Memento defuncti - Ein Requiem zu früh von Dollface-Quinn ================================================================================ Kapitel 5: Kleine Sünden - Ein Engel passt sich an -------------------------------------------------- Als Lucifer durch das Portal stieg, das Olba erschaffen hatte, traf sein blanker Fuß zunächst auf verstaubte Holzdielen. Neugierig sah er sich in dem leeren, dunklen Raum um. Es gab Fenster mit Glasscheiben darin und eine Tür zum Aufschieben. An den Wänden standen ein paar kaputte Stühle und vereinzelte Tische. An einer Seite des Zimmers schien eine Schieferplatte in einem Holzrahmen angebracht worden zu sein. Den Zweck dieser Vorrichtung konnte sich Lucifer allerdings noch nicht denken. Vielleicht war das hier eine Werkstatt und die Platte sollte noch bearbeitet, bzw. die kaputten Möbelstücke repariert werden. Er zog den zweiten Fuß nach und stolperte nach vorn. Irgendetwas konnte mit der Schwerkraft nicht stimmen. Er fühlte sich zu leicht, aber unausgewogen, so als sei sein Körperschwerpunkt verrutscht. Dieser seltsame Zustand machte ihn schwindlig und ihm wurde übel, sodass er sich hinknien und mit den Händen auf dem Boden aufstützen musste. Hinter ihm trat Olba aus dem Portal, bereit sich zu verteidigen, sollte er gleich hier auf Feinde stoßen. Irritiert ließ er Hände und Schultern wieder sinken, als er sah, dass sie völlig allein waren. Das Portal schloss sich hinter ihm. Dann fiel sein Blick auf den am Boden kauernden Lucifer, gegen den er fast gelaufen wäre. Sein Herz setzte einen Moment aus vor Schreck und schlug dann schneller. „Himmel, Lucifer! Was ist mit dir geschehen?!“, rief er vorwurfsvoll aus, als sei der Zustand des Kleineren seine eigene Schuld. Der Engel warf ihm aufgrund des unangebrachten Tonfalls über die Schulter hinweg einen genervten Blick zu. „Was willst du seniler alter Spinner schon wi-!“, entsetzt brach er den Satz ab und schrie auf. Er hatte es nun selbst entdeckt und plötzlich wurde ihm klar, warum sein Gleichgewichtssinn streikte. Seine Flügel fehlten! Die Flügel, die seit seiner Geburt ein Teil von ihm waren! Sie waren einfach nicht mehr da! Jetzt wurde dem Dämonengeneral erst recht übel. „Was soll dieser faule Zauber! Wer hat mir das angetan? Zeig dich, du zukünftiges Stück Hackfleisch!“, schrie er in loderndem Zorn in die Dunkelheit hinein und kanalisierte seine Magie zu einem wahllosen Rundumschlag gegen den unsichtbaren Feind. Um ihn herum begann die Luft lila zu leuchten. Violette Zirkel erfüllten die Luft. Doch noch ehe er die geplante Attacke auslösen konnte, kippte sein Oberkörper plötzlich nach hinten. Sein Körperschwerpunkt hatte sich abermals verschoben und plötzlich hörte er das vertraute Rauschen. Verdutzt blickte er nach hinten. Seine Flügel saßen wieder genau da, wo sie hingehörten! „Das ist doch die reinste Verarsche hier!“, murmelte er zu sich selbst, unfähig zu ergründen, wie dieser gemeine Spuk zustande kam. Mit gerunzelter Stirn taxierte er die Umgebung, bis er sicher sagen konnte, dass er und Olba allein waren. Dann blickte er auf seine Hände und ließ die violetten Zirkel wieder verschwinden. „Was hast du gemacht?“, fragte Olba grimmig interessiert und trat näher, um einen der Flügel zu berühren, aber Luzifer faltete sie ruckartig auf seinem Rücken ein und stand auf, um den grabbelnden Fingern des Geistlichen zu entgehen. Mit nun wieder sicheren Schritten durchquerte er den Raum und schob vorsichtig die Tür beiseite. Anschließend späte er in den dunklen Flur dahinter. Alles blieb still. Sie schienen wirklich die Einzigen hier zu sein. Luzifer schob die Tür wieder zu, drahte sich in den Raum um. Luzifer war nervös. Was war des eben mit seinen Flügeln. Sie gehörten zu ihm! Sie konnten doch nicht einfach verschwinden. Er würde es nicht ertragen, wenn das noch einmal geschehen sollte! Besser er fand so schnell wie möglich die Ursache für diesen Horror heraus! Nachdenklich entzündete er kleine Lichter, die in der Luft schweben blieben und sie beide in ein unheimliches, lilafarbenes Glühen tauchten. In diesem Schein musterte er Olba. Jener sah noch exakt so aus, wie auf Ente Isla. „Fühlst du dich irgendwie anders? Schwindlig oder so?“, fragte er gerade heraus. Olba tastete sich ab, betrachtete seine Hände, fuhr sich mit den Fingern über Gesicht und Glatze und musterte schließlich sein Spiegelbild in den dunklen Fensterscheiben. „Es scheint alles in Ordnung zu sein.“, gab er schließlich an. Lucifer tat es Olba nach und betrachtete sich in den Fernstern. Er ließ die gesammelte Magie probeweise wieder los, auch wenn ihm das Herz dabei im Hals pochte. Die Lichter erloschen und die Flügel verschwanden. Diesmal war Lucifer zumindest im Ansatz darauf vorbereitet und kippte nicht direkt nach vorne, musste sich aber dennoch an einem der kaputten Tische stützen, weil sein Gleichgewichtssinn mit der Veränderung noch nicht klarkam. Sofort war ihm wieder übel, aber diesmal nicht durch den Schwindel, sondern vor Angst. Er zwang sich in die nun durchsichtigen Fensterscheiben zu sehen und ruhig zu bleiben. Dann sammelte er die Magie wieder und setzte sie ein. Die Lichtkugeln tanzten erneut um ihn auf. Eine lila Aura umgab ihn. Nun konnte er sein Spiegelbild in den Scheiben wieder sehen und mit einem eindeutigen Rauschen tauchten seine Flügel wieder auf. Die Übelkeit ließ nach und Lucifer konnte wieder normal stehen. Er atmete angestrengt aus. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Wo waren sie hier nur gelandet? In was für einer kranken Welt verloren Engel ihre Flügel, während Menschen offenbar nicht beeinträchtigt wurden? Er zog den richtigen Schluss aus seinen Beobachtungen und begriff, dass er Magie einsetzen musste, um seine Gestalt beizubehalten. Das würde mit der Zeit vielleicht anstrengend werden, aber immerhin wurde er nicht völlig seiner Identität beraubt. Olba sah sich derweil ebenfalls im Raum um. Da es aber nicht viel zu sehen gab, wandte er seine Aufmerksamkeit bald wieder Lucifer zu. „Es scheint, als bliebe von dir nur das übrig, was menschlich ist, solange du keine Magie einsetzt.“, brachte er das Offensichtliche auf den Punkt. Lucifer erdolchte ihn mit einem schneidenden Blick. „Keine noch so kranke Welt wird aus mir je einen Menschen machen, Olba!“, schwor er düster. Aber er befürchtete, dass der Erzbischof recht hatte, auch wenn sich sein Körper selbst ohne Flügel daran erinnert hatte, dass er Flügel haben sollte. „Dann denkst du es also auch. Wir sind nicht mehr auf Ente Isla.“, stellte Olba grimmig fest. „Selbst im Himmel oder in der Hölle kommt so etwas nicht vor.“, bestätigte Luzifer ebenso ernst. Er hasste es jetzt schon hier. Mit perfider Vorfreude nahm er sich vor, diese Welt zusammen mit Maou restlos zu vernichten. Niemand nahm ihm ungestraft seine Flügel! Nicht mal eine gänzlich andere Welt! „Grauenhafte Vorstellung. Eine Welt voller Menschen.“, bemerkte Luzifer angewidert, denn darauf schien alles hinzudeuten, da sich Olba nicht verändert hatte und von Luzifer ohne Magie nur sein menschlicher Anteil übrig blieb. Olba warf ihm einen erzürnten Blick zu. Aber Luzifer dachte bereits weiter. Es würde schwer werden, Maou und Alsiel in dieser Welt zu finden. Schließlich waren sie aus einer Schlacht hier her geflohen und das wahrscheinlich auch noch unbeabsichtigt. Ihre Magie musste nahezu aufgebraucht sein, als sie ankamen. Luzifer konnte nur hoffen, dass sie sich ohne Magie in dieser Welt nicht gänzlich aufgelöst hatten. „Ugh.“, Lucifer hielt sich den Kopf und sank unvermittelt in die Hocke. Besorgt trat Olba näher und beugte sich leicht zu ihm vor. „Was ist jetzt wieder mit dir?“, fragte er den Engel, in einem Ton, als würde er ihm nichts als Scherereien machen. „Schnauze, ja? Ich weiß es nicht … Es wird immer anstrengender, Magie zu benutzen.“ Die lilafarbenen Lichter um Lucifer flackerten und erloschen. Olba sah den Kampf seines kleinen Verbündeten eine Weile lang hilflos mit an, dann verschwanden auch dessen Flügel wieder. Lucifer verlor erneut das Gleichgewicht und kippte nach vorn auf seine Hände. „Das ist grausam. Womit habe ich das verdient?“, wimmerte der Entflügelte und ballte die Fäuste auf dem staubigen Boden. Der Anblick erschreckte Olba so tief, dass er von vornherein lieber darauf verzichtete, Magie einzusetzen. Er würde alles aufsparen, um später nach Ente Isla zurückkehren zu können. Auf keinen Fall würde er riskieren, hier zu stranden! „Sag ehrlich, Lucifer! Hast du deine Magie verbraucht?“, fragte er fordernd und fasste den Engel an der schmalen Schulter. Lucifer schüttelte seine Hand energisch ab und fuhr zu dem Erzbischof herum. Sein Gesicht war von Verzweiflung gezeichnet. Olba erschrak zutiefst, als Lucifer aus heiterem Himmel ein verzweifeltes Wutgeheul gegen ihn anstimmte, mit den Fäusten auf den Boden und Olba einschlug und sich alles in allem wie ein Wahnsinniger gebärdete. „Das ist nicht fair!“, schrie der Langhaarige den Tränen nahe, stemmte den Oberkörper hoch und ein flammender, aber durch und durch menschlicher Blick traf den Erzbischof, „Du und deine bescheuerte Kirche, Olba! Du bist schuld daran! Du hast mich hier her verschleppt! Deinetwegen sind meine Flügel... Ich bin kein beschissener Mensch! Ich bin verdammt nochmal Lucifer! Der Erzengel! Der Dämonengeneral! Ich habe so viel mehr aus mir gemacht, als ein Mensch sich auch nur feucht träumen lässt, und das bloß aus beschissener Langeweile heraus! Ich bin nicht gemacht um NICHTS zu sein! Scheiße! Olba! Ich hasse dich!“, schrie er den Glatzköpfigen hysterisch an. Seine schmale Brust hob und senkte sich in heftiger Bewegung. Angst und Verzweiflung spiegelten sich in seinem Blick. Wütend schlug er nach Olba und erwischte ihn an der Kutte. Er krallte sich fest. „Bring mich zurück! Bring mich sofort nach Ente Isla zurück! Ich befehle es dir! Mach schon!“, schrie er ihn an und riss an der Robe. Erschrocken fuhr Olba zurück, kam aber nicht weit. Lucifer hielt ihn mit eisernen Fingern fest. „Bist du des Wahnsinns, Lucifer! Ich werde dich nirgendwo hin zurückbringen, bevor wir unsere Mission nicht erfüllt haben. Reiß dich gefälligst zusammen, du benimmst dich ja wie ein hysterisches Kind!“ „Ich scheiß auf deine Mission!“, keifte Lucifer zurück, „Ich scheiße auf dich und deine hirnverbrannten Pläne!“ Tränen füllten jetzt wie in Stauseen Lucifers Augen und er brach schluchzend zu Olbas Füßen auf dem staubigen Fußboden zusammen. „Lucifer… so schlimm kann es doch nicht sein.“, murmelte Olba ratlos und nun bekam auch er ein bisschen Angst. Was sollte er hier mit einem wahnsinnigen, entmachteten Dämonengeneral anfangen, dessen schmale Schultern unter seinem hemmungslosen Schluchzen heillos bebten? „Mach den Kopf zu, Alter, du hast nicht gerade deine halbe Identität verloren!“, heulte der Flügellose auf, „Ich ertrage es nicht!“ Nun reichte es dem Erzbischof endgültig. Lucifers Drama fing an, ihn ernsthaft zu beunruhigen. Kurz entschlossen kniete er sich vor den Langhaarigen hin, dem nun tatsächlich die Tränen in Bächen über das Gesicht flossen. Er packte ihn mit der Faust vorne am Hemdchen und verpasste ihm mit der anderen Hand ein paar saftige Ohrfeigen. Lucifer schrie spitz auf und versuchte, sich von Olba loszumachen, doch diesmal war jener stärker. „Wenn du ein Mensch bist, dann ist es Maou auch und es wird dir ein Leichtes sein, ihn zu töten. Du bist doch listig! Dir wird irgendein Trick einfallen, mit dem du es schaffst und dann bringe ich dich zurück nach Ente Isla, wo deine Flügel schon auf dich warten! Jetzt reiß dich am Riemen!“ Er konnte es nicht fassen, dass er den großen Dämonengeneral Lucifer aufbaute und ihm Mut zusprach. Lucifer starrte ihn seit den Ohrfeigen entgeistert an. „Du hast mich geschlagen.“, hielt er Olba beleidigt vor. „Ja, es war notwendig. Und ich werde es jederzeit mit Freuden wieder tun.“ „Kinderschänder!“ Nach diesem Vorfall beruhigte sich Lucifer wieder einigermaßen. Zumindest hielt seine Wut auf Olba ihn davon ab, wieder durchzudrehen. Weil dieser Raum verlassen aussah, schlugen sie hier ihr Lager auf. Dann gingen sie los, um das Gebäude zu erkunden. Sie schlichen über lange Flure, doch hinter so gut wie jeder Tür, die sie öffneten, befanden sich dieselben Räume mit Stühlen und Tischen, die alle zur selben Wand hin ausgerichtet waren, an der jeweils eine Schieferplatte hing. Es gab Regale voll mit Büchern. Manchmal fanden sich auch geometrische Zeicheninstrumente und allmählich ging ihnen ein Licht auf. „Wenn mich nicht alles täuscht, müsste das hier so etwas wie eine Schule sein.“, meinte Olba nachdenklich. Lucifer lachte düster auf. „Nein, wie bist du nur darauf gekommen? Etwa wegen der Schulbänke? Der Lehrerpulte? Oder haben dich die Klassenzimmer im Allgemeinen etwa auf den Gedanken gebracht?“, hänselte er den Alten und lehnte sich missmutig an die Wand neben der Tür. Olba wollte ihn gerade anheischen, sein freches Mundwerk im Zaum zu halten, da flammte unvermittelt ein stechend helles Licht im Raum auf. Synchron gingen die beiden in Deckung und versuchten den Angreifer durch das blendende Weiß auszumachen. Als aber nichts weiter passierte und sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnten, kochen sie vorsichtig wieder unter den Tischen hervor und musterten mit offenen Mündern die Deckenlampen. „Elektrizität.“, murmelte Lucifer, der das aus dem Himmel kannte. „Was sagst du?“, fragte Olba perplex von der Erscheinung nach. „Nichts. Vergiss es.“, blockte der Engel ab. Seine Augen huschten zu der Wand, an die er sich gelehnt hatte und entdeckten einen kleinen Vorsprung. Er trat wieder hin, legte den Finger darauf und drückte. Das Licht erlosch wieder. Olba fuhr erschrocken herum. Lucifer knipste das Licht wieder ein und grinste herablassend über Olbas erstauntes Gesicht. „Na dann hoffen wir mal, dass unsere >Basis< auch so einen Schalter hat.“, feixte er. Ab jetzt war das Erkunden des Ortes deutlich einfacher. Aber sie machten nur dann Licht, wenn sie es wirklich brauchten und schalteten es wieder aus, sobald sie gingen. Schließlich wollten sie möglichst niemandem ein Signal geben, dass sie hier waren. Viele Räume fanden sie zu ihrer Frustration allerdings abgeschlossen vor. Sie gingen lange, leere Flure entlang und probierten eine Tür nach der anderen. Lucifer musste sich an das Laufen ohne seine Flügel erst gewöhnen, denn ihr Fehlen störte sein Gleichgewicht erheblich. Doch je länger er lief, desto besser bekam er den Dreh heraus. Allerdings eignete er sich kompensierend eine ziemlich nach vorne gebeugte, schlurfende Gehweise an. „Tagsüber ist hier sicher alles offen.“, murmelte Lucifer. „Man würde uns sofort als Fremde erkennen, liefen wir am Tage hier herum.“, warf Olba ein. „Meinst du? Ein Mensch sieht doch wie der andere aus. Da gibt‘s doch kaum Unterschiede.“, behauptete der Engel tonlos. Daraufhin verzog Olba schlecht gelaunt den Mund. „Sagst du das als Engel oder als Dämon?“, wollte er spitz wissen. Lucifer zuckte nur die nach vorne gefallenen Schultern. „Die reine Beobachtung.“, meinte er, lustlos sich zu erklären. „Weißt du, dass ich dir deinen Fall in diesen Menschenkörper ebenso gönne, wie den durch Emilia? Es wird Zeit, dass dir jemand die Leviten liest!“, bemerkte Olba aufgebracht und ballte im Gehen neben Lucifer die Hände zu Fäusten. „Ich bin älter als du, also spiel dich nicht so auf, du Faltenhund. Oh-“. Lucifer brach die Unterhaltung ohne Umschweife ab, als er eine unverschlossene Tür fand, die widerstandslos zur Seite glitt. Stumm schlüpften sie hinein und standen kurz darauf unverkennbar in einer Bibliothek. Lucifer machte Licht. Dann wurde sein Blick undeutbar. Ein schmales, dezent brutales Lächeln zeichnete seine glatten Züge. „Geh du ruhig schon weiter. Ich komme nach.“, meinte er, und stemmte lasziv die Faust in die Hüfte, während er an all den Regalen empor sah. Eine dünne lilafarbene Aura umspielte seine, plötzlich wieder gerade aufgerichtete Gestalt. „Was hast du vor, Lucifer? Willst du dein letztes bisschen Magie etwa hier verbrauchen?“, brauste Olba misstrauisch auf. „Warum nicht?“, entgegnete der Langhaarige völlig desinteressiert an Olbas Einwänden, „Für meine wahre Gestalt oder einen magischen Angriff reicht es ja nicht mehr.“ In einer Bibliothek sollte alles zu finden sein, was er und Olba über diese Welt und seine Bewohner wissen mussten, dachte der Engel. Ohne Magie blieb ihnen nur die Möglichkeit einer Guerilla Operation und dafür brauchte es so viele Informationen wie möglich. Er würde allerdings magisch nachhelfen müssen, um schnellstmöglich die hiesige Sprache lesen zu lernen. Ohne dies alles zu erklären, fläzte er sich an einen der Tische und von überall her segelten die Bände, die er brauchte, auf ihn zu. Olba beobachtete ihn missmutig. Er ahnte was Lucifer vorhatte und musste zugeben, dass das ziemlich schlau von ihm war. So viel Eigeninitiative hätte er dem faulen Hund gar nicht zugetraut. Andererseits war die Rückkehr nach Ente Isla und die Wiedergewinnung seiner Engelsgestalt wohl ein enormer Anreiz. Olba jedoch wollte keinen Funken Magie verschwenden. So lange er noch welche hatte und Lucifer nicht, war er dem Dämonengeneral gegenüber im Vorteil und fühlte sich sicherer. Er würde sich die Sprache später von einem Menschen aneignen. Im Moment jedoch wurde es ihm schnell zu dumm, Lucifer beim Durcharbeiten der Seiten zuzusehen und allmählich bekam er Hunger. Darum ließ er den Engel allein und durchsuchte das Gebäude nach Nahrungsmitteln. Er fand einige Snackautomaten, mit denen er sich herumärgerte, bis er es aufgab und weitersuchte. Es dauerte einige Zeit, aber schließlich fand er die Mensa, hinter welcher auch die Großküche lag. Trotz der Unterschiede zu den Küchen auf Ente Isla erkannte er sie als Küche, doch er musste enttäuscht feststellen, dass alles Essbare eingeschlossen war. Sein knurrender Magen ließ ihm hier keine andere Wahl mehr, als sich mit Magie Zutritt zu verschaffen. Dann holte er aus dem Vorratsraum, was er tragen konnte, und schleppte alles in das verlassene Klassenzimmer, das sie sich zur Basis auserkoren hatten. Als die Sonne schon drohte aufzugehen und Lucifers Gehirn völlig erschöpft war, nahm er den restlichen Stapel Bücher auf den Armen und schlurfte müde zur Basis zurück. Auf halbem Weg kam er jedoch an etwas vorbei, das seine Aufmerksamkeit erregte. Behutsam legte er die Bücher auf dem Boden ab. Dann hebelte er mit einem Lesezeichen, das er zwischen Tür und Rahmen schob, das einfache Schloss auf und brach so in das Sekretariat ein. Das erste, das Lucifer sich beigebracht hatte, war die Sprache, die hier vorherrschte, zu lesen. Als er soweit lesen gelernt hatte, dass er den Rest schnell aus dem Kontext schließen konnte, hatte er sich als zweites die Schulordnung und eine Imagebroschüre der Schule vorgenommen, um seinen Aufenthaltsort besser kennenzulernen. Daher wusste er nun, dass die Schüler hier Uniformen trugen und Schülerausweise besaßen. Das Sekretariat war genau der richtige Ort, um sich so etwas anzueignen. Damit würde er hier ein und aus gehen können, ohne aufzufallen und regelmäßige Mahlzeiten in der Mensa würden auch noch für ihn abfallen! Mit dem Ausweis hatte er allerdings kein Glück, denn die erforderlichen Daten ließen sich nur mit dem Computer auf die dünne Plastikkarte aufbringen, ebenso wie das Foto. Um herauszufinden, wie die Computer hier funktionierten, blieb ihm angesichts der steigenden Sonne keine Zeit mehr. Dafür würde er wohl noch einmal wiederkommen müssen, am besten wenn das Sekretariat besetzt war. Doch das Durchstöbern des Raumes förderte zumindest eine sauber gefaltete Uniform hervor. Ob es nun eine vergessene, eine verlorene, eine gefundene oder eine Ersatzuniform war, ließ sich nicht feststellen, aber von der Größe her lag sie nicht zu weit daneben. Lucifer breitete sie vor sich aus und musterte sie. Eine Bluse, ein Tuch, ein Rock, Strümpfe und Halbschuhe. Sein Blick fiel unbegeistert darauf hinab. „Nee.“, sagte er sich. Schlimm genug, dass er aktuell dieses Hemdchen tragen musste, in dem er wie Sariel aussah, er musste die Sache jetzt nicht auch noch steigern, indem er eine Mädchenuniform anzog. Musste er sich halt einen anderen Plan überlegen! Er stopfte die Uniform in den schmalen Karton zurück, in dem er sie gefunden hatte, trat aus dem Raum, ließ die Tür hinter sich zufallen, nahm die Bücher wieder auf und lief drei Schritte. Dann ging er dieselben drei Schritte rückwärts wieder zurück, legte die Bücher erneut ab, betrat das Sekretariat wieder auf dieselbe Weise wie zuvor und nahm den Karton mit. Zurück in der Basis fand er Olba auf dem Boden sitzend und schmausend vor. Lucifer legte seine Bücher und den Karton auf einem Stuhl mit gebrochener Lehne ab und legte sich gleich daneben auf den Boden. Ihm war schwindelig und sein Magen machte ein eigenartiges Geräusch. Er tat richtig weh. Olba bewarf ihn mit einer Tüte. „Ey, geht‘s noch?“, fragte der Langhaarige müde. „Du bist jetzt ein Mensch!“, meinte Olba. „Danke für die Lehrstunde, Olba Meyer Oberschlau! Für was hältst du mich? Ein Sieb? Ich hab‘s nicht vergessen.“, gab er genervt zurück. Schlecht gelaunt stützte er sich auf den Ellbogen und zog eines der dickeren Softcoverbücher aus dem Stapel heraus, um es als Kissen zu verwenden. „Das bedeutet, dein Körper braucht jetzt Nahrung, du Vogelhirn!“, erklärte der Erzbischof. „Oh.“, kam es murmelnd über Lucifers Lippen. Er sah sich die Tüte näher an, die Olba ihm herübergeworfen hatte. Kartoffelchips. Was das wohl sein mochte. Schmeckte ihm bestimmt nicht. Sicher war es der letzte Müll, wenn Olba es ihm freiwillig überließ. Er schob es beiseite und kroch auf allen Vieren zu dem Nahrungsmittelhaufen vor dem Glatzkopf hinüber. Allerdings hatte jener auch keine frischeren Sachen. Lucifer bediente sich trotzdem an abgepacktem Büchsenfleisch und Backerbsen und tatsächlich wurde ihm bald wieder wesentlich besser. Mit dem Morgen kam auch der Lärm. Das Geräusch vieler Füße und Stimmen riss Lucifer und Olba aus einem sehr kurzen und unruhigen Schlaf. Während Olba sich auf dem Boden nur herumgewälzt hatte, fühlte sich Lucifer recht tatendurstig. Die lange Zeit unter Olbas Fuchtel in Isolation ließen es ihn nun kaum mehr aushalten, endlich wieder aktiv zu werden. Er war sofort hellwach, stand auf und zog sich die Tunika aus. Olba beobachtete es mit Verwunderung. „Da ist nichts, was du nicht schon kennst.“, murrte Lucifer übellaunig, als er Olbas Blick bemerkte. Nichtsdestotrotz griff er in den schmalen Karton, der auf seinen Büchern lag, und begann sich anzuziehen; Rock, Strümpfe und Schuhe zuletzt. Als Olba das fertige Werk sah, wurden seine Augen noch größer. „Bist du nicht bei Trost? Ist dir nicht klar, dass...“, begann der Priester, aber Lucifer schnitt ihm das Wort ab, „Du wirst es nicht für möglich halten, aber ja, es ist mir bewusst! Es gab keine andere. Musst ja nicht hingucken.“, meinte er trocken. Anstatt das Tuch um den Hals zu binden, wie es eigentlich gedacht war, fasste Lucifer mit den Händen seine langen Haare am Hinterkopf zusammen und band sie mit dem Tuch fest. Da sie in dem halben Jahr seiner Pflegegefangenschaft enorm gewachsen waren, sah es gar nicht schlecht aus. Den langen Pony, der sonst immer seine rechte Gesichtshälfte verdeckte, strich er ebenfalls auf den Kopf hoch und klemmte ihn mit einer schlichten Spange fest, die er auf dem Boden eines Klassenzimmers aufgelesen hatte. Der Effekt war dramatisch. Mit seinen engelsgleichen Zügen, dem Pferdeschwanz und dem Rock hätte niemand auch nur eine Sekunde lang daran gezweifelt, ein Mädchen vor sich zu sehen, wenn auch ein ziemlich dünnes und unterentwickeltes. Um sich für den Tag zu stärken, nahm der Engel nun doch die Tüte Chips auf, die er vor ein paar Stunden noch verschmäht hatte, riss sie auf und kostete vorsichtig die trockenen, salzigen Opladen. Sein Gehirn explodierte fast vor Geschmack. Das war verdammt nochmal das Beste, das er je gegessen hatte! „Du bist dir wahrlich für keine Schande zu gut, wie Lucifer? Wie sehr willst du dich noch gegen die Natur versündigen?“, begann Olba geringschätzig zu tadeln. Der Engel beantwortete es mit einer wüsten Geste gegen Olba und klemmte sich zu der Chipstüte noch eines der Bücher unter den Arm. „>Gegen die Natur versündigen<, sagt der Erzbischof, der seinen Feind zusammenflickt, um die Heldin zu töten! Mensch, Olba.“, gab er zurück und schlurfte zur Tür, „Fass dich mal lieber ans eigene Kleid.“ „Was hast du vor?“, brauste Olba auf, offenbar besorgt darüber, dass Lucifer ihn hier allein lassen und nicht mehr wiederkommen könnte. Eine Hand bereits an der Tür, wandte Lucifer noch einmal den Kopf, wobei der Pferdeschwanz äußerst apart über seine schmale Schulter schwang. „Denkst du vielleicht, ich hab Bock, hier sinnlos mit dir rumzuhocken. Maou und Emilia werden wohl kaum einfach hier aufschlagen. Sieh lieber zu, dass du dich mal nützlich machst.“, brummte er. Ein fieses Lächeln huschte über seine Lippen bei dem Gedanken, dass er nun gehen konnte, wohin er wollte, und Olba hier wie ein Gefangener festsaß. Wie befürchtet, wimmelte es im Gebäude nun vor Menschen und nicht der blasseste Hauch von Magie war zu spüren. Wie erhofft, fiel Lucifer allerdings tatsächlich kein bisschen auf. Dank seiner schmalen, zierlichen Gestalt ging er problemlos als Schülerin durch und das Buch in seinem Arm bestätigte diesen Eindruck noch. Genüsslich seine Chips knabbernd, führten ihn seine Schritte zunächst ins Sekretariat. Eine ältere, rundliche Frau mit strengem Gesicht und offenbar schon am Morgen mieser Laune, saß hinter dem Empfangstisch am Computer. Lucifer trat schlurfend ein und lümmelte sich mit dem Oberkörper auf den Tresen, bevor er den Mund aufmachte, um zu sprechen. Da fiel ihm auf, dass er zwar jetzt lesen konnte, aber er war sich nicht sicher, ob er die Worte auch richtig aussprechen würde. „Schüler klopfen an, bevor sie einen Raum betreten!“, motzte ihn die Sekretärin direkt an. Wie diese unwürdige Sterbliche mit ihm sprach, versetzte Lucifer einen gelinden Schock und er verzog wütend die Lippen. Musste er sich so eine Behandlung denn jetzt von jedem gealterten Menschen gefallen lassen, dem er begegnete?! Diese Welt war definitiv fällig, sobald er seine Kräfte irgendwie wiedererlangt hätte. Er würde schon einen Weg finden, das war sicher. Er fand immer einen Weg! „‘tschuldigung.“, nuschelte er flapsig hervor, ließ den Wortstummel dann aber sofort in ein Räuspern auslaufen. Seine Stimme klang definitiv zu männlich für sein Kostüm. Unter dem Vorwand, nervös und verspielt an seinem Uniformkragen herumzuzupfen, hob er die Hand zum Hals, suchte mit dem Daumen seinen Adamsapfel und drückte ihn in Richtung Kiefer nach oben. Als er nun weitersprach klang seine Stimme deutlich höher, ohne künstlich verstellt zu wirken. „Ich bin neu. Ich brauche den Schülerausweis.“, versuchte er mit einfachen Sätzen, sich verständlich zu machen. Die Frau hinter dem Tresen sah ihn an, wie eine Kröte die Fliege. „Den hättest du mindestens einen Monat im Voraus beantragen müssen! Gehst du immer so fahrlässig mit deinen Angelegenheiten um?! Aber angemeldet bist du doch hoffentlich! Name?“, fragte sie offensichtlich genervt, aber Lucifer war darauf vorbereitet. Er hatte schon einige Worte gelernt, die er für geeignet hielt, seinen Namen in dieser Welt zu bilden. „Mamono Satori.“, gab er an. Die Frau musterte ihn unwillig. Schließlich blieb ihr Blick aber an denn knall-lila Haaren hängen und sie schien zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Eltern dieses Kindes wohl irgendwelche esoterischen Spinner sein mussten. (Satori = Aufklärung, die Zeichen für Satori schreiben sich 佐 = helfen und 鳥 = Vogel; Mamono = Dämon, 魔物) Sie gab den Namen in den Computer ein und wurde sogleich richtig sauer. Den Namen gab es natürlich nicht in den Listen. „Der Umzug war … spontan.“, versuchte Lucifer zu erklären, doch bevor die Sekretärin in ihrer Litanei, sie könne ohne Unterlagen nicht einfach einen Schülerausweis ausstellen, richtig laut werden konnte, änderte Lucifer seine Strategie. Er versprach, die Unterlagen so bald wie möglich zu bringen, entschuldigte sich und verließ das Zimmer, bevor die Frau auf die Idee kam irgendwelche Vormünder anrufen zu wollen. Auf dem Gang sah er sich wütend um. Er musste diese Schreckschraube irgendwie beschäftigen, um lange genug an ihren Computer zu können, bis er herausgefunden hatte, wie man einen Schülerausweis ausstellte! Während er so mitten im Flur stand und grübelte, kam eine Gruppe junger Männer des Weges, die im Gegensatz zu den anderen Schülern bisher keine Anstalten machten, um Lucifer herumzugehen. Ein ziemlich bulliger Typ, der die Körpersprache des Anführers zur Schau trug, rempelte ihn fast über den Haufen und Lucifer sah genau, dass es Absicht gewesen war. Die Chips und das Buch fielen ihm aus dem Arm. „Pass doch auf! Tussi.“, pöbelte einer der Beta-Männchen lachend. Der Alpha aber schien Lucifer erst jetzt richtig zu sehen. Er kam zurück, bückte sich und hob das Buch auf. Er schien Mühe zu haben, den Einband zu lesen. „>Die jüngere Geschichte Japans<. Du interessierst dich für Geschichte?“, fragte er unerwartet freundlich und reichte Lucifer das Buch zurück. Der nahm es mit zornigem Funkeln in den Augen wieder an sich. „Tut mir wirklich leid. Ich hatte dich im ersten Moment für einen Jungen gehalten, weil ...“, seine Hand vollführte eine zweifellos eher unbewusste Geste, die Lucifers Brust umkreiste. Als er es bemerkte, verbannte er die unglückliche Hand sofort in seinen Nacken und grinste entschuldigend. „Ist ja nicht schlimm, ich meine, kann ja passieren.“, brabbelte er heillos durcheinander. Lucifer ließ ihn stehen und ging einfach weg. Waren alle Menschen derart Gehirn amputiert, oder nur diese spezielle Sorte?! Das Schlimmste war, dass er sich nicht wehren konnte. Ohne Magie war er den meisten seiner bisher erschienenen Gegner in einem physischen Kampf gnadenlos unterlegen. Er musste hier wesentlich hinterfotziger arbeiten als auf Ente Isla. Da fiel sein Blick auf ein rotes Rechteck mit einem schwarzen Punkt in der Mitte hinter Glas und der Aufschrift >Im Falle eines Feuers Scheibe einschlagen und Knopf tief drücken<. Ein teuflisches Lächeln breitete sich über sein engelhaftes Gesicht. Es dauerte nur Minuten, dann war das Gebäude unter dem lauten Schrillen der Sirene geräumt. Lucifer verschaffte sich mit dem Lesezeichen in seinem Buch erneut Zutritt zum Sekretariat. Der Computer war noch an und die Frau hatte ihre ganzen Sachen da gelassen. Lucifer durchstöberte ihre Tasche und ihre Jacke und steckte sich einiges von ihren Habseligkeiten ein, darunter der Geldbeutel, eine kleine Parfumprobe und eine Packung Nikotin-Kaugummis, von denen er sich gleich eines in den Mund schob. Der Nikotinschub schoss ihm direkt ins Gehirn und förderte seine Konzentration bei der vor ihm liegenden Aufgabe, weil es sein aufgeregtes Herz beruhigte. Er fand schnell heraus, wie er Maus und Tastatur handhaben musste, denn er hatte es ja bei der Sekretärin bereits beobachtet. Das Programm, welches die Schülerausweise generierte, lag direkt auf dem Desktop. Er klickte darauf und nach einigen vergeblichen Versuchen öffnete es sich nach einem ungeduldigen Doppelklick. Dann trug er allerhand erfundene Daten in die Felder ein, machte mit der kleinen Kamera, die oben auf dem Bildschirmrand klemmte, ein Foto von sich, auf dem man praktisch nichts als seine Haare sah, und drückte auf >ausdrucken<. Während die Maschine arbeitete, steckte er seinen Pony mit der Spange wieder auf seinem Kopf fest. Vor dem Fenster erschollen plötzlich weitere Sirenen. Lucifer lehnte sich zurück, um hinauszusehen. Ein großes rotes Auto mit der Aufschrift >Feuerwehr< hielt mitten auf dem Schulhof. „Oh shit!“, murmelte Lucifer zu sich selbst und warf einen fordernden Blick auf den Ausweisdrucker. Wieso dauerte denn das so lange? War das Ding etwa kaputt? Waren all seine Bemühungen umsonst? Sollte er vielleicht versuchen noch einmal Magie zu wirken, um die Sache zu beschleunigen? Während er noch aufgeregt nachdachte, sprang neben einem kleinen gelben Licht an der Maschine ein ebenso kleines grünes Licht an und ein nigelnagelneuer Schülerausweis fuhr mit leisem Surren aus dem Ausgabeschlitz. „Endlich mal!“, murrte Lucifer die Maschine an und entriss ihr das Kleinod. Den Kaugummi spuckte er sich in die Hand und klebte ihn unter die Tischplatte, auf welcher der Computer stand. Dann schlüpfte er aus dem Sekretariat und stahl sich durch die Gänge, immer penibel darauf achtend, nicht versehentlich einem Feuerwehrmann in die Arme zu lau- „Hey, Kleine! Was machst du noch hier drin?“, rief eine Stimme keine zwei Meter hinter ihm. Sein erster Impuls war, sich umzudrehen und den Gegner mit Magie zu fixieren, bis er herausgefunden hätte, wer das war. Er drehte sich um, kam dann aber zu dem Ergebnis, dass Weglaufen die bessere Alternative gewesen wäre. Schon war der Uniformierte bei ihm und packte ihn am Arm. Lucifer hob die Finger zum Hals und gab vor, verlegen den Kragen seiner Bluse zuhalten zu wollen, befleißigte sich aber in Wirklichkeit erneut seines Tricks für eine höhere Stimmlage. „Es tut mir Leid, ich suche ...“, er überlegte fieberhaft, was ein Menschenmädchen sagen würde. Aber woher sollte er das wissen? „Hast du jemanden gesucht? Eine Freundin vielleicht?“, fragte der Feuerwehrmann hilfsbereit und beugte sich zu Lucifer hinunter. In dessen Augen konnte der Engel das Spiegelbild seines eigenen Gesichts erkennen. Es war einfach zum Kotzen hübsch! Genau deshalb trug er die Haare immer über dem Gesicht! Aber der Ausdruck darauf ließ momentan keinen Zweifel daran, dass er ein verirrtes und verängstigtes Mädchen war. Insofern musste er sich wohl selbst zu einem weiteren gelungenen Schauspiel gratulieren. „Genau...“, stammelte er und hoffte, dass er nicht nach einem Namen gefragt würde. „Man hat mir versichert, dass alle Klassen vollzählig im Schulhof angetreten seien. Seltsam, dass dich niemand vermisst hat. Bestimmt ist deine Freundin draußen.“, tröstete der freundliche Uniformierte und Lucifer überkam das unbändige Verlangen, dieser Grinsebacke gezielt das Herz aus der Brust zu ballern, wenn er nicht sofort seinem Arm losließe. „Dann gehe ich lieber auch nach draußen.“, meinte er und versuchte sich loszureißen. Der Mann ließ ihn los. „Aber schnurstracks, hörst du?!“, ermahnte er den Engel liebenswert. Lucifer sah in Gedanken den Kopf des Uniformierten sauber von seinen Schultern gleiten und das Blut aus dem offenen Hals in Fontänen empor spritzen. Er drehte sich um und rannte in Richtung der Treppen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu den anderen auf den Schulhof zu stellen. Zu seiner maßlosen Überraschung, stand Olba auf dem Hof mit der Sekretärin und einem kleinen Mann mit Halbglatze und Brille zusammen. Ungläubig schlich er, verdeckt durch die Reihen der Schüler, näher, um zu lauschen. „...einfach furchtbar. So etwas kommt hier praktisch nie vor. Ich bin sicher, es war nur ein dummer Jungenstreich, aber normalerweise sind die Schüler hier sehr brav. Ich verstehe das nicht. Und dann gerade an Ihrem ersten Arbeitstag, bitte verzeihen Sie das, Herr Meyer.“, flötete der Kleine mit Halbglatze. Er sah zu Olba auf, der sein heuchlerisches Lächeln aufgesetzt hatte und in einwandfreiem Japanisch antwortete. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde dieses Haus schon meistern, egal wie brav oder dreist Ihre Schäfchen sind.“ Aus irgendeinem Grund schienen die zwei Schulangestellten seine Aussage irrekomisch zu finden. Endlich entschuldigten sich die beiden und ließen Olba alleine auf dem Hof zurück. Lucifer trat hinter ihn. „Ey!“ Olba drehte sich mit tief gerunzelter Stirn um. Als er ihn aber erkannte, konnte er sich offensichtlich nur schwer das Lachen verkneifen. Den Crossdresserschock vom Morgen hatte er offenbar überwunden. Er selbst trug nach wie vor seine Robe. „Halt dein dummes Maul und sag mir lieber, was du hier treibst!“, verlangte der Engel, noch bevor Olba auch nur den Mund aufmachen konnte, um etwas zu sagen. „Nicht so laut, du Satansbraten! Hier sind überall Menschen!“, zischte Olba ihn an und hörte auf zu lachen. Lucifer taxierte ihn mit unverhohlenem Zorn. Er hatte sich an der Vorstellung ergötzt, den Spieß umgedreht zu haben und nun seinerseits Olba in Isolation zurückzulassen. Aber da stand er, frech wie Lumpi, und quatschte mit den Menschen, als gehöre er dazu. „Also?!“, verlangte er mit Nachdruck zu wissen, wenn auch leiser als zuvor. „Ich habe für mich ebenfalls eine geeignete Tarnung gefunden. Ohne mich derart zu entwürdigen!“, behauptete er von oben herab. „Ach ja?“, zischte Lucifer giftig. „Oh ja. Ich bin zu diesem >Direktor< gegangen und habe mich um die Stelle eines Lehrers beworben.“ „D-du bist Lehrer?! Einfach so?“, fuhr Lucifer dermaßen aus der Haut, dass Olba ihn zur Seite zerrte und im Schatten gegen die Hauswand drängte, um sie beide ein wenig aus der Sicht der Umstehenden zu nehmen. Eine Gruppe Mädchen warf ihnen alarmierte Blicke zu. Für sie sah es schließlich so aus, als zerre ein älterer Mann ein junges Mädchen vom Schulhof weg und in eine dunkle Ecke. „Sei doch endlich leiser! Nein, bin ich nicht. Ein Lehrerposten war nicht frei. Außerdem hätten sie dafür irgendwelche laufenden Lebenspapiere sehen wollen. Aber eine andere Stelle war frei, die das nicht erforderte. Sie haben mir das Amt des Meisters über dieses Haus übertragen. Man wird mir ohne Widerrede alle Schlüssel aushändigen und ich werde befugt sein, mich Tag und Nacht im Gebäude aufzuhalten.“, erklärte er hochmütig. In Lucifers Gehirn dämmerte etwas. Ihm fiel eine Information ein, die er in der Schulbroschüre gelesen hatte. Und nun war es an ihm, herzhaft zu lachen. Olba verzog sein faltiges Gesicht. In der Tat sah er aus, als ob er Lucifer am liebsten geschlagen hätte. Stattdessen zischte er ihn nur an, gefälligst mit dieser Albernheit aufzuhören. „Du, haha, du, hahahaha, du bist Hausmeister!“, keckerte er und hielt sich vornüber gebeugt den Bauch vor Lachen. „Das habe ich doch eben gesagt.“, entgegnete Olba verständnislos. Lucifer wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel und rang um Atem. Er beschloss, Olba alleine herausfinden zu lassen, was genau seine Aufgaben in diesem Beruf waren. Das würde viel lustiger werden, als ihm jetzt seine Illusion des gehobenen Herrscheramtes zu zerstören. „Gratuliere. Und wie hast du den Lappen erklärt?“, wollte er schließlich wissen, als er wieder atmen konnte und zeigte auf Olbas Robe. Olba rümpfte erneut die Nase. Lucifer mochte nützlich sein, aber er konnte ihn einfach nicht ausstehen. „Ich sagte, ich sei der Erzbischof eines Ordens der Kirche aus einer anderen Welt und wolle hier Erfahrungen sammeln.“, erzählte er. Der Engel sah ihn mit schief gelegtem Kopf skeptisch an. „Und das haben sie geschluckt?“ „Ja. Sie meinten, wandernde Mönche, die ein Jahr in einem weltlichen Beruf verbringen müssten, um ihren Glauben zu stärken, seien hier nicht unüblich.“ „Diese Welt wird immer kurioser.“ „Und was hast du den ganzen Vormittag gemacht? Außer diese Alarmsituation auszulösen. Das warst doch du, oder etwa nicht?“ Lucifer zuckte die Schultern und antwortete nicht darauf. Stattdessen zeigte er Olba seinen neuen Schülerausweis. „Nun gut, damit wären wir dann wohl beide erfolgreich getarnt.“, hielt Olba fest, „Wie gedenkst du jetzt, unsere Ziele ausfindig zu machen?“ „Wieso ich?“, gab Lucifer zurück. „Weil du mein angeheuerter Attentäter bist!“, erinnerte Olba und ahnte schon, dass Lucifer sich vor der komplizierten Arbeit drücken wollte. „Du bist der Auftraggeber, ich bin das Werkzeug. Zeig mir, wen ich abmurksen soll und ich tue es. Wenn du dein Ziel verlierst, ist das nicht mein Problem.“, grollte Lucifer zurück. „Unser Ziel, du fauler Schmarotzer! Oder willst du vielleicht hier sesshaft zu werden?“ Olba und Lucifer starrten sich hasserfüllt in die Augen. „Du wirst bald darum betteln, nach Ente Isla zurückkehren zu können, du Meister des Hauses! Ich dagegen werde hier fabelhaft zurechtkommen, ohne mich für irgendwelche Menschen krumm zu arbeiten, auch für dich nicht!“, zischte Lucifer schließlich gefährlich leise. Dann wandte er sich mit fliegendem Rock und Pferdeschwanz um und verschwand, wie selbstverständlich, zwischen den anderen Schülern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)