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Storytelling-Workshop #3 – Die innere Gestaltung des Protagonisten: Sympathie & Empathie DManga, Empathie, Storytelling, Workshop

Autor:  roterKater

So, endlich geht es mal mit den Worksshops weiter! Nachdem wir uns im letzten Teil um das Aussehen des Protagonisten Gedanken gemacht haben, wollen wir uns diesmal mit dessen Innenleben beschäftigen.
 
Ich hab dazu mal in der Überschrift zwei Begriffe in den Raum gestellt, die sicherlich einer gewissen Erläuterung bedürfen. Ich möchte dies anhand einer althergebachten Aussage zum Protagonisten veranschaulichen: "Ein guter Protagonist ist ein solcher, mit dem der Leser sich identifizieren kann."
 
Ich finde diesen Satz problematisch, denn Identifikation würde ja bedeuten, dass sich der Leser quasi an Stelle des Protagonisten setzt. Das geht natürlich nur, wenn Leser und Protagonist viele Gemeinsamkeiten haben, durch die sich der Leser quasi im Protagonisten wiedererkennt. Aber was ist denn mit Protagonisten, die ganz anders sind als wir? Warum mögen so viele Mädchen Naruto und können auch viele Jungs mit Magical-Girl-Serien was anfangen? Oder was ist mit "bösen" Protagonisten, wenn eine Geschichte zum Beispiel aus Sicht eines Gangsters oder Attentäters erzählt wird? Ist das wirklich Identifikation, was da passiert? Soll der Leser beim Lesen wirklich dasselbe denken wie der Protagonist?
 
Aus dem Bereich der kognitivistischen Narrationsforschung* gibt es einen, wie ich finde, viel produktiveren Begriff dafür. Dort ist von "character engagement" die Rede. Das bedeutet soviel wie "Anteilnahme an Charakteren". Der Schlüssel zur Beziehung zwischen Leser und Protagonist ist jetzt, wie gut der Leser die Handlungen des Protagonisten nachvollziehen und sich in ihn einfühlen kann. Dafür ist ein Begriff besonders wichtig, nämlich die "Empathie". Empathie bedeutet so viel wie "Einfühlungsvermögen" und wird in der Anthropologie oft als das angeführt, was den Menschen vom Tier unterscheidet.
 
[*Das muss einem jetzt nichts sagen. Ist im Groben wahrnehmungspsychologisch geprägte Untersuchung von Erzählungen, die vom Zuschauer her gedacht ist und untersucht, was eigentlich in ihm vorgeht, wenn er eine Geschichte mental quasi "abarbeitet". Wenn das interessiert: unbedingt mal nach Büchern des Filmwissenschaftlers David Bordwell Ausschau halten!]

Im Groben funktioniert Empathie so: wir Menschen sind in der Lage, unsere eigene Sichtweise außen vor zu lassen und gedanklich die Perspektive eines anderen anzunehmen und dessen Sichtweise nachzuvollziehen. Dabei fühlen wir uns auch in des Emotionsleben dieses Anderen ein. Wir können zum Beispiel nachvollziehen, dass jemand glücklich oder traurig oder wütend ist, weil wir uns in seine Lage hineinversetzen können. Wr verstehen die andere Perspektive, die anderen Gefühle, und daraus ergibt sich unsere emotionale Verbindung nicht nur zu anderen Menschen, sondern auch zu fiktiven Charakteren.
 
Wichtig dabei: Empathie ist eine Konstruktion desjenigen, der Anteil nimmt. Unser Gehirn erzeugt quasi dieses Einfühlungsvermögen anhand der Informationen, die es übermittelt bekommt. Im zwischenmenschlichen Zusammenleben spielen zum Beispiel Gesichtsausdrücke dafür eine sehr wichtige Rolle, durch die wir quasi ein mentales Abbild der emotionalen Verfassung unseres Gegenübers erzeugen.
 
Empathie ist also quasi eine mental erzeugte Perspektive eines Anderen, die wir dann auf diesen Anderen projizieren. Man kann Empathie übrigens auf alles Mögliche projizieren: auf Haustiere, Zimmerpflanzen, Kuscheltiere, Laptops, und eben auch auf rein fiktive Charaktere. Es spielt dabei keine Rolle, ob diese Anderen selbst zur Empathie fähig sind. Entscheidend ist einzig, dass wir genug Informationen haben (oder meinen zu haben), um diese emotionale Perspektive des Anderen konstruieren zu können.
 
Was heißt das jetzt fürs Storytelling? Wenn ihr eine Geschichte entwerft, solltet ihr darauf achten, dass eine empathische Bindung des Lesers zum Protagonisten gegeben ist. Der Protagonist ist der Hauptzugang für den Leser, der in die Geschichte hinein führt. Über ihn läuft quasi die emotionale Hauptkommunikation zwischen Story und Leser. Der Leser muss dabei nicht alles gutheißen, was der Protagonist anstellt, aber er muss alles nachvollziehen und verstehen können, insbesondere sein emotionales Innenleben.
 
Achtet also darauf, dass ihr dem Leser die nötigen Informationen zukommen lasst. Ein wichtiger Punkt ist "Motivation". Der Leser muss verstehen können, warum eine Figur wie handelt, um sich emotional in ihre Lage versetzen zu können. Das heißt nicht, dass ihr schon alle Hintergrundinformationen zu einer Figur gleich am Anfang übermitteln müsst. Nichts ist langweiliger als eine Chara, an dem es nichts mehr zu entdecken gibt. Aber ihr müsst dem Leser irgendwie vermitteln, dass eine Motivation für sein Handeln da ist, dass er einen Grund hat, warum er tut, was er tut, insbesondere wenn es etwas moralisch Verwerfliches ist.
 
Nehmen wir mal als Beispiel einen Klassiker aus dem Filmbereich, den Heist- oder Caper-Movie. Das sind Filme, die sich mit der Vorbereitung, Planung und Durchführung eines Überfalls beschäftigen. Der Protagonist steht hier auf der Seite der Gangster. Meist ist er der Anführer der Gruppe, die den Überfall planen. Damit wir ihn nun aber als Protagonisten akzeptieren, müssen wir irgendwie verstehen, warum er diesen Überfall plant. Ist er abenteuerlustig und sucht die Herausforderung? Dann könnten wir ihn als adrenalinsüchtigen, aufgedrehten Glücksritter darstellen, der die Gefahr sucht und dafür womöglich seine eigene und die Sicherheits seiner Freunde aufs Spiel setzt. Wir müssen uns mit diesem Verhalten nicht identifizieren, aber wenn wir den Protagonisten als glaubwürdig empfinden, weil uns seine Emotionen so nachvollziehbar vermittelt werden, dass wir uns in sie einfühlen können, werden wir die Geschichte mit Spannung verfolgen.
 
Andere mögliche Motivationen wären: der Held braucht das Geld für etwas Wichtiges, vielleicht der berühmte "letzte Coup, bevor er sich zur Ruhe setzt". Die Motivation wäre hier Ausstieg aus dem Verbrecherleben. Gefühle, die dem Leser hier über den Protagonisten vermittelt werden könnten, wären: Verbrechensmüdigkeit, Sehnsucht nach Frieden und Ruhe und Ähnliches. Wenn der Protagonist diese Punkte in seinem Handeln zum Ausdruck bringt, werden wir uns auf seine Seite schlagen und uns seinen Erfolg wünschen, weil wir uns in seine emotionale Situation einfühlen können.
 
Oder der Protagonist wird von jemandem zu dem Überfall gezwungen und muss ihn gegen seinen Willen durchführen. Hier gäbe es dann in ihm einen emotionalen Konflikt zwischen der Ablehnung des Verbrechens und der Notwendigkeit seiner Durchführung. Dies ist sicherlich die komplexeste dieser drei Formen, und sie verlangt vom Erzähler, dass wir sowohl verstehen können, warum der Protagonist keine andere Wahl hat, als auch genug Informationen darüber bekommen, wie der Protagonist sein eigenes Handeln moralisch ablehnt. Diese Konvention eines Protagonisten, der zu etwas gezwungen wird, was er eigentlich ablehnt, sich also um ein moralisches Dilemma dreht, lässt sich natürlich auch auf ganz andere Themen übertragen und ist sehr fruchtbar für eine komplexe und mitreißende Story. Der Schlüssel liegt hier aber darin, wie gut es euch gelingt, den Leser in die Gefühlswelt des Protagonisten eintauchen zu lassen.

[Als kleine Empfehlung: Geht mal ins Kino und schaut "The Town" von und mit Ben Affleck, wenn der bei euch noch läuft. Der ist ein sehr gutes Beispiel für klassisches Storytelling in einem Heist Movie. Daran könnt ihr versuchen, die Punkte hier einmal abzuhaken und schauen, welche Empathiestrategien der Film einsetzt.]
 
Motivation treibt alle Protagonisten an. Sie hängt eng zusammen mit dem dramaturgischen Ziel des Protagonisten, dem Grundpfeiler der Geschichte (siehe Workshop 1). Jeder Protagonist braucht irgendetwas, was er erreichen will – die Liebe des Angehimmelten gewinnen, Piratenkönig werden, zum fünften Hokage ernannt werden, eine Serie in der Shônen Jump, die zum Anime verfilmt wird... Es gibt immer etwas, was die Protagonisten antreibt und den dramaturgischen Kern der Story bildet. Dieses Ziel ist nicht nur der Schlüssel zur Story, sondern auch zur empathischen Bindung des Lesers an den Protagonisten. Wir müssen verstehen, was der Protagonist warum erreichen will (dem großen Piratenvorbild nacheifern, sich Anerkennung verschaffen, seine Verehrte ehelichen, sobald der Traum in Erfüllung geht...), und wenn wir Anteil an seinem Schicksal nehmen, werden wir uns freuen, wenn er dem Ziel näher kommt, und wir werden mitfiebern, wenn sich ihm Hindernisse in den Weg stellen. Wir ergreifen Partei für das Schicksal des Protagonisten und fühlen uns in seinen Probleme ein. Das bedeutet Empathie.
 
Nur wie kommt man dahin, dass sich der Leser für das Schicksal des Protagonisten interessiert? Wie baut man diese emotionale Bindung auf? Ein wichtiges Hilfsmittel ist die "Sympathie", kurz gesagt, wie sehr der Leser den Protagonisten mag. Sympathie wird bereits zu einem Großteil über die äußere Erscheinung erzeugt. Siehe das zu den letzten Workshop. Wenn uns ein Protagonist auf den ersten Blick bereits sympathisch erscheint, interessieren wir uns durch den "Primacy Effect", den berühmten ersten und prägenden Eindruck,  bereits für ihn und sind bereit, sich in sein Schicksal einzufühlen. Sympathie wird aber auch durch sein Handeln, sein Verhalten, seinen Umgang mit anderen Figuren – wenn man will, durch seine Lebenseinstellung erzeugt.
 
Sympathisch sind uns Figuren, sie sich mit unserem eigenen Verständnis von idealen Verhaltensweisen decken. Das sind in der Regel positive Eigenschaften (Ehre, Mut, Aufrichtigkeit, Zielstrebigkeit...). Sympathisch sind uns aber auch Figuren, die menschlich wirken, also Fehler haben, die wir vielleicht auch von uns selbst kennen. Man sollte also auch nicht den Fehler machen, seinen Protagonisten nur mit positiven Eigenschaften auszustatten, um ihn sympathisch zu machen. Dann wirken die Figuren flach und leer. Für perfekte Leute interessieren wir uns nicht und sie sind deswegen auch nicht sympathisch. Also keine Mary Sues und Gary Stus! Sympathie ist übrigens auch nicht zwingend von Attraktivität abhängig. Längerfristig sind besonders die inneren Eigenschaften entscheidend.
 
Gut, wir haben die Sympathie, die Motivation, jetzt geht's an die Vermittlung der Emotionen. Der Leser braucht irgendeine Veranschaulichung des emotionalen Innenlebens des Protagonisten. Hier sollte man sich wirklich nicht zurückhalten. Emotionen sind die Triebkraft der Erzählung, sie sind extrem wichtig, um den Leser an die Story zu binden. Emotionen könnt ihr vermitteln über Dialoge, besonders in Konfliktsituationen, über Gesichtsausrücke und Körperhaltung (hier darf ruhig übertrieben werden – schaut euch "Naruto", "One Piece" oder "Bakuman" an) und über die Reaktion der Figuren auf bestimmte Situationen. In Shôjo-Manga sind auch innere Monologe sehr verbreitet. Die sind eine sehr direkte Methode, in das Innenleben von Figuren einzutauchen. Ihr solltet euch aber nicht allein darauf verlassen. Wenn man alles vorgekaut bekommt, fühlt sich der Leser leicht unterfordert. Er muss quasi in die emotionale Erforschung des Protagonisten nichts mehr investieren und ist dadurch weniger involviert in die Geschichte. Denkt dran, Empathie ist etwas, was im Leser entsteht und was er auf die Geschichte projiziert. Innere Monologe sind übrigens dann besonders spannend, wenn sie sich mit dem äußeren Verhalten einer Figur kontrastieren. Im Widerspruch zwichen Schein und Sein kann sehr viel Tiefe in einer Figur entstehen.
 
Gehen wir zur Veranschaulichung noch auf einen Titel ein, der sowohl gutes als auch schlechtes Beispiel ist: Squall in "Final Fantasy VIII". Arbeiten wir die Punkte mal ab. Also: Squall sieht cool aus, bringt schon mal Sympathiepunkte. Aber: Squall ist auch der muffeligste Emotionslegastheniker, den man sich denken kann. Das macht die Sache für den Spieler nicht gerade einfach. Erstens wirkt es nicht gerade sympathisch, wenn der Protagonist die ganze Zeit vor sich hin muffelt. Zudem macht es den Empathieaufbau sehr schwierig, weil Squall seine Emotionen konsequent für sich behält und so auch den Spieler nicht an sich heranlässt. So wird es fast unmöglich, eine emotionale Bindung zu Squall aufzubauen. Ebenso fehlt es ihm an Motivation. Es gibt eigentlich nichts, wofür er sich einsetzt. Er befolgt die ganze Zeit nur Befehle und ist damit ein passiver Protagonist, der nichts aus eigenem Antrieb unternimmt.
 
Aber – dabei bleibt's ja nicht. Im Laufe der Story taut Squall ja auf, sobald er anfängt sich für Rinoa einzusetzen. Plötzlich hat er eine Motivation – Rinoa schützen. Er wird aktiv, weil er sich für sie einsetzt. Dadurch zeigt er auch offen seine Gefühle. Er ist wütend und verzweifelt, wenn Rinoa etwas zustößt. Erst ab diesem Punkt wird er für den Leser zugänglich, weil sich der Spieler ab jetzt in Squall einfühlen und seine Empathie auf ihn projizieren kann. Jemand, dem sonst alles egal ist, der ist auch uns egal. Gleichgültigkeit killt jede Empathie. Aber nun nehmen wir Anteil an Squalls Schicksal und fühlen uns in seinen Kampf ein.
 
"Final Fantasy VIII" ist als Story problematisch, weil sie so extrem lange braucht, bis sie die Empathiebrücke zum Protagonisten aufbaut. Als Videospiel geht das gerade noch, weil's da auch ums Spielen geht und zudem die Nebencharas viel fehlende Empathie auffangen. Als Manga könntet ihr euch so etwas nicht erlauben. Hier müsst ihr in der Regel bereits im ersten Kapitel eine empathische Verbindung zwischen Leser und Protagonisten aufbauen, damit der Leser überhaupt er motiviert ist weiterzulesen. Potential zur Entwicklung ist eine gute Sache (dazu später einmal mehr), aber man muss zuerst darauf achten, dass sich der Leser für euren Protagonisten interessiert und dass er sich empathisch in ihn einfühlen kann.
 
Also: gebt dem Leser genug an die Hand, dass er sich in das Gefühlsleben eures Protagonisten einfühlen kann und dadurch Anteil an seinem Schicksal nimmt. Baut ihr eine dichte emotionale Bindung zwischen Leser und Protagonisten, trägt sich die Story dadurch ganz wie von selbst. Achtet also auf Sympathie, emotionale Ausdrücke, Motivation und Glaubwürdigkeit. Dann wird euer Protagonist den Leser auch mitreißen und er wird nicht von eurer Story lassen können!

P.S. Lust auf ein kleines Ratespiel zum Thema deutsche Manga vs. japanische Manga? Macht mit!


Datum: 28.10.2010 07:48
Erstmals ein ganz großes Lob an dich, das du dich um sowas kümmerst.
Du bist der deutsche Scott Mccloud und ich würde dir wärmstens empfehlen eine Literatur über Storytelling im Comic/Manga zu verfassen.^^

Mit den ,,Primacy-Effekt´´,kann ich nur nachdrücklich wiederlegen, dass man in den viseulle Medien verstärkt damit auseinander setzt, da den Rezipienten das ,,Visuelle´´ genommen wird; das heißt, Sie können sich keine eigenen Bildnis von den Charakteren machen wie es in der Literatur der Fall ist.

Ich habe mal vor langer Zeit einen Kumpel Charakterentwürfe zugeschickt und er sagte mir prompt den mag ich, den letzt nicht, was ich nach eine weile nicht nachvollziehen konnte, da er mir das nicht genauer erklären konnte. Fakt ist ,dass der erste Charakter mehr ähnlichkeiten mit ihm hatte...

das wars fürs erste von mir
ich freue mich schon auf den 4.Teil
MfG Umzug
Datum: 29.10.2010 18:57
Hallo!

Ist ja ziemlich interessant, was du da so schreibst. Das mit der Empathie kannte ich zwar schon, aber auch der Rest war schön zu lesen.

Sag mal, befasst du dich auch beruflich/schul-/studienmäßig mit dem Thema? Das liest sich hier alles wie vom Fachmann :)

So, werd mir gleich mal die anderen zwei Teile durchlesen, schönen Tag noch!


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