Diagnose: Schreibblockade von Geminy-van-Blubel (Dreimonatige Challenge) ================================================================================ Kapitel 1: 1.1.2024: Konfetti ----------------------------- „Konfetti!“ Sie warf das bunte Zeug mit beiden Händen hoch in die Luft, als Sara den Raum betrat. War das gerade ihr Ernst? Nach diesem langen Arbeitstag hatte sie sich nur noch ihre Couch, eine dicke Portion Eis und vor allem eines herbeigesehnt: Ruhe. Und jetzt stand Silvy da, ihre beste Freundin seit Kindheitstagen, die sie trotz der gemeinsamen Zeit in über zwanzig Jahren scheinbar noch immer nicht kannte. „Hattest du mir nicht versprochen, dass wir das dieses Jahr lassen?“, seufzte Sara und warf ihre Jacke an den Haken neben der Wohnungstür. Sie schob die Tür zu und stand stocksteif da, als Silvy schon dazu überging, sie mit lauten Juchzen und einer festen Umarmung zu begrüßen. „Sei nicht so! Es ist dein Geburtstag!“, wiegte sie sich und Sara gleich mit – ob diese wollte oder nicht. „Ja, ganz toll, ein Jahr näher an der 40 dran. Juhu.“, konnte Sara sich der Umklammerung endlich entwinden und schleppte sich zum Sofa, das den Mittelpunkt ihrer kleinen Einzimmerwohnung bildete. Offene Küche, Parkettboden, Sofa – was brauchte man mehr? Es war ein wenig eng – aber das machte es auch irgendwie gemütlich. Die abgetragenen Möbel taten ihr Übriges dazu. Manche nannten es vielleicht Boho-Stil, sie nannte es Alles, was die Verwandtschaft nicht brauchte und ihr gab, damit sie sich das Geld für teure Anschaffungen sparen konnte. „Sag mir aber bitte nicht, dass es heute noch mehr Überraschungen gibt.“, ließ sie sich auf die Couch fallen und den Kopf gegen die Lehne sacken, als Silvy einfach nicht aufhören wollte zu grinsen. Sara schwante Böses. Dieses Aufgedrehte kannte sie nur allzu gut: Gleich würde ihre Freundin wieder lospoltern, irgendeinen schrecklich lustigen Plan nennen und sie aus der Bude schleifen – ob Sara wollte oder nicht. Und da brach es auch schon los: „Was wäre das für ein Geburtstag ohne Überraschung?“, klatschte sie in die Hände und Sara fuhr zusammen. „Ich hab echt einen langen Arbeitstag hinter mir.“, versuchte sie zu protestieren, aber Silvy hörte längst nicht mehr zu. Sie sprang hinüber zu dem freistehenden, mintgrünen Kühlschrank – eine der wenigen Sachen, die Sara jemals gekauft hatte, weil sie ihr so gut gefielen. „Es wird dir gefallen!“ „Das bezweifle ich…“, seufzte Sara und dachte an die vielen anderen Geburtstage, an denen Silvy sie irgendwohin geschleppt hatte. Zugegeben, am Ende war es gar nicht so schlecht gewesen, aber… „Überraschung!“, hielt sie ihr eine Schachtel Donuts hin. „Hä?“ Silvy grinste noch immer von einer Wange zur anderen. „Happy Birthday!“, stellte Silvy die Donuts ab, holte eine Flasche Wein und zog eine DVD aus ihrer Hosentasche. „Gemütlicher Filmabend mit gutem Wein und fettigen Leckereien!“ Kapitel 2: 2.1.2024: Laib ------------------------- Sie griff nach dem Laib Brot und setzte das Messer an. Es war ein schönes Brot, Graubrot, mit einer hübschen Mehlschicht darum, noch knusprig und duftend. Aber auch schwer. Schwerer und fester als diese einfachen Gebäcke aus farblosem Mehl, durchgesiebt, bis nichts als Weiß mehr übrig geblieben war. Ja, hier steckte noch Farbe und Kraft drin. Und Geruch. Und Geschmack – auch wenn der manchmal vielleicht ein bisschen gewöhnungsbedürftig war. Aber vor allem steckte Kraft darin. Kraft, die sie dringend benötigte, wenn es wieder hinaus an die Arbeit ging. Zurück in den Regen, zurück aufs Feld, zurück zu den Kartoffeln, die im herbstlichen Wind und Regen dringend aus der Erde geholt werden mussten, damit sie nicht verdarben. Es steckte viel Arbeit, Zeit und Hoffnung in diesen Kartoffeln. Sie mussten sie und ihre Familie über den Winter bringen. Einen strengen Winter, wie der Blick auf das Wetter des vergangenen Jahres ihr verriet. Ein Blick auf die Wolken und Temperaturen, die Regenfälle und Sonnenstrahlen. Vor allem aber auch ein Blick auf die Bäume und anderen Pflanzen um sie herum. Das Grün und wann es im Frühjahr erstmals erschien, wie satt es den Sommer über wurde, geziert von Beeren, Nüssen und anderem Obst. Die Fülle an Süße, die damit einhergegangen war – aber auch die Fülle an Verderb, als die großen Plagen an Wespen und Hornissen einen Großteil dieser üppigen Ernte vernichtet hatten, noch bevor die Früchte richtig reif gewesen waren. All das waren Zeichen für einen harten Winter. Einen langen Winter. Also mussten die Kartoffeln als Basis genügen. Viel anderes blieb nicht, das sie den gesamten Winter über einkellern konnten. Ein paar Rüben, wenn die Mäuse sie nicht bereits vertilgt hatten. Aber die brauchte sie auch Größtenteils für das Vieh. Auch das wollte den Winter über versorgt sein, sich nicht nur vom Heu ernähren. Und sie wiederum brauchte das Vieh, brauchte die frische Milch, die Eier, den Käse und ja, manchmal, wenn es gar nicht anders ging, auch ein bisschen Fleisch. Aber daran dachte sie nur ungern. Erst wollte sie sich an den anderen Vorräten bedienen, die letzten Kohlköpfe noch zu Sauerkraut verarbeiten und wenn die Eichhörnchen ein paar übrig ließen, den Vorrat um Walnüsse ergänzen. Oder Pilze, jetzt war die Zeit dafür. Am Herdfeuer konnte sie sie auch trocknen. Die Vorstellung gefiel ihr deutlich besser. Und vielleicht hatte sie Glück, dass der strenge Winter vor allem mit Kälte und weniger mit meterhohem Schnee kam? Dann konnte sie wenigstens das mühsam gesparte Geld nehmen, um im Notfall den dreistündigen Ritt ins Dorf zu wagen und dort ein paar Lebensmittel zu kaufen. Kapitel 3: 3.1.2024: hä ----------------------- „Hä?“ - Ja, das entsprach auch in etwa meinem ersten Gedanken, als ich dieses Mal die Seite zum Wort des Tages öffnete. Hä? Ernsthaft? Ich klickte es an, um die Bedeutung nachzulesen. Versteckte sich vielleicht noch mehr dahinter, als ich im ersten Moment wusste? Nein, eigentlich nicht. Entweder als Fragewort bzw. um eine Frage gewissermaßen zu verstärken oder Ausdruck des Nichtverstehens. Lustig sind irgendwie auch die Synonyme dafür: „Bitte, ich habe Sie nicht verstanden, was haben Sie gesagt?“. Eigentlich kurios, wie einfach aus einem derart langen Satz mit nur zwei Buchstaben und einem Fragezeichen die gleiche Bedeutung herausgeholt werden kann, oder? Oder ist es in diesem Fall „dieselbe Bedeutung“? An sich kenne ich den Unterschied zwischen „das Gleiche“ und „dasselbe“ recht gut, aber manchmal überkommt mich dann doch die Unsicherheit. In manchen Situationen wird dann aus dem „Na klar!“ doch ein „hä?“. Damit wären wir wieder beim Thema… Und ja, ich habe durchaus gemerkt, dass ich innerhalb weniger Sätze von der Vergangenheit in die Gegenwart gerutscht bin. Vielleicht, weil… tja, warum eigentlich? Ich glaube, weil ich anfangs tatsächlich noch eine Geschichte zum „hä“ schreiben wollte und dann stattdessen ins Philosophieren darüber abgerutscht bin. Hä? Ist Philosophieren an dieser Stelle überhaupt das richtige Wort? Hm… „Hm“ ist auch so ein Wort: nur zwei Buchstaben, aber manchmal mit sehr viel Aussagekraft. Hm. "Hm" beschreibt auch den Zustand ganz gut, wenn ich zwischendurch ins Stocken gerate. Die anderen beiden Texte, die ich in dieser Challenge bisher schrieb, fielen mir doch deutlich leichter. Das sehe ich auch jetzt schon an der Länge des Textes. Der kleine Timer, der im Hintergrund läuft und in der Mitte einen kurzen Gong abgibt, hat mir bereits verraten, dass ich schon über die Hälfte der Zeit hinter mir habe und trotzdem stehen hier erst so wenige Sätze. Aber na ja, manchmal fällt einem nicht so viel ein. Eigentlich bin ich ja schon stolz, überhaupt irgendwas zum „hä“ schreiben zu können. Und wieder schleicht sich das „hm“ heran. Dieses Mal, weil ich es spannend finde, meine eigenen Gedankengänge zum „hä“ zu beobachten – aber das kann ich jetzt nicht mehr näher ausführen. Noch ein Gong und schon sind die zehn Minuten vorbei… Kapitel 4: 4.1.2024: Scheibenkleister ------------------------------------- „Scheibenkleister!“ Sie knüllte den Brief zusammen und feuerte in auf den Tisch. Ein tiefes Seufzen begleitete ihr Kopfschütteln. „Sag ruhig Scheiße, Abby!“, saß Susie ihr gegenüber und nippte an ihrer Bierflasche. Während ihre Freundin die Arme auf dem Tisch verschränkte und mehrmals mit der Stirn gegen die Unterarme haute, saß sie recht entspannt auf ihrem Stuhl und ließ den freien Arm über die Lehne baumeln. „Der Kleine liegt nebenan und schläft. Ich will nicht, dass er mich fluchen hört. Und dich auch nicht!“, knurrte Abby, raufte sich die Haare und blickte Susie düster an, die schon wieder ihre Flasche ansetzte. „Wenn er eh schläft…“, zuckte die die Schulter und konterte mit einem „Hey!“, als Abby ihr die Flasche wegzog. „… Und das könntest du auch mal lassen!“ Sie stellte die Flasche neben sich und ließ sich zurück auf ihren Stuhl fallen. Nach einem kurzen Funkeln aus Susies Augen legte sich schnell wieder Milde in das Kastanienbraun, als sie die Verzweiflung ihrer Freundin besah. „Komm schon, Abbs, lass dich nicht so runterziehen“, legte sich ein schiefes Lächeln auf Susies Lippen, mit dem sie ihre Freundin bisher noch jedes Mal aus einem Tief hatte holen können. Dieses Mal etwa nicht? „Du hast doch grad selbst gesagt, dass es Scheiße ist!“, deutete sie fahrig auf den zerknüllten Brief, um dann doch ein wenig die Mundwinkel nach oben zu ziehen, als Susie meinte: „Scheibenkleister! Nicht vergessen!“. „Du bist gemein!“, konnte Abby sich ein kleines Lachen nicht verkneifen. Doch sie wurde schnell wieder ernst. „Mami, was ist denn hier los?“, stand ihr Vierjähriger in der Tür, rieb sich müde die Augen und hielt sein Kuscheltier fest umklammert. „Nichts, mein Schatz, Tante Susie ist nur mal wieder zu Besuch!“, huschte Abby schnell zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss. „Hey, Großer!“, hob Susie die Hand und erhielt ein zufriedenes Grinsen von ihrem Patenkind. „Schicke Zahnlücke!“, zwinkerte sie und sah den Stolz des Kleinen. „Hat auch gar nicht weh getan!“ Kapitel 5: 5.1.2024: Saurier ---------------------------- „Und was wünschst du dir zum Geburtstag, mein Kleiner?“ „Saurier!“ Svenja seufzte, seit Monaten hatte ihr Sohn nichts anderes mehr im Kopf. Aber sie behielt ihr Lächeln bei und nickte, er sollte nicht merken, dass ihr das Thema inzwischen ganz schön auf den Geist ging. „Ja, Saurier sind toll, aber wie wäre es denn vielleicht mal mit was anderem? Einem Traktor zum Beispiel, hm?“ Der fast Siebenjährige schüttelte vehement den Kopf. „Nein! Saurier!“ Er verschränkte die Arme und schob seine Unterlippe vor. Noch ein Nicken seiner Mutter. Bockige Kinder in Verbindung mit Sauriern – blieb ihr gar nichts erspart? „Na schön, was für einen Saurier möchtest du denn?“ Da fing der Sohnemann direkt wieder an zu strahlen – noch mal gerettet! „Einen echten!“ Svenja stockte. „Hä?“ „Ja! Einen ganz echten! Die Marie hat gestern in der Schule von einer Aus..Ausste…“ „Ausstellung?“ Ihr Filius nickte eifrig. „Eine Ausstellung mit echten Sauriern?“ Das Nicken wurde immer eifriger. „Und da möchtest du reingehen?“ „Jaaa! Und…“ Plötzlich wurde er kleinlaut, fast verlegen. Svenja schmälerte die Augen, grinste ihn verschmitzt an und hatte da schon so eine Ahnung… „Und was?“, beugte sie sich leicht zu ihm vor. Er hatte die Verschränkung seiner Arme längst gelöst und nun stattdessen die Hände hinter dem Rücken, wo die Finger einander kräftig kneteten. Plötzlich war auch der Teppichboden sehr interessant – oder zumindest sein Fuß, der unruhig über das helle Beige glitt und ein paar Flusen jagte. „Und… na ja… vielleicht… also… Marie sagte, dass das ganz toll sein soll, da…“, nuschelte er und wieder hob und senkte ein wissendes Nicken Svenjas Schopf. „Vielleicht sollten wir Marie dann zu dem Ausflug in die Ausstellung einladen, weil sie so lieb war, dir davon zu erzählen, hm?“, fragte sie beinahe beiläufig und sah ihren Filius sofort über beide Wangen grinsen. „Einverstanden?“ „Jaaa!“ „Alles klar, dann frag sie morgen mal, ob sie mit möchte und ob ihre Eltern es erlauben, hm?“ „Mach ich! Jetzt muss ich aber schnell ins Bett, Mama!“ „Damit schneller morgen ist!“ „Ja!“ Svenja grinste, während sie Paul dabei zusah, wie er ins Bad huschte. Vielleicht waren Saurier bald ja doch kein so großes Thema mehr und beim Betreten von Pauls Zimmer käme man sich nicht mehr wie in Jurassic Park vor. Andererseits, wenn Marie die Viecher auch so toll fand…? Kapitel 6: 6.1.2024: genau -------------------------- „Genau!“ Sie ließ ihren Notizzettel sinken, atmete aus und schaute auf die Menge vor sich. „Noch Fragen?“ Ihre Blicke huschten über die Gesichter, die sie zumeist ausdruckslos anstarrten. Nur in einem lag ein Lächeln. In der ersten Reihe, so platziert, dass sie während ihres Vortrags immer wieder zu ihm hatte schauen können, ohne ihn in dem Wust aus Augen und Nasen erst suchen zu müssen. „Danke, Miss Jones, ich glaube das war alles.“, erhob sich der Dozent am linken Rand des Hörsaals und ging auf sie zu, als niemand sich mehr zu Wort meldete. Sie nickte, reichte ihm mit zittriger Hand die Fernbedienung für den Teleprompter. „Das war ein guter Vortrag.“, blickte er sie einen kurzen Moment eindringlich an und nahm ihr die Fernbedienung ab. Augenblicklich sanken ihre Schultern hinunter und die Erleichterung zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Vielen Dank, Professor!“, nickte sie und lief hinüber zu Jonathan, der ihr die guten Neuigkeiten bereits ansah. „Na, was hab ich gesagt?“, grinste er. „Du schaffst das schon!“ „Meine Damen und Herren!“, setzte der Dozent an, als Linda Jonathan gerade antworten wollte und brachte das aufkommende Raunen noch einmal zum Schweigen. Allerdings nur für wenige Minuten, da das Ende der Stunde bereits erreicht war. „Puh, bin ich erleichtert!“, sammelte Linda ihre Sachen ein und schob sich mit Jonathan durch die Tür der Mensa. „Endlich den letzten Vortrag für dieses Semester geschafft!“ Jonathan schmunzelte. „Dass du dir da immer im Vorfeld solche Gedanken drum machst. Du hast doch immer Topnoten!“, knuffte er sie in die Seite und sie zog die Mundwinkel nach unten. „Ja, schon…“, murmelte sie. „Aber?" „Ich habs schon wieder gemacht“, murrte sie. „Was?… Aah, du meinst…“ „Genau…“ „Genau.“, grinste er und fing an zu lachen, als dieses Mal Linda ihn knuffte. „Ich meins Ernst! Immer wieder sag ich in meinen Vorträgen „genau“ – das nervt mich selbst so!“ Er hob die Schultern und legte seinen Arm dann um ihre. „Tja, irgendeine Macke hat halt jeder von uns.“ Kapitel 7: 7.1.2024: Clavicula ------------------------------ „Clav… was..? Cla…“ Lilly hob die Augenbrauen, schüttelte den Kopf und beugte sich wieder über ihr Buch. „Clavicula“, stellte sich ihre Mutter neben sie, blickte über ihre Schulter und trocknete dabei weiter eine Tasse ab. „Schlüsselbein.“, ergänzte sie und ging zurück zur Spüle. „Ja, steht auch in klein drunter, aber mal ehrlich, warum müssen wir die lateinischen Begriffe lernen? Kann doch kein Mensch aussprechen.“, murrte sie und lehnte sich seufzend gegen die Rückenlehne. „Das ist leider so. Du lernst aus allen Bereichen des Lebens etwas in der Schule und kannst dich dann hinterher besser darauf fokussieren, in welche Richtung es beruflich für dich gehen soll.“, stellte ihre Mutter die Tasse in den Schrank und griff sich die nächste. Es war auffällig ruhig, also drehte sie sich wieder zu ihrer Tochter, deren ungläubiger Blick noch immer auf ihr ruhte. „Glaubst du das grad selbst, was du da von dir gegeben hast, Mama?“ Die Ältere konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Klang doch zumindest ein bisschen pädagogisch wertvoll, oder?“ Beide begannen zu lachen. Lilly hatte ihre Mutter schon selbst so einige Male den Kopf darüber schütteln sehen, was bei ihrer Tochter auf dem Unterrichtsplan stand – und sich mitunter seit ihrer eigenen Schulzeit noch immer nicht geändert hatte. „Also Ärztin will ich schon mal nicht werden, dann kann ich den Kram doch einfach weglassen.“, streckte sie die Zunge raus und verschränkte die Arme. „Tja, wenn das nur so einfach wäre, meine Süße. Aber ich befürchte, das wird deine Lehrerin dir dann mit einer entsprechenden Note quittieren.“, ging ihre Mutter an ihr vorbei und hauchte ihr einen Kuss auf den Schopf. Lilly verzog das Gesicht. Wie Recht ihre Mutter da bloß hatte. Zumal die Lehrerin sie ohnehin schon nicht so gut leiden konnte. Zu fantasievoll sei sie. Oft genug nicht mit den Gedanken bei der Sache. Lilly rollte mit den Augen, wenn sie sich das Gemeckere nur vorstellte. Dann fiel ihr Blick zurück auf ihr Biologiebuch. Clavicula – Schlüsselbein Eigentlich ist „Schlüsselbein“ ein viel interessanteres Wort, dachte sie. Ein Bein voller Schlüssel. Oder war das Schlüsselbein etwas, womit man Schlösser öffnen konnte? Ein Schlüssel auf Beinen – auch eine nette Idee! Wie kam man darauf, diesen Knochen so zu nennen und wer hatte die Idee dafür? Standen irgendwann mal irgendwelche Gelehrten um einen Toten herum, deuteten nacheinander auf die Knochen, nannten Namen und dann kamen sie zum Schlüsselbein und ihnen gingen die Ideen aus? Es hat zwar nichts mit dem Bein zu tun und ist auch überhaupt nicht in dessen Nähe, aber dem Brustbein hatten sie schon einen Namen gegeben und nun wurden für das Schlüsselbein einfach wild Begriffe zusammengewürfelt? Kapitel 8: 8.1.2024: arbiträr ----------------------------- Sie saß in dem kleinen, stickigen Büro vor dem viel zu großen Schreibtisch, der über die Hälfte des Raums einzunehmen schien. Mit jedem Wort ihres Gegenübers fühlte sie die Ohnmacht in sich wachsen und ihre Finger sich fester in ihre Handtasche krallen. „Aber…“ Es war nicht das erste Mal, dass sie zu Widerworten ansetzte, die ungehört verhallten. Sie fühlte sich so macht- und kraftlos. Endlich schloss ihr Gegenüber den Mund, ohne ihn sofort wieder für die nächste Belehrung zu öffnen. „Sind Sie fertig?“, versuchte sie noch einmal etwas zu sagen und blickte nun auch endlich zu dem Sachbearbeiter auf. Die letzten gefühlte Ewigkeit über hatte sie das nicht geschafft; ihre Augen auf die vollgekritzelte Schreibtischunterlage geheftet. „Ja und wenn Sie keine Fragen mehr haben, kümmere ich mich jetzt um den nächsten Kunden.“, winkte er ab und sich gleichermaßen Luft zu. Es war ein warmer Sommertag – drinnen wie draußen. „Viel Glück auf Ihrem weiteren Weg“, schob er noch hinterher und sie begann die Stirn zu runzeln. „Sie haben mir gerade gesagt, dass mir wegen eines kleinen Formfehlers drei Monate Arbeitslosengeld gestrichen werden. Weil ich selbst gekündigt habe, nachdem ich es auf meiner alten Stelle nicht mehr aushielt. Wegen Gründen, die ich mehrfach versucht habe Ihnen zu erklären. Und dann halten Sie mir erst einen Vortrag darüber, dass ich selbst Schuld sei, diese Sperre zu kassieren und jetzt so ein halbgarer Wunsch, dem ich anhören kann, wie wenig Sie ihn ernst meinen?“ Sie blickte ihn fest an und fühlte plötzlich ihre Kräfte zurückkommen. Meinte dieser Kerl wirklich, sie hätte nicht gemerkt, wie seine Arroganz mit jedem Wort gewachsen war? Wie er auf sie hinunterblickte? Jetzt guckte er hingegen überrascht, um im nächsten Moment eine Zornesfalte auf der Stirn zu bekommen. Dieses Mal war er es, der ansetzte, aber nicht zum Sprechen kam. Zu sehr verwunderte ihn ihr plötzliches Aufstehen. „Ich hab vielleicht nur einen Hauptschulabschluss, aber ich bin nicht dumm. Und faul erst recht nicht! Und was Ihre genannten Maßnahmen angehen: Die sind absolut arbiträr! Ich weiß, dass Sie durchaus Möglichkeiten gehabt hätten, meine Sperre zumindest etwas kürzer zu halten! Schönen Tag!“, drehte sie sich halb zum Gehen und konnte doch nicht umhin, noch eine Sache auszusprechen: „Da Sie so verdutzt gucken, bin ich noch so nett, das eine Wörtchen einmal für Sie zu übersetzen: Willkürlich, mein Herr. Arbiträr heißt willkürlich. Gern geschehen.“ Kapitel 9: 9.1.2024: Kochbox ---------------------------- „Du willst was?“ Er hob die Augenbrauen und schüttelte ungläubig den Kopf. „Eine Kochbox anbieten.“, wiederholte sie ihren Vorschlag, mit dem sie ihren Mann drei Sekunden vorher aus dem Lesen der Tageszeitung gerissen hatte. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“, legte er die Sportnachrichten beiseite und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Weil wir uns nicht nur auf den Hofladen verlassen sollten.“ Wieder schüttelte er ungläubig den Kopf. „Überleg mal, der Hofladen läuft zwar gut, aber wir könnten auf die Weise noch mehr Kunden erreichen.“ „Und wie stellst du dir das vor?“, verschränkte er die Arme und seufzte aus. Irgendwie mussten die Waren schließlich auch zu den Kunden hin kommen. „Wir bieten die Box im näheren Umkreis an, um sie selbst ausliefern zu können. Vielleicht an alle Haushalte in… 25 km? Aber das können wir noch besprechen. Ich dachte daran, immer eine bunte Mischung unserer Gemüse- und Obstsorten dort rein zu tun. Vielleicht auch ein paar Produkte von den Schulzes dazu oder von Imker Beering. Mit denen sind wir ja eh schon im Gespräch, ob wir ihre Produkte mit in unseren Hofladen aufnehmen.“ „Und du meinst, dass die Kunden das annehmen?“ Er wiegte zweifelnd den Kopf. „Ja. Außerdem möchte ich nicht nur unsere Waren anbieten, sondern auch gleich noch Rezepte dazu legen.“ „Rezepte?“ „Genau. Ich hab schon so oft Fragen gestellt bekommen, wie man Gemüse x und Obst y am besten verarbeiten kann.“ Sie nippte an ihrem Kaffee und schaute ihren Mann an. Er zeigte sich noch immer zögerlich, aber nicht gänzlich abgeneigt. Eine weitere Einnahmequelle neben Hofladen und Marktgeschäft wäre sicherlich nicht verkehrt und das Eine könnte das Andere zudem fördern. „Es ist zwar erst mal eine grobe Idee, aber es treibt uns ja auch niemand, gleich nächste Woche unsere erste Kochbox anzubieten, oder? Ich könnte erst mal einige Rezepte erstellen und eine Auflistung machen, welche Produkte wir wann anbieten. Vielleicht ergibt sich auch noch mal was Neues beim nächsten Gespräch mit Beering und den Schulzes – apropos, die wollen übermorgen noch mal her kommen. Soll ich sie dann mal auf das Thema Kochbox ansprechen?“ Endlich legte sich ein Lächeln auf seine Lippen. Er nickte und meinte: „Ja, mach das ruhig.“ Kapitel 10: 10.1.2024: Guignol ------------------------------ Er zog die Augenbrauen hoch und trat hinter sie, während sie noch immer glückselig in die verstaubte Kiste vor sich blickte. „Noch mal, was hast du da gefunden?“, wagte er kaum, ihr über die Schulter zu schauen und war schließlich völlig irritiert, als sie in die Kiste griff, um eine alte Kasperlefigur hervorzuziehen. „Der Guignol!“, strahlte sie ihn an und bedachte die Puppe dann wieder mit einem liebevollen Blick. Er nickte kurz und ließ die Schultern wieder sinken. Im ersten Moment hatte er den Namen eines Betäubungsmittels verstanden und sich doch arg gewundert, was ihr verstorbener Großvater damit gewollt hatte. So sehr sie ihren Opa auch vergötterte, er hatte ihn immer etwas kauzig gefunden und auch jetzt fühlte er sich nicht gerade wohl dabei, den Dachboden zu entrümpeln und in diesem Meer an Kisten unterzugehen. Vor allem, wenn die kleine Funzel an der Decke so wenig Licht spendete. „Vielleicht sollten wir den ganzen Kram erst mal runter schaffen und bei Tageslicht anschauen.“, murmelte er und schaute sich wieder einmal voller Unbehagen um. Sie hatte ihm allerdings gar nicht zugehört. „Ich erinner mich noch, wie er mir früher immer Geschichten vorspielte.“, zog sie die Puppe auf die Hand und hielt sie ihrem Freund vors Gesicht. Sie war den Tränen nahe, während sich das Püppchen zu einer stummen Melodie bewegte und er konnte bei allem Unwohlsein nicht anders, als ihr doch ein kleines Lächeln zu schenken. „Du vermisst ihn wirklich sehr, hm?“, nahm er sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie nickte und schluchzte. „Er war manchmal schwierig, aber ich kam immer gut mit ihm aus. Er hat mir so viel erzählt und beigebracht. Es war immer schön, hier zu Besuch zu sein.“, löste sie sich mit einem dankbaren Lächeln aus der Umarmung und suchte in der Kiste nach anderen Puppen, die ihr eine nach der anderen das Herz aufgehen ließen. „Einige von denen hat er selbst geschnitzt! Er konnte wirklich alles, was mit Handwerk zu tun hatte!“, berichtete sie stolz und wischte sich eine Träne von der Wange. Ja, handwerklich hatte ihrem Großvater niemand was vorgemacht, nur menschlich hatte er so seine Probleme gehabt. „Aber auch nur, weil die wenigsten Leute sich mal die Mühe machten, ihn richtig kennen zu lernen“, murmelte sie und schüttelte den Kopf, als ihr Freund nachfragte, was sie gerade gesagt hatte. „Ich dachte nur, dass einige Püppchen geflickt werden müssten und vielleicht könnten wir sie danach ja einem der Kindergärten spenden?“ „Das ist eine schöne Idee“, lächelte er und wurde plötzlich skeptisch. „Aber spielen Kinder heutzutage überhaupt noch mit Puppen?“ Sie blies die Backen auf und stützte die Hände in die Hüften. „Na, Danke, jetzt fühl ich mich steinalt!“ Beide begannen zu lachen. Kapitel 11: 11.1.2024: stibizen ------------------------------- „Er macht es schon wieder.“, saß sie am Fenster, die Arme auf der Fensterbank verschränkt und den Kopf darauf abgelegt. „Da!“ Ihr Kopf hob sich und beobachtete gespannt das Treiben vorm Fenster. „Dass dir das nicht irgendwann langweilig wird.“, stellte sich ihr Freund hinter sie und schaute ebenfalls hinaus ins weite Großstadtgrün. „Mich wundert es ja eher, dass hier überhaupt so viele Tiere zu sehen sind.“, ließ sie den Kopf wieder auf ihre Arme sinken. „Ja, manchmal überrascht es einen wirklich.“, murmelte er und verschränkte die Arme. „Da ist er wieder!“ Erneut schnellte ihr Kopf hoch, die Augen gebannt auf die Dachterrasse gerichtet, an deren Ende ein Futterhäuschen mit Nüssen und Samen stand. Direkt an die Terrasse grenzten einige Birken, die in regelmäßigen Abständen verdächtig raschelten, ehe zwei schwarze Knopfaugen zum Vorschein kamen. „Ganz schön flink!“, schmunzelte er. „Und dreist!“, legte sie den Kopf schief, als das Eichhörnchen zum wiederholten Male auf die Dachterrasse sprang und zum Futter hinüber huschte. „Guck dir mal an, wie die Vögelchen zetern!“, mischten sich Empörung aber auch Faszination in ihre Worte. Wer hätte beim Aufstellen des Futterhäuschens gedacht, dass es nicht nur geflügelte Besucher gäbe? Er fing an zu lachen. „Der kleine Kerl hat wirklich keine Angst!“ „Macht er immer so...“, legte sich ein Grinsen auf ihre Lippen. „Mit Anlauf ins Futter und schon stibitzt er sich die nächste Nuss.“, hielt er den Kopf schief und schüttelte ihn leicht beim Anblick dieses Wagemuts. „Pass mal auf, was jetzt kommt...“, schob sie den Kopf etwas vor und ließ den plüschigen Eindringling nicht aus den Augen. „Da! Das macht er auch fast immer!“ Das Eichhörnchen huschte mit der Nuss in eine entlegene Ecke der Terrasse und fing dort an, die Nuss zu bearbeiten. Wieder lachte er. „Gar keine schlechte Idee! Erst mal in Sicherheit bringen!“ „Ja und so annagen, dass ihm die Nuss beim Transport nach unten nicht runter fällt!“, schmunzelte sie. Kapitel 12: 12.1.2024: Britizismus ---------------------------------- „...die hier aufgelisteten Wörter haben im britischen Englisch jedoch eine andere Übersetzung…“, murmelte sie und legte die Stirn kraus. Neue Sprachen zu lernen war ihr nie leicht gefallen und solche Unterscheidungen innerhalb einer Sprache machten es ihr nicht gerade einfacher. „Stimmt ja, da war ja was.“, seufzte sie aus und erinnerte sich an so manche Englischstunde aus der Schule zurück. Die Englischlehrerin damals war ja nett gewesen, aber nicht so richtig fähig, ihr die Sprache näher zu bringen. Schade eigentlich. Nun musste sie versuchen es auf eigene Faust zu schaffen, ihre Fähigkeiten wieder aufzubessern. Na ja, „musste“ vielleicht nicht, aber sie wollte es. Möglicherweise auch aus Scham heraus, in ihrem Alter von fast fünfzig Jahren so schlechte Englischkenntnisse zu haben, obwohl es bestimmt auch Leute gab, denen es noch schwerer fiel. Aber als jemand mit Abitur und Studium sollte sie so etwas doch trotzdem können? Selbst wenn sie „nur“ ein künstlerisches Studium absolviert hatte – schon genug Blamage für ihre anspruchsvolle Familie. Ganz zu schweigen davon, wenn sie jetzt auch noch einen Sprachkurs belegen würde, um sich auf den lang geplanten Englandurlaub vorzubereiten… Sie seufzte aus und stützte das Kinn auf ihre Hand, den Blick aufs Tablet vor sich gerichtet. England… Großbritannien… „Nennt man das nicht Britizismus? Wenn ein Begriff im Britischen seinen Ursprung hat? Und Anglizismus, wenn das Wort aus dem Amerikanischen stammt?“, schaute sie an einen unsichtbaren Punkt an der Decke und scholt sich dann selbst, so mit den Gedanken abzuschweifen. „Ach, wen interessiert das schon! Davon lern ich die Sprache auch nicht!“ Trotzdem verzog sich ihr Mund zu einem kleinen Grinsen. Irgendwie war es doch schön zu merken, dass sie sich wenigstens diese Info nach all den Jahren noch hatte merken können. Aber nichtsdestotrotz fiel ihr das Lernen dadurch noch immer nicht leichter. Sie biss sich leicht auf die Unterlippe und schaute zu ihrem Handy. Ihre Familie sollte es nicht erfahren, aber zum Glück gehörte ihre beste Freundin ja nicht zu ihrer Familie. Und sie war ein echtes Sprachgenie, das nicht nur Englisch und Deutsch fließend konnte! Mit zittriger Hand nahm sie das Handy, atmete einmal tief durch und wählte dann die Nummer. „Hi, ich bins! Du weißt doch, dass meine Eltern einen Trip nach England organisiert haben, für die ganze Familie. Noch mal alle zusammen verreisen, so wie früher…genau… Kannst du mir vielleicht bei was helfen?“ Kapitel 13: 13.1.2024: Gummiarabikum ------------------------------------ „Boah, war das wieder öde!“, streckte er sich ausgiebig, als sie das Hörsaalgebäude verließen und über den weitläufigen Parkplatz in Richtung Promenade liefen. Sven schaute zu ihm hinüber, während er seinen Rucksack schloss und ihn sich umhängte. „Hab ich gemerkt.“, gab er trocken zurück und trat unwillkürlich ein Steinchen weg. „Dass du nicht geschnarcht hast, war auch alles.“ Detlef schmatzte. „Scheiß Pflichtveranstaltungen.“, murrte er und schob die Hände in die Hosentaschen. Es war wirklich verdammt kalt geworden. Und dann hatte er sich auch noch für eine Vorlesung aus dem Bett quälen müssen, die ihn gar nicht interessierte. „Ich wundere mich eher, dass du immer noch so viel Bock darauf hast.“, hob er die Schultern, um seine Ohren wenigstens ansatzweise im Fellkragen der Jacke verstecken zu können. „Könnte dran liegen, dass ich das Studium – anders als du – gewählt habe, weil es mich wirklich interessiert.“, grinste Sven, als Detlef die Augen verdrehte. „Ja, schön für dich. Du weißt genau, dass ich meinen Wahlplatz noch nicht bekommen hab und die Zeit irgendwie überbrücken muss…“ „… damit deine Eltern dir nicht das Geld streichen, wenn du bis zum „richtigen Studienbeginn“ nur auf der faulen Haut rumliegst.“, unterbrach Sven ihn. Die Leier hatte er jetzt schon so oft gehört. „Aber meinst du, mit der Einstellung schaffst du alle Prüfungen bis zum Wechsel? Deine Eltern sind doch nicht doof, die merken doch, ob du dir Mühe gibst oder nicht.“ Detlef zuckte die Schultern. „Kann dir doch egal sein.“ Er klang und wirkte wie ein bockiges Kind. „Sieh es mal so: Wenn du versuchen würdest, dich ein bisschen mehr für unseren Studiengang zu interessieren, käme dir die Zeit vielleicht wenigstens nicht so verschwendet vor. Und vielleicht – ganz vielleicht – würdest du sogar ein bisschen echtes Interesse daran entwickeln. Wär das nicht zumindest einen Versuch wert?“ Detlef blickte aus den Augenwinkeln zu ihm rüber. „Heißt das, du lässt mich nicht mehr die Seminarnotizen kopieren?“ Sven verdrehte die Augen. „Das heißt, dass mir die Zeit viel zu schade wäre, um sie auf diese Weise zu verschwenden.“ Er blieb stehen und blickte zu einem der Bäume hinüber, die ihren Weg säumten. „Was ist?“, tat Detlef es ihm gleich. „Guck mal, eine Akazie.“, nickte Sven hinüber und betrachtete die zerfurchte Rinde mit ihren Stacheln darauf. Jetzt, um diese Jahreszeit, gab es keine Blätter mehr, die ihm zusätzlich hätten verraten können, was da vor ihm stand. „Na und?“ Detlef verschränkte die Arme und trat von einem Bein aufs andere. Hier zu stehen trieb ihm noch mehr die Kälte in den Körper. „Du hast wirklich komplett gepennt, oder? In der Vorlesung ging es gerade um die Akazienarten in Afrika, aus denen Gummiarabikum gewonnen wird.“ „Was hab ich damit zu tun? Los, komm endlich, ich frier mir den Arsch ab!“, drängte Detlef und zog ihn am Ärmel. „Eigentlich hast du da ziemlich oft mit zu tun.“, schlurfte Sven neben ihm her und ließ sich den Duft der gebrannten Mandeln in die Nase steigen, der schon von weitem auf den Weihnachtsmarkt aufmerksam machte, den die beiden zum wiederholten Male in dieser Woche ansteuerten. „Ach, ist das so?“, gähnte Detlef und Sven nickte. „Zum Beispiel, wenn du dir gleich wieder deine geliebten Lebkuchen mit Glasur reinpfeifst.“ Detlefs Gesichtszüge entglitten und er blieb kurz stehen. „Da… ist Gummi drin??“ Kapitel 14: 14.1.2024: prolix ----------------------------- Sven saß am Küchentisch über seinen Seminaraufgaben und begann plötzlich zu schmunzeln. „Was ist so witzig?“, saß Detlef ihm gegenüber und blickte von seinem Laptop auf. Er hatte längst aufgegeben, sich mit dem Seminarstoff abzuquälen und schaute stattdessen Youtubevideos. Aber zumindest als moralische Unterstützung wollte er Sven dabei weiter Gesellschaft leisten. „Prolix“, murmelte der und grinste seinen Kumpel an. Detlef verstand allerdings nur Bahnhof. Er runzelte die Stirn und zog eine Augenbraue hoch. „Weißt du nicht mehr?“, lehnte Sven sich auf dem Stuhl zurück und legte den Aufgabenzettel nieder. Immer noch Rätselraten bei seinem Kumpan. Sven seufzte. „Die Vorbereitungen zur Lateinklausur damals. Ich sollte dich Vokabeln abfragen und da war auch „prolix“ bei.“ Detlef schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. Sven begann zu lachen. Eigentlich hatte dieser verquere Typ sich in all den Jahren, die sie einander schon kannten, kaum verändert. In Gedanken wanderte er wieder an diesen heißen Tag im Juni zurück: Fast war es, als würde er wieder die Sonnenstrahlen auf der Haut fühlen, während sie im Garten von Detlefs Eltern gesessen und gepaukt hatten – mit einem Eis nach dem anderen, um sich irgendwie motivieren zu können. Den Kopf unter dem großen Sonnenschirm und die Füße im Plantschbecken von Detlefs kleiner Schwester. „Prolix“, hatte Sven damals vorgelesen und ein „Selber Prolet!" von Detlef geerntet. „Nein, prolix! - "Ausführlich"! Etwas ausführlich aufschreiben zum Beispiel“... Wenn er jetzt daran dachte, fragte Sven sich schon ein wenig, warum er sich darauf eingelassen hatte, mit Detlef fürs Studium in eine Bude zu ziehen und sogar die ersten Semester des Studiums zu teilen. Eigentlich war damals schon abzusehen gewesen, wie diese „Zusammenarbeit“ heutzutage aussehen würde. Er verschränkte die Arme und legte den Kopf schief, während er Detlef gedankenverloren anblickte. Der hingegen wurde immer unruhiger auf seinem Stuhl. „Alter! Starr mich nicht so an und sag endlich, was du willst!“ Sven grinste. „Manchmal bist du doch ein kleiner Prolet“, murmelte er und griff sich seinen Aufgabenzettel. Kapitel 15: 15.1.2024: Schottenkaro ----------------------------------- „Wusstest du, dass jeder schottische Clan ein eigenes typisches Karomuster hat?“, meinte Antje, während sie an ihrer Skizze arbeitete. Ihre Freundin Jess guckte von ihrem Video hoch und nickte. „Ja, schon mal gehört. Hab mich da aber nicht weiter mit beschäftigt.“ „Eigentlich schon spannend, find ich! Jedes Tartan ist anders“, murmelte Antje und setzte weitere horizontale und vertikale Linien. „Tartan? Ach, Moment, das hab ich vorhin auch in einem der Videos gesehen… Schottenkaro, richtig?“ Antje nickte und griff einen weiteren Buntstift. „Und du willst jetzt einen eigenen Clan gründen und dir ein individuelles Schottenkaro ausdenken, oder wie hab ich das?“, blickte Jess zu dem Zettel vor Antje, der bereits mit einigen farbigen Karovarianten gespickt war. Antje lachte. „Das vielleicht nicht, aber ich möchte mir einen Rock aus dem Stoff nähen und der soll schließlich auch nach was aussehen!“ Jess legte den Kopf schief. „Du, ich hab mir jetzt schon einige Videos zu diesem Webrahmen angeguckt. Vielleicht solltest du erst mal ein bisschen üben, um überhaupt ein Gefühl dafür zu bekommen und nicht gleich ein richtiges Muster damit machen wollen. Bisher hast du doch noch gar keine Erfahrung damit.“ Sie sah, wie ihre Freundin anfing zu hadern. Antjes Ehrgeiz war ihr nur allzu bekannt. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, gab sie alles, um es durchzuziehen – natürlich bestmöglich! Nicht umsonst nannte Jess sie manchmal „Frau Tausendprozent“, was Antje wenig gefiel, obwohl sie sich auch ein bisschen geschmeichelt fühlte. Dementsprechend klein war nun auch Antjes Begeisterung bei dem Vorschlag. Nähen hatte sie schon immer geliebt und nun mit dem Weben ihres eigenen Stoffs noch mehr Möglichkeiten zu haben, ließ sie schon seit Bestellung des Webrahmens kaum noch eine Nacht ruhig schlafen. Sie sprach quasi von nichts anderem mehr und jetzt sollte sie sich erst einmal mit einem Übungslauf zufrieden geben? Kapitel 16: 16.1.2024: huch --------------------------- „Huch!“, entfuhr es ihr, als sie im Halbdunkel die Treppe aus ihrem Zimmer hinunterstieg und den Schankraum betrat. Das Kind hatte wieder die halbe Nacht nicht schlafen können und ihr war dringend nach einem Schluck Wasser, nun, da es endlich etwas Ruhe gab. „Hier bist du“, fiel ihr Blick hinüber zu dem breiten Tresen, der von einer kleinen Funzel beleuchtet wurde und nur einen Gast um diese Zeit beherbergte. Schweigend saß er da, den Rücken zu den vielen Tischen und Stühlen hinter sich gedreht, an denen sich zu anderen Uhrzeiten das laute Leben abspielte. Sie hatte sich schon gefragt, wo er abgeblieben war. Von kleinen Kindern hatte er offensichtlich keinerlei Ahnung und stand nur hilflos daneben, wenn sie seinen Sohn wiegte und fütterte – also hatte sie ihn einfach aus dem Zimmer geworfen, damit sein ängstliches Starren sie selbst nicht auch noch mehr beunruhigte. Schließlich haderte sie auch noch oft genug mit dieser neuen Situation und dem kleinen Leben, das nun in ihrer Verantwortung lag. „Schläft er endlich?“, fragte er leise, als sie näher an ihn herantrat, obwohl er sich die Frage selbst beantworten konnte. Ein warmes Lächeln huschte trotz der Müdigkeit über ihre Lippen. Dieser Mann hatte nicht nur kein Händchen für Kinder, sondern auch für Frauen, wenn er die Stille ausgerechnet mit so einer Frage brechen wollte. Aber das Herz hatte er am rechten Fleck. „Ja. Zumindest für den Moment. Schauen wir mal, wie lange noch“, nahm sie neben ihm Platz und lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen. Nicht selten hatte sie schon so da gesessen, ihre leere Schenke betrachtet und die Gedanken wandern lassen. „Danke für deine Hilfe.“, murmelte er und wiegte das fast leere Glas in seiner Hand. Seit sie aus ihrem Zimmer gekommen war, hatte er den Blick nicht davon abgewendet. Betrunken schien er aber nicht. „Schon gut. Aber ich glaub, einen kleinen Schluck kann ich jetzt auch gebrauchen“, streckte sie die Hand nach seinem Glas aus und überließ es doch ihm, ob er es ihr gab. Er schaute kurz auf ihre Finger, dann in ihr Gesicht, während er ihrer Bitte nachkam. Seine Hand war wunderbar warm im Gegensatz zum eisigen Wind vor dem Haus und sein Blick ließ ihre Wangen bereits erröten, ehe sie zum Schluck angesetzt hatte. Kapitel 17: 17.1.2024: xeromorph -------------------------------- „Und? Wie ist das so, jetzt allein zu leben?“, schlenderten Silvie und Ilka durch den Baumarkt. Zu Beginn war die Auswahl schier erschlagend gewesen, nun, nach gefühlten drei Stunden, die sie hier bereits verbrachten, fiel die Orientierung bereits deutlich einfacher. Ilka zuckte die Schultern. Immer wieder guckte sie auf ihren Einkaufszettel und musterte dann skeptisch die Regale und Waren vor sich. „Ich frag mich ja immer noch, warum Fritz sich hier so gern aufgehalten hat. Mich verwirrt das alles eher, als dass mir das Herz aufgeht“, murmelte sie und schüttelte dann wie ertappt den Kopf. „Tut mir leid, ich sprech immer noch ganz schön viel von ihm, was?“ Silvie schmunzelte und knuffte sie in die Seite. „Nicht mehr so viel wie am Anfang“, zwinkerte sie und nahm Ilka den Zettel aus der Hand, um sie besser bei der Suche unterstützen zu können. „Irgendwie ist das ganz schön peinlich“, nuschelte Ilka, als sie in den nächsten Gang einbogen. „Was meinst du?“ „Na, ich bin jetzt Ende dreißig und völlig unbeholfen was das hier angeht“, schwang Resignation in ihrer Stimme mit. Nicht zum ersten Mal fühlte sie sich in dieser Zeit wie das letzte Elend und ein riesiger Versager. „Hey“, legte Silvie ihr die Hand auf die Schulter und brachte Ilka dazu, sie direkt anzusehen. „Ihr habt euch damals in der Schule kennen gelernt, seid direkt nach dem Abi zusammen gezogen und du hast bis vor einem halben Jahr quasi nie allein gelebt. Ist doch klar, dass das jetzt eine riesige Umstellung für dich ist! Und ein Versager bist du darum auch nicht! Vielleicht hast du mit dem Aufbau von Schränken und Co. nicht so viel am Hut, aber ich bin mal gespannt, wie Fritz die nächste Steuererklärung ohne dich schaffen will!“ Endlich ein Schmunzeln auf Ilkas Lippen. „So wie ich ihn kenne wird er sich einen Steuerberater holen“, schob sie ihren Einkaufswagen weiter und bog in die Pflanzenabteilung. „Genau. Merkst du den Unterschied?“, stellte Silvie sich neben sie, während Ilka einige Sukkulenten betrachtete. Die hatten ihr schon immer gut gefallen, aber Fritz hatte für Blumen nie viel übrig gehabt. „Was meinst du?“, schaute Ilka kurz hoch und betrachtete dann wieder mit einem seligen Gesichtsausdruck die Pflänzchen. „Du könntest dir jetzt auch für alles einen Handwerker suchen, aber stattdessen versuchst du dich selbst da reinzufuchsen. Ilka, du bist ne starke Frau und hast schon viel im Leben erreicht! Das hier schaffst du auch“, lächelte sie und beide Frauen strichen sich eine Träne von der Wange. „Danke, dass du für mich da bist“, legte Ilka kurz den Arm um Silvie. Ihre beste Freundin hatte ihr in den vergangenen Monaten sehr zur Seite gestanden. „Und jetzt kauf dir endlich deinen Kaktus!“, grinste Silvie und Ilka lachte. „Nun kann endlich keiner mehr meckern, dass er sich versehentlich daran stechen könnte!“, stellte sie drei Pflänzchen in ihren Einkaufskorb. Erst einmal klein starten und nach und nach würde sie vielleicht weitere bei sich einziehen lassen. „Weißt du eigentlich, dass es für ihre Wuchsform einen eigenen Begriff gibt?“, steuerte sie nun langsam die Badabteilung an. „Du meinst bei den Kakteen?“ „Ja. Pflanzen, deren Wuchsform an die Trockenheit angepasst sind, werden auch als xeromorph bezeichnet. Hab ich mal in einer Dokumentation gesehen.“, meinte Ilka und erzählte Silvie einige spannende Fakten – spannend zumindest für Ilka, aber Silvie war froh, ihre Freundin endlich einmal wieder etwas positiver und glücklicher zu sehen. Kapitel 18: 18.1.2024: Pawlatsche --------------------------------- Nick seufzte aus und verschränkte die Arme. Bei den Erzählungen von Steffen hatte er schon nicht unbedingt Begeisterungsstürme in sich aufziehen spüren, aber jetzt mit eigenen Augen zu sehen, wofür sein Kumpel da so schwärmte - er schüttelte den Kopf und rümpfte die Nase. „Und? Wie findest du es?“, hatte auch Steffen die Arme verschränkt, aber sein Gesichtsausdruck war von Stolz und Vorfreude geprägt. Er war manchmal ein bisschen sensibel, das wusste Nick. Eigentlich hätte er sicherlich Worte gefunden, um sein Empfinden etwas subtiler zum Ausdruck zu bringen, aber Nick war Nick und Schönrederei nicht sein Ding. „Mein Großvater würd zu dem Ding Pawlatsche sagen“, murrte er und trat ein paar Schritte beiseite, um das alte Gebäude, vor dem sie standen, auch von der Seite zu begutachten. „Hä?“ Steffen folgte ihm nur mit den Augen. „N baufälliges Haus. Pawlatsche“, wiederholte Nick und Steffen nickte kurz verstehend – stimmt, Nicks Großvater kam aus Österreich. Dann allerdings legte er die Stirn in Falten. „Moment… hattest du das Wort nicht mal in einem anderen Zusammenhang genannt?“, grübelte er. Nick ließ gerne mal österreichische Begriffe in ihre Gespräche einfließen, aber dieser kam ihm bei näherem Überlegen sogar bekannt vor. „Ja, hat mehrere Bedeutungen, aber in diesem Fall trifft Bruchbude es wohl am besten“, latschte er langsam zu Steffen zurück. „Obwohl ich gerade fast hoffe, dass das Ding später zu einer Bretterbühne werden soll – denn viel mehr kannst du damit wohl kaum noch anstellen. Außer es vielleicht noch zu Feuerholz zu verarbeiten“. Steffen grinste. „Nein, mein Entschluss steht fest! Ich kauf das kleine Häuschen und werde es mir schön wieder herrichten! Ich bin gelernter Holzwurm, das trau ich mir zu! Immerhin hab ich auch ein paar Kollegen, die sich mit Fachwerk auskennen!“, konnte auch Nicks mürrische Ader seiner Vorfreude keinen Abbruch tun. „Das Ding ist uralt und total marode. Du wirst ewig dafür brauchen und wo willst du das Geld hernehmen?“ „Erstens hetzt mich keiner, es in drei Tagen fertigzustellen – noch hab ich meine feste Anstellung ja nicht gekündigt. Und zweitens spare ich schon seit Jahren darauf, mein Geld für so eine sinnvolle Investition anzulegen. Hier kann ich später wohnen und direkt meine eigene Werkstatt haben! Es ist perfekt!“, trat Steffen einen Schritt vor und legte die Hand auf die massive Eichentür. Kapitel 19: 19.1.2024: Hüftspeck -------------------------------- Am kommenden Montag ging sie also endlich los: Die neue Arbeitsstelle mit besserer Bezahlung und mehr Verantwortung! Frank stand vor dem Spiegel, schaute in sein haariges Gesicht und grinste zufrieden. So richtig konnte er immer noch nicht glauben, dass er unter allen Bewerbern ausgewählt worden war. Die Ausschreibung hatte innerhalb des Unternehmens stattgefunden und er kannte einige der anderen Kandidaten – sie waren gut! Aber offensichtlich war er besser. Mit stolz geschwellter Brust griff er nach seinem Rasierer. Nun, in leitender Position, musste er ein wenig mehr auf sein Äußeres achten, den Bart mehr stutzen – oder vielleicht sogar ganz abrasieren? Seine Frau würde einen Schreck bekommen, aber Haare wuchsen schließlich nach. Und er hatte sich lange nicht mehr glatt rasiert gesehen. Mit einem Schulterzucken warf er also die Rasiermaschine an und legte los. Was sollte schon passieren? Neuer Job, neues Gesicht! Vielleicht würde er sich ja selbst überraschen! Und das tat er tatsächlich. Nur leider nicht so, wie er gehofft hatte. Als seine Wangen und das Kinn von allen Haaren befreit waren, trat er einen Schritt nach hinten und beäugte sich kritisch. „Meine Güte, ohne Bart seh ich ganz schön pummelig aus“, murmelte er und der Eindruck verschwand auch nicht, als er wieder vortrat und danach gleich mehrere Schritte zurück. „Na ja, ist vielleicht wie mit Fotos, auf denen sieht man auch immer zehn Kilo schwerer aus“, sammelte er die Überbleibsel seines Gesichtsvorhangs ein und warf sie in den Mülleimer. Eigentlich hatte er erst am Sonntag die Kleidung für Montag raussuchen wollen, aber ihn beschlich das Gefühl, dass jetzt, am Donnerstag, ein erster kurzer Blick in den Kleiderschrank nicht schaden könnte. In den vergangenen Monaten war er fast nur im Homeoffice gewesen, hatte bequeme Kleidung getragen und war sogar mit Jogginghose einkaufen gewesen. Was hatte er überhaupt noch an guten Klamotten vorzuweisen? Mit Freude fiel sein Blick auf die vielen Anzüge, die er vor der Pandemie immer getragen hatte. Wie gut hatte er darin ausgesehen! Darauf freute er sich schon, auch wenn ihm das Homeoffice mit den gemütlichen Hosen ein wenig fehlen würde. Aber diesen Gedanken schob er schnell beiseite, griff den ersten Anzug und – war entsetzt! Er passte nicht mehr! „Was zum…?“, Nach und nach zwängte er sich in die Hosen und Jacketts, aber entweder gingen sie gar nicht zu oder sahen aus, als wäre eine Presswurst in sie hineingeschossen worden. Nun traute Frank sich endlich, auch mal nicht nur sein Gesicht im Spiegel zu betrachten, sondern ebenfalls seinen Körper. Was er so lange erfolgreich verdrängt hatte, war jetzt Wirklichkeit geworden: Der Hüftspeck war wirklich da und hatte nicht nur den Anschein aufgrund des ausgebeulten Pullovers erweckt. Er seufzte und ließ sich aufs Bett sinken. Nun verstand er auch, warum seine Frau ihn in letzter Zeit nicht mehr so oft „Schatz“, sondern „Bärchen“ genannt hatte. Auch, wenn sie es mit liebevoller Stimme getan hatte. So wie jetzt, als sie die Wohnung betrat und schon von weitem rief „Bärchen, ich bin wieder da!“ Er seufzte aus, stand auf und griff sich seine Jogginghose. „Ja und lass die Schuhe gleich an. Wir müssen noch was einkaufen…“ Kapitel 20: 20.1.2024: Verbalerotikerin --------------------------------------- „Nun hör schon endlich auf!“, zischte Lisa und stieß ihrer Freundin Maggie den Ellenbogen in die Seite. Die verlor beinahe ihr Eis und warf Lisa einen finsteren Blick zu. Aber schnell war die Wut verflogen, als sie wieder genüsslich an der glänzenden Schokokugel schleckte und sich die kühle Erfrischung die Kehle hinuntergleiten ließ. „Du bist manchmal echt ein Spießer“, ging sie mit der Zunge auf Fang einiger Tropfen, die schon gefährlich weit die Eiswaffel hinuntergelaufen waren. Dieses Mal war es Lisa, die finster schaute. „Hat mit Spießer nichts zu tun! Aber wir sind hier nicht im Pornokino!“, flüsterte sie und guckte mit hochrotem Kopf über die bedrückend volle Fußgängerzone. So gerne sie Maggie auch hatte, es wurde ihr stets peinlich, wenn die anfing von ihrem Liebesleben zu erzählen – so anschaulich und obszön, dass sich jedes Detail in Lisas geistiges Auge brannte, obwohl sie nur davon hörte. „Du tust fast so, als wären wir im Kloster! Die wissen doch alle, wie man vögelt!“, deutete Maggie mit einer ausschweifenden Handbewegung auf die Menschenmenge und grinste kurz schief, als sie ein kleines Mädchen wenige Meter vor sich sah, das sie mit großen Augen anstarrte. „Na gut, du hoffentlich noch nicht“. Die Mutter zog das Kind weg und Maggie lachte auf. Erst dann merkte sie, dass sie plötzlich allein da stand. „Lisa?“ Sie drehte sich um sich selbst, erkannte dann auf der anderen Seite der Einkaufspassage das gelbe Kleid mit Blumenmuster ihrer Freundin und stapfte ihr genervt hinterher. „Kannst du nichts sagen? Hätte dich fast aus den Augen verloren!“, betrachtete Maggie die Sportbekleidung, die im Schaufenster präsentiert wurde. „War Absicht“, knurrte Lisa und biss in ihr Eis – Autsch! Direkt machte sich Kopfschmerz breit! „Du bist die reinste Verbalerotikerin! Manchmal bist du mir richtig peinlich!“, rieb sie sich die Stirn und kniff die Augen zusammen. Maggie betrachtete sie einen Moment schweigend, blickte sich dann um und guckte wieder zu Lisa. „Stört dich das echt so sehr?“ „Ja! Ich bin nicht prüde, nur weil ich dein Sexleben nicht bis ins kleinste Detail kennen möchte! Und ich bin auch kein Spießer, wenn ich solche Themen nicht vor so vielen Leuten besprechen möchte! Abgesehen davon weißt du, wo ich arbeite – und ich hab keine Lust, dass mal ein Kunde deine verbalen Auswüchse hört und ich dann hinterher noch einen Einlauf von meinem Chef kassiere!“ Kurz überlegte Lisa sogar, ihr Eis in den nächsten Mülleimer zu werfen. Irgendwie war ihr der Appetit inzwischen gehörig vergangen. „Einlauf, hm?“, schmunzelte Maggie und presste schuldbewusst die Lippen zusammen, als Lisa ihr einen vernichtenden Blick zuwarf. Sie hob beschwichtigend die Hand und wurde überraschend ernst. „Na gut, na gut! Schon verstanden! Ich versuch mir solche Witzchen künftig zu verkneifen.“ Lisa hob die Augenbraue und musterte sie skeptisch. „Es macht mir zwar Spaß über solche Sachen zu sprechen, aber ich kenn auch Leute, die da besser mit umgehen können. Vielleicht bleiben wir einfach bei Themen, über die wir beide gerne reden, hm? Das ist ja auch eigentlich Sinn einer Freundschaft: Gern Zeit miteinander zu verbringen und nicht beschämt vor dem anderen zu flüchten, oder?“, grinste sie schief und bekam von Lisa ein ehrliches Lächeln geschenkt. Kapitel 21: 21.1.2024: papperlapapp ----------------------------------- Tränen brannten in Brias Augen. Sie ballte die Fäuste, zog ihre Schultern hoch und kämpfte gegen das Zittern der Unterlippe an. „Aber ich hab die Vase nicht runtergeworfen! Ehrlich nicht!“, versuchte sie abermals das Gehör ihres Vaters zu erlangen, der nur kopfschüttelnd vor ihr stand. Seine Arme waren verschränkt, die Enttäuschung nur allzu gut in seinem Gesicht abzulesen. „Lüg mich nicht an! Wer soll es sonst gewesen sein?“, schnaubte er aus und betrachte zornig die Scherben auf dem Küchenboden, ehe er wieder zu seiner Tochter schaute, deren Kopf hochrot anlief. „Woher soll ich das wissen? Ich jedenfalls nicht! Warum glaubst du mir nicht?“, schluchzte sie und ärgerte sich darüber, die Tränen nicht zurückhalten zu können. „Weil hier sonst niemand war!“ „Vielleicht hast du sie ja selbst nicht richtig zurück gestellt, als du sie heute Morgen mit neuen Blumen bestückt hattest?“, wehrte Bria ab und fühlte ein Stechen in der Brust, als die Verzweiflung in ihr immer größer wurde. „Das wüsste ich aber! Junges Fräulein, ich bin wirklich enttäuscht von dir, dass du nicht mal dazu stehst einen Fehler gemacht zu haben! Du hast zwei Wochen Hausarrest und jetzt räum die Scherben auf, bevor deine Mutter diese Sauerei sieht!“, wendete er sich zum Gehen und steuerte die Tür an. „Aber…“ setzte Bria abermals an, doch ihr Vater reagierte nur mit einer wegwischenden Handbewegung und einem „Papperlapapp!“, ehe die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Bria ließ sich auf einen Stuhl sinken und den Tränen freien Lauf. „Das ist nicht fair!“, wimmerte sie und rieb sich die Nase. „Tut mir Leid, dass du Ärger bekommen hast“, hörte sie plötzlich in nächster Nähe und sprang erschrocken auf. „Wer spricht da?“, suchte sie nach dem Besitzer der kleinen fispeligen Stimme und schaute sich um. „Sei mir bitte nicht böse. Ich versuch es wieder gutzumachen“, hörte Bria erneut und starrte hinüber zur Arbeitsplatte, mit verschiedenen Dosen an Kräutern, Tee, Kaffee und vielem mehr darauf. Sie schmälerte die Augen. Der Tag war bewölkt und die Küche ohnehin nicht sonderlich gut ausgeleuchtet. Allzu viel konnte auch die olle Funzel über dem Küchentisch daran nicht ändern. „Was zum…“. Zwischen den Behältern entdeckte sie eine kleine Gestalt. Sie trat einen Schritt darauf zu und sprang dann erschrocken zurück. „Ieh! Eine Maus!“, wollte sie bereits zur Tür hechten, als sie wieder die Stimme rief. „Nein, bitte warte!“ Bria verharrte in ihrer Bewegung und blickte wieder zögerlich zu der Maus hinüber. „Du… kannst du reden?“ Das Mäuschen nickte. „Ich wollte keinen Schaden anrichten“, sprach es schuldbewusst und guckte Bria aus großen Knopfaugen an. Langsam ging sie näher auf das Mäuschen zu. „Letzte Tage stand die Hintertür offen und es roch so gut nach Brot. Da konnte ich nicht widerstehen, aber als die Tür plötzlich zufiel, war ich hier gefangen. Ich hatte schreckliche Angst und hab mich erst mal versteckt“, meinte das Mäuschen, während Bria nun endlich ganz nah vor ihm stand und es fasziniert betrachtete. „Und was ist mit der Vase passiert?“, legte sie den Kopf schief und das Mäuschen seufzte aus. „Die Katze hat sich reingeschlichen und ich wollte mich vor ihr verstecken.“ „Aber sie hat dich gesehen und bei ihrer Jagd dann die Vase umgerissen, hm?“ Das Mäuschen nickte. Wieder entschuldigte es sich, aber Bria lächelte. „Komm, ich lass dich raus, bevor Paps noch was merkt“, zwinkerte sie und sah die große Überraschung in den Augen des Mäuschens. Rasch huschte es ihr hinterher und setzte sich aufgeregt auf die kleinen Hinterfüßchen, als sie die Hand an die Klinke legte. „Aber nur unter einer Bedingung, Mäuschen: Ich möchte, dass du mich noch mal besuchst und mir dann erzählst, warum du eigentlich sprechen kannst“, zwinkerte Bria. Kapitel 22: 22.1.2024: Oscedo ----------------------------- Jannes saß mit seinem Kollegen Mick in der Mittagspause. Es war ein widerlich schwüler Tag, der schon am Vormittag nass und verschwitzt aus jeder Pore gekrochen war. Auch die voran gegangene Nacht hatte nicht viel Abkühlung gebracht. Zudem war auch noch eine Mücke in Jannes Schlafzimmer gekommen. Mit finsterer Miene dachte er an den ungebetenen Gast und schwor sich, heute Nacht auf die Pirsch zu gehen. Vorher musste er aber noch irgendwie den Arbeitstag rum bekommen. Und das bei der Hitze… Wieder gähnte er und griff nach seinem Kaffee – heute war die Wirkung gefühlt gleich null. Und er so in seinen Gedanken versunken, dass er Micks musternden Blick gar nicht bemerkte. „Hoffentlich kein Oscedo“, murmelte der plötzlich und holte Jannes Aufmerksamkeit damit zu sich. „Hm?“ Er dachte erst, Mick hätte was zur heutigen Aufgabenverteilung gesagt und blickte noch irritierter, als der seinen Satz wiederholte. „Oscedo? Was soll das sein?“ „Gähnkrampf!“, beugte Mick sich verschwörerisch zu Jannes rüber und hob warnend den Finger. „Weißt du, damit ist nicht zu spaßen! Abnorm häufiges Gähnen kann ein Zeichen für eine chronische Ermüdung sein oder sogar Epilepsie oooder auf eine organische Hirnkrankheit hinweisen!“, flüsterte er, als wolle er Jannes damit beschützen, ehe alle anderen Kollegen von der furchtbaren Diagnose erfuhren und anfingen ihn zu bemitleiden. Der runzelte allerdings nur die Stirn und ließ seine Knifte zurück in die Butterbrotsdose sinken. „Sag mal, hast du schon wieder deine Krankenhausserie geschaut, die du immer guckst?“, verschränkte er die Arme und verdrehte die Augen bei Micks Antwort. „Ja! Zum Glück! So ist mir das früh genug aufgefallen und du kannst dich direkt um einen Arzttermin kümmern, um das abklären zu lassen!“, entgegnete er stolz. Jannes wunderte eher, dass Mick nicht gleich selbst die Untersuchung durchführen wollte. Seit er seine Freude an Arztserien entdeckt hatte, führte er sich auf, als wäre er selbst ein Mediziner. „Nichts für ungut, aber ich hab einfach nur schlecht geschlafen“, murrte Jannes und griff nach seiner Stulle. Wieder legte Mick den Kopf schief. „Uh…“ zog er die Luft scharf ein. Jannes stoppte in seiner Bewegung. „Was denn nun schon wieder?“ Die Nacht war kurz gewesen und sein Geduldsfaden gerade noch kürzer. „Hoffentlich nichts Seelisches? Hast du das öfter, dass du nicht gut schläfst?“, wurden Micks Augen groß. „Vielleicht solltest du mal…“ „Die Pause an dieser Stelle beenden oder mir zumindest ein anderes Plätzchen dafür suchen!“ Kapitel 23: 23.1.2024: Kopfkino ------------------------------- Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand, es war langsam Zeit, sich auf den Weg zu machen. Mit ein wenig Wehmut ging sie zur Garderobe und griff sich Mantel und Schal. Wie liebte sie es doch, sich am Morgen noch ein wenig in Ruhe auf das Sofa zu setzen, in eine Decke gehüllt, einen leckeren Kakao trinkend, während draußen Regen und Sturm tobten. Nur dann auch in dieses Wetter hinaus zu müssen… wobei das Wetter selbst noch nicht einmal das Problem war, sondern eher die Laune der Menschen um sie herum. Alle waren trist und grau und trüb – so wie das Wetter. Mit einem leichten Seufzen wickelte sie sich den Schal um und dann kam das Wichtigste: Die Kopfhörer. Ihre Geheimwaffe, um sich den Tag zu verschönern und die Gespräche der anderen Menschen auszusperren, wenn sie sich auf den Weg in die Uni machte. Sie verband ihr Handy, wählte eine Playlist aus und sobald die Melodie begann, hob sich auch der Vorhang in ihrem Kopfkino. Mit der passenden Musik war es wie in einem guten Film: Sie wurde zur Heldin ihrer eigenen Geschichte und nur sie sah, was keiner sonst erkannte. Zu Fuß ging es in die Innenstadt, durch die Einkaufspassage. Der Wind hatte eine weiße Tüte aufgeweht und trieb sie durch die Luft – wie einen großen Vogel, inmitten der grauen Großstadt. An einem Bachlauf entdeckte sie noch einige Eisschollen und wenn das Wasser sich von unten gegen sie drückte, wirkte es wie eine Gruppe von Fischen, die miteinander spielten. Der Weg vorbei am Blumenverkäufer ließ sie davon träumen, über eine große Wiese mit unzähligen Blüten und magischen Wesen zu laufen, aber manchmal kam ihr auch ein bekanntes Gesicht entgegen, dem sie nun endlich einmal so richtig die Meinung geigen konnte – auch wenn sie es nie aussprechen würde. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht und mit jedem weiteren Schritt ging ihr Kopfkino weiter auf Reisen, entdeckte unbekannte Welten, Wesen und Figuren. Sie sah die Geschichten vor sich, die sie irgendwann einmal niederschreiben würde. Lauschte den Unterhaltungen ihrer Charaktere, sah die Abenteuer, die sie erlebten und fühlte die Gefühle, die in ihnen hochstiegen. Sie liebte diese Momente ganz mit sich und ihrer Fantasie, die wie kleine Inseln ihren Alltag erhellten. Schon hatte sie den mehr als dreißigminütigen Weg hinter sich gebracht und stand vor den großen Eingangstoren der Uni. Die anderen Studenten strömten hinein, nur Augen für ihre Handys oder Gesprächspartner. Sie aber blieb einen kurzen Moment stehen, atmete durch und setzte die Kopfhörer ab. Nun war es wieder Zeit für den Alltag – aber die nächste Pause mit einer kleinen Insel wartete bereits auf sie. Kapitel 24: 24.1.2024: Bubi --------------------------- „Du bist so ein Arsch!“, brüllte der Blonde und ballte seine Hände zu Fäusten, aber das konnte diesem breitschultrigen Stiernacken nur ein hämisches Grinsen entlocken. „Und du ein Bubi! Hols dir doch!“, pfiff er sich gemütlich das Hefeteilchen rein, das Grund für die diesmalige Auseinandersetzung der beiden Brüder war. „Mama hat die genau abgezählt und das da ist meins! Das weißt du ganz genau!“, schnaufte der Blonde und versuchte noch einmal, sich wenigstens ein Stückchen seines Essens zu sichern. Aber es war wie immer nutzlos: Auch wenn sein Bruder deutlich jünger war, hatte er die kräftige Statur des Vaters geerbt und wusste seine Angriffsversuche mit Leichtigkeit auszuhebeln. „Bubi bleibt Bubi!“, lachte er auf und schob sich den letzten Bissen in den Mund. „Immer noch besser als so ein grenzdebiler Gorilla zu sein!“, schrie der Blonde aus und sagte dann das eine Wort, das den anderen unter Garantie auf die Palme brachte. Das Lachen und das Essen blieben dem Angesprochenen im Halse stecken und während dem Blonden zunächst ein Schauer der Genugtuung durch den Bauch glitt, wurde schnell ein fester Klumpen Stein daraus, als er merkte, wie wütend er seinen Bruder wieder gemacht hatte. Er wusste genau, dass der es nicht ausstehen konnte, wenn man ihn bei seinem vollen Namen rief, statt die Koseform zu benutzen. Das war für ihn eine größere Beleidigung als irgendwelche Tiernamen. „Du bist dran!“, blähte er die Nüstern wie ein Stier und stürmte auf den Blonden los. Der hatte aber wenigstens einen körperlichen Vorteil: Die schnelleren Beine. Nicht zum ersten Mal polterten die beiden durch das Haus und verlegten ihre Rangeleien dann nach draußen, wobei der Blonde es doch immer wieder schaffte, ihn abzuhängen und sich nach einer Flucht durch den Wald schließlich an den Klippen wiederfand. Seine Lunge brannte und die Knie hatten irgendwann begonnen zu zittern, aber es war auch immer wieder ein Hochgefühl, wenn er hier ankam, über das weite Meer blickte und wusste, dass er dem Gorilla wieder einmal entkommen war. Zumindest diesen Triumph konnte dieser Großkotz ihm nicht nehmen! Aber dann kam auch meist die Trauer und Wut darüber, dass ihr Leben nun so aussah, wie es aussah. Früher war er das einzige Kind gewesen. Viel Arbeit hatte es immer gegeben und doch war Zeit genug geblieben, um sie mit den Eltern verbringen zu können. Nun war sein Vater ständig unterwegs, um Geld für die Familie ranzuschaffen und seine Mutter mit den jüngeren Geschwistern beschäftigt. Innerhalb weniger Jahre war das Einzelkind zum Teil einer ganzen Kinderschar geworden. Und dann war da noch der Zweitälteste, der zu jeder Gelegenheit seine große Klappe und die dicken Muskeln spielen lassen musste. Vielleicht sprach auch aus ihm der Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit? Mit einem heftigen Kopfschütteln verbannte der Blonde diesen Gedanken aus seinem Kopf, schob die Hände in seine Hosentaschen und trat ein Steinchen fort, hinunter von den Klippen und direkt in den Schlund der Fluten. Nein, er wollte nicht glauben, dass es irgendeinen Punkt gab, der die beiden ungleichen Brüder tatsächlich verbinden sollte! Kapitel 25: 25.1.2024: Uphill ----------------------------- Sie trat durch die Wohnungstür und wurde bereits vom aufgeregten Rufen ihres Mannes begrüßt. „Ja! Los! Los! Los!“, schallte es aus dem Wohnzimmer, während sie ihre Schuhe auszog, ordentlich neben die Tür stellte und sich aus dem Mantel schälte. „Bin wieder da, Schatz!“, rief sie, warf im Vorbeigehen Mantel und Schal an die Garderobe und stellte die Einkäufe neben die Küchentür. „Schneller!“, jubelte ihr Gatte. Sie schlenderte zu ihm ins Wohnzimmer und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Hallo, Schatz!“, grüßte er sie hastig und feuerte seinen Fernseher wieder an. „Ah, Radrennen?“, stützte sie sich auf die die Rückenlehne seines Sessels und schaute einer bunten Meute Radfahrer dabei zu, wie sie sich einen Berg hinauf kämpften. „Ja, Uphill!“, begeisterte sich ihr Mann, aber ihr rang es nur ein kurzes Nicken und schiefes Grinsen ab. Selber mit dem Rad zu fahren war für sie ja eine Sache, aber anderen dabei zuzusehen? Sie zuckte die Schultern. „Hab den Auflauf schon mal in den Ofen gestellt“, wandte sich ihr Mann kurz zu ihr, um dann wieder gebannt auf das Rennen zu schauen. Sie schmunzelte und strich ihm über die Schulter, ehe sie das Wohnzimmer wieder verließ. „Danke, mein Schatz, ich sag dir Bescheid, wenn er fertig ist“, rief sie durch den Flur und bekam von ihm ein begeistertes „Ja!“. Ob das ihr gegolten hatte? Sie schmunzelte und packte die Einkäufe in die Schränke. Ein wenig breitete sich der Duft des Auflaufs bereits in der Küche aus, obwohl es noch eine ganze Weile dauern würde, bis er richtig gar war. Sie freute sich jetzt schon darauf und auch darüber, dass ihr Mann ihn nach der Arbeit noch fix vorbereitet hatte. Das sparte ihr nun langes Schnibbeln und Schichten. Sie dachte aber auch an so einige Unterhaltungen mit Freundinnen, die sich oft über ihre Männer aufregten, weil die im Haushalt nicht mithalfen und stattdessen nur mit dem Fernseher oder ihren Autos beschäftigt waren. Wie froh sie war, da ein anderes Exemplar erwischt zu haben, das zwar seine Hobbies hatte, sie aber trotzdem unterstützte. Bei diesem Gedanken zog es sie zurück ins Wohnzimmer. Sie schlang von hinten die Arme um die Schultern ihres Mannes, rieb die Wange kurz an seiner und hauchte dann einen Kuss auf seine leichten Stoppeln. „Oh, wofür war das denn?“, schaute er sie überrascht an und sie zuckte die Schultern. „Einfach so.“ Kapitel 26: 26.1.2024: ohneeinander ----------------------------------- „Und? Wie findest du es?“, schaute Lara gebannt zu ihrer Freundin, die gerade die letzte Seite ihres neuen Manuskripts beiseite gelegt hatte. So viel Herzblut, Liebe und Fleiß steckte in diesem Werk. Es hatte Lara fast zwei Jahre und fünf Neuansätze gekostet, um ihre Idee endlich so zu Papier zu bekommen, dass sie damit zufrieden war. Und wie immer hatte Hannah ihre Geschichte als Erste zu lesen bekommen. Auf ihr Urteil verließ Lara sich bei jedem Werk. Ihr konnte sie vertrauen, dass sie ehrlich war, aber trotzdem Worte fand, die Lara nicht verletzten. Immerhin waren ihre Geschichten ihre Babies und die gedruckten Bücher ihr voller Stolz – selbst, wenn sie die meisten der Bücher bislang nur für sich hatte drucken lassen. Nur dieses Mal war irgendwas anders. Sonst sprudelte Hannah mit ihren Eindrücken und Anmerkungen gleich los, kaum, dass sie das Wörtchen Ende gelesen hatte. Jetzt runzelte sie stattdessen die Stirn, blickte immer wieder auf die letzte Seite und murmelte etwas. Sie war so in Gedanken, dass es Lara fast schien, Hannah bemerke sie gar nicht mehr. „Hannah? Jetzt sag schon! Wie findest du es?“, drängte sie und ließ ihrer kommenden Ungeduld freien Lauf. Die andere winkte leicht ab und entschuldigte sich fahrig. „Ich bleib da die ganze Zeit an einer Stelle hängen“, murmelte sie und zeigte Lara den entsprechenden Satz. „Was ist damit?“, guckte die sie irritiert an. „Mich holt es total aus dem Lesefluss, dass du „ohneeinander“ geschrieben hast. Muss das nicht getrennt werden?“, verschränkte Hannah die Arme vor der Brust und grübelte weiter. Lara entglitten die Gesichtszüge. Deshalb gab Hannah ihr keine richtige Antwort? Sie sackte entmutigt auf dem Stuhl zusammen und merkte, wie sich das Gefühl der Kränkung in ihr ausbreitete. Etwas, das auch Hannah nicht entging. „Hey“ Lara schaute aus den Augenwinkeln zu ihr. „Hm?“ „Schmoll nicht. Deine Geschichte ist gut, ich mach mir nur deshalb so viele Gedanken darüber, weil ich unsicher bin, ob sich mit der Schreibweise die Bedeutung der Worte und damit auch der Sinn dahinter ändert. Du willst doch nicht A da stehen haben, wenn du eigentlich B meinst, oder?“ Laras Gesichtszüge glätteten sich. Schuldbewusst nickte sie. Sie hätte es besser wissen sollen; dass es schon seine Gründe hatte, wenn Hannah so reagierte. „Tschuldige“, nuschelte sie und kam sich dumm vor. Hannah aber winkte ab, sie kannte Lara schließlich auch schon lang genug. „Komm, ich guck mal fix im Duden nach. Ah ja, da ist es schon: man schreibt ohneeinander auskommen, aber ohne einander zu sehen." Kapitel 27: 27.1.2024: Huy -------------------------- Mit einem Seufzen trat sie an die Arbeitsplatte und füllte Wasser in die Kaffeemaschine. Ihr Blick fiel zum Fenster. Draußen war es bereits so dunkel, dass sie sich im Licht der Küchenlampe spiegelte und kaum noch etwas außerhalb des Fensters entdecken konnte. Ein Schwenk zur Wanduhr verriet ihr, dass es gerade erst kurz nach 17 Uhr war und trotzdem lockte schon die Weinflasche neben der Kaffeemaschine. Vielleicht erzielten sie dann endlich eine Einigung? Mit einem erneuten Seufzen verwarf sie den Gedanken an Alkohol und entschied sich doch für den Kaffee. „Für dich auch?“, schaute sie über die Schulter zum Tisch, wo ihr Freund über einige Broschüren und Zettel gebeugt saß. Er schüttelte kurz den Kopf, überlegte es sich dann aber anders und bestellte auch ein Tässchen. Sie nickte, bereitete alles vor und nach einem kurzen Moment ratterte die Maschine los. „Sollen wir es nicht für heute gut sein lassen?“, ging sie zurück zu ihrem Platz und ließ sich auf den Stuhl sinken. Der Kaffee konnte auch brühen, ohne, dass sie daneben stand. Ihr Freund verzog das Gesicht. „Ich will das jetzt endlich geklärt haben“, murrte er, schob einige Broschüren von A nach B und lehnte sich schließlich entnervt gegen die Rückenlehne seines Stuhls. „Das kann doch nicht so schwer sein!“, verschränkte er die Arme und sie grinste schief. „Na, da sind wir uns ja wenigstens einmal einig“, stützte sie die Ellenbogen auf den Tisch und ließ ihren Blick darüber schweifen. „Wir sitzen jetzt schon seit Stunden hier und haben immer noch keine Idee, wohin der nächste Urlaub gehen soll.“ Er nickte erst, schüttelte dann aber den Kopf – es war zum verzweifeln. „Entweder zu teuer oder es gefällt dir nicht oder mir nicht oder zu weit weg, um für nur zwei Wochen da hin zu fahren…“ „… oder schon ausgebucht… oder, oder, oder“, ergänzte sie und ging zurück zur Arbeitsplatte, um die Tassen zu befüllen. Noch einmal fiel ihr Blick aus dem Fenster, gedankenverloren, die ungenauen Konturen in der Dunkelheit nach Erhellung absuchend. „Und wenn wir hier bleiben?“ Sie hörte eine verdutztes „hm?“ von ihrem Freund. „Ich war vor Jahren mal mit einer Freundin drüben beim Huy“, murmelte sie und wandte sich langsam zu ihm um. „Du meinst die Hügelkette nördlich des Harzes?“ „Ja. Eigentlich war es da wirklich schön! Und es ist gar nicht mal so weit weg von hier… zwei Stunden Autofahrt vielleicht?“ Kapitel 28: 28.1.2024: brr -------------------------- „Brr!“ Sie rieb die Hände aneinander und bewegte immer wieder ihre Finger, so gut es ging – trotz dicker Fäustlinge fühlten sie sich an, als würden sie jeden Moment abfallen. Der Mantel war fast knielang und ließ sie wie ein Michelinmännchen aussehen, aber trotzdem kroch ihr die Kälte in jede Faser ihres Körpers. „Wo bleibt er nur?“, trat sie ungeduldig von einem Bein aufs andere und schob sich die Hände unter die Achseln. Auch das brachte nicht den gewünschten Effekt. Langsam wurde ihre Ungeduld so groß, dass ihre Laune gewaltig zu kippen drohte. Eigentlich fand sie den Winter ja schön: Die dicken Flocken, die vom Himmel sanft hinunterglitten, das Glitzern der Eiskristalle im Lichterschein und selbst das Betrachten des eigenen Atems, wenn er in kleinen Wölkchen aus ihrer Nase emporstieg, hatte sonst immer etwas Heimeliges für sie. Allerdings nahm diese Faszination umso mehr ab, je länger sie hier an der Straßenecke stand, zu der ihr Freund sie gelockt hatte. Sie stand direkt an einer Hauptstraße, es rasten die Autos nur so an ihr vorbei – ganz zu schweigen von den Fußgängern, die es eilig hatten, zum Einkauf oder zur Arbeit zu kommen. Manche zogen ihre quengeligen Kinder mit. Von Idylle nichts zu sehen! Und vor allem auch nichts mehr zu spüren: Jetzt begannen auch noch ihre Füße kalt zu werden. So leicht konnte aus einer erwachsenen Frau wieder ein weinerliches kleines Mädchen werden, dachte sie und schaute hinter sich: Vor der Hauptstraße flüchtete die kleine Seitengasse, an der sie ebenfalls stand, regelrecht davon und lockte mit gleich mehreren Cafés und Backstuben. Ja, sie sollte hier an der Ecke warten, aber konnte sie das nicht auch vom Fenster eines Cafés aus? Zögerlich machte sie einen Schritt in die ersehnte Richtung und warf nochmals einen Blick auf ihre Uhr: Eigentlich hätte ihr Freund längst hier sein müssen – wenn er sich verspätete, war es nicht ihre Schuld! „Ich seh ihn ja! Und zur Strafe fürs Warten lassen kann er mir den Kaffee gleich ausgeben!“, murmelte sie, schob die Hände in ihre Manteltaschen und steuerte auf das Café zu. Aber als sie es fast erreicht hatte, zog ein seltsames Geräusch ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es bahnte sich aus der Seitengasse seinen Weg in ihre Richtung und mit jedem Meter, den es näher kam, wurden ihre Augen größer. Eine Pferdekutsche brach die Hektik der Hauptstraße in ihrem Rücken auf und versetzte alles gefühlt in eine andere Zeit. Zwei wunderschöne Rappen zogen das Gefährt, an den Seiten wurde die Kutsche von kleinen Lampen erhellt. „Wie wunderschön! Mit so einer wollte ich schon immer mal fahren“, sprach sie in Gedanken zu sich selbst und spürte die Sehnsucht in sich aufsteigen. Schon als kleines Kind hatte sie davon geträumt und ein seliges Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Ach, was seid ihr hübsch!“, murmelte sie, als die Pferde näher kamen und schrak auf, als sie ihren Namen hörte. Sie blickte zum Fahrgast der Kutsche und ihre Gesichtszüge entglitten ihr. „Hatte ich nicht gesagt, du sollst an der Ecke warten?“, lachte der sie an und der Kutscher brachte seine Pferde mit einem „Brr!“ zum halten. Kapitel 29: 29.1.2024: seitenverkehrt ------------------------------------- „Wie lang willst du dich noch im Spiegel anstarren?“, saß Marianne auf der Couch und schaute durch die weit geöffneten Türen hinüber zum Badezimmer. „Das ist mir noch nie aufgefallen!“, drang die Stimme ihrer Freundin Lisa aus dem gekachelten Raum. Marianne verdrehte die Augen. Sie stand auf und ging hinüber, um im Türrahmen stehen zu bleiben. „Ist doch nicht schlimm!“, verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Meine Ohrläppchen sind ungleich groß! Und ich hab es noch nicht mal gemerkt!“, zog Lisa sich an den Läppchen und schaute Marianne mit großen Augen an. „Hier! Das ist größ… nein, Moment, das hier!“, wanderte ihr Blick zwischen dem Spiegelbild und Marianne hin und her – dass der Spiegel alles seitenverkehrt abbildete, verwirrte sie nur noch mehr. „Na ja, mehr Platz für mehr Ohrschmuck“, grinste Marianne und erhielt einen finsteren Blick von Lisa. „Dann fällt das doch noch mehr auf!“, brummte sie und dachte an den vorherigen Besuch beim Piercer zurück, bei dem sie eigentlich genau das hatte machen wollen: Sich weitere Ohrringe stechen. Marianne seufzte aus. Hätte der Piercer doch bloß nie erwähnt, dass Lisa unterschiedlich lange Ohrläppchen hatte… es war schon ein halbes Drama gewesen, als ihr in der Pubertät auffiel, dass ihre Brüste nicht gleichgroß waren und die konnte man noch unter Kleidung verstecken. Was sollte dann jetzt erst passieren? „Willst du künftig nur noch mit Tüte überm Kopf herumlaufen?“ Sie wusste, dass Lisa viel Wert auf ihr Aussehen legte. Die Make-Up-Sammlung auf dem Badezimmerschränkchen verriet das nur allzu gut. „Nein, aber ich könnte mir die Haare…“, begann Lisa nun, an ihrer schulterlangen Mähne zu zuppeln. „Na schön, jetzt reicht es!“, stieß Marianne sich vom Türrahmen ab und trat auf Lisa zu. Die guckte sie irritiert an, als Marianne ihr die Hände auf die Schultern legte. „Jetzt hörst du mir mal ganz genau zu: Menschliche Körper sind nicht symmetrisch! Zumindest in den wenigsten Fällen! Und vor allem fast nie von Natur aus! Okay? Dein eines Auge ist auch etwas kleiner als das andere!“, setzte sie gerade dazu an, weiter zu reden, als Lisa sich schon wieder zum Spiegel umdrehen wollte. „Hey! Ich war noch nicht fertig!“, sagte Marianne streng und blickte Lisa eindringlich an. „Es ist nur was Optisches! Und wir sind auch nicht mehr in der Schule, wo jeder dich für die kleinste Sache hänselt, die ihm optisch an dir nicht gefällt! Mach dich endlich davon frei.“, trat zum Schluss ihrer Ansprache doch ein bisschen Güte in ihren Blick – die beiden Frauen kannten sich lange genug, damit Marianne genau wusste, wo Lisas Unsicherheiten ihren Ursprung hatten. Die ließ die Schultern hängen und nickte schuldbewusst. Ihr Blick wanderte hinunter zu Mariannes Füßen und die Tränen stiegen ihr in die Augen. „Es tut…“ Marianne unterbrach sie. „Du kannst nichts für deine unterschiedlichen Ohrläppchen und erst recht nichts für mein zu kurzes Bein! Abgesehen davon hat dein Ohrendrama mir gerade gezeigt, dass meine Sohlenerhöhung offensichtlich gar nicht mal so auffällig ist, wenn sie dir jetzt erst wieder einfällt“, zwinkerte sie und stupste Lisa an. Ein leichtes Nicken und Lächeln konnte die sich abringen. Sie hatte schon immer Mariannes Stärke bewundert. „So, und jetzt nimm dir endlich deine Jacke und hol dir deine neuen Ohrringe!“, bestimmte Marianne in gespielt gebieterischem Ton, der Lisa zum Lachen brachte. „Wie wäre es mit Freundschaftsohrringen?“, fragte die plötzlich. „An deinen Ohren wäre auch noch Platz für einen neuen Stecker!“ Kapitel 30: 30.1.2024: brillieren --------------------------------- Das leise Ticken der Standuhr unterbrach die Stille. Schemenhaft versteckte sie sich am anderen Ende des Raums, der einerseits durch die große Fensterfront und die Lichter der Großstadt erhellt wurde und andererseits gespenstisch und düster wirkte. Es war ein Raum geschaffen für Gesellschaft und Feste – nicht für moderne, fast spartanische Einrichtung auf der einen Seite und eine überladene Büroecke mit riesigem Massivholztisch und Schrankwand auf der anderen Seite. Zwei Seiten eines Raums, die wirkten wie zwei Welten. Noch einmal tickte die Uhr und aktivierte den Gong. Es war schon tief in den Abend hinein. Erst jetzt lehnte er sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück und klappte die Unterlagen zu. Ein zufriedenes Seufzen entrann seiner Kehle, als er auf die Dokumentenmappe schaute. Oh ja, auch morgen würde er wieder brillieren! Die gegnerische Seite mit Leichtigkeit vom Hocker fegen und allen präsentieren, wie gut er war! Ein leichtes Zucken hob seine Mundwinkel. Langsam drehte er sich um zur Schrankwand hinter sich, öffnete eines der Fächer und griff sich die Flasche mit gutem Scotch, um diesen erfolgreichen und arbeitsreichen Tag gebührend zu beenden. Seine Schritte hallten über das Parkett, hinaus aus dem Arbeitsbereich und hinein in den Wohnbereich. Er stellte sich an die Fenster, blickte auf die ebenso ausladende Dachterrasse und die Stadt, die sich dahinter erstreckte. Leicht wiegte er seinen Drink in der Hand, ehe er einen Schluck nahm. Im höchsten Gebäude der Stadt hatte er sich die oberste der Wohnungen geschnappt. Warum auch nicht? Er konnte es sich schließlich leisten. Er war der Beste auf seinem Gebiet und sein Honorar fiel entsprechend aus. Noch ein Schluck und ein zufriedenes Seufzen. Ja, er war den anderen genauso überlegen, wie seine Wohnung dem Rest der Stadt. Kurz überlegte er, wann er zuletzt einmal auf dieser Dachterrasse gestanden oder gar gesessen hatte. Er wusste es nicht mehr und dabei lebte er erst seit wenigen Jahren in dieser Wohnung. Leicht rümpfte er die Nase und trat zurück an den Schreibtisch, um das Glas darauf abzustellen und die kleine Lampe mit grünem Schirm zu löschen. Er sollte jetzt ins Bett gehen, um für die morgige Verhandlung ausgeruht zu sein. Aber die Müdigkeit machte sich noch lange nicht bemerkbar. Sorge oder Nervosität war nicht der Grund – wusste er doch, dass ihm keiner das Wasser reichen konnte! Was war es dann? Kapitel 31: 31.1.2024: Geheimfach --------------------------------- Sie saß auf dem Küchenstuhl und versuchte ihre bebenden Knie zu beruhigen. Immer wieder wanderte ihr Blick hinüber zur Tür und sie wusste doch, dass sie ihr keine Rettung bieten würde. Das Gewicht seiner Schritte ließ die Bodendielen knarren. Langsam, fast bedächtig, ging er von Raum zu Raum, schob Vorhänge und Türen auf, um einen Blick dahinter werfen zu können. Die Fenster waren geschlossen, hinter ihnen tobte die Hitze und kroch von außen in die kleine Wohnung. Es brachte ihren Magen immer mehr in Wallungen, wie sich die Wärme mit der abgestanden Luft und vor allem seinem Geruch vermischten. Sie drückte die Hand auf den Bauch und betete, er würde sich beruhigen. „Du bist wirklich alleine?“, hörte sie schließlich seine heisere Stimme hinter sich. Ein kurzes Nicken. Ihn anzuschauen wagte sie nicht. Noch immer schwang Misstrauen in seinen Worten mit. Mit einem lauten Krachen ließ er seinen schweren Rucksack zu Boden fallen. Sie erschrak und das Herzrasen wuchs mit jedem Schritt, den er nun wieder näher auf sie zukam. Sie musste die Luft anhalten, als er direkt vor ihr stand. „Sieh mich an“, befahl er und nur langsam gehorchte sie. Das Schwert an seiner Hüfte war nun so gefährlich nahe und trotzdem bei weitem nicht das Einzige, womit er sie hätte verletzten können – da war sie sich sicher. „Also, warum tust du das? Wieso willst du mir helfen?“, schmälerte er die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. Konnte er nicht ein Stück von ihr weggehen? Sie hatte das Gefühl, ihm jeden Moment auf die Schuhe brechen zu müssen. „Um das Dorf zu retten“, murmelte sie und eilte schließlich ins angrenzende Badezimmer, als sie seinem Gestank nicht mehr standhielt. Dieses Mal hörte sie seine Schritte nicht, sondern bemerkte ihn erst, als sie sich von der Toilette erhob und zum Waschtisch gehen wollte. Er stand in der Tür und musterte sie. Was sollte sie sagen? „Es… ist sehr warm heut“, murmelte sie und hoffte, er fasste die Situation nicht falsch auf. Doch er schien sich sehr wohl bewusst über den Auslöser ihres Ekels. „Vergiss das Angebot, mir Essen zu geben – wenn du kannst hilf mir hier mit“. Er schob sein Hemd beiseite und schlagartig wurde der Gestank noch größer. Sie presste die Hand auf den Mund, vor Ekel und Entsetzen. Klaffend und eitrig prangerte eine Wunde auf seinem Oberkörper, bei der sie sich fragte, wie er überhaupt noch aufrecht stehen konnte. Unweigerlich kam in ihr die Frage auf, ob er wirklich ein gefürchtetes Monster war oder eher ein gejagtes Tier. „Ich helfe Euch und dafür verschont ihr das Dorf“ Er nickte und ließ mit zusammengepressten Lippen den Stoff zurück über die Wunde fallen. „Ich bin keine Heilerin, aber…“, etwas zögerlich trat sie an den Waschtisch und öffnete ihn. Kurz hielt sie inne, ehe sie einen Korb beiseite nahm und dann ein Brett aus dem Boden löste, um das Geheimfach freizulegen. Sie wusste, wie kostbar das Mittel in dem kleinen Tiegel war, der zum Vorschein kam – und dass manch einer es nicht gebilligt hätte, ihn ausgerechnet in ihren Händen zu sehen. Kapitel 32: Extrathema: Schreiben --------------------------------- Fast 20 Jahre – kaum zu glauben, dass das Schreiben für mich zu so einem langen und treuen Begleiter wurde! Dabei hatte ich für das geschriebene Wort eigentlich nicht viel übrig… Gelesen habe ich nie gern. Die einzigen Bücher, die ich freiwillig in die Hand nahm, waren Mangabücher und seien wir mal ehrlich: bei den meisten von ihnen ist der Text eher schmückendes Beiwerk. Meine eigenen Geschichten wollte ich darum auch immer in gezeichneter Form zu Papier bringen. Es gab nur ein kleines Problem: Die fehlende Lust. Einzelne Bilder zu zeichnen machte mir großen Spaß, aber bei Geschichten verlor ich sehr schnell die Freude. So startete ich immer wieder neue Versuche, die letztlich doch scheiterten. Und trotzdem wollte ich nicht aufgeben. Aber was sollte ich machen? Eines Abends kam mir eine Idee, die alles änderte: Ich hielt meine Überlegungen für eine Geschichte erstmals schriftlich fest. Eigentlich hatte ich nur ein paar Szenen aufschreiben wollen, um sie im Nachgang nicht zu vergessen, aber dann fiel mir auch wieder eine Klassenarbeit aus der 10. Klasse ein. Damals hatte ich in nur zwei Unterrichtsstunden das Märchen von Rapunzel umgedichtet – ohne Vorbereitung und ohne Probleme. Es war mir so leicht von der Hand gegangen, wie nun die Notizen für meine Geschichte und plötzlich eröffneten sich mir so viele neue Möglichkeiten! Auf eine ganz andere Weise konnte ich durch das Schreiben in meine Welten eintauchen. Ich liebte das Jonglieren mit den Worten, während ich die Szenen klar vor mir sah und meine Finger über die Tastatur huschten, um das Kopfkino festzuhalten. Manche Geschichten waren gerade einmal eine halbe Seite lang, andere über zweihundert. Ich konnte über Stunden hinweg an einer Idee arbeiten, ohne ins Stocken zu geraten oder müde zu werden. Und in gewisser Weise hatte ich auch ein Händchen dafür, obwohl ich mich nie bewusst mit irgendwelchen Schreibregeln befasst hatte. Aber genau das wurde irgendwann zum Problem, wie ich heute weiß. Langsam, fast unbemerkt, stellte ich mich meiner eigenen Leidenschaft immer mehr in den Weg. Verschiedene Faktoren führten zu der späteren Schreibblockade, aber ein ganz wichtiger war mein wachsender Perfektionismus. Ich schrieb nicht mehr nur aus Freude heraus, sondern zunehmend mit dem Gedanken an potentielle Leser im Hinterkopf. Meine Texte wurden besser und ich stellte selber immer höhere Erwartungen an mich. Gleichzeitig beging ich den Fehler, eine gemeinsame Geschichte mit jemandem zu schreiben. Ich verband das Schreiben mit dieser Freundschaft und das Ende der Freundschaft wurde zum Ende meines Schreibens. Erst waren da nur die Scherben der Freundschaft und der gemeinsamen Geschichte, dann wuchs die Erkenntnis in mir, dass mein kreativer Schreibfluss zunehmend versiegte. Kopf und Finger waren nicht mehr synchron. Entweder hatte ich eine Szene vor Augen und es fehlten mir die Worte oder ich wollte tippen und es kam kein Bild zustande. Und je länger dieser Zustand andauerte, desto mehr Druck machte ich mir. Mehr und mehr Schreibtipps verschlang ich und wollte mit dem Kopf, statt mit dem Gefühl, an die Sache heran gehen. Motivation war keine mehr da, also musste es auf andere Weise klappen – dass meine reale Welt nicht nur durch die zerbrochene Freundschaft sehr lange Kopf stand, war mir in der Zeit gar nicht richtig bewusst. Und so zogen Jahre voller Demotivation, Unzufriedenheit und Freudlosigkeit hinüber, in denen ich schon über den kleinsten Gedankenblitz froh war. Ja, manchmal wollte ich es auch ganz aufgeben, aber zu stark war die Erinnerung daran, wie sehr mich das Schreiben einmal erfüllt hatte. Aber was sollte ich tun? Nach vielen Anläufen wusste ich es nicht mehr. Und dann kam das Jahr 2023… Nach erneuten Rückschlägen war es seit langer Zeit das erste Jahr mit vielen positiven Entwicklungen gewesen. Ich verarbeitete Dinge – und tue es noch immer. Ich setzte mich mit mir auseinander, versuchte Muster zu erkennen, alte Wunden und vieles mehr. Zusätzlich hatte ich mit dem Lesen angefangen. Ja, tatsächlich! Ich hatte freiwillig Bücher in die Hand genommen! Mitunter sogar richtige Wälzer, teilweise über 500 Seiten lang! Und dann kam da plötzlich wieder diese Lust auf, selber etwas zu schreiben… Eigentlich war das erste Projekt für den Neustart gleich klar: Ein mehrbändiger Roman, an dem ich in Gedanken über die letzten 20 Jahre immer wieder gearbeitet hatte. Aber für die Rückkehr zum Schreiben war das eine überwältigende Aufgabe. Erst recht, weil ich schon mehrfach an ihr gescheitert war. Nein, es musste etwas Kleineres her! Etwas, das überschaubarer war und mir den Einstieg erleichtern konnte. Eine Challenge, die mir zum richtigen Zeitpunkt zugeflüstert wurde! Die Regeln sind bekannt und meine Freude umso größer, dass ich mich ihr bisher tatsächlich erfolgreich stellen konnte. Und wenn ich ehrlich bin: Sie hat mir nicht nur geholfen, um wieder regelmäßig zu schreiben, sondern auch, um so einige Erkenntnisse zu gewinnen: In den ersten paar Tagen hatte ich ein unfassbar mulmiges Gefühl gehabt, diese Challenge hier zu teilen. Immer wieder fragte ich mich, ob ich sie wirklich durchziehen würde und wie groß die Enttäuschung bei einem Abbruch wäre. Obendrein die Angst, ob mir jeden Tag eine Geschichte einfiele. Gerade in den ersten Wochen klammerte ich mich darum an die Anzahl der Wörter pro Geschichte. Gleichzeitig beobachtete ich diese Gedankengänge und erkannte noch deutlicher als zuvor, wie ich mich unter Druck setzte. Aber dann platzte auch ein Knoten, als ich mir schließlich sagte: „Scheiß auf die Schreibregeln! Scheiß auf die korrekte Perspektive und sonst was – schreib einfach!“. Das hatte ich gebraucht! Damit konnte ich auch die ersten kleinen Zeilen an meinem Roman wieder umsetzen. Und noch mehr wurde mir durch die Challenge bewusst: Das Thema war oft gar nicht der ausschlaggebende Punkt für mich, sondern vor allem meine Tagesform und was mein Kopf daraus machte. An machen Tagen liebte ich ein Thema und brachte trotzdem kaum einen Satz zustande. An anderen Tagen fand ich das Thema ätzend und überraschte mich hinterher selbst mit der Geschichte. Und während anfangs die Sorge vor dem weißen Blatt vorherrschte, ist es jetzt eher die Sorge vor der fehlenden Zeit geworden. Darum wird die Challenge auch ein wenig verändert: Ja, ich möchte sie weiterführen! Erst mal bis Ende Februar und dann in kleinen Schritten immer weiter voraus. Die zehn Minuten werden zu einem groben Richtwert und wenn ich sie auf 15 Minuten ausdehne, ist das auch völlig okay (gut, zu lang dürfen sie nicht werden, ich muss auch noch irgendwann mal zur Arbeit, haha. Morgens nach dem Aufstehen ist aber die perfekte Zeit für meine kleinen täglichen Texte ). Kleine Korrekturen im Nachgang sind okay – ich pass aber auf, dass ich mich nicht in der Nachbearbeitung verlieren, sonst wird diese Regel wieder verschärft! Und fürs Erste nutze ich weiterhin das Wort des Tags als Themenquelle. Zeitweise war ich es leid, aber momentan macht es mir wieder viel Spaß, selbst bei „doofen“ Themen – ich beobachte also erst einmal weiter, wie gut ich mit ihm klar komme. Und auch generell, was diese Challenge mit mir macht. Auf zu den nächsten 29 Geschichten :) Kapitel 33: 1.2.2024: missingsch -------------------------------- Die letzten Bäume und Felder an der Landstraße flogen an ihnen vorbei und das Autobahnkreuz trat in sichtbare Nähe. Melissa saß auf dem Beifahrersitz und rutschte tiefer in ihn, als das Unvermeidliche kam: Sie fuhren auf die Autobahn. Jetzt würde es stundenlang nur noch geradeaus gehen, hoch in Deutschlands Norden, um seine Familie zu besuchen. Erst die, die doch urbaner wohnte, dann die Großtante auf dem Land. Ein tiefes Seufzen entfuhrt Melissa, während ihr Freund Bernd bereits seit Tagen schon immer besserer Laune wurde. Auch jetzt lag ihm ein Summen auf den Lippen, während er sich einreihte, die rechte Spur übernahm und nur dann und wann für ein Überholmanöver auf die Mittelspur wechselte. Es war eine entspannte Fahrt. Und sie wären umso schneller am Ziel… Mürrisch stützte Melissa das Kinn auf eine Hand und starrte aus dem Fenster. „Mama hat mich gestern noch mal angerufen und gefragt, ob wir auch wirklich kommen“, riss Bernd sie aus ihren Gedanken. „Hmmm. Wie immer“, murmelte sie, während er unbeirrt fortfuhr, dass bereits sein Lieblingsessen auf ihn wartete. Nirgends schmeckte es besser als bei seiner Mutter! Wie ein kleines Kind freute er sich immer auf diese Besuche und auch wenn Melissa ihm diese Freude nicht kaputt machen wollte, fiel es ihr doch schwer, sich den eigenen Unmut nicht anmerken zu lassen. Bernds Familie war nett, aber… sie verstand sie einfach oft nicht richtig. „Wie heißt das noch mal, was deine Eltern da sprechen?“, fragte sie in die Staunachrichten im Radio hinein. „Missingsch… warte mal, war das gerade unsere Autobahn, die da genannt wurde?“, drehte Bernd das Radio lauter und verzog unglücklich die Miene, weil die Nachrichten bereits vorbei waren. Melissa hatte allerdings schon das Handy parat und schaute nach: Ja, wenn sie so weiter fuhren, würden sie gleich unweigerlich im Stau landen. Noch hatten sie Zeit, sich einen Umweg zu suchen. Wieder seufzte sie aus. Blieb ihr denn gar nichts erspart? Erst würde sich die Reise um mindestens eine Stunde verlängern und dann durfte sie die nächsten drei Tage ein Kauderwelsch aus Hoch- und Niederdeutsch hören. Noch immer dachte sie daran zurück, wie Bernds Mutter beim letzten Mal über einen früheren Arbeitskollegen rausposaunt hatte „Der ist tot geblieben!“. Ja, dachte Melissa sarkastisch, hoffentlich ist er kein Zombie. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte den Kopf an die Fensterscheibe. In den kommenden drei Tagen würde sie wieder ständig rätseln, was genau gemeint wäre, zumal Bernd dann auch wieder ins Missingsch verfiel und sie als einzige diese Sprechart nicht verinnerlicht hatte. Ganz zu schweigen von dem Abstecher zu seiner Großtante auf dem Rückweg: Sie sprach fast nur Plattdeutsch. Kapitel 34: 2.2.2024: Empire ---------------------------- Emilie saß im Geschichtsunterricht. Der Lehrer sprach schon die vierte Stunde in Folge über das Empire, das französische Kaiserreich zu Zeiten Napoleons, aber viel bekam Emilie dieses Mal nicht davon mit. Zu sehr hing sie ihren Gedanken nach und ihrem Traum von letzter Nacht. Sie machte sich die massige Gestalt des Mitschülers vor sich zunutze und tauchte fast gänzlich hinter ihm ab. Den Kopf auf eine Hand gestützt, schaute sie aus dem Fenster, ohne dabei überhaupt wahrzunehmen, was sich davor tat. Sie sah nicht das grüne Gras mit den kleinen Frühlingsblühern, nicht das erste warme Sonnenlicht dieses Jahres und auch nicht die vereinzelten Kinder, die schon auf dem Schulhof unterwegs waren. Sie sah viel mehr die fremde Stadt aus ihrem Traum. Wie sie ziellos durch Menschenmassen geirrt war. Durch fahles Grau, Sprühregen und geschäftiges Treiben. Sie spürte wieder die Panik in sich aufkommen, weil sie nicht wusste, wo sie war oder wie sie dorthin gelangt war. Sie fühlte sich wieder eingeengt von menschlichen Leibern, die sie durch die Straßen trieben, als gäbe es kein Entkommen. Aber sie merkte auch wieder ihr Herz einen Hüpfer machen, als eine Hand sie plötzlich ergriffen und aus dieser fleischlichen Welle gerissen hatte. Hinein in die Sicherheit einer Seitengasse, fort vom Trubel und hin zu der Möglichkeit, einmal zu Atem zu kommen. Seine stahlblauen Augen hatten Emilie gleich in seinen Bann gezogen, obwohl sie ihn noch nie vorher gesehen hatte. Dazu die wilden Locken, die sein Gesicht umrahmt hatten. Wäre er doch nur real gewesen, dachte sie jetzt und seufzte schwer aus. Ob sie wohl jemals einen Mann wie ihn treffen würde? Sie dachte daran, einmal gehört zu haben, dass man in Träumen immer nur Leute trifft, die man wirklich schon einmal irgendwo gesehen hatte – aber wo hätte das sein sollen? Auf der Schule sicherlich nicht und selbst wenn es in einem Film gewesen wäre, wäre er ihr doch sogleich aufgefallen! Dann hätte sie ihn jetzt wenigstens als Filmstar anschmachten können! Und wieder seufzte sie aus. „Ist mein Unterricht so langweilig, Emilie?“, fragte der schöne Mann sie plötzlich in ihren Traum hinein und sie begann zu stutzen. Seine Stimme passte so gar nicht zu seinem Gesicht. „Emilie!“, wurde er unbeherrschter und ließ sie zusammenfahren. Sie starrte hoch und erkannte den Geschichtslehrer vor sich stehen, dessen Gesicht bereits auf dem Weg zur Farbe einer Tomate war. Alle Mitschüler saßen zu ihr gedreht, einige schüttelten den Kopf, die meisten anderen schmunzelten und kicherten. „Wo bist du mit deinen Gedanken?!“, herrschte der Lehrer Emilie an und sie sank in sich zusammen. „Tschuldigung“, murmelte sie schuldbewusst und suchte nach einer Antwort, als er wissen wollte, worüber er zuletzt gesprochen hatte. Sie schaute zum Mitschüler vor sich, der nur die Achseln zuckte – er war schon immer ein Arsch gewesen. Aber dann fiel ihr Blick aus dem Fenster, ganz zufällig und ungeplant, und es raubte ihr den Atem: Dort stand er und schaute genau zu ihr hoch, mit seinen stahlblauen Augen und den wilden Locken im Gesicht, die sich im leichten Wind wiegten. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht und sie musste um jeden Preis verhindern, dass er genauso wieder verschwand! Kapitel 35: 3.2.2024: Laurin ---------------------------- „Na schön, es klingelt sowieso in einer Minute. Eure Hausaufgaben habt ihr, also Schluss für heute und habt ein schönes Wochenende!“, legte die Lehrerin die Kreide neben die Tafel und schaute den Kindern kurz dabei zu, wie sie freudig in die Pause stürmten. Es war wieder einmal eine bunte Deutschstunde gewesen, die ihren Abschluss mit einer kurzen Eintragung ins Klassenbuch fand. „Ach, Laurin!“, fiel es ihr wieder ein, als der schüchterne Junge aus der letzten Reihe langsam an ihr vorbei ging. Sie merkte gar nicht, wie er innerlich zusammenzuckte und die Augen verdrehte. Zwar trieb ihn nichts an, auf den Pausenhof hinunter zu gehen, aber auf ein Gespräch mit ihr hatte er auch wenig Lust. Gerade mit ihr… „Ja, Frau Müller?“, blieb er trotzdem brav stehen und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Konnte sie die Situation überhaupt noch schlimmer machen? „Hast du deine Eltern mal gefragt, wie sie auf deinen Namen gekommen sind?“, lächelte sie ihn an und stand mit ihrer Fröhlichkeit im gänzlichen Kontrast zu seiner versteinerten Miene. Er schüttelte den Kopf, als wolle er damit auch einen Ballast von sich abschütteln. „Solltest du unbedingt noch machen! Ich find das spannend!“, verstärkte sie ihren Ausspruch mit einem Nicken und ließ Laurin endlich aus dem Klassenraum, als ihr sein unruhiges Scharren mit dem Fuß auffiel. „Na los, spiel schön mit den anderen. Bis Montag!“, wünschte sie und war mit den Gedanken längst bei der nächsten Klasse, als Laurin eilig das Zimmer verließ. Sie bemerkte gar nicht, wie aufgewühlt der Junge war und erst recht nicht den Spießrutenlauf, den er jetzt antreten musste. „Na, Zwergenkönig?“, hallte es ihm schon in der Eingangshalle entgegen und wurde von einem „Dornröschen!“ untermauert, als er hinaus auf den Schulhof trat. Sein Butterbrot fest an sich gedrückt, bahnte er sich den Weg durch die lästernde und lachende Meute, um hinter einer Gruppe Zehntklässler Schutz zu suchen. „Hey, bist du gemeint?“, wandte sich eine der Älteren an ihn und zeigte hinüber zu den lachenden Siebtklässlern. Laurin starrte sie kurz an und rannte dann vom Schulhof runter, ungeachtet der Rufe anderer Schüler, dass man das nicht dürfe. In der Nähe gab es einen kleinen verlassenen Garten, umringt von einer Hecke, die nur an einer Stelle genug Platz bot, um geschützt vor den Dornen durch sie hindurch zu schlüpfen. Zumindest als schlanker Junge, der Laurin glücklicherweise war. Hier konnte er wenigstens ein bisschen Ruhe finden, ehe er sich wieder dem Gespött aussetzen musste. Er ging hinüber zu einer verwitterten Bank, die unter anderer Statur vermutlich längst zusammengebrochen wäre. Mit einem leisen Seufzen ließ er sich auf ihr nieder und packte sein Pausenbrot aus. Aber Hunger hatte er keinen. Er ließ die Schultern sinken und legte das Brot beiseite. Alles nur wegen Frau Müller!, dachte er und trat ein Steinchen mit dem Fuß weg. In der letzten Deutschstunde hatte sie plötzlich eine südtiroler Sage hervorgekramt, in der es um einen Zwergenkönig und seinen Rosengarten ging. Der Zwergenkönig hatte eine Königstochter dorthin entführt und im Kampf mit den Verfolgern trotz Zaubertricks verloren. Darum verwünschte er den Rosengarten, weil er ihn nicht beschützt hatte und seitdem sieht man den Garten nur noch während des Alpenglühens. Eigentlich eine nette Geschichte... Laurin griff sein Brot und warf die Krumen einer Maus hin, die aus dem hohen Gras auf ihn zugelaufen kam. „Na? Bist du heute auch wieder hier?“, fragte er und schaute ihr dabei zu, wie sie aß. Wenigstens einer von beiden hatte Hunger. „Ist es immer noch so schlimm?“, meinte sie plötzlich und er nickte. Inzwischen schrak er nicht mehr vor ihr zurück. „Vorhin hat Frau Müller schon wieder angefangen… Sie wollte wissen, ob ich meine Eltern mal gefragt hab, warum sie mich so genannt haben.“ Er schüttelte den Kopf und legte die Stirn in Falten. Ein kurzes „Was für ein lustiger Zufall, dass du genau wie der König heißt und doch auch so gern Blumen magst!“ war ausreichend gewesen, um den zurückhaltenden Jungen zur Zielscheibe der ganzen Klasse zu machen. Ein bisschen ironisch fand er es schon, dass er sich seitdem fast jede Pause in einem Garten versteckte. Kapitel 36: 4.2.2024: orakelhaft -------------------------------- Sie stand auf der Bühne der kleinen Bar und kontrollierte ihr Equipment. Noch spielte die Musik vom Band, aber in einer knappen halben Stunde hatte sie wieder ihren großen wöchentlichen Auftritt. Sie verdiente nicht viel damit, aber es war ihr Ausgleich zum sonst so schnöden Leben, das sie unter der Woche führte: Als Musiklehrerin für zumeist untalentierte und oft unerzogene Kinder. Für Kinder, die nur allzu häufig in ihren Unterricht geschickt wurden, weil die Eltern sie anders nicht zu beschäftigen wussten oder ihre eigenen, unerfüllten Träume auf diese Weise ausleben wollten. Wer konnte es den Kindern da verübeln, dass sie nicht gern zu ihr kamen? Wobei… für so einige schien sie auch der Lichtblick im durchgetakteten Alltag voller Schularbeiten und privater Verpflichtungen zu sein. Die Kinder waren schon ähnlich in diesem System gefangen, wie sie selbst. Aber irgendwann würde sie es schaffen, daraus auszubrechen, da war sie sicher! Diese kleinen Auftritte waren für sie nicht nur Inseln, auf denen sie ihre wahre Leidenschaft ausleben und sie selbst sein konnte – sie sollten für sie auch die Fahrkarte in ein freieres Leben werden! Bis dahin musste sie ihre alte Gitarre aber erst noch zur Mitarbeit überreden. Etwas, das mit jedem Mal schwerer fiel, aber aktuell fehlte einfach das Geld für eine neue. Mitten in diesen Gedanken drang ein Raunen an ihr Ohr und lockte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie schaute hinüber zum Tresen und wusste schnell, dass es nur einen Grund für diesen Aufruhr geben konnte: Er war wieder da. Der großgewachsene Bursche überragte viele in der Bar und war den meisten hier längst gut bekannt. Jede Woche kam er, pünktlich wie ein Uhrwerk, kurz vor Beginn der Show. Selten kam er alleine, meist war er in Begleitung von mindestens einer hübschen Dame. Die Männer beneideten ihn und die Frauen wollten nur allzu oft an seiner Seite sein. Er hatte eine einnehmende Art, jeder freute sich ihn zu sehen und viele begrüßten ihn mit Handschlag. Es war wie immer ein Fest, wenn er den schummerigen Bierpalast betrat. Dann fühlte sie sich für einen kurzen Moment so, wie die Gäste, die sonst vor allem ihretwegen kamen: Fasziniert. Es lag aber nicht an seinem guten Aussehen oder Charisma, nein, er hatte etwas Orakelhaftes an sich und ein ums andere Mal fragte sie sich, was es war. Machte ihn sein verschmitztes Lächeln geheimnisvoll oder war es mysteriös, wie viele unterschiedliche Begleiterinnen er bereits mitgebracht hatte? Vielleicht. Aber sie spürte, dass noch mehr dahinter steckte. Was verbirgst du?, dachte sie, während er sich an seinen Stammplatz in der kleinen Loge gegenüber der Bühne verzog und mit einem breiten Grinsen auf ihren diesmaligen Auftritt wartete. Kapitel 37: 5.2.2024: Fixativ ----------------------------- „Das sieht wirklich wieder hervorragend aus“, hörte er Susis Stimme hinter sich, als er gerade den letzten Strich zog und die Pastellkreide beiseite legte. „Danke“, blickte Dominik kurz über die Schulter zu ihr und trat dann einige Schritte zurück, um sein Gemälde aus einiger Entfernung zu betrachten. Er konnte hören, wie Susi näher kam. „Ich geb zu, ich beneide dich um dein Können“, verschränkte sie die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. Es faszinierte sie immer wieder, wie viel Lebendigkeit und welche Details ihr Kommilitone in seine Arbeiten brachte. Er hingegen wirkte wenig zufrieden. Irgendetwas störte ihn an dem Bild und er wusste nicht, was. Wie immer also. „Du hast da so ein Meisterwerk zustande gebracht und ziehst ein Gesicht wie sieben Tage Regen“, schüttelte sie den Kopf über seinen Perfektionismus. „Es ist okay, aber es ist nicht so gut, wie ich es mir vorgestellt hab“, murmelte er und putzte sich die Hände an einem Tuch ab. Es war so frustrierend für ihn, wenn er die Bilder genau vor Augen hatte und sie trotzdem nicht so umgesetzt bekam wie in seiner Fantasie. Er war einfach noch nicht gut genug. Manchmal fragte er sich, warum er überhaupt an dieser Kunsthochschule war. „Es ist nicht nur okay, Dom!“, griff Susi das Fixativ und drückte es ihm in die Hand. „Na los, bevor du anfängst, es zu verschlimmbessern!“. Er zögerte und kaute auf seiner Unterlippe. „Außerdem ist morgen eh Abgabe. Also fixier es und dann mach Schluss für heute. Du musst nicht immer bis tief in die Puppen hier bleiben. Ein bisschen Schlaf täte dir auch ganz gut!“, zwinkerte sie und verabschiedete sich nach einem Blick auf die Uhr. Ihr Freund wartete für den gemeinsamen Kinobesuch. Für Dominik hingegen war der Feierabend noch lange nicht eingeläutet: Trotz Stipendium musste er neben der Uni zwei Jobs nachgehen, um sich über Wasser zu halten. Seine Familie hatte seinen Traum vom Leben als Künstler immer nur belächelt und ihm gesagt, er werde es nie schaffen. Unterstützung wollte er keine – weder von seinen Verwandten noch in Form von BAföG. Er wollte es selbst schaffen. Nur das Stipendium sah er als Anerkennung seines Könnens an. Doch in der letzten Zeit fragte er sich zunehmend, welches Können das sein sollte. Entmutigt ließ er das Fixativ sinken und sich auf einen Stuhl fallen. Er starrte das Bild an, an dem er so viele Wochen gearbeitet hatte. Aber er spürte nichts. Wo war seine Liebe und Freude geblieben, die ihn früher beim Zeichnen und Malen so erfüllt hatte? War er vielleicht doch nur ein Versager und Träumer? Kapitel 38: 6.2.2024: Katerfrühstück ------------------------------------ „Ich glaub, ich muss kotzen“, saß der Schwarzhaarige voll Gram am Küchentisch und stützte den Kopf auf beide Hände. Ihm war sprichwörtlich Hundeelend zumute. „Müsstest du nicht langsam mal fertig damit sein?“, war sein Kumpel und Gastgeber im Gegensatz zu ihm das blühende Leben. Der Schwarzhaarige funkelte ihn aus seinen silbernen Augen an – wie konnte man nur ein Morgenmensch sein und nach einer durchzechten Nacht derart gut gelaunt? Dass er als einziger gebechert hatte, ignorierte er gekonnt. „Vielleicht lässt du mal eine Weile die Finger vom Alk, hm?“, nippte der Rothaarige an seiner Kaffeetasse und schaute über deren Rand hinweg weiter zu seinem Gast. Dessen Gesicht zierte ein dezenter Grünton und die Augenringe wirkten wie der gescheiterte Versuch, sich einen Pandalook zu schminken. „Spar dir die klugen Ratschläge! Gib mir lieber was gegen diese verdammten Kopfschmerzen“, jammerte er und jaulte leise in sich hinein. „Dann solltest du nicht mitten in der Nacht vor meiner Haustür auftauchen und mein Klo in Beschlag nehmen, um dich zwischen den Kotzorgien auf dessen Rand auszupennen“, knallte er die Kaffeetasse für seinen Gast so geräuschvoll auf die Tischplatte, dass der zusammenzuckte und ihn wieder böse anstierte. „Wie kann man nur so herzlos sein!“, beschwerte er sich und schob das braune Gebräu angewidert von sich. Sein Magen drehte sich schon genug. Der Rothaarige schmunzelte und schob einen Teller mit Spiegelei, saurer Gurke und anderen deftigen Zutaten hinterher. „Bitte, der Herr. Einmal Katerfrühstück mit allem drum und dran.“, legte ein Grinsen seine leicht vergilbten Zähne frei und er konnte das Lachen kaum unterdrücken, als ein erneuter Sprint zum Badezimmer los ging. „Selbst Schuld“, murmelte er und sein Grinsen verschwand, kaum, dass die Geräuschkulisse verriet, dass sein Gast offenbar am Ziel angelangt war. Er blickte hinüber zum Bad und verschränkte die Arme vor der Brust, während er langsam die Augen auf die Schlafzimmertür richtete. Ausgerechnet in dieser Nacht hatte er ungebetenen Besuch bekommen müssen. Ein Wunder, dass seine schöne Begleitung noch nicht von dieser Schnapsleiche aufgeweckt und verjagt worden war. Er rang mit sich, ob er sie schlafen lassen oder zurück ins Zimmer schlüpfen sollte. Zögerlich legte er die Hand an die Türklinke. So lange hatte er von dieser Nacht geträumt gehabt und nie damit gerechnet, dass sie wirklich einmal mehr als die wunderschöne Sängerin mit der Gitarre für ihn wäre. Was, wenn jetzt das böse Erwachen käme? Vielleicht brauchte er doch erst noch eine Zigarette, um die Nerven zu beruhigen. Kapitel 39: 7.2.2024: menno --------------------------- „Ach, menno!“ Frustriert warf Maren den Rührbesen in die Teigschüssel zurück. Es war schon der zweite Versuch, einen Kuchen zu backen und wieder gelang es nicht. Dabei stand auf dem Rezept extra, dass es für Anfänger geeignet wäre! Aber selbst dann schaffte sie es noch, ihn verbrennen zu lassen oder den Eischnee nicht richtig aufgeschlagen zu bekommen. Heute war einfach nicht ihr Tag… Sie seufzte und nahm die Schürze ab. Mit backen hatte sie halt noch nie viel am Hut gehabt. Das machte sie auch nicht zu einem schlechteren Menschen! Oder einer schlechteren Freundin… Sie schaute auf die missglückten Backversuche und spürte, wie die Tränen in ihren Augen brannten. Und wenn seine Familie genau das von ihr denken würde? Dass sie sich nicht genug Mühe für ihn gab? Nicht einmal backen konnte? Es war das erste Mal, dass sie seine Eltern und Geschwister kennen lernen würde und da wollte sie einen guten Eindruck hinterlassen. Marcel hatte schon so manches Mal davon erzählt, wie seine Mutter die fünf Kinder aufgezogen hatte, während sie nebenher noch Haushalt und Garten schmeißen konnte. Zudem schwärmte er immer von ihren Backkünsten – wie sollte Maren dagegen anstinken? Ihre Stärke waren Tiefkühlpizzen und Fertigkuchen. Sie schüttelte den Kopf und verließ die Küche. Das Elend konnte sie sich nicht länger anschauen. Es war noch zum Haareraufen und sie spürte, wie die Verzweiflung so zur Wut wurde, dass sie Gefahr lief, die Teigschüssel durch den Raum zu werfen – noch etwas, das seine Mutter sicherlich nie getan hatte. Marens Weg führte sie hinaus in den Garten, hinüber zum Holzschuppen. Sie griff sich die Axt, die dort an die Schuppenwand gelehnt stand und ließ ihren Frust am Feuerholz aus. Mit gezielten Hieben spaltete sie die vorgeschnittenen Baumscheiben zu handlichen Stücken und Anzündholz. Hier war sie in ihrem Element! Die Arbeit an der frischen Luft tat ihr besser als jeder Besuch im Fitnessstudio! Ob seine Mutter das wohl auch konnte? Kurz dachte sie darüber nach, aber dann verschwand der Gedanke auch so schnell wieder, wie er gekommen war. „Schlechten Tag gehabt?“, hörte sie plötzlich hinter sich und fuhr herum. „Marcel! Was machst du denn schon hier?“, schnaufte sie und ließ die Axt sinken. Beschämt schaute sie auf die Teigschüssel in seiner Hand. „Heute war nicht viel los, da hab ich ein paar Überstunden weggenommen.“, ging er zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, ehe er ergänzte „Irgendwie hatte ich im Gefühl, dass du vielleicht ein bisschen Hilfe beim Backen gebrauchen könntest“. Sie schenkte ihm ein schiefes Grinsen. „Dummerweise ist mir das Feuerholz ausgegangen“, log sie und er nickte wissend. „Wirklich blöd, dass wir keinen Elektroofen haben, auf den wir ausweichen könnten“, schmunzelte er und legte den Arm um sie. „Komm, ich helf dir.“ Sie nickte und schmiegte sich an ihn. Im Gegensatz zu ihr konnte er wirklich prima backen – er hatte seiner Mutter früher oft genug zugesehen. „Als ich das Schlachtfeld in der Küche sah und dich Holzhacken hörte, musste ich an früher denken“, grinste Marcel und erhielt einen fragenden Blick. „Mama war manchmal so überfordert mit uns und dem Haushalt, dass sie ihren Frust beim Teppichklopfen raus ließ.“ Kapitel 40: 8.2.2024: Öchsle ---------------------------- „Oh, ja, die find ich echt niedlich“, murmelte Linda und scrollte unablässig über ihr Handy. Seit einer gefühlten Ewigkeit war ihr Freund in eine Broschüre vertieft und las ihr immer wieder einiges daraus vor. Nun aber ließ er das Heft sinken und guckte sie irritiert an. „Hä?“ Ihr Blick wich nur kurz vom Display hinweg zu ihm hinüber, ehe sie weiter eifrig scrollte. „Was, hä?“, schmatzte sie und versuchte aus ihrem Kaugummi eine Blase hervor zu kitzeln. Detlef legte die Broschüre auf seinem Schoß ab und guckte sie entgeistert an. „Was soll denn daran niedlich sein?“, lehnte er sich an die Rückenlehne der Couch und drehte sich mehr zu Linda. Die saß am anderen Ende des Möbelstücks in eine Decke gehüllt und zu einer kleinen Sofakartoffel gedreht. Detlef taten schon beim Zusehen die Knie und der Rücken weh, wenn sie sich so klein machte, dass sie ihr Kinn auf den Knien abstützten konnte, während ihre Hände fast schon auf den Füßen ruhten. „Na ja, die Öchsen halt“, murmelte Linda und lachte kurz, als ein lustiges TikTok auftauchte. So schnell, wie die Freude aufkam, verschwand sie allerdings auch wieder. „Öchsen?“, wiederholte Detlef und sie verdrehte die Augen. „Öchsen, Öchschen, Öchsle… was weiß ich! Kleine Ochsen halt. Niedlich und so“. Wieder ein kurzes Lachen. Detlef hatte das Gefühl, ihr beim Verblöden zuzusehen. „Du meinst also, ich hab dir die ganze Zeit von Rindvieh vorgelesen?“, hob er die Augenbraue und verschränkte die Arme vor der Brust. Linda zuckte die Schultern. „Irgendwas mit Wein und so und dass die Ochsen dann die Trauben klein matschen – eigentlich praktisch, müssen die Leute das nicht mehr barfuß machen. Wobei… trinken würd ich das Zeug nicht wollen. Aber gibt ja auch Kaffee, der erst mal von irgendwelchen Nashörnern ausgeschissen wird und dadurch zur Delikatesse wird. Jeder, wie er meint…“. Ein erneuter Lacher und Detlef reichte es. Er zog ihr das Handy weg und drückte ihr stattdessen seine Broschüre in die Hand. „Bei dem Kaffee sind Elefanten involviert und ich hab dir nichts von Trauben stampfenden Ochsen erzählt, sondern über die Maßeinheit für das Gewicht vom Most gesprochen – Öchsle!“, schnaufte er und warf Lindas Handy auf den Tisch. Die war offensichtlich unschlüssig, ob sie sich über sein Tauschgeschäft aufregen sollte oder sich ihren Ärger lieber verkniff. Das mit der Winzerei war doch eh nur wieder irgendeine kurze Spinnerei und Traumvorstellung, die er nach wenigen Wochen wieder verwerfen würde. „Musst du eigentlich nicht langsam zur Lerngruppe? Sven wartet bestimmt schon.“, griff sie ihre Wasserflasche vom Couchtisch und schielte auf die aufploppenden Nachrichten auf dem Handydisplay. Kapitel 41: 9.2.2024: Tüttel ---------------------------- „Danke, Bria“, meinte der Lehrer, als das Mädchen ihm die Kreide reichte und zurück an seinen Platz ging. Im Gegensatz zu anderen Schülern hatte sie wirklich eine hübsche Schrift und es war immer eine Freude, sie etwas an die Tafel schreiben zu lassen – ihre Werke konnte man wenigstens entziffern; bei anderen Kandidaten sah das hingegen nicht so aus, dafür hatten sie… „Da fehlt noch das i auf dem Tüttel!“ … eine große Klappe, wie Pierre in diesem Moment wieder einmal lautstark unter Beweis stellte. Die ganze Klasse lachte und er fühlte sich wie der Größte. Der Lehrer konnte sehen, wie Bria die Augen verdrehte und verstand das Mädchen nur allzu gut. Leider musste er selbst ein wenig neutraler sein und konnte nicht so offensichtlich zeigen, dass er einigen Schülern die Intelligenz eines Toastbrots zusprach. „Ruhe jetzt! Wenn schon, dann Tüttel auf dem i – und wie kommst du da jetzt drauf?“, ergänzte der Lehrer das fehlende Pünktchen und bekam rasch erklärt, dass sie in der vergangenen Deutschstunde über spätmittelhochdeutsche Begrifflichkeiten gesprochen hatten. Eher durch Zufall, weil ein Schüler irgendein Wort aufgeschnappt hatte und Frau Müllers Hang, sich ablenken zu lassen, nutzte. Aber immerhin kannten die Kinder jetzt unter anderem das Wort Tüttel und würden es wohl auch so schnell nicht mehr aus ihren pubertären Hirnen verbannen – stand es doch nicht nur für Pünktchen, sondern hatte seinen eigentlichen Ursprung bei der Brustspitze. Herr Meyer nickte verstehend, dachte sich so seinen Teil über die werte Kollegin und fuhr dann mit dem Englischunterricht fort. „Warum müssen unsere Jungs bloß immer solche Kleinkinder sein?“, murrte Bria, als sie nach der Stunde mit ihrer Freundin auf den Schulhof trat. Dieses ständige Gehabe ihrer Mitschüler ging ihr gewaltig auf den Geist. Immerzu irgendwelche anzüglichen Witzchen und bei jeder Gelegenheit kamen sie nur auf das eine Thema zu sprechen. Ja, Bria war nicht die Einzige, die schon in peinliche Situationen vor versammelter Mannschaft gebracht worden war, aber trotzdem nervte sie das gewaltig. Und ihre Freundin war ihr dabei keine große Unterstützung: Die fand eines der Klassengroßmäuler auch noch toll und kicherte eher, wenn es um den Deppen ging, als ihren Kopf einzuschalten. Manchmal fragte sich Bria, ob sie nur noch von Idioten umgeben sei. Wurde man in der Pubertät zu einem hirnlosen Blödkopf, fragte sie sich und spürte plötzlich ein Kribbeln in der Magengegend. Da kam auch Laurin aus dem Schulgebäude. Der Junge war ein Schuljahr über ihr und ihr – wie wohl den meisten – durch die Hänseleien seiner Mitschüler aufgefallen. Statt sich aber über ihn lustig zu machen, fand Bria ihn interessant: Er war eher ruhig und raufte sich nicht ständig. Vielleicht sollte sie ihn einmal ansprechen? Kapitel 42: 10.2.2024: Whataboutism ----------------------------------- „Mir reichts jetzt! Wir diskutieren seit Stunden und von dir kommt nichts als Whataboutism!“, hob Detlef die Hände und machte eine abwehrende Geste. Wieder öffnete Saskia die Lippen, um etwas zu sagen, aber dieses Mal ließ er sie nicht zu Wort kommen. „Nein! Ich hab keine Lust mehr darauf! Du gehst überhaupt nicht auf meine Argumente ein, sondern kommst nur mit Gegenfragen oder versuchst vom Thema abzulenken! Ja, natürlich sind die anderen Probleme schlimm, die du gerade genannt hast, aber um die geht es doch gerade überhaupt nicht! Wieso kannst du nicht ein Mal auf das eingehen, was ich sage?“, schüttelte er verständnislos den Kopf und ließ einen tiefen Seufzer fahren. „Ich lenk vom Thema ab?“, stieß Saskia schrill hervor und stützte die Hände auf die Hüften. „Du bist doch der, der unsere finanzielle Situation völlig ignoriert und nur seinen Hirngespinsten nachjagt! Wenn du willst, dass unsere Beziehung besser läuft, such dir endlich einen Job!“, forderte sie und nochmals schüttelte Detlef den Kopf. „Aber das ist doch nicht unser Kernproblem. Ja, es belastet, aber ich hab das Gefühl, dass wir uns auseinanderleben. Dass wir nur noch nebeneinander herleben, statt wirklich zusammen zu sein“, murmelte er und konnte in ihrem Blick sehen, wie sie innerlich die abwehrende Mauer noch höher zog. Sie wollte sich einfach nicht eingestehen, dass ihre Beziehung in den letzten Monaten mächtig ins Wanken geraten war. Und Detlef fühlte, wie die Verzweiflung in ihm aufstieg, weil er nicht zu ihr durchdringen konnte. „Du suchst doch nur wieder nach Ausflüchten, um dich vor der Arbeit zu drücken!“, zischte Saskia und Detlef ließ mutlos die Schultern sinken. „Liebst du mich überhaupt noch?“ Er konnte sehen, wie ihr Kopf rot anlief – aber war es aus Wut oder weil sie sich ertappt fühlte? „Erzähl mir noch mal, ich würde ablenken! Was machst du denn grad selber?! Du lässt doch nur deinen Frust an mir aus und versuchst mir ein schlechtes Gewissen zu machen!“, brauste sie auf und er brach den Blickkontakt ab. Es hatte keinen Zweck. Er ging an ihr vorbei zur Tür - unter Gezeter und der Aufforderung, ihr nicht den Rücken zuzudrehen, aber er hob nur ein weiteres Mal abwehrend die Hände. „Das führt hier grad zu nichts. Wir sollten uns erst mal beruhigen“, sagte er und sein Mundwinkel zuckte, als sein Partnerin meinte, sie sei ruhig – um gleich darauf weiter zu zetern. Er konnte spüren, dass es für sie der Bruch in ihrer Beziehung wäre, wenn er jetzt ginge, aber längst hatte er das Gefühl, dass sie nur nach einem solchen offiziellen Grund gesucht hatte. „Lass uns nachher weiterreden“, schlug er trotzdem vor, auch wenn er wenig Hoffnung hatte, wirklich noch etwas retten zu können. Kapitel 43: 11.2.2024: Sashimi ------------------------------ „Ich liebe asiatisches Essen! Besonders das japanische!“, klatschte Frederike in die Hände, als sie mit ihrer Freundin Lisa durch das japanische Viertel ihrer Nachbarstadt lief. Es war immer eine Freude, dorthin zu gehen und ein Stück weit in die fremde Kultur eintauchen zu können. „Wir sollten uns mal Rezepte raus suchen und selbst was kochen!“, schlug sie vor und überlegte, welches Gericht sie als erstes probieren wollte. Lisa hingegen war nicht so überzeugt: Die beiden Studentinnen waren noch nie große Köchinnen gewesen. „Wie wäre es mit Sushi?“, hörte sie Frederike und verzog das Gesicht. „Ist das nicht ein bisschen schwer für uns?“, meinte Lisa und betrachtete die Schaufenster. Frederike war unsicher: Sie hätte schon viel Spaß daran, es mal auszuprobieren, aber ein Misserfolg wäre sicherlich nicht sehr hilfreich für ihre weitere Kochkarriere… „Vielleicht erst mal Sashimi? Rohen Fisch klein zu schneiden, sollten selbst wir hinbekommen können“, tippte sich Lisa an die Unterlippe und dachte an das eine Mal, als sie sogar geschafft hatte, die Fertigramen verbrennen zu lassen. Frederike nickte. Ja, ihr war gerade auch ein kleiner Unfall mit Rührei eingefallen – ein einfacher Einstieg in das Thema wäre sicherlich nicht verkehrt. Dann aber blieben sie wie vom Donner gerührt stehen und starrten auf das Schild vor einem der Restaurants, das sie manchmal besuchten. „Siehst du, was ich sehe?“, meinte Lisa und Frederike nickte abermals. „Ein Kochkurs“ „Ja…“ Sie traten näher heran, lasen die Details über Dauer, Art des Kochkurses und Preis. „Oh, das klingt traumhaft! Stell dir das vor, wir könnten von einem echten Profi lernen, wie man die Rezepte kocht!“ „Vor allem einer, der mit in der Küche steht und nicht nur auf YouTube was vormacht, während wir…“ „… nebenher die Küche in Brand stecken“. Beide seufzen. Nicht, dass es so einen Vorfall schon einmal gegeben hätte… „Aber ganz billig ist es nicht“, murmelte Lisa und legte den Kopf schief. „Stimmt schon, aber es ist trotzdem eine tolle Gelegenheit… Eigentlich haben wir ja grad angefangen, auf eine eine eigene Wohnung zu sparen, aber so schlimm ists in der WG nun auch wieder nicht. Wir könnten das mit der Wohnung also ein paar Monate nach hinten schieben.“ „Außerdem hab ich bald Geburtstag und könnte mir von meinen Eltern wünschen, dass sie was dazu tun – willst du denn dieses Jahr in den Urlaub?“ „Oh, stimmt! Wenn ich den ausfallen lasse, brauch ich ans Wohnungsgeld gar nicht dran!“ Lisa lächelte und nickte Frederike zu. „Machen wir den Kochkurs und verbringen unsere Semesterferien dieses Mal mit dem Nachkochen in der Küche!“ Kapitel 44: 12.2.2024: tiefrot ------------------------------ Das erste Zwitschern der Vögel kündigte den neuen Tag an, noch ehe er begonnen hatte. In völliger Dunkelheit ließen sie ihre Stimmen erklingen, als lockten sie damit das Morgenrot an, das nur wenig später das tiefe Schwarz der Nacht verscheuchte. Tiefrot zeigte sich die Dämmerung an diesem Morgen und tauchte die Umgebung in ein Farbenspiel, das sie aussehen ließ, als stünde alles in Flammen. Ein tiefes Seufzen entrann seiner Kehle bei diesem Anblick, während er sie neben sich arbeiten hörte. „Mach dich auf Regen gefasst, vielleicht auch Gewitter“, murmelte er, ohne dabei den Blick vom Firmament zu nehmen. Seine blonde Begleitung blickte zu ihm auf. Sie mahlte gerade mit einem Stein die restlichen Samen und Beeren vom Vortag, um mit etwas Wasser einen Teig daraus anfertigen zu können. „Morgenrot, schlecht Wetter droht“, murmelte sie und schaute zu einem der in tiefes Rot getauchten Wälder. „Es ist fast schon gespenstisch“. Er nickte. „Warts nur ab, wenn gleich irgendwann noch die Vögel verstummen – Dann fühlt man sich so richtig wie zur Geisterstunde“. Sie musterte ihn; seine angespannte Körperhaltung, die Falte zwischen den Augenbrauen. Er kannte dieses Leben unter dem freien Sternenhimmel schon so viel länger als sie. Sie hatte sich immer auf ein festes Dach über dem Kopf verlassen können; hatte die Zeichen der Natur zwar auch zu deuten gelernt, aber nie mit solcher Intensität auf sie achten müssen, wie er. „Und wenn wir den Tag über noch hier lagern?“, wollte sie von ihm wissen, aber er schüttelte den Kopf. „Das nächste Dorf dürfte nicht mehr allzu weit weg sein. Es ist besser, wenn wir versuchen es zu erreichen. Irgendwie. Bei dem Morgenrot geh ich von einem Unwetter aus – da bieten uns die paar Bäume hier wenig Schutz.“ „Dann lass uns lieber ohne Frühstück aufbrechen. Ich kann das Mehl in einen Beutel schlagen und für später mitnehmen. Wir haben gestern Abend noch gut gegessen – vielleicht reichen unsere Kräfte aus, bis wir das Dorf erreichen.“ Er nickte und drehte dem tiefen Rot einen Moment lang den Rücken zu, um ihr beim Zusammenräumen des Lagers zu helfen. Kapitel 45: 13.2.2024: fürsorgend --------------------------------- Jacqueline stand vor dem Haus ihrer Kindheit und fühlte sich wie in eine Zeitkapsel geworfen: Alles war auf seltsame Art so vertraut, obwohl sie seit Jahren nicht mehr hier gewesen war. Die Stufen am Eingang zum Treppenhaus knirschten noch wie immer, dazu der Geruch der Mülltonnen, die nur wenige Meter entfernt in einem Verschlag standen. Selbst die Eingangstür knarrte unverändert und beim Weg durch das Treppenhaus echoten ihre Schritte – wenn die Fahrstühle nach wie vor so unzuverlässig wie früher waren, wollte sie das Wagnis, sie zu nutzen, lieber nicht eingehen. Abgestanden und muffig war es und trist der Blick zu den vielen Wohnungstüren, die sich Etage um Etage aneinander reihten. Sie fühlte ein beengtes Gefühl in der Brust und das nicht nur wegen der inzwischen ungewohnten Anstrengung beim Erklimmen der Stufen. Dann endlich hatte sie den fünften Stock erreicht und sah jene Wohnungstür, die sie früher täglich gesehen hatte. Leicht quietschte der Linoleumboden, als sie auf sie zuging. Raste ihr Herz noch vom Aufstieg so? Nein, es war wohl eher die Nervosität. Ein kurzes Zögern stellte sich ein, ehe sie dann doch auf die Türklingel drückte. Dumpfe Schritte waren aus dem Inneren der Wohnung zu hören, die immer näher kamen. Das Klackern der Türkette, ein weiteres Klacken und sie sah nach fast sechs Jahren das erste Mal wieder ins Gesicht ihrer Mutter. So vieles hatte sich in diesem Haus nicht verändert, aber sie sich schon: Fast erschreckend tief waren ihre Falten geworden, das Haar grau und die Haut fahl. Abgekämpft sah sie aus und lächelte trotzdem beim Anblick ihrer Tochter. „Jackie? Du meine Güte! Hallo, mein Liebling!“, erkannte sie sie sofort, während die Angesprochene im ersten Moment tatsächlich unsicher gewesen war, ob sie die falsche Tür erwischt hatte. „Hallo, Mama“, antwortete sie fast hölzern, als ihre Mutter sie sogleich in eine feste Umarmung zog und an sich drückte. Da war wieder der vertraute Geruch ihres Shampoos und auch beim Blick über ihre Schulter lag die Wohnung im gewohnten, leicht gelblichen Licht, das Jackie früher immer bei der Ankunft aus der Schule begrüßt hatte. „Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte dich doch vom Bahnhof abgeholt!“, schob ihre Mutter sie nun leicht von sich, um Jackies Gesicht besser betrachten zu können. So viel Liebe und Stolz lagen in den faltigen Gesichtszügen. „Ich wollte dich überraschen“, sprach Jackie leise und fühlte einen Kloß im Hals. Sie hatte so sehr aus dieser schäbigen Gegend mit den vielen schäbigen Menschen fliehen und sich eine Karriere aufbauen wollen, dass sie das Einzige vergessen hatte, das nicht schäbig gewesen war: Ihre Familie. „Na, das hast du geschafft!“, lachte ihre Mutter und zog sie in die Wohnung. „Komm rein, aber sei ein bisschen leise. Deine Schwester ist gerade erst eingeschlafen“, meinte ihre Mutter und schritt voran in die Küche. „Jetzt? Um diese Uhrzeit?“, ging Jackie ihr nach und schaute dabei zu, wie ihre Mutter mit eiligen Handgriffen ein wenig Ordnung herstellte. Jackies Stirn legte sich in Falten, als sie das Chaos sah und die vielen Medikamentenpackungen, die sich auf Tisch und Arbeitsplatte türmten. „Ich bin ja froh, dass das Fieber endlich mal wieder soweit runter ist, dass sie überhaupt ruhigen Schlaf finden kann. Und der Husten…“, murmelte ihre Mutter und stellte die Kaffeemaschine an, ehe sie Jackie bat, sich hinzusetzen. Die aber stand wie vom Donner gerührt da. „Aber Mama, warum hast du mich nicht angerufen, wenn es ihr so schlecht ging? Ich wäre doch schon eher gekommen und hätte dir geholfen!“, sagte sie entsetzt und merkte dann selbst, wie seltsam das klingen musste, nachdem sie sich jahrelang nur mit kurzen Grußkarten zu Geburtstagen und Weihnachten gemeldet hatte. Wieder spürte sie die aufkommenden Schuldgefühle. Sie musste ihre Mutter furchtbar enttäuscht haben, aber die lächelte nur und schüttelte den Kopf. „Ach was, deine Schwester hatte immer schon eine schlechte Konstitution und da hab ich doch noch nie deine Hilfe gebraucht.“, zwinkerte sie und wieder legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen und in die Fältchen ihrer Augen. Jackie nickte und ließ sich schwer auf den angebotenen Stuhl fallen, während ihre Mutter ihr den Rücken zudrehte und die Kaffeetassen vorbereitete. Schlank war sie geworden. Das Bisschen Wohlfühlspeck hatte sich in Luft aufgelöst. Und trotzdem musste Jackie auch bei diesem Anblick unwillkürlich wieder an früher denken: Wie oft sie hier am Tisch gesessen hatte, häufig über die Hausaufgaben gebeugt, während ihre Mutter trotz Arbeit und anderer Ärgernisse vor allem eines gewesen war: Liebevoll und fürsorgend. Kapitel 46: 14.2.2024: ghosten ------------------------------ „Saskia ghostet mich“. In die eintönige Musik und sein Bier hinein ließ Detlef plötzlich diesen Satz fallen. Sven nickte im ersten Moment im Takt, ehe die Worte richtig in seinen Verstand vordrangen und ihn aus dem Konzept brachten. Kaum merklich zuckte er zusammen, als hätte ihn jemand aus einem Tagtraum geweckt und zurück in die Realität gezogen. Auch für ihn war es ein langer Tag gewesen und sein Hirn eigentlich nicht mehr auf solche ernsten Gespräche eingestellt. „Warte, was?“, guckte er seinen Freund irritiert an, der noch immer auf sein Bier stierte. Sven musterte ihn und das Getränk vor ihm. So viel hatte er eigentlich noch nicht getrunken… „Sie hat mich fallen gelassen“, wiederholte Detlef den Sinn seiner Worte. Sven brauchte noch immer einen Moment, um zu begreifen, wie er jetzt reagieren und handeln sollte. Hilfesuchend sah er sich in der kleinen Kneipe um, in die sie fast jeden Mittwoch gingen, um Bergfest zu feiern. Es war schummrig, voll und die Luft verbraucht. Kein guter Ort für so ein Thema, fand er – zumindest, solange Detlef noch nicht so voll war, dass er anfing zu lallen. Dann wiederum wäre es wohl der perfekte Ort für so ein Thema gewesen. „Lass uns draußen reden, ja?“, lehnte sich Sven leicht zu seinem Freund und hob dem Barmann die Hand entgegen, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. „Wollt ihr schon gehen, Jungs?“, kannte er die beiden inzwischen recht gut und wusste, dass sie sonst noch das eine oder andere Bierchen mehr vertragen konnten. „Wir brauchen ein bisschen frische Luft“, meinte Sven und deutete vielsagend zu Detlef. Der schwieg sich aus und sah nicht mal, dass er als Grund zur Flucht vorgeschoben wurde. „Oh“, sagte der Barmann wissend und dachte, Detlef würde sich jeden Moment sein Abendessen noch mal durch den Kopf gehen lassen. Schnell rechnete er ab, wünschte ihnen noch einen schönen Abend und behielt im Blick, dass kein Malheur passierte, während sie sich zum Ausgang schoben. Grade laufen konnte Detlef zumindest noch… Sven hingegen versuchte bei diesen paar Schritten durch den Laden krampfhaft, sich eine Strategie für ein Gespräch zu überlegen. Was sollte er sagen? Was fragen? Sein Kopf schmerzte, aber er wollte seinen Kumpel nicht hängen lassen. „Scheiße kalt“, murmelte Detlef, als sie an die frische Luft traten, die noch immer so kühl war, dass sie ihren Atem emporsteigen sehen konnten. Sven tat es gut. Er merkte, wie sein Verstand wieder klarer und wacher wurde. „Komm, lass uns in die Richtung gehen“, nickte er hinüber zum Hafen und setzte sich in Bewegung. Ein kleiner Fußmarsch würde ihnen gut tun. Wieder schlurfte Detlef mit, als sei er nicht anwesend und als drehe sich nicht gerade alles um ihn. „Mir ist aufgefallen, dass du in den letzten Tagen ziemlich einsilbig warst, aber ich war nicht sicher, ob ich dich drauf ansprechen oder warten sollte“, begann Sven nach einer Weile des Schweigens und erinnerte sich daran, wie binnen kürzester Zeit die flachen Witze und dummen Sprüche seines Freundes einer ungewohnten Ernsthaftigkeit gewichen waren. „Willst du drüber reden?“ Kapitel 47: 15.2.2024: Knacki ----------------------------- „Du bist ein Ex-Knacki?!“ Der Schwarzhaarige sah seinen Kumpel verdattert an, während jener das Gesicht verzog und sich fragte, warum er nicht gleich eine Info in die Zeitung setzte. „Ja und jetzt schrei nicht so rum!“, zog er an seiner Zigarette und bedachte ihn aus den Augenwinkeln mit einem genervten Blick. Es war nicht unbedingt etwas, worauf er stolz war, aber etwas, das ihn in der damaligen Situation sicherlich besser als die mögliche Alternative getroffen hatte. „Deshalb hab ich dich so ewig nicht gesehen und vor allem nicht mehr in unserer alten Gegend!“, streckte der Schwarzhaarige die Beine aus und überkreuzte sie leicht. Sie waren einander zufällig in einer Bar über den Weg gerannt und saßen nun, abgeschieden von allem und jedem, in der Dunkelheit auf einer Parkbank. „Und trotzdem hast du mich letztlich wiedergefunden“, sagte der Rothaarige sarkastisch – manchmal konnte sein Kumpel eine Nervensäge sein. Aber es tat auch gut, ihn wieder um sich zu haben. Es brachte ein wenig Vertrautheit mit, nachdem er die letzten Jahre in einem Leben voller Einsamkeit und Lügen verbracht hatte. Die alten Zelte nach der Inhaftierung und den Leuten, vor denen ihn die Zeit im Knast beschützen konnte, abgebrochen hatte. Zum netten Kerl von nebenan geworden war, um sich irgendwie ein neues Leben aufzubauen. „Wofür haben die dich denn verknackt?“ „Diebstahl“ Der Schwarzhaarige lachte los. „Was ist so lustig?“, mischten sich Irritation und Abscheu in die Züge des Rothaarigen. „Dass du dich bei so was erwischen lässt!“ Ja, auch der Schwarzhaarige war sicherlich kein ungeschriebenes Blatt… „Ach, halt doch die Klappe“, murmelte der Rothaarige und warf seinen Zigarettenstummel auf den Weg. Einen Moment lang konnte er noch dem Glimmen der Spitze nachsehen, ehe auch sie erloschen war. „Ey, du verbrennst dir gleich die Pfote, wenn du das Ding nicht mal weg legst.“, holten ihn jetzt die Worte derselben Person aus den Gedanken. Er schreckte leicht hoch und schaute dann, nach einem Nicken des Schwarzhaarigen, auf die Zigarette zwischen seinen Fingern. Sie brannte immer weiter ab, ohne, dass er daran zog. „Hmhm“, erwischte er zumindest das letzte Bisschen verfügbaren Tabak und drückte den Glimmstängel dann im Aschenbecher aus. „Was ist los? Du warst plötzlich so abwesend“, stapfte der Schwarzhaarige aus der Küche zu ihm hinüber ins Wohnzimmer und ließ sich mit einer Packung Chips neben ihn auf die Couch fallen. „Nix, war nur in Gedanken“ „Ahaaa“, zwinkerte der Schwarzhaarige vielsagend und sein Kumpel hob die Augenbraue. „Tagträume von einer schicken Brünetten?“, legte sich ein anzügliches Grinsen auf sein Gesicht. Der Rothaarige hob die Schultern und schmatzte. „Eher ne hässliche Schwarzhaarige, die ständig bei mir auf der Matte steht und mein Essen wegfrisst“, griff er in die Chipstüte und stellte den Ton vom Fernseher wieder an. Die Werbepause war beendet, sie konnten endlich weiter gucken. „Würd die mal rausschmeißen, wenn sie dir so auf den Sack geht“, meinte sein Gast und stopfte sich den Mund mit Kartoffelscheiben voll. Der Rothaarige musterte ihn von der Seite und ließ dann den Blick durch die Wohnung schweifen, in der er nun inzwischen seit einigen Jahren lebte. „Ist zwar ne Nervensäge, aber irgendwie hab ich sie auch liebgewonnen“, gab er ihm einen leichten Klaps auf die Schulter. Kurz hielt der Schwarzhaarige inne, drehte dann langsam den Kopf zu ihm. „Du hast grad aber nicht etwa von mir gesprochen, oder?“ Kapitel 48: 16.2.2024: faselig ------------------------------ Er hatte nur eine Halbtagsstelle und trotzdem war er auch an diesem Tag zu Feierabend wieder so erschöpft, wie andere nach einer Zehnstundenschicht. Sein Kopf dröhnte, der Nacken war verspannt und die Augen brannten. Ein bisschen konnte ihn die Musik in seinen Kopfhörern ablenken, aber trotzdem drang viel zu viel der Unruhe an ihn heran. Menschenmassen, wohin das Auge fiel. Egal, ob er bei seinem Weg zum Zug durch den Park lief, durch die Einkaufspassagen oder am Bahnhof entlang: Überall war Gefasel, Hektik, Lärm. Es zerrte an seinen Nerven und laugte ihn aus. Wie froh war er da, als er endlich am Bahngleis stand und seinen Zug heranrollen sah. Bald wäre er zuhause. Bald würde er die Stadt und ihren Stress hinter sich lassen können. Kurz schloss er die Augen und atmete tief durch, ehe er ins Abteil trat und sich einen freien Sitz suchte. Es war um die Mittagszeit und nicht allzu viel los. Trotzdem fand er auch hier keine Ruhe: Nur wenige Reihen hinter ihm saß eine Gruppe junge Frauen in ihrem Vierersitz und beschallte den halben Zug mit ihren Erzählungen. „Wie kann man nur so faselig sein?“, dachte er und drehte seine Musik so hoch es ging – sie kam nicht gegen das Gerede an. Er wollte nichts wissen über Zahnarztbesuche und Diäten. Über Modetrends oder das nervige Berufsleben dieser Frauen. Konnten sie nicht ein bisschen leiser sein? Seine Fahrt dauerte nur wenige Minuten und trotzdem konnte er es gar nicht erwarten, aus dem Zug zu stürmen. Die Haltestelle lag ländlich und abgelegen. Mit jedem Schritt von ihr weg ließ er die Stadt und ihr Chaos mehr hinter sich. Die Bewegung tat ihm gut, ganz zu schweigen von der frischen Luft. Er liebte das Leben auf dem Land und die Arbeit in der Stadt war für ihn nur ein notwendiges Übel. Eines, das ihn so auslaugte, dass sich gar nicht vorstellen konnte, wie seine Kraftreserven für eine Vollzeitstelle ausreichen sollten. Zum Glück brauchte er nicht viel zum Leben und kam mit dem Geld irgendwie zurecht. Und zum Glück hatte er bald ein paar Tage Urlaub. Er dachte daran, was er in seiner freien Zeit dann alles machen wollte und trat das letzte Hindernis auf seinem Weg nach Hause an: Den Feldweg, der auch von vielen Spaziergängern und Hundebesitzern genutzt wurde. Eigentlich war er wunderschön und ermöglichte einen herrlichen Blick über die Landschaft, aber viele der anderen Besucher achteten darauf gar nicht. Sie liefen durch die Natur und nahmen die Natur dabei gar nicht richtig wahr. Ihre Gespräche waren so laut, dass sie die Tiere im hohen Gras verschreckten. Sie waren so in ihr Gerede vertieft, dass sie nicht mitbekamen, wie Schwärme von herrlichen Vögeln über sie hinwegflogen oder ihre Hunde kreuz und quer über die bestellten Äcker und Weideflächen rasten und damit ihre Schäden hinterließen. Ganz zu schweigen von den Tretminen oder liegengelassenen Spielzeugen. Für sie waren die Natur und das Land nur Abenteuerspielplätze, aber nicht das Zuhause anderer, in das sie sich selbst ungefragt als Gäste einluden. „Warum kann man nicht einfach diese Schönheit genießen und dabei Rücksicht auf andere nehmen?“, murmelte er und bog in den kleinen Feldweg ein, der zu seinem Haus führte. Was war er froh, dass dieses Stückchen so wenig einladend wirkte, dass kaum jemand sich hierhin verirrte – und er dank der hohen, dornigen Hecke wieder ungestört in die Schönheit seines Gartens eintauchen konnte, als er endlich durch das Eingangstor seines Zuhauses schritt. Wie hatte er dieses kleine Paradies vermisst. Kapitel 49: 17.2.2024: besänftigen ---------------------------------- „Wie malerisch.“ Er lehnte sich an die Türzarge ihres Zimmers und betrachtete, wie sich ihre Silhouette in der Dunkelheit vorm Mond abzeichnete. Bald wäre Vollmond und sein silbriger Schein lag wie eine samtene Decke über allem. Sie versuchte sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen, als sie seine Stimme plötzlich hörte, aber er hatte das leichte Zucken längst bemerkt. „Hast du dich inzwischen ein wenig eingelebt?“, trat er näher an sie heran und blieb hinter ihr stehen. Sie saß vor dem großen, bodentiefen Fenster und nahm den Blick langsam von der kühlen, hellen Kugel am Firmament, um stattdessen ihren Besucher anzublicken. Wenn auch nur kurz. „Steh auf, ich will dein hübsches Gesicht besser sehen“, sagte er ruhig und sie kam mit einem leichten Nicken seiner Aufforderung nach. „Die Wunden sind gut verheilt, nicht wahr?“, musterte er ihren Körper und erhielt wieder ein leichtes Nicken. „Danke“, sprach sie kaum hörbar und verbot ihrer Panik, sich bemerkbar zu machen, als er seine Hand an ihr Kinn legte. „Sieh mich an“. Sie tat, wie befohlen und konnte den Blick doch nicht lange auf seine Augen gerichtet halten. Er huschte immer wieder fort zu seiner Nase, den Wangen oder den Lippen. „Wie schön, die Schrammen und blauen Flecke sind fast nicht mehr zu sehen. Du hattest wirklich Glück, dass du dich hierher verirrt hast und wir dich gefunden haben“, lag ein sanftes Raunen in seiner Stimme und doch wusste sie, dass diese Ruhe trügerisch war. „Ja“, sprach sie knapp und unterstrich das Wort mit einem weiteren Nicken – sie durfte sich ihre Abscheu vor ihm nicht anmerken lassen. Die, die sie hierher getrieben hatten, waren schlechte Menschen gewesen, aber sie hatten zu ihrer Bosheit wenigstens gestanden. Er hingegen… charismatisch und wortgewandt wirkte er und konnte doch das reine Böse sein. Wenn sie ihn erzürnen würde, wüsste sie nicht, wie sie ihn wieder besänftigen sollte. „Du hast viel durch gemacht. Mit der Zeit wirst du dich bestimmt daran gewöhnen, hier zu sein. Nach meiner vielen Hilfe ist es doch nicht zu viel verlangt, dass ich dich ein wenig bei mir haben will, oder?“, ließ er ihr Kinn los und musterte sie abermals. Der lauernde Ton in seiner Stimme blieb ihr nicht verborgen. „Ich hab Euch viel zu verdanken“, flüsterte sie und dachte daran, wie er nicht nur ihr Leben gerettet, sondern auch ihren Körper wieder geheilt hatte. Er lachte kurz auf und ließ sie damit zusammenfahren. „Nicht doch, wann fängst du endlich an mich zu Duzen, hm?“ Sie konnte den Ton in seiner Stimme nicht zuordnen und auch der verstohlene Blick in seine Augen verriet ihr nicht seine momentane Stimmung. Wieder antwortete sie nur mit einem kurzen Nicken. Kapitel 50: 18.2.2024: Bö - Archiv ---------------------------------- Der Regen peitschte und in Böen stellte sich ihr der Wind in den Weg. Manches Mal musste sie sich regelrecht gegen ihn lehnen, um voran zu kommen. Ohne die Kapuze festzuhalten, blieb sie nicht länger als wenige Sekunden auf ihrem Kopf. Die eine Hand war dadurch schon so kalt, dass sie schmerzte und langsam begann taub zu werden. Die andere war tief in der Manteltasche vergraben. Es war ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagte und trotzdem hielt sie sich freiwillig darin auf. Sie hatte den Fuß nicht vor die Tür setzen müssen, aber sie wollte es. Der Wind wehte ihr den Kopf frei und der Regen spülte das in ihr fort, was sie bereits seit Tagen und Wochen beschäftigte, sie nicht schlafen ließ und wie ein Karussell in ihrem Kopf kreiste. Ein Berg an Gedanken hatte sich aufgetürmt und so schwer auf ihren Schultern gelegen, dass sie sich kaum noch an Momente erinnern konnte, ihn denen sie nicht ein latenter Kopfschmerz begleitete. Zuletzt war ihre Brust wie zugeschnürt gewesen, aber jetzt löste sich ihr Atem Bö für Bö und sie füllte ihre Lungen mit frischer, klarer Luft. Ausgehalten hatte sie, heruntergeschluckt, die Tränen und Emotionen solange von sich geschoben, bis sie das Gefühl hatte, sich selbst nicht mehr zu spüren. Jetzt stand sie da, schrie alles in den Regen hinein und ließ sich endlich einmal gehen – umgeben von der Sicherheit, dass niemand sie sah oder hörte und niemand sie beurteilen würde. Wie lange hatte sie sich nicht mehr so lebendig gefühlt? Dieser Spaziergang brachte ihre Gefühle so ins Tosen wie der Wind das Wasser des Sees, an dessen Steg sie stand. „Ich lebe!“, schrie sie und sog die Energie in sich auf, die mit jedem Schritt stärker durch sie hindurchströmte. Schluss mit dem Hamsterrad! Schluss damit, die Bedürfnisse aller anderen über die eigenen zu stellen! Es war Zeit, für sich einzustehen! Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ die großen, kräftigen Tropfen in ihrem Gesicht zerplatzen. Nie mehr wollte sie sich so taub fühlen wie zu Beginn dieses Spazierganges. Sie wollte die Freude spüren, den Schmerz zulassen und ihre Gedanken und Gefühle äußern. Das Tosen nahm ab und aus den Böen wurde ein ruhiger Hauch. Die kräftigen Tropfen wurden zu einem leichten Schleier. Die tiefgrauen Wolken schoben langsam auseinander und machten Platz für den blauen Himmel und die kräftigen Sonnenstrahlen. Kapitel 51: 18.2.2024: Kannitverstan ------------------------------------ „Meier, du bist ein richtiger Kannitverstan“, schallte es durch den Seminarraum, als der Dozent Detlef eine Frage stellte und er sie – wie so oft – nicht zu beantworten wusste. Die Studenten lachten und der Dozent schüttelte den Kopf über Detlefs Unwissenheit. In seinen Augen war die Frage zu lesen, warum jeder in diesen Studiengang kommen konnte und es nicht einmal eine Anwesenheitspflicht gab. Währenddessen pflichtete eine andere Studentin ihrem Vorredner bei: „Du sitzt seit Wochen mit in den Vorlesungen und hast trotzdem keine Ahnung!“, verschränkte sie die Arme vor der Brust, während ihre Lippen noch ein Abschließendes „reicher Schnösel“ bildeten. Detlef aber zeigte sich wenig beeindruckt. Er hob die Augenbraue und musterte die beiden Großmäuler von oben bis unten. „Sorry, könnt ihr mir das näher erklären? Kannitverstan hab ich noch nie gehört“, legte er den Kopf schief und schaute sie auffordernd an. Beide hatten ein Grinsen auf den Lippen, während Sven das Blitzen in Detlefs Augen sah. „Was hast du vor?“, murmelte er und wurde von seinem Kumpel ignoriert. „Kein Wunder, dass du das Wort nicht kennst: Ein Kannitverstan ist ein Typ, der von etwas Bestimmtem nichts versteht. Also das, was wir seit Beginn unseres Studiums auch bei dir bewundern dürfen, Dette“, lehnte der Kommilitone sich zufrieden zurück und tauschte mit der anderen Studentin, die sich zuvor Gehör verschafft hatte, ein Nicken aus. Detlefs Mundwinkel zuckte und obwohl der Dozent eigentlich fortfahren wollte, interessierte ihn doch, worauf diese Diskussion hinauslaufen würde. „Aha! Danke für die Aufklärung! Aber ich hab immer noch nicht verstanden, woher der Begriff eigentlich kommt“, legte Detlef nun den Kopf auf die andere Seite und sah, wie den beiden Mitstudenten das Grinsen einfror. Sie fingen an zu murmeln, sagten was von Redewendung oder lenkten anders ab. Nun war es Detlef, der grinste. „Das entstammt nicht zufällig einer niederländischen Geschichte, bei der ein Handwerker erst neidisch auf das Vermögen eines Herrn „Kannitverstan“ war und dann Mitleid hatte, weil er später von dessen Beerdigung erfuhr und wusste, dass ihm der ganze Reichtum letztlich nichts gebracht hatte, hm?“ Seine Kommilitonen zogen die Augenbrauen zusammen. „Jetzt spinnst du dir was zusammen!“, brausten sie auf und der Dozent brachte sie mit der erhobenen Hand zum Schweigen. „Leider nein, Herr Oberfelder. Herr Meier hat die Geschichte schon ganz gut wiedergegeben. Der Handwerker war aus Deutschland und verstand es daher falsch, als die Niederländer ihm auf seine Frage nach den Eigentümern von Besitzen bzw. nach dem Verstorbenen auf der Beerdigung „Kannietverstan“ antworteten. Also: „Ich kann Sie nicht verstehen“ – und damit dachte er jedes Mal, es handele sich um denselben Herrn Kannitverstan, der zwar viel Vermögen hatte, es aber aufgrund seines Todes doch nicht mehr genießen konnte. Durch diese Erkenntnis über die Vergänglichkeit kehrte dann die Zufriedenheit des Handwerkers zurück, weil er verstand, dass der Verstorbene ihm letztlich nichts voraus hatte.“ Zufrieden verschränkte Detlef die Hände hinter dem Kopf und betrachtete die angesäuerten Gesichter seiner Mitstudenten. Kapitel 52: 19.2.2024: Urangst ------------------------------ „Das ist wirklich eine gute Idee gewesen“, schlenderte Martin mit seiner Freundin Isabelle durch die kleinen Einkaufspassagen und sog den Trubel der geschäftigen Menschen in sich auf. Seit Wochen hatte er fast nur noch am Schreibtisch gesessen und schon ganz vergessen, wie gut so ein Ausflug in die Stadt tun konnte – erst recht, wenn es ein Ausflug in eine fremde Stadt war und so viel Neues darauf wartete, von ihm entdeckt zu werden. „Klar, ich hab nur gute Ideen!“, zwinkerte Isabelle und schmiegte sich an ihn, so gut das bei einem gemeinsamen Spaziergang eben klappte. Endlich hatte sie ihren Freund mal wieder für sich. „Du arbeitest in letzter Zeit so hart, da hast du dir eine kleine Auszeit wirklich verdient“, meinte sie und er nickte. Gerade erst seit wenigen Tagen war seine Probezeit in der neuen Firma vorbei und natürlich hatte er einen guten Eindruck machen wollen. Jetzt war er sicher genug in den ersten Abläufen und Routinen, dass sie ihm besser von der Hand gingen und er sein vorheriges Arbeitspensum langsam auf ein Normalmaß herunterfahren konnte. Trotzdem merkte er dabei auch immer die kleinen Selbstzweifel, die ihm zuflüsterten, dass er faul würde oder ob er noch immer genug leisten würde. „Hey, heute keine Arbeit!“, knuffte Isabelle ihn in die Seite und holte Martin ins Hier und Jetzt zurück. Sie waren lang genug zusammen, damit sie sich denken konnte, wohin seine Gedanken schon wieder wanderten, wenn er plötzlich diesen ausdruckslosen Blick bekam. „Tut mir leid“, lächelte er und kaufte ihr ein Eis. Er hatte mit dem süßen Zeug nicht so viel am Hut, aber seine Liebste war ganz vernarrt darin. „Hier, Schoko, wie immer“, hielt er ihr das Hörnchen hin, als er zu der Bank zurück ging, auf der sie in der Zwischenzeit gewartet hatte. Isabelle aber schien ihn kaum zu hören. Viel zu vertieft war sie in das Starren auf ihr Handy. „Was hast du denn da?“, nahm Martin neben ihr Platz und warf einen Blick auf das Display. „Sehenswürdigkeiten“, murmelte sie und fing dann an zu strahlen. „Hier gibt es eine Aussichtsplattform! Da hat man einen Blick über die gesamte Stadt! Los komm, die besuchen wir!“, sprang sie auf und griff seine Hand. Martin aber konnte sich kaum rühren. Erst schaute er sie entsetzt an, dann senkte er den Blick zu Boden. „Martin?“ Isabelle ging vor ihm in die Hocke. Er wich ihrem Blick aus. „Die haben hier bestimmt noch andere schöne Sachen, oder?“, lächelte er schief und hielt Isabelle ihr Eis hin. Als sie danach griff, merkte sie, wie kalt und zittrig seine Hand plötzlich war. „Was ist los?“, rieb sie über sein Knie. Offensichtlich haderte er mit sich. „Du kannst mir alles erzählen, das weißt du“. Er seufzte und gab kleinlaut zu, dass er Höhenangst hatte - und dass er sich seit der vielen Hänseleien im Kindesalter nicht mehr getraut hatte, das offen auszusprechen. Jetzt verstand Isabelle auch, warum er beispielsweise im Schwimmbad nie auf die Türme gewollt hatte, während sie vom freien Fall ins Wasser kaum genug bekam. Vor allem aber erkannte sie, dass bei ihm eine richtige Urangst dahinter steckte und nicht nur ein leichtes „mulmiges Gefühl“, wie er sonst immer gesagt hatte. Sie war froh, dass er sich ihr endlich anvertraute. "Weißt du, die haben hier auch einen schönen botanischen Garten. Komm, den gucken wir uns an!", erhob sie sich und hielt ihm ihre Hand hin. Martin lächelte und ergriff sie mit einem Nicken. Kapitel 53: 20.2.2024: Wunschdenken - Archiv -------------------------------------------- Vom Hinterhof aus drangen das Lachen und die Schreie der anderen Kinder an Irenes Ohr. Sie saß in ihrem kleinen Zimmer am Schreibtisch, gebeugt über die Hausaufgaben und versuchte irgendwie einen klaren Gedanken zu fassen. Immer wieder wanderte ihr Blick über die Sätze auf dem Papier und doch kam deren Bedeutung nur bruchstückhaft in ihrem Kopf an. Es war einfach zu laut. Sie seufzte aus und rieb sich das Gesicht. Ja, ein wenig verlockend war es schon, jetzt auch rauszugehen und morgen in der Schule, kurz vor Unterrichtsbeginn, die Hausaufgaben von irgendwem abzuschreiben. Aber dann fielen ihr auch wieder die Worte ihrer Mutter ein: Reines Wunschdenken wäre es, dass sie ernsthaft das Ziel hatte, irgendwann einmal das Abitur zu machen und eine Universität zu besuchen. Nichts als ein dummer Traum, dass sie dachte, sie könne es vielleicht wirklich bis zur Ärztin bringen. In ihrem Bauch zog es sich zusammen, wenn sie daran dachte. Ein Kloß schob sich in ihren Hals und Tränen brannten in ihren Augen. Dass andere ihr nicht viel zutrauten, weil sie hier, in einem der ärmsten Viertel der Stadt, lebte, interessierte sie nicht sehr, aber dass ihre eigenen Eltern so wenig an sie glaubten… sie rieb sich fix mit der Hand über die Lider und schob dann die Unterlagen zusammen. Noch ein Seufzen, dieses Mal, um Kraft zu tanken. „Wo willst`n hin?!“ schallte es vom Wohnzimmer in den Flur, als sie ihr Zimmer verließ und zur Wohnungstür ging. Über allem hing der stinkende Nebel der Zigaretten. „Ich geh spazieren“, rief sie zurück, ohne einen Blick durch die Tür zu werfen. Sie kannte das Bild, das sich ihr bieten würde, ja nur allzu gut: Vater und Mutter saßen vor der Glotze, rauchten um die Wette und bedachten die Leute in der Flimmerkiste mit allerhand Kommentaren. „Bring Zigaretten mit!“ Schweigend nahm sie die gewohnte Anweisung zur Kenntnis und verließ die Wohnung. Wenigstens hielt sich der Alkoholkonsum ihrer Eltern noch in Grenzen – bei ein, zwei Mitschülern wusste sie, dass dem nicht so war. „Hey, willst du mitspielen?“, rief eines der anderen Kinder über den Hinterhof hinweg zu ihr und mit einem Lächeln lehnte sie ab. „Ein andern Mal“, vertröstete sie und huschte schnell auf die Straße, bevor noch weitere Fragen folgten. Sie war eh schon die Komische, die sich oft mal absonderte. Doch lange ging ihr Weg nicht, ehe wieder eine Frage an sie gerichtet wurde. „Oh, was machst du denn hier, Irene?“, hörte sie plötzlich hinter sich, kaum, dass sie an einem kleinen Obst- und Gemüseladen vorbei gegangen war. Irene erschrak und drehte sich um. Mit großen Augen starrte sie ihren Lehrer an, der gerade mit einer Tüte voll Einkäufe den Laden verließ und sie anlächelte. Röte stieg in ihr Gesicht. Sie war verwundert, ihn ausgerechnet hier zu sehen und gleichzeitig beschämt, dass dies ihre Wohngegend war. „Bei mir Zuhause ist es gerade sehr laut. Ich suche nach einem Ort, um in Ruhe die Hausaufgaben machen zu können“, gab sie wahrheitsgemäß zu, ohne zu viele Details zu nennen. „Ich find es toll, wie fleißig du immer bist“, schloss ihr Lehrer zu ihr auf und dieses Mal lächelte auch Irene. Sie mochte ihn. Während viele andere Lehrer nur ihren Stoff durchzogen und sich für die Schüler wenig interessierten, hatte er noch Engagement und Freude an seiner Arbeit. „Du, ich bin grad auf dem Weg zu Bibliothek. Willst du mich begleiten?“, nickte er in die Richtung, in die er musste und Irenes Augen fingen an zu leuchten. Kapitel 54: 20.2.2024: bemogeln ------------------------------- „Du machst es schon wieder!“, blies Tim die Wangen auf und verschränkte seine Arme vor der Brust. Der Junge fixierte seinen Großvater, der unschuldig lächelte und seine Unwissenheit betonte. „Was meinst du denn?“, hob er die Schultern und griff sich ein Schokobonbon aus der kleinen Glasschüssel neben ihrem Spielbrett. „Weißt du ganz genau!“, erhob der Sechsjährige das Wort und zog die Augenbrauen zusammen. Die Empörung war ihm anzusehen und anzuhören. Noch immer stand Unwissenheit im Gesicht seines Großvaters. „Du versucht mich zu bemogeln!“, wurde der Junge deutlicher in seinen Anschuldigungen und sein Großvater riss erschrocken die Augen auf. „Wie bitte? Aber das würde ich nie tun!“, legte er sich verschwörerisch die Hand auf die Brust. Tim aber ließ die Skepsis nicht fallen. „Mama hat mir gesagt, dass ich aufpassen soll, weil du schummelst“, guckte er auf die Karten, die vor ihnen ausgebreitet lagen. „Was ist denn hier wieder los?“, kam in diesem Moment die eben Genannte aus der Küche und trug ein paar Stücke Kuchen ins Wohnzimmer. „Opa betuppt!“, polterte der Kleine direkt los und brachte sie zum lachen. „Hast du ihm das etwa gesagt?“, schaute ihr Vater sie entsetzt an. „Stimmt es denn nicht?“, fragte sie und grinste. „Zwei gegen einen! Wie unfair!“, protestierte der Großvater, während Tim ihm auf den Schoß kletterte. Sogleich schmolz das Herz des alten Mannes dahin und er herzte seinen Enkel. „Na? Vertragen wir uns wieder?“, strubbelte er dem Jungen das Haar. Der jedoch schmollte noch immer. Er fasste die Hand seines Opas und hielt sie fest. Überrascht schauten Opa und Mutter ihn an. „Was machst du?“, fragte Tims Mutter, während der Junge plötzlich in den Ärmel seines Großvaters griff. „Und du bemogelst doch!“, zog er eine Karte daraus hervor und hielt seinem Opa das Beweisstück tadelnd vors Gesicht. Wieder machte der ein entsetztes Gesicht, während seine Tochter die Lippen aufeinander presste, um das Lachen zu unterdrücken. „Eiderdaus, wie kommt die denn da rein?“, fragte der Großvater, während Tim die Augen schmälerte. „Du hast verloren, Paps. Gib auf“. Tim nickte. Zur Strafe stand ihm heute das größte Stück Kuchen zu. Ohne weiteres Herauszögern gab sein Großvater sich geschlagen und trug den Jungen hinüber zum Esstisch. Kapitel 55: 21.2.2024: rechts außen ----------------------------------- „Und? Was hast du nachher vor?“, fragte Marleen, während sie das Geschirr aus der Spülmaschine räumte und das Abendessen auftischte. „Ich glaub, ich treff mich mit den Jungs“, antwortete Tom und unterstützte sie mit Gläsern und Getränken. Marleen grinste. „Männerabend!“ Tom lachte. „Ja, wir treffen uns erst mal bei Dirk und schauen dann, was der Abend so bringt“. „Du kannst auch gern hier bleiben und mir Gesellschaft leisten. Oder die Jungs hierher einladen.“, nahm Marleens Grinsen etwas Fieses an. Sie wusste ganz genau, wovor ihr Mann flüchtete. „Ich weiß die Einladung sehr zu schätzen, aber ich befürchte, unser Wohnzimmer wäre für so viele Leute etwas klein“, meinte er und beide lachten. „Hast du ihnen wieder einen Code: Rechts außen geschickt?“, zog Marleen die Augenbrauen hoch und das leichte Schulterzucken ihres Mannes gab ihr die Bestätigung. „Vielleicht“, zog er sie in seine Arme und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Es wird bestimmt ein wundervoller Abend – für dich vorm Fernsehen, während du die Fußballer anbrüllst und für mich, während ich ins Kino gehe oder ein paar Gesellschaftsspiele rauskrame“, tippte er Marleen auf die Nase und lächelte. Wieder lachte sie. „Na, inzwischen kannst du wenigstens offen zugeben, dass du mit Fußball nichts am Hut hast, anstatt irgendwelche Ausreden zu erfinden“, piekte sie ihm mit dem Finger in den Bauch und legte dann die Hand zärtlich auf die Brust. Tom nickte erst und zuckte dann leicht die Achseln. „Inzwischen umgebe ich mich ja auch mit Leuten, von denen ich weiß, dass sie das akzeptieren, ohne mir deshalb meine Männlichkeit abzusprechen“, meinte er, wobei er das Männlichkeit besonders stark betonte. Er gab Marleen noch einen Kuss und setzte sich dann an den Tisch. „Ich find diese ganzen Klischees ja so bescheuert!“, tat sie es ihm gleich und dachte an Toms frühere Unsicherheit, wenn er offen über seine Abneigung gegen Fußball - oder das Anschauen von Sportarten genererell - sprechen sollte. Und wie gut ihm das Kennenlernen seines Kollegen Dirk getan hatte, der da von Anfang an viel offener mit umgegangen war. "Dirk kam damals mit diesem Insider um die Ecke, oder?" Tom nickte und schmunzelte. Beim ersten Mal hatte er gar nicht verstanden, was mit Code: Rechts außen gemeint gewesen war, aber seitdem fand er den Ausspruch herrlich. Er griff gerade zum Pfannenwender, als es klingelte. „Oh, verflixt, ich hab ganz vergessen, dass die Mädels heute etwas früher kommen, weil letztes Mal der Verkehr so miserabel war, dass wir den Anfang des Spiels über das Radio hören mussten!“, rief Marleen ertappt aus und sprang auf. Tom schmunzelte. Die Schusseligkeiten seiner Frau kannte er ja. „Ich denke, die Lasagne ist groß genug für alle und notfalls muss einer auf der Arbeitsplatte sitzen“, zwinkerte er, als sie zur Tür eilte und ihm ein kurzes „Liebe dich!“ zurief. Während die Frauen sich begrüßten, holte Tom die restlichen Teller aus dem Schrank und dachte daran, wie sehr sie beide ihre Mädels- und Jungsabende genossen. Kapitel 56: 22.2.2024: Silberstreifen - Archiv ---------------------------------------------- „Und? Wie geht es ihr heute?“, fragte Maggie den Arzt, der gerade aus der Tür trat, als sie in das Zimmer gehen wollte. Wie immer war er sehr beschäftigt und hätte sie mit seinem Schwung beinahe umgelaufen. „Oh! Schön Sie zu sehen! Es gibt wieder Grund zur Hoffnung: Das Medikament scheint Wirkung zu zeigen und das Fieber geht langsam runter. Wir müssen noch die weiteren Tage abwarten, aber das ist schon mal eine positive Entwicklung“, lächelte er ehrlich, wenn auch gehetzt, um dann den Gang runter zu eilen und in das nächste Krankenzimmer zu verschwinden. Maggie schaute ihm kurz nach. Auch sie hatte bei dieser Nachricht gelächelt, aber eher müde und fast schon aufgesetzt. Sie trottete langsam in das Zimmer, schloss leise die Tür hinter sich und schaute zu dem weißen Bett mit der weißen Decke in dem weißen Raum. „Hallo, Oma, da bin ich wieder“, rief sie zum Fenster hinüber und nahm im Vorbeigehen einen Stuhl mit zum Bett ihrer Großmutter. Wie immer war sie dick eingepackt, die Decke bis an das Kinn gezogen und die Augen waren fest verschlossen. Maggie setzte sich neben sie und betrachtete sie eine Weile. „Der Arzt hat gesagt, dass die Medikamente gut anschlagen“, sprach sie und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie überhaupt gehört wurde. Das Zimmer war so still, fast totenstill. Keine Gerätschaften, die piepsten, keine anderen Patienten oder Besucher. Die Intensivstation war erschreckend gewesen, aber die Stille in diesem Zimmer war für Maggie fast noch beklemmender. Sie legte kurz die Hand auf die Decke, zog sie aber wieder weg und kauerte sich stattdessen auf ihren Stuhl. Die letzten Wochen waren so voller Hoffen und Bangen gewesen, dass sie schon keine Kraft mehr hatte, um ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Sie war einfach nur noch müde und ausgelaugt. Immer wieder war ihre Großmutter auf dem Wege der Besserung gewesen und dann doch wieder kränker geworden. Maggie konnte kaum noch daran glauben, dass es jetzt vielleicht wirklich einen Silberstreif am Horizont gab. Sie wollte sich der Hoffnung nicht hingeben, um dann hinterher nicht wieder enttäuscht zu sein. Sie wollte ihrer Großmutter aber auch nicht das Gefühl geben, sie bereits aufgegeben zu haben. Eigentlich liebte die alte Frau das Leben doch und hatte noch so vieles vor… Maggie ließ den Kopf auf die Knie sinken und schluchzte. „Meine Kleine“. Ganz leise und schwach hörte sie die Worte und riss den Kopf hoch. „Meine Kleine, warum weinst du denn?“ Ihre Großmutter hatte sie Lider ein Stück weit geöffnet und schaute Maggie so sanft und liebevoll wie immer an. Seit Wochen war sie nicht mehr so klar bei Bewusstsein gewesen wie jetzt. Kapitel 57: 22.2.2024: en profil -------------------------------- Anastasia mustere das Display und schürzte die Lippen. Mit jedem weiteren Bild, das auf dem Display der Kamera erschien, wuchs ihre Unzufriedenheit. „Die Aufnahmen sind wunderschön geworden!“, tippte sich ihr Freund Matteo von Foto zu Foto, bis er alle angesehen hatte. „Das Licht hier im Raum ist fantastisch! Wir brauchen nicht mal Scheinwerfer! Und du bist ein Naturtalent!“, strahlte er Anastasia an und bemerkte erst jetzt ihre tiefgezogenen Mundwinkel. „Was hast du denn? Gefallen dir die Bilder etwa nicht?“ Die Angesprochene rümpfte die Nase und wendete sich von ihm ab. „Ich hab doch gesagt, dass ich Aufnahmen en profil hasse! Meine Nase ist ein riesiger Zinken und die Bilder wirken, als würde jeden Moment ein Helikopter auf meinem Rüssel landen!“, ging sie ans Fenster und schnaufte aus. Sie hatte sofort gegen Matteos Idee protestiert und wusste jetzt wieder, warum sie sich nur mit viel Überredungskunst darauf eingelassen hatte. So viele Menschen hatte er schon abgelichtet und noch nie seine eigene Freundin vor der Kamera gehabt – das hatte er so gern einmal ändern wollen und ihr die schönsten Bilder versprochen, die sie je von sich gesehen hatte. Pustekuchen. „Du hast keinen Rüssel“, trat Matteo hinter sie und legte vorsichtig die Hände an Anastasias Schultern. Er wusste um ihr Temperament. „Hör auf, mir Honig ums Maul zu schmieren! Lösch die Bilder und frag mich nie wieder, ob ich mich von dir knipsen lasse!“, fuhr sie herum und ging zu ihrer Handtasche, die über einen der Stühle gehängt war. „Wo willst du hin? Wir haben die Location noch für zwei Stunden gebucht. Sollen wir das nicht nutzen?“, ging Matteo ihr etwas unbeholfen nach und wich bei Anastasias giftigem Blick zurück. „Keine Fotos mehr!“, zischte sie und schulterte die Handtasche. Beschwichtigend hob Matteo die Hände und bat sie, noch einen Moment lang zu warten. „Lass mich noch eine Sache versuchen. Bitte! Wenn sie dir auch nicht gefällt, nerv ich dich nie wieder mit meiner Kamera. Einverstanden?“ Anastasia schmälerte die Augen und schnaubte aus. „Na schön, ein letzter Versuch!“, warf sie die Tasche zurück auf den Stuhl und schaute ihren Freund auffordernd an. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen. „Stell dich noch mal da vorn ans Fenster, aber schau mich dieses Mal an“, dirigierte er und begann mit seinen Aufnahmen. „Weißt du noch, wie du mir mal von deiner Mutter erzählt hast?“ Anastasia seufzte aus. „Sie hat dir immer so was gekocht, wenn du als Kind krank warst… wie hieß das noch gleich?“ Langsam wurde der Ausdruck in Anastasias Gesicht weicher. „Milchsuppe“, antwortete sie und ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Ja, stimmt!“, rief Matteo aus, während er unablässig auf den Auslöser drückte. „Erzähl mir noch mal die Geschichte, wie sie dir das Kaugummi aus den Haaren gekämmt hat!“, forderte er sie auf und sie schmunzelte. Ein Kind in der Schule hatte ihr das Ding in ihre langen, samtenen Haare gedrückt und über Stunden war ihre Mutter damit beschäftigt gewesen, es irgendwie los zu werden. Andere Mütter hätten längst zur Schere gegriffen, doch sie wusste, wie sehr ihre Tochter die langen Zöpfe liebte und versuchte alles, um sie zu retten. „Am Ende haben wir beide da gesessen und geheult. Ich, weil es irgendwann so ziepte und weh tat und sie, weil… weil sie meine Tränen sah. Aber hinterher war ich doch froh, dass sie das getan hatte“, erinnerte sich Anastasia und schaute wehmütig aus dem Fenster. Weitere Erinnerungen bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche und plätscherten aus ihr heraus. Einige schön, andere traurig. Aber sie nahmen sie so ein, dass sie gar nicht merkte, wie Matteo irgendwann aufhörte zu fotografieren und ihr einfach nur noch zuhörte. Selten hatte Anastasia so offen über ihre verstorbene Mutter gesprochen. „Sie war eine tolle Frau“, sagte er, als sie schließlich endete. „Ja, das war sie“, pflichtete Anastasia ihm bei und strich sich kurz über die Augenwinkel. Sie ging zu ihm hinüber und ließ sich die Fotos zeigen. „Jetzt bin ich ja mal gespannt“, kehrte die vorherige Strenge in ihre Stimme zurück, während Matteo die neuen Aufnahmen durchging. Sie waren nicht einfach nur schön, sondern ausdrucksstark. Gefüllt von Emotionen. „Wunderschön“, wiederholte er sich, aber dieses Mal lag eine ganz andere Faszination in diesen Worten. „Oh." Er erreichte wieder die Profilaufnahmen und wollte gerade mit dem Löschen beginnen, als Anastasia die Hand auf seine legte. Verwundert schaute er sie an und entdeckte dieses Mal nicht die vorherige Ablehnung in ihren Augen. Stattdessen lag Liebe darin. „Weißt du, was mir gerade aufgefallen ist?“, fragte sie leise und er schüttelte den Kopf. „Mama hatte die gleiche Nase...“ Kapitel 58: 23.2.2024: non troppo --------------------------------- Miriam saß in ihrem Zimmer am Schreibtisch. Begleitend von leisem Murmeln wanderten ihre Augen über das Lehrbuch und ihr Kugelschreiber über das erhaltene Aufgabenblatt. Immer wieder war ein leises Seufzen und Brummen zu vernehmen. „Darf ich?“, steckte ihre Mutter den Kopf durch die angelehnte Tür und betrat den Raum nach einem kurzen Nicken ihrer Tochter. „Eine kleine Nervenstärkung“, ging sie zum Schreibtisch, um Miriam ein paar selbstgebackene Kekse hinzustellen. Das Mädchen lächelte knapp und verlor keine Zeit, um nach dem ersten zu greifen. „Danke, die kann ich gut brauchen!“, lehnte sie sich im Stuhl zurück und schielte aus den Augenwinkeln auf ihre Hausaufgaben. Ihre Mutter folgte dem Blick, während sie sich mit der Hüfte an den Schreibtisch lehnte. „Läuft es nicht so gut?“ „Non troppo“, schmatzte Miriam und ihre Mutter zog fragend die Augenbrauen hoch. „Nicht allzu…“ Dieses Mal nickte ihr Gegenüber verstehend. „Die Worte passen; aber keine Ahnung, ob ich das jetzt im richtigen Kontext gesagt hab“, nuschelte Miriam und stützte den Kopf auf die Hand. Missmutig schaute sie zwischen den Keksen und den Aufgaben hin und her. Die Wegzehrung würde nicht lange halten, das wusste sie schon jetzt. „Das neue Schuljahr hat gerade erst begonnen, vielleicht gewöhnst du dich noch an die neue Sprache und findest Freude daran“, versuchte ihre Mutter sie aufzumuntern und strich ihr sanft über den Kopf. Miriams Blick sprach Bände. „Du meinst, so wie bei Französisch?“ Auch wieder wahr… das hatte Miriam nach einem erzwungenen Testjahr sogleich abgewählt und war froh gewesen, dass die Noten sich nicht auf die Versetzung hatten auswirken können. „Ich find das so scheiße, dass wir uns jetzt durch ein Jahr Italienisch quälen müssen, ehe wir das wieder abwählen können!“ Miriams Mutter konnte den Frust der Tochter verstehen, aber auch die Gedanken der Lehrer dahinter. „Auf diese Weise könnt ihr euch zumindest einen richtigen Eindruck von dem Fach und der Sprache machen und dann entscheiden, ob ihr sie bis zum Abschluss als Fach wollt oder nicht.“, meinte sie und erhielt wieder einen vielsagenden Blick. Kapitel 59: 24.2.2024: Funkie ----------------------------- Ein anstrengender Arbeitstag lag hinter ihr, als sie in den Hinterhof ihres Wohngebäudes bog und auf die Eingangstür zusteuerte. Die Schultern waren angespannt, der Kopf schmerzte – gefühlt hatte sie wieder nichts anderes gemacht, als zu reden, zu notieren und Daten von A nach B zu schieben. Die Kollegen waren gestresst, die Kunden nur allzu oft genervt und selbst der Gang zum Klo häufig noch mit „kurzen“ Zwischenfragen gesäumt. Sie verabscheute diesen Job jeden Tag mehr, aber sie brauchte ihn auch, um über die Runden zu kommen. „Das kommt mir alles so sinnlos vor“, murmelte sie, während sie in ihre Wohnung ging und die Tasche an der Garderobe abstellte. Erst mal raus aus den Businessklamotten und rein in was Bequemeres. Sie streckte sich ausgiebig, trank etwas und betrachtete dann kritisch das abgekämpfte, erschöpfte Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte. „Du sahst auch schon mal fröhlicher aus…“ Ihr Blick fiel auf die Uhr und ihre Mine erhellte sich: Der Tag war stressig gewesen, aber auch so schnell vorbei gegangen, dass sie bereits zu ihrem Termin weiter konnte. Handy und Schlüssel geschnappt, huschte sie zurück nach draußen, überquerte die Straße, bog nach einigen Metern in die nächste und stand nach einem Fußweg von wenigen Minuten vor einem großen Gartentor. Im Vergleich zu dem Mehrfamilienhaus, in dem sie lebte und gerade einmal einen kleinen Balkon besaß, war das hier fast schon ein Anwesen: Ein kleines, schnuckeliges Einfamilienhaus mit mehreren hundert Quadratmetern Garten, großen Büschen und alten Bäumen. Es war, als würde sie in eine andere Welt eintauchen, wenn sie durch das Tor schritt und den geschwungenen Ziegelweg zum Haus entlangging. Vorbei an Rosen, Sonnenhut und Funkien, die von sonnig bis schattig ihren Weg säumten, unter einem Blauregen entlang und im Klang der Vögel, die die Hecken zu ihrem Zuhause gemacht hatten. „Hallo, da bin ich wieder“, sprach sie die alte Frau an, die auf der Veranda saß und eine Tasse Tee genoss. „Ach, wie schön!“, freute die sich ein jedes Mal über den regelmäßigen Gast und lud dazu ein, neben ihr Platz zu nehmen. „Komm, leiste mir einen Moment Gesellschaft, bevor du anfängst, Kindchen“ Kindchen – sie waren nicht verwandt und trotzdem fühlten sich die Aufenthalte bei der alten Dame an, als wäre sie zu Besuch bei ihrer Großmutter. Keine Hektik und kein Stress, sondern vielmehr ein angenehmes Beisammensein, bei dem sie nebenher die Gartenarbeit erledigte und am Ende des Tages sogar etwas von der Arbeit sah, die sie getan hatte. Kapitel 60: 25.2.2024: matsch ----------------------------- „Hi, da bin ich! Sorry, stand im Stau“, polterte Susie an diesem Abend in die Wohnung und wurde von Abby mit einem „Pssst!“ empfangen. „Der Kleine schläft gerade“, flüsterte sie und schlich zurück in die Küche. Susie mustert sie kurz und hob die Augenbrauen. „Alles okay bei dir?“, sprach sie in leiserem Tonfall und ging ihr nach, während sie gleichzeitig die Jacke an die Garderobe warf. „Ich wusste gar nicht mehr, wie schwer es ist, einen Vierjährigen müde zu kriegen“, seufzte Abby aus und griff sich einige Mandarinen, um sie zu schälen. Kurz darauf verzog sie das Gesicht, weil eine von ihnen matschig war und sie genau in die faule Stelle gefasst hatte. „Den freien Tag zusammen mit Mama hat er bestimmt genossen, was?“, fragte Susie und machte keinen Hehl aus ihrer Freude an der Kinderlosigkeit. Abby rümpfte die Nase, aber dann lächelte sie auch müde. „Eigentlich war es echt ein schöner Tag. Wir waren auf dem Spielplatz und er hat die ganze Zeit im Matsch herumgetobt. So glücklich und unbeschwert. Es tat gut, ihm einfach nur beim Spielen zuzusehen und mir mal keine Gedanken über Rechnungen und Co. zu machen.“, ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und begann mit dem Schälen der Mandarinen. „Na, um die machst du dir ja sonst auch immer genug Gedanken, oder?“, holte Susie eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und gesellte sich zu Abby. Ihre Freundin nickte schuldbewusst. „Ich will deine Gastfreundschaft einfach nicht überstrapazieren“, murmelte sie und dachte an das finanzielle Debakel, in dem sie gerade steckte. Susie verdrehte die Augen. „Wie oft denn noch? Ihr seid mir keine Last! Der Kleine ist sehr pflegeleicht und du wartest meistens mit einem schönen Abendessen auf mich – was will ich mehr?“, nahm sie einen Schluck aus der Flasche und grinste dann, als Abby ihr die Mandarinen rüber schob. „Heute nur ein gesundes Abendessen mit vielen Vitaminen – ich hab eine Ewigkeit gebraucht, um den Dreckspatz sauber zu kriegen und fühlte mich dann zu matschig, um mich noch an den Herd zu stellen“, gähnte sie und naschte selbst ein paar fruchtige Leckerbissen. „Zum Glück hab ich immer einen kleinen Geheimvorrat Fertigramen in der Schublade“, zwinkerte Susie und Abby weitete die Augen. Daran hatte sie ja gar nicht mehr gedacht! „Wenn ich dich nicht hätte!“ Kapitel 61: 26.02.2024: asap ---------------------------- „Ja. Selbstverständlich. Ich kümmere mich sofort darum. Ja. Wie Sie wünschen“, nickte Nicole bei jedem ihrer Worte, obwohl ihr Gegenüber sie durchs Telefon nicht sehen konnte. Ein leichtes Lächeln umspielte ihr Lippen, doch kaum landete der Hörer auf der Gabel, verschwand es und machte einem tiefen Seufzen Platz. „Na? Hat unser Chef es wieder ganz doll eilig?“, hörte sie die Stimme ihrer Kollegin Claudia vom Schreibtisch nebenan. Nicole rollte die Augen und schüttelte den Kopf. „Natürlich, wie immer“, murrte sie und ging zum Aktenschrank, um einige Dokumente hervorzukramen. „Fällt dem ja wieder früh ein, was?“, meinte Claudia mit einem Blick zur Uhr. Eigentlich war in einer halben Stunde Feierabend. „Du kennst ihn doch. Er ist bis spät abends hier, also meint er, alle anderen müssten auch so lang verfügbar sein.“ Claudia nickte. „Ein Wunder, dass wir inzwischen zwei Tage Homeoffice in der Woche machen dürfen“, streckte sie sich und verdrehte ebenfalls die Augen, als Nicole sie korrigierte. „Bis zu zwei Tage. Denk dran, bei kurzen Wochen wird entsprechend reduziert!“, warf sie zwei Dokumentenmappen auf ihren Tisch und machte sich nach einem kurzen Abstecher zur Kaffeemaschine an die Arbeit. „Wenn ich meinen Freunden erzähle, wie es hier manchmal zugeht, kommen die aus dem Lachen nicht mehr raus“, meinte Nicole und Claudia verstand nur allzu gut, wovon sie sprach. „Mich hat er neulich abends um halb neun noch angerufen! Und als ich dann nicht mehr ans Telefon gegangen bin, gabs am nächsten Morgen ne Standpauke. Der hat doch echt den letzten Schuss nicht gehört“, trat Claudia hinter ihre Kollegin und schaute ihr über die Schulter. „Bekommst du auch manchmal um kurz vor Mitternacht noch Mails von ihm?“ Aus den Augenwinkeln konnte Nicole das Nicken erkennen. „Und dann das Denglisch immer dabei“ Beide seufzten und schüttelten den Kopf. „Hier, den Vorgang will er heute noch bearbeitet haben“, zeigte Nicole auf die Unterlagen und Claudia runzelte die Stirn. „Lass mich raten: asap – as soon as possible, Frau Schmittler“, äffte sie ihren Chef nach und Nicole lachte. „Du wirst immer besser!“, grinste sie und beide fuhren zusammen, als plötzlich die Tür aufflog und ihr Chef darin stand. „Frau Schmittler, ich hab grad gemerkt, dass es die falsche Fallnummer war. Bitte diese hier“, warf er Nicole schnell einen Zettel auf den Tisch und eilte dann zur Tür, irgendwas von einem Termin murmelnd. „Ich legs Ihnen auf den Tisch“, rief Nicole ihm nach, erntete ein kurzes „Ja, ja!“ und sah angeekelt dabei zu, wie ihr Vorgesetzter sich Augentropfen verpasste, während er auf den Aufzug wartete. „Wenn ich meinen Job nicht so dringend bräuchte, würde ich diesem Schmierlappen mal ein paar Takte über gutes Benehmen beibringen“, murmelte Claudia und schloss die Tür. Auch da konnte Nicole ihr nur beipflichten. Aber es gab an diesem Nachmittag auch einen Lichtblick: Die richtige Akte war deutlich schneller bearbeitet und sie würde es pünktlich in den Feierabend schaffen. Kapitel 62: 27.2.2024: entzweibrechen ------------------------------------- Bea saß mit ihrer Schwester Lisa am Kaffeetisch und beide warfen den Blick auf den letzten Keks. „Denkst du das, was ich denke?“, meinte Bea und Lisa nickte. Gemeinschaftlich grinsten sie und brachen das Gebäckstückchen entzwei. Das hatten sie früher schon fast immer gemacht, wenn es etwas zu teilen gegeben hatte. „Mama konnte das immer gar nicht recht glauben, dass wir uns wegen so was nicht in die Haare bekommen haben“, meinte Lisa und Bea pflichtete ihr bei. „Ganz zu schweigen von irgendwelchen Außenstehenden.“ Sie waren fast acht Jahre auseinander und trotzdem verhielten sie sich manchmal wie Zwillinge, bei denen die eine wusste und fühlte, was die andere wusste und fühlte. „Ich erinner mich noch an den Stadtbummel, bei dem wir ein Eis haben wollten und nur noch eine Portion Kirsch übrig war.“, entsann sich Lisa. „Du meinst, als diese hochnäsige Schnepfe neben uns stand und nur drauf wartete, dass wir loszankten, wer das Eis bekommt?“ „Ja. Der konnte man die Enttäuschung richtig vom Gesicht ablesen, weil wir stattdessen um einen zweiten Löffel gebeten und geteilt haben.“ Beide lachten los und Bea merkte, wie sehr ihr dieses Zusammensein gefehlt hatte. Die letzten Monate über war Lisa im Ausland unterwegs gewesen, hatte einige Länder bereist und sich auf ihre Karriere konzentriert. Regelmäßige Telefonate waren immer da gewesen und Videoanrufe erst recht – aber jetzt wieder so zusammen zu sitzen, konnte kein elektronisches Gerät der Welt ersetzen. „Ich bin echt froh, wieder hier zu sein“. Wieder war es, als hätte die eine Schwester die Gedanken der anderen erraten. „Das waren ein paar spannende Monate und sie haben mir auch Spaß gemacht, aber hier ist es einfach am schönsten.“ Sie nickten sich an und griffen zu ihren Kaffeetassen. Dann plötzlich wich die Ruhe, als Bea auf die Uhr schaute. „Oh, wir müssen los, sonst kommen wir zu spät!“, sprang sie auf und griff sich ihre Jacke. „Stimmt!“, tat Lisa es ihr gleich. „Gut, dass wir eine kleine Stärkung intus haben“, zwinkerte Bea, woraufhin Lisa lachte. „Ich liebe Mama, aber sie kann einfach nicht backen“, schmunzelte sie. „Und trotzdem isst Papa immer tapfer ihren Napfkuchen“, grinste Bea, aber auf Lisas Gesicht lag etwas Wissendes. Die Ältere zog fragend die Augenbraue hoch. „Achte gleich mal auf den Ficus neben der Terrassentür.“ Kapitel 63: 28.2.2024: Soufflé ------------------------------ „Setz dich gerade hin“, hörte Miriam leise die Stimme ihrer Mutter im Ohr und kam widerwillig ihrer Aufforderung nach. Der Besuch bei ihrem Bruder Thomas fühlte sich zäh wie Gummi an und die Zeiger der Uhr schienen angetackert. „Versuch wenigstens ein bisschen interessiert zu wirken“, wendete sich nun auch der Vater an das Mädchen, als Thomas und seine Freundin aus dem Esszimmer verschwanden, um den nächsten Gang vorzubereiten. Miriam verdrehte die Augen. „Es ist stinklangweilig und ich mag sie nicht“, murrte sie und funkelte ihren Vater böse an, als er sie in die Seite knuffte. „Er hat uns eingeladen, damit wir Isabella kennen lernen können. Sei nicht so unhöflich.“ „Oh, das duftet aber gut!“, ertönte da auch schon die Stimme ihrer Mutter, als die beiden Gastgeber zurückkehrten und auftischten. „Ich habe eine Erdbeersoufflé gebacken. Es ist nicht ganz so geworden, wie ich es haben wollte, aber ich hoffe, es schmeckt trotzdem“, säuselte Thomas` Freundin und beim Verteilen der Törtchen vermischten sich der Duft gebackener Erdbeeren mit dem Duft ihres schweren Parfüms. „Miriam, hilfst du mir kurz mit der Soße?“, sprach Thomas seine kleine Schwester plötzlich zur Überraschung aller an. „Äh, klar“, erhob sich der Teenager, während Thomas seine Freundin davon abhielt, zu intervenieren. „Setz dich schon mal, Schatz“, gab er ihr einen Kuss auf die Wange, wobei man ihr das Unbehagen sehr deutlich ansehen konnte. Schließlich war sie die Gastgeberin! Widerwillig nahm sie Platz, während Miriam fast schon federnd ihrem Bruder folgte. „Cool, dass wir auch mal ein bisschen allein sind!“, freute sie sich, aber da fuhr Thomas auch schon zu ihr herum. „Was hast du für ein Problem?!“, zischte er sie an und Miriam zuckte zusammen. „Wie..?“, stammelte sie und musterte erschrocken seinen kühlen Blick. So kannte sie ihn gar nicht. „Meinst du, ich merke deine abwehrende Haltung nicht? Du verdrehst ständig die Augen, wenn Isabella etwas sagt und ziehst eine Miene wie sieben Tage Regenwetter!“, stemmte er die Hände auf die Hüften und hielt Miriam mit den Augen fixiert. Das Mädchen war den Tränen nahe. Früher hatten sie beide so eine gute Beziehung gehabt und jetzt fühlte es sich an, als stünde ein völlig Fremder vor ihr. Wo war das Lockere und Lustig geblieben, das sie früher so an Thomas geliebt hatte? Seit er mit Isabella zusammen war, hatte er regelrecht einen Stock im… „Arsch!“, platzte es aus Miriam raus und seine Augen weiteten sich. „Seit wann bist du so ein aufgeblasener Gockel geworden?! Fehlt nur noch ne schwarze Hose, dann siehst du aus wie ein Pinguin! Ich komm mir vor wie im Restaurant und nicht wie bei einem entspannten Besuch bei meinem Bruder! Wir haben uns monatelang nicht gesehen und ich hatte mich echt auf den Tag mit dir gefreut, aber ich erkenn dich fast nicht wieder! Und nein, ich mag deine Freundin nicht! Sie ist arrogant und genauso aufgeblasen wie ihre Soufflés. Außerdem krieg ich von ihrem Parfüm Kopfweh! Was findest du bloß an so einer?! Die passt doch überhaupt nicht zu dir!“, platzte aus Miriam heraus, was sie seit Stunden versucht hatte runter zu schlucken. Sie hatte keine Lust mehr, die Enttäuschung über seine Veränderung weg zu lächeln. „Wie kannst du so über sie reden? Du hast ihr doch gar keine Chance gegeben, sie richtig…“, begann Thomas aufgebracht, aber dann sah er seine Freundin in der Tür stehen und verstummte. Fast schon ertappt starrte er zu ihr und lief rot an. „Ist… alles in Ordnung?“, hatte Isabella wieder ihr gekünzeltes Lächeln aufgesetzt, obwohl ihre angespannte Körperhaltung nur allzu deutlich zeigte, dass sie zumindest einen Teil des Gesprächs kannte. Thomas ging zu ihr und legte die Hände an ihre Oberarme. „Tut mir leid, meine Schwester ist in der Pubertät – du weißt ja, wie das manchmal ist. Sie kriegt sich gleich wieder ein“, redete er ihr beschwichtigend zu und rieb ihr die Arme. Jetzt war für Miriam das Maß voll. „Sag ruhig die Wahrheit! Ich kann sie nicht leiden und dich inzwischen auch nicht mehr!“, blaffte sie ungeachtet der geschockten Gesichter und dessen, dass nun auch ihre Eltern hinter Thomas und Isabella auftauchten. „Viel Spaß noch, ich geh jetzt nach hause!“, schob sie sich an ihnen vorbei und verschwand aus der Wohnung. Der Fußweg war nicht allzu weit und würde ihr ganz gut tun. Kapitel 64: 29.2.2024: Kreißsaal - Archiv ----------------------------------------- Eigentlich hatte es als entspannter Männerabend gestartet und war dann doch plötzlich in eine ganz andere Richtung umgeschwenkt. „Ich werd Vater!“, hatte einer der Jungs unvermittelt in eine Gesprächspause geworfen und sah sich nun umgeben von einer Mischung aus Beglückwünschungen und offensichtlicher Unsicherheiten seiner Gegenüber. „So richtig begeistert wirkt er aber auch nicht“, murmelte Detlef und musterte seinen Kommilitonen Mike. Allzu gut kannten sie sich eigentlich nicht; sie sahen sich in den Vorlesungen, manchmal auch in den Pausen und am meisten redeten sie noch bei den wöchentlichen Bartouren miteinander. „Was?“, bemerkte Detlef Svens verwunderten Blick und der zuckte die Schultern. „So viel Einfühlungsvermögen hätte ich dir gar nicht zugetraut“, grinste er und Detlef hob die Augenbraue. „Dazu braucht man nur Augen im Kopf, um das zu bemerken“, nahm er einen Schluck und schaute wieder zur restlichen Runde hinüber. Einige forderten Mike jetzt auf, einen auszugeben, andere stellten Fragen zur Schwangerschaft. Anhand der Fragen konnte man schon ein wenig erkennen, welche Studenten frisch vom Gymnasium waren und welche bereits etwas länger in ihren Zwanzigern. „Und? Gehst du auch mit in den Kreißsaal?“, fragte Detlef schließlich, wobei Mike ihn unbeholfen ansah. „Äh… keine Ahnung“, gab er nuschelnd zu und kratzte sich am Kopf. „Meine Freundin ist erst im vierten Monat… darüber haben wir noch nicht gesprochen. Sollte ich? Ja, oder?“ Dieses Mal war es Detlef, der die Schultern hob. „Keine Ahnung, war noch nie in der Situation und komm hoffentlich auch sobald nicht rein“, beschäftigte er sich wieder mit dem Inhalt seiner Flasche und war ganz froh darüber, als sich nun auch der Barmann in ihr Gespräch einbrachte. „Ich hab zwei Kinder. Wenn du willst, erzähl ich dir ein bisschen darüber, wie es mir damals ging, als die beiden auf dem Weg waren“, verteilte er die bestellte Runde und nickte Mike aufmunternd zu. Dem schien regelrecht ein Stein vom Herzen zu fallen. Allzu viele junge oder angehende Väter hatte er in seinem Umkreis wohl nicht, mit denen er sich austauschen konnte. Schnell rückte er näher an den Tresen und tauchte in ein langes Gespräch ein. „Könnte ich mir gar nicht vorstellen, jetzt neben dem Studium auch noch die Verantwortung für ein Kind übernehmen zu müssen“, meinte Sven, nachdem er Mike eine Weile beobachtet hatte. Detlef nickte, aber dann grinste er auch. „Was ist?“, fragte Sven und Detlef schaute ihn schelmisch an. „Na ja, dafür müsstest du auch endlich erst mal eine abkriegen, oder?“ Kapitel 65: 29.2.2024: Bemmchen ------------------------------- „Ein Bemmchen, mein Kind?“, fragte Miriams Großmutter, kaum, dass ihre Enkelin die kleine, gemütliche Wohnung betreten hatte. Überall lagen Teppiche, hingen Fotos und Bilder an den Wänden und die unverhältnismäßig große Couch war der Mittelpunkt des Wohnzimmers. „Im Moment nicht, Omi“, murmelte Miriam. Nicht nur wegen des vorherigen Essens wurde ihr allein beim Gedanken an eine belegte Schnitte flau im Magen. Viel anziehender wirkte da das Sofa, zu dem sie zwar erst zögerlich hinüber ging, dann aber fast schon erleichtert darauf Platz nahm. Es war immer wie eine Umarmung, sich in das Polstermöbel zu schmiegen. Ihre Großmutter schaute sie aufmerksam an. Die geröteten Augen waren sicherlich nicht zu übersehen und der Besuch mehr als überraschend, aber trotzdem stellte sie keine Fragen – zumindest keine, die Miriam vielleicht nicht beantworten wollte. „Aber eine heiße Schokolade, oder?“, vertiefte das Lächeln die Falten um die alten, aber klaren Augen. Da konnte Miriam nicht widerstehen. Sie nickte und zog die Nase hoch. In kleinen Schritten schlurfte ihre Großmutter in die Küche, nahm einen Topf aus dem Schrank, befüllte ihn mit Milch und stellte ihn auf den Herd. Miriam lehnte sich zurück, während sie hörte, wie die Schokoriegel aus ihrer Verpackung genommen wurden und mit kurzem Plätschern ein Bad in der Milch nahmen. Nicht lange und ein süßlicher Duft durchzog die Luft. Miriam schloss die Augen und erinnerte sich daran, wie sie schon als kleines Kind immer auf diese Weise eine heiße Schokolade von ihrer Großmutter bekommen hatte. Damals, als Thomas und sie noch so viel besser miteinander ausgekommen waren. Er, fast zehn Jahre älter, hatte immer auf sie aufgepasst, mit ihr gespielt und ihr sogar manches Mal bei den Hausaufgaben geholfen. Selbst bei seinen Treffen mit Freunden hatte er sie häufig mitgenommen, ihr Fußballspielen beigebracht und sie in Kinofilme geschmuggelt, für die sie damals noch zu jung gewesen war. Ein cooler großer Bruder, für den sie viele ihrer Freundinnen beneideten. „Vorsicht, ist noch heiß“, riss die Stimme ihrer Großmutter sie aus ihren Gedanken. Miriam öffnete die Augen und nahm dankbar die Tasse entgegen. „Hier ist es immer so schön, Omi“, lächelte sie und betrachtete ihre Großmutter, während sie sich mit einem Seufzen auf den Sessel gegenüber der Couch fallen ließ. „Ich freu mich, dass du mich besuchst“, sprach die alte Frau und machte es sich ebenfalls gemütlich. Gütig und geduldig ruhten ihre Augen auf Miriam, die froh war, nicht gedrängt zu werden, über ihre Gefühle zu sprechen. So richtig wusste sie selbst noch nicht, wie viel und was sie über das Zusammentreffen mit ihrem Bruder erzählen wollte. Hatte sie wirklich überreagiert? Hätte sie ihre Enttäuschung und ihre Abneigung weiter runterschlucken sollen? Ihre Finger streichelten über das warme Porzellan der Tasse, während sich in ihrem Bauch ein Knoten bildete. „Stör ich auch wirklich nicht?“ Ihre Großmutter lachte. „Du störst nie, Schatz! Und du bist immer willkommen! Das weißt du“, schwangen ein Hauch Feststellung und Frage in ihren Worten mit. Kapitel 66: 1.3.2024: affirmativ -------------------------------- „Du schaffst das!“ Bereits seit einer Viertelstunde stand Jasmin am Waschbecken und redete immer wieder affirmativ auf ihr Spiegelbild ein. „Du bist sympathisch, klug und du brauchst dich nicht zu verstecken. Geh einfach zu ihm und sag ihm, dass du ihn magst!“, versuchte sie sich fest in die Augen zu blicken und brach doch immer wieder ab. Augenkontakt mochte sie nicht – weder bei anderen noch bei sich selbst. Es fühlte sich immer an, als könnte man ihr durch die Augen direkt in den Kopf schauen und jeden ihrer Gedanken lesen. Wie schafften andere das nur? Oder mochten es sogar? Kurz und kräftig schüttelte sie den Kopf. Darum ging es jetzt nicht! „Also, du…“, setzte sie gerade wieder an, als ihre Mitbewohnerin durch die Tür hindurch ihren Namen rief. „Wirst du heute noch mal fertig? Andere müssen auch ins Bad!“, war die Genervtheit nicht zu überhören. „Entschuldigung!“, antwortete Jasmin und zog sich schnell an. Nicht mal die Haare hatte sie bis jetzt aus ihrem Handtuchturban geholt. „Hab nicht auf die Zeit geachtet“, trat sie schließlich nach wenigen Minuten auf den Flur und machte ihrer Mitbewohnerin Platz. Die verdrehte nur die Augen und während Jasmin in ihr Zimmer ging, um ihre Tasche zu holen, dachte sie über die zurückliegende Situation nach. Selten war sie mal länger als eine halbe Stunde im Bad und versuchte auch sonst niemandem zur Last zu fallen. Ihre Mitbewohnerin hingegen verbrachte oft über eine Stunde unter der Dusche, ließ alles hinter sich liegen und nahm auch wenig Rücksicht, wenn sie mal wieder einen nächtlichen Besucher mit in die WG brachte. „Ich sollte ihr sagen, dass das nicht okay war“, murmelte Jasmin, aber der Mut verließ sie genauso schnell wieder, wie er gekommen war. Schließlich musste sie noch eine Weile hier wohnen bleiben und wollte keinen Streit. Ein Umzug war auch keine gute Option – finanziell gesehen und weil sie noch lebhaft in Erinnerung hatte, wie lange die Suche beim letzten Mal gewesen war. Mit einem Seufzen schob sie die Gedanken beiseite und machte sich auf den Weg zur Uni. Es war ein warmer Frühlingstag und die Sonne schien ihr aufmunternd zu – ja, heute würde sie sich endlich trauen, ihm ihre Gefühle zu gestehen! Als sie in den Park einbog, den sie oft als Abkürzung zur Uni nahm, traf es sie allerdings wie ein Schlag: Dort saß er auf der Bank, den Arm um eine andere Frau gelegt, die zwar zu weinen schien, sich aber auch an ihn schmiegte. Mit einem Mal wurde Jasmin so schlecht, dass sie nicht wusste, ob sie sich übergeben musste. „Alles in Ordnung? Du siehst so blass aus“, hörte sie plötzlich hinter sich und fuhr herum. Vor Schreck geriet sie so ins Taumeln, dass Sven ihren Arm greifen und sie halten musste. „Nein… ja.. doch! Ich hab nur was Falsches gegessen, glaub ich. Mir ist ein bisschen schlecht“, murmelte Jasmin und hielt sich den Bauch, ehe sie Sven zur Seite zog. Verwundert schaute er sie an. „Wir sollten außen rum gehen, um die beiden nicht zu stören“, deutete sie hinüber zur Bank und sah ein Lächeln auf Svens Gesicht. „Hey, wie es aussieht, sprechen die beiden sich endlich mal aus!“, verschränkte er zufrieden die Arme vor der Brust. Jasmins Augen wurden groß. Sie konnte es sich denken, aber sie wollte es trotzdem wissen. „Aus unseren Kursen kommt sie mir nicht bekannt vor. Ist das… seine Schwester?“, umschiffte sie die eigentliche Frage und spürte noch ein klein wenig Hoffnung darauf, dass sie den Anblick der beiden Banksitzer doch falsch interpretiert hatte. Sven aber musste sich das Lachen sichtlich verkneifen. „Dann wäre einer von beiden wohl vom Gasmann“, grinste er und antwortete dann aber ernster: „Nein, das ist Detlefs Freundin Saskia“. Kapitel 67: 2.3.2024: diskreditieren ------------------------------------ Ihr ganzer Körper fühlte sich taub und das Gehörte wie durch Watte an, während sie mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte. Jasmin nahm kaum wahr, wie sie mit Sven einen anderen Weg durch den Park ging und er mit ihr redete. Viel zu laut waren die Gedanken in ihrem Kopf. Sie schalt sich selbst für ihre kindliche Naivität. Natürlich hatte Detlef längst eine Freundin! Und was für eine gutaussehende noch dazu! Sie war eine Frau, die auf sich achtete und sich trotzdem nicht schämte, in der Öffentlichkeit Tränen zu zeigen – kein Mauerblümchen wie sie, Jasmin, die bei jeder Bewegung und jedem Wort so viel Angst davor hatte, einen Fehler zu machen, als würde sie sich selbst damit regelrecht diskreditieren. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und presste sie fest an sich, um dem Gefühl aufkommender Panik Herr zu werden. Hatte Sven eine Ahnung, dass sie seinen besten Freund mochte? War es vielleicht schon längst allen in der Uni aufgefallen? Durch ihre Blicke zu dem großen Blonden oder ein lächelndes „Hallo“ zu viel? Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe. Sie konnte Sven ja schlecht einfach danach fragen. „Sollen wir dich nicht vielleicht doch lieber zum Arzt bringen?“, verschaffte der sich nun doch endlich wieder Gehör und ließ Jasmin zusammenzucken. Sie starrte ihn an und spürte die Hitze in ihrem Gesicht, während es knallrot anlief. „Du siehst wirklich nicht gut aus“, sprach er besorgt und lachte dann auch noch auf. Jasmin spürte den wachsenden Kloß im Hals – er machte sich über sie lustig! „Ich bin manchmal ein bisschen unbeholfen, sorry! Ich meinte natürlich, dass du etwas kränklich aussiehst, aber nicht schlecht! Also… du siehst gut aus, nur im Moment merkt man, dass es dir nicht gut geht!“, hob er beschwichtigend die Hände und schmunzelte verlegen. „Ich reite mich immer weiter selbst rein, was?“, lachte Sven und rieb sich kurz übers Gesicht. Langsam beruhigte sich Jasmins Puls und der gefühlte Stromschlag in der Magengegend verebbte. „Nein, ich versteh schon, alles gut“, ließ sie ihre Schultern ein wenig sinken. „Manchmal… ist es schwer, die richtigen Worte zu finden“, konnte sie ihm ein leichtes Lächeln schenken und sah die Erleichterung in seinem Gesicht. „Ja, Detlef macht sich oft genug über mich lustig, weil ich nicht mit Frauen reden kann“, schob er die Hände in die Hosentaschen und schien zögerlich, ob er den Weg fortsetzen sollte. „Also? Soll ich dich zum Arzt begleiten?“ Jasmin schüttelte den Kopf und dieses Mal war ihr Lächeln größer. „Die frische Luft hier tut mir gut. Es geht gleich schon wieder“, meinte sie und setzte den Weg fort. „Na gut, aber wenn was ist, sag mir sofort Bescheid, ja?“, schloss Sven mit wenigen Schritten wieder zu ihr auf und sie musterte ihn einen kurzen Moment lang. Konnte es sein, dass er sich ernsthafte Sorgen um sie machte? „Du wirst schon wieder rot. Vielleicht hast du Fieber?“ Kapitel 68: 3.3.2024: Insignien ------------------------------- Donnerstagmorgen, die zweite Schulstunde und Bria fragte sich jetzt schon, wie sie den restlichen Tag mit wachen Augen überstehen sollte. Während ihr Religionslehrer irgendetwas über Insignien erzählte, hatte sie bereits alle Muster auf dem Fußboden gezählt und trotzdem klebte der Zeiger ihrer Uhr an Ort und Stelle fest. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, stützte den Kopf mal auf die Hand und mal ans Fenster. Zum Glück saß sie nicht in der ersten Reihe. Wieder suchte sie nach einer halbwegs bequemen Sitzposition, als ihr Blick aus dem Fenster fiel und die Müdigkeit mit einem Schlag verschwand. Dort lief Laurin über den Schulhof! Er hatte das Schulgebäude gerade verlassen und entfernte sich schnurstracks. Irritiert warf Bria einen wiederholten Blick auf ihre Uhr – die zweite Stunde dauerte noch über 30 Minuten an. Ob wohl etwas passiert war? Nun war sie den Rest des Unterrichts damit beschäftigt, sich Gedanken um Laurin zu machen. „Kommst du mit zum Kiosk?“, fragte ihre Freundin, als endlich die Glocke zur Pause läutete, aber Bria lehnte ab. „Nein, ich… hab mein Matheheft zuhause liegen lassen und geh es schnell holen“, griff sie ihren Rucksack und war schon verschwunden, ehe ihre Freundin noch irgendwelche Fragen stellen konnte. Sie kam sich selbst lächerlich dabei vor, jetzt in die Richtung zu gehen, in der Laurin verschwunden war, aber irgendwie trieb sie auch die Neugierde voran. Zielstrebig ging es über den Schulhof, dann auf einen kleinen Weg und ab hier hatte sie ihn nicht mehr sehen können. Vor ihr lagen nur der weitere Weg in die Stadt und ein paar kleine Gärten. Plötzlich kam sie sich schrecklich dumm vor. „So ein Blödsinn, der ist doch längst weg“, murmelte sie und trat ein Steinchen beiseite. Lust, jetzt umzukehren, hatte sie aber auch nicht. „Vielleicht…“, warf sie einen Blick zurück und huschte dann zu einer Hecke hinüber, als niemand zu sehen war. Mit ihrer zierlichen Statur passte sie bequem durch das kleine Loch zwischen den Sträuchern. „Ich bleib einfach hier. Eigentlich auch gut, dass er nicht mehr da war. Der hätte mich doch für bescheuert gehalten“, war sie noch immer mit ihren Gedanken beschäftigt, als sie sich umdrehte und plötzlich direkt vor Laurin stand. Beide starrten einander mit ähnlich großen Augen an. „Was machst du denn hier?“, fragte Laurin unsicher, während Bria Sorge hatte, dass ihr Gemurmel zu laut gewesen war. „Ich, äh… manchmal komm ich hier her“, antwortete sie, was auch durchaus der Wahrheit entsprach. „Ich bin dir aber nicht nachgelaufen oder so!“, platzte es dann aus ihr heraus und während Laurin vorher noch einigermaßen beruhigt schien, guckte er sie nun erst recht misstrauisch an. Bria fühlte, wie ihr Kopf zur Tomate wurde. „Ich glaub, ich geh jetzt besser“, murmelte er und schob sich an Bria vorbei, doch sie griff reflexartig seinen Arm. „Nein, warte bitte!“, ließ sie ihn so schnell wieder los, wie sie ihn gegriffen hatte. Noch skeptischer wurde Laurins Blick. „Kippt mir gleich einer nen Eimer Kompost über den Kopf, wenn ich raus gehe oder was wird das hier eigentlich?“, verschränkte er die Arme vor der Brust und schaute Bria unsicher an. Sie wusste ja, dass seine Mitschüler ihn hänselten, aber dass er so etwas vermutete, erschreckte sie dann doch. Beschwichtigend hob sie die Hände und schüttelte den Kopf, der gleich wieder knallrot wurde, als sie sich traute, ihm die Situation zu erklären. „Ich… ich hatte dich vorhin gesehen und mir Sorgen gemacht, weil du den Unterricht verlassen hast. Und da bin ich einfach auch in diese Richtung gelaufen. Aber ich kam mir dann dämlich vor und wollte hier warten, bis die Pause vorbei ist. Dass du tatsächlich hier im Garten bist, wusste ich nicht, ehrlich“, knetete sie ihre Finger und wurde noch verlegener, nachdem sie es jetzt offen ausgesprochen hatte. Warum tat sich nie ein Loch im Erdboden auf, wenn sie es mal gebrauchen konnte? „Warum? Wir kennen uns doch gar nicht“, runzelte Laurin die Stirn und Bria musste ihm da durchaus zustimmen. Miteinander geredet hatten sie noch nie, aber… „… du bist inzwischen schon irgendwie bekannt“, zuckte sie entschuldigend die Achseln, während er ausseufzte. „Ja, ich weiß“, murrte er und schob die Hände in die Hosentaschen. Es war ihm offensichtlich unangenehm, aber Bria wusste nicht, was sie nun sagen sollte. Ein kurzer Moment unangenehmer Stille entstand, der durchbrochen wurde, als Bria zu Boden schaute. „Ach, Hallo, da bist du ja!“, ging sie in die Hocke und streckte die Hand ins Gras. „Ich wollte euch nicht unterbrechen“, meinte das Mäuschen, während es auf ihre Hand kletterte. Erschrocken riss Bria den Kopf hoch und sah, dass Laurin sie ebenso verwundert anguckte wie umgekehrt. „Du kennst das Mäuschen?“, sagen sie wie aus einem Mund und der kleine Nager kicherte. „Äh, ja, sie hat mir mal den Garten gezeigt“, meinte Bria, während Laurin erzählte, dass er das Mäuschen in eben jenem kennengelernt hatte. „In den Pausen ist es hier schön ruhig und da kurzfristig meine zweite Stunde ausgefallen ist, bin ich schon mal her gekommen. Dummerweise hab ich heute Morgen mein Pausenbrot vergessen und muss jetzt noch mal zurück, zum Kiosk“, meinte er und zuckte widerwillig die Schultern. Auf Brias Gesicht zeichnete sich jedoch ein Lächeln ab. „Meine Mama packt mir immer viel zu viel ein. Wenn du möchtest, teile ich mit dir!“ „Kann ich auch ein bisschen was abbekommen?“, mischte sich da das Mäuschein ein und brachte beide zum Lachen. Kapitel 69: 4.3.2024: latent ---------------------------- „Oh, du kommst ja doch noch!“, hob Sven den Blick von Jasmin, als er hinter ihr in der Tür Detlef erscheinen sah. Der Blonde hörte ihn sofort und schlurfte durch den Seminarraum zu ihm hinüber. Sie befanden sich gerade in der Pause. „Klar, was dachtest du?“, gab er Sven im Vorbeigehen einen Klaps auf die Schulter und nahm auf seiner anderen Seite Platz. Sein Kumpel verlor keine Zeit, um sich zu ihm zu drehen. „Ich hab euch im Park gesehen“, lehnte Sven sich hinüber und sprach leise genug, dass selbst Jasmin die Worte fast nicht hören konnte. Detlef streckte sich ausgiebig und hielt dann die Fäuste in Siegerpose in die Luft. „Jap und es gibt was zu feiern!“, sprach er in einem Tonfall, den Jasmin nicht zu deuten wusste. Sven hingegen sah ihn überrascht und zugleich erfreut an. „Sag jetzt nicht, du…“, begann er und wagte seine Vermutung kaum auszusprechen. „Ladies, dieser Mann ist ab sofort wieder zu haben!“, posaunte Detlef und verschränkte mit einem langen Seufzen die Hände hinter dem Kopf. Er achtete nicht auf die irritierten Blicke einiger Kommilitonen, sondern schloss für einen Moment die Augen. Svens Lächeln gefror einen Moment, dann verblasste es, wie von einem Regenschauer davon gespült. Das, was er bei Detlefs Ankündigung vermutet hatte, wäre zwar überraschend gewesen, aber das, was er jetzt tatsächlich gesagt hatte, riss ihm sichtlich den Boden unter den Füßen weg. „Was?“, sagte er nach einigen Sekunden und Detlef schaute aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. „Brauchst du es noch deutlicher? Wir haben uns getrennt. Ich steh der Frauenwelt wieder voll und ganz zur Verfügung“, klappten seine Lider wieder zusammen. Noch immer fand Sven keine Worte. Er schaute unbeholfen zwischen Detlef und dem Tisch, an dem sie saßen, hin und her, als würde dort irgendwo etwas Hilfreiches geschrieben stehen. „Macht dir… das denn gar nichts aus?“, brachte er schließlich hervor und Detlef öffnete langsam die Augen, um zunächst den Blick an die Decke zu richten, ehe er sich wieder Sven zuwendete. „Ich meine… ihr wart neun Jahre lang zusammen“, kratzte der sich fahrig am Kopf, während Jasmin spürte, wie ihr Herz einen Sprung machte – etwas, wofür sie sich im nächsten Moment selbst tadelte. Ganz besonders bei Detlefs Antwort. „Wie lange kennst du mich und meinen latenten Sarkasmus eigentlich schon?“, warf er Sven dieses Mal einen eindeutigeren Blick zu, der durch ein kurzes Schnauben noch untermauert wurde. Der Angesprochene zuckte zusammen. Jetzt begriff er, dass Detlef seine verletzten Gefühle irgendwie überspielen wollte. Wahrscheinlich war es gerade ein Wunder, dass er sich überhaupt noch in die Uni geschleppt hatte. „Sorry, ich…“, begann Sven, aber Detlef unterbrach ihn. „Du bist manchmal ein Idiot, ja.“, nahm er die Arme runter und verschränkte sie stattdessen vor der Brust. „Ich aber auch, sonst hätte ich es wohl nicht so versaut…“ Dieses Mal war es kein Sprung, sondern ein Stich, den Jasmin in ihrer Brust verspürte. Sie kam sich furchtbar schäbig vor und wendete sich von den beiden ab. „Was hältst du davon, wenn wir unseren Barabend vorziehen?“, hörte sie Detlef und ein „Gute Idee“ von Sven. „Willst du mitkommen?“, wandte Detlef sich auch an jemand anderen, aber Jasmin schaute nicht mehr hin. Sie schämte sich ihrer Gedanken und Gefühle und zuckte zusammen, als sie eine Berührung an der Schulter fühlte. „Hey, du bist gemeint“ Als Jasmin den Blick hob, schaute sie direkt in Detlefs Gesicht und ihr wurde ganz flau im Magen. So aufmerksam hatte er sie noch nie angesehen. „Du siehst aus, als könntest du einen Drink vertragen. Willst du nachher mitkommen?“, meinte er und sie brachte keine Wort heraus. Hörte sie gerade richtig? „Ich glaub, das ist keine gute Idee. Sie hat sich heute Morgen den Magen verdorben“, antwortete Sven, ehe Jasmin etwas sagen konnte und schob Detlef leicht von sich. Der hatte sich über ihn gebeugt, um an Jasmins Schulter zu gelangen und drückte Sven damit mehr an seine Rückenlehne, als ihm lieb war. „Ach so?“, guckte der Blonde seinen Kumpel kurz an und zuckte die Achseln, ehe er sich wieder an Jasmin wendete: „Wusst ich nicht. Dann vergiss die Frage und kümmer dich lieber drum, dass es deinem Magen wieder besser geht. Alk ist da dann wohl nicht die beste Lösung“. Ein schiefes Schmunzeln legte sich auf sein Gesicht, bei dem Jasmin am liebsten sofort gerufen hätte, dass sie auf jeden Fall mit in die Bar wolle. Stattdessen brachte sie nur ein Nicken zustande und ein seichtes Lächeln, als Sven vorschlug, dass sie einfach beim nächsten Mal mit käme, wenn es ihr wieder besser ginge. Kapitel 70: 5.3.2024: Quintessenz --------------------------------- „… und ich weiß einfach nicht, was im Moment los ist“, beendete Ann-Katrin einen Monolog, der gefühlt Stunden gedauert und sie an den Rand ihrer Kräfte gebracht hatte. Sie fühlte sich wie erschossen, während sie neben ihrer Freundin Lara auf der Couch saß und keine Sitzposition fand, die sich erholsam und angenehm anfühlte. Lara schaffte es im Gegensatz zu ihr, die ganze Zeit über fast regungslos da zu sitzen, den Arm auf die Rückenlehne gestützt, Ann-Katrin zugewandt und die Augen aufmerksam auf sie gerichtet. „Ich denke, ich weiß, was los ist“, sagte sie schließlich nach einem Moment der Stille. „Ach ja?“. Verwunderung und Hoffnung schwangen in Ann-Katrins Stimme mit. Sie zermarterte sich den Kopf und Lara hatte so einfach eine Lösung? „Ich denke, die Quintessenz aus all dem, was du mir gerade erzählt hast, ist, dass du völlig erschöpft und überlastet bist“, stützte Lara den Kopf auf ihre Hand und musterte Ann-Katrin sorgsam. Die fahle Haut, die tiefen Augenringe, dazu ihre Erzählungen über Stress auf der Arbeit, emotionale Tiefschläge im Privaten, Kopfschmerzen, Schlafprobleme und vieles mehr. Sie war ja richtig erschrocken gewesen, als sie Ann-Katrin nun nach Monaten eigener Pläne und Projekte das erste Mal wieder persönlich getroffen und in so einem desolaten Zustand vorgefunden hatte. „Ich glaube, wenn du nicht bald auf die Bremse trittst, dann hast du bald einen Zusammenbruch“. Kurz schaute Ann-Katrin sie schweigend an, um dann unter Tränen los zu lachen. „Und wie stellst du dir das vor? Ich kann ja schlecht einen Pausenknopf für mein Leben drücken, um mich mal kurz für ein paar Tage aus allem raus zu ziehen! Im Moment hab ich so wichtige Projekte mit engen Deadlines, dass ich mir nicht einfach mal ne Woche frei nehmen kann und die Trauer über Omas Tod vor zwei Monaten – soll ich die einfach verdrängen?“ Lara seufzte aus. Sie fühlte, dass die Verzweiflung ihrer Freundin sie überforderte, aber hängen lassen wollte sie sie auch nicht. „Ich weiß grad selbst noch nicht, wie, aber irgendwie finden wir eine Lösung!“ Kapitel 71: 6.3.2024: fulminant ------------------------------- Seit über einer Stunde saßen sie in der kleinen Bar und ließen die Musik und das Gerede der anderen Gäste auf sich einprasseln. Eigentlich war es wie an jedem Abend, wenn sie hier her kamen und trotzdem fühlte Sven sich dieses Mal völlig fehl am Platz. Es lag eine Stimmung in der Luft, die er nicht greifen konnte und Detlefs Schweigen machte die Sache nicht unbedingt leichter. Er saß nur da, starrte in sein Bier und verlor kein Wort. Sollte Sven ihn ansprechen oder weiter warten? Dass er heute nicht mal an der Bar sitzen will, heißt wohl, dass er nicht reden möchte, dachte er bei sich und betrachtete die kleine Nische, in die Detlef sich mit ihm zurückgezogen hatte. Hin und wieder warf der Barmann einen Blick zu ihnen hinüber und bekam von Sven ein kurzes Lächeln geschenkt. Die Verwunderung war nicht zu übersehen; waren beiden Jungs doch inzwischen Stammgäste und eigentlich immer zu einem Plausch aufgelegt, besonders der große Blonde. „Ich muss mal an die frische Luft“, öffnete der nun endlich den Mund und hatte seine Jacke schneller geschnappt, als Sven gucken konnte. „Äh, warte! Ich komm mit! Ich muss nur kurz bezahlen!“, rief er Detlef nach und schob sich zur Theke hinüber, während er versuchte Detlef im Blick zu behalten – vergebens, hinter dem fiel längst die Tür zu und Sven spürte die aufkommende Sorge, ihn den Rest des Abends nicht mehr zu finden. „Hier, stimmt so“, schob er dem Barmann das Geld hinüber und schüttelte kurz den Kopf, als der fragte, ob alles in Ordnung sei. „Lass uns ein andern Mal reden!“, hob Sven die Hand zum Gruße und kämpfte sich zum Ausgang – er hatte gar nicht gewusst, dass es in der Bar dienstags noch voller als mittwochs war. Draußen angekommen schlug ihm die kühle und doch angenehm frische Nachtluft entgegen. Es war ein krasser Kontrast zu dem kleinen, überfüllten Raum – auch, was die Lautstärke betraf. Aber wo war Detlef nun abgeblieben? Sven trat weiter auf die Straße und blickte sich um. Einige Meter entfernt machten die Wohngebäude und Geschäftshäuser Platz für eine Brücke über den angrenzenden Fluss und dort, neben einer der Laternen, sah er eine Figur stehen. „Detlef?“, rief er hinüber. Die Figur hob die Hand und Sven schloss in schnellem Gang zu seinem Kumpel auf. „Jetzt mach aber keine Dummheiten und spring da runter“, sprach Sven halb im Scherz und halb in Unsicherheit. Detlef stand an das Brückengeländer gelehnt, die Unterarme darauf abgestützt und den Blick auf das Wasser gerichtet. In der Dunkelheit zog es sich wie eine schwarze, unförmige Masse unter ihnen hindurch und nur die einzelnen, gespiegelten Lichter der Stadt zeigten, dass unter der Brücke keine völlige Leere herrschte. Der Anblick hatte für Sven etwas Beklemmendes, aber Detlef durchzog bei dessen Worten ein kurzes, amüsiertes Schnaufen. „Na, das wäre doch ein fulminanter Abgang. Passend zu meinem herausragenden Lebensweg, den ich bisher eingeschlagen habe“, richtete er sich auf und drehte dem Geländer den Rücken zu. Wieder nutzten seine Unterarme das kalte Metall als Stützte, aber dieses Mal ließ er den Blick nicht über das tiefe Wasser, sondern den weiten Nachthimmel schweifen. „Ich wünschte gerade echt, da würde der Alkohol aus dir sprechen, aber du hast vorhin ja nicht einen Tropfen angerührt.“, stand Sven in gleicher Pose da wie Detlef zuvor und knibbelte eine der Flechten vom Geländer. Er spürte die wachsende Unsicherheit und Überforderung, seinen Kumpel so zu sehen und nicht zu wissen, wie er ihm helfen konnte. Sonst schien Detlef immer mit so einer Leichtigkeit durchs Leben gegangen zu sein; für alles einen dummen Spruch parat und im Grunde durch nichts aus der Ruhe zu bringen – aber nun? "Ich mach mir im Moment echt Gedanken um dich", murmelte Sven und hörte wieder Detlefs belustigtes Schnaufen. „Tja, da bist du nicht der Einzige“, meinte der schließlich nach einem Moment des Schweigens und Sven hob den Blick zu ihm. Kapitel 72: 7.3.2024: salomonisch - Archiv ------------------------------------------ „Lässt dein Kumpel sich überhaupt noch mal hier blicken?“ Sven spürte, wie bei diesen Worten die Wut in ihm hoch kam und trotzdem zwang er sich zur Höflichkeit. „Seit wann interessierst du dich eigentlich so für Detlef, Oberfelder?“, stand er von seinem Platz auf, um seinem Kommilitonen in die Augen blicken zu können. Er hatte es sich während der Pause auf einer Bank gemütlich gemacht und seine Gedanken schweifen lassen. Viel Lust auf sein Mittagessen bestand eh nicht und die Anwesenheit seines Mitstudenten ließ den restlichen Appetit nun auch noch vergehen. „Ich interessier mich nicht für diesen arroganten Sack, ich frag mich nur, wie lange wir den noch ertragen müssen“, verschränkte jener die Arme vor der Brust und schnaubte verächtlich aus. Sven fragte sich, wie Detlef es immer geschafft hatte, über diesem Gerede zu stehen. „Also? Schwänzt der Faulpelz einfach nur wieder oder hat er womöglich endlich die salomonische Einsicht gefunden, dass er hier fehl am Platze ist?“ Im ersten Moment juckte es Sven in der Faust – etwas, das er so gar nicht von sich kannte – aber dann erinnerte er sich an einen Satz von Detlef zurück und ein kurzes Schmunzeln umspielte seine Lippen. „Salomonisch… Du hast wirklich ein Problem mit deinem Ego, oder?“, schob er eine Hand in die Hosentasche und hob die andere, um seinem Gegenüber mit einer Geste zu bedeuten, dass er noch nicht fertig war. Schluss mit Höflichkeit! „Anstatt dich mal auf dich und dein Studium zu konzentrieren, suchst du Leute, mit denen du dich messen kannst oder willst dich über andere stellen. Hast du so ein kleines Selbstbewusstsein? Selbst wenn Detlef in deinen Augen ein Faulpelz ist, hat er dir weder den Studienplatz weggenommen noch hält er dich vom Lernen ab. Ich versteh also echt nicht, wo dein Problem ist! Ignorier ihn doch einfach! Aber das kannst du nicht, oder? Er haut manchmal dumme Sprüche raus? Ja, mag sein, aber du laberst oft genug auch Müll! Also spiel dich hier lieber nicht so auf!“, griff er seinen Rucksack und warf sich dessen Riemen über die Schulter. Oberfelder starrte ihn wie ein Fisch auf dem Trockenen an und klappte immer wieder tonlos den Mund auf und zu. „Und nur damit du es weißt: Detlef ist weder blöd noch faul, aber du bist offensichtlich zu arrogant, um mal ein ernsthaftes Gespräch mit ihm zu führen. Sonst wüsstest du das nämlich!“, wendete Sven sichvon seinem Kommilitonen ab und schenkte ihm keinen Blick mehr. Es wunderte ihn selbst, wie aufbrausend er gewesen war und wie sehr ihn aufwühlte, was Detlef ihm an jenem Abend gesagt hatte. Irgendwie tat es aber auch gut, diesem Großmaul mal eins reingewürgt zu haben - selbst wenn Oberfelder jetzt langsam zu alter Form zurückfand und lauthals los zeterte. Sven kam seinem eigenen Rat nach und ignorierte ihn einfach. Stattdessen ging er zu Jasmin hinüber, die erst von einem anderen Hörsaalgebäude aus hierher hatte kommen müssen und nun verwundert da stand. „Was ist denn hier los?“, fragte sie, nachdem sie die gesamte Szene vom Eingangstor aus beobachtet hatte. „So hab ich dich ja noch nie erlebt, Sven“, war die Sorge in ihrer Stimme nicht zu überhören. Seit Tagen hatte sie Detlef nicht mehr gesehen und Sven trug fast nur noch eine trübe Miene, aber jedes Mal, wenn sie ihn darauf ansprechen wollte, wechselte er das Thema. „Ist alles in Ordnung?“, wagte sie einen neuen Versuch, als er im Vorbeigehen ihren Arm griff und sie mit sich zog. Aber wieder blockte er ab. „Komm, suchen wir uns einen anderen Platz. Ich muss meine Notizen für gleich noch durchgehen.“ Kapitel 73: 7.3.2024: Echauffieren ---------------------------------- „Echauffieren haben meine Eltern es früher immer genannt, wenn ich ihnen sagte, dass ich nicht studieren will. Für sie war das dann gleichbedeutend mit einem Zwergenaufstand. Sie hörten mir im Endeffekt gar nicht zu, sondern setzten alles daran, dass ich aufs Gymnasium ging, mein Abi machte und dann eine Uni besuche. Dass ich im Endeffekt hinterher der Depp zwischen der angehenden Elite war, interessierte sie nicht“, schaute Detlef in den Sternenhimmel und wandte kurz den Blick zu Sven, als von dem keine hörbare Reaktion kam. Fragend schaute er den Blonden an und zog die Augenbrauen zusammen, als dieser weitersprach. „Du Überflieger mit deinen übersprungenen Klassen hast es vielleicht nicht so auf dem Schirm gehabt, aber normalerweise ist man keine zwei Jahre älter als seine Klassenkameraden. „Na und? Du bist doch erst mit sieben eingeschult worden und das macht dich nicht zum Deppen!“, meinte Sven und schaute kurz von der Brücke, ehe Detlef ihn mit einem Lachen wieder zu sich blicken ließ. „Dann noch zusätzlich einmal pappen zu bleiben aber schon!“, stützte er die Hände aufs Brückengeländer und nahm mit einem beherzten Satz darauf Platz. Sven gefiel dieser Anblick gar nicht. „Pass auf, dass du nicht nach hinten kippst!“, drehte er sich stärker zu Detlef hinüber und behielt ihn im Blick, um im Notfall sofort eingreifen zu können. Der aber schüttelte nur den Kopf. „Mach dir nicht ins Hemd. So blöd bin selbst ich nicht.“, verschränkte er die Beine und schaute weiterhin in den Himmel. „Hör doch endlich auf, so von dir zu reden! Was soll das denn?!“, hatte Sven langsam genug von Detlefs zunehmender Melancholie. Der aber grinste und schaute aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. „Du dachtest wirklich, dass unsere Mitschüler immer deinetwegen getuschelt haben, oder?“ Verdattert sah Sven ihn an und merkte langsam, wie ein flaues Gefühl in seiner Magengegend aufkam. Von klein auf hatte es zu seinem Alltag gehört, dass andere über ihn redeten. Die Idee, dass Detlef Ziel der Tuscheleien gewesen sein könnte, war ihm nie gekommen. „Du bist nicht dumm“, wich er der Frage aus und auch Detlefs Blick. Der aber zuckte die Schultern. „Ich weiß.“ Hatte Sven gerade richtig gehört? War das wieder Sarkasmus oder Detlefs Ernst? „Nur, weil Studieren nicht mein Ding ist, bin ich kein Trottel. Es gibt bestimmt genug Jobs, in denen ich gut wäre. Ich muss nur herausfinden, was ich machen will.“ Sven betrachtete seinen Freund schweigend und lächelte dann erleichtert. Ja, das war die Einstellung, die er von Detlef kannte! Dass er sich nicht unterkriegen ließ! Nur wollte seine Zufriedenheit nicht lange währen, als er die Worte noch mal gedanklich durchging. „Moment mal, redest du gerade davon, dass du generell nicht mehr studieren willst?“. Wieder war da das flaue Gefühl in seinem Bauch und es wurde umso stärker, als er das Grinsen in Detlefs Gesicht sah. „Ich hab mich die ganze Zeit über von meinen Eltern in eine Richtung drängen lassen, weil ich Angst hatte, dass sie mich sonst nicht mehr unterstützen. Mal ehrlich, Sven, was hab ich bisher denn wirklich auf die Beine gestellt? Notgedrungen irgendeinen Studiengang gewählt, bei dem ich wusste, dass du mir den Arsch rettest, solang es geht und der vor allem an einer weit entfernten Uni ist, damit ich meine Eltern nur selten besuchen kann. Einfach, weil dann der Schwindel nicht so schnell auffliegt und ich solange in unserer WG bleiben kann, bis mir was anderes einfällt. Ja, das hab ich wirklich gut hinbekommen und nebenher noch meine Beziehung vor die Wand gefahren. Aber mal ehrlich, wir wohnen hier schon über ein Jahr und ich weiß immer noch nicht, wohin es mit mir gehen soll.“, seufzte Detlef und zuckte wieder einmal die Schultern bei Svens Worten. „Du hast doch immer gesagt, dass du nur die Zeit überbrücken willst, bis du in deinem Wunschstudium angenommen wirst“. Sven starrte seinen Kumpel an und wartete auf eine Zustimmung, aber sie kam nicht. „Ich bin kein Typ für die Uni, aber ich wollte es mir lange nicht eingestehen.“, sagte Detlef stattdessen und schon wieder zuckte er die Schultern, als Sven wissen wollte, wie es weitergehen sollte. „So richtig weiß ich das auch noch nicht. Aber es wird mal Zeit, dass ich das herausfinde. Saskia hat nicht Unrecht damit, dass ich bisher nur vor mich hin gelebt habe. Ich hatte keine eigenen Ziele, aber eins ist sicher: Ich will mir nicht mehr vorschreiben lassen, wie ich mein Leben gestalten soll. Ich muss mich endlich weiter entwickeln.“ Verständnislos schüttelte Sven den Kopf. „Aber wenn du die Uni schmeißt, werden deine Eltern dich nicht mehr unterstützen. Wie willst du dann in unserer WG wohnen bleiben? Oder was willst du ohne ihre Finanzierung überhaupt machen? Du hast ja nicht mal einen Job!“, wurde die Furcht in Sven immer größer, die schon seit Beginn des Gesprächs in ihm schwankte. „Und wag es jetzt nicht, schon wieder die Schultern zu zucken!“ Detlef lachte. Es war ein trauriges Lachen, aber kein verzweifeltes. „Wir bleiben doch trotzdem befreundet, selbst wenn wir nicht mehr täglich aufeinander hocken“, grinste er und wollte Sven auf die Schulter klopfen, aber der wich der Bewegung aus. Irgendwann nicht mehr zusammen im gleichen Studiengang zu sein war eine Sache, aber auch nicht mehr in einer WG zusammen wohnen? So hatte er sich das bestimmt nicht vorgestellt! „Mach jetzt nichts Unüberlegtes! Du bist gerade durch den Wind, weil Saskia sich von dir getrennt hat. Nimm dir ein paar Tage Zeit, um alles sacken zu lassen, bitte!“, spürte Sven, wie aus Angst Verzweiflung wurde. Für ihn war Detlef nicht nur ein guter Freund, sondern auch der perfekte WG-Partner. Doch der schüttelte den Kopf. „Sie hätte mir sogar noch eine Chance gegeben, aber ich hab selbst gemerkt, dass wir so, wie es im Moment ist, keine Zukunft hätten. Sven, ich muss erst mal lernen, wer ich bin und ich glaube, ein bisschen Abstand tut mir da ganz gut. Sonst lande ich einfach wieder in altem Fahrwasser, das wissen wir doch beide. Du kommst schon klar, Kumpel. Inzwischen hast du dich gut eingelebt und das Studium macht dir doch auch richtig Spaß“, rutschte Detlef vom Geländer und klopfte sich die Jeans ab. Wie konnte er so gelassen sein, wenn er gerade sein gesamtes Leben auf den Kopf stellte? „Aber was willst du denn jetzt machen?“, konnte Sven noch immer nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. Seine Frage war kaum mehr als ein Flüstern. War das ein schlechter Witz? „Tja“, schmunzelte Detlef und zuckte die Schultern „Mal sehen“. Kapitel 74: 8.3.2024: Zäsur --------------------------- „Lass uns doch da vorn in das kleine Café gehen. Meine Freundinnen schwärmen immer davon, aber ich war selbst noch nicht drin“, deutete Jasmin nach einem Fußmarsch durch Straßen und Gassen zu dem Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sven nickte und folgte ihr stumm. Den ganzen Weg über hatte er kaum ein Wort gesprochen und immer wieder gedankenverloren vor sich hin gestarrt. Mehr und mehr verletzte sie dieses Verhalten. Sie hatte doch eigentlich inzwischen so etwas wie eine Freundschaft zu ihm aufgebaut, oder? Und trotzdem verschloss er sich ausgerechnet jetzt, wenn es um Detlef ging. Hilflosigkeit machte sich in ihr breit und es brauchte ein tiefes Durchschnaufen, um sich wieder so zu fassen, dass sie trotzdem mit einem Lächeln durch die Tür des Cafés treten konnte. „Guten Tag“, grüßte sie die wenigen Leute, die um diese Zeit hier saßen und in ihre Arbeit vertieft waren, leise Gespräche führten oder die Tageszeitung lasen. „Sollen wir uns da vorn ans Fenster setzen?“, wendete sie sich an Sven, der ihr wieder stumm nachtrottete. Langsam aber sicher fühlte sie sich wie eine Alleinunterhalterin. Jasmin setzte sich ans Fenster, während Sven an die Kopfseite des kleinen Tisches Platz nahm, den Rücken zum Raum hin gewendet. „Möchtest du auch ein Croissant? Die sollen sehr gut sein“, meinte Jasmin, woraufhin Sven nickte und bei ihrem Vorschlag nach einer Tasse Kaffee stattdessen Tee wünschte. „Hallo und willkommen, was kann ich euch bringen?“, stand auch schon kurz darauf die Bedienung hinter ihm und Jasmin gab die Bestellung auf. Die junge Frau mit der brünetten Hochsteckfrisur und dem Pony kam ihr seltsam bekannt vor, aber sie konnte sich nicht erinnern, woher. Sven hingegen drehte sich wie vom Donner gerührt zu ihr um und starrte zu ihr hinauf. Das blieb natürlich nicht unbemerkt. „Du bists!“, rief die junge Frau aus und lächelte, als sie ihn erkannte. „Schön, dass du uns auch mal besuchst!“ „Ich… wusste gar nicht, dass du jetzt hier arbeitest“, murmelte er unsicher und nickte zögerlich, als sie meinte, sie habe gleich Pause und dann könnten sie sich etwas länger unterhalten. Jasmin fiel auf, dass Sven aussah wie ein getretener Hund, als er der Bedienung nachblickte. War sie vielleicht seine Verflossene? „Ihr kennt euch?“, lehnte sie sich zu ihm hinüber und beobachtete den restlichen Raum. Sie wollte nicht zu neugierig wirken und sich erst recht nicht bei ihrer Wissbegier erwischen lassen. „Das ist Saskia“, murmelte Sven und verschränkte die Arme auf der Tischplatte, während er leise und im gleichen Atemzug wie Jasmin sagte: „Detlefs Freundin“. Schwer ließ sie sich gegen die Rückenlehne sinken. Plötzlich war da dieser riesige Stein in ihrem Magen, der mit jedem Schritt, den Saskia kurz darauf auf ihren Tisch zutrat, immer größer wurde. „Hier ist eure Bestellung. Und ich konnte die Pause ein paar Minuten vorziehen“, stellte sie die Tassen und Teller mit Croissants vor ihren Gästen ab. Mit flinken Bewegungen band sie ihre Schürze los, um dann gegenüber von Jasmin Platz zu nehmen. „Wir haben uns jetzt ne ganze Weile nicht mehr gesehen, was?“, wendete sie sich an Sven und Jasmin spürte, dass das folgende Gespräch eine Zäsur für sie werden könnte. Kapitel 75: 9.3.2024: Ethos --------------------------- Zeit - ein Konstrukt, das Saskia immer wieder faszinierte. In manchen Situationen konnte die Zeit rasen und in anderen zähfließend sein. Manchmal konnte vieles in einer bestimmten Zeit erledigt werden und manchmal genügte die gleiche Dauer nicht einmal für einen richtigen Anfang von etwas. Es ist schon interessant, wie kurz meine Pause ist und wie viel wir trotzdem in diesen paar Minuten schon beredet haben, dachte sie, während sie Sven noch immer dabei zuhörte, wie er sich über Detlefs Entscheidung beschwerte. „Ich fühl mich echt von ihm im Stich gelassen! Ich dachte, wir wären Freunde und dann bezieht er mich nicht mal in seine Entscheidung mit ein, sondern stellt mich vor vollendete Tatsachen“, verschränkte er die Arme vor der Brust, halb zusammengekauert auf seinem Stuhl und den Blick starr auf die Teetasse vor sich gerichtet. Ja, Saskia hatte bei ihrem letzten Gespräch mit Detlef von dessen Überlegungen, das Studium zu beenden und andere Wege zu gehen, erfahren. Trotzdem hatte es sie ein wenig überrascht, wie schnell er dann wirklich Nägel mit Köpfen gemacht hatte. Erst durch Sven war sie auf den neuesten Stand der Dinge gekommen – kein Wunder, hatten Detlef und sie nach ihrer Trennung schließlich einen gewissen Abstand gesucht, um ihre Gedanken und Gefühle sortieren zu können. Manches Mal war die Verführung für Saskia groß gewesen, einfach das Handy zu schnappen und ihm zu schreiben, aber letztlich hatte sie sich immer wieder dagegen entschieden. Und nun war er plötzlich fort, ohne, dass sie sich richtig von einander verabschiedet hatten. Wehmut kam in ihr auf, als Sven erzählte, dass er noch nicht einmal genau wusste, wo Detlef aktuell abgeblieben war. Und wieder begann er, sich über diesen Schritt zu ärgern, der aus seiner Sicht völlig übereilt gewesen war. Die Fakten waren ausgetauscht und nun begannen die Wiederholungen. Das kannte Saskia bereits von Sven, wenn ihn etwas ärgerte. Es kam nicht oft vor, aber wenn, dann biss er sich daran fest und konnte tagelang immer wieder über dieses eine Thema sprechen. Kurz schaute sie zu Jasmin hinüber, die in sich gesunken da saß, blass und sichtlich überfordert mit dem Gehörten. Warum traf es sie so, fragte sich Saskia, aber statt diesem Gedankengang weiter nachzugehen, griff sie Svens Hände. Abrupt kam er durch diese Geste ins Stocken, hob den Blick und schaute Saskia irritiert an. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen und sie hielt seine Hände fest in den eigenen. „Du weißt, dass ich dich sehr mag“, begann sie und nach einem kurzen Moment der Verwirrung nickte Sven. „Du bist für mich wie der Bruder, den ich nie wollte und trotzdem in mein Herz geschlossen habe“, fuhr sie fort, was ihn diesmal zum Lachen brachte – ja, das war die Saskia, die er kannte! Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sie ihm bedeutete, noch zu warten. „Ich hab dich lieb, aber manchmal möchte ich dir auch mal gehörig den Kopf waschen“, schwang noch immer ein liebevoller Ton in ihrer Stimme, in den sich nun eine gewisse Strenge mischte. Sven runzelte die Stirn. Mit dieser Wendung hatte er offensichtlich nicht gerechnet. „Ich glaub, ich muss mal wieder die große Schwester spielen und dir ein paar Takte dazu sagen, wie du dich gerade hier benimmst“, ließ Saskia seine Hände los und legte ihre flach auf den Tisch, noch immer zu Sven hin gebeugt und den Blick fest auf ihn gerichtet. „Ich weiß, dass Veränderungen nicht so dein Ding sind und dass du enttäuscht von Detlef bist, kann ich auch ein Stück weit nachvollziehen. Aber du benimmst dich wie ein bockiges Kind!“ Svens Zucken war nicht zu übersehen und aus den Augenwinkeln konnte Saskia erkennen, dass auch Jasmin den Kopf zu ihr hob. „So, wie du die letzten Minuten über von ihm geredet hast, klang es, als hätte er ein Schwerverbrechen begangen. Als hätte er kein Ethos und sonst was – Sven, er hat einfach nur erkannt, dass er nicht glücklich ist und will etwas daran ändern! Deshalb hat er dich nicht im Stich gelassen! Und ganz ehrlich? Wenn jemand Grund hätte, sich zu beschweren, dann wohl eher ich!“ Saskia legte eine kurze Pause ein und beobachtete Svens Reaktion. Einerseits war ihm das Gesagte unangenehm, da er anfing über Dinge nachzudenken, die er vorher so noch gar nicht bedacht hatte. Andererseits verstand er offensichtlich nicht so recht, worauf sie hinaus wollte und traute sich aber auch nicht, sie offen zu fragen. „Als ihr euch für diese Uni entschieden habt, bin ich mit in diese Stadt gezogen, weil ich keine Fernbeziehung wollte. Meinst du wirklich, ich hab mir den Umzug so vorgestellt, dass ich mir eine kleine Bude suche, während mein Freund eine WG mit seinem besten Kumpel gründet? Weil der Schiss hatte, dass ihm das neue Umfeld sonst zu viel wird, wenn nicht nur die Uni neu ist, sondern auch die Stadt und er obendrein mit fremden Leuten zusammenwohnen müsste, obwohl du ja derjenige warst, der unbedingt in diesen Studiengang gehen wollte?“ Sven kratzte sich am Hinterkopf und ließ den Blick kurz zum Boden schweifen. Wieder legte sich dieser bockige Ausdruck auf sein Gesicht. „Aber du hättest doch mit uns in die WG ziehen können und wolltest nicht“, meinte er, woraufhin Saskia die Augen verdrehte. „Sven, ich bin mit drei Brüdern aufgewachsen – ich hatte die Nase voll von WGs! Für dich war das trotz deiner Unsicherheiten vielleicht ein spannendes Abenteuer, aus dem behüteten Nest raus zu kommen und so. Aber ich bin die älteste von vier und hatte eh schon immer viel Verantwortung. Ich wollte nicht eure Mami spielen, die euch die Klamotten hinterher räumt...“, hob Saskia abermals die Hand, als Sven zum Protest ansetzte und dann mit sinkenden Schultern zugeben musste, dass sie wohl nicht ganz Unrecht hatte. „… ich wollte mit meinem Freund zusammenwohnen und ein gemeinsames Leben aufbauen“. Sie ließ die Hand sinken und sah, wie sich langsam das Schuldbewusstsein auf Svens Gesicht ausbreitete. Verlegen schaute er auf seine Hände, die einander kneteten. „Tut mir leid, darüber hab ich nicht nachgedacht“, murmelte er und hob bei Saskias amüsierten Schnauben den Blick. Sie lächelte und boxte ihm leicht auf den Arm. „Du bist ein kluger Kopf, aber manchmal merkt man dir einfach auch noch dein Alter an“, grinste sie und zwinkerte, um dann wieder etwas ernster zu werden. „Ich hab mir das alles auch anders vorgestellt, Sven, aber darauf wollte ich mit meiner Ansprache nicht hinaus. Detlef ist ein sehr loyaler Kerl. Du darfst darüber enttäuscht sein, wie es im Moment ist, aber stell sein Pflichtbewusstsein nicht infrage. Wenn ich es mir recht überlege, ist das manchmal vielleicht sogar zu groß gewesen und hat ihn überhaupt erst soweit gebracht, dass er jetzt alle Zelte abreißen musste. Und selbst da hat er dir noch zwei Monatsmieten im Voraus gegeben, obwohl er das Geld grad vermutlich selbst nur allzu gut gebrauchen könnte“, zuckte sie leicht die Schultern und sah mit einer gewissen Erleichterung das Nicken von Sven. Irgendwie war sie halt doch die geborene große Schwester – ob bei ihren eigenen Brüdern oder bei Detlefs Anhängsel, das sie anfangs kaum gemocht und inzwischen wirklich liebgewonnen hatte. Schließlich war auch sie gerade verlassen worden und da tat ihr diese Vertrautheit mit Sven sogar besser, als sie selbst gedacht hatte. „In letzter Zeit haben wir ja nicht viel miteinander gesprochen – das sollten wir wieder ändern“, zwinkerte sie abermals und erhob sich, um wieder zurück an die Arbeit zu gehen. So schnell konnte die Pause dann doch auf einmal vorbei sein. „Ja“, nickte Sven, während Saskia sich die Schürze wieder umband und plötzlich erstrahlte er regelrecht. „Ich hab eine Idee!“, rief er aus. Dieses Mal schaute sie ihn überrascht an. „Regelmäßige Kinodates?“ Er schüttelte den Kopf. „Detlefs Zimmer ist doch jetzt frei. Warum gründen wir dann nicht eine WG?“ Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Saskia schaute ihn ausdruckslos an, dann begann ihr Körper zu zucken und schließlich prustete sie los, mit Tränen in den Augen und einem glockenhellen Lachen, das das gesamte Café erfüllte. „Bei aller Liebe: Auf gar keinen Fall!“ Kapitel 76: 10.3.2024: redundant -------------------------------- „Endlich scheint die Sonne mal wieder. Ich hab den Frühling so richtig herbei gesehnt!“, seufzte Hannah und streckte sich ausgiebig auf der Holzbank aus. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen umspielte ein kleines Lächeln. Einfach mal nichts tun und die Seele baumeln lassen! Der Garten ihres Mehrfamilienhauses machte vielleicht nicht viel her, aber dieser heimelige kleine Sitzplatz begeisterte sie bei gutem Wetter immer wieder. Allerdings währte die Freude nicht lange. Mit einem Mal spürte sie einen Druck an den Füßen und riss den Kopf hoch. „Lara!“ Überrascht stütze Hannah sich auf die Ellenbogen und schaute zu ihrer Freundin, die am anderen Ende der Bank Platz genommen hatte. „Hi“, hob die müde ihre Hand zum Gruße und nutzte sie dann wieder als zusätzliche Stütze für ihren Kopf, als könne die zweite Hand ihn ansonsten nicht halten, während sich ihre Ellenbogen tief in die Oberschenkel bohrten. „Was ist denn mit dir los?“, setzte Hannah sich auf und musterte ihre Freundin. Beim letzten Treffen vor einigen Tagen war sie noch so beschwingt gewesen und nun wirkte sie, als sei jegliche Energie aus ihrem Körper entschwunden. Laras Mundwinkel zuckten und mit einem Seufzen drehte sie den Kopf zu Hannah. „Ich hab dir doch meinem Lektor erzählt“, murmelte sie und Hannah nickte. „Ja, du warst ganz aufgeregt gewesen, weil die Suche so lange gedauert hatte und es nun endlich mit der Veröffentlichung deines Buchs weitergeht. Hat er dir doch noch eine Absage erteilt oder warum bist du jetzt so niedergeschlagen?“ Lara schüttelte den Kopf. „Nein, er würde schon noch mit mir arbeiten…“ „Aber?“ Lara lehnte sich an die Rückenlehne und zog die Knie an sich. „Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch machen will.“ Irritiert schüttelte Hannah leicht den Kopf und rutschte näher an Lara heran. „Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Was ist denn passiert? Du träumst doch schon so lange davon, ein eigenes Buch zu veröffentlichen!“ Lara nickte kurz, aber dann zuckte sie die Schultern. „Ich bin mir einfach nicht mehr sicher, ob ich wirklich gut genug bin.“ Hannah runzelte die Stirn und legte den Kopf schief. Sie kannte die Texte ja und hatte sie immer gut gefunden. „Hat dein Lektor dir das etwa gesagt?“ Wieder zuckte Lara mit den Achseln und wiegte unschlüssig den Kopf. „Nicht direkt, aber ich hab echt einen Schreck bekommen, als ich die Korrektur wiederbekommen habe. Überall Anmerkungen in Rot – vor allem, dass vieles redundant wäre. Ich beschreib die Gefühle meiner Figuren halt gern durch wiederholte Synonyme, weil ich finde, dass sie so noch besser zum Ausdruck kommen. Aber er findet das dann überflüssig“, zuckte Lara abermals die Schultern und verschränkte dann die Arme vor der Brust. „Hast du da schon mit deinem Lektor drüber gesprochen?“, meinte Hannah und Lara schüttelte den Kopf. Den Text hatte sie gerade erst zurückbekommen und war nach dem ersten Schreck direkt zu Hannah gegangen. „Ich schlag dir vor, dass wir uns einen gemütlichen Abend machen, du dich ein bisschen ablenkst und morgen, wenn du drüber geschlafen hast, einfach mal bei ihm anrufst und ihr die Korrekturen gemeinsam durchgeht. Vielleicht ist es dann gar nicht mehr so schlimm, wie es im Moment aussieht“, legte Hannah den Arm um ihre Freundin und entlockte ihr ein kleines Lächeln. Kapitel 77: 11.3.2024: idiotensicher ------------------------------------ „Na, das ist aber eine Begrüßung!“, scherzte Steffen, als Nick ihm die Tür öffnete und aussah wie sieben Tage Regenwetter. „Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“ Sein Gastgeber trat beiseite und ließ ihn in seine Wohnung. Kurz knurrte er etwas von einem Schrank und schlurfte dann voraus zum Wohnzimmer, wo er neben einem Berg von Kleinteilen stehen blieb. „Ich versuch seit Stunden dieses Scheißding aufzubauen, aber nichts passt! Am liebsten würd ich den Verkäufer an Arsch und Kragen hierher befördern, damit er mir den Kasten selber zusammenbauen muss!“, deutete Nick auf das Chaos vor seinen Füßen und blähte die Nüstern. Es war nicht zu übersehen, dass ein, zwei Teile vor Wut auch schon durchs Zimmer geflogen waren und Steffen konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. „Warum holst du dir auch wieder so ein komplexes Ding? Hätte ein einfacherer Schrank es nicht auch getan? Oder vielleicht sogar ein bisschen mehr Unterstützung für die heimischen Handwerker, indem du nicht zum Großladen gehst, sondern bei einer lokalen Schreinerei fragst?“ Nick stützte die Hände auf die Hüften und musterte Steffens Grinsen. „Ja, sorry, dass nicht jeder gelernter Tischler ist, so wie du! Und dass nicht jeder so viel Kohle für ein maßgefertigtes Möbelstück hat!“, begann eine Diskussion, die sie nicht zum ersten Mal führten. „Ich hab dir schon mal gesagt, dass die Möbel von den Geschäften, in denen du immer guckst, mitunter auch nicht gerade billig verkauft werden, aber dafür oft genug billig zusammengeschustert sind. Vielleicht ist ein Schrank von uns etwas teurer, aber dafür hält er auch ein Leben lang! Und du bekommst ihn auch direkt fertig aufgebaut, statt so was hier“, deutete Steffen auf die Einzelteile. Nick verdrehte die Augen. „Als ob du alles in deiner Bude selbst geschreinert hättest!“, murrte er und Steffen schüttelte den Kopf. „Hab ich nicht, aber ich weiß im Gegensatz zu dir wenigstens, worauf ich beim Kauf achten muss.“ - noch so etwas, worüber die beiden schon mehrfach diskutiert hatten. „Du hast doch grad so viel mit der Renovierung zu tun. Also wollte ich dich nicht mit zum Möbelkauf schleppen“, verschränkte Nick die Arme vor der Brust und murrte noch immer in seinen stoppeligen Dreitagebart. „Ich hab dem Verkäufer extra gesagt, dass ich was will, das man leicht aufbauen kann. Und bei dem Modell meinte er, es wäre idiotensicher!“, reckte er das Kinn und schüttelte dann wütend den Kopf. Steffen seufzte aus. So was hörte er nicht zum ersten Mal. „Einige Verkäufer sind wirklich fähig und beraten dich gut, aber es gibt auch diejenigen, die selbst keine Ahnung haben und nur versuchen, dir was anzudrehen.“ Er ging in die Hocke und griff nach der Aufbauanleitung. Viele Bilder, kaum Text. Kein Wunder, dass jemand wie Nick, der zusätzlich zwei linke Hände hatte, daran verzweifelte. „Komm, ich helf dir“, legte er den Zettel beiseite und suchte nach dem Schraubenzieher, der bei seinem Flug durchs Zimmer auf der Couch gelandet war. „Du bist für dein wohlverdientes Feierabendbier hier und nicht, um noch eine Spätschicht dran zu hängen! Irgendwie krieg ich das Ding schon aufgebaut – oder ich brings zurück. Aber Danke“, meinte Nick und ging zur Küche. Steffen schüttelte den Kopf. „Als Dankeschön spendierst du mir heute mal zwei Bierchen“, zwinkerte er seinem Kumpel zu, als der mit zwei Flaschen zurück kam und fing mit dem Aufbau an. Kapitel 78: 12.3.2024: Schaltjahr --------------------------------- Mit einem Knurren wühlte Sara sich aus dem Schlaf und brachte ihre Hand auf Wanderschaft nach dem erbarmungslosen Wecker. Es war doch noch mitten in der Nacht! Warum kam der Morgen nur immer viel zu schnell herbei? Am liebsten hätte sie den rasselnden Störenfried quer durch das Zimmer geschmissen, aber stattdessen drückte sie ihn nur aus. „Ich will nicht“, brummte sie und ließ sich nach einem kurzen Aufrichten zurück in die Kissen sinken. Das Licht ihrer Nachttischlampe brannte in den Augen und sie rieb sich das Gesicht, um endlich ein wenig wacher zu werden. Erst nach einem tiefen Strecken und Seufzen konnte sie sich dazu aufraffen, die Beine aus dem Bett zu schwingen und hinüber zum Fenster zu laufen, um seine Rollläden zu öffnen. Draußen schien die Morgensonne an einem fast wolkenlosen Himmel. Die Vögel waren zu hören und überall ließen sich bunte Farbtupfen aus Frühlingsblühern entdecken. Eigentlich ein schöner Tag, dachte Sara bei sich, aber der Blick zum Kalender konnte ihre Stimmung trotzdem nicht heben: 29. Februar – es war mal wieder ein Schaltjahr. „Das kann ja heut was werden“, murmelte sie und schlurfte ins Badezimmer. Während sie ihre Zähne putzte, ging sie durch die Wohnung, öffnete weitere Rollläden, stellte die Kaffeemaschine an und startete ihr Handy. Es dauerte nicht lange, bis das aus dem Vibrieren nicht mehr heraus kam. Nachricht über Nachricht wünschte ihr alles Gute zum Geburtstag. Freunde, Verwandte, teilweise sogar Kollegen, die daran gedacht hatten, dass sie heute „ja endlich alt genug wurde, um eingeschult zu werden“. Sie las die Nachricht halblaut vor, als sie mit einem Kaffee in der Hand an die Küchenzeile gelehnt stand und verdrehte die Augen. Auch, wenn diese Witze lieb gemeint waren, hatte sie sie schon immer als nervig empfunden. Wohl auch, weil sie für Geburtstage eh nicht viel übrig hatte und für ihren eigenen erst recht nicht. Für sie war es keine große Leistung, irgendwann mal das Licht der Welt erblickt zu haben – die hatte wohl eher ihre Mutter vollbracht, als sie unter stundenlangen Schmerzen in den Wehen gelegen hatte. Aber trotzdem kam Sara nicht umhin, sich auch ein bisschen darüber zu freuen, wie viele Leute an diesem Tag an sie dachten. Kapitel 79: 13.3.2024: Schönwetterwolke - Archiv ------------------------------------------------ Sie lag im Gras, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Augen auf den Himmel gerichtet. Über ihr zogen die Schönwetterwolken hinweg, langsam, gemächlich und trotzdem imposant in ihrer Größe. Sie betrachtete die verschiedenen Nuancen aus weiß und grau, durch die manchmal kleine Sonnenstrahlen fielen, um die Himmelsgebilde aufzubrechen. Eine leichte Brise strich ihr um das Gesicht, brachte den Duft von blühenden Bäumen und Blumen zu ihr, der sich mit dem Gesang der Vögel vermischte. Lange war sie nicht mehr so im Moment gewesen; einfach nur beobachtend und lauschend, statt zu planen, zu agieren und zu reagieren. Mit einem tiefen Atemzug füllte sie ihre Lungen und ließ die Luft unter einem ebenso tiefen Seufzen wieder entweichen. Spürbar entspannten sich ihre Muskeln, schmiegte sich der Körper noch fester an den Boden unter ihm. An einzelnen Stellen war sogar ein Knacken zu vernehmen. Sie ließ die Gedanken schweifen, wie die Wolken am Himmel. Viel war in der letzten Zeit passiert und sie spürte erst jetzt, in dieser Ruhe, dass sie noch gar keine Möglichkeit gehabt hatte, das Erlebte wirklich zu verarbeiten. Sie hatte nur noch funktioniert und merkte erst jetzt, wie wenig Kontakt zuletzt noch zu ihrem Körper und ihren Empfindungen vorhanden gewesen war. Es fiel ihr gar nicht so leicht, diesen nun wieder herzustellen; in sich hinein zu hören und wahrzunehmen, was da alles schlummerte. Gab es etwas, das sie drückte oder gar schmerzte? Fanden sich Gefühle, die beiseite geschoben waren und nun endlich gefühlt werden wollten? Oder Gedanken und Erinnerungen, die auf dem Abstellgleis standen und für die es jetzt an der Zeit war, sich ihnen zu widmen? Nach und nach stellte sie sich diesen Fragen und horchte in sich hinein. Sie schloss die Augen, um sich noch mehr auf sich selbst konzentrieren zu können, nahm nur noch das Spiel aus Licht und Schatten wahr, wenn eine Wolke sich vor die Sonne schob und dann wieder weiter zog. Kapitel 80: 13.3.2024: Pollen ----------------------------- „Einfach in der Sonne liegen und ausspannen können – das wäre jetzt schön!“, dachte Clara, während sie strammen Schrittes am Fluss entlanglief und ihr Blick dabei auf eine Frau fiel, die es sich an der Böschung im Gras gemütlich gemacht hatte. Mit geschlossenen Augen lag sie da, die Hände hinterm Kopf verschränkt und die Beine überkreuzt. Die leichte Brise strich ihr sanft durchs Haar und ihr gesamter Anblick wirkte erfüllt von Freude und Ruhe. „Die hat vermutlich auch kein Problem mit Pollen“, dachte Clara, als auch ihr die Brise um die Nase strich und dabei verdächtig daran kitzelte. So schön der Frühling auch war: Diese Seite von ihm mochte sie ganz und gar nicht! Bereits kurz nach dem Jahreswechsel hatte sie festgestellt, dass sie wieder die verdächtige Schniefnase begleitete. Mit einem Seufzen dachte sie nun daran, dass es in den kommenden Wochen umso anstrengender für sie werden dürfte: Niesattacken, verquollene Augen, Atemnot. „Wenn dieser Weg durch die Pampa nicht so eine Abkürzung für mich wäre…“, ging es ihr durch den Kopf. Eigentlich fand sie es ja schön, dass es in ihrer Stadt auch diese grünen Ecken gab, wenn sie nur ihre Pollenallergie nicht gehabt hätte. Als Kind hatte sie bereits versucht, sie durch ein Hyposensibilisierung zu lindern, was jedoch nur bedingt von Erfolg gekrönt gewesen war. Zusätzlich hatten sich die Symptome in den vergangenen Jahren wieder verstärkt und nun war es fast wieder wie vor der Therapie. Ohne Medikamente ging fast gar nichts mehr, aber die zeigten ja auch immer so ihre Nebenwirkungen… Vielleicht sollte sie doch einmal den Vorschlag ihrer Freundin annehmen und einen Ausflug an die See versuchen? Kapitel 81: 14.3.2024: imaginieren ---------------------------------- Unruhig trat Marianne von einem Fuß auf den anderen, als sie am Bahnsteig stand und immer wieder den Blick zwischen Gleis und Anzeigetafel hin und her schweifen ließ. Zehn Minuten Verspätung hatte der Zug ihrer Freundin Susie, aber jede Minute mehr fühlte sich für Marianne wie eine Stunde an. Fast drei Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen, nachdem Susie der Liebe wegen aus ihrer Heimatstadt weggezogen war. Ob sie sich wohl noch immer so gut wie früher verstanden? Mulmig kribbelte es in Mariannes Bauch, als sie den Zug endlich eintreffen sah und sich kurz darauf die Türen öffneten. Drei Jahre voller Briefe und Telefonate und nun sah sie Susie endlich wieder einmal persönlich vor sich. Schon von weitem winkten sich die beiden Freundinnen zu und fielen einander in die Arme. „Endlich!“, sprachen sie wie aus einem Mund und Marianne spürte: Ja, es war wie früher! Schnell verstauten sie Susies Gepäck in Mariannes Kofferraum und machten sich dann auf den Weg in die nahegelegene Innenstadt. „Hier hat sich ja kaum etwas verändert!“, staunte Susie und musterte Schaufenster für Schaufenster. „Oh! Das kleine Café in dem wir immer waren!“, brach es dann aus ihr hervor und sogleich schlug sie einen Besuch vor. Aber Marianne wirkte alles andere als glücklich darüber. „Möchtest du nicht? Wir waren früher so oft hier drin“, meinte Susie, die sofort den Gesichtsausdruck ihrer Freundin erkannte. „Nein, nein, lass uns gern reingehen. Ich war nur… etwas wehmütig, das ist alles! Aber Schluss mit der Melancholie, lass uns deinen Besuch in vollen Zügen genießen“, zwang Marianne sich ein Lächeln auf, von dem Susie schnell erkannte, dass es nicht echt war. „Weißt du was? Wir gehen erst mal in den Botanischen Garten und können auf dem Rückweg immer noch einen kleinen Zwischenstopp im Café einlegen“, schlug sie vor und dieses Mal war Mariannes Lächeln ehrlicher. Den ganzen Weg über unterhielten sie sich über vergangene Zeiten und zukünftige Pläne, doch Susie hatte die Situation vorm Café trotzdem nicht vergessen. „Magst du mir nicht doch erzählen, was los war?“, fragte sie schließlich, als sie zwischen Sträuchern und Blumen auf einer Parkbank Platz nahmen. Marianne fühlte, wie sie verlegen wurde. „Na ja, du weißt doch, dass ich ein bisschen was abspecken möchte“, meinte sie und spielte mit ihren Fingern. Susie nickte. „Ich schaff es einfach nicht und die Aussicht auf Kuchen… da werd ich immer schwach. Dabei nehm ich es mir immer wieder so sehr vor, endlich disziplinierter zu sein! Ich affirmiere, mach mir Pläne, imaginiere, wie ich mit zehn Kilo weniger aussehe….“. Sie seufzte aus und schüttelte den Kopf. Susie legte den Arm um sie. Das Gewicht war immer ein Thema für ihre Freundin gewesen. „Kann es sein, dass nicht die Disziplin dein Problem ist?“ Marianne schaute sie verwundert an. „Was denn sonst?“, meinte sie und Susie wiegte leicht den Kopf. „Ich hab neulich einen Artikel gelesen, in dem es um emotionales Essen ging“, antwortete sie und Marianne runzelte fragend die Stirn. „Na ja, das heißt, dass man seine Gefühle gewissermaßen ans Essen koppelt. Zur Belohnung, weil man gestresst ist, um sich aufzumuntern… etc.“, fuhr Susie fort und Marianne nickte nachdenklich. Ja, bei Stress war ihr der Griff zur Schokolade schon so manches Mal aufgefallen – aber sonst? Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr erkannte sie, dass sie oft nicht nur aus Hunger aß. „Du hast es dir lange angewöhnt, deine Gefühle mit Essen zu kompensieren und müsstest dich jetzt gewissermaßen erst wieder „umprogrammieren“, wenn du das wieder ändern möchtest. Das ist zwar ein Stück Arbeit, aber es gibt Tipps und Tricks, wie so eine Umstellung gelangen kann und auf Dauer bräuchte man sich um Diäten und Co. keine Gedanken mehr zu machen“, meinte Susie und ging weiter auf die Details aus dem Artikel ein, denen Marianne gespannt lauschte. Kapitel 82: 15.3.2024: votieren ------------------------------- Linus saß am Küchentisch und vergrub seine Nase in der Zeitung, während seine Verlobte hinter ihm an der Arbeitsfläche die Kaffeemaschine befüllte. Mit einem flüchtigen Blick über die Schulter schaute sie auf die aufgeschlagene Zeitungsseite und runzelte die Stirn. „Seit wann interessierst du dich für den Politikteil?“, meinte sie und ging einen Schritt auf ihn zu. Linus` Stirn war ähnlich gefurcht wie ihre eigene. „Tu ich nicht, aber gestern wurde gewählt – da sollte ich zumindest die Ergebnisse kennen“, murmelte er und las den Text unter den Säulendiagrammen. Dilara legte die Hände auf seine Schultern und schmiegte die Wange an seine. „Frisch rasiert“, schnurrte sie, worauf er nur mit einem kurzen Nicken antwortete. Sie betrachtete ihn aus den Augenwinkeln und schmunzelte. „Man kann dir ansehen, dass dich das eigentlich überhaupt nicht interessiert“, murmelte sie und er seufzte aus. Während er die Zeitung beiseite legte, richtete Dilara sich wieder auf und nahm schließlich auf seinem Schoß platz, als Linus es ihr mit einer Handbewegung bedeutete. „Meine Kollegen haben sich in den letzten paar Wochen ständig über die Wahlen unterhalten und für welchen Kandidaten man ihrer Meinung nach votieren sollte. Ich hab mich da nach Möglichkeit immer rausgehalten, aber ganz ehrlich? Irgendwann sind mir die Ideen ausgegangen, warum ich plötzlich das Gespräch verlassen musste. Wenn heute das Thema wieder aufkommt, will ich wenigstens was zum Wahlsieg sagen können. Ob der aus meiner Sicht berechtigt war und so“, hatte er die Arme um Dilara gelegt und schaute wieder zur Zeitung. Sie folgte seinem Blick kurz und streichelte ihm dann die Wange. „Ich finds nicht schlimm, dass du dich nicht für Politik interessierst. Ja, natürlich ist sie wichtig, aber wenn man merkt, dass man keinen Zugang dazu findet…“, zuckte sie leicht die Schultern, aber Linus wirkte nur wenig überzeugt. „Ich komm mir halt dumm vor, wenn ich auf die Fragen meiner Kollegen nichts antworten kann“, meinte er und lehnte den Kopf an Dilaras Schulter. „Andere gehen nicht mal wählen, du informierst dich wenigstens soweit, dass du die wichtigsten Punkte der Wahlprogramme kennst und dann deine Stimme abgibst.“ „Schon“, meinte Linus und Dilara antwortete mit einem „Aber?“ „Ich hab das Gefühl, dass das nicht reicht. Zu den eigentlichen Politikern kann ich kaum was sagen, während meine Kollegen sich gerade darüber das Maul zerreißen. Wie fähig der und der in seiner bisherigen Position ist, ob er ein guter Minister für das und das Amt wäre... Ich steh dann wie ein Trottel daneben und kann teilweise kaum den Gesprächen folgen…“ Dilara drehte sich zu ihm und streichelte ihm das Haar. „Du bist kein Trottel“, sagte sie sanft und gab ihm einen Kuss. „Du bist ein sehr intelligenter Mensch und wie jeder andere auch, hast du einfach deine Stärken und Schwächen. Und Politik gehört nun mal eher zu deinen Schwächen – deine Kollegen können auch nicht alles. Die haben auch ihre Fehler und Mängel.“ Linus wirkte zwar nicht richtig überzeugt, aber er nickte trotzdem. Kapitel 83: 16.3.2024: Nomen ---------------------------- Nach Tagen voller Regen kam nun zum ersten Mal wieder die Sonne zum Vorschein und gab den Studenten die Möglichkeit, ihre Pausen auch außerhalb der Gebäude zu verbringen. Jasmin konnte es gar nicht erwarten, sich auf der kleinen Bank im Innenhof des Hörsaalgebäudes nieder zu lassen und die warmen Strahlen auf der Haut zu spüren. Sie waren wie kleine Seelenstreichler, nachdem das zurückliegende Regenwetter ihren Gemütszustand nur allzu gut widergespiegelt hatte. Seit ihres Besuchs in dem Café hatte sie versucht, das Gehörte zu verarbeiten – und Sven gleichzeitig nicht merken zu lassen, was es in ihr ausgelöst hatte. Eigentlich war es ganz schön dumm von ihr gewesen, dachte sie. Mit Detlef hatte sie doch nur einige Male gesprochen und ihn ansonsten vor allem von der Weite beobachtet. Sie kannte ihn letztlich gar nicht! Durch Saskia und Sven hatte sie mehr über ihn erfahren, als in den gesamten Monaten zuvor. Wie kindisch war es da, dass sie Bauchkribbeln bekam, wenn sie an ihn dachte und sich wünschte, von ihm in den Arm genommen zu werden, wenn sie ihn sah? „Das ist wirklich lächerlich“, sprach sie leise zu sich selbst, als wieder die Sehnsucht in ihr aufstieg und die Trauer mit sich brachte, weil sie nicht wusste, ob sie ihn überhaupt je noch einmal sehen würde. Wenn sogar seine engsten Freunde nicht wussten, wohin ihn sein Weg führen würde… Sie ließ den Kopf hängen und entschied sich dann, ihre Gedanken mit der Lektüre eines Buches abzulenken. „Bei dir kann man wirklich sagen „Nomen est omen“, hörte sie plötzlich neben sich, als sie in ihrer Tasche kramte und schaute erschrocken hoch. „Wie bitte?“, guckte sie irritiert zu Oberfelder, der mit einem breiten Grinsen neben ihr stand und kurz darauf ebenfalls auf der Bank platz nahm. Unwillkürlich rutschte Jasmin ein Stückchen von ihm weg. „Dein Name passt zu dir. Du bist so hübsch wie eine Blume“, raunte er von sich selbst überzeugt und musterte ausgiebig Jasmins Gesicht. Sie lehnte sich von ihm weg und war unsicher, was sie darauf antworten sollte. „Okay…? Danke…?“, murmelte sie und wendete ihr Gesicht von ihm ab, das Haar zögerlich hinter ihr Ohr streichend. „Weißt du, ich finde, wir sollten mal ausgehen“, fuhr Oberfelder fort und Jasmin wusste: Hätte sie in diesem Moment einen Schluck getrunken, wäre er ihr im Halse stecken geblieben. „Wie bitte?“, wiederholte sie ihre vorherige Frage, doch ihre Stimme war noch brüchiger und schwankender dabei. Sie starrte ihn an wie ein geblendetes Reh das Auto. „Ja, warum nicht? Ich find dich ganz süß und wir sollten uns endlich mal etwas näher kennen lernen. Bislang hast du kaum ein Wort mit mir gesprochen – oder mit irgendwem sonst im Kurs, wenn man unseren kleinen Oberstreber mal beiseite lässt“, lehnte er den Arm auf die Rückenlehne der Bank und beugte sich näher zu Jasmin. Das Ende der Bank war erreicht, sodass sie nicht weiter rutschen konnte. „Also, wie wäre es mit heute Abend?“, lag ein erneutes Raunen in seiner Stimme, während Jasmins Kehle sich wie betäubt anfühlte. Sie drückte sich ihre Tasche an die Brust, um aufzuspringen, doch ihre Beine waren wie festbetoniert. „Ich… ich weiß nicht…“, stammelte sie und Oberfelder schüttelte leicht den Kopf. „Ach, komm, das wird ein lustiger Abend! Wir trinken ein paar Bierchen, plaudern über Gott und die Welt…“, meinte er mit einer ausladenden Geste und verzog das Gesicht, als ihm auffiel, dass Sven nur wenige Meter entfernt stand und das Gespräch offensichtlich mit angehört hatte. „Du meinst wohl eher, du willst mit ihr über die anstehenden Gruppenarbeiten sprechen“, trat er nun näher auf die Beiden zu und baute sich vor ihnen auf. Jasmin guckte von einem zum anderen. „Was willst du damit andeuten?“, erhob sich Oberfelder und schaute Sven herausfordernd an. Der zeigte sich jedoch wenig beeindruckt. „Kleiner Tipp: Wenn du das nächste Mal mit deinen Kumpels absprichst, dass ihr jemanden sucht, der euch die Drecksarbeit abnimmt, dann tut das nicht unbedingt im Vorraum der Klos“, verschränkte er die Arme vor der Brust. Oberfelder schnaubte aus und ballte die Fäuste. Zischend ließ er eine Beleidigung fallen und stapfte dann hinüber zu einer Gruppe Kommilitonen, die aufmerksam die Situation beobachtet hatten. Erst jetzt erkannte auch Jasmin das interessierte Starren und fühlte, wie die Tränen in ihr hochstiegen. Endlich gehorchten ihre Beine wieder, um sie von hier weg zu bringen. Sie wollte erst weinen, wenn niemand mehr sie dabei sehen konnte, aber Sven heftete sich an ihre Versen und ließ sie nicht aus den Augen. Kapitel 84: 17.3.2024: charmant ------------------------------- Bis in eine kleine Seitengasse war Jasmin geflüchtet, um sich vor den Blicken und dem befürchteten Spott ihrer Kommilitonen in Sicherheit zu bringen. Sie kauerte sich auf der Bordsteinkante zusammen, das Gesicht an den Knien vergraben und ließ ihre Tränen laufen. „Mach dir nicht so viel aus den anderen. Besonders so ein uncharmanter Typ wie Oberfelder hat nicht verdient, dass du dich seinetwegen schlecht fühlst.“ Sie hob den Kopf, während Sven zögerlich näher kam und ihr ein Taschentuch aus seinem Rucksack suchte. Beschämt wendete sie den Blick ab und wischte mit den Handrücken über ihre Wangen. „Hier“, ging er neben ihr in die Hocke und hielt ihr das Taschentuch hin. Sie brauchte einen Moment, um es annehmen zu können. „Ich weiß, du wolltest allein sein, aber ich find es nicht richtig, dich einfach hier sitzen und weinen zu lassen“, nahm er neben ihr Platz und richtete den Blick auf die Häuser vor sich. Irgendwo bereitete jemand das Mittagessen vor – der Duft schwebte durch die Gasse und brachte Svens Magen zum Knurren. „Es ist mir peinlich“, murmelte Jasmin und schnäuzte sich die Nase. Sven nickte. „Dir ist vieles peinlich“, sprach er fast beiläufig, während sie wie ertappt zusammenzuckte. „Du machst dir viel zu viele Gedanken darüber, was andere von dir halten könnten. Wenn Oberfelder noch mal den Charmebolzen spielt, sag ihm einfach, er soll sich verkrümeln“. Ein kurzes Zucken umspielte Jasmins Mundwinkel. „Wenn das nur so einfach wäre“, murmelte sie und Sven zuckte die Schultern. „Es ist einfach, du musst dich nur überwinden. Es hat ja keiner gesagt, dass du gleich zum nächsten Detlef mit seiner großen Klappe werden sollst." Ein kurzes Schnaufen brachte Sven dazu, den Blick von der Backsteinfassade zu nehmen und Jasmin zuzuwenden. Mit zusammengepressten Lippen saß sie da, die Hände zu Fäusten geballt. „Ich bin es einfach so satt“, flüsterte sie heiser vor Wut. „Du kannst ja in kleinen Schritten anfangen“, meinte Sven und erschrak, als Jasmin abrupt aufstand. „Nein! Ich meinte, ich bin es so satt, dass Leute mir immer wieder sagen, ich solle einfach mehr aus mir heraus gehen oder mir einfach weniger Gedanken über alles machen – das ist doch kein Schalter, den man einfach umlegen kann!“, fixierte sie Sven, nur, um dann kurz darauf den Blickkontakt wieder abzubrechen. „Ihr habt doch alle keine Ahnung!“, wollte sie von ihm weg, aber er war schnell wieder auf den Beinen, lief ihr nach und stellte sich ihr in den Weg. „Meinst du nicht, ich hätte dem Oberfelder nicht gern gesagt, dass er sich sein charmantes Gesäusel in die Haare schmieren kann und verschwinden soll? Aber ich kann so was halt nicht!“, verschränkte sie die Arme vor der Brust und wollte dann, dass Sven sie in Ruhe ließe. Der aber schmunzelte und fragte, ob ihr nichts auffalle. „Wovon redest du?“ Leicht legte Sven die Hand auf ihre Schulter und lächelte. „Dafür, dass du Leuten nicht die Leviten lesen kannst, machst du das gerade schon ganz gut“ Kapitel 85: 18.3.2024: kennenlernen ----------------------------------- „Geht’s dir jetzt besser?“ Langsam schlenderten sie durch die Gassen und Straßen, ließen die Aufregung der vorherigen Minuten abklingen und suchten immer wieder neue Umwege, um der Uni noch einen weiteren Moment aus dem Weg zu gehen. „Ja“, nickte Jasmin und ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. „Aber peinlich ist es dir auch, oder?“, grinste Sven, der ihre röter werdenden Wangen betrachtete. „Schon… und es tut mir leid, dass ich dich angeschrien hab“, nestelte Jasmin an ihrer Jacke herum, während Sven eine wegwerfende Handbewegung machte. „Hab ich nicht mal als anschreien empfunden.“ Stille kehrte ein, die nur von ihren dumpfen Schritten auf dem Asphalt oder dem Kopfsteinpflaster unterbrochen wurde. Noch eine Abzweigung in eine Nebengasse nahme sie, aber langsam gingen ihnen die Umwege aus. „Was hältst du davon, wenn wir die letzten beiden Seminare ausnahmsweise ausfallen lassen?“, meinte Sven plötzlich und Jasmin schaute ihn verdutzt an. Ausgerechnet so ein Vorschlag von ihm? „Ehrlich gesagt hab ich nicht viel Lust, Oberfelder heute noch mal zu sehen“, gab sie zu und das konnte Sven sich nur allzu gut vorstellen. „Willst du meine Bude mal kennenlernen? Ich wohn nur etwa fünfzehn Minuten von der Uni entfernt“, schlug Sven vor und Jasmin willigte ohne zu zögern ein. Er lächelte und deutete in die Richtung, in der sie weitergehen mussten. „In letzter Zeit machen wir ziemlich viel miteinander“, sprach er nach einer weiteren Pause und Jasmin beobachtete ihn. Worauf wollte er hinaus? „Ich hab heut aber auch wieder gemerkt, dass wir uns eigentlich noch gar nicht richtig kennengelernt haben“, rieb er sich den Nacken und schaute zu ihr hinüber. „Wie meinst du das?“, wendete sie den Blick nach vorn und betrachtete Sven erst wieder aus den Augenwinkeln, als er den Kopf von ihr wegdrehte. „Dass du sehr schüchtern bist, hab ich schon im ersten Semester gemerkt und frag mich immer mehr, ob es dafür wohl Gründe gibt. Das Thema scheint ziemlich an dir zu nagen, oder?“, verschränkte er Arme vor der Brust – eine Geste, die sein Grübeln unterstrich, statt Abwehr zu zeigen. Jasmin ließ den Kopf sinken und nickte leicht. „Früher war ich offener, aber ständig hatten die Leute was an mir auszusetzen.“, murmelte sie und Sven schüttelte den Kopf. „Du kannst es eh nie allen recht machen. Wichtig ist, dass du dich mit den richtigen Leuten umgibst, die dich akzeptieren, wie du bist. Die anderen können dir egal sein.“, meinte er und starrte Jasmin erschrocken an, als ihr plötzlich wieder die Tränen über die Wangen liefen. „Ich hatte aber nie jemanden, der mich akzeptiert hat“, wisperte sie und schnäuzte sich. „Ich wurde immer ausgegrenzt oder ausgelacht. Egal, was ich getan habe: Sie haben mich einfach nicht in Ruhe gelassen. Egal, ob Nachbarn, Mitschüler, Lehrer… einmal hab ich sogar die Schule deswegen gewechselt, aber auch das hat nicht geholfen. Also hab ich angefangen, möglichst unauffällig zu sein.“, verschränkte auch sie die Arme vor der Brust, aber als Selbstschutz. „Und die, die dir gesagt haben, dass du mehr aus dir rauskommen sollst?“, fragte Sven und sah ihr Schulterzucken. „Haben es entweder nur gesagt, um sich anschließend wieder über mich lustig zu machen oder reagierten empört, wenn ich dann tatsächlich mal sagte, dass ich etwas nicht möchte.“ Langsam nickte Sven und ließ das Gehörte auf sich wirken. „Ehrlich gesagt…“, sprach Jasmin weiter und kaute auf ihrer Unterlippe, bis sie die richtigen Worte gefunden hatte. „… ich kenn das gar nicht, wie das bei uns gerade läuft“, murmelte sie und holte tief Luft, als sie Svens fragenden Blick sah. „Ich meine, wir hatten gerade eine Meinungsverschiedenheit und trotzdem bist du noch hier.“ Sven schob die Hände in seine Hosentaschen und begann zu grinsen. Fast schon mit stolz geschwellter Brust meinte er „Tja, wird ja auch Zeit, dass du mal andere Erfahrungen machst, oder?“. Er knuffte Jasmin leicht mit dem Ellenbogen in die Seite und freute sich über ihr Lachen. „Vielleicht kann ich dir ja helfen, ein bisschen aus deinem Schneckenhaus heraus zu kommen – nur, wenn du möchtest, natürlich“, bot er an und sie lächelte. Kapitel 86: 19.3.2023: Omen --------------------------- Stille herrschte in dem kleinen Raum, die nur vom Quietschen und Knarren des alten Webrahmens durchbrochen wurde. Mit fließenden Bewegungen schoben die knorrigen Finger der alten Frau das Schiffchen Bahn für Bahn nach links und rechts. Ihre Lippen formten stumme Worte, während ihre verblassten Augen auf die entstehende Stoffbahn gerichtet waren. Fast blind waren sie und sahen doch mehr als anderen im Dorf. Zu ihren Seiten türmten sich Regale voller Stoffe und Garne. Alles wirkte unsortiert und hatte doch seine Ordnung. Leise klopfte es und eine junge Frau trat ein, um der Alten etwas zu trinken zu bringen. Sie hielt dabei nicht in ihrer Arbeit inne, beachtete die junge Frau nicht einmal, sondern war eins mit dem Webstuhl. Doch als die junge Frau gerade das Zimmer wieder verlassen wollte, durchschnitt ein Laut des Entsetzens die Luft. Die junge Frau fuhr herum und sah, wie die Alte mit weit aufgerissenen Augen da saß. Sie verharrte in Schockstarre, nur ihre Finger schwebten zitternd über der Stoffbahn. „Älteste?“, sprach die junge Frau sie leise an und ging zögernd wieder auf sie zu. Die Alte reagierte nicht. Sie starrte unablässig auf den Stoff, sank dabei immer weiter in sich zusammen. Der Raum war spärlich beleuchtet und doch war ihre fahle, fast kalkweiße Haut deutlich zu erkennen. Langsam begann sie den Kopf zu schütteln. „Ein schlechtes Omen“, flüsterte sie schließlich mit brüchiger Stimme und legte ihre Finger auf den Stoff; ehrfürchtig, ängstlich. „Älteste, was ist passiert?“, ging die junge Frau neben ihr in die Hocke und berührte die Angesprochene vorsichtig am Arm. Noch immer reagierte sie nicht auf die gehörten Worte, war gefangen in ihren Gedanken und ihrer Furcht. Wie eine Ewigkeit kam es der jungen Frau vor, bis die Älteste endlich das Wort an sie richtete und sagte: „Sag schnell den Männern, dass sie alle aus dem Dorf auf dem Marktplatz versammeln sollen und bring mich dann dorthin“. Kapitel 87: 20.3.2024: unnötig ------------------------------ „Es ist ein bisschen unordentlich, achte einfach nicht auf die Spüle“, meinte Sven mit einem schiefen Grinsen, als er seine Wohnungstür aufschloss und Jasmin dann bat, ihm in seine vier Wände zu folgen. „Ich glaub, das ist bei den meisten WGs so“, antwortete sie und erinnerte sich dann wieder, dass er ja in keiner mehr wohnte. „Äh, ich meine…“ Sven winkte ab und stellte seinen Rucksack neben den Küchentisch. „Schon gut, ich vergess das auch manchmal, dass ich aktuell allein wohne. Sagen wir einfach: In den meisten WGs ist es wohl etwas unordentlich und in Junggesellenbuden erst recht“, zwinkerte er und brachte Jasmin damit zum Lachen. Behutsam schloss sie die Wohnungstür hinter sich und folgte ihm durch den kleinen Flur, der nur gefühlte drei Schritte lang war. „Ah, du hast einzelne Räume“, murmelte sie und schaute auf die Türen, die sich dicht an dicht drängten und in die kleine Küche mit Küchenzeile sowie einem Tisch, der gerade einmal zwei Leuten Platz bot. „Ja, ich denke manchmal, dass es eine Miniaturwohnung ist“, grinste Sven und bot Jasmin etwas zu trinken an. Das Haus seiner Eltern war ähnlich aufgebaut; alle Räume für sich, keine offen gestalteten Bereiche, die ohne Türen ineinander übergingen. „Wie ist eure Wohnung aufgebaut? Du wohnst auch in einer WG, richtig?“ Jasmin nickte. „Küche und Wohnzimmer verschwimmen bei uns gewissermaßen mit dem Flur. Ansonsten hat jede von uns aber ein eigenes kleines Zimmer und das Bad ist natürlich auch getrennt vom Rest“. Sie stellte ihre Tasche neben Svens und ging hinüber zur Spüle, wo sich das Geschirr nur so stapelte. „Soll ich das mal eben machen?“, schaute sie über die Schulter zu ihm und sah, wie sein Gesicht rot wurde. „Nein, nein, das ist unnötig! Wie gesagt, beachte das gar nicht. Letzte Tage ist meine Spülmaschine ausgefallen und ich bin noch nicht dazu gekommen, mich drum zu kümmern“, war er mit wenigen Schritten neben ihr und wollte sie von dem Chaos wegführen, aber Jasmin streifte lächelnd seine Hand ab. „Ich spül eigentlich ganz gern ab. Und wir haben nicht mal eine Spülmaschine, obwohl wir zu viert sind“, krempelte sie sich die Ärmel hoch und machte sich an die Arbeit. Sven fühlte sich damit zwar noch immer unbehaglich, war aber auch ganz froh, sich so vorm Abwasch drücken zu können. Er schnappte sich im Gegenzug ein Trockentuch. „Zu viert stell ich mir ganz schön stressig vor“, meinte er und griff den ersten sauberen Teller. Jasmin pflichtete ihm bei. „Ich will keine Klischees bedienen, aber wir sind vier Mädels“, schmunzelte sie und berichtete kurz davon, dass eine ihrer Mitbewohnerinnen zum Glück oft bei ihrem Freund war und die andere häufig Spätschichten bei ihrem Nebenjob hatte. „So sind wir dann tatsächlich recht oft nur zu zweit.“ Sven musterte sie kurz und legte den Kopf schief. „Richtig happy klingst du aber trotzdem nicht“, meinte er und nach einem kurzen Zögern nickte sie. „Sagen wir einfach, sie ist das genaue Gegenteil von mir.“ „Klingt anstrengend“ Wieder nickte Jasmin. „Aber ich bin ja auch froh, dass ich überhaupt ein Zimmer zu einem erschwinglichen Preis gefunden habe… das war damals eine monatelange Suche“, seufzte sie aus. „Studentenstadt“, murmelte Sven und nochmals antwortete Jasmin mit einem Nicken. „Hast du denn schon einen Nachmieter gefunden? Das ist bestimmt ein Leichtes, bei so vielen Studis, die eine Bude suchen.“ Sven schüttelte den Kopf und kratzte sich im Nacken. „Nein, bisher gibt es noch keinen“, nuschelte er und bekam eine rote Nasenspitze, als er Jasmins Blick bemerkte. „Hast du denn schon nach einem Nachfolger für Detlef gesucht?“, fragte sie mit einem leichten Schmunzeln und wissendem Ton in der Stimme. Kurz schwenkte Sven den Kopf, ehe er zu einem Schütteln überging. „Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, mit jemand anderem zusammenzuwohnen. Vor allem, mit jemand fremdes“, meinte er schließlich und verzog das Gesicht, als Jasmin witzelte, dass er ja Oberfelder fragen könne. Sie kicherte kurz. „Ich glaub, das mit dem Schneckenhaus vergessen wir doch lieber“, murrte er erst und knuffte Jasmin dann in die Seite. Eigentlich gefiel es ihm ganz gut, dass sie ein wenig mehr aus sich herausging. „Zum Glück hab ich nicht so viel Zeitdruck mit der Suche. Detlef hat mir ja zwei Monatsmieten im Voraus da gelassen“, nahm er das Gesprächsthema wieder auf, aber Jasmin schien da nicht so überzeugt von zu sein. „Ja, aber jetzt hast du noch die Zeit, um dir die Kandidaten in Ruhe anzugucken und abzuwägen, wen du nehmen möchtest. Zwei Monate sind schnell rum und dann bist du darauf angewiesen, jemanden zu finden“, meinte sie und ließ das Wasser aus dem Spülbecken, als die letzte Tasse ebenfalls gesäubert war. Sven seufzte. Da hatte Jasmin nicht ganz Unrecht mit. Kapitel 88: 21.3.2024: Quizfrage -------------------------------- „Ist das eine Quizfrage?“, fragte Jasmin zögerlich und Sven runzelte die Stirn. „Quizfrage?“, wiederholte er und gab sich dann selbst die Antwort, als Jasmin gerade dazu ansetzte: „Ach, du meinst Fangfrage?“ Sie nickte leicht und er schüttelte den Kopf. „Nein, das mein ich tatsächlich ernst!“ lächelte er und schloss die Badezimmertür, nachdem er Jasmin gerade eine kleine Führung durch seine Wohnung geboten hatte. „Komm, wir setzen uns ins Wohnzimmer“, warf er ein, ehe er zum eigentlichen Thema zurückkam. „Eigentlich ist das gerade doch eine richtig gute Möglichkeit – natürlich nur, wenn du möchtest. Du fühlst dich in deiner WG nicht wohl und ich bin auf Dauer wieder auf einen Mitbewohner angewiesen. Aber dank Detlef muss ich nicht sofort jemanden haben, der mir auch Miete zahlen kann. Du könntest also testweise hier einziehen und wir schauen, ob eine WG mit uns klappt. Solange behältst du einfach dein momentanes Zimmer und hast trotzdem keine zusätzlichen Mietkosten“, führte er seinen Vorschlag zu einer gemeinsamen WG weiter aus, während sie sich auf der Couch niederließen. Jasmin schwieg und hörte ihm zu. Das kam so überraschend, dass sie nicht wusste, was sie davon halten sollte. „Es ist nur ein Angebot. Wenn würde ich einen Monat vorschlagen – in der Dauer könnten wir schon herausfinden, ob es passt, denke ich. Und falls nicht, bliebe mir trotzdem noch Zeit, um notfalls jemand anderen zu suchen.“. Er lehnte sich an die Rückenlehne und beobachtete Jasmin. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Hab ich dich damit jetzt überfahren?“, fragte er schließlich nach einem Moment des Schweigens und sie nickte langsam. „Ein wenig schon“, murmelte sie und blickte auf, als er mit dem Vorschlag, Getränke zu holen, in die Küche ging. Für einen Augenblick erfüllten nur das Klappern von Türen und Gläsern die Wohnung. Jasmins Blick schweifte aus dem gegenüberliegenden Fenster und sie dachte an die Räume, die sie vorhin gesehen hatte. Sie waren allesamt klein, aber ausreichend. Es wäre bedeutend ruhiger, der Weg zur Uni viel näher und trotzdem würden sich die Mietkosten nicht großartig von ihren jetzigen unterscheiden. „Aber…“, dachte sie und trat ans Fenster „…es wäre auch Detlefs Zimmer.“ Bei einem kurzen Blick in dessen vier Wände war ihr sofort aufgefallen, dass noch immer sein Duft über allem lag. Würde sie sich damit einen Gefallen tun? „Was ist, wenn Detlef es sich noch mal anders überlegt?“, drehte sie sich zu Sven, der gerade wieder das Zimmer betrat. Er stellte die Getränke auf dem Tisch ab und schüttelte den Kopf. „Das glaub ich nicht. Und letztlich kann ich ihm das Zimmer ja nicht auf Dauer frei halten“, schob er die Hände in die Hosentaschen und stellte sich neben sie. „Auf Dauer nicht, aber im Moment bezahlt er ja noch dafür“, entgegnete sie und Sven atmete tief aus. „Schon, aber irgendwie glaub ich nicht, dass er es sich plötzlich anders überlegt…“, murmelte er und verschränkte grübelnd die Arme vor der Brust. „Interesse hättest du also schon?“ Jasmin schaute ihn kurz überrascht an, antwortete dann aber auch mit einem vagen Nicken. „Ganz sicher bin ich mir noch nicht damit und würd gern noch ein, zwei Tage darüber nachdenken, bevor ich mich festlege, aber eigentlich klingt es wirklich nicht schlecht“, tippte sie sich an die Oberlippe. Sven nickte und lächelte. „Dann mach ich dir folgenden Vorschlag: Du nimmst dir ein paar Tage Zeit, um es dir in Ruhe zu überlegen und ich versuch Detlef ans Telefon zu kriegen, um abzuklären, ob er das Zimmer wirklich nicht mehr will.“ Zum ersten Mal in den vergangenen paar Minuten schien Jasmin sich wieder etwas zu entspannen. Sie nickte und antwortete: "Einverstanden." Kapitel 89: 22.3.2024: lachhaft ------------------------------- So sehr sie das Duschen auch liebte, verfluchte Saskia an Abenden wie diesem immer wieder, dass sie keine Badewanne hatte. Der Tag war anstrengend und lang gewesen, ihr Rücken schmerzte vom vielen Sitzen in der Universität und Bibliothek und ihre Füße vom anschließenden Job im Café. Wie schön wäre da ein kleines Bad gewesen, das den Körper umschmeichelte und die Muskeln mit seiner Wärme entspannte. „Na ja, zumindest treibt es die Wasserrechnung nicht so hoch“, murmelte sie bei sich, während sie sich abtrocknete und anzog. Beim Blick in den Spiegel seufzte sie aus – da hatte sie auch schon mal was Frischeres entdeckt. Make-Up würde helfen, aber sie hatte keine Lust, sich nachher noch ein weiteres Mal abschminken zu müssen. „Das ist doch lachhaft, im Kino sieht man eh nix davon und außerdem treff ich mich nur mit Sven“, dachte sie und verfluchte in diesem Moment nicht nur die fehlende Wanne, sondern auch ihre Zusage zu der gemeinsamen Unternehmung. Am liebsten wäre sie einfach nur auf der Couch versackt und hätte den Rest des Abends die Füße hochgelegt. Allerdings waren ohnehin schon einige Wochen seit ihrem Gespräch im Café vergangen und sie wusste, würden sie ihrem Versprechen zu regelmäßigen Treffen jetzt nicht nachkommen, dann wäre es bald in Vergessenheit geraten. Ein bisschen Zeit, bis sie wieder los musste, blieb ihr allerdings noch, also begab sie sich doch noch ins Wohnzimmer. Mit einem wohligen Seufzen ließ sie sich auf die Couch fallen und streckte sich aus. Erst jetzt merkte sie nicht nur die Schmerzen ihres Körpers, sondern auch seine Müdigkeit. „Jetzt bloß nicht einschlafen“, murmelte sie und nahm das Handy vom Wohnzimmertisch – ein wenig Ablenkung konnte nicht schaden. Doch als sie den schwarzen Ruhedisplay antippte, fand sie eine Ablenkung vor, mit der sie nie gerechnet hätte. Die Stirn gerunzelt, schaute sie auf die Nachricht, die sie in der Zwischenzeit erhalten hatte. Immer wieder las sie sie. Ich weiß, wir wollten erst mal eine Weile keinen Kontakt mehr, aber ich könnte gerade ein offenes Ohr gebrauchen. Können wir reden? Saskia spürte, wie ihre Gefühle bei diesen Worten Achterbahn fuhren. Sie setzte sich auf und warf das Handy neben sich. Einerseits überlegte sie, was passiert sein könnte, andererseits schwankte sie, ob sie sich einen Gefallen mit diesem Gespräch täte. „Das ist doch lächerlich, jetzt hab ich endlich mal ein paar Tage nicht an dich denken müssen und dann das?“, verschränkte sie die Arme vor der Brust und schnaubte aus. Sie ließ die Gedanken schweifen und nahm sich ein paar Minuten Zeit, ehe sie eine Entscheidung fällte. „Blöder Idiot“, schüttelte sie schließlich den Kopf und griff erneut nach dem Handy, damit er ihre Antwort bekam. Kapitel 90: 23.3.2024: desorientiert ------------------------------------ „Bist du dir sicher, dass wir hier lang müssen?“, betrachtete Saskia die Häuser und Straßen um sich herum und drehte sich einmal im Kreis. Sven kratzte sich am Kopf. „Ja, Jasmin meinte, das wäre hier in der Nähe“, murmelte er und musterte einige der Hausnummern. „Warum nimmst du nicht einfach Maps zur Hilfe? Ich hab das Gefühl, dass wir uns verlaufen haben“, stemmte Saskia die Hände auf die Hüften und blickte Sven streng an. Der machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wir haben uns nicht verlaufen. Ich werd doch noch die Schubertstraße 15 finden! Inzwischen wohn ich lang genug hier, um mich einigermaßen auszukennen“, sprach er im Brustton der Überzeugung, wobei er das „einigermaßen“ halb verschluckte. Saskia verdrehte die Augen. „Weil du neben der Uni und der Bar auch so viel anderen Aktivitäten nachkommst“, murmelte sie und schüttelte den Kopf, als er wissen wollte, was sie gesagt hatte. „Ich bleib dabei, wir sind grad völlig desorientiert“, kramte sie ihr Handy heraus und begann zu tippen. Sven schaute sie enttäuscht an. „Vertraust du so wenig auf meine Orientierungsküste?“ Saskia hob den Blick und eine Augenbraue. „Wenn es darum geht, dass wir sonst zu spät zum Film kommen, dann vertrau ich Maps doch etwas mehr“, meinte sie und erstaunt hob sich auch die zweite Braue, als sie zurück aufs Handy schaute. „Du hast Recht, da vorn noch mal links und wir sind da.“ Zufrieden grinste Sven und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, ja“, schmunzelte Saskia und ging mit ihm weiter. „In so einem kleinen Kino war ich noch nie. Ich kenn nur die großen Komplexe“, meinte sie nach einem kurzen Moment der Stille und Sven nickte. „Jasmin erzählte, dass das früher mal ein Theater war und dann irgendwann zum Kino umfunktioniert wurde. Da laufen oft Filme, die bei den Großen nicht oder nicht mehr gezeigt werden. Ziemlich nischig, aber bisher scheint das Konzept aufzugehen“, warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und nahm zufrieden zur Kenntnis, dass sie noch früh genug waren – trotz der kurzen Orientierungslosigkeit. „Du fühlst dich hier inzwischen sehr wohl, oder?“, fragte Saskia plötzlich und nach einem irritierten Moment fing Sven an zu nicken und zu lächeln. „Ja, ich hab mich gut eingewöhnt“, antwortete er und Saskia dachte an die ersten Monate in der neuen Stadt zurück, in denen Sven ständig unzufrieden über all das Ungewohnte und Neue gewesen war. „Wirst du hier bleiben?“, fragte nun er und Saskia runzelte die Stirn. „Wie kommst du darauf?“, entgegnete sie. Er zuckte die Schultern. „Na ja, du bist ja eigentlich nur wegen Detlef her gekommen und der ist jetzt weg“, murmelte er und Saskia schüttelte den Kopf. „Ich hab schon einmal die Uni gewechselt, um mit euch hierher zu kommen – jetzt beende ich erst mal das Studium und dann schau ich weiter. Außerdem gefällt es mir hier. Es hat zwar ein bisschen gedauert, mich an die Mentalität hier zu gewöhnen, aber jetzt möchte ich sie nicht mehr missen. Die Stadt hat schöne Ecken, viel Wasser und ich komm mit den Leuten gut aus. Außerdem…“ Sie brach kurz ab und holte tief Luft, ehe sie weitersprach. „… außerdem will ich nicht, dass sich mein ganzes Leben nur um meinen Partner dreht. Ich will meine eigenen Entscheidungen treffen. Ganz abgesehen davon, dass ich aktuell ja gar keinen mehr hab“, wurde sie leiser und räusperte sich. „Alles okay?“, fragte Sven und Saskia nickte kurz. „Ja, ich hab nur grad gedacht, wie ironisch es ist, dass ich extra für Detlef her kam und ausgerechnet er nun gar nicht mehr hier ist“, murmelte sie und dachte daran, dass er noch orientierungsloser war als sie beide vorhin auf dem Weg zum Kinobesuch. Sven nickte und ließ einen Augenblick der Stille zu, ehe er fragte: „Hast du eigentlich mal wieder was von ihm gehört? Mir hatte er zum Geburtstag einen kleinen Gruß geschickt und darin auch geschrieben, dass er wohl noch unterwegs ist und sich melden will, wenn er weiß, wo sein neues Zuhause sein wird. Kann ich mir gar nicht vorstellen, so ziellos durchs Land zu reisen“, verschränkte er die Arme vor der Brust und schauderte beim Gedanken an diese Planlosigkeit und Ungewissheit. Saskia zögerte mit ihrer Antwort. Sie presste die Lippen zusammen und zog leicht die Schultern hoch. „Weißt du…“, begann sie langsam und rief dann fast schon erleichtert aus „Da vorn ist das Kino! Komm, beeilen wir uns, ehe die besten Plätze weg sind!“. Kapitel 91: 24.3.2024: minutlich -------------------------------- Fast vier Stunden Zugfahrt lagen bereits hinter ihr und nun kündigte sich endlich die Schlussetappe an. Der letzte Umstieg war geschafft, der Platz eingenommen und nach einer kurzen Wartezeit setzte sich die Bahn in Bewegung. Häuser, Felder, Wälder und Straßen flogen erst langsam, dann immer schneller an ihr vorbei und mit einem Seufzen ließ Saskia sich tiefer in ihren Sitz sinken. Erst war da nur diese Unzufriedenheit über die lange Fahrt gewesen, aber nun kam zunehmend die Nervosität hinzu. Fast minutlich schaute sie nun auf ihre Uhr oder den Anzeigebildschirm mit den bevorstehenden Haltestellen. Ein langes Wochenende in der alten Heimat, die Familie besuchen, alte Freunde treffen und ein wenig den Unistress vergessen. Ihr letzter Besuch lag bereits mehrere Monate zurück und neben der Vorfreude auf das Wiedersehen spürte sie vor allem die Frage, was sich wohl in der Zwischenzeit verändert hatte. Ihre Brüder hatten ihr die ganze Zeit über regelmäßig berichtet, wie ihr Leben weiter verlief: Der eine in der Ausbildung, der andere am Ende seiner Schulzeit und der dritte mit einem erwachenden Interesse für Mädchen. Aber wie würde es wohl sein, sie jetzt wieder in die Arme zu schließen? So wie früher oder hatten diese Entwicklungen und ihre eigene Abwesenheit für neuen Wind in ihrem Familienverbund gesorgt? Saskia fragte sie sich auch, seit wann ihre Brüder eigentlich nicht mehr nur Fußball und das Daddeln auf der Playstation im Kopf hatten. „Na toll, jetzt fühl ich mich alt“, dachte sie und schmunzelte. Es war schön das Heranwachsen ihrer Brüder zu sehen, aber ein wenig tat es ihr auch weh, dass sie immer mehr ihre eigenen Wege gingen – obwohl sie selbst das ja auch tat. Lag dieser Mischmasch aus Gefühlen vielleicht auch daran, dass sie immer ein wenig die Mutterrolle übernommen hatte? Die Durchsage im Zug riss sie aus ihren Gedanken. Noch wenige Minuten und sie traf im Zielbahnhof ein. Mit einem Seufzen sprang sie von ihrem Sitz und begann den Koffer aus der Gepäckablage zu kramen. Endlich nicht mehr nur sitzen und warten! Endlich konnte sie ein wenig aktiv werden! Schon während der Zug die Geschwindigkeit verringerte, stand sie bereits an der Tür. Gleich war sie angekommen! Wenn nur in wenigen Tagen nicht schon wieder die ätzend lange Rückfahrt wäre… Kapitel 92: 25.3.2024: Nebelwand -------------------------------- Mit langsamen Schritten lief sie über den breiten Strand und grub bei jedem Auftreten die nackten Füße in den Sand. Das Wetter war so diesig, dass sie eine regelrechte Nebelwand vorfand, in die sie Stück für Stück immer weiter eindrang. Es war beklemmend und befreiend zugleich, nur die Geräusche um sich herum wahrnehmen zu können, während die Augen von diesem milchigen Schleier verdeckt waren. Möwen und das Meer waren zu hören, dazu der Wind, aber kein Auto und kein Mensch. Nur manchmal ertönte das Nebelhorn eines Schiffes in der Ferne. Sie bekam eine Gänsehaut, aber trotzdem lief sie weiter, bis sie die Stelle erreicht hatte, an der die Wellen nah genug waren, um leicht an ihren Zehen zu ziehen. Die klare Luft flutete ihre Lunge und ein salziger Geschmack lag auf ihrer Zunge. Für einen Moment schloss sie die Augen und zog dann ihr Smartphone hervor. Sie begann zu tippen und erschrak, als kurz nach dem Absenden ihrer Nachricht das Gerät zu vibrieren anfing und den eingehenden Anruf anzeigte. „Hi, Sven, hab ich dich etwa geweckt?“, fragte sie unsicher und hörte sein Lachen durch den Hörer. „Nein, alles gut, ich war schon wach! Außerdem hab ich nachts das Handy im Flugmodus“. Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie war erleichtert – das erste Mal in den letzten beiden Tagen, in denen sie vor allem Unruhe und Ungewissheit verspürt hatte. „Ich freu mich, dass du es ausprobieren willst, Jasmin!“, rief er aus und sie dachte daran, wie schwer ihr diese Entscheidung gefallen war. „Ja, ich mich auch“, versuchte sie ihrer Stimme so viel Freude wie möglich zu verleihen und konnte die Unsicherheit doch nicht vollends beiseite schieben. Inzwischen sah sie Sven als eine Art Freund an und befürchtete, dass eine gemeinsame Wohnung sie vielleicht entzweien könnte. Gleichzeitig hoffte sie aber auch, dass sich dadurch erstmals eine richtige und langanhaltende Freundschaft ergeben würde. „Hast du Detlef erreicht?“, fragte sie und wendete sich vom Meer ab, um langsam dem Rückweg anzutreten. „Ja“, meinte Sven und berichtete davon, wie er am vorherigen Abend kurz ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte. „Er meinte sofort, dass er definitiv nicht mehr an die Uni zurück will und ich das Zimmer problemlos weitervermieten kann“, erzählte er, während Jasmin eine Muschel aufhob, die vor ihrem Fuß auftauchte. „Und wie geht es ihm?“, versuchte sie möglichst unverfänglich zu klingen. Sven antwortete zunächst mit einem Seufzen. Sie konnte sich schon vorstellen, wie er gerade die Schultern hob. „Wirklich glücklich klang er nicht, wenn ich ehrlich bin, aber er wollte mir auch nichts Näheres erzählen.“ „Du machst dir Sorgen, oder?“ „Ja, schon. Ich werd Saskia noch mal drauf ansprechen. Wir waren zwar gestern im Kino, aber über Detlef haben wir gar nicht richtig geredet“, meinte er und Jasmin zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Oh, sie haben noch Kontakt?“, kam es schneller aus ihrem Mund geschossen, als sie darüber nachgedacht hatte. Gut, dass Sven gerade nicht sehen konnte, wie sie ertappt die Augen zusammenkniff. „Ehrlich gesagt: Keine Ahnung. Eigentlich waren die beiden auch immer die besten Freunde, darum könnte ich es mir schon vorstellen, aber ich hätte auch nie mit der Trennung gerechnet. Von daher… wie gesagt, ich werd Saskia noch mal drauf ansprechen. Aber nun lass uns lieber über deinen Umzug reden“, zog er den eigentlichen Grund für ihr Gespräch wieder in den Vordergrund und Jasmin nickte eifrig. „Ja, gern! Soll ich uns einen Kaffee und Brötchen organisieren und zu dir kommen?“, meinte sie, was Sven sogleich dankend annahm. „Super, dann bis gleich“, legte Jasmin auf und schob das Handy zurück in ihre Tasche. Sie schaute noch einmal auf die Nebelwand und betrachtete die kleinen Wassertropfen, die sich an die Härchen ihrer Gänsehaut klammerten. „Nur Mut, Jasmin, das wird schon werden“, sog sie noch einmal die frische, salzige Luft tief in ihre Lungen und schlüpfte dann in ihre Schuhe, um sich auf den Weg zu Sven zu machen. Kapitel 93: 26.3.2024: blauäugig -------------------------------- „Der Baumarkt schließt gleich. Ich muss noch mal kurz los. Kommst du solange allein klar?“, kämpfte sich Steffen durch das Chaos, das irgendwann einmal seine eigene Werkstatt sein sollte und aktuell noch Materiallager, Müllhalde und Pausenplatz während der Renovierung darstellte. „Ich schaff das schon. Bis gleich!“, bekam er die Antwort aus seinem künftigen Schlafzimmer zugerufen. „Alles klar!“, kramte Steffen die Autoschüssel zwischen Trinkgläsern und Pizzakartons hervor und verschwand aus der Haustür. Ganz wohl war ihm dabei zwar nicht, aber er wusste, dass in Kürze wieder zurück sein würde. „War vielleicht doch ein etwas blauäugiges Unterfangen, was?“, hörte er plötzlich hinter sich, als er gerade die Autotür öffnete und fuhr verwundert herum. „Cousinchen!“, rief er aus und ging mit weit geöffneten Armen auf Saskia zu, die an einen Baum nahe seines Hauses gelehnt stand. Sie lächelte und ließ sich in seine Umarmung fallen. „Hi! Ist das schön, dich mal wieder in natura zu sehen!“, meinte sie und musterte ihren Cousin, als er sie wieder los ließ. Gut sah er aus, auch wenn man ihm die Doppelbelastung aus Job und Baustelle ansehen konnte. Trotzdem thronten vor allem der Stolz und die Vorfreude auf die Fertigstellung der Renovierung in seinem Gesicht. „Du, ich muss noch mal fix los und was besorgen. Willst du mit? Dann können wir uns unterwegs unterhalten“, bot er an und Saskia kam dem Vorschlag gerne nach. „Ich wusste gar nicht, dass du her kommst“, meinte er wenige Augenblicke später, als sie auf die Hauptstraße einbogen und den Baumarkt ansteuerten. „War auch ein bisschen spontan gewesen. Ich hab ziemlich kurzfristig gebucht und darum auch eine katastrophale Strecke erwischt; mit zig Umstiegen und so weiter. Na ja, aber jetzt bin ich ja erst mal hier“, meinte Saskia und betrachtete die Umgebung, die sich gefühlt kaum verändert hatte. „Was meintest du vorhin eigentlich mit blauäugig?“, fragte Steffen und sie grinste. „Ich hab euch eine Weile durchs Fenster zugeschaut und da hast du ja noch eine ganze Menge Arbeit vor dir! Bist du immer noch so optimistisch, dass du das alleine schaffst?“, musterte sie sein Profil und musste bei seiner Antwort schmunzeln. „Ich bin ja nicht allein! Manchmal helfen mir Arbeitskollegen und dank dir hab ich jetzt doch auch noch tatkräftige Unterstützung bekommen!“. Kapitel 94: 27.3.2024: chatten ------------------------------ „Na, mit wem bist du am Chatten? Neuer Freund?“, schlich sich Steffens Stimme von schräg hinten in Saskias Ohr, während sie am Einkaufswagen stand und darauf wartete, dass er die benötigten Schrauben zusammensuchte. Sie hob den Blick von ihrem Smartphone und warf ihn biestig in seine Richtung, was Steffen jedoch eher zum Lachen brachte als einschüchtern konnte. „Sven hat gefragt, ob ich gut angekommen bin“, murmelte sie und steckte ihr Handy in die Tasche. „Dein Kumpel, der an der See studieren wollte, richtig?“, fragte Steffen ohne seine Worte mit einer Wertung zu belegen. Saskia machte eine schwankende Kopfbewegung, ehe sie Steffen die gereichten Schrauben abnahm und seine Frage beantwortete. „Na ja, ich hätte jetzt eher gesagt, dass er Detlefs Kumpel ist und für mich so was wie ein kleiner Bruder“, grinste Saskia und lachte, als Steffen bemerkte, dass sie „ja selbst nur so wenig Brüder“ habe. „Ich sammle die, wusstest du das noch nicht?“, flachste sie ihrerseits und genoss die Blödeleien mit ihrem Cousin. Die hatten ihr schon früher immer gut gefallen und er hatte auch nie ein negatives Wort über ihren Wegzug verloren; anders, als ein paar andere Mitglieder ihrer Familie. „Wie gehts ihm inzwischen?“, meinte Steffen, der Sven einige Male gesehen hatte. Mit einem Fingerzeig bedeutete er Saskia, dass sie noch hinüber zur Abteilung mit den Sanitärartikeln mussten. „Gut. Er hat sich gut eingelebt, sein Studium macht ihm Spaß und er meinte, dass er vielleicht schon einen neuen Mitbewohner hat“, erzählte Saskia, während Steffen die letzten benötigten Materialien zusammensuchte und sie dann gemeinsam zur Kasse gingen. Kurz unterbrachen sie ihr eigentliches Gespräch und wendeten sich dem Geschäftlichen zu. Steffen war sichtlich froh, dass er kurz vor Feierabend noch alles Benötigte zusammen bekommen hatte. Als alles zurück im Einkaufswagen lag und bezahlt war, konnte man ihm die Erleichterung ansehen. Schnell wünschten sie der Kassiererin einen schönen Abend und machten sich dann zurück auf den Weg zum Auto. „War ja alles ein bisschen dramatisch, was?“, hob Steffen den Gesprächsfaden wieder auf, während sie ihre Einkäufe einluden. „Du meinst, dass Detlef so plötzlich ausgezogen ist?“ Steffen nickte und Saskia tat es ihm gleich. „Ja, Sven hatte damit nicht gerechnet, das war offensichtlich. Er hatte ziemlich dran zu knabbern, was ja okay ist, aber ich hab ihm auch den Kopf gewaschen, als er anfing unfair zu reagieren“, verschränkte sie die Arme vor der Brust und schaute dabei zu, wie Steffen den Einkaufswagen zwei Meter entfernt in das dafür vorgesehene Häuschen schob. „Mittlerweile scheint er gut damit klar zu kommen“, ergänzte sie noch, als Steffen wieder direkt neben ihr stand. Der klopfte ihr auf die Schulter und meinte: „Große Schwester halt“. Kurz brachte sie der Ausspruch zum Lachen, aber sie sah ihrem Cousin auch an, dass neben dem Schmunzeln eine gewisse Ernsthaftigkeit auf seinem Gesicht lag. „Und wie geht es dir?“, fragte er schließlich und aus dem Klopfen auf ihre Schulter wurde ein behutsames Tätscheln. Kapitel 95: 28.3.2024: Frühlingstag ----------------------------------- „Das war heut ein wundervoller Frühlingstag, findest du nicht? Schade, dass es schon wieder dunkel wird“, wandte Saskia sich von Steffen ab, schob die Hände in die Hosentaschen und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den abendlichen Himmel, der in den buntesten Farben leuchtete. Steffen bedachte sie mit liebevoller Strenge. „Lenk nicht ab, Cousinchen. Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst“, ging er die drei kurzen Schritte nach und legte den Arm um ihre Schultern. Sie standen noch immer auf dem Parkplatz des Baumarkts. „Ich seh dir an, dass es dir schon mal besser ging.“ Saskia presste die Lippen aufeinander. Mit dem Anflug eines Lächelns deutete sie hinüber zu einem Stück Rasen, auf dem Krokusse zu sehen waren, doch als sie gerade auf diese zu sprechen kommen wollte, brachen die Tränen hervor. Sie ließ sich von Steffen in eine Umarmung ziehen und halten, solange sie diese Nähe und Schutz brauchte. „Danke“, flüsterte sie schließlich mit einem tiefen Seufzen und tupfte sich die Wangen ab. Steffen bedeutete ihr, mit zum Wagen zu kommen und sie nahmen wieder Platz, um ungestört und vor der aufkommenden Kühle geschützt reden zu können. „Weißt du, wir haben uns in den letzten Monaten ständig gestritten, ich war immer nur genervt von seiner Planlosigkeit und hab selbst auch drüber nachgedacht, mich von ihm zu trennen. Aber dass es jetzt wirklich so gekommen ist, tat mehr weh, als ich gedacht hätte“, brach Saskia endlich ihr Schweigen und ließ sich dabei in den Sitz sinken. „Und dann hat er mich jetzt auch noch angerufen…“ murmelte sie. „… und damit die Wunden wieder aufgerissen, hm?“, vervollständigte Steffen ihren Satz und Saskia nickte. „Es war jetzt das erste Mal, dass ich ein paar Tage nicht an ihn denken musste.“ Für einen Moment kehrte Stille ein. „Ich mag Detlef zwar, aber wenn du willst, verpass ich ihm eins auf die Nase“, meinte Steffen plötzlich und brachte Saskia damit zum Lachen. „Das ist lieb von dir, aber nein.“ Das Lächeln verflog und der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde wieder ernster. „Nein, das hat er wirklich nicht verdient“, meinte sie und zog die Knie an sich, um dann die Unterarme auf ihnen abzulegen. Das Armaturenbrett diente ihren Füßen als Stütze. „Ich hab ein paar Mal überlegt, ob die Trennung für mich einfacher gewesen wäre, wenn er es wegen einer anderen Frau getan hätte. Oder weil wir uns nicht mehr lieben“, murmelte sie und zuckte die Schultern, als Steffen fragte, ob ihr das wirklich geholfen hätte. „Dann wär die Enttäuschung vielleicht nicht so groß gewesen. Oder ich hätte wenigstens wütend auf ihn sein können, aber wie kann ich wütend auf jemanden sein, der einfach nur seinen Platz im Leben finden will? Einerseits hass ich ihn dafür, dass er unsere Beziehung beendet hat, weil er die Situation als zu große Belastung für uns beide empfindet. Andererseits…“ Saskia seufzte aus und legte den Kopf in den Nacken, bis er die Kopfstütze berührte. „Andererseits hat er das auch gemacht, um dir weiteren Kummer zu ersparen, weil die ganze Situation eurer Beziehung eh schon sehr geschadet hat“, griff Steffen ihre Worte auf und Saskia nickte. Er musterte sie und legte den Kopf schief. „Ich kenn diesen Blick. Du hast ein schlechtes Gewissen“, meinte er und gab ihr ein weiteres Taschentuch, als nach einem kurzen Nicken erneut die Tränen kullerten. „Ich hätte ihn mehr unterstützen müssen, dann wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen“, schluchzte Saskia und Steffen schaute sie fragend an. „Er hat sich neben der Uni immer wieder Nebenjobs und Praktika gesucht, um herauszufinden, was er machen möchte, aber ich hab gedacht, das wären nur Blödeleien von ihm. Dass er sich vorm Lernen drücken will und einer dieser Dauerstudenten sein will, die auf Kosten ihrer Eltern ewig an der Uni bleiben. Mir war nicht bewusst, wie ernst es ihm war und wie… unwohl er sich auch gefühlt hat. Sollte ich als seine Freundin da nicht besser erkennen, was in meinem Freund vorgeht und mehr zu ihm stehen, statt ihm auch noch zusätzlich Druck zu machen, weil ich unzufrieden bin?“ Steffen verschränkte die Arme vor der Brust und dachte einen Moment über diese Frage nach. „Verlangst du da nicht ein bisschen viel von dir? Du bist doch auch nur ein Mensch. Und so, wie ich Detlef kenne - vermutlich hat er anfangs auch gar nicht so deutlich gesagt, dass er sich in seinem aktuellen Leben ziemlich verloren fühlt, oder?“, meinte er und Saskia hob die Augenbrauen. „Verloren?“, wiederholte sie und ließ die Schultern sinken, als Steffen nickte. Nein, so deutlich hatte Detlef es ihr nicht einmal am Tag der Trennung gesagt, als sie im Park gesessen und lange darüber gesprochen hatten, wie es weitergehen sollte. „Hey, jetzt krieg nicht noch ein schlechteres Gewissen, Cousinchen! Selbst nach so vielen Jahren Beziehung kannst du ihm immer noch nicht IN den Kopf gucken. Der Junge weiß teilweise selbst noch nicht so richtig, was er will, woher sollst du das dann wissen?“, legte Steffen die Hand wieder auf Saskias Schulter und drückte sie sanft. „Trotzdem denk ich, dass ich ihm mehr hätte helfen sollen“, murmelte sie und Steffen schmunzelte. „Hast du das nicht?“ Langsam hob sie den Blick und schaute in Steffens gütige Augen. „Also, wenn ich mich richtig erinnere, war der Gute zuletzt ganz schön durch den Wind und du hast alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit er nicht auf der Straße landet, oder?“ Saskia nickte und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich bin froh, dass er sich bei mir gemeldet hat und nicht zu stolz dafür war“, meinte sie und Steffen grinste. „So stolz, wie du es vermutlich gewesen wärst?“ Beide schmunzelten für einen Moment, ehe sie anfingen zu lachen. Diese kurzen lockeren Momente zwischen den ernsten Passagen taten ihnen beiden gut. „Danke, dass du immer ein offenes Ohr für mich hast und generell für deine Hilfe“, sagte Saskia schließlich und bekam von Steffen die Haare verwuschelt. „Jetzt werd mal nicht sentimental“, grinste er und fragte, ob sie langsam den Rückweg antreten wollten. Während Saskia noch damit beschäftigt war, ihre Frisur zu richten, rollte der Wagen bereits los. „Kannst du mich gleich vielleicht an der Ecke Dorfstraße/Marktgasse rauslassen? Dann geh ich von da aus nach hause“, meinte Saskia plötzlich und Steffen hob verwundert die Augenbrauen. „Willst du nicht noch mit zu mir kommen?“, warf er ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zu und sah ihr Kopfschütteln. „Nein, das halt ich für keine gute Idee“, murmelte sie und schaute aus dem Fenster. Kurz überlegte Steffen, ob er die nächste Frage stellen sollte. „Kommst du vor deiner Abreise denn noch mal vorbei?“ Wieder schüttelte Saskia den Kopf und Steffen spürte trotz seiner Vorahnung, wie es ihm einen Stich versetzte. Er hatte seine Cousine jetzt so viele Monate nicht mehr persönlich gesehen. „Wäre wohl ein bisschen viel, was?“, meinte er und versuchte sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Falls du Montagmittag um eins zufällig am Bahnhof bist, würd ich mich sehr freuen, dir noch Tschüss zu sagen“, antwortete Saskia und Steffen gab ihr das Versprechen, dass er da sein würde. „Na, dann grüß deine Eltern und die drei Chaoten von mir und spätestens, wenn ich mit der Renovierung fertig bin, will ich dich in meiner Werkstatt sehen, okay?“, fuhr er an besagter Straßenecke rechts an und zog Saskia noch einmal in eine feste Umarmung. „Das werd ich“, versprach sie und klaute ihm die Cappy vom Kopf. „Hey!“, empörte er sich, aber Saskia war schon aus dem Wagen gesprungen. „Strafe für meine Frisur!“, grinste sie und wedelte mit der Diebesbeute. „Die kriegst du Montag wieder.“ „Wehe, wenn nicht!“, wedelte Steffen drohend mit dem Finger und beide lachten. „Noch mal danke und komm gut nach hause“, hob Saskia die Hand zum Gruße. „Ist ja nicht so weit“, grinste Steffen. "Und Cousinchen? Gib euch beiden ein bisschen Zeit, das wird schon wieder", zwinkerte er und winkte ihr dann zu, als er weiterfuhr. Im Rückspiegel konnte er sehen, wie sie ihm einen kurzen Moment nachschaute und dann in die Gasse verschwand. Die nächsten paar Minuten der Autofahrt nutzte er, um das Gespräch sacken zu lassen und obwohl er gern einen kurzen Umweg eingeschlagen hätte, fuhr er geradewegs zu seinem Häuschen zurück. „Hast du alles bekommen?“, schallte es ihm schon entgegen, als er zur Tür herein kam und erfreut nahm er den Geruch aufgewärmter Pizza wahr. „Ja, morgen kanns in alter Frische weitergehen“, meinte Steffen und schaute auf die beiden Teller, die schon parat standen. „Aber vielleicht sollten wir uns morgen mal was anderes zu essen besorgen“, ging er hinüber zum Schlafzimmer und betrachtete die Fortschritte. „Solange es in die Mikrowelle passt und sich noch mal aufwärmen lässt, ist das kein Problem.“ Steffen lachte. „Wir hausen gerade wie die Junggesellen“, lehnte er sich an die Türzarge und schaute hinüber zu der kleinen Nische, die aktuell noch als provisorische Küche diente - bestehend aus einigen Kisten mit Besteck und Tellern sowie einer Mikrowelle und dem Wasserkocher. „Na ja, sind wir doch auch“, bekam er zu hören. „Nur, dass es in Junggesellenbuden meistens noch fließendes Wasser gibt, das nicht nur aus einem Schlauch kommt.“ Steffen grinste. „Sei froh, dass du nicht im angrenzenden Fluss baden musst! Außerdem hab ich dafür auch schon was mitgebracht. Du hast beim Abschleifen echt gut vorgelegt, da können wir morgen streichen und als nächstes das Bad weiter angehen“, ging er zum Tisch und nahm Platz. „Dann kommen wir gut voran?“, konnte Steffen die Freude in den Worten hören. Er nickte und guckte mit knurrendem Magen auf die kredenzte Pizza. „Ja, du hilfst mir echt sehr!“, lächelte er und griff sich ein Stück. „Ich glaub, das ist das Mindeste, oder?“ Steffen machte eine wegwerfende Handbewegung und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Nicht zum ersten Mal ließ er den Blick über sein neues Heim schweifen und stellte sich vor, wie aus der Baustelle irgendwann ein gemütliches Zuhause und seine eigene Werkstatt würde. „Hattest du vorhin nicht noch ne Mütze auf?“, hörte er nach einem kurzen Knarren des gegenüberliegenden Stuhls und zuckte die Schultern. „Hab ich wohl mal wieder irgendwo liegen lassen. Und jetzt greif endlich zu, Detlef, sonst futter ich dir alles weg!" Kapitel 96: 29.3.2024: Heidelbeere ---------------------------------- „Ist es wirklich okay für dich, wenn ich auch manchmal her komme?“, fragte Bria, während sie mit Laurin auf der alten Holzbank saß und den Blick über den verwilderten Garten schweifen ließ. Der Anfang ihres Gesprächs war alles andere als einfach gewesen, war sie Laurin doch aus Neugierde bis zum Garten nachgelaufen und sich dann sehr ertappt vorgekommen. Erst jetzt, da sie ein paar Minuten schweigend nebeneinander gesessen und Brias Pausenbrot gegessen hatten, war ihr in den Sinn gekommen, dass er vielleicht nicht nur Ruhe vor den nervigen Mitschülern aus seiner Klasse haben wollte, sondern auch vor ihr. „Na ja, schwer zu sagen, ob du mir auf den Geist gehst. Ich kenn dich bisher ja kaum, aber vom ersten Eindruck her scheinst du ganz nett zu sein“, meinte Laurin und Bria merkte, wie ihr diese Ehrlichkeit durchaus einen kleinen Stich versetzte. Sie hatte sich immer als recht sympathisch eingeschätzt und es erschreckte sie ein wenig, dass sie Laurin das scheinbar erst beweisen musste. Wobei die aufsteigende Empörung auch schnell wieder nachließ, als sie an die vergangenen Minuten zurückdachte. „Hast recht, dich kennen inzwischen viele in der Schule, wegen der Hänseleien, aber das heißt nicht automatisch, dass du auch jeden kennst“, murmelte sie und er nickte. „Viele tun aber so“, murrte er und zeigte offenkundig seine Abneigung. „Wirst du oft von Schülern aus anderen Klassen angesprochen?“, fragte sie und nochmals nickte er. „Das allein ist nicht das Problem, aber viele machen Witze oder manche scheinen im ersten Moment nett zu sein und hänseln mich dann doch“, verschränkte er die Arme vor der Brust und beobachtete Brias Reaktion. „Bei ihr brauchst du da keine Sorgen zu haben. Sie ist ein liebes Mädchen“, brachte sich das Mäuschen ins Spiel und hüpfte auf Brias Schoß, um sich von ihr kraulen zu lassen. Bria grinste. „Hörst du?“ Laurins Mundwinkel zuckte, es war nur allzu offensichtlich, dass Bria ein ganzes Stück Arbeit vor sich hatte, wenn sie sein Vertrauen gewinnen wollte. „Mäuschen, ich vertrau dir“, murmelte er und hörte den kleinen Nager kichern. „Das kannst du auch! Ich hab extra nicht alle Heidelbeeren allein gegessen!“, meinte es und Bria konnte die Freude in Laurins Augen erkennen. „Heißt das, sie sind endlich reif?“ Voller Überraschung beobachtete Bria die aufkommende Euphorie in dem vorhin noch so zurückhaltenden Jungen. „Ja, die ersten sind soweit und richtig schön süß“, meinte das Mäuschen und Bria erschrak, als Laurin sie plötzlich anlachte. „Gibst du mir mal deine Brotdose? Dann hol ich uns welche!“, hielt er ihr die Hand hin und nach kurzem Zögern kam Bria der Aufforderung nach. Sie guckte zu, wie er tiefer in den Garten lief und wunderte sich über den plötzlichen Stimmungswechsel. Er machte sie aber auch glücklich. „Du wirst ja rot“, meinte das Mäuschen und Bria legte sich den Finger auf die Lippen, woraufhin sie ein leises Kichern hören konnte. „Sei lieb oder ich kraul dich nicht mehr“, streckte sie dem Mäuschen die Zunge raus und erschrak abermals, als Laurin sie plötzlich rief. „Oder… willst du vielleicht mitkommen und mir pflücken helfen?“, stand er einige Meter entfernt und Bria verlor keine Zeit, ihm nachzulaufen. Kapitel 97: 30.3.2024: bland - Archiv ------------------------------------- „Sie sollte in den nächsten Tagen blande Kost, also eher Mildes essen, um ihren Körper noch etwas zu schonen“, schloss der Arzt seinen Koffer und trat Adelheid entgegen. Die ganze Untersuchung über hatte sie unruhig im Türrahmen gestanden und ihn beobachtet. „Keine Sorge, es geht ihr bald wieder gut“, legte er eine Hand auf ihre, die so fest ineinander geschlungen waren, dass das Weiße ihrer Knöchel hervortrat. Noch immer schien sie besorgt. „Glücklicherweise ist es ein blander Krankheitsverlauf und es besteht auch nicht die Gefahr einer Ansteckung. Sie können Ihrer Schwiegermutter also problemlos Gesellschaft leisten, wenn Sie möchten. Jetzt schläft sie erst mal.“ Adelheid nickte und mit dem Anflug eines Lächelns führte sie den Arzt zur Wohnungstür. „Vielen Dank, dass Sie extra vorbei gekommen sind“, gab sie ihm noch einmal die Hand zum Abschied. „Dafür bin ich da“, lächelte er und zögerte, ehe er ging. Adelheid schaute ihn fragend an. „Gibt es noch etwas?“ Nun wurde sie doch wieder etwas unsicher – hatte er ihr doch etwas verschwiegen? „Wenn es nicht zu persönlich ist – wie geht es Ihnen denn inzwischen?“, fragte er und sah, wie Adelheid reflexartig zum Ehering an ihrem Finger griff und ihn leicht drehte. „Danke, gut“, zwang sie sich ein Lächeln auf und schaute hinüber zur Kommode, auf der einige Fotos standen. Der Arzt folgte ihrem Blick. „Es ist jetzt bald ein Jahr her, nicht wahr?“, hörte sie und nickte. Für sie war es immer noch so, als habe sie gerade erst von der Polizei erfahren, dass ihr Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen war. „Ich finde es bewundernswert, dass Sie sich so aufopferungsvoll um ihre Schwiegermutter kümmern“, meinte der Arzt und Adelheid zuckte die Schultern. Es gab ihrem Leben wenigstens eine Aufgabe und wo sollte Gudrun auch hin? Ins Altersheim vielleicht? Nein, das hätte Adelheid sich auch nicht für sich selbst gewünscht. „Ich glaub, die Gesellschaft tut uns beiden gut. Als sie von Ferdinands Tod erfuhr, ist sie um Jahre gealtert – da wollte ich sie nicht allein in ihrer Wohnung lassen und um ehrlich zu sein: Die paar Wochen, bis sie bei mir einzog, waren die schlimmsten meines Lebens, weil es hier plötzlich so furchtbar still war. Ich bin froh, dass ich jetzt wieder jemanden bei mir habe“, rieb Adelheid sich den Nacken und schenkte ihrem Gegenüber ein ehrliches, wenn auch trauriges Lächeln. Der Arzt nickte verstehend und trat auf den Flur. „Falls noch etwas ist, melden Sie sich gern wieder. Auch falls Sie mal ein offenes Ohr brauchen“, lächelte er und ging dann zur Haustür. Kapitel 98: 30.3.2024: wissenswert ---------------------------------- Murmelnd saß Steffen über ein Blatt Papier gebeugt, zog Striche, schrieb Zahlen und griff immer wieder zu Zirkel oder Geodreieck, bis er sich schließlich gegen die Rückenlehne seines Stuhls sinken ließ. Er hob den Blick zur Wand und seufzte zufrieden aus. „Ja, genau so will ich das Regal später haben“, verschränkte er die Arme vor der Brust und nickte. Es würde ein Meisterstück und perfekt in seine neue Werkstatt passen – auch, wenn noch einiges Wasser den Rhein runterlaufen musste, ehe er sich wirklich an die Umsetzung dieses Projekts begeben konnte. „Sieht gut aus“, stand Detlef hinter ihm und schaute ihm über die Schulter. Steffen drehte sich verwundert zu ihm um. „Wie lang stehst du da schon? Ich dachte, du wolltest die Füße hochlegen und deinen wohl verdienten Feierabend genießen?“ Sie hatten wieder den ganzen Tag über geschuftet, schubkarrenweise Steine von A nach B geschafft, Holzbalken zugesägt und sich kaum eine Pause gegönnt. Selbst Steffen sehnte sich jetzt nach einer Dusche und seinem Bett, egal, wie euphorisch ihn der Gedanke an das neue Regal auch machte. „Ich find das interessant“, meinte Detlef auf seine Frage hin und stützte sich auf der Tischplatte ab, um die Zeichnung näher zu betrachten. „Die Arbeiten am Mauerwerk sind zwar auch cool, aber das hier ist noch mal eine ganz andere Hausnummer“, murmelte er und stellte Steffen einige Fragen zu seiner Zeichnung, die dieser ihm geduldig erklärte. „Na, hoffentlich kriegen wir die Wand auch gerade genug hin, damit deine Berechnungen hinterher noch passen“, meinte Detlef schließlich und Steffen grinste. „Da geh ich aber mal von aus! Also halt dich ran“, stupste er Detlef mit dem Ellenbogen in die Seite und stand auf, um sich ein Glas Wasser zu holen. Als er zurückkam, bemerkte er die senkrechte Falte zwischen Detlefs Augenbrauen. „Was ist? Hab ich irgendwo einen Fehler eingebaut?“, stellte er sich neben den Blonden, der sogleich den Kopf schüttelte. „Sieht für mich gut aus, aber ich hab mich grad gefragt, ob ich dich da genug bei unterstützen kann. Immerhin hab ich noch nie gemauert“, seufzte er und nach einem kurzen Moment der Stille begann Steffen zu lachen. „Du machst dir grad nicht ernsthaft Sorgen darum, dass wir die Mauer nicht passend hinbekommen und das Regal dann nicht an die Wand kriegen?“ Detlef zuckte erst die Schultern, dann nickte er leicht. „Das ist erst mal nur ein Entwurf. Da ist nix in Stein gemeißelt! Bei Bedarf pass ich die Maße an. Ich habs bewusst so angelegt, das sich notfalls etwas Spiel hab“, zwinkerte Steffen und sah die Verwunderung in Detlefs Blick. „Ehrlich gesagt glaub ich eh nicht, dass wir die Mauern hier so gerade gezogen kriegen wie bei einem Neubau. Aber das macht auch nichts. Irgendwie krieg ich mein Regal schon“, grinste er. „Bewundernswert“, murmelte Detlef und schaute noch einmal auf die Skizze. „Mein Optimismus oder das Regal?“, scherzte Steffen und zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als Detlef meinte, dass er von beidem gesprochen hatte. „Ich find das toll, dass du dir einfach so aus dem Kopf ein so aufwändiges Regal konstruieren kannst. Ich könnte das nicht“, meinte Detlef und Steffen schmunzelte. „Warum solltest du das nicht können? Man kann alles lernen oder wusstest du vor ein paar Tagen schon, wie man die Armaturen im Bad anbringt?“, nahm er einen kräftigen Schluck, während Detlef den Kopf schüttelte. „Siehst du? Ich hab dir dabei nur ein bisschen Hilfestellung geleistet, aber den Großteil hast du sogar selbst hinbekommen. Wenn du willst, schaffst du es irgendwann auch, dir ein eigenes Regal oder andere Möbel zu designen. Das ist kein Hexenwerk. Ich bin ja auch kein gelernter Maurer, sondern hab mich im Vorfeld mit einigen unterhalten, was ich bei der Renovierung beachten muss. Manchmal ist es auch ein bisschen Learning by Doing und Try and Error bei solchen Projekten. Mach dir da nicht zu viele Gedanken. Im Gegenteil: Sammle einfach mal ein paar Ideen und dann quatschen wir mal darüber. Ich sag dir dann, was es Wissenswertes dazu zu wissen gibt, wenn du wirklich mal was eigenes bauen möchtest“, klopfte er Detlef auf die Schulter und hatte das Gefühl, dass dem im nächsten Moment die Augen rausfallen würden. „Im Ernst? Du würdest mir helfen, mir selbst was zu bauen?“, starrte er Steffen an und der nickte. „Klar! Aber jetzt geh ich erst mal duschen, okay?“, zwinkerte er und schlurfte ins Bad, während Detlef sich an den Tisch setzte und noch eine ganze Weile die Zeichnung studierte. Kapitel 99: 31.3.2024: putzen ----------------------------- Nach vielen Wochen der Doppelbelastung merkte Steffen inzwischen doch so langsam, wie ihm die Arbeit in der Schreinerei und an seinem Haus an den Kräften zehrten. Besonders dieser Tag hatte es in sich gehabt; nachdem er und seine Kollegen wegen eines wichtigen Auftrags Überstunden geschoben hatten, wollte er einfach nur noch nach hause und die Füße hochlegen. Nach einem kurzen Gruß zum Feierabend schlurfte er zum Parkplatz, setzte sich ins Auto und seufzte aus. „Was für ein Tag“, murmelte er und startete den Wagen. Er war lange nicht mehr so erschöpft gewesen. „Stell dich nicht so an! Gleich eine gute Tasse Kaffee und dann wird noch was an der Baustelle gemacht!“, schimpfte er trotzdem mit sich und dachte an den Spruch „Von nichts kommt nichts“. Irgendwie würde er das schon schaffen, und wenn er nur einfache kleine Arbeiten anginge, wie aufräumen oder putzen. Die mussten schließlich auch gemacht werden und obendrein wollte er Detlef seine Erschöpfung nicht merken lassen. Der hatte schon genug Selbstzweifel nach dem Rausschmiss seiner Eltern und Steffen wollte verhindern, dass er auch noch den Eindruck bekam, ihm eine Last zu sein. „Der Junge gibt wirklich sein Bestes“, dachte er bei sich, als er nach der kurzen Autofahrt vor seinem Haus parkte und aus dem Wagen stieg. „Ich glaub, manchmal weiß er gar nicht, welches Potenzial in ihm steckt“, murmelte er gedankenverloren, während er zur Haustür ging, sie öffnete und dann wie vom Schlag getroffen stehen blieb. Die Augen weit aufgerissen, starrte er auf seine zukünftige Werkstatt. „Was ist denn hier passiert?“, entfuhr es ihm atemlos und beinahe rutschte ihm der Rucksack, den er immer mit zur Arbeit nahm, aus der Hand. „Man, bist du heute spät. So viel zu tun?“, kam Detlef aus einem der anderen Räume und drückte zwei Knöpfe an dem kleinen Ofen, der inzwischen auch in ihre Kochnische eingezogen war. „Ich hoffe, die Lasagne ist nicht zu matschig geworden“, schnappte er sich Topflappen, holte die Auflaufform heraus und trug sie hinüber zum Tisch. Steffen konnte sich erst langsam aus seiner Schockstarre lösen und ging mit mechanischen Schritten durch den Raum. Alles war ordentlich gestapelt, durchgefegt, sogar der Boden geputzt. Nirgendwo schien mehr ein Staubkorn zu liegen, obwohl er am Morgen noch das Gefühl gehabt hatte, eine Müllhalde zu durchqueren, als er durch diesen Raum gewandert war. „Ist es okay, dass ich ein bisschen aufgeräumt hab?“, fragte Detlef schließlich, nachdem von Steffen für gefühlte Stunden kein Ton gekommen war. Der richtete langsam den Blick auf seinen Mitbewohner und zog die Augenbrauen hoch. „Ob das okay war?“, wiederholte er und stellte seinen Rucksack ab. Langsam bildete sich ein Lächeln auf seinen Lippen, das immer breiter wurde. „Ich hab den Raum noch nie so aufgeräumt gesehen!“ Detlef schmunzelte und nickte leicht. „Ich dachte mir, da kann ich nicht allzu viel falsch machen und es ist auch ein bisschen gemütlicher, nicht immer zwischen Steinen und alten Pizzakartons zu essen“, meinte Detlef und bat Steffen, noch kurz mit in einen der anderen Räume zu kommen. Er schob die Hände die Hosentaschen, aber Steffen konnte ihm die Nervosität an der Nasenspitze ablesen. „Was ist denn jetzt noch? Sag mir nicht, die Rückwand ist beim Wind rausgebrochen und du wolltest mich mit der aufgeräumten Bude nur ablenken“, scherzte er und seufzte doch erleichtert aus, als Detlef den Kopf schüttelte. Bei dem alten Gemäuer hätte ihn das wenig überrascht. Detlef reckte das Kinn und deutete hinüber zur gegenüberliegenden Mauer. „Ist das so okay?“, fragte er und wippte unruhig mit dem Fuß. Einen Moment lang starrte Steffen schweigend die Wand an. „Ich hab ja gestern gesehen, wie du den ersten Teil verputzt hast und…“ „… hast den Rest heute fertig gemacht“, murmelte Steffen, ehe er Detlefs Arbeit näher betrachtete. Der ging ihm nach, die Arme vor der Brust verschränkt und das Gesicht auf Steffens Profil gerichtet. Vorsichtig fuhr Steffen mit seinen Fingern über den Putz, ließ den Blick über die Wand schweifen und stemmte die Hände auf die Hüften. „An ein paar Stellen müssen wir noch etwas nachbessern, aber im Großen und Ganzen…“, er nickte zufrieden und strahlte Detlef an. Der ließ die Schultern sinken und ein klein wenig Stolz schlich sich auf sein Gesicht. „Weißt du was? Heute Abend machen wir uns einen lauen!“, zog Steffen den überraschten Detlef in eine Umarmung und klopfte ihm herzhaft auf den Rücken, während er sich für seine Arbeit bedankte. „Ach, kein Ding. Dann lass uns mal essen, bevors kalt wird“, wiegelte der ab und ging zurück in die künftige Werkstatt; mit einem Grinsen auf dem Gesicht, das Steffens in nichts nachstand. Kapitel 100: 1.4.2024: Aprilscherz ---------------------------------- Das Knallen der Autotür lenkte Detlefs Aufmerksamkeit auf sich. Er warf einen Blick auf seine Uhr: Es war noch viel zu früh für Steffen. „Hat er früher Feierabend gemacht?“, murmelte er irritiert und ging zum Fenster der Werkstatt. Bei dem, was er da erblickte, wurde ihm flau im Magen und die Farbe verschwand aus seinem Gesicht. „Guten Tag, Sohn“, hörte er nur wenige Sekunden später von der offenstehenden Haustür hinüberschallen und wendete langsam die Augen vom Wagen seines Vaters zu ihm selbst. „Hi Paps“, murmelte er und atmete tief durch. „Willst du mich nicht hereinbitten?“, fragte sein Vater und ließ einen abschätzigen Blick über die Werkstatt wandern. In seinem feinen Anzug passte er hier offensichtlich nicht hinein. „Hab ich denn ne Wahl?“, murmelte Detlef und schleppte sich hinüber zur Kaffeemaschine. „Was hast du gesagt?“, kam die harsche Nachfrage. Detlef hob die Hand und deutete zum Tisch hinüber. „Ich sagte: Setz dich, ich koch uns einen Kaffee“, log er und befüllte zwei Tassen mit Kaffeepulver, ehe er den Wasserkocher anwarf. Hinter sich hörte er das Knarren des Stuhls, aber als er sich zu seinem Vater umdrehte, sah er ihn noch immer stehend. „Du kannst dich ruhig setzen, die Stühle sind sauber“, meinte Detlef und lehnte sich an die kleine Arbeitsplatte, die die Küchenmaschinen trug. Zögerlich kam sein Vater der Aufforderung nach und nahm Platz, den Blick auf seinen Sohn gerichtet, der das Gefühl hatte, fixiert zu werden. „Was kann ich für dich tun?“, versuchte er so lässig wie möglich zu wirken, während er hoffte, dass das Gespräch nicht allzu lange andauern würde. Sein Vater lehnte sich kurz vor, um die Arme auf dem Tisch abzulegen, entschied sich dann aber doch dagegen und verschränkte sie stattdessen vor der Brust. Detlef seufzte innerlich aus. „Du scheinst nicht unbedingt überrascht zu sein, dass ich hier bin“, meinte sein Vater und Detlef zuckte die Schultern. „Überrascht dich zu sehen, schon, aber überrascht, dass du weißt, wo ich jetzt wohne? Nein, nicht wirklich. Wir sind ja nicht unbedingt in München oder Berlin, da hat sich das bestimmt längst herumgesprochen“, drehte er sich zum Wasserkocher und befüllte die Tassen. „Wohnen? Hausen trifft es wohl eher!“, zischte sein Vater, ohne dafür eine Reaktion zu erhalten. „Ich hab gedacht, das wäre ein schlechter Aprilscherz, als mir ein Kollege sagte, dass er dich in dieser Bruchbude gesehen hat!“ Detlef stützte sich kurz auf die Küchenzeile, ehe er die Tassen griff. „Das ist keine Bruchbude, sondern ein Haus, das gerade renoviert wird“, antwortete er möglichst sachlich, ehe er anfügte: „Außerdem kann dir das doch egal sein, wo ich jetzt wohne. Ihr habt mich rausgeworfen. Was juckt dich das dann noch, wo ich bleib oder was ich mache?“ Es fiel ihm nicht leicht, die Enttäuschung zu verbergen und die Kaffeetassen landeten fester auf dem Tisch, als er beabsichtigt hatte. „Meinst du wirklich, dass es mir egal wäre, was aus dir wird?!“, stand die Empörung seinem Vater ins Gesicht geschrieben und schwang in jedem seiner Worte mit. Detlef schnaufte aus. „Stimmt, ich vergaß, was sollen die Leute denken? Ich hab ja den Ruf der Familie in den Dreck gezogen. Der faule Sohn, der nichts auf die Reihe bekommt“, ließ er sich seinem Vater gegenüber auf dem Stuhl nieder und erschrak, als der beide Hände auf den Tisch haute und sich hochstemmte. „Herrgott, Detlef! Wir machen uns Sorgen, was aus dir wird! Erst schmeißt du die Uni, dann lebst du in einer Bruchbude – was kommt als nächstes?! Dass du unter einer Brücke landest?! Wie soll das nur weitergehen?!“ Detlefs Mundwinkel zuckten und in betonter Langsamkeit schob er die Hände in seine Hosentaschen, während er dem Blick seines Vaters standhielt. „Dafür, dass ich auf der Straße lande, habt ihr doch selbst gesorgt“, meinte er und beobachtete, wie der Zorn seines Vaters anwuchs. „Sollen wir das etwa auch noch unterstützen? Du bist Mitte Zwanzig und erzählst uns, dass du dich beruflich verändern willst? Was für eine berufliche Veränderung denn?! Du hast doch noch überhaupt nichts geleistet! Wenn du wenigstens dein Studium abgeschlossen hättest! Wir dachten, du würdest endlich zur Vernunft kommen, wenn wir dir den Geldhahn zudrehen!“, schnaubte er aus und stütze die Hände auf die Hüften. „Ihr habt mir gesagt, dass ich meine Sachen packen und gehen kann, wenn ich nicht mehr studieren will. Ihr habt mir noch fünfzig Euro in die Hand gedrückt, damit ich mir ein Hotelzimmer nehmen und „wieder zu Verstand kommen kann“ und das wars“, ballte Detlef die Hände zu Fäusten und war doch froh, dass sein Vater sie in den Hosentaschen nicht sehen konnte. „Irgendwann musst du mal zu Vernunft kommen!“, hob sein Vater hilfesuchend die Hände und schüttelte ungläubig den Kopf – genau wie sein Sohn. „Ich hab euch einfach nur drum gebeten, dass ich ein paar Monate in verschiedene Jobs reingucken kann, um herauszufinden, was mir wirklich liegt. Dass ich solange wieder bei euch einziehen kann, um das Geld für die Miete zu sparen und ob ihr vielleicht jemanden kennt, bei dem ich mal ein Praktikum machen kann“, spürte Detlef, dass es ihm immer schwerer fiel, den Blick auf seinen Vater gerichtet zu halten. „Hirngespinste, mehr nicht! Wofür hast du denn das Abitur gemacht, wenn du es jetzt nicht nutzt?!“, starrte der ihn genauso fassungslos an, wie an dem Abend, an dem Detlef ihm seine Entscheidung verkündet hatte. „Ich hab das nur gemacht, weil ihr mich immer dazu gedrängt habt! Ich wollte weder aufs Gymnasium noch zur Uni und das hab ich euch mehrfach gesagt!“, verteidigte Detlef sich und sprang auf, als sein Vater ihm antwortete, dass die Eltern nur das Beste für ihn wollten. „Wir haben alles getan, um dich zu unterstützen! Damit aus dir was wird!“, rief sein Vater aus. Detlef wendete sich ab, er ging einige Schritte vom Tisch weg, um seine Gedanken zu sortieren und schaffte es doch nicht, die aufkommende Wut herunter zu schlucken. „Du meinst, damit ich so wie du ende?! In die Familienfirma gedrängt, ob du wolltest oder nicht?!" "Das Studium hast du dir selbst ausgesucht! Das hatte mit unserer Firma gar nichts zu tun und hätte ihr nicht mal was genutzt!", entgegnete sein Vater und wieder schüttelte Detlef den Kopf. "Oh ja, ganz toll. Ich durfte doch nur mit Sven mit, weil ich gesagt hab, dass ich damit die Zeit überbrücke, ehe das Wirtschaftsstudium startet. Mit dem ich dann doch in die Firma gesollt hätte und genauso unglücklich wie du geworden wäre!“, fuhr er herum und brachte seinen Vater ins Stocken. „Ich bin nicht unglücklich!“, gab er schockiert zurück und Detlef stützte die Hände auf die Stuhllehne. „Ach nein? Warum beschwerst du dich dann ständig? Über die Kunden, die unfähigen Mitarbeiter, darüber, dass du ein besserer Chef wärst als Onkel Thorsten, aber gleichzeitig schon als sein Stellvertreter ständig zu irgendwelchen anstrengenden Geschäftsreisen musst?“, stierte er seinen Vater an, dem kurz der Mund aufklappte, ehe er zu einer Antwort fähig war. „Im Gegensatz zu dir hab ich wenigstens Verantwortung übernommen! Für mein Leben und meine Familie! Dank meiner Arbeit hat es euch nie an was gefehlt! Im Gegenteil! Andere können nicht aus Spaß an der Freude mehrere Semester studieren, bis ihr Wunschstudium beginnt oder sogar mir nichts, dir nichts abbrechen, weil sie meinen, dass ihnen dann keine Konsequenzen winken. Langsam gewinne ich den Eindruck, dass wir dich zu sehr verzogen haben, Detlef! Guck dir stattdessen deine Schwester an! Das hätte sie sich nie getraut!“, stemmte er die Hände auf die Hüften und sah mit Entrüstung, wie Detlef anfing zu lachen. „Da hab ich jetzt drauf gewartet!“, sprach er bitter. Er war es so leid, ständig mit seiner Schwester, der Architektin, verglichen zu werden. Der Einserschülerin mit den großen Ambitionen und der erfolgreichen Karriere samt Mann, der als Arzt arbeitete. „Gibs doch zu, ich war euch immer peinlich!“, zischte Detlef und fügte an: „Dass meine Noten nicht so gut waren, dass ich nicht so zielstrebig war, dass ich sogar pappen geblieben bin“. Sein Vater verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte energisch den Kopf. „Wir haben dich trotzdem immer geliebt und unterstützt. Dank uns standen dir alle Möglichkeiten offen! Dass du dein Leben jetzt so wegwirfst, kannst du nicht uns vorwerfen. Das hast du selbst so entschieden!“, deutete er tadelnd mit dem Zeigefinger auf seinen Sohn und konnte sehen, wie seine Worte ihm einen Stich versetzten. „Ich finde nicht, dass eine Handwerksausbildung bedeutet, dass man sein Leben wegwirft“, hörten sie plötzlich von der Haustür her und fuhren beide erschrocken herum. Steffen stand an die Türzarge gelehnt und hob die Hand zum Gruße. „Sorry, dass ich mich einmische, aber man hört euch bis nach draußen“, stieß er sich von der Zarge ab und schlenderte hinüber zur Küchennische, während Detlef den Kopf hängen ließ und sein Vater sich straffte, beschämt, dass diese Auseinandersetzung so viel Aufmerksamkeit erhielt. „Ich hab mit meinem Chef geredet, er macht die Papiere fertig und du kannst ab August anfangen“, klopfte Steffen Detlef auf die Schulter und erntete zwei erstaunte Gesichtsausdrücke. „Wie bitte?“, entfuhr es Detlefs Vater, während sein Sohn Steffen nur schweigend anstarrte. „Oh, ging es nicht gerade darum, dass Detlef eine Ausbildung zum Schreiner machen möchte?“, kratze Steffen sich am Kopf und holte dann Teller und Messer aus einer der Kisten, um die mitgebrachten Kartoffeln zu schälen. „Ihr Sohn hat wirklich ein Händchen fürs Handwerkliche und gute Leute können wir immer gebrauchen!“, grinste Steffen, während Detlefs Vater das Gesicht entgleiste. „Wir haben dich doch nicht das Abi machen lassen, damit du Handwerker wirst!“, zischte er und schwankte offensichtlich zwischen Wut und dem Versuch, die Beherrschung in Steffens Gegenwart zu behalten. „Ohne uns Handwerker hätten Sie kein Dach über dem Kopf. Schon mal drüber nachgedacht?“, meinte Steffen mit einem Grinsen, das nicht verbergen konnte, was er von Detlefs Vater hielt. Der reckte das Kinn und schürzte die Lippen. "Dieser Taugenichts wird ohnehin nach kurzer Zeit die Lust wieder daran verlieren!", knurrte er, was Steffen hingegen wenig beeindrucken konnte. „Vielleicht, weil er bisher nur Sachen machen musste, auf die er keine Lust hatte. Haben Sie ihren Sohn eigentlich mal gefragt, was ER will?“ Schnaubend drückte Detlefs Vater die Luft aus der Lunge und seine Kiefer zusammen. „Er ruht sich doch ohnehin nur auf meinem Geld aus! Das war schon immer so und wird immer so bleiben. Am Ende sind wir es dann wieder, die ihn auffangen. Sie werden schon sehen, dass er die Ausbildung genauso hinwirft wie die Uni! Setzen Sie lieber nicht zu viele Erwartungen in ihn!“, presste er hervor und wendete sich ab, als Steffen fragte, ob er zum Essen bleiben wolle. „Nein, Danke, ich habe noch Termine“, stapfte er zur Tür und hielt kurz inne. „Wenn du wieder zur Vernunft gekommen bist, weißt du, wo du uns findest, Detlef“, sprach er, ohne sich den beiden noch einmal zuzuwenden und verschwand dann mit einem „Guten Tag!“, zu seinem Auto. Das Knallen der Autotür ließ Detlef zusammenzucken und erst, als der Motor startete und der Wagen losfuhr, atmete er aus. Für einen Moment ließ Steffen ihn die Ruhe genießen, ehe er fragte, ob alles in Ordnung sei. „Tut mir leid, dass du das mitbekommen hast“, murmelte Detlef und sank auf seinen Stuhl, als die Anspannung immer mehr nachließ. Unwillkürlich begannen seine Beine zu wippen und er rang die Hände ineinander. „Wenn ich das nächste Mal früher Feierabend mach, ruf ich dich vorher an, damit ich genug zu essen mitbringe. Wär dein Vater noch geblieben, hätten unsere Kartoffeln nicht gereicht“, meinte Steffen und grinste, als Detlef ihn irritiert ansah. „Was denn? Ich bin ein guter Gastgeber!“, stupste er den Blonden in die Seite und klopfte ihm auf die Schulter. Dieses Mal fiel es ihm nicht so leicht, ihn aufzumuntern. Stattdessen saßen sie eine Weile schweigend beieinander, während Steffen sich weiter um die Kartoffeln kümmerte und Detlef vor sich hin starrte. „Sag mal… dass du mit deinem Chef geredet hast…“, begann er schließlich und Steffen rieb sich den Nacken. „Tut mir leid, wenn ich damit zu weit gegangen bin“, meinte er entschuldigend und spürte das schlechte Gewissen für die Einmischung und seine Lüge. Detlef schien aber nicht sauer oder enttäuscht, sondern nur unsicher. „Meinst du, ich kann vielleicht ein Praktikum bei ihm machen?“ Ein breites Grinsen legte sich auf Steffens Gesicht. „Ganz bestimmt! Wenn du willst, frag ich ihn morgen direkt! Und für August suchen wir wirklich noch einen neuen Azubi“, zwinkerte er und drückte Detlef lachend die Zwiebeln in die Hand, um sich vor dieser tränenreichen Arbeit zu drücken. Der war einerseits erleichtert über Steffens Angebot, andererseits aber noch immer verunsichert. „Ich will aber auch nicht, dass du schlecht da stehst, falls ich die Arbeit nicht auf die Reihe kriege“, murmelte er und erschrak, als Steffen plötzlich auf den Tisch schlug. „Jetzt hau endlich diese Selbstzweifel beiseite und lass dir von deinen Eltern nicht mehr einreden, dass du nichts auf dem Kasten hast!“, lag eine ungewohnte Ernsthaftigkeit in seinen Worten und seinem Blick. „Du hast mir in den letzten Wochen gezeigt, dass du handwerklich echt auf Zack bist, sowohl in der Praxis als auch beim Theoretischen. Ich weiß, dass du das kannst und wenn du wirklich in unserer Firma arbeiten willst, rede ich sehr gern mit meinem Chef. Aber fühl dich nicht gedrängt, okay? Mach es, weil du es willst und nicht, um deinen Eltern was zu beweisen oder mir einen Gefallen zu tun, in Ordnung?“, fixierte er Detlef und setzte sich auf die Tischkante, als der nickte und den Blick auf die Zwiebeln senkte. „Ich hab schon ein paar Mal überlegt, ob das wohl was für mich wäre“, gab er kleinlaut zu und schaute wieder hoch, als Steffen kicherte. „Mir ist dein Interesse durchaus aufgefallen", zwinkerte er und gab zu, dass er Detlef die Zeit lassen wollte, die er brauchte, um diesbezüglich auf Steffen zuzugehen. "Das war sehr nett von dir", meinte Detlef, der etwas verwundert zu dem Küchentuch schaute, das Steffen ihm hinhielt. „Hier, du Schniefnase“, zog er einen leichten Schmollmund und lachte über Detlefs genervtes Grollen. „Das sind die Zwiebeln!“ Kapitel 101: 2.4.2024: skurril ------------------------------ Gedankenverloren saß Jasmin am Fenster und ließ den Blick über die dicken, flauschigen Wolken schweifen, die gemächlich am Himmel vorbei zogen. Sie dachte an die vergangenen Wochen zurück und spürte, dass das Zusammenleben mit Sven inzwischen zur Normalität für sie geworden war. Jeder von ihnen beiden hatte so seine Eigenarten, aber bisher war nichts aufgetaucht, das ein ernsthaftes Problem beim Zusammenleben darstellte. Es war seltsam entspannt und angenehm – ganz anders als in ihrer früheren WG, bei der es teilweise auch noch im Nachgang, als klar gewesen war, dass sie ausziehen wollte, Diskussionen und Gemäkel gegeben hatte. Wenn sie daran zurück dachte, fühlte sie immer noch die große Anstrengung, die damit verbunden gewesen war und erst recht die Erleichterung, damals auf Svens Vorschlag eingegangen zu sein. Sie drehte sich langsam auf ihrem Schreibtischstuhl und betrachtete ihr Zimmer. Selbst das fühlte sich inzwischen nicht mehr sonderbar an. Wie skurril war vor allem ihre erste Nacht in diesem Raum gewesen, in dem trotz frisch gewaschener Bettwäsche noch Detlefs Duft über allem gelegen hatte? Sie hatte einige lebhafte Träume mit ihm gehabt, für die sie noch immer rot bis in die Haarspitzen wurde, wenn sie nun daran zurückdachte. Ein leichtes Bauchkribbeln stieg in ihr hoch und wie ertappt schrak sie auf, als sie die Türklingel hörte. „Hi Saskia!“, drang Svens Stimme nur Sekunden später durch die Zimmertür an ihr Ohr und Jasmin fächerte sich schnell Luft zu, um die Röte aus ihrem Gesicht zu vertreiben. Es war das erste Mal, dass Saskia die Wohnung besuchte, seit Detlef aus- und sie eingezogen war. Auch ansonsten hatten die beiden jungen Frauen sich seit dem Treffen im Café nur einmal kurz beim Einkauf gesehen und nicht mehr als einen stillen Gruß ausgetauscht. Sollte sie in ihrem Zimmer bleiben oder sich dazu gesellen? Zwiegespalten kaute sie auf ihrer Unterlippe herum und wünschte sich unwillkürlich, sie hätte sich an diesem Nachmittag irgendetwas vorgenommen, um die Wohnung frühzeitig zu verlassen. „Hey, Jasmin, willst du auch einen Tee?“, hörte sie da Sven von der Tür her und seufzte aus. Sich nach dieser Frage weiter allein zu verschanzen, kam ihr zu unhöflich vor und so öffnete sie ihm. „Ja, gern, danke“, lächelte sie und winkte Saskia zu, die es ihr gleich tat. Mit mulmigem Gefühl gesellte sie sich zu den beiden und hoffte, dass dieser Nachmittag keine bösen Überraschungen parat hielt. Kapitel 102: 3.4.2024: Sympathie - Archiv ----------------------------------------- Saskia unterhielt sich an diesem Nachmittag recht angeregt mit Sven, während Jasmin die meiste Zeit schweigend daneben saß. Noch immer war sie unsicher, wie sie mit Detlefs Exfreundin umgehen sollte. Sie machte einen sympathischen Eindruck, aber trotzdem wischte es die Umstände ihres Kennenlernens nicht hinfort. Es war eine Mischung aus Faszination für ihre Direktheit und starke Ausstrahlung und Unbehagen wegen ihrer Vorgeschichte. Mehr als ein Mal dachte Jasmin daran, wie angenehm sie es fand, Saskia in diesem Moment beobachten und besser kennen lernen zu können, ohne direkt mit ihr interagieren zu müssen. Nur Svens zwischenzeitliche Blicke auf die Uhr oder sein Handy irritierten sie. Das war normalerweise nicht seine Art. „Sag mal, langweilen wir dich?“, bemerkte auch Saskia sein Verhalten, als er abermals zur Wanduhr neben dem Fernseher schielte und ertappt zuckte er zusammen. „Was? Nein!“, hob er beschwichtigend die Hände. Es war nur allzu offensichtlich, wie peinlich ihm das ganze war. „Ich warte noch auf ein Päckchen“, gestand er und erzählte, dass es ein Buch für die Uni war. „Ich bin doch in zwei Extramodulen eingeschrieben hab das Buch dafür schon vor Wochen bestellt, aber die Lieferung hat jetzt ewig gedauert. Heute soll es eigentlich kommen“, murmelte er und kramte ein weiteres Mal sein Handy hervor. „Vorhin wurde mir noch angezeigt, dass es etwa zehn Zustellungsstopps entfernt ist“, tippte er auf das Display und ihm kurz darauf der Mund aufklappte und fast die Augen aus dem Kopf fielen, fragte Saskia, was passiert sei. „Das wurde einfach in der Poststation abgegeben!“, rief er bestürzt, als sei gerade eine Welt für ihn zusammengebrochen. „Wir haben doch die ganze Zeit hier gesessen! Da hat definitiv keiner geklingelt!“ Saskia zuckte leicht die Schultern; auch ihr war das schon mal passiert. „Dann holst du es morgen halt ab“, meinte sie und konnte seine Nervosität sehen. „Die haben wegen Umbauarbeiten ab morgen für eine Woche zu“, murmelte er und kaute auf der Unterlippe. Auf seinem Weg zur Uni kam er häufig genug an der Poststation vorbei, um das entsprechende Hinweisschild schon vor einigen Wochen entdeckt zu haben. „Na ja, die eine Woche macht doch jetzt auch nichts aus, oder?“, fragte Jasmin leise, während sie Saskias Schmunzeln verwunderte. „Weißt du was? Lauf kurz rüber und versuch dein Glück, ob sie dir das Paket fix raussuchen. Normalerweise dauert das zwar bis zum nächsten Werktag, soweit ich weiß, aber unter diesen Umständen…“, sie zuckte leicht die Schultern und rief Sven „viel Glück!“ hinterher, als er wie erwartet aufsprang und zur Wohnungstür flitzte. „Ich beeil mich auch!“, konnten die beiden jungen Frauen noch hören, ehe die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Saskia schüttelte den Kopf und lachte. „Glaub mir, er wäre zur unvorstellbaren Nervensäge geworden, wenn er jetzt noch ne Woche auf das Buch warten müsste, obwohl er es vielleicht heute noch kriegen könnte“, griff sie nach ihrem Glas und nippte daran. Jasmin zog leicht die Augenbrauen hoch, nickte aber und versuchte mit einem Lächeln zu überspielen, dass ihr die Situation jetzt etwas unangenehm wurde. Was sollte sie mit Saskia reden? „Du kennst ihn gut, nicht wahr?“, meinte sie nach einem Moment der Stille und Saskia nickte. „Er hat so seine Eigenheiten“, antwortete sie. Wieder lächelte Jasmin. „Ja, ich glaub, die haben wir alle, nicht wahr?“. Es war ein ehrlich gemeinter Einwurf ohne kritische Hintergedanken, trotzdem war Jasmin sich nicht sicher, ob sie Saskia damit auf die Füße getreten war. Sie wirkte plötzlich ein wenig unterkühlt, zuckte zur Antwort nur mit den Schultern und murmelte ein kurzes „Schon möglich“. „Ich hole uns noch etwas zu trinken“, griff Jasmin nach der leeren Wasserflasche, um sich etwas Zeit zu verschaffen. Hoffentlich wäre Sven wirklich in ein paar Minuten zurück – nahe genug lag die Poststation immerhin. Während sie die leere Flasche in die Getränkekiste stellte und im Kühlschrank nach einer neuen schaute, überlegte sie fieberhaft, worüber sie mit Saskia sprechen könnte. „Ist es eigentlich auch eine Eigenheit, dass du Sympathien für meinen Freund hegst?“, hörte sie plötzlich hinter sich, als sie die neue Flasche gerade aus dem Kühlschrank zog und ließ diese beinahe vor Schreck fallen. Wie vom Donner gerührt stand sie da, kaum fähig, sich zu bewegen und starrte zu Saskia hinüber, als diese sich neben sie an die Arbeitsplatte lehnte. Die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt und in ihrem Blick lag Abschätzigkeit. „Ich glaube, wir sollten uns mal unterhalten und ein paar Dinge klären“. Kapitel 103: 3.4.2024: Socializing ---------------------------------- Im Bademantel saß Pia an ihrem Schminktisch und stützte den Kopf auf die Hand. Ihre Lippen waren geschürzt, der Blick missmutig auf ihren Hosenanzug gerichtet. „Willst du dich nicht langsam mal anziehen?“, hörte sie vom Flur her und schaute zur Tür, als Linda darin erschien – herausgeputzt, geschminkt, frisiert und gerade noch dabei, sich die Ohrringe anzuziehen. „Ich hasse diese Jobevents. Nichts als Smalltalk, Sektgesüffel und stinkend langweilige Vorträge“, gähnte Pia und schnaubte aus. Inzwischen musste auch Hand Nummer zwei mithelfen, damit ihr Kopf nicht auf die Tischplatte knallte. Linda stützte die Hände auf die Hüften und schüttelte den Kopf. „Socializing ist wichtig! Fang lieber frühzeitig damit an, um nach der Uni erfolgreich ins Berufsleben starten zu können! Hör den Leuten zu, mach dir Notizen, versuch einen guten Eindruck zu hinterlassen und was über die Firmen herauszufinden, für die sie arbeiten. Vielleicht ermöglicht dir das, später an gute Praktika oder sogar Jobs zu kommen!“, stapfte sie zu Pias Schrank und nahm den Hosenanzug, der an eine der Türen gehängt war. „Los jetzt!“ Linda musste ihre Kommilitonin und Mitbewohnerin regelrecht in die Kleidung reinprügeln und ohne ihre helfende Hand wäre an diesem Abend wohl auch keine businesstaugliche Frisur oder gar Make-Up zustande gekommen. Als Linda mit ihrem Werk fertig war, seufzte sie dennoch zufrieden aus. „So kann man sich doch mit dir blicken lassen!“, sprach sie stolz und ignorierte gekonnt Pias Augenrollen. „Komm, wir müssen los, sonst sind wir zu spät!“, griff Linda sich ihre Tasche und Pias Hand, um beide schnellstens zum Veranstaltungsort zu bugsieren. Noch war sie nicht sicher, ob Pia keinen Rückzieher machen würde, also beeilte sie sich umso mehr. „Meine Güte, renn doch nicht so!“, schnaubte Pia und verfluchte die hochhackigen Schuhe, die sie trug. Warum bloß hatte sie sich überreden lassen, die Dinger anzuziehen? „Als ob einer auf meine Schuhe achten würde“, murrte sie und dachte sehnsüchtig an die bequemen Converse, die sie sonst immer trug. „Wenn du wüsstest!“, entgegnete Linda und blieb schließlich stehen. „Da sind wir!“, strahlte sie und schaute die Treppen hinauf, die den Eingang des Veranstaltungsgebäudes zierten. Auf diesen Abend hatte sie sich schon seit Wochen gefreut. „Wie seh ich aus?“, drehte sie sich zu Pia und schaute sie erwartungsvoll an. Die hob eine Augenbraue und erkannte erst jetzt, wie viel ihrer Mitbewohnerin wirklich an diesem Event lag. „Gut“, meinte sie verwundert und ging Linda nach, als die nach einem tiefen Durchatmen die Treppen in Angriff nahm. „Das wird super, du wirst schon sehen!“, meinte sie zu Pia und besorgte ihnen im Foyer ihre Besucherpässe. Ein junger Mann stand dort hinter dem Tresen und kreuzte eifrig die Namen der Eintreffenden ab. „Viel Spaß!“, wünschte er den beiden Frauen und lächelte auffallend fröhlich, als er von Linda zu Pia hinüberblickte. Vielleicht war Socializing doch nicht so übel? Kapitel 104: 4.4.2024: A priori ------------------------------- Während Saskia mit Jasmin zum Park ging, fühlte diese sich wie auf dem Weg zum Schafott. Die ganze Zeit überlegte sie fieberhaft, was sie sagen oder wie sie reagieren sollte und konnte gleichzeitig kaum einen Gedanken richtig fassen. Ihr Mund war ausgedörrt wie eine Wüste und ihr Herz pochte noch schneller, als Saskia vorschlug, sich auf eine etwas abgelegen stehende Bank zu setzen. „Vielleicht sollten wir doch zurück gehen, damit Sven sich keine Sorgen macht“, brachte sie schließlich hervor und bemerkte, wie Saskias Augenbrauen zuckten. „Ich hab ihm doch einen Zettel hingelegt, dass wir kurz ein paar Besorgungen machen wollen“, meinte sie und nahm Platz. Nur zögerlich tat Jasmin es ihr gleich. Sie rutschte bis an den äußersten Rand der Bank, den sandigen Boden davor nur mit den Fußspitzen berührend, die Finger in ihre Jeans gegraben und die Schultern schuldbewusst bis an die Ohren gezogen. Noch immer wagte sie nicht, Saskia direkt anzublicken, während die sie unverhohlen musterte. Dann seufzte Saskia aus und schlug die Beine übereinander. „Na ja, du streitest es zumindest nicht ab“, meinte sie und versuchte ihrer Stimme einen abgeklärten Ton zu verleihen, doch in den feinen Nuancen war rauszuhören, dass auch sie die Situation nervös machte. Sie blickte auf ihren Fuß, der immer wieder leicht zuckte. Kurz schwiegen die beiden Frauen sich an. „Wie lange geht das schon?“, fragte Saskia schließlich, nachdem Jasmin keine Anstalten machte, aus ihrer Sprachlosigkeit herauszukommen und schaute sie doch erst wieder an, als sie zur Anwort ansetzte. „Ist das wirklich wichtig?“, murmelte sie verlegen und schob die Schultern noch ein wenig näher an die Ohren. „Für mich schon“, zischte Saskia und war damit harscher als eigentlich geplant. Jasmin zuckte zusammen und linste angstvoll zu Saskia, während die sich selbst zur Raison rief – wenn sie die Wahrheit erfahren wollte, durfte sie Jasmin nicht zu sehr unter Druck setzen. „Ich bin die viele Heimlichtuerei und die Überraschungen leid. Also beantworte mir bitte die Frage“, ergänzte sie in ruhigerem Ton und Jasmin nickte verstehend. Sie atmete tief durch und gab sich einen Ruck. „Aufgefallen ist er mir schon am ersten Tag, aber… aber im Verlauf des ersten Semesters merkte ich dann, wie sehr… also… ich meine, ich hab gemerkt, dass ich ihn sehr mag“, sprach sie leise und räusperte sich. Ihr wurde abwechselnd warm und kalt und ihre Knie zitterten, weil sie am liebsten aufgesprungen und weggerannt wäre. Warum tat sich kein Loch auf, um sie zu verschlucken? Wieder erschrak sie, aber dieses Mal von Saskias tiefem, schmerzerfülltem Seufzen. „Seit dem ersten Semester schon?“, murmelte sie heiser und Jasmin sah, dass alle Farbe aus Saskias Gesicht verschwand. Es schien, als müsse sie sich jeden Moment übergeben und gleichzeitig füllten sich ihre Augen mit Tränen. Fassungslos starrte Jasmin sie an. „Ab… aber warum weinst du? Ich meine, es gab doch bestimmt noch mehr Mädchen, die ihn toll fanden, oder nicht?“, stotterte sie nervös und Saskias Augen wurden immer größer. Sie schluckte hart und stand schwankend auf. „Willst du mir grad sagen, dass er mich am laufenden Band betrogen hat und ich hab nichts gemerkt?!“, krächzte sie und drückte sich die Hand auf den Mund. Erst jetzt begann Jasmin zu verstehen. Sie sprang auf und hob beschwichtigend die Hände. „Nein, nein, nein! Dachtest du etwa, ich hätte was mit ihm gehabt?!“, rief sie schockiert und schüttelte energisch den Kopf, als Saskia ihre Frage mit einem Nicken bejahte. „Wie kommst du denn auf so was?“, konnte sie kaum begreifen, in welcher Situation sie sich gerade befand. „Ich weiß nicht mal, ob er überhaupt meinen Namen kennt, so wenig haben wir miteinander gesprochen“, rief sie aus und spürte, wie weh diese Erkenntnis tat, wenn sie sie laut aussprach. Saskia runzelte die Stirn und atmete tief durch. „Moment mal… warum hast du dich dann die ganze Zeit so komisch verhalten?“, stemmte sie die Hände auf die Hüften und musterte Jasmin, als die beschämt zur Seite blickte. „Im Café ist mir schon aufgefallen, dass du ziemlich neben der Spur warst, als wir über Detlefs Weggang gesprochen haben und vorhin hast du mich ständig gemustert, obwohl man dir anmerken kann, dass du nicht gern in meiner Nähe bist.“ Jasmin kaute auf der Unterlippe. „Du hast grad selbst gesagt, dass ich im Café ziemlich überrumpelt war. Das zeigt doch, dass ich eigentlich nicht viel mit ihm zu tun hab“, murmelte sie und nestelte an ihrer Jacke herum. Saskia war von dieser Argumentation allerdings wenig überzeugt. „Nicht, wenn du der Grund warst, warum er abgehauen ist“, verschränkte sie die Arme und wieder schaute Jasmin sie bestürzt an. „Ich würde a priori niemals eine Beziehung zerstören!“, rang sie die Hände und hoffte, dass Saskia ihr glaubte. Die war allerdings eher irritiert von Jasmins Ausspruch. „A priori?“, wiederholte sie und hob die Augenbraue. Jasmin zuckte ertappt zusammen und schalt sich selbst dafür. „Grundsätzlich… ich würde mich grundsätzlich niemals in eine Beziehung drängen oder gar versuchen, jemanden den Freund weg zu nehmen“, sagte sie kleinlaut und wartete darauf, dass Saskia sie für ihre „seltsame Ausdrucksweise“ kritisieren würde – so, wie schon so viele vor ihr. Stattdessen fragte die aber, warum Jasmin wegen Detlefs Entscheidung so erschüttert gewesen war und sich ihr gegenüber immerzu ängstlich zeigte. „Ist das denn nicht offensichtlich?“, murmelte Jasmin und setzte sich wieder. „Nein, erklär es mir“, meinte Saskia und tat es ihr gleich. „Weil es mir peinlich ist. Ich wusste zwar lange nicht, dass er eine Freundin hat, aber das ändert nichts daran, dass ich für ihn schwärme, obwohl er vergeben ist und jetzt stell ich mich auch noch so blöd dabei an, dass es dir sogar aufgefallen ist. Genau das wollte ich eigentlich verhindern“, nuschelte sie und sank in sich zusammen. Saskia lehnte sich an die Rückenlehne und betrachtete die Wolken. „War… vergeben war. Wir sind nicht mehr zusammen, schon vergessen?“, sagte sie fast gedankenverloren und war unschlüssig, ob die Aussprache mit Jasmin sie glücklich machen sollte oder nicht. Noch immer verstand sie Detlefs Entscheidung nicht in Gänze. Die Uni abzubrechen war eine Sache, aber warum die Trennung von ihr, obwohl er gesagt hatte, dass er noch etwas für sie empfinde? Warum wollte er diesen Weg ohne sie gehen? Sie hätte ihn unterstützt, das war doch spätestens bei ihrer Hilfe mit Steffen deutlich geworden! Und trotzdem hatte Detlef sie nicht gefragt, ob sie zu ihm zurückkäme. Das tat fast noch mehr weh als die Trennung selbst. „Du… vermisst ihn, oder?“, fragte Jasmin vorsichtig und Saskia nickte. Jasmin gab sich einen Ruck. „Ich find es faszinierend, wie stark du bist“, meinte sie und Saskia schaute sie überrascht an. „Ich hab dich vorhin beim Gespräch mit Sven so beobachtet, weil ich es toll finde, wie direkt und offen du bist“, gab sie zu und schämte sich im nächsten Moment dafür. Saskia schenkte ihr aber ehrlichen Dank dafür. „Du hast nicht viele Freunde, oder?“, fragte sie und Jasmin schüttelte den Kopf. „Merkt man mir da so leicht an?“ Saskia grinste. „Du wohnst freiwillig mit Sven zusammen und der kann eine ganz schöne Nervensäge sein!“, lachte sie und Jasmin zuckte die Schultern. „Ich finde ihn sehr nett. Er nimmt mich, wie ich bin und mäkelt nicht ständig an mir herum. Im Gegenteil, er ermutigt mich sogar, mehr aus mir heraus zu gehen.. aber nicht so drängend, wie die andren immer. Und es ist bei ihm deutlich ruhiger. Vorher hab ich mit drei anderen Mädels in einer WG gewohnt.“ Saskia hob die Augenbrauen und seufzte aus. „Muss nicht immer schlecht sein, aber du klingst so, als wäre das ein ziemlicher Zickenhaufen gewesen.“ Jasmin nickte und hob die Füße auf die Bank, um ihre Knie mit den Armen zu greifen. Kurz erzählte sie Saskia das, was sie auch schon Sven über ihre WG berichtet hatte. „Ehrlich gesagt war ich nicht sicher, ob ich mir einen Gefallen tu, wenn ich Svens Angebot annehme und bei ihm einziehe, aber inzwischen bin ich echt froh darüber“, schloss sie die Erzählung ab und sah Saskia verständnisvoll nicken. „Jetzt weißt du, warum ich mir direkt eine eigene Bude genommen habe“, meinte die und schob die Hände in die Jackentaschen. Jasmin nickte, aber sie wusste auch, dass sie das nicht schaffen würde, neben der Uni noch ausreichend viel zu arbeiten, um sich eine eigene kleine Wohnung leisten zu können. Ihr Studentenjob schlauchte sie so schon und der hatte noch den Vorteil, dass sie ihre Dozenten bei Recherchen und ähnlichem unterstützte, sodass ihr das gesammelte Wissen auch beim Studium half. Wieder merkte sie, wie sehr sie Saskia beneidete. Sie schien so viel Stärke zu besitzen, so viel Mut und Durchsetzungswille und auch wenn es schmerzte, musste Jasmin sich eingestehen, dass sie Detlefs Entscheidung zur Trennung nicht verstand. „Die Trennung ist bestimmt schon schwierig genug. Tut mir leid, dass ich das durch mein Verhalten noch verschlimmert habe“, sagte sie schließlich und schaute schüchtern zu Saskia, die ihr ein Lächeln schenkte. „Wir können ja nichts für unsere Gefühle“, meinte sie mit einem leichten Schulterzucken. Auch bei anderen Mädchen hatte sie es schon mitbekommen, wenn sie für Detlef schwärmten, aber es war eine andere Situation gewesen. „Vielleicht hab ich vor Eifersucht auch ein bisschen überreagiert.“ Jasmin war unschlüssig, was sie darauf sagen sollte und Saskia merkte ihr das an. „Du hast noch nicht so viel Erfahrung in Beziehungsdingen, oder?“, meinte sie und überraschte Jasmin wieder einmal mit ihrer Direktheit. „Nein, eigentlich noch gar nicht…“, gab sie zu und überlegte, ob es noch peinlicher werden könnte, als es eh schon für sie war. „Ich hab immer diese Liebesgeschichten in Romanen und Filmen gesehen und mir das auch gewünscht, aber bisher hat es sich nicht ergeben“, murmelte sie und verschwieg dabei, dass sie sich auch immer solche Freundschaften wie in diesen Geschichten gewünscht hatte. Saskia schmunzelte, aber sie verkniff sich das Lachen. „Glaub mir, an diesem Kitsch solltest du dir kein Vorbild nehmen! Es sieht immer alles so toll aus, aber wie viel Arbeit eine Beziehung auch bedeutet, wird oft genug gar nicht gezeigt“, überschlug sie wieder die Beine und stützte einen Ellenbogen auf dem Oberschenkel ab, um ihren Kopf in die Hand zu lehnen. Jasmin schaute sie zweifelnd an und legte die Stirn in Falten. „Aber es ist doch nicht alles nur Fiktion“, murmelte sie nachdenklich. „Nicht alles, aber vieles. Und vor allem sieht man in den meisten Filmen nur den Weg hin zur Beziehung und nicht die Beziehung selbst. Oder wie sich die Paare wieder zusammenraufen, sich nach Jahren wieder treffen und alte Gefühle aufflammen und so weiter – das sind alles nur Momentaufnahmen, unterlegt von passender Musik und ins richtige Licht gesetzt. Das solltest du dir immer vor Augen halten“, sagte sie ohne Wertung und ergänzte: „Und dass es wichtig ist, die Menschen kennen zu lernen und nicht nur von dem Bild auszugehen, das man sich von ihnen gemacht hat.“ Jasmins schuldbewusster Blick bestätigte Saskias Vermutung, dass sie nun endlich verstanden hatte, was ihre Gesprächspartnerin in Bezug auf Detlef bewegte: Sie war verknallt in ein Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte und kannte den echten Detlef dabei kaum. „Ist gar nicht so einfach, wenn man nicht viele zwischenmenschliche Beziehungen hat“, murmelte Jasmin und schaute hoch, als Saskia aufstand. „Vielleicht nicht einfach, aber etwas, das sich lernen lässt“, bot sie Jasmin die Hand an und zog sie auf die Füße. „Ich finde, nach dem unglücklichen Start war das ein gutes Gespräch, meinst du nicht auch?“, fragte Saskia und lächelte zufrieden, als Jasmin mit einem ehrlichen Nicken antwortete. „Das können wir ja weiter ausbauen. Aber jetzt lass uns zurück gehen, bevor Sven noch einen Suchtrupp aufstellt“, sagte sie mit einem Zwinkern und brachte Jasmin sogar zum Lachen. „Gern, aber wir dürfen nicht vergessen, noch eine Kleinigkeit zu kaufen – als „Besorgung“. Saskia nickte anerkennend – diese Richtung, in die es sich jetzt bewegte, gefiel ihr deutlich besser, auch wenn sie bei Detlef noch immer nicht richtig weiter war. Sollte sie versuchen, die Beziehung zu retten oder endgültig mit ihr abschließen? Kapitel 105: 5.4.2024: Pop-Up - Archiv -------------------------------------- „Übertreibst du nicht ein bisschen?“, schlurfte Pia mit einem Kaffee bewaffnet in Lindas Zimmer und ließ sich auf deren Bett sinken. Schon seit Stunden saß Linda über ihrer Präsentation, zeichnete, schnitt und klebte. „Das sind nur Handouts, die schmeißt eh die Hälfte von uns nach dem Seminar sofort in den Papierkorb“, setzte Pia sich in den Schneidersitz und nippte unbeeindruckt an ihrer Tasse, als Linda sich mit biestigem Blick zu ihr drehte. „Mag sein, dass unsere Kommilitonen das nicht zu schätzen wissen, aber der Dozent ganz bestimmt!“, zischte sie und machte sich wieder an die Arbeit. „Und deshalb bastelst du Pop-Ups für den kompletten Kurs?“, hob Pia die Augenbraue und dachte darüber nach, wie groß manch anderer Studiengang war – ihrer fiel mit rund hundert Studenten da noch vergleichsweise klein aus und trotzdem hätte sie sich diese Extraarbeit nicht machen wollen. Linda grinste allerdings und lehnte sich süffisant auf dem Stuhl zurück. „Natürlich nicht! Wenn ich die Zettel verteile, achte ich selbstverständlich darauf, dass die Version mit dem Pop-Up bei Herrn Schmidtmeier landet“, hielt sie ihr gebasteltes Werk zufrieden hoch und betrachtete es. Noch immer war Pia nicht ganz überzeugt. „Aber was hast du dann die letzten Stunden über gemacht?“, stand sie auf und trat an den Schreibtisch. Das Pop-Up sah durchaus gut aus, aber warum brauchte man so lange dafür? „Weil ich es perfekt haben wollte!“, knurrte Linda und Pia erhaschte einen vielsagenden Blick auf deren Papierkorb, in dem sich die Fehlversuche stapelten. Sie hob die Augenbrauen und seufzte aus. „Wenn du meinst…“, murmelte sie und verkniff sich jeden weiteren Kommentar. „Guck mal, ich hab das auch in die Präsentation eingebaut“, deutete Linda auf ihren Laptop und öffnete das entsprechende Programm. Stolz sah sie, dass das digitale und das gebastelte Pop-Up einander am Ende sehr ähnlich geworden waren. „Hoffentlich zahlt sich die ganze Mühe am Ende wirklich aus“, zuckte Pia leicht die Schultern und nippte abermals an ihrer Tasse. Kapitel 106: 5.4.2024: Wetterwechsel ------------------------------------ Platt wie eine Flunder lag Steffen auf seinem Bett und lauschte darauf, wann das angekündigte Gewitter endlich in seine Nähe zöge. In den vergangenen Wochen waren die Bauarbeiten gut voran gegangen und Detlef bei der Arbeit immer selbstständiger geworden. So manches Mal hatte er ihn mit seinen Fähigkeiten überrascht - auf der Baustelle und auch beim Praktikum in der Schreinerei. Da konnte Steffen jetzt auch mal guten Gewissens den Tag über ausspannen – wobei können hier das falsche Wort war: Seit einer Woche war es immer schwüler und wärmer geworden und sein Kreislauf an diesem Tag vollends an seine Grenzen gekommen. Ihm war, als hätte er zu tief ins Glas geschaut und bei jedem Schritt schwankte der Raum um ihn herum. „Und der geht auch noch Joggen“, murmelte beim Gedanken an Detlef und legte sich beide Unterarme über das Gesicht. Er sehnte den angekündigten Wetterwechsel so herbei! Seit drei Tagen immer wieder die Ankündigung und doch war kein Regentropfen vom Himmel gefallen. „Hast du dich in der Zwischenzeit überhaupt mal bewegt?“, hörte er eine Weile später als Detlef zurückkam. Verschwitzt und schnaufend stand er in der Tür, aber auch ein zufriedenes Grinsen lag auf seinem Gesicht. Steffen linste zu ihm hinüber und schürzte die Lippen. „Du mit deinem jugendlichen Elan“, knurrte er und schloss wieder die Augen. Detlef lachte und holte den beiden etwas zu trinken aus dem Kühlschrank – wie gut, dass der nun auch endlich zur Einrichtung gehörte! „Als ich auf dem Berg war, konnte ich in der Ferne schon dunkle Wolken sehen. Bald bist du erlöst“, grinste er und nahm neben Steffen Platz. „Den Berg bist du auch hoch?!“, meinte der ungläubig und ließ sich zurück ins Kissen fallen, kaum, dass er einen Schluck aus seiner Wasserflasche genommen hatte. „Tja, alter Mann, ich bin halt noch jung und knackig!“, schmunzelte Detlef und sprang lachend davon, als Steffen ein Kissen nach ihm warf. „Ich geb dir gleich alter Mann! Die zehn Jahre Unterschied!“, zeterte er und brummte, als das Bett wieder anfing, im Kreis zu fahren. „Na toll, du Arsch, jetzt ist mir schlecht.“ Detlef warf ihm einen gespielt mitleidigen Blick zu und verschwand unter die Dusche, während Steffen schwerfällig nach seinem Handy kramte und in Zeitlupe anfing, darauf zu tippen. Macht dir das Wetter auch so zu schaffen? »Frag nicht… « Hier solls wenigstens nachher regnen!! »War vorhin schon am Strand; tat gut, aber in meiner Bude verreck ich fast… « Kauf dir ein Hausboot :D »Idiot« Steffen kicherte und legte das Handy beiseite. Wenigstens war er nicht allein mit der Wetterfühligkeit. Sie gehörte gewissermaßen zum Familienerbe; fast jeder seiner Verwandten hatte in irgendeiner Weise damit zu kämpfen. „Na? Gehts wieder?“, stand Detlef erneut in der Tür, ein Handtuch um die Hüften gewickelt und mit dem anderen die Haare trocken rubbelnd. Steffen musterte kurz den durchtrainierten Anblick und nickte dann in Richtung Fenster. „Hast du das eigentlich gesehen?“, meinte er und Detlef folgte seinem Blick. „Was denn?“, fragte er und wollte gerade hinübergehen, als er ein Knipsen hörte. Mit breitem Grinsen lag Steffen da und tippte eifrig auf seinem Handy. „Hast du mich grad fotografiert?!“, entfuhr es Detlef, der alarmiert zu Steffen hinübereilte, als der mit einem „Worauf du einen lassen kannst!“, antwortete. „Los, gib her! Wem schickst du das?!“, riss er ihm das Handy aus der Hand, aber es war schon zu spät: Steffen hatte das Bild bereits verschickt. „Ups“, schmunzelte er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Detlef starrte auf den Chatverlauf und linste dann Steffen hinüber. „Was soll das?“, meinte er und seufzte aus, als er die Antwort las: »???« Offensichtlich war er nicht der Einzige, der Steffens Aktion wenig lustig fand. „Tja, zumindest weiß der alte Mann, wie er mit einem Handy umgehen kann“, grinste der Dunkelblonde und setzte sich auf, als Detlef seinerseits etwas tippte, ehe er Steffen das Smartphone auf den Schoß warf. „Ich zieh mich an, bevor du mich beim nächsten Feuerwehrkalender anmeldest“, verschwand er aus dem Zimmer und Steffen las, was er geschrieben hatte: Deinem Cousin ist die Hitze wohl zu Kopf gestiegen. Sorry. Saskias Antwort war nicht minder begeistert: »Wie gesagt: Idiot!« Steffen grunzte. Unverschämtes Pack! Lange schmollen wollte er allerdings nicht, denn ihm fiel auf, dass Detlef Saskias Frage nicht mehr gesehen hatte, wie es ihm inzwischen ginge. Unschlüssig starrte er auf die Nachricht und seine Finger schwebten über dem Display. »Hats dir die Sprache verschlagen? « Er seufzte. Hat sich aus dem Staub gemacht. Ist zu schüchtern in der Nähe von Kameras, der Junge. »Na dann. Muss jetzt auch los, bin nachher noch verabredet und will nicht aussehen wie gekaut und ausgespuckt. « Hört, hört! Wer ist denn der Glückliche? ;) »Geht’s dich was an? :P Bis die Tage und lass dich nicht vom Blitz erschlagen! « Wieder schaute Steffen ratlos auf das Display und seufzte aus, als er Saskia nach einigem Zögern viel Spaß wünschte und erkennen musste, dass sie den Chat mit ihm wohl bereits geschlossen hatte. Er rieb sich das Kinn und lauschte dem Donnergrollen, das immer näher kam. „Tja, Kumpel, wenn du da mal nicht eine riesige Dummheit gemacht hast“, murmelte er und legte sein Handy beiseite, als Detlef durch den Flur rief, ob er was essen wolle. „Ich bleib heut bei Flüssignahrung“, quälte er sich aus dem Bett und wankte zu seinem Mitbewohner, der ihn irritiert musterte. „Ists so schlimm? Du siehst ja noch übler aus als vorhin“, ging Detlef zu ihm und griff seinen Arm. „Jetzt behandelst du mich aber wirklich wie einen alten Mann!“, lachte Steffen und machte sich los. Bis zum Küchentisch schaffte er es schon noch alleine! „Na, ich möchte Saskia nicht schreiben müssen, dass ihr Lieblingscousin eine Bauchlandung hingelegt hat, während ich direkt daneben stand“, meinte Detlef und lehnte sich neben ihm an den Tisch. Wieder wurde Steffens Blick ernster und er schaute den Blonden direkt in die Augen. „Willst du sie eigentlich zurück?“ Kapitel 107: 6.4.2024: reglementieren ------------------------------------- Wutentbrannt stapfte Linda die Straße entlang und konnte gar nicht erwarten, die Uni immer weiter hinter sich zu lassen. Sie kämpfte gegen Tränen der Enttäuschung an und wollte gleichzeitig nicht, dass man ihr ansah, wie gekränkt sie war. Pia lief einige Meter hinter ihr. Sie wollte ihr Abstand lassen, aber sie auch trotzdem im Blick behalten. Schließlich kam Linda an der Bushaltestelle zu stehen und guckte ungeduldig in die Richtung, aus der ihr Bus kam, während sie immer wieder versuchte, die Tränen weg zu blinzeln. „Sollen wir einen Abstecher in eine Bar machen oder vielleicht mal den Weg komplett zu Fuß zurücklegen?“, stellte Pia sich nur wenig später neben sie. Noch immer knirschte Linda mit den Zähnen und schnaubte. Sie musterte Pia, dann die anderen Leute an der Haltestelle. „Ja, lass uns gehen“, presste sie heraus und stapfte wieder los. Offensichtlich waren es ihr bei näherer Betrachtung zu viele Menschen, die womöglich mitbekämen, wie sie doch noch losschluchzen würde. Dieses Mal ging Pia schneller, um mit ihr Schritt halten zu können. „Ich hab mir so viel Mühe mit dem Pop-Up gegeben!“, fing Lindas Wut langsam an, sich ein Ventil zu suchen. „Na ja, gesehen hat er es“, murmelte Pia und erntete einen eisigen Blick von Linda. „Ja! Er hat es gesehen, die Stirn gerunzelt und mich hinterher gefragt, ob ich auch ein Handout ohne so viel Tamtam hätte!“, knurrte sie und ballte die Hände zu Fäusten. Pia schwieg. Sie hatte auch gehört, wie der Dozent zu Linda meinte, dass die Ausfertigung von Präsentationen und deren Handouts bekanntermaßen reglementiert sei. Ihm war die Irritation deutlich anzusehen gewesen, weil Linda, die sich sonst immer so kleinlich an die Vorschriften hielt, plötzlich versuchte, auf diese Weise herauszustechen. „Deshalb wird er dir aber bestimmt keine schlechtere Note geben“, versuchte sie Linda zu beschwichtigen, was ihr allerdings nicht gelang. „Das wäre auch noch der größere Witz! Inhaltlich gab es ja wohl nichts auszusetzen! Meine Präsentationen sind immer hervorragend; ich wollte einfach nur ein kleines Extra einbauen! Das war so viel Arbeit und der wertschätzt die nicht mal!“, zischte sie und Pia seufzte innerlich aus. In ihren Augen war Linda manchmal einfach zu verbissen bei der Sache. Sie nannte es "ein kleines Extra" und gleichzeitig dachte Pia daran, wie lange sie daran gesessen hatte, es anzufertigen. Für sie stand das in keiner Relation zu einander und sie konnte sich lebhaft vorstellen, dass Studenten wie Linda vielleicht sogar ein Grund waren, warum es gewisse Regeln zur Einheitlichkeit gab - schließlich sollte neben einer sauberen Präsentation doch vor allem deren Inhalt im Fokus stehen und es nicht zu einem Wettbewerb werden, wer die schönste Dekoration bastelte. "Vielleicht solltest du überlegen, noch ein Designstudium anzuhängen. Da legen die bestimmt mehr Wert auf solche Extras", murmelte sie etwas gedankenverloren und presste sogleich die Lippen aufeinander, als Lindas wütender Blick sie traf. Den Rest des Weges verkniff Pia sich weitere Kommentare und hoffte, dass Linda der Fußmarsch gut täte, um ein wenig Dampf abzulassen. Kapitel 108: 7.4.2024: widmen ----------------------------- „Willst du sie eigentlich zurück?“, hatte Steffen geradeheraus gefragt und beobachtete nun Detlefs Reaktion. Ein gewisser Unwille lag in seinen Zügen, aber galt der Saskia, der Frage oder dem Fragenden selbst? Der Blonde verschränkte die Arme vor der Brust und stieß sich vom Tisch ab, an den er sich gerade erst gelehnt hatte. „Was ist heute los mit dir? Erst die Aktion mit dem Foto, dann jetzt diese Frage – was soll das?“, ging er zu den Lebensmittelvorräten und fing an, sich der Vorbereitung des Abendessens zu widmen. Inzwischen hatten immer mehr frische Lebensmittel Einzug gehalten, genauso wie ausreichend Vorräte von Reis, Nudeln und anderem, um nicht alle zwei Tage frisch einkaufen zu müssen – obwohl ihm gerade das im Moment vielleicht sogar ganz lieb gewesen wäre, um der Situation zu entkommen. „Ich hab mich nur gefragt, wohin das mit euch beiden eigentlich führen soll. Willst du wieder eine Beziehung mit ihr eingehen? Willst du nur mit ihr befreundet sein? Willst du so weit wie möglich gar keinen Kontakt mehr mit ihr? Was willst du?“, heftete Steffen seinen Blick auf Detlefs breites Kreuz, während der ihm den Rücken zudrehte und keine Anstalten machte, das zu ändern. „Ich weiß, du bist ihr Cousin und du meinst es gut mit ihr. Und du weißt hoffentlich, wie dankbar ich für deine Hilfe bin, aber ehrlich gesagt: Das geht dich nichts an“, sagte Detlef und widmete sich den Vorratsdosen, um Pilze und Mais herauszusuchen. Er war es leid, dass ständig jemand aus der Familie oder dem Freundes- und Bekanntenkreis Fragen und Äußerungen zu seinem Liebes- und Arbeitsleben fallen ließ. Seit der Trennung und seinem Umzug schien jeder von ihm zu erwarten, dass er sich für seine Entscheidung rechtfertige oder sich ungefragt die Meinungen anderer anhörte. Steffen schwieg. Er schwieg auch dann noch, als Detlef ihn fragte, ob sie noch irgendwo Curry hatten. Der Blonde seufzte aus und drehte sich endlich wieder zum Tisch um. Noch immer keine Antwort, sondern nur Steffens eiserner Blick. „Tut mir leid, wenn dich das vor den Kopf gestoßen hat, aber das geht nur Saskia und mich was an. Also? Weißt du, ob wir noch Curry haben?“, lehnte Detlef sich an die Arbeitsplatte und stützte die Hände auf ihr ab. Steffen begann, mit dem Finger auf die Tischplatte zu tippen und nickte dann langsam. „Im Kühlschrank“, murmelte er und erhob sich, während Detlef sich weiter ums Essen kümmerte. Er hielt kurz inne, als Steffen wieder in sein Zimmer verschwand. Ein wenig meldete sich das schlechte Gewissen und doch versuchte er sich zu sagen, dass er richtig gehandelt hatte – etwas, das ihn noch immer einiges an Überwindung und Überzeugungsarbeit kostete. „Wenn zwischen Saskia und dir alles geklärt ist, störts dich ja auch nicht, dass sie wieder auf Dates geht, richtig?“, ertönte es plötzlich hinter ihm und er erschrak. Lag es daran, dass er Steffen nicht hatte zurückkommen hören oder an dem, was der gesagt hatte? Mit großen Augen starrte er Saskias Cousin an, während der sich neben ihn stellte und auf sein Handy schaute. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihr gerade viel Kontakt miteinander habt. Vielmehr hab ich den Eindruck, dass du ihr seit Wochen aus dem Weg gehst – was okay ist, wenn du das wirklich willst.“ Er hob den Blick und schaute Detlef fest an. „Wenn du kein Interesse mehr an einer Beziehung mit ihr hast, bin ich damit völlig fein. Aber ich hab bei dir eher das Gefühl, dass du noch sehr viel für sie empfindest und gerade nicht merkst, wie dringend du ins Handeln kommen solltest, wenn du noch eine Chance bei ihr haben willst“, hielt er Detlef sein Handy unter die Nase und zeigte ihm den Teil des Chatverlaufs, in dem Saskia von der Verabredung erzählt hatte. „Vielleicht trifft sie sich mit einer Freundin“, murmelte der heiser und räusperte sich. „Wir… wir machen doch eigentlich nur eine Pause“, ließ er den Blick zu Boden wandern, als Steffen sein Handy wieder einsteckte. „Hast du ihr das auch so gesagt?“, fragte der und Detlef hob leicht die Schultern. „Ich hab ihr gesagt, dass ich gerade Zeit brauche, um herauszufinden, was ich will und dass ich mir über Vieles Gedanken machen muss, wie es weitergehen soll“, murmelte er. „Klingt für mich nicht unbedingt nach einem Lass uns eine Pause machen, sondern eher nach einem Gut möglich, dass ich bei meiner Grübelei auch erkenne, dass es mit uns nicht mehr passt“, verschränkte Steffen die Arme vor der Brust und betrachtete mit strengem Blick, wie Detlef sich zum Stuhl schleppte und darauf nieder ließ. Er schüttelte den Kopf und rieb sich das Gesicht. „Ich hab mich vielmehr gefragt, ob ich überhaupt noch der Mann bin, den sie will“, glich seine Stimme einem Flüstern. Steffen runzelte die Stirn. Er ging ihm nach und setzte sich ihm gegenüber. „Wie meinst du das?“ Detlef schaute auf seine Hände, die er auf seinem Schoß ruhen ließ. Schwielig und kräftig waren sie geworden. Von dem angehenden Akademiker sah er längst nichts mehr beim Blick in den Spiegel. „Na ja, ich hab mich in der letzten Zeit ziemlich verändert. Gut möglich, dass sie mich jetzt nicht mehr will… aber ich weiß nicht, wie gut ich damit gerade umgehen könnte. Weißt du… Ich wollte einerseits herausfinden, wer ich bin, aber andererseits dann auch zu ihr zurückkehren und ihr zeigen, dass ich endlich was aus mir gemacht hab. Dass auf mich Verlass ist und ich halt kein… Traumtänzer bin.“ Steffen rollte mit den Augen, als Detlefs Worte ihn an die Auseinandersetzung mit dessen Vater erinnerten. „Inzwischen hab ich den Plan gefasst, dass ich nach Beginn der Ausbildung zu ihr gehe und ihr sage, dass ich nun ein Mann bin, auf den sie stolz sein kann. Dass ich vielleicht noch nicht allein für eine Familie sorgen, aber sie zumindest unterstützen kann. Dass es mir wirklich ernst ist mit dem, was ich jetzt beruflich mache", sprach Detlef weiter und einen Moment saßen die beiden Männer schweigend beieinander, um ihren Gedanken nachzuhängen. Dann runzelte Steffen plötzlich die Stirn und schaute Detlef irritiert an. „Hast du gerade Familie gesagt?“, fragte er und hob die Augenbrauen, als Detlef leicht nickte. „Wir hatten zuletzt viele Schwierigkeiten und müssen an der Beziehung arbeiten – auch ein Grund, warum ich dachte, dass uns etwas Abstand vielleicht ganz gut täte, um die Gemüter zu beruhigen – aber trotzdem stand für mich immer fest, dass sie die Frau ist, mit der ich mein Leben verbringen und eine Familie gründen will“, hob er den Blick zu Steffen, dem das Gesicht merklich entgleiste. „Und hast du ihr das auch mal so gesagt?!“, rief er entgeistert aus – wohl wissend, wie unglücklich und unsicher Saskia durch Detlefs Verhalten war. Der aber schüttelte leicht den Kopf und rieb sich den Nacken. Nur langsam konnte er sich eingestehen, dass er bislang nicht den Mut aufgebracht hatte, ihr das alles zu sagen – aus Angst, völlig zu zerbrechen, wenn sie abgelehnt hätte auf ihn zu warten. „Irgendwie hatte ich damals plötzlich das Gefühl, dass mir alles zu viel wird. Dass ich keine Luft mehr bekomme und weg muss, aber ich wollte auch nicht sang- und klanglos verschwinden und hab erst mal nur gesagt, dass ich Zeit für mich brauch“, zuckte Detlef die Schultern und Steffen betrachtete ihn. Er wusste noch gut, wie Saskia ihn nach der Trennung tränenüberströmt angerufen hatte und auch, was für ein Häufchen Elend Detlef an dem Abend gewesen war, an dem seine Eltern ihn rausgeschmissen hatten. So wütend ihn Saskias gebrochenes Herz auch gemacht hatte, war Detlef in seinen Augen eigentlich immer ein feiner Kerl gewesen – einer, der sich manchmal aber auch selbst im Weg stand, wie er damals schon vermutet hatte und auch jetzt wieder dachte. „Ich glaub, ich hab nicht damit gerechnet, dass sie so schnell über mich hinweg kommt“, sprach der nun weiter und Steffen platzte der Kragen. „Wie blöd bist du eigentlich?!“, fuhr er ihn an und schüttelte fassungslos den Kopf. „Sie ist nicht über dich hinweg, sie hängt inzwischen seit gut vier Monaten in der Luft und fragt sich, wie es weitergehen soll! Du kriegst ja den Mund nicht auf, um das zu erzählen, was du mir gerade gesagt hast!“, stand er auf und stützte die Hände in die Hüften. „Ja, die Situation ist schwierig für dich, aber hast du auch mal dran gedacht, wie es ihr geht? Sie hat dir sogar geholfen, als ihr schon auseinander ward. Du solltest eigentlich merken, wer dich unterstützt und mit wem du offen reden kannst. Also sprich auch mit den Menschen und warte nicht, dass sie deine Gedanken lesen! Und sprich vor allem endlich mit Saskia! Und wenn du sie nur bittest, auf dich zu warten! Zeig ihr, was sie dir bedeutet! Oder willst du ernsthaft warten, bis in ein paar Monaten die Ausbildung anfängt und sie bis dahin im Unklaren lassen? Ganz ehrlich? Das wäre nicht fair und wenn du das wirklich machst, vergess ich für einen Moment, dass ich dich eigentlich gut leiden kann!“, schnaubte Steffen aus und schloss dann erleichtert die Augen, als Detlef meinte „Du hast Recht“. „Klar hab ich Recht“, murmelte er und setzte sich wieder. "Ich hab gar nicht gemerkt, wie viel Zeit inzwischen schon vergangen ist", murmelte Detlef und verschränkte die Arme auf dem Tisch. „Jap. Damits künftig besser läuft, nimm am besten den hier mit“, lehnte Steffen sich hinüber zu seiner Werkzeugkiste und zog einen Zimmermannshammer hervor, den Detlef irritiert musterte. „Was soll ich damit?“ Steffen grinste und schob den Hammer über den Tisch. „Gegen dein Brett vorm Kopf“. Kapitel 109: 8.4.2024: Kapitel ------------------------------ „Hast du das Kapitel schon gelesen?“, fragte Jasmin, als sie mit Sven im Wohnzimmer saß und ihre Unterlagen studierte. Die meisten ihrer Fächer und Module machten ihr Spaß, aber hier und da gab es auch kleine Ausnahmen, die ihr Interesse kaum wecken konnten oder bei denen die Literaturauswahl so dröge war, dass sie sich schwer mit der Bearbeitung tat – und genau so ein fades Buch hatte sie in digitaler Form gerade vor sich liegen. Sven schaute ihr über die Schulter auf den Laptop und nickte. Anfänglich hatte er sich mit dem Thema ebenfalls etwas schwer getan, aber nun ging er voll darin auf und konnte ihr einiges darüber berichten. „Schau mal, wenn du es von der Seite betrachtest, ist das eigentlich sehr interessant...“, begann er und sprudelte sogleich los, was ihr ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Es tat gut, sich nicht allein da durch kämpfen zu müssen und sich sogar ein wenig von seinem Enthusiasmus mitreißen zu lassen. Allerdings unterbrach ihr Handy die Lerneinheit jäh und mit überraschtem Blick starrte Jasmin auf die eingegangene Nachricht. „Was ist los, du guckst so überrascht?“, meinte Sven. „Saskia fragt mich, ob ich heute mitkommen und ausgehen will“, antwortete sie verwundert. Mittlerweile hatten die beiden Frauen nicht nur Nummern ausgetauscht, sondern sich auch ein paar Mal getroffen; zumeist im Café oder in der WG. Es war das erste Mal, dass Saskia sie fragte, ob sie mit ihr um die Häuser ziehen wollte. „Ich hätte gedacht, ich wäre ihr eine zu große Spaßbremse“, murmelte Jasmin und wiegte unschlüssig den Kopf. „Hast du denn Lust darauf?“, fragte Sven und ein scheues Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Ja, eigentlich schon, das wäre mal was anderes“, entgegnete sie. „Wär das denn okay für dich, wenn wir alleine losziehen?“ Sie spürte das schlechte Gewissen, weil Sven nicht gefragt worden war und hatte Sorge, dass er sich ausgeschlossen fühlte. Der aber winkte ab. „Na klar ist das okay für mich!“, lachte er und ergänzte optimistisch: „Bestimmt fragt sie mich gleich ja auch noch, ob ich mitkomme.“ „Ganz bestimmt nicht – das soll ein Mädelsabend sein“, lautete allerdings Saskias Antwort, als sie zwei Stunden später auf der Matte stand, um Jasmin abzuholen und Sven noch immer auf eine Einladung von ihr wartete. Entrüstet guckte er sie an. „Du willst mich nicht mit dabei haben?!“, sprach er fassungslos, was Saskia ihm mit einer zuckenden Augenbraue quittierte. „Wie gesagt: Mädelsabend. Außerdem hast du doch eh nix mit Clubs am Hut!“, meinte sie und schüttelte erbarmungslos den Kopf, als Sven zum Protest ansetzte. „Die Musik ist dir zu laut, die Luft zu stickig und auf tanzen hast du auch keinen Bock“. Kleinlaut gab er zu, dass da vielleicht ein wenig was dran war und sie schmunzelte. „Wir gehen demnächst mal wieder in die Bar und trinken ein Bierchen, was hältst du davon?“ Sogleich hellte sich Svens Miene auf und er war wieder zufrieden. „Einverstanden!“, stemmte er zufrieden die Hände auf die Hüften und wünschte den beiden Frauen dann viel Spaß, ehe er sich in sein Zimmer zurückzog. Jasmin zeigte sich trotzdem etwas unsicher, weil sie ihn den Abend über allein ließen. „Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben“, meinte Saskia, als sie die Tür hinter sich schlossen und durchs Treppenhaus gingen. „Im Vorfeld ist er immer total begeistert, aber nach spätestens einer halben Stunde sitzt er nur noch gelangweilt irgendwo in der Ecke. Das haben wir schon oft genug ausprobiert“, hakte sie sich bei Jasmin unter und stellte ihr zu ihrer Überraschung kurz darauf zwei weitere Begleitungen vor. „Das sind Pia und Linda, sie sind in meinem Kurs“, berichtete sie über die beiden Frauen, die unten vorm Haus warteten. Jasmin hatte sie zwar schon mal flüchtig gesehen, aber vor noch nicht direkt mit ihnen zu tun gehabt. „Wo gehts denn heute hin?“, fragte sie, um sich die Verwunderung nicht anmerken zu lassen und ließ sich mit den Dreien mitführen, während Linda gefühlt eine Kneipentour durch die gesamte Stadt geplant hatte. Pia lachte darüber, als ihre Mitbewohnerin einen Barnamen nach dem anderen aufzählte und Saskia staunte. „Da habt ihr euch ja was vorgenommen“, meinte sie mit einem Zwinkern. „Unsere Einserschülerin braucht ein wenig Abwechslung“, flüsterte Pia ihr zu und grinste, während Linda Jasmin auf dem Handy zeigte, wo die Schankhallen zu finden waren. „Wow, die meisten kenn ich noch gar nicht. Da bin ich gespannt!“, rief sie aus und kannte viele nicht einmal vom Namen her. „Ich geh ja meist hier hin!“, deutete Saskia auf einen der Schenken und eine kurze Diskussion entbrannte, welche Kneipe die beste wäre. Sie endete in großem Gelächter und der einstimmigen Erkenntnis, dass es wohl vor allem auf die Gäste des Abends ankäme. „Vor ein paar Wochen hab ich im Marktkrug einen netten Typen kennengelernt, aber die letzten vier Male war da da gar nichts los“, wusste Pia zu berichten, was Linda für eine andere Bar zu bestätigen wusste. „Oh, also das meintest du mit Mädelsabend?“, fragte Jasmin hingegen leise an Saskia gewandt, die mit einem kurzen Nicken antwortete. „Gute Musik, leckere Drinks, viel Spaß und idealerweise ein paar nette Männer dabei“, meinte sie und legte den Arm um Jasmins Schulter, als die etwas verunsichert wirkte. Sie ahnte, was der gerade durch den Kopf ging und wollte ihr jetzt helfen, die Zweifel so beiseite zu schieben, wie sie es vorher bei sich selbst getan hatte. „Ich finde, es wird Zeit, dass wir ein neues Kapitel aufschlagen, meinst du nicht auch?“, fragte sie, aber ehe Jasmin etwas darauf sagen konnte, ertönte Pias Ausruf, dass sie die erste Kneipe erreicht hatten. Kapitel 110: 9.4.2024: düster ----------------------------- Trotz der zwitschernden Vögel, die durchs Fenster zu hören waren, hätte dieser Morgen für Saskia wohl kaum düsterer beginnen können. Unter tiefem Knurren presste sie die Augenlider zusammen und vergrub das Gesicht im Kissen. Sie fühlte sich, als wäre ein LKW über ihren Kopf gefahren und jede kleine Bewegung brachte ihn mehr zum Pochen und Schmerzen. Im Zeitlupentempo hob sie die Hand und legte sie an die Schläfe; leise Flüche murmelnd, während ihre Kehle so trocken und heiser war, dass sie kaum ihre Stimme fand. Nie wieder Alkohol, dachte sie beim pelzigen Geschmack auf ihrer Zunge und presste die Brauen zusammen, als sie den ersten Versuch startete, die Augen zu öffnen. Sie lag zwar mit dem Rücken zum Fenster, aber trotzdem war der Raum so von Licht durchflutet, dass es ihr sogleich weiteren Schmerz durch den Kopf jagte. Ein erneutes Knurren und sie presste die Hand auf die Augen. Mich hat ne Herde Elefanten über den Haufen getrampelt. Sie versank in Selbstmitleid und versuchte, ihre Gedanken und Erinnerungen zu sortieren. So einen Kater hatte sie ja noch nie erlebt… Unter leichtem Seufzen ging es an den nächsten Versuch und dieses Mal schaffte sie es wenigstens, kurz das Zimmer um sich herum zu mustern, ehe sie wieder ins Kissen sank. Schlafzimmer, dachte sie und war erleichtert, sich nicht im Bad auf dem Boden oder unter irgendeinem Barhocker wieder zu finden. Gleichzeitig wusste sie aber auch nicht, ob sie sich darüber freuen sollte, in ihrem eigenen Bett zu liegen, als sie merkte, dass sie unter der Bettdecke beinahe nackt war. Hatte sie sich selbst ausgezogen oder war jemand bei ihr gewesen? Und wenn sie jemand begleitet hatte: Wer war es dann gewesen? Sie wusste ja nicht einmal mehr, wie sie zurück nach hause gekommen war und spürte bei diesem Gedanken einen Kloß im Hals. So was machst du nie wieder, beschwor sie sich nochmals und versuchte sich darauf zu konzentrieren, dass der Tag noch viel düsterer hätte starten können. Lieber wollte sie versuchen, sich den vorherigen Abend ins Gedächtnis zu rufen. Grübelnd richtete sie den Blick an die Zimmerdecke. Bruchstückhaft tauchten Erinnerungsfetzen vor ihr auf, aber sie waren alle zusammenhangslos. Zusätzlich dieses unterschwellige Brummen, das durch die Tür an ihr Ohr drang. Wie sollte man sich denn dabei konzentrieren?! So schnell, wie ihre Wut aufflammte, verschwand sie aber auch wieder, als Saskia bewusst wurde, dass das Brummen von ihrer Kaffeemaschine stammte. Jetzt nahm sie auch den typischen Geruch bewusster wahr und hörte das Klappern von Geschirr. Der Kloß in ihrem Hals wurde zu einem Stein in ihrem Magen. Wer ist da in meiner Wohnung?, schoss es ihr durch den Kopf und sie versuchte, sich mit der Vorstellung zu beruhigen, dass eine ihrer Freundinnen über Nacht geblieben war. Ihr drängte sich aber auch eine andere Möglichkeit auf und die gefiel ihr ganz und gar nicht – weder die Vorstellung daran, noch, sich jetzt mit dem unerwünschten Gast auseinandersetzen zu müssen. Trotz der Unsicherheit, wer da gerade in ihrer Küche stand, hoffte ein Teil von ihr, dass diese Person sich nach der Tasse Kaffee einfach davonmachen würde. Aber kaum hatte Saskia diesen Gedanken beendet, hörte sie die Bodendiele im Flur knarren und das passierte eigentlich nur beim Weg von der Küche ins Schlafzimmer oder das Bad. Alarmiert wühlte sie sich unters Kissen und stellte sich schlafend. Nur durch eine kleine Ritze hatte sie Ausblick auf die Tür, in der zwei nackte Füße erschienen. Waren sie zierlich und vielleicht sogar lackiert? Nein. Sie waren kräftig und ebenso muskulös wie die behaarten Waden, die daran anschlossen. Nur schwerlich konnte sie sich ein Seufzen verkneifen. Wer war der Kerl, der scheinbar nicht viel mehr als eine Boxershorts trug? „Verdammt!“, schoss es ihr durch den Kopf. Ein wenig Spaß und Ablenkung hatte sie haben wollen, aber bestimmt nicht in diesem Ausmaß und auf diese Weise! Sie fühlte sich erbärmlich und hoffte noch immer, dass der Typ jetzt bald verschwand. Hoffentlich legt er sich jetzt nicht wieder her, dachte sie und konnte erkennen, wie er näher an ihr Bett herantrat. Er stellte ein Glas Wasser auf den Nachttisch, sodass sie einen Blick auf seine Uhr erhaschen konnte. Sie war durch und durch aus Metall und die Glieder des Armbands einzeln gefertigt. Die Uhr war ansprechend, aber auch an vielen Armgelenken zu sehen. Noch immer hatte sie also keinen richtigen Hinweis, wer sich gerade zu ihr auf die Bettkante setzte und sich den Kaffee schmecken ließ. Verschwinde doch endlich!, wollte sie am liebsten herausrufen und ermahnte sich selbst zur Ruhe. Bestimmt verschwindet er gleich. Rühr dich einfach nicht, überlegte sie, aber dieses Vorhaben war leichter gedacht als umgesetzt, wenn einem der Kaffeegeruch immer penetranter in die Nase stieg. Wie konnte etwas an anderen Tagen so verführerisch duften und jetzt der Ekel in der Tasse sein? „Oh Gott, nimm das Zeug weg, mir wird schlecht!“, brummte sie schließlich und drückte sich die Hand auf den Mund. Durch das Kissen konnte sie gedämpft sein Kichern hören. „Na? Endlich wach?“, stand er auf und sie riss erschrocken die Augen auf, nur, um sie sogleich wieder zusammen zu pressen, als der nächste Schmerz zündete. Zögerlich kam sie so weit unter dem Kissen her gekrochen, dass sie ihren Gast gerade noch aus der Tür verschwinden sah. „Wie viel hab ich getrunken, verflucht?!“, starrte sie ihm fassungslos nach und zweifelte selbst dann noch an ihrem Verstand, als er kurz darauf mit einem weiteren Glas Wasser in der Hand wieder vor ihr stand. „Guten Morgen, oder sollte ich eher sagen: Guten Nachmittag?“, grinste er und kam – tatsächlich nur in Boxershorts gekleidet – auf sie zu. „Detlef?!“, fiel ihr alles aus dem Gesicht und selbst nach mehrmaligem Blinzeln wurde sein Gesicht kein anderes. Sie versuchte sich aufzurichten und rutschte weiter ans Kopfende des Bettes, damit es ihrem Rücken Halt gab. „Wie fühlst du dich?“, nahm er wieder auf der Bettkante Platz und reichte ihr das Glas vom Nachttisch, aber Saskia beachtete es gar nicht. „Sag mir mal lieber, was du hier machst“, antwortete sie fast lautlos und wusste immer weniger, was sie denken sollte. Das Lächeln verschwand zwar nicht ganz aus Detlefs Gesicht, aber es wurde merklich kleiner. „Steffen hat mir gestern mächtig den Kopf gewaschen und dann bin ich her gekommen, um mit dir zu reden. Ich wollte das nicht am Handy machen“, stellte er das ignorierte Glas zurück und nippte stattdessen an seinem eigenen. Saskia erinnerte sich endlich an etwas. „Ja, du hattest mir geschrieben, wo ich bin“, murmelte sie und griff ihr Handy. „Aber ich hab dir gar nicht geantwortet“, öffnete sie den Chatverlauf und guckte Detlef dann irritiert an. „Woher hast du gewusst, wo ich bin? Hast du vor der Tür gehockt, bis ich nach hause kam?“ Er schmunzelte leicht. „Das hatte ich tatsächlich erst vor, aber dann hab ich Sven aus dem Bett geklingelt. Du… hattest Steffen ja erzählt, dass du ausgehen wolltest und ich dachte, vielleicht weiß Sven was dazu“, meinte Detlef und fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand seines Glases. „Du meinst wohl vor allem, ob er wusste, mit wem ich ausgehe“, knurrte Saskia und Detlef senkte den Blick. Sie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte, aber ein Teil von ihr war auch froh, dass er jetzt neben ihr saß und nicht irgendein anderer Mann. Trotzdem war noch vieles unverständlich. „Aber wir waren in zig Bars. Woher wusste er...“, murmelte Saskia, als ihr die Lösung selbst einfiel: Jasmin. Detlef grinste wieder. „Genau genommen hat er nicht sie angeschrieben, sondern umgekehrt“, kratze er sich an der Wange und konnte sich das Lachen kaum verkneifen. „Hä?“ „Linda, Pia und du wart voll wie die Haubitzen und Jasmin wusste nicht, wie sie euch nach hause kriegen soll. Also hat sie Sven angerufen, um ihr zu helfen. Der war schon auf dem Weg in den Tempelbrunnen, als ich mich bei ihm meldete und ich glaub, am Ende waren beide ganz froh, dass mithelfen konnte, euch heile von dort weg zu bringen. Pia war so blau, dass sie im Stehen einschlief und Jasmin sie kaum halten konnte, Sven musste so tun, als wäre er Lindas Freund, weil sie die ganze Zeit mit einem Typen knutschen wollte, den wir alle nicht kannten und du hast pausenlos was von Karaoke geschrien“. Saskias Kopf wurde hoch rot und sie zog die Decke bis ans Kinn. Jetzt brauchte sie doch einen großen Schluck Wasser. „Stimmt, du hast mich Huckepack zum Auto getragen“, erinnerte sie sich und er nickte. „Zum Glück habt ihr mir nicht auf die Rückbank gereiert; ich glaub kaum, dass Steffen das lustig gefunden hätte“, meinte er und nickte, als Saskia fragte, ob alle heile angekommen waren. „Sven musste zwar laufen, weil zu wenig Platz im Auto war, aber der hatte es zum Glück nicht weit. Ich hab vorhin kurz mit ihm telefoniert; Jasmin gehts gut und sie meinte, dass die anderen beiden Mädels sich wohl auch schon bei ihr gemeldet hatten“, erzählte er und Saskia schaute wieder auf ihr Handy. „Ja, Pia hat mich auch schon angeschrieben… scheinbar hab ich nicht als Einzige einen dicken Kater“, murmelte sie zerknautscht, wobei Detlef sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte, aus dem ein Lächeln wurde, als Saskia sich für seine Hilfe bedankte. Das Gespräch wurde für sie zunehmend zur Erleichterung, aber trotzdem war noch nicht geklärt, warum sie beide jetzt halbnackt beieinander saßen. Statt lange herum zu drucksen, entschied Saskia, es offen anzusprechen. „Haben wir etwa…“, setzte sie an und schaffte es dann doch nicht in einem Anlauf. „Miteinander geschlafen?“, zog Detlef die Augenbrauen hoch und fing lauthals an zu lachen, als sie nickte. „Himmel, du hast ja wirklich einen riesigen Filmriss!“, tätschelte er ihr leicht die Hand und schüttelte den Kopf. „Nein, bei aller Liebe! So verführerisch du als Schnapsleiche auch warst…“, schmunzelte er und dachte daran, dass sie ihm sogar ein entsprechendes Angebot gemacht hatt. Aber das behielt er für sich, um sie nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen. „Du hast Steffens Auto zwar verschont, aber auf dem Weg zur Wohnungstür hast du`s dann geschafft uns beide voll zu kotzen“, wurde aus dem Schmunzeln ein schiefes Grinsen und Saskia rieb sich bei dem Gehörten peinlich berührt das Gesicht. „Also haben die Nachbarn das auch noch mitbekommen“, murmelte sie und er zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, ob sie um halb vier nachts an der Tür gelauscht haben, aber gesehen hab ich keinen. Danke übrigens auch; ich wollte schon immer mal um die Uhrzeit das Treppenhaus putzen“, neckte er sie und lachte wieder, als Saskia sich nach vorn sinken ließ, um das Gesicht ins Kissen zur drücken. „Was kommt als nächstes?“, jammerte sie kleinlaut und machte sich auf weitere peinliche Geschichten gefasst, aber Detlef strich ihr sanft über den Rücken und konnte sie beruhigen. „Das wars. Ich hab dich ins Bett verfrachtet, unsere dreckigen Klamotten in die Waschmaschine geschmissen und den Rest der Nacht hast du dann engelsgleich geschlafen und geschnarcht“, grinste er und nahm die Hand weg, als Saskia den Kopf wieder hob, um ihn anzuschauen. „Hast du auf der Couch geschlafen?“, wollte sie wissen, aber er verneinte. „Ich hab auf dem Sessel gepennt“, deutete er zur Ecke neben dem Kleiderschrank und stand auf, um zu prüfen, ob seine Kleider inzwischen getrocknet waren. Saskia runzelte die Stirn und musterte ihn. „Moment mal“, meinte sie und er schaute sie fragend an. „Hast du etwa die ganze Zeit wach gesessen und auf mich aufgepasst?“ Wieder grinste er und schüttelte den Kopf. „Nicht die ganze Zeit. Solange du geschnarcht hast, konnte ich ja dösen", zwinkerte er und spielte die Sorge herunter, die ihn die Nacht über begleitet hatte. Bei genauerem Hinsehen fielen Saskia allerdings seine Augenringe auf und mit einem Räuspern musste sie die aufkommende Rührung verscheuchen. „Im Kleiderschrank sind übrigens noch ein paar Sachen von dir", meinte sie rasch und deutete auf das obere Fach. „Oh", holte Detlef seine Kleidung heraus und war überrascht, dass Saskia sie in der Zwischenzeit noch nicht entsorgt hatte. „Danke fürs Aufheben“, lächelte er, doch das Strahlen verschwand jäh, als er ihren betretenen Gesichtsausdruck sah. Sie rieb sich die Augen und schluckte. "Na schön, nachdem wir das alles geklärt haben, bist du mir aber immer noch eine Erklärung schuldig. Was ist so wichtig, dass du dafür extra hergefahren bist?" Kapitel 111: 10.4.2024: Sommerfrische - Archiv ---------------------------------------------- Jasmin schloss die Augen und sog die salzige Luft tief in ihre Lunge, um sie dann mit einem langen Seufzen wieder auszuatmen. „Es tut so gut, hier zu sitzen“, sprach sie leise und blinzelte unter ihrem Sonnenschirm hinweg zur Sonne hinauf. Es war ein herrlicher, wolkenloser Tag mit brütenden Temperaturen in der Stadt, aber einer angenehm frischen Brise am Strand. „So stell ich mir das vor, wenn meine Großeltern erzählen, dass sie früher zur Sommerfrische ans Meer gefahren sind“, meinte Sven und machte es sich neben ihr auf dem Handtuch gemütlich. Jasmin schmunzelte. Sie war nicht die Einzige, die manchmal veraltete oder unübliche Begriffe nutzte. „Meinst du, von unseren Kommilitonen weiß jemand etwas mit dem Begriff Sommerfrische anzufangen?“, fragte sie und Sven grinste. „Die halten das vermutlich für ein Waschmittel!“. Beide lachten und freuten sich über diesen freien Tag voller Erholung und Entspannung. „Bin ich froh, gestern nicht so viel getrunken zu haben“, legte Jasmin sich hin und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sven nickte. „Das war so schon das reinste Himmelfahrtskommando, euch alle wieder einzusammeln.“ „Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab.“ Sven machte eine wegwerfende Handbewegung. „Schon okay, ich finds besser, dass du mich um Hilfe gebeten hast, als das irgendwie allein auf die Reihe kriegen zu wollen. Ich glaub ja, ohne Detlef wären wir sogar zu zweit ziemlich aufgeschmissen gewesen“, ließ er den Blick auf dem Meer ruhen und sah aus dem Augenwinkel Jasmins Nicken. „Stimmt. Ich hatte den Eindruck, dass er schon Übung damit hat, so souverän, wie er war“, meinte sie und Sven grinste schief. „Er musste ja auch nicht Linda von dem Kerl wegzerren“. Jasmin schmunzelte, der Anblick war wirklich einmalig gewesen. „Ich hätte mich aber auch nicht wohl damit gefühlt, sie dort allein zurück zu lassen oder in dem angeheiterten Zustand sogar mit ihm mitgehen zu lassen. Die können sich ja noch mal treffen, wenn sie nüchtern sind“. „Stimmt“, bestätigte Sven und setzte sich in den Schneidersitz. „Bin mal gespannt, ob wir Detlef heut noch zu Gesicht bekommen, ehe er wieder zurück muss. Was für eine Aktion! Fährt der mal eben zweieinhalb Stunden hierher, um gefühlt einen halben Tag zu bleiben und dann wieder abzuhauen, weil er ja morgen zur Arbeit muss“, konnte er noch immer nicht ganz fassen, seinen Kumpel letzte Nacht plötzlich am Handy und dann vor sich stehen gehabt zu haben. „Na ja, zwei, drei Stunden Autofahrt sind eigentlich ganz gut machbar, aber um die Uhrzeit…“, schüttelte Jasmin leicht den Kopf und war wenig verwundert, als Sven meinte, dass Detlef solche Aktionen auch schon mal in der Vergangenheit gebracht hatte. „Spontan auf ein Festival zum Beispiel. Aber dann war das in den Ferien und deutlich stressfreier“, erzählte er und ließ den Blick über den Strand schweifen. „Hat er dir was Näheres erzählt, warum er so plötzlich hergekommen ist? Und auch generell, wie es ihm jetzt geht?“, fragte Jasmin, aber Sven schüttelte den Kopf. „Nein, nicht so direkt. Wir haben nur kurz gesprochen. Er meinte, dass er was mit Saskia klären muss, aber worum es genau geht, weiß ich nicht. Die Tage wollen wir mal wieder länger quatschen und dann erzählt er mir hoffentlich ein bisschen mehr. Aber ich weiß zumindest schon mal, dass er inzwischen in einer Schreinerei arbeitet und das scheint ihm echt gut zu gefallen.“ "Das freut mich für ihn", lächelte Jasmin und musterte dabei Sven, dem es mittlerweile deutlich leichter zu fallen schien, dass er Detlef nicht mehr täglich um sich hatte. Dessen Erscheinen und die kurzen Gespräche mit ihm hatten ihren Mitbewohner zwar gefreut, aber die anfängliche Niedergeschlagenheit schien verschwunden und das machte sie froh. „Ja, ihm gehts merklich besser und ich glaub inzwischen auch, dass er im Studium einfach nicht glücklich geworden wäre... Oh, da hinten ist ein Eisstand!“, rief er plötzlich aus und schwang sich auf die Füße. „Willst du auch eins?“ Jasmin schüttelte den Kopf. „Aber falls die auch kalte Getränke haben, kannst du mir davon gern was mitbringen“, meinte sie und schaute ihm nach, wie er in kindlicher Vorfreude zu der Holzbude hinüberlief. Kapitel 112: 10.4.2024: Tulpenfeld ---------------------------------- „Was hältst du davon, wenn du erst mal richtig in den Tag startest? Nimm eine Dusche, werd richtig wach und in der Zwischenzeit organisier ich uns was zu essen. Danach unterhalten wir uns dann in Ruhe. Einverstanden?“ Detlef schlüpfte in seine Kleidung und schenkte Saskia ein Lächeln. Sie war mit dem Vorschlag nicht so richtig zufrieden, wollte sie doch endlich wissen, was er Wichtiges mit ihr zu bereden hatte. Andererseits war es vielleicht wirklich nicht verkehrt, den Kater erst noch etwas los zu werden. Mit Brummschädel ließ es sich schließlich weder gut diskutieren noch zuhören. Zumal sie sich eingestehen musste, dass ein kurzer Moment der Vorbereitung nicht schaden konnte; sacken lassen, was in den vergangenen Stunden gewesen war und mit einer anderen Verfassung in das ausstehende Gespräch gehen. „Na schön“, nickte sie also und schälte sich aus dem Bett. „Gehts?“, bot Detlef ihr seine Hilfe an, aber sie lehnte ab. Ihr Stolz zwang sie, erhobenen Hauptes ins Bad zu schleichen, selbst wenn sie dabei doch aufpassen musste, die Füße gerade voreinander zu setzen. „Also bis gleich“, meinte Detlef und griff sich seine Geldbörse vom Küchentisch. „Du kannst meinen Wohnungsschlüssel mitnehmen“, rief Saskia ihm zu und schloss die Badezimmertür hinter sich. Kurz darauf hörte sie, wie auch die Wohnungstür ins Schloss fiel. Auf einmal fühlte sich die Situation unwirklich an und sie spürte die Einsamkeit. Der Anblick, der ihr der Spiegel bot, war schier erschreckend: Ihre Haare sahen aus wie ein geplatztes Kissen, das Make-Up war verschmiert, sie schien um Jahre gealtert. Kurz ließ sie den Kopf hängen und schüttelte ihn, dann schleppte sie sich unter die Dusche und genoss das erfrischende Nass. Sie ließ sich Zeit, schloss immer wieder die Augen und ließ sich das Wasser über das Gesicht laufen, bis sie sich nicht mehr fühlte, wie der Tod auf zwei Beinen. Die brünetten Haare in einen Turban gewickelt, schlüpfte sie in frische Unterwäsche und ihren Bademantel. Beim Verlassen des Bades war Detlef noch nicht zurück. Sie trat in die Küche, sah auf dem angrenzenden Balkon den Wäscheständer und neben der Kaffeemaschine eine Vase mit Tulpen. Es versetzte ihr einen Stich. Langsam ging sie auf die Vase zu und strich seicht über die roten Blütenblätter. Die Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie an die Bedeutung dieser Blumen dachte: Vor zwei Jahren war sie mit Detlef in den Niederlanden gewesen, an einem riesigen Tulpenfeld, das in den buntesten Farben leuchtete. Damals hatte sie ihm gesagt, dass sie davon träumte, irgendwann einmal ein Haus mit Garten zu haben und dort ganz viele Tulpen zu pflanzen. Gemeinsam mit ihm. Kapitel 113: 11.4.2024: knallig ------------------------------- Mit einem tiefen Seufzen fuhr Andreas an diesem Abend in seine Einfahrt und steuerte die Garage an. Das Auto seiner Frau stand bereits geparkt und als er sein Fahrrad daneben schob, merkte er die Wärme, die der Wagen noch ausstrahlte. Sie war also auch gerade erst von der Arbeit gekommen. „Da freut sich jetzt bestimmt noch jemand so sehr auf die Couch wie ich“, murmelte er und warf seinen Helm in den Fahrradkorb. Als er das Garagentor schloss, war von Ruhe und Frieden allerdings nicht viel zu hören, schon von draußen war das Gezänk nicht zu ignorieren. „Was ist denn jetzt schon wieder los?“, verdrehte er die Augen und ging ins Haus. Seine Tochter war gerade in der Pubertät und fast täglich gab es diese Reibereien. Es war also nichts Neues, aber anstrengend war es trotzdem. „Bin wieder da!“, rief er ins Treppenhaus, aber das Gezeter wurde dadurch nicht leiser. Er folgte ihm in die Küche und dachte, ihn träfe der Schlag. „Wie siehst du denn aus?“, starrte er seine Tochter mit weit aufgerissenen Augen an: Ihre Haare waren in ein knalliges Pink getüncht, das um die Wette mit ihrer knallengen Hotpants strahlte. Einzig ihr schwarzes Top schien einem keinen Augenkrebs zu verursachen. „Wieso stellt ihr euch eigentlich so an?!“, keifte seine Tochter los und schnell war ihm klar, woher dieses Mal der Streit kam. „So gehst du nicht aus dem Haus! Zieh dir was Vernünftiges an und die Farbe kommt auch aus den Haaren raus! Du bist erst 13!“, wetterte seine Frau und stützte die Hände auf die Hüften. Sie war so gnadenlos, dass es Andreas fast leid tat, als er die Tränen in den Augen seiner Tochter sah. „Na ja, wir waren auch mal jung“, murmelte er, obwohl er alles andere als begeistert von dem knappen Outfit seiner Tochter war. Hatten sie damals nicht ähnliche Unterhaltungen mit ihren Eltern gehabt? Seine Frau aber sah ihn giftig an. „Unterstütz mich lieber!“, zischte sie, aber offensichtlich hatte seine Tochter die Nase voll von der Diskussion. Ohne ihrer Mutter noch eine Beachtung zu schenken, drängte sie sich an Andreas vorbei aus der Tür und rannte auf ihr Zimmer. „Wir sind noch nicht fertig!“, schrie seine Frau ihm hinterher, aber als Antwort gab es nur die zufliegende Zimmertür. „So hab ich mir den Abend nicht vorgestellt“, seufzte Andreas und seine Frau pflichtete ihm bei. Dann aber schmunzelte er und sie schaute ihn irritiert an. „Was ist?“, fragte sie und er meinte: „Weißt du noch, wie du damals manchmal rumgelaufen bist, als wir uns in der Oberstufe kennen lernten?“ Bei genauerer Betrachtung war sehr deutlich, wo seine Tochter die Liebe für modische Entgleisungen her hatte. Kapitel 114: 12.4.2024: Tüll ---------------------------- Ariane stand vor dem bodentiefen Spiegel und ließ den Blick kritisch über ihr Spiegelbild wandern, während die Verkäuferin des Klamottenladens an ihr herumzupfte und sich schließlich mit einem begeisterten Lächeln an Arianes Mutter wendete. „Sie sieht wirklich zauberhaft aus!“, rief sie aus und betrachtete ihr Werk. Nun fehlten nur noch die passenden Schuhe zu dem Kleid und das Gesamtbild wäre perfekt. „Ich hab da schon was im Sinn… einen Moment, ich hole sie schnell“, verschwand sie in die Schuhabteilung und Ariane seufzte aus. „Wie gefällt es dir?“, trat ihre Mutter näher an sie heran und legte die Hände auf Arianes freie Oberarme. Noch immer musterte die junge Frau sich kritisch und schaute ihre Mutter dann über den Spiegel hinweg an. „Mag ja sein, dass das Kleid ein "Traum in Tüll“ ist, aber ich fühl mich, als wäre ich in Zuckerwatte gefallen. Das helle Rosa, dazu dieses Aufgeplüschte vom Tüll…“, schürzte sie die Lippen und schüttelte den Kopf. Ja, es war ihr großer Abend; der Abschluss nach so vielen Jahren Büffeln und Lernen, aber sie fühlte sich nicht wie auf dem Weg zum Abiball, sondern wie eine verunglückte Brautjungfer. „Hatte ich schon befürchtet, dass es dir nicht gefällt. Ich kenn dich ja“, zwinkerte ihre Mutter und Ariane lächelte schief. „Na ja, einen Versuch wars wert, mich auch mal an so was heran zu trauen“, zuckte sie die Schultern und bat ihre Mutter, den Reißverschluss zu öffnen. „Was Schlichtes ist doch auch okay, oder?“, war trotzdem ein leichtes Zweifeln in ihrer Stimme zu hören. Immerhin war das ihr großer Tag… „Schlicht kann auch sehr chic aussehen und was am wichtigsten ist: Du musst dich wohl fühlen. Sonst vermasselt dir dein Outfit den ganzen Abend und du wirst nicht daran zurückdenken, wie viel Spaß du auf der Feier hattest, sondern daran, wie unwohl du dich gefühlt hast“, meinte ihre Mutter und Ariane nickte. „Ja, du hast Recht“, ging sie in die Umkleidekabine und zog sich wieder um. Von draußen hörte sie die verdutzte Stimme der Verkäuferin, die gerade mit den Schuhen zurück war und versuchte, Arianes Mutter davon zu überzeugen, dass ihre Tochter unbedingt das Kleid nehmen solle. Auch andere Abiturientinnen seien in den vergangenen Tagen bereits da gewesen, um sich einzukleiden. Sie alle hätten rauschende und pompöse Kleider ausgewählt, beschwor die Verkäuferin sie, aber mit Erleichterung sah Ariane das Kopfschütteln ihrer Mutter. „Die anderen sind egal. Wichtig ist, was meine Tochter sich wünscht und die möchte gerne etwas Schlichteres“. Kapitel 115: 13.4.2024: korrigieren ----------------------------------- „Ich hab einen großen Fehler gemacht und möchte versuchen, ihn zu korrigieren.“ Detlef blickte auf sein Glas und suchte offenbar nach den richtigen Worten. Bereits während der Fahrt hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, bei der Wache an Saskias Bett erst recht und auch, als er zur Dönerbude gegangen war, um ihnen ein schnelles Mittagessen zu holen – aber trotzdem war er noch immer unsicher, wie er seine Gedanken und Gefühle formulieren sollte. „Ich glaub, es wirkte so, als wolle ich unsere Beziehung beenden, aber das stimmt nicht. Ich brauchte zwar Zeit, um mir über einige Sachen klar zu werden, aber dass ich mit dir zusammen sein will, stand für mich nie zur Frage“, hob er den Blick zu Saskia, die ihm gegenüber am Küchentisch saß; ein Bein angewinkelt und ihre Teetasse in beiden Händen, als wolle sie sich daran festklammern. „Du hast damals selbst gesagt, dass wir erst einmal getrennte Wege gehen und uns auf uns selbst konzentrieren sollten“, sagte sie in einem Ton, der versuchte sachlich zu sein und doch ihren Schmerz widerspiegelte. Detlef nickte erst, dann schüttelte er den Kopf. „Ich weiß und das war selten dämlich von mir formuliert!“. Er seufzte und schaute wieder auf sein Glas. Es fiel ihm schwer sie anzugucken und zu sehen, wie sehr er sie verletzt hatte. „Ich wollte nur eine Trennung auf Zeit, eine Pause, aber niemals, dass wir komplett getrennte Wege gehen“, murmelte er und schloss für einen Moment die Augen. „Warum hast du das dann nicht einfach gesagt? Du hättest mich einfach bitten können, auf dich zu warten und das hätte ich getan, dafür müsstest du mich eigentlich gut genug kennen!“, meinte Saskia, der es zunehmend schwerer fiel, ruhig da zu sitzen und ihn anzuschauen. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. All die Wut und Trauer, die sich in den vergangenen Wochen angestaut hatten, waberten unter der Oberfläche und pochten zunehmend darauf, auszubrechen. Sie wollte aber auch endlich verstehen, was ihn umtrieb und vor allem, wohin es für sie beide nun gehen sollte. Detlef rieb sich das Gesicht. „Weil ich ein Idiot war“, antwortete er und sein Blick streifte die Tulpen neben der Kaffeemaschine. „Mit etwas Abstand ist das jetzt so viel leichter, mir bewusst zu machen, dass ich dich vor vollendete Tatsachen gestellt hab, aber damals…“. Er stand auf und versuchte seine Lungen zu füllen, als ein Gefühl der Beklemmung ihn übermannte. „Was war damals?“, zischte Saskia harscher als gewollt und erkannte erst dann die aufkommende Unruhe in Detlefs Gesicht. Er stützte die Hände auf die Hüften und atmete stockend aus. „Ich hatte das Gefühl zu ersticken“, sagte er heiser und räusperte sich. „Ich… fühlte mich eingezwängt. In etwas hinein gepresst, das ich nicht wollte und als würde ich immer mehr darin versinken, wenn ich nicht schnellstens die Reißleine ziehe. Ich musste erst mal weg von diesen Zwängen und diesen… diesen Ketten“, rieb er sich die Brust und wanderte ziellos im Raum umher. „Mir ist das alles über den Kopf gewachsen. Ich hab es nicht mehr ausgehalten“. Er schaute zu Saskia und erschrak bei ihrem gebeutelten Blick. Sie kämpfte zwar gegen die Tränen, aber ihre Augen waren glasig und ihre Unterlippe zitterte. Sie wendete sich ab, als er eine Hand beschwichtigend hob. „Nein, ich meinte in erster Linie die Uni und meine Eltern, aber nicht unsere Beziehung!“, ging er auf sie zu und hob hilflos die Schultern. Er wollte nicht noch mehr Missverständnisse zwischen ihnen säen. „Trotzdem... []In erster Linie… und in zweiter?“, sprach sie leise und ließ den Blick auf Detlef geheftet, selbst wenn ihr gerade danach war, das Gespräch zu verlassen, um sich wieder mehr zu sammeln. „Ich glaube, ich hatte Angst, dass ich unsere Beziehung komplett vor die Wand fahre, wenn ich sie jetzt auch noch mit dieser… dieser Selbstfindungsphase belaste“, ging er unschlüssig zu seinem Stuhl zurück, aber statt sich zu setzen, stützte er die Hände auf die Rückenlehne. „Du hast ne Trennung für sinnvoller gehalten, anstatt dass wir das gemeinsam durchstehen und zusammen daran arbeiten?!“, rief Saskia aus und war dieses Mal diejenige, die es nicht auf dem Stuhl hielt. „Ich wäre für dich da gewesen! Ich hätte dich unterstützt! Ich… ich bin damals sogar mit hierher gezogen, um bei dir zu sein!“ Detlef nickte. „Ja und genau das wollte ich dir nicht noch mal zumuten. Erst recht nicht, nachdem wir vorher schon solche Probleme hatten“, meinte er und schluckte. „Was wolltest du dann? Was willst du dann?“, verschränkte Saskia die Arme vor der Brust und seufzte aus. Eigentlich hämmerte ihr Kopf immer noch viel zu sehr… Detlef räusperte sich und ließ die Stuhllehne los. „Ich wollte herausfinden, was ich will und kann und dann als gestandener Mann wieder zu dir gehen“, trat er langsam auf sie zu. „Ich wollte dir sagen können, dass ich endlich weiß, wo ich im Leben stehe. Dass ich etwas aus mir mache und jemand geworden bin, auf den du stolz sein kannst“, legte er die Hände ihre Oberarme und rieb sie leicht. „Nachdem du mich schon so viel unterstützt hast, wollte ich nicht, dass du auch noch mit ansehen musst, wie ich vielleicht erst mal monatelang von einem Praktikum zum anderen tingel und dabei immer wieder auf die Nase falle, bis ich das Richtige gefunden habe. Und ich wollte ganz besonders nicht, dass unsere Beziehung noch mehr belastet wird, wenn meine Eltern so reagieren, wie sie es letztlich ja getan haben: Mir alle Mittel kürzen. Ich war mir sicher, dass sie das machen, wenn ich ohne weiteres Studium hier wohnen bleiben will, allerdings hätte ich nicht gedacht, dass sie mich auch vor die Tür setzen, wenn ich wieder nach hause komme...“, ließ er seine Hände sinken und wandte sich ab. „Ehrlich gesagt hab ich mich wie ein Versager gefühlt und hatte Angst, dass…“, er räusperte sich. „… dass du irgendwann die Nase voll von mir hast deswegen“. Wieder lief er ziellos durchs Zimmer und traute sich kaum, Saskia ins Gesicht zu schauen. Die kaute auf ihrer Unterlippe, die Arme um sich geschlungen; jetzt nicht mehr vor Empörung und Wut, sondern als wolle sie sich selbst halten. „Dass ich mich vorher ein paar Wochen nicht bei dir gemeldet hab, hat das Ganze vermutlich auch nicht unbedingt vereinfacht“, murmelte sie und sah ein kurzes Nicken. „Alles in allem dachte ich einfach, dass uns ein bisschen Abstand vielleicht ganz gut täte. Die Gemüter beruhigen und… und dass ich dir anschließend mehr zu bieten hätte als ein „Hey, ich bin unglücklich und weiß grad nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll“, weißt du?“, trat er wieder näher auf sie zu. „Es tut mir sehr leid, dass ich dich so verletzt habe“, legte er eine Hand an ihre Wange und strich über die weiche, zarte Haut. Saskia hatte diese Berührungen so sehr vermisst, genauso wie seinen warmen Blick, mit dem er sie betrachtete. Trotzdem war da auch ihr Stolz, der es Detlef nicht zu einfach machen wollte. „Ja, das hast du“, sagte sie ihm darum geradewegs, selbst wenn ihr Blick längst weicher geworden war. „Na ja, aber immerhin stehst du jetzt hier“, meinte sie und ihr Mundwinkel zuckte. Ein kleines Lächeln wagte sich auf Detlefs Lippen. „Ich geb mein Bestes, um das wieder gut zu machen“, trat er noch ein wenig näher an sie heran und fand es plötzlich überhaupt nicht mehr schwer, in ihre tief dunkelblauen Augen zu blicken. Wie lange hatte er das schon nicht mehr getan. Dazu ihr lieblicher Duft und der Ausblick auf ihre zarten Lippen. Aber als seine sie fast berührten, drehte Saskia den Kopf weg. Detlef fühlte einen Stich in der Brust, aber als Saskia den Mund öffnete, kamen nicht die Worte, die er gerade am meisten gefürchtet hatte. „Nicht so schnell, mein Lieber", meinte sie und schob ihn leicht von sich. "Sag mir erst mal, was du dir vorgestellt hast, wie es jetzt weitergehen soll. Mit dir und mit uns“. Kapitel 116: 14.4.2024: himmelblau ---------------------------------- „Himmelblau…“. Die Hände unter dem Kopf verschränkt, lag Steffen zwischen den zerknüllten Kissen und schaute an die Decke. „Sieht gar nicht mal schlecht aus“, murmelte er, obwohl er sich diese Farbe für seine Schlafzimmerdecke nur schwerlich vorstellen konnte. „Ich weiß und im Wohnzimmer kommt auch noch neue Farbe an die Wände“, hörte er neben sich und drehte den Kopf zu der Blondine, die sich gerade aus der Decke schälte und ihren Morgenmantel schlüpfte. „Hast du das selbst gestrichen?“, folgte er ihr mit den Blicken, während sie ums Bett herum zur Tür ging. Sie lachte auf. „Ganz bestimmt!“, meinte sie voller Ironie und verschwand mit einem bezaubernden Hüftschwung im Badezimmer, ohne die Tür dabei zu schließen. Steffen stützte sich auf die Unterarme und und schaute ihr nach. Es dauerte nicht lange und auch er stand in dem gekachelten Raum. „Was hältst du davon, wenn ich dir den Rücken wasche?“, grinste er, während sie den Morgenmantel von den Schultern rutschen ließ und in die ausladende Dusche stieg. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und drehte dann das Wasser auf. „Hältst du immer noch an dieser wahnwitzigen Idee mit dieser Bruchbude fest?“, fragte sie, während ihre Hände das Shampoo verteilten. Steffen stellte sich an die Duschtür. „Ich wohne bereits dort, wie du weißt, Esther“, betrachtete er ihre Rückansicht und wanderte mit den Gedanken doch immer wieder zur letzten Nacht zurück. Sie schaute über die Schulter und wusste seinen Blick nur allzu gut zu interpretieren. Ihrer aber blieb kühl. „Vielleicht solltest du mich mal besuchen kommen. Ein bisschen was muss noch gemacht werden, aber es hat sich schon viel getan“, grinste er trotz ihrer Skepsis. Sie zog kurz die Augenbrauen zusammen und schüttelte dann den Kopf. „Vergiss es. Ich hab dir sofort gesagt, dass ich davon nichts wissen will. Wenn du das unbedingt machen willst, bitte, aber ohne mich“, legte sie den Kopf in den Nacken, um sich die Haare auszuspülen. „Du bist wirklich erbarmungslos, was?“, meinte Steffen und hatte doch noch immer eine gewisse Wärme in der Stimme. „Nicht erbarmungslos, nur realistisch. Ich bin dieses Mal nur für ein paar Tage geschäftlich hier in der Nähe und in den nächsten Monaten wieder viel unterwegs. Also lass uns nicht so tun, als würde wieder etwas Ernsteres aus uns“, antwortete sie und griff nach dem Duschgel, Steffens anzügliches Grinsen dabei durchaus bemerkend. „Letzte Nacht fand ich schon verdammt ernst“, raunte er, aber sie schüttelte wieder den Kopf. „Im Bett hat es bei uns schon immer gut gepasst, aber ansonsten nicht. Wir haben zu unterschiedliche Ziele im Leben. Auf Dauer wird das nichts. Wenn ich das nächste Mal in der Stadt bin, ruf ich dich gern wieder an, aber jetzt solltest du besser gehen“, meinte sie und drehte ihm wieder den Rücken zu. Er betrachtete sie einen Moment lang schweigend und musste an Detlef und Saskia denken. Nicht zum ersten Mal verglich er die beiden mit Esther und sich und nicht zum ersten Mal wünschte er sich, dass Esther ein wenig mehr wie seine Cousine wäre. „Ich bin gleich fertig. Wenn du willst, kannst du noch duschen“, durchbrach ihre Stimme seine Gedanken, aber schüttelte den Kopf. „Nicht nötig, ich dusch zuhause“, ließ er sie stehen und nahm sich vor, nicht noch einmal auf ihren Anruf zu reagieren. Aber er wusste, dass er auch beim nächsten Mal wieder zwischen ihren Kissen landen würde. Kapitel 117: 15.4.2024: schmalzig --------------------------------- „Komm, gibs zu, so schlecht fandest du den Film gar nicht!“, meinte Jasmin, als sie mit Sven durch die Innenstadt schlenderte. Sie hatten nach dem Eis am Strand Lust auf mehr gehabt und waren für eine größere Auswahl in eine Eisdiele gegangen, um sich anschließend noch für einen spontanen Abstecher im Kino wiederzufinden. Von dem Film hatte Jasmin schon seit Wochen geschwärmt und ihn bereits zweimal gesehen, aber auch ein drittes Mal konnte ihrer Freude keinen Abbruch tun. Sven hingegen war bislang wenig interessiert daran gewesen und wusste selbst nicht so recht, warum er jetzt plötzlich zugestimmt hatte, sie zu begleiten. Gefragt hatte sie auch bei den letzten Kinobesuchen, aber mitgegangen war er vorher nie. „Ich fand ihn viel zu schmalzig“, antwortete er nun auf ihren Einwurf und streckte sich ausgiebig. Er hatte lange gesessen und sein Körper brauchte ein wenig Bewegung. „Ich hab genau gesehen, dass du zwischendurch glasige Augen hattest!“, grinste Jasmin und lachte dann, als Sven meinte, dass er nur ein Gähnen unterdrückt hätte. „Trotzdem hast du zwischendurch auch mit gelacht. So schlimm kann es also nicht gewesen sein“, wusste sie weiterhin zu triumphieren, worauf Sven keine direkten Widerworte fand. Also musste ein anderes Gegenargument her. „Boah, du bist auch eine dieser Personen, die ihre Filmbegleitung ständig beobachten, wie sie den Film findet, oder?“, schob er die Hände in die Hosentaschen und verdrehte die Augen. Wieder grinste Jasmin. „Normalerweise nicht, aber in diesem Fall hat es mich echt interessiert, wie du ihn findest“, schmunzelte sie und er zog irritiert die Augenbrauen zusammen. „Warum?“ „Weil sich in der Uni mittlerweile zwei Lager gebildet haben: Die einen lieben den Film, andere finden ihn grottenschlecht“. Sven zuckte die Schultern. Er interessierte sich nicht so sehr für Filme und unterhielt sich darum auch selten über dieses Thema oder beachtete, wenn bei anderen das Gespräch darauf fiel. „Er war ganz okay. Ich müsste ihn jetzt nicht noch mal sehen, aber ich würd auch nicht schreiend davor wegrennen“, resümierte er schließlich und fragte Jasmin, was sie nun mit dem restlichen Tag machen sollten. Kapitel 118: 16.4.2024: Pfad ---------------------------- Nur wenige Männer aus dem königlichen Heer standen nun vor den Dorfbewohnern, aber sie wussten, dass ein falsches Wort genügen konnte, um sie anzustacheln und alles zu zerstören. „Wir suchen einen Flüchten und die Brandspuren am Tor zeigen mir, dass er hier durch kam. Wo ist er abgeblieben?“, sprach der Anführer von ihnen und sein schneidender Blick heftete sich der Reihe nach an jeden Dörfler. Schließlich erregte aber keiner der Menschen um ihn herum seine Aufmerksamkeit, sondern ein Eimer; unauffällig neben einer Mauer stehend, mit Wasser gefüllt und noch ein wenig mehr. In wenigen Schritten hatte er ihn erreicht, griff in das trübe Nass und zog die Kleidung daraus hervor. Die Schnitte in dem Hemd kamen ihm nur allzu bekannt vor und die blutigen Flecken erst recht. Ein Grinsen legte seine Zähne frei und er rief einem seiner Männer zu, der nicht minder zufrieden wirkte, als er das Hemd erblickte. „Das ist deine Handschrift, wenn ich mich nicht irre!“, sprach der Anführer und sein Soldat nickte. „Wo habt ihr ihn versteckt?“, wich die Freude dann Abscheu, als er die Dörfler wieder anblickte. Angewidert warf er das Hemd auf den Boden und ging zu einer jungen Frau, die nur wenige Meter entfernt stand. Den Kopf hielt sie gesenkt und bemerkte nicht, wie einer der anderen Soldaten in ihre Richtung deutete. „Du!“, kam der Anführer vor ihr zu stehen und seine Stimme fuhr ihr durch Mark und Bein. „Sieh mich an!“ Nur zögerlich tat sie, wie ihr befohlen. „Das ist dein Eimer!“, herrschte er sie an. Sie stritt es nicht ab. „Er hat mich gezwungen ihm zu helfen, sonst hätte er uns alle getötet“, sprach sie leise und fand sich nur Sekunden später auf dem Boden wider. Ihre Wange schmerzte, im Kopf dröhnte es. Sie presste die Hand auf den roten Abdruck. „Steh auf!“, befahl der Anführer und einer seiner Männer kam herbei, um sie auf die Füße zu ziehen. „Bring uns auf der Stelle zu ihm!“, knurrte er heiser und kehlig. Sie nickte und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. „Hier entlang“, flüsterte sie und betrat einen kleinen Pfad, der sie in den Wald führte. Kapitel 119: 17.4.2024: Favorit ------------------------------- „Ich weiß nicht…“, murmelte Sven und legte den Kopf schief. „Sind die alle nicht deins?“, fragte Jasmin und er zuckte unschlüssig die Schultern. „So richtig begeistert bin ich von allen nicht“. Sie hatten sich auf einen kleinen Schaufensterbummel begeben und standen nun seit einer guten viertel Stunde vor der Auslage eines Lampengeschäfts. Eigentlich war die Idee gewesen, eine neue Funzel für den Flur zu holen, aber schnell hatten sie festgestellt, dass ihre Geschmäcker bei diesem Thema sehr auseinander gingen. „Welche findest du denn gut?“, wollte Sven wissen, der am liebsten schon nach dem ersten flüchtigen Blick weitergegangen wäre, während Jasmin sich kaum sattsehen konnte. „Die rote da hinten hat was, aber mein Favorit ist die grüne hier vorne“, deutete ihr Finger auf ihre beiden Lieblinge, die Sven eher eine Gänsehaut über den Nacken trieben – aber keine gute. „Echt?“, verzog er das Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. Jasmin lächelte und nickte, aber auch seine Miene blieb ihr nicht verborgen. Sie musste bei Svens Anblick schmunzeln. „Du siehst aus, als hättest du auf eine Zitrone gebissen“, lachte sie und er murrte, dass er sich das mit dem Zusammenleben vielleicht doch noch mal anders überlegen würde. „Hey!“, stieß sie ihm daraufhin den Ellenbogen in die Seite und er grinste. „Wir können ja morgen noch mal her kommen, wenn die geöffnet haben und schauen, was sie noch alles anbieten“, meinte er schließlich beschwichtigend und beide waren mit diesem Kompromiss einverstanden. „Alternativ könnte ich mir die grüne auch gut als Schreibtischlampe vorstellen“, schlug Jasmin vor, als sie weiter schlenderten und noch ein guter Kompromiss war gefunden. Als sie um die nächste Ecke bogen, blieben sie allerdings beide wie angewurzelt stehen. Sie hatten sich bei dem Bummel einfach durch die Gassen und Straßen treiben lassen, ohne richtig darauf zu achten, wo sie landeten und nun wehte es sie ausgerechnet in Saskias Gegend. „Da hinten ist Saskias Wohnung, nicht wahr?“, murmelte Jasmin und nickte zu dem Mehrfamilienhaus einige Meter entfernt. Sven nickte. Er war schon ein paar Mal dort gewesen, sie hingegen erst ein Mal, aber das Haus stach mit seiner weißen Fassade nur allzu deutlich zwischen den roten Backsteinhäusern hervor. Es war schwer zu übersehen. „Meinst du, wir sollen mal hingehen und klingeln?“, schaute Jasmin zu Sven, der ähnlich ratlos wie sie schien. „Wär schon schön, Detlef noch mal zu sehen und ich wüsste auch gern, wie es bei den beiden nun weiter geht. Aber ob das jetzt eine gute Idee ist?“ Kapitel 120: 18.4.2024: straucheln ---------------------------------- „Du erwartest jetzt aber nicht, dass ich noch mal alle Zelte abbreche und die Uni wechsel, um dir wieder hinterher zu ziehen, oder?“, wollte Saskia wissen und Detlef schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht“, meinte er und merkte bei ihrer nächsten Frage, dass er zunehmend ins Straucheln geriet. „Du hast aber auch schon den Ausbildungsvertrag bei Steffens Firma unterschrieben und willst dann bestimmt auch erst mal bis zur Prüfung dort bleiben, nicht wahr? Er hat mir erzählt, dass du dich dort sehr wohl fühlst.“ Dieses Mal nickte er, wenn auch sehr verhalten. Ja, es stimmte, dass er gern in der Schreinerei bleiben wollte. Er mochte die Arbeit, die Abläufe und vor allem die Menschen dort. „Na ja, es sind ja nur ein paar Monate“, murmelte er nachdenklich und Saskia hob kritisch die Augenbraue. „Red es dir nicht schön. Es sind Jahre“, verschränkte sie die Arme vor der Brust und erinnerte ihn daran, dass ihr Ziel von Anfang an nicht nur der Bachelor, sondern auch der Master gewesen war. Ein Ziel, an dem sie noch immer festhalten wollte. „Warum lassen wir es nicht erst mal auf uns zukommen?“, fragte Detlef und Saskia schüttelte den Kopf. „Da war in letzter Zeit so viel Ungewisses, dass ich endlich wieder wissen will, worauf ich mich einlasse. Also, wie soll es nun weitergehen? Was hast du dir vorgestellt?“, setzte sie sich auf die Arbeitsplatte und schaute Detlef noch immer erwartungsvoll an. Er rieb die Hände über die Hüften und stützte sie dann darauf. „Unter der Woche ist es vielleicht schwierig, aber an den Wochenenden könnten wir uns sehen“, schlug er vor und Saskia seufzte aus. Sie war damals mit ihm gegangen, um näher bei ihm zu sein und jetzt sollte sie ihn noch weniger als während der Uni sehen? „Die Fahrt dauert viel zu lange, um das jedes Wochenende zu machen und ich hab auch nicht so viel Geld für die Zugtickets. Ganz zu schweigen davon, dass du mit einem kleinen Azubigehalt auch nicht allzu weit kommst. Und Steffen wird sich auch bedanken, wenn du dir jedes Mal sein Auto leihen willst. Außerdem verlässt er sich drauf, dass du ihn unterstützt“, meinte sie und betrachtete Detlefs betretenes Gesicht. Doch er war nicht lange niedergeschlagen. Plötzlich zog der die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. „Ich helf ihm unter der Woche, nach Feierabend und am Wochenende komm ich dann her. Mir steht ja auch Urlaub zu, vielleicht kann ich den öfter mal für ein verlängertes Wochenende nutzen“, schien er zufrieden mit seiner Idee, wohingegen Saskia wenig überzeugt wirkte. „Das ist doch Wahnsinn. Du kannst doch nicht nur Arbeiten und im Auto sitzen. Das schaffst du auf Dauer nicht! Und… und ein Auto haben wir dadurch auch immer noch nicht. Ich kann mir jedenfalls keines leisten“, kaute sie auf der Unterlippe und zog irritiert die Augenbrauen hoch, als Detlef lächelte. „Mein Opa kann uns helfen“, meinte er und Saskia runzelte die Stirn. Ja, Detlef hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihm gehabt, aber er war vor einigen Jahren gestorben – wie sollte er ihm jetzt noch helfen können? „Ich hab doch die Münzsammlung von ihm geerbt und die können meine Eltern mir nicht vorenthalten. Sie reicht für ein gebrauchtes Auto und Sprit bezahl ich von meinem Gehalt“, sagte Detlef voller Stolz, aber Saskia schüttelte den Kopf. „Das ist dein einziges Andenken an ihn. Tu das nicht!“, legte sie die Hand an Detlefs Oberarm, aber sein Entschluss schien festzustehen. „Die Dinger liegen eh nur auf der Bank im Schließfach. Ich guck mir lieber die alten Fotos mit Opa an, da hab ich viel mehr von, wenn ich ihm nahe sein möchte“, lächelte er voller Zuversicht und streichelte Saskia übers Haar. Sie schmiegte sich an seine Hand und führte sie an ihre Wange. „Na gut. Wir probieren das ein Jahr lang aus und wenn es wirklich klappt, bin ich auch zu einem Kompromiss bereit und werde wieder zurückziehen“, versprach sie, während Detlef sich langsam zu ihr beugte. „Und dieses Mal werden wir auch wirklich zusammenziehen“, meinte er, um sie dann endlich zu küssen. Kapitel 121: 19.4.2024: Klangvoll --------------------------------- In gänzlicher Stille saß er an diesem Morgen an seinem Esstisch und hielt den Blick auf den Garten gerichtet, der sich in Form von Beeten, Sträuchern und Bäumen um sein prächtiges Haus zog; bereichert um die ausladende Terrasse und eine großzügige Rasenfläche, die daran anschloss. Dann und wann nippte er an seiner Tasse, aber er nahm selbst dann nicht den Blick vom Garten, als er seine Frau den Flur entlanglaufen hörte. „Furchtbares Wetter“, sprach sie zur Begrüßung. Schon lange war es Alltag geworden, dass sie sich auf diese Weise einen guten Start in den neuen Tag wünschten. „Der Kaffee ist noch heiß“, entgegnete er und hörte ihr zufriedenes Seufzen, als sie sich eine Tasse befüllte. Er betrachtete die Blätter und verregneten Blüten, die der Wind wiegte und manchmal an ihnen zerrte. „Steht etwas Gutes drin?“, drang wieder die Stimme seiner Frau an sein Ohr. Sie meinte die Zeitung, die neben ihm auf dem Tisch lag. Er zuckte die Schultern. „Ich hab noch nicht reingeschaut“, log er und sie verlor keine Zeit, die großen Seiten vor sich zu öffnen. Wieder war ihre Freude zu hören, dieses Mal in Form eines kurzen Quiekens – so wie immer, wenn sie etwas sah, das ihren Stolz weckte. „Sie schreiben wieder in den höchsten Tönen von deinem gestrigen Konzert! Wie klangvoll und berührend deine neuesten Stücke waren!“, lobte sie nach einem kurzen ersten Überfliegen und begann dann damit, in die Details einzusteigen. Ja, ihr Mann konnte nicht nur wunderbare Musik komponieren und auf dem Piano darbieten, auch sein Ruf war seit Jahren ein ebenso klangvoller. Er war beliebt und berühmt und seine flinken, gefühlvollen Hände ermöglichten ihr ein Leben in Zufriedenheit, Ansehen und einem Haus, das für sie beide eigentlich längst viel zu groß geworden war, seit auch das letzte ihrer Kind es verlassen hatte. „Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen!“, sprach sie schließlich zufrieden, als sie mit dem Bericht geendet hatte und legte die Zeitung beiseite, um ihnen beiden zur Belohnung ein köstliches Frühstück zu kredenzen. „Ich mach uns arme Ritter!“, entschied sie, während sie auf die Suche nach den Zutaten ging. Ein kurzer Fluch glitt ihr über die Lippen, weil das Hausmädchen die Eier nicht an den Platz geräumt hatte, wo sie sonst standen. Zu dumm, dass sie ihr heute frei gegeben hatte! „In letzter Zeit wird sie nachlässig!“, zischte sie, aber sogleich war ihre Beherrschung wieder da. Er leerte indes seine Tasse, stand auf und stellte sie auf die Spüle. „Mir ist kein Fehlverhalten aufgefallen. Sie hält das Haus immer tadellos sauber und aufgeräumt“, sprach er beinahe beiläufig und sah im Augenwinkel ihr leichtes Zucken. Solche Widerworte seinerseits war sie nicht gewohnt. „Nichts für ungut, aber du bist ständig im Studio und bekommst gar nicht mit, wie ich immer hinter ihr her sein muss, damit sie auch alles ordentlich erledigt. Genau wie der Gärtner! Ich habe ihm schon zweimal gesagt, er soll diesen grässlichen Strauch da hinten gegen eine Rose tauschen!“, stemmte sie die Hände auf die Hüften und fixierte durchs Fenster hindurch den verhassten Schandfleck im Garten. Der Schandfleck, den ihr Mann ihr damals zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte, als ihr Zuhause noch eine kleine Einzimmerwohnung gewesen war. Dass sie nicht mit Abneigung gegen ihren Mann sprach, war trotzdem deutlich: Sie hatte schlicht vergessen, welche Bedeutung dem Strauch einst innegewohnt hatte. „Wenn sie so unzuverlässig sind, frag ich mich, warum du sie nicht längst gefeuert hast“, meinte er plötzlich und das erste Mal seit Jahren blickte er sie wieder bewusst an. Ihre Züge entglitten ihr, der Mund stand offen und das Entsetzen in ihre Augen geschrieben. „Ab…“, begann sie zu stottern und fand ihre Fassung nach einem kurzen Räuspern wieder. „Nun, sie sind zumindest eingearbeitet und wissen, wo sich alles befindet. Bei neuen Angestellten müsste ich wieder ganz von vorn beginnen“, stemmte sie die Hände auf ihre Hüften und war noch immer sichtlich irritiert von seinen Widerworten. Sonst scherte er sich doch auch nicht um Haushalt und Garten? Es wusste sie auch zu verunsichern, dass er sie noch immer so feste anschaute. Statt ihn jedoch offen zu fragen, was ihn bewegte, erwiderte sie nur seinen Blick und wunderte sich: Hatte er schon immer so müde ausgesehen? So abgekämpft und ausgelaugt? Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sein Gesicht das letzte Mal so deutlich betrachtet hatte. Fast fremd kam es ihr vor und noch fremder die Worte, die er nun sprach: „Ich reiche die Scheidung ein. Das Haus hier kannst du behalten, es ist mir eh viel zu groß. Ich ziehe in eines unserer Ferienhäuser, aber du wirst dir womöglich neue Angestellte suchen müssen. Victor und Andrea werde ich fragen, ob sie mich begleiten wollen“, wandte er sich von ihrem entsetzten Gesicht ab und spürte die aufkommende Erleichterung, als er sich auf den Weg zum Auto machte, um ohne weitere Verzögerung mit seinem Anwalt zu sprechen. Kapitel 122: 20.4.2024: bürgerlich ---------------------------------- „Ist das nicht ein wenig kalt?“ Hellen war so in ihren Gedanken verloren, dass sie die Frage erst beim zweiten Mal bemerkte. Sie schreckte regelrecht zusammen, als sie den Blick zu dem älteren Herrn hob, der neben ihrer Parkbank stand, gehüllt in einen warmen Mantel und seinen Schirm über ihrem Kopf ausgebreitet. Im ersten Moment wusste sie noch immer nicht, was sie sagen sollte. „Ich will mich nicht aufdrängen, aber Ihr Kleid sieht ein bisschen dünn für dieses Wetter aus. Geht es Ihnen gut?“, sprach er erneut zu ihr und dieses Mal hob sie abwehrend die Hände. „Ja, alles bestens!“, antwortete sie mit einer viel zu hohen Stimme und lächelte schief. „Tut mir leid, ich…“ - wofür entschuldigte sie sich eigentlich? Sie saß ja nur auf der Parkbank, schaute dem angrenzenden Flüsschen zu, wie es seine Bahnen zog und war dabei eventuell ein wenig unangemessen für das aktuelle Wetter gekleidet. „Ich gehe gleich weiter. Aber vielen Dank, dass Sie sich Sorgen gemacht haben“, sprach sie nun etwas ruhiger und ließ die Hände sinken. Der Herr nickte. „Wie Sie meinen“, sagte er und musterte sie kurz. „Einen Schirm haben Sie nicht bei, oder?“ Sie schüttelte den Kopf. Da, wo sie hergekommen war, hatte sie keinen gebraucht. „Dann lasse ich Ihnen meinen hier“, drückte er ihr den Griff in die Hand und ging weiter, ehe Hellen ablehnen konnte. Sie schaute ihm kurz irritiert nach und murmelte dabei ein leises „Danke“. Mit einem Seufzen ließ sie sich gegen die Rückenlehne sinken, um im nächsten Moment wieder kerzengerade zu sitzen, als sie merkte, dass sich die Nässe dadurch an ihren Rücken heftete. Erst jetzt nahm sie wahr, wie der leichte Fissel an den Härchen ihrer Unterarme hing und mit Kälte in ihren Körper kroch. Sie zitterte. Aber sie wollte auch nicht zurück. Zurück in diesen goldenen Käfig, wie es ihr manchmal vorkam. Eigentlich hätte sie sich ja glücklich schätzen können, dass Richard, ihr Freund, ausgerechnet ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. Sie gehörte zwar nicht zu den Ärmsten der Armen, aber ihre Familie hatte oft genug zu kämpfen, um über die Runden zu kommen. Seine Familie hingegen war zwar nicht adelig, gehörte mit ihren Immobilienbesitzen, Ärzten, Anwälten und anderen angesehenen Jobs und Posten aber definitiv zur höhergestellten Riege. Es war ein Unterschied wie Tag und Nacht, wenn sie an ihre Familie dachte und nun Richards anschaute. Und sie fragte sich auch nicht zum ersten Mal, warum er eigentlich sie ausgewählt hatte. Es hatte bereits in der Schule genug andere Mädchen gegeben, die auf ihn gestanden hatten – außerhalb der Schule erst recht. Seine Familie saß in Gremien, pflegte zahlreiche Kontakte – und dann interessierte Richard ausgerechnet für sie? War sie nicht viel zu bürgerlich? Was konnte sie schon bieten, außer ihres Aussehens? Ein weiteres Seufzen entfloh ihrer Kehle und sie schaute an sich herab. Jetzt war ihr Kleid durchnässt, aber vor wenigen Stunden noch hatte sie damit ausgesehen wie eine Prinzessin, als sie auf einen dieser vielen Bälle von einem dieser Gremien gegangen war. Hellen fragte sich, ob sie für Richard nur jemand war, den er vorzeigen konnte. Und mit dem er das Bett teilen konnte. Manchmal hatte sie auch den Eindruck, dass er mit der Wahl seiner Partnerin seine Eltern ein wenig provozieren wollte; das Vorzeigesöhnchen, das der Stolz der Familie war und doch ein paar kleine Eigenheiten an den Tag legte. Und sie selber? Liebte sie ihn überhaupt oder hatte sie sich damals vor allem in das Leben verliebt, das er ihr geboten hatte? In das Gefühl, etwas Besonderes zu sein? Fast wie eine Prinzessin zu sein? Dass an den vielen Märchen, die sie als Kind gelesen hatte, tatsächlich etwas dran wäre? Hellen ließ die Schultern hängen und schüttelte leicht den Kopf. Sie wusste es selber nicht, obwohl sie in den vergangenen zwei Stunden, die sie hier schon saß, immer wieder darüber nachgedacht hatte. Dafür merkte sie nun, dass die Kälte immer penetranter wurde, sich in Schmerz verwandelte, und ihren Körper zunehmend schlottern ließ. Aber außer ihrem Handy und einer Packung Taschentücher hatte sie nichts in ihrer kleinen Handtasche. Sie war in einem Moment plötzlicher Atemlosigkeit und Angst einfach vom Ball geflohen. Hatte dem Mann von der Security, der den Eingang bewachte, gesagt, dass sie kurz ein wenig Luft schnappen wolle und war dann los gelaufen; in die Nacht hinein, durch Parks und Straßen, Gassen und am Fluss entlang, solange, bis es hell wurde und sie sich erschöpft auf dieser Parkbank niedergelassen hatte. „Jetzt kann ich es aber wirklich langsam nicht mehr verantworten, Sie hier so sitzen zu lassen“, stand plötzlich der ältere Herr wieder neben ihr und sah sie besorgt an. In seinem Arm hielt er eine Tüte vom Bäcker. „Es geht schon, ich werde gleich nach hause gehen. Noch einmal vielen Dank“, lächelte Hellen zu ihm hoch und hielt ihm den Schirm hin. Sie kannte ja seinen Namen oder die Adresse an der er wohnte nicht und wollte sicher gehen, dass er ihn zurück bekam. Er aber schüttelte vehement den Kopf. „Niemand setzt sich freiwillig bei diesem Wetter hier hin und lässt sich nass regnen. Ihre Frisur und die Schminke – ich hab zwar nicht viel Ahnung von diesen Sachen, aber da hat sich jemand offenbar sehr viel Mühe mit gegeben und inzwischen ist da nicht mehr viel von zu sehen. Und Ihr Kleid scheint mir auch nicht, als wäre das für morgendliche Spaziergänge durch den Regen gedacht.“ Er hob die Hand und deutete hinüber zu einem kleinen Häuschen mit Ladenlokal, auf dessen Schuld Schuhmacher stand. „Ich wohn da vorne und meine Frau macht die beste Erdbeermarmelade der ganzen Stadt!“, sprach er stolz und hielt Hellen seine Hand auffordernd hin. „Wenn Sie nicht reden möchten, dann drängt Sie keiner, aber ich bestehe darauf, dass Sie sich wenigstens kurz bei uns aufwärmen. Trinken Sie eine Tasse Tee oder Kaffee und probieren Sie ein Brötchen mit Marmelade“, legte sich ein Lächeln auf seine dünnen Lippen und Herzlichkeit strahlte aus seinem Blick. Es trieb Hellen fast die Tränen in die Augen. Sie spürte, dass ihre Stimme brechen würde und antwortete darum nur mit einem Nicken und Lächeln, als sie seine Hand griff und ihn begleitete. Kapitel 123: 21.4.2024: blinken ------------------------------- „Kannst du nicht blinken, du dämlicher Idiot?!“ Matteo präsentierte dem anderen Autofahrer einen tieffliegenden Mittelfinger, der gut versteckt vom Armaturenbrett, aber nicht minder aggressiv war. „Wir hätten längst weg sein können!“, knurrte er, als nun einige weitere Autos durch den Kreisverkehr fuhren und er auf die nächste Gelegenheit warten musste, sich dazu zu gesellen. Anastasia schwieg derweil. Sie musterte ihren Freund und fragte sich wieder einmal, wie jemand, der sonst so liebevoll und beherrscht war, im Auto derart ausrasten konnte. Er tippte nervös aufs Lenkrad, fluchte und es war ein langes Stück Arbeit gewesen, ihm das ständige Hupen abzugewöhnen. Den Finger von der Lichthupe lassen konnte er allerdings immer noch nicht… „Soll ich uns nachher was kochen oder hast du eher Lust auf ein Restaurant?“, fragte sie, als der Wagen anfuhr und Matteo mit einem langgezogenen Seufzen endlich auf die nächste Straße konnte. „Wurd aber auch Zeit“, nuschelte er, um kurz darauf über einen Fußgängerüberweg zu schimpfen, der – natürlich – gerade fleißig genutzt wurde. „Und da hinten ist auch noch Fahrradstraße“, verdrehte er die Augen. Blieb ihnen denn heute gar nichts erspart? „Scheiß Baustelle, sonst hätte ich das umfahren können! Wenn es wenigstens regnen würde, dann wären nicht so viele mit dem Rad unterwegs!“ Leider war am Himmel nicht ein Wölkchen zu sehen und die Sonne strahlte mit dem hellen Blau um die Wette. „Ich könnte uns auch was bestellen“, schlug Anastasia vor und kramte ihr Handy aus der Tasche. Welche Lieferdienste standen denn so zur Verfügung? „Jetzt schieb deinen Arsch endlich mal von der Straße!“, blaffte Matteo eine junge Mutter mit ihrem Kind an der Hand an – das Kleine lernte gerade erst das Laufen und war noch etwas wackelig auf den Beinen. Anastasia summte leise, während sie durch ihr Handy scrollte und legte es nach wenigen Minuten wieder weg. Immerhin hatten sie es inzwischen bis zur Ampel geschafft. „Wenn der Trottel mal etwas mehr rüber fahren würde, kämen die, die geradeaus wollen, auch an ihm vorbei!“, ging Matteos Flucherei weiter und Anastasia warf einen Blick auf die Uhr. Immerhin, noch etwa zehn Minuten, dann war die Fahrt geschafft. „Ich hab mir überlegt, dass wir ein Kind bekommen und uns drei Hunde anschaffen sollten. Damit das Kind auch was zum Spielen und Liebhaben hat“, sprach sie beiläufig und betrachtete dabei ihre Fingernägel. Sie musste mal wieder zur Maniküre. „Herrgott, fahr! Bevor die Schranke zugeht!“, brüllte Matteo seinen Vordermann an und seufzte erleichtert aus, als sie es noch rechtzeitig über die Gleise schafften. Kurz darauf senkten sich auch schon die rot-weißen Absperrungen im Rückspiegel. Ein triumphierendes Grinsen legte sich auf sein Gesicht. Jetzt mussten sie nur noch geradeaus, ohne Ampeln, Kreisverkehre oder sonstige Behinderungen. Er lehnte sich im Sitz zurück, umschloss das Lenkrad entspannter und seufzte abermals aus. „Gleich sind wir zuhause“, meinte er noch immer mit einem Lächeln und runzelte dann kurz die Stirn. „Hattest du grad was gesagt?“ „Halt gleich mal kurz bei Alfredo, ich hab uns Pizza zum Mitnehmen bestellt“. Kapitel 124: 22.4.2024: Sternenzelt ----------------------------------- Schritt für Schritt durchs hohe Gras, die kleinen, perlenden Tautropfen an den blanken Füßen und Zehen. Ein wohliger Schauder auf der Haut. Nichts als Natur, wohin das Auge bei Tag reicht. Ein Rascheln hier, ein Tierlaut dort. Leise Schwingen tragen die Eule durch die Nacht; ein Schatten, den nur das helle Mondlicht verrät. Funkelnd leuchten unzählige Lichter am Sternenzelt. Wie ein Vorhang hat es sich über alles und jeden gelegt, spiegelt sich in der glatten Oberfläche des Teichs und den aufsteigenden Glühwürmchen. Zwischen Blättern und Grashalmen sitzen sie, erheben sich langsam in die Lüfte, schweben wie Irrlichter über Seerosenblätter und schlummernde Enten. Der Ruf der Eule mischt sich mit dem eines Käuzchens. In der Ferne schnattern Gänse – aufgeregt und empört, aber nach kurzem Protest verfallen sie wieder in Ruhe. Die langen Blüten der Gräser schmiegen sich an die Finger, fast wie die Ähren von Getreide. Schemenhaft heben sich Bäume hinter Wiesen ab und Sträucher hinter Blumen. Eine leichte Brise bringt ihre Blätter in Bewegung und lässt sie rauschen. Alles duftet rein und frisch, als wäre jeder Schmutz hinfort gewaschen. Kleine Wellen bilden sich auf dem Teich, als ein Fisch an die Oberfläche schwimmt. Ein Plätschern verrät seinen Sprung aus dem Wasser. Die Frösche am Ufer stimmen ihr Konzert an; erst vereinzelt, dann immer lauter. Aus einer anderen Richtung ist der Ruf des Fuchses zu hören und das Rascheln des Gebüschs kündet die Anwesenheit von Rehen an. Vorsicht ist beim stacheligen Freund, dem Igel, geboten, der im hohen Gras seine Runden zieht; wehrhaft wie die Schale der Kastanie und doch friedvoll, solange er seine Ruhe genießt. Kapitel 125: 23.4.2024: greifen ------------------------------- „Bitteschön, greifen Sie zu! Bei uns musste noch niemand hungern!“, stellte die Frau des Schuhmachers Hellen eine Tasse Tee hin und deutete mit ausladender Geste auf den reich gedeckten Küchentisch. Sie umgab eine ebenso freundliche und liebevolle Ausstrahlung wie ihren Mann, auch wenn sie dabei etwas kontrollierter wirkte. „Vielen Dank“, sagte Hellen nicht zum ersten Mal an diesem Morgen und nippte an ihrem Tee. Hier, in der kleinen Küche mit Essecke, war es wunderbar warm. In der anderen Ecke des Raums stand noch eine alte Kochmaschine, die ihre Wärme durch einen Teil des Hauses trug; der andere wurde vom Kaminofen im Wohnzimmer beheizt, an dem sie bei Betreten der Wohnung vorbeigekommen waren. Immer wieder ließ Hellen den Blick durch den Raum schweifen und verglich ihn unwillkürlich mit ihrem Zuhause. Die Zimmer fielen, soweit sie es bisher einschätzen konnte, deutlich kleiner aus als ihre, aber sie strahlten damit auch sehr viel Gemütlichkeit aus. Es gab viele Holzmöbel, statt Glas und Metall. Man erkannte sofort, dass hier bodenständige Menschen lebten. Auch, wenn sie nicht wusste, wie sie es in Worte hätten fassen sollen oder woran genau sie es hätte festmachen können, sah Hellen es mit einem Blick. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Richard die Nase darüber gerümpft hätte, dass es ihm zu vollgestellt gewesen wäre. Es war ein Heim, das nicht unordentlich war, sondern einfach bewohnt aussah – nicht, wie diese Vorzeigewohnung für Inneneinrichtungen und Möbelhäuser, die Hellen inzwischen so gewohnt war. Erst jetzt merkte sie, wie fremd sie sich eigentlich in ihren vier Wänden fühlte, obwohl sie sie bereits seit über einem Jahr mit bewohnte. „Sie haben wirklich ein hübsches Zuhause“, meinte sie schließlich mit etwas Wehmut in der Stimme und griff etwas zögerlich zu einem der Brötchen. Die Frau des Schuhmachers lächelte, aber er kräuselte die Stirn. „Ja und das wird auch so bleiben!“, knurrte er und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gottfried!“, meinte seine Frau tadelnd, aber er konterte nur mit einem „Ist doch wahr!“. Hellen schaute irritiert von einem zum anderen. „Tut mir leid, ich wollte nicht…“, begann sie und fragte sich abermals, wofür sie sich eigentlich entschuldigte. Aber ihre Gastgeberin schüttelte den Kopf, lächelte und tätschelte ihren Handrücken. „Nein, nein, ziehen Sie sich den Schuh nicht an!“, meinte sie mit einem Zwinkern und ihr Mann erhob sich schlagartig vom Stuhl. „Nun bleib doch sitzen und iss erst mal!“, sprach seine Frau, ohne Gehör zu bekommen. Er ging an den Küchenschrank, öffnete eine Schublade und zog einen Schrieb hervor. „Hier!“, hielt er ihn Hellen hin und stemmte die Hände auf die Hüften. „Ist das zu fassen?! Wir haben schon mehrmals gesagt, dass wir nicht verkaufen und gestern lag schon wieder so ein Schund in unserem Briefkasten!“ Zögerlich nahm Hellen ihm den Brief ab und schaute erst hinein, als auch seine Frau bestätigend nickte. „Nehmen Sie`s ihm nicht übel, er ärgert sich so über das freche Verhalten von diesem Immobilienhai, dass er sich im Moment bei jeder Gelegenheit darüber aufregt. Den Brief hat er sogar ein paar unserer Kunden gezeigt“, sprach die Frau des Schusters mit entschuldigendem Ton, während ihr Mann dem Klingeln an der Tür folgte und öffnete. Hellen überflog das Schreiben; halb darauf konzentriert, halb auf die Worte ihrer Gastgeberin. „In den letzten Jahren kauft der hier ein altes Haus nach dem anderen und will alles mit Gebäudekomplexen zupflastern. Ich versteh immer noch nicht, dass der Stadtrat das so mitmacht; hier war mal eine richtig hübsche kleine Ecke, mit viel Fachwerk und sehr einladend. Jetzt fehlen nur noch fünf, sechs Häuser und er hat quasi den ganzen Straßenzug vereinnahmt. Bisher halten wir restlichen Eigentümer zum Glück zusammen und bieten ihm die Stirn, aber der will ein Nein einfach nicht akzeptieren. Ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die nächsten einknicken und irgendwann wohnen wir dann umringt von diesen hässchlichen Böcken...", sprach sie mit einem Seufzen, ehe sie erneut ansetzte: "Neulich war er sogar einmal im Laden, um noch mal persönlich mit Gottfried zu sprechen und als er wieder ablehnte, meinte dieser Schnösel sogar zu ihm, dass er ja auch nicht mehr der Jüngste sei und er notfalls einfach wartet; die Zeit sei ja auf seiner Seite. Können Sie sich so was vorstellen?“, erzählte Hellens Gastgeberin mit einer Mischung aus Entsetzen, Trauer und Wut in der Stimme, während die junge Frau kaum wusste, was sie sagen sollte. Sie ließ den Zettel langsam sinken, ehe sie ihn wieder zurückgab und dabei zusah, wie er zurück in die Schublade kam. Beim Anblick des Brötchens, in das sie gerade noch so herzhaft hatte beißen wollen, wurde ihr plötzlich furchtbar schlecht und sie fuhr wie ertappt zusammen, als aus dem Flur eine fremde Stimme zu hören war. „Hallo Oma!“, rief ein junger Mann, der mit federnden Schritten in die Küche kam und die Angesprochene herzte. „Du kommst genau richtig zum Frühstück!“, freute sich die Frau des Schusters und tuschelte dem zweiten Gast etwas ins Ohr. Der aber nickte und lächelte. „Ja, Opa hat mir grad schon erzählt, dass Richie Rich gestern mal wieder Post geschickt hat“. Ein Seufzen verließ die Lippen der Großmutter; sie hatte einer Diskussion zuvorkommen wollen, aber die würde sich jetzt nicht mehr aufhalten lassen. Ihr Enkel konnte genauso hitzköpfig wie sein Großvater sein und zusammen verloren sie sich nur allzu gern in ausschweifende Diskussionen über ihren erklärten Erzfeind. "Dem werd ich ordentlich vorn Karren scheißen, das sag ich euch!", kam in diesem Moment auch der Großvater wieder in die Küche, nachdem er einen kurzen Kontrollblick zum Kaminofen geworfen hatte. "Gottfried!", stieß seine Frau sofort empört aus, während ihr Enkel lachte. Der Angesprochene machte aber nur eine wegwerfende Geste. "Ist doch wahr, Hildegard!", knurrte er und schmollte, während sie ein "Schluss jetzt!", zischte. „Ich will da im Moment nichts mehr von hören! Wir frühstücken!“, sprach sie mahnend und drehte sich dann wieder zu Hellen. „Außerdem, was macht das für einen Eindruck auf unseren Gast? Benehmt euch mal!“, warf sie Enkel und Ehemann gleichermaßen einen warnenden Blick zu, ehe sie doch wieder lächelte. Erst jetzt bemerkte auch der zweite Gast, dass er mit seinen Großeltern nicht allein war. „Benjamin, darf ich vorstellen?“, setzte seine Großmutter an, aber ehe sie weitersprechen konnte, wurde sie von ihrem Enkelsohn jäh unterbrochen. „Danke, Oma, nicht nötig“, legte er den Arm in schützender Pose um die ältere Dame, während seine Augen Hellen kalt fixierten. „Wir kennen uns schon“. Kapitel 126: 24.4.2024: immer – Buch ------------------------------------ Eine Sache musste man Sven lassen: Er schaffte es immer wieder, Saskia zu überraschen – oder auf die Palme zu bringen. An diesem Nachmittag war die Gratwanderung zwischen beidem besonders schmal, wie ihr Gesichtsausdruck verriet, als sie Sven und Jasmin die Tür öffnete. Noch immer in ihren Morgenmantel gehüllt, lugte sie nach dem Klingeln erst vorsichtig durch die Tür, um die beiden Überraschungsgäste dann entgeistert anzustarren. „Was macht ihr denn hier?!“, zischte sie mit kaum verhohlenem Unmut, der Jasmin zwar fast in die Flucht schlug, aber Sven gar nicht zu tangieren schien. „Hi! Wir waren grad zufällig in der Nähe!“, hob er lächelnd die Hand, während Jasmin darauf wartete, dass Saskia zur Medusa wurde und ihn in Stein verwandelte. Ihre Augenbraue sprang bereits gefährlich hoch und ihre Augen schmälerten sich ähnlich bedrohlich wie ihre Lippen. „Es stimmt, wir haben einen Stadtbummel gemacht und uns plötzlich hier wieder gefunden“, sagte Jasmin schnell und flüsterte Sven dann zu: „Ich hab gleich gesagt, dass das ne blöde Idee ist!“. Überraschenderweise konnte ausgerechnet das Saskia milde stimmen. Als Jasmin Sven drängen wollte, wieder zu gehen, winkte sie ab und schob die Tür etwas weiter auf. „Na, meinetwegen kommt rein, aber seid leise“, murmelte sie mit einem Seufzen und trat beiseite. Im gleichen Moment öffnete sich plötzlich die Wohnungstür von gegenüber und eine Frau mittleren Alters streckte den Kopf hervor. Schnell wollte Saskia ihre Gäste in die Wohnung ziehen, aber da wurde sie auch schon entdeckt. „Ach, gut, dass ich Sie sehe!“, schallte es sofort und ihre Nachbarin trat auf den Flur. Mit offensichtlichem Interesse musterte sie Sven und Jasmin, genauso wie Saskias Aufzug. „Wie gesagt, ich wollte grad duschen, aber ihr könnt solange warten“, versuchte sie ihr Erscheinungsbild zu rechtfertigen und zischte ein „Geh schon rein!“, als Jasmin das abermals als Aufforderung zum Gehen verstand. „Was kann ich für Sie tun, Frau Schubert?“, wandte sie sich dann an ihre Nachbarin und hoffte, dass die nicht wieder stundenlang versuchen würde, die neuesten Klatschgeschichten mit ihr zu teilen. „Ich wollt Sie nur dran erinnern, abends drauf zu achten, dass die Haustür richtig geschlossen ist“, meinte die blondierte Toupierte und stützte dabei die Hände auf die Hüften. Saskia hob die Augenbrauen, während sich ihre Nachbarin verstohlen umsah. „Ist etwas passiert?“ „Gestern Nacht ist wohl so ein betrunkener Penner in den Hausflur und hat hier – sagen wir – sich erleichtert“, beugte Frau Schubert sich zu ihr vor und flüsterte in verschwörerischem Ton. Saskia spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Wirklich?“, fragte sie und räusperte sich, woraufhin sie ein eifriges Nicken erntete. „Ja! Wissen Sie, ich schlaf ja immer so schlecht und muss zig mal in der Nacht raus, nervöse Blase – ist aber schon mehrfach untersucht worden und der Arzt hat nichts festgestellt! Meinen Sie, ich sollte vielleicht mal zu einem anderen gehen? Vielleicht ist meiner ja ein Quacksalber, wenn ich genau darüber nachdenke…“, begab sie sich in gefürchtetes Fahrwasser und wurde schnell von Saskia unterbrochen. „Das ist wirklich ärgerlich mit der Blase, aber noch mal zurück zu dem Penner: Was war damit?“, fragte sie und seufzte innerlich aus, als das Gespräch wieder aufs eigentliche Thema zurücksteuerte. „Richtig! Jedenfalls, ich war mal wieder auf dem Weg ins Bad, da hör ich von draußen diese Geräusche! Natürlich war mir Angst und Bange! Ich dachte mir, lass bloß die Tür zu, nicht, dass der noch über dich her fällt! Den Rest der Nacht hab ich kein Auge mehr zu getan! Und Kaminski von schräg unten hat das auch mitbekommen; die muss ja immer zur Nachtschicht. Die meinte, sie hatte was rumpeln gehört und als sie aus der Wohnung kam, fiel ihr der Gestank auf. Aber da war der Typ wohl auch schon weg!“, trat sie immer näher an Saskia heran, ohne zu bemerken, wie die dabei zurückwich. Sven und Jasmin schauten sich irritiert an. Inzwischen standen sie zwar längst in Saskias Flur, lauschten aber trotzdem angestrengt, was die mit ihrer Nachbarin beredete. „Also hat niemand mitbekommen, wer das war?“, fragte Saskia und ihre Nachbarin schüttelte energisch den Kopf. „Nein! Ist nur zum Kotzen hier rein und dann wieder weg! Kann man sich so was vorstellen? Also, wenn mein Harald noch leben würde…“ „Ja, Frau Schubert, das ist wirklich unerhört!“, legte Saskia schnell die Hand an ihre Schulter und nickte. Ihre Nachbarin seufzte aus und schüttelte den Kopf. „Bloß dass heute Morgen dann alles geputzt war, hat mich gewundert“, seufzte sie erneut und legte den Kopf schief, ehe sie vom störend lauten Lüfter in ihrem Badezimmer berichtete. „Manchmal ist das wirklich ärgerlich, wenn ich dadurch z.B. erst beim Klingeln bemerke, dass der Postbote kommt!“, murmelte sie und wurde abermals von Saskia unterbrochen. „Ja, das ist sehr ärgerlich. Und die Sauerei hatte ich übrigens heute Morgen weggewischt. Ich dachte, das wäre mal wieder die Nachbarskatze gewesen, die ständig hier im Hausflur sitzt“, sagte sie schnell. „Richtig! Das hat ja auch schon so einige Schweinereien mit sich gebracht, wenn das verfluchte Tier hier nicht schnell genug wieder raus kam! Ich muss der Müller wirklich noch mal sagen, dass sie ihr Vieh bei sich behalten soll! Meinetwegen anleinen, das geht bei Hunden doch auch!“, polterte Frau Schubert los und langsam gingen Saskia die Ideen aus, wie sie sie abwimmeln sollte. „Frau Schubert…“, setzte sie an, ohne noch dazwischen zu kommen und hörte erleichtert, dass irgendwo ein Telefon klingelte. „Oh, ich glaub, das ist meins! Das könnte wichtig sein. Tut mir leid!“, rief sie aus und schloss fix die Tür, um sich dann mit einem Seufzen dagegen zu lehnen. „Sehr redselig, hm?“, grinste Sven, während Jasmin schmunzelnd ihr Smartphone hoch hielt. Saskia musterte die beiden und lächelte dann. „Danke!“, raffte sie sich und schlurfte zur Küche. „Das wäre jetzt noch Stunden so weiter gegangen“. „Wir hatten früher auch so eine Nachbarin. Zum Glück ist sie irgendwann weggezogen“, erzählte Jasmin und kam der Einladung, sich an den Tisch zu setzen, gerne nach. „Ich wünschte, das täte sie auch, aber Frau Schubert ist quasi schon Inventar“, holte Saskia Gläser aus dem Schrank und füllte sie mit Getränken. „Sollen wir denn fragen, wie du es trotz Kater und Rausch ausschlafen geschafft hast, heute Morgen den Hausflur zu wischen?“, meinte Sven und konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als Saskia ihm einen tödlichen Blick zuwarf. „Kein Wort, verstanden?“, knurrte sie halb im Ernst und verschwand dann für einige Augenblicke ins Schlafzimmer, um sich ein paar Klamotten überzuziehen. „Also? Was treibt euch hierher?“, fragte sie schließlich bei ihrer Rückkehr und setzte sich mit an den Küchentisch. „Wir wollten nur mal nach dir sehen und Detlef Tschüss sagen, aber wir haben ihn wohl verpasst. Schade“, meinte Sven und Jasmin runzelte die Stirn, als Saskia sich auffällig räusperte. „Nein, nicht ganz“, murmelte sie und drehte ihr Glas auf dem Tisch. „Er ist noch da, aber er schläft gerade…“ Sven hob überrascht die Augenbrauen. „Um diese Uhrzeit?!“ „Ach, deswegen sollten wir leise sein“, mischte Jasmin sich ein und Saskia nickte. "Ja, er war sehr erschöpft von der langen Fahrt und dann wars ja heute Nacht schon sehr spät, als er mich nach hause gebracht hat! Er hat sich den Schlaf jetzt echt verdient!", nahm sie einen langen Schluck aus ihrem Glas und seufzte aus. "Hmhm", tat Jasmin es ihr gleich, während Sven diese irritiert anschaute. "Warum grinst du so?", wollte er wissen, aber zur Antwort hüllten beide Frauen sich nur in Schweigen und Schulterzucken. Kapitel 127: 25.4.2024: Pferd - Buch ------------------------------------ „Da hast du wohl aufs falsche Pferd gesetzt“, meinte Felix zu seinem Kumpel Dirk, während sie die Straße vom Bahnhof zur Innenstadt entlang schlenderten und Dirk seinen Lottoschein zerriss. „Ach, halt die Klappe“, knurrte der und ärgerte sich über das verlorene Geld. Nicht einmal die Investition in den Schein hatte er wieder herausbekommen. Warum hatten andere so viel Glück bei diesen Sachen nur er nicht? Er warf die Schnipsel auf den Weg, schob die Hände in die Hosentaschen und seufzte. Dass ihm ein Passant nachrief, dass es zwei Meter weiter einen Mülleimer gäbe, interessierte ihn nicht. Felix hingegen schmunzelte bei Dirks Sauertopfmiene. Plötzlich wurde dessen grummeliger Ausdruck weicher. Seine Augenbrauen schnellten hoch und er blinzelte einige Male. „Pferde…“, murmelte er und wurde fragend angeschaut. „Das ist eigentlich auch ne Idee! Ich versuch es mal mit Pferdewetten!“ Felix verdrehte die Augen und seufzte. „Lass die Finger davon. Mein Onkel hat dabei Haus und Hof verloren“, meinte er und schnappte sich im Vorbeigehen eine Weintraube, die mit anderem Obst und Gemüse vor einem kleinen Lebensmittelladen präsentiert wurde. Mit einem verstohlenen Blick versicherte er sich, dass der Besitzer ihn nicht erwischt hatte und schob sich das Früchtchen dann genüsslich in den Mund. „Hmm“, schmatzte er, um dann das Gesicht zu verziehen. „Ieh, mit Kernen!“ Dirk hatte hingegen längst sein Handy hervorgekramt, um sich über seine neueste Idee, schnell an viel Geld zu kommen, näher zu informieren. „Tja, so hat wohl jeder sein Laster“, murmelte er als Seitenhieb auf Felix` manchmal zu klebrige Finger. Der zuckte die Schultern und grinste. In seinen Augen war das, was er mitgehen ließ, nur ein Kavaliersdelikt; Kleinkram, der kaum etwas wert war und den meisten vermutlich nicht mal auffiel, wenn er verschwunden war. Genauso wie eine kleine Spielzeugfigur, die beim Weg durch die Einkaufspassage in seiner Jackentasche landete. „Deine kleine Schwester steht doch auf so einen Kram, oder?“, hielt er sie Dirk wenig später unter die Nase, der nur genervt mit den Augen rollte. „Behalt dein Diebesgut für dich!“, knurrte er und beide zuckten zusammen, als hinter ihnen eine nur allzu bekannte Stimme erklang. „Wen haben wir denn da? Den Langfinger und sein Kumpel mit den illegalen Wetten. Na, was habt ihr dieses Mal ausgefressen?“, stand ein Polizist hinter ihnen und musterte sie, als sich zu ihm umdrehten. Schnell versteckte Felix sein Diebesgut wieder in der Jackentasche, aber er war längst aufgefallen. „Seid ihr nicht ein bisschen zu alt für Black Beautys Plastiknachbau?“ Kapitel 128: 26.4.2024: Heiraten - Buch --------------------------------------- „Die ist immer so.“ Saskia überschlug die Beine und nippte an ihrem Getränk. „Stell ich mir anstrengend vor“, murmelte Jasmin und Saskia nickte. „Manchmal hab ich den Eindruck, dass die Schubert nichts anderes im Leben hat, als Klatsch und Tratsch. Entweder klebt sie mit dem Ohr an der Wohnungstür oder drückt sich die Nase am Fenster platt. Habt ihr gemerkt, wie sie euch gemustert hat?“, seufzte Saskia und Sven zuckte die Schultern. Jasmin allerdings war es durchaus aufgefallen. „Muss sie denn nicht arbeiten?“, meinte sie und Saskia hob kurz die Hände. „Scheinbar reicht ihre Witwenrente aus, um davon leben zu können“, meinte sie und versuchte es sich auf dem Stuhl gemütlicher zu machen - sie hätte die beiden doch ins Wohnzimmer führen sollen. „Versteht mich nicht falsch, sie tut mir irgendwo auch leid. Sie erzählte mal, dass sie früh geheiratet hatte und ihr Mann vor einigen Jahren bei einem Unfall starb. So was wünsch ich keinem, aber trotzdem ist sie auch verdammt anstrengend. Ständig steckt sie die Köpfe mit der Kaminski von unten zusammen und palavert über die halbe Nachbarschaft. Oder darüber, was in irgendwelchen Schundblättchen steht. Ich bin wirklich froh, dass die Wände hier dick genug sind, um nicht ständig wie auf Eiern laufen zu müssen. Ich glaub, sonst würde regelmäßig ein Kreuzverhör der beiden stattfinden, bei dem sie wissen wollen, wer was wann in seiner Wohnung gemacht hat. Sie schnüffeln ja sogar in den Mülltonnen der Nachbarn rum“, verdrehte Saskia die Augen und schüttelte den Kopf. Ihre Gäste schauten sie irritiert an. „Hat sie denn sonst keine Familie? Kinder? Andere Verwandte?“, meinte Sven und spürte, wie das Mitleid für Saskias Nachbarin in ihm wuchs. „Drüber gesprochen hat sie noch nie, aber geh doch einfach rüber und frag sie selbst“, grinste die hingegen und brachte Jasmin damit zum Lachen. „Dir würd ich das sogar zutrauen“, meinte sie und linste aus den Augenwinkeln zu Sven. „Ist das meine Nachbarin?!“, guckte er verdattert von einer zur anderen und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas, ehe er meinte: „Wer weiß, was der Frau passiert ist, dass sie so geworden ist. Vielleicht liegts ja nicht nur am Tod ihres Mannes“. Eine Weile kehrte Stille ein und jeder hing seinen Gedanken nach. Saskia ertappte sich bei der Überlegung, ob sie in den vergangenen Wochen vielleicht auch ein wenig schrullig gewesen war – obwohl sie Detlef ja nicht vollends verloren hatte. „Wie ist das jetzt eigentlich mit Detlef und dir?“, brach Sven schließlich das Schweigen, als hätte er ihre Gedanken gelesen und Saskia blickte ihn beinahe schon ertappt an. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Wir versuchen es noch mal“, murmelte sie und sah, dass ihre Freunde sich aufrichtig für sie zu freuen schienen. „Wurde aber auch Zeit, dass ihr euch wieder zusammenrauft!“, lehnte Sven sich nach vorn, um Saskia auf die Schulter zu klopfen, während Jasmin sich in ein schweigsames Lächeln hüllte. „Und was macht ihr als nächstes? Zusammenziehen? Heiraten? Kinder?“, sprudelte es aus Sven heraus, während Saskias Augen mit jedem Wort größer wurden. „Dir ein bisschen Feingefühl beibringen“, ertönte es da plötzlich aus Richtung Flur und alle drei drehten sich verwundert zur Tür um. „Hey! Guck an, wer da ist! Na? Ausgeschlafen?“, grinste Sven und stand auf, um Detlef mit einer Umarmung zu begrüßen. "Wie soll man denn bei deinem Krach schlafen?", antwortete der und lachte, als er Svens nächsten Kommentar hörte. "Musst du allen unter die Nase reiben, wie gut trainiert du bist?", stimmte der mit ein und klopfte dem Blonden kräftig auf die Schulter. Jasmin nickte zwar auch kurz rüber, bestaunte dann aber Saskias Zimmerpflanzen auf der Fensterbank neben ihr - zwei Kakteen, die im Gegensatz zu Detlef nicht oben ohne da standen. "Vielleicht gehst du erst mal duschen und ziehst dir was an, hm?", stand Saskia auf und ging zu Detlef, um ihm einen kurzen Kuss aufzudrücken, ehe sie ihn aus dem Zimmer schob. „Warum soll er duschen? Anziehen reicht doch?“, meinte Sven verwundert und ließ sich seinerseits zurück Richtung Tisch schieben. Saskia rollte die Augen. „Manchmal bist du wirklich schwer von Begriff“, nuschelte sie, während Jasmin sich ihnen jetzt wieder zuwendete. "Ich glaub, er hat vorhin noch kurz Sport gemacht", konnte sie sich eine kleine Spitze nicht verkneifen und nippte grinsend an ihrem Glas. Saskia guckte kurz überrascht, aber dann umspielte auch ihre Lippen ein Schmunzeln. "Biest", flüsterte sie erst und lachte dann auf, als aus dem Flur plötzlich das Wörtchen "Matratzensport" ertönte. Zwar wurde auch Jasmin in bekannter Manier rot, aber ihre Gesichtsfarbe war nichts gegen Svens, als ihm langsam dämmerte, wie unpassend ihr Besuch wirklich war. "Vielleicht sollten wir jetzt doch wieder gehen..." Kapitel 129: 27.4.2024: Jeans - Buch ------------------------------------ „Sei ehrlich, steht mir die Hose?“ Jasmin trat in Svens Zimmer und präsentierte ihm ihre neue Jeans, indem sie sich einige Male um sich selbst drehte. Er saß gerade am Schreibtisch über seiner Seminararbeit und schaute irritiert auf. "Ja, sieht gut aus", meinte er und wunderte sich darüber, dass Jasmin ihn bei diesem Thema plötzlich um seine Meinung bat. "Meinte die Verkäuferin auch", murmelte sie und schien trotzdem nicht überzeugt zu sein. Immer wieder musterte sie sich von allen Seiten im Spiegel und zog den Mund kraus. "Also irgendwie...". Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Sven drehte sich weiter zu ihr um und fragte: "Wo ist denn das Problem? Sie sitzt doch gut und die Farbe steht dir auch". Er nahm die Brille ab, während sie noch immer unzufrieden in den Spiegel guckte. "Ich weiß nicht, ich hab das Gefühl, dass der hohe Stretchanteil meinen Hintern so betont... Die Jeans, die ich sonst trag, haben mehr Baumwolle", warf sie ihrem Spiegelbild einen Blick über die Schulter zu und zuppelte am Hosenbund herum. Dann schaute sie wieder zu Sven, dem die Situation langsam etwas unangenehm wurde. "Warum hast du sie dir gekauft, wenn du dich nicht wohl darin fühlst?", fragte er und wieder verzog Jasmin den Mund. "Ich dachte, vielleicht sollte ich mal ein bisschen mehr aus mir herauskommen und mich figurbetonter anziehen. Und als die Verkäuferin dann noch meinte, wie toll die Hose an mir aussähe...", sie zuckte die Schultern und seufzte abermals aus. "Ich glaub, ich geb sie zurück", riss sie sich schließlich vom Spiegel los und ging aus dem Zimmer. Sven schaute ihr einen Moment schweigend nach und fragte sich, warum er plötzliche diese Unruhe spürte. "Warum möchtest du dich denn figurbetonter anziehen?", hielt es ihn nach kurzem Zögern doch nicht mehr auf dem Stuhl und er ging ihr nach. Jasmin schlüpfte gerade zurück in ihre Jogginghose und fuhr ihn an, sich umzudrehen, als er in ihr Zimmer rauschte. "Ich hab nichts gesehen!", wehrte er sogleich ab und starrte in den Flur hinein. Einen Kommentar darüber, dass ihre Zimmertür sperrangelweit offen stand, verkniff er sich. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass er ihr nachging. "Zum Glück hab ich den Bon noch", hörte er sie kurz darauf murmeln und im nächsten Moment stand sie auch schon neben ihm, um sich auf den Weg zurück zum Klamottenladen zu machen. "Ich möchte endlich wieder einen Freund, aber als graue Maus fall ich keinem auf. Linda hat zwar recht damit, dass ich mir aus mir machen kann, aber letztlich bringts auch nichts, wenn ich mich nicht wohl fühle", meinte sie zu Sven und lächelte ihn dann an. "Danke, dass du mich für die komische Modenshow nicht ausgelacht hast", strich sie ihm kurz über den Arm und ging zur Tür. "Ich bin echt froh, dass wir inzwischen so gute Freunde sind!", rief sie ihm über die Schulter hinweg zu und verschwand dann mit einem "Bis später!" aus der Wohnung. "Ja, bis später", murmelte er und hob fahrig die Hand, obwohl sie längst weg war. Warum fühlte der Knall der Tür sich fast wie ein Schlag in den Magen für ihn an? Einige Augenblicke hing er seinen Gedanken nach und ging dann schließlich zurück an seine Seminararbeit. Kapitel 130: 28.4.2024: Licht - Buch ------------------------------------ „Das Licht ist aus!“, rief Michelle erschrocken, als der Raum von einer auf die nächste Sekunde in völliger Dunkelheit lag. „Was du nicht sagst“, murmelte ihr Kumpel Sascha und kramte sein Handy hervor. „Wird wohl am Gewitter liegen. Vermutlich nur ein Kurzschluss – wo ist der Sicherungskasten?“, erhob er sich von der Couch und leuchtete hinüber zur Zimmertür. Er hatte die alte „Bruchbude“, die Michelle von ihren Großeltern übernommen hatte, nie sonderlich gemocht. Jetzt sah er sich in seiner Abneigung bestätigt. Das Haus war alt und in seinen Augen völlig marode. „Im Keller, links neben der Tür, aber sei vorsichtig“, meinte Michelle und nahm ihr eigenes Handy vom Wohnzimmertisch. Sascha nickte. Einmal war er schon im Keller gewesen und die Treppe wand sich ähnlich halsbrecherisch ihren Weg wie jene in den ersten Stock. „Bin gleich wieder da“, murmelte er und verschwand aus dem Zimmer, während Michelle zum Wohnzimmerschrank hinüber lief. Sie dankte ihrer Großmutter dafür, ihr immer eingebläut zu haben, dass sie stets einen kleinen Vorrat Kerzen im Haus haben sollte. Eifrig holte sie die Lichtspender hervor, hüllte den Raum in den schwefligen Geruch der Zündhölzer und brachte so langsam wieder Licht ins Dunkel. Eigentlich hatten sie einen gemütlichen Filmabend abhalten wollen, aber beim aufziehenden Gewitter war ihr sofort mulmig geworden und nun hoffte sie, dass beim Stromausfall nicht auch der Fernseher Schaden genommen hatte. „Scheiße!“, hörte sie Sascha vom Flur her fluchen, während sie die letzten Kerzen in ihre Halter steckte und aufstellte. „Alles okay?“, rief sie ihm zu und hörte kurz darauf, wie er zurück ins Zimmer kam. „Nein! Die Sicherung ists scheinbar nicht. Ich hab ja schon so oft gesagt, dass die Leitungen in der Bude hier einfach Schrott sind, genau wie der Rest vom Haus. Du solltest es verkaufen und dir was suchen, das besser in Schuss ist. Nicht so ein Vorkriegsmodell“, maulte er und ließ sich mit verschränkten Armen auf die Couch fallen. Michelle musterte ihn im Kerzenschein und stellte dann die letzte Latüchte auf. „Warum bist du so gegen dieses Haus?“, fragte sie, weil sie Saschas Bedenken schon früher bemerkt hatte, aber jetzt so deutlich wie nie seine Abneigung spürte. „Weil es alt ist! Es kann mit den heutigen Standards nicht mithalten, die Wände sind teilweise schief, die Decken niedrig und ich frag mich wirklich, was deine Großeltern damals geritten hat, dir das Ding zu vermachen! Am Ende sitzt du wahrscheinlich auf einem Schuldenberg, wenn du das alles hier sanieren willst!“, schüttelte er den Kopf und hob den Blick zu Michelle, als sie sich hinter ihn an die Couch stellte. Sie stützte sich auf die Rückenlehne und schmunzelte. „Hier hab ich meine Kindheit verbracht. Es ist nicht nur eine alte Bruchbude, sondern ein Haus voller Geschichten und Leben. Es hat seine Eigenheiten – so wie wir auch“, meinte sie und lachte, als Sascha die Augen verdrehte. Manchmal konnte Michelle wirklich theatralisch sein. „Und jetzt komm mal mit“, sagte sie plötzlich und trat ans Wohnzimmerfenster. Sascha schaute ihr kurz irritiert nach, ehe er ihrer Aufforderung folgte. „Was ist?“, stellte er sich hinter sie und schaute in die schwarze Nacht. „Fällt dir was auf?“, fragte sie und er runzelte die Stirn. Dann hob er die Augenbrauen und wieder schmunzelte Michelle. „Der Strom ist in der gesamten Stadt weg. Es liegt also nicht an meiner Bruchbude“, grinste Michelle und Sascha seufzte. „Außerdem hat diese „Hütte“ etwas, das viele moderne Häuser um uns herum nicht haben: Einen Holzofen, mit dem wir uns jetzt ein warmes Plätzchen und sogar was zu Essen ermöglichen können. Vielleicht ist es doch nicht so übel hier, hm?“, nickte sie leicht in Richtung Küche und ging dann vor. Sascha schaute ihr einen Moment schweigend nach, ehe er ihr folgte. Ja, vielleicht konnte das alte Häuschen doch auch mal mit einer positiven Überraschung aufwarten. Kapitel 131: 29.4.2024: flüssig ------------------------------- Gleichmäßig schwang das Pendel der Wanduhr von Seite zu Seite, kam seiner Arbeit zuverlässig und unermüdlich mit einem monotonen Geräusch nach, das erst nur eine unbeachtete Hintergrundbeschallung gewesen war und nun mit jedem Schlag dröhnender wurde. Es hämmerte in Hellens Kopf, während sie das Blut in ihren Ohren rauschen hörte und spürte, wie jede Flüssigkeit aus ihrem Mund verschwand. Sie starrte hinauf zu Benjamin, der seine Großmutter noch immer schützend umarmt hielt, während er gleichzeitig fast eines Schutzschildes gleich vor seinem Großvater stand. Kühl blickte er auf sie hinunter, während seine Großeltern nicht wussten, was gerade geschah. Seine Großmutter wollte wissen, warum ihr Enkel sich so abweisend gegenüber ihres Gastes verhielt und sein Großvater fragte, woher sie sich kannten. Benjamin aber musterte Hellen voller Abscheu, bevor er das unerträgliche Ticken mit seiner Stimme wieder übertönte. „Der Kerl ist sich wirklich für nichts zu schade, was?“, lag blanker Ekel in seinen Worten, die er beinahe ausspuckte wie Galle. „Jetzt schickt er auch noch seine Angetraute hierher?!“ Hellen wollte aufspringen und protestieren, aber sie fühlte sich wie angenagelt, die Hände und Füße taub, die Kehle gelähmt. „Ich kenn sie von der Schule. Die war in meiner Parallelklasse“, knurrte er, an seine Großeltern gewandt, um ihnen endlich zu erklären, woher er so genau wusste, wer da gerade vor ihm saß. Ja, Hellen erinnerte sich an Ben, das Sportass, das besonders im Schwimmunterricht mit Bestleistungen beeindruckt hatte. Der wie ein Fisch in fließenden Bewegungen seine Bahnen gezogen hatte, als wäre er eins mit dem flüssigen Element gewesen. Neben Richard war er einer der beliebtesten Jungen der Schule gewesen; durch alle Jahrgänge hindurch. Eigentlich waren die beiden jungen Männer nie richtige Konkurrenten gewesen – lagen ihre Vorzüge doch in völlig unterschiedlichen Richtungen – aber trotzdem hatte Hellen damals das Gefühl gehabt, dass Richard eine gewisse Genugtuung verspürte, als Ben sich kurz vorm Abschluss eine Muskelverletzung zugezogen hatte. Seine Sportkarriere war so vielversprechend gewesen, aber durch die verletzte Schulter hatte er keine Aussicht darauf gehabt, sie weiter ausbauen zu können. Zumindest nicht mit der Unterstützung, die ihm zur Verfügung gestanden hatte, von Ärzten, die zwar ihr Bestes getan hatten, um ihm zu helfen, aber deren Ausrüstung und Erfahrung nicht an das heranreichte, was ein Richard sich in so einem Fall sicherlich hätte leisten können… Früher war ihr bei Ben nie so eine Kälte aufgefallen wie jetzt. Hellen schluckte hart gegen die schmerzende Kehle und griff mit zittrigen Fingern nach ihrem Tee, während Ben seine Großeltern weiter darüber in Kenntnis setzte, wen sie sich da ins Haus geholt hatten. „Wenn ich mich nicht irre, sind die beiden im letzten oder vorletzten Schuljahr damals zusammen gekommen und spielen sich seitdem als Vorzeigepärchen auf. Achtet mal auf die Fotos in den Tageszeitungen, wenn mal wieder irgendeine Wohltätigkeitsveranstaltung oder so was war: Richie Rich steht dann zwar im Vordergrund, aber sie ist auch oft genug mit abgelichtet“, nickte er zu Hellen und ließ seine Großmutter los, um stattdessen auf den Tisch zu zu treten und die Arme vor der Brust zu verschränken. Hellen schaute Bens Großeltern an und sah das Entsetzen, die Enttäuschung ihren Augen, aber auch die wachsende Erkenntnis, je länger sie sie anschauten. Dank des Regens, der von ihrem Styling nicht allzu viel übrig gelassen hatte, war es ihnen nicht sofort aufgefallen, aber jetzt fiel es wie Schuppen von den Augen. „Potzblitz! Jetzt weiß ich auch, warum Sie mir so bekannt vorkamen!“, stieß der Schuster aus und schüttelte den Kopf. War das etwa alles eine Finte gewesen? Die hilflose Frau auf der Bank, die an seine Gutmütigkeit appellieren sollte? „Bestell deinem Freund einen schönen Gruß, er soll meine Großeltern endlich in Ruhe lassen! Sie werden nicht verkaufen und wenn er sich auf den Kopf stellt! Und jetzt gehst du lieber, du bist hier nämlich flüssiger als flüssig: überflüssig!“, rümpfte Ben die Nase und wandte sich so zur Tür, dass sich auch ohne zusätzliche Handbewegung eine mehr als eindeutige Geste daraus entwickelte. Hellen wollte sich am Tisch hochdrücken und aufstehen, aber ihre Knie gaben nach. Sie kannte diese Leute erst kurze Zeit und trotzdem trafen sie die plötzliche Abweisung und der falsche Eindruck, den sie von ihr gewannen. „Ich wusste nichts davon“, brachte sie schließlich heiser hervor und schüttelte leicht den Kopf. „Mit Richards Geschäften hab ich nichts zu tun. Ich wusste nicht, dass…“. Sie brach ab und ließ die Schultern sinken. Nur allzu deutlich war in den drei Gesichtern zu lesen, dass sie ihr nicht glaubten. „Erspar uns das Theater! In was für einer Welt lebst du denn bitte, wenn du keine Ahnung haben willst, was dein Freund für ein abgezocktes Arschloch ist?!“, knurrte Ben und erntete dafür einen empörten Ausruf seiner Großmutter. Bei allem Ärger, den sie Bens ehemaligem Mitschüler verdankten, wollte sie solche Kraftausdrücke in ihrem Haus nicht hören. „Sie sollten jetzt wirklich gehen“, meldete sich der Schuster plötzlich zu Wort und packte das belegte Brötchen in einen Frischhaltebeutel, den er Hellen kurz drauf vor die Nase hielt. Ihre geröteten Augen ließen ihn nicht kalt, also wandte er sich ab, als sie die Tüte griff und zum Ende der Sitzbank rutschte, um hinter dem Tisch hervor zu kommen. „Ich studier Tiermedizin und er ist mit seinen Geschäften so beschäftigt, dass wir uns oft nur abends oder frühmorgens sehen und da reden wir selten über beruflichen Themen“, versuchte Hellen es noch einmal und musste schnell merken, dass der kleine Funke Hoffnung vom eisigen Hauch der Ablehnung ausgeblasen wurde. Sie fühlte, wie Bens Hand sich auf ihren Rücken legte, warm und doch voller Härte, mit der er sie zur Haustür schob. „Hast du keinen Mantel?“, sprach er beinahe fahrig, als er im Vorbeigehen zur Garderobe blickte und dann wahrnahm, wie dünn Hellens Kleid wirklich war. Sie schüttelte den Kopf und bekam eine Gänsehaut, kaum, dass er die Tür öffnete und ein kalter Wind sie begrüßte. Kurz blitzte ein Funke Mitleid in Bens Augen auf. „Wir hatten damals zwar nur in den AGs miteinander zu tun, aber ich fand dich trotzdem nett. Schade, dass du dich ausgerechnet auf so einen miesen Kerl eingelassen hast“, griff er nach kurzem Zögern seine eigene Jacke von der Garderobe und drückte sie Hellen in die Hände. Irritiert starrte sie erst ihn und dann sein Kleidungsstück an. „Tu mir den Gefallen und komm nicht auf die Idee, sie hierher zurück zu bringen. Gib sie einfach am Hallenbad ab, da geb ich Schwimmunterricht“, hielt er mit einer Hand die Tür fest im Griff, während er die andere auf die Hüfte stützte. Sein Fuß tippte ungeduldig auf und ab. Hellen nickte, doch in ihrem Kopf herrschte noch immer ein Nebel und Wirrwarr aus den vielen Erkenntnissen der letzten Stunden und Momente. „Danke… auch an deine Großeltern für ihre Gastfreundschaft. Und… auch wenn du mir nicht glaubst: Ich wusste es wirklich nicht und ich wollte auch niemandem weh tun. Es tut mir leid…“, murmelte sie und stieg die wenigen Stufen der Eingangstreppe hinab, während sie sich wieder fragte, warum sie sich eigentlich entschuldigte. Das dumpfe Klacken der Haustür ließ sie zusammenzucken. Kapitel 132: 30.4.2024: weiß ---------------------------- „Weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen gemacht habe?!“. Richard schüttelte verständnislos den Kopf und ging vor Hellen auf und ab. Vor wenigen Minuten erst war sie in ihre gemeinsame Wohnung zurückgekehrt. Als er sie erblickt hatte, war er regelrecht auf sie zugerannt gekommen, um sie an sich zu ziehen und sich zu erkundigen, wie es ihr ginge, aber nun spiegelte sich vor allem Enttäuschung in seinem Gesicht wider. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Und warum hast du nicht auf meine Anrufe reagiert? Ich hab zig Mal versucht, dich zu erreichen!“, baute er sich vor ihr auf und stemmte die Hände auf die Hüften. Sie hingegen spürte die Erschöpfung nach der langen Nacht, den vielen Schritten und dem erschreckenden Morgen. „Tut mir leid“, ließ sie sich auf dem weißen Ledersofa nieder und zog die hochhackigen Schuhe aus, die sie für den Rückweg wieder getragen hatte. Mittlerweile fragte sie sich, wie sie überhaupt freiwillig diese Dinger tragen konnte, so unbequem und einschneidend wie sie waren. Als sie die vom nächtlichen Spaziergang dreckigen Füße etwas massierte und dabei zu ihrem Freund hinauf sah, erkannte sie die Abschätzigkeit in seinem Blick. Er musterte sie; das zerlaufene Make-Up, die zerzausten Haare und die dreckigen Schuhe, die kaum noch davon berichteten, vor wenigen Stunden noch makellos weiß und glänzend gewesen zu sein. „Also, was sollte das alles?“, zog er die Augenbrauen kraus und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich war einfach nur spazieren und musste den Kopf etwas frei kriegen“, meinte Hellen und lehnte sich auf dem Sofa zurück, um Richard besser anschauen zu können. Er schüttelte den Kopf. „Was ist das plötzlich für eine Eigenart von dir? Und wieso sagst du dann nichts? Was, wenn dir was passiert wäre?!“, sprach er verständnislos, aber sie zuckte nur die Schultern. „Es hat sich so ergeben“, murmelte sie und schob sich einige Strähnen hinters Ohr. Selbst der Fußmarsch zurück nach hause hatte nicht geholfen, das ganze Wirrwarr in ihrem Kopf vollends zu ordnen. „Hast du was dagegen, wenn ich duschen gehe und mich dann etwas ausruhe? Lass und nachher reden, ja?“, stand sie auf und spürte, wie nicht nur ihre Füße schmerzten. Ihr ganzer Körper fing zunehmend an, gegen die Strapazen zu protestieren. Sie wollte ihrem Freund im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange geben, aber der wendete sich ab. Enttäuscht ließ Hellen die Schultern sinken und ging durch das ausladende Wohnzimmer hinüber zum Bad. Schämte er sich für sie? Oder ekelte er sich sogar vor ihrer aktuellen Erscheinung? „Ich wollte dir keinen Kummer bereiten“, murmelte sie leise und durch einen Schleier von Tränen hindurch. „Hauptsache, dir ist nichts passiert“, antwortete er, ohne dabei die Kälte in seiner Stimme verhehlen zu können. Hellen ließ den Kopf hängen und erst das warme Wasser, das einige Minuten später ihren Körper einhüllte und kribbeln ließ, brachte neues Leben und Energie in sie zurück. Sie stand eine gefühlte Ewigkeit da und hielt ihr Gesicht in den künstlichen Schauer, der ihr sanft prasselnd über Stirn und Wangen strich, während ihre Gedanken langsam anfingen, sich zu sortieren und greifbarer zu werden. Immer wieder drängte sich ihr die Frage auf, ob Richard sich wirklich Sorgen um sie gemacht oder sich eher vor negativen Schlagzeilen gefürchtet hatte, wenn sie in ihrem zerzausten Aufzug irgendwo abgelichtet worden wäre. "Hätte ich die Jacke vielleicht doch anlassen sollen, anstatt sie im Keller zu verstecken?", murmelte sie ins Rauschen des Wassers hinein und fragte sich wieder, warum sie sich aus einem Impuls heraus für die Verheimlichung entschieden hatte. Kapitel 133: 1.5.2024: Feiertag ------------------------------- Seit gut fünf Minuten stand Hellen bereits vor dem Hallenbad und schaute auf die Aneinanderreihung von Milchglasfenstern und Metall, die das Gebäude an ein Gewächshaus erinnern ließen. Sie wusste gar nicht mehr, wann sie das letzte Mal dort zu Besuch gewesen war. Hatte sie es seit Ende ihrer Schulzeit überhaupt einmal wieder betreten? Von den baulichen Veränderungen der letzten Jahre hatte sie nur über Zeitungsberichte oder durch Gespräche erfahren. Der Weg über den Parkplatz war an diesem Tag noch derselbe wie früher gewesen, aber schon von außen erinnerte nur noch wenig an das Hallenbad, das sie zu Schulzeiten für den Schwimmunterricht hatte besuchen müssen – immer im Winter statt im Sommer, wenn das Wasser wenigstens noch eine schöne Abkühlung gewesen wäre... War sie deshalb mit dem Schwimmen nie richtig warm geworden und hatte mehr Freude an anderen Sportarten gefunden? Sie nahm einen tiefen Atemzug und wandte sich zum Eingang. Immer noch stand eine kleine Schlange davor, die auf Einlass wartete und vom Parkplatz kamen schon die nächsten Besucher angelaufen. Eigentlich wollte Hellen nicht, dass jemand den Grund ihres Besuchs mitbekam, aber so wie es im Moment aussah, konnte sie noch Stunden warten, um die Kassiererin ungestört zu sprechen. Mit gemischten Gefühlen stellte sie sich also an; hinter eine der vielen Familien mit kleinen Kindern, die den Feiertag für einen Ausflug hierher nutzten. Es überraschte Hellen, wie viele von ihnen es heute hierher zog, obwohl die Außentemperaturen noch recht kalt waren, selbst wenn die Sonne schon fleißig schien. Ab und zu bekam sie einen verwunderten Blick der anderen Besucher mit, weil sie kein Handtuch oder ähnliches bei sich hatte, aber die meiste Zeit über waren die Leute mit sich selbst beschäftigt. Oder irritierte sie eher die große Sonnenbrille auf Hellens Nase? Sie schwankte, ob sie damit unnötig viel Aufmerksamkeit auf sich zog, obwohl sie sie eigentlich nutzen wollte, um sich dahinter zu verstecken. Als sie schließlich an die Kasse trat, schob sie sich ins Haar – auch aus Höflichkeit der Kassiererin gegenüber. Einstudiert fragte die sofort, was für ein Ticket Hellen haben wolle und ob sie allein sei, aber Hellen schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hand. „Ich möchte kein Ticket. Ich möchte nur diese Jacke abgeben“, beugte sie sich näher zur Kassiererin, um so leise wie möglich zu sprechen und hob das Kleidungsstück über ihrem Arm etwas an. Hinter ihr machte man bereits neugierige Augen. „Ham Sie sie auf dem Parkplatz gefunden?“, fragte die Kassiererin und wieder schüttelte Hellen den Kopf. „Nein, sie gehört…“. Verdammt! In diesem Moment fiel ihr auf, dass sie Bens Nachnamen nicht mehr wusste! „B...Benjamin. Ben. Einem Ihrer Schwimmlehrer“, stotterte sie und räusperte sich, weil sie Kichern und genervtes Seufzen hinter sich hörte. So viel dazu, dass sie nicht hatte auffallen wollen… Zum Glück erstrahlte nun aber das Gesicht der Kassiererin. „Ach ja, stimmt! Hat er mir gesagt, dass er seine Jacke verliehen hat! Wollen Se mir die geben oder hier auf ihn warten?“, meinte sie und Hellen drückte ihr schnell die Jacke in die Hand. Dann aber griff sie doch wieder selbst danach. „Ich… ich glaub, ich geb sie ihm doch selbst, wenn er heute auch da ist“, lächelte sie entschuldigend, als die Kassiererin sie wegen ihrer Unentschlossenheit irritiert anschaute und wurde in einen Vorraum geschickt, von dem aus sie durch ein riesiges Klarglasfenster ins Hallenbad schauen konnte. Während die anderen Besucher an ihr vorbei durch eine Tür zu den Kabinen verschwanden, fühlte Hellen sich daran erinnert, wie sie und ihre Schulfreundinnen immer in diesem Raum hatten warten müssen, wenn sie sich einmal im Monat vor dem Schwimmunterricht gedrückt hatten. Diese kleine Ecke des Schwimmbades hatte sich also tatsächlich nicht verändert, wohingegen sie alles andere kaum wiedererkannte. Es wirkte viel offener, größer, hatte Saunalandschaft und neue Rutschen hinzubekommen, die jetzt von Badegästen bevölkert wurden. Wie sollte sie Ben in dieser Menschenmenge finden? Und wie sollte sie ihn auf sich aufmerksam machen? Kurz überlegte sie, die Kassiererin zu fragen, wann er Pause hatte oder ob sie ihm eine Nachricht zukommen lassen konnte, dass jemand am Eingang auf ihn wartete. Bei der nicht abreißenden Besucherschlange traute sie sich das aber nicht. „Ich hab ja heute sonst nicht viel zu tun“, murmelte sie beinahe resignierend und warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war noch am Vormittag und trotzdem wusste sie, dass höchstens der Schreibtisch mit Uniunterlagen auf sie wartete, aber kein Richard. Der saß längst wieder im Büro über seiner Arbeit, die ihn so vereinnahmte und über die er mit Hellen trotzdem kaum sprach. Sie seufzte leise und ging ihre Nachrichten auf dem Smartphone durch. Von den Leuten aus der Uni hatte auch niemand Zeit; die waren alle bereits anders verplant. Aber wenn Hellen ehrlich mit sich war, überraschte sie das auch nicht: Sie ging kaum mit zu Parties und Kneipenbesuchen, um stattdessen ihren Freund zu begleiten oder nutzte die Zeit fürs Lernen, damit sie die hart erarbeiteten Bestnoten überall beibehalten konnte. Die Überraschung war also eher, dass sie überhaupt noch hier und da jemand einlud. Von den Leuten aus der Schulzeit hatte sie inzwischen schon seit Jahren nichts mehr gehört. Schwermütig ließ sie bei diesem Gedanken das Smartphone sacken und schob es zurück in ihre Hosentasche. Hatte sie sich so ihr Leben vorgestellt? So tief es ging atmete sie ein. Langsam kroch wieder dieses Gefühl der Beklemmung in ihre Brust, so, wie auch an dem Abend, der sie schließlich an den Küchentisch von Bens Großeltern geführt hatte. Richard hatte sie gefragt, was mit ihr los sei und das fragte sie sich auch langsam. „Alles in Ordnung?“, hörte Hellen plötzlich neben sich und fuhr zusammen. Sie schaute zu einer jungen blonden Frau, die sie besorgt musterte. „Ja… ja, ich bin nur den Geruch vom Chlor nicht so gewöhnt“, meinte Hellen und kramte im Kopf nach dem Namen dieser Frau. Ihr Gesicht kam ihr bekannt vor und ein Blick auf ihre rote Arbeitskleidung brachte schnell die Erleuchtung: Die neue Bademeisterin, die vor ein paar Monaten in der Zeitung genannt worden war. „Mir fällt das schon gar nicht mehr auf!“, meinte die und lachte Hellen herzlich an, ehe sie von einem „Jenny!“ abgelenkt wurde. „Kannste Ben mal sagen, dass er in der Pause herkommen soll? Besuch für ihn!“, deutete die Kassiererin auf Hellen, die sich plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wiederfand. Sie drehte den anderen Besuchern bestmöglich den Rücken zu und schenkte ihrem blonden Gegenüber ein schiefes Lächeln, das nach ihrem Empfinden eine Spur zu hochnäsig erwidert wurde, als die Bademeisterin sie nun ausgiebiger musterte und mit einem „Ja, ich sags ihm“, wieder verschwand. Hellen runzelte die Stirn und schaute ihr fragend nach. Ein Blick über die Schulter verriet ihr, dass die Kassiererin längst wieder mit den nächsten Besuchern beschäftigt war. „War vielleicht doch keine gute Idee“, murmelte Hellen zu sich und klammerte sich unwillkürlich fester an die Jacke, während ihr Blick wieder über die Schwimmhalle glitt und sie zusammenzucken ließ. Gar nicht weit von ihr erkannte sie die Bademeisterin, die gerade zu Ben ging, der am Beckenrand stand und aufpasste - er unterrichtete also nicht nur, sondern war auch Bademeister. Kurz dachte Hellen, dass sie darauf auch selbst hätte kommen können, da an einem Feiertag wohl kaum Unterricht stattfand, aber das Geschehen am Beckenrand war viel zu aufregend für sie, um an diesem Gedanken festzuhalten. In vertrauter Geste legte die Bademeisterin gerade die Hand auf Bens Oberarm und er lehnte sich ihr entgegen. Ein Lächeln lag ihm auf den Lippen, während sie ihm ins Ohr sprach. Noch während sie redete verschwand das Lächeln und seine Augen folgten Jennys Finger, der ohne Umschweife zu Hellen hinüber deutete. Es hatte fast etwas Anklagendes. Kapitel 134: 2.5.2024: Safe Space --------------------------------- Kein Wort sprachen sie miteinander als sie die Wohnung betraten; nur sein Ächzen und Stöhnen durchdrang die Stille. Es klang fast, als wäre er gerade dabei, den Mount Everest zu erklimmen. „Gott, ich dachte schon, der findet heute gar kein Ende mehr“, murmelte Sven und schleppte sich ins Wohnzimmer, um dann mit einem tiefen Seufzen der Länge nach auf die Couch zu fallen. Jasmin tat sich deutlich weniger schwer. Auch sie war froh über das Ende des heutigen Tages, aber vor allem freute sie sich, jetzt wieder in der Wohnung zu sein. Sie sammelte Svens Rucksack auf, den er lieblos in den Flur geworfen hatte und stellte ihn neben seine Zimmertür, genauso wie sie ihren neben ihrer Tür platzierte. „Jetzt ist erst mal Wochenende“, meinte sie zufrieden und nahm auf dem Sessel Platz, der gegenüber der Couch stand. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und lächelte. „Dass du immer noch so fröhlich sein kannst“, murmelte Sven und schob die Hände unter sein Kinn. „Wollte Oberfelder sich Extrapunkte erschleichen, indem er den Dozenten so viel gefragt hat oder was sollte das?“, murrte er und schürzte die Lippen. Jasmin zuckte leicht die Schultern. „Wer weiß“, nuschelte sie und noch immer fragte Sven sich, warum sie so gut gelaunt war. „Hast du n Date oder so?“ Sie öffnete die Augen und schaute ihn irritiert an. „Nein, wie kommst du darauf?“, fragte sie und dieses Mal zuckte Sven die Schultern. „Wegen deiner guten Laune“ „Ich freu mich einfach nur, wieder hier zu sein“, meinte Jasmin und noch immer verstand Sven sie nicht. „Na ja, unsere WG ist inzwischen so was wie ein Safe Space für mich geworden“, lachte sie verlegen und doch voller Offenheit. „Es ist einfach schön, hier ganz ich selbst sein zu können. Hier muss ich nicht drüber nachdenken, was ich sagen oder tun darf. Oder wie ich aussehe…“, faltete sie die Hände und drückte die Daumen leicht aneinander. „Du machst dir immer noch oft Gedanken darüber, was andere von dir halten, hm?“, meinte Sven und sie nickte. „Ja, ich glaub, Tinder ist da auch nicht ganz unschuldig dran. Seit ich die App nutze, hoff ich einerseits, darüber endlich jemanden zu finden und andererseits hab ich Angst, dass andere aus der Uni mein Profil sehen und sich über mich lustig machen. Und auch die Dates sind oft verunsichernd für mich... ich weiß nicht recht, was ich anziehen soll, worüber ich reden soll.. aktuell fühl ich mich oft, als wäre ich ständig auf dem Prüfstand“. „Deswegen bist du momentan so nervös, wenn in deiner Nähe jemand lacht oder als neulich eine andere Studentin mit deinem Namen gerufen wurde“, legte er den Kopf schief und schaute zu Jasmin, die ihren Blick an die Decke richtete. „Ja… aber irgendwie muss ich doch endlich jemanden kennen lernen“, seufzte sie und begann an dem Bündchen ihres Pullovers zu nesteln. „Mach dir da nicht zu viel Druck“, meinte Sven, aber Jasmin schien davon nicht so richtig überzeugt. „Ich beneide dich, dass du dir über das Thema scheinbar keine Gedanken machst, aber ich wünsch mir inzwischen echt sehr einen Freund. Eigentlich dachte ich vor dem Studium auch, dass ich bestimmt über die Uni jemanden kennen lerne, aber bisher…“, sie zuckte die Schultern und stand auf, um ihnen etwas zu trinken zu holen. Sven setzte sich in der Zwischenzeit auf und machte es sich im Schneidersitz gemütlich. Er überlegte, was er Jasmin sagen sollte. „Hast du nicht letztens erwähnt, dass du schon mal einen Freund hattest? Wie hast du den denn kennengelernt?“, fragte er und nahm sein Glas entgegen. Jasmin presste die Lippen aufeinander. Sie ließ sich zurück auf den Sessel sinken und atmete tief durch. „Vielleicht war es etwas übertrieben, ihn so zu nennen... aber ich war damals echt sehr verschossen in ihn“, murmelte sie und schaute auf ihr Glas. „Wir haben uns damals online in einem Forum kennen gelernt. Ich war vierzehn und er achtzehn. Wir standen auf dieselben Bands und ich fand es unheimlich cool, wie viele er davon schon gesehen hatte. Ich selbst durfte nur selten zu Konzerten… Einige Monate lang haben wir geschrieben und heimlich telefoniert – meine Eltern hätten mir das sonst bestimmt verboten. Dadurch, dass wir sehr weit auseinander wohnten, haben wir uns in der ganzen Zeit nur zweimal gesehen, wenn er für Konzerte in meine Nähe kam. Aber ich war trotzdem total verknallt“, erzählte sie und bekam rote Wangen. Sven musste bei ihrem Anblick unwillkürlich lächeln, aber das verschwand, als er sie fragte, wie es dann endete und Jasmins Antwort hörte. „Nach unserem zweiten Treffen schrieb er mir plötzlich, dass er sich in eine andere verliebt habe und deshalb keinen Kontakt mehr mit mir wollte“, murmelte sie und zuckte die Schultern. „Ehrlich gesagt glaub ich inzwischen aber, dass er mich einfach nur ins Bett bekommen wollte und danach kein Interesse mehr hatte“, rieb sie sich den Nacken und hob die Füße auf den Sessel. „Einige Zeit später haben andere Mädels in dem Forum davon nämlich auch berichtete. Bei ihnen war es wohl genauso gelaufen. Ich hab mich dann irgendwann da abgemeldet und weiß nicht, wie die ganze Sache ausgegangen ist…“, seufzte sie aus und schüttelte den Kopf. „Ganz schön naiv, was? Ich bin bloß froh, dass meine Eltern das nicht wussten. Ich bin zwar eh nicht viel ausgegangen, aber wenn sie geahnt hätten, dass ich mich heimlich mit nem Jungen getroffen hab, hätten sie mir wohl ewig Hausarrest gegeben und mich ins Internat gesteckt“, lachte Jasmin leise, ohne dabei verhehlen zu können, dass es kein fröhliches Lachen war. Sven schaute sie nachdenklich an. „Ich find das nicht naiv, sondern illegal. Du warst noch sehr jung und der Kerl hat die schamlos ausgenutzt“, meinte er und runzelte die Stirn. Wie viel Überwindung musste es sie damals gekostet haben, nach so einer Erfahrung mit einem Mann in eine WG zu ziehen? Und auch, ihm jetzt diese Geschichte anzuvertrauen? Jasmin aber machte nur eine wegwerfende Handbewegung und stand auf, um ihnen Abendessen zuzubereiten. "Zum Glück ist das schon lange her. Meinen nächsten Freund such ich mir besser aus!", zwinkerte sie und zog Sven von der Couch, damit er ihr mit dem Essen half. "Zwiebeln schneiden darfst du!" "Och nööö". Kapitel 135: 3.5.2024: sensationell ----------------------------------- Saskia räumte gerade einen der Tische ab, als Jasmin und Sven das Café betraten und zu ihrem Stammplatz in der Ecke am Fenster gingen. „Was ist denn mit euch los?“, stand sie kurz darauf neben ihren Freunden, um ihre Bestellungen aufzunehmen und musterte ihre Trauermienen. Beide seufzten wie im Chor. „Wir haben ne Gruppenarbeit“, murrte Sven und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. Jasmin nickte, überschlug die Beine und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und das ist so schlimm?“, wollte Saskia wissen. „Hat Detlef mal was von einem Oberfelder erzählt?“, lautete Svens Gegenfrage und noch ehe Saskia antworten konnte, kam eben jener ins Café gerauscht. Nun war die Stimmung auf dem Tiefpunkt. „Ich hab doch gesagt, dass ihr warten sollt!“, maulte er zur Begrüßung, aber Sven zuckte die Schultern. „Sorry, hab ich nicht gehört“, log er und nannte Saskia schnell, was Jasmin und er trinken wollten. „Okay und für dich?“, wandte sie sich an Oberfelder, der plötzlich keine Anstalten mehr machte, sich ebenfalls zu setzen, sondern stattdessen mit stolz geschwellter Brust vor ihr stand. „Also wenn du mich so fragst… Sex on the beach wäre doch was“, grinste er süffisant und hob auffordernd die Augenbrauen, was Saskia jedoch wenig zu beeindrucken schien. „Sorry, kein Alkohol für Minderjährige“, meinte sie und verschwand schnellstens, als Sven dazwischen grätschte und rief, dass sein Kommilitone eine Cola wolle. „Kommt sofort!“, rief Saskia im Gehen und hörte Oberfelders Gemaule bis in die Küche. „Was mischst du dich da jetzt ein?!“, pflaumte er Sven an, der nur die Augen verdrehte. Jasmin hingegen begann zu schmunzeln. „Sie hat einen Freund“, meinte Sven und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, während der Dritte im Bunde endlich auch Platz nahm. „Woher willst du das denn wissen?!“, zeterte der nun und Sven zuckte abermals die Schultern. „Zufällig mal mitbekommen. War ein ganz schönes Theater. Und glaub mir, der Typ mag es gar nicht, wenn man seine Freundin angräbt“, sprach Sven verschwörerisch, während Jasmin die Lippen aufeinander presste. Oberfelder aber reckte das Kinn und spitzte die Lippen. „Meinst du, so was macht mir Angst?! Ich bin ne gute Partie und wenn die Süße die Augen gleich mal richtig auf macht, wird sie das verdammt schnell merken!“, grinste er selbstzufrieden und puhlte sich mit dem Fingernagel in den Zähnen. Sven stützte den Kopf auf eine Hand und musterte ihn, während Jasmin den Kopf senkte, um sich ihr Grinsen nicht anmerken zu lassen. „Du erinnerst dich doch noch an Detlef, oder?“, meinte Sven nun, woraufhin Oberfelder genervt ausseufzte. „Was ist mit dem Trottel?“, knurrte er, während Sven verstohlen nach links und rechts blickte. „Na ja…“, beugte er sich etwas vor und flüsterte dann: „Ihr Freund ist in etwa so ein Kaliber wie Detlef“. Oberfelder zuckte die Schultern und schmatzte. „Na und? Der konnte mir nie das Wasser reichen“, strich er sich durchs Haar und warf einen Blick zur Küche, um zu sehen, wann Saskia endlich wieder käme. Sven und Jasmin grinsten sich kurz an, um dann wieder die Ernsthaftigkeit in Person zu sein, als Oberfelder sich zu ihnen umdrehte. „Intellektuell bist du Detlef vielleicht um Längen überlegen, aber… sagen wir mal so: Er ist n Kopf größer als du und seine Muskeln sind nicht unter einer knackigen Fettschicht versteckt. Zusätzlich ist Saskias Freund Handwerker und hat dementsprechend Kraft“, tuschelte Sven zu Oberfelder, der bei seinem Kommentar über dessen Statur zunächst ungehalten reagieren wollte, um beim Rest der Erzählung dann deutlich zurückhaltender zu reagieren. Er warf einen Blick zu Jasmin, die bestätigend nickte. „Unter uns: Inzwischen traut sich nicht mal mehr Saskias Nachbarin aus der Wohnung, wenn ihr Freund zu Besuch ist. Hat sie neulich selbst erzählt. Aber hey, wenn dir das egal ist, mach dich halt an sie ran“, lehnte Sven sich zurück, als Saskia aus der Küche kam und sah zufrieden, dass sein Kommilitone es plötzlich sehr eilig hatte, zum Klo zu kommen. „Will ich wissen, was du ihm über mich erzählt hast?“, fragte Saskia, als sie die Getränke abstellte und einen Blick zu den Toiletten warf, während Jasmin und Sven sich die Hände auf die Münder pressten, um nicht zu laut zu lachen. „Ich hab ihm nur gesagt, dass dein Freund ein Schrank ist und sich deine Nachbarin nicht mehr aus der Bude traut, wenn er zu Besuch kommt“, grinste Sven, was Saskia ihm mit einem Kopfschütteln quittierte. „Danke, aber mit solchen Deppen komm ich schon selbst zurecht. Meinst du, das ist der erste, der mich so anbaggert?“, stützte sie Hände auf die Hüften und seufzte. Sven schüttelte den Kopf. „Reiner Selbstschutz“, meinte da Jasmin und erntete einen irritierten Blick von Saskia. „Wenn der mitkriegt, dass wir befreundet sind und denkt, er hätte in irgendeinem Paralleluniversum vielleicht ne Chance bei dir, dann haben wir den ständig an der Backe kleben“, erklärte sie, was Sven mit einem Nicken bestätigte. „Warum verbringt ihr dann überhaupt Zeit mit dem?“, wollte Saskia wissen, woraufhin beide genervt die Augen verdrehten. „Unser Dozent hielt es für eine tolle Idee, dass die Gruppenarbeiten dieses Mal per Zufallsprinzip vergeben wurden: Jeder musste ne Nummer ziehen und ausgerechnet die Niete da hinten hatte auch die neun“, seufzte Sven und ließ den Kopf hängen. „Ich bin ja froh, dass du noch schnell genug mit Lars tauschen konntest, damit wir wenigstens zusammen in einer Gruppe sind“, meinte Jasmin und Sven wiegte den Kopf, ehe er sich theatralisch die Hände auf die Brust presste. „Siehst du? So aufopferungsvoll bin ich, dass ich dich nicht mit diesem Ekelpaket allein lasse“, sprach er beschützerisch, was Jasmin allerdings nur zum Lachen brachte und Saskia die Stirn runzeln ließ. „Wenn ich mich richtig erinnere, wusstest du noch gar nicht mit wem wir eine Gruppe bilden, als du getauscht hast“, grinste Jasmin und Sven zuckte mit Unschuldsmiene die Schultern. „Achtung, euer Furunkel kommt zurück“, meinte da Saskia und schnell legten alle wieder mehr Ernsthaftigkeit an den Tag. „Wenn er euch zu sehr auf den Geist geht, kommt ihr die Tage noch mal mit ihm her und ich misch ihm ein bisschen Abführmittel ins Essen“, zwinkerte sie den Beiden zu und wandte sich dann zum Gehen, weil die nächsten Gäste durch die Tür kamen. Kurz darauf vibrierte ihr Smartphone und nach einem flotten Blick darauf begann sie zu lachen: Bitte gleich die doppelte Menge. Er meinte schon vor Vergabe der Themen, dass seine Arbeit „definitiv sensationell und nichts anderes“ würde – Katastrophe vorprogrammiert! Im gleichen Moment hörte Saskia dann auch schon, wie Oberfelder anfing mit Anweisungen und Vorgaben um sich zu werfen, um seine Teampartner auf die gemeinsame Arbeit einzustimmen. Zu schade, dass meine Schicht gleich vorbei ist ;) Keine Sorge, wir erzählen dir morgen gern, was du verpasst hast :P Kapitel 136: 4.5.2024: glänzen ------------------------------ Gerade war da noch dieses Glänzen in Bens Augen gewesen, als Jenny zu ihm gelaufen gekommen war, aber jetzt konnte man davon nichts mehr sehen. Kälte lag stattdessen in seinem Blick, als er durch die Schwimmhalle auf Hellen zuging und sie fragte sich, warum sie diese Ablehnung so verletzte. Hatte sie sich vielleicht schon zu sehr daran gewöhnt, dass die Leute ihr normalerweise sehr zuvorkommend entgegen traten, allein schon wegen ihrer Beziehung zu Richard? Oder schmerzte sie Bens Verhalten viel eher deswegen, weil er Richards Benehmen auf sie projizierte? Und wie kam der eigentlich damit klar, offenbar von manchen Leuten so deutlich abgelehnt zu werden, wie es bei Ben und seinen Großeltern der Fall war? Machte ihm das etwa gar nichts aus? Hellen hing diesen Fragen so sehr nach, dass sie regelrecht erschrak, als Ben plötzlich neben ihr stand und sie ansprach. „Danke fürs Zurückbringen, aber du hättest sie auch einfach Gitti geben können“, nickte er zur Kassiererin hinüber, die während des Bedienens immer wieder neugierig zu ihnen herüberschaute. „Hi Ben“, versuchte Hellen mit einem Lächeln die angespannte Situation zu entspannen, was ihr aber nicht gelang. Fast schon krampfhaft wollte sie diesem unangenehmen Moment einfach nur noch entfliehen und das Hallenbad verlassen, aber gleichzeitig würde sie sich noch mehr schämen, wenn sie es nicht wenigstens versuchte. „Können wir reden?“, schrie sie innerlich gegen ihren Stolz und die kleine Stimme an, die ihr sagte, dass sie sich gerade fürchterlich blamierte, während sie äußerlich so souverän wie möglich blieb und Ben seine Jacke gab. Der hob eine Augenbraue und musterte sie. Er schien nicht überrascht, dass sie mit einem Anliegen gekommen war. „Ich hab Dienst und wie du siehst ist heute viel los“, meinte er mit leichtem Schulterzucken und atmete hörbar aus, als Hellen fragte, ob ein anderer Zeitpunkt passen würde. „Was ist denn so wichtig?“, fragte er mit wachsender Ungeduld, während sich seine Augenbrauen unwillig zusammenzogen. Hellen fragte sich immer mehr, warum sie sich das gerade eigentlich antat. „Ich würd gern in Ruhe mit dir sprechen und…“, sie warf einen Blick zu Gitti, die schon wieder verstohlen zu ihnen hinüberschaute „… und gern auch unter vier Augen“. Ben guckte in die Halle und zur gegenüberliegenden Wand, an der eine riesige Uhr hing. „Meine Schicht ist in drei Stunden vorbei. Von mir aus komm dann noch mal her und wir reden“, sprach er und zuckte abermals die Schultern. „Ich kann auch gern so lang warten", lächelte Hellen mit einem Hauch von Erleichterung, um dann schnell wieder auf dem Boden der Tatsachen zu landen. "Hast du sonst nichts zu tun?", runzelte Ben erneut die Stirn und dieses Mal war Hellen es, die seufzte. „Richard ist im Büro und zuhause wartet nur mein Schreibtisch mit Unikram“, nuschelte sie resignierend und kam sich immer erbärmlicher vor. Sie war doch keine Bittstellerin, warum tat sie sich diese Situation überhaupt an? „Weißt du was? Das war ne dumme Idee. Vergiss, dass ich gefragt hab“, siegte endlich doch noch ihr Stolz und sie drehte sich zum Gehen, aber Ben fragte sie plötzlich, ob sie einen Badeanzug bei habe. Sie stockte und wendete sich ihm verwundert wieder zu. „Nein“, schüttelte Hellen den Kopf, woraufhin Ben nickte und hinüber zur Saunalandschaft deutete. „Handtuch hätte ich dir besorgen können, aber ich glaub nicht, dass Jenny begeistert ist, wenn ich sie frage, ob sie dir nen Badeanzug leiht. Da vorn im Anbau ist ein kleines Café. Wenn du willst, kannst du dich dort solange hinsetzen, bis ich Feierabend hab“, meinte er und versprach ihr, dass er sich dann Zeit für ein Gespräch nähme. Noch immer war er distanziert, aber die Genervtheit hatte er abgelegt. Hellen zögerte. Wollte sie weiterhin mit ihm reden und sich vielleicht weiteren Demütigungen aussetzen? Andererseits hatte sie schließlich ihn um ein Gespräch gebeten und nicht umgekehrt. Darum gab sie sich schließlich einen Ruck und nickte. „Okay, danke“, antwortete sie und schaute ihm kurz nach, als er sich mit einem „Bis später“ auf den Rückweg machte und durch die Tür zu den Umkleidekabinen verschwand. Er hatte immer noch das breite Kreuz und den sehnigen Körper eines Schwimmers, selbst wenn seine Arbeitskleidung das ein wenig verhüllte. Hellen wusste nicht, warum, aber als ihr der Gedanke kam, dass Ben trotz seiner Verletzung dem Wasser treu geblieben und einen Weg für sich gefunden hatte, stimmte sie das glücklich und ein leichtes Glänzen legte sich auf ihre Augen. „Geld fürn Kaffee haben Se?“, hörte sie da plötzlich Gitti hinter sich und drehte sich verwundert zu ihr um. „Äh, ja“, bestätigte Hellen und fragte sie, warum die Kassiererin sich dafür interessierte. Dann aber hörte sie den Grund und er zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen: „Gut, sonst hätt ich Ihnen watt geliehen. Und kleiner Tipp: probieren Se den mit Haselnuss!“ Kapitel 137: 5.5.2024: Knopfdruck --------------------------------- Genau vierunddreißig Minuten lang schaffte Hellen es, einfach nur da zu sitzen, dem bunten Treiben in der Schwimmhalle zuzuschauen und sich selber einzureden, dass sie gerade Teil dieser ausgelassenen Menge war, die scheinbar einfach nur den freien Tag genießen wollte. Die Sonne wärmte durchs Fenster ihre Schultern, das Jauchzen der Kinder erinnerte sie an ihre eigene Kindheit und der Haselnusskaffee schmeckte tatsächlich so gut, dass sie Gitti nicht nur bei Gelegenheit für den Tipp danken wollte, sondern sich bereits ein Rezept herausgesucht hatte, um das Getränk künftig öfter in ihren Alltag integrieren zu können. Es hätte so schön sein können, wenn nicht – wie auf Knopfdruck – das schlechte Gewissen wieder losgelegt hätte: Nicht einmal vorrangig, weil sie hinter Richards Rücken zu Ben gegangen war, obwohl sie von der angespannten Situation zwischen den beiden wusste, sondern vor allem, weil sie gerade ihre Zeit so vergeudete. Wie gut sie den freien Tag fürs Lernen hätte nutzen können oder wenigstens eine Sporteinheit, um ihren Körper auch weiterhin gesund und kräftig genug zu halten, damit er sie noch lange zuverlässig durchs Leben trug. Sie hätte sich über anstehende Festivitäten und Veranstaltungen informieren können, anstatt darauf zu warten, dass Richard es wieder in einem Nebensatz fallen ließ oder ihre Schwiegermutter in spe sie aus heiterem Himmel zu einer Shoppingtour überredete, damit sie auch ja wieder passend gekleidet war. Genauso hätte sie bereits die Eigeninitiative ergreifen und selber nach passenden Kleidern suchen können. Aber stattdessen hüllte sie sich in Nichtstun und bis gerade eben hatte ihr das auch noch gefallen. Und schlimmer noch: Als sie Gitti nun ins Café treten sah, um sich selbst mit einem Haselnusskaffee zu versorgen, hoffte sie sogar auf ein Gespräch, mit dem sie die restliche Wartezeit füllen konnte. Leider reichte es aber nur für einen kurzen Austausch im Vorbeigehen, weil die Kassiererin an ihren Platz zurück musste. Aber zumindest hatte ihr zufriedenes Lächeln nach Hellens Dank auch Hellen ein gutes Gefühl gegeben. Nun saß sie allerdings wieder untätig da, dachte an ihre Eltern, die fast vor Stolz überquollen, weil ihre Tochter es so weit gebracht hatte und an Richard, dessen Tag so durchgetaktet war, dass kein Platz für Faulenzerei blieb und der sich sicherlich geschämt hätte, Hellen jetzt hier so zu sehen. Sie schüttelte leicht den Kopf und zog ihr Smartphone heraus, um sich in die Lektüre von Seminarunterlagen zu vertiefen, die ihr erst so schwer vorkam, dass sie jeden Satz dreimal lesen musste um ihn zu verinnerlichen und dann, als der Knoten geplatzt war, sie so vereinnahmte, dass sie die Zeit völlig aus den Augen verlor. Erst, als der Kaffee anfing sie zu drücken und zurück in die Freiheit entlassen werden wollte, riss sie sich wieder vom Smartphone los. „Oh, jetzt aber schnell“, murmelte sie und sprang auf. Irgendwo auf dem Weg zum Café hatte sie vorhin die Toiletten gesehen. Sie eilte in den Flur und blieb dann wie angewurzelt stehen, als sie einige Meter entfernt Ben sah, der mit Jenny in einer abgelegenen Ecke stand, beide bereits in ihre Alltagskleidung gehüllt und eng umschlungen. Was sie sprachen, konnte Hellen nicht hören, aber ihre Vertrautheit und die Gesten waren nur allzu deutlich. Kurz lachten sie, dann flüsterte Jenny ihm etwas ins Ohr und er kniff in gespieltem Abscheu die Augen zusammen, als sie ihm einen festen Kuss auf die Wange drückte, nur, um dann wieder in gemeinsames Lachen zu verfallen. Hellen kam sich wie das fünfte Rad am Wagen vor, aber sie merkte auch, dass ein Unglück geschähe, wenn sie jetzt noch länger wartete. Also versuchte sie sich unbemerkt an ihnen vorbei auf die Toilette zu stehlen, was ihr allerdings nicht gelang. „Hast dus dir anders überlegt?“, hörte sie Bens Stimme hinter sich, kaum, dass sie an ihnen vorbei war und wurde wieder von Jennys abschätzigem Blick begrüßt, als sie sich zu ihnen umdrehte. „Nein, ich muss nur mal kurz…“, sie deutete hinüber zu den Toiletten und lief weiter, als Ben verstehend nickte. „Alles klar, wir warten hier solange“, rief er ihr noch nach und die automatisch schließende Eingangstür zu den Toilettenanlagen traf Hellen fast in den Rücken, als sie bei dem Ausspruch abermals abrupt stehen blieb. Wir?, dachte sie. Wollte Jenny etwa bei dem Gespräch dabei sein? Große Erleichterung verspürte Hellen, als sie wenige Minuten später wieder auf den Flur trat. Nicht nur körperlich, sondern auch, weil Ben nun allein dort stand und wartete. „Da bin ich wieder“, gesellte sie sich zu ihm und schaute sich trotzdem fragend um. „Sie ist gegangen“, konnte er ihre Gedanken scheinbar lesen und setzte sich in Bewegung. „Ich wollte euch nicht stören“, murmelte Hellen und war trotzdem froh, mit Ben allein reden zu können. In eiligen Schritten ging sie ihm nach; es kostete sie etwas Anstrengung, mit seinen langen Beinen mitzuhalten. „Hast du nicht“, meinte er nur beiläufig und wünschte Gitti einen schönen Feierabend, als sie an der Kasse vorbei zum Ausgang liefen. Hellen schloss sich dem Gruß an und dankte der Kassiererin innerlich für die schönen Momente, die sie ihr an diesem Tag beschert hatte. „Also, was gibt es?“, blieb Ben schließlich unter einem Baum, wie sie zu dutzenden den Parkplatz säumten, stehen und drehte sich wieder zu Hellen um. Er war gut einen Kopf größer als sie und nicht nur deswegen fühlte sie sich gerade klein neben ihm. „Weiß Jenny, wer ich bin?“, fragte sie statt einer Antwort zu geben und Ben zog die Augenbrauen kraus. „Keine Sorge, fast jeder in der Stadt dürfte wissen, wer du bist“, murrte er und Hellen hob beschwichtigend die Hände. „Nein, so mein ich das nicht! Ich… ich will nicht, dass sie einen falschen Eindruck von unserem Treffen bekommt“, meinte sie und schaute sich um, ob jemand sie beide beobachtete. Bens Mundwinkel zuckte. „Na ja, anfangs hat sie immer darauf bestanden, dass ich nur in ihrer Gegenwart mit anderen Frauen rede, aber inzwischen darf ich das auch alleine. Sie wirft jetzt auch keine Teller mehr nach mir, wenn ich mal zwei Minuten zu spät nach hause komme“, schob Ben die Hände in die Jackentaschen und schnaubte belustigt aus, als er Hellens schockierten Blick sah. „Das war n Witz. Sie weiß, dass sie mir vertrauen kann und umgekehrt. So läuft das doch in einer Partnerschaft, oder nicht?“, musterte er Hellen, die zögerlich nickte und merkte, dass sie sich bei Richard noch nie Gedanken darüber gemacht hatte. Wäre er eifersüchtig oder hatte sie Grund zur Eifersucht? „Ihr habt doch eine feste und vertrauensvolle Partnerschaft, oder nicht?“, hakte er nach, sicherlich noch Hellens Aufzug bei ihrem Besuch vor einigen Tagen im Hinterkopf und wieder nickte sie. „Ja, du hast das nur vorhin so trocken gesagt, dass ich für einen Moment irritiert war“, sagte sie und fragte sich, ob das gerade etwa ein Schmunzeln war, das sich auf Bens Lippen bildete. „Hör ich nicht zum ersten Mal“, zuckte er leicht die Schultern und Hellen erinnerte sich, dass er schon in ihrer Schulzeit manchmal durch seinen trockenen Humor und die gespielte Ernsthaftigkeit aufgefallen war – manchmal auch zum Ärger der Lehrer. Es lockerte den Moment ein wenig auf, aber dadurch fiel es Hellen noch schwerer, zum eigentlichen Grund ihres Gesprächs zu kommen. Sie atmete tief durch und sagte schließlich: „Du hast einen falschen Eindruck von mir bekommen! Und deine Großeltern auch“. Das Schmunzeln verschwand und die Ernsthaftigkeit wirkte alles andere als gespielt. Bens Körper straffte sich, er reckte leicht das Kinn und schaute wortwörtlich nun auf Hellen herab – gleichsam mit der Aufforderung im Blick, weiterzusprechen. „Richard spricht nicht mit mir über seine Geschäfte. Ich wusste nicht mal, dass er deinen Großeltern das Haus abkaufen will und ich lass mich auch nicht von ihm einspannen, um irgendwen für ihn um den Finger zu wickeln!“, verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Natürlich hab ich mitbekommen, dass seine Familie inzwischen viele Immobilien hat, aber ich dachte immer, dass sie den Leuten einfach einen guten Preis bieten, damit sie verkaufen“. Ben lachte trocken und nickte. „Oh ja, das tut er sogar, aber leider akzeptiert er es nicht, wenn jemand den Verkauf ablehnt“, zischte er und presste die Kiefer aufeinander. „Das wusste ich nicht“, schaute Hellen ihm aufrichtig in die Augen, auch wenn es ihr nicht leicht fiel. Dann schweifte ihr Blick ab, als sie fast in Gedanken versunken erzählte, dass Richard unter großem Druck stand, seinem Vater zu beweisen, dass er ein ebenso guter Geschäftsmann wie er selber war. Ben aber schüttelte nur den Kopf und schnaubte aus. „Soll ich jetzt Mitleid mit ihm haben?!“, knurrte er. „Nein“, meinte Hellen und strich sich eine Strähne hinters Ohr. „Ich wollte nur sagen, dass er kein schlechter Kerl ist. Ich finds nicht gut, dass er sich so verhält, aber er hat auch gute Seiten. Er… er kann auch sehr fürsorglich sein! Mir hat er viel ermöglicht“, murmelte sie und zuckte zusammen, als Ben mit einem „Wie schön für dich“ antwortete. „Ich mein doch nur…“ „Warum erzählst du mir das überhaupt?“, unterbrach Ben sie, was Hellen fast schon gelegen kam. Sie fragte sich mit jedem Wort aus ihrem Mund mehr, wann sie Richard eigentlich das letzte Mal liebevoll und zugänglich erlebt hatte. Aber das konnte sie Ben gegenüber nicht zugeben. „Ich…“, versuchte sie jetzt eine Antwort auf seine Frage zu finden, was auch nicht unbedingt leicht war. „Deine Großeltern waren sehr nett zu mir und ich will nicht, dass sie durch Richards Fehlverhalten einen falschen Eindruck von mir bekommen. Ich… ich hab mich bei ihnen sehr wohl und geborgen gefühlt und es tut mir sehr leid, dass ich ihnen weh getan hab. Aber ich wusste es wirklich nicht. Bitte glaub mir das“. Ben musterte Hellen einen Moment lang, ehe er zu einer Antwort ansetzte. „Hast du mal mit ihm darüber gesprochen?“, war seine Reaktion eine Frage, die Hellen wieder ein Stück weit den Boden unter den Füßen wegzog. Sie nickte leicht und senkte den Blick, weil sie zwar das Gespräch gesucht, aber keine Antworten bekommen hatte – sondern nur die Anweisung, sich aus diesen Dingen herauszuhalten. Plötzlich hob Ben die Hand und stützte sie an Hellens Kopf vorbei am Stamm der Eiche ab. Erschrocken schaute sie zu ihm hoch und bekam es noch mehr mit der Angst zu tun, als er den Mund wieder öffnete. „Kann es sein, dass er ziemlich wütend würde, wenn er jetzt von unserem kleinen Treffen erführe?“, fixierte er sie mit den Augen, während er selbst nicht erkennen ließ, was gerade in ihm vorging. „Was hast du vor?“, flüsterte Hellen und drückte sich an den Baumstamm. Sie spürte, wie Panik in ihr aufkam und sich ihre Gedanken überschlugen. Ben aber seufzte aus. „Willst du ihm etwa davon erzählen?“, starrte Hellen ihn an. "Wäre das denn so schlimm?", glich seine Stimme fast einem Raunen und er legte den Kopf schief, während er sie weiter betrachtete. Sie sah aus wie ein geblendetes Reh und zuckte zusammen, als er die Hand genauso abrupt wieder sinken ließ und stattdessen laut wurde. „Herrgott, Hellen, schau dich doch mal an!“, brauste er auf und schüttelte den Kopf. „Du warst früher mal so ein fröhliches und selbstsicheres Mädchen! Was hat der Kerl bloß aus dir gemacht?“ Verständnislos, fast mitleidig schaute er Hellen an. Doch sie schwieg. Sie brauchte einen Moment, um die Situation zu verdauen, ihre Gedanken zu sortieren und sich zu beruhigen. „Wolltest du mich grad nur provozieren?“, fragte sie schließlich mit heiserer Stimme und schneller als er gucken konnte, fand ihre Hand den Weg zu seiner Wange, als Ben bestätigte: „Ja, ich wollte Wahrheit hören. Oder zumindest sehen.“ „Du regst dich über seine Methoden auf und bist selbst nichts besser!“, platzte es aus ihr heraus, während Ben sich erst verdattert die Wange rieb und dann den Blick zu Boden senkte. Hellen schüttelte fassungslos den Kopf. Sie stürmte an Ben vorbei und über den Parkplatz, um auf schnellstem Wege nach hause zu gehen. „Warte!“, hörte sie Ben und rief ihm über die Schulter zu, dass er sie in Ruhe lassen solle. Er hatte sie aber schnell eingeholt und fasste ihre Schulter. „Bitte warte“, wiederholte er, als sie sich losriss. „Du sollst mich in Ruhe lassen!“ Bis gerade eben war Ben für sie trotz seiner ablehnenden Haltung immer ein netter Kerl gewesen; erst als Mitschüler, dann als liebender Enkel, der nur seine Familie beschützen wollte. Aber jetzt sah sie einen Mann vor sich, von dem sie nicht wusste, wozu er fähig wäre und sie hatte keine Ahnung, ob sie vor ihm Angst haben oder wegen dieses Katz-Maus-Spielchens auf ihn wütend sein sollte. Sie wusste nur, dass sie von ihm weg wollte und eilte weiter über den Parkplatz. „Hellen, es tut mir leid!“, ließ Ben sich aber sogar dann nicht abschütteln, als sie versuchte ihn zu ignorieren und schweigend ihren Weg fortsetzte. Schließlich stellte er sich ihr in den Weg und hob beschwichtigend die Hände, sodass sie zum Smartphone griff und ihm drohte die Polizei zu rufen. „Ich bin zu weit gegangen, es tut mir wirklich leid!“, trat er einen Schritt zurück, um den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern. Er wirkte nicht mehr kalt oder abweisend, sondern reumütig, aber vielleicht war das auch nur gespielt? „Lass mich durch!“, befahl Hellen und beobachtete ihn ganz genau, während er nach einem kurzen Nicken beiseite trat. Er ließ die Hände langsam sinken und seufzte aus. Dieses Mal machte er keinen weiteren Versuch sie zu stoppen, als Hellen wieder los lief. Sie brachte erst einige Meter zwischen ihn und sich, ehe sie über die Schulter blickte und sah, dass er noch immer dort stand. Er schaute ihr nach, wirkte fast wie ein getretener Hund und seine Mundwinkel zuckten, als wolle er etwas sagen, doch er schwieg. Stattdessen drehte er sich langsam in die entgegengesetzte Richtung und rieb sich dabei übers Gesicht. „Was sollte das?!“, brachte Hellen ihn zum Stehen und auch dazu, sich wieder umzudrehen. Sie hielt das Handy noch immer fest umklammert, während sie ihn unsicher musterte. Er zuckte leicht die Schultern, schüttelte dann den Kopf. Irgendetwas murmelte er, das sie auf die Entfernung kaum verstand. „Was?“, rief sie ihm zu und er seufzte aus. „Ich… ich weiß nicht, was mich da geritten hat“, gestikulierte er unbeholfen mit den Händen und ließ sie dann wieder schwer sinken, ehe er in Hellens Richtung nickte. „Da hinten ist ein Bäcker, die haben auch Sitzgelegenheiten. Sollen wir… das mit dem Gespräch noch mal versuchen?“ Hellen presste die Lippen zusammen und trat unentschlossen von einem Fuß auf den anderen. „Na schön, aber geh vor“, stimmte sie nach einer kurzen Bedenkzeit zu und behielt Ben weiterhin im Blick, während er mit ausreichendem Abstand an ihr vorbei und dann voraus ging. „Danke“, rief er ihr über die Schulter zu und schien sich unschlüssig, ob er die kommenden Meter über schweigen oder trotzdem mit ihr reden sollte. Schließlich entschied er sich für Stille und sprach sie erst wieder an, als er die Tür zum Laden erreichte und sie Hellen aufhielt. Bereits draußen saßen einige Leute an Tischen bei Kaffee und Kuchen und durch die ausladenden Fensterfronten des Geschäfts konnte man weitere Sitzmöglichkeiten und Menschen sehen. Mit einem Nicken schob Hellen sich an Ben vorbei und blieb kurz stehen, um sich im Laden umzusehen. „Da hinten in der Nische?“, deutete er auf ein etwas abgelegeneres Eckchen und Hellen stimmte zu. „Was möchtest du haben? Ich lad dich ein, das ist das Mindeste“, murmelte er und nickte, als Hellen ablehnte. „Im Moment nichts, danke. Ich geh schon mal vor“, sagte sie und setzte sich mit einem mulmigen Gefühl an den Tisch; so, dass sie im Rücken die Wand hatte und von ihrem Platz aus den Raum gut im Blick behalten konnte. Während Ben sich eine heiße Schokolade und einen Donut holte, ließ Hellen den Blick schweifen, um festzustellen, ob sie bekannte Gesichter entdecken konnte. Nein, niemanden der anderen Gäste hatte sie schon mal bewusst gesehen. „Möchtest du wirklich nichts?“, trat Ben kurz darauf an den Tisch und stellte sein Tablett ab. Erst, als Hellen abermals ablehnte, nahm er Platz. „Ich hab nicht vor dir was ins Essen zu mischen“, sagte er scherzhaft und erschrak, als Hellens Gesichtsausdruck ihm zeigte, dass sie durchaus diese Befürchtung in sich trug. Sie saß beinahe zusammengekauert auf ihrem Stuhl, die Schultern hochgezogen, die Arme vor der Brust verschränkte und dabei gleichzeitig auf den Tisch gestützt. Das Handy lag griffbereit vor ihr, eine Hand berührte es sogar. Ben seufzte aus und rieb sich abermals das Gesicht. „Was hab ich dir getan?“, fragte Hellen schließlich, als einige Sekunden vergangen waren, in denen beide nur schweigend dagesessen hatten. Ben schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. „Gar nichts. Und deswegen war es auch nicht okay, dass ich mich grad so benommen hab“, meinte er und rieb sich den Nacken. „Dann erklär mir mal, was das sollte“, forderte Hellen, woraufhin er nickte. Es war ihm sichtlich peinlich. „Ich dachte für nen kurzen Moment, dass ich Richard auch mal eins auswischen will. Ihm unter die Nase reiben, dass er eben nicht über alles Kontrolle hat. Nicht mal darüber, dass seine Freundin sich heimlich mit mir trifft“, murmelte und seufzte wieder. Ein weiterer Moment der Stille trat ein, in dem es Ben zunehmend schwerer fiel, Hellen ins Gesicht zu schauen. Er brach den Blickkontakt schließlich ab und räusperte sich. „Das war nicht alles, oder?“, fragte Hellen und er nickte. „Wenn ich ganz ehrlich bin… für einen winzigen Augenblick hab ich mich auch gefragt, wie… wie es wohl wäre, wenn zur Abwechslung er mal merken würde, wie sich Hilflosigkeit anfühlt. Weil er nach hause kommt und sieht, dass jemand, der ihm viel bedeutet, verstört ist und er das nicht verhindern oder ändern konnte. Diese Machtlosigkeit, wenn man die Tränen sieht und nichts dagegen tun oder sagen kann“, sprach er mit heiserer Stimme und riss sofort beschwichtigend die Hände hoch. „Aber ich hatte nie vor, dir irgendwas zu tun, ehrlich! Ich… ich hatte nur überlegt, dir ein bisschen Angst zu machen. Mehr nicht, wirklich!“ „Mehr nicht?“, wiederholte Hellen mit einem Zischen und Ben ließ die Hände sinken. „Ist das nicht auch schon schlimm genug?!“ Er nickte und rieb sich erneut das Gesicht. „Ich schäme mich dafür“, murmelte er. „Das solltest du auch!“ Wieder nickte er und wieder kehrte die Stille für einen Augenblick zurück. „So bin ich normalerweise nicht“, meinte Ben schließlich und stützte sich leicht auf den Tisch, während er gedankenverloren mit dem Löffel die Sahne im Kakao verteilte. „Früher war Richard mir egal, aber inzwischen ist der Kerl ein rotes Tuch für mich geworden. Ich hab Angst um meine Großeltern. Sie sind nicht mehr die Jüngsten und dieses Theater mit ihm dauert jetzt schon Monate an. Opa regt sich ständig auf, Oma hab ich schon mal heimlich weinen sehen… und ich kann nichts dagegen tun. Meine Eltern meinten sogar, sie sollten doch einfach verkaufen. Das Sümmchen, das er bietet, ist doch groß genug, um sich davon sogar in einer chiceren Gegend etwas kaufen zu können. Aber meine Großeltern hängen nun mal an dem Haus! Opa hat den Laden dort damals selbst aufgebaut. Es war schon schlimm genug für ihn, dass mein Vater nicht in seine Fußstapfen treten wollte, aber das Haus und damit auch den Laden jetzt komplett verlieren?“. Wieder schüttelte Ben den Kopf und Hellen konnte die Verzweiflung hinter seiner sonst so abweisenden Fassade spüren. „Aber das ist keine Entschuldigung für mein Verhalten. Du hast meinen Frust abbekommen und das war nicht okay“, hob er den Blick und schaute sie an. Hellen nickte. Langsam entspannte sie sich etwas, nahm die Hand vom Smartphone weg und rieb sich leicht über den Oberarm. „Du sagtest vorhin, du wolltest die Wahrheit wissen. Wie meintest du das?“, fragte sie und aus der Verzweiflung in Bens Gesicht wurde Ernst. „Ich wollte irgendwie erkennen, ob du ehrlich bist. Mag ja sein, dass du wirklich nichts von seinem Verhalten gegenüber unwilligen Verkäufern weißt, aber ich versteh nicht, warum du so unbedingt mit mir reden wolltest. Wir haben doch eigentlich gar nichts miteinander zu tun; dir kanns egal sein, was ich über dich oder deinen Freund denke. Ich hab mich gefragt, ob das doch nur Theater war, um dich bei mir einzuschleimen.“ Er zuckte leicht die Schulter, eher er weitersprach: „Und plötzlich dachte ich dann, was, wenn du Hilfe brauchst? Wenn er dich schlecht behandelt und du nicht allein vom ihm weg kommst?" Hellen weitete die Augen und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Wie bitte?“, blinzelte sie einige Male ungläubig und wieder zuckte Ben die Schultern. „Ehrlich gesagt hab ich nie begriffen, was du an dem Kerl findest. Außer vielleicht sein Geld, aber du hast mir eigentlich nicht den Eindruck gemacht, als wärst du eine von denen, die sich davon beeindrucken lassen. Und als ich vorhin vom Vertrauen in Beziehungen sprach und du so unsicher warst… da dachte ich…“ „Dass ich dich als Ritter in schillernder Rüstung brauche, der mich aus den Fängen des Drachen befreit?“, unterbrach Hellen ihn und sackte bei seinem Nicken leicht in sich zusammen. „Ich hab einfach nur gemerkt, dass ich mir über das Thema Eifersucht noch nie Gedanken gemacht habe, das ist alles“, meinte sie und ergänzte: „Angst hatte ich nicht wegen Richard, sondern weil du mir plötzlich so auf die Pelle gerückt bist!“ Sie verschränkte wieder die Arme vor der Brust und blickte aus dem Fenster. "So was hab ich von dir nicht erwartet. Und jetzt entschuldige dich nicht wieder zehnmal, das hast du jetzt schon oft genug gemacht". Ben nickte. Was sollte er sagen, wenn er sich nicht einmal entschuldigen durfte? Er schaute auf seinen Kakao und schob Hellen dann seinen Donut rüber. Sie ignorierte ihn. „Ich hatte mich ehrlich für dich gefreut“, meinte sie dann plötzlich und konnte im Augenwinkel Bens irritierten Blick erkennen. „Dass du damals durch die Verletzung nicht mehr in den Profibereich gehen konntest, tat mir sehr leid und vorhin hab ich beobachtet, wie viel Spaß du an deiner Arbeit hast. Du hast dich nicht unterkriegen lassen und das fand ich toll“, sagte sie und ein leichtes Lächeln umspielte Bens Lippen. „Ja, das war damals ein ziemlicher Schlag, aber inzwischen bin ich sogar ganz froh, dass es so gekommen ist. In der Weltgeschichte herum zu reisen war nie mein Ding und im Profisport hat man auch ne vergleichsweise kurze Halbwertszeit. Ganz zu schweigen von dem Druck und Stress – ich glaube, auf Dauer hätte mir das den Spaß am Schwimmen genommen“, nippte er an seinem Kakao und schleckte den Schaumbart von der Oberlippe. „Bist du denn zufrieden mit deinem Studium? Tiermedizin, richtig?“, schien er aufrichtiges Interesse zu haben und nahm mit einem Schmunzeln Hellens Überraschung darüber wahr, dass er sich das gemerkt hatte. „Es ist anstrengend, aber es macht mir auch viel Spaß. Momentan ist es noch recht viel Theorie, aber die bisherigen praktischen Sachen haben mir schon sehr gefallen. Ich freu mich drauf, wenn ich endlich richtig mit den Tieren arbeiten kann“, meinte sie und dachte an ihren Traum von einer eigenen kleinen Praxis. „Wirst du dann die Leibtierärztin für Richards Pferde? Rennsport, richtig?“, versuchte Ben sich den höhnischen Ton zu verkneifen, was ihm allerdings nicht so recht gelang. Hellen schmälerte kurz die Augen, beantwortete die Fragen dann aber ohne jegliche Spitzen oder Ironie: „Dressurreiten. Und jein… er hätte gern, dass ich das mache, aber ich möchte eigentlich lieber mit Kleintieren arbeiten. Vielleicht eine kleine Praxis und ehrenamtlich im Tierheim helfen?“, murmelte sie und erkannte nun ihrerseits ehrliche Überraschung in Bens Blick. „Machst du da schon was in die Richtung?“, fragte er, aber sie schüttelte den Kopf. Aktuell fehlte ihr noch die Zeit dafür. „Aber irgendwann ist das Studium ja auch mal vorbei“, grinste sie schief und Ben war nicht zum ersten Mal froh darüber, nicht den universitären Weg eingeschlagen zu haben. „Bist du hier an der Uni oder wo anders?“, wollte er wissen und war wenig verwundert, dass Hellen es an die renommierte Studieneinrichtung ihrer Stadt geschafft hatte. „Ich hatte großes Glück“, meinte sie, aber er wiegte zweifelnd den Kopf. „Du warst immer sehr fleißig“, gab er zu bedenken und sie konnte ihm ansehen, was er noch dachte: Dass ihre Verbindung zu Richard sicherlich nicht von Nachteil gewesen war. „Na los, sprichs schon aus. Du willst doch schon die ganze Zeit wissen, wie es zwischen Richard und mir läuft, oder?“, forderte sie Ben also auf und wurde wieder von ihm gemustert. „Na schön“, lehnte er sich zurück und verschränkte seinerseits die Arme vor der Brust. „Was findet eine Frau wie du an einem Ekelpaket wie dem? Abgesehen von seinem Ruf und Geld?“ Kapitel 138: 6.5.2024: erblühen ------------------------------- „Ich fand ihn anfangs gar nicht mal so attraktiv“, meinte Hellen mit einem leichten Schmunzeln und musste bei Bens überraschten Blick lachen. „Ja, tatsächlich!“ Er stützte den Kopf auf die Hand und ließ eine Augenbraue nach oben zucken. „Eigentlich waren damals doch alle Mädels in ihn verschossen. Und auch ein paar Jungs“, sprach er mit gespielter Skepsis und eine leichte Röte umspielte Hellens Wangen. „Jetzt tu aber nicht so! Du weißt ganz genau, dass viele auch auf dich gestanden haben!", meinte sie und wollte schnell mit ihrer Geschichte fortfahren, als Ben fragte, ob sie etwa auch zu seinen "Fans" gehört habe. "Lenk nicht ab, es geht um Richard!", tadelte sie und ergänzte dann: "Jedenfalls hab ich ihn damals erst für einen arroganten Snob gehalten und wollte zunächst auch nichts davon wissen, dass er anfing mir Avancen zu machen“. Ben griff zu seiner Tasse und Hellen konnte ihm anmerken, dass er dringend einen Grund brauchte, um wortwörtlich den nächsten bissigen Kommentar über ihren Freund herunterzuschlucken. „Wieso hast du dich dann doch auf ihn eingelassen?“, fragte er stattdessen und ein verliebtes Lächeln legte sich auf Hellens Lippen. „Weil er nicht locker gelassen hat.“ Ben runzelte die Stirn und sie lehnte sich leicht zu ihm. „Als er mich das erste Mal fragte, ob ich mit ihm ausgehen will, dachte ich noch, dass ich nur eine seiner Trophäen werden sollte. Ich wusste ja, wie begehrt er war und er wusste das bestimmt auch. Außerdem fand ich damals jemand anderen toll, also ließ ich Richard abblitzen. Genauso die nächsten Male. Aber er versuchte es immer wieder, bis selbst meine Eltern es mitbekamen und dann sagte meine Mutter irgendwann mal zu mir: Schatz, was hast du denn zu verlieren? Geh mit ihm ins Kino, verbring einen schönen Nachmittag und lern ihn erst mal kennen“ und das hab ich dann gemacht. Und er hat mich überrascht“, erzählte sie weiter. „Weil du so viel Luxus nicht gewöhnt warst?“, frotzelte Ben nun doch, aber Hellen ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen. „Das auch“, lachte sie zwar, korrigiert dann aber: „Nein, weil er wirklich sehr aufmerksam war. Er hat mir zugehört, sich für mich interessiert und dafür, was ich mir wünschte.“, berichtete sie und Ben nickte – ja, den Eindruck hatte er auch schon oft gewonnen, dass Richard sehr aufmerksam sein konnte. Besonders, wenn er sich davon etwas versprach. Diesen Gedankengang behielt er aber für sich und ließ Hellen stattdessen weiterreden. „Ursprünglich wollte ich gar keine Tierärztin werden“, meinte sie und Ben hob verwundert die Augenbrauen. „Eigentlich wollte ich Tierpflegerin werden. Auch ein ehrenwerter und wichtiger Beruf! Aber…“, sie brach kurz ab und knibbelte gedankenverloren die Glasur vom Donut. „Aber?“, wiederholte Ben und Hellen seufzte leicht. „Aber in meinem Fall kam dieser Berufswunsch vor allem daher, dass ich mir damals nicht zutraute, Tierärztin zu werden. Oder auch nur Tierarzthelferin. Ich dachte, ich käme nicht damit klar, Tieren auch Spritzen geben zu müssen oder schlimmstenfalls die weinenden Tierhalter zu sehen. Und… und trotz meiner guten Noten hab ich mir das Studium irgendwie auch nicht so richtig zugetraut“, zuckte sie leicht die Schultern und schaute kurz zu Ben auf, um dann wieder den Donut ins Visier zu nehmen. „Richard aber hat gleich, als ich ihm von meinem Berufswunsch erzählte, gefragt, warum ich nicht Tiermedizin studieren will und mir dann vorgeschlagen, mich mal mit einem befreundeten Arzt zusammen zu bringen. Auch da war ich erst skeptisch und hab abgelehnt, aber beim nächsten Treffern meinte er dann zu mir, er hätte ihn gefragt und wenn ich wollte, könnte ich jederzeit mal für ein kleines Praktikum in seine Praxis kommen. Und das hab ich dann gemacht“, erinnerte sie sich daran, wie sie voller Nervosität das Angebot angenommen hatte und schon nach kurzer Zeit ihr Wunsch, selber Tierärztin zu werden, erblüht war. Wie ein Schwamm hatte sie alles aufgesogen, das sie zu sehen und hören bekam, liebte es, dem Tierarzt über die Schulter blicken zu können und war ebenso begeistert bei der Sache, als Richard ihr in den kommenden Monaten noch andere, teils sehr angesehene Tierärzte vorstellte. „Ja, sags ruhig, da war seine gesellschaftliche Stellung von großem Vorteil, aber mal ehrlich: Ich wäre doch verrückt gewesen, diese Chance nicht zu nutzen, oder?“, meinte sie und Ben pflichtete ihr da bei. „Praktika sind wirklich viel wert“, murmelte er und verkniff sich sogar auszusprechen, dass Richard das nur getan hatte, um Hellen endlich rum zu kriegen. Die kicherte plötzlich. „Ich hab so nicht nur in alle möglichen verschiedenen Bereiche der Tiermedizin reinschauen können, sondern Richard fand auch ständig Gründe, um mich in den Praxen zu besuchen. Mal zur Mittagspause, mal, um mich abends abzuholen und nach hause zu bringen… manchmal auch für überraschende kleine Dates…“ „Und dann hast du dich irgendwann in ihn verliebt“, sprach Ben aus, was das Lächeln auf Hellens Gesicht bereits während ihrer Erzählung verriet und sie nickte. „Ja. Und ich geb zu, es war für mich auch ein bisschen so wie im Märchen. Er hat mir nicht nur so viel ermöglicht, sondern auch eine ganz neue Welt gezeigt, von der ich vorher nur hätte träumen können. So was ist schon imponierend“, hob sie leicht die Schultern und Ben nickte. „Lass mich raten: Du hast dich wie Aschenbrödel gefühlt“, meinte er und sie bestätigte seine Annahme. „Zum Glück ohne die böse Stiefmutter, aber ja. Meine Eltern haben immer hart gearbeitet und meinen Geschwistern und mir ein schönes Leben ermöglicht, aber trotzdem mussten wir immer sehr sparsam leben. Ich bin ihnen dankbar, dass sie uns schon früh gezeigt haben, dass man für seine Ziele arbeiten muss und dass sie trotz der höheren Kosten alles dran gesetzt haben, uns sogar den Besuch eines Gymnasiums zu ermöglichen, wenn das unser Wunsch war. Aber Geld für Kinobesuche oder gar Theater hatten wir fast nie übrig. Ich weiß noch, wie fasziniert ich war, als Richard das erste Mal mit mir in eine Oper ging. Und wie glücklich meine Eltern waren, als sie mich an dem Abend in dem hübschen Kleid sahen, das er extra für mich gekauft hatte“, lächelte sie noch immer und dachte mit verträumtem Blick daran zurück. Je mehr sie von dieser Anfangszeit ihrer Beziehung erzählte, desto mehr schien sie zu erblühen und aufzuleben. Voller Leichtigkeit sprach sie davon, ließ Witzchen einfließen und war wieder das Mädchen, in das Ben zur Schulzeit so verliebt gewesen war. Die alte Hellen schlummerte also noch irgendwo in ihr und war von den Verpflichtungen des Erwachsenenlebens und den Anforderungen an jemanden in ihrer Position nicht vollends verschlungen worden. „Wer war eigentlich der Junge, in den du vorher verliebt gewesen bist?“, fragte er plötzlich und versuchte sich vorzustellen, welche Richtung Hellens Leben wohl mit einem anderen Mann an ihrer Seite genommen hätte. Die stockte kurz und räusperte sich beschämt. „Ach, nur einer aus ner Parallelklasse“, murmelte sie und machte eine wegwerfende Handbewegung. Ben aber schmunzelte und nickte wissend. „Ah ja?“, meinte er, woraufhin Hellen gegen ein Grinsen ankämpfte und den Kopf schüttelte. „Du bist echt von dir eingenommen, weißt du das?“, blies sie in gespieltem Schmollen die Wangen auf und nickte, als er mit einem entsetzten „Ich?!“, auf sich zeigte. „Ja, ganz recht! Du!“, lachte sie und Ben protestierte, dass er doch gar nicht von sich gesprochen habe. Als Hellen zu einer Antwort ansetzte, zuckten beide jedoch zusammen, weil plötzlich ihr Handy klingelte. „Oh, Moment“, griff sie schnell danach. „Hi, ja, oh! Du bist schon zu hause?… Es ist doch noch gar nicht so.. oh, ich die Zeit aus den Augen verloren… Tut mir leid, ich wollte eigentlich nur kurz zum Einkaufen und hab dann einen Freund getroffen. Wir haben uns ein bisschen verquatscht. Was? Ja, weiß ich auch, dass Feiertag ist“, lachte sie kurz, ehe sie weitersprach: „Aber die Bäcker haben trotzdem offen und ich wollte fürs Abendessen frisches Baguette holen. Ich mach ich auf den Rückweg und bin gleich da. Was? Ach, den kennst du nicht, das ist ein Kommilitone aus der Uni. Ja, bis gleich“, legte sie auf und schaute gespannt zu Ben. Der schmunzelte leicht und nippte wieder an seiner Tasse. „So so, ich bin also ein Freund aus der Uni, hm?“, meinte er und Hellen zuckte leicht die Schultern. „Na ja, ich glaub es wäre nicht so gut gekommen, ihm zu sagen, dass ich mich mit dir auf eine Tasse Kaffee getroffen hab, oder?“ Sie stand auf und hatte es plötzlich furchtbar eilig. Da war wieder diese Unruhe und Unsicherheit. „Er war bestimmt nicht begeistert, als du letztens über Nacht weg warst, oder?“, meinte Ben, während Hellen bereits mit langem Hals die Auslage musterte und erleichtert feststellte, dass es tatsächlich noch frische Baguettes gab. „Ja, er hat sich Sorgen gemacht“, sagte sie schnell und deutet dann hinüber. „Geh nur, ich räum noch eben das Tablett weg“, meinte Ben und Hellen nickte erleichtert. „Tut mir leid, dass ich jetzt so abrupt los muss“, zögerte sie kurz und huschte dann doch zum Verkaufsbereich. Als sie gerade bezahlen wollte, stand Ben allerdings schon wieder hinter ihr und und reichte dem Bäcker einen Geldschein. „Ich hab ja gesagt, ich lad dich ein“, meinte er mit einem leichten Lächeln zu Hellen und wünschte dem Bäcker noch einen schönen Tag. Sie tat es ihm gleich und gemeinsam verließen sie den Laden. „Danke“, blieb Hellen noch einmal kurz vor ihm stehen und Ben nickte. „War am Ende doch noch ein schönes Gespräch“, meinte er und konnte die aufrichtige Freude in ihrem Gesicht sehen, weil sie es genauso empfand. „Bestell Gitti und Jenny Grüße von mir“, antwortete sie und Ben grinste. „Haselnusskaffee?“, zwinkerte er und brachte Hellen zum Lachen, ehe sie sich umdrehte und loslaufen wollte, aber Ben hielt sie auf. „Hellen?“, sagte er schnell und sie schaute ihn verwundert an. „Sollen wir das vielleicht… mal wiederholen?“ Erst wuchs ihre Verwunderung, aber dann stimmte sie mit großer Freude zu und reichte ihm ihr Handy, damit er seine Nummer darin speichern konnte. Kapitel 139: 7.5.2024: Antagonist --------------------------------- Das leise Plätschern des Flusses vermischte sich mit einem dünnen Regenschleier, der alles mit einer samtigen und doch kalten Schicht bedeckte. Als sie das letzte Mal so auf einer Bank gesessen hatte, war es noch kalt gewesen, weil der Frühling sich langsam gegen den Winter behauptet hatte, aber jetzt kamen bereits die ersten kühlen Nächte, die auf den Herbst hindeuteten. Das satte Grün der Bäume und Sträucher verwandelte sich in leuchtendes Rot, Gelb und Orange. Die Luft war nach dem heißen, teils schwülen Sommer endlich wieder klar und frisch. Aber trotzdem nahm Hellen das alles kaum wahr. Sie spürte nicht einmal, wie ihre Hände immer kälter und blauer wurden, während sie sie zitternd auf ihren Knien liegen hatte. Ihr Körper war so angespannt, dass sie kerzengerade da saß. Dann und wann brachte sie ein Schluchzen zum Wanken. Die letzten Monate waren eine Achterbahn der Gefühle für sie gewesen und sie wusste nicht, wie sie all das Erlebte verarbeiten sollte. Momente voller Glückseligkeit und Freiheitsgefühl hatten sich abgewechselt mit Angst, Zweifeln und Hilflosigkeit. Wenn sie daran zurückdachte, krampfte sich ihr Herz zusammen und ein erneutes Schluchzen ergriff ihren Körper. Sie hob die Hand und legte sie an ihre Wange, die noch immer ein wenig kribbelte und seine Worte hallten in ihrem Kopf wider: „Mach mich nicht zum Antagonisten in deiner Geschichte! Ich hab dir alles gegeben, was man sich nur wünschen konnten und wie hast du es mir gedankt? Mich über Monate hinweg betrogen und hintergangen! Dachtest du, ich merk das nicht?! Dieses Theater hab ich mir lang genug angeschaut!“ Hellen krümmte sich zusammen und presste die Hände aufs Gesicht. Sie schüttelte den Kopf und schaute dann zu dem Koffer neben sich. Mehr hatte Richard ihr nicht gelassen und selbst das würde er ihr vielleicht noch nehmen. „Wie konnte es nur so weit kommen?“, wisperte sie und ließ den Kopf hängen. Sie wusste nicht, wo sie hin sollte und hatte kein Geld für eine Unterkunft. Die Bankkarte hatte er ihr abgenommen und Bargeld besaß sie ohnehin kaum welches. Das Smartphone war in einem Tobsuchtsanfall an der Wand gelandet. Sie konnte weder ihre Eltern noch Geschwister erreichen und selbst wenn: Niemand hätte ihr im Moment helfen können. Die Geschwister waren inzwischen teilweise hunderte Kilometer weit weg gezogen und im ganzen Land – sogar über dessen Grenzen hinweg – verteilt und den Eltern hatten sie zum letzten Hochzeitstag alle gemeinsam eine dreiwöchige Kreuzfahrt geschenkt. Als Anerkennung für alles, was sie für ihre Familie getan hatten und stellvertretend für die Flitterwochen, die sie vorher nie machen konnten. Nun saßen sie gerade irgendwo auf einem riesigen Schiff und hielten die Bäuche in die Sonne. Hellen war nicht mal sicher, wo sie als nächstes an Land gingen. Und Ben? Wieder schüttelte sie den Kopf. Ben wollte und konnte sie im Moment am aller wenigsten sehen. Das Geräusch von Schritten im Kies drang an ihr Ohr und reflexartig griff sie zu ihrem Koffer. War es wieder die Bande Halbstarker, vor der sie sich in der vergangenen Nacht in einem Hinterhof versteckt hatte, weil sie nicht wusste, ob sie einfach nur große Mundwerke besaßen oder wirklich gefährlich waren? Nein. Erleichtert seufzte Hellen aus: Eine Joggerin führte ihre Runde am Fluss vorbei. Bei näherem Hinsehen runzelte sie allerdings die Stirn, dann starrte sie mit schreckgeweiteten Augen hinauf, als die junge Frau wenige Meter entfernt von ihr anhielt und sie musterte. „Was machst du denn hier?“, stützte sie kurz die Hände auf den Oberschenkeln ab und kam zu neuem Atem. Als sie die Kopfhörer aus den Ohren zog und in langsameren Schritten näher auf Hellen zuging, konnte die ein undefinierbares Gemisch aus Geräuschen hören. Nach einem kurzen Tippen aufs Smartphone verstummte die Musik und es blieb einen Moment lang nur das Rauschen des Flusses, gemischt mit dem noch immer erhöhten Atem. „Jenny“, murmelte Hellen und fand keine Worte, während die blonde Frau jetzt direkt vor ihr stand, die Hände auf die Hüften gestützt und wie immer mit einem leicht abschätzigen Blick in den Augen. Sie betrachtete nicht nur Hellens Koffer und den zitternden Körper, der gemeinsam mit ihrer durchnässten Kleidung verriet, dass sie schon länger hier draußen war. Sie lehnte auch leicht den Kopf zur Seite und schaute auf die gerötete Wange. „Was ist passiert?“, wollte sie wissen, aber als Hellen versuchte zu antworten, brachte sie nur wieder ein Schluchzen hervor. Jenny seufzte aus. Sie konnte sich ihren Teil denken und es überraschte sie wenig. „Ich hab gleich gewusst, dass das eine dämliche Idee war“, murmelte sie und schüttelte den Kopf. Hellen starrte sie an. „Du wusstest es?“, flüsterte sie heiser und Jennys Mundwinkel zuckten leicht. „Na ja, eigentlich war es offensichtlich, oder?“, meinte sie und wieder drückte eine eisige Hand Hellens Herz zusammen. Ja, genau genommen hatte Jenny recht, aber das machte die späte Erkenntnis nicht weniger schmerzhaft, eher im Gegenteil. „Wie dem auch sei, du musst jetzt erst mal aus dem Schmuddelwetter raus, sonst holst du dir zu allem Überfluss noch was weg. Zu Ben willst du sicherlich nicht“, waren ihre Worte keine Frage, sondern eine Feststellung, als sie nach Hellens Koffer griff. Hellen presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Ihre Finger gruben sich so fest in den Stoff ihrer Hose, dass die Knöchel weiß hervortraten. Dann aber ließen sie genauso schnell wieder locker, als Jenny sie mit dem Vorschlag überraschte, ausgerechnet bei ihr erst einmal Unterschlupf zu finden. „Wirklich?“, fragte Hellen ungläubig und mit gebrochener Stimme und Jenny nickte. „Mit so was mach ich keine Scherze“, deutete sie in die Richtung, aus der sie gekommen und sagte: „Na komm“. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)