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Memento defuncti - Ein Requiem zu früh

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Von Stichen und Schüssen

Der Schmerz kam erst viel später. Im ersten Moment dachte er, die legendäre Heldin Emilia hätte ihn verfehlt. Aber das konnte nicht sein. Sie war ihm viel zu nahe gekommen, um aus dieser Entfernung nicht zu treffen. Dann sah er die Federn, welche losgelöst durch den Himmel segelten. Seine schwarzen Federn. Und er sah das Blut. Die violetten Augen weiteten sich erschrocken. Er schlug ausholend mit den Schwingen durch die Luft, um Abstand zu seiner Gegnerin zu gewinnen. Gleichzeitig richtete er die flache Handinnenseite gegen sie und sammelte genug Magie darin für einen gezielten Schuss. Doch sein rechter Flügel reagierte nicht wie sonst. Der Himmel kippte vor Lucifers Augen zur Seite und ein Gefühl überkam ihn; ein unangenehm bekanntes Gefühl. Er fiel. Er stürzte aus dem Himmel! Ein kometenhafter Schweif aus wirbelnden Federn und Blut markierte seine Flugbahn. Emilia blieb mit hasserfüllten Augen und kaltem Gesichtsausdruck weit über ihm zurück, die feucht glänzende Klinge in der Hand. Lucifer wandte den Kopf und nun entdeckte er, welchen Schaden Emilias Schlag mit Better-Half angerichtet hatte. Sein Flügel war am Gelenk tief eingeschnitten, die Sehnen größtenteils durchtrennt. Ein tiefer Schnitt setzte sich außerdem über Lucifers Körper hinweg fort, betraf seine rechte Schulter, zog sich über seine Brust und den Bauch hinunter. Der lange, schwarze Mantel klaffte offen und aufgeschlitzt, die Stoffenden flatterten geräuschvoll im Wind.

Endlich überwand der fallende Engel den Schock und realisierte, was zu tun war. Die Magie, die er für einen Angriff gegen Emilia in seiner Handfläche gesammelt hatte, wurde so rasch wie möglich umgewandelt, sodass sie heilte, statt tötete. Fest presste er sich die linke Hand auf die Schulterwunde und schickte die Energie sowohl in seinen Flügel, als auch durch den Schnitt in seinem Torso. Er würde nur das Nötigste wiederherstellen und dann wieder zum Angriff übergehen. Er würde nicht einmal magische Energie damit verschwenden, seinen Sturz abzufangen und ohne seine Flügel zu schweben. Er wollte alles, was er hatte, in den nächsten Schuss hineinlegen. Diese blöde Heldenschlampe würde gleich sehen, mit wem sie sich angelegt hatte!
 

Bisher hatte der Kampf gegen Emilia einen Heidenspaß gemacht. Der Geflügelte sah sich schon als den gefeierten Schlächter der Heldin zu Maou heimkehren. Ganz Ente Isla würde seinen Namen entweder grölen oder fortan nur noch flüstern. Nur noch ein paar Sekunden, dann konnte er es wahr werden lassen.

Ein Schatten fiel auf seinen zierlichen Leib. Erschrocken sah Lucifer auf und blickte erneut in Emilias wie versteinert wirkendes Gesicht. Die abnorm langen, silbernen Haare peitschten hinter ihr durch die Luft. Sie befand sich im Sturzflug auf ihn zu, Better-Half entschlossen auf ihn gerichtet! Die blutige Klinge schien unheilvoll im kalten Gegenwind zu sirren. Sofort riss der General des Dämonenkönigs die Arme vor den Körper, sammelte destruktive Energie und schoss. Emilia nahm das magische Projektil mit Better-Half an und leitete es ab, sodass es nutzlos an ihr vorbei sauste. Für den Bruchteil einer Sekunde folgten Ihre Augen dafür dem lilafarbenen Leuchten, sodass der Gegner in ihr peripheres Sichtfeld rutschte. Diesen Moment nutzte Lucifer aus, um sich im Fallen zu drehen und aus Emilias Kurs zu segeln. Sie bemerkte es erst, als sie bereits auf gleicher Höhe fielen. So traf sie der nächste Schuss völlig unerwartet von der Seite. Aber zu Lucifers großer Überraschung, verfehlte er sie!

Seine Augen richteten sich ungläubig auf die Hand, mit der er geschossen hatte. Inzwischen spürte er den Schmerz seiner Wunde sehr deutlich. Seine rechter Arm zitterte. Er konnte ihn im Wind des Sturzes nicht mehr ruhig halten. Außerdem glänzten seine Finger vor Blut.

Lucifers taktischer Verstand begann die Vorstellung einer siegreichen Heimkehr zu begraben und ihm klar zu machen, dass er zu viel Blut verlor. Überdies würde er in Kürze mit fatalen Folgen auf dem Boden aufschlagen.

Der Geflügelte biss die Zähne zusammen und unterdrückte einen Fluch, um Emilia gegenüber seine prekäre Lage nicht einzugestehen. Aber ihrem Lächeln nach zu urteilen, wusste sie, wie es um ihn stand. Sie fing sich geschickt aus dem Sturzflug ab und richtete ihren Körper neu aus, um nun in diagonaler Flugbahn wieder auf ihn zuzuhalten. In ihren roten Augen loderte die Obsession, ihn hier und jetzt zu erledigen.

Lucifer tat das Einzige, das ihm übrig blieb. Er warf sich mit Gewalt auf den Bauch herum und schlug mit den Flügeln. Der Knall einer gerade erst wieder faserig zusammengefügten Sehne, die der Bewegung nicht standhielt und erneut auseinander gerissen wurde sowie der gequälte Aufschrei eines Engels erfüllten kurz nacheinander den leeren Himmel. Der Kämpfer kam nicht wie geplant von der Stelle und Better-Half tauchte gezielt zwischen den Rippen hindurch in Lucifers Brustkorb ein. Violette Augen weiteten sich panisch, die Pupillen verengten sich und in einem Anflug törichten Aufbegehrens packte Lucifer die Klinge, die ein gutes Stück unter seiner Achsel aus seinem Körper heraus ragte. Emilia stand das Erstaunen über diese Tat ins Gesicht geschrieben. Der Engel drückte sich von dem blutigen Stahl ab und trudelte dann in engen Kreisen, wie ein Ahornsamen, abwärts einem dichten Waldstück entgegen. Die Heldin blieb mitten in der Luft schwebend zurück, unfähig ihm zu folgen. Sein Blick, als er sich auf den Tod verwundet die Klinge aus der schmalen Brust zog, stand ihr immer noch vor Augen und machte sie schaudern. Das waren nicht die Augen eines Mörders oder Monsters und auch nicht die eines Sterbenden gewesen. Lucifers violette Seelenspiegel schienen in diesem letzten Moment, da Emilia sie sah, vorwurfsvoll in sie hinein zu blicken. In diesem Moment empfand sie ein beinahe schmerzhaft an ihr nagendes Schuldgefühl, als hätte sie etwas Furchtbares getan, das sie nicht mehr würde gut machen können. Dieser Blick allein war es, der ihr die Arme lähmte, sodass sie Lucifers letzte Flucht vor ihr zuließ. Erst als seine stürzende Gestalt im dichten Blätterdach verschwunden war, konnte sie ihre Erstarrung abschütteln und zur Schlacht zurückkehren.

Der General ist tot!

Nachdem Lucifers Niederlage bekannt wurde, entschied sich der Kampf sehr schnell für die Kirche. Die Truppen des teuflischen Generals wurden rasant zurückgeschlagen. Das Blut des schwarzen Engels allein, das die Klinge der legendären Heldin benetzte, reichte fast aus, um die Feinde zurückweichen zu lassen. Es dauerte keinen halben Tag, da feierte man den Sieg über die dämonische Übermacht. Lucifers Streitkräfte zogen sich weit in Richtung des Meeres und der Hauptinsel zurück. Ohne ihren Anführer war ihnen das westliche Reich sichtlich nicht geheuer.

Gegen Abend schickte die Kirche schließlich Suchtrupps aus, um die Körper der Feinde abzuschreiten, die auf den Schlachtfeldern zurückgeblieben waren, um sie falls nötig vom Sterben zum Tod zu befördern.

Emilia erzählte Olba von ihrem Kampf gegen Lucifer und wo der General in etwa niedergegangen war. Olba nahm sich daraufhin eine Gruppe Soldaten und drang mit ihnen in das Waldstück ein, um den gefallenen General zu suchen. Sie mussten ganz sicher gehen, dass er wirklich tot war!

Nach Stunden hatte sich die Gruppe im ganzen Wald zerstreut, um den Suchradius so weit wie möglich auszudehnen. Bis auf die Schritte der Menschen und das Klappern ihrer Rüstungen war nichts, außer dem Rascheln des Windes in den Blättern zu hören. Die Tiere schienen alle fort zu sein. Endlich tönte ein Ruf durch die unheimliche Stille.

„Erzbischof Olba!“

Sofort trat Olba an die Seite des jungen Mannes, der gerufen hatte. Der Recke war fast noch ein Kind. Sie hatten gegen Lucifers Armee viel zu viele Männer verloren und mussten schließlich auch jene rekrutieren, die eigentlich noch zu jung waren. Der Junge deutete einen Hang hinauf, auf eine Felsspalte, aus der ein merkwürdiger, zerzauster, schwarzer Puschel ragte. Olba legte den Zeigefinger an die Lippen und winkte dem Burschen, ihm zu folgen. Zusammen erklommen sie mühsam den steilen Hang, aber der Soldat musste nach zwei Metern aufgeben. Wenn Lucifer wirklich in dieser Felsspalte saß, dann war das ein ausgesprochen intelligenter Schachzug von ihm. Von oben war die Senkung nicht zu erreichten und von unten war er nicht zu ersteigen. Olba musste mit Magie nachhelfen, damit er überhaupt hinauf kam und dann war der Rand der Spalte so abschüssig, dass er in der Luft schweben bleiben musste. Doch nun sah er genau, was es mit dieser vermeintlichen Felsspalte auf sich hatte. Es war keine natürliche Einbuchtung im Fels, sondern ein Krater, wie von einem Axthieb! Lucifers schlanker, schmaler Körper musste hier eingeschlagen sein. Seine Flügel und auch einige seiner anderen Gliedmaßen standen verdreht in unnatürlichen Winkeln ab und er blutete aus unzähligen offenen Wunden. Besonders stachen allerdings zwei davon hervor: Eine lange Schnittwunde, die sich von der Schulter über Brust und Bauch entlang zog und auch einen Flügel in Mitleidenschaft gezogen hatte, sowie ein tiefer, blutender Stich zwischen den Rippen. Olba erkannte darin die unverwechselbare Handschrift von Better-Half.

Der Geflügelte lag vollkommen reglos und schien nicht zu atmen. Lediglich das noch feuchte Blut ließ den Schluss zu, dass in ihm noch Leben sein könnte. Vorsichtig, aber bestimmt, beugte sich der Erzbischof vor und legte seine knochigen Finger an den Hals des Feindes, um nach einem Puls zu suchen. Er berührte die kalte und mit einer sandigen Schmutzschicht bedeckte Haut, spürte aber keinerlei Bewegung darunter. Dennoch, er musste sicher sein! Seine gealterte Hand fasste höher, erreichte das von ihm abgewandte Gesicht, das unter dem schmutzigen, windzerzausten Haar verborgen lag und legte es mit ein paar groben Gesten frei. So nah war Olba Lucifer noch nie gekommen und viel mehr, als der zerschlagene Zustand des Körpers, erschreckte den Erzbischof nun die zierliche Gestalt des gefürchteten Generals und Heerführers. Was er da aufgedeckt hatte, war nicht die Fratze eines uralten, mörderischen Dämons oder Teufels, sondern das schöne, zarte Antlitz eines engelsgleichen Jünglings. Andere als Olba hätten bei diesem Anblick zu weinen angefangen. Lucifer bot das Sinnbild der gestorbenen jugendlichen Hoffnung; ein gefallener Engel wie ihn kein Künstler dramatischer hätte erfinden können. Aber Olba erinnerte sich zu gut an den Schrecken, das Chaos und den Tod, den dieses verdorbene Geschöpf auf einen Klauenzeig des Dämonenkönigs hin über sie alle gebracht hatte. Dieser Teufel in Engelsgestalt hatte nicht weniger menschliche Leben vernichtet als Alciel, Adramelech oder Malakoda!

Mit bitterschmalen Lippen packte der Erzbischof das blasse Gesicht am Kinn und drehte es zu sich. In diesem Moment öffnete Lucifer die Augen und blickte ihn an. Olba fuhr erschrocken zurück.

„Was ist, Erzbischof? Ist er es? Lebt er noch?“, fragte der junge Soldat vom Fuße des Hanges herauf. Der 60-jährige mit der Glatze und dem dünnen grauen Schnauzbart unter der gekrümmten Nase überlegte blitzschnell. Dann huschte ein unheilverkündendes Lächeln über seine strengen Züge.

„Er ist es tatsächlich! Sag den anderen, sie können aufhören zu suchen. Emilia hat ihn getötet!“, rief er zu dem Burschen hinunter. Der Soldat stieß jubelnd die Faust in die Luft und rannte sofort los, um die freudige Kunde zu verbreiten. Olba indessen beugte sich wieder über den im Felsen eingebetteten Haufen zerbrochener Gliedmaßen und blutiger Federn. Sein Lächeln war brechreizerregend, als er ganz nah an Lucifers Gesicht zu flüstern begann.

„Glaub nicht, ich hätte Mitleid mit dir, du Bastard Satans! Ein Handstreich von mir kann meine Worte noch wahr werden lassen. Aber dies ist eine einmalige Chance für uns beide. Emilia erzählte mir von eurem Kampf. Sie gab zu, dass sie deine Angriffe kaum vorhersehen konnte und du teilweise viel zu schnell für sie warst. Deine Taktiken sind äußerst gerissen und nun hält man dich für tot. Das kann uns beiden nutzen, wenn wir uns zusammentun.“

Lucifers Augen verengten sich zu Schlitzen und seine schmalen, schön geschwungenen Augenbrauen zuckten. Olba fuhr fort.

„Es ist über einen halben Tag her, dass die Kunde von deiner Niederlage ausging, aber niemand außer uns sucht nach dir. Wo sind deine Freunde? Wo dein König? Keinen Dämon schert es auch nur einen Dreck, ob du hier liegst und Hilfe brauchst, oder ob dein Leichnam schon die Fliegen anzieht. Sie haben dich im Stich gelassen. Dich! Ihren klügsten und gewitztesten General überlassen sie den Aasgeiern, wie einen verkrüppelten Hund, der zu nichts mehr nütze ist.“

Olba sah, dass seine Worte wirkten, denn an Lucifers Kehle begann der Adamsapfel leicht zu hüpfen, als säße dem Gefallenen ein bitterer Kloß im Hals, den er zu schlucken versuchte. Außerdem röteten sich die Augen des Engels und wurden glasig. Olba hatte offenbar einen Nerv getroffen. Er nickte verständnisvoll.

„Es ist an der Zeit, Lucifer. Reich mir die Hand, vertraue mir und ich sorge für dein Überleben. Im Gegenzug will ich, dass du die legendäre Heldin für mich tötest.“

Jetzt zogen sich Lucifers schmale Augenbrauen tatsächlich zusammen, auch wenn dem Engel vor schmerzhafter Anstrengung der Schweiß auf die glatte Stirn trat. Eine winzige Träne fiel aus den langen, dichten Wimpern, als der Verletzte überrascht blinzelte.

„Ich kann es dir jetzt nicht erklären. Sie kommen bald und wollen wissen, was nun mit deinem Leichnam geschehen soll. Ich finde zur Not auch einen anderen verzweifelten Dämon, der es für mich tut, also willige in den Handel ein oder lass es bleiben und stirb hier!“, drängte der Glatzköpfige.

Ob Lucifer mit dem Plan einverstanden war oder nicht, konnte er nicht kommunizieren, aber er hatte zu diesem Zeitpunkt kaum eine andere Wahl, als sich auf Olba einzulassen, wenn er leben wollte. Die violetten Augen schlossen sich fest und öffneten sich dann wieder, was unter diesen Umständen einem Nicken gleich kam. Olba verstand ihn. Er lächelte.

„Gut. Dann entspann dich jetzt und vertrau mir.“

Luzifers Lider flatterten, als er versuchte ironisch mit den Augen zu rollen. Der Versuch brachte ihn fast um. Sein Magiefluss war unterbrochen und die Schmerzen machten ihn fast wahnsinnig. Er war vollkommen hilflos. Olba ignorierte die Geste. Er hatte, was er wollte. Seine mit Altersflecken betupfte Hand begann weiß zu glühen, dann legte er sie auf Lucifers Brust genau über dem Herzen und stieß sie energisch nach unten. Lucifers Torso wurde so überraschend zusammengedrückt, dass seine Schultern und seine Hüfte kurzzeitig nach oben kamen. Der Schreck und der Schmerz standen dem Geflügelten in die weit aufgerissenen Augen geschrieben. Dann weiteten sich die Pupillen und das Herz stand still.
 

„Aber wollen wir ihn denn nicht erst obduzieren, Erzbischof? Wie oft bekommt man schon einen leibhaftigen Engel in die Hände? Ich bitte euch.“, redete der Vikar auf ihn ein, als Olba mit der Leiche Lucifers in der nächstgelegenen Diözese einkehrte. Der Leichnam war in einen noch auf dem Schlachtfeld grob zusammengezimmerten Sarg eingeschlossen worden, den vier Soldaten den ganzen Weg hier her getragen hatten. Olba blieb unnachgiebig.

„Dein Wissensdrang in Ehren, mein Freund, aber es ist zu gefährlich, den Körper weiter existieren zu lassen. Wer weiß was Himmel und Hölle auszuspucken imstande sind, wenn sie ihn wiederhaben wollen. Am Ende verfügt der Feind womöglich über irgendein Teufelswerk, das ihn wieder lebendig macht! Denk doch nur. Willst du dein Kloster, deine Kirche, deine Dörfer und Felder brennen sehen, nur weil dich die Neugier trieb? Das kann ich nicht verantworten, mein Bester! Nein, nein. Lucifer, dieser Teufel, wird noch heute in die Hauptstadt der westlichen Insel gebracht und dort so schnell wie möglich verbrannt. Dann sind wir endlich in Sicherheit vor ihm. Daran werde ich alles setzen! Lass uns hier nur den Rest der Nacht abwarten und uns erholen. Im Morgengrauen ziehen wir weiter.“
 

Die Leiche des gefürchteten Dämonengenerals Lucifer wurde in Schimpf und Schande durch die Straßen der kleinen, immer noch stark zerstörten Hauptstadt gefahren. Man hatte den zerbrochenen Leib zwischen einem Paar Pfähle aufgespannt und die Konstruktion stehend auf einem Holzkarren befestigt, sodass ihn alle sehen konnten. Die schwarzen Flügelspitzen schleiften hinter dem Karren über den dreckigen Boden. Die Menge johlte oder keuchte entsetzt auf bei dem Anblick und nicht selten wurden verschiedenartige Schreie laut. Vielfach wurde der Leichnam beschimpft und zum Teufel gewünscht, aber es waren auch überraschte Ausrufe darunter, die nur zu deutlich ausdrückten, dass viele nicht mit einer so zierlichen und hübschen Leiche gerechnet hatten. Die Prozession endete schon bald nachdem sie begonnen hatte, denn niemand wollte riskieren, dass der Dämonenkönig eventuell doch noch die Stadt angriff, um die Leiche seines Generals zu bergen, auch wenn Emilia ihm derweil in Alciels Kriegsgebiet im Osten genug andere Probleme bereitete. Die legendäre Heldin hatte Lucifers Leichnam, nachdem er ins Lager gebracht worden war, eingehend gemustert, ganz als müsse sie sich von seinem Tod restlos überzeugen. Irgendetwas schien sie dabei zu belasten, aber sie beherrschte ihre Gefühle und ging schließlich, ohne sich noch einmal umzudrehen. Bei der symbolischen Hinrichtung des Gefallenen, die heute auf dem Marktplatz der Hauptstadt stattfinden sollte, war sie wegen der anhaltenden Kriegssituation nicht zugegen.

Olba aber hatte sich unter dem Vorwand, die Leiche bis zum Ende bewachen und anschließend im Westen die Wiederherstellungsmaßnahmen koordinieren zu wollen, vom Kampf gegen Alciels Truppen ausgenommen. Er stand bei der Ankunft von Lucifers Leiche auf dem Marktplatz direkt neben dem Scheiterhaufen. Als Erzbischof hatte er sich das Recht herausgenommen, das Feuer zu entzünden.

Die Leiche wurde direkt auf dem Marktplatz gefahren und kam vor Olba zum Stehen. Die Pfähle wurden vom Karren gelöst und umsichtig gegen den Scheiterhaufen gelehnt. Nach den vielen Kriegsverlusten war nur eine sehr karge Menschenmenge anwesend. Sie bestand hauptsächlich aus Alten, Frauen und Kindern. Nichtsdestotrotz verliehen sie ihren Gefühlen lautstark Ausdruck. Unter den Rufen und Schreien der Anwesenden hob Olba seine Fackel und segnete die Flamme, indem er sie mit magisch glühender Hand verstärkte und ein paar Worte, wie ein Gebet, darüber rezitierte. Dann hielt er die Fackel an das Stroh. Der trockene Haufen aus Holz und Reisig fing sofort Feuer. Die Flammen schlugen rasch zur Spitze empor und leckten an den herabhängenden Flügeln. Die Federn glommen und brachen dann knisternd in heftigen Qualm aus. Der Gestank nach verbranntem Haar, verbrannter Haut und den stark rauchenden Federn, ließ die Menge mehrere Meter weit zurückweichen. Schon bald nahmen die grauen Schwaden jedem auf dem Marktplatz die Sicht. Doch als der Scheiterhaufen schließlich in sich zusammenfiel, war von dem flügelrauschenden Mördergeneral, der die westliche Insel so lange mit seinem ausgelassen Lachen und seinen hinterhältigen Angriffen in Furcht und Verzweiflung gestürzt hatte, nichts mehr übrig.

Lucifers Höllenfahrt

Der unbarmherzige Druck von Olbas weiß glühender Hand auf seinem Herzen holte Lucifer aus dem magischen Todesschlaf zurück. Kopf und Schultern schnellten ein Stück weit in die Höhe. Geräuschvoll keuchend schnappte der Engel mit aller Gewalt nach Luft. Sein Bewusstsein kehrte wieder. Dann fiel er mit schmerzverzerrtem Gesicht in seine liegende Position zurück. Kein Wimmern oder Winseln kam über seine Lippen, aber sein angestrengt kontrolliertes Atmen verriet, dass er litt. Der geschundene, kleine Körper war fast vollständig entblößt worden. Nur um die Lenden lag ein Tuch, das entfernt an das Unterteil einer kurzen Tunika erinnerte, die Lucifer allerdings zu groß gewesen wäre. Der Geflügelte zitterte, obwohl er die Kälte kaum spürte. Er hatte Fieber von all den offenen Wunden und Brüchen, die seinen Leib entzündeten, sodass die Kälte und seine Nacktheit ihm wahrscheinlich das Leben retteten.

Olba begrüßte ihn wenig freundlich: „Ich hatte noch nicht die Zeit alle deine Knochenbrüche zu richten. Es war schon mühselig genug die Blutungen zu stoppen. Emilia hat ausgezeichnete Arbeit an dir geleistet. Ich bin direkt stolz auf sie.“, meinte er ohne einen Funken Empathie.

Lucifers Mund war wie ausgetrocknet. Wegen des hohen Blutverlusts löste jede Bewegung Schweißausbrüche und Schwindel aus. Er fühlte sich unheimlich schwach. Olba hatte seine gröbsten Wunden zwar geschlossen, aber die Spuren von Better-Half waren noch allzu deutlich zu erkennen. Seine Flügel waren offensichtlich noch gebrochen, ebenso wie einige Rippen, die Hüfte und ein Oberschenkel. Aber zumindest das Rückgrat schien wieder intakt zu sein, denn die Schmerzen waren unerträglich. Die bereits gerichteten Brüche waren zwar gerade und sauber bandagiert, aber nicht geschient, sodass jede Regung grausame Schmerzen verursachte.

„Verdammter Alter! Willst du mich etwa so liegen lassen?“, begehrte Lucifer mühsam und hinter zusammengebissenen Zähnen hervor auf. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie oft dieser alte, glatzköpfige Kauz ihn bisher angefasst hatte und wo er ihn überall berührt haben mochte, um ihn auszuziehen! Dem Engel wurde schlecht bei der Vorstellung und ein latentes Gefühl von Panik ergriff von ihm Besitz. Dieser scheinheilige Widerling konnte doch mit ihm machen, was er wollte, solange sich Lucifers Knochen noch in der Heilung befanden.

Olba, der bisher neben der steinernen Platte, auf der Lucifer lag, irgendetwas genestelt hatte, drehte sich nun zu seinem Patienten um. Seine Miene war streng und Hass erfüllte die alten, grauen Augen.

„Erwartest du etwa, nach all dem Leid, dass du uns Menschen zugefügt hast, dass ich dich mit Samthandschuhen anfasse?!“, knurrte er gefährlich. Lucifers Blick tastete alarmiert über Olbas Züge. Würde er ihm absichtlich weh tun? Hatte er ihn gerade jetzt ins Bewusstsein zurückgeholt, damit er die Qualen der restliche Behandlung auch ja spürte?

„Ich habe keine Angst vor dir!“, log er tapfer, aber der Schweiß stand ihm auf der Stirn und die Panik in den Augen geschrieben. Olba lachte kurz und freudlos auf. Er glaubte ihm kein Wort. Aber er hatte eine Vorstellung davon, was den Engel im Moment so aufregte. Gelassen wischte er sich die Hände an einem großen Leintuch ab.

„Ich habe dich aufgeweckt, weil dein Kreislauf für die Heilung arbeiten muss. Sonst repariere ich hier nur eine Puppe, bei der nichts zusammenwächst.“, erklärte er gnädigerweise, aber auf seine Lippen schlich sich nun auch ein kleines, grausames Lächeln.

„Allerdings gebe ich zu, ich missgönne dir die Schmerzen nicht.“

Olbas offensichtliches Vergnügen an seinem Leid, machte Lucifer wütend. Nur ein magischer Schuss und diese Fleischmütze wäre Geschichte gewesen. Stattdessen musste er sich dessen Spott gefallen lassen! Nein, das musste er nicht!, entschied er.

„Was du dir hier gönnst, ist doch nur der Anblick eines halbnackten Engels, du perverser Greis! Ich will gar nicht wissen, wie oft du dir schon vor solchen Wandgemälden die dreckige Seele aus deinem scheinheiligen Leib gewichst hast! Genügen dir die Chorknaben etwa nicht mehr, euer Hochwürden? Sag an! Wie oft hast du unter dieses Röckchen gegeiert, bevor du angefangen hast, meine Wunden zu versorgen? Hast du dich ordentlich an mir aufgegeilt?!“

Eigentlich kostete es ihn viel zu viel Kraft Olba all diese Frechheiten um die Ohren zu hauen, aber es erleichterte ihn ungemein. Der Kopf des Erzbischofs war während dieser Rede dunkelrot angelaufen und er schäumte vor Wut.

„Pass auf, was du sagst! Elendes, verdorbenes Schandmaul! Du bist jetzt nicht mehr bei deinem Hurenkönig, mach dir das ein für alle Mal klar! Bei ihm würde es mich nicht wundern, wenn er weiß Gott was mit dir angestellt hätte, aber ich verstehe davon nichts! Also spare dir deine Verleumdungen.“, schimpfte er. Damit waren die Fronten geklärt. Lucifer presste die Lippen aufeinander und versuchte sich von seinen Schmerzen abzulenken, indem er sich so weit es ging im Raum umsah, ohne sich groß zu bewegen. Es war dunkel und feucht und roch nach Moder. Über ihm wölbte sich eine dunkelbraune, steinerne Decke. Sämtliches Licht stammte von Kerzenhaltern, Laternen und einer Fackel, die in einer Halterung an der Wand steckte, dort wo sich wohl der einzige Ausgang befand.

„Was ist das hier? Ein Mausoleum? Traust du deinen eigenen Fähigkeiten so wenig, dass du mich schon begraben hast?“, fragte Lucifer mühsam. Sein Herz pochte ihm in der Kehle. Niemand wusste, dass er noch lebte und hier würde ihn auch niemand mehr finden.

„Keine Angst. Ich halte mein Wort. Aber ich werde mir deinetwegen nicht mehr Umstände machen als unbedingt notwendig. Und hier wird man dich weder hören, noch versehentlich über dich stolpern.“, versprach der Alte. Man merkte ihm deutlich an, dass er sich einiges an Beschimpfungen Lucifer gegenüber verkniff. Aber er war nicht der einzige, der wütend war. Olba hatte in der kurzen Zeit seit ihrer Übereinkunft so viele denunzierende Dinge über Maou gesagt, dass es in Lucifer zunehmend kochte. Natürlich fühlte er sich von Maou und Alsiel im Stich gelassen, aber so ein respektloses Gerede über den Dämonenkönig stand einem drittklassigen Geistlichen, wie dieser alten Fleischmütze einfach nicht zu!

Olba fuhr fort in dem, was auch immer er da tat und lächelte bitter vor sich hin. Als Lucifer das bemerkte, drangen dessen letzte Worte erst richtig zu dem Liegenden durch.

„Hören?“, fragte der Gefallene irritiert, „Warum sollte man mich -“, doch weiter kam er nicht. Lucifer brach mitten im Satz abrupt ab und schrie so gellend auf, dass seine Stimme von den Wänden widerhallte. Olba hatte einen seiner geborstenen Flügelknochen wieder gerade gezogen und die Bruchstellen grob zusammengesetzt.

„Du verblödeter, alter, seniler ...“, fluchte Lucifer drauf los, sobald er wieder genug Luft dazu hatte. Aber Olba ließ ihn nicht ausreden. Unbarmherzig richtete er den gesamten Flügel, Bruch für Bruch hintereinander weg, ohne Lucifers gequälten Schreien die geringste Beachtung zu schenken. Im Gegenteil, er genoss es, den verdammten Satansbraten leiden zu lassen für alles, was er getan und vor Kurzem gesagt hatte. Letztlich verlor der Engel das Bewusstsein und Stille kehrte in die vergessene Krypta ein.
 

Der Geistliche ließ von seinem Delinquenten ab. Er atmete schwer und Schweiß stand ihm auf der kahlen Stirn. Das Ganze war doch etwas zu aufregend für sein Alter. Einen Moment lang setzte sich Olba erst einmal auf einen steinernen Vorsprung und wartete, bis er das Rauschen seines Blutes und den Klang von Lucifers Schreien nicht mehr in den Ohren hatte. Mit dem Leintuch trocknete er sich die Glatze und den faltigen Hals. Lucifers dreiste Behauptungen hatten ihn an die Worte des Vikars erinnert, bei dem er auf der Rückreise zur Hauptstadt mit seinen Truppen eingekehrt war. Wann hat man schon mal einen Engel in den Händen? Nachdenklich stand Olba wieder auf, trat an die Steinplatte, auf welcher der Bewusstlose lag und strich ihm nun mit gänzlich neuem Interesse über die seidigen Federn. Als er Lucifers Leib aus der abartigen Kleidung, welche er getragen hatte, herausgeschnitten, ihm den Schmutz und das Blut abgewaschen, sowie seine Wunden gesäubert hatte, da dachte er eigentlich nur über seinen bevorstehenden Aufstieg bei der Kirche nach, wenn Emilia erst einmal beseitigt wäre und ihr Andenken ihm als ihrem Lehrmeister zugute kommen würde, so wie es eigentlich sein sollte! Im Moment stahl sie ihm die gesamte Anerkennung! Außerdem war sie zu mächtig, zu gefährlich und zu beliebt! Am Ende würde sie noch anfangen sich in die Politik der Kirche einzumischen. Sie! Das dumme Werkzeug, das ER geschmiedet hatte, damit es diesen Krieg beendete! Das Volk würde ihr folgen und schon bald wäre sie die spirituelle Führerin und Machthaberin, was Olba selbst höchstens noch in die Position des lieben Väterchens erheben würde, wenn er sich gut anstellte. Niemals würde er sich damit zufrieden geben! Sie zur Märtyrerin zu machen, würde ihren gesamten Ruhm wieder ihm, ihrem überlebenden Ausbilder, zufließen lassen. Lucifer war dafür der perfekte Sündenbock. Sie hatte ihn besiegt. Wenn er wieder auftauchte und sie aus dem Hinterhalt ermordete, würde es für jeden ganz klar nach einem Racheakt aussehen. Und wer würde schon den dann herzzerreißend trauernden Olba verdächtigen, der Lucifer doch sogar verbrannt hatte, um sicherzustellen, dass er nicht wiederkehren können.

Nur darüber hatte er nachgedacht, während er Lucifer mit dem Tuch bedeckte und zu arbeiten anfing. Jetzt allerdings war Dank der blumigen Worte des Engels seine Neugier geweckt. Vorsichtig rollte er den Körper ein Stück weit auf die Seite und betrachtete lange die Stellen, an denen die Flügel mit dem Rücken verwachsen waren. Er betrachtete die einzelnen Glieder und Sehnen genau. Dann spickte er tatsächlich ganz kurz unter das Tuch, das Lucifers Lenden bedeckte. Wenn er auch klein war und ungewöhnlich makellos, so sah der Körper des Engels doch wie der jedes anderen jungen, männlichen Menschen auf Ente Isla aus. Zumindest, wenn man sich die Flügel und die Farbe seiner Augen und Haare weg dachte. Außerdem war Lucifers Magiebegabung sehr stark ausgeprägt. Der Leib des boshaften Dämonengenerals fing an, Olba zu faszinieren. Aber mehr als diese oberflächlichen Betrachtungen konnte er nicht mit ihm anstellen, denn ihn zu obduzieren wäre für seine Pläne leider kontraproduktiv. Olba seufzte.
 

Ein Fläschchen Riechsalz brachte Lucifer wieder zur Besinnung. Jede Faser seines Körpers schmerzte auf die mannigfaltigste Weise. Er konnte nicht anders, als leise vor sich hin zu stöhnen. So wie er sich jetzt fühlte, wünschte er sich fast, tot zu sein.

Olba hob ungnädig seinen Kopf an und flößte ihm eine dünne Brühe ein, die irgendwie heilig schmeckte. Glücklicherweise schadete es dem Engel nicht und er trank gierig die Schale leer. Anschließend ließ Olba seinen Kopf zurück auf den Stein sinken, legte die Hände auf den eingefallenen Bauch des Langhaarigen und massierte ihn.

„Ey, Pfoten weg von mir!“, rebellierte der Gefallene. Doch Olba machte einfach weiter, tastete jeden Zentimeter des Abdomen ab.

„Ich habe Fragen an dich, Lucifer.“, begann der Erzbischof ohne Umschweife und ohne mit seinem Tun aufzuhören.

„Und ich hab die Schnauze voll davon, angetatscht zu werden!“, gab der Engel zurück, „Lass deine pädophilen Neigungen gefälligst an den Jungs im Tenor aus!“

„Was passiert mit der Nahrung, die du zu dir nimmst? Engel essen nicht.“, fuhr Olba unbeeindruckt in seiner Befragung fort. Er hatte beschlossen mit etwas eher unwichtigem anzufangen, um die Bereitschaft des Generals, auf Fragen zu antworten, abzustecken. Lucifer schwieg und versuchte sich gegen Olbas Hände zu wehren so gut es ihm möglich war, ohne Erfolg.

„Du zeigt dich besser kooperativ, wenn deine Genesung einwandfrei verlaufen soll. Ich erfülle meinen Teil des Handels nämlich auch, wenn ich dir beispielsweise einen Flügel abnehmen muss. Unser Deal beinhaltet lediglich dein Überleben.“ In den Augen des Geistlichen funkelte die Drohung. Lucifer wurde steif wie ein Brett. Dann verdüsterte sich der violette Blick mörderisch.

„Krümm mir ein Haar und du bist totes Fleisch, sobald meine Magie wieder fließt!“, drohte er zurück. Der Erzbischof zog gelangweilt die Augenbrauen hoch. Seine Finger fanden Lucifers gebrochene Rippen und übten gerade so viel Druck aus, dass sie ihm ins Fleisch stachen, ohne den Schaden zu verschlimmern. Der Engel bäumte sich kraftlos auf der harten Steinplatte auf, stöhnte hinter zusammengebissenen Zähnen vor Schmerz und kniff die tränenden Augen zusammen. Olbas Hände begannen zu leuchten, woraufhin sich im Brustkorb des Leidenden die Rippen ordentlich aneinanderfügten, so wie es sein sollte. Lucifer keuchte und jeder Atemzug stach wie Emilias Klinge. Es dauerte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte.

„Du bist nicht der Einzige mit Fragen, du Folterknecht. Was ist da draußen los? Wie steht der Krieg?“, fragte der Geflügelte leise und mühsam gegen den allgegenwärtigen Schmerz ankämpfend.

„Das braucht dich nicht zu kümmern.“, war die abweisende Antwort. Rebellisch versuchte er sich aufzustützen, doch schon bald stöhnte er gequält auf und musste einsehen, dass er es nicht konnte.

„Wage es nicht, Alter! Wage es nicht, mich hier wie einen Gefangenen zu halten! Argh- Antworte mir!“, verlangte er ächzend und ein angestrengtes Keuchen unterdrückend. Olba lachte ihn aus.

„Du beantwortest meine Fragen doch auch nicht. Also was willst du schon tun, kleiner Teufel? Zu mehr als einem tapferen Mundwerk bist du nicht fähig.“

Grimmig versuchte Lucifer Magie in seinen Handflächen zu sammeln, aber der Fluss in seinem Körper war nach wie vor unterbrochen. Olba hatte recht. Er war völlig wehrlos. Wütend schrie er auf und fluchte die gesamte Hölle über Olba und die Kirche zusammen. Es half nichts. Letztendlich musste er keuchend um Atem ringen und der Schmerz trieb ihm die Tränen über die Wangen.

„Ein Vorschlag Lucifer. Wenn wir Partner sein wollen für den kurzen Zweck dieser Übereinkunft, warum beginnen wir dann nicht damit, uns gegenseitig unsere Fragen zu beantworten?“, lenkte Olba ein, gerade so als habe er genau das nicht von Anfang an geplant. Hinter Lucifers violetten Augen rasten die Gedanken. Dann entspannte er vorsichtig seinen Körper und holte Luft.

„Engel können Nahrung aufnehmen und verwerten. Aber weil wir es nicht müssen, tun wir es nicht.“, beantwortete er Olbas Frage von vorhin, „Jetzt du!“, forderte er mit einem scharfen Seitenblick auf den Geistlichen.

„Der Westen ist inzwischen von deinen Truppen gesäubert und Emilia erobert gerade den Osten zurück.“, antwortete jener.

„Was macht Maou? Wie schlägt sich Alsiel? Gibt es Anzeichen, dass sich die Truppen neu sammeln, um die verlorenen Gebiete wieder einzunehmen?“, wollte Lucifer wissen.

„Das sage ich dir, nachdem du drei meiner Fragen beantwortet hast.“, bestimmte Olba, „Ich schlage vor, wir wechseln uns ab.“ Lucifer stöhnte und es war schwer zu sagen, ob er es tat, weil der Erzbischof ihn nervte, oder weil er Schmerzen hatte.

„Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Truppen deines bemitleidenswerten Königs sich neu sammeln. Alles scheint auf seine Niederlage hinauszulaufen.“

„Sprich nicht so abwertend von ihm!“, verlangte Lucifer aufgebracht. Olba lächelte sanft.

„Oh, entschuldige. Ich dachte, wo er dich doch schon vergessen hat, wäre deine Loyalität zu ihm ebenfalls geschrumpft. Aber wenn ihr zwei so ein gutes Verhältnis hattet, dann kannst du mir sicher von seinen Plänen erzählen.“, erwiderte der Glatzköpfige und verschränkte die Arme vor der Brust, während er weiterhin auf Lucifer hinunter sah. Als loyaler General des Dämonenkönigs war diese Frage die Letzte, die er beantworten sollte. Es wäre quasi Hochverrat. Aber Lucifer konnte sich aus diesem Spiel nicht zurückziehen, wenn er selbst Antworten haben wollte. Mühsam brachte er die knirschenden Kiefer auseinander, um zu sprechen.

„Ich respektiere ihn. Er ist mächtig und klug und er weiß was er tut. Das heißt aber nicht, dass er seine Pläne mit seinen Generälen teilt. Wir haben immer nur unsere Befehle erhalten. Ich sollte den Westen einnehmen, weil er meinte, ich würde mit der Kirche am besten fertig werden.“, erklärte er, „Wir gingen beide von einen Sieg aus, darum habe ich keine weiterführenden Befehle bekommen.“

Das klang leider viel zu wahrscheinlich, als dass Olba es als Lüge abtun konnte. Er selbst arbeitete schließlich genauso.

„Alsiel schlägt sich zugegeben ganz gut. Er ist nicht so durchtrieben wie du, aber auch nicht so risikofreudig. Er beweist sich als kluger Taktiker. Emilia hat es schwer, aber sie gewinnt kontinuierlich an Boden. Es kann nicht mehr lange dauern.“

Lucifer grinste. „Das dachte ich auch, bevor sie mich erwischt hat.“, gab er zu bedenken, „Also, was willst du noch wissen. Mach hinne, ich bin scheißmüde und ich will noch wissen, was mit Maou ist!“, drängelte er.

„Wie ist es im Himmel?“, fragte Olba und etwas Sehnsüchtiges trat in seine Züge. Lucifer schwieg erst eine Weile ob all der Erinnerungen, die ihm nun vor Augen standen. Er hätte sich denken können, dass diese Frage kommen würde.

„Langweilig.“, fasste er zusammen.

„Das reicht mir als Antwort nicht, du Lump! Ich will nicht wissen, wie es für dich ist! Ich will wissen, wie es ist! Wie sieht es dort aus? Wie leben die Engel? Was machen sie? Worüber unterhalten sie sich? Haben sie Pläne für Ente Isla? Sehen sie auf uns Menschen herab? Wachen sie über uns?!“, Olba redete sich geradezu in Ekstase. Lucifer grinste in sich hinein. Wenn dieser blöde Idiot nur wüsste, wie es dort war, dann würde er einsehen, dass das Wort „langweilig“ die Sache perfekt beschrieb.

„Das sind enorm viele Fragen in einer.“, merkte er an. Olba gab einen unwilligen Laut von sich.

„Fang einfach an!“, befahl er. Lucifer schwieg wieder ein Moment lang, dann öffnete er die Lippen und fing an zu erzählen.

„Es ist ruhig. Friedlich. Es gibt keinen Streit, keinen Hass, keine Kämpfe, keine Bedürfnisse. Es fehlt einem an nichts. Man existiert ohne negative Einflüsse, ohne Wünsche und ohne Sehnsüchte.“ Er vergaß absichtlich zu erwähnen, dass es dort nicht nur an negativen Einflüssen mangelte, sondern auch an positiven. Für Lucifer bedeutete die Existenz im Himmel so viel, wie lebendig tot zu sein. Keine Leidenschaft, kein Glück, kein Adrenalin, keine Kreativität. Man war einfach und das genügte dem Rebellen nicht.

„Das klingt wunderschön.“, säuselte Olba mit verzücktem Gesichtsausdruck, „Ein perfektes Paradies. Du willst sicher gern wieder hin?“, nahm er an. Aber Lucifer antwortete ihm nicht darauf.

„Sag mir endlich was mit Maou ist, damit ich schlafen kann!“, forderte er.

„Ich weiß es nicht.“

„Was?!“

„Ich weiß nicht was dein träger König macht. Niemand weiß es. Wir nehmen an, er sitzt in seiner Festung und sieht zu, wie einer seiner Generäle nach dem anderen von der legendären Heldin ermordet wird. Vielleicht ist er des Lebens überdrüssig und wartet, bis sie ihn holen kommt.“

„Du arschgesichtiger, lügender Faltenkobold! Warum sagst du nicht gleich, dass du nichts weißt? Dann hätte ich die Frage für was anderes benutzt! Und hör auf, so abfällig über ihn zu reden. Du weißt gar nichts über ihn!“, begehrte Lucifer wütend auf. Olba blieb gelassen und sonnte sich in seiner Überlegenheit.

„Du weißt aber offenbar auch nicht sehr viel über deinen König. Kennst seine Pläne nicht. Bist ihm nicht wichtig genug, damit er nach dir sucht oder dich rächt. Nicht einmal Alsiel kommt er zu Hilfe.“, sinnierte der Geistliche.

Lucifer wandte fluchend den Blick ab, um Olbas Überlegenheit demonstrierende Fratze nicht länger ertragen zu müssen. Der Erzbischof hingegen wandte sich nun den zertrennten Sehnen an Lucifers Flügel zu. Weil er sich dazu tief über den Verletzten beugte, kam der Glatzköpfige dem hübschen Jungengesicht des Engels so nah, dass jener Olbas Atem riechen konnte.

„Wir stellen uns wohl alle die Frage, was er gerade macht.“, streute er weiter sein Gift in Lucifers gekränktes Herz aus. Der Langhaarige rümpfte daraufhin angewidert die zierliche Stupsnase.

„Komm mir gefälligst nicht immer so nah, du stinkender Hund. Maou riecht aus dem Maul wenigstens nicht nach billigem Messwein und den Schlüpfern Minderjähriger!“, gab er bissig zurück. Während sein verletzter Flügel hilflos herabhing, raschelte der andere bedrohlich bei seinen Worten. Allerdings bot der Totgeglaubte trotz der bereits erfolgten Reparaturen und seinen tapferen Aussprüchen immer noch ein recht jämmerliches Bild. Die langen Haare hingen ihm kraftlos und fettig vom Kopf herab. Seine Wangen wirkten hohl, das Gesichtchen erschien blass mit tiefen Schatten unter den gereizten Augen und aufgesprungenen Lippen. Er war mager und energielos. Dennoch glühte sein violetter Blick vor Rebellion. Bei näherem Hinsehen wirkte aber auch der Erzbischof übermüdet und gereizt. Lucifers Gegenwart, die mentalen Kämpfe mit ihm und die Tatsache, dass er ihn heimlich versteckt hielt, um mit ihm gemeinsame Sache zu machen, zehrte offensichtlich alles an seinen Nerven.

„Du undankbarer, kleiner Rotzlöffel!“, knurrte Olba wutentbrannt, beugte sich zurück und holte mit der Hand zum Schlag aus. Er hatte sich für heute genug Frechheiten von dem Lümmel anhören müssen. Lucifer analysierte sofort, dass er keine Chance hatte, der drohenden Züchtigung zu entgehen, aber er machte auch keine Anstalten ängstlich die Augen zuzukneifen oder das Gesicht vor dem Schlag abzuwenden. Er sah Olba hart und herausfordernd entgegen, als würde er nur darauf warten. Doch der Ältere besann sich und erwiderte den Blick der unbeugsamen Augen, die zu ihm empor funkelten. Nach einer Weile wandte er sich dann wortlos ab und verließ die Krypta. Lucifer blieb allein in der feuchten Finsternis zurück, unfähig sich zu rühren, den Schmerz ignorierend und nurmehr fähig, dumpf vor sich hin zu starren. Obwohl er wirklich erschöpft war, fand sein Geist keine Ruhe. Er brütete darüber nach, was Maou vor hatte. Wo mochten seine Pläne nun hinlaufen? Suchte er wirklich nicht nach ihm? Hatte er ihn gleich nach der Kunde über seine Niederlage gegen Emilia einfach abgehakt? Je länger er darüber in der einsamen Finsternis nachdachte und ihm dabei jede Faser im Leib Schmerzen bereitete, desto größer wurde erst seine Wut und schließlich sein Hass. Er schwor sich, diese Höllenfahrt durchzustehen, um sich an ihnen allen zu rächen: Emilia, Maou und Olba!
 

Olba kehrte so lange nicht wieder, dass Lucifer glaubte, der Glatzkopf wollte ihn hier unten verrecken lassen. Der Engel hatte in dem unterirdischen Mausoleum kein Zeitgefühl, aber er schätzte anhand der Intervalle, in denen Olba sich um ihn kümmerte, dass jener nur bei Nacht zu ihm kam und tagsüber abwesend blieb. Diesmal schätzte er, dass ungefähr zwei Nächte vergangen sein mussten, in denen Olba nicht kam. Endlich aber hörte er doch wieder Schritte auf den steinernen Stufen und sah das unstete Licht einer Fackel die Dunkelheit durchdringen. Die Bewegungen des Alten wirkten heute ungewohnt hektisch. Lucifer lag reglos auf seiner Steinplatte, zu schwach um zu sprechen. Unter schweren Lidern beobachtete er den Erzbischof, wie er die Lichter im Gewölbe entzündete und dann rasch zu ihm herüber kam. Die grauen Augen musterten ihn eindringlich. Dann legte er die Hände auf Lucifers gebrochenen Oberschenkel und brachte den Knochen mit Gewalt in die richtige Stellung zurück. Lucifer war zu schwach, um zu schreien, lediglich ein tief verletztes Wimmern sickerte über seine Lippen und vereinzelte Tränen fielen aus seinen Wimpern. Olba beachtete die Qual seines Patienten nicht, sondern legte seine gealterten Hände sacht auf den Bruch. Ein weißes Licht ging von ihnen aus und plötzlich war der pochende Schmerz in Lucifers Bein verschwunden. Kaum war das getan, nahm Olba die Hände wieder weg und griff stattdessen unter Lucifers mageren Körper, um ihn in eine sitzende Position zu heben. Der Engel konnte sich aber nicht selbständig halten, also lag er widerwillig im Arm des alten Mannes, während dieser ihm mit der freien Hand Wasser aus einem Trinkschlauch einflößte. Der Geflügelte schluckte gierig bis die Flasche leer und sein Magen voll war. Dann legte ihm Olba ein weiteres, aber wesentlich kleineres Fläschchen an den Mund. Lucifer schluckte auch dessen Inhalt bedenkenlos. Sofort breitete sich ein derbes Brennen in seiner rauen Kehle aus und brachte ihn zum Husten.

„Was zum Geier!“, fluchte er mit halb erstickter, kratziger Stimme. Doch dann wurde ihm plötzlich ganz warm in der Brust und er spürte, wie das Leben in seine erstarrten Glieder zurückfloss. Olba ließ ihn los und machte sich diesmal mit Magie an dem kaputten Flügel zu schaffen.

„Du warst lange weg. Woher der Sinneswandel?“, fragte der Gefallene tonlos, während nach und nach das Gefühl in seinen Flügel zurückkehrte, „Ist was passiert?“

Olba schwieg und arbeitete einfach weiter. Nach einer halben Stunde konnte Lucifer den Flügel bewegen, ließ es aber gleich wieder bleiben, weil es höllisch weh tat. Olba band den Flügel mit langen, robusten Leinenstreifen an Lucifers Leib, damit er die Schwinge still hielt. Dann trat er vor Lucifer hin und sah ihn eindringlich an, als müsse er einen drastischen Schritt überlegen.

Der heilige Mann wischte sich mit einem Tuch über die Stirn, faltete es anschließend ordentlich zusammen und steckte es wieder ein. Dann öffnete er den strengen Mund und sprach. Seine Worte kamen ruhig und sachlich heraus.

„Mit meiner Pflege wird alles, was ich bisher repariert habe, in ein paar Tagen so weit geheilt sein, dass du laufen kannst. Das Einzige, das noch fehlt ist deine gebrochene Hüfte.“, er hielt an dieser Stelle kurz inne, damit Lucifer sich seiner Situation zur Gänze bewusst werden konnte. Jener aber ließ seiner frechen Zunge freien Lauf.

„Ja und? Willst du erst einen geblasen kriegen, damit du den Job zu Ende bringst, oder wird das bald mal was?“ Olba schloss mühsam um Selbstbeherrschung ringend die Augen und atmete tief durch, bis die Wut in ihm nachließ. „Lucifer, du ahnst nicht, wie sehr ich dich hasse!“, seufzte der Geistliche auf, „Sei‘s drum. Es ist ja nicht für lange.“ Er öffnete die Augen wieder und sah Lucifer mit eiserner Miene an. „Als ich dir mein Angebot zum ersten Mal unterbreitete, konntest du mir nicht antworten, darum frage ich dich noch einmal: Wirst du dich an unseren Deal halten? Ich sorge für dein Überleben und du tötest Emilia, sobald ich es dir sage!“, wiederholte er ernst.

Düster blickte der Langhaarige dem Erzbischof aus den Augenwinkeln heraus in das alte Gesicht.

„Ja.“, knurrte er entschieden, „Inzwischen ist es mein eigener Wunsch Emilia meine Qualen heimzuzahlen!“ Und anschließend erledige ich dich, du sadistischer Haufen Heuchlerscheiße!, dachte er grimmig.

Der Erzbischof Lucifers

Olba schien mit dieser Antwort sehr zufrieden. Als er sich diesmal um Lucifers Wunden kümmerte, achtete er darauf, seinem Schützling nicht allzu sehr auf die Pelle zu rücken. Er tat das nicht aus gut gemeinter Rücksichtnahme gegenüber Lucifers Gefühlen, sondern vielmehr zu seinem eigenen Schutz, denn er wusste wirklich nicht, wie lange er die Frechheiten des anderen noch hinnehmen konnte, ohne ihn zu erschlagen. Während Olba mit Mörser und Stößel ein paar Kräuter und Öle zu einer Salbe verarbeitete, probierte Lucifer seinen Körpers aus. Seit er den brennenden Trank aus der kleinen Flasche geschluckt hatte, wuchs in ihm seine lange vermisste Vitalität wieder heran. Wegen der gebrochenen Hüfte konnte er noch nicht sitzen, aber er konnte – wenn er den Schmerz ignorierte – den Oberkörper aufstützen und ihn sogar ein wenig drehen. Allerdings behinderte ihn der an seiner Brust fixierte Flügel dabei. Seine neue Beweglichkeit ausnutzend erforschte er gleich die durch das Aufstützen veränderte Perspektive auf den ihn umgebenden Raum. Nun erkannte er, dass er sich in einer Krypta befand, in der sich bereits zentimeterdick der Staub sammelte. Also hatte er mit seiner ersten Vermutung, es sei ein Mausoleum, gar nicht mal weit daneben gelegen. Dieser Ort war so vergessen, dass es hier nicht einmal Spinnen gab. Olba hatte sich auf einem Schrein in einer Wandnische einen Behandlungstisch eingerichtet, auf dem sich einige Kräuter, Wurzeln, Fläschchen, Gläser und tönerne Gefäße aneinanderreihten. Außerdem lag dort ein merkwürdig leuchtendes Amulett. Lucifer kannte diese Art von Amuletten. Dieses musste Lucifers Körper geschützt haben, als Orba ihn im Todesschlaf hielt. Der Alte gab sich ja doch Mühe!, stellte der Dämonengeneral mit Genugtuung fest. Plötzlich fiel ihm etwas an der Robe des Erzbischofs auf, das ihm zuvor vollkommen gleichgültig gewesen wäre: Sie besaß Taschen! Und aus einer davon ragte ein Pergament. Lucifers Neugier war geweckt. Was könnte das sein? Eine Nachricht von den Geschehnissen an der Front? Ein geheimes Dekret der Kirche? Lucifer hätte sich in seiner Abgeschiedenheit von allem sogar über ein Propagandablatt oder einen heiligen Einkaufszettel gefreut. Um sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen, suchte er nach einem Thema, das den Geistlichen ablenken sollte, während er auf eine Gelegenheit wartete, das begehrte Stück Außenwelt zu stibitzen.

„Was hat die legendäre Heldin dir eigentlich getan, dass du sie tot sehen willst?“, fragte er in dem Moment, da sich Olba mit einer tönernen Schale in der Hand zu ihm umdrehte. Der Glatzkopf antwortete nicht, trat aber an die Steinplatte heran und begann die Masse, die er soeben hergestellt hatte, auf Lucifers bloßer Haut zu verstreichen. Er trug sie überall dort auf, wo das Fleisch über einem gerichteten Bruch angeschwollen oder entzündet war. Die Pampe kühlte angenehm und linderte den pochenden Schmerz. Dann wurde sie fest, wie eine dünne Gipsschicht, und stabilisierte den Knochen ein wenig. Lucifer folgte Olbas Bewegungen mit den Augen, so als wolle er penibel genau überwachen, wo der Priester mit seinen Fingern überall hin fasste.

„Bist du schon schwerhörig, alter Mann?! Wir wollten uns doch gegenseitig antworten, weißt du noch? Also was ist?!“, hakte er scharf nach. Olba überlegte ernsthaft, ob er den frechen Lümmel einfach knebeln sollte. Nur für eine Weile. Wie hielten die Dämonen dieses penetrante Gequassel nur aus, ohne zu meutern?

„Sie hat mir überhaupt nichts getan. Sie leistet der Kirche hervorragende Dienste.“, brachte er sachlich heraus. „Sie wird diesen Krieg, den dein König angezettelt hat, für uns entscheiden und dann brauchen wir sie nicht mehr. Das ist alles.“

„Das ist alles, ja? Ihr Menschen seid genauso gnadenlos wie wir Dämonen und schimpft euch rechtschaffen. Wir haben es wenigstens nicht nötig zu heucheln.“, kommentierte der Engel herablassend. Olba ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und verteilte weiter die Salbe. Lucifer erschauderte unter der Berührung.

„Hat dein König dir etwa nicht vorgegaukelt, du wärst wertvoll für ihn, nur um dich dann bei der ersten Niederlage aufzugeben?“, fragte er feindselig. Lucifer riss empört den Mund auf, um zu protestieren, schloss ihn aber gleich wieder und starrte auf die blühenden Hämatome, die seinen ganzen Leib in eine Blumenwiese des Schmerzes verwandelten. Olba bestand nicht auf einer Antwort und fuhr stattdessen in seiner ruhigen, toxischen Rede fort.

„Allerdings wird Maou am Ende keinerlei Macht mehr besitzen, wenn Emilia mit ihm fertig ist. Und du wirst dich auf Ente Isla nicht mehr verstecken können, sobald du sie getötet hast. Hast du schon darüber nachgedacht, was du tun wirst, wenn unser Vertrag abgegolten ist, Lucifer? Wird es dich am Ende mit den überlebenden Dämonen in die Hölle zurück verschlagen?“

In den grauen Augen des Alten tauchte so etwas wie Häme auf. Er warf einen erwartungsvollen Seitenblick auf den Geflügelten, während er unermüdlich dessen Körper mit der schnell aushärtenden Salbe einrieb. Lucifer schwieg weiterhin, aber sein Blick verriet, dass er grübelte. Sollte Maou wirklich geschlagen und die Dämonen gezwungen werden, sich wieder auf den roten Mond zurückzuziehen, dann würde dort jeder gegen jeden Kämpfen, bis die Machtlücken, welche Maou und die vier Generäle hinterließen wieder ausgefüllt wären. Der ganze Mond würde in dem anstehenden Gemetzel mit Blut getränkt. An sich keine schlechte Unterhaltung, aber Lucifer tauchte im Allgemeinen lieber erst dann auf, wenn er gewinnen konnte.

„Ich hätte vielleicht einen Ausweg für dich. Wenn du dein Wort hältst.“, lockte Olba mit schmeichelnder Stimme und unterbrach damit Lucifers Gedanken, „Du könntest mit meiner Hilfe in den Himmel zurückkehren. Schließlich ist es ja einmal dein Zuhause gewesen, nicht wahr?“

Er lächelte gutmütig. Offenbar ging er immer noch davon aus, Lucifer würde sich nichts sehnlicher wünschen, als in den Himmel zurückzukehren. Es konnte nicht schaden, ihn in diesem Glauben zu lassen, entschied der Langhaarige und bemühte sich darum, große unschuldige Augen zu machen, sodass er ganz den Eindruck eines hoffnungsvollen, naiven Idioten erweckte. Schließlich öffnete der gefallene Engel die trockenen Lippen einen Spalt breit und fragte: „Wie?“

Olba lächelte ihn gutmütig an. Er war sich nun sicher, dass er einen Nerv getroffen und Lucifer endgültig am Haken hatte.

„Ich habe meine Verbindungen und Wege. Die Kirche steht in regem Austausch mit den Vertretern des Himmels. Ich kann das arrangieren, wenn du den geforderten Dienst geleistet hast.“, versicherte er mit glitzernden Augen. Lucifer bezweifelte stark, dass auch nur eine Silbe davon der Wahrheit entsprach, aber er ließ es sich nicht anmerken. Wieder öffnete er den Mund und brachte diesmal sogar ein kleines Zittern der Unterlippe zustande, als er wisperte: „Einverstanden.“
 

Der Trank und die Salbe befreiten Lucifer nachhaltig von der Müdigkeit und den meisten Schmerzen der vergangenen Tage. Endlich fühlte sich der Engel wieder mehr wie er selbst und genoss es in vollen Zügen. Olba war gerade dabei, die Salbe auf dem Oberschenkelbruch zu verreiben, da beugte sich der Langfinger vor und zupfte das Pergament aus der Robentasche des Geistlichen. Rasch rollte er es auf, bevor Olba es ihm wieder wegnehmen konnte. Es war eine Verlautbarung, die wohl länger an irgendeiner Kirchenmauer angeschlagen gewesen sein musste, ihrem Zustand nach zu urteilen. Doch Lucifer las es gierig, als handele es sich dabei um eine ihn betreffende Prophezeiung. Seine Augen flogen über die saubere Handschrift auf der rauen Oberfläche, doch sein Blick verdüsterte sich zunehmend. Schließlich rümpfte er die niedliche Stupsnase und funkelte Olba missmutig über den Rand des Pergaments hinweg an.

„Du hast es dir also nicht nehmen lassen, meinen Körper durch die Gassen zu schleifen, dem Pöbel zur Schau zu stellen und mich am Ende sogar noch zu verbrennen! Sehr kirchlich von dir, muss ich schon sagen. War sicher ein großes Spektakel! Fucking Bravo! Und warum, wenn ich fragen darf, bin ich jetzt kein attraktives Häuflein Asche?!“

„Weil ich das Feuer, als ich es segnete, in ein Portal verwandelte, dass dich verschluckte und hier wieder ausspuckte. Ich konnte für dich kein Double nehmen, es musste echt aussehen.“, erklärte der Erzbischof ungerührt. Endlich fertig mit der Salbe wischte er sich die Hände an seinem Leintuch trocken, nahm dem Engel das Pergament ab und drückte ihn dann überraschend grob auf die Steinplatte hinunter. Der Geflügelte wehrte sich instinktiv und stellte erstaunt fest, dass er es tatsächlich wieder konnte.

„Was läuft jetzt mit dir falsch, Alter?! Greifer weg, Mann!“, rebellierte er, doch der Erzbischof drückte ihn unnachgiebig mit einer Hand auf seiner schmalen Brust nieder und riss ihm mit der anderen das Lendentuch weg. Plötzlich lag Lucifer vollkommen nackt auf der Steinplatte. Er machte keine Anstalten seine Blöße irgendwie zu kaschieren - in solchen Dingen machte einen das Leben unter Dämonen vollkommen hemmungslos - aber er schlug entschieden Olbas Hand weg und beschimpfte ihn lautstark.

„Hör auf, dich zu wehren! Ich brauche freien Zugang zu deinem Unterleib.“, grummelte der Priester angelegentlich in seinen kleinen Schnauzbart. Für Lucifer hörte es sich allerdings nach einem astreinen Geständnis an und sein Schimpfen wuchs sich in Hysterie aus.

„Freien Zugang zu … meinem Unterleib?! Bist du stoned von der Salbe, oder was? Behalt‘ ja deine Flossen bei dir, Alter! Ich bin kein Chorknabe!“, kreischte er auf.

Olba verstand die Aufregung nicht. Mit gerunzelter Stirn griff er Lucifer energisch bei der Hüfte, dreht ihn um 45 Grad und zog ihn zu sich. Da Olba vor der Steinplatte stand, wichen Lucifers gefühllose Beine der bloßen Schwerkraft folgend dem Hindernis aus und glitten um Olbas Lendengegend herum auseinander, sodass die ganze Sache immer eindeutiger nach der Vorbereitung zu einer Vergewaltigung aussah. Zusätzlich senkte der Erzbischof nun auch noch den Kopf in Richtung auf Lucifers Leiste. In seiner Verzweiflung richtete der Engel drohend die Handfläche auf Olba, da er sich nicht weit genug aufstützen konnte, um ihn physisch zu erreichen, und sammelte mit aller Kraft Magie für einen Verteidigungsschlag. Seine Handinnenseite begann lila zu glühen, doch für ein magisches Projektil reichte es nicht. Der Erzbischof schlug bei dieser Reaktion des Engels geräuschvoll knirschend die Zähne aufeinander und unterdrückte einen frustrierten Aufschrei. Gegen dieses Bürschchen waren Emilia Justinas Erziehung und Ausbildung das reinste Zuckerschlecken gewesen. Er überlegte, wie er Lucifer schnell und effektiv gefügig machen könnte. Aber in dessen violetten Augen brannte jetzt ein Feuer, das Heere von Dämonen dazu gebracht hatte, zu gehorchen.

„Ich schwöre, Olba, wenn du dich an mir vergehst, ...“, fing Lucifer in warnendem Tonfall an, doch endlich verstand der Geistliche, was eigentlich Lucifers Problem war und unterbrach ihn.

„Dummkopf! Ich will deinen Hüftbruch heilen. Dein mickriger Körper interessiert mich nicht im Ansatz!“, zischte er ungehalten. Lucifer musterte ihn unverhohlen misstrauisch.

„Und wozu gehst du da dann mit dem Kopf runter?“, wollte er wissen, die Stimme immer noch ein ganzes Stück zu hoch und zu laut.

„Himmel nochmal! Ich versuche zu sehen, ob der Knochen verschoben ist! Wäre es dir lieber, wenn ich dich dafür erst aus deiner Haut schälte? Du stellst dich an, als wärst du noch nie beim...“, er brach ab und sah Lucifer mit tief über der Nasenwurzel zusammengezogenen, buschigen Augenbrauen an.

„Lucifer.“, fragte er dann ganz ruhig, „Kann es sein, dass du noch nie bei einem Arzt gewesen bist?“

Lucifer schnaubte verächtlich. Noch immer hielt er den bandagierten und mit Salbe benetzten Arm zum Schuss erhoben.

„Nein! Na und? Wozu auch? Ich war noch nie krank und bisher konnte ich es sehr gut vermeiden, dermaßen verletzt zu werden. Bis jetzt reichte meine eigene Magie immer aus.“

Olba nickte begreifend.

„Aha.“, machte er und seufzte innerlich. Jetzt musste er mit Lucifer auch noch Onkel Doktor spielen, wie mit einem kleinen Kind, nur weil der Eingebildete die Prozedur nicht kannte und meinte, man wolle weiß Gott was mit ihm anstellen. Er atmete tief durch, um sich zu sammeln und bewies damit eine fast übermenschliche Geduld.

„Du brauchst vor der Behandlung keine Angst zu haben. Ich lege nur meine Hände, auf die kaputte Stelle und versuche sie wieder ganz zu machen. Von deinem Schniedelwutz will ich nicht das Geringste wissen, verstanden?“, erklärte er ganz in der Rolle eines Kinderarztes, der einen Dreijährigen behandelt. Lucifer sah ihn zwei Wimpernschläge lang unverändert skeptisch an, dann brach er in johlendes Gelächter aus. Der keckernde Schall erfüllte die ganze Krypta und erinnerte Olba unangenehm an den Ansturm der Dämonenhorden mit Luzifer an der Spitze. Endlich nahm der Geflügelte den Arm runter und presste ihn sich gegen die schmerzenden Rippen.

„Meine Fresse, diese Salbe muss bei dir ja mächtig reinhauen! So ein dummes Zeug hab ich zuletzt beim Besäufnis auf ner Lagerfete gehört, kurz bevor wir die westliche Insel überfielen!“, keckerte der Dämon unsensibel. Das Lachen verging ihm allerdings schlagartig, als Olba mit versteinerter Miene den Moment der Ablenkung nutzte, um Lucifers Hüftbruch mit einem groben Ruck zu richten. Der Engel wechselte abrupt von ausgelassener Heiterkeit zu schmerzerfülltem Stöhnen und wurde bleich wie ein Laken. Seine Fingerspitzen krallten sich so hart in die Steinplatte, dass seine Fingernägel brachen.

„Du Hurenpreller! Das hast du mit Absicht gemacht!“, warf er dem glatzköpfigen Mann in der Robe vor. Dieser unterdrückte sein boshaftes Lächeln nicht einmal und erwiderte: „Natürlich. Ich sagte doch, dass ich den Bruch richte. Und jetzt halt‘ endlich still, du Ausgeburt Satans, ich muss dich für den Transport stabilisieren!“

Lucifer hätte sich jetzt gerne hingelegt und ausgeruht, aber solange der Greis zwischen seinen gespreizten Schenkeln stand, wollte er ihn lieber nicht aus den Augen lassen.

„Was für ein Transport?“, ächzte er schwer um Atem ringend. Olba glaubte in Lucifers violetten Seelenspiegeln sogar frische Tränen glitzern zu sehen und das verschaffte ihm ausreichend sadistische Genugtuung, um von nun an milde gestimmt zu sein.

„Ich muss dich in ein anderes Versteck bringen. Man hat mich vielleicht zu dir hinuntersteigen sehen. Ich kann nicht riskieren, dass man mir nachschnüffelt und dich hier findet.“, erklärte er, während seine Hände auf Lucifers schmaler Hüfte weiß leuchtend die Heilung beschleunigten.

„Aha. Und wo ist >hier<, wenn ich fragen darf? Und wo genau bringst du mich hin?“

„Das ist doch nicht wichtig, Lucifer.“, wich Olba der Frage aus.

„Du dämlicher Alter!“ Lucifers Blick glühte, „Eben wolltest du mir noch deine perversen Doktorspiele erklären und jetzt sagst du mir nicht mal, wo wir hier sind?!“

Olba beschlich ein seltsam nagendes Schuldgefühl, ganz so als sei er mit der Hand in der Keksdose erwischt worden. Augenblicklich schimpfte er sich einen Tölpel. Er hatte nichts dergleichen gewollt oder getan! Mit dem letzten Bruch musste er wohl auch Lucifers inneren Magiefluss wieder ins Lot gerückt haben und nun kehrte allmählich dessen unheilige Magie zurück, was dem General auch seine alte Autorität verlieh. Dieses aufflammende Schuldgefühl war nichts weiter als ein magischer Trick des kleinen Teufels!

„Du unsäglicher Quälgeist!“, fuhr Olba auf, „Schön, ich sage es dir! Warum solltest du es nicht erfahren? Wir sind auf der Insel im Westen unter der Michaelis Kathedrale und wir müssen nach Osten, wo Emilia in diesem Augenblick Alsiels Truppen über das Meer auf die Hauptinsel zurückdrängt. Der finale Kampf um den Zentralen Kontinent steht kurz bevor. Emilia Justina hat meine Unterstützung angefordert und ich kann nun keine Ausreden mehr erfinden, um hier bei dir zu bleiben, darum musst du mit! So, jetzt weißt du, wie es um euren glorreichen Krieg steht. Dein König wird fallen!“

Lucifers funkelnde Amethystaugen weiteten sich erstaunt. Stand es wirklich bereits so schlecht? War Maou womöglich wirklich schwermütig, wie Olba gesagt hatte, und hatte nicht nur ihn, Lucifer, sondern auch sich selbst und den Krieg aufgegeben? Das sah ihm nicht ähnlich. Lucifer kannte Maou schon sehr lange und nie hatte er auch nur versteckte Anzeichen einer schwermütigen Ader an ihm festgestellt. Andererseits konnte das bedeuten, dass der große Dämonenkönig Satan schlichtweg feige zögerte. Sollte das der Fall sein, dann wäre das nur ein Grund mehr, sich an ihm zu rächen. So etwas Erbärmliches! Er hatte Lucifer bei seinem Leben ein Dasein ohne Langeweile versprochen, wenn er sein General würde! Bei diesem Gedanken fühlte sich Lucifer doppelt verraten und seine Wut wuchs. So oder so, Maou hatte versprochen, dass er ihn eigenhändig töten durfte, sollte es dem Engel unter seiner Herrschaft je langweilig werden. Nun, JETZT war ihm langweilig!

Stand by me

Die Schlacht um Ente Isla entschied sich nun innerhalb weniger Tage ohne dass Lucifer in seinem Kellerversteck etwas davon mitbekam. Die Truppen der äußeren Inseln hatten sich sammeln können und griffen gemeinsam die Hauptinsel an, sobald Alsiel gänzlich aus dem Osten vertrieben war. Es stand: Die Bevölkerung von vier Inseln gegen Maou und Alsiel mit einer Hand voll übrig gebliebener Dämonen. Letztendlich gaben die Magienutzer der Kirche den Ausschlag. Maou wurde bis in seinen Palast hinein zurückgedrängt. Dort stellte ihn die legendäre Heldin. Alsiel versuchte seinen König mit allen Mitteln zu verteidigen, doch schließlich flüchteten die beiden mit einer letzten Drohung Maous durch ein Portal. Die legendäre Heldin setzte ihnen mit einem beherzten Sprung nach. Sie rechnete damit, dass ihr Lehrmeister Olba ihr folgte. Doch der rührte sich nicht von der Stelle. Kaum hatte sich das Portal hinter der Heldin geschlossen, koordinierte er die Truppen und gab Anweisungen, die letzten Dämonen noch zu Fall zu bringen. Nur Emeralda Etuva hatte sich sofort der Stelle genähert, an der sich das Portal geschlossen hatte. Die Wissenschaftlerin untersuchte, so schnell und so gründlich es ihr nur möglich war, die flüchtige Restenergie des Tores und versuchte Proben davon zu konservieren, um Hinweise darauf zu erhalten, wohin es geführt hatte.
 

Unerwarteterweise leisteten die Dämonen auch ohne ihren König noch Widerstand. Die meisten Anführer in den dämonischen Bastionen klammerten sich an den verzweifelten Fanatismus, Maou würde bald wieder auftauchen und den Krieg wieder zu ihren Gunsten wenden. Andere befolgten einfach stur ihre letzten Befehle, weil sie keine Neuen bekamen. Die durch die Schlachten auf offenem Feld zerstreuten Dämonen-Trupps schlugen sich zu den Verschanzungen und Befestigungen ihrer Artgenossen durch und verstärkten sie. Das machte es den menschlichen Streitkräften lange Zeit schwer, alle Regionen von Ente Isla zu befreien, vor allem da die Magienutzer der Kirche sich – kaum dass die wichtigsten Städte gereinigt waren – aus der Schlacht zurückzogen und die weiteren Lokalkämpfe den Landadligen überließen.

Nach und nach begannen die Menschen, unter militärischer Aufsicht, den zentralen Kontinent und den Osten dort wieder zu besiedeln, wo es als sicher galt.

Nun erst reiste auch Olba zurück zum Hauptsitz der Kirche, um sich mit dem hohen Rat an einen Tisch zu setzten. Man beriet sich Woche um Woche. Doch im Endeffekt konnte man ohnehin nichts wegen Maou unternehmen, bis Emeralda dazu in der Lage wäre, das Ziel seines Fluchttors zu benennen. Außerdem gab es auf Ente Isla für die Kirchenmitglieder noch genug zu tun. Die durch den Krieg zerstörten Kirchen mussten wiederaufgebaut und das Volk zur Räson gebracht werden. Jede verfügbare Autoritätsperson stand nun inmitten all der Zerstörung, welche die Dämonen hinterlassen hatten, und sorgte für die Aufrechterhaltung der Ordnung. Die allgemeine Verzweiflung, wegen fehlender Unterkünfte, vermisster Familienmitglieder und der Hungersnot, durch die zerstörten Ernten ausnutzend, bildeten sich nun Gruppen, welche die Kirche kritisierten und auf einen Umsturzversuch hinarbeiteten. Auch die Inquisition hatte alle Hände voll zu tun.
 

Lucifer war derweil im Turmkeller einer ansonsten restlos zerstörten Grenzfestung untergebracht worden. Olba besuchte ihn jetzt höchstens noch ein bis zweimal die Woche. Das fiel dem Engel zunächst aber gar nicht auf, denn vorsichtshalber mischte Olba ihm starke Schlafessenzen in seine Genesungsmedizin, welche Lucifer für Tage ausknockten. Zunächst bemerkte Lucifer nur, dass ihn die Medizin neuerdings schläfrig werden ließ und seine Genesung auf einmal rasend schnell Fortschritte machte. Es dauerte allerdings nicht lange, da fiel ihm außerdem auf, dass nicht nur seine Wunden schneller heilten, sondern auch seine Haare schneller wuchsen. Als er das erste Mal von selbst aufwachte, ohne dass Olba ihn für die nächste Dosis weckte, da reichte ihm sein Pony schon bis auf die Schlüsselbeine. Olba war nirgendwo in der zwielichtigen Düsternis zu entdecken und so packte der General die Gelegenheit beim Schopf. Vorsichtig stützte er sich auf, verlagerte sein Fliegengewicht auf die Hüfte und entdeckte, dass der heftige Schmerz, den er erwartet hatte, ausblieb. Er glaubte nicht eine Sekunde lang an eine dermaßen beschleunigte Heilung, wenn er sich das rasche Wachstum seiner verfilzten lila Strähnen betrachtete und begann, Olba zu verdächtigen, irgendetwas wirklich Unfaires mit ihm angestellt zu haben. Das schrie geradezu nach Rache! Behutsam rutschte er etwas steif mit dem Hintern an den Rand seiner steinernen Bettstatt vor und ließ die Beine baumeln, bis seine bloßen Füße auf den dreckigen Boden trafen. Seine Federn in den Verbänden raschelten, als er Schwung holte. Olba hatte ihm nun beide Flügel mit Bandagen an den Leib gebunden und gemeint, er bewege sie im Schlaf zu viel, das sei nicht gut für die Heilung. Mit wilder Entschlossenheit, drückte Lucifer die Knie durch und stemmte sich in die Höhe, um auszuprobieren, ob er stehen könne. Durch knappe, zuckende Bewegungen versuchten seine Flügel sein Gleichgewicht zu finden, konnten aber in den Bandagen nicht richtig arbeiten. Lucifer schwankte bedenklich. Seine Muskeln fühlten sich an, als habe er sie seit Monaten nicht benutzt. Kurz bevor seine Gelenke unter ihm nachgaben, versetzte er sich mit Magie halb in die Schwebe. Auf diese Weise war nun zumindest sein Oberkörper stabil. Langsam bewegte er sich – halb schwebend, halb gehend – von seinem Trümmerstück zum nächsten und setzte sich erst einmal wieder. Seine Magie war ausgeruht, aber der Kreislauf schien komplett überfordert, als habe er viel zu lange geschlafen. Etwa zehn Minuten später wiederholte er die Prozedur und eroberte einen Mauerrest. Über diese selbst auferlegte Physiotherapie dauerte es nicht lange, bis sich sein Körper wieder an die Bewegungsabläufe erinnerte und sicherer wurde. Er trank viel, um die Drogen aus seinem Organismus zu schwemmen und merkte, wie nun auch sein Geist wieder klarer wurde. Dieser verdammte Bet-Heini, das würde er zurückbekommen!, schwor sich der Engel erzürnt. Nach zwei Tagen begann Lucifer seine Beine mit seinem Gewicht zu belasten und übte ohne magische Stütze weiter. Dies stellte sich mit an den Körper gebundenen Flügeln allerdings als äußerst unbequeme Erfahrung heraus. Lucifer verlor das Gleichgewicht, kippte in einen Haufen steinerner Trümmer und riss sich schmerzhaft den Unterarm an den scharfen Kanten auf. Stirnrunzelnd und das Gesicht vor Schmerz und Wut verzogen, wischte er sich mit der gesunden Hand die verstreuten Strähnen auf die rechte Gesichtshälfte zurück und betrachtete den Schaden. Blut lief über die dreckige, zerschrammte Haut seines Unterarm und tropfte von seinem Ellbogen. Glücklicherweise funktionierte sein Magiefluss inzwischen wieder einwandfrei, sodass er die Wunden problemlos schließen konnte. Danach kletterte er aus den Trümmern. Einigermaßen stabil auf einem Steinbrocken sitzend, befreite er seine Flügel aus den Bandagen und bewegte sie behutsam durch. Die geheilten Sehnen spannten und dehnten sich erst nur widerwillig.

Nach sechs weiteren Tagen allnächtlicher Übungen unterstützt von Magie, die er nun in seine Beine leitete, stand er endlich wieder vollkommen ruhig auf seinen Füßen, konnte aufstehen, sich hinsetzen und laufen. Der Rest war nur noch eine Frage der Kondition. Auch die Flügel bewegten sich nun wieder geschmeidiger und Lucifer stellte fest, dass die Kellerräume, in denen er hauste, für Flugübungen zu eng waren. Überhaupt waren ihm Olbas schmutzige Kerker längst zu eng für seinen Freigeist, aber nun hatte er endlich auch die physischen Möglichkeiten, dem zu entfliehen, wiedererlangt.
 

Mit in der Dunkelheit aufleuchtenden Augen erklomm er barfuß und nur mit dem Lendenrock bekleidet die sandigen Stufen, die nach oben in die Freiheit führten und lief geradewegs Olba vor die Brust, der eine Fackel in der rechten Hand gerade zu ihm hinuntergestiegen kam. Völlig verdattert glotzte der Geistliche auf ihn hinab, während sich Lucifers schöne Augenbrauen missmutig über der Nasenwurzel zusammenzogen.

„Was in drei Teufels Namen machst du da?!“, wollte der Glatzköpfige wissen. Er war so erschrocken und wütend, dass er gleich zu explodieren schien. Da der Erzbischof ihm den Weg versperrte und auch keine Anstalten machte, zurückzuweichen, musste Lucifer zwei Stufen tiefer steigen, um Abstand zu ihm zu gewinnen.

„Ich geh an die Luft. Soll sehr heilsam sein, hab‘ ich gehört. Zu viel Schlaf ist ungesund.“, patzte er mit deutlichem Vorwurf in der Stimme. Olba setzte sich in Bewegung und drängte den Engel auch noch die restlichen Stufen zurück in den Keller.

„Bis du des Wahnsinns? Da draußen darf dich niemand sehen! Wenn rauskommt, dass du noch lebst, machst du damit alles zunichte!“, schimpfte er auf den Geflügelten ein, aber Lucifer reckte ihm nur trotzig das Kinn entgegen.

„Ich gehe bei deiner Pflege noch ein, Olba!“, gab der Engel zurück und legte nur allzu offensichtlich die Botschaft in seine Worte hinein, dass er Olbas Machenschaften durchschaut hatte. Der Blick der grauen Augen wurde plötzlich verhängnisvoll steinern.

„So, du glaubst also, du bist gesund genug, um herum zu stromern, ja?“, knurrte Olba mit gefährlich tiefer Stimme. Dann hob er abrupt den linken Arm und stieß ihn Lucifer so hart gegen die rechte Schulter, dass es den Kleineren umriss und stürzen ließ. Die Narben, die Better-Half an seiner rechten Seite hinterlassen hatte, waren immer noch zu sehen und sie ziepten fürchterlich, als Olba sie traf. Unrühmlich halb liegend und halb sitzend auf dem Boden vor den Füßen des Geistlichen kauernd, hielt sich Lucifer die Schulter und funkelte Olba böse von unten herauf an.

„Du kannst mich hier nicht ewig festhalten!“, schrie er ihn an, doch ein seltsames Leuchten erhellte plötzlich das süffisant lächelnde Gesicht des Alten.

„Oh doch, das kann ich.“, grollte er unheilvoll. Seine Hand vollführte eine Bewegung in der Luft und um Lucifers dünne Handgelenke schlossen sich silberne Ketten. Klirrend zogen sich die einzelnen Glieder stramm und zerrten einen sich zeternd wehrenden und mit den Flügeln schlagenden Engel rückwärts an eine der wenigen festen Wände, wo sie sich knirschend im Stein verankerten. Lucifers Augen loderten vor Zorn.

„Himmlisches Silber, mein Lieber. Es schadet dir nicht, aber die Fesseln werden halten.“, erklärte Olba ungefragt und sonnte sich sichtlich in seiner zurückgewonnenen Überlegenheit. Lucifer ging auf, dass sich der Glatzkopf diese Fähigkeit extra für ihn neu angeeignet haben musste und nur für einen Fall wie diesen. Ebenso wütend wie verzweifelt stemmte die zierliche Gestalt die nackten Fersen gegen die Wand und warf sich mit aller Gewalt in den Ketten nach vorn. Das Ergebnis war nur, dass er sich dabei fast die Schultern auskugelte.

„Das ist gegen unseren Vertrag!“, behauptete Lucifer zähnefletschend, wie ein Wolf an der Kette.

„Oh nein.“, entgegnete Olba sanft, „Es ist sogar ganz in dessen Sinne. Ich rette dir damit das Leben. Wenn du diese Mauern verlässt, werden sie dich jagen und töten, weil es niemanden mehr gibt, zu dem du dich flüchten kannst, mein armer Lucifer.“, erklärte er genießerisch. Lucifers Augen weiteten sich. Er glaubte bereits zu verstehen, was Olba andeutete, aber seine inzwischen wieder geschmeidigen Lippen öffneten sich beinahe von selbst: „Wie meinst du das?“

Olbas Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, das ihn in dem orangefarbenen Zwielicht von Olbas Fackel teuflischer erscheinen ließ, als Lucifer ihn je gesehen hatte.

„Maou und Alsiel haben aufgegeben. Sie sind geflohen und Emilia ist ihnen hinterher. Der feindliche Dämonensturm ist vorbei. Da draußen bauen die Menschen gerade in aller Ruhe ihre Zivilisation wieder auf. Nur du bist noch übrig. Allein. Zurückgelassen. Und auf Gedeih und Verderb nur meiner Gnade ausgeliefert!“

Die Worte brauchten einen Moment, um bei Lucifer anzukommen. Die schmale Brust des Engels hob und senkte sich aufgeregt, während der restliche Körper erstaunlich regungslos verharrte.

„Du lügst.“, wehte es wie ein Hauch unter Lucifers langen Haaren hervor.

„Es ist die Wahrheit. Dein König und sein letzter General sind fort. Die Kirche arbeitet daran ihre Spur wiederzufinden und sobald das gelingt, werden wir beide ihnen folgen, damit du sie umbringen kannst. Es gefällt mir wahrscheinlich noch weniger als dir, aber die Lage hat sich dadurch um einiges verschärft. Wir müssen wohl oder übel anfangen, einander zu vertrauen. So abwegig das auch klingt. Aber du kommst ohne mich nirgendwo mehr hin und ich brauche dich für das Attentat. Alleine kann ich es nicht mit Maou, Alciel und Emilia aufnehmen. Also gilt unser Handel, oder soll ich dich hier und jetzt töten, damit ich keine Schwierigkeiten mehr mit dir habe?“ Die Worte waren hart, aber glaubhaft. Olba holte etwas unter seinem Kapuzenumhang hervor und warf es dem Engel aufgeschlagen vor die Füße.

„Das ist der aktuelle Band der heiligen Chronik von Ente Isla. Eine Abschrift selbstredend, es würde mich also nicht übermäßig ärgern, wenn du sie aus Bosheit vernichtest. Unterlasse es bitte trotzdem! Kaplan Bernadus hat sehr viel Zeit und Kraft darauf verwendet. Die neusten Entwicklungen sind schon eingetragen worden. Du kannst also selbst nachlesen, was in der Zeit deiner Genesung draußen vor sich ging und brauchst dich nicht auf mein Wort zu verlassen.“

Lucifer hatte den Kopf gesenkt, sodass die langen Strähnen seiner ungewaschenen Haare sein Gesicht verbargen. Er regte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Seine Gedanken rasten, wogen Wahrscheinlichkeiten gegeneinander ab, schmiedeten Pläne und verwarfen sie wieder. Schließlich klirrten die Ketten, als er erneut daran zog.

„Lass mich frei. Ich muss es selbst sehen!“, verlangte er. Angesichts einer solchen Unvernunft und Sturheit brauste in Olba von Neuem die Wut auf den Kleineren auf.

„Ich sagte dir doch, das geht nicht! Der Kontinent ist wieder voller Menschen! Die Garde des Königs, kirchliche Würdenträger und die Inquisition sind überall! Sie suchen nach dämonischen Ausreißern wie dir! Dich zu zeigen wäre Selbstmord!“

„Sagst du!“, giftete Lucifer.

Olba stützte in einem Anflug von Verzweiflung das Gesicht in die freie Hand.

„Willst du denn unbedingt sterben, nur um herauszufinden, dass ich die Wahrheit sage?“, fragte er bebend vor unterdrücktem Hass. Allmählich bereute er es sehr, den Engel am Leben gelassen zu haben. Doch jetzt waren seine Pläne zu weit fortgeschritten, um zu kneifen.

Olba hob die Hand und die Ketten ließen insoweit locker, als das Lucifer die Arme an seinen Seiten herunterhängen lassen konnte.

„Komm zur Vernunft, Lucifer. Schüre deinen Hass, aber wende ihn gegen Maou und Emilia. Ich bin nicht dein Feind.“ Unter langen Strähnen glommen zwei funkelnde Amethyste auf, doch Lucifer stand einfach nur da. Olba wandte sich um und verschwand die Treppe hinauf aus dem Gewölbekeller. Einen Moment später hockte sich Lucifer kettenrasselnd auf seine Fersen. Rauschend schlug er die prachtvollen, schwarzen Fittiche um sich und zog dann mit spitzen Fingern die Chronik zu sich heran. Routiniert blätterten seine Hände durch die Seiten bis zu dem Tag, als sein Angriff auf den Westen begonnen hatte. Dann saß er ganz still da. Nur seine Augen bewegten sich, Zeile um Zeile der ordentlichen Handschrift des Kaplans Bernadus folgend, durch die Geschichte und ab und an, blätterte er knisternd eine der großen Seiten um.
 

Als Olba das nächste Mal in den Kellerraum trat, starrte die Wand hinter Lucifer vor Ruß und Löchern, die offenbar von gezielten Detonationen herrührten. Der Engel selbst war mit Dreck, Sand und Geröll überschüttet. Offenbar hatte er versucht, sich von den Ketten loszusprengen und das wiederholt. Aber die Ketten hatten gehalten und waren im Stein verankert geblieben, egal wie viele Schichten Lucifer davon abtrug. Nun saß er inmitten all des angeschwärzten Schutts im Schneidersitz auf dem Boden und faltete kleine Tiere, Engel, Sterne, Schiffe und Girlanden. Olba wunderte sich noch, wo der Lümmel plötzlich das Papier dafür herhaben konnte, da sah er die aufgeschlagene Chronik neben dem nackten Knie des Engels liegen. Das Buch war nun um etliche Seiten dünner.

„Lucifer, du verdammtes Aas!“, begrüßte Olba den Schuldigen. Er hatte zwar von vornherein damit gerechnet, dass Lucifer die Chronik möglicherweise zerstören könnte, aber dass er sie auf so kreative Art zerstörte, hätte er nicht geglaubt. Lucifer faltete eine kompliziert aussehende Blume zu Ende und grinste hinterhältig in sich hinein.

„Ich kann furchtbar werden, wenn ich mich langweile. Und ich lese schnell.“, gab er zu bedenken, „Das nächste Mal bringst du mir besser eine Lektüre, die mich länger beschäftigt.“, riet er.

Olba ging zu ihm hin und hob das Buch auf, um zu retten, was noch zu retten war. Die ausgerissenen Seiten konnten ja womöglich neu geschrieben und wieder in das Buch eingebunden werden. Doch auch diese Hoffnung hatte Lucifer bereits zerstört, noch bevor Olba sie fasste. Ein Blick in das Buch zeigte dem Erzbischof, dass Lucifer das Papier nicht nur zum Falten verwendet hatte. Er hatte außerdem jede einzelne Seite des Buches mit akkuraten, schwarzen Federzeichnungen versehen. Die meisten davon zeigten entweder unanständige, obszöne oder gewalttätige Motive. Nicht selten stellten sie einen an grausamen Verstümmelungen und Torturen verstorbenen Olba dar oder Olba in demütigenden Situationen und sehr oft, war ein siegreich gezeichneter Lucifer der Grund dafür. Angewidert und gekränkt, aber auch neugierig und fasziniert vom akkuraten Zeichenstil des Engels, blätterte Olba das gesamte Buch durch, in der Hoffnung, Lucifer hätte in den Bildern etwas über sich selbst, den Himmel, oder Maous Pläne verraten. Die brutalen Olbagemälde wurden immer weniger, je weiter er blätterte und wurden von dämonischen Party- oder Kriegszenen abgelöst. Wenige der Bilder zeigten Maou und die anderen Generäle, doch sie wirkten lediglich wie Momentaufnahmen aus der Erinnerung Lucifers. Bedeutungslose Szenen von Feiern, Besäufnissen, Jagdausflügen und Orgien. Olbas Blick blieb unfreiwillig am gezeichneten Penis des Dämonenkönigs haften, bis ihm aufging, das dieser Teil der Zeichnung gar keinen Penis darstellte, sondern eine Faust mit ausgestreckten Mittelfinger. Olbas Ohren wurden heiß. Der kleine Bastard hatte die Szene offenbar nur gemalt, um ihn, Olba, hereinzulegen, zu beleidigen und zu demütigen. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er die Kränkung entdeckt hatte, denn dann hätte er ja indirekt zugegeben, dass er Maous Penis genauer betrachten wollte. Lucifer schien es aber trotzdem zu ahnen, denn sein verschlagenes Grinsen wurde noch breiter. Olba räusperte sich und schlug energisch das Buch zu. Dann schlug er es wieder auf, weil ihm so war, als läge etwas zwischen den Seiten und etwas sehr leichtes rutschte ihm auf den Schoß. Es war eine schwarze, angespitzte Feder mit schwarz verschmiertem Kiel. Als sie auf Olbas weiße Robe auftraf, hinterließ sie feine schwarze Spritzer auf dem Stoff.

„Woher hast du die Tinte für diese sündigen Schmierereien?“, fragte er alarmiert. Lucifer hob den Blick von seiner Faltarbeit auf und zeigte seine makellosen Zähne.

„Sind geil, was? Schau‘s lieber nicht zu lange an. Wir wollen ja nicht, dass dein altes Herz vor Erregung den Geist aufgibt.“, spottete er.

„Wo du die Tinte her hast, will ich wissen, Schandmaul!“, wurde Olba nun laut und warf das Buch klatschend zu Boden. Er befürchtete, Lucifer könnte inzwischen einen Komplizen gefunden haben, der ihr hier unter versorgte.

„Du verliert ja die Contenance, Erzbischof. Wird dir der Unterrock zu eng?“, weiter ließ ihn Olba nicht reden. Ein Wink seiner Hand und die Ketten zogen sich so weit in die Wand zurück, dass Lucifer kurz darauf, wie ein Gekreuzigter an den Stein geschmiedet war, die bloßen Füße zwanzig Zentimeter über dem Boden baumelnd. Doch damit nicht genug, trat Olba mit harschen Schritten auf den Gefangenen zu und packte ihn bei der schmalen Kehle. Seine Finger umschlossen den dünnen Hals beinahe und Olba wurde überraschend bewusst, wie klein und zierlich Lucifer eigentlich war. Ein dumpfes Knirschen verriet, dass Olbas stürmischer Angriff Lucifers Hinterkopf hart auf den verrußten Stein hatte aufschlagen lassen. Der schwarze Staub rieselte von der Wand und färbte Olbas Finger ein. Wutentbrannt sah Olba Lucifer ins Gesicht und erlebte gleich die nächste Überraschung. In den Augen des Engels stand die nackte Panik. Aber nur für einen Moment, denn dann glitten die violetten Iriden zur Seite und Olba spürte einen unbeschreiblichen Schmerz, der von seiner Leistengegend bis in die Bauchhöhle ausstrahlte. Stöhnend ging Olba in die Knie und kassierte den nächsten Tritt Lucifers ins Gesicht.

„Du … verabscheuungswürdige … kleine Ratte!“, japste der Geistliche atemlos, während er sich leidend die Hände auf den Schritt presste. Lucifers Knie hatte voll getroffen. Das Ende vom Lied war, dass der Engel nun auch noch Fußfesseln bekam. Aber Olba hatte die Demütigungen und Frechheiten des kleinen Wichts nun endgültig satt. Als er wieder stehen konnte, trat er erneut an Lucifer heran, der sich nun reichlich nervös in seinen Ketten wand.

„Komm mir nicht zu nahe, Alter! Ich bin immer noch scharf.“, drohte der Dämonengeneral, richtete seine Handflächen so gut es ging in Richtung des Erzbischofs aus und schoss mehrere magische Projektile auf ihn ab. Dummerweise lagen seine Hände zu weit auseinander, um Olba zu treffen. Er war ihm schon zu nah. Die grauen Augen blitzten vor Rachsucht.

„Weg von mir! Hau ab! Wage es nicht!“, schrie Lucifer und wand sich. Doch Olba lachte nur boshaft.

„Jetzt bist du nicht mehr so mutig, was?“, zischelte der Würdenträger gefährlich, „Ist dir eigentlich klar, wer ich bin? Ich habe schon ganz andere Vögelchen als dich zum Singen gebracht, größere Dämonen als dich gebrochen. Ich habe dich von der Schwelle des Todes geholt und es wäre mir ein Leichtes, sogar ein Vergnügen, dich doch noch darüber hinweg zu stoßen!“, drohte er so nah an Lucifers Gesicht, dass sich ihre ungleichen Nasen fast berührten. Lucifer versuchte es mit einem Schutzzauber, aber Olba durchbrach ihn. Die Ketten aus himmlischem Silber dämpften Lucifers Magie spürbar.

„Wovor hast du gerade die meiste Angst? Hm? Vor mir? Vor dem Tod? Oder vor...“, Olba streckte die Hand nach ihm aus. Er hatte „Schmerz“ sagen wollen, aber die Reaktion des Engels auf die Bewegung änderte die Sachlage mit einem Mal gravierend. Er presste die Oberschenkel zusammen, drückte den unteren Rücken gegen die Wand, sodass er den Oberkörper vornüber krümmte und schrie aus Leibeskräften: „Fass mich nicht an!“

Eine Druckwelle aus Energie erfasste Olba, doch sie war nicht stark genug, um ihn umzuwerfen. Seine Robe schlug im Wind knatternd Falten und legte sich dann wieder glatt um ihn, als der Angriff verebbte. Olba zog ungläubig eine Augenbraue hoch, ansonsten wirkte seine Miene nun fast ausdruckslos. Sein Blick lag auf Lucifers in der verzweifelten Schutzhaltung zitternden Gestalt.

„Von einem Dämonengeneral hätte ich etwas mehr Haltung erwartet.“, stichelte der Geistliche herablassend. Lucifers Atmung ging unregelmäßig und stoßweise.

„Lass mich runter! Lass mich hier raus! Mach mich sofort los und … bleib von mir weg!“, forderte der Engel keuchend. Er hielt die Flügel über sich ausgebreitet, als wolle er jeden Moment, wie ein Falke, auf Olba niedergehen.

„Was genau macht dich eigentlich so panisch, wenn ich dich anfasse?“, wollte Olba nun wissen und ignorierte Lucifers Forderungen, „Ich beobachte das, seit ich dich pflege. Die Angst vor Schmerz ist es jedenfalls nicht. Du weichst jeder Berührung aus und erträgst es schon kaum, wenn ich dir nur nahe komme. Zusätzlich belästigst du mich mit diesen obszönen Vorwürfen! Erkläre mir das einmal, das würde mich wirklich interessieren.“ Lucifer spuckte aus und funkelte Olba zornig an.

„Fick dich! Du würdest es auch nicht prickelnd finden, dauernd von so nem alten Lurch begrabbelt zu werden!“, giftete er abweisend.

„Nein, so leicht kommst du mir nicht davon. Da steckt was dahinter und ich will jetzt wissen, was! Ich bin dein Gehabe jetzt nämlich endgültig leid! Entweder du verhältst dich kooperativ, mehr verlange ich ja gar nicht, oder ich bekomme auf die harte Tour aus dir heraus, was dein Problem ist!“, drohte er. Lucifers Blick verfinsterte sich weiter.

„Geh und schieb dir ‘n Stock in den Arsch!“ Olba schob lässig die Finger ineinander, streckte die Arme durch und ließ die Knöchel knacken, gerade so als lockere er sich für eine kleine, intime Foltersession. Dann legte er den Kapuzenumhang ab und schlug die Ärmel seiner Robe zurück. Lucifer verfolgte es mit Grausen.

„Ich tue das nicht gern, weißt du? Mir liegt eigentlich nichts daran. Aber ich bin durchaus in der Lage dazu und erfahren in körperlicher Notzucht. Das wird für mich nicht mehr als ein rein beruflicher Akt, der seinen Zweck erfüllt.“ Er hob die Hände auf Hüfthöhe und legte seinen Gürtel ab. Ein Wink mit der Hand und Lucifers silberne Fußfesseln strebten weit genug auseinander, um seine Beine zu spreizen.

„Hör auf!“, gellte Lucifers von hysterischer Angst erfüllte Stimme durch das Gewölbe. Tränen rannen ihm über das hübsche, kluge, aber verdreckte Gesicht.

„Du hast keine Ahnung!“, wimmerte er, „Du hast keinen Schimmer, wie es ist, der Kleinste unter Dämonen zu sein! Wie es da zugeht!“, er schluckte und holte dann tief und zitternd Luft.

„Ich musste der Schlauste und Fieseste unter ihnen sein, um nicht jedes Mal als Opferlamm zu enden! Du weißt nicht, wie die sind, wenn sie-“, seine Stimme versagte für einen Moment und seine Flügel senkten sich kraftlos um seine bebenden Schultern. Olba wusste nicht recht, ob der Engel bloß verteufelt gut schauspielerte, oder ob ihm bei den Dämonen wirklich etwas zugestoßen war, das er nicht verarbeiten konnte. Er hob die Hand und fuhr – wie um dessen Worte zu prüfen – durch Lucifers schwarzen Federn, nur um zu sehen, ob es daran etwas Begehrenswertes zu finden gab. Sie waren unheimlich seidig und zart. Der Flügel zuckte vor der Berührung zurück und Lucifer schreckte zusammen.

„Bitte! … nicht!“, keuchte er, „Wenn du es unbedingt wissen musst. Ich bin ihr General in der Luft, aber bei den Feiern… diese riesigen Körper, … hast du Maou mal gesehen? Oder einen der anderen? Ich bin winzig im Vergleich zu ihnen! Wenn sie trinken … in Stimmung kommen, dann habe ich ihnen nichts entgegenzusetzen.“

Lucifers Gesicht sah in seiner makellosen Schönheit unter all dem Dreck und mit den Spuren der Tränen darauf einfach herzzerreißend zerbrechlich aus. Er schluckte.

„Dann ist es wahr?“, fragte Olba unbarmherzig, „Dass die Dämonen Orgien feiern? Es mit Tieren treiben? Und sich untereinander vergewaltigen?“ Lucifer nickte und seine langen Haare fielen ihm wieder über das ganze Gesicht. Olba packte die verrutschten Ponysträhnen, legte die hübschen Züge wieder frei und riss dem Geflügelten dabei noch unbarmherzig den Kopf in den Nacken, sodass er jede Einzelheit in dem blassen Antlitz studieren konnte. Er versuchte, die Lüge und das Schauspiel zu entlarven, dem Engel die erfundene Geschichte nachzuweisen, den heimlichen Spott dahinter von seinen Lippen abzulesen. Aber er fand nichts als glasige, gerötete Augen, zitternde Lippen, einen angsterfüllten Blick und kleine, hektisch und unregelmäßig bebende Nasenflügel. Dann schlossen sich die tränenden Augen und makellose Zähne bissen knirschend aufeinander, bevor Lucifer mit Inbrunst ausrief: „Glaubst du, es fällt mir leicht, das zuzugeben? Zeig endlich ein wenig Anstand, du geistlicher Hirte und hör auf, mich zu quälen!“, jammerte der Gefallene und weitere Tränen stürzten über seine Wangen, um anschließend mit Schmutz verunreinigt den schönen Hals hinabzugleiten und hinter Lucifers hervorstehenden Schlüsselbeinen eingebettet zu vertrocknen. Dann wurde Lucifers Stimme plötzlich rau und tonlos.

„Ich seh‘ schon. Du willst wissen wie es ist; was sie an mir finden, nicht wahr? Dann tu‘s. Ich kann mich nicht wehren, also was soll‘s. Gegen Maou werde ich dich kaum spüren.“
 

Olba ließ ihn bei diesen Worten angewiedert los und wischte sich die Hand an seiner Robe ab. Er bereute es sofort, denn nun war der weiße Stoff besudelt mit Ruß und Schmutz. Ein genervter Wink mit der Hand und die Fußfesseln verschwanden. Die silbernen Ketten verlängerten sich wieder und ließen den Delinquenten rasch zu Boden sinken. Lucifer lag auf den Knien und schlug die Flügel um sich. Olba wandte sich ab und ging zu seinen Sachen zurück.

„Das Einzige, das ich wissen will, ist, wie du an die Tinte für die Zeichnungen gekommen bist.“, erinnerte er grimmig, während er sich Gürtel und Umhang wieder anzog. Aus dem Kokon aus Federn wurde ein blanker, dünner Arm gestreckt, der auf etwas deutete, das ganz in der Nähe lag, aber vom Schutt bisher verdeckt worden war. Olba trat wieder näher und sah es sich an. Eine Seite aus dem Buch, gefaltet zu einer Art Becher und gefüllt mit eingetrockneter, schwarzer Flüssigkeit, daneben ein rußbedeckter scharfer Stein. Die rußbedeckte Wand in der Nähe wies Kratzspuren auf.

„Ich habe den Ruß von der Wand abgekratzt und mit Spucke vermischt. Bist du jetzt endlich zufrieden?“, kam es leise aus den Federn. Olba beschlich wieder ein nagendes Gefühl von Schuld, so als hätte er gerade ein Kind geschlagen. Dabei machte es ihm gar nichts aus, Kinder zu schlagen, die es verdient hatten.

„Lass das endlich bleiben!“, zischte er den zitternden, raschelnden Federball an.

„Was denn?“, kam es gequält aus diesem zurück, „Womit soll ich mich denn beschäftigen, wenn du mich hier angekettet für Tage allein lässt?“

Olba hatte eigentlich den Zaubertrick mit den Schuldgefühlen gemeint, aber Lucifers Reaktion beunruhigte ihn etwas. Sollten es doch seine eigenen Schuldgefühle sein, die er da spürte? Unsinn! Dafür gab es überhaupt keinen Grund. Egal was er mit Lucifer anstellte, oder die Dämonen vielleicht mit ihm angestellt hatten, Lucifer war im vergangenen Krieg tausendmal schlimmer gewesen!

„Für deine Unterhaltung bin ich nicht verantwortlich! Du bist hier, weil ich Arbeit für dich habe!“, speiste er ihn mitleidlos ab.

„Dann lass mich was arbeiten!“, fuhr Lucifer plötzlich auf und lichtete seinen Wall aus Federn. „Lass mich helfen Maous Aufenthaltsort ausfindig zu machen!“ Olba blinzelte ihn verblüfft an.

„Wie soll das gehen? Emeralda erforscht die Daten, die sie aus der Analyse der Restenergie des Tors gesammelt hat. Ich bin kein Wissenschaftler, ich kann ihr die Sachen nicht einfach wegnehmen und später mit der Lösung des Rätsels wiederkommen. Das nimmt mir doch keiner ab. Mal ganz zu schweigen davon, dass ich dir in keinster Weise zutraue, in dieser Hinsicht nützlich zu sein!“

„Schön, du traust mir nichts zu. Gib mir wenigstens die Chance es zu beweisen!“

„Und dann machst du dich davon und schließt dich wieder Maou an, sobald du rausgekriegt hast, wo sie sind! Mich betrügst du nicht, Lucifer!“

„Dann bring mir eben nur einen Teil der Daten. Lass mich helfen sie auszuwerten!“

„Und was, wenn dir ein Teil schon reicht?“

„Tut es nicht. Ich schwöre!“ Olba lachte gemein auf.

„Worauf, denn bitte. Was könnte dir heilig genug sein, dass du darauf schwörst und den Schwur auch hältst?“, fragte er bissig, „Du hast den Himmel verlassen, verflixt nochmal!“

Lucifer schwieg. Dann erinnerte er sich an etwas, das ihm einmal geschworen worden war und warum er darin eingewilligt hatte. Er fuhr sich energisch über das Gesicht, um die Tränenspuren zu beseitigen, stand auf und trat Olba von Angesicht zu Angesicht gegenüber, bis die Ketten ihn zurückhielten.

„Du sagtest es wäre dir ein Vergnügen, mich umzubringen. Sollte ich mit dem Wenigen, das du mir bringst, ein Portal erschaffen können, das mich zu Maou führt, und sollte ich ohne dich dorthin aufbrechen, dann werde ich mich nicht wehren, wenn du kommst, um mich zu töten. Ich schwöre auf mein Leben.“

Olba war für einen Moment sprachlos. Dann wurde sein Ausdruck wieder streng.

„Billiges Geschwätz vom Trickser-General des Dämonenkönigs!“, tat er Lucifers Worte ab. Doch dessen Miene zeigte sich auf einmal überraschend abgeklärt und beherbergte sogar ein schmales Grinsen.

„Schön, wenn dir das lieber ist, dann lasse ich dich eben eine Runde auf mir drehen, wenn ich lüge.“ Jetzt war Olba wirklich sprachlos. Er starrte ihn an, wie ein toter Fisch. Lucifer hob die Hände und zuckte die Schultern.

„Nur weil ich es auf den Tod nicht ertrage, unter Zwang angefasst zu werden, heißt das nicht, dass ich mich nicht überwinden kann, still zu halten. Außerdem habe ich ein hervorragende Singstimme, das müsste deinen Neigungen doch entgegen kommen.“

Olba rümpfte die Nase, als ginge von Lucifer ein widerlicher, verfaulter Gestank aus, und verließ auf dem Absatz kehrt machend den Keller. Lucifer sah ihm selbstgefällig, eine Hand in die Hüfte gestützt nach.

„Daran wird der alte Furz noch ne ganze Weile zu knabbern haben, denke ich. So schnell fasst der mich nicht mehr an.“, murmelte er mit einem verschlagenem Lächeln auf seinem engelsgleichen Gesicht, das all die Tränen und seine Leidensgeschichte von vorhin Lügen strafte. Dann strich er sich das Haar aus der Stirn und wandte sich wieder dem Falten von Papierfiguren zu.
 

Auch wenn Olba steif und fest behauptete, dass Lucifers Angebot sicher nicht der Grund dafür war, sondern lediglich die Hoffnung, zwei würden schneller an der Sache arbeiten und Lucifers Erfahrung mit den Dämonen könnte dabei von Nutzen sein, brachte er ihm schon in der nächsten Nacht eine Probe von Emeraldas gesammelten Daten.

Indes zogen sich die Beratungen des Hohen Rats hin. Aus Wochen wurden Monate.

Lucifer wertete ein winziges Datenpaket nach dem anderen aus und vervollständigte mit seinem Wissen über Maous Magie Emeraldas Forschungen. Olba behauptete, er hätte weitere Wissenschaftler der Kirche beauftragt, Emeralda zuzuarbeiten, und die Ergebnisse an ihn zu senden. Es seien aber nur unwürdige Amateure und sie brauche sich darüber keine Gedanken zu machen. Damit diese zufälligen Entdeckungen der Amateure sich nicht zu sehr häuften und vor allem auch, damit Lucifer das Puzzle am Ende nicht doch noch selbst zusammensetze, ließ Olba zwischendurch mehrere Tage vergehen, in denen er dem Dämonengeneral keine Datenpakete zum Auswerten brachte, sonders stattdessen Bücher, eine Bienenwachstafel mit Griffel, sowie einen Bottich, den er mit Wasser füllen konnte, und ein kleines Stück Kernseife, damit er sich waschen konnte, denn selbst Engel fingen nach einer gewissen Zeit, eingesperrt in einem Keller, an zu stinken. Er bot ihm sogar an, ihm Garn und einen Webrahmen, ein Spinnrad oder Häkelnadeln zu bringen, aber davon wollte Lucifer nichts wissen. Einen Stickrahmen mit Nadeln hingegen hätte er schon gern gehabt, aber Olba vertraute ihm nicht genug, um ihn mit spitzen Nadeln auszustatten. Musikinstrumente wollte er ihm auch nicht bringen. Erstens gab es auf Ente Isla nicht so viele davon und zweitens fingen die Menschen gerade wieder damit an, den Landstrich neu zu besiedeln, indem er Lucifer versteckt hielt. Da wollte er nicht riskieren, dass aus der Ruine Musik erklang!

Schon bald fand Lucifer allerdings selbst eine Beschäftigung, die ihn in den Wochen ohne Analyseprojekt bei Laune hielt. Da Olba ihm Seife gebracht hatte, war es nunmehr ein Leichtes für ihn, aus den heiligen Ketten zu schlüpfen und einen vorsichtigen Streifzug in die Umgebung zu unternehmen. Er wagte es nur bei Nacht, wenn er ganz sicher war, das Olba heute nicht kommen würde. Bei seinem ersten Ausflug fand er ein grobes Stück Stoff, das wohl einmal zu einem Soldatenzelt gehört haben mochte und das dunkel genug war, um ihn und seine Flügel in der nächtlichen Umgebung gut zu tarnen. Es wäre klug gewesen, dabei zu bleiben, aber kaum spürte er die erfrischende Nachtluft in den Federn, da musste er sie ausbreiten und zum ersten Mal seit Monaten endlich wieder fliegen. Das Gefühl der Freiheit war atemberaubend. Er glitt wie ein Nachtschatten unter den Sternen hindurch, hoch über den Wolken, die sich wie ein feiner Sprühnebel auf seine nackte Haut legten, wenn er hindurch segelte. Er hätte jubilieren mögen, doch das verkniff er sich schweren Herzens. Seine Lache war einfach zu lange gefürchtet worden, als dass man sie nicht sofort wiedererkannt hätte. Nach einer vollen Nacht im Himmel waren seine Flügel müde und schmerzten vor Muskelkater, sodass er sich kurz vor Morgengrauen zurück schlich. Er machte sich nicht die Mühe, wieder in die Ketten zu schlüpfen. Tagsüber kam Olba sowieso nicht und wenn er ihn nachts auf der Treppe hörte, war immer noch genug Zeit dafür, wieder den Gefangenen zu geben.

Es waren tatsächlich wieder Menschen in die Nähe gezogen. Momentan hausten sie noch in primitiven Lagern und saßen nachts um ein gemeinsames Feuer. Das war insofern für Lucifer perfekt, als dass die dem Licht zugewandten Augen der Menschen ihn in der Dunkelheit nicht erspähen konnten, selbst wenn er sich zu nah heranwagte und ein Geräusch verursachte. Und nahe heran musste er, denn er wollte mit eigenen Ohren hören, ob es wahr war, was Olba ihm erzählt hatte. Die Menschen waren hier, um die Bauernhöfe in der Gegend wieder aufzubauen und die Lebensmittelproduktion wieder aufzunehmen. Die meisten waren vom Krieg noch völlig traumatisiert und wollten nicht darüber reden. Es dauerte lange bis Lucifer einmal ein Gespräch belauschte, in dem es um den Sieg über den Dämonenkönig ging.

„Man sagt, die legendäre Heldin habe ihn mit einem Schlag durchgeschnitten! Von oben nach unten. Sein Blut soll Löcher in die Erde gebrannt haben...“

Da merkte Lucifer, dass er von den Bauern wohl kaum die Wahrheit über den Kampf erfahren würde. Die wussten auch nur, was die Kirche ihnen sagte. Und die Kirche sagte ihnen sicher noch weniger, als Olba Lucifer anvertraute. Dennoch erfuhr der Langhaarige durch seine Ausflüge, dass Maou wirklich verschwunden und die Dämonen vertrieben worden waren.
 

Schließlich kam wieder eine Nacht, in der Olbas Schritte auf der Treppe zu hören waren und Lucifer zurück in seine Ketten schlüpfen musste. Schnell versteckte er das Stück Seife, das er heimlich für diesen Zweck behalten hatte – denn Olba war nicht so dumm ihm das Wasser und die Seife einfach dazulassen – unter dem Geröll am Boden, schnappte sich die angefangene Zeichnung auf der Wachstafel und nestelte mit dem Griffel weiter daran herum, sodass er schön unverdächtig aussah, als der Erzbischof in den Gewölbekeller eintrat.

„Es ist soweit, Lucifer. Der Rat hat mir den Auftrag erteilt, Maous und Emilias Verbleib zu untersuchen. Emeralda weiß jetzt, wohin das Portal führte.“, verkündete er mit höchst offiziell klingender Stimme.

„Na bravo, gut gemacht. Und es hat ja nur, wie lange gedauert? Sechs Monate? Das nenne ich mal schnelles Handeln in einer Notsituation, hoffentlich kommen die Beamten in ihren Schreibstuben da noch mit.“, spottete Lucifer gemein.

„Zügele dein loses Mundwerk! Du hast ja auch nicht gerade dazu beigetragen, dass es schneller ging!“, meinte Olba streng. Lucifer aber lachte keckernd auf.

„Machst du Witze? Ohne mich wüsste deine Emmentaler nicht mal in welche Richtung sie gucken muss. Du hast mir Brotkrümel gegeben und ich habe das verfickte Lebkuchenhaus samt kinderfressender Hexe drin gefunden, Glatzköpfchen!“, prahlte der Engel und dehnte die Fingerknöchel, wie nach langer und schwerer Schreibarbeit, „Das bedeutet dann ja wohl, dass du mir den Schmuck jetzt abnimmst, korrekt?“ Olba grummelte undeutlich in seinen kleinen Schnauzer und ließ mit einer Geste Ketten und Handfesseln verschwinden. Lucifer stand auf und bog den Rücken durch, als sei er ewig nicht aufgestanden.

„Aaah, süße Freiheit.“, stöhnte er.

„Denkst du, du bist für den Kampf gegen Emilia und den Dämonenkönig gewappnet?“, fragte Olba.

„Mal sehen.“, entgegnete Lucifer und wedelte fahrig mit der Hand in der Luft herum. Wie aus versehen löste sich ein violetter Energieball aus seinen Fingerspitzen und schlug in die Wand ein, an die der Engel so lange geschmiedet gewesen war. Dann machte er einen Satz hinter Olba und zog den überraschten Geistlichen am Gürtel drei Meter weiter in der Raum hinein. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen explodierte die Wand. Alle auf sie gestützten Mauern fielen ein und als der Staub sich legte, war die halbe Ruine dem Erdboden gleich gemacht. Lucifer legte unzufrieden den Kopf schief.

„Wohl doch noch nicht ganz. Ich wollte eigentlich die ganze Ruine pulverisieren.“, klagte er, bevor ein fieses Grinsen seine Züge durchschnitt. Olba sah ihn nur missbilligend an und klopfte sich den Sand von der Robe.

„Verdammter Dämon!“, schimpfte er, „Den Krach hat bestimmt jemand gehört!“

Lucifer zuckte mit den Achseln.

„Na und? Wir sind doch eh gleich weg, oder hab ich da was missverstanden.“ Olba schien kurz zu bereuen, das Ganze überhaupt angezettelt zu haben. Aber nun gab es kein zurück mehr. Mit ernstem Gesichtsausdruck kramte er in einer Umhängetasche und zog schließlich etwas heraus, das er dem Kleineren in den Arm drückte.

„Hier! Niemand will dich halbnackt kämpfen sehen!“, murrte er. Lucifer entfaltete das weiße Stoffbündel und hielt es dann mit ausgestreckten Armen vor sich hin. Er betrachtete das Geschenk keine zwei Sekunden lang, dann sah er Olba missmutig und herausfordernd an.

„Das is‘n Scherz!“, entschied er tonlos.

„Ganz sicher nicht.“, erwiderte Olba und sah schon wieder eine nervtötend lange Diskussion auf sich zukommen.

„Zieh dich schnell an! Ich gehe sicher nicht noch mal los, nur weil es deinem sündigen Modegeschmack nicht zusagt!“

„Es ist kurz! Weiß! Und Ärmellos! Es ist ein gottverdammtes Ministrantenhemd! Sariel trägt so was!“, begehrte Lucifer auf.

„Rede keinen Unsinn! Ministrantenroben haben Ärmel!“, hielt Olba dagegen.

„Du musst es ja wissen!“, giftete Lucifer beleidigend.

„Zugegeben, diese Untertunika gehörte einem unserer Ministranten, ...“

„Aha!“, schrie Lucifer ihm ins Wort. Olba beendete dennoch seinen Satz, als habe er nichts gehört.

„...aber das tut hier absolut nichts zur Sache! Es gibt nun mal nicht so viele Sachen für Erwachsene, die deine Größe haben!“ Das saß! Lucifer wirkte beleidigt.

„Ich habe keine Lust, der Nährstoff für deine feuchten Träume zu sein.“

Olba ballte wütend die Fäuste und sein kahler Kopf lief puterrot an.

„Spar dir endlich diese haltlosen Unterstellungen, du exhibitionistischer Homunkulus! Zieh dich an, oder ich liefere dich der Inquisition aus und sage denen, dass sie dich besonders liebevoll anfassen sollen! Verstehen wir uns?! Allmählich habe ich die Nase gestrichen voll von dir!“

„Und was dann?“, zischelte Lucifer ehrlich getroffen zurück, „Erledigst du den Dämonenkönig und die legendäre Heldin dann auf eigene Faust?“

„Wenn es sein muss, werde ich das tun!“, versicherte Olba ernst.

Grimmig starrten sich die beiden Kontrahenten gegenseitig in die Augen. Dann gab Lucifer ein unwilliges Murren von sich und schlüpfte in die Tunika. Sie stand ihm überraschend gut.

Kleine Sünden - Ein Engel passt sich an

Als Lucifer durch das Portal stieg, das Olba erschaffen hatte, traf sein blanker Fuß zunächst auf verstaubte Holzdielen. Neugierig sah er sich in dem leeren, dunklen Raum um. Es gab Fenster mit Glasscheiben darin und eine Tür zum Aufschieben. An den Wänden standen ein paar kaputte Stühle und vereinzelte Tische. An einer Seite des Zimmers schien eine Schieferplatte in einem Holzrahmen angebracht worden zu sein. Den Zweck dieser Vorrichtung konnte sich Lucifer allerdings noch nicht denken. Vielleicht war das hier eine Werkstatt und die Platte sollte noch bearbeitet, bzw. die kaputten Möbelstücke repariert werden. Er zog den zweiten Fuß nach und stolperte nach vorn. Irgendetwas konnte mit der Schwerkraft nicht stimmen. Er fühlte sich zu leicht, aber unausgewogen, so als sei sein Körperschwerpunkt verrutscht. Dieser seltsame Zustand machte ihn schwindlig und ihm wurde übel, sodass er sich hinknien und mit den Händen auf dem Boden aufstützen musste.

Hinter ihm trat Olba aus dem Portal, bereit sich zu verteidigen, sollte er gleich hier auf Feinde stoßen. Irritiert ließ er Hände und Schultern wieder sinken, als er sah, dass sie völlig allein waren. Das Portal schloss sich hinter ihm. Dann fiel sein Blick auf den am Boden kauernden Lucifer, gegen den er fast gelaufen wäre. Sein Herz setzte einen Moment aus vor Schreck und schlug dann schneller.

„Himmel, Lucifer! Was ist mit dir geschehen?!“, rief er vorwurfsvoll aus, als sei der Zustand des Kleineren seine eigene Schuld. Der Engel warf ihm aufgrund des unangebrachten Tonfalls über die Schulter hinweg einen genervten Blick zu.

„Was willst du seniler alter Spinner schon wi-!“, entsetzt brach er den Satz ab und schrie auf. Er hatte es nun selbst entdeckt und plötzlich wurde ihm klar, warum sein Gleichgewichtssinn streikte. Seine Flügel fehlten! Die Flügel, die seit seiner Geburt ein Teil von ihm waren! Sie waren einfach nicht mehr da! Jetzt wurde dem Dämonengeneral erst recht übel.

„Was soll dieser faule Zauber! Wer hat mir das angetan? Zeig dich, du zukünftiges Stück Hackfleisch!“, schrie er in loderndem Zorn in die Dunkelheit hinein und kanalisierte seine Magie zu einem wahllosen Rundumschlag gegen den unsichtbaren Feind. Um ihn herum begann die Luft lila zu leuchten. Violette Zirkel erfüllten die Luft. Doch noch ehe er die geplante Attacke auslösen konnte, kippte sein Oberkörper plötzlich nach hinten. Sein Körperschwerpunkt hatte sich abermals verschoben und plötzlich hörte er das vertraute Rauschen. Verdutzt blickte er nach hinten. Seine Flügel saßen wieder genau da, wo sie hingehörten!

„Das ist doch die reinste Verarsche hier!“, murmelte er zu sich selbst, unfähig zu ergründen, wie dieser gemeine Spuk zustande kam. Mit gerunzelter Stirn taxierte er die Umgebung, bis er sicher sagen konnte, dass er und Olba allein waren. Dann blickte er auf seine Hände und ließ die violetten Zirkel wieder verschwinden.

„Was hast du gemacht?“, fragte Olba grimmig interessiert und trat näher, um einen der Flügel zu berühren, aber Luzifer faltete sie ruckartig auf seinem Rücken ein und stand auf, um den grabbelnden Fingern des Geistlichen zu entgehen. Mit nun wieder sicheren Schritten durchquerte er den Raum und schob vorsichtig die Tür beiseite. Anschließend späte er in den dunklen Flur dahinter. Alles blieb still. Sie schienen wirklich die Einzigen hier zu sein. Luzifer schob die Tür wieder zu, drahte sich in den Raum um. Luzifer war nervös. Was war des eben mit seinen Flügeln. Sie gehörten zu ihm! Sie konnten doch nicht einfach verschwinden. Er würde es nicht ertragen, wenn das noch einmal geschehen sollte! Besser er fand so schnell wie möglich die Ursache für diesen Horror heraus! Nachdenklich entzündete er kleine Lichter, die in der Luft schweben blieben und sie beide in ein unheimliches, lilafarbenes Glühen tauchten. In diesem Schein musterte er Olba. Jener sah noch exakt so aus, wie auf Ente Isla.

„Fühlst du dich irgendwie anders? Schwindlig oder so?“, fragte er gerade heraus. Olba tastete sich ab, betrachtete seine Hände, fuhr sich mit den Fingern über Gesicht und Glatze und musterte schließlich sein Spiegelbild in den dunklen Fensterscheiben.

„Es scheint alles in Ordnung zu sein.“, gab er schließlich an. Lucifer tat es Olba nach und betrachtete sich in den Fernstern. Er ließ die gesammelte Magie probeweise wieder los, auch wenn ihm das Herz dabei im Hals pochte. Die Lichter erloschen und die Flügel verschwanden. Diesmal war Lucifer zumindest im Ansatz darauf vorbereitet und kippte nicht direkt nach vorne, musste sich aber dennoch an einem der kaputten Tische stützen, weil sein Gleichgewichtssinn mit der Veränderung noch nicht klarkam. Sofort war ihm wieder übel, aber diesmal nicht durch den Schwindel, sondern vor Angst. Er zwang sich in die nun durchsichtigen Fensterscheiben zu sehen und ruhig zu bleiben. Dann sammelte er die Magie wieder und setzte sie ein. Die Lichtkugeln tanzten erneut um ihn auf. Eine lila Aura umgab ihn. Nun konnte er sein Spiegelbild in den Scheiben wieder sehen und mit einem eindeutigen Rauschen tauchten seine Flügel wieder auf. Die Übelkeit ließ nach und Lucifer konnte wieder normal stehen. Er atmete angestrengt aus. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Wo waren sie hier nur gelandet? In was für einer kranken Welt verloren Engel ihre Flügel, während Menschen offenbar nicht beeinträchtigt wurden? Er zog den richtigen Schluss aus seinen Beobachtungen und begriff, dass er Magie einsetzen musste, um seine Gestalt beizubehalten. Das würde mit der Zeit vielleicht anstrengend werden, aber immerhin wurde er nicht völlig seiner Identität beraubt.

Olba sah sich derweil ebenfalls im Raum um. Da es aber nicht viel zu sehen gab, wandte er seine Aufmerksamkeit bald wieder Lucifer zu.

„Es scheint, als bliebe von dir nur das übrig, was menschlich ist, solange du keine Magie einsetzt.“, brachte er das Offensichtliche auf den Punkt. Lucifer erdolchte ihn mit einem schneidenden Blick.

„Keine noch so kranke Welt wird aus mir je einen Menschen machen, Olba!“, schwor er düster. Aber er befürchtete, dass der Erzbischof recht hatte, auch wenn sich sein Körper selbst ohne Flügel daran erinnert hatte, dass er Flügel haben sollte.

„Dann denkst du es also auch. Wir sind nicht mehr auf Ente Isla.“, stellte Olba grimmig fest.

„Selbst im Himmel oder in der Hölle kommt so etwas nicht vor.“, bestätigte Luzifer ebenso ernst. Er hasste es jetzt schon hier. Mit perfider Vorfreude nahm er sich vor, diese Welt zusammen mit Maou restlos zu vernichten. Niemand nahm ihm ungestraft seine Flügel! Nicht mal eine gänzlich andere Welt!

„Grauenhafte Vorstellung. Eine Welt voller Menschen.“, bemerkte Luzifer angewidert, denn darauf schien alles hinzudeuten, da sich Olba nicht verändert hatte und von Luzifer ohne Magie nur sein menschlicher Anteil übrig blieb. Olba warf ihm einen erzürnten Blick zu. Aber Luzifer dachte bereits weiter. Es würde schwer werden, Maou und Alsiel in dieser Welt zu finden. Schließlich waren sie aus einer Schlacht hier her geflohen und das wahrscheinlich auch noch unbeabsichtigt. Ihre Magie musste nahezu aufgebraucht sein, als sie ankamen. Luzifer konnte nur hoffen, dass sie sich ohne Magie in dieser Welt nicht gänzlich aufgelöst hatten.
 

„Ugh.“, Lucifer hielt sich den Kopf und sank unvermittelt in die Hocke. Besorgt trat Olba näher und beugte sich leicht zu ihm vor.

„Was ist jetzt wieder mit dir?“, fragte er den Engel, in einem Ton, als würde er ihm nichts als Scherereien machen.

„Schnauze, ja? Ich weiß es nicht … Es wird immer anstrengender, Magie zu benutzen.“

Die lilafarbenen Lichter um Lucifer flackerten und erloschen. Olba sah den Kampf seines kleinen Verbündeten eine Weile lang hilflos mit an, dann verschwanden auch dessen Flügel wieder. Lucifer verlor erneut das Gleichgewicht und kippte nach vorn auf seine Hände.

„Das ist grausam. Womit habe ich das verdient?“, wimmerte der Entflügelte und ballte die Fäuste auf dem staubigen Boden. Der Anblick erschreckte Olba so tief, dass er von vornherein lieber darauf verzichtete, Magie einzusetzen. Er würde alles aufsparen, um später nach Ente Isla zurückkehren zu können. Auf keinen Fall würde er riskieren, hier zu stranden!

„Sag ehrlich, Lucifer! Hast du deine Magie verbraucht?“, fragte er fordernd und fasste den Engel an der schmalen Schulter. Lucifer schüttelte seine Hand energisch ab und fuhr zu dem Erzbischof herum. Sein Gesicht war von Verzweiflung gezeichnet. Olba erschrak zutiefst, als Lucifer aus heiterem Himmel ein verzweifeltes Wutgeheul gegen ihn anstimmte, mit den Fäusten auf den Boden und Olba einschlug und sich alles in allem wie ein Wahnsinniger gebärdete.

„Das ist nicht fair!“, schrie der Langhaarige den Tränen nahe, stemmte den Oberkörper hoch und ein flammender, aber durch und durch menschlicher Blick traf den Erzbischof, „Du und deine bescheuerte Kirche, Olba! Du bist schuld daran! Du hast mich hier her verschleppt! Deinetwegen sind meine Flügel... Ich bin kein beschissener Mensch! Ich bin verdammt nochmal Lucifer! Der Erzengel! Der Dämonengeneral! Ich habe so viel mehr aus mir gemacht, als ein Mensch sich auch nur feucht träumen lässt, und das bloß aus beschissener Langeweile heraus! Ich bin nicht gemacht um NICHTS zu sein! Scheiße! Olba! Ich hasse dich!“, schrie er den Glatzköpfigen hysterisch an. Seine schmale Brust hob und senkte sich in heftiger Bewegung. Angst und Verzweiflung spiegelten sich in seinem Blick. Wütend schlug er nach Olba und erwischte ihn an der Kutte. Er krallte sich fest.

„Bring mich zurück! Bring mich sofort nach Ente Isla zurück! Ich befehle es dir! Mach schon!“, schrie er ihn an und riss an der Robe. Erschrocken fuhr Olba zurück, kam aber nicht weit. Lucifer hielt ihn mit eisernen Fingern fest.

„Bist du des Wahnsinns, Lucifer! Ich werde dich nirgendwo hin zurückbringen, bevor wir unsere Mission nicht erfüllt haben. Reiß dich gefälligst zusammen, du benimmst dich ja wie ein hysterisches Kind!“

„Ich scheiß auf deine Mission!“, keifte Lucifer zurück, „Ich scheiße auf dich und deine hirnverbrannten Pläne!“ Tränen füllten jetzt wie in Stauseen Lucifers Augen und er brach schluchzend zu Olbas Füßen auf dem staubigen Fußboden zusammen.

„Lucifer… so schlimm kann es doch nicht sein.“, murmelte Olba ratlos und nun bekam auch er ein bisschen Angst. Was sollte er hier mit einem wahnsinnigen, entmachteten Dämonengeneral anfangen, dessen schmale Schultern unter seinem hemmungslosen Schluchzen heillos bebten?

„Mach den Kopf zu, Alter, du hast nicht gerade deine halbe Identität verloren!“, heulte der Flügellose auf, „Ich ertrage es nicht!“

Nun reichte es dem Erzbischof endgültig. Lucifers Drama fing an, ihn ernsthaft zu beunruhigen. Kurz entschlossen kniete er sich vor den Langhaarigen hin, dem nun tatsächlich die Tränen in Bächen über das Gesicht flossen. Er packte ihn mit der Faust vorne am Hemdchen und verpasste ihm mit der anderen Hand ein paar saftige Ohrfeigen. Lucifer schrie spitz auf und versuchte, sich von Olba loszumachen, doch diesmal war jener stärker.

„Wenn du ein Mensch bist, dann ist es Maou auch und es wird dir ein Leichtes sein, ihn zu töten. Du bist doch listig! Dir wird irgendein Trick einfallen, mit dem du es schaffst und dann bringe ich dich zurück nach Ente Isla, wo deine Flügel schon auf dich warten! Jetzt reiß dich am Riemen!“

Er konnte es nicht fassen, dass er den großen Dämonengeneral Lucifer aufbaute und ihm Mut zusprach. Lucifer starrte ihn seit den Ohrfeigen entgeistert an.

„Du hast mich geschlagen.“, hielt er Olba beleidigt vor.

„Ja, es war notwendig. Und ich werde es jederzeit mit Freuden wieder tun.“

„Kinderschänder!“
 

Nach diesem Vorfall beruhigte sich Lucifer wieder einigermaßen. Zumindest hielt seine Wut auf Olba ihn davon ab, wieder durchzudrehen. Weil dieser Raum verlassen aussah, schlugen sie hier ihr Lager auf. Dann gingen sie los, um das Gebäude zu erkunden. Sie schlichen über lange Flure, doch hinter so gut wie jeder Tür, die sie öffneten, befanden sich dieselben Räume mit Stühlen und Tischen, die alle zur selben Wand hin ausgerichtet waren, an der jeweils eine Schieferplatte hing. Es gab Regale voll mit Büchern. Manchmal fanden sich auch geometrische Zeicheninstrumente und allmählich ging ihnen ein Licht auf.

„Wenn mich nicht alles täuscht, müsste das hier so etwas wie eine Schule sein.“, meinte Olba nachdenklich. Lucifer lachte düster auf.

„Nein, wie bist du nur darauf gekommen? Etwa wegen der Schulbänke? Der Lehrerpulte? Oder haben dich die Klassenzimmer im Allgemeinen etwa auf den Gedanken gebracht?“, hänselte er den Alten und lehnte sich missmutig an die Wand neben der Tür. Olba wollte ihn gerade anheischen, sein freches Mundwerk im Zaum zu halten, da flammte unvermittelt ein stechend helles Licht im Raum auf. Synchron gingen die beiden in Deckung und versuchten den Angreifer durch das blendende Weiß auszumachen. Als aber nichts weiter passierte und sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnten, kochen sie vorsichtig wieder unter den Tischen hervor und musterten mit offenen Mündern die Deckenlampen.

„Elektrizität.“, murmelte Lucifer, der das aus dem Himmel kannte.

„Was sagst du?“, fragte Olba perplex von der Erscheinung nach.

„Nichts. Vergiss es.“, blockte der Engel ab. Seine Augen huschten zu der Wand, an die er sich gelehnt hatte und entdeckten einen kleinen Vorsprung. Er trat wieder hin, legte den Finger darauf und drückte. Das Licht erlosch wieder. Olba fuhr erschrocken herum. Lucifer knipste das Licht wieder ein und grinste herablassend über Olbas erstauntes Gesicht.

„Na dann hoffen wir mal, dass unsere >Basis< auch so einen Schalter hat.“, feixte er.
 

Ab jetzt war das Erkunden des Ortes deutlich einfacher. Aber sie machten nur dann Licht, wenn sie es wirklich brauchten und schalteten es wieder aus, sobald sie gingen. Schließlich wollten sie möglichst niemandem ein Signal geben, dass sie hier waren. Viele Räume fanden sie zu ihrer Frustration allerdings abgeschlossen vor. Sie gingen lange, leere Flure entlang und probierten eine Tür nach der anderen. Lucifer musste sich an das Laufen ohne seine Flügel erst gewöhnen, denn ihr Fehlen störte sein Gleichgewicht erheblich. Doch je länger er lief, desto besser bekam er den Dreh heraus. Allerdings eignete er sich kompensierend eine ziemlich nach vorne gebeugte, schlurfende Gehweise an.

„Tagsüber ist hier sicher alles offen.“, murmelte Lucifer.

„Man würde uns sofort als Fremde erkennen, liefen wir am Tage hier herum.“, warf Olba ein.

„Meinst du? Ein Mensch sieht doch wie der andere aus. Da gibt‘s doch kaum Unterschiede.“, behauptete der Engel tonlos. Daraufhin verzog Olba schlecht gelaunt den Mund.

„Sagst du das als Engel oder als Dämon?“, wollte er spitz wissen. Lucifer zuckte nur die nach vorne gefallenen Schultern.

„Die reine Beobachtung.“, meinte er, lustlos sich zu erklären.

„Weißt du, dass ich dir deinen Fall in diesen Menschenkörper ebenso gönne, wie den durch Emilia? Es wird Zeit, dass dir jemand die Leviten liest!“, bemerkte Olba aufgebracht und ballte im Gehen neben Lucifer die Hände zu Fäusten.

„Ich bin älter als du, also spiel dich nicht so auf, du Faltenhund. Oh-“. Lucifer brach die Unterhaltung ohne Umschweife ab, als er eine unverschlossene Tür fand, die widerstandslos zur Seite glitt. Stumm schlüpften sie hinein und standen kurz darauf unverkennbar in einer Bibliothek. Lucifer machte Licht. Dann wurde sein Blick undeutbar. Ein schmales, dezent brutales Lächeln zeichnete seine glatten Züge.

„Geh du ruhig schon weiter. Ich komme nach.“, meinte er, und stemmte lasziv die Faust in die Hüfte, während er an all den Regalen empor sah. Eine dünne lilafarbene Aura umspielte seine, plötzlich wieder gerade aufgerichtete Gestalt.

„Was hast du vor, Lucifer? Willst du dein letztes bisschen Magie etwa hier verbrauchen?“, brauste Olba misstrauisch auf.

„Warum nicht?“, entgegnete der Langhaarige völlig desinteressiert an Olbas Einwänden, „Für meine wahre Gestalt oder einen magischen Angriff reicht es ja nicht mehr.“

In einer Bibliothek sollte alles zu finden sein, was er und Olba über diese Welt und seine Bewohner wissen mussten, dachte der Engel. Ohne Magie blieb ihnen nur die Möglichkeit einer Guerilla Operation und dafür brauchte es so viele Informationen wie möglich. Er würde allerdings magisch nachhelfen müssen, um schnellstmöglich die hiesige Sprache lesen zu lernen. Ohne dies alles zu erklären, fläzte er sich an einen der Tische und von überall her segelten die Bände, die er brauchte, auf ihn zu. Olba beobachtete ihn missmutig. Er ahnte was Lucifer vorhatte und musste zugeben, dass das ziemlich schlau von ihm war. So viel Eigeninitiative hätte er dem faulen Hund gar nicht zugetraut. Andererseits war die Rückkehr nach Ente Isla und die Wiedergewinnung seiner Engelsgestalt wohl ein enormer Anreiz. Olba jedoch wollte keinen Funken Magie verschwenden. So lange er noch welche hatte und Lucifer nicht, war er dem Dämonengeneral gegenüber im Vorteil und fühlte sich sicherer. Er würde sich die Sprache später von einem Menschen aneignen. Im Moment jedoch wurde es ihm schnell zu dumm, Lucifer beim Durcharbeiten der Seiten zuzusehen und allmählich bekam er Hunger. Darum ließ er den Engel allein und durchsuchte das Gebäude nach Nahrungsmitteln. Er fand einige Snackautomaten, mit denen er sich herumärgerte, bis er es aufgab und weitersuchte. Es dauerte einige Zeit, aber schließlich fand er die Mensa, hinter welcher auch die Großküche lag. Trotz der Unterschiede zu den Küchen auf Ente Isla erkannte er sie als Küche, doch er musste enttäuscht feststellen, dass alles Essbare eingeschlossen war. Sein knurrender Magen ließ ihm hier keine andere Wahl mehr, als sich mit Magie Zutritt zu verschaffen. Dann holte er aus dem Vorratsraum, was er tragen konnte, und schleppte alles in das verlassene Klassenzimmer, das sie sich zur Basis auserkoren hatten.
 

Als die Sonne schon drohte aufzugehen und Lucifers Gehirn völlig erschöpft war, nahm er den restlichen Stapel Bücher auf den Armen und schlurfte müde zur Basis zurück. Auf halbem Weg kam er jedoch an etwas vorbei, das seine Aufmerksamkeit erregte. Behutsam legte er die Bücher auf dem Boden ab. Dann hebelte er mit einem Lesezeichen, das er zwischen Tür und Rahmen schob, das einfache Schloss auf und brach so in das Sekretariat ein.

Das erste, das Lucifer sich beigebracht hatte, war die Sprache, die hier vorherrschte, zu lesen. Als er soweit lesen gelernt hatte, dass er den Rest schnell aus dem Kontext schließen konnte, hatte er sich als zweites die Schulordnung und eine Imagebroschüre der Schule vorgenommen, um seinen Aufenthaltsort besser kennenzulernen. Daher wusste er nun, dass die Schüler hier Uniformen trugen und Schülerausweise besaßen. Das Sekretariat war genau der richtige Ort, um sich so etwas anzueignen. Damit würde er hier ein und aus gehen können, ohne aufzufallen und regelmäßige Mahlzeiten in der Mensa würden auch noch für ihn abfallen! Mit dem Ausweis hatte er allerdings kein Glück, denn die erforderlichen Daten ließen sich nur mit dem Computer auf die dünne Plastikkarte aufbringen, ebenso wie das Foto. Um herauszufinden, wie die Computer hier funktionierten, blieb ihm angesichts der steigenden Sonne keine Zeit mehr. Dafür würde er wohl noch einmal wiederkommen müssen, am besten wenn das Sekretariat besetzt war. Doch das Durchstöbern des Raumes förderte zumindest eine sauber gefaltete Uniform hervor. Ob es nun eine vergessene, eine verlorene, eine gefundene oder eine Ersatzuniform war, ließ sich nicht feststellen, aber von der Größe her lag sie nicht zu weit daneben. Lucifer breitete sie vor sich aus und musterte sie. Eine Bluse, ein Tuch, ein Rock, Strümpfe und Halbschuhe. Sein Blick fiel unbegeistert darauf hinab.

„Nee.“, sagte er sich. Schlimm genug, dass er aktuell dieses Hemdchen tragen musste, in dem er wie Sariel aussah, er musste die Sache jetzt nicht auch noch steigern, indem er eine Mädchenuniform anzog. Musste er sich halt einen anderen Plan überlegen! Er stopfte die Uniform in den schmalen Karton zurück, in dem er sie gefunden hatte, trat aus dem Raum, ließ die Tür hinter sich zufallen, nahm die Bücher wieder auf und lief drei Schritte. Dann ging er dieselben drei Schritte rückwärts wieder zurück, legte die Bücher erneut ab, betrat das Sekretariat wieder auf dieselbe Weise wie zuvor und nahm den Karton mit.
 

Zurück in der Basis fand er Olba auf dem Boden sitzend und schmausend vor. Lucifer legte seine Bücher und den Karton auf einem Stuhl mit gebrochener Lehne ab und legte sich gleich daneben auf den Boden. Ihm war schwindelig und sein Magen machte ein eigenartiges Geräusch. Er tat richtig weh. Olba bewarf ihn mit einer Tüte.

„Ey, geht‘s noch?“, fragte der Langhaarige müde.

„Du bist jetzt ein Mensch!“, meinte Olba.

„Danke für die Lehrstunde, Olba Meyer Oberschlau! Für was hältst du mich? Ein Sieb? Ich hab‘s nicht vergessen.“, gab er genervt zurück. Schlecht gelaunt stützte er sich auf den Ellbogen und zog eines der dickeren Softcoverbücher aus dem Stapel heraus, um es als Kissen zu verwenden.

„Das bedeutet, dein Körper braucht jetzt Nahrung, du Vogelhirn!“, erklärte der Erzbischof.

„Oh.“, kam es murmelnd über Lucifers Lippen. Er sah sich die Tüte näher an, die Olba ihm herübergeworfen hatte. Kartoffelchips. Was das wohl sein mochte. Schmeckte ihm bestimmt nicht. Sicher war es der letzte Müll, wenn Olba es ihm freiwillig überließ. Er schob es beiseite und kroch auf allen Vieren zu dem Nahrungsmittelhaufen vor dem Glatzkopf hinüber. Allerdings hatte jener auch keine frischeren Sachen. Lucifer bediente sich trotzdem an abgepacktem Büchsenfleisch und Backerbsen und tatsächlich wurde ihm bald wieder wesentlich besser.
 

Mit dem Morgen kam auch der Lärm. Das Geräusch vieler Füße und Stimmen riss Lucifer und Olba aus einem sehr kurzen und unruhigen Schlaf. Während Olba sich auf dem Boden nur herumgewälzt hatte, fühlte sich Lucifer recht tatendurstig. Die lange Zeit unter Olbas Fuchtel in Isolation ließen es ihn nun kaum mehr aushalten, endlich wieder aktiv zu werden. Er war sofort hellwach, stand auf und zog sich die Tunika aus. Olba beobachtete es mit Verwunderung.

„Da ist nichts, was du nicht schon kennst.“, murrte Lucifer übellaunig, als er Olbas Blick bemerkte. Nichtsdestotrotz griff er in den schmalen Karton, der auf seinen Büchern lag, und begann sich anzuziehen; Rock, Strümpfe und Schuhe zuletzt. Als Olba das fertige Werk sah, wurden seine Augen noch größer.

„Bist du nicht bei Trost? Ist dir nicht klar, dass...“, begann der Priester, aber Lucifer schnitt ihm das Wort ab, „Du wirst es nicht für möglich halten, aber ja, es ist mir bewusst! Es gab keine andere. Musst ja nicht hingucken.“, meinte er trocken. Anstatt das Tuch um den Hals zu binden, wie es eigentlich gedacht war, fasste Lucifer mit den Händen seine langen Haare am Hinterkopf zusammen und band sie mit dem Tuch fest. Da sie in dem halben Jahr seiner Pflegegefangenschaft enorm gewachsen waren, sah es gar nicht schlecht aus. Den langen Pony, der sonst immer seine rechte Gesichtshälfte verdeckte, strich er ebenfalls auf den Kopf hoch und klemmte ihn mit einer schlichten Spange fest, die er auf dem Boden eines Klassenzimmers aufgelesen hatte. Der Effekt war dramatisch. Mit seinen engelsgleichen Zügen, dem Pferdeschwanz und dem Rock hätte niemand auch nur eine Sekunde lang daran gezweifelt, ein Mädchen vor sich zu sehen, wenn auch ein ziemlich dünnes und unterentwickeltes. Um sich für den Tag zu stärken, nahm der Engel nun doch die Tüte Chips auf, die er vor ein paar Stunden noch verschmäht hatte, riss sie auf und kostete vorsichtig die trockenen, salzigen Opladen. Sein Gehirn explodierte fast vor Geschmack. Das war verdammt nochmal das Beste, das er je gegessen hatte!

„Du bist dir wahrlich für keine Schande zu gut, wie Lucifer? Wie sehr willst du dich noch gegen die Natur versündigen?“, begann Olba geringschätzig zu tadeln. Der Engel beantwortete es mit einer wüsten Geste gegen Olba und klemmte sich zu der Chipstüte noch eines der Bücher unter den Arm.

„>Gegen die Natur versündigen<, sagt der Erzbischof, der seinen Feind zusammenflickt, um die Heldin zu töten! Mensch, Olba.“, gab er zurück und schlurfte zur Tür, „Fass dich mal lieber ans eigene Kleid.“

„Was hast du vor?“, brauste Olba auf, offenbar besorgt darüber, dass Lucifer ihn hier allein lassen und nicht mehr wiederkommen könnte. Eine Hand bereits an der Tür, wandte Lucifer noch einmal den Kopf, wobei der Pferdeschwanz äußerst apart über seine schmale Schulter schwang.

„Denkst du vielleicht, ich hab Bock, hier sinnlos mit dir rumzuhocken. Maou und Emilia werden wohl kaum einfach hier aufschlagen. Sieh lieber zu, dass du dich mal nützlich machst.“, brummte er. Ein fieses Lächeln huschte über seine Lippen bei dem Gedanken, dass er nun gehen konnte, wohin er wollte, und Olba hier wie ein Gefangener festsaß.
 

Wie befürchtet, wimmelte es im Gebäude nun vor Menschen und nicht der blasseste Hauch von Magie war zu spüren. Wie erhofft, fiel Lucifer allerdings tatsächlich kein bisschen auf. Dank seiner schmalen, zierlichen Gestalt ging er problemlos als Schülerin durch und das Buch in seinem Arm bestätigte diesen Eindruck noch. Genüsslich seine Chips knabbernd, führten ihn seine Schritte zunächst ins Sekretariat. Eine ältere, rundliche Frau mit strengem Gesicht und offenbar schon am Morgen mieser Laune, saß hinter dem Empfangstisch am Computer. Lucifer trat schlurfend ein und lümmelte sich mit dem Oberkörper auf den Tresen, bevor er den Mund aufmachte, um zu sprechen. Da fiel ihm auf, dass er zwar jetzt lesen konnte, aber er war sich nicht sicher, ob er die Worte auch richtig aussprechen würde.

„Schüler klopfen an, bevor sie einen Raum betreten!“, motzte ihn die Sekretärin direkt an. Wie diese unwürdige Sterbliche mit ihm sprach, versetzte Lucifer einen gelinden Schock und er verzog wütend die Lippen. Musste er sich so eine Behandlung denn jetzt von jedem gealterten Menschen gefallen lassen, dem er begegnete?! Diese Welt war definitiv fällig, sobald er seine Kräfte irgendwie wiedererlangt hätte. Er würde schon einen Weg finden, das war sicher. Er fand immer einen Weg!

„‘tschuldigung.“, nuschelte er flapsig hervor, ließ den Wortstummel dann aber sofort in ein Räuspern auslaufen. Seine Stimme klang definitiv zu männlich für sein Kostüm. Unter dem Vorwand, nervös und verspielt an seinem Uniformkragen herumzuzupfen, hob er die Hand zum Hals, suchte mit dem Daumen seinen Adamsapfel und drückte ihn in Richtung Kiefer nach oben. Als er nun weitersprach klang seine Stimme deutlich höher, ohne künstlich verstellt zu wirken.

„Ich bin neu. Ich brauche den Schülerausweis.“, versuchte er mit einfachen Sätzen, sich verständlich zu machen. Die Frau hinter dem Tresen sah ihn an, wie eine Kröte die Fliege.

„Den hättest du mindestens einen Monat im Voraus beantragen müssen! Gehst du immer so fahrlässig mit deinen Angelegenheiten um?! Aber angemeldet bist du doch hoffentlich! Name?“, fragte sie offensichtlich genervt, aber Lucifer war darauf vorbereitet. Er hatte schon einige Worte gelernt, die er für geeignet hielt, seinen Namen in dieser Welt zu bilden.

„Mamono Satori.“, gab er an. Die Frau musterte ihn unwillig. Schließlich blieb ihr Blick aber an denn knall-lila Haaren hängen und sie schien zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Eltern dieses Kindes wohl irgendwelche esoterischen Spinner sein mussten. (Satori = Aufklärung, die Zeichen für Satori schreiben sich 佐 = helfen und 鳥 = Vogel; Mamono = Dämon, 魔物) Sie gab den Namen in den Computer ein und wurde sogleich richtig sauer. Den Namen gab es natürlich nicht in den Listen.

„Der Umzug war … spontan.“, versuchte Lucifer zu erklären, doch bevor die Sekretärin in ihrer Litanei, sie könne ohne Unterlagen nicht einfach einen Schülerausweis ausstellen, richtig laut werden konnte, änderte Lucifer seine Strategie. Er versprach, die Unterlagen so bald wie möglich zu bringen, entschuldigte sich und verließ das Zimmer, bevor die Frau auf die Idee kam irgendwelche Vormünder anrufen zu wollen. Auf dem Gang sah er sich wütend um. Er musste diese Schreckschraube irgendwie beschäftigen, um lange genug an ihren Computer zu können, bis er herausgefunden hatte, wie man einen Schülerausweis ausstellte! Während er so mitten im Flur stand und grübelte, kam eine Gruppe junger Männer des Weges, die im Gegensatz zu den anderen Schülern bisher keine Anstalten machten, um Lucifer herumzugehen. Ein ziemlich bulliger Typ, der die Körpersprache des Anführers zur Schau trug, rempelte ihn fast über den Haufen und Lucifer sah genau, dass es Absicht gewesen war. Die Chips und das Buch fielen ihm aus dem Arm.

„Pass doch auf! Tussi.“, pöbelte einer der Beta-Männchen lachend. Der Alpha aber schien Lucifer erst jetzt richtig zu sehen. Er kam zurück, bückte sich und hob das Buch auf. Er schien Mühe zu haben, den Einband zu lesen.

„>Die jüngere Geschichte Japans<. Du interessierst dich für Geschichte?“, fragte er unerwartet freundlich und reichte Lucifer das Buch zurück. Der nahm es mit zornigem Funkeln in den Augen wieder an sich.

„Tut mir wirklich leid. Ich hatte dich im ersten Moment für einen Jungen gehalten, weil ...“, seine Hand vollführte eine zweifellos eher unbewusste Geste, die Lucifers Brust umkreiste. Als er es bemerkte, verbannte er die unglückliche Hand sofort in seinen Nacken und grinste entschuldigend.

„Ist ja nicht schlimm, ich meine, kann ja passieren.“, brabbelte er heillos durcheinander. Lucifer ließ ihn stehen und ging einfach weg. Waren alle Menschen derart Gehirn amputiert, oder nur diese spezielle Sorte?! Das Schlimmste war, dass er sich nicht wehren konnte. Ohne Magie war er den meisten seiner bisher erschienenen Gegner in einem physischen Kampf gnadenlos unterlegen. Er musste hier wesentlich hinterfotziger arbeiten als auf Ente Isla. Da fiel sein Blick auf ein rotes Rechteck mit einem schwarzen Punkt in der Mitte hinter Glas und der Aufschrift >Im Falle eines Feuers Scheibe einschlagen und Knopf tief drücken<. Ein teuflisches Lächeln breitete sich über sein engelhaftes Gesicht.
 

Es dauerte nur Minuten, dann war das Gebäude unter dem lauten Schrillen der Sirene geräumt. Lucifer verschaffte sich mit dem Lesezeichen in seinem Buch erneut Zutritt zum Sekretariat. Der Computer war noch an und die Frau hatte ihre ganzen Sachen da gelassen. Lucifer durchstöberte ihre Tasche und ihre Jacke und steckte sich einiges von ihren Habseligkeiten ein, darunter der Geldbeutel, eine kleine Parfumprobe und eine Packung Nikotin-Kaugummis, von denen er sich gleich eines in den Mund schob. Der Nikotinschub schoss ihm direkt ins Gehirn und förderte seine Konzentration bei der vor ihm liegenden Aufgabe, weil es sein aufgeregtes Herz beruhigte. Er fand schnell heraus, wie er Maus und Tastatur handhaben musste, denn er hatte es ja bei der Sekretärin bereits beobachtet. Das Programm, welches die Schülerausweise generierte, lag direkt auf dem Desktop. Er klickte darauf und nach einigen vergeblichen Versuchen öffnete es sich nach einem ungeduldigen Doppelklick. Dann trug er allerhand erfundene Daten in die Felder ein, machte mit der kleinen Kamera, die oben auf dem Bildschirmrand klemmte, ein Foto von sich, auf dem man praktisch nichts als seine Haare sah, und drückte auf >ausdrucken<. Während die Maschine arbeitete, steckte er seinen Pony mit der Spange wieder auf seinem Kopf fest. Vor dem Fenster erschollen plötzlich weitere Sirenen. Lucifer lehnte sich zurück, um hinauszusehen. Ein großes rotes Auto mit der Aufschrift >Feuerwehr< hielt mitten auf dem Schulhof.

„Oh shit!“, murmelte Lucifer zu sich selbst und warf einen fordernden Blick auf den Ausweisdrucker. Wieso dauerte denn das so lange? War das Ding etwa kaputt? Waren all seine Bemühungen umsonst? Sollte er vielleicht versuchen noch einmal Magie zu wirken, um die Sache zu beschleunigen? Während er noch aufgeregt nachdachte, sprang neben einem kleinen gelben Licht an der Maschine ein ebenso kleines grünes Licht an und ein nigelnagelneuer Schülerausweis fuhr mit leisem Surren aus dem Ausgabeschlitz.

„Endlich mal!“, murrte Lucifer die Maschine an und entriss ihr das Kleinod. Den Kaugummi spuckte er sich in die Hand und klebte ihn unter die Tischplatte, auf welcher der Computer stand. Dann schlüpfte er aus dem Sekretariat und stahl sich durch die Gänge, immer penibel darauf achtend, nicht versehentlich einem Feuerwehrmann in die Arme zu lau-

„Hey, Kleine! Was machst du noch hier drin?“, rief eine Stimme keine zwei Meter hinter ihm. Sein erster Impuls war, sich umzudrehen und den Gegner mit Magie zu fixieren, bis er herausgefunden hätte, wer das war. Er drehte sich um, kam dann aber zu dem Ergebnis, dass Weglaufen die bessere Alternative gewesen wäre. Schon war der Uniformierte bei ihm und packte ihn am Arm. Lucifer hob die Finger zum Hals und gab vor, verlegen den Kragen seiner Bluse zuhalten zu wollen, befleißigte sich aber in Wirklichkeit erneut seines Tricks für eine höhere Stimmlage.

„Es tut mir Leid, ich suche ...“, er überlegte fieberhaft, was ein Menschenmädchen sagen würde. Aber woher sollte er das wissen?

„Hast du jemanden gesucht? Eine Freundin vielleicht?“, fragte der Feuerwehrmann hilfsbereit und beugte sich zu Lucifer hinunter. In dessen Augen konnte der Engel das Spiegelbild seines eigenen Gesichts erkennen. Es war einfach zum Kotzen hübsch! Genau deshalb trug er die Haare immer über dem Gesicht! Aber der Ausdruck darauf ließ momentan keinen Zweifel daran, dass er ein verirrtes und verängstigtes Mädchen war. Insofern musste er sich wohl selbst zu einem weiteren gelungenen Schauspiel gratulieren.

„Genau...“, stammelte er und hoffte, dass er nicht nach einem Namen gefragt würde.

„Man hat mir versichert, dass alle Klassen vollzählig im Schulhof angetreten seien. Seltsam, dass dich niemand vermisst hat. Bestimmt ist deine Freundin draußen.“, tröstete der freundliche Uniformierte und Lucifer überkam das unbändige Verlangen, dieser Grinsebacke gezielt das Herz aus der Brust zu ballern, wenn er nicht sofort seinem Arm losließe.

„Dann gehe ich lieber auch nach draußen.“, meinte er und versuchte sich loszureißen. Der Mann ließ ihn los.

„Aber schnurstracks, hörst du?!“, ermahnte er den Engel liebenswert. Lucifer sah in Gedanken den Kopf des Uniformierten sauber von seinen Schultern gleiten und das Blut aus dem offenen Hals in Fontänen empor spritzen. Er drehte sich um und rannte in Richtung der Treppen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu den anderen auf den Schulhof zu stellen. Zu seiner maßlosen Überraschung, stand Olba auf dem Hof mit der Sekretärin und einem kleinen Mann mit Halbglatze und Brille zusammen. Ungläubig schlich er, verdeckt durch die Reihen der Schüler, näher, um zu lauschen.

„...einfach furchtbar. So etwas kommt hier praktisch nie vor. Ich bin sicher, es war nur ein dummer Jungenstreich, aber normalerweise sind die Schüler hier sehr brav. Ich verstehe das nicht. Und dann gerade an Ihrem ersten Arbeitstag, bitte verzeihen Sie das, Herr Meyer.“, flötete der Kleine mit Halbglatze. Er sah zu Olba auf, der sein heuchlerisches Lächeln aufgesetzt hatte und in einwandfreiem Japanisch antwortete.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde dieses Haus schon meistern, egal wie brav oder dreist Ihre Schäfchen sind.“ Aus irgendeinem Grund schienen die zwei Schulangestellten seine Aussage irrekomisch zu finden. Endlich entschuldigten sich die beiden und ließen Olba alleine auf dem Hof zurück. Lucifer trat hinter ihn.

„Ey!“

Olba drehte sich mit tief gerunzelter Stirn um. Als er ihn aber erkannte, konnte er sich offensichtlich nur schwer das Lachen verkneifen. Den Crossdresserschock vom Morgen hatte er offenbar überwunden. Er selbst trug nach wie vor seine Robe.

„Halt dein dummes Maul und sag mir lieber, was du hier treibst!“, verlangte der Engel, noch bevor Olba auch nur den Mund aufmachen konnte, um etwas zu sagen.

„Nicht so laut, du Satansbraten! Hier sind überall Menschen!“, zischte Olba ihn an und hörte auf zu lachen. Lucifer taxierte ihn mit unverhohlenem Zorn. Er hatte sich an der Vorstellung ergötzt, den Spieß umgedreht zu haben und nun seinerseits Olba in Isolation zurückzulassen. Aber da stand er, frech wie Lumpi, und quatschte mit den Menschen, als gehöre er dazu.

„Also?!“, verlangte er mit Nachdruck zu wissen, wenn auch leiser als zuvor.

„Ich habe für mich ebenfalls eine geeignete Tarnung gefunden. Ohne mich derart zu entwürdigen!“, behauptete er von oben herab.

„Ach ja?“, zischte Lucifer giftig.

„Oh ja. Ich bin zu diesem >Direktor< gegangen und habe mich um die Stelle eines Lehrers beworben.“

„D-du bist Lehrer?! Einfach so?“, fuhr Lucifer dermaßen aus der Haut, dass Olba ihn zur Seite zerrte und im Schatten gegen die Hauswand drängte, um sie beide ein wenig aus der Sicht der Umstehenden zu nehmen. Eine Gruppe Mädchen warf ihnen alarmierte Blicke zu. Für sie sah es schließlich so aus, als zerre ein älterer Mann ein junges Mädchen vom Schulhof weg und in eine dunkle Ecke.

„Sei doch endlich leiser! Nein, bin ich nicht. Ein Lehrerposten war nicht frei. Außerdem hätten sie dafür irgendwelche laufenden Lebenspapiere sehen wollen. Aber eine andere Stelle war frei, die das nicht erforderte. Sie haben mir das Amt des Meisters über dieses Haus übertragen. Man wird mir ohne Widerrede alle Schlüssel aushändigen und ich werde befugt sein, mich Tag und Nacht im Gebäude aufzuhalten.“, erklärte er hochmütig. In Lucifers Gehirn dämmerte etwas. Ihm fiel eine Information ein, die er in der Schulbroschüre gelesen hatte. Und nun war es an ihm, herzhaft zu lachen. Olba verzog sein faltiges Gesicht. In der Tat sah er aus, als ob er Lucifer am liebsten geschlagen hätte. Stattdessen zischte er ihn nur an, gefälligst mit dieser Albernheit aufzuhören.

„Du, haha, du, hahahaha, du bist Hausmeister!“, keckerte er und hielt sich vornüber gebeugt den Bauch vor Lachen.

„Das habe ich doch eben gesagt.“, entgegnete Olba verständnislos. Lucifer wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel und rang um Atem. Er beschloss, Olba alleine herausfinden zu lassen, was genau seine Aufgaben in diesem Beruf waren. Das würde viel lustiger werden, als ihm jetzt seine Illusion des gehobenen Herrscheramtes zu zerstören.

„Gratuliere. Und wie hast du den Lappen erklärt?“, wollte er schließlich wissen, als er wieder atmen konnte und zeigte auf Olbas Robe. Olba rümpfte erneut die Nase. Lucifer mochte nützlich sein, aber er konnte ihn einfach nicht ausstehen.

„Ich sagte, ich sei der Erzbischof eines Ordens der Kirche aus einer anderen Welt und wolle hier Erfahrungen sammeln.“, erzählte er. Der Engel sah ihn mit schief gelegtem Kopf skeptisch an.

„Und das haben sie geschluckt?“

„Ja. Sie meinten, wandernde Mönche, die ein Jahr in einem weltlichen Beruf verbringen müssten, um ihren Glauben zu stärken, seien hier nicht unüblich.“

„Diese Welt wird immer kurioser.“

„Und was hast du den ganzen Vormittag gemacht? Außer diese Alarmsituation auszulösen. Das warst doch du, oder etwa nicht?“ Lucifer zuckte die Schultern und antwortete nicht darauf. Stattdessen zeigte er Olba seinen neuen Schülerausweis.

„Nun gut, damit wären wir dann wohl beide erfolgreich getarnt.“, hielt Olba fest, „Wie gedenkst du jetzt, unsere Ziele ausfindig zu machen?“

„Wieso ich?“, gab Lucifer zurück.

„Weil du mein angeheuerter Attentäter bist!“, erinnerte Olba und ahnte schon, dass Lucifer sich vor der komplizierten Arbeit drücken wollte.

„Du bist der Auftraggeber, ich bin das Werkzeug. Zeig mir, wen ich abmurksen soll und ich tue es. Wenn du dein Ziel verlierst, ist das nicht mein Problem.“, grollte Lucifer zurück.

„Unser Ziel, du fauler Schmarotzer! Oder willst du vielleicht hier sesshaft zu werden?“

Olba und Lucifer starrten sich hasserfüllt in die Augen.

„Du wirst bald darum betteln, nach Ente Isla zurückkehren zu können, du Meister des Hauses! Ich dagegen werde hier fabelhaft zurechtkommen, ohne mich für irgendwelche Menschen krumm zu arbeiten, auch für dich nicht!“, zischte Lucifer schließlich gefährlich leise. Dann wandte er sich mit fliegendem Rock und Pferdeschwanz um und verschwand, wie selbstverständlich, zwischen den anderen Schülern.

Menschen - Ein Engel im Fadenkreuz

Nach all dem Ärger fühlte Lucifer sich seltsam unwohl. Einen irren Moment lag, fürchtete er, unter einem schlechten Gewissen zu leiden, aber dann wurde ihm klar, dass er schlichtweg Hunger hatte. Dieses neue Gefühl, das ihn nun ständig überkam, beunruhigte ihn. Andererseits verspürte er auch keine geringe Neugier auf die verschiedenen Möglichkeiten, diesen Hunger zu stillen. Chips gefielen ihm bereits sehr und auch das Nikotin-Kaugummi hatte einen interessanten Effekt gehabt, schmeckte allerdings scheußlich. Nun wollte er wissen, was es in der Mensa zu entdecken geben würde. Dummerweise war nicht er derjenige gewesen, der die Mensa gestern entdeckt hatte, sondern Olba. Hinzu kam, dass es erst zur Mittagspause dort Essen gab. Als die Schüler wieder ins Gebäude durften verschwanden sie alle direkt in ihren Klassenzimmern, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als selbst danach zu suchen. Schon nach kurzer Zeit merkte er, dass seine Beine müde wurden. Sein schlurfender Gang rührte nicht von Trägheit her, sondern von der schieren Gewohnheit überall hin zu fliegen oder magisch zu schweben. Auf Ente Isla lief er so gut wie nie! Lucifers Laune sank immer weiter dem Nullpunkt entgegen, je häufiger ihn der Schmerz in seinen Beinen daran erinnerte, dass dieses Menschendasein unter seiner Würde war!

Doch schließlich fand er die Mensa! Dort musste er aber erst einmal die Pause abwarten bis es Essen gab. Also setzte er sich und begann das Buch zu lesen, das er schon den ganzen Morgen mit sich herumschleppte, jenes über die jüngere Geschichte Japans. Lucifer erhoffte sich, daraus zu erfahren, auf welchem Level des Fortschritts diese Menschheit war und welche Gesetzgebung hier die Ordnung aufrecht erhielt. Er hatte nämlich keine Lust, schon wieder in einem Kerker zu landen.

Während er Satz für Satz mit seinen brüchigen Kenntnissen entzifferte, setzte sich plötzlich jemand neben ihn. Es war ein jugendlicher Halbstarker von vielleicht 16 Jahren, einen Kopf größer als Lucifer und seinem Körperbau nach zu Urteilen betrieb er irgendeine Art Sport, womöglich Leichtathletik. Um das festzustellen, musste Lucifer nur einen kurzen Seitenblick riskieren. Er las weiter und ignorierte den Menschen.
 

„Bist du neu hier? Ich habe dich an der Schule noch nie gesehen.“, fing der Junge an zu reden. Lucifer runzelte die Stirn. Was wagte es dieser Mensch eigentlich, ihn anzusprechen? Hatte er vielleicht Todessehnsucht? Na, den Wunsch konnte er dem Knaben doch erfüllen - Ach Scheiße!, dachte Lucifer, als ihm einfiel, dass er sich hier ja gerade als Mensch tarnte und außerdem sorgsam auf seine Magiereserven achten musste. Der Junge schien sein Schweigen als Anlass zu nehmen, um weiter zu plappern: „Ich bin Katō Kainyū aus der 2B und du?“

Lucifer öffnete den Mund, um dem Typen zu sagen, dass er sich verpissen sollte, da rutschte jener plötzlich ziemlich nah an ihn heran. Dem Engel sträubten sich die Nackenhaare. Viel zu nah! Wieso mussten ihn hier eigentlich alle anfassen und bedrängen?! Katō lieferte ihm die Antwort, als hätte er seine Gedanken gelesen.

„Du solltest hier nicht so alleine rumsitzen, weißt du? Manche Jungs sind ziemlich scharf hinter den Mädchen her. Vor allem hinter den Hübschen. Ich kann dich beschützen, wenn du willst.“

Das war es also. Der Rock lud offenbar zur Freiwildjagd auf ihn ein. Jetzt sah Lucifer den Knaben zum ersten Mal richtig an und was er sah, bestätigte ihm seine schlimmsten Befürchtungen. Der Kerl hielt ihn wirklich für ein Mädchen und er hatte sich in dieses vermeintliche Mädchen offenbar verguckt. Auch das noch! Lucifer seufzte innerlich. Glücklicherweise würde ja ein Wort von ihm genügen, um diesen Vollpfosten eines besseren zu belehren. Oh Mist! Während dieser Überlegung war sein Blick durch den Raum geglitten. So langsam füllte sich die Mensa mit Schülern und er wäre sofort der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wenn er sich jetzt durch seine Stimme als Junge entlarvte. Also rückte er vorerst nur wortlos von Katō ab. Der Junge interpretierte Lucifers Verhalten – wahrscheinlich absichtlich – völlig falsch.

„Du brauchst nicht schüchtern zu sein. Falls dir irgendwer auf die Pelle rückt, musst du nur sagen, dass du mit mir befreundet bist. Dann lassen die dich sofort in Ruhe. Kannst dich drauf verlassen. Ich bin der Leiter des Judo Klubs. Vor mir haben alle Respekt.“, er rückte das Stück, das Lucifer von ihm abgerückt war, wieder zu ihm auf, was Lucifers unangenehmer Gänsehaut eine Neuauflage bescherte. DU rückst mir zu nah auf die Pelle!, hätte er dem anderen gern ins Gesicht gespuckt, um ihn dann aus drei Kilometern Höhe auf die Erde fallen zu lassen.

„Verrate mir deinen Namen, hm.“, bat Katō mit treudoofem Welpenblick.
 

Lucifer stand auf. Er wollte sein Buch vom Tisch nehmen und verschwinden, aber Katō hatte es mit flinkem Griff geschnappt und an sich genommen. Lucifer zog wütend die Nase kraus und hielt Katō die offene Hand hin, um es zurückzufordern.

„Du kriegst es, wenn ich dafür deinen Namen bekomme.“, grinste er verschlagen. Das war der Punkt, an dem Lucifer keinen anderen Ausweg mehr sah, als diesem Menschen mit einem magischen Projektil das Gesicht wegzuschießen. Die Hand, die er nicht nach vorne ausgestreckt hatte, begann violett zu leuchten. Doch er hielt inne, als eine bullige Gestalt plötzlich aus dem hereinkommenden Schülerstrom trat, über Katōs Schulter griff und ihm das Buch wegnahm.

„Bist du schon wieder am Mädchen belästigen, Katō? Ich hab dir schon mal gesagt, du wilderst in meinem Revier! Mach die Fliege, bevor es klatscht.“

Es war der derselbe bullige Kerl mit der Körpersprache des Anführers, der Lucifer am Morgen auf dem Flur angerempelt hatte. Im ersten Moment verstand der Engel nicht, was das sollte. Waren die beiden so was wie Erzfeinde? Und was sollte „es klatscht“ bedeuten? Revierkämpfe verstand er allerdings und freute sich schon fast darauf, dass es gleich mindestens zu einer Messerstecherei kommen würde. Katō stand auf, die Ohren heiß vor Zorn.

„Und ich habe dir gesagt, du sollst dich nicht so aufspielen! Zeig gefälligst den nötigen Respekt vor dem Leiter des Judo Klubs!“

„Dein Klub ist gerade mal drei Monate alt und besteht aus dir und deiner Schwester!“, behauptete der Bullige und lachte. Seine Beta-Männchen hatten inzwischen zu ihm aufgeschlossen und unterstützen ihn mit zustimmender Heiterkeit.

„Das ist nicht wahr, Nakamura, das weißt du genau! Hör auf, das ständig zu behaupten!“

„Oder was? Meinst du deine kleinen Judokniffe hauen einen Kerl wie mich von den Füßen?“, höhnte der Bullige und stieß Katō die Hand vor die Brust. Jetzt war Katō richtig sauer. Er sah aus, als würde er gleich zum Angriff übergehen. Nakamura schien es ebenfalls zu bemerken und ließ Lucifers Buch auf den Tisch fallen, um die Hände frei zu haben.

„Du Großmaul! Dein peinliches Wrestling schafft es an dieser Schule nicht mal zu einer Kluberlaubnis! Das ist doch alles nur Fake! Beim Judo geht es um Technik, nicht darum Muskeln zur Schau zu tragen!“, bellte Katō. Dann nahm er die Arme an den Körper und trat Nakamura hart gegen die Hüfte. Der hatte das aber offenbar kommen sehen, denn er stand wie ein Fels. Stattdessen griff er jetzt nach vorne, packte Katō am Revers seiner Schuluniform, stemmte ihn hoch und warf ihn rücklings auf den Tisch, an welchem jener zuvor noch Lucifer auf die Pelle gerückt war.
 

Der Engel lächelte vergnügt. Allmählich gefiel ihm die Schule. Tatsächlich konnten diese Menschen ja doch ganz unterhaltsam sein, stellte er amüsiert fest. Er wartete auf den finalen Schlag. Aber Nakamura gab Katō nur einen Stoß, sodass jener auf der anderen Seite des Tisches kopfüber hinunter fiel, sich überschlug und auf den Knien zu liegen kam.

„So ist recht, Katō. Bitte auf Knien um Verzeihung, wie es sich gehört. Erkenne meine Überlegenheit an.“, höhnte der Junge namens Zonnō und späte dabei über die Tischplatte hinweg nach seinem Gegner. Katō stand bebend vor Zorn und hochrot im Gesicht vor Scham auf.

„Einen Scheiß werd‘ ich! Eher fliegst du von der Schule, dafür werde ich schon sorgen!“, drohte er.

„Grüß‘ deine Schwester von mir, Katō. Judo ist vielleicht kein richtiger Sport für Männer, aber sie hat dadurch einen richtig heißen Body.“, setzte Zonnō noch einen oben drauf. Katō stürzte mit geballten Fäusten vor, holte im Laufen schon aus und setzte gerade zum Sprung auf die Tischplatte an, als er von ein paar anderen Jungs zurückgehalten wurde.

„Komm schon, Katō. Der ist es nicht wert.“

„Ihr habt doch schon wegen der letzten Prügelei eine Verwarnung bekommen. Willst du wegen dem einen Schulverweis?“

Katō schäumte vor Wut, aber er beruhigte sich mühsam. Nakamura blickte ihn weiterhin stur von oben herab an.

„Hör lieber auf deine Freunde.“, meinte er hämisch und sah zu, wie Katō von den anderen aus der Mensa begleitet wurde.
 

Die Aufregung im Saal legte sich daraufhin verblüffend schnell. Nakamuras Beta-Männchen klopften ihm anerkennend auf die Schultern und huldigten ihrem Anführer, der selbst ziemlich zufrieden mit sich schien. Der normale Betrieb setzte wieder ein.

Nur Lucifer war enttäuscht. Was war denn das bitte für ein Kampf gewesen? Provokationen und ein bisschen Herumgeschubse, mehr nicht? Da kämpften ja junge Ziegenböcke ernsthafter miteinander. Und wegen so etwas gab es an dieser Schule schon Sanktionen? Was für eine verweichlichte, lasche Welt musste das sein? Ein unheimliches Heimweh nach Ente Isla überkam ihn und er sehnte sich plötzlich nach dem Anblick panisch schreiender Menschenmassen, die von seinem Heer niedergemetzelt wurden.

„Ich hoffe, das hat dich jetzt nicht zu sehr erschreckt.“, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken, „Dieser Katō bettelt einfach um seine wöchentliche Abreibung, den musst du gar nicht beachten.“

Lucifer sah an Nakamura hoch, der jetzt vor ihm stand und ihm sein Buch hin hielt, genau wie er es am Morgen schon auf dem Flur getan hatte. Seine freie Hand war auch schon wieder in seinem Nacken und er grinste auf Lucifer hinunter.

„Sind wir jetzt bitte quitt wegen heute Morgen.“, meinte er freundlich. Es war dieselbe Freundlichkeit, die auch der uniformierte Feuerwehrmann an den Tag gelegt hatte. Eine bevormundende, schmierige Freundlichkeit. So sprachen auch die Engel mit den Menschen. Sie wussten, dass sie stärker und klüger waren und betrachteten ihr Gegenüber als unmündig, fühlten sich selbst aber ganz besonders toll, weil sie sich dazu herabließen, sich um sie zu kümmern. Lucifers Miene nahm einen wächsernen Ausdruck an. Er nahm das Buch und machte genau wie am Morgen auf dem Absatz kehrt.

„Och, komm schon, wie kann man nur so nachtragend sein?“, rief Nakamura Lucifer hinterher. Aber der Engel zeigte ihm nur stumm den Mittelfinger und ignorierte ihn ansonsten.
 

Die Theke war inzwischen mit Essen bestückt und geöffnet. Er klemmte sich das Buch unter den Arm, nahm sich, wie die anderen, ein Tablett und sammelte alles ein, das ihm irgendwie ansprechend erschien. Vor allem bunte Sachen weckten sein Interesse. Er war mitten im schönsten Aussuchen, da trat ihm jemand unvermittelt auf den Fuß. Es tat nicht sehr weh, brachte Lucifer aber dazu aufzusehen, weil er so nicht weitergehen konnte. Ein Mädchen mit Bobfrisur starrte ihm direkt ins Gesicht. Dann glitt ihr Blick an ihm hinunter und ruhte einen Moment lang auf seiner Brust, bevor sie verächtlich schnaubte.

„Du unterernährte Flachland-Bitch!“, zischte sie ihn so leise an, dass nur er sie verstand. Lucifers Augenbrauen schossen überrascht in die Höhe. Was wollte die denn jetzt? Aber sie sagte es ihm schon im nächsten Augenblick:

„Du hast nicht die geringste Chance bei ihm, also lass es bleiben! Nakamura Shinsuke ist MEIN Freund. Ich bin schon seit zwei Jahren in ihn verliebt und räume jede aus dem Weg, die es wagt ihm schöne Augen zu machen.“

Lucifers Überraschung fiel zu akutem Desinteresse ab. Mit so einem Kinderkram brauche er sich nun wirklich nicht zu beschäftigen. Stattdessen wandte er sich wieder der Essensauslage zu. Da stach ihn plötzlich etwas schmerzhaft in die Seite. Sein Kopf ruckte wieder herum und er erkannte, dass das Mädchen ihm allen Ernstes die Spitze einer langen Schere zwischen die Rippen drückte. Allerdings tat sie das im Schutz der Menschenschlange vor der Theke so geschickt, dass es niemand sonst mitbekam.

„Halt dich von ihm fern, oder es geht dir schlecht, verstanden!“, zischte sie drohend. Lucifer konnte in dem Gedränge nicht ausweichen und sich mit dem Tablett in Händen auch nicht zur Wehr setzen. Er starrte die Verrückte nur an, bis sie die Schere aus seiner Seite nahm und wie ein Ninja in der Schülermenge verschwand. Was zum Roten Mond war das denn gerade?!, fragte er sich verblüfft.
 

Dieses Erlebnis hatte seiner Vorfreude aufs Essen einen leichten Dämpfer verpasst. Missgelaunt ließ er sich in der Reihe weiterschieben, unwissend, dass er gleich dem nächsten Problem gegenüber stehen würde. Er gelangte an eine Art Grenzposten, wo die Schüler vor ihm alle brav ihre Schülerausweise vorzeigten, bevor sie mit ihren Tabletts zu den Tischen gingen. Also machte er es ihnen nach und gab der Dame seinen Ausweis. Sie zog ihn durch ein Lesegerät und runzelte die Stirn.

„Da ist kein Geld drauf.“, meinte sie mit einer Miene, als wäre Lucifer das unnötigste Ärgernis, das ihr heute begegnet sei. Lucifer sah sie verständnislos an und wartetet darauf, seinen Ausweis zurückzubekommen. Sie gab ihm den Ausweis auch, nahm ihm dafür aber sein Tablett weg. Er griff danach und versuchte es wieder an sich zu bringen, da schlug ihm die Frau grob auf die Finger.

„Keine Ahnung, wo du her kommst, Prinzessin, aber hier bezahlen wir für‘s Essen! Kein Geld auf der Karte, kein Essen, klar!“, erklärte sie, „Und jetzt Abmarsch, du hältst den Betrieb auf.“

Lucifer standen vor Wut und Hunger Tränen in den Augen. Die Hand an seiner Seite glühte bereits wieder verdächtig violett. Niemand durfte es wagen ihm sein Essen wegzunehmen, ganz besonders nicht so ein mickriger, schwachsinniger Mensch! Er hatte die Schnauze voll von all diesen Idioten! Ein Wink von ihm und keiner würde mehr lebend aus den Trümmern dieser verkackten Schule kriechen! Da wurde der Grenzwächterin plötzlich eine andere Karte gereicht.

„Buchen Sie es von meiner Karte ab.“, sagte eine nur allzu bekannte Stimme und Lucifer rutschte das Herz in den Rock. Seine Hand hörte auf zu leuchten. Nakamura lächelte ihn freundlich an. Die Frau am Grenzposten verdrehte die Augen und stieß Lucifer unsanft sein Tablett vor die Brust.

„Na du musst es ja dicke haben.“, meinte die Alte schnoddrig zu dem Jungen, nahm Nakamuras Ausweis und zog ihn durch das Lesegerät. Dann durften sie gehen.

Lucifer fühlte sich leicht überfordert. Seine Seite tat von dem Angriff mit der Schere immer noch ein bisschen weh, auch wenn er das Mädchen nicht sonderlich ernst nahm. Außerdem fragte er sich, was schief gelaufen war. Er hatte es doch genauso gemacht wie alle anderen. Offenbar war der Ausweis ein Datenträger, auf den man Währung aufspielen konnte. Wenn man sich dann etwas zu Essen holte, wurde der Wert der Nahrung von der Karte abgezogen. So viel hatte er sich zusammenreimen können. Aber wie bekam er die Währung auf den Ausweis. Hatte er das beim Erstellen des Ausweises etwa übersehen. Am meisten verwirrte ihn allerdings die Hartnäckigkeit dieses Jungen. Mussten seine Pheromonrezeptoren nicht zumindest unterbewusst registrieren, dass er kein Mädchen und daher für die Fortpflanzung mit ihm ungeeignet war?
 

Tatsächlich folgte Nakamura ihm zu einem Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Lucifer fügte sich resignierend in sein Schicksal und begann einfach zu essen. Die Nahrung entschädigte ihn fast für alles, was an diesem Tag schon passiert war. Seine ungeübten Geschmacksknospen suhlten und überschlugen sich in reinster Wonne. Er hatte keine Ahnung, was er da aß. Alles war neu. Aber es war interessant und aufregend! Ein teuflisches Grinsen erhellte zunehmend sein Gesicht und er vergaß Nakamuras Anwesenheit, der ihm einfach nur beim Essen zusah, bis Lucifer fast fertig war.

„Du bist wirklich ganz neu, oder?“, bemerkte er freundlich, „Kommst du aus dem Ausland?“

Lucifer sah ihn aus den Augenwinkeln heraus an, während er an einem Melonenbrötchen kaute und nickte dann.

„Ich weiß wie das ist. Meine Mutter ist zwar Japanerin, aber sie hat meinen Vater in Amerika kennengelernt. Als ich sieben war, ist mein Vater mit ner anderen abgehauen und Mom ist mit mir nach Japan gezogen. Darum kenne ich mich hier schon ganz gut aus. Ich zeige dir nachher, wo du deinen Ausweis aufladen kannst. Ist ganz einfach.“, bot der Junge an und packte dann eine seltsame kleine Box aus, in der sich, wie sich herausstellte, ebenfalls wunderschön angerichtetes Essen befand. Er nahm zwei Stäbchen zur Hand und begann zu essen. Lucifer sah ihm interessiert dabei zu. Dafür waren diese komischen Stäbe also da. Er hatte sich an der Theke welche mitgenommen, weil alle anderen das auch taten, aber bisher nichts mit ihnen anzufangen gewusst. Damit würde es natürlich weitaus weniger unangenehm werden, einige der fischigeren Dinge auf seinem Tablett zum Mund zu führen. Lucifer nahm die Stäbchen von seinem Tablett und versuchte sie so zu halten, wie Nakamura. Es gelang ihm mit einigen Umständen, aber er bekam den Dreh recht schnell raus. Nakamura sah ihm schmunzelnd dabei zu. Der Engel begriff, dass Nakamura der perfekte Emulgator war, um ihn in diese Schule zu integrieren. Offensichtlich gab es Regeln hier, die er sich nicht anlesen konnte. Dieser bullige Typ dagegen kannte sich aus. Er konnte gleichzeitig Fremdenführer, Handlanger und Bodyguard für Lucifer sein. Außerdem würde er freiwillig und aus eigenem Antrieb jeden anderen Typen davon abhalten, Lucifer auf die Pelle zu rücken, genau so wie er es mit Katō getan hatte. In schierer Vorfreude auf ein paar bevorstehende Kämpfe um seine Ehre musste Lucifer fast lachen. Außerdem erfüllte ihn die Vorstellung, diese dumme, kleine Scherennärrin damit so richtig auf die Palme zu bringen, mit teuflischer Genugtuung.
 

„Weißt du, ich frage mich schon die ganze Zeit, ob du nicht reden willst, oder ob du‘s nicht kannst. Sprichst du nur kein Japanisch, oder bist du vielleicht stumm oder so was?“, fragte der Wrestler plötzlich. Damit lieferte er Lucifer unwissentlich die perfekte Ausrede, nicht mit dem Blödmann reden zu müssen. Lucifer schob sich das letztes Stück Brötchen in den Mund, wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und strich erst einmal seinen Rock glatt, um in die Rolle zu finden, die er nun zu spielen gedachte. Dann schenkte er seinem Retter einen freundlichen Augenaufschlag, lächelte schüchtern und nickte. Mit gezierten Bewegungen holte er seinen Schülerausweis hervor, legte ihn behutsam vor Nakamura auf den Tisch und deutete mit dem Finger auf seinen Namen. Der Junge las und verzog ein wenig das Gesicht.

„Mamono Satori? Versteh‘ das jetzt nicht falsch, aber ich finde, der Name passt überhaupt nicht zu dir.“, meinte Nakamura unglücklich. Lucifer ließ seinen hübschen Kopf fragend zur Seite kippen, wodurch sein langer Pferdeschwanz geschmeidig wippte.

„Also, ich meine, Satori, so im Sinne von >die Erleuchtung bringen< und so, das ist schon ganz hübsch … aber wenn ich dir einen Namen geben dürfte, ...“, er sah Lucifer an, als hätte er sich fast verplappert. Lucifer vollführte eine aufmunternde Geste und versuchte, interessiert auszusehen. Nakamura atmete erleichtert aus und fuhr fort.

„Also, um ehrlich zu sein, habe ich seit unserer Begegnung heute Morgen darüber nachgedacht, weil du mir deinen Namen nicht sagen, äh, zeigen wolltest. Wenn ich dir einen Namen geben dürfte, dann würde ich dich Amatsuotome nennen.“ Er lief leicht rosa an. Das Wort war Lucifer unbekannt, aber es sollte wohl etwas schmeichelhaftes sein. Als er nicht reagierte, erklärte Nakamura, indem er noch rosaner anlief: „Das bedeutet Engel oder himmlisches Mädchen.“, gab er leise zu. Lucifer tat sich Gewalt an, um weder zu lachen, noch die Augen zu verdrehen. Glücklicherweise war Nakamura zu sehr damit beschäftigt, ein nervöser und verliebter Teenager zu sein, als dass er ihn ansehen konnte.

„Darf… darf ich dich vielleicht … so nennen?“, fragte er kleinlaut und es war wirklich ulkig zu sehen, wie der bullige Typ, der sich von einer knappen halben Stunde noch mit dem Leiter des Judo Klubs geschlagen hatte, jetzt verlegen wie ein Kind auf seinem Stuhl herum rutschte. Lucifer konnte seine Schultern gerade noch davon abhalten, als Antwort desinteressiert zu zucken. Stattdessen streckte er die Hand aus, berührte Nakamura leicht, sodass er ihn ansah, und nickte lächelnd. Der große Depp freute sich, als habe man ihm gerade erklärt, dass Weihnachten auf Ostern fiele und er deshalb ein Königreich geschenkt bekäme. Der Engel redete sich indessen tapfer ein, dass er diese Farce nur ein paar Tage mitmachen müsse, bis er sich vollends hier auskannte. Außerdem tröstete er sich mit der bestehenden Chance, dass seine Beziehung zu diesem großen Kind die Scherenstecherin vor Liebeskummer vielleicht in den Selbstmord trieb, wenn er es geschickt anstellte. Er würde sich schon einen Spaß daraus machen, der sicher eine Weile gegen die Langeweile helfen konnte. Dergestalt in Gedanken versunken, war das heitere Lächeln auf seinem Gesicht nun nicht einmal gespielt.
 

Nakamura zeigte ihm, wo er das Tablett aufräumen musste, wodurch er es de facto für ihn erledigte. Anschließend führte er ihn zu dem Automaten, an dem er Geld auf seinen Ausweis laden konnte. Der Wrestler machte es ihm einmal mit dem eigenen Ausweis vor und trat dann zurück. Lucifer hatte praktischerweise immer noch den gestohlenen Geldbeutel der Sekretärin dabei. Er steckte also seinen Ausweis in den einen Schlitz und kramte dann die Bankkarte der Sekretärin heraus. Interessiert besah er sich die Karte eine Weile. Nakamura hatte eine PIN eingeben müssen, damit die Transaktion funktionierte und die wusste Lucifer bei der gestohlenen Karte natürlich nicht. Seine Augen begannen violett zu glühen, als er mit magischem Blick das Stück Plastik erforschte, bis es ihm die dazugehörige PIN offenbarte. Zufrieden Grinsend, steckte Lucifer die Karte in einen weiteren Schlitz, tippte die Zahlen ein und übertrug den höchstmöglichen Betrag, der wahrscheinlich ein halbes Schuljahr lang halten würde.

Anschließend ging der Unterricht weiter und Nakamura wollte ihn zu seinem Klassenzimmer bringen. Lucifer schüttelte entschieden den Kopf. Er deutete auf sich und bildete dann mit überkreuzten Zeigefingern ein „X“, dann deutete er auf Nakamura, ahmte mit Zeige und Mittelfinger laufende Beine nach und drückte ihm dann beide Hände in den Rücken, als wolle er ihn schieben.

„Du willst, dass ich gehe?“, fragte er bestürzt. Lucifer nickte und fasste ihn dann am Arm, als wären sie bereits ein Paar. Dabei achtete er vorsorglich darauf, seine Brust nicht allzu sehr an Nakamuras Bizeps zu schmiegen. Vielleicht sollte er sich über eine Busen-Attrappe Gedanken machen, wenn er dieses Spiel noch eine Weile spielen wollte. Nakamuras Miene hellte sich abrupt wieder auf.

„Du willst mich zu meinem Klassenzimmer begleiten?“, fragte er glücklich. Lucifer nickte mit adrett schlenkerndem Pferdeschwanz.

„Hast du keinen Unterricht?“, fragte der Größere weiter. Lucifer schüttelte den Kopf und ließ sein Haar in Schlangenlinien durch die Luft tanzen.

„Gut, Amatsuotome, dann gehen wir.“, jubilierte der bullige Jungwrestler. Lucifer konnte nicht fassen, wie lächerlich einfach es war, diesen hormongesteuerten Idioten wie eine Marionette zu lenken und hoffte inständig, dass sie unterwegs der Scherenstecherin begegnen würden. Der Kleinen würde ihr dummes, eifersüchtiges Herz brechen und dann würde es richtig interessant werden. Aber sie begegneten ihr nicht. Sie kamen unbehelligt bis zu Nakamuras Klassenzimmer durch, wo sie sich etwas unbeholfen unter den interessierten Blicken der ganzen 3A verabschiedeten.
 

Lucifer hatte sein Glück allerdings gewaltig überschätzt, wie sich herausstellen sollte. In der nun folgenden Unterrichtsphase, las er in aller Ruhe und mit wohlig gefülltem Bauch sein Buch zu Ende. Als er damit fertig war, ließ er es einfach auf einem Fenstersims liegen und schlenderte zum nächstbesten Milchautomaten, um sich mit seiner frisch aufgeladenen Karte durch das Angebot an Fruchtmilchsorten durchzuprobieren. Er war von Vanille, über Erdbeere, Banane und Melone, gerade bei Lychee angekommen, da füllte sich der Flur schon wieder mit Schülern. Die Stunde musste also zu Ende sein. Lucifer scherte sich allerdings wenig darum, sondern wählte am Automaten die Nummer für Macadamia. Ein weiteres Mal sah er glücklich dabei zu, wie die Milchpackung nach vorne geschoben wurde und in den Ausgabeschacht fiel. Er nahm seinen Ausweis wieder an sich, bückte sich, holte die Milchpackung aus dem Automaten und wurde dann unerwartet von vier fremden Händen an den Armen nach hinten gerissen. Lucifer stolperte rückwärts und verlor den Boden unter den Füßen. Sein kleiner Körper wurde hastig mitgeschleift und noch bevor er so richtig mitbekam, was passierte, schloss sich die Tür einer Besenkammer hinter ihm. Unsanft wurde er fallen gelassen und plumpste mit dem Hintern voran in einen Wischeimer. Adrette Halbschuhe traten ihm gegen die Schultern und nagelten ihn in seiner misslichen Position auch noch rücklings gegen die hintere Wand der Kammer. Erbost schlug er die dreisten Füße weg und suchte dann mit den Fingern den Rand des Eimers, um sich hoch zu stemmen, da hagelte es plötzlich Tritte gegen seinen Kopf und seine Brust, bis er mit dem Eimer umfiel und nur noch schützend die Arme vor dem Gesicht verschränken konnte. Er gab keinen Laut von sich, außer den gelegentlichen Ächzern, wenn eine Schuhspitze oder -sohle seine Eingeweide traf. Letztlich ging ein Tritt so gezielt in seinen Magen, dass er würgend einen Teil seiner Milchration wieder ausspuckte. Erst da schienen die Angreifer relativ zufrieden mit ihrem Werk. Lucifer spürte den Schmerz deutlicher als jemals zuvor in seinem unsterblichen Leben. Da war keine Magie, die sofort heilte; keine Macht, welche die Angriffe abgefedert hätte. Und letzten Endes auch keine Flügel, die er schützend um sich hätte schlagen, oder ein Schwert, das er hätte ziehen können. Mit feuchten, geröteten Augen sah er zu seinen Peinigern hoch. Er erkannte drei Röcke, ähnlich seinem eigenen und eine Bobfrisur, die sich zu ihm herabbeugte und ihn kurz darauf grob am Pferdeschwanz riss. In der freien Hand der Yandere blitzte eine geöffnete Schere auf, dann spürte Lucifer den kalten Stahl an seiner Wange. Für einen Moment fühlte er sich unangenehm an seinen letzten Kampf mit Emilia erinnert. Dann zog das Mädchen mit einem Ruck die scharfe Klinge über seine blasse Haut. Lucifer keuchte schmerzerfüllt auf. Der Schnitt brannte erbärmlich. Feucht und warm lief das Blut über Lucifers Wange und tropfte ihm leise vom Kinn. Die Bobfrisur ließ ihn los, trat noch einmal gegen den Eimer, in dem er festsaß und bespuckte ihn. Dann verließen sie und ihre beiden Freundinnen die Besenkammer.
 

Demütigenderweise schaffte es Lucifer nicht, sich aus eigener Kraft aus dem vermaledeiten Wischeimer zu befreien. Zwei Stunden, nachdem der Engel in dem Abstellraum misshandelt worden war, fand ihn dann ausgerechnet Olba. Er trug einen Blaumann und eine dämliche Schirmmütze, aber Lucifer war gerade nicht nach Lachen zumute. Der Erzbischof schaltete das Licht in dem kleinen Raum ein und starrte dann verdutzt auf das Bild, das sich ihm da bot. Ein sehr ramponiert aussehender Lucifer, der in einem Putzeimer festsaß und mit Blut überströmtem Gesicht in einer Lache von erbrochener Milch lag. Seltsamerweise fand auch Olba an diesem Anblick nichts befriedigendes.

„Um Himmels Willen, Lucifer!“, stieß er leise flüsternd aus und kniete sich zu dem Unglücklichen. Mit einigem Zerren befreite er den Engel, der schon tiefrote Abdrücke an Rücken und Schenkeln davon trug, aus dem Eimer.

„Was ist passiert?“, wollte er wissen, als er dem Verletzten ein paar Papiertücher für seine Wange gab. Lucifer murrte nur. In seinen Augen standen Tränen des Zorns.

„Nur ein kleiner Rückschlag. Ich habe Verbündete gefunden und mir Feinde gemacht. So fängt es doch immer an. Also guck nicht so betröppelt!“

Olba schüttelte mit empört gerümpfter Nase den Kopf.

„Da lasse ich dich einen Tag aus den Augen und schon darf ich dich wieder zusammenflicken! So habe ich mir unsere Zusammenarbeit nicht vorgestellt, Lucifer! Du machst mir nur Arbeit und nützt mir nichts!“, warf er ihm vor.

„Ohne mich wären wir gar nicht hier!“, fauchte der Engel giftig und bereute es im nächsten Augenblick wieder, denn sein heftiges Mienenspiel hatte den erst leicht verschorften Schnitt wieder aufreißen lassen. Scharf die Luft einziehend, drückte er sich die Papiertücher fester gegen die blutende Wunde. Olba streckte die Hand nach Lucifers Gesicht aus, aber der zuckte zurück.

„Fass mich nicht an!“, zischte er abweisend. Ihm tat der Körper weh von den Tritten und der unbequemen, Stunden langen Gefangenschaft in dem Eimer. Außerdem quälte ihn die unbändige Wut und das Bewusstsein seiner aktuellen Hilflosigkeit.

„Mach kein Theater! Ich heile dich ja nur.“, meinte Olba streng, aber beschwichtigend. Lucifer stemmte sich auf die Beine, um seiner grabschenden Hand zu entkommen und hielt sich an einem der Regalbretter an der Wand fest.

„Ich brauche deine Hilfe nicht! Ich habe selbst noch Magie!“, meinte er schnaufend. Seine Beine zitterten. Sie waren größtenteils taub. Olba stand ebenfalls auf, beugte sich vor und griff Lucifer kurzerhand in den Rücken und unter die Beine, um ihn auf die Arme zu nehmen, bevor er zweifellos gleich hinfallen würde. Den Halt verlierend, hielt sich der Engel instinktiv am erstaunlich muskulösen Nacken des Alten fest.

„Was tust du?!“, wollte er aufgebracht wissen.

„Wenn du noch genug Magie übrig hättest, wie du behauptest, dann hättest du dich aus diesem Eimer befreit und selbst geheilt, bevor ich dich in diesem erbärmlichen Zustand gefunden hätte. Ergo kannst du momentan weder dir noch mir helfen. Und das bedeutet, du wirst deinen winzigen, nutzlosen Körper vorerst wieder mal meiner Pflege überlassen müssen.“, meinte er barsch.

Lucifer ließ sich gegen Olbas Schulter fallen und starrte müde vor sich hin.

„Einen Scheiß muss ich.“, murmelte er. Insgeheim war er froh darüber, dass sie beide hier im selben Boot saßen und Olba praktisch keine andere Wahl hatte, als ihn wieder aufzupäppeln.

Die Gang

„Gib‘s doch zu. Der Rock macht dich scharf. Ist doch keine Schande.“, grinste der Dämon.

„Wenn du nicht augenblicklich dein freches Mundwerk schließt, du perverse Heimsuchung...“, drohte der Erzbischof zähneknirschend. Das ging schon den ganzen letzten Abend so und setzte sich am Morgen nahtlos fort.

„Auf Ente Isla hast du mir gegenüber nie den Retter markiert und hier trägst du mich plötzlich auf Händen. Mann könnte fast glauben, du magst mich.“, provozierte der Teuflische.

„Lucifer, ich warne dich. Halt ein oder ich vergesse mich.“, Olba unterdrückte den Zorn nicht allzu gut. Man sah ihn regelrecht in seiner Haut kochen. Der Gefallene aber grinste weiter und schwieg. Olba hatte nicht die nötige Menge Magie einsetzen wollen, um seinen Patienten sofort zu regenerieren, und stattdessen nur seine Selbstheilung gestärkt. Der Engel musste also alle Stadien des menschlichen Heilungsverlaufs durchstehen. Er fühlte sich gerädert und das Heftpflaster auf seiner Wange juckte. In dieser Verfassung wollte er nicht unter Leute gehen. Also blieb er, nachdem Olba zur Arbeit gegangen war, lesend in der Basis zurück. Allerdings wurde ihm das bald zu langweilig. Stöhnend wälzte er sich von einer Seite auf die andere, kratzte sich am Rücken, ächzte und setzte sich schließlich auf.

„Schöne Scheiße!“, murrte er vor sich hin. Dann krabbelte er hinüber zu Olbas Lager und durchwühlte dessen Sachen. Erstaunt stellte Lucifer fest, dass der Erzbischof inzwischen über eine Brieftasche, eine Bankkarte, einen Ausweis und Bargeld verfügte! Außerdem hatte er seine Robe zurückgelassen, weil er zur Arbeit ja den Blaumann trug. Lucifer sortierte ein paar Fressalien beiseite und stieß auf etwas, das wie ein elektronisches Gerät aussah. Interessiert nahm er es in die Finger und untersuchte die Knöpfe, den Bildschirm und die Schiebeklappe, unter der sich ein Paar Batterien versteckten. Nachdem er einige der Knöpfe versuchshalber gedrückt hatte, kam plötzlich Leben in den kleinen Bildschirm und eine 8-Bit-Melodie vertonte den Namen des Herstellers. Lucifers Augen begannen zu leuchten.
 

„Komm schon, Mann! Ich tu alles! Aber du musst mir JETZT SOFORT Batterien für meine PASTA besorgen, Olba, sonst dreh ich noch durch!“, bettelte Lucifer herzzerreißend. Olba blickte streng auf ihn herunter und runzelte die hohe Stirn.

„Du hast dieses Gerät seit acht Stunden und bist schon süchtig! Diese Welt tut dir nicht gut, Lucifer. Wir sollten schnellstmöglich unseren Auftrag erledigen und hier verschwinden.“, meinte er ernst.

„Boar, ey, scheiß auf dein Attentat! Solange ich hier erst gesund werden muss, will ich was spielen!“, drängte der Engel.

„Dieses Gerät gehört dir nicht! Ich habe es in einem Umkleideraum gefunden und wollte es zu den Fundsachen tun. Es war nur ein unseliger Zufall, dass ich es hier vergaß. Du kannst es nicht behalten!“, tadelte der Glatzköpfige streng. Lucifer verzog aufgebracht das Gesicht.

„Versuch‘, mir die PASTA wegzunehmen und du wirst es bitter bereuen, du Wischlappen!“

Olba beugte sich zu Lucifer hinunter, hielt den wütenden Jüngling mit einem Arm in Schach und nahm die Handheld-Konsole an sich. Lucifer schrie Zeter und Mordio. Er verfolgte den Geistlichen bis zur Tür ihrer Basis, zerrte an ihm und schnappte nach der PASTA, aber es half nichts. Olba verließ das Zimmer und brachte dieses kleine, elektronische Stück himmlischer Lebensfreude an einen unbekannten, für Lucifer unerreichbaren Ort. Der ehemalige Dämonengeneral presste die Hände gegen das Papier der Tür und schwor Olba finstere Rache.
 

Es verging ein weiterer Tag voller Langeweile, an dem Lucifer das Zeichnen wieder aufnahm. In erster Linie schändete er Olbas Ausweis, indem er dem Passfoto Zahnlücken, eine Augenklappe, fiese Narbe und Würmer malte, die aus seinen Ohren herauslugten. Anschließend beschmierte er die Wände mit kunstvoll verschnörkelten Sprüchen und Bildern, die Olba als „Meister der Hauses“ mit Pömpel und Wischmop im Kampf gegen eine Armee angreifender, verstopfter und Fäkalien spuckender Toiletten zeigte. Danach zwang ihn allerdings sein schmerzender Körper auf das Lager zurück und er schlief bis zum Abend. Als Olba wieder in die Basis zurückkam, tat er so, als sähe er im Dunkeln das Graffiti nicht.

Am nächsten Morgen fühlte sich Lucifer der Menschenwelt dort draußen wieder gewachsen. Der Schnitt auf seiner Wange war nur noch eine blasse Erinnerung und die Schmerzen in seinen Gliedern hatten sich verflüchtigt. Shinsuke Nakamura, weinte fast vor Freude darüber, „Satori“ wiederzusehen. Er hatte sich nämlich tatsächlich hoffnungslos in seine Amatsuotome verliebt und Tage lang befürchtet, sie könnte ihn womöglich meiden. Das hätte ihm das Herz gebrochen. Er hatte Satori sogar einen Notizblock besorgt, sodass die Schönheit fortan aufschreiben konnte, was sie ihm sagen wollte. Der Notizblock hatte einen lila Einband mit weiß gestrichelten Herzen darauf. Auf seine Fragen hin schrieb Lucifer auf einen Zettel, er wäre krank gewesen. Shinsuke gab sich Mühe, besorgt zu wirken, aber die Erleichterung, dass Satori ihn nicht absichtlich gemieden hatte, war ihm deutlich anzumerken. Lucifer sah darin seine Chance den Jungwrestler zu benutzen. Der Engel schenkte ihm einen bezaubernden Augenaufschlag, der Shinsuke die Knie weich werden ließ und schrieb dann eifrig auf seinen Block. In kurzen, knappen Sätzen bat Satori um einen Gefallen. Shinsuke sollte zum Hausmeister gehen und nach einer Handheld-Konsole von PASTA fragen, die er im Umkleideraum verloren haben musste. Satori beschrieb das Aussehen des Geräts in Stichworten. Shinsuke fragte erst gar nicht, wieso Satori nicht selbst hinging. Sie konnte ja nicht sprechen. Nur wieso sie eine Hendheld-Konsole haben wollte, die in einem Umkleideraum für Jungen gelegen hatte, interessierte ihn dann doch. Lucifer schrieb als Erklärung auf seinen Zettelblock, die Konsole gehöre ihm, sei ihm aber vor zwei Tagen von einem Rüpel gestohlen worden. Inzwischen seien die Batterien leer und der Rüpel habe die Konsole absichtlich dort liegen lassen, wo Satori nicht hin könne, um sie zu holen. Das hätte ihr der Typ selbst gesagt. Shinsuke ließ die Knöchel knacken meinte drohend: „Zeig mir den Kerl. Den mach ich fertig.“

Satori nickte und tippte dann aber energisch mit dem Finger auf ihren Block. Shinsuke verstand und ging zum Hausmeister, um die Konsole zu holen.
 

Während Lucifer wartete, hoffte er inständig, der Yandere nicht wieder zu begegnen. Aufmerksam beobachtete er die Flure. Schüler kamen vorbei und unterhielten sich miteinander. Viele warfen der Schönheit mit dem langen, lila Pferdeschwanz Blicke zu. Faszinierte Blicke. Neidische Blicke. Begehrliche Blicke. Ein Mädchen sprach ihn an, wurde aber sofort von ihren Freundinnen weitergezogen. Schon im Gehen rief sie ihm noch winkend ein hoffnungsvolles „Wir sehen uns!“ zum Abschied zu. Lucifer hatte nicht ein Wort zu ihr gesagt. Er schien eine seltsame Wirkung auf die Menschen zu haben. Ob da wohl noch Reste seiner himmlisch-dämonischen Präsenz in ihm glühten? Als er die Augen anschließend erneut von einem Ende des Flurs zum anderen schweifen ließ, fuhr ihm auf einmal der Schreck in die Glieder. Die Yandere kam auf ihn zu! Sie war noch weit entfernt und hatte ihn noch nicht entdeckt, aber sie kam genau in seine Richtung. Lucifer suchte nach einem Versteck in der Nähe, aber es gab keines. In der Menge untertauchen und verschwinden? Welche Menge? Die Schülergruppen tröpfelten eher vereinzelt an ihm vorbei! Wütend registrierte der ehemalige Dämonengeneral, dass er gerade seine Flucht vor einem wertlosen Menschenmädchen plante und ihm dabei das Herz bis zum Hals schlug. Seine Hände waren feucht und seine Beine kribbelten, als wollten sie gleich ohne ihn losrennen. Aber es half alles nichts. Er musste dieser Verrückten unbedingt ausweichen! Verstohlen wandte er sich in die Richtung, in die Shinsuke verschwunden war und sah erleichtert, dass der Wrestler bereits zurückkam. Glücklich überreichte er Satori die PASTA. Mit einem Schlag war die Yandere vergessen.
 

Lucifers Augen leuchteten teuflisch auf vor Freude und ein diebisches Grinsen legte sich auf seine Lippen. Äußerst zufrieden sah der Engel von seiner Errungenschaft auf und wollte Shinsuke zu verstehen geben, dass er jetzt noch neue Batterien für das Ding besorgen solle. Doch als Satori ihr schönes, lächelndes Gesicht dem Jungen neben sich entgegen hob, da neigte sich jener plötzlich herunter, legte dem vermeintlichen Mädchen zärtlich die Hand an die Wange und küsste es auf den Mund. Lucifer erstarrte zu Eis. Ein Schauder des Entsetzens überlief ihn. Ein Mensch, noch dazu ein wertloser Jugendlicher wagte es, IHN anzufassen! Seine Rücken- und Brustmuskulatur spannte sich an, als könnte er mit einem einzigen, kräftigen Flügelstoß das Leben des Frevlers auslöschen! Aber er besaß keine Flügel mehr. Und dann entdeckte er die Yandere. Sie stand stocksteif mit weit aufgerissenen Augen unweit von ihnen und starrte sie an. Ihr Blick war ebenso mörderisch, wie verletzt. Lucifer lächelte sanft. Er hob die Arme, griff nach Shinsukes breiten Schultern und schmiegte sich an den Größeren, während der Kuss nun sichtbar einvernehmlicher wurde. Shinsuke, der schon hatte aufhören wollen, weil von Satori so lange keine Reaktion gekommen war, schlang nun glücklich den muskulösen Arm um ihre zierliche Gestalt und seine Hand rutschte streichelnd in den schmalen Nacken. Dergestalt in der Umarmung des anderen gefangen, fühlte sich der Engel nicht besonders wohl. Er ließ es sich aber nicht anmerken und duldete Shinsukes Lippen auf den seinen, bis er aus dem Augenwinkel sah, wie die Yandere mit Tränen überströmten Wangen heulend den Flur hinab rannte. Nun löste Satori zufrieden grinsend den Kuss mit Shinsuke, der ihr Lächeln natürlich gründlich missinterpretierte.
 

Die folgenden Tage verliefen äußerst günstig für Lucifer. Der Engel stellte zunehmend fest, dass nicht nur Jungen seinem Charme erlagen. Auch Mädchen näherten sich ihm immer häufiger. Die meisten wollten einfach nur in Satoris Nähe stehen, um den Jungen, welche die lilahaarige Schönheit anstarrten, ebenfalls aufzufallen. Und tatsächlich baten dann viele dieser Jungen, die sich nicht trauten, Satori anzusprechen, ihre weniger hübschen Freundinnen um ein Date. So mangelte es Lucifer nie an Begleiterinnen, die ihn für das Trio der Yandere unerreichbar machten. Doch nicht alle Mädchen in seinem Umfeld waren oberflächliche Trittbrettfahrerinnen. Irgendetwas an ihm zog auch Schülerinnen mit einer verborgenen bösen Ader an, als hätten sie nur auf jemanden wie ihn gewartet. Jene formte er zu einer eingeschworenen Gemeinschaft von Rebellinnen.

Wenn Satori nicht mit ihren Mädels zusammen war, dann sah man sie an der Seite des Wrestling-Klub-Leiters. Jeden Abend, den der Wrestler nicht im Training war, gingen sie miteinander aus, wodurch der Yandere zunehmend die Haare ausfielen vor Kummer. Dabei ließ sich Lucifer von Shinsuke bloß in jedes Schnellrestaurant der Gegend einladen. Als vollendeter Gentleman zahlte natürlich der Mann. Shinsuke hielt sich in diesen Tagen für den glücklichsten Jungen der Welt, weil das schönste Mädchen der Schule jeden möglichen Abend mit ihm verbringen wollte.

Die Stunden während des Unterrichts, die Lucifer allein war, verbrachte er in der Bibliothek mit der Suche nach möglicherweise hilfreichen Büchern. Allerdings hielt er sich dabei immer schön in Reichweite irgendeiner Aufsicht, für den Fall, dass die Yandere schwänzte, um ihn umzubringen. Eines Tages entdeckte er dort einen Computer, der allein und vergessen in einer Ecke stand. Neugierig untersuchte er das Gerät. Da es Ähnlichkeit mit dem Exemplar im Sekretariat hatte, brachte er es schnell zum Laufen, klickte sich durch die langweiligen Programme und traf dann auf etwas, das sein Leben um einiges lebendiger machen sollte: Das Browser Icon! Eine unerschöpfliche Quelle des Wissens, der Gerüchte, der Anrüchig- und Möglichkeiten tatsich vor ihm auf! Über Lucifers engelsgleiche Gesichtszüge zog sich ein schmales Grinsen, das immer dann auftauchte, wenn er etwas teuflisches plante.
 

Kotone, Nagori, Makoto, Toshiko und Rin. Es war, als hätten diese Mädchen nur auf eine Anführerin gewartet, die ihnen zeigte, wie sie es anstellen mussten. Und so waren sie äußerst empfänglich für Satoris Idee, in der Stadt Brieftaschen zu stehlen, um sich von dem Geld interessante Nachmittage zu machen. Allerdings war es auch immer wieder eine Herausforderung, bei den Mädels nicht als Junge aufzufliegen. So bemerkte Makoto schon in den ersten Stunden ihrer unheiligen Allianz, dass Satori weder Ohrringe noch Stecker trug, ja überhaupt keine Ohrlöcher hatte! Tatsächlich war Lucifer dieses Manko seiner Tarnung schon länger bewusst. Er fand Ohrstecker auch eigentlich ganz geil, hatte aber keine große Lust gehabt, seinem schwachen Menschenkörper mit einer Nadel zuzusetzen. Wer wusste schon, ob er am Ende deswegen vielleicht an einer Blutvergiftung sterben würde? Menschen starben ja erfahrungsgemäß wegen jedem Scheiß! Nachdem Makoto es ausgesprochen hatte, blieb ihm allerdings kaum mehr eine Wahl. Er schrieb den Freundinnen also eine gut durchdachte Geschichte auf seinem Notizblock, dass seine Eltern immer dagegen gewesen wären, dass er sich Ohrlöcher stechen lasse. Nun lebe er aber bei seinem verranzten Großvater und dem sei so ziemlich alles egal, was Satori mache. Eine Chance zur Rebellion witternd, verabredete man sich gleich für den Nachmittag in der Stadt. Die Mädchen führten Lucifer zu einem billigen Schmuckgeschäft, das auch Ohrlöcher stach und erklärten ihm, wie es ablief. Lucifer suchte sich ein Paar lilafarbene Stecker aus und setzte sich relativ furchtlos auf den Stuhl. Als die Verkäuferin mit dem Gerät auf ihn zu kam, das ihm das Fleisch durchstoßen sollte, fiel es ihm schwer vor der Hand dieses Menschen nicht zurückzuzucken. Da die Clique ihm aber versichert hatte, es würde schnell gehen, ließ er die Berührung tapfer zu. Das Geräusch des nach vorne schnellenden Mechanismus war schlimmer als das bisschen Schmerz, das folgte. Er ließ sich beide Seiten stechen und verzog nur wegen des lauten Knalls so nah an seinem Ohr das Gesicht. Die Mädchen gratulierten ihm. Sie nannten es scherzhaft einen Initiationsritus. Lucifer betrachtete das Ergebnis im Spiegel und fand, dass sie da gar nicht so falsch lagen. Er hatte sich nun vollkommen in diese Welt und seine Rolle eingefunden. Er hatte eine Bleibe, Gefolgsleute, einen Lakaien und Bodyguard, einen Haus- und Hofmeister und bald würde ihm sicher auch ein Plan einfallen, wieder Macht zu erlangen. Zufrieden grinsend ging er mit den Mädels Sushi essen und auf seine neuen Stecker anstoßen.
 

Trotz dieser erfreulichen Entwicklungen war Olbas neue Stellung immer noch das Beste an Lucifers Schulleben. Er hatte Olba nicht verziehen, dass er ihm in Zeiten der Not die Pasta weggenommen hatte. Umso schadenfroher beobachtete er, wie der Erzbischof diese Welt immer stärker zu hassen schien, je mehr sich Lucifer an sie gewöhnte. Der Geistliche hatte am Tag nach ihrer Ankunft in seiner neuen Stelle zu arbeiten begonnen und es dauerte nicht lange bis zum ersten Nervenzusammenbruch.

„Pömpeln!“, schrie er am Ende seines ersten Tages, „Ich bin der Erzbischof der heiligen Kirche! Ich bin ein Oberhaupt! Ein Würdenträger! Ich habe Armeen in die Schlacht geführt! Unter meiner Leitung wurde Emilia zur legendären Heldin und Satan besiegt! Doch diese… diese … verlangen von mir … Toiletten zu reinigen!“, seine Worte kamen, wie sein Atem, immer abgehackter und gepresster hervor. Er bekam kaum noch Luft, weil er sich so aufregte. Mit der Reinigung verstopfter Toiletten fing Olbas Martyrium aber gerade erst an. Er musste Glühbirnen auswechseln, Türen ölen, den Schulhof in Ordnung halten, die Flure bohnern, Graffiti und Kaugummi entfernen ... Schon bald drohte der gruselige, alte Glatzkopf jedem Kind und jedem Mitglied des Schulpersonals, dem etwas kaputt ging, mit der Exkommunikation! Sein Leben als Hausmeister forderte fast mehr von ihm, als der gesamte Krieg gegen die Dämonen. Immer häufiger verschütteten Schüler klebrige Getränke oder Milch auf den Fluren. Die Wände wurden mit Kreide, Kulli, Filzstift und Sprühfarbe beschmiert. Einmal verbrachte Olba einen gesamten Nachmittag damit Schmierseife von einer Tafel zu wischen. Lucifer lachte sich halb krank darüber. Er machte sich einen Spaß daraus, nach der Schule, wenn er Olba sicher an einem anderen Ort wusste und kein Schüler mehr im Gebäude war, durch die Flure zu huschen und Arbeit für den alten Mann vorzubereiten. Dann hatte der Engel nämlich alle Zeit der Welt, um ganz in Ruhe leere Klassenzimmer, Toilettenräume und Umkleidekabinen zu präparieren. Er war es überwiegend, der die Klos verstopfte, die Wände anmalte, Schüler mit offenen Getränkeflaschen anrempelte oder Shinsuke dazu brachte, Schüler in Vitrinen zu werfen, sodass es Scherben regnete. Als Shinsuke von Satori wissen wollte, welcher Rüpel ihr denn nun die PASTA gestohlen hatte, die er vom Hausmeister für sie zurückholen sollte, da zeigte Lucifer auf einen zufällig vorbeikommenden Schüler, einfach weil er in etwa Shinsukes Größe hatte. Der Wrestler hielt den Ahnungslosen mitten im Flur auf und verprügelte ihn so gründlich, dass jener sich noch im Schulflur über die Heizung erbrach. Olba schrubbte die ganze Nacht die Kotze aus den Lamellen. An dem Tag, an dem Lucifer den Sicherungskasten fand, drehte er eine ganze 90-minütige Schulstunde lang die Sicherungen von acht Klassenzimmern immer abwechselnd raus und wieder rein, sodass Olba hinzu gerufen wurde, um das zu reparieren. Der Erzbischof rannte hin und her ohne zu wissen, was er tun sollte, denn er kannte sich mit Elektrik ja nicht aus. Doch sobald er bei einem Klassenzimmer ankam, funktionierten die Lichter plötzlich wieder, woraufhin in einem anderen Klassenzimmer die Lichter plötzlich erloschen. Das war der Tag, an dem Olba am Abend zu Lucifer sagte, er habe sich entschieden zu kündigen und sie würden sich ein anderes Versteck suchen müssen. Lucifer verwandte seine ganze silberzüngige Kompetenz darauf, Olba zu beschwichtigen. Der gestresste Erzbischof äußerte den Verdacht, dass es da jemand ganz heimtückisch auf ihn abgesehen habe! Lucifer konnte sich an diesem Punkt ein kleines, teuflisches Grinsen nicht verkneifen, aber er versicherte, er werde die Augen nach dem Übeltäter offen halten.
 

Als Lucifer an einem Abend mit den Steckern in den Ohren zurück in die Basis kam, war das für Olba offenbar der Gipfel eines wieder mal sehr langen und schmachvollen Tages.

„Woher hast du das Geld dir Edelsteine in die Ohren zu hängen!“, fuhr er ihn ohne ein Wort der Begrüßung an.

„Straßenstrich.“, antwortete der Engel prompt und in so selbstverständlichem Tonfall, dass Olba im ersten Moment die Sprache versagte. Er rang nach Worten, offenbar überfordert mit der Situation, bis Lucifer ihn erlöste.

„Dein Gesicht müsstest du sehen.“, feixte er, „Krieg dich ein. Ich geh dir schon nicht fremd.“

Nun begriff der Priester, dass man ihn veräppelt hatte und seine Wut kehrte zurück.

„Ich warne dich, Lucifer! Wenn wir wegen deiner Vergnügungssucht vorzeitig entdeckt werden, bist du der Erste, den ich vernichte!“, drohte er dem Gefallenen, der sich unbeeindruckt aus seiner Schuluniform schälte und seine Tunika wieder anzog, in der er schlief, weil er immer noch keine andere Wäsche besaß.

„Komm mal runter, Opa, sonst kriegste noch n Herzinfarkt. Was regst du dich denn so auf?“, fragte er achselzuckend. Olbas Gesicht wurde sichtbar heißer.

„Arroganter Taugenichts! Auf Ente Isla warst du schon unerträglich, aber jetzt fange ich an zu bereuen, dir damals nur ein Schlafmittel eingeflößt zu haben und kein Gift!“

Fertig umgezogen wandte sich der Langhaarige in einer geschmeidig fließenden Bewegung nun doch zu dem Erzbischof um und zog sich gleichzeitig das Halstuch aus dem Haar, sodass seine langen, dunklen Strähnen schwungvoll über seine Schultern, den Rücken und die Brust fielen, als wäre er ein Model aus der Shampoo Werbung.

„Du machst jetzt echt n Aufriss, wegen der zwei winzigen Stecker? Geht‘s dir noch luftig?! Das ist stinknormales, farbiges Glas und woher ich die Mücken dazu habe, kann dir doch egal sein, also schalt mal n Gang runter!“, zickte er Olba an. Dann warf er das Halstuch auf den Haufen, den seine Uniform am Boden bildete und griff nach oben, um sich auch noch die Spange aus dem Pony zu ziehen.

„Zügle deine vorlaute Zunge, Dämon! Solange wir zusammen auf dieser Mission sind, geht mich alles, was du tust, etwas an! Woher hast du das Geld, du sündiger Lump?“, wurde Olba laut.

„Von deiner Mutter!“, gab Lucifer zurück.

Vier Schritte und der Erzbischof stand so dicht vor dem Engel, dass jenem vor Schreck die Haarspange aus den Fingern fiel. Er wich zurück, hatte aber sofort einen Tisch im Rücken.

„Hey, mach mal langsam. Darfst du überhaupt so nah an die Schüler ran?“, versuchte Lucifer den aufdringlichen Kirchendiener mit erhobenen Händen von sich abzuhalten. Jener aber hob nur drohend den Finger in das halb von Haaren verdeckte Gesicht des Jungen.

„Ich hege schon länger den Verdacht, dass du die unschuldigen jungen Menschen dieser Welt mit deiner Unreinheit befleckst. Soll der Tand dich für deine widerwärtige Prostitution hübscher machen? Ich sehe doch, wie sie dir in Scharen folgen. Ich werde nicht zulassen das-“, aber er kam nicht weiter mit seinem Satz, denn Lucifer hatte angefangen schallend zu lachen.

„Prostitution!“, rief er lachend. Dann wich zur Seite weg aus, um wieder Abstand zwischen sich und Olba zu bringen. Provozierend lasziv legte er den Kopf schief, sodass ihm die langen Haare seitlich über die Schulter rutschten, und stemmte die Hand in die Taille, als wolle er seine schlanke Figur hervorheben.

„Bist du etwa immer noch böse, weil ich dich auf Ente Isla nicht ranlassen wollte? Bist du eifersüchtig, weil ich jetzt derjenige mit dem Gefolge bin und du derjenige, der meinen Leuten hinterherputzt?“

Olba brodelte.

„Treib es nicht zu weit, oder ich lege dich wieder in Ketten!“

„Du kannst genauso wenig himmlisches Silber beschwören, wie ich. Es gibt unseren Himmel hier nicht. Also spar‘ dir deine lahmen Drohungen.“, entgegnete Lucifer gelangweilt und betrachtete seine Fingernägel.

„Wenn du mit dieser sinnlosen Rumbrüllerei jetzt fertig wärst, ich bin müde und du stehst quasi in meinem Bett.“, meinte er gelassen. Olba schnaubte, entfernte sich aber wieder auf seine Seite des Zimmers.

„Ich verstehe wirklich nicht, wieso du dich mit diesem Tand verstümmeln lässt. Was für ein Sinn steckt sonst dahinter, wenn nicht der, einer Hure ähnlicher zu sein?“, schmollte der Priester. Lucifer ließ sich auf dem Boden nieder und stöhnte genervt auf. Als er sprach, imitierte die Ausdrucksweise seiner Mädels perfekt.

„Boar, Alter, du checkst es echt nicht? Jede Frau auf dieser Scheißwelt hat Löcher in den Ohren. Ich hab jetzt halt diese Drecksuniform und muss mich anpassen. Keine Stecker zu haben ist mega auffällig! Raffst du‘s mal? Ich will nämlich schlafen. Ich hab morgen noch was vor!“

Damit legte er sich hin und drehte Olba den Rücken zu. Für einen kleinen Augenblick herrschte Stille im Raum. Dann räusperte sich Olba.

„Du… du verfolgst einen Plan… oder, Lucifer?“

„Verdammt richtig! Infiltration, Schwächung, Usurpation! Ich bin Satans General gewesen, schon verdrängt? Ich hab deinen dämlichen westlichen Kontinent platt gemacht und genau das mache ich jetzt auch mit dieser Welt. Dann wird sich die Heldin von ganz alleine zeigen und die weiß garantiert wo der Dämonenkönig ist, den sie verfolgt hat. Da kannst du deinen notgeilen Priesterarsch drauf verwetten.“, tönte der Engel selbstbewusst, während er sich bereits zum Schlafen unter den Tisch rollte. Auf Olbas faltigem Gesicht breitete sich erst Erleichterung und dann Zufriedenheit aus.

„Sehr gut. Wird auch Zeit, dass du dich nützlich machst! Und lass dir die Haare schneiden, bevor du Emilia gegenüber trittst! Du siehst mit den langen Fransen einfach lächerlich aus.“ Lucifer zeigte Olba den Mittelfinger, ohne sich dafür extra noch einmal zu ihm umzudrehen.
 

Am nächsten Vormittag ging er in die Stadt, wartete auf eine günstige Gelegenheit, einem Herrn die Geldbörse aus der Gesäßtasche zu ziehen und kaufte von dem darin enthaltenen Geld eine Stange richtig potenter Böller und ein Feuerzeug. Die steckte er in der Schule in eine Toilettenschüssel im Mädchenklo, verlängerte die Zündschnur bis vor die Tür und wartete auf das Ende der letzten Stunde. Dann brannte er sie an. Die Bombe platzte, als im Strom der Schüler die ersten noch einmal die Waschräume aufsuchen wollten, bevor sie sich auf den Heimweg machten. Das Geschrei und die Panik breitete sich über mehrere Stockwerke aus. Am einen Ende eines Ganges hörte man Warnrufe vor einem Amoklauf, aus der anderen Richtung hieß es, man habe Schüsse gehört und drei Flure weiter schwor jemand, es habe schon am Morgen eine Bombendrohung gegeben, die aber vertuscht worden sei. Die Schüler trampelten sich gegenseitig über den Haufen, in ihrer panischen Flucht zu den Ausgängen. Lucifer stand geschützt hinter einer Tür und spürte überrascht, wie sich sein Magiekern aufzufüllen begann. Er lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand und genoss die Gewissheit, dass es in dieser Welt offenbar doch Möglichkeiten gab, seine Kräfte zu regenerieren. Diese alles verändernde Entdeckung behielt er für sich. Er sagte Olba kein Wort davon. Allerdings hörte er nach diesem Erfolg erst einmal auf mit seinen Streichen. Ihm wurde klar, dass er größer denken musste, als bloß einen Hausmeister zu terrorisieren. Er musste sein Treiben auf die ganze Stadt ausweiten!

Olba nahm die plötzliche Ruhe als Indiz und blätterte heimlich die Klassenbücher durch auf der Suche nach Schülern, die nach dem Böllerstreich plötzlich der Schule fern geblieben waren. Denn wer nicht da war, konnte kein Unheil mehr anrichten, so seine Überlegung. Auf diese Weise kam er tatsächlich auf ein fünf Verdächtige, die er dann mit Argusaugen beschattete, sobald sie wieder zur Schule kamen. Lucifer war es ganz recht. Er hatte jetzt nämlich andere Dinge im Kopf. Ab jetzt verließ er vormittags während des Unterrichts die Schule, streifte durch die Stadt und kundschaftete mögliche Einsatzorte für seine Mädchen Gang aus. Auf dem Rückweg stahl er dann, wo er nur konnte. Kurz vor ihrem ersten großen Coup verabredete er sich mit Kotone, Nagori, Makoto Toshiko und Rin für Sonntagnacht in der Schule. Den schlafenden Olba schloss er vorsichtshalber in der Basis ein, als er ging.

Zur großen Freude der Mädels, zog Satori in dieser Nacht mit ihnen allesn ein gruseliges Verbrüderungsritual durch, von dem er in der Bibliothek gelesen hatte. Natürlich war das alles menschengemachter Unfug mit viel Show und Gänsehaut, aber ohne Wirkung. Dennoch machte es Lucifer Spaß die Sache zu inszenieren. Er ließ Makoto seine vorbereiteten Zettel vorlesen, auf denen er das Ritual erklärte. So setzte er alle davon in Kenntnis, dass dieser Zauber, den sie ausführen würden, ihre Gemeinschaft beschützen würde, solange es keine Verräter in ihren Reihen gäbe. Eidbrüchigen hingegen stünde ein grausamer Tod bevor. Da er ja die Stumme spielte, brachte er Rin und Kotone dazu, die Formeln abwechselnd aufzusagen. Damit wurden sie zu den Priesterinnen des Rituals und zu Wächterinnen über die Einhaltung des Treueschwurs erklärt. Das Ritual prophezeite den Wächterinnen in ihrer eigenen Haut gekocht zu werden, sollten sie ihre Aufgabe je vernachlässigen. Rin und Kotone machten todernste Gesichter, während sie die Sprüche rezitierten. Am Ende stachen sie sich der Reihe nach in den Daumen und hinterließen je einen blutigen Daumenabdruck in je einer weißen Fläche innerhalb eines auf Papier aufgezeichneten Pentagramms. Das Papier vergruben sie anschließend auf einem Friedhof. Lucifer konnte die damit geschaffene Zusammengehörigkeit unter den Mädchen fast körperlich spüren, auch wenn das alles romantischer Unsinn gewesen war. Eine Stunde später kehrte Lucifer auf den Friedhof zurück, grub das Papier wieder aus und versteckte es in der Basis hinter einer losen Latte in der Wandvertäfelung, denn so viel hatte er über Menschen bereits gelernt: Sie waren neugierig. Sicher würde im Laufe der nächsten Woche jede von ihnen zum Friedhof gehen und nachsehen, ob irgendetwas mit ihrem Schwurpapier geschehen war. Sein Verschwinden würde den Glauben an das Ritual noch vertiefen.
 

Als eingeschworene, sechsköpfige Bande wurden ihre Raubzüge nun bald größer und erfolgreicher. Nun hatten sie genug Vertrauen in einander, um wertvollere Dinge abzugreifen, als nur vereinzelte Brieftaschen. Sie standen füreinander Wache und inszenierten Ablenkungsmanöver, sodass die anderen in den Läden stehlen konnten. Lucifer besorgte sich auf diese Weise endlich Alltagskleidung, die er bei ihren Ausflügen und bei seinen Dates mit Shinsuke tragen konnte. Als nächstes klauten sie sich Prepaid-Handys, damit sie miteinander schreiben stehen konnten, ohne dass die Eltern davon etwas mitbekamen. Lucifer liebte es vor allem, auf diese Weise nun einen eigenen, mobilen Internetzugang zu haben, ohne sich dafür immer in die Bibliothek schleichen zu müssen. Das erste, das er tat, war, auf Rechnung und in Olbas Namen online 10 000 Großpackungen Klopapier und 666 Pömpel für die Schule zu bestellen. Und mit den Mobile-Games wurde ihm nun nie wieder langweilig.
 

Kurz danach kam Toshiko mit einer nigelnagelneuen Handheld Konsole von PASTA in die Schule. An diesem Tag verhielten sich die Mädchen in der Clique seltsam. Jede von ihnen steckte Toshiko ein kleines Päckchen zu. Im ersten Moment dachte Lucifer, sie würden sich gegen Satori verschwören und Toshiko zu ihrer neuen Anführerin machen wollen und bei den Päckchen müsse es sich um Depeschen handeln, die Ort und Zeit einer geheimen Ratsversammlung enthielt, zu der Satori nicht eingeladen war. Doch die Gespräche, die sich unter den Mädchen anschlossen, passten nicht dazu. Aus den Unterhaltungen wurde Lucifer nur in so weit schlau, als dass es sich wohl um kleine Geschenke anlässlich der Tatsache handelte, dass Toshiko ein weiteres Lebensjahr bewältigt hatte. Das ergab für den Engel durchaus Sinn. Wenn man ein zerbrechlicher Mensch war, dann bot die Tatsache, ein Jahr lang überlebt zu haben, wohl schon einen Grund jemandem zu gratulieren. Da er in dieser Gesellschaft nicht auffallen wollte, setzte er sich während der nächsten Stunde hin und zeichnete auf seinem Block ein Bleistiftporträt von Toshiko auf seinen Zettelblock. Obwohl er ohne Vorlage aus dem Gedächtnis malte, konnte sich das Ergebnis sehen lassen. Verstohlen wartete er auf das Ende der Stunde und drückte Toshiko dann das Blatt in die Hand. Toshikos Reaktion war so merkwürdig, dass Lucifer glaubte, sie würde ihn gleich schlagen. Erst bedankte sie sich. Dann betrachtete sie das Bild. Ihre Wangen röteten sich bedenklich. Die Augen wurden ihr feucht. Dann richteten sich ihre dunklen Iriden starr auf Lucifer. Der Engel wich einen Schritt zurück, so intensiv war der Blick ihrer schwarzen Augen. Seine Hände griffen schon in die Rocktasche nach Block und Stift, um sich zu erklären, da griff ihn das Mädchen unvermittelt an! Es stürzte nach vorn auf ihn zu, schlang die Arme um seinen Hals und heiße Tränen rannen in seinen Kragen hinunter. Lucifer schauderte und wurde ganz starr vor Entsetzen. Das war ihm viel zu viel Körperkontakt und er verstand die Situation nicht. Seines Wissens nach gab es keine Kampfsportart in Japan, die das Festhalten und Vollheulen des Gegners beinhaltete. Die Taktik führte jedoch dazu, dass sich Lucifer genötigt fühlte, Toshiko leicht zu tätscheln.

„Danke, Satori! Das Bild ist wundervoll! Ich habe noch nie so etwas Persönliches von jemandem bekommen. Du musst da ja Stunden reingesteckt haben!“, jammerte sie an Lucifers Hals. Er war nur zwei Zentimeter größer als sie. Der Engel wusste nicht ob er sich entschuldigen oder „gern geschehen“ schreiben sollte und berief sich daher einfach auf seine Rolle als Stimmlose. Er durchdrang die Sache nicht in Gänze und er bezweifelte auch irgendwie, dass Olba ihm da verlässliche Antworten geben würde, wenn er fragte. Also beließ er es dabei und war froh, als Toshiko ihn endlich wieder losließ. Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und klebte das Bild in ihr Tagebuch.
 

Den Rest der Pause standen sie alle hinter Toshikos Stuhl und sahen ihr beim Spielen auf der PASTA zu. Lucifer war fasziniert. Toshiko hatte viel bessere Spiele als jenes, das er selbst auf seiner PASTA hatte. Es gab also mehr als nur ein Spiel zu dieser Konsole und er musste sie sich besorgen, unbedingt! Aber sie Toshiko zu stehlen, hätte nur zu Unruhen in der Clique geführt, darum fragte er über Zettel, wo man die Spiele her bekam und setzte dann eben jenen Laden als Zielort für den nächsten Überfall fest. Den Zettel, der sein Gespräch mit den anderen darüber enthielt, konnte er allerdings gerade noch rechtzeitig verschwinden lassen, als sich unerwartet ein weiteres Mädchen an Toshikos Tisch stellte, um dem Geburtstagskind ein kleines Paket zu überreichen. Wie sich herausstellte war ihr Name Dai (Gänseblümchen), was Lucifer unerträglich kitschig fand. Er wurde dem Mädchen durch die stets vorlaute Makoto als Mamono Satori vorgestellt und natürlich schob Makoto auch gleich die Information hinterher, dass Satori stumm sei, noch bevor Lucifer auch nur die Hand zum Gruß heben konnte. Daraufhin erntete er natürlich einen nervtötend teilnahmsvollen Blick von Dai, die natürlich gleich höflich fragen musste, in welche Klasse Satori denn gehöre. Das war eine Frage, der Lucifer bisher immer geschickt ausweichen konnte. Bis auf Nagori und Toshiko, die beide in die 3D gingen, kamen sie alle aus unterschiedlichen Klassen und Jahrgängen. Makoto als die Jüngste gehörte zur 1C, Rin zur 1A und Kotone zur 3B. Sie liefen sich eigentlich nur über den Weg, weil sie sich gezielt in den Pausen aufsuchten. Sie alle waren in ihren Klassen eher Einzelgänger. Nun fiel den anderen allerdings auf, das Satori ihre Klassenzugehörigkeit noch nie preisgegeben hatte. Alle Augen ruhten plötzlich auf dem Mädchen mit dem langen lilafarbenen Pferdeschwanz. Lucifer lächelte ertappt, zuckte mit den Schultern und winkte ab, eine Geste, mit der er anzeigen wollte, dass er so viel Aufmerksamkeit gar nicht verdiene und dass das nun wirklich egal sei. Auf diese Weise war er schon oft unangenehmen Fragen ausgewichen. Man nahm einfach an, es sei für die stumme Satori zu anstrengend, den Sachverhalt darzulegen und ließ sie in Ruhe. Diesmal kam die stumme Satori damit allerdings nicht durch, denn man verlangte ja bloß eine Zahl und einen Buchstaben von ihr. Lucifers Blick durchbohrte Dai aus den Augenwinkeln mit solcher Mordlust, dass das Mädchen sichtlich schauderte. Es durfte nicht dazu kommen, dass seine Girls ihn in einer bestimmten Klasse vermuteten, ihn dort aufsuchten oder nach ihm fragten. Dann käme nämlich heraus, dass er nirgendwo auf der Klassenliste stand. Oh, das würde er dieser Dai noch heimzahlen! Glücklicherweise schaffte er es, lange genug herumzudrucksen, bis Mokoto die gespannte Stille nicht mehr aushielt und Dai aus heiterem Himmel nach Katō Kainyū aus der 2B fragte. Lucifer – heilfroh über diesen willkommenen Themenwechsel – war so, als hätte er diesen Namen schon einmal gehört. Makoto versuchte so nebensächlich wie möglich zu fragen, aber es war offensichtlich, dass sie sich in den Knaben dieses Namens verguckt hatte. Zumindest für die Gang war es offensichtlich. Dai hingegen schien die sprichwörtliche Unschuld vom Lande zu sein.

„Mein Bruder? Dem geht‘s gut. Wieso willst du das denn wissen?“, fragte Dai irritiert.

„Och, nur so. Ähm, weil… na ja, also, ich … meine ja nur, vielleicht … hätte ich ja Lust mich mit dem mal zu treffen, oder so.“, stammelte Makoto verlegen. Dais Gesicht hellte sich auf.

„Komm doch in unseren Judo Klub, da triffst du ihn dann immer. Wir können Zuwachs gebrauchen.“

Da fiel Lucifer wieder ein, in welchem Zusammenhang er den Namen schon einmal gehört hatte. Dieser Katō hatte ihn am Tag des Feueralarms in der Mensa angebaggert und war dafür von Nakamura Shinsuke über den Tisch geworfen worden. Lucifer grinste unwillkürlich bei der Erinnerung, wie Shinsuke Katō damit gedemütigt hatte, dass der gesamte Judo Klub nur aus den beiden Katō Geschwistern bestand.

„Magst du vielleicht auch kommen Satori?“, fragte Dais Stimme aus heiterem Himmel. Lucifer wischte sich das Grinsen aus dem Gesicht. Dieses Gör fing wirklich an, ihm auf die Nüsse zu gehen. Er schüttelte den Kopf.

„Sie ist mit Nakamura Shinsuke, dem Leiter des Wrestling Klubs zusammen.“, feixte Makoto hinter vorgehaltener Hand, aber laut genug, damit jeder am Tisch mithören konnte, „Und du weißt ja, dass Shinsuke und Kainyū sich immer prügeln, wegen dieser bescheuerten Fehde, wessen Sport besser ist. Nichts für ungut, Satori.“ Lucifer zuckte die Achseln und winkte ab. Ihm war nun wirklich egal, was man über Shinsuke so tratschte und was Makoto sagte stimmte. Dai lächelte verlegen, strich sich die Haare hinters Ohr, gratulierte dann Toshiko noch mal zum Geburtstag und verabschiedete sich höflich.
 

Am selben Nachmittag starteten sie den Überfall auf das Elektronikgeschäft. Der Plan stammte, wie immer, von Satori und wurde haargenau befolgt. Zunächst setzten sich fünf von ihnen in ein Café in der Nähe und warteten, bis Rin die Standorte der Konsolen, Spiele und Kameras ausgekundschaftet hatte. Ein junges Mädchen, das alleine in einem Elektroladen etwas überfordert durch die Gegend guckt, war einfach das Unauffälligste von der Welt. Rin hatte außerdem das beste Gedächtnis und konnte kurz danach im Café genau auf eine Serviette zeichnen, wo sich was befand. Lucifer zeichnete die Blickwinkel der Kameras als gestrichelte Linien dazu und vervollständigte den Schlachtplan. Als alle verstanden hatten, was jeweils ihre Aufgabe war, blieben Toshiko und Rin im Café sitzen, während die anderen vier nacheinander im Abstand von ein paar Minuten den Laden betraten und sich dann so postierten, dass sie sich abwechselnd gegenseitig vor den Kameras deckten. Lucifer hatte jede angewiesen ein bestimmtes Spiel für die PASTA zu holen, während er selbst die Konsolen mitgehen ließ. Eines der Spiele war für Toshiko zum Geburtstag gedacht. Die Konsolen würden in den Besitz der Gangmembers gehen, die noch keine PASTA besaßen. Die Spiele wollten sie so lange untereinander tauschen, bis sie langweilig wurden, und sie dann online wieder verkaufen, um das Geld untereinander aufzuteilen. Es war alles bis ins kleinste Detail geplant. Wer gerade an der Reihe war, eine andere vor der Kamera abzuschirmen, war gleichzeitig dafür zuständig, das Personal im Auge zu behalten. Keine tanzte aus der Reihe. Der Diebstahl lief absolut glatt. Hinterher feierten sie ihren Erfolg mit Milchshakes und Lucifer dachte höchst zufrieden mit sich, dieses Cliquenleben könnte er eine Weile aushalten.
 

Olba war natürlich anderer Meinung, als er Lucifer an diesem Abend mit der altbekannten PASTA und neuen Spielen in der Basis antraf. Missgünstig verzog er das Gesicht.

„Wo hast du denn das jetzt wieder her?“, brauste er auf.

„Der Junge, der sie bei dir abgeholt hat, hat sie mir geschenkt. Problem damit?“, Lucifer sah nicht einmal auf. Er hatte Olbas ständiges Gemotze so satt und versuchte daher, die Stimme des Erzbischofs einfach auszublenden.

„Erst der Schmuck, jetzt das Spielzeug? Zu welcher Art von Plan soll das gehören?!“, meckerte Olba weiter. Sein Vergnügen lag höchstens zwischen Aufwischen und Reparieren, während Lucifer die Dinge einfach in den Schoß zu fallen schienen. Seiner Meinung nach, genoss der Engel das Leben als Mensch inzwischen etwas zu sehr. Als Olba merkte, dass Lucifer ihm nicht zuhörte, trat er an den Knaben heran und entriss ihm die Konsole.

„EY!“, schimpfte der Engel und sprang auf, „Tickst du noch richtig? Das ist meine! Ich hab sie geschenkt bekommen! Besorg‘ dir deine eigene!“

„Wieso sollte der Junge dir sein Spielzeug schenken? Du hast die wieder gestohlen!“, unterstellte ihm der Erzbischof mit einer Miene, als wolle er ihn zur Strafe gleich sechs Ave Maria beten lassen.

„Im Gegensatz zu dir habe ich Freunde!“, stellte Lucifer aufgebracht klar.

„Freunde? Du? Meinst du etwa diese Gruppe armer Mädchen, die du beschwindelst und betrügst?“

„Ja genau! Und die sind tausendmal nützlicher, als du zweitklassiger Meister Proper Verschnitt!“

„Meister… Wen nennst du hier…!“, stammelte Olba fassungslos vor Empörung.

„Jetzt spiel dich nicht immer so auf, du alter Sack!“, warf ihm Lucifer an den Kopf und pflückte geschickt die PASTA aus Olbas erstarrten Fingern.

„Während du versuchst, 10 000 Großpackungen Klopapier aus den Toiletten zu pömpeln, stehe ich kurz davor Emilia ausfindig zu machen. Ich habe mir meinen Feierabend verdient, also halt die Fresse und lass die Griffel von meinen Sachen!“, mürrisch wandte er sich von Olba ab und hockte sich wieder zu seinen Sachen, um weiterzuspielen. Über Olbas Gesicht huschte ein spastisches Zucken.

„10 000 Großpackungen Klopapier?“, fragte er bedrohlich ruhig. Lucifer beschlich plötzlich die leise Ahnung, dass er sich gerade irgendwo verplappert hatte.

„Ja, oder so ähnlich, was weiß ich denn, was du den ganzen Tag machst?“, versuchte der Engel ein wenig stockend doch noch den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

„Woher weißt du denn, dass mir heute 10 000 Großpackungen Klopapier geliefert worden sind. Auf meinen Namen bestellt. Online. Dabei kann ich diese Computer nicht einmal einschalten!“

„Wie? Deh-das weiß ich doch nicht. Woher soll ich so was auch wissen? Yo, Mann, gib mir mal ne Pause.“

„Lucifer?!“, Olba trat erschreckend langsam näher und beugte sich über den Langhaarigen.

„Du warst das, nicht wahr? Du hast mir in der letzten Woche all diese Streiche gespielt, du kleines Wiesel!“ Lucifer zog erst den Kopf zwischen die Schultern und sah dann vorsichtig zu Olba auf.

„Äh, ich? Nee, Mann, hab ich nicht. Für so was hab ich gar keine Zeit. Wie kommst du darauf?“, konterte der Kleinere wenig überzeugend.

„Ich bring dich um!“, fuhr Olba plötzlich wahnsinnig vor Wut auf. Lucifer ließ die PASTA fallen und flitzte los. Olba folgte ihm auf dem Fuß. Das er mit dem Laufen fast 60 Jahre länger Erfahrung hatte als Lucifer, bei dem immer noch Gleichgewichtsschwierigkeiten auftraten, wenn er sich zu schnell bewegte, zeigte sich bei dieser Verfolgung sofort. Der Engel stolperte bereits in der ersten Kurve und legte sich der Länge nach hin, weil er versucht hatte, mit den Flügeln auszubalancieren, statt mit den Armen. Olba holte ihn ein, warf sich erstaunlich agil für sein Alter auf Lucifers Rücken und pinnte ihm mit der Hand den Kopf an den Boden.

„Das war also dein Plan, ja? Mich eine Woche lang mit sinnlosen Streichen zu quälen?!“, zischte er ihm spuckend ins Ohr, sodass Lucifer die Tröpfchen im Nacken spürte.

„Kein Plan wovon du redest, Mann! Geh runter von mir! Das ist mir viel zu nah!“, presste Lucifer mühsam unter dem Gewicht des Geistlichen hervor.

„Dir werde ich zeigen, dass man sich mit mir nicht anlegt, du Teufel!“

„Was willst du denn machen? Mich weg schrubben?“, entgegnete der Gefangene frech. Dann sah er mit Entsetzen, wie Olba ausholte, um ihn zu schlagen.

„Okay! Okay! Schon gut! Ich verrate dir den Plan! Krieg dich ein, Mann!“, beeilte er sich zu sagen und schob die Hände vor zum Zeichen seiner Kapitulation.

„Ich habe Shinsuke rekrutiert, damit er mir die notgeilen Teenager vom Hals hält und mit den Mädchen mache ich die Stadt unsicher, kleinere Diebstähle und so, um Emilia anzulocken. Eine legendäre Heldin wird eine kriminelle Jungendbande in ihrer Stadt nicht einfach dulden. Jetzt zufrieden? Mann, du nervst, Alter!“, erklärte er hastig. Olba hielt tatsächlich inne.

„Woher soll ich wissen, dass du mich nicht anlügst?“, fragte er misstrauisch.

„Schau dir Morgen die Nachrichten an! Wir sorgen schon seit Tagen dafür, dass sich die Diebstähle häufen. Bald müssten sie darüber in den Medien berichten.“, meinte der Engel gepresst unter Olbas Gewicht, „Jetzt geh endlich runter. Uff, du bist 100 kg schwer!“

Olba ließ ihn los und stand auf.

„Und warum hast du mir das nicht vor einer Woche schon erzählt? Ich frage mich die ganze Zeit, was du eigentlich treibst!“

„Weil ich erst sicher sein wollte, dass der Plan auch funktioniert. Sonst darf ich mir hinterher ewig dein zynisches Gelaber anhören. Da hab ich echt kein Bock drauf.“, murrte Lucifer, indem er ebenfalls aufstand, allerdings deutlich mühsamer als Olba.

Was er dem Geistlichen da erzählte, war allerdings nur die halbe Wahrheit. Er hoffte nämlich vor allem, dass sich durch einen Bericht in den Nachrichten, über die rapide steigende Kriminalität in der Gegend, eine kollektive und anhaltende Angst unter den Menschen ausbreiten würde, von der er seine magischen Kräfte würde regenerieren können.

„Gut.“, meinte Olba bedächtig, „Das ändert aber nichts daran, dass du für mein Leid in diesem Job verantwortlich bist, seit wir hier ankamen!“, erinnerte der Erzbischof.

„Das habe ich nicht zugegeben.“, stellte Lucifer kühl fest und trottete faul die paar Schritte zu ihrer Basis zurück.

„Deine Ausflüchte helfen dir jetzt nicht mehr, Dämon. Du hast dich verraten! Zur Strafe, mache ich dich zu meinem Hilfshausmeister. Ab Morgen wird es deine Aufgabe sein, alles zu entfernen, was die Schüler verschütten, von sich geben oder irgendwo hinterlassen. Verstanden?!“

Lucifer zeigte ihm den Vogel.

„Zwing mich.“, patzte er provokant.

„Oh, das werde ich. Verlass dich drauf! Das wird wie auf Ente Isla. Wie du weißt, habe ich auch die Vernehmungsbeamten der Reformation unter meinen Fittichen gehabt. Ich verfüge über ausreichend Methoden, um dich gefügig zu machen, jetzt da du ein Mensch bist.“

Olbas freudig-sadistischer Tonfall wollte Lucifer gar nicht behagen.

Spieglein, Spieglein an der Wand… was hab ich letzte Nacht nur gesoffen?

Das unangenehm hohe Piepen eines elektronischen Weckers schrillte durch das stille Halbdunkel eines aufgeräumten Jugendzimmers. Das Display zeigte zwanzig Minuten nach sechs Uhr morgens. Der unwillige Laut einer Mädchenstimme, der jetzt unter der raschelnden, weichen Bettwäsche hervor drang, stand zu dem unangenehmen Weckruf in lieblichem Kontrast. Fahrig schälte sich ein schulterlanger, schwarzer, hoffnungslos verstrubbelter Haarschopf aus dem Stoff und ein heller, schön geformter, weiblicher Arm tastete blind zum niedlichen Nachttischchen hinüber. Dann wurde das Piepen abgestellt. Kobayashi Hikari hielt sich übernächtigt und dehydriert den hübschen Kopf. Sie fühlte sich überhaupt nicht dazu bereit aufzustehen und zur Schule zu gehen. Alles was sie wollte, war schlafen. Allein der Zustand, jetzt wach zu sein, bereitete ihr Übelkeit. Sie versuchte, ihre verklebten, schwarzen Augen zu öffnen, sodass Licht an ihre Pupillen dringen konnte und erkannte kurz darauf, dass das definitiv ein Fehler gewesen war. Mühsam schob sie die Füße aus dem Bett und stöhnte leidend, als sie sich aufsetzte. Der Wechsel von der Horizontalen in die Vertikale stellte sich als eine weitere schlechte Idee heraus, denn nun kam zu der Übelkeit und dem Brechreiz erregenden Geschmack auf ihrer trockenen Zunge auch noch ein furchtbares Schwindelgefühl hinzu. Sie ächzte laut und ließ den schmerzenden Kopf erneut in die Hände sinken. Dabei fiel ihr Blick auf ihren Unterarm, den ein weißer akkurat sitzender Verband zierte. Irritiert hob Hikari den Kopf wieder und begann vorsichtig ihren Arm auszuwickeln. Darunter kam eine lange chirurgische Naht zum Vorschein. Sie zählte acht Stiche, bevor sich ihr endgültig der Magen umdrehte. Würgend sprang sie auf, hetzte zum großen Wandspiegel neben ihrem Schreibtisch, fiel davor auf die Knie und erbrach sich geräuschvoll in den Papierkorb. Glücklicherweise hatte sie nicht viel im Magen, sodass sie sich nach dem ersten Schwall schon besser fühlte.
 

„Nh~ Yo~ Nicht so laut.“, wehte unerwartet eine zweite, geschmeidige und unverkennbar männliche Stimme durch den Raum. Hikari erstarrte. Dann wandte sie langsam den Kopf. Die Stimme schien ihren Ursprung unter eben jener Bettdecke zu haben, der sie selbst gerade entschlüpft war. Ihr Bett war aber überhaupt nicht für zwei Personen gedacht, sodass sie die Anwesenheit eines ungebetenen Fremden darin eigentlich hätte spüren müssen. Dennoch kam die Tatsache, dass sie nicht allein im Zimmer war, für sie vollkommen überraschend!

„Wer ist da?“, fragte sie heiser. Dann griff sie nach den Papiertaschentüchern auf ihrem Schreibtisch, um sich den Mund damit abzuwischen.

Raschelnd kam ein Arm unter der flaumigen Decke hervor und schlanke Finger mit kurzen, in einem angenehm gedeckten Lilaton lackierten Nägeln, enthüllten die Wahrheit. Das Wesen im Bett, stützte sich träge auf einen Ellbogen und wandte Hikari das von lilafarbenen Haarsträhnen halb verdeckte Gesicht zu. Das einzige sichtbare violette Auge blinzelte müde ins Zwielicht. Dann fixierte es Hikari und weitete sich abrupt.

„Ach du Scheiße!“, fluchte der junge Mann und wäre vor Überraschung beinahe rückwärts von der Bettkante gefallen, an der er lag.

„Wer zur Hölle bist du?“, quietschte Hikari erschrocken auf. Lucifer griff sich mit schmerzerfüllter Mine an den Kopf.

„Yo, schrei doch leiser, Alter, mir platzt der Schädel.“, maulte er leidend und massierte sich die Schläfen, „Außerdem...“, begann er und wagte dann einen prüfenden Blick unter die Decke, „… stelle ich mir hier gerade selbst ein paar Fragen.“
 

Nun sah auch Hikari an sich herunter und stellte überrascht fest, dass sie vollkommen nackt war. Rasch stand sie auf und hüllte sich in einen schlichten Hauskimono, der über ihrer Stuhllehne hing. Dann sah sie das Gewühl verstreuter Kleidungsstücke auf dem Boden. Allerdings schien nicht ein Stück Männerkleidung darunter zu sein, was sie noch mehr in Verwirrung stürzte. Ihr Blick richtete sich wieder auf den Kerl.

„Willst du eigentlich ewig in meinem Bett rumlümmeln? Erklär mir lieber mal, wer du bist und was du hier machst!“, verlangte sie immer noch heiser und inzwischen auch ein wenig unsicher. Die Szenerie war viel zu eindeutig und doch konnte sie nicht glauben, dass sie das getan haben sollte. Sie liebte doch Nakamura Shinsuke!

Lucifer schob sich mit aufreizender Ruhe langsam die Decke von den Beinen und setzte sich mit lasziver, wenn auch recht träger Grazie im Bett auf. Die Morgensonne schien durch die Lamellen des Rollos vor dem Fenster und zeichnete helle Streifen auf seine nackte Haut. Hikaris Augen weiteten sich vor Schreck, obwohl sie es eigentlich schon geahnt hatte. Der junge Mann war bis auf die langen Haare, die ihm unordentlich und schlecht geschnitten über den Nacken fielen vollkommen entblößt und auch wenn er kein hochgewachsener Herkules, wie Shinsuke, war, so musste man seine Erscheinung doch unweigerlich anziehend hübsch finden. Lucifer gähnte, dehnte den Nacken und bewegte die müden Schultern durch, als wäre er hier zu Hause und die Situation vollkommen normal für ihn.

„Was riecht hier eigentlich so?“, fragte er angewidert.

„Ich musste mich übergeben. Hast du‘s bald mal?!“, wollte Hikari hochrot im Gesicht wissen, „Zieh dir gefälligst endlich was an!“

Lucifer grinste ihr über seine bloße Schulter hinweg frech zu. Ihm war eben wieder eingefallen, was gestern alles los gewesen war. Mal abgesehen von dem recht netten Sex mit Hikari und einer ordentlichen Dosis neuer magischer Energie hatte er gestern noch ein weiteres Erfolgserlebnis gehabt: Er hatte Maou gefunden!
 

„Echt jetzt? Gestern konnte es dir nicht schnell genug gehen, mich auszuziehen.“

„Ach, dann erinnerst du dich doch an gestern?“, fragte Hikari hoffnungsvoll.

„Du dich nicht?“, entgegnete Lucifer mit lustvoller Überlegenheit von oben herab. Er genoss seine Machtposition sichtlich. Hikari zog den Kimono fester um sich und senkte den Kopf zu einer kleinen Verbeugung.

„Hör zu, es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe. Und es tut mir leid, wenn ich dir gestern falsche Hoffnungen gemacht haben sollte. Aber ich liebe bereits jemanden und dass ich nicht weiß, wie es hierzu kommen konnte, macht mich gerade echt fertig. Würdest du mir also bitte sagen...“

„Oh, keine Sorge. Nakamura Shinsuke wird es nicht interessieren, mit wem du ins Bett gehst. Der weiß nicht mal, dass du existierst.“, unterbrach er sie entspannt.

Hikari fuhr wie vom Blitz getroffen aus ihrer Verbeugung auf.

„Woher weißt du, dass meine Liebe Nakamura Shinsuke heißt?“, fragte sie bebend und in ihre Augen kehrte das verrückte Glitzern zurück, das Lucifer schon so oft gesehen hatte, immer dann, wenn die Yandere ihre Schere zückte. Lucifer schnalzte verächtlich mit der Zunge, weil sie schon wieder so laut wurde und das vollkommen grundlos seiner Meinung nach. Dann bemerkte er in entnervend sachlichem Tonfall: „Du erkennst mich wirklich nicht, huh?“

Das intensive Starren der schwarzen Augen bestätigte es nur zu deutlich. Um sie von ihrem Leid zu erlösen, streckte der Junge nachlässig den Arm aus und zeigte ohne Spannkraft im Finger auf einen Haufen wild übereinander geworfener Kleidung, bestehend aus Strümpfen, einer Bluse, einem Rock, Shorts, einem Halstuch und lackierten Halbschuhen. Die Mädchenuniform ihrer Schule! Aber es konnte nicht Hikaris eigene sein, denn die lag in einem noch wilderen Haufen daneben und war außerdem mit einem BH und einem Slip garniert. In ihrem Gehirn ratterte es schmerzvoll. Lucifers Augenlider senkten sich ermattet auf Halbmast ab. Was waren diese Menschen begriffsstutzig!
 

„Ich werd‘s mal für dich vereinfachen“, erklärte er, während er lustlos aufstand und vollkommen hemmungslos ums Bett herum trat, sodass Hikari ihn noch einmal in seiner ganzen nackten Pracht sehen konnte. Im Vorbeischlurfen öffnete er ein Fenster, um etwas gegen den fiesen Gestank nach Erbrochenem zu unternehmen. Dann begann er zu erklären: „Ja, wir hatten Sex. Nein, wir müssen jetzt nicht heiraten. Und was Shinsuke angeht, werde ich nix sagen, wenn du nix sagst.“

Hikari hob schamvoll eine Hand vor die Augen und wandte sich ab; spähte dann aber doch aus den Augenwinkeln durch die Finger nach dem jungen Mann, der sich in ihrem Jugendzimmer nach dem fremden Wäschehaufen bückte. Quer über die strammen vier Buchstaben ihres Gastes, sowie auch vereinzelt über dessen Schulterblätter, zogen sich dunkle, rote Striemen, wie von Fingernägeln. Und als sich der hübsche Kerl mit der Bluse in den Händen aufrichtete, entdeckte das Mädchen zarte Knutschflecke und Bissmale auf dessen Brust und Hals. Sie schämte sich maßlos.

„Aber eins sollte jetzt klar sein.“, sprach Lucifer in derselben trägen und desinteressierten Tonlage weiter, die er schon die ganze Zeit an den Tag legte, „Wenn du mich noch einmal mit deiner abgefuckten Schere bedrohst, dann oute ich dich in der gesamten Schule als Flittchen! Und dann wird er dich nie ansehen.“, bei diesem letzten Satz nahm seine Stimme einen bedrohlichen Unterton an und sein violettes Auge fixierte Hikari, als könne er sie mit einem Blick bannen. Das Mädchen nahm die Hand runter und sah ihren Gast wieder direkt an. Vor ihr stand nun kein hübscher, junger Mann mehr, sondern fertig angezogen und gerade dabei, sich den üblichen Pferdeschwanz mit Hilfe des Schuluniformhalstuchs zu binden…

„Mamono Satori?!“, fragte Hikari vollkommen fassungslos, als sie ihr Gegenüber erkannte.

„Na endlich fällt der Groschen! Hat ja lange genug gedauert.“, murrte Lucifer mit der Haarspange zwischen den Lippen. Er gab es auf, sich den Pferdeschwanz binden zu wollen. Seine Haare im Nacken waren zwar noch etwas mehr als schulterlang, hatten ihre ehemalige Fülle jedoch eingebüßt. Wie eine missmutige Krähe grummelnd, band er das Halstuch unter dem Kragen der Bluse fest, so wie es sich gehörte.

„Aber du bist ein Kerl! Steht Shinsuke etwa auf…“, ihre Stimme brach und Tränen schossen ihr in die Augen.
 

Lucifers schön geschwungenen Augenbrauen hoben sich ungläubig. Was sollte er darauf antworten? Sollte er die verrückte Bitch, die ihn mehrfach bedroht, geschnitten und verprügelt hatte, jetzt etwa trösten? Er wusste doch auch nicht, was mit Nakamura los war, dass er einen solchen Narren an ihm gefressen hatte. Eigentlich müsste er längst gemerkt haben, dass seine Satori kein Mädchen war. Außerdem war es Lucifer auch völlig egal, denn jetzt, wo er Satan gefunden hatte, würde er Shinsuke nicht mehr lange brauchen. Hikari sank stumm weinend auf ihrem Schreibtischstuhl zusammen. Lucifer klemmte sich mit der Haarspange den Pony zurück und ließ dabei stumm den Blick schweifen.

„Hey, ist das die neue Nintendo?“, fragte er begeistert und starrte auf die Konsole, die unter ihrem Fernseher stand.

„Ja.“, bestätigte Hikari tonlos.

„Cool! Lass mal anmachen!“, meinte der Dämon und kniete bereits vor der Konsole.

„Es ist alles meine Schuld. Ich hätte ihm meine Gefühle gestehen sollen, sofort als ich es wusste.“, wimmerte Hikari verzweifelt.

„Ja, hättest du mal besser machen sollen“, kommentierte Lucifer desinteressiert und schnappte sich den Controller der Nintendo.

„Und jetzt, weiß ich nicht mal mehr, ob es überhaupt eine Möglichkeit für uns gäbe, zusammenzukommen...“, schluchzte sie herzzerreißend.

„Ja, wahrscheinlich nicht.“, meinte Lucifer herzlos, während er die installierten Spiele untersuchte. Sie schniefte, entschied dann aber, dass Weinen nichts brachte. Also stand sie auf und zog sich ebenfalls an. Dann wandte sie sich an Satori.

„Magst du was frühstücken?“

„Scheiße ja! Mir hängt der Magen in den Kniekehlen!“

„Und mir dann erzählen, wie es zu unserem … Ausrutscher gekommen ist?“

„Kann ich machen.“

„Und warum du dich als Mädchen ausgibst?“

„Neugierig bist du gar nicht was?! Das hat sich halt so ergeben!“, zischte Lucifer sie an.

„‘tschuldigung.“, murmelte Hikari, „Bleib bitte hier drinn. Dass du hier bist, darf niemand mitkriegen.“, meinte sie dann, als sie aufstand und zur Tür lief. Im Hinausgehen nahm sie noch den Papierkorb mit, um ihn auszuwaschen.

„Oh welch Überraschung.“, grummelte Lucifer in Gedanken an seine Zeit als Olbas kleines Geheimnis.

„Wie bitte?“

„Nix!“
 

Hikari kam mit einem großen Tablett wieder, auf dem Tee, Reis, Räucherfisch und Rührei bereitstanden. Sie stellte es auf einem niedrigen Tisch mitten im Zimmer ab. Lucifer pausierte das Spiel und kam angekrabbelt. Dann setzte er sich nicht besonders damenhaft im Schneidersitz an den Tisch und grabschte sich ungeniert eine Schale mit Reis, bevor er mit den Stäbchen den Fisch zu zerpflücken begann. Hikari wartete artig, dass er anfangen würde zu erzählen. Lucifer hatte nicht die geringste Lust dazu, aber irgendwann trieben ihn ihre erwartungsvollen Blicke derart in den Wahnsinn, dass er doch den Mund aufmachte.

„Eins kann ich dir gleich sagen. An deinen Baggermethoden wirst du schwer arbeiten müssen, wenn Shinsuke dich beachten soll. Er steht auf Mädchen, die er für kleine Engel halten kann. So wie du drauf bist, hast du eher was von American Psycho.“, stellte er klar, indem er mit den Stäbchen auf sie zeigte.

„Ich bin bloß schüchtern!“, verteidigte sie sich. Er verzog das Gesicht.

„Ah ja, hab ich gemerkt. Besonders mit der Schere! Wieso trägst du das bescheuerte Ding überhaupt ständig mit dir rum?!“

Hikari senkte wieder den Kopf und knetete ihre Stäbchen im Schoß.

„Ich bin Vorsitzende des Näh-Klubs. Die Schere wurde mir zu meinem Antritt und als Preis bei einem Nähwettbewerb verliehen. Da ist eine Gravur drauf und alles. Sie soll mich eigentlich daran erinnern, dass ich nicht so schüchtern sein muss, weil es etwas gibt, das ich sehr gut kann. Aber ich trau mich einfach nicht Nakamura anzusprechen. Was, wenn er mich abweist? Immerhin ist die ungewisse Möglichkeit auf ein Happy End immer noch mehr, als die Gewissheit, dass er mich nicht will, richtig?“

Vor emotionaler Anspannung färbten sich ihre Fingerknöchel um die Stäbchen herum weiß, so fest drücke sie zu, „Aber wenn ich dann sehe, dass sich irgendeine Bitch an meinen Shinsuke heranmacht, dann… dann… dann will ich sie nur noch…!“

Das Holz der Stäbchen knackte bedenklich. Hikari hörte es und legte die Stäbchen schnell weg. Dann holte sie tief und zitternd Luft.

„Ich hab gesehen, wie er dich geküsst hat. Ich dachte, ich muss auf der Stelle sterben. Es hat so weh getan! Aber dann wollte ich, stattdessen deinen Tod! Und jetzt bist du plötzlich ein Mann und ich … Satori, wieso zieht er dich mir vor? Sag es mir bitte!“

Ihre Stimme war, während sie redete, immer verzweifelter geworden und die Tränen rannen ihr in kleinen Tropfen über Wangen und Lippen.
 

Lucifer stand auf, schlurfte zum Schreibtisch und holte die Packung mit Papiertaschentüchern, die dort stand. Als er sich wieder an den Tisch setzte, stellte er den kleinen Kasten vor Hikari hin.

„Hey, jetzt mach mal die Schleusen zu. Ist doch alles gut. Erstens will ich nicht die Bohne von Shinsuke; ich find‘s nur ganz praktisch, dass er mir die sabbernden Hormonopfer vom Hals schafft. Und zweitens, natürlich zieht er mich dir vor! Er weiß ja nicht mal, dass es dich gibt! Benimm dich einfach mal wie ein normaler Mensch, geh hin und red Tacheles!“, riet er vernünftig. Aber Hikari schüttelte entschieden den Kopf. Dann schnäuzte sie sich geziert.

„Nein, das ist einfach nicht richtig! So gehört sich das nicht! Der Junge muss dem Mädchen seine Liebe gestehen! Andersherum ist es total peinlich. Außerdem macht es mich so wütend, dass du ihn die ganze Zeit benutzt, obwohl du ihn gar nicht liebst! Das werde ich dir irgendwann heimzahlen, Satori!“

Lucifer zuckte mit den Schultern. Dann widmete er sich wieder seinem Frühstück.

„Meine Fresse, ihr seid vielleicht unnötig kompliziert.“, murmelte er vor sich hin.

„Wer ihr? Wen meinst du?“, wollte Hikari wissen.

„Na ihr Men-… Mädchen.“, rettete Lucifer gerade noch so, beinahe hätte er „Menschen“ gesagt.

„Jungs verstehen eben nix von Romantik!“, feuerte Hikari ihm entgegen.

„Stimmt. Die Romantik einer Scherenmörderin, die im Schatten hinter ihrem Geliebten herumstalkt, entgeht mir tatsächlich.“, meinte er mit vollem Mund an seinen Stäbchen kauend. Eine Weile lang herrschte Stille. Dann seufzte Hikari unglücklich auf.

„Jetzt habe ich sowieso alles vermasselt, weil ich mit dir geschlafen habe!“, meinte sie so verächtlich, als wäre Lucifer eine ansteckende Krankheit, „Wir haben ihn beide betrogen. Das verzeiht er mir nie.“

„Er muss es ja nicht wissen.“, mümmelte Lucifer wenig interessiert.

„Ja, selbst wenn! Er ist mit dir zusammen. Also steht er zumindest teilweise auf Jungs!“, entgegnete sie heftig. Eine kleine Pause entstand, dann fragte sie zitternd, „Ha-h-habt ihr d-denn schon...“

Lucifer hob verständnislos den Kopf als sie so herumdruckste und sah sie an.

„Hm?“

„Na, du weißt schon. Habt ihr… mit- einander…“

Auf Lucifers Lippen spielte ein süffisantes Grinsen, während sich Hikari abmühte die Frage herauszubringen. Sie ging offenbar davon aus, dass Shinsuke von Lucifers Geheimnis wusste und sie ein gleichgeschlechtliches Verhältnis pflegten.

„Bevor du mich über mein Sexleben ausfragst, erleuchte ich dich lieber erst mal über dein eigenes, hm?“, schlug er vor. Hikari nickte.

„Ja, bitte.“

Gefunden!

Olba machte seine Drohung wahr und zwang Lucifer den halben Vormittag lang Kaugummis unter den Stühlen und Bänken der Versammlungshalle weg zu kratzen, während er selbst in der Nähe arbeitete und seinen Kumpan, wie ein Kettenhund, überwachte. Jedes Mal wenn der Engel versuchte, sich davonzustehlen, oder die Aufgabe nicht richtig erledigte, erfassten die Argusaugen des Erzbischofs die Sünde sofort und trieben den Faulenzer wieder zur Arbeit an. Nach vier Stunden hatte Lucifer überall blaue Flecken davon, mit diversen Werkzeugen eines wütenden Hausmeisters gestoßen, gestochen, geschlagen und beworfen worden zu sein. Als Olba ihm endlich erlaubte, zum Mittagessen in die Mensa zu gehen, reichte es dem ehemaligen Dämonengeneral endgültig und er beschloss, abzuhauen. Seine Möglichkeiten dazu waren inzwischen mannigfaltig. In der Mensa begegnete er zunächst Shinsuke und ging bei ihm sofort in die Vollen. Er tippte ihm auf die Schulter und wartete auf das glückliche Strahlen, das dessen Gesicht immer zeigte, wenn er Satori sah. Süß lächelnd legte Lucifer dem bulligen Knaben die Arme um den Hals und setzte sich auf dessen Schoß. Viele der wohlerzogenen, scheuen Japaner in der Nähe rümpften über diese schamlose Zurschaustellung von Zuneigung die Nase, sahen peinlich berührt weg oder reagierten sogar entsetzt. Aber Shinsuke hatte immer noch die Mentalität eines in Amerika aufgewachsenen Jungen und Lucifer kannte keine Scham, darum kümmerten sie sich nicht darum, was die anderen dachten.
 

Shinsuke griff nach Satoris Gesicht und wollte es zu einem Kuss näher an seines ziehen. Lucifer ließ es aufgrund der besonderen Umstände noch einmal zu, dass der Mensch ihn auf die Lippen küsste und strich währenddessen sogar zärtlich mit den Fingern durch dessen kurze, hellbraune Haare. Der Leiter des Wrestling Klubs schmolz, wie Wachs, in Lucifers Händen. Als sie sich voneinander lösten, hatten Shinsukes Augen den glasigen Blick eines willenlosen, verliebten Teenagers und er war bereit, alles zu tun, was seine Amatsuotome von ihm verlangte. Sie verlangte, er solle heute mit ihr auf seinem Motorrad wegfahren, weiter weg als nur bis zur nächsten Imbissbude. Er solle sie richtig umfassend ausführen, die ganze Nacht lang. Sie stellte ihm sogar in Aussicht, möglicherweise bei ihm übernachten zu wollen, wenn der Abend amüsant genug würde. Shinsuke wusste gar nicht, wie er dieses ganze Glück nur bewältigen sollte. Allein die Tatsache, dass das schönste Mädchen der Schule gerade auf seinem Schoß saß und ihn küsste, ließ ihn schon hart werden. Und nun – seine Hormone spielten vollkommen verrückt – wollte sie vielleicht sogar bei ihm übernachten! In seinem Zimmer! Er versprach ihr alles!
 

Lucifer wollte gerade weiter verlangen, sie sollten mit ihrem Date sofort anfangen und den Rest des Tages schwänzen, da entdeckte er seine Gang. Er drückte Shinsuke einen Zettel in die Hand, dass er sich auf den Ausflug freue und sie sich nach der Schule auf dem Parkplatz träfen, dann rutschte er von dessen Schenkeln und lief zu seiner Mädchenbande hinüber. Shinsuke konnte die gesamte Pause über nicht mehr von seinem Stuhl aufstehen, bis seine steife Reaktion auf Satoris Freizeitwünsche abgeklungen war.
 

Die Mädels waren leicht davon zu überzeugen, den Rest des Tages zu schwänzen und so verbrachte Lucifer die nächsten Stunden nicht unter der Fuchtel eines verrückten Hausmeisters, sondern lag nach ein paar gelungenen Diebstählen mit Snacks und Softdrinks ausgestattet im Park zwischen seinen Freundinnen. Er hörte deren Geschnatter und Gekicher nur mit halbem Ohr zu. Sie redeten über Spiele, über Klamotten, über Fernsehserien, die Schule, Sport und Jungs. Makoto wollte von Satori wissen, wie ihre Beziehung zu Shinsuke eigentlich so lief und wie sie überhaupt zueinander gefunden hätten. Sie erhoffte sich wohl Erfolg versprechende Tipps, die sie dann bei Katō Kainyū umsetzen könnte. Lucifer zuckte bescheiden mit den Schultern und winkte ab. Jetzt hatte er allerdings plötzlich die Aufmerksamkeit der ganzen Bande. Alle Augen starrten ihn begierig an. Besonders Toshikos Blick schien ihn zu durchbohren. Lucifer fing an zu ahnen, dass Toshiko eventuell mehr in Satori sah als nur eine Freundin und Anführerin, aber was wusste er schon von Menschen und ihren Paarungsritualen? Er konnte sich irren.
 

Da die anderen nicht locker ließen, nahm er innerlich seufzend seinen Notizblock zur Hand und schrieb in knappen Sätzen die zuckersüße Geschichte auf, wie Shinsuke Satori angerempelt und ihr Buch aufgehoben hatte, wie sie ihn mehrfach abwies, wie er sich prügelte, um ihre Ehre vor Katō zu verteidigen, wie er ihr aushalf, als ihre Karte in der Mensa nicht gedeckt war und wie sie sich schließlich zum ersten Mal küssten, nachdem er ihr als Zeichen seiner Liebe die PASTA schenkte, die er für sie vom Hausmeister gestohlen hatte. Die Mädchen zergingen vor Romantik, als sie das lasen.

„Mein Zukünftiger müsste auch ein harter Draufgänger sein. Darunter verschenke ich meine Jungfräulichkeit nicht!“, meinte Rin fest.

„War klar, dass du noch Jungfrau bist, Rin.“, stichelte Nagori und es war irgendwie seltsam, so etwas aus dem Mund einer Gothic-Lolita zu hören, „Wenn du‘s nicht wärst, würdest du wohl kaum so eine gute Späherin abgeben.“

„Wie meinst du das?“, wollte Kotone mit ihrer sanften, melodischen Stimme wissen.

„Ist doch klar, Mensch!“, intervenierte Makoto, „Wenn du einmal gefickt hast, nimmt man dir das unschuldige, kleine Mädchen einfach nicht mehr ab. Du hast dann Ausstrahlung. Lebenserfahrung.“, erklärte sie im Brustton der Überzeugung.

„Ach und du hast schon mal, oder was?“, warf Toshiko an Makoto gewandt ein.

„Nee.“, feixte Makoto ehrlich, „Aber ich hab zwei ältere Schwestern und die treiben‘s, wie die Karnickel!“

Alle lachten und sogar Lucifer grinste. Rin wurde von den älteren Mädels freundlich auf die Schulter geboxt oder umarmt, je nach Charakter, um ihr zu signalisieren, dass sie es alle nicht böse meinten. Tatsächlich hatte wahrscheinlich noch keine von ihnen praktische, sexuelle Erfahrungen gesammelt, aber das war in dieser Runde völlig egal. Es herrschte einfach eine wohltuende Einigkeit zwischen den Mädchen, die Lucifer an seine Armeen erinnerte. Mit diesen Mädchen würde er seine bescheidenen Ziele hier auf Erden erreichen können, da war er sich ziemlich sicher.
 

Am Nachmittag traf er sich dann mit Shinsuke am Parkplatz und der nahm ihn, wie so oft, auf dem Soziussitz seines Motorrads mit in die Stadt. Zunächst machten sie von dort aus eine kleine Spritztour, bei der Shinsuke Satori die schönen und weiter entfernten Plätze der Gegend zeigte. Als sie sich an einem Aussichtspunkt ein Matcha-Kitkat und eine Tüte Mochi mit roter Bohnenpaste teilten, vibrierte Shinsukes Handy. Er holte es heraus und las die Nachricht.

„Hast du Lust auf Karaoke?“, fragte er an Lucifer gewandt. Dem war alles recht, was seine Entscheidung hinauszögern würde, ob er mit Shinsuke oder Olba die Nacht verbrachte. Er wollte schon nicken, als Shinsuke plötzlich feuerrot im Gesicht wurde und anfing, sich zu entschuldigen. Lucifer verstand erst gar nicht was los war, bis ihm wieder einfiel, dass er ja das stumme Mädchen spielte. Er hätte fast gelacht. Beruhigend legte er Shinsuke die Hand auf den Arm, lächelte und tippte sich ans gepiercte Ohr. Nur weil er nicht singen würde, konnte er ja trotzdem zuhören.

So fuhren sie wieder in Richtung Sasasuka und hielten dort vor einem Reihenhaus mit mehreren Stockwerken. Die Karaokebar befand sich im ersten Stock. Sie kauften Snacks, Süßigkeiten und Getränke und gesellten sich dann zu den anderen in die Kabine.
 

Es waren vor allem Freunde von Shinsuke anwesend, die Lucifer nicht kannte. Shinsuke stellte seine Satori stolz allen vor und Lucifer tat sein bestes, um süß und schüchtern zu wirken. Eines der anwesenden Mädchen hatte ihren älteren Freund dabei, der eine Flasche Shochu an alle ausschenkte. Shochu, so erfuhr Lucifer nach einer kurzen, verstohlenen Googlesuche auf seinem Handy, sollte in Japan die am meisten getrunkene Spirituose sein, ein absolutes Nationalgetränk. Gerade bei der jüngeren Generation seit Jahren sehr beliebt. Shochu ist eine durch Destillation gewonnene Spirituose, die in der Regel einen durchschnittlichen Alkoholgehalt von rund 25 bis 30 Prozent aufweist, manchmal auch bis zu 45 Prozent – dies ist in Japan allerdings die gesetzliche Obergrenze –, und als Erstes auf der Insel Kyushu im Süden Japans hergestellt wurde. Shochu wird in Japan bereits seit über 550 Jahren produziert. So viel wollte Lucifer eigentlich gar nicht wissen. Andererseits verkraftete sein menschlicher Körper gar nichts im Gegensatz zu seiner einst so überlegenen Engelsphysiologie. Und so sah er heimlich auf das Etikett der Flasche. 25% Alkohol. Außerdem mischte der Ältere die Spirituose mit verschiedenen Softdrinks zu Chuhai‘s, in den westlichen Ländern bekannt als Alkopops. Lucifer ließ sich einen Schuss in seine Mangolimo geben. Er schmeckte den Alkohol fast gar nicht heraus, als er probierte, aber ihm wurde warm, wohlig und gelöst. Eine himmlische Ruhe und Zufriedenheit breitete sich in ihm aus.
 

Er konnte diesen Zustand allerdings nicht lange genießen, denn zu seiner großen Bestürzung trafen bald nach ihm die Yandere und ihre Mädels ein. Offenbar waren sie von einem der anwesenden Mädchen eingeladen worden. Sie waren auch die ersten, die sangen. Einen lahmen Popsong mit dem zusammengefassten Inhalt >Ich liebe dich, du weißt es nicht, aber ich lass dich nicht mehr gehen<. Lucifer empfand es als minderwertige Trommelfellbeleidigung. Shinsuke schien die Musik allerdings zu gefallen. Besitzanzeigend legte er den Arm um Satori damit auch alle sahen, mit was für einer Schönheit er hier aufgeschlagen war. Der Yandere pochte bald darauf eine wütenden Ader auf der Stirn. Shinsukes Motorradjacke tat ihr übriges dazu, um ihn bei jedem und jeder entweder zum Helden oder zum Objekt des puren Neids zu machen. Lucifer wurde bewusst, dass sie beide hier das Königspaar waren. Dennoch fühlte er sich unwohl. Es war zu eng. Zu viele Menschen. Und er musste sich immer an Shinsukes Seite halten, um der Yandere keine Chance zu geben, ihn alleine zu erwischen. Das wurde jedoch zunehmend schwieriger, als die süße Alkohol-Limo-Mischung seine Blase füllte und anmerkte, dass es Zeit wurde, sie wieder los zu werden. Dabei brauchte Lucifer den Alkohol unbedingt, denn er spürte den Blick der Yandere auf sich haften, wie ein Kaugummi an einer Schuhsohle.
 

„Ich geh mal aufs Klo. Wartest du hier?“, fragte Shinsuke plötzlich. Lucifer nickte automatisch, weil er das meistens tat, wenn er nicht zuhören wollte. Aber jetzt stand Shinsuke auf und ließ ihn allein. Lucifer sah ihm mit steigender Nervosität nach und empfand seinen schwachen Menschenkörper wieder einmal als ausgesprochene Last. Kaum war Shinsuke außer Sicht, näherte sich die Bobfrisur. Lucifer sprang auf, zwängte sich geschmeidig zwischen den herumstehenden und tanzenden Leibern hindurch und flüchtete aus der Kabine in den Flur. Erst hier wurde ihm schwindlig und er musste sich kurz an der Wand abstützen, um nicht zu fallen. Im Sitzen hatte er den Alkohol nicht so gemerkt, dafür störte er jetzt all seine Sinne. Mühsam orientierte er sich und ging dann vorsichtig auf die Türen der Toiletten zu. Inzwischen war er es gewohnt, die Damentoilette anzusteuern, doch diesmal wäre er wirklich lieber Shinsuke hinterher. In seinem Zustand würde er nicht kämpfen können und gegen die Yandere mit Gefolge kam er gleich dreimal nicht an.
 

Zwischen den Türen stehend, überlegte er, ob die Situation verzweifelt genug war, um Shinsuke auf die Herrentoilette zu folgen, ihn in eine Kabine zu ziehen und eine wilde Knutscherei mit ihm anzufangen, bis er gewillt war, ihn hier schleunigst wegzubringen. Bei Shinsuke Zuhause konnte er dann ja immer noch Kopfschmerzen vom Alkohol vortäuschen. Beziehungsweise... wahrscheinlich musste er die bis dahin nicht mal vortäuschen. Lucifer hielt sich den Kopf, während sich alles um ihn herum drehte.

Da hörte er hinter sich eine Tür zuschlagen und sah sich danach um. Die Yandere stand im Flur und offenbar hatte sie inzwischen ebenfalls getrunken, denn sie hatte leicht gerötete Wangen und einen recht glasigen Blick. Das war für Lucifer das Startsignal, seinen eben gefassten Plan in die Tat umzusetzen. Entschlossen stieß er die Tür auf und drang in den Toilettenraum ein. Hastig sah er sich um. Kein Shinsuke. Irritiert suchte Lucifer die leeren Kabinen ab. Er konnte nicht unbemerkt an ihm vorbeigegangen sein! Hatte Shinsuke ihn angelogen und war woanders hin verschwunden? Ein fieser kleiner Stich schmerzte in Lucifers Brust. Oh, so fühlte es sich also an, verraten und verlassen zu werden. Etwas ratlos stand Lucifer da und sah sich in dem leeren Raum um. Keine Urinale, bemerkte er mit wattigem Kopf. Da ging dem ehemaligen Dämonengeneral auf, dass er aus reiner Gewohnheit in die Damentoilette gestürzt war. Er war im falschen Raum!
 

Plötzlich spürte Lucifer eine grobe Hand auf seiner Schulter und etwas langes, kaltes und scharfes an seiner Kehle.

„Kein Mucks, stummes Mädchen.“, kicherte eine böse, weibliche Stimme rauchig in sein Ohr, „Schön mitkommen oder ich schneide dir gleich hier, die Kehle auf!“

Lucifer blickte hektisch aus den Augenwinkeln nach allen Seiten. Erst weigerte er sich noch, dem Ziehen der Yandere an seiner Schulter nachzugeben und versuchte sich aus ihrem Griff zu winden. Aber dann schlang sie ihm den ganzen Arm um die Brust und schnitt ihm in die Haut. Es brannte furchtbar und jagte Lucifer einen gehörigen Schrecken ein, sodass sein Widerstand verebbte. Flach atmend folgte er dem Druck des ihn leitenden Armes rückwärts in eine der Kabinen. Verdammt, verdammt, verdammt! Da er rückwärts geführt wurde, konnte er nicht vorausschauend genug planen, um sich eine Waffe oder etwas ähnlich hilfreiches auf dem Weg zu besorgen. Er sah die Gegenstände, die ihm eventuell geholfen hätten, immer erst, wenn er schon an ihnen vorbei war. Er brauchte ein Wunder; einen geeigneten Moment! Plötzlich hörte er die Yandere in seinem Nacken aufkeuchen. Kurz darauf riss ihr Arm ihn so heftig nach hinten, dass er das Gleichgewicht verlor und stürzte.
 

„Pass doch auf!“, hörte er die Bobfrisur über ihm rufen, die sich gerade wieder fing, nachdem sie mit jemandem zusammengestoßen und gestolpert war. Lucifer dagegen saß nun mit geprellter Hüfte am Boden.

„Bitte entschuldige, Kobayashi, ich bin wohl etwas zu stürmisch reingekommen. Alles in Ordnung?“, hörte er die Stimme des Mädchens mit dem älteren Freund antworten. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die gerade als „Kobayashi“ angesprochene Yandere erneut die Hand nach ihm ausstreckte. Der scharfe Gegenstand, mit dem sie ihn verletzt hatte, war allerdings verschwunden. Um der erneuten Gefangennahme zu entgehen, warf sich Lucifer auf den Rücken und trat Kobayashi von vorne gegen das Knie. Das Mädchen mit der schwarzen Bobfrisur schrie gellend auf und krümmte sich nach der schmerzenden Stelle. Lucifer zögerte nicht und trat erneut zu. Diesmal erwischte er sie am Kopf. Doch statt ohnmächtig zu Boden zu sinken, wie Lucifer sich das erhofft hatte, blickte Kobayashi nun erst richtig sauer auf. Lucifers violette Augen weiteten sich. Seine Lippen öffneten sich zu einem stummen „Kacke“ und er begann rücklings davon zu robben. Aber Kobayashi warf sich nach vorne, packte Lucifers Unterarme und drückte seinen ganzen, schmalen Körper zu Boden. Ihr spitzes Knie bohrte sich in seine Hüfte und zwar gefährlich nahe seiner Hoden.
 

„Kobayashi! Was machst du denn? Lass Satori in Ruhe!“, rief das unbeteiligte Mädchen wütend.

"Halt die Klappe, Yoko, das geht dich nichts an!", fauchte die Yandere über die Schulter, während sie Lucifer in Schach hielt. Die Angefauchte ließ sich aber nicht so leicht einschüchtern. Sie trat vor und setzte Kobayashi fest, indem sie ihr die Arme um den Oberkörper schlang und sie von Lucifer herunter zog. Der Engel glitt unter der tobenden Yandere heraus. Dabei stieß er versehentlich mit der Schulter gegen ein Tischchen. Mehrere Gefäße und Fläschchen mit Seife, Parfüm und Hygieneartikeln kamen dadurch auf der Tischplatte ins Wanken, fielen schließlich um und rollten vom Tisch. Lucifer konnte gerade noch instinktiv die Hände über den Kopf halten, um nicht von einem Seifenschälchen erwischt zu werden. Daraufhin suchte er Deckung unter den Waschbecken.
 

Als er wieder aufsah, befreite sich Kobayashi gerade von Yoko, stieß sie zurück und sprang wie eine Furie erneut auf Lucifer zu. Er sah, wie ihre Hand in die Rocktasche glitt, wo das Miststück zweifellos ihre lange Stoffschere aufbewahrte. Dann huschte der Blick der violetten Augen nach oben, gefolgt von seinen Händen. Geistesgegenwärtig griff er nach der hölzernen Tischkante und warf ihn um, sodass er Kobayashi entgegensegelte. Der Plan funktionierte sogar besser als erwartet. Die Yandere wurde durch die Aktion nicht nur aufgehalten. Es landeten auch so viele Flüssigkeiten auf dem Boden, dass Kobayashi darin ausrutschte und hinfiel. Nun saßen sich Lucifer und sie wieder auf Augenhöhe gegenüber und atmeten beide schwer. Lucifer stellte überrascht fest, dass er lächelte. Der Kampf machte ihm Spaß.
 

Zwei Schreie folgten auf Kobayashis Sturz kurz nacheinander. Der erste kam von Yoko, die gleich darauf entsetzt die Hände vor den Mund schlug. Der zweite kam von Kobayashi selbst, als sie die große Scherbe aus ihrem Unterarm herausragen sah.

„Krankenwagen!“, stieß Yoko hervor und rief dann lauter: „Wir brauchen einen Krankenwagen! Bloß nicht rausziehen! Das könnte es noch schlimmer machen!“

"Halt die Schnauze, Yoko, so schlimm ist das nicht!", fuhr die Yandere sie an und operierte bereits an der Scherbe herum. Blut quoll aus ihrem Unterarm und tropfte auf den Boden des Waschraums. Lucifer nutzte die allgemeine Ablenkung, um unter den Waschbecken hindurch in Richtung der Tür zu krabbeln. Beim Anblick des Blutes wurde Yoko in dem Moment ohnmächtig, als Lucifer durch die Tür nach draußen entwischte. Er beschloss zu verschwinden, bevor noch jemand auf die Idee kam, mit dem Finger auf ihn als Schuldigen zu zeigen. Das Adrenalin verdrängte die Wirkung des Alkohols ein wenig, sodass er wieder klarer denken konnte. Unbemerkt schlich er sich in die Karaokezelle, in der Shinsuke bereits wieder bei den anderen saß. Er hatte seine Jacke inzwischen ausgezogen und an die Garderobe gehängt. Lucifer nahm sie und huschte damit erst auf den Flur zurück und dann aus dem Gebäude.
 

Auf dem Weg zu Shinsukes Motorrad, zog er die viel zu große Jacke über und fand in der Tasche die Schlüssel. Ohne zu zögern, schwang er sich auf die Maschine. Er hatte es eilig vom Tatort wegzukommen, solange er seine vollen Kräfte nicht wiedererlangt hatte! Er hatte von der Polizei und Gefängnissen gelesen und er hatte keine Lust, im Knast die „Frau“ eines verrückten Schwerverbrechers namens „Choke-chan“ oder so was zu werden. Lucifer ließ den Motor an, riss die Maschine in die Waagerechte und kickte den Ständer nach hinten. Dann strauchelte er und wäre beinahe mit dem schweren Gerät umgefallen. Shinsuke konnte seine Maschine mühelos halten, darum hatte Lucifer ihr Gewicht unterschätzt. Mit purer Willenskraft und eventuell einem Tropfen Magie, brachte er die Maschine wieder ins Gleichgewicht, hielt sich am Lenker fest, gab Gas und hob das zweite Bein von der Straße. Die Maschine sauste los. Der Engel brauchte nicht lange um ein Gefühl für die Maschine zu bekommen. Die wichtigsten Verkehrsregeln hatte er sich bei Shinsuke abgeschaut. Dennoch waren die Fahrkünste des Engels recht… selten. Die Maschine schwankte und schlingerte, fädelte sich eher durch Glück denn absichtlich in den Verkehr ein und Lucifer hatte einen unverschämten Dusel, dass so lange keine Ampel kam, bis er herausgefunden hatte, wo sich die Bremse befand. Es fiel ihm schwer, über ein Ziel seiner Fahrt nachzudenken, wenn er gleichzeitig noch diese Höllenmaschine reiten musste, obwohl ihm das Ding zugegeben einen Mordsspaß machte. Irgendwann setzte er den Blinker und steuerte die nächste Ausfahrt an. Zufällig war es der Bahnhof von Sasazuka. Dort fuhr er auf einen Parkplatz und brachte das Motorrad zum Stehen. Lucifer kippte die Maschine auf den Ständer, zog den Schlüssel ab und setzte sich dann mit angezogenen Beinen erst einmal auf eine Bank in der Nähe, um nachzudenken. Wo sollte er jetzt hin? Etwa zurück zu Olba, sich die nächste Strafe abholen?
 

„Hey, gehört das Motorrad dir?“, fragte eine freundliche Stimme, die Lucifer wage bekannt vorkam. Aber er sah nicht auf und antwortete auch nicht. Ihm knurrte der Magen. Er war den ganzen Tag lang erst mit seinen Girls und dann mit Shinsuke unterwegs gewesen und hatte außer Süßkram noch nichts in den Bauch bekommen. Jetzt war es schon spät und er saß irgendwo an einem Bahnhof als Ausgestoßener fest. Wieso fühlte sich das so merkwürdig vertraut an?

„Ui, also ich will ja nicht unhöflich sein, aber das Magenknurren habe ich sogar bis hier her gehört. Willst du vielleicht mit mir kommen? Ich arbeite bei dem MgRonalds da drüben, bin gerade auf dem Weg zur Arbeit. Meine Schicht fängt gleich an. Ich nehm' dich mit, wenn du willst.“ Lucifer runzelte die Stirn. Wieso war diese Tussi so versessen darauf, ihn mit ihrer klebrigsüßen Honigstimme einzulullen? Fest entschlossen, dieses Menschenweib zur Hölle zu schicken, sah er auf und öffnete schon den Mund. Vor ihm stand ganz allein ein sehr kleines Fräulein mit sehr großen Brüsten und zwei kleinkindmäßigen Zöpfen, die ihr vom Kopf abstanden. Er erkannte sie. Es war Chiho aus der 2B. Wortlos klappte er den Mund wieder zu. Dann griff er in seine Rocktasche nach seinem Notizblock, um mit ihr zu reden, aber der Block war nicht mehr da. Er musste ihn auf der wilden Fahrt durch die Nacht verloren haben. Verdammte Scheiße! Hilflos drehte er die Rocktasche auf links, als könnte sich der Block in einer Stoffalte versteckt haben.

„Oh, ich verstehe. Du hast kein Geld dabei. Na, macht nichts. Ich leih' dir was. Wir sind doch schließlich Schulkameradinnen.“, interpretierte sie Lucifers Griff in die leere Tasche erfreulicherweise falsch. Lucifer stand auf und nickte, um zu zeigen, dass er einverstanden war. Zusammen liefen sie die vielleicht 50 Meter bis zum MgRonalds am Bahnhof und traten ein. Drinnen war es angenehm warm und stickig und es roch verlockend nach ungesundem, vor Fett triefendem Zeug. Lucifer wurde der Mund wässrig.
 

Hinter dem Tresen stand ein mäßig attraktiver Durchschnittstyp mit grünschwarzem Haar in der üblichen senf- und ketchupfarbigen Arbeitskleidung der Fastfoodkette. Lucifer verschwendete keinen zweiten Blick auf ihn.

„Willkommen, haben Sie sich schon… oh Chiho, du bist es. Wen bringst du denn da mit?“, kam die Bedienung von ihrem vorgeschriebenen Begrüßungssatz ab, weil sie die Kollegin erkannte. Chiho hoppelte auf den Tresen zu, wobei sowohl ihre Zöpfe, als auch ihre Brüste affig wippten. Lucifer schlurfte hungrig hinterher. Am Tresen schnappte er sich eine der Menükarten und zeigte auf die Dinge, die er haben wollte: Ein BigMgBurger, Chicken Nuggets, Pommes und eine Mangolimonade. Wobei er nicht einen Gedanken daran verschwendete, dass ihm das Geld dafür geliehen wurde, und er deshalb vielleicht höflicherweise nicht ganz so gierig sein sollte. Chiho wirkte wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines heranrasenden Autos. Lucifers Verhalten war ihr vor dem Kollegen offenbar peinlich.

„Äh...“, stammelte sie überfordert und ihr Blick huschte Hilfe suchend herum, dann lachte sie höflich und legte Lucifer sanft einen Arm um die Schultern, wie um ihn vor den bösen Gedanken anderer in Schutz zu nehmen.

„Sadao, das ist Satori. Wir gehen auf dieselbe Schule. Sie ist stumm und hat leider ihren Block nicht dabei, auf den sie sonst immer aufschreibt, was sie sagen möchte. Tut mir leid.“, erklärte sie mit einer kleinen Verbeugung und drückte auch Lucifer den Kopf runter. Der Engel knurrte stumm in sich hinein und verfluchte das Gör, das ihm dummerweise erst noch das Essen zahlen musste, bevor er grob zu ihr sein konnte.
 

„Ach so, macht doch nichts. Ich kümmere mich um die Bestellung. Zieh du dich lieber schon mal um, sonst fängst du noch aus Versehen deine Schicht zu spät an, Chiho.“, erinnerte er sie, während er Lucifers Bestellung in den Computer eingab. Gelangweilt sah Lucifer ihm dabei zu. Irgendetwas an diesem Typen fing nun doch an, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

„Das Essen kommt gleich.“, meinte er, während Lucifer mit dem gesamten Oberkörper auf dem Tresen lümmelte, das Gesicht halb in den vor der Nase verschränkten Armen vergraben, und zu ihm auf sah.

"Setz dich doch schon mal. Ich bring die Sachen gleich.", erklang Chihos Stimme von irgendwo aus den Personalräumen. Lucifer zog den Oberkörper vom Tresen, suchte sich einen Tisch in der Nähe und lümmelte dort weiter. Er vermisste seine PASTA. Außer ihm waren noch eine Dreiergruppe Jugendliche da, ein alter Mann, der wie ein Penner wirkte und ein Glatzkopf in den besten Jahren mit Rottweiler. Lucifer runzelte die Stirn. Dann nahm er sich eine Serviette und schrieb mit dem Kugelschreiber, der glücklicherweise noch da war, etwas auf. Als Chiho mit seinem Essen kam, drückte er ihr die Serviette in die Hand und deutete darauf, bis sie hinsah und las, was er geschrieben hatte.

>Sag mal, Chiho. Hast du keine Angst mitten in der Nacht so nah am Bahnhof zu arbeiten?<, stand darauf. Chiho errötete.

„Nuuuun.“, druckste sie herum. Dann warf sie einen Blick zum Tresen, den ihr Kollege gerade verlassen hatte, um nach den Fritten zu sehen und beugte sich vor, um Lucifer zuzuflüstern.

„Najaaa. Also, um ehrlich zu sein … normalerweise würde ich mich für die Spätschicht nicht melden. Aber … mein neuer Kollege, er... ist so cool. Er hat als Aushilfe hier angefangen und steigt voll schnell auf. Der kann sich alles merken und ist der perfekte Mitarbeiter. Und, ja, er ist einfach total cool.“
 

Lucifer verkniff sich ein genervtes Augenrollen. Die Hormone trieften der Göre ja aus allen Poren, so verknallt war die. Was ne erbärmliche Vorstellung. Wuhuu, mega toll, eine Saftschubse in rot-gelb, was konnte geiler sein? Dann fuhr es ihm wie ein elektrischer Schlag durch das unterzuckerte Gehirn. Sadao! Was war das denn für ein Name? Grünschwarze Haare und rote Augen? Lucifer lehnte sich zurück und betrachtete den Kerl noch einmal genauer. Sich die Hände an einem Tuch abwischend und in topsauberer MgRonalds-Uniform trat er gerade wieder nach vorne, um nach Chiho zu sehen. Diese Körperhaltung!

Lucifer riss Chiho die Serviette aus den Händen und kritzelte einen neuen Satz darauf.

>Wie lange ist Sadao schon in Japan?<

Chiho las mit und legte den Finger an ihr spitzes Kinn.

"Hmm, ich glaube er hat mal gesagt, er sei vor etwa einem halben Jahr hier angekommen. Er meinte, seine Heimat wäre im Vergleich zu Japan eine völlig andere Welt gewesen.", sie lachte. Lucifers Augen hingegen weiteten sich. Die Haare. Die Gesichtszüge. Deutlich weicher, schmaler und ohne die dämonische Präsenz. Aber die Art, wie sich dieser Kerl bewegte: Immer im Wechsel zwischen animalisch gebückt und militärisch kerzengerade. Diese fließenden, bewussten Handbewegungen, als sei er es gewöhnt mit scharfen Krallen zu gestikulieren. Und diese Ausstrahlung. Das war nur ein mickriger, schwacher, nicht einmal besonders auffallender Mensch, aber wenn er sprach, war ihm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden im Umkreis sicher.
 

„Sadao Mao ist der coolste Mitarbeiter, den diese Filiale jemals hatte.“, schwärmte die Sechzehnjährige mit den großen Hupen verliebt. Lucifer knirschte mit den Zähnen. Das konnte doch kein Zufall sein. Hatte dieser arrogante Knilch nicht einmal versucht, seine Identität zu verschleiern! "Sadao Maou" bedeutete nichts anderes als "Dämonenkönig Satan"! In Lucifer begann ein Feuer wieder hoch zu lodern, das beinahe schon von der Asche der Zeit erstickt worden wäre. Sadao hatte indes Chihos letzte Worte gehört und lachte.

„Nun mach aber mal halblang. Ich mach hier auch nur ganz normal meinen Job. Auch wenn ich schon teuflisch gut darin bin, muss ich zugeben.“, schnarrte er ohne die geringste Scham. Jetzt war Lucifer totsicher, dass er den Dämonenkönig in seiner menschlichen Gestalt gefunden hatte. Dieses Großmaul würde er unter hunderten wiedererkennen! Chiho kicherte, wünschte Satori einen guten Appetit und kehrte an den Tresen zurück. Lucifer ballte die Fäuste und erlitt einen kleinen Schwindelanfall.

Etwas zehrte mit Gewalt von der Kraft in diesem zierlichen Körper. Der ehemalige Dämonengeneral musste mit eiserner Willenskraft die Mordgier in sich unterdrücken, um sich nicht zu enttarnen. Er war ganz blass geworden.
 

Lucifer wollte in diesem Moment nichts lieber, als diesem Dreckssack Sadao, der ihn sterbend im Westen zurückgelassen hatte, genüsslich die Kehle durchzuschneiden und ihn dann über offenem Feuer am Spieß zu rösten! Er war also teuflisch gut in seinem Job, ja?! Wo war dieses Engagement, diese Hilfsbereitschaft und dieser Elan, als Lucifer aus dem Himmel fiel?! Hier machte er seit einem halben Jahr Karriere, hatte auf Ente Isla aber keinen halben Tag entbehren können, um den zerschmetterten Leib seines Generals vom Schlachtfeld zu tragen?! Lucifers Blick bohrte sich mörderisch in seinen dampfenden Burger. Direkt daneben fing seine Limo an, zu kochen. Woran dachte Sadao wohl, wenn er hier stand und Chicken Wings frittierte? Bestimmt nicht an gebrochene, schwarze Schwingen, die für ihn in den Krieg gezogen waren! Schwingen, die Sadaos Wissen nach nie wieder rauschen würden, weil Lucifer tot war! Wirkte er deswegen so froh und unbeschwert, weil er zu wissen glaubte, Lucifers Rache nicht mehr fürchten zu müssen? //Oh, warte es nur ab, mein König.//, dachte der Engel, //Du selbstsüchtiges, verräterisches Stück Goblinscheiße! Du wirst meine Flügel über dir rauschen hören und wenn es so weit ist, dann wird es das Letzte sein, das du hörst!//
 

Lucifer nahm seinen Burger in beide Hände und grub die Zähne hinein als gelte es, ein Stück Fleisch aus Sadao persönlich herauszubeißen. Die kurzen, lackierten Fingernägel versanken in Burgerbuns und Soße. Düster über äußerst kreativen Mordgedanken brütend, saß er da und kaute. Je länger er kaute, desto besänftigter fühlte er sich und je voller sein Magen wurde, desto leichter wurde sein Geist. Auf Ente Isla hätte er sich nie von einem Burger aus seinen Plänen reißen lassen. Doch als Mensch war der Magen oft stärker als der Kopf. Viel stärker. Mit Heißhunger machte er sich über seine Bestellung her und bekam wieder Farbe im Gesicht. Als die letzte Fritte vertilgt war, verließ er grußlos das Restaurant. Er hatte Maou gefunden. jetzt musste er sich darüber klar werden, was er wollte. Wollte er den Deal mit Olba durchziehen und diesen gehörnten Mistkäfer vernichten, weil er ihn im Stich gelassen hatte? Oder wollte er ihm eine Chance geben und eventuell wieder zu ihm überlaufen? Eine schwierige Entscheidung. Vor allem brauchte er jetzt dringend seine Kräfte zurück, solange er nicht wusste, was Maou noch drauf hatte.
 

Lucifer ließ das Motorrad stehen und zog zu Fuß durch die Straßen. Er hatte viel, worüber er nachdenken musste. Bis ihn ein junger Kerl mit zwei Einkaufstüten in den Armen anrempelte und ihn so aus seinen Gedanken riss. Plötzlich projizierte sich Lucifers gesammelte Wut auf die Menschheit auf diesen einen unbeteiligten Kerl! Lucifers Groll gegen Maou, Alciel, Emilia, Olba, die Yandere und ihre Gang kochte unaufhaltsam in ihm hoch und ließ seine Fäuste lila aufleuchten.

"Hey, Arschloch!", rief er dem Kerl hinterher, der ihn angerempelt hatte. Der Typ drehte sich um und machte eine unflätige Geste mit der Hand. Lucifer grinste diabolisch über das ganze Gesicht. Er hatte gehofft, dass der Kerl so reagieren würde. Ohne nachzudenken streckte er die Handfläche nach vorne aus und schoss eine magische Entladung ab. Der lila Energieball traf den Typen in den Magen und schleuderte ihn in eine Gasse, abseits der zu dieser Stunde ohnehin leeren Straße. Lucifer folgte ihm gemessenen Schrittes. In der Gasse waren dem Typen die Einkaufstüten aus den Armen gerutscht und er krümmte sich würgend. Lucifer hockte sich neben ihn und griff ihm ins Haar.
 

"Ihr Menschen seid so zerbrechlich.", meinte er gelangweilt. Doch in der Gasse erblühten noch etwa eine halbe Stunde lang immer wieder lila Lichtkegel, gefolgt von erstickten Schreien, Ächzen und Stöhnen. Lucifer quälte den Menschen, bis dessen Angst, Schmerz und Verzweiflung die magischen Batterien des Ex-Engels auf ein befriedigendes Level gefüllt hatten und der Kerl das Bewusstsein verlor. Erst dann ließ Lucifer von ihm ab und ließ ihn blutend in der Gasse liegen. Bevor er ging, durchsuchte er den Mann noch und nahm ihm seine Brieftasche ab. Anschließend durchstöberte er die Einkaufstüten und nahm alles mit, was interessant aussah. Vor allem Snacks, Batterien und eine Flasche Pflaumenwein.

Frisch mit magischer Energie betankt, wie er war, breitete Lucifer seine schwarzen Schwingen aus und genoss das Gefühl des vorbeistreichenden Windes an seinen Federn. Er schloss die Augen, schlug mit den Flügeln und löste die Gummisohlen seiner Chucks vom dreckigen Asphalt der Straße. Um ihn herum war finstere Nacht, sobald er die Lichter der Stadt unter sich zurückgelassen hatte. Diese Welt war anders als Ente Isla, aber aus der Vogelperspektive war sie neu und interessant. Wenn er der Einzige mit magischen Kräften blieb, konnte er in kurzer Zeit hier König sein, dachte er. Doch das wollte er nicht. Er hatte gesehen, wie sehr Maou sich auf seinem Thron immer gelangweilt hatte und er konnte es verstehen. Nein, er wollte kein König sein. Er wollte der Lichtbringer in dieser Welt sein; derjenige, der die Menschheit den süßen Schrecken eines Dämons lehrte.
 

Plötzlich stellte Lucifer die Flügel senkrecht auf und blieb mitten in der Luft stehen. Eine bekannte Präsenz hatte den Radius seiner magischen Wahrnehmung gestreift. Eine Präsenz, mit der er noch eine Rechnung offen hatte! Leise, mit sachtem Flügelschlag, ließ er sich auf die Höhe einiger Dächer herabsinken, bis er das richtige Fenster ausfindig gemacht hatte. Ein kurzer Wink aus dem Handgelenk und das Fenster schwang auf. Mit einem gekonnten Satz ließ er sich aus der Luft fallen, landete mit beiden Füßen zugleich auf dem schmalen Fensterbrett und sprang elegant ins Zimmer. Die Yandere, Kobayashi, war allein und stand erschrocken mit dem Rücken zur Wand neben ihrer Zimmertür, die Schere in den Händen. Ihr Unterarm war professionell verbunden worden. Sie war also doch in der Notaufnahme gewesen.

"W-Was...?", stammelte sie, während Lucifer gemächlich die Schwingen auf dem Rücken faltete. Er strich mit der Hand über ihr Bettgestell, während er bedrohlich langsam auf sie zu ging.

"Satori! Ich wusste, dass mit dir was nicht stimmt!", bellte Kobayashi, aber ihre Knie zitterten sichtlich. Lucifer lächelte boshaft, schwieg aber beharrlich.
 

"W-was willst du?!", fragte die Bobfrisur und hob ihm abwehrend die Schere entgegen. Lucifer war klar, dass er die magische Energie, die er bisher ansammeln konnte, größtenteils aus ihrem Hass auf ihn und ihrem verzweifelten Liebeskummer generiert hatte. So blieb er jetzt anderthalb Meter vor dem Mädchen stehen, dann beugte er sich blitzartig vor und spannte die Flügel aus, als wolle er sich, wie ein Raubvogel, auf sie stürzen. Kobayashi kreischte, drehte sich um und griff nach der Tür, doch ein lässiger Wink von Lucifer genügte, um die Tür unverrückbar geschlossen zu halten. Als das Mädchen begriff, dass hier höhere Mächte am Werk waren, hatte sie bereits keine Zeit mehr, sich wieder zu Lucifer umzudrehen, denn dieser stand bereits direkt hinter ihr, die Hände in den Taschen der Motorradjacke und hauchte ihr ins Ohr: "Ich will nur meine Rache."

Damit nahm er die Hände aus den Taschen, drückte das Mädchen gegen die Wand und hielt ihr den Mund zu.
 

"Ich würde dir ja gerne erlauben, zu schreien. Die verzweifelten Schreie der Unterlegenen sind Musik in meinen Ohren. Aber bedauerlicherweise hast du Nachbarn. Und ich will hier nicht vorzeitig gestört wer-Aargh!", seine Rede ging je in einen gequälten Schmerzenslaut über, als Kobayashi die Faust mit der Schere nach hinten stieß und die spitze Schneide in Lucifers Seite eindrang. Der Stich ging tief, verletzte aber keine Organe. Ärgerlich sprang der Engel von dem Mädchen zurück und besah sich die Wunde. Dann heilte er sie, noch bevor sie anfangen konnte, richtig zu bluten.

"Du verdammtes Miststück.", meinte er grinsend.
 

Mit dem Mut der Verzweiflung stürzte Kobayashi auf ihn zu. Lucifer fing ihren Angriff ab, dabei entstand ein Handgemenge, bei dem Lucifer immer wieder der blitzenden Schere ausweichen musste. Der Kampf machte ihm solchen Spaß, dass er dabei auf den weiteren Einsatz von Magie verzichtete und die Verzweiflung des Mädchens einfach genoss, welche ihn zudem auch noch stärkte. Er stellte fest, dass ihr Hass auf Satori im Speziellen, ihn viel mächtiger machte, als die allgemeine Panik damals, nachdem er den Feueralarm ausgelöst hatte. Und so verletzte er sie bei ihrem Kampf nicht zu sehr. Sie allerdings wollte ihn nicht nur ernsthaft verletzen, sondern sie wollte ihn töten.
 

Lucifer trieb sein Spiel mit ihr so lange, bis Kobayashi mit Tränen der Verzweiflung in den Augen auf einmal seinen Pferdeschwanz zu fassen bekam und die Schere hindurch zog. Lange, seidige, lila Haarsträhnen fielen leicht, wie Federn, zu Boden. Das Halstuch, mit dem er seine Haare zusammengebunden hatte, rutschte ihm ebenfalls vom Kopf, sodass sich die nun schief geschnittene lila Pracht über seine angespannten Gesichtszüge verteilte.

Lucifer stieß Kobayashi heftig vor die Brust, sodass sie fiel. Aber sie griff nach seiner Jacke und zog ihn im Fallen mit sich, sodass er über ihr aufgestützt zu liegen kam. Sofort blitzte die Schere wieder auf und das Gerangel setzte sich auf dem Boden weiter fort. Bis Lucifer endlich die Schere zu fassen bekam, sie ihr entwand und wegschleuderte.
 

"Nein!", schrie sie auf und wollte hinterher, doch Lucifer hielt sie fest und drückte sie mit seinem ganzen Gewicht zu Boden.

"Schön hiergeblieben.", keuchte Lucifer erhitzt und grinsend, "Mir ist da gerade was eingefallen, wie ich dir deine Misshandlungen heimzahlen kann, ohne dich zu töten.", ließ er sie wissen. Bei dem Wort "töten" holte das Mädchen schon so tief es konnte Luft und wollte um Hilfe schreien. Da stupste Lucifer ihr mit dem Zeigefinger direkt über der Nasenwurzel gegen die Stirn. Ein kleiner lila Blitz entlud sich an der Aufprallstelle.

Das Mädchen schloss erschrocken die Augen und den Mund. Doch dann entspannte sich ihr Körper. Sie atmete tief ein und aus und öffnete die schwarzen Augen wieder. Sie sah ihm offen ins Gesicht. Kleine Schweißperlen hatten sich auf ihrem schlanken Hals gebildet. Ihre hübschen, rosa Lippen öffneten sich.
 

"Satori.", hauchte sie mit sinnlicher Wärme in der Stimme.

"Nenn mich Lucifer.", entgegnete er, während er zuließ, dass ihre Hände unter die Motorradjacke glitten.

"Ja, mein Lucifer. Dann nenn mich bitte Hikari.", erwiderte sie und schob ihm die Jacke von den Schultern. Dann zog sie sich an ihm hoch, schlang die Arme um ihn und küsste ihn mit hungrigem Verlangen auf den Mund. Es klapperte, als das Leder zu Boden rutschte, was Lucifer an die Flasche Pflaumenwein erinnerte, die er dem Typen auf der Straße geklaut hatte. Er löste seine Lippen von Hikaris und holte den Alkohol heraus. Jetzt da er die Yandere nicht mehr zu fürchten brauchte, konnte er sich nun auch in aller Ruhe mit diesem Zeug vertraut machen.

"Lucifer, ich will dich.", flehte das Mädchen, streichelte ihn und zupfte an seiner Kleidung herum. Der Engel nahm sich die Spange aus dem Haar, sodass ihm die Strähnen wie gewohnt ins Gesicht fielen. Nun fühlte er sich endlich einmal wieder wie er selbst. Gönnerhaft reichte er Hikari die Flasche Pflaumenwein und ließ sich zufrieden lächelnd, neben ihr auf dem Boden nieder.

"Dann lass uns feiern.", antwortete er verrucht.

Perspektivwechsel - Eine Yandere fällt aus allen Wolken

Natürlich hätte Hikari Lucifer kein Wort geglaubt, wenn er ihr gesagt hätte, dass er letzte Nacht mit majestätischen Schwingen auf dem Rücken durch ihr Zimmerfenster gekommen war, mit ihr gekämpft, sie schließlich auf magische Weise dazu gezwungen hatte, sich mit ihm zu betrinken, mit ihr geschlafen und ihr nach dem Sex das Gedächtnis gelöscht hatte. Schließlich gab es eigentlich keine Magie, Engel oder Dämonen in dieser Welt. Auf Ente Isla wäre so eine Geschichte einfach typisch Dämon gewesen, plausibel. Niemand hätte den Tathergang hinterfragt. Aber nicht so hier auf der Erde.
 

Also erzählte er Hikari, er sei gesternabend bei ihr Aufgeschlagen, um sich nach ihrem verletzten Arm zu erkundigen und die Sache zwischen ihnen ein für alle Mal zu klären. Er habe den Pflaumenwein als Friedensangebot mitgebracht, sie hätten geredet und getrunken. Plötzlich sei Hikari betrunken über ihn hergefallen und habe ihm unter den Rock gegriffen. Als damit die Katze - oder besser gesagt „der Kater“ - aus dem Sack gewesen sei, habe Lucifer einfach nicht mehr eingesehen, sich gegen ihre Begierde weiter zu wehren. Hikari lief während seiner Erzählung puterrot an.
 

„Du warst es übrigens, die auf das Kondom bestanden hat.“, berichtete Lucifer wahrheitsgemäß, „Witzigerweise haben wir welche in Shinsukes Motorradjacke gefunden. Der hatte sich wohl auf einen feuchtfröhlichen Abend mit mir eingestellt gehabt.“

Lucifers Grinsen bei diesen Worten war nicht nur teuflisch, sondern dreckig und zutiefst gemein Hikari gegenüber. Er genoss es noch immer, ihr ihre dauernden Angriffe auf ihn heimzahlen zu können. Als er Hikaris bitteren Gesichtsausdruck sah, schlug er dennoch einen versöhnlichen Ton an.
 

„Komm, nimm‘s nicht so schwer. Dafür dass er dich seit Jahren übersieht, hat er es doch irgendwie verdient, dass du deine Jungfräulichkeit an seine große Liebe verlierst, nicht?“

Die Äußerung dieser Ansicht zeigte bei Hikari nicht die Wirkung, die Lucifer erwartet hatte und so sah er ziemlich verdutzt drein, als seine Gastgeberin plötzlich wieder die große Stoffschere in Händen hielt. Diese Schere verfolgte Lucifer inzwischen bereits in seinen Albträumen.

„Was ist? Hab ich was Falsches gesagt?“, fragte er ehrlich verwundert. In Hikaris Augen loderte es. Ihre Stimme klang ungewohnt dunkel und rauchig als sie sprach.
 

„Kannst du“, begann sie angespannt vor unterdrückter Wut, „dir auch nur im Mindesten vorstellen, was ich durchgemacht habe, während ich Jahr für Jahr darauf wartete, dass Shinsuke mich bemerkt?!“, fauchte sie. Lucifer erkannte den Ernst der Situation und versuchte, sie mit einem Witz aufzulockern. Dieses phänomenal dumme Fehlverhalten hatte er sich bei den männlichen Teenagern in der Schule abgeschaut und sollte es genauso bereuen, wie jeder andere halbstarke Junge, der das versuchte.

„Na, ich kann mir vorstellen, dass du mit den Sextoys unter deinem Bett schon mal für den Ernstfall geprobt hast. Das war gestern jedenfalls nicht das erste Mal, dass du was Dickes zwischen den Beinen ...“
 

Hikari schrie wutentbrannt auf, hob die Faust mit der Schere über ihren hochroten Kopf und warf sich damit auf Lucifer. Dieser ging rücklings zu Boden. Die Hände um Hikaris Handgelenke geschlossen, konnte er sie gerade mal so in Schach halten, während sie sich auf ihm wand.

„Reg dich ab, du verrückte Kuh!“, schrie er sie an und schlang die Beine um ihren Leib, bevor sie ihm bei ihren Herumgezappel noch zwischen die Beine trat.

„Du kriegst Shinsuke ja wieder, okay?! Bevor ich mit ihm Schluss mache, stelle ich dich ihm vor. Ich sag ihm wie toll du bist und alles, klar? Jetzt hör‘ auf mit dem Scheiß, mich ständig umbringen zu wollen!“, versprach er ihr ins Blaue hinein alles, was er glaubte, dass sie hören wollte.
 

Hikari stoppte ihre Bemühungen, auf Lucifer einzustechen, tatsächlich, kam zur Ruhe und sah den unter ihr Liegenden plötzlich mit großen, runden, feuchten Puppenaugen an.

„Das würdest du machen?“, fragte sie fiepsend.

„Ja, verdammt.“, murrte Lucifer. Hikari war ihm viel zu nah. Er wollte aus dieser Situation so schnell wie möglich raus.

„Versprich mir, dass du nicht mit ihm schläfst bis dahin!“, verlangte sie nun plötzlich streng.

„Ich schwöre.“, willigte Lucifer ein und verdrehte resignierend die Augen.
 

Endlich glitt Hikari von ihm herunter und legte die Schere weg. Schniefend wischte sie sich mit den Händen über das feuchte Gesicht. Lucifer richtete sich wieder auf und betrachtete, was Hikari angerichtet hatte. Der Rest seines Frühstücks war durch den Angriff über ihn, den Tisch und den Boden verstreut worden.

„Sauber. So kann ich jedenfalls nicht in die Schule. Hast du hier irgendwo ein Badezimmer?“, fragte er genervt, indem er sich Räucherfisch und Rührei von der Bluse strich.

"Bist du verrückt?“, begehrte Hikari auf, „Meine Eltern sind da! Wie soll ich denen erklären, dass jemand im Bad ist, wenn außer uns Dreien niemand hier sein sollte?!"

"Dann komm halt mit.", löste Lucifer das Problem umstandslos. Hikari sprang empört auf. Doch dann schien sie sich daran zu erinnern, dass sie Satori bereits mehr als nur nackt gesehen hatte und schluckte ihre Einwände herunter. Seufzend gab sie nach.

„Also gut. Komm mit.“
 

Perspektivwechsel
 

Die Familie Kobayashi hatte ein kleines Badezimmer mit einer Wanne, einer Brause und einer niedlichen Waschmaschine, die gerade mal drei Liter Wäsche fasste. Satori ließ hemmungslos die Hüllen fallen und stopfte seine Uniform in die Waschmaschine. Sie hatte nicht nur Flecken vom Frühstück, sondern stank außerdem nach Alkohol, MgRonalds und Schweiß. Hikari stellte den Schnellwaschgang mit Trocknen an, wobei sie sich eng an Satori vorbeidrücken musste, sodass ihr sein ärgerlich angenehmer Körpergeruch in die Nase stieg.
 

Mal abgesehen von seinem scheußlichen Charakter war dieser Mensch einfach unnatürlich perfekt! Klare, große, intensive Augen, seidiges volles Haar, perfekte, gerade Gliedmaßen und jetzt roch er sogar noch anziehend! Unwillkürlich rutschte Hikaris gedankenverlorener Blick an den hübschen Konturen seiner angedeuteten Bauchmuskeln entlang abwärts und fiel endlich in den Schoß des jungen Mannes. Hikari vergaß für einen Moment wie man atmete, als ihr klar wurde, was genau sie da gerade anstarrte.
 

„Für ‘n Quickie unter der Dusche will ich normalerweise Pfannkuchen zum Frühstück.“, kommentierte Satori ihren Blick tonlos und stürzte Hikari damit in noch größere Verlegenheit als der Anblick seines für japanische Verhältnisse recht ordentlich bemessenen Penisses.

„D-d-d-du träumst wohl!“, verteidigte sich die Oberschülerin schwach, schnappte sich hektisch die Brause und schlug sie Satori regelrecht vor die Brust, anstatt sie ihm einfach zu geben. Dann drückte sie sich in eine Ecke des kleinen Raumes und versuchte, nicht hinzusehen, während sich der Kerl ungehemmt abduschte. Dennoch registrierte sie erneut die roten Striemen auf seinem Hintern und seinem Rücken, sowie die Knutschflecken an seinem Hals und seiner Brust und eine Idee begann in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen.
 

Als Satori das Handtuch vom Kopf nahm, mit dem er sich die Haare trockengerubbelt hatte fielen ihm die lila Strähnen in unregelmäßiger Länge über Nacken und Schultern. Er bemerkte es und grummelte so lange ungnädig herum, dass Hikari das verbrochen hätte, bis sie das schlechte Gewissen plagte, obwohl sie sich nur wage daran erinnern konnte. Schließlich bat sie ihn, auf einem Hocker Platz zu nehmen, damit sie seine Frisur richten könne. Dazu nahm sie eine Haarschere aus dem Badezimmerschränkchen und legte ihm das Handtuch, wie einen Friseur umhang über die Schultern.

„Ich warne dich! Wenn du mich hier abstichst, wirst du das nicht verheimlichen können!“, drohte er beim Anblick der Schere. Mit einer Strähne in der Hand setzte Hikari zum ersten Schnitt an und rümpfte über Satoris Worte die Nase.

„Wenn ich dich jetzt abstechen würde, könntest du mich nicht mehr Shinsuke vorstellen, bevor du ihn verlässt. Wir haben einen Deal, schon vergessen? Also halt still, damit ich dir nicht aus Versehen das Ohr abschneide!“, gab sie zurück.
 

Eigentlich wollte sie ihm nur die Länge anpassen. Doch seine Haare glänzten so wundervoll und fühlten sich in ihren Händen so seidenweich und griffig an, dass sie nicht anders konnte, als ihr Bestes zu geben. Als sie endlich zufrieden war, hatte sie das Fehlen der einstigen Fülle durch einen kecken Stufenschnitt kaschiert und den langen Pony gerichtet. Nun fiel ihm das Haar glatt und geschmeidig ins Gesicht. Sie nahm seine Haarspange, um den Pony locker zur Seite zu klemmen, damit er mit beiden Augen sehen konnte und erkannte im selben Moment, dass sie einen Fehler begangen hatte. So wie seine Haare jetzt fielen, betonten sie sein Gesicht und seine Augen auf unglaubliche Art und Weise. Satori sah mit der neuen Frisur plötzlich noch attraktiver, süßer und begehrenswerter aus als mit dem langen Pferdeschwanz! Es war, als hätte sie ihm instinktiv die perfekte Frisur geschnitten, um ihn für seine beeinflussbare Umgebung noch gefährlicher zu machen. Hikari hatte einen Teufel in Engelsgestalt erschaffen! Aber jetzt war es zu spät, die Sache wieder zu vernichten, denn genau in diesem Moment wurde der Trockner fertig und Hikaris Mutter klopfte an die Tür, um ihre Tochter daran zu erinnern, dass sie zur Schule musste.
 

Sie schaffte es, Satori aus dem Haus zu schmuggeln, ohne dass ihn jemand sah. Auf halber Strecke nahm sie einen Umweg um zwei Häuserblocks, damit sie nicht zusammen mit Satori an der Schule ankam. Als sie jedoch das Gelände kurz vor Unterrichtsbeginn betrat, sah sie zu ihrer großen Bestürzung Satori mit Shinsuke und Chiho zusammenstehen. Offenbar gab sich die kleine Chiho gerade große Mühe, Shinsuke zu erklären, dass Satori nach Hikaris Unfall gestern total verstört gewesen sei. Sie habe sein Motorrad sicher nicht vorsätzlich gestohlen, es sei eine Panikreaktion gewesen. Hikaris Finger krampften sich schmerzhaft um den Riemen ihrer Schultasche, als sie sah, wie reumütig Satori dreinschaute und wie wunderschön er dabei aussah in seiner lupenreinen, frischen Uniform und mit der neuen Frisur, die sie ihm gezaubert hatte! So verspielt wie er die Spange jetzt im Pony trug, wirkten seine Gesichtszüge noch weicher und seine Augen funkelten wie unschuldige Amethysten darunter hervor. Hikari hätte sich die rechte Hand dafür abbeißen können, dass sie so talentiert an der Schere war!
 

Zum krönenden Abschluss dieses Debakels, musste Hikari nun mit ansehen, wie Shinsukes Ausdruck verständnisvoll und mitleidig wurde. Er beugte sich zu Satori hinunter und schloss ihn tröstend in die Arme. Hergott, merkte dieser liebenswerte Trottel denn nicht, dass er einen Kerl umarmte? Sah er die Knutschflecke nicht, die dieser verlogene Mensch am Hals trug?! Hikaris Augen füllten sich mit Tränen. Sie ertrug es nicht länger und rannte schluchzend an den dreien vorbei ins Gebäude.

„Hey! Können Sie keine Schilder lesen?! Müssen Sie mit Ihren dreckigen Schuhen über frisch gebohnerte Böden trampeln?!“, rief ihr der glatzköpfige, alte Hausmeister wütend nach, als sie halb blind vor Kummer durch die Gänge eilte. Normalerweise hätte sie sich umgedreht und sich vielmals entschuldigt, aber heute konnte sie nur weiterlaufen bis sie ihr Klassenzimmer erreichte, wo sie ihre Freundinnen fand.
 

Ein Gutes hatte die ganze Affäre im Nachhinein aber doch. Satoris Worte, dass Shinsuke es für seine Blindheit doch irgendwie verdient habe, wenn die Frau, die ihn wirklich liebte, mit dem Kerl ins Bett ging, der ihn verarschte … oder zumindest so ähnlich hatte er das ausgedrückt… hatten in Hikari eine Kette gesprengt, die sie bisher immer daran gehindert hatte, auch nur mit Shinsuke zu reden. Bisher hatte sie eine übermächtige Angst davor gehabt, in sein Leben zu treten. Doch nun war sie bereits mittendrin. Schlimmer konnte sie seine Privatsphäre nicht mehr verletzen und dieser Gedanke befreite sie von der Hemmung, die sie Jahre lang zurückgehalten hatte.
 

Und so suchte sie in der nächsten Pause zur Abwechslung mal nicht Satori, sondern Shinsuke. Sie fand ihn am Wasserspender. Offenbar wartete er auf Satori, der ihn mal wieder warten ließ oder ganz versetzte. Hikari atmete tief durch.

„Shinsuke Nakamura. Hi. Ich weiß nicht, ob du mich je bemerkt hast … ich bin Hikari Kobayashi aus der 3 A.“

Shinsuke lächelte freundlich auf sie hinab, wirkte aber unkonzentriert und kurz angebunden, als er höflich zurückgrüßte.

„Ich weiß, wir kennen uns kaum und es steht mir eigentlich gar nicht zu … aber ich habe große Achtung vor dir, also vor deinen Leistungen in der Schule und als Leiter des Wrestling Klubs, ... und darum kann ich nicht länger zulassen, dass … dass Satori dich betrügt!“, sprach sie mit gedämpfter, aber fester Stimme aus, was sie sich die gesamte erste Schulstunde lang zurechtgelegt hatte. Sie wollte weitersprechen, aber jetzt sah Shinsuke sie zum ersten Mal in ihrem Leben richtig an. Sein Blick überwältigte sie, denn zum ersten Mal galt seine Aufmerksamkeit nur ihr.
 

Erst schien er nur verblüfft, dann besorgt, aber dann wurde er wütend.

„Ich tu jetzt mal so, als hätte ich das nicht gehört. Aber wage es nie wieder solche Lügen über Satori zu verbreiten, oder du kriegst mächtig Ärger mit mir!“, damit schob er Hikari unsanft zur Seite und ging an ihr vorbei. Hikari drehte sich um und lief ihm nach.

„Ich schwöre dir, ich lüge nicht!“, versicherte sie ihm, „Sieh dir seinen Hals an!“

Shinsuke blieb so unvermittelt stehen, dass Hikari beinahe mit ihm zusammengestoßen wäre. Dann drehte er sich zu ihr um und schubste sie in die Lücke zwischen zwei Automaten, bevor er ihr mit seinem breiten, muskulösen Körper den Ausweg versperrte. Hikaris Puls raste.
 

„Hör zu, Koboyoshi!“, fuhr er sie mit leiser Stimme, aber dafür umso bedrohlicher an.

„Kobayashi.“, verbesserte Hikari ihn fiepsend und starrte erschrocken zu ihm auf.

„Es geht dich überhaupt nichts an, was Satori macht! Keine Ahnung, was du damit bezweckst, aber ich vertraue meiner Freundin! Satori ist so unschuldig, dass sie noch nicht einmal mit mir geschlafen hat und da soll ich glauben, dass sie mich betrügt?! Du spinnst ja! Findest du das vielleicht lustig, schlecht über ein armes, stummes Mädchen zu reden, das sich nicht wehren kann? Du bist echt das Letzte!“
 

Hikari schluckte. Sie war den Tränen nahe, zum einen weil sie so erschrocken war über seine heftige Reaktion, zum anderen weil er ihr nicht glaubte. Satori, dieses Miststück, hatte ihn wirklich voll und ganz bezirzt. Sie brachte kein weiteres Wort mehr hervor.

„Wenn ich mitkriege, dass du so was nochmal behauptest, dann vergesse ich, dass du ein Mädchen bist, hast du das verstanden?!“, drohte er ihr mit dem Finger. Sie nickte nur. Zu mehr war sie im Moment nicht fähig. Shinsuke stieß sich so heftig von den Automaten ab, dass die Dosen darin schepperten und Süßigkeiten aus den Halterungen rutschten. Er ließ das Mädchen stehen und stapfte davon. Hikari brauchte eine Weile, um sich von dem Schreck zu erholen. Doch dann fasste sie einen neuen Entschluss.
 

Drei Tage schlichen sie und ihre Freundinnen heimlich Satoris Gang nach, um Informationen zu sammeln. Mal abgesehen davon, dass die sechs viel zu oft bei MgRonalds am Bahnhof von Sasazuka rumhingen, war noch eine weitere Sache in dieser Gruppe bemerkenswert: Die verstohlenen Blicke, die Toshiko Satori zuwarf, wenn dieser nicht hinsah. War denn einfach jeder an dieser Schule in Satori verliebt?!
 

Donnerstags hatte die 3 A, in der Hikari war, zusammen mit der 3 D, in die Toshiko ging, Sportunterricht. Das Problem war nur, dass auch Nagori, die melancholische Gothic-Lolita, die ebenfalls Satoris Gang angehörte, in Toshikos Klasse ging. Die halbe Woche lang zermarterte sich Hikari den Kopf darüber, wie sie Toshiko nach dem Unterricht abpassen und mit ihr reden könnte, ohne das Nagori dazwischenfunkte. Toshiko war zwar ziemlich klein, aber offenbar auch sehr gewitzt. Es würde schon schwierig genug werden, sie dazu zu bringen, ihr zuzuhören. Wenn dann noch Nagori dazukam, konnte Hikari die ganze Sache abblasen.
 

Hikari war gerade an einen Punkt gelangt, an dem es ihr eine gute Idee schien, Nagoris Mittagessen zu vergiften, als ihr eine glückliche Fügung des Schicksals zu Hilfe kam. Es war Donnerstagmorgen und Hikari belauschte heimlich ein Gespräch, in dem Nagori ankündigte, sie würde sich aufgrund von Regelschmerzen gleich zu Beginn der Sportstunde im Krankenzimmer zu melden. Hikari hatte freie Bahn. Jetzt galt es nur noch Toshiko zu überreden, ihr einen Moment lang Gehör zu schenken. Und auch hier kam Hikari der Zufall zu Hilfe. Toshiko rutschte bei der Leichtathletik-Kür ab und verdrehte sich das Knie. Sofort sprang Hikari vor, fasst die stöhnende Toshiko unter dem Arm und sagte der Lehrerin, sie würde Toshiko ins Krankenzimmer begleiten. Toshiko war zunächst zu sehr von ihrem schmerzenden Knie abgelenkt, um zu registrieren, wer ihr da zu Hilfe eilte. Doch kaum hatten die beiden Mädchen die Tür zum Umkleideraum passiert, stieß Toshiko Hikari weg und schleppte sich allein zu einer der Sitzbänke, um vorsichtig ihr Knie zu betasten.
 

„Was willst du von mir? Warten deine Schlägertussis draußen, hä? Wollt ihr es mir besorgen? Ihr werdet nichts mehr zu lachen haben, wenn meine Freundinnen das mitkriegen. Wir sind doppelt so viele wie ihr!“, zeterte Toshiko tapfer drauf los. Hikari antwortete nicht darauf, sondern setzte sich mit verständnisvollem Blick zu ihr. Als Toshiko in ihrer Rede inne hielt, um scharf gegen den Schmerz Luft zu holen, nutzte Hikari die Pause, um sie anzusprechen.

„Es ist klar, dass du so was denkst. Wir waren in der Vergangenheit furchtbar gemein. Ich war … eifersüchtig auf Satori, weil sie hübscher ist und jeder sie lieb hat. Aber jetzt bin ich nicht mehr eifersüchtig. Ich kenne jetzt ihr Geheimnis.“, fing sie an. Toshiko stieß angestrengt die Luft aus.

„Ach! Und den Schwachsinn soll ich dir jetzt abkaufen, oder was?“, zischte sie.
 

„Hast du von meinem Unfall im Karaoke-Studio gehört?“, fragte Hikari und zeigte Toshiko die genähte Wunde an ihrem Arm. Toshiko schnaubte.

„Unfall? Satori hat erzählt, du hast sie angegriffen und das da ist passiert, als sie sich gewehrt hat.“

„Ja genau!“, hakte Hikari ein, „Genau so war‘s. Aber vorher, als wir gekämpft haben, da ist mir was an Satori aufgefallen und ich glaube, es würde dir vielleicht helfen, das zu wissen. Mir hat es jedenfalls geholfen, nicht mehr eifersüchtig auf sie zu sein … oder besser gesagt, auf ihn.“
 

Hikari hatte ihre Worte mit Bedacht gewählt. Nun wartete sie angespannt auf eine Reaktion. Toshiko wandte ihr das Gesicht zu und starrte sie an. Hikari konnte den Blick nicht recht deuten. Glaubte sie ihr? Wusste sie es bereits? Sie wartete und biss sich dabei auf die Unterlippe. Doch Toshiko schien wie eingefroren zu sein. Sie reagierte überhaupt nicht.
 

„Wusstest du, dass Satori ein Junge ist?“, konnte Hikari sich schließlich nicht mehr beherrschen nachzufragen. Einen Moment lang blieb Toshiko noch still. Dann wandte sie den Blick wieder ihrem Knie zu und murmelte: „Was redest du da für einen Scheiß?“

„Es stimmt. Frag' ihn selbst, wenn du mir nicht glaubst. Wart ihr je miteinander schwimmen oder Klamotten anprobieren? Hast du Satori je in Unterwäsche gesehen?“, überhäufte Hikari die Kleinere aufgeregt mit Fragen, bis Toshiko ihr fauchend das Wort abschnitt: „Selbst wenn es so wäre! Warum erzählst du mir das?!“, fuhr Toshiko Hikari aufgebracht an. Ihre Hand ruhte schützend auf dem verletzten Knie. Hikari atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Ihr Herz klopfte auf einmal sehr schnell.
 

„Ich glaube, du bist in Satori verliebt. Und ich finde, jede Liebe verdient eine faire Chance. Satori ist ein Lügner. Er tut dir nur weh. Ihr solltet ihm nicht vertrauen.“

Toshiko sah Hikari skeptisch aus den Augenwinkeln heraus an, ohne ein Wort zu sagen. Hikari rieb ein wenig verlegen ihre Hände über ihre Oberschenkel und holte noch einmal tief Luft.

„Außerdem glaube ich, dass er auch Shinsuke nur benutzt. Er liebt ihn nicht.“, fuhr Hikari fort. Zu ihrer Überraschung schwieg Toshiko auch dazu. Sie öffnete nur den Mund, um zu fragen: „War‘s das jetzt? Oder wolltest du noch mehr sagen?“

Sie klang dabei wieder genau so angriffslustig wie immer. Hikari beschloss, die Sache erst einmal sacken zu lassen und zu sehen was Toshiko daraus machte.

„Ja, das war‘s. Ich dachte, du solltest das wissen. Und jetzt bringe ich dich wirklich ins Krankenzimmer.“, sagte sie und erhob sich von der Sitzbank. Sie half Toshiko noch, ihre Sachen zusammenzupacken und stützte sie dann auf dem ganzen Weg zur Schulkrankenschwester, wo sie sie sicher ablieferte.
 

In den nächsten Tagen schlichen Hikari und ihre Freundinnen der Gang weiter nach, die ihre Zeit ohne besondere Vorkommnisse genau so verbrachte wie sonst auch. Sie gingen ins Kino, in Läden, in Spielhallen, in den Park und hingen bei MgRonalds am Bahnhof rum. Nur Toshiko schien immer etwas abwesend zu sein. In sich gekehrt lief sie mit und sah Satori immer weniger an. Hikari begann zu fürchten, dass ihr Plan an Toshikos Sturheit scheitern würde. „Los doch! Lass ihn auffliegen! Sag den anderen, dass er ein Betrüger ist!“, murmelte sie immer öfter während der Beschattung in sich hinein. Schließlich glaubte Hikari zu wissen, dass sie auf‘s falsche Pferd gesetzt hatte. Vielleicht sollte sie sich als nächsten Versuch, die Gang zu zerschlagen und Satori zu entlarven, Kotone oder Rin vornehmen. Der Plan nahm bereits Formen an, als Hikari beobachtete, wie Toshiko sich eines Abends allein mit Satori in einem leeren Klassenzimmer traf.
 

Es war die Zeit, in der alle Schüler entweder schon zu Hause oder in ihren AGs waren. Die Abendsonne flutete das Klassenzimmer mit orangegoldenem Licht. Toshiko und Satori saßen auf den Tischen am Fenster und warfen lange Schatten in den Raum hinein. Hiraki hatte es geschafft, die Tür zum Klassenzimmer unbemerkt einen Spalt breit zu öffnen, um besser mithören zu können.
 

Satori sah Toshiko mit einer Mischung aus Ungeduld und Neugier an, während Toshiko den Kopf gesenkt hielt und ihr bandagiertes Knie betrachtete. Weil Satori als Stumme nicht mit Toshiko reden konnte, solange der Blickkontakt fehlte, beugte sich Satori schließlich vor und tippte Toshiko mit ihrem Bleistift auf das gesunde Knie, das nackt unter dem Rock der Schuluniform hervorlugte. Toshiko schrak ein wenig zusammen und hob den Kopf. Sie blickte in Satoris fragendes, hübsches Gesicht und versuchte darin Anzeichen zu erkennen; irgendetwas, das ihr die Frage weniger unangenehm gemacht hätte. Doch sie fand nichts in den glatten Zügen. Satori war sowohl für einen jungen Mann als auch für eine junge Frau einfach viel zu hübsch… vor allem seit sie die Haare offen trug und dieser kecke Pony geheimnisvolle Schatten auf ihr Gesicht warf.
 

„Ich muss dich was fragen.“, nahm sich Toshiko zusammen, „Es ist wahrscheinlich total bescheuert, aber es lässt mir einfach keine Ruhe, verstehst du?“

Satori schüttelte den Kopf, winkte aber mit den Fingern ein "Come on", sodass sie beschloss fortzufahren, bevor sie der Mut verließ.

„Kann es sein, dass du Shinsuke gar nicht liebst?“, fragte sie, ihren ganzen Mut zusammennehmend. Satori sah verwirrt aus. Ihre schönen, geschwungenen Brauen zogen sich über der süßen Stupsnase zusammen und ihre Lippen bildeten stumm die Frage: „Warum?“

Toshikos Brüste wolbten sich unter ihrer Bluse, als sie lautlos einatmete. Ihr Blick ruhte nun fest und fordernd auf Satori.

„Na, weil … wenn du ihn nicht liebst … wenn du ihn nur benutzt, dann … dann könnte jemand, der dich liebt … dann könnte derjenige es dir sagen.“
 

Hikari vor der Tür begann an ihren Nägeln zu kauen. Das lief ja in eine völlig verquere Richtung. Sie hatte darauf gebaut, dass Toshiko sich betrogen fühlen und die anderen Gangmitglieder gegen Satori aufhetzten würde. Sie hatte damit gerechnet, dass die Mädchen Satori in der ganzen Schule bloßstellen würden und es so auch Shinsuke mitbekommen würde. Dann hätte sie zu Shinsuke gehen und ihn trösten können. An so etwas, wie dass Toshiko versuchen würde, Satori Shinsuke wegzunehmen, hätte Hikari nie gedacht! Andererseits war das ja auch nicht schlecht, falls es klappte.
 

Satori hatte ihren Block aus der Rocktasche gezogen und begonnen, darauf zu schreiben, doch Toshiko hielt es nicht aus zu warten. Sie rutschte vom Tisch herunter und trat an Satori heran, bis sie direkt zwischen seinen Knien stand. Entschlossen drückte sie Satoris schreibende Hände herunter und kam dem Gesicht des Lilahaarigen sehr nah. Sie blickten sich gegenseitig tief in die Augen, die eine suchend, der andere abschätzend.
 

„Ja oder nein, Satori? Ist dein Herz noch frei, für eine andere?“, drang Toshiko fordernd in sie. Satoris Blick huschte nervös zur Seite und dann wieder zurück und das im Bruchteil einer Sekunde. Er hatte die Hände hinter sich auf die Tischplatte gestützt und lehnte sich darauf zurück, als wäre ihm Toshikos Nähe unbehaglich. Toshikos Augen füllten sich mit Tränen. Dennoch war sie entschlossen, sich jetzt alles von der Seele zu reden, was sich in ihr aufgestaut hatte.

„Ich muss dir das jetzt sagen! Und wenn es gesagt ist, können wir meinetwegen alles vergessen und weitermachen wie immer. Aber verlässt auch nur ein Wort davon diesen Raum, ich schwöre, dann bringe ich dich um, klar“, fragte sie mit geballter Faust vor Satoris blassem Gesicht. Satori nickte beflissen, so als hielte Toshiko ihr eine Waffe an die Stirn.
 

„Ich mag dich, Satori. Ich mag dich so sehr, dass es mir Angst macht. Verstehst du, ich stelle gerade mein ganzes Wesen in Frage, deinetwegen. Es macht für mich gar keinen Unterschied, ob du ein Mädchen oder ein Junge bist. Aber wenn du Shinsuke nicht liebst und er für dich nur ein Mittel zum Zweck ist, dann … wäre das für mich die Erfüllung all meiner Träume.“, sie hielt kurz inne, um ihre Stimme zu beruhigen, die immer aufgeregter geworden war. Dann fasste sie Satori an den Schultern und fuhr fort: „Ich bitte dich nicht, mich zu lieben, Satori. Ich bitte dich nur, dich mir anzuvertrauen. Egal was du vielleicht verheimlichst, sag es mir bitte.“, bat sie aus voller Überzeugung und ihre Tränen fielen auf Satoris Kragen. Sie schluchzte leise und senkte den Kopf, bis ihre Stirn an Satoris Schulter lag. Dieser starrte nur stumm und perplex schurgeradeaus.

„Verstehst du?“, schluchzte Toshiko leise, „Ich liebe dich!“

Mit diesem Geständnis hob Toshiko den Kopf und küsste Satori auf den Mund.
 

Hikari hielt den Atem an. Einige Herzschläge lang, erduldete Satori den Kuss wie versteinert, dann schloss er die Augen und vertiefte ihn mit Zunge. Block und Stift fielen aus seinen Fingern, sodass er die Hände an Toshikos Taille legen und sie an sich ziehen konnte. Hikari schlich ein paar Schritte von der Tür weg und rannte los.
 

Toshiko lachte schluchzend in den Kuss hinein, schlang ihre Arme um Satoris Hals und erwiderte den Zungenkuss innig. Ihre Lippen verschmolzen, trennten sich keuchend für eine Sekunde wieder und fanden dann erneut zueinander. Toshikos Hände lösten Satoris Halstuch. Dann knöpften sie die Bluse darunter auf. Satoris Hände hingegen hielten sich nicht mit solchem Gefummel auf, sondern gruben sich direkt unter Toshikos Blusensaum, um anschließend die warme Haut ihres Rückens zu erkunden. Kurz darauf schob Toshiko Satori die Bluse von den Schultern und entblößte einen schlanken, männlichen Oberkörper. Wieder lachte sie in den Kuss hinein.

„Du verdammter, dreckiger Lügner.“, grinste sie Satori an und der grinste zurück.
 

„Ich hab‘ nie gesagt, ich wäre weiblich.“, konterte er, froh endlich wieder sprechen zu dürfen. Schließlich war seine Stimme eine seiner überzeugendsten Waffen. Toshiko zerrte ihm die Bluse von den Armen und ließ sie achtlos zu Boden segeln, dann nahm sie den Kuss wieder auf. Sie war ganz wild vor Glück.

"Heißt das, Shinsuke ist dir egal?", fragte sie keuchend an seinen Lippen. Satori grinste dreckig.

"Welcher Shinsuke?", fragte er zurück und schob Toshiko ungeniert die Hände unter den Rock. Sie folgte seinem Ziehen an ihren Schenkeln, indem sie auf das Pult kletterte und sich breitbeinig über seinen Schoß kniete.
 

Von wildgewordenen Hormonen gesteuert, gierte Toshiko nun danach, ihren neuen Freund in Besitz zu nehmen und drückte ihn rücklings auf das Pult nieder. Der Rock rutschte ihm hoch und entblößte dabei einen Slip, der im Schritt bereits ausgebeult war. Toshiko ließ eine Hand zwischen ihre und seine Beine gleiten, um die Beule zu betasten. Satoris Atmung nahm zu, ebenso wie die Erhebung unter Toshikos streichelnden Fingern. Dann nahm Satori seine Erkundungen unter Toshikos Bluse wieder auf, bis seine Finger über die Körbchen ihres Büstenhalters streiften. Toshiko löste ihre Zunge aus Satoris Mund und stieß keuchend hervor: „Sag, heißt du wirklich Satori?“
 

Der Junge hakte seine Finger in Toshikos Körbchen ein und zog sie wieder eng auf sich herunter, um sie weiterzuküssen. Aber sie war genau so gerissen wie er und durchschaute das Ablenkungsmanöver. Ihre Gegenmaßnahme bestand darin, seine Erektion aus dem Stoff des Höschens zu befreien, sie mit der Hand zu umschließen und vorsichtig daran entlang zu reiben. Dann löste sie den Kuss wieder und sah zu, wie der Junge den Kopf auf die Tischplatte sinken ließ und erregt Atem schöpfte.

„Verrate mir deinen richtigen Namen und ich verrate dir, was du alles mit mir anstellen darfst.“, lockte ihn Toshiko, während sie ihre Brüste in seine Hände schmiegte. Der Junge grinste mit beschleunigtem Atem anerkennend von einer Verführerin zur anderen und öffnete den Mund, um zu antworten.
 

In diesem Moment wurde die Tür zum Klassenzimmer aufgerissen und beide wandten die Köpfe, um zu sehen, wer störte. Dann konnte Toshiko hören, wie Satori der Atem stockte, bevor er stöhnend fluchte: „Ach shit!“
 

Shinsuke stand in der offenen Tür, das Gesicht völlig entgleist. Augen, Nasenflügel und Mund standen ihm weit offen. In seinem Blick kämpften Wut, Ungläubigkeit und der Schmerz einer verratenen Liebe um die Vorherrschaft. Was nun folgte, war nicht sehr schön mitanzusehen und doch genoss Hikari, die hinter Shinsuke in der Tür stand, jede Sekunde des Szenarios. Satori versuchte nicht einmal, die Sache zu erklären. Dafür war sie auch einfach zu eindeutig. Er versuchte auch nicht, Toshiko von sich herunter zu schieben. Er fluchte nur leise und resignierend auf, wie jemand, der notgedrungen mit einer sehr angenehmen Tätigkeit aufhören musste. Toshiko war zu sehr böses Mädchen, um ihre Beute fahren zu lassen, sich eilig zu bedecken und sich bei Shinsuke zu entschuldigen, so wie ein anständiger Mensch das vielleicht getan hätte. Stattdessen funkelte sie Shinsuke mit ihren schwarzen Augen an und zischte: „Du störst, Alter!“
 

Shinsuke stand im Raum, wie erstarrt. Er konnte keinen Muskel rühren und brachte kein Wort heraus. Seine Satori lag halb entkleidet unter einer ihrer Freundinnen, die Hände an den Brüsten der anderen ohne selbst welche zu besitzen, während die Freundin unter Satoris Rock ein männliches Glied massierte. Shinsuke würgte. Sein Magen schmerzte und er bekam keine Luft mehr. Entsetzt und Fassungslos griff er sich mit einer Hand an den Magen und hielt die andere vor seinen kreidebleichen Mund. Satoris Hände bewegten sich unter Toshikos Bluse und rutschten ihr offensichtlich in die Taille.
 

„Jetzt reiß dich mal zusammen, Bro. Das wird nicht die letzte Enttäuschung deines Lebens gewesen sein. Nur die schlimmste.“, säuselte Satori gut vernehmlich und seine violetten Augen fixierten Shinsuke ohne eine Spur von Reue, Scham oder Bedauern. Das triumphierende Grinsen, das er sich dabei nicht verkneifen konnte, weil Shinsukes Verzweiflung ihn nebenher noch mit magischer Energie auflud, setzte dem Ganzen dann endgültig die Krone auf.

Toshiko entkam ein böses, kleines Verlegenheitslachen, aber zumindest nahm sie endlich die Hand von Satoris Penis und legte sie ihm stattdessen auf die entblößte Brust.
 

Shinsuke floh aus dem Klassenzimmer. Er rannte so weit seine Füße ihn trugen, bevor er sich tatsächlich übergeben musste. Hikari ließ ihn an sich vorbeistürmen, dann trat sie durch die Tür und schenkte Satori einen ihrer teuflischten Yandere-Blicke.

„Ich sagte doch, ich würde dir heimzahlen, dass du ihn nur benutzt hast.“, erinnerte sie ihn.

Toshiko holte aufgebracht Luft, um Hikari ein gediegenes „Halt‘s Maul, Fotze!“ entgegenzusetzen, aber der entspannte Satori hatte etwas auf Lager, dass ihre Empörung in ein beifälliges Lachen verwandelte.

„Oh nein! Wie soll ich nur mit dieser Schmach weiterleben?“, leierte Satori mit triefendem Sarkasmus in der Stimme herunter. Daraufhin verließ Hikari den Klassenraum und folgte Shinsuke, um ihm beizustehen.
 

Perspektivwechsel
 

Lucifer und Toshiko sahen sich böse schmunzelnd an. Der Engel ließ seine Fingerspitzen auf Toshikos Hüftknochen Kreise malen. Toshiko kicherte guttural.

„Du weißt, dass wir es den Mädels sagen müssen, bevor die es von jemand anderem erfahren.“, erinnerte sie vernünftigerweise, denn nun war seine Tarnung als Mädchen endgültig perdu und nicht alle Gangmitglieder würden das womöglich so gelassen aufnehmen, wie die verliebte Toshiko. Lucifer legte den Kopf in den Nacken, um aus dem Fenster nach dem Stand der Sonne zu sehen.

„Mit denen können wir uns nachher noch treffen. Im Moment mach ich mir mehr Sorgen darum, vom >Meister des Hauses< erwischt zu werden. Der Alte patrouilliert um diese Zeit immer durch die Klassenzimmer.“
 

Sie schrieben eine Nachricht an alle Gangmitglieder und bestellten sie für ein Notfalltreffen an den üblichen Treffpunkt. Eine Stunde später saßen sie schon alle beisammen, jede mit einer Flasche Bier und Taiyaki in den Händen. Lucifer und Toshiko brachten es den anderen vieren so schonend wie möglich bei. Kotone, Nagori, Makoto und Rin fühlten sich dennoch zutiefst hintergangen und ließen alles, was sie je in Satoris Beisein gesagt oder miteinander unternommen hatten in einem völlig neuen Licht revue passieren. Aber Lucifer wäre kein besonders erfolgreicher Dämonengeneral geworden, wenn er Misstrauen gegen sich nur mit Gewalt hätte entkräften könnte. Er redete mit Engelszunge auf die Mädchen ein, erfand rührende Gründe für die Scharade und versicherte, dass er nicht in böser Absicht gegen die Mädchen gehandelt habe, er hätte nur alle anderen täuschen wollen und sei bei der Gründung ihrer Gang – die ihm inzwischen zur Familie geworden sei – leider irgendwie in der Rolle stecken geblieben. Vor allem aber betonte er, wie leid ihm alles täte. Schließlich wurden die Mädchen vernünftig, bevor sie sich richtig in die Sache hineinsteigern konnten.
 

„Schön. Mal angenommen wir glauben dir deine Geschichte.“, begann Makoto schließlich nach einer kurzen Pause, in der sie alle nachdenklich geschwiegen hatten, „Wie willst du das wieder gut machen?“ Alle Augen richteten sich auf Lucifer und der blinzelte zurück.

„Wieder gut machen?“, fragte er.

„Ja!“, insistierte Nagori streng, „Du musst dir unser Vertrauen erst wieder verdienen! Schließlich haben wir alle dieses Ritual durchgemacht, als wir die Gang gegründet haben. Du musst beweisen, dass du es noch wert bist, ein Mitglied zu sein!“, führte sie auf ihre einzigartige, makabere Art und Weise aus.
 

„Wir wissen ja nicht mal, ob du überhaupt Satori heißt.“, schniefte Rin, die die Sache augenscheinlich am härtesten getroffen hatte. Lucifers Verstand arbeitete auf Hochtouren. Seinen wirklichen Namen würden sie ihm ohnehin nicht glauben. Er hatte inzwischen erfahren, wer Lucifer in dieser Welt war. Also brauchte er einen Namen, der so null acht fünfzehn war, dass sie ihn nicht anzweifeln würden. Aber lieber wäre es ihm gewesen, sie hätten nicht darauf bestanden. Er hatte sich an Satori inzwischen gewöhnt.

„Sag schon.“, drängte Toshiko und gab Lucifer einen liebevollen Klaps auf die Schulter. Lucifer seufzte und verdrehte die Augen nach oben. Er sah dabei nur mit einem Auge, weil ihm der lange Pony mal wieder das halbe Gesicht verdeckte. Das brachte ihn plötzlich auf die rettende Idee.
 

„Ich heiße Hanzō Urushihara.“, stieß er seufzend aus. Der Name gefiel ihm nicht wirklich, aber es war der beste, den er sich auf die Schnelle hatte einfallen lassen können. Auf Hanzō war er gekommen, weil es ein häufiger Name war, der zufällig aus den Begriffen „han“ - japanisch „halb“ - und „zō“ - japanisch „verstecken“ - zusammengesetzt war; so wie seine Haare sein Gesicht halb versteckten. Den Nachnamen hatte er sich von dem Mangaka Satoshi Urushihara geliehen, den er inzwischen zu schätzen gelernt hatte.
 

„Und ich lebe wirklich mit einem alten Opa zusammen, der mir nix erlaubt.“, schob er noch nach, bevor jemand Näheres fragen konnte.

„Okay, Hanzō.“, meldete sich plötzlich Kotone mit ihrer lieblichen Stimme zu Wort. Lucifer verzog das Gesicht beim Klang dieses Namens.

„Es wäre mir lieber, wenn ihr mich weiter Satori nennt. Der Name ist eh geschlechtsneutral und außerdem ...“, er legte eine wirkungsvolle Pause ein, in der er perfekt geschauspielert den Schuldbewussten markierte, „… war ich liebendgerne eure Satori.“

Ein fünfstimmiges, tief empfundenes „Aaaw~“ wurde laut. Lucifer strich sich im Geiste mit selbstgefälliger Geste und überlegen lächelnd imaginären Staub von der Schulter. Am liebsten hätte er sich verbeugt, so gut fand er sich.
 

„Also gut, Satori. Nagori hat recht. Wir haben Satori geliebt und ihr in allem vertraut. Sie hat uns koordiniert und uns damit als Team unschlagbar gemacht. Du musst uns beweisen, dass du mit ganzer Seele zu uns stehst.“, erklärte sie und erntete dafür allgemeine Zustimmung.

„Schön, und wie soll ich das machen?“, fragte Lucifer, von diesem Mädchenkram nun doch allmählich genervt. Doch ein Blick in die Runde ließ ihn schon kurz darauf nichts Gutes mehr ahnen. Fünf Paar teuflisch funkelnde Augen hatten ihn mit unerbittlicher Härte ins Visier gefasst. Der gefallene Engel schluckte.
 

Außerhalb der sechsköpfigen Gruppe erfuhr nie jemand, was Lucifer hatte tun müssen, um der Gang seine Loyalität zu beweisen. Hinterher waren sie jedoch alle miteinander eingeschworener denn je. Außerdem ging Lucifer nun fest mit der überglücklichen Toshiko.
 

Wichtiger als das war dem ehemaligen Dämonengeneral allerdings, dass er jetzt wieder Verstärkung hatte. Seine Gang machte weiterhin mit Diebstählen und Überfällen die Gegend unsicher, wodurch sich Lucifers magische Kraft konstant regenerierte. So konnte er unter dem Deckmantel seiner Clique auch weiterhin Maou ausspionieren, wenn er bei MgRonalds Schicht schob und war live als Zeuge vor Ort, als Emilia zum ersten Mal in den Laden kam und Mao um ein Treffen bat.

Burger-Teufel und 100¥-Heldin

Wie sich herausstellte, war Toshiko nicht weniger anhänglich, als es Shinsuke gewesen war. Shinsuke hatte sich zumindest als Gentleman erwiesen, indem er seiner Geliebten den Freiraum gelassen hatte, selbst zu entscheiden, wann Zärtlichkeiten gestattet waren. Toshiko war dagegen das reinste Raubtier. Kaum dass Lucifer in ihre Nähe geriet, wurde er umarmt, gestreichelt, liebkost, geküsst und unsittlich berührt ohne Rücksicht darauf, wer dabei zusah. Toshiko ließ keine Gelegenheit aus, um öffentlich zu zeigen, dass Lucifer ihr gehörte. Das dadurch entstehende Getuschel und die Blicke der anderen Schüler interessierten Lucifer wenig, aber er hielt diese ständige Nähe Toshikos bald nicht mehr aus, sodass er sich gezwungen sah, wieder Zuflucht in Olbas und seinem Hauptquartier zu suchen.
 

"Sieh mal einer an. Lucifer. Verschwindest wortlos, lässt dich Tage lang nicht blicken und jetzt liegst du hier faul herum, als wärst du nie fort gewesen! Ich dachte schon, du hast unsere Mission vergessen und dich mit diesem Jungen abgesetzt, den du Teufel verführst.", schimpfte der Erzbischof im Blaumann, als er Lucifer Chips essend und mit der Spielkonsole in Händen auf seinem angestammten Platz im verbotenen Klassenzimmer antraf.

"Wie gewohnt liegst du meilenweit daneben, alter Mann.", erwiderte Luzifer, ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen. "Während du hier deine Zeit mit Dreckschaufeln verplempert hast, bin ich einer Spur gefolgt, die mich direkt zu Maou geführt hat.", meinte er leichthin und schob sich einen Kartoffelchip zwischen die Zähne.
 

Olba fielen fast die Augen aus dem Kopf, so erstaunt war er. Seine Lippen bebten.

"Lügst du auch nicht.", fragte er skeptisch.

"Warum sollte ich mir die Mühe machen?", erwiderte Lucifer emotionslos.

"Um deine faule Haut vor Strafarbeiten zu retten, wie jener, der du vor Tagen entflohen bist.", schlug Olba vor.

"Glaub's ruhig, Erzbischof. Ich habe ihn gefunden.", ließ sich der Engel nicht aus der Ruhe bringen. Olba hingegen wurde nun ganz aufgeregt.

"Wo?! Wie sieht er jetzt aus?! Hat er seine Macht noch?!"

"Eile mit Weile, eure Heiligkeit.", grinste Lucifer überlegen, "Im Moment observiere ich ihn noch. Er hat die Gestalt eines durchschnittlichen Japaners angenommen, heh, was den ollen Muskelprotz ziemlich nerven dürfte. Ich finde noch heraus, ob er seine Kräfte hat. Ich werde ihm keine andere Wahl lassen, als sie zu zeigen."
 

Olba beruhigte sich wieder.

"Was ist mit Alciel?"

"Bisher keine Spur von ihm. Vielleicht ist er inzwischen tot."

"Und Emilia?", fragte Olba ernst. Endlich sah Lucifer den Erzbischof mit leuchtend violetter Iris über den Rand seiner Spielkonsole hinweg an.

"Was wird das hier? Ein Verhör? Kommst du gleich wieder mit Ketten aus himmlischem Silber um die Ecke oder darf ich erst mal meinen Job machen, bevor du mir die Fingernägel ausreißt und meine Nippel mit der Nagelpistole piercest?"

Einmal mehr ließen Lucifers loses Mundwerk und seine haltlosen Unterstellungen Olba sprachlos dastehen.
 

"D-du Teufel! Im Moment liegst du doch nur wieder faul rum und beleidigst meine Augen mit deiner Schamlosigkeit! Nimm gefälligst die Beine zusammen, wenn du diesen Rock trägst!"

Lucifer senkte die Augen wieder auf den Bildschirm, doch sein Grinsen wurde unwillkürlich anzüglicher.

"Alle Welt da draußen steht auf mich, nur du willst deine Neigung immer noch nicht zugeben."

Es kostete Olba seine ganze Kraft, Lucifer nicht am Kragen zu packen und zu schütteln. Mit mühevoller Selbstbeherrschung zwang er seine Stimme zur Ruhe.

"Sag mir, wo Satan ist, dann können wir ihn zusammen jagen."

Lucifer hob geringschätzig die Augenbrauen.

"Ganz sicher nicht. Du Riesentrampel würdest nur alles vorzeitig versauen. Ich kenne Satan und seine Denkweise besser als irgendwer sonst. Er wird sich mir offenbaren und dann wird er mich zu Emilia führen, freiwillig oder nicht. Aber dafür muss ich allein sein!"

Olba gefiel es gar nicht, einfach abzuwarten und Lucifer zu vertrauen, aber dem Engel waren keine weiteren Informationen zu entlocken. So verlangte Olba im Befehlston, über alles auf dem Laufenden gehalten zu werden, was Lucifer unkommentiert ignorierte. Er hatte seine eigenen Pläne mit Maou.
 

Lucifer war allein, als er am selben Abend noch durch die Tür der MgRonalds Filiale schlurfte. Von seiner einst so aufrechten und stolzen Körperhaltung war ohne die Flügel absolut nichts geblieben. Das hatte sich auch mit Übung nicht geändert. Äußerlich war er ganz Schülerin. Er hatte sich außerdem große Kopfhörer aufgesetzt und einen Hoodie übergezogen, aber eher, weil es draußen regnete als aus Gründen der Verschleierung.

Etwas in ihm wollte, dass Satan ihn erkannte. Etwas in ihm wollte den Dämonenkönig testen, ihm eine Chance geben.
 

Doch Maou stand nicht am Bestelldesk, als Lucifer ankam. Er war 10 Minuten zu früh dran. Nur Chiho war da. Von ihr wusste Lucifer, wann Satan arbeitete. Weil sie sich immer bemühte, dieselbe Schicht zu bekommen, wie ihr Schwarm, war die Wahrscheinlichkeit groß gewesen, dass sie sich Satans Schichteinteilung kopiert hatte. Daher hatte Lucifer ihren Rucksack durchwühlt, als Chiho beim Sport gewesen war. Dort hatte er Maous Plan tatsächlich gefunden und mit dem Handy abfotografiert.
 

Missmutig reihte sich Lucifer in die Schlange ein und wollte gerade den Typen vor sich absichtlich anrempeln, um ihm in die Tasche greifen zu können, als ein Erdbeben den Boden erschütterte und den Typen rücklings gegen Lucifer stolpern ließ. Der Ex-Engel ergriff die Chance, zog dem Mann mit flinken Fingern die Geldbörse aus der Tasche und versteckte sie geschickt in seinen Rockfalten , bevor dieser sich zu ihm umdrehte, um sich mit einem kessen Spruch zu entschuldigen. Als sich der Typ Chiho zuwandte und sie mit nervtötender Arroganz fragte: "Wo ist denn ihr Lächeln?", nahm sich der Dämon in Menschengestalt genug Geld für ein kleines Menü heraus und ließ die Börse dann geschmeidig in die Tasche ihres Besitzers zurückgleiten.
 

Während er wartete, dass Chiho mit der Bestellung des Typen fertig wurde, schweifte Lucifers Blick an den vorbereiteten Burgern und Pommestüten entlang und blieb schließlich an der Friteuse hängen, die munter vor sich hin dampfte. Dann warf er einen prüfenden Blick auf die Uhr. Noch sieben Minuten bis Satan seine Schicht begann. Wahrscheinlich zog er sich gerade in den Personalräumen für seine Schicht um. Lucifers unverhülltes, violettes Auge fixierte wieder die Friteuse und begann vor magischer Energie zu leuchten. Jetzt oder nie!

Auf gottlos erhitzt durch lila Energie schmorten im Gehäuse der Friteuse ein paar wichtige und unwichtige Kabel durch, der Stromfluss kam zum Erliegen und das Brutzeln des Frittierfetts wurde allmählich leiser.
 

Chiho verabschiedete den Kunden, den sie bis eben bedient hattd und atmete erleichtert durch. Dann erkannte sie Satori und grüßte freundlich.

"Hallo Satori, bist du wieder hier?", fragte sie dämlich. Lucifer nickte und schrieb auf seinen Block.

"Kommst du jetzt öfter?", fragte Chiho weiter, offensichtlich um die Zeit zu überbrücken, die Lucifer zum Schreiben brauchte. Er zuckte die Schultern und schob ihr das Blatt mit seiner Bestellung zu. Chiho nahm es und las. Dann tippte sie alles in den Computer ein. Währenddessen huschten ihre Augen immer wieder abgelenkt zu Lucifer zurück, bis sie ihre Neugier offenbar nicht mehr unterdrücken konnte. Zumindest versuchte sie, es wie beiläufige Konversation klingen zu lassen.
 

"Ich habe gehört, zwischen dir und Shinsuke Nakamura ist es aus, ist das wahr?"

Lucifer nickte.

"Oh. Das tut mir leid. Ich hoffe, es war keine allzu schwere Trennung."

Lucifer unterdrückte ein Grinsen. Für den einen mehr, für den anderen weniger, dachte er. Statt aber zu grinsen oder schriftlich zu antworten, hob er die Hand und bewegte sie, wie eine Wage, die versucht, ihre zwei Wagschalen auszubalancieren. Chiho lächelte mitfühlend, dann begann sie damit, Lucifers Bestellung einzusammeln, wobei ihr eine Pommestüte zu Boden fiel. Während sie die Fritten mit hochrotem Kopf auffegte und entsorgte, redete sie weiter.

"Und jetzt bist du viel mit Toshiko aus der 3D unterwegs?", fragte Chiho vorsichtig, bevor sie sich anschickte, eine neue Tüte Pommes aus der Ablage zu holen. Lucifer wartete, bis sie damit fast bei dem Tablett war, dann bildete er mit den Händen ein Herz vor seiner Brust und lächelte so glücklich, als sei er bis über beide Ohren verliebt.

Er wurde nicht enttäuscht. Chiho riss die Augen auf, rief: "Ach, so ernst ist das mit euch? Ihr seid richtig fest zusammen?!" und ließ vor Überaschung auch die zweite Tüte fallen. Man sah Chiho an, dass sie kurz davor stand, vor Scham über ihr Versagen in Tränen auszubrechen.
 

Lucifer grinste zufrieden in sich hinein. Es war so einfach, bei Chiho Angst und Verzweiflung auszulösen, dass er durch diesen kleinen Trick bereits fast seine magische Energie wieder auffüllen konnte, die er vorhin für die Zerstörung der Friteuse verbraucht hatte.

"Bitte entschuldige, ich weiß auch nicht was heute mit mir los ist. Hier hast du zwei Portionen Pommes, eine geht aufs Haus.", versuchte Chiho die Lage zu kitten. Lucifer zeigte ihr das Piece-Zeichen, wobei er ihr allerdings den Handrücken zukehrte, was so viel wie "Fotze" bedeutete, aber er lächelte dabei so lieb, dass sie es in ihrer Aufregung nicht wirklich als Beleidigung wahrnahm. Er zahlte, nahm sein Tablett und suchte sich einen Tisch.

"Lass es dir schmecken!", rief sie ihm nach und wäre sichtlich gerne im Boden versunken vor Scham.
 

Zutiefst zufrieden mit sich trug Lucifer das Tablett zu einem Tisch in der Nähe des Eingangs, von wo aus er die Friteuse einigermaßen im Blick hatte. Chiho war wieder mit Pommes aufkehren beschäftigt, da kam der Dämonenkönig in seiner mickrigen, menschlichen Gestalt aus dem Personalraum. Lucifer kannte diesen Gesichtsausdruck Maous. Sprühend vor Tatendrang und Motivation erkannte Satan mit dem geübten Blick des Heerführers die Situation. Eine Unzahl an Fritten war zu Boden gegangen! Es wurden dringend neue Einheiten benötigt, um die Reihen an der Frontablage aufzufüllen. Nur was diese Situation verursacht hatte, oder besser gesagt, wessen klare, künstlerische Handschrift das Chaos trug, das erkannte der große Kriegstreiber immer noch nicht. Dennoch handelte er sofort! Ohne zu zögern warf der Dämonenkönig eine neue Ladung Pommes Frites ins Fett, legte die Tüten bereit und wollte gerade mit Schwung eine frisch frittierte Ladung auf das Abtropfsieb werfen, als er feststellen musste, dass die Fritten allesamt noch roh waren.
 

Bei dem verdutzten Gesicht, das Satan jetzt machte, musste sich Luzifer schwer die Hand vor den Mund halten, um nicht zu lachen. Sein charakteristisches Keckern hätte Satans Aufmerksamkeit auf jeden Fall auf Lucifer gelenkt, doch so leicht wollte Lucifer es ihm nicht machen.

Er sah den Dämonenkönig in ernstes Grübeln versinken.

//Ganz schön schwer, eine Entscheidung zu treffen, wenn deine Berater dir nicht ins geneigte Ohr flüstern, was, mein Lord?//, dachte Lucifer mit grimmiger Genugtuung. Dann spürte er die Veränderung in der Luft und sah Satans magische Aura aufleuchten.
 

Nun war es für Luzifer absolute Gewissheit! Dieser Hampelmann in der Senf-Ketchup-Kombi war tatsächlich sein ehemaliger König - der Verräter, der ihn todwund auf dem Schlachtfeld hatte liegen lassen - und er besaß seine Magie! Das machte Lucifers Mission um einiges gefährlicher. Wenn Satan sich wehren konnte, dann musste Lucifer ihn schwächen, bevor er ihm gegenübertreten konnte.

Lucifer unterdrückte den Schmerz und die Wut, die in ihm aufwallten und konzentrierte sich stattdessen auf seinen Triumph. Sein Plan hatte geklappt. Er wusste nun, was er wissen musste, während Satan ihn noch immer für tot hielt. Nun hielt der Engel alle Trümpfe in Händen und brauchte nur noch auf den richtigen Moment zu warten, um sie auszuspielen.
 

Derweil wurde Satan bei der Ausführung seines magischen Kunststück von der Filialleiterin unterbrochen. So lange, wie er zuvor darüber nachgedacht hatte, Magie einzusetzen oder nicht, musste er offenbar noch besser damit haushalten als Lucifer. Ob Maou verletzt war? Anders konnte sich Lucifer dessen magische Sparflamme nicht erklären, wo es doch so einfach war, unter den Menschen lebend magische Energie zu sammeln. Vor allem mit Chiho in unmittelbarer Nähe. Bei ihr musste man ja nicht einmal groß nachhelfen, damit sie sich in Verzweiflung stürzte.
 

Lucifer aß auf und beobachtete dabei, wie die Krise von der Filialleiterin bewältigt wurde, während sich der große Dämonenkönig einfach das Zepter aus der Hand nehmen ließ. So angepasst ... so diensteifrig ... und so ... mit dem Herzen dabei ... Bildete Lucifer sich das ein oder hatte Satan an seinem Teilzeitjob tatsächlich mehr Freude als an seinem Eroberungskrieg?!

Zutiefst verwirrt, verließ der ehemalige Dämonengeneral die Filiale und schlich um das Gebäude herum in eine Seitengasse. Es hatte aufgehört zu regnen. Kurz entschlossen breitete Lucifer die Flügel aus und flatterte unbemerkt im Schatten der leeren Gasse auf das Dach der Filiale. Dort richtete er sich darauf ein, zu warten. In der Tasche seines Hoodies ruhte seine Handheld von Pasta und so spielte er in mal mehr mal weniger unbequemer Haltung darauf, bis Satans Schicht zu Ende war.
 

Maou verließ das Schnellrestaurant pünktlich durch den Hinterausgang, bestieg sein Fahrrad und radelte los. Lucifer steckte die Konsole ein und folgte ihm lautlos über die Dächer hinweg mit einigem Abstand. Plötzlich hielt Maou auf dem Gehweg an und schien mit jemandem zu sprechen. Eine spindeldürre Rothaarige, bei deren Anblick sich Luzifer die Nackenhaare aufstellten. Sein Instinkt betrog ihn nicht, denn plötzlich zog die rothaarige Hexe ein Messer und richtete es auf Satan. Diese Körperhaltung ... und dieser Blick ... Luzifer kroch am Rand des Daches entlang näher, hielt sich aber in Deckung. Jetzt wurde die Rothaarige lauter und auch Satan stieß den nur allzu vertrauten Namen laut genug aus, damit Lucifer ihn verstehen konnte:

"Die legendäre Heldin Emilia?!"
 

"Wusst' ich's doch. Wie die Fliege zum Scheißhaufen kommt die Heldin geflogen, sobald sich der Dämonenkönig zeigt.", murmelte Lucifer grimmig in die vorgehaltene Hand. Aber was sollte denn dieses lächerlich winzige Messer? Wo war Better Half? Die Lage spitzte sich derweil unten auf dem Gehweg immer weiter zu. Satan verfiel in sein gewohntes Imponiergehabe, während die Heldin nur immer entschlossener wurde. Wären die beiden nicht in diesen absurden Menschenkörpern gefangen gewesen, hätte ihr Wortgefecht fast episch aussehen können. So jedoch hatte die Szene eher etwas peinliches.
 

Nichtsdestotrotz waren das Emilia und Satan da unten. Lucifers Hände umfassten die Dachkante fester.

"Bring sie um!", flüsterte er beschwörend, "Na los doch, worauf wartest du? Räche uns!"

Doch Maou erwähnte Lucifer mit keinem Wort und als Emilia schließlich den Kampf eröffnete, machten beide dabei keine sonderlich gute Figur. Lucifers Fingernägel kratzten frustriert über das Gemäuer. Auf einmal war die Straße in Blaulicht getaucht und eine Polizeistreife griff die beiden Streithähne auf. Lucifer ging in Deckung und schlug sich die Hand vor den Kopf, so erbärmlich fand er das Ganze. Der Polizeiwache wollte Lucifer wegen seiner Raubzüge aber lieber nicht zu nahe kommen. Daher brach er seine Observation für dieses Mal ab.
 

Missgelaunt und grübelnd kam er wieder im verbotenen Klassenzimmer an, fegte den Müll von seiner Matte, legte sich hin und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.

Was war das nur für eine Welt, in der Satan von einem Drahtesel herunter große Reden schwang und die legendäre Heldin mit einem 100 Yen Messer herumfuchtelte, bis die Polizei die beiden hops nahm?! Lucifer biss sich auf die Unterlippe bis es schmerzte. Kein einziges Wort hatte Satan über ihn verloren! Es war auch Maous erstes Wiedererkennen mit Emilia gewesen und er hatte kein einziges Word über Lucifer oder einen der anderen gefallenen Generäle verloren! Satan wollte überhaupt keine Rache für diejenigen, die im Krieg für ihn treu ihr Leben gaben!
 

Lucifer schmeckte Blut und zog die Zähne aus seiner aufgebissenen Unterlippe und musste über sich selbst schmunzeln. Weder als Engel noch als Dämon war er je so gefühlsduselig gewesen. Diese Menschenwelt war ja ganz spaßig, aber er bemerkte nun, dass er sein verändertes Wesen nicht mehr nur spielte. Er lebte unter den Menschen, trug ihre Kleidung, aß ihre Speisen, nutzte ihre Technik, richtete seinen Tagesablauf nach dem ihren aus und hatte sich sogar dazu herabgelassen, sich aus billiger Rachlust mit einer Menschenfrau zu vergnügen. Und jetzt blutete er auch noch, wegen so einer Kleinigkeit. Langsam fuhr er mit der Zunge über die kleinen Wunden, die seine Zähne gerissen hatten, dann zwang er sich zu einem teuflischen Grinsen. Es wurde langsam Zeit, den Spieß umzudrehen und die Welt den süßen Horror eines Dämonen schmecken zu lassen.
 

In den nächsten Tagen tauchte Lucifer immer dann im MgRonalds auf, wenn Satan Schicht hatte. Mal kam er allein, mal mit der Gang. Er gab Satan damit unterbewusst noch weitere Chancen, ihn zu erkennen, auch wenn er es vor sich selbst als reine Observation rechtfertigte. Aber Maou hielt nicht Ausschau nach ihm. Tag für Tag übersah er Lucifer, bis dessen Frustration auch für sein Umfeld spürbar wurde.

"Was guckst du denn immer so trübsinnig zu der Bedienung da hinten?!", wollte Toshiko eingeschnappt wissen und rammte Lucifer ihren spitzen Ellbogen zwischen die Rippen. Lucifer war nicht in Stimmung und schwieg. Toshiko sah sich den Mitarbeiter hinter dem Tresen genauer an.

"Gefällt er dir etwa?! Überlegst du vielleicht, doch nochmal das Ufer zu wechseln, oder was?!", fuhr sie ihn halb besorgt, halb wütend an und boxte ihn. In Lucifer brodelte es, doch er blieb stoisch. Toshiko holte erneut aus.
 

"Ich schwöre dir ...!", doch weiter ließ er sie nicht kommen. Er umschloss ihren schlanken Hals mit den Händen und drückte sie rücklings in die Sitzecke.

"Satori!", kreischte Toshiko auf,

...

dann ermordete er sie, indem er ihr die Kehle herausriss. Stolz breitete er seine Flügel aus, sprang auf den Tisch und warf den noch warmen, blutigen Leichnahm dem Dämonenkönig als Tribut vor die Füße. Ihre flammenden Blicke trafen sich über der Toten. Die Luft zwischen ihnen knisterte. Der Moment war intensiv. Endlich nickte Satan und bot ihm seine riesige Hand dar. Lucifer schwebte vom Tisch, um geschmeidig vor Satan zu landen. Er kniete nicht vor ihm und verbeugte sich auch nicht. Er stand vor diesem riesigen, teuflischen Koloss und forderte mit leuchtenden Augen sowie schmalem Lächeln sein Recht. Seine schöne, schmale Hand griff entschlossen in die Pranke des Dämonenkönigs und Dämonengeneral Lucifer ließ sich an seinen angestammten Platz an des Königs Seite führen.

...
 

"Sag mal, träumst du?!", ein weiteter schmerzhafter Hieb, diesmal gegen die Schulter, riss Lucifer aus seinen Fantasien. Satan hatte immer noch dieses idiotische Lächeln im Gesicht und bediente die Menschen, als sei es seine Lebensaufgabe.

"Toshiko-chan.", wandte sich Lucifer plötzlich an seine menschliche Freundin. Diese hielt verdutzt in ihrer ausholenden Bewegung inne, die Faust noch locker geballt. Diesen Tonfall kannte sie noch gar nicht von ihm. Seine Stimme war weich, samtig, geschmeidig, regelrecht verführerisch.

"Was ist denn?", fragte sie unsicher. Er drehte den Körper auf der Sitzbank zu ihr herum, hob den Arm und fuhr mit den Fingerspitzen in ihre geballte Faust, bis sich ihre Finger ineinander verschränkten und er sie zu sich heranziehen konnte.

"Lass dich küssen.", verlangte er sanft und strich ihr mit der freien Hand durchs Haar, bis seine Finger in ihrem Nacken lagen. Dann hob er ihr sein schönes Gesicht entgegen. Ihre Nasenspitzen strichen zärtlich übereinander hinweg. Mit einem letzten gehauchten Seufzer vereinigten sich ihre geöffneten Münder zu einem leidenschaftlichen Kuss, den sie mit halb geschlossenen Augen minutenlang aufrecht erhielten. So lange bis Chiho an ihrem Tisch auftauchte.
 

"Entschuldigt bitte, Toshiko, Satori. Es tut mir wirklich leid, aber ich muss euch bitten, äh, damit aufzuhören. Die Restaurantordnung .... und die anderen Gäste fühlen sich schon gestört ... bitte seid so lieb, ja?"

Mit erhitzten Wangen und Schlafzimmerblick löste sich Toshiko lächelnd von Lucifers Lippen und schielte regelrecht in dem Versuch Chiho anzusehen ohne den Blick von Lucifers Auge abzuwenden.

"Kein Problem, Chiho.", hauchte sie. Dann stand sie auf und zog Lucifer an ihren verschränkten Fingern in die Höhe. Stehend lehnte sie sich gegen seine Brust und meinte:

"Ich halte es hier eh keine Sekunde länger aus."

Lucifer lächelte verschlagen, legte den Arm um Toshiko und führte sie an Satan vorbei in Richtung der Toiletten.

Chiho hob hilflos die Hände, als wolle sie sie noch aufhalten.

"Oh, bitte, nicht doch.", rief sie ihnen bebend vor Unbehaglichkeit nach. Doch da bogen die beiden kurz vor den Damenwaschräumen noch ab und verließen das Schnellrestaurant durch den Kundenausgang. Maou hatte nicht einmal zu ihnen hinübergesehen. Da wurde Lucifer klar, dass seine Bemühungen sinnlos waren!
 

Draußen kühlten sich ihre Gemüter etwas ab, auch wenn Toshiko die Erregung noch deutlich anzusehen war. Lucifer löste sich von ihr. Das war mehr als genug Nähe gewesen und die Show war vorbei. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis Toshiko das Thema wieder aufgriff, von dem er sie mit dem Kuss hatte ablenken wollen.

"Aber mal im ernst. Wieso willst du seit Neuestem dauernd zu MgRonalds?", fragte Toshiko. Er zuckte die Schultern. Auch für den Fall, dass sie nicht locker ließ, hatte er eine Ausrede parad.

"Ich überlege, mich da als Aushilfe zu bewerben."

"Du und arbeiten?!", fragte Toshiko erstaunt, "Du gehst doch nicht mal zum Unterricht!"

"Nur solange bis ich weiß, wann es sich lohnt, die Kasse abzugreifen."

"Puh, na das klingt schon eher nach dir. Jetzt bin ich aber erleichtert.", schnaufte Toshiko lachend.
 

Sie gingen wieder eine Weile schweigend nebeneinander, dann nahm Toshiko das Gespräch wieder auf.

"Sag mal, weißt du schon das Neueste von Shinsuke Nakamura?"

"Muss ich?", fragte Lucifer zurück.

"Er geht jetzt mit Hikari Kobayashi, der dummen Pute, die dich seinetwegen immer abstechen wollte."

"Hat sie es also endlich geschafft den Mund aufzumachen. Bravo."

"Was meinst du?"

"Ach nichts. Wann treffen wir uns nochmal mit den andern?"

"In einer dreiviertel Stunde. Ich hoffe, wir machen heute gut Beute. Ich spare auf einen Roller."
 

Als Lucifer an diesem Abend allein zur Schule zurückkehrte, die Jackentaschen voller unrechtmäßig an sich gebrachter Scheine, war er müde, aber guter Dinge. Er vertrieb sich die Zeit mit der Vorstellung, wie er Emilia und Maou besiegen und Maous gesundes Horn als Trophäe behalten würde. So versunken war er in seine Gedanken, dass er die Schritte hinter sich gar nicht recht registrierte, bis es zu spät war.

Zwei grobe Hände packten ihn überraschend und zogen ihn in den Hurt Lock, einen schmerzhaften Wrestling Move, aus dem es kein Entkommen gab. Lucifer biss die Zähne zusammen, bis der Angreifer nicht mehr an ihm riss, dann begann er lauthalt zu schimpfen.
 

"Hast du den Arsch offen?! Lass mich sofort los, sonst bereust du's! Ich hab Freunde, die dich dafür fertig machen werden!"

"Das einzige, das ich bereue, ist, dass ich auf dich reingefallen bin, du verdammter Stricher!", knurrte Shinsukes Stimme in Lucifers Nacken.

"Oh ... shit." Der Engel erstarrte, doch sein listiges Gehirn suchte bereits einen Ausweg.

"Shinsuke, hör zu ... ich hab dich wirklich gemocht, es gibt da nur Umstände, von denen du nichts weißt."

"Das ist mir aufgefallen! Zum Beispiel wusste ich nichts von dem Umstand, dass du ein Kerl bist!", warf der Wrestler ihm vor. Aus seiner Stimme sprachen immer noch Schmerz und Wut.

"Ich konnte es dir nicht sagen. Ich wurde erpresst. Es hat mir nie gefallen, dir was vorzumachen. Ich hatte immer gehofft, du merkst es von se....", eine scharfe Klinge an seiner Wange stoppte ihn.

"Mach den Kopf zu, Satori! Du hast ihm schon genug Lügen aufgetischt! Wir beenden das jetzt!", teilte ihm die entschlossene Stimme Hikaris mit. Dann zog sie die Schneide ihrer Stoffschere von seinem Gesicht ab und schnitt ihm dabei über dem Wangenknochen in die Haut. Lucifer verkniff sich das schmerzerfüllte Zischen und den Fluch, der ihm auf den Lippen lag.
 

"Ach nee, wie rührend. Das dynamische Duo hat sich endlich gefunden.", kommentierte er abfällig, "Ihr solltet mir lieber dankbar sein! Ohne mich hättet ihr für immer Yandere gespielt!"

Hikari streckte mit einer zackigen Geste den Arm und Lucifer zuckte zusammen, fest damit rechnend, dass sie ihm etwas antun würde. Doch sie zeigte nur in Richtung der Toiletten. Schon wurde Lucifer von dem bullenstarken Shinsuke in diese Richtung gezerrt.

"Was jetzt?!", fragte Lucifer tapferer, als er sich fühlte, "Was wollt ihr machen? Mich umbringen?"

So weit würde er es nicht kommen lassen. Aber solange sie ihm nur Angst machen wollten, würde er wohl oder übel mitspielen. Er brauchte seine magischen Kräfte für den Kampf gegen Satan und Emilia, da konnte er sie nicht an diese zwei Pubertiere verschwenden.
 

Shinsuke warf ihn vor einer Toilettenschüssel auf die Knie, was schon ekelhaft genug war bei einer öffentlichen Schultoilette. Dann packte er ihn bei den Armen und hielt ihn fest, seine Schulterblätter gegen den Rand der Klobrille gedrückt. Hikari hockte sich neben ihn und Lucifer sah die Schere auf seine Mitte zukommen. Er zog den Bauch ein und klemmte die Beine zusammen, um seine Weichteile zu schützen. Doch auf die hatte es Hikari gar nicht abgesehen. Das spitze Maul der Schere verbiss sich in den Saum von Lucifers Schuluniform. Da verstand der General, was Hikari mit "Wir beenden das jetzt!" gemeint hatte.

"Halt! Wartet! Stop!", Lucifer wand sich, doch Shinsuke wusste erschreckend genau, wie man einen Menschen festhielt.

"Hör auf mit der Scheiße! Hikari, das ist meine einzige Uniform! Ohne die kann ich hier nicht mehr rumlaufen!"

Hikaris Grinsen sagte alles.

"Gut! Dann kannst du hier auch niemandem mehr weh tun!"
 

Sie schnitt ihm die Knopfleiste der Bluse ab, zerschnippelte die Ärmel und den Kragen und trennte schließlich große Fetzen Stoff heraus, sodass das Oberteil schließlich kaum mehr etwas verdeckte und fast von Lucifers Leib abfiel. Der Engel musste es wehrlos hinnehmen und konnte Hikari lediglich mit seinen grimmigen Blicken erdolchen. Dann wandte sie sich dem Rock zu. Auch hier entfernte sie den Reißverschluss und das Häkchen zuerst. Danach zerfraß die Schere den Faltenwurf so gründlich, dass nicht einmal eine Patchworkarbeit den Rock hätte retten können. Schließlich schnitt sie ihm sogar die Kniestrümpfe vom Bündchen bis zur Ferse auf. Stolz erhob sich Hikari und blickte auf ihr Werk der Zerstörung hinab.
 

"Das ist fürs Lügen! Jetzt kann jeder sehen, was du wirklich bist!", feixte sie. Lucifer schwieg. Er hätte auch kaum Zeit bekommen, um zu antworten, denn schon zog Shinsuke wieder an ihm.

//Oh Mann ... wieso ist der für ein Menschenkind so abnormal stark?! Er muss einen Oger oder so in der Familie haben!//, dachte Lucifer abfällig, bevor er den harten Rand der Toilettenschüssel vor der Brust spürte und auf das dunkle Spülwasser starrte.

"Shinsuke, jetzt mach dich nicht zum Affen!", verlangte er genervt.

"Nenn mich nie wieder beim Vornamen, klar?!", brüllte Schinsuke ihn so plötzlich an, dass Lucifer instinktiv den Kopf einzog.

"Sprich uns beide nie wieder an! Ich geb dir eine Denkhilfe, damit du's nicht vergisst!", zischte Hikari giftig. Lucifer wollte sich ducken, doch Hikarie fasste mit einem Griff die schönen lila Haare in seinem Nacken zusammen und fuhr mit der Schere hindurch. Lange Strähnen fielen an Lucifers Gesicht vorbei ins Wasser.

"Du kindische Schlampe!", knurrte Lucifer, doch bevor er dazu kam, Shinsuke aus Rache die Sache mit der gemeinsamen Sexnacht zu stecken, drückte dieser schon Lucifers Kopf hinunter in die Schüssel. Sein Gesicht war nur noch Zentimeter von der kläglichen Wasserpfütze in der bräunlich verschmutzten Keramikschüssel entfernt. Was sie ihm noch alles sagten, verstand er nicht mehr, weil das Geräusch der von Hikari betätigten Spülung ihre Stimmen übertönte und Lucifer kurz darauf zu abgelenkt war von dem Wasserpegel in der Schüssel, der beängstigend anstieg. Lucifer musste Mund und Augen schließen, um dem Schlimmsten zu entgehen. Das rettete jedoch nicht seine Nase, Ohren und Haare.
 

Als Shinsuke ihn endlich losließ, stemmte sich Lucifer nach Luft schnappend und pitschnass am Toilettenrand aus der Schüssel. Das Wasser troff ihm aus den Haaren, an seinem vor Wut bebenden Körper hinunter und benetzte die Bodenfliesen.

"Das war für die dreckige Art, wie du dich von mir getrennt hast! Jetzt fühlst du dich hoffentlich genauso beschissen, wie ich mich gefühlt hab!", gab ihm der Wrestler noch mit. Lucifers um den Toilettenrand gekrampfte Hände zitterten. Seine fast vergessene Verachtung für die Menschen entbrannte erneut.

Sie ließen noch ein paar letzte Drohungen auf ihn herab, darüber was passieren würde, wenn er sich je wieder blicken lassen würde, dann ließen sie ihn allein.
 

Luzifer stand auf.
 

Mühsam seine Wut und seine Magie im Zaum haltend, trottete er zur Basis zurück.
 

Olba schrie schrill auf, als er ihn sah, weil Lucifer original als das mörderische Geistermädchen aus dem Brunnen hätte durchgehen können.

"Bei allen Heiligen, wie siehst du denn schon wieder aus?! Was hast du mit deiner Uniform angestellt, du Teufel?! Und warum um Himmels Willen bist du so nass?! B-bist du etwa so durch die Flure gelaufen?!"

Olba sprang auf, eilte zur Tür und streckte den Kopf aus dem verboten Klassenzimmer.

"Ich wusste es! Nichts als Ärger hat man mit dir! Jetzt sieh dir das an! Überall Pfützen! Das wirst du bis morgen alles trockenwischen, hörst du ....?"

Lucifer streckte ihm die offene Hand entgegen.

"Was soll das jetzt heißen?"

"Die Schlüssel zu den Sportumkleiden. Ich muss duschen."

"Allerdings! Du stinkst wie das Jungenklo im Erdgeschoss.", stellte Olba erstaunlich treffsicher fest. Er gab ihm die Schlüssel. Lucifer schnappte sich das erstbeste an Kleidung, das in seiner Hälfte des Raumes herumlag: Eine 3/4 Hose aus Jeansstoff, ein weißes T-Shirt mit blasslila Ärmeln und ein Paar dazu passende Converse Chucks. Er warf alles mit Duschgel in ein Handtuch und machte sich wortlos wieder davon.
 

Nun war seine Tarnung futsch und sein Hass brannte ihm fast ein Loch in den Bauch. Er schwor, die Sache mit Maou zu einem schnelle Ende zu bringen und dann schleunigst von dieser Welt zu verschwinden!



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Dollface-Quinn
2022-06-19T12:27:48+00:00 19.06.2022 14:27
Fanart zum Kapitel von der Betaleserin:
https://www.animexx.de/fanart/2739077/
Von:  TiJus_Art
2022-06-19T09:27:06+00:00 19.06.2022 11:27
XDDDDD OmG warum hast du Lucifer nicht Lucy genannt :'DDD Ich feier das so hart. "Der Meister des Hauses", lol! Ich kann mir Lucifer so gut vorstellen. Der wird bestimmt noch voll der Schülerschwarm ;P
Antwort von:  Dollface-Quinn
19.06.2022 11:37
Du hast ja keine Ahnung, wie recht du hast!
Von:  TiJus_Art
2022-06-18T17:10:04+00:00 18.06.2022 19:10
Ein sehr delikates Kapitel. Beide Charas sind richtig gut dargestellt und ich mag deine Umschreibungen. Jetzt bin ich gespannt wie sie das Tor öffnen und was sich am Zielort so ergibt 🤩
Von:  MariLuna
2022-05-26T20:21:06+00:00 26.05.2022 22:21
Oh Ignora, so viel Verantwortung ... ^^
Du hast ja jetzt doch einen anderen Titel gewählt... however, der ist auch cool. ^^
ich finde deine Kampfszenen immer noch toll geschrieben. Ist dir klar, dass du mit dem armen Lucifer viel fieser umgehst als der Erfinder? Armer Lucifer...
Antwort von:  Dollface-Quinn
26.05.2022 22:55
Ich habe "memento defuncti - Gedenke des Verstorbenen" als Untertitel behalten. Ich fand, die Geschichte braucht mehrere Titel.
Ich weiß nicht, bei mir wird immer automatisch alles so brutal. Andererseits musste ich einfach seine Ehre retten. Er ist ein Dämonengeneral und berüchtigt! Das geht einfach nicht, dass Emi einmal zulangt und er ist draußen! Der Erfinder nimmt diese Figur einfach nicht ernst. -_-


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