Mein ist die Dunkelheit von MariLuna ================================================================================ Kapitel 5: V. Kapitel ---------------------   Er spürt seine Finger und Füße nicht mehr. Sein Gesicht ist völlig taub. Aber wenigstens ist ihm nicht mehr kalt. In ihm entwickelte sich eine gewisse innere Wärme, als hätte er gerade eine große Tasse heißen Kakaos getrunken. Es ist fast angenehm. Er hat sich zu den Wurzeln des Baumes zusammengerollt und versucht, sich im Schneegestöber so klein wie möglich zu machen. Er kann die Flocken natürlich nicht sehen und auch nicht hören, aber er spürt, wie sie um ihn herumwirbeln. Oder vielleicht bildet er sich das auch nur ein. Um ihn herum ist es so still und friedlich, wie er es sich immer gewünscht hat und der Gedanke einfach nur einzuschlafen ist sehr verlockend. Und als er dann tatsächlich die Augen schließt, träumt er von dem Tag, an dem er sein Augenlicht verlor. Er träumt oft von diesem Tag. Er wünscht, er könnte die Zeit zurückdrehen, ist sich aber nicht sicher, ob er irgend etwas hätte ändern können. Vielleicht, wenn er seine Kopfschmerzen und seinen steifen Nacken nicht so auf die leichte Schulter genommen hätte? Wenn er, anstatt sich in seinem Schrank zu verkriechen und dort still vor sich hin zu leiden, sich ganz offen auf den Tatami-Matten vor Maos und Ashiyas Augen durch dieses Fieber gequält hätte? Hätten sie ihn überhaupt ins Krankenhaus gebracht? Selbst dessen ist er sich nicht sicher - nein, bei genauerem Überlegen hegt er sogar starke Zweifel daran. Er glaubt sich zu erinnern, gehört zu haben, wie Ashiya zu Mao meinte, er wolle nur Aufmerksamkeit und wie dieser ihm zustimmte. Er weiß aber nicht, ob er das wirklich gehört oder sich nur eingebildet hat. Die Erinnerungen an diese Nacht sind sehr fragmentiert und der Rest davon liegt hinter einem dicken, verschwommenem Nebel verborgen. Alles, was er weiß, ist: als er am nächsten Morgen aufwachte, hatten die Kopfschmerzen etwas nachgelassen, und er konnte seinen Kopf auch wieder ein wenig drehen, aber dafür wurde die Welt um ihn herum zunehmend dunkler. Er war nicht von jetzt auf gleich blind, es dauerte ein paar Stunden. Es war, als würde jemand kontinuierlich das Licht herunterdimmen, bis er sich gegen Abend in stockfinsterer Dunkelheit wiederfand. Aber immerhin war es Abend und vielleicht hatte Ashiya nur vergessen, die Stromrechnung zu bezahlen und da es ihm zu peinlich war, Ashiya und Mao danach zu fragen, hielt er lieber die Klappe - außerdem hätten sie sich bestimmt nur wieder über ihn lustig gemacht. Außerdem hoffte er, es ginge von alleine wieder vorbei. Nun, um seine Lippen zuckt ein bitteres Lächeln, etwas ging definitiv vorbei: sein Augenlicht. „Lucifer!“ Der Klang seines Namens schreckt ihn aus seinen düsteren Gedanken. Schwerfällig hebt er den Kopf und versucht in der ersten Sekunde aus reiner Gewohnheit, die Dunkelheit vor seinen Augen zu durchdringen, bis er sich wieder erinnert. „Lucifer!“ „Satan? Jacobu!“ Erfreut richtet er sich auf. „Jac-“, gerade noch rechtzeitig erinnert er sich, dass niemand mehr auf seinen wahren Namen reagiert, wenn er ihn damit anspricht. „Mao? Mao, hic sum! Ich bin hier!“ Sein Hals schmerzt, als er es schwach in die Nacht hinauswispert, doch niemand antwortet. Oder kommt zu ihm. Die Welt um ihn herum ist so still und friedlich wie zuvor und würde da nicht ab und zu etwas Schnee von einem überladenen Ast rieseln, hätte er glatt gedacht, er wäre auch noch taub geworden. Doch er ist nicht taub. Er ist nur blind. Und sein erschöpftes Gehirn hat ihm einen Streich gespielt.     Die nächste Halluzination durchschaut Urushihara schon nach fünf Sekunden, weil er Satans und Alciels lächelnde Gesichter vor sich sieht. Er sieht sie in ihrer wahren, in ihrer dämonischen Gestalt. Und trotzdem klammert er sich an diese Wunschvorstellung wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Er will glauben, dass sie ihn gesucht haben, und dass er wieder sehen kann. Er will daran glauben, dass alles nur ein schlechter Alptraum ist. Er hält seine Augen nur für ein paar Sekunden offen und in diesen Sekunden glaubt er mit aller Macht daran, dass alles gut ist, und er glaubt es auch noch, als ihn die Müdigkeit wieder überwältigt und ihm die Augen wieder zufallen. Er glaubt es so sehr, dass er das nächste Mal, als er die geisterhafte Berührung einer Hand an seiner Schulter fühlt und die besorgte, volltönende Stimme seines Dämonenkönigs hört, danach greift. Aber als seine Finger nur leere Luft – und ein paar Schneeflocken – berühren, ist es zuviel und etwas in ihm zerbricht. Aus seiner Kehle löst sich ein trockenes Aufschluchzen. Ergeben legt er sich in den Schnee und rollt sich dort zu einer Kugel zusammen.     Mao zupft noch einmal prüfend an dem Nylonfaden, den er um einen Querbalken der hölzernen Veranda-Überdachung geschlungen hat und knotet dann Alas-Ramus' Bettelarmband daran fest. Und als wolle ihn die Natur darin bestärken, kommt in diesem Moment ein scharfer Wind auf, wirbelt ihm Schneeflocken und beißende Kälte entgegen und rüttelt an dem kleinen Schmuckstück. Und sofort erfüllt ein feines, silbernes Klingeln die Luft. Mao erstarrt und lauscht einen Moment lang andächtig. Es ist ein leiser, aber erstaunlich durchdringender Ton und trotzdem bezweifelt er, dass man ihn weiter als zehn Meter hören kann. Mao klettert von dem Geländer herunter zurück auf die Veranda und starrt nachdenklich hinaus in die Nacht. Hinter dem leichten Schneegestöber kann er undeutlich die knorrigen Bäume des Waldes erkennen. Das Ganze wirkt unheimlich und bedrohlich wie aus einem Gruselfilm und jagt ihm einen noch kälteren Schauer über den Rücken als es der Wind je könnte. „Ich habe über Alas' Worte nachgedacht“, sagt er leise zu dem geduldig neben ihm stehenden Ashiya. „Ich glaube, sie hat recht. Wir waren in letzter Zeit sehr gemein zu Urushihara. Wir stehen nie auf seiner Seite. Ich stehe nie auf seiner Seite. Als König ist es meine Pflicht, mich schützend vor meine Generäle zu stellen.“ Ashiya gibt ein unbestimmtes Brummen von sich. „Urushihara macht es einem aber auch nicht gerade leicht, Mylord.“ Das mag stimmen, aber das entschuldigt nichts von dem, was vorgefallen ist. Alas' anklagende Worte gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie sitzen wie ein Stachel in seinem Fleisch und bohren sich mit jeder Sekunde tiefer. Es stimmt nicht. Es stimmt einfach nicht. Er mag Lucifer. Er mag ihn sogar sehr. Aber wenn die anderen dabei sind – vor allem, wenn Emi dabei ist – fällt es ihm schwer, auch dementsprechend zu handeln. „Wo er wohl gerade steckt?“ murmelt er mehr zu sich selbst, doch Ashiya hört ihn sehr gut. „Ich schätze, er ist umgedreht und zurück ins nächste Dorf gelaufen. Dort sitzt er jetzt sicherlich irgendwo im Warmen und lacht sich über uns tot, weil wir uns Sorgen um ihn machen.“ „Das glaube ich nicht“, erwidert Mao leise und wirft ihm einen langen Seitenblick zu. „Und du auch nicht.“ Für einen Augenblick wirkt Ashiya ertappt, doch er hat seine Miene schnell wieder unter Kontrolle. In Momenten wie diesen besteht seine Aufgabe darin, seinem König emotionalen Halt zu geben und Zuversicht auszustrahlen, seine eigenen Sorgen und Nöte haben daher im Hintergrund zu bleiben. „Er ist nicht dumm“, erwidert er daher. „Er wird schon ein trockenes, warmes Plätzchen zum Unterstellen gefunden haben. Wir können jetzt nichts machen. Es hat gar keinen Zweck, ihn bei Nacht zu suchen. Lasst uns die Morgendämmerung abwarten.“ „Wenn wir nur mehr Magie hätten...“, murmelt Mao betrübt, streckt den linken Arm aus und lässt über seiner flachen Hand eine rötliche Leuchtkugel erscheinen, die alles in einem Drei-Meter-Umkreis in ein blutrotes Licht taucht. „Lasst das, Mylord“, tadelt ihn Ashiya scharf. „Verschwendet nicht Eure wenigen Reserven für etwas Licht, das keine fünf Minuten hält. Und wäre Urushihara nur fünf Minuten entfernt, wäre er schon längst hier.“ Seufzend ballt Mao die Hand zur Faust und das Licht erstirbt gehorsam. Natürlich hat Ashiya in allem, was er sagt, Recht, es ist nur so furchtbar frustrierend, zur Untätigkeit verdammt zu sein.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)