Diagnose: Schreibblockade von Geminy-van-Blubel (Dreimonatige Challenge) ================================================================================ Kapitel 125: 23.4.2024: greifen ------------------------------- „Bitteschön, greifen Sie zu! Bei uns musste noch niemand hungern!“, stellte die Frau des Schuhmachers Hellen eine Tasse Tee hin und deutete mit ausladender Geste auf den reich gedeckten Küchentisch. Sie umgab eine ebenso freundliche und liebevolle Ausstrahlung wie ihren Mann, auch wenn sie dabei etwas kontrollierter wirkte. „Vielen Dank“, sagte Hellen nicht zum ersten Mal an diesem Morgen und nippte an ihrem Tee. Hier, in der kleinen Küche mit Essecke, war es wunderbar warm. In der anderen Ecke des Raums stand noch eine alte Kochmaschine, die ihre Wärme durch einen Teil des Hauses trug; der andere wurde vom Kaminofen im Wohnzimmer beheizt, an dem sie bei Betreten der Wohnung vorbeigekommen waren. Immer wieder ließ Hellen den Blick durch den Raum schweifen und verglich ihn unwillkürlich mit ihrem Zuhause. Die Zimmer fielen, soweit sie es bisher einschätzen konnte, deutlich kleiner aus als ihre, aber sie strahlten damit auch sehr viel Gemütlichkeit aus. Es gab viele Holzmöbel, statt Glas und Metall. Man erkannte sofort, dass hier bodenständige Menschen lebten. Auch, wenn sie nicht wusste, wie sie es in Worte hätten fassen sollen oder woran genau sie es hätte festmachen können, sah Hellen es mit einem Blick. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Richard die Nase darüber gerümpft hätte, dass es ihm zu vollgestellt gewesen wäre. Es war ein Heim, das nicht unordentlich war, sondern einfach bewohnt aussah – nicht, wie diese Vorzeigewohnung für Inneneinrichtungen und Möbelhäuser, die Hellen inzwischen so gewohnt war. Erst jetzt merkte sie, wie fremd sie sich eigentlich in ihren vier Wänden fühlte, obwohl sie sie bereits seit über einem Jahr mit bewohnte. „Sie haben wirklich ein hübsches Zuhause“, meinte sie schließlich mit etwas Wehmut in der Stimme und griff etwas zögerlich zu einem der Brötchen. Die Frau des Schuhmachers lächelte, aber er kräuselte die Stirn. „Ja und das wird auch so bleiben!“, knurrte er und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gottfried!“, meinte seine Frau tadelnd, aber er konterte nur mit einem „Ist doch wahr!“. Hellen schaute irritiert von einem zum anderen. „Tut mir leid, ich wollte nicht…“, begann sie und fragte sich abermals, wofür sie sich eigentlich entschuldigte. Aber ihre Gastgeberin schüttelte den Kopf, lächelte und tätschelte ihren Handrücken. „Nein, nein, ziehen Sie sich den Schuh nicht an!“, meinte sie mit einem Zwinkern und ihr Mann erhob sich schlagartig vom Stuhl. „Nun bleib doch sitzen und iss erst mal!“, sprach seine Frau, ohne Gehör zu bekommen. Er ging an den Küchenschrank, öffnete eine Schublade und zog einen Schrieb hervor. „Hier!“, hielt er ihn Hellen hin und stemmte die Hände auf die Hüften. „Ist das zu fassen?! Wir haben schon mehrmals gesagt, dass wir nicht verkaufen und gestern lag schon wieder so ein Schund in unserem Briefkasten!“ Zögerlich nahm Hellen ihm den Brief ab und schaute erst hinein, als auch seine Frau bestätigend nickte. „Nehmen Sie`s ihm nicht übel, er ärgert sich so über das freche Verhalten von diesem Immobilienhai, dass er sich im Moment bei jeder Gelegenheit darüber aufregt. Den Brief hat er sogar ein paar unserer Kunden gezeigt“, sprach die Frau des Schusters mit entschuldigendem Ton, während ihr Mann dem Klingeln an der Tür folgte und öffnete. Hellen überflog das Schreiben; halb darauf konzentriert, halb auf die Worte ihrer Gastgeberin. „In den letzten Jahren kauft der hier ein altes Haus nach dem anderen und will alles mit Gebäudekomplexen zupflastern. Ich versteh immer noch nicht, dass der Stadtrat das so mitmacht; hier war mal eine richtig hübsche kleine Ecke, mit viel Fachwerk und sehr einladend. Jetzt fehlen nur noch fünf, sechs Häuser und er hat quasi den ganzen Straßenzug vereinnahmt. Bisher halten wir restlichen Eigentümer zum Glück zusammen und bieten ihm die Stirn, aber der will ein Nein einfach nicht akzeptieren. Ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die nächsten einknicken und irgendwann wohnen wir dann umringt von diesen hässchlichen Böcken...", sprach sie mit einem Seufzen, ehe sie erneut ansetzte: "Neulich war er sogar einmal im Laden, um noch mal persönlich mit Gottfried zu sprechen und als er wieder ablehnte, meinte dieser Schnösel sogar zu ihm, dass er ja auch nicht mehr der Jüngste sei und er notfalls einfach wartet; die Zeit sei ja auf seiner Seite. Können Sie sich so was vorstellen?“, erzählte Hellens Gastgeberin mit einer Mischung aus Entsetzen, Trauer und Wut in der Stimme, während die junge Frau kaum wusste, was sie sagen sollte. Sie ließ den Zettel langsam sinken, ehe sie ihn wieder zurückgab und dabei zusah, wie er zurück in die Schublade kam. Beim Anblick des Brötchens, in das sie gerade noch so herzhaft hatte beißen wollen, wurde ihr plötzlich furchtbar schlecht und sie fuhr wie ertappt zusammen, als aus dem Flur eine fremde Stimme zu hören war. „Hallo Oma!“, rief ein junger Mann, der mit federnden Schritten in die Küche kam und die Angesprochene herzte. „Du kommst genau richtig zum Frühstück!“, freute sich die Frau des Schusters und tuschelte dem zweiten Gast etwas ins Ohr. Der aber nickte und lächelte. „Ja, Opa hat mir grad schon erzählt, dass Richie Rich gestern mal wieder Post geschickt hat“. Ein Seufzen verließ die Lippen der Großmutter; sie hatte einer Diskussion zuvorkommen wollen, aber die würde sich jetzt nicht mehr aufhalten lassen. Ihr Enkel konnte genauso hitzköpfig wie sein Großvater sein und zusammen verloren sie sich nur allzu gern in ausschweifende Diskussionen über ihren erklärten Erzfeind. "Dem werd ich ordentlich vorn Karren scheißen, das sag ich euch!", kam in diesem Moment auch der Großvater wieder in die Küche, nachdem er einen kurzen Kontrollblick zum Kaminofen geworfen hatte. "Gottfried!", stieß seine Frau sofort empört aus, während ihr Enkel lachte. Der Angesprochene machte aber nur eine wegwerfende Geste. "Ist doch wahr, Hildegard!", knurrte er und schmollte, während sie ein "Schluss jetzt!", zischte. „Ich will da im Moment nichts mehr von hören! Wir frühstücken!“, sprach sie mahnend und drehte sich dann wieder zu Hellen. „Außerdem, was macht das für einen Eindruck auf unseren Gast? Benehmt euch mal!“, warf sie Enkel und Ehemann gleichermaßen einen warnenden Blick zu, ehe sie doch wieder lächelte. Erst jetzt bemerkte auch der zweite Gast, dass er mit seinen Großeltern nicht allein war. „Benjamin, darf ich vorstellen?“, setzte seine Großmutter an, aber ehe sie weitersprechen konnte, wurde sie von ihrem Enkelsohn jäh unterbrochen. „Danke, Oma, nicht nötig“, legte er den Arm in schützender Pose um die ältere Dame, während seine Augen Hellen kalt fixierten. „Wir kennen uns schon“. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)