Mein ist die Dunkelheit von MariLuna ================================================================================ Kapitel 8: VIII. Kapitel ------------------------ „Lucifer!“ Mao schreit so laut, dass seine Stimme in der letzten Silbe bricht. Die kalte Luft reizt seinen Hals, doch er ist nicht bereit, aufzugeben. Im Gegenteil – je länger diese Suche andauert, desto verzweifelter und entschlossener wird er. Schon ganz zu Beginn dieser Suche hatte er entschieden, seinen vermissten General mit seinem echten Namen zu rufen, in der Hoffnung, dass dieser dann eher darauf reagiert. Schließlich wissen sie nicht, in welchem Zustand sie ihn antreffen werden. Er war die ganze Nacht hier draußen, ganz allein, im verschneiten, dunklen Wald. Und vielleicht ist er verletzt. Mao läuft ein eiskalter Schauder über den Rücken, wenn er nur daran denkt. „Lucifer!“ ruft Ashiya zehn Meter von ihm entfernt. Sein Tonfall und seine düstere Miene verheißen dem Vermissten nichts Gutes, aber jeder, der ihn kennt, erkennt darunter die Angst und die große Sorge, in der er schwebt. Ein paar zusätzliche Augen wären begrüßenswert, aber Mao hat ehrlicherweise auch nicht damit gerechnet, dass Emi ihnen helfen würde und je länger die Suche andauert, desto glücklicher ist er über ihre Entscheidung bei der Hütte zu bleiben und sich um Alas-Ramus zu kümmern. Maos letzter Stand ist, dass die beiden damit beschäftigt sind, Schneemänner zu bauen. In unregelmäßigen Abständen klingelt sein Telefon, weil Alas-Ramus wissen will, ob sie „ihren Lucifer“ schon gefunden haben und es bricht ihm jedes Mal das Herz, sie erneut enttäuschen zu müssen. Und jedes Mal heuchelt er ihr einen Optimismus vor, den er schon längst nicht mehr empfindet und fühlt sich unheimlich mies dabei. Chiho unterstützte sie tatkräftig, bis es ihr zu kalt wurde und ihre Blase drückte. Stammelnd und mit hochrotem Gesicht hat sie sich vor einer Stunde von ihnen verabschiedet und ist zurückgegangen. Mao ließ sie nur ungern ziehen, denn mit ihr scheint auch die Hoffnung davongezogen zu sein. Durch ihre fröhliche, freundliche Art gelang es ihr immer, ihn wieder aufzurichten, auch, wenn sie das selbst vielleicht gar nicht bemerkt hat. Beim Gedanken an die Teenagerin fühlt Mao eine leichte Wärme in seiner Brust erwachen. Sie ist eine wirklich gute Freundin und er ist sehr stolz auf sie. Es war eine gute Idee von ihm, sie zu einem seiner Generäle zu ernennen, auch, wenn der Titel hier nicht viel wert ist. Aber sie hat es sich nun einmal redlich verdient. Und vielleicht tröstet sie dieser Titel über das hinweg, was er ihr demnächst sagen muss: dass er ihre Gefühle leider nicht erwidert und sie nur als gute Freundin sieht. Er hat dieses Gespräch schon viel zu lange vor sich hergeschoben. Unwillig über sich selbst, schüttelt er diese Gedanken ab. Das ist jetzt nicht wichtig, er muss seinen anderen General finden, der hier irgendwo verloren gegangen ist. Entschlossen legt er die Hände als Trichter vor den Mund und ruft weiter seinen Namen. „Lucifer!“ Das einzige, was ihm antwortet, ist: Stille. Und wie immer, kurz nachdem sein Ruf verklungen ist, keckert entweder ein Eichhörnchen oder ein paar Krähen machen sich bemerkbar. Aber die Stimme, auf die er hofft, hüllt sich weiterhin in Schweigen. Eine eisige Windböe lässt ihn erschauern und instinktiv die Hände in den Taschen vergraben. In seiner rechten Tasche stoßen seine Finger dabei auf eine kleine Schachtel. Unwillkürlich schließt er die Hand darum. Es sind Lucifers Tabletten gegen Reiseübelkeit. Er hat sie vor zwei Stunden unter einem Busch gefunden und nur daher wissen sie, dass Lucifer diesen Wanderweg genommen hat. Auf den ersten fünfzig Metern war der Weg sogar noch geräumt und asphaltiert, aber jetzt ist er unter zentimeterhohem Schnee verborgen und das einzige, was darauf hinweist, dass dies hier ein Weg ist, ist das Fehlen von Bäumen. Es ist ihm wirklich ein Rätsel, wie Lucifer sich für diesen Weg entscheiden konnte, wo doch die Straße so deutlich vor ihm lag. Vielleicht hatte Chiho doch recht mit ihrer Theorie, dass er im Schneetreiben wohl die Orientierung verloren haben muß. Plötzlich erweckt etwas aus seinem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit. Ein lachsroter Farbfleck mitten im weißen Schnee. Noch nie war Mao so froh über Ashiyas Entscheidung, Lucifer diesen Parka in dieser knalligen Farbe zu kaufen – auch wenn das Lachsrot Lucifer eigentlich ärgern sollte, weil es so eine mädchenhafte Farbe ist. Erstaunlicherweise schien Lucifer das völlig egal zu sein. „Ashiya, ich habe ihn gefunden!“ Mao rennt so hastig zu dem Farbklecks hinüber, dass er glatt ausrutscht und in den kniehohen Schnee fällt, doch er rappelt sich sofort wieder hoch und rennt noch schneller weiter. „Lucifer!“ Er liegt unter dem Schatten eines großen Ahorns und ist völlig mit Schnee bedeckt, nur ein Teil seines Mantels ragt heraus. Hätte der Mantel eine andere Farbe, hätte er ihn garantiert übersehen. Bei diesem Gedanken wird Mao regelrecht übel. Hastig lässt er sich neben dem unförmigen Hügel auf die Knie fallen und schaufelt den Schnee fort. Er legt eine Schulter frei, arbeitet sich in Richtung Kopf weiter und dann findet er die Kapuze und trifft schließlich auf nasses, violettes Haar und eine leichenblasse Wange. Im ersten Moment bleibt Mao fast das Herz stehen – oh, bitte, lass uns nicht zu spät gekommen sein – doch er schiebt seine Gefühle beiseite und zurück bleibt nur dieselbe rationale Kühle, wie er sie immer während einer Schlacht empfand. Vorsichtig dreht er Urushihara auf den Rücken und tätschelt behutsam seine Wange. Schnee klebt in seinen Haaren, an seinen Augenbrauen und sogar an seinen Wimpern. Urushiharas Gesichtsfarbe unterscheidet sich nicht sehr vom Schnee, seine Lippen sind aufgerissen, blutig und blau und um seine Augen herum haben sich dunkle Schatten gebildet. Er sieht jetzt schon aus wie eine Leiche. „Lucifer. He, komm schon, wach auf.“ Tatsächlich beginnt es in Urushiharas Gesicht zu zucken und dann beginnen seine Lider zu flattern. Von seinen Lippen perlt ein schwacher Laut, nicht viel mehr als ein Atemzug, doch diese Lebenszeichen zaubern Mao ein überglückliches Lächeln auf die Lippen. „Sehr gut. Hallo, Lucifer.“ Trübe, violette Augen starren ihn an, nein, starren durch ihn hindurch. Doch Mao schiebt das beklemmende Gefühl, das ihn dabei überkommt, rigoros beiseite. Er legt seine Hand unter Urushiharas Nacken und richtet ihn so – tatkräftig unterstützt von Ashiya - langsam in eine sitzende Position auf. Ashiya hat sich hinter Urushihara in den Schnee gesetzt und dient ihm als Lehne, damit er nicht umfällt. Und während also Ashiya von hinten seine Arme um ihn schlingt, befreit Mao sein Gesicht und das Haar vom Schnee. „Lucifer.“ Sanft legt Mao beide Hände um Urushiharas Wangen und sieht eindringlich in diese violetten Augen. Irgend etwas stimmt nicht. Es fühlt sich an, als würde er in die Augen eines Toten starren. Urushiharas Lippen bewegen sich, doch es kommt kein Ton heraus. „Lucifer. Kannst du mich verstehen?“ Ein kurzes, fast unmerkliches Nicken. Ashiya hinter Urushihara seufzt erleichtert auf. „Wir suchen dich schon den ganzen Morgen, du Idiot. Sei froh, dass Mao-sama nicht aufgegeben hat. Was machst du hier, mitten im Wald? Die Hütte liegt doch in einer völlig anderen Richtung. Bist du sogar zu dämlich, um einfach nur der Straße zu folgen?“ Beim Klang seiner Stimme zuckt Urushihara zusammen, als habe er vergessen, dass Ashiya hinter ihm sitzt, doch bei seinen letzten Worten entkommt ihm nur wieder dieser Atemzug. Es klingt fast wie ein Seufzen. „Wir sollten dich so schnell wie möglich ins Warme bringen“, erklärt Mao, macht aber keine Anstalten, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Gedankenverloren starrt er in Urushiharas Augen. Das unheimliche Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht mehr stimmt, wird immer stärker. Ganz kurz wirft er einen hilfesuchenden Blick zu Ashiya hinüber ohne jedoch genau sagen zu können, um welche Art von Hilfe er ihn ersucht. Etwas irritiert starrt Ashiya zurück. Goldbraune Augen, die jetzt, im direkten Sonnenlicht allerdings eher Gold wirken, weil sich die Pupille auf Stecknadelkopfgröße zusammengezogen hat. Urushiharas Pupillen dagegen, in die ebenfalls das Sonnenlicht fällt … Und plötzlich blitzen Erinnerungen an Ereignisse vor Maos innerem Auge auf, denen er damals keine große Bedeutung zugestanden hatte:   Alas-Ramus, wie sie mit einem Tuch über den Augen mit weit ausgestreckten Amen unsicher durch Emis Wohnung tapste. „Spielst du Blindekuh, Alas-chan?“ hatte er sie damals amüsiert gefragt. „Nein“, kam es todernst zurück und er konnte seine Ziehtochter gerade noch rechtzeitig auffangen, als sie stolperte. „Ich will wissen, wie es ist, wenn man nichts sehen kann.“ „Ignorier sie einfach“, hatte Emi gesagt. „Diesen Floh hat ihr euer Nichtsnutz ins Ohr gesetzt. Sorge dafür, dass er sich von ihr fernhält, sonst lasse ich sie nie wieder zu dir.“   Er hielt das für übertrieben, aber er tat sein Bestes, denn die Zeit mit der Kleinen war ihm wichtig. Auch, wenn das bedeutete, dass er die Tage, die sie bei ihm war, meistens außer Haus mit ihr verbrachte. All die Besuche in Zoos und Spieloasen rissen ein verdammt großes Loch in sein Budget, weshalb Ashiya beschlossen hatte, Urushiharas Laptop und sogar dessen geliebte Handheld-Spielekonsole und alle PC-Spiele zu verkaufen. Denn immerhin war das alles, jedenfalls nach Emis Meinung, der sich Ashiya da nur zu gerne anschloß, nur Urushiharas Schuld. Und Urushihara … der hatte nicht einmal protestiert. Das war ihm damals schon seltsam vorgekommen, aber nicht genug, um sich wirklich damit zu beschäftigen. Außerdem machte er sich viel mehr Sorgen um Alas, die es nicht bei diesem einen Versuch bleiben ließ. Sie handelte nie mehr so offensichtlich und schon gar nicht, wenn Emi in der Nähe war, aber Mao erwischte sie regelmäßig dabei, wie sie sich manchmal mit einer Hand die Augen zuhielt und mit der anderen dabei versuchte, nach etwas zu greifen. Einmal tastete sie sich mit fest zusammen gekniffenen Augen sogar die Treppe hinunter. Glücklicherweise hielt sie sich dabei am Geländer fest, doch danach sprach auch er mal ein Machtwort mit ihr. Sie sah ihn vorwurfsvoll an, als wäre er derjenige, der etwas falsch gemacht hatte, versprach ihm aber, damit aufzuhören. Doch er könnte schwören, dass sie diese kleinen Experimente weiterführt – nur jetzt eben in aller Heimlichkeit, und er weiß nicht, was er dagegen machen kann ohne sie gegen sich aufzubringen. Denn das Letzte, was er will, ist, dass sie zu ihm ebenfalls sagt: „Du bist nicht mein Papa.“ Mao atmet einmal tief durch und schiebt diese Gedanken ganz weit von sich. Es ist ganz allein seine Schuld, dass er nicht besser auf seine Ziehtochter gehört hat. Denn hätte er das, wäre es niemals so weit gekommen. Immerhin sagte sie doch erst gestern:   „Papa, das ist Quatsch. Er wird die Kerze nicht sehen.“   Eindeutiger geht es ja wohl nicht. Wieso hört er eigentlich nie richtig zu? Er nimmt seine Hände von Urushiharas bleichen Wangen und hält ihm stattdessen den Zeigefinger vor die Augen und bewegt ihn von einer Seite zur anderen. Wie erwartet - keine Reaktion. Urushiharas Augen starren weiterhin ins Leere. Mit bei diesen Lichtverhältnissen viel zu großen Pupillen. Ashiya beobachtet das seltsame Gebaren seines Königs irritiert. „Mylord-?“ beginnt er, doch da spricht dieser schon Urushihara an. „Lucifer.“ seine Stimme ist so sanft wie wenn er Alas-Ramus bei einem aufgeschlagenen Knie tröstet. „Du hast dich verirrt, weil du blind bist, nicht wahr?“ „Was?“ fassungslos schnappt Ashiya nach Luft. Aber Mao, einmal in Fahrt, redet schon weiter. „Und deshalb hast du auch nicht groß protestiert, als Ashiya deinen Laptop und alles andere verkauft hat. Deshalb liest du Alas auch nichts mehr vor und erzählst ihr lieber eine Geschichte. Deshalb nimmst du sie nicht mehr Huckepack und spielst ihr Pferdchen. Deshalb hast du die rote Wäsche mit der weißen zusammen in die Waschmaschine gesteckt. Und Ashiya dachte, du wolltest ihn einfach nur ärgern. Und Ashiya, verstehst du jetzt, wieso es ihm egal ist, dass er zur Strafe dafür die rosafarbenen T-Shirts tragen muss? Und wieso es ihn nicht stört, einen lachsroten Parka zu tragen? Und“, Maos Augen weiten sich in plötzlicher Erkenntnis, „deshalb hast du dich so gesträubt, mitzukommen.“ „Was?“ entfährt es Ashiya, der noch immer an dem Wort „blind“ zu knabbern hat. „Seit wann?“ Und wieso ist ihm das nie aufgefallen? Anders als Mao hocken er und Urushihara quasi den ganzen Tag aufeinander, abgesehen von den wenigen Stunden, an denen Ashiya einkaufen geht. Wie konnte er das dann einfach nicht bemerken? Urushihara seufzt nur tonlos. Er mag diese Halluzination nicht. Außerdem fühlt sich alles so bleischwer an. Er ist müde und will nur noch schlafen. „Hey, Lucifer, bleib wach. Bleib bei mir. Lucifer!“ Erschrocken tätschelt Mao Urushiharas Wangen, doch er kann es nicht verhindern, als diesem die Augen wieder zufallen.     „Mylord, seid Ihr sicher, dass ich ihn Euch nicht doch abnehmen soll?“ Entschieden schüttelt Mao den Kopf, dass seine dunklen Locken nur so fliegen. Er hat Urushihara Huckepack genommen und der gefallene Engel ist ein regelrechtes Leichtgewicht, er spürt ihn kaum. Und da sie in ihren eigenen Spuren gehen und Ashiya ihm vorausgeht und ihm umsichtig um jedes Hindernis herumführt, kommen sie recht schnell voran. Nur seine Hände sind unangenehm kalt und seine Ohren frieren. Aber Urushihara braucht die Handschuhe und die Mütze dringender als er. Natürlich hat ihm Ashiya sofort seine eigene Mütze und die Handschuhe angeboten, aber beides ist ihm viel zu groß, also hat er abgelehnt. Selbst wenn nicht, hätte er niemals zugelassen, dass sein treuer Freund ihm zuliebe friert. „Lucifer? He, Lucifer, bist du noch wach?“ besorgt tätschelt er ihn am linken Knie. „He, ich weiß, es ist schwer und du bist müde, aber bleib noch eine Weile bei mir, okay?“ Ashiya kommt die paar Schritte, die er vor ihm ging, wieder zurück, um einen prüfenden Blick in Urushiharas bleiches Gesicht zu werfen. „Ich glaube, er hat das Bewusstsein verloren.“ Mit den Zähnen zieht er sich den rechten Handschuh ab und berührt Urushihara an der Wange. „Er ist immer noch eiskalt. Ihr solltet Euch beeilen, Mylord.“ Mit entschlossener Miene streckt er Mao die Hand entgegen. „Ich habe nicht viel Magie, aber zusammen mit Eurer sollte sie genügen, um Euch und ihn in die Hütte zu teleportieren. Für Lucifer zählt jede Sekunde.“ Das ist eine Möglichkeit, an die er gar nicht gedacht hat. Mao hat keine Hand frei, weil er Urushihara nicht loslassen kann, also legt ihm Ashiya seine Hand stattdessen einfach auf die Stirn. „Ich bin froh, dass ich dich habe“, Mao schenkt Ashiya ein dankbares Lächeln. „Auf dich und deinen Verstand ist immer Verlaß.“ Verlegen lächelt Ashiya zurück. „Wechselt seine Kleidung und packt ihn in eine warme Decke ein. Versucht, ihn aufzuwecken und ihm etwas Heißes einzuflößen. Haltet ihn auf alle Fälle warm. Ich komme nach, so schnell ich kann.“ Mao nickt, rückt Urusiharas totes Gewicht auf seinem Rücken etwas zurecht und schließt dann die Augen, um sich ganz auf den Fluß von Ashiyas Magie und die Teleportation zu konzentrieren.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)