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Searching for the Fullmoon

Seth - oder Probleme kommen selten allein
von

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Prolog

Searching for the Fullmoon

- Blumen unterm Vollmond
 

Das ist meine erste FF, also seid bitte nicht so streng mit mir. Die Charakterbe-schreibung kommt noch, aber erst, wenn ich ein paar Kapitel hab.
 

*…* = die Person denkt
 


 

Prolog
 

„Ding dong, ding dong, dong ding ding dong.“

Ich blickte auf. Die große Uhr des Big Ben schlug acht Uhr. Mein Blick wanderte traurig zu dem großen, aus Weidenzweigen geflochtenen Korb, der an meinem linken Arm hing. Er hatte sich kaum geleert, seit ich mich heute früh zur Arbeit begeben hatte. Vierzehn Stunden hatte ich mir an der Ecke Parliament Street – Great George Street die Beine in den Bauch gestanden, nur für wenige Minuten unterbrochen durch ein kurzes Mittagessen.

Der alte John war mit seinem Karren auf den Platz gekommen. Ich glaubte, die heiße Bohnensuppe immer noch riechen zu können. Sie roch köstlich. Meine Finger waren langsam zu dem kleinen Lederbeutel an meinem Gürtel gewandert und hatten ihn befühlt. Viel war nicht drin, wie meistens. Aber für einen kleinen Teller voll würde es schon reichen. Und ich hatte so einen Hunger. In den letzten drei Wochen hatte ich kaum etwas anderes als trockenes Brot und ein wenig Käse gegessen. Die Geschäfte liefen in letzter Zeit nicht besonders gut und ich machte mir schon Gedanken, ob ich mir nicht einen anderen Standort suchen sollte.

Doch was sollte dann aus meinen wenigen, aber mir umso treueren Stammkunden werden?

„Wo ist Alina?“, würden sie fragen. Das kam also nicht infrage.

Als das Knurren meines Magens schließlich zu laut geworden war, um es noch weiter zu ignorieren, hatte ich mein Geld und meinen Mut zusammengenommen und war zu John an den Stand getreten. Er hatte mir ein warmes Lächeln geschenkt – oder es zumindest versucht. Ihm fehlten einige Zähne und über sein Gesicht zogen sich mehrere Narben. Die meisten Kinder, die ihn sahen, hatten Angst vor ihm, aber er war ein gutherziger und freundlicher alter Mann.

Als ich ihm das Geld reichen wollte, hatte er nur die Hälfte genommen und abgewinkt.

„Ne, is schon recht so, Mädchen. Lass dir’s schmecken.“

Und das hatte ich dann auch getan und mir beim ersten Bissen mächtig den Mund verbrannt. Aber die Suppe hatte meinen Magen gefüllt.

„Hey, Alina, willst du nicht langsam auch nach Hause?“

Der Ruf riss mich aus meinen Gedanken und ich schreckte hoch. Neben mir stand Maria, ein kleines schwarzhaariges Mädchen von neun Jahren. Sie verkaufte Streichhölzer, Nadeln, Zwirn und andere kleine Gegenstände. Ihr Korb war fast leer.

Mitleidig blickte sie auf meinen eigenen Korb. Die Blumen ließen mittlerweile die Köpfe hängen, besonders die rosafarbenen Rosen. Das Tuch, mit dem ich den Korbboden ausgepolstert hatte, war trocken geworden. Sie brauchten dringend frisches Wasser, damit sie sich bis morgen wieder erholen konnten.

Maria legte den Kopf schief und betrachtete mich.

„Wovon hast du geträumt, Alina?“, fragte sie mit ihrer hohen, piepsigen Kinderstimme.

„Nichts wichtiges, Maria“, erwiderte ich, kramte ein zweites Tuch hervor und schlug es über die Blumen, um sie vor der abendlichen Kühle zu schützen. Es war Anfang November, nicht mehr lange und die ersten Fröste würden beginnen.

Ich verabschiedete mich von Maria und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die kleinen rosa Wangen. Dann zog ich den Umhang enger um mich, nahm meinen Korb fest in die Hand und machte mich auf den Heimweg.

Ich war fast eine Stunde später dran als sonst. Normalerweise verließ ich meinen Arbeitsplatz um sieben Uhr, aber da heute so wenig Kunden gekommen waren, hatte ich beschlossen, länger zu bleiben. Nur hatte dies leider wenig genützt. Wollten die Leute denn meine schönen Blumen nicht haben? Gut, im Moment sahen sie vielleicht nicht so schön aus, aber heute Morgen waren sie ein wunderschöner Anblick gewesen, als ich sie abgeschnitten hatte.
 

Der Wind frischte auf und zog an meinen langen braunen Haaren. Er brachte den Nebel von der Themse mit sich, der langsam und drohend wie ein Gespenst durch die Straßen von London kroch. Ich hasste dieses Wetter seit meiner Kindheit, es machte mir Angst. Wahrscheinlich, weil mir meine frühere Zimmernachbarin Ellie immer erzählt hatte, dass sich in den Schatten des Nebels die Mörder verstecken würden, bis für sie der Zeitpunkt zum Angriff gekommen war.

Ach ja, Ellie. Sie war schon lange nicht mehr da. Ich rechnete kurz nach. Vor drei Jahren war sie aus unserem kleinen Zimmer ausgezogen. Sie arbeitete jetzt bei Madam Melish in der Ashfield Street in Whitechapel als ... nennen wir es mal „Freudenmädchen“. Ich dachte nicht gern an das, was sie tat und ich hoffte inständig, niemals selbst so weit sinken zu müssen, dass ich meinen Körper verkaufen musste.

Plötzlich bemerkte ich, wie der Wind noch etwas anderes zu mir trug als den Nebel. Ich hörte das Tapsen von Schritten, wenn auch nur ganz leise. Das gefiel mir nicht.

Die Straße war fast völlig dunkel, nur an einigen Stellen spendeten die Kerzen in den Hauslaternen etwas Licht. Meine Schritte beschleunigten sich etwas und ich hörte, wie auch die anderen Schritte schneller wurden. Ich blieb abrupt stehen. Noch ein Schritt und das andere Geräusch verklang. Ich machte mich wieder auf den Weg und da war es wieder. Es konnte kein Zweifel bestehen. Jemand verfolgte mich. Im Gehen tastete ich nach dem Dolch, den ich immer an der Taille zwischen den Schichten meines Kleides verborgen trug. Und das aus gutem Grund.

Kurz nach meinem dreizehnten Geburtstag hatte mich auf dem Nachhauseweg ein betrunkener Kerl angefallen. Ich war mir sicher, dass er mich vergewaltigt hätte, hätte ich ihn nicht mit ein paar gut gezielten Treffern in die Weichteile außer Gefecht gesetzt und wäre geflohen. Sein Schimpfen hatte mich noch minutenlang verfolgt. Seitdem waren vier Jahre vergangen und ich ging nie unbewaffnet aus dem Haus. Mochten auch noch so viele Polizisten unterwegs sein, wir wussten es besser. Wir, das waren all jene, die auf der Straße oder wie ich in kleinen Hinterzimmern lebten und kleine Dinge verkauften oder stahlen, um zu überleben.

Ich bog um eine Ecke und erreichte die Cannon Street, die im Stadtteil City of London lag. Vor mir konnte ich schon das Haus sehen. Es war ein Gebäude aus Fachwerk und über zweihundert Jahre alt. Davor hatte hier ein Haus gestanden, das ganz ähnlich ausgesehen hatte. Das wusste ich aus einer Zeichnung, die im Hausflur an der Wand hing. Es war wie so viele andere seiner Art im Jahre 1666 dem großen Brand von London zum Opfer gefallen.

Ich wandte kurz den Kopf um und sah gerade noch aus den Augenwinkeln eine Person, die hinter einer Hausecke verschwand. Ich hatte mich nicht geirrt, jemand war mir gefolgt. Und nun wusste dieser Jemand auch, wo ich wohnte. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, mich abzuwenden und weiterzugehen, ihn von meinem Haus fortzulocken. Aber es war schon spät, die Straßen lagen weitestgehend verlassen dar. Wenn ich angegriffen wurde, konnte ich nicht unbedingt damit rechnen, dass mir jemand zu Hilfe kam. *Und wenn man dann am nächsten Tag meine Leiche findet ... Nein, Alina, Schluss mit solchen Gedanken.*

Während ich die Stufen hinaufstieg, zog ich den Schlüssel aus der Innentasche meines Umhangs. Er drehte sich mit leisem Quietschen im Schloss und die Tür schwang auf. Im Flur war es dunkel und noch dunkler wurde es, als ich die Tür schloss und absperrte. Ich ging langsam die Treppen rauf.

Mein Zimmer lag im dritten Stock, direkt unter dem Dach. Eigentlich konnte man es nicht wirklich ein Zimmer nennen, es war mehr eine kleine Kammer, doch mir reichte der Platz. Ich war schon froh, ein Dach über dem Kopf zu haben und nicht draußen auf der Straße schlafen zu müssen.

Die Frau, bei der ich wohnte, hieß Lucille Kingsley und war eine schrullige kleine Frau von siebenundfünfzig Jahren. Ihr Mann war vor ein paar Jahren gestorben und hatte ihr das Haus, früher eine Pension, hinterlassen. Es war sehr verschachtelt gebaut und wenn man das erste Mal drin war, musste man aufpassen, wenn man sich nicht verlaufen wollte. Wir, also die anderen Hausbewohner und ich, nannten es unser kleines Labyrinth.

Ich stellte den Korb auf einem Schemel ab und nahm die Blumen heraus, um sie in einen großen Eimer mit frischem Wasser zu stellen. Dann hängte ich den Umhang an einen Haken neben der Tür. Auf dem Tisch stand mein Abendessen, ein Stück Schwarzbrot.

Ich schlang es hungrig hinunter, zog mich aus und legte mich dann schlafen.

Erinnerungen - Memories of the Past

Kapitel 1

Erinnerungen – Memories of the Past
 

Die Morgensonne begrüßte mich mit ihren Strahlen, als ich die Augen aufschlug. *Gott, dachte ich, habe ich etwa verschlafen?* Der Himmel war strahlend blau, ich hörte ein paar Vögel zwitschern.

Als ich die Decke zurückschlug, legte sich augenblicklich eine Gänsehaut über mich. Es war so kalt im Zimmer. Das letzte Holzscheit hatte ich vor zwei Tagen in den kleinen Ofen geschoben. Doch ich hatte kein Geld, um mir von Madam Kingsleys neues Holz zu holen. Ich goss etwas Wasser in die kleine Schüssel und begann mich zu waschen, auch wenn ich jedes Mal erschauerte, wenn das eisige Wasser meine Haut berührte. Anziehen, schnell ein paar Bissen Brot runtergewürgt und die Blumen aus ihrem Kübel genommen. Sie hatten sich gut erholt. Ich legte meinen Umhang um, vergewisserte mich, dass Geld und Dolch an ihrem Platz waren, und verließ das Zimmer.

Draußen schlug mir die Kälte mit ihrer ganzen Macht entgegen. Über Nacht hatte es sich sehr abgekühlt, es konnten nur ein paar Grad über Null sein. Besorgt dachte ich an meine Blumen, die noch im Park standen. Wenn sie erfroren, hatte ich nichts mehr, was ich verkaufen konnte. Und bis die Saison für Tannengrün kam, dauerte es noch ein wenig.

Der Park ... hätte ein Außenstehender meine Gedanken gehört, er hätte sicher gedacht, dass ich meine Blumen in einem der öffentlichen Parks stahl. Aber dem war nicht so, ganz und gar nicht. Ich seufzte leise, als sich die Erinnerungen in mir hoch drängten. Ich war nicht immer arm gewesen, im Gegenteil.
 

Ich wurde 1871 als Alina Sara Gardner geboren. Meine Familie wohnte in einem großen Anwesen in der Victoria Road im Stadtteil Kensington, das von einem parkähnlichen Garten umgeben war. Das Schönste an diesem Garten aber war für mich, dass ich meinen eigenen kleinen Garten dort hatte, abgetrennt vom Rest durch hohe Mauern. Man konnte in ihn nur durch ein kleines Tor gelangen, zu dem ich den einzigen Schlüssel hatte. Außerdem befand sich ganz in der Nähe der Hyde Park, in dem ich sonntags mit meinen Eltern spazieren ging.

Mein Vater, Robert Gardner, war ein wohlhabender Kaufmann, der in vielen Gebieten tätig war. Er investierte in die neu aufkommenden großen Fabriken. Sein Hauptaugenmerk galt allerdings dem Stoffhandel. Kurz nach meiner Geburt eröffnete er gleich zwei neue Ge-schäfte in London, die sofort hervorragend liefen. Meine Mutter, Claire Gardner, stammte aus einer alten Adelsfamilie, die jedoch wie so manche in den vorangegangenen Jahrhunderten verarmt war. Der mit der Zeit immer aufwändiger gewordene Lebensstil bei Hofe verschlang Unsummen, die so manches stolze Haus in den Ruin gestürzt hatten.

Ich liebte meine Mutter sehr. Wenn sie mich abends ins Bett brachte, erzählte sie mir Geschichten von Prinzessinnen und mutigen Rittern auf stolzen Rössern, von Drachen und bösen Magiern. Manchmal sprach sie auch von anderen Kreaturen, die sie Vampire nannte. Ich verstand damals nicht, was sie damit meinte, aber jedes Mal warnte sie mich vor ihnen. Sie hörte sich immer so an, als würden diese Wesen tatsächlich existieren. Im Stillen konnte ich nur darüber lachen. So gern ich all diese Geschichten auch hörte, wusste ich doch, dass sie nur erfunden waren.

Obwohl ... wenn ich ehrlich war, heute sehnte ich mich danach, dass wenigstens ein Teil ihrer Geschichten wahr war. Manchmal erwischte ich mich sogar dabei, wie ich die Straße entlang spähte, auf der Suche nach meinem Ritter, der mich von hier wegholte.
 

Und ich sehnte mich nach meinen Eltern. Bis heute wusste ich nicht genau, wie das alles passiert war. Ich war zu dem Zeitpunkt zehn Jahre alt. Eines Morgens riss mich der Schrei unseres Dienstmädchens Christine aus dem Schlaf. Sie stand in der Tür zum Salon und deutete immer noch schreiend auf etwas am Boden. Ich fühlte etwas Feuchtes an meinen nackten Füßen. Meine Augen weiteten sich. Vor mir breitete sich auf dem Parkett eine große Blutlache aus, der Saum meines Nachthemdes sog das Blut auf und färbte sich bereits rot. Hinter dem Sofa schaute am Boden eine Hand hervor. Mir fiel sofort der Diamantring an ihrem Ringfinger ins Auge. Christine wollte mich festhalten, doch ich entwischte ihr und lief um das Sofa herum. Da lagen meine Eltern. Im Brustkorb meines Vaters klaffte ein Loch. Sein Herz fehlte. Ich begann zu würgen. Dann fiel mein Blick auf meine Mutter. Ihre Augen waren noch weit aufgerissen, ihr Mund leicht geöffnet. Sie umklammerte einen silbernen Dolch, in dessen Klinge seltsame Zeichen eingraviert waren. Ich kannte ihn. Sie hatte ihn mir einmal gezeigt und mir gesagt, dass sie ihn mir eines Tages schenken würde.

Ich berührte sie vorsichtig. Ihre Haut war so kalt. Ich rüttelte sie etwas, wobei mir an ihrem Hals zwei merkwürdige, kleine rote Male auffielen. Christine zog mich von ihr weg.
 

Wenig später war die Polizei da. Die Untersuchung dauerte nicht lange, der Fall wurde bald zu den Akten gelegt. Angeblich hatte meine Mutter meinen Vater erstochen und danach Selbstmord begangen, doch das glaubte ich nicht. Warum hätte sie so etwas tun sollen?

Kurz nach der Beerdigung kam der nächste Schock für mich. Ein Gerichtsvollzieher tauchte bei uns auf und behauptete, meine Eltern wären hoch verschuldet gewesen. Unser ... nun mein gesamter Besitz wurde gepfändet.

Christine schrieb an meine Verwandten in Südengland, ob sie mich aufnehmen könnten. Ihre Antwort war niederschmetternd. Am gleichen Abend belauschte ich ein Gespräch zwischen Christine und Mr. Edwardsen, den man zu meinem vorläufigen Vormund bestellt hatte. Er wollte mich in ein Heim stecken, bis ich alt genug zum Arbeiten war. Mein Entschluss war schnell gefasst. Ich raffte in meinem Zimmer zusammen, was mir wertvoll und wichtig erschien, ein paar Kleider, meine Lieblingspuppe Susan, das Buch mit den Geschichten, aus denen mir Mama vorgelesen hatte.

Als Mr. Edwardsen gegangen war, stahl ich mich die Treppe runter, wobei ich aufpasste, dass Christine mich nicht sah. Als ich am Salon vorbeikam, sah ich den Dolch über dem Kaminsims. Die Polizei hatte ihn nach ihren Ermittlungen zurückgegeben. Ich blickte mich kurz um. Christine war in der Küche verschwunden. Blitzschnell sauste ich zum Kamin, doch ich war zu klein. Also zog ich mir einen Stuhl heran und stieg auf diesen. Ich musste den Dolch etwas hin und her ruckeln, aber schließlich löste er sich aus seiner Halterung und ich versteckte ihn zwischen meinen Sachen. Dann verließ ich das Haus, ohne mich noch einmal umzublicken.
 

Der Frühnebel, der morgens über der Themse lag, hatte sich verzogen. Ich sah zum Big Ben hinauf und musste blinzeln, die Sonne blendete mich. Es war sieben Uhr. *Meine Güte, wie konnte ich nur so verschlafen?*, dachte ich und überquerte die Brücke. *Ich müsste längst an meinem Platz sein. Meine Kunden werden schon warten.*

Auf dem Platz herrschte wie immer geschäftiges Treiben.

„Du kommst heut aber spät, Alina.“

Die Stimme erkannte ich unter hunderten. Vor mir stand Joseph Wilkins. Er hatte blonde Haare, rehbraune Augen und war neunzehn. Sein Geld verdiente er mit kleinen Gaunereien. Er lächelte mich verschmitzt an und stupste mich an der Nasenspitze an.

„Na, hast du kleine Schlafmütze nicht aus den Federn gefunden?“

„Morgen, Joey“, sagte ich, woraufhin er mich kurz umarmte. Meine Hand fuhr kurz zu meinem Geldbeutel.

„He, glaubst du etwa, ich bestehle dich?“, sagte er und setzte eine enttäuschte Miene auf.

„Man kann ja nie wissen.“

Wir begannen zu lachen. Dieses kleine Spiel wiederholte sich jeden

Tag zwischen uns.

„Was willst du überhaupt damit sagen, ich wäre zu spät, Joey? Du bist

doch sonst derjenige, der nicht aus dem Bett will.“

„Bin ja auch sonst die halbe Nacht wach und arbeite. Aber gestern ... war ziemlich knapp, mich hätte beinah so ’n Bulle erwischt. Bin ihm grad so entkommen und da dachte ich mir, geh ich lieber nach Hause und mach heut weiter. So, und jetzt muss ich wieder an die Arbeit. Mach’s gut.“

Er lief davon und rempelte wie zufällig eine ältere Dame an, die ihren Pudel an einer Leine spazieren führte. Joey entschuldigte sich bei ihr wortreich und mit einer tiefen Verbeugung, dann lief er weiter. Sie bemerkte nicht einmal, dass ihr der Geldbeutel und eines ihrer juwelenbesetzten Armbänder fehlten.

Verfolgung - Hide and Seek

Kapitel 2

Verfolgung – Hide and Seek
 

Der Tag verlief ohne besondere Vorkommnisse. Heute hatte ich etwas mehr Glück, ich wurde den größten Teil meiner Blumen los.

*Ich muss heute unbedingt wieder in den Garten, überlegte ich, sonst habe ich morgen nichts zum Verkaufen.*

Es war kurz nach fünf Uhr, die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Ich musste mich beeilen, wenn ich noch rechtzeitig zu meinem Garten und wieder nach Hause wollte.

Meine Beine waren ganz taub, als ich mich auf den Weg machte. Auch wenn ich zwischendurch immer mal auf und ab ging, um mich warm zu halten, war es sehr anstrengend, den ganzen Tag über bei dem Wetter draußen zu stehen. Es hatte mehrere Male geregnet. In dieser Zeit hatte ich in den Hauseingängen Schutz gesucht.

Das Licht der untergehenden Sonne verwandelte die ganze Stadt. Die Konturen der Häuser zeichneten sich scharf gegen den Horizont ab, die eine Hälfte sah aus wie vergoldet, während die andere Hälfte schon ins Dunkel fiel. Es war ein durch und durch reizvoller Anblick, doch so vergänglich wie alles im Leben. Ich blieb kurz stehen, um ihn zu betrachten.

An mir rumpelte eine Kutsche vorbei. Da sie anscheinend in meine Richtung fuhr, überlegte ich nicht lang und sprang hinten auf. Der Kutscher bemerkte mich nicht. Ich setzte mich auf das schmale Brett, auf dem sonst die Diener standen und stellte den Korb neben mich. Mit der anderen Hand hielt ich mich fest, um nicht runterzufallen.

So erreichte ich die Straße, wo ich als Kind gewohnt hatte, innerhalb von fünfzehn Minuten. Zu Fuß brauchte ich fast doppelt so lange.

Ich hüpfte vom Brett und landete leichtfüßig auf dem Straßenpflaster. Die Kutsche ver-schwand rumpelnd in der Dunkelheit.

Vor mir tauchte mein altes Haus auf. Ich wusste nicht, wem es jetzt gehörte, ich hatte die Besitzer nie gesehen, wollte es auch gar nicht.

In meinen Gedanken malte ich mir aus, dass es von einem jungen, reichen Ehepaar gekauft worden war und ihre Kinder in den Sommermonaten in den Gärten spielten, so wie ich es einst getan hatte.

Die Mauer, die das Grundstück umgab, war von Efeu und anderen Rankpflanzen überwuchert. Ich ging an ihr entlang, bis ich die Stelle gefunden hatte, die ich suchte. Das Loch war klein und kaum zu sehen, perfekt in der Wand versteckt. Ein kurzer Blick zu beiden Seiten. Niemand zu sehen. Ich zwängte mich hindurch, wobei ich mir den Hinterkopf anstieß. Ich musste vorsichtig sein, wenn man mich erwischte, würde ich eine unliebsame Begegnung mit der Polizei haben und man würde mich als Einbrecherin verhaften.

Der Garten war wie immer verlassen. Ich lief von Baum zu Baum, versuchte immer in den Schatten zu bleiben. Schließlich erreichte ich die Mauern, nach denen ich gesucht hatte. Das Tor war wie das Loch zum Garten hinter dichten Pflanzenvorhängen verborgen. Ich zog den Schlüssel unter meinem Kleid hervor. Ich legte ihn nie ab, egal wo ich war. Kaum war ich drin, schloss ich gleich hinter mir ab. Die Sonne war untergegangen und das restliche Licht der Dämmerung verlosch. Der Garten lag im Dunkeln, nur das Licht der Sterne und des Mondes warf einen blassen Schimmer auf die Pflanzen.

Ich zog ein Messer hervor und begann die Blumen abzuschneiden. Chrysanthemen, Rosen und Löwenmäulchen wanderten in den Korb, dazu noch etwas Grün.

Er war schwer, als ich ihn anhob. Ich verschloss den Garten hinter mir wieder sorgfältig und schlüpfte durch das Mauerloch, nachdem ich den Korb durchgeschoben hatte.
 

Das Läuten der Kirchturmuhr erinnerte mich daran, wie schnell die Zeit verging. Die Straßen waren leer, die Leute saßen alle in ihren Stuben beim Abendessen. Ich hatte einen langen Weg vor mir und musste mich beeilen.

Das Geld, das manchmal leise in meinem Beutel klimperte, stimmte

mich fröhlich. Die nächsten Tage musste ich mir keine allzu großen Sorgen ums Essen machen. Zu verschwenderisch durfte ich jedoch auch nicht damit umgehen. Es standen nicht mehr viele Blumen im Garten. Für zwei, vielleicht drei Körbe voll reichte es noch, aber danach ...

Tief in meine Gedanken versunken, erreichte ich das Ufer der Themse. Über dem Fluss hing dicker Nebel, der die Ufer hinauf und durch die Straßen kroch. Er umfloss meine Beine wie Wasser. Und da hörte ich sie wieder. Die seltsamen Schritte von gestern. Ich fuhr herum, doch es war niemand zu sehen.

Ich schluckte, mein Hals fühlte sich trocken an. Um mich zu beruhigen, atmete ich tief durch und ging weiter. Die Schritte folgten mir.

Ich wurde schneller und auch das Tapsen hinter mir kam in kürzeren Abständen.

Jetzt bekam ich es doch mit der Angst zu tun. Die alten Geschichten meiner Mutter und von Ellie stiegen in mir hoch. Nachts, wenn der Nebel kommt, verstecken sie sich in seinen Schatten und gehen auf die Jagd.
 

Plötzlich spürte ich, wie sich eine kalte Hand um mein Handgelenk schloss. Ich griff durch einen Schlitz in meinen Rock, zog den Dolch hervor und drehte mich um. Vor mir stand eine Gestalt, gehüllt in einen dunklen Umhang, der ihr Gesicht verdeckte. Für einen Augenblick glaubte ich, rote Augen aufblitzen zu sehen. Ohne zu zögern, griff ich an und traf sie im Gesicht. Ich fühlte, wie der Dolch durch Fleisch drang. Die Gestalt schrie wütend auf und ließ mich los. Ich packte meinen Korb fest und rannte so schnell ich konnte davon.

Wenige Minuten später war ich zu Hause und knallte die Haustür hinter mir zu. Ich rannte die Treppen hinauf, ohne auf das Geschimpfe der anderen Hausbewohner zu achten.

In meinem Zimmer schloss ich die Tür hinter mir ab und ließ mich zitternd auf den kalten Fußboden sinken. Ich war völlig außer Atem und brauchte eine Weile, bis sich meine Atmung halbwegs beruhigt hatte.

Für einen Moment schloss ich die Augen. Ich konnte alles noch so deutlich vor mir sehen. *Was wäre passiert, wenn ich nicht so schnell reagiert hätte?, fragte ich mich. Wäre ich dann überhaupt noch am Leben? Oder würde ich schon in einer Gasse liegen?*

Ich wandte den Kopf zur Seite und betrachtete den Dolch in meiner Hand. Meinen treuen Beschützer. Die Spitze glänzte rot. Ich wusch das Blut mit etwas Wasser ab und steckte ihn wieder ein. Das war knapp gewesen. Verdammt knapp.

Begegnungen

Kapitel 3

Begegnungen
 

Hallo, da bin ich wieder mit einem neuen Kapitel! Erstmal vielen Dank an LadyVendetta für ihre lieben Kommentare. Das Kapitel wollte ich eigentlich schon eher einstellen, aber dann hatte ich noch einen größeren Ideenschub und … Na, lest selbst, was dabei rausgekommen ist. Viel Spaß.
 


 

Am nächsten Morgen hatte ich den Angriff schon fast vergessen. Erst als ich den Dolch sah, fiel mir alles wieder ein. Ich bebte, als sich die Bilder des Vorabends erneut in mir hoch drängten. Wer war mein Verfolger? Diese Frage stellte ich mir wohl schon zum mindestens tausendsten Male. Wenn ich eine – wenn auch nur geringe – Ahnung von den Motiven seines Handelns gehabt hätte, hätte ich zumindest ein paar Vermutungen über seine Identität anstellen können. So jedoch ...

Ich hatte schon überlegt, mich an die Polizei zu wenden. Aber ob sie mir helfen würde? Das war fraglich. Schließlich war ich ja nur eine einfache Blumenverkäuferin aus den Armenvierteln Londons. Ohne Privilegien, ohne besondere Rechte. Und dazu noch eine Frau. Ich erinnerte mich noch gut an die Worte des Polizisten, als ich bei dem Angriff vor vier Jahren eine Anzeige gemacht hatte. ‚Mach dir besser keine allzu großen Hoffnungen, Mädchen, ohne Zeugen ist es relativ unwahrscheinlich, dass wir ihn finden.’

Nun, am Ende hatte die Polizei ihn gefunden, doch ganz anders als gedacht. Nur zwei Tage nach dem Überfall, im Hafen. Doch das Bild, das sich dort den Beamten geboten hatte, musste wohl selbst dem hartgesottensten Mann bis ins Mark gefahren sein. Jemand hatte ihm fein säuberlich und, wie man vermutete, noch bei lebendigem Leib, die Haut abgezogen. Ob der Mann nun an der Prozedur selbst oder dem Blutverlust verreckt war, wusste niemand.

Es war durch alle Zeitungen gegangen, ein langer Artikel inklusive eines Fotos des Mannes – allerdings wie er vor seinem Tod ausgesehen hatte. Beim Lesen des Textes hatte ich es auch verstanden, dass für Bilder des Toten eine Sperre verhängt worden war. Und trotz allem, was er getan hatte oder vielleicht noch mit mir getan hätte, hatte ich etwas wie Mitleid empfunden.

Niemand verdiente solch einen grausigen Tod. Auch konnte ich seither nicht mehr das Gefühl abschütteln, dass dieser Mord etwas mit mir zu tun hatte. Als hätte ein schrecklicher Engel in meinem Namen Rache geübt.
 

Ich kniete vor dem Fenster nieder, wandte meinen Blick zum Himmel und dankte Gott im Stillen, dass ich auch gestern Nacht entkommen war.

Auf dem Weg zu meinem Standplatz überlegte ich, ob ich Joey und Maria von der Sache erzählen sollte. Wie ich Joey kannte, würde er sich mir gleich wieder als Beschützer anbieten und darauf bestehen, mich zu begleiten.

Aber heute wollte ich frische Blumen aus meinem Garten holen und wenn ich Joey als Anhängsel dabei hatte, bedeutete das, dass ich ihm meine geheime Blumenquelle verraten musste. Denn er und Maria wussten nicht, woher ich immer meine Blumen holte, so wie sie meine Vergangenheit nicht kannten. Ich hatte ihnen nie erzählt, wer ich einst gewesen war. Was hätte sie so etwas auch interessieren sollen?

Ich hatte mich schon öfter gefragt, wie sie wohl reagieren würden, wenn sie von meiner Herkunft erführen. Verständnisvoll? Mitleidig? Würden sie sich abwenden? Joey hasste alle, die in einen hohen Stand mit den entsprechenden Privilegien geboren worden waren, das hatte er mir einmal in aller Deutlichkeit gesagt. Darum bestahl er die Reichen auch so gern, als könnte er sich so an jedem einzelnen von ihnen dafür rächen, dass sein Vater nur ein ständig betrunkener Schneider war.

Und Maria hatte genug eigene Sorgen. Ihre Mutter arbeitete als Näherin für eine größere Fabrik, doch seit zwei Wochen lag sie krank im Bett. Anfangs hatte es wie eine gewöhnliche Erkältung ausgesehen, doch dann war es immer schlimmer geworden und ihr Fieber wollte einfach nicht runtergehen. Da die altbekannten Hausmittel wie Wadenwickel überhaupt nicht bei ihr anschlagen wollten, waren wir nach vier Tagen gezwungen, endlich einen Arzt zu rufen. Joey und ich hatten trotz Marthas Protestes das Geld dafür ausgelegt. Die Diagnose war ernüchternd: Pfeifersches Drüsenfieber. Lang anhaltend und hochgradig ansteckend.

Es war ein Wunder, dass es noch nicht auf Maria und ihren kleinen fünfjährigen Bruder Michel übergesprungen war, denn die beiden zeigten keinerlei Anzeichen. Jetzt waren sie vorübergehend bei Joey einquartiert. Er hatte sich in den Dachkammern eines großen Handelshauses häuslich niedergelassen. Es kam nie jemand dorthin, abgesehen von meinem Garten kannte ich in ganz London kein ungestörteres Plätzchen.

Gestern hatten wir Martha wieder einen Besuch abgestattet. Sie schien endlich auf die Medikamente anzusprechen. Ich konnte Maria nur bewundern, wie mehr oder weniger gelassen sie in dieser Situation blieb. Wie selbstverständlich kümmerte sie sich allein um alles, passte auf Michel auf, hielt das Zimmer in Ordnung und verdiente das Geld. Und das alles, obwohl sie jünger als ich war, als ich mein Zuhause verlassen hatte. Während ich fortwährend vor mich hingejammert hatte, ging sie mit einer unglaublichen Eigenständigkeit durchs Leben. Nur in sehr seltenen Momenten, wenn wir uns eine kurze Pause von der Arbeit gönnten, sah ich in ihren Augen den Kummer und Schmerz, der ihre Tage jetzt bestimmte.

Ich hätte ihr so gern geholfen, doch das Geld, das ich für meine Blumen bekam, reichte gerade so für mich selbst und was ich übrig hatte, musste ich für die Monate zurücklegen, in denen keine Blumen blühten. Ich versuchte dann zwar, mir immer etwas als Näherin dazuzuverdienen, doch so wie ich dachten noch viele andere Frauen und Mädchen in der Stadt. Der Konkurrenzkampf war hart, was den Auftraggebern nur entgegenkam, weil sie so die Möglichkeit bekamen, die Arbeitsbedingungen samt und sonders selbst zu diktieren. Und das hieß nichts anderes als unendlich viel Arbeit für schlechten Lohn. Entweder war man dann damit einverstanden oder nicht und musste sich eine andere Arbeit suchen.
 

Es war Sonntag, der 4. November und die Sonne war gerade erst dabei aufzugehen. Rot und Gold überspannten den Himmel. Die Sonne selbst war ein glühender Feuerball. Dieses Schauspiel faszinierte mich immer wieder aufs Neue, ganz egal, wie oft ich es sah. Jeden Tag sah der Himmel anders aus, ein sich ständig veränderndes Gemälde.

Heute führte mich mein Weg nicht gleich zum Big Ben. Alle frommen Bürger Londons pflegten am Sonntag in die Kirche zu gehen und es war bei den Leuten beliebt, Blumen mit in die Kirche zu nehmen, um sie Gott zu weihen. An manchen Tagen wussten die Priester gar nicht mehr, wohin mit den vielen Sträußen, die sie von den Gläubigen erhielten. So manchem von ihnen wäre die klingende Münze im Opferstock wohl lieber gewesen als Grünpflanzen, die auch noch mit Wasser versorgt sein wollten.

Natürlich war ich nicht die einzige Blumenverkäuferin, die von dieser Vorliebe wusste und so drängten wir uns alle in der Nähe der Westminster Abbey, um unsere Blumen an den Mann beziehungsweise an die Frau zu bringen. Hier ließen sich normalerweise immer gute Geschäfte machen und jeder von uns konnte etwas loswerden.

Heute war es jedoch nicht so. Obwohl ich früh aufgestanden war, befanden sich meine Konkurrenten alle bereits in der Nähe der Kirche und verkauften die ersten Blumen.

*Verdammt, die besten Plätze sind weg! Nick, Sandra, Maya ... alle verkaufen schon.*

Hinzu kamen die Pferdefuhrwerke, die einen Großteil des Platzes wegnahmen. Wenn ich nicht von einem von ihnen überfahren werden wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich an einen Platz etwas abseits zu stellen, auch wenn das bedeutete, dass ich weniger Kunden anlocken konnte.

Ich stellte meinen Korb ab, zog das Schutztuch von den Blüten und begann meine Waren auszurufen.

Die Menschen strömten auf die Kirche zu. Bei ein paar älteren Damen wurde ich zwei Sträuße Chrysanthemen los und ein junger Mann kaufte mir ein paar Löwenmäulchen für seine Frau ab. Ansonsten jedoch wandten sich die Leuten meiner Konkurrenz zu.

*Verdammt, genau so, wie ich es erwartet hatte. Nächste Woche muss ich schneller sein.*

Manchmal, besonders im Sommer, konnte ich hier innerhalb einer halben Stunde mehr verdienen als sonst während eines ganzen Tages. Die Leute waren sonntags irgendwie spendabler, weshalb es unter uns Händlern schon lange ungeschriebenes Gesetz war, die Preise an diesem Tag etwas raufzusetzen.

Die Glocken riefen die Menschen nun mit hellem, durchdringendem Geläute zum Gottesdienst und der Platz leerte sich zusehends. Auch ich machte mich auf den Weg. Auch wenn ich christlich erzogen worden war, besuchte ich den Gottesdienst nicht so oft; ich zog es vor, zu Hause im Stillen zu beten anstatt in aller Öffentlichkeit. Heute jedoch zog es mich in das Gotteshaus, die Geschehnisse der letzten Tage hatten mir zu denken gegeben und es war sicher nicht verkehrt, auch um Schutz von oben zu bitten.

Als ich durch das beeindruckende Westportal der Kirche trat, umfing mich augenblicklich eine majestätische Stille, die sehr beruhigend auf mich wirkte. Obwohl ich schon so oft hier gewesen war, konnte ich nie umhin, das Gebäude jedes Mal aufs Neue zu bewundern.

Die Fenster waren mit feinem Maßwerk geschmückt, Statuen von Engeln und Märtyrern zierten die geweihten Hallen und die Eingangsportale.

Seit ihrer Erbauung hatten sich neben den Königen Englands auch viele berühmte Persön-lichkeiten in der Westminster Abbey beisetzen lassen, wie zum Beispiel Isaak Newton, und jedes Grab versuchte das der anderen an Prunk zu überbieten. Ungezählte Nischen waren in die Wände eingelassen, um die Gebeine oder die Asche der Toten aufzunehmen, verdeckt von verzierten Marmorplatten mit den Namen.

Dass diese schöne Kirche zugleich ein Friedhof war, jagte mir immer einen gewissen Schauer über den Rücken.

In den Sitzreihen gab es kaum noch freie Plätze. Das Mittelschiff und das linke Seitenschiff des Längsganges waren vollständig besetzt, sodass mir nur die Möglichkeit blieb, mir eine Stelle auf der rechten Seite zu suchen. Ich quetschte mich mit meinem Korb an einer ganzen Reihe von Leuten vorbei, bis ich einen freien Platz fand, auf den ich mich aufatmend fallen ließ.

Ich sah mich kurz um. Rechts von mir hatte sich eine alte Frau niedergelassen. Die weißen Haare waren zu einem Knoten aufgesteckt und in ihren von vielen Falten umrankten, grünen Augen las ich die vielen Sorgen eines langen Lebens.

Zu meiner Linken saß eine Mutter, die ihre liebe Not damit hatte, ihre drei kleinen quengelnden Kinder ruhig zu halten, und, wie man an ihrem leicht gerundeten Bauch sah, war das vierte bereits unterwegs.

Sie war vielleicht fünf oder sechs Jahre älter als ich, wirkte aber so müde und abgespannt wie die alte Frau rechts.

Solche Frauen beneidete ich nicht gerade. Vom Vater sehr früh mit einem Mann verheiratet, bekamen sie innerhalb weniger Jahre einen ganzen Stall voller Kinder, meist hing das eine noch an der Brust, während sich das nächste schon ankündigte. Für die Frau bedeutete dies praktisch das Ende ihres eigenen Lebens. Es zählten nur noch der Mann und die Kinder, die eigenen Wünsche wurden ganz hinten angestellt, wenn nicht sogar völlig vergessen.
 

Nein, so ein Leben wollte ich nicht führen. Dazu war mir meine Freiheit zu kostbar geworden, auch wenn ich hart dafür arbeiten musste. Ich genoss jede einzelne Sekunde davon.

Das sollte aber nicht heißen, dass ich keine Kinder wollte, im Gegenteil. Es gab oft Momente, in denen ich mich danach sehnte, selbst wieder eine Familie zu haben. Menschen, um die ich mich kümmern konnte. Das waren zwar auch Joey und Maria, doch es war eben nicht dasselbe. Aber noch war es mir auch zu früh dazu und ich verfügte nicht über die nötigen Mittel.

Wann immer es mir möglich war, zweigte ich etwas von meinem Geld ab und legte es zurück, um mir später eine wenigstens halbwegs vorzeigbare Aussteuer leisten zu können.

Noch schwerer war es, den passenden Mann zu finden. Dass ein Wiederaufstieg in die Kreise meiner Kindheit ausgeschlossen war, war mir absolut klar, da gab ich mich auch keinen großen Illusionen hin. Außerdem ... das war es nicht unbedingt, was ich wollte. Da musste ich nur an die Teerunde denken, die meine Mutter alle paar Wochen bei uns gegeben hatte und an der ich hin und wieder auch hatte teilnehmen müssen. Ich sah mich wieder umgeben von Damen, die Spitzendeckchen häkelten oder eine Partie Bridge spielten und sich über den neuesten Klatsch und Tratsch im Bekanntenkreis und bei Hofe unterhielten. Gepflegte Langeweile.

*Ah, aber ich bin ja hier, um zu beten, nicht mal wieder den alten Zeiten nachzutrauern.*

Der Gottesdienst war längst in vollem Gange, doch ich hörte kaum, was der Priester sagte, dafür saß ich zu weit hinten. Ich beugte mich vor, faltete die Hände und betete, wobei ich lautlos die Lippen bewegte.

Auf einmal nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und blickte auf. Kurz war mir so, als würde ich in der Nische rechts von mir jemanden stehen sehen. Ich rieb mir die Augen und als ich wieder hinsah, war die Person – wenn sie da gewesen war – verschwunden. Ich sah nur die marmorne Statue eines Engels, der seine Arme schützend ausbreitete, das gütige Gesicht für die Ewigkeit im Stein festgehalten. *Hab ich jetzt schon Halluzinationen?*, überlegte ich.
 

Er drückte sich eng an den kalten Marmor, blieb aber immer so, dass er sie noch sehen konnte. Sie schien tief in ein Gebet versunken zu sein. Das Licht der Kerzen umflutete ihre Gestalt wie eine strahlende Aura. Für einen Moment glaubte er, an ihrem leicht nach vorn gebeugten Rücken Flügel zu sehen. Sie erinnerte ihn in ihrer ganzen Art an einen Engel.

Eine plötzliche Kopfbewegung von ihr riss ihn aus seinen Betrachtungen. Hatte sie ihn etwa bemerkt? Sie musste es getan haben, denn ihre Augen waren genau auf ihn gerichtet. Rasch zog er sich weiter in die Schatten der Statuen zurück, auch wenn sie dabei fast aus seinem Blickfeld verschwand. Sie durfte ihn nicht entdecken.

Endlich wandte sich ihr Blick wieder dem Altar am anderen Ende der Kirche zu und er atmete tief durch, verließ aber sein Versteck nicht.
 

Die Glocken begannen zu läuten, der Gottesdienst war so gut wie zu Ende. Für mich gab es keinen Grund mehr, noch länger hier zu verweilen. Ich wanderte das kurze Stück durch die Straßen zu meinem guten alten Big Ben.

Schon während ich vor Westminster gestanden hatte, waren erste Wolken am Himmel aufgetaucht und hatten die Sonne verschluckt. Nun bezog sich der Himmel immer mehr, es sah nach Regen aus. Der Wind wurde stärker und riss an den wenigen Blättern, die noch an den Bäumen hingen.

*Es ist noch früh*, versuchte ich mich in Gedanken aufzuheitern, *ich kann immer noch jede Menge verkaufen. Wenn ich Glück habe, werde ich alles los und kann heute Abend noch frische Blumen holen.*

Ich bemerkte die Person erst, als ihr Schatten auf mich fiel und sie direkt vor mir stand. Der Mann hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, sodass man es nicht erkennen konnte. Sein Körper wurde von einem weiten Mantel umflattert, der sich im Wind bauschte.

„Zeig mir deine Blumen, Mädchen.“

Eine weiche, freundliche Stimme. Ich zog gehorsam das Tuch fort, mit dem ich die Blumen gegen den Wind schützte. Eine mit schwarzem Leder behandschuhte Hand fuhr über die zarten Blüten.

Der Mann zog einen Strauß aus rosa und roten Rosen hervor. Er schien einen guten Blick zu haben, das waren die schönsten Blumen, die ich hatte.

„Wie viel willst du dafür haben?“

„Zwanzig Pence, Sir“, sagte ich leise.

Er öffnete seine Börse und holte eine golden schimmernde Ein-Pfund-Münze hervor, die er mir in die Hand drückte. Ich blickte mit offenem Mund auf das Geldstück, fing mich dann aber.

„Entschuldigen Sie, Sir, das kann ich nicht wechseln. Haben Sie es vielleicht kleiner?“

„Du kannst den Rest behalten“, sagte er und nahm die Blumen.

Ich blinzelte verwirrt. Als ich aufsah, war der Mann verschwunden.

*Merkwürdig*, dachte ich, doch ich hatte keine Zeit, mir genauer darüber Gedanken zu machen, denn in dem Augenblick begann es zu regnen. Verfluchtes Londoner Wetter!
 

Auf der anderen Seite des Platzes sah ich Joey stehen und mir zuwinken. Ich eilte zu ihm, wobei ich meinen Umhang mit einer Hand festhielt, damit er nicht aufging.

Wir stellten uns neben einer Schenke unter, um das Ende des Schauers abzuwarten. Joey warf einen neugierigen Blick in meinen Korb.

„Scheinst noch nich viel verkauft zu haben, Alinchen.“

Ich stieß ihm meinen Ellbogen in die Seite.

„Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du mich nicht mehr so nennen sollst? Ich bin kein Kind mehr.“

„Ach, wirklich?“, lächelte er und umarmte mich. „Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“

„Du bist gemein!“, erwiderte ich und gab ihm einen Klaps auf den Arm, damit er mich losließ. Statt etwas zu erwidern, grinste er mich frech an.

Irgendwie hatte ich ihn schon furchtbar gern. Er hatte mich damals gefunden, als ich hilflos durch die Straßen irrte, und mich zu sich genommen, bis ich meine Situation überdacht und beschlossen hatte, was ich tun sollte. Zu dem Zeitpunkt lebte er selbst noch nicht allzu lange in den Straßen. Er war wie ich von zu Hause abgehauen. Sein Vater hatte ihn ständig geschlagen.

Trotzdem war er ein lustiger Kerl, immer zu Späßen aufgelegt. Joey verstand es, mich zum Lachen zu bringen, auch wenn es mir schlecht ging. Ja, in gewisser Weise liebte ich ihn. Allerdings nicht als Mann – er war viel mehr so etwas wie ein großer Bruder für mich. Und ich war wie eine kleine Schwester für ihn.

„Was wollte der Mann denn eben von dir?“

„Dumme Frage, Joey, das war mein neuer Verehrer!“

„Ach, wirklich?“ Er riss die Augen auf und musterte mich neugierig.

„Quatsch, er hat mir die Rosen abgekauft.“

„Kleine Schlange, du“, grinste Joseph und strich mir über den Kopf. „Kommst du mit zu McLeoid? Ich gebe dir das Mittagessen aus.“

„Heute so spendabel, wie kommt ’s?“

Joey zog aus seiner Jacke einen prall gefüllten Beutel hervor und öffnete ihn. Neben etlichen Münzen befanden sich zwei mit Edelsteinen besetzte Ringe und eine goldene Taschenuhr darin, die er an einer langen Kette herauszog und triumphierend wie ein Pendel vor meinen Augen hin und her schwenkte.

„Tja, hab ’nen guten Fang gemacht, bei einem von diesen ganz edlen Herren. Komm, Alina.“

Damit zog er mich davon.

Schmerz - Pain and Despair

Kapitel 4

Schmerz – Pain and Despair
 

Der Himmel war von zarten Pastelltönen überzogen. Blau, Violett, Blassgelb und Rosa gingen eine reizvolle Mischung miteinander ein. So schlecht das Wetter in den letzten Tagen auch gewesen war, ein Sonnenuntergang war immer zauberhafter als der vorangegangene ge-wesen. Und wieder war ein Tag herum. Ich war zufrieden, im Laufe des Tages war ich doch noch etwas von meiner Ware losgeworden und das Ein-Pfund-Stück des Mannes krönte das ganze noch.

Ein leises Lied auf den Lippen pfeifend, machte ich mich auf den Weg.

Am Ende hatte ich Joey doch erzählt, was mir in den letzten Tagen passiert war. Die Gestalt, die mir gefolgt war, ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.
 

Wir saßen bei McLeoid und aßen. Da heute Sonntag war, hatten wir Steak-and-Kidney-Pie (die wird aus Rinderhack und -nieren gemacht) bestellt, statt wie sonst üblich unsere Suppe.

Ich fragte mich immer wieder, was dieser Unbekannte von mir wollte. Wollte er mein Geld? Mehr als unwahrscheinlich, ich gehörte nun wirklich zu den letzten Menschen, bei denen sich das Ausrauben lohnte. Also musste er hinter mir her sein. Aber warum? Immer und immer wanderte mein Blick durch den Raum, ruhelos, immer auf der Suche nach einer Antwort, doch ohne Erfolg. Wer von den Leuten, die mit uns bei McLeoid saßen, hätte mir eine Antwort auf meine Fragen geben können? Niemand.

Oder es handelte sich um diesen Serienmörder, von dem in letzter Zeit ständig die Rede war. Dieser Mann, der sich selbst ‚Jack the Ripper’ nannte. Aber wenn ich es mir recht überlegte ... nein, auch unwahrscheinlich. Seine bisherigen Opfer waren alles Prostituierte gewesen, also passte ich gar nicht in dieses Schema. Schon beruhigend.

Außerdem konzentrierten sich die bisherigen Angriffe auf den Stadtteil Whitechapel, von dem ich mich so gut es ging fernhielt. Moment mal, Whitechapel ... Prostituierte ... Ellie! Das passte erschreckend gut zusammen. Wenn dieser Ripper auf diese Art von Frauen aus war, dann war auch sie in Gefahr. Sicher wusste sie von den Geschehnissen, aber war es nicht besser, ich warnte sie?

Und genau in diese Gedanken platzte Joey mit einer seiner Fragen rein.

„He, Erde an Alina, redest du überhaupt noch mit mir?“

Seine Hand legte sich auf meinen Unterarm und drückte ihn leicht. Die plötzliche Berührung ließ mich hochschrecken.

„Was hast du gesagt?“

„Ich hab dich jetzt dreimal angesprochen und keine Antwort von dir gekriegt. Hab ich was verbrochen? Bist du sauer auf mich?“

„Nein. Wie kommst du da drauf? Ich ... hab nur nachgedacht.“

„Verrätst du mir denn auch, was dich so sehr in Beschlag nimmt, dass du überhaupt nichts mehr von deiner Umwelt mitkriegst?“

„Es ist nichts weiter. Wie gesagt.“

Mein Blick glitt zur Seite und zählte die Karos auf der Tischdecke. Ich wollte ihn nicht ansehen. Man sagt, die Augen seien der Spiegel der Seele. Und an meinen sah er immer, wenn ich log. Auf jeden Fall behauptete er das jedes Mal.

Joey schob sich über den Tisch näher zu mir. Ich war mir dieser Nähe voll bewusst, auch wenn sich meine Augen auf diesen einen Punkt auf der Decke fixiert hatten. Er hob langsam die Hand und legte sie an meine Wange.

„Sieh mich mal an, Alina“, bat er leise. Als ich nicht reagierte, suchten seine Finger mein Kinn und drückten es leicht hoch. Nun konnte ich ihm nicht länger ausweichen. Zögernd hob ich den Blick und sah ihm in die Augen.

„Was beschäftigt dich so? Du bist doch sonst nicht dermaßen aufgewühlt. Willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist?“

„Wirklich, Joey ...“

„Ich mache mir Sorgen um dich, Kleines.“

*Oh nein, nicht das schon wieder.* Joey hatte seinen unwiderstehlichen Hundeblick aufgesetzt, den er so gut draufhatte. Wenn er einen damit ansah, konnte man ihm nie etwas abschlagen. Ich versuchte, mich abzuwenden, doch seine Hand hielt mein Kinn nach wie vor fest umklammert, verstärkte den Druck sogar noch etwas. Ich saß in der Falle. Entkommen? Unmöglich.

„Also gut, du hast gewonnen.“ Er nahm seine Hand von meinem Kinn. „Es ist so, ich ... ich werde seit ein paar Tagen verfolgt ...“

Nachdem ich einmal angefangen hatte, redete ich minutenlang ohne Luft zu holen. Joey saß mir ruhig gegenüber und hörte mir geduldig zu. Er unterbrach mich nicht ein einziges Mal. Ungewöhnlich für ihn. Sonst bekam man ihn kaum zur Ruhe, aber heute ließ er mir richtig Zeit.

Es fühlte sich besser an, nachdem ich es ihm erzählt hatte. Nun musste ich dieses Wissen nicht mehr allein mit mir rumschleppen. Und wie erwartet – ich kannte ihn einfach zu gut – bot mir Joey auch prompt an, ab sofort meinen Leibwächter zu spielen und mich nach Hause zu begleiten. Nach der zweiten Begegnung mit der Gestalt – ich nahm zumindest an, dass es die gleiche Person war – war ich auch ganz froh darüber.
 

Dann war aber doch alles anders gekommen.

Joey wollte unbedingt noch einen älteren Herrn um seine Börse erleichtern. Dieser hatte es noch rechtzeitig bemerkt und war auf meinen armen Freund mit dem Spazierstock losgegangen, wobei er laut um Hilfe rief. Damit hatte er einige Polizisten alarmiert und Joey war geflohen und nicht zurückgekommen.

Ich machte mir natürlich Sorgen um ihn, aber noch länger konnte ich nicht bleiben, sonst wurde es zu dunkel. Und wenn er keine Zeit hatte, konnte ich getrost noch schnell in meinen Garten.
 

Die Finsternis brach heute mit überraschender Schnelligkeit über der Stadt herein. Wenn ich ausatmete, bildeten sich in der Luft kleine weiße Dunstwölkchen. Ich fröstelte leicht.

Hinter mir gab es einen kurzen Laut auf dem Pflaster. Ich achtete nicht weiter darauf, sondern ging nur etwas schneller. Erneut erklang das Geräusch, mehrmals hintereinander. Schritte. Das waren eindeutig Schritte. Er war also wieder da. Ich fuhr herum. Es war niemand zu sehen. Nur der Nebel strich wie eine Schar verirrter Geister durch die Gasse.

Ich setzte eine entschlossene Miene auf und ging weiter. Oh nein, so schnell würde er mich nicht klein kriegen. *Ich habe keine Angst. Glaubst du, du kannst mir Angst machen, nur weil du mir folgst?*

Und was wollte er schon tun? Ich befand mich mitten in einer bewohnten Gegend. Wenn ich angegriffen wurde, musste ich nur einmal laut schreien und schon würden überall Türen und Fenster aufgehen, die Bewohner würden neugierig die Köpfe herausstrecken, um nach der Ursache des Lärms zu forschen, und schon wäre mein Verfolger vertrieben.

Meine Schritte wurden wieder sicherer, der Hall lauter, wenn die Sohlen das Pflaster berührten. Ich straffte den Rücken und hob den Kopf. Nur nicht klein machen. Das würde ihm nur zeigen, dass ich mich fürchtete.

Ich blieb in der Mitte der Straße, nur nicht zu dicht an den Häusern entlang. Aus einem Wirtshaus in der Nähe drang lautes Lachen auf die Straße. Irgendwo heulte ein Hund. Der Mond stand fast voll am Himmel und beleuchtete mir den Weg, wo das Licht der Kerzen fehlte.

Einige Male blieb ich kurz stehen, um zu horchen. Stille. Sobald ich meinen Weg aber fortsetzte, hörte ich erneut das rhythmische ‚Klack-Klack’ von Schuhen, die nicht meine waren. Ich versuchte mich auf den Klang zu konzentrieren. Waren es die Schritte eines Mannes oder einer Frau? Aber nein, eine Frau hätte sich mir längst gezeigt und sich nicht versteckt. Dazu hätte kein Grund bestanden. Es musste ein Mann sein. Die Sache wurde mir immer unheimlicher.

Mehrmals glaubte ich, jemanden zu sehen und drehte mich um, doch da war niemand. Jedes Mal wurden meine Schritte schneller, bis ich schließlich zu laufen anfing.

Gut, sollte dieser Unbekannte doch denken, dass ich Angst hatte, denn ich hatte sie! Ich wollte nur noch nach Hause, egal wie. Nur so schnell wie möglich. Mein Atem ging schneller, bis er nur noch stoßweise kam. Ich war es nicht so gewohnt, zu laufen, doch stehen bleiben konnte ich jetzt nicht mehr. Und immer noch hörte ich die Schritte hinter mir, auch sie hatten sich beschleunigt. Wie weit war es denn noch bis nach Hause? Mir kam der Weg heute viel länger vor als sonst. War ich denn überhaupt noch richtig?
 

In meiner linken Seite spürte ich ein heftiges Stechen, doch ich durfte nicht stehen bleiben. Ich durfte einfach nicht. Aber ich musste es. Ich bekam kaum noch Luft. Meine Füße wurden langsamer und ich versuchte, tief durchzuatmen.

Dann drang ein Klackern an mein Ohr, das immer lauter und lauter wurde. Es waren Pferdehufe. Die Hufeisen der Tiere verursachten dieses merkwürdige Geräusch, das man schon von weitem hören konnte. Doch das konnte nicht nur eine Kutsche sein, es musste sich mindestens um zwei handeln.

Sekunden später tauchte eine elegante schwarze Kutsche auf, gezogen von zwei braunen Pferden. Ich sprang zur Seite, damit sie mich nicht überfuhr. Die meisten Kutscher waren raue Kerle, die kein Problem darin sahen, jemanden über den Haufen zu fahren, wenn er nicht rechtzeitig aus dem Weg ging.

Sie war kurz vor mir, als die zweite Kutsche angefahren kam, aus der anderen Richtung. Der Kutscher musste es sehr eilig haben, er trieb die Pferde mit der Peitsche und seinen Rufen an. Ich musste noch weiter zurück und stieß gegen eine Hausmauer. Die Peitschenschnur schwang durch die Luft, verfehlte mich knapp. Ich spürte den scharfen Luftzug, als sie an mir vorbeirauschte. Selbst wenn die Fahrt schnell gehen musste, wie konnte er nur so mit den armen Tieren umspringen?

Die Kutschen ratterten an mir vorbei. Die zweite, der ich ausgewichen war, fuhr nur Millimeter an meinem Gesicht vorbei.

*Das war knapp. Jetzt aber schnell weiter*, dachte ich.
 

In dem Augenblick fühlte ich, wie eine Hand nach mir griff und mich fest am Arm packte. Mit einem Ruck wurde ich in eine enge Seitengasse gezogen. Sie war zur Mitte hin abgesenkt, damit sich dort das Regenwasser sammeln und durch ein Gitter in die unterirdischen Kanäle abfließen konnte.

Der Korb mit den Blumen rutschte mir aus der Hand und fiel zu Boden. Ein Teil meiner Ware verteilte sich auf dem Straßenpflaster, wurde beim Aufprall noch einmal kurz hoch geschleudert. Einige Blütenblätter lösten sich und stoben wie Wassertropfen auseinander.

Meine freie Hand fuhr sofort an die Stelle, wo ich den Dolch versteckt hatte, doch meine Finger waren zu fahrig und zittrig und verhedderten sich im Stoff.

Ich wollte um Hilfe schreien, als sich eine Hand auf meinen Mund legte.

„Das würde ich an deiner Stelle schön bleiben lassen“, sagte mein Gegenüber. Sein Gesicht lag im Schatten, ich konnte ihn nicht erkennen. Diese Stimme ... sie ließ mich innerlich erzittern. Kühl und dennoch auf eine ganz eigene Art ... anziehend.

Er presste mich gegen die Mauer des Hauses, seine Hand lag schwer auf meiner Schulter. Endlich gelang es mir, meine Hand aus dem Stoff zu befreien und den Dolch zu greifen. Ich zog ihn langsam hervor, fest umklammert, bereit zuzustoßen.
 

Die Wolke, die sich vor den Mond geschoben hatte, zog weiter, getrieben vom Wind. Das silberne Licht des Mondes enthüllte das Gesicht meines Angreifers. Erst jetzt nahm ich ihn richtig wahr.

So eine Hautfarbe hatte ich noch nie gesehen. Sie schimmerte wie Bronze. Er war eindeutig kein Engländer. Sein Aussehen erinnerte mich eher an den Orient.

Seine Haare standen wild vom Kopf ab. Vorn waren die Strähnen blond, hinten von schwarzer Farbe, die weiter oben in dunkles Rot überging. Er war jung, achtzehn, vielleicht neunzehn. Sein Gesicht glich dem eines Engels, nur seine Augen ... Sie waren von einem wunderschönen rubinroten Ton, doch irgendwie kalt. Gleichzeitig aber strahlten sie ein seltsames Feuer aus, das mich irgendwie erregte. Er war in einen langen schwarzen Umhang gehüllt.

Seine rechte Wange wurde von einer hauchfeinen länglichen Narbe geziert. Er musste es sein. Er musste derjenige sein, der mich die letzten zwei Nächte verfolgt hatte. Und was immer er vorhatte, nun schien er es zu Ende bringen zu wollen.

Ich konnte den Blick nicht von ihm wenden, auch als ich den Dolch hob. *Es ist mir egal, was du mit mir vorhast, ich lass das nicht mit mir machen. Ich werde mich dir nicht ergeben.*

Auf einmal glitt seine Hand von meinem Mund, packte mein Handgelenk mit hartem Griff und drückte es an die Wand. Ich stöhnte leise vor Schmerz, doch sein Griff wurde nur noch fester.

Der Dolch fiel mir aus der Hand. Meine Augen folgten ihm. Er drehte sich einmal um sich selbst und landete dann klappernd auf der Erde. Mein Dolch, meine einzige Verteidigung! Nun war ich ihm schutzlos ausgeliefert.
 

*Meine Güte, dieses Mädchen macht es einem nicht einfach*, dachte er und betrachtete ihr verstörtes Gesicht. Wie lange war er ihr gefolgt? Er wusste es nicht. Und obwohl er seine Anwesenheit so sorgfältig zu verbergen gesucht hatte, hatte sie es gespürt.

Aber hätte er etwas anderes erwarten sollen? Eigentlich nicht. Nicht von ihr.

Das Versteckspiel hatte ihm Spaß gemacht, auch wenn es auf die Dauer etwas mühsam war. Aber die Mühe hatte sich gelohnt. Bei dem Gedanken lächelte er.
 

Mir traten vor Schmerz Tränen in die Augen. Ich fühlte die Hand schon taub werden, er drückte mir die Blutzufuhr ab.

Ein Lächeln huschte über seine Lippen und da sah ich sie. Seine Eckzähne waren von ungewöhnlicher Länge und glänzten im Mondlicht wie Elfenbein. *Das kann doch gar nicht sein*, dachte ich. *Mama hat mir so oft von ihnen erzählt, aber ich habe sie immer für eine Art Fabelwesen gehalten, nicht für wirklich. Aber das ... stehe ich etwa einem echten Vampir gegenüber?*

Das Lächeln des Vampirs verbreiterte sich zu einem Grinsen. Ich konnte mir denken, was er mit mir vorhatte.

„Warum bist du weggelaufen, meine Schöne?“, fragte er. „Du hast es mir nicht leicht gemacht, dich zu finden.“

„Lass mich los, du Monster“, presste ich zwischen den Lippen hervor.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte mich nicht bewegen und dieser Vampir ... er ängstigte und faszinierte mich gleichermaßen.

„Du musst keine Angst haben“, sagte er. „Ich habe heute schon gegessen. Ich werde dich also nicht töten. Nicht heute Nacht. Du bist so ein hübsches Ding, am liebsten würde ich aus dir eine von uns machen.“

„Niemals!“

Ich versuchte mich zu befreien, doch er drängte mich nur noch dichter an die Mauer heran und verstellte mir mit einem Bein den Fluchtweg. Seine Hand ließ meine los und wanderte langsam meinen Arm hinauf. Selbst durch den Stoff fühlte ich seine Berührungen ganz deutlich.

Er blickte mir tief in die Augen und eine ungewohnte Ruhe überkam mich.

„Bist du dir so sicher, meine Süße?“, flötete er leise.

Ich nickte kaum merklich und starrte ihn ängstlich an.

*Wenn er schon gejagt hat, was will er dann von mir?*, schoss es mir durch den Kopf.

„Tja, das fragst du dich wohl“, sagte er und fügte auf meinen verwirrten Blick hinzu: „Wusstest du das nicht? Vampire können Gedanken lesen. Hör zu, ich werde dich wie gesagt nicht töten, aber so einfach gehen lassen kann ich dich auch nicht, nachdem es mich solche Mühe gekostet hat, dich zu fangen, du kleiner Vogel.“

Seine Hand glitt unter meinen Umhang und meinen Rücken hinauf. Er schob sich noch näher an mich heran. Ich fühlte, wie mein Gesicht rot anlief. Noch nie war ich einem Mann so nahe gekommen, auch Joey nicht. Mittlerweile brannten meine Wangen wie Feuer. Er nahm mein Kinn fest zwischen die Finger, sodass ich mich nicht von ihm abwenden konnte. Aus meinen Augen lösten sich ein paar Tränen, während er immer näher kam. Ich konnte seinen heißen Atem auf meiner Haut spüren.

Seine Lippen senkten sich zu mir herab und ich schloss in Erwartung des Schmerzes die Augen, öffnete sie jedoch gleich wieder, als ich seine Lippen auf meinen fühlte. Ich sah ihm kurz in die Augen, diese wundervoll rubinroten Augen, ehe er sie schloss. Dieser Kuss war ... ich wusste gar nicht, wie ich ihn beschreiben sollte. In mir wirbelte alles durcheinander. Ich konnte nicht anders, mir entfuhr ein leises Stöhnen, was ihn zu amüsieren schien, denn er lächelte. Nun senkten sich auch meine Lider.

Ich verlor mehr und mehr die Kontrolle über meinen Körper. Mein Arm löste sich von der kalten Mauer und legte sich auf seine Schulter.

Kurz darauf ließ er von mir ab und blickte mich an. In seinen Augen loderte ein wildes Feuer, unheimlich und anziehend zugleich.

Ich legte meine Finger an die Lippen und spürte etwas Feuchtes darauf. Rotes Blut glitzerte auf meinen Fingerkuppen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er mich in die Lippe gebissen hatte. Sein Kuss hatte mich regelrecht benommen gemacht.

„Du schmeckst süß“, bemerkte er. „So süßes Blut wie deines habe ich noch nie gekostet.“

Seine kühle Hand strich über meine brennende Wange und grub sich in meine Haare. Ich wandte den Kopf zur Seite und entblößte so meinen Hals. Etwas tief in mir rebellierte gegen mein Verhalten, doch diese Stimme war so schwach und seine – ja, man konnte sie fast sanft nennen – seine Berührungen jagten mir kleine wohlige Blitzschläge durch den Körper. Der Vampir legte seine eine Hand um meine Taille und zog mich so eng an sich, dass nicht einmal mehr ein Blatt Papier zwischen uns gepasst hätte. Wieder bedachte er mich mit so einem merkwürdigen Blick, als wäre er unsicher, was er tun sollte.

Gleich darauf jedoch spürte ich ein kurzes Ziehen, als sich seine Zähne in meinen Hals senkten. Ich schloss die Augen und hörte, wie er saugte, das Blut aus mir herauszog. Er schmatzte leise dabei, schien jeden einzelnen Tropfen zu genießen.

Ich verzog das Gesicht. Einfach widerlich! Aber ... war es das wirklich? Je länger er sich an mir zu schaffen machte, umso mehr geriet ich in eine Art trunkenen Zustand. Ich hörte, wie sich wieder ein leises Stöhnen meinem Mund entrang. Allmählich wusste ich echt nicht mehr, was ich denken sollte. Einerseits fand ich das Verhalten dieses Mannes abstoßend, andererseits ...

Trotzdem ... nein, ich durfte es nicht zulassen, dass er mir so nahe war. Ich wollte ihn von mir stoßen, mich von ihm wegdrücken. Abstand zwischen uns bringen. Aber ich hatte nicht die Kraft, mich von ihm zu befreien. Meine Glieder fühlten sich so schwer an, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Hätte er mich nicht gestützt, wäre ich wahrscheinlich früher oder später hingefallen.

Ich konnte kaum noch klar denken, dichter Nebel verschleierte meinen Geist. Dafür spürte ich ihn umso deutlicher. Seine Hand ruhte auf meiner Hüfte. *Diese Dreistigkeit! Der scheint genau zu wissen, dass ich mich nicht wehren kann.*

Dann ließ der vernebelte Zustand etwas nach. Er zog sich von mir zurück.

Als ich wieder aufblickte, leckte er sich gerade die Lippen ab.

„Wir werden uns bald wieder sehen, Alina“, sagte er.

*Woher kennt er meinen Namen? Wie lange hat er mich denn schon verfolgt? Was weiß er noch alles über mich?*

Ich wollte etwas erwidern, doch ich konnte nicht. Mich überkam ein starkes Schwindelgefühl und mir wurde schwarz vor Augen.
 

Als ich wieder zu mir kam, war ich allein. Der Vampir war spurlos verschwunden. Das Einzige, was darauf hindeutete, dass ich nicht einfach ohnmächtig geworden war und geträumt hatte, waren die zwei kleinen Wunden an meinem Hals, aus denen immer noch ein paar Tropfen Blut sickerten.

Ich richtete mich mühsam auf und drückte ein Taschentuch gegen die Stelle, um die Blutung zu stoppen. Mich an einer Regenrinne hochziehend, stand ich langsam auf. Meine Beine waren noch etwas wacklig, aber ich zwang meinen Körper mit harschen Befehlen wieder unter meine Kontrolle.

Anschließend raffte ich so schnell es ging meine Sachen zusammen und schleppte mich nach Hause.

Veränderungen

Hallo, da bin ich wieder mit meinem neuen Kapitel. Diesmal ist es ein bisschen kürzer, aber das nächste wird dafür wieder länger sein, versprochen. Tja, im letzten Kapitel ist unser „großer Unbekannter“ also endlich richtig in Erscheinung getreten. Kommt spät, weiß ich, war aber voll und ganz so beabsichtigt.

Und schreibt mir bitte fleißig Kommentare, konstruktive Kritik ist immer willkommen.
 


 


 


 

Kapitel 5

Veränderungen
 

Er ging mit schnellem Tempo die dunkle Straße entlang. Jeder Schritt entfernte ihn weiter von ihr, brachte mehr Raum zwischen sie. Als er gemerkt hatte, dass sie ohnmächtig wurde, hatte er sie mit einer flinken Bewegung, für ein menschliches Auge praktisch unsichtbar, aufgefangen und vorsichtig auf den Boden sinken lassen.

Einen Moment lang war sein Blick an ihr hängen geblieben und hatte ihr weiches Gesicht gemustert. Schließlich hatte er dem Drang doch nachgegeben. Nicht wissend, warum, hatte er sich nicht dagegen wehren können. Noch einmal die helle, makellose warme Haut dieses Mädchens unter seinen Fingern zu spüren, die selbst meist so kalt wie Schnee waren.

Er hatte sich zu ihr hinuntergebeugt und ihr einen kurzen Kuss auf die Stirn gedrückt. Ob sie überhaupt etwas davon mitbekommen hatte? Es war eine durch und durch eigenartige Wirkung, die sie auf ihn hatte.

Er schwankte leicht und stützte sich an einem Laternenpfahl ab. Nanu, das war ihm doch noch nie passiert, zumindest nicht, wenn er gerade erst getrunken hatte. Ihr Blut strömte durch seine Adern, heiß und rot und ... ja, er fühlte sich angenehm berauscht. Sein Mund war noch von dem feinen, leicht süßen Geschmack erfüllt. Es war getan.
 

Ich brauchte eine Weile, bevor ich richtig zu mir gekommen war und registriert hatte, wo ich mich befand. Ich lag auf meinem Bett, vollständig angezogen. So, wie ich mich gestern Nacht hingelegt hatte. Ich hatte es nicht mehr geschafft, meine Kleider abzulegen, ich war zu geschwächt dazu gewesen. Neben mir stand der Korb mit den restlichen Blumen. Sie sahen nicht gut aus, aber ich musste versuchen, sie noch etwas aufzupäppeln. Sie waren alles, was ich noch verkaufen konnte, denn zu meinem Garten traute ich mich nicht bei Tag. Die Ge-fahr, entdeckt zu werden, war einfach zu groß.

Als ich die Gardine zurückschlug, wandte ich den Kopf ab und machte sie augenblicklich wieder zu. Das Sonnenlicht tat furchtbar in den Augen weh. Ein Schauer durchfuhr mich. Hatte dieses Monster aus mir etwa einen Vampir gemacht? Ich verließ mein Zimmer und hastete zu einem Spiegel im Flur. Aus dem Rahmen starrte mich mein Spiegelbild an.

*Gut, scheint ja doch alles in Ordnung zu sein*, dachte ich. *Das war doch eines ihrer Erkennungsmerkmale, oder?* Ich wusste es nicht mehr, konnte mich nicht mehr daran erinnern, was meine Mutter gesagt. Es war so lange her. Als ich meinen Kragen zur Seite schob, entdeckte ich die Bissspuren. Sie waren kaum noch zu sehen, nicht mehr als zwei kleine Punkte. Man hätte sie für Leberflecke halten können. Aber ich wunderte mich nicht weiter darüber. So weit ich mich zurückerinnern konnte, waren meine Wunden stets schnell verheilt.

Das Einzige, was sich anscheinend für mich verändert hatte, war die Sonne. Ich hatte ihr Licht noch nie so grell empfunden wie an diesem Morgen. Es besserte sich auch nicht, als ich das Haus verließ.

Was hatte dieser Mann nur mit mir gemacht? Als ich an ihn dachte, sah ich wieder seine roten Augen vor mir. Obwohl er gesagt hatte, er sei gesättigt, hatte er mich gebissen. Einfach so. Ich hatte schon gedacht, ich würde es gar nicht überleben.

Aber sein Kuss vorher ... Über meine Wangen legte sich ein zarter Rotschleier. Ich konnte seine Lippen immer noch auf meinen fühlen.

Hatte er das ernst gemeint, was er gesagt hatte? Wollte er aus mir einen Vampir machen? Eine dieser grässlichen Kreaturen, die andere Menschen wegen ihres Blutes umbrachten?

„Guten Morgen, Alina! He, bist du taub?“

Maria fuchtelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum, was mich in die Gegenwart zurückbrachte.

„Wenn du mit offenen Augen träumst, musst du dich nicht wundern, wenn deine Kunden zur Konkurrenz gehen“, meinte sie.

Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Dieses unmögliche Kind. Trotz ihrer neun Jahre redete sie manchmal daher wie eine alte Frau.

Joey kam auf uns zu gerannt. Er bremste schlitternd ab und kam vor uns zum Stehen, wobei er direkt in eine tiefe Verbeugung überging.

„Es tut mir furchtbar leid, Mylady, Sie gestern so schmählich versetzt zu haben. Ich bin untröstlich“, sagte er.

Maria und ich brachen in lautes Lachen aus.

„Seit wann bist du so förmlich?“, kicherte ich und schlug ihm auf die Schulter. „Ein einfaches ‚Tut mir leid’ hätte doch gereicht.“

„Jedenfalls entschuldige ich mich dafür, dass du gestern allein nach Hause musstest. Ist denn alles in Ordnung?“

„Macht nichts, ist nichts weiter passiert“, sagte ich schnell und unterdrückte den Reflex, mir an den Hals zu greifen. „Ich bin gut nach Hause gekommen.“

Was sonst hätte ich denn sagen sollen? ‚Nein, Joey, es ist überhaupt nichts in Ordnung. Mich hat gestern ein Vampir angefallen! Er hat mich gebissen!’

Nein, das konnte ich nun absolut nicht sagen. Wie sollte ich ihm das denn bitte schön erklären? Wie sollte er mir ausgerechnet so etwas ... Abwegiges glauben, selbst wenn es der Wahrheit entsprach?

„Also is dir der Kerl gestern nicht gefolgt?“, sagte Joey. „Puh, da bin ich aber froh. Hab was von ’nem Serienmörder gehört, der hier in der Gegend sein Unwesen treiben soll.“

„Wenn du den Kerl meinst, der sich ‚Jack the Ripper’ nennt, von dem hab ich auch schon gehört.“

„Heute früh ham’se wieder ’ne Leiche gefunden, trieb auf der Themse.“

Ich konnte mir schon denken, wer dafür verantwortlich war. Diese Leiche ging sicher nicht auf das Konto dieses Rippers.

„Wie auch immer, als Wiedergutmachung lade ich dich heute noch mal zum Essen ein“, sagte Joey fröhlich.

„Was denn, schon wieder?“ Ich zwinkerte ihm lachend zu. „Das hört

sich ja fast an, als wolltest du ... mich um eine Verabredung bitten.“

Jetzt begann er auch zu lachen.

Maria sah mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Neugierde zwischen uns hin und her. Ganz egal, wie erwachsen sie in manchen Situationen wirken mochte – sie war immer noch ein Kind. Bis sie in das Alter kam, solche Dinge richtig zu begreifen, würde es schon noch eine Weile dauern.

„Also, kommst du mit?“, wandte sich Joey mir nun wieder zu.

„Klar, wieso sollte ich denn so ein Angebot ausschlagen?“

„Dann hole ich dich um zwölf Uhr hier ab. Und bis dahin, meine Damen“, er vollführte eine elegante Handbewegung, „wünsche ich noch einen schönen Tag.“

Damit verschwand er, um sich seiner Arbeit zu widmen. Ich blickte ihm nach. Dem Jungen konnte auch nichts seine gute Laune verhageln.

Später saßen wir bei McLeoid und aßen Eintopf. Sonst schmeckte mir das Essen dort immer sehr gut – sofern ich genug Geld hatte, um dort hinzugehen, heute aber würgte ich die Suppe mehr schlecht als recht hinunter und das trockene Brot blieb mir im Hals stecken. Der nach-folgende Hustenanfall schüttelte mir alle Glieder durch.

Außerdem fiel mir mein schier unstillbarer Durst auf. Ich trank im Lauf des Tages über drei Liter Wasser und meine Kehle fühlte sich trotzdem immer noch trocken an. Aber wenn ich es genau bedachte, war es nach dem Blutverlust gar nicht so ungewöhnlich.

Joseph machte sich schon Sorgen um mich, hatte aber trotzdem noch genug Humor, um mich mit einem Kamel zu vergleichen, weil ich das Wasser geradezu in mich hineinschüttete. Ich versicherte ihm mit einem klammen Gefühl zum zweiten Mal, dass alles in bester Ordnung sei.
 

Am Abend begleitete er mich wie versprochen nach Hause. Mit ihm an meiner Seite fühlte ich mich doch gleich so viel sicherer. Ich sah mich unterwegs ein paar Mal um, konnte aber nichts von dem Vampir entdecken. Falls er uns beobachtete, hatte er sich sehr gut versteckt.

Wir erreichten mein Haus unbehelligt. Vor der Tür verabschiedete ich mich von ihm.

„Soll ich nicht doch noch mit reinkommen und dich zu deinem Zimmer bringen?“, fragte er. „Nur zur Sicherheit, versteht sich.“

„Madam Kingsley erlaubt mir keine Herrenbesuche, sie würde dich umbringen“, erwiderte ich taktvoll. „Vielen Dank für alles, Joey. Gute Nacht.“

Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und schlüpfte ins Haus.
 

Ich war hundemüde, aber bevor ich ins Bett konnte, musste ich noch Ordnung machen. Ich räumte meine Sachen rasch weg. Mein Korb war jetzt leer. Wenn ich morgen früh noch Blumen holen wollte, musste ich sehr früh aufstehen, noch lange vor dem Morgengrauen, sonst würde es zu hell sein.

Als ich im Bett lag, kreisten meine Gedanken noch eine Weile um das Thema, kamen aber immer wieder auf einen gewissen Rotäugigen zurück. *Schluss damit, Alina, schlaf endlich!*, schalt ich mich selbst, drehte mich auf die Seite und schloss fest die Augen. Allmählich glitt ich in die sanfte Welt des Schlafes herüber.

Ein endloser Traum - Eternity

Kapitel 6

Ein endloser Traum – Eternity
 

Ein dumpfer Schlag weckte mich auf. Ich fuhr hoch und saß senkrecht im Bett, wenn auch noch recht benommen. Mitten aus dem tiefsten Schlaf gerissen zu werden, ist keine schöne Sache. Ich blickte mich verwirrt um, bis ich einen erneuten, leichteren Schlag vernahm.

Das Fenster war aufgegangen und der Rahmen schlug gegen das Holz. Ich stand gähnend auf, tapste zum Fenster und schloss es.

*Wie ist das denn aufgegangen?*, fragte ich mich. *Ich hab es doch zugemacht, das weiß ich ganz genau.*

Es war viel zu kalt draußen, als dass man es sich leisten konnte, bei offenem Fenster zu schlafen. Wenn ich es aufmachte, dann immer nur ganz kurz, für wenige Minuten, damit das bisschen Wärme, das der Ofen hergab, nicht auch noch auf Nimmerwiedersehen verschwand.

Als ich mich umdrehte, fuhr ich erschrocken zusammen. Da war er wieder. Er saß auf meinem Bett, die Hände im Schoß verschränkt, und betrachtete mich eingehend von oben bis unten.

Da fiel mir ein, dass ich ja nur mein dünnes Unterkleid trug, das ich auch als Nachthemd benutzte. Ich riss hektisch das Wolltuch vom Stuhl und hüllte mich hinein.

Er lachte leise und stand auf. Ich wich einen Schritt zurück. Wie war er hier reingekommen, die Tür war doch abgeschlossen und ... Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das Fenster!
 

„Ich habe doch gesagt, wir sehen uns bald wieder.“

Diese kraftvolle Stimme, in die ich am liebsten eintauchen wollte, da war sie.

„Geh weg, verschwinde“, sagte ich leise. Meine eigene Stimme klang gegen seine so schwach, hilflos. Und er schien das genau zu wissen, denn er machte einige weitere Schritte auf mich zu. Langsam, aber bestimmt. Ich wich bis zur Tür zurück und suchte mit der Hand nach dem Griff.

Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie er bei mir war und sanft meine Hand nahm. Man konnte es fast schon zärtlich nennen. Nach seinem äußerst ruppigen Überfall der letzten Nacht überraschte mich das sehr. Erneut hatte er es geschafft, mich zu überrumpeln.

„Willst du immer noch nicht, dass ich dich zu einem Vampir mache?“

*Oh Gott, auch noch so ein verführerischer Unterton!*

„Bitte, ich ... hör auf, du machst mir Angst“, brachte ich gerade so hervor. „Ich ... ich will nicht.“

„Was hält dich denn hier in dieser ärmlichen Bruchbude“, fragte er nun und machte eine weit ausholende Handbewegung, die das gesamte Zimmer umfasste. Seine Stimme war wieder kühl geworden und ich konnte einen leichten Anflug von Ungeduld aus ihr heraushören.

„Wie wäre es denn, wenn du damit anfängst, dich endlich mal vorzustellen?“ Das klang mutiger als ich mich fühlte, aber solange ich mit ihm redete, würde er mich vielleicht nicht beißen.

Die Chance, dass ich entkam, war zwar sehr klein, aber sie bestand. Wenn ich es schaffte, an ihm vorbei zu meinem Dolch zu kommen ... dann war ich zumindest nicht mehr ganz so schutzlos, wie ich mich im Augenblick fühlte.

Er entfernte sich einen Schritt von mir, schlug seinen Umhang zurück und verneigte sich elegant.

„Ich bin Yami Scha’lan, zu Ihren Diensten, wertes Fräulein. Und nun komm mit, Alina, ich werde dir eine andere Welt zeigen. Vielleicht überzeugt dich das mehr als meine Worte dies vermögen.“

Er hielt mir die Hand hin. Woher kam diese plötzliche Freundlichkeit? Warum wollte er so unbedingt meine Einwilligung, einen Vampir aus mir zu machen?

„Was willst du von mir? Warum folgst du mir dauernd?“
 

Er biss sich auf die Lippe und suchte ihren Blick. Von allen Fragen der Welt hatte sie ihm gerade ausgerechnet die einzige gestellt, die er ihr nicht beantworten konnte. Nicht ohne eine ausführliche Erklärung und das ... das konnte er nicht. Das durfte er nicht.

Fieberhaft flogen seine Gedanken kreuz und quer. Sein Schweigen dauerte schon viel zu lange an.

*Verdammt, jetzt hat sie mich auch noch sprachlos gemacht!*, stellte er perplex fest. Aber etwas musste er ihr antworten, sonst würde sie sich nicht zufrieden geben.

„Du gefällst mir. Du bist ... schön.“ *Ja, das geht. Und es ist ja nicht mal eine Lüge.*
 

Ich legte den Kopf leicht schräg und versuchte in seinem Gesicht eine Regung zu erkennen, die mir offenbarte, ob er die Wahrheit gesagt hatte.

Ich sollte ihm tatsächlich gefallen? Wieso nur konnte ich diese Worte nicht glauben? Etwas machte mich an seinem Verhalten stutzig.

Ja, es war die Art, wie er es gesagt hatte. Als würde er mich als Frau wahrnehmen. Das war es, was mich so irritierte. Ich war daran gewöhnt, von Männern ignoriert zu werden, wenn sie nicht gerade bei mir ihre Blumen kauften. Es kam sogar ab und zu vor, dass ich von jemandem angerempelt wurde, weil er mich nicht gesehen hatte. Ich gehörte eindeutig zu den unscheinbaren – wenn nicht fast unsichtbaren – Menschen.

Schließlich war nichts Besonderes an mir. Ich war zwar schlank, fast schon mager, aber klein. Yami überragte mich um fast einen halben Kopf, wenn er mir in die Augen sehen wollte, musste er ihn senken.

„Du glaubst mir wohl nicht.“

Warum lächelte er mich nur jedes Mal so unverschämt süß an?

„Es ist die Wahrheit, Alina.“ Er näherte sich mir wieder und strich mir eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn. „Ich werde dich nicht dazu zwingen, das musst du selbst entscheiden. Egal wie deine Entscheidung ausfällt, ich werde sie akzeptieren. Aber ich möchte, dass du mit mir kommst, nur dieses eine Mal.“

Länger konnte ich meinen Widerstand beim besten Willen nicht mehr aufrechterhalten und nahm die mir dargebotene Hand.

Er führte mich zum Fenster und stieg auf das Fensterbrett. Ich folgte ihm widerstandslos.

Plötzlich bemerkte ich, wie ich den Boden unter den Füßen verlor. Nun bekam ich es doch mit der Angst zu tun. Ich klammerte mich an den Fensterrahmen. Yami wandte den Kopf zu mir und lächelte mich an.

„Du musst keine Angst haben, Alina. Solange du meine Hand festhältst, kann dir überhaupt nichts passieren. Das würde ich nicht zulassen.“

Irgendwie hatte ich auf einmal das Gefühl, ich könnte ihm vertrauen und ließ los.

Wir flogen! Er hielt meine Hand fest in der seinen, während wir dem tiefblauen Nachthimmel entgegen schwebten. Die Sterne funkelten wie Diamanten und der Mond erschien mir als eine riesige schimmernde Perle.

In einiger Entfernung sah ich den Big Ben, dessen unverwechselbare Silhouette sich deutlich vom Rest der Stadt abhob. Die großen Zeiger standen auf sieben Minuten vor Zwölf.

Unter uns konnten wir die verwinkelten Straßenzüge Londons erkennen, manche kaum zu sehen, andere deutlich glitzernd von den Laternen. Der Anblick raubte mir den Atem. Es herrschte Ruhe, die ganze Stadt schien in einen tiefen Schlaf versunken. Alles war so friedlich, kaum zu glauben, dass dort unten tagsüber eine beständige Hektik in den Straßen regierte.

Ich fröstelte leicht, der nächtliche Wind war kühl und ich war, nur mit Unterkleid und Wolltuch bekleidet, eigentlich nicht warm genug angezogen, um draußen herumzulaufen – oder zu fliegen. Die weiten Röcke meines Unterkleides flatterten mir um die Beine. Ein neuer Windstoß trieb mir eine Gänsehaut auf die Arme.

„Ist dir kalt?“, fragte Yami. *Natürlich ist mir kalt! Spürt er denn gar nichts?*

Yami öffnete den Umhang. Der dunkle Anzug, den er darunter trug, sah teuer aus.

„Komm her, ich wärme dich. Als wir aufgebrochen sind, habe ich nicht daran gedacht, dass euch Menschen die Kälte viel mehr ausmacht als uns.“

Er zog mich näher zu sich. Der Umhang schloss sich um uns beide und hüllte mich mit einer angenehmen Wärme ein. Meine Hände hatte ich vor der Brust überkreuzt, um mein Tuch zuzuhalten, seine strichen hin und wieder über meinen Rücken.

Yami beugte sich zu mir. Sein Atem kitzelte meinen Nacken. Ich konnte deutlich den leicht herben Geruch wahrnehmen, der von ihm ausging.

„Das ist wirklich ...“

Bevor ich zu Ende sprechen konnte, hatte er meinen Mund schon mit einem Kuss verschlossen. Langsam begann ich ihn zu erwidern. Ich dachte nicht darüber nach, was ich da tat, mein Instinkt übernahm immer weiter die Kontrolle. Wenn das so weiterging ... Wohin sollte das führen? Und wo waren meine Hände? An seinen Schultern. Als wäre es der einzig richtige Platz für sie.

Sein Mund öffnete sich leicht und seine warme Zunge strich über meine Lippen, forderte sie auf, sich zu öffnen. Er drang behutsam in meine Mundhöhle vor, berührte meine Zungenspitze und begann, sie zu liebkosen.

Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Hatte er nur die geringste Ahnung, was das in mir auslöste?
 

Er merkte, wie sie auf sein Spiel einging und verstärkte den Kontakt noch. Sein Atem wurde etwas schneller. Er konnte fühlen, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Widerwillig löste er sich nach einer Weile von ihr, er musste Luft holen, wandte sich ihr dann jedoch gleich wieder zu.

Sie hatte die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt. Ein reizvoller Anblick. Er begann, ihren Hals mit kleinen Küssen zu bedecken und entlockte ihr dadurch einige neue Seufzer.
 

Die Angst war mit einem Mal wie weggeblasen. Diese Küsse ... Yamis Küsse. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich mich nach solchen Dingen gesehnt hatte.

Während der letzten anderthalb Jahre hatte ich schon ab und zu daran gedacht, wie es wohl wäre, von einem anderen Mann als Joey umarmt zu werden, auf diese andere Art und Weise ...

Auf die, die einem ein guter Freund wie er nicht vermitteln konnte. Aber ich hatte mich mehr oder weniger damit abgefunden, noch ein paar Jahre zu warten, bevor ich ernsthaft daran denken konnte, nach einem Mann zum Heiraten Ausschau zu halten.

Doch was nun geschah, zeigte mir, dass ich nicht mehr so lange warten wollte. Alles in mir schrie geradezu danach, endlich nicht mehr allein zu sein, so von jemandem umarmt zu werden ...

Was machte es da, dass er ein Vampir war? War das jetzt wirklich so wichtig? Und wenn es nur ein kurzer Augenblick war mit uns ... Vielleicht reichte er aus, um das Verlangen noch für eine Weile zu stillen, bis ich den Richtigen fand.

*Und ... nein, jetzt macht sich er doch tatsächlich ... Das ist zuviel!*

Yami hatte seine Küsse auf mein linkes Ohrläppchen ausgeweitet, eine der wenigen Stellen, an denen ich extrem kitzlig war. Mein Kichern hallte durch die sonst so leise Nacht.

„Aufhören, bitte! Das ist zuviel“, rief ich und drehte den Kopf etwas, um ihm den Zugang zu meinem Ohr zu versperren.

Ich öffnete die Augen. Dieses Brennen in seinem Blick, eine unaufhörliche Flamme.

„Das war nur ein winzig kleiner Vorgeschmack auf das, was ich dir bieten könnte, Alina. Ich weiß, wonach du dich sehnst. Sieh dich um. Willst du diese Schönheit nicht mit mir teilen?“

Mein Blick streifte über das schlafende London.

Ich schloss die Augen und nickte.

„Ja, das will ich.“

Irgendwie war mir mit einem Mal alles egal. Dieser unglaublich gut aussehende Mann hielt mich in den Armen und in den Küssen, die wir getauscht hatten, lag ein gewisses Versprechen. Ein Versprechen nach mehr. Mich hatten noch nie so intensive Gefühle durch-strömt.

Langsam schwebten wir zur Erde zurück und durch das geöffnete Fenster in mein Zimmer. Meine Füße kamen auf den harten Holzboden. Die Zehen waren mir halb erfroren an der kühlen Nachtluft.

Yami strich mir die Haare zur Seite, die mir ins Gesicht hingen. Seine Bewegungen waren so sanft. In meinem Magen wirbelten Hunderte von Schmetterlingen durcheinander und Röte legte sich auf meine Wangen, als er mich noch näher an sich zog. Meine Brust berührte seinen Oberkörper. Durch den Anzug hindurch konnte ich fühlen, wie gut gebaut sein Körper sein musste.

Wieder spürte ich das Ziehen an meinem Hals, stärker dieses Mal.

„Y ... Yami“, seufzte ich leise und schlang die Hände um seinen Nacken.

Meine Finger fuhren durch sein Haar, während er saugte. Doch während er dies tat, spürte ich gleichzeitig, wie etwas in mir wuchs, eine Art von Erregung, die ich noch nie zuvor gefühlt hatte. Mit jedem Tropfen des roten Lebenssaftes, der aus mir heraus floss, wurde sie stärker.

Schillernde Farben tauchten vor meinen Augen auf, die sich zu einer Vielzahl von Bildern formten, die in rasendem Tempo an mir vorbeizogen. Ich sah Yami, erst als Kind, dann als erwachsenen Mann und immer mit einem traurigen Ausdruck in den Augen.

Noch viele andere Leute tauchten vor mir auf, deren Namen ich nicht kannte. Orte, die ich nie gesehen hatte und mir dennoch vertraut vorkamen. So viele Erinnerungen. So viele, ungezählte Jahre. Wie alt mochte er sein? An seinem Äußeren ließ es sich nicht ablesen.

Scheinbar nach einer Ewigkeit ließ er von meinem Hals ab.

„Das reicht. Wenn ich mehr trinke, stirbst du. Jetzt ist es an dir. Bedenke es gut, wenn es einmal geschehen ist, lässt es sich nicht rückgängig machen. Ich frage dich noch einmal, Alina. Willst du zu mir kommen, auf meine Seite?“

„Ja“, flüsterte ich und nickte wieder. Mittlerweile fühlte ich mich so schwach, dass ich kaum noch alleine stehen konnte.

Er ritzte mit dem Eckzahn sein eigenes Handgelenk auf. Sofort begann das Blut hervorzuquellen. Er stützte mich mit der anderen Hand ab und hielt sein Handgelenk über meinen Mund. Ein Strom warmen Blutes traf meine Mundhöhle. Ich hatte schon einige Male mein eigenes Blut gekostet, mehr aus Versehen, wenn ich mich verletzt hatte. Doch der Geschmack, der sich jetzt in meinem Mund ausbreitete, hatte mit dem metallischen Geschmack von damals nichts, überhaupt nichts gemein. Yamis Blut schmeckte nicht wie Blut, es erinnerte mich eher an einen süßen Wein.

Ich nahm es gierig in mich auf. Ab und zu hob ich den Blick. Er hatte die Augen geschlossen und schien es ebenso zu genießen wie ich.

Ich war fast enttäuscht, als er sein Handgelenk fortzog.

„Ich weiß, dass du mehr möchtest“, sagte er. „Aber das geht jetzt nicht. Morgen. Morgen, Alina.“
 

Plötzlich verkrampfte ich mich und begann zu zittern. Mein ganzer Körper tat weh, jeder einzelne Muskel, jeder Knochen, jede Sehne. Alles wurde ein einziger, großer Schmerz. Ich starrte ihn entsetzt an, doch er blieb ganz ruhig und hielt mich fest, während meine Zuckungen immer heftiger wurden.

„Was ... passiert mit mir?“, flüsterte ich.

„Du stirbst, Kleines, so wie jedes lebende Wesen sterben muss.“

„Du ... du hast gesagt ...“

Er strich mir über die Lippen und nahm den Rest des Blutes auf, der noch an meinem Mundwinkel hing. Yami leckte den Finger genüsslich ab und ließ mich dabei keine Sekunde aus den Augen.

„Denk nicht darüber nach, was mit dir passiert, Alina. Es ist nur dein Körper, der stirbt.“

Mein Herz schlug lauter und lauter, sein Klopfen dröhnte mir in den Ohren wie eine riesige Trommel. Immer schneller wurden die Schläge bis ich dachte, gleich würde es zerspringen, weil es dem Druck nicht mehr standhielt.

Dann verlangsamte es sich von einer Sekunde zur andern, flatterte wie ein kleiner Vogel. Ich atmete röchelnd ein, dann verstummte es. Mein Kopf fiel zur Seite.

Langsam öffnete ich meine Augen und erkannte Yamis Gesicht über mir.

„Willkommen auf der anderen Seite, Alina. Nun bist du eine Tochter der Nacht.“

„Yami, was ...“

Meine Zunge ertastete etwas in meinem Mund, was nicht dahin gehörte. Ich fuhr mit dem Finger an die Stelle. Meine Eckzähne fühlten sich spitzer an und länger. Aber ich fühlte mich schwach auf den Beinen, sie drohten umzuknicken.

Yami schob seinen Arm unter meinen Kniekehlen durch. Er hob mich auf die Arme, als würde ich nichts wiegen, und trug mich aus dem Zimmer. Die Tür schloss er mit dem Hacken. Sie fiel mit einem Rumsen ins Schloss.

„Schlaf jetzt, Alina“, sagte er. „Du brauchst Ruhe.“

Ich legte die Arme um seinen Hals und kuschelte mich an ihn. Wir verließen das Haus und gingen durch die einsamen Straßen. Ich achtete nicht auf den Weg, ich war viel zu müde. Seine Brust war so bequem. Unterwegs fielen mir die Augen zu.
 


 


 

Tja, jetzt hat sich die gute Alina doch beißen lassen. ^^ Aber mal ehrlich, wer von uns würde nicht früher oder später dem Charme solch eines Vampirs wie Yami unterliegen?

Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen, denn das hier war noch lange nicht das Ende. Die Geschichte kommt ja gerade erst ins Rollen.

Wie es mit Alina und Yami weitergeht, erfahrt ihr in Kapitel 7 – „Erwachen“.

Sobald es on ist, werde ich auch die Steckbriefe wieder erweitern.
 

Moonlily

Erwachen - Eyes of a Vampire

Hallo, wie ihr sehen könnt, ich melde mich – endlich – mit einem neuen Kapitel zurück. Hat dieses Mal ein bisschen länger gedauert. Und bevor es losgeht, muss ich erst noch was loswerden:

Vielen, vielen Dank an meine lieben Kommischreiber!

Lady Vendetta, Selekt_N und Manami89, ich kann mich eurer Meinung über Yami nur anschließen

Ich hab mich riesig darüber gefreut, dass ihr meine FF so mögt. *knuddel*

Ich denke, das neue Kapitel ist ganz gut geworden, hab mich jedenfalls angestrengt.
 

Eure Moonlily
 


 

Kapitel 7

Erwachen – Eyes of a Vampire
 

Es war warm und gemütlich, dort wo ich war. So geborgen hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Seit meiner Kindheit nicht. Es widerstrebte mir, die Augen zu öffnen. Vielleicht träumte ich bloß und wenn ich aufwachte, würde ich mich in meinem kalten Zimmer wiederfinden, auf meiner Strohmatratze. Draußen rumorte Mr. Jonathan, weil er sich wie üblich beim Rasieren geschnitten hatte und Catherine beschwerte sich über Mrs. Fingis’ Katze, die einen Heidenlärm auf dem Flur machte und dauernd tote Mäuse ins Haus schleppte.

Nein, ich wollte noch ein bisschen weiterträumen, bevor ich in die harte Realität zurückkehrte. So etwas Schönes hatte ich schon lange nicht mehr geträumt. Yami war zu mir gekommen und hatte mich geküsst. Der Traum war so real gewesen, ich meinte, immer noch seine Lippen zu spüren.

Ich zog die Decke weiter über mich und kuschelte mich hinein. Dann ertastete meine Hand jedoch etwas, das definitiv nicht in mein Zimmer gehörte. Ich bekam die Augen nur mühsam auseinander, sie waren verklebt und ich musste mir erst den Schlaf heraus reiben.

Neben mir sah ich dichte weiße Rüschen und Borte, die ein großes Kissen umrahmten, auf dem mein Kopf ruhte. Erschrocken fuhr ich hoch und blickte mich um. Wo ich auch war, es war nicht mein Zimmer in der Cannon Street!
 

Der Raum war so groß, Madam Kingsleys ganze Wohnung hätte dort hineingepasst. Rechts befand sich ein halbrunder Erker. Die Wände waren mit roten Stofftapeten geschmückt und wurden von weißen Säulen in Segmente gegliedert.

Ein großer Kamin strahlte eine behagliche Wärme aus und mehrere Kerzenleuchter tauchten den Raum in warmes Licht. Die Glaslampe, die an der Decke hing, war dafür abgeschaltet. Zu beiden Seiten des Kamins standen gemütlich aussehende Sessel, deren Füße mit Schnitzereien überzogen waren.

In der Nähe der Fenster befand sich ein großer Schreibtisch aus Nussholz, der mit Einlegearbeiten aus Elfenbein verziert war. Auf der anderen Seite des Zimmers, also von mir aus gesehen links, war eine Tür in die Wand eingelassen. Sie war halb geöffnet, sodass ich dahinter einen weiteren Raum mit Schränken entdecken konnte. Ein Ankleidezimmer. Die Tür daneben führte ins Bad, wo ich ein Messinggestell mit Waschschüssel und Wasserkanne aus blau bemaltem Porzellan erkannte.

Eine Kommode und ein passender Frisiertisch, ein kleines Beistelltischchen sowie ein Gemälde mit einer Landschaft bei Sonnenuntergang rundeten das elegante Bild des Zimmers ab.

Alles wirkte so seltsam scharf und klar, ich erkannte jede einzelne Form, selbst die Rillen im Stoff der Tapeten.

Ich lag in einem großen Himmelbett, über mir wölbte sich ein weißer Stoffhimmel aus Organza. Die Bettdecke war wie das Kissen mit zarter Spitze besetzt und ich trug ein kurzärmeliges Nachthemd aus dünnem Batist.

Verwirrt starrte ich von einer Ecke in die andere, ich konnte mir nicht erklären, wie ich hierher kam, geschweige denn, wo ich war.

Mein Nacken fühlte sich steif an. Als ich darüber fuhr, kam ich an eine wunde Stelle, die bei der Berührung leicht schmerzte. Die Erinnerung an letzte Nacht kam zurück. Es war gar kein Traum gewesen.

Yami war zu mir gekommen, mitten in der Nacht. Wir waren zusammen geflogen. Die Nacht war so schön gewesen, wenn auch so eiskalt. Aber Yami hatte mich gewärmt, bis wir wieder in meinem Zimmer gelandet waren.

Dort hatte er mich geküsst. Und er hatte mich gebissen. Zum zweiten Mal. Dann hatte er mir von seinem Blut gegeben und ich hatte es getrunken. Wie konnte ich das nur tun? Er hat aus mir einen Vampir gemacht!

Unwillkürlich fuhr ich mit der Zungenspitze über meine Zähne. Sie waren ganz deutlich zu fühlen, an beiden Seiten. Diese verfluchten spitzen Eckzähne! Sie waren der am stärksten sichtbare Beweis für die Veränderung, die mit mir vorgegangen war.

Dann fiel mein Blick auf meine Hände und Arme. Meine Haut war viel heller als ich sie in Erinnerung hatte. Jetzt hatte ich also auch diese ach so berühmte Vampirblässe.

Die Damen der feinen Gesellschaft würden mich um diese blasse Haut beneiden, dachte ich spöttisch. Besonders unter den Angehörigen des Adels galt es schon immer als schick, eine blasse Haut zu haben, weil sie jedermann zeigte, dass die Person über genügend Geld verfügte, um sich nicht wie die einfache Bevölkerung für die Arbeit draußen aufhalten zu müssen.

Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen. Ich war auf Yamis Gesäusel hereingefallen und nun ... Aber wohin hat er mich gebracht? Und wo ist er?
 

Ich hörte das Rauschen von Stoff. Obwohl es so leise war, dass meine sterblichen Ohren es kaum wahrgenommen hätten, hörte ich es überdeutlich, als hätte jemand die Lautstärke hochgeschraubt.

Mein Kopf wandte sich zum Fenster, vor dem dicke rote Vorhänge aus Samt hingen. Es regnete, die Tropfen prasselten laut gegen die Scheiben. Eine Frau stand dort und blickte nach draußen. Sie hatte lange blonde Haare, die sich leicht wellten. Die vorderen Strähnen waren mit Kämmen und Nadeln am Hinterkopf zu einem Halbbogen aufgesteckt, in dem kleine Perlenstecker befestigt waren. Sie trug ein vornehmes blassviolettes Kleid, das am Ausschnitt und an den Ärmeln mit weißer Spitze verziert war.

Wer ist das? Ich gähnte leise. Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte, ich glaubte aber, dass es recht lange gewesen sein musste. Nur wie lange? Ein paar Stunden? War es Tag oder Nacht? Durch die Vorhänge drang nicht der kleinste Lichtstrahl, was mir einen Hinweis auf die Tageszeit gegeben hätte.

„Ähm ... hallo?“, sagte ich zaghaft.

Als sich die Frau zu mir umdrehte, sah ich, dass sie nur wenige Jahre älter als ich sein musste, ungefähr Anfang zwanzig. Ihre Haut war fast so hell wie meine, vielleicht eine Nuance rosiger.

„Ah, du bist wach. Gut!“

Sie kam mit schnellen Schritten auf mich zu.

„Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf, Schätzchen.“

„Wo bin ich? Wo ... ist Yami?“

Mehr brachte ich nicht heraus. Ich fühlte mich so schwach und sank in die Kissen zurück. Hatte ich wirklich geschlafen? Ich fühlte mich eher wie gerädert, als hätte ich stundenlang wach gelegen. Die Frau setzte sich zu mir und strich die Decke glatt.

„Du bist in Sicherheit, Alina. Bei uns wird dir nichts geschehen, versprochen. Meister Yami hat dich heute früh hergebracht. Er hat mich damit beauftragt, mich um dich zu kümmern.“

„Meister?“

Ich verstand die Welt nicht mehr. Warum nannte sie Yami ‚Meister’? Wer war diese Frau?

„Ich bin Mai Valentine“, stellte sie sich nun vor. „Es freut mich, dich kennen zu lernen.“

„Mein Name ist Alina. Alina Gardner.“

„Ja, ich weiß.“

Meine Zunge fühlte sich schwer an und ich kam mir immer noch so schwach vor. Ich wollte etwas trinken. Mai schien meine Gedanken zu ahnen, denn sie stand auf und holte eine Kristallkaraffe und ein Glas, die auf einem kleinen Tisch standen. Sie goss eine rote Flüssigkeit ins Glas und reichte es mir.

Ich verzog angewidert das Gesicht, als mir der Geruch in die Nase stieg. Es war Blut, kaltes Blut. Und jetzt roch es gar nicht mehr so süß und ... nun, man könnte sagen, verführerisch, wie gestern Nacht.

„Das ist nicht dein Ernst“, entfuhr es mir. Ich stellte das Glas auf den Nachttisch und drehte mich weg. „Ich kann das nicht trinken. Das ist

Blut.“

„Was soll es denn sonst sein, Milch vielleicht?“, fragte Mai. Sie klang belustigt. „Komm, trink, das wird dir gut tun, Alina.“

„Nein, ich will nicht.“

Ich vergrub mich trotzig in den Kissen. Warum hatte ich nur eingewilligt, als Yami mich gefragt hatte, ob er mich verwandeln sollte? Warum hatte er mich überhaupt gefragt, statt es einfach zu tun? Ich begriff gar nichts mehr. Ich wusste nur, dass ich das Blut nicht wollte. Ich wollte nicht mein weiteres Leben damit verbringen, mich vom Blut anderer zu ernähren, nur um selbst am Leben zu bleiben.

Denn das hieß schließlich, andere zu töten und das war für mich absolut ausgeschlossen. Lieber würde ich verhungern ... nein, verdursten korrigierte ich mich.

Die Tür ging leise auf und jemand kam herein. Ich blieb regungslos liegen und lauschte. Neben mir hob sich die Matratze etwas, als Mai aufstand und sich von mir entfernte. Ihre Schuhe erzeugten auf dem Parkettboden regelmäßige Geräusche, bis sie stehen blieb.

„Ist sie immer noch nicht aufgewacht?“, fragte eine etwas raue Stimme.

Das war Yami. Trotzdem wagte ich immer noch nicht, mich zu rühren. Ich kniff die Augen zusammen.

„Doch, Herr“, sagte Mai. „Das Mädchen ist wach. Aber sie will nicht trinken.“
 

Er sah zu ihr herüber. Sie lag von ihnen abgewandt da, doch alle ihre Sinne waren auf ihn und Mai gerichtet. Das merkte er auch ohne seine vampirischen Fähigkeiten anstrengen zu müssen.

„Hast du mit ihr geredet, Mai?“

„Schon aber ... sie hat mich ignoriert. Ich weiß nicht, wie ich sie dazu kriegen soll, ich kann sie doch nicht zwingen.“

Mai senkte betroffen den Kopf und biss sich auf die Lippe.

„Lass mich es versuchen“, erwiderte Yami.

Die Matratze wurde ein Stück heruntergedrückt, als er sich neben sie setzte. Er legte seine Hand auf ihre Schulter.

„Alina ... bitte sieh mich an.“

Sie drehte sich zu ihm um und öffnete die Augen. Sein Blick huschte über ihr Gesicht.

„Du siehst blass aus“, bemerkte er, „blass wie der Tod. Du musst etwas trinken.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, ich kann nicht. Das geht nicht, Yami.“

Seine Finger strichen über ihre Stirn, auf der kleine kalte Schweißperlen standen.

Es ist höchste Zeit. Auch wenn ich ihr mehr von meinem Blut gegeben habe als jedem andern, den ich geschaffen habe ... Wenn sie nicht bald zu trinken anfängt, wird sie trotzdem sterben. Ich muss etwas tun. Aber was?! Wie kann ich sie davon überzeugen? Bei den Göttern, helft mir doch! Diese Weigerung wird sie in das Grab bringen, vor dem ich sie schützen wollte.
 

Yami wandte sich Mai zu, die abwartend mitten im Raum stand und uns beobachtete.

„Lass uns allein.“

„Yami, ich ...“, begann sie.

„GEH!“, bellte er. Mit einem Mal klang seine Stimme eisig.

Von der Wärme, mit der er mich eben angesprochen hatte, war nichts zu spüren.

Ich zuckte erschrocken zusammen. Mai ging es nicht anders.

„Ganz wie du wünschst, Meister Yami.“

Sie nickte uns kurz zu, wie um eine Verbeugung anzudeuten, und verließ das Zimmer. Die Tür schloss sich leise hinter ihr.

Als sich Yami zu mir drehte, spielte wieder ein Lächeln auf seinen Lippen, der frostige Ausdruck verflog in Sekundenschnelle aus seinen Augen. Wie konnte man nur so schnell die Stimmung wechseln? In einer Sekunde war er der Zorn in Person und in der nächsten ein Ausbund an Freundlichkeit, Verständnis ... Ich hatte ja schon von launischen Menschen gehört.

Auf meinem Stockwerk in Madam Kingsleys Haus gab es auch eine alte Dame, deren Launen manchmal so schnell wechseln konnten wie das Wetter. Leider hatten ihre schlechten Launen meistens überwogen und dann war man ihr besser aus dem Weg gegangen.

Wie das wohl bei Yami ist?, fragte ich mich.

„Bitte, Alina, du musst dich überwinden und das Blut trinken“, sagte Yami. „Es ist nun mal der einzige Weg für uns, um zu überleben.“

„Niemals! Du hast einen Dämon aus mir gemacht, Yami!“, schrie ich. Meine Stimme klang heiser und trocken, in meiner Kehle kratzte und brannte es. „Du hast mich zum Fegefeuer verdammt. Ich werde für immer in der Hölle schmoren. Wie konntest du mir so etwas antun!“

Für diesen Augenblick hatte meine Wut auf ihn meine Schwäche weggewischt. Ich funkelte ihn aufgebracht an.

Mir kamen die Tränen. Menschen, denen im Leben Schlimmes und Trauriges widerfuhr, konnten immer noch darauf hoffen, nach dem Tod ins Paradies zu gelangen. Diese Hoffnung war mir nun genommen, wie mir plötzlich klar wurde. Ich war unrein, nicht mehr dazu würdig, diese Schwelle zu überschreiten.

„Du redest wirr, Liebes“, sagte Yami sanft. „Das liegt nur daran, dass du so entkräftet bist. Nimm einen Schluck, dann wird es dir besser gehen. Versuch es doch wenigstens. Mir zuliebe.“

Er hielt mir das Glas hin.

„Dir zuliebe. Ha, dass ich nicht lache.“

Ich stieß das Glas mit dem Blut weg, die Flüssigkeit schwappte leicht hin und her, trat aber nicht über. Yami seufzte leise.

„Du machst es mir nicht gerade einfach, Alina. Beim ersten Mal ist es schwer, sich zu überwinden, aber danach wird es dir leichter fallen. Ich weiß, warm schmeckt es besser, aber für heute wird es so gehen.“

Er nahm einen tiefen Schluck und stellte das Glas auf den Nachttisch zurück.

Dann beugte er sich zu mir, wobei er sich mit der rechten Hand neben mir auf der Decke abstützte. Seine schlanken Finger glitten über die bleiche Haut meines Halses, hoch zu meinen Wangen. Er rückte noch etwas näher an mich heran und bedeckte meine Lippen mit seinen.

Nach einer Weile begann ich den Kuss, wenn auch erst zögernd, zu erwidern. Seine Zunge stieß leicht gegen meine Lippen und bat um Einlass. Mein Mund öffnete sich etwas und er glitt wie eine Schlange hinein.

Als sich unsere Zungenspitzen berührten, schmeckte ich das Blut, das er eben getrunken hatte. Er hatte nicht alles hinuntergeschluckt. Den Rest flößte er mir langsam ein und nun war ich gezwungen, es zu schlucken. Ein ungewohntes Gefühl von Wärme breitete sich in mir aus, während er meine Zunge sanft mit seiner umkreiste und dann meinen Mund weiter erkundete.

Als wir uns schließlich trennten, ging mein Atem schwer.

„Hast du nun Appetit darauf?“

Dieses Mal nahm ich das Glas, als er es mir hinhielt, und trank es in wenigen Zügen leer. Lächelnd schenkte er mir nach.

„Siehst du, es ist gar nicht so schlimm. Du wirst dich bald dran gewöhnt haben. Aber nun wird es langsam mal Zeit, dass du aufstehst.“

Er erhob sich, schob die Bettdecke von mir und zog mich hoch.

„Fühlst du dich wohl hier?“

„Ehrlich gesagt, so gut habe ich mich lange nicht gefühlt.“

Auch wenn es mir immer noch nicht so richtig behagte, Blut zu trinken, konnte ich nicht abstreiten, dass ich mich in dieser Umgebung unheimlich wohl fühlte. Den Bettdecken haftete noch ein leichter Geruch nach der Seife an, mit denen sie gewaschen worden waren. Da hinein mischte sich der Duft von Lavendel.

Das Bett war so kuschelig, dass ich es am liebsten gar nicht verlassen hätte, aber ich konnte ja nicht den ganzen Tag liegen bleiben. Dazu kam das heimelige Feuer, das im Kamin brannte und flackernde Schatten an Decke und Wände warf.

Ich blickte mich im Zimmer um und seufzte leise, ja ... in gewisser Art und Weise zufrieden.

„Ich hatte nichts anderes von dir erwartet. Weißt du, wo du bist? Das hier war früher einmal dein Haus, Alina. Hast du es nicht wieder erkannt?“

Ich sah mich noch einmal genauer um und mein Blick blieb am Kamin hängen. Er war aus rot und weiß gemustertem Marmor gefertigt, die Intarsienarbeiten waren mit Blattgold überzogen und das Gitter war eine filigrane Schmiedearbeit, an dem jeder Stab in einer Rosenblüte endete. Dass er mir nicht gleich aufgefallen war!

Wie oft hatte ich davor gesessen und die Muster im Stein betrachtet, während ich über alles Mögliche nachgedacht hatte. Diese Myriaden aus weißen Linien, die so ein hauchzartes, ganz eigentümliches Netz bildeten, so vielfach verzweigt wie die Wurzeln eines Baumes.

Das hier war mein altes Zimmer. Hier hatte ich als kleines Mädchen geschlafen, hier hatte mir meine Mutter all die herrlichen Geschichten von Rittern, Prinzessinnen und Drachen erzählt.

Ich war wieder zu Hause.

Home sweet home

Kapitel 8

Home sweet home
 

„Dann hast du also das Haus meiner Eltern gekauft?“, fragte ich und sah Yami mit großen Augen an.

„Ja, aber erst vor zwei Jahren. Es hat seit deinem Auszug, wenn man es so nennen will, mehrfach den Besitzer gewechselt. Könnte daran liegen, dass manche Leute behauptet haben, es würde hier drin spuken. Ich allerdings habe bisher nichts Derartiges feststellen können.“

Meine Verblüffung über ihn wurde immer größer. Er wusste, dass ich früher hier gewohnt hatte. Wusste, dass ich von zu Hause fortgelaufen war. Kannte er womöglich auch die Gründe dafür? Ich fragte mich, was er noch alles über mich wusste.

Wie kann er so genau über mich Bescheid wissen?

Hatte er mich schon länger beobachtet? Vielleicht hatten ihm auch die Nachbarn von mir erzählt, ich hatte keine Ahnung. Möglich war es. Wenn ich mich richtig erinnerte, war Mrs. Sinclair, die mit ihrem Mann und ihren Söhnen zwei Häuser weiter wohnte, schon immer eine richtige Klatschtante gewesen.

Ob sie wohl noch dort wohnten? Ihr Sohn Anthony war in meinem Alter gewesen, wir hatten als kleine Kinder manchmal zusammen gespielt. Einmal hatte ich ein Gespräch zwischen unseren Müttern belauscht, in dem Mrs. Sinclair gemeint hatte, man könne uns doch miteinander verheiraten, sobald wir alt genug wären, wo sich doch unsere Familien so prächtig verstehen würden und so weiter. Damals hatte ich mich davongeschlichen und kaputt gelacht. Die Vorstellung, mit meinem besten Freund verheiratet zu sein, war mir einfach viel zu absurd vorgekommen.

Tja, und dann war der verhängnisvolle Morgen gekommen, an dem wir meine Eltern gefunden hatten und mit einem Schlag alles anders war.

Auf der Beerdigung meiner Eltern war von Mrs. Sinclairs ach so inniger Freundschaft nichts mehr zu spüren gewesen, da hatte sie nur noch einen kühlen Blick für mich übrig gehabt.
 

Plötzlich glitt mein Blick an Yami vorbei und blieb an einer Porzellanvase hängen, in der ein Gebinde aus zarten rosafarbenen und roten Blüten steckte.

„Aber das sind ja ... meine Rosen!“, sagte ich, wobei ich mich wie vor den Kopf geschlagen fühlte. Mit drei Schritten war ich an dem Tisch, auf dem die Vase stand.

Oh ja, diese Rosen erkannte ich auf einen Blick. Schließlich war ich die einzige Blumenverkäuferin in ganz London, die sie anbot und das aus gutem Grund: Es war eine besondere Züchtung meiner Familie, die den Namen „Chimei“ trug. Zu meinem Leidwesen wusste ich weder, was dieser ungewöhnliche Name bedeutete, noch aus welcher Sprache er war.

Meine Eltern hatten von meinen Großeltern zur Hochzeit zwei Rosenbäumchen geschenkt bekommen und wir hatten in meinem Garten ein paar Ableger davon eingepflanzt. Diese waren inzwischen die einzigen Chimei-Rosen, die es hier noch gab, denn beide Rosenbäumchen waren während des überaus harten Winters vor ein paar Jahren erfroren. Weitere Sträucher dieser Art gab es nur noch – falls es sie noch gab – bei meinen Großeltern.

Sie blühten länger als die meisten anderen Sorten, bei halbwegs guter Witterung manchmal sogar bis in den Dezember hinein. Die blutroten Blüten waren dick ausgefüllt und die Stängel schimmerten leicht rötlich.

Aber wenn die Rosen hier waren, dann bedeutete das ja ...

„Jetzt verstehe ich. Du warst der Mann, der sie mir abgekauft hat.“
 

Yami trat neben sie und nickte.

„Ich wollte dein Vertrauen gewinnen.“ Er beugte sich über die Rosen und sog ihren schweren süßlichen Duft ein. „Ein wahrhaft betörender Geruch, findest du nicht auch?“

Er zog eine erst zur Hälfte erblühte Rose aus der Vase und hielt sie ihr hin. Alina atmete tief ein, wobei sie die Augen geschlossen hielt. Der Duft setzte sich in ihrer Nase fest, stieg höher und höher. Sie hatte schon oft an diesen Rosen gerochen, doch noch nie war es so berauschend gewesen wie in diesem Augenblick. Yami betrachtete sie fasziniert, wie sie den feinen Duft in sich aufnahm, wie er ihre Sinne reizte.

Sie ist genau wie diese Rose ... kaum erblüht und zieht dennoch alle Blicke auf sich, ohne dass es ihr überhaupt bewusst ist. Kein Kind mehr, aber auch noch keine wirkliche Frau ... nun ja, vom Körper her allerdings ...

Sein Blick wanderte gedankenverloren von ihrem makellosen zarten Gesicht über ihre wohlgeformte Brust, die sich unter dem dünnen Stoff abzeichnete, weiter über die schmale Taille bis zu ihren Füßen, die in warmen Pantoffeln steckten.

Er musste nur einen Schritt vortreten und sie in seine Arme ziehen, würde sie spüren können. Hände, die über den zierlichen Körper fuhren, den störenden Stoff fort schoben ... Schon spürte er, wie ihm das Blut Richtung Lenden strömte.

Nein, nein, und nochmals nein, das darf ich nicht! Wie soll ich ihr Vertrauen gewinnen, wenn ich gleich über sie herfalle wie ein wilder Stier, dem man ein rotes Tuch vor die Nase hält?

Verbissen kämpfte er dagegen an und wandte sich mit scheinbar größtem Interesse der Blumenvase vor sich zu.

Wie konnte nur ein einziger kurzer Blick auf sie sein Blut derartig in Wallung bringen? Das durfte er nicht zulassen.

„Yami?“

Ertappt blickte er auf, vermied es jedoch, ihr direkt in die Augen zu schauen, als fürchtete er, sie könnte darin lesen, was gerade in ihm vorging. Sie hatte die Rose inzwischen zurück in die Vase gestellt. Als sie merkte, dass er sie nicht ansah, legte sie den Kopf etwas schräg und blickte ihn von unten an.

„Ich habe mich gefragt ... Du bist doch ein Vampir und mir ist gerade eingefallen, dass es Tag war, als du mir die Rosen abgekauft hast. Wie konntest du da unterwegs sein? Ich dachte immer, Sonnenlicht wäre tödlich für euch ... ich meine ... für uns“, sagte sie nach einer kleinen Pause traurig.

„Du hast absolut Recht damit, Alina. Die Sonne ist der größte Feind eines Vampirs, aber mit dem Alter nimmt diese Schwäche ab – zumindest ein wenig und auch nicht bei allen von uns.“

Alina sah ihn hoffnungsvoll an. Gab es doch eine Möglichkeit für sie, wieder Tageslicht zu sehen?

„Und selbst wenn sie abnimmt, dauert das für gewöhnlich viele Jahrhunderte“, fuhr Yami fort. „Solange ich mich nicht starkem, direktem Sonnenlicht aussetze, kann ich mich auch tagsüber für eine Weile draußen aufhalten, ohne mich von Kopf bis Fuß einhüllen zu müssen. Na ja, trotzdem bedecke ich dann lieber weitestgehend meine Haut. Man weiß ja nie. Würdest du allerdings ohne Schutz aus dem Haus gehen, würde das sehr böse enden. Das kann ich dir versichern. Deshalb tragen wir Vampire gern lange weite Umhänge, weil sie uns am besten vor den Sonnenstrahlen schützen. Außerdem ist es ratsam, nur bei bewölktem Himmel oder Regen raus zu gehen, wenn du denn unbedingt raus musst. Das ist sicherer.“

„Also könnte ich nach draußen?“, drängte sie.

Sehnt sie sich jetzt schon so sehr nach der Sonne?, überlegte er.

„Nein, vorerst nicht ...“

„Aber warum nicht? Bitte, gibt es denn keine Möglichkeit?“ Auf ihre Frage folgte nur ein langes Schweigen.

Ob ich ihr davon erzählen sollte? Nein, dafür ist es noch viel, viel zu früh. Und wie sollte ich ihr das alles begreiflich machen? Sie ist gerade erst erwacht, da kann ich ihr doch nicht auch noch ...

„Yami, sag mir, warum es nicht geht! Gib mir eine Antwort. “

„Weil es zu gefährlich ist!“, schrie er, schon der Verzweiflung nahe.

Alina erschauderte bei seinen Worten. Jedes Mal, wenn er so laut wurde, bekam sie Angst vor ihm. Sie stieß gegen den Tisch mit den Blumen. Die Vase fiel zu Boden und zersprang mit lautem Klirren. Die Rosen verteilten sich zwischen den Scherben und das Wasser breitete sich auf dem Fußboden aus.

Alina bückte sich und begann, die Scherben aufzuheben. Hauptsache, sie musste ihn nicht ansehen. Plötzlich durchfuhr ein kurzer, scharfer Schmerz ihre Hand und sie ließ das Porzellanstück fallen. Sie hatte sich an einer Kante geschnitten. Ein schmales Blutrinnsal lief ihren Zeigefinger hinab.
 

Warum bin ich nur immer so ungeschickt! Aber geschieht mir schon recht, dieses ganze Schlamassel hab ich mir schließlich selbst eingebrockt.

Yami ließ sich neben mir nieder und legte seine Hand auf meinen Oberarm.

„Das wollte ich nicht, Alina“, flüsterte seine sanfte Stimme nahe an meinem Ohr. „Ich wollte dich nicht anschreien. Es ... ich wollte dir nur klar machen, dass es momentan einfach nicht geht, dass du bei Tag weggehst. Versteh das bitte.“

„Und wann wird das sein?“

„Du musst Geduld haben. Ich möchte, dass du dich erst richtig an dein neues Leben gewöhnst. Dann werde ich dich auch mal tagsüber mitnehmen.“

Mit der anderen Hand zog er meinen Finger zu sich und leckte das Blut mit seiner Zunge ab. Dann hauchte er einen kurzen Kuss auf die Stelle.

„Alles wieder okay mit dir?“

„Ja, ich denke schon.“

Der Schmerz hatte nachgelassen, es brannte nur noch ein bisschen.

„Bald werden dir so einfache Verletzungen überhaupt nichts mehr ausmachen. Konzentrier dich ein bisschen, dann kannst du sie heilen.“

Ich versuchte, meine Gedanken zusammenzunehmen, doch sie wurden immer wieder von der Hand, die meine umschloss, und von ihrem Besitzer abgelenkt. Ich musste mich fast schon mit Gewalt davon losreißen. Die kleine Wunde, die die Scherbe gerissen hatte, zog sich zusammen und verschwand.

„Aber mach dir heute keine Gedanken mehr darum, Alina. Ich werde dir alles beibringen, was du über das Leben als Vampir wissen musst.“
 

Das schuldest du mir ja wohl auch!, dachte ich. Schließlich hast du mich erst zu einem Vampir gemacht. Und so wie es aussieht, werde ich meine geliebte Sonne wohl nie mehr richtig zu Gesicht kriegen. Was nutzt es mir da, irgendwann tagsüber raus zu können, wenn ich mich einhüllen muss, als würde ich in der Sahara leben und nicht direkt ins Licht sehen darf?

Aber neugierig war ich trotz allem schon. Genauso stark, wie sie mir als Kind immer Angst gemacht hatte, hatte mich die Welt der Vampire auch von jeher fasziniert. Und nun war ich ein Teil davon.

Ich konnte die Kraft geradezu spüren, die jetzt in mir pulsierte und nur darauf wartete, dass ich sie erkundete.

Was mir Yami auch beibringen würde, ich würde es begierig in mich aufnehmen, beschloss ich. Wenn da nur nicht die Sache mit dem Blutsaugen wäre ... Gab es denn keine andere Möglichkeit?

Mir schossen so viele tausend Fragen durch den Kopf, ich wusste gar nicht, was ich ihn zuerst und was zuletzt fragen sollte. Ich wollte alles wissen, was es nur über das Thema zu wissen gab.

„Und was ist mit der Theorie, Vampire hätten kein Spiegelbild?“

„Sieh doch selbst“, sagte er und deutete auf das Fenster. Dort sah ich uns beide nebeneinander stehen. Klar und deutlich. Der Regen hatte aufgehört, an den Scheiben hingen noch die letzten Tropfen.

Oder hat Mama doch gesagt, sie hätten ein Spiegelbild? Argh, ich hätte damals besser aufpassen sollen, dann müsste ich Yami nicht solche dummen Fragen stellen.

„Aber jetzt komm, ich möchte dir das Haus zeigen. Zieh dich an, du kannst nicht die ganze Zeit im Nachthemd herumlaufen ... auch wenn du so ein sehr hübscher Anblick bist.“

Diese letzte Bemerkung trieb mir die Schamesröte auf die Wangen. Ich suchte nach meinem Kleid, fand es aber nicht.

„Wo sind meine Sachen?“

„Sachen?“

„Na, meine Kleider“, versuchte ich ihm weiterzuhelfen.

Er überlegte einen Moment, bis sich sein Gesicht aufhellte.

„Ach so, du meinst diese ... verzeih bitte meinen Ausdruck, diese ‚Putzlappen’, die du ein Kleid nennst. Ich habe sie weggeworfen.“

Meine Augen weiteten sich entgeistert. Er hob die Hand, um mir Ruhe zu gebieten, denn ich hob schon zu einem Einwand an.

„Ganz ruhig, Alina, ab heute brauchst du dir um derartige Dinge keine Gedanken mehr zu machen. Ich habe für heute Abend schon die Schneiderin bestellt, damit sie dir etwas Passendes nähen kann. Bis dahin kannst du dir ein paar Kleider von Mai leihen. Sie ist zwar ein wenig größer als du, aber die Sachen werden dir schon passen.“

Über der Lehne eines Stuhls hing ein Bademantel aus nachtblauem Stoff, den ich überzog.

Dann folgte ich Yami.
 

Ich erkannte unser Haus kaum wieder. Gut, die Lage der Räume hatte sich natürlich nicht verändert, aber alles andere. Rot-, Blau- und Goldtöne herrschten vor. Überall hingen neue Tapeten, die untere Hälfte der Flurwände war mit edlem Walnussholz verkleidet. Die Türen waren mit vergoldeten Ornamenten besetzt. Auf den kleinen Tischen standen frische Blumengestecke. Die Wände wurden von Gemälden mit Landschaften oder Stillleben und großen Spiegeln in Goldrahmen geschmückt. Vor allen Fenstern hingen dicke Vorhänge, zumeist aus dunklem Samt. Yami erzählte mir, dass sie tagsüber alle zugezogen wären, um das Sonnenlicht abzuhalten.

„Du darfst sie nie vor Sonnenuntergang öffnen, sonst bleibt von dir nicht mehr übrig als ein Häufchen Asche“, warnte er mich. „Und eher solltest du auch nicht vor die Tür gehen.“

Er zeigte auf eine Tür, die rechts von meinem Zimmer lag.

„Ich schlafe dort und schräg gegenüber hat Mai ihr Reich.“

Ich unterdrückte ein Grinsen. Das hätte ich mir denken können. Natürlich hatte sich Yami das ehemalige Schlafzimmer meiner Eltern ausgesucht. Ob er das wusste?

Im Treppenhaus, das hinunter in die Haupthalle führte, hing noch derselbe große Kronleuchter wie in meiner Kindheit. Endlich noch etwas Vertrautes. Schon fühlte ich mich noch ein Stück mehr zu Hause.

Als wir die mit dickem Teppich ausgelegte Treppe hinuntergingen, sah ich ein junges Mädchen, das eilig durch den Flur ging. Sie trug ein schlichtes schwarzes Baumwollkleid mit einer weißen Spitzenschürze, die blonden Haare aufgesteckt und unter einem Häubchen verborgen.

„Samantha!“

Sie drehte sich zu uns um und knickste.

„Ja, Sir?“

„Hol die Kleider, die in Lady Mais Schlafzimmer auf dem Bett liegen und bring sie in Lady Alinas Zimmer. Ach ja, und bereite ein Bad für sie vor.“

„Wie Sie wünschen, Sir.“

Sie knickste wieder und ging an uns vorbei nach oben.

Als sie im 1. Stock verschwunden war, fragte ich: „Weiß sie, dass wir ... was wir sind?“

„Nein, und sie darf es auch nicht erfahren! Abgesehen von unserem Butler weiß keiner der Angestellten, wer wir wirklich sind und so muss es auch bleiben, zu unserem eigenen Schutz.“

Yami führte mich durch die Haupthalle und durch den schmalen Gang, der in die Küche führte, wo er mir die anderen Hausangestellten vorstellte.

Da war zunächst mal James, der Kutscher, ein etwas grobschlächtiger Mann, über dessen linke Wange sich eine lange schmale Narbe zog. Dann kam die Reihe an den Butler Alexander, von allen im Haus Alex genannt, und etwa Mitte dreißig. Die einzige Person, die unsere wahre Identität kannte. Anscheinend machte ihm dieses Wissen zu schaffen, denn seine Haare waren schon lange vor der Zeit ergraut. Entweder lag es daran oder er hatte irgendetwas Schreckliches erlebt, was diese Veränderung ausgelöst hatte.

Beide Männer begrüßten mich mit einer tiefen Verbeugung. Um meine Nase legte sich eine leichte Röte. Ich war es einfach nicht mehr gewohnt, mit so viel Ehrerbietigkeit behandelt zu werden. Aber das durfte ich mir nicht anmerken lassen, also nickte ich ihnen kurz und mit einem freundlichen Lächeln zu.

Es folgte die Vorstellung von Christa, dem zweiten Dienstmädchen, Beth, dem Küchenmädchen, und unserer Köchin Anna. Die Gute war etwas rundlich um die Taille, sie naschte wohl gern an ihren eigenen Speisen. Sie diente uns, wie Yami mir flüsternd verriet, als Tarnung. In einem so großen Haushalt war es verdächtig, keine Köchin zu beschäftigen, selbst die Reichsten aßen nicht jeden Abend außerhalb.
 

Yami verabschiedete sich in der Eingangshalle von mir, er meinte, er hätte heute noch nicht genug getrunken.

Ich zog mich auf mein Zimmer zurück, wo mich in meinem Badezimmer bereits eine Wanne mit heißem Wasser erwartete. Ich kann gar nicht sagen, wie gut das tat! Bisher hatte ich nur alle paar Wochen mal die Gelegenheit gehabt, ein Bad zu nehmen und dann auch immer nur kurz, weil ich mir die aus Holz gefertigte Wanne mit den anderen Bewohnern meines Stockwerks hatte teilen müssen.

Nun aber rekelte ich mich genüsslich und cremte mich mit dieser wundervoll nach Rosen duftenden Seife ein. Auch meine Haare bekamen ihren Teil ab. Als ich fertig war, stieg ich aus der Wanne, trocknete mich ab und rubbelte mir mit einem Handtuch die Haare trocken, die sich augenblicklich etwas kringelten. Dann hockte ich mich im Morgenmantel vor das heiße Kaminfeuer und ließ meine Haare eine Weile von der Wärme trocknen.

Nasse Haare bei dem Wetter ... Ob sich Vampire wohl erkälten können?, überlegte ich, während ich nach dem Dienstmädchen klingelte. Neben meinem Bett war eine Klingelschnur angebracht, die mit einer Reihe kleiner Glöckchen in der Küche verbunden war. Unter jeder Glocke befand sich ein Schild, auf dem das Zimmer verzeichnet war, zu dem sie gehörte.

Ich musste kaum zwei Minute warten, bis es an der Tür klopfte, Samantha eintrat und knickste. Sie half mir beim Anziehen des dunkelgrauen Kleides, das sie für mich bereitgelegt hatte. Allein hätte ich wahrscheinlich Stunden gebraucht, um mich anzuziehen, denn spätestens beim Anlegen des Korsetts benötigte man nun mal eine zweite Hand, von den mehrschichtigen Unterröcken, die dem Kleid erst seine besondere Form gaben, erst gar nicht zu reden. Die Haare fasste ich hinten mit einer großen Spange zusammen, zuviel Aufwand wollte ich nun auch nicht treiben.
 

Dann wanderte ich eine Weile durchs Haus.

Im 1. und 2. Stock beschränkte ich mich allerdings darauf, meine Augen durch den Flur schweifen zu lassen. Ich hatte keine Ahnung, welcher Raum jetzt wofür genutzt wurde und es wäre mir unangenehm gewesen, gleich an meinem ersten Abend in die Privatsphäre der anderen einzudringen. Yami und Mai würden es mir sicher übel nehmen, wenn ich ohne ihre Erlaubnis in ihre Zimmer ging, nur um herauszufinden, was sich in den letzten Jahren verändert hatte.

Ich fragte mich, ob hier noch mehr Vampire außer uns dreien lebten, Platz genug war schließlich. Im 2. Stock befanden sich, wenn ich mich richtig erinnerte, noch mal drei Schlafzimmer mit Bädern und ich konnte mir irgendwie nicht vorstellen, dass Yami seinen Angestellten erlaubte, in den großzügig geplanten Räumlichkeiten zu wohnen. Ein kurzer Abstecher in den Nordtrakt des Hauses bestätigte meine Vermutung, dort hatten auch schon die Bediensteten meiner Familie ihr Quartier gehabt.

Anschließend begab ich mich zurück in die Haupthalle im Erdgeschoss, um meine Erkundungstour fortzusetzen. Alle Räume waren mit eleganten Möbeln im gerade herrschenden Stil eingerichtet. Ich entdeckte auch einige Antiquitäten darunter, unter anderem einen Sekretär aus Rosenholz, der mit Einlegearbeiten verziert war.

Im Speisezimmer gruppierten sich um einen großen Tisch aus Eichenholz acht passende, mit dunkelgrünem Stoff bespannte Stühle. Wie im Rest des Hauses bedeckte auch hier teures Parkett den Fußboden. Ich sah kurz im Vorderfoyer vorbei, wo die Mäntel und Umhänge an einer Reihe von Messinghaken hingen, und wandte mich dann nach links zu einem Empfangsraum, der mit einer rot gepolsterten Sesselgarnitur ausgestattet war.

Also, eins muss ich Yami lassen, er hat einen guten Geschmack.

Als ich das Klavier im Musikzimmer entdeckte, entwich mir ein leiser Seufzer. Schattenhafte Erinnerungen tauchten vor mir auf und verdichteten sich.

Ich sah mich dort vor meinem inneren Auge auf dem Hocker sitzen, gerade sieben Jahre alt. Neben mir stand eine kleine Frau mit sandfarbenem Haar, das sie zu einem strengen Knoten aufgesteckt trug. Sie fuchtelte dauernd mit einem langen, schmalen Rohrstock durch die Luft und hielt mir eine ihrer langen Predigten. Als sie merkte, dass ich ihr nicht richtig zuhörte, schlug sie mir mit ihrem Stock auf die Finger. Ich zuckte, kurz war mir, als würde ich die Schmerzen auch jetzt noch spüren.

Ärgerlich wischte ich das Traumbild mit einer Handbewegung fort. Ich hatte es nie geschafft, mich mit Madam Corel in irgendeiner Form anzufreunden. Wozu auch? Sie war eh nie mit mir zufrieden gewesen. Ich hätte üben können, bis mir die Finger bluteten und sie hätte trotzdem noch reichlich auszusetzen gehabt. Sei es meine Haltung, die Art, wie ich die Tasten anschlug oder das Stück spielte, das sie mir ausgesucht hatte. Es wunderte mich, dass ich meine Liebe zum Klavierspiel trotzdem nie verloren hatte.

Meine Finger fuhren über die Tasten, ohne sie jedoch weit genug herunterzudrücken, um ihnen einen Ton zu entlocken.

ich wohl noch spielen kann? Es ist lange her ..., ich zog meine Hand zurück und schüttelte den Kopf. Nein, vielleicht irgendwann einmal, aber nicht heute.
 

Schließlich führte mich mein Weg in den Salon, wo ich auf Mai traf. Sie saß in einem Sessel am Kamin und war in eine Stickarbeit vertieft. Ihre Finger fuhren in schnellem Tempo über den weißen Stoff, bewegten die Nadel auf und ab und webten ein buntes Blütenmuster hinein, das von Blätterranken umspielt wurde. Neben ihr auf einem Tisch lagen farbige Garne und eine kleine Schere. Mai musste mich kommen gehört haben, denn sie blickte auf, als ich den Raum betrat. Ihre Augen musterten mich gründlich von oben bis unten.

„Na, jetzt siehst du schon wesentlich besser aus als vor einer Stunde“, sagte sie und deutete auf einen Sessel sich gegenüber. „Setz dich doch.“

Die Polster waren so weich, dass ich mir wie auf Wolken vorkam. Ich starrte einen Moment in den Kamin, in dem die Flammen auf den Holzscheiten tanzten und wie Zungen über sie leckten.

„Also, ich ... Ich wollte mich bei dir bedanken, Mai. Für das Kleid. Es ist sehr schön.“

„War mir ein Vergnügen, dir zu helfen“, erwiderte sie. „Schließlich kann ich ja nicht zulassen, dass meine kleine Schwester nicht ihrem Stand entsprechend gekleidet ist, nicht wahr?“

Sie zwinkerte mir lächelnd zu.

„Schwe ... Schwester?“

Wovon redet sie denn da?

Sie beugte sich ein Stück vor und winkte mir, näher zu kommen.

„Yami hat dir doch erzählt, dass unsere Diener nichts von unserem ...

Leben wissen?“ Ich nickte zustimmend. „Aber anscheinend hat er sich gedacht, den Rest könnte er mir überlassen.“

Sie seufzte theatralisch, legte ihre Handarbeit auf den Tisch und stand auf. Ich sah ihr gespannt nach. Mai ging im Raum auf und ab. Als sie an der Tür war, riss sie sie plötzlich auf. Zu meiner Verwunderung stolperten Sekundenbruchteile später Samantha und Beth in den Raum. Die Gesichter der beiden Ertappten färbten sich sofort knallrot. Mai lächelte sie böse an und baute sich vor ihnen auf, die Arme in die Seiten gestemmt.

„Hab ich ’s mir doch gedacht, dass ihr zwei wieder lauscht. Es schickt sich nicht, seine Herrschaften auszuspionieren! Merkt euch das endlich! Ich werde dem Hausherrn davon Bericht erstatten. Ihr könnt froh sein, wenn er euch nicht rauswirft. Und jetzt Marsch zurück mit euch in die Küche! Sollte ich auch nur eine von euch noch mal in der Nähe dieser Tür sehen, wenn wir nicht gerufen haben, fliegt diejenige in hohem Bogen raus, verstanden?“

Die beiden Mädchen schauten sie nur wie erstarrt mit großen Augen an. Mai beugte sich vor und stieß Beth mit dem Zeigefinger gegen den Brustkorb.

„HABT IHR MICH VERSTANDEN?“

„Ja, Miss“, antworteten die beiden kleinlaut. Mai richtete sich sichtlich zufrieden auf.

„Gut, dann könnt ihr jetzt gehen.“

Samantha schloss die Tür und ich hörte, wie sich die zwei Mädchen eiligst davonmachten. Das hätte ich an ihrer Stelle auch getan.

„So, wo waren wir stehen geblieben?“, fragte Mai mit strahlendem Lächeln und setzte sich wieder zu mir.

Sind etwa alle Vampire so launisch? Das kann ja heiter werden. Hoffentlich werde ich nicht auch eines Tages so.

„So gut die zwei bei ihrer Arbeit auch sind, sie sind neugierige Gänse“, meinte Mai grummelnd. „Man muss ständig aufpassen, dass sie nicht vor der Tür stehen und lauschen, so wie eben. Ein kleiner Tipp von mir, Alina: Wenn du über was Vertrauliches sprechen willst, solltest du erst nachsehen, ob eine von ihnen in der Nähe ist, sonst weiß fünf Minuten später die gesamte Küche darüber Bescheid ... Denn ihren Mund zu halten, haben die zwei genauso wenig gelernt. Aber nun zurück zu dir. Na ja, wo fange ich am besten an ...“

„Warum hast du mich eben deine Schwester genannt?“, unterbrach ich ihre Überlegungen.

„Gut, dann fange ich eben damit an. Um uns davor zu schützen, als Vampire entdeckt zu werden, haben wir uns alle falsche Identitäten zugelegt, unter denen wir sämtliche Dinge regeln. Offiziell gehören wir alle zu einer großen Adelsfamilie, die über England, Frankreich und Deutschland verteilt lebt. Wir beide sind Schwestern und Yami ist unser Cousin. Und dann wäre da noch Seth – den lernst du vielleicht erst in ein paar Nächten kennen – er ist ein Freund der Familie. Er wohnt auch hier, im zweiten Stock.“

„Und was ist er wirklich?“

„Schwer zu sagen. Ich würde nicht behaupten, dass er Yamis Diener ist, dafür ist er zu ... wie soll ich sagen ... er ist etwas zu eigen. Aber er ist ihm auf jeden Fall treu ergeben.“

„Ich verstehe immer noch nicht ganz.“

„Na schön, dann lass es mich mal so ausdrücken. Er ist eigensinnig, stur und andern gegenüber eher ... reserviert. Ich nenne ihn heimlich den Eisprinzen, aber sag ihm das bloß nicht, sonst dreht er total durch und das möchtest du nicht erleben, glaub mir. Er ist gern allein, also lassen wir ihm seinen Willen. Außerdem ist er total von seiner Arbeit besessen.“

„Vampire arbeiten?“

„Natürlich, oder was glaubst du, wie wir uns sonst diesen Lebensstil leisten sollen? Okay, genau genommen sind es Yami und Seth, die arbeiten. Die beiden haben in den letzten Jahrzehnten zusammen ein riesiges Unternehmen aufgebaut, das sich über so viele Bereiche erstreckt, dass mir total die Übersicht fehlt. Sie handeln mit Antiquitäten, haben eine Werft, Aktien von diversen Gesellschaften ... Das können dir die zwei besser beantworten als ich. Mir gewähren sie da nicht so einen Einblick rein, aber das macht mir eigentlich nichts aus. Ich hab sowieso genug mit dem Haus und unseren Angestellten zu tun. Aber kommen wir zu dir zurück. Du wirst nicht umhin kommen, dir auch eine neue Identität zuzulegen, Alina.“

Ich starrte sie ungläubig an. Das wird ja immer besser, dachte ich.

„Aber mein Name ist das letzte, was mir von meinem alten Leben noch bleibt, Mai, und den soll ich auch noch aufgeben? Muss das denn wirklich sein?“

„Erstens mal ändern wir nur deinen Nachnamen und zweitens erspart man sich so eine Menge Probleme. Keine Angst, es mag dir anfangs ungewohnt vorkommen, aber man gewöhnt sich dran, glaub mir, meine Liebe. Und nun hör mir bitte genau zu, Alina, was ich dir jetzt sage, musst du dir ganz genau einprägen. Dein neuer Name ist Alina Sara de Lioncourt. Yami, Seth und ich sind die Einzigen im Haus, die deinen echten Nachnamen kennen, also darfst du ihn nicht mehr benutzen, auch wenn es dir schwer fällt. Dein altes Leben ist mit dem Moment zu Ende gegangen, als Yami dir sein Blut zu trinken gegeben hat.“

Ich ließ den Kopf sinken, nickte dann aber. Ich wusste, dass sie Recht hatte. Es gab kein Zurück mehr.

„Wie gesagt, ich bin deine Schwester. Offiziell heiße ich Mai de Lioncourt. Unsere Eltern heißen Jean und Lilly de Lioncourt. Du hast bisher bei ihnen in Frankreich, in der Normandie, gelebt. Sie haben in der Nähe von Rouen ein Schloss, das Chateau du Ciel genannt wird. Und du bist in den letzten Jahren im Kloster Saint Mère unterrichtet worden.“

„Aber ich spreche überhaupt kein Französisch“, warf ich ein.

„Das bringe ich dir schon bei, ich komme aus Paris.“

„Paris ...“, wiederholte ich. Von dieser Stadt hatte ich schon einiges gehört. Sie galt als die Stadt der Liebe und der Künstler. Mai holte

mich mit einem Räuspern aus meinen Gedanken.

„Träum nicht, wenn ich dir was erkläre, Alina. Diese Informationen sind wichtig. Über-lebenswichtig. Wenn dich jemand nach deiner Herkunft fragt, der nicht in unser Leben eingeweiht ist, musst du ihm mit den Dingen antworten, die ich dir gerade erklärt habe. Also wiederhol noch mal, was ich eben gesagt habe.“

„Ich stamme aus der Normandie in Frankreich, meine Eltern heißen Jean und Lilly de Lioncourt, ich habe die Schule im Kloster Saint Mère besucht ...“, spulte ich sämtliche Informationen herunter. Es mochte sein, dass ich mich manchmal von etwas ablenken ließ, aber ich hatte ein gutes Gedächtnis.

„Gut. Und jetzt hör weiter zu. Yami hat vor ein paar Wochen an unsere Eltern geschrieben, dass du uns besuchen sollst. Haben wir uns alles überlegt, während du geschlafen hast. Und dabei ist uns durch Zufall sogar noch das Wetter zu Hilfe gekommen. Es gab vor drei Tagen einen schweren Sturm im Ärmelkanal, bei dem mehrere Schiffe untergegangen sind. Du bist auf der Blue Spirit gefahren, die ist auch gesunken, und dabei hast du dein gesamtes Gepäck verloren. Den Schmuck, den du noch bei dir hattest, hast du versetzt, um die Fahrt nach London zu bezahlen.“

„Du hast ja eine abenteuerliche Fantasie“, kicherte ich.

„Wie hätte Yami denn bitteschön sonst erklären sollen, dass ein Mädchen aus gutem Haus bei seiner Ankunft so zerzaust aussieht wie du?“, konterte Mai.

Da musste ich ihr Recht geben.

„Darf ich dich fragen, woher du Yami kennst? Hat er dich auch ...“ Ich suchte nach dem richtigen Wort.

„Ob er mich auch geschaffen hat, so wie dich?“

Ich nickte. Mai lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah eine Weile an mir vorbei in die Flammen, wobei es mir vorkam, als sei sie in eine andere Welt abgeglitten.

„Nein, hat er nicht“, antwortete sie dann. „Aber er hat mir mal aus

’ner ziemlich großen Klemme rausgeholfen, als ich noch nicht so lange ein Vampir war. Ich wurde von ein paar Vampirjägern verfolgt und er hat mir geholfen. Seitdem begleite ich ihn.“

„Nennst du ihn darum Meister? Muss ich das auch zu ihm sagen?“

„Nur, wenn er es von dir verlangt. Aber wenn er das bisher nicht getan hat, nehme ich nicht an, dass er es noch tun wird.“

„Und wie lange ist das her, dass ihr euch kennen gelernt habt?“

„Wie alt würdest du mich denn schätzen?“, fragte Mai schmunzelnd.

„Ich weiß nicht ... vielleicht zweiundzwanzig“, antwortete ich nach kurzem Überlegen.

„Ich war dreiundzwanzig, als ich zum Vampir gemacht wurde. Das ist dreiundneunzig Jahre her.“

„Was? Dann bist du ja ’ne alte Frau!“, entfuhr es mir und ich sah sie überrascht an.

In Mais Gesicht trat ein leicht beleidigter Ausdruck, auch wenn sie weiterhin lächelte.

„Erstens heißt es nicht ‚Was’, sondern ‚Wie bitte’“, korrigierte sie mich mit sanfter Stimme.

Ich wurde rot. Erst jetzt merkte ich, wie mich die sieben Jahre außerhalb meines Elternhauses verändert hatten. Ich hatte wohl einiges von den guten Manieren vergessen, die mir meine Mutter beigebracht hatte.

„Und was deine andere Bemerkung angeht“, fuhr Mai fort. „Für einen Vampir bin ich eigentlich sogar noch recht jung. Die beiden andern sind wesentlich älter als ich. Seth ist zweihundertfünfzehn und Yami ... bei ihm weiß ich es gar nicht so genau, er macht gern ein Geheimnis aus seinem wahren Alter. Aber wenn man bedenkt, wie viel Macht er besitzt, muss er unglaublich alt sein. Vielleicht sogar einer der ältesten Vampire überhaupt. Manchmal wünsche ich, er wäre derjenige gewesen, der mich verwandelt hat. Sein Blut fließt jetzt auch durch deine Adern. Spürst du nicht, wie stark es ist?“

„Ich ...“ Mein Blick wanderte auf meine Hände, die sich im Stoff meines Kleides verkrampft hatten. Es war sehr merkwürdig für mich, über solche Themen zu sprechen. Es gab wohl noch vieles, an das ich mich erst gewöhnen musste.

„Kommt sicher noch alles. Du bist ja gerade erst erwacht“, beruhigte mich Mai.

In dem Augenblick ging die Glocke an der Haustür. Sekunden später klopfte es zaghaft an der Tür zum Salon und Samantha trat ein, um zu melden, dass die Schneiderin eingetroffen sei. Sie warf ängstliche Blicke auf Mai.
 

Die Schneiderin, die Yami bestellt hatte, hieß Rose Langdon. Ich erinnerte mich schwach an sie, meine Mutter hatte viele ihrer Kleider bei ihr gekauft. Als ich sie sah, dachte ich einen Moment daran, ob sie mich wohl wieder erkennen würde. Aber es war Jahre her, dass wir uns gesehen hatten, wie sollte sie da einen Zusammenhang zwischen der kleinen Alina und meinem jetzigen Ich herstellen?

Sie begrüßte Mai und mich mit übertriebener Höflichkeit und stellte uns ihre Assistentinnen Angela und Margaret vor. Die beiden Mädchen trugen Stoffballen und einen dicken Stapel Musterbögen, die sie vor uns auf dem Tisch ausbreiteten.

Vor mir tat sich eine schier unendliche Welt aus Farben auf. Es waren so viele Stoffe mit allen nur erdenklichen Farben und Mustern, ich konnte mich gar nicht entscheiden. Mai half mir bei der Auswahl.

„Sieh mal, dieser dunkelgrüne Satin würde dir auch gut stehen und mit schwarzem kombiniert ... Und dann die nachtblaue Seide, die wäre hübsch für ein Abendkleid. Was meinst du denn, Alina?“

Meine neue Freundin geriet bald in eine Art Rausch, während sie sich durch die endlosen Schichten von Stoff wühlte und Mrs. Langdon gleichzeitig diktierte, was ich alles benötigte.

„Brauche ich denn wirklich so viel?“, fragte ich nach einer Weile, als ich einen Blick auf die immer länger werdende Liste warf. Es standen schon fünfundzwanzig normale Kleider für den Alltag, sieben Abendgarderoben, mehrere Mäntel, Unterwäsche, Nachtwäsche und noch vieles mehr drauf.

Mai lachte laut und hielt sich rasch die Hand vor den Mund, damit man ihre spitzen Eckzähnchen nicht bemerkte.

„Meine Liebe, wir müssen dich komplett neu einkleiden, vergiss das bitte nicht. Ich denke, wenn Yami nichts dagegen hat, nehme ich dich morgen oder übermorgen in die Stadt mit zum Einkaufen. Außer Kleidern brauchst du schließlich noch einiges anderes.“

Da weder Seth noch Yami im Haus und die Türen zum Salon geschlossen waren, wurde das Maßnehmen gleich an Ort und Stelle statt in meinem Zimmer erledigt. Ich musste mich bis auf die Unterkleider ausziehen und mit ausgestreckten Armen mitten in den Raum stellen, während Margaret bei mir Maß nahm und für ihre Arbeitgeberin die Werte aufschrieb. Mai und Mrs. Langdon diskutierten inzwischen munter weiter über meine neue Kleidung.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bevor die Liste fertig war. Am Ende stand Garderobe für jedes Wetter drauf.

„Es wird ein paar Tage dauern, bis ich Ihnen alles liefern kann, Miss Lioncourt“, meinte die Schneiderin und warf noch einen abschließenden Blick auf das Schriftstück, bevor sie es zusammenrollte und in ihrer Tasche verschwinden ließ.

„Bringen Sie die Stücke einfach, sobald Sie sie fertig haben“, erwiderte Mai. „Meine Schwester braucht so schnell es geht neue Kleidung.“

„Ja, dieser unglückselige Sturm ... tragisch, was da passiert ist. Sie können sich glücklich schätzen, dass es Ihnen gelungen ist, sich zu retten. Anscheinend haben Sie einen guten Schutzengel.“

„Ja ... so könnte man es sagen.“

Mrs. Langdon und ihre Gehilfinnen packten zufrieden ihre Sachen zusammen und verabschiedeten sich von uns. Als sie gehen wollten, stießen sie in der Haustür mit dem gerade heimkommenden Yami zusammen. Mrs. Langdon entschuldigte sich wortreich bei ihm, bevor sie verschwand.
 


 


 

An dieser Stelle muss ich mich noch mal zu Wort melden. Mit Seth (Seto) ist noch ein guter alter Bekannter aus Yugioh! aufgetaucht. Das heißt, richtig aufgetaucht ist er ja noch nicht, das wird noch etwas dauern. ^_^ (ich spoile grad ein bisschen)
 

Ich weiß, viele von euch werden jetzt wahrscheinlich sagen, dass sich Seto niemals freiwillig Yami unterordnen würde, stimmt ja auch. An dieser Stelle ist er ein bisschen OOC, aber das war beabsichtigt. Was diesen Punkt angeht, habe ich Setos Charakter mit dem seines ägyptischen Alter-Egos Seth vermischt und der war Atemu nun mal treu ergeben. Ansonsten ist er aber ganz so, wie wir ihn kennen und lieben: Unser unnahbarer Eisberg.Ich hoffe, wir lesen uns im nächsten Teil.
 

Eure Moonlily

Nacht und doch nicht Nacht - New World

Hallo, ich melde mich mit einem neuen Kapitel zu Searching for the Fullmoon zurück. Vielen Dank an meine treuen Kommischreiberinnen! Eure lieben Worte sind doch immer eine Motivation, weiter zu schreiben. Und alle anderen fordere ich hiermit auf, mir auch einen Kommentar zu hinterlassen, mich interessiert sehr, wie ihr meine FF findet.
 

Lady Vendetta: Ja, ich weiß, dass ich eine schlimme Angewohnheit hab, immer nur so kurze Andeutungen über Alina zu machen. Aber wenn ich gleich verraten würde, was es mit ihr auf sich hat, wäre es doch langweilig, nicht wahr? Unser lieber Seto wird demnächst auch auftauchen, aber etwas müsst ihr euch noch gedulden.
 

Manami89: Ich würde auch gern durch Alinas Haus gehen. Aber ich arbeite schon am Grundriss. Es wird nur noch etwas dauern, bis ich ihn sauber aufzeichnen kann, hab im Moment viel zu tun
 

Selekt_N: Was soll ich sagen, Yami ist schließlich auch nur ein Mann, er macht sich nun mal um so was Gedanken. ^_^
 


 


 

Kapitel 9

Nacht und doch nicht Nacht – New world
 

Mai nahm Yami den Mantel ab und hängte ihn an einem Haken in der Garderobe auf.

„Ist in meiner Abwesenheit irgendetwas Besonderes vorgefallen?“, fragte er.

„Nein, Meister, nur das Übliche. Samantha und Beth waren mal wieder zu neugierig, ich habe sie verwarnt.“

„Recht so. Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit den beiden, aber ihre ständige Neugier lässt mich manchmal schon überlegen, ob wir sie uns nicht vom Hals schaffen sollten. Bevor sie noch etwas herausfinden. Ich werde mich später mit ihnen beschäftigen.“

Vom Hals schaffen? Heißt das, er bringt sie um, wenn sie unser Geheimnis herausfinden?

Ein entsetzlicher Gedanke. Unwillkürlich fragte ich mich, wie viele Dienstmädchen in den letzten Jahren wohl für Yami gearbeitet hatten.

Dazu kam dieser Ausdruck, der in Yamis Augen flackerte ... so kalt, berechnend, so ... entschlossen. Ich wusste, dass dies nicht nur leere Drohungen waren, die er aussprach. Er meinte jedes Wort ernst – todernst.

Mai hatte es ja schon angedeutet. Das Geheimnis um unsere wahre Natur war wichtiger als alles andere, ganz besonders wichtiger als ein Menschenleben.

Wir dürfen ihnen eben keinen Anlass geben, misstrauisch zu werden. Dann hat Yami auch keinen Grund, den beiden etwas anzutun, überlegte ich.

„Ist sonst noch etwas gewesen, was ich wissen sollte?“

„Ich habe angefangen, Alina über unser Leben hier aufzuklären, allerdings sind wir von Mrs. Langdons Ankunft unterbrochen worden. Wir haben alle Kleider bestellt, die Alina braucht.“

„Gut, den Rest kannst du mir überlassen, Mai. Ich sehe ja, dass du

noch etwas zu erledigen hast.“

„Vielen Dank, Yami. Ach ja, ich würde Alina gern morgen oder übermorgen zum Einkaufen in die Stadt mitnehmen, wenn du nichts dagegen hast. Es gibt da noch so einiges, was wir für sie besorgen müssen. Dann müssten wir zum Schuster und ...“

„Meinetwegen, aber nicht vor übermorgen. Ich muss Alina erst noch einiges erklären. Doch jetzt möchte ich dich nicht länger aufhalten. Gute Nacht.“

„Euch beiden auch.“

Mai verbeugte sich leicht vor ihm, nahm einen warmen Mantel und verließ das Haus. Ich warf einen Blick auf die Standuhr in der Haupthalle. Die Zeiger rutschten gerade mit lautem Ticken auf halb zehn.

„Was hat sie denn noch zu tun? Um diese Uhrzeit ist es für eine Frau doch gefährlich, allein auszugehen“, wandte ich ein.

„Sie hat sich die ganzen letzten Stunden um dich gekümmert, darum ist sie noch nicht dazu gekommen, ihren Durst für heute zu stillen. Du musst dir um sie keine Sorgen machen, ich kann dir versichern, dass Mai sehr gut selbst auf sich aufpassen kann. Außerdem ist sie keine gewöhnliche Frau, vergiss das nicht. Wir Vampire sind um einiges stärker als die Menschen. Du wirst das auch noch merken. Komm, ich zeige dir, was ich meine.“
 

Er nahm einen langen Umhang vom Haken und legte ihn ihr um die Schultern.

„Was hast du vor?“, fragte Alina, während sie den Stoff noch zurecht zog und den Umhang vorne mit zwei Zierhaken verschloss. Yami schlüpfte in der Zwischenzeit in seinen Mantel.

„Wir gehen aus. Es gibt noch viele Dinge, die ich dich lehren muss, damit du dich in unserer Welt zurechtfindest und wir werden heute Nacht damit beginnen. Du bist ab heute meine Schülerin.“

„Muss ich dich dann auch mit Meister ansprechen, so wie Mai?“

Er betrachtete sie für einen Moment genau, konnte jedoch nichts in

ihrer Frage entdecken, das ihn darauf schließen ließ, dass sie ihn auf den Arm nehmen wollte. Ihr Gesichtsausdruck wirkte vollkommen ernst und dabei fast schon ein wenig ... naiv? Ihm fiel kein anderes Wort ein, wie er es hätte beschreiben können.

Ihre großen Augen sahen ihn wissbegierig an, warteten auf seine Antwort. Egal wie oft sie ihn so anschaute, dieser unschuldige Blick fing ihn jedes Mals aufs Neue wieder ein.

Wie ein kleines Mädchen ... nur dass sie süßer aussieht. Argh, ich muss damit aufhören, auf der Stelle! Ich darf nicht so von ihr denken. Sie ist jetzt meine Schülerin und das heißt, ich habe die Verantwortung für sie.

Immer das gleiche, sobald er eines von diesen unschuldigen Dingern sah, war er meist nicht mehr zu halten. Jung, hübsch, ein unschuldig-naiver Blick – diese Mädchen waren ihm schon immer die liebsten Opfer gewesen, ganz gleich, ob es um seine nächste Mahlzeit oder seine Bettgespielinnen ging. Und Alina passte genau in sein Beuteschema.

Dabei hatte er gehofft, die Zeit, die er nach ihrem Aufwachen alleine draußen verbracht hatte, würde seinem Kopf die Klarheit zurückbringen, die er in den letzten Stunden so schmerzlich vermisst hatte. Doch es war nichts weiter als eine trügerische Hoffnung gewesen.

Annähernd zwei Stunden war er durch die Straßen von Kensington gewandert, hatte nachgedacht, wie er sich ihr gegenüber in Zukunft verhalten sollte. Er wusste es nicht. Zu viele verschiedene Gedanken wirbelten in ihm durcheinander, jedes Mal, wenn er sich mit ihr beschäftigte. Sie übte eine sonderbare Anziehungskraft auf ihn aus.

Alina räusperte sich vernehmlich.

„Hallo, bekomme ich von dir heute noch eine Antwort? Oder muss ich mir bei dir erst einen Termin besorgen?“

So ein freches kleines Geschöpf! Aber Recht hat sie in gewisser Weise. Wenn ich ständig meinen Gedanken nachhänge anstatt ihr zu antworten, wird sie früher oder später auch misstrauisch.

„Nein, du musst mich nicht so nennen.“ Er sah sie streng an. „Trotzdem ... Vergiss bitte eines nicht, Alina, offiziell bin ich dein Cousin. Und als solcher und vor allem in meiner Eigenschaft als dein Lehrer erwarte ich ein wenig mehr Respekt von dir, meine Liebe.“

„Solange du mich nicht ignorierst, wird das auch nicht passieren“, erwiderte sie und ließ flüchtig ihre Zungenspitze im Mundwinkel aufblitzen.

Als ob ich dich ignorieren könnte, dachte er.
 

„Freut mich, das zu hören, meine liebe Cousine“, sagte Yami mit erhobener Stimme. Er blickte über meine Schulter hinweg auf den Flur. Ich folgte seinen Blicken. Auch meinen Ohren entging nicht das leise Klicken, als das Türschloss einrastete. Waren wir wieder belauscht worden, trotz Mais Warnung? Konnten die beiden denn so dumm sein, das zu wagen?

Yami schien die gleichen Gedanken zu haben wie ich, denn seine Züge nahmen an Härte zu. Eine tiefe Falte war zwischen seinen Augenbrauen entstanden.

„Würde es dir etwas ausmachen, noch einen Augenblick zu warten, bis wir losgehen? Ich schätze, ich muss diese Sache doch erst noch regeln.“

Ein tiefes Grollen lag in seiner Stimme, das wie die ersten Anzeichen eines herannahenden Gewitters klang. Oder eher wie ein aus seinem Schlaf erwachender Vulkan, unter dessen ruhig scheinender Oberfläche es bereits gefährlich brodelte. Ich konnte an einer Hand abzählen, wer die Leidtragenden seines Ausbruchs sein würden.

„Nein, natürlich nicht“, sagte ich rasch.

Er nickte mir mit einer knappen Geste zu und wandte sich ab. Yami durchmaß mit großen Schritten die Haupthalle und verschwand durch eine Tür im Dienertrakt, der vom Rest des Hauses streng getrennt war. Obwohl er sie hinter sich geschlossen hatte, drangen noch einzelne Wortfetzen an meine Ohren.

„ ... noch nie erlebt ... Absolut inakzeptabel! ... Nächstes Mal ... end-gültig genug ...“

Bei Yamis Gezeter lief es mir kalt den Rücken herunter. Wenn er einmal in Rage geriet, fiel es ihm schwer, sich noch zu beherrschen. Ich beneidete Samantha und die anderen nicht um ihre Stellung, auch wenn sie recht gut verdienten. Hoffentlich kam ich nicht eines Tages auch in den Genuss seiner Wut. Auf diese Erfahrung konnte ich gut und gerne verzichten.

Immer noch vor Zorn rauchend, kam er zehn Minuten später zurück in die Halle marschiert.

„Was ist denn passiert?“, fragte ich vorsichtig.

„Diese feigen Dinger haben Christa vorgeschickt, damit sie an ihrer Stelle horcht. Nicht zu glauben, was in diesem Haus vor sich geht! Meine eigenen Angestellten tanzen mir auf der Nase herum! Wenn das jemals meine Geschäftspartner erfahren sollten ... Ich würde vor allen zum Gespött werden.“

„Und ... hast du sie entlassen?“

„Nein, hab ich nicht – noch nicht. Auch wenn ich so“, er hielt Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand nahe beieinander, „kurz davor war, es zu tun. Christa macht ihre Arbeit gut, nur ist sie dummerweise etwas einfältig und lässt sich von Samantha und Beth ständig ausnutzen. Außerdem ist es heutzutage nicht gerade leicht, ein brauchbares Dienstmädchen zu finden. Ganz zu schweigen von Mais Reaktion. Christa ist auch noch so etwas wie ihre persönliche Zofe. Wenn ich sie entlasse, wird sie mir die Hölle heiß machen.“

Ich konnte mir ein kurzes Grinsen nicht verkneifen. Vor meinem inneren Auge entstand ein sehr lebhaftes Bild von einer Mai, die gerade erfahren hatte, dass Christa entlassen worden war und sich ein lautstarkes Wortgefecht mit Yami lieferte. Na ja, die Gute war halt ein klein wenig aufbrausend veranlagt. Aber gerade mit solchen Personen konnte man manchmal die besten Freundschaften aufbauen. Das sah ich ja an Joey und mir. Wir konnten uns auch stundenlang über eine Sache in die Haare kriegen und am Ende wussten wir nicht mal mehr, was überhaupt die Ursache gewesen war.

„Tja, da ist es bestimmt besser, sie nicht zu entlassen“, stimmte ich Yami zu.

„Für dich ist übrigens Samantha zuständig, Alina. Oder wenn sie gerade keine Zeit hat, dann eben Christa.“

„Haben sie etwas von unserem Gespräch eben mitgekriegt?“

„Dafür war Christa zum Glück ein paar Sekunden zu spät. Ich habe ihren Geist erforscht, von ihr geht keine Gefahr aus.“

Meine Augen weiteten sich einmal mehr.

„Sieh mich nicht so entgeistert an, für Vampire ist es ganz legitim, auszukundschaften, was den Menschen in ihrer Umgebung durch den Kopf geht. Nur so können wir sicher sein, dass wir uns nicht aus Versehen einen Vampirjäger ins Haus holen. Das hätte gerade noch gefehlt. Und nun lass uns endlich gehen.“
 

Der Weg zum Haus glänzte noch immer von der Nässe des vor kurzem gefallenen Regens, überall standen große, flache Pfützen. In der Nähe des Hauses war der Garten noch etwas vom Haus beleuchtet, der Rest aber lag im Dunkeln.

Mir war nicht ganz wohl dabei. So spät war ich bisher nur selten draußen gewesen, doch Yami sah mich Vertrauen gewinnend an. In den letzten Jahren hatte ich nicht gerade viele Menschen kennen gelernt, denen ich vertrauen konnte, wenn man von meinen Freunden Joey und Maria und ein paar anderen Menschen einmal absah. Doch bei Yami war das anders. Und das, obwohl er nicht mal ein Mensch war und wir uns erst seit zwei Tagen kannten.

„Du musst keine Angst haben, Alina. Ganz gleich, wo wir sind, solange ich bei dir bin, wird es niemand wagen, sich dir zu nähern. Und nun schließ die Augen.“

Ich blickte ihn erst fragend an, tat es dann aber. Auf einmal fühlte ich Yamis warmen Atem an meinem Ohr, seine Hände an meinen Schultern. Er stand direkt hinter mir. Sein Oberkörper drückte sich leicht an meinen Rücken. Irgendwie ein schönes Gefühl, so nahe mit ihm zusammen zu stehen. Ich lehnte meinen Kopf etwas zurück, gegen seine Brust. Durch den Stoff drang ein leises, regelmäßiges Pochen an mein Ohr. Ich hörte seinen Herzschlag. Wie konnte das sein? Meine Hand legte sich auf meine Brust. Jetzt spürte ich es auch bei mir.

„Yami?“

„Hmm?“, brummte er nur.

„Als ich gestorben bin, hat mein Herz doch stillgestanden. Aber jetzt schlägt es wieder.“

Er lachte leise. Heißer Atem strich über meinen Hals und unvermittelt erhöhte sich die Frequenz meines Herzschlags.

„Warum sollte es denn nicht schlagen? Wir stehen zwischen Leben und Tod, im einen wie im anderen verhaftet, doch in keinem von beiden wirklich. Wir atmen, unsere Herzen schlagen ... Es macht nichts, wenn du es nicht verstehst, Alina. Das ist eines der Geheimnisse, hinter denen auch die Vampire seit Jahrtausenden her sind, aber es ist noch niemandem von uns gelungen, es zu lüften.“

Letztlich war es mir auch gleichgültig, warum genau es wieder zu schlagen begonnen hatte. Nicht gleichgültig war mir jedoch der Grund für seinen schnellen Rhythmus. Und genau der beugte sich gerade zu mir.

„Entspann dich, Alina, dann können wir mit dem Unterricht anfangen. Atme ein paar Mal tief durch und konzentriere dich. Und dann hör einfach nur hin.“

Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte. Ich hörte nur die Regentropfen, die von den Bäumen im Garten fielen, Yamis Atem und meinen eigenen. Langsam begann seine Nähe mich nervös zu machen, weil ich nicht wusste, was er damit bezweckte.

„Was soll ich hören, Yami?“

„Pst, sei still und lass die Augen zu“, flüsterte er, als ich Anstalten machte, sie zu öffnen.
 

Wieder lauschte ich. Dann drang ein leises Pfeifen an mein Ohr, als mich eine Windböe streifte. Es hörte sich an wie das Flüstern feiner dünner Stimmen. Sie waren nicht mehr als ein Hauch und dennoch wurden sie mit jeder Sekunde, die ich ihnen lauschte, deutlicher.

Nach und nach hörte ich auch andere Dinge. Nicht weit von uns flog ein Vogel, eine Eule, vorbei. Vom Nachbargrundstück rechts von uns drang schallendes Gelächter, vom anderen Klavierspiel und nach dessen Ende ein kurzer Applaus.

In diese Klänge mischten sich noch viele andere, so viele, dass ich sie irgendwann kaum noch voneinander unterscheiden konnte. Sie vereinten sich mehr und mehr, bis sie mir wie ein einziger, großer Klang vorkamen, der die Nacht erfüllte. Ein Klang, der auf und abschwoll, einem fremdartigen Gesang gleich, angestimmt von vielen tausend unsichtbaren Stimmen.

„Was ist das?“, fragte ich Yami verwirrt.

„Das ist die Melodie der Nacht. Unsere Melodie.“

Ich lauschte den Geräuschen noch einen Moment, jetzt konnte ich ab und zu auch wieder einzelne identifizieren. Sie erfüllten mich mit einer Art von Frieden.

Als Yami mich ohne Vorwarnung losließ, stolperte ich einen Schritt zurück, fing mich jedoch schnell. Ich hörte jeden seiner Schritte auf dem Rasen, als er um mich herumging.

„Und nun öffne die Augen“, sagte Yami. „Ein Vampir sieht anders. Unsere Wahrnehmung ist stärker, intensiver.“
 

Meine Augen öffneten sich langsam. Yami stand genau vor mir. Im ersten Augenblick sah ich ihn nur verschwommen. Ich blinzelte ein paar Mal. Sein Gesicht nahm schärfere Züge an, bis ich ihn deutlich vor mir sah, obwohl wir im Halbdunkel standen. Ich blickte mich um. Alles war auf einmal irgendwie ... so viel klarer. Es waren die gleichen Farben wie vorhin, als ich die Augen geschlossen hatte, und doch waren sie ganz anders. Es war als hätte ich vorher durch ein verschmiertes Glas gesehen, das jemand nun gründlich geputzt hatte.

Auch die Nacht selbst schien etwas von ihrer Schwärze verloren zu haben. Obwohl es dunkel war, sah ich überraschend gut.

„Lass uns einen kleinen Spaziergang machen“, schlug Yami vor.

Wir gingen langsam durch die Straßen von Kensington. Es war keine Menschenseele mehr unterwegs, was mir ganz recht war. So konnte ich ungestört diese neuen Eindrücke genießen. Ich blickte mich immer wieder um und betrachtete fasziniert meine Umgebung.

Die meisten Häuser waren erleuchtet. Manchmal blieben wir an einem Gartenzaun stehen oder gingen bis an das Haus heran und beobachteten die ahnungslosen Bewohner hinter den Vorhängen. Viel hatte sich in den Straßen nicht verändert. Hier und da hatte ein Gebäude einen frischen Anstrich verpasst bekommen, dort waren neue Bewohner eingezogen.

Die größten Veränderungen fielen mir bei den Sinclairs auf. War ihr Haus schon immer so groß gewesen? Ich hatte es wesentlich kleiner in Erinnerung gehabt. Die Veranda war auch neu gemacht und als wir durch eines der Salonfenster spähten, entdeckten wir teuer aussehende Möbel aus Mahagoni und Rosenholz.

Man könnte meinen, ihre Erbtante wäre gestorben. Wie kann man nur so mit seinem Reichtum protzen?

Dieses Verhalten war mir schon immer verhasst gewesen.

Mrs. Sinclair saß mit ihrem Mann und ihrem ältesten Sohn Anthony an einem Tisch und spielte Karten. Ihre Hände und ihr Hals waren mit Juwelen geradezu überladen. Dass ihr Kopf bei dem Gewicht nicht nach vorne kippte, wunderte mich. Aber dafür hatte sie sicher abends einen steifen Hals.

Nach einer guten Stunde kehrten wir heim. Ich war regelrecht gesättigt von den vielen neuen Eindrücken, die in der kurzen Zeit wie ein tosender Wasserfall auf mich eingestürzt waren.
 

Mai war noch nicht zurück. Yami sah ganz zufrieden mit mir aus.

„Das heute war nur die erste Lektion, die du lernen musst“, sagte er, als wir vor meinem Zimmer standen. „Ich werde dich morgen Nacht mitnehmen. Du musst lernen, dir selbst deine Nahrung zu besorgen.“

Ich erschrak bei dem Gedanken, jemanden zu beißen. Er legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Der Gedanke erschreckt dich vielleicht am Anfang, aber es muss sein. Es ist für uns der einzige Weg zu überleben.“

„Besteht keine andere Möglichkeit? Müssen es unbedingt Men ...“

Seine Hand legte sich blitzschnell auf meinen Mund.

„Sprich über so etwas bitte nicht auf dem Flur“, raunte er mir zu. „Am Ende des Ganges liegen die Zimmer von Christa und Samantha. Wir können morgen darüber sprechen.“

Ich sah ihn bittend an und deutete gleichzeitig mit dem Kopf auf meine Zimmertür. Wenn es einen Weg gab, dann wollte ich ihn wissen und zwar sofort. Er konnte doch nicht von mir erwarten, dass ich mich brav bis morgen geduldete! Nicht bei so einer wichtigen An-gelegenheit.

„Okay, okay, dann eben jetzt. Ich sehe schon, dass du mir eh keine Ruhe vorher lassen wirst.“

Wozu so ein kleiner Hundeblick doch gut sein konnte! Diesen Gesichtsausdruck hatte ich mir schon vor Jahren von Joey abgeguckt und beherrschte ihn, ohne überheblich klingen zu wollen, inzwischen sicherlich so meisterhaft wie er.

Allerdings hatte ich nie übermäßig davon Gebrauch gemacht, ich sparte ihn mir immer für besondere Gelegenheiten auf, wenn ich tatsächlich einmal Hilfe bei etwas brauchte. Dafür sprang der gute Joey immer schnell darauf an und in dieser Hinsicht war ihm Yami absolut gleich. Manchmal war es doch fast zu einfach, das zu bekommen, was man – oder eher frau – wollte.
 

Wir setzten uns in die Sessel am Kamin.

„Also wie ist das jetzt, Yami, müssen wir unbedingt Menschen beißen?“

„Nun ... nicht zwangsläufig. Biologisch betrachtet, ist der Mensch ein Säugetier und wir können uns auch von anderen Säugetieren – Kühen, Schweinen und dergleichen – ernähren. Allerdings ist das Blut der Menschen unserem noch am ähnlichsten und, wenn du mich fragst, auch geschmacklich am besten. Tiere solltest du nur beißen, wenn du keine andere Wahl hast. Und in einer Stadt wie London ist es meiner Meinung nach doch ein wenig schwer, jede Nacht an ein lebendes Schwein zu kommen. Das kann man höchstens bewerkstelligen, wenn man auf dem Land ist.“

Er hielt sich die Hand vor den Mund, als er verhalten gähnte.

„Oh, entschuldige, ich hab gar nicht gemerkt, dass du müde bist.“

„Ist schon gut. Auch wenn ich ein Vampir bin, kann ich nicht die ganze Nacht über wach bleiben. Mai hat dir doch erzählt, womit wir unser Geld verdienen?“

„So ungefähr, ja.“

„Unser Konzern heißt Atekai. Seth und ich leiten ihn zwar mehr aus dem Hintergrund und lassen das meiste von unseren Vertretern erledigen, aber es bleiben trotzdem noch genug Dinge, um die wir uns selbst kümmern müssen. Für gewöhnlich sitze ich spätestens um die Mittagszeit an meinem Schreibtisch.“

Erneut entrang sich seinem Mund ein Gähnen.

„Ein ungewöhnlicher Rhythmus für einen Vampir. Ist es nicht sonst umgekehrt, dass man nur nachts wach ist?“

„War anfangs auch ’ne ziemliche Umstellung, aber man gewöhnt sich früher oder später an alles. Ich habe nur heute früh zu wenig geschlafen. Und dabei habe ich morgen Mittag ein Meeting mit einem sehr wichtigen Geschäftspartner.“

„Dann möchte ich dich nicht länger aufhalten, Yami. Schlaf gut.“

„Ich wünsche dir auch eine Gute Nacht, Alina. Ich ziehe mich auf mein Zimmer zurück. Solltest du doch noch Fragen haben, klopf an. Aber behalte die Zeit im Auge, du musst dich schlafen legen, bevor die Sonne aufgeht.“

Ich begleitete ihn noch zur Tür. Seine Hand strich über meine Wange und ich schmiegte mich an sie. Viel zu schnell brach er jedoch die Berührung ab und verließ mich.
 

Als die Tür seines in hellen Sandtönen gehaltenen Zimmers hinter ihm ins Schloss fiel, atmete er tief durch. Dieses Mädchen war kaum auszuhalten, immer dieser unschuldige Blick, der auf ihm ruhte. Es machte ihn fast wahnsinnig!

Ob sie auch nur die geringste Ahnung davon hatte, was sie in ihm auslöste? Wahrscheinlich nicht. Seine Hand an ihrer weichen Wange ... Einmal mehr hatte er sich für einige wenige Sekunden nicht ganz unter Kontrolle gehabt.

Ob sie schon schlief? Sie sah dabei wie ein Engel aus. Heute Nachmittag hatte er mehrere Stunden an ihrem Bett gesessen und sie beim Schlafen beobachtet. Wie friedlich und gelöst sie ausgesehen hatte, nichts ahnend von den unendlich vielen Gefahren, die in der Welt da draußen auf sie lauerten. Aber er würde sie davor beschützen, koste es, was es wolle.

Noch einmal kurz nach ihr zu sehen, konnte doch nicht schaden. Nur ganz kurz. Bloß um zu sehen, ob es ihr auch gut ging. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, seinem Verlangen nachzugeben. Schon legte sich seine Hand auf die Türklinke und drückte sie nach unten.

Und wenn sie noch wach ist? Oder gerade dabei, sich auszuziehen? Bei Ra, das würde ich nicht überleben, sie so zu sehen. Dann wäre es mit seiner Selbstbeherrschung endgültig vorbei.

Alina stellte eindeutig ein zu großes Risiko für ihn dar. Vielleicht sollte sich besser Mai um ihre Ausbildung kümmern. Oder Seth? Nein, der auf keinen Fall. Er kannte seinen Freund gut genug. Seit jenem Vorfall seinerzeit hatte er sich mehr und mehr zu einem menschlichen – oder vampirischen – Eisberg entwickelt, er konnte ihn unmöglich auf ein so zartes Wesen wie sie loslassen. Seine Art würde sie sicher nur verschrecken. Es blieb ihm gar keine andere Wahl als selbst ihr Lehrer zu werden. Und er hatte es ihr bereits gesagt, er konnte es nicht mehr zurücknehmen. Welche Erklärung hätte er ihr für sein Handeln liefern sollen, wenn sie ihn fragen würde?

So würde während ihres Unterrichts ein häufiges Beisammensein nicht zu vermeiden sein, jedoch gab es genug andere Gelegenheiten, wo er sie vor sich schützen konnte. So wie jetzt.

Die Tür glitt nahezu geräuschlos in ihr Schloss.

Yami warf die Kleider von sich und legte sich auf sein Bett. Er versuchte zu schlafen, doch er bekam kein Auge zu. Immer wieder tauchte ihr Gesicht vor ihm auf und brachte ihn um die wohlverdiente Ruhe.

Vielleicht sollte ich noch eine Weile raus gehen, überlegte Yami. Ein kleiner Spaziergang zur Nervenberuhigung. Sein Blick fiel auf den Wecker neben seinem Bett. Nein, das kam nicht in Frage. Wenn er jetzt noch losging, würde er nicht rechtzeitig vor Sonnenaufgang zurück sein.

Aber zu ihr konnte er auch nicht.

„Mein Versprechen gilt“, flüsterte er. „Und ich darf es nicht brechen. Doch wie lange werde ich das noch schaffen?“
 

In meinem Zimmer setzte ich mich wieder in meinen Sessel am Kamin. Das Feuer war fast heruntergebrannt. Ich schob noch ein Buchenholzscheit ins Feuer und schürte es mit dem Haken. Dann starrte ich eine Weile in die Flammen und dachte nach.

Meine Gedanken wanderten zu Joey und Maria, die jetzt in ihren Betten lagen und sich wahrscheinlich Gedanken machten, wo ich war. Ich hätte ihnen gern eine Nachricht geschickt, aber was sollte ich ihnen denn sagen? Wie sollte ich ihnen erklären, was mit mir geschehen war?

Maria würde sich höchstens vor mir zu Tode ängstigen und mich für ein blutrünstiges Monster halten. Warum mussten Vampire auch so einen schlechten Ruf haben?

Und Joey ... Er würde als erstes auf Yami losgehen und ihn windelweich prügeln. Oder er würde es eher versuchen und scheitern, ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, dass der Herr Vampir da mitspielte und sich freiwillig von ihm schlagen ließ.

Womit meine Gedanken ein weiteres – möglicherweise zum hundertsten

Mal – bei Yami gelandet waren. Ich fragte mich, wie er wohl war. Einerseits so herrisch und barsch und andererseits ... mir gegenüber zeigte er sich immer freundlich.
 

Ich blickte erschrocken auf, als ich das Schlagen der Uhr hörte. Es war schon drei. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Erst jetzt merkte ich, wie müde ich eigentlich war. Meine Glieder fühlten sich bleischwer an.

Es war umständlich, sich allein aus den Kleidern zu schälen, aber ich wollte Samantha um die Zeit nicht mehr wecken, damit sie mir half. Wenigstens ließ sich das Korsett auch von vorne öffnen. Sonst hätte ich noch in diesem verflixt unbequemen Teil schlafen müssen.

Da war mir das Nachthemd doch um einiges lieber.

Ich kuschelte mich in die Kissen und schlief kurz darauf ein.

Das erste Ma(h)l - Blood

Kapitel 10

Das erste Ma(h)l – Blood
 

Als ich aufwachte, herrschte im Zimmer schwaches Dämmerlicht. Die Vorhänge waren alle zugezogen. Es kam mir vor, als hätte ich eine Ewigkeit geschlafen. Mein Blick fiel auf den Wecker auf meinem Nachtschrank. Er zeigte sechzehn Uhr fünfundvierzig an.

Ich hatte tatsächlich eine Ewigkeit geschlafen, den ganzen Tag über. Dabei hatte ich mich gar nicht so besonders müde gefühlt, als ich heute früh ins Bett gegangen war.

Ich streckte mich noch einmal, dann schlüpfte ich aus dem Bett, zog mir den Morgenmantel über und ging zum Fenster. Dort schob ich die Gardine vorsichtig etwas zur Seite, um nach draußen sehen zu können. Blassgoldener Lichtschein fiel auf den Boden neben meinen nackten Füßen. Die Sonne ging gerade unter. Wie sehr ich dieses Schauspiel doch liebte.

Ob ich nicht doch etwas sehen kann?, überlegte ich. Sie ist fast verschwunden, jetzt kann sie doch unmöglich noch so stark sein, um mich zu gefährden.

Langsam erweiterte ich den Spalt. Das Licht brach sich im Kristallleuchter an der Decke und zauberte unzählige Regenbögen auf Decke und Wände.

„Bist du lebensmüde? Mach das sofort zu!“, erklang auf einmal hinter mir eine Stimme. Bevor ich auch nur das Geringste tun konnte, wurde ich von hinten gepackt und vom Vorhang weggezerrt. Das Licht verschwand aus dem Zimmer. Ich drehte mich um.

„Bitte lass mich los, Yami. Du tust mir weh.“

Seine Finger waren schmerzhaft in meiner Seite vergraben und drückten mir ins Fleisch. Als Antwort auf meine Worte lockerte sich sein Griff etwas. Er sah mich mit einer Mischung aus Wut und Enttäuschung an.

„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich von der Sonne fernhalten, Alina? Du bist viel zu neugierig für eine junge Vampirin. Viel zu neugierig.“

„Aber ich wollte doch nur ... Die Sonne ist fast untergegangen und ... da dachte ich ...“

Er deutete auf den Rücken meiner Hand. Die Haut war stark gerötet. Eine kleine Brandblase war auf meinem Mittelfinger zu sehen. Wie hatte ich das nicht bemerken können? War ich so versunken in die Betrachtung der Sonne gewesen, dass ich den Schmerz überhaupt nicht gespürt hatte?

Aber ... es war Sonnenuntergang! Selbst jetzt noch, zu dieser fortgeschrittenen Stunde konnte sie mir also gefährlich werden. Lebensgefährlich. Ich war den Tränen nahe.

„Wenn ich kurz in die Sonne gehe, passiert mir nichts, außer ich bin zu lange draußen, dann hole ich mir manchmal einen Sonnenbrand“, sagte er.

Ein Vampir mit Sonnenbrand? Das möchte ich sehen.

„Aber wenn du in die Sonne gehst, wirst du schneller zu einer lebenden Feuerkugel, als du dich zurückziehen kannst“, erklärte Yami. „Du bist gerade erst geboren worden, Alina. Willst du deine Unsterblichkeit wirklich für einen einzigen Blick auf die Sonne aufs Spiel setzen? Ist es dir das wert?“

Ich blickte niedergeschlagen zu Boden.

„Es tut mir leid, Yami. Ich werde es nicht wieder tun, ich verspreche es dir. Es war bloß ...“

„Ich kann ja verstehen, dass dir die Umstellung nicht leicht fällt, aber es ist zu deinem eigenen Schutz, wenn du dich von der Sonne fernhältst. Um diese Uhrzeit mag sie zwar nicht mehr unbedingt tödlich sein, aber schwere Verbrennungen kann sie dir immer noch zufügen. Ach, was ich noch sagen wollte ... angesichts von Christas Lauschattacke gestern Abend ist es besser, wenn wir das Wort Vampir in diesem Haus nicht mehr laut erwähnen. Zieh dich jetzt an, ich warte unten auf dich.“

Damit ließ er mich stehen. Plötzlich fiel es mir wieder ein. Er hatte mir gestern gesagt, dass er mich heute mitnehmen würde. Ich fröstelte, als ich daran dachte, was ich tun sollte. Einen Menschen beißen und ihm das Blut aussaugen.

Aber blieb mir jetzt noch eine Wahl?

Entweder konnte ich mich in mein neues Schicksal fügen oder ich musste sterben.
 

Mai hatte mir noch eines ihrer Kleider geliehen, ein dunkelblaues, das mit kleinen weißen Blumen gemustert war. Im Bad schüttete ich etwas warmes Wasser in die Porzellanschüssel und wusch mich.

Heute probierte ich, ob ich es allein schaffte, die Sachen anzuziehen, doch wie gestern musste ich beim Korsett aufgeben. Es ging einfach nicht, es ohne fremde Hilfe so zu binden, dass es eng genug saß. Folglich rief ich mithilfe der Klingel nach Samantha, die auch kurz darauf erschien und sich der Schnürung an meinem Rücken annahm. Die Haare wurden zum Zopf geflochten und an meinem Hinterkopf aufgesteckt.

Im Flur komplettierte ich meine Aufmachung noch mit einem dunklen Mantel und einem kleinen blauen Hut, den ich mit mehreren langen Nadeln in meiner Frisur befestigte. Gerade er war von besonderer Wichtigkeit, ohne Hut aus dem Haus zu gehen, galt in der besseren Gesellschaft schon als Fauxpas. Dann verließen Yami und ich das Haus.
 

Es war seltsam, an den Menschen vorbeizugehen und zu wissen, dass ich nicht mehr zu ihnen gehörte. Meine Wahrnehmung war nun eine ganz andere als früher.

Nach einer Weile ertappte ich mich dabei, dass mein erster Blick, wenn ich jemandem begegnete, auf den Hals desjenigen fiel. Ich hörte das leise Schlagen seines Herzens und sah deutlich, wie die Halsschlagader hervortrat.

Oh Gott, was tue ich nur hier! Ich benehme mich ja wirklich schon wie einer von diesen ... Und ich soll ...

Mir grauste vor dem Gedanken. Yami schritt ruhig neben mir her und schien meine Aufregung gar nicht zu bemerken.

Er winkte eine Kutsche heran und half mir beim Einsteigen. Bevor er mir folgte, nannte er dem Kutscher das Ziel der Fahrt, doch meine Gedanken lenkten mich zu sehr ab, um es zu hören.

Jetzt kann es nicht mehr lange dauern. Aber werde ich das schaffen? Und wie soll ich das überhaupt anstellen? Ich kann ja schlecht zu der erstbesten Person gehen, die mir über den Weg läuft und sie bitten, sie mal kurz beißen zu dürfen.

Bei der Vorstellung kam ein kurzes, trockenes Lachen aus meiner Kehle.

„Was ist denn so lustig, Alina?“

„Wie? Ach, gar nichts.“

Wir ließen Kensington nach einer Weile hinter uns. Ich lehnte mich auf der Bank zurück und schloss kurz die Augen, um mich zu beruhigen. Mein Herzschlag ging vor Aufregung bereits jetzt unregelmäßig, wie ich durch eine Berührung meines Brustkorbes mit der Hand feststellte. Wie sollte das erst werden, wenn wir ankamen, wo immer das auch war? Bis dahin würde ich sicherlich das reinste Nervenbündel sein.

Dann spürte ich, wie jemand meine Hand ergriff und sah auf. Yami, der mir gegenüber saß, drückte sie und beugte sich zu mir.

„Du musst nicht nervös sein. Es ist halb so schlimm, wie du denkst.“

Dabei blickte er mir tief in die Augen. Immer wenn er mich so ansah, strahlte sein Blick etwas Beruhigendes aus. Diese Rubinaugen ... Bei allen Juwelieren Londons fand man vermutlich keinen Stein, der solch einen perfekten Farbton hatte. Solch ein Feuer, das mich immer wieder gefangen nahm, dass ich kaum den Blick von ihm wenden konnte.
 

Die Kutsche kam ratternd zum Stehen. Ich sah mich um, die Gegend kam mir bekannt vor, aber ich war nur sehr selten hier gewesen und wenn, dann auch nur tagsüber.

„Warum sind wir in Whitechapel?“

Selbst mit Yami an meiner Seite fürchtete ich mich vor dieser Gegend. Whitechapel gehörte zu den Elendsvierteln von London und zog alle Arten von Verbrechern an, gleichgültig ob Diebe, Mörder oder Vergewaltiger. Außerdem hatten sich hier die Morde ereignet, die Jack the Ripper zugeschrieben wurden, was mir diesen Ort gleich noch mal so unheimlich machte.

Als Frau nachts allein in diesen Straßen unterwegs zu sein, war in etwa so sicher, wie für ein Schaf durch das Lager eines Wolfsrudels zu spazieren.

„Für Menschen mag es hier nicht ungefährlich sein, Alina, aber für uns ist diese Gegend ein perfektes Jagdrevier. Es ist leicht, an die Leute heranzukommen. Und es gibt genug dunkle Straßen, in denen wir uns verstecken können, während wir warten.“

Er führte mich in eine schmale Seitengasse, wo ich auf ihn warten sollte.

„Lass dich von niemandem sehen, halt dich in den Schatten versteckt, es darf keiner auf dich aufmerksam werden“, sagte er noch, dann verschwand er. Ich lehnte mich mit einem leisen Seufzen an eine Hauswand.

Die Minuten verstrichen, ohne dass Yami zurückkam.

Ich begann mir Sorgen zu machen. Ich hatte zwar meinen Dolch bei mir, aber ich kannte Whitechapel nicht gut genug, um allein aus dem Viertel heraus zu finden, falls ihm etwas zustieß.

Ein Betrunkener torkelte über die Straße. Er schwenkte eine halb leere Schnapsflasche, wobei er die Hälfte noch verschüttete. Obwohl er noch mindestens dreißig Meter von meinem Versteck entfernt war, stieg mir sein Gestank in die Nase, eine Mischung aus Alkohol, Schweiß und Zigarettenqualm. Ich hielt mir die Hand vor die Nase. Widerlich! Konnte sich der Kerl nicht mal waschen?

Zwischendurch nahm er einen Schluck aus seiner Flasche. Als er auf gleicher Höhe mit mir war, blieb er stehen und sah sich um. Meine Hand fuhr augenblicklich an den Dolch und ich verhielt mich mucksmäuschenstill. Jetzt nur kein falscher Laut. Wenn ich entdeckt wurde ... das malte ich mir lieber nicht aus. Ich wusste nur zu gut, wie unberechenbar ein Betrunkener sein konnte.

Er rülpste laut und lallte etwas Unverständliches, bevor er seinen Weg schwankend fortsetzte, wobei er mit dem Kopf gegen einen Laternenpfahl stieß. Au, das würde böse Kopfschmerzen geben, zusätzlich zu seinem Kater. Doch er hatte mich nicht gesehen, das war die Hauptsache. Ich atmete erleichtert aus.

„Alina.“

Ich fuhr herum. Yami stand neben mir. Wie schafft er es bloß immer, einfach so aus dem Nichts aufzutauchen?

„Erschreck mich doch nicht immer so, mir wäre fast das Herz stehen geblieben“, beschwerte ich mich bei ihm.

„Das nächste Mal werde ich vorher in eine Trompete blasen, um mich

anzukündigen“, sagte Yami und das auch noch mit so ernster Miene, dass ich nur mit größter Mühe einen Lachanfall unterdrücken konnte. Ich musste mir auf die Lippen beißen, als sich auf seinem Gesicht ein belustigtes Grinsen zeigte.

Dann erst bemerkte ich die Gestalt zu seinen Füßen. Es war eine junge Frau Anfang zwanzig. Es war auf den ersten Blick zu erkennen, welchem Gewerbe sie nachging. Die dick aufgetragene Schminke und das billige, stark riechende Duftwasser, mit dem sie sich eingesprüht hatte, verrieten sie. Sie war ohnmächtig. Ich sah Yami fragend an.

„Sie ist zusammengebrochen, kaum dass ich angefangen hatte“, erklärte er. An ihrem Dekolleté entdeckte ich zwei kleine Wunden. Ich wandte mich entsetzt ab.

„Ich kann das nicht, Yami.“

„Hatten wir diese Diskussion nicht schon, Alina?“

„Ja, schon, aber ... gestern das Blut ... also ... ich“, stammelte ich herum.

„Bevor es in dieses Glas gefüllt wurde, ist es durch einen menschlichen Körper geflossen, genau wie das Blut dieser Frau.“

Er hockte sich neben sie und zog mich an der Hand zu sich herunter.

„Unsere Opfer sterben nicht unbedingt. Das hängt davon ab, wie viel du von ihrem Blut nimmst. Du kannst deinen Durst stillen und sie überleben es trotzdem, ohne dass sich etwas für sie ändert. Sie fühlen sich in den folgenden Tagen nur etwas schwach. Oder du kannst sie bis zum letzten Tropfen leer trinken. Dann sterben sie entweder oder du gibst ihnen von deinem Blut und machst aus ihnen einen Vampir. Davon allerdings würde ich dir abraten. Wenn wir jeden, den wir beißen, verwandeln würden, wäre die Erde bald von unserer Rasse überschwemmt und wir müssten anfangen, uns gegenseitig zu jagen oder uns auf Tiere beschränken.“

„Aber, Yami ... ich ...“

Wie sollte ich ihm das nur begreiflich machen, dass es mir so schwer fiel? Mein Magen verkrampfte sich schmerzhaft, einerseits wegen des Gedankens an das Töten Unschuldiger, andererseits wegen meines Hungers. Dann nahm ich einen metallischen, leicht süßen Geruch wahr.

Ich schnüffelte leicht. Er kam von der Frau.

Meine Zunge glitt über meine kleinen spitzen Eckzähne.

„Trink nicht zuviel und du musst dir um sie keine Gedanken machen. Aber du musst dich beeilen, bevor sie wach wird, Liebes.“

Ich zog die Frau vorsichtig ein Stück hoch. Meine Augen wanderten zu Yami zurück, er nickte mir aufmunternd zu. Erneut meldete sich mein Magen mit einem lang gezogenen Knurren zu Wort. Es hatte keinen Zweck, sich länger dagegen zu sträuben.

Meine Zähne bohrten sich vorsichtig in die Haut der Frau und durchdrangen das weiche Fleisch, bis ich die ausströmende warme Flüssigkeit an meinen Lippen spürte. Ich begann zu trinken. Da war es wieder, dieses wärmende Gefühl, doch ich fühlte auch die wachsende Angst der Frau. Sie wurde immer mächtiger, bis sie sich wie meine eigene anfühlte. Mein ganzer Körper bebte unkontrolliert. Eisige Hände umklammerten mein Herz und schienen es geradezu zu zerquetschen. Erschrocken ließ ich die Frau los und sprang wie ein gehetztes Reh auf.

Yami betrachtete unser Opfer einen Moment lang und wandte sich dann zu mir um.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, sie wird es überleben. Ansonsten hätte ich dich schon gestoppt. Seth, Mai und ich haben eine Vereinbarung. Wir nehmen immer nur soviel, wie wir brauchen, ohne das Leben des Menschen zu gefährden. Wenn wir jede Nacht einen Menschen töten würden, wären wir unseres Lebens hier nicht mehr sicher. Alle Jäger in London und Umgebung würden sofort auf uns aufmerksam werden. Und nun lass uns nach Hause gehen. Für heute reicht es.“

Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, die Frau so einfach da liegen zu lassen, doch ich wagte es nicht, mich Yami zu widersetzen. Außerdem war ich noch viel zu verwirrt. Ich verstand nicht, was da gerade los gewesen war.

Die Kutsche wartete ein paar Straßen weiter auf uns.
 

Der Kutscher knallte mit seiner Peitsche durch die Luft und trieb die Pferde mit ein paar Zungenschnalzern an. Er wollte seine Fahrgäste so schnell es ging zu dem Ort bringen, den sie ihm genannt hatten. Hauptsache, er wurde sie los. Sie waren ihm nicht geheuer, weder der Mann noch die junge Frau, die ihn begleitete. Auch das nervöse Wiehern seiner zwei schwarzen Pferde, als die beiden in Kensington eingestiegen waren, machte ihm Gedanken. Als hätten sie vor ihnen Angst gehabt.

Und dann erst dieser Zielort! Sie stammten eindeutig aus besseren Kreisen, in Kensington hatten nur der Adel und die sehr reichen Angehörigen der Mittelschicht ihre Häuser. Was hatten diese Leute also ausgerechnet in Whitechapel zu suchen, einer der am meisten verrufenen Gegenden der Stadt? Da konnte doch nur irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugehen.

Während die Kutsche durch die Straßen rumpelte und dabei mehrere Katzen aufschreckte, saßen sich die beiden Passagiere im Inneren der Kutsche einander gegenüber, ohne ein Wort miteinander zu wechseln.

Alina blickte starr aus dem Fenster und beobachtete die an ihr vorüber ziehenden Häuser. Nachdem sie getrunken hatte, hatte ihr Gesicht etwas mehr Farbe bekommen, wie Yami erfreut festgestellt hatte. Allerdings machte ihm ihre Reaktion von eben Sorgen. Wie sie vor der Frau zurückgeschreckt war. Er hatte seinen Geist mit ihr verbunden, um herauszufinden, was los war und so hatte auch er es bemerkt. Die Angst, die in der Frau aufgestiegen war. Sie hatte sich auf Alina übertragen und ihr alle Sinne vernebelt. Es war ihm nicht gelungen, geistig noch weiter zu ihr zu dringen und sie zu beruhigen.

Sie muss die Verbindung mit ihrem Opfer unbewusst vollzogen haben, ohne dass sie es mitbekommen hat. Vielleicht hat ihre eigene Angst das Tor dafür geöffnet und ihren Geist anfälliger dafür gemacht, überlegte er. In diesem frühen Stadium als Vampir ist es eigentlich ungewöhnlich, dass sie schon über so starke geistige Fähigkeiten verfügt. Sonst kommt das immer erst mit der Zeit. Aber wenn man bedenkt, woher Alina stammt ... dann ist es eigentlich doch nicht so ungewöhnlich. Ich sollte nicht zu lange warten, bevor ich sie über alles aufkläre. Aber ein paar Tage zur Eingewöhnung muss ich ihr schon noch lassen. Denn das ... das wird vermutlich der Schock ihres Lebens werden.

Die Gegend wurde nun vertrauter. Sie kamen durch die Parliament Street und fuhren am Palace of Westminster mit dem Big Ben vorbei. Yami zog eine goldene Taschenuhr aus seinem Jackett hervor und warf einen Blick auf das Zifferblatt.

„Ah, sehr gut, wir kommen gerade pünktlich zum Abendessen.“

„Abendessen?“ Sie hatte sich sicher verhört. „Aber haben wir nicht gerade ...“

„Ja, aber ich meine richtiges Essen. Anna wollte es sich nicht nehmen lassen, dich mit einem dem Anlass gebührenden Essen zu begrüßen.“

„Vampire können auch ganz normal essen?“

„Mit dem kleinen Unterschied, dass es uns nicht sättigt. Es wird zwar soweit zersetzt, aber die Nährstoffe werden nicht herausgeholt, die bekommen wir nur durch das Blut, das wir trinken.“
 

Mai erwartete uns zu Hause voller Ungeduld im Speisezimmer. Von diesem mysteriösen Seth war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Dabei war ich so gespannt darauf, ihn kennen zu lernen. Aber meine neue Freundin vertrieb ihn atemberaubend schnell aus meinen Gedanken. Sie ließ mir kaum genug Zeit, Hut und Mantel abzulegen, als sie mich auch schon über unseren Ausflug auszufragen begann.

„Und wie fandest du dein erstes Mal?“ Ich verzog den Mund. „War es so schlimm?“, fragte sie mitfühlend.

„Es war ... ja, es war schlimm.“

Ich schilderte ihr mit wenigen Worten, was geschehen war. Sie wechselte einen kurzen Blick mit Yami.

„Interessant“, sagte sie nur, „aber das geht vorbei, du wirst sehen. Bald ...“

Sie brach mitten im Satz ab, als die Tür zum Speisezimmer geöffnet wurde und Alex und Christa eintraten, um das Essen zu servieren. Auf der weißen Damasttischdecke standen Teller aus edlem Meißener Porzellan, daneben lag silbernes Besteck. An jedem Platz standen mehrere der kunstvoll geschliffenen Kristallgläser, die je nach Gang mit Weißwein, Rotwein oder Sherry gefüllt wurden.

Als Vorspeise bekamen wir eine Fischterrine vorgesetzt, danach Rindersteak, medium gebraten, mit gemischtem Gemüse und Kartoffeln und zum Abschluss Crème Caramel mit flambierten Orangen.

Im Vergleich zu meiner vorangegangenen Mahlzeit schmeckte das Essen irgendwie ... lasch. Dieses Eindrucks konnte ich mich nicht erwehren. Trotzdem genoss ich das mit Liebe zubereitete Essen in vollen Zügen. Besonders die Creme zerging einem förmlich auf der Zunge.

Während des Essens ließ sich Yami berichten, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte.

„Und was ist mit Seth? Ich hatte ihm ausdrücklich gesagt, dass ich ihn heute Abend beim Essen hier zu sehen wünsche, um ihm Alina vorstellen zu können.“

„Er hat nur gesagt, er habe keinen Hunger und würde darum auf seinem Zimmer bleiben und später noch ausgehen. Das Übliche eben. Du kennst ihn ja“, erwiderte Mai.

„Ja, ja, ich kenne ihn. Aber das ist von ihm nur noch grob unhöflich zu nennen. Ich gehe gleich noch mal zu ihm und rede mit ihm, möglich, dass er später doch noch zu uns runterkommt. Es ist nicht gut für Seth, wenn er immer nur allein in seinem Zimmer ist oder sich draußen herumtreibt.“

Mai nickte zustimmend. Das alles machte mich nur noch neugieriger auf ihn.

Da sich Alex und Christa dauernd im Raum befanden, um uns zu bedienen, hatte Mai erst einmal keine Gelegenheit mehr, mich noch weiter ins Verhör zu nehmen, was mir ganz recht war. Ich wollte nicht ständig darüber sprechen, ich musste das alles selbst erst einmal verdauen.

War es immer so? Dann wusste ich jetzt schon, dass ich bald nicht mehr leben würde. Wenn ich jedes Mal, wenn ich jemanden biss, in dieser starken Form seine Gefühle teilen musste, würde mich das früher oder später mit Sicherheit wahnsinnig machen.
 

Nach dem Essen wünschte ich mir nichts anderes mehr, als etwas allein zu sein.

Und so zog es mich in die Bibliothek. Diese besondere Liebe zum geschriebenen Wort hatte ich von meinem Vater geerbt. Die Bibliothek ging über zwei Stockwerke und war mit wertvollen dunklen Hölzern vertäfelt. In den oberen Bereich führte eine schmale Wendeltreppe. Der Raum war mit einem großen Lesetisch aus Mahagoni, Sesseln, die geradezu zum Lesen einluden, und einem Kamin ausgestattet, über dem ein Blumengemälde hing. Mehrere Lampen tauchten den Raum in helles Licht.

Während ich die Regale durchstöberte, fand ich viele Bücher wieder, die früher meinen Eltern gehört hatten. Vielleicht war den späteren Besitzern unseres Hauses die Sammlung zu umfangreich gewesen oder sie hatten einfach keine Verwendung dafür gehabt.

Langsam fuhr ich mit den Fingern die langen Bücherreihen entlang. Die Bibliothek enthielt unzählige Klassiker europäischer Schriftsteller und Dichter, unter anderem eine komplette Sammlung der Werke von Goethe und Charles Dickens, aber auch viele Werke Shakespeares. Meine Mutter war in den Mann und seine Stücke geradezu vernarrt gewesen und sie hatte mich damit natürlich angesteckt. Mit neun Jahren hatte ich Romeo und Julia und etliche seiner Gedichte verschlungen, auch wenn mir ihr tieferer Sinn damals größtenteils noch ein Rätsel gewesen war. Ich hatte sie damals eher als spannende Geschichten betrachtet, aber das hatte sich in den folgenden Jahren natürlich gründlich geändert. Heute brachten sie mich eher zum Träumen.

Ich zog mich mit einer älteren, wundervoll illustrierten Ausgabe von Shakespeares Was ihr wollt in eine Ecke zurück und begann zu lesen. Mit jedem Wort, das ich las, wurde mir mehr bewusst, wie sehr ich all diese kleinen Dinge und Annehmlichkeiten vermisst hatte. Die einzige Lektüre, die ich in den letzten Jahren gehabt hatte, waren weggeworfene Zeitungen und hin und wieder ein Buch gewesen, das ich mir aus der öffentlichen Bücherei ausgeliehen hatte. Damit hatte ich auch Maria das Lesen und Schreiben beigebracht. Wegen ihrer ständigen Arbeit hatte sie ja keine Gelegenheit, eine Schule zu besuchen.

Die Welt um mich versank in absolute Bedeutungslosigkeit. Ich tauchte immer tiefer in die Welt um Rosalind und Orlando ein. Ihre Geschichte war einfach zu rührend. Rosalind strandete nach einem Schiffbruch im Land von Orlando. Um sich nicht in Gefahr zu bringen, verkleidete sie sich als Junge. Als sie sich dann jedoch in Orlando verliebte, konnte sie es ihm deshalb nicht gestehen.

„Was liest du da? He, Alina, redest du nicht mit mir?“

Ich fuhr wie aus einem Traum hoch.

„Wie? Oh, ich hab dich gar nicht gehört, Yami.“

„Das habe ich gemerkt.“ Er beugte sich über meine Schulter und nahm mir das Buch aus der Hand, um einen Blick auf den Umschlag zu werfen.

„Eine interessante Lektüre“, bemerkte er und ließ das Buch auf den Tisch vor mir sinken.

Als ich ihn so dicht neben mir fühlte, musste ich unweigerlich wieder an seine Küsse denken. Ich erhob mich rasch und entfernte mich ein paar Schritte. Abstand, bloß Abstand gewinnen. Ich öffnete eines der Fenster des kleinen Erkers. Der kalte Wind strich mir über die viel zu warmen Wangen.

Dieser Mann verwirrt mich viel zu sehr, das ist gar nicht gut.
 

Plötzlich legten sich zwei Arme um meine Taille und meine Schultern. Ich drehte den Kopf leicht zur Seite und erblickte Yami. Er hatte seine Jacke ausgezogen und über einen der Sessel gehängt.

„Bist du immer noch böse auf mich, dass ich dich gebissen habe?“, fragte er unvermittelt. Woher wusste er das? Hatte er wieder meine Gedanken gelesen? Spätestens bei meinem Zurückschrecken heute Abend musste er es ja gemerkt haben. Aber war ich ihm böse wegen des Bisses?

„Nun ja ... nein ... es ist alles so ... ungewohnt“, versuchte ich auszuweichen. „Und es fühlt sich seltsam an.“

„Meinst du seltsam im Sinne von aufregend oder abstoßend?“, hakte er nach.

„Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass es nicht irgendwie ... aufregend ist.“

Es war beides, zum einen aufregend, nicht zuletzt wegen des Mannes, der mich fest umschlungen hielt, und zum anderen abstoßend, was die Sache mit dem Bluttrinken anbelangte.

Yami lächelte und schob den Kragen meines Kleides etwas zur Seite.

„Gut, es ist fast nichts mehr zu sehen. Bis morgen Nacht sind deine Wunden verheilt.“

Er zog mich näher zu sich. Durch den dünnen Stoff seines Hemdes konnte ich die Wärme spüren, die von ihm ausging. Die leicht angespannten Muskeln seiner Arme, mit denen er mich umschlossen hielt. Warmer Atem glitt über meine Haut und versetzte meinen Magen in neuerliche Krämpfe, doch dieses Mal nicht vor Schmerzen. In meinem Inneren fing gerade ein Sturm von Schmetterlingen an, sich so richtig auszutoben.

Seine Lippen kitzelten mich am Hals, als sie ihn berührten. Noch fester drückte er mich an sich. Unsicher, wie ich mich verhalten sollte, blieb ich still stehen und ließ ihn gewähren. Kurz schloss ich die Augenlider und genoss das prickelnde Gefühl, das mich durchströmte.

Dann drehte ich mich zu ihm um und versank in der nächsten Sekunde in der Tiefe seiner rubinroten Augen. Meine Hände legten sich wie von selbst um ihn und blieben auf seinem Rücken liegen.

Sein Mund arbeitete sich unter vielen kleinen Küssen, die er auf meinem Hals und meiner Wange platzierte, zu meinem Mund hinauf und verschmolz mit ihm. Es war ganz anders als die Male zuvor, Yami war viel fordernder. Seine Zunge stieß gegen meine Lippen, forderte sie auf, sich zu öffnen, und begann, kaum dass ich seinem Wunsch nachgegeben hatte, mit der Erkundung meiner Mundhöhle. Zwischen unseren Zungen entbrannte ein kleiner Kampf, wieder und wieder stießen sie gegeneinander, verknoteten sich, nur um sich im nächsten Moment voneinander zu lösen.

Was tat ich da? Warum stieg ich so auf sein Spiel ein? Aber es gefiel mir.

Seine eine Hand schob sich langsam von der Taille über meine Oberschenkel, die andere streifte meine Brust, glitt dann meinen Arm hinauf und herunter. Plötzlich fühlte ich eine Hand dicht unterhalb meines Pos.

Erst jetzt erkannte ich, was er vorhatte. Wie hatte ich das nur vergessen können. Yami mochte in erster Linie ein Vampir sein, aber er war auch ein Mann!

In meinem Kopf jagte alles durcheinander. Diese sanften Berührungen ... der Duft, der von ihm ausging ... Ich mochte ihn, aber das ...

„Alina ...“

Nur leise gehauchte Worte, die mich erzittern ließen, etwas tief in mir zum Glühen brachten. Fast drohte mir mein Verstand schon den Dienst zu versagen. Doch wenn ich mich darauf einließ ... Ich hatte soviel aufgegeben, selbst meinen eigenen Namen. Aber es gab eine Sache, über die immer noch ich allein die volle Verfügungsgewalt hatte.

Moment mal ... ist das etwa der Grund, weshalb ...

„Nein!“

Schwer atmend stieß ich ihn von mir und stolperte ein paar Schritte zurück, wobei ich gegen ein Bücherregal stieß. Sofort fuhr ein stechender Schmerz durch meine Schulter.

„Was soll das, Yami? Du hast gesagt, mein Leben als Mensch wäre elend gewesen. Sollte ich das etwa gegen ein Leben als deine Mätresse tauschen? Hast du deshalb einen Vampir aus mir gemacht?“

Wollte er mich die ganze Zeit über nur in sein Bett kriegen? Dumme Frage, Alina, welchen Grund hätte er sonst haben sollen?

Sein Gesicht verfinsterte sich.

„Jede andere Frau wäre froh und glücklich, wenn ich sie zu meiner Geliebten machen würde.“

„Ich bin aber nicht jede andere. Glaubst du, nur weil du mich geschaffen hast, bin ich verpflichtet, dir zu dienen?“, fauchte ich. „Wenn du dich abreagieren willst, musst du dich an eine andere wenden. Vielleicht ist ja Mai dazu bereit, wo sie dir so treu ergeben ist!“

Ich biss mir auf die Lippe, das hatte ich gar nicht sagen wollen. Ich fand Mai doch so nett.

„Mai mag mir dienen, aber nicht in solchen Dingen“, sagte Yami. „Du solltest besser nachdenken, bevor du etwas sagst, was du hinterher bereust.“

„So? Dann solltest du nachdenken, bevor du etwas tust“, erwiderte ich scharf und drehte mich auf dem Absatz um. Die Tür fiel krachend hinter mir zu.
 

Yami lehnte sich seufzend gegen den Fensterrahmen.

Toll, einfach wunderbar gemacht!, sagte er zu sich selbst. Jetzt hasst sie mich.

Aber vielleicht war es besser so. Sollte sie doch denken, er hätte sie gebissen, um sie zu seiner Geliebten zu machen. Ganz abstreiten konnte er das nicht einmal. Er hätte sich selbst belügen müssen, hätte er es getan.

Ja, er hatte mit dem Gedanken gespielt. Aber dann ... Er hatte ihm geschworen, dass niemand Alina je etwas antun würde und das schloss ihn, ganz besonders ihn, mit ein. Er war schon sehr weit damit gegangen, sie zu einer Vampirin zu machen, doch die Umstände hatten ihm keine andere Wahl gelassen. Wie sonst hätte er sie zu sich holen sollen? Sie hätte ihm doch nie und nimmer auch nur ein Wort geglaubt, wenn er versucht hätte, ihr die Angelegenheit zu erklären.

Wenn sie wüsste, was der wahre Grund für sein Handeln war ... aber den konnte er ihr noch nicht verraten. Im Augenblick zumindest unter keinen Umständen. Es würde sie nur noch mehr verängstigen – wenn sie ihm überhaupt glaubte. Auch jetzt zweifelte er noch daran. Etwas Zeit musste er ihr – ihnen beiden – noch lassen.

Aber irgendetwas musste er tun, damit er ihr Vertrauen nicht verlor. Sonst war Alina schneller aus seinem Haus verschwunden als er „Lass mich erklären“ sagen konnte. Warum mussten Frauen nur immer so kompliziert sein? Und Vampirfrauen waren noch eine ganze Ecke schlimmer! Das kannte er zur Genüge von Mai. Wenn sie eine ihrer Launen hatte ... dann war es immer besser, ihr für eine Weile aus dem Weg zu gehen, da nahm sie selbst auf ihn keine Rücksicht.

Aber was machte er nun mit Alina? Die Antwort sprang ihm förmlich entgegen.

Sein Blick blieb auf Alinas liegen gelassenen Lektüre ruhen. Aber natürlich! Er wusste, wie er sie wieder versöhnlich stimmen konnte.
 


 


 

So, zu guter Letzt noch ein kleines Nachwort von mir. Alina muss sich erst mal daran gewöhnen, dass sie nicht mehr in die Sonne gehen darf, und da sie deren Licht sehr liebte, fällt es ihr besonders schwer, das zu akzeptieren. Da war Yamis kleine Standpauke unvermeidbar, er macht sich nun mal Sorgen um sie.

Jetzt ist es also gewissermaßen amtlich, Alina hatte ihre erste „Mahlzeit“ (womit sich die Klammer im Titel erklären durfte). Was es wohl damit auf sich hatte, dass sie die Gedanken der Frau hören konnte, obwohl gerade geborene Vampire diese Fähigkeit noch gar nicht haben? *grins*

Und bevor sich jetzt einige von euch darüber aufregen, dass Yami, Alina und Mai auch normales Essen zu sich nehmen: Ich habe lange im Internet recherchiert, um etwas über vampirische Lebensgewohnheiten und Anatomie herauszufinden und bin auf etwa 1000 Widersprüche gestoßen. Über ihre Ess- bzw. Trinkgewohnheiten wird noch genauso gestritten wie über die Frage, ob sich mächtige Vampire gefahrlos im Sonnenlicht bewegen können. Also nehmt es mir nicht übel, wenn ich mal vom „Autonormal-Vampir“ abweiche.
 

Die Bibliothek war sozusagen „Die Leiden des Yami Teil 2“. ^_^ Tja, irgendwie macht es mir Spaß, ihn ein bisschen zu ärgern. Aber er konnte sich eben nicht mehr beherrschen, als er sie in der Bibliothek gesehen hat. Nur ist Alina mit seinem Handeln ja offenbar gar nicht einverstanden, auch wenn sie fast schwach geworden wäre.

Ich werde versuchen, das nächste Kapitel so schnell wie möglich fertig zu stellen und hoch zu laden. Bis dahin …
 

Eure Moonlily

Seth

Kapitel 11

Seth
 

Ich hastete durch die Haupthalle zur Garderobe, viel zu verwirrt, um auch nur einen einzigen klaren Gedanken fassen zu können.

Yami, dieser ... dieser ... Argh!

Nicht mal in Gedanken kamen mir die richtigen Worte in den Sinn, um meine Gefühle auch nur annähernd zu beschreiben. Wut, Enttäuschung, Verzweiflung, das Gefühl von Verrat ... das alles und noch vieles mehr mischte sich in mir.

Yami, dieser gemeine Lügner! Was denkt er sich eigentlich? Soll ihn doch der Teufel holen!

„Alina, was ist denn passiert?“ Mai kam wie ein Blitz aus dem Kaminzimmer herausgeschossen.

„Ich habe aus der Bibliothek Lärm gehört. Sag schon, was ist los? Es klang, als hättet ihr euch gestritten.“

Ich ging in die Haupthalle zurück, meinen Mantel über dem Arm. Mai sah mich beunruhigt an.

„Frag das lieber Yami! Diesen ...“, meine Stimme überschlug sich vor Aufregung, „diesen Idioten, diesen ... diesen Mistkerl! Hätte ich das geahnt, hätte ich nie eingewilligt, ein Va ...“

Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund, da hatte sich mein Gehirn offenbar gerade noch in letzter Sekunde wieder eingeschaltet. So wütend ich auch auf Yami war, ich durfte nicht eine der wichtigsten Regeln in diesem Haus außer Acht lassen: Erwähne nie, dass du ein Vampir bist! Trotzdem überraschte es mich selber, dass ich selbst in dieser Situation noch an so etwas dachte.

„Hättest du was geahnt?“, fragte Mai mit ruhiger Stimme.

„Das soll er dir schön alles selbst sagen, ich bin dazu grad nicht in der Lage“, erwiderte ich und warf mir mit einer weit ausholenden Bewegung den Mantel um die Schultern. Der Stoff streifte eine Blumenschale, die gefährlich ins Wanken geriet und sich gerade noch in letzter Sekunde wieder von selbst ins Gleichgewicht brachte. Und wenn sie umgefallen und das wertvolle Porzellan zersprungen wäre, es wäre mir so was von egal gewesen!

Ich hielt es nicht länger in diesem Haus aus, keine Sekunde länger! Obwohl die Haupthalle der mit Abstand größte Bereich des ganzen Hauses war, kam sie mir plötzlich unheimlich beengend und bedrückend vor. Und die Bibliothek ... Mein Blick flog zu der Tür zurück, die ich vor einigen Sekunden so überaus schwungvoll hinter mir zugeknallt hatte. Dahinter war Yami.

„Ich gehe raus, ich brauche frische Luft“, sagte ich noch, während ich mir ein Paar Wollhandschuhe gegen die Kälte überstreifte.

Dann ging ich mit schnellen Schritten durch das Vorderfoyer, bevor Mai noch die Chance bekam, etwas zu erwidern.

Ja, vor einer Sache davonzulaufen, war nicht unbedingt die beste Lösung, das wusste ich. Aber in manchen Fällen, so wie jetzt, war es für mich besser, erst einmal die Flucht anzutreten. Wenn ich mich zu sehr aufregte, rutschten mir leicht Sachen heraus, die ich gar nicht so meinte oder die ich eigentlich für mich behalten wollte.

Was ich jetzt brauchte, war etwas Ruhe, um über alles nachdenken zu können
 

Draußen lehnte ich mich an eine der weißen kannelierten Säulen, welche den Eingang des Hauses flankierten und den rechten Eckturm mit den Erkern stützten. Die Kühle des Steins in meinem Rücken drang rasch durch meinen Mantel hindurch. Meine Hand strich über den blanken, glatten Marmor. Die kalte Nachtluft war jetzt genau das, was ich brauchte.

Wenn ich es mir ganz genau überlegte ... Nein, einen Lügner konnte ich Yami eigentlich nicht nennen. Er hatte niemals abgestritten, mehr von mir zu wollen. Allerdings hatte er bisher auch nie konkrete Aussagen in der Richtung gemacht.

Trotzdem, ich hätte es mir doch denken können! Ich hätte mir doch denken können, dass hinter Yamis ganzen Aktionen mehr als reine Freundlichkeit gesteckt hatte. Welcher halbwegs vernünftig denkende, reiche Geschäftsmann holte schon ein wildfremdes armes Mädchen zu sich nach Hause, gab ihr ein derartig luxuriöses Dach über dem Kopf und überhäufte sie mit Kleidern und kostbaren Dingen, ohne Hintergedanken zu haben? Niemand! Eher wäre dieser Mensch ohne Umschweife in die nächste Psychiatrie eingewiesen worden. Und Yami ...

Bereits an dem Abend, als er mich von der Straße in die dunkle Seitengasse gezogen hatte, um mich zum ersten Mal zu beißen, hätte ich misstrauisch werden müssen. Ja, ja, hätte ... Aber da war ich noch zu sehr mit meiner Angst beschäftigt gewesen und der plötzlichen Erkenntnis, dass die Geschichten meiner Mutter doch sehr viel mehr als bloße Gute-Nacht-Geschichten gewesen waren. Ein typischer Fall von Schockzustand, wie aus dem Lehrbuch.

Wundervoll, jetzt werde ich auch noch sarkastisch!

Und was war mit dem darauf folgenden Abend? Spätestens da ... spätestens an seinen Küssen hätte ich merken müssen, dass er mehr im Sinn hatte als nur an mein Blut heranzukommen.

Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss für eine Weile die Augen.
 

„Was hat das wieder zu bedeuten?“, murmelte Mai kopfschüttelnd, als Alina verschwunden war, und marschierte auf die Bibliothek zu. Sie fand Yami vor dem Lesetisch stehend, ein Buch in der Hand, dessen Umschlag er mit geistesabwesendem Blick anstarrte. Mai räusperte sich laut, um sich bemerkbar zu machen. Yami hob den Kopf. In seinen Augen lag ein Ausdruck, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Er wirkte ... verloren. Als er sich ihr zuwandte, sah er im ersten Augenblick noch etwas verwirrt aus, doch dann setzte er seine übliche, undurchsichtige Miene auf, mit der er immer seinen Geschäftspartnern gegenüberzutreten pflegte. Keine einzige Gefühlsregung ließ sich nun von seinem Gesicht ablesen.

„Würdest du mir bitte den Grund verraten, warum Alina eben an mir vorbei gerannt ist und total durch den Wind war?“

„Es ... ist nichts“, sagte er und legte das Buch auf den Tisch.

Er zögert bei seiner Antwort ... ungewöhnlich.

Nun baute sie sich vor ihm auf, so wie sie es bei Samantha und Beth getan hatte, und taxierte ihn von oben bis unten.

„Also DAS kannst du mir nicht erzählen, Yami.“

Er versuchte rechts an ihr vorbeizugehen und sie machte einen Schritt in die Richtung. Schön, also die andere Seite. Und wieder stellte sie sich ihm in den Weg.

„Was soll das?“, fragte er, woraufhin er nur einen erwartungsvollen Blick von Mai erntete. Allmählich riss Yami der Geduldsfaden. Er schob sie grob zur Seite und ging auf die Tür zu. Kurz bevor er sie erreichte, tauchte sie plötzlich vor ihm im Türrahmen auf und streckte den Arm zur Seite, womit sie ihm den Durchgang ein weiteres Mal versperrte.

„Lass mich vorbei, Mai. Ich bin gerade nicht in der Stimmung für diese Art von Scherzen.“

„Ich lasse dich durch – aber erst, wenn du mir gesagt hast, was zwischen dir und Alina vorgefallen ist.“

„Das geht dich nichts an. Das ist eine Sache zwischen uns beiden.“

„So, so, das geht mich nichts an? Und wer hat mir aufgetragen, mich um Alina zu kümmern? Das warst du, mein Lieber! Wenn es ihr nicht gut geht, ist es ja wohl meine Aufgabe, herauszufinden, warum das so ist.“

„Wäre es dann nicht eher deine Aufgabe, dich um sie zu kümmern, anstatt mir Löcher in den Bauch zu fragen?“, gab er zurück. „Und ich habe dir gesagt, es geht dich nichts an.“

„Alina wollte eine Weile alleine sein und den Gefallen hab ich ihr getan. Die Kleine war ja richtig aufgelöst, also geht mich die Sache sehr wohl etwas an.“

Mais Stimme schwoll mit jedem Wort mehr an.

Auf ihrer Stirn bildeten sich kleine Zornesfalten. Yami konnte sie noch so oft vor diesen Jägern gerettet haben, es ging hier um ihren Schützling.

Yami seufzte leise. Mai konnte ja so verflucht hartnäckig sein! Wenn er ihr nicht antwortete, würde sie ihn entweder bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag damit nerven oder die Antwort aus Alina herauszuholen versuchen.

„Also gut, du hast gewonnen. Ich erzähle es dir.“

Mai sah ihn zufrieden an.

„Na bitte, warum nicht gleich so? Ich bin ganz Ohr.“

„Es war eigentlich nichts Schlimmes. Ich habe sie nur geküsst und ...“

Die Vampirin ließ ein trockenes Lachen hören.

„Das kann aber kein gewöhnlicher Kuss gewesen sein, Yami. Sonst hätte Alina wohl kaum so reagiert.“

„Nun ... etwas intensiver war er vielleicht ...“

„Wie ich es mir dachte. Deine ‚intensiven’ Küsse kenn ich doch ... mit denen raubst du den Mädchen ja bekanntlich am liebsten den Verstand. Kein Wunder, dass sie verschreckt war. Deine Hormone müssen ja ziemlich verrückt gespielt haben.“

„Mai ...“ Seine Stimme nahm einen warnenden Unterton an.

„Nein, Yami. Hast du nicht gestern noch zu mir gesagt, ich müsse mir keine Sorgen um Alina machen und du hättest nicht die Absicht, sie zu deiner Geliebten zu machen? Und dann vergiss nicht den Schwur, den du deinem Freund –“

„Ich weiß doch selbst, was ich ihm geschworen habe. Es ist nur ... Aber das ist jetzt gleichgültig. Viel wichtiger ist, dass Alina bei uns bleibt. Aber ich glaube nicht, dass sie mir im Moment zuhören würde.“

„Ich weiß. Hmm ... ich lasse ihr noch ein paar Minuten und dann gehe ich raus und rede mit ihr.“

„Danke. Aber verrate ihr nichts. Das möchte ich ihr selbst beibringen, nach und nach.“

„Wie du wünschst. Aber wäre es nicht besser, ihr endlich reinen Wein einzuschenken? Sie hat das Recht dazu, die Wahrheit zu erfahren.“

Eine längere Pause entstand.

„Ja ...“

„Dann macht das morgen. Heute ist es besser, wenn ihr euch nicht mehr über den Weg lauft.“
 

Ich war nach wie vor zu unruhig, um ins Haus zurückzukehren. Zwar hätte ich in mein Zimmer gehen können, aber ... direkt nebenan wohnte Yami. Und wenn ich schlief ... wer konnte mir versichern, dass er nicht zu mir herüberkam und sich womöglich am Ende noch mit Gewalt nahm, was ich ihm heute Abend erfolgreich verweigert hatte? Wer wusste schon, was in ihm vorging?

Oder ging ich damit zu weit?

Krieg dich endlich mal ein, Alina, deine Fantasie geht gerade eindeutig mit dir durch!

Ich stieß mich von der Säule ab und wanderte den Kiesweg entlang, der um das Haus herumführte und die Blumenbeete abgrenzte, die direkt an der Hausmauer lagen. Die Beete waren zum größten Teil mit Rosen und Hortensienbüschen bepflanzt, die im Sommer, wenn sie in voller Blüte standen, ihren süßlichen Duft im ganzen Garten verströmten. Dazwischen standen kleine, ordentlich beschnittene Lebensbäume und Mandelbäumchen.

Meine Gedanken klärten sich allmählich. Doch die Frage nach den Gründen für Yamis Verhalten löste sich nicht. Es machte für mich einfach keinen Sinn! Egal wie oft ich darüber nachdachte. Ich drehte mich im Kreis!

Wenn er eine Geliebte gesucht hatte, warum hatte er dann ausgerechnet mich zu sich genommen? Ein unscheinbares, kleines Mädchen, das bis vor zwei Tagen Blumen verkauft hatte. In Londons Straßen gab es hunderte Mädchen und Frauen wie mich, arm und nie wissend, was der nächste Tag bringen würde.

Trotzdem hätte jede andere wesentlich besser zu ihm gepasst, die meisten meiner Freundinnen waren um einiges hübscher als ich. Und wenn er nur jemanden für sein Bett suchte, hätte er sich auch eine der unzähligen Prostituierten nehmen können, welche die Straßen der Innenstadt bevölkerten.

Und nur einmal angenommen, ich hätte ihm nachgegeben, wie wäre es dann weitergegangen? Hätte er mich auch dann noch bei sich bleiben lassen, wenn er genug von mir hatte oder hätte er mich wieder in mein altes Leben zurückgeschickt? Obwohl, richtig zurück konnte ich ja gar nicht mehr. Mein Leben fand nicht mehr am Tage statt und wenn, dann nur hinter dicht vorgezogenen Gardinen.

Aber vermutlich würde ich das sehr bald herausfinden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mich noch länger hier bleiben lassen würde, vor allem jetzt, nachdem ich ihm so eine deutliche Abfuhr erteilt hatte. Sicher kam er gleich zu mir raus und verkündete mir, dass ich verschwinden und nie wieder kommen sollte.

Alles, alles nur das nicht!, schrie alles in mir. Einmal war ich schon aus meinem Elternhaus vertrieben worden, noch ein weiteres Mal hielt ich das nicht aus. Mir stiegen die Tränen in die Augen, als ich daran dachte, was unser Streit vermutlich bewirken würde.

Mir lief ein Schauer über den Rücken, trotz des warmen Mantels fror ich. Jeder Atemzug, den ich ausstieß, gefror an der Luft sofort zu einer eisigen Nebelwolke.

Meine Schritte führten mich weiter vom Haus fort, tiefer hinein in den Garten. Es war dunkel, doch das störte mich nicht im Geringsten. Ich kannte ihn seit meiner Geburt und meine nun geschärften Vampiraugen durchdrangen die Finsternis ohne große Mühe.

Ich erkannte den von Seerosen überwucherten Teich, an dessen Ufer das nicht abgeschnittene Schilf leise im Wind raschelte. Ein Stück weiter stand ein weißer Pavillon. Dort hatten wir immer gesessen und unseren Tee getrunken. Alles an diesem Ort beschwor so viele Erinnerungen in mir herauf. Erinnerungen an eine bessere Zeit. Wo war sie geblieben? Fortgeweht, wie ein Blatt im Herbststurm.

Nach einer Weile blickte ich zum Haus zurück. In der Bibliothek brannte noch Licht und am Fenster stand Yami. Ich erkannte ihn deutlich an seiner Silhouette. Diese wilde Stachelfrisur war einfach zu markant.

Nicht sicher, ob er mich sah, setzte ich vorsichtshalber eine böse Miene auf. Sollte er ruhig sehen, dass ich sauer auf ihn war! Er hatte mich schließlich behandelt als wäre ich sein Eigentum. Als hätte ich keinen eigenen Willen!

Na, na, schalt mich da auf einmal eine leise Stimme in meinem Hinterkopf, irgendwo hat das ja wohl gestimmt. Als er mich umarmt und geküsst hat, war mein Wille kurzzeitig ausgeschaltet. Und ich war diejenige, die ihn abgestellt hat.

Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich sein Verhalten mir gegenüber für falsch hielt. Seit dem Tod meiner Eltern hasste ich jede Art von Bevormundung, denn diejenigen, die meinten, sich zu meinem Vormund erheben zu müssen, hatten stets nur ihren eigenen Vorteil im Sinn gehabt.
 

Ich blieb an einer dicken Eiche stehen. Das trockene Laub knisterte und raschelte leise unter meinen Füßen. Wieder einmal suchten mich die Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit heim.

Es war im Sommer 1878, ein sonniger Nachmittag. Meine Eltern hatten mir zum Geburtstag eine Schaukel geschenkt, auf der ich jeden Nachmittag nach dem Unterricht saß. Mama warnte mich immer wieder, ich solle nicht zu wild schaukeln, aber – wie alle kleinen Kinder – hörte ich natürlich nicht auf sie. Dafür machte es viel zu viel Spaß. Immer höher und höher schaukelte ich, bis ich das Gefühl hatte, ich würde fliegen. Das ging so, bis ich eines Tages von der Schaukel fiel und mir den Arm brach.

Tja, ich hatte eben nie wirklich viel davon gehalten, das immer brave kleine Mädchen zu spielen, das sich meine Eltern sicherlich vorgestellt hatten. Während des stundenlangen Benimmunterrichts hatte ich lieber aus dem Fenster gesehen und mir schon mal den nächsten Baum ausgesucht, auf den ich klettern wollte.

Ich lächelte still vor mich hin und legte eine Hand an den Stamm der Eiche. Meine Finger fühlten jede Erhebung der Rinde und ich konnte die Kraft des Baumes spüren, die ihn durchströmte.

Ich hatte mich in den letzten Jahren in vielen Dingen verändert, doch der Baum ... er war immer noch genau so wie früher. Nahezu unverändert trotzte er dem Strom der Zeit, er wurde nur immer stärker.
 

„Was hast du hier zu suchen?“

Völlig aus meinen Gedanken gerissen, fuhr ich herum. Das Erste, was ich sah, war ein eleganter nachtblauer Umhang, dessen Ende knapp den Boden berührte. Der spitz zulaufende Kragen war hochgeschlagen und umrahmte das ausgesprochen attraktive Gesicht eines jungen Mannes. Er hatte eine straffe Körperhaltung und das leicht spitz zulaufende Kinn verlieh ihm ein aristokratisches Aussehen.

Mir war auf den ersten Blick klar, dass ich es hier mit einem Vampir zu tun hatte. Kein Mensch der Welt konnte sich so geräuschlos an einen Vampir heranschleichen, selbst wenn dieser wie ich erst wenige Tage alt war.

Die Haare des Mannes waren kurz und braun und seine kristallklaren blauen Augen – oder waren das Saphire? – musterten mich von oben bis unten eindringlich. Dabei durchbohrten mich seine Blicke wie eisige Dolche.

Ich hätte bis dahin schwören können, dass keine Steigerung mehr möglich war, schließlich hatte ich Yamis Blick bei unserer ersten Begegnung gesehen. Dieser Kerl jedoch war die Verkörperung dessen, was man als eiskalt bezeichnen kann. Gegen ihn kam mir selbst der Nordpol einladend und warm vor.

Ich schluckte schwer, bevor ich die Worte zu einer Antwort fand.

„Ich ... ich wohne hier. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Dann musst du Alina sein. Ich bin Seth. Seth Kaiba.“

Ah, das ist er also. Eine kühle Stimme – passt zu ihm. Mai hat ganz Recht, wenn sie ihn Eisprinz nennt.

„Es freut mich, dich kennen zu lernen“, sagte ich, um ein freundliches Lächeln bemüht, und reichte ihm die Hand. Er blickte kurz darauf.

„Nur damit eins klar ist: Ich war dagegen, dich in unser Haus aufzunehmen, aber ich wollte Yami nicht widersprechen. Und ich bin nicht an deiner Freundschaft interessiert, merk dir das bitte. Lass mich am besten in Ruhe, dann werden wir keine Probleme miteinander bekommen. Ach, und noch etwas. Mein Zimmer ist für dich tabu. Solltest du jemals dort reinkommen, ohne dass ich dir die Erlaubnis gegeben habe, wirst du dir wünschen, Yami hätte dich an jenem Abend getötet.“

Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er sich schon umgedreht und ging mit großen Schritten auf das Haus zu.

So was Unfreundliches wie den hab ich ja noch nie erlebt! Behandelt man etwa so eine Dame? Na, Mai hatte ja schon angedeutet, dass er etwas komisch ist, aber das ... das ist nicht komisch, das ist einfach unhöflich! Und ... unheimlich ... Ob er die Drohung ernst meint? Kann eigentlich kein Zweifel dran bestehen.

Seth hatte nicht so ausgesehen, als würde er scherzen. Oder als wäre er überhaupt jemand, der mal einen Scherz machte.
 

Ich wanderte zum Haus zurück. An der Haustür wurde ich von Mai abgefangen.

„Alina, kann ich kurz mit dir reden? Es geht um Yami.“

„Ich würde eigentlich lieber ... ach, na gut.“

Ich legte den Mantel ab und folgte ihr ins Kaminzimmer. Nach einem gründlichen Blick auf den Flur schob Mai die Türen zu. Dann machten wir es uns in den Sesseln bequem.

„Also ... ich habe mit Yami gesprochen und er hat mir erzählt, was passiert ist.“

„Hat er dir auch den Grund für sein Handeln verraten?“

„Er bereut das, was zwischen euch vorgefallen ist, Alina.“

„Das war nicht die Antwort auf meine Frage.“

„Nun ... ja, ich kenne die Gründe.“ Mai schwieg einen Moment, als würde sie überlegen, was sie als nächstes sagen sollte. „Und du müsstest sie eigentlich auch kennen. Zumindest einen Teil.“

„Oh ja, er hat mich gebissen, weil er mich als seine Geliebte haben wollte. Aber weißt du was, da spiel ich nicht mit!“

„Magst du Yami nicht?“

„... Doch – aber darum geht es nicht. Die Art, wie er mich behandelt hat ... Ich bin kein Gegenstand, den man nach Belieben benutzen kann.“

„Ich bin mir sicher, dass er dich nicht als so etwas ansieht. Er hat dich gern, glaub mir. Es ging ihm nicht darum, dich in sein Bett zu bekommen, dann hätte er dich nicht gebissen.“

„Und was ist nun der andere Grund?“

„Er hat mir verboten, dir das zu sagen. Du musst ihn selbst fragen. Aber erst morgen, bitte. Er hat sich bereits hingelegt. Noch mal zu dem anderen ... Wir beißen niemanden so ohne weiteres, um ihn zu unseresgleichen zu machen. Und wegen eben ... Yami hat nur manchmal ...“, Mai kicherte hinter vorgehaltener Hand, „wie soll ich sagen ... seine Hormone nicht so ganz unter Kontrolle, wie er es gern hätte. Deinetwegen.“

„Meinetwegen? Aber was ist an mir denn so Besonderes? Bisher haben mich die Männer überhaupt nicht beachtet. Nie.“

Mais Augen weiteten sich verblüfft.

„Ach, ehrlich nicht? Das hätte ich nicht gedacht. Jetzt verstehe ich erst richtig, warum du vorhin so reagiert hast. Allerdings wundert mich das doch sehr. Haben die so genannten Herren der Schöpfung denn alle keine Augen im Kopf?“

„Ach, hör auf, Mai. Ich weiß, dass ich nicht die Hübscheste bin“, wiegelte ich ab.

„Du machst dich mal wieder viel kleiner als du bist“, tadelte sie mich. „Aber lass mich mal machen. Für morgen hat sich erst einmal Mrs. Langdon angesagt, sie hat deine ersten Kleider fertig. Und ich habe mit Yami abgesprochen, dass wir zwei übermorgen einkaufen gehen. Warte es ab, wenn ich mit dir fertig bin, wirst du selbst Königin Viktoria in den Schatten stellen. Nun ja, natürlich daran gemessen, wie sie in ihrer Jugend aussah. Sie ist schließlich auch nicht mehr die Jüngste.“

„Übertreibst du da nicht etwas?“

Ich hatte schon einmal ein Gemälde der Königin gesehen, das sie als junge Frau zeigte, kurz nach ihrer Krönung. Sie war sehr schön.

„Nein, keineswegs. Du hältst dich nur für unscheinbar, weil du nichts aus dir machst, Alina.“

„Das ging bisher auch etwas schwer, meinst du nicht? Eine Blumenverkäuferin verdient nun mal nicht genug, um sich hübsche Kleider oder ähnliches zu kaufen. Ach, da fällt mir ein ... Ich habe im Garten Seth getroffen.“

„Und wie findest du ihn?“

Mai richtete sich im Sessel auf und beugte sich interessiert vor.

„Er ist genau so, wie du ihn mir beschrieben hast. Du hast nicht übertrieben. Er ist ein Eisprinz, durch und durch.“

Aber er hat schöne Augen, dachte ich. Blau wie das Meer. Trotzdem sind sie lange nicht so schön wie die von Yami und brrr ... viel zu kalt. Da läuft es einem ja eisig den Rücken herunter, wenn man nur dran denkt. Und dabei hatte ich vor, mich mit ihm anzufreunden.

„Ach ja, bevor ich es vergesse, wir beginnen morgen früh mit deinem Unterricht.“

„Wie bitte?“

„Na, du weißt schon, Französisch, feine Manieren, Konversation ... schließlich bist du jetzt eine Dame der Gesellschaft, Alina. Ich lasse dich um zehn Uhr wecken.“

Wir sagten uns Gute Nacht und ich stieg die Treppen zu meinem Zimmer hinauf. Im Flur blieb ich vor Yamis Tür stehen.

Yami mag mich? Aber warum hat er das dann nicht gesagt?

Hatte ich ihn überhaupt zu Wort kommen lassen? Nein, ich hatte mich zu sehr in meinen Ärger verstrickt. Und was ist der andere Grund? Ich wusste allmählich nicht mehr, wo vorne und wo hinten war. Am besten war es, eine Nacht darüber zu schlafen. Möglicherweise sah ich die Dinge morgen klarer.
 


 


 

Tja, es ist wohl an der Zeit, dass sich einige Fragen klären. Nur bis es soweit ist, müsst ihr euch leider noch ein paar Tage gedulden, weil ich gerade etwas zu ausgelastet mit meiner Tourismus-Hausarbeit bin und mein Roman fordert auch mal wieder meine Aufmerksamkeit.
 

Jetzt hatte auch Seth endlich seinen Auftritt, kalt und unnahbar wie üblich. Also ob er und Alina jemals Freunde werden ... Gute Frage. Wir werden sehen. ^_^

Blumen unterm Vollmond

Hallo, jetzt melde ich mich – endlich – mal wieder mit einem neuen Kapitel zurück. Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich euch so lange hab warten lassen, aber es ging beim besten Willen nicht anders. ^^ Mein Terminkalender ist in den letzten zwei Monaten einfach aus allen Nähten geplatzt.
 


 

Kapitel 12

Blumen unterm Vollmond
 

„Lady Alina“, jemand stupste mich vorsichtig an der Schulter an, „wachen Sie auf, gnädiges Fräulein.“

„Nein, ich will noch schlafen“, murmelte ich, noch im Halbschlaf. Dieses Bett war entschieden viel zu gemütlich, um es so einfach zu verlassen. Weiche Laken, große bequeme Kissen, eine warme Bettdecke ... Darin zu schlafen, war einfach nur himmlisch!

„Ihre Schwester wird böse werden, wenn Sie nicht pünktlich unten sind.“

Schwester? Mein Gehirn arbeitete morgens direkt nach dem Aufwachen meistens etwas langsam. Dann kamen mir die Erinnerungen allmählich wieder. Mai! Der Unterricht!

Sie hatte mir ja gestern Abend noch angekündigt, dass sie mir beibringen wollte, wie ich mich in meiner neuen Rolle zu benehmen hatte. Und dass ich diesen Unterricht nötig hatte, konnte ich auch nicht so ganz bestreiten. Wenn man sich über Jahre hinweg am anderen Ende der Gesellschaft befunden hatte, war es nicht so einfach, sich wieder in das strenge System aus Regeln und Konventionen einzufügen, das die so genannte höhere Gesellschaft prägte.

Dann erinnerte ich mich an den heftigen Streit, den ich gestern Abend mit Yami gehabt hatte, und an meine Angst, er könnte mich fortschicken. Aber Mai hatte ganz klar gesagt, dass sie heute mit dem Unterricht anfangen wolle und auch den Schneider bestellt hätte. Also hatte Yami doch nicht vor, mich von hier zu vertreiben.

Trotzdem, es konnte doch unmöglich schon so spät sein, dass ich aufstehen musste. Ich hätte nichts dagegen gehabt, noch ein bisschen liegen zu bleiben und nachzudenken oder vor mich hinzuträumen. Meine Hand tastete über den Nachttisch, bis ich schließlich den Wecker zu fassen bekam. Ich umschloss das kühle Metall und hob ihn langsam hoch. Mein noch viel zu müder Arm wollte sein Gewicht nicht richtig tragen und sackte auf die Bettdecke. Ich gähnte herzhaft, rieb mir mit der freien Hand über die Augen und hielt den Wecker dann so vor mich, dass ich ihn sehen konnte.

„WAS!“

Ich fuhr senkrecht im Bett hoch. Schon Viertel nach zehn!

Mai wird mich umbringen, wenn ich nicht bald unten bin.

„Ach du meine Güte, warum hast du mich nicht eher geweckt, Samantha?“

Die Bettdecke flog zurück, ich schlüpfte hastig in meine Pantoffeln und in den Bademantel, den ich gestern Abend über einen Stuhl gehängt hatte.

„Verzeihen Sie, das habe ich versucht, sogar mehrmals. Aber, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sie haben wie ein Stein geschlafen, gnädiges Fräulein.“

Das konnte nicht wahr sein, warum musste ich nur dauernd verschlafen! Das hatte mir schon als Kind Probleme gemacht und in all den Jahren hatte sich daran nicht das Geringste geändert. Ich war und blieb eben ein Morgenmuffel, schlecht aus dem Bett zu kriegen und deshalb meistens schlecht gelaunt, auch wenn ich es mir nicht anmerken ließ, sobald ich auf die Straße trat.

Als Verkäuferin konnte ich mir keine schlechte Laune leisten, das war für das Geschäft absolut tödlich. Deshalb hatte ich geübt, bis ich es fertig gebracht hatte, jede schlechte Stimmung hinter einem freundlichen, unaufdringlichen Lächeln zu verstecken. Nur jetzt wollte mir das nicht so recht auf die Lippen kommen.

Ich hastete an Samantha vorbei und verschwand im Bad. Dort warf ich einen prüfenden Blick in den silbergerahmten Spiegel vor mir. Die Augen immer noch müde und verquollen, die Haare wild zerzaust von letzter Nacht – ich hatte mich stundenlang unruhig hin und her gewälzt. Zu Anfang hatte ich nicht einschlafen können, weil ich dauernd über Yami nachgegrübelt hatte. Sein ganzes Verhalten gab mir immer wieder neue Rätsel auf.

Mal war er freundlich, dann jähzornig, um mir nur einige Sekunden später mit einer seiner Berührungen oder einem Kuss die Röte ins Gesicht zu treiben. Aber Mai hatte mir gestern versprochen, dass Yami mich heute über alles aufklären wollte. Ich hoffte, dann auch endlich zu verstehen, warum er sich seit unserem ersten Treffen so seltsam verhielt.

Für meinen Schlaf waren diese dauernden Rätsel jedenfalls nicht gerade zuträglich. Erst nachdem ich schätzungsweise das zehntausendsiebenhundertundsechste Schaf über den imaginären Zaun hatte springen lassen, war ich schließlich eingeschlafen.

Allerdings nur, um mich einige Zeit später in der Bibliothek wiederzufinden, eng umschlungen von Yamis Armen. Das war die Höhe! Selbst in meinen Träumen verfolgte mich dieser Kerl noch, nicht mal da ließ er mich in Ruhe! Aber die Küsse ... selbst jetzt nach dem Aufwachen konnte ich kaum unterscheiden, ob ich das alles wirklich nur geträumt hatte oder ob sich alles noch einmal wiederholt hatte. Fast konnte ich seine Lippen immer noch auf meinen fühlen.

Argh, jetzt bringt mich dieser Kerl schon wieder durcheinander!

So konnte das nicht weitergehen. Ich schüttelte den Kopf und betrachtete noch einmal mein Spiegelbild. Ich sah nicht besser aus als vor einer Minute.

Was ich sah, schaute nach vielem, jedoch ganz sicher nicht nach einem gnädigen Fräulein aus, wie mich Samantha gerade betitelt hatte. Noch so eine Sache, die ich wieder erlernen musste. Der richtige Umgang mit der Dienerschaft ... Wie hatte sich meine Tante Caroline einmal ausgedrückt? Das war eine Kunst, die nur schwer zu erlernen war.

Nur wenn man es verstand, die richtige Mischung aus Freundlichkeit und Strenge im Umgangston zu wählen, den Leuten Respekt, aber keine Angst einflößte, hatte man seine Angestellten wirklich zu hundert Prozent im Griff. So war zumindest ihr Rezept gewesen und soweit ich mich erinnern konnte, hatte es hervorragend funktioniert.

Wenn ich mir da hingegen das etwas aufbrausende Wesen von Mai und Yami so ansah ... Aber ich stand hier und verplemperte meine Zeit, dabei wartete eben genannte Mai auf mich.

Die Kanne mit dem warmen Wasser harrte meiner längst auf dem Gestell. Das Nachthemd flatterte auf den nächsten Stuhl und ich machte mich endlich an die Erledigung meiner Morgentoilette.
 

Mai ging unruhig im Esszimmer auf und ab. Von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick auf die goldene, mit Blüten und Vögeln verzierte Uhr, die über dem prächtigen Kamin thronte. Wie lange brauchte dieses Mädchen denn zum Aufstehen? Auch wenn sie sich erst anziehen musste, es war über eine halbe Stunde her, seit sie Samantha zum Wecken hinaufgeschickt hatte. So lange konnte doch auch Alina nicht brauchen, selbst wenn sie sich erst in ihre umfangreiche Garderobe zwängen musste.

Als sie das nächste Mal auf die Uhr sah, war es Viertel vor Elf. Mai runzelte die Stirn.

Wenn sie nicht in fünf Minuten hier ist, geh ich und hole sie.

Der Tag war streng und bis ins Kleinste hinein geplant, immerhin hatten sie ein umfangreiches Programm vor sich, das sie in der nächsten Zeit abarbeiten mussten. Zudem hatte sie keine Ahnung, wie viel Zeit ihr Yami dafür lassen würde, Alina in die guten Umgangsformen einzuweisen. Dazu hatte er sich bislang noch nicht geäußert, doch wie sie ihren Meister kannte, würde sich die Zeit eher knapp bemessen. Yami war nicht gerade bekannt dafür, große Geduld für diese Dinge aufzubringen.

Hinzu kam ihre gesellschaftliche Stellung. Gleichgültig ob Yami, Mai oder Seth, alle drei waren in der höheren Gesellschaft und bei Hofe gern gesehene Gäste und wenn bekannt wurde, dass mit Alina ein weiteres „Familienmitglied“ in das stolze Anwesen eingezogen war, würde es nicht lange dauern und sie würden sich vor Einladungen zu Teegesellschaften, Dinner-Partys und Empfängen kaum retten können. Neuzugänge waren immer ein willkommenes Thema zum Tratschen und wenn die Leute dann auch noch von der ach so tragischen Geschichte erfuhren, die sie sich für Alina hatten einfallen lassen, von dem Untergang ihres Schiffes und ihrer strapaziösen Reise nach London ...

Warum muss auch immer die Fantasie mit mir durchgehen, ärgerte Mai sich. Da haben wir den Salat, an so was hab ich natürlich mal wieder überhaupt nicht gedacht. Ein bisschen mehr vorausschauende Planung täte mir ab und an ganz gut.

„Guten Morgen, Mai.“
 

Ich betrat das Kaminzimmer und musste einmal mehr eine eingehende Musterung über mich ergehen lassen.

„Hallo, da ist ja unsere Schlafmütze. Noch fünf Minuten länger und ich hätte dich persönlich aus dem Bett geworfen.“

„Jaaa ...“, ich kratzte mich verlegen am Kopf. „Tut mir leid, kommt so schnell nicht wieder vor. Ich habe letzte Nacht nur sehr schlecht geschlafen.“

„Das sehe ich. Ich werde dir später zeigen, wie du solche Sachen mit Puder abdecken kannst. Wir müssen dir bei Gelegenheit unbedingt etwas Kosmetik besorgen. Aber jetzt lass uns keine weitere Zeit verschwenden. Dafür ist das Programm, das vor uns liegt, viel zu groß.“

„Kann ich nicht erst noch etwas essen?“ Mein Magen knurrte seit dem Aufwachen erbärmlich.

„Eigentlich sollte ich dir ja nichts geben, als kleine Strafe für dein Zuspätkommen. Aber ich bin ja kein Unmensch.“

Zu meiner Verwunderung rief Mai jedoch nicht nach den Dienstmädchen, um sie zu beauftragen, etwas zu essen zu holen, sondern ging zu ihrem Nähkasten, der in einer Ecke stand. Sie öffnete ihn und hob das oberste Fach ab, in dem sich Garne und Stickmaterial, Nadeln und andere Handarbeitssachen stapelten.

Unter dem Einsatz kam ein großes Fach zum Vorschein, gefüllt mit

Flaschen. Mai zog eine heraus und goss etwas von der Flüssigkeit in ein Glas, das sie mir anschließend gab. Es war nach wenigen Zügen leer. Diese Art, Blut zu trinken, gefiel mir doch um einiges besser, als es direkt von einem Menschen zu nehmen. Es war immer noch Blut, nur kam es mir so nicht ganz so schlimm vor.

„Möchtest du noch etwas?“

„Nein, nein, das reicht schon.“

„Gut, damit müssen wir nämlich sparsam umgehen. Das Blut zu besorgen ist teuer. Aber anders geht es um diese Uhrzeit nicht. Ich habe genau das gleiche Problem mit der Sonne wie du. Ich darf tagsüber auch nicht nach draußen gehen, außer in einer blickdichten Kutsche. Trotzdem können wir es uns nicht leisten, unser Leben vollständig auf die Nacht zu verlegen. Yami und Seth mögen ihre Firma zwar im öffentlichen Bereich repräsentieren, aber als Damen des Hauses obliegt es uns – also auch dir – als Repräsentantinnen im Privaten zu fungieren.“

Wie war das noch, was hatte ich mir geschworen? Ich wollte nie so ein langweiliges, vornehm-eintöniges Leben wie meine Mutter und ihre Freundinnen führen?

Bis vor wenigen Tagen hatte ich noch gedacht, ich würde diese Art von Leben niemals wieder haben. Und jetzt steckte ich wieder mittendrin. Das Leben ging manchmal schon seltsame Wege.

„Ich soll ... muss das sein?“, murmelte ich. Das war nicht mehr als eine rhetorische Frage, die Antwort kannte ich nur zu gut.

„Glaub mir, manchmal geht sogar mir das tierisch auf die Nerven. Die ganzen Empfänge und Abendessen und so ... ist ja immer ganz schön, aber mit den meisten Frauen da kann man sich nicht vernünftig unterhalten. Die kennen nur zwei Themen: Ihre Kinder und ihre Nachbarn. Nach spätestens zwei Stunden kennst du alle Geschichten auswendig. Sicher, diese Verpflichtungen sind nervend. Aber sieh dich mal genau um, Alina. Für das Leben, das wir führen können, würden viele andere morden.“

Da fielen mir auf Anhieb eine ganze Menge Menschen ein, die genau das und noch viele andere Dinge dafür tun würden.

„Ja, das stimmt schon ...“

„Natürlich stimmt das. Aber jetzt lass uns anfangen, sonst kommen wir heute überhaupt nicht mehr zum Unterricht. Also ... die erste Regel lautet: Eine Dame erscheint zu einer Verabredung stets pünktlich. Und das heißt nicht eine halbe Stunde zu spät, sondern zu der Zeit, die verabredet war.“

Über mein Gesicht legte sich augenblicklich die Verlegenheitsröte. Erstaunlich, wie interessant doch auf einmal so ein Fußboden sein kann, nicht wahr? Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, wie faszinierend so ein Parkettmuster sein konnte.

„Wir haben uns also verstanden?“, fragte Mai. „Ich möchte es nicht noch einmal sehen, dass du zu spät kommst, weder zu meinen Stunden noch zu einer anderen Verabredung. Das wirft ein schlechtes Licht auf dich und auf uns alle. Pünktlich zu sein bedeutet, dass man sich auf dich verlassen kann.“

Ich nickte und hob vorsichtig den Blick. „Ich habe verstanden.“

„Gut. Und wenn du doch mal zu spät bist ...“, sie machte eine Pause und lächelte mich an, „dann solltest du eine gute Entschuldigung parat haben“, sagte sie und zwinkerte mir zu. „Ich glaube, ich weiß recht gut, was dich letzte Nacht am Schlaf gehindert hat.“

Das Rot in meinem Gesicht verdunkelte sich und mein Kopf nahm zusehends das Aussehen einer sehr reifen Tomate an.

„Wo ... ist Yami denn überhaupt?“, traute ich mich dann zu fragen.

„Er ist in seinem Büro. Du weißt schon, in seiner Firma, Atekai. Yami fährt morgens immer schon sehr früh, im Winter normalerweise vor dem Morgengrauen. Aber im Vergleich zu Seth – Manchmal frag ich mich, warum er überhaupt noch hier wohnt, für ihn wäre es viel praktischer, wenn er sein Bett gleich in seinem Büro aufstellen würde. Er arbeitet in letzter Zeit fast nur noch. Yami und ich machen uns schon Sorgen um ihn.“

„Yami ist also gar nicht da“, wiederholte ich leise.

Schade, dabei hatte ich gehofft, heute Vormittag mit ihm über gestern sprechen zu können. Dass Seth so selten zu Hause war, störte mich allerdings nicht unbedingt. Wenn ich da an unsere letzte Begegnung dachte ...

„Wann kommt Yami denn wieder?“

„Er meinte, er hätte viel zu tun. Demnach wird es sicher Abend werden, bis er kommt.“

Es war kurz vor elf. Das hieß, ich musste etwa sieben Stunden warten, in denen meine Grübeleien noch weitergehen würden. Eine harte Probe für meine Geduld. Nur was sollte ich sonst tun? Es war Tag, ich konnte ja nicht mit der nächstbesten Kutsche mal eben zu ihm fahren. Wenn ich ihn von der Arbeit abhielt, würde er mir vielleicht gar nichts sagen, sondern mich nach Hause schicken.

„Alina, hättest du die Freundlichkeit, deine Aufmerksamkeit wieder mir zuzuwenden?“ Mai fuchtelte vor meinem Gesicht herum. Ich lächelte sie schuldbewusst an. Mussten meine Überlegungen eben bis nach dem Unterricht warten.

„Ich habe nur –“

„Kurz an Yami gedacht“, beendete Mai meinen Satz. „Ja, ja, aber jetzt rate ich dir, erstmal hier aufzupassen. Zunächst mal müssen wir etwas mit deiner Haltung machen.“

„Was ist damit?“, fragte ich verwundert.

„Du stehst ganz krumm da. So geht das nicht.“ Mai legte mir eine Hand in den Rücken und drückte. „Schultern zurück, Brust raus und das Kinn senkrecht. Die Augen geradeaus“, kommandierte sie.

Ich kam mir eher vor, als hätte ich gerade einen Besenstil verschluckt. Also ließ ich ein bisschen in der Spannung nach, blieb aber gerade. Ein Hohlkreuz zu machen tat meinem Rücken schließlich auch nicht gerade gut. Außerdem sorgte schon das Korsett dafür, dass ich mich einigermaßen gerade halten musste.

„Verschränk die Arme nicht. Lass sie entweder an den Seiten oder kreuz die Hände vorne.

Mai nahm ein dickes Buch von einem Tisch und gab es mir.

„Schön, damit kommen wir als nächstes zum Gang. Leg dir das auf den Kopf und geh im Zimmer auf und ab.“

Ich betrachtete das Buch in meinen Händen. Es gehörte zu der mehrbändigen Ausgabe eines Lexikons und war sehr dick. Ich legte es mir auf den Kopf und begann damit, im Salon auf und ab zu spazieren. Es oben zu behalten, machte mir keine Mühe. Wenn ich im Hochsommer mehr zu transportieren hatte, hatte ich den Korb oft auf dem Kopf getragen, um die Hände für die anderen Lasten freizuhaben.

„Das sieht ja schon ganz ordentlich aus. Aber mach etwas kleinere Schritte, Alina. Gut, und nicht so trippeln, geh normal. Das muss noch eleganter aussehen.“

Mai ließ mich eine geschlagene halbe Stunde so auf und ab marschieren und natürlich immer mit dem Buch auf dem Kopf.

Noch ein interessanter Charakterzug, den ich da an ihr entdecke, dachte ich, als ich das Lexikon endlich weglegen durfte. Ein Hang zum Perfektionismus gepaart mit Sadismus. Das kann ja heiter werden.

Bevor meine Lehrerin allerdings zu ihrer nächsten Lektion ansetzen konnte, klopfte es und Alexander meldete, dass Mrs. Langdon mit ihren Gehilfinnen eingetroffen sei. Das darauf folgende erleichterte Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen, auch wenn ich mir dafür von Mai einen missbilligenden Blick einfing.
 

Die Schneiderin brachte die ersten Kleider, die ich bei ihr bestellt hatte. Ihre Gehilfinnen Angela und Margaret hatten schwer an dem Stapel von Paketen und kleinen Päckchen zu schleppen. Die beiden waren hinter ihren Gepäckbergen kaum noch auszumachen.

Ich führte sie die Treppen hinauf in mein Zimmer, wo die Mädchen die Sachen abstellen konnten. Bald waren der Tisch und die Sessel mit den Päckchen überladen. Als mein Blick über den Berg von braunem Packpapier glitt, kam ich mir vor wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. Meine Finger zerrten und zogen an den Schnüren, ruckelten ungeduldig an den Knoten und Schleifen, damit sie sich lösten. Dann machte ich mich über das Papier her und spätestens da hatte sich die Dame in mir fürs erste verabschiedet.

Mai kam wenige Minuten nach der Schneiderin in mein Zimmer geschneit und ließ bei jedem Kleidungsstück, das ich aus den unzähligen Lagen von hauchdünnem Seidenpapier befreite, ein „Ah“ und „Oh, wie schön!“ hören. Bald lagen mein Bett und sämtliche Stühle mit den neuen Sachen voll und auf dem Boden stapelte sich ein riesiger Papierberg, von dem wir alles, was zerrissen und somit unbrauchbar war, kurzerhand im Kamin entsorgten. Ich war vom Anblick der Kleider geradezu überwältigt. Auf der Straße hatte ich die vornehm gekleideten Damen immer ehrfürchtig bewundert und nun durfte ich selbst solche Kleider tragen.

Als ich allerdings einen kurzen Blick auf die Zwischenrechnung warf, die bei einem Paket mit einem dunkelblauen Tageskleid gelegen hatte, musste ich doch schwer schlucken. Über hundert Pfund. Und ein Teil der Lieferung stand noch aus.

„Ist das nicht alles viel zu teuer, Mai?“

„Yami hat mir gesagt, ich solle dich anständig einkleiden und genau das tue ich.“

„Ich bin ja auch ganz froh darüber ... jetzt musst du mir wenigstens nicht mehr deine Sachen leihen.“

Mai lachte lauthals.

„Wenn das alle Sorgen sind, die du hast, Alina ... Dann leih ich mir einfach in Zukunft ab und zu mal was von dir aus.“ Sie hob ein Kleid aus blassrosafarbenem Stoff hoch. „Dann sind wir quitt.“

„Einverstanden. Hast du noch ein bisschen Zeit? Ich würd gern was von den Sachen anprobieren.“

Mai überlegte einen Augenblick.

„Also, eigentlich wollte ich mit dem Unterricht weitermachen.“

„Bitte, nur ein oder zwei“, bettelte ich.

„Ach ... na gut. Aber danach machen wir weiter.“

Still in mich hineingrinsend verschwand ich mit dem rosafarbenen Kleid hinter dem Paravent. Gegen diesen Hündchenblick waren offenbar nicht mal Vampire wie Mai immun. Ich zog mich mithilfe der zwei Gehilfinnen rasch um. Das Kleid passte wie angegossen, was mir Mai immer wieder bestätigte, als ich mich begeistert vor dem Spiegel drehte und mich von allen Seiten betrachtete.

Da bin ich mal auf Yamis Urteil gespannt, wenn er mich so sieht.

Mrs. Langdon verabschiedete sich nach einer Weile von uns, sie musste noch zu einer anderen Kundin. Mai händigte ihr das Geld aus und ließ sie von Samantha zur Tür bringen.

Doch wie es oft so ist, wenn zwei Frauen mit einem Haufen Kleider allein gelassen werden ... es kam natürlich genau so, wie es kommen musste. Als ich das zweite Kleid angezogen hatte, bestand Mai darauf, dass ich auch die anderen Sachen probieren müsse, nur um zu sehen, ob mir auch alles passte. Und ehe wir uns versahen, war es schon halb zwei und wir waren immer noch nicht fertig.

Da es Zeit für das Mittagessen war – die Köchin hatte schon ausrichten lassen, dass ihr das Essen bald auf dem Herd verbrennen würde, wenn wir nicht kämen –, gingen wir ins Speisezimmer. Während des Essens wurde ich immer wieder von Mai unterbrochen, die mir dezente Hinweise zu meinem Benehmen gab, angefangen bei der richtigen Sitzhaltung über den Umgang mit dem Besteck bis hin zum abgespreizten kleinen Finger, wenn ich etwas trinken wollte.

Die Suppe floss in meinen Magen, ohne dass sich auch nur in der entferntesten Form ein Gefühl der Sättigung einstellte. Das änderte sich erst, als wir uns im Kaminzimmer je zwei Gläser aus Mais gut verstecktem Vorrat genehmigten.
 

Yami ging mit einem leichten Stirnrunzeln die gerade aufgeschlagene Seite der Akte durch, die auf seinem Schreibtisch lag. Der Chef der Buchhaltungsabteilung hatte ihm vor ein paar Minuten die Umsatzzahlen des vergangenen Monats vorgelegt. Und die Bilanz war genau so, wie er und Seth es sich wünschten – nämlich bestens. Atekai warf seit der Fusion mit der Northstar Company noch höhere Gewinne ab.

Es vergingen etwa zwölf Minuten bevor er merkte, dass er immer noch die gleiche Seite anstarrte. Er stützte sein Gesicht auf der Hand ab und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

„Alina, Alina, was soll ich nur mit dir machen?“

Seit gestern war er nahezu ununterbrochen am überlegen, wie er es ihr sagen sollte. Die Worte mussten mit Bedacht gewählt werden. Aber er sah ein, dass kein Weg daran vorbeiführte.

„Aaah, wie soll ich denn so arbeiten, wenn mir dieses Mädchen andauernd durch den Kopf spukt!“

Reichte es denn nicht, dass er ihretwegen die letzte Nacht mehr im Zustand der Wachheit statt des Schlafes verbracht hatte? Musste sie ihn jetzt auch noch von seiner Arbeit abhalten?

Yami zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und blickte auf das vergilbte Foto hinab, das dort in einem Rahmen lag. Das Silber war dunkel angelaufen. Die Abgebildeten lächelten ihm fröhlich entgegen.

„Mein guter alter Freund ... jetzt könnte ich deinen Rat wirklich gut gebrauchen“, seufzte er.
 

Nach dem Essen begaben Mai und ich uns in die Bibliothek, um den Unterricht fortzusetzen – oder eher gesagt, Mai machte ihre Drohung wahr, mir Französisch beibringen zu wollen. Sie hatte sich eines der Bücher besorgt, wie sie in der Schule verwendet wurden und wir be-gannen mit der Begrüßung und Vorstellung.

Ich war vor dem Tod meiner Eltern schon einmal ein Jahr lang in dieser Sprache unterrichtet worden, doch von jenen Kenntnissen war nicht das Geringste übrig geblieben. Ich fing erneut bei Null an. Da meine Gedanken zwischendurch immer wieder zu Yami wanderten, musste ich mir von Mai an diesem Nachmittag noch so einiges an Ausschimpfungen wegen meiner mangelnden Konzentration gefallen lassen.

Aber wer kann schon dermaßen viel Stoff auf einmal verkraften? Da war ich dann doch erleichtert, als gegen halb sechs Christas Klopfen den Vortrag meiner neuen Schwester unterbrach.

„Was ist denn?“, fragte Mai leicht genervt – was mich nicht wunderte, nachdem sie bereits zum wohl hundertsten Mal meine Aussprache korrigiert hatte.

Sicher bereut sie es jetzt, dass sie mir unbedingt Französisch beibringen wollte, überlegte ich.

„Gnädige Frau, Sie haben mich gebeten, Sie an Ihr Treffen mit Miss Rosenberg zu erinnern.“

„Wie ... Ach du meine Güte!“ Mai fuhr aus ihrem Sessel hoch, in dem sie es sich bequem gemacht hatte. „Das hatte ich ja ganz vergessen. Alina, wir müssen unsere Lektion morgen fortsetzen.“

Sie hastete an mir vorbei und winkte Christa ihr zu folgen.

„Warum hast du mir nicht eher was gesagt? Ich bin in einer Stunde mit ihr zum Essen verabredet und noch nicht mal umgezogen“, hörte ich sie aus der Eingangshalle fluchen, während sie auf die Treppe zuschritt. „Kannst du mir mal verraten, wie ich das noch rechtzeitig schaffen soll?“

Ich lehnte mich entspannt im Sessel zurück. Endlich Ruhe. Aber ... wenn es halb sechs war, hieß das ja auch, dass Yami bald nach Hause kam. Schon war ich auf den Beinen und unterwegs in mein Zimmer. Ich hatte gar nicht die Zeit, mich über Mai lustig zu machen, ich musste ja selbst zusehen, dass ich fertig wurde.

Oben angelangt, verschwand ich als erstes im Bad, um mich frisch zu machen. Dann klingelte ich nach Samantha, damit sie mir ins Kleid half. So schön sie waren, diese Kleider anzuziehen, war eine Qual! Besonders dieses verdammte Korsett! Ich hätte die Person, die sich dieses Folterinstrument ausgedacht hatte, nur zu gern mal in die Finger gekriegt. Sobald man es auch nur ein wenig zu eng schnürte, begann es sofort einem die Luft abzuquetschen.

Da ich bisher nichts von Yami gehört hatte, nahm ich meinen Mantel und ging raus in den Garten. Jetzt war ich schon seit drei Tagen hier, aber hatte meinem kleinen Garten noch keinen einzigen Besuch abgestattet. Schäm dich, Alina!

Der Boden war vom tagsüber gefallenen Regen ganz aufgeweicht und ich musste weite Bögen um die Pfützen machen, die sich überall gebildet hatten.

Die Rosen hatten die Kälte der vergangenen Tage relativ gut überstanden, nur die Löwenmäulchen ließen etwas die Köpfe hängen. Ihre Zeit war vorüber und auch die anderen Blumen würden sich bald beugen müssen, wenn erst die Fröste übers Land fegten. Heute war Vollmond. Er tauchte den ganzen Garten in einen silbrigen Schimmer und füllte jede Ecke mit seinem Licht aus.

„Wusste ich doch, dass ich dich hier finde“, erklang hinter mir eine Stimme. Ich fuhr herum.

Yami lehnte lässig am Torrahmen, die Arme hinter den Rücken gelegt.

„Ich habe das ganze Haus nach dir abgesucht, aber du warst nirgendwo zu finden.“

Ich sah auf den Boden, ich konnte ihm nicht in die Augen sehen.

„Ich hab wohl die Zeit vergessen. Wann bist du denn nach Hause gekommen, ich habe dich nicht gehört, als ich noch drinnen war.“

„Schon vor einer Weile.“

„Aha“, machte ich nur, sah ihn aber nach wie vor nicht direkt an.

„Bin ich jetzt schon so schrecklich für dich, dass du mich nicht mal mehr ansehen willst?“, fragte er mit leicht gekränktem Unterton.

„Nein, ich ...“ Meine Augen wanderten langsam an seiner Brust hoch zu seinem Kopf. Wieder dieses hinreizende Lächeln. „Das gestern ...“

„Ich weiß. Hier, das ist für dich.“ Er zog hinter seinem Rücken eine langstielige rote Rose und ein versiegeltes Kuvert hervor und reichte mir beides.

„Danke, Yami. Aber das wäre nicht nötig gewesen.“

„Oh, doch. Nun, ich ... Ich wollte dich ... wegen gestern um ... um Verzeihung bitten.“

Seine Stimme klang etwas belegt.

Das scheint ihm ja richtig schwer zu fallen, dachte ich und roch an der Rose. Ein angenehmer Duft, süß, aber nicht zu stark.

„Es tut mir leid, wenn ich dich zu sehr bedrängt habe.“

„Mai hat mir da einiges erklärt. Nur ... warum du mich gebissen hast, das hat sie mir nicht gesagt.“

„Weil ich sie darum gebeten hatte.“

„Aber sagst du es mir dann? Bitte. Habe ich nicht das Recht, es zu erfahren?“

Eine Pause entstand, in der sich Yamis Blick mit höchster Konsequenz auf die Blumenbeete richtete. Das kam mir nur zu bekannt vor, immerhin hatte ich heute Morgen so bei Mai reagiert. Yami fuhr sich durch die Haare und sah zum Mond auf.

„Ja, das werde ich“, sagte er dann. „Heute Abend. Aber du musst dich noch ein wenig gedulden. Erst kümmern wir uns um unser Abendessen.“

„Muss das sein? Können wir nicht noch eine von den Flaschen nehmen?“

„Nein. Du musst lernen, selbst für dich zu sorgen, und das schließt die Jagd mit ein. Ach, ähm ... willst du gar nicht wissen, was drin ist?“

Er deutete auf das Kuvert, das ungeöffnet in meinen Händen lag.

„Oh, das hab ich ganz vergessen.“

Ich brach das Siegel auf und zog den Inhalt des Umschlags heraus.

„Aber das sind ja – zwei Karten für Romeo und Julia in der Royal Victoria Hall. Vielen Dank, Yami!“

Dafür musste ich ihn einfach umarmen.

„Schön, wenn ich dir eine Freude damit machen kann, aber du drückst mir grade die Luft ab“, sagte er nach einer Weile und ich ließ ihn lachend los.
 

(Anmerkung: das Theater hieß 1888 „The Royal Victoria Hall And Coffee Tavern“ und wurde später in „Her Majesty’s Theatre“ umbenannt, das gibt es auch heute noch.)
 

Ich hoffe, es hat euch gefallen. Und ich sehe natürlich zu, dass ich für das nächste Kapitel nicht wieder so lange brauche. ^_^

Abschied - Our Farewell

*Reingeschlichen kommt, neues Kapitel da lass*

Hallo, da bin ich wieder, und endlich mit einem neuen Kapitel im Gepäck. Tut mir leid, dass es in letzter Zeit so lange dauert, aber ich hab einiges mit der Uni zu tun. Meine Zwischenprüfungen stehen bald an und mein Roman fordert auch noch seine Aufmerksamkeit ein – neben einigen anderen Dingen. Aber jetzt will ich gar nicht lange reden und überlasse euch lieber Yami und Alina.
 


 

Kapitel 13

Abschied - Our Farewell
 

Ich strahlte während unseres ganzen Weges nach Whitechapel, den wir wie üblich in einer gemieteten Kutsche zurücklegten. Warum Yami darauf bestand, jedes Mal ausgerechnet dort jagen zu gehen, verstand ich zwar immer noch nicht so richtig, aber was sollte es. An mir nagte inzwischen auch ein Bärenhunger – nein, ein Bärendurst wäre wohl treffender.

Als wir in die Straßen von Whitechapel kamen und aus der Kutsche stiegen, sah sich Yami prüfend um. Der Kutscher nahm den Geldbetrag entgegen, den Yami vor der Fahrt mit ihm ausgemacht hatte, und machte sich so rasch er konnte aus dem Staub.

„So, dann lass uns mal nach einem geeigneten Opfer für dich Ausschau halten, Liebes.“

Yamis Bemerkung riss mich mit brutaler Gewalt aus meinem bequemen Wolkenlager, auf dem ich mich während der letzten halben Stunde befunden hatte, und ließ mich unsanft in der Realität aufschlagen. Den Grund unseres Ausflugs hatte ich in meiner Freude über sein Geschenk irgendwie in die allerhinterste Ecke meines Kopfes verdrängt, doch nun schob er sich mit aller Macht wieder hervor. Ein dumpfes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus ... Angst. Vor dem, was ich gleich tun sollte. Und zur gleichen Zeit erinnerte mich derselbe Magen mit einem leisen Knurren daran, dass ich heute noch nicht viel zu mir genommen hatte – wie Mai mir erzählt hatte, brauchte ein Vampir in jeder Nacht mehrere Liter Blut.

Ich hasste mich dafür, diesen Trieb nicht richtig kontrollieren zu können. Natürlich hatte ich während des Tages versucht, ihn zu unterdrücken, hatte auch am Nachmittag noch ein wenig getrunken und dennoch ... trotz allem meldete sich etwas in mir, das nach mehr verlangte. Dem es gleichgültig war, aus welcher Quelle es stammte, solange es nur rot und warm war. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter, wenn ich daran dachte, was für ein Monster da in mir hausen mochte.

Ich wusste ja, es war nötig, um zu überleben. Aber ich wollte nicht eines Tages zu einem skrupellosen Dämon werden, der die Menschen bis auf den letzten Tropfen aussaugte, so wie ich es in einigen der Geschichten meiner Mutter gehört hatte.

In dem Moment fühlte ich Yamis Hand auf meiner Schulter, was mich etwas beruhigte. Er war hier. Er hatte mir gesagt, dass er nie so weit ging und auch nicht zulassen würde, dass ich es tat. Das beruhigte mich schon etwas. Ich würde – musste – lernen, das zu kontrollieren. Um meiner selbst willen und um den Willen der Menschen in meiner Umgebung.

„Bist du nervös?“, fragte er leise.

„Ich wünsche mir immer noch, dass das alles nicht nötig wäre. Ich weiß, dass ich so etwas nicht sagen sollte, aber –“

Er legte mir einen Finger auf die Lippen und gebot mir so zu schweigen. Auf seinen Lippen lag ein kleines Lächeln.

„Es ist in Ordnung, wenn du anfangs Angst hast. Aber du musst versuchen, dich damit abzufinden, Alina. Es ist ein ganz natürlicher Drang, den du verspürst, so wie der Drang zu schlafen oder Gesellschaft zu haben. Er gräbt sich tief in dein Unterbewusstsein ein und früher oder später wirst du ihm nachgeben. Du kannst ihm nicht entkommen. Ich weiß es, ich habe es selbst versucht, als ich noch sehr jung war. Doch ich wurde als Vampir geboren, ich konnte es mir nicht aussuchen. Und jetzt wird es Zeit zu gehen.“

Er reichte mir mit einem Lächeln die Hand und blickte mich aufmunternd an.

„Ich bin mir ganz sicher, dass du das schaffst.“

Meine Hand legte sich in seine und wir machten uns auf den Weg.
 

Den letzten kurzen Teil der Strecke überwanden wir zu Fuß. Bereits in der Thomas-More-Street schlug uns der Lärm von den Wirtshäusern entgegen, die man hier an jeder Ecke fand. Es war noch relativ früh am Abend und auf der Straße und den schmalen Fußwegen tummelten sich die Menschen.

In dieser Gegend waren nicht nur Matrosen zu finden. Die unzähligen Frauen, die sich hier anboten, zogen Männer aus allen Teilen der Stadt und allen Gesellschaftsschichten an – wobei die etwas besser betuchten Herren selbstredend stets darauf bedacht waren, dass man sie nicht erkannte. Was hätte das sonst für ein Gerede gegeben, hätte man zum Beispiel einen der höheren Angestellten einer Bank in dieser verruchten Gegend angetroffen. Der Ruf desjenigen wäre ruiniert, hatte sich doch besonders in den letzten Jahrzehnten im von Königin Viktoria regierten England (die dieser Epoche sogar später ihren Namen verleihen sollte) eine höchst interessante Doppelmoral herausgebildet.

Die gleichen Herren, die tagsüber gesittet ihrer Arbeit in den Bürohäusern nachgingen, strömten nach Einbruch der Dämmerung in Scharen in die städtischen Bordelle, Nachtclubs und Pubs. Für sie war es ein Ausgleich zu ihrem den ungezählten Normen unterliegenden Leben.

Und ich konnte mir irgendwie vorstellen, dass sich auch so einige der Frauen, welche die unbedingte Einhaltung von Anstand und Moral predigten, des Nachts in ihr genaues Gegenteil verwandelten. Beweise hatte ich dafür natürlich keine. Wenn sie es taten, dann hatten sie perfekte Methoden entwickelt, ihr Treiben geheim zu halten. Schließlich hätte eine Entdeckung für sie den vollständigen Ausschluss aus der Gesellschaft bedeutet. Wenn eine Frau vom „Pfad der Tugend“ abwich, wurde das tausendmal härter bestraft als bei einem Mann.

Die Gesellschaft unseres Reiches war gespalten, doch dieses Mal nicht durch die Religion, wie es unter der Herrschaft der Vorgänger von Elizabeth der Ersten im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert gewesen war. Jetzt war nicht nur die Gesellschaft als Ganzes, sondern jeder Mensch in sich gespalten. Und so war ich schon vor einiger Zeit dazu übergegangen, sie als in dieser Form gespalten zu betrachten: in die Gesellschaft des Tages und die Gesellschaft der Nacht. Beide allgegenwärtig, doch sich mit vollendeter Anmut und Perfektion ignorierend, wo immer es nur ging.
 

Die vielen Menschen um uns herum boten uns einen hervorragenden Schutz und der feine schwarze Schleier, der an meinem Hut befestigt war, tat bei mir sein Übriges. Ich hatte zwar eine gute Sicht auf die Straße, doch für andere war mein Gesicht so gut wie nicht zu sehen. Selbst meine besten Freunde hätten mich wohl nicht so erkannt. Wir konnten völlig ungesehen in der Masse untertauchen.

Ich hielt mich immer dicht neben Yami, der mit festem Schritt die Straße entlang marschierte und jeden Annäherungsversuch der Frauen gekonnt und mit wenigen, aber durchaus höflich zu nennenden Worten abschmetterte. Unter meinem Schleier gestattete ich mir ein breites Lächeln.

Über die Kennet Street gelangten wir in die Wapping High Street, die fast direkt an der Themse lag.

Wir versteckten uns in der Nähe eines Pubs, von denen es in Flussnähe sehr viele gab. Die schmale Seitengasse, in der wir standen (genau genommen war es nur ein etwas breiterer Zwischenraum zwischen zwei Häusern), wurde von einem Wagen halb verdeckt und schirmte uns so vor neugierigen Beobachtern ab.

Lautes Gelächter und die Töne eines Akkordeons, aber auch die Gerüche von Bier und schalem Whiskey drangen durch die kühle Abendluft zu uns. Die Männer sangen zu den Klängen des Instruments ein derbes Trinklied.

Nun hieß es zu warten, bis einer der Männer den Pub verließ. Ich lehnte mich an die Wand und sah zu Yami, der sich auf einem der Wagenräder niedergelassen hatte und durch die Lücken des Holzrahmens spähte, um den Eingang besser im Blick zu haben.

„Yami ... könntest du mir nicht jetzt alles erzählen? Wir müssen doch eh warten“, fragte ich leise.

„Ich habe dir versprochen, dass ich es dir erzähle – nach der Jagd. Du musst lernen, dich in Geduld zu fassen, auch wenn es dir schwer fällt.“

Ich seufzte resignierend und kauerte mich neben ihn. An seinem Gesichtsaudruck konnte ich ablesen, dass es wenig Sinn machte, ihm noch länger zuzusetzen. Er würde mir nichts verraten, bevor er es für richtig hielt. Wie konnte er nur so fies sein, mich dermaßen zu quä-len? Soviel zu Mai ist hier die Sadistin.
 

Die Zeit verstrich langsam, wie im Schneckentempo. Von Zeit zu Zeit warf Yami einen Seitenblick auf das Mädchen, das da leicht zitternd neben ihm hockte und sich hinter dem Wagen klein zu machen versuchte.

Er kam sich etwas merkwürdig vor in seiner Rolle als Lehrer. Es war viele Jahre her, seit er das letzte Mal einen jungen Vampir unter seinen Fittichen gehabt hatte. Jeremy ging längst seine eigenen Wege durch die Nacht. Das Letzte, was Yami von ihm gehört hatte, war, dass er sich zusammen mit einem Gefährten nach New York eingeschifft hatte. Nach all dem Ärger, den er mit dem jungen Mann gehabt hatte, hatte er sich geschworen, nie wieder einen Vampir zu schaffen, der ihm dann am Zipfel seines Jacketts hing.

Und nun war es wieder einmal doch anders gekommen. Jetzt war er Alinas Lehrmeister und das, obwohl ihm von vornherein klar gewesen war, dass er sich damit eine Menge Probleme aufhalsen würde. Aber es war eben unumgänglich, dass sie all diese Dinge lernte. Obwohl ... Er musterte sie näher. Es gab schon einiges, was er sie gern lehren würde, nur ... Nur hatten diese Sachen herzlich wenig mit dem Überleben als Vampir gemeinsam. Ein anzügliches Grinsen huschte über sein Gesicht, von dem er hoffe, dass sie es nicht mitbekam.

Yami, du begibst dich gerade schon wieder auf sehr gefährliches Eis, warnte ihn seine innere Stimme. Denk nicht mal dran, konzentrier dich gefälligst auf das, was jetzt ansteht und nicht auf deine unteren Körperregionen!

Kann man denn nicht mal in Ruhe –, setzte Yami an.

Nein, kann man nicht! UND DU SCHON GAR NICHT!

Hmpf, verfluchtes Gewissen. Musste einem immer einen Strich durch die Rechnung machen.

Einer von uns beiden muss es ja tun, mein Lieber.

Kannst du nicht mal die Klappe halten?

Warum sollte ich? Es ist doch meine Aufgabe, dich zu nerven.

Und das tust du natürlich mit größter Freude, meinte Yami. Aber was Alina angeht ...

Ich sagte NEIN. Und jetzt hör auf, mit dir selbst zu diskutieren, das bringt eh nichts. Sorg lieber mal dafür, dass Alina was zu trinken bekommt.

Und damit wandte Yami sich – wenn auch etwas widerwillig – wieder der Überwachung des Ausgangs zu.
 

In meinem Bein machte sich allmählich ein unangenehmes Kribbeln breit, es war kurz davor, einzuschlafen. Wie lange standen wir hier schon, eine Stunde? Hatte Yami etwa vor, hier zu warten, bis wir beide Wurzeln schlugen? Wenn ich mir meine Beine so ansah, würde das nicht mehr allzu lange dauern. Bei einer ganzen Reihe kräftig aussehender Matrosen und einigen anderen Herren hatte Yami bereits entschieden abgewinkt.

„Du bist zwar jetzt stärker als früher, aber wenn du allein wärst, würden dich die Kerle trotzdem noch zu leicht überwältigen“, sagte er. „Du musst dir alle Leute mit Bedacht ansehen. Ein Fehler kann tödlich sein.“

In dem Moment trat ein junger Mann, der etwa in meinem Alter war, aus der Tür, zusammen mit ein paar älteren Matrosen. Sie trennten sich vor dem Eingang voneinander, anscheinend gehörten sie nicht zusammen. Der Junge kam mit leicht schwankenden Schritten auf uns zu. Yami zog mich weiter in den Schatten zurück.

„Was ist mit dem?“, wisperte ich. „Er sieht nicht gerade stark aus, oder?“

Sicher war ich meiner Sache natürlich nicht, aber ich war mir sicher, dass Yami es nicht akzeptieren würde, wenn ich ihm sagte, ich wolle nicht Jagd auf Menschen machen. Ich kämpfte immer noch gegen den stärker und stärker in mir werdenden Drang an und ich wusste, früher oder später würde ich ihm erliegen. Meine Zunge strich über die vom langen Warten in der Kälte ausgetrockneten Lippen. Okay, wohl eher früher.

„Hmm ... ja, ich glaube, der ist ganz gut für unsere Zwecke“, sagte Yami, nachdem er ihn aufs Genaueste taxiert hatte. „Also, nur noch mal zur Erinnerung: Sobald er dich gesehen hat, lock in hierher in die Schatten. Nutze den Schutz, den dir die Nacht bietet und dann sei schnell. Er darf nicht schreien. Das würde sofort die Leute im Pub alarmieren.“

„Ja, ich weiß“, gab ich leise zurück. Yami hatte mich schon während des ganzen Weges in der Kutsche mit seinen Instruktionen überschüttet. Auch wenn ich wegen meines Freudentaumels nur halb hingehört hatte.

Wir hörten, wie sich der Junge unweit von uns erleichterte. Bei dem säuerlichen Geruch fiel mir einmal mehr auf, dass der gute Geruchssinn eines Vampirs auch seine Nachteile hatte. Ich schlug den Schleier hoch und warf ihn zurück. Als der Junge seine Hose wieder hochzog, gab Yami mir ein Zeichen und ich zeigte mich ihm, blieb aber an der Ecke des Hauses stehen.

Ein gewinnendes Lächeln umspielte meine Lippen und ich zwinkerte ihm scheinbar vergnügt zu. Diese Art ihn anzulocken war zwar zugegeben, etwas ... sagen wir mal ... anrüchig und mir war auch nicht besonders wohl dabei, in so eine Rolle zu schlüpfen, aber sie zeigte große Wirkung.

Er sah sich um und deutete mit dem Finger auf sich, wohl um sich zu vergewissern, dass ich auch wirklich ihn meinte und nicht jemand anderen. Nach wie vor lächelnd nickte ich und zog mich ein paar Schritte weiter nach hinten zurück.

Der Junge folgte mir in die Gasse zwischen den zwei Häusern, über das ganze Gesicht grinsend. Kaum hatten wir die Straße hinter uns gelassen, drängte er mich gleich an die Wand. Seine Hand glitt verlangend über meine Taille – ich verkniff mir mit Mühe das Würgen.

Yami und seine bescheuerten Ideen! Geschenke hin oder her, das gibt noch mal Rache.

Ich schwor mir, ihn dafür bezahlen zu lassen, auch wenn ich noch nicht wusste, wie.
 

Als er sie zurückkommen sah, zog sich Yami etwas weiter in die Gasse zurück, um aus ihrem direkten Blickfeld zu verschwinden. Wer wusste schon, ob die Anwesenheit eines weiteren Mannes den Jungen nicht verschreckte?

Was er dann jedoch zu Gesicht bekam, ließ ihm den Atem stocken. Ob es nun an einem übermäßigen Genuss von Alkohol oder etwas anderem lag, aber was dieser Junge da gerade trieb, ging eindeutig über keine Hutschnur mehr! Diese gierigen Hände, die unter die Säume ihres Kleides zu kommen versuchten, der Mund, dem Alina immer wieder durch eine Drehung des Kopfes auswich, sodass er nur ihre Wange traf ...

Wie kann dieser Bursche es wagen! Alina, bitte beeil dich, flehte Yami, während sich seine Finger zu Fäusten krümmten und sich ein leises Knurren seinen Weg aus seiner Kehle bahnte. Auch wenn es ihm sehr schwer fiel, nicht sofort einzuschreiten und die Grabbelei dieses dreisten Halbwüchsigen zu beenden, sie musste es zuerst allein versuchen. Er konnte ihr den ersten Biss schließlich nicht jedes Mal abnehmen.

Nun mach schon! Soll dieser verfluchte Bengel vielleicht damit durchkommen?

In seinem Magen zog sich etwas schmerzhaft zusammen, ein wütender Drache, der geradezu danach schrie, den Jungen von ihr zu reißen und ihn für seine Frechheit zu bestrafen.
 

Diese Art von Spiel gefiel mir nicht besonders, doch in meinem Hunger, der sich in der letzten Stunde immer eindringlicher gemeldet hatte, war mir gerade fast alles egal. Yami hatte Recht, ich kann diesem verdammten Trieb nicht entkommen, egal, wie sehr ich es versuche.

Als sich seine eine Hand fordernd an meinem Bein hochschob und die Röcke fort zu streichen versuchte, wallte Zorn in mir hoch. Das ging jetzt zu weit! So hatten wir nicht gewettet.

Bevor er auch nur die obersten Verschlüsse meines Kleides öffnen konnte, versenkte ich mich mit meinen Zähnen schon in ihn. Er gab ein kurzes Stöhnen von sich, noch schien er sich nicht der Gefahr bewusst, in der er schwebte. Er schien es für ein Spiel zu halten.

Gleichzeitig versuchte ich mich gegen das zu wappnen, was mich erwartete. Ich wollte nicht fühlen, was er fühlte, ich wollte nicht in diesen Strom eintauchen, der mich beim letzten Mal beinahe mit sich fortgerissen hätte.

„Gut gemacht“, flüsterte es da leise neben mir.

Yami tauchte neben uns auf und nahm sich die andere Seite seines Halses vor, wobei er mir über den Kopf des Jungen einen langen, intensiven Blick zuwarf, den ich nicht so recht deuten konnte. Je länger ich trank, umso mehr fühlte ich die Angst in dem Jungen aufwallen. Fieberhaft versuchte ich mich daran zu erinnern, was mir Yami auf der Hinfahrt dazu gesagt hatte. Die Woge wurde größer und größer und kam drohend auf mich zu. Ich wollte zurückweichen, doch ich konnte nicht. Und endlich fiel es mir ein. Eine Mauer.

Sofort konzentrierte ich mich mit aller Kraft darauf, eine Mauer um meinen Geist aufzubauen, Stein für Stein, immer höher, während sich die Welle immer noch unaufhaltsam näherte. Jetzt war sie fast über mir und ich legte weiter einen Stein auf den anderen. Sie ging auf mich nieder – und glitt über mich hinweg. Sein Grauen hatte mich nur gestreift. Der Junge wurde in meinen Armen immer schwerer, ich konnte sein Gewicht kaum noch halten und legte ihn hin.

Yami tippte mich auf der Schulter an und schüttelte den Kopf.

„Lass, Alina, es ist genug. Er ist schon am Rand, er stirbt sonst.“

Verstohlen wischte ich mir den Mund ab, ein paar Tropfen waren daneben gegangen. Als ich fertig war, sah ich eine Weile etwas verschwommen und musste mich an die Mauer stützen, um nicht noch richtig ins Schwanken zu geraten.

„In seinem Alter sollte er sich nicht so dem Bier und Brandwein hingeben“, sagte Yami kopfschüttelnd. „Noch ein kleiner Ratschlag, Alina. Wenn du merkst, dass dein Opfer viel getrunken hat, solltest du dich mit einem kleinen Schluck begnügen, sonst wirst du selbst betrunken.“ Ich sah ihn mit großen Augen an. „Ich seh schon, heute kommt das wohl zu spät.“

„Nein, das ... es geht schon. Ich fühle mich nur etwas beschwipst.“

„Vielleicht sollten wir unser Gespräch dann lieber auf morgen verschieben?“, überlegte er.

„K-kommt nicht in Frage! Ich hab l-lang genug gewartet!“

Mich noch länger im Unklaren lassen, das kann er aber vergessen. Au, warum konnte er mir das mit dem kleinen Schluck bei Betrunkenen nicht vorher sagen?, ärgerte ich mich.
 

Um wieder einen klaren Kopf zu kriegen, machten wir uns zu Fuß auf den Heimweg. In einer von diesen muffigen Kutschen hätte ich es jetzt nicht ausgehalten. Als wir die City of London erreichten, kamen wir auch an dem Haus vorbei, in dem ich bis vor ein paar Tagen gewohnt hatte.

„Ähm ... Yami? Können wir kurz reingehen? Ich würde gern noch ein

paar von meinen Sachen mitnehmen.“

Yami zog seine Uhr aus der Tasche und warf einen Blick auf das goldene Ziffernblatt.

„Meinetwegen, soviel Zeit müssten wir noch haben.“

Das Haus und seine Bewohner lagen schon in tiefem Schlaf, sodass wir uns unbemerkt hineinschleichen konnten. Madam Kingsley hatte mein Zimmer noch nicht anderweitig vermietet und meine Sachen befanden sich noch an ihrem Platz. So konnte ich wenigstens meine Erinnerungsstücke retten.

Ich stellte den Korb, in dem ich sonst meine Blumen transportiert hatte, auf den Tisch und flitzte im Zimmer hin und her. Zu dem alten Geschichtenbuch und meiner mittlerweile etwas ramponierten Puppe kamen mein Nähzeug, eine Kette aus Glassteinen, die mir Joey und Maria zum letzten Geburtstag geschenkt hatten, und ein paar andere Dinge, von denen ich mich nicht trennen wollte.

Dann schrieb ich Madam Kingsley noch eine kurze Nachricht, dass es mir gut gehe und sie sich keine Sorgen zu machen brauche. Ich sei bei wohlhabenden Freunden meiner Eltern untergekommen, denen ich zufällig in der Stadt begegnet sei. Das würde sie beruhigen. Meine Vermieterin war immer freundlich zu mir gewesen, das war das Mindeste, was ich ihr schuldete.

Ich blickte mich noch einmal abschließend im Zimmer um. Es war ein guter Entschluss gewesen, hierher zu gehen. So konnte ich wirklich mit meinem alten Leben abschließen, der abrupte Umzug und alles waren mir doch etwas schnell gegangen. Ich strich noch einmal über das Bett, in dem ich die letzten Jahre geschlafen hatte, warf einen abschließenden Blick aus dem Fenster auf das nächtliche London, durch das Yami vor wenigen Abenden gekommen und mein ganzes Leben eben mal so umgekrempelt hatte.

„Es wird Zeit, Alina“, sagte Yami sanft. „Verabschiede dich, das hier ist nicht mehr dein Leben.“

Ich drehte mich zu ihm um und nickte leise.

„Ja, ich weiß.“

Anschließend nahm ich den Korb vom Tisch und wir verließen das Zimmer. Den Schlüssel legte ich unten im Flur hin, zusammen mit dem Brief. Madam Kingsley würde beides morgen früh finden, wenn sie nach draußen ging, um die Milch hereinzuholen.

Bevor wir auf die Straße traten, sahen wir uns um. Niemand sollte uns sehen. Ich hielt den Korb eng an mich gedrückt. Plötzlich hörte ich ein leises melodisches Pfeifen, die Melodie kam mir sehr bekannt vor: Amazing Grace. Augenblicklich drängte ich Yami zurück ins Haus. Keine Sekunde zu spät. Kaum war die Tür hinter uns zugeschlagen, bog Joey um die Ecke, pfeifend und die Hände in die Hosentaschen gesteckt.

Ich beobachtete ihn durch das kleine Sichtfenster in der Tür, wie er sich dem Haus näherte. Als er davor stehen blieb, drehte ich mich rasch zur Seite, damit er mich nicht sah, und lehnte mich mit schnell schlagendem Herzen gegen das Holz.

Was machst du hier, Joey?, fragte ich mich.

„Ist das ein Freund von dir?“, fragte Yami leise, was ich mit einem Nicken beantwortete. „Er ist auf der Suche nach dir. Er kommt jeden Tag hierher und fragt nach dir.“

„Woher weißt du das?“

„Lies seine Gedanken, Alina. Versuch es, das ist nicht schwer. Du musst dich nur auf ihn konzentrieren.“

Ich warf einen Blick aus dem Fenster und tastete in Gedanken nach Joeys Geist. Erst stieß ich gegen eine Mauer, doch nur wenige kurze Angriffe genügten, um seinen geistigen Widerstand zu brechen. Ich war überrascht, wie leicht das gegangen war. Sekundenbruchteile darauf wurde ich von einer Welle von Gefühlen überschwemmt. Dabei herrschte ein Gefühl vor: Ich spürte eine unglaubliche Sorge. Und das Objekt dieser Sorge war ich.

Bestürzt zog ich mich aus seinem Geist zurück. Ob ich mich ihm zeigen sollte?, überlegte ich. Aber dann ... dann müsste ich ihm sagen, wo ich die letzten Tage gewesen bin, was mit mir passiert ist. Ich kann doch nicht zu ihm gehen und sagen: ‚Hallo, Joey, da bin ich wieder, aber wir können uns nicht wiedersehen, weil ich jetzt eine Vampirin bin und dich beißen könnte.’ Er würde mich für verrückt erklären. Vielleicht ist es besser so, wenn er denkt, dass ich verschwunden bin. ... Joey ... Du warst immer wie ein großer Bruder für mich, aber nun ist es Zeit, dass jeder von uns seinen eigenen Weg geht. Leb wohl, Joey.

Erneut wandte ich mich ihm zu und betrachtete ihn ein letztes Mal. Er hielt sich den Kopf, als würde er schmerzen. Ob er gemerkt hatte, dass ich in seine Gedanken eingedrungen war? Er strich sich mit einer eleganten, unnachahmlichen Handbewegung die Haare aus der Stirn, drehte sich seufzend um und ging. Als er weit genug entfernt war, verließen wir das Haus und schlossen die Tür hinter uns.

„Ist alles in Ordnung, Alina?“

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen.

„Ja, jetzt schon. Ich habe mich von ihm verabschiedet.“

Nun war mir endgültig klar, dass mein altes Leben beendet war. Alina die Blumenverkäuferin war tot. Und Alina die Vampirin lebte.

Nichts würde mehr so sein wie früher.
 

Er sah, dass es ihr sichtlich schwer fiel, sich von ihrem Freund zu verabschieden, aber es musste sein. Auch das gehörte dazu. Sie schien sich allmählich mit den Veränderungen abzufinden, die er durch seinen Biss herbeigeführt hatte. Nun war er sich sicher, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er beschlossen hatte, sie zu einem Kind der Dunkelheit zu machen.

Doch die Gefühle, die ihre Umarmung im Garten und vorhin, als sie an der Tür so dicht neben ihm gestanden hatte, in ihm ausgelöst hatten, beunruhigten ihn.

Ich hätte ihr statt der Rose einen Strauß Löwenmäulchen schenken sollen, dachte Yami. Als Blumenverkäuferin beherrscht sie sicher die Sprache der Blumen und Löwenmäulchen sagen: ‚Du bringst meine guten Vorsätze ins Wanken’. Denn genau das tat Alina gerade und Geduld war nicht unbedingt eine seiner Stärken.
 


 


 

So, das war’s für heute erst mal. Ich hoffe, es hat euch gefallen. Bitte gebt mir eure Kommentare dazu. Wir kommen Alinas Geheimnis endlich näher. Aber leider, leider muss ich sagen, dass ich selbst noch keine Ahnung habe, wann das nächste Kapitel fertig sein wird. Ich bemühe mich, es so schnell wie möglich zu schreiben, aber meine Zeit ist in den nächsten Tagen nun mal etwas knapp. Gomen nasai. *verbeug*

Schatten der Vergangenheit - Chain of Memories

Hallo, da bin ich endlich wieder! *Kekse verteil* Ich weiß, es hat verflucht lange gedauert und ich muss mich auch dafür entschuldigen, aber eher ging es einfach nicht. In den letzten Wochen hat mich mein Studium ziemlich in Anspruch genommen, wir haben unsere Zwischenprüfungen geschrieben und da musste ich dem Lernen natürlich den Vorzug geben. Aber jetzt geht es endlich weiter mit der Suche nach dem Vollmond.

Musikempfehlung: Within Temptation – Somewhere / Naruto – Sadness and Sorrow

Diese Lieder hab ich beim Schreiben dauernd gehört. Die entsprechenden Links könnt ihr entweder meinem Steckbrief oder der Kurzbeschreibung entnehmen.

Widmung: Dieses Kapitel ist einer ganz besonders lieben Freundin hier auf Animexx gewidmet, die ich gerne damit etwas aufbauen möchte. Bitte lass den Kopf nicht hängen.
 


 

Kapitel 14

Schatten der Vergangenheit – Chain of Memories
 

Als er an der Straßenecke war, glitt Joeys Blick ein weiteres Mal über das Haus. An der Haustür entlang, die Fassade hinauf zu dem Stockwerk, in welchem Alina ihr Zimmer hatte. Dort oben war alles dunkel, wie auch im Rest des Gebäudes, keine einzige Lampe brannte mehr. Warum auch, es war spät am Abend und die Hausbewohner lagen alle längst in tiefem Schlaf, friedlich träumend in ihren Betten. Alle bis auf ... Ja, alle bis auf sie. Lag sie überhaupt in einem Bett? Oder hatte der Tod sie mit sich in seine kühle Umklammerung des ewigen Schlafes gerissen?

Wo bist du nur hin, Alinchen? Joey seufzte leise und griff sich an den Kopf. Gott, brummt mir der Schädel! Dabei hab ich doch heute Abend gar nix getrunken. Okay, das eine Glas Bier mit Francis, aber davon kann das ja wohl kaum kommen.

Dieses dumpfe Pochen war auch wie aus heiterem Himmel gekommen. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand etwas gegen den Kopf geworfen. Oder als wenn jemand versucht hätte, sich mit blanker Gewalt (wie mit einem Brecheisen) Zutritt zu seinem Schädel zu verschaffen.

Joey wanderte gemächlichen Schrittes die verwaisten Straßen entlang, die Hände gegen die Kälte wieder tief in die Hosentaschen vergraben, in denen ein Teil seiner heutigen Ausbeute ruhte. Den Rest hatte er in den Innentaschen seiner Jacke verstaut.

Unter den Sachen befanden sich ein paar hübsche Stücke, von denen er sicher war, sie zu einem guten Preis verkaufen zu können. Das musste er auch, er brauchte das Geld. Jedoch nicht nur für sich selbst. Marias Geschäfte waren in den letzten Tagen mehr als schlecht gelaufen, der Zustand ihrer Mutter hatte sich auch nicht gebessert und sie mussten dringend neue Medizin kaufen.

Es fiel Joey schwer, Maria nicht zu verbieten, ihre Mutter zu besuchen, damit sie sich nicht auch noch mit diesem seltsamen Fieber ansteckte. Wenn sie ebenfalls krank wurde ... er wollte sie nicht verlieren. Nicht auch noch sie.

Es waren mittlerweile drei Tage, dass Alina verschwunden war. Und zwar spurlos. In den ersten Stunden hatte er sich noch keine Sorgen gemacht. Er wusste nur zu gut, dass Alina einen Hang dazu hatte, zu verschlafen und wenn sie dann drei Stunden später völlig gehetzt auftauchte, ärgerte sie sich wieder schwarz darüber, dass sie es nicht rechtzeitig aus den Federn geschafft hatte. Als sie jedoch auch am Nachmittag fort geblieben war, hatte er begonnen, sich Gedanken zu machen. In der Annahme, dass sie krank sei, hatte er seine Arbeit vorzeitig beendet und war zu Madam Kingsley geeilt, die ihm mitgeteilt hatte, dass sie Alina seit dem Vorabend nicht mehr gesehen habe. Ihre Sachen waren alle noch in ihrem Zimmer, selbst ihr Korb. Nur sie fehlte. Das hatte ihn stutzig gemacht. Er hatte zusammen mit ein paar Freunden alles abgesucht, jeden Winkel, von dem er vermuten konnte, dass sie dort war. Gefunden hatte er sie jedoch nicht.

Er hatte schon tausende von Vermutungen über ihren Verbleib angestellt, bis ihm der Kopf rauchte. Auf dem Weg zur Arbeit konnte sie nicht verschwunden sein, dann wäre auch ihr Korb weg gewesen und ohne diesen ging sie eigentlich nie aus dem Haus. Zumindest hatte Joey sie nie ohne ihn gesehen.

Hatte man sie verschleppt? In den ärmeren Vierteln Londons war es nicht so selten, dass ein Mädchen – häufig auf Nimmerwiedersehen – verschwand. Manche tauchten ein paar Tage später wieder auf. In den meisten Fällen übel zugerichtet oder sie hatten bereits ihren Weg in die jenseitige Welt angetreten. Und mit dem Auffinden der Schuldigen tat sich die Polizei noch schwerer als mit der Suche nach den Mädchen. Die meisten Fälle blieben unaufgeklärt und wurden nach einer Weile zu den Akten gelegt.

Auf diese Herren konnte er sich demnach herzlich wenig verlassen. In diesen Zeiten galt der Spruch „Die Polizei, dein Freund und Helfer“ nichts, es sei denn, man gehörte der reichen Oberschicht an. Wenn Alina und er dazu gehört hätten, wenn sie die Kinder eines reichen Industriellen gewesen wären, hätte Scotland Yard schon längst Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie zu finden. So aber ...

Wenn er nur einen Anhaltspunkt hätte, was aus ihr geworden war. Irgendetwas. Dann könnte er etwas ruhiger schlafen.
 

Joey erreichte das Handelshaus, in dessen Dachgeschoss er sich vor einigen Jahren häuslich niedergelassen hatte. Es besaß einen zweiten Eingang im Hinterhof, verdeckt durch eine Sammlung von dort abgestelltem Sperrmüll. Joey schob ein paar Bretter zur Seite, die er vorsorglich als zusätzliche Tarnung benutzte, damit keiner der Arbeiter oder gar der Besitzer selbst seinen Eingang entdeckte, und stieg durch das große Loch in der Mauer. Es befand sich in der hintersten Ecke des Lagers, dort wo nie jemand hinkam. Dann ging es über mehrere Treppen die Stockwerke hinauf, bis er zu einer Leiter kam, die den Boden mit einer Luke in der Decke verband.

Beim Hinaufsteigen versuchte er jegliches Geräusch zu vermeiden. Oben angelangt schloss er die Klappe leise hinter sich. Das einzige Licht hier oben im Dachgeschoss spendete der durch die schrägen Fenster hereinfallende Mond. Joey öffnete eine Truhe, die an der Wand stand, und leerte den Inhalt seiner Taschen in sie, bevor er sie zumachte und mit einem schweren Schloss sicherte. Den Schlüssel hängte er sich an einem Lederband um den Hals. Morgen würde er sich um den Verkauf kümmern. Der Mantel fand seinen Platz auf einem Haken in der Nähe.

Dann zog er den Vorhang zurück, der den Schlafbereich vom Rest des Dachbodens abtrennte. An der Wand gegenüber von seinem Bett war ein weiteres Bett aufgebaut, in dem friedlich und entspannt atmend Maria und ihr kleiner Bruder schlummerten. Er betrachtete die beiden Kinder und strich Maria mit der Hand vorsichtig eine Locke aus dem Gesicht.

Der Schlaf hatte die Lasten, die ihr das Leben schon viel zu früh auf-

erlegt hatte, für eine Weile aus ihrem Gesicht gewischt und ließ sie wie das sorglose Kind aussehen, das sie eigentlich in ihrem Alter sein sollte. Joey beugte sich zu ihr und drückte seine Lippen sanft auf ihre Stirn.

„Schlaf gut, Kleines, träum was Schönes“, flüsterte er. Als Antwort erhielt er nur ein leises Seufzen, dann drehte sich Maria auf die andere

Seite.

Mit einem Gähnen streifte er seine Kleider ab, ließ sich auf sein eigenes Bett sinken und zog die Decke über sich.

Oh Alina, werde ich dich jemals wiedersehen?, dachte er. Was ist nur mit dir passiert?
 

Alex öffnete uns schon die Haustür, kaum dass wir sie erreicht hatten.

„Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Abend, Sir, Miss Alina“, sagte er, während er uns die Mäntel abnahm und in der Garderobe verstaute.

„Danke der Nachfrage, mein Guter, es war in der Tat angenehm“, erwiderte Yami.

Ja wohl eher für dich, dachte ich. Ich hatte schon auf der Heimfahrt beschlossen, mal mit Mai zu reden, wie sie das mit der Auswahl ihrer Opfer handhabte. Sich als Straßenmädchen auszugeben konnte doch unmöglich der einzige Weg zum Ziel sein. Ich verspürte nämlich nicht die geringste Lust, dieses Gegrabsche jeden Abend über mich ergehen zu lassen, nur um an Blut zu kommen.

„Alina“, sagte Yami, „es ist jetzt Punkt zehn.“ Ich sah auf die Standuhr im Foyer. „Wir treffen uns in einer Viertelstunde in der Bibliothek. Ich habe erst noch ein paar Dinge zu erledigen, bevor wir miteinander reden können.“

„Gut, dann bringe ich meine Sachen rauf.“

Ich hielt mich gerade so davon ab, die Treppe mit Luftsprüngen zu erklimmen. Endlich sollte das ewige Warten ein Ende haben. Jetzt ergriff mich erst richtig die Neugier. Und die fünfzehn Minuten, die ich noch warten sollte, kamen mir wie die längsten der Welt vor. Immer, wenn man auf ein sehr wichtiges Ereignis wartet, scheinen alle Uhren in der Umgebung hundertmal langsamer zu laufen. So ging es nun auch mir.

Die Sachen, die wir aus meinem alten Zimmer bei Madam Kingsley geholt hatten, waren rasch in den Schränken verstaut. Das Geschichtenbuch und meine Puppe Susan fanden ihren Platz auf einem Regal neben dem Kamin, wo sie auch früher schon einmal verstaut gewesen waren. Die Kette wanderte in einen kleinen Schmuckkasten aus Ebenholz, der auf meinem Frisiertisch stand und mit einer sternförmigen Intarsienarbeit versehen war.

Gerade in dem Moment, als ich den Korb im Kleiderschrank verstauen wollte, klopfte es. Ich hatte kaum „Herein“ gerufen, da stand Mai schon im Türrahmen.

„Hallo, Alina, seid ihr schon lange da? Ich hab euch gar nicht gehört.“

„Nein, wir sind erst vor ein paar Minuten gekommen. Mai ... ich muss dich mal was fragen. Wie ... wie machst du das, wenn du jemanden beißen willst? Ich meine ... wie kommst du an die Leute heran? Yamis Methode gefällt mir nämlich nicht besonders.“

„Hmm“, machte Mai, nachdem ich ihr alles erzählt hatte. „Natürlich gibt es viele Möglichkeiten. Du musst vor allem erfinderisch sein. Zum Beispiel wenn ich abends in der Oper war oder in der Stadt einkaufen, rege ich mich gerne mal etwas lauter als üblich darüber auf, dass mein Kutscher nicht kommt. Und es gibt recht viele freundliche Herren, die einem dann eine Kutsche heranwinken oder sogar anbieten, dich mit ihrer fahren zu lassen. Und die meisten bestehen darauf, dich zu begleiten, damit du sicher nach Hause kommst. Natürlich musst du da auch ein bisschen aufpassen, dass sie deine Bitte nicht in den falschen Hals kriegen und zudringlich werden – so wie du es bei dir beschrieben hast. Oder ... du kannst auch so tun, als hättest du dich verirrt ... Mitleid, verstehst du? Oh!“

Sie wandte sich mit leuchtenden Augen meinem Schreibtisch zu.

„Wo hast du denn die Rose her?“, fragte sie.

„Die hat mir Yami geschenkt, zusammen mit Karten fürs Theater. Romeo und Julia, mein Lieblingsstück. Er hat sich wegen gestern Abend bei mir entschuldigt, bevor wir gegangen sind“, sagte ich und strahlte sie fröhlich an.

Die Augen von Mai wurden tellergroß, ihr Kinn schlug ihr praktisch bis auf die Knie. Man hätte meinen können, sie hätte sich die Kieferknochen ausgerenkt, denn sie half bei ihrem Mund doch tatsächlich mit der Hand nach, damit er sich schloss.

„Er hat ... sich bei dir ... entschuldigt?“, stammelte sie und sah mich an als hätte ich ihr gerade mitgeteilt, dass Seth ein netter Kerl war. „Bist du dir auch ganz sicher, dass es Yami war und nicht jemand, der nur zufällig so aussieht wie er?“

Bei meinem Nicken wurde ihre Miene nur noch ungläubiger.

„Ausgerechnet unser Mr. Ich-weiß-grundsätzlich-alles-besser-und-habe-immer-Recht? ... Ah ... ha ... Also ... Wie hast du ihn denn dazu gekriegt?“

„Wieso bist du denn so erstaunt? Na ja, es fiel ihm schon irgendwie schwer, aber ...“

„Schwer? IRGENDWIE SCHWER? Natürlich fällt ihm das schwer, Alina! Ich glaube, das war das erste Mal, dass er sich überhaupt bei jemandem entschuldigt hat. Ich habe es jedenfalls nie erlebt, solange ich bei ihm bin. Da hast du wirklich was, wo du dir was drauf einbilden kannst. Aber reib es ihm lieber nicht unter die Nase, das mögen Männer nicht“, sagte sie und zwinkerte mir zu.

„Gut, werde ich mir merken. Aber – Oh nein, es ist ja schon Viertel nach! Entschuldige, ich muss los, Yami will mit mir reden.“

Ein rascher Blick in den Spiegel, ob meine Frisur noch anständig saß, dann stürmte ich an ihr vorbei aus dem Zimmer.
 

Mai trat näher an den Schreibtisch heran und hob das Kuvert mit den Eintrittskarten für das Theater auf.

„Es geschehen doch noch Wunder“, flüsterte sie. „Anscheinend hat er doch mal auf mich gehört. Wird auch Zeit, dass er es ihr sagt. Und dass er sich auch noch bei ihr entschuldigt hat ... kaum zu fassen. Unser unfehlbarer Obermeister gesteht mal einen Fehler ein.“

Sie lächelte still vor sich hin, legte die Karten auf ihren Platz zurück und ging. Die Nacht war noch jung und ihr Appetit für heute noch nicht vollkommen gestillt.
 

Als ich die Treppe erreichte, beugte ich mich vorsichtig über das Geländer und spähte nach unten. Es war niemand zu sehen. Alex und die anderen Angestellten hielten sich wahrscheinlich in der Küche oder in ihren Zimmern auf. Ob ich es mal wagen sollte? Ein spitzbübisches Lächeln glitt über mein Gesicht. Warum eigentlich nicht, es sah mich ja gerade niemand.

Ich raffte meine Röcke etwas, ließ mich oben auf dem Geländer nieder und stieß mich ab. Schon rutschte ich in schnellem Tempo bis zum Treppenabsatz herunter, wo die Stufen einen Knick machten. So eine schöne schnelle Fahrt hatte ich lange nicht mehr gemacht und ich musste das laute Jauchzen unterdrücken, das ich gern ausgestoßen hätte. Nicht dass mich noch jemand hörte.

Wenn mich meine Eltern oder mein Kindermädchen früher dabei erwischt hatten, hatte ich immer einen riesigen Ärger bekommen, aber jetzt ... Eigentlich hatte ich vorgehabt, auch den zweiten Teil der Strecke auf diese Art zurückzulegen –

Doch da ging die Tür zum Küchentrakt auf, ich hüpfte auf die Treppenstufe zurück und glättete hastig meine Kleider, damit man mir das kleine Vergnügen nicht anmerkte. Gleich darauf trat Alexander ins Foyer hinaus und ging ins Kaminzimmer hinüber, leise etwas vor sich hinmurmelnd. Er hatte mich gar nicht bemerkt. Noch mal Glück gehabt.

Zwar waren meine Eltern nicht mehr hier, aber dafür saß mir jetzt Mai, meine liebe neue Schwester, im Nacken und das Rutschen auf Treppengeländern würde sie höchstwahrscheinlich als unpassend für eine junge Dame befinden. Also schritt ich die letzten Stufen normal hinunter und auf die Bibliothek zu.

Bevor ich eintrat, atmete ich noch einmal tief durch, um mich zu beruhigen.
 

Yami warf einen letzten Blick auf das Bild, das vor ihm auf der Kommode stand, und legte die Hände vor dem Gesicht zusammen, als wollte er beten. Seine Augenlider senkten sich, sein Atem wurde tief und lang.

„Es wird Zeit, einen weiteren Teil meines Versprechens einzulösen.“ In dem Moment hörte er, seinem hervorragenden vampirischen Gehör sei Dank, das leise, entfernte Knarren einer Tür. „Nun ist es also gleich soweit. Oh ihr Götter, bitte lasst mich heute Abend das Richtige tun“, flüsterte er. „Alina, ich hoffe, du kannst mir eines Tages verzeihen.“
 

Die Tür knarrte laut, als ich sie öffnete. Komisch, das hatte sie gestern noch nicht gemacht. Musste sicher nur mal wieder geölt werden. Die Bibliothek lag im leicht gedämpften Licht der Deckenlampe und dem Feuer des Kamins da. Still und friedlich, erfüllt vom wundervollen, wenn auch manchmal etwas muffigen Duft alter Bücher. Für mich war es sonst der perfekte Ort zum Entspannen. Nur heute waren meine Nerven alles andere als entspannt. Zu sehr fieberte ich diesem Moment entgegen.

Was mich allerdings wunderte, war, dass von Yami weit und breit absolut nichts zu sehen war. Dabei war es – sofern die Uhr auf dem Kamin richtig ging – bereits zwanzig nach zehn. Es war ja gut möglich, dass Yami über seiner Arbeit die Zeit vergessen hatte. Aber musste es denn ausgerechnet jetzt sein?

Na ja, ändern konnte ich es ja nicht. Wenn er noch nicht fertig war, wollte ich ihn auch nicht unbedingt bei der Arbeit stören, auch wenn es mich noch so sehr drängte, alles zu erfahren. Ein paar Minuten konnte ich ihm schon noch zugestehen. Also beschloss ich, hier auf ihn zu warten. Und falls er nach Ablauf dieser Minuten immer noch nicht da sein sollte, konnte ich immer noch gehen und ihn suchen.

Ich zog mir einen der Stühle, die am Tisch standen, näher heran und setzte mich. So konnte ich mich mit dem Arm auf der Tischfläche abstützen und den Kopf auf die Handfläche legen. Ganz war es der Abendluft auch nicht gelungen, den leichten Rausch zu verwischen, den ich dem Jungen zu verdanken hatte. Ich litt immer noch unter leichten Kopfschmerzen. Das war mir auf jeden Fall eine Lehre für das nächste Mal. Da ich mich auch noch auf den Aufbau des Schutzschildes konzentriert hatte, war mir gar nicht aufgefallen, wie viel Blut ich ihm genommen hatte. Einiges mehr als beabsichtigt. So etwas sollte besser nicht noch einmal vorkommen.

Als ich den Blick hob, waren weitere fünf Minuten vergangen und von Yami fehlte nach wie vor jede Spur. Dafür verschlimmerte sich gerade das Pochen in meinem Schädel. So sehr ich auch die Gerüche einer Bibliothek liebte, bei Kopfschmerzen waren sie alles andere als ein Heilmittel.

Auf einem Schrank entdeckte ich eine Karaffe mit Wasser und Gläser. Das Wasser musste frisch nachgefüllt sein, es schwammen kleine Eisstückchen zum Kühlen drin. In der Hoffnung, so den lästigen Schmerz loszuwerden, goss ich mir ein Glas ein und leerte es in wenigen Zügen. Ein weiterer scharfer Schmerz schoss durch meinen Kopf. Sobald er abklang, merkte ich jedoch, dass das Kopfweh besser wurde.

Mein Blick glitt über die Bücher in dem Regal neben dem Schrank. Das Fach direkt vor mir war bis zum letzten Platz mit naturwissenschaftlichen Werken voll gestopft. Literatur über Physik und Chemie, darunter mehrere Bücher über Newton, Mathematik, inklusive einer ausführlichen (also sehr dicken und für mich stinklangweiligen) Abhandlung über die Arbeiten des Pythagoras. Bücher, von denen es mir nicht einmal im Traum einfallen würde, auch nur eines zu lesen.

Und doch zog mich etwas fast wie magisch zu diesen Werken aus Papier und Tinte hin, als riefen sie leise nach mir. Unter diesen Büchern kam eine Reihe mit Werken, die die Natur, das Tierreich und die Medizin behandelten.

Dann fiel mir ein besonders dickes Buch auf, der Kanon der Medizin, geschrieben im zehnten Jahrhundert von Avicenna, auch bekannt als Ibn Sina, einem berühmten Arzt und Philosophen. Es sah alt aus, das rote Leder, in das es gebunden war, war von der Sonne ausgebleicht, doch die Goldlettern des Titels schimmerten nach wie vor gut sichtbar. Eine zugegeben für mich etwas ungewöhnliche Lektüre, aber ich hatte nun mal keine Lust, die ganze Zeit dumm herumzusitzen, während ich auf Yami wartete.

Apropos, der Herr könnte auch endlich mal auf der Bildfläche erscheinen. Frechheit! Erst bestellt er mich – auch noch pünktlich bitte! – hierher, und dann kommt er selbst nicht! Dem werd’ ich was erzählen, wenn er da ist ... nachdem er mir alles verraten hat. Sonst streiten wir uns wieder und er weigert sich am Ende noch, mir was zu sagen. Ihm wäre das glatt zuzutrauen.
 

Als ich das Buch herausziehen wollte, ließ es sich keinen Millimeter bewegen. Es war anscheinend zwischen den anderen festgeklemmt. Ich ruckelte eine Weile daran, zog gleichzeitig an den beiden anderen Büchern zu seinen Seiten, um sie zu lockern, und endlich löste es sich Stück für Stück aus seinem engen Gefängnis. Nur noch ein letzter kräftiger Ruck –

Mit einem Mal kam es frei und mich schleuderte es durch die Kraft, die ich dafür aufgewandt hatte, nach hinten. Ich stolperte einige Schritte im Blindgang rückwärts, kam an einen Gegenstand und stolperte über ihn. Noch während ich fiel, fühlte ich eine kühle, glatte Oberfläche unter meiner rechten Hand.

Der Aufprall auf dem Boden war schmerzhaft, besonders für meinen Rücken und mein Hinterteil. Es kam mir vor, als wäre mein ganzes Kreuz mit unzähligen Prellungen überzogen worden.

Ich richtete mich mit leicht verzerrtem Gesicht und einem leisen Aufstöhnen ein wenig auf und erkannte so, worüber ich gestolpert war. Neben mir lag einer der Sessel. Manchmal kam mir das Ungeschick wie ein zweiter Vorname vor. Nun huschten meine Augen zu meiner rechten Seite.

Meine Hand ruhte auf einem großen hölzernen Globus. Noch so ein Relikt aus meiner Kindheit, wenn ich mich nicht sehr irrte, denn mein Vater hatte genauso einen besessen. Gefertigt aus Nussholz und bemalt mit den Ländern und Kontinenten. Nur gut, dass er nicht umgefallen war, diese Globen waren recht empfindlich, weil das verwendete Holz relativ dünn war.

Beim Aufstehen verfluchte ich mein Korsett einmal mehr, für Stürze waren diese Teile nicht gerade konzipiert und es drückte mir auf die Rippen. Das kostbare Buch lag aufgeschlagen und mit den Seiten nach unten auf dem Boden. Ich hob es vorsichtig auf und betrachtete die Seiten, um sicherzugehen, dass ich es nicht auch noch beschädigt hatte. Aber es war nicht mal ein Eselsohr drin. Da hatte ich noch mal Glück gehabt.

Mir fiel auf, dass die Seiten nicht gedruckt, sondern handgeschrieben und die Buchstaben verziert waren. So etwas sah man nicht gerade alle Tage. Es musste mehrere hundert Jahre alt sein, solche Bücher waren oftmals ein Vermögen wert. Der Mann, an den Joey die ge-stohlenen Sachen verkaufte, handelte auch mit antiken Büchern und er wäre angesichts dieser Ausgabe des Kanons sehr wahrscheinlich in Verzückung geraten. Eine handschriftliche, verzierte Ausgabe und dann auch noch in so einem guten, um nicht zu sagen fantastischen Zustand – wobei mir wieder einfiel, dass ich froh sein konnte, diesen nicht zunichte gemacht zu haben. Da stellte ich es doch lieber erleichtert ins Regal zurück, bevor wirklich noch etwas mit ihm passierte.

Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit erneut dem Globus zu, den wollte ich doch mal etwas näher in Augenschein nehmen. Der hohe Klang, als ich auf das Holz klopfte, sagte mir, dass er innen hohl war. Wie die meisten Globen. Nur hatte er im Gegensatz zu vielen anderen, die von ihren Besitzern gerne als versteckte kleine Bar genutzt wurden, keinerlei Verschlüsse oder gab sonst ein Anzeichen darauf, dass man ihn öffnen konnte.

Beim Anblick des Mittelmeeres stockte mir schließlich endgültig der Atem. Zwischen den beiden „e“ des Wortes „Meer“ befand sich ein haarfeiner, langer Kratzer, der fast bis zum afrikanischen Kontinent hinunter reichte.

Das war Papas Globus! Einen deutlicheren Beweis konnte es gar nicht geben. Den Kratzer hatte ich ihm immerhin eigenhändig beigebracht, als ich, unvorsichtig, wie ein sechsjähriges Kind nun mal ist, mit einem Brieföffner, den ich auf dem Schreibtisch gefunden hatte, die Meridiane nachgefahren hatte und abgerutscht war. Ich wüsste gern mal, was mich damals auf diesen dämlichen Einfall gebracht hatte. Ich glaube, mein Vater hat es nie erfahren und wenn, dann hat er nichts gesagt.

Meine Finger fuhren aufgeregt über das glatt polierte Holz, weiter nach unten, bis sie Ägypten erreichten. Zu meinem großen Verwundern gab das Holz auf einmal nach. In der ersten Sekunde dachte ich, ich wäre auf eine Schwachstelle gestoßen und hätte den Globus kaputt gemacht. Dann jedoch versank das gesamte Reich am Nil ein kleines Stück im Globus, nur wenige Millimeter und doch hörte ich etwas hinter mir klicken, wie ein Schloss, das aufspringt. Ob Yami endlich kam? Ich drehte mich langsam herum. Die Tür war immer noch geschlossen, dafür jedoch ...

„Was ... was ist das denn?“, brachte ich um Luft ringend heraus.

Dort, wo sich eben noch eine massive Regalwand befunden hatte, glitt gerade ein Teil eben jenes Regals wie selbstverständlich auf – wie eine Tür. Und dahinter war gähnendes Dunkel.

Was um alles in der Welt hat eine geheime Tür in unserm Haus verloren?, überlegte ich. Und wer hat sie eingebaut? Vater kann es ja wohl kaum gewesen sein, wofür hätte er so etwas gebraucht?

Das machte mich doch sehr neugierig und ich trat näher an die Öffnung heran. Im Schein der Lampen, die ihr Licht gerade noch etwas über die Schwelle der Tür warfen, erkannte ich eine steinerne Treppe, die in die Tiefe führte. Von unten drang kühle Luft hinauf, die mir sanft über die Wange strich und mich an das Flüstern sehr leiser Stimmen erinnerte. Und all diese Stimmen schienen „Alina, komm zu uns“ zu rufen, sobald ich kurz die Augen schloss und ihnen lauschte. Sie schienen wie aus einer anderen Welt zu kommen. Wo auch immer diese Treppe hinführte, ich musste es wissen!
 

Ich nahm einen kleinen Kerzenhalter vom Kaminsims und entzündete die Kerze an den Flammen, um mir für mein Vorhaben etwas mehr Licht zu verschaffen. So bewaffnet wandte ich mich zum zweiten Mal der geheimen Tür zu und machte mich auf den Weg die Treppe hinab. Die Kerze flackerte leicht im Luftzug und ich schirmte sie mit der Hand ab, damit sie nicht ausging.

Nach ein paar Schritten in die Tiefe hörte ich, wie die Tür oben zu glitt und sich mit einem erneuten leisen Klicken schloss.

Wunderbar, das hab ich mal wieder von meiner Neugierde! Wenn es auf dieser Seite der Tür keinen Schalter zum Öffnen gibt, bin ich hier drin gefangen.

Ich ging die paar Schritte zurück und untersuchte im Schein der Kerze die Wand zu beiden Seiten der Tür, doch ich fand nichts, das wie ein Schalter oder Hebel aussah.

Bleibt zu hoffen, dass die Treppe auch irgendwo hin führt, dachte ich. Sonst habe ich ein richtiges Problem. Und wenn Yami gerade jetzt kommt und ich nicht da bin?

Etwas in meinem Kopf sagte mir allerdings, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand und so drehte ich um.

Die Stufen gingen nun in eine enge Wendeltreppe über. Obwohl die Flamme weiter oben so hell ausgesehen hatte, konnte sie die Dunkelheit um mich herum schließlich kaum noch durchdringen. Sie verlor sich in ihr wie ein winzig kleines Licht in einem Meer aus Finsternis. Selbst meiner verbesserten vampirischen Sehkraft gelang es nicht, mehr zu erkennen als ein paar Zentimeter Boden und die nächste Stufe vor mir.

An ihrem Ende mündete die Treppe in einen etwas breiteren, kurzen Gang, an dessen Ende ich eine mit dicken Eisenbeschlägen versehene Tür erkannte. Das wurde ja immer mysteriöser. Geheime Türen, unbekannte Keller ... was zum Kuckuck hatte sich der Architekt denn dabei gedacht?!

Meine Hand begann unerklärlicherweise stark zu zittern, als ich sie nach der Türklinke ausstreckte und diese herunterdrückte. Die Scharniere gaben ein laut quietschendes Geräusch von sich, als wären sie lange nicht mehr gebraucht worden.

Helles Licht blendete mich, hell wie die Sonne, doch sie konnte es nicht sein. Es war Nacht draußen und ich war ein ganzes Stück unter der Erde. Ich hob meine freie Hand vor die Augen, und blinzelte, bis ich wieder etwas sehen konnte.

Vor mir erstreckte sich ein weiter Raum, erleuchtet von einer unzählbaren Anzahl von Kerzen, die zum Großteil in Deckenleuchtern aus Messing untergebracht waren. Diese hingen von der mit dunklem Holz vertäfelten Decke und erinnerten mich entfernt an riesige Sterne.

Die ganze linke Wandseite war mit Schränken und Vitrinen voller Bücher zu gestellt, an der rechten Wand reihten sich alle Arten von Waffen aneinander, Schwerter, Lanzen, Armbrüste, Morgensterne, Streitäxte und -kolben und vieles mehr, auch etliche Waffen, die mir völlig unbekannt waren. Darunter standen Kommoden und Truhen.

Die Sachen wirkten alle sehr verstaubt, als wäre hier unten lange nicht mehr sauber gemacht worden. An der Decke hingen große Spinnweben.

Am anderen Ende des Raumes, gegenüber der Tür, befand sich ein großer Schreibtisch, ebenfalls überfüllt mit Büchern, Akten und anderen Dokumenten. Davor stand ein rot gepolsterter Ohrensessel, in dem jemand saß, wie ich an einem hervorragenden Ellbogen sah, der in weißen Stoff gehüllt war. Als dieser Jemand den Kopf zu mir umwandte, entlud sich meine Überraschung mit einem Schlag:

„Was tust du denn hier, Yami?“
 

Er hatte ihre Schritte schon gehört, als sie den Fuß der Treppe erreicht hatte. Yami gestattete sich ein zufriedenes Lächeln. Dann war wohl alles so verlaufen, wie er es geplant hatte.

Langsam wandte er den Kopf zu ihr herum und betrachtete sie, wie sie da völlig verdutzt in der Eingangstür stand und sich staunend in den hohen Räumlichkeiten umsah.

„Hallo, Alina. Ich habe dich schon erwartet“, sagte er. „Ich hatte schon befürchtet, du hättest meinen Hinweis gar nicht gefunden.“

Ihr Blick wandelte sich von Verwunderung zu Verwirrung.

„Ähm ... von was für einem Hinweis sprichst du denn, Yami?“

„Ich hatte dir doch einen Zettel auf den Tisch gelegt. Hast du ihn denn nicht gefunden?“

„Also, eigentlich ... nein. Ich hab keinen Zettel gesehen.“

„Und hast den Zugang hierher dennoch entdeckt“, sagte Yami, sichtlich zufrieden mit sich. Er erhob sich aus seinem Sessel, während sie auf ihn zu kam. Ihr Blick glitt an den Möbelstücken entlang und streifte ihn immer wieder.

„Jaaa ... das war eher ein dummer Zufall, wenn ich ehrlich bin. Ich bin hingefallen und gegen den Globus gekommen. Es ist der Globus meines Vaters, stell dir das vor! Und als ich ihn mir näher ansehen wollte, da hat sich diese Tür geöffnet. Ich wollte einfach mal nachsehen, wo sie hinführt. Apropos ... wo sind wir? Was ist das hier? Hast du diese Räume bauen lassen? Und was ist denn nun mit dem Grund, warum du mich gebissen hast?“

„Oh, oh, so viele Fragen auf einmal“, schüttelte er mit einem Seufzen den Kopf. „Da weiß ich ja gar nicht, wo ich anfangen soll. Also erst einmal, nein, ich habe diese Räumlichkeiten nicht bauen lassen. Sie sind so alt wie dieses Haus, sie waren von Anfang an da.“

„Wie bitte? Aber ... warum hätte mein Vater denn so etwas“, sie machte eine weit ausholende Handbewegung, um den ganzen Raum zu umfassen, „bauen lassen sollen? Wollte er ein Lager für besonders kostbare Ware haben oder was?“
 

Mein Blick wanderte über die Einrichtung.

Aber ... nein, gibt das wirklich Sinn? Nur wofür hat er dann so viel Platz gebraucht? Und was sollen die vielen Waffen hier? Ich weiß ja, dass er Bücher gesammelt hat wie andere Leute Briefmarken ... Aber Waffen? Das passt nicht zu ihm.

Yami kicherte leise.

„Diese Räumlichkeiten mögen vieles für deinen Vater gewesen sein, aber ein Lagerraum in dem Sinn, den du dir vorstellst, sicher nicht.“

„Woher weißt du überhaupt von diesem Raum? Wenn er so gründlich versteckt war ...“

„Ich bin vor langer Zeit schon einmal hier gewesen ... zusammen mit

deinem Vater. Er hat ihn mir gezeigt. Wir waren sehr gute Freunde.“

Für einen Augenblick war ich absolut sprachlos.

„Du ... du kanntest meinen Vater?“ Meine Kehle fühlte sich trocken an. „Wie ... woher ...“

Yami drehte sich mit dem Oberkörper zu dem Schreibtisch hinter sich um und nahm einen versilberten Bilderrahmen in die Hand, den er an mich weiterreichte. Ich betrachtete das Bild einen Augenblick lang schweigend. Mein Gehirn schien ausgesetzt zu haben, denn ich konnte einfach nicht glauben, was ich da sah. Aber was für einen deutlicheren Beweis wollte ich denn noch haben?

Auf dem Foto waren meine Eltern und Yami abgebildet, es musste vor unserem Haus aufgenommen worden sein. Meine Mutter stand in der Mitte, hatte um jeden der beiden einen Arm gelegt und lachte fröhlich, während mein Vater ihr einen Kuss auf die Wange drückte. Wie jung sie darauf wirkte. Und allein schon dieses lockere Motiv an sich war absolut ungewöhnlich. Als ich noch klein war, hatten meine Eltern auch einige Male einen Fotografen bestellt, um meine Geburtstage oder unsere Weihnachtsfeier festzuhalten und da hatten wir uns immer in recht steifer Anordnung aufstellen müssen.

„Wir sind oft nicht das, was wir zu sein scheinen“, sagte Yami. „Das trifft auf mich zu, auf dich – und das traf auf deine Eltern zu.“

Ich kam mir vor, als hätte man mich mitten auf einem Feld ausgesetzt, das unter einem dicken Nebelschleier lag. Vor, zurück, nach rechts, nach links, ich hatte überhaupt keine Ahnung, in welche Richtung es nun gehen würde. Mir flogen tausend Fragen durch den Kopf.

„Willst du damit etwa sagen, sie waren auch Vampire?“

Kaum hatte ich geglaubt, wieder etwas Ordnung in mein Leben gebracht zu haben, wurde meine Welt erneut vollständig auf den Kopf gestellt. Aber ich hatte von Yami ja Antworten verlangt.

„Nein, sie waren keine Vampire“, antwortete er ruhig. „Sondern eher das genaue Gegenteil. Deine Eltern waren beide Jäger. Vampirjäger.“

„WAS? Sag mir sofort, dass das ein schlechter Scherz ist, Yami!“, rief ich. Ausgerechnet meine Eltern sollten Vampirjäger gewesen sein?

Mein – besonders mit seiner Buchführung – überkorrekter Vater und meine Mutter, die ihre Zeit mit Handarbeiten oder dergleichen zugebracht hatte?

„Ich habe versprochen, dir die Wahrheit zu erzählen. Das ist sie. Du entstammst einer Familie von Jägern, meine liebe Alina, einer sehr alten, um ganz genau zu sein. Dein Stammbaum reicht Jahrhunderte und Jahrtausende zurück.“

„Ich glaube, mir wird schwindlig.“

Mir drehte sich alles. Das konnte doch einfach nicht sein! Und doch ließen Yamis so entschlossen ausgesprochene Worte keinen Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt zu. Ich stellte das Bild rasch auf den Tisch zurück, bevor es noch meinen zitternden Fingern entgleiten konnte.
 

Alina schwankte hin und her, wie ein Boot, das von einer heftigen Welle ergriffen worden war. Yami ergriff sie rasch an Arm und Schulter und dirigierte sie zu dem Sessel, auf dem er bis vor kurzem noch selbst gesessen hatte. Alina ließ sich aufatmend gegen das weiche Polster sinken.

„Ich kann mir das irgendwie gar nicht vorstellen“, sagte sie nach einer Weile. „Papa war ein Geschäftsmann und Mama ... sie war der Inbegriff einer Dame, jedenfalls haben das ihre Freunde immer gesagt.“

„Das haben wir Vampire mit unseren Jägern gemeinsam, Alina. Wir alle führen ein Doppelleben, von der die Welt der Normalsterblichen nicht den blassesten Schimmer hat. Das großbürgerliche Leben, das deine Eltern tagsüber führten, war nur eine Fassade. Nachts zogen sie durch die Straßen und jagten Vampire. Und wenn ich mich richtig entsinne, war deine liebe Mutter, Gott hab sie selig, eine wahre Meisterin im Umgang mit der Armbrust. Sie hat immer die klassischen Waffen den modernen Feuerwaffen vorgezogen. Dein Vater wiederum konnte ein Gewehr ebenso problemlos handhaben wie ein Schwert.“

„Aber ... Augenblick mal, Yami. Wenn das alles so stimmt, wie du es sagst, dann müsstest du doch auch von meinen Eltern gejagt worden sein. Wie konntet ihr da befreundet sein?“

„Nun ... gut, dass du schon sitzt, sonst hätte ich dir spätestens jetzt einen Platz angeboten. Was ich dir zu erzählen habe, wird nämlich etwas länger dauern. Um dir das zu erklären, müssen wir uns bis zu den Anfängen unseres Volkes, in grauer Vorzeit, zurückbegeben.“ Er schob einen Teil der Papiere zur Seite und setzte sich auf die Schreibtischplatte. Yami verspürte angesichts der Länge des vor ihm liegenden Berichts auch nicht das Bedürfnis, so lange zu stehen, bis er fertig war. „Dir dürfte die Geschichte des Brudermordes zwischen Kain und Abel aus der Bibel vertraut sein.“

Alina nickte bedächtig. Sie war neugierig, wo das hinführen würde.

„Es gibt allerdings Dinge, die nicht in die christliche Bibel Einlass gefunden haben. Und ich muss dir erst noch sagen, auch für uns Vampire sind das alles nur noch Legenden. Alle, die heute noch auf der Erde wandeln, sind lange nach jenen Ereignissen geboren worden. Es heißt, dass Adam vor Eva noch eine Frau hatte. Ihr Name war Lilith. Weil sie sich Gott und ihrem Mann nicht beugen wollte, wurde sie verbannt und zu einer Dämonin. Sie holte Kain nach dem Tod seines Bruders zu sich und machte ihn zum ersten Vampir. Die Erzengel wurden ausgeschickt, um ihn zurückzuholen, doch er weigerte sich, mit ihnen zu kommen. Daraufhin verfluchten sie ihn und alle, die ihm später auf dem Pfad der Dunkelheit folgen sollten, Feuer und Licht zu fürchten und nur Asche und Blut zu essen. Damit begannen sich die Vampire wie eine Krankheit über die ganze Welt auszubreiten.“

Seine Zuhörerin schauerte bei seinen Worten.

„So hat also alles angefangen ...“

„Ja, vor vielen tausend Jahren. Die Vampire wurden mit der Zeit immer mächtiger, trotz des Fluches, der auf ihnen lastete. Also wurde von Gott unter den Menschen eine junge Frau auserwählt, die Kain, der die Vampire anführte, bezwingen sollte. Ihr Name war Chantrea. Sie erhielt große Kräfte, um es mit den seinen aufnehmen zu können. Doch dann passierte etwas, was keiner bedacht hatte. Die beiden verliebten sich ineinander.“

„Wie bei Romeo und Julia“, flüsterte Alina.

„So in etwa. Aber beiden war klar, dass die Schlacht, für die sich ihre Leute rüsteten, unausweichlich war. Am Ende standen sie sich auf dem Schlachtfeld gegenüber. Sie stieß ihm den Pflock ins Herz, doch sie brachte es nicht über sich, ihm auch noch den Kopf abzuschlagen, denn nur das hätte ihn endgültig getötet, er war zu mächtig. Stattdessen wurde sein Körper in einen Sarkophag gesperrt und an einem geheimen Ort versiegelt. Chantreas Nachkommen, auf die sie ihre von Gott erhaltenen Kräfte vererbte, übernahmen von ihr die Aufgabe, die Vampire zu vernichten. Sie wurden die ersten richtigen Vampirjäger. Und damit begann der wahre Kampf zwischen Menschen und Vampiren. Ich lebe schon sehr lange auf der Erde. Wie lange ... nun, das möchte ich vorerst noch für mich behalten. In meiner Kindheit gab es jedenfalls noch dreizehn große, wirklich bedeutende Clans – die ganzen kleinen Verbände und einzeln lebende Vampire mal ganz außer Acht lassend. Inzwischen sind es nur noch sieben Stämme. Jeder wird von einem Clanoberhaupt angeführt. Und ich ... ich war früher einer von ihnen. Ich war das Oberhaupt des Wüstenclans.“

„Und warum bist du es nicht mehr? Ist dein Clan vernichtet worden?“

Yami legte seine Faust an sein Kinn und richtete den Blick auf den Boden. Große Falten gruben sich in seine Stirn. Sollte er es ihr sagen?

„Entschuldige“, erklang da auf einmal Alinas Stimme. „Du musst es mir natürlich nicht sagen, wenn du nicht möchtest. Ich wollte nicht neugierig sein, es ist bloß ... ich weiß so wenig über dich und du ... du weißt anscheinend so viel ... alles über mich.“

Nun richtete Yami sein Augenmerk wieder auf sie.

„Es ist in Ordnung. Um deine Frage zu beantworten ... Nein, mein Clan existiert noch. Man hat mich ... sagen wir, einige waren mit meinem Führungsstil nicht einverstanden und es kam zu einer Teilung. Diejenigen, die zu mir hielten, leben heute, sofern sie noch leben, über die ganze Welt verstreut. Aber wir haben sehr guten Kontakt zueinander. Was die anderen betrifft, habe ich von ihrem Aufenthaltsort keine Ahnung. Vampire sind Meister in der Kunst des Verbergens.“
 

Er legte eine Pause ein und blickte sich gedankenverloren im Raum um.

Meine Güte, was ist denn mit Yami los, wunderte ich mich. Ich hatte noch zu gut Mais Worte im Ohr, er würde sonst nie einen Fehler zugeben. Und heute hatte er dies soeben bereits zum zweiten Mal an nur einem Abend getan!

„Aber ich wollte dir ja erzählen, wie ich deinen Vater kennen gelernt habe“, fuhr Yami in dem Augenblick fort. „Auch das habe ich meiner einstigen Stellung zu verdanken. Es dürfte inzwischen an die sechzig Jahre her sein. Zu jener Zeit war ich noch der Führer meines Clans. Wir hatten seit rund einhundert Jahren einen Pakt mit den Menschen bestehen, nach dem wir uns verpflichteten, auf den Genuss menschlichen Blutes zu verzichten. Im Gegenzug wurden wir nicht mehr gejagt. Die Gemeinschaft der Jäger kümmerte sich nur noch um jene, die sich nicht an das Bündnis hielten. Nach den hundert Jahren friedlicher Koexistenz war es nun an der Zeit, den Bund zu verlängern, indem die sieben Clanführer und die Anführer der Gemeinschaft ihn mit Unterschrift und Siegel bestätigten. Bei dieser Gelegenheit lernte ich Albus, deinen Großvater väterlicherseits, kennen, ein Junge von fünfzehn Jahren war er damals. Sein Vater war zu jener Zeit der Anführer der Jägergemeinschaft. Zwischen Albus und mir entwickelte sich während der wenigen Verhandlungstage schnell eine Freundschaft, die sich durch einen stetigen Briefwechsel in den nachfolgenden Jahren festigte. Als er später heiratete und dein Vater geboren wurde, setzte er mich sogar zu einem seiner Paten ein. Was die um mich herum brodelnden Vulkane – also mit anderen Worten den Rest meines Clans – wohl letztlich zum Überkochen gebracht hat, wie ich vermute, denn bald darauf wurde ich als Anführer abgesetzt. Der Vertrag mit den Menschen galt zwar weiterhin, aber mein hochverehrter Nachfolger hat sich nie die Mühe gemacht, sich daran zu halten. So kam es, dass die Jagd wieder begann. Und ich war oft an Albus’ Seite, wenn er des Nachts umherstreifte.“

Ich hob die Augenbraue und blickte ihn mit einer gewissen Skepsis in den Augen an.

„Willst du mir ernsthaft erzählen, du hättest Vampire, deine eigenen Leute, gejagt?“

„Sie galten als Abtrünnige. In dem Fall waren die Anführer sich einig gewesen, solche Unruhestifter zu beseitigen. Aber einige Jahre später wurde der Friedensvertrag zwischen unseren Völkern ganz aufgelöst, da sich auch einige andere Clans nicht mehr daran hielten. Ich gebe zu, ich war es selbst leid, von Tieren zu leben, aber ich trinke maßvoll, wie du mir gewiss zugestehen wirst. Es liegt eben in unserer Natur und das wusste Albus auch. So blieb unsere Freundschaft und später die mit seinem Sohn bestehen.“

„Aber was hat das alles denn nun damit zu tun, dass du aus mir einen Vampir gemacht hast?“

So interessant und wichtig diese Informationen auch waren, auf meine eigentliche Frage hatte er nach wie vor nicht geantwortet. Yami räusperte sich vernehmlich und suchte meinen Blick.

„Dein Vater hatte mich darum gebeten ...“

„WAS?!“, entfuhr es mir. „Nie und nimmer. Er mag ja mit dir befreundet gewesen sein, aber er hat ganz sicher nicht von dir verlangt, aus mir eines Tages einen Vampir zu machen. Wenn er noch leben würde ... er hätte mich doch auch jagen müssen.“

„Alina, Alina“, Yami schüttelte lächelnd den Kopf. „Du bist wieder einmal viel zu schnell. Wenn du mich mal aussprechen lassen würdest ... Dein Vater hat mich darum gebeten, mich um dich zu kümmern, sollte ihm und deiner Mutter etwas zustoßen. Das war ein Jahr vor ihrem Tod. Wie ich später erfahren musste, wurden Robert und Claire zu diesem Zeitpunkt bereits von einer äußerst gefährlichen Vampirgruppierung gejagt, die sich Nieschan da Atamah nennt. Allerdings ist kaum etwas über sie bekannt, sie verstecken sich sehr gut. Dennoch bin ich mir ziemlich sicher, dass sie hinter dem Mord an deinen Eltern stecken.“

Die Erinnerungen an jenen Morgen stürzten über mir ein wie ein Fluss, der sich endlich aus der Gefangenschaft befreit hatte, welche der Staudamm ihm aufgezwungen hatte. Die Bisswunden am Hals meiner Mutter, das fehlende Herz meines Vaters – nein, Menschen hätten nicht so grausam sein können. Das war mir schon damals klar gewesen. Da waren wahre Dämonen am Werk gewesen. Und wie sich mir soeben bestätigt hatte, war meine Vermutung richtig gewesen. Es war das Werk von Vampiren. Mir traten Tränen in die Augen.

„Dass es Vampire waren, habe ich damals schon irgendwie vermutet“, sagte ich leise. „Ich habe ihre Leichen ja gesehen ...“

Eine Hand legte sich behutsam auf meine und strich über meinen Handrücken. Ich sah auf und in Yamis sanft blickende Augen. Oh Himmel, wenn er mich so ansah, wurde mir jedes Mal ganz warm ums Herz. Da konnte der Himmel noch so grau sein, auf einmal konnte ich in solchen Momenten immer die Sonne sehen.

„Ich weiß, es tut dir weh, daran erinnert zu werden. Aber du hast das Recht zu erfahren, wer für ihren Tod – höchstwahrscheinlich – verantwortlich ist.“

„Warum haben sie das ... nur getan? Was haben meine Eltern verbrochen, dass man sie so grausam getötet hat?“

„Diese Vampire brauchen keinen Grund zum Töten. Ihnen macht es einfach Spaß, ihre Opfer zu quälen und sie leiden zu sehen. Und vergiss nicht, deine Eltern stammten von Jägern ab und waren selbst aktiv. Ob Vampirjäger oder Vampir, wir sind beides: Jäger und Gejagter. Ich hielt mich zu jenem Zeitpunkt im Ausland auf, fernab von ihnen und war somit unfähig, ihnen beizustehen. Gerade dann, als sie mich am dringendsten gebraucht hätten.“

Yamis Faust ballte sich und sein Kiefer presste sich aufeinander. Dieses Wissen musste ihn sehr belastet haben. Nun war es an mir, ihm Trost zuzusprechen.

„Du konntest nichts dafür. Woher hättest du denn wissen sollen, dass sie ausgerechnet in der Nacht angreifen?“

„Ich ... ich wusste in dem Augenblick, als dein Vater angegriffen wurde, dass etwas nicht stimmte. Du musst wissen, wenige Tage zuvor hatte er mich gerettet – in meinem Haus war tagsüber ein Feuer ausgebrochen. Es war Hochsommer und die Sonne schien, darum habe ich mich im Keller aufgehalten. Hätte er mich nicht dort rausgeholt, würde ich heute nicht vor dir stehen. Zum Dank versprach ich ihm, ihn und seine Familie immer zu beschützen, was wir mit einem sehr alten Blutschwur besiegelten. Aber sieh selbst.“

Yami erhob sich mit einer eleganten, fließenden Bewegung vom Tisch und stellte sich vor mich. Seine Finger wanderten langsam zum Kragen seines Hemdes und er begann die Knöpfe zu öffnen. Mir blieb die Luft weg.

Was wird das denn? Warum zieht er sich jetzt auch noch vor mir aus? Und ... oh ...

Während meine Augen nach einer neutralen Stelle im Raum suchten und in Windeseile über Waffen und Bücherregale huschten, kämpfte mein Kopf verzweifelt darum, nicht die von Reife zeugende sattrote Farbe eines aus Amerika stammenden Nachtschattengewächses anzunehmen, das besser als Tomate bekannt war. Und so ganz konnte ich es mir nicht verkneifen, Yami in Augenschein zu nehmen. Aus dem weißen Stoff seines Hemdes schälte sich nämlich gerade ein – soweit ich das trotz meiner mangelnden Erfahrung auf diesem Gebiet beurteilen konnte – äußerst attraktiver und gut gestalteter männlicher Oberkörper. Er hatte breite Schultern und nicht ein einziges Haar zierte den muskulösen Brustkorb. Dafür jedoch etwas ganz anderes. In Höhe des Brustbeins befand sich eine in Schwarz gehaltene Tätowierung – ein von Dornen umranktes Kreuz mit einer blühenden Rose als Mittelpunkt.

„Was ist das?“, stieß ich hervor und sprang auf. Meine Hand hob sich wie automatisch, um die Zeichnung zu berühren. Wenige Zentimeter, bevor sie gegen Yamis Brust stieß, wurde mir auf einmal bewusst, was ich da gerade tat und ich ließ sie augenblicklich sinken, worauf-hin sich meine Wangenfarbe wohl noch etwas intensivierte.

„Bei der Art des Blutbundes, die dein Vater und ich damals gewählt haben, erhalten beide Parteien ein Zeichen, das sie immer miteinander verbindet. Bei mir war es die Tätowierung. Dein Vater ließ sich einen Ring mit einer Rose anfertigen und deine Mutter besaß eine Kette.“

„Ja ... jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich wieder daran. Mama hat sie nie abgelegt. Aber nach ihrem Tod wurde sie mit den anderen Schmuckstücken verkauft.“

Ich hatte ja noch versucht, sie meiner Mutter abzunehmen, bevor die Polizei kam. Ich hätte gern ein anderes Erinnerungsstück an sie als den Dolch gehabt, nur hatte man mich nach ihrer Entdeckung nicht mal mehr in den Salon gelassen.

„Da fällt mir ein, ich habe ja noch etwas für dich.“

Yami beugte sich an mir vorbei, wobei mir der Geruch seines Rasierwassers überaus deutlich in die Nase stieg, eine angenehme Mischung aus Moschus und einigen anderen Stoffen. Als er sich wieder aufrichtete, hatte er ein kleines Holzkästchen in der Hand. Er hielt es mir hin und hob den Deckel hoch. Auf nachtschwarzen Samt gebettet lag dort drin eine feingliedrige silberne Kette, die in einem Anhänger endete. Er hatte die Form einer Rose. Und einmal mehr an diesem Abend wurden meine Wangen von meinen Tränen benetzt. Ich schlug die Hände über dem Mund zusammen, um nicht einen lauten Schrei auszustoßen. War ich überhaupt noch wach oder war das alles gerade nur ein Traum? Das konnte doch unmöglich ... Aber als ich mir probehalber kurz in den Arm kniff, merkte ich an dem sofort aufkommenden Schmerz, dass ich nicht eingeschlafen war.

Stück für Stück holte mich meine Vergangenheit ein. Erst Papas Globus, nun ganz offenbar auch noch die Kette meiner Mutter. Dieser Abend brachte eindeutig hundertmal mehr Überraschungen mit sich, als ich je hätte denken können. Ich entfernte mich etwas von ihm und drehte ihm für einem Moment dem Rücken zu, um meine Freudentränen zu verbergen. Dann wandte ich mich ihm wieder zu, nahm die Kette aus dem Kästchen heraus und betrachtete sie.

„Diese Kette ist Teil deines Erbes, Alina“, sagte Yami.

Seine Hände entwanden mir die Kette, die mir einfach so durch die Finger glitt. Ich konnte mich immer noch nicht rühren, das alles hatte mich in eine regelrechte Erstarrung versetzt. Bevor ich überhaupt richtig realisiert hatte, was er da tat, war Yami schon hinter mich getreten und legte mir die Kette um den Hals. Der Verschluss ging mit einem leisen Klicken zu und das kühle Silber senkte sich auf meine Brust. Meine Finger strichen über das fein gearbeitete Schmuckstück.

„Nun fehlt nur noch eines“, sagte Yami, was mich dazu brachte, mich

zu ihm umzudrehen. Er machte einen Schritt rückwärts, um etwas mehr Platz zwischen uns zu bringen.

„Gib mir bitte deine Hände, Alina.“

Ich folgte seiner Aufforderung und legte meine Hände in seine. Yami blickte mich mit ernster Miene an.

Im Namen der Götter schwöre ich, dir stets zur Seite zu stehen und dir zu helfen, dich zu schützen und auf dein Wohl zu achten“, sagte er feierlich. „Dies schwöre ich bei Maat, der Göttin der Wahrheit.

Während er diese Worte sprach, fühlte ich, wie es an den Stellen, an denen sich unsere Hände berührten, wärmer wurde. Gleichzeitig füllte sich die Rose an meinem Hals in ihrem Zentrum mit einem hellen Licht und auch die tätowierte Blüte veränderte sich und begann zu leuchten. Dann löste sich von beiden Blüten ein Strahl, der auf unsere miteinander verbundenen Hände traf. Natürlich kam mir das alles sehr mysteriös vor und ich hätte eigentlich auch etwas Angst haben müssen – doch ich hatte sie seltsamerweise nicht. Im Gegenteil erfüllte mich eine Art tiefe innere Ruhe.

Von unseren Händen lösten sich weitere Strahlen ab, die erst nach oben und dann nach außen stoben und sich schließlich wie ein Käfig aus Licht über uns wölbten. Der dabei entstehende Luftzug war so stark, dass alle Kerzen, die sich in unserer Nähe befanden, ausgingen. Nur weiter vorne am Eingang brannten sie noch in ihren Leuchtern.

Nachdem dies geschehen war, erhob Yami zum zweiten Mal seine Stimme, die von den Wänden widerhallte, doch dieses Mal konnte ich die Worte nicht verstehen, die er gebrauchte. Er redete in einer Sprache, die ich nicht kannte, doch sie schien alt zu sein. In meinem ganzen Körper breitete sich eine angenehme Wärme aus, ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.

Als das letzte Wort seinen Mund verlassen hatte, löste sich das Licht mit einem letzten Glitzern auf und ließ den Raum im Halbdunkel zurück. Yamis Atem ging schwer, als wäre er eine ordentliche Strecke gerannt. Ich ließ seine Hände los und beugte mich zu ihm vor.

„Bist du in Ordnung?“, fragte ich besorgt. Was hatte er da gerade nur getan, dass es ihn dermaßen viel Kraft gekostet hatte?

„Ja, es geht schon wieder. Diese Zeremonie war der letzte nötige Schritt, denn damit geht das Versprechen des Schutzes, das ich deinen Eltern einst gab, endgültig auch auf dich über.“

Seine Hände legten sich auf meine Schultern und zogen mich näher zu ihm.

„Ab jetzt sind auch wir durch das magische Band verbunden. Wann immer du in Gefahr gerätst, werde ich es sofort spüren und dir zu Hilfe kommen. Auch wenn ich natürlich hoffe, dass du nicht in eine derartig brenzlige Lage gerätst. Aber ...“

„Aber was?“, fragte ich, als er plötzlich zu sprechen aufhörte.
 

Yami betrachtete sie nachdenklich und seufzte. Als er einen Schritt auf sie zu machen wollte, schwankte er leicht.

Ah, ich habe ganz vergessen, wie viel Kraft dieses Ritual kostet. Aber die alten Zauber sind für so etwas immer noch am besten geeignet.

„Ich glaube, ich muss mich erst mal kurz setzen.“

Nachdem er sich wieder auf dem Sessel niedergelassen und seine Ellbogen auf dem Holz des Schreibtisches platziert hatte, verschränkte er die Finger ineinander.

Alina betrachtete ihn voller Ungeduld und konnte es nicht lassen, mit ihrem Fuß auf den Boden zu tippen.

Dass dieses Mädchen nur immer so wissbegierig sein muss. Aber .. Wenn ich schon dabei bin, sie aufzuklären, dann sollte ich sie wohl über alles aufklären, dachte er. Alles andere wäre Alina gegenüber nicht fair.

„Nun?“, hakte Alina nach, als er nach einer Minute immer noch nicht geantwortet hatte.

„Es ist so ... Ich habe schon seit einiger Zeit den Verdacht, dass die Anhänger des Nieschan mittlerweile auch hinter dir her sind.“

„Hinter mir? Aber warum sollten sie? Ich bin keine Vampirjägerin.“

„Aber die Tochter von Jägern. In dir fließt das Blut zweier sehr mächtiger Familien zusammen. Das allein schon genügt, um dich zu ihrem Ziel zu machen. Das ist der Grund, weshalb ich beschlossen habe, dich zu mir zu holen. Ich fürchtete, dass es nicht mehr reichen würde, dich aus der Ferne zu schützen, wie ich es in den letzten Jahren getan habe.“

„Willst du damit sagen, du hast mich seit ich von hier fort gegangen bin, immer beobachtet? Die ganzen Jahre hindurch?“

„Nachdem ich dich vor fünf Jahren endlich ausfindig gemacht hatte, ja. Ich muss dir ehrlich zugestehen, dass du es wirklich ganz ausgezeichnet verstehst, dich zu verstecken, Liebes. Eigentlich wollte ich dich gleich nach dem Tod deiner Eltern holen und mit mir nehmen, aber als ich nach London kam, warst du bereits untergetaucht und trotz all meiner Bemühungen, dich zu finden, wie vom Erdboden verschluckt. Danach habe ich jedes Mal, wenn ich in London war, versucht, etwas über deinen Aufenthaltsort herauszufinden. Und eines Tages hörte ich dann von einem Bekannten, dass es in der Nähe des Big Ben eine junge Verkäuferin geben solle, die eine sehr seltene Rosensorte verkauft. Also bin ich dorthin gegangen und habe dich aus der Ferne hin und wieder bei der Arbeit oder auf dem Heimweg beobachtet. Nur das eine Mal, als dich dieser Kerl angefallen hat, wäre ich beinahe zu spät gekommen. Aber du hast dich ja sehr gut verteidigt. Ganz der Instinkt einer Jägerin, würde ich sagen. Und ich habe diesem Kerl ... sehr eindeutig klar gemacht, dass er solche Dinge lieber lassen sollte. Obwohl er nach unserem kleinen Gespräch vermutlich gar nicht mehr dazu in der Lage war.“
 

„Hey, hey, warte mal“, unterbrach ich ihn. „Willst du damit sagen ... Du hast diesen Mann getötet? Hast du ihn wirklich bei lebendigem Leib ... gehäutet?“

Ein kaltes Grausen durchfuhr mich, als Yami mit einem stummen Nicken antwortete. Die Wärme von eben war schlagartig komplett verschwunden. Das hätte ich nicht von ihm erwartet. Nun ja, es war mir damals schon vorgekommen, als hätte sich so etwas wie ein Racheengel um den Mann gekümmert. Und auch diese Vermutung hatte sich soeben bewahrheitet. Yami war ein Engel – ein Engel der Dunkelheit. Ich wusste es ja zu schätzen, dass Yami mich beschützen und damit auch seinem Versprechen an meine Eltern nachkommen wollte, aber das ...

„Rechtfertigt das, was er getan hat oder tun wollte, etwa gleich seine Tötung, Yami? Antworte mir!“

In seine Augen trat ein wütendes Glimmen, das sie nur noch aus- drucksstärker werden ließ, als sie ohnehin schon waren.

„Hättest du dich lieber von ihm vergewaltigen lassen?“, fuhr es aus ihm heraus.

„Nein, natürlich nicht. Trotzdem ... Es verdient einfach niemand in meinen Augen so einen Tod.“

„Auch nicht die Vampire, die deine Eltern getötet haben?“

„Ähm ... hmm ... Ich ... ich weiß es nicht“, musste ich nach etlichem Stottern gestehen. „Mög ... licherweise.“

So sehr ich auch eine Befürworterin des Lebens war, eines konnte ich nicht von der Hand weisen: Yami hatte Recht. Seit sie tot waren, wünschte ich mir Rache für meine Eltern, denn ihre Mörder waren schließlich nie gefasst worden. Ich wollte, dass sie für all das bezahlten, was sie uns, was sie mir damit angetan hatten.

„Das dachte ich mir“, sagte Yami. „Und wer weiß, vielleicht wirst du eines Tages sogar die Möglichkeit dazu bekommen. Immerhin sucht der Nieschan nach dir. Doch momentan bist du sicher. Selbst wenn sie bereits hinter deine Identität als Blumenmädchen gekommen sein sollten, bist du ja nun erneut aus ihren Augen verschwunden. Und das gibt uns die nötige Zeit, um dich für den Notfall vorzubereiten. Wenn du möchtest, werde ich mich darum kümmern, dass du im Umgang mit diesen Waffen unterrichtet wirst. Aber überleg dir das alles ganz in Ruhe. Ich habe dir heute eine ganze Menge Dinge erzählt und ich denke, das Beste ist es für dich jetzt, wenn du erst einmal über all das nachdenken kannst und dich ausruhst. Und morgen sehen wir dann weiter. Einverstanden?“

Zur Antwort konnte ich nur noch gähnen. Jetzt, da das Geheimnis endlich gelöst war, wurde ich von der bislang erfolgreich verdrängten Müdigkeit förmlich erschlagen. Yami hatte Recht, ich brauchte Ruhe. Er hatte mir so viele Dinge erzählt, über die ich erst einmal in Ruhe nachdenken musste. Diese ganzen Informationen, die er mir in so kurzer Zeit gegeben hatte ... Ich musste das alles erst mal verarbeiten. Mein ganzes Leben, meine gesamte Vergangenheit, alles, woran ich geglaubt hatte, war an nur einem Abend durchgeschüttelt und auf den Kopf gestellt worden.

Als ich aufstand, schwankte ich leicht, ganz hatte sich das Schwindelgefühl die ganze Zeit über nicht gelegt. Yami schob meine Hand durch seinen Arm.

„Komm, ich bringe dich in dein Zimmer. Nicht dass du mir unterwegs noch umkippst, Liebes.“

Ich nahm das Kästchen, in dem die Kette gelegen hatte, an mich. Dann durchquerten wir gemeinsam den Raum. An der Tür drehte sich Yami noch einmal um und hob die rechte Hand. Die Kerzen flackerten kurz und verlöschten dann von selbst.

„Elementarbeherrschung“, sagte er, als wäre dies die natürlichste Sache der Welt. „Das lernst du später auch noch.“

Den Rest unseres unterirdischen Weges legten wir schweigend zurück. An der Geheimtür drückte Yami einen Stein in die Wand, die Regalwand verschob sich mit einem leisen Klicken und gab den Weg in die Bibliothek wieder frei.

Im Haus war es still, weder von Seth und Mai noch von den Angestellten war etwas zu hören. Yami brachte mich noch die Treppe hoch und bis zu meiner Tür, wo wir uns voneinander verabschiedeten. In meinem Zimmer ließ ich mich erschöpft auf mein Bett sinken.
 

Puh ... Okay, das war jetzt auch für meine Verhältnisse mal ein ungewöhnlich langes Kapitel. Aber kürzer hätte ich mich – selbst wenn ich gewollt hätte – nicht fassen können. Es gab einfach zu viele Dinge, die Yami bzw. ich unbedingt loswerden wollte. Darum hat es auch so lange gedauert, dieses Kapitel fertig zu schreiben. Das große Mysterium um Alinas Herkunft ist also endlich gelüftet und ich bin sehr gespannt darauf, wie ihr es gefunden habt. Moonlily

Traum und Wirklichkeit - Desperation of Love

*Reingeschlichen komm, neues Kapitel ableg* Hallo, hiermit melde ich mich zurück. ^^ Tut mir leid, dass ihr schon wieder fast einen Monat warten musstet, schneller ging es einfach nicht. Nachdem ich jetzt endlich auch glücklich in den Ferien gelandet bin, haben mich meine Romane voll in Beschlag genommen, da blieb für Fullmoon leider nicht so viel Zeit übrig, wie ich mir eigentlich gewünscht hätte. Aber jetzt dürfte ich in den nächsten Wochen wieder mehr Zeit haben. Und nun viel Spaß. ^_~
 


 

Kapitel 15

Traum und Wirklichkeit – Desperation of Love
 

Nachdem er Alina gute Nacht gesagt hatte, begab sich Yami in sein Zimmer. Zu sagen, dass er hundemüde war, wäre untertrieben gewesen, er fühlte sich, als könne er Dornröschchen Konkurrenz machen und mal eben hundert Jahre oder länger schlafen. Den ganzen Tages über war er ununterbrochen gefordert worden. Während der Vor- und Nachmittagsstunden hatte er im Büro alle Hände voll zu tun gehabt – er hatte irgendwann aufgehört zu zählen, wie viele Dokumente man ihm heute zur Unterschrift vorgelegt hatte. Die vielen Übernahmen kleinerer Firmen mochten für Atekai zweifelsfrei ein großer Gewinn sein, aber für Yami und Seth bedeuteten sie auch viel Papierkram und unendlich lange Verhandlungen mit den Behörden und Banken. Allein heute hatte er fast zwei Stunden im Büro des Direktors der Royal Bank of England zugebracht, um mit ihm und dem Firmenbesitzer die letzten Punkte des Übernahmevertrages zu klären. Dem war ein Mittagessen mit einem französischen Geschäftspartner gefolgt. Yami wunderte sich immer noch darüber, wie der Mann es geschafft hatte, gleichzeitig eine ganze Reihe – alles andere als billig zu nennender – Spezialitäten in sich hineinzustopfen und gleichzeitig von seinen neuen Projekten in Übersee zu berichten.

Dann am Abend war er mit Alina auf die Jagd gegangen und schließlich war es zu ihrer Unterredung gekommen. Er war selbst jetzt noch darüber erstaunt, wie gut sie das alles aufgenommen hatte. Im Vorfeld hatte er einige Situationen durchgespielt, wie sie sich verhalten könnte, von einer gänzlich entsetzten über eine sehr skeptische bis zu einer wütenden Alina. Nur ihre letztendliche Reaktion musste er in seinen Überlegungen wohl irgendwie übergangen haben.

Selbst wenn sie ihm an die Kehle gesprungen wäre, um ihren Zorn an ihm auszulassen, weil er ihre Eltern nicht hatte retten können, hätte er noch in einer gewissen Form dafür Verständnis aufbringen können. Schließlich trug er eine gewisse Mitschuld am Tod der beiden. Hätte er die Warnungen und Hinweise damals ernster genommen, würden die beiden noch leben und nicht mehrere Meter unter der Erde verfaulen und als Fraß für die Friedhofswürmer herhalten müssen. Alina konnte noch so oft sagen, ihn treffe keine Schuld, er wusste, wie es war. Dieses Gefühl würde er nie aus seinem Herzen verdrängen können. Doch wollte er das überhaupt?

Es rief ihm stetig in Erinnerung, dass sich sein Schwur auf einen neuen Schützling übertragen hatte. Nun war es Alina, die er beschützen würde und bei Ra und allen Göttern, bei ihr würde er nicht versagen! Was auch immer der Nieschan im Schilde führte, wenn es auch nur in entferntester Form etwas mit Alina zu tun hatte, würde er es verhindern. Es gab mehr, was ihn an sie band als das Rosenkreuz auf seiner Brust.

Yami streckte sich ausgiebig und seine halb geschlossenen Augen blieben an seinem Bett hängen. Während er mit gemächlichen Schritte darauf zu schlurfte, streifte er das Hemd ab und warf es über den am nächsten stehenden Stuhl. Seine Hose landete gleich daneben, gefolgt von den Strümpfen. Dann ließ er sich auf die weichen Laken fallen, zog die Decke über sich und war wenige Sekunden darauf fest eingeschlafen. Leises Schnarchen begann den Raum zu füllen.
 

Ein Poltern ließ ihn aufschrecken. Yami sah sich verschlafen im Raum um, ob er ein Fenster aufgelassen hatte, doch es waren alle geschlossen. Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben und flutete in langen Strömen am Glas hinab.

Verdammtes englisches Wetter, dachte Yami. Wenn ich da an meine Heimat denke ... Aber woher kam denn nun der Krach, der mich geweckt hat?

Das Kaminfeuer war weit heruntergebrannt und gab nur noch spärliches Licht an den Raum ab. Ein Mensch hätte sich in der Dunkelheit nur schwerlich zurechtgefunden, für Yami hingegen war dies kein Problem. Er blickte sich suchend im Raum um, bis er bei der Tür fündig wurde. Zum ersten Mal fragte er sich, ob er wirklich das sah, was er sah oder ob ihm seine Augen nur einen bösen Streich spielten.

Dort stand sie, Arm und Kopf gegen den Türrahmen gelehnt, und sah ihn mit einem stillen, geheimnisvollen Lächeln an.

„Was tust du hier?“, fragte Yami.

„Ich hatte Sehnsucht nach dir“, erwiderte Alina, löste sich vom Rahmen und kam auf ihn zu.

Wann hat Mai ihr denn diesen wiegenden – um nicht zu sagen verwegenen – Schritt beigebracht?, wunderte er sich. Ihre Hüften wiegten sich bei jedem Schritt leicht hin und her, bis sie vor seinem Bett stehen blieb. Yami räusperte sich und musterte sie.

„Wäre es nicht besser, du gehst ins Bett? Mai will morgen mit ihren Lektionen weitermachen und wie ich sie kenne, wird sie dich sicher nicht mehr morgens ausschlafen lassen.“

„Du musst dir um mich keine Sorgen machen, Yami.“

Ihre Finger wanderten zum Kragen ihres Nachtkleides und öffneten den obersten Knopf.

„Äh ... Alina, was soll das? Was ...“

Oh ihr Götter, sagt mir, dass ich nicht träume. Was hat sie nur auf die Idee gebracht? Sie hat mir doch erst letztens sehr ... deutlich zu verstehen gegeben, dass sie das nicht will.

Völlig unbeirrt von seinen Fragen fuhr sie fort. Knopf auf Knopf folgte und offenbarte immer mehr von der blassen Haut. Yami schluckte und bemühte sich krampfhaft, in eine andere Richtung zu blicken, nur zog ihn Alinas Anblick immer wieder an. Sie streifte den Batist von ihren Schultern und ließ den Stoff mit einem kurzen Rascheln zu Boden gleiten.

„Alina, du solltest wirklich gehen ...“, sagte er und seine eigene Stimme klang ihm merkwürdig fremd und rau in seinen Ohren. Bevor ich am Ende noch meine guten Vorsätze über Bord werfe.

„Psst“, machte sie und legte den Zeigefinger an die Lippen. Sie stieg

auf das Bett und begann auf ihn zuzukriegen. Yami zog unwillkürlich die Bettdecke höher. Nun ja, dass er sie wollte, konnte er vielleicht Mai und Seth erzählen, doch sich selbst belügen konnte er nicht. Bloß das hier konnte doch unmöglich die Realität sein.

Sie hob die Decke ein Stück an und verschwand darunter.

Was wird das denn nun wieder?, fragte er sich. Sekunden später beantwortete er sich seine Frage selbst durch ein lang gezogenes Stöhnen. Seine Augen schlossen sich und seine Muskeln spannten sich wie von selbst an. Nein, jetzt war er sich sicher, nicht zu träumen. Für einen Traum fühlte sich das hier eindeutig viel zu real an. Er schob die Decke von sich und zog Alina näher an seinen Körper heran. Seine Hand strich durch ihr langes Haar, umfasste dann ihren Hinterkopf und riss diesen stürmisch an sich, um sie zu küssen.

Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, als hätte sich die komplette Wachmannschaft des Londoner Tower entschlossen, ihre Kanonen, die alljährlich zum Geburtstag der Königin abgefeuert wurden, mal eben direkt vor seinem Schlafzimmerfenster auf ihre Tauglichkeit zu testen. Yami saß senkrecht im Bett, sein Atem ging sehr schnell und schwer, als wäre er gerade eine ganze Strecke gelaufen. Seine Stirn war von kleinen Schweißperlen bedeckt. Er seufzte leise und stützte den Kopf auf dem angewinkelten Arm auf.

„Es war doch nur ein Traum ... nur ein Traum. Hmpf ... schade.“

Sein Blick schweifte durchs Zimmer und zurück zu seinem Bett. Ja, es war ein Traum gewesen, der mit dem Aufwachen verschwunden war. Die Nebenwirkungen jedoch waren alles andere als übersehbar. Er bemerkte mit einem Stirnrunzeln den kleinen Hügel, der sich deutlich unter der Bettdecke abhob. Er konnte von Glück reden, dass Robert seit Jahren tot war, allein dafür würde dieser ihn schon halb lynchen, wenn er wüsste, was ein einfacher Traum von seiner Tochter in seinem Freund auslöste. Obwohl ... ein gewöhnlicher Traum war es ja nun ganz und gar nicht gewesen. Doch darüber konnte er sich auch später noch Gedanken machen. Erst einmal musste er dieses Problem

beseitigen.

Er schlug gähnend die Decke zurück und ging in sein Badezimmer, wo er sich die noch übrigen Kleidungsstücke auszog. Was für eine Wohltat, sich der inzwischen doch etwas zu engen Unterhose entledigen zu können. Er stellte sich in die Badewanne, die er gleichzeitig als Dusche benutzte, zog die Vorhänge zu und stellte das kalte Wasser an. Ein Schaudern durchlief ihn. Brrr, das war nicht kalt, das war eiskalt. Aber in dieser Situation genau das, was er brauchte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
 

Die Uhr tickte leise und der kleine Zeiger näherte sich mit jeder vergehenden Sekunde weiter der zwei. Alina wälzte sich unruhig hin und her. Ihre blasse Hand krallte sich in den Stoff ihrer Bettdecke und zog sie bis zur Nasenspitze hoch. Die Augen waren fest zusammengekniffen und in kurzen Abständen ertönte ein leises, angstvolles Stöhnen.
 

Das Feuer knisterte im Kamin und warf tanzende Schatten auf mein Zimmer. Das Windspiel aus Papierfiguren, das ich zusammen mit meiner Mutter gebastelt hatte, bewegte sich in dem leichten Luftzug, der durch das teilweise geöffnete Fenster drang. Ich schlief friedlich in meinem mit blassrosa Wäsche bezogenen Bett, das für mich mit meinen zehn Jahren noch ein wenig zu groß war. Aber Vater hatte gesagt, ich würde schon noch reinwachsen und für mein altes Kinderbett sei ich mittlerweile zu groß.

Es war spät am Abend, meine Mutter hatte mich vor einigen Stunden ins Bett gebracht. Wie immer hatte ich darauf bestanden, dass sie sich noch zu mir setzte, wenigstens für ein paar Minuten, und mir etwas erzählte. Sonst weigerte ich mich einzuschlafen. Wie so oft hatte ihre Geschichte auch heute in einem weit entfernten Land gespielt. Eine Prinzessin verliebte sich in den Herrscher des Nachbarreiches, doch die beiden Völker waren miteinander verfeindet.

Die Geschichte kannte ich noch nicht und zu meinem großen Ärger

hatte meine Mutter es damit genauso gehalten wie mit allen vorangegangenen neuen Geschichten. Sie erzählte immer nur die Hälfte und erst am nächsten Abend verriet sie mir, wie es ausging. Das erhielt zwar schön die Spannung, aber es war jedes Mal so lästig, den ganzen Tag warten zu müssen. Da konnte ich stundenlang auf sie einreden, sie verriet mir das Ende nie vorher. Oder ... es konnte natürlich auch sein, dass sie noch gar nicht wusste, wie sie zu Ende erzählen sollte und den Tag brauchte, um sich etwas zu überlegen.

Sie hatte gerade an der Stelle aufgehört, als sich der Herrscher zu seiner Prinzessin in den Palast schlich, um sie vor der Schlacht, die am nächsten Tag stattfinden sollte, noch einmal zu sehen.

Die nächtliche Stille wurde von einem lauten Scheppern, gefolgt von einen Schrei unterbrochen, der mich geradezu gewaltsam aus meinen Träumen riss. Das war eindeutig meine Mutter gewesen. Mich beschlich ein ungutes Gefühl und bevor ich überhaupt richtig wusste, was ich tat, war ich schon aus dem Bett geschlüpft. Ich drückte die Klinke vorsichtig herunter, um zu verhindern, dass die Tür wie sonst zu knarren anfing, und schob mich durch den schmalen Türspalt hinaus auf den Gang.

Nun konnte ich noch mehr Stimmen hören, nicht nur meine Eltern, auch Fremde. Aber warum hatten sie um diese Uhrzeit noch Besuch? Obwohl ... nein, wie Besuch klang es eigentlich nicht. Nicht wirklich. Besuch veranstaltete doch nicht solch einen Lärm. Das weckte meine Neugierde nur noch mehr. Auf Zehenspitzen huschte ich den Gang entlang und achtete dabei sorgsam darauf, die knarrenden Dielen zu übergehen. Wenn jemand auf mich aufmerksam wurde, würde ich Ärger bekommen, weil ich nicht im Bett war.

Ich lehnte mich am obersten Treppenabsatz über das Geländer, doch sehen konnte ich nicht das Geringste, die Eingangshalle lag weitestgehend im Dunkeln. Dafür ließ sich nun die Richtung der Geräusche deutlicher ausmachen. Sie mussten aus dem Salon kommen, der rechts von meinem Beobachtungsposten lag.

Ich begann die Treppe langsam nach unten zu steigen, immer wieder abwartend, ob sich auf dem Gang etwas rührte.

„Verschwindet!“, hörte ich da meinen Vater sagen und stoppte auf halber Höhe der Treppe. „Ihr habt hier nichts zu suchen. Lasst meine Frau und mich in Ruhe.“

„Oh doch, und wie wir bei dir was zu suchen haben, Jäger. Wo ist er?“, sagte eine dunkle Stimme.

„Er? Wer ist er? Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht.“

Mein Gewissen rief mir zu, augenblicklich umzudrehen und zuzusehen, dass ich in mein Zimmer zurückkam. Es war ja offenkundig, dass mein Vater mit dem unbekannten Gast stritt und wenn er mich dann noch sah, wie ich mitten in der Nacht durch das Haus spazierte ...

Aber ich wollte verdammt noch mal wissen, was der Grund für die ganze Aufregung war. Meine Füße berührten den gefliesten Boden der Haupthalle. Ich drückte mich an die Wand und schob mich an ihr entlang weiter, am Kaminzimmer und dem Nebeneingang vorbei. Die Tür zum Salon stand weit offen, kein Wunder, dass ihre zugegeben lautstarke Konversation bis in mein Zimmer hinauf gedrungen war.

Mein Kopf schob sich vorsichtig in den Türrahmen, um eine bessere Sicht zu bekommen. Nur die in Sekundenbruchteilen vor meinen Mund geschobene Hand verhinderte, dass ich einen gellenden Schrei ausstieß und mich so verriet. Meine Eltern standen vor dem Kamin, eingekreist von fünf in weite Umhänge gehüllten Gestalten, deren Gesichter durch die Kapuzen verdeckt wurden. Mein Vater hatte das Schwert von der Wand genommen und meine Mutter hielt mit beiden Händen fest ihren Dolch umklammert. In ihren Augen loderte es wild und entschlossen, sich den ungebetenen Besuchern entgegenzustellen.

Die Gestalt in der Mitte näherte sich meinen Eltern einige Schritte, auch sie war mit einem leicht gekrümmten Säbel bewaffnet.

„Sagt uns, wo der Schlüssel ist, dann werden wir euch am Leben lassen.“

„Niemals“, gab meine Mutter zurück.

„Ist das dein letztes Wort, Jägerin?“, zischte er.

Jäger? Aber ... dann sind das Vampire, schoss es mir durch den Kopf. Wer sonst könnte das wissen, wenn nicht sie?

„Eher sterben wir, als euch etwas zu sagen“, erwiderte mein Vater kühl.

„Den Wunsch können wir euch gern erfüllen.“

Er ruckte mit dem Kopf und seine Begleiter zogen unter Klirren ebenfalls Säbel unter ihren Umhängen hervor. Auf ein Kopfnicken des mittleren Mannes, er musste der Anführer sein, griffen sie an. Meine Eltern hoben ihre Waffen und stellten sich ihnen mit entschlossenen Mienen zum Kampf. Schwerter und Säbel trafen krachend aufeinander. Erst dachte ich, meine Mutter wäre mit dem kleinen Dolch deutlich im Nachteil, doch was ich sah, belehrte mich eines Besseren. Sie setzte ihn so geschickt ein wie ein Schwert und mit einer Wendigkeit, die mich verblüffte. Ich hätte nie von ihr erwartet, dass sie so etwas überhaupt konnte.

Ihren ersten Gegner entwaffnete sie mühelos und dem zweiten schlug sie mit dem Dolch eine große Wunde ins Gesicht. Als sie den Arm zurückzog, war der Ärmel ihres hellen Kleides rot gefärbt. Ihren Angreifer schien das Blut in seinem Gesicht orientierungslos gemacht zu haben, er wankte umher, stolperte dann über einen Sessel und fiel auf den Boden. Meine Mutter riss derweil den Schürhaken aus dem Besteck, das neben dem Kamin stand, und stieß ihn dem am Boden Liegenden mit voller Wucht in die Brust. Von ihm blieb nur ein kleiner Haufen Asche zurück.

Die wenigen Herzschläge jedoch, in denen sie ihren Rücken ungedeckt gelassen hatte, reichten dem Anführer aus, zu ihr herumzuwirbeln. Dieses Mal konnte ich meinen Schrei nicht zurückhalten, als sich seine Hände um sie legten und zu sich hochrissen. Die Kapuze rutschte ein Stück zurück und offenbarte den Ansatz eines weißen Haarschopfes, doch das Gesicht konnte ich nicht erkennen. Ich wusste nur von seiner Stimme her, dass es ein Mann sein musste.

Der Kehle meiner Mutter entrang sich ein schmerzvoller Schrei, als er seine Zähne in ihren Hals schlug.

„Claire!“

Nun erst hatte mein Vater erkannt, was mit ihr vor sich ging. Er stieß seinen Gegner beiseite und hastete auf sie zu ... Eine scharfe Klinge bohrte sich zwischen seine Rippen. Sein Schrei wurde zu einem Gurgeln, ein feines Blutrinnsal lief aus seinem Mundwinkel.

„Ihr werdet es niemals finden“, flüsterte er. Dann knickten seine Beine ein und er sank auf den Teppich, der um ihn eine rote Färbung annahm.

Ich zitterte am ganzen Leib. Nur weg von hier, bevor sie mich auch noch entdeckten! Da hob der Vampir, der meine Mutter gebissen hatte, den Kopf. Trotz der Kapuze spürte ich geradezu, wie sich sein Blick auf mich richtete. Ein starker Schmerz jagte durch meinen gesamten Körper, meine Arme krampften sich um meine Brust. Als ich mich wieder aufrichtete, bemerkte ich, dass ich nicht mehr das kleine Mädchen von vor sieben Jahren war, sondern mein siebzehnjähriges Selbst den Vampiren gegenüberstand. Nun war ich zwar größer, wo-durch ich den Kopf nicht mehr ganz so stark nach oben heben musste, um sie anzusehen, doch das machte sie nicht weniger Furcht einflößend. Ich begann zurückzuweichen und sie folgten mir, die Säbel auf mich gerichtet.

„Nun bist du an der Reihe, Kleines!“, sagte der Anführer lachend und schritt auf mich zu. Die Hände hatte er bereits gierig nach mir ausgestreckt.
 

Einen Schrei auf den Lippen, schlug ich die Augen auf. Mein Herz hämmerte mit der Stärke einer ganzen Kanonensalve gegen meine Brust und ich war schweißgebadet.

Es war ein Traum ... aber bei Gott, was für ein Albtraum! Und es hatte auch noch alles so real gewirkt. Zur Sicherheit warf ich einen prüfenden Blick auf meinen Nachttisch, auf dem ich vor dem Schlafengehen meinen Dolch abgelegt hatte. Er lag noch da. Und das wichtigste – es klebte kein Blut an der Klinge, wie es eben der Fall gewesen war. Zur Beruhigung schenkte ich mir erst mal ein großes Glas Wasser ein, das ich trank. Danach ging es mir etwas besser, die Bilder aber konnten sie nicht aus meinem Kopf herausspülen.

Immer noch war ich nicht sicher, ob es sich wirklich um einen einfachen Traum gehandelt hatte. Es kam mir viel eher so vor, als hätte ich einen kurzen Einblick in die Geschehnisse der Vergangenheit erhalten, denn so hätte es sich ja tatsächlich abgespielt haben können. Für einen Augenblick hatten sich die Schleier der Zeit für mich gelüftet und dennoch hatten die Dinge, die ich zu sehen bekommen hatte, zur gleichen Zeit etliche neue Fragen aufgeworfen, von denen ich keine Ahnung hatte, wo ich die Antworten darauf finden konnte.

Aber nein, das stimmte ja gar nicht. Es gab sehr wohl jemanden, den ich fragen konnte. Jemanden, der praktischerweise nur eine Tür weiter wohnte. Es war doch so einfach. Ich musste einfach nur zu Yami gehen und ihn fragen. Er war ein guter Freund meines Vaters gewesen, er musste wissen, worüber dieser mit dem Vampir gestritten hatte. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor halb drei. Konnte ich es wagen, ihn jetzt noch zu wecken? Er schlief sicher schon lange. Andererseits hatte er mir ja selbst angeboten, jederzeit zu ihm zu kommen, wenn ich Fragen hatte. Und davon hatte ich gerade mehr als genug.

Entschlossen schlug ich die Bettdecke zurück und stieg aus dem Bett. Außerhalb des wärmenden Stoffes empfing mich ein Kälteschock. Das restliche Feuerholz im Kamin glühte nur noch schwach und reichte nicht mehr aus, um den Raum richtig warm zu halten. Auch meine Füße waren eiskalt. Ich schlüpfte rasch in die Pantoffeln, nahm den Morgenmantel vom Stuhl und zog ihn an. So ließ es sich außerhalb des Bettes schon eher ertragen. An der Glut im Kamin zündete ich eine Kerze an und steckte sie in einen Halter aus Messing.

„Na dann ... auf zu Yami“, sagte ich leise, wie um mir selbst Mut zu

machen.

Die wenigen Schritte über den Flur waren schnell getan. Im Haus herrschte tiefe Stille. Mai und die Dienerschaft, die mit uns im ersten Stock ihre Zimmer hatten, schliefen mit Sicherheit alle längst. Und Seth ... keine Ahnung, was mit ihm war. Seit unserem ersten Treffen im Garten hatte ich ihn noch kein einziges Mal wieder zu Gesicht bekommen – was mich angesichts der „freundlichen“ Begrüßung, die er mir an jenem Abend hatte zuteil werden lassen, jedoch nicht weiter störte. Mai hatte mir erzählt, dass er meistens bis in den späten Abend hinein arbeitete, aber jetzt konnte er unmöglich noch wach sein.

Yami schlief wahrscheinlich auch. Ich blieb vor der Tür stehen. Und wenn er nun sauer wurde, weil ich ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf riss? Aber wenn ich bis morgen wartete, hieß das wieder, bis morgen Nachmittag oder morgen Abend zu warten. So früh, wie Yami das Haus verließ, würde ich ihn wohl kaum morgens erwischen, es sei denn, ich legte mich direkt an der Haustür auf die Lauer. Und die vielen Stunden bis zum Abend, das war mir entschieden zu lang. Falls er verstimmt auf mein Wecken reagieren sollte, hatte ich ja immer noch meine unschlagbare Geheimwaffe. Wenn ich ihn lieb ansah, würde er mir mein spätes Eindringen bestimmt verzeihen. Und ich musste einfach mit jemandem über das sprechen, was ich da gerade gesehen hatte.

Ein Knacken ließ mich zusammenfahren. In dem stillen Haus hörte sich jedes noch so kleine Geräusch des Nachts viel lauter an als am Tage. Mein Kopf wanderte in die Richtung, aus der es kam, aber sehen konnte ich niemanden. Dennoch ... ich hatte immer noch das Gefühl, die kalten Augen dieses Vampirs, der meine Mutter gebissen hatte, würden mich beobachten. Ich straffte die Schultern und drückte die Klinge herunter.
 

Yami zog die Hose seines Schlafanzugs hoch und hängte sein Handtuch, mit dem er sich abgetrocknet hatte, über die Stange zum Trocknen. Ein Gähnen entschlüpfte seinen Lippen. Den ganzen Tag über war Alina durch seine Gedanken gegeistert, doch das schien ihr noch nicht genügt zu haben, nun hatte sie ihm auch noch überaus erfolgreich den Schlaf geraubt und ihm zu nachtschlafender Zeit eine eiskalte Dusche beschert. Nur ohne diese wäre es ihm noch schwerer gefallen, in sein Bett zurückzukehren.

Er löschte das Licht im Bad und betrat sein Schlafzimmer. Als er aufsah, blieb er überrascht stehen und blinzelte. Ja, träumte er denn immer noch oder schon wieder? Yami schloss kurz die Augen und als er sie öffnete, stand Alina immer noch im Rahmen seiner Zimmertür, in der einen Hand eine Kerze, die ihr Gesicht erhellte, mit der anderen hielt sie vorne ihren Morgenmantel zusammen. Die Tür zum Badezimmer glitt kaum hörbar ins Schloss.

„Warum ... bist du noch wach, Alina?“, fragte er. Oh, warum muss sie ausgerechnet jetzt hier auftauchen? Reiß dich zusammen, Yami, wenn sie was merkt, kriegst du richtig Probleme mit ihr.

„Ich hatte einen Albtraum und ...“

Das alte Gebälk knackte laut. Alina sah sich hastig um und begann zu zittern. Die Kerze flackerte wild bei den fahrigen Bewegungen, der Kerzenhalter entglitt ihren Fingern und fiel zu Boden. Die Flamme erlosch und ließ sie in der Dunkelheit zurück.

Yami war mit wenigen Schritten bei ihr und zog sie in seine Arme. Er strich ihr beruhigend über den Rücken. Sein Oberteil wurde von ihren Tränen durchnässt.

„He, was ist denn los?“

Was hat sie geträumt, dass es sie so verstört hat?
 

Ich lehnte mich mit einem leisen Seufzen an Yamis Brust. Hier fühlte ich mich doch eindeutig gleich viel wohler. In seiner Nähe war ich mir sicher, dass mir nichts passieren würde. Mein Zittern ließ allmählich nach und ich atmete tief durch. Yami lockerte daraufhin seine Umarmung – auch wenn es mir ehrlich gesagt nichts ausgemacht hätte, hätte er mich noch weiter gehalten. Kaum zu glauben, dass ein Vampir so eine angenehme Wärmequelle sein konnte.

„Setz dich erst mal und dann erzählst du mir in Ruhe, was passiert ist, Alina. Was hast du geträumt?“

Ich setzte mich auf die Seitenkante seines Bettes und wartete, bis er neben mir Platz genommen hatte. Dabei entging mir nicht, dass er mir einen komischen Seitenblick zuwarf, den ich allerdings nicht so recht zu deuten wusste.

„Ist was?“, fragte ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Wie? Nein, alles okay. Und jetzt erzähl.“

„Also, es ging um meine Eltern. Ich habe gesehen, wie ... wie sie gestorben sind. Oder sagen wir, wie es gewesen sein könnte. Ich weiß es ja nicht, schließlich war ich damals nicht im Zimmer, als es geschah. Aber ... Es war einfach ... schrecklich. Die Vampire wollten meine Eltern zwingen, ihnen etwas zu geben – einen Schlüssel. Weißt du, was sie damit gemeint haben könnten?“

„Einen Schlüssel?“, wiederholte Yami nachdenklich und legte seine Stirn in tiefe Falten. „Lass mich mal überlegen ... Hmm.“

Während er seine Erinnerungen durchforstete, kratzte er sich am Hinterkopf. Dabei fiel mir auf, dass seine Haare leicht feucht waren. Und er war aus dem Badezimmer gekommen. Hatte er etwa um diese Zeit noch ein Bad genommen? Aber vorher musste er geschlafen haben, sonst hätte sein Bettzeug sicher nicht so unordentlich ausgesehen. Und wenn ich ihn mir so genauer ansah ... eigentlich sah er mit der zerwuschelten Frisur irgendwie ... verdammt süß aus. Er erinnerte mich ein bisschen an einen kleinen Hund. Ich unterdrückte das Kichern, das sich daraufhin aus meinem Mund stehlen wollte, und begnügte mich mit einem wissenden Grinsen.

„Worüber freust du dich denn so?“

Schlagartig verschwand das Lachen aus meinem Gesicht. Diese Gedanken behielt ich lieber für mich. Und wenn Yami erfuhr, dass ich ihn gerade mit einem Schoßhund verglichen hatte ... oh, oh. Nein, das malte ich mir lieber nicht aus.

„Es war nichts weiter. Ich war nur erleichtert, dass du mich nicht angeschrien hast, weil ich um diese Zeit in deinem Zimmer auftauche und dich um deinen Schlaf bringe.“

„Ich war ja eh schon wach, wie du gemerkt hast. Aber dieser Schlüssel ... Also beim besten Willen, ich kann mich nicht daran erinnern, dass dein Vater mir gegenüber mal so etwas erwähnt hat. Haben sie vielleicht den Schlüssel für den Safe gemeint?“

„Nein, es sah nicht so aus, als wollten sie an sein Geld heran. Sie haben ihn als Jäger bezeichnet, demnach wussten sie, welcher Tätigkeit er eigentlich nachgeht.“

„Dann tut es mir leid ... ich kann dir nicht weiterhelfen. Wie gesagt, Robert und Claire haben nie einen Schlüssel erwähnt. Schon gar keinen, der in irgendeiner Form im Zusammenhang mit ihrer Aufgabe als Jäger stand. Weißt du, Alina, ich glaube, dein Gehirn hat diesen Traum nur produziert, um die ganzen Informationen besser zu verarbeiten, die du heute aufnehmen musstest. Ich denke nicht, dass er mehr als das zu bedeuten hat. Aber wie ist er denn überhaupt ausgegangen? Dass sie nach einem Schlüssel verlangt haben, kann dich ja wohl kaum so verschreckt haben, wie du eben durch meine Tür getreten bist.“

„Nein, da war ja auch noch mehr. Als sie sich geweigert haben, ihnen den Schlüssel zu geben, haben sie sie ermordet. Und dieser weißhaarige Vampir, der meine Mutter gebissen hat ... Dann wollte er auf mich losgehen – und dann bin ich aufgewacht.“

In der nächsten Sekunde fühlte ich mich an den Schultern gepackt und wurde herumgedreht. Yamis Blick stach mir scharf in die Augen. Seine Iris brannten in diesem Augenblick mehr als sonst wie Feuer, selbst in der tiefsten Dunkelheit.

„Du sagtest, ein weißhaariger Vampir hätte dich angegriffen? Kannst du ihn mir näher beschreiben?“

„Er hatte eine Kapuze auf, ich habe kaum etwas von seinem Gesicht gesehen – Du tust mir weh, Yami!“, protestierte ich und deutete mit dem Kopf auf seine Hände. Seine Fingerspitzen waren gerade dabei, sich tief in meine Arme zu graben. Er ließ mich schuldbewusst los.

„Kennst du ihn etwa?“, hakte ich nach.

„Nein.“

Er schüttelte den Kopf, doch seine Augen sagten mir etwas anderes. Seine Gedanken schienen zu rasen, ich fragte mich nur, um welches Thema. Wer war dieser Vampir, von dem ich geträumt hatte? Dass er Yami bekannt war, stand für mich nach seiner Reaktion außer Zweifel und dass er es abstritt, verstärkte diesen Eindruck für mich nur noch. Ein kalter Schauer durchlief ich, als er noch einmal vor mein inneres Auge trat. Er hatte meine Mutter eiskalt getötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Trotz ihrer Fähigkeiten als Kämpferin war sie ihm hilflos ausgeliefert gewesen. Dass er kein Mensch war, wusste ich, doch den Titel Vampir konnte ich ihm irgendwie auch nicht zuerkennen. In meinen Augen war er nur eine Bestie.

Und wenn ich nun von genau dieser Bestie wieder träumte, sobald ich eingeschlafen war? Dann stand ich in Kürze wieder vor Yamis Tür und klopfte und ob er dann immer noch so gnädig mit mir war ... das wollte ich doch mal ein wenig bezweifeln. Wer freute sich schon darüber, in einer einzigen Nacht mehrmals von seiner verängstigten Schülerin aus dem Schlaf gerissen zu werden? Da half nur noch ...

„Yami“, begann ich leise und setzte einen bittenden Blick auf, „könnte ich eventuell ... natürlich nur, wenn es dich nicht stört, heute Nacht ausnahmsweise ... hier schlafen?“

Das Feuer verschwand mit einem Schlag aus seinen Augen und machte grenzenloser Verwirrung Platz.

„Es ist nur, weil ich Angst habe, dass ich wieder von diesem Kerl träume“, beeilte ich mich zu erklären. „Und da wäre es einfach schön zu wissen, dass ich dann nicht allein bin.“
 

Yami glaubte sich verhört zu haben. Erst dieser Traum, den er gehabt hatte, und nun bat sie ihn tatsächlich auch noch, bei ihm zu schlafen. Gut, er musste zugeben, die Gründe unterschieden sich, aber der Kern blieb derselbe. Alina wollte in seinem Bett schlafen. Aber wie sollte er selbst dann noch Schlaf finden, wenn er ihr das erlaubte?

Alinas flehender Hundeblick machte ihm die Entscheidung auch nicht gerade leichter.

Möchte mal wissen, wer ihr diesen Blick beigebracht hat, mit demjenigen würd’ ich gern mal ein Wörtchen reden, knurrte er in Gedanken. Dieses Mädchen weiß verflucht gut, wie sie ihn einsetzen muss, um einen weichzukochen.

„Ähm ... also schön, du kannst hier schlafen“, sagte er schließlich und seufzte in Gedanken.

Warum lass ich mich auch immer von ihr breitschlagen?

„Leg dich hin, Alina, es ist spät. Sonst bekommen wir beide keinen Schlaf mehr.“

„Danke, Yami. Du bist lieb“, sagte Alina und drückte ihm einen kurzen, schüchternen Kuss auf die Wange. Yami erstarrte für einige Sekunden zu einer Salzsäule. Alina zog den Morgenmantel und die Pantoffeln aus und glitt unter die Bettdecke.

„Willst du dich nicht auch hinlegen? Das Bett ist doch mehr als groß genug für zwei“, sagte sie.

Ruhig bleiben, Yami. Ganz ruhig bleiben, betete er sich selbst in Gedanken vor.

„Ich warte bis du eingeschlafen bist“, erwiderte Yami und setzte sich neben sie.

Alina gähnte und klopfte sich das Kopfkissen mit den Händen zu-recht. Sie schloss die Augen und kuschelte sich in die warmen Decken, die einen ähnlich leicht herben Duft verströmten wie die Person, die sonst in ihnen nächtigte. Es war beruhigend, Yami in ihrer Nähe zu wissen. Es dauerte nicht lange, bis Alina in die Welt des Schlafes übergewechselt war.

Yami wartete noch einen Moment, um auf Nummer sicher zu gehen, dass sie schlief. Dann erhob er sich vorsichtig und ging um das Bett herum auf die andere Seite.

Einen Augenblick blieb er stehen und überlegte. Ob er es wagen sollte, sich neben sie zu legen? Sein Blick glitt über ihren Körper, der sich unter den Decken abzeichnete. Es war schon eine schöne Vorstellung, sie neben sich zu spüren. Aber das Problem war, dass sie nicht nur das Bett, sondern auch die Decke teilen müssten und das war für ihn eindeutig mehr Nähe als momentan gut für ihn war. Er hatte sich gerade erst von seinem Traum beruhigt und sie dann direkt an seiner Seite zu wissen ... Schon fühlte er ein ihm nur zu bekanntes Kribbeln im Bauch.

Oh nein, wenn ich das mache ... diese Nacht überstehe ich nicht.

Er bückte sich und holte aus einem Kasten, den er unter seinem Bett aufbewahrte, eine warme Wolldecke hervor. In diese eingewickelt, setzte er sich in einen Sessel in der Nähe des Fensters und schloss die Augen.

Alina konnte ihm hundertmal den Vorschlag machen, mit ihr in einem Bett zu schlafen – das würde er nur in einem Fall tun und er war sich sicher, dass dieser nicht so bald eintreten würde. Die einzig sichere Methode war es da für ihn, in diesen Dingen auf Abstand zu ihr zu gehen. Gleichzeitig ärgerte er sich auch wieder über sie. Das Mädchen lernte schnell, andere Leute zu manipulieren und es passte ihm gar nicht, dass er als ihr Lehrer auch noch als ihr Studienobjekt herhalten musste. Ob ihr das nun bewusst war oder nicht.
 


 

So, das war es vor meinem Urlaub erst mal von mir. Ich schätze, in den nächsten zwei Wochen werdet ihr nichts von mir hören, es sei denn, es gelingt mir irgendwie, mir mal Zugang zum Internet zu verschaffen. ^^ Entsprechend wird es etwas dauern, bis ihr von mir eine Antwort auf eure Kommentare bekommt, also geduldet euch bitte ein wenig. Bis bald, eure Moonlily

Ausflüge und andere Überraschungen - You always meet twice in life

*reingeschlichen komm*

Hallo ^^

Vorweg möchte ich erst einmal ein ganz großes Gomen nasai schicken. *tief verbeug*

Es tut mir wirklich sehr leid, dass es so lange mit dem neuen Kapitel gedauert hat. Das hatte ich nicht beabsichtigt. Dafür ist es jetzt auch das bisher längste meiner FF geworden. Und nun ohne lange Vorreden … Viel Spaß mit Fullmoon.
 

Kapitel 16

Ausflüge und andere Überraschungen – You always meet twice in life
 

Als ich am Morgen aufwachte, wusste ich im ersten Augenblick gar nicht, wo ich war. Erst als ich mich näher im Zimmer umsah, fielen mir die Ereignisse der vergangenen Nacht Stück für Stück wieder ein. Nach meinem Albtraum, in dem ich den Tod meiner Eltern durch ein paar Vampire miterlebt hatte, war ich zu Yami geflüchtet. In meinem Zimmer hatte ich einfach keine Ruhe mehr finden können. Von Yami war nun allerdings nicht das Geringste zu sehen, er schien schon aufgestanden zu sein. Dafür entdeckte ich auf einem Sessel in der Nähe des Fensters eine zusammengeknüllte Decke, von der ich mir sicher war, sie gestern Abend nicht dort gesehen zu haben. Das wunderte mich dann allerdings. Das Bett war doch nun wirklich mehr als breit genug, dass zwei Personen darin schlafen konnten und trotzdem noch jede Menge Platz blieb.

Ich beschloss mich bei Yami zu bedanken, sobald ich ihn sah, und mich gleichzeitig bei ihm zu entschuldigen. Schließlich hatte ich ihn nicht aus seinem Bett vertreiben wollen. Mein Blick glitt über den Wecker auf dem Nachttisch. Es war kurz vor sieben. Soweit ich wusste, hatte Mai Samantha die Anweisung gegeben, mich um Viertel nach sieben zu wecken. Es war also höchste Zeit für mich, Yamis Zimmer zu verlassen und in mein eigenes Bett zurückzukehren. Wenn mich meine Zofe, wenn ich Samantha so nennen wollte, im Bett des Hausherren erwischte, würde das nur wieder unnötige Gerüchte in die Welt beziehungsweise in die Küche, wo sich die Angestellten zumeist aufhielten, setzen. Und Mai wollte ich das alles auch lieber in einer ruhigen Minute beichten, falls sie mich darauf ansprechen sollte. Wenn ich ihr die näheren Umstände auseinandersetzte, die dazu geführt hatten, würde sie mit Sicherheit Verständnis für mein Verhalten zeigen und mir nicht böse sein.

Den Morgenmantel über dem Arm ging ich zur Tür und lauschte, ob sich etwas im Flur bewegte. Als ich sicher war, dass niemand draußen war, ging ich rasch in mein Zimmer hinüber und ließ mich dort ins Bett fallen. Einschlafen konnte ich jedoch nicht mehr, dazu war ich mittlerweile zu wach. Und ich musste auch sagen, ich fühlte mich trotz der gestrigen Albträume nun herrlich ausgeruht. Vielleicht lag es auch an dem vertauschten Bett. Wer wusste das schon so genau? Die Laken hatten auf jeden Fall herrlich nach Yami geduftet, am liebsten wäre ich gar nicht aufgestanden, sondern hätte mich noch eine Weile hineingekuschelt. Wenn da nicht leider, leider mein verdammter Weckservice gewesen wäre …

Die mir noch verbleibende Zeit nutzte ich aus, um über Yamis Verhalten noch einmal gründlicher nachzudenken. Komisch war es schon. Bis vor kurzem hatte ich aus seinem ganzen Benehmen mir gegenüber noch von Zeit zu Zeit herauslesen können, dass er bei meinem Anblick noch andere Dinge mit mir im Sinn zu haben schien, als mich zu einer überlebensfähigen Vampirin auszubilden. Und dass ich mich irgendwo auch ein wenig geschmeichelt fühlte, von ihm begehrt zu werden, konnte ich nicht ganz leugnen. Seit wir jedoch die Zeremonie durchgeführt hatten, um seinen Schutzschwur auch auf mich zu übertragen, hatte ich das Gefühl, als hätte sich etwas wie eine unsichtbare Mauer zwischen uns geschoben. In mir keimte allmählich der Verdacht, dass er mit seinem Gelübde, mich vor allem und jedem zu beschützen, nicht nur die Vampirjäger und den Nieschan gemeint hatte, sondern auch sich selbst.

Wenn ich mich richtig daran erinnerte, taten sich Männer in diesem Punkt allerdings oftmals ein wenig schwer, ihre Gefühle unter Kontrolle und für sich zu behalten. Ellie hatte mir da schon von so manchem Fall berichtet. Dabei fiel mir ein, dass ich es trotz meiner seit einigen Tagen sehr häufigen Anwesenheit im Stadtteil Whitechapel immer noch nicht geschafft hatte, sie aufzusuchen. Ich war mir recht sicher, dass sie von ihren Kolleginnen bereits davon gehört hatte, dass der Ripper ausgerechnet dort sein Unwesen trieb und sich seine Opfer stets unter den Frauen ihres Berufes suchte. Dennoch hielt ich es für angebracht, sie persönlich zu warnen. Mir grauste davor, eines Tages die Morgenzeitung aufzuschlagen und auf der Titelseite zu lesen, sie wäre sein nächstes Opfer geworden. Seit die Angriffe begonnen hatten, betete ich jeden Abend, Ellie möge von diesem Wahnsinnigen verschont bleiben.

Pünktlich um Viertel nach sieben ging die Tür auf und ich hörte, wie Samantha das Zimmer betrat. Ich erkannte sie mittlerweile schon an ihrer Gangart. Da sie annahm, dass ich noch schlief, bewegte sie sich auf Zehenspitzen durch den Raum. Als sie jedoch an meinem Bett vorbeiging, blinzelte ich vorsichtig und beobachtete sie durch die halb geschlossenen Augen. Sie stand neben dem Stuhl, auf dem ich gestern Abend meine Kleider abgelegt hatte, und strich über den feinen Stoff. Ich lächelte, das hätte ich vor einer Weile vielleicht auch getan, wenn ich in einem vornehmen Haushalt Arbeit gehabt hätte. Und jetzt konnte ich sogar sagen, dass es noch viel schöner war, diese Stoffe auf der Haut als nur unter den Fingern zu fühlen. Auch wenn das Anlegen der Kleider noch so kompliziert war, sie tragen zu dürfen war die Mühe auf jeden Fall wert.

Samantha warf einen Blick in meine Richtung, um sich zu vergewissern, dass ich noch schlief. Nun war ich dankbar für die schnellen Reflexe, die mir das Vampirblut verliehen hatte. Für mich bewegte sich ihr Kopf beinahe in Zeitlupe, während meine Augen zuklappten.

Als ich sie wieder öffnete, war Samantha schon auf dem Weg zu meinem Schrank. Sie blieb davor stehen und öffnete die Türen. Ihr Blick glitt prüfend über meine neuen Kleider, sie zog verschiedene heraus und hielt sie sich an. Meine Augenbrauen zogen sich nach oben. Das war doch die Höhe! Für eine gewisse Neugierde des Personals hatte ich ja noch Verständnis, aber das schlug dem Fass wirklich den Boden aus. In den persönlichen Sachen seiner Herrin herumzuschnüffeln, wenn diese gerade nicht da war, war schon nicht in Ordnung. Aber dass sie es zu allem Überfluss in meiner Gegenwart tat, fand ich schon ein starkes Stück. So viel Dreistigkeit hätte ich Samantha nicht zugetraut.

Ich war am Überlegen, ob ich aufstehen und sie für ihr Verhalten zur Rechenschaft ziehen sollte, als mir der Wecker die Entscheidung vor-erst durch sein durchdringendes Klingeln abnahm. Samantha stopfte das Kleid in den Schrank zurück und eilte an mein Bett. Ich räkelte mich noch einmal, gerade so als würde ich gerade erst wach werden, und richtete mich dann auf.

„Guten Morgen, gnädiges Fräulein“, sagte Samantha und knickste vor mir. „Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“

Ich musterte sie von oben bis unten.

„Ich würde es nicht unbedingt einen guten Morgen nennen, wenn jemand noch vor dem Aufstehen meine Schränke durchwühlt.“

So ganz einfach wollte ich sie nun ja nicht davonkommen lassen. Samantha sollte schon merken, dass sie sich nicht so aufführen konnte. Es gab immer noch so etwas wie Privatsphäre. Sie schrumpfte unter meinem Blick geradezu in sich zusammen.

„Ich bitte um Entschuldigung, gnädiges Fräulein. Ich wusste nicht … Ich dachte, Sie schlafen noch und da …“

Na ja, wenigstens war sie so ehrlich, es nicht auch noch zu leugnen.

„Für eine gewisse Neugier bei einem neuen Hausbewohner habe ich ja

Verständnis“, sagte ich, „aber deine Spioniererei geht zu weit. Hat dir die Warnung meiner Schwester nicht gereicht?“

Ich stieg aus dem Bett und zog den Morgenmantel über. Sie folgte mir ins Bad und blieb im Türrahmen stehen, während ich mich wusch.

„Bitte erzählen Sie Ihrer Schwester und den gnädigen Herren nichts davon. Ich schwöre Ihnen, ich werde so etwas nie wieder tun“, sagte Samantha und sah mich flehend an.

„Hilf mir erstmal beim Anziehen“, gab ich zurück statt ihr zu antworten. Über das Thema musste ich mir vor allem selbst Gedanken machen, denn eines wurde mir plötzlich bewusst: Wie meine Entscheidung auch ausfiel, sie würde mit darüber bestimmen, wie Samanthas weiteres Leben aussah. Yami hatte ihr bei der nächsten Verfehlung mit ihrer Entlassung gedroht und das hier war sie.

Der Markt war mit willigen Arbeitskräften überfüllt, die alle gern eine Stellung in einem gehobenen Haushalt gehabt hätten. Da wirkte ein Vermerk im Zeugnis über eine unehrenhafte Entlassung wie ein Kainsmal. Mit so etwas würde sie extreme Schwierigkeiten haben, überhaupt noch Arbeit zu finden, möglicherweise sogar, ohne dass es ihr sofort bewusst war. Arbeitgeber hatten eine Menge Möglichkeiten, ihre potenziellen Nachfolger durch geschickt formulierte Sätze darauf aufmerksam zu machen, was sie sich ins Haus holen wollten.

Als ich mich in meine ganze Unterwäsche gekämpft und meine Kleider angelegt hatte, war ich immer noch nicht zu einer Entscheidung gekommen. Einerseits wollte ich Samantha nicht zu einer ungewissen Zukunft auf den Straßen Londons verurteilen, andererseits war ihre Neugier mehr als gefährlich – für uns wie für sie. Wenn sie auch nur einmal zum falschen Zeitpunkt ins Zimmer kam, konnte sie dahinter kommen, dass sie mit vier Vampiren in einem Haus lebte. Dieses Risiko war jedoch all unseren Angestellten zu eigen … ein wahrer Teufelskreis. Beide Wege waren nicht sonderlich angenehm.

„Gnädiges Fräulein?“, fragte Samantha nach. Ich seufzte leise.

„Schwör mir, nie wieder in meinen Sachen oder denen der anderen zu schnüffeln und nicht mehr zu lauschen, dann behalte ich für mich, was ich gesehen habe.“

Samantha nickte eifrig und legte mit erhobener rechter Hand und feierlicher Stimme den geforderten Schwur ab. Ich hoffte nur, dass ich das nicht bereute.
 

Mai saß im Speisezimmer, als ich nach unten kam, und nippte an ihrem Tee. Auf ihrem Teller lag ein halbes Brötchen, das mit roter Marmelade bestrichen war.

„Guten Morgen, du siehst ja so fröhlich aus“, sagte ich.

„Ich freue mich auf unseren Unterricht.“

Da bist du aber die Einzige, dachte ich und setzte ein unverbindliches Lächeln auf. Alex brachte mir eine heiße Schokolade, mit der ich ein Stück trockenen Toast herunterspülte.

„Möchtest du Marmelade?“, fragte Mai und hielt mir den Topf hin.

„Nein, danke, ich hab noch keinen richtigen Hunger.“

„Du solltest trotzdem probieren, das ist nämlich eine ganz besondere Marmelade“, antwortete Mai bestimmt, nahm aus dem Toasthalter ein Stück getoastetes Weißbrot heraus und bestrich es mit der Marmelade. Als ich hinein biss, weiteten sich meine Augen überrascht und ich wechselte einen Blick mit Mai.

„Das schmeckt ja wie … ist das etwa“, ich senkte meine Stimme etwas, auch wenn wir gerade allein im Zimmer waren, und beugte mich näher zu ihr. „Ist das Blut?“

„Eine neue Erfindung von Mr. Devlin, unserem Händler. Von ihm beziehen wir unsere Blutvorräte. Er experimentiert gern und sucht immer nach Methoden, wie wir unsere Einkäufe unauffälliger gestalten können. Offiziell ist er Weinhändler. Man muss nur bei der Lagerung dieser Marmelade aufpassen, dass niemand anderes da rangeht. Dann wäre die ganze Tarnung dahin.“

„Und wie soll das gehen? Ich könnte mir vorstellen, dass Beth und die anderen alle gern mal naschen.“

„Die Sachen werden alle in einem Extraraum gelagert, zu dem es nur drei Schlüssel gibt. Einen hat Yami, einen besitzt Alex und der dritte befindet sich hier.“

Mai klopfte auf einen kleinen Beutel, den sie an ihrem Rock befestigt hatte.

„Wo du gerade von Yami sprichst, hast du ihn zufällig gesehen? Oder ist er schon wieder zur Arbeit?“

„Ja, wie immer, noch vor dem Morgengrauen, glaube ich. Aber er sah noch richtig verschlafen aus, hatte dunkle Ringe unter den Augen, der Arme.“

Oh, oh, nun musste ich aber schlucken. Dass er so unausgeschlafen war, musste meine Schuld sein. Im Sitzen schlief es sich schließlich lange nicht so bequem wie im Liegen.

„Seth hat kurz nach Yami das Haus verlassen und er sah genauso aus, wenn nicht noch schlimmer“, fuhr Mai fort. „Wenn das mit ihm so weitergeht, müssen wir ihn bald zu Hause einsperren, damit er mal genug schläft. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist, dass er sich so überarbeitet. Aber gesund ist das nicht, auch nicht für einen Vampir und wir haben eine sehr robuste Gesundheit. So, bist du fertig? Wir müssen mit dem Unterricht fortfahren.“

Ich schob mir den Rest meines Toasts in den Mund, stand auf und folgte Mai hinüber in den Salon. Als erstes wiederholten wir den richtigen Gang, wobei Mai mich ständig korrigierte. Wenigstens verzichtete sie auf den Rohrstock, den viele Lehrer so gern verwendeten, wenn ihre Schüler nicht das taten, was sie wollten. Meine Hände hätten am Ende des Tages pflaumenblau ausgesehen. Es war auch zu schwer, alle Befehle auf einmal zu befolgen, den Rücken gestreckt zu halten, ohne ein Hohlkreuz dabei zu machen, die Arme nicht zu steif am Körper und den Kopf gerade zu halten und dann auch noch elegant und natürlich zu gehen.

Das richtige Sitzen war noch anstrengendener. Denn eine wohlerzogene Dame durfte sich im Sessel nicht zurücklehnen, sondern musste immer hübsch gerade sitzen – fast als hätte man einen Besen verschluckt. Die Polster sahen so einladend aus und Mai verbot mir, mich nach hinten fallen zu lassen, obwohl sie mich gerade aufgefordert hatte, es mir bequem zu machen. Wurde irgendwer aus den Anweisungen dieser Frau klug? Ich schaffte es jedenfalls nicht. Nach einer Stunde tat mir, da ich irgendwann immer wieder in ein Hohlkreuz gefallen war, richtig der Rücken weh, es stach und piekste.

Der weitere Unterricht – obwohl ich es eher als Folterstunden bezeichnen würde – bestand zum größten Teil aus Französischlektionen. Ich konnte Mai zum Teil kaum folgen, während sie mir die Begriffe für Möbel und viele andere Gegenstände nannte. Selbst während des Mittagessens blieb ich davon nicht verschont, jedes Gemüse, das Besteck, Geschirr und die Gläser – alles bekam seine französische Bezeichnung verpasst. Selbst wenn sie mich bat, ihr das Brot zu reichen, tat Mai es nun nicht mehr auf Englisch.

Doch was blieb uns anderes? Ihrer Geschichte zufolge war ich gebürtige Französin, in Frankreich aufgewachsen und da wäre es mehr als verdächtig gewesen, hätte ich meine angebliche Muttersprache nicht mal sprechen können. Was mich nebenbei auch noch vor das Problem stellte, nicht nur die französische Sprache an sich erlernen zu müssen, sondern sie auch noch akzentfrei auszusprechen. Für mich als gebürtige Engländerin erschien das als ein Ding der Unmöglichkeit. Im Vergleich kam mir das Französische viel weicher und feiner geschliffen als mein Englisch vor und die Worte nachzuahmen, die Mai mir immer wieder geduldig vorsprach, fiel mir schwer.

Dennoch muss ich sagen, ich bewunderte sie wirklich dafür, dass sie überhaupt so viel Geduld mit mir aufbrachte. Wenn ich mich da an zwei meiner Lehrer erinnerte, die mich früher unterrichtet hatten … Die beiden hatten nach ein paar Wochen aufgegeben, nachdem ich in den jeweiligen Fächern – Mathe und Latein, wobei ich letzteres, mal nebenbei bemerkt, wie die Pest gehasst habe – nicht die von ihnen erhofften und erwarteten Fortschritte gemacht hatte. Beide waren mit ihren Nerven so ziemlich am Ende gewesen … Gut, ich muss zugeben, die kleinen Streiche, die ich ihnen hin und wieder gespielt hatte, dürften daran nicht ganz unschuldig gewesen sein, aber ich hatte mich immer an harmlose Dinge dabei gehalten. Mal war der Pudding, den meine Mutter ihnen vorsetzte, versalzen (der Höflichkeit halber konnten sie ihn jedoch nicht ablehnen), mal ignorierte ich sie und einmal brachte ich über der Tür zum Salon, wo der Unterricht abgehalten wurde, einen Eimer mit Wasser an, der meinen Lateinlehrer von oben bis unten durchnässte. Er hatte wie ein begossener Pudel ausgesehen. Leider hatte ich meinen Scherz mit ein paar Schlägen bezahlen müssen, an diesem Tag war meinem Vater der Kragen geplatzt, als er davon erfahren hatte. So stocksauer hatte ich ihn davor noch nie erlebt.

„Alina, qu’est-ce que tu pense?*“, fragte Mai und stupste mich an, als ich nicht gleich reagierte. „He, du sollst nicht träumen. Glaubst du, ich mache das aus Spaß?“

„Entschuldige, aber wir sitzen schon den ganzen Tag hier, mir schwirrt der Kopf. Das waren heute ein paar Vokabeln zu viel.“

„Anders lernst du es nicht schnell genug.“ Sie warf einen Blick zur Uhr. „Aber du hast Recht, machen wir für heute Schluss mit Französisch. Wir haben ja immerhin heute noch eine ganz besonders wichtige Lektion vor uns.“

Ich konnte mir ein lautes Stöhnen nicht verkneifen. Das konnte doch nicht wahr sein! Es war halb fünf, wir saßen seit heute früh zusammen und sie wollte allen Ernstes immer noch nicht Schluss machen?

„Was steht denn noch an?“, fragte ich schicksalsergeben. Wie ich Mai kannte, würde sie ja doch nicht mit sich reden lassen.

„Natürlich die wichtigste Lektion von allen für uns Frauen“, sagte Mai und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Ich zeige dir jetzt, wie man richtig einkauft.“

„Wie bitte?“

Ich machte in diesem Augenblick das wahrscheinlich dümmste Gesicht, das man je auf Erden gesehen hatte. Hatte ich mich da eben verhört?

„Warum so überrascht, Alina? Ich hatte dir doch gesagt, dass wir noch mal zusammen einkaufen gehen müssen, um dir deine restlichen Sachen zu besorgen. Komm, steh auf und zieh dich an. Wir gehen in fünf Minuten, es dämmert bereits.“

Mein Blick glitt an ihr vorbei zum Fenster. Es war mir gar nicht aufgefallen, dass es im Zimmer immer dunkler geworden war, dabei senkte sich die Abenddämmerung schon über die Stadt. Für uns bedeutete das das Zeichen zum Aufbruch, denn nun hielt uns das Tageslicht nicht mehr in den Mauern unseres Hauses gefangen. Ein Einkaufsbummel mit Mai also … Diese Lektion würde ich mir gerne gefallen lassen.
 

Die aus massivem Eichenholz gefertigte Bürotür fiel hinter dem Mann mit einem leisen Knacken ins Schloss. Seth Kaiba, Vorstand des Atekai-Konzens, ließ sich mit einem tiefen Aufseufzen gegen die gepolsterte Lehne seines Stuhles fallen. Endlich war er allein. Sein Blick fiel auf die fest geschlossene Tür. So konnte er es wagen.

Die beherrschte, eiskalte Maske, die er getragen hatte, seit er sein Zimmer zu Hause in der Victoria Road in den frühen Morgenstunden verlassen hatte, fiel von ihm ab. Auf seinem Gesicht war die Erschöpfung deutlich abzulesen. Sein durch sein Vampirdasein ohnehin sehr blasses Gesicht war noch bleicher als sonst. Er fühlte sich, als hätte man ihm selbst das Blut aus den Adern gesaugt.

Wie lange war es her, seit er zuletzt etwas getrunken hatte? Er erinnerte sich, zu Mittag ein kleines Glas aus seinem Privatvorrat getrunken zu haben, den er in einem Geheimfach seines Schreibtisches aufbewahrte. Danach hatte er keine Zeit mehr dazu gefunden, ein Termin hatte den nächsten gejagt. Und zu allem Überfluss musste er diese zurzeit auch noch selbst organisieren, weil er seinen letzten Sekretär vergangene Woche gefeuert hatte. Dieser hatte ihm ein Glas Rotwein über das frische Hemd geschüttet.

Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie oft er die Worte „Sie sind gefeuert!“ in dieser Form oder diversen Variationen während des letzten Jahres benutzt hatte. Die Männer, die er eingestellt hatte, stellten sich aber auch zu dumm an. Einer hatte sich sogar die unvorstellbare Frechheit herausgenommen, sich über die langen Arbeitszeiten zu beschweren – und wieder hatte Atekai eine freie Stelle zu vergeben gehabt.

Nun suchte er wieder einmal händeringend nach einem Sekretär. Wenn es bei der ach so hoch geschätzten Gesellschaft nicht verpönt wäre, hätte er die Stelle natürlich auch für Frauen ausschreiben lassen. Eine hübsche Frau im Vorzimmer sitzen zu haben, wäre das Letzte gewesen, was ihn gestört hätte. Yami hatte selbst einige Male überlegt, einen Teil der Sekretariatsposten mit weiblichen Angestellten zu besetzen. Den Grund konnte Seth sich nur zu gut vorstellen, hätte dies seinem Geschäftspartner und Freund doch eine direkte Möglichkeit eröffnet, an „Frischfleisch“ zu kommen, wie Seth es spöttisch bezeichnete, und das sogar in mehrfacher Hinsicht.

Er kannte Yamis Vorliebe für einen kleinen Schluck zwischendurch, nicht selten verbunden mit der Befriedigung seiner anderen Gelüste. Er hatte schon so manches Mal eines der jungen Mädchen, die in der Fabrik arbeiteten, mit gerötetem Gesicht, zerzausten Haaren und leicht blutendem Hals aus seinem Büro schleichen sehen. Wenn er es sich allerdings so recht überlegte … In den letzten Monaten war diese Art von Besuchen immer seltener geworden. Es musste mittlerweile Wochen her sein, dass Yami zuletzt ein Mädchen zu sich hatte rufen lassen.

Ich frage mich, wie er das bei seinem Trieb aushält, dachte Seth. Da muss sich ganz schön was in ihm angestaut haben.

Seth verstand die ganze Aufregung, die Yami darum machte, eh nicht. Er kam seit langem ohne Sex aus. Die Anfangszeit mochte zugegeben schwierig gewesen sein, aber wenn man sich erstmal daran gewöhnt hatte … Und davon mal ganz abgesehen blieb ihm gar nicht die Zeit für so etwas. Seine Arbeit verlangte seine volle Aufmerksamkeit, ganz besonders jetzt, wo so viel zu tun war.

Ah, wenn ich nicht bald einen anständigen Sekretär kriege, fliegt dieser Stuhl noch aus dem Fenster! Wie soll ich meine Arbeit schaffen, wenn ich auch noch die Post erledigen und meine eigenen Briefe schreiben muss?

Seine Hand knüllte das Papier zusammen, das auf dem Schreiben des letzten Bewerbers gelegen hatte. Auf seinem Tisch stapelten sich die Mappen mit den Bewerbungen und er hatte nicht mal die Hälfte ihrer Schreiber empfangen, dabei tat er seit heute Morgen praktisch nichts anderes. Sein Gesicht wurde wieder abweisend und kühl, in seinen Augen funkelten Eiskristalle, dazu bereit, jeden ungeeigneten Kandidaten zu durchstechen und ihm gnadenlos seine Unfähigkeit vor Augen zu führen.

„Der nächste bitte!“, rief er laut.
 

„Vielen Dank für Ihren Einkauf. Bitte beehren Sie uns bald wieder“, sagte der Verkäufer und öffnete die Tür vor Mai und mir mit einer tiefen Verbeugung.

Aber nicht zu bald, hörte ich ihn in Gedanken hinzufügen. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, was mir nicht gerade leicht fiel. Stattdessen folgte ich Mais Beispiel und lächelte dem Mann huldvoll zu.

Die Glocke, die am oberen Türrahmen befestigt war, klingelte laut, als das Holz über sie strich und uns den Durchgang zurück in den Trubel des abendlichen London freigab.

„Sie liefern die Sachen morgen früh?“, erkundigte sich Mai zum bestimmt dritten Mal in kurzer Zeit.

„Sofort, wenn der Laden geöffnet wird, gnädige Frau, darauf haben Sie mein Wort.“

„Fein.“ Auf Mais Gesicht zeigte sich ein Lächeln. „Sie tun gut daran, eine Ihrer besten Kundinnen nicht warten zu lassen. Wenn Sie sich nicht daran halten, könnte ich nämlich etwas bissig werden.“

Bei den Worten wandte ich mich ab und presste die Faust mit dem Handschuh vor meinen Mund. Was Mai da so ganz nebenbei an Sprüchen losließ, strapazierte meine Lachmuskeln ganz schön. Und dabei durfte ich noch nicht mal lachen.

„Selbstverständlich, Miss de Lioncourt“, sagte der Verkäufer und unterstrich jedes Wort mit einer extra Verbeugung, um ihr zu zeigen, wie ernst er es meinte. Ein zweites Klingeln, nachdem wir auf die Straße getreten waren, verkündete, dass sich die Tür auf dem Rückweg ins Schloss befand. Wir entfernten uns einige Schritte vom Eingang und sahen zurück.

Das Licht der Petroleumlampe, die im Schaufenster zwischen den Waren stand, fiel auf die Straße und beleuchtete ein Stück des Gehweges und das aus Bronze gestanzte Ladenschild in Form eines Stiefels, der schon von weitem erkennen ließ, welcher Zunft der Laden angehörte. Wir standen am Rand des Lichtkegels, nicht mehr direkt vor dem Geschäft, aber noch nicht zu weit entfernt, so dass wir ungehindert durch die im unteren Teil mit Spitzengardinen versehenen Fenster blicken konnten.

Das zweifache Klicken des Schlüssels war für meine immer feiner werdenden Ohren unüberhörbar. Die drei Verkäufer, die uns bedient hatten, ließen sich erschöpft in die Sessel fallen, in denen sonst ihre Kunden Platz nahmen, um die von ihnen ausgesuchten oder bestellten Schuhe anzuprobieren. Sie wirkten irgendwie fertig mit den Nerven … Allerdings musste ich ihnen zugute halten, dass sie uns beide in den letzten anderthalb Stunden am Hals gehabt hatten.

Himmel, ich war zu lange mit Mai unterwegs, schoss es mir durch den Kopf. Jetzt fang ich schon selbst mit diesen Zweideutigkeiten an.

Wir hatten sie natürlich nicht gebissen, doch wie ich festgestellt hatte, war Blut längst nicht das Einzige, was man einem Menschen aussaugen konnte. Wir waren um halb sieben in dem Geschäft angekommen. Mai hatte mir vorher erklärt, dass sie für gewöhnlich um achtzehn Uhr schlossen. Wenn man jedoch wie sie zur Stammkundschaft gehörte, ließ sich da durchaus schon mal eine Ausnahme von der Regel machen. Sie musste an die Händler bloß vormittags eine Nachricht schicken, dass sie kam und schon wurde das Geschäft für sie offen gehalten. Sehr praktisch, wenn man wie wir vom Sonnenuntergang abhängig war.

Wir hatten in dem Schuhgeschäft geschlagene anderthalb Stunden gesessen. Ich hätte davor nie gedacht, dass es möglich war, in einem solchen Geschäft dermaßen viel Zeit zu verbringen, ohne dass Langeweile aufkam. Wie ich gesehen hatte, war das doch möglich und bei uns Frauen wahrscheinlich der Normalfall. Wenn ich noch dazu zählte, dass mein Schuhschrank bisher so gut wie leer war und ich Mai als Beraterin an meiner Seite hatte – die sich so nebenbei erwähnt einmal mehr als äußerst kompetent in Sachen Mode herausgestellt hatte …

Yami konnte froh sein, dass er bei unserem Aufbruch noch nicht zu Hause gewesen war. Ich hätte es Mai glatt zugetraut, ihn zu unserem Einkaufsbummel mitzuschleppen. Von wegen der zweiten Meinung und so. Ich glaube, danach wäre sein Nervenkostüm nachhaltig ruiniert gewesen. So viel Gefasel von Mode, den passenden Materialien und Farben für die Jahreszeit, wobei das auch noch auf meine neuen Kleider abgestimmt werden musste, hätte jeden Mann über kurz oder lang in den Wahnsinn getrieben. Die Angestellten befanden sich nach unserem Besuch jedenfalls nahe an dessen Rand. Wundern tat es mich nicht unbedingt.

Es gab wahrscheinlich im gesamten Laden kein einziges Paar Schuhe mehr, das ich nicht anprobiert hatte. Zuletzt hatten sich die Kartons mit den abgelehnten Schuhen so hoch gestapelt, dass ich an keiner Stelle mehr über sie hatte drüberblicken können. Ich war mir wie in einer Höhle vorgekommen, doch was sollte ich machen? Meine Füße waren, auch im Vergleich zu denen anderer Mädchen meines Alters, sehr schmal und klein. Aus den meisten Schuhen, die man mir vorgestellt hatte, schlüpfte ich entweder beim ersten Schritt raus oder sie waren zu weit und die Kinderschuhe, die der Händler führte, waren – wie hätte es auch anders sein sollen – zu klein. Am Ende hatten wir zumindest ein Paar flache Schuhe und Stiefel für mich gefunden. Für den ganzen Rest blieb uns nichts übrig, als Maßanfertigungen zu nehmen. Bei der Bestellung hatte ich mich lebhaft an Mais Diskussion mit der Schneiderin erinnert gefühlt, inklusive einer irre langen Liste.

Ich schluckte, als ich an die Beträge dachte, die allein unsere heutigen Einkäufe verschlungen hatten. Vor unserem Abstecher zum Schuhhändler hatten wir die Parfümerie aufgesucht und neben den Duftwässercher waren gleich noch die passende Seife, Wangenrouge, Make-up im Allgemeinen und diverse Pflegemittel in den Einkaufskorb gewandert, ebenso wie kurz später Strümpfe, Strumpfbänder, Haarnadeln, Kämme, mehrere Fächer und eine Riesenmenge anderer Kleinteile. Und jedes Mal hatte Mai mit Blick auf meine synchron dazu größer werdenden Augen gemeint, ich brauche all diese Sachen. Aber nachdem ich nun zumindest einigermaßen die vielen Eindrücke meines neuen Daseins als Vampir verarbeitet hatte, begann mich auch die Realität wieder einzuholen.

Ich schätzte, Mai hatte keine Ahnung, wie viel Geld durch unsere Einkäufe wie selbstverständlich den Besitzer gewechselt hatte. Wenn ich die Kosten überschlug, hätte die Summe mit Sicherheit ausgereicht, um für Joey, Maria, ihren Bruder, ihre Mutter und mich sämtliche Lebenshaltungskosten von mindestens zwei oder drei Monaten abzudecken und sogar noch die Öfen unserer Zimmer zu beheizen. Entweder hatte Mai diese Geldsorgen nie kennen gelernt oder sie lagen so weit zurück, dass sie sich nicht mehr als sie erinnerte. Mir zumindest behagte diese Geldverschwenderei gar nicht.

Gleichzeitig rief mir das schmerzhaft ins Gedächtnis, wie anders ich mich in den letzten Tagen verhalten hatte. Yami hatte mit einem Schlag all meine Geldsorgen fortgewischt. Ich hatte es im Taumel der ganzen Veränderungen stillschweigend hingenommen, nun schämte ich mich dafür. Wie hatte ich so selbstsüchtig sein und darüber meine Freunde vergessen können?

„Alina, wo bleibst du? Wir müssen weiter!“

Ich sah auf. Durch meine Gedanken war mir gar nicht aufgefallen, dass ich immer langsamer geworden und schließlich mitten auf der Straße stehen geblieben war. Mai bückte sich zu mir und betrachtete mich fragend.

„Träumst du jetzt schon mit offenen Augen, Kleines?“

„Ich habe nur … Ich finde einfach, das ganze Geld, das wir heute ausgegeben haben … das hätten wir auch für andere Dinge verwenden können.“

„Was denn zum Beispiel?“, fragte Mai nun interessiert.

Mai, komm ja nie auf den Gedanken, mich als naiv zu bezeichnen!, konnte ich da nur denken.

„Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der die Menschen oft nicht wissen, ob sie am nächsten Tag genug Geld für Brot haben und dann zu sehen, wie viel Geld für diesen ganzen Luxus so nebenbei zum Fenster rausfliegt … Du bist an ein Leben im Luxus gewöhnt, Mai, darum wirst du, fürchte ich, nicht unbedingt verstehen, was ich meine. Du kennst das nicht.“

Mai nahm ihren vollen Bastkorb vom Arm und musterte mich kurz.

„Ich verstehe dich besser als du glaubst, Alina“, sagte sie zögernd. „Dass ich heute in der Lage bin, ein sorgenfreies Leben zu führen, verdanke ich Yami und Seth. Hätten sie mich nicht bei sich aufgenommen, würde ich vermutlich immer noch im Pariser Untergrund hausen oder meine Asche hätte sich längst in alle Winde verstreut. Ich bin nicht so wie du in die Oberschicht geboren worden. Meine Eltern waren Bauern mit einem winzigen Hof nahe Paris. Und ich hatte mir den, wie ich heute zugeben muss, absurden Wunsch in den Kopf gesetzt, Schauspielerin zu werden. Mit sechzehn habe ich meine Eltern verlassen und bin mit einer Truppe von Schauspielern nach Paris gezogen. Das Ende vom Lied und meines schönen Traumes war, dass mich deren Direktor an ein Bordell verschachert hat. Ich hatte Schulden bei ihm, die hat der Wirt übernommen und ich musste sie bei ihm abarbeiten. Sieben Jahre, kannst du dir das vorstellen?“

Ich senkte den Blick betroffen zu Boden.

„Wenn ich das gewusst hätte, Mai … hätte ich das nie gesagt. Es –“

„Ach, woher solltest du das wissen?“, meinte sie und – ich glaubte es kaum – sie lächelte dabei. „Weißt du, wie es geendet hat?“, fuhr sie fort. „Mein letzter Freier war ein Vampir. Derjenige, der mich gebissen und verwandelt hat. Letzteres noch nicht mal mit Absicht. Ich habe es anfangs für seine Art von Spiel gehalten, damit wäre er nicht der Erste gewesen.“

Mir trieb allein die Vorstellung die Röte ins Gesicht. Ellie hatte mir zwar auch von Zeit zu Zeit ein wenig von ihrer Arbeit berichtet, aber an diese Erzählungen hatte ich mich nie gewöhnen können. Mir war das Thema einfach zu peinlich, um so offen darüber zu sprechen. Ein Glück, dass Mai mit gesenkter Stimme erzählte, wenn die anderen Leute auf der Straße davon etwas mitgekriegt hätten … In der Öffentlichkeit musste man auch auf jedes Wort aufpassen.

„Aber als er dann richtig zubiss, ist mir auch komisch dabei geworden. Er hat mir mit dem Arm den Mund zugehalten, um mich am Schreien zu hindern. Dabei muss er vergessen haben, dass er selbst offene Wunden hatte, ich muss irgendwie selbst angefangen haben zu saugen, auf einmal war jedenfalls sein Blut in meinem Mund … Ich hab erst Tage später begriffen, was mit mir los war, nachdem ich fast von der Sonne gebrutzelt worden wäre. Der Wirt hat mich sofort rausgeworfen, er hat das mit meiner Blässe für ’ne ansteckende Krankheit gehalten.“

„Das hört sich furchtbar an. Ich kann mich nur immer wieder bei dir entschuldigen.“

„Ach“, Mai machte eine wegwischende Handbewegung, „ist Schnee von vorgestern. Ich wollte dir damit lediglich klarmachen, dass ich deine Abneigungen sehr wohl nachvollziehen kann. Auch wenn ich persönlich das sehr gern mal tue, dürfen wir nie vergessen, woher wir stammen, Alina.“ Sie hob wie eine meiner alten Lehrerinnen den Zeigefinger. „Und auch nicht, was uns alles zu dem gemacht hat, was wir sind.“

„Weise Worte.“

„Die wirklich wichtigen Dinge im Leben kannst du eben nicht aus Büchern lernen“, sagte sie. „Sondern durch das Leben selbst. Was deine Freunde angeht, wüsste ich da eine Möglichkeit, wie du ihnen helfen kannst.“

Ich legte meinen ganzen Aufforderungswunsch, sie möge weiterreden, in meinen Blick. Wann hatte sie sich diese dämlichen Kunstpausen angewöhnt?

„Yami zahlt mir monatlich einen bestimmten Betrag aus, über den ich frei verfügen kann. Ein Teil geht nun mal für meine Kleider drauf, das bin ich meiner Repräsentationspflicht schuldig, aber ich spende auch bei mehreren Hilfsorganisationen. Die Methodisten unterhalten zum Beispiel Suppenküchen für die Obdachlosen. Bei dir wird Yami das mit dem Geld genauso machen, das hat er mir zumindest gesagt. Was du hinterher damit anstellst, ist allein deine Sache.“

Der Schatten, der sich durch Mais Erzählung auf mich gelegt hatte, verschwand nun vollkommen. Wenn das so war, wusste ich sogar ganz genau, was ich mit dem Geld machen würde.

„Du musst deine Freunde sehr vermissen. Willst du sie nicht besuchen?“

„Geht das denn?“, fragte ich, halb hoffnungsvoll, halb ängstlich.

„In den ersten Tagen wollten wir dir nur den Übergang etwas erleichtern. Solange du niemandem verrätst, was du bist, kannst du sie so oft sehen, wie du willst.“

„Das …“

Ich schluckte. Ich wollte schon sagen „Das geht nicht“, aber stimmte das überhaupt? Auch wenn ich eine Vampirin geworden war, auch wenn ich mich von meinem Versteck aus von Joey verabschiedet hatte … Es hatte keinen Sinn, mir etwas vormachen zu wollen und mir selbst ein Netz aus Lügen zu spinnen, in das ich mich hüllen, in dem ich mich verstecken konnte. Irgendwann würde es zerreißen und mich der Welt schutzlos aussetzen.

Ich konnte ihnen nicht Lebwohl sagen, zumindest nicht so, ohne mich richtig von ihnen verabschiedet zu haben, von Angesicht zu Angesicht. Wie sollte ich in den kommenden Jahren mit der Gewissheit umgehen, in der gleichen Stadt wie sie zu leben und sie dennoch nie zu sehen? Wie sollte ich mich verhalten, wenn ich ihnen eines Tages durch Zufall auf der Straße begegnete? London war eine Großstadt, doch war es möglich, sich hier für alle Zeiten aus dem Weg zu gehen?

Für mich war das ausgeschlossen.

„Das wäre schön“, kamen endlich die Worte über meine Lippen.

„Na wunderbar, wo wohnen sie?“, fragte Mai mit munterer Stimme und verschob erneut den Korb an ihrem Arm. Das feine Flechtmuster des Henkels zeichnete sich auf ihrem Unterarm ab.

„Du meinst, wir gehen jetzt gleich?“, fragte ich entgeistert.

„Klar, wozu noch lange warten? Genug Zeit haben wir bestimmt noch dafür.“
 

Mein Herz klopfte nervös, als wir auf den Platz vor dem Big Ben zu schritten, wo die Kutscher mit ihren Fahrzeugen standen und auf Kundschaft warteten. Mai schien meine Unruhe nicht aufzufallen, sie war dabei, nach einer passenden Kutsche für uns zu suchen. Selbst da mussten die Frauen aufpassen, wenn sie allein unterwegs waren. Wenn man ohne Begleitung an den falschen Kutscher geriet, konnte die Fahrt statt am gewünschten Ziel auch schnell im Nirgendwo enden. Da fiel mir etwas ein.

„Mai, warte mal“, rief ich ihr zu, warf einen Blick nach links und rechts und huschte über die Straße. „Ich kann nicht einfach so bei ihnen aufkreuzen.“

„Hatten wir das nicht geklärt?“, fragte Mai, die sich eben hatte daran machen wollen, mit dem Kutscher den Fahrpreis auszuhandeln.

„Ich meine damit, ich möchte nicht mit leeren Händen kommen.“

„Also leer sind die sicher nicht“, kicherte Mai und deutete auf meinen Korb.

„Du weißt, wovon ich rede“, brummte ich. „Lass mich wenigstens etwas Obst oder so kaufen.“

„Na schön, aber beeil dich.“

Mai zog ihren Geldbeutel aus der Tasche und drückte mir einige Pfundscheine in die Hand. Nun ließ ich keine weitere Sekunde verstreichen. Ich wusste genau, was ich für sie holen wollte und wo ich die Sachen am besten bekam. Das hier war jahrelang mein Verkaufsgebiet gewesen, ich kannte jede Straße und jedes einzelne Geschäft, auch wenn ich die meisten nie von innen gesehen hatte. Hier kauften fast nur die besser situierten Leute ein und entsprechend waren die Preise für die einfache Bevölkerung eine ganze Ecke zu hoch. Wenn die Waren allerdings nicht mehr einwandfrei waren, schickten die Händler mitunter ihre Laufburschen mit den Sachen auf die Straße, so dass auch mal Wurst oder Gemüse erschwinglich wurden.

Zu meinem Glück hatten die Geschäfte heute etwas länger auf. Ich ging als erstes zum Bäcker, um Brot und Kekse zu holen, beim Händler nebenan gab es frische Milch. Um die Sachen unterzubringen, räumte ich meinen Korb etwas um. Dann ging es zum Schlachter weiter. Ich wusste ja, wie verrückt Joey nach Pastete war. Als letztes wandte ich mich dem Obst- und Gemüsehandel zu. Das Geld klimperte fröhlich in meiner Handtasche. Endlich hatte ich genug davon, um nicht nur ein paar angefaulte Äpfel kaufen zu können.

Das Verhalten des Händlers war mir gegenüber ganz anders, als ich es von ihm gewöhnt war. Sonst immer kurz angebunden, erlebte ich ihn jetzt als einen Ausbund der Höflichkeit. Konnte die Kleidung eine Person und das Verhalten anderer ihr gegenüber so sehr verändern? Ja, allerdings. Es hieß nicht umsonst „Kleider machen Leute“.

Ich brauchte erst einige Minuten, um das Angebot richtig mustern zu können. Heute konnte ich das mit ganz anderen Augen tun als früher. Die Frage hieß nicht: „Was kann ich mir leisten?“, sondern: „Was möchte ich haben?“. In den Körben und Kisten stapelten sich die Äpfel, Orangen, Zitronen, Birnen … Ich konnte gar nicht alles aufzählen und ebenso wenig alles mit Namen benennen. Manche Sorten waren mir völlig unbekannt und mussten ihrem exotischen Aussehen nach einen weiten Weg hinter sich haben. Gar nicht zu einfach, wenn man sich plötzlich so vielen Möglichkeiten gegenüber sah.

Um Ordnung da reinzukriegen, versuchte ich das Ganze von der praktischen Seite anzugehen. Sie brauchten keine exotischen Spezialitäten, viel mehr Lebensmittel, die sich gut lagern ließen. Bald stapelten sich auf der Ladentheke Tüten mit Äpfeln, gemischten Nüssen, Orangen, Karotten, Zwiebeln, Kartoffeln … Und ich fragte mich, wie ich das ganze Zeug zu ihnen kriegen sollte. Die Karotten konnte ich noch im Korb unterkriegen, der Rest wanderte in zwei große Papiertüten, mit denen ich das Geschäft voll bepackt verließ. Ich war vom Big Ben zwei Straßen entfernt. Hoffentlich suchte Mai mich nicht.

An der Ecke zur Parliament Street musste ich anhalten und meine Einkäufe auf den Boden stellen, um ein paar Sekunden zu verschnaufen. So schwer war ich nicht mal im Hochsommer mit meinem prall gefüllten Blumenkorb bepackt gewesen. Ich zog aus meiner Handtasche ein Taschentuch hervor und tupfte mir die Stirn ab. Als ich es zurücksteckte, glitten meine Finger über den kleinen Beutel, in den ich das übrig gebliebene Geld gesteckt hatte. Trotz meines Großeinkaufs war es weit mehr als die Hälfte dessen, was Mai mir gegeben hatte. Ich lächelte zufrieden. Den Rest würde ich ihnen so geben, es gab mehr als genug Sachen, die sie dringend brauchten.

Ja, es war eindeutig ein Vorteil, wenn man wusste, wo man qualitativ gute Ware bekam, ohne horrende Preise dafür bezahlen zu müssen. Da machte sich mein langes Leben hier bezahlt. Allerdings wusste ich aus dem gleichen Grund auch, dass man in dieser Gegend gut auf seine Sachen aufpassen musste, wenn man nicht zum Opfer eines Langfingers werden wollte.

Als ich mich nach dem Korb bückte, bemerkte ich aus dem Augenwinkel einen Schatten, der sich vorsichtig auf mich zu bewegte. Ich kannte die Bewegungen, hatte sie schon hundertmal selbst gesehen – nur hatte ich mich dabei nicht in der Position des Opfers befunden, sondern war dabei, meine Blumen zu verkaufen.
 

Er blieb zwei Meter von ihr entfernt stehen und drückte sich gegen die Steinmauer. Sie schien ihn nicht bemerkt zu haben, umso besser.

Also, was haben wir denn da Schönes …volle Einkaufstüten, eine unbewachte Handtasche … Hä, seit wann schicken die feinen Pinkel ihre Töchter selbst zum Einkaufen?

Er zuckte mit den Schultern. Solange er an das Geld kam, konnte ihm das egal sein. Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Das Geld der Kleinen würde seine letzte Arbeit für heute sein. Es war ohnehin spät, für ihn wurde es Zeit, nach Hause zu gehen.

Die letzten Schritte legte er auf Zehenspitzen zurück. Seine Hand streckte sich nach der Handtasche aus und öffnete mit einem Klicken, das so leise war wie das Flüstern einer Maus, den Verschluss. Die Finger des jungen Diebes glitten geschickt und ohne hastige Bewegungen, die ihn verraten hätten, in das Innere der Tasche. Ein kurzes Tasten und er fühlte den bestickten Stoff, der das ersehnte Geld umschloss. Er packte den Beutel an den Schnüren, mit denen er zugezogen wurde, und hob ihn an diesen vorsichtig heraus. In seinen Augen glitzerte es begehrlich. Wenn das nicht eine hübsche Ausbeute war …

„Ich dachte, du bestiehlst deine Freunde nicht, Joey Wilkins!“

Sein Herzschlag setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus. Er schrak derart heftig zusammen, wie es ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert war. War diese Stimme gerade Einbildung gewesen oder war das … Er konnte eben noch den Schrei unterdrücken, der ihm über die Lippen schlüpfen wollte. Sie drehte sich zu ihm und sah ihn mit ihren blaugrünen Augen fragend an.

„A-Alina ...“, stammelte er.

Das … das glaube ich nicht …

Der Geldbeutel fiel ihm aus der Hand und landete mit einem dumpfen Klirren zu seinen Füßen auf dem Steinpflaster.
 

Ich beugte mich zu Joey vor und betrachtete amüsiert seine fassungslose Miene. Meine Angst vor dem Treffen mit meinen Freunden war auf einmal wie weggewischt. Das Gesicht, das er machte, war einfach zu komisch. So durch den Wind hatte ich ihn in all den Jahren, seit wir uns kannten, noch nie erlebt, dieser Augenblick war schlicht unbezahlbar. Aber langsam erinnerte er mich mehr an eine Salzsäule. Ich fuchtelte mit der Hand vor seinen Augen herum, der leere Ausdruck verflüchtigte sich allmählich. Wenigstens wusste ich jetzt, dass er noch lebte und ihn nicht der Schlag getroffen hatte.

„Du …“, er deutete mit dem Finger auf mich, „du bist … bist du ’n Geist?“

Mir entgleisten regelrecht die Gesichtszüge, als ich ihn das sagen hörte und ich stützte mich vorsichtshalber an der Hausmauer ab, sonst wäre ich umgefallen.

Na warte, Joey, dir werde ich zeigen, was ein Geist ist!

Meine Hand traf hart auf seinen Arm. Ups, vielleicht etwas zu hart, wie ich an seinem schmerzverzerrten Gesicht merkte. Ich hatte nicht daran gedacht, dass mich das Vampirblut auch körperlich stärker gemacht hatte, selbst wenn ich davon bisher kaum etwas gespürt hatte. Das würde morgen wohl einen dicken blauen Fleck geben.

„Glaubst du immer noch, dass ich ein Geist bin?“, fragte ich.

Meine kleine Schocktherapie musste angeschlagen haben, denn Sekunden darauf fand ich mich in einer festen Umarmung meines Freundes wieder. Ich tippte ihm auf die Schulter.

„Nicht ganz so fest, Joey, ich kriege keine Luft.“

Er löste sich von mir und – ich konnte es kaum glauben, aber wahr –

in seinen Augen schimmerten dicke Tränen.

„Alinchen, das bist ja wirklich du. Lass dich knuddeln, Kleines!“

Und schon hatte er mich wieder an sich gedrückt, was ich nur zu gern erwiderte.

„Ich hab dich überall gesucht“, flüsterte Joey, „aber ich hab keine Spur von dir gefunden. Wo warst du denn?“

Er hielt mich ein Stück von sich weg und ließ seine Augen über mich gleiten. Ich musste nicht erst seine Gedanken lesen, um zu sehen, wie es in ihm arbeitete.

„Und was hast du da an?“, stieß er dann hervor.

Auf die Reaktion hatte ich schon gewartet. Er kannte mich nur in den wenigen Kleidern, die Marias Mutter für mich geschneidert hatte.

„Weißt du, es haben sich ein paar Sachen verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.“

„Das ist nicht zu übersehen. Ich meine … Wow, du siehst aus wie eine von diesen höheren Töchtern.“

Okay, Alina, fang schon mal an zu beten, dass er dich danach nicht auch so hasst wie die anderen aus unseren Kreisen.

„Ich hab dir eine Menge zu erzählen, Joey, aber nicht hier. Können wir zu dir gehen?“

„Was – klar! Maria wird ausflippen, wenn sie dich sieht. Los, komm … Äh, ist was?“

„Ich bin nicht allein hier. Bevor wir gehen, muss ich Mai Bescheid sagen. Die wird sich eh fragen, wo ich so lange bleibe. Kannst du mir kurz beim Tragen helfen?“

Ich deutete auf die prall gefüllten Papiertüten. Joey bückte sich und hob sie mit einem leisen Ächzen auf.

„Mann, sind die schwer, hast du da Backsteine drin?“

„Nö, Obst für euch“, antwortete ich vergnügt.

Meine gute Laune war endgültig zurück, auch wenn der schwerste Teil, nämlich ihm und Maria von meiner Vergangenheit zu erzählen, noch vor mir lag. Der arme Joey tat mir richtig leid, wie er da vor mir stand und nicht mehr kapierte, was da gerade vor sich ging. Ich nahm meinen Korb auf und ging das letzte Stück mit ihm gemeinsam. Mai kam uns aufgeregt entgegen.

„Da bist du ja, ich hab dich überall gesucht, Alina!“, rief sie schon von weitem. „Ah, pass auf, der klaut deine Einkäufe!“

Erst wusste ich überhaupt nicht, was sie meinte. Das änderte sich jedoch schnell, als ich den Polizisten entdeckte, den Mais Ruf alarmiert haben musste. Er baute sich vor uns auf, den Knüppel in der Hand.

„Werden Sie von dem Kerl belästigt, Miss?“

Ich folgte seinem Blick und verstand den Grund für den Aufruhr. Joeys Hand lag auf meiner Schulter und ich hatte meinen Hut, der durch unsere stürmische Begrüßung verrutscht war, nicht wieder richtig aufgesetzt. Ich hob abwehrend die freie Hand.

„Danke, aber es ist alles in Ordnung, ich kenne den Herrn.“ Als sich der Polizist nicht bewegte, fügte ich mit Nachdruck hinzu: „Es ist wirklich so. Sie können gehen.“

Mit einem letzten misstrauischen Blick auf Joey ging er weiter und wir konnten zu Mai.
 

„Als du sagtest, du willst etwas Obst kaufen, dachte ich eigentlich nicht, dass du gleich den ganzen Laden leer räumst.“

Die kräftige Frauenstimme war Joey unbekannt. Das musste diese Mai sein, die Alina erwähnt hatte.

Klingt ja ganz sympathisch, dachte er. Ich sehe überhaupt nix. Blöde Tüten.

Vorsichtig balancierend, damit das Papier nicht aufriss und sich sein vitaminreicher Inhalt auf die Straße ergoss, verlagerte er seine Tüten so, dass er besser über den Rand sehen konnte. Zum zweiten Mal an diesem Abend konnte Alina erleben, wie es ihrem Freund die Sprache verschlug. Sein Blick wanderte über den blassvioletten Stoff von Mais Kleid, unter dem sich ihre schlanke Gestalt abzeichnete, über die aufgesteckten blonden Haare, auf denen ein kleiner, kecker Hut saß und schließlich zu ihren amethystfarbenen Augen, an welchen er hängen blieb.

Wow … was für’n heißer Feger!

„Klappe!“, murmelte Mai.

„Hä? Ich hab doch gar nichts gesagt“, äußerte er sich verdutzt.

„Wenn ich mal vorstellen darf“, unterbrach ihn Alina, bevor er Gelegenheit bekam, seine Gedanken zu weit abschweifen zu lassen, „das ist mein bester Freund Joey Wilkins. Und dies ist Mai de Lioncourt, meine Schw … ähm … eine gute Freundin meiner Mutter.“

Mai sah ihn ein wenig pikiert an, als sie ihm die Hand hinstreckte, auf die Joey ganz gentlemanlike einen Handkuss hauchte. Seine Gedanken waren ihr nicht entgangen, sie wusste bloß nicht, ob sie sich geschmeichelt fühlen oder darüber verärgert sein sollte.

„Es ist mir eine Ehre, Madam“, sagte Joey.

„Ich bin nicht verheiratet, also bitte nicht diese Anrede. Wenn man mich so nennt, fühle ich mich immer so alt“, erwiderte sie.

Alina kicherte bei diesen Worten.

Hab ich den Witz verpasst?, fragte er sich. Frauen … das große Rätsel der Menschheit – zumindest der männlichen Hälfte.

„Hast du eine Kutsche für uns gefunden?“, erkundigte sich Alina.

„Was, ’ne Kutsche?“

„Wenn es dir lieber ist, das ganze Zeug zu schleppen“, meine Mai schulterzuckend, „kannst du natürlich laufen. Ich für meinen Teil ziehe es vor, zu fahren.“
 

Die Kutsche hielt in einer Straße, die meinem Wissen nach in der Nähe von Joeys Wohnung lag. War ja klar, daraus machte er immer gern ein Geheimnis. Wenn er seinen Wohnsitz behalten wollte, blieb ihm eben keine Wahl. Es war ohnehin ein Wunder, das ihn bis heute niemand dort entdeckt hatte. Wir hatten die ganze Fahrt über geschwiegen. Ich hatte mir Gedanken gemacht, wie ich meine Freunde über meine veränderten Lebensumstände aufklären sollte und was Joey und Mai anging …

Ich hatte sie während unserer Fahrt eine Weile beobachtet und ich hätte mich schütteln können vor Lachen. Beide musterten sich gegenseitig abwechselnd und versuchten dies stets so zu handhaben, dass der andere nichts davon mitbekam. Wie zwei Katzen, die um den Sahnetopf herumstreichen ... oder umeinander.

Den Rest des Weges legten wir zu Fuß zurück. Joey sah sich mehr als einmal um, ob uns jemand folgte. In dieser Gegend waren Mai und ich mit unseren Kleidern etwas zu auffällig. Wir schlüpften durch das Loch im hinteren Bereich des Lagerhauses und gingen über die Treppen ins oberste Stockwerk. An der schmalen Treppe, über die man zum Dachboden gelangte, stellten sich unsere Röcke dann als echtes Problem heraus. Wer jemals versucht hat, in einem von Reifen gestützten Kleid und gestärkten Unterröcken eine Hühnerleiter zu erklimmen, weiß, wovon ich rede.

„Okay, dann klettert ihr hoch und ich halte so lange die Leiter“, sagte Joey nach dem dritten missglückten Versuch unserer Besteigung des Stockwerks.

„Du willst uns wohl unter die Röcke gucken!“, beschwerte sich Mai bei ihm und setzte ihm den Zeigefinger auf die Brust.

„Nicht doch“, sagte er und hob entschuldigend die Hände. „Und bitte nicht so laut, Mai, du hast … ähm, ein lautes Organ und ich möchte hier drin keine Wachmänner haben.“

Ich konnte deutlich sehen, wie sich auf ihrer Stirn ein Zornfältchen bildete. Bevor sich die beiden richtig an den Kragen gehen konnten, trat ich zwischen sie.

„Das reicht. Wenn Joey uns nicht hilft, kommen wir nie nach da oben und du, Joey, machst die Augen zu.“

„Aber –“

Der Blick, mit dem ich ihn bedachte, ließ ihn verstummen. Er nickte, packte die Leiter und schloss tatsächlich die Augen. Manchmal hatte ich ihn eben gut unter Kontrolle. Mai hingegen schien ihm noch nicht sonderlich zu vertrauen und blickte durch die Leitersprossen nach unten. Hätte sie das nur nicht getan. Ich war gerade durch die Luke gekrochen, als ich sah, wie ihr Fuß die nächste Sprosse verfehlte und sie den Halt verlor. Es gab ein lautes Krachen, ein Rauschen von Stoff und kurz darauf ein zweifaches schmerzhaftes Stöhnen.

„Alles in Ordnung bei euch?“

„Ich bin weich gelandet“, gab Mai zurück.

„Ja, auf mir.“

Joey hob die rechte Hand, sehr viel mehr war von ihm nicht zu sehen. Mai hatte natürlich nichts Besseres zu tun gehabt, als genau auf ihm zu landen.

„Kannst du bitte von mir runtergehen, Mai? Dein Knie ist da an ’ner etwas empfindlichen Stelle.“

„Soll ich euch vielleicht allein lassen?“, fragte ich scheinheilig.

„Sehr witzig!“, sagte Mai, wurde zu meinem Erstaunen aber ein bisschen rot um die Nasenspitze.

Sie stieg vorsichtig von Joey herunter und klopfte sich den Staub aus den Kleidern. Dann kletterten die beiden nacheinander die Leiter hoch. Joey rieb sich den Kopf. Wenn er von dem Schlag keine Gehirnerschütterung bekam, lag das an seinem Dickschädel. Es wunderte mich, dass Maria bislang nicht auf uns aufmerksam geworden war, dabei hatten wir genug Krach für eine ganze Wildschweinrotte veranstaltet.

Das klärte sich, als ich die Vorhänge zurückschob, die den Schlafbereich vom Rest des Bodens abtrennten. Maria saß mit ihrem kleinen Bruder Michel auf dem Bett und erzählte ihm eine Geschichte. Ich bedeutete Joey und Mai mit einem kurzen Zeichen, ruhig zu sein.

„… Und dann teilte sich vor dem Prinzen die Rosenhecke und ließ ihn in das Schloss. Er stieg den Turm hinauf und fand die Prinzessin in einer Kammer, neben ihr lag noch die Spindel, an der sie sich gestochen hatte.“

Das hätte ich mir denken können. Dornröschen war Marias Lieblingsmärchen. Vor ein paar Jahren hatte ich noch an ihrem Bett gesessen und ihr Geschichten erzählt, wenn sie über Nacht bei mir geblieben war.

„Dann küsste er die schlafende Prinzessin und sie wachte auf. Die beiden feierten Hochzeit und lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende“, beendete ich das Märchen und trat hinter dem Vorhang hervor.

„Alina!“

Maria sprang vom Bett auf und fiel mir so stürmisch um den Hals, dass sie mich um ein Haar zu Boden gerissen hätte. Ich drückte sie an mich und dieses Mal war ich diejenige, der ein paar Freudentränen die Wange hinabrollten. Wir waren nur wenige Tage voneinander getrennt gewesen, mir kam es wie Jahre vor und ihr schien es ebenso zu gehen.

„Wo warst du die ganze Zeit? Joey wollte mir nichts sagen.“

„Das konnte er nicht, weil er selbst nicht wusste, wo ich war“, antwortete ich und setzte mich mit ihr aufs Bett. Mai und Joey nahmen auf dem anderen Platz, eine andere Sitzgelegenheit gab es nicht.

„Wer ist das?“, fragte Maria und sah zu Mai hinüber.

„Sie war mit meiner Mutter befreundet“, sagte ich. „Also, ihr zwei … ich muss euch da was sagen. Eigentlich sogar eine ganze Menge. Ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll … Joey, als du mich damals gefragt hast, woher ich komme, habe ich dir nicht geantwortet und danach hast du mich nie wieder gefragt.“

„Du standest unter Schock und wen interessiert schon, ob dein Vater ein Bäcker oder ein kleiner Händler war.“

Meine Finger beschäftigten sich abwesend mit den Falten meines Kleides und fügten dem Stoff noch einige hinzu.

„Mit dem Händler liegst du schon richtig, aber … meine Familie gehörte früher zu den größten Stoffhändlern Englands.“

„Habt ihr etwa hinter der Gardner-Corporation gesteckt? Bei denen hat mein ...“, er räusperte sich, „Vater mal gekauft.“

„Ja. Das war unsere Firma, bis wir ruiniert und meine Eltern ermordet worden sind. Verzeih mir bitte, dass ich dich über meine Herkunft getäuscht habe.“

„Ich hätte mir eigentlich damals selbst denken können, dass du nicht aus ’nem einfachen Haushalt stammen kannst“, sagte Joey. „Dein Benehmen war dafür viel zu gut. Und was ist der wahre Grund, dass du weggelaufen bist?“

„Was das angeht, habe ich dich nicht angelogen. Dass mich mein Vormund in ein Arbeitshaus stecken wollte, ist die Wahrheit.“

„Und wie kommt es dann, dass du plötzlich so …“, er deutete auf meine Kleider, „so rumläufst wie eine feine Dame?“

„Ich habe vor ein paar Tagen auf dem Heimweg alte Freunde meiner

Eltern getroffen. Sie hatten meinem Vater versprochen, sich um mich zu kümmern, wenn ihnen etwas zustößt. In den vergangenen Jahren fehlte ihnen die Möglichkeit dazu, aber diesem Versprechen wollen sie nun nachkommen. Ich wohne bei ihnen … in meinem alten Elternhaus.“

„Es wird Zeit, dass Alina die Ausbildung bekommt, die ihr zusteht“, fügte Mai hinzu. „Darum kümmere ich mich.“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, murmelte Joey.

„Ich hoffe, du bleibst weiterhin mein Freund.“ Ich stand auf und trat vor ihn. „Auch wenn ich jetzt keine Blumen mehr verkaufen muss. Ich weiß ja, dass du was gegen die Reichen hast.“

Joey starrte lange schweigend vor sich hin, ehe er den Kopf hob und mich ansah.

„Du bist nach wie vor Alina, oder?“

„Ich werde nie jemand anderes sein, Joey.“

„Das ist alles, was ich wissen muss“, erwiderte er und erhob sich.

Joey nahm meine Hände in seine und blickte mich durchdringend an.

„Du bist meine beste Freundin, da ist es mir egal, ob du ein Wollkleid oder eins aus Seide trägst. Weißt du, ich dachte immer, alle Reichen sind eingebildet und denken nur an sich selbst. Wie ich sehe, gibt es Ausnahmen.“

In mir machte sich eine unendliche Erleichterung breit. Er akzeptierte, dass ich anders war, aber eben nur äußerlich. Im Inneren war ich die Gleiche. Die gesellschaftliche Stellung eines Menschen – oder in meinem Fall eines Vampirs – sagte nichts über den Charakter desjenigen aus.

Ich umarmte ihn überglücklich. Gleich darauf bemerkte ich ein zaghaftes Zupfen an meinem Rock. Maria stand neben uns. Joey und ich öffneten unsere Umarmung und zogen sie zu uns. Diese Dreierumarmung machten wir immer, wenn wir uns über etwas ganz besonders freuten.

„Ihr seht aus wie eine glückliche Familie“, meinte Mai und lächelte

uns zu.

„Sind wir auch“, sagte Maria. „Joey ist mein großer Bruder und Alina meine große Schwester. Und …“

Plötzlich reckte sie ihre kleine Stupsnase in die Höhe und schnupperte.

„Was riecht hier so gut? Bist du das, Alina?“

Süß … süß wie Zucker … Die Plätzchen!, fiel es mir ein.

In dem ganzen Trubel darüber, wie Mai und ich die Leiter heraufkamen, hatten wir die Körbe und Tüten an ihrem Fuß stehen lassen.

„Ich hab euch was mitgebracht. Joey, bist du so lieb und holst die Sachen rauf? Ich brauche mit dem Rock leider beide Hände zum Klettern.“

„Dann komm mit und nimm mir die Sachen oben ab.“

Maria begann unruhig auf und ab zu hopsen. Joey stieg ein Stockwerk tiefer und beförderte nacheinander unser gesamtes Gepäck nach oben. Maria und Michel machten große Augen, als ich nach und nach die Einkäufe aus ihren Verpackungen befreite und auf dem Bett ablegte.

„Ist das alles für uns?“

Maria sah mit schon fast ehrfürchtig zu nennender Miene das Gemüse an.

„Oh, lecker!“

Michel hatte die Kekse entdeckt. Jetzt gab es für die zwei Kleinen kein Halten mehr. Sie rissen mir beinahe die Tüte aus der Hand.

„Nicht zu viel auf einmal, ihr verderbt euch noch den Magen“, warnte ich. „Es ist genug da, also nicht so hastig.“

Ich kam mir wie Santa Claus an Weihnachten vor. Na ja, das rote Kostüm, der Rauschebart, der dicke Bauch und der Geschenksack fehlten, aber ich glaube, ich habe ihre Augen noch nie zuvor so leuchten sehen wie an diesem Abend.

„Das hättest du nicht tun müssen, Alina“, sagte Joey.

„Auf die Art kann ich mich endlich bei euch revanchieren“, erwiderte ich. „Ihr habt so viel für mich getan, besonders du, Joey. Ohne dich

hätte ich nicht mal den ersten Monat überlebt.“

Ich fischte aus meiner Handtasche den Geldbeutel heraus und streckte ihn Joey hin.

„Teil das bitte mit Maria und kauf ihrer Mutter davon Medizin.“

„Ja, aber –“

„Bitte, Joey. Ich kann es mir zum ersten Mal leisten, wirklich freigiebig zu sein. Die Freunde meiner Eltern kümmern sich gut um mich, aber nur weil ich jetzt in einem warmen Zimmer sitzen darf, habe ich nicht vergessen, wie das ist, sich im Winter in alle Decken zu hüllen, die man hat, und trotzdem zu frieren. Oder mit knurrendem Magen einzuschlafen.“

„Alina, wo du das gerade mit dem knurrenden Magen erwähnst …“

Ich sah zu Mai hinüber. Sie war aufgestanden und winkte mich zu sich.

„Ich denke, wir sollten gehen.“

„Aber ihr seid doch erst gekommen“, warf Joey ein. „Wenn du Hunger hast, nimm dir was von der Pastete, Mai, die ist lecker. Alina, du hast ’nen guten Geschmack.“

Damit schnitt er sich mit dem Messer ein weiteres Stück von der Hähnchen-Pastete ab und stopfte es sich mit einer Scheibe Brot in den Mund. Mai beugte sich zu mir. Ihre Worte waren so leise, dass nur ich sie verstehen konnte – was gut war, denn was sie sagte, jagte mir einen leichten Schauer über den Rücken.

„Wenn wir nicht bald gehen, kann ich nicht für die Unversehrtheit deines Freundes garantieren, Alina. Der Junge sieht zum Anbeißen lecker aus. Und für dich wird es auch Zeit, was zu trinken.“

Meine Hand legte sich eher unbewusst auf meinen Bauch, in dem es verdächtig grummelte. Bei der vielen Aufregung, erst durch den Einkaufsbummel, dann durch unser Treffen, hatte ich völlig die Zeit vergessen. Es war viele Stunden her, seit wir zuletzt einen Schluck Blut zu uns genommen hatten. Außerdem war dies die Zeit, in der wir uns sonst zur Jagd begaben.

Ich blickte Joey, Maria und Michel an. Kam es mir nur so vor oder trat Joeys Halsschlagader auf einmal stärker hervor? Oder war es der in mir aufsteigende Durst, der mir das vorgaukelte? Das war nicht gut, überhaupt nicht.

Okay, ich muss wohl neue Regeln für den Umgang mit meinen Freunden aufstellen. Erstens: Die andern nur besuchen, wenn ich was getrunken habe. Zweitens: Nicht verraten, dass ich eine Vampirin geworden bin, Mai auch eine ist und wir in einem Vampirhaushalt leben. Drittens: Auf gar keinen Fall wieder durstig zu Joey kommen!

Ich schlüpfte in Windeseile in meinen Mantel und nahm meinen Korb an mich.

„Es tut mir leid, Leute, aber ich muss wirklich gehen.“

„Du besuchst uns doch wieder, oder?“, fragte Maria.

„Natürlich.“

Ich strich ihr über den schwarzen Haarschopf, der zu einem strengen Zopf geflochten war.

„Aber wo können wir dich erreichen?“, erkundigte sich Joey hastig. „Falls was ist.“

„Ich wohne in der Victoria Road vierzehn“, antwortete ich. „Ach, da fällt mir noch was ein. Du könntest mir noch einen Gefallen tun, Joey. Eigentlich wollte ich es selbst machen, aber ich hab tagsüber keine Gelegenheit nach draußen zu kommen und abends erwische ich Ellie so schwer. Außerdem … es würde ein schlechtes Licht auf meine Bekannten werfen, wenn ich mich abends in Whitechapel herumtreiben würde. Worauf ich hinaus will, kannst du zu Ellie gehen und ihr sagen, dass sie wegen dieses Rippers aufpassen soll? Ich mache mir große Sorgen um sie.“

„Klar, mach ich, hab sie selbst ’ne ganze Weile nicht mehr besucht. Soll ich euch noch runterbringen?“

„Nicht nötig, Joey, wir finden selbst raus“, sagte ich. „Maria, grüß deine Mutter von mir. Ich hoffe, es geht ihr bald besser.“

Ich musste an mich halten, nicht zu schnell zur Falltür zu gehen. Bei Gott, ich wollte nur noch hier raus. Für Sekunden auch nur mit dem Gedanken gespielt zu haben, dass das, was meinen Durst stillte, auch in meinen Freunden floss, erschreckte mich zutiefst.

Die Treppe herunterzukommen ging eine ganze Ecke besser als der Hinweg, obwohl ich jede Sprosse mit dem Fuß ertasten musste. Mai und ich kamen ungesehen durch das Mauerloch nach draußen. Bis zum nächsten Kutschenstand waren es ein paar Straßen. Mai schritt mit aufrechter und selbstbewusster Haltung neben mir hier. Alleine hätte ich solche Straßen wahrscheinlich gemieden, die schlechte Beleuchtung machte sie ideal für Hinterhalte und so kam es, dass ich an diesem Abend die zweite Begegnung mit einem Straßenräuber hatte. Für ihn war es allerdings Pech, sich ausgerechnet uns ausgesucht zu haben.

Er war Mai aufgefallen, kaum dass wir in die Straße eingebogen waren. Sie ließ sich zurückfallen, nachdem sie mich darauf aufmerksam gemacht hatte, dass man uns beobachtete. Ich hörte die Schritte des Mannes, wie er mir folgte. Als ich mich zu ihm umdrehte, tauchte Mai hinter ihm auf. Ein kurzer Schlag in den Nacken reichte, um ihn zu betäuben.

Ich hatte in der Zwischenzeit verstanden, dass es sinnlos war, sich gegen den Beißinstinkt zu wehren, weshalb auch ich mir meinen Teil nahm, aber eben nur so viel, dass der Mann nicht gefährdet wurde.

„Du beißt immer noch nicht gern Menschen, hab ich Recht?“, fragte Mai. Ich wischte mir den Mundwinkel ab.

„Ich tue es nur, weil es nötig ist, um zu überleben. Ich kann diesen verdammten Drang nicht abstellen.“

„Du musst lernen, ihn als Teil von dir zu akzeptieren, das macht es leichter. Mir ging es anfangs auch so. Ich habe tagelang versucht, ohne Blut auszukommen und bin immer schwächer geworden. Am Ende habe ich einen Mann angefallen und ihn leer getrunken. Du siehst, es ist nicht gut, es zu unterdrücken, sonst überrollt es dich irgendwann. Aber wenn du deinem Durst immer ein wenig nachgibst, behältst du die Kontrolle.“
 

Die Kutsche hielt vor dem Eingang zu unserem Grundstück in der Victoria Road. Mai bezahlte dem Kutscher die Summe, die sie vorher mit ihm ausgemacht hatte. Nach diesen ereignisreichen Stunden freute ich mich darauf, nach Hause zu kommen und noch mehr, Yami zu sehen. Ich stellte mir das schrecklich vor, den ganzen Tag im Büro hocken zu müssen und sich mit dem Papierkram, nervigen Angestellten und anderen Sachen herumzuschlagen. Er war sicher längst zu Hause. Spät genug war es ja. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er nach einundzwanzig Uhr noch im Büro saß. So verrückt wäre höchstens Seth, wenn ich mich richtig an das erinnerte, was Mai mir erzählt hatte.

„Dein Freund, dieser Joey, scheint ja ganz nett zu sein“, sagte Mai.

Sie hatte während unserer Fahrt die meiste Zeit still aus dem Fenster geschaut.

„Er ist der liebste Mensch, den ich kenne und er schafft es immer, einen aufzuheitern. Er ist für mich wirklich wie ein Bruder.“

„Und nichts anderes?“, hakte Mai nach.

Die Frage brachte mich zum Grinsen.

„Mai, kann es sein, dass du dich für ihn interessierst?“

„So ein Unsinn, wie kommst du da drauf?“

Ihre Antwort kam für mein Empfinden fast zu schnell und so ganz echt schien mir ihre Empörung über meine Vermutung auch nicht.

„Und wer hat ihn als zum Anbeißen lecker bezeichnet?“

„Du weißt, dass ich was anderes gemeint habe, Alina.“

Ja, ja, Mai … Die leichte Röte verriet sie trotzdem. Da konnte ich nur hoffen, dass sich da nichts entwickelte. Eine Beziehung zwischen Mensch und Vampir – ging das überhaupt? Ich nahm mir vor, Joey zu warnen, falls er jemals erwähnen sollte, Interesse an Mai zu haben.

„Sag mal, wir haben keinen Hund, oder?“, fragte Mai auf einmal.

„Nicht, dass ich wüsste. Es sei denn, Yami hätte sich heute einen zugelegt. Warum?“

Mai deutete auf den im Halbdunkel liegenden Eingangsbereich des Hauses.

„Wenn das kein Hund ist … was liegt dann auf unserer Treppe?“

Ich musste zweimal hinsehen, bis ich erkannte, dass das große dunkle Etwas, das auf den Stufen lag, ein Mann war. Und der Umhang, den er trug, kam mir sehr bekannt vor.

In der Eingangshalle ging das Licht an, unsere Heimkehr war wohl bemerkt worden. Im schwachen Schein, den die Lampen bis auf die Treppe warfen, erkannte ich ein dunkles Haarbüschel. Mai und ich waren mit wenigen Schritten bei ihm, zogen den Stoff beiseite und drehten ihn um. Im gleichen Augenblick ging die Haustür auf und Yami trat heraus.

„Warum kommt ihr jetzt erst heim, Al –“, setzte er an, verstummte jedoch, als er uns sah.

Die Financial Times, die er in der Hand gehalten hatte, landete auf dem Boden. Er stürzte die Treppe herunter und zu dem Bewusstlosen, dessen lange, feingliedrige Finger sich noch um den Bund mit den Hausschlüsseln krallten. Seine Haut war schneeweiß.

Vor uns lag Seth.
 


 

*Was denkst du?
 

Puh, und wieder ein Kapitel fertig. Wie schon erwähnt hatte ich so eine lange Pause überhaupt nicht vor, aber mir ist keine Wahl geblieben. Im Urlaub war ich mit meinem Roman beschäftigt bzw. hatte bei Fullmoon ein Ideentief und die paar Tage danach, bevor ich ins Praktikum gefahren bin, sind für andere Dinge draufgegangen. In Frankreich bin ich übrigens immer noch, aber ich hab im Büro nicht mehr so viel zu tun und da hat es endlich wieder klick bei mir gemacht.

Zum Kapitel:

Ich habe ja schon einige Anfragen von euch gekriegt, wann Seth denn wieder auftaucht – und bitte schön, hier ist er. ^^ Vorher musste ich mich zu viel mit Yami und Alina beschäftigen, aber jetzt wird er wieder mitmischen.

In diesem Sinne und mit der Bitte um eure Kommentare …
 

Liebe Grüße,
 

Eure Moonlily

Pleiten, Pech und Seth Kaiba - Welcome to hell, Seth

*durch geschlossenen Vorhang lins* *Leser sieht und Kapitel ableg* *davonschleichen will*

Seth: „Wo willst du denn hin, Lily?“

Autorin: „Mist, doch erwischt.“

Yami: *kommt von der anderen Bühnenseite* Raus mit dir und erklär deinen Lesern mal deine Verspätung. *auf die Bühne schubst*

*räusper*
 

Also ... Ja, ich weiß, ich hatte euch letztes Mal versprochen, es nicht so lange dauern zu lassen, zumal bei dem Cliffhanger ... Und dann hat mir meine geliebte Uni wie üblich dazwischengefunkt, mitsamt Prüfungen, überraschenden Hausarbeiten und anderen Nettigkeiten. Und heute in fünf Tagen befinde ich mich schon fast auf dem Weg nach England, in Alinas Heimat, um dort mein Auslandssemester zu machen. Wie oft ich in den nächsten vier Monaten deshalb online gehen kann, weiß ich leider bisher nicht, aber wenn ich irgendwie Zeit finde, an Fullmoon weiterzuarbeiten, werde ich das auch tun.

Und nun: Vorhang auf!
 


 

Kapitel 17

Pleiten, Pech und Seth Kaiba – Welcome to hell, Seth
 

„Seth! Hey, Seth, wach auf!“

Yami tätschelte ihm die Wange, doch er kam nicht zu sich.

„Mai, Alina, helft mir mal, ihn ins Haus zu tragen. Hier draußen ist es zu kalt.“

Er fasste ihn unter den Armen, Mai und ich packten je eines seiner langen Beine. Zu dritt gelang es uns, Seth die Verandatreppe herauf- und durch die Eingangshalle zu schleppen. Sein langer, schwerer Umhang schleifte dabei über den Boden und polierte selbigen.

„In den Salon mit ihm“, sagte Yami.

Anscheinend hatte er dort bis eben gesessen, im Kamin prasselte ein Feuer, einer der Sessel war verrückt und auf dem kleinen Beistelltisch daneben stand ein zur Hälfte gefülltes Rotweinglas, dessen Inhalt, wie ich am Geruch bemerkte, aus Blut bestand. Wir legten Seth auf dem Sofa ab. Wie gut, dass es so lang war, bei seiner Größe passte er auf ein normal großes gar nicht drauf.

„Mai, geh bitte in die Küche, Alexander soll sofort zu Max laufen und ihn holen. Es eilt“, sagte Yami, während er Seth die flache Hand auf die Stirn legte. „Seth, was hast du bloß gemacht? Wach auf, bitte.“

Mai nickte ihm knapp zu und verschwand mit rauschenden Gewändern. Bereits vom Flur aus hörten wir sie nach unserem Butler rufen.

„Kann ich auch etwas tun?“, wollte ich wissen.

Es war mir unangenehm, einfach nur stumm daneben zu stehen, während sich Yami nach Kräften bemühte, seinen Freund zu Bewusstsein zu bringen.

„Seth braucht jetzt jede Wärme, die er kriegen kann. Sag Anna, sie soll eine große Kanne Kaffee kochen.“

„Kaffee ... bist du dir sicher? Joey hat mir mal erzählt, man müsse jemandem, der an Unterkühlung leidet, gesüßten Tee und Brühe geben, um den Kreislauf anzuregen.“

„Das stimmt schon – sofern es sich bei demjenigen um einen Menschen handelt – was wir nicht sind“, erwiderte Yami. „Und nebenbei bemerkt ... erstens hasst Seth süßen Tee, wenn überhaupt, kann man ihm da nur mit schwarzem Tee kommen ... oder eben mit Kaffee. Was die Brühe angeht ... Also, ich dachte, du weißt inzwischen, dass normales Essen für uns längst nicht so nahrhaft ist wie für Menschen. Nein, in diesem Fall ist es mit Brühe nicht getan, Alina. Seth sieht aus, als hätte er seit Tagen nicht richtig getrunken. Er braucht Blut, am besten wäre natürlich frisches, aber ... Verdammt noch mal, mach endlich die Augen auf, Seth!“

„Gut, dann sage ich Anna wegen dem Kaffee Bescheid“, sagte ich und wandte mich ab.

Ich hatte schon fast die Tür erreicht, als mich Yami noch einmal zurückrief.

„Hol doch bitte noch aus meinem Schlafzimmer die dicke Decke.“

„Mach ich sofort.“

Ich eilte in die Eingangshalle hinaus, wo ich mit Alex zusammenstieß. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Sorge ab.

„Guten Abend, gnädiges Fräulein“, sagte er mit einer kurzen Verneigung. „Entschuldigen Sie bitte, ich habe es sehr eilig.“

Er ging mit raschen Schritten in den Vorflur, wo unsere Mäntel und Umhänge untergebracht waren, nahm mit gezieltem Griff einen dunklen Mantel, der ganz außen hing, und verließ das Haus. Ich setzte meinen Weg in die Küche fort. Der Bereich für die Dienerschaft war im Erdgeschoss von unseren Räumen durch eine Tür und einen schmalen Gang getrennt. Aus der Küche drangen laute Stimmen, von denen ich eine Samantha zuordnen konnte. Sie wollte wissen, was denn passiert sei und da war sie bei weitem nicht die Einzige, die das interessierte.

Diese Frage stellten wir uns alle. Seth war – wenn man mal davon absah, dass er ein notorisches Arbeitstier war – eigentlich gesund, zumindest soweit ich wusste. Dass er so etwas wie eine Grippe hatte, konnte ich mir ebenfalls nicht wirklich vorstellen, schließlich konnte einen Vampir so schnell nichts umhauen. Und wie sollte es sein, dass er zu wenig getrunken hatte, wie Yami meinte? Er ging jeden Abend, wie wir alle, auf die Jagd und in den Kellerräumen unseres Hauses stapelten sich die mit frischem Blut gefüllten Flaschen. Wenn ich mir das so überlegte ... ein unheimlicher Gedanke. Unter meinen Füßen lagerte das, was einmal durch die Adern von Menschen geflossen war, abgefüllt wie gewöhnlicher Wein. In diese Gedanken noch halb versunken, betrat ich die Küche.

Beth saß am Tisch und polierte einen Kochtopf. Da sie nebenbei Christas Ausführungen folgte, die eine Theorie nach der anderen darüber abspulte, was mit dem jungen Herrn geschehen sein könnte, merkte sie nicht, dass sie die ganze Zeit an einer Stelle putzte. Samantha mischte sich ständig in ihre Rede ein, was den Lärmpegel im Raum ein gehöriges Stück nach oben geschraubt hatte, und Mai versuchte die beiden zur Ruhe zu bringen.

„Könnt ihr das nicht leise diskutieren? Wartet nur, bis Yami euch hört, dann bekommt ihr richtig Ärger“, sagte sie. Dann bemerkte sie mich. „Was suchst du hier, Alina?“

„Yami schickt mich. Er möchte eine große Kanne Kaffee für Seth haben.“

Anna, ganz der gute Geist unserer Küche, legte ihre Strickarbeit zur Seite, mit der sie sich beschäftigt hatte, und eilte zum Herd.

„Ich werde den Kaffee sofort bringen, wenn er fertig ist“, sagte sie, während sie den Kessel mit Wasser füllte und auf der heißen Herdplatte aufstellte. „Beth, hör auf zu putzen und mach dich daran, die Kaffeebohnen zu mahlen. Du hast den Wunsch des jungen Fräuleins gehört.“

Beth stellte den Topf mit einem dumpfen Klang auf den Küchentisch und warf den Lappen hinein. Sie holte die Mühle und den Sack mit den Bohnen von einem Regal herunter, füllte eine gute Handvoll der dunkelbraunen Kaffeebohnen in den Vorratsbehälter der Mühle und begann mit ihrer Arbeit. Das Geräusch der Bohnen, wie sie auf das Mahlwerk fielen und von diesem zu feinem Pulver zerkleinert wurden, folgte mir, während ich mich, eingedenk meines zweiten Auftrages, den Yami an mich gerichtet hatte, umdrehte und die Küche verließ.

Meine Füße trugen mich in Windeseile die Stufen der Treppe hinauf, durch den Flur und zu Yamis Zimmer. Der Raum lag im Halbdunkel da, vom Flur fiel noch etwas Licht durch die Tür, die ich in der Hast nicht richtig zugemacht hatte. Aber selbst wenn sie geschlossen gewesen wäre und einzig die Sterne mir geleuchtet hätten, hätte ich gut genug gesehen. Die Decke, von der Yami gesprochen hatte, lag sauber zusammengefaltet auf einem Stuhl. Ich nahm sie an mich und machte mich sogleich auf den Rückweg, das warme Tuch an mich gedrückt. An ihm haftete noch etwas von Yamis Geruch. Er hatte die Decke letzte Nacht benutzt, als ich ihm den unverhofften Besuch abgestattet hatte. Dabei fiel mir ein, dass ich noch gar nicht dazu gekommen war, mich dafür zu entschuldigen, ihn aus seinem Bett vertrieben zu haben. Das musste ich unbedingt noch nachholen, aber nicht jetzt. Wir hatten gerade ganz andere Sorgen, das musste warten.

Als ich durch die Salontür trat, fiel mein Blick als erstes auf Seth. Er lag genauso still und steif, wie wir ihn hingelegt hatten, auf dem Sofa und Yami – ich presste mir die Hand vor den Mund, sonst hätte ich einen schallenden Lachanfall bekommen – kitzelte ihn. Doch selbst das schien diesen Eisklotz nicht aus seinem Schlaf zu wecken. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte Yami mich damit selbst aus einem Koma herausbekommen können. Fehlte bloß noch, dass er es bei seinem Freund mit einem Kuss versuchte. Aber um hier einen auf Dornröschen zu machen, war der falsche Zeitpunkt. Yami runzelte nachdenklich die Stirn und kratzte sich am Hinterkopf.

„Oh Ra, was mache ich nur mit dir, Seth? Hey, du musst aufwachen, es gab einen Börsencrash und unsere Aktien gehen gerade den Bach herunter!“

Nichts, keine Reaktion.

„Er ist noch nicht wach?“, fragte ich.

Yami drehte den Kopf zu mir um und winkte mich zu sich.

„So langsam gehen mir ehrlich gesagt die Ideen aus, wie ich es noch versuchen soll. Er reagiert ja nicht mal auf meine falschen Schockmeldungen.“

„Wenn er nicht schon halb erfroren wäre, würde ich es ja mal mit kaltem Wasser versuchen“, meinte ich. Passen würde es ja zu unserem Eisprinzen.

Ich schüttelte mit beiden Händen die Decke auseinander und breitete sie über Seth aus. Himmel, warum musste dieser Kerl denn versuchen, mit seiner Größe alle Rekorde zu brechen? Beinahe die Hälfte seiner Beine blieb unbedeckt. Egal, den Oberkörper zu wärmen, war wichtiger. Meine Finger streiften kurz über seine Stirn. Die Körpertemperatur von Vampiren war generell etwas niedriger als die von Menschen, aber Seth fühlte sich selbst für einen Vampir viel zu kühl an. Dabei stand auf seiner Stirn kalter Schweiß und sein Atem ging flach. Seine Lippen hatten eine ungesunde bläuliche Färbung angenommen. Wie lange hatte er da draußen gelegen, bevor wir ihn gefunden hatten? Auf jeden Fall zu lange, wenn er, abgesehen von seiner offensichtlichen Unterernährung, auch noch unterkühlt war.

„Ich glaub, er kommt zu sich. Puh, endlich“, sagte Yami da.

Seths Kopf ruckte unruhig hin und her, als würde er schlecht träumen. Ein dumpfes Brummen und dann ein kurzes Stöhnen drangen aus seinem Mund. Seine Augen öffneten sich langsam und wanderten zwischen Yami und mir hin und her. Dieser hatte sich über die Sofalehne gelehnt und ich kniete auf Seths anderer Seite.

„Wo … bin ich?“

Die Worte kamen ungewohnt leise aus seinem Mund.

„Zu Hause“, antwortete Yami. „Wir haben dich vor der Tür gefunden, du hattest das Bewusstsein verloren.“

In meine Gedanken schlich sich die Erinnerung an das erste Mal, dass ich Seth begegnet war. Er hatte sich mir gegenüber sehr … höflich verhalten – sofern er es als Höflichkeit bezeichnete, jemandem anzudrohen, ihn umzubringen, sollte dieser Jemand sein Zimmer ohne Erlaubnis betreten. Er war mir stark und unnahbar wie ein Eisberg vorgekommen … Eine unerschütterliche Kraft, die sich von keinem anderen, nichts und niemandem unterwerfen ließ ... Und nun sah ich das komplette Gegenteil vor mir, einen Seth Kaiba, der gerade erst aus seiner Ohnmacht erwacht war, schwach, angreifbar …

Offenbar spielten sich in seinem Kopf ähnliche Vorstellungen ab, denn er richtete sich ohne Vorwarnung auf. Die Decke rutschte von seiner Brust. In der Schrecksekunde verlor ich das Gleichgewicht und kippte nach hinten. Ich rappelte mich hoch und ließ mich in den nahe stehenden Sessel sinken.

„Ach ja, ich wollte schnell in mein Büro. Wegen dieser vielen Bewerbungen bin ich nicht mit der Millington-Akte fertig geworden, die wollte ich dir heute eigentlich noch reinreichen. Deine Unterschrift fehlt noch, Yami. Warte, ich hol sie schnell, es fehlen nur ein paar Sachen.“

Er machte Anstalten sich zu erheben. Yami drückte ihn mit sanfter Gewalt in die Kissen zurück.

„Du wirst jetzt nirgendwo hingehen, Seth, du bleibst hier liegen und ruhst dich aus. Du warst eine ganze Weile bewusstlos und hast draußen in der Kälte gelegen. Weißt du noch, wann du nach Hause gekommen bist?“

„Warte ... es war Viertel vor zehn, ich hab noch auf die Uhr gesehen, bevor ...“

Mein Blick glitt automatisch zu der Uhr, die sich auf dem Kaminsims befand. Es war kurz nach zehn.

„Keine Ahnung, was da passiert ist“, fuhr Seth fort. „Wir wurde mit einem Mal so seltsam. Aber jetzt lass mich aufstehen, ich muss wieder an die Arbeit.“

Ich schätzte es ja durchaus, wenn sich jemand mit Leidenschaft in seine Arbeit stürzen konnte, aber in Seths Fall neigte ich dazu, eher von einer Besessenheit zu sprechen. Und wenn es der Situation noch so unangemessen war, dieses Mal konnte ich es mir einfach nicht mehr verkneifen, dass ein leichtes Grinsen über mein Gesicht huschte. Seth brauchte keinen Arzt, Yami hätte besser daran getan, gleich einen Exorzisten ins Haus zu rufen. Vielleicht konnte der ihn von seiner krankhaften Arbeitssucht heilen. Seth versuchte zum zweiten Mal aufzustehen. Über so viel Unvernunft konnte ich nur noch den Kopf schütteln. Yami schien das genauso wie ich zu sehen. Er legte eine Hand locker auf Seths Schulter und schon lag dieser wie hingeworfen auf dem Sofa. Mir klappte der Mund für einen Moment auf. Er hatte ihn kaum berührt und ... Da fragte ich mich doch, wie viel Kraft wirklich in Yami steckte.

„Wenn du nicht freiwillig liegen bleibst, muss ich dich dazu zwingen. Du weißt, dass ich das ohne Probleme kann. Im Übrigen hab ich schon nach dem Arzt schicken lassen, damit er dich untersucht.“

„Jetzt sag mir aber nicht, dass du nach Max gerufen hast“, knurrte Kaiba ungehalten. „Der kann gleich wieder gehen, das sag ich dir. Den alten Quacksalber lasse ich nicht an mich heran, nicht auf zehn Schritte.“

„Wen hätte ich denn sonst rufen sollen, wenn nicht ihn?“

„Ist mir doch egal, ich brauche eh keinen Arzt.“

„Äh, Max?“, kam es von mir.

Jetzt wollte ich aber endlich wissen, von wem sie und Mai die ganze Zeit redeten! Kaiba musterte mich mit einem abschätzigen Blick.

„Und was will die hier?“

Mein Gesicht verfinsterte sich augenblicklich. Was hatte ich von dem Kerl eigentlich erwartet? Dankbarkeit etwa, weil ich mich um ihn gekümmert hatte? Weil ich mir – so unglaublich das klang – tatsächlich für einen kurzen Augenblick Sorgen um ihn gemacht hatte? Das konnte ich vielleicht von einem anderen erwarten, doch ganz sicher nicht von diesem arroganten, selbstgefälligen Eisklotz, der sich einen Dreck um andere Leute scherte.

„Ein bisschen netter könntest du schon zu Alina sein“, meinte Yami.

„Danke, kein Bedarf“, war die Antwort.

Meine Abneigung gegen Seth wuchs mit jedem seiner Worte. Wie konnte man bloß so ein Riesenego haben? Meine Hand ballte sich zu einer Faust, meine Lippen pressten sich eng zusammen, so dass sie eine schmale Linie bildeten. Er konnte froh sein, dass er gerade erst einer Ohnmacht entronnen war, ich hätte ihm liebend gern eine Ohr-feige verpasst. Allerdings ... sobald es ihm danach wieder besser ging, würde er mich umbringen – Das war ein Argument, das mich dazu brachte, von diesen Überlegungen abzusehen. Ich hatte mich schließlich nicht von Yami zu einem Vampir machen lassen, damit Mr. Ich-bringe-jeden-mit-meinem-Blick-um Kaiba mich bei erstbester Gelegenheit ins Totenreich befördern konnte.

„Also, was Max angeht …“, nahm Yami den Faden wieder auf.

In dem Moment klingelte die Glocke an der Haustür. Er löste sich von der Lehne und richtete sich auf.

„Ah, jetzt lernst du ihn ja gleich selber kennen.“

Yami durchquerte mit wenigen Schritten den Raum und machte sich auf den Weg, um die Haustür zu öffnen. Gleichzeitig hörte ich weiter hinten im Haus die Tür zum Dienstbotentrakt gehen und Mais eilige Schritte. Mein Blick glitt zu Seth hinüber, der mit angesäuerter Miene auf dem Sofa lag, die Arme verschränkt, und Löcher in die Luft starrte.

„Hallo Max“, erklang draußen im Flur Yamis Stimme. Er hatte die Tür nicht richtig zugemacht, so dass ich alles gut hören konnte. „Vielen Dank, dass du so schnell kommen konntest.“

„Aber das ist doch Ehrensache, besonders, wenn gerade du mich zu dir rufst, Yami“, sagte eine andere, mir fremde Stimme. „Wo befindet sich der Patient denn?“

„Seth ist im Salon“, sagte Mai ohne Umschweife.

„Und was genau ist mit ihm passiert?“

Sie näherten sich der Tür.

„So genau wissen wir das auch nicht“, kam es von Yami.

„Aber er kann doch nicht einfach so umgekippt sein.“

Die Tür zum Salon wurde geöffnet und ich erhob mich von meinem Platz. Yami trat ein und zeigte auf Seth.

„Er liegt auf dem Sofa.“

Ich reckte den Kopf etwas und versuchte an ihm vorbei zu sehen, um einen guten Blick auf den Mann zu bekommen, der hinter ihm eintrat. Er war ein gutes Stück größer als Yami und sah wesentlich älter als er aus, ich schätzte ihn so auf Anfang vierzig. Seine schulterlangen Haare hatten allerdings eine Farbe wie Silber und das, obwohl er noch kaum eine Falte im Gesicht hatte. Er war in einen sehr eleganten gestreiften Anzug gekleidet, aus der Brusttasche sah ein rotes Seidentaschentuch hervor. Ich konnte nur das rechte seiner braunen Augen sehen, das andere war von seinen Haaren verdeckt. Er hob sich mehr als deutlich von allen Ärzten ab, die ich bisher kennen gelernt hatte. Die hohen Herren, die den Eid des Hippokrates abgelegt hatten, kleideten sich für gewöhnlich in strenge, dunkle Farben und trugen meist einen kleinen, wohl gepflegten Bart, der, wie ich seit langem vermutete, ihre Autorität unterstreichen sollte. Diesem Mann konnte man jedoch schon an seiner extravaganten Kleidung ansehen, dass er anders zu sein schien und sich offenbar von der Masse seiner Kollegen abheben wollte – was ihm auch mühelos gelang. Seine Lippen hatten sich zu einem fröhlichen Grinsen verzogen, als er auf Seth zuschritt.

„Tse, tse“, schnalzte er mit der Zunge, „was muss ich da von dir hören, mein Lieber?“

Ich schaute zu Seth herüber. Er schob sich nach hinten, um sich aufzusetzen, und bedachte unseren Besucher mit einem seiner berühmt berüchtigten eiskalten Blicke. Mir wurde bei dem Anblick ja schon etwas mulmig zumute, doch der Mann zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. Stattdessen hob er die Hand und winkte mit dem Zeigefinger, als habe er einen kleinen, ungezogenen Schuljungen vor sich und nicht Seth Kaiba, den Millionen Pfund Sterling schweren Unternehmer. Der Mann musste verrückt sein, ihn in dieser Form herauszufordern und ich wappnete mich innerlich gegen das Donnerwetter das jede Sekunde hier losbrechen würde.

„Was willst du hier, Max? Ich könnte mich nicht erinnern, dich um deinen Besuch gebeten zu haben.“

„Ah, wie ich sehe, bist du so humorvoll wie immer. Dann kann es dich ja nicht so schlimm erwischt haben, wie ich befürchtet habe, Kaiba-Boy.“

Wie bitte? Habe ich mich eben verhört oder hatte er Seth gerade Kaiba-Boy genannt? Okay, jetzt bringt Seth ihn garantiert um.

Dieser Mann war nicht verrückt, er war lebensmüde. Um Seths Mundwinkel zuckte es verdächtig. Ein Frösteln lief über meinen Rücken, seine Wut war beinahe greifbar.

„Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst, Maximillion“, fuhr Seth auf.

„Seth, du solltest dich in deinem derzeitigen Zustand nicht so aufregen, das ist nicht gut für dich“, sagte Yami vorsichtig.

Dieses Mal wurde er das Opfer von Seths Blick, doch er gab ihn nur mit einem viel sagenden Hochziehen der Augenbrauen zurück. Ich wünschte, ich wäre ebenso immun dagegen wie er.

„Du weißt, dass ich Recht habe.“

Die Eisstacheln zogen sich aus Seths Augen zurück, ein genervter Ausdruck blieb jedoch. Ich atmete erleichtert auf. Die Gefahr war gebannt – vorläufig zumindest.

„Oh, wie ich sehe, hast du eine neue Freundin, Kaiba“, sagte da der Arzt und wandte sich nun mir zu. Sehr feinfühlig, wie hatte der Mann nur Mediziner werden können?

„Das ist nicht meine –“

„Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, junges Fräulein.“

Er hob meine Hand an seine Lippen, um den üblichen, leichten Handkuss darauf zu hauchen. Yami trat zwischen uns.

„Da liegt ein kleiner Irrtum vor, Max“, sagte er. „Darf ich dir Alina de Lioncourt vorstellen? Alina, das ist Maximillion Pegasus, kurz Max.“

„Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast, Mai“, erwiderte er und musterte mich. „Warum hast du mir nicht erzählt, dass deine kleine Familie Zuwachs bekommen hat?“

„Ich wollte mich erst um ihre Ausbildung kümmern, bevor wir sie in der Öffentlichkeit vorstellen.“

„Das solltest du aber bald tun, Devlin wird sie kennen lernen wollen und die anderen natürlich auch. Es kommt immerhin nicht jede Nacht vor, dass unser erlauchter Kreis so ein hübsches junges Mitglied bekommt.“

„Dann ... sind Sie auch ein Vampir?“, fragte ich.

Ob es durch den Schreck kam, den mir Seth mit seinem Ohnmachtsanfall bereitet hatte, oder es irgendetwas anderes war, konnte ich nicht sagen, auf jeden Fall schien der Shilling bei mir heute in Pennys zu fallen. Allein die Art, wie Max sich bewegte, der Glanz in seinen Augen ... Für ein halbwegs gut geübtes Vampirauge war auf den ersten Blick zu erkennen, dass er ebenfalls dem Volk der Nacht angehörte. Und wenn ich so darüber nachdachte ... Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Seth einen menschlichen Arzt überhaupt in seine Nähe lassen würde, sofern er ihm nicht gerade als nächste Mahlzeit diente. Die Gefahr, als Vampir enttarnt zu werden, wäre viel zu groß gewesen. So ein Risiko würde auch er nicht eingehen.

„Seit herrlichen einhundertdreiundachtzig Jahren –“, antwortete Max und entblößte mit einem Lächeln seine spitzen Zähne.

„ – geht er uns auf die Nerven“, vollendete Seth seinen Satz.

„Aber, aber, Kaibalein, warum denn heute so bissig? Heb dir das für deine nächste Jagd auf“, meinte Pegasus, winkte Alex und nahm ihm die Arzttasche ab. „Gut, dann wollen wir mal schauen, was dir fehlt.“

„Gar nichts“, kam es von Seth durch die zusammengepressten Zähne. „Ich brauche deine Hilfe nicht.“

„Von nichts fällt man aber nicht um, schon gar nicht vor der eigenen Haustür. Hmm ... Wann hast du zuletzt etwas getrunken?“

„Keine Ahnung ... Heute Mittag, glaube ich.“

„Glaubst du?“, bohrte Pegasus nach.

„Ja. Es war heute Mittag, um zwölf Uhr zwanzig. Möchtest du auch noch meinen genauen Aufenthaltsort oder die Blutsorte haben?“

Meine Güte, war der heute angriffslustig. Wo nahm er überhaupt die ganze Energie dafür her? Eben noch hatten wir ihn nur mit größter Mühe überhaupt wach bekommen und ein paar Minuten später führte er sich auf, als wäre ihm überhaupt nichts passiert. Aus dem sollte mal einer schlau werden. Ich wurde es jedenfalls nicht.

Pegasus störte sich an Seths Ton offenbar nicht – oder er war schon an ihn gewöhnt –, jedenfalls öffnete er seine Tasche, entnahm ihr eine Lupe und hielt sie an Seths Augen, deren Lider er mit dem Finger etwas herunter- beziehungsweise nach oben zog. Sehr zum Unmut seines Patienten, wie ich an Seths verkniffenen Lippen bemerkte. Dann bat Max ihn, den Mund zu öffnen. Während er Seths Rachenraum untersuchte, sah unser Eisprinz ganz so aus, als würde er Max am liebsten die Finger abbeißen. Als nächstes zog er eine silberne Uhr aus seiner Westentasche hervor, klappte den Deckel auf und griff sich Seths Handgelenk, um seinen Puls zu überprüfen. Wir verhielten uns alle ganz still, während Pegasus’ Augen dem kleinen Zeiger folgten. Als er schließlich aufblickte, seufzte er tief und rieb sich die Stirn.

„Und, was fehlt ihm?“, fragte Yami. Als er nicht gleich eine Antwort erhielt, setzte er nach: „Ist es was Ernstes?“

„Ach, rede keinen Unsinn, ich bin kerngesund“, widersprach Seth und setzte sich auf.

„Dem kann ich mich nicht so ohne weiteres anschließen“, sagte Max. „Seth leidet an einer Unterkühlung und starkem Blutentzug, aber das hast du sicherlich bereits selbst festgestellt, Yami.“

„Ja – da fällt mir ein, in der ganzen Aufregung habe ich total vergessen, dir etwas zu trinken zu holen, Seth.“

Yami marschierte zu dem Kasten, in dem stets eine Flasche des roten

Lebenssaftes aufbewahrt wurde, fischte aus dem Ständer ein sauberes Glas und goss es voll. Der Geruch des frischen Blutes stieg mir – eigentlich uns allen – in die Nase. Er reichte es Seth, der es an die blassen, inzwischen nicht mehr ganz so blauen Lippen setzte und in einem einzigen Zug leerte. Yami schenkte ihm augenblicklich nach, als Seth es ihm entgegenhielt. Noch zweimal wiederholte sich das Spiel, die Flasche war am Ende zu drei Vierteln geleert und Seth sah um einiges besser aus als noch vor einigen Minuten. Auch wenn ich ihn hundertmal nicht ausstehen konnte, war ich erleichtert, dass es ihm besser ging. Ich konnte es nicht ertragen, wenn es anderen in meiner Gegenwart schlecht ging.
 

Seth ließ sich gegen die Polster des Sofas sinken. Die Blässe wich all-mählich aus seinem Gesicht, das Blut hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Es strömte durch seine Adern, erfüllte ihn mit neuer Kraft und Wärme. Rein äußerlich ließ er sich nicht das Geringste anmerken, er wirkte ruhig und beherrscht wie immer, doch innerlich kochte er. Und der Grund für seine Wut war er selbst – oder um es genauer zu sagen sein dummes Verhalten. Er kannte die Wirkung eines Blutmangels doch ganz genau, wusste jedes Symptom, das damit im Zusammenhang stand, genau zu beschreiben. Und dennoch hatte er sie alle geflissentlich ignoriert, weil er so sehr darauf bedacht gewesen war, rasch aus dem Büro nach Hause zu kommen, um die fehlenden Unterlagen endlich zusammenzubekommen.

So richtig war ihm das Unbehagen erst aufgefallen, als er in der Kutsche auf dem Weg nach Hause gesessen hatte. Er erinnerte sich nur verschwommen an die Fahrt. Sein Kopf hatte sich mit einem dröhnenden Schmerz bemerkbar gemacht, ebenso wie sein Magen, und ihn daran erinnert, dass seine Mahlzeit mehr als überfällig war. Natürlich hätte er unterwegs anhalten lassen und eine der Prostituierten zu sich winken können, die überall in den dunklen Winkeln der Häuser standen und ihre Dienste anboten. Ein paar Schlucke hätten gewiss genügt, um seinen schlimmsten Durst zu stillen, aber er hatte sich eingeredet, es noch bis nach Hause schaffen zu können.

Als die Kutsche vor dem Haus gehalten hatte, hatte er es nur mit Mühe geschafft, auszusteigen. Der Kutscher hatte ihm einen Blick zugeworfen, als hätte er einen Betrunkenen vor sich. Ja, so musste er gewirkt haben, als er den Weg entlang getorkelt war und sich kaum noch auf den Beinen hatte halten können. Aber das alles hatte offen- bar nicht gereicht, oh nein. Das Schicksal musste sich dafür entschieden haben, ihn heute mit besonderer Sorgfalt zu quälen. Von allen Seelen, die in diesem Hause lebten, hatten ausgerechnet Mai und Alina ihn finden müssen. Schlimm genug, dass ihn überhaupt jemand in diesem Zustand erlebte, aber dann auch noch sie ...

Ein zaghaftes Klopfen veranlasste ihn dazu, sich der Tür zuzuwenden. Die anderen schienen es ebenfalls bemerkt zu haben, denn auch ihre Köpfe drehten sich. Nach einem deutlichen „Herein“ von Yami trat Samantha mit einem Tablett ein, auf dem sie eine große Kanne mit Kaffee und mehrere Tassen balancierte. Der Duft der gerösteten und frisch gemahlenen Bohnen, die sich mit dem heißen Wasser zu einem dunklen, aromatischen Gebräu vermengt hatten, zog durch den ganzen Raum und vertrieb die Note, die das Blut hinterlassen hatte. Er hatte auf Seth beinahe eine noch belebendere Wirkung als das Blut, das er soeben zu sich genommen hatte. Ja, eine heiße Tasse Kaffee war jetzt genau das Richtige, um auch die restliche Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben.

„Anna dachte, Sie und der Herr Doktor würden auch gern eine Tasse Kaffee trinken“, sagte Samantha an Yami gewandt.

„Unsere gute Anna, einfach unbezahlbar“, schmunzelte Mai. „Danke, Samantha, du kannst gehen. Ich übernehme das Einschenken selbst.“

Das Mädchen knickste kurz und zog sich dann zurück. Mai machte sich daran, die Tassen zu füllen. Die erste bekam Seth in die Hand gedrückt, der mit halb geschlossenen Lidern an ihrem Inhalt schnüffelte. Ein ausgezeichnetes Aroma, da machte Anna so schnell niemand etwas vor. Eher nebenbei nahm er wahr, wie Mai auch an Yami, Alina und Maximillion Tassen mit Kaffee austeilte. Sie ließen sich auf den umstehenden Sesseln nieder, Mai machte es sich am anderen Ende des Sofas bequem, auf dem nun, da Seth saß, wieder etwas Platz war.

„Ein köstliches Getränk“, ließ sich Pegasus vernehmen. „Wie viel zahlst du deiner Köchin, Yami?“

„Warum willst du das wissen?“ In der Stimme seines Freundes klang eine Spur Misstrauen mit.

„Damit ich ihr das Doppelte bieten und sie dir ausspannen kann. So eine Frau hätte ich auch gerne in meinem Haushalt.“

„Da muss ich dich enttäuschen, Anna gebe ich nicht her.“

„Sehr schade. Aber gut, ich bin nicht hergekommen, um mit dir über die mögliche Abwerbung deines Personals zu diskutieren. Also, was dich anbelangt, Seth, dein Zusammenbruch ist keinesfalls so überraschend gekommen, wie du vielleicht denkst. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit.“

„Was soll das heißen?“, fuhren Seth und Yami gleichzeitig auf.

„Tja, wie soll ich es am besten ausdrücken, Kaiba-Boy ...“

Bei der Nennung dieses Namens ballte sich Seths freie Hand. Egal wie oft er diesen Kerl zusammenstauchte, weil er einen dieser kindischen Spitznamen für ihn benutzte, er tat es immer und immer wieder und jedes Mal verspürte Seth den dringenden Wunsch in sich, ihm an die Kehle zu gehen.

„MAX –“

„Du bist hoffnungslos überarbeitet.“

Seth lachte trocken. Was für eine überragende Diagnose! Als wäre er noch nicht selbst darauf gekommen, dass er zu viel zu tun hatte. Weshalb suchte er denn so händeringend einen neuen Sekretär? Dafür brauchte er keinen verrückten Professor Doktor (er fragte sich seit Jahrzehnten, wie er überhaupt an diese Titel gelangt war) Maximillion Pegasus, dem man schon mit einem Blick ansah, dass seine Vorliebe neben dem Blut auch den meist sehr jungen Männern galt, die es ihm lieferten. Er konnte mehr als froh sein, dass seine menschlichen Patienten nichts davon wussten. Sie hätten seiner Praxis nicht nur für immer den Rücken gekehrt, sondern ihm auch gleich noch die Polizei und die Kirche auf den Hals gehetzt. Im von Königin Viktoria regierten britischen Königreich wurde dieses pikante Thema wenn irgend möglich totgeschwiegen und kam es doch einmal auf, so wurde es für das Werk des Teufels gehalten.

Seit mehr als zweihundert Jahren verfolgte Seth nun schon das Treiben der Menschen und doch hatte sich in ihrem Verhalten nichts geändert. Sie ließen sich von ihrer Intoleranz beherrschen und gleichzeitig zogen all die Dinge, die in den Augen der Öffentlichkeit moralisch verwerflich und dementsprechend verboten waren, sie an wie die Motten das Licht. Es war eine gefährliche Gratwanderung der Menschen. Doch in ihrem Bemühen, sich den menschlichen Gepflogenheiten anzupassen und unter ihnen zu leben, unterschieden sich Seth, Yami und die anderen Vampire nicht von ihnen. Gingen sie tagsüber wie jeder andere ihren Geschäften nach, wurden sie des Nachts zu gnadenlosen Jägern. Der Gedanke an seine Arbeit brachte ihn zu seinem derzeitigen Problem zurück, das ihm gerade in Form eines silberhaarigen Vampirarztes gegenübersaß und diese einfach nur unverschämt zu nennende Forderung an ihn gerichtet hatte.

„Ich bin Chef eines Großkonzerns, was erwartest du, Max? Dass ich mir einfach so eine Woche Urlaub nehme und die Hände in den Schoß lege? Das geht nicht.“

„Vorläufig würde mir das Wochenende reichen“, erwiderte der Arzt ungerührt. „Es ist nicht gesund, sich in dem Ausmaß in seiner Arbeit zu verkriechen, wie du es anscheinend praktizierst. Du musst kürzer treten, auch wenn es dir schwer fallen sollte. Wenn du es nicht freiwillig tust, kann ich dich auch für ein paar Tage krankschreiben. Ich bin mir sicher, Yami findet Mittel und Wege, dich im Haus zu halten und dich trotzdem ausreichend zu beschäftigen, damit du dich nicht langweilst.“

„Argh, das kann doch nicht dein Ernst sein. Auf meinem Schreibtisch stapelt sich die Arbeit, ich kann unmöglich –“

„Oh doch, du kannst und du wirst“, unterbrach Yami seine Rede. „Zumindest dieses Wochenende.“

Er bückte sich und seine Hand tauchte in Seths Jackentasche. Als er sie wieder hervorzog, waren seine Finger um einen Schlüsselbund gekrümmt.

„Was hast du vor?“

„Damit du nicht auf dumme Gedanken kommst, nehme ich bis Montag die Schlüssel zu deinem Büro und unserer Firma an mich. Und ja, ich kümmere mich um die Millington-Akte, mach dir um die keine Gedanken.“

Seth warf ihm einen giftigen Blick zu.

„Du weißt genau, wie viel wir momentan zu tun haben. Jeder von uns ist bereits voll ausgelastet. Verrätst du mir bitte, wie du das ohne meine Hilfe schaffen willst?“

„Mach nicht so ein Aufheben um ein Wochenende. Nur weil du ein einziges Mal nicht am Wochenende arbeitest, wird unsere Firma nicht gleich Bankrott gehen. Die meisten anderen Firmen werden von einem Mann geleitet und die haben auch keine Probleme. Du solltest etwas mehr Vertrauen in meine Fähigkeiten haben.“

„Ich sehe schon, heute bist du meinen Argumenten nicht zugänglich“, brummte Seth und stand auf. „Aber bitte, wenn du darauf bestehst, dass ich mich ausruhe ... Ich bin in meinem Zimmer und möchte nicht gestört werden.“

„Dann wünsche ich dir eine gute Nacht, Seth. Und bis morgen früh überlege ich mir etwas, wie wir dich in den nächsten Tagen beschäftigen können. Ich bin mir sicher, dass wir etwas Schönes für dich finden werden“, sagte Yami, wobei er die letzten Worte besonders betonte. Das hinterhältige Grinsen, das sich bei diesen Worten in sein Gesicht schlich, gefiel Seth nicht. Was heckt er jetzt wieder aus? Ich hasse es, wenn er diesen Ausdruck hat.

„Danke, ich brauche keine Beschäftigungstherapie, es reicht mir vollkommen, wenn du mir die Börsenberichte hereinreichst.“

Die noch zur Hälfte gefüllte Tasse in der Hand, marschierte Seth an ihnen vorbei, nickte Mai kurz zu und verließ den Salon, wobei er sowohl Alina als auch Max formvollendet ignorierte. In dieser Disziplin hatte er es in den vergangenen Jahrhunderten zur Perfektion gebracht. Max konnte er ohnehin nicht ausstehen, allein schon wegen seiner unsäglichen Vorliebe für peinliche Spitznamen und Alina ... na ja, das war eine andere Geschichte. Yami und seine verrückte Idee, sie ausgerechnet zu sich ins Haus zu holen.

In der Eingangshalle traf sein Blick auf zwei erschrocken aussehende Dienstmädchen, die sich für seinen Geschmack etwas zu nahe an der Tür zum Salon befanden, als hätten sie bis eben noch daran gelauscht. Sie waren damit beschäftigt, die Möbel mit einem Federwedel abzustauben. Er sah Samantha und Christa eindringlich an, seine saphir-blauen Augen gruben sich in die der Mädchen und drangen, ohne dass es ihnen wirklich bewusst wurde, in ihren Geist vor. Einige Sekunden genügten, um sich zu vergewissern, dass sie nichts Relevantes gehört hatten. Das war auch besser für ihre Gesundheit. Wenn er sich da an diesen unschönen Vorfall vor ein paar Jahren erinnerte, als er einige Zeit auf seinem Anwesen nahe Paris verbracht hatte ... Einer der Knechte hatte ihn mitten in der Nacht in der Scheune überrascht, wie er gerade aß – der Junge hatte die Nacht nicht überlebt. Das Geheimnis zu schützen hatte Priorität, wollte man als Vampir einigermaßen unbehelligt leben. Sonst konnten morgen die Jäger vor der Tür stehen.

Seth hob die Tasse an seine Lippen und trank den restlichen Kaffee darin mit wenigen Schlucken aus. Er stellte sie auf die Untertasse zurück und übergab sie Christa, die sie mit zitternden Fingern entgegen nahm. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte sie fallen lassen. Ah, da fühlte er sich doch gleich um einiges besser und er konnte vergessen, wie man ihn vor kurzem gefunden hatte. Das war wieder er, Seth Kaiba, kühl, beherrscht und Respekt einflößend. Alles war so, wie es sein sollte und so war es gut. Mit sich selbst zufrieden, ging Seth die Treppe hinauf, den Rücken zu einer geraden Linie durchgestreckt, den Kopf stolz erhoben.

Erst nachdem er die Tür zu seinem Zimmer hinter sich verschlossen hatte, gestattete er sich, seiner Müdigkeit nachzugeben. Hier würde ihn niemand mehr stören. Und falls es wider Erwarten doch jemand wagen sollte, diese Torheit zu begehen, würde er es bitter bereuen. Seth setzte sich auf das Bett und begann seine Kleider abzulegen. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, sich ein wenig hinzulegen. Ein wenig Ruhe, dann würde Yami schon einsehen, dass er sich keine Sorgen zu machen und Seths Arbeitspensum mit Gewalt einzuschränken brauchte. Der Jacke folgte innerhalb kurzer Zeit die Hose, die ihren Platz auf einem Stuhl in der Nähe fand. Dann machte er sich an den Knöpfen seines Hemdes zu schaffen. Die kleinen Dinger erwiesen sich heute als widerspenstig und es dauerte eine Weile, bis er sich von dem weißen Stoff befreit hatte, unter dem sein sehniger Oberkörper zum Vorschein kam. Seine Finger streiften über eine lange schmale Narbe, die sich unterhalb seiner linken Schulter befand. Die Nacht, der er sie zu verdanken hatte, würde er wohl nie vergessen.

Er schlug die Bettdecke zurück, der ein Duft nach Amber und Sandelholz anhaftete, schwang seine langen Beine auf die Matratze und ließ sich nach hinten sinken. Das Kissen, auf das sein Kopf traf, war frisch aufgeschüttelt und angenehm weich. Nur ein paar Minuten. Nur eine kurze Weile Ruhe, die Augen schließen und sich entspannen ... Mehr wollte er gar nicht. Kaum hatte er dies getan, packte der Schlaf, der sich seit einiger Zeit von Seth betrogen und sträflich vernachlässigt fühlte, die Gelegenheit beim Schopf und überwältigte den Blauäugigen.
 

Ich drehte mich noch einmal im Bett herum und kuschelte mich in die Decke. Ich hatte überhaupt keine Lust schon aufzustehen, doch meine Wecker – sowohl mein mechanischer als auch der aus Fleisch und Blut, auch bekannt als Mai – kannten wie üblich keine Gnade mit mir. Mai stand neben meinem Bett und rüttelte mich so lange an der Schulter, bis ich schließlich genervt die Augen öffnete. Und so was nannte sich nun Wochenende. Da Samstag war, hatte ich gehofft, wenigstens heute und morgen ein wenig länger schlafen zu dürfen, doch meine Lehrerin schien andere Pläne mit mir zu haben. Ich schielte auf die Uhr; es war kurz nach sieben.

„Mai, kannst du mich nicht noch ein wenig schlafen lassen? Sagen wir, so bis neun oder wenigstens halb neun?“, murmelte ich gähnend und war versucht, meine schweren Augen wieder zu schließen und mich erneut dem Schlaf hinzugeben.

„Nein, denn falls du es vergessen hast, Yami hat uns gestern Abend noch angekündigt, dass er uns alle heute früh um Punkt acht beim Frühstück sehen möchte. Und wenn du nicht langsam aufstehst und dich anziehst, kommen wir beide zu spät, ich würde mich nämlich gern ebenfalls vorher noch anziehen. Ich habe keine Lust darauf, im Morgenrock am Tisch zu erscheinen und ihm zu erklären, dass meine ganze Zeit dafür draufgegangen ist, dich aus dem Bett zu werfen.“

Ich sah mir Mai genauer an und stellte fest, dass sie noch ihr Nachthemd und darüber einen mit Lilien gemusterten Morgenmantel trug. Allmählich erinnerte ich mich auch daran, dass Yami uns tatsächlich gebeten hatte, heute rechtzeitig zum Frühstück zu kommen, da er mit uns etwas besprechen wollte. Hätte er das nicht gestern machen können? Aber andererseits ... zu der Zeit war ich schon nicht mehr besonders aufnahmefähig gewesen. Trotz des Kaffees und des darin enthaltenen Koffeins war ich kurz später von der Erschöpfung übermannt worden und hatte mich ins Bett begeben. Für einen Tag war das zu viel Aufregung gewesen. Die ganzen Übungen und dann der Einkaufsbummel mit Mai, das so überraschende Treffen mit Joey und Maria und am Ende noch die Sache mit Seth ... Nein, danach hätte Yami mir erzählen können, dass der Mond in Wahrheit aus Käse und Seth eigentlich ein netter Kerl sei, ich hätte doch nichts mehr richtig mitbekommen.

„Alina, wenn du nicht gleich aufstehst, kann ich auch andere Seiten aufziehen“, unterbrach Mai meine Gedankengänge und warf einen bedeutungsschweren Blick auf die Tür zu meinem Badezimmer. „Falls du noch nicht richtig wach bist, lässt sich das mit einer kalten Dusche schnell ändern.“

Ich glaube, sie konnte gar nicht so schnell gucken, wie ich aus dem Bett sprang, mein Nachthemd von mir geworfen hatte und im Bad verschwunden war.

„Danke, ich komm schon zurecht!“, rief ich ihr durch die geschlossene Tür zu.

Ein paar Minuten später ging ich gewaschen und um einiges wacher ins Zimmer zurück, um mir von Samantha beim Anlegen der Kleider helfen zu lassen. Von Mai war nichts mehr zu sehen, sie hatte sich bereits in ihr eigenes Zimmer zurückgezogen, um sich anzuziehen.
 

Das Esszimmer war dank der Vorhänge so abgedunkelt, dass kein Sonnenlicht hereindringen konnte. Ich mochte es nicht. Da war es früher Morgen und ich durfte mir den Raum nicht im Licht der vor kurzem aufgegangenen Sonne ansehen. Stattdessen wurde er von etlichen Kerzen beleuchtet. Wie viel Zeit würde vergehen, bis ich es aufgab, der Sonne hinterher zu trauern? Wie lange hatten wohl die anderen gebraucht, um diesen Aspekt ihres Lebens als Vampir zu akzeptieren? Das konnte ich Mai bei Gelegenheit mal fragen.

Yami saß am gedeckten Frühstückstisch und las in der Zeitung. Hinter dem großen, mit schwarzer Tinte bedruckten Blatt konnte ich nur die obersten Spitzen seines Haares sehen. Was hatte ihn überhaupt auf diese Frisur gebracht? Seltsamer und unkonventioneller ging es ja kaum noch. Verglichen mit all den Geschäftsleuten, denen ich in den letzten Jahren auf der Straße begegnet war, war dies jedoch wie ein frischer Wind, durchaus positiv.

„Guten Morgen, Yami“, sagte ich fröhlich und ging auf ihn zu.

Als er nicht reagierte, wollte ich es noch einmal versuchen, doch dann fiel mein Blick auf die Titelseite der Zeitung. Mein Mund öffnete sich und schloss sich, ohne dass ein Wort herauskam. Ich blinzelte und sah noch einmal hin, denn ich konnte, wollte einfach nicht glauben, was dort stand. Der Schreck überflutete mich wie eine Welle. Bevor Yami mich überhaupt wahrgenommen, geschweige denn begriffen hatte, was los war, hatte ich ihm das Blatt schon aus der Hand gerissen und starrte fassungslos auf die Zeitung. Die schwarzen Lettern wollten für mich zunächst keinen rechten Zusammenhang ergeben, ich brauchte mehrere Anläufe, bis ich sie nicht nur gelesen, sondern auch verstanden hatte, was dort geschrieben stand.
 

Ripper schlägt erneut zu!

In den frühen Morgenstunden des 9. November 1888 ereignete sich in Miller’s Court, Dorset Street, Spitalfield ein weiterer grausamer Frauenmord. Es sei daran erinnert, dass die Nachricht über die anderen Morde im Gegensatz zu dieser sehr früh bekannt gemacht wurde. Wir schickten sogleich einen Reporter zum Tatort, der durch den Inspektor in der Commercial Street Station erfuhr, dass dieser Befehl erhalten habe, außer der Tatsache, dass eine Frau ermordet worden sei, keine Informationen weiterzugeben. Alle offiziellen Informationen würden direkt an Scotland Yard weitergeleitet.

Entsprechend schwer war es für uns, genauere Informationen über das Verbrechen zu erlangen, doch eine Befragung in der Nachbarschaft erbrachte, dass der Kopf des Opfers nahezu vom Körper getrennt gewesen sei und dass, wie in den vorangegangenen schrecklichen Fällen, der Unterleib aufgeschlitzt worden sei. Des Weiteren konnten wir den Namen des Opfers ermitteln. Es handelt sich um die Prostituierte Marie Jeanette Kelly, bekannt als „Ginger“ ...
 

Ich schlang die Zeilen in rasender Geschwindigkeit herunter, bis ich zu der Stelle gelangte, nach der ich gesucht hatte. Das Poltern des Steins, der nur Sekunden später von meinem Herzen fiel, hätte, wenn andere es hätten hören können, das ganze Haus aufgeschreckt. Was mich eben so erschreckt hatte, dass ich Yami die Zeitung entrissen hatte? Neben diesem Artikel waren zwei Fotos abgedruckt. Eines war mit dem Namen des Opfers untertitelt und das andere – und dies war auch der Grund für meinen anfänglichen Schock – zeigte Ellie, meine beste Freundin. Laut dem Artikel hätte es in der Nacht auf den 9. November um ein Haar zwei Opfer gegeben. Und dieses zweite Opfer hatte Ellie sein sollen. Es war ein kurzes Interview mit ihr abgedruckt, in dem sie angab, von einem Unbekannten verfolgt worden zu sein. Wenn ich daran dachte, dass es möglicherweise der Ripper gewesen war, wie die Presse vermutete ... Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Alle Morde, die er bislang verübt hatte, hatte er mit einer nur als absolut grausam zu bezeichnenden Brutalität verübt.

„Alina, Liebes, ist alles mit dir in Ordnung?“, drang da Yamis Stimme zu mir durch.

Ich wandte den Kopf in seine Richtung, er sah mich besorgt an. Ohne etwas zu sagen, deutete ich mit dem Finger auf den Artikel.

„Das habe ich auch gelesen, aber was ...“

„Ellie ist meine Freundin. Dabei habe ich Joey gestern noch extra gebeten, sie zu warnen, dass sie auf sich aufpassen soll.“

„Ja, dann verstehe ich – Augenblick mal, habe ich richtig gehört? Du hast mit diesem Joey gesprochen?“

„Wir sind uns gestern ... zufällig begegnet, als ich mit Mai einkaufen war. Bitte sei nicht böse auf mich, Yami, ich weiß, was du mir gesagt hast. Ich soll mich von ihnen fernhalten und mein altes Leben vergessen, aber ... ich kann das nicht. Jedenfalls nicht alles. Sie sind meine Freunde. Mir ist klar, dass ich vorsichtig sein muss, mit allem, was ich in ihrer Gegenwart sage oder tue, nur ...“

Auf seine Lippen legte sich ein verstehendes Lächeln.

„Ist schon gut, du musst dich nicht weiter dazu rechtfertigen. Ich wollte dir damit nur die Gelegenheit geben, dich hier einzugewöhnen, weil unser Leben so anders ist. Wie geht es deinen Freunden?“

„So weit gut. Es ist nur ... Mai sagte, du würdest mir monatlich einen gewissen Betrag als Taschengeld auszahlen. Ich möchte, dass Joey und Maria das Geld bekommen. Sie brauchen es viel dringender als ich. Die Medikamente für Marias Mutter sind so teuer.“

„Ich werde Vorkehrungen treffen, dass sie das Geld bekommen.“

In Ermangelung anderer Möglichkeiten, wie ich ihm meine Dankbarkeit ausdrücken sollte, fiel ich Yami um den Hals. Zu seinem Glück saß er, sonst hätte ich ihn umgerissen. Ein lautes Räuspern unterbrach uns. Von der Tür schaute ein etwas pikiert dreinblickender Seth zu uns herüber, die Augenbrauen tadelnd nach oben gezogen.

„Seid ihr bald fertig? Da möchte man sich ja übergeben.“

„Ich habe mich lediglich bei ihm für etwas bedankt“, erwiderte ich.

Warum rechtfertige ich mich überhaupt vor dem?

„Dir auch einen guten Morgen, Seth“, bügelte Yami über den Kommentar seines Geschäftspartners hinweg. „Geht es dir besser?“

„Es ginge mir bedeutend besser, wenn du mir die Schlüssel zurückgeben würdest, die du mir abgenommen hast.“

„Vergiss es“, grinste Yami. „Aber setz dich doch. Möchtest du eine Tasse Kaffee?“

„Gern.“

Seth ließ sich am anderen Ende des Tisches nieder und ich nahm zwischen ihm und Yami Platz. Dieser hatte gerade nach der kleinen Tischglocke aus Messing gegriffen, um nach Alex zu klingeln, als Mai eintrat. Damit waren wir komplett. Wenige Glockenschläge später kam auch unser Butler mit dem Kaffee. Nachdem er jedem etwas von dem braunen Getränk eingeschenkt und wir uns mit Brötchen und Blutmarmelade – eine seltsame Kombination – versorgt hatten, zog er sich in das angrenzende Anrichtezimmer zurück, um auf weitere Anordnungen zu warten.

„Also, was möchtest du mit uns besprechen?“, fragte Mai und nippte an ihrer Tasse.

Yami legte die Spitzen seiner Finger aneinander und betrachtete mich über sie hinweg.

„Bevor ich darauf eingehe, möchte ich, dass du mir eine Frage beantwortest, Alina. Ich habe dir vorgestern von deinen Eltern erzählt und von ihrem Wunsch, dass aus dir ebenfalls eine Jägerin wird. Hattest du Gelegenheit, darüber nachzudenken?“

„Ja, das hatte ich“, nickte ich.

Wirklich viel Zeit war es zwar nicht gewesen, der vergangene Tag war mit stetiger Arbeit ausgefüllt gewesen, aber in der knappen Zeit dazwischen waren meine Gedanken schon darum gekreist. Viel zu unglaublich waren die Dinge, die er mir offenbart hatte, als dass ich sie in irgendeinen Winkel meines Kopfes hätte verdrängen können. Ich meine, es wird einem ja nicht jeden Tag gesagt, dass die eigenen Eltern, die man bisher für die spießigsten Menschen der Welt gehalten hat, in Wahrheit waschechte Vampirjäger waren.

„Und wie ist deine Antwort?“

„Wer auch immer diese Vampire waren, die meine Eltern ermordet haben, wenn du Recht hast, sind sie nun hinter mir her. Ich ... kann nicht von dir erwarten, dass du mich ständig und überall beschützt, ich selbst muss auch etwas tun können. Und das kann ich nur, wenn ich lerne zu kämpfen. Und ... ich möchte mich für den Tod meiner Eltern an ihnen rächen.“

Die letzten Worte sprach ich so leise, dass nur Yami sie verstand.

„Ich dachte mir, dass du so entscheiden würdest“, sagte Yami. „Von Roberts Tochter hatte ich auch nichts anderes erwartet. Nun, damit komme ich zu dem eigentlichen Grund unseres Treffens. Denn in Anbetracht deiner Entscheidung und dem, was gestern Abend passiert ist, müssen wir deinen Lehrplan wohl oder übel ein paar kleinen Änderungen unterziehen. Ich hatte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass dich Max oder einer der mit uns befreundeten Vampire so bald zu Gesicht bekommen würde. Ja, ich hatte gehofft, dass wir ausreichend Zeit hätten, dich in dieses Mammutwerk von Benimmregeln wieder richtig einzuführen, aber dem ist nicht so.“

„Stimmt, wenn Pegasus, dieses alte Klatschmaul weiß, dass du hier bist, dann weiß es allerspätestens heute Abend unsere ganze Gemeinschaft“, unterbrach ihn Seth.

Was mischt der sich denn jetzt ein?, wunderte ich mich. Sonst kümmert er sich doch auch nicht darum, was mit mir ist.

„Uns wird darum nichts anderes übrig bleiben, als dir einen Crashkurs zu verpassen“, fuhr Yami fort. „Ein paar Tage kann ich unsere Freunde vielleicht noch hinhalten, aber für Ende nächster Woche werden wir einen Empfang organisieren und dich offiziell vorstellen müssen. Sonst sind sie beleidigt.“

Da kam mir nur noch Schreck lass nach in den Kopf. Ich wusste, dass ich irgendwann in die Gesellschaft eingeführt werden musste, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass dies so bald geschehen würde.

„Also wird der Kampfunterricht noch eine Weile warten müssen, damit Mai sich darauf konzentrieren kann?“, hakte ich nach.

Zu meiner Überraschung schüttelte Yami jedoch den Kopf.

„Dazu wollte ich gerade kommen. Nein, es gibt jetzt so viele Dinge, die du lernen musst, dass wir sie nicht nach und nach angehen können; wir müssen dich in allem parallel unterrichten. Auch darüber habe ich nachgedacht – ich konnte letzte Nacht schlecht schlafen, da hatte ich ausreichend Zeit dafür, mir um alles Gedanken zu machen. Unter anderem auch darum, wie ich Seth während seines kleinen ... Urlaubs beschäftigen kann. Und dann kam mir die zündende Idee: Mai kümmert sich weiter um alles, was mit deiner Gesellschaftsausbildung zusammenhängt, ich werde mich um den Ausbau deiner vampirischen Fähigkeiten kümmern und Seth ... wird dich in den Kampfkünsten unterrichten.“

Drei Augenpaare richteten sich auf Yami: zwei sehr überraschte beziehungsweise verwirrte und eines, das sehr zornig aussah. Der Besitzer dieser Augen war niemand anderer als Seth. Er blickte Yami an, als habe dieser den Verstand verloren. Vermutlich traf dies sogar zu. Wie kam er sonst auf die Idee, ausgerechnet Seth darum zu bitten, mir Unterricht zu erteilen, obwohl wir uns in gegenseitiger Antipathie tief verbunden waren? Das war absurd.

„Yami ...“, sagte Seth und seine Stimme klang gefährlich ruhig, „würdest du mich bitte kurz in den Salon hinüber begleiten. Ich würde gern mit dir unter vier Augen sprechen.“

„Überleg doch mal, du –“

„Sofort.“

Oh, oh, das klang ja ganz übel. Yami nickte Seth zu, dann standen die beiden auf und verließen den Raum. Kaum war die Tür hinter ihnen zugefallen, fragte ich Mai:

„Was hat Yami bitte auf diese Schnapsidee gebracht? Ausgerechnet Seth ...“

„Na ja, objektiv betrachtet ... Er kennt sich gut in allen möglichen Kampftechniken aus, genauso wie Yami.“

„Aber warum unterrichtet dann nicht er mich? Er müsste doch wissen, dass Seth und ich nicht miteinander klarkommen. Ich rede mit ihm.“

Mein Stuhl rutschte über den Teppich nach hinten, als ich aufstand und zur Tür marschierte. Kaum im Flur, konnte ich auch schon genau sagen, wohin sich die beiden zurückgezogen hatten, um ihr Gespräch zu führen. Obwohl die Tür zum Salon geschlossen war, hallten ihre Stimmen bis in die Halle hinaus.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen, worden, Yami, oder was hat dich auf diese Idee gebracht? Ich – ausgerechnet ICH – soll ihr Unterricht geben? Wie hast du dir das vorgestellt?“

„Nun, zum Beispiel, indem du ihr zeigst, wie sie ein Schwert führt und –“

„Glaubst du etwa, ich hätte nichts Besseres zu tun? Falls es dir entgangen sein sollte, ich habe eine Firma zu leiten, die führt sich schließlich nicht von selbst.“

„Und falls es dir entgangen sein sollte, bist du zurzeit krankgeschrieben und ich leite die Firma“, entgegnete Yami kühl. „Zeitlich gesehen dürften demnach keinerlei Probleme auftreten.“

„Also hör mal, du warst doch derjenige, der sie überhaupt hier angeschleppt hat! Und sie dann auch noch zu einem Vampir zu machen, ich möchte bezweifeln, dass das im Sinne ihres Vaters war. Hätte es nicht gereicht, sie in einem unserer Landhäuser unterzubringen, umgeben von ein paar guten Leibwächtern?“

„Hat das beim letzten Mal gereicht, bei ihren Eltern? Muss ich dich daran erinnern, was damals passiert ist? Er hat sie aufgespürt, obwohl sie so viele Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatten.“

„Hör auf ...“

„Und bei dem Kampf haben sich auch drei unserer Männer in die Schatten verabschiedet und Alinas Eltern –“

„Bitte hör auf!“

Hat Seth gerade „Bitte“ gesagt? Und dann auch noch in so einem ... fast flehenden Tonfall.

„Siehst du? In unserer Nähe ist Alina wesentlich sicherer.“

„Aber warum hast du ihr dann vorgeschlagen, kämpfen zu lernen? Sie ist noch ein Kind.“

„Ein Kind?“ Yami lachte. „Dieses ‚Kind’, wie du sie zu bezeichnen beliebst, ist inzwischen siebzehn und hat sich jahrelang in den Straßen da draußen herumgeschlagen. Du unterschätzt sie. Alina hat einen starken Willen. Und du hast sie gehört. Sie will kämpfen lernen. Sie hat sich dazu selbst und aus eigenem Willen entschlossen. Meinst du nicht, wir sollten ihr dabei helfen?“

„Yami ...

„Und bedenke bitte eines: Es gibt ein paar Dinge, die ich ihr nicht beibringen kann, du hingegen schon. Verpflichtet dich nicht sogar der Kodex dazu?“

„Also gut, ich werde sie als Schülerin nehmen. Aber nur, wenn du mir einen Ort zum Trainieren geben kannst. Im Gegensatz zu Mai kann ich mich dafür nämlich nicht mit ihr im Salon aufhalten.“

„Das wird kein Problem darstellen, ich habe den perfekten Platz für euch. Komm, gehen wir zu den anderen.“

Yamis Stimme wurde lauter. Ich wich rasch von der Tür zurück und sah zu, dass ich ins Esszimmer zurückkam.

„Na, hast du mit ihm gesprochen?“, fragte Mai, die völlig ruhig am Tisch saß, an ihrem Blutmarmeladenbrötchen knabberte und in der Zeitung blätterte.

„Nein, aber –“

Die Tür öffnete sich und die zwei Streithähne traten ein. Yami lächelte leicht, sicher als Zeichen dafür, dass er in ihrem Disput den Sieg davongetragen hatte.

„Alina, du wirst ab morgen von Seth unterrichtet“, verkündete er.

„Wieso erst ab morgen?“, platzte es aus mir heraus.

So viel zu dem Satz „Erst nachdenken, dann reden“.

„Weil wir den heutigen Tag brauchen werden, um eure Trainingsräume auf Vordermann zu bringen“, antwortete Yami. „Seit deine Eltern tot sind, war dort unten niemand mehr – abgesehen von uns beiden vor zwei Tagen. Und ich nehme mal an, ihr möchtet nicht inmitten von verstaubten Möbeln und Büchern trainieren. Meinst du, dass die Räumlichkeiten deinen Ansprüchen genügen werden, Seth?“

„Das werde ich dir sagen, wenn ich sie gesehen habe. Mein letzter Besuch dort ist eine Weile her.“

„Dann werden wir sie gleich nach dem Essen besichtigen. Und wenn du mit ihnen zufrieden bist, können wir uns daran machen, dort unten aufzuräumen.“

„Was heißt hier wir?“, fragte Seth.

„Willst du etwa Samantha und Beth darum bitten? Wir müssen es selbst tun.“

„Ich hasse Hausputz“, grummelte Seth.

Vor meinem inneren Auge manifestierte sich ein Seth mit Kopftuch und Besen. Das könnte doch noch ganz lustig werden.
 

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Von:  Hedwig
2013-10-13T18:11:06+00:00 13.10.2013 20:11
Weißt du schon ob und wann diese FF weitergeht?

Von: abgemeldet
2011-04-28T09:28:11+00:00 28.04.2011 11:28
Mist, mist, mist,mist, mist!
Schon wieder mal, habi anstatt zu lernen mich in deinen Ff verloren...
es war so spannen, dass ich einfach net aufhören konnte. Haha, Seth als Lehrer. Die arme Ali, das kann ja heiter werden!
Ich muss ehrlich zugeben, ich hätte drauf gewettet, dass ihre Eltern, oder besser ihr Vater, ein Vampir war. Aber wie immer, hast du mich positiv überrascht ;)
Es ist waaaahnsinn, das du immer so gut recherchierst. Das Adam vor Eva noch ein Frau hatte, ist mir erst vor kurzem unter gekommen, aber es passt perfekt hinein. Gibt es diesen Ursprung der Vampire wirklich, oder hast du ihn selbst gedichtet? Würde mich wirklich intressieren.
Ich kann nur darüber staunen, wie gut du deine Ffs immer rüber bringst. Ich bin jedesmal so gefesselt, dass ich darüber hinweg alles vergesse, oder sagen wir es lieber verdränge und alles in mich aufsauge, haha.
*räusper* jaa, ich weis. Schlechtes Wortspiel.
Nadenn. Ich hoffe du findest bald zeit um weiter zu schreiben, und freu mich schon auf die erste Begegnung mit unserem weißhaarigen Bekannten ^^

lg Fox
Von:  Hedwig
2010-11-02T07:20:00+00:00 02.11.2010 08:20
Schreib doch bitte weiter^^
Von:  mu_chan
2009-06-26T18:57:56+00:00 26.06.2009 20:57
tolle fic!!!
ich mag deine fics echt!!

ach ja ich find seth ja mal richtig hammer!!!
echt ne wucht!!
ich denke mal sobald er alina besser kennengelernt hat wird er vielleicht nen bissel freundlicher!!!

yami oh gott!!!
wenn ich mir des so vorstell!!!
is ja nen traum!!!

schreib bitte weiter!!!
freue mich schon riesig aufs neue kappi und andere fics von dir!!!!
lg mu_chan
*nen riesen großen schokieisbecher da lass*
Von:  Lady_Moonlight
2009-04-12T18:13:13+00:00 12.04.2009 20:13
Wow
Echt cool die Storys XD
Ich habe eh immer gerne Vampire, auch vor allem, wenn es mit Yami zu tun hatte.
War oder besser ist eine geile Idee^^
Ich freu mich schon auf ein Neues Kapitel^^
Von:  Hedwig
2008-12-11T20:36:24+00:00 11.12.2008 21:36
Schreib bitte schnell weiter


LG, Hedwig

Von:  LaMimi
2008-08-17T19:33:18+00:00 17.08.2008 21:33
Wunderbares Kapitel,
Tollste Fanfic
und nix dran auszusetzen! *__*
Scheib schön weiter ^.^

lg, deine Nana
Von: abgemeldet
2008-06-03T16:12:32+00:00 03.06.2008 18:12
Geilo O.O""
Voll kuuuhl die Story... Hab nix dran aus zu setzten... ö.ö
*nix mehr sagen kann*
uiiii Geilo x)
Von:  EdgyAtelier
2008-03-13T18:17:36+00:00 13.03.2008 19:17
Mach schnell weiter bitte!
Von:  Manami89
2008-02-21T17:47:45+00:00 21.02.2008 18:47
Nun melde ich mich auch mal wieder
sorry, das ich dir jetzt erst einen Kommi schreibe, aber bei mir ist es etwas stressig (Facharbeit + Klausuren = Krise)

Das Kapiltel gefiel mir sehr gut
armer Seto, nun muss er sich um Alina kümmern, anstatt
mit seiner Firma zu spielen
Ich glaube, wenn Yami Seth nicht beschäftigen könnte, müsste er ihn an ein Bett ketten, was Seth bestimm nicht gefallen würde ^^

Naja ich bin mal auf Seth unterricht gespannt^^
Und Peggy war auch mal wieder klasse, der hat den armen Seth ziemlich genervt^^
also bis zum nächsten Kapitel
manami89


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