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Huysmans: Gegen den Strich Buchvorstellung

Autor:  halfJack

Normal sein kann jeder, Exzentrik will gelernt sein: Jean Floressas des Esseintes, französischer Adliger und dekadenter Ästhet, hat genug vom banalen Alltagsleben. Er zieht sich in sein Landhaus zurück und erschafft sich eine Fantasiewelt voller Schwelgereien, Exzesse und Abstürze. Als dieser Roman 1884 erschien, liebten ihn einige Leser so sehr wie er andere abstieß. "Gegen den Strich" ist ein Meisterwerk der Dekadenzliteratur und eine Entdeckung für alle, die Charles Baudelaire und Oscar Wilde bereits hinter sich haben.

Joris-Karl Huysmans
Gegen den Strich

Ein Vergleich mit Baudelaire und Oscar Wilde im Klappentext, zwei meiner Lieblingsautoren, das ist schon mutig. Huymans gehört zwar zur Weltliteratur, aber danach gegriffen habe ich eigentlich nur, weil Paul Valéry Gegen den Strich fünfmal gelesen haben soll und es als sein Lieblingsbuch, ja sogar seine Bibel bezeichnete.
Nach einem Viertel des Buches ist mir klar, dass ich mir den Inhalt ohne Lesetagebuch nicht werde merken können.

Lesetagebuch

Einleitung:
Jean wird vorgestellt. Er stammt aus einer gut betuchten, aber degenerierten Adelsfamilie, ist von schwacher Konstitution. Seine Mutter stirbt an Entkräftung, sein Vater an einer Krankheit. Bis zu seiner Volljährigkeit wird Jean von Jesuiten unterrichtet, danach kann er frei als Herzog über sein Vermögen verfügen. Er besucht verschiedene Gesellschaften, gibt sich Ausschweifungen hin, hört sich das Geschwafel von Literatenkreisen an usw. Dabei wächst beständig seine Menschenverachtung und gleichzeitig wird seine Gesundheit angegriffen. Bald entsagt er diesem Leben, verkauft das Schloss seiner Eltern und zieht in ein kleines Landhaus, um dort zurückgezogen zu leben.

Erstes Kapitel:
Rückblick auf seine Ausschweifungen; wie er sein Boudoir einrichtete und dort Frauen empfing; wie er sich daheim einem päpstlichen Vertreter gleich auf einer Kanzel in Szene setzte und ein Schauspiel aufführte, auch wenn nur die Lieferanten kamen; wie er bei winzigen Verlusten ganze Trauerveranstaltungen abhielt. All diesen Extravaganzen entsagt er nun. Der Rest des Kapitels besteht aus Überlegungen zur Wahl seiner Wandfarbe, fünf Seiten bloß über die Wandfarbe.

Zweites Kapitel:
Herzog Jean lässt sich Diener kommen, die sich so wenig wie möglich bemerkbar machen sollen. Er lässt sein Esszimmer so umgestalten, dass es aussieht wie eine Schiffskajüte. Mal stellt er sich vor, er sei im Kloster, mal auf dem Meer. Ein paar Gedanken darüber, dass der Mensch nichts in Wirklichkeit erleben muss, sondern sich alles mit etwas Hilfe einbilden kann.

Drittes Kapitel:
Was sich in seinem Bücherregal befindet. Jedenfalls keine Klassiker wie Ovid oder Virgil, Cicero oder Caesar, sondern eher Lucan und danach französische Literatur. Viele ausschweifende Gedanken über all die Autoren, die er nicht leiden kann.

Viertes Kapitel:
Herzog Jean will seinen Teppich in Szene setzen, dafür kauft er eine Schildkröte. Die unterstreicht die Farbe des Teppichs aber nicht gut, darum stattet er sie mit einem goldenen Schild aus. Das reicht ihm nicht, darum überlegt er sich einen Edelsteinbesatz für den Goldpanzer. Lange Ausführungen über die Wahl der Edelsteine. Zufrieden setzt er die Schildkröte auf dem Teppich aus, aber sie bewegt sich nicht.
Schnee fällt, es scheint Winter zu sein. Jean hat sich eine "Orgel" aus Alkoholsorten zusammengestellt; verschiedene Schläuche mit Alkohol, die er miteinander kombiniert, ja komponiert.
Er bekommt jämmerliche Zahnschmerzen und lässt sich einen Zahn rausreißen.
Am Ende des Kapitels bewegt sich die Schildkröte noch immer nicht. Jean befühlt sie und hält sie für tot.
"Sie war an eine ruhige Existenz, an ein demütiges Leben, das sie unter ihrer ärmlichen Schale zubrachte, gewöhnt; sie hatte den glänzenden Luxus, den man ihr aufdrang, den goldglänzenden Überzug, mit dem man sie bekleidet, die Edelsteine, mit denen man ihr den Rücken gepflastert, nicht vertragen können."
- Ja, möglich. Andererseits denke ich mir, Schildkröten überwintern. Wird sie denn richtig gehalten? Hat sie jemals etwas zu Fressen bekommen?

Fünftes Kapitel:
Die Bilder, die in Herzog Jeans Haus hängen, werden beschrieben, welche Künstler er mag und welche nicht. Dann richtet er sein Schlafzimmer wie eine Mönchsklause ein, natürlich sehr kostspielig und mit dem Komfort eines warmen, bequemen Zimmers. Soll ja nur so aussehen als ob.

Sechstes Kapitel:
Herzog Jean sitzt vorm Kamin und erinnert sich an sein früheres Leben. Er ermutigte damals einen Freund zur Heirat, weil er wusste, dass dieses zukünftige Ehepaar aneinandergeraten würde; sie kauften sich eine runde Wohnung und legten sich einen Haufen unpraktischer runder Möbel zu, bis der Frau der Sinn nach lauter rechteckigen Möbeln stand, wofür sie aber kein Geld hatten. Jean erfreute sich an den Streits.
Dann erinnert er sich an einen Jungen, den er mit ins Bordell schleppte, damit dieser seine ersten Erfahrungen machen konnte. Jean bezahlte mehrere Wochen im Voraus, sodass der Junge so oft ins Bordell gehen konnte, wie er wollte, bis die Zahlung nicht mehr genügen würde und der Junge hoffentlich, nach der Vorstellung des Herzogs, kriminell und schließlich zum Mörder werden würde. Ob sein Plan aufging, weiß Jean nicht, denn es stand nie etwas darüber in der Zeitung, aber einen anderen Werdegang des Jungen hält er für unmöglich.

Siebtes Kapitel:
Erinnerungen an die Zeit bei den Jesuiten. Jegliche Lektüre wird Herzog Jean zuwider. Er hält Diät und will sich Pflanzen zulegen.

Achtes Kapitel:
Pflanzen. Er legt sich Pflanzen zu und beschreibt sie. Seit Robinson Crusoe liebe ich es, über Pflanzen zu lesen...
Gegen Ende träumt Jean, er wandere neben einer Frau mit Bulldoggengesicht, dann kommt die Lustseuche zu Pferde, sie laufen zu zweit vor ihr weg, die Frau mit Bulldoggengesicht verliert unterwegs all ihr Zähne, sie kramt ein paar Tonpfeifen hervor, zerbricht sie und rammt sich die Rohrstücken in die Löcher ihres Zahnfleisches, dabei zetert sie herum, Jean hat Angst gehört zu werden, er würgt sie, zerrt sie mit sich, irgendwann kommt er zu einem Haus und glaubt sich drinnen gerettet, der Reiter ist hinter ihm, doch im Haus ist eine Lichtung im Mondschein und dort springen Pierrots herum und Jean hat Angst zertreten zu werden, denn die Pierrots werden immer größer und größer, und dann taucht eine weitere Frau auf und wird von Amorphophallen angegriffen und ihre Körpermitte klafft auf wie die Wunde einer Pflanze und aaaah.

Neuntes Kapitel:
Die Träume verfolgen Herzog Jean, er kommt nicht zur Ruhe. Seine Pflanzen verwelken.
Von aufputschenden Bonbons unterstützt verliert er sich in Erinnerungen. Da gab es einmal eine Frau, eine Akrobatin, die sein Interesse weckte, als Jean zunehmend impotent wurde. Er stellte sich in ihrer Rolle vor, entwickelte die Liebe eines Mädchens und hoffte, die Akrobatin würde für ihn die Rolle eines Mannes einnehmen. Das Stelldichein mit ihr desillusionierte ihn jedoch. Später traf er durch Zufall einen jungen Mann auf der Straße, der ihn flüchtig berührte. Danach begannen sie ein Liebesverhältnis, das über mehrere Monate ging. Der Herzog denkt in seiner Einsamkeit mit Schaudern daran zurück.

Zehntes Kapitel:
Parfum. Langweilige Ausführungen über Parfum, die an Süskind erinnern. Oder umgekehrt, vielleicht hat sich Süskind davon inspirieren lassen. Bei Herzog Jean hat das Nervenleiden eine Störung seines Geruchssinns ausgelöst und er versucht es durch die "Wissenschaft des Riechens" zu kurieren. Er möchte einen Duft kreieren, fällt aber immer in Erinnerungen zurück und scheitert.

Elftes Kapitel:
Dem Herzog geht es so schlecht, dass die Diener einen Arzt rufen lassen, der völlig ratlos ist. Er verschreibt ihm Ruhe, doch Herzog Jean erholt sich von allein. Nachdem er zu viel Dickens gelesen hat, will Jean nach London. Er fährt nach Paris, um von dort überzusetzen. Vorher kauft er sich einen Stadtführer, sucht Orte auf, wo Engländer sind, um sich in seiner Fantasie bereits in London zu wähnen. Hier vermute ich schon, dass er am selben Abend zurück nach Hause fahren wird ... Und siehe da: genauso passiert es. Noch am gleichen Tag kommt er wieder zu Hause an und ist so erschöpft von den Eindrücken seines erdachten Londons, als käme er von langer Reise.

Zwölftes Kapitel:
Jean ordnet seine Bücher. Sein Zustand bessert sich, er denkt über das Papier nach, aus dem er seine Bücher anfertigen ließ, und über die Autoren, die er mag.

Dreizehntes Kapitel:
Das Wetter macht Jean zu schaffen. Es ist heiß, er geht nach draußen, sieht ein paar Jungen, die sich um ein Butterbrot streiten. Seine Diener sollen ihm selbst eines bringen, aber er lässt es aus Abscheu an die Jungen weiterreichen. Dann ist er wieder daheim, betrachtet seine Besitztümer und verliert sich in Tagträumen.

Vierzehntes Kapitel:
Es geht dem Herzog schlecht, er schafft es nicht mehr allein, seine Bücher fertig zu ordnen. Darum lässt er einen Diener das übernehmen. Währenddessen denkt er über Poe, Baudelaire, Verlaine usw. nach.

Fünfzehntes Kapitel:
Die Leiden des Herzogs werden nicht besser, seine Gedanken schweifen nun zur Musik ab, er sinniert über religiöse Orchester und Choräle. Ein bisschen erinnert er an Molières eingebildeten Kranken. Ist Herzog Jean wirklich krank oder steigert er sich nur hinein? Hat er sich durch seine Fastenkuren selbst geschwächt, durch seine Zurückgezogenheit selbst in ein Nervenleiden getrieben, will er überhaupt gesund werden? Als der Arzt erscheint, hielt ich ihn erst für einen Purgon oder Diafoirus - also jene Ärzte, die dem eingebildeten Kranken unsinnige Rezepte verschrieben, um an ihm bloß Geld zu verdienen - aber Jeans Arzt verschreibt ihm ein Klistier mit Lebertran und Kraftbrühe. Er päppelt ihn sozusagen auf. Jeans Zustand bessert sich, er überdenkt schon wieder seine Wandfarbe. Damit schließt sich der Kreis, möchte man meinen, aber der Arzt fordert ihn dazu auf, endlich diese exzentrische Zurückgezogenheit aufzugeben und unter normale Leute zu kommen.

Sechzehntes Kapitel:
Die Ärzte, die Huysman beschreibt, sind offenbar keine Quacksalber, denn sämtliche anderen Meinungen, die sich Herzog Jean einholt, enthalten gleichfalls den Rat, nach Paris zu gehen und sich mit freudigen Dingen zu zerstreuen. Damit sieht sich Jean versetzt an den Beginn seiner Krankheit, die ihn seiner Ansicht nach erst durch die Ausschweifungen ereilte. Während er sich in Kontemplation über christliche Hilfe begibt, räumen die Packleute sein Haus leer. 


Mein Fazit

Es ist immer schwierig, wenn ein Werk keine richtige Handlung hat. Ich würde sie so zusammenfassen: Herzog Jean entsagt der Welt und allen Lastern, denn er ist ihrer überdrüssig. Statt wirklich das Gegenteil zu tun, lebt er nach wie vor ausschweifend und exzentrisch, bis er ganz zum Schluss vermutlich in sein altes Leben zurückkehrt.
Manchmal macht Gegen den Strich den Eindruck, als habe der Autor nur seine Gedanken über Literatur und Kunst o. ä. zum Besten geben wollen und es in den Rahmen eines nach wie vor dekadenten Lebens eingebunden. Ich glaube sogar, dass man einige Kapitel in beliebiger Reihenfolge neu ordnen könnte, ohne dass es auffiele.
Da ich solche Bücher, ähnlich wie Empfehlungen, ohne Vorkenntnisse anfange, suche ich manchmal nach dem roten Faden. Mir war deshalb nicht klar, was die fünf Seiten Wandfarbe am Anfang sollen. Wenn es dann mit der Aufzählung der Bücher und Gemälde, der Stoffe und Möbel, des Essens und Trinkens, der Edelsteine, Pflanzen und Parfums etc. weitergeht, ist das Konzept natürlich eindeutig. Da kann man schwerlich kritisieren, dass der Autor so lange braucht, um zu erklären, weshalb sich Jean für Orange und Blau an seinen Wänden entscheidet. Das Übermaß dieser Ausführungen verfolgt eine ähnliche Zielsetzung wie die Aufzählung der Pflegemittel in American Psycho von Bret Easton Ellis. Dazwischen werden ein paar Geschehnisse eingebunden, Erinnerungen an vergangene Missetaten oder ein besonders brutal erscheinender Besuch beim Zahnarzt oder abfällige Gedanken über große Literaten, Künstler, Religion. Ob das Effekthascherei ist, weiß ich nicht.
Manchmal wirkt dieses Buch einfach bloß wie die Geschichte einer Inneneinrichtung. Es ist nicht schlecht, aber auch nicht übermäßig gut. Doch das Kapitel mit der Schildkröte gefiel mir, auch wenn mir die Schildkröte leid tat.



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