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Storytelling-Workshop #2 – Die äußere Gestaltung des Protagonisten Manga, Protagonist, Storytelling, Workshop

Autor:  roterKater
Eine der wichtigsten Weisheiten, die Studenten an den Manga-Fachschulen in Japan beigebracht bekommen, ist: Wenn die Leser die nächste Episode einer Serie erwarten, dann müssen sie nicht wissen wollen, wie die Handlung weitergeht, sondern sie müssen den Protagonisten wiedertreffen wollen. Im Serien-Manga steht die Schaffung eines interessanten und vor allem faszinierenden Protagonisten an erster Stelle, noch vor der eigentlichen Story. Das kann man natürlich eigentlich so nicht sagen, denn erst durch die Handlung stellt sich ein Protagonist ja dar, aber es zeigt, wie immens wichtig eine gut herausgearbeitete handlungstragende Figur ist, damit ein Manga erfolgreich sein kann.
 
Ob "One Piece", "Naruto", "Sailor Moon", Detective Conan", "Inu Yasha" oder "Kuroshitsuji" – sie alle haben besondere Hauptfiguren, die einfach wiederzuerkennen sind und Fans faszinieren. Das glit natürlich nicht nur für Manga, sondern auch für US-Comics ("Batman" und Superhelden allgemein), Literatur ("Harry Potter"), Kino ("Mad Max") oder Fernsehen ("Dr. House"). In vielen Fällen wird der Protagonist sogar gleich zum Träger des Titels.
 
Über die Wichtigkeit des Protagonisten für die Dramaturgie der Handlung hatte ich schon geschrieben. Diesmal soll es hauptsächlich darum gehen, wie man einen solchen Protagonisten gestalten kann. Dafür sind verschiedene Punkte der äußeren und der inneren Gestaltung zu beachten.

 
Die äußere Gestaltung des Protagonisten
 
Das Aussehen des Helden ist natürlich besonders wichtig, gerade in einem visuell geprägten Medium wie dem Comic und dem ganzen Manga- und Anime-Korpus im Allgemeinen, in dem  sehr viel Wert auf Oberflächen und visuelle Gestaltung gelegt wird. Für die äußere Gestaltung halte ich zwei Punkte für besonders wichtig: Attraktivität und Ikonografie.
 
Attraktivität:
 
Machen wir uns nichts vor – ein gut aussehender Held hat es leichter beim Leser. Um den Protagonisten wirklich in jedem Kapitel wiedertreffen zu wollen, hilft es, wenn wir ihn rein äußerlich ansprechend finden. Das ist hier nicht nur im sexuellen Sinn zu verstehen, sonst würden Jungs ja keine Battle Manga mehr lesen. Aber wenn allein das Äußere fasziniert (oder wir es cool oder einfach nur interessant finden), ist damit meist schon der erste Schritt getan, dass wir uns für eine Figur besonders interessieren. Finden wir eine Figur auf den ersten Blick abstoßend oder langweilig, hat sie es schwerer, sich unsere Sympathie zu erkämpfen. In der Psychologie nennt sich das "Primacy Effect". Das bedeutet, dass er erste Eindruck von etwas meist haften bleibt und die spätere Beziehung vorprägt, weil alles Spätere erst einmal gegen diesen ersten Eindruck abgemessen wird. Das ist im echten Leben so und gilt auch fürs Storytelling.
 
In der japanischen Mangaindustrie ist der Erfolg oft schon vom ersten Magazinkapitel abhängig. Deswegen ist der erste Eindruck so besonders wichtig. Zudem verkaufen sich Manga eben zu einem großen Teil auch über das Cover, welches zumindest bei Band 1 vom Protagonisten geziert werden sollte und die Leser erst auf ein Werk aufmerksam macht. Die Auseinandersetzung mit Schönheitsidealen hat also eine wichtige Funktion, aber auf die Geschichte betrachtet beschränkt sich die Attraktivität nicht nur auf die äußere Erscheinung, sondern auch auf Charaktereigenschaften und Handlungen (bestes Beispiel: "Dr. House"). Darüber aber mehr, wenn es um die innere Gestaltung geht.
 
Ikonografie:
 
Attraktivität allein macht einen Protagonisten noch nicht zu etwas Besonderem. Im Manga sind fast alle Protagonisten attraktiv, alle Schönheitsideale schon tausendfach vorhanden. Dadurch allein wird also noch kein Manga zum Erfolg. Deswegen ist die ikonografische Gestaltung des Protagonisten immens wichtig. Man könnte vereinfacht sagen: der Wiedererkennungswert. Ein Protagonist muss, um aus der Masse herauszuragen, etwas Besonderes, Einzigartiges und Unverbrauchtes an seinem Äußeren haben. Er braucht bestimmte äußerliche Merkmale – Kleidung, Haarfarbe, Tattoos etc., aber auch Zeichenstil gehört dazu– die sich dem Leser sofort als besondere Erscheinungsform dieser Figur einprägen.
 
Bestes Beispiel sind sicherlich die Kostümdesigns amerikanischer Superhelden. In Farbe, Muster und besonderen Accessoires (Maske, Fledermausohren, Cape etc.) ist jeder Superheld auf den ersten Blick sofort erkennbar. Bei Dr. House sind es Gehstock und Dreitagebart. Im Manga sind neben einem unverwechselbaren Zeichenstil des individuellen Zeichners häufig besondere Frisuren (Son Goku, Naruto, Sailor Moon). Ichigo aus "Bleach" ist allein deshalb so einfach wiedererkennbar, weil Orange eine bis dato erstaunlich unverbrauchte Haarfarbe für Manga-Protagonisten war. Bestimmte Details wie die Striche auf Narutos Wangen erleichtern ebenso den Wiedererkennungswert. Ungewöhnliche Kleidung, besondere Waffen, bestimmte Piercings  - alles, was zu einem Trademark eures Protagonisten taugen kann, ist wichtig für seine Ikonografie.
 
Dabei ist eine gewahrte visuelle Einfachheit sehr wichtig. Je weniger Details der Betrachter auf einen Blick wahrnehmen muss, um die Ikonografie zu erfassen, umso besser. Radikalstes Beispiel: Mickey Mouse. Ein kleiner und zwei große Kreise reichen völlig aus, um Disneys berühmtestes Geschöpf mit all seinen kulturellen Bezügen ins Gedächtnis zu rufen. Bei den Simpsons hat allein die Hautfarbe schon zur Berühmtheit gelangt. Auch einen Naruto könnte wahrscheinlich der talentloseste Zeichner trotzdem eindeutig erkennbar wiedergeben: gelbe Stachelfrisur, Stirnband, rundes Gesicht, drei Striche unter jedes Auge. Bei Ruffy reicht Strohhut, ständig optimistisches Grinsen, dürre Gestalt und Odas unverwechselbarer Zeichenstil. Manga-Zeichner mit Visual-Kei-Bezug neigen hingegen oft dazu, ihre Figuren mit unzähligen Details zu überladen. Das macht es aber schwer für den Betrachter, aus den ganzen Details das Besondere der Figur herauszufiltern. Und ganz nebenbei macht ihr dadurch euch oder eurem Zeichner das Leben zu Hölle! ;)
 
Warum ist der Wiedererkennungswert so wichtig?
 
- Zum einen brennen sich Figuren dadurch dem Betrachter besser ins Gedächtnis ein. An eine Figur, die besondere Merkmale hat, erinnert man sich leichter. Die ganze Story bleibt dadurch besser im Gedächtnis und lässt die Leser mehr vom dem Thema verlangen.
 
- Zum zweiten hebt es sie aus der Masse der anderen Protagonisten ab. Eine gute Ikonografie fällt auf und macht mehr Leser auf eine Story aufmerksam, gerade wenn man Figuren überall wiedersieht, wie zum Beispiel bei Naruto. Die Story ist dadurch auch besser zu bewerben, weil der Protagonist zum Trademark wird.
 
- Weiterhin hilft es, aus dem Kreis derAttraktivität auszubrechen. Ein Protagonist muss nicht mehr unbedingt toll aussehen, um faszinierend zu wirken. Man denke zum Beispiel an den jungen Son Goku, Detective Conan oder Shin-chan. US-Serien sind hier besonders eindrückliche Beispiele (Die Simpsons, South Park, Family Guy...).
 
- Und nicht zuletzt spornt die Ikonografie auch die Fan-Kultur an, bei Manga insbesondere Cosplay und Fanart. Cosplayer brauchen nicht nur das attraktive Aussehen der Figuren, sondern ihre besondere, unverwechselbare und einfach zu erkennende Erscheinung, damit sie für sie interessant werden.
 
Wenn ihr euren Protagonisten designt, stellt euch also am besten folgende Fragen:

- Warum sollte sich der Leser, allein vom Äußeren her, auf den ersten Blick für ihn interessieren?
- Was macht seine Attraktivität aus?
- Was macht ihn optisch zu etwas Besonderem und?
- Ist das Design einfach und herausstechend genug, um sofort wiedererkannt zu werden?
 

Das letztendliche Design kann euch natürlich keiner abnehmen. Für Anregungen dazu kann ich nur auf einschlägige Zeichenkursbücher, eure Mangasammlung und letztendlich eure Phantasie verweisen. Für einen gut designten Protagonisten gibt es keine Formel. Aber mit diesen Punkten könnt ihr abgleichen, wie gut euer Protagonist auf den ersten Blick bestehen würde und was ihm (oder natürlich ihr) vielleicht optisch noch fehlt (oder zuviel ist), damit ihr Figuren schaffen könnt, die den Betrachter auf den ersten Blick faszinieren.
 
Ach ja, diese Gestaltungspunkte gelten natürlich nicht nur für eure Protagonisten, sondern auch für alle anderen handlungstragenden Figuren. Nicht selten sind ja die Nebenfiguren mitverantwortlich für den Erfolg einer Serie, und eine ganze Reihe unverwechselbarer Gestalten zu schaffen ist noch beteutend schwieriger. Schaut euch mal an, mit welchen Tricks Masashi Kishimoto jeder der sicher weit über 100 in Naruto auftauchenden Figuren ein besonderes Äußeres gibt. Gerade bei so großen Figurengruppen ist es wichtig, nicht nur Haarfarbe und Frisur zu variieren, sondern auch besondere Gesichter zu schaffen (Kishimoto erreicht extem viel über die Gestaltung der Augen).
 
Der Protagonist bleibt aber der Schlüssel zum Erfolg, weil sein Aussehen das Trademark für die ganze Story stellt. Er muss immer klar und eindeutig aus dem Figurenpulk herauszuerkennen sein. Wenn der Protagonist nicht mehr heraussticht und man die Figuren ständig verwechselt, weil der Zeichner immer nur dasselbe Gesicht mit leicht variierenden Frisuren zeichnet, wird es schwierig für den Leser, sich mit dem Protagonisten anzufreunden. Das war zum Beispiel eine der wenigen Problemzonen im ansonsten wirklich tollen "Gothic Sports".
 
Also, immer dran denken: Macht eure Figuren zu etwas Besonderem!
 
Nächstes Mal: Die innere Gestaltung des Protagonisten – Sympathie und Empathie
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Datum: 10.08.2010 00:47
Schöner Beitrag.

Sailor Moon Figuren sind ebenfalls alle mit derselben Gesichtsform und Augenform gezeichnet. Man muss nur die Frisuren tauschen, die Farben ändern und schon hat man sie verwechselt. :D

Die Micky Maus Kreise sind ein Logo. Ich weiß nicht, ob man das also mit einem Protagonisten direkt vergleichen kann. Es ist zwar von der Figur abgeleitet, es fungiert aber nur dazu einen Wiedererkennungswert zu erlangen. Das Logo selbst spielt aber sonst keine Rolle und bietet auch sonst keine Lebendigkeit.
Eher die ausgearbeitete Figur mit dem unverwechselbaren Lächeln.

Wenn man jetzt wirklich etwas designen will, so im designtechnischen Sinne, kann man immer noch Details benutzen. Ich denke, was du angesprochen hattest, war das von Details Überladene. Wenn man eine Figur mit Details kreieren möchte, sollte man schauen, was das ausschlaggebendste Merkmal. Die Details, wie ein Muster für Karohemd, oder ein paar Ohrringe, kann man im Nachhinein hinzufügen. Wer weiß, vielleicht hat ein Protagonist das Bedürfnis viele Gürtel zu tragen, das wäre dann eine Macke, die er hätte.

Ich frage mich, weil viele Serien so Protagonisten-fixiert sind, ob es auch Versuche gegeben hat, indem etwas anderes eine größere Rolle gespielt hat, als ein Superheld.
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Datum: 10.08.2010 01:36

> Sailor Moon Figuren sind ebenfalls alle mit derselben Gesichtsform und Augenform gezeichnet. Man muss nur die Frisuren tauschen, die Farben ändern und schon hat man sie verwechselt. :D

Sailor Moon selbst erkennst du trotzdem an ihrer berühmten Frisur! ^^

> Die Micky Maus Kreise sind ein Logo. Ich weiß nicht, ob man das also mit einem Protagonisten direkt vergleichen kann.

Ich wollte ja auf das Ikonenhafte hinaus. In der Zeichentheorie ist ein Ikon ein Zeichen, dass durch Ähnlichkeit funktioniert. Scott McCloud schließ das Ikonische in "Understanding Comics" mit visueller Abstraktion kurz. Man schafft quasi ein Zeichen, das klar und einfach erkennbar ist, aber noch in irgendeiner Ähnlichkeitsbeziehung zu einem realen Vorbild steht. Und dem Orndet er dann Comicfiguren zu, wie zum Beispiel Mickey Mouse. Bei Mickey Mouse wird das Zeichen, dass du als Logo bezeichnest, mit der stark abstrahierten Figur kurzgeschlossen und so gleichzeitig Trademark wie Figur. Das würde nicht funktionieren, wäre Mickey realistischer gezeichnet. Nicht umsonst sind Verlags- oder Con-Maskottchen immer sehr einfach designte Characters.

In der Kunstgeschichte verbindet man mit Ikonenmalerei immer wiederkehrende Ausdrucksformen für bestimmte Heilige. Diie haben quasi auch ein (für den Eingeweihten) klar erkennbares visuelles Ausdrucksarsenal.

> Ich frage mich, weil viele Serien so Protagonisten-fixiert sind, ob es auch Versuche gegeben hat, indem etwas anderes eine größere Rolle gespielt hat, als ein Superheld.

Gibt es natürlich, aber eher im Seinen-Manga und Gekiga/Story Manga. Also die etwas "literarischeren" Manga-Erzählformen, die mit eher "realistischen" Protagonisten arbeiten. Jiro Taniguchi zum Beispiel und vieles von dem, was bei uns dann unter Graphic Novel läuft. Diese Manga sind eher Story-fokussiert. Darum wird es dann beim Innenleben der Protagonisten gehen. Diese Geschichten stammen aber meist von anerkannten Mangakünstlern, die oft gleich als Gesamtband veröffentlichen und nicht nen harten Gesetzen des Magazinmarktes in Japan unterworfen sind. Hier treten die äußeren Erscheinungsformen zwar etwas in den Hintergrund, aber wichtig sind sie trotzdem. Nicht zuletzt, weil sie engmit dem Innenleben der Figuren zusammenspielen, wie wir noch sehen werden. Aber die Ikonographie tobt sichnatürlich am ehesten da aus, wo nicht so viel Wert auf Realismus gelegt wird.

Und ichgrübel schon den ganzen Tag, aber mir fällt wirklich kein groß erfolgreicher Shônen oder Shôjo Manga ein, der keine sehr auffällige Ikonographie aufweist. Vielleicht noch am ehesten Obata und Ôba, die sich bei "Death Note" und "Bakuman" zumindest bei den Protagonisten verhäktnismäßig realistisch geben. Aber da wird's dann oft über ausgesprochen schräge Nebenfiguren aufgefangen (L bei "Death Note", Eiji und Redakteur Hattori bei "Bakuman.")

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Datum: 10.08.2010 01:43
Der nicht vorhandene Protagonisten-Fokus interessiert mich sehr. Wie du ja weißt, habe ich einige Schnipsel eines Rollenspiels zum Zusammenfügen.
Man könnte da zwar einen Protagonisten heraus arbeiten, aber erstens fänden es die anderen Spieler nicht so toll und zweitens würden jeweils andere Geschichten entstehen, weil sie alle andere Vorgeschichten und Macken haben. :D Das wären für mich interessante Sidestories.

Nebenbei muss ich da überlegen, wie ich den fehlenden Teil, der nirgends aufgezeichnet wurde, wieder ergänze.
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Datum: 19.08.2010 15:58
Wow, wieder mal wahnsinnig gut kombiniert o.o Wirklich, ich hab hier gerade Dinge gelernt, die mich wirklich weiterbringen. Dankesehr :)

Da fällt mir auf dass mein momentaner Hauptcharakter (von meinem derzeitigen Projekt) trotz recht "realistischer" Zeichnungen wirklich unbewusst den Kriterien gerecht wird. Scheinbar hab ich das irgendwie... unbewusst gemacht oder so.

Auch diesen Artikel sollte man den Newcomern in die Hand drücken bevor sie ihre Verträge mit den Verlagen abschließen.

Ich biete Auftragszeichnungen an! Bei Interesse bitte Link klicken
http://animexx.onlinewelten.com/mitglieder/steckbrief.php?id=168042


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