen.
Und da lächelte er sein typisches, wohlwollendes Jake-Lächeln. "Du weißt doch sonst immer alles."
In diesem Moment hörte sie einen Schlüssel im Schloss und die Haustür, wie sie aufgemacht und wieder zugeschlossen wurde. Beide wandten den Kopf in Richtung des Geräusches, und kurz darauf erschien Claire auf der Bildfläche. Beim Anblick von Kate und Jake zusammen in einem Zimmer blieb sie wie angewurzelt zwischen Tür und Angel stehen und grinste.
"Stör ich?", fragte sie lauernd, wobei ihr Blick von einem zum anderen huschte, als versuchte sie, in ihren Gesichtern etwas zu lesen.
Die Stille im Raum war greifbar, denn jeder wartete darauf, dass irgendjemand etwas sagte, und Kate, fest in dem Glauben, sie würde sogleich Jake's naives, freundliches "Nein, überhaupt nicht" hören, schwieg. Aber es kam nichts, stattdessen stierte Jake Claire mit einem angespannten und fast schon grimmigem Gesichtausdruck an.
"Äh, nein...", versuchte sie selbst die Situation zu retten, denn sie wollte nicht unhöflich sein, auch, wenn Claire tatsächlich einen ziemlich unpassenden Zeitpunkt erwischt hatte. Aber es war auch ihr Zuhause und natürlich konnte sie nach Haus gekommen, wann immer sie wollte.
Claire zog irritiert eine Augenbraue hoch und blickte die beiden zweifelnd an. "Alles klar...", sagte sie zögernd. "Ich bin mal in der Küche, auspacken..."
Jake erhob sich, er wirkte etwas genervt. "Ich sollte dann jetzt gehen." Dann sah er Kate an und sein Gesicht entspannte sich ein wenig. Er wirkte etwas unentschlossen und wusste anscheinend nicht, was er sagen sollte. Auch Kate stand vor diesem Problem. Die intime Atmosphäre zwischen ihnen war wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen, als Claire das Zimmer betreten hatte, und nun fühlte sich Kate irgendwie ernüchtert, als wäre sie vorher jemand anderes gewesen, abgeschottet von der Außenwelt in einer riesigen Seifenblase.
Ziemlich befangen standen sie voreinander und wussten weder, was sie tun, noch, was sie einander sagen sollten.
"Also dann...", fing Kate an, in Gedanken noch immer bei Jakes Worten. Meinte er das, was sie dachte? Aber warum hatte er dann gesagt, er wäre erschrocken gewesen?
"Ja, ich..."
Claire streckte ihren Kopf aus der Küche heraus und lächelte. "Bis dann, Jakey. Ach ja, und schau doch mal auf dein Handy." Sie zwinkerte ihm gutgelaunt zu, was höchst seltsam für sie war, und Kate und Jake tauschten skeptische Blicke aus.
"Ist sie krank?", wollte er misstrauisch wissen, zog sich seine Jacke an und kramte dann in der Tasche nach seinem Telefon, das er vermutlich auf lautlos gestellt hatte.
Kate zuckte mit den Schultern. "Vielleicht hat sie getrunken?", überlegte sie laut, und dann grinsten beide sich einvernehmlich an. Und da war sie wieder, die Verbindung zwischen ihnen und die Fähigkeit, das Eis zu brechen, egal, wie unangenehm die Dinge zwischen ihnen standen.
Jake warf einen Blick auf sein Handy und runzelte die Stirn. "Sieben Anrufe in Abwesenheit", las er vor. "Ist wohl dringend." Dann sah er auf und begegnete Kate's Blick. "Gabe", fügte er erklärend hinzu, und wohl auch ein wenig rechtfertigend.
Sie nickte.
"Ich frag mal, was er will", murmelte er abwesend, wählte die Nummer und hielt sich das Telefon ans Ohr, öffnete zugleich die Haustür, um herauszugehen. Dann schaute er Kate noch einmal an und lächelte. "Bis dann. Ich... wir sehen uns sicher."
Dann schloss er die Tür hinter sich und ließ Kate mit gemischten Gefühlen zurück. Das alles war höchst seltsam, und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Jetzt wusste Jake zwar, dass sie ihn mochte - und sie fühlte sich zwar ein bisschen elend, aber seltsamerweise auch erleichtert -, aber sie wusste immer nicht nicht, wie er dazu stand. Und was sollte dieses unverbindliche "wir sehen uns sicher" heißen? Sie musste dringend mit Claire sprechen.
Auch, um zu erfahren, weshalb diese gewusst hatte, dass Gabe versucht hatte, Jake zu erreichen.
Kapitel 26: Tea time

"Was zum Teufel war das denn?", wollte Claire kopfschüttelnd wissen, als Kate, noch immer ein bisschen benommen, die Küche betrat.
"Genau das gleiche wollte ich eigentlich gerade fragen", erwiderte sie, zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich an den Küchentisch.
Claire lief zwischen Kühlschrank und ihrer Einkaufstasche geschäftig hin und her und verstaute ihre Einkäufe. Dann füllte sie Wasser in den Wasserkocher und stellte ihn an.
"Tut mir leid, dass ich euch gestört habe. War es 'das' Gespräch?"
Kate wollte schon nickten, aber dann hielt sie inne. "Ich bin mir nicht ganz sicher. Es war... nicht eindeutig... glaube ich zumindest?"
Claire runzelte die Stirn.
"Oder es war eindeutig und ich komme einfach nicht dahinter", gab Kate schulterzuckend zu. "Ich weiß nicht. Ich bin... er war so... Ich habe keine Ahnung." Mit einem Seufzer stemmte sie ihr Kinn auf die Hand und blickte ihre Freundin ratlos an.
"Was hat er denn gesagt?"wass
"Ich glaube, er denkt, ich halte ihn für blöd-" Claire schnaubte, aber Kate überging das. "Er meinte, er wäre früher... na ja. In mich verliebt gewesen." Bei dem Gedanken daran bekam sie ein flaues Gefühl im Magen. Claire grinste wie ein Honigkuchenpferd und wollte schon etwas sagen, aber Kate sprach schnell weiter. "Er wollte wissen, ob er eine Chance gehabt hätte und dann... irgendwie ist es dann rausgekommen. Du weißt schon was", fügte sie hastig an, um es nicht laut aussprechen zu müssen.
Claire vergaß das kochende Wasser und setzte sich Kate gegenüber. Gespannt und mit weit aufgerissenen Augen starrte sie sie an. "Weiter, weiter", forderte sie ungeduldig, als Kate gar nichts mehr sagte und nachdenklich auf ihrer Unterlippe herumkaute.
"Na ja. Er war dann ganz so... 'Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir nie von Rachel erzählt' und ich dachte eigentlich, er meint damit, dass er es für sich behalten hätte, aber dann sagte er, der Gedanke, dass ich..." Kate schluckte errötend. "Dass ich in ihn verliebt bin hat ihn ganz glücklich gemacht."
Bedeutende Stille kehrte ein und Claire hatte diesen 'Ich hab's dir doch gesagt!'-Gesichtsausdruck aufgesetzt, den Kate nicht besonders mochte.
"Und dann?", verlangte Claire zu wissen.
"Gar nichts. Ich hab ihn gefragt, warum, und er so 'Du weißt doch sonst immer alles', und dann bist du auch schon aufgetaucht." Hilflos ließ sie die Hände auf den Tisch sinken und starrte ihre leeren Handflächen an.
Claire stöhnte entnervt auf. "Oh man. Ich könnte mir in den Hintern treten. Ich könnte EUCH in den Hintern treten! Wieso redet ihr nicht einfach mal Klartext miteinander?"
"Was ist denn der Klartext?", fragte Kate fast schon verzweifelt.
"Klartext ist: Jake liebt Kate und Kate liebt Jake. Ihr wollt für immer zusammenbleiben, alt werden, Kinder kriegen, du willst auf immer und ewig seine Blödheit ertragen und tolerieren und die ganzen Flitterwochen über das Bett nicht verlassen!"
Kate wurde blass wie eine Wand. "Das ist... das ist nicht..."
"Okay. Es ist vielleicht etwas übertrieben. Schon klar. Aber darauf läuft es doch hinaus." Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Freundin. "Es sei denn, du strebst eine flüchtige Affäre an, und na ja, sind wir mal kurz ehrlich miteinander... du und ich, wir kennen dich viel zu gut, um das auch nur im entferntesten zu denken."
Kate konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen. Manchmal wünschte sie sich, sie wäre ein bisschen mehr wie Claire, zumindest was deren Offenheit und die Klarheit ihrer Worte anging.
"Und Jake weiß das auch. Falls - nein, WENN - das mit euch beiden was wird, dann wird es auf jeden Fall was Ernstes sein. Es ist ja jetzt schon ernst bis zum Geht-nicht-mehr, und dabei habt ihr noch nicht einmal richtig losgelegt." Claire kicherte.
"Also... was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun? Er weiß das von mir... aber er hat nichts gesagt?"
"Klar hat er. Du musst besser zuhören. Also, wenn du es selbst nicht weißt, sag ich’s dir. Du gehst zu ihm hin, ziehst dich nackt aus und wirfst dich ihm an den Hals." Sie kicherte schon wieder.
"Claire", schimpfte Kate erbost. "Das ist nicht witzig!"
"Aber es würde funktionieren", warf Claire grinsend ein.
"Und dann ist da noch diese Sache..."
"Welche Sache?"
"Rachel. Dass er mit ihr... äh, im Bett war..." Kate wurde ganz übel vor Eifersucht, wenn sie daran dachte. Schreckliche Bilder spielten sich in ihrem Kopf ab.
Claire überlegte eine Weile und schob einen alten Stimmungsring, der die Farbe veränderte und den sie von ihrem Vater irgendwann einmal geschenkt bekommen hatte, auf ihrem Finger hin und her. Im Moment war er dunkellila. "Das kann ja auch seine guten Seiten haben?"
Kate blinzelte irritiert. "Zum Beispiel?"
"Na ja, erfahrene Männer und so." Als Claire bemerkte, wie Kate sie anstierte, musste sie lachen. "Doch, wirklich. Ein Typ, der weiß, was er tut, ist tausendmal besser. Du solltest also froh sein."
Kate schüttelte verwundert den Kopf. "Ich würde manchmal wirklich gerne wissen, wie du da drin so tickst", murmelte sie skeptisch und tippte dabei an Claire’s Stirn, die sich das gefallen ließ, und dann fiel ihr noch etwas Anderes ein, was sie sowieso hatte klären wollen. "Hast du dich etwa mit Gabe getroffen? Oder woher wusstest du, dass er angerufen hat?"
Ihre Freundin blickte fast schon nervös an ihr vorbei und seufzte. "Irgendwie schon."
"Du hast dich irgendwie mit ihm getroffen?", hakte Kate argwöhnisch nach.
"Ja." Claire nickte, stand wieder auf, kehrte Kate den Rücken zu und machte sich an dem Wasserkocher zu schaffen. "Willst du auch einen Tee?"
"Lenk jetzt nicht ab. Aber ja, gerne. Trotzdem... erzähl weiter."
"Ich weiß auch nicht. Das letzte Mal, wo er mich so ausgetrickst hat, weißt du noch?" Sie warf Kate ein entschuldigendes Lächeln zu, da sie - Claire - doch diejenige gewesen war, die ihre Freundin hatte täuschen wollen -, und zuckte mit den Schultern, während sie zwei Tassen bereitstellte, in jeder jeweils einen Teebeutel Pfefferminztee versenkte und Wasser eingoss. "Na ja. Wir haben geredet. Er hat geredet, um genau zu sein. Ich wollte ihm zunächst auch gar nicht zuhören, aber ich konnte ja nicht weg. Er hat sich tausendmal entschuldigt und alles erklärt. Was es natürlich nicht besser macht. Dann fragte er, ob wir nicht einfach Freunde sein könnten, ohne, dass das Ganze zwischen uns steht."
"Und...", begann Kate vorsichtig, "was hast du darauf geantwortet?" Sie selbst fand, das war eine Schnapsidee von Gabe – aber andererseits wusste Kate auch, dass er nur bluffte. Sein Interesse an Claire war noch nie freundschaftlicher Natur gewesen und würde es auch nicht sein, nicht einmal in dreißig Jahren.
"Was denkst du denn? So etwas kann ich nicht. So wie du."
"Du hängst noch immer sehr an ihm", stellte Kate leise fest. Sie hatte es vorher geahnt, ja fast schon gewusst, aber Claire hatte nie etwas gesagt, war immer ein bisschen unangreifbar und unnahbar gewesen. Gabe hatte versucht, diese Mauer zwischen ihnen zu durchbrechen, und anscheinend hatte er es geschafft. Irgendwie.
Claire widersprach nicht, und das war ihr schon Antwort genug. Stattdessen stellte sie Zucker auf den Tisch und legte einen Teelöffel neben Kate’s Tasse, da diese ihren Tee immer gezuckert trank, ganz im Gegensatz zu ihr selbst.
"Weißt du", sagte sie stattdessen, "ich war damals wirklich am Ende, als er so mir nichts, dir nichts innerhalb von nur wenigen Tagen einfach verschwunden ist. Und so wütend. Als dieser Typ... wie hieß der gleich? Na, dieser Kumpel von Benny seine Geburtstagsparty gefeiert hat, hab ich mit ihm rumgeknutscht. Ein paar Tage später."
"Mit Benny?!"
"Nein, nein. Mit dem Typen, mein ich. Ich wollte es Gabe aus lauter Verzweiflung heimzahlen und ihm wehtun. Ich war mir sicher, Jake würde es ihm erzählen, aber letztendlich hat er es nicht getan. Er hat nie ein Wort darüber verloren, obwohl ich genau gesehen habe, wie entsetzt er mich angestarrt hat. Ich hab es ja extra darauf angelegt..."
Kate musste lächeln. Diskretion. Auch ein interessanter Charakterzug an Jake.
"Also... wart ihr da noch zusammen? Ich meine..."
"Keine Ahnung", unterbrach Claire. "Wir hatten das nie geklärt. Wir haben uns gestritten, und dann war er weg. Ich war fuchsteufelswild und total außer mir. Sonst hätte ich nie den Plan gefasst, mit dem Typen ins Bett zu gehen. Verdammt, wie war sein Name?"
"Was?!" Kate musste an sich halten, um den Tee nicht sofort wieder auszuspucken. Alarmiert und entsetzt starrte sie ihre beste Freundin an. Hatte sie sich verhört?
Claire lächelte wehmütig. "Ich weiß. Ich bin nicht gerade stolz auf mich. Aber ich konnte es nicht. Ich hatte ja schon nach der Knutscherei ein so schlechtes Gewissen, dass ich das ganze Wochenende über im Bett geblieben bin und mich gehasst habe."
"Oh Claire...", sagte Kate sanft und schenkte ihrer Freundin einen mitfühlenden Blick. "Wieso hast du mir nichts davon gesagt?"
"Ich wollte es einfach nur vergessen, und ich kam mir total blöd und dämlich vor. Und dann kommt dieser Idiot wieder und... den Rest kennst du ja selbst." Claire seufzte.
"Und jetzt?"
"Keine Ahnung."
"Habt ihr euch heute auch getroffen?"
Claire nickte. "Nur kurz. Er wollte Jake besuchen, aber vorher... wir haben nur geredet. Oder besser gesagt, er. Je mehr er redet, desto schneller verraucht meine Wut auf ihn. Ich hasse das“, gab sie widerwillig zu und verzog das Gesicht zu einer verzweifelt schmerzhaften Grimasse.
Kate lächelte. "Aber das ist doch gut. Es ist schön, wie sehr er sich um dich bemüht. Du wirst ordentlich hofiert, merkst du das nicht?"
Claire schaute auf und grinste. "Stimmt. Du hast recht. Ich sollte das eigentlich genießen und voll ausnutzen, oder?"
"Unbedingt", lachte Kate. "Wer weiß, wie lange es anhält?"
"Tja... und dann?"
Kate räusperte sich. Jetzt sah sie ihre Chance gekommen. "Das kann ich dir genau sagen. Du gehst zu ihm hin, ziehst dich nackt aus und wirfst dich ihm an den Hals."
Claire verdrehte amüsiert die Augen, erkannte ihre eigenen Worte. "Ha ha."
"Ja, das habe ich auch gedacht. Aber es würde funktionieren", beharrte Kate voller Ernst und nickte nachdrücklich.
"Gut gekontert, Miss Winston."
"Vielen Dank, Miss Greene. Ich lerne von der besten." Sie zwinkerte Claire zu und beide grinsten sich einvernehmlich an. Dann schwiegen sie eine Weile, während Kate, den Kopf noch immer auf ihre Hand gestützt, gedankenverloren in ihrem Tee herumrührte und Claire einen Oreo-Keks auseinandernahm, um die süße, weiße Füllung mit dem Finger abzukratzen, bevor sie auch die anderen beiden Hälften verspeiste.
Kate war die erste, die sich wieder zu Wort meldete.
"Und du denkst wirklich, dass... er nicht irgendetwas Anderes sagen wollte damit?"
"Hundertprozentig. Nicht einmal Jake ist so dumm, so etwas zu sagen, ohne darüber nachzudenken, was es bedeuten könnte. Außerdem habe ich zuverlässige Quellen, weißt du?", grinste Claire bedeutungsvoll.
"Gabe?"
"Oh ja. Ich hab ihn ein bisschen ausgehorcht – irgendetwas Gutes muss unser Treffen ja gehabt haben -, und festgestellt, dass er Jake auch schon ein bisschen ausgehorcht hat. Das mit Rachel ist nichts Ernstes gewesen, nur jugendliche Blödheit, dazu dieses Konkurrenzdenken, weißt du? Ich würde sagen, die Nuss ist geknackt."
"Was für ein Konkurrenzdenken denn?"
"’Ich will genau das, was andere auch haben’ - dieses Konkurrenzdenken", sagte Claire bedeutungsvoll.
Kate stöhnte gequält auf. Dieses Thema gefiel ihr einfach nicht, egal, wie oft es wieder auftauchte. Sie fühlte sich einfach... unterlegen.
"Meiner Meinung nach aber", fuhr Claire lauter fort, "ist das nichts im Vergleich zu dem Gedanken, etwas zu bekommen, was man schon immer haben wollte." Nach einem Blick auf Kate's ratlose Miene fügte sie hinzu: "Nämlich dich."
Kate schwieg.
"Okay. Und was immer du jetzt vor hast, wenn du demnächst Rachel triffst, trittst du ihr ordentlich in den Allerwertesten. Und wenn du das nächste Mal Jake siehst... machst du gefälligst alles richtig. Kein Ausweichen, kein um den heißen Brei herumreden, klar?", fragte sie streng. "Du sagst, was du fühlst, und lässt dir von ihm sagen, was er empfindet, und dann wirst du glücklich bis an dein Lebensende. Und vergiss nicht, deine erste Tochter nach mir zu benennen, da ich das alles erst möglich gemacht habe. So, alles klar?"
"Claire-"
"Keine Widerrede!"
"Ich hab dich lieb."
Claire grinste. "Genau das kannst du ihm sagen. Ich hab dich auch lieb. Was hast du jetzt vor?"
"Gar nichts."
Claire stöhnte entnervt.
Kapitel 27: Accidentally

Dieses Kapitel widme ich Magierin. Sie weiß, warum.


Es war ein warmer Aprilnachmittag und Kate hatte beschlossen, ihn auf dem Außengelände der Universität zu verbringen. Ihre zwei Vorlesungen und das Seminar hatte sie hinter sich gebracht und dabei eine Menge Leute getroffen, die sie die Ferien über nicht oder nur selten gesehen hatte. Viele von ihnen waren über die vorlesungsfreie Zeit zu Hause bei ihren Familie gewesen und es gab eine Menge zu erzählen. Zudem hatten sie einen neuen Literaturprofessor, der die meiste Zeit seiner Vorlesung mit den Studenten über erotische Literatur des vergangenen Jahrhunderts diskutiert hatte – es hatte sich herausgestellt, dass, obwohl so was früher verpönt war-, es doch eine Menge Autoren gegeben hatte, die sich über die Konventionen hinweggesetzt und die brave Bevölkerung geschockt hatten. Kate erinnerte das an ihre Schwester Liz und nahm sich vor, ihr das zu erzählen. Liz würde das bestimmt toll finden und dem Ganzen ohne Umschweife zustimmen.
Im Gras unter einer dicken Eiche machte sie es sich bequem und benutzte ihre Jacke, sie die heute nicht brauchte, als Sitzunterlage.
Nachdem die Uni diese Woche wieder angefangen hatte, war Kate erleichtert gewesen. Es lenkte sie ab, zu den Vorlesungen zu gehen, ihre Zeit in der Bibliothek zu verbringen, die sie liebte, und zu viel zu tun zu haben. Sie hatte Jake nicht mehr gesehen, seit er bei ihr zu Hause aufgetaucht war. Sie musste sich erst an den neuen Gedanken gewöhnen, dass er mehr in ihr sah, als "nur" eine Freundin - und wahrscheinlich schon immer getan hatte. Es war seltsam, wie viel Zeit sie miteinander verbracht hatten, ohne zu wissen, was der jeweils andere dachte. Wie hatte das gut gehen können? Aber es war gut gegangen. Bis jetzt.
Sie wollte dem Ganzen ein bisschen Zeit und Raum lassen - ihm und auch sich selbst. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, war sie auch ein bisschen feige. Zumindest hatte Claire es so ausgedrückt, nachdem Kate ihr eigenes Verhalten ihr als "vorsichtig" zu verkaufen versucht hatte. Claire ließ sich eben nicht so leicht auf’s Kreuz legen.
Jake hatte sich seitdem nicht mehr gemeldet, was ihr auch sehr recht war, und obwohl ihr das schon ein bisschen Sorgen bereitete, vermutete Claire, dass er dieselbe Taktik verfolgte wie Kate selbst. Ihre Quellen jedoch wollte sie nicht preisgeben.
Es roch nach Frühling, frischem Glas und Sonne und Kate packte ein Buch aus, das sie sich gerade aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Es handelte von der Entwicklung der Sprache in den englischen Midlands im Zeitraum von der Besiedelung bis zum Mittelalter. Sonderlich begierig war sie auf das Buch nicht, aber es las sich ja nicht von alleine, und sie brauchte das Wissen für die nächste Klausur, die in einigen Wochen anstand. Hier draußen an der frischen Luft würde sie sich vielleicht nicht so durch die altmodischen Begriffe und Jahreszahlen quälen müssen.

Kate hatte Unrecht gehabt. Sie musste sich dennoch durch das Buch quälen, aber gerade als sie sich an einer halbwegs interessanten Passage befand, ertönte plötzlich von irgendwoher die leise Melodie von Francis Lai’s "Love Story" aus dem gleichnamigen Film, den sie sich erst neulich mit Claire bei einem Popcorn- und Selbstmitleidsabend angesehen hatte.
Kate blickte sich um und stellte fest, dass die Musik aus ihrer Tasche kam und ihr Handy sie von sich gab. Irritiert holte sie ihr Telefon heraus und starrte es nachdenklich an, während es weiterklingelte. Sie konnte sich nicht erinnern, diese Melodie auf ihrem Handy gehabt zu haben. Wer hatte ihren Klingelton geändert? Eigentlich konnte es nur Claire gewesen sein, die noch vor einigen Tagen damit gespielt hatte - laut eigener Aussage nur das Autorennspiel, das schon vorinstalliert war.
Zu allem Überfluss leuchtete Jake’s Name und Foto auf dem Bildschirm. Kate rollte die Augen. Claire's Hinweise waren selten dezent und vorsichtig.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und zittrigen Fingern hielt sie sich das Handy ans Ohr und drückte die Annahmetaste.
"Ja?", meldete sie sich vorsichtig. Was konnte Jake von ihr wollen? Was hatte er ihr so plötzlich zu sagen? Ihr wurde fast schlecht und sie atmete ein paar Züge der frischen Luft ein, um den Kopf, den Bauch freizukriegen.
"Kate", hörte sie, aber es war eindeutig eine weibliche Stimme, die da so atemlos keuchte.
Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, wer da am anderen Ende der Leitung sprach.
"Claire?", sagte sie ungläubig ins Telefon hinein. "Was machst du mit-?"
"Keine Zeit! Wir sind im Krankenhaus, Jake hatte einen Unfall. Gabe und ich sind bei ihm. Du musst sofort kommen!"
Es hörte sich sehr dringlich an und aufgeregt sprang Kate auf.
"Was? Was ist denn passiert? Habt ihr seine Eltern benachrichtigt? Was-"
Es machte "Klick" und darauf folgte das ungeduldige Besetzzeichen. Eine Weile regte sie sich gar nicht, während die Gedanken in ihrem Kopf rasten, aber dann packte sie hastig ihre Tasche und machte sich eilig, nun mit noch heftigeren Bauchschmerzen, auf den Weg zur nächsten Straßenbahnhaltestelle.
Jake lag im Krankenhaus und Claire hatte sich sehr eindringlich angehört. Sie musste dringend hin.
Was war passiert? Jake passte nie richtig auf. War er umgefahren worden oder war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und hatte einen Unfall gehabt? Vielleicht hatte er sich auch mit heißem Wasser überschüttet. Kate kannte seine "Kochkünste" und würde nicht unbedingt auf sie wetten. Sie kam fast um vor Sorge, als sie sich zwischen die Menschenmassen in der Straßenbahn drängte und wurde ärgerlich, als sie zu lange an einer Kreuzung hielten, die von der Polizei abgesperrt worden war. Jede Sekunde, die verging, war wie eine Stunde für sie, und als sie endlich am Krankenhaus ankam, war sie fertig mit den Nerven und hatte tausend verstörende, fürchterliche Bilder im Kopf.

Als Kate sich an der Information nach Jake's Zimmernummer erkundigte, war sie sofort erleichtert, dass er nicht auf der Intensivstation lag. Ihre schlimmsten Sorgen machten den weniger schlimmen Platz. Sie machte sich auf den Weg in den vierten Stock und rümpfte die Nase. Sie hasste Krankenhäuser. Alles an ihnen. Diesen steril-medikamentösen Geruch, die Krankheiten, das Leiden, die weißen Wände und die weiße Bettwäsche und ebenso das Desinfektionsmittel, das in jeder Toilette zu Genüge bereitstand. Es schrie doch förmlich "Benutz mich, sonst holst auch du dir eine lebensgefährliche Infektion!" Sie fühlte sich in Krankenhäusern nicht sicher. Für sie war es ein Ort wie ein Gefängnis. Und sie hasste die Ärzte. Diese Pseudo-Götter in Weiß, die einen nie anschauten, wenn man sie ansprach, sondern immer nur ganz beschäftigt taten und kaum auf die Wünsche und Sorgen ihrer Patienten und deren Angehörigen eingingen. Und nun war sie an ihrem meistgehassten Ort, um Jake zu besuchen, der selbst Arzt werden wollte, um an so einem Platz zu arbeiten. Vielleicht war es Ironie des Schicksals.
Im vierten Stock wanderte sie durch die Gänge und hielt nach dem Zimmer Ausschau. Als sie endlich davor stand und schon anklopfen wollte, hörte sie laute Stimmen und Gelächter aus dem Inneren hervordringen und fragte sich im ersten Moment, ob sie eine falsche Information bekommen hatte. Doch sie erkannte Claire's hell klingendes Lachen und die männliche Stimme, die da gerade redete, hörte sich ganz nach Gabe an. Irritiert klopfte sie und öffnete die Tür.
Drei neugierige Gesichter schauten ihr entgegen. Jake saß aufrecht im Bett, gelehnt an ein Kissen. Seine Hand war verbunden.
Claire und Gabe saßen links und rechts von ihm. Gabe auf dem anderen Bett, Claire zu Jake’s Füßen.
Kate blieb stehen und ließ die Situation erst einmal auf sich wirken, doch Claire ließ ihr kaum Zeit dazu, denn sie und Gabe erhoben sich. Im Vorbeigehen grinste ihre Freundin sie an und beide verabschiedeten sich von Jake mit "Bis später."
"Wir warten draußen auf dich", fügte sie an Kate hinzu und winkte kurz.
Kate, noch immer nicht im Bilde, was vor sich ging, kam einen Schritt näher.
Jake lächelte sie unsicher an. "Hi Katie. Schön, dass du gekommen bist."
"Was ist mit dir passiert, Jake?", fragte sie besorgt.
Er lachte verlegen und verzog dann vor Schmerzen ein wenig das Gesicht. "Ich hab nicht aufgepasst, das ist alles. Bin ausgerutscht." Er deutete mit dem Kopf auf seine Hand. "Ist nur verstaucht. Leider ist es die linke, das heißt, um die Klausuren komm ich nicht herum."
Kate betrachtete den Verband. "Und warum liegst du dann im Krankenhaus?"
Er seufzte. "Verdacht auf Gehirnerschütterung. Sie wollen mich bis morgen dabehalten - vorerst. Aber so, wie mir der Schädel brummt, haben sie vermutlich recht."
Kate schien die essentiielle Information jedoch zu überhören. "Warte - du bist ausgerutscht?", hakte sie ungläubig nach und sah ihn eindringlich an, wie um zu überprüfen, ob er sich über sie lustig machte.
Jake zwang sich zu einem Lächeln. "Ja ich weiß. Keine von diesen Geschichten, bei denen man sich mit Ruhm bekleckert, was? Aber vielleicht können wir uns etwas Anderes ausdenken und das dann rumerzählen?"
Kate gab sich nun einen Ruck und setzte sich auf Claire's ehemaligen Platz. Ihr war nicht nach Witzen zu Mute, aber sie war unendlich erleichtert, dass Jake nichts Schlimmes zugestoßen war. Er war nur tollpatschig gewesen wie eh und je. In Gedanken hatte sie ihn schon an allen möglichen Schläuchen und Geräten angeschlossen gesehen.
"Ich wusste gar nicht, dass Claire dir Bescheid gesagt hat", murmelte Jake. "Ich hab ihr gesagt, sie soll dich nicht beunruhigen und du hast doch auch bestimmt viel zu tun. Die Uni hat ja wieder angefangen." Er räusperte sich. So unsicher kannte Kate ihn gar nicht.
"Und wie sie mir Bescheid gesagt hat", erwiderte sie trocken und dachte an die Show, die Claire am Telefon extra für sie abgezogen hatte. "Ich dachte schon, du lägst im Koma oder sowas in der Art. Und außerdem ist das doch Quatsch. Wir sind Freunde und da ist es selbstverständlich, dass... na ja... So viel Zeit wird immer sein", fügte sie hinzu, weil sie nicht die richtigen Worte finden konnte. "Du kennst doch außerdem Claire. Sie tut nie, was man ihr sagt."
Ohne darauf einzugehen, sah Jake sie ernst an, sodass Kate ganz mulmig zu Mute wurde.
"Ich habe gehofft, dass... dass wir mehr sind als Freunde", erwiderte er zögernd, leiser, und suchte ihren Blick, doch Kate wich ihm verlegen aus. "Katie?", hakte er dann drängender nach.
Sie warf ihm einen hilflosen Blick zu. "Ich weiß es nicht..."
"Dann... musst du es rausfinden. Oder du sagst gleich, dass, ähm, sich bei dir was geändert hat."
Diese Unterhaltung war peinlich. Diese Unterhaltung war peinlich mit Jake! Kate wand sich und seufzte dann geschlagen auf.
"Findest du es nicht seltsam? Das alles... Es ist so, als könnten wir nicht mehr normal miteinander umgehen..."
Er nickte heftig und jammerte dann leise über seine Kopfschmerzen.
"Entschuldige", sagte Kate zerknirscht, weil sie sich dafür irgendwie schuldig fühlte.
"Nicht doch. Ich... ich wollte dich noch was fragen. Also, hättest du Lust, am Sonntag... mit ins Kino zu gehen? Ich meine, na ja", fuhr er hastig fort. "Wir waren schon so lange nicht mehr da, weißt du. Ich vermisse das..."
"Oh." Kate wusste nicht genau, wie sie darauf reagieren sollte - oder was genau er damit sagen wollte. Deshalb sagte sie einfach das erste, was ihr einfiel. "Ähm, ja, okay... Stimmt, wir waren schon lange nicht mehr. Ich frage Claire, ob sie Zeit hat."
Jake sah geknickt aus. "Nein. Eigentlich... wollte ich nicht mit Claire hin... Ich meine, sie war nett zu mir in letzter Zeit und ich mag sie echt gerne." Er lief rot an. "Nur als Freundin, meine ich." Er hielt inne und schlug sich die Hand vor das Gesicht, murmelte etwas Unverständliches zu sich selbst, das sich nicht besonders freundlich anhörte. Dann seufzte er tief auf und sah sie fest an. "Ich dachte eher an dich und mich."
"Oh", sagte Kate überrascht.
"Claire hat es als Date bezeichnet", präzisierte er, noch unsicherer von ihrer wortkargen Reaktion als ohnehin schon. "Es war... Sie hat mir gedroht, mir eine niemals endende Gehirnerschütterung zu verpassen, wenn ich das mit dir nicht bald in den Griff kriege. Was natürlich nicht heißt", beeilte er sich dann, "dass ich das nicht auch freiwillig tun würde... Oder will. Oh Gott." Er rang hilflos die Hände. "Ich mach das alles irgendwie falsch. Sag doch was. Du kannst auch den Film aussuchen. Ich bezahle."
Kate musste lächeln. Sie war nicht die einzige, die dauernd nervös war, wenn Jake dabei war. Er war es mindestens genauso! Und offensichtlich noch viel schlimmer. Am liebsten hätte sie laut losgelacht. Konnte man wirklich so oft von einem Fettnäpfchen ins andere treten wie Jake?
Irritiert sah er sie an, wahrscheinlich glaubte er, sie machte sich über ihn lustig.
"Ist schon gut", beruhigte sie ihn und tätschelte sein Bein unter der weißen Decke. "Wir dürfen Claire nicht enttäuschen, oder?"
Jake starrte sie an. "Nein", sagte er tonlos, und dann grinste er übers ganze Gesicht.
"Kommen deine Eltern dich auch besuchen?", fiel ihr dann noch ein, als sie auf die Uhr blickte. "Wie lange bist du überhaupt schon hier?"
"Ein paar Stunden. Meine Eltern kommen nicht. Sie... sie haben Wichtiges zu tun und meine Verletzungen sind ja halb so wild", sagte er beinahe entschuldigend und mied ihren Blick. Wenn es um Jake's Eltern ging, war er immer etwas reserviert und auch verlegen.
Kate schnaubte innerlich. Das war bestimmt die Originalworte seiner Mutter gewesen - nur dass sie vermutlich "Wichtigeres" hatte sagen wollen. Dann stand sie auf.
"Ich, ähm... soll ich morgen noch mal vorbeikommen?", fragte sie und es kam ihr sogleich überflüssig vor. Warum tat sie es nicht einfach?
Jake zuckte mit den Schultern. "Ich hoffe, ich werde morgen entlassen. Ich sag euch dann Bescheid."
"Mach das." Einen Augenblick zögerte sie. Wie sollte sie sich von ihm verabschieden?
Aber Jake nahm ihr die Entscheidung ab, ließ sich zurück in die Kissen sinken und lächelte fahrig. "Bis dann, Kate. Grüß die anderen. Sag Gabe, dass er die Muffins nicht vergessen soll, die er mir versprochen hat, wenn er nachher noch mal herkommt."
Kate versuchte ihr Grinsen zu verstecken. "Werde ich. Mach's gut."
Mit heftig flatternden Schmetterlingen im Bauch ging sie zur Tür. Sie hatte eine Verabredung mit Jake! Sie zwei ganz alleine! Und beide wussten, worauf das hinauslaufen würde. Was, wenn sie merkten, das es nicht klappen kann? Was, wenn es klappen konnte? Kate wäre am liebsten gestorben vor Angst. Aber da regte sich noch etwas Anderes in ihrem Inneren. Eine Art... Vorfreude.


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Kapitel 28: So easy

Kate schaffte es einfach nicht, sich zu entspannen. Obwohl Jake unheimlich aufmerksam und ebenfalls nervös war, war sie seltsam angespannt und steif und bekam kaum ein Wort heraus. So verlegen war sie noch nie gewesen. Aber es war einfach seltsam. Sie waren jahrelang befreundet gewesen und kannten sich in - und auswendig, und nun bezahlte er ihr Kinoticket und alle Welt erwartete, dass er sie küsste. Oder sie ihn. Oder sie sich.
Na gut. Zumindest erwartete Claire es. Und Gabe vermutlich auch, da diese ihn wahrscheinlich eingeweiht hatte. Und Liz würde es auch erwarten, wenn sie es wüsste, genauso wie Judy. Obwohl... Judy vielleicht nicht. Irgendwie war das ein seltsam beruhigender Gedanke.
Kate's Blick fiel auf ein jüngeres Mädchen, dass drei Meter entfernt neben ihr stand und Jake, der geduldig in der Popcornschlange wartete, die ganze Zeit anstierte. Als es bemerkte, dass Kate es anschaute, erwiderte das Mädchen ihren Blick und wandte sich dann errötend ab.
Kate runzelte die Stirn und betrachtete Jake's Züge von der Seite. Sie hatte nie darüber nachgedacht, aber für sie war er einfach... schön. Das konnte sie anders nicht sagen. Sie - oder der gesunde Teil ihres Verstandes - wusste, dass er eigentlich nichts besonders "Schönes" an sich hatte. Er war nicht der Typ Mensch, den man als "griechischen Gott" oder "Adonis" bezeichnen würde, er hatte keine stahlharten Muskeln wie Superman, dafür aber jede Menge Macken und Fehler, aber durch all die Kleinigkeiten, die sie an ihm schätzte, wurde er einfach... schön. Von innen heraus.
Als ob er bemerkt hätte, dass sie ihn beobachtete, drehte er den Kopf zu ihr und lächelte. Es war ein unsicheres Lächeln, als könnte jederzeit alles in sich zusammenbrechen, in Trümmer fallen. Und genau so fühlte sich Kate auch.
"Ich dachte", sagte er leise zu ihr, "das würde komisch werden. Weil wir schon so lange... befreundet sind, weißt du?"
Ihre Schulter berührte seinen Arm und sie hätte gerne nach seiner Hand gegriffen, aber sie traute sich nicht. Warum war sie eigentlich so ein Angsthase? So was konnte man doch einfach machen? Die Hand des anderen nehmen? Viele machten das. Einfach so, ohne großartig darüber nachzudenken.
Stattdessen räusperte sie sich und warf ihm einen zweifelnden Blick zu. "Es ist ja auch seltsam... oder?"
"Ja, schon", gab er zu. "Aber ich weiß nicht, warum... Ich meine, eigentlich verändert sich nichts. Oder?"
Kate dachte an etwa eine Million Dinge, die sich verändern würden, aber sie schüttelte den Kopf. "Nein", log sie.
Aber sie nahm seine Hand nicht, weil es der Anfang aller Veränderungen bedeutet und sie wusste nicht, ob sie beide dafür schon bereit waren.
"Was brauchst du?", fragte er in ihre Gedanken hinein und sie war für einen kurzen Moment irritiert und wusste nicht, was er meinte.
Er deutete auf die Snacktafeln. "Möchtest du etwas Bestimmtes? Weingummi, Schokolade?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nein."
"Gar nichts?", fragte er ungläubig und brachte sie damit zum Schmunzeln. Jake stopfte sich immer Unmengen von ungesundem Süßkram rein. Er konnte essen wie ein Scheunendrescher und es machte ihm nicht einmal etwas aus. Manchmal hatten Männer es einfach leichter, befand Kate. Vor allem was die Sache mit dem Stoffwechsel anging.
"Ich kauf trotzdem was", entschied er mit einem skeptischen Blick auf sie. "Vielleicht bekommst du ja doch noch Hunger."
Er drückte ihr die Kinotickets in die Hand, während er seine Bestellung aufgab, sein Portemonnaie herausholte und seine Snacks bezahlte. Die Verkäuferin schaute ziemlich verdutzt drein, aber Jake bekam es gar nicht mit. Mit einem stolzen Lächeln, das er Kate zuwarf, und bewaffnet mit Süßigkeiten, Popcorn und Getränken machten sie sich auf den Weg zu ihrem Kinosaal.

Als die Lichter des Raumes sich verdunkelten und die Werbung begann, fiel die Anspannung ein bisschen von Kate ab. Hier im Dunkeln musste sie nicht mit Jake reden. Für etwa zwei Stunden keine schleppenden Dialoge, bei denen jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wurde. Jake hatte die Popcorntüte auf seinem Schoß und knabberte fröhlich vor sich hin. Kate jedoch konnte keinen einzigen Bissen herunterkriegen. Sie linste zu ihm herüber. Er machte nicht mehr den Eindruck, als wäre er genauso nervös wie sie. Einerseits war sie deswegen erleichtert - andererseits fühlte sie sich wie eine komplette Vollidiotin, dass sie so einen Hehl daraus machte, während er es anscheinend als ganz normal ansah.
Sie hatten sich irgendeine recht unverfängliche Komödie ausgesucht, und schon bald hörte Kate Jake neben sich leise lachen. Sie beschloss, sich ebenfalls auf den Film zu konzentrieren. Gedanken machen konnte sie sich später schließlich auch noch.

Es war jedes Mal auf's Neue seltsam, im Tageslicht in ein Gebäude zu gehen und herauszukommen, wenn es draußen bereits dunkel war.
An der frischen Luft, die sich im Laufe der zwei Stunden, die Kate und Jake im Kino verbracht hatten, deutlich abgekühlt hatte, zog Kate den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und verschränkte die Arme vor der Brust, um sich ein bisschen aufzuwärmen, während sie auf Jake wartete. Er war stehen geblieben, kramte seine Brieftasche hervor und öffnete sie, um sein Kinoticket in die ziemlich vollgepackten Dokumentenschlitze zu stopfen. Jedes Mal das gleiche mit ihm, wunderte Kate sich. Warum er die Kinokarten immer behielt, anstatt sie wegzuschmeißen, würde ihr wohl nie in den Kopf gehen.
Die verknickte Ecke eines Fotos ragte heraus und erweckte Kate's Aufmerksamkeit. Ihr fiel keine Person ein, von der Jake ein Foto dabei haben könnte. Mit seinen Eltern verstand er sich überhaupt nicht gut und Geschwister hatte er auch keine. Kate trug immer ein Foto von Micky mit sich herum. Sie hätte gerne noch eins von Judy und Liz und Danny gehabt, und eins von ihrer Mum und ihrem Dad, eins von Claire und Gabe und natürlich von Jake. Aber sie hatte nicht so viel Platz in ihrem Portemonnaie. Also musste Micky herhalten. Er erinnerte sie an all die guten Dinge, die es im Leben gab. Freunde, Familie, Kindheit, Erinnerungen und Menschen, die man liebte. Und er erinnerte sie an alles, was sich zu erreichen und an alles, wofür das Leben sich zu leben lohnte.
"Was ist das?", fragte sie daher neugierig und Jake sah verwundert auf.
"Was denn?"
"Das Foto da." Sie nickte mit dem Kopf, die Augen auf seine Geldbörse gerichtet.
Er folgte ihrem Blick. "Das?" Dann zog er das Foto heraus. Es war recht klein und quadratisch, die Ränder waren ungerade, als ob es aus einem größeren Bild herausgeschnitten worden war, und ziemlich zerknittert - was sie bei Jake's Ordnungssinn, oder dessen Fehlen, nicht wunderte. "Das sind wir." Er lächelte und gab ihr das Foto.
Das waren tatsächlich sie. Nicht nur sie und er, sondern auch Claire und Gabe. Es war ein älteres Bild, auf dem sie noch jung waren. Kate schätzte sich auf etwa Fünfzehn, aber sie erinnerte sich nicht daran, dass so ein Foto mal aufgenommen worden war. Es zeigte sie und Jake auf der Treppe vor dem Schulgebäude im Sommer. Er starrte ratlos, verwirrt, in ein Buch, das auf seinem Schoss lag und Kate, die neben ihm saß, lachte und strich sich mit einer Hand eine Haarsträhne hinter das Ohr. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und wurden von Spangen gehalten. Zwei Stufen weiter oben saßen Claire und Gabe. Claire stützte sich mit den Ellbogen auf den höheren Stufen ab, lehnte sich entspannt zurück und hatte die Augen geschlossen, während ihr Gesicht der Sonne zugewandt war. Gabe saß daneben, den Kopf gelangweilt in die Hände gestützt.
Ein Kloß bildete sich in Kate’s Hals und eine seltsame Gerührtheit ergriff von ihr Besitz, als sie die Bedeutung verstand. Sie alle waren Jake's Familie. Seine Freunde, seine Kindheit, seine Erinnerungen und die Menschen, die er liebte. Sie waren das, wofür das Leben sich lohnte - für ihn.
"Das ist echt süß", murmelte sie, bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnte, was sie sagte.
Er bezog es auf das Foto. "Wenn es dir gefällt, kannst du es haben."
Kate drückte es ihm wieder in die Hand und lächelte. "Nein, behalte es."
Er zuckte mit den Schultern und stopfte das Foto wieder zurück an seinen Platz. Dann grinste er. "Ich begleite dich nach Hause."
"Das musst du nicht."
"Sicher. Oder möchtest du vielleicht... noch wo anders hin? Ich dachte nur, ähm... dass du vielleicht morgen früh raus musst?"
Kate nickte. "Um acht Uhr Vorlesung. Und du?"
"Ich auch."
Sie lächelten sich an. Und diese seltsame, gespannte Stimmung zwischen ihnen kam zum Glück nicht mehr auf, denn Jake redete über banale Dinge, sein Studium, seine Professoren. Er schien in ihrer Gegenwart ganz entspannt zu sein, fast so wie früher, bevor die Dinge zwischen ihnen schwierig geworden waren. Er sagte nichts über Rachel oder Dave, oder über die seltsame Beziehung, die sich mittlerweile zwischen Gabe und Claire entwickelt hatte.
Während sie die Derby Road entlanggingen, kamen sie an beleuchteten, typisch englischen Pubs und großen Supermärkten vorbei. Jake kompensierte ihr Schweigen, indem er über seine Seminararbeit über Medizinsoziologie redete - ein Thema, mit dem Kate sich ganz und gar nicht auskannte. Aber alles war besser als Schweigen.
Die Umgebung um die Derby Road herum wurde nun ländlicher. Die großen Geschäfte wichen Wohnhäusern aus rotem Ziegel und Vorgärten, die von grauen Steinzäunen umgeben waren. Kate liebte diesen ruhigen Teil von Nottingham. Im Sommer saß sie oft auf der Wiese vor der Uni oder sie kam in den kleinen namenlosen Park an der Greenholme School, um in aller Ruhe ein Buch zu lesen. Bald würde es wieder Sommer sein. Vielleicht würde sie ja demnächst nicht mehr alleine im Park sitzen und in ihrem Buch schmökern...
"Gleich sind wir da", verkündete Jake und warf ihr einen kurzen Blick zu. "Es wird langsam kalt draußen, was?"
Sie bogen beim "The Rose and Crown"-Pub ab und nahmen die Abkürzung durch ein kleines Kiefernwäldchen mitten in der Stadt.
Kate seufzte. "Ich hoffe, es wird bald Sommer", sprach sie ihre Gedanken aus.
"Bestimmt", versicherte Jake ihr zuversichtlich. "Im Wetterbericht sagen sie, dass es ab jetzt immer wärmer wird. Aber nachts muss man trotzdem noch aufpassen. Nicht, dass wir wieder krank werden." Er lachte.
Auch Kate dachte an die schlimme Grippe vor ein paar Monaten, die sie alle drei erwischt hatte. Sie musste zugeben, es war nicht die unangenehmste Zeit ihres Lebens gewesen, so mit Claire und Jake und einer Menge Süßkram und Fressalien vor dem Fernseher, während sie sich gegenseitig im Husten und Niesen zu übertrumpfen versuchten.
Jake deutete auf Claire's Zimmerfenster, wo noch Licht brannte. "Claire ist zu Hause."
"Ja." Kate nickte. Vielleicht war Gabe auch da, überlegte sie. Sie musste vorsichtig sein, wenn sie nach Hause kam. Nicht, dass sie sie bei irgendetwas störte... Aber sie musste ganz dringend mit ihrer Freundin reden. Gabe würde schon nichts dagegen haben, wenn sie sich Claire für einige Minuten auslieh.

Sie blieben vor ihrer Haustür stehen. Es war dunkel und wie absichtlich brannte die einzige Laterne in der Straße nicht - schon seit Tagen war die Lampe durchgebrannt, und noch niemand von der Stadt war gekommen, um sie zu reparieren.
Kate wusste, was jetzt kommen musste - und das machte sie furchtbar nervös und kribbelig. Sie begann, geschäftig in ihrer Tasche nach dem Schlüssel zu kramen und versuchte, ihre Nervosität zu unterdrücken. Sie hatte nur zu viele Filme gesehen. Zu viele romantische Bücher gelesen. Mit einem Jungen am späten Abend vor der Haustür zu stehen, nachdem er einen nach Hause gebracht hatte, bedeutet noch längst nicht, dass sie sich würden küssen müssen. Es bedeutete nur... irgendwas, entschied Kate, weil ihr Kopf furchtbar voll und gleichzeitig furchtbar leer war.
Jake sagte gar nichts und stand nur so da. Er beobachtete sie und dann lehnte er sich gegen die Wand, wartend.
Als sie die Schlüssel durchging, um den Richtigen herauszusuchen, fiel der Schlüsselbund mit einem klirrenden Scheppern auf den Boden. Jake beugte sich herunter, um ihn aufzuheben und als er ihn mit einem geduldigen Blick in Kate's Hände legte, lächelte er.
"Ich will noch gar nicht gehen", gestand er ihr.
Ein nervöses Lachen entschlüpfte ihrer Kehle und sie hätte sich dafür schlagen können. Errötend zupfte sie an einer Haarsträhne herum. Reiß dich zusammen!
"Dann... äh. Komm doch mit rein..." Hatte sie das gerade wirklich gesagt?
Jake schüttelte den Kopf. "Nein. Wir müssen beide früh raus, erinnerst du dich noch?"
Kate starrte ihn an. "Äh ja", brachte sie dann schließlich hervor. "Stimmt."
Was war nur los mit ihr? Sie fühlte sich wie... Jake! Wie der ahnungslose Jake, der sich an nichts erinnern konnte und dem man alles dreimal sagen musste, bis er auf den Trichter kam. Und er benahm sich wie... sie! Verantwortungsvoll und geduldig und all das Zeug. Das war wirklich frustrierend.
"Hm", machte er und betrachtete sie ernst. "Sehen wir uns morgen nach der Uni im MaxFood?"
Kate nickte mit trockenem Mund. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Gleich würde er gehen. Und nichts war passiert! Vielleicht war es besser so. Vielleicht war er nur mit ihr ausgegangen, weil er befürchtet hatte, die Freundschaft würde auseinanderbrechen. Vielleicht hatte er gemerkt, dass sie... eben nur Kate war. Nichts Besonderes.
Sie senkte den Kopf und wandte sich ab. "Gute Nacht", murmelte sie. "Danke für... heute. Bis morgen."
"Warte noch", sagte er schnell und griff nach ihrem Handgelenk. "Was ist los?"
Sie rang sich ein Lächeln ab. "Na gar nichts."
"Aber ich..." Er holte tief Luft. "Na ja, ich wollte nur sagen, dass das ein wirklich schöner Abend war und ich hoffe, ich hab dich nicht... vergrault oder so. Weil..." Er warf ihr einen besorgten Blick zu und fuhr fort, eilig nuschelnd: "Ich dich echt gern hab. Auf eine ganz und gar unplatonische Art und Weise... Und wenn, na ja... das wäre vielleicht ein passender Zeitpunkt, um... Wenn du also etwas dagegen hast", sagte er hastig und sie musste genau hinhören, um die Pausen zwischen den einzelnen Wörtern zu verstehen, "dass ich dich gleich küsse, dann musst du das am besten jetzt sofort sagen."
Kate hatte nicht vor, etwas zu sagen. Nicht, dass sie überhaupt dazu in der Lage gewesen wäre!
Aber Jake wartete ihre Antwort auch gar nicht ab. Er küsste sie ganz einfach.
Ganz. Einfach.

Als Kate das Haus betrat, merkte sie sofort, dass Claire allein zu Hause war. Es war ruhig und die ganze Wohnung war dunkel und leise. Der Fernseher war ausgeschaltet und weder in der Küche noch im Wohnzimmer brannte Licht. Die Tür zu Claire's Zimmer war angelehnt und warf einen schmalen Lichtstreifen in den Flur. Aus dem Raum hörte sie leise Radiomusik.
Kate klopfte kurz und stieß, noch bevor Claire darauf antworten konnte, die Tür auf. Wie in Trance betrat sie das Zimmer. Claire saß auf dem Boden, vor ihr der Wäschekorb mit frischgewaschener und trockener Kleidung. Sonntag war Waschtag. Die säuberlich gefalteten Kleidungsstücke stapelte Claire auf dem Bett.
Kate's Freundin sah zu ihr auf und ihre Blicke trafen sich. Ein besorgter Ausdruck huschte über Claire's Gesicht.
"Alles okay?"
Kate war irritiert - sie wusste nicht, ob alles okay war. Alles war irgendwie... surreal. "Ich denke schon..."
"Und, wie war's?", hakte Claire dann neugieriger nach und klopfte auf den freien Platz auf dem Bett neben ihrem Wäschestapel.
Langsam setzte Kate sich hin und versuchte, das Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, zu entschlüsseln. "Es war... anders", gab sie dann nach einigem Nachdenken zu.
Claire ließ das T-Shirt, das sie in den Händen hatte, wieder sinken und runzelte die Stirn. "Hm. Und... was glaubst du, wie wird es in Zukunft sein?"
Kate dachte an Jake und das Foto und an das neue, aufregende Gefühl, an die Rührung, die sie manchmal verspürte, wenn er etwas Überraschendes und Selbstloses machte und an seine blonden Haare, die im richtigen Licht rötlich schimmerten, an die Art und Wiese, wie er sie ’ganz und gar unplatonisch’ mochte – und sie ihn. Und dann musste sie lächeln. "Ich glaube, es wird... gut."
Claire sah erleichtert aus. "Oder phänomenal?", schlug sie hoffnungsvoll vor.
Kate lachte. "Ja. Das trifft es vielleicht eher."


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Meine Damen und Herren (letzteres wohl eher weniger XD): Es ist vollbracht! Dass wir das noch erleben, nach... wie lang? Vier Jahren? x_x
Mal sehen. Vielleicht gibt's noch den ein oder anderen One-Shot mit unseren Freunden. (So einfach kann man sich dann doch nicht trennen...) Außerdem gibt es noch die Liz-John-Geschichte mit gelegentlichen Auftritten unserer Helden. :)
(Link in der Kurzbeschreibung^^)
Ansonsten... der Epilog kommt demnächst auch noch (hab ich schon fertig, also keine Panik) und dann ist Schluss...
Ich möchte mich bei euch allen herzlichst für das Lesen, das Favorisieren und für die lieben Kommentare und ENS und hin und wieder auch GB-Einträge bedanken. Ihr seid klasse. ^^ Und danke, dass ihr mit mir so lang ausgehalten habt, bis die Geschichte endlich ihr Happy End gefunden hat. (Ursprünglich sollte es ja kein Happy-End geben - Kate wär mit Colin zusammengekommen und Jake hätte in die Röhe geschaut, weil er zu blöd war, seine Chancen rechtzeitig zu nutzen - SO! Wär zumindest realistischer gewesen. Welche Version gefällt euch besser? *g*)
Vielen vielen Dank nochmal! Ich hoffe, ich sehe ('lese') den ein oder anderen noch irgendwann wieder. ^^

Ein schönes Wochenende!

Epilog: A summer's day

Falls jemand das 1. Kap. nicht mehr vor Augen hat, wäre es vllt. ratsam, das nochmal kurz zu überfliegen. ;) (Damit der Effekt auch ankommt :)
Ansonsten ein schönes Wochenende und danke nochmals an alle.
Yaaay, ich hab eine Umfrage zu IN vorne eingefügt.
^^


Bewaffnet mit einem Schoko-Milchshake und einem Donut schob sich Jake auf den Platz neben seine Freundin, die sich seelenruhig den letzten Abschnitt in ihrem Buch durchlas und sich ihm dann zuwandte. Sie wartete schon seit einer halben Ewigkeit auf ihn, aber das machte ihr nichts aus: sie wusste, dass er immer später kam und außerdem hatte sie so die Zeit gehabt, weiterzulesen.
Jake warf einen kurzen Blick auf den Einband des Buches, das sie soeben zugeklappt und zur Seite geschoben hatte.
"Trivialliteratur?", fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen amüsiert und tat ganz entsetzt. "Was ist mit Shakespeare und Co.?"
Kate winkte ab und nahm einen Schluck von ihrem Wasser. "Heute mal nicht."
"’Shall I compare thee to a Summer's day? Thou art more lovely and more temperate...’", zitierte Jake theatralisch die ersten zwei Verse von Shakespeare's achtzehntem Sonett und grinste seine Freundin Beifall heischend an.
Diese zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. "Seit wann liest du Shakespeare?"
"Ich muss doch mit meiner überaus klugen Freundin mithalten können", schmeichelte er ihr und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Jacob Parker", lachte Kate. "Halt die Klappe."


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