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Die letzte Schlacht von Avrynn Orloch

Denn nur Liebe hat Macht über den Tod...
von

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Unsere erste Begegnung

Mh... wie soll ich anfangen... was ich zu erzählen habe, das ist keine normale Geschichte, kein normales Schicksal. Mal ganz abgesehen davon, dass ich ein nicht ganz normales Mädchen bin.
 

Es war eine nacht vor einigen Jahren... Nebel, flackernde Straßenlaternen, das ein oder andere Getränk zuviel...
 

Ich wollte nur noch heim. Der fürchterliche Streit mir Marc hatte mich ausgelaugt, die stickige Luft der Kneipe haftete an meiner Kleidung. Obwohl mich Zuhause niemand erwartete, lief ich schneller als ich eigentlich wollte. Die alte Staffel, die zwischen den wunderschönen Fachwerkhäusern zum Neckar hinunterführte, war schlecht beleuchtet. Ich wollte schon einen anderen Weg nehmen, doch angesichts der Steigung hatte ich keine Lust, den Berg noch mal hoch zu laufen. Die Kirche St. Laurentius schlug viertel nach zwölf. Jaja, Geisterstunde dachte ich, und rieb mir die Schläfen. Ich hätte das letzte Bier lieber stehen lassen sollen. Das Rauschen und Gurgeln des Flusses wurde lauter. Ich genoss immer den Ausblick auf die andere Seite. Hinter einem breiten Streifen Gebüsch und Bäumen schimmerten Villen aus dem 18. Jahrhundert und erinnerten an den blühenden Handel von einst. Am Neckar angekommen entschied ich mich für die etwas besser beleuchtete Uferpromenade. Der Verkehr war nur mäßig, in unserer Provinzstadt, so schön sie auch war, konnte man nach Mitternacht nicht mehr viel unternehmen. Als ich mit den Augen den Schlossberg streifte, zuckte ich zusammen. Neben der Kirche standen die Mauern eines alten Schlosses. Und auf diesen Mauern hob sich eine Gestalt gegen den Mond ab. Sie schien zu laufen, ja, fast zu rennen. Auf dieser Mauer!

In dem alten Gebäude war meine Schule untergebracht, ich wusste, der Hof war abgeschlossen. Also musste sich jemand den mühsamen Weg über den Friedhof gemacht haben, der um diese Zeit ebenfalls abgeschlossen war. Pater Ruben machte sich immer furchtbare Sorgen um die wertvoll restaurierten Gruften. Die Gestalt schien stehen zu bleiben, trat an die Kante... und stürzte sich hinunter.

Ich schrie leise auf, achtete weder auf Rechts, noch auf links, spurtete über die Straße und hechtete eine kleine Seitenstraße ins Altstadtviertel hoch. Total außer Puste kam ich in der Kirchgasse an... doch hier war niemand. Ich stand dicht unter der Mauer, die sieben Meter in die Höhe ragte. Hier konnte man sich nicht einfach kopfüber runterstürzen und dann aufstehen und weitergehen. Ich joggte an der Mauer entlang. Der Mond schien mir ins Gesicht. Nein, hier war niemand. Ich vergewisserte mich und umrundete die alte Kirche. Nichts. Kein Geräusch, nicht einmal die Katze des Apothekers von gegenüber war zu sehen.

Ich hatte meinen Rundgang beendet und stand unter den alten Kastanien auf dem Kirchplatz. Warum war hier niemand?

Ich zuckte mit den Schultern und machte mich in Stockdunkelheit auf den Weg wieder hinunter zum Neckar.

Auf einmal packte mich eine Hand fest um die Taille, eine andere hielt mir den Mund zu. Ich schrie und wand mich, doch mit jedem Zucken wurde der Griff stärker. Mein Angreifer zerrte mich in einen Torbogen und drückte mich an die kalte Wand. Zum ersten Mal sah ich sein Gesicht. Und mir stockte der Atem. Er war der schönste Mann, den ich je gesehen hatte. Ich hörte auf zu schreien und starrte ihn an. Mein Gott, warum hatte ich ihn noch nie gesehen? Seine Züge waren gleichmäßig, maskulin und doch sanft. Schwarze Locken umrahmten sein schönes Gesicht. Die Haare waren kurz, und doch länger als bei den Jungen in meiner Klasse.

Aber meine Schrecksekunde hielt nicht lange an. Tränen stiegen mir in die Augen. Davor hatte man mich mein Leben lang gewarnt. Er würde mich vergewaltigen und töten... glaubte ich zumindest. Seine Augen jedoch drückten etwas anderes aus. Sie schienen zu bitten. Bitten?! Ich ließ in meiner Gegenwehr nach, mir schwanden die Kräfte. Schließ lehnte ich meinen Kopf gegen die Wand, schloss die Augen und ließ die Tränen fließen.

Ich erwartete Gewalt, eine Alkoholfahne oder sonst etwas, aber nicht das, was jetzt kam.

„Schh... sei ruhig.“ Ich schluchzte, der angenehme Klang seiner Stimme ließ meine Hände erzittern. Seine Griffe lösten sich und ich spürte, wie sich sein Gesicht meinem näherte. Sein Atem strich warm über meine Haut. Er ließ seinen Kopf tiefer wandern, nahm schließlich seine Hand von meinem Mund und legte sie an meinen Hals.

Seine Lippen streiften unter meinem Kinn die Gegend, wo der Puls heftig klopft, wenn man sich aufregt. Ich konnte nicht anders, aber zur Angst gesellte sich ein neues Empfinden. Es war mir angenehm. Ich stand wie gelähmt. Sein Mund öffnete sich und seine Zunge strich über meinen Puls. Mein ganzer Körper zitterte.

„So ein schönes Mädchen...“, flüsterte er. „Das wäre fast schade, dich zu töten.“

Ich konnte nichts antworten, meine Knie zitterten und ich begann, an der Wand richtung Boden zu rutschen.

Er stützte mich, doch nicht ohne seinen Mund von meinem Hals zu nehmen. Ich spürte einen heftigen Schmerz, irgendetwas biss mich in den Hals. Ich schrie leise auf, vor meinen Augen bildeten sich Kreise, wir wurde schwindlig. Was tat er da? Das erinnerte mich alles...an... der Schmerz wurde schlimmer, ich konnte kaum mehr atmen. Alles krampfte sich zusammen. Ich ließ mich fallen, sackte zusammen. Das letzte, was ich wahrnahm, waren höllische Schmerzen im ganzen Körper, bis mich Dunkelheit verschluckte.
 

Langsam kehrte mein Bewusstsein zurück, begleitet von einem heftigen Pochen am Hals. Das Pochen wurde zu einem Stechen, das förmlich explodierte. Tränen rannen mir übers Gesicht. Ich wollte, das der schwarze Schatten wegging, der über mir hing. Langsam kehrte Leben in meine Glieder zurück.

„Na endlich.“ Sagte eine sanfte Stimme über mir.

„Lass mich gehen... ich will nicht... hilf mir, ich sterbe... Hilfe...“ Ich brachte keinen zusammenhängenden Satz auf die Reihe.

„Du stirbst nicht. Ganz ruhig, du stirbst schon nicht.“

Ich öffnete die Augen ganz. Der Schmerz wurde schwächer. Die Nachtluft roch gut. Seit wann konnte ich so viele Gerüche auf einmal wahrnehmen? Blut stach mir in die Nase. Frisches Blut.

Ich lag auf dem Boden, jemand beugte sich über mich. Das war doch der Typ von vorhin?

Ich richtete mich auf.

„Zum Glück. Ich dachte schon, du schaffst es nicht.“ Er schien erleichtert zu sein, aus welchem Grund auch immer.

„Wer... zum Teufel bist du?“

„Louis.“

Ich stöhnte auf. Was war eigentlich passiert?

„Was bist du? Du bist... kein Mensch...“

„Nein, da hast du recht. Sonst würde ich wohl kaum Nachts herumlaufen und Menschen töten.“

Mir dämmerte etwas. Dann war er also... aber es gab doch keine Vampire. Jedenfalls nicht wirklich. Aber das hier war so erschreckend real.

„Ich bin ein Vampir.“

„Ja...“ Blöde Antwort dachte ich, aber wenigstens bin ich noch am Leben.

„Komm mit... wir müssen gehen.“

„Moment... wer hat gesagt, dass... du hast mich gebissen, stimmt’s?“

„Ja... ist so ne Macke von mir.“ Er grinste.

Mittlerweile waren die Schmerzen weg, ein sachtes Ziehen erinnerte mich an die beiden Löcher in meinem Hals.

„Los, komm jetzt. Es wird bald hell.“

Er zog mich hoch.

„Wohin gehen wir?“ Fragte ich.

„Wirst du schon noch sehen. Halt dich fest.“

„Wo denn bitte?“ Ich blickte mich um.

„Na, an mir.“ Er legte seine Arme um mich, ich legte meinen Kopf an seine Schulter und Schlang meine Hände um seinen Nacken.

Noch bevor ich etwas sagen konnte, flogen wir durch die Nachtluft, hoch über der Stadt.

Wer bin ich?

Ich wagte nicht, nach unten zu sehen. Ich sah in die Ferne, wo sich der Neckar wie ein silbernes Band durch unser schönes Schwabenländle zog. Wir hatten meine Stadt längst hinter uns gelassen, ich erkannte schon die Stadttürme von Reutlingen. Dahinter ragte die schwäbische Alb gegen den Himmel. Er war nicht so schwarz wie ich immer gedacht hatte, sondern wunderbar hellgrau.

Wo flogen wir denn hin? Richtung Tübingen? Oder doch nicht? So langsam verlor ich die Orientierung. Klammheimlich schlich sich die Kälte durch mein Ringelshirt, meine Finger wurden steif. Seltsamerweise hatte ich nicht das Gefühl, als würde ich gleich fallen.

Ich schloss die Augen. Langsam wurde der Flug zu einem prickelnden Abenteuer. Ich ließ mir die Ereignisse der letzten Stunden durch den Kopf gehen. Was würde passieren, wenn ich morgen nicht auftauchen würde? Wahrscheinlich würden sie mich nicht vermissen. Meine Großtante hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich ein lästiger Esser an ihrem Tisch war. Der einzige Grund, der mich vor dem Heim bewahrte, war die Blutsverwandtschaft.

„Ich schulde es deiner Mutter, Gott hab sie selig, aber sobald dein Vater auftaucht, musst du weg.“ Das war der Spruch, den ich seit meinem vierten Lebensjahr zu hören bekam. Meine Mutter war an Krebs gestorben, meinen Vater kannte ich nicht. Er sei auf einer Reise durch den Süden Englands verschwunden, angeblich hatte er meine Mutter mit ihrem neugeborenen Töchterchen sitzen lassen. Ich glaubte das nicht. Er würde wiederkommen. Ganz bestimmt.

Während ich meinen Erinnerungen nachhing, wurde die Luft wärmer. Es roch nach Morgen, so wie es riecht, wenn man vor einer langen Autofahrt um fünf Uhr morgens vor die Haustür tritt und die frische Luft tief in die Lungen strömen lässt.

Louis flog niedriger, unter uns erstreckte sich ein gewaltiges Waldland, von zwei Flüssen durchzogen. Weit und breit war keine Stadt zu sehen, nicht einmal eine Straße schien den Forst zu durchqueren.

Die Vögel sangen und am Horizont brach ein heller Streifen auf. Langsam näherten wir uns dem Boden. Die Landung war einigermaßen sanft, mal abgesehen davon, dass ich den geeigneten Augenblick zum Laufen verpasste und der Länge nach hinschlug.

Louis lachte, was ich weniger komisch fand.

„Findest du das witzig?“ Ich stand auf und klopfte mir Dreck von der Cordhose.

Louis lachte weiter.

„Erst tust du mir weh, dann machst du mich ohne zu fragen zum Vampir, und dann lachst du mich aus! Nicht sehr höflich, würde ich sagen.“ Mittlerweile war ich stocksauer.

Der Adonis schien sich beruhigt zu haben und klopfte mir Blätter vom Rücken.

„Entschuldige, aber Lachen kann ich nicht sehr oft.“ Er versteifte sich und sah zum Horizont.

„Los, wir müssen weiter, die Sonne geht auf.“

„Ja ja...“ murrte ich und trottete neben ihm her. Wir überquerten die Lichtung, auf der wir gelandet waren und tauchten ins dunkle Unterholz ein. Ich konnte nichts sehen hielt mich an seinem Mantel fest.

Die linke Hand streckte ich tastend vor und erschrak, als sie plötzlich kalten Stein berührte.

Eine Kette rasselte und Holz schlug auf Holz. Wo war ich verflixt und zugenäht?

Fackeln entzündeten sich von selber und erleuchteten einen steinernen Torbogen.

Meine Kinnlade klappte herunter und ich bekam sie auch nicht mehr hoch, Mein Blick fiel auf einen verwunschenen Schlosshof, wie der aus dem Märchen mit Dornröschen und den anderen Prinzesschen.

Es war dunkel, aber die Mauern hoben sich deutlich gegen den Himmel ab. Louis zog mich über den Hof, scheinbar in Eile, und drängte mich eine steinerne Freitreppe hoch. Die beiden Flügeltüren schwangen auf und ich befand mich in einer Halle mit Kronleuchtern, Porträts und Ritterrüstungen. Ein echtes Märchenschloss!

„Wow... gehört das alles dir?“ Ich strich mit dem Finger über eine vergoldete Stuhllehne.

Louis nickte, wartete aber nicht auf mich, sondern schritt durch die Halle und stieg eine geschwungene Treppe in die umlaufende Galerie hoch.

„Willkommen Zuhause, sei mein Gast!“ Es fehlte nur noch, dass tanzende Tassen, ein sprechender Kronleuchter und ein Wecker (oder war es eine Uhr?) aus den Schränken sprangen.

„Willst du dich nicht umsehen?“ Louis beugte sich über das Geländer. Der Sex persönlich, ich mein ja nur...

„D-doch...“ Ich lief hinter ihm die Treppe hoch.

„Ich habe mehrere Gästezimmer. Was sind deine Vorlieben? Bücher? Malerei? Handarbeit?“

„Bücher, definitiv.“

„Gut.“ Er zögerte nicht, sondern stieß nach wenigen Schritten eine Tür auf. Vor mir erstreckte sich eine riesige Bibliothek, wie ich sie noch nie gesehen hatte.

„Betrachte es fortan als dein Eigentum.“

„Was is los?“

“Es gehört dir. Du darfst dich zu jeder Zeit hier aufhalten, jedes Buch lesen, meinetwegen auch doppelt und dreifach.“

„Ok... wenn du meinst...“ Meine Stimm verlor sich in den Weiten des Raumes. Es roch nach Leder, Holz und schweren Stoffen.

Louis wandte sich um und verließ den Raum. „Ich zeig dir dein Zimmer! Komm mit!“

Ich beeilte mich, hinter ihm herzukommen.

„Das ist es.“ Er öffnete eine Tür am Ende des Ganges. „Ich hoffe, es gefällt dir. Ich kenne mich nicht so aus, was Damen betrifft.“

In der Tat. Das Zimmer war mit hellblauer Seide bespannt, an den Wänden hingen verschiedene Gemälde. Ich sah einen Schreibtisch, eine Sitzgruppe um den Kamin, Bücherregale, und eine Fensternische, deren blaue Vorhänge zugezogen waren. Überall brannten Kerzen.

„Hier hat früher die erste Kammerfrau der Herzogin gewohnt. Vielleicht willst du etwas umdekorieren, bitte, tu es.“ Louis stand schon wieder in der Tür.

„Ach ja, bevor ich’s vergesse. Die linke Tür führt ins Schlafgemach, die rechte in die Ankleide. Die Tür gegenüber führt zu deinem Salon, der wiederum mit einem Gang verbunden ist. Wenn du die Kleider wechseln willst, schau dich um, irgendetwas müsste noch im Schrank hängen.“

Mit den Worten zog er die Tür zu und verschwand.

Ich glaubte zu träumen. Das – war – einfach – unmöglich! Ich lebte wie eine Prinzessin! Und im Gegensatz zu meinem sterblichen Leben im Wohnsilo jetzt im eigenen Schloss!

„Woohooooo!“ Ich warf mich auf eine kleine Chaiselounge und ließ die Füße baumeln. Als ich wieder aufstand, bemerkte ich, dass ich vielleicht wirklich mal die Kleidung wechseln sollte. An mir hingen Ästchen und Blätter, Moos und an meinen Schuhen Schlamm.

Beherzt griff ich nach einem Kerzenhalter und öffnete die Tür zur Ankleide.

Ein kleiner, gemütlicher Raum mit Truhen, Schränken und Spiegeln. Na dann, ran an den Speck!
 

Etwa eine halbe Stunde später verließ ich das Kämmerchen wieder in Kniebundhosen, Strümpfen, Schnallenschuhen (In dunkelblau, meiner Lieblingsfarbe) und einem cremefarbenen Hemd. Leider waren meine Haare zu kurz für die passende Schleife, aber die wuchsen wahrscheinlich noch. Ich hoffte es zumindest, weil ich mal gelesen hatte, das ein Vampir sich seit seinem Biss nicht verändert.

Ich schlich mich auf den Gang hinaus und hinunter in die Eingangshalle. Hinter zwei verglasten Türen meinte ich Louis zu erkennen und öffnete sie.

Er stand vor einem Gemälde, das in einen dunklen, schlichten Rahmen gefasst war. Er schien so konzentriert, dass ich ihn nicht stören wollte und blieb hinter einer Vitrine stehen.

Er strich sanft mit den Fingern über das Bild. Erschrocken erkannte ich, dass ihm eine Träne übers Gesicht lief.

„Louis?“ Ich flüsterte fast, aber er hörte mich trotzdem.

„Ja?“ Überrascht drehte er sich um und wischte sich die Träne weg.

„Was gibt’s?“ Ich ging zu ihm hin.

„Wer ist das?“ Fragte und deutete auf das Bild einer jungen Frau. Ich sah ihr Gesicht nicht an, sondern studierte Louis’ Züge.

Er lächelte sanft. „Sie war eine wunderbare Frau. Schön, intelligent und selbstbewusst. Sie hat sich nie von ihrem Weg abbringen lassen und war sich immer treu. Ich habe sie geliebt, wie ein Mensch nur lieben kann.“ Er stockte. „Sie haben sie umgebracht.“ Fuhr er mit tonloser Stimme fort. „Die, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin, haben ihr das Blut aus den Adern gesaugt, bis auf den letzten Tropfen. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance.“ Er klang verbittert. Ich sah beschämt zu Boden. Ich wusste, wie es war, einen geliebten Menschen zu verlieren.

„Findest du nicht, dass sie dir ähnlich sieht?“ Fragte er mich unvermittelt.

„Wie bitte?“ Ich verstand nicht.

„Sieh sie dir an. Sie sieht dir sehr ähnlich.“

In dem Moment, in dem ich das Mädchen ansah, wurde mir schwindlig. Die sah mir nicht nur ähnlich, das war ich!

„Das darf doch nicht wahr sein...“ Murmelte ich. Der einzige Unterschied war, dass ihre Haare länger als meine waren und etwas heller.

„Was ist los?“

„Louis, wer ist sie? Wie hieß sie?“ Ich war auf die Antwort vorbereitet, aber als sie kam, musste ich mich erst mal an der Wand abstützen.

„Emilia Victoria Seraphine.“ Louis sagte es, als wollte er dem Mädchen damit neues Leben einhauchen.

„Ähm... alles in Ordnung mit dir? Du siehst nicht sehr gut aus.“ Er packte mich am Arm und setzte mich auf einen Sessel.

„Was ist los?“ Wollte er wissen.

„Das bin ich...“ Stöhnte ich auf. „Das... bin ganz eindeutig... ich!“

Louis blickte hastig zwischen Bild und mir hin und her.

„Wie kann das sein...?“Murmelte er. „Das geht nicht! Diese Frau wurde im Jahr 1788 getötet, das kannst unmöglich du sein!“

„Sie trägt meinen Namen, Louis, und einen Beweis habe ich noch. Was hatte sie am rechten Oberarm?“

„Am rechten...?“ Er schaute verwirrt.

„Was hatte sie da?“

„Ich glaube... ein Muttermal, das wie in Stern aussah.“

Wortlos schob ich meinen rechten Ärmel hoch und zeigte ihm die dunkle Pigmentstelle.

„Glaubst du mir jetzt? !“

Das Gheimnis lüftet sich

Es war wohl der längste Morgen meines Lebens gewesen. Wir hatten Stunde um Stunde gerätselt, wie das Mädchen mir so ähnlich sehen und auch noch den Leberfleck besitzen konnte.

Louis hatte etwas von einem Wiedergänger gesagt, was mir aber auch nicht half. Seine Theorie war, dass die Seele dieses Mädchens ihre ganze Kraft gebündelt hatte, aus dem Schattenreich entflohen war und sich in meinem Körper eingenistet hatte. Das Aussehen wäre dabei übertragen worden.

Soweit konnte ich ihm noch folgen, der Rest war mir unverständlich.

„Du bist in Gefahr, Emilia.“

„Warum?“

„Deine Seele besitzt Mächte, für die andere töten würden. Und glaub mir, das werden sie auch tun.“

„Ich verstehe nicht...“

„Deine Seele hat sich aus dem Reich der Verdammten freigekämpft und ist in die Welt der Lebenden zurückgekehrt. Das ist gegen die Gesetze.“

„Welche Gesetze?“

„Am Anfang der Zeit wurden Gesetze geschrieben, an die sich jeder Vampir halten muss, ob er will oder nicht. Indem dich ein Vampir getötet hat, ist deine Seele in die Schattenwelt gelangt. Sie kann erst von dort ins Paradies kommen, wenn sie gerächt wird.“

„Wer kann eine Seele rächen?“

„Jeder, sofern er Bezug zum Opfer hatte. Ich habe es damals nicht gekonnt. Mir fehlte der Mut, ich war verzweifelt und musste mich erst an mein neues Dasein gewöhnen.“

„Was hat das mit mir zu tun?“

„Dein Mörder weiß, dass deine Seele sich befreit hat. Er wird zurückkommen und dich suchen. Er wird durch über kurz oder lang finden und versuchen, dich zu vernichten.“

„Aber er kann mich doch einfach in Ruhe lassen, schließlich habe ich ihm nichts getan!“

So langsam begriff ich, dass ich wohl in einer ziemlich hilflosen Lage war.

„Das könnte er, ja. Aber durch deinen Kampf im Schattenreich hast du dir Kräfte zueigen gemacht, die seine bei weitem übersteigen. Deine Seele kennt ihn. Er muss in ständiger Angst leben, dass du dich für seine Tat rächst.“

„Aber das will ich doch gar nicht!“

„Früher oder später wirst du es wollen. Du musst verstehen, dass du deine Seele mit jemandem teilst.“

Ich spürte einen dicken Kloß in meinem Hals. Nur nicht weinen, sagte ich mir. Aber die ersten Tropfen ließen meine Sicht verschwimmen.

„Ich will das aber nicht!“

Louis machte eine hilflose Geste und fuhr sich durch die Haare.

„Es geht nicht darum, was wir wollen, sondern darum, was wir müssen. Niemand wird an seiner Bestimmung vorbeikommen. Niemand kann dem Schicksal ausweichen. Versuche nicht zu verleugnen, was oder wer du bist. Es funktioniert nicht.“

„Sehr beruhigend...“

Ich wischte mit dem Handrücken eine Träne weg und zog die Nase hoch. Ich kuschelte mich noch tiefer in den warmen, weichen Stoff des Sessels.

„Ich kann kein Vampir sein.“ Schluchzte ich. „Ich muss töten, ich muss Blut trinken und meine Seele teilen.“

Louis schien etwas verlegen zu sein. Ob ich weinte, oder dass es die Tatsache war, dass die Reinkarnation seiner großen Liebe vor ihm saß war nicht zu erkennen.

„Emilia. Du bist für mich eine andere Person als die Frau, die ich damals auf so schmerzliche Weise verloren habe. Du bist nicht die selbe, wenn du ihr auch so ähnlich bist. Deine Seele gehörte früher ihr, aber das macht dich nicht automatisch zu diesem Mädchen.“

Ich nickte und wischte mein Gesicht an meinem Ärmel ab.

„Sicher?“

„Ich bin mir sicher.“ Sagte er.

„Ich geh Schlafen.“ Murmelte ich und stand auf. Jetzt erst bemerkte ich, dass die Vorhänge zugezogen waren. Kein Strahl Sonnenlicht durchdrang den dicken Samtstoff, der wie aus goldenen Kannen gegossen auf den Boden floss.

„Schlaf gut.“ Meinte Louis und ließ sich auf ein Sofa fallen.

„Ja, du auch.“ Antwortete ich und machte mich auf den Weg durch die Eingangshalle nach oben.

Schlafen konnte ich lange nicht und als ich endlich wegdöste, suchten mich in meinen Träumen seltsame Gestalten heim.

Und was zum Teufel ist ein Armath ?

„Ich finde dich und dann werde ich dich vernichten! Vernichten! Vernichten... nichten... ten...“

Ich schlug nach der schwarzen Gestalt vor mir, strampelte mit den Beinen und fiel in einen Abgrund. Ziemlich unsanft landete ich und öffnete die Augen.

Ich konnte im schummrigen Kerzenlicht erst nichts erkennen, aber dann erinnerte ich mich an das schöne Zimmer im Schloss, das jetzt mir gehörte.

Warum saß ich auf dem Boden? Ich rieb mir stöhnend meinen Allerwertesten und schob die Laken und Decken zur Seite.

Wie spät war es? Das Zifferblatt der nächsten Uhr war verschwommen. Aber den Geräuschen von draußen nach zu urteilen schon Abend. Der obligatorische Käuzchenschrei klang aus dem Wald. War es schon dunkel? Ich wollte nichts riskieren und wechselte erst mal stillschweigend meine Kleider. Zu meinem Entsetzen befand sich kein zweites Paar Männerkleidung im Schrank, also musste ich mich in eines dieser engen Kleider zwängen. Dass man dabei kaum Atmen konnte, ohne dass die Nähte krachten, hatte früher wohl gar nicht gestört. Ich betrachtete mein Werk im Spiegel. Gar nicht so schlecht, da hatte sich wohl das Nordic Walking ausgezahlt.

Das Kleid war aus türkisfarbener Seide und mit dunkelbraunen Ornamenten versehen, was mir gar nicht so schlecht stand. Probleme hatte ich nur mit dem tiefen Ausschnitt, der mehr ent- als verhüllte. Bücken? Fehlanzeige. Das ging sowieso nicht, wie ich in einem Eigenversuch feststellte, da sonst die Ösen am Rücken zu platzen drohten.

Die ersten Schritte in dem Meer aus Stoff und Tüll gestalteten sich einigermaßen schwierig, was zur Folge hatte, dass ich bis zur Tür einige Minuten brauchte. Das Kleid wollte nicht so ganz durch die Tür passen, also musste ich schieben und stopfen, bis ich auf dem Gang war. Draußen fiel mir auf, dass ich auch einfach den zweiten Türflügel hätte öffnen können (Anm. d. Autorin: doof >.<)

Das Kleid rauschte und raschelte bei jedem Schritt, und ich kam mir unheimlich laut und tollpatschig vor, als ich die breite Treppe hinunterkletterte.

Mondlicht fiel durch die Scheiben. Wunderbar romantisch dachte ich, so lässt sich’s leben.

Ich passierte einen großen Wandspiegel und sah mich nur flüchtig an. Mich? Tatsächlich, ich sah mein Spiegelbild. Oben in der Ankleide war es mir gar nicht aufgefallen, aber hier umso deutlicher.

Meine Haare waren länger geworden. Sie reichten mir in großen Locken bis auf die Schultern. Warum zum Teufel waren die so gewachsen?

Ich trat näher an den Spiegel. Das musste doch einen Grund haben... meine Lippen waren blass und nur ein Strich in der Landschaft. Etwas mehr Farbe würde nicht schaden. Und siehe da: langsam aber sicher wurden sie voller und dunkler. Leider hielt der Effekt nicht lange an. Ich dachte noch mal: Die Lippen müssen dunkler und voller werden!

Wieder veränderten sie Form und Farbe. Zufrieden mit dem Ergebnis betrat ich den Salon, von hundert Kerzen festlich erleuchtet und mit den Spiegeln und kristallenen Lüstern ein wahrer Augenschmaus.

Louis war nirgendwo zu sehen, also beschloss ich, meine Übungen fortzusetzen. So langsam kam ich auf den Geschmack des Vampirseins. Ob ich mal... nur so zum Spaß natürlich... aber ich verwarf den Gedanken, mir ein paar Körbchengrößen dazuzumogeln schnell wieder. Nicht dass ich noch aussehe wie Pamela Anderson und dann umkippe oder so... =)

Ich ließ mich auf ein Sofa fallen und pustete mir meinen Seitenscheitel aus dem Gesicht. Und jetzt? Mein Magen knurrte laut und deutlich. Mh... so ein Nutellabrot... oder allgemein Schokolade... ich leckte mir die Lippen und fühlte meine neuen Eckzähne. Spitz und etwas fremd waren sie. Hoffentlich fielen die nicht zu sehr auf!

Louis immer noch nicht da. Langsam wurde ich unruhig und wippte auf dem Sofa auf und ab.

Plötzlich packte mich jemand mit eiskalten Händen an den Schultern.

„Aah! Was… Louis, hast du mich erschreckt!“

Er lächelte spitzbübisch. „Schon auf?“

„Schon lange!“ Log ich, denn Mitternacht war schon vorbei.

„Ich dachte, du schläfst noch. Ich wollte dich nicht wecken.“ Sagte er entschuldigend und lockerte das Band, mit dem sein Umhang geschnürt war.

„Geht okay. Du warst draußen?“

„Essen… wenn man das so nennen kann.“ Sein Lächeln wurde bitter.

„Louis, ich hab Hunger.“

„Das weiß ich.“

„Du weißt…?“

„Ich bin schon ein paar hundert Jahre Vampir, meine Fähigkeiten sind so gut wie voll ausgebildet. Willst du dir selber was holen?“

Ich verzog die Mundwinkel und schluckte trocken.

„Also eher nicht.“

Es ekelte mich doch ein wenig – allein die Vorstellung, einen Menschen zu töten – nein, lieber nicht…

„Könntest du mir… was… holen?“

Er sah mich schief an. „Hab ich schon dabei.“ Ohne zu zögern griff er in die unendlichen Falten seines Mantels und zog ein kleines Glasfläschchen hervor, das anscheinend mit Blut gefüllt war.

Mein Magen krampfte sich zusammen und ein prickeln durchzog meine Haut.

Ich nahm die Flasche, entkorkte sie und stürzte die warme Flüssigkeit auf einmal hinunter. Langsam schien ich größer zu werden, meine Atemzüge weiter und das Prickeln verstärkte sich. Bis auf den letzten Tropfen saugte ich alles aus dem schmalen Flaschenhals und leckte mir genüsslich die Lippen.

Mehr, ich brauchte mehr davon. Jetzt! Hier! Benommen stand ich auf und ging auf Louis zu. Er bewegte seine Lippen und schien etwas zu sagen, doch meine Welt war wie in Watte gepackt und ich konnte ihn nicht verstehen. Blut rauschte in meinen Ohren, ich brauchte mehr davon!

Ein Schlag ins Gesicht brachte mich zur Besinnung. Was machte ich hier eigentlich?

„Louis? Verdammt, was soll das?“ Meine Wange brannte höllisch, aber das entsetzte Gesicht meines Meisters schickte mir kalte Schauer den Rücken hinunter.

Er war einen Schritt vor mir zurückgewichen.

„Mia? Geht es dir gut?“

„Ich… ich glaube schon.“

Er lächelte schief. „Das hätte eben böse ausgehen können.“ Meine Hände zitterten.

„Was war das?“

„Och…“ Er zuckte mit den Schultern. „Du scheinst eine besondere Gabe zu entwickeln. Nützlich, aber sehr gefährlich.“ Damit war für ihn die Sache wohl gegessen.

„Louis, sag es mir endlich!“

„Na gut…“ Er setzte sich auf ein Sofa und ich setzte mich daneben.

„Du hast dich eben so sehr auf dein Verlangen nach Blut konzentriert, dass es bei dir zu einem Rausch wurde. Mir könntest du nicht wirklich schaden, aber für einen Menschen wäre das der sichere Tod.“

„Heißt das… dass ich eine Bestie bin?“ Ein schreckliches Gefühl beschlich mich.

„Nein. Du kannst dich auch auf jedes andere Verlangen konzentrieren und es zum Rausch steigern. Wie sich das anfühlt, weißt du ja jetzt. Andererseits ist es schwierig, da wieder raus zu kommen. Selbst nachdem man sein Ziel erreicht hat, hält der Rausch an. Und wenn dein Ziel ist, einen Menschen zu töten, dann bist du in der Tat eine wandelnde Waffe.“

Tränen traten mir in die Augen.

„Louis, ich will das nicht. Ich WILL nicht so sein!“

„Oh, es hat durchaus gute Seiten. Wenn du einmal gelernt hast, diese Gabe gezielt einzusetzen, spürst du weder Schmerz noch Hunger im Rausch, du bist so gut wie unbesiegbar, denn deine Konzentration gibt dir Kräfte, von denen andere nur träumen können.“

„Wie soll ich denn je lernen, damit umzugehen?“ Mich verließ so langsam der Mut.

„Ich geb dir einen guten Rat: versuche dich von diesem Gefühl fernzuhalten. Wenn du dieses Prickeln spürst, dann denke an etwas wunderschönes, warmes und helles. Denk an die Liebe… an deine Familie… vielleicht an deinen Freund…“ Seine Stimme verlor sich.

„Jede Macht ist dunkel. Auch der Armath. So heißt dieser Rausch. Aber das ist Teil unseres Fluches.“

„Flüche können nur durch Liebe gebrochen werden.“ Murmelte ich.

„Was? Ja, da hast du vielleicht recht.“
 

Also… erstmal: Sorry, dass es so lange gedauert hat ^^ dann: ich werde nicht mehr aus der ich-Perspektive schreiben, das wäre für die nächsten Kapitel etwas störend. Ich hoffe, ihr verzeiht mir diesen kleinen Faux Pas, dafür geht es endlich, endlich (nach über 6 Monaten) mit meiner LO-Fic weiter, für alle, die es interessiert. =)

Hoffentlich hat euch das Kapi gefallen, die Monologe waren leider nötig ^^
 

Danke an alle Leser, dass ihr regelmäßig hier reinschaut. Und ich schwöre es: Ich stell mindestens alle zehn Tage ein neues Kapitel online, bis der Salat gegessen ist =)
 

Mit den allerbissigsten Grüßen, sabb

(die unter die Vampire gegangen ist ^^)

Nichts, was ich nicht wüsste

Die Nächte auf Schloss Rothenberg wurden Mia immer angenehmer und sie lernte, mit ihrem neuen Dasein zurecht zu kommen. Louis war bald mehr als ein Freund für sie, er war wie ein Bruder. Nur langsam erkannte sie, dass viel mehr hinter seiner Fassade (und vor allem hinter seinem hübschen Gesicht) steckte, als er zugeben wollte.
 

Kurz vor der Dämmerung im Schlosshof…
 

Mia schnürte ihren Umhang ab und leckte sich die Lippen. Sie hatte einen Betrunkenen gebissen, zusätzlich zum Blut schmeckte sie den Wein. Louis war nirgends zu sehen, also entschloss sie sich, bis zur Dämmerung noch draußen zu bleiben. Ihr Lieblingsort war eine verlassene Nische in der Burgmauer von der aus man das gesamte Neckartal von Tübingen bis Reutlingen im Blick hatte.

Wie so oft setzte sie sich auf die bröckelnden Felsen und atmete die Frische Luft ein. Es roch würzig nach Löwenzahn, Waldboden und Vogelnestern. Sie wünschte, dass Louis sie auch einmal begleiten würde, denn er zog sich immer sofort zurück und schien sehr einsam.

Als sie so da saß und den ersten Vögeln zuhörte, witterte sie auf einmal den Geruch eines Fremdlings. Ein zweiter, ihr unbekannter Vampir befand sich auf dem Gelände. Er war nahe bei Louis – aber Gefahr ging keine von ihm aus.

Die beiden kamen näher. Mia duckte sich hinter einen Vorsprung und konnte ihre Stimmen hören.

„Nein, das können wir nicht tun.“

„Kommt schon, das ist die Gelegenheit… Oder habt Ihr eine bessere Idee?“

„Das Risiko ist noch zu hoch.“

„Ohne Risiko funktioniert nichts.“

Der Fremde versuchte Louis von etwas zu überzeugen. Die beiden waren fast bei Mia angekommen, als sie stehen blieben.

„Wollt Ihr sie denn nicht rächen? Oder war sie es nicht wert?“

„Wie kannst du es wagen… so von ihr zu sprechen! Was bist du denn schon? Ein mittelmäßiger Mann, schon immer gewesen. Für genug Geld würdest du doch deine Großmutter verkaufen!“

Der andere kicherte. „Der Sarg ist im Preis inbegriffen. Hihi… schade eigentlich, dass die Gute schon so lange tot ist, als Antiquität hätte sie sicher was hergegeben… Hihi“

Louis fuhr ihm über den Mund.

„Bedenke, mit wem du sprichst. Beim nächsten Mal werde ich dir nicht mehr aus der Klemme helfen!“

„Also mögt ihr mich doch?“

„Nein, aber ich finde sonst niemanden, der solche Aufträge ausführt. Und jetzt verschwinde!“

„Mit Vergnügen, Hoheit!“

„Nimm dieses Wort nie wieder in den Mund, hörst du? Dieses Schloss hat seine Ohren überall…“ zischte Louis.

Mit einem hässlichen Gackern und Kichern stürzte sich der Fremde von der Schlossmauer und verschwand im Morgennebel.
 

Louis kam direkt auf den Vorsprung zu, hinter dem Mia kauerte.

„Emilia?“

„Ja?“ Sie zögerte, doch dann stand sie auf und sah ihm ins Gesicht.

„Es tut mir leid, dass ich gelauscht habe… wirklich, ich wollte das nicht.“

„Schon gut, ich habe mir auch nicht sonderlich Mühe gegeben.“

„Wobei?“ Sie war ziemlich verwirrt.

„Einer Art Telepathie… nicht so wichtig. Komm, die Sonne geht bald auf. Wir sollten verschwinden.“

„Wer war das?“

„Eine charakterschwache Ratte, die sich jedem für ein Stückchen Macht anbiedert.“

„Ahja…“ Sie musste fast rennen um mit dem großen Vampir mithalten zu können.

„Hey, nicht so schnell…“ Louis lächelte.

„Entschuldigung… Bevor ich es vergesse – vielleicht bekommen wir bald Besuch, nicht dass du erschrickst.“

„Ungebetenen?“

„Je nach dem, wen sie schicken.“

„Sie?“

„Vergiss es. War ne blöde Idee, dir das zu erzählen.“ Murmelte Louis und ließ die große Eichentür aufschwingen.

„Moment mal.“ Mia pustete sich das gelockte Pony aus der Stirn und hielt Louis am Ärmel fest.

„Ich sitze hier zusammen mit dir auf einer Burg am Arsch der Welt fest, ohne Kontakt zu Menschen, du treibst dich mit zwielichtigen Gestalten rum und erzählst mir nicht mal, was hier abgeht!“ Schrie Mia ihn an.

Er drehte sich um, und sein Gesicht zeigte Trauer, Wut und einen verzweifelten Funken Hoffnung.

„Hör zu: Du hast soeben eine neue Dimension betreten, wenn du das verstehst. Hier geht es nicht um das Hier und Jetzt, es geht um hunderte Jahre der Vergangenheit, um den Tod, um geliebte Menschen, um Rettung und gerettet werden. Auf dir lastet der Fluch noch nicht so lange wie auf mir, deswegen hast du deine unschuldige Art behalten. Aber glaub mir eines: Das alles“ er machte eine große Geste mit seinem freien Arm „das alles hier ist ein abgekartetes Spiel. Nichts wird dem Zufall überlassen. Jeder ist von einer höheren Macht abhängig, unfähig seinem verdammten Leben ein Ende zu setzen.“

Er riss sich los, verschwand in einem Salon und donnerte die Tür zu.

Mia blieb nichts übrig, als sich auf ihr Zimmer zu schleichen und in einem Anflug von Heimweh und Verlassenheit zu weinen. Irgendwann, als die Sonne schon hoch am Himmel stand, schlief sie mit geröteten Augen ein.

Ein Rowdy namens Uriel

Am nächsten Abend, kurz nach Sonnenuntergang, erwachte Emilia und rieb sich die Augen. Noch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte wusste sie, dass sich etwas geändert hatte. Eine seltsame Spannung lag in der Luft.

Sie stieg aus dem Bett, wickelte sich in ihren Morgenmantel (wohl eher Abendmantel) und fing an, sich vor dem großen Spiegel die Haare zu kämmen. Sie waren seit ihrer Ankunft etwas gewachsen, nicht viel, aber sie reichten ihr bis auf die Schultern. Aus den kurzen Fransen waren große Locken geworden, warum auch immer.

Als sich der Kamm zum vierten Mal verhakte, gab sie seufzend auf und schlüpfte in ein Hemd aus roter Baumwolle. Sie fand keine passende Hose und trug deswegen ihre alte Cordhose dazu.

Die Haare strich sie notdürftig zurück und band sie mit einem Chiffonband zusammen. Gar nicht so schlecht, fand Mia.

Gerade, als sie die Hand nach der Klinke ausstreckte, durchfuhr sie ein seltsames Prickeln. Was war das?

Sie entschloss sich, es besser nicht zu beachten und knotete ihren Umhang zu.

Auf dem Weg in den Schlosshof pfiff sie eine Melodie vor sich hin, um Langeweile rauszuhängen. Louis war (wie immer) nicht zu sehen. Emilia setzte sich auf den Brunnenrand im Schlosshof und ließ die Füße baumeln. Der Brunnen war offen. Sie nahm einen etwa faustgroßen Stein und spielte mit ihm. Er war schön, seltsam bläuliche Adern durchzogen seine grüne Fassade. Sie beachtete es aber kaum und ließ ihn in den Schacht fallen. Wie tief er wohl war?

Sie lauschte, aber hörte keinen Aufschlag. Vielleicht war der Boden schon so vermoost…

Die laue Abendluft strich ihr durchs Haar und bauschte ihren Umhang auf. Sie konnte die gegenüberliegende Kuppe des Schurwaldes sehen. Unten schlängelte sich silberblau der Neckar. Emilia wünschte sich, noch einmal bei Sonnenlicht an seinen Ufern zu laufen, noch einmal mit ihren Freunden dort baden zu gehen.

Sie seufzte melancholisch. Wo würde sie heute ihr Essen finden? Die kleine Fachwerkstadt am Fuße des Berges war ein verschlafenes Nest, niemand würde sich nach Mitternacht draußen aufhalten und vor Mitternacht war es zu gefährlich, ein Opfer zu jagen.

Mia holte ihren Dolch aus einer Umhangfalte. Er glänzte silbern mit einem schwarzen Edelstein am Heft. Louis hatte ihn ihr geschenkt, zur schnellen Verteidigung. Gegen Vampirjäger konnte er nicht viel ausrichten, aber aufgebrachte Dorfbewohner hielt er mit vergifteter Klinge auf Abstand. Er lag ihr gut in der rechten Hand – stets griffbereit bei Gefahr. Sie schwang sich vom Brunnenrand und tat so, als wolle sie jemanden hinterrücks erdolchen.

Die Waffe in der Hand schlich sie an die Ecke der alten Stallungen. Sie drückte sich an den kühlen Stein und stellte sich vor, dass ihr Opfer nichts ahnend auf der anderen Seite stünde – ihr den Rücken zugewandt und unbewaffnet. Emilia hob den Dolch, fasste ihn noch fester, setzte den rechten Fuß langsam vor den Linken –
 

Sie spürte einen ruckartigen Schmerz an ihrer Schulter, jemand hatte ihr den Arm grob gepackt und nach hinten gerissen. Bevor sie vor Schmerz schreien konnte, legte sich eine schlanke Hand über ihren Mund und drückte fest zu. Sie konnte nicht einmal den Kiefer bewegen um zu beißen.

Eine schier übernatürliche Kraft drehte sie um ihre eigene Achse und warf sie – am ganzen Körper gefesselt – zu Boden. Heftig stöhnend wand sie sich hin und her, doch was auch immer sie umschlungen hatte war zu fest geschnürt.

Als sie ihre Augen öffnete, musste sie sie sofort wieder zukneifen. Ihr Angreifer strahlte ein seltsam mattes Licht aus, seine blonden, über hüftlangen Haare waren fast schlampig zusammengebunden. Einzelne Strähnen fielen ihm ins Gesicht, das, nebenbei bemerkt, das eines Engels sein musste.

Der Fremde beugte sich über sie.

„Einen netten Fang habe ich de gemacht. Wer bist du?“ Seine Stimme klang wie Glocken in ihren Ohren, so schön und kalt war sie.

„Kannst du nicht mehr sprechen?“ Ein ironischer Unterton schwang in dieser unglaublich schönen Stimme mit.

„Ngh…rg…“ Emilia stöhnte auf. Ihre Schulter trieb sie in den Wahnsinn.

„Ich kann dich auch gleich töten, aber ich wüsste gerne, mit welchem Assassinen ich die Ehre habe.“

„Ich bin… kein… Assassssss…“

„Nein, das sagen sie alle.“ Er war jetzt so dicht bei ihr, dass sein blondes Haar über ihren Körper fiel.

„Jetzt sag schon… ich kann sonst sehr unangenehm werden.“

„Mia…“

„Mia? Und weiter?“

„Ich wüsste nicht… was dich das… angeht… Dreckskerl!“

Seine Finger streiften ihr Gesicht.

„Mir wäre nicht bekannt, dass du dich in der Lage befindest, andere zu beleidigen…“

Er wickelte sanft eine ihrer Haarsträhnen um seinen Finger und zog daran. Schließlich fuhr seine ganze Hand in ihr Haar und riss ihren Kopf ruckartig zur Seite.

„Was willst du mit dem Dolche, sprich!“

„Entgegnet finster… der Wüterich.“ Presste Mia zwischen den Zähnen hervor.

„Ah… haha.“ Der andere verzog sein Gesicht zu einem Lachen.

„Kannst du noch mehr?“ Seine stimme zitterte metallisch vor Sarkasmus.

„Zu Dyonis, dem Tyrannen… schlich Damon, den Dolch im Gewande, doch die Häscher… schlugen ihn in Bande.“

„Haha… sehr gut. Ich sehe, wir teilen die gleichen Vorlieben.“

„Lass mich los!“

„Oh nein. Du hast zwar keinen Dolch mehr, aber ein Assassine kann auf viele Weisen töten. Ich würde meine Seele gerne noch ein bisschen behalten, wenn du nichts dagegen hast.“ Ein kühles Lächeln umspielte seine schmalen Lippen.

„Verdammt, was soll das ganze Theater? Wer bist du? Kommst hierher und greifst wahllos Menschen an.“

„Menschen? Nein… nein, du bist kein Mensch.“

„Wer, zum Teufel, bist du?!“

„Das geht dich nichts an.“

„Doch, mein Freund.“ Emilia versuchte vergebens, die Fesseln abzuschütteln.

„Niemanden, den du beachten solltest, wenn dir dein Leben lieb ist.“

„Dann mach mich los und lass mich gehen.“

Der Fremde stand auf und musterte sie mit abschätzigem Blick.

„Mit Nummer eins bin ich einverstanden, Nummer zwei: wir gehen zusammen.“ Auf seinen Wink hin lösten sich die Fesseln und Emilia entspannte sich.

„Du hast mir die Schulter ausgekugelt, du Idiot!“ Sie versuchte aufzustehen, doch ihre beiden Arme versagten den Dienst und sie fiel mit einem erstickten Schrei auf die Knie.

„Muss ich dir helfen, oder schaffst du es heute noch?“ Er stand wartend über ihr, streckte eine Hand nach ihr aus.

Sie funkelte ihn wütend an. „Lass mich!“ Wieder versuchte sie sich abzustützen, wieder brach sie zusammen.

„Komm, lass dir doch helfen.“ Sie fasste die Hand widerstrebend und er zog sie so mühelos hoch, dass es sie fast von den Füßen hob.

„Sagt man bei euch zu Hause nicht danke?“ Er hob eine Augenbraue und grinste schief.

„Danke… Arschloch!“ Kaum dass Mia die Beleidigung ausgesprochen hatte, rannte sie um ihr Leben. Sie kam nicht wirklich weit, denn der Unbekannte zerrte sie an ihrem Mantel unsanft zurück. Seine Arme legten sich um ihren Körper und sie spürte seine menschliche Wärme.

„Hör zu, Mia wer auch immer. Ich hab keine Zeit für dumme kleine Vampire, die sich etwas auf ihre coolen Sprüche einbilden. Wenn du weiterleben willst, dann lass so was. Meine Geduld ist nicht grenzenlos.“ Zischte er so nah an ihrem Ohr, dass sie vor Scham die Augen schloss.

„Warum lässt du mich nicht einfach gehen? Ich tu doch nichts!“

„Das wird sich zeigen. Ab jetzt halte ich dich wohl besser fest.“ Er zog ihre beiden Arme auf den Rücken und wieder spürte sie, wie die Fesseln sie aus dem Nichts ins Fleisch schnitten.

„Vorwärts, ich hab nicht ewig Zeit.“ Er gab ihr einen Stoß in den Rücken und trieb sie so vor sich her bis zum Schlossportal.

„Ich bin hier Zuhause, du Idiot. Seit wann behandelt man so die Bewohner seiner Unterkunft?“

„Louis hat mir nichts von dir erzählt, und deswegen bist du mir bis zu dem Zeitpunkt suspekt, an dem er deine Aussage bestätigt.“

„Ich schwöre es dir: er wird nicht sehr erfreut sein, wenn er dich so sieht.“ Emilia kochte vor Wut.

„Er wird generell nicht sehr erfreut sein mich zu sehen. Wer sieht mich schon gerne? Ich überbringe nur schlechte Nachrichten.“

Sie waren in der Schlosshalle angekommen.

„Der Salon befindet sich links.“ Emilia hätte ihn sehr gerne reingelegt (links ging es in die Folterkammer, die unterirdisch lag), aber er zog sie in eine andere Richtung.

„Mein Fräulein, ich kenne dieses Schloss wie meine Westentasche, schließlich wurde ich hier geboren. Also, hör auf mich zu verschaukeln und komm mit.“

Er schwang die Türen zum Salon auf und schleuderte sie in einen Stuhl. Er selbst blieb stehen und besah sich die Bilder an der Wand.

Mia keuchte. Der Mann war eine eiskalte Schönheit. Sie erinnerte sich an eine Mangaserie, die sie gerne gelesen hatte. Angel Sanctuary hieß sie. Der Mann sah aus wie Rosiel, mit den langen Haaren und dem Engelsgesicht. Natürlich konnte es kein Engel sein… wie auch.
 

Die Fesseln lösten sich allmählich und Mia rutschte unruhig auf dem Sessel hin und her.

„Sagst du mir jetzt, wie du heißt?“ Der Mann sah sie mit großen Augen an.

„Willst du das wirklich wissen?“

„Würde ich sonst fragen?“

„Okay, schon gut…“ Er hob abwehrend die Hände und setzte sich in den Sessel ihr gegenüber.

„Ich bin ein Sohn der Crescenta della Brogia. Uriel.“ Er sah sie nicht an.

„Der Name sagt mir was…“ Antwortete Emilia.

„Uriel…Uriel… Uriel war doch einer der Erzengel?“

„Ja, der Bruder von Lucifel, Raphael, Gabriel und Michael.“

„Lucifel? Ich kenn nur Lucifer.“

„Lucifel war Gottes liebster Engel. Leider hat er sich der schwarzen Magie verschrieben, einer verbotenen Liebe wegen. Er ist ein gefallener Engel und änderte daraufhin seinen Namen in Lucifer. Das –el am Ende des Namens bedeutet >strahlend<.“

„Wie kommst du zu einem solchen Namen?“ Mias Interesse war geweckt.

„Du bist doch nicht etwa…“

„Nein. Meine Mutter war eine uneheliche Tochter des römischen Papstes. Borgia ist ja ein Name, der heute noch in Geschichtsbüchern auftaucht. Wie auch immer. Uriel, der Todesengel, auch der schwarze Engel genannt, sah meine Mutter, wie sie als junges Mädchen mit einem mächtigen, alten Fürsten verlobt werden sollte. Er erschien ihr in Menschengestalt und hatte sich in den Kopf gesetzt, sie zu bewahren vor der Ehe.

Damals war so eine Heirat nicht ungewöhnlich, aber er hatte sie schon als kleines Mädchen als ihr Schutzengel begleitet und sich in sie verliebt.“

„Der Todesengel hat sich in deine Mutter verliebt?“ Mia lächelte ihn an.

„Ja, hat er.“

„Das ist ja Wahnsinn. War er schön?“

„Ja. Seine Haare waren schwarz, seine Flügel waren schwarz und seine Augen glänzten wie Obsidian. Als er das erste Mal meiner Mutter begegnete, verliebte sie sich in ihn und wollte nur noch ihn heiraten. Als Uriel das merkte, steckte er schon mitten in der Klemme. Er traf meine Mutter immer öfter und gestand ihr schließlich sein Geheimnis. Zu diesem Zeitpunkt war sie leider schon schwanger – von ihm.“

„Dann bist du also…“

„Ja… der Sohn eines Erzengels… wohl oder übel.“

„Was hat er daraufhin getan?“

„Er konnte sie wie gesagt nicht heiraten. Also fasste er seinen ganzen Mut und bot ihr an, sie zu töten, damit sie immer bei ihm bleiben konnte. Meine Mutter bat sich drei Tage Bedenkzeit aus, die er ihr auch gewährte. Als er am dritten Tage wiederkam, schritt sie als Braut aus der Kirche. Der große Krieg war ausgebrochen und ihr zukünftiger Gatte musste mitkämpfen. Also hatte man sie schnell mit ihm verheiratet.“ Uriels Stimme verlor sich.

„Das tut mir so leid…“ Mia standen Tränen in den Augen.

„Sie lebte am Hof ihres Mannes, wo mein Vater sie fast jeden Tag besuchte. Sie wusste keinen Ausweg mehr, denn es war klar, dass das Kind dem Grafen nicht ähneln würde und er sie sicher verstoßen würde. Meine Mutter trug also das Kind, das ihr so viele Sorgen machte, aus. Als ich zur Welt kam war der Graf gerade heimgekehrt. Allerdings waren meine Eltern nicht vorsichtig genug gewesen mit ihren Schäferstündchen. Ein Bediensteter hatte alles gesehen und seinem Herrn gemeldet.

Um mich wenigstens zu retten täuschten sie eine Totgeburt vor. Sobald ich zur Welt gekommen war, wickelte mein Vater mich in ein großes Tuch und trug mich weit fort, ich weiß nicht einmal mehr, wohin. Meine Mutter wurde wie sie vorhergesehen hatte von ihrem Mann verstoßen. Ihr Schwager erfüllte den Wunsch seines Bruders und passte sie auf dem Weg in die Stadt ab. Mitten auf der Straße hat er sie umgebracht. Einfach so. Er hat ihr ein Schwert durch den Rücken gerammt. Sie hat aber gelächelt, als sie gestorben ist. Denn – was niemand sehen konnte – mein Vater hat sie in den Arm genommen und sie mit sich davongetragen.“

Mia konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

„Das ist so verdammt traurig… entschuldige bitte.“ Schluchzte sie und zog kräftig die Nase hoch.

„Ich weiß… sie sind irgendwo da oben und sehen mich.“

„Meine Mutter ist auch tot. Ich denke immer, dass sie mich von da oben beobachtet. Leider werde ich sie nie wieder sehen.“

„Meinst du?“

„Vampire kommen nicht ins Paradies, Uriel. Wir müssen ewig auf der Erde wandeln, verflucht und untot. Der einzige Platz, der uns aufnimmt, ist die Schattenwelt.“

„Für jede Seele gibt es Erlösung.“ Uriel stand auf und ging auf Mia zu. Sie hatte die Hände um die Knie geschlungen und legte ihr Gesicht darauf.

„Das Paradies ist nur für die offen, die glauben, Mia.“

„Ich glaube ja daran…“

„Jede Seele hat die Chance, ihren Frieden zu finden. Du bist unschuldig an deinem Schicksal. Warum sollte Gott dich ausschließen?“

„Glaubst du an Gott, Uriel? So richtig, meine ich?“

„Sicher. Egal was ich tue – ich weiß immer, dass ich dort hinaufgehen kann. Nur wenige verdienen die Hölle. Der Rest kommt in den Himmel. Jeder muss sterben. Auch Vampire müssen das irgendwann.“

„Was bist du, Uriel?“

„Ein Mischling. Zu lebendig für den Himmel, zu tot für die Erde. Ich warte, bis mein Auftrag erfüllt ist und mein Vater mich ruft.“

„Welcher Auftrag?“ Mia wischte sich die Augen.

„Du bist zu neugierig, das tut nicht unbedingt gut.“ Seine schöne Stimme verlor ihren sanften Klang und ging zurück ins Kalte.

„Verzeih…“

„Schon gut.“ Alle Vertrautheit war von ihm gewichen, er war wieder der arrogante Schnösel von vorhin.

„Wie alt bist du?“ Fragte Mia zaghaft

„Siebnhundertundzwölf, wieso?“

Schlimme Nachrichten

Uriel legte seinen staubigen Umhang über eine Stuhllehne. Dieses Mädchen schien tatsächlich hierher zu gehören, auch wenn Louis ihm nichts davon erzählt hatte.

Uriel griff in die Tasche seiner Hose (einer ganz normalen Jeans übrigens) und fischte den Talisman heraus. Er war noch ganz, Gott sei dank. Der dunkelrote, fast schwarze Stein lag kühl in seiner Handfläche, oval und an den Ecken schön abgeschliffen. Oben war ein winziger silberner Anhänger angebracht, eine Kette war allerdings nicht durchgezogen. Sie war vor langer Zeit verschollen und niemand hatte sie je wieder gefunden. Der Talisman war zwar mächtig, aber mit der Kette wäre er noch viel wirksamer. Uriel hatte den Stein bei seinen Habseligkeiten gefunden, als er mit 17 in die weite Welt gegangen war.

Die Nacht senkte sich so schnell über das Schloss, dass es bald stockdunkel war.
 

„Uriel? Du hier?“ Louis stand plötzlich in der Tür.

„Louis, wie geht es dir? Lange nichts mehr voneinander gehört.“ Die beiden gingen aufeinander zu, blieben aber in einigem Abstand stehen.

„Wenn du kommst, bringst du schlechte Nachrichten. Was ist es diesmal?“

Uriel warf Mia einen >hab-ich’s-nicht-gesagt-Blick< zu und zuckte entschuldigend mit seinen Schultern, dass die langen blonden Haare um seine Hüften flatterten.

„Es tut mir leid, aber Ereion war schneller als ich. Als ich nach Gehenoi kam, lag die Stadt in Trümmern.

„NEIN!“ Louis wich die Farbe aus dem eh schon blassen Gesicht. „Wie konnte er das schaffen? Woher hat er seine Armee bekommen? Wie geht es dem Fürsten?“

„Beruhige dich. Artus hat sich gut versteckt, Ereion wird ihn nicht so schnell finden.“

„Und Rosalie?“ Louis Augen glühten schwarz (ja, ich weiß, schwarz glühen geht schlecht, aber versucht es euch vorzustellen).

„Es tut mir leid…“

„Oh Gott…!“ Louis stöhnte auf und ließ sich auf das Sofa sinken.

„Gott, warum tust du das?“ In seinen Augen standen Tränen.

„Louis, wir fanden nur ihren Stab. Es kann sein, dass sie es geschafft hat zu fliehen, aber es ist unwahrscheinlich.“

„Warum musste es ausgerechnet Gehenoi sein? WARUM!?“ Louis weinte hemmungslos.

„Alles, wofür wir gekämpft haben. Alles… WARUM!?“ Mit einem lauten Schluchzen vergrub er sein Gesicht in den Händen.

„Louis…“ Uriel legte ihm die Hände auf die Schultern. „Als dein Offizier ist es meine Pflicht, dein Leben zu erhalten, selbst, wenn das meine dafür geopfert wird. Flieh. Noch heute Nacht. Vor Morgenfrüh musst du das Land verlassen haben. Ich bitte – nein, ich flehe dich an, verlass Rothenberg!“

Louis hob den Kopf und sah seinen alten Freund lange an.

„Warum? Rothenberg ist sicher.“

„Leider nein.“ Antwortete Uriel. „Wenn du hier bleibst, bist du des Todes. Und sie auch“ Sagte er mit einem Nicken Richtung Mia.

„Ich?“ Der Schrecken stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Was geht hier vor?“

Uriel kam zu ihr. „Es herrscht Krieg. Furchtbarer Krieg.“

„Aber ich habe davon nichts gemerkt… wieso… was…?“ Ihre hübschen braunen Augen waren aufgerissen.

„Die Wesen der Finsternis und die Ritter des Lichts bekriegen sich. Jeder will das Ewige Land für sich. Es gab schon viele Kriege, aber dieser ist am Schrecklichsten von allen. Sie morden und plündern, töten Frauen und Kinder. Niemand ist mehr sicher.“

„Aber in der Welt der Menschen merkt man davon nichts. Warum können wir denn nicht hier bleiben?“

„Die dunkle Seite nimmt leider keine Rücksicht auf Menschen. Bis jetzt war es hier relativ sicher, aber Ereion hat es geschafft, das Tor für eine Streitmacht zu öffnen.“ Uriel sprach sehr langsam und ruhig, obwohl seine Augen einen gehetzten, verletzlichen Ausdruck annahmen.

„Welches Tor?“ fragte Mia.

„Das Tor, das diese Welt mir unserer Welt verbindet. Es ist offen. Sperrangelweit offen."

*~*
 

Pünktlich um 20:00 erklang in Millionen deutschen Haushalten die Melodie der Tagesschau. Der Sprecher schien dieses mal besonders nervös.

„Sehr geehrte Damen und Herren, Guten Abend. Eine mysteriöse Reihe von Todesfällen erschüttert die Republik. In der kleinen Stadt Brettenburg in Sachsenanhalt fand man am späten Mittag drei weitere Tote, die offenbar an ihren schweren Schwertwunden starben. Die Polizei ermittelt in alle Richtungen, konnte aber noch keine Aussagen machen.

Wir schalten nun live zu unserem Korrespondenten in Berlin. Guten Abend, Andreas.“

Der Korrespondent wurde eingeblendet, wie er vor dem Reichstagsgebäude stand.

„Ja, guten Abend. Seit einer Woche werden in ganz Deutschland Leichen mit tiefen Speer- und Schwertwunden entdeckt. Das Sonderbare ist jedoch, dass die meisten Toten nie als Vermisst galten und sich bis jetzt auch keine Angehörigen gemeldet haben. Experten sind ratlos, die schweren Verletzungen stammen zweifelsohne von mittelalterlichen Waffen, einmal wurde sogar ein Morgenstern am Tatort gefunden. Sämtliche Museen und Vereine in Deutschland wurden um Hinweise gebeten, aber kein Ausstellungsstück wurde als gestohlen gemeldet. Die Polizei bittet um Hinweise.“

Die Kamera schwenkte zurück ins Studio, wo der Sprecher eine Meldung über die Einweihung eines neuen Stadions las. Doch die meisten Deutschen rätselten über die Morde…
 

*~*

Die Flucht ins Ungewisse - Fort Harper, wir kommen!

Emilia musste alles, was sie entbehren konnte, im Schloss lassen. Nur ihren Umhang und Kleider zum Wechseln durfte sie in ihre Tasche packen. Das Wenige, was notwendig war – ihr Dolch, eine Flasche mit Blut und ein kostbarer Ring – fand kaum noch Platz in der Umhängetasche aus Leder. Abgegriffen war sie und alt, erfüllte aber ihre Zwecke. Wehmut stieg in Emilia auf, als sie das letzte Mal die Tür zu ihren Gemächern schloss. Der vertraute Blick über das Neckartal, das Bewusstsein, dass sie ihre Heimat vielleicht nie wieder sehen würde, der Schmerz, alles hinter sich zu lassen – er schnürte ihr das Herz zu.

Sie schloss die Augen und legte ihre Stirn an das kühle Holz der Täfelung. ‚Ich will nicht gehen… warum musste das jetzt passieren… warum ich…’ die Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Eine magische Kraft schien sie hier halten zu wollen. Das einzige Stückchen Erde, das ihr je Heimat gewesen war, das sollte sie jetzt aufgeben? Für einen Krieg, der ihre Kräfte überstieg, für eine Welt, die sie nicht kannte, für einen Mann, der sie als Begrüßung überfallen hatte?

Sie drehte sich nicht um, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte.

„Komm…“ Es war Louis. Seine sanfte Stimme schien ihm in der Kehle stecken bleiben zu wollen. „Komm, wir müssen los. Es wird bald hell.“ Er zögerte kurz, zog dann seine Hand zurück und ging die Treppe hinunter.

Emilia spürte die Tränen aufsteigen und einen schmerzhaften Kloß in ihrem Hals. ‚Jetzt nur nicht weinen… nicht weinen… sei stark, du kannst alles, wenn du nur willst…’ Sie ließ ihre eigene Stimme zu sich sprechen, aber der Erfolg war gering.

Als sie langsam, Stufe für Stufe, die Außentreppe in den Schlosshof hinunter schritt, perlte eine salzige Träne über ihre Wange und setzte sich an ihren Mundwinkel. Ein hellvioletter Streifen zeigte sich am anderen Ende des Tales, gemischt mit dem Nebel, der vom Fluss weit unten aufstieg. Die Wälder ringsum lagen noch still, nur hin und wieder schrie ein Käuzchen oder es heulte ein Fuchs.

Louis und Uriel standen am Brunnen in ein Gespräch vertieft.

Als Emilia auf sie zukam, verstummten sie.

„Bist du fertig?“ Uriel schien die Lippen kaum bewegt zu haben, doch seine Stimme war so klar und kalt wie die Morgenluft.

„Wird ein schöner Tag heute…“ versuchte er sie aufzumuntern, doch das verschlechterte ihre Stimmung nur noch mehr.

„Gehen wir.“ Sagte Louis barsch und knöpfte seinen Umhang zu. Mit langen Schritten überquerte er den Schlosshof und sah nicht zurück. Emilia folgte ihm, an ihrer Seite der Halbengel. Sie gingen so auf die Wand aus Finsternis zu, bis der Geruch von modrigem Stein ihr in die Nase stieg. Laut rasselte eine Kette, im Unterholz flogen erschreckte Vögel auf. Sie schritten im vollkommenen Dunkel über die versteckte Zugbrücke auf die Lichtung hinaus.

Es würde wirklich ein schöner Tag werden. Und sie würde ihn nicht mehr sehen können. Louis hatte gesagt, dass sie noch vor Tagesanbruch diese Welt verlassen mussten und durch das Tor nach Fort Harper gehen. Emilia hatte keinen blassen Dunst, was Fort Harper war, aber die beiden anderen schienen sich ihrer Sache absolut sicher zu sein, dass sie keine Zweifel an der Richtigkeit dieses Plans hegte.

Uriel war schon quer über die Lichtung gegangen und sah hinab ins Tal. Hier fiel der Fels steil ab, ein Sturz endete erst auf den Streuobstwiesen viele hundert Meter weiter unten.

„Die Luft ist rein…“ flüsterte er von der anderen Seite der Lichtung. Flüstern? Mia hörte seine Stimme, als ob er direkt neben ihr stünde.

Louis ging schnellen Schrittes auf ihn zu und stand neben ihm.

„Emilia?“ Er sah sich nach ihr um. „Ja?“ antwortete sie leise.

„Dort drüben siehst du doch den Felsvorsprung, auf der anderen Seite?“

„Ja…“

„Dort befindet sich ein Labyrinth aus Höhlen. Wir müssen dort hinein.“

„Aber die Höhlen sind mitten an einer Steinwand!“ zischte Mia.

„Das ist kein Problem. Du musst nur sehr genau landen. Der Vorsprung dafür geht etwa sieben Fuß und acht Zoll über die Schlucht hinaus.“

„Das sind… das ist ja nicht einmal ein Meter!“ Rechnete sie.

„Egal. Versuch es.“ Uriel stand etwas abseits.

„Können wir? Emilia, ganz ruhig. Wenn du willst, helfe ich dir.“ Sagte er.

„Nein danke. Ich muss mir nicht erklären lassen, wie man fliegt“ Entgegnete sie schnippisch und stürzte sich mit diesen Worten ins Tal.

Die kalte Luft fuhr durch ihr Haar und ließ einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen. Unter ihr glitzerte das Wasser im fahlen Mondlicht, die Fachwerkhäuser erinnerten sie an eine winzige Spielzeugstadt. Der Turmuhr von Großbettlingen schlug vier Uhr dreißig. Höchste Zeit, wieder in sicheres Gebiet zu kommen. Der Flug dauerte ungewöhnlich lange. Emilia wagte nicht, sich umzusehen, denn sie hatte ihr Gleichgewicht beim Fliegen noch nicht ganz gefunden.

Der würzige Duft des Albvorlandes stieg ihr in die Nase. Langsam weitete sich der Horizont. Auf einem vorgelagerten Berg konnte sie den Hohenneuffen erkennen. Und ganz langsam tauchte ihre Heimatstadt aus dem Dunst auf. Sie spürte wieder das Gefühl der Wehmut in ihr aufsteigen, für eine Sekunde überlegte sie, ob sie nicht doch zurückkehren sollte zu ihren Freunden. Ob man sie wohl sehr vermisste? Kiri vermisste sie bestimmt. Wahrscheinlich hatte man ihren Namen auf den Grabstein ihrer Mutter gesetzt, symbolisch einen Sarg in die Grube gelassen. So wie man es bei Hannah gemacht hatte, als sie verschwunden war.

Mia verdrängte die Gedanken, denn sie ließen ihr die Tränen in die Augen steigen.

Der Steilhang kam näher und näher. Im schwachen Mondlicht gähnte ein Loch im Fels, der Vorsprung davor war wirklich winzig.

Ihre Landung klappte nicht so gut. Sie kam mit dem Knöchel zuerst auf. Ein hässliches Knacken durchbrach die Stille und ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sekunden später flutete ein stechender Schmerz durch ihr Bein. Der Knöchel war doch hoffentlich nicht gebrochen?
 

„Mia, alles okay?“ Louis kniete neben ihr.

„Ich glaub nicht…“ presste Mia zwischen den Zähnen hervor. „Mit meinem Knöchel stimmt was nicht.“

„Lass mal sehen.“ Uriel streckte die Hand nach ihr aus, aber sie rutschte weg.

„Finger weg da.“

„Ich will doch nur helfen…“ entschuldigte er sich. „Komm, stell dich nicht so an.“

Mit einer schnellen Bewegung hatte er ihren Fuß gepackt (worauf sie entschloss, sich lieber die Zunge abzubeißen, als vor ihm zu heulen).

In Sekundenschnelle war der Schmerz verschwunden.

„Besser so?“ Seine schöne, kalte Stimme versetzte sie in eine Art Trance.

„Ja… dankeschön…“

Die beiden Männer standen auf und gingen in die Höhle.

„Los, komm schon Mia. Sonst verlierst du uns noch!“ Louis Stimme hallte aus dem Fels.

„Ja… ja, ich komm schon!“
 

Mit dem ersten Hahnenschrei waren sie in der Höhle verschwunden.

‚Auf zu neuen Abenteuern…’ dachte Mia und schloss ihre Hand fest um diejenige, die sie neben sich spürte.

Die Kathedrale von Rohenna

Die kleine Gruppe tastete sich durch die verschlungenen Höhlengänge, die immer niedriger, enger und kälter wurden.

>Hier gibt’s doch gar keinen Ausgang… wenn das so weiter geht, dann müssen wir noch kriechen!< dachte Mia

>Mal schauen, wann sie merkt, dass das meine Hand ist… [schmunzel]< Überlegte Uriel, während er über den unebenen Weg stolperte.

>zum Glück kann ich mich bei Louis festhalten [fester zugreif]< Mia seufzte und klammerte sich an die große Hand.

>Die beiden trödeln wieder… so wird das nie was…< Dachte Louis genervt.

>Warum musste dieser Idiot von Uriel eigentlich mitkommen… arroganter Pisser…< Emilia war wütend, dieser komische MAnn machte sie ganz verrückt.

>Mia scheint sich mit Uriel nicht besonders gut zu verstehen… ergo wird das keine angenehme Reise! < Wo Louis sich auch nicht täuschte.

>Die kleine ist ja direkt anhänglich [grins]< Lächelte Uriel vor sich hin.

>Wenn ich den schon seh… eingebildet bis sonst wohin… abgesehen von nem hübschen Gesicht hat der doch auch nix…< Zum Glück konnte der Engel ihre Gedanken nicht hören

>Wenn sie nicht so ne Zicke wär, würde ich ganz gut mit ihr klarkommen…< Über diesen Kommentar wäre Mia ihrerseits auch nicht zufrieden gewesen.

>Wie lange es wohl dauert, bis Uriel sich an Mia ranschmeißt? Der alte Frauenheld…< sinnierte Louis. Eigentlich müssten sie bald am Ziel sein.

>Bestimmt bildet der sich saumäßig was auf sich ein… und es gibt bestimmt genug Mädels, die auf ihn stehen [schüttel]< Mia zuckte unwillkürlich zusammen.

>Sie hat glaub ich immer noch nicht gemerkt, an wem sie sich da festhält [kicher]< Uriel musste laut lachen.
 

„Louis, warst du das?“ fragte Mia in die Stille.

„Ich? Was?“ Louis Stimme kam von weit weg am anderen Ende des Ganges.

„Du hast doch eben neben mir gekichert!“ Eine leise Ahnung beschlich Mia.

„Nein… ich bin nicht neben dir…“

„Ah! Uriel, Pfoten weg!“

Der Mischling lachte laut.

„Hat aber lang gedauert, bis du das gemerkt hast… Haha…“ Emilia drehte sich um und schlug mit ihrer kleinen Faust ins Dunkle.

„He, au! Das tut weh!“

„Das sollte es auch, einfach arme Mädchen - *zuschlag* - begrapschen!“

„Aua… jetzt hör doch mal auf!“ Uriel lachte noch immer.

„Habt ihr’s bald?“ fragte Louis.

„Wir müssen ganz nah am Ausgang sein… die Luft wird wärmer.“ Leise rauschte irgendwo ein Bach durch den Fels.

„Hier wird’s nass, Meister.“ Uriel schien in einer Pfütze zu stehen.

„Hoffentlich laufen dir deine schönen Schuhe nicht ein, Casanova.“ Spöttelte Mia.

„Hey, das ist ungerecht!“ verteidigte sich der Engel.

„Wo sie Recht hat, hat sie Recht.“ Louis lachte leise.

„Ich steh auch in etwas nassem… äh… das ist der Bach…“ Emilia schüttelte sich, denn das kalte Wasser ging ihr über die Knöchel.

„Wir müssen dem Bach folgen. Hier scheint es zu schmal für Weg und Wasser zu sein, also müssen wir einfach dem Bachbett nachgehen. Keine Sorge, das wird nicht besonders tief.“

„Na dann…“ brummelte das Mädchen.

Tatsächlich – die Luft wurde wärmer, die Gänge höher und heller. Bald standen sie in einem Tropfsteinsaal wie aus einem Märchen. Die Kuppel war so hoch, dass man das Ende nur erahnen konnte, von den Wänden hingen Stalaktiten, die sich wie Vampirzähne den Stalagmiten näherten. Mia hatte schon viele Kuppelhöhlen gesehen, aber diese war ganz anders. Der Stein schimmerte weißlich und reflektierte das Wasser des Baches, der in einen See mündete, so unergründlich tief und schwarz, die Oberfläche so spiegelglatt, obwohl der Bach hereinströmte. Sanfte Musik perlte durch die Höhle, die Quelle war allerdings nicht zu sehen. In tausend Farben glitzerte das Gestein wie ein riesiges Prisma.

Niemand sagte etwas, die Stille schien so übermächtig.

Schließlich ergriff Uriel das Wort.

„Die Kathedrale von Rohenna… es gibt sie also wirklich…“ Sein erstauntes Flüstern hallte von den verzauberten Wänden wieder und streute sich durch die Kuppel.

„Kathedrale? Wegen der Form?“ Emilia versuchte so leise wie möglich zu sprechen, doch ihre Stimme schien sich in weichen Wellen bis ans Ende der Welt fortzusetzen.

„Nicht nur. Sie gehört einem alten Priesterorden, der aus Mithríl vertrieben wurde, als der Dunkle Herrscher die Macht an sich riss. Es ist heiliger Boden.“ Der Engel ging einige Schritte voran, bis der Untergrund leicht abfiel.

„Nicht jeder erkennt diesen Ort. Louis kann ihn nicht sehen. Für ihn ist er nur eine gewöhnliche Tropfsteinhöhle – nicht wahr?“ Fragte Uriel und wandte seinen Kopf.

Als Antwort nickte der Vampir nur.

„Du kannst das alles nicht sehen? Das Glitzern nicht? Du hörst die Musik nicht?“ Mia staunte.

„Wieso nicht?“

„Weil ich zu lange schon an den Schatten gebunden bin. Er folgt mir, wohin ich gehe. Unser Schicksal, Mia.“

„Wieso kann ich das dann sehen? Ich fühle die Macht, die hier vorhanden ist. Sie jagt mir Schauer über den Rücken wie Eiswasser. Ich bin doch auch ein Vampir!“ Sie verstand den Zusammenhang nicht.

„Ich weiß es nicht… ich habe es gespürt, als ich dich gebissen habe – eine seltsame… Kraft, die durch dich strömte. Sie war so anders als alles, was ich bisher gefühlt hatte. Uriel hatte einen Verdacht…“

„Ach ja, Uriel…“ schnitt sie ihm das Wort ab.

„Ja, Uriel.“ antwortete Louis gereizt. „Lässt du mich weiter sprechen?“

„Ja ja…“ maulte sie.

„Deine Hälfte der Seele, die Mia-Seele, lebte als ganz normaler Mensch. Die Emilia-Seele, der Splitter der alten Emilia – meiner Emilia – hat unheimliche Astralkraft in sich gebunden. Sie hat diese himmlische Kraft bei ihrer Flucht aus dem Reich der Finsternis bekommen und sie steckt somit in dir. Weil Emilia keinen eigenen Körper hat, kommt dir ihre Kraft zu gute. Das ist nur eine Theorie, wie gesagt…“

„Und du hast keine Astralkraft?“ fragte Mia

„Nein. Astralkraft ist etwas himmlisches, überirdisches. Uriel hat ne Menge davon, zum Beispiel.“

„War ja klar…“ knurrte Emilia.

„Na ja… du siehst hier alles, ich nicht. Basta.“ Louis schien nicht mehr darüber reden zu wollen.

Uriel stand von ihnen entfernt auf einem kleinen Balkon, der sich über den See streckte.

„Sieh dir das an… ist das nicht unglaublich?“ Mia spähte an ihm vorbei. Sie wollte ihre Ehrfurcht nicht zeigen, aber was sie sah, ließ ihre Augen flimmern und ihre Knie weich werden.

Ich weiß nicht ganz, wie man es beschreiben soll. Von der schmalen Empore aus blickte man in ein riesiges Kirchenschiff, das sich nahtlos an die Höhle anschloss. Die verzauberte Gesteinswand war nur ein Bruchteil dessen, was sich vor ihnen erstreckte. Das gotische Bauwerk hatte Bleiglasfenster, die die Sonne hereinließen (oder war es etwa ein magisches Licht?) und bunte Flecken auf das innere der Kirche warfen. Bunt bemalte Säulen streckten sich zu den Kreuzstreben unter der Decke, die mittelalterlich verziert waren. Der Altar war der Herzstück der Kathedrale, hinter ihm der wundeschöne Chor, ein großes Kreuz hing von der Decke, der tote Jesus daran.

Die Kirche erinnerte sie sehr an ihre eigene zu Hause, doch sie war um so vieles schöner. Jede Kirche gab ihr ein merkwürdiges Gefühl der Ehrfurcht und Geborgenheit, hier war es ganz besonders stark.

„Louis, kannst du das sehen?“

„Ja, es geht so. Ich sehe nur grauen Stein, wahrscheinlich ist er bunt bemalt, aber das kann ich nicht erkennen. Eine relativ normale Kirche. Bunte Fenster, durch die Licht fällt… wie immer.“

„Aber du spürst das nicht – dieses Gefühl, das einen schweigen und starren lässt?“ fragte Mia etwas traurig.

„Nein. Aber ich weiß, wie es sich anfühlt. Ich hatte es früher auch.“ Er lächelte zurückhaltend.
 

Mia ging hinter Uriel her die Treppe an ihrer Seite hinunter, bis sie im Mittelschiff standen. Louis hielt einigen Abstand zu ihnen und bewegte sich geschmeidig wie eine Katze an der Wand entlang.

Uriel ging zielstrebig auf die Stufen vor dem Altar zu und fiel auf die Knie. Aus dem Nichts hatte er ein Schwert in der Hand, stützte sich darauf und schloss mit gesenktem Kopf die Augen.

Emilia wagte nicht, ihn zu stören und setzte sich auf eine der prächtig geschnitzten Bänke. Louis hielt sich immer noch im Schatten. Anscheinend wagte er es nicht, ins Licht zu treten. Jetzt erst fiel Mia auf, dass sie mitten im hellen Sonnenlicht saß (und sie war sich sicher, dass es Sonnenlicht war, denn sie hörte Bäume rauschen und sah Vögel vor den Fenstern) – warum verbrannte sie nicht? Es machte ihr gar nichts, es war nur wunderbar warm und hell. Schon so lange war sie nicht mehr in der Sonne gewesen.

Die Vögel außerhalb der Kathedrale zwitscherten leise, drinnen herrschte Stille.

Mit einem Mal erhob sich Uriel.

„Wir sollten gehen. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit bis die Sonne untergeht.“ E kam auf Mia zu.

„Aber sie ist doch vor einigen Stunden erst aufgegangen…?“

Er lachte leise.

„Ja, aber hier ist eine andere Zeit. Sieben Uhr abends, um genau zu sein. Wir sollten schnell eine Unterkunft finden.“

Louis löste sich aus dem Schatten und kam zu ihnen.

„Dann gehen wir. Es liegt etwas in der Luft. Ich weiß nicht, was es ist, aber es kommt auf uns zu.“

Mit diesen Worten ging er auf die große Flügeltür im Seitenschiff zu.

„Louis! Warte!“ Emilia war von ihrem Sitz aufgesprungen und rannte hinter ihm her.

„Was ist mit der Sonne?“
 


 


 


 


 


 

Nachwort: Eigentlich wollte ich das mit den Gedanken bissl schicker machen, aber die Mods lassen mich net =((
 

Für Mausi: Es gibt eine Fortsetzung von Bis(s) zum Morgengrauen - Bis(s) zur Mittagsstunde... wer hätte mit diesem Titel gerechnet? ^^

Es soll auch noch einen dritten Band in der Reihe geben. Das Buch is ziemlich neu, habs selber erst in die Finger bekommen =)
 

Gruß deine sAbb

Auf dem Weg nach Fort Harper

„Was ist mit dem Sonnenlicht?“ Emilias Frage hallte durch das leere Schiff.

„Sie tut uns nichts mehr. Im Ewigen Land kann sie uns zum Glück nichts anhaben.“ Er lächelte.

„Komm jetzt, wir haben einen langen Weg vor uns.“ Louis stieß die Flügeltüren der Kathedrale kräftig auf. Warme sommerliche Abendluft strömte herein, die Sonne strahlte. Endlich wieder Tageslicht! Mia lief ins Freie und fand sich auf einer schönen Wiese wieder. Ringsum standen einige alte Eichen, im Hintergrund reihten sich schöne, krumme kleine Fachwerkhäuschen aneinander. Sie erinnerten Mia an die Häuser rund um die Winchester Cathedral – kleiner Giebel, Bleifenster und ordentliche Vorgärten mit Hecken drum herum. Niemand war zu sehen, doch das konnte den beiden Männern anscheinend nur recht sein.

Das hübsche Dorf lag auf einem sanften Hügel, der sich hinter der Wiese neigte und den Blick aufs Tal freigab. Unten erkannte sie eine größere Stadt, die gut zwei, drei Stunden zu fuß entfernt war. Etwa Fort Harper? Als sie sich umdrehte, erschlug sie fast der Blitz.

Die Kathedrale stand mitten auf der Wiese, auf einem grünen Hügel voller Blumen, dahinter wellte sich die Landschaft – aber keine Berge. Völlig frei stand das ehrwürdige Gebäude. Wo war die wunderschöne Halle im Gestein?

Uriel und Louis waren plötzlich verschwunden. Der Himmel verdunkelte sich von Sekunde zu Sekunde, schwarze Wolken ballten sich am Firmament. Ein kalter Wind fauchte um die uralten Eichen, die Vögel waren verstummt, die Sonne verschwunden. Wolkenfetzen rasten über den Himmel, schwarz wie Pech und bedrohlich nahe.

So schnell, wie der Spuk gekommen war, war er auch wieder vorbei. Warme Sonnenstrahlen tauchten die Wiese in einen rötlichen Schimmer.

>Hab ich mir das jetzt nur eingebildet? < verwirrt drehte Mia sich um die eigene Achse.

Louis und Uriel standen nicht weit entfernt von ihr.

„Was ist, kommst du?“ rief letzterer herüber.

„Ja… ja, ich komm ja schon!“ Mia verfiel in einen leichten Joggingschritt und überquerte die Wiese.

„Habt ihr das gerade gesehen?“ fragte sie atemlos. „Was?“ Uriels Stimme klang geringschätzig und ungläubig.

„Na, die Wolken. Alles wurde dunkel…“ Er zog eine Augenbraue hoch.

„Es ist nichts passiert. Wovon redest du?“

Louis löste seinen Umhang und faltete ihn, um ihn dann in seine Tasche zu stopfen.

„Da war nichts, Mia. Sicherlich mussten deine Augen sich erst wieder an das Licht gewöhnen.“ Er strich ihr über den Arm.

„Ich bin doch nicht verrückt!“ Sie wusste, dass es real gewesen war.

„Kein Kommentar…“ seufzte Uriel, worauf hin Mia ihn mit einem „Wer hat dich gefragt, Blondie?!“ angiftete.

Sollten die beiden sie doch für verrückt halten. Sie wusste es besser.

„Also, gehen wir jetzt? Ich hab keine Lust, die Nacht hier zu verbringen. Der Ort jagt mir Schauer über den Rücken!“ Sie verschränkte die Arme und sah die beiden anderen an.

„Mir auch.“ Schloss Louis sich ihr an. „Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden. Man hat uns schon entdeckt.“

„Mh…“ Uriel zuckte mit den Schultern.

„Für dich ist es hier vielleicht sicher, aber für uns nicht. Vergiss deinen Schwur nicht, Kommandant.“ zischte Louis plötzlich, scheinbar ziemlich wütend.

„Hä?“ Mia verstand gar nichts mehr.

„Was soll euch schon passieren? Hier ist alles ruhig.“ Beruhigte Uriel seinen Freund.

„Noch…“ fügte Louis an. „Aber nicht mehr lange. Früher war Rohenna vielleicht noch der sicherste Ort in diesem Land, aber jetzt nicht mehr. Seit Herr Albin gegangen ist, herrscht Angst unter den Mönchen. Die Späher Rorwyns sind überall.“ Er unterbrach sich und sah sich um.

„Los, wir müssen ein Quartier für die Nacht finden.“

Das Wandern ist des Müllers Lust - Mitten im Regen

Der Weg nach Fort Harper führte über die staubige Landstraße den Hügel hinunter. Rechts erstreckte sich ein dunkler Wald, links öffnete sich eine leicht abfallende Wiese einer kleinen Stadt zu. Die Straße wand sich durch das kleine Tal, welches am Ende durch zwei mächtige Felsstürze begrenzt war. Dahinter ging gerade die Sonne unter.

„Ist es eigentlich noch weit?“ Mia taten langsam die Füße weh. Schon seit Stunden folgten sie dem klaren Flüsschen neben dem Weg. Okay, Stunden sind übertrieben. Vielleicht eine. Dreiviertel…

„Keine Ahnung wie weit genau.“ Gähnte Louis. „Wir müssten bald an eine Gabelung kommen. Von da aus ist es nicht mehr als 14 Meilen… etwa drei oder vier Stunden zu Fuß.“

„Was? Drei oder vier Stunden?“ fragte Mia ungläubig.

„Hast du gedacht, es wird ein Spaziergang?“ Stichelte Uriel.

„Nein, natürlich nicht! Wer wollte schon mit dir spazieren gehen!?“ Giftete sie zurück und legte einen Gang zu. „Aber gibt’s hier nicht so was wie Pferde?“

„Doch.“ Seufzte Uriel.

„Und wo?“ klang es bissig zurück. „Na, in Fort Harper.“ Antwortete der Engel.

„Ganz große Klasse.“ Maulte Mia, knüpfte ihren Umhang auf und legte ihn über den Arm.
 

Wie die restliche Reise verlief, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Kurz vor Fort Harper begann es mitten in der Nacht fürchterlich zu Regnen, was zur Folge hatte, dass die Stimmung auf den Gefrierpunkt rutschte und die Kleider klamm am Körper klebten (oh gott, ich liebe Alliterationen ^^). Wer schon einmal mit einem klatschnassen Wollumhang (seeehr angenehm) durch die Stockdunkelheit gewandert ist, ohne einen Schimmer, wann oder wo genau er ankommt (so was nennt sich auch Pfadfinden XD), der weiß, wovon ich spreche.

Mia maulte schon lange nicht mehr, sie war zu beschäftigt ihre Zähne vom Klappern abzuhalten.

Uriel schien der Regen nichts auszumachen, seine fast weißen Haare hatten nichts von ihrer Schönheit eingebüßt. Ab und zu blitzte das Schwert an seiner Seite im Mondlicht, das Mia ein seltsames Gefühl der Sicherheit und gleichzeitig höchster Gefahr gab.

Schließlich fühlte sie Louis Hände auf ihren Schultern.

„Komm, du bist müde – ich trag dich den Rest.“

„Nein… w-wirklich nicht n-n-nötig…“ Versuchte Mia abzuwimmeln, doch ihr Mentor hatte sie längst an Schultern und Kniekehlen gefasst und hochgehoben. Es schien ihm tatsächlich nichts auszumachen. Mia legte ihren Kopf an seine Schultern, Locken seiner rabenschwarzen Haare klebten an ihrer Stirn. Er redete Leise mit seinem Begleiter, während das Mädchen in seinen Armen in einen tiefen Schlaf hinüberglitt.
 

~*~
 

Mia erwachte, wie es ihr schien, nur Sekunden später durch laute Geräusche, die unangenehme Kopfschmerzen auslösten. Die Luft war stickig, das Licht zuerst zu schummrig, um die Umgebung zu erkennen. Ihre Kleider waren immer noch nass, eine feuchte Wärme klebte an ihren Haaren.

Sie saß auf einer robusten Holzbank mit dem Rücken an Louis gelehnt. Durch das gegenüberliegende Fenster sah sie hinaus in die Dunkelheit. Langsam setzte Emilia sich auf und streifte ihren Umhang ab. Sie waren in einer Gaststube eines rustikalen Wirtshauses und was ihr zuerst als Lärm vorgekommen war, entpuppte sich als Gespräch in mittlerer Lautstärke zwischen Louis, Uriel, dem Wirt und einem weiteren jungen Mann.

„Danke, wir werden das berücksichtigen. Hat man sonst noch was von ihm gehört?“ Uriels Tonfall war reserviert, er lehnte lässig auf seinem Stuhl, das Meer weißblonder Haare über die Schulter gestrichen. Der dicke Wirt schüttelte den Kopf während er den Tisch abwischte.

„Leider nein. Solange sie nicht auf die Idee kommen, in Calgar einzufallen, soll uns das recht sein.“ Seine raue Stimme klang heißer und erregt.

„Calgar ist sicher.“ Versuchte Louis zu beruhigen.

„Man sagte auch, dass Rohenna sicher sei. Bis… ihr wisst schon…“ verlegen räusperte sich der Wirt und sah den jungen Mann an seiner Seite an.

„Louis hat Recht. Hier kann uns am allerwenigsten geschehen. Der Grüne Graf wird sich nicht bis hierher wagen – nicht mit den versammelten Streitkräften Calgars in Alarmbereitschaft.“ Der junge Mann lächelte verschmitzt.

„Deine Worte in Gottes Ohr, Kilian.“ Der Wirt verschwand hinter seiner Theke und Mia sah ihn auch nicht wieder auftauchen.

Kilian zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, Vater sieht hinter jeder Ecke den Grünen Grafen lauern. Dabei weiß er so gut wie jeder andere, dass die Mauern Fort Harpers noch nie bezwungen wurden, seit Erik der Starke sie erbauen ließ.“ Er strich sich seine roten Haare aus dem Gesicht und richtete sich auf.

„Naja, ihr seid sicher müde. Wo euer Zimmer ist, wisst ihr ja.“ Louis und Uriel standen fast gleichzeitig geschmeidig wie Katzen auf. Mia brauchte etwas länger, die Müdigkeit steckte ihr tief in den Knochen.

„Mach dir keine Sorgen, Kilian. Solange König Balthasar lebt, wird Calgar leben und mit ihm Fort Harper… solange der König lebt.“ Louis hatte den letzten Teil nur geflüstert, aber sie alle hatten es gehört. Kilians grüne Augen versteinerten sofort.

„Solange der König lebt…“ wiederholte er kaum hörbar. Louis legte ihm die Hand auf die Schulter und durchquerte die Gaststube. Durch einen rückwärtigen Korridor gelangte man zu einer engen Stiege, die in einem schrägen Gang endete, von dem zwei Türen abgingen.

„Machen wir etwa den Eindruck, als könnten wir nicht zahlen?“ knurrte Uriel ungehalten. „Anscheinend schon.“ Bemerkte Louis trocken und öffnete die linke Tür.

Dahinter befand sich ein wider erwarten geräumiges Zimmer mit drei soliden Betten, einem Tisch, und einer schiefen Kommode, über der ein kreuzförmiger Fleck prangte. Beim näheren Hinsehen wurde Mia klar, dass hier jemand das Kruzifix abgenommen hatte.

„Man hat uns also bemerkt… sie wissen, was wir sind, Louis.“ Gähnte sie.

„Was? Oh, ja. Das hat mich nicht gewundert. Vampire sind hier zwar ungewöhnlich, aber nicht exotisch. Die Menschen hier in der Gegend spüren es, wenn wir unter ihnen sind. Manchmal sind sie nicht sehr nett, aber die meisten wissen, dass sie uns nicht zu fürchten brauchen. Wir dürfen unseren Durst hier mit normalen Speisen löschen, etwa ein Löffel Blut die Woche reicht völlig aus.“

„Hä?“ Mia verstand nicht ganz.

„Erklär ich dir morgen, Kleines. Schlaf jetzt lieber. Morgen fängt der ganze Trubel erst richtig an.“

Uriel schien keine Anstalten zu machen, sich umzuziehen. Er saß auf seinem Bett, die stechend blauen Augen starrten Mia an. Ein Schauer der Angst lief ihr den Rücken hinunter. Was war das für ein Gefühl? In seiner Nähe fühlte sie sich sicher und geborgen, hatte sogar Angst, dass er weggehen könnte, wie Eltern nachts ein Kind wieder alleine lassen, wenn es schlecht geträumt hat. Und doch ging eine prickelnde, fast erotische Gefahr von ihm aus, die Mia wahnsinnig machte. Bald schon sollte sich zeigen, dass ihr Intuition keineswegs falsch war.
 

~*~
 

Während die Turmuhr von Fort Harper drei Uhr schlug, ritt draußen ein Bote des Königs im gestreckten Galopp über die Wiesen vor der Festungsstadt. Er hörte nicht das Knacken im Gehölz, noch das leise Surren, bevor die Pfeile seinen Körper durchbohrten. Lautlos fiel er vom Pferd, das schließlich alleine bei der Stadtwache ankam. Ein grüner Pfeil steckte im Sattel.

Erklärung gefällig?

Mia erwachte am nächsten Tag erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand und unter ihrem Fenster die Bewohner der Stadt schon eifrig am Einkaufen und Feilschen waren. Verschlafen schlug sie die Decke zurück und gähnte erst einmal herzhaft, schwang die Füße aus dem Bett und stand auf. Louis war nirgends zu sehen, dafür fand sie Uriel vor einem Spiegel wie er seine Mähne kämmte. Lang und glitzernd lag sie ihm offen über dem Rücken, bis hinunter zu seinem – zugegeben knackigen – Hintern. Seine eisblauen Augen schienen sie zu durchbohren, wie er sie im Spiegel ansah. Verlegen trat Mia von einem Fuß auf den anderen, denn sie trug nur ihr langes Hemd vom Vorabend, das zu allem Übel weit geöffnet war und darunter ihr letztes „menschliches“ Kleidungsstück – ein Höschen von Esprit.

„Ähm… Guten Morgen. Wo ist Louis?“ Sie wollte herablassend klingen, doch der Anblick von Uriels Schwert, das unmittelbar neben ihm lag, ließ ihre Stimme zittern.

„Keine Ahnung. Irgendwas erledigen.“

„Ah ja… Und du gehst nicht mit ihm?“

„Ich bin vielleicht sein Offizier, aber nicht sein Kindermädchen. Er wird schon allein zurecht kommen.“ Uriel fasste seinen langen Haare und band sie, wie immer leicht schlampig, zu einem Zopf zusammen. Mehrere Bänder waren hinein geflochten, die teils lose herunter hingen.

„Sein Offizier? Louis ist doch nicht… so… ein General oder so?“

Uriel drehte sich nicht um, während er antwortete.

„Doch, das könnte man so sagen. Nicht ein General, wie du ihn dir vorstellst. Er hat auch nicht diesen Titel. Wir nennen in Princeps Tenebrae – Fürst der Finsternis, wenn man so will.“ Uriel band sein Leinenhemd zu und streifte eine enge Weste darüber. Sie hatte an der Seite eine blaue Schärpe angebracht, die mit silbernen Spangen gehalten wurde.

„Weiß ich, ich hab Latein.“ Sagte Mia. Sie suchte immer noch fieberhaft etwas zum Anziehen, denn ihre anderen Sachen waren verschwunden.

„Und wo habt ihr meine Klamotten hin?“ Jetzt drehte Uriel sich um. Er musterte sie von Kopf bis Fuß und zog eine Augenbraue hoch.

» Perversling « dachte Mia und schaute weg.

„In der Kommode, wenn mich nicht alles täuscht.“ Antwortete der Engel.

Mia öffnete die einzige Schublade, die groß genug für etwas zum Anziehen war. Tatsächlich. Ein weißes Hemd, ein dunkles Wams aus Leder mit einer blauen Schärpe, eine blaue Hose. Das gleiche Outfit wie Mr. Erzengel.

„Das sind Männerklamotten…“ Stellte das Mädchen nüchtern fest.

„Ach was… Frauenklamotten sind zum Reiten etwas unpraktisch und machen dich außerhalb von Calgar zum Freiwild. Wenn du verstehst, was ich meine…“ Fügte er trocken an.

„Oh…“ Mia verstand. „Muss ich jetzt vor dir Angst haben?“ Sie meinte die Frage halb ernst, halb im Scherz; Uriels Reaktion jedoch war ganz anders, als sie es erwartete.

„Halte dich von mir fern, wenn wir alleine sind.“ Seine Stimme klang bitter, wütend und traurig, während seine blauen Augen schwarz wurden und melancholisch schimmerten.

Geräuschvoll ließ er seine Waffe in die Schwertscheide gleiten und hängte sie sich um. Dann verschwand er aus der Tür.
 

Etwas benommen zog Mia sich an und machte sich auf den Weg in die Gaststube. Louis – der übrigens die gleichen Kleider wie sie trug – saß mit Uriel an dem abgelegenen Ecktisch hinter dem Kachelofen, an dem Emilia gestern Nacht aufgewacht war. Sie hatten beide einfache Teller aus Ton vor sich, im Übrigen erinnerte sie alles stark ans ausgehende Mittelalter.

Sie setzte sich neben Louis.

„Morgen, hab gehört du warst schon weg?“ Der dicke Wirt kam angewatschelt und stellte ihr einen Teller mit Brot und undefinierbarem Aufstrich vor die Nase. Daneben setzte er einen Becher Milch ab.

„Mhm…“ antwortete Louis und schluckte seinen Bissen Brot hinunter. „Alte Bekannte treffen, Dinge arrangieren, Nachrichten hinterlegen – all so’n Zeugs.“

„Alte Bekannte? Ihr wart also schon mal hier?“ Mia betrachtete ihren Brocken Brot misstrauisch und nahm lieber einen Schluck Milch.

„So einfach ist das nicht…“ wandte Uriel ein. „Es gibt da einen komplizierten Zusammenhang zwischen Hier und Dort… also, das eine und das andere sind bis zu einem Bestimmten Zeitpunkt dasselbe, danach zwei verschiedene Dinge…“ Mias perplexer Gesichtsausdruck verriet ihm, dass seine Erklärung nicht wirklich genützt hatte.

„Ich glaube, hier besteht noch einiges an Klärungsbedarf. Mia, du solltest endlich wissen, was hier vorgeht.“ Mischte sich Louis wieder ein.

„Ahja… dann schieß los.“

Mein Engel... !

Der laue Wind rauschte leise durch die uralten Bäume, die im Garten des Doms standen. Blühende Büsche wogten im Takt der sanften Vogelstimmen, die aus den duftenden Zweigen schallten und farbenfrohe Blüten reckten ihre Köpfe der heißen Mittagssonne zu.

Im Schatten der hohen Mauern war nichts vom Lärm der Straße zu hören, andächtig schritten Mönche und Gottesdienstbesucher durch die schillernde Landschaft. Der Dom thronte inmitten des Gartens, ruhig und feierlich strahlte er Würde und Unvergänglichkeit aus.

Auf einer Steinbank unter einer Trauerweide saßen zwei Personen in blauen Hosen mit hellblauen Schärpen. Ihre dunklen Haare leuchteten im Sonnenlicht. Das Mädchen hatte ihre Augen halb geschlossen und genoss die Kühle des Steins und die Wärme des Sommertages. Der junge Mann neben ihr sah auf sie hinunter und redet leise.
 

„Du solltest wissen, warum wir hier sind. Schließlich riskierst du mit uns dein Leben.“ Seine sanfte Stimme vermischte sich mit dem lebhaften Summen der Bienen.

„Mhm…“

„Dieses Land ist zu vergleichen mit dem Sagenhaften Avalon. Wer es sehen will, der sieht es. Wer nicht weiß, dass es da ist, kann es nie betreten. Es existiert als Parallelwelt zwischen der menschlichen Welt, aus der du kommst, und in der auch ich einst lebte, und dem Himmel.“

„Mh.“

„Es wurde im Jahr 1372 von Berengar dem Ersten gegründet. Er war der Sohn eines Königs aus der Menschlichen Welt und einer Frau, die man später als Hexe verbrannte. Von ihr hatte er magische Fähigkeiten geerbt. Als er mit ansehen musste, wie Tausende Unschuldige verbrannt wurden und erschlagen wegen magischer Fähigkeiten, entschloss er sich, eine Welt aufzubauen, in der sie leben konnten. All jene, die von der Kirche verfolgt wurden. Vampire, Elfen, Zauberer, Dämonen, Faune…“ Er beschrieb einen großen Kreis mit seiner Hand.

„Es sollte eine genaue Kopie seiner Heimat werden, was ihm auch gelang. Er nahm die südlichen Grafschaften Englands als Vorbild, deswegen mag dir einiges bekannt vorkommen.“

„Ja, das tut es auch.“ Schmunzelte Enilia.

„Jedenfalls schaffte er es, alle magischen Geschöpfe und Menschen umzusiedeln. Er erschuf Eingänge, die für nichtmagische Wesen im Nichts endeten, so wie bei uns etwa der Höhlengang, und versiegelte sie schließlich. So lebte er in einem paradiesischen Land. Bis 1399 Ereion, ein uralter Zauberer, den König tötete und die Macht an sich riss. Seither ist nie mehr Frieden eingekehrt, die verschiedenen Länder unter sich führen Kriege, paktieren, schließen Frieden und fangen dann wieder von vorne an.“

„Wie es in der Welt der Menschen auch geht.“

„Berengars Sohn, Erik, holte sich göttliche Hilfe. Eine Schar Engel wurde gesandt, um dem rechtmäßigen Thronerben zu helfen, doch bald schon schlugen sich einige auf die Seite von Ereion, geblendet von Reichtum, Ehre und verführt durch Lügen.“

„War… Uriel einer der Engel?“ Fragte Mia zaghaft

„Ja, das war er.“ Seufzte Louis und sagte eine Weile nichts. Schließlich fuhr er fort „Der Krieg tobte lange, bis es Erik gelang, eine entscheidende Schlacht zu gewinnen. Nicht weit von hier befindet sich die Schlucht der Sieben Todsünden, wie sie genannt wird. Ereion und sein Heer wurden vernichtend geschlagen, woraufhin Erik die größten seiner Krieger in die Verbannung schickte. Uriel gehörte dazu. Fünfhundert Jahre lang sollte er das Land nicht mehr betreten. Doch Erik hatte nicht bedacht, dass Uriel der größte Feldmarschall aller Zeiten war. Anstatt ihn für sich zu gewinnen, hatte er ihn verbannt und Uriel musste sich als Mensch durchschlagen. In unserer Welt.“

„Uriel hat gesagt, dass er auf deiner Burg geboren wurde.“ Fügte Mia an.

„Oh, ja, das wurde er. Vor nunmehr fast tausend Jahren. Wie gesagt, sein Vater brachte ihn als Kind hierher, nachdem er von Ziehmutter zu Ziehmutter gewandert war.“ Erklärte Louis ihr.

„Uriel hat aber gesagt, dass er siebenhundertundzwölf ist.“ Wandte das Mädchen misstrauisch ein.

„Er weiß nicht, wann genau er geboren wurde. 1295 Trat er dem Ritterorden der Cereer bei. Cereus heißt Kerze, denn sie waren Ritter des Lichts. Also beschloss er, dieses Jahr für den Beginn seines Lebens zu nehmen.“

„Was heißt waren?“ Hakte Mia nach.

„Offiziell gibt es diesen Ritterorden nicht mehr. Verstreut leben einige Ritter noch heute, viele sind verschollen, die meisten in der Schlacht gefallen.“

„Was geschah in den fünfhundert Jahren, in denen Uriel das Land nicht mehr betreten durfte?“

„Es herrschte ein wackeliger Frieden im Land. Eriks Enkel, Arthus von der Lilie, war nicht so stark wie sein Großvater und verlor das meiste seiner Ländereien an Ereion, der die Zeit in einem abgelegenen Gebirge überdauert hatte. Das war vor zwei Jahren. Er fiel in der Schlacht. Sein Sohn, Arthus Cereus, hat es nicht geschafft, Ereion das Land wieder abzujagen. Deswegen tobt hier ein so schrecklicher Krieg.“

„Ich habe noch nichts davon gemerkt…“ meinte Mia.

„Fort Harper ist die Hauptstadt von Calgar, das von König Balthasar regiert wird. Calgar ist das letzte freie Land und rechtmäßiges Erbe von Arthus Cereus. Sein Onkel Balthasar regiert für ihn, weil er noch zu jung ist.“ Führte Louis aus.

„Arthus Cereus… der Orden…?“ fragte Mia.

„Ja. Arthus führt der Tradition gemäß den Orden an, auch wenn es ihn nicht mehr gibt.“ Louis lachte leise. „Er hat schließlich die verbliebenen Ritter des Ordens um Hilfe gerufen. Und hier sind wir.“

„Du… du gehörst auch zum Orden?“ Louis seufzte tief und blickte sehnsüchtig in die Ferne.

„Ich habe einmal dazu gehört, bevor ich verwandelt wurde. Ich lebte in der Welt der Menschen, verliebte mich aber in eine junge Hexe, die hier aufwuchs. Das war im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Sie verließ ihre Welt, um mit mir zu leben. Schließlich… waren wir gezwungen, hierher zu flüchten. Ich als Mensch fühlte mich zuerst sehr unwohl hier, doch allmählich gefiel es mir immer besser. Bis zu dem schrecklichen Tag… an dem man sie umbrachte. Ihr Mörder biss dann auch mich, schaffte es jedoch nicht, mich zu töten. Seitdem bin ich ein Vampir.“

„Und dann bist du in die Welt der Menschen zurückgekehrt.“ Stellte Mia fest.

„Ja. Ich bin mit meinem neuen Dasein nicht zurecht gekommen. Ohne Emilia…“ er schluckte schwer, dann fuhr er fort „… ohne sie machte das Leben keinen Sinn mehr.“

„Mh… Uriel sagte, du seist so etwas wie ein General…“ Fragte Mia.

„Ähm… das ist schwierig zu erklären. Als ich noch ein Mensch war, kam ich durch Zufall hierher. Ich rettete dem Prior des Ordens der Cereer das Leben, woraufhin ich zu seinem Nachfolger bestimmt wurde. Nach dem – Biss – nahm ein anderer meinen Platz ein. Doch der Treueschwur gilt bis in den Tod, und so halte ich bis heute das Kommando über etwa zweihundert verbliebene Ritter.“ Louis schloss die Augen und faltete die Hände vor seiner Stirn.

„Oh…“ War alles, was Mia noch sagen konnte. „Dann seid ihr also hier, um zu kämpfen?“

„Ja. Bis in den Tod.“

Die heißen Sonnenstrahlen durchbrachen das Laubdach über ihnen und ließen auf ihnen Lichtflecke tanzen. Eine Amsel hatte sich hoch oben ins Geäst gesetzt und sang ihr lebhaftes Lied.

Langsam schlenderten Mia und Louis durch den Garten bis zum Haupttor, das auf den Domplatz hinausführte. Geschäftiges Treiben erfüllte ihn, die Geschäfte zu beiden Seiten luden zum Kauf ein, fahrende Händler boten am Dombrunnen ihre Ware feil.

„Möchten die Herren vielleicht einen Blick auf meine Handarbeit werfen?“ Ein gebückter Mann war vor ihnen aufgetaucht, die Hucke auf seinem Rücken mit Bändern, Tuch und Spitze beladen. Er war noch nicht besonders alt, aber die Mehrzahl seiner Zähne hatte ihn bereits im Stich gelassen, das schüttere, ungewaschene Haar fiel ihm strähnig ins zerfurchte und wettergegerbte Gesicht.

„Nein Danke.“ Sagte Louis unwirsch und drängte sich an ihm vorbei, Mia hinter sich herziehend.

„Der junge Herr hat doch sicher eine Dame seines Herzens, wie wäre es mit einem Spitzentuch?“ Die knochige Hand des Alten krallte sich in Mias Hemd. Louis schlang seinen Arm um ihre Schultern und schob sie schleunigst durch das Gedränge vom Händler weg.

Als sie eine ruhigere Seitenstraße erreicht hatten, ging Louis langsamer. Er warbte Mia eindringlich vor zwielichtigen Gestalten.

„Lass dir nie von denen etwas andrehen. Die Ware ist meistens minderwertig und im schlimmsten Fall begehst du auch noch Hehlerei. Pass immer gut auf deine Wertsachen auf.“

»Die ich gar nicht habe« beendete Mia den Satz in Gedanken.

„Wir gehen jetzt zu einer alten Freundin von mir, etwas erledigen.“ Bestimmte Louis und gab die Richtung an. Die verwinkelten Straßen und Gassen durch die Fachwerkhäuser führten stetig bergauf, dem prächtigen Schloss zu, das über Fort Harper thronte. Die blauen Zinnen schimmerten im Sonnenlicht und bildeten einen klaren Kontrast zu den weißen Mauern. Jedes Fenster war mit einem blauen Rahmen versehen, sogar die Schildhäuschen waren blau angemalt.

Die Gasse, in die Louis einbog, war vom Sonnenlicht geflutet, nette, kleine, saubere Häuser standen Wand an Wand, die meisten waren mit blauen Mustern am Fachwerk verziert.

Sie blieben vor einem etwas schiefen Haus stehen, Luis klopfte dreimal kräftig an die Tür.

Zuerst geschah gar nichts, dann öffnete sich langsam der schwere Türflügel und ein junges Mädchen sah fragend zu ihnen auf.

„Guten Tag, Elisabeth. Ist Frau Morgenstern zu sprechen?“ Louis Charme verschlug dem Mädchen die Sprache. Verlegen bat sie die beiden herein und nestelte an ihrer – natürlich blauen – Schürze.

„Bitte warten Sie doch einen Augenblick in der Stube, ich hole Marianne sofort. Wen darf ich melden?“ Sie sah abwechselnd von Mia zu Louis und wieder zurück.

„Ihren Neffen.“ Er lächelte sie an.

„J-ja…“ Elisabeth entfernte sich und ging schnellen Schritts eine Treppe hoch.

Louis unterdessen fühlte sich ganz Zuhause und setzte sich auf ein gemütlich aussehendes Samtsofa, das wie der Rest des Zimmer in gedeckten Blautönen gehalten war.

„Ihr Neffe?“ Fragte Mia grinsend.

„Ja. Sie war meine gute Fee, als ich das erste Mal hierher kam. Ich war sehr verloren, da hat sie mich aufgenommen und wie ihren eigenen Sohn behandelt. Seitdem nennt sie mich ihren Neffen. Ihre Tochter fühlt sich übrigens als meine Schwester, wenn sie auch um einiges jünger ist als ich.“ Er lachte und deutete auf einen schweren Ölschinken an der Wand.

„Das ist sie. Hübsch, nicht wahr?“

Mia drehte sich in die Richtung, die Louis ihr deutete. Auf dem Bild war ein Mädchen abgebildet, das nur wenig älter als Mia zu sein schien. Ihre langen roten Haare hatte sie kunstvoll aufgesteckt, Perlenschnüre zogen sich durch die Frisur, ein funkelndes Diadem krönte sie. Ihr Kleid war hellblau (welche Farbe sollte es sonst haben? ^^), alles in allem eines der langweiligen Bilder von Personen, die viel Geld haben. Aber ihre Augen faszinierten Mia. Sie waren grün und braun zugleich, wobei das Grün so schillernd war wie eine Bucht mit glasklarem Wasser und das Braun an Edel-Bitterschokolade denken ließ.

„Wie alt ist sie?“ Fragte Mia gedankenverloren, weniger interessiert an dem Mädchen als vielmehr irgendetwas gesagt zu haben.

„Sie müsste bald 23 werden.“ Sagte Louis und erhob sich, denn eine etwas beleibtere Dame mit demselben Feuerroten Haar wie das Mädchen auf dem Bild betrat den Raum. Ihr grünes Kleid stach fast in den Augen, so hell war es. Aber es passte gut zu den katzengrünen Augen.

„Tante Marianne, wie schön dich wieder zu sehen!“ Louis küsste ihr die Hand, doch anstatt so förmlich zu bleiben wie er, nahm ihn die Frau einfach in den Arm und drückte ihn fest an sich.

„Mein lieber, lieber Neffe. Dass du den Weg zu mir gefunden hast, erstaunt mich nicht schlecht. Aber ich habe es immer gewusst. Elienor, hab ich immer gesagt, Elienor, dein Cousin kommt wieder. Und hier bist du!“ Wie zur Bekräftigung ihrer Worte breitete sie die Arme weit aus und trat einen Schritt von ihm zurück, während sie über das ganze Gesicht strahlte.

„Oh, ich sehe, du hast Besuch mitgebracht.“ Sie wandte sich Mia zu und kniff ein Monokel in ihr rechtes Auge.

„Marianne, das ist Emilia, Mia, das ist meine liebe Tante Marianne Morgenstern.“ Stellte Louis sie vor.

„Freut mich, Sie kennen zu lernen, Frau Morgenstern.“ Erwiderte Mia höflich.

„Papperlapapp!“ Stellte die Frau fest, „Für dich bin ich du und Marianne. Eine Freundin meines einzigen Neffen ist auch meine Freundin. Willkommen in Fort Harper, Mia!“ Sie streckte beide Hände aus, die Mia schüchtern ergriff, und dann zog Marianne sie in eine Umarmung, die mit zwei festen Schmatzern auf beiden Wangen endete.
 

„Louis, warum genau bist du hier?“ fragte Marianne schließlich nach der hundertsten Tasse Tee.

„Ich wollte dir und Elienor einen Besuch abstatten.“ Sagte er, doch seine Augen wichen denen seiner resoluten Tante aus.

„Aber irgendwas willst du doch von mir.“ Bohrte sie weiter.

„Ja, na ja… Elienor ist nicht zuhause?“ fragte er zögernd.

„Aha.“ Antwortete Marianne, kniff die Lippen zusammen und stellte ihre Tasse ab. „Du willst sie doch nicht etwa in irgendwelche Dummheiten mit hineinziehen?“ Ihre katzengleichen Augen musterten den jungen Mann ihr gegenüber eindringlich.

„Tante Marianne, du weißt, dass Calgar das einzige freie Land ist, seit Ereion wieder erstarkt ist. Arthus Cereus hat uns zu Hilfe gerufen, er weiß weder ein noch aus.“ Louis Stimme hatte einen bittenden Ton angenommen.

„Aha.“ Sagte Marianne wieder, doch diesmal schon weniger laut.

„Elienors Vater war einer der besten Ritter des Cereer Ordens. Ich bitte dich, Elienor mit uns ziehen zu lassen. Du weißt, wie sehr sie ihrem Vater gleicht. Ich habe noch nie einen Schwertkampf gegen sie gewonnen und mit dem Bogen geht sie besser um als mancher Mann.“

Marianne antwortete nicht, sondern atmete nur tief ein und aus. Louis fuhr fort.

„Ich weiß, dass dich der frühe Tod ihres Vaters tief getroffen hat, aber in ihren Adern fließt das gleiche Blut. Lass sie für die gerechte Sache kämpfen – wir brauchen jeden Mann.“ Hastig fügte er an: „Und jede Frau.“

Marianne vergrub ihre Hände in den Falten ihres Kleides.

„Ich habe die uralte Gabe der Vorhersehung, so wie Elienor sie hat. Und ich habe gesehen, dass du kommst. Ich habe auch gesehen, dass wenn sie geht, wird sie nie mehr über die Schwelle dieses Hauses schreiten. Du verlangst einen hohen Preis von mir, Louis. Aber ich habe auch gesehen, dass es ihr Schicksal ist. Sie muss ihm folgen.“

Ohne weitere Worte stand sie auf.

„Ich sage es ihr, wenn sie wiederkommt. Sie ist bis zum Bankett wieder in der Stadt.“

Marianne wischte sich zwei Tränen von der Wange und Mia sah, dass sie sehr um Beherrschung kämpfte.

„Tante Marianne…“ flüsterte Louis an ihrer Schulter. „Ich danke dir.“

„Danke nicht mir, sondern Gott. Er hat mir dieses Schicksal auferlegt und er ist es, der euch die beste Kämpferin dieses Landes schickt.“ Schluchzte sie. „Es ist besser, wenn du jetzt gehst.“ Marianne raffte ihre Röcke und verließ den Raum.

Elisabeth erschien und wies ihnen den Weg zur Tür.
 

Wieder draußen auf der Straße sagte keiner der beiden Vampire etwas. Die Sonne schien noch immer so hell in die Gasse, nichts ließ erahnen, was eben geschehen war. Louis schritt schweigend neben Mia her, wieder die Anhöhe hinunter vom Schloss weg zum Gasthof.

„Warum willst du, dass Elienor mit uns geht?“ Fragte seine Begleiterin schließlich.

„Sie ist eine ganz außergewöhnliche Frau. Sie kann kämpfen, reiten, bogen schießen und hat die Gabe der Vorhersehung wie ihre Mutter. Wenn sie mit uns kommt, ist die Schlacht so gut wie geschlagen.“ Seine Stimme war rauh, gedrückt, anscheinend hatte ihn die Prophezeiung seiner alten Freundin ziemlich mitgenommen.

„Deine Tante… Marianne, sie hat gesagt, dass Elienor nie wieder zurückkehren wird, wenn sie fortgeht. Heißt das, dass sie sterben wird?“ Mia sagte es nur sehr zögerlich.

„Das – muss es nicht heißen. Vielleicht wird sie nur woanders sesshaft… oder so…“ meinte der Vampir, doch Mia spürte, dass es selbst nicht daran glaubte.

„Du solltest lernen zu kämpfen, Mia!“ Durchbrach er plötzlich die Stille. „Uriel wird dir zeigen, wie man ein Schwert führt, Reiten musst du beherrschen und Elienor bringt dir das Schießen bei. Unser Weg wird lang und gefährlich, also solltest du dich verteidigen können.“

„Ich und kämpfen???“ Fragte Mia ungläubig. „Ich kann so was doch gar nicht!“ Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.

„Dann wirst du es eben lernen. Wir mussten das alle!“ Beendete er die Diskussion vor der Tür des Gasthauses. „Am besten fängst du noch heute an.“
 

„Uah! Hör auf, das ist gemein!“ Wütend und den Tränen nahe schleuderten Mia mit einem lauten Klirren ihr Schwert zu Boden. Uriel stand ihr gegenüber, die Hemdärmel hochgeschlagen und kein bisschen angestrengt. Mia dagegen keuchte und schwitzte, ihr Hemd war so weit geöffnet, wie es nur ging. Am liebsten hätte sie es ausgezogen, doch das hätte wohl gegen alle Regeln der Etikette verstoßen.

„Was denn… denkst du, dein Gegner sagt dir vorher, wohin er gleich schlägt?“ Ein selbstgefälliges Grinsen zog sich über sein hübsches Gesicht. „Du musst dich in dein Gegenüber hineinversetzen, jede Bewegung voraussehen. Nur dann hast du eine Chance.“

Er fuhr mit der Spitze seines Schwertes unter das Heft des ihrigen und schleuderte es in die Luft, wo er es elegant auffing.

„Los“ er streckte es ihr entgegen „mach noch mal. Oder willst du da draußen hilflos den Räubern ausgeliefert sein?“

Zögerlich griff sie nach dem Schwert. Nun stand sie also im Hof des Gasthauses und übte Schwertkampf mit dem Mann, dem sie die Klinge am liebsten sonst wohin gejagt hätte. Es war zum Mäusemelken!

Die Sonne sank langsam hinter den Dächern der Stadt und Mia wurde immer besser. Sogar Uriel nickte anerkennend, als der Hof schon fast im Dunkeln lag und er die Stunde abbrach.

„Du hast dich gut geschlagen, Mia. Wenn du so weiter machst, können wir in zwei Wochen aufbrechen. Wir üben jeden Tag, bis dir jede einzelne Bewegung in Fleisch und Blut übergegangen ist.“ Er ließ sein Schwert geräuschvoll in die Scheide gleiten und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

„Komm, wir gehen rein. Ich hab schon ziemlich Hunger, du nicht?“ Stille. „Mia?“ Das Zirpen einer Grille war die einzige Antwort. „Mia, hey, Kleine, wo bist du denn?“

Er hörte, wie ihr Schwert nur knapp an ihm vorbeisauste, bis es gegen die steinerne Wand schlug.

„Sag – nie – wieder – Kleine!“ Sie stieß jedes einzelne Wort zwischen den Zähnen hervor.

„Okay, okay… komm runter, ja? Außerdem nützt es dir wenig, mich anzugreifen. Ich hätte dich in null komma nix entwaffnet.“ Er packte sie unsanft an der Schulter. „Ich schlage vor wir…“ Mitten im Satz brach er ab. Sie standen im Torbogen des Hofes, als draußen Schritte vorbeikamen. Mit einer einzigen Bewegung hatte er sie beide umgedreht und drückte sie mit seinem Körper an die Wand, nicht einmal ein Blatt hätte zwischen sie gepasst.

„Was zum…?“ Keuchte sie, doch er hielt ihr den Mund zu. „Scht…“ War die einzige Antwort.

Die Schritte kamen näher und eine fremdartige Stimme sprach in einer Sprache, die Mia noch nie gehört hatte. Einzig und allein die Kälte in der körperlosen Stimme erinnerte Sie an den Mann, der eng an sie gelehnt ihr gegenüber stand.

Auch, als die Schritte und die Stimme verklungen waren, löste er sich nicht von ihr. Lediglich seine Hand nahm er von ihrem Mund, sie fuhr langsam den Bogen ihrer Wange hinab, verblieb an ihrem Kinn und wanderte an ihren Hals, wo seine Fingerspitzen glühende Stellen hinterließen. Mia konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen, doch sein Atem ging schneller und sie spürte das Klopfen seines Herzens durch den dünnen Stoff ihrer Hemden.

Obwohl sie wusste, dass ihr eigenes Herz unendlich langsam schlug, fühlte es sich an, als wollte es in ihrer Brust zerspringen.

Uriels andere Hand legte sich sanft an ihre Schläfe und streichelte die Haut dort, wo eigentlich ihr heftiger Puls hätte sein müssen. Er zog die Rechte von ihrem Hals, nur, um sie tiefer wandern zu lassen. Langsam, gemächlich und schon fast genüsslich strich sie die Formen ihrer Brust nach und fuhr immer tiefer, brachte ihre empfindliche Haut zum Glühen. Sie spürte, wie sich die Bänder ihres Hemdes lösten und es offen über ihre Schultern hing.

Ihr Verstand ging mit ihr durch, was tat sie hier eigentlich? Als sie sich etwas zu schnell bewegte, nahm Uriel seine Hände von ihr und wollte einen Schritt zurück treten doch sie hielt ihn an seinem Hemd fest.

„Nicht aufhören…“ keuchte Mia.

Sie konnte spüren, wie ihr Engel lächelte und mit den Zärtlichkeiten fortfuhr. Die Bewegungen seiner Hände machten sie fast wahnsinnig, wie leidenschaftlich war er wohl erst… sie verdrängte den Gedanken sofort.

Uriels Berührungen wurden immer verlangender, schließlich nahm er ihr Gesicht in seine Hände und berührte ihre Lippen ganz sacht mit seinen. Sie waren so unendlich weich, wie Mia es von keinem Jungen kannte. Ganz langsam, fast quälend langsam näherte er sein Gesicht ihrem wieder und versiegelte ihren Mund mit einem gemächlichen Kuss. Vorsichtig berührte er ihre Lippen mit seiner Zunge, er spürte, wie sie elektrisiert vor ihm stand, seine Zärtlichkeiten genießend.

Ihr Körper zog sich innen fast schmerzhaft zusammen. Doch sie wagte nicht, etwas zu tun, also stand sie fast reglos da und genoss das Spiel seiner Zunge am Saum ihrer Lippen. Langsam öffnete sie ihren Mund für ihn und hätte vor Wahnsinn heulen können.

Seine Zunge strich über ihre, erst weich, dann fordernd. Mia schlang ihre Arme um seinen Hals und zwang ihn so, zu ihr herabgebückt stehen zu bleiben und den Kuss nicht zu unterbrechen.

Ihr war heiß und kalt gleichzeitig, ihr Verstand vollkommen ausgeschaltet. Immer leidenschaftlicher küsste er sie, Mia merkte, wie ihr Verlangen nach ihm erwachte. In der Stockdunkelheit konnte sie nichts sehen, nur seine menschliche Wärme fühlen, seinen Atem hören und ihn mit jeder Faser ihres Körpers spüren.

Als sie schließlich beide nach Luft rangen (Mia eher aus Gewohnheit, Uriel musste wirklich atmen) wich er keinen Zentimeter von ihr.

„Was habe ich getan…“ flüsterte er leise an ihrem Ohr. Seine Hände schoben sich an ihren Rücken und drückten sie an sich.

„Du hast mich wahnsinnig gemacht.“ Antwortete Mia genauso leise, ihre Stimme zitterte bei jedem Wort.

„Das merke ich, du zitterst.“ Ihre Wange lehnte an seiner Schulter, noch nie hatte sie sich so geborgen bei ihm gefühlt.

„Ich hätte es nicht tun dürfen… verzeihst du mir?“ Seine leise, wunderschöne Stimme hauchte die Worte in ihr Haar, ein Prickeln überzog ihren Nacken.

„Nein… es war so wunderschön…“ Er legte eine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, den Kopf zu heben.

„Wunderschön… und so gefährlich…“ Flüsterte er.

„Das ist mir egal…“

„Ich dachte, du magst mich nicht…“ Stellte er lächelnd fest.

„Auch Vampire können irren.“ Seufzte Mia. „Ich…“ doch weiter kam sie nicht, seine Lippen legten sich fordernd auf ihre. Nur zu gerne erwiderte sie den Kuss. Ihr Innerstes zerfloss, ihre Gedanken drehten sich nur noch um ihn.

Immer stürmischer verlangte er nach ihr, immer leidenschaftlicher wurde der Kuss. Gerade, als sie meinte, explodieren zu müssen, gaben ihre Knie nach. Uriel umschlang sie fest mit seinen Armen.

„Tut mir leid… das war wohl etwas zu stürmisch.“ Entschuldigte er sich scherzhaft.

„Du kannst das einfach zu gut…“ gab Mia ihm als Antwort.

„Du hast alle Zeit der Welt, um das nachzuholen…“ flüsterte er ihr ins Ohr. Und er meinte es wörtlich, als er sie zum letzten Mal küsste. Voller Leidenschaft, voller Feuer, voller Gefahr.

Weißer Ritter, schwarzer Schatten... (Auf eigene Faust)

Langsam, nur sehr langsam lösten die beiden sich voneinander. Mia konnte nicht glauben, was eben geschehen war. Sie hatte sich von dem Mann, den sie glaubte zu hassen, küssen lassen. Und es hatte ihr gefallen!

Uriels Hände lagen auf ihren Schultern, sanft schob er sie Richtung Gasthof.

„Wir gehen besser rein, Louis macht sich sonst noch Sorgen.“ Sagte er leise, aber bestimmt.

Sachter Widerstand regte sich in Mia. Hier gab es noch einiges für sie zu klären.

„Uriel?“

„Mh?“

„Hast du das eben ernst gemeint?“ Fragte sie mit einem scharfen Unterton in der Stimme.

„Mia… das eben war nicht geplant…“ Sagte er sanft.

„Ach, war es nicht. Also nur ne kleine Sache!“ Zischte sie wütend und wand sich aus seinem Griff. „Das hättest du dir sparen können!“

„Nein, so meine ich das nicht!“ Widersprach er.

„So hat es sich aber angehört!“ Schluchzte Mia laut. „Ich bin schon mal auf genau die gleiche Art und Weise verletzt worden, das will ich nicht noch mal!“

„Ich wollte dich nicht verletzen.“ Versicherte Uriel ruhig. „Es ist nur so…“

„Ich sehe, wie es ist. Wie viele hattest du schon? Ha? Hundert? Mindestens, so alt wie du bist.“ Jetzt wollte sie ihn verletzen, doch im Innersten stachen die Worte auf sie selber ein.

„Du hast Recht.“ Antwortete Uriel beschämt und tonlos. „Ich bin zu alt für dich. Zu… gefährlich. Erinnerst du dich daran, was ich zu dir sagte, heute morgen?“

„Ja, das tue ich. Ich sollte mich von dir fern halten. Ich hab’s aber nicht getan. Was ist daran SO SCHLIMM?!“

„Dass du nichts weißt, das ist schlimm. Und es soll auch so bleiben. Ich will nicht, dass du wegen mir dem sicheren Tod entgegengehst und ich nichts dagegen tun kann!“ Jetzt hatte auch er die Stimme erhoben und seine Augen spiegelten Traurigkeit und Selbsthass.

„Oh, welch edle Motive, mein Ritter. Leider kommen die Überlegungen Ihro Gnaden etwas zu spät.“ Ihre Stimme troff vor Ironie. Wie konnte er es wagen, sie so auszunutzen?

„Ich weiß. Es hätte nicht so weit kommen dürfen. Ich bitte dich, hör mir einfach nur zu, dann kannst du gehen – für immer, wenn du willst.“ Flehte er niedergeschlagen.

Mia wartete. Er trat einen Schritt zur Seite, der Weg zur Straße war für sie frei und der Weg zum Gasthof auch.

Uriel setzte sich auf den Rand des Brunnens, dessen schattenhafte Umrisse sich nur schwach gegen den dämmrigen Himmel abhoben. Emilia lehnte sich gegen die Wand.

„Okay, ich höre dir zu.“ Antwortete sie eisig.

„Ich bin ein Ritter, vom Orden der Cereer, wie du von Louis weißt. Meine Vergangenheit ist… wenig ruhmreich – wie soll ich sagen – ich wurde verbannt, eigentlich für immer.“

Er rang nach Worten, fuhr dann aber fort. „Nur durch die Gnade des Artus bin ich wieder da, um meine Ehre wiederzuerlangen. Ich weiß, was ich früher war. Ich war ein Monster. Man sagte, dass ich der Engel des Todes sei. Wo ich auf dem Schlachtfeld auftauchte, da entkam niemand. In jeder Stadt, die ich durchquerte, wurden die Kinder und Frauen weggeschlossen, die Fensterläden und die Türen verriegelt. Zuerst bemerkte ich es nicht, doch dann… erkannte ich die Grausamkeit, die von mir Besitz ergriffen hatte. Ich verliebte mich in ein junges Mädchen, das ich auf einem einsamen Feldweg traf. Sie erkannte mich nicht, und so war es mir möglich, ein Gespräch mit ihr zu führen. Schließlich brach die Nacht herein, und sie willigte ein, sich schlafen zu legen, während ich Wache hielt.

Leider kam ein Trupp Jäger an unserem Lager vorbei. Sie sahen das Mädchen und dachten, ich hätte sie verführt. Sie griffen mich an, wohl wissend, wer ich war. Ich tötete sie alle, wobei das Mädchen aufwachte und alles mit ansehen musste. Ich wollte sie zurückhalten, doch sie floh vor mir. Da wurde ich so wütend, ich hatte Blut geleckt, ich war rasend vor Schmerz. Also packte ich sie am Arm… und… und…“ Seine Stimme brach.

„Du hast sie vergewaltigt!“ Schrie Mia. Plötzlich empfand sie nur noch Ekel und Abscheu vor dem Mann, der vor ihr saß.

„Nein! Das ist nicht wahr!“ Verteidigte er sich. „Ich weiß nicht mehr, was mich geritten hat. Ich habe sie getötet. Vor meinen Augen lag sie da… ihr schönes Gesicht wurde immer blasser und sie hörte auf zu atmen.“ Mia konnte hören, wie er schluchzte. Sie wollte nur noch weg, doch die Angst schnürte ihr die Brust zu, sie fühlte sich, als ob sie sich nicht bewegen könnte.

„Von da an ertrug ich den Anblick eines Mädchens nicht mehr. Ich achtete nicht mehr darauf, wer in der Schlacht vor mir stand, ich weiß nur, dass mein Schwert eine schreckliche Ernte hielt. Jedes Mal, wenn sich ein Mädchen mir hingab – erinnerte ich mich an dieses eine, das ich getötet hatte. Und so fand auch jedes weitere den Tod. Ich wusste nicht, dass Ereion sich meiner Seele bemächtigt hatte, um aus dem weißen Ritter des Lichts sein dunkles, grausames Werkzeug zu machen. Erst, als er besiegt und ich verbannt wurde, erinnerte ich mich an all die schrecklichen Taten, doch meine Reue kam zu spät.“ Mia hörte ihn weinen. Ihr starker, schöner Engel weinte. Und trotzdem konnte sie nicht umhin, Angst vor ihm zu haben. Wie viele er wohl auf dem Gewissen hatte?

„Mia – kannst du mir verzeihen? Jetzt, wo Ereion wieder an Macht gewinnt, lebe ich jeden Tag in der Angst, dass er meine Seele fängt und mich wieder zu seinem Gefangenen macht. Ich spüre seine Anwesenheit, jede Sekunde, jede Minute. Ich habe solche Angst!“

Mia konnte nicht glauben, was sie da eben gehört hatte. Uriel hatte Mädchen getötet, nachdem er mit ihnen geschlafen hatte? Nur, weil Ereion seine Seele gefangen hatte?

„Du hast es also nicht – bewusst gemacht?“ Fragte sie.

„Nein. Würdest du es mir zutrauen?“ hielt er dagegen.

„Ich weiß es nicht. Aber was du erzählt hast, ist grauenhaft. Ich hätte nicht gedacht, dass du zu deinen alten Gewohnheiten zurückkehrst!“

„Das bin ich nicht, Emilia. Ich… ich habe mich in dich verliebt, seit ich dich auf dem Schloss überwältigt habe.“

„WAS?“

„Es ist Liebe, die mir Hoffnung gibt, dass ich diesmal Ereion widerstehen kann. Bitte, enttäusche mich nicht!“

„Es tut mir leid, Uriel. Ich weiß nicht, ob ich so jemanden wie dich lieben kann.“ Sagte sie entschlossen, aber jedes ihrer Worte gab ihr einen Stich.

„Du hast Recht. Es war ein großer Fehler, dich zu küssen. Vergib mir. Ich werde dich nie wieder berühren, das verspreche ich.“

Sie konnte die Traurigkeit in seiner schönen Stimme förmlich spüren, er stand jetzt vor ihr wie ein getretener Hund. Mitleid stieg in ihr auf, doch sie erstickte es im Keim. Er war ein Mörder! Aber was wenn er wirklich nichts dafür konnte? Egal. Mia wischte die aufsteigenden Tränen ab und verschwand im Gasthof. Nie wieder, schwor sie sich. Nie wieder.
 


 

*Heul… schnüff… naja, die Geschichte war jetzt nich so der Knüller… vielleicht wird ja der nächste Abschnitt besser ^^*
 

Mia ging an diesem Abend zu Bett, bevor die beiden Männer das Zimmer betraten und stellte sich am nächsten Morgen so lange schlafend, bis sie das Zimmer wieder verlassen hatten.

Unten im Lokal saß nur noch Louis am Tisch, als Mia sich zu ihm setzte.

„Schlechte Neuigkeiten, Mia.“ Begrüßte er sie missmutig.

„Und die wären?“ Welche Neuigkeiten könnten schlechter sein als die, die sie gestern Abend bekommen hatte?

„Der Grüne Graf treibt sich irgendwo draußen vor der Stadt rum, seine Leute haben einen Boten erschossen. Ich möchte nicht, dass du alleine vor die Stadt gehst, ist das klar?“

Mia nickte, obwohl sie wenig Lust hatte, den Anweisungen ihres Freundes zu gehorchen. Stattdessen wechselte sie einfach das Thema.

„Was liegt heute an?“ Sie versuchte, so unbefangen wie möglich zu klingen.

„Uriel und ich haben selber noch Dinge zu erledigen, ich dachte, du gehst in die Dombibliothek und siehst dich ein bisschen um. Ihre Sammlung ist fantastisch, die Mönche haben viel zum Thema Geschichte gesammelt, falls du noch Fragen zu Miranmír hast…“

„Miranmír?“ Hakte Mia nach.

„Das ist der Name dieser Welt. Er ist aus der Zwergensprache und bedeutet >Götterspiegel<.“ Erklärte Louis ihr.

„Aha… gut. Ich gehe dann gleich in die Bibliothek.“ Sagte sie beiläufig.

„Gut. Ich weiß doch, dass Bücher dir gefallen.“ Er lachte. „Falls du irgendwelche Fragen hast, Kilian, also der Sohn des Wirts, ist Oberstufenschüler in der Domschule. Er hilft dir sicher weiter.“ Louis stand auf, knöpfte sein Wams zu und verabschiedete sich.

„Wir sehen uns dann spätestens heute Abend. Machs gut.“

„Ja, du auch.“ Erwiderte Mia abwesend. Als sie sicher war, dass er nicht mehr zurückkommen würde, winkte sie den Wirt herüber.

„Könnt Ihr mir sagen, was es mit dem Grünen Grafen auf sich hat?“ Ein verschwörerisches Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

„Oh!“ Der Wirt sah sich um, verstand und setzte sich ihr gegenüber.

„Der Grüne Graf ist der Vetter des Königs Theophil. Theophil stand in den Diensten Ereions. Naja, aus der letzten Schlacht ist er nicht zurückgekehrt, der gute Balthasar hat ihn erschlagen – wurde auch mal Zeit.“ Knurrte der Wirt und putzte auf der Tischplatte herum.

„Jedenfalls ist er jetzt hier vor der Stadt, um Rache zu nehmen an seinem lieben Cousin. Leider weiß man nicht, wo er sich aufhält, wüssten wir das, dann…“ Er hustete und lief rot an.

„Dann…?“ Fragte Mia gespannt.

„Dann.. *hust* könnten wir einen Ausfall machen und ihn ein für alle mal erledigen. Man müsste nur seinen feinen Hintern ausmachen können. Aber das ist verdammt schwierig.“

„Ich werde es versuchen.“ Entschied Mia. Wozu war sie ein Vampir, man konnte sie nicht töten und viel zu verlieren hatte sie auch nicht.

„Bei allem Respekt, junge Dame, aber das ist nicht mal dem besten Rittern des Königs gelungen.“ Der Wirt lächelte nervös.

„Ihr wisst doch sicher, was ich bin, oder?“

Der Wirt gab ein unverständliches Knurren von sich, nickte dann.

„Niemand kann mich auf die herkömmliche Weise töten. Ich weiß selber nicht, wie ich mich umbringen könnte. Jedenfalls ist es sehr schwierig und der Faktor Sonnenlicht fällt auch weg.“

„Eure Rechnung geht leider nicht auf, mein Fräulein.“ Meinte der Wirt.

„Ha? Wieso nicht?“ Mia war basserstaunt.

„Der Grüne Graf besitzt die einzige Waffe, die einen… einen… Vampir töten könnte. Das Schwert heißt Fallomir, seine giftige Klinge bringt jedes Wesen, das auf Gottes schöner Erde wohnt, um. Die Schwächsten in Sekunden, die Stärksten in langen, qualvollen Stunden. Ich würde schön hier bleiben an Eurer Stelle.“ Der Wirt erhob sich und nickte ihr noch einmal zu.

„Mit dem Grünen Grafen scherzt man nicht, junge Dame.“ Dann verschwand er hinter seinem Tresen.

Mia verbrachte die nächste Stunde damit, zu überlegen. Schließlich entschied sie, einfach einmal um die Stadt zu reiten und ihre feinen Sinne einzusetzen.

Aus den Stallungen des Gasthofes (der übrigens zum blauen Mond hieß) organisierte sie sich unbemerkt ein Pferd, eine schöne braune Stute, denn Stuten waren ihrer Meinung nach am einfachsten zu lenken (sofern sie nicht Hexe hießen und bei Frau Kröger im Reitstall standen).

Sie steig auf und merkte, dass die Reitstunden ihrer Kindheit doch gefruchtet hatten. Sie kam bis zum Tor, ohne ihre Begleiter zu treffen und zog sich ihren leichten Mantel über den Kopf, als sie die Torwache passierte.

Geschafft! Sie war vor der Stadt. Passanten und Wagen warteten hier, bis sie eine geeignete Menge Leute zusammenhatten und fuhren dann als ganzer Tross von etwa fünfzig Menschen los. Angst war ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben und so wunderten sich einige über den waghalsigen Reiter, der den Wag verließ und in leichtem Trab über die hügelige Wiese ritt.

Mia schaltete alle Sinne ab bis auf ihren Geruch und konzentrierte sich auf Metall, Blut und Schweiß. Zuerst roch sie nichts, doch als sie sich dem östlichen Waldrand näherte, nahm sie eine Witterung auf. Wie ein Hund folgte sie vorsichtig dem Geruch. Er führte sie über eine halb zerfallene Brücke mitten in den Wald. Hier waren die Vögel verstummt, ein stinkender Pferdekadaver verriet ihr die Anwesenheit der Horde.

Für ihre feine Nase war der Gestank kaum zu ertragen, dennoch ritt sie weiter. Hinter einer Wegbiegung sah sie dann den Zeltplatz des Grünen Grafen. Gut versteckt lag er in einem schwer zugänglichen Felsspalt, der sich wohl zur anderen Seite hin öffnete. Hätte Mia ihn nicht gerochen, sie wäre blind an ihm vorbei geritten. Geräuschlos ließ sie sich vom Pferd gleiten. Das war wohl die beste Fähigkeit eines Vampirs, man konnte ungehört und mit etwas Übung auch ungesehen Dinge auskundschaften. Sie schlich geduckt heran und verharrte reglos hinter einer der schroffen Felsnasen.

Das Lager war scheinbar verlassen. Und als sie sich langsam umdrehte, wusste sie auch, wieso.
 

*Oh gottogott ist das Kapi wieder in die Hose gegangen* *Naja, seid nicht zu streng mit mir, ich schreib morgen Spanisch und Latein war au net so prickelnd^^ * *Wünsch euch noch ne schöne Woche* *Und schön Kommis dalassen =)*

Hinter den feindlichen Linien

Sanfte Schwingen hat der Tod,

Süß sind seine Lippen

Weinend streicht das Abendrot

Seine dunklen Klippen
 

Alles muss zugrunde gehen,

Nichts ist von Bestand

Nichts wird Jahre überstehen

Rinnt durchs Uhrglas wie der Sand.
 

Abgrundtief die Schlucht dahinter

Reise ohne Wiederkehr

In der Seelen tiefstem Winter

Glitzert mir ein Spiegelmeer
 

Hört der Nachtigallen Lieder,

Sind sie auch dem Tod geweiht

Finsternis legt sich hernieder

Hüllt mich in Geborgenheit
 

Kommt und winkt zum Abschied Brüder,

Jeder Schritt hat seine Zeit

Irgendwann sehn wir uns wieder –

Grenzenlose Einsamkeit
 

Uriel sah von den Gemächern des alten Ritters hinunter auf den Wald, der sich endlos vor der Stadt erstreckte. Irgendwo da draußen war der Grüne Graf. Seine Nackenhaare stellten sich ihm auf (was bei der Länge ziemlich witzig aussehen dürfte^^) bei dem Gedanken, dass nur wenige Meilen von den Mauern entfernt einer der schlimmsten Vasallen des Hexenkönigs Ereion lagerte. Der alte Ritter, Truchsess des Königs, saß in einem Lehnstuhl und blickte seinen jungen Freund an.

„Was soll ich dir noch sagen. Du weißt, dass mein Wissen über dieses Land seine Grenzen hat. Ich habe dir jede Information gegeben, die ich habe. Der Rest, Sohn des Uriel, liegt in deinen Händen.“ Die brüchige Stimme des alten erinnerte Uriel an seinen eigenen Lehrmeister, der nun schon seit vielen hundert Jahren unter der Erde lag.

„Ich danke dir, Albin, für deinen Rat. König Bartholomäus ist der letzte, der den Grünen Grafen aufhalten kann. Wenn er stirbt, dann stirbt mit ihm die Hoffnung von Calgar.“ Antwortete Uriel. Er hatte fast den ganzen Tag mit dem Truchsess zugebracht, sich Rat geholt und die Lösung seiner Probleme erhofft. Nun stand er zwar mit einem guten Rat da, doch die Umsetzung war schwieriger als gedacht. Uriel seufzte tief.

„Albin, ich habe dich zu lange aufgehalten. Die Sonne sinkt bald, ich muss zurück zum Blauen Mond, man erwartet mich sicher schon.“ Das war zwar fraglich, denn er war sich sicher, dass Mia gut auf ihn verzichten konnte, doch er wollte das stickige Turmzimmer so schnell wie möglich verlassen.

„Gut, Uriel. Ich danke dir für deinen Besuch. Kommst du zum Bankett?“

„Sicher.“ Versprach Uriel, verneigte sich tief und verließ dann zügigen Schritts das Schloss.

Er war kaum auf der Zugbrücke angekommen, als ihm ein Reiter entgegen donnerte, die Hufe seines Pferdes trommelten in wildem Takt zum Wehen seiner blauen Schärpe. Spätestens, als die Sonne ihm im Gesicht stand, erkannte Uriel, dass es sich um Louis handelte. Dieser beugte sich tief vom nass geschwitzten Wallach herab.

„Hast du Mia gesehen?“ Fragte er außer Atem.

„Nein, ich war beim Truchsess!“ Erwiderte Uriel.

„Sie ist weg!“

„Was? Wohin?“ Uriel riss ungläubig die eisblauen Augen auf.

„Das weiß ich nicht. Der Wirt sagte, dass sie nach dem Grünen Grafen gefragt hat…“

„Dann ist sie vor der Stadt!“ Schnitt ihm der Engel das Wort ab.

„Ich habe gehofft, sie wäre vielleicht zu dir gekommen…“ Versuchte Louis noch einzuwenden.

„Glaub mir, ich wäre die letzte Person, zu der sie freiwillig gegangen wäre…“ stieß Uriel zwischen den Zähnen hervor. „Wir treffen uns am Osttor, mein Fürst!“ Rief er Louis zu und machte kehrt, um aus den Schlossstallungen ein Pferd zu holen.

»Nicht Mia…« dachte er »Wie kann sie nur so leichtsinnig sein… wahrscheinlich ist ihr ihre Unsterblichkeit zu Kopf gestiegen… und sie weiß nichts von Fallomir!«
 


 

Langsam kam Mia wieder zu sich. Ihr Kopf dröhnte, ihre Glieder fühlten sich geschwollen an. Sie spürte, wie ihr eine warme Flüssigkeit übers Gesicht lief. Blut. Ihr eigenes Blut.

Es war nicht viel, denn Vampire besitzen bekanntlich nur wenig davon, doch in Relation gesehen blutete sie wie ein abgestochenes Schwein.

Je mehr sie zu sich kam desto mehr lüftete sich der Schleier vor ihren Augen. Die Umgebung um sie herum war fast dunkel, doch sie wusste, dass man sie mitten auf dem Lagerplatz angebunden hatte. Die Seile schnitten ihr in die Handgelenke, die sonst ebenmäßig weiße Haut war aufgekratzt und brannte wie der Teufel. Ihre Position war recht unangenehm, ihr rechter Knöchel eigenartig gewinkelt und geschwollen.

Der pulsierende Schmerz in ihrem Kopf gab ihr wenigstens Gewissheit, noch bei Sinnen zu sein, denn die tanzenden Lichter und das gespenstisch angsterfüllte Wiehern der Pferde ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Worauf hatte sie sich nur eingelassen!

Jemand trat neben sie, ein ruckartiger Schmerz durchbohrte ihren Oberarm. Als sie sich keuchend umsah, entdeckte sie die Klinge des wuchtigen Hirschfängers, die aus ihrem Arm ragte.

Sie stöhnte vor Schmerz auf, ihr Angreifer entfernte sich ohne ein Wort zu sagen. Sekunden später kam ein Mann in smaragdgrüner Kleidung aus einem Zelt derselben Farbe. Seine Haare waren unter einer bauschigen Kappe verborgen, sein Gesicht versteckte er hinter einem grünen Tuch.

Emilia spürte förmlich die Anwesenheit der grässlichen Narbe, die sich quer über sein Gesicht spannte und ihn bis zum Lebensende entstellte. Sie konnte nicht auf sein Alter schließen, vielleicht 35, vielleicht auch schon fünfzig.

„Wieder wach?“ Seine Stimme klang nicht unangenehm, doch die Versteinerung seiner Seele nahm alle Freundlichkeit und Hoffnung aus ihr. Mia antwortete nicht, sie konzentrierte sich auf seine Gedanken. Sie wusste, dass Vampire Gedanken hören konnten, und sie wusste auch, dass es jahrelange Übung erforderte. Sie konnte nichts hören, doch scheinbar hatte der Grüne Graf ihre Absichten erraten.

„Oh… ich glaube nicht, dass deine Methode viel Erfolg hat, junger Mann. Noch nie hat jemand die Gedanken des Grünen Grafen gelesen. Es ist die schwierigste Gabe, die die Wesen der Finsternis verliehen bekommen haben. Die unehrenhafteste…“ Er lachte laut. „Die schmutzigste, die heuchlerischste… die verabscheuungswürdigste!“ Wahnsinn stand in seinen Augen.

„Verabscheuungswürdig ist das, was du mit mir tust… lass mich gehen, du hast vor mir nichts zu befürchten!“ Verteidigte Mia sich.

„Ich vielleicht ich nicht von dir, aber umgekehrt schon.“ Er grinste unter seinem Schleier.

„Ich will sehen, ob du bist, was meine Männer mir berichtet haben.“ Teuflische Kälte durchzog Mias Körper. Angst – sie fühlte grenzenlose Angst.

Der Graf packte ihren gefesselten Arm.

„Kalt. Und blass.“

„Das allein ist kein Beweis!“ Zischte Mia aufgebracht.

„Nein, da hast du wohl recht. Ich halbe selbst Vampire in meinen Diensten, die brauchen immer frisches Blut. Egal ob von Menschen oder ihresgleichen… du würdest für sie bestimmt eine Zwischenmahlzeit abgeben.“ Er bleckte die Zähne. Der fast durchsichtige Schleier verzerrte sich grimassenhaft.

Er entfernte sich und mit ihm die Wachmannschaft.

»Jetzt oder nie…« dachte sich Mia und zog und zerrte an den Fesseln. Wenn es doch nur eine Möglichkeit zur Flucht gäbe!

Am Felsspalt, den sie passieren musste, lungerten zwei Wachen. Scheinbar langweilten sie sich, ein Feuer hatten sie aus Gründen des Versteckhaltens nicht entzündet.

Noch immer hatte sich das Seil keinen Millimeter bewegt. Mia scheuerte ihre Handgelenke auf, doch ohne Erfolg. Schließlich gab sie es auf und überlegte. Was hatte sie als Waffe dabei? Was war scharf genug um das Seil zu durchtrennen? Ihr fiel ihr Dolch ein, der in der Tasche ihres Mantels steckte. Und ihr Mantel war hinten auf den Sattel des Pferdes gebunden. Und das Pferd war… jedenfalls nicht in Reichweite. Mia seufzte. Es musste doch noch eine andere Möglichkeit geben! Und wenn sie eine der Wachen dazu brachte, das Seil durchzuschneiden? Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, die Vampire würden bald kommen.

Welche der Wachen war wohl trottelig und reizbar genug, um ihren Plan auszuführen? Sie wählte einen jungen, äußerst hässlichen Mann aus, der dicht bei stand und sich auf seinen Speer stützte. Anscheinend hatte er etwas zu tief ins Glas geschaut.

„Hey, du da!“ Mia rief es zu ihm hinüber. Niemand sah auf, niemand achtete noch auf sie.

„Hey! Hakennase!“ Der Mann torkelte tatsächlich auf sie zu, sein Gesicht sollte wohl so etwas wie Wut ausdrücken.

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass ein Spiegel bei deinem Anblick bersten würde?“ Mia wollte ihn reizen, bis aufs Blut.

„Hä?“ Sie konnte richtig spüren, wie bei ihm ein Zahnrad ins nächste griff, bis der Groschen fiel.

„Argh…“ Jetzt stand er dicht vor ihr, die Fahne war unerträglich.

„Mit so einem hässlichen Mann würde ich keine Minute alleine im Zimmer bleiben, selbst wenn er der letzte Mann auf Erden wäre!“ Frotzelte Mia. »Es gibt ja schließlich noch Uriel« ergänzte ihr Herz unangenehmer Weise, doch ihr Verstand vervollständigte den Satz zu: »das blöde Arschloch«.

Mit einem wütenden, heiseren Keuchen schwang der Soldat sein Schwert in die Höhe, während der Speer lautlos auf den Waldboden fiel.

Im richtigen Moment duckte sich Mia und die Klinge streifte ihre Handgelenke. Das leise *Ritsch* sagte ihr, dass das Seil gerissen war. Noch bevor der Soldat wusste, wie ihm geschehen war, hatte Mia das Schwert genommen und ihm die Kehle durchgeschnitten. Rasch zerrte sie seinen Umhang von den Schultern, legte ihn sich um, setzte im Schutze der Dunkelheit den Helm auf und sammelte den Speer vom Boden. Sie spürte, dass ihr Handballen offen klaffte, doch sie ignorierte den Schmerz und das wenige Blut, das austrat.

Kaum dass sie den Ausgang unerkannt passiert hatte, warf sie Helm und Mantel samt dem Speer in ein Gebüsch und rannte um ihr Leben. Immer dem Geruch der Menschen folgend hetzte sie auf die Stadt zu. Ihre feinen Sinne warnten sie zwar vor Verfolgern, doch das Gefühl der Angst ließ sie auch dann nicht los, als die Stadtwache das Tor hinter ihr verriegelt hatte.
 


 

*so, das Gedicht is von mir... passt zwar net dazu, aber trotzdem^^*

Wieder im Blauen Mond

Zitternd erreichte Mia die Herberge. In der Stube war noch Licht, Kilian stand hinter dem Tresen und putzte Bierkrüge.

Verstohlen tastete Mia sich am Stammtisch vorbei und wollte schon die Stufen hinaufgehen, als Kilian geräuschvoll die Humpen wegstellte. Mia drehte sich um. In seinen grünen Augen spiegelten sich die Kerzen, er war müde.

„Wo… sind die anderen?“ Fragte sie so locker wie möglich.

„Sie suchen dich.“ Sagte Kilian trocken ohne den Blick zu heben.

„Oh…“ Entfuhr es ihr.

„Uriel macht sich die größten Vorwürfe. Es würde mich nicht wundern, wenn Louis dir den Hals umdreht wenn er heimkommt.“

„Das bringt herzlich wenig.“ Seufzte Mia.

Kilian funkelte sie an und schrubbte auf dem abgegriffenen Holz herum. „Du sollst hier warten, wenn du kommst.“

Mia ließ sich in einen Stuhl fallen.

Kilian kam auf sie zu. „Du blutest.“ Stellte er fest und nahm ihre kalte Hand. Er hatte scheinbar etwas anderes erwartet, denn er zuckte zurück.

Sie zog ihre Ärmel weiter über das Handgelenk, aber der Sohn des Wirtes hatte ein Taschentuch hervorgezogen und knotete es fest über den Schnitt.

„Wo warst du?“ Seine kalte Stimme klang fast bedrohlich.

„Draußen.“

„Draußen… du warst draußen. Weißt du, dass Louis die halbe Schlossgarde zusammengetrommelt hat? Vater ist auch mit, sie durchkämmen mit Fackeln den Wald. Sie riskieren ihr Leben, nur weil du den Trotz raushängen musst!“ Kilian knallte den Lappen auf den Tisch.

„Es tut mir leid.“ Flüsterte Mia.

„Es tut dir leid?“

„Ja. Es tut mir leid.“ Wiederholte sie

„Soso…“ Kilian nahm das Tuch und ging zurück hinter den Tresen. Die Minuten vergingen zäh wie Brei, hin und wieder schlug die Turmuhr. Mia konzentrierte ihre Gedanken auf Louis, dann fiel ihr ein, dass Uriel wahrscheinlich besorgter um sie sein würde und sie schickte ihm in Gedanken immer wieder den einen Satz zu: Mir geht es gut, mir geht es gut… kommt zurück, mir geht es gut. Ihr fielen die Augen zu. Wenn sie jetzt nur ins Bett könnte…
 

Als sie wieder aufwachte, öffnete sich die Tür der Gaststube und viele Männer kamen herein. Einige trugen seltsam glänzende Mäntel, die aus flüssigem Silber zu sein schienen, andere hatten nicht einmal ein Wams an. Sie hielten die verschiedensten Waffen. Schwerter, Äxte, Mistgabeln, Speere. Ein Mann lehnte seine Armbrust an den Kachelofen.

Mia rieb sich müde die Augen. Schräg gegenüber stand Kilian über den Tresen gebeugt und sprach mit seinem Vater. Er nickte mehrmals, dann deutete er auf sie.

Der Wirt sah sie misstrauisch an, dann verschwand er hinter einem Pfeiler.

Erschöpft ließ sie ihren Kopf auf die Tischplatte sinken. Eine Hand schüttelte sie recht grob an der Schulter. Es war Louis.

„Wo warst du?“ Sein Gesicht war vor Wut verzerrt, seine sonst so weichen Züge versteinert.

„Weißt du, was du angerichtet hast? Die halbe Stadt ist wegen dir auf den Beinen! Wir dachten, du wärst tot! Wir haben keine Spuren gefunden! Ich habe deinen Geruch verloren, und das war für mich das sichere Zeichen, dass du tot bist!“ Heiße Tränen verwischten ihr Sichtfeld, der schmerzhafte Kloß in ihrem Hals wurde immer größer.

„Wie konntest du nur so dumm sein? Wir hatten dich gewarnt! Ohne eine Nachricht zu hinterlassen…!“ Mia weinte vor Erschöpfung und Scham. Eine Gestalt schob sich zwischen Louis und sie – Uriel.

Ohne ein Wort zu sagen legte er Mia den Arm um die Schultern und hob sie hoch, als wäre sie ein Kind.

„Uriel, lass sie hier! Sie wird sich das jetzt anhören müssen. Du kannst morgen deine Schuldgefühle tilgen, ich habe noch nicht alles gesagt!“ Ereiferte sich Louis.

„Du hast schon zu viel gesagt.“ Erwiderte der Engel ruhig und legte seine Wange an Mias Stirn. Sie schlang ihre Arme um ihn und schluchzte in seinen Mantelkragen.

Wo war nur das Mauseloch, in dem sie verschwinden konnte? Sie öffnete ihre Augen erst wieder, als Louis die Tür hinter sich geschlossen hatte und sie auf ihrem Bett absetzte.

Mia ließ sich erleichtert in die Kissen fallen.

Er schwieg noch immer und sah sie einfach nur an. In seinen überirdisch blauen Augen loderte Freude.

„Ich dachte, ich hätte dich verloren…“ Flüsterte er.

Mia wusste nicht, was sie antworten sollte. In ihrem Bauch kribbelte es trotz der Erschöpfung, sie wich seinem Blick ständig aus.

Dann setzte sie sich auf.

„Es war dumm von mir. Kannst du mir verzeihen?“ Wieder liefen ihr Tränen über die Wangen.

„Die Frage ist: kannst du mir verzeihen?“ Er lächelte. „Hey, nicht weinen…“ Er bewegte sich auf sie zu, doch dann zuckte er zurück.

„Was?“ fragte Mia.

„Ich habe versprochen, dich nie wieder zu berühren.“ Seufzte er.

„Du hast mich die Treppe hoch getragen.“ Stellte Mia fest.

„Ja, aber das gilt nicht. Louis hätte dich sonst da unten umgebracht.“ Er schloss die Augen.

„Und wenn ich das nicht will?“ Mia sah ihn an.

„Wenn du was nicht willst?“ Er war sichtlich irritiert und fragte sich, ob er was verpasst hatte.

„Und wenn ich will, dass du mich berührst?“ Flüsterte das Mädchen.

Sie musste wieder weinen. „Ich hatte solche Angst… ich hab gedacht, die bringen mich um… ich hatte Angst vor Fallomir… es bringt jeden um…“ Mia schluchzte. Dann wischte sie sich resolut die Tränen weg.

„Bleibst du bei mir wenn ich schlafe?“ Fragte sie ihren Engel.

„Solange du willst.“ Antwortete er und drückte sie sanft auf ihr Kissen zurück.

„Schlaf einfach ein. Morgen früh sieht die Welt gleich anders aus.“

Mia setzte sich wieder auf.

„Ich kann jetzt nicht schlafen.“ Sagte sie.

„Es ist zwei Uhr Morgens.“ Erwiderte er.

„Na und? Ich kann jetzt nicht einfach schlafen. Ich hab gedacht, ich hätte heute zum letzten Mal die Sonne unter gehen sehen.“

„Hast du aber nicht.“ Seine Hände ruhten immer noch auf ihren Schultern.

Mia wusste, sie würde nicht schlafen können, bevor er sie nicht wenigstens einmal geküsst hätte. Nur ein einziges Mal!

Langsam streckte sie ihre Hand nach seinem Gesicht aus. Ihre Fingerspitzen prickelten, als sie ihn berührte. Uriel hatte nicht vor, irgendwelchen Widerstand zu leisten.

Mit sanfter Gewalt zwang er sie, sich hinzulegen und dann beugte er sich über sie.

„Ich dachte, ich hätte dich wirklich verloren…“ Murmelte er und küsste sie auf die Stirn.

„Hast du aber nicht.“ Gab sie eben so leise zurück und lächelte, als sie seine Lippen auf ihren spürte.

Geteilte Seele - Geteiltes Leid...

Schwül und drückend gingen die Tage vorbei begleitet von Schwitzen und stöhnen, dem Geräusch von Metall auf Metall und dem Schleifen von Schwertern.

Mia gewöhnte sich langsam an den Trott aus Training und Freizeit. Ihr gefiel die Zeit in Fort Harper, denn sie wusste, dass später alles noch viel unangenehmer werden konnte – musste.

Der erste September startete Nebelgrau und verhangen. Die alten Domglocken riefen zum Gebet, der Hall breitete sich über die Stadt aus. Unter Mias Fenster drangen die Geräusche des Markttrubels zu ihr herauf, gedämpfter als sonst.

Louis war nirgends zu sehen, Uriel stand nur in Hemd und Hose am Fenster gegenüber und sah auf den Brunnen herunter.

Mia schwang die Beine aus dem Bett und streifte sich schnell ein Leinenhemd über, das ihr fast bis zu den Waden reichte. Sie trat schweigend hinter den Engel.

Er kokettierte mit einem jungen Mädchen das ganz in grün gewandet war und ihr hellbraunes Haar neckisch zurückwarf.

Entrüstet bemerkte Mia, wie das Mädchen ihr einen abschätzigen Blick zuwarf.

Ohne irgendetwas zu sagen zog Uriel Mia zu sich, schlang seine Arme um sie und küsste sie. Innig, zärtlich und voller Leidenschaft.

Das Mädchen trat erschrocken zurück, zog sich hastig die Kapuze übers Haar und flüchtete sich ins Gedränge des Marktplatzes.

Mia befreite sich und sah ihr verwundert hinterher. Uriel lachte laut.

„Was war das denn?“ fragte sie baff.

Er lachte Tränen.

„Hallo, ich rede mit dir! Was ist denn so schlimm, wenn du mich küsst?“

„Sie denkt, du wärst ein Mann…!“ Er wischte sich die Tränen ab und grinste breit.

„Aha. Und das ist lustig oder wie?“ Mia wankte zwischen Zorn und Komik.

„Du stellst uns beide als schwul vor dieses Mädchen? Und sie erzählt das weiter?“ Sie versuchte, ihrer Stimme einen ernsthaften Ton zu geben doch ihre Mundwinkel zuckten.

„Über so was redet man hier nicht. Zumindest nicht als Mädchen.“ Wieder musste er lachen.

„Wäre ja noch mal schöner… stell dir vor, du wärst wirklich schwul…“ Jetzt musste auch Mia lachen.

„Dann?“ Fragte er interessiert und schnürte das Hemd zu.

„Wäre das eine reine Verschwendung.“ Vervollständigte sie und zog ihre Hosen an. Als sie das Wams zuknöpfte, spürte sie seine Hände auf ihren Schultern.

Bitte nicht… dachte sie. Jede seiner Berührungen brachten sie zum Zittern, ihr Kopf setzte aus und ihr Puls raste in den Himmel.

Seine schlanken Finger umspannten locker ihre Handgelenke und zogen sie vom Stoff. Langsam knöpfte er die Leiste auf, die sie eben geschlossen hatte und streifte das Kleidungsstück unachtsam zu Boden. Das gleiche widerfuhr ihrem Hemd.

„Uriel?“ Fragte sie vorsichtig. Was zum Teufel sollte das denn werden?

Wie aus dem Nichts spürte sie einen feinen Seidenstoff auf ihrer Haut. Langsam zog Uriel ihr ein neues Hemd an. Es war so fein, dass sie es kaum spürte und schimmerte in einem Himmelblau, das die Sonne neidisch machen konnte. Statt eines normalen Bandes zum Schnüren waren durch bestickte Ösen feine silberne Schnüre gezogen, das Hemd hatte sogar einen richtigen Kragen. Uriel drehte sie um.

„Wunderschön…“ Hauchte er. „Es steht dir.“

„Danke… aber – wieso?“ Stotterte sie.

„Ich finde, dass wenn du schon Männerkleidung tragen musst, sollte es die schönste sein, die wir zu bieten haben.“ Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Ich werde dich wohl nie in einem Kleid sehen…?“ Der Schalk in seinen Augen blitzte.

„Wenn es dich glücklich machen würde… Aber ich dachte immer, ohne Kleider sei es dir am liebsten?“ Sagte sie neckisch.

„Soll das eine Aufforderung sein?“ Bedrohlich nahe war er jetzt, seine Augen verdüsterten sich zu einem finsteren Nachtblau. Er hatte eine Hand um ihre Taille gelegt und die andere an ihrem Kinn.

„Wozu?“ Ihre Stimme zitterte. Langsam ging sie rückwärts bis sie die weißgekalkte Wand in ihrem Rücken spürte. Nasser Schweiß stand auf ihrer Stirn, alles drehte sich. Sie versank in einem Nebel aus Erinnerungen – Bilder in ihrem Kopf, die nicht ihr gehörten. Sie waren der anderen Emilia in die Seele gebrannt.

„Bitte nicht… nicht noch einmal…“ Ihre Lippen bewegten sich von selbst, es war, als würde ihr Stimme von der anderen Seite des Raumes kommen. Sie wollte die dunklen Gedanken vertreiben, die die fremde Hälfte ihrer Seele peinigten. Sie konnte hören, wie die tote Emilia weinte und schrie. Dann war plötzlich alles wie fort geblasen.

„Emilia! Hey, was ist denn?“ Die unheimliche Stille schmerzte ihr in den Ohren nach dem grauenhaften Rauschen und Pfeifen. Wie ein Sturm hatte sich ihre Wahrnehmung verzerrt, gelähmt hatte sie den Erinnerungen der anderen zuhören müssen.

Uriel hatte die Augen vor Schrecken weit aufgerissen, sein langes blondes Haar war über seine Schulter gefallen.

„Mia, hast du Angst vor mir?“ Er trat einen Schritt von ihr zurück und strich sich eine silberne Strähne aus dem Gesicht.

„Was… wo ist er hin… nein… warum hast du ihn nicht festgehalten?“ Wie blind stolperte Mia durch den Raum. „Die Tür ist abgeschlossen…!“ Ihr panischer Blick hetzte über die Gegenstände im Zimmer. Als hätte sie einen Geist gesehen suchte sie fieberhaft nach etwas.

Uriel legte ihr die Hände auf die Schultern.

„Was ist los? Was hast du gesehen?“ Eine dunkle Ahnung beschlich ihn, ohne beschreiben zu können wieso und woher.

„Der Mann… er heißt – Giselher… ja. Er war hier. Hast du ihn nicht aufgehalten?“ Fragte sie mit glasigem Blick.

„Wie soll ich jemanden aufhalten, wenn er nicht hier ist?“ Uriel neigte den Kopf und strich ihr über die Wange.

„Er hat ihr wehgetan… das weiß ich. Ich hab ihre Schmerzen gespürt und sie schreien hören.“ Es sprudelte aus Mia heraus, mit dünner Stimme berichtete sie von der unheimlichen Erscheinung.

„Was hat er mit ihr gemacht? Wieso hast du es gespürt?“ Die Frage stand für einige Zeit unbeantwortet im Raum. Eine einzelne Träne bahnte sich den Weg an Mias Nasenrücken entlang und hinterließ eine salzige Spur bis an ihre Lippe. Ihr Blick war von Tränen getrübt.

„Er hat sie… er hat… Oh Gott, es war so schrecklich!“ Laut weinend warf Mia sich aufs Bett. Zwischen den Schluchzern bemerkte sie, wie ihr Engel unbeholfen versuchte, sie zu beruhigen. Seine Finger strichen zärtlich über ihr Gesicht, strichen ihr Haar zur Seite. Ohne Erfolg, es rutschte immer wieder aufs Kissen und vermengte sich mit seinem, so dass es aussah als fließe ein silberschwarzer Fluss über die Laken.

„Ich habe alles gespürt… tief in mir drinnen. Sie hat sich… so gewehrt – aber er hat sie nicht fortgelassen. Sie hat immer wieder nach ihrem Verlobten gerufen – aber er ist nicht gekommen.“ Wieder brach sie in Tränen aus.

„Dann hat er ihr den Kopf auf einen Stein geschlagen und sie…“ Wieder brach sie ab.

Sie suchte Uriels Blick. Ruhig ruhte er auf ihr, alles, was er nicht aussprach lag in seinen Augen.

„Er hat sie umgebracht.“ Vervollständigte er den Satz.

Mia nickte. „Und dann war alles vorbei.“

Uriel strich ihr über den Kopf wie einem Kind.

„Warum hast du das gesehen…“ murmelte er.

„Weil… die Situation… es war wie ein Déja-vu…“ Langsam trocknete sie ihre Tränen.

„Vielleicht war es auch einfach nur ein ungünstiger Moment.“ Vermutete Mia und setzte sich auf.

Sie strich das Hemd an den Schultern glatt und wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Ihr war die Vision irgendwie peinlich. Das grenzte ja schon fast an Schizophrenie.

Uriel fand die Situation mindestens genauso beklemmend, denn ruckartig erhob er sich von den weißen Laken und band mit einer einzigen Bewegung seiner Hand die langen silberblonden Strähnen zu ihrem gewohnt unordentlichen Zopf zusammen.

„Ist jetzt alles in Ordnung?“ Fragte er leise während er die Tür öffnete.

„Mhm…“ Seufzte Mia. Sie sah nicht auf bis die Tür ins Schloss fiel und Uriels Schritte im Gang verklungen waren.

Ihr Blick schweifte durchs Zimmer und blieb an einem glänzenden Stück Stoff hängen. Es sah aus, als hätte jemand lieblos den Nachthimmel samt seinen Planeten über einen Stuhl geworfen, so dunkel und riesig breitete sich das blaue Etwas über Möbel und Boden aus.

Hastig stand Mia auf und ging zum Stuhl. Tatsächlich.

Es war ein Mantel, ganz aus Samt, fast schwarz, der Saum silbern, aus dem sich Sterne lösten, die nach oben immer weniger wurden. Die Kapuze war ebenfalls mit Sternen bestickt, der Saum nach vorne hin wies feine silberne Buchstaben auf, die sich wie ein Muster an der Naht entlang reihten.

Mia nahm den schweren Mantel und legte ihn sich über die Schultern. Drückend lastete er auf ihr, seine gebogene Schleppe reichte etwa zwanzig Zentimeter über den Boden.

Ehrfürchtig nahm sie ihn wieder ab und legte ihn aufs Bett. Dann ging sie wieder zum Stuhl, auf dem die restlichen Kleidungstücke lagen.

Eine schwarze Hose aus feinster Wolle, ein Wams aus blauem Leder, dunkle Strümpfe, ein schlichter, aber eleganter hellblauer Mantel aus Filz und ein Gürtel von unübertroffener Schönheit. Er war aus festem Leder und silbernen Prägungen, die schnalle aus massivem Eisen und Silberbeschlag. Die Stelle für das Schwertgehänge war mit silbernen Bändern doppelt geschlungen und vernietet.

Mitten auf der Schnalle war ein riesiger Stern aus Diamanten angebracht.

Mia zog nur die Hose und das Wams an, streifte die Strümpfe über die Beine und legte den hellblauen Mantel über den Arm.

Dann schlüpfte sie in ihre normalen Stiefel und machte sich auf den Weg nach unten.

Was würden die anderen Beiden für Augen machen! Wie eine Königin ging sie die schmalen Stiegen hinunter in die verrauchte Gasstube.

Beim König

Als Mia die Gaststube betrat, hing ein feiner Duft nach frisch gebackenem Brot in der Luft. Draußen zwitscherten die Vögel um die Wette. Louis saß mit Uriel an dem Tisch hinter dem Kachelofen und sah Mia böse an, als sie hereinkam.

„Was hast du dir eigentlich gedacht gestern Abend?“ Uriel senkte den Blick und gab Mia zu verstehen, dass sie sich selbst verteidigen musste.

„Es tut mir leid, Louis. Ich wollte nicht, dass ihr euch solche Sorgen um mich machen müsst. Dafür weiß ich jetzt, wo der grüne Graf sein Lager hat.“

Sie setzte sich und sah ihren Mentor störrisch an.

„Das wissen wir jetzt auch, und es hat einen braven Mann sein Leben gekostet.“

„Das wollte ich nicht…“ Gab Mia jetzt plötzlich kleinlaut zurück. „Können wir das nicht einfach vergessen? Bitte…“

Uriel griff unter dem Tisch nach ihrer Hand. „Lassen wir die Geschichte ruhen, mein Fürst. Es bringt doch nichts.“

Louis warf seinem Freund ein bitteres Lächeln zu und konzentrierte sich dann wieder auf die Maserung des Tisches.

„Mia, kommst du?“ Der Engel erhob sich elegant und zog Mia mit sich. Stolpernd folgte sie ihm bis vor das Wirtshaus.
 

Draußen herrschte ein reges Treiben, die Gassen und Straßen von Fort Harper waren erfüllt mit pulsierendem, buntem Leben. Uriel hatte Mias Hand losgelassen, und sie verstand.

„Wir gehen auf das Schloss, bald ist zeit für das traditionelle Bankett. Du musst beim König vorstellig werden, damit sie dich offiziell mit dem Titel eines Ritters ausstatten.“ Sie folgte ihm durch das Gewirr der Straßen bis zur Burg, die trutzig und beschützend über der Stadt stand.
 

„Mein König, ich bin zurückgekehrt um Euch und Eurem Neffen Artus, meinem Herrn und Ordensbruder, treu zu dienen, tapfer zu kämpfen und für Euer beider Wohl mein Leben zu geben.“ Die Worte des Engels hallten von den grauen Steinwänden des Thronsaals wieder.

Es war seltsam, Uriel knien zu sehen, ihn, der sonst so stark und unbezwingbar schien.

„Uriel von Borgia, Ritter meines Landes – seid mir willkommen.“ König Balthasar erhob sich von seinem Thron und bedeutete Uriel aufzustehen.

„Ich danke Euch, mein Herr.“

Mia rückte näher an ihn, die Umgebung flößte ihr höchsten Respekt ein.

„Wen habt Ihr uns mitgebracht?“ Interessiert sah der König Mia an.

„Einen tapferen jungen Menschen, den Mündel meines Ordensbruders Jean-Baptiste Eduard Charles Louis de la Rochefoucault, Marechal du Port, Graf der Auverne, Großfürst von Rohenna, Prior des Ordens der Cereer, Prinz von Ravenna.“

„Ist sie… ein Wesen der Nacht?“ Der König ging nicht auf Distanz, sondern kam näher, als wollte er sie erst in Augenschein nehmen.

„Ja, mein Herr. Aber eine tapfere Kämpferin und loyale Gefährtin.“

„Wie ist ihr Name?“ Jetzt stand der König so nah vor Emilia, dass sie die Adern in seinen wässrigen Augen erkennen konnte. Sein gütiges Gesicht war müde, die Wangen knochig.

„Ihr Name ist Emilia Victoria Seraphine.“

„Ah…“ Der König schloss die Augen als hätte ihn ein Schmerz durchfahren. Dann sah er sie mit ihren durchdringenden Augen an.

„Bist du bereit, für dieses Land zu kämpfen, ihm treu zu dienen und – sei es Gottes Wille – auch dafür zu sterben?“

„Ja.“

„Kniet nieder.“

Emilia sah sich nach Uriel um, doch er stand plötzlich am anderen Ende der Halle im Schatten.

Mia kniete und sah den König ehrfurchtsvoll an.

„Emilia Victoria Seraphine, ich ernenne Euch zum Ritter des Ordens der Cereer und verleihe Euch hiermit den Titel eines Grafen von Horvat. Erhebt Euch.“

Benommen stand Mia auf und drehte sich nach Uriel um. Ihre Augen schienen tausend Fragen zu stellen.

Der König wandte sich ab. „Ich muss gehen, meine Minister erwarten mich. Ich sehe Euch am Bankett.“

Grußlos verschwand er durch eine Tür neben dem Thron.

„Uriel – ich…“

„Ich gratuliere, meine Schöne. Endlich kannst du mit uns kämpfen.“ Doch statt des erwarteten Lächelns huschte über Uriels Gesicht ein trauriger Schatten. Seufzend lehnte er seine Stirn an Mias Gesicht.

Eine heiße Woge durchflutete sie und auf einmal erwachte ein fast ungeahntes Gefühl in ihr. Sehnsucht. Verlangen. Erschrocken erkannte sie, dass es Leidenschaft war.

„Uriel, ich will mit dir… einfach irgendwo alleine sein…“ jetzt war es raus. Beschämt blickte sie zu Boden, aber ihr Engel lächelte und küsste ihr Brustbein.

„Nur zu verständlich… jetzt gleich etwa?“ Er lachte wieder und wickelte eine ihrer Strähnen um seinen Finger.

„J-ja…“ Mia schluckte.

„Das geht nicht. Wir holen das aber nach… sobald wie möglich.“

Die Ritter versammeln sich...

Der Abend brach mit einer blutroten Kulisse über Fort Harper herein. Das Schloss auf der Anhöhe strahlte in warmen Tönen und die ganze Stadt schien dem fahlen Mond entgegen zu lächeln.

Mia saß rittlings auf dem Fenstersims und sah hinunter in die Menge auf dem Marktplatz. Die Geräusche und Gerüche faszinierten sie, und die Ahnung, dass es bald alles andere als angenehm werden würde, nistete sich tief in ihrem Herzen ein. Nur noch diese eine Nacht würde sie hier in diesem Gasthaus verbringen, dann stand die große Reise Richtung Süden an - Richtung Meer.

Es klopfte.

Mia drehte sich nicht um, sie starrte weiter aus dem Fenster in den Himmel, dessen blassblaue Schleierwölkchen auf einem roten See zu treiben schienen.

„Emilia?“ Es war Kilian.

„Kilian, komm rein, was gibt’s?“ Mia strich sich die Haare aus dem Gesicht und schwang die Beine über das Sims.

„Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du Louis gesehen hast. Ich muss mit ihm reden.“

„Nein, hab ich nicht.“ Sie blieb am Fensterrahmen stehen. Kilian sah sie noch einmal argwöhnisch an, dann verließ er das Zimmer.

Seufzend stützte sich Mia auf das warme Holz. Es war erst wenige Tage her, dass sie dieses geheimnisvolle Land betreten hatte, und jetzt sollte sie dieses schöne Fleckchen Erde wieder verlassen?

Morgen war das große Festbankett, bei Einbruch der Dunkelheit wollte Louis mit weiteren Kämpfern aufbrechen. Er hatte auf einer Landkarte den Weg eingezeichnet. Er führte sie durch die hügelige Landschaft bis zur Grenze Calgars, danach mussten sie sich durch unbewohntes Gebiet wagen, bis sie schließlich Florentina erreichen würden. Die Renaissancestadt war schließlich die letzte Station, bevor sie den Weg in Richtung Avrynn einschlagen würden. Was sie dort, im besetzten Süden von Miranmír tun sollten, was Mia ein Rätsel. Laut Uriel war das Land besetzt mit Truppen von Ereion, die eine Übermacht von dreitausend Mann darstellte.

Arthur hatte seine Truppen bereits voll versammelt und kam nur auf siebentausend Ritter und Fußvolk.

Es waren keine erhebenden Aussichten. Und der Titel eines Ritters lastete eher auf ihren Schultern, als dass er sie glücklich machte. Jetzt wusste sie auch, wofür die teuren Kleider waren. Um ihren Titel am Bankett würdig zu vertreten.
 

Mia verließ das Zimmer erst zum Abendessen. Die Gaststube war brechend voll, Männer aller Altersklassen und verschiedenster Kleidung saßen an den großen Holztischen und unterhielten sich in den unterschiedlichsten Sprachen. Einige trugen noch Kettenhemd und Haube, das Schwert an den Tisch gelehnt. Andere trugen feinste Wollstoffe und hatten sich nach der langen Reise frisch gemacht. Es war klar, dass all diese Männer zum Bankett gekommen waren. Ritter aus allen Teilen Miranmírs.

Leise setzte sich Mia an ihren Stammtisch hinter dem Ofen und beobachtete die Gäste. Kilian und sein Vater hatten alle Hände voll zu tun – frisches Brot und Wein gingen schneller aus als sie nachlegen konnten.

„Mia.“ Louis grüßte und setzte sich neben sie. Ein Baum von Mann ging an ihnen vorüber. Er verengte die Stahlblauen Augen zu Schlitzen, als hätte er einen Geist gesehen, dann lächelte er und grüßte Louis mit einer einfachen Geste.

„Baor, schön dich zu sehen.“

„Schön dich zu sehen, Fürst. Du kommst zum Bankett?“

„Natürlich.“ Antwortete Louis. Baor brummte etwas in seinen vollen, rötlichen Bart und setzte sich dann zu seinen Kameraden am anderen Ende der Stube.
 

Plötzlich verstummten die Gespräche. Eine gespenstische Stille lag über den Tischen, als hätte jemand die Zeit eingefroren. Alle Köpfe drehten sich zur Tür. Im blutroten Licht der Abendsonne stand Uriel, schön wie der Morgen. Seine völlig weiße Kleidung schien die Anwesenden blenden, das mächtige Schwert an seiner Seite blitzte und war überzogen mit einem rötlichen Gold, als hätte es gerade getötet. Das eisige Schweigen schien ihn nicht zu stören. Stolz schritt er durch die Reihen, und das Rauschen der Kleider derer, die aufstanden und vor ihm die Knie beugten, war das einzige Geräusch.

„Warum tun sie das?“ Flüsterte Mia Louis zu während sie über ihre Arme strich, auf denen sich trotz der Hitze in der Wirtsstube eine Gänsehaut gebildet hatte.

„Weil sie es müssen. Bald, sehr bald schon werden sie unter seinem Kommando kämpfen. Sie fürchten ihn, obwohl er ein Marschall ist. In diesem Land gibt es zwölf Marschalle, zwölf Vertreter der verschiedenen Völker dieses Landes. Sie sind die höchsten Ritter Miranmírs, ihnen ist unter allen Umständen zu gehorchen.“

Uriel hatte mittlerweile ihren Tisch erreicht und blickte über die Männer, die allesamt auf dem Boden knieten, einige von ihnen die rechte Hand am Schwert. Nur einer stand noch.

„Torebald von Grau, warum kniest du nicht?“ In der Stimme des Engels lag keine Frage, es war ein eiskalter Befehl.

„Warum sollte ich vor einem Mann knien, der meinen Vater getötet hat?“

„Es ist nun einmal das Schicksal eines Duells, dass einer der beiden stirbt.“ Gab Uriel tonlos zurück.

„Aber du hast für die falsche Seite gekämpft!“ Schleuderte ihm Torebald entgegen. Ein Raunen ging durch die Reihen der Männer.

„Dann ist dein Vater ja für die richtige gestorben. Ist das nicht weitaus ehrenhafter?“ Mit einem emotionslosen Lächeln knüpfte Uriel den Umhang auf und legte ihn beiseite. Torebald starrte den Marschall hasserfüllt an, dann senkte er langsam den Kopf und wollte sich zu seinen Kameraden knien.

„Bleib stehen. Ich will nicht, dass du mir die Ehre erweist. Erweise sie deinem Vater und bleib stehen.“

Ohne ein weiteres Wort setzte sich Uriel an den Tisch. Die Männer standen auf, doch ihre Gespräche blieben gedämpft, und Mia konnte ihre Blicke im Rücken spüren. Manchmal erhaschte sie Gedankenfetzen, aber die meisten verdrängte sie wieder, denn sie hatten nichts mit dem Engel zu tun, den sie liebte.
 

Spät in der Nacht, als schließlich Ruhe einkehrte im Blauen Mond, stand Mia auf und zog sich an. Die Kammer war heiß und stickig, der erlösende Schlaf blieb aus. Auf dem Hof wehte ein erfrischender Wind, der Sterne standen hoch am Himmel und schienen doch zum Greifen nahe. Mia setzte sich auf den Rand des Brunnens und starrte in die Dunkelheit des Torbogens, der auf der rückwärtigen Seite des Gebäudes neben den Ställen in eine kleine Gasse mündete. Sie schloss die Augen und vor ihr tauchte ihre Heimat auf. Der glitzernde Neckar im Mondlicht, wie er sich durch die uralten Städte schlängelte, vorbei an erhabenen Schlössern und Burgen, die trutzig auf ihren Bergen standen, stets bereit ihr Land zu verteidigen. Sie wurde sanft aus ihren Träumen gerissen, als sie die süßeste Stimme, die sie je gehört hatte, ihr ins Ohr flüsterte.

„Du scheinst immer einsam zu sein, ganz gleich wie viel Gesellschaft du hast.“ Mia lächelte.

„Ich bin am einsamsten, wenn du nicht da bist.“ Sie drehte sich um. „Du spionierst mir hinterher…“ Sagte sie vorwurfsvoll und sah ihren geliebten Engel an.

„Nein, wie käme ich denn dazu?“ Er lächelte verschmitzt. „Deine Schritte waren so laut, dass ich dir einfach folgen musste. Nicht, dass du wieder auf eigene Faust kämpfen gehst – zumindest nicht ohne eigenes Schwert.“ Er holte einen länglichen Stoffballen unter seinem Mantel hervor. Während er begann ihn abzuwickeln spielte das Mondlicht in seinem Haar. Mia achtete weniger auf das Bündel in seiner hand als vielmehr auf das Glitzern in seinen Haaren.

„Für dich…“ Sagte er schließlich. „Hoffentlich wirst du es nie brauchen.“

Er hielt ein sagenhaftes Schwert in den Händen. Es leuchtete im Mondlicht, der dunkelrote geschliffene Stein im Knauf kam Mia seltsam bekannt vor. Als sie ihn berührte zuckte zurück.

„Was ist?“ fragte Uriel.

„Er ist… warm – fast heiß.“ Flüsterte Mia.

„Das sollte er auch. In diesem Talisman steckt ein Teil meiner Seele. Wenn er warm ist, bin ich am Leben. Glüht er, bin ich in Gefahr. Wird er kalt und schwarz bin ich…“

„Psst…“ Emilia legte ihm den Finger auf die Lippen. „Nicht davon reden. Das bringt Unglück.“ Langsam stand sie auf und berührte die feine Seide seiner Gewänder. „Was würde ich ohne dich machen?“

Behutsam strich er ihr über den Kopf. „So weitermachen wie alles war… wie es hätte bleiben sollen. Du hast gehört was der Mann heute im Gasthaus zu mir gesagt hat. Ich bin immer noch gehasst und gefürchtet, selbst bei Männern, denen ich vertrauen können muss. Ich bin gefährlich. Und solange Ereion nicht tot ist, stelle ich für jeden eine Gefahr dar.“

„Ich glaube dir nicht!“ Trotzig kniff Mia die Lippen zusammen.

„Das wirst du tun müssen. Sobald er meine Seele in seinem grässlichen Spiegel sieht, wird er nach mir suchen. Nach dir…“

„Nach mir?“ Erschrocken wich Mia zurück.

„Er war es, der damals Emilia umbrachte und versuchte, Louis zu töten. Er hat unglaubliche Angst, dass du ihn findest und vernichtest. Denn nur du kannst es. Ein Teil deiner Seele ist bereits tot und dadurch unglaublich stark. Doch das birgt Gefahren. Du kannst jeden und alles töten, wenn du dich in diesen Rausch steigerst…“

„Den Armath, ich weiß…“

„Selbst der grausame Ereion hat dem nichts entgegenzusetzen. Er wird versuchen, mich als sein Werkzeug zu gebrauchen, um dich unschädlich zu machen. Doch dazu muss er mich erst im Spiegel sehen.“

„Welcher Spiegel?“ Fragte Mia und umklammerte das Schwert mit beiden Händen.

„Er hat einen Spiegel, in dem sämtliche armen Seelen gefangen sind, die je für ihn gedient haben. Stirbt Ereion, zerbricht der Spiegel und sie können Erlösung finden. Er wird mich suchen. Und wenn ich nah genug an ihm dran bin, wird er mich sehen“

Uriel setzte sich neben Mia auf den Brunnenrand.

„Er wird dich nicht gegen mich aufbringen können.“ Versuchte Mia ihn zu beruhigen. „Und was macht dich so sicher?“ Uriel schien daran zu zweifeln.

„Weil du mich liebst.“

Blutiges Bankett

Mia erwachte am nächsten Morgen von einem zarten Kuss, der ihr die letzte Nacht in Erinnerung rief.

„Aufstehen, Prinzessin.“ Uriel beugte sich über ihr Bett.

„Wie viel Uhr ist es?“ Fragte Mia schläfrig und drehte sich auf die andere Seite. Die Sonne schien bereits hell zum Fenster herein und malte goldene Streifen auf die weiße Bettwäsche.

„Schon spät. Fast Mittag.“

Mia setzte sich auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie tastete mit der Hand nach dem Schwert, das sie an die Wand neben dem Kopfende gelegt hatte. Ihre Finger schlossen sich um den warmen Stein, und ein Gefühl der vollkommenen Ruhe und Stärke durchströmte sie.

„Ich kann deine Gedanken hören!“ Rief Mia völlig erstaunt. Uriel lächelte nur.

„Soll vorkommen. Dieser Stein verbindet dich für immer mit mir, solange mein Herz schlägt. Ich kann es spüren, wenn du ihn berührst. Sobald ich die Kette finde, kann ich in dem Moment auch deine Gedanken hören. Es ist das beste Postgeheimnis, das es gibt.“

Er richtete sich auf und trat ans Fenster.

„Solange mein Herz schlägt...“ Murmelte er noch einmal. Dann drehte er sich um und deutete auf die kostbaren Kleider, die über der Kommode lagen.

„Dazu gibt es noch einen Harnisch, den ich nachher aus der Schmiede hole. Willst du mitkommen?“ Mia gähnte statt einer Antwort und schwang die Beine aus dem Bett. „Ja, warum nicht. Aber muss ich den heute Abend tragen?“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Harnisch sonderlich bequem sein konnte.

„Ja. Alle Ritter tragen heute Rüstung, als Beweis für ihre Bereitschaft, unseren König zu verteidigen.“ Er stützte sich auf dem Fenstersims ab.

„Heute Abend werden sie die das Ritual der Initiierung durchführen. Ich will nicht unbedingt, dass du das mit ansehen musst.“

Die Tür ging auf und Louis kam herein. „Dass sie was nicht mit ansehen muss?“ Fragte er und warf seinen Mantel über einen Stuhl.

„Das Ritual.“ Antwortete Uriel knapp.

„Sie muss aber... wenn sie nicht daran teilnimmt, dann wird sie es unter den anderen jungen Rittern sehr schwer haben. Es gilt als Mutprobe.“ Für Louis schien es keine große Sache zu sein.

„Wie lange wird sie den Schmerz aushalten können? Sie blutet nicht, aber Schmerz kann sie sehr wohl spüren!“ Uriel schlug mit der Faust auf die Kommode.

„Was ist dieses Ritual?“ Fragte Mia jetzt mit gehetzter Stimme, während sie sich anzog.

„Um nie ihr Gelübde als Ritter zu vergessen, wird jungen Rittern an einer Stelle ihre Haut aufgeritzt, bis sie bluten. Danach müssen sie mit ihrem Blut den Brief des Königs unterschreiben, der sie zum Dienst verpflichtet.“ Uriels Stimme kündete von Verachtung. „Wie lange werden sie deine schöne Haut verletzen müssen, bis auch nur ein Tropfen Blut fließt?“ Er spuckte die Worte verächtlich aus.

„Das dauert nicht sehr lange...“ Murmelte Mia.

„Wovon hast du das letzte Mal geblutet?“ wollte Louis wissen.

„Von einem Schwerthieb. Aber nur ganz wenig, ein paar Tropfen vielleicht.“ Antwortete das Mädchen und sah aus dem Fenster.

„Sollen sie dir eine Hand abschlagen, damit du genug Blut zum unterschreiben hast?“ Fragte Uriel gehässig und sah Louis an.

„Natürlich nicht!“ erwiderte sein Freund. „Es reichen zwei oder drei Tropfen...“

Mia hörte schon gar nicht mehr richtig hin. Sie sollte mit Blut unterschreiben?

„Wohin schneiden sie?“ Fragte sie unvermittelt.

„Die Stelle wählt der älteste Ritter im Saal.“ Es war Uriel, der ihr jetzt ruhig und leise antwortete.

„Meistens ist es nur ein kleiner Kratzer, eben symbolisch, es tut auch nicht weh...“ Ergänzte Louis beschwichtigend.

„So?“ Uriel knöpfte seinen Mantel auf und deutete auf eine große Narbe unterhalb des Schlüsselbeins. „Damit ich nie vergesse.“ verächtlich zog er die Worte in die Länge.

„Mia wird nicht daran teilnehmen. Punkt aus. Sie müssten ihr ja die Pulsadern aufschneiden, damit sie blutet.“

Wütend verließ der Engel das Zimmer.

„Tut es wirklich nicht weh?“ Fragte Mia unsicher.

„Normalerweise nicht. Der Mann, der Uriel diese Wunde zufügen ließ, hat ihn gehasst. Nur deswegen hat er ihn vor den Augen sämtlicher Knappen und Ritter leiden lassen. Aber er hat nicht einmal das Gesicht verzogen dabei.“ Louis lächelte. „Wenn Uriel sagt, dass du nicht daran teilnimmst, dann nimmst du auch nicht daran teil.“

„Was macht dich so sicher?“ Mia sah ihn skeptisch an, während sie das Hemd schnürte.

„Er ist der älteste Ritter im Saal.“
 

Die Sonne stand schon im Sinken begriffen, als uriel und Mia den Harnisch in den Blauen Mond brachten. Schon jetzt waren viele Ritter in ihren Festtagsgewändern unterwegs, ließen ihre Pferde neu beschlagen, die Rossdecken erneuern oder Zaumzeuge mit bunten Troddeln versehen.

Wohin sie auch gingen, überall erregte Uriel Aufsehen. Die Menschen unterbrachen ihre Gespräche oder blickten ihn stumm und vorwurfsvoll an.

Doch er achtete nicht darauf sondern ging stolz und erhobenen Hauptes weiter.

Als Mia die Wirtsstube des Blauen Mondes betrat, versperrte ihr Torebald von Grau den Weg. Sein Grinsen wurde breiter, als Uriel hinter ihr auftauchte.

„Bis heute Abend...“ Sagte von Grau und musterte Mia angeekelt. Dann verschwand er im Gewimmel vor dem Gasthof.

„Er hasst Vampire, geh ihm besser aus dem Weg...“ War uriels Kommentar dazu.

Auf ihrem Zimmer musste Mia die Festtagsgewänder anziehen und anschließend den Harnisch darüber befestigen. Er drückte, war schwer und unbequem, aber er gab auch ein Gefühl von Unverwundbarkeit.

Als sie schließlich völlig eingekleidet war, drängte Louis zum Aufbruch. Vor dem Gasthof waren alle Bewohner des Hauses versammelt, Pferde scharrten im Staub und Knappen liefen eifrig umher, um ihren Herren Waffen und Standarten zu reichen.

Bürger der Stadt standen an ihren Fenstern, schöne Mädchen lächelten den Rittern zu und Kinder liefen zwischen den prachtvoll gekleideten Menschen hin und her.

Für Mia, Louis und Uriel waren drei Pferde angebunden, abseits der anderen.

„Ist besser so...“ hatte der Engel nur gesagt. Mia hatte nicht gesehen, wie er sich angezogen hatte, umso mehr gestaunt aber, als sie ihn vor dem Gasthof sah. Ein silberner Harnisch mit hellblauen Untergewändern aus Seide, dazu ein blütenweißer Mantel, das Haar offen. Sie hatte ihn noch nie mit offenen Haaren gesehen, aber es war einfach atemberaubend. Sie reichten ihm weit über den Rücken und glänzten wie Silber.

Seine Standarte lehnte an der Mauer, sie überragte alle anderen und war weithin zu erkennen.
 

Als sie sich schließlich in den berittenen Tross eingereiht hatten, wurde Emilia nervös. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung und erreichte unter den Hochrufen der Bürger das Burgtor.

Das Farbenspiel auf dem Vorplatz der Großen Halle war fantastisch anzusehen. Langsam ordneten sich Ritter und Knappen nach Farben, und Mia wurde klar, dass jeder Anführer seine eigene Farbe und Farbkombination besaß. Uriel stand mit seinen beiden Begleitern im Schatten der hohen Zinnen und war darauf aus, als letzter den Saal zu betreten.

„Warum, mein Freund? Dir als ältester Marschall gebührt die Ehre, den Saal als erster zu betreten und den König auch als erster zu begrüßen!“ Louis, der an helle Kleidung offensichtlich nicht gewohnt war, fühlte sich wie ein Albinopfau und drückte sich in die Schatten.

„Wir gehen als letztes.“ War die knappe Antwort. Mia war versucht, ihren Schwertknauf zu berühren, um uriels Gedanken lesen zu können, doch das Gesicht des Engels hielt sie davon ab.

Bald waren alle Männer im Schlosshof sortiert und schienen auf einen Befehl zu warten.

Ein Pferd kam zum Tor hereingaloppiert, drehte eine Runde zwischen allen versammelten und kam schließlich vor Uriel zum stehen.

Als der weiße Ritter darauf das Visier hochklappte, erkannte Mia das Gesicht unter dem Helm. Es war Louis' Cousine.

„Noir, schön, dass du da bist.“ Er begrüßte sie mit Handschlag.

„Noir...“ Uriel deutete eine Verbeugung an und Noir starrte ihn eine Sekunde eindringlich an.

„Stets zu Diensten, mein Herr.“

Sie beachtete Mia nicht weiter und führte ihr Pferd zu den Stallungen.

Emilia sah, wie einige der anwesenden den Kopf nach ihr drehten und dann in ihre Richtung schauten.
 

Der Einzug der Ritter begann.

Begleitet von Hörnerklängen betraten sie den großen Saal, den Anführer kniete vor dem König, begrüßte ihn und stallte seine Standarte an die Wand hinter den Thron. Bald hing vor der Kulisse des grauen Steins ein buntes Meer aus Wimpeln, Schilden und Fahnen. Nur ein Platz war leer. Der Platz neben dem König.
 

Schließlich betrat auch Uriel den Saal, hinter ihm Louis und Noir, neben ihm Emilia. Ihre Knie zitterten, als sie dem Thron immer näher kamen. Sie setzte sich mit Louis und dem Mädchen ans Ende des langen Tisches und starrte auf die Tischplatte. Eisiges Schweigen herrschte in der Halle, und sie spürte, wie alle sich auf Uriel konzentrierten.

Sie hörte die ganzen Begrüßungsreden und die Schwurerneuerung nicht. Erst als ein Bote an ihren Tisch trat und Uriel etwas zuflüsterte, hob sie den Kopf. Ihr Engel sah sie an, sah verärgert der König, der interessiert zu ihnen herüberblickte, und erhob sich dann widerwillig.

„Ich bin gleich wieder da...“ Raunte er ihnen zu, dann verließ er hinter dem Boten den Saal.
 

„Und nun -“ Die Stimme des Königs hallte laut durch den Saal „bitte ich all jene, die seit unserem letzten Bankett zum Ritter geschlagen wurden, hierher nach vorne. Euch erwartet das Ritual der Initiierung, um mit Eurem Blut Eurem Land und König die Treue zu schwören, und Euer heiliges Gelübde nie zu vergessen. Uriel, tritt nach vorn.“

Stille.

„Ich befehle Uriel, dem ältesten meiner Marschalle, nach vorne zu kommen!“

„Er ist nicht da!“ Rief eine Stimme von hinten.

„Gut...“ der König überlegte einen Augenblick, dann fuhr er fort „Dann bitte ich den nächstältesten meiner Würdenträger nach vorne... Torebald von Grau!“

Erschrocken sah Mia zum König. Jetzt musste sie am Ritual teilnehmen...

Etwa dreißig Jungen erhoben sich von ihren Sitzen und kamen zögernd nach vorne. Mia konnte ihre Angst riechen. Wie ein süßlicher Schleier hing sie zwischen den Jungen.

Sie blieb sitzen und starrte auf die Tischplatte.

Plötzlich packte sie jemand grob am Arm und schleifte sie nach vorne.

„Lass mich sofort los! Du sollst loslassen!“

Von Grau hatte sie jedoch fest im Griff und zerrte sie bis fast ganz nach vorne in die Reihe.

Der junge Mann neben ihr sprach sie an.

„Ich bin Raimondo da Chelida, und du?“

„Emilia Victoria Seraphine, Graf von Horvat.“

Sie konnte hören, wie der Junge leise durch die Zähne pfiff.

„Der König hat schon seit vielen Jahren keine Frau mehr zum Ritter geschlagen…“ Anerkennend lächelte er. „Entweder bist du sehr gut, oder… eigentlich gibt es kein oder. Du musst einfach sehr gut sein.“ Er grinste.

„Hast du Angst?“ Fragte Mia ihn.

„Nö.“

Sie konnte riechen, dass er log. Seine Angst schien direkt neben ihm herzugehen.

„Ich frag mich nur, wohin sie schneiden…“ Mia sah an Raimondo vorbei zu Torebald von Grau.

„Vater sagt, sie ritzen in die Hand oder so. Nichts großes, mehr symbolisch. Und wenn das Blut nicht reicht, dann gibt’s Tinte.“ Er grinste wieder, umklammerte aber trotzdem seinen Schwertknauf.

Mia berührte ihren Stein, und sie konnte Uriels Stimme hören, als wäre er direkt neben ihr. >Ich bringe ihn um, wenn er auch nur einen Tropfen ihres Blutes vergießt… Mia? Hörst du mich? < Er schien erstaunt, ihre Berührung zu spüren. Sofort ließ sie den Stein los und konzentrierte sich auf das Geschehen vor ihr.

„Raimondo Felipe da Chelida, Sohn des Guido da Chelida, trete vor.“

Der Junge neben Mia lächelte sie noch einmal an, dann ging er nach vorne. Von Grau schnitt ihm in einer einzigen schnellen Bewegung durch den Handballen, und eine dünne Rote Linie bildete sich auf der schneeweißen haut des Jungen. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt zu zucken. Die Fingernägel seiner rechten Hand gruben sich zwar fest ins Fleisch, doch die linke, die verwundete Hand, präsentierte er stolz dem Schreiber des Königs, tunkte die Feder in das dünne Rinnsal und setzte seine Unterschrift auf einen langen Bogen Pergament.

Mia zitterten die Knie, denn jetzt würde Grau mit diesem Messer ihre Haut verletzen – und sie würde nicht bluten, nicht bei einem so kleinen Schnitt.

„Emilia Victoria Seraphine von Horvat, Graf seines Königs Gnaden, Tochter des Jean-Baptiste Eduard Charles Louis de la Rochefoucault, Marechal du Port, Graf der Auverne, Großfürst von Rohenna, Prior des Ordens der Cereer, Prinz von Ravenna, tretet vor.“

Ein Raunen ging durch die Menge, während Mia leise protestierte. „Ich bin nicht seine Tochter… ich bin nicht seine Tochter…“ Sie setzte einen Fuß vor den anderen, sah nur auf den König, nicht auf Von Grau, der wie ein Geier neben dem Thron stand.

„Eure Hand.“ Seine Stimme war rau, aber nicht unangenehm. „Eure Hand bitte.“

Mia streckte sie ihm entgegen, sie spürte den Schnitt nicht einmal.

„Mein König, kein Blut. Noch ein Versuch?“ Der König nickte widerwillig.

„Ich bestimme eine neue Stelle!“ Sagte Von Grau laut, damit der ganze Saal zuhören konnte.

Die Jungen, die die Prozedur bereits hinter sich hatten, sahen sich entsetzt an. Die Leute im Saal begannen zu reden, ein alter Ritter ganz vorne stand auf.

„Grau, lass das Kind! Der Brauch ist zu alt, um ihn gewaltsam durchsetzen zu müssen. Lasst sie mit Tinte unterschreiben und macht weiter!“

Grau hörte nicht auf den Mann.

Er packt den Sternenumhang, den Mia trug, und riss ihn ihr vom Hals.

„Seid ihr verrückt geworden, Grau?“ Der König war aufgestanden und hatte sich neben den Ritter gestellt. Doch dann ließ er die Hände wieder sinken und setzte sich.

„Euren Hals, bitte.“ Grau sprach sehr leise. Die Menschen im Saal waren aufgestanden um besser sehen zu können.

„Nur einer hat es gewagt, einem jungen Ritter in den Hals zu schneiden, und er musste bitter dafür büßen!“ Schrie der alte Ritter von ganz vorne. „Und seht was aus ihm geworden ist! Ein Marschall, vor dem alle zittern!“

Doch Grau ließ sich nicht beirren. Behutsam setzte er die Klinge an. Mia spürte ihre Kälte und das feuchte Blut daran. Es würde nicht wehtun, sagte sie sich, ich kann keinen Schmerz empfinden. Doch sie wusste sehr wohl, dass sie es konnte.

Grau zog langsam die Klinge an ihrem Hals vorbei. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen, und Mia presste die Lippen zusammen, um ihn nicht laut herauszuschreien. Doch sie blieb stehen. Sie zitterte, aber sie stand. Ein dünnes Rinnsal Blut rann ihr am Hals entlang und tropfte auf den blanken Harnisch. Sie sah Grau fest in die Augen, dann wankte sie zum Schreiber, tauchte die Feder in die Wunde und schrieb ihren vollen Namen auf das Dokument.

Als sie an ihren Platz zurückkehrte, herrschte Stille.

Der Rest der Zeremonie verlief schweigend, und als der letzte Junge den kleinen Schnitt hinter sich hatte, verlor Mia das Bewusstsein.



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Kommentare zu dieser Fanfic (20)
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Von:  Enyxis
2009-04-30T15:20:24+00:00 30.04.2009 17:20
Das - war - ma - der - volle - hammer!!!
biiiitteee weiter so! Net auf hörn ^^
Von:  Enyxis
2009-04-30T15:05:40+00:00 30.04.2009 17:05
lol ^^

Von:  Enyxis
2009-04-30T15:00:58+00:00 30.04.2009 17:00
WOW O_O
jez wirds verwirrent bei denen
^^ aber ein sehr cooles kapi
Von:  Enyxis
2009-04-27T13:26:24+00:00 27.04.2009 15:26
O_O geil....
das is voll cool!
Von: abgemeldet
2008-04-05T14:58:35+00:00 05.04.2008 16:58
Aua... das is ganz schön daneben gegangen und zu kurz isses auch... aber ich verspreche, dass ichs wieder gut mache :)
Von: abgemeldet
2007-06-01T10:59:18+00:00 01.06.2007 12:59
nach einem super-kreativen 5-Tage trip nach England gehts jetzt weiter. Ich weiß, bis jetzt hat sich immer alles ewig hingezogen, zäh wie geschmolzener Käse, aber dafür steht jetzt jede Menge Action auf dem Programm... wer mit wem, wo gehts hin, wer stirbt als erstes? ^^ jaaaa, es stirbt jemand, mehr wird (noch) nicht verraten. Da heißt es: selber lesen^^

Wünsch euch viel Spaß - hey, ihr Schwarzleser! Es gibt euch! Ich seh euch! Rauskommen! Kommi schreiben!

Und natürlich wie immer einen besonders lieben Gruß an meine Mausi *knuddelz* die jedes Mal im Viereck hüpft wenns weitergeht ^^
Von: abgemeldet
2007-05-13T07:28:15+00:00 13.05.2007 09:28
Yeah Erste !!!! *-*
Einfach geil geschrieben >.< ich kanns einfach net genug sagen
Louis ging ja richtig Hart zur sache... °°
Das letzt war jetzt so Niedlich *_*
Schreib schnell weiter ^^ würde jetzt wirklich alzugerne wissen wies weiter geht °,°
Aber da muss ich mich wohl noch etwas Gedulden ^-^
Naja freu mich schon aufs nächste Kapi ^^ und mach weiter so *knuff*
*winkz* bis zum nächsten Kapi ^^
LG dad Mausi10
Von: abgemeldet
2007-05-13T07:18:39+00:00 13.05.2007 09:18
*_* wow ...
wieder supi geschrieben wie kriegst du das nur hin >.<
aber was wird nun passiern °° .... *zum nächsten kapi verschwind*
Von: abgemeldet
2007-05-02T18:15:36+00:00 02.05.2007 20:15
naja... die arbeiten waren net so doll, ich wähls aber eh ab^^
schön dass es dir gefallen hat^^
Von: abgemeldet
2007-04-30T15:08:13+00:00 30.04.2007 17:08
>...< Was passiert jetzt °_____°
Whaaaa .... Weiterlesen T,T
Hast wieder klasse geschrieben muss man dich echt Loben ^^ *pat pat*
Freu mich schon aufs 15 Kapi ^0^ *freuz*

Nein das Kapi is nich in die Hose gegangen ^^
Hoffe du hast alles in Spanisch und Latein supi gemeistert xD
Wünsch dir auch noch ne schöne Woche und hier is ja mei Kommi *_*
LG dad Mausi10


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