Die Sonne scheint für alle von MariLuna ================================================================================ Kapitel 5: ----------- V.   Müde hebt die junge, dunkelhaarige Frau aus Apartment 202 ihren Kopf vom Kissen, ist dann aber sofort hellwach, als sie begreift, was sie geweckt hat. Stimmen, zwar gedämpft, aber eindeutig sehr aufgeregt, dringen aus der Nachbarwohnung zu ihr hinüber. Zuerst ist sie verärgert … Blöde Dämonen, gönnt mir doch meinen Schlaf! … aber der Moment währt nur so kurz, wie ihr Pflichtbewußtsein benötigt, um richtig zu erwachen. Sofort schämt sie sich, überhaupt eingeschlafen zu sein, aber aus dem, was sie in der Diskussion vor ein paar Stunden entnehmen konnte, ging es nur um Lucifer und dass er wieder mal etwas getan hatte, was Mao und Alciel wütend machte. Aber da es sie erstens nichts angeht, wenn die drei sich streiten und zweitens diese ständige Uneinigkeit für alle anderen hier nur von Vorteil sein kann, hat sie irgendwann nicht mehr richtig zugehört und ist offensichtlich darüber eingeschlafen. Schließlich schlich sie Lucifer schon vorletzte Nacht hinterher, und wandte sich sofort wieder schaudernd ab, als sie zusehen durfte, wie dieser mit einem Mann in einem Stundenhotel verschwand. Es fällt ihr zwar immer noch schwer, die hiesige Schrift zu entziffern, aber sie musste nicht lesen, was über der Eingangstür stand, um zu wissen, worum es sich handelte – außerdem war die Hand des Mannes auf Lucifers Hinterteil mehr als eindeutig. Da beschloss sie, dass sie das nichts weiter angeht. Und wenn sich die drei deswegen jetzt zerstreiten, geht sie das ebenfalls nichts an. Auch wenn sie, nervös streicht sich Crestia Bell alias Kamazuki Suzuno die Knitterfalten in ihrem Kimono glatt, langsam beginnt, den gefallenen Engel in ihr Herz zu schließen. Aber das liegt nur an ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der aufbegehrt, wenn sie Zeuge davon wird, wie die anderen ihn behandeln. Es liegt ganz bestimmt nicht daran, dass sie Mitleid mit diesem Kellerkind hat. Die Stimmen werden plötzlich lauter. Neugierig geworden, streicht sie sich eine lange Haarsträhne zurück hinters rechte Ohr und spitzt die Ohren. Doch noch kann sie keine eindeutigen Worte verstehen. Und so rutscht sie dichter an die dünne Spanplatte heran, die sich hier Wand schimpft und drückt ihr Ohr flach dagegen. „Wieviele arme Menschen hast du dafür verletzt?“ Das ist eindeutig Alciels Stimme. „Wieviele getötet? Wieviel Schaden hast du dafür angerichtet?“ Bei diesen Worten versteift sich Crestia unwillkürlich. Das klingt ernst. Ist etwas geschehen, was sie hätte verhindern können, wäre sie nicht eingeschlafen? Atemlos presst sie sich noch etwas enger an die Wand, um auch ja kein weiteres Wort mehr zu verpassen. Doch auf der anderen Seite bleibt es verdächtig still, stattdessen … sie erschauert unwillkürlich und bekommt eine Gänsehaut, fühlt sie doch ein unheilverkündendes Ansteigen dunkler Magie. Dunkelrot und grün. Mao und Alciel. Unwillkürlich fährt ihre Hand hoch zu ihrer Haarnadel, doch bevor sie sie ziehen und diese sich in ihre Waffe verwandeln kann, hört sie plötzlich zwei erschrockene Schreie und einen dumpfen Aufprall von draußen. Verwirrt runzelt sie die Stirn und erhebt sich langsam, unsicher, ob sie ihrer Neugier nachgeben und zum Fenster gehen soll, um zu sehen, woher dieses Geräusch kam oder ob sie nicht doch lieber sofort in die Nachbarwohnung stürmt. Doch die Dämonen nehmen ihr die Antwort auf diese Frage ab, denn sie stürzen lautstark aus Apartment 201, rennen die Treppe hinunter und währenddessen hört sie Alciels lauten, entsetzten Schrei. „Urushihara!“ Mit zwei großen Schritten ist sie an ihrem Fenster angelangt, schiebt es entschlossen zur Seite und lehnt sich über die Brüstung, um einen Blick nach unten zu werfen.     Sein Bewußtsein kommt und geht in Wellen. Er spürt seinen Körper nicht mehr und sehen kann er auch nichts, aber sein Hörsinn funktioniert leidlich. Auch wenn alles klingt, als befände er sich unter Wasser. „Mist. Es funktioniert nicht.“ Da ist ein Kribbeln, er erkennt Maos Magiesignatur, aber sie gleitet nur über ihn hinweg wie ein warmer Wind. „Lasst es mich versuchen, Mylord.“ Das Kribbeln verändert sich, wird stärker und hektischer, ein mit Brausepulver versetzter Wind, der wirkungslos über ihn hinweg rauscht. Was, zum Geier, treiben die da? „Wir haben keine Wahl. Ruf einen Krankenwagen, Ashiya.“ „Aber Mylord...“ „Das ist es, wofür eine Familienkrankenversicherung da ist, Ashiya!“ „Nichtsnutziger Dämonenkönig Sadao, was soll der Lärm am frühen Morgen?“ Crestia. Oh, Crestia. Ihre Stimme, ihre Beschimpfungen sind Balsam für seine Seele. Ja, Danke, endlich jemand, der Mao mal seine eigene Medizin zu schmecken gibt. Für einen Moment ist er fast glücklich. Die Stimmen werden undeutlich, verschwimmen, als würden sie ineinanderfließen. Sie werden zu einem unverständlichen Hintergrundrauschen, während er auf eine verlockende Schwärze zutreibt. Doch dann: „...shihara.“ „Hanzō .“ Sie klingen zunehmend verzweifelter. „Hanzō !“ Hanzō ... wer ist dieser Hanzō ? „Lucifer!“ Die Nennung seines Namens durchbricht den Matsch, in den sich sein Verstand verwandelt hat, doch das hält nicht lange an. Es reicht gerade, um zu begreifen, dass er auf etwas sehr, sehr hartem liegt. Aber das ist alles, was er spürt. Es ist, als wäre die Verbindung zwischen seinem Körper und seinem Geist durchtrennt worden, da sind weder Schmerzen noch irgend etwas anderes in der Art. Und trotzdem ist alles taub. Aber in seinem Kopf fühlt es sich an, als würde er schweben. Hoch, hoch und immer höher hinauf. Sonnenstrahlen wärmen sein Gesicht und der Wind fährt durch seine Schwingen. Ein zärtliches, fast liebevolles Liebkosen, beinahe wie Finger, die durch seine empfindlichen Daunen kämmen. Es folgt wieder Dunkelheit, bis ihn das an- und abschwellende Geräusch einer Sirene zurückholt. Was dann folgt, sind nur Bruchstücke. „... passiert?“ „... wie alt?“ „... und Sie sind?“ „... Doppelfraktur … Schädel-Hirn-Trauma ...“ Es dauert nicht lange, dann taucht er wieder in die Schwärze hinab. Sie ist wie dunkler Schlick, feucht und dickflüssig und zieht ihn unbarmherzig immer tiefer. Bis ihn abermals eine Sirene herauszerrt. Wieder Stimmen, doch diesmal weigert sich sein Hirn, die Worte zu verstehen. Er bewegt sich ohne einen Muskel zu rühren und irgend etwas wird auf seinen Mund und seine Nase gepresst. Sauerstoffmaske... der Gedanke blitzt innerhalb einer Sekunde auf und ist genauso schnell wieder vergessen. Stattdessen bahnt sich ein anderer seinen Weg an die Oberfläche. Meine Flügel... das Gefühl des Verlustes, der Leere, das ihn plötzlich überfällt, hat etwas Lähmendes an sich. Sein gesamtes Inneres zieht sich in einem schmerzhaften Krampf zusammen. Sein Herz schmerzt. Sein gesamtes Sein schmerzt. Und plötzlich befindet er sich wieder in Ente Isla und kämpft mit der Heldin Emilia. Er ist überrascht über ihre helle, weiße Aura. Ihr Körper wird von mehr heiliger Energie durchpulst als es bei einem normalen Menschen möglich sein dürfte. Ihre Augen funkeln vor Wut, Verachtung und Hass und da liegt wilde Entschlossenheit in ihrer Miene und plötzlich fühlt er sich an jemanden aus seiner Vergangenheit erinnert. Lailah. Sie sieht aus wie Lailah. Sie ist Lailahs TOCHTER. Diese plötzliche Erkenntnis lässt ihn im denkbar ungünstigsten Moment zögern und schon eine Sekunde später spürt er, wie Emilias Klinge seine Brust durchbohrt. Der Schmerz ist unbeschreiblich. Er stürzt zu Boden und während er dort im Schlamm und Dreck liegt und langsam und qualvoll verblutet, findet er Trost in dem Gedanken, dass ihm die Schmach erspart bleibt, von einem gewöhnlichen Menschen getötet worden zu sein. Von einem Halbengel ist zwar auch nicht ideal, aber es entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Bah, er konnte Lailah sowieso nie leiden. Sie mochte eine gute Wissenschaftlerin sein, aber sie ließ immer andere für sich die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holen. Wenn Mao und Alciel ihn immer faul nennen, dann sollten sie mal Lailah sehen! Er weiß nicht, wie lange er dort liegt, gefangen zwischen Leben und Tod, aber er hofft, dass Mao-sama ihn findet. Oder Alciel. Gerne auch Camio. Irgend einer. Wenn ihnen zu Ohren kommt, dass er besiegt wurde, werden sie ihn doch bestimmt suchen, oder? Sie suchen immer ihre gefallenen Kameraden, das gehört zu Mao-samas neu erfundenem Dämonenkodex. Doch die Zeit vergeht und allmählich wird ihm klar, dass ihn niemand sucht. Die bittere Enttäuschung, die sich daraufhin in sein immer schwächer schlagendes Herz schleicht, wird von einer noch härteren Erkenntnis begleitet. So ist es. Natürlich. Er war und ist für alle anderen nur ein Werkzeug. Und ist das einmal zerbrochen, wird es weggeworfen. So war es auf den beiden Monden, auf denen sich Himmel und Dämonenwelt befinden und dem dazugehörigen Planeten, auf dem die Landmasse Ente Isla liegt und so ist es – natürlich - auch hier auf dem Planeten Erde. Das ist der rote Faden, der sich durch sein gesamtes, jahrtausendelanges Leben zieht. Er würde lachen, wenn er noch die Kraft dazu hätte. Aus Lucifers Kehle löst sich ein leises Wimmern, als sich seine Erinnerungen im Jetzt verlieren, aber diesen einen Gedanken zurücklassen. Zusammen mit dem Verlust seiner Flügel ist diese Last zu schwer, um nicht darunter erdrückt zu werden. Was dann folgt ist eine Dunkelheit, wie sie schwärzer nicht sein kann. Er heißt sie willkommen. Er will nicht mehr aufwachen. Nie wieder.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)