Persona 3 -After the Years- von fubukiuchiha ================================================================================ Kapitel 54: LIV – Operation Tanaka beginnt ------------------------------------------ ~~~Samstag 25. Juni 2016~~~   Die Stimmung im Wohnheim war seit dem gestrigen Abend auf einem absoluten Tiefpunkt. Aiden war nach dem Fund von Kiara derart unter Schock gewesen, dass er seither kein einziges Wort gesprochen und sich auch seither in seinem Zimmer verkrochen hatte. Zwar ließ er Miyuki und die anderen zu sich, doch egal was sie sagten, er reagierte nicht darauf. Selbst Luca, von dem sich die Mädchen in der Situation am meisten Erfolg erhofft hatten, biss bei seinem besten Freund in dieser Sache auf Granit. Ratlos standen Miyuki, Haruka und Luca nun im Foyer des Wohnheims und überlegten angestrengt, wie es weitergehen sollte. „Wir können ihn in dem Zustand nicht alleine lassen. Am Ende tut er sich noch was an, weil er so verzweifelt ist. Meine Mama hat heute frei und hat sich bereit erklärt, nach ihm zu sehen“, erklärte Luca, nachdem er sein Handy wieder in seiner Hosentasche hatte verschwinden lassen. „Immerhin etwas… Es zerreißt einen innerlich, ihn so zu sehen. Können wir denn wirklich gar nichts tun?“, jammerte die Brünette und sah in die Runde, doch schüttelten ihre beiden Freunde nur mit dem Kopf. Als Mirai die Treppen nach unten kam, wurde sie sofort von drei hoffnungsvollen Blicken durchbohrt, doch auch die Silberhaarige konnte nur den Kopf schütteln: „Keine Änderung… Kako liegt bei ihm auf dem Bett und leistet ihm Gesellschaft. Vielleicht überwindet er sich ja zum Aufstehen, wenn sie raus muss. Das Problem ist, dass keiner von uns da sein wird…“ „Haben wir schon geklärt. Meine Mama sieht nach ihm“, erklärte der Spanier und sah dann zur Tür, an der es gerade geklopft hatte. Miyuki öffnete die Tür und ließ Luca’s Mutter Maria herein, was den Jungen zufrieden nicken ließ: „Da ist sie auch schon. Danke, dass du nach ihm siehst, Mama.“ „Das ist doch selbstverständlich. Wie geht es ihm?“, kam es besorgt von der Frau, woraufhin ihr Sohn ihr erklärte, wie sich Aiden seit dem gestrigen Abend verhielt. Natürlich war ihm keiner der Gruppe böse, denn er hatte einen harten Verlust verkraften müssen, doch machten sie sich allesamt große Sorgen. „Ich verstehe. So schwer es ist, aber das Einzige, was in so einer Situation hilft, ist Zeit. Er muss es von sich selbst überwinden. Ich kümmere mich heute um ihn, aber ich vier müsst jetzt in die Schule. Warum trägst du eigentlich keine Uniform, Mirai-chan?“, scheuchte die Frau die Schüler aus dem Gebäude, während Mirai schnell erklärte, dass sie arbeiten ging und deshalb keine Schuluniform trug. Zwar wirkte Maria noch immer etwas skeptisch, genau wie Rin damals, doch verkniff sie sich jeden weiteren Kommentar, als Luca zum Aufbruch rief und die vier Teenager die Wohnung verließen.   Der Vormittagsunterricht war für die Oberschüler alles andere als einfach, denn keiner von ihnen konnte so wirklich dem Stoff folgen. Miyuki schaffte es auch nur knapp, einer Standpauke ihrer Klassenlehrerin zu entgehen, bevor sie sich wieder hinter ihren Büchern verkroch und sehnsüchtig auf die Schulglocke wartete. Kaum war diese erklungen und hatte damit die Mittagspause eingeläutet, traf sich das Trio wieder auf dem Dach der Schule. Während Luca sein Mittagsessen zu sich nahm, stocherte Haruka nur lustlos in ihrer Bentobox herum: „Wieso muss eigentlich immer irgendwas furchtbares passieren?“ „Es ist echt wie verhext“, murmelte Miyuki und kaute seit fünf Minuten an demselben Onigiri herum. Ein synchroner Seufzer entwich der Gruppe, welche dann alle zur Tür schauten, als diese aufging und Setsuna ins Freie trat. Diese streckte sich kurz und schlenderte dann auf seine Senpai zu, während er fröhlich die Hand hob: „Ohayo, Senpai. Was sollen denn die langen Gesichter? Ist jemand gestorben?“ Auf den Satz ließen die drei Älteren leise jammernd den Kopf hängen, was den Jüngsten erst einmal komplett verwirrte, bis er von Haruka berichtet bekam, was gestern passiert war. Geschockt bereute er sofort, was er gerade gesagt hatte und hockte sich neben die Brünette, wo er die Knie an seine Brust zog und das Kinn darauf bettete: „Armer Senpai… Das ist echt furchtbar…“ „Ja, aber so grausam es klingt, aber es steht immer noch aus, ob jemand drüben gelandet ist oder nicht“, murmelte Miyuki und ließ den Kopf hängen, was Setsuna wieder aufschauen ließ: „Ähm, nur zur Info: Tanaka ist immer noch nicht wieder in der Schule.“   „Dann müssen wir wohl davon ausgehen, dass es wirklich sie ist, die in diesen Alptraum geraten ist“, brummte Luca und legte sich mit dem Rücken auf die Bank, um in den Himmel zu schauen. Setsuna sah aufmerksam von einem der Älteren zum Nächsten, bis Miyuki sich zu Wort meldete: „Es sieht immer mehr so aus, als ob es wirklich Tanaka-san ist, aber ich denke, wir sollten wirklich noch einmal wirklich auf Nummer sicher gehen.“ „Wir könnten wir das am besten anstellen? Sollen wir einfach mal bei ihr zu Hause vorbeischauen?“, überlegte Haruka und sah ihre Freundin nachdenklich an, die die Arme vor der Brust verschränkte und den Kopf hin und her wiegte: „Das wäre vielleicht der einfachste Weg. Wir müssten nur herausfinden, wo Tanaka wohnt und wir bräuchten einen plausiblen Grund, warum wir dahin gehen.“ „Ja. So wie Kurosaki-kun es mir erzählt hat, hat diese Detektivin ein Auge auf ihn geworfen. Wir erregen nur unnötig Aufmerksamkeit“, führte Haruka das Brainstorming fort und sah zu den beiden Jungs des Teams, die beide noch nichts zu den Überlegungen beigetragen hatten. Luca hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und brummte vor sich hin: „Ihre Adresse dürfte das geringste Problem sein, denn sie steht bestimmt im Telefonbuch. Der Grund ist das größere Problem. Wir können schlecht sagen, dass wir Klassenkameraden sind, immerhin sind wir in einem anderen Jahrgang.“ Auf die Aussage begann Setsuna zu lachen und zog einen dicken Stapel Papiere aus seinem Rucksack: „Ich korrigiere dich, Senpai: Du kannst nicht sagen, dass du ein Klassenkamerad bist. Ich kann es sehr wohl, immerhin ist Tanaka in meiner Klasse. Außerdem habe ich mir bereits einen Plan überlegt.“ Die drei Zweitklässler sahen den Jüngsten erstaunt an und Haruka verstand den Plan: „Ich verstehe. Du sagst einfach, dass du ihr die Unterlagen von der Woche bringst. Genial, Setsuna.“ Das Lob schien dem Jungen sehr zu gefallen, denn er lachte leicht arrogant auf und rieb sich mit dem Zeigefinger unter der Nase entlang: „Ja, ich bin schon ein Genie, nicht wahr?“ „Komm mal wieder auf den Teppich, Kleiner. Ich werde dich heute Mittag begleiten“, fuhr Luca ihm in die Parade und setzte sich aufrecht hin, was den Jüngeren leicht die Wangen aufblähen ließ: „Ich krieg das auch alleine hin, Senpai.“ „Zur Sicherheit wäre es wirklich besser, wenn jemand mitgeht und Silva ist vermutlich der Einzige, den diese Detektivin nicht im Visier hat“, stimmte Haruka dem Vorschlag ihres Klassenkameraden zu und sah dann in die Runde: „Okay, dann überlassen wir die Untersuchung zu Tanaka Setsuna und Silva. Miyuki, wir beide gehen nach der Schule direkt nach Hause und sehen nach Kurosaki-kun.“ „Alles klar. Ich hoffe einfach, dass er wenigstens wieder etwas sagt“, murmelte die Grünhaarige und packte ihre beinah unangetastete Bentobox zusammen, als die Schulglocke ihre Pause beendete.   Die zweite Hälfte des Schultages verging ebenso zäh, wie es die erste getan hatte, dennoch blieb Luca auf sein Ziel fokussiert und verließ nach dem Ende des Tages sofort das Klassenzimmer. Haruka winkte ihm noch kurz und wünschte ihm viel Glück, allerdings nahm er das ganze gar nicht so wirklich wahr, dafür kreisten in seinem Kopf zu viele Gedanken. Auf dem Weg die Treppe nach unten traf er wieder auf das Mädchen mit den orangebraunen Haaren, welches ihn nach seiner Rückkehr aus Inaba verbal ziemlich fertig gemacht hatte. Sie blieb auf der Treppe stehen und sah ihn an, wobei sie doch recht freundlich wirkte, als sie ansprach: „Guten Tag, lange nicht gesehen. Ist was passiert? Du wirkst etwas niedergeschlagen.“ Für einen Moment war Luca verleitet, sich auf das Gespräch mit ihr einzulassen, doch als ihm der damalige Abend in den Sinn kam, bremste ihn innerlich etwas ab. Er schüttelte nur kurz den Kopf und meinte, dass alles gut wäre, bevor er einfach an dem Mädchen vorbeiging und die Treppe weiter nach unten stieg. Auf halbem Weg sah er noch einmal über die Schulter und bemerkte dabei, wie einige Jungs sich nun mit dem Mädchen unterhielten und offenbar mit ihr flirteten. Er konnte es nicht erklären, aber es schmerzte ihn irgendwie zu sehen, wie dieses Mädchen sich anflirten ließ und die Typen nicht so abservierte, wie sie es bei ihm getan hatte. Tatsächlich hatte Luca das Gefühl, als hätte sie erneut in seine Richtung geschaut und ihn herausfordernd angesehen. Wollte sie ihn mit dieser Aktion verletzen? Kurz biss er sich auf die Unterlippe und wandte sich dann endgültig ab, um zu den Schließfächern vor dem Eingangstor zu gehen, wo er bereits von Setsuna erwartet wurde, der sich mit einem Mädchen mit hellblonden Haaren unterhielt, welches Luca als Yamazaki Serena erkannte.   „Wieso sollte ich neidisch sein? Ich habe mich lediglich gewundert, dass du mir die Unterlagen für Tanaka regelrecht aus der Hand gerissen hast“, murrte Serena und verschränkte die Arme vor der Brust, während Setsuna sich mit der Hand durch die Haare fuhr und seine Mitschülerin angrinste: „Nun, seinen kranken Mitschülern die Sachen zu bringen ist das, was man als verantwortungsvoller Erwachsener tut, Yamazaki. Findest du nicht?“ Luca betrachtete die beiden Erstklässler von der Treppe aus, als Miyuki, Haruka und Sakura neben ihn traten und die Szene ebenfalls sahen, die mit einem Tiefschlag Serenas endete: „Schon, aber wenn man sich extra in den Mittelpunkt schiebt und es tut, nur weil man als erwachsen angesehen werden möchte, ist das echt schwach, Akutagawa. Aber tu, was du nicht lassen kannst.“ Damit marschierte das Mädchen aus der Schule und ließ einen niedergeschlagenen Jungen zurück, der hörbar schniefte und den Kopf hängen ließ. „Junge, das tat ja vom Zusehen weh“, brummte Luca anschließend und bekam ein zustimmendes Nicken seiner drei Mitschülerinnen, die sich nun zu dem Kleinen gesellten. Dieser bemerkte die vier Schüler und jammerte leise: „Warum sind Frauen so kompliziert? Sie sagen das eine und wenn man das tut ist es ihnen auch nicht recht.“ „Naja, eine erwachsene Sache wirkt nicht mehr so, wenn man es explizit betont. Weißt du?“, versuchte Miyuki den Jungen zu trösten, der sich allerdings mit beiden Händen an die Wangen klatschte: „Passt schon, meine Zeit wird kommen. Jetzt muss ich mich erstmal um was anderes kümmern. Kommst du, Senpai?“ Damit war auch er aus der Schule stolziert und Luca konnte nur schmunzelnd den Kopf schütteln, bevor er mit den Mädchen Setsuna folgte und mit diesem zum Bahnhof marschierte.   Nach der Zugfahrt trennten sich die Wege der Jungs und der Mädchen, damit sich Setsuna und Luca um Aiko kümmern konnten. Der Kleinere hatte sein Handy in der Hand und nutzte es Navigationsgerät, um das Haus seiner Mitschülerin zu finden, wobei ihn etwas zu beschäftigen schien. Luca wollte nicht nachfragen, weil es ihn nichts anging, doch fragte Setsuna von sich aus: „Du, Senpai? Warum sind Frauen so kompliziert?“ „Du meinst die Sache mit Yamazaki von eben?“, stellte der Braunhaarige eine Gegenfrage, welche er mit einem Nicken beantwortet bekam: „Ich bin ihr zu kindisch und wenn ich etwas erwachsenes tue, ist es ihr auch nicht recht.“ „Naja, es ist so, wie Nobiro es eben gesagt hat, wirkt es nicht mehr erwachsen, wenn du extra sagst, dass es das ist“, vertrat der Spanier die Ansicht seiner Kollegin, was Setsuna wohl etwas demotivierte: „Und was kann ich tun, um das zu ändern? Ich habe versucht, selbstbewusst zu klingen, aber ich habe eben fast dreimal meine Zunge verschluckt.“ „Ich glaube, was du brauchst, ist Zeit“, sprach der Braunhaarige seine Meinung aus, doch irritierte er den Kleinen damit nur: „Wie darf ich das verstehen?“ „Nun, Yamazaki hat ein Bild von dir und das ändert sich nicht von jetzt auf gleich. Außerdem machst du wieder das, was deinen Shadow hervorgebracht hat: Du verstellst dich“, wurde Luca’s Stimme nun sehr ernst und ließ seinen Kohai zusammenzucken, der sich nervös am Arm kratzte: „O-oh… Ja, du hast recht.“   Die beiden waren nun stehengeblieben und sahen sich einen Moment an, bevor Luca Setsuna auf die Schulter klopfte: „Hey, lass den Kopf nicht hängen. Sei einfach du selbst und sie wird erkennen, was für ein toller Typ du bist. Wir sollten uns jetzt aber wieder auf Tanaka konzentrieren. Ist es noch weit?“ Für einen Moment blinzelte der Kleine erstaunt, bevor er sich mit der Hand durch die Haare fuhr und grinste: „Du bist so ganz anders als Haru-nee dich immer beschrieben hat. Lass mich sehen… Nein, es sind nur noch zwei Straßen.“ „Okay, dann auf“, scheuchte der Braunhaarige den Kleinen weiter, doch war diesem dabei nicht entgangen, wie sich Luca’s Gesichtsausdruck von dem üblichen Grinsen zu besorgt verändert hatte. Nach einem weiteren kleinen Fußmarsch kamen sie in der Straße an, in der Tanaka wohnte und das Haus war auch nicht zu übersehen, denn davor stand ein Polizeiauto. Schnell versteckte sich Setsuna hinter einem Zaun und lugte vorsichtig hervor, als er eine junge Frau mit dunkelblauen Haaren und eine mit kurzgeschnittenen hellbraunen, leicht mehlierten Haaren erblickte: „Versteck dich, Senpai. Siehst du die Blauhaarige da vorne? Das ist die Detektivin, die mich wegen meinem Verschwinden ausfragen wollte und Nii-san im Visier hat.“ „Ich verstehe. Die Frau, die da bei ihr ist, sieht Tanaka sehr ähnlich. Vielleicht ihre Mutter“, murmelte Luca und hielt sich eine Hand ans Ohr, um besser hören zu können.   „Ich bitte vielmals um Verzeihung, dass ich sie erneut damit belästigen muss, Tanaka-san, aber wir müssen jeden Angehörigen dazu befragen. Sie waren die letzten Tage nicht im Lande, wenn ich Ihren Gatten beim letzten Mal richtig verstanden hatte?“, erkundigte sich Naoto bei der Frau, die nur zaghaft nickte: „Ja. Ich bin Anwältin für Internationales Recht und daher oftmals im Ausland unterwegs. Ich hatte kurz vor meiner Rückkehr einen großen Fall und habe mich daher nicht um Anrufe und Nachrichten von Zuhause gekümmert. Mein Mann hatte auch Angst, dass ich auf der Rückreise vielleicht aus Panik unvorsichtig werde, wenn ich es wüsste.“ „Verstehe ich das richtig? Ihr Mann hat Ihnen nichts davon erzählt, dass Ihre einzige Tochter seit knapp einer Woche spurlos verschwunden ist?“, kam es sehr misstrauisch von der Detektivin, während die Mutter die Frage mit einem leichten Nicken beantwortete, doch dann plötzlich laut wurde: „Wollen Sie jetzt irgendwie andeuten, dass mein Mann für Aikos Verschwinden verantwortlich ist?“ „Ich deute überhaupt nichts an, Tanaka-san, ich stelle lediglich Fragen und so grausam sich diese Sachen meistens anhören, gehören sie zum standardmäßigen Prozedere. Wenn mir allerdings die Frage erlaubt ist: Wo sind Ihr Mann und Ihre Söhne im Moment?“, blieb Naoto sachlich und versuchte gleichzeitig, Aikos Mutter zu besänftigen, die sich allerdings immer noch angegriffen fühlte: „Sie sind unterwegs und suchen nach Aiko.“ „Verstehe. Wie mir ihr Mann berichtet hat, war Aiko ihrem Vater und ihren Brüder gegenüber sehr… reserviert. War ihre Tochter bei Ihnen auch so?“ „Überhaupt nicht. Aiko hat mir immer sofort geschrieben, wenn sie etwas störte oder wenn sie etwas tolles gefunden hatte“, berichtete die Brünette und verschränkte die Arme vor der Brust, während Naoto sich eifrig Notizen machte: „Sie haben also ein deutlich besseres Verhältnis zu Aiko als der Rest ihrer Familie. Hat Ihre Tochter irgendwas in den letzten Tagen erwähnt. Fremde Leute, ein ungutes Gefühl, irgendwas in der Art?“ „Naja… nicht wirklich. Sie regt sich des Öfteren über die Schule auf, aber das ist für Teenager in dem Alter ja nichts Ungewöhnliches. Es tut mir leid, aber ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen mein Handy mit, dass Sie den ganzen Chat mit ihr durchsuchen können“, fauchte die Frau mittlerweile extrem gereizt und man hörte ihr an, dass sie diesem Gespräch allmählich überdrüssig wurde.   In ihrem Versteck lauschten Luca und Setsuna aufmerksam dem Gespräch, bis der Ältere die Hand nach seinem Kollegen ausstreckte: „Gib mir die Unterlagen für Tanaka.“ „Warum? Ich dachte, du kannst das nicht machen“, flüsterte Setsuna verwirrt, doch blieb Luca fest bei seinem Plan: „Schon, aber wenn wir jetzt dazwischen gehen und Tanaka-san aus diesem Gespräch helfen, gibt uns das einen gewissen Vorteil und ich bin der Einzige aus unserem Team, den diese Detektivin nicht auf dem Schirm hat, da ich weder Verschwunden war, noch im Wohnheim wohne. Sie kann also keine Verbindung zwischen Aiden, euch und mir herstellen.“ Mit einem langen „Oh“ schien Setsuna zu verstehen, wie die Sache lief und reichte Luca die Unterlagen, die dieser an sich nahm und dann aus seinem Versteck trat. Er atmete ein paar Mal tief durch und schritt dann an den Häusern entlang, wobei er leise alle Namen auf den Briefkästen las. Langsam kam er bei den beiden Frauen an und tat so, als hätte er sich noch gar nicht gesehen, wobei die beiden ihn erstaunt ansahen: „Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich suche das Haus der Familie Tanaka. Können Sie mir sagen, welches Haus in dieser Straße das ist?“ „Das ist unser Haus. Kann ich dir irgendwie helfen?“, kam Aikos Mutter dem Braunhaarigen entgegen, der die Papiere in seiner Hand zeigte und sich so höflich wie möglich ausdrückte: „Ich bin ein Mitschüler von Tanaka und weil sie anscheinend krank ist, wollte ich ihr die Unterlagen der Woche vorbeibringen.“ „Das ist aber lieb von dir. Bitte, komm doch herein. Shirogane-san, bitte entschuldigen Sie mich“, lud die Frau Luca ins Haus ein, während sie Naoto eindeutig zu verstehen gab, dass dieses Gespräch beendet war. Zwar spürte Luca den skeptischen Blick der Blauhaarigen in seinem Rücken, doch ließ er sich nichts anmerken und betrat das Haus, wo er sich schnell die Schuhe auszog.   Aikos Mutter schloss die Haustür und seufzte müde, bevor sie ebenfalls aus ihren Schuhen schlüpfte und sich dann Luca zuwandte: „Du bist ein Freund meiner Tochter?“ „Freund ist zu viel gesagt und ehrlich gesagt… Bin ich nicht einmal in ihrer Klasse. Ich habe einem Freund angeboten, das mit den Papieren zu übernehmen, weil ich mich kurz mit Tanaka unterhalten wollte“, gestand Luca sofort, damit auch ja keine Missverständnisse aufkommen würden und mit der Wahrheitsnummer war er auch bei Harukas Großvater schon gut gefahren. „Ich verstehe. Und worüber genau wolltest du mit meiner Tochter sprechen?“, hakte die Frau nach, die es anscheinend nicht gerne sah, dass ein älterer Junge sich nach ihrer Tochter erkundigte, doch beschloss Luca weiterhin, bei der Wahrheit zu bleiben: „Letzte Woche, nachdem wir von dem Inaba Ausflug zurückgekommen sind, habe ich etwas Unbedachtes zu ihr gesagt, was sie wohl verletzt hat. Ich wollte mich entschuldigen und die Sache klarstellen. Wäre Tanaka kurz zu sprechen?“ Für einen Moment blickte die Frau ihn mit einem durchdringenden Blick an, bevor sie etwas sagte, was den Jungen sehr verblüffte: „Du bist Silva-kun, nicht wahr? Der notorische Schulflirter.“ Auf die Aussage zog Luca den Kopf ein und wusste für den Anfang nicht, was er darauf antworten sollte. Offenbar hatte er einen deutlich schlechteren Ruf in der Schule als er gedacht hatte. „Das… klingt etwas härter als es ist. Ja, ich bin Silva Luca und bevor Sie mir etwas vorwerfen: Ich habe ihre Tochter nicht angeflirtet und deshalb bin ich auch nicht hier!“, gab der Braunhaarige nach einer Weile endlich zurück und wurde dabei etwas lauter als es gewollt gewesen war.   Der laute Tonfall machte auf die Frau skeptisch, woraufhin Luca seine beiden Begegnungen mit Aiko erklärte und dabei auch seine Schuld eingestand, sie als seltsam bezeichnet zu haben. Bei der Erzählung versuchte er, so schuldbewusst wie möglich auszusehen, was auch nicht schwer war, da er sich wirklich schuldig fühlte für das, was er gesagt hatte. Für einen Moment fürchtete er, von Aikos Mutter rausgeworfen zu werden, doch deutete diese auf die Küche: „Komm, setzen wir uns.“ Zaghaft folgte Luca der Frau und nahm an einem großen, hübsch designten Küchentisch Platz, der bestimmt ein ordentliches Sümmchen gekostet haben dürfte. Die Frau bemerkte seinen Blick und strich kurz über die Marmor-Tischplatte: „Ein schönes Stück, nicht wahr?“ „Meine Mom würde für so einen Tisch töten. Der war bestimmt nicht billig“, entwich es dem Jungen schneller als er sich bremsen konnte, doch lachte Aikos Mutter nur vergnügt auf: „Er hat mehr Arbeit als Geld gekostet. Mein Mann und mein ältester Sohn betreiben eine Baufirma und dazu ist mein Mann gelernter Schreiner. Alle Möbel macht er selbst, denn kaufen würde sein Stolz nicht zulassen.“ „Beeindruckend. Ist Tanaka da? Oder habe ich einen schlechten Zeitpunkt erwischt? Und bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie draußen bei einem Gespräch gestört habe“, blieb Luca so höflich er konnte und entschuldigte sich mit einer Verbeugung, was die Frau fast in Tränen ausbrechen ließ: „Sie ist nicht da… genau genommen, ist Aiko seit Anfang der Woche nicht mehr nach Hause gekommen.“ „Wie? Nicht mehr nach Hause gekommen? Soll das heißen, sie ist weg?“, gab er erstaunt zurück und sah dann in Richtung Flur: „War die Frau eben von der Polizei?“ „So etwas in der Art… Silva-kun, du hast letzte Woche ja mit meiner Tochter gesprochen… Hat sie vielleicht irgendwas gesagt oder ist dir etwas an ihr aufgefallen, weshalb sie weggelaufen sein könnte?“, kam es sehr zögerlich von der Frau, welche nervös ihre Hände knetete und ihm einen hoffnungsvollen Blick zuwarf. Zu ihrer Enttäuschung musste Luca den Kopf schütteln: „Leider nicht, Tanaka-san. Dafür kenne ich Ihre Tochter zu wenig, als dass ich sagen könnte, wenn sie sich untypisch verhält.“   Für einen Moment saß Luca am Tisch und knetete seine Hände, bevor er sich dazu entschied, die Frau auf etwas anzusprechen: „Tanaka-san, entschuldigen Sie, wenn die Frage etwas seltsam klingt, aber… Ist es normal, dass Ihre Tochter so heftig reagiert, wenn sie mit Leuten redet? Ich meine, ich wollte ihr nur helfen, weil es so aussah, als ob sie etwas suchen würde.“ „Ich muss leider sagen, dass ich das schon des Öfteren von ihren Lehrern gehört habe. Einmal hat sie einen ihrer Mitschüler mit ihrer Tasche geschlagen“, erzählte die Frau und beobachtete, wie Luca sie mit großen Augen anstarrte: „Die Geschichte stimmt? Ist sie zu Hause nicht so?“ „Nein, wenn ich da bin ist sie ganz lieb und auch total verschmust. Ich liebe es einfach, abends mit ihr auf der Couch zu sitzen, eine gute Soap Opera zu schauen und mit ihr zu kuscheln“, fuhr die Frau fort und wischte sich dabei kurz die Augen, was Luca traurig den Kopf senken ließ. Es tat ihm leid, dass diese offenbar so nette Frau so eine schwere Zeit hatte und dass nur wegen diesem Mist mit den Shadows.   Das Geräusch einer sich öffnenden Tür ließ die beiden in Richtung Flur schauen, aus dem eine männliche Stimme erklang: „Mama, bist du da?“ „Hier in der Küche, Naohito!“, rief die Frau und kurz darauf erschien ein junger Mann mit hellbraunen, zu einem kleinen Zopf gebundenen Haaren in der Küche: „Die anderen sind noch in der Stadt und suchen, aber Papa steht draußen und versucht sich zu beruhigen… Oh, ich wusste nicht, dass du Besuch hast.“ „Ist okay, ich glaube, ich sollte sowieso gehen. Danke für die Gastfreundschaft, Tanaka-san. Ich hoffe, Ihre Tochter taucht wieder auf. Ähm, dürfte ich vielleicht noch kurz Ihre Toilette benutzen?“, wollte sich Luca eigentlich verabschieden, als sich bei ihm ein dringendes Bedürfnis meldete. Mit einem freundlichen Lächeln zeigte Aikos Mutter ihm das Badezimmer, in welchem Luca sich für eine Weile aufhielt. Noch während sich Luca im Bad aufhielt, konnte er die Stimmen der beiden Leute hören, wobei die von Aikos Mutter als erstes hörte: „Habt ihr irgendwas finden können?“ „Nicht wirklich… Shuichi und Miroku suchen noch am Bahnhof und die Zwillinge im alten Einkaufsviertel. Ich habe aber das hier in der Nähe der Bäckerei gefunden.“ Luca konnte nicht sehen, um was es sich handelte, aber es ließ die Dame schluchzten, bevor sie sich anscheinend aus dem Haus zu ihrem Ehemann flüchtete. Luca wusch sich noch schnell die Hände, bevor er den Raum verließ und wieder im Flur stand. Aus dem Augenwinkel konnte er noch sehen, wie der Junge von eben in einem anderen Raum verschwand, bevor er sich zum Gehen wandte. Er hatte nur einen Schritt gemacht, als er auf einem Sideboard das sah, was Naohito gefunden hatte: Ein verdreckter Haarreif mit einem Schmetterlingsanhänger. Er musste gar nicht lange überlegen, bevor ihm einfiel, dass das der Haarreif von Aiko war, den sie damals getragen hatte. Vorsichtig sah der Braunhaarige über die Schulter um zu checken, ob er beobachtet wurde, bevor er den Haarreif schnappte und in seiner Tasche verschwinden ließ. Mit schnell schlagendem Herzen und einem Puls von gefühlten 200 verließ er das Haus und machte sich auf den Weg zu Setsuna.   ~~~Wohnheim~~~   Vorsichtig klopfte Haruka an die Tür ihres Mitbewohners und horchte angespannt, ob sie eine Antwort bekam. Leider war dem nicht so, weshalb sie noch einmal und etwas fester gegen das Holz klopfte. Als sie erneut keine Antwort bekam, seufzte sie kurz auf und klopfte ein drittes Mal, wobei sie dieses Mal die Stimme erhob: „Kurosaki-kun? Hier ist Haruka. Darf ich reinkommen?“ Auch wenn sie wieder keine Antwort bekam, öffnete sie vorsichtig die Tür und betrat das Zimmer, wobei sie sich etwas unwohl fühlte. Sie war noch nie im Zimmer eines Jungen gewesen und ihre Mutter hatte ihr auch oft genug gesagt, dass sich sowas nicht gehöre, allerdings mussten sie ja etwas tun. Kurz ließ die Brünette den Blick durch das Zimmer schweifen und stellte fest, dass Aiden sich nicht die Mühe gemacht hatte irgendwas zu dekorieren. Miyuki, Mirai und auch sie selbst hatten ihren Zimmern einen gewissen, persönlichen Touch verliehen, aber das Zimmer von Aiden wirkte einfach nur schlicht. Langsam wanderte Harukas Blick zu dem braunhaarigen Jungen, welcher mit an die Brust gezogenen Beinen auf dem Bett hockte und auf ein Bild in seiner Hand schaute. Ihn so zu sehen tat Haruka weh und sie wollte ihm unbedingt aus dieser Misere helfen.   „Wie geht es dir?“, war das Einzige, was ihr im Moment einfiel, doch zeigte Aiden auf die Frage absolut keine Regung, weshalb die Mechanikerin weitersprach: „Magst du etwas essen? Oder vielleicht einen Tee? Du hast seit gestern Mittag nichts gegessen.“ Leider traf ihre Sorge wieder auf taube Ohren, was das Mädchen sich unsicher auf die Unterlippe beißen ließ. Irgendwas musste ihr einfallen und vielleicht könnte sie Aiden ja mit etwas ablenken und so auf andere Gedanken bringen. Schnell sah sie sich um, bis sie auf dem Schreibtisch einige eingerahmte Bilder entdeckte, welche Aiden wohl doch als Dekoration verwendete. Langsam trat sie auf den Schreibtisch zu, doch stoppte sie einen Schritt davor und sah zu ihrem Mitbewohner: „Darf ich mir die Bilder mal ansehen?“ Sie erhoffte sich nicht viel von der Frage, doch zu ihrem Erstaunen nickte Aiden knapp und erteilte ihr damit die Erlaubnis. Das erste Bild zeigte einen kleinen, braunhaarigen Jungen, der ein Baby im Arm hielt und Stolz in die Kamera grinste. Wenn sie richtig lag, war das Aiden mit der neugeborenen Kari und bei dem strahlenden Grinsen des Jungen wurde ihr warm ums Herz. „Du strahlst auf dem Bild so. Bestimmt warst du richtig stolz, als du ein großer Bruder geworden bist, nicht wahr?“, drehte sie vorsichtig den Kopf nach hinten und bemerkte, wie Aiden kurz mit dem Kopf nickte.   Er reagierte auf ihre Fragen und das war schon mal ein Erfolg für sie. Hastig sah Haruka zum nächsten Bild, auf dem wieder Aiden im Kindesalter zu sehen war, dieses Mal mit einem braunhaarigen Jungen mit grünen Augen, den sie definitiv als Luca identifizieren konnte. Beide trugen ein Fußballtrikot, doch war es das Mädchen zwischen den beiden, die ihre Aufmerksamkeit erregte. Das Mädchen, welches sich auf dem Bild bei Aiden und Luca eingehakt hatte, hatte braunes, sehr lockiges Haar, eine Brille und wie man auf dem Bild sehr genau erkennen konnte, einen starken Überbiss. Solche Kinder wurden in der Schule leider viel zu häufig Ziel von Hohn und Spott und die Tatsache, dass Aiden anscheinend früher mit so einem Mädchen befreundet war, zeigte ihr wieder, was für ein guter Mensch er war. Wieder drehte sie den Kopf nach hinten und deutete dabei mit dem Finger auf das Bild: „Das sind du und Silva-kun, richtig?“ Wieder nickte er nur knapp und schniefte dabei kurz, bevor Haruka weiterfragte: „Wer ist das Mädchen? Eine Freundin von dir?“ Ein sanftes Nicken beantwortete ihre Frage, worauf sich allerdings ein seltsames Gefühl in ihrer Brust breitmachte. Auf ihre Frage, ob die beiden noch Kontakt miteinander hätten, schüttelte Aiden nur sachte den Kopf und das Gefühl bei Haruka verflüchtigte sich ein wenig. Zwar würde sie interessieren, wie die Beziehung der beiden zueinander gewesen war, doch war das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um nachzufragen.   Um sich selbst von diesem Thema abzulenken sah Haruka zum letzten Bild, welches auf dem Schreibtisch stand und auf diesem war Aiden mit seinen Eltern, seiner Schwester und Kiara auf der Schulter zu sehen. Vorsichtig nahm Haruka das Bild in die Hand und betrachtete die Katze auf dem Foto, welche sich um den Hals ihres Besitzers gelegt hatte und insgeheim fragte sich die Brünette, ob Aiden ihr das beigebracht oder ob Kiara das einfach von sich aus getan hatte. Sachte stellte sie das Bild zurück und trat dann an das Bett heran, wo sie bemerkte, dass Aiden noch ein Bild bei sich hatte, nämlich eins von sich mit Kiara als Baby. Zwar hatte der Braunhaarige auf ihre Fragen reagiert, doch starrte er nun wieder auf das Bild und ließ den Tränen freien Lauf. Haruka wollte Aiden irgendwie helfen, doch wusste sie einfach nicht, wie sie das noch anstellen sollte. Ihr Freund war so in seiner Trauer versunken, dass er auf nichts wirklich einzugehen schien. Nicken und Kopfschütteln war die eine Sache, aber ansonsten zeigte er keine wirkliche Regung gegenüber anderen. Langsam fuhr sich die Brünette durch die Haare, als ihr einfiel, dass sie genau diesen Zustand, in dem Aiden sich jetzt befand, ebenfalls einmal durchlebt hatte. Es war ein kleiner Hoffnungsschimmer, aber vielleicht konnte sie so zu ihm durchdringen und ihn etwas ins Hier und Jetzt zurückholen. Vorsichtig setzte sie sich auf die Bettkante und sah ihren Schwarm einen Moment an, bevor sie zu sprechen begann: „Hör mal, Kurosaki-kun, ich weiß, wie du dich fühlst. Kiara war dir sehr wichtig und so jemanden zu verlieren, egal ob Mensch oder Tier, kann einen seelisch zerreißen.“ Sie hielt den Blick starr auf den Braunhaarigen gerichtet, der sie aus dem Augenwinkel ansah und etwas neugierig wirkte, weshalb sie weiterredete: „Ich war schon immer ein Vaterkind gewesen, aber das konntest du dir bei meinem Verhältnis zu meiner Mutter ja schon denken, nicht wahr? Er war mein Held und hat mich immer aufgemuntert, wenn ich traurig oder niedergeschlagen war. Besonders, wenn Mama mal wieder nicht lockergelassen hat.“ Zur Freude des Mädchens hatte Aiden ihr nun den Kopf komplett zugewandt und sah sie aus roten, verweinten Augen an.   Der Anblick zerriss ihr fast das Herz, weshalb sie erst einmal schwer schlucken musste, um sich wieder zu fangen, damit sie weitererzählen konnte: „Als mein Papa vor sieben Jahren dann verstorben war, ist für mich die Welt zusammengebrochen. Er war mein Ein und Alles gewesen und von einem Tag auf den anderen war er weg. Ich bin damals in ein tiefes Loch gefallen, aus dem ich fast nicht mehr rausgekommen wäre. In der Schule habe ich mit niemandem mehr geredet, zu Hause habe ich mich nur noch in meinem Zimmer eingeschlossen und Mama und Opa völlig ignoriert. Ich dachte mir damals, dass sie unmöglich verstehen könnten, wie es in mir aussah. Heute weiß ich, dass das komplett falsch und vor allem idiotisch von mir war. Ich war so auf mich fixiert, dass ich gar nicht gemerkt hatte, dass Mama und Opa ebenso gelitten haben wie ich. Ja, ich hatte meinen Vater verloren, aber ich habe damals nicht realisiert, dass Opa seinen Sohn und Mama ihren geliebten Ehemann verloren hatten. Worauf ich eigentlich hinauswill ist: Wenn ich damals offener für die anderen gewesen wäre, dann wäre die Zeit nicht so schlimm für mich gewesen. Sakura kannte diesen Schmerz nicht, hat aber dennoch immer versucht, mich wieder aufzubauen, auch wenn ich sie immer ignoriert habe... Das hat fast unsere Freundschaft zerstört.“ Sie brach ab und wischte sich über die Nase, da ihr von den Erinnerungen auch kurz die Tränen in die Augen gestiegen waren. Etwas unbeholfen hielt Aiden ihr ein Taschentuch hin, welches das Mädchen dankend annahm und sich erst einmal die Nase schnäuzte. Noch einmal schniefte die Brünette, bevor sie wieder zu Aiden schaute und sich leise entschuldigte: „Sorry, eigentlich wollte ich dich ja aufmuntern und jetzt heule ich auch noch. Was ich eigentlich sagen wollte ist, wenn ich mich nicht verkrochen, sondern einfach die Augen aufgemacht hätte, hätte ich gesehen, dass da jemand war, der mir hätte helfen können. Auch wenn wir nicht wirklich sagen können, wie sehr dich der Verlust von Kiara schmerzt, können wir dennoch versuchen, deinen Schmerz etwas zu lindern. Wenn du uns lässt.“   Auf die Erzählung gab Aiden nur ein leises Murren von sich, bevor er das Kinn auf seine Knie bettete und an die Wand schaute. Diese Reaktion ließ Haruka ungewollt in sich zusammensacken. Sie hatte nur helfen wollen und anscheinend hatte sie Aiden stattdessen nur genervt. Mit einem leisen Seufzer erhob sie sich vom Bett und schnäuzte sich noch einmal die Nase, bevor sie in Richtung Tür ging. „Entschuldige, falls ich dich genervt haben sollte“, murmelte sie leise und griff nach der Türklinke, als sie hinter sich das hörte, was ihr ihr Herz förmlich bis zum Hals schlagen ließ: „Du nervst mich nicht. Danke… Haruka.“ Am liebsten hätte Haruka sich umgedreht und Aiden gesagt, dass sie immer für ihn da sein würde, wenn er etwas bräuchte, doch ihr feuerrotes Gesicht und die Tatsache, dass sie kaum einen Ton herausbekam, machten das Schwierig. Mit größter Mühe brachte sie ein „Gern geschehen“ heraus, bevor sie den Raum verließ und mit in den Händen verborgenem Gesicht an der Tür nach unten rutschte. Er hatte ihren Namen gesagt. Er hatte sie wirklich mit dem Vornamen angesprochen. Sie könnte vor Freude quietschen, doch würde er das im Zimmer definitiv hören, weshalb sie schnell aufstand und in Richtung der Treppe hechtete. Es war für so ein schönes Gefühl, ihn ihren Namen aussprechen zu hören, doch wäre es ihr lieber gewesen, es wäre nicht unter solch traurigen Umständen passiert. Was im Moment aber am Wichtigsten war: Sie hatte ihn zum Sprechen gebracht. Selbst Luca hatte das nicht hinbekommen und darauf war Haruka sehr stolz. Sie hatte etwas beitragen können. Wenn sie an das Gespräch zurückdachte und ihre ersten versuche, müsste Aiden dringend mal etwas essen oder wenigstens etwas trinken, weshalb sie sich vornahm, ihm einen Tee zu kochen.   Leise summend stieg die Brünette die Treppe ins Foyer hinab, wo sie auf Miyuki, Mirai und Kako stieß. Für einen Moment hatte Haruka das Gefühl, als würde Miyuki der Hündin aus dem Weg gehen wollen, doch galt ihre Aufmerksamkeit kurz darauf besagter Hündin, welche wedelnd vor ihr zum Stehen kam. Vorsichtig strich sie dem Tier über den Kopf, bevor sie zu ihren Freundinnen schaute, welche sie erwartungsvoll anstarrten. „Ähm… ist was?“, kam es zögerlich von der Brünetten, woraufhin Mirai etwas barsch Antwort gab: „Wie geht es ihm? Du warst doch oben, um nach Aiden zu sehen.“ „Oh… Ja, richtig. Er sitzt immer noch so da, aber nachdem ich mit ihm geredet hatte und gehen wollte, hatte er zumindest »Danke« gesagt.“ „Er hat was gesagt? Also richtig gesagt oder hat er nur mit dem Kopf gewippt“, hakte die Silberhaarige nach, doch seufzte sie erleichtert, als Haruka beteuerte, dass Aiden richtige Worte benutzt hatte. „Immerhin hat das, was Haruka zu ihm gesagt hat, etwas geholfen und das ist doch das Wichtigste“, strahlte Miyuki in die Runde und erhob sich, um sich zu strecken: „Ich mache mir einen Tee. Wollt ihr auch was?“ „Ich wollte gerade welchen machen, dann setze ich für dich auch welchen auf“, gab die Brünette zurück und ging schon zur Küche, als ihr Blick zur Haustür ging, welche sich öffnete und Luca zeigte, der mit einem leichten Winken eintrat: „Buenos noches, mis tres adorables señoras.“ „Sprich so, dass wir dich auch verstehen, Silva“, murrte Haruka und sah den Braunhaarigen an, der an der Sitzgruppe herantrat und dann erst auf Kako schaute, die sich penetrant vor ihn setzte und ihn anbellte: „Oh, mein Fehler. Mis cuatro adorables señoras.“ Zufrieden bellend trottete Kako zu ihrem Frauchen zurück und setzte sich vor diese, um Luca anzuschauen, wie es der Rest ebenfalls tat.   „Habt ihr was herausfinden können, Silva-kun?“, durchbrach Miyuki nach einer Weile die Stille und sah den Jungen erwartungsvoll an, der sich allerdings erst auf einem Sessel niederließ: „Es scheint so, als wäre tatsächlich Tanaka das Opfer. Sie ist seit einer Woche nicht zu Hause gewesen und diese Detektivin ist auch schon darauf aufmerksam geworden.“ „Oh nein… Hat sie Setsuna gesehen?“, erkundigte sich Haruka, doch schüttelte Luca nur den Kopf und erzählte weiter: „Nope. Sie hat ihn nicht gesehen, weil ich selbst gegangen bin. Zu mir hat sie keine Verbindung und kann auch keine zu euch herstellen. Ich war kein Opfer, ich wohne nicht im Wohnheim und ansonsten bin ich recht unauffällig… Ihr wisst, was ich meine!“ Bei dem Wort „unauffällig“ hatten alle drei Mädchen die Augenbrauen gehoben, was dem Jungen doch etwas missfallen war, doch winkte er nur mit der Hand ab und gab im Schnelldurchgang wieder, was er gehört und erfahren hatte. Nach der Erzählung legte Haruka die Stirn in Falten und verschränkte die Arme vor der Brust: „Der Vater hat der Mutter gegenüber das Verschwinden seinen Tochter verschwiegen? Das klingt schon ziemlich suspekt, wenn ihr mich fragt.“ „Aber echt. Er hätte sie eigentlich sofort kontaktieren müssen“, stimmte Miyuki zu und murmelte leise vor sich hin, dass da eine Verschwörung im Gange sein könnte, doch dann berichtete Luca, was Aikos Mutter von Beruf war. Diese Information sorgte bei den Mädchen für noch mehr Kopfzerbrechen, denn nun wussten sie wirklich nicht mehr, wo sie ansetzten sollten.   Nach einer kurzen Diskussion hatten sich alle vier Teenager in Schweigen gehüllt, welches allerdings von Mirai nach kurzer Zeit wieder durchbrochen wurde: „Okay, wir wissen, dass Tanaka da drüben ist, also treten wir in Aktion. Jetzt brauchen wir nur noch etwas, womit Kako uns zu ihr führen kann.“ Erwartungsvoll gingen alle Blicke zu Luca, der allerdings etwas verdutzt dreinschaute und den Kopf neigte: „Was guckt ihr denn so?“ „Du hättest nach etwas Ausschau halten können, was wir nutzen können, Silva-kun“, murrte Haruka und seufzte leise, als ihr im nächsten Moment die Augen übergingen. Mit einem verschmitzten Grinsen hatte Luca den Haarreif mit dem blauen Schmetterling aus seiner Tasche gefischt und auf den Tisch gelegt: „Reicht dir das, Tenno?“ „Ist das der Haarreif, den sie auf dem Ausflug getragen hat?“, erkannte Miyuki den Reif als Aikos Eigentum, was von Luca mit einem leichten Nicken bestätigte und dann ernst wurde: „Ich fühle mich nicht gerade gut, dass ich ihren Haarreif geklaut habe, aber wir haben keine andere Wahl. Ich schlage vor, wir gehen morgen rüber und suchen nach ihr.“ „Klingt nach einem Plan. Ich hoffe nur, dass Aiden-kun sich bis dahin wieder fängt“, murmelte Miyuki und sah in Richtung der Treppe, was ihr ihre Freunde gleichtaten. Zwar waren sie voller Zuversicht, dass sie Aiko würden helfen können, allerdings wurde diese Zuversicht durch die Sorge um ihren Freund stark getrübt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)