Memento defuncti - Ein Requiem zu früh von Dollface-Quinn ================================================================================ Kapitel 6: Menschen - Ein Engel im Fadenkreuz --------------------------------------------- Nach all dem Ärger fühlte Lucifer sich seltsam unwohl. Einen irren Moment lag, fürchtete er, unter einem schlechten Gewissen zu leiden, aber dann wurde ihm klar, dass er schlichtweg Hunger hatte. Dieses neue Gefühl, das ihn nun ständig überkam, beunruhigte ihn. Andererseits verspürte er auch keine geringe Neugier auf die verschiedenen Möglichkeiten, diesen Hunger zu stillen. Chips gefielen ihm bereits sehr und auch das Nikotin-Kaugummi hatte einen interessanten Effekt gehabt, schmeckte allerdings scheußlich. Nun wollte er wissen, was es in der Mensa zu entdecken geben würde. Dummerweise war nicht er derjenige gewesen, der die Mensa gestern entdeckt hatte, sondern Olba. Hinzu kam, dass es erst zur Mittagspause dort Essen gab. Als die Schüler wieder ins Gebäude durften verschwanden sie alle direkt in ihren Klassenzimmern, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als selbst danach zu suchen. Schon nach kurzer Zeit merkte er, dass seine Beine müde wurden. Sein schlurfender Gang rührte nicht von Trägheit her, sondern von der schieren Gewohnheit überall hin zu fliegen oder magisch zu schweben. Auf Ente Isla lief er so gut wie nie! Lucifers Laune sank immer weiter dem Nullpunkt entgegen, je häufiger ihn der Schmerz in seinen Beinen daran erinnerte, dass dieses Menschendasein unter seiner Würde war! Doch schließlich fand er die Mensa! Dort musste er aber erst einmal die Pause abwarten bis es Essen gab. Also setzte er sich und begann das Buch zu lesen, das er schon den ganzen Morgen mit sich herumschleppte, jenes über die jüngere Geschichte Japans. Lucifer erhoffte sich, daraus zu erfahren, auf welchem Level des Fortschritts diese Menschheit war und welche Gesetzgebung hier die Ordnung aufrecht erhielt. Er hatte nämlich keine Lust, schon wieder in einem Kerker zu landen. Während er Satz für Satz mit seinen brüchigen Kenntnissen entzifferte, setzte sich plötzlich jemand neben ihn. Es war ein jugendlicher Halbstarker von vielleicht 16 Jahren, einen Kopf größer als Lucifer und seinem Körperbau nach zu Urteilen betrieb er irgendeine Art Sport, womöglich Leichtathletik. Um das festzustellen, musste Lucifer nur einen kurzen Seitenblick riskieren. Er las weiter und ignorierte den Menschen. „Bist du neu hier? Ich habe dich an der Schule noch nie gesehen.“, fing der Junge an zu reden. Lucifer runzelte die Stirn. Was wagte es dieser Mensch eigentlich, ihn anzusprechen? Hatte er vielleicht Todessehnsucht? Na, den Wunsch konnte er dem Knaben doch erfüllen - Ach Scheiße!, dachte Lucifer, als ihm einfiel, dass er sich hier ja gerade als Mensch tarnte und außerdem sorgsam auf seine Magiereserven achten musste. Der Junge schien sein Schweigen als Anlass zu nehmen, um weiter zu plappern: „Ich bin Katō Kainyū aus der 2B und du?“ Lucifer öffnete den Mund, um dem Typen zu sagen, dass er sich verpissen sollte, da rutschte jener plötzlich ziemlich nah an ihn heran. Dem Engel sträubten sich die Nackenhaare. Viel zu nah! Wieso mussten ihn hier eigentlich alle anfassen und bedrängen?! Katō lieferte ihm die Antwort, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Du solltest hier nicht so alleine rumsitzen, weißt du? Manche Jungs sind ziemlich scharf hinter den Mädchen her. Vor allem hinter den Hübschen. Ich kann dich beschützen, wenn du willst.“ Das war es also. Der Rock lud offenbar zur Freiwildjagd auf ihn ein. Jetzt sah Lucifer den Knaben zum ersten Mal richtig an und was er sah, bestätigte ihm seine schlimmsten Befürchtungen. Der Kerl hielt ihn wirklich für ein Mädchen und er hatte sich in dieses vermeintliche Mädchen offenbar verguckt. Auch das noch! Lucifer seufzte innerlich. Glücklicherweise würde ja ein Wort von ihm genügen, um diesen Vollpfosten eines besseren zu belehren. Oh Mist! Während dieser Überlegung war sein Blick durch den Raum geglitten. So langsam füllte sich die Mensa mit Schülern und er wäre sofort der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wenn er sich jetzt durch seine Stimme als Junge entlarvte. Also rückte er vorerst nur wortlos von Katō ab. Der Junge interpretierte Lucifers Verhalten – wahrscheinlich absichtlich – völlig falsch. „Du brauchst nicht schüchtern zu sein. Falls dir irgendwer auf die Pelle rückt, musst du nur sagen, dass du mit mir befreundet bist. Dann lassen die dich sofort in Ruhe. Kannst dich drauf verlassen. Ich bin der Leiter des Judo Klubs. Vor mir haben alle Respekt.“, er rückte das Stück, das Lucifer von ihm abgerückt war, wieder zu ihm auf, was Lucifers unangenehmer Gänsehaut eine Neuauflage bescherte. DU rückst mir zu nah auf die Pelle!, hätte er dem anderen gern ins Gesicht gespuckt, um ihn dann aus drei Kilometern Höhe auf die Erde fallen zu lassen. „Verrate mir deinen Namen, hm.“, bat Katō mit treudoofem Welpenblick. Lucifer stand auf. Er wollte sein Buch vom Tisch nehmen und verschwinden, aber Katō hatte es mit flinkem Griff geschnappt und an sich genommen. Lucifer zog wütend die Nase kraus und hielt Katō die offene Hand hin, um es zurückzufordern. „Du kriegst es, wenn ich dafür deinen Namen bekomme.“, grinste er verschlagen. Das war der Punkt, an dem Lucifer keinen anderen Ausweg mehr sah, als diesem Menschen mit einem magischen Projektil das Gesicht wegzuschießen. Die Hand, die er nicht nach vorne ausgestreckt hatte, begann violett zu leuchten. Doch er hielt inne, als eine bullige Gestalt plötzlich aus dem hereinkommenden Schülerstrom trat, über Katōs Schulter griff und ihm das Buch wegnahm. „Bist du schon wieder am Mädchen belästigen, Katō? Ich hab dir schon mal gesagt, du wilderst in meinem Revier! Mach die Fliege, bevor es klatscht.“ Es war der derselbe bullige Kerl mit der Körpersprache des Anführers, der Lucifer am Morgen auf dem Flur angerempelt hatte. Im ersten Moment verstand der Engel nicht, was das sollte. Waren die beiden so was wie Erzfeinde? Und was sollte „es klatscht“ bedeuten? Revierkämpfe verstand er allerdings und freute sich schon fast darauf, dass es gleich mindestens zu einer Messerstecherei kommen würde. Katō stand auf, die Ohren heiß vor Zorn. „Und ich habe dir gesagt, du sollst dich nicht so aufspielen! Zeig gefälligst den nötigen Respekt vor dem Leiter des Judo Klubs!“ „Dein Klub ist gerade mal drei Monate alt und besteht aus dir und deiner Schwester!“, behauptete der Bullige und lachte. Seine Beta-Männchen hatten inzwischen zu ihm aufgeschlossen und unterstützen ihn mit zustimmender Heiterkeit. „Das ist nicht wahr, Nakamura, das weißt du genau! Hör auf, das ständig zu behaupten!“ „Oder was? Meinst du deine kleinen Judokniffe hauen einen Kerl wie mich von den Füßen?“, höhnte der Bullige und stieß Katō die Hand vor die Brust. Jetzt war Katō richtig sauer. Er sah aus, als würde er gleich zum Angriff übergehen. Nakamura schien es ebenfalls zu bemerken und ließ Lucifers Buch auf den Tisch fallen, um die Hände frei zu haben. „Du Großmaul! Dein peinliches Wrestling schafft es an dieser Schule nicht mal zu einer Kluberlaubnis! Das ist doch alles nur Fake! Beim Judo geht es um Technik, nicht darum Muskeln zur Schau zu tragen!“, bellte Katō. Dann nahm er die Arme an den Körper und trat Nakamura hart gegen die Hüfte. Der hatte das aber offenbar kommen sehen, denn er stand wie ein Fels. Stattdessen griff er jetzt nach vorne, packte Katō am Revers seiner Schuluniform, stemmte ihn hoch und warf ihn rücklings auf den Tisch, an welchem jener zuvor noch Lucifer auf die Pelle gerückt war. Der Engel lächelte vergnügt. Allmählich gefiel ihm die Schule. Tatsächlich konnten diese Menschen ja doch ganz unterhaltsam sein, stellte er amüsiert fest. Er wartete auf den finalen Schlag. Aber Nakamura gab Katō nur einen Stoß, sodass jener auf der anderen Seite des Tisches kopfüber hinunter fiel, sich überschlug und auf den Knien zu liegen kam. „So ist recht, Katō. Bitte auf Knien um Verzeihung, wie es sich gehört. Erkenne meine Überlegenheit an.“, höhnte der Junge namens Zonnō und späte dabei über die Tischplatte hinweg nach seinem Gegner. Katō stand bebend vor Zorn und hochrot im Gesicht vor Scham auf. „Einen Scheiß werd‘ ich! Eher fliegst du von der Schule, dafür werde ich schon sorgen!“, drohte er. „Grüß‘ deine Schwester von mir, Katō. Judo ist vielleicht kein richtiger Sport für Männer, aber sie hat dadurch einen richtig heißen Body.“, setzte Zonnō noch einen oben drauf. Katō stürzte mit geballten Fäusten vor, holte im Laufen schon aus und setzte gerade zum Sprung auf die Tischplatte an, als er von ein paar anderen Jungs zurückgehalten wurde. „Komm schon, Katō. Der ist es nicht wert.“ „Ihr habt doch schon wegen der letzten Prügelei eine Verwarnung bekommen. Willst du wegen dem einen Schulverweis?“ Katō schäumte vor Wut, aber er beruhigte sich mühsam. Nakamura blickte ihn weiterhin stur von oben herab an. „Hör lieber auf deine Freunde.“, meinte er hämisch und sah zu, wie Katō von den anderen aus der Mensa begleitet wurde. Die Aufregung im Saal legte sich daraufhin verblüffend schnell. Nakamuras Beta-Männchen klopften ihm anerkennend auf die Schultern und huldigten ihrem Anführer, der selbst ziemlich zufrieden mit sich schien. Der normale Betrieb setzte wieder ein. Nur Lucifer war enttäuscht. Was war denn das bitte für ein Kampf gewesen? Provokationen und ein bisschen Herumgeschubse, mehr nicht? Da kämpften ja junge Ziegenböcke ernsthafter miteinander. Und wegen so etwas gab es an dieser Schule schon Sanktionen? Was für eine verweichlichte, lasche Welt musste das sein? Ein unheimliches Heimweh nach Ente Isla überkam ihn und er sehnte sich plötzlich nach dem Anblick panisch schreiender Menschenmassen, die von seinem Heer niedergemetzelt wurden. „Ich hoffe, das hat dich jetzt nicht zu sehr erschreckt.“, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken, „Dieser Katō bettelt einfach um seine wöchentliche Abreibung, den musst du gar nicht beachten.“ Lucifer sah an Nakamura hoch, der jetzt vor ihm stand und ihm sein Buch hin hielt, genau wie er es am Morgen schon auf dem Flur getan hatte. Seine freie Hand war auch schon wieder in seinem Nacken und er grinste auf Lucifer hinunter. „Sind wir jetzt bitte quitt wegen heute Morgen.“, meinte er freundlich. Es war dieselbe Freundlichkeit, die auch der uniformierte Feuerwehrmann an den Tag gelegt hatte. Eine bevormundende, schmierige Freundlichkeit. So sprachen auch die Engel mit den Menschen. Sie wussten, dass sie stärker und klüger waren und betrachteten ihr Gegenüber als unmündig, fühlten sich selbst aber ganz besonders toll, weil sie sich dazu herabließen, sich um sie zu kümmern. Lucifers Miene nahm einen wächsernen Ausdruck an. Er nahm das Buch und machte genau wie am Morgen auf dem Absatz kehrt. „Och, komm schon, wie kann man nur so nachtragend sein?“, rief Nakamura Lucifer hinterher. Aber der Engel zeigte ihm nur stumm den Mittelfinger und ignorierte ihn ansonsten. Die Theke war inzwischen mit Essen bestückt und geöffnet. Er klemmte sich das Buch unter den Arm, nahm sich, wie die anderen, ein Tablett und sammelte alles ein, das ihm irgendwie ansprechend erschien. Vor allem bunte Sachen weckten sein Interesse. Er war mitten im schönsten Aussuchen, da trat ihm jemand unvermittelt auf den Fuß. Es tat nicht sehr weh, brachte Lucifer aber dazu aufzusehen, weil er so nicht weitergehen konnte. Ein Mädchen mit Bobfrisur starrte ihm direkt ins Gesicht. Dann glitt ihr Blick an ihm hinunter und ruhte einen Moment lang auf seiner Brust, bevor sie verächtlich schnaubte. „Du unterernährte Flachland-Bitch!“, zischte sie ihn so leise an, dass nur er sie verstand. Lucifers Augenbrauen schossen überrascht in die Höhe. Was wollte die denn jetzt? Aber sie sagte es ihm schon im nächsten Augenblick: „Du hast nicht die geringste Chance bei ihm, also lass es bleiben! Nakamura Shinsuke ist MEIN Freund. Ich bin schon seit zwei Jahren in ihn verliebt und räume jede aus dem Weg, die es wagt ihm schöne Augen zu machen.“ Lucifers Überraschung fiel zu akutem Desinteresse ab. Mit so einem Kinderkram brauche er sich nun wirklich nicht zu beschäftigen. Stattdessen wandte er sich wieder der Essensauslage zu. Da stach ihn plötzlich etwas schmerzhaft in die Seite. Sein Kopf ruckte wieder herum und er erkannte, dass das Mädchen ihm allen Ernstes die Spitze einer langen Schere zwischen die Rippen drückte. Allerdings tat sie das im Schutz der Menschenschlange vor der Theke so geschickt, dass es niemand sonst mitbekam. „Halt dich von ihm fern, oder es geht dir schlecht, verstanden!“, zischte sie drohend. Lucifer konnte in dem Gedränge nicht ausweichen und sich mit dem Tablett in Händen auch nicht zur Wehr setzen. Er starrte die Verrückte nur an, bis sie die Schere aus seiner Seite nahm und wie ein Ninja in der Schülermenge verschwand. Was zum Roten Mond war das denn gerade?!, fragte er sich verblüfft. Dieses Erlebnis hatte seiner Vorfreude aufs Essen einen leichten Dämpfer verpasst. Missgelaunt ließ er sich in der Reihe weiterschieben, unwissend, dass er gleich dem nächsten Problem gegenüber stehen würde. Er gelangte an eine Art Grenzposten, wo die Schüler vor ihm alle brav ihre Schülerausweise vorzeigten, bevor sie mit ihren Tabletts zu den Tischen gingen. Also machte er es ihnen nach und gab der Dame seinen Ausweis. Sie zog ihn durch ein Lesegerät und runzelte die Stirn. „Da ist kein Geld drauf.“, meinte sie mit einer Miene, als wäre Lucifer das unnötigste Ärgernis, das ihr heute begegnet sei. Lucifer sah sie verständnislos an und wartetet darauf, seinen Ausweis zurückzubekommen. Sie gab ihm den Ausweis auch, nahm ihm dafür aber sein Tablett weg. Er griff danach und versuchte es wieder an sich zu bringen, da schlug ihm die Frau grob auf die Finger. „Keine Ahnung, wo du her kommst, Prinzessin, aber hier bezahlen wir für‘s Essen! Kein Geld auf der Karte, kein Essen, klar!“, erklärte sie, „Und jetzt Abmarsch, du hältst den Betrieb auf.“ Lucifer standen vor Wut und Hunger Tränen in den Augen. Die Hand an seiner Seite glühte bereits wieder verdächtig violett. Niemand durfte es wagen ihm sein Essen wegzunehmen, ganz besonders nicht so ein mickriger, schwachsinniger Mensch! Er hatte die Schnauze voll von all diesen Idioten! Ein Wink von ihm und keiner würde mehr lebend aus den Trümmern dieser verkackten Schule kriechen! Da wurde der Grenzwächterin plötzlich eine andere Karte gereicht. „Buchen Sie es von meiner Karte ab.“, sagte eine nur allzu bekannte Stimme und Lucifer rutschte das Herz in den Rock. Seine Hand hörte auf zu leuchten. Nakamura lächelte ihn freundlich an. Die Frau am Grenzposten verdrehte die Augen und stieß Lucifer unsanft sein Tablett vor die Brust. „Na du musst es ja dicke haben.“, meinte die Alte schnoddrig zu dem Jungen, nahm Nakamuras Ausweis und zog ihn durch das Lesegerät. Dann durften sie gehen. Lucifer fühlte sich leicht überfordert. Seine Seite tat von dem Angriff mit der Schere immer noch ein bisschen weh, auch wenn er das Mädchen nicht sonderlich ernst nahm. Außerdem fragte er sich, was schief gelaufen war. Er hatte es doch genauso gemacht wie alle anderen. Offenbar war der Ausweis ein Datenträger, auf den man Währung aufspielen konnte. Wenn man sich dann etwas zu Essen holte, wurde der Wert der Nahrung von der Karte abgezogen. So viel hatte er sich zusammenreimen können. Aber wie bekam er die Währung auf den Ausweis. Hatte er das beim Erstellen des Ausweises etwa übersehen. Am meisten verwirrte ihn allerdings die Hartnäckigkeit dieses Jungen. Mussten seine Pheromonrezeptoren nicht zumindest unterbewusst registrieren, dass er kein Mädchen und daher für die Fortpflanzung mit ihm ungeeignet war? Tatsächlich folgte Nakamura ihm zu einem Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Lucifer fügte sich resignierend in sein Schicksal und begann einfach zu essen. Die Nahrung entschädigte ihn fast für alles, was an diesem Tag schon passiert war. Seine ungeübten Geschmacksknospen suhlten und überschlugen sich in reinster Wonne. Er hatte keine Ahnung, was er da aß. Alles war neu. Aber es war interessant und aufregend! Ein teuflisches Grinsen erhellte zunehmend sein Gesicht und er vergaß Nakamuras Anwesenheit, der ihm einfach nur beim Essen zusah, bis Lucifer fast fertig war. „Du bist wirklich ganz neu, oder?“, bemerkte er freundlich, „Kommst du aus dem Ausland?“ Lucifer sah ihn aus den Augenwinkeln heraus an, während er an einem Melonenbrötchen kaute und nickte dann. „Ich weiß wie das ist. Meine Mutter ist zwar Japanerin, aber sie hat meinen Vater in Amerika kennengelernt. Als ich sieben war, ist mein Vater mit ner anderen abgehauen und Mom ist mit mir nach Japan gezogen. Darum kenne ich mich hier schon ganz gut aus. Ich zeige dir nachher, wo du deinen Ausweis aufladen kannst. Ist ganz einfach.“, bot der Junge an und packte dann eine seltsame kleine Box aus, in der sich, wie sich herausstellte, ebenfalls wunderschön angerichtetes Essen befand. Er nahm zwei Stäbchen zur Hand und begann zu essen. Lucifer sah ihm interessiert dabei zu. Dafür waren diese komischen Stäbe also da. Er hatte sich an der Theke welche mitgenommen, weil alle anderen das auch taten, aber bisher nichts mit ihnen anzufangen gewusst. Damit würde es natürlich weitaus weniger unangenehm werden, einige der fischigeren Dinge auf seinem Tablett zum Mund zu führen. Lucifer nahm die Stäbchen von seinem Tablett und versuchte sie so zu halten, wie Nakamura. Es gelang ihm mit einigen Umständen, aber er bekam den Dreh recht schnell raus. Nakamura sah ihm schmunzelnd dabei zu. Der Engel begriff, dass Nakamura der perfekte Emulgator war, um ihn in diese Schule zu integrieren. Offensichtlich gab es Regeln hier, die er sich nicht anlesen konnte. Dieser bullige Typ dagegen kannte sich aus. Er konnte gleichzeitig Fremdenführer, Handlanger und Bodyguard für Lucifer sein. Außerdem würde er freiwillig und aus eigenem Antrieb jeden anderen Typen davon abhalten, Lucifer auf die Pelle zu rücken, genau so wie er es mit Katō getan hatte. In schierer Vorfreude auf ein paar bevorstehende Kämpfe um seine Ehre musste Lucifer fast lachen. Außerdem erfüllte ihn die Vorstellung, diese dumme, kleine Scherennärrin damit so richtig auf die Palme zu bringen, mit teuflischer Genugtuung. „Weißt du, ich frage mich schon die ganze Zeit, ob du nicht reden willst, oder ob du‘s nicht kannst. Sprichst du nur kein Japanisch, oder bist du vielleicht stumm oder so was?“, fragte der Wrestler plötzlich. Damit lieferte er Lucifer unwissentlich die perfekte Ausrede, nicht mit dem Blödmann reden zu müssen. Lucifer schob sich das letztes Stück Brötchen in den Mund, wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und strich erst einmal seinen Rock glatt, um in die Rolle zu finden, die er nun zu spielen gedachte. Dann schenkte er seinem Retter einen freundlichen Augenaufschlag, lächelte schüchtern und nickte. Mit gezierten Bewegungen holte er seinen Schülerausweis hervor, legte ihn behutsam vor Nakamura auf den Tisch und deutete mit dem Finger auf seinen Namen. Der Junge las und verzog ein wenig das Gesicht. „Mamono Satori? Versteh‘ das jetzt nicht falsch, aber ich finde, der Name passt überhaupt nicht zu dir.“, meinte Nakamura unglücklich. Lucifer ließ seinen hübschen Kopf fragend zur Seite kippen, wodurch sein langer Pferdeschwanz geschmeidig wippte. „Also, ich meine, Satori, so im Sinne von >die Erleuchtung bringen< und so, das ist schon ganz hübsch … aber wenn ich dir einen Namen geben dürfte, ...“, er sah Lucifer an, als hätte er sich fast verplappert. Lucifer vollführte eine aufmunternde Geste und versuchte, interessiert auszusehen. Nakamura atmete erleichtert aus und fuhr fort. „Also, um ehrlich zu sein, habe ich seit unserer Begegnung heute Morgen darüber nachgedacht, weil du mir deinen Namen nicht sagen, äh, zeigen wolltest. Wenn ich dir einen Namen geben dürfte, dann würde ich dich Amatsuotome nennen.“ Er lief leicht rosa an. Das Wort war Lucifer unbekannt, aber es sollte wohl etwas schmeichelhaftes sein. Als er nicht reagierte, erklärte Nakamura, indem er noch rosaner anlief: „Das bedeutet Engel oder himmlisches Mädchen.“, gab er leise zu. Lucifer tat sich Gewalt an, um weder zu lachen, noch die Augen zu verdrehen. Glücklicherweise war Nakamura zu sehr damit beschäftigt, ein nervöser und verliebter Teenager zu sein, als dass er ihn ansehen konnte. „Darf… darf ich dich vielleicht … so nennen?“, fragte er kleinlaut und es war wirklich ulkig zu sehen, wie der bullige Typ, der sich von einer knappen halben Stunde noch mit dem Leiter des Judo Klubs geschlagen hatte, jetzt verlegen wie ein Kind auf seinem Stuhl herum rutschte. Lucifer konnte seine Schultern gerade noch davon abhalten, als Antwort desinteressiert zu zucken. Stattdessen streckte er die Hand aus, berührte Nakamura leicht, sodass er ihn ansah, und nickte lächelnd. Der große Depp freute sich, als habe man ihm gerade erklärt, dass Weihnachten auf Ostern fiele und er deshalb ein Königreich geschenkt bekäme. Der Engel redete sich indessen tapfer ein, dass er diese Farce nur ein paar Tage mitmachen müsse, bis er sich vollends hier auskannte. Außerdem tröstete er sich mit der bestehenden Chance, dass seine Beziehung zu diesem großen Kind die Scherenstecherin vor Liebeskummer vielleicht in den Selbstmord trieb, wenn er es geschickt anstellte. Er würde sich schon einen Spaß daraus machen, der sicher eine Weile gegen die Langeweile helfen konnte. Dergestalt in Gedanken versunken, war das heitere Lächeln auf seinem Gesicht nun nicht einmal gespielt. Nakamura zeigte ihm, wo er das Tablett aufräumen musste, wodurch er es de facto für ihn erledigte. Anschließend führte er ihn zu dem Automaten, an dem er Geld auf seinen Ausweis laden konnte. Der Wrestler machte es ihm einmal mit dem eigenen Ausweis vor und trat dann zurück. Lucifer hatte praktischerweise immer noch den gestohlenen Geldbeutel der Sekretärin dabei. Er steckte also seinen Ausweis in den einen Schlitz und kramte dann die Bankkarte der Sekretärin heraus. Interessiert besah er sich die Karte eine Weile. Nakamura hatte eine PIN eingeben müssen, damit die Transaktion funktionierte und die wusste Lucifer bei der gestohlenen Karte natürlich nicht. Seine Augen begannen violett zu glühen, als er mit magischem Blick das Stück Plastik erforschte, bis es ihm die dazugehörige PIN offenbarte. Zufrieden Grinsend, steckte Lucifer die Karte in einen weiteren Schlitz, tippte die Zahlen ein und übertrug den höchstmöglichen Betrag, der wahrscheinlich ein halbes Schuljahr lang halten würde. Anschließend ging der Unterricht weiter und Nakamura wollte ihn zu seinem Klassenzimmer bringen. Lucifer schüttelte entschieden den Kopf. Er deutete auf sich und bildete dann mit überkreuzten Zeigefingern ein „X“, dann deutete er auf Nakamura, ahmte mit Zeige und Mittelfinger laufende Beine nach und drückte ihm dann beide Hände in den Rücken, als wolle er ihn schieben. „Du willst, dass ich gehe?“, fragte er bestürzt. Lucifer nickte und fasste ihn dann am Arm, als wären sie bereits ein Paar. Dabei achtete er vorsorglich darauf, seine Brust nicht allzu sehr an Nakamuras Bizeps zu schmiegen. Vielleicht sollte er sich über eine Busen-Attrappe Gedanken machen, wenn er dieses Spiel noch eine Weile spielen wollte. Nakamuras Miene hellte sich abrupt wieder auf. „Du willst mich zu meinem Klassenzimmer begleiten?“, fragte er glücklich. Lucifer nickte mit adrett schlenkerndem Pferdeschwanz. „Hast du keinen Unterricht?“, fragte der Größere weiter. Lucifer schüttelte den Kopf und ließ sein Haar in Schlangenlinien durch die Luft tanzen. „Gut, Amatsuotome, dann gehen wir.“, jubilierte der bullige Jungwrestler. Lucifer konnte nicht fassen, wie lächerlich einfach es war, diesen hormongesteuerten Idioten wie eine Marionette zu lenken und hoffte inständig, dass sie unterwegs der Scherenstecherin begegnen würden. Der Kleinen würde ihr dummes, eifersüchtiges Herz brechen und dann würde es richtig interessant werden. Aber sie begegneten ihr nicht. Sie kamen unbehelligt bis zu Nakamuras Klassenzimmer durch, wo sie sich etwas unbeholfen unter den interessierten Blicken der ganzen 3A verabschiedeten. Lucifer hatte sein Glück allerdings gewaltig überschätzt, wie sich herausstellen sollte. In der nun folgenden Unterrichtsphase, las er in aller Ruhe und mit wohlig gefülltem Bauch sein Buch zu Ende. Als er damit fertig war, ließ er es einfach auf einem Fenstersims liegen und schlenderte zum nächstbesten Milchautomaten, um sich mit seiner frisch aufgeladenen Karte durch das Angebot an Fruchtmilchsorten durchzuprobieren. Er war von Vanille, über Erdbeere, Banane und Melone, gerade bei Lychee angekommen, da füllte sich der Flur schon wieder mit Schülern. Die Stunde musste also zu Ende sein. Lucifer scherte sich allerdings wenig darum, sondern wählte am Automaten die Nummer für Macadamia. Ein weiteres Mal sah er glücklich dabei zu, wie die Milchpackung nach vorne geschoben wurde und in den Ausgabeschacht fiel. Er nahm seinen Ausweis wieder an sich, bückte sich, holte die Milchpackung aus dem Automaten und wurde dann unerwartet von vier fremden Händen an den Armen nach hinten gerissen. Lucifer stolperte rückwärts und verlor den Boden unter den Füßen. Sein kleiner Körper wurde hastig mitgeschleift und noch bevor er so richtig mitbekam, was passierte, schloss sich die Tür einer Besenkammer hinter ihm. Unsanft wurde er fallen gelassen und plumpste mit dem Hintern voran in einen Wischeimer. Adrette Halbschuhe traten ihm gegen die Schultern und nagelten ihn in seiner misslichen Position auch noch rücklings gegen die hintere Wand der Kammer. Erbost schlug er die dreisten Füße weg und suchte dann mit den Fingern den Rand des Eimers, um sich hoch zu stemmen, da hagelte es plötzlich Tritte gegen seinen Kopf und seine Brust, bis er mit dem Eimer umfiel und nur noch schützend die Arme vor dem Gesicht verschränken konnte. Er gab keinen Laut von sich, außer den gelegentlichen Ächzern, wenn eine Schuhspitze oder -sohle seine Eingeweide traf. Letztlich ging ein Tritt so gezielt in seinen Magen, dass er würgend einen Teil seiner Milchration wieder ausspuckte. Erst da schienen die Angreifer relativ zufrieden mit ihrem Werk. Lucifer spürte den Schmerz deutlicher als jemals zuvor in seinem unsterblichen Leben. Da war keine Magie, die sofort heilte; keine Macht, welche die Angriffe abgefedert hätte. Und letzten Endes auch keine Flügel, die er schützend um sich hätte schlagen, oder ein Schwert, das er hätte ziehen können. Mit feuchten, geröteten Augen sah er zu seinen Peinigern hoch. Er erkannte drei Röcke, ähnlich seinem eigenen und eine Bobfrisur, die sich zu ihm herabbeugte und ihn kurz darauf grob am Pferdeschwanz riss. In der freien Hand der Yandere blitzte eine geöffnete Schere auf, dann spürte Lucifer den kalten Stahl an seiner Wange. Für einen Moment fühlte er sich unangenehm an seinen letzten Kampf mit Emilia erinnert. Dann zog das Mädchen mit einem Ruck die scharfe Klinge über seine blasse Haut. Lucifer keuchte schmerzerfüllt auf. Der Schnitt brannte erbärmlich. Feucht und warm lief das Blut über Lucifers Wange und tropfte ihm leise vom Kinn. Die Bobfrisur ließ ihn los, trat noch einmal gegen den Eimer, in dem er festsaß und bespuckte ihn. Dann verließen sie und ihre beiden Freundinnen die Besenkammer. Demütigenderweise schaffte es Lucifer nicht, sich aus eigener Kraft aus dem vermaledeiten Wischeimer zu befreien. Zwei Stunden, nachdem der Engel in dem Abstellraum misshandelt worden war, fand ihn dann ausgerechnet Olba. Er trug einen Blaumann und eine dämliche Schirmmütze, aber Lucifer war gerade nicht nach Lachen zumute. Der Erzbischof schaltete das Licht in dem kleinen Raum ein und starrte dann verdutzt auf das Bild, das sich ihm da bot. Ein sehr ramponiert aussehender Lucifer, der in einem Putzeimer festsaß und mit Blut überströmtem Gesicht in einer Lache von erbrochener Milch lag. Seltsamerweise fand auch Olba an diesem Anblick nichts befriedigendes. „Um Himmels Willen, Lucifer!“, stieß er leise flüsternd aus und kniete sich zu dem Unglücklichen. Mit einigem Zerren befreite er den Engel, der schon tiefrote Abdrücke an Rücken und Schenkeln davon trug, aus dem Eimer. „Was ist passiert?“, wollte er wissen, als er dem Verletzten ein paar Papiertücher für seine Wange gab. Lucifer murrte nur. In seinen Augen standen Tränen des Zorns. „Nur ein kleiner Rückschlag. Ich habe Verbündete gefunden und mir Feinde gemacht. So fängt es doch immer an. Also guck nicht so betröppelt!“ Olba schüttelte mit empört gerümpfter Nase den Kopf. „Da lasse ich dich einen Tag aus den Augen und schon darf ich dich wieder zusammenflicken! So habe ich mir unsere Zusammenarbeit nicht vorgestellt, Lucifer! Du machst mir nur Arbeit und nützt mir nichts!“, warf er ihm vor. „Ohne mich wären wir gar nicht hier!“, fauchte der Engel giftig und bereute es im nächsten Augenblick wieder, denn sein heftiges Mienenspiel hatte den erst leicht verschorften Schnitt wieder aufreißen lassen. Scharf die Luft einziehend, drückte er sich die Papiertücher fester gegen die blutende Wunde. Olba streckte die Hand nach Lucifers Gesicht aus, aber der zuckte zurück. „Fass mich nicht an!“, zischte er abweisend. Ihm tat der Körper weh von den Tritten und der unbequemen, Stunden langen Gefangenschaft in dem Eimer. Außerdem quälte ihn die unbändige Wut und das Bewusstsein seiner aktuellen Hilflosigkeit. „Mach kein Theater! Ich heile dich ja nur.“, meinte Olba streng, aber beschwichtigend. Lucifer stemmte sich auf die Beine, um seiner grabschenden Hand zu entkommen und hielt sich an einem der Regalbretter an der Wand fest. „Ich brauche deine Hilfe nicht! Ich habe selbst noch Magie!“, meinte er schnaufend. Seine Beine zitterten. Sie waren größtenteils taub. Olba stand ebenfalls auf, beugte sich vor und griff Lucifer kurzerhand in den Rücken und unter die Beine, um ihn auf die Arme zu nehmen, bevor er zweifellos gleich hinfallen würde. Den Halt verlierend, hielt sich der Engel instinktiv am erstaunlich muskulösen Nacken des Alten fest. „Was tust du?!“, wollte er aufgebracht wissen. „Wenn du noch genug Magie übrig hättest, wie du behauptest, dann hättest du dich aus diesem Eimer befreit und selbst geheilt, bevor ich dich in diesem erbärmlichen Zustand gefunden hätte. Ergo kannst du momentan weder dir noch mir helfen. Und das bedeutet, du wirst deinen winzigen, nutzlosen Körper vorerst wieder mal meiner Pflege überlassen müssen.“, meinte er barsch. Lucifer ließ sich gegen Olbas Schulter fallen und starrte müde vor sich hin. „Einen Scheiß muss ich.“, murmelte er. Insgeheim war er froh darüber, dass sie beide hier im selben Boot saßen und Olba praktisch keine andere Wahl hatte, als ihn wieder aufzupäppeln. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)