Wolfsherz von HalcyTheWolf (In den Augen des Tigers) ================================================================================ Kapitel 6: Der Wolf auf der Flucht ---------------------------------- »Was? Ernsthaft?«, mit großen Augen sahen Ray und ich uns an. Seua nickte und sein nachdenklicher Blick zeigte mir, dass es absolut ernstgemeint war. »Unser erster Skandal, N’Cai. Hat lange genug gedauert«, sagte er, während wir uns den Rest des Videos ansahen. Später zeigten sie noch, wie ich mit ihm, an seinem Arm hängend, ins Haus gegangen war. Ein gefundenes Fressen für solche Leute. Ich konnte nicht glauben, dass alles in dieser kurzen Zeit passiert war. Erst muss er sich um mich kümmern, dann bringe ich ihn um den Schlaf und schließlich werde auch ich schuld sein, wenn seine Karriere ruiniert ist. »Was meinst du mit gedauert?«, erkundigte sich Ray. Wir konnten beide nicht wirklich etwas mit Seuas entspannter Reaktion anfangen. »Ich weiß nicht, inwieweit ihr euch mit der Klatschpresse auskennt, aber dass die nur darauf warten, etwas zu finden, ist klar. Als BL-Schauspieler sollten wir das aber wohl eher als Kompliment nehmen. Wie auch immer, die würden auch eine Schlagzeile daraus machen, wenn ich meinen Nachbarn grüßen würde. Er könnte schließlich mein lang verschollener Vater sein.« Seine Erklärung half mir trotzdem nicht, mich weniger schuldig zu fühlen. Ray ging an sein Handy, kam kurze Zeit später zurück. »Aber auch wenn es vermutlich gute PR für euch ist, P’Star möchte, dass ihr ein Live-Statement abgebt und die Gerüchte dementiert. Ihr sollt euch schon vor den Fans und auf Events wie ein Paar benehmen, aber er möchte Öffentliches und Privates trennen. P’Star ist der Meinung, das sei besser für Seuas Image, weil er sich nicht auf einen Drehpartner festlegen soll. Er soll zeigen, dass er auch offen für zukünftige Projekte ist«, gab er P’Stars Worte wieder. Seua verschränkte die Arme, antwortete auch nicht. Bei mir war das anders, diese blöden Fotos lagen schließlich in meinem Zimmer rum und ich war mehr als gewillt, Seuas Image in der Öffentlichkeit zu retten. Tatsächlich sollten wir das direkt von Seuas Wohnung aus machen. Ray half uns das Handy aufzubauen und als er das Zeichen gab, lächelten wir beide in die Kamera. »Hallo, liebe Fans, wir sind die Darsteller von »Wolfsherz«. Zunächst einmal habt ihr sicherlich mitbekommen, dass Cai gestern etwas Schreckliches passiert ist, daher müssen wir die Dreharbeiten für ein paar Tage pausieren«, wie schnell Seua auf seinen Profi-Modus umschalten konnte, faszinierte mich immer wieder. Er legte mir einen Arm um die Schulter: »Doch wie ihr seht, geht es Cai im Moment gut.« Ich winkte in die Kamera und sagte: »Die Fotos, die ihr gesehen habt, wurden aus meinem Zimmer gestohlen, waren nur ein paar Späße während des Shootings. Sie sagen nichts darüber aus, wie Seua und ich zueinanderstehen. Auch dass ich gestern mit in seine Wohnung gegangen bin, war nur eine Notlösung. Wir sind gute Freunde, mehr nicht.« Nach dieser Aussage beendeten wir das Live-Statement schon, auch Seua befand, dass das P’Star reichen sollte. Ray war schon wieder auf dem Sprung: »Das habt ihr gut gemacht. Ich fahre zum Sender, dort sprechen wir mit dem Hotel darüber, was die bisher wissen. Ich werde euch die ganze Zeit auf dem Laufenden halten, während ihr hier seid. Ruht euch am besten aus.« Als Ray verschwunden war, musste ich mich um den skeptischen Blick kümmern, der schon die ganze Zeit auf mir lag. »Woher hast du diese Fotos?«, hakte er nach und diese Erklärung war ich ihm wohl schuldig. »Der Fotograf hat diese Bilder Ray mitgegeben, für mich als Andenken. Ich habe sie einfach liegen lassen, das war unvorsichtig. Tut mir leid, P’Seua. Wir müssen nicht nur die Dreharbeiten pausieren, sondern auch noch darauf achten, dass deine Karriere nicht beschädigt wird«, ich konnte diese lästigen Schuldgefühle nicht ablegen. »Meine Karriere hat schon mehrere an den Haaren herbeigezogene Skandale überlebt, wie du siehst.« Seine Laune besserte sich trotzdem nicht. Ganz toll. Wir waren hier eingesperrt, die Laune war im Keller und machen konnten wir auch nichts. Es war gruslig, Seua schlecht gelaunt zu sehen, das bin ich nicht gewohnt. Ich hakte lieber nicht weiter nach, sonst würde er mich hinterher wirklich noch beißen. »Ich verstehe dieses Getue von P’Star nicht. Die wollen doch immer, dass wir einen auf Pärchen machen, wieso muss ich jetzt daher gehen und harmlose Fotos kommentieren?«, fuhr es aus ihm heraus. Ich wusste nicht warum, aber seine Aussage traf mich. Einen auf Pärchen machen? Ich schüttele mich, wusste doch, dass alles nur gespielt war. »Ganz ehrlich, Cai? Jetzt gerade würde ich denen richtig gerne einen echten Skandal zeigen.« Ich wollte gar nicht wissen, was er damit meinte, äußerte mich aber auch nicht dazu. Stattdessen saß ich auf dem Sofa und googelte mich selbst. Ständig tauchten diese Fotos mit den unterschiedlichsten Überschriften auf, die mein Handy übersetzte. Das, was eigentlich schlimmer war, nämlich dass ich gestern bedroht wurde, ging völlig unter. Ängstlich beobachtete ich Seua, der wie ein Tiger im Käfig auf und ab ließ. Als sich unsere Blick trafen, wandte ich mich sofort wieder ab. Doch er blieb genau vor mir stehen. »Cai, ich habe eine Idee. Was hältst du davon, wenn wir für die zwei Tage abhauen?« Verwirrt sah ich ihn an: »Was meinst du?« »Genau was ich gesagt habe. Wir verstecken uns auf dem Land. Ich weiß das klingt komisch, aber ich glaube damit können wir die Situation hier und uns selbst auch etwas beruhigen. Bist du dabei?« Die Aussicht war schon verlockend, immerhin hätte ich dann die Möglichkeit vor dem Tiger zu fliehen, wenn es sein musste. Tatsächlich glaubte ich auch daran, dass uns ein Ortswechsel guttun würde, um danach wieder arbeiten zu können. Ich sagte allerdings was anderes, denn natürlich hatte ich auch Zweifel: »Ich weiß nicht, P’Seua. Erstens ist es nicht gut für mich, mit dir allein zu sein. Zweitens wird wohl kaum jemand von Sender oder Management das absegnen. Und drittens, wie um alles in der Welt sollen wir hier rauskommen, ohne gesehen zu werden?« Vermutlich war spätestens seit dem Video vor der Tür alles voll mit Reportern, die uns nur zu gerne mit Fragen belästigen würden. Ich selbst hatte das noch nicht erlebt, aber man sah das genug in Filmen. Bei Seua zweifelte ich nicht eine Sekunde daran. Herausfordernd sah er mich an, so sah niemand aus, der einfach aufgeben würde. »Erstens bist du jetzt auch mit mir allein. Zweitens wird es nie jemand vom Sender oder Management erfahren. Falls Ray versprechen kann, dicht zu halten, werde ich es höchstens ihm sagen, aber auch erst, wenn wir weit genug weg sind. Drittens hat das Gebäude mehrere Ausgänge, die niemand außer den Bewohnern kennt.« »Und wenn uns doch jemand zusammen sieht? Dann haben wir direkt den nächsten Skandal«, zweifelte ich weiter. Langsam wurde er wütend, schien sich davon nicht abbringen zu lassen. Er beugte sich zu mir runter: »Von mir aus können sie tausend Skandale erfinden, Cai. Bitte, komm‘ mit.« »Alles klar, lass uns gehen, P‘Seua.« Seua gab mir eine kleine Tasche, damit ich die Sachen aus dem Koffer dort reinlegen konnte. Da es nur zwei Tage waren, brauchten wir auch nicht viel. Auch er packte ein paar Sachen. Wir verließen die Wohnung über einen Fahrstuhl, der bis in die Tiefgarage runterfuhr. »Das System hier ist sehr gut durchdacht und nur die Bewohner sind eingeweiht. Dadurch, dass das Gebäude eine versteckte zweite Ausfahrt hat, können wir uns unbemerkt davonschleichen.« Wir gingen auf ein unspektakuläres Auto zu, wo wir unsere Sachen in den Kofferraum luden. Es war ein silberner Mazda, der weit unter dem Budget lag, was Seua sich leisten könnte. Ich ging davon aus, dass es Absicht war. Als er gerade auf der Fahrerseite einsteigen wollte, sagte ich: »Du bist müde, P’Seua. Lass‘ mich fahren.« Er hielt inne, dann stieg er wieder aus, sah mich über das Autodach an. »Bist du sicher? In Thailand ist Linksverkehr, da muss man sich erst dran gewöhnen. Außerdem sind wir mitten in Bangkok, da kann der Verkehr schon mal unübersichtlich werden.« Ob wir sterben würden, weil ich nicht klarkam oder weil Seua am Steuer einschlief, machte dann auch keinen Unterschied. »Ich krieg‘ das hin«, sagte ich und er gab mir schulterzuckend die Schlüssel. Wir tauschten die Seiten und stiegen ein. Bevor wir jedoch losfuhren, wies er an, dass wir beide Handys ausschalten sollten, um nicht geortet werden zu können. Ich schaltete mein Handy aus, warf es auf den Rücksitz. Seua stellte mir das Navi ein, was zum Glück Englisch sprach. Die Ausfahrt führte in eine Seitenstraße, die wirklich sehr unauffällig war. Ich fuhr auf die Hauptstraße, hoffte, dass das Navi mich zuverlässig führen würde. Ray würde mich dafür hassen, aber ich konnte mich nicht gegen Seuas Abenteuerlust wehren. Das Navi wollte, dass ich Bangkok verließ, und ich erinnerte mich, dass er was davon gesagt hatte, aufs Land zu fahren. »Also, wo fahren wir genau hin, P’Seua?« Die Straße zog an uns vorbei, doch ich bekam keine Antwort. Kurz sah ich zur Seite, wir waren noch nicht einmal zwanzig Minuten unterwegs, doch er war schon eingeschlafen. Gut, dass er nicht gefahren ist. Er musste letzte Nacht wirklich nicht geschlafen haben. Laut Navi mussten wir noch 2 Stunden fahren, daher war es gut, dass er die Zeit nutzte, um Schlaf nachzuholen. Ich hoffte nur, dass wir nicht angehalten werden, wusste nicht, ob ich mit meinem Führerschein hier überhaupt fahren durfte. Irgendwann wurden die Straßen und Hochhäuser weniger, für mich sah es aus, als seien wir auf dem richtigen Weg. Also hier nur noch links abbiegen und dann… »Bitte wenden!« Was? Ich stellte das Auto an einer kleinen Straße ab, die von Feldern gesäumt war. Scheinbar war ich der einzige Mensch, der sich selbst mit Navi verfahren konnte. Ich versuchte den Weg zu rekonstruieren, doch ich war mir sicher, dass ich ganz genau gefahren war, wie ich sollte. Oder was ich doch irgendwo falsch abgebogen? Ich fuhr zurück, doch merkte irgendwann, dass ich immer wieder an dieser Straße ankam. Mit den letzten Adressen konnte ich nichts anfangen, weil ich nicht wusste, wo Seua hinwollte. Aber es musste doch die letzte Adresse sein, oder? Langsam wurde ich panisch. Ich wollte weder Seua wecken noch die ganze Zeit im Kreis fahren. Wir waren zwar schon etwas weiter außerhalb, aber sie durften uns auf keinen Fall sehen. Was konnte ich eigentlich? Ich griff in Richtung des Rücksitzes, nahm mein Handy und schaltete es wieder ein. Ich wusste, wer mir helfen konnte und hoffte einfach, dass er unsere Situation verstehen würde. Seua ließ ich im Auto zurück, um zu telefonieren. »Guten Morgen, Khun Cai. Wie kann ich helfen?« »P’Joe, ich habe eine große Bitte, ich weiß aber nicht, ob du das machen kannst.« »Sag‘ doch erst einmal worum es geht.« »Also wie du weißt, haben wir eine Drehpause eingelegt und Seua und ich wollten uns für diese kurze Zeit wegschleichen, um den Kopf freizubekommen. Das weiß aber niemand und es sollte auch niemand wissen. Seua war sehr müde, er schläft auch gerade, daher bin ich gefahren. Das hat bisher auch gut geklappt, aber das Navi führt mich im Kreis und ich kenne die Adresse nicht. Ich will Seua aber auch nicht wecken«, erklärte ich ihm das Dilemma, in dem ich mich gerade befand. »Khun Cai, du möchtest also, dass ich komme, euch diskret abliefere und niemandem davon erzähle?« Ich fühlte mich schlecht, ihn wegen meiner Inkompetenz zu bemühen, aber ich wusste einfach nicht weiter. »Ja. Das fasst es sehr gut zusammen.« »Schick‘ mir euren Standort, dann komme ich.« Erleichtert schickte ich ihm den Standort, legte auf und setzte mich wieder ins Auto, um auf ihn zu warten. Seua schlief weiterhin und ich hoffte inständig, dass das auch so blieb. Er würde das nicht mögen. Sein Kopf war gegen das Fenster gelehnt, er atmete ruhig. Wie unfair ist das einfach, dass manche Menschen selbst im Schlaf gutaussehen? Ich streckte meine Hand aus, fuhr ihm mit den Fingern durch die Haare. Sie waren genauso weich, wie ich es mir vorgestellt hatte. Erst einen Moment später realisierte ich, was ich tat und zog erschrocken meine Hand zurück. Bist du verrückt geworden, Caiden? Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was passieren würde, wenn er es mitbekommen hätte. Schlafende Tiger sollte man nicht wecken. Eine Weile später klopfte P’Joe an die Scheibe und ich stieg aus. »Danke, dass du gekommen bist, P’Joe. P’Seua meinte, dass es irgendwo auf dem Land sein soll. Am besten du schaust ins Navi«, sagte ich leise und er setzte sich hinters Steuer. Ich stieg hinten ein. »Wirklich nett von dir, dass du das machst. Sonst wären wir vermutlich sonst wo gelandet«, flüsterte ich. Er winkte ab: »Kein Problem, Khun Cai. Es ist gut, dass du dich gemeldet hast.« Wir fuhren sofort los, nachdem er das Navi eingestellt hatte. Ich schaltete mein Handy wieder aus. »Du wirst niemandem was sagen, oder?«, musste ich noch wissen. Er schüttelte den Kopf: »Das ist nicht mein Job. Wenn meine Kunden sagen, dass sie gefahren werden möchten, mache ich das. Solange ich weiß, dass sie nichts zwielichtiges vorhaben, werde ich es nicht hinterfragen. Ihr könnt mich jederzeit anrufen.« Wortlos bedankte ich mich noch einmal bei ihm. Jemanden wie ihn zu haben, war wirklich ein Segen. Mir blieb hoffentlich die Blamage erspart und es gab jemanden, auf den ich mich verlassen konnte. Den Rest der Fahrt blieben wir stumm. Ich betrachtete die Umgebung, war froh, auch mal aus der Stadt rauszukommen und ein bisschen mehr von Thailand sehen zu können. Außer an den verschiedenen Drehorten, würde ich sonst gar nicht diese Möglichkeit haben. An einem hölzernen Haus hielt er an, deutete mir, dass wir angekommen waren. Wir stiegen aus und P’Joe lächelte mich an: »Da wären wir.« »Wie kommst du wieder zurück, P’Joe?« »Ich werde ein Taxi nehmen. Falls ihr abgeholt werden wollt, ruf mich einfach an.« »Danke. Falls ich jemals etwas für dich tun kann, lass es mich wissen.« Ich sah ihm noch für einen Moment hinterher, dann setzte ich mich hinters Steuer. Ich stieß Seua an der Schulter an, er wurde wach und sah sich um: »Sind wir schon da?« »Ja.« »Nicht schlecht. Bist du gut mit dem Fahren klargekommen?«, fragte er. Hoffentlich konnte ich einmal Nutzen aus meinen Schauspielkünsten ziehen, um nicht von ihm durchschaut zu werden: »Ja, alles gut. Lass‘ uns gehen.« Schnell stieg ich aus, um die Koffer aus dem Auto zu holen. Je weniger wir über dieses Thema reden würden, desto besser. »Ist das ein Ferienhaus?« Seua schloss den Kofferraum und verriegelte das Auto. »Nein, hier wohnt meine Oma. Du wirst sie gleich kennenlernen, aber sie kann kein Englisch mehr.« Mit unseren Taschen über die Schulter betraten wir das Haus, wo wir von einer alten Dame in Empfang genommen wurden. Sie umarmte erst Seua, dann mich. Da sie sehr klein war, sah Seua riesig neben ihr aus. Ich begrüßte sie auf Thai. Sie sprach kurz mit Seua, wovon ich aber nichts verstand. Seine Oma bat uns zum Tee, während sie alles vorbereitete, nahm ich mir die Zeit, mich im Haus umzusehen. Alles bestand aus Holz, die Möbel waren altmodisch, aber es verlieh dem Ganzen eine gemütliche Atmosphäre. Anders als das kalte, lieblose Apartment in dem Seua wohnte. »Meine Oma sagt, dass sie unseren Skandal im Fernsehen gesehen hat. Sie findet, dass wir gut zusammenpassen«, übersetzte er, doch ich sah ihn skeptisch an. »Ich übersetze das schon richtig, N’Cai.« Ich sagte nichts dazu, zog nur die Augenbrauen hoch. Ganz sicher sein konnte ich mir da wohl nie. Nachdem wir mit dem Tee fertig waren, halfen wir beim Abwasch. Obwohl wir uns sprachlich nicht verstanden, spürte ich, dass sie sich über unsere Anwesenheit freute. Vor allem natürlich, dass Seua da war. Er war schließlich ein Star, hatte also vermutlich nicht viel Zeit, sie zu besuchen. Seua und ich gingen raus in die Felder, nachdem wir fertig waren. Es war ein wunderschöner Tag, angenehm warm, strahlend blauer Himmel, aber das Schönste war wohl, dass niemand sonst hier war. Er lief ganz zielstrebig durch die Felder, als würde er das jeden Tag machen. Ich lief neben ihm, fühlte mich gut, ohne Tasche und ohne Handy. Klar, ich war ihm hier ausgeliefert, aber trotzdem genoss ich es, mal nicht die Kontrolle über alles zu haben. »Kennst du dich hier gut aus?« Wir liefen weiter, während wir redeten. »Ich bin hier aufgewachsen, Cai. Da meine Eltern viel im Ausland waren und immer noch sind, hat meine Oma mich großgezogen. Ich kenne hier jede Ecke. Wenn du also vorhaben solltest, vor mir zu fliehen, ganz schlechter Ort dafür.« Lachend schüttelte ich den Kopf: »So blöd bin selbst ich nicht, P’Seua. Und schon gar nicht ohne Handy.« Irgendwann blieben wir an einem kleinen Fluss stehen, der von Bäumen umgeben war. Wir setzten uns an den Rand des Flusses, betrachteten das Wasser. Jetzt wird er auch noch romantisch, oder was? Doch abgesehen davon, löste das Wasser eine unheimliche Ruhe in mir aus. So musste es sich anfühlen, am Ende der Welt zu sein. Ich stützte mich auf den Armen ab, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Bis auf das Rauschen des Wassers und die leichte Brise, war es absolut still. Schon seit Jahren war ich nur noch von Hektik umgeben, dass ich das gar nicht mehr kannte. Es war eindeutig, warum Seua hier hinwollte. Auch für ihn musste das sehr entspannend sein. Keine Kameras, keine Fotografen, keine Journalisten, kein Team, keine Fans. Kurz öffnete ich die Augen, um zu schauen, was er tat, doch er saß genauso wie ich. Gemeinsam genossen wir die Stille, wobei ich jegliches Zeitgefühl verlor. Irgendwann legte er seinen Kopf auf meine Schulter, was mich kurz zusammenzucken ließ. Diesmal ließ ich es zu, mahnte mich aber selbst, darauf zu achten, ihm nicht zu viel durchgehen zu lassen. Ich beschloss den Moment zu nutzen, um mehr über ihn zu erfahren. »Du gehst noch zur Uni, oder? Wie machst du das denn mit den ganzen Aufritten und Drehtagen?« »Ja, aktuell brauche ich noch ein Jahr bis zum Abschluss. Wenn Events und Drehs anstehen, muss ich pausieren und brauche daher länger als die anderen. Aber zum Glück läuft das so, dass ich mir das alles selbst einteilen kann.« »Uff, ich kann mir vorstellen, dass es trotzdem schwer ist, alles unter einen Hut zu kriegen. Irgendwann musst du auch lernen.« »Klar, aber je nachdem, was ansteht, gibt es auch mal längere Pausen am Set, die ich dann nutzen kann.« Wenn er nicht die Zeit dazu nutzte, um mit mir zu flirten. Nächstes Mal würde ich ihn daran erinnern, dass er lernen muss. Trotzdem fand ich es erstaunlich, dranzubleiben und einen Abschluss anzustreben, obwohl man es als Star im eigenen Land geschafft hatte. »Und du?« »Ich habe mein Studium abgeschlossen. Zwischendurch hab‘ ich zwar auch das ein oder andere Mal auf der Bühne oder vor der Kamera gestanden, aber eher für Uni-Projekte. Das war eher so, wie als wenn man einen Nebenjob hat.« »Mhm. Und als du von TMM TV angefragt wurdest, hast du einfach zugesagt, ohne zu wissen, worum es geht?«, hakte er nach. »Ja, ich muss zugeben, im Nachhinein scheint mir das schon ziemlich riskant. Ray hat auch versucht mich zu warnen, aber manchmal bin ich einfach zu stur. Und am Ende hatte ich Glück, dass es eine seriöse Produktion ist und nicht irgendein Hinterhof-Horrorfilm. Ray würde nichts Komisches annehmen. Und bei den Worten »Hauptrolle« und »Ausland« war ich sofort dabei«, erklärte ich schwärmerisch. Selbst wenn es hieß, dass ich dem Tiger gefährlich nah kommen musste, war ich trotzdem stolz darauf. »Mutig, aber ich hätte es genauso gemacht.« »Glaube ich. Wie bist du eigentlich Schauspieler geworden oder eher gesagt, berühmt geworden?«, durch die entspannte Atmosphäre fiel es mir leichter, mit ihm zu reden. Vor allem auch, weil das Rauschen des Flusses mein Herzklopfen übertönte. »Es ist nicht wirklich spannend. In meiner Fakultät Comm. Arts haben wir öfter Aufführungen, bei denen dann meistens auch Agents der Sender da sind. Dort wurde ich gecastet. Am Anfang habe ich Nebenrollen gespielt, aber vor drei Jahren habe ich dann das erste Angebot für eine Hauptrolle in einer BL-Produktion bekommen. Naja, und wie das manchmal eben ist, wurde die Serie ziemlich groß in Thailand. Seitdem bin ich bekannt hier. Sag‘ ich ja, nicht spannend.« »Das vielleicht nicht, aber es muss ein unglaubliches Gefühl sein, wenn so viele Leute die Arbeit lieben, die man abgeliefert hat, oder nicht?« Im Prinzip lebte Seua gerade meinen Traum. Ich drehte meinen Kopf, um ihn anzusehen. »Ja, das ist es wirklich. Aber man opfert eben auch extrem viel Zeit und vor allem sein Privatleben, wie du gesehen hast. Es ist zu lange her, dass ich hierhin fahren konnte. Noch dazu haben die Leute immer eine gewisse Erwartungshaltung, dass man die gleiche Leistung oder am besten noch eine bessere Leistung abliefert. Es gab schon einige Leute, die das kaputt gemacht hat.« Nachdenklich sah ich in die Ferne, ich hatte auch schon öfter gehört, dass das Berühmtsein für manche sehr schwierig war, mich hielt das aber nicht auf. Vorsichtig drückte ich ihn von mir und stand auf, was er mir gleich tat. »Ich weiß, P’Seua. Trotzdem ist das mein Traum. Glaubst du ich kann es schaffen? Glaubst du, »Wolfsherz« kann mich berühmt machen?« Er sah mir in die Augen: »Ja. Ich bin der festen Überzeugung, dass es das wird.« Wir gingen zurück und Seua benutzte das Festnetz, um wie abgesprochen, Ray anzurufen. Seine Nummer wusste ich zum Glück auswendig, denn als Ray vor ein paar Jahren als mein Manager angefangen hatte, war es das Erste, was er mir aufgetragen hatte, auswendig zu lernen. Ich stand neben Seua, das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hörte, wie Seua ihm unseren Plan erklärte und dass er uns bitte nicht suchen sollte. Dann kam der befürchtete Moment: »Er will dich sprechen.« Ich nahm den Hörer entgegen: »Ja?« »Sag‘ mal, Cai, bist du völlig bescheuert? Es ist wirklich kein guter Zeitpunkt mit Seua durchzubrennen. War das deine Idee?«, an seiner Stimme konnte ich schon hören, dass er sauer war. »Nein, aber wir haben die nötigen Vorkehrungen getroffen, Ray. Niemand weiß wo wir sind und wir wurden auch von niemandem gesehen«, erklärte ich kleinlaut und fühlte mich schlecht, Ray anzulügen. »Sehr schön, wirklich. Du kannst gar nicht wissen, ob euch nicht doch jemand gesehen hat. Was zur Hölle soll das werden? Wie bitte soll ich dem Sender erklären, dass ich nicht weiß, wo du bist, falls sie zufälligerweise doch mit dir reden wollen?« »Es tut mir leid, wirklich. Sollte irgendetwas sein, kannst du diese Nummer anrufen. Morgen Abend sind wir wieder da.« Seua nahm mir den Hörer aus der Hand: »Was auch immer du Cai gesagt hast, denk‘ bitte dran, dass ich ihn gebeten habe, mitzukommen. Ich glaube, uns beiden wird diese Auszeit guttun.« Dann legte er auf. Für ihn war das geklärt, ich war aber damit noch lange nicht aus dem Schneider. Er legte mir beide Hände auf die Schultern: »Lass‘ uns essen, Cai. Über Ray kannst du dir immer noch Gedanken machen, wenn wir zurück sind. Ich nehme die Schuld auf mich.« Ich versuchte mich mit diesem Gedanken zu beruhigen und wir aßen das Selbstgekochte seiner Oma, die mich immer freundlich anlächelte. Ich erzählte ein bisschen von mir und bat Seua, es zu übersetzen. »Sie findet sehr gut, dass du dich für andere Länder interessierst. Als sie klein war, ist sie öfter in den USA gewesen. Doch leider ist das sehr lange her und sie hat das Englisch komplett verlernt«, auf diese Art unterhielten wir uns noch eine Weile und spielten Karten nach dem Essen. Als seine Oma aus Seuas Kindheit erzählte, war ich mir sicher, dass er nur die Hälfte übersetzte: »Und als er klein war, konnte er nie ohne seinen Kuschelhasen einschlafen..Oma!« Auch wenn Seua sich danach weigerte, weiter zu übersetzen, hörte ich ihr trotzdem zu, versuchte anhand seines Gesichtsausdrucks zu erraten, worum es ging. Vermutlich lustige Anekdoten aus seiner Kindheit. Auch wenn ich es nicht verstand, mochte ich den Klang der Sprache, konnte ihr auch so stundenlang zuhören. Außerdem war sie eine gewiefte Zockerin, gegen die wir im Kartenspiel überhaupt keine Chance hatten. Gegen Abend ging ich mit ihm in den 2. Stock, wo sich sein ehemaliges Kinderzimmer befand, wo wir heute auch schlafen sollten. Dort war auch der legendäre Kuschelhase, den Seua sofort in einem Schrank verschwinden ließ. Ich konnte mir weder das Grinsen noch den Kommentar verkneifen: »Oh je, der Tiger kann doch gar nicht ohne sein Kuschelhäschen schlafen.« Seua drückte mich gegen die Wand, funkelte mich böse an. Ich musste schlucken, das hatte ich wohl selbst provoziert. »Pass‘ lieber auf, sonst wirst du ganz schnell zu meinem neuen Kuscheltier«, flüsterte er. Ich duckte mich unter seinem Arm weg und sah mich Zimmer um. Die Möbel waren genauso altmodisch, wie der Rest der Wohnung. Auf dem Schreibtisch standen, fein säuberlich sortiert, sogar noch die Schulbücher. »Sind die von der Grundschule?«, erkundigte ich mich. »Ja. Schau sie dir gerne an, für dich sind die wahrscheinlich gar nicht schlecht, um Thai zu lernen.« Während Seua das Bett vorbereitete, blätterte ich in den Büchern, die Schreibübungen für Thai enthielten. Irgendwie war es süß, Seuas krakelige Schrift als Kind zu sehen. Thailändische Buchstaben waren nicht einfach und seine Kinderschrift sah vermutlich aus wie meine. Ich stellte das Buch zurück, drehte mich um und sah, dass er schon im Bett lag. Glücklicherweise hatte er eine Matratze daneben vorbereitet. Seua schlug seine Bettdecke zurück: »Also willst du bei mir im Arm schlafen oder lieber auf dem Boden, N’Cai?« »Dann gerne auf dem Boden«, sagte ich schnell und schlüpfte unter die Decke. Er deutete auf die Nachttischlampe. »Reicht dir, wenn ich die anlasse?« Ich war wirklich erstaunt darüber, dass er jedes Mal daran dachte. Nicht einmal meine Freunde waren derart rücksichtsvoll. »Klar, danke.« Für mich fühlte es sich ein bisschen an, wie eine Klassenfahrt. Wenn man das Flirten mal außer Acht ließ. In diesem Moment ging es mir richtig gut. Der Stress im Hotel war vergessen, ich habe ein bisschen seine Hintergründe kennengelernt und seine Oma. Nur dieser eine Tag hatte mich so entspannt, dass ich direkt wieder ans Set gehen könnte. Wir lagen beide auf der Seite, konnten uns daher ansehen. »Danke, P’Seua. Ich hatte wirklich Spaß heute«, sagte ich leise. »Nicht dafür. Ich habe mich gefreut, wieder herkommen zu können. Danke, dass du mitgekommen bist«, diesmal sah er mich freundlich an, weswegen ich sofort wusste, dass er es ernst meinte. Dann war das der Moment, endlich zu klären, was mich die ganze Zeit umtrieb: »Darf ich dich was fragen, P’Seua?« »Klar.« Es war eine sehr persönliche Frage, daher zögerte ich ein bisschen. Gib‘ dir einen Ruck, Caiden. Sonst wirst du nie Ruhe haben. »Stehst du auf Typen?« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)