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Less than 24 days.

...ich sitz im Bunker und kann nicht raus.
von

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Prolog

Jeder tötet, was er liebt.
 

Amélie Nothomb - Kosmetik des Bösen

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Um mich herum ist alles schwarz.

Tief und trüb, wie ein Nebel, der mich umschlungen hält.

Solche Situationen sind mir neu, und noch ehe ich begreifen kann, worum es sich bei diesen merkwürdigen, schwarzen Gasen handelt, durchbricht Licht das Dunkel.

Erschrocken kneife ich die Augen zusammen und lausche. Klimpern, hoch und fein. Kaum zu glauben, dass ich solche Geräusche je wieder vernehmen sollte. Niemand wird je nachvollziehen können, wie gut es mir gerade geht, wie warm mein Herz wird, wie leuchtend warm der Himmel ist. Ist es so? Fühlt es sich so an, wenn man stirbt?

Dann war es all die Strapazen der letzten Wochen wert.

Neugierig folge ich Engelsglocken, die mir mit ihrem himmelsgleichen Klimpern den Weg deuteten, doch sie stellen sich lediglich als das jämmerliche und kalte Piepen des EKGs heraus. Wie ernüchternd das doch ist, denn es ist das Einzige, was mir zeigt, dass ich noch am Leben bin. Ich lebe – das ist mir neu. Aber warum?

Schweigend blicke ich mich in dem Raum, in dem ich mich befinde, um und das Gefühl der Vollkommenheit verschwindet. Es entfleucht mir und ich bin nicht fähig, es zu halten. So kalt ist dieser weiß gekachelte, sterile Raum. Aber das Bett hier… das Bett ist weich. So weich, dass ich nie erwartet hätte, jemals wieder in einem zu liegen. Ich fühle wieder. Endlich.
 

Und mit dem körperlichen Empfinden kehrt auch das Gefühl der Verwirrung in meinen Körper zurück.

Warum zum Teufel bin ich hier? Ich kann mich nicht erinnern, an diesen Ort gebracht worden zu sein. Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist das stumpf gewordene Haar meiner kleinen Schwester zwischen meinen Fingern. Sie… wirkte wie eine Puppe, mit ihren Augen aus Glas, doch ich behütete sie die letzte Zeit im Panic Room. Wo ist sie?

Hat man mir sie weggenommen? Nein. Das kann – darf – nicht sein.

Noch ehe ich mich vollends in diesem Raum orientieren kann, dringt das nächste Übel an mein Ohr.

„Oh, du bist wach.“

Ich zucke zusammen. Meine Augen haben sich nun endlich an das grelle Licht der Lampe gewöhnt und ich öffne sie vollkommen, doch ich erblicke etwas anderes, als ich erwartet hätte. Es ist keine Krankenschwester, die dort mit ihrer angenehmen Sopranstimme vor mir steht und mich umsorgt.

Es ist ein Junge. Wohl eher ein Teenager, aber viel älter als dreizehn scheint er mir nicht zu sein. Hier ist also ein Teenager… vielleicht wird er mir weiterhelfen können? Vielleicht wird er mir sagen können, wo meine Schwester ist. Meine Schwestern… Und meine Cousine.

Der Gedanke an das, was aus ihnen geworden sein könnte, macht mich ganz unruhig, also setze ich mich auf, unsicher und wackelig, doch ich schaffe es. An meinem rechten Arm hängt ein Tropf und farblose Flüssigkeit fließt durch den Schlauch in meine Venen.

Er mustert mich unsicher und zu meiner allgemeinen Verwirrung gesellt sich nun noch die Frage, was dieser Junge hier zu suchen hat, mein Lieber. Frag ihn einfach. So schwach, wie er wirkt, gehört er garantiert nicht hierhin.

Schweigend starre ich ihn an, ganz in Gedanken versunken und er weicht zurück. Mit seinen hellblonden Haaren und den rotgräulichen Augen wirkt er… engelsgleich. Vielleicht erschrecke ich ihn aber auch einfach nur mit meinen klaren, kalten Augen und dem gräulichen Haaransatz in der schwarzen Mähne. Mein klarer Blick – am Schluss war ich der Letzte, der ihn hatte, doch ich habe ihn bewahrt. Ich war stark.

„Wer bist du?“, fragte ich und der kleine zuckt zusammen. Habe ich etwas verbrochen und weiß nichts mehr davon? Irgendeinen Anlass zum Fürchten muss ich ihm doch geben.

Doch er antwortet nicht. So konzentriere ich mich vorerst besser auf meinen Körper. Wer weiß, was sie hier alles mit ihm angestellt haben?

Es tut nichts weh, also ist scheinbar auch nichts kaputt, denke ich mir, nachdem ich Probeweise ein paar Muskeln angespannt habe.

Aber wenn doch alles mit mir stimmt, was mache ich hier? Ich möchte zu meiner Familie. Jetzt, sofort. Ich will wissen, wo sie sind.

Von dem Jungen jedenfalls fällt jegliche Anspannung hinab. Er hat wirklich Angst vor mir. Der Gedanke entlockt mir ein leises Lachen.

Es drängt mir, meine Arme zu betrachten, doch ich kann meine Augen nicht von dem Knaben abwenden. So etwas wie ihn habe ich noch nie gesehen. So hübsch in seiner Erscheinung, wohl proportioniert. Zierlich und zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe.

Auch ihm geht es nicht anders, sein Blick fixiert mich und lässt mich nicht los.

„Soll ich einen Arzt rufen?“, fragt er leise und legt die Mappe, welche er in der Hand hält, auf mein Bett. Joshua Miller steht darauf.

Joshua. Miller. Das ist mein Name.

Was soll ich mit einem Arzt? zischt es in meinem Kopf, aber ich spreche es nicht aus. Mir geht es gut. Es gibt wichtigeres zu erledigen.

„Wer bist du?“, frage ich erneut und kralle meine Finger in das gräuliche Bettlaken. Der Kleine schweigt. Darf er es mir nicht sagen?

„Wer bist du, verdammt noch mal?!“, fauche ich nun doch und merke sofort, dass mir dieser Gemütsausbruch nicht gut getan hat.

Ein gleißender Blitz blitzt in meinem Kopf auf und ich drehe den Blick nach unten. Meine Arme sind blass, blasser als sonst. Dünn. Sie sehen kränklich aus und an einem hat man eine Kanüle befestigt, von der ich eben erzählt habe. So dünn bin ich? Ein Schatten meiner selbst.

„Mein Name ist Shoji Watanabe“, antwortet er nun endlich und seine Stimme ist noch immer so sanft wie zuvor. „Bitte verzeih, wenn ich unhöflich war – ich war noch nie dabei, wenn jemand aufwachte, ich sollte lediglich eine Akte holen. Kann ich dir helfen?“

Shoji Watanabe… ein Japaner also?

Okay, in anbetracht dessen, in welchem Land ich mich befinde, eigentlich kein Wunder, aber seine Züge sind europäisch. Eindeutig… Dummheit war noch nie ein Charakterzug, der mich besonders prägte. Die Augen sind groß und rund, das Gesicht schmal. Vielleicht mag er in Japan geboren sein, doch seine Wurzeln liegen woanders.

„Du bist kein Japaner“, meine ich kalt und mustere ihn kritisch von oben bis unten. Er fühlt sich unter meinem Blick nicht wohl, windet sich unmerklich und seufzt dann.

„Doch bin ich.“

„Ah. Und warum hast du dann so einen hellen… Teint? Gott“, lache ich und fahre mir mit der einen Hand durch das Haar.

„Was interessiert mich das eigentlich… wo sind wir hier?“

„Ich leide an Albinismus“, antwortet der Kleine mit einem lautlosen Knurren und deutet auf die Akte. „Da sind die Haare so hell. Du bist im Krankenhaus, mach dir keine Sorgen. Vor einer knappen Woche hat man dich aus dem Raum in eurer Wohnung herausgeholt. Der Tropf ernährt dich künstlich und-“

„Halt die Klappe.“

Er ist ruhig, aber mich wühlt es auf. Bruchstückchenartig dringen die Erinnerungen zurück zu mir und entlocken ein leises Stöhnen aus den Untiefen meiner Lungen.

Lucy… die Frage nach ihrem Aufenthaltsort erübrigt sich.

„Mary! Wo ist Mary? Und Emily! Meine Cousine und meine Schwester, sie haben noch gelebt! Ich bin mir sicher, also, wo sind sie? Wann kann ich zu ihnen?“, frage ich ihn und meine Stimme überschlägt sich, der Schmerz in meinem Kopf zuckt erneut und fängt an zu pulsieren. Ich schwanke. Oder ist es der Raum, der sich so dreht? Erneut frage ich Shoji, doch seine Antwort dringt nicht mehr zu mir durch. Antwortet er überhaupt? Ich meine, sein Mund bewegt sich, aber ehrlich gesagt hat es keine Relevanz. Alles bewegt sich und auch wenn ich in meiner Verzweiflung ankämpfe, nicht wieder in dieses schwarze Loch zu fallen, aus dem ich eben aufgewacht bin, habe ich keine Chance. Es greift nach mir und wenige Sekunden später dämmere ich wieder vor mich hin, ohne Kontrolle über meinen Körper oder über meinen Verstand.

Ich werde ihn erneut durchleben, den Tod meiner Geschwister.

Immer wieder, denn im Schlaf träumt man.

Und ein Träumer war ich schon immer.
 

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Und nochmal überarbeitet. Jetzt Inhaltlich - Qualitativ dem Rest angeglichen.

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So das wäre nun also die bearbeitete Version des Prologs(Luftiger ;))

Hm... ein paar von euch mögen die Geschichte eventuell noch in ihrer ursprünglichen Fassung kennen, denn anfangs handelte es sich hierbei um eine Yugioh-FF. Da ich die Copyright an den Charakteren allerdings für mich haben wollte, wurde einiges umgekrempelt, unter anderem die Namen der Charaktere und deren familiäre Bindung zueinander.

Achja... ich hab es nochmal komplett neu geschrieben, das kommt noch hinzu.
 

LG - Johnny

Der Nachmittag

Du willst wissen, wo diese Geschichte spielt? Oh glaub mir, das ist nebensächlich. So etwas geschieht tagtäglich, überall auf dieser Welt. Vielleicht sogar an dem Ort, den du dein Zuhause nennst. Du glaubst mir nicht? Das ist mir egal, ich weiß, wie es wirklich ist. Ich habe es gesehen. Gefühlt. Es ist mein Leben. Also tu gefälligst nicht so, als hättest du Ahnung von dem, was du im Begriff bist zu erfahren. Lass mich dir meine Geschichte erzählen, in allen schrecklichen Details. Es wird eine Geschichte sein, die du nicht wieder vergessen wirst.

Das verspreche ich dir.

Hast du schon einmal gespürt, wie es ist, wenn sich ein Lackschuh in deinen Unterleib bohrt? Es ist unangenehm – ein dumpfes Pochen, welches wellenartig seine Schmerzen verbreitet und einem die Luft zum Atmen nimmt. Einem wird übel, doch man kotzt nur in den seltensten Fällen, knickt in der Regel weg wie ein kaputter Sandsack und bleibt hilflos am Boden liegen. In der Fötusstellung, die Arme um die Beine gelegt. Die meisten fangen schlagartig an zu weinen, aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran. Irgendwann weiß man, wann man sich fallen zu lassen hat, damit der Schuh sein Ziel nicht so erreicht, wie der tretende es geplant hat. Damit der Schmerz nicht so überwältigend ist, dass man für den Bruchteile einer Sekunde lediglich Sterne tanzen sieht. Trotzdem haut es mich immer wieder von den Beinen.

So wie jetzt gerade. Ich liege mit angezogenen Beinen auf dem kalten Boden der ungeheizten Wohnung, beiße mir meine Unterlippe in dem verzweifelten Versuch, keinerlei Laut von mir zu geben, auf. Nach kurzer Zeit schmecke ich den eisernen Geschmack frischen Blutes auf meiner Zunge und öffne schüchtern, beinahe blinzelnd meine Augen. Übelkeit umarmt mich, benebelt mein Hirn und lässt mich erst einige Sekunden matt an die Decke starren, bevor ich mich schwer atmend zur Seite rolle. So bleibe ich liegen, schnappe nach Luft. Soll der Bastard doch machen, was er will. Hauptsache, er lässt von mir ab. Sonst tritt er vielleicht wieder zu. Alexander, mein Vater.

Groß gewachsen, schwarze Haare. Durchaus gutaussehend.

Früher einmal war ich stolz darauf, ihn meinen Vater zu nennen. Aber das war, bevor er anfing zu trinken. Bevor er anfing uns zu schlagen. Denn wie könnte ich einen Vater lieben, der so oft dafür gesorgt hat, dass ich mit einem blauen Auge in die Schule gehen durfte? Selbst meine Mutter, auch, wenn man sie in diesem Haushalt lediglich bei ihrem Vornamen, Rachel, ruft, behandelt er wie Dreck. Sie ist die einzige, der etwas an uns liegt, die sich nicht damit zufrieden gibt, dass wir eines Tages auf der Straße landen werden, wenn alles weiterhin seinen Weg geht, wie bisher. Meine Mutter würde alles für uns tun.

Man sieht es ihr an. Das Leid der letzten Jahre hat ihr Gesicht gezeichnet und sie künstlich altern lassen. Sie ist noch keine vierzig, dennoch wirkt sie um einiges gebrechlicher. Ich weiß nicht, ob die anderen dies bemerken – sie ist kaum zuhause. Gelegentlich schaut sie danach, wie es uns geht, isst etwas oder zieht sich um. Aber dann ist sie wieder unterwegs auf den Straßen meiner Heimatstadt. Dort, wo sie ihr Geld verdient, indem sie Männern für Geld das gibt, was Alexander schon seit Jahren nicht mehr von ihr bekommen hat.

Es ist ja nicht so, dass ich sie nicht verstehen kann. Keiner würde mit einem Versager wie Alexander freiwillig ins Bett steigen. Jemand, der verzweifelt versucht, sein Leben zu meistern, kann sich nicht jemandem anvertrauen, der die Kontrolle über dieses schon lange zuvor verloren hatte. Das wäre viel zu destruktiv.

Einmal wieder bohrt sich der Schuh in mein Fleisch. Das Leder ist stärker, meine Bauchdecke gibt

nach, lässt zu, dass meine Organe gequetscht werden. Reflexartig krümme ich mich, presse die Beine an meinen Körper und huste, schlucke gleichzeitig, damit sich nicht innerhalb der nächsten Sekunden mein Mageninhalt auf den ungewischten Boden unserer Wohnung entleert. Es ist so erniedrigend, dass wir das dulden müssen. Und doch könnten wir nichts dagegen tun, dabei wünschen wir uns nichts sehnlicher als das. Vielleicht ist es genau das, was diese Erniedrigung so real macht. Die Tatsache, dass uns die Hände gebunden sind. Die Liebe zueinander bindet uns die Hände zusammen und hindert uns am Handeln.

Hätte Alexander vor Jahren nicht seinen Beruf verloren, wäre ohnehin alles anders gekommen. Ein normales, reguliertes Leben mit einem behüteten Zuhause und all den alltäglichen Luxus, den man sich leisten kann, wenn man über Geld verfügt. Aber so ist es nicht. Wir können sehen, wie wir über die Runden kommen, können sehen, wie wir uns zuhause und auf der Straße durchschlagen, von der Schule ganz zu schweigen.

Als hätte man mir einen Elektroschock verpasst, biege ich meinen Rücken ins Hohlkreuz und brülle los. Der Tritt traf mich in die Nieren, ungebremst, mit voller Wucht. Zum ersten Mal seit langem beginne ich, vor Schmerzen zu zittern, bunte Sternchen tanzen vor meinen Augen.

Ich rufe mir die Personen, für die ich dies alles durchstehe, ins Gedächtnis und atme tief durch. Durchhalten, das ist es, worauf es ankommt. Nicht mehr und nicht weniger – wir haben gelernt, nur für den Moment zu leben.

Es geschieht höchst selten, dass ich anfange, zu weinen. Erstens härtet meine Situation ungemein ab. Man ist nicht mehr so sensibel, man hält viel mehr aus. Zweitens wurde ich vor gut einem Monat siebzehn, endlich. Meiner Meinung nach weint ein junger Mann mit siebzehn nicht mehr. Doch nun purzeln mir die Tränen nur so über die Wangen und bemüht, sie zu verstecken, rutsche ich weiter nach hinten, bis ich gegen etwas Festes stoße. Im ersten Moment bin ich fest davon überzeugt, es sei die Zimmerwand, doch als ich ein leises, beinahe lautloses Stöhnen vernehme, verwerfe ich den Gedanken wieder. Wände stöhnen nicht.

Es kostet mich einige Mühe, meinen geschundenen Körper aufzurichten, doch als ich es unter Keuchen und Zittern vollbracht habe richte ich meinen Blick auf den Körper, welcher reglos neben mir liegt. Es ist Mary, deren Auge sich langsam rot färbt, gestreichelt, ebenso wie die einige Flecken an ihren Armen, von Alexanders unheilbringender Faust. Später einmal werden diese Flecken blau werden, dann grün und letztendlich werden sie verschwinden. Hämatome. Dinge, die passieren, die stören, aber über die man sich eigentlich keine Gedanken machen braucht, da sich nach ihrem Ableben ohnehin keiner mehr an sie erinnern werden wird. Genau wie sich an die Menschheit keiner mehr erinnern wird. Eines Tages.

Sie rührt sich nicht, nicht einmal, als ihr eine der langen blonden Strähnen ins Gesicht rutscht und ihre Nasenspitze kitzelt. Und auch, als aus der Platzwunde an ihrer Stirn eine rote Träne über ihre Stirn huscht, bewegt sie sich keinen Millimeter. Doch um ehrlich zu sein bin ich mir nicht sicher, ob sie wirklich nicht bei Bewusstsein ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich tot stellt, nur, damit Alexander endlich von ihr ablässt.

Dabei kann sie einem eigentlich nur leid tun. Wären ihre Eltern dabei nicht bei diesem außerordentlich hässlichen Autounfall ums Leben gekommen, würde sie heute vielleicht ein geregeltes Leben führen, doch aufgrund der Umstände war sie bereits mit drei Jahren eine Vollwaise. Mary Miller, das Mädchen, welches mit der aufgeschlagenen Stirn neben mir liest, ist nur unsere Cousine. Mütterlicherseits. Ihr ursprünglicher Name lautete Mary Caldwell, ein Name, bei dem ich im Laufe der Jahre gelernt habe, ihn mit Mut und Schönheit zu verbinden. Auch wenn ich an jenem schicksalhaften Tag, an dem sie zu unserer Familie kam, erst fünf junge Jahre zählte, werde ich nie vergessen, wie ängstlich sie damals noch war. So schüchtern und zerbrechlich. Nichts davon ist mehr übrig, das Rad der Zeit hat diese Attribute mitsamt ihrer Kindheit hinfort gewischt. Geblieben ist lediglich ihre starke, kämpferische Seite, das, was sie heute zu dem macht, was sie ist. Es ist ihr Lebenswille.

Doch jetzt verdeckt das blonde Haar ihr puppenhaftes Gesicht, welches, im Gegensatz zu meinem, wenigstens nicht in blutigen Strähnen herunterhängt. Wieder einmal hatte ich mehr abbekommen als sie. Dabei war sie der eigentliche Grund für Alexanders Gewaltausbruch. Es war der abgrundtiefe Hass, den Alexander Mary entgegenbrachte, seit er arbeitslos war und trank. Seit er Zeit hatte, über Gott und die Welt zu grübeln. Seit sich in seinem Kopf scheinbar die Idee eingenistet hatte, dass nur die leiblichen Kinder zu etwas nütze sind. Von diesem Zeitpunkt an hatte Mary keine Chance mehr, sie hatte verloren. Sie ist ja nur seine Nichte.

Emily und Lucy, meine Schwestern, die eineiigen Zwillinge, haben kein besseres Los gezogen. 1971, als ich drei Jahre alt war, hatte meine Mutter eine kurze Liebesaffäre mit Alexanders Chef. Nichts besonderes, höchstwahrscheinlich suchte Rachel lediglich etwas, an dem sie sich abreagieren konnte. Die Tatsache jedoch, dass Emily und Lucy ein gutes Dreivierteljahr später zur Welt kamen, ließ Alexander jedoch nie richtig glauben, es handele sich um seine Mädchen. Sie sehen ihm nicht einmal ähnlich, Rachel hat ihnen ihr Aussehen vermacht. Blaue Augen, braunes Haar, schmales Gesicht.

Ich bin der einzige aus dieser Familie, der nach ihm kommt und der immer mit ihm verglichen wird. Charakterlich und äußerlich entspräche ich vollkommen meinem väterlichen Ebenbild. In jungen Jahren, versteht sich. Dennoch habe ich diese Anschuldigung immer mit einem aggressiven Unterton abgewiesen. Ich bin kein Monster, welches Hand an seine eigenen Kinder legt und die Nichte im Schlafzimmer aufsucht, wenn es glaubt, keiner bemerke es. So bin ich nicht – und so würde ich auch niemals sein.

Ich würde schlimmer werden. Viel schlimmer. Ich würde Alexander um Längen hinter mir lassen und mit meinem Tod in die Geschichte eingehen. Unvergessen und gefürchtet. Unverstanden.

Es würde die Gesellschaft sein, die mein Handeln und Tun, geprägt von meiner Vergangenheit, verwirren und erschrecken würde.

Die Faszination an fließendem Blut, jämmerlichem Gewimmer und dem leisen, verzweifelten Betteln nach der Mutter. Sie würden nicht begreifen können, warum dies alles Musik in meinen Ohren auslösen würde. Ich würde ja nicht einmal selbst dazu fähig sein.

Eine letzte Ohrfeige, im Vergleich zu den vorrangegangen Schlägen nahezu harmlos, dann kündet mir ein dumpfer Knall von der Wohnzimmertür, die soeben ins Schloss gezogen wurde. Doch auch, wenn der letzte Schlag nahezu harmlos war, hatte ich nicht mehr damit gerechnet. So zucke ich, verschreckt, wie ich bin, zusammen, hebe schützend die Hände und warte, mit angespannten Muskeln, auf die nächste Tracht Prügel. Ich brauche ein wenig, bis ich begreife, dass dort nichts mehr passieren wird. Alexander ist für heute fertig mit uns. Es ist zuende.

Seufzend hebe ich den Kopf und betrachte schweigend die Tür, durch die er den das Zimmer verlassen hat, bis sich mein Sichtfeld ohne große Vorankündigung hellrot trübt. Routiniert wische ich mir mit dem Ärmel meines schwarzen Rollkragenpullovers, welcher zur Uniform meiner Schule gehört, über die Augen. „Halt ruhig“, wispert hinter mir eine Stimme und ich drehe mich zu ihr um. Es ist Emily, meine Schwester. Meine Liebe.

Auch wenn sie mich anlächelt, als sie mir den alten und dreckigen Verbandskasten unter die Nase hält, so kann ich sehen, dass ihr der Schreck nach wie vor tief in den Knochen sitzt.

„Du hast eine Platzwunde an der Stirn, komm, ich mache dir ein Pflaster drauf.“

Meinerseits folgt ein schwaches Nicken und auch, wenn ich mich nicht bewege, kann ich aus den Augenwinkeln vernehmen, dass Mary sich aufrichtet. Langsam, und ohne jede Hast, als hätte sie alle Zeit der Welt. Als wäre sie gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, eine Ohnmacht zu inszenieren, nur, um zu vermeiden, dass sich eine Hand in ihr Haar gräbt und sie an diesem zu Boden schleudert. Verstört sitzt sie nun also auf dem Boden, fährt sich mit der Hand durch das Blond und starrt auf die Holzdielen. Plötzlich jedoch springt sie auf, nimmt den Saum ihres Rockes und wischt die wenigen Sprenkel ihres roten Blutes, welche wohl zu Boden getropft sind, hektisch weg.

Die Eliminierung des eben geschehenen.

Als Emily mit der Desinfektion meiner Wunde beginnt, beiße ich die Zähne zusammen und gebe einen leisen Schmerzenslaut von mir. Mary kann ich derweil nicht aus den Augen lassen, so hilflos und verloren, wie sie dort sitzt, weicht sie auffällig von ihrem normalen Verhalten ab. Wahrscheinlich jedoch wird sie sich in einer halben Stunde wieder gefangen haben.

Emily lächelt noch immer, verkrampft und unglücklich. Sie muss rausgerannt sein, als Alexander noch mit uns beschäftigt war, muss versucht haben, die Gewalt aus ihrem Leben zu verbannen. Ein liebes Mädchen ist sie, und mit ihren dreizehn Jahren schon verdammt selbstständig.
 

Wenig später hat sie meine Wunde versorgt und wendet sich der verletzten Mary zu. Lucy sitzt in der Ecke, die Beine angezogen und sieht ihr dabei zu. Glänzende Spuren auf ihren Wangen, sowie die geröteten Augen schildern jeden Schmerz.

Lucy seufzt leise und unterlässt es, zu reagieren, als der Rock hoch rutscht und es mir ermöglicht, einen Blick auf das zu werfen, was darunter liegt. Jedoch wende ich mich lediglich ab – ich bin kein Lustmolch oder sonst ein perverser, welcher es darauf anlegt, seinen Trieben bei allen möglichen Gelegenheiten nachzukommen. Außerdem bin ich den Anblick von Röcken in diesem Haushalt gewohnt. Den so, wie hier in der Bibel gelesen wird, werden hier auch Röcke getragen – nämlich ständig. Das mag für den außenstehenden merkwürdig klingen, wenn man jedoch damit aufgewachsen ist, ist es für einen das selbstverständlichste von der Welt.

Genau wie die Tatsache, das Emily und Lucy nicht arbeiten gehen werden, wenn sie ihre Schule beenden. Nach der mittleren Reife ist ihre schulische Karriere beendet. Möglicherweise werden sie noch einen Beruf erlernen, wenn es allerdings nach Alexander geht, werden sie schnellstmöglichst verheiratet und aus dem Haus gejagt. Mary wird wahrscheinlich das gleiche Schicksal treffen. Zwar würde sie dagegen ankämpfen, denn sie ist emanzipiert, doch auch sie würde den Kampf verlieren und sich am Ende brav um ihre kleine Schar von Kindern kümmern. So ist Alexander eben. Verdammt konservativ.

Schwankend stehe ich auf und winke die helfende Hand meiner Schwester ab, welche sich schon darauf vorbereitet hat, mich zu stützen.

„Wo ist er hin?“ Ich sehe mich um, lasse meinen Blick durch den Raum gleiten und schiebe dann langsam die Hände in meine Hosentaschen. Alles ruhig, nichts regt sich. Die Tür zur Küche steht offen – an der Wand kleben noch rotbraune Flecken. Man hat versucht, sie abzuwaschen, Reste sind dennoch geblieben. Von früher. Ich erschaudere und wende scheu meinen Blick ab.

Eigentlich interessiert es mich nicht, wo er hin ist. Warum sollte es das auch? Viel mehr als Schmerzen bedeutet mir eine Begegnung mit ihm ohnehin nicht. Es ist ohnehin um einiges bedeutender, ob er noch hier ist. Das ist der eigentliche Grund, warum ich diese Frage frage, aber ich habe sie immer so gestellt und werde sie wohl auch immer so stellen. Wenn er gegangen ist, um sich voll laufen zu lassen, gut. Dann bleibt es hier ruhig. Wenn er… nur auf dem Klo oder dergleichen ist, schlecht. Dann könnte es unter Umständen sein, dass es gleich genauso weitergeht wie bisher.

Und das bedeutete unter Umständen weitere blaue Flecken, Schürfwunden und Prellungen.

„Soll ich nachschauen?“

Lucy steht auf und zupft die Ärmel ihres T-Shirts zurecht. Sie wirkt so sauber, ihre Kleidung ist rein und makellos. Nicht ein Kratzer ziert ihre Ärmchen oder Beinchen, nicht einen Tropfen Blut hat sie heute vergossen. Nur Tränen.

Nur Tränen.

Steckten wir nicht in solch einer Situation, hätte ich diesen Umstand ungemein witzig gefunden..

Lucy und Emily, die beiden Unschuldsengel, blendend vor Sauberkeit, während Mary und ich vollkommen verdreckt und erschöpft auf dem Boden kauern.

Mary jedoch schüttelt nur mit dem Kopf und quält sich leise keuchend zurück auf die Beine, streicht ihren Rock glatt, kontrolliert den Sitz ihrer Stiefel und verschränkt anschließend, herrisch, wie sie ist, die Arme.

„Das wirst du nicht tun“, sagt sie streng und wischt sich mit einem Kopfnicken die Strähnen, welche ihr in die Augen gerutscht sind, aus dem Gesicht. Mary liebt Lucy und Lucy liebt Mary. So ist es immer gewesen, schon seit ich mich zurückerinnern kann. Vermutlich stellt meine liebe Cousine für Lucy wohl so etwas wie einen Mutterersatz dar. Sie haben einander und ich habe Emily. Das reicht jedem in diesem Raum vollkommen.

„Ich werde nachsehen“, entscheide ich schließlich und verhindere so wahrscheinlich, dass ein Streit wischen den Mädchen entbrennt. Die Stimmung in diesem Raum ist nicht gut. Sie ist angespannt und still, dick, als könne man sie mit einem Messer in Stücke schneiden. Sie spiegelt die Verzweiflung eines Tieres wieder, welches man in einem Käfig hält und vergisst zu füttern. Stille Verzweiflung, Ohnmacht. Wir können uns nicht helfen, sondern sitzen fest. Wir sind den Launen unseres Besitzers ausgeliefert, müssen damit leben, oder gehen daran zu Grunde.

Das ist mein Ernst. Was würde schon aus uns werden, wenn wir wegliefen? Noch weniger, als wenn wir hier blieben. Hier haben wir wenigstens ein Dach über dem Kopf, etwas zu Essen. Wir können zur Schule und ich habe hier den Sitz meines einzigen Hobbys, etwas, was mich über die Jahre am Leben erhalten hat. Mein Klavier.

Nachdem Alexander seinen Job verlor hatte dies zur Folge, dass wir nicht mehr länger fähig waren, den Klavierunterricht zu finanzieren. Ich musste also ein paar Jahre für mich spielen, ohne Möglichkeiten der technischen Korrektur. Dann wechselte ich von der Mittelschule auf die Oberschule und hatte Glück, denn deren Schwerpunkte liegen im sprachlichen und musikalischen Bereich. Ab diesem Zeitpunkt konnte ich den Unterricht wieder aufnehmen, denn er wird vom Staat finanziert. Und, ganz, ohne arrogant klingen zu wollen – ich bin wirklich gut.

„Ich gehe“, wiederhole ich mit weitaus gefestigterer Stimme und blicke entschlossen in die bleichen Gesichter um mich herum. „Ich bin älter und stärker als ihr. Und schneller auch.“

Das ich erschöpft und verletzt bin, lasse ich unter den Tisch fallen, denn selbst in diesem Zustand bin ich noch stärker als meine Schwestern, schwach und dreizehnjährig, wie sie sind.

Damit ist die Diskussion für mich erledigt und ich beginne, die Wohnung systematisch nach Alexander zu durchforsten In unseren Zimmern ist er nicht. Im Schlafzimmer auch nicht, genau wie in den Bädern und in der Toilette. In der Küche befindet er sich auch nicht. Die Luft scheint rein zu sein.

„Alles sauber.“

Im Wohnzimmer hat sich keiner bewegt, als ich es erneut betrete. Alle stehen noch an ihrem alten Platz, nur Lucy hat sich gerührt und ist zu Mary gehuscht, welche einen Arm um sie gelegt hat und ihr beruhigend über den Kopf streicht. Es hat sich nichts verändert – das Entsetzen und die Angst hängt nach wie vor bleischwer in der Luft und raubt einem den Atem.

„Bist du dir sicher?“, fragt meine Cousine dann und bindet ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz. Sie fragt das nur, damit sich die Kleinen beruhigen, denn wie gewöhnlich werde ich diese Frage mit einem klaren Ja beantworten. Die Schwestern wissen nichts davon, aber beinahe alle Konversationen, die Mary und ich in ihrer Gegenwart miteinander führen, alle Konversationen, die inzwischen einem regelrechten Ritual gleichen, sind lediglich Taktik, um sie nicht in Panik geraten zu lassen. Sind Mary und ich unter uns, gehen wir vollkommen anders miteinander um. Zwar sind wir dann immer noch fest entschlossen, all das hier durchzustehen. Die Situation betrachten wir jedoch um einiges realistischer.

„Ja, ich bin mir sicher. Emily, Lucy, beruhigt euch bitte, wir müssen das so abhandeln wie jedes Mal, wenn Alexander durchdreht. Wir haben nicht viel Zeit.“

Routine. Wir haben diese Aktion schon so oft durchgezogen, dass wir inzwischen im Schlaf wissen, was zu tun ist, wenn der Ernstfall eintritt. Wenn Alexander mal wieder die Beherrschung über sich verliert und wir schnell handeln müssen, wenn wir innerhalb der nächsten Tage nicht ohne Essen dastehen möchten.

„Haben wir noch Brote oder Brötchen?“

Mary nickt, lässt Lucy los und verschränkt die Arme vor dem Brustkorb, ehe sie ihr aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick zuwirft und mir dann ihre volle Aufmerksamkeit schenkt.

„Ein paar gefrorene in der Tiefkühltruhe, aber die sollten reichen. Bis Alexander merkt, dass sie weg sind, sind mindestens vier Tage rum.“

Die Zeit reichte also aus.

„Gut.“

Ich nicke zufrieden und kann gleichzeitig spüren, wie sich eine tiefe Leere in meinem Brustkorb festsetzt. Beinahe augenblicklich schwindet jede Motivation aus mir. Ich möchte nicht in den Raum. Nein, auf gar keinen Fall.

„Du wirst zusammen mit Lucy und Emily die Brote nach oben schaffen“, meine ich dann an Mary gewandt und bin schon auf dem Weg zur Tür.

„Ich suche Flaschen zusammen und bringe sie euch. Beeilung.“

Die bleichen Gesichter vor mir nicken gehorsam, dann setzen sie sich schwerfällig in Bewegung. Der Schock der vergangenen Minuten sitzt noch immer tief, doch in wenigen Stunden wird sich ihr Befinden wieder normalisiert haben. Sie werden mir nicht widersprechen, so viel steht fest. Für eine führende Person wie mich empfinden sie in solchen Situation nichts anderes als pure Dankbarkeit.
 

Der kleine Dachboden über unserer Wohnung, welcher lediglich „Der Raum“ genannt wird, ist nicht sonderlich groß. Höchstens fünfundzwanzig Quadratmeter, geteilt in zwei Räume, von denen einer mit einer Toilette und einem Waschbecken versehen ist. Der andere Raum, in dem wir unsere meiste Zeit verbringen, wenn wir dort oben sind, ist größer. Durch eine im Boden eingelassene Luke, so winzig, dass wir uns nur mit Mühe hindurchquetschen können, erreicht man normalerweise das darunter liegende Badezimmer.

Sind wir jedoch im Raum, ist dies nicht möglich, denn Alexander bringt dann ein Vorhängeschloss an der Luke an. Dann sind wir dort oben gefangen und auf seine Gnade angewiesen.

Ausblick schenkt uns lediglich ein kleines Fenster, welches aus Plexiglas gefertigt ist und sich nicht öffnen lässt. Wir wissen nicht, woher dieser Raum kommt und wer ihn gefertigt hat. Auch, zu welchem Zweck er diente, ist uns nicht bekannt. Jedenfalls ist er nicht auf den Bauplänen verzeichnet, und als Alexander den Vermieter einmal indirekt darauf ansprach, zeigte dieser keine Zeichen, dass er von diesem Gefängnis etwas wusste. So war es ebenfalls ein Zufall, dass Alexander ihn fand, kurz nachdem wir hier eingezogen waren. Er wollte lediglich eine Glühbirne im Badezimmer auswechseln, da fiel ihm zufällig die Luke beinahe auf den Kopf. Sie besiegelte unser Schicksal. Damals.
 

Als Alexander diesen Raum fand, erinnerte er lediglich an ein Loch unter dem Dach. Inzwischen jedoch haben wir es fertig gebracht, einige Decken und Kissen hierhin zu bringen. Auch eine alte Kühltruhe befindet sich hier, einige Bücher, Bilderbücher, Blöcke und Stifte. Egal, was wir in die Finger bekamen, wir schleppten es hierhin, denn addiert man die vergangenen Jahre, haben wir hier eine Menge Zeit unfreiwillig verbracht.

Immer, wenn Alexander sauer auf uns ist, sperrt er uns dort oben ein. In der Regel an Wochenenden, damit er sich nicht zwei vollständige Tage mit uns herumschlagen muss.
 

Als ich die Kiste mit Flaschen im Badezimmer absetze, schweift mein Blick im Gehen die Luke. Es jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken, wenn ich daran denke, dass wir gleich wieder nach oben müssen.

Der Januar 1986 ist so bitterkalt.
 

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Darf ich vorstellen? Die Buchfassung von Bloody Sunday. Endlich... endlich hab ich sie fertig xD

Kannst du spielen?

„Ich habe die Flaschen neben die Kiste gelegt.“

Mit einem Sprung gleite ich durch die Luke und lande neben Emily auf dem Boden. Sie sieht es nicht gern, wenn ich das mache, denn das Risiko gebrochener Knochen besteht immer. An und für sich kein Problem, aber wie schon erwähnt ist unsere medizinische Beträuung nicht die beste.

Das Badezimmer, in dem wir uns befinden, ist von knapp zwei Metern Höhe, bei einer Gesamtfläche von rund sechs Quadratmetern. Darüber liegt unser Raum, der wohl eher eine Art Speicher darstellen soll. Ein schon lange in Vergessenheit geratener Speicher, nur zu erreichen über die Luke in der Badezimmerdecke. Und durch eine stehts abgeschlossene Tür im Waschraum dieses Dachbodens. Soweit ich weiß, nutzte der Hausmeister diesen Ort eins, um Dinge zu verstauen, jetzt aber ist die Tür von innen als auch außen mit einem dicken Schloss versehen. Ungenutzter, den meisten unbekannter Stauraum.

„Meinst du wirklich nicht, dass wir die Flaschen schon füllen sollten?“

Emily wirft mir einen wachen Blick zu, aus diesen klaren, blauen Augen, dann verschränkt sie die Arme. Das braune Sweatshirt, welches sie trägt, ist ihr um Nummern zu groß und hängt herab wie ein nasser Sack. Es versteckt aufkeimende, weibliche Formen und lässt sie jünger erscheinen, als sie eigentlich ist. Früher einmal hat es mir gehört, aber ich gab es ihr, als sie vor rund sechs Monaten anfing, in die Höhe zu schießen. Alexander kauft ihr keine Kleidung, Gott bewahre, wenn, dann macht es Mutter. Aber die ist kaum daheim.

„Joshua?“

Noch immer antworte ich nicht. Ich starre Luftlöcher, stehe in diesem klinisch reinen Badezimmer und spühre, wie der Hass hochkocht, den ich in den tiefsten Winkeln meines Herzens verstecke. Es ist der einzige Ort in dieser Wohnung, der sauber ist, der einzige Ort, an dem man ohne schlechten Gewissens vom Boden essen könnte.

Emily löst die Verschränkung und schiebt die Hände in die Bauchtaschen des Sweatshirts.

„Joshua, hörst du mir zu?“, fragt sie erneut und ihre Stimme wird eindringlicher.

Man könnte auf den Gedanken kommen, sie sorgt sich um mich, wie ich hier stehe, verloren in Gedanken, eingeschlossen in meiner eigenen kleinen Welt. Es ist niedlich. Meine kleine Schwester und ihr ehrliches Gemüt, ihre offene, naive Art und Weise. Wie sie bei unserem familiären Hintergrund diese Naivität halten konnte, ist mir ganz und gar schleierhaft.

Sie ist das absolute Gegenteil ihrer Zwillingsschwester.

Ein schwaches, trauriges Lächeln huscht über mein Gesicht als ich aufsehe und den Kopf schüttele. Das schwarze Haar rutscht mir in die Augen und unsanft streiche ich es mir aus dem Gesicht, während ich den Mund öffne, ihr zu antworten.

„Nein, Emily.“

Trocken und kratzig liegt meine Stimme im Raum und ich räuspere mich, hole tief Luft und schlucke. Noch immer mustert sie mich, besorgt, ängstlich. Ich liebe sie dafür, aber davon weiß sie nichts. Sagen werde ich es ihr gewiss nicht, und über kleine, liebevolle Gesten hinaus wird mein Verhalten auch niemals gehen. Es wird besser für sie sein, denn meine wahren Gefühle würden sie nur verstören.

Dennoch – wie sie dort steht, die Hände tief versunken im Stoff, das lange, braune Haar über ihre Schultern hängend, der knielange Rock und die Unterröcke, die ihre Beine umspielen und einhüllen, tröstet es mich ein wenig.

Ihren Kopf hat sie schiefgelegt und mit blauen Augen blickt sie scheinbar direkt in mich hinein. Es lässt mich erschaudern, so nackt fühle ich mich in solchen Momenten, doch der Anblick ist wunderschön. Er ist tragisch und unvergesslich, nahezu schrecklich, denn auch, wenn der locker sitzende Stoff eine Menge kaschiert, kann ich als liebender Bruder deutlich sehen, dass sie viel zu dünn ist. Ein Strich in der Landschaft, genau wie wir alle.

Es wird keinen verwundern, wenn ich erwähne, dass Alexander natürlich gut genährt ist. Für den selbstbestimmten König nur das Beste.

Denn zu dem hat er sich gemacht, ungelogen. Er ist der König, wir sind der Pöbel und Mutter - Mutter ist die Konkubine, die immer zu springen hat, wenn er es von ihr verlangt.

So sieht es in seinem Kopf aus. Die Realität zeichnen ein vollkommen anderes Bild.

„Wir haben keine Zeit, Emily. Wir können die Flaschen auch noch füllen, wenn wir auf dem Dachboden sind sind.“

„Und wenn wir kein Wasser mehr haben?“

Angst schleicht sich in ihren Blick und bricht ihn. Schlägt das scharfe, kluge und lebenslustige in ihren Augen mit einem Eispickel heraus. Was übrig bleibt, ist ein verängstigtes, kleines Kind, welches älter tut, als es ist. Viel zu jung ist sie, um solch einen Druck auszuhalten.

„Deshalb füllen wir ja das Wasser erst in Flaschen“, antworte ich ihr beruhigend und setze ein falsches Lächeln auf. Es kommt oft genug vor in dieser gottverdammten Wohnung, dass sie uns das Wasser abstellen. Einfach so. Weil das Geld zu knapp ist oder weil Mutter und Alexander es nicht auf die Reihe bekommen haben, das Geld rechtzeitig zu überweisen.

„Wir füllen erst die Flaschen, denn sie dienen uns als Reserve. Wir selbst trinken aus dem Wasserhahn. Emily, wir waren schon so oft da oben, das müsstest du doch mittlerweile wissen.“

Natürlich weiß sie bescheid. Der Ablauf der Dinge ist ihr genauso bekannt wie mir. Aber sie braucht die Bestätigung, den Seelenfrieden, der eintritt, wenn jemand nickt und versichert, dass alles in bester Ordnung ist. Sie braucht jemanden, der ihr als Ansprechpartner und Beschützer gilt. Für diesen Zweck sind in der Regel Eltern gedacht, ich bin lediglich ihr Bruder. Und Mary hat mit Lucy schon genug am Hals.

Es ist schon eine merkwürdige Welt in der wir leben, eine Welt, in der wir gehasst werden, weil wir am Leben sind.

Verrückt ist eigentlich aber nur die Tatsache, dass all die seelische Pein, die ich zur Zeit durchlaufe, noch Anstoß in meinem Gemüt erregt. In naher Zukunft wird das nicht mehr so sein. In den nächsten Wochen wird mein Ich eine Metamorphose durchlaufen, die sich gewaschen haben wird. Niemand wird mich mehr wiedererkennen, geschweige denn, auf freundschaftlicher Basis etwas mit mir zu tun haben wollen. Normale Menschen gewiss nicht.

Ein leises Seufzen entweicht mir, als ich mich umdrehe, um zur Tür zu gehen. Wir sollten Mary und Lucy noch etwas helfen, bevor es so kommt, wie es kommen muss.

„Joshua.“

Mit zwei großen Schritten ist Emily bei mir greift zärtlich nach meinem Unterarm. Überrascht wende ich mich um, blicke in ihr Gesicht und verkrampfe innerlich, als ich den Duft ihres Haares wahrnehmen kann.

„Wie viele Flaschen haben wir noch mal?“

Einige Sekunden verharre ich, sie still musternd, dann löse ich vorsichtig ihre Finger von meinem Pullover und streiche sanft über ihre Hand. Sie wird garantiert einmal einiges Verändern, wenn sie erwachsen ist, so besorgt und bemüht, wie sie immer ist. Vielleicht wird es sie in die Politik verschlagen, warum auch nicht. Wir brauchen Veränderungen in diesem Land. Willensstarke Personen eignen sich dafür.

Noch ist sie aber zu jung. Sie will nicht, dass wir auf den Dachboden müssen, aber das will keiner von uns. Scheinbar jedoch ist sie die Einzigste, die sich noch nicht mit der Tatsache abgefunden hat, dass unsere unfreiwilligen Aufenthalte auf dem Dachboden unausweichlich sind. Wir anderen sind mittlerweile einer gewissen Lethargie verfallen. Alles geht vorüber, wir stehen das durch, keine Panik. Einfach die Augen zusammenkneifen, abwarten, verharren, wie ein verängstigtes Kaninchen und wenn sich die Chance zur Flucht bietet, laufen, so schnell es geht.

„Reg dich nicht auf“, flüstere ich lächelnd und streiche ihr über das ebenholzfarbene Haar. „Wir haben zwölf große Flaschen und vier kleine. Das wird uns auch noch ein paar Tage am Leben erhalten, wenn uns das Wasser ausgehen sollte.

Bis jetzt sind wir immer heil aus dem Schlamassel herausgekommen, ist es nicht so? Du brauchst dir keine Sorgen machen.“

Schweigend starrt sie mich an und plötzlich erwidert sie mein Lächeln. Sie nickt, ich lasse sie los und erneut greift sie nach meinem Arm. Ich lasse sie gewähren, hauche ihr einen schwachen Kuss auf die Schläfe und verlasse anschließend mit ihr das Badezimmer.
 

Als wir zusammen das schmuddelige kleine Wohnzimmer betreten, sitzen Mary und Lucy auf der Couch in der mitte des Raumes. Ein altes Modell von hässlicher, blauer Farbe, die ihre besten Tage auch schon lange hinter sich hat. Die Gesichter der Mädchen sind niedergeschlagen, beide haben die Hände in den Schoß gelegt. Es herrscht eine gedrückte Stimmung, finster. Dick und schwül, wie kurz vor einem Gewitter und kurzzeitig überkommt mich die schiere Lust, ein Messer zu greifen und sie zu schneiden. Aber etwas anderes schleicht sich in meine Gedanken und bereitet mir Kopfzerbrechen.

Sollten Mary und Lucy nicht in der Küche sein, eifrig und beschäftigt damit, Brote und andere, haltbare Nahrungsmittel zu horten, damit wir sie auf dem Dachboden verstauen könnten? Ja, warum zur Hölle sind sie dann nicht bei der Sache?

„Du laberst heute wieder eine Scheiße“, zischt Mary und bricht damit das Schweigen. Sie zieht ein Haargummi aus ihrer Rocktasche und bindet damit ihre Haare zusammen. Feine, blonden Haare mit stechenden, grünen Augen. Fixiert sie einen, kann ihr Blick die gleiche Wirkung haben wir Nadelstiche aus purem Eis.

Sie ist sehr hübsch und fällt äußerlich komplett aus der Reihe. Ebenso wie in ihrem Inneren. Ihr Charakter entspricht nicht unbedingt dem Idealbild, welches man in der Regel von einem Mädchen hat. Mary ist grob, prügelt sich manchmal, flucht und trinkt, wenn Alexander seine Finger mal wieder nicht bei sich behalten kann. Sie verbringt ihre Freizeit mit Kerlen in unserem Alter, spricht wie einer, bewegt sich wie einer. Aber so erlebe nur ich sie, Lucy und Emily nicht. Lucy und Emily kommen ja auch nicht heraus aus dieser Wohnung. Sie sind ruhig, verschlossen. Haben kaum Freunde und sind sich selbst genug.

Mary ist eher ein Geschöpf, deren Seele kein Geschlecht besitzt. War sie eben noch auf der Straße in eine Schlägerei verwickelt, ist sie die treusorgende Cousine, kaum hat sie einen Fuß in unsere Wohnung gesetzt. Jetzt aber hat sie schlechte Laune.

„Ach komm, sei still“, knurre ich leise und verschränke vorwurfsvoll die Arme. Einen kühlen Blick werfe ich ihr zu, um zu vertuschen, dass ich mit dieser spontanen Anfeindung absolut überfordert bin. Was soll ich bitte labern?

„Was ist los?“

„Alex ist los“, antwortet sie und sieht mich so wütend an, als sei ich der Erzeuger dieses Problems.

„Du sagtest, er sei fort!“

War er das nicht? Ich hatte doch nachgeschaut.

„Ist er doch“, erwidere ich, ziehe die Augenbrauen hoch und lehne mich, die Mädchen nicht aus den Augen lassend, gegen den Türrahmen.

Meine Güte, ich bin doch nicht von gestern. In allen Zimmern hatte ich nachgeschaut. In keinem war er gewesen, als schloss ich logischerweise daraus, dass er sich nicht in der Wohnung aufhielt.

„Er sitzt mit der Bierflasche in der Küche und liest Zeitung. Jedenfalls will er uns das weißmachen. Wenn ich mich nicht verguckt habe, hat er die Seite mit den Witzen aufgeschlagen vor sich liegen gehabt.“

Die Überraschung muss mir ins Gesicht geschrieben stehen. Alexander ist an die zwei Meter groß, breit wie ein Schrank und wiegt seine hundert Kilogramm, den übersieht man nicht einfach.

Nein, ihn übersieht man nicht. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, es sei denn, er hat ausnahmsweise einmal den Müll runtergebracht.

Ein trockenes Lachen verlässt meine Kehle. Nein, ausgeschlossen.

„Scheiße.“

Ich greife mir an die Stirn und fahre durch mein rabenschwarzes Haar. Alexanders ist mit gräulichen Strähnen durchsetzt, was bei mir noch nicht der Fall ist, aber ansonsten hat es exakt den gleichen Farbton und eine identische Beschaffenheit.

„Was ist jetzt?“, fragt Lucy und ihre Stimme schwebt leise im Raum.

"Was werden wir jetzt tun?"

„Nichts ist“, gebe ich zurück und blicke finster hinüber zur Küchentür. Sie ist aus billigem Sperrholz gefertigt, ein kräftiger Tritt und sie geht zu bruch. Die Badezimmertür hingegen ist massiv. Sie musste ausgetauscht werden, nachdem Mary und ich es schafften, sie zu zerstören, als wir wieder einmal ein paar unfreiwillige Stunden auf dem Dachboden verbrachten. Vorher hatten wir die Luke, welche vom Speicher hinunter ins Bad führte, mit einem geklauten Brecheisen aufgebrochen. Wir hatten es vom Hausmeister stibitzt und oben versteckt gehalten. Irgendwie hat er es nie vermisst.

Es hat furchtbaren Ärger gegeben und ich konnte zwei Wochen nicht zur Schule, so grün und blau geschlagen hatte Alexander mich an dem darauf folgenden Abend. Es war ein Wunder, dass er mir nichts brach oder dergleichen. Mary hat er ein mal den Finger gebrochen, aber sie durfte nicht ins Krankenhaus. So haben wir herausgefunden, dass Brüche auch ohne ärztliche Überwachung zusammenwachsen. Wir haben ihn geschient, deswegen ist er nicht schief, aber man sieht dennoch deutlich, wo die Bruchstelle einmal gesessen haben muss.

„Das es idiotisch ist, das Zeug nach oben zu schleppen, während Alexander in der Küche sitzt und sein Bier trinkt, ist euch denke ich klar. Haben wir noch etwas oben, Mary?“

Sie schüttelt den Kopf und mustert den Aschenbecher, der auf dem Tisch steht. Er ist schwarz und aus Plastik und voller Kippen. Widerlich, schmutzig. Und er stinkt zum Himmel.

„Nein, nichts mehr. Als wir das letzte Mal oben waren, haben wir alles aufgebraucht.“

Na, wenn das mal keine positiven Aussichten sind.

Lustlos lasse ich mich auf die Couch gleiten und sehe zu dem Fernseher. Er ist kaputt, schon lange hinüber, aber irgendwie hat sich keiner die Mühe gemacht, ihn aus der Wohnung zu schaffen. Seit über einem Jahr schon gibt er keinen Ton mehr von sich. Ich weiß nicht, warum sie das Teil nicht schon längst weggeschmissen haben. Höchstwahrscheinlich hat Alexander es einfach nicht auf die Reihe bekommen, es hinaus zum Sperrmüll zu tragen.

Ein wenig später lässt auch Emily sich neben mich plumpsen. Dann kehrt Schweigend ein, denn jeder ist mit sich selbst beschäftigt.

Was kommt jetzt, wie wird es weitergehen?

Was hat Alexander mit uns vor?

Kommen wir ungeschoren davon?

Das sind in der Regel die Fragen, die wir uns jedes Mal wieder stellen, wenn es soweit ist. Und noch etwas kommt hinzu.

Alexander sitzt in der Küche und trinkt ein Bier. Das ist ungewöhnlich und beunruhigend zugleich, denn es entspricht nicht unserer Routine. Ein schlechtes Omen. Denn so kann keiner sagen, wie es nun weitergehen wird. Keiner weiß, ob sich die Situation nun in bekannte Bahnen entwickelt, oder einfach in etwas neues umschlägt.

Bringt er uns jetzt um?

Schmeißt er uns raus?

Vielleicht kommt Rachel, unsere Mutter heute auch einfach nach Hause und nimmt uns mit. Nimmt uns fort von hier, auf das wir das arme Stück Dreck, welches sich unser Vater schimpft, nie wiedersehen müssen.

Er ist derjenige, dem schon vor langer Zeit die Kontrolle über sein Leben entglitt, und wir sind diejenigen, die das zu spüren bekommen.

Denkt er denn wirklich, dass wir freiwillig hier sind? Ich könnte spontan tausend Orte aufzählen, an denen ich mich lieber befünde. Hätten wir die Möglichkeit, hätten wir unsere Sachen gepackt und wären schon längst fort.

Aber wir haben die Gelegenheit nicht.

Nein, wir haben sie nicht.

„Mutti wollte doch nur zur Bank, nicht war, Josh?“

Ich nicke schwach.

„Ja, wollte sie.“

Aber das liegt nun mittlerweile zwei Stunden zurück. Müsste sie nicht längst wieder daheim sein? In der Küche klingelt das Telefon. Ein altes grünes Teil, noch mit Wählscheibe und schrillem Ton.

„Ich denke, sie wird jeden Moment wieder zurück sein. Sie wurde garantiert durch irgendetwas aufgehalten.“

Ein schwaches Lächeln von Emily, doch die anderen bleiben ernst. Sie könnte genauso gut abgehauen sein. Möglicherweise ist ihr schlagartig klar geworden, dass es sich bei uns nur um einen lästigen Klotz am Bein handelt, den es loszuwerden gilt. Es gibt so viele Möglichkeiten, doch spontan fallen mir nur schlechte ein.

„Hey.“

Allesamt zucken wir zusammen und drehen uns um. Mein Herz hört einen Moment auf zu schlagen, so groß ist der Adrenalinschub, den mein Körper mir durch die Adern jagt. Es ist, was fü eine Überraschung, unser Vater. Selbstgefällig steht er dort in der Tür, so nah neben mir, dass es mir die Galle in den Hals treibt, das Telefon noch in der Hand und blickt uns an. Das lange Kabel zieht sich durch die komplette Wohnung. In seiner anderen Pranke befindet sich eine halbleere Bierflasche.

Oh gottverdammt, ich hasse ihn. Der Anblick dieses Mannes, der sein eigenes Leben nicht mehr in der Hand hat, jagt mir ein halbes dutzend Schauer über den Rücken.

Liebend gerne würde ich seufzen, doch die Luft verbleibt mir in den Lungen. Momentan ist es mir unmöglich, mich zu rühren, denn alle Sinne sind bis aufs Äußerste geschärft und angespannt, jederzeit bereit, mir das Signal zur Flucht oder zum Kampf zu vermitteln.

Stumm kauern wir auf der Couch und starren Alexander mit großen, offenen Mündern an. Es scheint, als sei er sich der Macht, die er über uns hat, bewusst. Also lacht er nur ein schmieriges, lautes Lachen und fährt sich mit der Hand durch das fettige, schwarze Haar. Anschließend lässt er das Telefon auf den Boden gleiten, wo es scheppernd aufkommt und mit verrutschtem Hörer liegen bleibt.

„Ihr werdet jetzt husch in euren kleinen Raum verschwinden“, verkündet er uns dann und verschränkt die Arme, während er uns alle mit eisigem Blick mustert. Dieses Grinsen, welches sich augenblicklich über sein Gesicht zieht, entblößt die geraden, weißen Zähne.

Oh ja, wie es scheint, ist er vollkommen von sich selbst überzeugt, doch mir entgehen nicht die dicken Augenringe, welche sein Gesicht zieren. Er mag es nicht, uns Kinder am Hals zu haben, seine Frau liebt er nicht mehr. Eigentlich kümmert er sich nur noch um sich selbst und ich wette, dass er in der Nacht wachliegt und überlegt, wie er sich von uns befreien kann. Er überlegt, wie es möglich ist, seinen Lebensstandart zu steigern, ohne wirklich viel arbeiten zu müssen. Wenn er mit diesem Plan inzwischen so weit ist, wie ich vermute, ist ihm bis jetzt höchstwahrscheinlich noch nichts eingefallen. Gute Vorraussetzungen für so etwas hat er ohnehin nicht, ihm fehlen sämtliche benötigten Mittel.

Ihm fehlt Geld, ihm fehlt ein Job, ihm fehlt die Zweitwohnung oder ein Freund, bei dem er wohnen könnte.

Genau genommen ist er also genauso gefangen wie wir, etwas, was Alexander und mich ähnlicher erscheinen lässt, als wir es eigentlich sind. Denn etwas trennt uns voneinander.

Alex ist erwachsen, er hatte seine Chance und er hat sie verspielt, während ich noch mein ganzes Leben vor mir habe.

„Na los, verschwindet“, wiederholt er und seine Miene verdüstert sich zusehends.

„Rachel kommt gleich nach Hause, und ihr wollt sie doch nicht stören, wenn sie sich für ihren Beruf fertig macht, oder?“

Lediglich ein leises, missmutiges Brummen entweicht aus meiner Kehle. Ich mag den Beruf nicht, den meine Mutter ausübt, nein, wahrhaftig nicht. Keiner von uns mag ihn, nur Alexander findet es geil. Er hält sie für eine kleine, verachtenswerte Schlampe, die sich einen Dreck darum schert, mit wem sie es treibt. Das sie es nur tut, weil wir das Geld dringent brauchen, entgeht ihm dabei vollkommen. Deshalb – und noch aus einer Menge anderer Gründe - geht sie unserem Vater nach Möglichkeit aus dem Weg.

„Können wir nicht einfach auf unsere Zimmer?“

Dünn und bittend vernehme ich das Stimmchen meiner Schwester direkt neben mir. Ganz leise stößt sie diese Bitte aus, als müsste sie alles an Mut zusammennehmen, um Alexander gegenüber überhaupt etwas zu sagen.

Ich zucke zusammen und hätte ihr am liebsten eine runtergehauen. Sie wiederspricht ihm. Ihm!

Sie begeht eine unverzeihliche und absolut tödliche Sünde, die wir höchstwahrscheinlich alle zusammen ausbaden dürfen. Genau genommen bedeutet dies Schutz für Lucy und Emily, blaue Flecken und Prellungen für Mary und mich. Doch entgegen aller Erwarten geschieht nichts. Lediglich ein schwaches Zucken in seinen Augenlidern ist zu vernehmen.

Zitternd lasse ich die Luft aus den Lungen entweichen, die ich angespannt dort festgehalten habe. Wir alle hier stehen unter Stress. Ich eventuell etwas mehr als die anderen, wer weiß. Vorsichtshalber entferne ich mich noch ein paar weitere Zentimeter von meinem Vater.

„Kommt“, vordere ich meine Geschwister auf und bin kurzzeitig irritiert, wie rau meine Stimme plötzlich wieder klingt. In den letzten zwei Jahren vor meinem Tod würde sie ganz ähnlich klingen.

Alt, gebrechlich.

Nein.

„Josh!“

Lucy klammert sich ängstlich an Mary und starrt uns mit ihren aufgerissenen, eisfarbenen Augen an. Mein Blick wandert zu meiner Cousine. Ein warnender, wachsamer Blick. Sie nickt, während Alexander noch immer in der Tür steht und das Ganze beobachtet. Sein Gesicht ist hart wie Stein und seine Geduld schwindet mit jeder Sekunde, wie Sand, der unaufhaltsam durch eine Sanduhr rast. Früher oder später würde er uns packen und in die Zimmer zerren, ob wir es wollten oder nicht. Das spielte keine Rolle.

„Lucy komm.“

Wartend versenke ich meine blassen Hände in der Hosentasche und verberge so das Zittern, welches sich über meine Wirbelsäule hinunter durch meinen ganzen Körper zieht. Ich bin angespannt. Jeder hier ist angespannt.

Es sind eine Situationen, die kurz davor steht, zu eskalieren. Jede Bewegung ist von Bedeutung, jedes Wort, jeder Blick. Man fühlt die Bedrohung, die von dem anderen ausgeht, kann sie sehen, riechen, schmecken. Berühren. Sie frisst sich in unsere Seelen hinein und hinterlässt tief sitzende Narben. Sie setzt uns in der Nahrungskette unter den Menschen, denn sie macht uns zu Wesen, die nur an ihr eigenes Überleben denken und denen andere gleichgültig sind.

Aber sie macht uns auch zu dem, was wir sind und was wir werden.

Lucy rührt sich nicht. Stocksteif presst sie sich an ihre Cousine, doch Emily ist aufgestanden und zu mir gekommen. Ängstlich und unsicher greift sie nach meiner Hand und ich drücke sie sanft.

„Lucy, komm.“

Wacklig höre ich mich an, aber nachdrücklich. Es ist nicht so, dass ich Lucy nicht verstehen könnte. Das Mädchen hält es einfach nicht aus, ständig in dieser kleinen Kammer eingesperrt zu sein, ohne zu wissen, wann sie wieder einen Fuß nach draußen setzen darf.

Herrgott, sie ist dreizehn Jahre alt und sie weiß noch gar nicht, was das alles soll. Eigentlich sollten unsere Eltern sie noch behüten und verwöhnen, sie sollte Kleidchen tragen und mit ihren Freundinnen im Garten spielen. Nicht das hier, alles, aber nicht das.

„Lucy, nun komm schon.“

Mary streicht ihr mit den Fingerspitzen über die Wange und flüstert ihr etwas ins Ohr. Sie zeigt keine Reaktion. Wie ein Kaninchen verharrt sie in ihrer Starre, während jedoch erste Regungen bei Alexander zu vernehmen sind. Sein Betongesicht löst sich langsam und nimmt wieder Farbe an. Er sieht wütend aus und nimmt einen Schluck, betrachtet uns und schaut finster drein.

Das Spiel beginnt. Ein Spiel namens: „Bringt Lucy auf den Dachboden, sonst wird es für dich und diejenigen, die dir am Herzen liegen, sehr unangenehm“. Vorgesehen sind sechzig Sekunden, man hat nur einen Versuch. Dreißig Sekunden sind bereits verstrichen, es gibt keinerlei Joker oder ähnliche Hilfsmittel. Nur eine letzte, zu klärende Frage:

Kannst du spielen?

Oder kannst du nicht?

„Emily“, meine ich nur noch und löse meine Hand von ihren Fingern. Ihren weichen, zarten Fingern, die nur um einige Nuancen brauner sind als meine. Zartes braun, aber immer noch sehr blass.

„Geh, wir kommen gleich nach.“

Sie verhält sich so ängstlich und scheu wie ihre Schwester, doch als ich ihr einen drängenden Blick und einen Stoß in die Rippen schenke, geht sie.

Die Uhr tickt. Noch zwanzig Sekunden. Fünfzehn Sekunden. Plötzlich geht alles ganz schnell.

Ob das hier Routine darstellt? Ganz gewiss nicht. Aber solche Zwischenfälle sind öfter an der Tagesordnung, als man glaubt.

Zwei große Schritte benötige ich, um zur Couch zu gelangen. Dort greife ich nach Lucys Handgelenk, ziehe daran, während Mary schiebt. Wir sind grob, achten nicht wirklich darauf, ob es ihr wehtut, oder nicht und sie wird einige blaue Flecken davon zurückbehalten, aber es im Vergleich zu dem, was ihr sonst blüht, ist das eine Lappalie. Gemeinsam zerren wir sie von der Couch, meine Finger fest um ihren Oberarm geschlossen. Drücke ich ihr das Blut ab?

Ich packe so fest zu, wie ich kann und Mary tut es mir gleich. Es mag brutal sein, aber wir brauchen die Kraft, denn meine kleine Schwester schreit und fängt an zu weinen. Sie wehrt sich nach Leibeskräften und auch, wenn sie es uns nicht leicht macht, sind wir schnell. Mit beachtlichen Kräften und einfacher Durchführung geht alles von statten, so, dass wir mit einigen Kratzern den Türrahmen erreichen.

Die Uhr tickt.

Drei, zwei, eins.

Null.

Wir haben es geschafft.
 

„Hast du sie? Dann zieh! Emily? Verdammt Lucy, nun halte doch still!“

Emily ist schon oben, hinter der Luke. Mit beiden Händen hält sie ihre Schwester fest und zieht. Lucy und ich stehen hinter ihr. Wir schieben. Drücken.

Es ist beinahe beängstigend, welche Kräfte in einem Menschen frei werden, wenn er etwas absolut nicht will. Nun – Lucy möchte nicht in den Panic Room, ebenso wenig wie wir. Es ändert nichts, sie muss hoch. Wangsläufig prügeln wir sie dorthin.

Nach einigem hin und her landet sie mit einem leisen Stöhnen unter dem Dach. Eilig folgen wir ihr, ehe wir die Luke hinter uns schließen. Nun heißt es nur noch warten. Warten darauf, dass Alexander den einzigen passierbaren Ausgang aus diesem Dachboden von außen verschließt.

„So, das hätten wir.“ Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen lässt Mary sich in den Berg aus Kissen und Decken fallen, den wir uns über die Jahre hier angehäuft haben. Ein Teil ist gekauft, ein Teil aus der Wohnung und ein wesentlich größerer Teil geklaut. Alle Stoffe sind dabei – viele bunte. Wir waren extra darauf bedacht, nach möglichkeit nur die hellen Stoffe herauszupicken, um diesem trostlosen Raum doch noch etwas warmes einzuflößen.

Ein besonderes Augenmerk sind die zwei Steppdecken, welche Emily und Lucy letztes Jahr genäht haben. Zwar mögen sie eher dem Typus eines Stubenhockers entsprechen, jedoch sind sie fingerfertig. Und da Mary und ich schon immer recht geschickt darin waren, hier und da einfach einmal etwas mitgehen zu lassen, hatten sie auch immmer genug Materialien zum Nähen zur Hand. Rot überwiegt. Ganz kuschelig eigentlich. Heute aber nicht.

Es ist Januar und unser Atem huscht als weißer Nebel durch die Luft, so kalt ist es hier oben. Wenn man solchen Temperaturen eine längere Zeit lang ausgesetzt ist, gewöhnt man sich daran. Die erste Zeit jedoch ist hart, so dass wir uns in die Überzüge hüllen und uns wärmesuchend mit dem Rücken zueinander in die Mitte des Raumes setzen, ein Punkt, der sich direkt über dem Wohnzimmer befinden muss. So aneinander gekuschelt, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Wärme sich im ganzen Raum verbreitet hat. Hoffe ich zumindest, ich erwarte eher das Gegenteil.

Lucy weint noch immer. Schuld ist die Klaustrophobie, welche sie über die Jahre hinweg aufgebaut hat. Es muss ein Horrortrip für sie sein, eingesperrt zu sein mit ihrer größten Angst, keine Fluchtmöglichkeit in Sicht.

Schließlich lässt Mary sie zu sich unter die Decke, und kurze Zeit später dann ist endlich Ruhe eingekehrt.
 

Es ist eine besondere Art von Schweigen, welches immer über uns kommt, wenn wir hier hoch müssen. Seine Länge variiert, doch meist sind es knapp ein bis zwei Stunden, in denen kaum ein Wort miteinander gewechselt wird. Jeder muss sich immer wieder aufs neue mit der Tatsache außeinandersetzen, hier oben eingesperrt zu sein. Man muss sich mit der Situation abfinden.

Warten.

Kommt man hier raus?

Oder nicht?

Wie geht es weiter?

Hier oben geht es nicht weiter, denn nichts verändert sich.

Es gibt kein Kommen und Gehen, es gibt nur ein Verharren. Hoffen und sich an jeden kleinen Strohhalm klammern, der einen hier rausholen könnte.

Mein Blick huscht über die grauen Wände, durchzogen von dünnen, feinen Rissen. Ein baufälliges Mietshaus, eine Absteige ist es, in der wir unser Darsein fristen. Durchfegen sollten wir hier oben auch mal wieder. Überall liegt Mäusekot herum, auf dem Fußboden tummeln sich kleine Staubflocken. Hygienisch stelle ich mir anders vor.

„Hat irgendwer die Uhr mitgenommen?“, frage ich schließlich in die Runde und durchbreche damit, wie so oft, die Stille. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir hier so lautlos gesessen haben und wirklich begabt darin, verstrichene Zeit zu schätzen, war ich noch nie. Zeit zieht sich hier oben oftmals wie Kaugummi, endlos und von zäher Konsistenz. An meinem Rücken spüre ich Mary zusammenzucken. Ist sie etwa eingeschlafen, in solch einer Situation? Ihre Antwort folgt schnell und vernichtet meine Befürchtung.

„Ja, sie ist in meiner Rocktasche. Brauchst du sie?“

Ohne eine Uhr ist man hier oben aufgeschmissen. Das Datum vergisst man schnell, ebenso die Anzahl der Tage, die man schon hier oben verbracht hat. Man verliert die Orientierung und spätestens wenn das Essen knapp wird, dreht man durch.

Hört man nicht immer wieder von Reisegruppen, die sich in ihrer Not gegenseitig aufgefressen haben? Macht einen die Gier nach dem eigenen Überleben wirklich so skrupellos, dass man nicht davor zurückschreckt diejenigen umzulegen, welche einen am nächsten stehen? Schon viele Philosophen haben sich diese Frage gestellt. Und viele kamen zu dem Schluss, dass die Gier letztendlich dominiert.
 

Wir sind fertig mit den Nerven.

Meine kleine Emily sitzt neben mir und starrt auf den Boden. Das Haar ist ihr ins Gesicht gerutscht, aber sie sieht friedfertig aus, ähnelt in ihrer Gestalt einem Engel aus Porzellan.

Ich könnte ihr nichts tun, geschweige denn, auf den abstrusen Gedanken kommen, sie zu verspeisen.

Leise murrend verscheuche ich die Gedanken an hungrige und mordende Reisegruppen aus dem Kopf und wende mich anderen Dingen zu. Es scheint sich aufgeheizt zu haben, wenn auch nicht viel. Die blassen, weißen Wolken vor unseren Mündern sind jedoch verschwunden.

Langsam beruhigen wir uns, haben uns endlich an die Situation gewöhnt. Die Routine kehrt zurück, Mary spielt an Lucys Haaren. Doch die grauen Gedanken, die sich durch meinen Kopf bohren, kann ich einfach nicht vertreiben.

Seid jeher bin ich ein ernster Mensch gewesen, ruhig, introvertiert und verschlossen. Als ich in die Pubertät kam, und verstand, dass das, was unser Vater mit uns tat, nicht normal ist, schlug meine Entwicklung einen leichten Bogen. Inzwischen spreche ich schwarzen Humor und Sarkasmus flüssig, mein bissiges Mundwerk ist bekannt und gefürchtet. Außerhalb dieser Wohnung. Lucy und Emily wissen nichts davon. Für sie bin ich der brave große Bruder, der immer für sie da ist, wenn ihnen etwas fehlt.

Ohne sie treibe ich mich mit Mary und ein paar anderen Halbstarken in unserem Alter, die ich vorsichtig als meine Freunde bezeichnen darf, auf den Straßen herum. Wir mischen die Gangs aus unserem Viertel auf. Wir prügeln uns und gehen in der Regel als Gewinner hervor. Sind wir zusammen unterwegs, sollte man uns besser in Ruhe lassen, denn wir sind unschlagbar und äußerst agressiv.

Es ist eine Zweitwelt, in die wir uns stürzen, um den Greueln, die uns zuhause erwarten, zu entfliehen. Ein Fragment unserer Persönlichkeit, die den Zwillingskindern bisher unbekannt ist, und auch unbekannt bleiben wird. Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem sie von alledem erfahren. Wird Emily mich dann noch so selbstverständlich umarmen können? Sie wird mich aus anderen Augen betrachten, dessen bin ich mir sicher.

Menschen grenzen schon immer das aus, was nicht in die Gesellschaft passt. Mary und ich gehören zu dieser Abnorm, und auch, wenn Emily mit der neu entstehenden Ablehnung ganz natürlich reagieren würde, so kämen Gefühle in mir hervor, die ich gerne unter Verschluss halten würde. Enttäuschung, Zorn, Hass.

Ihr zartes Köpfchen sinkt auf meine Schulter, die Augen sind geschlossen. Sie reißt mich, wie schon so oft, aus meinen Gedanken, doch noch ehe ich mich wieder vollkommen in die Situation eingeordnet habe, beginnt unten jemand zu schreien.

Eine englische Frauenstimme, schrill und hysterisch. Es ist unsere Mutter und wir hören alles, verstehen jedes einzelne Wort.

Das Haus, in dem wir wohnen, stammt aus den Siebzigern. Die Wände und Decken sind günstig gebaut, dünn und hellhörig. Fast wie Papier. Meine Mutter gerät nur sehr selten in Rage, auch, wenn Alexander sich darauf versteht, aber wenn sie diesen Zustand erst einmal erreicht hat, dann hält sie nichts mehr.

Wenn sie dann laut wird, und brüllt, als gäbe es kein morgen mehr, so verstehe ich, dass sie in ihrem Inneren bereits kurz davor steht, vollkommen zu resignieren. Was wir hier wahrnehmen, sind letzte Zuckungen eines sterbenden Willens. Sie hat Alexander schon lange aufgegeben. Ganz anders als wir uns.

Fairerweise muss erwähnt werden, dass sie uns nach Leibeskräften eine gute Mutter ist. Früher saß sie jeden Abend in unserem Zimmer und hat uns vorgelesen, aus der Bibel, aus Märchenbüchern. Das tat sie bis vor einem knappen Jahr, dann stoppte sie von der einen auf die nächste Nacht. Lucy und Emily seien mittlerweile zu alt, als das eine Abendgeschichte noch notwendig sei. Und so war es nun an Mary und mir, Lucy und Emily ihre tägliche Dosis Märchen und heile Welt zu verabreichen.

Wenn es darum ging, ihnen eine Phantasiewelt ohne jede Gewalt zu bauen, waren wir Könige. Burgfräulein, Gruselgeschichten. Jede mit einem guten Ende. Kein Blut, keine Gewalt und das Böse wurde stets in die Flucht geschlagen.

Bis jetzt taten wir alles, was in unserer Macht stand, um ihnen auch nur geringfügig etwas ähnliches wie eine Kindheit zu ermöglichen. Für unser geringes Alter erledigten wir diese Aufgabe relativ gut, aber genau genommen stellten wir nur einen billigen Ersatz dar.

„Du dreckiger Mistkerl!“, schallt es durch den Holzboden, leise, doch deutlich zu vernehmen. Wie ich schon erzählte, ist unsere Mutter nur sehr selten sauer, jetzt aber überschlägt sich ihre Stimme fast. Es muss etwas schreckliches geschehen sein, wenn sie so ausrastet. Der Grund für diesen Wutausbruch muss Alexander sein. Und scheinbar hat er große Scheiße gebaut.

„Wo zur Hölle ist das Geld, Alexander?!”

Während sie sich unten weiter streiten, keimt in mir Hoffnung auf. Und an Marys Gesicht sehe ich, dass es ihr genauso gehen muss. Geld? Sie spricht doch nicht etwa von geheimen, ersparten Summen, die man benötigt, um sich aus dem Staub zu machen? Geld, die Basis einer jeden neuen Existenz.

Wenn sie gleich mit Alexander fertig ist, wird sie uns aus dem Dachboden herauslassen, und dann werden wir von hier fortgehen. Dann liefe unser Leben endlich in geregelten Bahnen und alles wäre wunderbar. Schöner könnte es nicht sein.

„Meinst du-?“, fragt meine Cousine leise flüsternd und ich nicke zur Antwort. Emily ist eingeschlafen, ihr Kopf lehnt immer noch sanft an meiner Schulter. Von dem ganzen Trubel, der aus der Decke zu uns heraufschallt, scheint sie nichts mitzubekommen. Ihre blassrosa Lippen stehen einen Spalt offen und entblößen im schwachen Licht ihre Zähne. Sie sind weiß, wenn auch nicht ganz gerade. Aber was ist schon von Natur aus perfekt?

Der Streit, der in dem Raum unter uns entbrannt ist, führt sich fort wie von selbst. Beleidigungen fallen. Anschuldigungen. Drohungen.

Mary und ich lauschen gebannt, wenn auch ein wenig ängstlich, obwohl dies alles nichts neues für uns ist. Lucy scheint noch immer nicht wirklich wieder zu registrieren, was mit ihr und ihrer Umwelt geschieht. Sie braucht immer ein wenig länger, um sich mit der Situation abzufinden.

Unten scheppert etwas. Geschirr? In mir keimt der Verdacht auf, dass sie nun dazu übergegangen sind, sich mit Gegenständen zu bewerfen. Nicht, dass es mich wirklich wundern würde, wenn diese beiden Personen aufeinandertreffen, ist wirklich alles möglich. Aber so weit sind sie dann doch noch nicht gegangen. Jedenfalls nicht in unserer Anwesenheit.

Besorgt schaue ich zur Seite und sehe Emily ins Gesicht, doch sie schläft nach wie vor. Ich möchte nicht, dass sie solche Szenen mitbekommt, und so bin ich froh, dass sie sich ein wenig ausruht. SIe hat es bitter nötig. Vielleicht fühlt sie sich gerade sogar sicher, an meiner Schulter, an meiner Seite, wenn ich versuche, ihr so gut es geht Geborgenheit zu vermitteln.

„Ich will die Scheidung, Alexander!“

Einige kurze Sekunden bleibt der Ausruf in der Luft stehen, dann bleibt mir der Atem weg und meine Augen weiten sich. Mary und ich tauschen unsichere, ungläubige Blicke.

Sie hat es gesagt! Sie hat es tatsächlich gesagt!

Sie wird sich scheiden lassen und uns mitnehmen. Auf in eine neue und bessere Zukunft. Weg von hier, an einen anderen Ort als diesen. Wir haben Glück. Nach so langer Zeit haben wir endlich mal wieder Glück.

Unten verstummt das Gebrüll und nun kann ich meinen eigenen Atem rasseln hören. Er zittert und strotzt nur so vor Adrenalin.

„…Josh, hast du gehört? Es wird alles gut werden!“, flüstert Mary aufgeregt, gar heiser und schlingt die Arme um die Beine, löst diese Haltung wieder und rutscht letztendlich auf ihren Knien zu mir hinüber. Ihre Augen glitzern, klar und eisfarben, wie sie sind und auf ihren Lippen liegt ein freches, gewinnendes Grinsen.

Die Lebensfreude, welche sie so oft in ihrer gelassenen Art versteckt, bricht hervor und lässt die Sonnenstrahlen, welche durch das einzige Fenster hereinfallen, nahezu blass erscheinen.

„Ja“, antworte ich atemlos und wir fangen beide an zu kichern, freuen uns und verstummen schlagartig, als von unten ein lauter Knall ertönt.

Emily wird schlagartig aus ihren Träumen gerissen, der Kopf zuckt von meiner Schulter fort und auch Lucy scheint in unsere Welt zurückgekehrt zu sein. Verwirrt fängt sie sich an zu rühren, blickt sich im Raum um. Fragezeichen in ihren Augen deuten an, dass sie nicht versteht, was der Lärm zu bedeuten haben mag.

„Was war das?“

Emily reibt sich mit dem Handrücken die Augen, während ihr einige der braunen Strähnen ins Gesicht rutschen. Ich streiche sie ihr mit den Fingerspitzen fort und lächele schwach.

Was da unten los ist? Nicht viel, nüchtern betrachtet. Ein lauter Streit, als die Situation sich zuspitzte, erfolgte ein ohrenbetäubender Knall.

Anschließend war es ruhig.

Auch wenn in mir eine Ahnung keimt, wobei es sich bei dem Geräusch gehandelt haben könnte, beschwichtige ich die Kleine. Mary werfe ich einen Blick zu. Er spricht Bände.

„Es wird nichts sein.“

Meine Cousine lächelt ebenfalls, versucht, irgendwie beruhigend rüberzukommen, aber ihre Miene wirkt gequält. Letztendlich vergräbt sie ihre Hände in den Taschen ihres überknielangen, karierten Rockes und blickt schweigend zu Boden.

Wir denken beide an den Schrank, der unten im Wohnzimmer steht.
 

Er enthält eine Schrotflinte.

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Juhu, es ist vollbracht x_x das zweite Kapitel ist fertig.

Hab ja knapp nen Monat dran rumgeschrieben, weil ich einfach zu wenig Zeit hab XD wenn ich an meine alten FF's denke... 30 Seiten in 2, 3 Monaten... damals ging das noch ratzfatz, aber wenn ich mir sie jetzt nochmal durchlese - oh gott XD so furchtbar x3~~
 

Na ja... die Geschichte hier kommt ja langsam in Gang, auch wenn es höchstwahrscheinlich noch ein paar Kapitel dauert, bis wir richtig drin sind.

Das Kapitel sollte eigentlich noch länger werden, aber ich habs in zwei unterteilt, weil ich dachte, dass 9 Seiten für die Mexxschen Leser genug sind >D~ und ich endlich mal wieder was hochladen kann ^^
 

Well done, man liest sich

Johnny
 

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Soah, da bin ich nochmal (1 1/2 Jahre später XD)

Korrigierte Fassung, hier ändert sich nix mehr <3

It's Done!

Hackfleisch.

„Es wird nichts sein.“

Meine Cousine versucht ein Lächeln, doch die aufgerissenen Augen und die steifen Mundwinkel lassen es mehr als gequält wirken. Als sie bemerkt, dass wir sie durchschauen, wird ihr Gesicht ausdruckslos und die zarten Hände wandern in die Rocktaschen. Schweigend und verbittert starrt sie zu Boden, während mir die Farbe aus dem Gesicht weicht. Ein kalter Schauer huscht über meine Haut, lässt mich erzittern und drängt die Härchen an Armen und Beinen dazu, sich aufzurichten. Kurios, wo es hier doch verhältnismäßig warm ist.

Wortlos reibe ich mir über die Wangen, damit mein Gesicht wieder die ursprüngliche Farbe annimmt. Emily soll, nein, sie darf nicht merken, wie machtlos wir, ihre Helden, doch eigentlich sind. Können wir in der Wohnung noch Einfluss auf Alexander üben, sind wir hier ganz auf uns allein gestellt, seinen Launen absolut ausgeliefert. Wie Tiere.

Mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen wir sie im Ungewissen zu lassen. Und doch werden sie es früh genug verstehen.

Ich weiß nicht, wie sie reagieren, oder was sie denken werden. Im Gegensatz zu Mary kann ich sie nicht einschätzen. Ganz klar liebe ich sie, aber ihr Denken und Verhalten hat für mich immerzu ein Rätsel dargestellt. Sie kommen zu sehr nach ihrer Mutter, eindeutig.

Auch, dass Mary gerade das Haargummi aus ihrem Zopf zieht und mir einen ausdruckslosen Blick zuwirft, wird nichts daran ändern. Seufzend schüttelt sie den Kopf, dann legt sie sich auf den Boden und starrt an die Decke.

Das große Warten beginnt von neuem.

Wenig später kriecht Lucy hinzu und kuschelt sich wie eine ertrinkende an ihre Cousine. Die Kleine wird sehr anhänglich, wenn sie Angst hat, will immerzu kuscheln und sich beruhigen lassen. Mir fällt dieses Verhalten nach kurzer Zeit auf die Nerven, aber Mary legt immerzu eine Engelsgeduld an den Tag. Ständig hat sie dieses Kind am Rockzipfel. Ich meine, bei mir und Emily ist das etwas vollkommen anderes. Die… Ausgangssituation ist von anderer Konstellation und ohnehin ist überhaupt nichts so wie bei Lucy und Mary. Schützend legt sie einen Arm um die Jüngere.

Andererseits war Mary schon immer eine große Arbeiterin. Alles, was man ihr aufträgt, erledigt sie ohne Widerworte, ohne Murren und vielleicht sieht sie in Lucy nur eine weitere Aufgabe, die es zu bewältigen gilt. Mary ähnelt mir, obwohl sie ein Mädchen ist, in vielerlei Hinsicht. Diese ruhige und gelassene, manchmal arrogante und kalte Art, eine Art schützende Maske, welche sie auf Knopfdruck ablegen kann um wieder das liebe Mädchen zu werden, als das unsere Familie sie sieht. Nur ich weiß die Wahrheit. Nur ich.
 

Das mir diese Gedanken durch den Kopf flossen, ist jetzt sechzig Minuten her.

Noch immer sind wir hier oben, die Stille lediglich ein einziges Mal durch das laute Zuschlagen einer Tür durchbrochen. Die Wohnungstür, was heißen muss, dass Alexander die Wohnung verlassen hat. Oder aber auch unsere Mutter Rachel, die eigentlich um diese Zeit arbeiten geht. Bewundernswert, wie diese Frau unter diesen Umständen noch die Kraft hat, sich um uns zu kümmern. Sie hat uns unsere Kindheit erleichtert so gut sie konnte, als wäre sie Alexanders guter Gegenpol.

Seid dem Knall jedoch haben wir von ihr nichts mehr gehört. Diese Unwissenheit lässt meine Gedanken nicht ruhen. Wie aufgescheuchte Fledermäuse schwirren sie durch meine Schläfen, immerzu drängend, immerzu aufstachelnd. Was ist dort unten geschehen? Geht es Rachel gut? Vielleicht war es ja wirklich nur der kaputte Fernseher, den einer der beiden in seiner Wut vom Tisch geschlagen hat. Vielleicht ist jemand über den Couchtisch gefallen und hat die Vase mit den längst verwelkten Blumen im Sturz mit heruntergerissen. Vielleicht aber war es auch ein Schuss. Schrot aus der hauseigenen Flinte.

Mit einem heftigen Kopfschütteln schlage ich mir die Sorgen aus dem Kopf, stehe auf und bewege mich zum Fenster in der hinteren Ecke des Raumes. Wackelig, weil meine dünnen Beine und mein Kreislauf bei jeder Art von Stress ins Schwanken geraten.

Wir sind alle dünner, als es gesund ist, aber was mir an Fett fehlt, mache ich mit Muskeln wett. So gesehen bestehe ich nur aus Haut und Knochen, doch tief in mir drin verbirgt sich eine Stärke, die so manchen zum Staunen und Bluten gebracht hat. Nur Alexander noch nicht. Aber der würde eines Tages seine Abreibung schon kassieren.

Es ist Januar und es wird schon Nachmittags dunkel.

Als ich hinausblicke, befinden sich nur ein paar kleine Wölkchen von orangeroter Farbe am Himmel. In weniger als einer Stunde würde es dunkel sein. Und so kalt, dass unser Atem in kleinen Wölkchen vor unseren Mündern hervorquellen würde.

Auch Körperwärme und Decken hindern den Körper dann nicht mehr daran, dass Gesicht kalt und blau einzufärben.

„Hey Mary“, rufe ich und drehe mich, die Hände in den Hosentaschen, welche von ihrer Jahrelangen Nutzung schon aufgeraut und spröde sind, zu ihr um. Sie liegt dort, unter ihr die ganzen Kissen, plüschbunten Kissen und ich betrachte sie, wartend. Mache ich ein imposantes Bild her, so gerade und selbstsicher, wie ich hier stehe? Wer weiß. Ich wechsele so oft meine Rollen, dass ich schon gar nicht mehr weiß, wann ich schauspielere und wann nicht.

Mary rührt sich, zieht die Beine an den Körper und schlägt die Augen auf. Ihre eisblauen Pupillen fixieren mich wie ein Löwe seine Beute. Starrend und kalt. So gesehen passt sie hier gar nicht in diesen kunterbunten Kissenberg hinein. Oder in diesen Raum, in dem Verzweiflung herrscht, wann immer er bewohnt ist. Als fände Gott unser Schicksal zum brüllen komisch.

„Hm?“

Dem Klang ihrer Stimme verrät deutlich, wie erschöpft sie ist. Sie ist zu nervös um zu schlafen, andererseits jedoch strahlt sie eine Ruhe aus, die einem erzählt, dass sie das hier schon öfter durchmachen musste. Es ist die absolute Routine, die von ihr ausgeht.

„Haben wir noch Kerzen?“

„Müssten wir eigentlich. Warum?“

“Es dämmert. Und ich für meinen Teil bin nicht wirklich scharf darauf, meine erste Nacht hier oben in absoluter Dunkelheit zu verbringen. Wie steht’s mit Streichhölzern?“

Ein leichtes, bitteres Lächeln legt sich um ihre Lippen, ehe sie den Arm hebt und auf die Tür deutet, hinter der sich unser provisorisches Miniaturbadezimmer befindet.

„Als ob es die erste Nacht hier oben wäre, Josh. Schau dort hinten in der Kiste. Soweit ich weiß haben wir sie das letzte Mal dort liegen gelassen.“

Ein Nicken von mir. Ich sehe nach und werde fündig.

Das Zimmer ist nicht besonders groß, dunkel und hat nur ein kleines Fenster, welches man, wie sollte es auch anders sein, nicht öffnen kann. Alexander hat an alles gedacht, als er diesen Raum hier ausbaute, niemand würde uns finden und rauslassen können, wenn er es nicht wollte. Wie boshaft doch ein einzelner Mensch sein kann.

Wir sollten die Zeit die wir hier verbringen nutzen, um hier zu putzen, denke ich als ich die Kiste finde und mit der Hand darüber fahre.

Dreckig und staubig steht sie neben dem Wasserhahn. Als ich mich hinknie und nachsehe, denke ich an Feuer. Wie leicht konnte hier eine Kerze umkippen und die Kissen in brand stecken. Wie leicht konnte es uns geschehen, dass wir es nicht einmal bemerkten? Dass wir schlafen würden?

Wenn es hier einmal brennen sollte, wären wir so gut wie tot.
 

Kurioserweise befinden sich in der Kiste einige Kerzenständer, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass sie existieren und statt den benötigten Krempel herauszusuchen, nehme ich den ganzen Karton auf den Arm und gehe zurück in das andere Zimmer. Dann setze ich mich hin, klopfe meinen Pullover mit den Handflächen ab und zähle nach. Die Ständer sind selbst gemacht, Aluminiumfolie, wie man sie auch in der Küche verwendet, Pappdeckel und Wachs. In die Folie kommen die Kerzen und das Wachs verbindet die restlichen beiden Teile miteinander. Nicht gerade Hightech, doch es reicht. Und hat die Zwillinge einige Zeit lang beschäftigt gehalten.
 

„Also“, verkünde ich wenig später, setze die erste Kerze in das Gestell, eine weiße Stabkerze, öffne die kleine Schachtel mit den Zündhölzern und öffne gerade meine Mund um weiter zu sprechen, als jemand mit voller Kraft gegen unsere Luke hämmert.

Wir alle zucken heftig zusammen, und erschrocken durch den plötzlichen Lärm rutscht mir die Pappschachtel aus den Fingern. Mit einem leisen Klackern schlägt sie auf dem Boden auf und bleibt liegen.

Wieder klopft es. Als keiner öffnet, fängt die Person, welche sich darunter befindet, an zu brüllen. Es ist Alex, seine Stimme ist rau und heiser, die Aussprache undeutlich. Er ist betrunken, so wie immer, keine große Überraschung. Und doch stößt es mich immer wieder vor den Kopf, wie Menschen sich so hängen lassen können. Man lebt nur einmal und ich werde es nicht im Rausch irgendwelcher Drogen verschlagen.

Nicht fähig, mich zu bewegen, starre ich auf das wackelnde Stück Holz, unseren Ausgang, der, aufgrund der Schläge, klappernd auf und ab springt. Als würde es tanzen. Ein grauenhafter, Verderben bringender Tanz.

Das Einzige in diesem Haus, was Qualität hat. Was nicht so schnell kaputt geht. Das Einzige von Bestand.

„Gottverdammt, macht diese scheiß Luke auf!“

Hektisch nicke ich Emily, welche sich der Luke am nächsten befindet, zu, sie doch zu öffnen.

Auf allen vieren huscht sie dorthin, streckt ihr dünnes Ärmchen aus und versucht, den Fleischerhaken zu lösen. Dabei zittern ihr die Finger und es dauert, bis der Haken aus der Öse rutscht. In unserem Adrenalinrausch dauern diese wenigen Sekunden Stunden und in meinem Kopf schwillt Alexanders Gebrüll zu einer grollenden Hintergrundmusik an, immer weiter, bis ich mich sicher bin, dass mein Schädel zerplatzt, wenn ich nichts unternehme.

„Mach Platz!“, zische ich und löse mich aus meiner Starre.

Meine Bewegungen sind, auch jetzt, schnell und genau. Geschickt wie eine Katze und doch absolut panisch. Er soll aufhören zu Brüllen, er soll aufhören, meinen Kopf zum Platzen zu bringen, er soll aufhören zu Hämmern. Soll Ruhe und mir Luft zum Atmen geben.

Er soll einfach aufhören, so offensichtlich zu existieren. Ich möchte damit fortfahren, ihn aus meinem Leben zu verdrängen.

Deshalb wende ich Gewalt gegen meine Schwester an und stoße sie so hart zur Seite, dass sie leise aufschreit und sich den Ellenbogen aufschlägt. Sie fängt an zu weinen, doch ihr Geheul und Gewimmer findet kaum den Weg zu meinen Ohren. Bewusst registriere ich sie gar nicht, alles verschwimmt und nur noch Alexander ist wichtig für mich. Also fummele ich so lange an der Öse herum, bis der Haken herausrutscht und leise klackend zu Boden fällt. Die Luke schwingt auf, mein Adrenalinpegel verflüchtigt sich und ich setze mich mit laut klopfendem Herzen auf den Boden.

Versuche die erschrockenen Blicke meiner Geschwister zu ignorieren, die gerade auf meinem Rücken lasten und mich fragen, was das sollte. Mich fragen, warum ich die Fassung verloren habe, wo ich das hier doch gewohnt bin. Wo ich doch sonst immer ruhig und beherrscht bin.

Warum ich sonst so stark und jetzt so schwach bin.
 

Wenige Augenblicke später taucht Alexanders Gesicht vor dem meinem auf.

Er sieht nicht gut aus, das heißt, noch miserabler üblich. Und doch spüre ich einen Stich quer durch meinen Körper, als seine eisgrauen Augen meinen Blick streifen. Es ist einer dieser Momente, in denen sein Blick eine gewisse Klarheit erhält. So, dass ich, gegen meinen Willen begreifen kann und muss, dass er doch ein Mensch ist. In solchen Momenten drängt mich etwas dazu, ihn tröstend an der Hand zu nehmen, zu lächeln und ihn aus diesem Leben herauszuführen. Ist es zu Beginn ein angenehmes Gefühl, weicht es nach wenigen Sekunden unverhohlenem Ekel.

Ist es soweit, schalte ich wieder auf den Überlebensmodus um, wische sämtliche Gefühle, die mich ablenken könnten, zur Seite und versuche, Hass zu empfinden, wenn ich in das bleiche, untersetzte Gesicht mit den violetten Ringen unter den Augen blicke. Dann gehe ich seine negativen Eigenschaften im Geiste durch und ordne sie nach Größe und Maß der Abartigkeit. Spätestens dann erlange ich die Kontrolle über meinen Geist zurück.

Eines jedoch sticht mir ins Auge.

Er ist sauber. Kein Blut, das an ihm haftet, seine Haut ist weiß und rein, wie meine.

Mary und ich atmen auf und tauschen erleichterte Blicke von unendlicher Zärtlichkeit.

Seelenverwandt sind wir, denn sie ist die einzige, die mir ihre Meinung offen ins Gesicht sagen darf, ohne, dass mein Innerstes mich dazu drängt, das Mundwerk der betreffenden Person mit ein oder zwei Faustschlägen zu stopfen.

Alexander hin, Alexander her, es scheint ja doch noch alles gut gegangen zu sein.

„Joshua. Mary. Runterkommen“, murrt er und zieht den Kopf wieder aus dem Raum. Wortlos streichen wir den Zwillingen über das feine Haar, folgen ihm anschließend. Sich zu widersetzen brächte nichts. Es würde lediglich noch mehr Gewalt mit sich bringen.

Rachel lebt also.

Und doch… der letzte Zweifel würde erst getilgt sein, wenn ich vor ihr stünde.

„Ist Mutter schon bei der Arbeit?“, frage ich schließlich und spüre trotzdem einen Schatten in meiner Brust auflodern. Da ist es wieder. Adrenalin. Es schnürt mir die Kehle zu und lässt mein Herz schlagen wie ein Schnellzug.

„Nein.“

Eine äußerst kurz angebundene Antwort, aber okay.

„Geht sie denn heute nicht?“

“Nein, sie geht heute nicht.“

Ich seufze und hebe die Augenbrauen, während wir ihm durch die verschiedenen Räume unserer Wohnung folgen. Würde sie überhaupt jemals wieder zur Arbeit gehen? Ein ungeahntes Bedürfnis, sie zu sehen, überkommt mich, legt sich um mich wie ein Netz. Nach mehrmaligem tiefen Durchatmen habe ich es einigermaßen von mir geschüttelt, doch die Angst bleibt.

Vor dem Wohnzimmer, neben dem das Badezimmer liegt, bleiben wir das erste Mal stehen. Während sich in unserer Gästetoilette neben einem Klosett und einem Waschbecken lediglich der Eingang zu unserem stillen Verlies befindet, trifft man hier auf die gesamte Bandbreite eines Industriestaatenbadezimmers.

„Ihr wartet hier“, weist er uns an und wir gehorchen, versunken in unserer Hörigkeit, während er schweigend in die Küche verschwindet.

Als er wenig später zu und zurückkehrt, fällt mir zum ersten Mal auf, dass er andere Kleidung trägt als vorhin. Er hat sich umgezogen?

Wieder runzele ich die Stirn und verschränke die Arme, versuche mich somit, von dem ganzen Geschehen um mich herum zu distanzieren. Blicke auf die Tüte, die er Mary in die Hand drückt. Es ist eine große Einkaufstüte, von einer bekannten Supermarktkette.

Dann öffnet er die Tür und die Eindrücke, auf die ich mich nicht vorbereiten konnte, treffen mich mit voller Wucht. Dieser unsichtbare Schlag erfasst mich und ich taumele zurück, bis ich gegen die Wand pralle, mich fest dagegen presse, damit meine Beine nicht nachgeben und ich zu Boden gleite. Mary zieht die Luft scharf ein und beginnt die Luft in tiefen, unregelmäßigen Atemzügen in ihre Lunge zu pumpen, wendet den Blick ab und presst die Hand auf den Mund, als müsse sie sich gleich erbrechen.

Das blutige Bündel auf dem Boden des Badezimmers ist meine Mutter.

„Dort stehen Kartons“, erklärt Alexander, ohne auf unseren momentanen mentalen Zustand auch nur im Geringsten Rücksicht zu nehmen. Er ist so kalt, dass man kaum glauben kann, dass er mit dieser Frau einmal verheiratet war. Oder das er sie jemals in seinem erbärmlichen Leben geliebt hat.

„Ich erkläre es euch einmal, also hört zu ihr Pissplagen. Ihr werdet die Leiche zerstückeln, in Plastiktüten füllen und dann in die Kartons legen. In spätestens vier Stunden seid ihr fertig. Ist das klar?

Ob das klar ist?!“

Die Hysterie in Alexanders Gemüt prallt an meinen ohnehin bis zum zerreißen gespannten Sinnen ab wie ein Gummiball. Ich nicke leicht und schließe die Augen, schreie innerlich, rebelliere gegen das, was ich nicht begreifen will und kann. Das Warum. Warum er sie erschossen hat. Einfach so?

Mir kommt stumme Wut hoch und doch schlucke ich sie runter, versuche, nicht ohnmächtig zu werden. Das ist einfach so viel gerade. So viel schreckliches in so kurzer Zeit.

Wer hat ihm das Recht gegeben, so etwas zu tun? Und… warum müssen wir das ausbaden? Wir! Diejenigen, die am wenigsten mit der ganzen Sache zu tun haben.

Warum hat er sie so dermaßen gehasst, dass er so eine Sauerei veranstalten musste?

Plötzlich befinden sich Hände auf meinen Schultern. Schubsen mich. Drängen mich. Wie betäubt stolpere ich vorwärts, hinein in das geflieste, so kalt wirkende Zimmer und registriere nichts. Ich sehe nichts, alles rauscht wie in einem schlechten Film an mir vorbei. Mein Körper ist taub. Ich weiß nicht, wo ich hintrete, also stolpere ich und falle, schlage auf dem harten Fliesenboden auf. Beiße mir auf die Unterlippe. Ich schmecke Blut, fahre mir mit der Zunge über die Lippe und höre hinter mir eine Tür zuschlagen. Dann dreht sich der Schlüssel im Schloss.

Kurze Zeit später verstehe ich endlich, wessen Blut ich schmecke. Es ist meines, doch der Saft, welcher durch meine Kleidung netzt, schon schwer und dick, da er gerinnt, ist ein anderer. Blitzschnell bin ich wieder auf den Beinen und doch bin ich es nicht, komme irgendwie vorwärts, greife nach etwas, was mir Halt gibt. Dann kehre ich mein Innerstes nach Außen.

Ich kotze.
 

Schwer atmend schleppe ich mich in die Ecke, welche am weitesten von dem Leichnam entfernt sind. Dort setze ich mich auf den Boden und beobachte, ganz benebelt von dem Geruch meines Erbrochene, Mary. Meine Augen können sie nicht halten, also starre ich durch sie hindurch, während ich angestrengt versuche, die Kontrolle über meine Psyche zurück zu erlangen.

Mary direkt neben der Tür, hat ihren schmächtigen Körper zitternd gegen die Wand gepresst, das Gesicht in der einen Hand vergraben, schluchzt sie, sich mit der anderen durchs Haar fahrend, hysterisch vor sich hin. Die blonde Pracht hängt ihr strähnig ins Gesicht, die Augen gerötet, die Wangen weiß. Wenig später knicken ihr die Beine ein und sie sinkt, genau wie auch ich, zu Boden.

Armes Mädchen, flüstert eine Stimme in mir und für den Bruchteil einer Sekunde kommt in mir die Frage auf, um wen es sich dort an der Tür überhaupt handelt. Dieses Mädchen an der Wand, das Ding auf dem Boden.

Meine Übelkeit schwindet, mein Verstand wird klar. Es ist, als sei ich jemand anders, jemand, dem der Geruch dieses Fleisches und des Blutes nichts ausmacht.

Als in mir etwas wie Faszination für dieses seltsame Szenario aufsteigt, ignoriere ich mein Gewissen, welches mich just in diesem Moment verurteilen will. Es ist dieser Abgrund menschlichen Seins, welcher mich gefangen nimmt. Nichts anderes ist dieser Mord nämlich. Und die Reaktion dieses Mädchens.

Ich fühle mich, als erwache ich aus einem tausendjährigen Schlaf. Meine Sinne sind geschärft, sämtlichen niederen Instinkte haben sich verflüchtigt, übrig bleibt pure Konzentration. Vernunft, Verstand. Und noch immer bin ich nicht in der Lage, meinen Blick von dem Leichnam abzuwenden.

Rachel, die Frau, aus der ich vor beinahe fast zwei Jahrzehnten einmal entschlüpft bin, ist furchtbar entstellt, eine rote Stelle an ihrem Arm. Wird er sie zu Boden gezerrt haben, bevor er sie erschoss?

Er könnte ihren Arm gepackt haben, und während sie versuchte, das Gleichgewicht zu waren, hätte er ihr ein Bein stellen können. Dann hätte er sie erschossen, wenn sie schwach und hilflos auf dem Boden gelegen und gewimmert hätte. Vielleicht hat sie ihm in die Augen gesehen. Gefleht hat sie, so viel steht fest.

Jedenfalls ist von ihrem Kiefer nichts mehr übrig, er hat ihr sauber den Kopf weggeschossen. Mitsamt den Augen.

Ihr Haar ist blutig, strähnig und liegt neben ihr.
 

Stumm sitze ich also hier und obwohl es mir gut zu gehen scheint, rennen mir dir über die Wangen. Lautlos tropfen sie zu Boden, auf meine Kleidung und hinterlassen beim trocknen salzige, weiße Flecken.

„Ich kann das nicht…“, presst Mary hervor und schlingt die Arme um ihren Oberkörper, beugt sich nach vorne und schluchzt sich die Seele aus dem Leib, als habe das Maß der Grausamkeiten gerade einen Punkt erreicht, den sie nicht länger auszuhalten imstande ist. Ihre Stirnberührt den Boden, der an dieser Stelle sauber ist. Ein Blutfleck, mittlerweile kalt und angetrocknet, befindet sich neben ihr.

„Ich kann das nicht Josh.“

Ihr Verhalten ist befremdlich für mich, ist mir nie so untergekommen. Normalerweise steht sie alles durch, mutig und selbstbewusst bietet sie jedem, der es wagt, Ärger zu machen, die Stirn. Und jetzt sitzt sie hier vor mir auf dem Boden, fünfzehn Jahre ist sie alt, und heult sich die Augen aus dem Kopf. Nach längerem Zögern krieche ich über den schmuddeligen Fliesenboden zu ihr herüber, lehne mich gegen die Wand und streiche ihr schwach über den Kopf. Auch wenn ich momentan nicht begreife, was hier genau um mich geschieht, sie tut mir leid.

„Wir werden es nicht tun“, flüstere ich mit meiner trockenen und kratzigen Stimme.

Nein, wir würden es nicht. Erst müssten wir neue Kraft schöpfen, um die Situation so erfolgreich wie möglich meistern zu können.

In meinem Kopf ertönt lautes Lachen. Man lacht mich aus? Verwundert hebe ich den Blick und schaue mich um. Es ist keiner hier.
 

„Okay… dann sehen wir uns das doch mal an.“

Kaum eine Viertelstunde später brechen wir unser Versprechen. Aus Angst.

Und… etwas in mir drängt mich dazu. Etwas in meinem Inneren, was bis vor wenigen Minuten noch nicht existierte und sich nun eingeschaltet hat. Ein wesentlich neuer Charakterzug von mir, den ich selbst noch nicht kenne und erst erforschen muss. Ist er freundlich? Ist er ein Feind? Bis jetzt weiß ich nur, dass er in praktischer Art und Weise an Blut und Tod interessiert zu sein scheint. Es wird mir die Arbeit erleichtern. Seine Stimme in meinem Kopf treibt mich voran und wird uns mit viel Glück das Leben retten.

Alexander hasst Mary, wie würde er da reagieren, wenn wir nicht auf ihn hörten? Wir wagen nicht, es uns vorzustellen. Wer einmal gemordet hatte, der konnte es auch wieder tun. Der hatte eine Hemmschwelle überschritten, von der aus es kein Zurück mehr gab. Und so sind wir gezwungen, unser Herz aus und den Kopf einzuschalten. Das hier als Arbeit ansehen. Als Aufgabe. Als schwieriges Level in einem billigen Videospiel.

Wir müssen es schaffen, denn ein Game Over darf es für uns nicht geben. Das sind wir den Zwillingskindern einfach schuldig.

„Gib mir die Tüte, Mary“, befehle ich meiner Cousine und meine Stimme klingt fremd. Sonor und kalt hallt sie von den gekachelten Wänden wieder und jagt mir eine Gänsehaut über die porzellanweißen Arme. Das ist nicht meine Stimme, und dennoch benutze ich sie. Lasse sie benutzen. So merkwürdig zerrissen fühle ich mich momentan.

Etwas raschelt, dann halte ich Plastik in der Hand. Glatt und künstlich liegt es auf meiner Haut, aber ich spüre es nicht. Mit zitternden Händen öffne ich die Tüte und schaue hinein. Mülltüten, noch originalverpackt, ganz neu. Ein Filetiermesser. Scheint neu zu sein. Ein Schmunzeln huscht über meine spröden Lippen. Wusste gar nicht, dass wir so etwas besitzen. Außerdem eine Säge und ein Skalpell.

„Binde dir die Haare zusammen, Mary.“

Sie nickt, fischt das Haargummi aus ihrer Rocktasche und bindet, während ich eine der Mülltüten nehme und Rachel über den Kopf ziehe. Eine letzte Entschuldigung. Tut uns leid, Mama, dass wir dir diese Mühe machen mussten. Tut uns leid, Mama, dass Alexander dich umgebracht hat, weil du uns ein anständiges Leben ermöglichen wolltest. Tut uns leid, Mama, dass wir Beihilfe zu diesem abartigen Geschehen leisten. Tut uns leid, dass wir nicht anders handeln können.

„Muss ich auch schneiden, Joshua? Ich…“

„Nein, ich mache das. Zieh Rachel aus. Nimm das Filetiermesser, es liegt dort. Ich trenne den Kopf ab… das geht ganz schnell.“

„In Ordnung.“

Der Kopf dürfte mir einiges an Arbeit abverlangen. Mann muss durch Fleisch, Knorpel und Sehnen schneiden. Letzten Endes gilt es, den Knochen zu durchtrennen. Aber bei einem kopflosen Torso würde es mir schwerer fallen, diesen Leichnam als den meiner Mutter zu identifizieren. Mich mit ihm zu identifizieren.

Schweigend nehme ich das Skalpell und lege es an, schneide, während ich mit der freien Hand die Mülltüte festhalte. Es gleitet ganz weich durch das Fleisch hindurch und durchtrennt die Halsschlagadern. Mit einem leisen Aufschrei weiche ich zurück. Das hatte ich im Sezierunterricht unseres Biologiekurses nicht gelernt.

Dunkelrotes, beinahe braunes Blut quillt hervor, läuft über das, was von Hals und Kehle noch übrig geblieben ist und übertönt die letzten weißen Flecken des kalten Fliesenbodens. Mit Klopapier versuche ich die Flut einzudämmen, doch ich scheitere erbärmlich. So versaue ich mir nur die Finger, die, wenn man die dunkle Farbe des Blutes betrachtet, einen grauenhaft schönen Kontrast dazu bilden. Schweigend blicke ich auf meinen Handrücken, welcher nun rot gesprenkelt ist. Die Flüssigkeit war noch nicht ganz ausgekühlt, doch nun wird mir abwechselnd heiß und kalt, ein Schauer nach dem anderen jagt mir über den Rücken. Dass sie freudiger Natur ist, verschlägt mir sowohl Atem als auch Sprache. Ich kann fühlen, wie mein Körper danach strebt, sich erneut zu erbrechen, weshalb ich das Skalpell in die blutige Lache gleiten lasse und mich abwende.

Meine Gedanken spielen verrückt. Reden mit mir, so wie immer, doch diesmal haben sie sich zu einer einzigen, befehlenden Stimme vereinigt. Sie zieht mich auf, stachelt mich an. Ich wolle das doch tun, selbstverständlich wolle ich das. Nichts schöneres in der Welt gäbe es, als dies hier zu tun. Es sei meine Bestimmung, der einzige Weg, meine Cousine und meine Geschwister vor der absoluten geistigen Vernichtung zu beschützen.

Ich verstehe nicht, wer das ist, der dort mit mir redet. Männlich ist er, klingt um die dreißig. Aber sehen kann ich ihn nirgendwo.

Es sind die Sinneseindrücke der letzten Stunden, welche nun verarbeitet werden, denke ich mir und versuche noch immer, diese Faszination, diese Blutlust einzuordnen. Sie ist, als würde mich jemand bei der Hand nehmen und leiten. Ein großer Bruder oder etwas ähnliches, jemand, dem an meinem Wohl etwas gelegen ist.

Beschwichtigend höre ich ein leisen Zischlaut hinter mir, beruhigend, vertraut.

Beruhige dich Joshua. Lass mich dich führen und nichts wird dir geschehen.

Er stammt nicht von Mary und so begebe ich mich, vollkommen verängstigt, wieder weinend und zitternd, in die Hand dieser mir so unbekannten, nicht greifbaren Person. Immerzu redet sie auf mich ein, als könne man ihr den Mund nicht stopfen. Gleichzeitig ist sie nicht hier. Ich bin Humanist, ich glaube nur an Dinge, die ich sehen und berechnen kann. Aber das hier kann man nicht berechnen. Es geschieht mit mir, und ich kann nichts dagegen tun.
 

Letztendlich lagern wir die Leiche hoch und lassen sie ausbluten. Mary den einen Fuß in der Hand, ich den anderen. Mit gemeinsamen Kräften stemmen wir sie in die Luft und halten sie so über die Badewanne, dass der Einschnitt der tiefste Punkt ist. Leise gluckernd verschwindet die rote Flüssigkeit in der Kanalisation. Ein erwachsender Mensch trägt knapp 5 Liter Blut mit sich herum.

Ich spreche gar nicht mehr, so gebannt bin ich, kralle meine Fingernägel in das weiße Fleisch meiner Mutter und starre schweigend vor mich hin.

Mary ist noch blasser als vorher. Sie schwankt. Wenn sie ohnmächtig würde, bliebe alles an mir hängen. Großartig.

Als die Blutung gestillt ist, legen wir sie wieder auf den Boden. Seit mich dieses Wesen in meinem Kopf an die Hand genommen hat, fällt mir leichter, zu atmen und mich zu bewegen. Es hat ungeahnte Energien in mir freigesetzt, und da es gerade lediglich um mein eigenes Überleben geht, lasse ich jeden ethischen Aspekt außer Acht.
 

Jetzt, da kein Blut mehr kommt, ist es einfacher, ihr den Kopf abzutrennen. Ich brauche nur noch durch einige Schichten Knorpel schneiden, dann bin ich bei der Wirbelsäule angelangt. Die dünne Fettschicht direkt unter der Haut hat das Skalpell hindurchgleiten lassen, als sei der Leichnam meiner toten Mutter ein gut abgehangener Schinken.

Soll ich ihr das Genick brechen, oder schlicht und einfach die Säge nehmen? Ein paar Minuten stehe ich schweigend im Badezimmer herum, in dem es mittlerweile nach Blut und Fleisch riecht, überlege vor mich hin und entscheide mich für letzteres. Der Kraftaufwand würde geringer sein, die grobe Gewalt, bewusst eingesetzter und kontrollierter weichen.

Die Säge in der Hand, vermeide ich es, durch den Knochen zu schneiden. Man muss nicht provozieren, sein Arbeitsutensil stumpf werden zu lassen. Statt dessen durchtrenne ich die dünne organische Schicht, welche das Gerüst miteinander verbindet. Die Bandscheibe. Kurz darauf stoße ich wieder auf festen Untergrund. Und so lege ich die Säge zur Seite, umfasse den Kopf mit beiden Händen und drehe ihn ruckartig zur Seite, während ich mich auf den toten Brustkorb knie.

Es knackt so laut, dass ich ihn vor Schreck fallen lasse. Mit einem leisen Aufschlag fällt der Kopf zu Boden und rollt fort. Schweigend blickt ich ihm hinterher, rutsche herunter und seufze, als ich wieder den kalten Boden unter mir spüren kann. Wenn man es als Arbeit betrachtet, geht es unheimlich leicht.

„Lass uns jetzt die Arme machen, ja Josh?“

Mary hat den Leichnam mittlerweile mithilfe des Filetiermessers entkleidet, was mir unter anderem die Röte ins Gesicht treibt. Ich sehe nicht oft nackte Frauen, und auch, vielleicht besonders, weil es meine Mutter ist – war – ist es mir mehr als unangenehm. Verwundert blickt Mary mich an, als ich ihr eine Antwort schuldig bleibe und mich direkt an die Arbeit mache. Wozu antworten?

Wir befinden uns in einer Situation, in der Taten mehr zählen als Worte. Und wäre sie ehrlich, würde sie zugeben, dass es ihr egal ist, in welcher Reihenfolge wir diesen Körper auseinander nehmen. Diese zwanghaft hergestellte Ordnung, verrät lediglich ihre Unsicherheit.

Sie will es einfach hinter sich haben.

Arme und Beine lassen sich mit der Säge sehr einfach abtrennen, aber das Geräusch, welches die Extremitäten dabei von sich geben, lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. Für die Kartons sind die Teile jedoch zu groß, was bedeutet, dass wir Oberarm von Unterarm trennen, auch diese Stücke anschließend halbieren, damit alles in die Kartons passt.

Das menschliche Fett, von dem meine Mutter teilweise mehr als genug hatte, nach drei Kindern nicht mehr sonderlich verwunderlich, bleibt überall kleben. Es klebt an den Fingern und stinkt schlimmer als Fleisch und Blut zusammen. Widerlich, wie Schmierseife. Selbst ausgiebiges Duschen würde das Gefühl, verschmutzt bis ans Lebensende zu sein, nicht weichen lassen.

Während ich oben genanntes durchführe, verpackt meine Cousine die in Häppchen gesägten Körperteile in die Mülltüten, verschließt diese und legt sie in die Kartons, die Alexander uns zur Verfügung gestellt hat. Ihr stehen der Ekel und die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben, immer wieder wischt sie sich mit dem Unterarm über die Augen, schnieft und macht dann weiter, zitternd wie ein Haufen Espenlaub.

Eine schweißtreibende Arbeit ist das, und als es plötzlich an der Tür klopft, zucken wir beide wieder einmal zusammen.

Dieser Tag ist der mit Abstand stressigste und furchtbarste meines Lebens.

„Mary!“, zischt es von draußen und wir atmen auf, bleiben mit vor Adrenalin klopfenden Herzen sitzen. Es ist bloß Lucy.

Die Cousine wischt sich derweil die Hände an einem Handtuch ab und blickt auf die Tür, immer noch merkwürdig abwesend und nicht ganz bei sich. Sie antwortet, klingt dabei aber so leise und schwach wie noch nie.

„Was ist los?“

„Ich will schnell runter zum Bäcker, Alexander ist im Wohnzimmer.“

„Ja und? Dann geh, solange du noch Zeit hast!“

Ein paar Sekunden schweigt die Tür, hinter der Lucy steht, uns grausam an. Dann ertönt ihr Stimmchen erneut, leise und verlegen.

„Es geht nicht, du hast das Geld.“

Marys Geld, ohne das wir schon so oft aufgeschmissen gewesen währen. Schnell werfe ich ihr einen drängenden Blick zu, nehme ihr dann das Handtuch ab und reinige auch meine Hände so gut wie möglich. Derweil kniet sich hin und zieht eine kleine, verschlissene Geldbörse aus ihrer Rocktasche. Ein Brotfont, der eigentlich immer oben auf unserem Dachboden aufbewahrt wird. Normalerweise ist es Marys Aufgabe, Nahrung zu beschaffen, doch die momentanen Umstände hindern sie am Handeln.

„Beeil dich.“

Mit diesen Worten schiebt Mary einen Geldschein unter der Tür hindurch. Man hört nur noch Schritte auf dem Flur, dann Gebrüll. Lucy scheint direkt in Alexander hinein gelaufen zu sein. Stocksteif sitzen meine Cousine und ich im Badezimmer, wagen es kaum, zu atmen. Hoffentlich würde er ihr nichts antun.

Eine Weile lang brüllt er auf sie ein, dann kann man das schwache Klatschen zweier Ohrfeigen vernehmen. Lucy scheint, den Geräuschen nach zu urteilen, in die Küche zu verschwinden. Leise kann man ihre Schluchzer vernehmen.

Also würde es heute kein Essen geben. Und die nächsten Tage auch nicht.

„Scheiße“, zischt Mary genervt und verschränkt hilflos die Arme. „Und was sollen wir jetzt machen?“ Hilflos zucke ich mit den Schultern, lasse den Blick umhergleiten und bleibe an den blutigen Fleischstücken in der Mitte des Raums hängen.

„Lass uns das hier lieber erst fertig machen, ja? Dann können wir uns um die anderen Probleme kümmern.

Es ist nicht mehr viel, nur noch der Rumpf.“

Ich beuge mich, noch immer von dieser merkwürdigen Gier besessen, wieder hinab, möchte weiterarbeiten, sehen, was noch auf mich zukommt. Marys Stimme durchschneidet die Stille und lässt mich zögern, klar und analytisch, wie sie zu mir herüberdringt.

„Er distanziert sich.“

Ich, der gerade die Säge angesetzt hatte, um den Brustkorb in zu zerteilen, blicke auf und lege den Kopf schief.

Sie scheint Alexander zu meinen, denn ihre Augen blickten finster und hasserfüllt auf die Leiche hinab. Offensichtlich ekelt sie sich vor dem blutigen Bündel Fleisch, welches einmal meine Mutter darstellte. Sie sieht aus wie ein Haufen von Schlachtabfall und anstatt Mitleid kommt mir allerhöchstens die Galle hoch. Also wende ich mich ab und stehe auf, erneut. Gehe wieder auf und ab im Raum, während ich darauf warte, das meine Cousine mit ihren Erläuterungen fortfährt.

„Er ist zu feige, zu dem Mord zu stehen. Deshalb dürfen wie die Reste beseitigen… Sie werden ihn aber trotzdem kriegen, Joshua, er hat sich ziemlich dumm angestellt.“

Sie erntet für diese Schlussfolgerung lediglich ein schwaches Nicken. Dann versenke ich die Säge in dem Fleisch, mache weiter, als sei ich besessen. Ich muss die Arbeit beenden, die man mir aufgegeben hat. Höchstwahrscheinlich sind meine Hände noch immer blutig und stinken, doch ich nehme den Geruch nicht mehr war. Liebsäuselnd betört mich nur ein schwacher Duft. Also mache ich weiter, nicht merkend, wie Marys verstörte Blicke meinen Rücken verbrennen.

„Meinst du wirklich?“

Während ich spreche, sehe ich sie nicht an, sondern hole die Organe aus dem Bauchraum und packe sie in die Tüten. Ein unbekanntes Gefühl, auch wenn wir sie eben auseinander gesägt haben. Es ist kein Vergleich. Klebrig, weich und warm liegen Körperteile in meinen Händen und sauen mich ein.

Als mir einfällt, dass ich es doch schon bin, der verängstigte und durch fremde Hand geleitete Joshua, huscht mir ein schwaches Lächeln über die Lippen. Ich bemerke es kaum, aber vergesse es nie. Die Organe in meinen Händen sind kalt und tot, ein heftiger Gegensatz zu dem Hauch von Lebensfreude, welcher sich eben noch in meinem Gesicht abzeichnete.

Jetzt, wo ich sie eingetütet und weggepackt habe, kann ich mich den Rippen widmen. „Mary, unsere Mutter ist anschaffen gegangen… sie hatte garantiert viele Feinde, die sie hätten töten können“, murmle ich nebenher und wische mir mit dem Handrücken über die schweißüberströmte Stirn. Von Natur aus pessimistisch kann ich einfach nicht anders, als Marys Theorien über den baldigen Aufflug dieses Mordes nicht zuzustimmen. Man kennt doch Murphys Gesetz. Wenn etwas schief gehen kann, dann tut es das, und zwar auf die übelste Art und Weise. Das hier ist schon schlimm. Man darf allerdings nicht vergessen, dass es immer noch eine Spur schlimmer geht.

„Aber die Waffe gehört Alexander, sie ist auf seinen Namen registriert!“

Sie schaut mich an, doch ich werde ihr darauf keine Antwort geben. Es kommt mir zu makaber vor, jetzt schon über solche Dinge zu reden. Meine Mutter ist noch keine drei Stunden tot, der Mord ist noch nicht einmal den Behörden gemeldet, verstoßen und einzelgängerisch wie sie war, wird sie gewiss auch keiner so schnell vermissen. Es kann Monate dauern, bis man ihre sterblichen Überreste findet. Wenn man sie denn überhaupt findet.

Die Rippen und der restliche Brustkorb zerteilten sich wie von selbst, das Einzige, was Probleme bereitet, ist das Becken. Aber mit vereinten Kräften bekommen wir auch diesen Knochen in zwei Teile, so dass wir die Kartons, genau wie diesen Teil unserer Jugend endlich entgültig verschließen können. Es ist vorbei. Der Prozess unseres Erwachsenwerdens, vor Jahren eingeleitet, ist nun abgeschlossen. Nie wieder werden wir unbeschwert sein können. Nie wieder.
 

Wir sind fertig – und sehen furchtbar aus.
 

Müde und erschöpft sitzen wir auf dem Boden und verstehen noch immer nicht, was mit uns geschehen ist. Das Bad ist mit den Putzutensilien, die unter dem Waschbecken gelagert werden, gesäubert worden, aber einen der Finger haben wir unter das Regal mit den Handtüchern gelegt. Lange mussten wir überlegen, bis wir uns dazu durchringen konnten, dieses Risiko einzugehen. Wenn Alexander ihn fände, wären wir geliefert. Aber für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Polizei hier eines Tages einmal auftauchen sollte, wollten wir ihnen wenigstens Spuren und Beweise liefern.

Einen Finger im Badezimmer hatte nicht jeder. Er liegt gut versteckt in einer der hinteren Ecken.

„Wie viel Zeit haben wir noch?“, frage ich Mary, welche an der Badewanne lehnt, die Beine an den Körper gezogen, so wie immer, wenn sie versucht zu entspannen. Wir sind nicht Duschen gegangen, auch wenn wir blutüberströmt und widerlich aussehen. Es würde uns nichts bringen, wenn wir uns säubern würden, denn unsere Kleidung ist noch immer schmutzig. Furchtbar dreckig und stinkt furchtbar nach Körperflüssigkeiten. Je nachdem, wie lange wir diese Kleidung noch tragen müssten, würde sich der Gestank sicherlich noch verstärken.

„Fünfzehn Minuten“, gibt sie zurück, schaut auf den Boden und wartet.

Inzwischen hat sich dieses Gefühl von vorhin verflüchtigt. Zurück jedoch bleibt keine Scham, sondern ein warmes Pulsieren in der Gegend, in der mein Magen sitzt. Was immer das eben auch gewesen sein mochte – wer immer das eben auch gewesen sein mochte - es gefiel mir. Wirklich. Ich werde es meinen Geschwistern nicht sagen. Ich werde es niemanden sagen, wenn ich hier jemals wieder lebend rauskommen sollte, denn ich bin intelligent genug um zu wissen, dass solch ein Denken und Empfinden aus der Norm heraussticht. Höchstwahrscheinlich ist es ohnehin lediglich von vorrübergehender Natur. Eine Reaktion meines Körpers auf die vorrangegangenen Ereignisse.

Geht es Mary eventuell sogar genau so wie mir? Hat sie auch Gefallen hieran gefunden, sagt aber nichts? Ich bin nicht sonderlich scharf darauf, es zu erfahren, wenn ich mir die noch immer verheulten Augen ansehe und Unterlippe, auf die sie die ganze Zeit gebissen hat. Sie ist angeschwollen und rot, auch wenn ihr Haar, welches ihr in das Gesicht fällt, versucht, dies zu verbergen. So hockt sie hier, und ist von allen guten Geistern verlassen. Genau wie ich.

Wir sind gar nicht so unterschiedlich, denke ich wieder und hocke mich zu ihr. Nun sitze ich hier und versuche, mir mit geschlossenen Augen über den Sinn dieses Geschehens klar zu werden. Es gibt so viele Menschen auf dieser Welt, und ausgerechnet uns geschieht so etwas… abgefahren außergewöhnliches.

Außergewöhnlich brutal, möchte man beinahe sagen. Ich seufze leise und spüre, wie mein Magen sich langsam zusammenkrampft. Er knurrt wie ein kleiner Löwe und ruft mir in Erinnerung, dass ich seit heute morgen nichts mehr gegessen habe.

Ich habe Hunger und auf dem Dachboden ist nichts mehr.

Großartig.
 

Als Alexander wenig später die Tür öffnet, sehe ich nur schwach nach oben. Ich will ihn nicht anblicken müssen. Nicht registrieren. Dieser Mann, der vorhin meine Mutter getötet hat. Könnte er sich nicht einfach in Nichts auflösen?

Diesen Kerl, der mein Leben seid Anbeginn seiner Arbeitslosigkeit zur Hölle gemacht hat. Irgendwann werde ich mich rächen. Das schwöre ich. Für mich. Für Mary und Emily und Lucy. Mary ist die Einzige, mit der ich richtig gut auskomme. Und was Emily und Lucy angeht – sie brauchen mich, ohne mich sind sie aufgeschmissen.

Normale Menschen wären jetzt aufgestanden und hätten ihn angegriffen, aber wir sind nicht normal. Ich am allerwenigsten, glaube ich. Die jahrelang anherrschende Gewalt hat mich zermürbt. Dass wir keine Chance gegen ihn haben, dass wissen wir nun. Das hat er uns heute erfolgreich wissen lassen. Wir resignieren und geben auf, allen voran Mary und ich. Man sollte wissen, wann man verloren hat. Und genau dann sollte man aufgeben und sich mit der Situation arrangieren. Mit den leeren Bierflaschen von Alex, die ich jeden Tag hinunterbringen darf, oder die Tatsache, dass Mary oft genug zu Alex aufs Zimmer muss, wenn Rachel arbeiten war. Nie spricht sie darüber, überspielt es mit einem Lächeln und wechselt das Thema, sobald man sie darauf anspricht. Inzwischen habe ich es aufgegeben, aus ihrem eigenen Munde zu hören, was dort vor sich geht. Noch mehr schlechte Neuigkeiten ertrage ich nicht. Tief in mir weiß ich genau, was dort geschieht.

„Ihr seid fertig, wie ich sehe“, stellt er trocken fest und betrachtet das blank geputzte Badezimmer. Er ist zufrieden. Offensichtlich. Erleichtert atme ich auf und lache trocken und leise. Es klingt gackernd. Wir konnten ihn zufrieden stellen? Na immerhin etwas.

„Los, aufstehen.“

Scheu gehorchen wir, doch unsere Körper wollen nicht. Gerade gehen kann ich nicht, mein Gehirn, von den vergangenen Ereignissen überstrapaziert und ausgelaugt, verweigert seinen Dienst. Zitternd schleiche ich ihm hinterher, stoße gegen die Wand und halte mich einige Sekunden lang daran fest, damit ich nicht umfalle. Atme die frische Luft ein, eine, die nicht nach Tod riecht weitaus mehr Sauerstoff enthält. Mein Körper dankt es mir, aber die Angst weicht nicht. Wird er nun auch noch uns umbringen?

Er bringt uns zur Gästetoilette.

„Wo sind die Zwillinge?“

Meine Zunge fühlt sich rau und pelzig an, als hätte ich wenige Minuten zuvor eine Zigarette geraucht. Ich habe Durst. Und Hunger obendrein. Mittlerweile ist es dunkel. Vor dem Zubettgehen also kein Abendessen mehr. Nichts neues, doch ich konnte mich nie daran gewöhnen. Es war mir immer zuwider, in meinem Bett zu liegen, mit einem Magen, der kund tut, dass er ein Eigenleben besitzt und mir das Schlafen so unmöglich macht.

„Die sind schon oben“, erklärt Alexander mit seiner rauen Stimme, während er die Luke öffnet. Er hat ein Scharnier angebracht, ein Vorhängeschloss hält er in der Hand. Er wird uns den Ausgang versperren, stelle ich verwundert fest, und ohne jede Schockreaktion. Irgendwie, ich weiß nicht warum, bin ich vollkommen teilnahmslos, dabei geht es um den weiteren Verlauf meines Schicksals.

„Seht ihr das hier?“, fragt er uns und zum ersten Mal seit langem erscheint ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. Es ist so ehrlich, dass es mir unter diesen Umständen, eiskalt den Rücken herunterläuft. Schweigend deutet auf eine kleine Vertiefung neben dem Riegel. Als er zu lachen beginnt, blitzen uns gerade, aber gelbe Zähne durch das dämmrige Licht entgegen.

„Man befestigt genau dort das Schloss, schiebt das Stückchen Holz davor und niemand bemerkt, dass wir in unserem Gästebad einen Zugang zur oberen Etage haben. Ihr seid kleine Rotznasen, tut nie, was man euch sagt, handelt nur, wie es euch beliebt und habt euch längst meiner Erziehung entzogen. Aber ihr seid meine Rotznasen und um Rotznasen hat man sich zu kümmern, nicht war? Ihr könnt oben überlegen, was dieses kleine Riegelchen für euch zu bedeuten hat und wie ihr euch am besten damit arrangiert. Was schaut ihr so?

Na los, hoch mit euch!“

Das Loch zur Decke öffnet sich und wir klettern über eine Strickleiter nach oben.

Eisige Kälte empfängt uns und im Kerzenlicht können wir unseren eigenen Atem dampfen sehen. Die Zwillinge haben Licht angezündet, gut so. Die Kerzen heizen, wenn auch ohne jeden Effekt, ein wenig mit.

Kaum sind Mary und ich durch die Luke geklettert, wird sie hinter uns geschlossen. Leise hören wir das Klacken des Schlosses und das Kratzen am Holz, als mein Erzeuger alles dafür tut, damit man diesen Dachboden nie entdeckt.

Dass man den uns nie entdeckt.

In den Sekundenbruchteilen, in denen ich verstehe und meine Apathie von meinen Schultern herunterrutscht, bleibt mein Herz stehen und Sternchen, ausgelöst von der nackten Panik, welche augenblicklich durch meinen Körper saust, tanzen vor meinen Augen.

Ich bin aufgewacht aus meiner Starre, jetzt, da ich der Realität in die Augen sehen muss.

Jetzt, wo ich nicht mehr unten in der Wohnung bin, in der es warm ist und in der es etwas zu Essen gibt. In der mein Klavier steht, und mein warmes Bett.

Schon wieder lache ich, und es ist kalt und hauchzart. Ich lache über meine eigene Blindheit und ignoriere Marys geschockten Blick über diesen emotionalen Ausbruch. Die Zwillingskinder hören uns nicht, gut so, und doch kann ich mich nicht mehr einkriegen. Dabei… es ist doch nichts Witziges daran..

„Wir kommen hier nicht mehr raus“, flüstere ich Mary leise zu, als ich endlich wieder nach Luft schnappen kann, mein Zwerchfell sich entspannt und mir die Möglichkeit wiedergibt, zu sprechen. Ich kichere leise, als ich ihr diese Feststellung, eigentlich nüchtern und trocken, doch durch meine Lacher morbid verzerrt, zustecke. Sie braucht einige Sekunden, um zu begreifen, doch ihre Reaktion spricht Bände.

Verstört mustern mich ihre großen, blauen Augen. Dann öffnet sich ihr Mund und spricht das aus, was wir beide schon längst wissen.

“Er wird uns töten.“

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Erneut überarbeitet. Endfassung. So geht’s an den Verlag ; ]

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Tada~ die neue Fassung. Es wird garantiert Leute geben, die sie nicht mögen. Ich für meinen Teil bin jedoch sehr damit zufrieden.
 

Well... ich mag Joshua XD ich mag ihn wirklich, und er gehört mit zu meinen Lieblingscharakteren.
 

Also... in den letzten zwei Tagen der Ferien hingesaut, habe ich doch wirklich beinahe einen Monat gebraucht, um es zu überarbeiten... aber ich denke, es hat sich gelohnt ^____^
 

Hach... danke fürs Lesen XD und für die Kommentare.

Wollt ich nur mal gesagt haben... irgendwie.. ich liebe eure Kommis * * ich hab noch nie so... konstruktive bekommen XD als ich noch die schlechten YGO-FFs geschrieben hab, kam ein "Toll" und das wars XD
 

Also: DANKE!

Erster Tag

Wie waren wir nur auf die Idee gekommen, er würde uns verschonen, wenn wir das täten, was er von uns verlangt?

Alexander ist, in seiner ganzen Person uns gegenüber, ein Monster, und auch wenn er niemals etwas über seine Vergangenheit, oder eher gesagt seine Kindheit erzählt hat, so bin ich mir sicher, dass diese nicht viel besser gewesen sein kann als unsere. Niemand wird grausam geboren. Erst die Umstände formen einem zu dem, der man ist..

Gestern erwachten wir endlich aus unserer Lethargie, doch geholfen hat es uns nichts. Als wir begriffen, dass wir hier oben sterben sollen - werden - hatten wir die Chance, uns zu wehren, längst verspielt. Nun ist es an uns, mit dieser Situation fertig zu werden.

Natürlich hätte vieles in meinem Leben noch schlimmer sein können. Obdachlos, vereinsamt. Ohne den wenigen familiären Zusammenhalt, den ich vorweisen kann, hätte mein Leben seinen letzten Sinn verloren. Schulisch gesehen jedoch war meine Ausgangssituation nahezu einzigartig. In meiner, durch die verbliebene geistige Elite des Landes geprägten Schule, fand man kaum Scheidungskinder oder Kinder aus sozial schwachen Familien. Natürlich hatten auch diese Menschen familiäre Konflikte auszutragen. Sie lösten sich von ihrem Elternhaus, erkämpften sich die Freiheit, die ein angehender Erwachsener braucht. Dennoch liebten sie sich, irgendwie, hinter dem ganzen Geld, der Oberflächlichkeit und dem schönen Getue.

In dieser Familie ist nichts schön. Ein kaltes Klima von Angst und Gewalt ist vorherrschend. Ein Klima, welches meine Geschwister und mich aneinander bindet, uns bestehen lässt, kämpfen lässt. Vielleicht ist dies das einzig schöne in meiner Familie.

Meine Schule. Es ist wohl kaum verwunderlich, dass ich die meiste Zeit in dieser Klassengemeinschaft alleine verbringe, oder viel mehr, verbracht habe. Wer weiß, ob ich diesen Ort, an dem ich mich nun aufhalte, jemals wieder verlassen werde. Ob ich jemals wieder zur Schule gehen werde.

Es stört mich nicht, isoliert vom Rest der Welt zu sein. Mit dem Rest der Welt kam ich ohnehin nie sonderlich gut klar. Dieser Rest, der uns mit wachsamen Augen musterte und uns immerzu spüren ließ, dass er uns für Dreck hielt. Weil mein Vater seinen gesellschaftlichen Wert eingebüßt hat, weil er versagt und uns im Stich gelassen hat. Diese Menschen außerhalb konsumieren alles, was ihnen in die Finger fällt, um zu vergessen, wie bescheiden ihre Situation doch eigentlich ist. Ameisengleich trotten sie zur Arbeit, führen die ihnen auferlegte Aufgabe aus und kehren, lange nach Einbruch der Dunkelheit, zu ihren verrohten und traurigen Familien zurück. Ein unmündiges, sinnloses Leben. Sie sind sich ihrer selbst kaum noch bewusst, sterben, genau so ungeformt wie sie geboren wurden. Keiner von ihnen hat jemals gelebt. Keiner von ihnen wird jemals leben. Opportunismus ist der Garant des Erfolges.

So liegt es mir also fern, jene zu vermissen, die mich ansonsten Tag für Tag umgeben. Da gibt es zur Zeit andere Probleme, die meinen Geist eher beschäftigen. Das andauernde Brummen meines Magens beispielsweise. Hunger. Durst.

Der Hunger ist wahrhaftig das schlimmste. Spürt man ihn anfangs kaum, so kann man sich gegen Ende des Tages mit kaum etwas anderem beschäftigen, so sehr fixieren sich die Gedanken auf dieses ungute Gefühl. Und dann, bevor man sich versieht, kann man nicht mehr schlafen und rollt sich stundenlang hin und her, denkt nur noch daran, wie gut jetzt ein belegtes Brot oder eine Schale Reis schmecken würden. Erst dann, wenn man sich tief genug in diese Phantastereien verkrochen hat, und kaum noch damit rechnet, einzuschlafen ist man, ehe man sich versieht, weg vom Fenster. Träumt wirr, unruhig, und wacht am nächst Morgen müder auf, als man des Nachts noch war. Zwar hat sich der Körper mit dem Entzug der Nahrung dann bereits abgefunden, der Durst jedoch bleibt. Und dieser wird von Stunde zu Stunde bohrender, drängender. Durst kann einen jungen Menschen nahezu in den Wahnsinn treiben. Bezüglich dieser Annahme bin ich mir sehr sicher.
 

Es ist Mittag, als ich meine Augen, erwachend, aufschlage. Ich habe geschlafen wie ein Stein, ausgelaugt von den Geschehenissen des letzten Tages. Das Zerstückeln meiner Mutter, die Erkenntnis, nun vollkommen auf sich allein gestellt zu sein. Die Lust, die ich empfand, als ich meine Hände blutbefleckt und stinkend vor mir sah. Wird mich dieses Erleben soweit verändern, als dass ich mein restliches Leben als vollkommen anderer Mensch bestreiten werde?

Diese Freude, eine Gefühlsregung, die zu Unterdrücken ich nicht in der Lage war, versetzt mir einen mehr als unangenehmen Stich in die Brust, denn mir ist klar, dass solch ein Verhalten moralisch unvertretbar ist. Pervers. Abstoßend. Und doch hat es sich um mich gelegt wie ein unsichtbares Netz. Es hatte mich in seiner Gewalt, schaltete mein rationales Denken aus und ließ mich handeln wie ein Tier. Triebgesteuert, ohne jede Vernunft. Gerade, weil Menschen vorgeben, aufgeklärte, rational denkende Wesen zu sein, habe ich Angst, dass dieser innere Drang, den ich gestern zum ersten Mal empfand, erneut übermächtig wird. Gleichzeitig jedoch giere ich danach. Wie soll mein Umfeld reagieren, wenn ich mich so anders verhalte?

Natürlich werde ich mich keinem hier anvertrauen. Sie dürfen mich nicht fürchten, wollen wir diesen Raum alle bei lebendigem Leibe verlassen. Wenn wir beginnen, uns gegenseitig zu zerfleischen, sei es aus Angst, Neid oder, schlicht und ergreifend aus bloßem Überlebenswillen, hätte Alexander sein Ziel erreicht. Und selbst wenn mir meine Geschwister und meine Cousine scheißegal wären, so wäre ich immer noch viel zu stolz, als das ich meinen Vater gewinnen lassen würde.
 

Die Stunde, die ich wach liege und an die Decke starre, versuche ich zu ergründen, warum Alexander uns offensichtlich umbringen will. Das jemand so offensichtlich unseren Tod wünscht. Wenn ein Mensch nichts mehr zu verlieren hat, zeigt sich sein wahres Gesicht.

Dabei vergesse ich die eisige Kälte um mich herum, Kälte, die sich in den Stunden der Nacht in dieses Zimmer schlich und sticht wie viele kleine, feine Nadeln. Wie sprödes Glas steigt der Nebel meines Atems empor und stirbt einen halben Meter über mir. Es ist still, nur der sanfte Luftzug unserer Lungen ist hörbar. Diese selten Ruhe, Ruhe, die so befremdlich für mich ist, da so rein und unschuldig, muss, mal ganz abgesehen von unserer aktuellen Situation, genossen werden.
 

Alexander kann uns nicht töten. Er wird es nicht schaffen, dass ist ausgeschlossen. Meine Mutter hat einen Zuhälter, sie hat Freundinnen, die ebenfalls anschaffen gehen, und wenn sie nicht bei der Arbeit erscheint, werden sie nach ihr suchen. Denke ich.

Oder aber eine der Freundinnen schaltet die Polizei ein. Dann wird hier alles durchsucht. Sie werden den Finger unter dem Regal im Badezimmer finden und nach uns suchen.

Immerhin ist doch allgemein bekannt und dokumentiert, dass hier Kinder und Jugendliche leben. Oder?

Ich versuche mich selbst zu beruhigen, rede mir ein, es sei idiotensicher und blicke hinüber zu den anderen. Sie liegen dort, schlafen noch. Haben sich aneinander gekuschelt und die wenigen dünnen Decken, die wir in Discountern und in diversen anderen Geschäften gekauft und geklaut haben, über sich gezogen. Mary hat ihnen die Kissen gegeben, deshalb liegt sie auf dem Boden.

Oh Mary – was wäre ich bloß ohne sie. Sie ist mir wichtig, so sehr, dass ich nicht wüsste, was ich ohne sie tun sollte. Wenn ich mich alleine um die Zwillingskinder kümmern müsste, wäre dies gewiss mein Untergang. Ich bin doch kein Erzieher. Natürlich kann ich mich um Kinder kümmern, gelegentlich, allerdings nicht so viel und so intensiv, wie Mary. Nein. Offen gesprochen bin ich dafür wohl einfach viel zu egoistisch. Ob sie wohl schon mitbekommen hat, dass Alexander bis jetzt noch nicht wieder zurück gekehrt ist?

Bei meinem leichten Schlaf kann ich normalerweise immer vernehmen, was sich unter uns in der Wohnung abspielt. Alexander hat die Wohnung nach dem Mord an unserer Mutter und unserer netten kleinen Splatter-Einlage verlassen. Betreten hat er sie seitdem nicht mehr. Alles blieb ruhig. Zu ruhig. Tot. Angespannte Stille. Die zuvor von mir gelobte Ruhe wird zur Qual, zermürbend.

Aber, beruhige ich mich, er wird wiederkommen. Selbst er wird noch so viel Courage besitzen, sich nicht einfach aus dem Staub zu machen. Man kann Beweismittel nicht einfach offen herumliegen lassen. Ginge er endgültig, zuvor würde er uns erschießen, dessen bin ich mir sicher. So dumm ist er nicht.

Schweigend ziehe ich die Decke enger um meinen Körper, stehe auf, rutsche hinüber und lege mich dazu in das Knäuel von Armen und Beinen. Vielleicht kann ich so noch etwas schlafen, mir die Zeit verträumen und auf meine baldig zurückkehrende Freiheit warten, während mein Körper nach Nahrung und Wasser lechzt. Während meine Nase taub und rot wird vor lauter Kälte. Wieder steigen die Geister meines Atems über mir zur Decke.
 

Schlafen kann ich nicht.

Stocksteif liege ich hier und starre an die Decke, während ich weiterhin Gedanken an mir vorüberziehen lasse. Was wird geschehen, wenn Alexander plötzlich durch die Luke in unserem Raum springt? Wie werden wir uns verhalten? Sicherlich wird er uns, wie ich eben schon erwähnte, töten. Eiskalt. Dass er doch noch ein schlechtes Gewissen bekommt und uns herausholt, daran glaube ich nicht im entferntesten. Er kann das nicht einfach so tun, weil wir bei der Beseitigung einer Leiche geholfen haben. Wir wissen ganz einfach zu viel. Wir sind zu gefährlich. Des weiteren bestünde die Möglichkeit, dass wir den Zwillingskindern alles erzählt hätten – auch wenn wir so etwas niemals tun würden, ihre Traumaliste ist ohnehin schon viel zu lang. Ist es also ein Akt der Gnade, wenn er zurückkommt und uns einfach erschießt, anstatt uns verhungern zu lassen? Ein kurzer und schmerzloser Tod. Niemand wäre der letzte, derjenige, der, umgeben von drei Leichen, sein Ende erwarten darf. Er würde unsere Leichen zerstückeln und zur nächsten Müllverbrennungsanlage schaffen. Dann würde er eine Vermisstenanzeige aufsetzen lassen, von der Polizei, und ein schönes, ruhiges und neues Leben ohne uns alle beginnen. So kurz unser Leben war, so schnell hätte man uns also auch wieder vergessen. Ausgelöscht vom Gesicht der Erde, ohne einen Hinweis auf unsere ehemalige Existenz zu hinterlassen.

„Meinst du, wir sollten die anderen noch schlafen lassen?“, flüstert eine leise Stimme in mein Ohr. Heftig zucke ich zusammen und ziehe erschrocken die Luft ein, doch es ist nicht Alexander. Für einen kurzen Moment habe ich doch tatsächlich damit gerechnet, dass mein letztes Stündlein geschlagen hat. Ein miserables Gefühl.

Ein Rascheln hinter mir. Ich drehe mich um und blicke in ein paar eisblauer Augen. Mary. Sie sitzt in ihrer Decke, das blonde Haar lang und zerzaust. Ihr Haar lässt sie gute drei Jahre älter aussehen.

„Wie lange bist du schon wach?“, frage ich leise, im leisesten Flüsterton. Sie hat ihre wachen, schwarzen Pupillen auf mich gerichtet und mustert mich ununterbrochen. Sie zucken hin und her, und geben ihr, obwohl sie so ruhig dasitzt, ein nervöses Aussehen.

„Ich weiß nicht. Schon länger, hab keine Uhr.“

Ein schwaches Nicken ist meine Antwort. Schweigen.

“Woran denkst du?”, haucht sie leise.

„Wenn sie schlafen, spüren sie den Hunger nicht.“

„Lass uns die Flaschen schon mal auffüllen, ich kann nicht länger tatenlos herumsitzen.“

Sie erhebt sich, doch ich packe sie am Ärmel und ziehe sie unsanft wieder zurück in die Kissen. Im nächsten Augenblick hätte ich mich dafür schlagen können. So grob und rabiat, wie ich gehandelt habe, ist es ein Wunder, dass die Zwillinge nicht aufgewacht sind.

„Lass gut sein, Mary… der Lärm der Wasserleitungen weckt sie erst recht.“

Ein leises Seufzen ihrerseits folgt, doch sie weiß, dass ich Recht habe. Sie deckt sich erneut zu und schließt für kurze Zeit ihre Augen. Als sie das nächste Mal aufgeschlagen werden, bin ich wieder im Zentrum ihres Fokus.

„Sag, Josh”, beginnt sie zögernd und zieht die Augenbrauen ein wenig hoch. Sie überlegt haargenau, wie weit sie gehen kann, ehe sie mich durch ihre Fragestellung verärgert. Also wird nun ein ernstes Gesprächsthema folgen. Ein Thema, von dem ich betroffen bin. Mit einem stummen Nicken fordere ich sie dazu auf, ihrer Äußerung Luft zu machen.

„Warum hast du Emily so angefahren, als sie den Bügel nicht aufbekommen hat? Gestern, als Alexander gegen die Luke gepoltert hat. Also, nicht, dass es in dem Stress ungewöhnlich wäre, aber ausgerechnet von dir sind wir sowas nicht gewohnt.“

Schweigend leckt sie sich über die Lippen, schlingt die Arme um ihre angezogenen Knie und wirft einen Blick hinaus aus dem Plexiglasfenster, der einzigen, unzerstörbaren Lichtquelle, die wir besitzen.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis mein Verhalten in dieser Situation zur Sprache kommen würde. Dieser Gemeinschaft hier entgeht nicht der kleinste Fehler. Alles wird erfasst, geistig dokumentiert und analysiert. Teils aus Sorge, teils aus Eigennutz.

„Werde wohl einfach die Nerven verloren haben“, murre ich, schüttele mir mit einem Kopfnicken eine Strähne aus dem Gesicht und fahre mit den Fingerspitzen über die raue Oberfläche des Bodens. Kalt.

Ja, das wird es gewesen sein. Diese ständige Anspannung, dieser Stress, die ganze Zeit. Das ist der Grund. Niemand kann von mir verlangen, immer perfekt zu sein. Immer der Mensch zu sein, den andere sehen wollen, nur weil es ihnen Sicherheit und Schutz gibt. Muss nicht jeder Mensch selbst sehen, wo er letzten Endes bleibt?

„Du hast ihr weh getan, Joshua. Sie hat eine hellblaue Stelle am Ellenbogen, weil sie deinetwegen hingefallen ist und ich bin mir sicher, dass er im Verlauf der nächsten Tage noch um einige Nuancen dunkler werden wird.“

„Das kann genauso gut durch Alexander passiert sein“, knurre ich und spüre aufflammende Aggressionen in meiner Brust. Es war keine Absicht, dass ich, als ich sie zur Seite nahm, ein wenig grober geworden bin, es ist einfach passiert. Hab die Nerven verloren, wie schon gesagt. Muss es erst alltäglich werden, wie bei Alexander, damit sich keiner darüber aufregt?. Nicht mehr darüber aufregt.

„Nein, er ist noch ganz frisch. Und als er uns gestern verdroschen hat, ist sie raus gelaufen, als er sie für einen Moment nicht beachtet hat. Gut für sie. Aber Joshua, wir, gerade wir beide müssen versuchen, die Beherrschung zu waren. Für die beiden. Sie haben nur uns. Und wir haben nur sie. Auch, wenn es bedeutet, dass wir schneller erwachsen werden müssen als andere Menschen in unserem Alter.“

Ihre Stimme wird leiser, und als sie sich wegdreht, sehe ich ein schwaches Glitzern in ihren Augen. Sofort wischt sie es weg, atmet tief durch und legt ihren Kopf auf die verschränkten Arme. Sie hinterlässt den Hauch eines schlechten Gewissens in mir.

Herzlichen Dank.

Schweigend drehe ich mich um, ziehe die Decke über mich, schließe die Augen und presse meine Hand in die Magengrube, um das ständige Knurren zu unterdrücken. Nach drei Tagen ohne Essen verflüchtigt sich das Hungergefühl meist von selbst, doch die Zeit bis dahin ist wirklich kräftezehrend. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sie irgendwie zu überbrücken.

„Ich hab Hunger.“

Es ist Emilys quengelige Stimme, welche zu uns hinübertönt. Ich weiß nicht, ob sie durch das Geflüster oder Marys Sturz zurück in die Kissen geweckt wurde. Vielleicht hat sie nur auch einfach ausgeschlafen und will endlich wissen, wie es weiter geht. Bitter, aber wir währen wohl ein ganzes Stück weiter, wenn wir wüssten, was zu tun ist.

„Und es ist kalt.“

Auch Lucy hat ihre Augen aufgeschlagen und blickt uns herzerweichend an. In der Regel bekommt sie so alles, was sie haben möchte. Heute nicht. Mary seufzt leise und verschränkt die Arme.

„Deck dich zu und beweg dich. Das hält warm, wach und fit. Ihr wisst doch, dass wir hier oben weder Essen noch eine Heizung haben. Benehmt euch bitte, dass macht es für uns alle einfacher.“

“Emily”, lächele ich und stehe auf. Ich nehme ihre Hand, helfe ihr auf die Beine. Sie ist so ein hübsches Mädchen, trotz allem. Sie ist, schlaftrunken, noch immer etwas wacklig auf den Beinen, und ihr langer Rock ist mehr im Weg, als dass er Bewegungsfreiheit lässt.

“Lass uns hinüber gehen und die Flaschen mit Wasser füllen. Ihr seht alle aus, als könntet ihr etwas zu trinken vertragen. Komm, Emily.”

Mit tapsigen, kleinen Schritten folgt sie mir, hält meine Hand so fest umklammert, als würde sie sonst verloren gehen. Sie ist so wie immer, folgt mir auf Schritt und Tritt, und das, obwohl ich gestern so grob zu ihr war..

In einer Ecke des Raums steht eine alte Kiste. In diesen lagern Flaschen, Glasflaschen, Plastikflaschen, ein paar Konservendosen, die wir vor der Mülltonne retten konnten. Da unsere finanzielle Lage seit jeher wacklig ist, beschlossen wir, nachdem sie uns das erste Mal das Wasser abdrehten, als wir hier oben waren, das Wasser lieber in Flaschen zu bunkern, anstatt es lediglich aus dem Wasserhahn zu beziehen. So war unser Leben selbst ohne fließendes Nass noch ein paar Tage gesichert. Bis es zu diesem Ernstfall kam, würde es, hoffentlich, sehr abgestanden sein. Hoffentlich.
 

An und für sich ist dieses dachbodenähnliche, geheim gelegene Geschoss, in dem wir uns aufhalten, schon eine interessante Konstruktion. Er hat seine zwei Räume, davon einer ähnlich einem richtigen Bad. Genau genommen ist es nur ein gefliester Raum mit einem Wasserhahn in der Wand, doch wir haben ihn so gut es möglich war eingerichtet. Ein kleiner, gesplitterter Spiegel hangt über dem Hahn, und Kisten mit längst vergessenen Habseligkeiten stehen überall herum. Und auch, wenn sich keiner so recht erklären kann, was sie hier sucht - auch eine Toilette ist vorhanden. Man könnte glatt meinen, wir befänden uns in einer Art Bunker. Dumm nur, dass es keine Bomben gibt, vor denen man sich verstecken kann. Dies hier ist eine sinnlose Investition.

Soweit ich mich entsinnen kann, läuft das Wasser auf unsere Rechnung. Ein weiterer Grund, warum sie uns schnell finden werden. Sollte Alexander tatsächlich nicht zurückkehren, so wäre ein dennoch bestehender Wasserverbrauch ganz und gar ungewöhnlich. Verdächtig. Über kurz oder lang würde man nachsehen und uns finden.
 

Dann gäbe es da noch das sogenannte “Wohnzimmer”, also der Raum, in dem wir die meiste Zeit verbringen. Es ist der Raum, in dem man landet, wenn man unser kleines Gefängnis durch die Luke im Badezimmer betritt. Schön ist es hier nicht - man sieht diesem Ort sein Alter recht deutlich an - Farbreste hängen abgeplatzt von der Wand, der Boden ist fleckig, staubig. Auch die Dielen scheinen ihre besten Jahre lange hinter sich gebracht zu haben. Lang schon haben sie ihre Farbe verloren, wirken eher grau denn braun. Die Feuchtigkeit der vergangenen Jahrzehnte hat sie unregelmäßig werden lassen, achtet man beim Gehen nicht auf seine Schritte, stößt man sich den Zeh oder rammt sich Splitter in den Fuß. Besser ist es, man trägt hier oben festes Schuhwerk.

Auch, wenn es nicht den Anschein macht, ist unsere unfreiwillige “Wohnung” sehr gut isoliert. Alexander hat hier oben schalltechnisch alles abgedichtet, als sich abzeichnete, dass wir unsere Tage des öfteren hier oben verbringen würden. Man kann brüllen, stampfen, sich auf den Boden werfen - und doch gibt es niemanden, der dich hört. Ein schalldichtes Grab.
 

Als ich die Kiste auf dem Boden abstelle, scheppert sie leise. Ich öffne sie. Zerkratzte und angeschlagene Flaschen liegen darin, große, sauber ausgespülte, aber langsam rostende Konservendosen. Ein paar der Flaschen sind aus Glas, die meisten bestehen jedoch aus Kunststoff und zeigen deutliche Verschleißspuren..

Sie wurden nie gespült, jeder überflüssige Wasserverbrauch wird hier zur Gänze eingestellt.

Schweigend schichte ich den Inhalt der Kiste in Reih und Glied vor mir auf, schraube, wenn notwendig, den Deckel vom Flaschenhals und lege ihn zur Seite. Anschließend werfe ich meiner Schwester, die mich währenddessen angestarrt haben muss, einen Blick zu.

„Du kannst aufdrehen, Emily“, bemerke ich und sehe, wie ihre zarten, blassen Finger sich um den Wasserhahn schließen. Das vertraute Rattern viel zu alter Rohre durchzieht den Raum, dann spritzen erste Tropfen rostbraunen Wassers in das weiße Becken. Ein dünner Wasserstrahl entwickelt sich, doch gerade, als das Wasser eine Farbe annimmt, die vermuten lässt, dass es sich um eine trinkbare Flüssigkeit handelt, versiegt es.

Die Rohre verstummen, hinterlassen eine Stille, die ganz und gar unangebracht wirkt.

„Josh…“, ertönt die verunsichert klingende Stimme meiner kleinen Schwester.

Irritiert ziehe ich die Augenbrauen zusammen und betrachte das Dilemma, stehe auf. Nachdem ich Emily gebeten habe, mir Platz zu machen, drehe ich den Hahn mehrmals auf und zu. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel offenbart mir das schmale Gesicht eines jungen Mannes, dessen Augen blutunterlaufen in den Augenhöhlen liegen. Mein schwarzes Haar scheint sich beinahe in die weiße Haut hineinzuschneiden.

Noch immer schweigt der Wasserhahn. Das kann gelegentlich vorkommen, auch unten in der Wohnung. Es ist ein altes Gebäude, also versagen manche Geräte gelegentlich den Dienst. In der Regel hilft es hier, unsanft zu sein, also schlage ich zwei mal mit der flachen Hand dagegen. Als das nichts hilft, versuche ich es mit der Faust. Immer noch nichts, alles trocken. Ich untersuche den Hahn auf eventuelle Beschädigungen. Nichts. Versucht, nicht die Nerven zu verlieren, warten wir einige Minuten, dann versuchen wir es erneut. Immer noch kein Wasser. Entnervt und beunruhigt fahre ich mir mit der Hand durchs Haar.

Es scheint, als hätte man uns das Wasser abgestellt. Verdammt.

„Emily, geh und hol Mary, ich muss mit ihr reden.“

Gehorsam nickt sie, dreht sich um und läuft mit gerafftem Rock aus dem Zimmer. Keine Minute später steht meine Cousine im Raum. Sie wirkt gestresst und blickt mich nicht an, als sie sich mit einem Zopfgummi die Haare zusammenbindet.

„Emily sagt, es gibt Probleme?“

„Gibt es“, murre ich und verschränke die Arme. “Wir haben kein Wasser.”

Ich deute auf den Wasserhahn, welcher noch immer aufgedreht ist, sich jedoch weigert, sein Wasser herzugeben.

„Und die übliche Prozedur ist durch?“, spielt sie auf gelegentlich wirksame Tritte und Betteleien an, geht auf ihn zu und beginnt, ihn zu befingern. Eine Abart der Frauen. Sie können nichts begreifen, solange sie es nicht angefasst haben.

„Mehrmals. Hat aber nicht geholfen. Am Anfang gab’s den üblichen Schwall Rostwasser, dann plötzlich gar nichts mehr.“

Schweigend schiebe ich die Hände in die Hosentaschen, erwarte eine Antwort, die uns unter Umständen aus dieser Lage heraushelfen kann. Sie enttäuscht mich.

„Das ist… nicht gut”, murmelt sie leise und entlockt mir ein leises Brummen, welches als Antwort herhalten muss.

Sie hebt die Augenbrauen und dreht am Wasserhahn herum. Es kommt immer noch nichts. Ihre schlanken Finger ziehen sich zurück und verschwinden wieder in der Bauchtasche, welche an dem Sweatshirt, welches sie trägt, festgenäht ist. Mary war schon immer ein wenig kontrollsüchtig. Selbst bei den banalsten Dingen glaubt sie mich nicht, bevor sie sich selbst überzeugen konnte. Wahrscheinlich wird ihr dieses Nicht-vertrauen-können, eine recht ausgeprägter Charakterzug ihrerseits, im späteren Leben noch zu schaffen machen. Was soll’s. Jeder von uns trägt ein kleines Päckchen auf seinem Rücken, mit dem er sein Leben irgendwie meistern muss.

„Weißt du, ob die Rechnungen bezahlt sind?“

„Sind bezahlt“, antworte ich, verschränke die Arme erneut und mustere sie nachdenklich von oben bis unten. “Hab die Überweisung vor zwei Wochen selbst auf die Bank gebracht, nachdem ich zwei Mahnungen aus dem Briefkasten gefischt hatte.”

Die meisten in unserem Viertel haben irgendwas mit irgendwelchen Kredithaien zu tun. Und auch die Stromanbieter sind, ungeachtet momentanen gesellschaftlichen und politischen Situation, ohnehin eher am eigenen Profit interessiert. Ein, zwei Mahnungen, dann stehen schwarz gekleidete, zwei Meter große Schränke vor deiner Haustür. In den letzten dreißig Jahren, Jahre, frei von detonierenden, atomaren Sprengköpfen, nicht lange, nachdem die Menschen langsam aber sicher aus ihren Schutzbunkern zurück ans Tageslicht krochen, hat sich eine Gesellschaft entwickelt, in der Recht und Ordnung nicht länger garantiert sind. Es gibt große, teilweise stark kapitalistisch geprägte Clans, die in ihren Bezirken sagen, wo oben, und wo unten ist. Mit einem stabilen Staat ist dies jedoch nicht vergleichbar. Deshalb achten wir, so gut es geht, auf die Rechnungen, ob sie bezahlt sind, oder nicht bezahlt sind, ob wir schon Mahnungen bekommen. Das erleichtert es uns, abzuschätzen, ob wir hier oben eine optimale Versorgung erhalten oder nicht. Ob wir diverse, zusätzliche Probleme bekommen, oder nicht. Oder wie lange es in etwa dauert, bis wir überhaupt wieder eine Versorgung erhalten. Klingt kompliziert, wird aber zum Alltag wie alles andere auch.

Nachdenken. Wie genau war das noch gleich? Mit den Wasserrechnungen der letzten Monate war es ein einziges Chaos.

„Wir haben zwei Mahnungen bekommen wegen der Rechnung“, erinnere ich mich und hebe nachdenklich die Augenbrauen. „Ich hab die Überweisung dann zur Bank gebracht. Entweder ein interner Fehler oder aber sie ist verloren gegangen. Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass das Geld noch immer nicht eingegangen ist.“

„Oh scheiße!”, faucht sie niemand bestimmtes an und wischt sich eine mit getrocknetem Blut gefärbte Strähne aus der Stirn. “Verrat mir mal bitte, was wir jetzt machen sollen. Ohne Wasser können wir gleich einpacken! Ich fass es nicht...”

„Lass den Wasserhahn einfach offen, etwas anderes wird uns kaum übrig bleiben.” Ich zucke ratlos mit den Schultern und werfe dem Waschbecken einen flüchtigen Blick zu.

„Sobald die uns das Wasser wieder anstellen, wissen wir Bescheid. Lass uns den Hahn in Schichten überwachen, damit nichts verloren geht, wenn die endlich mal bemerken, dass die Rechnung bezahlt ist. Lucy übernimmt die erste Schicht, ich gehe kurz rüber und erkläre ihr die Situation.“

Meine Cousine hat sich inzwischen wieder neben die Kiste gekniet und legt die umstehenden Flaschen und Dosen zurück. Sie ignoriert mich, daher verlasse ich den Raum ohne ein weiteres Wort..
 

„Lucy, jetzt beruhige dich. Du brauchst keine Angst haben, das wird sich schon wieder einrenken.“

Vorsichtig fasse ich nach ihrem Arm, doch sie kriecht nur weiter in die Ecke und starrt mich mit großen, blauen Augen an. Sie ist anders als Emily, weißt eine vollkommen andere Persönlichkeit auf trotz der Tatsache, dass sie Zwillinge sind. Emily mag zwar ruhig sein und höflich - sie bringt immer zur rechten Zeit den Tee, tut nach Leibeskräften alles, damit wir uns wohlfühlen, etwas, was bei Alexander so gut wie unmöglich ist - doch sie birgt eine große Portion Selbstbewusstsein. Etwas, was Lucy über all die Jahre ausgeprügelt wurde.

„Ich möchte hier wieder raus“, murmelt sie und wie auf Knopfdruck kullert eine erste Träne über die blassen, mit einem hauch Rosa versehenen Wangen. Ein schwaches Lächeln huscht mir über die Lippen, während ich die Hand ausstrecke und ihr die salzige Flüssigkeit von den Wangen streiche. Das Leid anderer in meiner Gegenwart bringt mich immer in Verlegenheit. Es ist die erste Träne während dieses Aufenthaltes hier oben, und eine Vorahnung beschleicht mich, dass noch viele weitere folgen werden. Ich habe das Gefühl, dass sich dieser Aufenthalt grundlegend von den anderen Unterscheiden wird.

Klaustrophobie, also Platzangst, macht Lucy zu schaffen, seit Alexander uns das erste Mal hier oben vergaß. Drei Tage abgeschnitten von der Außenwelt. Als man uns raus holte, waren wir bleich vor Angst und fast verdurstet. Seitdem steht sie die erste Zeit immer ein wenig neben sich. Dann weint sie stundenlang, knabbert an ihren Haaren oder ihren Fingernägeln, rollt sich in den Kissen zusammen oder vergräbt sich in ihnen. Manchmal, wenn es besonders schlimm ist, sitzt sie an der Luke und kratzt daran herum, auch wenn ihr klar ist, dass es nichts bringen wird. Früher haben wir sie dann immer irgendwie fixiert, doch nachdem wir bemerkten, dass dieses Verhalten nach der Eingewöhnung schwindet, lassen wir sie. Emily ist dann immer etwas weinerlich zumute, Mary und ich haben uns jedoch schon lange daran gewöhnt.

Hat Lucy sich dann endlich mit der Situation abgefunden, versucht sie sich beschäftigt zu halten, indem sie uns Getränke holt. Oder aber sie verkriecht sich stumm mit einem der wenigen Bücher unter die Decken. Wenn sie dort dann so ruhig sitzt, bedeutet das in der Regel Entspannung für uns. Ein Kind weniger, um das wir uns kümmern müssen..

„Lucy, beruhige dich. Wir sind doch hier. Mary ist drüben. Es gibt nichts, wovor du dich fürchten musst.“

Sie hat die Nachricht von dem ausgegangenen Wasser nicht sonderlich gut vertragen. Stumm breitet sie die Arme aus. Hilfesuchend. Dann krabbelt sie zu mir und kuschelt sich an mich, währen ich ihr mit der flachen Hand über den Kopf streiche. Ich habe derweil Emily ins Badezimmer geschickt, sie übernimmt die erste Schicht. Seit einer halben Stunde versuche ich, Lucys geistigen Zustand einigermaßen stabil zu halten. Es hilft alles nichts. Ich weiß nicht genau, wie viel sie wissen. Natürlich haben sie die Schüsse gehört. Sie wissen von dem Schrotgewehr im Wohnzimmer. Und sie haben das Blut gesehen, das an uns haftet. Wir stinken nach schrecklichen Taten, und das beunruhigt sie. Vollkommen zurecht.

Lautlos seufzend hebe ich sie hoch und stapfe mit ihr zurück zu dem Kissenberg in der rechten Ecke des Raumes. Dort setze ich mich hin, lasse sie nicht los. Sie braucht mich jetzt. Sie braucht jeden, denn sie ist die zerbrechlichste von uns allen. Sie kann biestig und zickig sein, wie Mädchen in dem Alter nun einmal sind. Wie eine kleine Prinzessin. Aber sie ist so dünn, zu dünn. Ihre Arme sind wie Flügel einer kleinen Elfe, und sie hat Beine wie Zahnstocher, ist noch nicht in der Pubertät, genau wie ihre Zwillingsschwester. Das Alexander ihr bei dieser körperlichen Statur noch nichts gebrochen hat, grenzt wahrlich an ein Wunder. Das schönste an ihr ist das Haar. Lang, weich und seidig. In der Regel trägt sie es zu einem Zopf gebunden, und wenn sie abends die Frisur löst, fallen ihr die Locken weich über die Schulter. Sie und Emily sind der Grund, warum ich mir dies alles mit meinen siebzehn Jahren noch antue. Ich könnte längst fort und über alle Berge sein. Das bringe ich nicht fertig, denn mit Sicherheit bedeutete dies ihr Ende. So egoistisch kann selbst ich nicht sein.

“Stell dir mal vor, sie holten uns hier heraus”, schmunzele ich und werfe ihr einen Blick voll gefälschter Heiterkeit zu. Sie hebt den Kopf und sieht mich mit großen Augen an.

“Wir kämen zu einer neuen Familie. Zu einer Familie, in der Ordnung herrscht, eine Familie, in der sich die Eltern noch lieb haben, eine Familie, in der wir erwünscht sind. Klingt das gut für dich?”

„Wie meinst du das, Joshua?“, fragt sie mich mit ihrer gebrochenen und kratzigen Stimme. Sie hat schon lange nichts mehr getrunken.

“Du hast doch gehört, das Mama zu Alexander gesagt hat, dass sie die Scheidung will. Das heißt, sie verlässt ihn und nimmt uns mit. Und dann sehen wir ihn nie wieder, haben endlich unsere Ruhe und leben ohne Gewalt und Armut.“

Oh Gott, was bin ich nur für ein verdammter Lügner. Aber – offen gesprochen – ein verdammt guter. Manchmal ist es einfach besser zu lügen, als einem Kind eine Wahrheit aufzutischen, die es höchstwahrscheinlich nicht einmal versteht. Erneut streiche ich ihr über den Kopf und den Rücken. Reine Pflichterfüllung. Mir war körperliche Nähe, sei es mit Bekannten oder mit Familienangehören, bislang ohnehin eher ein Graus. Abstand ist mir lieber. Dann kann ich beobachten, abschätzen. Ich zeige nur selten ehrliche Gefühle, das meiste ist einstudiert.

„Wenn du das sagst…“ Sie lächelt schwach und schließt die Augen.

„Aber ich glaube, Papa ist noch gar nicht wieder nach Hause gekommen. Oder Mama. Sind wir momentan allein hier?“

„Hör mal Lucy… Papa ist ausgezogen und Mama ist momentan wahrscheinlich bei einer Freundin, damit Alexander ihr nicht zu nahe kommen kann. Wir sind nur hier gelassen worden, weil Mutter weiß, dass uns hier oben niemand etwas tun kann. Bald holt sie uns ab und dann fangen wir komplett von vorne an.“

Das würde natürlich niemals passieren. Mama war in Kisten auf den Weg zu einer Müllverbrennungsanlage, alles von ihr, bis auf ein Stück ihres Fingers, der im Badezimmer lagerte. Vielleicht sogar lagen noch Munitionsreste im Wohnzimmer. Verräterische Indizien. Betrunken, wie er meist war, hatte er sicher vergessen, sie fortzuräumen. Es war seine Waffe. Eindeutiger ging es beinahe nicht mehr.

Aber das wollte ich Lucy nicht erzählen. Genau so wenig wie Emily. Ich hoffe doch sehr, dass sie noch nicht verstanden haben, was unten geschehen ist. Sie brauchen etwas, was ihnen den Glauben gibt, hier jemals wieder lebendig rauszukommen.

„Joshua, mir ist nicht gut.“

Lucy hat sich mittlerweile aufgerichtet und sieht mich mit ihren blauen Augen an. Ohnehin haben alle aus dieser Familie blaue Augen, bloß ich nicht. Meine sind stahlgrau.

Ein weiteres Indiz dafür, dass ich die Stellung des schwarzen Schafes von meinem Vater erben werde. Fraglich ist, ob dieser Stellung etwas positives oder negatives anhaftet. Wie soll man verstanden werden, wenn man anders tickt als die Mehrheit? Sozialer Darwinismus treibt einen auf ewig in die Enge.

Ein leises Geräusch dringt aus dem Badezimmer. Es muss Emily sein, die umher stehende Kisten nach Dingen durchsucht, die ihre Langeweile vermindern können. Alles Spielzeug – sofern wir welches besitzen, und Kartenspiele, alte Zeitschriften, Bücher, Dinge, die unten keiner mehr brauchen kann. Derweilen wartet sie auf unser Wasser.

Es klingt, als hätte sie gerade die alte Stoffpuppe, welche Mary ihr vor ein paar Jahren genäht hat, ausgegraben. Meist sucht sie gezielt danach und bringt Lucy ihre mit, denn es sind zwei. Zwei Puppen, aus Stoff, mit einem Porzellankopf. Sie tragen Kleidchen und haben purpurrote Lippen. Mary ist keine Hausfrau oder etwas vergleichbares. Weder näht sie, noch kocht sie gerne. Aber es begab sich, dass Mary im Hauswirtschaftsunterricht ein Püppchen nähen sollte. Sie nähte zwei und gab sie den Zwillingen. Das trügerische Gefühl von Schutz und Sicherheit, welches von den Puppen abstrahlt, scheint sie doch ein weniger glücklicher zu machen.

„Wenn Alexander bloß nicht wäre…“, klingt ihre Stimme aus dem Bad.

„Dann wären wir nicht hier oben, nicht wahr, Polly? Nie wären wir hier oben…“

Sie spricht weiter, führt den Monolog mit sich selbst fort, über Minuten. Vielleicht auch Stunden, wer weiß das schon. Die Frage, ob sie sich in solchen Momenten einsam und verlassen fühlt, springt mir in solchen Situationen öfter durch den Kopf, als das es gut für mich wäre. Wir bemühen uns nach Leibeskräften, Mary und ich, aber wir wissen genau, dass es nicht ausreicht. Diese Frustration bleibt ungesehen, innerhalb dieser Familie. Wir tragen es nach draußen, gehen mit unseren wenigen Freunden aus gleichem, familiären Umfeld auf Gangjagd und schlagen uns die Sorgen aus dem Kopf. Es ist gut möglich, dass wir so gelegentlich erst gegen drei oder vier Uhr morgens nach hause kommen. Wird es so spät, waren wir unter Garantie in etwas brutales, heftiges, verwickelt. Oft sind wir blutüberströmt, verschwitzt und schmutzig.

Es ist eigenes, mit fremdem Blut vermischtes. Aber für einen kurzen Zeitraum ist man glücklich, irgendwie. Denn die Mutter arbeitet, der Vater verschläft seinen Rausch. Sämtliche Aggressionen wurden zuvor abgebaut, man ist beinahe ausgeglichen. Die Zwillinge liegen im Bett, schlafen. Oder warten auf uns, unruhig und ängstlich, wenn Alexander wieder einmal die Kontrolle über sich selbst verloren hatte.

Zu aller erst aber gehen wir ins Bad und säubern uns – den nächsten Morgen verbringen wir unaufmerksam, mit Augenringen in der Schule, nur um des Nachts erneut durch die Straßen zu ziehen. Mutter kann mir nicht erzählen, dass sie nichts von diesen Eskapaden bemerkte, denn sie ist es, die sich um den Haushalt und die Wäsche kümmert. Nie hat sie etwas dazu gesagt. Auch Alexanders Ausbrüche ließ sie unkommentiert, bis sie die Scheidung forderte und starb. War es ihr denn egal, wie unser Alltag außerhalb des Heimes und der Schule aussah? Niemals werde ich Antwort auf diese Frage erhalten. Es hat bis heute keinen Interessiert und es wird in Zukunft auch keinen interessieren. Auf mich allein gestellt, werde ich schneller erwachsen als andere Menschen in meinem Alter.

Alexander ignorierte unser nächtliches Fernbleiben zumeist. Ein einziges Mal erwischte er uns. Nur einmal. Die nächsten drei Tage verbrachten wir im Bett, angewiesen auf die Führsorge meiner Geschwister. Sie kümmerten sich um uns, kühlten die Hämatome, verbanden die Wunden. Emily weinte viel in diesen drei Tagen. Und auch, wenn ich diese drei Tage niemals vergessen werde, so hielt es mich doch nicht davon ab, des nachts wieder hinaus zu gehen. Die Bandenkriege aufs neue auszutragen. Erst waren sie eine bloße Gewohnheit, dann wurden sie zur Sucht. Man stellt das Denken ein. Beginnt zu rauchen, zu saufen, zu ficken. Gibt man dann nicht auf sicht Acht, endet man so wie mein Vater.
 

Der Gesang meiner Cousine reißt mich aus den Gedanken. Sie singt ein Lied aus Kindertagen, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann. Es wirkt so friedlich aus ihrer Kehle, gar unschuldig. Unweigerlich fühle ich mich an meine vergangene, weitestgehend glückliche Kindheit erinnert. Zeiten, in denen alles in Ordnung und wohlgesonnen war, trotz dieser Gesellschaft da draußen.

Ein zynisches Lachen entrinnt meiner Kehle. Ein trockenes und hohes Lachen, welches leise beginnt und dann an Lautstärke zunimmt. Es ist das Lied, welches Mary Jane Kelly am Abend ihrer Ermordung durch Jack the Ripper sang. Es ist das Lied ihres Todes.

Ich glaube nicht, dass Mary über die Geschichte dieses Liedes Bescheid weiß.

„Von welchen glücklichen Tagen redest du, Mary?“, frage ich sie und grinse spöttisch, während ich mir eine der kobaltschwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht wische und die Augen für kurze Zeit schließe. Es ist noch immer kalt in diesem Raum. Mir ist schwindelig vor Hunger und Durst. Dieser kurze, spitz formulierte verbale Seitenhieb ist daher eine wahre Wohltat. Ich weiß schon, dass ich besser nett zu meiner Cousine sein sollte. Aber so, wie ich zur Zeit zu leben gezwungen bin, ist es gelegentlich beinahe unmöglich, sich an Prinzipien zu halten, die unter normalen Umständen beschlossen wurden. Und außerdem macht es, muss ich zugeben, wirklich ein wenig Spaß.

„Es gab welche, Joshua“, antwortet sie mir mit hochgezogenen Augenbrauen und einem scharfen Tonfall, der mir suggerieren soll, dass ich nicht weiß, wie meine Vergangenheit aussieht.

“Bevor Alexander seinen Job verlor. Alles hatte seine Ordnung, wir hatten ein schönes Heim, einen geregelten Tagesablauf, Freunde. Und dann ist einfach alles den Bach runter gegangen. Wir dürfen niemals aufhören, uns zu erinnern, Joshua, denn...“

„…vielleicht ermöglicht uns diese Erinnerung eines Tages ein geregeltes Leben.“

Natürlich. Diesen Spruch höre ich täglich, seit Jahren. Es ist ein Leitfaden, an den Mary sich schon seid Jahren klammert, der ihr Hoffnung gibt, wenn sie nicht mehr weiter weiß. Sie hat noch nicht aufgegeben, hat ihre Hoffnung, irgendwann aus dieser totalitären Familie auszubrechen und ein normales Leben zu führen noch nicht aufgegeben. Sie ist fest davon überzeugt, dass die Chance eines Tages vor ihrer Tür steht. Bis dahin heißt es schlicht und einfach durchhalten.

Die Zwillinge wissen nicht, wie lang so ein Leben ist. Wie es sich strecken kann, als sei es Kaugummi. Ein unendlich langer Faden, den man manchmal nur noch durchschneiden möchte. Oft schon wollte ich schneiden. Doch mir fehlt die Schere, es zu tun.
 

Ein weiterer Tag hier oben neigt sich dem Ende. Lucy, dich sich inzwischen von ihrem klaustrophobischen Anfall erholt hat, läuft ins Badezimmer, um ihre Schwester für die Nacht abzulösen. Sie bestand darauf, es zu tun, auch, wenn ich sie nachts eigentlich nicht gerne allein wachen lasse. Den ganzen Tag hat sie verschlafen, damit sie die Nacht durchhält. Angst wird sie dennoch haben. Also stellen wir es ihr frei, uns zu wecken, wenn sie es gar nicht mehr aushält. Wir passen schon auf sie auf.

„Was würde ich dafür geben, ein Fenster zu öffnen“, wispere ich leise vor mich hin, während wir Kissen in zusammengenähte Bettlaken stopfen. Sie müssen einmal weiß gewesen sein, haben über die Jahre jedoch den Schmutz ihrer Umgebung aufgesogen. Nun sind sie cremefarben, grau, mit Kummer überzogen. Wir benutzen die mit Kissen gefüllten Laken in der Regel als Matratzen, übrig gebliebene Tücher als Decken. Normalerweise wird alles direkt am ersten Tag vor Einbruch der Dunkelheit vorbereitet, doch nach der Erkenntnis, dass unser Tod hier oben lauert, hatten wir einfach keine Kraft mehr, irgendetwas zu tun.

„Ich würde viel mehr darum geben, aus diesen Klamotten hier rauszukommen“, flüstert Mary mit bitterem Tonfall, legt sich auf ihr fertig vorbereitetes Lager und zieht mehrere Laken über ihren dünnen Körper.

Ähnlich wie Lucy ist auch sie viel zu dünn. Ihre schwachen, kaum ausgeprägten weiblichen Formen drücken sich nur schwach durch das hauchdünne Bettlaken. Sie könnte schön aussehen, so, wie sie dort liegt. Doch ihr Haar ist kraus und ihre Fingernägel, die sich in das fleckigweiße Laken krallen, sind schmutzig. Ich will nicht wissen, wie viel von diesem Schmutz vom Körper meiner Mutter stammt.

Ich muss würgen, beuge mich zur Seite und lege die Hand flach auf den Bauch. Der Drang schwindet, doch ein schwaches, warmes Pochen verbleibt in meinem Magen.

„Bei dem ganzen Zeug, was an uns anhaftet, kein Wunder. Ich will kotzen, wenn ich auch nur daran denke.“

„Ja.“

Sie nickt schwach und zieht die Luft tief in ihre Lungen. Ihr Brustkorb nimmt an Volumen zu, hebt und senkt sich in fein moduliertem Rhythmus. Kaum merklich, doch mir entgeht nichts. Ich achte auf Details.

„Außerdem stinken sie.“

„Das würden sie früher oder später sowieso“, entgegne ich mit einem trockenen Lachen und lege mich zu ihr, verschränke die Arme hinter meinem Kopf. Ich blicke an die Decke, die so niedrig ist, dass man hier kaum stehen kann. Es ist schon dunkel, aber wir haben keine Kerzen angezündet.

“Die Blutflecken sind tausend Mal schlimmer. Immer, wenn ich sie ansehe, kommt alles wieder hoch.”

„Schon“, flüstert sie, dreht sich auf die Seite, stützt sich auf den Ellenbogen ab und auch wenn mich die Dunkelheit fast blind macht, weiß ich, dass sie mich ansieht. Ihr Blick ruht auf mir und lässt mich insgeheim erschaudern. Ich zeige es nicht, stillschweigend halte ich dem stand - und das alles lediglich meiner eigenen Schwäche zum Trotz. Ist das nicht irgendwie lächerlich? Stolz hat schon viele Leben gekostet.

Stolz, der Luxus der Armen.

Die nächsten Minuten ist es ruhig in unserem kleinen Raum hier oben im Plattenbau, einem traurigen Haus, in dem keiner den anderen richtig kennt und sich im Schutz seiner Anonymität sonnt, bis er sein Leben aushaucht. Leben heißt sterben lernen, doch kaum einer nutzt die ihm gegebene Zeit dafür. Viel zu schnelllebig ist unsere Gesellschaft. Zu ignorant. Man flüchtet vor gegebenen Umständen, erst dem Altern, dann dem Tod. Ehe man sich versieht, hat man die ihm gegebene Zeit verspielt.

„Die Zwillingskinder scheinen noch nicht verstanden zu haben, warum wir diese rostroten Flecken an uns haben“, durchbreche ich die Stille und sehe, wie sich die Finger meiner Cousine im schwachen Schein des hereinfallenden Mondlichtes in eines der Kissen krallen.

„Wir haben schon genug Sorgen, als das wir uns zusätzliche aufbürden sollten.“

„Idiot! Ist dir vielleicht irgendwann mal in den Sinn gekommen, dass sie die Erkenntnis einfach vor uns verbergen?!“

Wütend schlägt sie mit der geballten Faust auf die notdürftig präparierte Matratze, so dass ich einen dumpfen Aufschlag wahrnehmen kann. Trotz der angehobenen Stimme flüstert sie, es ist mehr ein Zischen, doch leise genug, als das die Zwillinge nichts merken werden. Beschwichtigend greife ich nach vorn und drücke ihre Finger vorsichtig, nachdem ich sie ertastet habe. Natürlich habe ich daran gedacht. Viel zu oft wahrscheinlich. Es ist nicht so, als das ich alles ausplaudere, was mir durch den Kopf geht. Das ist nicht meine Art und Weise, mit Dingen umzugehen.

„Du bist so verdammt naiv“, fährt sie fort und seufzt leise, lässt den Kopf nach hinten fallen, als sei sie betrunken. Getrunken hat sie oft in ihrer Freizeit, wusste aber immer, wie weit sie gehen konnte. Ich selbst habe nie einen Tropfen angerührt, weil ich immerzu meinen Vater vor Augen hatte. Nur meine Cousine neigte dazu, sich gelegentlich die Kante zu geben, meist, nachdem sie zusammen mit Alex das Schlafzimmer meiner Eltern verließ. Meistens hat sie dann die Wohnung verlassen und kam erst spät in der Nacht zurück. Oft war sie kaum noch fähig, gerade zu laufen, also schaffte ich sie augenblicklich ins Bett. Die Zwillinge beobachteten dies immer mit besorgter Miene, auch, wenn sie eigentlich hätten schlafen sollen. Was denn mit ihr los sei, warum sie so schwach sei, wo sie gewesen sei. Ich gab ihnen keine Antwort.

Was hätte ich tun sollen? Ich war hilflos in der Anwesenheit meines Vaters. Mary ist sonst immer so blühend und stark, eine starkes Mädchen, das allem und jedem trotzt. Und dann klingelt es, spät abends, an der Tür, und da steht sie dann, mit eingefallenen Augen, bleich, schwankend. Ich weiß, was er mit ihr macht, aber ich kann nichts dagegen tun.

„Sie ist müde“, war der einzige Kommentar, wenn ich doch einmal auf die Fragerei meiner kleinen Schwestern einging. Das stellte sie ruhig und ließ sie bald wieder einschlafen. Wenn es ruhig wurde, bin auch ich endlich ins Bett gegangen, habe mich von der einen auf die andere Seite gerollt, mich hin und her geworfen und innerlich diese verdammte Familie, aus der ich nicht ausbrechen kann, verflucht.

„Josh?“

Etwas warmes kommt zu mir unter die Decke und kuschelt sich an mich. Es ist Emily, die müde aus dem Bad gekommen ist und schlafen möchte. Ich küsse sie auf die Stirn, dann lege ich meinen Arm um ihre Hüfte und ziehe sie an mich. Währenddessen durchläuft es mich heiß und kalt. Sie scheint von meinem Gefühlschaos nichts zu bemerken, sehnt sich nach brüderlicher Nähe und genießt die Zärtlichkeiten, die ich ihr gerade schenke. Zufrieden seufzt sie und schließt ihre Augen.

„Was ist, wenn Lucy Angst bekommt, Joshua?“, fragt sie und drückt ihre Puppe Polly fest an uns beide. Ich hasse Puppen. Immer diesen toten Gesichtsausdruck mit ihrem Porzellankopf, die hübschen, rot angemalten Lippen und dieses elende Kunsthaar, die Rüschenkleider. Sie haben mir immer Angst eingejagt, mit ihren steifen Gliedern und leblosen Augen. Sie können sich nicht wehren, egal, was man mit ihnen macht, sie sind wie tot.

„Dann kann sie zu uns kommen, Liebes“, flüstere ich und streiche ihr mit meiner freien Hand durch das Haar. Braun und ganz fein gleitet es durch meine Finger.

„Hier oben ist nichts, was dir Angst machen kann, Emily, hier sind nur du, Mary, Lucy und ich und jede Menge Plunder. Alexander ist weg und Rachel kümmert sich um eine neue Wohnung, hat Lucy dir das erzählt? Deshalb sind wir hier oben. Bald kommen wir hier wieder raus.“

„Josh, ich habe durst.“

„Ich weiß, Emily, ich weiß. Wir haben alle durst. Aber wahrscheinlich funktioniert der Wasserhahn schon bald wieder, und dann können wir trinken. Du solltest jetzt schlafen, damit du gesund und munter in den nächsten Tag starten kannst.“

Sie schweigt und ist wenig später eingeschlafen, die Puppe im Arm. Stumm und schwer liegt sie in meinen Armen, findet, im Gegensatz zu mir, Ruhe und Geborgenheit.

„Mary?“

Leise schwingt meine Stimme durch den ungeheizten Raum. Sie verklingt ungehört. Keine Reaktion.

„Mary?“

Nun lauter, doch es erfolgt noch immer nichts. Auch sie scheint zu schlafen.

Wunderbar.
 

Meine Haare rauben mir den Schlaf. Als ich mich heute im Spiegel sah, als wir feststellten, dass unser Wasserhahn nicht funktioniert, stockte mir unweigerlich der Atem. Natürlich sah ich beschissen aus, geprägt, aber da war noch etwas anderes. Von solchen Fällen habe ich schon oft gehört, jedoch entstammten solche Veränderungen eher Sagen und Märchen. Sollte so etwas wirklich bei mir eingetroffen sein?

Als es mir später noch immer keine Ruhe lässt, entschließe ich mich, nachzusehen. Also schiebe ich Emily vorsichtig von mir herunter und stehe auf. Das Bein auf dem meine kleine Schwester gelegen hat, ist eingeschlafen und so humpele ich so leise wie nur irgend möglich ins Badezimmer, zerre die Kiste herbei und suche Kerzen heraus. Dabei knie ich mich auf den Boden und beginne unwillkürlich am ganzen Körper zu zittern, als mir bewusst wird, dass jedes wärmende Element von mir abgefallen ist.

Während ich mühevoll das Klappern meiner Zähne, welches laut und metallisch an mein Ohr dringt, zu unterdrücken versuche, vernehme ich ein gleichmäßiges Atmen. Höchstwahrscheinlich gehört es zu meiner zweiten Schwester, die hier doch Wache schieben soll. Sie ist eingeschlafen, so scheint es. Verärgert verziehe ich den Mund und öffne die Schachtel mit Streichhölzern, die ich aus der Kiste mit Kerzen gefischt habe.

Mehrmals ratsche ich so feinfühlig, wie es mir möglich ist, über die raue Papieroberfläche, ein Funke sprüht – doch es bleibt nacht.

Zwei Streichhölzer und viele verlorene Nerven später wird es endlich hell im Badezimmer unseres Gefängnisses. Mit noch immer zitternden Händen entzünde ich die Stabkerze, schmelze sie von unten an und stelle sie auf dem Waschbecken ab. Erst als sie vollends befestigt ist, registriere ich bewusst, dass ich mir an dem immer kürzer werdenden Streichholz die Finger verbrannt habe. Mit einem leisen Aufschrei lasse ich es fallen, es gleitet zu Boden und erlischt mit einem leisen Zischen in einer Pfütze, welche sich aus von der Decke herabtropfendem Kondenswasser gebildet hat. Vielleicht sollten wir eine Dose dorthin stellen, um das herabtropfende Wasser aufzufangen.

Mit einem beinahe lautlosen Knurren schiebe ich mir den pulsierenden, warm werdenden Daumen in den Mund und beginne, daran zu lutschen. Erst dann fahre ich mir mit der freien Hand durch die Haare und begutachte sie im Spiegel.

Ich stöhne leise auf. Das kann doch einfach nicht wahr sein. Möglich sein. Unmöglich.

Immer und immer wieder betrachte ich mein rabenschwarzes Haar, etwas, auf das ich bis jetzt immer unendlich stolz war und spüre, wie mein Adrenalinpegel in die Höhe schnellt.

Mein schönes, schwarzes Haar. Am Ansatz schlohweiß.

Noch sieht man es nur am Ansatz. Ob die anderen es schon bemerkt haben? Man sagt, Menschen, denen großes Unglück widerfährt, enden mit weißen Haaren. Ich bin nie davon ausgegangen, dass dies wirklich möglich ist. Vielleicht ist es eine stressbedingte Pigmentstörung, die sich aufhebt, sobald ich hier raus bin. Sicher, das wird es sein. Nicht mehr. Oder es bleibt. Brandmarkt mich für mein restliches Leben.

Ich höre auf mich selbst zu quälen, benetze meine Finger rasch mit Speichel, lösche die Kerze und beuge mich dann zu Lucy herunter, um sie zu wecken. Dort verharre ich einige Momente, damit meine Augen Gelegenheit bekommen, sich an die erneute Dunkelheit zu gewöhnen. Dann stupse ich sie an. Benommen hebt sie den Arm und reibt sich die Augen. Sie scheint erst gar nicht zu verstehen, wo sie sich befindet.

“Was?“, flüstert sie leise und gähnt. Wie merkwürdig dieses erneute Einschlafen doch ist, wo sie den ganzen Tag über kaum ansprechbar war.

„Lucy, ich bin’s, Joshua. Du bist eingeschlafen.“

Meine Stimme zittert noch immer in Anbetracht meines sich umfärbenden Haares. Mit Müh’ und Not verberge ich es, lächele sie schwach und beruhigend an und streife mir eine Strähne hinters Ohr.

„Eingeschlafen?“

“Ja, du solltest hier doch Wache halten.“

Sie atmet erschrocken ein.

“Es tut mir leid, Joshua. Ich wurde einfach nicht wach, und es war so dunkel. Ich wollte mich nur kurz hinlegen und schlief ein.“

„Gib das nächste Mal einfach mehr Acht. Zünde keine Kerze an, ich will nicht, dass alles abbrennt, wenn du noch einmal einschläfst. Schön aufs Wasser aufpassen, ich gehe jetzt wieder schlafen.“

Damit erhebe ich mich, taste mich aus dem Bad heraus und lege mich zurück zu meiner Schwester, die meine Abwesenheit nutzte, um sich auf der Matratze auszustrecken. Ich muss sie zur Seite schieben, um Platz zu finden. Anschließend liege ich mit weit aufgerissenen Augen, leise atmend auf dem Rücken und versuche die Gedanken abzustellen, welche unaufhaltsam durch meinen Kopf huschen.

Ein Seufzen entfleucht meiner Kehle, als ich die Arme wie ein Ertrinkender um die zarte Hüfte meiner kleinen Schwester schlinge und mein Gesicht in ihren duftenden Haaren vergrabe.

„Ich hasse Erbsen“, murmelt sie plötzlich und dreht sich in meiner Umarmung, so dass wir uns im Schlafe gegenüber sind. Ihr Körper reagiert lediglich auf die Reize, die ich ihm mit meiner Berührung zugeführt habe. Es interessiert mich nicht im Geringsten. Sie ist doch alles, was ich habe auf der Welt. Alles, was übrig ist.

Zukunft

„Oh Gott, ich halte diese Hitze nicht mehr aus.“

Wie betäubt sitzt Mary am Fenster und tippt immer und immer wieder mit den Fingerspitzen dagegen. Letztendlich legt sie ihre Hand dagegen, seufzt leise und genießt die Kälte, welche von jener Scheibe ausgeht. Sie beschlägt, und als sie ihre Hand kurze Zeit später lautlos sinken lässt, bleibt ein kristallin wirkender Abdruck zurück. Dieser Abdruck wird in wenigen Minuten verblasst sein. Ganz ähnlich wie das Abbild eines Menschen, der gestorben ist. Nicht, dass es Absicht wäre, es ist uns lediglich nicht möglich, die Erinnerung zu halten. Photos dienen als Zeugnis der vergangen Existenz, doch der Mensch, seine Art, all jenes, was ihn auszeichnete, bleibt auf alle Zeiten hinter dieser Photographie gefangen

Es ist Mittag, die Sohne steht hoch am Himmel. Mary wischt sich, sitzend, oftmals mit der Hand, Strähnen aus ihrem blassen Gesicht. Sie sind fettig am Ansatz, im Sonnenlicht kann ich es glänzen sehen. Seit drei Tagen hat sie es nicht mehr gewaschen. Auch mein Haar sieht nicht viel besser aus. Fühlt sich nicht besser an. Ständig verspüre ich den Drang, mit den Fingern hindurch zu fahren, lediglich, um das Gefühl von Schmutz, welches sich über meinen Körper gelegt hat, zu verstärken. Damit einem bewusst wird, wie animalisch der Mensch doch ist. Das auch wir, immer um Hygiene und Perfektion bemüht, unseren Genen lediglich ausgeliefert sind. Nach wir vor handeln wir nach Instinkt, tarnen dies hinter dem Deckmantel der Vernunft. Haben den Darwinismus durch Arzneiwesen und Forschung ausgemerzt und durch soziale Auslese ersetzt. Zwar haben wir uns, im Gegensatz zu Schweinen, aus unsere Fäkalien erhoben, doch gegen die Funktionen unseres Körpers, der eigentlich nur ein kleines Kraftwerk ist, sind wir nach wie vor machtlos.

„Es ist nicht heiß, Mary“, antworte ich ruhig und hänge ihr die Decke wieder über, welche sie in ihrer Verzweiflung zu Boden hat gleiten lassen. Ich kann sie verstehen. Sie ist nicht die Einzige, die hier, unter diesen Umständen, des öfteren von Platzangstattacken heimgesucht wird. Man hat das Gefühl, als würde man ersticken, will alles von sich werfen, damit man durchatmen kann. Damit man sich frei fühlen kann. Damit man sich selbst eine Freiheit suggerieren kann, die nicht existiert.

Ist das Immunsystem noch dazu geschwächt, ist man anfälliger für solche Attacken. Erhöhte Temperatur ist immer ein Zeichen für eine Erkältung, deshalb muss sie sich jetzt einpacken, damit sie nicht krank wird.

Es ist so stickig geworden über Nacht. Die Luft hat kaum Möglichkeiten der Zirkulation, mit einem Plexiglasfenster, welches sich nicht öffnen lässt und einer Bodenluke, die fest verschlossen ist. Ich stelle mir vor, wie ich meine Hand ausstrecke und das Fenster aus seiner Verankerung drücke. Es fällt hinab, hinab, zerschlägt auf dem Boden und ich atme tief durch. Fühle, wie die frische Luft in diesen Raum hinein strömt, wie das matte Gefühl aus dem Kopf verschwindet. Ich würde mich nicht länger zwischen Wachen und Schlafen zerrissen fühlen.

Zwischen den beiden Scheiben kondensiert Wasser, läuft hinunter. Auch, wenn ich wusste, dass es keinen Sinn hat, kniete ich mich davor und ließ meine Zunge mehrmals über die glatte, kalte Oberfläche fahren. So sinnlos. Diese Machtlosigkeit macht mich noch wahnsinnig. So durstig bin ich. Seid Stunden kann ich an nichts anderes denken als schönes, fließendes, klares Wasser. Ich kann mich sehen, wie ich einen Krug in der Hand halte und all meinen Geschwistern Wasser in ihre Gläser fülle. Ich kann mich sehen, wie ich in unserem Badezimmer stehe, den Wasserhahn aufdrehe. Die Toilettenspülung betätige. Dieses klare, weiche Rauschen des herabfließenden Wassers. Wie kalt und wunderbar es sich auf der Haut anfühlt. Es erscheint mir schrecklich, wie viel Wasser man in durch bloße Ignoranz und Unachtsamkeit verschwendet. Just in diesem Moment, jetzt, wo ich hier sitze und mich nach einem Tropfen Nass verzehre, passiert es, überall auf der Welt.

Heute Morgen fanden wir Lucy im Badezimmer. Mit ihren zarten, kleinen Händen schaufelte sie sich das Toilettenwasser in den Mund. Mary und ich mussten sie mit geballten Kräften davon abhalten. Es ist unglaublich, was Lucy für eine Kraft entwickelt, wenn sie etwas durchsetzen möchte. Dennoch mussten wir es tun. Bei dem Zustand, in der sich diese sanitären Anlagen derzeitig befinden, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man sich eine Infektion eingefangen hat. Hier oben wird nicht oft geputzt, wir verfügen weder über die nötigen Mittel, noch über Zeit und Lust. So führt das eine zum anderen.

Wir warten. Wie immer.

Letztes Jahr, etwa zur gleichen Jahreszeit, lagen wir auf unseren Kissen und starrten an die Decke, als mein Blick auf den Boden wanderte. Er erfasste eine Schabe, welche unter meinem Kissen hervor krabbelte und auf das Badezimmer zusteuerte. Da wir schon damals wussten, dass an Orten, wo man eine Schabe fand, andere Schaben nicht weit sein konnten, veranstalteten wir eine Jagt mit Besen anderen Schlaginstrumente. Wir zermalmten jede, die den Mut hatte, uns entgegen zu treten. Ihre Kadaver schmissen wir in die Toilette. Und spülten. Damals fand ich Gefallen daran, die lebendigen Tiere auf die Hand zu nehmen, sie auf einem kleinen Holzstück zu befestigen und über eine brennende Kerze zu halten, bevor ich sie in die Toilette warf.

Sie knacken so herrlich.
 

Der Hunger, der mich die vergangenen Tage mehr als hartnäckig verfolgte, hat sich zwischenzeitlich in ein andauerndes Schwindelgefühl verwandelt. Daraus resultierende Lethargie ist der Grund, warum ich den Tag bislang weitestgehend im Liegen verbrachte. Mein Rücken schmerzt. Dennoch sehe ich mich nicht dazu in der Lage, meine Körperhaltung ins Bequeme zu verändern. Dieses schreckliche Verlies. Unser Kerker. Ein Ort, der erst schweigt, wenn die letzte Stimme in ihm den Körper verlassen hat.

Vielleicht geht es mir morgen besser. Dann hat mein Darm sich endgültig entleert, so, dass auch das ihm innewohnende Hungergefühl verschwinden dürfte. Man gewöhnt sich daran. Es ist der Wassermangel, der einem wirklich zusetzt. Das eigentliche Austrocknen von innen. Es wundert mich also kaum, dass Marys Gesundheitszustand momentan keine Stabilität aufweist. Dennoch bleibt sie tapfer, hält durch. Das ist meine Mary, daran lässt sich nichts ändern. Eine Kämpfernatur, die allem trotzt, der geborene Rebell. Auch wenn in unserer Welt die gültige Meinungsfreiheit keinen Wert mehr aufweist.

Hoffentlich funktioniert der Wasserhahn bald wieder.
 

Wir sind seit drei Tagen eingesperrt. Als ich heute morgen die Augen aufschlug, war es, als hätte diese fremde Macht, die mir innewohnte, als ich mich gezwungen sah, meine Mutter zu zerstückeln um mein eigenes Leben zu retten, an meinem Bett gesessen. Er glich einen Menschen bis aufs Haar. Glich MIR bis aufs Haar. Dieses Abbild meiner selbst sass dort, seine Haare schlohweiß, mit glänzenden, doch blutroten Augen. Er wirkte, trotz seiner transparent wirkenden Erscheinung, mehr als real auf mich. Beängstigend real.

Er sass dort auf dem Boden, die Beine im Schneidersitz verschränkt, seine Hände ruhten in seinem Schoß. Er blickte schweigend auf mich herab, ohne, dass seine Lider und Pupillen einmal zuckten, so, als habe man ihn bei lebendigem Leibe eingefroren. Ich konnte nicht atmen, als ich ihn dort so sitzen sah, mit dieser unbändigen Ruhe. Ruhe, so kalt, dass sie mir einen Schauer über den Rücken jagte. Diese doch realistische Unwirklichkeit jagte mir Angst in den Körper, wie ich sie bis dahin noch nie erlebt hatte.

Er wirkte beinahe gelangweilt, routiniert, als sei es ihm, auch damals, als er Besitz von mir nahm, als ich meine Mutter zerstückelte, nichts neues gewesen. Als hätte er solche Dinge schon oft hinter sich gebracht. Er gehört zu der Sorte Mensch, von der man ausgeht, dass sie ihr ruhiges Leben führen, Freunde haben, den Zahn der Zeit, der an ihnen nagt, ignorieren. In Wahrheit aber haben sie tausend Leichen im Keller. Sie sind die Psychopathen, die nicht aus der Menge herausstechen, von denen man geschockt ist, wenn sie plötzlich mit einem Messer und in böser Absicht vor einem stehen, weil man niemals diesbezüglich mit ihnen rechnen würde.

Während mir diese, teilweise absurden Gedanken, durch den Kopf huschen, bemerke ich aus den Augenwinkeln, wie sich ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen ausbreitet. Es vermittelt den Eindruck, als habe er alles hören können, was in mir vorging. Zitternd vor Angst und Kälte ziehe ich die Decke ein wenig höher, so, dass sie mir nun bis über die Nasenspitze reicht. Mit einem Mal beherrscht schallendes Gelächter meinen Kopf, verklingt in der einen Ecke und setzt zeitgleich in der nächsten wieder an, steigert sich, während ich die Hände nahezu panisch auf meine Ohren presse, zu einem lautstarken Gebrüll und verklingt, ehe ich es recht realisieren kann, als sei nie etwas geschehen. Flüsternd versichert eine Stimme in meinem Kopf meine absolute Wertlosigkeit. Ich bin das dreckigste Stück des sozialen Abschaums, schmutzig, hässlich, unnütz. Niemand würde je meine Existenz missen.

Mit den Händen auf den Ohren bestreite ich dies mit leisem, wehleidigen Klagen, flehe, wen auch immer, an, mich allein zu lassen. Wieder setzt Gelächter ein, und mit steigendem Puls nimmt es an Lautstärke zu. Ich fühle mich, als berste mein Kopf in tausend Stücke.

Dann, genau so schnell, wie all dies ansetzte, verklingt es auch wieder. Mit geschlossenen Augen falle ich zurück in meine kleine, schwarze Welt, löse die Hände von meinem Kopf und öffne blinzelnd die Augen.

Mein Ebenbild ist verschwunden. Kein Indiz verrät seine Anwesenheit Nur ein seltsames, flaues Gefühl in meinem Herzen bleibt und nimmt mir beinahe die Luft zum Atmen. Dieses Gelächter. Diese Stimme. Dieser Hohn. Oh mein Gott. Es war Alexanders Stimme in meinem Kopf.
 

„Zeig bitte mal her.“

Neugierig nehme ich neben Mary Platz, beuge mich über ihre Schulter, um zu sehen, was sie auf dem kleinen Stück Papier, welches vor ihr auf dem Boden liegt, notiert hat. Es ist unser aktuelles Gewicht, eine Variable, die bezeichnet, wie viel Gramm ein normaler Mensch unter Nahrungsentzug täglich durchschnittlich einbüßt. Unter der Rechnung hat sie für jeden die maximale Anzahl an Tagen, die wir ohne Essen überleben können, notiert.

Schweigend und nachdenklich kaut Mary am Ende ihres Bleistiftes, die Stirn in Falten gezogen, die Augen blutunterlaufen. Ihre langen, blonden Haare bilden einen undurchdringlichen Fächer, doch ich brauche ihr nicht ins Gesicht sehen um zu wissen, dass die Zahlen nichts Gutes verheißen. Als ich mein Gewicht sehe, wird mir bewusst, wie dünn ich sein muss. Die meisten in meiner Altergruppe wiegen gute zehn Kilogramm mehr, machen Sport, ernähren sich regelmäßig, wenn auch nicht unbedingt gesund. Ich hingegen bin es, der sich nachts auf den Straßen meiner Stadt herumtreibt, Ärger sucht. Zwar treibe ich keinen Sport, bekomme nur etwas zu Essen, wenn etwas im Kühlschrank oder Geld im Portmonee ist, bin jedoch stärker, als man es für meine Statur vermuten mag. Oft schon bin ich diesbezüglich gefährlich unterschätzt worden.

Die Sprüche und Blicke, die ich mir in der Schule gefallen lassen darf, treffen auf fruchtbaren Boden. Ginge es nach mir, lägen sie längst unter der Erde.

Ein leises Seufzen entfährt Marys leicht offen stehendem Mund. Sie fährt sich mit der Hand durch das Haar und wirft mir einen kurzen Blick zu. Sorge. Um uns, die Zwillinge.

Vor einem knappen Jahr habe ich diverse Freistunden in der Bibliothek unserer Schule verbracht. Ich wollte wissen, wie lange es dauert, bis ein Mensch an Hunger stirbt. Fällt jede Energiequelle weg, kann man davon ausgehen, dass man ab einem bestimmten Punkt zwischen zweihundert und fünfhundert Gramm Körpergewicht täglich einbüßt. Sinkt das Körpergewicht unter einen BMI von 18, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Körper seine Arbeit einstellt und der dazugehörige Mensch stirbt.

„Fünfzig Tage“, murmelt Mary mir leise zu und lächelt schwach. Sie scheint zuversichtlich. “Ich bin zuversichtlich, dass sie uns bis dahin sicherlich befreit haben werden.”

In fünfzig Tagen kann einiges passieren. Wahrscheinlich ist unser verschwinden inzwischen bemerkt worden. Man sucht nach uns, dessen bin ich mir sicher. Jeden Stein werden sie umdrehen, um zu erfahren, was aus uns geworden ist, warum wir nicht in die Schule gehen, warum keiner das Telefon abnimmt, wenn man unsere Nummer wählt. Die Gesellschaft braucht uns, wir sind ihre Arbeitskräfte von morgen. Wir haben ein Recht auf Sicherheit, auf Leben. Sie müssen uns einfach finden.

Schweigend überfliege ich die Rechnung erneut, runzele die Stirn, als mir ein grober Fehler in die Augen springt. Als ich ihr wortlos den Stift aus der Hand nehme, verschwindet das schwache Lächeln wieder von den Lippen meiner Cousine.

„Du hast einen Fehler in der Rechnung“, verkünde ich ihr mit ernstem Gesicht und ziehe eine Trennlinie unter die angegebenen Tage.

„Du bist davon ausgegangen, dass wir normalgewichtig sind. Schau uns an, wir sind alles andere als das. Wir werden viel früher sterben, so bitter das auch ist.“

Und damit lege ich eine neue Tabelle an, meine feine, saubere Handschrift, die ich in der Vergangenheit immer geschätzt habe, wirkt nebensächlich. Formeln, die mir aus der Zeit der Recherche noch in Erinnerung geblieben sind, kommen mir ins Bewusstsein, werden niedergeschrieben und ausgenutzt. Mary sitzt derweil neben mir, ist nicht in der Lage, ihre Augen von meinen Fingern zu lösen. Ich rechne schnell, war auch zu früheren Zeiten immer recht gut in Mathe gewesen. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Ich kann hören, wie meine Cousine neben mir die Luft lautstark durch die Nase einzieht.

„Es sind nur Richtwerte, vergiss das nicht“, versuche ich sie von meiner Seite aus zu beruhigen. “Wenn wir beide Glück haben, können wir hier mehr als dreißig Tage aushalten. Die Chance, dass sie uns derweil finden, ist relativ groß.

“Die Zwillinge?”, flüstert Mary und wischt sich mit dem Handrücke über die Augen. Ich räuspere mich und senke die Stimme, atme tief ein und falte das Blatt Papier säuberlich zusammen. Ich will nicht, dass sie es in die Finger bekommen. Wer weiß, ob sie in ihrem jungen Alter überhaupt dazu in der Lage wären, diese Erkenntnis zu verkraften.

“Gehen wir nach den Zwillingen, haben wir mit Sicherheit weniger als vierundzwanzig Tage Zeit, um gefunden zu werden. Drei sind bereits um.” Ein leises, bitteres Lachen dringt mir ins Ohr.

„Wenn wir nicht bald wieder Wasser haben, werden viel weniger als vierundzwanzig Tage sein, Joshua, glaub mir“, antwortet sie zynisch und rafft ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie haben, trotz des Fettes, ihren Glanz verloren. Ganz stumpf und brüchig schauen sie aus dem Gummi hervor. Es ist, als ob sich ihr Charakter wiederspiegeln würde.

„Ich habe Durst… und Hunger. Du doch auch. Und die Zwillinge sagen keinen Ton, um uns nicht auf die Nerven zu fallen! Diese verstörten, armen, kleinen Mädchen.“

Ein leises Lachen erklingt aus ihrem Brustkorb und verhallt nahezu ungehört im Gebälk. Ich fühle mich so ausgetrocknet und staubig, jetzt, wo ich schon so lange nichts mehr trinken konnte.

„Es ist doch merkwürdig, dass wir uns noch immer nicht daran gewöhnt haben, nicht war Joshua? So oft waren wir schon hier oben und trotzdem macht uns dieses Gefühl noch wahnsinnig.“

„Ja, du hast Recht“, flüstere ich leise und senke den Blick. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen, wenn sie so etwas sagt. Es beschämt mich, diese ernsten Themen machen mich verlegen, verletzlich. Ich kann sie einfach nicht ansehen. Auf gar keinen Fall.

Wein wenig erstaunt über diese eigenartige Ironie, blicke ich hinüber zu den Zwillingen, welche ganz matt und kraftlos in den Kissen liegen. Ich sehe Emilys Arm, welcher schlaff und ohne jede Kraft unter einem Bezug hervorschaut. Irre ich mich oder ist ihre Haut noch blasser als zuvor? Ich kann kein Heben und Senken des Bettbezuges ausmachen, wie es sonst der Fall ist, wenn atmende Wesen darunter liegen. Erschrocken ziehe ich die kalte Luft in meine Lungen, als sich der Schleier des verdrängens für einen Moment aufzieht und ich für den Bruchteil einer Sekunde erkennen kann, wie zerbrechlich wir doch sind. Wie grausam und unmenschlich und unnatürlich es doch ist, hier oben eingesperrt zu sein. Meine Augen werden ganz glasig, während ich hinübersehe und hoffe, dass meine Vermutungen nicht der Realität entsprechen. Mein Puls rast. Schweiß steht auf meiner Stirn. Dann, endlich, bewegt sich Emilys Hand, ballt sich zur Faust. Ich atme auf und schüttele verständnislos den Kopf, während der Vorhang sich langsam, aber sicher wieder schließt. Wie dankbar ich dafür bin, kann ich kaum beschreiben.
 

Die menschliche Existenz, so, wie sie derweil existiert, ist künstlicher denn je. Wir lassen für uns arbeiten, anstatt das wichtigste selbst zu verrichten. Wir sind uns unserer selbst bewusst, trotzdem töten wir. Nicht aus Not, sondern aus Gier. Aus Geilheit. Der Atomkrieg, welcher vor meiner Erzeugung tobte und die Menschheit bis auf weiteres prägte, verdeutlicht es. Er hat unsere Welt in tiefes Dunkel gestürzt und dafür gesorgt, dass all jene, die das Glück hatten, diesen Schrecken zu überleben, die Welt für immer mit anderen Augen betrachten werden. In all den Ruinen, die bis heute nicht abgerissen wurden, in all den Überbleibseln einer alten Zivilisation, sehen wie, obwohl sich unsere Gattung gefangen und ein einigermaßen normales Leben wieder möglich gemacht hat, ihre jugendliche Angst. Sie sehen die Schrecken, die nie wieder aus ihrem Hirn verschwinden werden und Erinnerungen, die sie längst vergessen haben wollten. Mein Vater war während des Krieges nicht viel älter als ich es jetzt bin.

Als ich aufstehe, um zu meinen Schwestern zu gehen, knicken mir unter meinem relativ leichten Gewicht die Beine weg. Ich stolpere ein wenig, ehe ich mich fange und langsam zu dem Kissenberg schlendere, auf dem Lucy und Emily es sich bequem gemacht haben. Lucy scheint zu schlafen, ihr Brustkorb hebt und senkt sich langsam, die Augen, einst voller Glanz, nun meist dumpf und blutunterlaufen, geschlossen. Sie hat wieder geweint, feine Salzkrusten zieren wie kleine Flüsse ihre Wangen und lassen sie einsam, verlassen aussehen. Die Kleidung, welche an ihrem viel zu dünnen Körper Falten wirft, unterstreicht diese klägliche Erscheinung lediglich.

Emily hingegen ist wach. Sie blickt an die Decke, die Augen ganz glasig, die Haut ist spröde und schuppt. Sie trocknet aus.

„Geht es dir nicht gut, Kleine?“, flüstere ich leise und streiche ihr zärtlich über die Stirn, setze mich zu ihr und mustere sie, mehr oder weniger besorgt, von oben bis unten. Sie sieht so schwach und zerbrechlich aus, ihre Lippen sind aufgesprungen, sie selbst wirkt ganz ausgedörrt.

Wir haben inzwischen mehrere Tage nichts getrunken – wir können von Glück reden, dass es so kalt ist – und dennoch leben wir noch. Lange werden wir es ohne Wasser jedoch nicht mehr aushalten. Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns unter solchen Bedingungen noch zur Verfügung steht, ich bin kein Mediziner. Dennoch bin ich mir sicher, dass die Lage mehr als kritisch ist.

„…mir ist schlecht“, wimmert sie mit ihren blutleeren Lippen und ihrer rauen, ausgetrockneten Stimme. Dabei drückt meine Finger sanft, als ich nach ihrer Hand greife. Mein Herz wird schwer, so plötzlich, dass ich für einen kurzen Moment das morgige Gelächter in der Ferne vernehmen kann. Ein Schauder läuft meinen Rücken hinab, verklingt kitzelnd in den Zehen. Ich kann spüren, wie ein leichtes Zittern durch meine Glieder fährt, dennoch presse ich ihre beinahe weißen und dünnen Fingerglieder an meine Lippen. Sie sind noch ganz weich. Wie dünnes Leder, so bleich wie die hinter ihr liegende Wand.

Mary wende ich den Rücken zu. Sie sieht nichts von alledem. Höchstwahrscheinlich ist es auch besser so. Ich hänge so sehr an meiner Schwester, dass es für außenstehende zeitweise inzestuös wirken muss, auch wenn dies nicht der Wahrheit entspricht. Sie hat diesen Verdacht seit ich denken kann und die Wahrscheinlichkeit, dass sie mich deshalb verachtet, dürfte nicht sonderlich gering sein. Ich kann die Blicke spüren, die sie mir aus den Augenwinkeln zuwirft, wenn ich mich mit Emily unterhalte, sie in den Arm nehme und ihr über den Kopf streiche. Kann in ihrem Gesicht ablesen, was sie denkt. Würde ich Emily zu nahe kommen, ich würde mich in wenigen Sekunden eingesperrt im Badezimmer vorfinden.

Über kurz oder lang würde ich mich dazu gezwungen sehen, die Tür einzutreten und Mary wissen zu lassen, dass selbst sie kein Recht hat, mich so zu behandeln. Ich bete, dass es nicht so weit kommen wird. Sie liegt mir so sehr am Herzen. Meine stürmische und kämpferische Mary, der Fels in der Brandung, an dem sich viele Wellen versuchen, ihn jedoch nicht bersten lassen konnten.

„Mach dir keine Sorgen, meine Liebe“, flüstere ich leise und hauche ihr einen Kuss auf den Schopf. Ein schwaches Lächeln erscheint auf meinen Lippen. Es muss sehr gequält und gekünstelt wirken. Falsch beschwichtigend.

Ihre großen, ängstlichen Augen mustern mich. Noch nie mussten wir so lange ohne Wasser ausharren. Seit Jahren ist uns der Tod auf den Fersen. Noch nie war er uns so nah wie heute.

Wir alle sind mit der Situation überfordert, auch, wenn Mary und ich es uns nicht eingestehen. Das Eingestehen der Niederlage birgt den unaufhaltsamen Verlust des Lebenswillens. Lucy und Emily verstehen den Ernst der Lage nicht. Oder nur bedingt. Je weniger sie verstehen, desto besser ist es für ihre Psyche, denke ich. In der Vergangenheit gab es bereits genug Menschen, welche unter solchen Umständen ihren Verstand verloren. Sich und anderen Menschen Schaden zufügten. Wir alle sind noch Herr über unseren Verstand. Etwas, auf das ich, selbst, wenn ich keine Anerkennung mehr ernten kann, sehr stolz bin. Doch es ist sehr schwer und ich kann es Menschen, die an solchen Situationen scheitern und zugrunde gehen, nicht verübeln.

Trotzdem verlässt es mich nicht. Ein dumpfes Gefühl hat sich heute Morgen in meiner Magengrube eingenistet. Schwer, schwarz. Es verfolgt mich auf Schritt und Tritt, hat sich in meinem Geist festgefressen und mir seitdem keine ruhige Minute mehr gelassen. Es beunruhigt mich. Und dennoch gibt es Momente des Friedens für mich.

Man sollte niemals die Macht der Verdrängung unterschätzen.

„Das ist, weil du durstig bist, Emily. Sobald wir wieder über Wasser verfügen, bringe ich dir welches, okay? Dann kannst du trinken und wirst dich bald wieder besser fühlen. Du wirst nicht einmal aufstehen müssen, ich bringe es dir ans Bett.“

Ihre Pupillen heften sich an mich. Ein kurzer Blitz zuckt hindurch, dann erscheint ein Lächeln auf ihren Lippen. Leben. Es wirkt so willkürlich, dass mir von einem auf den anderen Moment speiübel wird. Emily geht es sehr schlecht.

„Würdest du das für mich tun?” Sie versucht ihre freie Hand nach mir auszustrecken, die ich, bevor sie sich überanstrengt, ergreife und fest drücke. “Danke, großer Bruder”, flüstert sie und leckt sich über die Lippen. “Danke...”

Sie verstummt, schließt ihre Augen und atmet aus. Ein paar Mal blinzelt sie noch, doch sie ist zu schwach, die Augen offen zu halten. Ihr Haar, ganz zerzaust, bildet einen Rahmen um ihr charmantes Gesicht, gibt ihr Charisma und die Ausstrahlung, welche ich so sehr an ihr liebe.

„Ruh dich am besten ein wenig aus, hörst du? Verschlaf die Zeit. Sobald wir wieder Wasser haben, werde ich kommen und dich wecken.“

Mit diesen Worten wollte ich aufstehen, doch sie lässt meine Hand nicht los.

„Was ist denn noch?“, frage ich und klinge ein genervter, als es durchkommen sollte.

Einen Moment später könnte ich mich Ohrfeigen, auch nur in solch geringem Maße meine Selbstbeherrschung verloren zu haben. In der Regel bin ich die Ruhe selbst. Meister rationaler Gedankengänge. Was ist nur in den letzten Tagen mit mir los, dass ich so dermaßen... unbeherrscht bin?

Ein karges Wispern dringt an mein Ohr.

„Alexander wird nicht wiederkommen, oder, Joshua?“

Bei diesen Worten erstarre ich und sinke zurück in die weichen, wenn auch fleckigen Kissen. Ich fühle mich, als habe man mir eine Bratpfanne mit größtmöglichster Wucht ins Gesicht geschlagen. Es macht einen hilflos und schmerzt. Wirft Fragen in den Raum. Wie soll ich jetzt bloß reagieren?

„So?“ Ein schwacher, kritischer Unterton schwingt mit. Beirren kann ich Emily jedoch nicht.

„Als Alexander uns in die Küche geschickt hat. Da seid ihr doch ins Badezimmer gegangen, nicht wahr? Ich habe mich umgedreht, weil ich nicht von euch getrennt werden wollte.“

Mein Herz hört für einige Momente auf zu schlagen.

Hilfesuchend sehe ich zu Mary, welche den Kopf erhoben hat und uns mit großen, starren Augen betrachtet. Alle Farbe ist aus ihrem Gesicht gewichen, so, dass es nun den Ton von Kalk angenommen hat. Trocken, spröde und weiß. Das blanke Entsetzen. Dabei fingert sie am Schaft ihrer Stiefel herum, Stiefel, die sie sich vor wenigen Momenten erneut am schnüren war. Ganz allein gelassen sieht sie aus, mit ihrer zarten Statur und den blassen Schatten unter ihren Augen. Langsam schießt die Feuchtigkeit in Emilys Augen.

„Es war Mama, die da unten lag, nicht wahr? Der Knall - das war ein Schuss. Er hat Mama erschossen, er hat sie einfach erschossen, er-“

Ich versuche, ihr zu widersprechen. Sie im Unwissenden zu halten, sie zu beschwichtigen. Ihr Blick schneidet mich in Stücke, als sich ihre Augen zu kleinen Schlitzen verengen. Sie weiß es. Es hat keinen Zweck, es zu leugnen. Ich schließe meinen geöffneten Mund und bestätige mit meinem Schweigen ihre zuvor geäußerten Ängste. Ihr Körper entspannt sich, während einige lautlose Tränen an ihren Wangen herabrinnen. Es ist die Hoffnung, die stirbt. Die Hoffnung, dass Rachel, unsere Mutter, eines Morgens die Luke öffnen und uns mit in ein besseres Leben nehmen würde. Ihre Hoffnung stirbt. Und mit ihr auch ein Teil von ihr.

Die bunten Haare hatten Mutter verraten. Mutter schnitt und färbte ihre Haare in allen erdenklichen Formen und Farben, ein bunter Vogel, so war sie schon immer gewesen. Hatte die Schule abgebrochen und keinerlei Ausbildung erhalten. Dann hatte sie Vater kennen gelernt und ihn geheiratet. Sie war damals so jung gewesen, dass es auf der Hand gelegen hatte, dass diese Ehe nicht glücklich enden konnte. Wir liebten sie trotz allem. In der neuen Gesellschaft jedoch stieß sie mit solch einem Äußeren nach wie vor auf Ablehnung.

Selbst eine beinahe geschehene Apokalypse hatte den Menschen nicht läutern können.
 

Trotz allen Erwartungen bleibt Emily weitestgehend ruhig. Sie zuckt einige Male zusammen, dann schließt sie die Augen und drückt meine Hand schwach. Ich kann aus ihrer Stimme lesen, wie sehr sie der Tod unserer Mutter trifft. Körperlich jedoch lässt sie sich nichts anmerken.

„Joshua... was habt ihr im Badezimmer mit ihr machen müssen“

Die Tatsache, dass es mir Lustgefühle bereitete, meine eigene Mutter zu zerstückeln, steigt in mir auf und nimmt mir für einige Momente die Luft zum Atmen. Diese Luft, die kalt und schwer im Raum hängt, abgestanden, verbraucht. Da sitzen wir, Mary, ich. Unserer kleinen Schwester eine Antwort schuldig, eingehüllt in blutgetränkter Kleidung. Wir sind stigmatisiert. Was sollen wir ihr bloß sagen? Haben wir uns mit der Beseitigung ihrer Leiche des Mordes mitschuldig gemacht? Oder sprechen uns die Umstände von aller Schuld frei?

Mary vielleicht. Mich nicht.

„Wir haben…“, beginne ich und kann fühlen, wie meine Stimme zwischen den Bändern zerbricht. Nervös räuspere ich mich, klopfe mit den Spitzen meiner Finger weiterhin rhythmisch auf dem Stoff meiner Jeans herum.

„Emily. Meine Liebe. Bevor du etwas falsches von uns denkst - du weißt, genau wie Mary und ich es wissen, dass Alexander schreckliche Dinge tun kann. Das weißt du, nicht?“

Sie ringt sich ein Nicken ab, schlägt ihre so trüb gewordenen Augen wieder auf und heftet sie an die so dürftig verkleidete Decke unseres Kerkers. Dieser Anblick saugt mich ein. Ich könnte versinken darin, auf das niemand in der Lage wäre, mich aus dieser Trance jemals wieder zu befreien. Höllenqualen könnte ich erleiden, dennoch wäre ich nicht in der Lage, meine alte Freiheit zurück zu erlangen. Verloren wäre ich, auf ewig. Wie Träumer es nun einmal sind.

„Alexander hasst sich, uns, die ganze Welt. Bis auf Mama. Auch, wenn sie sich oft stritten, ich bin der Ansicht, dass er sie noch irgendwo geliebt hat. Auf seine eigene Art und Weise. Aber Mama wollte nicht mehr so leben, wie wir es jetzt tun. Und sie wollte auch nicht mehr, dass Alexander uns in diesen Raum hier oben sperrt. Deshalb hat sie lange Zeit Geld gespart, damit wir eines Tages diesen Ort und Alexander verlassen können. Als sie genug gespart hatte, ging sie zu Alexander und verlangte die Scheidung. Erinnerst du dich? Sie wollte weg von hier. Mit uns.“

Sie nickt erneut, doch hinter mir, dort, wo Mary ihren Platz eingenommen hat, ziehen Gewitterwolken auf. Während sich die Wolken auftürmen, von Masse und Ausmaß immer bedrohlicher werden, begreife ich das Ausmaß der Geschichte und augenblicklich verschwinden Hunger und Durst.

„Alexander konnte nicht ertragen, dass die einzige Person, die ihm etwas bedeutet, ihn verlässt. Deshalb nahm er die Schrotflinte aus dem Wohnzimmerschrank und-“ Ich muss mit mir ringen, es auszusprechen. Immer wieder huschen meine Augen zwischen Emily und Mary hin und her, der Druck in meiner Brust steigt, bis es nicht mehr zu ertragen ist. Schließlich öffne ich meinen Mund und nenne die grausame Tat, die er begangen hat. “Er nahm die Schrotflinte aus dem Wohnzimmerschrank und erschoss sie.”

„Joshua, sei still!“, kann ich meine Cousine hinter mir fauchen hören. Ich ignoriere sie, als habe nie jemand den Mund geöffnet, um mir meinen zu verbieten. So schnell sich die Spannung in diesem Raum aufgebaut hat, genau so schnell entlädt sie sich in einer gewaltigen Explosion.

„Aha. Okay“, antwortet mir Emily, als habe ich ihr erzählt, dass mein Hamster gestern nacht gestorben sei. Als ob es etwas harmloses sei, nicht weiter von Belang. Unwichtig. Gleichgültig.

Vielleicht hat sie nur noch nicht realisiert, was das geschehene für Konsequenzen haben wird. Vielleicht empfindet sie nichts. Vielleicht aber auch tobt es in ihr. Ich weiß es nicht. Emily sieht uns nicht mehr in die Augen. Immerzu weicht ihr Blick aus, gleitet von der einen Ecke des Raumes in die andere. Ihre Unterlippe zittert, ihr Atem beschleunigt sich. Letztendlich bricht es in einem Schwall Tränen aus ihr heraus, den sie, mehrere Male ‘Entschuldigung’ murmelnd, schnell wieder in den Griff bekommt.

Lucy schläft noch immer.

Mary ist derweil aufgesprungen und hat sich dazu gesellt, schiebt mich recht grob zur Seite und greift nach Emilys freier Hand.

„Sie ist jetzt im Himmel“, flüstert sie ihr lächelnd zu und nickt. Ihre Stimme ist ebenso rau wie meine, doch sie wispert hektisch vor sich hin, als müsse sie nicht nur Emily, sondern auch ihr Gewissen beruhigen.

„Sie ist jetzt beim lieben Gott und hat es gut. Besser, als wir es jemals haben werden. Alexander wird seine gerechte Strafe erhalten, aber das liegt nicht in unserer Hand.“

Wie leer ihre Worte doch sind. Nichts, von dem, was sie von sich gibt, entspricht ihrer eigenen Überzeugung. Genau wie ich ist sie ein Kind der Realität geworden, jemand, der sich das Träumen nicht mehr erlauben darf, da die äußeren Umstände dies unmöglich machen. Religion hat jeden Sinn für uns verloren. Es sind nette Märchen, gut gemeinte Ratschläge, die in unserem Leben keinerlei Wirkung haben. Nicht mehr, nicht weniger. Selig sind die geistig armen, denn ihnen gehört das Himmelreich? Schwachsinn! Selig sind jene, die in der Lage sind, sich selbst zu helfen. Mag sein, dass dies in den Ruinen der verbliebenen Mittelschicht funktioniert, hier aber zeigt sich keine Wirkung. Wenn Gott das alles hier erschaffen konnte, wo ist er dann jetzt? Wo war er, als die ersten Bomben fielen, wo war er, als meine Mutter erschossen wurde? Wann immer ich die Menschen in die wenigen unbeschädigten Kirchen strömen sehe, entfleucht ein bitteres, kaltes Lachen meiner Kehle. Hoch und schrill, Hohngelächter. Ich lache sie aus, diese unwissenden Schafe, die sie einem Gott hinterher trotten, der keinerlei Interesse an ihnen hat. Mein Hohngelächter ist ihr Lohn.

„Wir sind nicht umsonst hier, Liebes. Alles hat einen Sinn. Selbst, wenn wir das hier nicht überleben, dann geschieht dies lediglich, weil es von Gott gewollt ist. Dann werden wir ins ewige Himmelreich auffahren und Mutter unbeschadet vorfinden“, hauche ich ihr ins Ohr und werfe Mary danach einen feindseligen Blick zu. Sie ist sauer, dass ich es Emily erzählt habe, und ich kann es ihr, selbst, wenn ich meine Entscheidung in keiner Weise bereue, nicht verübeln. Jedoch widerstrebt es mir, dinge zu verheimlichen, die der Allgemeinheit längst bekannt sind.

„Es wird alles wieder gut.“

Abwesend greife ich in meine Hosentasche und ziehe ein Taschentuch hervor. Es ist übersäht mit rotbraunen Flecken. Ich muss mir unten während der Arbeit mehrmals die Hände daran abgewischt haben, ohne es bewusst zu registrieren. Negativ überrascht und peinlich berührt stopfe ich es zurück in meine Hose, bevor eine der beiden es bemerken kann. Ich möchte mir Marys Reaktion gar nicht erst ausmalen. In belastenden Situationen neigt sie in letzter Zeit mehr als sonst zur Hysterie.

Ich weiche also auf den Kissenbezug aus, tupfe meiner kleinen Schwester mit den Ecken vorsichtig die Tränen von den rot angelaufenen Wangen.

„Und jetzt weine nicht… Mama würde nicht wollen, dass du weinst.“ Und wir wollen nicht, dass sie mehr Wasser aus ihrem Körper schleust, als unbedingt notwendig.

Emily, meine liebe kleine Schwester nickt leicht. Und schweigt.
 

„Ich kann nicht glauben, was in dich gefahren ist, Joshua!“

Kurz nach unserem verstörenden, wenn auch kurzem Gespräch mit Emily, hat Mary mich am Arm gepackt und ohne Umschweife ins Badezimmer gezerrt. Sie knallt die Tür wutentbrannt hinter sich zu, ehe sie sich zu mir umwendet und mich aus verzerrten, funkelnden Augen anstiert.

„Sie wusste es!“, erwidere ich trockener als ursprünglich beabsichtigt und deute mit dem Finger zur Tür.

„Sie wusste es die ganze Zeit über, und es ist gut, dass wir es ihr nun erzählen konnten. Sie merken es, wenn wir sie belügen, Mary, sie merken es! Hätte ich es ihr nicht erzählt, hätte sie uns nie wieder vertrauen können.“

„Und? Denkst du wirklich, sie behält es für sich? Sie wird es garantiert Lucy erzählen und ich will mir gar nicht erst überlegen, in was für einem Chaos das enden würde! Du kennst Lucy doch, Josh! Sie wird daran zerbrechen, aufgeben und sterben. Das kann nicht sein, dass darf es nicht. Wir dürfen ihr die letzte Hoffnung nicht auch noch nehmen. Wir sind nicht besser als Alexander, wenn es soweit kommt, scheiss auf die Intention! Es ist das Ergebnis, das zählt, der Grund wird so schnell vergessen...“

Zitternd vor Wut wischt sie sich mit dem Handrücken über tränenverschmierte Wangen.

„Es ist der Grund, der entscheidet, ob sich ein Ergebnis konstruktiv oder destruktiv auf eine entsprechende Person auswirkt, Mary. Wir wollen sie schützen, und gerade für so etwas muss man gelegentlich Risiken eingehen. Wir können ihnen keine geteilte Sonderbehandlungen zukommen, damit sie in ihrer heilen Welt verweilen können, dafür haben wir keine Zeit mehr. Vielleicht sterben wir hier oben, Mary, wer weiß das schon. Das einzige, dass ich sicher weiß, ist, dass ich nichts weiß.“

Von plötzlicher Resignation überwältigt, nehme ich auf dem Toilettensitz platz und lasse den Blick an meiner Cousine entlang gleiten. Ihre ursprüngliche Ekstase, in die sie sich geredet hatte, Ekstase, die von er Sorge um ihre kleine Lucy zehrte, hat sich während meines Monologes nahezu aufgelöst. Ich konnte es in ihren Augen sehen, wie der Zorn verrauchte und nichts weiter als Fassungslosigkeit zurück blieb. Lucy. Immer nur Lucy. Ihr ein und alles. Und wenn sie den Druck nicht verkraften kann, wird sie irgendwann unabwendbar auf der Strecke bleiben. Wir können ihr nicht ewig zur Seite stehen.

„Emily wird es Lucy nicht erzählen, das entspräche ganz und gar nicht ihrer Art. Sie hat noch uns, noch ist sie nicht allein. Das Leben geht weiter, dass weißt du genau so gut wie sie und ich.“

„Ich will doch nur das Beste für sie, Josh“, flüstert Mary leise und lässt den Kopf sinken.

Als ob ich das nicht wüsste. Mary ist abhängiger von ihrem kleinen Schützling als dieser von ihr. Selbst ein Blinder würde dies bemerken. Schweigend stehe ich auf und öffne die Tür einen Spalt, so, dass etwas von dem verbleibenden Abendlicht herein fällt und den Raum aufhellt.

Würde man aus dem Fenster schauen, so sähe man die Sonne tief am Himmel stehen, eingerahmt von Wolken, welche in tiefes Rot getaucht sind. Betrachtet man dieses Schauspiel, erscheint es einem unrealistisch, dass draußen Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschen. So warum und lieblich ist es, so wunderschön, dass es mich erschaudern lässt.

“Lass uns bitte aufhören zu streiten, es reicht schon, dass die Welt uns vergessen hat, ja? Da brauchen wir uns nicht gegenseitig an die Gurgel gehen.“
 

Ich blicke kurz auf die Anzeige meiner Armbanduhr, nachdem ich das kleine Licht eingeschaltet habe. Fünf Sekunden leuchtet es vor sich hin, dann geht es wieder aus und lässt mich allein in der Dunkelheit zurück. Bloß eine kleine Kerze neben mir beleuchtet das klägliche Schauspiel, in dem ich mich befinde.

Es ist zehn Uhr abends und ich befinde mich nach wie vor im Badezimmer. Eine nette kleine Beschäftigung ist es, die Kisten, die hier rumstehen, nach irgendwelchem brauchbaren Zeug zu durchforsten. Dieser so unbekannte Dachboden wurde in früheren Tagen als Rumpelkammer benutzt, und so findet man hier allerlei Krimskrams, teils nützlicher, teils unnützer Natur. Im Hauptraum wurde eine weitere Kerze angezündet, die restlichen verweilen in einem kleinen Karton unter dem Waschbecken. Man muss sparsam sein.

Ein Schatten zuckt an der Wand, etwas krabbelt, mit fließenden, doch hektisch anmutenden Bewegungen unter ein aufgeschlagen auf dem Boden verweilendes Buch. Höchstwahrscheinlich eine Spinne. So ein großes, haariges Getier mit langen Beinen und flauschigem Körper, wie man es in Häusern findet, wenn die Umgebungstemperaturen einen nahezu lebensfeindlichen Punkt erreicht haben. Während ich mich nicht großartig an ihnen störe, rufen sie bei meinen Geschwistern wahre Panikattacken hervor. Zitternd, schreiend und angsterfüllt verlassen sie den Raum, sobald eines dieser Tiere in ihrer unmittelbaren Umgebung auftaucht. In der Regel zaubert mir solches Verhalten ein Lächeln aufs Gesicht.
 

Ich greife unter das alte Bilderbuch meiner Schwester, ziehe sie hervor und betrachte sie eingehend, wie sie zwischen meinen Fingern hin und her krabbelt, wie sie verzweifelt einen Weg nach draußen sucht. Ich stelle mir vor, sie sei Alexander, dann zünde ich ein Streichholz an und halte es unter ihren dicken, schwarzen Körper. Zuckend schwelt sie etwas vor sich hin und stirbt mit einem leisen Knacken. Mistviecher. Ich hasse Spinnen.
 

Einer der Kartons beinhaltet ausschließlich Bücher. Bilderbücher, Romane, Literatur der alten Schule. Schinken, die höchstwahrscheinlich noch von meinen Eltern stammen. Sie wurden, als es mit uns bergab ging, aussortiert und fristen ihr ungelesenes Dasein seither hier oben. Fangen Staub, leisten dem restlichen Krempel hier oben Gesellschaft. Altes Spielzeug. Alte Schulsachen, Schallplatten, Kassetten.

Rasierklingen.

Unglaublich, was man hier oben alles findet. Ich versinke, ohne etwas dagegen ausrichten zu können, in Erinnerungen an glücklichere Teile meiner Kindheit, während ich die Kerze, noch immer brennend, auf dem Waschbecken platzieren möchte, doch ein leiser Schrei aus dem Hauptraum lässt mich zusammenfahren. Die Kerze fällt zu Boden, flackert, erlischt, aufsteigende Hitze verrät mir, dass das Wachs sich über meine Hände ergossen haben muss. Leise fluchend reibe ich die Handflächen gegeneinander, um mich der dünnen, klebrigen Schicht dieser geschmolzenen Flüssigkeit zu entledigen.

Als ich zurück in den Hauptraum komme, liegt Emily am Boden. Sie scheint von ihren Kissen herunter gerollt zu sein. Ihre Augen sind so nach oben verdreht, dass man von ihren Augäpfeln lediglich das weiße sehen kann, Arme und Beine sind angewinkelt. Eine äußerst unnatürliche Haltung.

Alles zuckt unkontrolliert, sie selbst gibt ein durchdringendes, kehliges Geräusch von sich, als wolle sie schreien, doch sie bekommt den Mund nicht auf. Sie sieht aus wie eine auf dem Boden liegende, doch tanzende Gliederpuppe. Ihr Oberkörper springt hin und her, biegt sich durch, ihr Kopf schüttelt das kastanienbraune Haar.

Sie hat einen Krampfanfall.

Lucy und Mary knien neben ihr und versuchen verbissen, ihre Arme und Beine festzuhalten, um ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken und den Krampf zu unterdrücken. Falsch. Vollkommen falsch.

In Sekundenbruchteilen wird mir klar, dass eine solch grobe Handhabe die Verletzungsgefahr lediglich um ein vielfaches ansteigen lässt. Ich eile zu ihnen, stoße sie zurück.

„Lasst sie los…. Lasst sie los, verdammt! Das ist ein Krampf, er wird von selbst aufhören.“

Bloß ein Krampf ist gut. Ihr Körper krampft, weil er Wasser braucht, weil sie selbst kurz vor dem Verdursten steht.

Hätte ich sie doch neulich bloß gezwungen, etwas zu trinken. Aber an dem Tag bevor unsere Mutter starb und wir hier hoch mussten, wollte sie nichts. Lediglich ein Glas Orangensaft aus der Tüte beim Frühstück, beim Mittagessen schon gar nichts mehr. Ich habe sie zum Trinken animiert, doch ihre einzige Antwort lautete, dass es ihr nicht gut ginge. Sie habe ein schlechtes Gefühl. Da wurde mir für einen Moment ganz mulmig, mir, der sich sonst nur auf Zahlen und Fakten verlässt. Ich muss lachen. Ob man wohl spürt, wenn der Tod kommt?
 

Die Zeit zieht ins Land. Es scheint abgekühlt zu sein in unserem kleinen Verließ, selbst die Decken wärmen nicht mehr. Mary und Lucy sind, ohne, dass ich es recht mitbekommen habe, eingeschlafen. Sie waren ganz aufgekratzt, nachdem Emily so zusammengebrochen ist und so hat es lange Zeit gedauert, bis sie sich beruhigten. Dann aber ging es ganz schnell.

Eigentlich sei sie ganz normal gewesen, haben sie mir erzählt, jedenfalls zu Anfang. So normal, wie man unter diesen Umständen sein kann. Natürlich war ihre Stimme leise, ihr Geist ein wenig benebelt, aber ansonsten war sie ansprechbar. Dann, ohne Vorwarnung, rollten sich ihre Augen nach innen und sie verlor die Kontrolle über ihren Körper..

Ich habe ihr bloß ein paar Laken auf den Boden gelegt, flach, nicht wie der Kissenberg, auf dem Lucy und Mary gerade schlafen. Sollte sie noch einmal krampfen, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf den nackten Boden rollt und sich verletzt, relativ gering.

Seid dem hat sie noch drei Anfälle gehabt, inzwischen ist es vier Uhr morgens. Zwischen den Anfällen hat sie klare Momente, Abschnitte, in denen man mit ihr reden kann, auch, wenn konstruktive Gespräche mit ihr nicht mehr möglich sind. Manchmal brabbelt sie wirres Zeug, leise, mit einer ganz rauen Stimme, so dass ich mich zu ihr herab beugen muss, um sie zu verstehen. Kalter Schweiß steht auf ihrer Stirn, ihr Gesicht ist eingefallen und dunkle Ringe zieren ihre Augen. Wenn sie schläft, sieht sie aus, als wäre sie bereits gestorben.

Beim letzten Anfall dann hat sie sich erbrochen. Ich hatte sie leicht angehoben, weil ich dachte, der Anfall sei vorüber. Gerade wollte ich sie auf die Seite legen, da krampfte sie erneut und gelbe Magensäure floss über meine Finger, knapp am Laken vorbei auf den Holzboden. Ich hielt ihren Kopf fest, damit nichts in die Luftröhre gelangte, legte sie dann richtig hin und wischte alles vom Boden auf.
 

Es schürt ungeahnte Aggressionen in mir, meine Schwester so zwischen Leben und Tod zu sehen. Sie darf mir nicht wegsterben, nicht sie. Wenn es unter den Personen, mit denen ich hier oben bin, eine gibt, die mir mehr bedeutet, als ich mir selbst, dann sie. Sie ist das, was meinem Leben bisher Sinn gegeben hat, wenn ich nicht durch sie existiere, durch wen denn dann? Soll ich an mir selbst existieren, wie Kant es immer predigte? Nein. Ohne sie bin ich lediglich ein Schatten meiner selbst. Sie so dort liegen zu sehen, so klein und eingefallen, nimmt mir die Luft zum Atmen.

Wenn sie krampft und gar keine Kontrolle mehr über sich hat, sitze ich mit großen, aufgerissenen Augen vor ihr, unsicher, ob ich sie gewähren lassen oder etwas unternehmen soll. Sie wirkt fremdgesteuert in diesen Momenten, so, als sei der Körper nichts weiter als ein von Fehlfunktionen geprägtes Kraftwerk. Ich habe mich selten so allein gefühlt wie in diesen Momenten. So schwach.

Inzwischen hat sie sich wieder beruhigt, liegt hier und schläft. Ich sitze neben ihr, Wache haltend. Die Kälte um mich herum nehme ich nicht länger wahr, der weiße Atem vor meinen Lippen ist alltäglich geworden. Wenn sich meine Augen vor Wut mit Wasser füllen, reibt mein Unterarm rüde über mein Gesicht. Keine Schwäche zeigen, keine Schwäche, selbst in einer Situation wie dieser. Letztendlich kann ich doch nichts für sie tun, kann meiner kleinen Schwester nicht helfen. Mir sind die Hände gebunden.
 

Mehr mürrisch als schlecht gelaunt kratze ich mit den Schneidezähnen Belag von der Zunge und spucke ihn angewidert auf den Holzboden unter mir. Nach einiger Zeit des unfreiwilligen Fastens bildet sich ein widerlicher, pelziger Belag auf der Zunge, der sich künstlich anfühlt und unangenehm riecht..

Mit einem leisen, lautlosen Seufzen blicke ich erneut zu meiner Schwester. Sie lebt noch. Noch. Bewegt hat sie sich, obwohl sich ihr Brustkorb hebt und senkt, innerhalb der letzten Stunden nur minimal. Ihr braunes Haar bildet einen Kranz um ihr weißes, weiches Gesicht. Ich kann Lucy leise weinen hören. Ob sie diesen Belag wohl auch hat?
 

Irgendwann muss ich dann doch eingeschlafen sein. Man glaubt kaum, dass man schnell müde wird, wann man sich nicht bewegt, isst oder trinkt. Doch genau das ist der Fall. Der Mangel an Reizen und Bewegung ruft eine ungeahnte Lethargie hervor. Jede unnötige Bewegung ist eine Qual, die Gedanken gleiten ins sinnlose. Man schläft viel, ungeachtet der Unwissenheit, ob man aus dem nächsten Traum jemals wieder aufwachen wird.

Als ich aufwache, ist mir, als spränge mein Herz innerhalb der nächsten Sekunden aus meiner Brust. Es rast, mein Atem geht schnell, für einige Sekunden habe ich das Gefühl, zu ersticken. Mir ist warm, schwindelig, alles um mich herum dreht sich. Ein taubes Prickeln breitet sich in meinen Fingerspitzen aus, während ich langsam den Raum abtaste. Wo bin ich? Was mache ich hier? Orientierung scheint mir ein Fremdwort, ehe mein Blick an der offen stehenden Badezimmertür hängen bleibt Verwirrt runzele ich die Stirn. Ich bin mir sicher, sie geschlossen zu haben, als sich die Unruhe um Emilys ersten Anfall gelegt hatte. Oder irre ich mich etwa? Das sähe mir nicht ähnlich.

Emily liegt neben mir, ihr Brustkorb hebt und senkt sich regelmäßig und langsam.

Sie lebt. Jedes Mal, wenn ich dies erneut feststelle, könnte ich schreien vor Glück.

Dumpf ziehend kehrt das Pochen in meinen Magen zurück, mir steht der Schweiß auf der Stirn, mir ist kalt und ich zittere, glaube ich. Meine Hände halte ich vor mich, so, dass der Puls zu mir zeigt. Auch sie zittern unkontrolliert. Mir fällt das Atmen schwer.

Es ist das Wasser, das fehlende Wasser. Ich hole tief Luft. Wenn ich nicht bald etwas zu trinken bekomme, werde ich, wie meine Schwester auch, bewusstlos und zuckend am Boden liegen.

Müde schließe ich die Augen noch einmal kurz, und sofort ist es, als habe man eine schwarze Decke um mich gelegt, die mich von all dem, was um mich herum geschieht, isoliert. Meine Lider zucken, denn unter ihnen beginnt es zu brennen, sie halten die ständige Belastung nicht mehr aus. Ein weißer Blitz erhellt das Dunkel, ich zucke, wie geschlagen, zusammen, ein Schrei entfährt meiner Kehle. Panische Angst schnürt mir die Kehle zu, zischend Atme ich ein, ein, zwei Male, doch keine Luft füllt meine Lungen. Ich kämpfe, ringe mit mir selbst, bis ich die Augen endlich wieder öffnen kann und zwei tiefe Schnitte auf meinen Unterarmen sehen kann. Schnitte eines Lebensmüden, welche die Sehnen in zwei teilen und die Knochen darunter entblößen. Blut läuft heraus, quillt über die weiße Haut meiner dürren Arme und rinnt auf den Boden, tropft auf das Laken und bildet darauf kurzzeitig kleine Perlen, die recht schnell eins mit dem fleckigen Stoff werden.

Gefühllos, kein Schmerz, kein Brennen. Nichts. Wie Wasser fließt die rote Flüssigkeit über meine Glieder und befleckt den Boden. Schockiert mich so dermaßen, dass ich unkoordiniert nach hinten wegspringe, unsanft auf dem Boden lande und blindlings weiter nach hinten krieche. Weit weg von der Lache roten Blutes auf dem Boden, die ich hinter mir herziehe und von der ich nicht wirklich verstehe, wo sie herkommt. Was werden meine Geschwister denken, wenn sie diese Lache sehen? Wie werden sie reagieren? Ich muss würgen.

Ganz plötzlich stoße ich gegen die Wand, die linke Ecke neben der Badezimmertür, und schwer atmend vor Angst lasse ich mich gegen sie sinken. Ringe nach Luft, von der ich momentan gar nicht registriere, dass sie meine Lungen tatsächlich füllt. Während ich krampfhaft versuche, mich zu beruhigen, lässt mein Hirn die letzten Sekunden in einer endlos wirkenden Schleife Revue passieren. Langsam beruhige ich mich, mein Kopf wird klar, das Adrenalin versiegt.

Als ich das nächste Mal auf meine Arme blicke, sind die Wunden weg, jede Spur von Blut ist verschwunden. Es ist, als wäre nie etwas vorgefallen. Als hätte ich lediglich halluziniert.

Ich will ins Badezimmer. Mich waschen. Und etwas trinken.

Doch ehe ich mich dazu aufraffen kann, aufzustehen – ich vergesse in meinem aufgewühlten Zustand, dass der Wasserhahn ohnehin nicht funktioniert – kann ich aus den Augenwinkeln ausmachen, dass jemand vor mir steht. Ich hebe den Kopf, der in den letzten Tagen immer schwerer und schwerer geworden ist, ein wenig an und erstarre. Der junge Mann von heute morgen steht vor mir. Seine blutroten Augen liegen in einer hypnotisch wirkenden Ruhe auf mir, seine weißen Haare fallen ihm fein und weich ins Gesicht. Er ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten. Noch immer. Ein schwaches, böse anmutendes Schmunzeln liegt auf seinen bleichen, kaum durchbluteten Lippen, dass seine Augen jedoch nicht zu erreichen vermag.

Wäre mein kompletter Tag nicht ohnehin schon so verrückt, hätte er mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Doch irgendwie bleibt alles so, wie es ist. Ich atme weiterhin schneller als normal, drücke mich gegen das kalte Holz der Wand und mustere ihn mit meinen großen, weit aufgerissenen Augen von oben bis unten.

In seiner rechten Hand hält er eine der Rasierklingen, die hier und da im Badezimmer herumliegen, mit der anderen greift er meinen Arm, klemmt sich die Klinge zwischen die Lippen und beginnt, meinen Pulloverärmel, den schwarzen, eben noch vollgebluteten Rollkragenpulloverärmel, hochzukrempeln. Seine Finger, die meine Haut währenddessen hier und da zu streifen pflegen, hinterlassen eisige Schauer, der mir von dort aus über den Rücken rinnt und anschließend, so lautlos wie er gekommen ist, verschwindet.

Von einer morbiden Faszination eingenommen, beobachte ich das Schauspiel, blinzle. Die Konturen des Mannes verschwimmen, doch er bleibt da, als stummes Abbild meiner selbst.

Anschließend greift er in seine Hosentasche und zieht ein Taschentuch hervor. Es ist weiß, aber voll mit rostroten Flecken. Es sieht aus wie meins.

„Wer bist du?“, flüstere ich leise, heiser, aber meine Stimme klingt hitzig, als hätte ich einen Marathon hinter mir. Ich fühle mich fiebrig.

„Deine Zukunft“, antwortet er kurz angebunden mit einer Stimme, die um einiges tiefer ist als meine, und mir mit ihrem Tonfall signalisiert, die Klappe zu halten. Sie wirkt reifer als meine, auch sein Äußeres scheint einige Jahre mehr durchlebt zu haben. Er könnte zwanzig sein. Dreißig, vierzig, man kann ihn nicht erfassen. Er scheint mich nicht wirklich zu registrieren, so wie er da sitzt und arbeitet. Dünne Schatten liegen unter seinen Augen, seine Lippen bilden einen dünnen Strich. Ein Mann, von den Verhältnissen seiner Zeit gezeichnet, jemand, der aussieht, als habe er seit langer Zeit nicht mehr geschlafen.

Er reißt das Taschentuch in zwei Hälften. Die eine stopft er mir, keinen Widerstand duldend, in den Mund, die andere bindet er mir um den Kopf, er knebelt mich. Mit einer bestimmten, wenn auch sanften Gewalt geht er dabei vor. Aus unerfindlichen Gründen lasse ich es zu.

Ich habe keine Angst vor ihm, auch wenn mir das Herz bis zum Hals schlägt. Er macht mich neugierig mit seiner geheimnisvollen, bestimmten Art. Eine gewisse Spannung liegt zwischen uns beiden. Unwissend, wer er ist, lasse ich ihn gewähren und betrachte fasziniert das helle, weiße Haar.

Ein Albino.

Seit dem Krieg hat die Anzahl genetisch verursachter Krankheiten stark zugenommen. Offensichtlich ist er ein Opfer dieses Wahns. Hat er sie von Geburt an, oder bildete sie sich als Resultat der restlichen Strahlung heraus? Ein Stigma, dass ihn schon früh aus der Gesellschaft ausgegrenzt haben muss.

„Du wirst mich während deines Aufenthaltes hier noch brauchen, Joshua Miller“, flüstert er leise und setzt sich vor mich.

Es verschlägt mir den Atem, als er meinen Namen ausspricht. Er scheint alles über mich zu wissen. Ein leises Wimmer dringt durch meinen Knebel nach außen, was ihn wieder dazu veranlasst, mir ein breites Schmunzeln zu schenken. Währenddessen lösen seine Finger das Schutzpapier um die geschärfte Klinge, zerknüllen es und lassen es, ganz nebensächlich, zu Boden fallen. Daraufhin hebt er seinen Kopf, mustert mich. Wenige Male streift sein Blick meine Augen, jedoch ignoriert er die Anwesenheit einer Seele in diesem Körper weiterhin.

Erneut unter Adrenalin, bemerke ich nicht, dass die Klinge mittlerweile auf der Innenseite meines linken Unterarmes ruht, Druck folgt, dann ein leichtes, stechendes Ziehen. Mit der freien Hand, die ihm verbleibt, hält er mich fest. Ich fühle keinen Schmerz, betäubt von den Hormonen in mir. Ich kann nicht wegschauen. Er ist so faszinierend.

„Bedingungslose Liebe entsteht aus vorangegangenem Schmerz. Wusstest du das?“

Erst als er mir schon längst das Fleisch aufgeschnitten hat, als mein Blick nach unten gleitet und registriert, was eigentlich mit mir geschieht, begreife ich.

Ein Aufschrei kriecht durch meine Kehle, doch wird durch den Stoff augenblicklich erstickt. Zurückzuckend pralle ich erneut gegen Holz, ein Stechen macht sich in meiner Schulter breit.

Ich löse den unverletzten Arm aus dem Griff dieses unbekannten, reiße mit den Knebel herunter und fange die Blutung mit meinem Mund auf. Im Moment erscheint mir nichts wichtiger, als meine Zunge mit dieser magischen, organischen Flüssigkeit zu benetzen. Blanke, animalische Gier. Also trinke ich, trinke, bis nichts mehr kommt, bis mein Bedürfnis verschwindet. Zitternd lasse ich den Arm in meinen Schoß gleiten, lecke mir über die Lippen und schaue mir das Ausmaß der Verletzung an.

Die Schnitttiefe beträgt einen guten halben Zentimeter, verläuft parallel zu den Sehnen und hat lediglich Fleisch geschnitten. Wieder füllt sich die Wunde mit Blut, wieder lecke ich es ab, wiederhole diese Prozedur, bis ich mich endgültig beruhigt habe. Eine blasse Kruste bildet sich über dem Schnitt und versiegelt ihn. Schweigend ziehe ich den Ärmel meines Pullovers darüber, hebe den Kopf und sehe mich um.

Schmerzen waren generell die einzige Form der Zuneigung, die ich in dieser Familie von meinem Vater jemals erhalten habe. Etwas, was er bereits durch seinen Vater erfuhr und nun an mich weiter gab.

Als starker Trinker zertrümmerte er uns gelegentlich große Bestandteile der Inneneinrichtung. Oder vermöbelte uns Kinder. Als starker Raucher wünschte ich ihm den Lungenkrebs an den Hals. Die Garantie für sein baldiges Ableben, sind wir doch nicht krankenversichert. Ich wünschte es mir Tag für Tag, mal mehr, mal weniger. Wenn er seine Kippen auf meinem Arm ausdrückte, mehr, wenn er besoffen auf dem Sofa einschlief, weniger.

Er verstand sich sehr gut darauf, meinen Oberkörper mit seinen Malen zu versehen. Schnittwunden, Narben, Prellungen, notdürftig zusammengeflickte Platzwunden über die Rippen. Mary sieht halbnackt wohl ähnlich aus, bei den Zwillingen bin ich mir nicht sicher.

Ein penetrantes Pochen zieht von der Schnittwunde hinauf bis in den Oberarm, doch bis auf die Schmerzen geht es mir erstaunlich gut. Als würde ich auf Wolken sitzen.

Als ich aufsehe, um nach dem zerrissenen Taschentuch zu suchen, bemerke ich, dass der Typ weg ist. Er ist ungewöhnlich. Beängstigend ungewöhnlich. Als ich die, durch den Schmerz inzwischen zusammengeballte Faust der rechten Hand öffne, liegt dort eine Rasierklinge. Angewidert schleudere ich sie von mir fort und begutachte meine Handfläche. Kleine, schwache Kratzer bilden ein blassrotes Muster.

Nachdem ich das Taschentuch gefunden habe, verbinde ich mir damit den Arm und frage mich stirnrunzelnd, was heute bloß mit mir los ist.

Erinnerungen

Kapitel Sechs: Erinnerungen
 

Frühjahr 1976.

Die Tür aus Eiche, mit dem milchigen Einsatz aus Glas wird aufgeschoben. Sie gleitet auf, lautlos, als hätte sie kein eigenes Gewicht, und gibt den Blick frei auf die Bühne meines jungen Lebens. Ich bin sieben Jahre alt. Kann gerade meine ersten Sätze schreiben. Ich gehe durch die Tür hindurch, drehe meinen Kopf nach links, als ich aus dieser Richtung glockenhelles Lachen vernehmen kann. Ginge ich den Flur entlang, könnte ich über die Treppe ins Erdgeschoss gelangen, doch ich verharre, wo ich bin. Blicke in unseren kleinen, solide gebauten Windfang. Die Haustür steht offen, Mutter ist gerade nach Hause gekommen. Neben ihr steht Alexander. Er hat sie in seine Arme gezogen, drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Ihr Körper erzitternd, dann schiebt sie ihn, kichernd, von sich fort, entgleitet seinem Griff und mustert ihn schweigend und aus einiger Distanz. Ihr Blick gleitet an ihm hinab, und ein blasses Schmunzeln liegt auf ihren Lippen, während er verschmitzt mit den Schultern zuckt und etwas zu ihr sagt, dass ich in meiner Entfernung nicht verstehen kann. Seine Stimme klingt warm, sanft. Es ist die Stimme eines Alexanders, der schon vor langer Zeit gestorben ist.

“Hier wirst du jetzt leben, mein Schatz.”

Mutter lächelt, dreht sich um. Ein kleines Wesen, blass, mit blonden Haaren und elfenbeinfarbener Haut kommt hinter ihr zum Vorschein, die Hand meiner Mutter fest umklammert. Die Kleine ist schön wie ein Engel, trotz ihren großen, ängstlichen Augen, die schnell hin und her huschen, auszumachen versuchen, wohin es sie nun verschlagen hat.

Was für ein Bild das ist. So harmonisch. Es läuft mir kalt den Rücken herunter, ich zittere, setze mich auf die erste Stufe der Treppe und erschaudere, als nackte Haut meiner in kurzen Hosen steckenden Beine mit dem kalten Holz in Berührung kommt. Es ist früher Sommer, die Menschen ächzen unter den viel zu hohen Temperaturen. Wassersprinkler halten die Natur am Leben. Nachwirkungen des Krieges, Folgen, die unsere Generation prägen werden.

Ich kann nur erahnen, was damals geschehen ist. Ich, mit meinen lächerlichen sieben Jahren.

Es ist Sonntag, ein Sonntagmorgen und vieles, was mir sonst geläufig ist, ist anders als sonst. Unser Kindermädchen, Annie, ist hier, kümmert sich um Emily und Lucy, liest ihnen Geschichten vor und macht ihnen etwas zu essen, doch der übliche Geruch nach Orangen und Zitronen, wie er sonst sonntags durchs Haus zieht, ist nicht vorhanden. Mutter ist nicht in der Küche, um Kekse zu backen. Nein. Sie war den ganzen Vormittag nicht da und kommt nun endlich wieder. Ein mulmiges Gefühl hat sich längst in meinem Magen ausgebreitet. So vieles ist anders als sonst.

Bald werden wir zu fünft sein, haben sie die letzten Tage immer und immer wieder zu mir gesagt, mir die Schulter getätschelt und übers Haar gestrichen. Wenige Tage zuvor hatte Mutter bei einem Anruf schrecklich angefangen zu weinen. Dann war sie zu mir gekommen, mit blutunterlaufenen, roten Augen und erzählte mir, dass meine Tante und ihr Mann nach einem Autounfall in den Himmel gekommen seien. Ich war geschockt, obwohl ich diese Menschen kaum gekannt hatte. Es war viel mehr der Zustand meiner Mutter, die so unerschütterlich war, der mich in Angst versetzte. Zu sehen, dass sie, die sonst immer wusste, was zu tun war, von etwas tief getroffen werden konnte.

Ein wenig später erfuhr ich dann, dass es sich bei dem neuen Familienmitglied, welches bald zu uns stoßen würde, um niemand anderen als Mary, ihre kleine Tochter handelte, die den Unfall, wenn auch schwer verletzt, überlebte. Von da an waren sie oft im Krankenhaus, verboten uns jedoch, sie zu begleiten. Sie hätte auch so genug Stress, sagte Mutter stets, da würden neue Kontakte sie nur zusätzlich aufwühlen. Nein. Unsere Zeit würde schon noch kommen. Das war vor einem halben Jahr. Nun scheint sie, endlich, gekommen.
 

„Komm ruhig herein, Mary, hab keine Angst.“

Die Stimme meiner Mutter ist so hoch wie immer, so weich, zärtlich und voller Liebe. Mit sanfter Gewalt schiebt sie das Kind, welches nach wie vor dicht gedrängt neben ihr steht, in den Raum, doch diese hält sich mit verzweifelten Kräften an Mutters Rock fest, der im Sonnenlicht in allen erdenklichen Blautönen funkelt. Er ist aus Satin, und sie hat ihn selbst genäht. Das ist günstiger, jetzt, wo das Zeitalter der großen Fabriken längst vorüber ist. Schneidereien sind unbezahlbar. Etwas für reiche, richtig wohlhabende Leute. Wohlhabender, als wir es sind. Und manchmal hilft Annie meiner Mutter auch, wenn sie Kleidung für uns näht. Dann kümmert sich Vater immer um uns, liest uns etwas vor oder spielt mit uns. Verbringt Zeit mit uns. Ein wundervoller Vater.

Alexander beugt sich herab, zieht Mary auf seinen Arm und betritt mit ihr zusammen unser Foyer. Als ich sehe, dass sie keinen Rock trägt, verschlägt es mir den Atem. Noch nie im Leben habe ich Mädchen gesehen, die Hosen tragen. Mutter und Annie tragen Röcke. Ich kenne kaum andere Mädchen, warum auch? Wenn ich mich zum Spielen treffe, dann meistens mit Jungs. Und selbst Emily und Lucy, die ich jeden Tag um mich habe, werden Röcke tragen, wenn sie alt genug sind.

Ich runzele die Stirn, beuge mich ein wenig weiter nach vorne, um jeden Eindruck, der auf mich einströmt, aufzusaugen und in meinem Gehirn abzuspeichern. Ich will diesen Augenblick niemals wieder vergessen. Dieses Mädchen, die ich in den vergangenen Wochen lediglich als Konkurrentin um die Liebe meiner Eltern wahrnahm, hat dieses Gefühl mit ihrer absoluten Schönheit lediglich verstärkt. Mein Herz macht einen Satz.

Dieses Mädchen hier wird also ab heute bei uns wohnen.

Mit blankem Abscheu starre ich zurück, als ihr Blick an mir hängen bleibt. Unverhohlen mustern mich ihre großen, blauen Augen, durchdringen mich, als wäre ich ein langjähriger Bekannter von ihr. Als ob sie mich auswendig kennen würde. Ihre kleinen Finger krallen sich in die Jacke meines Vaters, und sie wispert etwas. Mutter blickt sie fragend an, erkennt dann jedoch, was ihr Anliegen ist, schaut hinauf zu mir und lächelt.

“Das ist Joshua, Mary, dein neuer großer Bruder”, erklärt sie ihr glücklich und fährt mit ihren schlanken, schönen Fingern durch Marys langes Haar.

“Joshua Schätzchen, komm doch und sag’ Mary guten Tag!“

Sie mustert meinen Vater und strahlt, welcher zufrieden lächelnd das Mädchen im Arm hält und ihr über den Rücken streicht. Immer wieder, beinahe zwanghaft.

„Sie wohnt ab heute bei uns. Darauf haben wir so lange gewartet, nicht? Ihr werdet sicherlich sehr gute Freunde.“

Ich will sie nicht kennen lernen, ich will mich nicht mit ihr anfreunden. Dieses Mädchen interessiert mich nicht, sie ist mir egal, bloße Konkurrenz. Sie soll verschwinden.

So schnell es mir mit meinen sieben Jahren gelingt, bin ich auf den Beinen und renne aus dem Raum. Mit einem Tempo, dass sich für einen Siebenjährigen absolut gewaschen hat.

Sie scheint mit einer solchen Reaktion nicht gerechnet zu haben, denn sie wirft meinem Vater einen verwirrten Blick zu und folgt mir, immer wieder meinen Namen rufend. Bald schon hat sie mich eingeholt, wenn ich alles gegeben habe, ihr zu entkommen.

Sie greift nach mir, meinen Schultern, dreht mich um und hält mich fest. Wie Krallen bohren sich ihre Finger in mein Hemdchen und hinterlassen höchstwahrscheinlich gerade jetzt rote Striemen auf meiner weißen Haut.

Zwar mustert sie mich von oben bis unten, doch ihr Blick erfasst mich nicht richtig, ist entstellt wie eine Fratze, voller Angst und Panik. Als würde ich nie wieder freudestrahlend in ihr Zimmer kommen, um sie zu wecken. Als würde sie mich nie wiedersehen.

„Joshua! Joshua, komm zurück!“, brüllt sie immer wieder aus vollem Halse und schüttelt mich durch.

„JOSHUA!“

Ich kann sehen, wie ihr Gesicht blasser wird, immer blasser, bis es ein widerliches, fauliges Grau annimmt. Panisch blicke ich sie an, versuche mich, aus ihrem Griff zu lösen, während sich jedes Bild in mein Gesicht einbrennt. Blutige Tränen rinnen aus ihren Augen, laufen die Wangen hinab und tropfen auf meine Kleidung. Ich schreie, laut, voller Angst, spüre den Schmerz, den ihre Fingernägel an meinen Schultern verursachen, verstehe, dass dies nicht meine Mutter sein kann und fürchte mich dennoch.

Wieder brüllt sie meinen Namen, holt zum Schlag aus, in der Hand ein blutiges Messer, ein rostiges, eines, dass ich benutzte, um die Organe aus ihrem Torso zu trennen, und da überkommt es mich. Von dem Gefühl, innerlich zu zerreißen, gepackt, schnellt mein Oberkörper nach oben. Alles um mich herum ist weiß, ich beuge mich zur Seite, kann hören, jedoch nicht fühlen, wie ich mich übergebe. Dann ist alles ruhig.

Ich blinzele, mehrmals, das weiß um mich herum nimmt Farbe an, manifestiert sich in grau und braun, vollzieht die Metamorphose zu dem Dachboden, auf dem ich seit Tagen gefangen bin. Meine Hände stützen sich auf dem Boden ab, zittern jedoch so stark, dass ich nicht weiß, ob sie mein Gewicht länger halten werden. Langsam, noch von den Gefühlen der vergangenen Sekunden überwältigt, hebe ich den Kopf und blicke in Marys Gesicht, ohne sie zu erkennen. Sie ist leichenblass, ruft, flüstert meinen Namen, immer und immer wieder.

Es war nur ein Traum. Oh Gott.

Ich bin nicht fähig, ihr zu antworten. Adrenalin pulsiert in meinen Arterien, mein Herz hämmert laut und hart in meinem Burstkorb, Sterne tanzen vor meinen Augen. Es fällt mir schwer, mich zu orientieren, immer wieder schnappe ich nach Luft, immer wieder kommt mir abhanden, wer ich bin, was ich hier tue, ob ich wache oder träume. Ich kann hören, wie Mary leise flüsternd beruhigend auf mich einredet, mir über die Schultern streicht. Dann geben meine Arme nach, und ich sinke, nach wie vor zitternd, zurück auf den Boden, auf dem ich die vergangenen Stunden gelegen haben muss. Direkt vor dem kleinen Plexiglasfenster, unserer einzigen Lichtquelle, dem Ort, an dem mich Zukunft, mein Ebenbild mit weißen Haaren, gestern aufsuchte. Ich balle die Hand zur Faust, zucke zusammen und öffne sie. Eine Rasierklinge, grau glänzend, fällt heraus und auf den Boden, während sich meine Handfläche langsam rot einfärbt. Ein wenig brennt es, doch im Grunde fühle ich keinen Schmerz. Liegt es am Schock? Die Angst weicht Erleichterung, mein Puls ebbt ab. Es ist, als nehmen man mir die Last von den Schultern. Ein leises Stimmchen säuselt in mein Ohr, lacht, hoch und schrill. Redet mit mir. Singt.
 

Rot, rot, rot, sind alle meine Kleider. Rot, rot, rot, ist alles, was ich hab.
 

Schau dich an Joshua. Ein von Blut und Gier getriebener Sünder bist du, nicht mehr. Und du bist der größte Sünder von uns allen, der einzige, der wahre.

Du bist der König der Sünder!
 

Schweigend hebe ich die Hand, lecke die salzige, rote Flüssigkeit aus der Wunde, wische den Rest an meinem Unterhemd ab. Ich bin der König der Sünder. Der König allen Übels. Verkommen, verroht, allein. Ein leises, bitteres Lachen verlässt meine Kehle, ungehört von seinesgleichen.

„Oh Gott Joshua…“

Jemand im Hintergrund stöhnt diese Worte qualvoll aus, Worte, die mich hart und schnell zurück in die Realität holen. Sie zerstören die metaphysische Hülle, die ich eben noch um mich herum vernahm, bringen mich zurück zum klaren Denken. Ich bemerke meine Cousine neben mir und erschaudere. Ihr Haar steht wirr in alle Richtungen ab, dunkle Schatten befinden sich unter ihren sonst so wachen Augen, die Haut ist bleich und fahl. Sie sieht furchtbar aus, wie aus Porzellan, und Angst und Sorge zerfurchen ihr Gesicht. Bestimmt streckt sie einen Arm aus und greift nach meiner Hand, über die ich mir bis eben geleckt habe, dreht sie hartherzig von meinem Körper weg, als müsse man sie vor mir schützen und ignoriert das Krachen meiner Knochen, als sie mir die Elle beinahe aus dem Gelenk hebelt. Lucy, welche neben ihr sitzt, sieht nicht viel besser aus. Schock steht groß und offensichtlich in ihren Augen, hat sie mich doch noch nie in einem solchen Zustand erblickt. So offensichtlich trägt sie ihre Gefühle mit sich herum. Stocksteif ist sie, und doch fährt ein Zittern durch ihre Glieder. Für ihre dreizehn Jahre hat sie mittlerweile so viel gesehen, dass ich mir manchmal wünsche, sie möge endlich Frieden finden, damit sie diese Qual nicht länger bürden muss.

„Joshua“, wispert Mary mit hoher und kratziger Stimme und räuspert sich mehrmals, während sie mit der freien Hand die Rasierklinge an sich nimmt und in die Rocktasche steckt. Dann fährt ihr Blick über die Stelle, an der Zukunft mich gestern geschnitten hat. Noch ehe sie den Mund zum Sprechen öffnen kann, setze ich mich auf und drücke den verletzten Arm an mich.

„Ich war das nicht“, zische ich sie bissig, schon beinahe gekränkt an und wische ihr damit den verblüfften Ausdruck aus dem Gesicht, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst. Ich stehe auf, will nur noch weg von hier, ignoriere den Schwindel, der in mir aufsteigt, hervorgerufen durch Blutverlust und Wassermangel und mache taumelnd einige Schritte vorwärts. Alles dreht sich, es fällt mir schwer, überhaupt einen Schritt vor den anderen zu setzen. Ich lache. Erst leise, dann Laut. Kichernd, hoch.

Dann erreiche ich das Badezimmer, stütze mich am Türrahmen ab und gleite in den kleinen, dunklen Raum. Ich kann Mary und Lucy hinter meinem Rücken tuscheln hören, fühle, wie sie sich vielsagende Blicke zuwerfen. Sie glauben mir nicht, so viel ist sicher. Aber wenn sie doch wüssten, wie es dazu gekommen ist - Zukunft war es. Er kam zu mir, er fand den Weg in unser Verließ, redete mit mir und verpasste mir diese entsetzlichen, doch so befreienden Wunden.

Natürlich würden sie nicht an seine Existenz glauben, erzählte ich ihnen davon. Warum sollten sie auch? Außer uns ist hier oben niemand, und der einzige Eingang ist ständig bewacht. Und Zukunft hat, wie mir scheint, die negative Eigenschaft, nur mir gegenüber sichtbar zu sein. Nur mir gegenüber nimmt er Form und Gestalt an. Er scheint etwas ganz besonderes zu sein, etwas, dass auf rationalem Wege nicht so leicht zu erklären ist. Wie dem auch sei, er hat mich auserwählt. Von all jenen, die hier oben eingesperrt sind, hat er sich mir gegenüber offenbart. Etwas an mir muss ihn dazu bewegt haben. Etwas an mir muss einzigartig sein. An mir, Joshua Miller.

Im Badezimmer lasse ich mich zu Boden gleiten und lehne mich gegen die verkommene, kalte Wand. Meine Fingerspitzen kalten über die eisigen Fliesen, während meine Pupillen ziellos durch das endlose Dunkel dieses Zimmers wandern. Ungeahnte Hitze durchflutet meinen Körper, doch ich weiß, dass meine Haut sich nach wie vor kühl anfühlt. Es könnte ein Fieberschub sein, ausgelöst von dem Wassermangel, der uns seit Tagen heimsucht und uns langsam zu Grunde richtet. Mein Körper hat das Sterben angefangen. Ich schmunzele. Spätestens morgen um diese Zeit dann bin ich tot. Dahingerafft von Gewalt und Durst. Allein, verzweifelt, einsam, unverstanden von Geschwistern, die meinen eigenen Aussagen wohl keinen Glauben mehr schenken, heimgesucht von einer geheimnisvollen Gestalt, deren Ursprung höchstwahrscheinlich nur ihr selbst bekannt ist.

Wäre mein Leben anders verlaufen, ich wäre niemals hier gelandet.

Mein Vater hat keinen Abschluss. Dennoch hatte er die Chance, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten Und dann, eines Tages, gelang ihm der Aufstieg. Ich weiß nicht genau, wie er das anstellte, er redete nie darüber. Mutter auch nicht. Mit Sicherheit war diese Beschäftigung, der er damals nachging, nicht sauber, aber sie ermöglichte uns ein mittelständisches, sorgenfreies Leben.

Wäre es doch immer so geblieben.

Eine feuchte, kalte Schicht hat sich auf meiner Stirn gebildet. Die innere Hitze, welche mich vor wenigen Minuten noch so sehr dominierte, schwindet augenblicklich. Es ist, als würde man mich in Eiswasser tauchen, mir gefriert das Blut in den Adern, Zittern sucht meinen nun wieder schnell atmenden Körper heim. Es ist ungewöhnlich, dass ein Fieberschub so schnell verläuft. Es ist ungewöhnlich, dass ein Erkrankter während dieses Schubes noch so klar bei Verstand ist, dass er es schafft, darüber zu sinnieren. Bilde ich ihn mir letztendlich gar nur ein? Ich stöhne leise auf und wische mir mit dem Unterarm über die Stirn, greife in meine Hosentasche und ziehe das Taschentuch hervor, welches ich am Vorabend geistesabwesend darin deponierte. Meine schlanken, befleckten Finger umklammern es, wie einen Rettungsanker, mein Blick bohrt sich hinein, starrt, ohne das eigentliche Objekt zu fokussieren, bis mein Gehirn registriert, dass jemand es in zwei Hälften zerrissen haben muss. Unschuldig leuchten mir die ausgefransten Kanten im schwachen Schein hereinfallenden Lichts entgegen. Verwirrt runzele ich die Stirn. Mein Mund klappt auf.

Zukunft muss meines mitgenommen haben. Er muss es mir gestohlen und mir dafür ein zerschlissenes in die Hosentaschen gesteckt haben. Oder Mary tat dies, um meine angebliche Unzurechnungsfähigkeit glaubhafter zu machen. Vielleicht dürstet sie bereits danach, mir die Zwillinge “auszuspannen”, vielleicht will sie die Macht, die wir über die Zwillinge haben, auf sich vereinen, indem sie versucht, mir Wahnsinn anzudichten. Ich lache, erst leise, glucksend, bis es sich in ein lautes, pulsierendes Gelächter gesteigert hat. Das ist alles so lächerlich, fährt es mir immer wieder durch die Gedanken, ehe mein Lachen verebbt und stufenlos in heiseres Schluchzen übergeht. Tränen rinnen über meine Wangen, werden rüde weg gewischt, ehe sie zu Boden fallen können. Das kann alles nicht wahr sein. Diese Bastarde.

Dieses Taschentuch - ein Geschenk meiner Mutter zu besseren Zeiten. Sie gab es mir, weil ich als kleines Kind zur Weinerlichkeit neigte, beschwichtigte mich, indem sie sagte, es würde mich trösten, wenn die Zeiten härter würden. Es ist das Bindeglied zwischen meiner glücklichen Kindheit und meiner tristen Existenz hier oben auf dem verlassenen Dachboden, abgeschirmt von einer Außenwelt, die unser Leiden nicht bemerkte, als noch Zeit zum Helfen war.

„Was ist bloß los mit mir“, flüstere ich mit einer Stimme, die immer noch so rau und heiß klingt wie am Abend zuvor. Ich dachte, bald ginge es mir besser, doch das Gegenteil ist der Fall. Es scheint, als würde sich meine Umwelt fortwährend verändern, während ich nicht in der Lage bin, mich gemäß anzupassen. Ein durchsichtiger, imaginärer Schleier umhüllt mich, und ich bin nicht in der Lage, ihn zu durchdringen.

Mit den Fingerspitzen gleite ich über meine Stirn. Der Schweiß ist eingetrocknet, die Haut heiß und klebrig zugleich. Schwankend stehe ich auf, erneut beginnt sich alles zu drehen, doch diesmal lache ich nicht. Mir wird übel.

Dieses Unterfangen - mich langsam, an die Wand gestützt, nach oben zu Arbeiten, langsam das Gewicht zurück auf die eigenen Beine verlagern, dabei peinlich darauf achtend, nicht erneut zusammen zu brechen - verlangt einige Minuten von mir, denn mit jeder körperlichen Betätigung hämmert die Übelkeit in Kopf und Magen. Ich gebe auf. Auf halbem Weg sinke ich zurück zu Boden, erbreche, ignoriere das penetrante Gefühl, dabei zu ersticken, und krieche auf allen Vieren, jämmerlich, schwach wie ein Tier, zurück ins Hauptzimmer.

Lucy und Mary lehnen noch immer an der Wand, an der sie mich gefunden haben. Auf dem Boden befindet sich eine kleine Lache aus getrocknetem Blut, einige Spritzer weiter links und ein Handabdruck neben Marys Gesicht an der Wand. Vermutlich habe ich im Halbdunkel in die Lache gepackt und mich an der Wand abgestützt. Ich weiß es nicht mehr. Generell scheint mir der gestrige Abend nur noch schleierhaft in Erinnerung zu sein, alles scheint wie von einer dünnen Schicht Watte umgeben.

Auf der anderen Seite des Raumes liegt ein in Stoff gewickeltes Bündel Mensch. Ich bleibe stehen, wende mich um und begutachte die mehr als paradox wirkende Situation. Dort liegt ein Mensch, der sich nicht regt, und keinen kümmert’s, ungeachtet der Tatsache, dass wir auf engstem Raum zusammen leben. Der Stoff der Kleidung ist ausgefranst, winzige Löcher von Motten und Mäusen überall. Es ist Emily. Sie liegt dort, wie man sie nachts zuvor zurück gelassen hat.

„Lebt sie noch?“, frage ich Mary mit einem sarkastischen Unterton meine Cousine, versuche zu überspielen, dass mein Blut gerade systematisch mit Adrenalin angefüllt wird. Ich atme tief durch, die Angst verschwindet, doch der pulsierende Schmerz in meiner Stirn, verursacht durch die Umstände und Dehydration, bleibt. Ich huste, halte jedoch schon nach kurzer Zeit inne. In meinem Rachen ist alles trocken und rau, und je mehr ich huste, desto gereizter wird das umliegende Gewebe. Man muss versuchen, den Reiz auszuhalten, eine Maxime, die jedoch nicht leicht umzusetzen ist, wenn es einem an Speichel zum Schlucken mangelt.

Ich muss zusehen, selbst mit dem Leben davon zu kommen, bevor ich mich um andere Menschen kümmern kann, die meine Hilfe benötigen. Ich sehe hinüber zu Emily und zucke zusammen, als mir ihr Anblick einen Stich ins Herz gibt. Ich kann nicht sagen warum genau, weiß jedoch, dass es womöglich mit der Angst, sie zu verlieren, zusammen hängt. Oh Emily.

Knochen, der gegen Holz fährt, reißt mich aus den Gedanken. Marys Kopf ist gegen die Wand geschlagen, höchstwahrscheinlich wollte sie ihn nur anlehnen, hatte jedoch nicht mehr die notwendige Kraft, dies in einer sanften Art und Weise zu tun. Sie gibt keinen Laut von sich, und so wird es nach diesem kurzen Aufschlag wieder ruhig in unserem Verließ. Einem Verließ, in dem der Tod ein und aus geht, ohne dass die Insassen es bewusst wahrnehmen können.

“Weiß nicht.”

Mary zuckt mit den Schultern und schließt leeren, geröteten Augen, atmet ein oder zwei mal tief ein und aus, ehe sie an der Wand herabgleitet, sich neben Lucy legt und ihre Hand sanft drückt. Ein durch Empathie und Not geprägtes Bild, das mich in diesem Moment jedoch nicht erreicht. Schweigend wende ich mich von ihnen ab, schlendere zurück zum Schlafplatz meiner Schwester, wo ich mich nahezu lautlos auf die Knie sinken lasse, nach vorn rutsche und letztendlich auf allen vieren neben ihr kauere.

„Emily? Liebes, hast du gut geschlafen?“, hauche ich ihr ins Ohr, klinge dabei wie jemand, der seit mehreren Jahrzehnten übermäßig viele Zigaretten konsumiert und streiche ihr mit einem Finger die Haare hinter die Ohren. Dabei fahre ich ihr über die Wange und zucke zusammen, als ich feststelle, dass sie kalt ist.

Im gleichen Augenblick setzt mein Herz für eine Sekunde aus, nur, um danach in rasender Geschwindigkeit davon zu galoppieren. Es drückt derart gegen meinen Brustkorb, dass ich für einen Moment das Bedürfnis verspüre, es heraus zu reißen und zum Schweigen zu bringen. Galle sucht sich ihren Weg nach oben, doch diesmal erbreche ich mich nicht - entgegen jeder Erwartung bin ich ganz ich selbst.

„Emily? Verdammt!“

Ich greife nach ihren Schultern und drehe sie unsanft auf den Rücken. Aus ihren Lungen entweicht die Luft in einem leisen Stöhnen, ihr Kopf schlackert hin und her. Mehrmals schlage ich sie sanft ins Gesicht, damit sie ihr Bewusstsein wiedererlangt. Sie rührt sich nicht, Panik gewinnt langsam, aber sicher die Oberhand.

Was, wenn sie nie wieder erwacht? Was, wenn sie...?

„Joshua, was ist los?“

Ihre Stimme hat einen sehr derben Klang angenommen, als Mary sich endlich dazu aufraffen kann, die nötige Aufmerksamkeit zur rechten Zeit walten zu lassen. Als ich Lucy einen Blick zuwerfe, liegt sie in embryonalstellung und schaut uns aus großen, leeren Augen an. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr klar ist, worüber ich mir, bezüglich Emily, Sorgen mache, sie rührt sich einfach nicht. Kein Zeichen, ob sie die Reize, die auf sie einströmen, in irgendeiner Art und Weise verarbeitet. Ganz traurig liegt sie da, wie im Delirium, alle Glieder von sich gestreckt und allein nicht fähig, sich in eine bequeme Haltung zu bringen.

„Emily. Sie ist eiskalt“, hauche ich immer und immer wieder, schiebe meine Hand unter ihr Sweatshirt, das viel zu große Sweatshirt, welches ich ihr vor einigen Monaten gab, und taste nach dem Puls. Am Bauch liegt die Aorta – doch ich fühle nichts. Auch am Hals. Und an den Handgelenken. Ich bin der handelnde, meine Cousine sitzt, mit einem Gesichtsausdruck voller Lethargie, wie gelähmt neben mir. Stumme Tränen rinnen über ihre Wangen, als sei es ihr eigenes Schicksal, das sie in Emily verkörpert auf sich zu rasen sähe. Nahezu angeekelt blickt sie auf meine kleine Schwester herab, verharrt, mit halb ausgestreckten, zitternden Händen vor ihr, während ihr einzelne, blonde Strähnen langsam die Schulter herab rutschen. Sie scheint nicht zu atmen, ihre ganze Existenz scheint in diesem Augenblick erstarrt zu sein. Sie hält die Luft an, als befände sie sich gar nicht hier in diesem Raum. Als sei diese Situation alles, aber nicht real

Immer noch schlage ich Emily ins Gesicht. Wieder. Und wieder. Meine Schläge werden härter, und meine Panik schießt explosionsartig ins Unermessliche. Sie darf nicht tot sein. Nein. Nicht jetzt, nicht hier, dies ist nicht der richtige Ort, nicht die richtige Zeit. Ich umfasse ihre Schultern, schüttele sie. Rede auf sie ein, warte darauf, dass sie ihre Augen aufschlägt und mir ihr so süßes Lächeln schenkt. Hinter mir räuspert sich jemand, Fingerspitzen berühren meinen Arm. Ich stöhne leise, lasse Emily sinken und werfe meiner Cousine einen Blick zu.

„Lass gut sein, Joshua…“, flüstert sie und sinkt neben mir zu Boden, verschränkt die Beine und blickt wehmütig auf meine kleine Schwester, als könne sie selbst nicht fassen, was hier gerade geschehen sein sollte.

Emily. Tot? Das kann nicht sein. Wieder fange ich an zu lachen, alles wirkt surreal und lächerlich. Ihr Tod wäre Alexanders zweiter Erfolg, diese Familie auszulöschen. Sie wäre sein zweites Opfer innerhalb so kurzer Zeit. Und dabei so unschuldig, dass ich die Wut, die bei diesem Gedanken in mir aufsteigt, kaum zähmen kann.

Mit einem letzten Aufbäumen meiner noch verbliebenen Hoffnung verpasse ich ihr eine schallende Ohrfeige, die man mit Sicherheit bis in den nächsten Raum vernehmen kann. Ich schlage sie erneut. Und noch einmal. Ich scheine zu schreien, doch meine eigene Stimme verklingt in meinen Ohren. Ich höre nichts, ich sehe nichts, ich bin wie ein Berserker. Etwas feuchtes rinnt über meine Wangen und wird rüde weg gewischt. Mary brüllt neben mir, bis ihre Stimme bricht und in ein heiseres Schluchzen übergeht, bittet mich immer wieder, doch damit aufzuhören. Es würde doch nichts bringen.

Während ich so über meiner Schwester knie und meine Handflächen langsam aber sicher beginnen, zu brennen und rot zu werden, betrachte ich immer wieder ihr Gesicht, welches vor meinem ist und durch den Druck meiner Schläge hin und her schwingt. Es bilden sich feine Risse in meinen Handflächen, ich kann es fühlen. Sie sind zu rau – wie Schleifpapier und zu prall durchblutet. Wie altes Pergament reißt meine Haut. Aber meine Augen werden feucht.
 

Sie ist so blass, so schwach, dass ich Angst bekomme, sie zu zerbrechen, wenn ich weiter auf sie einprügle – da schlägt sie die Augen auf und sieht mich an.
 

Vor Schreck ganz steif, dauert es, bis ich in der Lage bin, meine Hände zurück zu nehmen und von ihr herunter zu klettern. Dort streiche ich die Handflächen mehrmals an der beschmutzten Hose ab und kann das aufsteigende schlechte Gewissen als bitteren Stich in meinem Magen vernehmen. Ich lehne an der Wand, kann spüren, wie sich die Kälte langsam und unerbittliche auf meine Haut überträgt, ähnlich einer Gewehrkugel zwischen den Augen einer zum Tode verurteilten Person. Ich kann es nicht fassen. Wie ist das möglich?

Emily blickt sich im Raum um, so gut es geht, ihre Pupillen zucken schnell hin und her. Sie bewegt ihren Körper nicht, starrt uns lediglich an, während ihre Wangen ein dunkles rot annehmen. Ich weiß, dass sie nicht geschlafen hat, weiß, dass die Lebenszeichen ihres Körpers so schwach waren, dass die Bewusstlosigkeit, in der sie sich offensichtlich befand, mir als Tod erschein. Sie ist zurück. Sie lebt.

Mit einem tiefen Seufzer fällt die Anspannung von mir ab und wird ersetzt durch blanke Euphorie, als ich mich von der Wand abdrücke und so schnell zu meiner Schwester eile, wie ich es in meinem geschwächten Zustand noch vermag. Dort falle ich neben ihr auf dem Boden, ergreife ihre Hand, vergrabe mein Gesicht in ihrem nussbraunen Haar und beginne zu lachen. Und zu weinen. Beides gleichzeitig, und das so offen und ehrlich, dass Mary erneut die Tränen kommen, während Emily wahrscheinlich nicht einmal ahnt, worum genau es eigentlich geht.

„Oh Gott… du lebst… du lebst…“, lache ich immer wieder, presse es zwischen meinen Zähnen hervor und fahre ihr mit der Handfläche ständig über den Hinterkopf, drücke sie sanft an mich und presse ihre einen Kuss nach dem anderen auf die Schläfe.

Sie schaut mich mit großen, verwirrten Augen an.

„Joshua… was ist denn los?“, fragt sie schließlich ganz leise und schüchtern, als habe ich sie in eine große Verlegenheit gebracht. Schwach versucht sie, sich von mir weg zu drücken, denn scheinbar behagt ihr die extreme Nähe zu mir nicht. Ich lasse sie nicht los, schraubstockartig halte ich sie fest und schwöre mir im Hinterkopf, sie nie wieder gehen zu lassen.

Mein Alter Ego hatte recht. Liebe entsteht aus Schmerzen.

„Dein Bruder dachte, du wärest tot“, gibt Mary letztendlich dazu und nun erscheint auch bei ihr ein schwaches Lächeln auf den Lippen. Erleichterung, auch, wenn die Sorge nicht weicht. Über die Tatsache, dass Emily lebt, als auch über den Fakt, dass ihre Bewusstlosigkeit durch Dehydration hervor gerufen wurde.

“Ich bin wohl ohnmächtig geworden.“

Ganz verwundert schließt Emily die Augen und hört nun endlich damit auf, Widerstand zu leisten. Schweigend lässt sie es zu und verursacht in mir eine Art brüderlicher Befriedigung. So verweilen wir. Ich, der große Bruder, passe auf meine Schwester, das kleine Nesthäkchen auf, streiche durch ihr Haar, genieße ihre Nähe und erfreue mich an der vorübergehenden Sorglosigkeit, die ich schon so lange nicht mehr vernommen habe.
 

Wäre es nach mir gegangen, hätten wir Tage so verbringen können. Doch ein leises Brummen, welches durch den recht gut isolierten Boden zu uns hindurch dringt, bereitet der Nähe zwischen mir und meiner Schwester ein jähes Ende. Jemand muss die Tür lautstark ins Schloss geworfen haben. So laut wurde sie zugeschlagen, dass der Klang noch schwach hier oben vernommen werden konnte.

Erschrocken werfen Mary und ich uns vielsagende Blicke zu, die Zwillinge liegen in einer anderen Ecke des Zimmers, wo sie still und unscheinbar vegetieren. Sterben ist eine ekelhaft langsam Angelegenheit.

„Josh, Alexander ist hier. Er wird uns holen“, zischt Mary immer wieder ganz fiebrig und aufgeregt, trotz ihrer vor Fieber rot glühenden Stirn und der Schwäche, welche auch sie inzwischen eingenommen hat. Ein schwaches Nicken meinerseits, dann zucke ich zusammen, als etwas dunkles hinter Mary von der einen Ecke des Raumes in die andere huscht. Als ich den Kopf hebe, um zu sehen, worum es sich handelt, ist die Stelle, an der ich es zu verweilen glaubte, leer. Mit einem unguten Gefühl schlucke ich den wenigen Speichel, der mir noch verblieben ist, hinunter.

„Joshua, hörst du? Wir kommen hier raus! Wir kommen hier endlich raus, oh Vater, das ist nicht zu glauben, dass ist-“

„Halt die Klappe, Mary“, zische ich mit einer Stimme, so kalt, dass sie Mary jede Farbe aus dem Gesicht jagt. Augenblicklich verstummt sie, verschränkt die Arme und heftet ihren Blick auf die Luke, durch die wir diesen Raum betraten. Schweigend beuge ich mich nach vorn und presse das Ohr gegen den hölzernen Boden. Ich will wissen, wer diese Wohnung soeben betreten hat. Handelt es sich um Alexander, so bin ich mir sicher, dass er lediglich hier auftaucht, um verbliebenes Hab und Gut zu holen. Ich kenne ihn. Nach dem, was er getan hat, wird unsere Freiheit das letzte sein, dass ihm wichtig ist. Er ist ein Mörder. Er hat unsere Mutter erschossen und uns anschließend gezwungen, die Überreste seiner abscheulichen Tat verschwinden zu lassen. Wenn er es ist, gibt es keine Hoffnung für uns.

Mit ein wenig Glück hat inzwischen jemand Wind von Rachels Verschwinden bekommen und die Polizei alarmiert. Dann werden sie feststellen, dass die Wohnung leersteht. Sie werden die Blutspuren auf dem Wohnzimmerteppich und im Badezimmer bemerken. Sie werden Mutters Finger finden und das Schloss am Eingang zur Luke. Dann werden sie uns retten. Alles wird gut.

Soweit der Plan.

„Meine Fresse… schaut euch das Gerümpel hier an!“

Es ist die Stimme eines Mannes, leise und dünn dringt sie zu mir hindurch. Ich muss mich anstrengen, um zu verstehen, was er von sich gibt, obwohl sie sich höchstwahrscheinlich im Flur und somit in unmittelbarer Nähe zu uns aufhalten. Meine Miene erhellt sich, ich atme auf. Es ist definitiv nicht Alexander.

„Das ist nicht Alexander”, flüstere ich leise und werfe ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zu. “Ich kenne die Stimme nicht. Vielleicht ist es die Polizei...“

“Joshua, die haben aber keinen Schlüssel.“

“Wenn die Polizei einen Schlüssel will, bekommt sie ihn auch. Die Tür wurde nicht aufgebrochen. Sie ist nur laut ins Schloss gefallen... wahrscheinlich hat Alexander sich nicht einmal die Mühe gemacht, offen stehende Fenster zu schließen. Durchzug.”

Sie runzelt die Stirn und mustert mich mit einer Miene, die mir verdeutlicht, dass ihr diese Argumentation nicht wirklich einleuchten will.

„Wir wohnen in einer Mietwohnung, Mary. Das hier ist nicht mehr als eine Sozialwohnung. Der Hausmeister wird den Schlüssel schon rausrücken, wenn die dem sagen, dass er den Schlüssel rauszurücken hat.“

Daraufhin erwidert meine Cousine nichts mehr, sondern verfällt für eine halbe Minute in Schweigen.
 

„Wie sollen wir uns jetzt verhalten, Joshua?“, fragt dann, nachdem sie sich ausgeschwiegen hat, leise und zieht die Augenbrauen ängstlich zusammen. Wenn sie uns hören, werden sie uns befreien. Versagen wir, so werden wir hier oben wahrscheinlich das zeitliche segnen.
 

„Offensichtlich wurde sie im ... erschossen. Die Spuren führen... Badezimmer.“

Sie entfernen sich. Die Stimmen werden leiser, ich verstehe nur noch Bruchstücke. Gierig, jede vorhandene Information aufzusaugen, presse ich mich mit all meiner Kraft gegen die Bodendielen. Schusswunden. Spuren. Ich schmunzele in mich herein. Hier ermittelt jemand, die Polizei ist eingetroffen.

„Schweinerei. Wo ... Kinder?” Der Kommissar hustet.

“Johnson! Bewegen Sie Ihren faulen Hintern her. Wo sind die Kinder?”

“Keine Kinder, Sir.“

Keine Kinder - ich werde bleich. Sie scheinen kreuz und quer durch die Wohnung zu laufen, die Stimmen kommen und gehen. Mary, die nicht hören kann, was unten vor sich geht, scheint meine erschrockene Miene ernsthaft zu beunruhigen. Sie sollen suchen, verdammt, suchen! Wir sind hier oben.

„Wenn ich Ihnen jetzt das Wohnzimmer zeigen dürfte… furchtbar… offenbar… umgebracht… Wohnzimmer…“
 

Stille. Mich nicht vom Boden lösend, erläutere ich Mary kurz, was unten vorgefallen ist

„Kriminalpolizei“, hauche ich mit einem Funken Hoffnung in der Stimme. „Offenbar kommen sie, um die Tat zu rekonstruieren… Sie werden garantiert noch einmal ins Badezimmer kommen.“

„Das ist unsere Chance!“, flüstert sie, von plötzlichem Ehrgeiz beflügelt.

“Genau. Mary. Mary, hör mir zu. Wenn sie das nächste das Badezimmer betreten, müssen wir einen Abriss veranstalten, der sich gewaschen hat, hörst du? Wir müssen uns bemerkbar machen, damit sie uns befreien.“

Mary nickt, ein breites und siegessicheres Grinsen ziert ihr Gesicht.

„Kein Problem. Du kennst mich doch. Meinst du, sie werden uns hören? Du weißt, dass Alexander Spitzenleistungen vollbringen kann, wenn ihm etwas wichtig ist. Ein Geräusch von draußen ist jemals zu uns durchgedrungen...“

„Ich weiß nicht, ob sie uns hören werden. Ich hoffe es. Wir müssen alles geben, Mary. Auch, wenn wir seit Tagen nichts getrunken haben, auch, wenn wir Fieber haben und uns schwach fühlen. Sobald sie erneut das Badezimmer betreten, schreien wir, dass wir die nächsten Tage keinen Ton mehr von uns geben können.“

Es kommt, wie es kommen muss. Nachdem man der beinahe unverständlichen Konversation aus dem Wohnzimmer entnehmen kann, wie furchtbar und schrecklich die vorangegangene Tat gewesen ist, schlendern sie zurück ins Badezimmer. Lange suchen müssen sie nicht, immer der Blutspur nach. Sie kennen die schrecklichen Details dieser Tat nicht. Sie wissen nicht, wer Rachel zerstückelt hat. Woher auch. Die lebenden Beweise jener Tat befinden sich ein Stockwerk über diesem Raum.

Eine der Stimmen kommt mir unheimlich bekannt vor. Wenn sie uns finden, wird es wahrscheinlich auf ein Wiedersehen hinauslaufen. Ein Überbleibsel vergangener Zeiten.

Durch Marys und meine nächtlichen Aktivitäten landete in den vergangenen Jahren die ein oder andere Anzeige in unserem Briefkasten. Körperverletzung hieß es da. Diebstahl, Schutzgelderpressung. Beleidigung, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, Störung der öffentlichen Ruhe. Die Liste war lang.

Die Schreiben wurden abgefangen, bevor sie den Weg in die raffgierigen Hände meines Vaters finden konnten. Gelegentlich erschienen wir zu den Terminen, meistens jedoch verbrannten wir die Schreiben. Wir erzählten den Beamten das blaue vom Himmel, ergänzten uns gegenseitig und sprachen uns ab. Sie konnten uns in all den Jahren nichts nachweisen, Mary und mir. Wir sind ein starkes Team.
 

„Wo zur Hölle sind die Kinder?“

„Nichts, gar nichts. Sie sind nicht hier.“
 

Unser Stichwort. Wie auf Knopfdruck fängt Mary an zu brüllen, schlägt mit einem der Kissen auf die Luke ein, schreit um Hilfe in allen erdenklichen Nuancen und Tonlagen. Ich tue es ihr gleich, springe herum, stampfe mit den Füßen auf dem Holzboden herum. So laut und so fest ich kann. Es ist unmöglich, dass sie das hier nicht hören, auch wenn Alexander diesen Raum mit allen erdenklichen Mitteln isolierte. Er darf nicht schon wieder gewinnen.
 

„Holt uns hier raus! Verdammte Scheiße!“

Es muss das zehnte Mal sein, dass Mary diesen Satz der Luke entgegenwirft. Das letzte Mal. Ihre Stimme bricht weg, und entkräftet sinkt sie auf dem Boden zusammen, hält sich die Stirn und bricht, vor Schwäche und Verzweiflung, in Tränen aus. Ihr Kopf ist knallrot, sie atmet schwer.

„Leg dich hin“, flüstere ich und lege mich zurück auf den Boden, atme ein und aus, spüre, wie mein Herz gefühlte tausend Mal in der Minute gegen die Rippen springt. Ich schließe die Augen und spüre das Pochen in meinem ganzen Körper, zusammen mit der Übelkeit, dem Schwindel. Allem. Sie sind nicht gekommen, um uns zu holen. Nein. Sie haben uns nicht gehört. Minutenlang haben wir alles gegeben. Und doch haben sie uns nicht gehört. Überhört haben sie uns, nicht mehr. Der Arm des Gesetzes. Ich kann noch hören, wie die Tür erneut ins Schloss fällt, dann wird es still. Wir sind allein.

Mary laufen stumm die Tränen über die Wangen, als sie dort auf dem Boden liegt. Sie hat sich auf die Seite gedreht und zittert am ganzen Körper.

„Wir sterben… wir werden hier oben sterben, Josh…“, wimmert sie. “Er schlägt uns. Alexander gewinnt. Was ist so schwer daran, diese verdammte Luke zu finden?!”

Schweigend schüttele ich den Kopf und starre an die Decke, die eigentlich genau so schmutzig ist wie der Rest unseres Raumes. Dort hängen Staubweben. Tote Spinnen. Ich bin untröstlich.

„Sie werden weiter nach uns suchen, hörst du?”, flüstere ich, ohne es mir in diesem Moment selbst zu glauben. “Und irgendwann werden sie uns finden.“

Wenn irgendwann bloß nicht zu spät ist. Vielleicht wäre es besser gewesen, wir hätten uns ans Jugendamt gewandt. Hätten erzählt, was daheim vor sich geht. Dann wären wir in Pflegefamilien gekommen, hätten normal aufwachsen können, wenn auch getrennt. Aber wenn man nichts hat, wenn die Geschwister alles sind, auf dass man sich im Leben verlassen kann, schweigt man. Sie hätten uns getrennt. Allein sind wir aufgeschmissen. Verloren. Also hielten wir die Klappe

„Ich geh wieder zum Wasserhahn“, wispere ich Mary zu, die immer noch weinend neben der Luke liegt und die Arme um ihren Oberkörper geschlungen hat. Sie sieht jämmerlich aus. Der Raum hat sie gebrochen, ihr jene Stärke und innere Schönheit genommen, die ich einst so sehr an ihr schätzte. Ich ertrage es nicht, sie so zu sehen, erhebe mich schwankend und taumele die wenigen Schritte, welche ich sonst bei Gelegenheit gerannt bin, ins Badezimmer. Dort sinke ich zu Boden und krieche zurück an meinen alten Platz vor dem Waschbecken, wo ich fiebernd, zitternd, ängstlich und verstört sitzen bleibe.

Hier erst gestatte ich es mir, ein paar Tränen zu vergießen, wische sie jedoch so schnell fort, wie sie gekommen sind. Ich will mir keine Schwäche eingestehen. Nicht mehr. In den vergangenen Tagen bin ich so oft innerlich zusammen gebrochen, dass ich es mir nicht mehr leisten kann, nur noch ein einziges Mal in diesem schlechten Zustand gesehen zu werden.
 

„Durstig?“
 

Blitzschnell wische ich mir erneut über die Augen und hebe den Blick. Jemand hält ein großes Glas Wasser vor meine Nase, doch als ich, gierig wie ich in diesem Zustand bin, danach greifen will, lässt die betreffende Person es fallen. Das Glas zerbirst auf dem Boden in tausend kleine Einzelteile, während die Flüssigkeit sich unbarmherzig auf dem Boden verteilt. Als ich meine Finger in das feuchte Gut tauchen möchte, ist der Boden wieder so staubtrocken wie eh und je. Es gibt kein Zeichen, dass dieses Glas voll Wasser jemals existiert hat. Gequält ziehe ich die Luft in meine Lungen, und hebe den Blick

Vor mir steht der junge Mann mit den weißen Haaren, der mir so aus dem Gesicht geschnitten scheint. Ein gewinnendes Schmunzeln ziert seine Lippen, seine rotgrauen Augen funkeln mich an, verlieren nicht einmal durch die Dunkelheit ihren scharfen und lebhaften Glanz. Ich kann es beinahe noch riechen, das Wasser, den Dunst erfassen, als das Glas auf dem Boden zerbarst und seinen Inhalt freigab. Der Gedanke daran treibt mich nahezu in den Wahnsinn. Und so kommt es, dass ich diesen Mann nicht aus den Augen lassen kann, als er sich gegen das Waschbecken lehnt, die Hände, seelenruhig, in die Hosentaschen schiebt und mich, mit einer leichten Spur Großkotzigkeit, von oben herab anblickt.

Er trägt eine recht dunkle, weit sitzende Jeans, ein weißes Hemd, dessen Arme nach oben geschoben sind. Drunter kommt ein ausgezehrter, dünner Körper zum Vorschein, gekennzeichnet von langer Krankheit, der Bereich um die Augen herum ist dunkel und eingefallen. Auch, wenn ich ihn schon sah, so finde ich jetzt erst Zeit, die Eindrücke dieser Person bewusst in mich aufzunehmen. Mein Blick wandert an ihm herab und bleibt an den entblößten Unterarmen hängen. Rosige Narben zieren die weiße, leichenblasse Haut um die Handgelenke herum. Sie reichen hinauf bis zum Ellenbogen und werden zur Mitte des Armes hin wulstiger, breiter. Bis auf dieses Mahnmal scheint der Körper jedoch unversehrt.

Mir verschlägt es die Sprache, das Herz scheint für den Bruchteil einer Sekunde seinen Dienst zu versagen - nie, niemals zuvor habe ich etwas so faszinierendes, wunderschönes und zugleich so erschreckendes gesehen.

Als er bemerkt, worauf der Fokus meiner Aufmerksamkeit gerichtet ist, starrt er mich auf eine Art an, die mir die Haare zu Berge stehen lässt. Mein Blick bricht, ruht wenige Sekunden auf dem Boden, nur, um wenige Sekunden später hinauf in sein Gesicht zu huschen. Seine Miene verändert sich. Das Lächeln wird blasser und die Augen nehmen einen nahezu traurigen Ausdruck an, als er mich so auf dem Boden kauern sieht. Etwas seltsam vertrautes haftet ihm an. Dann lacht er. Trocken, freudlos.

“Es erscheint mir, als sei es gestern gewesen, dass ich an deiner Stelle sass und meinen Gegenüber verwundert anstarrte, als er ein Glas fallen ließ, welches in dieser Dimension niemals existierte.”

Ein leises Glucksen, seine Zunge fährt ruhelos über seine Unterlippe. Dann räuspert er sich und verschränkt wortlos die Arme. Dann nickt er mir zu.

“Meine Haare waren so schwarz wie deine. Nach diesem ... Höllenloch hier oben heftete sich der Wahn an mich und wollte nicht mehr weichen. Ein dunkles Tier, welches sich von innen an deinen Geist heftet und deine Seele von innen her aussaugt. Eine Krankheit, die kommt, und niemals wieder geht.”

Mit einem bitteren Lächeln beugt er sich zu mir herab, seine Pupillen huschen über mein regungsloses Gesicht. Er scheint nicht fassen zu können, wirklich an diesem Ort zu sein, scheint erst realisieren zu müssen, dass das, was gerade geschieht, auch für ihn Realität ist.

“Genau wie der Krebs. Er kam und wollte nicht mehr gehen. Also ging ich mit. Und jetzt stehe ich hier, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit und sehe dich gefangen in einem Spiel, dessen Spieler ich vor mehr als fünfundzwanzig Jahren selbst war. Lass dir eins gesagt sein, Joshua Miller - handele mündig, solange es dir vergönnt ist. Zieh den Strich, wenn die Zeit gekommen ist. Irgendwann ist es zu spät.“

Schweigend fährt er sich mit einer Hand durch das glatte, schlohweiße Haar und schüttelt es auf. Es ist nicht sehr lang, obschon man es mit einer Portion Pomade nach hinten kämmen könnte. Doch er spricht in Rätseln. Was auch immer er mir mitteilen wollte, ich verstehe ihn nicht. Fragend blicke ich ihn an. Sich selbst scheinbar in mir wiedererkennend, entlockt ihm diese Ratlosigkeit ein leises Lachen.

Er wendet seinen Blick von mir ab, streicht gedankenverloren über den Wasserhahn. Dieser hagere Mann, dessen Existenz lediglich aus seinem Selbstbewusstsein gespeist zu werden scheint, wirkt mit einem Mal zerbrechlich, gezeichnet von stiller Erkenntnis bis ins kleinste Detail determinierter Umstände. Die Kleidung, welche seinen Körper umspielt, jedoch eigentlich zu groß ist, unterstreicht dies stillschweigend. So sind wir gemeinsam hier und doch allein, wir schweigen uns an, während ich durch heimliches Mustern seiner Person versuche, jeden Eindruck für immer zu verinnerlichen.

„Bist du ein... Engel?“, frage ich, es nicht besser wissend, jedoch gleich im nächsten Moment begreifend, dass diese Äußerung meine Verunsicherung lediglich unterstreicht. Ich kann fühlen, wie schwache Schamesröte aufzusteigen versucht, jedoch im Ansatz durch bittere Selbstkontrolle vernichtet wird. Selbstbeherrschung. Ruhepuls.

Mein Gegenüber bricht in schallendes Gelächter aus, so laut, dass ich schon befürchte, meine Geschwister könnten ihn hören. Nervös pendelt mein Blick zwischen ihm und der Tür, mein Herz rast. Nichts geschieht. Weder kann ich verdächtige Geräusche von nebenan vernehmen, noch wird die Tür ruckartig aufgerissen. Wie paralysiert verweile ich an Ort und Stelle, während er sich den Bauch hält und, nach gefühlten tausend Jahren, kleine Lachtränen aus den Augenwinkeln wischt. Mit einer Miene, die Ironie und Tadel vereint, sieht er mich an.

„Joshua, um Gottes Willen, nein. Nenn mich, wie du willst, aber ein Engel bin ich mit Sicherheit nicht. Das Gegenteil vielleicht. Oder noch viel mehr. Ich bin Produkt einer Seele, die in den Mühlen der Gesellschaft zermahlen wird, bis sie sich selbst kaum mehr wieder erkennt. Ich bin die Erinnerung an deine Person, die zurückbleibt, wenn du eines Tages nicht mehr bist. Ich werde deine Zukunft sein, und gleichzeitig deinen Untergang zur Folge haben. Mehr nicht.“

Mehr nicht. Die Simplizität seiner Äußerungen legt ein dünnes Seil um meine Kehle und schnürt es kräftig zu. Ich schnappe nach Luft, von einem plötzlichen Stoß Adrenalin aus der Bahn geworfen. Mit großen Augen schaue ich ihn an, vollkommen davon überzeugt, dass er und ich eins sind. Eins waren. Und eins werden.

Schweigend kniet er sich neben mich und streicht mir über das schwarze Haar. Der innere Konflikt scheint von ihm gewichen, ausgelöscht durch Vertrauen in etwas unbekanntes und dem Wissen, dass es nichts gibt, vor dem man sich fürchten muss, wenn man es nur kennt. Er scheint sich selbst ständig aufs neue zu erkennen. Sein Geist scheint nicht beständig, viel mehr durch äußere Umstände geleitet. Und doch sagt mir etwas, dass genau dies nicht der Fall ist. Er wirkt, als sei er über die äußeren Kräfte erhaben.

„Du wirst hier oben nicht sterben, Joshua. Nicht, wenn du es nicht willst. Irgendwann wirst du die Wahl haben, dich von deinem Körper oder deinem Verstand loszusagen. Glaub mir - bislang hat noch jeder den Wahnsinn dem Tode vorgezogen.

Ich weiß nicht, wer schuld daran ist, aber dir steht noch einiges bevor im Leben.”

Langsam erhebt er sich, die Aufmerksamkeit weicht von mir und fokussiert sich nun aufs Waschbecken. “Also mach dir wegen deines wundersamen Überlebens keine Gedanken.”

Das Schmunzeln auf seinen Lippen wird breiter. Es belustigt ihn, zu spüren, wie sehr mich seine Aussagen verwirren. Ich möchte ihn noch tausend Dinge fragen, doch mein Mund bleibt verschlossen. Ich bringe es nicht fertig, Worte über meine Lippen zu bringen, und er scheint es nicht für nötig zu halten, seinen Äußerungen weitere Tiefe zu verleihen. Er greift über das Waschbecken, dreht den Wasserhahn auf und verlässt den Raum, ohne auch nur ein letztes Mal Notiz von mir zu nehmen. Die Vernunft in mir weiß, dass er niemals im Hauptraum ankommen wird. Emily, Lucy und Mary werden ihn nicht sehen, es ist mir vorbestimmt, der einzige zu sein. Mit ausdruckslosem Blick starre ich die Tür an, brauche ein paar Minuten, bis mein Gehirn die Geschehenisse der vergangenen Minuten verarbeitet hat und hebe dann den Kopf, als ein leises Plätschern die Aufmerksamkeit meines Gehörs erregt.

Als ich endlich verstehe, dass das, was ich wahrnehme, der Realität entspricht, springe ich auf und halte meine Hänge ungläubig unter den Strahl frischen Wassers, welches sich unbarmherzig in den Abfluss ergießt.
 

Noch immer ganz taumelig stehe ich auf, verliere mein Gleichgewicht und kann mich in letzter Sekunde an dem weißen Waschbecken festhalten. Noch immer stehen die Plastikflaschen darunter, leer und bereit, mit frischem Wasser befüllt zu werden Sie interessieren mich nicht. Gierig wie ein ausgehungertes Tier hänge ich mich unter den fließenden Strahl und trinke, bis mein Magen sich so voll und schwer anfühlt, als würde er gleich zerplatzen. Ich kann spüren, wie Tropfen über meine Lippen perlen, an meinen Fingern herunter rinnt, kalt und belebend. Es versetzt mich in absolute Extase. So schnell wurde ich noch von keinem Fieber befreit, ich nehme alles viel bewusster wahr, realisiere, dass ich nicht verdursten muss. Ich bin voller Glück und Zufriedenheit.

Erst, als ich mich sattgetrunken habe, wende ich mich den Flaschen zu und fülle sie bis zum Rand, schraube sie zu, stelle sie zur Seite und nehme die nächste. Es dauert nur wenige Minuten, dann sind sie alle gefüllt und stehen neben mir, als sei nie etwas gewesen. Hoffentlich werden wir sie nicht benötigen. Hoffentlich dreht uns hier oben niemand das Wasser ab. Selbst, wenn diese Wohnung nun unbewohnt ist, so hoffe ich doch, dass der Vermieter sie einsatzbereit halten wird.

Mit einem leisen Seufzer der Erleichterung erhebe ich mich, lasse dabei zwei der Flaschen mitgehen und verlasse diesen widerlichen Ort. Wenn Emily und Lucy es aus eigener Kraft nicht zurück ins Badezimmer kommen, dann kommt das Wasser eben zu ihnen. Ich atme tief durch und sehe mich um. Gerade jetzt, in diesem Moment, könnten mir die Umstände nicht egaler sein.

Mary staunt nicht schlecht, als ich mit den beiden Flaschen, scheinbar wieder leicht gestärkt und annehmbarer Gesundheit, vor ihr stehe. Zwei mit Wasser gefüllte Flaschen und ein bis über beide Ohren grinsender Joshua Miller.

„Wo... OH MEIN GOTT. Wo hast du das Wasser her?“

„Der Wasserhahn funktioniert wieder“, flüstere ich nicht ohne Stolz und drücke ihr eine der Flaschen zwischen die Finger. Sie klammert sich daran, sieht mir ins Gesicht und kichert erleichtert, während sie selbst am zittern ist. Erregung.

“Trink dich satt und kümmere dich dann um Lucy.”

Meine ganze Aufmerksamkeit gilt nun meiner kleinen Schwester Emily, welche noch immer auf ihrem Lager liegt und gegen die Decke starrt. Sie starrt an die Decke, während ihre Augen glasig und unbeweglich nicht in der Lage sind, etwas näher zu fokussieren. Schweigend knie ich mich neben ihr auf den Boden und berühre ihre Schulter - sie blickt auf, zu mir, ihrem großen Bruder, die Augen geschwollen und blutunterlaufen, das Gesicht gerötet und aufgequollen. Gleichzeitig wirkt ihre Haut wie Papier. Sie sieht schlimm aus, und es verschlägt mir die Sprache, aber ich grinse sie an und nicke ihr zu.

„Emily, schau nicht so traurig, ich habe dir etwas mitgebracht.“

Mit diesen Worten hole ich die Flasche hinter meinem Rücken hervor und öffne den Verschluss, während sie mich und das Objekt in meinen Händen, regungslos mustert. Langsam streckt sie die Hand aus, streicht über das alte, ausgeblichene Etikett und seufzt leise, ehe ein leichtes, schwaches Lächeln über ihre Lippen huscht.

„Hast du denn schon etwas getrunken, Joshua?“, fragt sie mit einer Stimme aus Sandpapier und hustet direkt danach, als bereite ihr das Sprechen körperliche Schmerzen. Ich nicke.

„Ja, habe mach dir keine Gedanken“, erwidere ich, rutsche etwas näher an sie heran und drücke ihr den Wasserbehälter in die beinahe kraftlosen Fingern. Sie bekommt das Plastik zu fassen und umklammert es. Sie wirkt so klein und zerbrechlich.

„Trink schon, danach wird es dir besser gehen.“

Ausdruckslos begutachtet sie die Flasche, ehe sie diese anhebt und trinkt. Sie ist ein sehr ruhiges Mädchen, und genau deshalb führt sie jede ihrer Bewegungen langsam und bedächtig aus. So verstreichen die Sekunden, in denen sich der Flaschenhals ihren Lippen nähert, quälend langsam. Nervös fängt mein Herz an, seine Geschwindigkeit zu erhöhen und ich runzele die Stirn. Wenn sie getrunken hat, brauche ich mir keine Sorgen mehr um sie machen. Dann wird sie wieder zu Kräften kommen

Als sie fertig ist, nehme ich ihr alles ab, verschließe es und stelle es neben das Kopfende ihrer Matratze auf den Boden.

„Leg dich wieder hin und ruh dich aus, hörst du? Du bist immer noch krank. Ich lasse dir die Flasche hier, und ich möchte, dass du immer daraus trinkst, wenn du dich in der Lage dazu fühlst, ja? Das ist sehr wichtig, immerhin haben wir einige Tage lang überhaupt kein Wasser getrunken.“

Ein schwaches Nicken folgt, dann lässt sie sich, in ihrer Kleidung total versunken, nieder. Sie schließt die Augen, sieht so unheimlich müde aus - und ist beinahe augenblicklich eingeschlafen.
 

„Bleib mir mit dem Teil bloß vom Hals.“

Lucy schaut ganz entgeistert, als ich es ihr Abschlage, aus der Bibel vorzulesen. Es ist, wenn man es so bezeichnen kann, eindeutig eines ihrer Lieblingsbücher. Den größten Teil wird sie schon gelesen haben, einige Passagen kennt sie auswendig. Wenn es ihr schlecht geht, schlägt sie es auf und blättert darin herum. Die Bibel ist ihr treuer und ständiger Wegbegleiter. Ich muss wohl nicht näher erläutern, dass mir dieser dogmatische Schabernack nicht geheuer ist, und ich, wenn ich ehrlich bin, keinen sonderlich großen Wert auf göttlichen Beistand lege. Das Leben hat mich zu dem gemacht, der ich bin, indem ich selbstständig gegen die äußeren Umstände vorgegangen bin. Kein Gott hat mir in dieser Hinsicht jemals unter die Arme gegriffen. Er scheint keinen sonderlich großen Wert auf mich, auf uns alle zu legen, daher habe ich ihn weitestgehend aus meinem Leben gestrichen. Alexander und Rachel, beide durch ihre auswegslose Situation absolut vernarrt in ihren Glauben, fanden das weniger schön. Jedoch fruchtete die christliche Erziehung meiner den Zwillingen umso mehr. Sie sprechen brav ihre Gebete, tragen Röcke, das Haar nicht offen, sind immer loyal und gehorsam. Es ist abzusehen, dass sie als Heimchen am Herd enden, wenn sich niemand ihrer annimmt. Mary hingegen trägt Hosen, sooft es ihr möglich ist. Sieht man sie in einem Rock, ist er sündhaft kurz. Es hat einige recht lautstarke Auseinandersetzungen diesbezüglich gegeben, doch Mary hat, zäh wie sie ist, durchgehalten und letztendlich den Kampf gewonnen. Irgendwann hat Alexander einfach nichts mehr gesagt. Er hatte andere Mittel und Wege, ihr zu verdeutlichen, dass aufreizende Kleidung nicht immer den gewünschten Zweck erzielt. Manch einer kennt die Grenzen nicht.

„Ach komm schon Josh…“, drängelt Lucy weiter und drückt mir das Buch gegen den Arm, doch ich nehme es ihr aus der Hand und lege es wortlos, ohne sie weiter zu beachten, neben mich. Momentan habe ich selbst ein Buch in der Hand, lese. Ich lese viel, wenn ich die Zeit dazu finde, und da wir ohnehin keine Chance haben, nach draußen zu gelangen, ziehen sich die Tage, abgeschottet, wie wir sind, zäh wie Kaugummi. Wen stört es da schon, wenn ich an Eigentum gehe, das eigentlich nicht meines ist?

Die letzten Tage lasse ich Revue passieren, erinnere mich an Zukunft, wie er mir zum ersten Mal erschien und wie er nicht mehr weichen wollte.

Doch irgendwie glaube ich das nicht wirklich. Zukunft… hat so überzeugt geklungen, als er mir heute morgen verkündet hat, dass wir hier lebendig wieder herauskommen. Jedenfalls schließe ich das aus dem, was er gesagt hat.

„Joshua! Du bist gemein – gib mir die Bibel wieder!“

Sie greift über mich hinweg und holt sich ihr heiß und innig geliebtes Buch zurück. Herzlichen Glückwunsch. Mich lässt das kalt.

„Geh lieber ins Badezimmer und wasch dich, so gut es geht. Du miefst.“

Jetzt, wo wir endlich wieder über die Möglichkeit verfügen, an Wasser zu gelangen, wuschen wir uns, nachdem der erste Durst gestillt war. Erst jetzt, nachdem wir den Schmutz von unseren Körpern abgeschüttelt haben, nimmt man war, wie stickig und stinkig es hier eigentlich ist. Ich rümpfe die Nase und verpasse ihr einen sanften, brüderlichen Tritt in den Allerwertesten, damit sie ihren Hintern ins Badezimmer schiebt.

Ihre Reaktion erfolgt in Form eines leisen, hohen Schreis, den sie von sich gibt, als ihr Körper zusammenzuckt, ihr Rock weht im Schwung ihrer Körperdrehung, dann legt sie die Bibel auf ihren Schlafplatz und huscht ins Nebenzimmer.

Schweigend blicke ich ihr nach und streiche mit einem Finger über den Bauch, der sich seid gestern Abend anfühlt, als habe er sich in meinen Körper zurückgezogen. Dumpf drückt von innen etwas gegen die Bauchhöhle, doch dort kann nichts sein. Es wird nicht mehr sein als ein Gefühl, hervorgerufen durch Adrenalin und Hunger.

Leise seufzend lehne ich mich zurück, bis ich den kalten Beton der Wand durch meinen Pullover hindurch spüren kann und kaue, nahezu unbewusst, auf meiner aufgesprungenen Unterlippe herum. Lucy wird von nun an jeden Tag in diesem Buch lesen. Es wird sie stärken, dagegen habe ich nichts einzuwenden, doch die Besessenheit, mit der sie die Geschichten in sich aufzusaugen scheint, bereitet mir Kopfzerbrechen. Dass jemand, der mit seiner Lebenssituation unzufrieden ist, Mittel und Wege sucht, um sich zu Stärken und einen Ausweg zu finden, scheint mir verständlich. Meine Eltern bekräftigen sie nur in ihrem Tun, und auch, wenn ich denke, dass ihr Glaube aufrichtig ist, so denke ich auch, dass sie innerlich hoffte, positive Aufmerksamkeit ihrer leiblichen Eltern auf sich zu ziehen.

Ich schweige mich zu diesem Thema aus. Gott hatte nie ein Auge auf mich - wenn es ihn gibt, so hat er sich von dieser Welt lange distanziert. Ein handelnder Gott würde dies nicht zulassen. All das Leid, all die Not. Man sagt, er habe dem Menschen die Freiheit gegeben, zu wählen, doch in meinen Augen scheint diese Freiheit nicht mehr zu sein als Ignoranz und Gleichgültigkeit von oben. Ich liebe meine Geschwister, die sich mit diesen bildhaften Geschichten Erleichterung verschaffen. Deshalb behalte ich meine Meinung für mich.

Dieses Unverständnis, was Glauben angeht, ist auch daran schuld, dass ich in der siebten Klasse aus unserem Religionsunterricht flog. Man stellte mich vor die Wahl - Ethik oder Schulverweis. So kam es, wie es kommen musste - in den Philosophen der vergangenen Jahrhunderte entdeckte ich wegweisende Botschaften und Dinge, in auf die ich mich stützen konnte. Gottloses Zeug, wenn es nach Alexander ging. Er bekam einen Tobsuchtsanfall nach dem anderen. Er brüllte und fluchte, ich würde eines Tages in der Hölle schmoren und dann sehen, was ich von meiner sogenannten ‘Mündigkeit’ haben würde, und als ich darauf erwiderte, dass ich damit durchaus zurechtkommen würde, zerrte er mich in mein Zimmer und schlug mich grün und blau. So endeten Streitereien immer bei uns, lautstark, schmerzhaft. Zurück in den Religionsunterricht jedoch ging ich nicht.

Ich kenne die Bibel und ich weiß, dass viel dummes Zeug darin steht. Was Jesus sagte, ist zwar gut und schön, in dem Alltag jedoch, den ich kenne, nur schwer umzusetzen. Und der Rest - meiner Meinung nach lange überholt. Die Gleichwertigkeit von Mann und Frau sollte inzwischen jeder denkende Mensch erkannt und begriffen haben, nur um ein Beispiel zu nennen. Ich sollte ein paar Seiten aus dem Einband entfernen, auch, wenn ich mir dadurch nur unnötigen Ärger einhandeln würde. Da wäre keine Reue, wenn die Zwillinge weinten und Mary mich mit erbosten Blicken tadelte, nicht, dass sich mein Gewissen in den letzten Jahren übermäßig oft zu Wort gemeldet hätte. Gelegentlich habe ich mich gefragt, ob es von mir gegangen ist, doch dann, wenn ich es am wenigsten erwartete, kitzelte es mich plötzlich wieder im Nacken. Größtenteils jedoch lässt es mir den Freiraum, zu tun und zu lassen, was ich will. Jemand mustert mich auf eine Art und Weise, die mir nicht passt? Kein Problem. Jemand klopft einen dummen Spruch? Kein Problem. Es muss nicht immer die Faust sein, die spricht. Joshua Miller kennt andere Wege, Menschen eine Lektion zu erteilen, die sie auf lange Dauer nicht vergessen werden.

Menschen, die mir nahestehen, haben da einen gewissen Bonus, der Rest hat Pech gehabt und bekommt meine kalte Seite ungehindert zu spüren.
 

„Hey, Emily.“

Innerhalb der letzten Stunden hat sich meine Laune gebessert. Gut, wir sitzen hier fest, wir wissen nicht, ob wir überleben werden. Aber zur Zeit bin ich der Meinung, einfach das Beste daraus zu machen sei derzeit das konstruktivste, was uns offen steht. Verzweifeln kann ich noch in den letzten Tagen, dann, wenn die Ahnung zur Gewissheit wird. Jetzt gilt es erstmal, die Aufmerksamkeit auf die letzte gemeisterte Krise zu lenken. Wir haben es geschafft und sind gefährlich lange ohne Wasser ausgekommen - das gehört gefeiert.

Ich streiche Emily mit der Hand sanft über das strähnige und schmutzige Haar und frage meinen Engel im leisen Flüsterton, wie es ihr gehe. Sie lächelt schwach. Die Wasserflasche, welche ich ihr ans Kopfende gestellt habe, ist leer.

„Versuch etwas zu schlafen, hörst du?“, wispere ich, denn Lucy und Mary liegen schon schlafend in der hinteren Ecke des Raumes, eingewickelt in die schmutzigen Laken und Kissen. Emily lagerten wir um, als sie die Krampfanfälle bekam, doch nun, wo es ihr besser geht, wird sie bald zu uns zurückkehren.

„Mir ist kalt“, kommt es ihr über die Lippen. Keine wirkliche Antwort auf meine Frage, doch ich nicke lediglich und decke sie fester zu.

„Schlaf, Emily, hörst du? Morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus. Ich fülle dir jetzt die Flasche wieder auf, damit du was trinken kannst, wenn du nachts wach wirst, klar?“

Ein weiteres, schwaches Nicken kommt und ich wende mich von ihr ab, tapse durch das Dunkel in unser Badezimmer und verlasse mich von da an Tastsinn, denn sehen kann ich nichts mehr. Wir haben heute keine Kerzen angezündet und das schwache Licht, dass durch unser Plexiglasfenster in den Hauptraum fällt, schafft es nicht bis zum Bad.

Das Fenster lässt Licht herein, öffnen jedoch lässt es sich nicht. Und selbst wenn, wir kämen aufgrund der nahezu winzigen Größe nicht hinaus.

Ich lasse die Hände in meine Hosentasche gleiten, um sie zu wärmen. Dann stocke ich. In meiner Hosentasche befindet sich immer noch Zukunfts Rasierklinge. Dieser merkwürdige Mann, der mir so ähnlich sieht und ein Auge auf mich zu haben scheint. Wenn ich doch der einzige bin, der ihn sehen kann und er, rein objektiv betrachtet, doch nur in meinem Kopf existiert, wie soll dann die Rasierklinge in meine Hosentasche gelangen? Ich brachte keine mit in diesen Raum. Doch wenn er physisch ist - warum hält er uns dann weiterhin hier gefangen? Genau so habe ich Mary heute versucht, meine Situation zu erklären, doch sie hat lediglich verärgert den Kopf geschüttelt, tadelnd meinen Namen ausgerufen und mich gewarnt, ja die Zwillinge mit diesem Schwachsinn zu verschonen. Als ob Rasierklingen so unerschwinglich wären, hat sie gezischt und dann bitter gelacht. Sie lägen doch überall bei uns im Badezimmer herum. Anschließend stemmte sie die Arme in die Hüften und musterte mich mit zusammengekniffenen Augenbrauen. In die Stille Wut mischte sich offensichtliche Sorge um mein geistiges Wohlergehen. Was, wenn er hier den Verstand verliert, muss sie gedacht haben. Was, wenn er eine Gefahr für mich und die Zwillinge darstellt? Ich kann die Kleinen nicht vor ihm beschützen, wenn er gewalttätig wird, er ist älter und stärker als ich. Wenn ich kämpfe, werde ich verlieren.

Letztendlich habe ich klein beigegeben. Ich wollte sie nicht noch mehr beunruhigen, als sie es ohnehin schon war. Des weiteren wollte ich mein Ansehen wahren, solange noch die Möglichkeit dazu bestand. Wenn sie mir nicht glaubten, gut. Ich kann durchaus Dinge für mich behalten und deren Vorteile ebenfalls. Es scheint mir, rückblickend betrachtet, doch ganz gut gelungen zu sein, die Situation zu retten. Mary schlief ein, und ich stibitzte ihr die Klinge aus der Rocktasche. Ich wollte sie für mich haben, nur für den Fall, dass ich sie noch einmal benötigte. Immerhin ist es meine. Nicht ihre. Meine.

Im Badezimmer drehe ich den Wasserhahn auf und halte meine Finger darunter. Es wird die Haut austrocknen und spröde machen, doch dieses einmalige Gefühl, dass perlendes Wasser auf meiner Haut hinterlässt und dass durch keinen anderen Stoff imitiert werden kann, hat mich seit ich denken kann fasziniert. Je länger es durch meine Finger rinnt, desto stärker wird die prickelnde Taubheit, die sich, durch die niedrige Wassertemperatur verursacht, durch meine Finger zieht. Als ich sie kaum mehr spüre, halte ich die Flasche darunter, lasse sie volllaufen und schraube sie anschließend zu.

Im Hauptraum dann stelle ich die Flasche neben das Kopfkissen der inzwischen eingeschlafenen Emily und husche im schwachen Schein des hereinfallenden Mondlichts hinüber in die Ecke, in der Zukunft mir gestern einen Besuch abstattete. Dort habe ich eine Kerze samt Aluminiumhalter platziert. Schweigend fische ich ein Kästchen mit Zündhölzern aus meiner Hosentasche, lasse eines der mit Schwefel überzogenen Köpfchen an der rauen Schachtelseite entlang gleiten, bis es sich mit einem leisen Zischen wie von Zauberhand entzündet. Als die Kerze brennt, puste ich das Hölzchen aus und lasse es zurück zu den anderen in die Schachtel fallen. Kerze samt Ständer platziere ich auf dem kleinen Vorsprung, der sich unter dem Plexiglasfenster befindet. Das Fenster selbst befindet sich lediglich wenige Zentimeter über dem Boden, ein Indiz dafür, dass das Badezimmer unter uns ursprünglich höher gewesen sein musste. In unserem Verließ selbst kann man kaum aufrecht stehen. Wir befinden uns zwischen zwei Stockwerken, alles ist gründlich isoliert. Qualitätsarbeit auf unsere Kosten.

Mit einem leisen Seufzen der Anstrengung lasse ich mich nieder und lehne mich mit der Schulter gegen die Wand. Die Stirn gleitet gegen das Plastikglas, welches trotz seiner Beschaffenheit so kalt ist, dass der Bereich um meine Kopfhaut herum beschlägt. So kann ich nach draußen blicken, dem bunten Treiben auf den Straßen meiner Heimatstadt mit trüben Augen zusehen. Schweigend lasse ich mir die Ereignisse der letzten Tage, Wochen, Monate durch den Kopf gehen, spüre, wie geballte Wut meine Eingeweide ausfüllt. Es wird wohl niemals der Tag kommen, an dem ich über meine Vergangenheit hinwegkommen werde, und wenn ich nach draußen sehe, und beim Anblick der freien Menschen dort unten auf den Straßen verstehe, dass wir vergessene Kinder sind, Laster der Gesellschaft, dann verpufft die Wut, und bittere Leere bleibt zurück. Während ich nachdenke und spüre, wie mein Puls sich beschleunigt, treten winzige Tränen in meine Augen, die auszuweinen ich nicht in der Lage bin. Mit dem Handrücken wische ich mir über die Lider, greife in die Hosentasche und befördere die Klinge zurück ins Mondlicht. Ich blicke auf sie herab, drehe und wende sie zwischen meinen Fingern. Das dumpfe, leere Gefühl in meinem Brustkorb raubt mir jede Kraft zum klaren Denken. Lediglich das Bedürfnis, ein Ventil zu finden, um jene angestauten Emotionen zu entleeren, findet sich in meinem Kopf wieder. Oberzähne finden Unterlippe, kauen nervös darauf herum. Weinen kann ich schon lange nicht mehr, der ganze Hass in mir explodiert auf den Straßen und richtet sich gegen Menschen, die in ähnlichen Situationen stecken und für meine Lage eigentlich nichts können. Oder sie entladen sich gegen mich selbst. Wie ein zweiter Schatten verfolgt mich ein innerer Druck , den ich anders nicht bewältigen kann.

Der Name der Herstellerfirma steht in geschnörkelten Lettern auf dem Wachspapier, welches die Klinge nahezu behutsam umschließt. Es stört mich. Vorsichtig löse ich die Hülle vom Metall, betrachte die schimmernde Oberfläche und halte plötzlich inne.

Liebe entsteht aus Schmerzen, hat Zukunft gestern zu mir gesagt. Wie anders sollte eine Mutter sonst dazu in der Lage sein, ihr eigenes Kind zu lieben? Wie sonst können Bindungen nach Krisen stärker werden? Natürlich können Schmerzen die Liebe auch zerstören, es ist eine Gradwanderung zwischen Erlösung und Verdammnis. Ein kleiner Seitenhieb kann alltägliche Dinge zu etwas wertvollem aufwerten. Das, oder etwas ähnliches, hat er zu mir gesagt und mir dann in den Arm geschnitten.

Schweigend klemme ich die Klinge zwischen meine Lippen und krempele den Ärmel meines bereits in Blut getränkten Pullovers hoch. Inzwischen ist die gestrige Wunde verkrustet und sieht schon gar nicht mehr so schlimm aus. Wie aus dem Nichts sprießt in mir die Gewissheit, dass es sich gut angefühlt hat. Es war wie früher, wenn mein Vater nach mir rief und die Stummel seiner zuvor gerauchten Zigarette auf meinen Gliedmaßen ausdrückte. Ein verdrehter Beweis seiner Liebe. Ich zog mich zurück, stellte mich vor den Spiegel und sah mir die frischen Wunden noch einmal aus der Nähe an. Tapfer kam ich mir vor, wie ein kleiner Kämpfer, der eine Schlacht geschlagen und sie glorreich überlebt hat. Ich bewunderte meinen entstellten Körper. Klopfte jemand an der Tür, so versteckte ich die betroffenen Körperregionen schnell unter dem Stoff meiner Kleidung. Ich sehnte mich so sehr nach der Nähe meines Vaters, dass ich nahm, was ich kriegen konnte. Inzwischen bin ich darüber hinweg, dass er mich nie wie einen normalen Sohn in den Arm nehmen wird. Ich, der ihm so ähnlich sieht. Er erkennt sein eigenes Scheitern in meinen Augen.

Liebe entsteht aus Schmerz, hämmert es laut und unbarmherzig durch meinen Kopf. Dann drücke ich die Klinge auf meinen Unterarm. Wenige Sekunden zögere ich, dann ziehe ich sie durch, mit Nachdruck, doch vorsichtig. Der Schmerz, der durch meinen Körper zuckt, ist kurz, heftig, und doch scheint er nicht zu existieren. In dem Moment, in dem ich die Klinge sinken lasse, durchströmt mich Erleichterung. Frieden folgt, als ich die ersten Tropfen frischen Blutes aus der Wunde quellen sehe.

Freiheit entsteht aus Schmerz könnte es ebenso gut heißen, überlege ich mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen und schließe die Augen. Dann atme ich tief ein.

Was ich getan habe, scheint schockierend, doch verhält es sich gleich einem Sprung in kaltes Wasser. Der erste Moment ist unangenehm, doch hat man den erst überwunden, so will man das darauf folgende nicht mehr missen. Es scheint, als habe Joshua Miller nach langem Suchen endlich sein Ventil gefunden.

Als das Blut an meinen Armen herunterläuft und zu Boden tropft, öffne ich die Augen wieder. Die Fingerspitzen des verletzten Armes sind kalt, offensichtlich hat der Körper die Blutzufuhr gedrosselt, um den Verlust möglichst gering zu halten. Ich weiß noch nicht, dass oft verletzte Stellen mit der Zeit weniger Blut verlieren. Dass sich der Körper an diese Trauma gewöhnt, ist mir zu diesem Zeitpunkt vollkommen unbekannt.

Schweigend betrachte ich die glitzernde, dunkle Flüssigkeit auf meiner weißen Haut, führe den Unterarm an meine Lippen und nehme sie mit der Zunge auf. Erst dieses Mal nehme ich den metallischen Geschmack bluteigenen Eisens bewusst war, lecke mir anschließend über die Lippen und warte, bis die Wunde eingetrocknet ist. Noch immer schlägt mein Herz federleicht und niemand, nicht einmal Zukunft, kann etwas daran ändern.
 

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Mal wieder um einiges mehr als geplant :X 19 Seiten.

Kapitel 7 - Urfassung

Wie in Ekstase tanzt Mary durch den Raum. Sie dreht sich, sie wendet sich, sie verrenkt ihren dünnen und ausgemergelten Körper in nahezu sämtliche Richtungen. Ich starre sie an, bis ich gar nicht mehr registriere, dass es sich dort um einen Menschen handelt, der vor mir auf und ab tanzt. Ihr Haar besteht mittlerweile nur noch aus einzelnen Strähnen, ganz ähnlich wie bei mir. Es schwingt hin und her und unterstreicht die Tatsache, dass Mary nicht zu wissen scheint, was sie dort gerade tut. Sie weiß es, dessen bin ich mir sicher, aber sie zeigt es gerade nicht. Denn sie ist, ausnahmsweise, einmal gut drauf. Es fehlt nur noch, dass sie mir laut lachend um den Hals fällt, mit einer Bierflasche in der Hand. Ich muss schmunzeln.
 

Wir haben Wasser. Immer noch.
 

Hätten wir jetzt noch das laute Gegröle einer Punkrockband im Hintergrund, ein, zwei Kästen Bier, ein Openairfestival oder etwas Vergleichbares, wäre alles perfekt. Wir haben nichts davon, wir hatten es auch nie, aber der Gedanke daran ist schon verlockend und aktuell verhältnismäßig entspannte Lage befähigt mich dazu, mir alles so lebhaft vorzustellen, dass ich die Musik schon beinahe hören kann. Ich kann es riechen, das Bier, das Fett der Pommesbuden und die Kotze derjenigen, die nicht einschätzen konnten, ob sie das letzte Bier nun vertragen oder nicht.

Inzwischen sind wir seid knapp elf Tagen hier oben, seid elf Tagen ohne Dusche, Essen und Musik. Seid elf Tagen ohne gesellschaftlichen Beistand und Zivilisation. Seid elf Tagen vergessen. Ich pfeife leise vor mich hin und überlege angestrengt, ob die Polizei wohl noch immer nach uns sucht. Sie waren nicht mehr hier oben seid neulich. Also können sie lange suchen.

Diese eklatante Fahrlässigkeit macht mich wütend. Man hätte die Luke nach hier oben einfach bemerken müssen, dessen bin ich mir sicher. Die feinen Risse, welche die Säge damals hinterließ, als Alexander alles perfektionierte… man muss sehen, dass dort eine Luke ist, denn zwischen Decke und Luke befinden sich immer noch feine Rillen! Es geht mir nicht aus dem Kopf, wie ein Pulk von Menschen so dermaßen dumm sein kann. Denken doch sowieso nur an ihr Geld.

Bis auf Zukunft scheint es auch keinen zu interessieren, was mit uns geschieht. Immer, wenn ich aus dem Fenster sehe, gehen die Leute in ihrer verstrahlten Umgebung ihrem ätzenden Treiben nach, ohne sich zu beschweren. Keiner hebt einmal den Kopf, schaut zu uns hinauf und brüllt: „Hey, da oben sind Kinder! Holt sie heraus!“

Seid dem großen Atomkrieg vor knapp… ich weiß gerade nicht mehr auswendig, wann er war. Seid dem ist hier jedenfalls alles verstrahlt. Die ganze Erde… ist verstrahlt, bis auf einige wenige Flecken, die problemlos für die Landwirtschaft genutzt werden können. Die Bevölkerung jedenfalls ist drastisch geschrumpft, und wirklich sie wächst auch nicht wirklich. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei knapp fünfunddreißig Jahren, was daran liegt, dass man sein ganzes Leben lang radioaktiv belastet ist. Irgendwann sind die Gene hinüber. Man stirbt. Krankenversicherung? Ein paar vielleicht, aber die meisten aus der normalen Bevölkerung, wie wir zum Beispiel, haben keine. Sozialhilfe? Es kommt, wie es will. Bleibt die Zahlung aus, kann man nicht klagen, weil man sich den Anwalt nicht leisten kann. Und den Prozess. Alles privatisiert seid damals.

Sie haben seid Kriegsende alles privatisiert, was dazu geführt hat, dass einige große Wirtschaftsriesen massig Geld haben und wir am Hungertuch knabbern. Die Polizei ist korrupt und handelt, wie es ihr in den Sinn kommt. Oder wie Humbert, der größte aller Wirtschaftsbosse, der eigentliche Weltherrscher, wenn ihr mich fragt, es befielt. Natürlich muss Humbert das alles irgendwie organisiert bekommen, deshalb gibt es die Kriminalpolizei und dergleichen noch. Aber er trifft ohnehin nur die großen Entscheidungen. Für die bezirkseigenen sind andere Leute zuständig. Es ist der Grund, warum keine Revolution der Welt etwas dagegen ausrichten könnte. Zu viel Nachschub. Und wo sich die ganz großen Tiere aufhalten, dass weiß ohnehin keiner. Wirklich keiner.

Das England, aus dem ich komme, existiert als solches nicht mehr, ebenso wie Japan. Wir sind keine eigenen Staaten mehr, wir sind Bezirke. Einige Bezirke, wie zum Beispiel kleine Staaten, Estland, Lettland und dergleichen, wurden regional zu einem großen Bezirk zusammengefasst. So besteht der englische Bezirk mittlerweile aus dem guten alten England, aber auch Wales und Irland gehören dazu.

Mittlerweile bin ich froh, nicht mehr in England zu sein, denn die Glaubenskriege dort haben beinahe die Ausmaße eines Bürgerkrieges angenommen. Kein Tag, der ohne Nachrichten von dort drüben verläuft. Viele Tote. Viele Schicksale.

Abgeordnete Humberts, hochgerechnet an der Einwohnerzahl und der Größe eines Bezirks, leiten dort alles. Regeln die Polizei, den sozialen Bereich, einfach alles. So kann es durchaus vorkommen, dass zwischen den einzelnen Bezirken große Lücken und Unterschiede klaffen. Verbrichst du in einem anderen Bezirk Dinge, die hier nicht einmal unter Strafe stehen, kann es sein, dass du dort zum Tode verurteilt wirst.

Deine Existenz ist hier nicht mehr gesichert.

Jeder kämpft hier nur noch um sein eigenes Überleben, und wer da nicht mithalten kann, weil er zu jung oder zu schwach ist, der hat einfach Pech gehabt. So unterbevölkert, wie die Welt teilweise ist, ist diese natürliche Selektion etwas, was man eigentlich beseitigen sollte, wenn man über ein funktionierendes Hirn verfügt. Humbert tut dies scheinbar nicht, und auch keiner seiner Berater oder Abgeordneten. Und dennoch bereitet es mir Bauchschmerzen, wenn ich daran denke, in ihre alten, knochigen Finger zu geraten. Ehrlich gesagt fühle ich mich sogar noch ziemlich lebendig.

Will man in unserem Bezirk überleben, geht man in den Untergrund. Und ich werde das auch tun, so wie viele andere, kleine und schwache Joshua Millers vor mir. Das steht fest, seid ich dreizehn Jahre alt bin, denn es ist das Sicherste. Dort herrscht Loyalität, hat man sich erst einmal hochgearbeitet. Hat man die Bullen auf der Pelle, erkauft man sich ihr Schweigen. Es funktioniert. Ansonsten legt man sie um. Drogendealerei, Prostitution, Perversionen. Man kann alles ausleben, sich etwas aufbauen, ganz wie bei Monopoly. Im Untergrund gibt es das, was überall auf der Welt, egal in welchem Bezirk man lebt, mit dem Tode geahndet wird.

Resistance, eine Unterart der Musikgenres. Natürlich mit vielen Unterarten.

Keine klassische Musik, Gott bewahre. Kritische Musik, Texte, die sich gegen das Regime wenden.

Harte Beats, schnelle Rhythmen, raue Stimmen, viel Gebrüll, gepaart mit sanften Gesangseinlagen.

Ein Sänger, zwei Gitarristen, ein Bassist, ein Schlagzeug. Standartbesetzung. Überwiegend einfache Akkorde, doch anspruchsvolle Texte und oftmals auf musikalische Klangtiefe.

Eine äußerst linke Einstellung. Eine klare Botschaft. Freiheit. Und sie äußert sich auf jedem, heimlich veranstalteten Konzert.

Im Takt der Musik auf und Ab springen und die anderen in einem großen Kreis gegeneinander schubsen. Ich denke, welche Art von Musik ich meine, ist jedem klar.

Ich lebe für Resistance. Die Tatsache, dass ich Klavier gelernt habe, war wohl der Anfang.

Aber seid ich mich mit Mary draußen rumtreibe, seid wir Freunde aus der Szene, aus dem Untergrund haben… Es war schlicht und ergreifend eine Sache der Zeit, bis wir an Resistance kamen. Natürlich hatte ich anfangs Schiss, denn wer will schon von Humberts Leuten aufgegriffen und getötet werden, manchmal sogar ohne richtigen Prozess?

Nach mehr oder weniger einem Monat hatte sich diese Angst dann gelegt. Unter einer losen Diele in unserer Wohnung verstecke ich die Tapes, höre in jeder freien Minute. Die Texte auf Englisch, denn auch wenn die Staaten aufgelöst wurden, ist Englisch weiterhin die Weltsprache. Keine Sprache spricht so deutlich wie die meine. Mir kommt es gerade in den Sinn, dass ich die lose Diele eventuell leer räumen sollte, wenn ich hier raus bin, weil ich sonst ein verdammtes Problem mit den Nachmietern bekommen könnte. Oder mit dem Vermieter. Oder mit Humbert.

Man sagt nicht mehr „der Staat“. Man sagt „Humbert“.

Wie gerne wäre ich einmal auf eines dieser verbotenen Konzert gegangen, hätte mich betrunken und wäre in der Menge rumgesprungen, bis ich überall am Körper blaue Flecken gehabt hätte. Dann hätte ich einmal ein wenig Spaß in meinem verkorksten Leben, hätte Freunde – die Resistance-Szene ist ohnehin die einzige, in der man noch wahre Freunde findet.

Vielleicht… kann ich das endlich einmal tun, wenn ich hier wieder raus bin. Als Gegner des Systems.
 

Zukunft hat einfach den Wasserhahn aufgedreht und siehe da, er funktionierte wieder. Er ist kein Engel, wahrscheinlich ist er ein Geist oder so etwas ähnliches, was erklären würde, warum er so einfach verschwindet, wenn die anderen etwas mitbekommen könnten. Allerdings sprach er davon, dass er meine Zukunft sei. Du Zukunft kann nicht tot sein und hier herumgeistern und genau das macht alles so unheimlich.

Ich weiß nicht, was genau er ist, und um ehrlich zu sein will ich es auch gar nicht wissen. Es reicht, wenn er mir einfach hilft, hier in diesem Raum zu überleben. Auch, wenn er sich seid ein paar Tagen nicht mehr hat blicken lassen und ich keine Ahnung habe, ob er wiederkommt. Muss er überhaupt noch etwas tun, damit wir überleben? Laut ihm sterbe ich hier oben nicht. Trotzdem hätte ich hier oben gerne einen psychischen Beistand, der dafür sorgt, dass ich hier nicht durchdrehe. Momentan, so scheint es mir, stehe ich nämlich kurz davor.

Und irgendwie hat dieser Junge auch Ausstrahlung. Er sieht aus wie ich, wahrscheinlich hat er das durchschnittliche Lebensalter von fünfunddreißig gerade erreicht gehabt, als er gestorben ist. Wenn es denn ein Geist ist, keine Ahnung. Aber ich bin mir sehr sicher, dass ihm Resistance ein Begriff ist.

Einen imaginären Plattenspieler im Hinterkopf rufe ich mir Beethovens Mondscheinsonate ins Gedächtnis und betrachte unser Verließ, während ich den lieblichen klängen eines wohltemperierten Klaviers lausche. Als ich noch jünger war, hatte ich vor diesem Stück immer Angst. Es war mir zu düster, zu unheimlich. Geheimnisvoll. Wenn ich die Mondscheinsonate hörte, dachte ich an jemanden, der nachts allein im Wald umherirrt, von allen verlassen und vergessen, zum Scheitern verurteilt. Oder ich hatte ein blutiges Messer auf einem Boden vor Augen. Dabei muss ich betonen, dass ich zu diesem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich gerade erst acht Jahre alt war. Aber wenn man sich meine Vergangenheit einmal betrachtet… meine Gedanken waren seid jeher duster und verlassen. Anders als die meiner Klassenkameraden, welche an meiner superanspruchsvollen Schule, auf der ich leider gelandet bin, welche so realitätsfern waren. Verhätschelte kleine Oberschichtenkinder, dazwischen ich, der verstrahlte Bengel aus dem Wohnblock, dessen Vater säuft und dessen Mutter gegen Bezahlung mit anderen Männern schläft. Sie haben niemals erfahren, welchen Tätigkeiten meine Eltern nachgingen, doch meine Herkunft, die unterste Unterschicht, konnte ich nicht verbergen. Man merkte es mir an, an der Art, wie ich mich kleidete, an meiner Art mich zu bewegen, an dem Slang, den ich sprach. Ich bin ein durchaus vulgärer Mensch – aber doch in der Lage, mich präzise und gewählt auszudrücken. Das habe ich dort gelernt. Und verdammt noch mal, ich bin intelligent, intelligenter als viele andere Personen in meiner näheren Umgebung, vielleicht sogar über dem Durchschnitt. Sonst wäre ich niemals auf dieser Schule gelandet. Ich gehörte zu den Besten in der Klasse, hatte den Eignungstest für die Schule mühelos ausgefüllt.

Meine Klasse hasste mich, weil ich anders war und ich wünschte ihnen den Tod.

Wenn ich mich hier so umsehe, Emily, welche sich inzwischen erholt hat und mit ihrer Puppe spielt, Lucy, welche, die Haare tief im Gesicht, über ihrer Bibel gebeugt sitzt und Mary, die tanzt, mittlerweile etwas langsamer, fast wie in Trance, die Arme erhoben, damit man jeden einzelnen Knochen in ihren zu dünnen Gliedern sehen kann, muss ich schmunzeln. Alle versuchen sie, zu vergessen, was um sie herum geschieht und meine liebe Cousine ist das Paradebeispiel dafür. Sie hat sogar ihre Augen geschlossen, grenzt alles aus ihrem Leben aus und scheint überhaupt nicht mehr mitzubekommen, was eigentlich um sie herum geschieht. Mary, die immer so perfekt und führsorglich tut, wenn wir bei unseren Geschwistern sind, welche immer versucht, sich bei unseren Geschwistern in den Vordergrund zu drängen und mich zur Seite zu schieben, kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

Sie geht mir mit ihrem Gehabe auf die Nerven.

Neben ihr, auf der Matratze, liegen Stricknadeln, richtig dicke mit fast einem Zentimeter Durchmesser. Dabei rote, eigentlich purpurfarbene Wolle. Sie lag, zusammen mit dem ganzen anderen Krempel, in den Kisten, die wir, von Langeweile gebeutelt, die letzten Tage durchstöbert haben. Das heißt, sie haben sie die letzten Tage durchstöbert. Ich saß lieber hier am Fenster und habe die Leute draußen beobachtet. Die Stadt, wie sie wacht, die ganze Zeit. Wartet. Auf was, weiß keiner. Aber sie tut es.

Man vergisst so den Hunger, der sich in unseren Eingeweiden breit gemacht hat. Nach elf Tagen ohne Nahrung spürt man ihn ohnehin kaum mehr, lediglich ein leeres Grummeln im Bereich des Magens, welches zwar stört, aber ansonsten nicht weiter unbequem ist. Manchmal, wenn man aufsteht oder sich sonst irgendwie übermäßig bewegt, kann es sein, dass es einem schwindelig wird, aber ansonsten ist alles wie immer. Wenn das Verhungern ist, ist es angenehm. Bis jetzt jedenfalls.

Als Mary so weit ihre Verrenkungen vollführt hat, dass sie neben mir steht, greife ich nach den Nadeln und stoße ihr diese in die Seite. Sofort reißt sie die Augen auf, zuckt zusammen und gibt einen leisen Schmerzenslaut von sich.

„Bist du noch ganz dicht?!“, zischt sie mich an, schiebt die Hand unter ihren dunkelroten Kapuzenpullover und reibt sich die Seite, welche höchstwahrscheinlich gerade dabei ist, genauso rot anzulaufen wie ihr Oberteil. Ein dickes Grinsen zaubert sich auf meine Wangen und strahlt sie an.

„Du nervst“, weise ich sie dann, rüder als beabsichtigt, zurecht und werfe die Nadeln zurück auf unseren Schlafplatz, wo sie liegen bleiben, als seien sie eiskalt zurück gelassen worden. Genau so wie wir.

„Setz dich hin und tu was produktives, anstatt hier sinnlos durch die Gegend zu zappeln. Du wirkst, als wärst du nicht mehr ganz dicht.“

Ich lasse meinen Kopf, in dem seid zwei Tagen ein triefender, schmieriger Nebel sein Dasein fristet, frustriert gegen die Scheibe donnern und verhaare so. Die schlecht isolierte Plexiglasscheibe fühlt sich gut an auf meiner ausgemergelten, blassen Haut. Während ich dort also liege, ruhig und endlich einmal wieder einigermaßen entspannt, sammelt sich Mary zu einem Gegenschlag. Er sitzt.

„Als wäre ich nicht mehr ganz dicht! Das sagt der Richtige. Im Gegensatz zu dir pumpt bei mir immer noch Blut durch die Adern, Joshua Miller, also erzähl mir gefälligst nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe!“

„Das tut es bei mir auch!“, fahre ich sie an und schiebe bei diesen Worten den Ärmel meines Pullovers höher, dass man die verkrustete Wunde sehen kann. Sie wirft mir einen angewiderten Blick zu und ich weiß genau, dass sie wieder tief in ihrem Innersten denkt, dass ich dabei bin, die Nerven zu verlieren. Das ich durchdrehe und ihr und den Zwillingen gefährlich werden könne. Ich schüttele den Kopf, stehe auf und ziehe meinen Rollkragenpullover, welcher inzwischen bestialisch stinkt, richtig und verkünde ihr knurrend, dass ich jetzt ins Badezimmer gehen werde. Um ihn zu waschen? Pustekuchen, wir brauchen die Flüssigkeit.

„Schön, geh ruhig“, erwidert sie spitz und klingt wie ein trotziges Mädchen, welches sich gleich schmollend in eine Ecke hocken wird. Es ist beruhigend irgendwie. Ausnahmsweise klingt sie einmal wie die Dreizehnjährige, die sie eigentlich sein sollte.

„Ja, tu ich.“

Und dann ist Ruhe.

Schon immer habe ich zu den Leuten gehört, die in einer Diskussion oder in einer Konversation das letzte Wort haben müssen. Dabei höre ich mich nicht einmal gerne reden. Also doch, eigentlich schon, aber ich stehe nicht sonderlich gerne im Mittelpunkt großer Massen. Viel eher gebe ich mich damit zufrieden, den passenden Kommentar zur passenden Zeit ins Gespräch zu werfen und mir somit die ungeteilte Aufmerksamkeit der umstehenden Personen zu sichern. Intelligente Kommentare, gespickt mit angelesenem Wissen. Hatte nicht oft die Gelegenheit dazu, weil ich mit den Vollidioten aus meiner Klasse nicht sonderlich klarkam, aber wenn ich eine sah, nutzte ich sie.

Hab mich damit nicht sonderlich beliebt gemacht.

„Habt ihr euch gestritten?“

Als hätte man mich am Boden festgeklebt, bleibe ich vor der Badezimmertür stehen und drehe mich um.

Emily sitzt dort mit ihrer Puppe, blickt auf vom Spiel und sieht mich mit ihren durchdringenden Augen an. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter, so, dass ich mich schütteln muss und mir wird heiß. Ein schwaches, verstreutes Lächeln huscht über meine Lippen und ich schüttele den Kopf.

„Nein, wir haben uns nicht gestritten“, antworte ich ihr leise, mit einer ungewohnt leise und hoch klingenden Stimme und knie mich zu ihr auf den kalten Boden. Sie sitzt dort im Schneidersitz, versinkt in meinem alten Pulli und sieht darin, jetzt, wo sie knapp sechs Kilogramm leichter ist als früher, noch kleiner darin aus. Eigentlich sieht man nur noch meinen Pullover – meine kleine Schwester ist darin schon vor langem verloren gegangen.

„Wie viel hast du gewogen, als wir in den Raum sind? Auf dem Zettel standen sechsunddreißig Kilogramm, meine ich. Hat Mary dich gefragt gehabt?“, frage ich sie und schenke ihr ein Lächeln. Sie ist so wunderschön. Doch sie schüttelt mit dem Kopf.

„Dreiunddreißig“, gibt sie zurück und streicht sich das Haar hinter die Ohren. „Ich hab dreiunddreißig Kilogramm gewogen, sechsunddreißig waren’s vor zwei Wochen.“

Ich nicke schwach, sage ihr, dass das kein Grund zur Sorge sei und verabschiede mich ins Bad.
 

Jetzt, wo wir uns schon seid so langer Zeit auf der Pelle hängen, kommt es öfters am Tag zu kleineren Reibereien. Es ist verständlich, dass man sich nicht immer der gleichen Meinung sein kann, und wenn man sich dann auch noch vierundzwanzig Stunden am Tag die Gesellschaft von lediglich drei anderen Personen erlaubt, so kann es schon mal vorkommen, dass man etwas genervt ist. Vor allem unter diesen besonders lebensfreundlichen Umständen, der Routine, jeden Tag vor sich hinvegetieren zu müssen. Unsere Nerven liegen blank. Unsere Hirne auch und mittlerweile sind wir so gelangweilt, dass wir schon anfangen zu stricken. Siehe Mary.

Die Dunkelheit des Badezimmers hüllt mich angenehm ein. Die beißende Kälte registriere ich schon beinahe nicht mehr, man härtet ab. Sie ist einfach selbstverständlich geworden, und das ist gut so, denn selbst wenn man wollte, könnte man doch nichts daran ändern.

Schweigend und mit unterschwelliger Wut im Brustkorb drehe ich den Wasserhahn auf und spüre das Wasser, welches mir über die Hände rinnt und mit eisigen Nadeln in die Finger piekt. Ich forme eine Schale und schleudere mir das Wasser ins Gesicht.

Man fühlt sich müde und ausgelaugt, wenn der Körper keine Nährstoffe bekommt und man seid Tagen die gleiche Luft atmet. Die Augen werden ganz Schwer und die Stellen, an denen die Tränendrüsen sitzen, fühlen sich matt und taub an. Jetzt geht es wieder.

Habe ich mich gerade eventuell falsch verhalten?, frage ich mich und lehne meine Stirn gegen den Spiegel, welcher über dem Waschbecken angebracht ist, warte darauf, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Ich lausche. Alles ist ruhig, man hört nur das gelegentliche leise Fiepen der Mäuse, welche hier oben auf dem Dachboden rumstromern, aber das ist auch alles.

Ich habe mich nicht falsch verhalten, warum auch? Wenn Mary sich nicht immer so verdammt störrisch aufführen würde, wenn es um so unwichtige kleine Dinge geht, hätten wir uns jetzt nicht angefaucht. Wenn Mary mir doch glauben würde, was Zukunft angeht… ich denke, sie glaubt, er existiert nur in meinem Kopf. Aber das kann nicht sein, dafür ist zu viel geschehen.

Er hat mich verletzt, er hat den Wasserhahn aufgedreht – er muss ihn ebenfalls zugedreht haben, denn er stand ja die ganze Zeit offen und…

„Er muss ihn zugedreht haben? Joshua Miller, ich bitte dich!“

Erschrocken springe ich drei Meter in die Luft und zwei Meter vom Spiegel weg, beginne zu Zittern, halte mich an der Wand fest und schiele aus den Augenwinkeln hinüber. Da ist nichts. Der Spiegel spiegelt einfach, das ist alles. Gruselig.

Ein paar Sekunden verharre ich so, bis ich mir sicher sein kann, dass nichts unerwartetes mehr auf mich zukommt, dann gehe ich wieder, ganz langsam, zurück zu meinem Ausgangspunkt. Kneife meine Augen zusammen, als ich den Blick wieder in den Spiegel richte.

Mein Ebenbild, nichts weiter. Das bin ich. Und ich sehe furchtbar aus, die Augen und Wangen eingefallen, das Haar strähnig, das Gesicht so matt. Die Dunkelheit verstärkt diesen Effekt bloß und ehe ich mich versehe, hat sich das Haar meines Gegenübers schlohweiß gefärbt.

Mir bleibt die Luft weg und mein Herz setzt ein paar Schläge lang aus.

Das Zimmer um mich herum verschwindet, nichts als tiefe, elende Finsternis bleibt um mich herum zurück. Ich und der Spiegel. Der Spiegel und ich. Ich und mein Spiegelbild.

Wir sehen uns an, Sekunden verstreichen, die mir wie Stunden erscheinen. Mein Atem haucht sanft gegen den Spiegel. Er beschlägt und gleichzeitig wird mir warm ums Herz, dabei prasselt es mit brutaler Leidenschaft gegen meinen Brustkorb.

Mein Gegenüber sieht mich an - und pustet sich eine der weißen Strähnen aus dem Gesicht. Seine Augen fixieren mich, studieren mich, zucken hin und her, doch ich kann genau fühlen, dass sich meine keinen Millimeter bewegen. Die Farbe schlägt um. Das stahlgrau wird blutrot und beginnt zu pulsieren. Mir wird schwindelig und ich bekomme keine Luft mehr. Panisch fixiere ich das, was sich dort, direkt vor meiner Nasenspitze, abspielt.

Ich war immer eine Person der Wissenschaft. Ich konnte nur glauben, was man berechnen konnte. Was man sehen konnte.

Das hier, vor mir, kann ich sehen. Aber kein Physiker der Welt könnte mir dazu die passenden Zahlen liefern. Keiner könnte sagen, warum ich gerade das sehe, was ich sehe.

„Na?“, funkelt mich mein Spiegelbild an und entblößt eine in der Dunkelheit silbern anmutende Zahnreihe für ein breites, boshaftes Grinsen. Es ist blutrünstig, sieht mir gar nicht ähnlich. Die Person dort im Spiegel, das bin nicht ich. Zukunft auch nicht.

Wer…?

„Meine Güte, du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen, Josh.“

Ein Vergnügter Tonfall. Keine Sorgen, dafür sadistische Eiseskälte.

Das wahre Böse, welches sich tief in jedem Menschen versteckt hält, offenbart sich mir in einem Spiegel in einem verlausten Drecksloch über unserer Wohnung.

„Zukunft?“, kommt es mir tonlos über die Lippen. Das Spiegelbild lacht.

„Nein.“

Er legt den Kopf schief und betrachtet mich mit einer arroganten Überheblichkeit. Ja, er weiß genau, was hier vor sich geht und er genießt seinen Vorteil. Er genießt es, dass er mich zappeln lassen kann, ohne einen genauen Grund zu nennen, wer er ist, was er hier sucht, was er von mir will.

Die Badezimmertür schlägt neben mir zu. Ich zucke zusammen, schaue nach rechts, betrachte die Türklinke und drehe meinen Kopf wieder nach vorne.

Ich bin mir sicher, dass sich deutliche Angst in meinem Gesicht abzeichnet, jedenfalls kann er sie sehen.

„Oh Gott…“, flüstere ich leise und sehe ihn bittend an, würde am liebsten meine Arme ausstrecken, um mich an ihn zu klammern, um Schutz zu haben. Klarheit. Seid fast zwei Wochen reißt man mir den Boden unter den Füßen weg, immer wieder, und doch ich falle nicht. Stumm schreiend hänge ich in der Luft.

„Was geschieht mit mir?“, wispere ich leise und greife mir ungläubig an den Hals, als ich das kurze Kratzen in meiner trockenen Kehle bemerke.

Wieder hat meine Stimme diesen hohen, hohlen und unnatürlichen Klang angenommen. Ich huste, doch nichts verändert sich. Es fühlt sich an wie immer.

„Och, nichts weiter“, antwortet er und schüttelt den Kopf, dass die Haare aufgelockert werden und wieder in sein bleiches Gesicht fallen. Er sieht gesund aus. Gut genährt.

„Du wirst lediglich verrückt, das ist alles.“

Verdutzt schiebt sich mein Kopf etwas zurück, dann nicke ich und fange an zu Lachen. Noch immer ist die Wut auf Mary in meinem Brustkorb, sie ist dort, schwarz und haarig, zuckend. Wie ein kleines Tier, welches die Aggressionen der Menschen frisst und wunderbar gedeiht. Ich dünge es, jeden Tag, und irgendwann wird es mächtiger sein als ich. Dann wird es mich fressen.

„Erzähl mir keinen Unsinn!“, herrsche ich mein Gegenüber an und beuge mich wieder nach vorne.

„Ich bin sachlich, ich bin nüchtern. Nieder mit der verdammten Religion, klar? Verstehst du meinen Lebensstil? Ich glaube nur an das, was mir die Wissenschaft beweisen kann. Ich bin sehr wohl in der Lage, zu unterscheiden, was echt ist und was…“

„…Phantasie ist?“, ergänzt er mich und hat wieder dieses arrogante Glitzern im Blick.

„Ja!“

Lauter, als ich es eigentlich vorgehabt hatte, brülle ich ihm dieses Wort entgegen, stolpere ein paar Schritte zurück und bleibe an der Kiste hängen. Blind tastet meine Hand hinein und bleibt an einem alten Briefbeschwerer aus Metall hängen, nachdem sie sich durch unzählige Bücher und Magazine der vergangenen zwei Jahrzehnte gewühlt hat. Ich schließe die Faust darum und ziehe sie heraus.

„Natürlich weißt du das“, kommt es zurück und füttert mein haariges Tierchen, welches sich geifernd nach der frischen Nahrung ausstreckt.

„Deshalb beschäftigst du dich mit Personen, die außer dir keiner sehen kann, riechen, hören, schmecken kann.

Du unterhältst dich mit einem Spiegel?

Du schließt die Tür und erinnerst dich nicht daran?“

Ein hohes und schrilles Lachen klingt durch den Raum. Es geht durch Mark und Bein. Und es ist nicht meines.

„Das war ich nicht. Du hast doch wohl selbst gesehen, dass sie zugeschlagen wurde“, erwidere ich kühl und setze meine düsterste Miene auf. Auch, wenn mir dieser Kerl es die ganze Zeit weismachen will - blöd bin ich nicht.

„Von wem?“

„Von… ich weiß es nicht! Du hast es doch auch gesehen, da war niemand.“

„Joshua, das warst du selbst.“

Er seufzt leise und blickt mich mitleidig an, ehe er weiterspricht.

„Ich mein es bloß gut mit dir. Hör mir zu. Du drehst durch, du verlierst die Nerven, was in deiner Situation eigentlich kein Wunder ist. Bleib einfach hier, bleib von deinen Geschwistern fort, bevor dir oder jemand anderem noch etwas schreckliches geschieht. Du stellst eine Gefährdung für das allgemeine Wohl dar.“

„Nein.“

Stille.

„Josh?“

„Was denn?“

„Warum redest du mit etwas, von dem du eigentlich weißt, dass es nicht existiert?“

„Weil…“

Ich breche ab und betrachte ihn verwirrt. Warum eigentlich?

Weil mein Kopf sagt, er sei da. Weil meine Ohren sagen, er sei da, meine Augen sagen, er sei da. Meine Sinne sagen mir, dass dort etwas ist und wie es ein lebendes Wesen nun einmal tut, reagiere ich darauf.

Das ist Instinkt, nichts weiter.

„Josh, ich bitte dich, hast du schon einmal jemanden gesehen, der sich ernsthaft mit seinem Spiegelbild unterhalten hat? Und überhaupt…“

„Shut up!“

Mit der gesamten Kraft, die ich aufbringen kann, schleudere ich den schweren Briefbeschwerer an die Wand gegenüber. Er trifft den Spiegel, welcher augenblicklich und mit lautem Klirren in tausend Einzelteile zerspringt. Sie alle prasseln auf den Boden und ich hebe den Arm schützend vor mein Gesicht, damit meine Augen keine Splitter abbekommen. Dann falle ich auf die Knie, beuge mich nach vorn und vergrabe mein Gesicht in den Armen. Meine Nasenspitze berührt den schmutzigen Boden, doch das ist mir egal. Ich zittere, mir ist zum Heulen zumute.

Und plötzlich rinnt eine Träne über meine Wange, welche ich rüde fortwische. Nein, ich kann nicht weinen. Das ziert sich nicht für einen Mann, ich muss stark sein. Ich muss meine Familie beschützen, meine Schwestern, meine Cousine. Ich bin doch das Einzige, was sie noch haben.

Er will mir mit meiner Heulerei nur zeigen, dass ich verwirrt bin. Das ich keine Ahnung habe, was genau um mich herum geschieht. Dieser Mann im Spiegel, er aussieht wie ich.

„Joshua?“

Die Tür wird neben mir aufgeschoben, Licht fällt auf mich. Es ist Mary, die in der Tür steht und erst, als sie sich im Badezimmer umsieht, wird ihr das Ausmaß der Verwüstung bewusst. Mir auch.

Der Ganze Boden ist voll von winzig kleinen Splittern und großen Scherben. Der Putz, welcher ohnehin schon grau, fleckig und marode war ist teilweise abgebröckelt und liegt auf dem Boden, entblößt den Anblick auf das backsteinfarbene Mauerwerk. Dazwischen ich, verstaubt und dreckig. Mein ehemals schwarzer Pullover wirkt grau.

Mary sieht verängstigt aus, hat die Augenbrauen hochgezogen und blickt mich an.

Blanke Angst spiegelt sich in ihnen, während sie flügge hin und her hüpfen, mich letztendlich fixieren und nicht mehr außer acht lassen. Vorsicht… dieser Mann könnte jeden Moment durchdrehen, halten Sie sich fern.

„Joshua, mit wem hast du geredet?“, fragt sie leise und verschreckt. Zehn zu eins – sie hat nur mich reden, schreien, fluchen und brüllen gehört. Dieser Kerl im Spiegel – der war schön leise, kein Wunder, dass ihn niemand vernommen hat. Dabei war er da. Er war da.

Mit dieser plötzlichen Einsamkeit keimt meine Wut wieder auf. Wie ein Kanonenfeuer entlädt sie sich auf meine Cousine, ganz rücksichtslos, nicht begreifend, dass sie zwei Jahre jünger als ich und ein Mädchen ist.

„Verpiss dich, Mary. Du bist das Letzte, was mir jetzt gefehlt hat!“, fahre ich sie an, hebe den Kopf aus den Armen und verharre wie ein Tier, welches seinen Jäger sieht.

„Mit wem… oh Gott, Joshua, du hast mit dir selbst geredet!“

Sie lacht kurz und ungläubig, fährt sich mit den schlanken Fingern durch das blonde Haar, als würde sie nun endlich erkennen, dass hier etwas nicht stimmt. Ich rede mit mir selbst? Erzähl keinen Blödsinn. Ganz verbittert fährt sie fort. Sie wirkt viel älter.

„Ja, mit wem auch sonst. Außer uns ist keiner hier, mit wem solltest du sonst geredet haben. Aber der Spiegel… musstest du das tun? Sieben Jahre Unglück, du kennst das doch und – oh mein Gott Joshua, was zur Hölle ist mit dir los? Mit wem hast du geredet? Mit WAS hast du geredet?“

„Reg dich nicht auf“, gebe ich zurück und muss kurz darauf von der staubigen Luft husten. Mein Tonfall ist gereizt und genervt, meine Nerven, die eigentlich aus zentimeterdicken Drahtseilen bestehen, reißen nacheinander. Sie geht mir mit ihrer Fragerei auf die Nerven. Kann sie mich nicht einfach in Ruhe lassen, bis sich die Situation wieder beruhigt hat?

“Glaubst doch eh nicht an Gott, was macht da ein Spiegel mehr oder weniger?“

Als hätte jemand einen unsichtbaren Schalter in meiner Cousine umgelegt, wird sie fuchsteufelswild und springt ein Stück auf mich zu. Sie hat die Hände zu Fäusten geballt und fuchtelt mit ihnen vor mir rum, ehe sie sich abwendet und weiterspricht. Die Haare fallen in ihr Gesicht.

„Ich soll mich nicht aufregen? Ich soll mich nicht aufregen?“

Sie klingt beinahe so hysterisch wie Rachel, wie sie dort vor mir steht. Ich bringe mich auf die Beine, denke nicht einmal daran, meine Kleidung abzuklopfen, die ist ohnehin hinüber. Meine Wut kocht über. Sie versteht mich nicht, was macht sie mich dumm an? Sie hat doch keine Ahnung, was zur Zeit in mir vorgeht. Was ich durchmache ist tausend mal schlimmer, als das, was sie durchstehen muss. Es ist einfach so verdammt unlogisch.

Ich packe sie am Arm und ziehe sie zu mir, unsanfter, als beabsichtigt und funkele sie mit meinen stahlgrauen Augen – jedenfalls hoffe ich, dass sie das noch sind – an.

„Du verstehst rein gar nichts“, fauche ich und plötzlich sieht sie mich an wie jemanden, den sie noch niemals zuvor im Leben gesehen hat. Sie streckt sich von mir weg, beugt den Rücken nach hinten durch und beginnt wie ein Tier im Käfig, gegen meine Umklammerung anzukämpfen. Emanze halt, durch und durch.

“Joshua, lass mich los. Josh… Joshua, du tust mir weh!“

Augenblicklich löse ich meine Finger und leise schnaufend wende ich mich von ihr ab. Muss mich erst einmal wieder unter Kontrolle kriegen. Während ich mir die Ärmel abklopfe, schnappe ich nach der staubigen Luft, muss immer wieder husten und beginne allmählich, zu hyperventilieren. All dieser Stress! Ich habe die Kontrolle über mich verloren – rot sieht man die Stellen, an denen ich sie gegriffen habe. Sie huscht direkt ein paar Schritte zurück, presst die Arme an die Brust, an den viel zu großen Pullover, bleibt stehen, als ihr Rücken die Tür berührt. Sie beginnt mittlerweile schon, an den Beinen abzunehmen. Geht das überhaupt? Ich dachte immer, da seien nur Muskeln und Sehnen. Jedenfalls kann man durch ihre zerrissenen roten und schwarzen Seidenstrumpfhosen hindurch sehen, dass der Schaft ihrer schwarzen Springerstiefel zu groß ist. Ihre Beine füllen sie nicht mehr ganz aus, deshalb schlabbern sie. Und so wie ich sie kenne hat sie sich auch nicht die Mühe gemacht, die Schuhe eventuell noch einmal neu zu schnüren. Das ist Mary einfach gelegentlich. Stinkfaul.

„Ich warne dich, Joshua, wenn du Emily und Lucy auch nur einmal anrührst, dann…“

„Reg dich nicht auf! Ich werde sie nicht anrühren, versteh es endlich mal – du hörst dich mittlerweile beinahe genauso hysterisch an wie Rachel!“

Das hat gesessen.

Angewidert wandert ihr Blick an mir herunter und dann wieder nach oben. Hass, blanker Hass funkelt in ihren Augen auf. Unverstehen. Sie mag mich, und eigentlich kommen wir total gut miteinander aus, aber gerade hat sie Angst vor mir.

Sie hat wirklich Angst vor mir.

Es ist wie ein Nadelstich in der Brust.

“Du bist doch verrückt“, flüstert sie bitter, dreht sich herum und verlässt ohne ein weiteres Wort den Raum. Die Tür lässt sie offen.
 

Es ist bitter, wie allein man sich fühlen kann, obwohl man mit drei – vier, fünf? – anderen Menschen zusammen in einem Raum lebt. Wenn man wieder deutlich spüren muss, wie anders man doch ist. Wie einen die anderen verstohlen von der Seite mustern, wenn man nicht damit rechnet, weil sie befürchten, man könne eine Bedrohung für sie darstellen.

Ich brauche erst einmal ein paar Minuten, die ich unbewegt auf dem Platz stehe, auf dem ich stand, als Mary hinaus ging, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. So wirklich will es mir nicht gelingen, doch es wird besser.

Letztendlich bücke ich mich und hebe eine der größeren Scherben vom Boden auf. Puste den Staub hinunter und blicke mich an, kritisch. Wird sich mein Abbild wieder zu dieser hässlichen Fratze modifizieren?

Als sich nichts tut, betrachte ich wieder meinen Haaransatz. Als ich damals im Badezimmer war, ist es mir schon aufgefallen, aber nun ist es eklatant. Nur meine Cousine und die Zwillinge scheinen es noch nicht bemerkt zu haben. Es entlockt mir ein leises Seufzen, mein Haar so zu sehen – immerhin liebe ich meine schwarzen Haare und die Art und Weise, wie ich sie trage. Wenn man kein Geld hat, sind die natürlichen Dinge diejenigen, die einem am liebsten sind.

Vorsichtig lasse ich den Glassplitter in meine Hosentasche gleiten, schiebe meine Hand hinterher und stehe hier rum. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was ich tun soll, weil ich nicht die geringste Lust habe, noch einmal in den Kisten herumzustöbern – wir haben das Interessanteste ohnehin schon rausgefischt – geschweige denn, hier aufzuräumen. Aber zu den anderen will ich auch nicht.

Mir graut es vor ihren Blicken, wenn ich das Zimmer betrete, wenn sie mich mustern werden, und das werden sie bestimmt, mit diesem unterschwelligen, abfälligen Ausdruck in den Augen, der mir ganz deutlich sagt, dass ich dort momentan nicht erwünscht bin.
 

Die Wunde, die mir Zukunft zugefügt hat, sitzt an der gleichen Stelle wie der Strichcode, über den mein Vater verfügte. Er bekam ihn, als ich ungefähr elf Jahre alt war, und dann war er ein halbes Jahr von Zuhause fort. Mittlerweile kann ich mir denken, wo er war. Nur Straftäter bekommen solche Strichcodes in den linken Unterarm eintätowiert, darunter eine Kennziffer und das Kennzeichen ihres Bezirks. In seinem Fall war es ein großes „J“, sorgsam in schwarz in seine Haut gebracht. Ich werde es niemals vergessen und wahrscheinlich werde ich nun immer daran denken müssen, wenn ich mir meinen Arm ansehe. Die Wunde wird zwar verheilen, dennoch wird eine Narbe zurückbleiben, denn ich habe schon immer zur Narbenbildung geneigt. Schwaches Bindegewebe.

Die Strichcodes erfüllen einen einfachen Zweck: Identifikation und Stigmatisierung in unserer Gesellschaft. Wenn man von der Polizei gestoppt wird, weil man zu schnell fährt, in eine Schlägerei verwickelt wird oder einfach bloß verdächtig aussieht, zücken sie ihren Scanner und checken deinen Arm. Sie wissen direkt, wer du bist, wo du wohnst, mit wem du verheiratet bist oder warum du diesen Code hast. Und versuch bloß nicht, den Code mit einem Messer unkenntlich zu machen. Du unterschreibst damit lediglich dein eigenes Todesurteil.

Aktuell spielt die Regierung, sprich Humbert damit, der gesamte Menschheit solch einen Strichcode in den Unterarm zu verpassen. Damit wäre die Überwachung vollkommen und die Privatsphäre vollkommen ausgelöscht. Ich glaube jedoch nicht, dass es so kommen wird. Jedenfalls noch nicht, denn selbst, wenn wir viel ertragen, wird der Tag kommen, an dem das Maß voll sein wird. Und dann gehen wir auf die Barrikaden.

Spätestens, wenn Humbert, der alte Fettsack, abkratzt, wird es soweit sein. Dann wird die Schlacht um die vollkommene Macht beginnen und die Assistenten und die Bezirksabgeordneten werden sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Zwar mag ich erst fünfzehn Jahre alt sein – dennoch bin ich mit bewusst, wozu Menschen fähig sein können. Ich habe die schlechten Seiten der Menschheit gesehen, beinahe jeden Tag. Zuhause, in der Schule, auf dem Schulweg, in meiner Freizeit. Die Gesellschaft ist so verdorben wie sonst noch nie – die Zwanzigerjahre wahren bis jetzt die beste Zeit der Menschheit, wenn man mich fragt. In der Zeit war die Toleranz einfach am größten, man war ausgelassen, man hat gefeiert, man hat gelebt – zugegen, nur, wenn man es sich leisten konnte. Seid dem Atomkrieg sind wir sozial wieder im achtzehnten Jahrhundert angekommen. Es fehlt lediglich, dass sie wieder ein Dreiständesystem einführen, um ihr totalitäres Regime zu perfektionieren.

Sollen sie doch. Viel ändern wird sich sowieso nicht.

Der Resistance wird weiterleben. Und wir mit ihm, selbst wenn wir dafür umgebracht werden sollten. Sobald ein kleiner Funke Hoffnung vorhanden ist, durchströmt er uns alle und ist nicht mehr unterzukriegen. Schon gar nicht von Humbert, der sich seine Macht nicht einmal ehrlich aufgebaut, sondern von seinem Vater geerbt hat. Er war es nämlich, der nach dem Krieg groß rauskam.

Und überschnappte.
 

„Seht den großen Meister an und schaut her, was ich hier habe!“

Es ist der dreiundzwanzigste September 1984 und ich stehe in dem Zimmer, welches ich mir zusammen mit meinen Geschwistern und meiner burschikosen Cousine Mary teile. Mary sitzt an Schulaufgaben, Lucy und Emily jedoch, neunjährig, hocken in ihren beinahe bodenlangen Röcken auf dem Boden und spiele mit zwei Stoffpuppen. Jetzt jedoch ist ihr Interesse bezüglich dieses Spiels verschwunden, sie mustern mich.

Die Arme habe ich hinter dem Rücken, halte eine Schachtel Pralinen fest in der Hand. Ich zittere noch immer ein wenig, weil ich so schnell laufen musste und angestrengt bin, aber als ich den Behälter vorzeige, huscht Augenblicklich Kinderfreude über die jungen Gesichter.

Mit einem leisen Aufschrei sind meine Geschwister aufgesprungen und bei mir, rupfen mir die ungeöffnete Schachtel importierter Edelpralinen aus der Hand – es gibt Tatsächlich Leute in diesem Land, die sich solch einen Luxus leisten können – und reißen die Verpackung auf, heben den Deckel herunter und starren auf die verschiedenen Pralinensorten. So etwas haben sie noch nie gesehen in ihrem kurzen Leben. Ich muss lächeln, streiche Emily mit einer Hand vorsichtig über das Haar und erwidere ihr Strahlen mit einem Augenzwinkern. Meine kleine Schwester – sie ist etwas ganz besonderes.

Mary hingegen, das blonde Haar zu einem Zopf gebunden, lässt ihren Bleistift sinken und starrt mich überrascht und leicht misstrauisch an. Sie freut sich über die Pralinen, das ist mir glasklar, aber sie weiß auch, was dahinter steckt.

„Joshua?“, fragt sie leise und streicht sich mit ihren Händen über den karierten Rock. Er stammt von einer Schuluniform für Hochschüler. Nicht, dass wir jemals eine Schuluniform für Hochschüler besessen hätten. Aber Mary ist geschickt. Inzwischen ist der Rock nur noch knielang, darunter trägt sie schwarze Stiefel, zerrissene Strumpfhosen, einen Pullover mit breitem, kreisförmigen Ausschnitt.

Alexander interessiert es nicht, wie sie rumläuft, er hasst sie. Nur Rachel regt sich manchmal auf. Aber momentan schläft sie.

Sie steht auf, nimmt den Zwillingen die Schachtel aus der Hand und betrachtet das Herstellerlogo.

„Die hast du aus dem Delikatessengeschäft aus der Innenstadt, nicht?“, fragt sie und blickt mich aus den blauen Augen an. Sie ist heute wieder so ruhig, so unentschlossen und melancholisch, dass ich sie nicht fragen brauche, um zu wissen, was Alexander heute wieder mit ihr angestellt hat. Dieser ekelhafte Kerl, der nur an sich und seinen Alkohol denkt.

Ein schwaches Nicken kommt von mir und ich lege kurz einen Arm um sie, ziehe sie an mich und verpasse ihr eine Schwache Kopfnuss.

„Musste schnell laufen, um die Dinger heil nach Hause zu bekommen.“

„Elender Dieb“, ist ihre Antwort, mit einem sarkastischen Unterton. Sie gibt die Pralinen zurück an die Zwillinge, welche sich direkt darüber hermachen. So etwas gibt es im Hause Miller selten. Sehr selten.

„Als ob du besser währest!“

Ich kneife sie in die Seite, sie lacht und springt zur Seite, verschränkt die Arme und schüttelt den Kopf, als sei es zwecklos, mich zu belehren. Für ein paar Sekunden ist es wieder da – das Funkeln in ihren Augen. Als sie sich zurück an den Schreibtisch setzt, erlischt es wieder. Lediglich das Häufchen Elend sitzt dort, die kleine, missbrauchte Cousine, welche eigentlich gar nichts dafür kann, dass sie hier bei uns ist.

Ich wüsste nicht, wie mein Leben aussähe, wenn ihre Eltern noch leben würden. Wahrscheinlich würde sie ein nettes braves Mädchen im englischen Bezirk sein, zu einer Privatschule gehen und eine einigermaßen anständige Ausbildung genießen. Reich sein. Arrogant sein?

Es ist gut, dass sie hier ist, schießt es mir durch den Kopf, denn sie ist die Einzige, die mir hier einigermaßen halt gibt.

Mein Blick schweift umher in dem kleinen Zimmer. Der Kleiderschrank ist gefüllt, der Bücherregal auch. Selbst ein paar Puppen liegen achtlos verstreut auf dem Boden, was nicht heißt, dass Emily und Lucy sie schlecht behandeln. Sie sind vernarrt in sie. Und nicht eine davon ist ehrlich erworben worden.

Mary und ich klauen, seid ich denken kann. Hiervon etwas, davon etwas. Mittlerweile wissen wir, was die Konsequenzen sind, wenn sie uns erwischen, aber uns interessiert das nicht die Bohne. In der Hinsicht sind wir egoistisch und sagen: Wir haben nichts zu verlieren! Haben wir auch nicht. Lediglich die Zwillinge würden ein zweites paar Eltern verlieren, uns nämlich.

„Lasst uns aber etwas übrig“, lache ich, wenn ich die Kleinen so ansehe, die über der Packung hängen – sie hat zwei Schichten Pralinen – kauen und nicken. Mary und ich können es heute Abend nicht gebrauchen, wenn die beiden kotzend über der Toilettenschüssel hängen und wir uns kümmern müssen, denn wir wollen heute Nacht wieder raus in die Gosse, uns herumtreiben, ein bisschen Ärger machen, uns ablenken.
 

„JOSHUA!“
 

Binnen Sekundenbruchteilen verfliegt die aufgelockerte und heitere Stimmung in unserem kleinen Zimmer. Man kann förmlich sehen, wie den Zwillingen die Schokolade im Munde stecken bleibt. Mary bricht die Spitze ihres Bleistiftes ab, sie zuckt zusammen und hebt den Kopf, blickt verschreckt zur Tür. In mir verkrampft sich alles. Ängstlich erwidere ich den Blickkontakt meiner Cousine. Schweigen.

Alexander brüllt noch einmal.

„Geh schon!“, flüstert Mary in einem eindringlichen Ton und scheucht mich mit der Gestik ihrer Hände zur Tür hinaus. Ich brauche einige Momente, um mich zu fangen. Wenn Alexander so ruft, heißt es meistens nichts Gutes. Ich will nicht zu Alexander. Wenn er einfach kommen und mich holen würde, wäre es nur halb so schlimm. Aber so… so muss ich selbst in das Zimmer meines Vaters gehen, wohlwissend, dass es sehr schmerzhaft werden wird.

„Geh, Josh, sonst kommt er noch rein! Hau ab!“

Erneut nicke ich schwach. Wenn er hier reinkäme und sehen würde, wie verkorkst seine Kinder doch wären. Das sie Diebe wären – er würde uns das Zimmer kurz und klein schlagen.

Meine Beine sind tonnenschwer, als ich sie zur Tür bewege, die Hand auf die Klinke lege und sie hinunterdrücke. Ein letzter Blick über die Schulter.

„Bis nachher.“

Dann bin ich draußen und mache mich auf den Weg in unser Wohnzimmer. Eigentlich sind es lediglich zehn Meter, die man über den Flur zurücklegen muss, doch diesmal kommt mir diese Strecke elendig lang vor. Mir ist nicht genau klar, was jetzt kommt, aber es ist nicht gut, das weiß ich.

Es ist nicht gut.

Es ist, als würde man freiwillig zu einem hungrigen Tiger in den Käfig steigen. Tiger – gibt es überhaupt noch welche?

„Alexander?“

Das Wohnzimmer liegt in einem matten Dunkel, dabei ist es Herbst und früher Nachmittag. Man hat die dreckigen Vorhänge zugezogen, das Zimmer ist in einen bläulichen Schein gehüllt und sieht nicht ganz so verdreckt aus wie sonst. Unsicher stehe ich in der Tür, trete von einem Bein aufs andere.

„Dad“, korrigiert er mich, ohne aufzublicken. Sein Tonfall ist beinahe nüchtern, das Zimmer wirkt bei genauerer Betrachtung beinahe aufgeräumt. Zwei leere Flaschen stehen unter dem Wohnzimmertisch, doch dieser ist bis auf einige kleine Ausnahmen leergeräumt. Kein Aschenbecher, keine Gläser, nur eine Rolle Küchenpapier und ein kleines Plättchen, verborgen in einem Umschlag aus Papier. Winzig, nur einige Zentimeter groß. Ich kenne diese Art der Verpackung und augenblicklich wird meine Kehle von einem unsichtbaren Seil abgeschnürt. Ich ringe nach Luft, taumele ein wenig und stolpere ins Zimmer hinein. Bloß einen Schritt, doch er genügt, um meinen Vater zum Reden zu bringen.

„Mach die Tür zu“, weißt er mich an. „Schließ ab. Gib mir den Schlüssel.“

Ich möchte die Tür aufreißen und raus aus diesem Zimmer. Stattdessen tue ich genau das, was er mir befohlen hat. Als ich mit zittrigen Fingern den Schlüssel im Schloss herumdrehe, komme ich mir vor wie ein Tier in der Falle. Es gibt kein Entrinnen mehr und wie in einem verzweifelten Suizidversuch überreiche ich meinem Vater den Schlüssel, meine einzige Möglichkeit hinaus in die Freiheit. Er schiebt ihn unbeachtet in die Hosentasche, nickt mir zu und bedeutet mir, mein Hemd auszuziehen.

Schlagartig schnellen meine Augenbrauen in die Höhe.

Ich soll was? Adrenalin pulsiert in meinen Adern, treibt mir den Schweiß auf die Stirn und macht mich ruhelos. Meine dünnen Ärmchen habe ich verschränkt und an die Brust gedrückt, das mittellange schwarze Haar fällt mir ins Gesicht und verleit mir einen Tunnelblick. Nein, er unterstützt ihn bloß, ich habe ihn schon.

Wie ein verängstigtes Kaninchen stehe ich vor meinem Vater, betrachte sein Haar, welches er ungefähr so trägt wie ich, seine stahlgrauen Augen, die, im Gegensatz zu sonst, eine merkwürdige Ruhe ausstrahlen. Er scheint wirklich einmal halbwegs nüchtern zu sein, oh mein Gott. Den Dreitagebart hat er trotzdem behalten.

„Oh Joshua“, seufzt er mit seiner rauen Raucherstimme und hebt die Hand. Eine friedliche Geste.

„Du weißt doch, dass ich dich lieb habe. Komm schon, zieh dein Hemd aus und setz dich zu mir auf die Couch.“

Es kommt so aufrichtig rüber. Er wirkt so… verletzlich in diesem Moment, wie er mich anschaut, mit diesen großen Augen, dem schwarzen Haar. Es ist nicht ganz so glatt wie meins, leicht gelockt, aber man kann es nicht leugnen – ich bin ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.

Eine schwarze Couch in Lederoptik.

Irritiert mustere ich weiterhin meinen Vater, weiß meine Chance jedoch bald zu nutzen und tue, was er sagt. Wer weiß, wie er wieder werden wird, wenn ich mein Hemd anlasse und versuche, zu türmen. Wenn ich einfach das tue, was ich tief in meinem Inneren am liebsten tun will.

Ich will es mir gar nicht ausmalen, beginne schließlich, mit meinen knochigen, schlanken Fingern die perlmuttfarbenen Knöpfe zu öffnen, lasse es auf den Boden fallen und tigere zu meinem Vater, wo ich mich neben ihm auf die Couch niederlasse und voll innerer Ungeduld auf das Kommende warte.

Meine Jeanshose sitzt mir auf Hüfte und auch der Gürtel kann nicht verhindern, dass sie hin und wieder einfach etwas rutscht. Ich ziehe sie also mit zwei Fingern bewusst wieder hoch, als ich mich hinsetze. Das klassische Benehmen eines leicht verstörten Teenagers mit einem BMI von 17.

Ohne großartig zu zögern greift mein Vater nach meinen Schultern, welche er ohne Probleme mit seinen Händen umschließen kann und dreht mich zur Seite. Mein Rücken zeigt nun zu ihm. Ich kann ihn nicht sehen, ich weiß nicht, was nun mit mir geschehen wird.

Zu guter letzt beginne ich auch noch zu zittern. Ich habe Angst, mir ist kalt. Ich will hier weg. Und mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

Ein paar Sekunden lang geschieht gar nichts.

Lediglich die Kälte zaubert mir eine Gänsehaut auf die Arme. Und hinter mir kramt jemand. Ich kann genau hören, wie der Papierumschlag geöffnet und das, was sich darin befindet, herausgeholt wird.

Dann spüre ich es, als würde mir jemand mit einer siedendheißen Nadel über den Rücken fahren. Er bringt mir einen knapp 3 Zentimeter langen Schnitt im oberen Bereich meines Rückens bei.

Als ich zusammenzucke und einen Laut des Schmerzes von mir gebe, reißt er ein paar der Papiertücher von der Rolle, greift meinen Arm, dreht ihn mir auf den Rücken und stopft mir die Tücher in den Mund. Dann, als ich mich nicht mehr wehren kann, fährt er weiter fort mit seinem schmutzigen Werk. Natürlich nicht, ohne mit weiterhin zu versichern, wie gern er mich doch hat. Wie schön ich sein kann. Wie unverstanden er ist, ich einmal sein werde. Und das ich ihm hierfür einmal dankbar sein werde, da Schmerz aus Liebe entsteht. Oder war es anders herum?

Vierundzwanzig Schnitte fügt er mir zu, tiefe Schnitte, lange Schnitte. Es fühlt sich an, als würde er etwas schreiben, doch in Wirklichkeit fühle ich nach dem fünften Schnitt nur noch ein dumpfes Pochen in meinen Schultern. Etwas warmes, nasses rinnt meinen Rücken hinab, zaubert mir eine erneute Gänsehaut auf meine Unterarme und meine Brust. Dann reißt jemand neue Tücher von der Küchenpapierrolle, tupft mir das Nasse vom Rücken, was mich die Zähne noch einmal zusammenbeißen lässt, denn es brennt.

Stille.

Jemand steht auf, entriegelt die Tür, verlässt den Raum.

Und wieder bin ich allein. Allein mit meinem geschundenen Rücken, meinen Gefühlen und meinen Tränen, die genau in diesem Moment zu laufen beginnen. Als hätte jemand auf einen unsichtbaren Knopf in meiner Seele gedrückt.

Schluchzend schwanke ich zurück zu unserem Zimmer, klopfe an, schiebe meinen Kopf hinein und frage Mary, ob es ihr vielleicht möglich wäre, mir zu helfen. Sie ist es, die mir die Wunden verarztet und meine Tränen trocknet. Die Zwillinge werden niemals etwas davon erfahren.
 

„’Freedom’ hat er in meinen Rücken geschrieben“, flüstere ich leise und tonlos und schaue wieder hinaus zu Stadt. Es ist Nacht, meine Geschwister und Mary schlafen inzwischen. Kaum waren sie eingeschlafen, bin ich aus dem Badezimmer herausgehuscht und habe meinen Stammplatz am Fenster wieder eingenommen. Die meisten Menschen mögen mittlerweile schlafen, doch das rege Treiben in der Stadt hat noch immer nicht abgenommen. Jetzt ist der Untergrund dran, präsent zu sein. Drogendealerei, Menschenhandel, Prostitution, Geldfälscherei, Glücksspiel… ich könnte meine Liste ewig so weiterführen.

„Ich weiß“, gibt Zukunft zurück. Er steht hinter mir, hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und betrachtet mit mir das Schauspiel. Es scheint ihn genauso zu faszinieren wie mich. Faszinierend.

Ich weiß gar nicht, wann er hier aufgetaucht ist, plötzlich stand er einfach neben mir und sah mir zu, beobachtete mich. Inzwischen ist das beinahe zwei Stunden her.

Ich war derjenige, der gerade eben das Schweigen gebrochen hat.

„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass Alexander eventuell zu den wenigen Menschen hier gehört, die einigermaßen klar im Kopf sind… oder waren?“

Ein sarkastisches, leises Lachen huscht beinahe lautlos über meine Lippen und verhallt in der Dunkelheit.

„Er hat ‚Freedom’ in meinen Rücken geritzt. Mit einer Rasierklinge. Die Narben sind bis heute nicht verblasst und es ist schon zwei Jahre her. Glaub mir… wenn einer nicht normal war, dann war er es.“

Schweigend streiche ich mir eine der schwarzen Strähnen aus dem Gesicht, klemme sie mir hinters Ohr und lehne die Stirn gegen die Scheibe. Angenehm kühl schmiegt sie sich an meine Haut. Soll er doch reden, es interessiert mich nicht. Meine Meinung über Alexander hat sich über die Jahre gefestigt und wird sich höchstwahrscheinlich auch niemals ändern.

Er ist einfach zu egoistisch, als das man Gefallen an ihm finden könnte. Ich frage mich bis heute, wie meine Mutter es konnte – noch dazu, wo er um so vieles älter war als sie.

„Schau’s dir an, Joshua…“, flüstert Zukunft, geht einen Schritt nach vorne und stützt sich mit einer Hand an der Scheibe ab, während er hinaussieht. Ein beeindruckender junger Mann mit breiten Schultern und Ausstrahlung. Er wird viel durchgemacht haben, denke ich mir, so dünn, wie er aussieht.

„Die Menschen waren seid Anbeginn der Zeit Meister darin, sich selbst zu zerstören. Schau dir die ganzen Kriege an. Schau dir den letzten Weltkrieg an. Schau dir einfach diese Stadt hier an.“

Er schnippt mit den Fingern, und binnen weniger Sekunden erleuchtet die ganze Stadt in einem hellen grün.

„Man sieht die Spuren heute noch – und die Menschen sterben noch immer daran.

Joshua, du wirst genauso enden wie dein Vater, allein, weil dein Denken anders ist als das der Gesellschaft.

Du bist anders.“

Aus den Augenwinkeln wirft er mir einen Blick zu, der mich erschaudern lässt. Trotzdem bleibt meine Antwort ein einfaches „Pah.“

Ich würde nicht wie mein Vater werden.

Niemals.

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Wegen diesem Kapitel hab ich durchgemacht.... ich bin jetzt 24 Stunden auf den Beinen, hab nur noch einmal grob drübergelesen etc pp... jedenfalls... nunja... ich mag Zukunft, aber das wisst ihr schon XD

Joshua gefällt mir in diesem Part auch sehr gut.

Wird er nun wahnsinnig? Wird ers nicht? Und was zum Teufel ist eigentlich mit seinen Haaren los?

Tja, wer weiß.... man liest sich ^^

Kapitel 8 - Urfassung

Mary sitzt mit dem Rücken zur Wand, ihre Wirbelsäule ist aufgrund der blonden, hochgesteckten Haare deutlich zu erkennen. Nichts verdeckt unseren Jammer – den Hunger, die Einsamkeit, die Panik, die Unsicherheit.

Ich kann gar nicht glauben, dass dies meine Cousine ist, wie sie dort sitzt, die dicke Bibel auf dem Schoß, die blassen und spröden Finger auf den Seiten verfolgen jedes vorgelesene Wort. Lucy hockt vor ihr und lauscht ihren Worten mit erstaunlicher Aufmerksamkeit

Dennoch bin ich vollkommen davon überzeugt, dass Mary kein Wort von dem, was sie dort vorliest, glaubt. Sie hasst die Katholiken. Alle, bis auf Emily und Lucy. Und das, obwohl diese doch beinahe fanatisch am Glauben sind.

Weil sie nichts anderes haben, als ihren Glauben.

Meine Religionslehrerin sagte einmal, dass Menschen religiöser sind, wenn es ihnen schlecht geht. Demnach müssten Mary und ich die größten Christen der Welt sein, aber wir sind es nicht. Wir werden Humbert und seiner humbertschen Partei, welche die vollkommene Kontrolle über dieses System ergriffen hat, nicht diesen Gefallen tun und uns in diese religiöse Fantasterei flüchten, nur damit wir unsere Existenz in dieser abscheulichen und widerwärtigen Welt ertragen können.

Eher würde ich sterben.

Mein Tod ist ohnehin naheliegender als diese Bibel, ein altes Familienerbstück und trotzdem hier oben auf dem Speicher, entgegen der strengen katholischen Erziehung meiner Eltern. Ich kann fühlen, wie der Gevatter nachts die eiskalten Finger um meinen Hals legt, der lediglich aus Haut, Sehnen und Knochen besteht – jedenfalls fühlt er sich mittlerweile so an - und zudrückt. Und ich kann Zukunft sehen, wie er diese schlanken und knochigen Glieder von meiner pergamentartigen Haut löst und mir somit Luft zum Atmen gibt. Er schenkt mir Zeit, denn er hat mir versprochen, dass ich hier oben nicht sterben werde. Ich werde weiterleben, auch wenn ich es momentan selbst kaum glauben kann, werde meinen Weg gehen und es denjenigen heimzahlen, die Schuld daran sind, dass wir in solch elender Armut leben.

Über das Schicksal meiner Geschwister jedoch weiß ich nichts.

Es ist nicht so, dass er nicht wüsste, was mit ihnen geschehen würde, doch er gibt mir keine Antwort. Lieber wechselt er das Thema oder weicht aus, erzählt mir, dass es mich ohnehin nichts anginge und dass ich die Antwort schon noch früh genug erhalten würde.

Jeden Abend frage ich ihn aufs Neue, wie es mit meinen Geschwistern und mir weitergehen wird und jeden Abend kontert er es lediglich mit einem: „Das bekommst du schon noch früh genug heraus, Joshua Miller, du bist ein kluges Köpfchen.“

Es macht mich wahnsinnig, nicht zu erfahren, wie es weitergeht in meinem Leben, warten zu müssen, obwohl man am liebsten seine sieben Sachen packen und laufen würde, bis man vor Erschöpfung zusammenbricht. Dieses Gefühl der Freiheit ist mir schon vor langer Zeit abhanden gekommen und ich würde alles dafür tun, um es noch einmal erfahren zu können.

Ich würde morden dafür, ich würde meine Seele an den Teufel verkaufen, um frische Luft in meinen Lungen fühlen zu können. Ich würde einfach alles dafür tun und trotzdem passiert nichts. Trotzdem gibt mir keiner die Chance, meinen Tribut zu zahlen, und mir damit meine Freiheit zu erkaufen.

Es ist ihnen scheißegal, ob ich ein Gefangener bin und es interessiert sie ebenso wenig, ob ich hier oben draufgehe oder nicht.

Seit dem merkwürdigen Vorfall im Badezimmer sind ein paar Tage vergangen, doch ich habe aufgehört, sie zu zählen. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir schon hier oben sind, und meine Uhr hat heute ihr letztes bisschen Leben ausgehaucht. Wir leben nun vollends in einer Illusion, in einer Seifenblase, tun das, was wir seit Tagen, Wochen, Monaten, Jahren tun. Wir warten.

Unser Leben ist wie alter Kaugummi, ausgelutscht und zäh und ohne jeglichen Geschmack.

Mit einem pelzigen Belag auf der Zunge sitze ich hier und beobachte die merkwürdige Szenerie, welche sich vor meinen Augen abspielt. Wie Mary dort sitzt und alles dafür tut, dass Lucy sich dennoch geborgen fühlt. Trotz unseres Aufenthaltsortes, trotz unserer düsteren Zukunftsprognose.

Wenn wir hier jemals herauskämen, wäre unser nächster Stop höchstwahrscheinlich das Waisenhaus unseres Viertels und die Behörden würden alles dafür tun, uns weiterzuvermitteln. Uns wieder loszuwerden, damit wir unserem Bezirk nicht länger auf der Tasche lägen.

Höchstwahrscheinlich würden wir vier dann getrennt werden und somit betrachte ich die Zeit im Panic Room als die letzte Zeit, die uns vieren noch als Team gegeben ist.

Es ist brutal und grausam, dass sie uns trennen werden, wenn das hier erst einmal überstanden ist, denn wir sind das einzige, was wir je hatten. Wir kennen uns in und auswendig, wir vertrauen uns blind und wir sind eingespielt. So etwas wie uns findet man oft, beinahe an jeder Straßenecke. Es sind die kleinen Drogenbanden, Straßenkinder in unserem Alter, die sich der Gewalt der Bezirksjugendämter dadurch entzogen, dass die flohen.

Ihre Zukunft wird kaum rosiger sein als die unsere.

Und dennoch gibt ihnen diese Bindung etwas, was ihre Eltern ihnen ihr Leben lang vorenthalten haben. Liebe, Geborgenheit und Schutz.

Mit Mary rede ich kaum noch, denn inzwischen sehe ich keinen Grund mehr darin, es zu tun. Unsere Dialoge enden, wenn wir denn einen führen, der sich nicht auf den regulären Smalltalk beschränkt, generell im Streit. Unsere Ansichten haben sich innerhalb der letzten Tage und Wochen sehr schnell in unterschiedliche Richtungen entwickelt und somit stimmen wir in unserem Handeln einfach nicht mehr überein.

Sie braucht mir nicht sagen, dass sie mich inzwischen für vollkommen verrückt hält, das weiß ich inzwischen. Ihr Verhalten mir gegenüber, die Dinge, die sie mir in Abwesenheit von Lucy und Emily an den Kopf wirft, bestätigen dies immer wieder.

Dennoch… wenn sie wüsste, was für geistreiche Gespräche Zukunft und ich so oft haben, wäre sie still und würde staunen.

Sie wäre ganz unsicher vor Achtung und höchstwahrscheinlich auch vor Entsetzen, denn er weiß so vieles, von dem wir noch nie etwas gehört haben. Was er mir über die Menschheit erzählt, wie sie handelt, wie sie denkt und warum sie das tut, was sie eben tut… das alles hat Hand und Fuß. Als hätte er auf dieser Erde schon alles erlebt, was es zu erleben gäbe, so wirkt er.

Auch die ganzen Narben, die sich über seinen Körper ziehen. Ein großes „Freedom“ zieht sich über seinen Rücken und erinnert mich irgendwie unweigerlich an mich selbst. Doch wann immer ich frage, wie es dort hingekommen sei, schweigt er und sieht mich aus seinen blutroten Augen unergründlich an. Es ist beinahe erschreckend, wie ähnlich wir uns sind.

Inzwischen habe ich aufgegeben, herauszufinden, warum er so ist, wie er ist. Viel lieber plaudere ich mit ihm, nachts, wenn es sonst keiner hört, mit ihm über Gott und die Welt.

Es erfüllt mich.

Dummerweise fehlt mir der Schlaf, den ich sonst nachts einholen würde, tagsüber. Ich sitze nur noch hier am Fenster und starre hinaus, kümmere mich gelegentlich um Emily, aber bin gereizt, wenn jemand es wagt, mich anzusprechen. Hinzu kommt der Hunger. Er ist wieder da. Zwar habe ich vor langer Zeit – jedenfalls scheint es mir so – einmal erwähnt, dass das Hungergefühl nachlässt, wenn man erst einmal ein paar Tage lang nichts zu sich genommen hat, aber scheinbar habe ich mich geirrt.

Während ich hier hocke und den Menschen draußen bei ihrem sinnlosen Treiben zusehe, kaue ich gedankenverloren auf der Kuppe meines Daumens herum, schmecke kein Salz mehr auf meiner Haut und seufze leise, beinahe gedankenverloren. Wie gerne würde ich wissen, wie lange wir nun schon hier oben sind, aber da meine Uhr inzwischen den Geist aufgegeben hat, bin ich mir nicht einmal mehr sicher, wie spät es ungefähr ist. Ich kann es lediglich an der Sonne abschätzen, wie die primitiven antiken Völker in Mitteleuropa vor einigen tausend Jahren es taten.

Ich kann lediglich beobachten, wie wir immer dünner werden und daran die Zeit festmachen. Die Zeit, die inzwischen stehen geblieben ist und schreit: Ihr müsst hier raus! Verpisst euch, bevor es zu spät ist! Sie müssen uns langsam mal finden, damit wir überhaupt noch eine Chance haben, das alles hier zu überleben.

Sie. Die Polizei. Das Amt, welches Humbert unterstellt ist und sämtliche Formalitäten der Bezirke regelt. Oder Humber persönlich. Es ist mir egal, wer uns hier findet und rausholt, Hauptsache sie tun es.

Und dennoch. Je länger ich hier warte, desto mehr verlässt mich der Mut. Zukunft meinte, wir würden es schaffen. Nein. Zukunft meinte, ich würde es schaffen, aber was ist, wenn er sich irrt?

Was ist, wenn er dies nur sagte, um mir Mut zu machen?

Eine meiner fettigen, grauschwarzweißen Strähnen fällt mir ins Gesicht. Genervt streiche ich sie zur Seite, fahre mir mit den Fingern durch die Haare und schüttele den Kopf. Es ist inzwischen glasklar, dass dieser graue Ansatz nicht nur von vorrübergehender Natur sein wird. Genau genommen scheinen sich gar keine schwarzen Pigmente mehr zu bilden. Meine Haare sind weiß und so wie es ausschaut, werden sie es auch immer bleiben. Immerzu werde ich dem Spot meiner Umwelt ausgesetzt sein, die, aufgrund ihrer diktatorischen Humberterziehung nicht fähig sind, Dinge zu respektieren, die anders sind als sie. Oh Gott, wie ich diese Gesellschaft hasse.

Plötzlich durchzuckt mich von der Hüfte aufwärts ein stechender Schmerz. Leise keuche ich auf und verlagere das Gewicht, da ich scheinbar direkt auf dem Knochen gesessen habe. Da mir nun die angewärmte Fensterbank fehlt und ich auf einem neuen, kalten Stück sitze, fange ich an zu frieren. Sowieso ist mir momentan ständig kalt. Es liegt daran, dass ich keine Fettreserven mehr habe, denke ich und ein Seufzen dringt spontan über meine Lippen.

Weil der Spiegel kaputt gegangen ist – okay, wenn man genau ist, habe ich ihn zerschlagen… mit gutem Grund – habe ich schon ewig nicht mehr in mein Antlitz blicken können und dennoch… wenn ich mit den Fingern über meinen Brustkorb fahre, kann ich inzwischen meine Rippen abzählen. Ein absolut gruseliges Gefühl, äußerst unangenehm. Selbst, wenn ich auf den Kissen liege, ist es mir noch zu hart, jeden einzelnen Knochen spüre ich.

Schweigend wende ich mich etwas von dem Fenster ab und lasse meinen Blick durch den Raum streichen, zurück zu dem Bibelszenario von Lucy und Mary. Lucy hat sich, genau wie meine Cousine auch, die Haare mit einem Gummi zusammengebunden, sie jedoch, im Gegensatz zu Mary, nicht hochgesteckt, sondern offen gelassen. Ein ganz normaler Pferdeschwanz also, eines der wenigen Indizien, die unter der schlabberigen Kleidung noch auf ein Mädchen schließen lassen. Ihre Klamotten passen ihr nämlich schon lange nicht mehr, wir mussten alle Röcke enger machen, indem wir sie mit Bindfaden abbanden. Und meine Hose sitzt wie ein nasser Sack.

Ein leises, gedämpftes Husten dringt an mein Ohr und lässt mich aufhorchen, holt mich zurück ins Hier und Jetzt. Es bringt mich dazu, mich selbst auf meine knochigen Beine zu hieven und, zuerst unsicher und schwankend, ins Badezimmer zu torkeln.

Ich meide es, diesen Ort noch einmal zu betreten, immerzu muss ich an diese Fratze im Spiegel denken, wie sie mich ansah und für verrückt erklärte, mir meine Zurechnungsfähigkeit absprach und mich vor mir selbst lächerlich machte.

Niemals werde ich dies vergessen. Nein. Niemals.

Als ich mir meinen Weg quer durch unser Verließ bahne, sieht Mary von der dicken, alten Bibel auf und mustert mein Vorhaben mit einem abfälligen Blick. Dennoch enthält er eine Spur Sorge, ich kann es förmlich spüren. Auch, wenn ich in ihren Augen vielleicht durchdrehen mag, so bin und bleibe ich ihr Cousin, ihr Fels in der Brandung. Er bricht ins Meer…

„Das solltest du nicht tun“, sagt sie leise und mit schwacher Stimme. Sie klingt matt, als hätte sie jegliches Leben verloren. Eine der blonden Strähnen rutscht aus ihrer Frisur, mitten in ihr eingefallenes Gesicht. Vorsichtig streicht sie sich diese hinters Ohr, ihre Fingernägel sind spröde und eingerissen. Sie erinnern mich an meine, brüchig und kaputt. In unserem Hunger nagen wir gedankenverloren auf ihnen herum.

„Warum?“, fragte ich leise und lege meine Hand auf das Loch, welches einmal mein Bauch gewesen sein muss. Immerzu hab ich von afrikanischen Kindern mit Wasserbäuchen gehört, doch unsere sind flach und nicht vorhanden. Als hätten wir ein Vakuum in uns, welches die Haut nach innen zieht.

Ein erneutes Husten dringt an mein Ohr, rau, heiser und schleimig. Ich zucke zusammen, so plötzlich durchbricht es die Stille, dann schiebe ich die Hände in meine Hosentaschen und sehe sie schief an.

Heißt: Egal, was du mir jetzt auch sagen wirst, ich gehe trotzdem. Also halt die Klappe.

Mary schüttelt nur stillschweigend mit dem Kopf, als könne sie mein törichtes Verhalten nicht nachvollziehen und liest Lucy weiterhin mit ihrer leisen Fistelstimme aus dem alten Testament vor.

Wir sind wie auf Noahs Arche, nur ohne Wasser.

Vorsichtig schiebe ich die Tür ins Badezimmer auf und ehe ich mich versehe, schlägt mir der Geruch von Tod und Krankheit entgegen. Ich rümpfe die Nase, schließe kurz die Augen und gewöhne mich an diese unangenehme Grundsubstanz, ehe ich sie wieder öffne. Ein schwacher Lichtstrahl beleuchtet das leblos wirkende Bündel auf dem Boden, raubt mir den Atem und lässt mich erzittern.

Dann schiebe ich mich doch hinein in den Raum, der mir so zuwider ist, dass ich am liebsten direkt auf dem Absatz kehrtmachen würde, schleiche einige Schritte nach vorne, bis meine Fußspitzen an die weichen Kissen stoßen, dann gehe ich in die Hocke.

„Psst…“

Es ist kaum mehr als ein leises Hauchen und dennoch klingt es so unbeschreiblich laut in diesem kleinen Badezimmer. Es könnte unser Grab sein.

„…Emily? Emily, bist du wach?“

Es folgt keine Antwort im sprachlichen Sinne. Leises Rascheln lange getragener Kleidung belohnt mich, zaubert mir ein schwaches Lächeln auf die aufgesprungenen und schmerzenden Lippen. Nervös lecke ich darüber, strecke meine Finger aus und streiche meiner kleinen Schwester liebevoll über die Schulter, anschließend über die sengend heiße Stirn.

Meiner armen kleinen Schwester bleibt aber auch gar nichts erspart. Erst die Krämpfe verursacht durch die Dehydrierung, nun Fieber. Sie hat sich erkältet, hat sich eine Grippe eingefangen, was mich bei diesen Temperaturen nicht sonderlich wundert. Und keimfrei sind diese Räume sicherlich nicht. Alles, aber nicht keimfrei.

Seufzend sinke ich nun vollends auf die Knie, betrachte sie von oben bis unten. Die Augen sind eingefallen, dass ehemals volle und braune Haar ist spröde und porös.

„Wie geht es dir, Schatz?“, frage ich leise und setze mich zu ihr auf die Matratze. Ich möchte nicht mit dem Boden in Berührung kommen, welcher ganz sicher noch immer von winzigkleinen Glassplitterchen übersäht ist. Wir konnten hier nur grob aufräumen, uns fehlen die nötigen Mittel, hier alles klinisch rein und in Schuss zu halten.

Die Augen meiner Schwester springen auf, als hätte man einen Rollo hochfahren lassen, ihre wässrigblauen Pupillen fahren flüchtig über meine Kleidung. Ich glaube nicht wirklich, dass sie zu produktiven logischen Gedankengängen in der Lage ist, ihre Seele scheint ganz abwesend.

„Joshua?“, kommt es beinahe geseufzt über ihre Lippen, als sie eine Hand unter der Decke hervorschauen lässt. Zärtliche greife ich nach den dünnen und schlanken Fingern, drücke sie und beschwichtige sie mit leisen Worten.

„Ja, ich bin es.“

Ein schwaches, fröhliches Lächeln erscheint auf den blutleeren Lippen meiner kleinen Schwester, die ich mehr liebe als alles auf der Welt. Sie so zu sehen bricht mir das Herz. Es bereitet mir Schmerzen, körperliche und irgendwie bin ich sehr froh, ihren ausgemergelten Körper unter der Decke nur sehr grob ausmachen zu können.

Neben ihrem Kopfkissen steht ein kleiner Bottich mit Wasser und einem dünnen Tuch. Ich nehme es heraus, wringe überschüssiges Wasser hervor und lege es ihr auf die heiße Stirn. Das Einzige, was fehlt, um unser Leben hier oben weiter ins lächerliche zu ziehen, ist das obligatorische Zischen. Der kleine Tropfen auf dem heißen Stein. Der Druck meiner Hand wird nun endlich, nach einer halben Ewigkeit, erwidert.

„Ich bin so froh, dass du hier bist, Josh“, flüstert Emily und schließt vor Erschöpfung ihre Augen.

„Geht es Mary und Lucy gut? Ich vermisse sie - ich habe sie schon so lange nicht mehr gesehen…“

Seitdem es Emily so schlecht geht und wir sie ins Badezimmer gelegt haben, haben Mary und Lucy sich distanziert. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Sie haben angst, sich anzustecken. Wir sind geschwächt, und selbst eine kleine Erkältung kann inzwischen katastrophale Folgen für uns haben.

Aber genau genommen ist diese Trennung sinnlos, weil ich sowieso viel Zeit bei meiner kleinen Schwester verbringe, ihr etwas zu trinken gebe oder einfach für sie da bin, auch wenn mir der Schlaf fehlt und ich gelegentlich das Gefühl habe, mein Kopf würde unter dieser Last explodieren.

Wenn ich dann wieder hinüber in den Hauptraum gehe, schleppe ich die ganzen Bazillen und Keime mit mir herum und befinden sich näher an Lucy und Mary, als es den beiden lieb ist.

„Sie sind sehr beschäftigt, weißt du?“, beschwichtige ich sie also und beiße mir stillschweigend auf die Unterlippe, wohlwissend, dass ich sie gleich wieder anlügen würde.

“Sie beten, weißt du? Damit wir hier möglichst schnell wieder herauskommen und du wieder gesund wirst.“

„Ich möchte auch beten“, antwortet sie sofort und blickt mich dann wieder mit diesem durchdringenden Blick aus den wasserblauen Augen an.

„Warum betest du nicht auch, Joshua?“

Ein schwaches Lächeln huscht über mein Gesicht, verblasst sofort in der allgemeinen Dunkelheit des Raumes. Warum ich nicht bete – glasklar.

„Weil du krank bist und dich schonen musst“, erkläre ich ihr mit einer leicht abwinkenden Geste und fahre fort.

„Deswegen kannst du nicht beten, glasklar oder? Und ich kann natürlich nicht beten, wenn ich bei dir bin, oder? Das verstehst du doch.“

„Ja.“

Plötzlich regt sich das kleine Etwas unter der Bettdecke, versucht sich etwas aufzurichten und drückt meine Hand ganz fest. Es ist, als hätte sie Zucker geschluckt und stünde nun vollkommen unter Adrenalin.

„Lass uns beten Joshua, bitte, bitte!“, quengelt meine kleine Schwester. Sie wird nicht eher Ruhe geben, bis ich mich dazu herablasse, nachzugeben, dafür kenne ich sie inzwischen gut genug. Trotzdem schnellen meine Augenbrauen in die Höhe. Das hier ist eindeutig mehr Lügerei, als ich gewohnt bin.

„Eh… okay, wie du meinst, Emily. Was möchtest du denn beten?“

„Das Ave Maria, okay?“

„Wenn du meinst.“

Ich zucke mit den Schultern, beuge mich nach vorne und falte meine Hände zum Gebet, wie ich es mit meinen Eltern und der restlichen Familie schon hunderttausend Mal gemacht habe. Emily schließt ihre Augen.

„Ave Maria gratia plena.

Dominus tecum.

Benedicta tu in mulieribus,

et benedictus fructus ventris tui, Jesus.

Sancta Maria, Mater Dei,

Ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae.

Amen.“

Bei den letzten Worten rast mir ein kalter Schauer über den Rücken. Er stellt mir die Nackenhaare auf und lässt mich erzittern. Jetzt und in der Stunde unseres Todes. Nicht, dass ich jemals an dieses Altweibergewäsch namens Christentum geglaubt hätte, dennoch rufen mir die Worte meine eigene Sterblichkeit zurück ins Gedächtnis.

Emily jedoch hat einen ganz zufriedenen Gesichtsausdruck und kuschelt sich zurück in die Kissen, die Augen noch immer geschlossen. Sie sieht so müde aus. Wenige Sekunden später ist sie eingeschlafen, was mich dazu verleitet, ihr die Decke weiter über die Schultern zu ziehen, damit sie nicht friert, wenn sie schläft.

Vielleicht sollte ich wieder gehen, immerhin schläft die Kleine sowieso und ehrlich gesagt bin auch ich nicht sonderlich scharf darauf, mich anzustecken. Bei aller Liebe.

Zittrig stehe ich auf, will gerade los, als die Tür ins Schloss fällt und samtene Dunkelheit hüllt mich innerhalb von Sekundenbruchteilen ein. Erschrocken verharre ich einen Moment, warte darauf, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, wie sie es sonst immer tun.

Keine Chance. In diesem Raum ist keine Lichtquelle vorhanden, selbst, wenn ich weitere zehn Minuten stillschweigend und von leichten panischen Gefühlen bestimmt hier stehen würde, könnte ich nicht besser sehen.

Erst, als jemand mit einem leisen Zischen ein Streichholz entzündet, ist es mir möglich, zu erfahren, wer dort steht. Es ist ein junger Mann von meiner Statur, genauso dünn und ausgemergelt wie ich, schwarze, etwa schulterlange Haare hängen ihm ins Gesicht. Er hält das Streichholz zwischen zwei seiner dünnen, schlanken Finger, kniet sich auf den Boden und zündet eine sich dort befindliche Kerze an. Sofort wird es noch ein wenig heller in dem kleinen Badezimmer und während ich atemlos das Geschehen verfolge, die dunklen Schatten mustere, welche sich unter den Augen meines Gegenübers befinden, verstehe ich langsam, um wen es sich handelt.

„Zukunft?“, hauche ich leise und zucke zusammen, weil mir der Klang meiner Stimme, obwohl fast lautlos, ohrenbetäubend vorkommt. Ich bin erschlagen von seiner Ähnlichkeit mir gegenüber.

Er sieht so fertig aus, als hätte er keine Kraft mehr zu kämpfen. Seine Wangen glänzen feucht, als hätte er geweint und er wirkt so dunkel. Als wäre er der leibhaftige Tod persönlich, so eisig, so skrupellos. Sein Erscheinungsbild jagt mir Angst ein und während ich beobachte, wie er sich über meine Schwester beugt und ihr eine der matten Haarsträhnen aus dem Gesicht streicht, weiche ich zurück, bis ich an die geflieste Wand pralle.

„Fass sie nicht an!“, zische ich in der Panik, dass ihr Herz sofort aussetzen würde, würde er sie berühren. Heißt es nicht immer, der Gevatter nimmt seine Schützlinge mit, indem er sie mit dem Zeigefinger anstupst?

„Ich warne dich, fass sie nicht an!“

Gefangen in meinen Emotionen zucke ich ein paar Zentimeter nach vorne, nur um mich direkt danach wieder an die Wand zu pressen. Die Angst ist stärker, meine Nerven liegen blank. Ich will nur noch nach hause. Wenn ich doch nur wüsste, wo das ist…

„Oh Joshua“, kommt es leise von ihm, er beugt sich noch immer über das blasse und eingefallene Gesicht meiner Schwester.

„Was denkst du denn von mir? Als ob so etwas überhaupt in meiner Macht stünde…“

Ein hauchdünnes Lächeln seinerseits entblößt die ersten, glänzend weißen Zahnreihen. Sie scheinen mich durch das Dämmerlicht hindurch anzufunkeln und jagen mir einen weiteren Schauer über den knochigen Rücken. Mir ist kalt.

„Aber schau sie dir doch einmal an Joshua, was ist von ihr denn noch übrig, hm?

Sie ist doch gar nicht mehr das Mädchen, was du mal kanntest. Sie ist mindestens genauso erschöpft und fertig wie Mary und du. Aber sie kaschiert es besser.

Der Atem des Todes legt sich inzwischen auf sie wie der morgendliche Duft einer Rose, ganz wohltuend und sanft. Er erfüllt schon den ganzen Raum und lässt dich jedes Mal erschaudern, wenn du den Raum betrittst.

Finde dich damit ab Joshua. Du kannst nichts retten, was zum Scheitern verurteilt ist.“

Mit diesen Worten nimmt er die Kerze, wirft mir aus den Augenwinkeln einen letzten Blick zu und löscht sie mit seinem Atem. Er verschwindet, zusammen mit dem Licht und lässt mich verwirrt und ganz allein zurück.

Noch ein paar Sekunden stehe ich wie versteinert an der kalten Wand, ehe ich auf die Knie sinke und zu meiner kleinen Schwester krieche. Vor Schreck und Angst laufen mir Tränen über die Wangen, leise Schluchzer kommen über meine Lippen und sie verstummen auch nicht, als ich an ihrem Handgelenk einen Puls ausmachen kann und in schallendes Gelächter ausbreche.

Nein, das ist mir alles zu viel, ich muss hier raus. Ich halte das nicht länger aus, dieses langsame Krepieren, vergessen von allen.
 

„Joshua? Joshua, was ist los?“

Ich bin vom Badezimmer direkt zu meinem Platz am Fenster, habe mich dort hingesetzt und sehe lautlos weinend hinaus auf das tägliche Treiben unten auf den Straßen. Der Schock der vergangenen Minuten sitzt mir noch immer tief in den Knochen, raubt mir die Luft zum atmen und sorgt dafür, dass ich mich nackter fühle denn je.

Als Mary das gesehen hat, hat sie die Bibel zur Seite gelegt, Lucy gesagt, sie solle weiterlesen und ist zu mir gekommen. Inzwischen schlabbern die Stiefel an ihren Beinen so sehr, dass sie die Füße kaum mehr vom Boden hebt. Warum sollte sie das auch tun? Es ist so anstrengend.

Sie bekommt keine Antwort von mir, als sie neben mir kniet und mich von der Seite her anspricht. Erst, als sie ihre knochige Hand auf meinen Oberarm legt, registriere ich bewusst, dass sie mich anspricht, dennoch zeige ich keine offensichtliche Reaktion.

Sie zögert kurz. So wie es scheint, kosten sie die folgenden Worte einiges an Überwindung.

„Joshua – ist sie… ist sie…“

Sie räuspert sich und knetet meinen Oberarm vor unbewusster Aufregung mit den Fingern durch.

„Ist sie tot?“

Zwar schüttele ich nur schwach den Kopf, es sorgt dennoch dafür, dass Mary leise und erleichtert aufseufzt, die Hand von meinem Arm nimmt und sich bequemer neben mich setzt.

„Du solltest nicht mehr zu ihr gehen“, fährt sie fort und ein unsicheres Lächeln erscheint auf den dünnen Lippen. Sie hat Mundgeruch, wie wir alle hier. Und der Gestank… es muss für Außenstehende viel Schlimmer sein als für uns, die wir an den Geruch gewohnt sind. Dennoch… es ist widerlich.

„Schau doch mal wie fertig es dich macht und außerdem kann es sein, dass wir uns durch deine Besuch alle bei ihr anstecken, weißt du? Joshua, ich bitte dich… Wir wollen hier alle wieder lebendig rauskommen.“

Mit einer kurzen Geste schneide ich ihr das Wort ab und schüttele nur energisch den Kopf.

„Das kannst du nicht tun“, antworte ich mit zusammengebissenen Zähnen und wische mir mit dem Handrücken über die tränenden Augen. Meine Tränen schmecken nicht mehr salzig.

„Sie braucht uns. Wir können sie nicht die ganze Zeit alleine dort liegen lassen.

Mary, es wird alles gut werden, ja? Mach dir keine Sorgen.“

Ihre Fassungslosigkeit wird verdeckt von einem gekränkten Gesichtsausdruck.

„Mit welcher Sicherheit kannst du das schon sagen, Joshua Miller?“, fragt sie mit tränenerstickter Stimme, funkelt mich mit ihren blauen Augen an und ballt die Hände zu Fäusten.

Die Wut und Verzweiflung, welche mir entgegenschleudert, ist zum Greifen nahe.

Ich lege den Kopf schief und streichle ihr mit den Fingerspitzen über das Haar.

“Vertrau mir Mary, alles wird gut. Und wenn wir hier erst mal raus sind, bring ich den alten Sack um, ich verspreche es. Alexander wird toter als tot sein, wenn ich ihn in die Finger bekomme, da schwöre ich dir, ja?“

„Ach Joshua, hör schon auf! Was ist denn, wenn wir hier nicht mehr herauskommen? Wenn wir hier oben draufgehen, ohne das es jemals jemand bemerken wird? Wenn sie unsere Leichen in zehn Jahren finden, weil jemand anders die Wohnung haben will und durch Zufall bemerkt, dass hier oben eine Luke ist?

Nicht einmal die Polizei hat die Luke bemerkt, so gründlich hat Alexander gearbeitet! Wir werden hier oben eingehen wie Fische in einem Glas und es gibt nichts, was wir auch nur ansatzweise dagegen tun können!“

„Na bitte!“, knurre ich leise und ziehe meine Hand von ihrem Schädel zurück.

„Was regst du dich dann so auf? Wenn wir ohnehin alle dem Tode geweiht sind, lass mich doch zu ihr.“

„Du versaust uns unsere letzte Zeit, ist dir das eigentlich klar? Mir geht’s schon dreckig genug, dir wahrscheinlich auch, also warum um alles in der Welt sollen wir auch noch mit einer Grippe vor die Hunde gehen?“

„Oh nein, Mary.“

Ein leises Seufzen dringt über meine Lippen, als ich mit größtmöglicher Aufmerksamkeit ihren Worten folge.

„Du solltest dich einmal reden hören, Mary. Das bist nicht du. Früher hättest du niemals so gehandelt.“

„Früher hättest du auch keine Selbstgespräche geführt und Spiegel eingeschlagen!“, faucht sie, verkneift sich die Tränen und steht auf.

Das Gespräch ist hiermit für sie erledigt, was ihre charakteristische Sturheit wieder vollends zur Geltung bringt. Ob Lucy wohl mitbekommen hat, worüber wir geredet haben? Wir haben uns leise angefaucht, das mag sein, aber Kinderohren sind gut. Verdammt gut.

Ächzend wende ich mich um und beobachte meine kleine Schwester aus den Augenwinkeln. Sie sitzt ganz ruhig über der Bibel und freut sich, als Mary sich wieder dazusetzt um sich weiterhin mit ihr zu beschäftigen. Lucy meidet mich inzwischen auch, aber bei ihr ist es offensichtlicher als bei Mary. Ich möchte gar nicht wissen, was sie ihr erzählt hat, nur um sie vor vermeintlichen Gefahren zu schützen. Das sie damit das Verhältnis zwischen Lucy und mir eventuell für immer zerstört hat, vergisst sie dabei wahrscheinlich.

Und ehrlich gesagt glaube ich auch, dass es sie inzwischen gar nicht mehr interessiert. Als hätte sie ihren ganzen Kampfgeist lediglich darauf verwettet, hier lebend wieder rauszukommen, egal um welchen Preis. Das sie Emily einfach dort vor sich hinvegetieren lässt, sagt einiges aus und stimmt mich traurig. Vor wenigen Wochen noch wären wir nie so zueinander gewesen. Vor wenigen Wochen hätten wir noch alles füreinander getan, vor wenigen Wochen hätten wir uns selbst die Kugel füreinander gegeben.

Aber die Angst vor dem Tod ist stärker. Jedenfalls bei Mary und mir. Die Zwillinge ahnen, dass etwas nicht stimmt. Sie wissen allerdings nicht, dass wir kurz davor sind, das geistliche zu segnen. Es ist gut.

Auch wenn die letzte Zeit eventuell die Hölle sein mag, weil sie Hunger haben, so geht es ihnen doch besser als Mary und mir, wir, die genau wissen was auf uns zukommt.
 

Es ist schon verrückt. Man könnte, wenn man seinen Blick durchs Fenster nach draußen gleiten lässt und die Leute beobachtet, welche Tag für Tag ihrem dummen, sinnlosen Treiben nachgehen, meinen, dass es immer so weitergehen würde. Nichts deutet darauf hin, dass sich jemals etwas verändert, es scheint alles gleich zu sein. Kleine Puppen tanzen für das humbertsche Regiment, gar nicht wissend, dass sie sich damit ihrer eigentlichen Freiheit berauben.

„…mir fehlt unsere Musik, Mary“, seufzte ich leise und senke die Stirn gegen die zentimeterdicke Plexiglasscheibe. Als wir hier oben ankamen, war sie sauber und klar. Inzwischen finden sich überall Fingerabdrücke auf dem kalten Plastik. Fingerabdrücke von uns, Kratzer von dem Rad der Zeit, tiefe Macken von mir, als ich versuchte, die Scheibe einzuschlagen.

Ich habe alles aus den Kisten herausgewühlt, was sich nur ansatzweise dafür geeignet hätte, habe in meiner grenzenlosen Wut auf Gott und die Welt darauf eingeschlagen und irgendwo doch gewusst, dass es nichts bringt. Hat es letztendlich auch nicht. Nach wie vor raubt sie mir die Freiheit.

Ich weiß schon gar nicht mehr, wie lange es her ist, seid ich mich an dieser durchsichtigen Wand ausgelassen habe. Eigentlich… weiß ich gar nichts mehr. Auch, wenn ich, wie früher, noch immer Reize aufnehme und verarbeite, scheinen sie durch mich hindurchzusickern wie durch ein Sieb. Ein sehr löchriges Sieb. Ganz matt fühlt man sich dann, als würde sämtliche Kraft aus einem herausfließen. Gleichzeitig jedoch meint man, vor Energie platzen zu müssen.

Es ist, als würde mein Gehirn keine Informationen mehr abspeichern, als würde ich lediglich im Leerlauf durch den Raum kriechen und warten.

Ich weiß auf was.

Aber ich will es mir nicht eingestehen.
 

„Nanu?“

Die Holztür fällt lauter ins Schloss, als ich es beabsichtigt habe, was mich, auch wenn es ein schöner und sonniger Abend ist, zusammenzucken lässt.

August 1988 – die Ferien haben gerade erst begonnen, die Luft riecht beinahe nach der Freiheit, die für uns noch immer unerreichbar ist und dennoch – irgendwie ist es zeitweise so, als lebten wir in einer normalen Familie.

Wäre da nicht der kleine Teufel von Schwester, welcher sich in meine Hirnwindungen gekrallt hat und mich nachts beinahe wahnsinnig macht. Die Gefühle, welche ich ihr entgegenbringe sind so fern von jeglicher Realität, dass ich mich selbst für meine unermessliche Torheit schlagen könnte.

Dann sehe ich sie, wie sie dort, ein Buch in der Hand, auf ihrem Bett sitzt, das braune Haar fällt ihr offen über die Schultern und der lange Rock umspielt ihre Beine wie klares Wasser, weich und lieblich. Und dann weiß ich wieder, dass an mir nichts kaputt und alles in Ordnung ist.

Bei etwas so wunderschönem müsste jeder normale Mensch so empfinden.

„Wo sind Lucy und Mary?“, frage ich und stelle den Karton mit Schulsachen, alten Heften und Büchern auf den Schreibtisch. Es raschelt leise und ich bin froh, dieses schwere Ungetüm endlich los zu sein. Lachend wische ich mir mit dem Handrücken über die Stirn, fahre mit den Fingern durch mein ungebändigtes, schwarzes Haar und stemme meine Hände letztendlich in die Hüften. Man kann die Adern an meinem sehnigen Unterarm zählen, aber es interessiert mich nicht sonderlich.

Wie immer bin ich viel zu dünn.

„Ich weiß nicht“, antwortet sie mit einem zaghaften Zucken ihrer schmalen Schultern, dann klappt sie das Buch zusammen und schiebt es unter ihr Kopfkissen. Ich betrachte das Treiben wie elektrisiert, schiebe die Hände in die Hosentaschen und tigere zum Bett.

„Mary hat glaube ich vorhin erwähnt, sie wollen ins Schwimmbad oder so, aber Lucy hat doch gar keine Badesachen…“

Gedankenverloren legt sie einen Finger auf ihre Lippen, grübelt ein wenig und schüttelt dann den Kopf. Dabei fallen ihr ein paar der braunen Strähnen ins Gesicht. Zwar macht sie Anstalten, sich diese wieder hinter das Ohr zu streichen, aber ich bin schneller.

Flink strecke ich mich aus und erledige das für sich, fahre ihr mit den Fingerspitzen wie beiläufig über die Wangen und lasse mich zu ihr aufs Bett sinken. Als würde ein Schlag durch meinen Körper rauschen werden meine Wangen rot. Ich weiß nicht warum. Mir bleibt die Luft weg, ich sehe nur noch sie.

„Joshua?“

Sie rutscht ein wenig auf mich zu und wirkt mit einem mal, als hätte sie etwas sehr ernstes mit mir zu besprechen. Wahrscheinlich ist ihr inzwischen aufgefallen, wie abartig mein Verhalten ihr gegenüber innerhalb der letzten Monate geworden ist, doch ich lasse mir nichts anmerken. Ich lasse mir nicht anmerken, dass ich weiß, was sie von mir will.

Tapfer setze ich ein Lächeln auf und lege den Kopf schief.

„Was ist denn, Emily?“

Wie immer kommt mir meine Stimme viel zu laut in der stillen Umgebung vor. Als würde sie durch Eis schneiden, so laut, so greifbar. Ein Beweis dafür, dass ich WIRKLICH am sprechen bin.

Ein leises, kindliches Lachen huscht ihr über die Lippen, dann hebt sie die Hand und winkt ab, als wäre es die größte Kleinigkeit der Welt. Dann streckt sie die Hand aus und knufft mich.

„Joshua, in meiner Klasse erzählen immer alle Mädchen… wie sie mit Kerlen und so etwas hatten und keine Ahnung.

Mich schaut keiner an.“

Sie rollt mit den Augen und ich sehe sie nur verblüfft an. Das war ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte. Deshalb nicke ich lediglich und, um alles zu unterstreichen, nicke noch einmal.

„Aber weißt du Joshua, ich mag auch irgendwie nicht dumm und unwissend dastehen, wenn ein Junge meint, dass er mich küssen soll.“

“Du sollst überhaupt nicht küssen bis du verheiratet bist“, entgegne ich kühl, frisch gebadet in Eifersucht.

„Hast du das bei Rachel nicht gelernt? Oder bei Lucy? Oder bei Mary? Irgendjemand hat dir die betreffende Bibelstelle doch bestimmt vorgelesen.“

„Ach Josh.“ Emily rollt wieder mit den Augen, so wie sie es nur bei mir tut. Mary sieht sie als Ersatzmutter an, Lucy ist ihr Spiegelbild und vor unseren Eltern fürchtet sie sich zu sehr.

„Ich will es doch nur einmal ausprobieren.“

Meine Augen verengen sich zu Schlitzen, ich schüttele erneut den Kopf, diesmal heftiger.

“Das kommt überhaupt nicht in die Tüte, Emily, du sollst nicht herumhuren wie eine kleine Schlampe. Warte einfach ab, bis du verheiratet bist, der betreffende Herr wird schon die Geduld aufbringen.“

Um mich zu beruhigen, streckt sie ganz unverhofft den Arm aus und legt mir die Hand auf den Oberschenkel. Ich zucke zusammen, während die Stelle zu meinem Torso hinauf anfängt zu pulsieren.

Schweiß tritt mir auf die Stirn.

Ich schiebe es auf den Sommer und wische ihn fort.

„Komm schon, Joshua, wir sind Geschwister. Was ist schon dabei? Es ist doch nichts weiter.“

Bin ich im richtigen Film? Mehr als anstarren kann ich sie momentan nicht. Höchstwahrscheinlich habe ich mich einfach verhört. Sie will, dass ich sie küsse?

Pubertäre Mädchenhirngespinste, oder?

Nichts ernstzunehmendes. Eigentlich, an und für sich, absolut schwachsinnig.

Mein Puls überschlägt sich und galoppiert mit dreihundert Sachen davon. WUSCH. Weg ist er.

Ich aber sitze hier und kann die Reaktionen meines Körpers, welche mich gerade vollkommen aus der Bahn werfen, keinesfalls einordnen.

„Wa…was?!“, stottere ich und vor lauter Nervosität fallen mir die Haare ins Gesicht. Wieder einmal. Als seien sie nicht schon widerspenstig genug.

„Du hast schon richtig gehört“, antwortet sie und setzt das unschuldige Lächeln einer elfjährigen auf. Für sie hat es wirklich nichts zu bedeuten. Sie will nur spielen. Ausprobieren. Etwas, dass Mädchen normalerweise untereinander tun, um endlich zu erfahren, WIE es denn nun letztendlich ist, dieses Küssen.

Eigentlich sollte man nun als Bruder vernünftig sein, sagen, dass sie doch eine Meise habe und ihr ein Kissen an den Kopf werfen. So würde man reagieren, wenn man ein ganz normales Verhältnis zu seiner Schwester hätte. Eigentlich.

Ich habe kein normales Verhältnis zu meiner Schwester. Das Verhältnis zu meiner Schwester ist alles andere als normal. Deshalb ist alles, was ich sage:

“Mit oder ohne Zunge?“

Als hätte ich mit diesem Satz meine alte Überlegenheit wiedergewonnen, erscheint direkt ein kleines, schwaches Schmunzeln auf meinen dünnen Lippen. Dabei bin ich selbst nicht erfahrener als sie. Ich habe noch nie ein Mädchen geküsst. Also… nicht mit Gefühlen. Nur Judetta, eine Klassenkameradin und das auch nur beim Flaschendrehen auf einem Schulausflug.

Emily verzieht das Gesicht und rutscht ein wenig auf mich zu, wobei sie die Hand von meinem Schenkel zieht. Ihre Berührung hinterlässt ein angenehmes Kribbeln.

„Nicht mit Zunge“, lacht sie und schüttelt sich, dass ihre Haare in sämtliche Richtungen fliegen.

„Das ist doch eklig! Keine Ahnung, was die Erwachsenen so toll daran finden. Ich find es widerlich. Ohne, ja?

Ja….?“

In spielerischer Laszivität beugt sie sich wie eine kleine Lolita zu mir hinüber und ehe ich mich versehe, spüre ich ihre Lippen auf meinen.

Hätte ich wenigstens die Zeit gehabt, mich angemessen darauf vorzubereiten, wäre der erregte Schlag, der durch meinen Körper zuckte unter Garantie nicht so stark gewesen. Dennoch weiche ich nicht zurück, sondern lege ihr, ganz unbewusst, die Hand ins Genick und ziehe sie näher an mich, will sie an mich binden und nie wieder gehen lassen.

Ich halte die Augen geschlossen und genieße. Ihre Nähe, das Endorphin in meinen Venen, das Pulsieren in meinen Lenden.

Der plötzliche Schlag auf meinen Hinterkopf jedoch lässt mich binnen Sekundenbruchteilen alles vergessen. Ich reiße die Augen auf, doch alles bleibt schwarz. Feuerwerk funkelt am Horizont, so nah und doch so unwirklich.

In der Ferne erklingt ein hohes, mädchenhaftes Kreischen. Es ist meine kleine Schwester.

Den Schmerzenslaut, den ich vor Schreck und Qual von mir gebe, scheint nicht von mir zu stammen. Er ist so weit weg.

Als mich jemand an den Schultern packt und mit roher Gewalt vom Bett herunterzieht, kommt Leben zurück in meinen Körper. Ich blinzele, sehe mich in der Hektik, zu herrschen scheint, um und muss erst einmal einordnen, wo ich eigentlich bin.

Ich befinde mich, so erfasse ich es, noch immer in meinem Zimmer. Aus den Augenwinkeln kann ich Emily sehen, wie sie noch immer auf dem Bett sitzt, die Hände auf den Mund gepresst, und mich mit ihren haselnussbraunen Augen geschockt anstarrt. Oder starrt sie auf die Person über mir?

Ich komme nicht dazu, meinen Gedanken zuende zu denken, als mich ein erneuter Schlag trifft. Mit der Faust. Mitten ins Gesicht. Und wieder. Und wieder.

Ich kann hören, wie man mich als Hundesohn, Bastard, Schwesternficker und erbärmliches Stück Scheiße bezeichnet. Als Tagedieb, unnütz, dumm und abartig. Erbärmlich. Am besten wäre ich tot.

Als ich die Augen das nächste Mal öffnen kann, oh ja, sie werden am Ende dieses Tages sehr zugeschwollen sein, sehe ich ihn. Das Monster.

Er hat mich zu Boden geworfen und kniet nun über mir, schlägt mit beiden Fäusten in blinder Raserei auf mich ein. Als könnte ihn nichts aufhalten. Ihn KANN nichts und niemand aufhalten.

Neben mir liegt eine massive Bronzestatue. Sie stellt einen Drachen dar und befand sich bis vor wenigen Momenten im Bücherregal direkt neben der Tür. Das Teil muss ich eben auf den Schädel bekommen haben und es wundert mich, dass sie keine Delle hat oder nichts abgebrochen ist.

Dennoch ist mein Hinterkopf taub vor Schmerz.

Irgendwann knackt etwas. Laut. Wie trockenes Holz. Sofort schießt eine brutale Hitze durch mein Gesicht, die Taubheit weitet sich aus, meine Augen tränen.

Alexander jedoch lässt endlich von mir ab. Als hätte er sämtliche Energie, die er mit sich herumgeschleppt hätte, verbraucht, steht er auf und spuckt mir ins Gesicht.

„Ich hoffe du hast daraus gelernt, du elender Bastard“, zischt er, dreht sich um und verlässt Türschlagend den Raum.

Ich brauche ein paar Momente, um mich zu sammeln und zu verstehen, dass es vorbei ist. Und das er gegangen ist. Der Schock verschwindet, der Schmerz explodiert.

Emily kriecht vom Bett herunter und tastet sich, leise schluchzend, an mich heran.

„Joshua?“

Ihre Stimme ist kaum mehr als ein hohes, piepsiges Flüstern. Lebst du noch Joshua? Oh mein Gott, Bruder, es ist alles meine Schuld.

Sie berührt mich an der Schulter und ich rege mich. Drehe mich zur Seite und richte mich , immer wieder leise „Fuck“ fluchend, auf, winke ihre Hilfe ab und schleppe mich ins Badezimmer.

Tropfend hinterlasse ich eine kleine Blutspur.

Ich sehe furchtbar aus. Eine Platzwunde an der Stirn, meine Nase ist offensichtlich gebrochen. Meine Augen beginnen bereits, zuzuschwellen. Als mir etwas nasses in den Nacken läuft, greife ich instinktiv danach und muss nach der Rotfärbung meiner Finger feststellen, dass der Schlag auf meinen Hinterkopf wohl härter war als erwartet.

Emily tut mir leid.

Wäre sie doch bloß mit ins Schwimmbad gegangen.
 

Ich kam damals nicht ins Krankenhaus. Warum auch? Wovon bitte? Ohne Krankenversicherung und Geld grenzt das an eine Unmöglichkeit. Mary hat mich notdürftig verarztet, als sie mit Lucy aus dem Schwimmbad kam und hat sich anschließend um Emily gekümmert. Ich bin nur noch einmal ins Badezimmer, hab mir Schmerzmittel reingepfiffen und bin anschließend vollkommen erledigt ins Bett gekrochen. Die Statue haben wir weggeschmissen. Keiner wollte sie mehr haben. Keiner brauchte sie – hatten wir sie jemals gebraucht?

Ein leiser Seufzer dringt über meine Lippen, als ich meine Stirn wieder gegen das kühle Plexiglas lehne und den Käfern der Gesellschaft draußen in ihrer angeblichen Freiheit zusehe. Sie wuseln quer übereinander und niemand scheint wirklich zu wissen, wie erbärmlich er doch ist.

„Er wollte nur das Beste für dich“, flüstert eine Stimme sanft in mein Ohr und als ich mich zur Seite drehe, stelle ich voll positiver Überraschung fest, dass es sich um ein unerwartetes Wiedersehen mit Zukunft handelt.

„Wenn ich hier raus bin, bringe ich ihn um“, antworte ich lediglich kalt, leise. Verbittert.

Es zaubert lediglich ein schwaches Lächeln auf Zukunfts Lippen. Wie bei einem Kind, welches einem erzählt, dass es gerade ein Monster unter dem Bett gefunden habe.

Ich winke ab.

“Glaub es mir. Ich mache den Bastard kalt. Emily versteckt es gut… aber sie gibt sich bis heute die Schuld.“

Zukunft zuckt mit den Schultern und schüttelt den Kopf.

„Du wirst ihn ganz gewiss nicht töten, Josh, glaub mir. Du nicht.“

“Denkst du, ich trau mich nicht?“

Mein Ton wird rauer. Aggressiver.

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Das spielt keine Rolle, glaub mir.“

„Das werden wir noch sehen, Zukunft. Das werden wir noch sehen.“

Dann stehe ich auf, wuchte mich hoch und geselle mich zu meiner Cousine und meiner Schwester Lucy. Sie haben von meiner Diskussion nichts mitbekommen und das ist in meinen Augen – wahrscheinlich nicht nur in meinen – auch besser so.

„Was macht ihr schönes?“, frage ich, setze mich dazu in den Berg aus Laken, Decken und Kissen und fahre Lucy mit der flachen Hand über die Haare. Ich schenke ihr ein Lächeln.

Sie erwidert es und sofort weiß ich wieder, warum Mary und ich immer Alexanders Zielscheiben waren – freiwillig.

„Uno“, antwortet Mary mit einem koketten Lächeln und hält die Spielkarten hoch. Spiel, Spaß und Spannung. Ganz wie früher.

„So?“

Ich fange an zu lachen.

„Ihr könnt doch gar kein Uno.“

„Wir können kein Uno?!“

Mary nimmt die Herausforderung an.

„Schäm dich, Joshua, wir sind die Oberunomeister!“

„Ja!“, schließt sich Lucy an und strahlt. „Wir spielen können dir ja zeigen, wie gut wir Uno spielen können.“

„Na los. Zeigt es mir ruhig. Ich mache euch alle, das garantiere ich euch.“

Als Lucy die Karten vom bisherigen Spiel einsammelt und neu austeilt, huscht auch bei mir ein leichtfertiges Lächeln über die Lippen. Ja, es ist wirklich ganz wie früher, wenn Alexander seinen Rausch ausschlief und Rachel auf der Arbeit war.

Unbeschwertes Beisammensein. Spielen. Lachen. Freude.

Als ich mir Lucy noch einmal genauer ansehe, fällt mir ihr Atem auf.

Sie atmet schneller als sonst. Ihr knöchriger Torso hebt und senkt sich unter dem dünnen, dunkelgrünen Kleid, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie schnauft. Sie jappst.

Nicht sehr offensichtlich, aber ich bin ihr Bruder. Ich sehe so etwas.

Das sorgenfreie Lächeln, welches bis eben meine Lippen zierte, verschwindet, ohne das ich es merke.

Als würde man mir den Boden unter den Füßen wegziehen, schwebe ich in einer pappig schmeckenden Mischung aus Panik und Einsamkeit.

Hilfesuchend blicke ich zu Zukunft.

Er lächelt.
 


 


 

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OAH SCHEISSE LEUTE! Hier an dem Teil hab ich mir echt die Zähne ausgebissen... ich hoffe, man merkt es nicht so deutlich, wie ich denke, dass man es tut, aber irgendwie... das Kapitel hier war mit Abstand das schwerste, was ich zu Bloody Sunday jemals verfasst habe. Weil so wenig passiert. Offensichtlich. Unter der Oberfläche spielt sich alles ab und das herauszuarbeiten war echt ... derb XD

Richtig gut gefallen haben mir eigentlich die letzten beiden Abschnitte, wo Zukunft seinen ARsch mal wieder in die Bildfläche schwingt oder er Joshua am Schluss anlächelt.

Was hat das zu bedeuten?

Ich weiß es nicht.

Am schlimmsten zu schreiben fand ich die Stelle, wo Emily Joshua weißmacht, dass sie ihn küssen möchte. Schon klar, dass es ihr nur um das Erlebnis und nicht um die Person dahinter geht, dennoch kam mir das alles sehr schwer über die Tastatur. Als Alexander dann ins Spiel kam... dann gings wieder XD
 

Uhm, ich möchte übrigens noch etwas ankündigen. Zwei Dinge.

1. Meine Kurzgeschichte "Licht aus, Fenster zu, Crime Scene" hat den Wettbewerb vom Verlagszirkel gewonnen und wird innerhalb dieses Jahres im Machtwortverlag veröffentlicht werden.

2. Ich plane derzeit an einem neuen Projekt, welches ich anfangen möchte, wenn BBS fertig/abgeschlossen ist. Beziehungsweise während ich noch an BBS schreibe. Ich weiß, dass ist scheisse, weil ich euch mit hier dem Kapitel schon so lange hab warten lassen, allerdings.... - die Geschichte wird Ad Infinitum - Chroniken der Himmel heißen.

BBS gehört generell einmal überarbeitet... ich hab also noch viel zu tun XD
 

Gut. Genug geschwafelt.

Ich geh jetzt ins Bett.
 

Bleibt mir gewogen - und SCHREIBT KOMMIS Ò____ó mwaha. XD
 

Alles Liebe - Johnny

Kapitel 9 - Urfassung

A Bloody Sunday
 

Kapitel 9
 

Wann immer man sich wünscht, dass Zeit doch bitte vergehen möge, so bleibt sie stehen.

Ich weiß nicht, ob sie es absichtlich macht. Einfach, um einen ein wenig zu reizen und die Dauer des Aufenthaltes oder einer Tätigkeit noch weiter in die Länge zu ziehen. Ist es nicht eine stumme Folter, hervorgerufen durch die eigene Psyche?

Wenn die Zeit nur wüsste, wie gereizt ich bin. Sie würde es sich nicht wagen, mich noch mehr zu provozieren. Eingeschüchtert durch mein aggressives Auftreten würde sie den Schwanz einziehen und mich auf Händen tragen. Würde ein wenig an der Maschine herumdrehen, die dafür verantwortlich ist, dass man Tage, Stunden und Minuten als lang empfinden kann, und ich wäre schneller hier raus, als das ich den Namen meines Vaters in den Schmutz ziehen könnte. Aber da die Zeit nun einmal kein existentes Wesen ist, bin ich auch nicht in der Lage sie sonderlich zu beeinflussen. Von daher bleibt mir nichts anderes übrig, als mich wieder in meiner neuen Lieblingsbeschäftigung zu üben. Dem Warten.

So, wie die letzten Stunden, Tage, Wochen auch. An und für sich ist gegen Warten prinzipiell nichts einzuwenden, wäre es nicht so zerstörerisch und zermürbend. Mag es am ersten Tag noch beruhigend sein, aus dem Plexiglasfenster zu blicken und den Wolken beim Tanz zuzuschauen, so wird es nach einer Woche nervabtötend. Immerzu ist es der gleiche Ausblick, und so beginnt man zu grübeln. Plötzlich erscheint einem die Lage aussichtsloser, als sie es eigentlich ist. Der Hunger nimmt an Qual exponentiell zu, bis man an nichts anderes mehr denken kann.

Man kann beinahe spüren, wie sich das Eiweiß von alleine abbaut, der Körper wird, obwohl man doch abnimmt, immer schwerer. Muskeln werden verbrannt, sogar das Aufstehen fällt einem schwer.

Inzwischen bewegen wir uns ohnehin nur noch kriechend, robben über den Boden, wenn wir uns denn Bewegen, auf allen vieren. Wie ein Baby, dass es noch nicht fertig gebracht hat, Laufen zu lernen.

Die meiste Zeit sitzen wir hier und vegetieren vor uns hin, wie Tiere in ihrem Käfig.

Langsam beginnen meine Haare, auszufallen, denke ich.

Als ich heute morgen mit der Hand hindurch fuhr, hatte ich plötzlich schwarze Büschel dazwischen, welche ich desinteressiert anstarrte, und dann zu Boden fallen ließ.

Keiner hat sich die Mühe gemacht, sie fortzuräumen, sie liegen noch immer neben mir, bilden ein kleines Häufchen. Die einzige, die mit ihnen spielt, ist die Zugluft, welche durch jedes noch so kleine Loch hier herein pfeift.

Haare sind hier nicht mehr wichtig, hier, wo ohnehin kaum mehr gesellschaftliche Normen gelten. Sollten wir tatsächlich alle draufgehen, werden wir ohnehin nie wieder Haare brauchen. Also kann ich mich mit Dingen beschäftigen, die auf meiner Prioritätenliste weiter oben stehen.

Meine kleine Schwester Emily zum Beispiel.

Sie ist noch immer krank, daran besteht kein Zweifel. Allerdings hat sich, entgegen Marys Erwartungen, ihr Zustand wieder einigermaßen normalisiert. Wenn wir viel Glück haben – und bald gefunden werden, wohlgemerkt – kann es durchaus geschehen, dass sie wieder gesund wird. Klar, sie kann nicht aufstehen und sich kaum bewegen, aber es scheint doch wieder bergauf zu gehen. Und das beruhigt mich. Das beruhigt mich wirklich, denn ich weiß nicht, was ich ohne sie noch machen würde.

Es zeigt, dass in diesem furchtbaren Raum nicht zwangsläufig nur furchtbare Dinge geschehen müssen. Und, dass kein Ort der Welt eine gute oder schlechte Gesinnung aufweisen kann. Das mag lächerlich klingen, wohl wahr, aber man glaubt kaum, auf was für Gedanken man kommt, wenn man den ganzen Tag Zeit hat, sich den Kopf zu zerbrechen. Zurück zu meiner Schwester.

Emily ist der einzige Grund, warum ich noch nicht aufgegeben habe. Warum ich mich noch so anstrenge und mit letzter Kraft kämpfe. Natürlich, mit ihrer Zwillingsschwester kam ich auch immer klar, und ich liebe Lucy, wie es einer Schwester würdig ist. Mary hat sie immer bemuttert und sie, wenn es ging, verwöhnt ohne Ende. Letztendlich ist sie ein wenig arrogant geworden, eben durch Marys überschwängliche Pflege, aber so ist Lucy, und so gehört sie zu uns. Selbst, wenn unser Verhältnis nicht so eng ist, wie Emilys und meines. Auf diese Intensität wird es, denke ich, auch niemals herauslaufen.

Dazu müssten beide es wollen, und das ist nicht gegeben. Ich habe Emily, und Lucy klebt an Mary. Und Mary weicht zur Zeit nicht von Lucys Lager. Es hat sich nämlich erneut etwas verändert.

Es ist so, dass Lucy, nachdem mir neulich auffiel, wie ihr Atem sich doch verändert hat, einfach zusammengeklappt ist.

Nicht, dass sie großartig Zeichen einer ansteckenden Krankheit zeigt, nein, ganz im Gegenteil.

Sie ist bloß nicht fähig, sich großartig zu bewegen, als hätte die Schwäche angefangen, einen Kampf mit ihr zu kämpfen. Wohl wissend, dass dieses kleine Mädchen keine Chance hat.

Lucy ringt ein kleines Papierpüppchen mitten im Wind.

Deswegen haben wir sie erst einmal ins Bett verfrachtet, sie zugedeckt und weich gelagert, damit sie sich nicht wund liegt. Mary sitzt die ganze Zeit bei ihr und erzählt ihr irgendwelche Geschichten oder zitiert Verse aus der Bibel – nur weil sie nicht an einen großen, mit dem Zeigefinger wedelnden Medizinmann im Nirwana oder Himmel, oder wie auch immer man das nennen mag, glaubt, heißt es noch lange nicht, dass sie nicht über das Wissen verfügt. So, wie wir das immer eingetrichtert bekommen haben, ist es für uns das selbstverständlichste auf der großen, weiten Welt, den ganzen Kram ständig im Hinterkopf zu haben.

Es verfolgt uns im Alltag, viel zu oft werden wir daran erinnert, selbst bei absolut banalen Dingen ohne große Bedeutung. Reine Assoziation. Wir sehen eine Tomate und denken an Gott. Wir gehen über die Straße und denken an Gott. Wir schlagen unser Biologiebuch auf und denken an Gott.

Dabei gibt es doch gar keinen Gott, nicht?

Jedes Mal, wenn diese Gedankengänge in meinem Hirn ablaufen, fühle ich mich noch ein Stück einsamer als sonst, noch verlassener als sonst, als wäre ich ein Spielball der Regierung, wertlos und entbehrlich.

Sie sehen mich nur als Zahl.

Genau wie sie auch Mary, Lucy und Emily nur als Zahl sehen. Als Kostenfaktoren. Deshalb haben sie, meiner Meinung nach, auch aufgehört, nach uns zu suchen. Selbst, wenn sie uns finden würden, würden wir in ein Heim kommen. Kosten verursachen.

Als hätte der Staat kein Geld, um das alles hier zu regeln.

Jeder denkt nur noch an sich, wir leben in einer Art Timokratie und die Politiker sind die mit dem größten Wohlstand. Wie soll es da noch möglich sein, sich in die Wünsche und Ängste des Volkes einzufühlen, wenn man selbst kaum mehr welche hat? Es ist unglaublich, wo wir gelandet sind – früher wäre so etwas sicherlich niemals möglich gewesen.

Niemals.
 

„Ach Joshua, schau doch mal aus dem Fenster.“

Wie ein vergnügtes kleines Kind lässt meine Cousine sich neben mir auf den Boden sinken und tippt mit der Fingerspitze ihres rechten Zeigefingers an die Scheibe aus Plexiglas. Gelangweilt folge ich ihrem Finger mit den Augen, frage mich ganz nebensächlich, was sie so zu begeistern scheint. Sie kümmert sich momentan nicht um Lucy, die Bibel liegt zugeklappt auf einem Kissen neben dem notdürftig präparierten Lager. Meine kleine, kranke Schwester liegt dort, eingewickelt in diverse Laken und schläft. Engelsgleich.

Ich hoffe jedenfalls, dass sie es tut. Alles andere wäre absolut katastrophal.

Von dem Ort, an dem ich sitze, kann ich ihr puppengleiches Gesicht sehen, ganz weich und wachsfarben. Der Anblick dieses maskenhaften Schemas raubt mir nahezu den Atem, während ich spüren kann, wie sich in meinem Hals so ziemlich alles zusammenzieht. Ist es Angst?

Ich weiß es nicht. Viel zu oft schon hatte ich Angst in meinem Leben, das ein oder andere Mal auch Todesangst, doch dieses Gefühl unterscheidet sich von allen anderen.

Abschied vielleicht? Ist es eventuell so, dass ich tief in mir drin schon längst verstanden habe, dass es keinen Ausweg mehr gibt? Vielleicht. In mir hat sich das Gefühl manifestiert, nicht mehr wirklich zwischen Realität und Phantasie unterscheiden zu können. Woher soll ich denn wissen, dass dies alles wirklich geschieht und kein Traum ist, genau genommen ist es unklar. Sicherlich senden einem die Sinne Signale ans Hirn, die dafür sorgen, dass man die Umwelt wahrnimmt.

Aber kann dies nicht eine große Täuschung sein?

Und ist das Leben nicht eigentlich nur ein großes Sterben?

Wir sitzen hier wie im Wartesaal des Todes. Als hätten wir eine Nummer gezogen und würden nun hier sitzen, genervt, weil es in öffentlichen Gebäuden immer so langsam voran geht und wir keine Zeit zu verlieren hätten. Als könnten wir es kaum erwarten, dass man uns aufruft, damit auch wir endlich die Erlösung erfahren.

Damit sich endlich das große Geheimnis lüftet, welches sich schon seit Anbeginn der Zeit um den Tod rankt.

Wieder versinke ich in meine aufkeimende Melancholie, habe Marys Hinweis, dass ich doch bitte einmal meinen Blick aus dem Fenster zu wenden habe, schon beinahe vergessen, da stupst sie mich an und zeigt mit dem Finger hinaus. Erneut.

Schweigend folge ich ihrem Blick und erstarre, als die ersten sattgelben Strahlen auf mein blasses und ausgemergeltes Gesicht fallen. Ich bin geblendet von Schönheit.

Es muss einer der ersten richtig sonnigen Tage in diesem Jahr sein. Die Wolken sind aufgerissen und der Himmel schimmert in einem zarten rosa, gemischt mit Tönen von Orange. Ich kann die Wärme beinahe auf meiner Haut fühlen, fühle, wie die Sonnenstrahlen in mich, mein Herz eindringen und es zum leuchten bringen. Ein unbeschreibliches Gefühl, so erfüllend und zerbrechlich zugleich.

Man kann die Freiheit beinahe schmecken und doch ist für uns nahezu unerreichbar. Warme Schauer ziehen sich über die ganze Haut, dabei ist es noch Winter, gelegentlich schneit es, es ist immer noch ziemlich kalt hier drin – auch, wenn wir uns an die Kälte inzwischen gewöhnt haben – aber der Anblick dieser silbernen, goldenen Strahlen überzeugt einen sehr schnell vom Gegenteil. Als sei man von Gott, geküsst worden, als wolle er einem zeigen, wie wunderschön die Umgebung ist. Wie wunderschön und lebenswert das Leben doch ist. Natürlich gibt es keinen Gott. Ich jedenfalls glaube nicht daran. Und selbst wenn es ihn gäbe, würde ich ihn genau für diese Aktion, dafür, dass er mir zeigt, wie großartig Existenz doch ist, abgrundtief hassen.

Mary scheint nicht zu bemerken, was gerade in meinem Kopf vor sich geht. Vollkommen fasziniert schaut sie hinaus, saugt die ganzen Eindrücke auf wie ein Schwamm, der zu lange in einem staubigen Regal gelegen hat und nun zum ersten Mal seit Jahren mit Wasser in Berührung kommt.

Die Hand, ihre linke, schlanke, milchweiße Hand liegt zitternd auf ihrem Knie auf, lässt den Stoff des Rockes, welcher ihr nun inzwischen schon um vieles zu groß ist, Falten und Dellen werfen, ein paar Strähnen des blonden Haares fallen ihr schwer und fettig ins Gesicht.

Und dennoch. In meinen Augen gehört sie immer noch zu den schönsten und stärksten Personen, die ich jemals kennen lernen durfte. Jemand, der zu seinem Wort steht, egal, wie hart es auch kommen mag. Es tut einem in der Brust weh, sie so machtlos zu sehen. Als habe man ein wildes Tier in einen Käfig gesperrt, den Schlüssel weggeworfen und die Geburtsurkunde vernichtet. Die augenscheinliche Existenz wurde vernichtet, doch nur zum Schein.

Als die Strahlen ihr Gesicht erreichen, ihr verschmutztes und staubiges Gesicht, lächelt sie.

Lange ist es her, es scheint mir, als seien Jahre vergangen, seit ich so etwas faszinierendes wie dies das letzte Mal gesehen habe. Seit Wochen habe ich nur Leid und Trauer um mich herum. Angst. Verzweiflung.

Auch, wenn es Lucy so schlecht geht, und Emily auch.

Gerade im Moment lösen sich alle meine Sorgen in kleine, rosa Wölkchen auf.

Als würde man uns freilassen aus diesem Käfig, mit neu ausgestellten Urkunden. Man meint, man sei gerade neu geboren worden.

„Weißt du noch?“, fragt sie plötzlich und der raue Klang ihrer Stimme scheint ausgelöscht. Sie ist so weich und zart, so sanft wie früher, als sei nie etwas schreckliches in ihrer Vergangenheit geschehen.

Das Lächeln auf ihren Lippen wird blasser, doch es bleibt. Es scheint überdeckt zu werden von Erinnerungen, von Dingen, die lange zuvor geschehen sind und nun hervorbrechen in einem Schwall von Emotion.

„Weißt du noch, als Emily und Lucy die Windpocken hatten? Rachel und Alexander hatten uns eine Woche allein gelassen, ohne uns zu sagen, wo sie hin sind.“

“Vor zwei Jahren“, antworte ich und wende meinen Blick nicht vom Winterhimmel ab. Dieses Aufleuchten der Natur scheint jede technische Errungenschaft zunichte zu machen.

„Ich war fünfzehn, du dreizehn. Alexander hat Rachel mit sich genommen wie eine Puppe, die man herumzeigen muss. Dabei hatte er nur Angst, dass sie ihn verließ.“

Zurecht hatte er Angst gehabt. Hätte er Rachel bei uns gelassen, so wären wir in dieser Woche geflohen und hätten uns ein neues Leben aufgebaut, ganz frei von jeder psychischer und physischer Gewalt. Was wäre das schön gewesen.

Gewusst hatte er es. Es war nicht die Befürchtung gewesen, dass wir ihn verlassen würden, es war die Tatsache, dass er es wusste, warum er sie mitnahm. Immerhin war Alexander nicht dumm, er war hochintelligent. Genau das machte ihn ja, mitsamt seiner Alkoholsucht, so gefährlich.

„Wir saßen im Wohnzimmer am Fenster, weil der Fernseher kaputt gegangen ist. Weißt du noch?“

Ich nicke schwach. Er ist noch immer kaputt. Und wir haben noch immer keinen neuen.

„Der Himmel sah genauso aus wie jetzt“, flüstere ich von plötzlicher Erinnerung heimgesucht und fahre mir durch die Haare. Ein neues Büschel fällt zu Boden und ich seufze leise, scheinbar getroffen von dem plötzlichen Verlust.

Als eine plötzliche Erinnerung in mir aufkommt, breche ich in Gelächter aus. Es ergreift mich einfach, ich kann nichts dagegen tun. Ganz unerwartet winde ich mich vor Lachen und halte mir den Bauch, schnappe nach Luft und blicke zu meiner Cousine, welche ganz irritiert schaut.

„Und du wolltest an dem Tag spülen, Mary!“, presse ich unter ein paar heftigen Seufzern hervor und kann sehen, wie sich ihre Miene aufhellt.

„Du hast das Wasser aufgedreht, bist kurz aus der Küche geschlichen, und als du wiederkamst, stand alles unter Wasser. Meine Güte, wie sich der Vermieter aufgeregt hat. Wie lange wir gebraucht haben, alles wieder trocken zu bekommen! Und das nur, weil wir dieses eine kleine Loch im Küchenboden haben.“

Auch meine Cousine stimmt in das Gelächter ein. Etwas vollkommen banales, doch so positiv, dass wir, ausgehungert nach Unbeschwertheit, uns den gesammelten Stress von der Seele lachen.

Der Anfall dauert nicht lange.

Doch als er vorüber ist, muss ich mir Tränen aus den Augenwinkeln wischen und benötige einige Sekunden, um mich wieder zu fangen. Es ist doch anstrengender, als man vermutet. Zu lachen, wenn man seit Wochen keinen Bissen mehr zu sich genommen hat.

Aber es fühlte sich so göttlich an. So fröhlich, so frei, so unbeschwert und glücklich. Als hätte man sich eine Ampulle Heroin in den Arm gerammt und abgedrückt. So muss es sich anfühlen, genau so.

Ich bin mir sicher. Es ist das schönste Gefühl, was ich kenne und es so heftig zu erleben, ist eine wahre Wohltat für Körper und Geist.

Mary scheint es ähnlich zu gehen. Verblüfft und verschmitzt über den Verlust ihrer Selbstbeherrschung zupft sie sich an ihrem Rock herum, spielt an dem Verschluss ihrer Stiefel. Sie kann sie gar nicht so eng schnüren, dass sie noch passen. Sie sind inzwischen um einiges zu weit.

Dennoch muss ich über ihre Reaktion schmunzeln. Sie ist so typisch für sie. So typisch für meine Cousine. Immer schön Fassung bewahren, bloß nichts an Gefühlen nach außen dringen lassen. Immer Herr der Lage bleiben und schön darauf achten, dass auch alles so läuft, wie es geplant ist.

Ein leises Röcheln holt uns schlagartig zurück in die Realität. Es ist, als habe uns ein Blitzschlag getroffen. Er lässt Mary und mich aufblicken, ohne zu zögern hinüber zu Lucys dürftigem Bett.

Rascheln von Kissen und Laken. Das Mädchen dreht sich auf ihrem Lager und ein leises Husten verlässt ihre Lungen, so trocken.

Meine Unbeschwertheit verfliegt, das Glück zerfällt zu Staub. Sofort holt mich der Trott unseres Alltags wieder ein, legt seine Arme um mich und zerrt mich zurück, ganz nach unten, an die letzte Stufe der Gesellschaftshierarchie. Es ist ernüchternd.

„Mary“, murmele ich und lehne mich vorsichtig an die Wand. Jeden Knochen kann ich spüren, merke deutlich, wie meine Wirbelsäule an der kalten Wand schubbert. Es ist nicht wirklich angenehm, aber um einiges angenehmer, als selbstständig zu sitzen.

„Das hier ist unsere letzte Zeit miteinander und wir vergeuden sie in diesem schäbigen Loch.“

Wie boshaft, wie kalt diese Worte aus meinem Munde klingen. Viel unterkühlter, als eigentlich beabsichtigt. Und dennoch. Es ist die Wahrheit. Meine Worte verfehlen ihre Wirkung nicht.

Der blonde Rebell den ich meine Cousine nenne, wirft mir aus den Augenwinkeln einen argwöhnischen Blick zu.

„Unsere letzte Zeit miteinander?“

Sie räuspert sich und atmet tief durch. Sie zittert. Vorsichtig zieht sie die Jacke enger um ihren geschundenen Körper und lässt mich nicht aus den Augen.

„Ja, unsere letzte Zeit miteinander. Selbst, wenn wir hier herauskommen sollten. Wenn sie uns finden sollten. Wir werden in ein Kinderheim kommen. Wenn wir Glück haben, werden Emily und Lucy schnell adoptiert. Wahrscheinlich werden wir den Eltern schon zu alt sein. Siebzen und fünfzehn, da geht das nicht mehr so einfach. In der Regel bemüht man sich ja darum, Geschwister zusammen zu vermitteln. Aber wir sind zu viert, Mary, und wir zwei haben schon einiges auf dem Kerbholz. Sie werden alles tun, um wenigstens uns zwei voneinander fernzuhalten. Und von Emily und Lucy.“

„Also ist es eigentlich egal, wie es ausgeht.“

Man könnte meinen, sie resigniert, aber dies ist nicht der Fall. Vielmehr lauscht sie meinen Worten, analysiert den Kern der Aussage und übernimmt, womit sie übereinstimmt und verinnerlicht, was für sie von Nutzen sein könnte. Ein leises, beinahe lautloses Seufzen kommt über ihre Lippen und bringt mich beinahe dazu, ihre Hand zu ergreifen. Dennoch lasse ich es bleiben. Ich möchte mich nicht bewegen. Ich möchte einfach hier sitzen bleiben und die körperliche Ebene vollkommen hinter mir lassen.

„Es ist egal wie es ausgeht, weil wir ohnehin getrennt werden. Joshua… das würde bedeuten, wir verlieren die einzigen Personen, die uns verstehen?“

„Das wäre durchaus möglich, ja. Es ist traurig, und schmerzhaft, aber es sieht ganz danach aus. Aber der Kontakt wird nicht abbrechen. Dafür sorge ich. Zerbrich dir nicht den Kopf.“

Unwillkürlich erscheint ein schwaches Lächeln auf meinen Lippen. Ich habe mich schon, über die vergangenen Tage und Wochen, mit diesem Gedanken auseinandergesetzt. Mich daran gewöhnen können. Für Mary scheint es ganz neu zu sein, als ob sie noch keine Sekunde an diese Idee verschwendet hätte. Jedenfalls spricht ihre Reaktion dafür.

„Es ist eine Schande, dass es ausgerechnet uns trifft, Joshua“, fährt sie dann fort und löst das Haargummi aus ihren Haaren, bindet sie neu zusammen und schüttelt anschließend abwehrend den Kopf.

„Währen wir in einer anderen Schicht geboren, gehörten wir zur Elite des Landes. Man würde uns verhätscheln und vertätscheln und unsere Leistungen würden anerkannt werden.“

Ähnlich wie ich war auch sie eine exzellente Schülerin. Intelligenz ist uns beiden eigen, mehr, als es bei den meisten der Fall ist. Interessiert hat es dennoch keinen. Zwar mag ich auf einer Privatschule gewesen sein, jedoch wurde diese durch Spenden der wohlhabenderen Eltern finanziert, damit auch Schüler aus ärmeren Schichten – arme Seelen wie ich zum Beispiel – eine Chance auf angemessene Bildung hatten.

Hatte man kein Geld, hatte man dort nichts zu sagen. Das war schon immer so, und es wird wahrscheinlich auch immer so bleiben.

Am besten, man gewöhnt sich daran, keine Aufstiegsmöglichkeiten in die Elite zu haben. Möchte man, mit unseren Wurzeln, an Geld, Macht und eine gesicherte Existenz kommen, so geht man am besten in den Untergrund. Hier kennt man noch Loyalität und Kameradschaft, trinkt zusammen Bier, während die reichen ihren Schampus schlürfen und sich gegenseitig misstrauisch beäugen.

Schwach mit den Schultern zuckend kommentiere ich ihre These. Man könnte, so wie ich mich gelegentlich gebe, meinen, mir sei alles gleichgültig, aber das ist nicht der Fall. Wenn man sich mit seiner Umgebung nicht beschäftigt, kann man meiner Meinung nach gleich einpacken und sich einsargen lassen.

„Ja, ich weiß. Es ist immer noch am besten, du suchst dir einen wohlhabenden Mann und heiratest, Mary.“

Es ist kein Witz. Vernunftehen sind, im Gegensatz zu vergangenen Zeiten, ganz groß im Kommen. Frauen wünschen sich wieder soziale und finanzielle Sicherheit. Männer wünschen sich Sex und Nachkommen. Was läge da also näher als eine Vernunftehe?

Natürlich wird mein Vorschlag lediglich mit einem trockenen und leicht böse wirkenden Blick kommentiert, so, als sei meine Behauptung nicht ernst gemeint. War sie aber. Vielleicht werde ich es ja auch so machen. Denn ich gehörte bislang zu den Personen, die lediglich schwach schmunzeln konnten, wenn die Klassenkameraden – die meisten sind ein bis zwei Jahre älter als ich – von Mädchen anfingen.

Nein, ich brauch diese Hurerei nicht. Ich habe meine Schwester, das reicht mir.

Momentan habe ich keinen größeren Wunsch, als das sie wird wieder gesund wird, denn ich wüsste nicht, wie ich reagieren würde, würde sie hier oben sterben. Am besten denke ich gar nicht erst daran.

„Wenn wir doch nur wüssten, was mit Lucy ist“, seufzt Mary plötzlich und wechselt ganz unvorhersehbar das Thema. Ich brauche einige Sekunden, um ihr zu folgen, blicke sie ein paar Momente lang leicht verwirrt an und zucke mit den Schultern, als ich endlich geschaltet habe.

„Meinst du wirklich, wir könnten ihr dann helfen?“

Ein spöttischer Unterton klingt in meiner Stimme mit, kaum zu überhören.

Natürlich.

Durchkramen wir die Kisten im Badezimmer und verbessern ihren Zustand mit einem Schuhlöffel und einem Haufen alter Comics! Das wäre ungemein hilfreich für das gesundheitliche Wohlbefinden meiner kleinen Schwester, sicherlich. Wie ungemein überzeugend dieser Vorschlag doch ist.

Mary jedoch schnauft lediglich und verschränkt die Arme vor der knöchrigen Brust, zieht die Beine ein wenig näher an den Körper heran und legt ihre Stirn darauf.

Wir brechen das Gespräch ab.

Wir können nichts tun, und das weiß Mary auch ganz genau. Wir bräuchten Medikamente, sauberes Wasser und etwas mehr Speck auf den Rippen. Gerade, weil dies so eklatant ist, gibt es auch nichts mehr, was wir weiter besprechen könnten, nein. Da gibt es nichts mehr zu besprechen.

Schweigend lasse ich den Blick durch den Raum gleiten, bleibe kurzerhand an Lucy hängen, welche noch immer zu schlafen scheint und stocke plötzlich. Es ist nicht verwunderlich, dass die Ecke, in der Lucy ihr Lager gefunden hat, dunkler ist als der Rest des Panic Rooms. Er liegt relativ weit von dem einzigen Fenster entfernt, so das ihn kaum Lichtstrahlen erreichen. Das sie aber so düster, beinahe schwarz ist, hätte ich nicht erwartet. Als würde ein zusätzlicher Schatten an der Wand kleben, ihren schmuddeligen Grundton überdecke mit einer weiteren Schicht Farbe.

Verwundert lege ich den Kopf schief, löse mich von meiner Position und hocke mich hin. Die Beine an den ausgemergelten Körper gezogen, die Arme darum geschlungen. Mir ist kalt und ich kann die Knochen durch die Haut fühlen, aber gerade ist es mir möglich, dies zu ignorieren, während ich meine inzwischen zu groß wirkenden Augen auf das dezente Schauspiel vor mir richte. Natürlich weiß ich, dass dies ungewöhnlich ist. Wo eine Lichtquelle ist, kann kein Schatten sein. Und doch bewegt sich das dunkle Grau an der Wand, flackert, tanzt und dreht sich wie eine junge, lebenslustige Frau auf einem Fest. Ganz zart und zerbrechlich wirkt es, während es wächst, nun nicht mehr nur die Wand einnimmt, sondern auch die Decke, über die es nun auf uns zugleitet. Ich lege den Kopf in den Nacken, und als es direkt über mir ist, bleibt es plötzlich stehen.

Es ist wunderschön. Aber es jagt mir eine verdammte Angst ein. Eine Gänsehaut huscht über meinen Rücken, und plötzlich ist sie wieder da. Diese verdammte Kälte.

„Mary?“, flüstere ich leise, beinahe lautlos, lecke mir über die aufgesprungenen Lippen und starre sie so lange an, bis sie reagiert. Als könne sie meinem Tonfall entnehmen, dass etwas nicht stimmt, hebt sie die Augenbrauen und wartet darauf, dass ich mich ihr mitteile.

Stattdessen hebe ich die Hand und deute mit dem Zeigefinger auf den dunklen, zuckenden Fleck über mir, welcher augenblicklich erstarrt.

„Was ist das?“

Ein paar Sekunden schweigt sie mich an, dann verzieht sich ihre Mimik erneut. Was bleibt, ist eine besorgte, beunruhigte und ängstliche Fratze. Das Gegenteil meiner wunderhübschen Cousine.

„Die Decke, Joshua?“

Der trockene Tonfall, den sie mir die letzten Tage entgegenbrachte, ist verflogen. Übrig geblieben ist lediglich ein kleines, verunsichertes Mädchen, dass nicht mehr weiß, ob ihr Cousin alle Tassen im Schrank hat.

Ich rolle mit den Augen und blicke durch den Raum.

„Nein, Mary, dieser schwarze Schatten. Er ist hier überall, nun schau doch mal hin, siehst du ihn denn nicht?“

Es folgt ein schwaches Kopfschütteln ihrerseits, während sich meine Lippen zu einem dünnen, fast unsichtbaren Strich zusammenziehen. Als ich den Mund aufmache, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie augenscheinlich blind ist, rutscht sie ein wenig von mir weg. Mir bleibt der Satz im Hals stecken und die unbeschreibliche Wut, welche so plötzlich wie feurig in mir hoch kocht, kann ich nur mit Mühe beherrschen.

Um die Kontrolle über mich nicht zu verlieren, wende ich mich von ihr ab und schaue hinüber zu Lucy. Die Decke ist von ihrem dünnen Körper heruntergerutscht, entblößt ihren schlanken, langen Hals. Der Mund, früher rosig, jetzt weiß und blass, steht ein paar Millimeter offen. Dann verfärbt sich ihr Hals dunkel. Erst ganz unscheinbar, so das ich nicht sicher war, ob sich dort überhaupt etwas tut. Dann aber sind die Würgemale nicht mehr zu übersehen. Ein schwaches Stöhnen verlässt Lucys Kehle, mein Herz setzt für einen Schlag aus.

Das der Tod nach uns greift, ist schon lange nichts neues mehr. Und wenn man uns ansieht, begreift man, dass wir schon längst am Sterben sind. Sterben ist ein langer, qualvoller Prozess, der bereits beginnt, wenn man geboren wird. Du lebst, um irgendwann zu sterben. Egal, wie sehr du dich auch wehrst, du kannst nichts dagegen tun.

Mir ist ebenfalls klar, dass der Tod nicht in schwarzer Kutte mit Sense zu uns kommen wird, um uns mitzunehmen.

Zitternd atme ich tief ein, dann erhebe ich mich, schwach, schwankend. Als hätte man mich irgendwo heruntergeworfen, zischt Adrenalin durch meine Adern, blanke Panik. Wie ein Kaninchen im Angesicht des Löwen stehe ich dort und weiß nicht, was ich tun soll.

Waren die Male an dem Hals meiner Cousine zu Beginn Rosa, so sind sie nun schwarz. Pechschwarz. Und der Schatten an Wand und Decke dunkelt mit.

Ist es wirklich möglich, dass Mary von all dem nichts bemerkt? Kann ich etwas bewirken, wenn ich zu meiner Schwester gehe und sie wachrüttele? Oder wenn ich dieses unbekannte, körperlose Wesen anschreie, sie in Ruhe zu lassen?

Ein schwaches Lächeln zuckt über meine Lippen. Natürlich würde es nichts bewirken. Nein. Es liegt auf der Hand, dass ich gegen eine solch große Macht keine Chance habe.

Meine Kehle ist wie zugeschnürt, ich schwanke zurück und pralle gegen die Wand, Tränen in den Augen. Panisch, schockiert.

Die Badezimmertür klappert und reißt mich aus meiner Starre. Als ich herübersehe, steht dort Zukunft. Wortlos streckt er die Hand aus, als habe er vor, die Tür zu öffnen, dann geht er einfach durch sie hindurch, körperlos, wie er ist.

Zukunft. Meine letzte Hoffnung, mein Fels in der Brandung. Ich muss zu ihm, also wende ich mich ab und reiße mich zusammen.

Mary nicht weiter beachtend, schleiche ich an diesem grauenhaften Schauspiel vorbei, wie ein kleines Mädchen an einer großen Spinne, die Angst im Nacken. Gott, mir ist so kalt.
 

Zukunft sitzt auf dem Boden, als ich das Badezimmer betrete und die Tür leise hinter mir schließe. Direkt neben dem Waschbecken sitzt er, vor ihm steht eine unserer wenigen Kerzen. Angezündet. Die gelbe Flamme wirft schwaches Licht durch den Raum, erhellt ihn jedoch nicht wirklich. Sparsam hatten wir mit den Kerzen umgehen gewollt, damit sie möglichst lange reichten. Und nun hatten wir kaum eine verbraucht.

Ich beginne, auf ihn einzureden. Rede, rede, rede. Ohne Punkt und Komma, ohne wirklich zu registrieren, dass ich rede. Womit ich ihn zutexte - ich weiß es nicht. Irgendwie stehe ich neben mir. Es muss mit Lucy zu tun haben. Sicher.

„Stirbt sie, Zukunft?“, flüstere ich ab einer gewissen Stelle immer wieder, als habe sich die Schallplatte meiner Sprache aufgehängt. Der junge Mann vor mir, der mir doch so ähnlich sieht, zeigt keinerlei Reaktion.

„Stirbt sie, Zukunft?!“

Wieder nichts. Ein Schluchzen entweicht mir, rüde wische ich die Tränen von meinen Wangen. Es kann nicht sein, dass er mich nicht beachtet, dass er mir keine Antworten schenkt, wo er mir doch sonst mit Rat und Tat zur Seite steht.

„Zukunft!“

Für einen Moment kann ich gar nicht glauben, dass es sich dort um meine Stimme handelt, die sich so extrem überschlägt. Es klingt wie das Gebrüll eines gefangenen Tieres, eine Pfote in der Bärenfalle, auf der Suche nach Hilfe. Zukunft hebt die Hand, bedeutet mir, zu schweigen. Ich atme durch, registriere aber nicht wirklich, dass Luft in meine Lungen strömt. Mir wird schwindelig, ganz schwach fühle ich mich, als wäre mein Körper eine Puppe und meine Seele nicht wirklich daran gebunden.

Der junge Mann, welcher mir so ähnlich sieht, streicht Emily mit der flachen Hand mehrmals über das nussfarbene Haar. Mir fällt erst da auf, wie mitgenommen er ausschaut. Seine Augen sind blutunterlaufen, Salzkrusten auf seinen Wangen. Er hat geweint? Das feine, weiße Haar fällt nicht so glatt, wie ich es von ihm gewohnt bin. Ungekämmt wirkt es, als währe er mit den Fingern vor Nervosität oft hindurch gefahren. Vielleicht hätte mich dies beruhigen sollen. Aber stattdessen bestätigte mir sein Erscheinungsbild lediglich, dass etwas nicht stimmte.

Emily rührt sich nicht. Ihre Stirn glänzt schweißnass, die Augen sind geschlossen, die Decke reicht ihr bis zum Halse. Keine Male. Ein erneuter Adrenalinschub.

„Ist sie… tot?“, frage ich mit brüchiger Stimme, jeden Moment damit rechnend, dass mir die Beine ihren Dienst versagen. Er schüttelt den Kopf, und ich falle auf die Knie, krieche ein wenig näher an ihn heran und greife nach seinem Arm. Seine Augen heften sich auf mich, distanziert, aber schmerzvoll, als habe er alles bereits erlebt.

„Bitte Zukunft“, stammele ich, während ich verzweifelt versuche, mein Schluchzen zu unterdrücken.

„Bitte hilf Lucy. Lass sie nicht sterben, bitte, nicht jetzt, es wird doch nicht mehr lange dauern, bis man uns findet, ich bin mir sicher. Es kann nicht mehr lange dauern, oder?

Und Emily, sie wird es schaffen, nicht wahr? Ihr Zustand hat sich die letzten Stunden kaum verändert, sie hält schon durch. Aber bitte, bitte rette unsere Schwester.“

Sein Blick ist nicht einzuordnen, die rotgrauen Augen so kalt. Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht und verleiht der ganzen Situation etwas lächerliches.

Dann greift er nach meiner Hand, löst sie von seinem Arm und richtet sich auf.

„Es wird nicht mehr lange dauern, ja“, murmelt er dann, klopft mir, wie Kameraden im Militär, auf die Schulter, und verlässt den Raum. Ich bin derjenige, der zurückbleibt, zitternd und weinend, wie ein kleines Kind. Jemand, dem man den Boden unter den Füßen entrissen hat.
 

Ob Emily wohl wirklich wieder gesund werden wird? Immer und immer wieder lasse ich meine knochigen Finger durch ihr Haar fahren. Es fühlt sich an wie Stroh, so hart und brüchig ist es geworden. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass es früher einmal weich wie Seide war und glänzte, als wäre es aus purem Gold. Ihre Haut wie Milch und die Augen voller Leben. Nichts hat ihren Lebenswillen brechen können.

Sie ist das wunderschönste, was jemals unter meine Augen gekommen ist. Und nun sieht sie aus, als hätte man all das Leben mit Baseballschlägern aus ihr heraus gedroschen.

Es muss irgendwo irgendjemanden geben, der uns hier heraus hilft, da bin ich mir sicher. Das diese ganze Tortur ein Produkt des Zufalls gewesen sein soll, geht mir nicht in den Schädel. Nein. Selbst, wenn ich nicht an so etwas wie Schicksal oder Karma glaube, so bin ich doch davon überzeugt, dass dies alles einen Zweck hat. Selbst, wenn wir nur daran wachsen sollen, es hat einen Zweck.

Vorsichtig hauche ich ihr einen Kuss auf die Stirn, ganz vorsichtig, auch, wenn ich mir nicht sicher bin, ob sie es überhaupt bemerkt. Dann verlasse auch ich den stickigen, kleinen Raum.
 

In meiner Abwesenheit hat sich nicht sonderlich viel verändert. Mary sitzt noch immer an der Stelle, an der ich sie zurückgelassen habe, die Beine an den Körper gezogen. Ihre Schuhe sitzen so locker am Schaft, dass ich mich wundere, warum sie die nicht längst verloren hat.

Ihr Gesicht ist aschfahl, und immer wieder fährt sie sich mit den Fingern durch ihre strähnige, blonde Löwenmähne. Um sie herum liegen Strähnen gleicher Farbe. Von Zukunft fehlt jede Spur.

Die Ecke, in der Lucy liegt, ist wieder von normaler Helligkeit erfüllt, nichts deutet mehr darauf hin, dass sich eben solch ein grusliges Spektakel abgespielt hat. Auch die schwarzen Flecken an ihrer Kehle sind verschwunden, sie hat ihre Haltung geändert und schläft, als sei sie ein wahrhaftiger Engel.

Im Geiste danke ich Zukunft, schnell, mehrmals, und hocke mich zu Mary.
 

„Mit wem hast du geredet?“, flüstert sie und blickt mich aus ihren großen Glubschaugen an, verschränkt die Arme vor dem Oberkörper und seufzt, als wiege ihr Herz Tonnen.

„Mit niemandem. Wie geht es Lucy?“

„Gut. Sie hat eben im Schlaf ein paar Mal gestöhnt, aber nun ist sie wieder ganz ruhig.“

Sie lässt den Blick wieder sinken, mustert die hölzernen Bodendielen. Als ich sie in den Arm nehme, ihr mit den Fingerspitzen über den Rücken streiche, um ihr ein wenig Trost zu spenden, zeigt sie kaum eine Reaktion. Ihre Ärmchen, die sich um meinen Körper legen, haben so gut wie kein Gewicht. Wie Fliegenbeine auf nackter Haut fühlen sie sich an.

„Es wird alles gut, hörst du?“, flüstere ich und kann fühlen, wie sie nickt, wie sich ihr Kinn messerscharf in meine Halsbeuge bohrt. Ein wenig zucke ich zusammen, immerhin war ich nicht auf den Schmerz vorbereitet, und löse mich von ihr. Augenblicklich gleitet sie zurück an die Wand, mit Gliedmaßen, die an Spinnenbeine erinnern, starrt ins Nichts und schweigt.

Ich hingegen krieche zu meinem Stammplatz. Dem Plexiglasfenster, verschränke die Arme auf dem kleinen Vorsprung, dem Fenstersims, und bette meinen Schädel darauf. Starre hinaus, mustere alles, was mir inzwischen so fremd geworden ist. Die Freiheit, frische Luft. Wind.

Zur zeit regnet es draußen, Bindfäden suchen sich zielstrebig ihren Weg zu Boden und verharren dort. Werden eins. Wie gern würde ich hinaus zu den anderen, aber mehr als mit den Fingerspitzen gegen die Fensterscheibe tippen kann ich nicht.

Ich fühle mich wie Rilkes Panther im Jardin des Plantes. Matt und zerrüttet.

Kleine Flüsterstimmen hauchen mir die Zeilen des Gedichtes, welches ich vor langer Zeit einmal auswendig lernen musste, immer und immer wieder ins Ohr, so real, dabei bin ich, trotz der Anwesenheit von Lucy und Mary, allein. Als hätte ich zwei kleine Mädchen neben mir, die dieses Gedicht ständig rezitierten. Zwei kleine Mädchen in meinem Kopf, nur für mich existent, für die anderen Schall und Rauch.
 

Sein Blick ist im Vorübergehen der Stäbe

so müde geworden, dass er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt.
 

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein großer Wille steht.
 

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

sich lautlos auf - Dann geht ein Bild hinein,

geht durch der Glieder angespannte Stille -

Und hört im Herzen auf zu sein.
 

Man fühlt sich gleich so beobachtet, so verfolgt. Und doch rühre ich mich nicht, lausche, wie man mir die schon so lang bekannten Zeilen immer und immer wieder vorflüstert. Die Stimmen klingen wie die meiner Mutter, wenn sie mir früher im Bett eine Geschichte vorlas, damit ich besser schlafen konnte. Damals war ich noch keine acht Jahre alt, nein. Ich erinnere mich schon gar nicht mehr, worum die Geschichten damals gingen. Und doch weiß ich, dass ich jeden Abend wie gebannt an ihren Lippen hing, obwohl ich den Text der Märchenbücher schon beinahe auswendig konnte.

Was für eine wunderbare Frau sie einst war. Und wie gierig kleine Kinder doch nach Aufmerksamkeit sind. Die beruhigende Wirkung jedenfalls haben ihre Worte bis heute nicht verloren. Sie lullen mich ein und stoppen mein Grübeln, wiegen mich in trügerischer Sicherheit.
 

Als ich erwache, brauche ich ein paar Momente, um zu registrieren, wo ich mich befinde. Es muss mitten in der Nacht sein, inzwischen ist es dunkel geworden. Nur eine Kerze erhellt schwach die Kammer, die wir gleichzeitig unser Zuhause und Gefängnis nennen. Ein Detail, welches mich die ersten paar Sekunden annehmen lässt, wieder bei Emily zu sein. Eine falsche Annahme. Natürlich, was auch sonst.

Ein Blick hinaus aus dem Plexiglasfenster, hinaus auf die beschäftigten Straßen der Stadt, gibt mir letztendlich meine Orientierung zurück.

Mit einem leisen Seufzer korrigiere ich meine Haltung und stelle fest, mein Hintern, oder zumindest das, was von ihm übrig ist, ist taub. Spitze kleine Nadelstiche bringen mich dazu, meine Haltung zu ändern und mich hinzuknien. Ich gähne, strecke mich. Wische mir mit dem Handrücken über die müden Augen und lasse sie anschließend durch den Raum wandern.

Ich kontrolliere die Lage, wie ich es immer tue, wenn ich erwache. Mary hat sich inzwischen auf den Kissenberg gelegt, eines der dünnen Laken über ihren ausgemergelten Körper gezogen und ist eingeschlafen. Inzwischen bin ich mir meistens nicht einmal mehr sicher, ob meine Verwandten nur schlafen oder ob sie schon längst tot sind. Die Wangen und Augen sind so eingefallen, der Hals schlank. Durch die Decke selbst zeichnen sich bereits die Knochen ab. Und so halte ich die Luft an, bis ich mir sicher bin, zu sehen, wie der dünne Stoff sich hebt und senkt. Tote atmen bekanntlich nicht, selbstständige Atmung, ein Beweis des Lebens.

Das Licht kommt aus Lucys Richtung. Oder zumindest aus der Nähe des gepolsterten Fleckchens, welcher Lucys Aufenthaltsort markiert. Zukunft sitzt neben ihr, den Blick schweigend auf sie geheftet, die Hände in den Schoß gelegt. Er sitzt nicht gerade, viel mehr hängen die Schultern ein wenig vornüber. Als hätte man die Haltung, die ihn immer so prägte, einfach hinfort gewischt.

Ihn so zu sehen, macht mir Sorgen, auch, wenn ich mir nicht sicher bin, ob Zukunft real ist. Ich glaube fest daran. Immerhin hat er mir geholfen, den Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit aufzunehmen. Immer, wenn ich kurz davor war, aufzugeben, war er da. Und auf jede Frage, die ich ihm stellte, hatte er eine passende Antwort für mich. Aber ich hegte schon immer einen Zweifel gegen Dinge, die ich nicht anfassen konnte. Und so bleibt lediglich die Möglichkeit, dass ich dabei bin, durchzudrehen. Nicht besonders tröstlich, wenn man mich fragt. Andererseits unmöglich. Denn verrückte Menschen wissen nicht, dass sie es sind. Gerade das macht sie verrückt.

Mühsam kämpfe ich mich auf die Beine und bewege mich langsam auf ihn zu. Dabei schwanke und fühle ich mich, als würden meine Knie jeden Moment unter mir wegknicken. Vorsichtig lege ich die Handfläche auf das Loch, an der einmal mein Bauch gesessen haben muss und beiße mir auf die Unterlippe, ehe ich den Mund öffne um Zukunft anzusprechen. Mehrmals kann ich seinen Namen mit meiner Stimme in den Ohren hören, aber er zeigt keinerlei Reaktion.

Katatonisch nennt man das glaube ich im Medizinerjargon.

Vor Zukunft angelangt, lasse ich mich nieder. Eine wahre Wohltat, wenn man mich fragt. Überhaupt sitze ich die letzten Tage lieber, weil es nicht so anstrengend ist, aber höchstwahrscheinlich habe ich dies schon mehrmals erwähnt. Ich lasse mich also vor meinem deutlich älteren Ebenbild nieder, strecke meine knochigen Ärmchen aus und umfasse seine Schultern. Ich kann ihn wahrhaftig berühren, spüre den weichen Stoff des weißen Hemdes, welches er immerzu trägt, deutlich unter meinen Fingerkuppen. Im Vergleich zu meiner schmutzigen, blutbefleckten Kleidung ist sie sauber, gestärkt und duftet. Gott, wie ich das vermisse.

„Zukunft?“

Vorsichtig schüttele ich ihn, nur, um eine Reaktion hervorzurufen, doch einer Puppe gleich wippt er vor und zurück, ohne sich auch nur irgendwie bemerkbar zu machen. Beunruhigt ziehe ich die Augenbrauen hoch, streiche ihm kurz über das Haar und frage ihn leise, was bloß mit ihm los sei. Warum er mir nicht antworte. Und warum er denn so lethargisch sei.

Immer und immer wieder prasseln meine Fragen auf ihn ein, als sei ich nicht fähig, mein loses Mundwerk zum Halten zu bringen. Es ist untypisch, nahezu unwirklich. Bei Alexander war ich immer in der Lage, zu schweigen. Immerzu erkannte ich den richtigen Zeitpunkt, erkannte den Moment, an dem die Drohung in Gewalt umzuschlagen drohte. Dann hielt ich die Klappe und zog mich, nach Möglichkeit, zurück.

„Zukunft!“

Erneut schüttele ich ihn, nicht so sanft, wie zuvor, sondern mich leichter Gewalt. Sein Kopf schwankt hin und her, die weißen, weichen Haare rahmen alles ein. Wie frisch gefallener Schnee sind sie, so zart und zerbrechlich wirkend. Man kann kaum glauben, dass sie zu einem erwachsenen Mann gehören. Einem erwachsenen Mann, der immer noch keine Regung zeigt.

Seufzend gebe ich auf, lasse ihn los. Er verharrt in seiner Haltung, als sei ich gar nicht anwesend, nur die Hände nimmt er wieder in den Schoß. Dann dreht er den Kopf, so schrecklich langsam, wie es nur Menschen können, die bereits wissen, was geschehen wird, und blickt mich an. Seine Augen, rot und blutunterlaufen, scheinen durch mich hindurch zu sehen, während es mir eiskalt den Rücken herunter läuft. Ich kann nicht sagen, ob er durch mich hindurch sieht oder direkt in mich hinein. Direkt in meine Seele, von der ich nicht weiß, ob sie unschuldig oder bitterböse ist.

Hat es mir nicht Freude bereitet, in den Gedärmen meiner eigenen Mutter herumzuwühlen? Das noch warme, tote Fleisch und das stockende Blut auf meiner Haut zu spüren, während ich mit dem Messer groß portionierte Stücke abtrennte. Der Geruch nach Schlachthaus, wie ich ihn noch aus meiner Kindheit in Erinnerung habe, wenn im Dorf wieder Wurst gemacht wurde. Dieses animalische, rohe. Es hat mir Freude bereitet, ganz sicherlich. Und Zukunft erkennt dies, er liest in mir, als sei ich ein offenes Buch.

Übelkeit schießt in mir hoch wie Galle, die man versprüht, wenn man kotzend über der Toilettenschüssel hängt. Schützend verschränke ich die Arme vor meinem Körper, weiche Zukunfts Blick aus und betrachte schweigend die Decke, welche sich um den dünnen, zerbrechlichen Körper Lucys schlingt. Der Saum reicht ihr bis direkt unter das Kinn, die Ärmchen liegen darunter, zeichnen sich jedoch deutlich ab. Der dünne Stoff gibt ihr die Wärme, die sie braucht, ja sicherlich. Aber es ist nicht genug. Auch ein lichterloh brennendes Feuer wäre nicht genug, denn selbst die heißeste Flamme erwärmt das Herz nicht von innen.

Ganz zerbrechlich liegt sie dort, unschuldig, eingerahmt von Kissen und Laken. Beleuchtet von einer schwach brennenden Kerze, betrachtet von Zukunft und mir. Und wie immer habe ich das Gefühl, Zukunft sei mir wieder einen Schritt hinaus. So, als habe er dies alles schon einmal erlebt. Als sei er vor vielen Jahren ich gewesen, eingeschlossen in dieses Verließ. Nun zeigt er mir, wie ich es halten muss, um hier lebendig wieder herauszukommen.

Als seine Stimme plötzlich in meinen Ohren widerhallt, zucke ich zusammen und schnappe nach Luft, um das vor Schreck freigesetzte Adrenalin unter Kontrolle zu bekommen. Sie wirkt schleppend, so müde, als habe er jahrelang keine Möglichkeit erhalten zu schlafen. Jede Motivation, jede Hoffnung ist von ihr abgefallen. Was übrig geblieben ist, und was ich höre, ist die Essenz eines gebrochenen Menschen.

„Nur du bist befähigt, zu sehen, was uns richtet“, murmelt er.

„Nur du. Und nur jetzt.“

Plötzlich kommt Bewegung in seine starren Glieder. Den linken Arm streckt er aus, das Hemd hat er hochgekrempelt und so kann ich die dicken Narben an seinem Unterarm sehen. Als er die dünne Decke zu fassen bekommt, welche Lucy bis zum Hals reicht, schlägt er sie zurück. Dann tritt eine furchtbare Stille ein.

Mein Mund öffnet sich, doch kein Schrei verlässt ihn. Hätte man mir die Stimmbänder durchgeschnitten, ich hätte nicht stummer sein können als in diesem Moment. Gelähmt von Schreck, von Unglauben. Und von Unverständnis. Wie eine Salzsäule sitze ich neben Zukunft, der, die Ruhe in Person, seine bis eben bewahrte Haltung wieder einnimmt und den Blick gen Boden richtet. Tränen laufen seine Wangen hinab, doch ich kann sie nicht sehen. Meine ganze Aufmerksamkeit gilt Lucy, wie sie dort liegt, so wunderschön und friedlich, die personifizierte Unschuld. Die Augen stehen offen und ihr Hals ist versehen mit dunkelvioletten Würgemalen.

Ich bin mir so verdammt sicher, dass wieder nur ich sie sehen kann.

Es braucht einige Momente, bis ich verstehe, was das alles zu bedeuten hat. Derweil fängt sich um mich herum alles zu drehen an, als hätte ich zu viel getrunken. Oder als säße ich in einem Karussell, welches ich nicht zum Anhalten bringen könnte. Immer und immer weiter dreht sich alles. Und irgendwann schließt man einfach die Augen, hofft, es geht vorüber.

Nichts dergleichen tue ich. Wie ein geschlagener Hund quäle ich mich zurück auf die Beine, stürze zu meiner kleinen Schwester und breche dicht neben ihr zusammen. Ich muss Worte der Verwirrung vor mich hinflüstern, aber in meinen eigenen Ohren kann ich sie nicht hören. Es ist mir nicht bewusst, dass ich spreche, oder das Zukunft direkt neben mir sitzt und die ganze Szenerie mitverfolgt. Statt dessen rüttele ich an ihrem Körper und flehe sie an, aufzuwachen.

„Lucy. Lucy, gottverdammt, bau mir keine Scheiße!“, zische ich, während ihr Köpfchen hin und herschlackert. Als ich fahrig ihre schon immer schlecht durchbluteten Hände drücke, bilden sich helle Flecken. Doch diesmal verschwinden sie nicht wieder. So muss es gut dreißig Sekunden gehen, die mir erscheinen, als währten sie ewig.

Dann nehme ich vorsichtig ihr Gesicht in beide Hände und betrachte ihr Antlitz. Ihre sperrangelweit offen stehenden Augen sehen einfach an mir vorbei, als würden wir uns nicht kennen. Das Innere der Pupille schon milchig trüb geworden. Wie lange muss sie schon so dort liegen, ohne, dass wir etwas bemerkten? Wahrscheinlich ist sie schon so, seit ich heute Mittag den Schatten an der Wand entdecken konnte.

Da habe ich den Tod gesehen, den leibhaftigen, ich erkannte ihn. Und doch konnte ich nichts tun, als zu Zukunft rennen und ihn anzuflehen, mir zu helfen. Wirklich sicher, ob er mir sein Wort gegeben hat, bin ich nicht mehr. Darüber nachdenken kann ich nicht. Viel zu penetrant ist der Schmerz, der mir die Brust zerreißt, während ich die Arme um den gebrechlichen Körper meiner kleinen Schwester lege, sie vorsichtig an mich ziehe und in verzweifelte Tränen ausbreche. Sie war eine meiner wenigen Stützen in diesem verkorksten Leben. Neben Emily war sie unser Nesthäkchen, nachdenklich, aber liebenswert. Immerzu waren wir zu viert. Nun sind wir drei und sie ist fort. Alle Worte, die ich wähle, um dies zu beschreiben, klingen im Vergleich zur Realität so leer. Bedeutungslos.

„Oh Lucy.“

Immer wieder fahren meine Finger durch ihr Haar, schließen vorsichtig die glasigen Augen, während ich mir auf die Unterlippe beiße. So heiß ist die Flüssigkeit auf meinen Wangen, so groß die Verzweiflung. Der Tod griff nach uns. Nun hat er den ersten geschnappt.

Mein Torso erzittert unter Schluchzern, und ihr Körper gleich mit.

Ich kann das alles einfach nicht glauben.
 


 

_____________________________________________
 


 

Hab ich irgendjemanden zum Heulen gebracht? ;) Naja. Ich hoffe, dafür, dass es so verdammt lange gebraucht hat, dieses Kapitel zu tippen, ist es akzeptabel geworden. Nun denn. Mary gibt auf, Emily ist krank, Lucy ist tot, Zukunft fertig und Joshua weint. Könnte das Leben schöner sein?

Ne. War glaub ich das erste Mal seit langem, dass ich beim Schreiben fast geheult hätte. Stolz bin ich aber.
 

Hab endlich den perfekten Soundtrack für Bloody Sunday gefunden. The Green Mile von Thomas Newman. Achja.... Noch 30 Seiten bis zum Ende. Dann Überarbeiten. Und dann an die Verläge.

Leben kann schön sein XD
 

LG,
 

Johnny

aka

アンナ



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Kommentare zu dieser Fanfic (38)
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Von:  Kaylean
2009-07-13T14:02:30+00:00 13.07.2009 16:02
Ein sehr eindrucksvolles Kapitel.

Der Anfang des Kapitels hat mich persönlich sehr fasziniert und gefesselt. Allein schon wegen deiner großartigen Art und Weise zu erzählen, die mich immernoch fasziniert und das nun schon seit mehreren Jahren. Aber auch, weil ich diesen Teil nicht kannte. Das klingt ein wenig komisch formuliert, aber wir beide wissen ja, woraus sich Less than 24 days entwickelt hat und diese Szene haben wir nie so gehabt und darum fand ich es so faszinierend. Schließlich ist das deine Geschichte und trotzdem liebe ich den Charakter Mary wie eine Tochter. Ein wenig verdreht.

Nun gut. Sehr beeindruckend war die Szene mit Emilys vermeintlichem Tod. Ich hatte regelrechtes Herzrasen, ob du sie an dieser stelle sterben lässt. Joshuas Verzweifeltes Einschlagen auf ihre Wange, die Panik sie zu verlieren, hast du meiner Meinung nach sehr gut rübergebracht. Mir standen schon die Tränen in den Augen, als sie dann ihre endlich geöffnet hat. Was war ich erleichtert in den Moment, so ähnlich wie Mary und Joshua.

Doch wie grausam ist es, wenn man hört, dass die Hoffnung so nah ist und dann wird man nicht gehört, weil der Raum zu gut isoliert und die Geräusche zu stark gedämpft werden. Die daraus resuliterende Verzweifelung bei Mary und Josh sind auch wieder gut rübergekommen.

Wieder trifft Josh Zukunft, jene geheimnissvolle Person, die für mich persönlich nicht so geheimnissvoll ist - schließlich weiß ich ja was kommt. Das bringt der Spannung der Geschichte aber keinen Abbruch, weil es so spannend ist zu lesen, wie du alles umgesetzt und aufgearbeitet hast.
Das Wasser fließt wieder. Endlich.
Noch einmal muss der Tod etwas länger warten.

Ich finde es so spannend zu lesen, wie die Stimmung auf dem Dachboden sich verändert und wie Josh langsam aber sich in den Wahn abgleitet - und diese zärtlichen Gefühle für sein Ventil.
Du hast mir seine Sichtweise einmal erklärt und ich habe diese Erklärung noch immer vor Augen, darum kann ich nicht krank oder pervers finden, wie es vielleicht andere finden. Objektiv kann ich nunmal nicht wirklich sein.

Kritikpunkte, finde ich allerdings auch nicht. Diese Version des Kapitels ist wirklich toll geworden und ich erwarte mit Freude den nächsten Teil.
Von:  Dragonohzora
2009-07-07T17:17:02+00:00 07.07.2009 19:17
so also nun bin ich wirklich SprachlosoO So einen tollen Prolog habe ich wirklich selten gelesen.

Dein Schreibstil ist wirklich hervorragend. Du schriebst wie kann manes anders ausdrücken? fesselnd udn zwar so, das man unbedingt wieter lesen will. von der Tragik an sich, ist mein Üuls eindeutig jetzt schon höher, vor alem als du den Tod siener Geschwister erwähnt hast.

Dein Ausdruck ist ebsno hervorragen, ebau so ein Stil gefällt mir ausserordentlich gut.

Fachlich, gibt es ein paar Anmerkungen, aber die fallen ja kaum aufXD Aber mirs sind sie jetzt nur aufgefallen, weil ich indem fachgebier gerade ne Ausbildung absolviere^^ ich wills ie dennoch mal erwähnen.
1. Im krankenhaus wird man durch eine gelegte Magensonde ernährt, üder den Tropf dne du beschreibst bekommt man eher die fehlende Flüssigkeit^^, ist nur eine KleinigkeitXD

2. Es ist nicht direkt eine kanüle, auch wenn es mundpropaganda so gesagt wird, der richtige Ausdruck ist eher Branüle.

Also ncihst wletbewegndes, aber ich adhcte vielelicht möchetst du das einafch mal wissen^^

Also, ich bin begeistert vom Prolog und sobald ich mehr zeit habe werd ich mich am ertsen kapitel gütlich tunXD Du ahst mich sehr neugierug gemacht und ahst auf jedenfall meine weiter AufmerksamkeitXD

Lg^^
Von:  Chopperina
2008-04-02T19:42:06+00:00 02.04.2008 21:42
Wow... Ich hab zwar nicht geheult, aber ich fands trotzdem unglaublich traurig...
Die Worte waren perfekt gewählt! Es war... so traurig ;__;
Ich war echt davon ausgegangen, dass Emily zuerst stirbt, da ist es irgendwie ein schock, dass Lucy jetzt tot ist.

Wenn ich mir vorstelle, wie die jetzt alle aussehen, dann läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Ich finds gruselig... richtig gruselig. Was anderes fällt mir dazu nicht ein.

Ich hab mich irgendwie total für Mary und Josh gefreut, als die den Sonnenaufgang gesehen haben und so glücklich waren. Es wirkte so, als wären sie von Hoffnungen umringt gewesen, jemals dort wieder rauszukommen. Und dann, durch ein Husten, ist alles zerstört. Das ist so... ernüchternd.

Ich finds total irre, wie du das alles immer beschreibst, es kommt irgendwie so rüber, als würdest du daneben sitzen und einfach schreiben, was du dort gesehen hättest. Unglaublich.

Achso... danke für deine Benachrichtigung. Ich bin schon irre gespannt, wie es weitergeht! ^^
Von: abgemeldet
2008-03-29T09:19:12+00:00 29.03.2008 10:19
Wow...also ich kann nur sagen ich bin unglaublich gespannt wies weitergeht, fieber mit Joshua immer mit...
Die Begegnungen mit Zukunft, die er durchlebt...sowas ähnliches kenne ich auch aus meiner Kindheit, vondemher hoff ich, dass es beiden am Ende gut geht. Wobei ich eine Vermutung habe, was es mit Zukunft auf sich hat. Mal sehen ob sie sich bewahrheitet.

Der Sonnenaufgang, eines der letzten schönen Dinge, bevor der unvermeidliche Tod -und vorher, die Krankheit- wieder um sich greift, und schließlich die Flucht vor dem Tod, hin zu Lucy und Zukunft, der, wenn er wirklich das weiss und das ist, was ich vermute, ganz genau weiss, schon vorher wusste, was vor sich gehen wird, und deshalb so erschüttert ist, dieser Sonnenaufgang als -vielleicht auch wirklich- letzter Lichtblick im dusteren Alltag ist wirklich wunderschön beschrieben. Ich bin froh, dass die beiden sich über so einfache Dinge freuen können, die von anderen so oft übersehen werden, auch, weil es als selbstverständlich angesehen wird. Auch und gerade deshalb, weil es den Vieren gerade sehr schlecht geht, sie auf die Grundsubstanz des Seins zurückgeworfen wurden, aus dem sie -hoffentlich- wieder herauskommen.

Tja...was ich damit sagen wollte, mach bitte schnell (und gut wie immer ^^) weiter, ich bin gespannt, ob sich meine Vermutung bezüglich Zukunft bestätigt. Und auch, wie es mit den jetzt Dreien weitergeht...wobei, wenn man Zukunft und das Böse im Spiegel mitzählt, sind sie zu fünft. Und doch wieder nicht...denn Zukunft und der mit den roten Haaren agieren ja ausschließlich mit Joshua. Lucy, als sie im Sterben lag, bildete die einzige Ausnahme...sie war ja isoliert.

Liebe Grüße,
Lily
Von:  Kaylean
2008-03-28T22:34:31+00:00 28.03.2008 23:34
In diesem Stadium der Müdigkeit bin ich zwar zu nicht viel und vorallem nichts gutem Fähig, aber ich geb jetzt einfach mal mein bestes, damit du zufriden bist. Zumindest versuche ich es, zufriedenstellend zu arbeiten.
Whatever.
Du weißt was ich meine.
*gähn*


Hätte gestern beim Arzt diese ultrahässliche Frau mit dieser unglaublich vor Gemeinheit-starrenden Fresse nicht dauernd genervt, genauso wie ihre dämliche Tochter, die die Wörter Styling und Pflege wohl nie gehört hat, dann wäre die Stimmung dieses Kapitels bei mir viel besser angekommen.
Aber auch so habe ich es geschafft das Kapitel in aller Ruhe zu lesen und mich damit zu befassen. Zur Groß und Kleinschreibund habe ich ja vor einigen Minuten in qip schon was gesagt.
Mh...
*notizen anschaut*
ja, ich mache mir Randnotizen und Bemerkungen, wenn ich richtig Zeit habe und die hatte ich gestern nicht. Sind nicht so viele und da du grade ein wenig am Drängeln bist (uu~ warum ich sonst auch immer sage, ich machs morgen) musst du dich heute leider mit etwas weniger als sonst zu frieden geben.




ALSO: Zu beginn schreibst du >>Man kann beinahe spüren, wie sich das Eiweiß von alleine abbaut, der Körper wird, obwohl man doch abnimmt, immer schwerer, Muskeln werden verbannt, sogar das Aufstehen fällt einem schwer.<<
klingt nicht schön, wenn du sagst verbrannt. Muskeln werden abgebaut. Gomen XD aber das stört mich wirklich.

Dann frage ich mich, seit wann Tiere eine Geburtsurkunde haben. Das war ein etwas seltsamer vergleich XD'

Aber das war es nun auch schon wieder zu Meckern ^^

Wären die beiden Schabracken im Wartezimmer nicht gewesen. Ich hätte angefangen zu weinen. Der Tod von Lucy ging mir sehr nahe. Vorallem die Verzweifelung die Joshuha dabei ergreift. (Zukunft bekommt später seinen Teil gewidmet) Auch wenn ich wusste, dass es passiert. Schließlich kenne ich die groben Eckpunkte der Gescichte.
Doch dein Stil fasziniert mich immer wieder aufs neue. ich mag ihn einfach.

Tja... im PR geht das Eine nicht ohne das Andere. Kaum geht es Emily ein klein wenig besser, wird Lucy langsam aber sicher krank und kann nicht mehr.

Aber nun... ich LIEBE diesen Absatz über den Sonnenaufgang. bzw. die ganze Szene, solange bis das Husten von Lucy kommt.
Es ist einfach unglaublich gut und schön beschrieben, vorallem dann dieser Absatz, wo du das Glück mit einer Ampulle Heroin vergleichst. So muss es sich anfühlen, genau so.
Die Szene ist einfach herrlich...
aber gleich darauf die Ernüchterung.
Erkentnisse, dass sie niemals zusammen bleiben werden, die Fragen über das was wäre wenn wir in einer anderen Schicht gelebt hätten.
Das Talent und die Intelligenz der Beiden ist einfach unverbraucht geblieben im PR uu und in ihrer Kindheit, das kommt auch klar hervor.

Dann sieht Joshuha den Tod und der Schatten dreht sich wie eine junge, lebensluste Frau auf einem Fest.
*____________* ich mag diesn Satz unglaublich gerne!

Wieder einmal wird aber auch klar, dass Joshuha im GEgensatz zu seinen Schwestern mehr wahrnimmt. SChließlich ist er der einizge, der den Tod wahrnimmt. Mary sieht ihn nicht und so stirbt Lucy unbemerkt.
Ich mag auch die Darstellung des Sterbens und des Todes, der Schatten, die Würgemale.
Angst macht sich in Joshuha breit.
Er flieht ins Badezimmer.

Und dann zieht er sich zurück. Zu Zukundt und mit Zukunft stimmt etwas nicht.
Zukunft ist wissend, was in diesem Kapitel so deutlich hervorkommt, wie niemals zuvor. Er weint, er ist fertig mit den Nerven.
Zukunft, der doch so stark ist?
Schwach? Was wird die Geschwister nur noch erwarten. WAs ist so schlimm, dass selbst Zukunft verzweifelt?
Zukunft, der so sauber und gepflegt ist... gestärkt und duftend ist seine Wäsche.

Dann kommt der wohl schönste Absatz zwischen Joshuha und Zukunft in der bisher veröffentlichen Geschichte.
>>Er dreht den Kopf, so schrecklich langsam, wie es nur MEnschen können, die bereits wissen, was geschehen wird, und blickt mich an. Seine Augen, rot und blutunterlaufen, scheinen durch mich hindurch zu sehen, während es mir eiskalte den Rücken herunter läuft. Ich kann nicht sagen, ob er durch mich hindurch sieht oder direkt in mich hinein.<<
Dann der wohl Hammer-mässigste Satz im Bezug auf Joshuhas Charakter.
>>Direkt in meine Seele, von der ich nicht weiß, ob sie unschuldig oder bitterböse ist.<<
Der Leser lernt Zukunft und Josh besser kennen.

Dann entdeckt er seine tote Schwester und er beschreibt sie als etwas, dass ihn unterstützt hat. Der Tod hat die Gruppe getrennt, verkleinert und dann der letzte Satz.
>>Ich kann das alles einfach nicht glauben.<<
Ein Satz der so viel Verzweifelung, Unglauben und Verwirrung ausstrahlt, wie wenige. Ein guter Abschluss des Kapitels.

Liebe Grüße
Kalen
Von:  RaMonstra
2007-11-25T18:48:52+00:00 25.11.2007 19:48
Also, dass ist ne ziemlich heftige Geschichte, aber sie gefällt mir.
Zumal es eine von wenigen guten Geschichten hier auf Mexx ist.

Ich habe mir heute mal alles durchgelesen.
Schwer zu lesen, fand ich das Kapitel, wo Mary und Josh ihre Mutter zerstückeln mussten, das konnte ich nicht in einem Zug durchlesen, obwohl ich sonst einen recht robusten Magen habe.

Zukunft gefällt mir, aich wenn ich nicht sagen kann warum, der ist einfach irgendwie genial-gruselig xD
Vorallem das letzte Lächeln im Kapitel fand ich klasse.

Was ich allerdings nicht verstanden habe ist folgendes:

In dem Kapitel gab es einen Rückblick auf August 1988, allerdings ist Josh 1971 geboren und erst 15 Jahre alt. Aber in diesem August müsste er 17 sein @__@ Das verwirrt mich irgendwie.

Auf jedenfall haste meinen Respekt.
Sowas zu schreiben und dann auch noch so flüssig und ohne große Fehler [abgesehen von Buchstaben die ab unbd an fehlen xD]

DIe Szene im Badezimmer, wo Josh mit seinem 'Spiegelbild' gesprochen hatte und dann den Spiegel zerstört hat, fand ich bisher eigentlich am besten. Wie sein Spiegelbild ihn für verrückt erklärt hat, weil er mit sich selber spricht. Klasse^^

lg Jaku
Von:  Chopperina
2007-08-12T22:53:36+00:00 13.08.2007 00:53
Puuhaaaa! Ich muss erstmal verarbeiten was ich da gerade gelesen hab...

Ich schätze mal die 4 sind da jetzt seit ca. 14-16 Tagen? Ich finds krass, dass sie noch so viel verstand in sich tragen, ich glaube ich hätte schon versucht mich aus diesem Loch rauszukratzen oder so... ><

Emily tut mir leid, vermutlich weiß sie selbst auch schon, dass sie bald sterben wird, wenn es so weitergeht. Wenn man sowas als 11 jähriges Mädchen registriert... dann muss das... ziemlich... ähm... ernüchternd sein?

Ich versteh Mary sehr gut, dass sie nicht in das Zimmer will, in dem Emily liegt, aber trotzdem finde ich es sehr herzlos von ihr. Die arme Emily kann doch nichts dafür ;____; Sie ist doch schon krank und dann auch noch alleine zu sein (in so einer Situation), dass muss echt das Schlimmste sein.
Von: abgemeldet
2007-08-04T19:44:26+00:00 04.08.2007 21:44
Ich habe gerade von deiner Geschichte hier erfahren, und sie hat mich sehr berührt.
Ich kenne das, wenn Menschen immer dünner werden, sich an Hoffnungen klammer, die eigentlich keine sind und auch nie wirklich da waren. Wenn man Menschen nah sein möchte, aber weiss, es kann nicht sein. Die Verpflichtung zusammen mit dem Wunsch, sich um andere zu kümmern und der drauf folgende Kollaps... Ich bin gespannt, wie es weitergehen wird.

Du schreibst wirklich sehr gut, danke dafür.

Liebe Grüsse,
Lily
Von: abgemeldet
2007-08-02T15:29:48+00:00 02.08.2007 17:29
>>Flink strecke ich mich aus und erledige das für sich<<

Ein Fehlerchen, welches ich entdeckt hab und einige Wortwiederholungen.
Du bist nicht perfekt!!!
*muha*
>>
<<
Egal~
Musste ich jetzt mal loswerden. ich bin wieder total geplättet. Irgendwie voll krass. *kopfkratz*
Ich weiß gar nicht recht, wo ich anfangen soll. Da schwirrt mir schon wieder soviel in meinem Kopf rum. Du hast vollkommen recht. In dem Kap passiert überhaupt nichts, wirklich gar nichts, aber nur oberflächlich.
Darunter ist so viel, viele Informationen, Gefühle. Es ist krass. Nicht vielen gelingt es die Handlung zum Stillstand zu bringen und dennoch weiter voranschreiten zu lassen.
Dir ist es gelungen und das mehr als überragend.
Besonders gut haben mir hier wieder die Absätze mit Zukunft gefallen.
Dieser Pseudotyp hat was.
Und langsam verblassen die Grenzen zwischen Trug und Realität. Ist er wirklich da oder sieht Joshua ihn nur? Ist er gar irgendeine Ausgeburt von Joshua... der innere Geist, der schon den ganzen lauf der Story kennt?
Irgendwie echt interessant, darüber nachzudenken. Dafür, dass Josh ihn sich nur einbildet, ist es zu intensiv. Viel zu intensiv, aber die anderen wiederum sehen ihn nicht, können ihn nicht hören - er ist nicht wahrnehmbar.
Irgendwie ein... merkwürdiger Typ, aber er passt gut in die Story. Bin gespannt, ob der nicht noch irgendwas blödes anstellt oder doch zumindest Josh unter seiner Kontrolle~
Ist das versteändlich?? *sich wieder viel zu umständlich ausdrückt*
Hach~
ich glaub du bist eine, bei der ich wirklich ständig nur solche Romane als Kommies schreib. Echt krank. XDD

Naja~ jedenfalls hat mir eigentlich nur eine Sache diesmal nicht gefallen. Dieser Einschub, wo Emiliy Joshua auffordert, sie zu küssen. An sich war die Szene toll, aber sie kam zu unvermittelt. Man sollte sie anders darstellen, sie regelrecht als Rückblick kennzeichnen. So zerreißt es die Handlung.
Verstehst du, was ich meine?
Probier es mal mit kursiv~ Also dass du den teil so schreibst, so merkt der Leser sofort, dass da etwas neues ist, welches nicht ganz zur aktuellen handlung gehört, aber mit ihr zu tun hat. So ging es unter, war nur störend.
Zumindest in meinen Augen. Der Part gefile mir gut, aber bring ihn besser hervor, beton ihn, dann bekommt er auch die Rolle, die er eigentlich haben soll~

Aber genug gemeckert.
Wieder ein sehr atemberaubendes Kapitel, schön lang und dennoch kams mir wieder viel zu kurz vor. Lässt sich echt sämig lesen.
Beeindruckend.
Ich wiederhole mich. Also schau dir den Teil nochmal an mit den Fehlerchen und den mit dem Rückblick und ich bin 100% zufrieden. jetzt sind es erst... naja... 97%^^
Und Glückwunsch zu dem Gewinnen des Verlagwettbewerbs. Du wirst sehen. Die bieten dir gleich nen richtigen Vertrag an und schon bist du ne Megatolle Autorin^^

jenki
Von:  Kaylean
2007-07-24T20:49:08+00:00 24.07.2007 22:49
uff... was schreib ich denn jetzt gescheites XD
mh... fangen wir mal damit an:
Ich bin überwältigt!

Ich liebe dieses Kapitel, ich meine, ich hab die Idee dahinter ja auch schon geliebt XD
Und als dieses Schwesternficker auftauchte, musste ich soooo breit grinsen, dass ich angst hatte meine Ohren zu verschlucken.
Und damit wären wir natürlich auch schon bei meiner Lieblingsszene, bzw einer meiner Lieblingszenen - einer von den JoshxEmily Szenen, die ich ja total liebe
**
Also dieses naivkindlichsüße von Emily, wie sie ihren Bruder ganz sanft, wie es ihre Art einfach ist, bittet sie zu küssen um es einmal gemacht zu haben~~~ waaaaaaah, meine Emily *knuddel*
Und dann kommt Josh - er liebt sie, er verehrt sie, er will sie. Er kann einfach nicht anders~
es knistert, es kommt zum Kuss und dann... Alexander
>__________________________< boah! Romantikkiller XD aber ne geile Szene~~

Ich liebe diese Situationen oben im PR raum sowieso - abgeschieden, fort und dennoch....
also wenn du dich an die Vorlage von uns hälst, dann... na ja^^ net spoilern XD
Jedenfalls Emily allein, krank und Lucy wird von Mary vorgelesen, sie schotten sich ab... Mary ist auch so stark und andererseits so schwach, irgendwie.
Die beschreibung mit den Stiefeln... das sie noch dünner wird und immer und immer mehr...
gruselig
Also ich kann mir bedingt durch unser spielen, wesentlich mehr darunter vorstellen~ ich kann alles da oben Bildlich sehen.

Zukunfts letzes Lächeln... da wurd mir ganz anders.
wegen Ahnung XD

Schon der Einstieg in das Kapitel ist toll und grandios
Sowieso, ich liebe deinen Stil einfach^^

hdgdl
Kalen


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