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Stichflamme

Der Aufstieg des Phönix
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Triggerwarnung: Dieses Kapitel enthält eine Folterszene magischer Natur. Wer diese nicht lesen mag, kann bis zu der Leerzeile lesen und im nächsten Kapitel wieder einsteigen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Kurzfassung der Triggerszene im letzten Kapitel:
Rowle hat Minerva mit dem Cruciatus-Fluch gefoltert, woraufhin Elphinstone zusehends emotionaler reagierte und sowohl Rowle beleidigte, als auch Minerva helfen wollte, es aber nicht konnte. Schlussendlich überwältigte der Fluch Minerva und sie wurde ohnmächtig. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Inhaltshinweis: In diesem Kapitel werden Fehl- bzw. Stillgeburten erwähnt. Dies betrifft die Szene ab der ersten Leerzeile. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Inhaltshinweis: In diesem Kapitel werden vergangener körperlicher Missbrauch und selbstverletzendes Verhalten angedeutet. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Inhaltshinweis: In diesem Kapitel wird Unfruchtbarkeit thematisiert. Dies betrifft die Szene ab dem ersten Ortswechsel. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dies ist das letzte volle Kapitel der FF. Es folgt allerdings noch ein kleiner Epilog in einigen Tagen, bevor es von da direkt zum zweiten Teil weitergeht. Komplett anzeigen

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Sterne, Schicksal und Sorgen


 

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

- Hermann Hesse -

 

 
 

London, August 1959

 

London schlief. Dichter Themsenebel hatte sich vor die Sterne geschoben und hüllte die nächtliche Stadt in seinen undurchdringlichen Schleier. Die kalte Luft kündigte vom nahenden Herbst und hätte Minerva es nicht besser gewusst, sie hätte es für die beunruhigende Nähe von Dementoren gehalten. Die Hauptstadt gab sich noch einmal jegliche Mühe, ihr den Abschied so leicht wie möglich zu machen.

Sie wusste nicht, wann genau es geschehen war, doch sie hasste London. Die Enge, die vielen Menschen – und allen voran das Ministerium. Irgendwann war aus ihrem größten Traum ein Albtraum geworden. Jede Faser ihres Körpers sehnte sich nach den weiten schottischen Highlands, ihrer Heimat.

Seufzend blickte sie gen Himmel, doch statt der Sterne konnte sie bloß den Schein einer Straßenlaterne ausmachen, den Rest verschluckte Londons Nebel. Nicht zum ersten Mal an diesem Abend fragte sie sich, ob ihre Entscheidung klug war. Aber ihr Herz rief danach. Die Zeit für Veränderung war gekommen.

Mit einem Ploppen erschien ein Schatten in den grauen Schwaden. Er war hier. Damit wurde es endgültig. Sie straffte die Schultern und stand von der Parkbank auf, um ihm entgegenzugehen.

»Minerva?«, drang seine besorgte Stimme auf sie zu, bevor er aus dem Nebelgrau trat.

Elphinstone Urquart trug noch immer den dunkelblauen Umhang, der ihn als Ministeriumszauberer auswies. Minerva konnte sich nicht belügen – seine Position stand ihm außerordentlich gut. Er war zwar das Musterbild eines reinblütigen Zauberers mit jahrhundertelanger Familiengeschichte – und dennoch der Einzige in der Strafverfolgungsbehörde, den sie wirklich mochte. Im Gegensatz zu vielen anderen ränkeschmiedenden Beamten, die in erster Linie nur sich selbst dienten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach unten traten.

Ein trauriges Lächeln legte sich auf ihre Züge. Es erschien nur zu passend, dass ihr Gespräch tief in der Nacht im Hyde Park sein sollte – wo alles seinen Anfang genommen hatte. Nur, dass sie dieses Mal nicht einem dunklen Zauberer auf den Fersen waren und keine Flüche über die feinsäuberlich gestutzten Rasenflächen jagten. Vielleicht würde sie eines Tages den Nervenkitzel ihrer Arbeit tatsächlich vermissen. Ihn würde sie in jedem Fall vermissen.

»Hallo Elphinstone«, begrüßte sie ihren Vorgesetzten.

Er war versucht, zu lächeln, doch angesichts ihres unglücklichen Ausdrucks blieb es bei dem Versuch. Wachsam sah er sich um und ließ den Blick über den spiegelglatten Serpentine-See gleiten, auf dem sich tagsüber die Muggel in Ruderbooten tummelten. »Hyde Park«, stellte er leise fest und sah zurück zu ihr. »Warum hier?«

Jetzt war es an ihr, den Blick in die Ferne schweifen zu lassen. In ihrem Hals steckte ein dicker Kloß. Aber da musste sie durch. »Es ist ruhig hier bei Nacht. Und weit weg vom Ministerium.«

Stumm wartete Elphinstone darauf, dass sie weitersprach.

»Ich habe dich gebeten, herzukommen, damit du es von mir als Erste hörst.« Sie schluckte schwer. »Ich werde London verlassen.«

Nun war der Hippogreif also aus dem Sack. Auf Elphinstones Gesicht zeichneten sich viele unterschiedliche Gefühle ab, aber was blieb, war Traurigkeit. »Du hast gekündigt.«

»Ja.«

Einen Augenblick lang sprach keiner von ihnen, nur das leise Plätschern des Sees war zu hören. Minerva sah auf das kleine Abzeichen hinab, das sie immer wieder zwischen den Fingern gedreht hatte, während sie wartete. Ein Zauberstab, an dessen Spitze eine Waagschale hing, war in das goldene Metall geprägt, darunter ihr Name. M. McGonagall, magische Strafverfolgung.

»Ich habe es geahnt. Seit der Sache in Northumberland«, sagte Elphinstone schließlich, als seine Stimme wiederfand. »Wohin gehst du?«

Das Lächeln auf Minervas Zügen vertiefte sich. »Hogwarts.«

»Natürlich.« Er nickte. »Albus Dumbledore ist kein Narr. Er hat dein Talent nie vergessen.« Seine hellen Augen suchten die ihren. »Du wirst sicherlich eine wunderbare Lehrerin.«

Verlegen zuckte sie mit den Schultern. Es war noch nie ihre Stärke gewesen, Lob anzunehmen, ganz gleich wie berechtigt. »Ich hoffe es zumindest«, gestand sie.

Doch Elphinstone schüttelte nur den Kopf. »Ich weiß schon, dass es so wird.« Ein kleines Lächeln hob seine Mundwinkel. »Es war immer wieder großartig, wie du Mulciber zurechtgewiesen hast, wenn er bei einer Verwandlung nachlässig war.«

Der Gedanke an ihren unausstehlichen Kollegen entlockte Minerva ein Schnauben. »Mulciber hat einfach eine viel zu große Klappe. Irgendwer muss ihm ja sagen, dass seine Verwandlungen fauler als Doxymist sind.«

Ein leises Lachen wehte von Elphinstone zu ihr heran. »Ich kann dich nicht zum Bleiben überreden, oder?«

Erleichterung darüber, dass er ihr keine Vorwürfe machte, stritt sich mit der Melancholie des Abschieds in ihr. »Ich fürchte, meine Entscheidung ist endgültig. Hogwarts ist mein Zuhause. London war es nie, auch wenn ich es wollte.« Sie schloss ihr Abzeichen fest in die Faust. »In zwei Wochen bin ich fort.«

»Mhm.« Elphinstone schob die Hände in seine Umhangtaschen. »Nun, ich kann dir keinen Vorwurf machen. Einige meiner schönsten Erinnerungen sind aus der Schulzeit. Eigentlich bin ich wohl eher neidisch auf dich.« Geistesabwesend fuhr er sich durch das blonde Haar. »Ich hoffe, du findest dort, was du suchst.«

Das hoffte sie ebenfalls, obwohl sie unsicher war, was das überhaupt sein sollte. Jahrelang hatte sie davon geträumt, im Ministerium die magische Welt zu verändern und alles, was von diesem Traum blieb, war die bittere Erkenntnis, dass sie gegen verschlossene Türen rannte. Die alltägliche Korruption ließ den letzten Rest ihres Ideals jeden Tag weiter verkümmern.

Mit einem Seufzen wickelte sie ihren Umhang enger um sich, bevor sie zögerlich die restliche Distanz zu dem Zauberer, der als ihr Vorgesetzter angefangen hatte und längst ihr Freund geworden war, überbrückte. Die rechten Worte fielen ihr nicht ein, also schloss sie die Arme um ihn, löste sich aber schnell wieder, bevor doch noch ihre Gefühle die Oberhand gewinnen konnten. Heute Abend sollten keine Tränen fallen.

»Danke, Elphinstone. Für alles.«

 

 
 

Hogwarts, September 1970 •

 

Goldener Kerzenschein warf sein flackerndes Licht an die nachtschwarze Decke und fand seinen Widerhall in hunderten und aberhunderten von winzigen Sternen, die sich in der Endlosigkeit von Raum und Zeit verloren. Unterhalb des verzauberten Deckengewölbes funkelten unzählige polierte Teller mit den fernen Lichtern um die Wette. Die große Halle erstrahlte heute besonders vornehm, als hätte sie sich extra für die Ankunft der neuen Erstklässler herausgeputzt.

Auch wenn Minerva seit gut zehn Jahren in Hogwarts lehrte, die vielen Facetten des Himmels hatten ihre Faszination nie verloren. Wann immer sie den Blick gen Decke richtete, fühlte sie wieder das Staunen ihres elfjährigen Ichs, das mit dem Eintritt in diese Schule endlich ihre Bestimmung in einer Welt voller Wunder und Magie gefunden hatte.

Noch war alles ruhig und sie konnte diesen Moment für sich genießen. Doch in wenigen Augenblicken würden die ersten Kutschen und Boote das Schloss erreichen und mit ihnen die vielen Zauberlehrlinge. Ein weiteres Schuljahr in Hogwarts nahm seinen Anfang.

Irgendwelche Möchtegern-Wahrsager würden vermutlich behaupten, in den Sternen ein Omen für das kommende Jahr zu erkennen, aber Minerva sah in ihnen bloß ein glitzerndes Mysterium. Rückblickend betrachtet hätte sie gerne gewusst, ob die Planeten den Wandel an jenem Tag voraussahen. Wäre es zu erahnen gewesen, dass sich bald alles ändern würde? Zunächst langsam, schleichend wie eine betagte Schnecke, dann immer schneller, bis es ihre Welt aus den Fugen hob.

Vielleicht wäre die kommende Zeit einfacher geworden, hätte sie es vorausgeahnt. Aber die Zukunft kleidete sich in ein undurchdringliches Gewand aus dunkler Nacht und so wandte sie den Blick von der Decke wieder in die Gegenwart, um die Ankunft der Erstklässler zu überwachen.

Die jungen Hexen und Zauberer drängelten sich bereits auf den gewaltigen Treppenstufen hinauf zum Schlossportal, als Minerva die große Halle verließ. Wie gewöhnlich sahen die Kinder mit runden Augen zu den erleuchteten Fenstern in den Türmen und jedem davon war an der Nasenspitze abzulesen, dass es versuchte, sich das Leben inmitten von so viel Zauberei vorzustellen.

Früher oder später würden sie alle einmal über die Schule, die Hausaufgaben und sicherlich auch ihre strenge Lehrerin schimpfen, das war Minerva bewusst – genauso wie ihre Streiche sie ärgern würden. Die Kinder würden in Prüfungen bangen, Feste feiern und hoffentlich jedes den passenden Weg finden. Aber am Anfang war der Zauber des Schlosses ungebrochen, Generation für Generation.

Beim Anblick der verzückten Erstklässler unterdrückte sie ein Schmunzeln. Genau in diesen Augenblicken wusste sie, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte, als sie an ihre alte Schule zurückkehrte, fort vom Ministerium.

Bloß eines war an diesem Tag nicht wie in den Jahren zuvor. Der besorgte Ausdruck in Rubeus Hagrids käferschwarzen Augen. Trotz seiner riesenhaften Körpergröße brachte der Wildhüter es fertig, so klein und schuldbewusst wie ein Schüler auszusehen, der gerade eine Standpauke vom Schulleiter höchstpersönlich erhalten hatte.

Betreten sah er auf seine gewaltigen Hände hinab und trat von einem Bein auf das andere. Noch bevor Minerva die neuen Zauberlehrlinge begrüßen konnte, schob er sich vor sie. »‘s tut mir furchtbar leid, Professor«, murmelte er, so leise es ihm seine rumpelnde Stimme erlaubte, »aber ... da war einer zu wenig im Zug. Ich hab‘ überall gesucht – da war niemand. Die Kinder sag’n, sie hätten nicht keinen gesehen.«

Irritiert blinzelte Minerva den Berg von Mann an. »Was meinst du damit – es fehlt einer?« Sie realisierte, was er sagte, aber gleichzeitig weigerte ihr Verstand sich, die Aussage anzunehmen.

»Ein Schüler. Es sin‘ nur 43 statt 44 aus’m Zug gestiegen.« Rubeus senkte seine Stimme noch weiter. »Aber die Kinder sag’n, dass niemand sonst im Zug war.«

Minerva umklammerte das Pergament mit den Namen der Erstklässler fester. In zehn Jahren hatte es das nie gegeben. Vielleicht fiel mal ein Kind bei der Überquerung des großen Sees aus dem Boot – aber der Riesenkrake hatte bisher noch jeden unversehrt zurückgebracht.

Dunkle Wolken schoben sich langsam über den Sternenhimmel und kündeten von fernem Regen. »Lass uns die Kinder hereinbringen, dann sehen wir weiter«, beschloss sie, um Zuversicht bemüht. »Ich bin sicher, das wird sich aufklären.«

Doch als sie die Erstklässler wenig später unter lauten Rufen der Begeisterung in die nun wolkenverhangene große Halle führte, fehlte von Jonathan Alditch immer noch jede Spur. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte Minerva keine Freude angesichts des aufgeregten Getuschels über die verzauberte Decke, die blassen Geister oder die schwebenden Kerzen. Ganz wie am Himmel, legte sich auf ihr Herz ein dunkler Schleier aus Wolken. So sollte es nicht sein.

Mitternachtspost

Eine Eule nach Mitternacht brachte keine guten Nachrichten. Das hatte schon ihre Mutter zu sagen gepflegt. Trotzdem öffnete Minerva dem zerzausten Waldkauz das Fenster, als er gegen ein Uhr nachts mit seinem Schnabel dagegen klopfte.

Sie hatte den Großteil des Abends vor dem Kamin in ihrem Turmzimmer verbracht, um die Sommerhausaufgaben ihrer UTZ-Schüler zu bewerten, bis das harsche Tok-Tok ihre Konzentration durchbrach.

Wenn sie jedoch ganz ehrlich war, dann waren ihre Gedanken längst bei ihrem neuen Buch, das im Ohrensessel neben dem Kaminfeuer darauf wartete, ihre Sorgen zu verdrängen. Den letzten Absatz in Adelaide Corryns Aufsatz hatte sie gedankenverloren schon zum fünften Mal mit roter Tinte angestrichen, während sie an den verschwundenen Erstklässler dachte.

Draußen ging seit dem frühen Nachmittag ein Jahrhundertunwetter nieder und dementsprechend elend sah die arme Posteule aus, die sie nun hereinließ. Entkräftet flog sie auf Minervas Schreibtisch und landete – wie diese seufzend feststellte – mitten auf dem Stapel Aufsätze über die Retransfiguration von Säugetieren. Die Tinte verschwamm unter den Regentropfen, die aus dem Gefieder der Eule perlten.

Mit einem ärgerlichen Zischen scheuchte Minerva den Kauz hoch und brachte die Arbeit ihrer Schüler in Sicherheit, bevor sie dem entrüstet meckernden Tier einen Eulenkeks zuwarf. Glücklich kauend hielt der fedrige Postbote ihr sein Bein hin und sie schnürte die durchgeweichte Rolle los. Mit zusammengezogenen Augenbrauen warf sie einen Blick auf das Siegel. Ein verschnörkeltes M in goldenem Wachs.

Der Anblick erinnerte sie wieder an den Spruch ihrer Mutter. Niemals gute Nachrichten nach Mitternacht. Noch bevor sie das Pergament entrollt hatte, ahnte sie, dass dieser Brief keine Annehmlichkeiten enthalten würde. Erst recht nicht, wenn er vom Ministerium kam.

Ermüdet setzte sie ihre silberne Lesebrille ab und fuhr sich über das Gesicht. Sie hatte den Brief erwartet und doch war ihr nun bang vor seinem Inhalt.

Im Schein des fast herabgebrannten Kaminfeuers brach sie das Siegel auf und betrachtete die wenigen, schwungvoll geschriebenen Zeilen. Während sie las, erschienen immer mehr sorgenvolle Falten auf ihrer Stirn, die sie deutlich älter als Anfang dreißig wirken ließen.
 

Werte Minerva,

ich hoffe, diese Eule findet dich wohlauf. Verzeih, dass ich dir nicht eher geantwortet habe, aber die jüngsten Turbulenzen im Ministerium haben mir kaum Ruhe gelassen.

Ich habe den Fall gründlich untersuchen lassen, wie von dir erbeten. Es betrübt mich, dir nicht bessere Nachrichten schicken zu können, doch wir haben in diesem Moment keinerlei Anhaltspunkt, wohin es die Familie des jungen Jonathan Alditch verschlagen hat.

Für die Beteiligung einer Person aus magischen Kreisen an diesem verwunderlichen Fall gibt es derzeit keine verlässlichen Hinweise. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass sich das Fernbleiben des Jungen bald schon aufklären wird. Sei versichert, dass wir die zuständigen Muggelbehörden informiert haben.

Wie du sicher weißt, halten die andauernden Unruhen in London uns alle in Atem. Ich brauche jeden Angestellten der Strafverfolgungsbehörden hier, um dem dreisten Aufbegehren der Reinblüterfamilien Einhalt zu gebieten. Doch ich hörte vom Minister der Muggel, dass ihre Polizei einige interessante Möglichkeiten hat, die ihr helfen, Vermisste aufzuspüren. Ich setze mein volles Vertrauen darein, dass sie euren verschwundenen Schüler alsbald finden.

Sollte sich hier etwas Neues ergeben, informiere ich dich eulenwendend.

Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen

Eugenia Jenkins

Zaubereiministerin

 

Äußerlich war Minerva gefasst, als sie den feuchten Brief vor sich ablegte und die Eule am Schnabel kraulte, innerlich indes wirbelten ihre Gedanken durcheinander. Es ging nichts Gutes in der Welt vor sich, wenn ein muggelgeborener Erstklässler spurlos verschwand, kurz bevor er den Hogwartsexpress besteigen konnte. Und dass das Ministerium in der Sache so unbekümmert agierte, linderte ihre Sorgen kein bisschen.

Sie hatte den kleinen Jonathan nur wenige Tage nach dessen elftem Geburtstag kennengelernt, um ihm die größte Überraschung seines Lebens zu bereiten. Er war ein gewöhnlicher Junge aus einem verschlafenen Küstendorf im Süden Englands, der nichts von seiner magischen Gabe ahnte. Wie bei allen muggelgeborenen Kindern hatten seine Augen vor Begeisterung geglitzert, als sie mit einem Schlenker ihres Zauberstabs das feine Porzellan Purzelbäume schlagen ließ, der Beweis für ihre durchaus reale Magie.

Abgesehen von einem kurzen, überraschten Luftschnappen hatten die Eltern keine Anzeichen gemacht, dass sie Zauberei nicht gut hießen. Im Gegenteil, seine Mutter hatte aufgeregt verlangt, dass Minerva das Kunststück wiederholen sollte. Mit Augen so rund wie Murmeln hatte sie die Eierbecher angestarrt, die sich über den Esstisch jagten, ehe sie in begeistertes Lachen ausgebrochen war.

Andere Eltern nahmen die Nachricht nicht so gelassen auf. Manche glaubten, sie würden zum Narren gehalten oder suchten nach versteckten Schnüren, um den Zaubertrick aufzudecken. Aber noch nie hatte es eine Familie gegeben, die ihr Kind erfolgreich am Schulbesuch gehindert hatten. Umso bestürzender daher das Verschwinden dieses Jungen und seiner Eltern, offenbar nur Stunden, bevor das neue Schuljahr begann.

Für die Familie Alditch gab es schlichtweg keinen Grund, vor dem ersten Schultag ihres Sohns einfach so fortzugehen. Und doch war am 1. September ein Kind zu wenig in den Hogwartsexpress gestiegen.

Laut dem anliegenden Aurorenbericht wusste niemand, wohin sie verschwunden waren. Nicht einmal die neugierigen Nachbarn, die ihre Nasen zu gerne in anderer Leute Angelegenheiten steckten. Fakt war, dass ihr Haus vollkommen verlassen dalag. Alles machte den Anschein, dass sie gleich wieder zur Tür hineinkommen könnten.

Die völlige Ignoranz des Ministeriums in dieser Hinsicht war nur ein weiterer Beweis dafür, dass die Zaubereiministerin ihre Augen vor der Wirklichkeit verschloss. Minerva glaubte nicht daran, dass die Muggelpolizei auch nur einen Hinweis finden würde. Nein, das bleierne Gefühl in ihrem Magen sagte ihr, dass an dieser Geschichte mehr dran war.

So sehr sie Eugenia schätzte, seit sie gemeinsam im Ministerium gearbeitet hatten – die Zaubereministerin war viel zu eingenommen von den reinblütigen Zaubererfamilien, die sich jeden Tag neue Dreistigkeiten erlaubten. Die Titelseite des Tagespropheten war ebenso voll davon. Bereits den gesamten Sommer kannte das Land keine anderen Schlagzeilen mehr.

Unser Blut in Gefahr! Besorgte Reinblüter stürmen Ministersitzung‘ war bloß der heutige Aufmacher. Das Thema beherrschte seit Wochen das Ministerium, genauso wie die Reinblüter allerorts aufmarschierten, um gegen die Gesetzgebung zum ersten allgemeinen magischen Gleichstellungsgesetz zu demonstrieren. Alles Übrige hingegen blieb auf der Strecke.

Wollte man erfahren, was sonst Bedeutsames in der Welt geschah, musste man irgendwo im Mittelteil, zwischen den Anzeigen für gebrauchte Rennbesen und den hundert Gartentipps gegen Gnome suchen. Hin und wieder tauchten dort kurze Artikel auf, teils nur wenige Zeilen lang, die aufmerksamen Lesenden weit mehr über die tatsächliche Lage verrieten, als sich auf den ersten Blick annehmen ließ.

Zum Beispiel, dass eine Angestellte der Abteilung für Muggelangelegenheiten einen Unfall beim Besuch eines Quidditchspiels erlitt, da ein wildgewordener Klatscher plötzlich zielstrebig ins Publikum schoss und ihr eine schwere Gehirnerschütterung einbrachte. Bei all den Gefahren, die üblicherweise von diesen Bällen ausging, hatte Minerva in ihrer eigenen Quidditch-Karriere nie ein derartiges Verhalten bei einem Klatscher beobachtet.

Nach all den Protestmärschen der Reinblüter, die so besorgt um ihren Blutstatus waren, hinterließen dererlei Nachrichten bei ihr stets das unangenehme Gefühl, dass es sich mitnichten um einen Unfall handelte. Die Vermutung lag nahe, dass der Ball manipuliert worden war. Aber so wie die Dinge standen, ging niemand diesem Fall nach, solange die Demonstrationen das Ministerium beschäftigten.

Sollten Albus’ Befürchtungen stimmen – und der Schulleiter irrte selten – dann waren dunkle Kräfte auf dem Vormarsch, die über ein paar vorurteilsbeladene Hexen und Zauberer weit hinausgingen. Nur leider konnten sie sich offenbar nicht darauf verlassen, dass die Ministerin dies ebenso erkennen würde.

Unglücklich sah Minerva die Eule an, die wohlig ihre Augen geschlossen hatte und ihre Federn am Kaminfeuer trocknete. Ein Entschluss reifte in ihr heran. »Ich fürchte, du musst noch einmal raus, eine Botschaft für mich überbringen.«

Träge öffnete das Tier ein Auge und sah zu, wie sie einen frischen Bogen Pergament hervorzog. Vorsorglich sprang es weiter aus ihrer Reichweite und schuhute vorwurfsvoll.

Minerva seufzte mitfühlend und setzte die Feder auf das Blatt. Es war an der Zeit, einen gewissen Gefallen einzufordern. Sie hatte ihn schon länger nicht mehr gesehen, da ihrer beider Arbeit sie einspannte. Trotzdem wusste sie, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Wenn es darauf ankam, hatte er immer ihren Rücken gedeckt und sie seinen. Egal ob Verfolgungsjagd, verdeckte Ermittlungen oder im Gerichtssaal.

Da die Ministerin ihre Sorgen nicht teilte, würde sie eben selber aktiv werden. Tatenlos zusehen kam jedenfalls nicht infrage. Doch egal, wie sehr es sie drängte, sie konnte nicht an Ort und Stelle losstürmen, um den verschwundenen Erstklässler zu suchen. Die anderen Zauberlehrlinge warteten darauf, morgen früh wieder von ihr unterrichtet zu werden. Das hinderte sie allerdings nicht daran, einen Weg zu schaffen.

Wenige Minuten später war die Nachricht an ihren alten Freund fertig, aufgerollt und hing am Bein der missgelaunten Eule. Elphinstone Urquart war Minerva nach eigener Aussage noch etwas schuldig, seit sie ihn kurz vor ihrem Weggang aus dem Ministerium davor bewahrt hatte, von einer Horde Niffler bis auf den letzten Knut ausgeraubt zu werden. In den knapp zehn Jahren seither hatte sie es tunlichst vermieden, diesen Gefallen einzulösen.

Vermutlich verlangte sie einiges von ihm, indem sie ihn darum bat, sich der Zaubereiministerin zu widersetzen und seine Position auszunutzen, um ihr bei der Suche nach dem Jungen zu helfen. Andererseits fand sie ohnehin nicht, dass er aufgrund des Vorfalls mit den Nifflern überhaupt in ihrer Schuld stand. Da er dennoch seit zehn Jahren darauf beharrte, musste er nun zu seinem Wort stehen.

Sie würde nicht eher ruhen, bis Jonathan Alditch vom sprechenden Hut in ein Haus eingeteilt worden war und zusammen mit den anderen Erstklässlern versuchte, Wingardium Leviosa richtig auszusprechen. Und wenn sie dafür sogar diesen Gefallen von ihrem einstigen Vorgesetzten aus der Strafverfolgungsbehörde einfordern musste. Für die Kinder, die ihr bisweilen wie ihre eigenen – die sie nicht hatte – vorkamen, würde sie alles tun.

Meckernd spazierte der Waldkauz über Minervas Tisch und pickte nach ihren Fingern, aufgebracht, weil sie ihn um sein verdientes Schläfchen am Kaminfeuer gebracht hatte. Zur Wiedergutmachung hielt sie der lustlosen Eule einen Keks hin, aber diese krächzte nur beleidigt.

»Mir gefällt das genauso wenig wie dir«, murmelte Minerva angesichts der Regentropfen, die hart gegen das Fenster schlugen. Dennoch trat sie seufzend hinüber und öffnete es wieder. Ein eisiger Windstoß fuhr in den Raum, löschte die letzte Glut im Kamin und ließ sie in Dunkelheit zurück, während die Eule lautlos in den Regen entschwand.

Minerva schlang die Arme enger um sich. »Merlin steh uns bei«, flüsterte sie.

Sie würden jede Hilfe gebrauchen können bei dem, was da kommen würde. Das fühlte sie in der Schwärze der Nacht emporkriechen. Etwas ging vor in der Zaubererwelt.

Auf Samtpfoten

Die Turmuhr hatte schon längst zwei Uhr geschlagen, als Minerva an dem steinernen Wasserspeier vorbei die Treppe zum Büro des Schulleiters empor huschte. Ihren schottengemusterten Morgenmantel gegen die nächtliche Kälte eng um sich gewickelt, klopfte sie entschlossen an die schwere Tür und trat noch im gleichen Atemzug ein.

Es war spät in der Nacht – natürlich war Albus Dumbledore wach. Er pflegte oft zu sagen, dass sein Verstand besser funktionierte, wenn der Trubel des Tages fern lag. In der Hinsicht waren sie beide verschieden. Minerva blieb nur solange wach, um die unzähligen Aufsätze der Kinder sorgfältig zu bewerten. Hatte sie einmal keine turmhohen Pergamentstapel zu korrigieren, saß sie am liebsten mit einer Dose Ingwerkekse und einem spannenden Buch am Kamin – und döste des Öfteren vor Mitternacht ein.

Unter den Kindern mochte man sich erzählen, dass sie keinen Spaß kannte, aber da lagen sie falsch. Es bekam bloß niemand mit, wie sie in den Ferien mit ihrem Besen über die Ländereien jagte oder eben eine spannende Geschichte las.

Im Büro des Schulleiters hingegen sirrten die unzähligen goldenen Apparaturen, deren Zweck sogar für manch einen Zauberkundigen schleierhaft war, im Dunkel der Nacht stets auf Hochtouren, auch dieses Mal. Albus selber saß wie erwartet hinter seinem Schreibtisch und befand sich in einem Zwiegespräch mit den vielen Porträts vergangener Schulleiter und Leiterinnen, die aufgeregt durch ihre Rahmen liefen. Doch das Geschnatter der Porträtierten erstarb augenblicklich, sobald Minerva den Fuß über die Türschwelle setzte. Hunderte Augen musterten sie mit unverhohlenem Interesse, ehe einige von ihnen nur allzu hastig vorgaben, in tiefen Schlaf zu verfallen. Es war immer dasselbe.

»Ah, Minerva«, grüßte Albus sie mit einem warmen Lächeln. Er verschloss den schweren Wälzer, aus dem er bis eben gelesen hatte. »Was verschafft mir die Ehre?«

Sie straffte ihre Schultern und wand sich ihren Weg zwischen den vielen storchenbeinigen Tischen hindurch zu seinem Schreibtisch. »Leider nichts Erfreuliches. Ich habe soeben Post vom Ministerium erhalten.« Sie zog den Pergamentbogen aus ihrer Manteltasche und reichte ihn weiter. »Ich muss wohl nicht sagen, dass es nichts als enttäuschende Neuigkeiten sind.«

Es brauchte nicht lange, bis Albus den Brief überflogen hatte. Mit jedem Satz, den er las, schwand das amüsierte Funkeln in den graublauen Augen hinter seiner Halbmondbrille. Nachdem er fertig war, legte er das Blatt sorgsam vor sich ab und verschränkte seine langen Finger.

»Ganz und gar nicht erfreulich«, stimmte er ihr zu. »Das Ministerium neigt wieder einmal dazu, seine Kurzsichtigkeit unter Beweis zu stellen.«

Wie, um diese Feststellung zu unterstreichen, stieß Albus’ Phönix Fawkes einen leisen Ruf aus. Minerva hatte ihn zwischen all den magischen Apparaturen in dem Raum glatt übersehen. Das legendenumwobene Tier saß auf seiner Vogelstange neben dem Schreibtisch und betrachtete sie mit deutlich mehr Wohlwollen als der Waldkauz vorhin. Sie lächelte bei dem Anblick flüchtig, ehe sie sich auf das Gespräch zurückbesann.

»Richtig. Wenn die Ministerin glaubt, dass ich zusehen werde, wie sie diesen Fall ignoriert, nur weil die reinblütigen Demonstranten sie zum Troll halten, dann hat sie auf den falschen Rennbesen gesetzt. Wenn sie nichts unternimmt, dann finde ich eben einen anderen Weg.« Entschlossen stemmte sie ihre Hände in die Hüften. »Ich habe Elphinstone Urquart darum gebeten, Nachforschungen für mich anzustellen. Er arbeitet schließlich immer noch in der Abteilung für magische Strafverfolgung. Vielleicht kann er etwas herausfinden.«

Albus nickte langsam. »Ja, deinen alten Freund zu informieren, war auf jeden Fall eine richtige Entscheidung. Ich bin sicher, dass er deiner Bitte nachkommen wird. Aber ich habe das Gefühl, das war noch nicht alles, nicht wahr?«

Seine Augen legten sich durchdringen auf Minerva und sie fühlte sich einmal mehr, als würde er bis in ihr Innerstes blicken. Früher war es ihr unangenehm gewesen, doch mit der Zeit gewöhnte man sich daran. Dennoch brach sie den Blickkontakt ab und musterte stattdessen Fawkes, der sorgsam sein rot-goldenes Gefieder putzte.

»Es fällt mir zugegeben schwer, in dieser Sache nicht selber etwas zu unternehmen ...« Sie traute sich nicht, weiterzusprechen. Albus sollte nicht annehmen, dass sie ihre Pflichten als Professorin auf die leichte Schulter nahm.

Doch er lächelte ihr nur ermunternd zu. »Nun, wir dürfen nicht vergessen, dass wahrscheinlich auch Mr Urquart alle Hände voll zu tun hat, mit den unzähligen Ausschreitungen in unserem Land. Selbst wenn er gute Absichten hat, kann es sein, dass es alsbald zu spät ist. Er ist sicher ein fähiger Zauberer, aber alleine sind wir allzu oft auf unser Glück angewiesen.«

Minervas Herz unternahm einen zaghaften Hüpfer. Albus schien genau zu verstehen, wonach es sie drängte.

»Das Beste dürfte es sein, wenn ihn jemand unterstützt. Ich bedauere, mich nicht sofort selber darum kümmern zu können, doch das Zaubergamot erfordert meine unabdingliche Aufmerksamkeit dieser Tage. Aber das bindet dir nicht die Hände. Ich denke, ich finde einen würdigen Ersatz für deine Verwandlungsstunden.« Er zwinkerte ihr zu. »Natürlich sollte es nicht zu sehr auffallen, aber wer hat schon je einer streunenden Katze Aufmerksamkeit geschenkt? Nicht nur Muggel neigen dazu, gewisse Erscheinungen zu unterschätzen.«

Diese Worte brachten ihr Herz endgültig zum Flattern. Das Vertrauen von Albus bedeutete ihr viel. Nicht nur, weil er ein Zauberer ohnegleichen war, sondern vor allem, da er nie leichtfertig jemandem vertraute. Entschlossen reckte sie das Kinn.

»Dabei sollten sie es besser wissen.« Sie konnte nicht verhindern, dass sich ein kleines Lächeln auf ihre strengen Züge legte, trotz des Ernsts der Lage. Ihre Animagusgestalt hatte sich schon oft genug als Trumpf erwiesen.

Das Funkeln kehrte in Albus’ Augen zurück. »Ihre Schwäche, unser Vorteil.« Er erhob sich vom Tisch und strich Fawkes beiläufig über das Gefieder, bevor er zu einem dunklen Wandschrank schritt. »Und ein weiterer Vorteil unserer Seite ist«, er kramte geräuschvoll im Schrankinneren umher, »dass wir uns zu helfen wissen, wann immer uns die Spur fehlt. Ah, hier ist es ja.«

Mit einem kleinen goldenen Gegenstand, kaum größer als ein Schnatz, drehte er sich zu Minerva um. »Lass mich dir für diesen Zweck meinen Vestigiator anvertrauen.«

Verdutzt nahm sie die Kugel entgegen. Rundrum waren in zarten Linien Runen eingraviert und in der Mitte davon glänzte unter Kristallglas ein einzelner, geschliffener Rubin. Sie konnte mehrere Zeiger erkennen, die sie an Kompassnadeln erinnerten, allerdings schienen sie wahllos in alle Himmelsrichtungen zu weisen. Es musste sich bei diesem Objekt um eine von Albus’ zahlreichen, kuriosen Erfindungen handeln. Genie und Wahnsinn lagen dicht beisammen.

»Ein schlichter Aufspürzauber sollte genügen, um ihn zu aktiveren«, erklärte Albus schmunzelnd. »Dieses Gerät dürfte in der Lage sein, kleinste Spuren kürzlich vergangener magischer Präsenz aufzuspüren und – in einem gewissen Radius – zu verfolgen. Selbst dann, wenn wir kein festes Ziel vor Augen haben.«

»Verstehe.« Minerva nickte nachdenklich. »Dann erlaubt der Vestigiator mir mehr zu sehen, als ein herkömmlicher Aufspürzauber, der ein Bezugsobjekt braucht, um seine Wirkung zu entfalten. Aber vermutlich kann ich nicht erkennen, wessen oder welche Spuren das Gerät registriert?«

Albus nickte anerkennend, wie er es schon früher getan hatte, als er noch ihr Lehrer in Verwandlung gewesen war. »Richtig. Und da ich bescheidenerweise zugeben muss, dieses kleine Ding selber erfunden zu haben, werden wohl weder das Ministerium noch Mr Urquart, etwas Ähnliches besitzen. Mit eurer beider Talent und meiner Erfindung solltet ihr bestens gerüstet sein.«

Minerva umschloss den wertvollen Aufspürer genauso fest in der Faust, wie den Schnatz am Ende eines kräftezehrenden Quidditchspiels. »Ich werde mich noch vor dem Morgengrauen aufmachen. Wollen wir hoffen, dass ich bis zur Mittagspause einen neuen Erstklässler gefunden habe.«

Sie war schon an der Tür, als Albus sich leise räusperte. »Minerva – halte deine Hoffnungen realistisch. Es sind stürmische Zeiten, in denen wir leben. Manchmal ist es besser, wenn wir uns nicht von überschwänglicher Hoffnung irreleiten lassen. Wenn sie verlischt, erscheint die Nacht ungleich dunkler.«

 

Zusammen mit dem ersten Sonnenstrahl apparierte Minerva schließlich nach einer viel zu kurzen Nacht ans Ende einer ländlichen Straße. Salzige Seeluft begrüßte sie und rief Erinnerungen an ihren Heimatort Caithness wach. Das Meer war eines der wenigen Dinge, die sie in Hogwarts wirklich vermisste.

Sie nahm sich jedoch keine Zeit, die Natur zu bewundern. In einer fließenden Bewegung sank ihre Gestalt in sich zusammen, kaum, dass ihre Füße auf dem Asphalt Halt gewonnen hat. Verschwunden war die große Frau im dunkelgrünen Umhang. An ihrer statt saß eine getigerte Katze auf der Straße und ließ den Blick wachsam von Haus zu Haus gleiten.

Gestern Nacht hatte es keine Eule mehr durch das tosende Gewitter geschafft, das über dem Schloss niedergegangen war, folglich wusste sie nicht, ob Elphinstone ihren Brief erhalten hatte oder ob er kommen würde. Sie wollte lieber Vorsicht walten lassen und sich möglichst unauffällig einen Eindruck verschaffen.

Branscombe war ein kleines Dorf von kaum fünfhundert Seelen. Selbst durch die kurzsichtigen Augen ihrer Animagusgestalt erkannte Minerva die wilden Brombeerhecken zu ihrer Rechten und die Häuserreihe zu ihrer Linken. So früh morgens lag die überschaubare Ortschaft in schläfriger Ruhe da. Lautlos wie es nur eine Katze konnte, schlich sie über die Straße und auf die Häuser zu. Niemand, der sie sah, würde ihr einen zweiten Blick schenken.

Hausnummer sieben war ein alleinstehendes Cottage, mit windschiefen Fensterläden und einem Reetdach. Die Katzengestalt trübte zwar Minervas Fernsicht, doch sie erkannte die Umrisse des gepflegten Gartens, in dem allerlei Blumen und Kräuter wuchsen. Von einem anderen Zauberbegabten war keine Spur zu sehen.

Ihre schmächtige Animagusgestalt wurde nun erneut zu ihrem Vorteil, da sie sich mühelos zwischen den Eisenstäben des Gartentors hindurchschieben konnte. Wie eine gewöhnliche Katze auf der Jagd schlich sie geduckt über den Kiesweg, der zu dem Haus der Familie Alditch führte.

In dem hohen Gras neben ihr raschelte es. Mit zitternden Schnurrhaaren verharrte Minerva, bis sie dank ihrer geschärften Wahrnehmung eine aufgeschreckte Maus davonrennen sah. Misstrauisch atmete sie tief ein, um die Witterung des Tiers zu überprüfen. Sie nahm nichts außer dem Geruch nach Nagetier wahr.

In Situationen wie diesen war sie unendlich dankbar, dass das Schicksal ihr eine derart praktische Animagusgestalt geben hatte. Nicht auszudenken, wie lästig es wäre, in der Gestalt eines Bären gefangen zu sein. Zwar konnte sie kaum zehn Meter weit sehen, dafür aber ausgezeichnet bei Nacht und ihr Geruchssinn übertraf jeglichen menschlichen Sinn. Während sie noch im Zaubereiministerium gearbeitet hatte, war das bereits mehr als einmal von Nutzen gewesen.

Sie richtete sich wieder auf und trabte zu dem Haus hinüber. Nichts erweckte den Anschein, dass hier etwas Ungewöhnliches geschehen war. Es sah genauso aus wie bei ihrem letzten Besuch. Einzig die Fensterläden, die sperrangelweit offenstanden, wirkten so früh am Morgen eigenartig, wo doch alle anderen Häuser in tiefem Schlaf mit verschlossenen Läden dalagen.

In einem langen Satz sprang Minerva auf den schmalen Sims vor dem Fenster und presste ihre Katzennase gegen das kühle Fensterglas. Aus den Schatten der Morgendämmerung lösten sich die Konturen der altmodischen Küchenzeile, ganz ähnlich der, die es in ihrem Elternhaus gab und in der sie das Porzellan vor wenigen Wochen zum Tanzen gebracht hatte. Wären die Äpfel in der Obstschüssel auf der Anrichte nicht schrumplig, es hätte vollkommen gewöhnlich ausgesehen.

Aber Minerva gab nicht auf. Sie strich weiter um das Haus herum, auf der Suche nach etwas Ungewöhnlichem, einem Anhaltspunkt. Doch nicht einmal mit dem geschärften Geruchssinn einer Katze konnte sie mehr als wachsende Kräuter riechen. Nicht der Hauch von Magie schien in der Luft zu liegen.

Aus stechend grünen Augen musterte sie das Haus. Genau das war falsch. Es müssten die typischen chaotischen Spuren unkontrollierter Zauberei zu finden sein, die jedes magisch begabte Kind hinterließ. Der Hauch unkontrollierbarer Impulse, die Spielzeuge zum Leben erweckten oder kratzige Wollpullover schrumpfen ließen, fehlte völlig. Irgendjemand hatte aufgeräumt und war dabei zu gründlich gewesen.

Nachdem sie sich sorgfältig vergewissert hatte, dass niemand sie beobachtete, verließ Minerva ihre Animagusgestalt. Binnen Sekunden wurde aus der gewöhnlichen Hauskatze wieder eine junge Hexe mit schwarzem Haar.

Ein schlichtes »Alohomora« genügte und sie schlüpfte durch die Haustür. Mit dem Zauberstab in der Hand schlich sie vorsichtig über die knarzenden Dielen. Der Dicke der Staubschicht nach zu urteilen, war seit Tagen niemand mehr hier gewesen.

Minervas schwarze Schnallenschuhe wirbelten Wollmäuse auf, aber abgesehen davon lag das Haus völlig erstarrt da. Da sie selber einen Muggel zum Vater hatte, schenkte sie den Geräten, die andere Hexen und Zauberer in Staunen versetzten, keinen zweiten Blick. Stattdessen erklomm sie die Treppe in den nächsten Stock.

Das Kinderzimmer war einfach auszumachen, obwohl sie es bei ihrem ersten Besuch nicht betreten hatte. Schon an der Tür hing ein offensichtlich selbstgemaltes Schild, das es als Jonathans auswies. Sie stupste die Tür auf. Auch hier bot sich das gleiche Bild wie im Rest des Hauses. Spielzeugdinosaurier standen feinsäuberlich aufgereiht auf dem Fenstersims. Die Bettdecke war ordentlich gefaltet und ein Stapel brandneuer Zauberbücher lag auf dem Nachttisch. Aus dem obersten, Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind, baumelte ein Lesezeichen. Auf einem Bügel am Kleiderschrank hing zudem ein schlichter Hogwartsumhang, noch ganz ohne Hauswappen.

Der Anblick versetzte Minerva einen Stich ins Herz. Wer glaubte, dass Jonathan Alditch freiwillig auf Hogwarts verzichtete, der versuchte auch, Hippogreife von hinten aufzuzäumen.

Sie zog Albus’ Vestigiator aus Umhangtasche. Es konnte nicht schaden, ihn schonmal auszuprobieren. Hoffentlich enttäuschte sie sein Genie nicht.

Gerade hatte sie den Zauberstab auf das goldene Gerät gerichtet, da ließ sie ein Knall von draußen zusammenfahren.

Staubige Spur

Minerva zögerte nicht lange. Vestigiator und Zauberstab wieder in der Umhangtasche verstaut, verwandelte sie sich zurück in ihre fellige Animagusgestalt und huschte zum Treppenabsatz, um nach dem Besuch Ausschau zu halten. Obwohl sie mit einem Freund rechnete, konnte man nie wissen ... Das Geräusch stammte in jedem Fall von einer apparierenden Person. Sie hatte es oft genug in ihrem Leben gehört, den kurzen Knall, wenn die Luft erschrocken vor dem Auftauchen eines Menschen zurückwich.

Im Halbdunkel des Hauses hatte sie zumindest den Vorteil auf ihrer Seite. Wer auch immer gleich hereinkommen würde, sie würde die Person zuerst sehen. Angespannt spähte sie in den Flur hinab, den Katzenkopf zwischen den Vorderpfoten auf den Boden gepresst.

Für den Bruchteil einer Sekunde bemerkte sie einen herben Geruch nach rottendem Laub, der so gar nicht zu der gepflegten Einrichtung passte, schob den Gedanken aber beiseite. Sie hörte undeutliches Gemurmel und sah, wie sich der Türknauf wie von Geisterhand bewegte.

Zunächst schob sich die Spitze eines Zauberstabs in den Flur, darauf folgte ein Arm und schließlich der Rest eines kleinen Mannes mit hellblondem Haar, der in einen marineblauen Umhang gehüllt war. Er sah sich langsam um, ehe er wortlos den Stab aufleuchten ließ.

In ihrer menschlichen Gestalt hätte Minerva gelächelt. Der Anblick erfreute sie mehr, als sie erwartet hatte. So aber schlich sie nur auf Samtpfoten einige Stufen die Treppe hinab. Ihr Geruchssinn bestätigte ohne Zweifel, wer der plötzliche Besucher war. Auch die Aura blassblauer Magie, die ihn umgab, war unverkennbar und wohl bekannt.

Ein weiterer Vorteil ihrer Animagusgestalt. Die Sinne einer Katze betrog man nicht so einfach mit Illusionszaubern oder Verwandlungstränken. Sie hatten Instinkte, von denen viele nicht einmal ahnten. Und die meiste Magie, die Menschen austrickste, hatte auf Katzen, aber auch andere Tiere, kaum Wirkung.

Der Zauberer hatte Minerva immer noch nicht bemerkt, obwohl sie ihn geradewegs aus ihren leuchtenden Augen ansah. Er war zu sehr damit beschäftigt, die Muggelküche zu mustern. Das gab ihr wiederum Zeit, in Ruhe seine Erscheinung zu begutachten.

Er trug einen altmodischen, grauen Anzug mitsamt bunter Krawatte unter seinem Umhang, der vor zwanzig oder dreißig Jahren – mindestens – modern gewesen sein musste. Sie erinnerte sich, dass ihr Vater so einen zu besonderen Anlässen getragen hatte. Aus Erfahrung wusste sie allerdings zu gut, dass ihr Besucher immerzu so herumlief, seit er eine Anzeige dafür in einem Muggelmagazin gesehen und Gefallen daran gefunden hatte.

Elphinstone Urquart war eben ein Zauberer aus einer Dynastie an Reinblütern und vermutlich war es ihm hoch anzurechnen, dass er keine Badehose zu dem Jackett trug, wie es schon manch anderer vollbracht hatte. Doch zum Glück sah Minervas alter Freund genauso aus wie bei ihrem letzten Treffen, bis hin zu dem gemütlichen Bauchansatz, der sich mit jedem Jahr etwas deutlicher unter seiner Anzugweste abzeichnete.

Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit maunzte sie ihn an und blitzschnell richtete Elphinstone seinen Zauberstab auf sie. Ein ungesagter Zauber glühte bereits an der Stabspitze auf, als er überrascht blinzelnd innehielt, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach.

»Oh Merlin, Minerva, willst du einen Geist aus mir machen?« Lässig wedelte er mit dem Stab und der unfertige Zauber löste sich auf.

Sie unterdrückte ein Kichern und senkte sich auf ihre Hinterläufe. In einer fließenden Bewegung schoss sie wieder in die Höhe, dass ihr dunkelgrüner Umhang und der schottenkarierte Schal aufwehten. Zurück in ihrer eigenen Haut erlaubte sie sich ein zufriedenes Schmunzeln. »Ach, es kommt drauf an, wo du als Geist spuken würdest, Elphinstone. Den unmöglichen Bürokraten im Ministerium kannst du gerne bis in alle Ewigkeit das Leben schwer machen. Die hätten einen nervigen Hausgeist wirklich verdient. Manchmal überlege ich, ob wir Peeves nicht irgendwie dorthin locken können. Zumindest ausleihen könnten wir ihn doch mal ...«

Der unsägliche Poltergeist hatte ihr in knapp zehn Jahren Lehre in Hogwarts mehr als einmal Kopfschmerzen eingebrockt. Ihn ausnahmsweise im Ministerium wüten zu sehen, würde ihr insgeheim große Freude bereiten. Nicht, dass sie das jemals ihren Schülerinnen und Schülern gegenüber zugeben würde.

Ihre schnippische Antwort brachte Elphinstone noch mehr zum Lachen. In seinen hellen Augen funkelte der Schalk und ließ ihn beinahe jungenhaft wirken, obwohl er ein gestandener Zauberer war. »Ich fürchte, Peeves wird Hogwarts selbst dann heimsuchen, wenn wir alle längst in den Staub der Erde zurückgekehrt sind. Aber genug davon. Was machst du hier? Ich dachte, ich sollte für dich etwas herausfinden, nicht mit dir.« Sein Blick wurde wieder ernst.

»Als ich dir geschrieben habe, war das mein Vorhaben, aber da hatte ich die Rechnung ohne Albus gemacht. Er scheint geahnt zu haben, dass ich lieber Kröten pökeln würde, als untätig in der Schule zu sitzen, also hat er mich freigestellt. Falls du es nicht rechtzeitig schaffst – oder Hilfe brauchst.«

»Nun, wenn ausgerechnet du mich um einen Gefallen bittest, dann komme ich so schnell herbeigeflogen wie ein Hippogreif, um dir zur Seite zu stehen«, verkündete Elphinstone salbungsvoll, aber nicht ohne Zwinkern. »Immerhin hat es zehn Jahre gebraucht, bis du überhaupt meinen Beistand gesucht hast.« Er lachte leise. »Du warst schon immer die Fähigere von uns beiden. Deine Unterstützung schlage ich gewiss nicht aus. Wir wissen ja beide, wie gut du mir das Leben retten kannst.«

Unwirsch wedelte Minerva mit der Hand. Lob lag ihr immer noch nicht, vor allem nicht seines. »Schon gut. Ich habe mir deinen Gefallen nur für eine wirklich wichtige Gelegenheit aufgehoben. Leichtfertig wollte ich dich nicht behelligen.«

Tief im Inneren war ihr allerdings ebenso bewusst, dass sie diese Verbindung mit ihm, gleich wie klein, gemocht hatte. Einerseits war sie froh, dass sie nach Hogwarts zurückgegangen war, andererseits fürchtete sie, dass ohne diese letzte ‚Schuld‘ künftig etwas ... fehlen könnte, das sie verband. Denn eines war gewiss: Ihre Treffen fanden vor lauter Arbeit und anderen Verpflichtungen selten genug statt.

Auch wenn er es nie zugeben würde, hatte es Elphinstone getroffen, wie überstürzt sie das Ministerium und seine Abteilung verlassen hatte. Angesichts dessen war sie sehr dankbar, dass ihre Freundschaft mindestens in Briefen überdauerte. Noch mehr freute es sie nur, ihn so spontan wiederzusehen. Da war diese Sache es gleich doppelt wert, ihren Stolz bei der Einlösung seiner Schuld zu überwinden.

»Wie dem auch sei, zwei Zauberkundige sind besser als einer«, befand sie.

Elphinstone lächelte ihr wohlwollend zu. »Richtig, zwei von unserer Sorte sind unaufhaltsam. Vor allem wenn eine davon zu den talentiertesten Hexen gehört, die je ihren Fuß in das Ministerium gesetzt hat.«

Minerva sah die unverhohlene Bewunderung in seinen Augen, doch sie überging die Bemerkung mit einem unangenehm berührten Hüsteln. Sie war sich ihrer Talente bewusst, hielt aber nichts davon, darüber zu reden. »Sollen wir? Ich würde ungern Zeit verlieren.«

»Natürlich.« Elphinstone straffte seine Schultern und wie durch einen gelungenen Verwandlungszauber wurde aus dem charmanten Mann ein professioneller Ministeriumszauberer voll Ernsthaftigkeit. Wenn es um seine Arbeit ging, kannte er keine Späße. »Hattest du schon Zeit, dich weiter umzusehen?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe in meiner Animagusgestalt eine erste Witterungsprobe durchgeführt, aber nichts –«, unvermittelt hielt sie inne. Eigentlich hatte sie sagen wollen, dass sie nichts gefunden hatte, doch das stimmte nicht. Der modrige Geruch am oberen Treppenabsatz stieg ihr wie eine schwache Erinnerung in die Nase.

Erwartungsvoll sah Elphinstone sie an.

»Oben, im ersten Stock, kurz bevor du hereinkamst, roch es ... nach sterbendem Wald. Es muss nichts heißen, aber –«

»Es passt nicht«, vervollständigte er ihren Satz. »Nicht in diesem ordentlichen Muggelhaushalt. Nach dir.« Er wies die Treppe empor und ließ die Spitze seines Zauberstabs aufleuchten, um das dunkle Treppenhaus zu erhellen.

Dieses Mal verwandelte Minerva sich nicht in eine Katze. Stattdessen richtete sie ihren Zauberstab auf den Boden und versuchte es zunächst mit einem schlichten Aufspürzauber, den sie auf die Quelle des unbekannten Geruchs fokussierte.

Nichts regte sich. In ihrer menschlichen Gestalt war der Odor allerdings deutlich weniger präsent und vermutlich mehrere Tage alt. Die Spuren waren wahrscheinlich schon zu schwach.

Elphinstone war am Absatz der Treppe stehen geblieben und verzog nachdenklich das Gesicht. »Ich nehme überhaupt nichts wahr«, murmelte er. »Weder einen Geruch noch Magie.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen. Jemand hat hier aufgeräumt. Zu gut.«

»Wir könnten es mit einem Verstärkungszauber probieren«, schlug Elphinstone vor. »Vielleicht bekommen wir so eine Ahnung davon, ob wir es nicht doch nur mit einem Haustier zu tun haben.« Er richtete den Stab in die grobe Richtung des unsichtbaren Flecks am Boden und murmelte einige Worte.

Ursprünglich handelte es sich bei dem Spruch um einen schlichten Haushaltszauber, der angenehme Gerüche verstärken und für ein behagliches Haus sorgen sollte. Aber wenn der Zauber gut genug war, um Stinkbomben besonders penetrant stinken zu lassen, konnte man ihn auch für die Spurensuche einsetzen.

Sogleich stieg eine geisterhafte Wolke aus dem staubigen Teppich empor, die Minerva in der Nase kitzelte. Beide mussten sie niesen. Unter dem Staub verbarg sich aber noch ein anderer Geruch. Da war wieder der Hauch des Waldbodens im Spätherbst, wenn feuchtes Laub die Erde bedeckte und der kalte Winter nach ihm langte. Nur war die Verwesung, das Sterben allen Lebens, präsenter als der erdige Geruch. Es erweckte den Eindruck eines toten Waldes, mitten in dem ordentlichen Muggelhaus.

Mit gerümpften Nasen sahen Minerva und Elphinstone einander an.

»Das ist ... ungewöhnlich«, sagte Elphinstone schließlich. »Und ich habe keine Ahnung, was es zu bedeuten hat.«

Auch wenn sie es nicht zugab, ging es Minerva genauso. »Wir sollten sehen, ob wir die Spur noch anderswo im Haus finden.«

Nach einem Schwenk ihres Zauberstabs stieben goldene Funken auf und tanzten geschwind durch den Flur davon. Sie folgten dem Ortungszauber, der sie durch den Korridor in das Zimmer des jungen Jonathan führte.

Die Lichtpartikel hüpften auf und ab, wie Staubkörner im Sonnenlicht. Was immer die Spur hinterlassen hatte, es musste sich lange in diesem Raum aufgehalten haben, denn sie verteilten sich überall hin.

Als Minerva vorhin in Menschengestalt das Zimmer betreten hatte, war ihr der ungewöhnliche Geruch genauso wenig aufgefallen, wie jetzt Elphinstone. Mit neugewecktem Interesse blickte sie sich ein zweites Mal in dem Kinderzimmer um.

Auch Elphinstone sah sich um. Aufmerksam ließ er die Augen über die regungslosen Bilder an der Wand hinter dem Schreibtisch gleiten, die allesamt Muggel in ihren stromlinienförmigen Rennautos zeigten. Dann fiel sein Blick auf den ordentlichen Stapel an brandneuen Zauberbüchern. Beiläufig schlug er das Erste auf. Minerva hörte ihn etwas brummen, ehe er sich mit einem knittrigen Lesezeichen in den Fingern zu ihr umdrehte.

»Das Buch hat ganz schön was mitgemacht. Die Seiten sind eingerissen und der Einband hat einen ordentlichen Kratzer auf der Rückseite. Ziemlich merkwürdig, wo doch sonst alles so ordentlich ist. Ein bisschen zu ordentlich, findest du nicht?«

Überrascht sah Minerva ihn an. »Zu ordentlich?« Sie wusste ja, dass viele Zauberer eine eigenartige Vorstellung von Ordnung hatten, aber sie hatte Elphinstone in dieser Hinsicht nicht ganz so hoffnungslos wie manche seiner Kollegen eingeschätzt.

Er grinste leicht. »Vielleicht nicht für dich, aber für einen Elfjährigen? Nicht viele Kinder reihen ihre Sachen so pedantisch auf.« Er wedelte mit dem ramponierten Lesezeichen. »Vor allem nicht, wenn die Sachen aussehen, als wäre eine Herde Zentauren darüber galoppiert. Ich habe das Gefühl, hier war ein Aufräumzauber am Werk. Hastig ausgeführt und nur auf den ersten Blick überzeugend.«

Ein neues Empfinden glitt durch Minerva, als sie noch einmal zu den Spielzeugdinos auf der Fensterbank sah. Tatsächlich, einem von ihnen fehlte ein Bein, das sie auf dem Boden neben der Tür wiederentdeckte. Auf den Autopostern waren vereinzelt dunkelblaue Flecken, dafür war in dem neuen Tintenfass nur mehr die Hälfte an Tinte.

»Vermutlich hast du recht«, sagte sie in die Stille hinein. »Ich wusste doch, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht.« Ihre Finger glitten zu dem Vestigiator in ihrer Umhangtasche. Es war an der Zeit für seinen Einsatz. »Wollen wir hoffen, dass Albus’ Erfindung uns helfen kann.« Sie hielt den goldenen Ball in der flachen Hand vor sich.

Neugierig beäugte Elphinstone den ungewöhnlichen Gegenstand, bevor er ein anerkennendes Pfeifen ausstieß. »Das ist von Albus Dumbledore? Was tut es?«

»Oh, er wäre nicht Albus Dumbledore, wenn ich wüsste, wie er genau funktioniert. Aber er soll Spuren magischer Präsenz aufdecken. Egal wie klein ...« Mit der freien Hand hob sie den Zauberstab und vollführte eine rasche Drehbewegung. »Appare Vestigium!«

Appare Vestigium

Bunte Lichtstrahlen brachen aus dem Vestigiator hervor und hüllten das Zimmer in einen hellen Regenbogenschleier. Suchend tasteten die vielfarbigen Lichter durch den gesamten Raum und verschlangen dabei jeden Schatten. Nichts blieb von ihrer Berührung verschont.

Elphinstone schützte sich mit dem langen Ärmel seines Umhangs und Minerva kniff geblendet die Augen zusammen. Albus’ kleine Erfindung lag summend in ihrer Handfläche und dessen seichte Vibrationen zogen bis in ihren Oberarm. Sie konzentrierte sich auf das Gerät, um ja nicht zu verpassen, was als Nächstes geschehen würde.

Doch es folgte kein großes Finale, in dem vielleicht Funken aus dem Vestigiator sprühten oder ähnlich spektakuläre Effekte. Abrupt nahm das Schauspiel ein Ende und die Lichtstreifen wurden in einem Strudel zurück in das Gehäuse gesogen, wie Wasser, das durch den Abfluss entschwand.

Für einen Augenblick glaubte sie, dass der Aufspürer keinen Erfolg hatte, doch dann sah sie sich um und erblickte ein einziges zurückgebliebenes Leuchten am Fenster. Eine kleine Pfütze aus dunkelrotem Licht hatte sich inmitten der Spielzeugdinosaurier angesammelt.

Den Vestigiator immer noch ausgestreckt, näherte sie sich vorsichtig der Spur. Ohne die leuchtende Magiepfütze hätte sie den länglichen Samen zwischen dem Plastikspielzeug wohl nicht so schnell entdeckt, wenn überhaupt. Er war kaum größer als ein Silbersickel und völlig unscheinbar. Sie tippte die schwarz-lila Schote mit der Spitze ihres Zauberstabs an und unter dem unheilvollen Rascheln hunderter geflügelter Insekten rollte sie zwischen den Sauriern hervor.

»Eine peruanische Finsternisschote.« Überrascht drehte Minerva sich zu Elphinstone um, der die Schote mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte. »Das hat hier wirklich nichts zu suchen. Ich glaube kaum, dass der Junge das in der Winkelgasse gekauft hat. Die Dinger sind gefährlicher als eine Trollhochzeit.«

»Dann haben wir wohl gefunden, was alle vor uns übersehen haben.« Minerva war froh, nicht klein beigegeben zu haben. Die Muggelpolizei hätte diese Spur unmöglich finden können und offenbar nicht einmal die geschulten Ministeriumsbeamten. Vermutlich hatten sie ihr Standardrepertoire an Zaubern angewandt. Eine einzelne Schote, wenn auch magisch, war allerdings nichts, was einen Geheimnisaufdeckzauber auslöste. Die Mühe, richtig zu suchen, hatte sich niemand gemacht. Magie konnte einen überlegen, oder aber faul machen. »Die Frage ist nur – woher kommt die Schote und wieso?«

»Gewissenhaft eingesetzt rufen die Saaten darin eine Dunkelheit hervor, die nichts zu durchdringen vermag«, erklärte Elphinstone. »Weder Zauber noch magisches Feuer. Die Peruaner verarbeiten es zu einem erstklassigen Puder, das mir bei der Arbeit erst letztes Jahr Kopfzerbrechen bereitet hat. Aber die pure Anwendung ist ... riskant. Die Schoten haben die lästige Angewohnheit, gelegentlich zu explodieren.«

Mit neugewonnener Vorsicht betrachtete Minerva die Finsternisschote, deren bedrohliches Rascheln langsam abklang. Das hörte sich überhaupt nicht gut an. Ein letztes Knistern drang aus der lila Schale, dann war es ruhig.

Elphinstone dagegen musterte den Samen mit begehrlichem Interesse. »Was für eine Schande, denn die außergewöhnliche Blüte der Pflanze ist nicht nur ein potentes Trankmittel, sondern leuchtet besonders hübsch bei Vollmo-«, er räusperte sich, da er Minervas ungeduldigen Blick auffing.

Sein Interesse an allem, was rankte, wuchs, blühte und gelegentlich auch versuchte, einen umzubringen, hatte sie schon früher nicht verstanden. Um die eingetopfte Teufelsschlinge in seinem Büro – liebevoll Miss Cuddles getauft – war es jedenfalls ratsam, einen großen Bogen zu machen. Allerdings kam Minerva nicht umhin, zuzugeben, dass dieses Wissen oft ebenso nützlich war. So wie jetzt.

»Nun, egal«, fuhr Elphinstone fort, »Pflanze und Schoten stehen in Großbritannien auf der Liste der klassifizierten Gewächse. Nicht einmal mit Genehmigung darf man sie privat halten.«

»Meinetwegen kannst du die Schote im Anschluss behalten und dir daraus Setzlinge ziehen – ich werd’s dem Ministerium nicht erzählen. Hauptsache, sie führt uns zu den Entführern«, sagte Minerva entschieden.

Sie konnte die Versuchung in seinen Augen aufblitzen sehen, doch dann schüttelte Elphinstone den Kopf und löste den Blick von der Schote. »Lieber nicht. Aber in der Tat haben wir jetzt eine Spur. Schon das Finsternispulver hat eine unangenehme Note, wenn es eingesetzt wird – wie tote Erde. Offenbar hat unser Eindringling das Haus in Dunkelheit gehüllt und dabei einen Teil seines kostbaren Vorrats verloren.«

In Minervas Hals machte sich ein Kloß von der Größe einer lila Sumpfkröte breit. Sie konnte nur hoffen, dass es nicht bedeutete, was sie sich ausmalte. Die Verwicklung von Muggeln schien jedenfalls in weite Ferne zu rücken.

Nachdenklich rollte Minerva den Vestigiator zwischen ihren Fingerspitzen hin und her. »Aber warum?«, stellte sie schließlich die einzige Frage, die ihr in den Sinn kam. »Warum sollte man einen Erstklässler und seine Eltern entführen?«

Es war nicht so, als würde ihr keine Antwort darauf einfallen, doch irgendwie hoffte sie, dass Elphinstone ihr die unbestimmte Angst nehmen könnte mit einer vernünftigen Erklärung, die sie einfach nicht sah vor lauter Sorge.

Der jedoch fuhr sich bloß verlegen über den Nacken. »Mir fällt nichts ein«, seufzte er matt. »Außer ...« Er sah Minervas Blick und brach wieder ab.

Sie fühlte die seichte Berührung seiner Hand auf ihrer Schulter, was die dunklen Gedanken zumindest einen Schritt zurückdrängte. Entschlossen reckte sie das Kinn vor. »Hass«, stellte sie fest und bemerkte erleichtert, dass ihre Stimme nicht verriet, wie sehr sie die Vorstellung aufwühlte.

Elphinstone nickte leicht, nahm aber nicht seine Hand fort. »Wenigstens haben wir eine Spur. Wir können ihn finden. Zusammen.«

Minerva blieb ihm eine Antwort schuldig und richtete stattdessen den Zauberstab erneut auf den Vestigiator, der immer noch leicht summte. »Wollen wir doch mal sehen, ob uns diese Finsternisschote mehr von ihrem Besitzer verraten kann.« Sie hielt die goldene Kugel unmittelbar über die Schote und rief ein weiteres Mal »Appare Vestigium!«.

Dieses Mal flog die Erfindung, ganz wie sein geflügelter Verwandter, der Schnatz, hoch unter die Decke. Schwirrend schoss er über ihre Köpfe hinweg, wie eine Biene auf der Suche nach Pollen. Hinter sich her zog er einen schwach leuchtenden dunkelroten Lichtstrang, der sich von der Finsternisschote aus durch die Luft wand und in den Flur führte.

Minerva und Elphinstone wechselten einen Blick, der zwischen Überraschung und Anspannung schwankte. Er schnappte sich mit spitzen Fingern die raschelnde Schote und schweigend setzten sie dem Vestigiator nach.

Im Dunkeln des Flurs nahm das pulsierende Licht des roten Strangs zu. Es erinnerte Minerva an die magischen Auren, die sie in ihrer Animagusgestalt an Zauberern und Hexen wahrnahm. Die leuchtende Spur folgte dem modrigen Mief, mit dem sich die Dunkelheit im Haus ausgebreitet hatte. Genau dort, wo sie in Katzengestalt das erste Mal die Witterung aufgenommen hatte, malte das Licht eine Schlaufe in der Luft, ehe es die Stufen hinabglitt.

»Bei Merlins Bart«, hauchte Elphinstone in ihrem Rücken. »Das ist wirklich ... faszinierend. Ob dort eine Schote explodiert ist?«

Sie folgten der Spur zurück ins Erdgeschoss, direkt in das Wohnzimmer der Alditchs. Unter dem Licht der morgendlichen Sonnenstrahlen, die durch die Terrassentür hereinschienen, verlor sich das Glühen des roten Strangs allmählich und verschwand schließlich ganz. Der Vestigiator ließ ein letztes, schrilles Summen hören, dann blieb nur Stille zurück.

Langsam sank die Kugel gen Boden und Minerva streckte ihre Hand aus, damit sie landen konnte. Enttäuscht stieß sie die Luft, die sie bis eben angehalten hatte, aus. Sie hatte nicht wirklich geglaubt, dass der Vestigiator sie direkt bis zu der Familie führen würde, aber zumindest weiter als bis ins Erdgeschoss.

»Fragt sich – ist der Eindringling hier verschwunden?«, grübelte Elphinstone. »Und falls ja, wie?« Mit langen Schritten durchmaß er das Wohnzimmer, die Augen suchend umherhuschend.

Minerva steckte den Vestigiator zurück in ihre Umhangtasche und stellte sich an ebenen jenen Fleck, an dem sich die Spur der Finsternisschote verloren hatte. Hinter ihr lag eine gemütliche Sitzecke, mitsamt Ohrensessel und einer Couch. Ihr gegenüber befand sich ein erkalteter Kamin mit allerlei Krimskrams auf dem Sims, darunter ein weiterer Plastiksaurier.

Schweigend trat sie einige Schritte darauf zu und musterte die glücklichen Familienfotos. »Disapparieren wäre die schnellste Möglichkeit. Je nachdem, wie viele Personen beteiligt waren, auch mit Seit-an-Seit-Apparieren, insofern unsere Entführer überhaupt apparieren können. Eine weitere ...« Sie ließ sich einer Eingebung folgend auf die Knie sinken und streckte ihren Kopf in den Kamin.

Die Idee war geradezu aberwitzig, aber zumindest nicht unmöglich. Apparieren war keine einfache Angelegenheit und genug erwachsene Hexen und Zauberer verloren hin und wieder einen mehr oder minder wichtigen Körperteil beim Versuch, zu verschwinden. Drei magisch völlig unbedarfte Personen gegen ihren Willen mitzunehmen, spielte ungefragt in einer ganz anderen Liga.

Asche kitzelte sie in der Nase, als sie sich im Kaminschacht umsah. Prüfend ließ sie einen Finger durch die schwarzen Aschekrümel gleiten. Im hellen Morgenlicht schimmerten die Partikel auf ihrer Fingerkuppe verräterisch grün. Fassungslos sah sie die Spuren des Flohpulvers für einen Augenblick an.

»Oh nein«, flüsterte sie leise. Ausnahmsweise hasste sie es, recht zu haben.

Elphinstone war rasch an ihrer Seite und schob nun ebenfalls seinen Kopf in den schmutzigen Kaminschacht, um sich von ihrem Fund zu überzeugen. Schließlich trat er einen Schritt zurück, richtete seinen Zauberstab auf die verkohlten Holzreste und rief »Incendio!«.

Orangene Flammenzungen schlugen empor – und in einem grünen Funkenregen verbrannten die Reste des Flohpulvers.

»... Oder eine weitere Möglichkeit: das Flohnetzwerk«, beendete Minerva ihren Satz. »Einfacher als Apparieren, wenn man es Seit-an-Seit macht. Und direkt von einem Haus ins nächste, ungesehen.«

»Aber um den Kamin ans Flohnetzwerk anzuschließen, braucht man eine Genehmigung«, gab Elphinstone zu bedenken. »Das Flohnetzwerk wird strengstens überwacht, es dauert Wochen, bis ein neuer Kamin reisefertig ist. Außer ...« Jetzt war es an ihm, Minerva unglücklich anzusehen.

»Außer jemand aus dem Ministerium war involviert und hat dafür gesorgt, dass es nicht auffällt.« Sie seufzte und zerrieb die Asche zwischen ihren Fingerspitzen. »Ich will das genauso wenig glauben wie du, aber die Alditchs haben sicher nicht von alleine Flohpulver in ihren offiziell unregistrierten Kamin geworfen.«

Die unausgesprochene Anklage gegenüber dem korrupten Ministerium hing in der Luft zwischen ihnen. Minerva hatte oft genug erleben müssen, wie manch ein Beamter die Regeln bog. Sie musste nur an ihren letzten Einsatz in Northumberland denken. Nur einem unterschlagenen Haftbefehl war es zu verdanken, dass ihr Verdächtiger an jenem Tag davongekommen war.

Elphinstone fuhr sich durch die blonden Haare und durchbrach damit seinen ordentlichen Scheitel. »Es müssen mehrere Personen involviert gewesen sein, um drei Muggel ungesehen fortzuschaffen, egal wie. Der Kamin ist ja schon fast zu klein, damit überhaupt zwei Leute gleichzeitig reisen können! Aber dann auch noch das Flohnetzwerk manipulieren ... wie?«

Minerva ließ ihren Zauberstab sinken und klopfte sich den Aschenstaub von den Händen. »Nun, zumindest haben wir eine handfeste Spur«, versuchte sie zuversichtlich zu bleiben. »Wenn jemand den Kamin an das Flohnetzwerk angeschlossen hat, können wir auch herausfinden, ob die Verbindung genutzt wurde. Wir müssen nur ins Ministerium und ein paar Nachforschungen anstellen.«

Es fiel ihr nicht leicht, das zu sagen. Am liebsten würde sie nie wieder dorthin zurückkehren. Es deutete auf den Ernst der Lage hin, dass sie es dennoch vorschlug.

Zwar sah Elphinstone immer noch aus, als hätte ihn ein Lakritzschnapper in die Zunge gebissen, doch er nickte langsam. »Lass uns trotzdem sehen, ob die Kollegen mehr übersehen haben«, gab er zu bedenken.

Aber abgesehen von der einen Finsternisschote, die nun umsichtig in ein Stofftaschentuch eingeschlagen in Elphinstones Umhangtasche ruhte, war das Haus blitzblank. Sie gingen es dreimal ab, versuchten es mit den verschiedensten Geheimnisaufspürzaubern und dem Vestigiator, aber das Gerät schwieg nur. Schlussendlich mussten sie einsehen, dass die Eindringlinge, wer auch immer sie waren, geordnet und präzise vorgegangen waren.

Einen letzten wehmütigen Blick auf das Meer hinter dem Garten der Alditchs gerichtet, disapparierte Minerva an der Seite von Elphinstone.

 

Mit einem scharfen Ploppen nahmen sie Sekunden später und Meilen entfernt in einer dreckigen Londoner Seitenstraße wieder Gestalt an. Da es bereits auf die Mittagszeit zuging, lag die Gasse ausgestorben da, abgesehen von einer Ratte, die in den Müllresten am Straßenrand wühlte.

Sie eilten zu den öffentlichen Toiletten, die als Mitarbeitereingang fungierten. Minerva war lange nicht mehr hier gewesen, doch es hatte sich nichts geändert. Bloß die allmorgendliche Schlange voller Ministeriumsangestellter fehlte. Das gehörte definitiv nicht zu den Dingen, die sie vermisste – sich in eine enge Kloschüssel quetschen, um zur Arbeit zu kommen. Sie wachte viel lieber in ihrem Turmzimmer in Hogwarts auf und wanderte durch das weitläufige Schloss mit seinen unzähligen Geheimgängen.

In einem rasenden Wirbel verschwand die triste Klokabine vor ihren Augen – und sie wurde gegen etwas Festes geschleudert. Ein dumpfes »Uff« entwich ihr und sie stolperte einen Schritt zurück. Direkt vor ihr stand ein Mann in einem smaragdgrünen Umhang, der sich irritiert zu ihr umdrehte.

»Sie blockieren den Kamin«, setzte sie zu einer Schimpftirade an, da erkannte sie schon das Problem. Das Atrium war überfüllt mit Hexen und Zauberern, schlimmer als an einem Montagmorgen um acht Uhr. Kein Wunder, dass der Eingang blockiert war. »Was bei der achtäugigen Agrippa ...«, fragte sie entgeistert.

Aus dem Kamin neben ihr hörte sie Elphinstones kräftige Stimme, die gerade etwas ganz Ähnliches äußerte.

Der Zauberer vor ihr zog eine Augenbraue hoch. »Sie gehören wohl nicht zu uns

Ihr gefiel nicht, wie er das letzte Wort betonte. »Ich weiß ja nicht einmal, wer Sie sind«, sagte sie streng. »Also, was geht hier vor sich? Ich habe Wichtiges zu erledigen.«

»Viel Erfolg dabei«, erwiderte ihr Gegenüber mit einem Lachen, dass sie ihn am liebsten an Ort und Stelle in ein Nadelkissen verwandelt hätte. »Heute ist unser Tag gekommen, das Ministerium daran zu erinnern, dass wir Reinblüter keine Zauberer zweiter Klasse sind.« Sein Mundwinkel kräuselte sich spöttisch, sobald er sah, wie sich Minervas Augenbrauen zusammenzogen.

Das durfte doch nicht wahr sein! Ausgerechnet heute sollte also der Tag sein, an dem die verdammten Demonstrationen der Reinblüter eine ganz neue Höhe erreichten?

»Darf ich mal«, sagte sie nachdrücklich und schob im gleichen Atemzug den Zauberer im grünen Umhang beiseite. »Danke.« Sie drängelte sich zwischen den Demonstranten zu Elphinstone durch, der sich ebenfalls durch die Menge in ihre Richtung wand. »Sieht aus, als hätten wir einen denkbar schlechten Tag erwischt«, stellte sie angesäuert fest.

Elphinstone schnitt nur eine Grimasse. »So ähnlich sah das hier schon öfter aus in letzter Zeit. Aber es waren noch nie so viele.« Besorgt musterte er die gesichtslose Menge, die tobte wie ein vielköpfiges Tier.

Gemeinsam beobachteten sie, wie die Protestierenden offenbar selbst verzauberte Schilder hochhielten, die blinkend Botschaften wie ‚Reinblüter zuerst!‘ durch das Atrium blitzen ließen.

Oben, auf dem goldenen Brunnen der magischen Geschwister, erkannte Minerva eine ziemlich beleibte Hexe, die mit ihrer durch einen Zauber verstärkten Stimme zu den Demonstranten sprach. Vor lauter Jubel konnte sie nur Bruchteile verstehen, aber was sie verstand, ließ ihr Herz zusammenschrumpfen.

»Die haben unsere Magie nur gestohlen!«, kreischte die Frau und es fühlte sich an, als würde jemand mit Fingernägeln über eine Kreidetafel kratzen. Es war nicht schwer, zu erraten, wen sie mit ‚die‘ meinte.

Minerva fielen ziemlich viele hässliche Beschreibungen für diese vollkommen desillusionierten Leute ein, die sie aber für sich behielt. Entschlossen packte sie Elphinstone am Ärmel und zog ihn hinter sich geradewegs in die Menge. Von einer Horde an reinblütigen Fanatikern würde sie sich nicht aufhalten lassen.

Unwürdiges Blut

Vorankommen gestaltete sich in der schieren Menge der Demonstranten schwierig. Immer wieder versperrten Hexen mit turmhohen Hüten und Zauberer in opulenten Roben den Weg, bis Minerva schließlich ihren Zauberstab zog und kurzerhand schwächere Schockzauber vorausschickte. Sie brachten höchstens das Gesäß zum Kribbeln, erwiesen sich aber als effektive Wegbereiter.

Unter einigem unhöflichen Gefluche der Getroffenen bahnte sie sich so, mit Elphinstone im Schlepptau, ihren Weg zum Brunnen der magischen Geschwister vor. Dort tobte noch immer die dicke Hexe mit der grässlichen Stimme. Aus der Nähe erkannte Minerva, dass der massive silberne Kettenanhänger um ihren Hals das Wappen der Blacks trug. Toujours pur. Sie war keine Expertin in Sachen Zaubereraristokratie, aber diese Familie war genauso berühmt wie berüchtigt.

Beinahe jeder in der britischen Zaubererwelt kannte irgendwen, der mit ihnen – wenn auch nur entfernt – verwandt war. In ihren ersten zwei Schuljahren hatte Cygnus Black diesen negativen Ruf des Öfteren bestätigt. Nicht nur auf dem Quidditchfeld war er ein erbitterter Rivale der Gryffindors gewesen. Sie konnte den Kerl nicht ausstehen und leider fiel es ihr zugegeben schwer, seinen drei Töchtern nicht mit dem gleichen Misstrauen zu begegnen. Doch im Namen der Fairness hatten alte Hausrivalitäten keinen Platz mehr in ihrem Leben als Lehrerin.

Rund um den Brunnen versuchten unterdessen Ministeriumsangestellte in dunkelblauen Roben vergebens, die Menge in Schach zu halten. Nicht verwunderlich, sahen sie sich doch einer Übermacht entgegen. Immer wieder unternahmen Demonstranten den Versuch, sich zu den goldenen Fahrstühlen vorzudrängeln.

»Stupor!«, brüllte eine jüngere Hexe heiser in die Menge und der Fluch schoss geradewegs auf Minerva zu.

Rasch hob sie den Zauberstab und beschwor einen Schild vor sich herauf. Der rot glühende Zauber prallte mit einem Ploppen ab und traf stattdessen einen verhutzelten alten Mann, der mit verdrehten Augen in die Menge zurückfiel, ohne sein verzaubertes Plakat loszulassen.

Bevor die Ministeriumshexe erneut einen Fluch in Minervas Richtung schicken konnte, winkte Elphinstone ihr hektisch zu. »Mary, ich bins!«

Ein Lächeln der Erleichterung schlich sich auf die Züge der jungen Frau. »Merlin sei dank, es ist noch jemand da, der helfen kann!«

Ihre Ablenkung nutzte ein hochgewachsener Zauberer mit wallendem Haar, um an ihr vorbeizuschlüpfen. Bevor die arme Hexe sich auch nur umdrehen konnte, schickte Minerva ihm einen Lähmzauber hinterher, der ihn der Länge nach aufs Parkett stürzte.

Mit einem geseufzten Dank ließ die Frau sie passieren. »Das geht jetzt schon seit Stunden so und die Hälfte unserer Leute ist immer noch in Kent, wegen dieser Sache mit dem verfluchten Spiegellabyrinth. Bin ich froh, dass du da bist, Elphinstone.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, ehe sie einen weiteren Zauber in die anstürmende Menge schickte.

»Oh Mary, es tut mir wirklich leid«, entgegnete er zerknirscht, »aber eigentlich bin auch ich in einer anderen Sache unterwegs. Mir war nicht klar, wie die Situation hier ist ...«

Die Frau sah aus, als wäre sie den Tränen nah. Tapfer rang sie sich ein Nicken ab und ließ einen Schutzschild entstehen, gegen den keine Sekunde später eine schimmernde Phiole schlug. Anscheinend eine Stinkbombe, denn die Demonstranten auf der anderen Seite des Schildes wurden grün im Gesicht, als das Geschoss von der blauen Membran abprallte und zurück in die Menge hüpfte.

»Ich komme sonst auch alleine klar«, warf Minerva entschlossen ein. »Schließlich kenne ich mich hier bestens aus. Der Weg zur Flohzentrale ist nicht weit und irgendwer dort wird mir schon helfen können.« Und wenn nicht, dann finde ich trotzdem einen Weg, fügte sie in Gedanken an.

»Oh?« Die Sicherheitshexe riskierte einen kritischen Blick zu Minerva, zuckte aber nur mit den Schultern, als eine weitere Stinkbombe angeflogen kam, die sie abwehrte. »Na, wie auch immer, viel Erfolg dabei. Ich hab gehört, dass irgendjemand einen Korb Erklinge in die oberen Etagen geschmuggelt hat, die außer Rand und Band sind. Sie wissen schon – diese fiesen deutschen Gnome mit scharfen Klauen. Die paar Auroren dritter Klasse, die nicht in Kent sind, hatten wahrscheinlich noch keine Zeit, sich darum zu kümmern.«

Grimmig umfasste Minerva ihren Zauberstab fester. Auch das noch. »Damit werde ich schon fertig.« Sie war bisher zwar nie einem Erkling begegnet, doch davon würde sie sich jetzt genauso wenig aufhalten lassen wie von den wütenden Reinblütern.

Elphinstones Blick huschte über die Demonstration, seine verzweifelten Kollegen und dann wieder zurück zu ihr. »Danke, Minerva. Ich komme nach, so schnell es geht.« Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln, das ihr von den seltenen Außeneinsätzen noch gut bekannt war. Ich halte dir den Rücken frei.

Sie nickte ihm zu. »Wir sehen uns gleich wieder.«

Ohne einen Blick zurückzuwerfen, lief sie zu den vergitterten Fahrstühlen und sprang in einen freien hinein. Als Letztes hörte sie die Stimme der hysterischen Mrs Black, die etwas von unwertem Blut rief. Rasselnd schlossen sich die Türen und das Atrium entschwand ihrem Blickfeld. Ein Stockwerk weiter oben wurde das Gebrüll der Demonstranten endgültig von schwerer Stille geschluckt.

»Sechster Stock, Abteilung für magisches Transportwesen mit der Flohnetzwerkaufsicht ...«, kündigte eine kühle Frauenstimme den nächsten Halt an.

Während ein paar geflügelte Memos hineinflogen – eine der wenigen Besserungen im Ministerium, im Vergleich zu den Eulen von früher – verließ Minerva den Fahrstuhl.

Vor ihr erstreckte sich ein langer Gang im Halbdunkel und über allem lag der muffige Geruch von Bürokratie. Der dunkle Teppich schluckte ihre Schritte. Weder Zauberer noch Erklinge schienen sich in diesem Stockwerk herumzutreiben. Überhaupt schien keine Menschenseele hier zu sein, obwohl es vor Beamten nur so hätte wimmeln müssen – selbst so kurz vor der Mittagspause.

»Homenum revelio«, flüsterte Minerva in die Stille hinein. Nichts geschah. Sie war wirklich alleine in diesem Stockwerk. Zumindest was andere Menschen anging. Einer plötzlichen Eingebung folgend, verwandelte sie sich in ihre Animagusgestalt. Man konnte nie wissen, was am Ende eines dunklen Flurs wartete. Sie hatte wenig Lust, in einen Hinterhalt der Erklinge zu geraten, sollten diese sich nur verborgen haben. Eine Katze hingegen würde vielleicht gar nicht erst ihre Aufmerksamkeit erregen.

Der Wand entlang folgte sie dem Gang bis zu seinem Ende, wo dieser sich zu einem weiten Raum mit mehreren Holztüren öffnete. Die Flohnetzwerkaufsicht bestand aus vielen Einzelbüros, die sich um den freien Bereich gruppierten, in dessen Mitte ein großer Steinkreis im Boden versenkt war. Runen zierten seinen Rand und in einer tiefen Rinne, die alles einschloss, glitzerte grünes Flohpulver. An der Decke darüber glühten diverse Überwachungs- und Sicherheitszauber in mattem Rot, die in der Form von metallenen Intarsien in das Holz eingelassen waren.

Wohlwissend hielt sich Minerva von dem großen Flohportal fern. In ihrer Zeit im Ministerium war es mehr als einmal passiert, dass unvorsichtige Zauberer plötzlich überraschend aus einem Kamin am anderen Ende des Landes stolperten, weil sie nachlässig bei dessen Nutzung gewesen waren.

Das Portal war das Herzstück des Flohnetzwerks, denn dort liefen alle Verbindungen zusammen. Hier konnten neue Kamine in das Netzwerk integriert werden und sämtliche Zugänge kontrolliert werden. Für gewöhnlich wurde es zusätzlich zu den aufwändigen Verzauberungen rund um die Uhr bewacht, aber jetzt war von einer Sicherheitshexe oder einem Zauberer keine Spur.  Die Türen rundrum waren ebenso offen und zeigten nur leere Büros.

Minerva beschrieb einen großen Bogen um den grünlich leuchtenden Ring und hob witternd die Katzennase. Unzählige unangenehme Gerüche fluteten ihre Sinne, darunter die Spuren vieler verschwitzter Füße. Sie nahm auch etwas Moosiges wahr, das unter den anderen Wahrnehmungen verblasste. Das mussten die Erklinge sein. Offenbar waren sie schon weitergezogen.

Dennoch blieb sie auf der Hut und schlich auf leisen Pfoten zu einer Tür im Rund, die mit einer großen Plakette verziert war. Wenn sie sich recht erinnerte, gehörte dieses Büro dem Leiter der Flohnetzwerkbehörde. Dort würde sie die Verbindungsnachweise zu allen magischen Kaminen in Großbritannien finden.

Mit zitternden Schnurrhaaren spähte sie in den Raum hinein. Trotz ihrer verschwommenen Fernsicht erkannte sie, dass er leer war. Anscheinend hatte man ihn in großer Hast verlassen, denn der Boden war übersäht mit verknickten Pergamenten, die Öllampe auf dem Schreibtisch zerbrochen und aus einem umgestoßenen Tintenfass tropfte es beständig auf den Teppich.

Misstrauisch sah Minerva sich um, ehe sie in das Büro schlüpfte. Solange niemand hier war, konnte es nicht schaden, einen Blick zu riskieren. Vermutlich würde das die Sache nur leichter machen.

Zu ihrer Zeit hatte Sebastian Edwards die Behörde mit dem Elan einer altersschwachen Weinbergschnecke geführt. Das hatte unweigerlich zur Folge, dass sich die Anfragen zu Verbindungsauszügen im Postkorb stapelten, bis einer seiner Assistenten sich ihrer erbarmte. Oder aber jemand – meist aus der Strafverfolgungsbehörde – tauchte wütend wie ein ganzer Clan Doxys in seinem Büro auf und forderte unter wüsten Androhungen die sofortige Akteneinsicht. In solchen Angelegenheiten hatte die Teufelsschlinge Miss Cuddles sich stets als potentes Druckmittel präsentiert, um aus der müden Schnecken einen flinken Greif zu machen.

Die Erinnerung heiterte Minerva etwas auf und ließ sie zumindest mental lächeln. Nichtsdestotrotz war sie froh, Edwards nicht anzutreffen. Immer noch in Gedanken verloren setzte sie gerade alle vier Pfoten über die Türschwelle, da vernahm sie ein verräterisches Pfeifen der Luft irgendwo von oben. Instinktiv spannten sich ihre Muskeln. In einem großen Satz sprang sie nach vorne. Schrilles Gelächter brachte ihre empfindlichen Katzenohren zum Klingeln. Eine Pause war ihr nicht vergönnt, denn schon zischte es erneut über ihr.

Fauchend rollte sie sich zur Seite. Da sah sie es – das graue gnomartige Wesen, welches hoch oben auf einem Regalbrett lauerte, ein Blasrohr im Anschlag. Sein Gelächter glich dem Scheppern einer Büchse voller Nägel und schmerzte ähnlich im Gehör. Ein Erkling! Das fiese Zauberwesen hob das Rohr wieder an den Mund. In seinen tiefschwarzen Augen funkelte es bösartig.

Ein dritter Pfeil sirrte genau auf Minerva zu. Ihr gingen allerhand Flüche durch den Kopf, als sie sich Haken schlagend hinter den Schreibtisch flüchtete. Mit einem dumpfen Tock schlug der Erklingpfeil in den dunklen Dielenboden ein, Millimeter von ihrer Schwanzspitze entfernt. Nur ihrer jahrelangen Übung war es zu verdanken, dass sie sich in Sekundenschnelle zurückverwandelte und in derselben Bewegung den Zauberstab aus dem Ärmel zog.

»Pullus!«

Ein verwirrtes Gackern erklang. Die Verwünschung hatte den Erkling mitten in die Brust getroffen und nun saß an seiner Stelle ein weißes Huhn auf dem Regalbrett. Unter leisem Flügelraschen flog das schadlos gemachte Zauberwesen auf den Schreibtisch und begann, auf der Suche nach einem Korn darauf umher zu picken.

Minervas Puls raste mehr als in den letzten zehn Jahren zusammen und erleichtert lehnte sie den Kopf gegen Edwards’ schweren Eichentisch. Das Lehrerinnendasein hatte sie ganz vergessen lassen, wie es war, im Einsatz zu sein. Raschen Blicks vergewisserte sie sich, ob der Erkling noch Freunde hatte, fand aber keinen. Aufatmend kletterte sie hinter dem Tisch hervor.

Bei ihrer hastigen Flucht war sie offenbar in die Tintenpfütze getreten, denn an ihrem Umhang und Händen klebte dunkle Flüssigkeit. Ein schneller Zauber brachte das Chaos zumindest weitgehend in Ordnung. Einigermaßen befriedigt sah sie sich in dem Büro um. Die Spuren der Verwüstung, wie Ordner, die aus den Regalen gerissen waren, und zerbrochene Federn auf dem Boden, waren offenbar das Werk des einsamen Erklings. Der Tag ging wirklich stetig den Bach hinunter.

Statt den negativen Gedanken nachzuhängen, konzentrierte sie sich lieber auf die Informationen, die sie haben wollte. »Accio aktuelle Flohnetzwerkverbindungsnachweise!«

Nicht weniger als zehn randvoll gefüllte Bücher schossen in halsbrecherischer Geschwindigkeit auf sie zu. Gerade rechtzeitig duckte sie sich, damit sie auf dem Schreibtisch landen konnten. Vorwurfsvoll gackernd flüchtete das Erklinghuhn zurück auf sein Regalbrett, von wo aus es das Geschehen mit stechendem Blick und aufplusterten Federn musterte.

Mit einem Seufzen wandte Minerva sich den Ordnern zu, da hörte sie von draußen das weit entfernte Pling des Fahrstuhls. Bei ihrem Glück waren es vermutlich Demonstranten, die es an der Barrikade vorbeigeschafft hatten. Das Ministerium hatte im Atrium nicht den Eindruck erweckt, die Situation alsbald unter Kontrolle zu bekommen. Daran würde auch die Mithilfe Elphinstones nichts ändern. Sie beschloss, sich zu beeilen, bevor die Neuankömmlinge das Flohportal erreichten. Immerhin war das hier eine Ausnahmesituation.

Hastig griff sie sich den Wälzer, in dessen dunkles Leder die passenden Anfangsbuchstaben geprägt waren. Flohnetzwerkverbindungsnachweise – Band 14II(a); Kennzeichen B/60. Sie schlug ihn wahllos auf. »Bakers Drive sieben, Branscombe«, murmelte sie und tippte die Spitze ihres Zauberstabs auf das Pergament.

Gehorsam blätterten die Seiten sich wie vom Wind getrieben um und kamen dann im hinteren Teil des Buchs zur Ruhe. Der einzige Eintrag auf dem Papier war in so winzigen Tintenlinien geschrieben, dass er kaum zu lesen war. Nur ein paar Ziffern standen dort. Die Bedeutung erschloss sich Minerva zwar nicht, aber eins war trotzdem klar: Der neueingerichtete Kamin im Haus der Alditchs war genau einmal genutzt worden, vor wenigen Tagen. Keine 24 Stunden nach seiner Einrichtung.

»Würgende Wasserspeier«, entkam es ihr leise. Da stand sie, den Hinweis auf die Entführer Jonathans direkt vor sich, und das Ministerium versank im Chaos. Draußen im Flur hörte sie ein unvermitteltes Lachen, das beinahe so dreckig wie das des Erklings klang. Nein, mit den Ministeriumsbeamten musste sie nicht rechnen. Es half alles nichts.

Kurzerhand packte sie die Seite und riss sie aus dem Buch heraus, auch wenn es sich wie ein Kapitalverbrechen anfühlte. Ihr war, als könnte sie in der Ferne Madam Pince, die Bibliothekarin von Hogwarts, entrüstet aufschreien hören. Sie versprach sich selbst – und dem Buch? –, dass sie die Seite zurückbringen würde. Sobald sie Jonathan Alditch gefunden hatte. Dafür war der Reparo-Zauber schließlich da.

Indes wurden draußen Schritte lauter und näherten sich schnell dem Portalraum. Kurzerhand faltete Minerva das Pergament und schob es in ihren Umhang, ehe sie sich zur Tür stahl, um nachzusehen, wer der unerwartete Besuch war. Noch bevor sie die Personen sah, hörte sie die letzten Fetzen einer unterdrückt geflüsterten Unterhaltung.

»Warum ... sicher?«

»... einfach – das Ministerium ... allesamt geflohen ... lächerliche Erklinge ... Unsere Art ... schwach ...«

Fest konzentriert auf die leisen Stimmen, hob Minerva ihren Zauberstab in Richtung des Flurs. Ausculto, dachte sie bestimmt. Fast augenblicklich rauschte es in ihren Ohren wie in einem schlecht eingestellten Muggelradio. Sie bewegte den Stab leicht zur Seite, bis die Störgeräusche der klaren Stimme eines der Besucher wichen.

»Persönlich gebe ich der Ministerin noch ein paar Wochen, vielleicht auch nur Tage. Am Ende wird sie nachgeben. Die Forderungen Hunderter können nicht ignoriert werden.« Ein schneidendes Lachen, frei von jeglichem Vergnügen und eisig wie das Meer im Dezember. »Sogar Halbblüter haben sich angeschlossen. Die Dinge werden sich ändern müssen. Bald. Was ihr allerdings tut ist ... unüberlegt, dumm und nicht zu vergessen – riskant. Auf euch wartet ein langer Aufenthalt in Askaban, das kann ich euch versichern.«

Diese Stimme, schwer wie ein Samttuch und glatt wie ein geschliffener Flusskiesel, würde Minerva unter hunderten wiedererkennen. Zwei Jahre lang hatte sie mit Alston Mulciber zusammengearbeitet und er klang so hochmütig wie am ersten Tag. Lieber würde sie auf einem Drachen reiten, als ihrem unliebsamen ehemaligen Kollegen in die Arme zu laufen. Was, bei Merlins Bart, tat er hier?

»Ach ja?«, meldete sich eine zweite, rauere Stimme zu Wort. »Wir werden sehen. Vielleicht überzeugen wir die Ministerin ja auch vom Unwert der Schlammblüter. Du hast das jedenfalls nicht zu entscheiden. Und jetzt vorwärts!«

Angesichts des hasserfüllten Schimpfwortes zuckte Minerva empfindlich zusammen. Ihre Mutter war zwar eine Hexe und dennoch tat es weh. Sie liebte ihren Muggelvater nicht weniger, bloß weil er keine Zauber wirkte. Viel mehr bewunderte sie ihn für all das, was er nur Kraft seiner eigenen Hände erschuf.

»Vorsicht damit, wo Sie bleihirniger Billywig Ihren Zauberstab hinstecken!«, fluchte Mulciber draußen im Flur.

Nun, zumindest beantwortete das einen Teil ihrer Frage. Ihr ehemaliger Arbeitskollege war offenbar nicht freiwillig hier. Aber wer waren seine wenig charmanten Begleiter?

Erneut kamen die Schritte näher und Minerva drückte sich tiefer ins Dunkel hinter der Tür. Der Abhörzauber füllte ihre Ohren mit lautem Rascheln, als die Zauberer das Ende des Flurs erreichten. Sie bogen allerdings nicht um die Ecke, sondern hielten abrupt an. Kurz herrschte Stille.

Nervös spähte Minerva wieder in den offenen Raum. Eine kleine, schwarz-lila Schote schwebte, wie von einem unsichtbaren Wind getragen, durch die Luft, bis hoch unter die Decke. Zitternd verharrte sie dort einen Moment. Unheilvolles Surren schwoll im Inneren der Hülse an und machte damit einem Schwarm aufgebrachter Hornissen Konkurrenz – dann stürzte die Finsternisschote herab.

Der Schüler

Alles verschlingendes Nichts explodierte in einer Welle der Dunkelheit aus der Finsternisschote, kaum, dass ihre Hülle den Boden berührte. Keine Nacht war je so tief wie diese Schwärze, die sich binnen Sekunden über den Portalraum legte. Es war nicht bloß dunkel geworden, nein, ganze Teile des großen Raums schienen einfach aus der Existenz gerissen worden zu sein. Anders ließ sich die undurchdringliche Finsternis nicht erklären.

Minerva konnte nur wenige Schritte vor die Tür ihres Verstecks sehen. Alles dahinter war in eine schwarze Wolke gehüllt, die jedes Licht verzehrte. Elphinstone hatte nicht untertrieben, als er ihr von der Wirkung der Schote erzählt hatte. Das konnte nur eines bedeuten – die Entführer des jungen Jonathan hatten sie gefunden, nicht umgekehrt.

»Jetzt verraten Sie mir, wie ich in dieser Dunkelheit das Flohportal für Sie aktiveren soll?«, hörte Minerva Alston Mulciber dank ihres Abhörzaubers vorwurfsvoll zischen.

»Einfach vorwärts«, schnarrte eine dritte, weibliche Person, die zuvor noch nicht gesprochen hatte. »Sie werden schon ... sehen.« Ihr Kichern klang dem des Erklings zum Verwechseln ähnlich.

Offenbar wurde Mulciber vorangestoßen, denn Minerva hörte, wie er sich fluchend beschwerte, bis ihm angedroht wurde, seinen Mund mit einem Dauerklebefluch zu versiegeln.

»Nehmen Sie das hier«, forderte die Frau so leise, dass es ohne den verstärkenden Abhörzauber unmöglich hörbar sein würde. »Und du – vergewisser dich, dass die Spuren beseitigt sind. Überraschungen können wir nicht gebrauchen.«

Fußgetrappel. Jemand – dem Tonfall nach Mulciber – sog überrascht die Luft ein. »Unter diesen Umständen wird die Portalaktivierung einen Moment dauern.« Minervas einstiger Arbeitskollege klang ziemlich kühl, dafür, dass er gerade von einer Gruppe an ... Blutsfanatikern gezwungen wurde, ihnen zu helfen. Sie waren zwar in der Überzahl, aber ihr gefiel nicht, wie bereitwillig er sich in sein Schicksal zu ergeben schien.

Wie auch immer, Minerva verfluchte diesen Tag zum hundertsten Mal. Die Konfrontation mit Jonathans Entführern hatte sie sich anders vorgestellt. Am liebsten mit einem Haftbefehl in der Tasche und ganz sicher nicht alleine. War das nun Glück oder Pech, sie hier anzutreffen, im Inbegriff offenbar eine weitere Straftat zu begehen?

Den Schritten nach waren sie mindestens zu viert, neben Mulciber, den sie höchstwahrscheinlich entwaffnet hatten. Selbst wenn er ihr helfen könnte – in der absoluten Finsterniswolke wären sie chancenlos, denn so zielsicher, wie ihre Gegner sich bewegten, mussten sie etwas haben, das ihnen erlaubte, zu sehen. Blindlings einen Fluch abzufeuern, würde nur ihren eigenen Hals riskieren. Ganz abgesehen davon, dass sie zahlenmäßig unterlegen waren.

Andererseits ... sie ließ den Blick durch ihr Versteck gleiten. Zwar stand sie im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken zur Wand, aber sie hatte ein Erklinghuhn auf ihrer Seite. Dieses saß immer noch auf dem Regal und starrte sie aus seinen kleinen Augen empört an. Schon formten sich die ersten Details eines wahnwitzigen Plans in ihrem Kopf.

Bevor das Tier sie mit einem Glucken verraten konnte, nahm sie ihm mit einem ungesagten Zauber die Stimme, ehe sie es durch die Luft in ihre Arme schweben ließ. Widerstrebend flatterte es mit den Flügeln und öffnete tonlos seinen Schnabel, doch es hatte keine andere Wahl.

Entschuldigend strich Minerva über seinen weichen Rücken und klemmte sich den ehemaligen Erkling unter den Arm. Zwischen all seinen Federn verbarg sich allerdings weiterhin das freche Wesen des magischen Geschöpfs und er bohrte seinen Schnabel kräftig in ihre Hand. Sie musste sich auf die Lippen beißen, um nicht laut zu keuchen.

Hoffentlich würde ihr Plan aufgehen, denn sonst rang sie gänzlich umsonst mit dem Erklinghuhn. Mit der freien Hand hielt sie es an der Hüfte und versuchte, sein Picken zu ignorieren, mit der Zauberstabhand hingegen dirigierte sie all den Unrat, den der Erkling hinterlassen hatte, durch die Luft auf das hohe Regal neben der Tür. Falls jemand in das Büro trat, konnte sie es mit einem einzigen Zauber umstürzen. Das dürfte ihr wertvolle Sekunden verschaffen.

Wenn Mulciber das Flohportal bedienen sollte, musste er zumindest vorübergehend seinen Zauberstab benutzen, denn ohne einen ließen sich die Runen nicht aktivieren. Das wäre ihre Chance – die Einzige. Sie konnte nur hoffen, dass er schnell begreifen würde, was geschah.

»Sieht aus, als wär’n wirklich alle Erklinge ausgeflogen«, meldete einer der Kerle an seine Kameraden. »Hoffentlich besuchen sie unsere Muggelliebhaber im zweiten Stock und stiften dort noch ein wenig Verwüstung.«

Der Erste lachte leise. »Also, wo sind die Aufzeichnungen?«

»Im Büro von Edwards, gleich gegenüber. Evanesco sollte genügen, um sie zu tilgen. Ich habe keine erweiterten Sicherheitszauber feststellen können, nur einen Geminio-Schutz«, erwiderte die Frau im Bunde. »Tja, was soll man von einem Idioten wie Edwards schon erwarten. In sein Büro könnte jeder reinspazieren. Abgesehen davon habe ich ihn vorhin mit einem netten Verwirrungszauber erwischt, darum müssen wir uns also auch keine Gedanken machen.«

Der Zauberstab in Minervas Hand wurde rutschig und sie packte ihn fester, damit er ihr nicht entglitt. Mindestens ein Zauberer kam direkt in ihre Richtung. Und wenn sie nicht alles täuschte, wollte er genau die Informationen, die sich auf dem ausgerissenen Pergamentblatt in ihrem Umhang befanden. Es war definitiv Glück, dass sie den Entführern zuvorgekommen war.

Sie wusste nicht, wie es um die Zauberkünste ihres Gegners bestellt war, daher blieb ihr nur, zu hoffen. Immerhin hatte sie die Überraschung auf ihrer Seite. Damit diese auch gelang, belegte sie den Türrahmen mit einem stummen Imperturbatio-Zauber, der wie eine unsichtbare Tür funktionieren und das laute Krachen des umstürzenden Regals abfangen sollte. Anschließend ging sie geschwind hinter Edwards’ Eichentisch in Deckung, den Zauberstab fest im Anschlag und lugte um die Ecke hervor Richtung Flohportal.

Es dauerte nicht lange und eine Gestalt löste sich aus dem verdunkelten Teil des Portalraums. Der Zauberer war großgewachsen, breitschultrig und schien seiner Robe, die nur knapp bis unters Knie reichte, vor Jahren entwachsen zu sein. Sein Zauberstab hing achtlos im Griff herab, als er das Büro betrat. Diese Demonstration von Arroganz schrieb sein Urteil.

Im Bruchteil einer Sekunde, nachdem Minervas ungesagter Diffindo-Zauber das oberste Regalbrett bersten ließ, ergossen sich zerbrochene Federkiele, angestoßene Bücher und allerhand weiterer Unrat über den Eindringling. Er schaffte es nicht einmal, die Arme zu heben, bevor die Lawine ihn zu Boden schickte. Dem Mann entwich ein leises Stöhnen und er entschwand in ein Land unangenehmer Träume, die ihm sicherlich Kopfweh bereiten würden, sobald er aufwachte.

Einen Augenblick verharrte Minerva mit klopfendem Herzen hinter dem Schreibtisch, doch es schien, dass der imperturbierte Türrahmen funktioniert hatte. Zwar war so auch ihr Abhörzauber nutzlos geworden, aber zumindest hatte niemand den Sturz des Zauberers bemerkt. Jetzt kam es nur darauf an, dass sich keiner umdrehte und den am Boden liegenden Kerl sah.

Um die Aufmerksamkeit der übrigen Entführer brauchte sie sich allerdings nicht lange sorgen, denn diese wurde – ganz wie ihre eigene – von der Dunkelheit im Vorraum angezogen. Oder besser gesagt: von dem plötzlichen Verschwinden eines Teils dieser absoluten Schwärze.

Unvermittelt erhellte ein grünes Züngeln die bis eben undurchdringliche Finsternis. Flackernd erstrahlte eine Rune mitten im Herz des Dunkels und warf ihren geisterhaften Schein auf das Gesicht eines Mannes mit dunklem Haar und hohen Geheimratsecken. Das Licht des entzündeten Flohpulvers wurde an allen Seiten von der Düsternis verschlungen und malte scharfe Schatten auf die harschen Züge von Alston Mulciber, aber es reichte aus, damit Minerva im grünen Widerschein die Überraschung in seinen Augen erkannte.

Also war die Dunkelheit der Finsternisschote doch nicht vollkommen. Nur beinahe. Und schon wandelte sich ihr Plan.

Aus dem Rest der Finsterniswolke drangen ein einzelner, herzhafter Fluch und weitere gezischte Worte, die Minerva nicht verstand. Zumindest konnte sie ausmachen, dass wieder die Frau sprach. Anscheinend war sie die Dirigentin dieses Trollballetts. Einen Moment später trat eine Gestalt hinter Mulciber an das Flohportal und beugte sich herab zu dem Portal, sodass das Glimmen des Flohpulvers nun auch ihre Züge beleuchtete.

Dieser Zauberer war jung, viel jünger, als Minerva gedacht hätte. Höchstens achtzehn, schlaksig und mit hellblondem Haar, das unter dem grünlichen Schein förmlich strahlte. In seiner erhobenen Faust hielt er etwas, das aussah wie eine weitere – körperlose – Hand, die ihrerseits eine wachstropfende Kerze umklammerte. Völlig absurd und höchstwahrscheinlich schwarzmagisch.

»Was geht hier vor sich? Was haben Sie ausgelöst, Mulciber?«, herrschte er den älteren Ministeriumsbeamten an, laut genug, dass Minerva ihn ohne Verstärkungszauber verstand. »Wenn Sie eine Falle ausgelöst haben, dann ...!« Die Hand des Jungen stach mit seinem Zauberstab in Mulcibers Seite.

»Oh, wenn ich die Falle ausgelöst hätte, würdet ihr das erst merken, wenn es zu spät ist«, stellte Mulciber mit einem schmalen Grinsen auf den Lippen fest. »Nein, die Sicherheitszauber habt ihr mit eurem kleinen Trick vielleicht getäuscht, aber Flohpulver brennt offensichtlich heller als gedacht.«

Aus der verbliebenen Dunkelheit schwebte die strenge Stimme der Frau herbei, deutlich lauter und genervter. »Aktivier einfach das Portal! Vielleicht ist ein Zauberstab im Rücken ja Motivation. Hauptsache, es passiert bald. Wir können nicht riskieren, dass die Sicherheitszauber noch anschlagen.«

Der Junge hinter Mulciber starrte mit zusammengezogenen Augen auf das halb aktivierte Portal herab und studierte die Runen, welche der Zauberer nun wieder zeichnete, seine Zunge zwischen die Lippen geklemmt. »Keine falschen Bewegungen!« Er bohrte den Zauberstab fester in die Seite seiner Geisel.

Diese Szene ließ die Erkenntnis durch Minerva fluten, wie sturmgepeitschte Wellen, die über Felsen zusammenschlugen. Sie kannte diesen Anblick – kannte diesen Jungen. Es war nicht allzu lange her, dass er mit demselben verbissenen Gesichtsausdruck in ihrer Klasse gesessen und versucht hatte, sein Streichholz in eine gewöhnliche Nadel zu verwandeln. Thorfinn Rowle hatte sich stets als lernbegierig erwiesen. Nicht weiter verwunderlich, wo er doch in Ravenclaw war. Trotzdem hatte es am Ende nicht gereicht, um einer ihrer UTZ-Schüler zu werden.

Seinen Abschluss hatte er erst vor wenigen Monaten gemacht; sie erinnerte sich an die Abschlusszeremonie der Siebtklässler. Das Bild des fleißigen Jungen wollte sich einfach nicht mit dem, was er hier abgab, verbinden. Und doch wusste ihr Verstand, dass er es war. Nur warum?

Verwirrung über diese Erkenntnis ließ sie innehalten. Keine Sekunde zu früh, denn ein fernes Klingeln kündigte die erneute Ankunft des Fahrstuhls an. Wer immer das war, die Schritte kamen mit deutlicher Eile näher.

Thorfinn Rowle zuckte zusammen und stach Mulciber seinen Zauberstab wieder in die Seite. »Aktivieren Sie das Portal! Keine Spielchen!«

»Na, das wird auch Zeit«, zischte die Frau. Offenbar ging die Hexe unruhig auf und ab, denn ihre Stimme wurde immer wieder lauter und leiser.

Minerva packte das Erklinghuhn unter ihrem Arm fester, was ihr einen erneuten Hieb mit dem Schnabel einbrachte, den sie allerdings ignorierte. Jetzt, wo die Frau von der Neuankunft weiterer Person abgelenkt war, ergab sich die beste Chance.

Geduckt huschte sie zur Tür, wobei sie den zu Boden gegangenen Zauberer umging, und taxierte Mulciber. Mit großen Gesten führte dieser die letzte Rune zum Abschluss. Kaum hatte er seine Zeichnung vollendet, raste eine Schlange aus grünem Feuer durch den eingelassen Steinkreis und umschloss das gesamte Portal. Die Aktivierung war abgeschlossen.

Langsam hob er den Blick von seinem fertigen Werk – und erspähte Minerva, die ihm am Ende des Raums genau gegenüber kauerte. Die Gefühle, welche über Mulcibers Gesicht glitten, hatten beinahe etwas Komödiantisches an sich. Unglaube wechselte von Verwirrung zu Amüsement und schließlich Entschlossenheit.

Binnen Sekunden kalkulierte er seine Situation und erkannte schlussendlich den Ausweg, den sie ihm anbot. Kaum merklich ruckte er mit dem Kopf in Richtung Rowle, der immer noch gebannt auf das Flohportal starrte, dann zu ihr. Knapp nickte Minerva zurück und hob die Hand, zum Zeichen, dass sie eben das vorhatte. Mulcibers Mundwinkel zuckten erfreut hoch, während er betont lässig seinen Zauberstab vom aktiven Portal abwandte.

Minerva indes sprang auf, ihren eigenen Stab gezückt. Das Erklinghuhn weiterhin unter den Arm geklemmt, trat sie auf Rowle zu, dessen konzentrierter Blick sich langsam vom grünen Schimmer des Portals hob.

Im gleichen Moment raste schon ein stummer Fluch von Mulciber an ihnen vorbei in die Wolke aus Dunkelheit hinein und jemanden schrie hastig »Protego!«, gefolgt von einer Reihe äußerst kreativer Schimpfworte.

Rowle erstarrte mit schreckgeweiteten Augen inmitten der Bewegung. »Professor«, entkam es ihm atemlos, als er seine einstige Lehrerin erkannte. Sein Blick irrte von ihr zu dem Büro, aus dem sie gekommen war, und zurück. »Was...«

Der Schockzauber hatte in Minervas Gedanken schon Gestalt angenommen und die Spitze ihres Zauberstabs erglühte in unheilvollem Rot, da sah sie ihn wieder im Schulumhang vor sich, bloß ein Kind voller Lerneifer. Der Junge starrte sie an wie ein wehrloser Flubberwurm, der gleich sein Ende in einem Zaubertrank finden würde. Sie konnte es einfach nicht.

Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie Mulciber aufsprang, weitere Flüche ins Dunkel schleudernd. Die Entführer schlugen zurück und hastig duckte Minerva sich, um nicht von einem querschlagenden Zauber umgehauen zu werden.

»Mr Rowle, über ihr Vergehen werden wir uns später unterhalten«, fauchte sie mit der strengsten Lehrerinnenstimme, die sie aufzubieten hatte. Jene, die sie sich normalerweise für die schlimmsten Streiche aufbewahrte.

»Ich bin nicht mehr Ihr Schüler«, stieß Rowle gepresst hervor.

»Tun Sie das nicht.«

Doch der Junge umfasste seinen Stab fester und hob ihn, bis er auf Minerva gerichtet war. »Sie wissen nicht, worum es hier geht.« Er schien einen Moment mit sich zu ringen, dann zielte er mit seinem Zauberstab hinter sie, auf den grobschlächtigen Mann, den sie unter dem Bücherregal begraben hatte. »Rennervate!«

Grunzend kam der Zauberer wieder zu Sinnen und kämpfte sich mit wutverzerrtem Gesicht zwischen dem Schutt empor. Mit einem Knurren, das nur allzu animalisch klang, schleuderte er noch vom Boden aus einen Lähmzauber auf Minerva zu.

Gerade rechtzeitig riss sie den Arm hoch, um den roten Lichtball abzuwehren. Der junge Rowle indes stürzte sich ebenfalls auf Mulciber. Fluch um Fluch verließ seine Lippen, scheinbar wahllos. Ihr blieb keine Zeit, den Kampf zu verfolgen, denn der wiedererweckte Mann jagte ihr einen weiteren Schock entgegen.

Sie warf seine Zauber zurück, doch er war vorbereitet. Erneut ließ er sich nicht überwältigen. Mit einem hämischen Grinsen beschwor er einen grellen Blitz hervor, der selbst durch ihren hastigen Schildzauber hindurch ein Kribbeln in ihren Arm schickte.

Es war an der Zeit für ihren Trumpf. Sie packte das Erklinghuhn und warf es mit aller Kraft in die Luft. Erstaunt über seine plötzliche Freiheit, flatterte es wild mit den Flügeln. Ihr Gegenüber vergaß vor lauter Verwunderung darüber für einen Augenblick, ihr einen neuen Fluch entgegenzufeuern, und starrte nur das unglückliche Tier an.

Ein Schnippen ihres Zauberstabs später flog statt des Huhns wieder der Erkling auf ihren Gegner zu. Jetzt war es an ihr, zu grinsen. Verwandlungen waren definitiv ihre liebsten Zauber. Aber das war nicht alles.

»Engorgio!«, rief sie voller Wut. Zufrieden betrachtete sie, wie sich die Gliedmaßen des kleinen Erklings streckten und dehnten, wie von unsichtbaren Händen in die Länge gezogen, bis er höher aufragte als der bullige Zauberer.

Ein knapp einen Meter großer Erkling mochte fies sein, doch ein fast drei Meter riesiger war ein Problem gänzlich neuen Ausmaßes. Vor allem, wenn er noch sein inzwischen überdimensioniertes Blasrohr in der Hand hielt.

Minerva überließ den unglücklichen Zauberer seinem Schicksal und wirbelte zu Mulciber und seinen Gegnern herum.

Bannbrechend

Flüche schossen kreuz und quer durch die zerrissene Dunkelheit wie wildgewordene Filibuster-Feuerwerksknaller. Binnen Sekunden war die Situation im Portalraum eskaliert, als hätte jemand den Zauberstab in ein Nest voller Billywigs gestochen. Glühende Blitze durchzogen das Nichts und wütende Stimmen schrien unverständlich durcheinander, Thorfinn Rowle ganz vorne mit dabei.

Aus Richtung des Flurs, verborgen von der Finsternis, raste ein Zauber haarscharf an Minerva vorbei und hinter ihr jaulte der riesenhafte Erkling getroffen auf. Die Wut des Gnoms wurde dadurch jedoch bloß angetrieben, denn keine Sekunde später war es der Kerl, auf den sie ihn losgelassen hatte, dem ein abgewürgter Schrei entwich. Mitleid konnte sie sich nicht leisten.

Nur die schrille Stimme der tonangebenden Entführerin drang selbst über das Kampfgetümmel noch zu Minerva vor. »Bleibt zusammen! Das ist ein weiterer Ministeriumsbastard aufgetaucht! Runter!« Entschlossenheit übertünchte ihre Überraschung. »Expulso!« Die darauffolgende Explosion ließ den Boden erzittern, aber ihrem fast schon animalischen Knurren nach, hatte die Hexe nicht getroffen. Sie setzte erneut an und Minerva riss sich aus ihrer gegenwärtigen Starre.

Im grünen Glimmen des Flohportalfeuers war es ihr unmöglich, Gegner oder Unterstützer auszumachen, abgesehen von Rowle und Mulciber, die nach wie vor von den Flammen beschienen wurden. Die Dunkelheit hinderte die beiden nicht daran, wahllos Lähmzauber und andere Flüche durch die Gegend zu schicken. Minerva wunderte das wenig – ihr einstiger Kollege hatte sich in der Vergangenheit nie besonders feinfühlig angestellt und Rowle schien ähnlich gestrickt zu sein.

Bevor sie selber mit willkürlichen Zaubern Schaden anrichtete, besann sie sich lieber darauf, ihren ursprünglichen Plan weiterzuverfolgen. Dafür galt es zunächst, Rowle aus dem Kampf zu nehmen. Andernfalls würde einer seiner staccatoartigen Flüche sie früher oder später treffen, egal wie gut sie kämpften. Die Stimme des Jungen war bereits heiser und bebte vor unterdrückter Wut und mit jedem geschrienen Zauber wuchs der Zorn in seinen Schreien ein wenig mehr.

Der nächste zornige Fluch verklang im Krachen berstenden Holzes. Die unheilvollen purpurnen Flammen, die nun an Mulcibers Schutzzauber leckten, waren so sicher schwarze Magie, wie in einer Schachtel Bertie Botts Bohnen immer eine mit Popelgeschmack war. Rowle hatte seine Chance verwirkt, so sehr die Konsequenz Minerva auch schmerzte.

In dem heillosen Chaos war es egal, ob sie ihre Zauber ungesagt wirkte oder in die Welt hinausschrie – es würde sowieso keiner verstehen. Sie entschied sich für Letzteres und jagte Rowle den Expelliarmus hinterher, der ihn derart heftig im Rücken traf, dass nicht nur sein Zauberstab im hohen Bogen davonflog, sondern er mit dem Gesicht voran zu Boden stürzte.

»Petrificus Totalus!«

Bevor der Junge sich aufrappeln konnte, traf ihr zweiter Spruch und seine Gliedmaßen schnappten wie magnetisiert zusammen. Erneut fiel Rowle als steifes Brett nach vorne. Mulciber nickte Minerva über seinen gelähmten Körper knapp zu, ehe er sich auf die rechte Seite des Flohportals zurückzog, um weiter weg von der Finsterniswolke zu gelangen. Von seinen Gegnern ließ er dennoch keine Sekunde ab.

Wenigstens bot seine großflächige Aggression Minerva dringend benötigte Deckung. Geduckt flüchtete sie hinter Mulciber, um die nächste Phase ihres zugegeben lückenhaften Plans in die Tat umzusetzen. Ihr wurde nur ein irritierter Blick über die Schulter zuteil, bevor Mulciber seine Angriffsserie fortsetzte. Keine Ablenkung im Kampf. Zumindest in dieser Hinsicht war er seit jeher ein Vorbild.

Im Schutz seiner hochgewachsenen Gestalt wandte sie ihren Blick vom Geschehen auf dem Boden hoch, in Richtung Holzdecke. Das Adrenalin trieb ihr ein kleines Lächeln ins Gesicht. Die Finsterniswolke erfüllte den Raum glücklicherweise nicht vollständig. Durch die faserigen Ränder der Schwärze direkt unterhalb der Zimmerdecke waren gerade so dunkles Holz und protzige Deckenlampen zu erkennen. Drei zu jeder Seite des Flohportals, groß wie Wagenräder.

Schweres Koboldglas, gehalten von verschlungenen Silberbändern und verziert mit goldenen Runen, formte jene hässlichen Leuchten. Die Dinger waren Minerva seit jeher zuwider und das nicht bloß, weil sie krustige Staubfänger waren. Alles an den Lampen war schlicht ein Symbol des Unrechts, das die magische Welt den Kobolden angetan hatten (und taten), indem sie diese für ihren Prunk ausbeuteten. Sie zückte den Zauberstab und zielte.

»Bombarda!«

Das erste Licht flackerte unter dem Einschlag wie Scheinwerfer in einer billigen Muggeldiskothek und feiner Rauch vermischte sich mit der Dunkelheit aus der Finsternisschote. Durch die Schwaden erkannte Minerva, wie sich Risse rasend schnell auf dem kunstvoll gearbeiteten Glasschirm ausbreiteten und setzte sogleich mit einer weiteren Explosion nach. Einen Moment schien das teure Glas zu halten, trotz der feinen Spinnenlinien, die es durchzogen, doch dann bahnte sich ein letzter Bruch seinen Weg über den Lampenschirm und die halbrunde Glasschüssel barst in einem ohrenbetäubenden Knall.

Scharfkantige Splitter erfüllten die Luft wie tausend glitzernde Sterne den Nachthimmel. Ihre Gegner sahen es dank der Ablenkung am Boden durch Mulciber und den unbekannten Ministeriumszauberer im Flur nicht kommen, aber den entsetzten Rufen nach fühlten sie es, als der Scherbenregen auf sie niederging.

Geistesgegenwärtig reagierte Mulciber mit einem Schildzauber, gegen den hagelgleich ein paar verirrte Splitter prasselten. »Eine Warnung wäre nett«, knurrte er über die Schulter, dabei waren die gläsernen Geschosse kaum genug, um jemand Magiebegabten ernsthaft zu verletzten oder gar zu töten. Minerva kam es ohnehin nur auf die Ablenkung an.

»Schön, hier ist deine Warnung«, schoss sie zurück und bedachte geschwind die nächste Lampe in der Reihe mit dem Explosionszauber, ohne die Wirkung abzuwarten. Die Atempause war kurz, aber sie würde reichen müssen.

»Hör zu«, zischte sie an Mulciber gewandt, »ich werde den Bannzauber über dem Flohportal brechen. Wenn die Schutzzauber versagen, wird in der Sicherheitszentrale Alarm geschlagen. Alleine haben wir keine Chance. Wir brauchen Unterstützung. Halt sie einfach so lange wie möglich hin, ja?«

Er presste seine Zähne fest aufeinander und zog die Augenbrauen kritisch zusammen, nickte dann aber. »Vermutlich werden sie hereilen. Wenn sie nicht noch ... anderweitig beschäftigt sind.« Seine Knöchel am Zauberstab traten weiß hervor, als er ihn in grimmiger Freude umklammerte. »Solange werde ich wohl auf meine Kosten kommen und diesen Kindern eine Lektion erteilen.«

Der Ausdruck auf seinen Zügen behagte Minerva nicht, aber welche Wahl hatte sie schon? Er war immer noch ein Ministeriumsangestellter. Ihm waren die Grenzen seines Handelns bewusst. »Wunderbar.«

Ihre Zeit lief aus und so rief sie ein weiteres Mal den Explosionszauber. Die dritte Lampe ergoss sich in einem letzten Scherbenregen in die Dunkelheit, da ließ sie sich hinter Mulciber auf die Knie sinken und streckte ihre Sinne nach dem aufwändigen Sicherheitszauber über dem Flohportal aus.

Sie hatte die metallenen Linien an der Decke schon bei der Ankunft gesehen. Die Gegenwart jahrhundertealter Magie war sprichwörtlich greifbar. Vermutlich wäre es ihr in Katzengestalt einfacher gefallen, eine Schwachstelle in dem Bann zu erkennen. In dieser Situation musste sie sich jedoch auf ihre menschlichen Empfindungen verlassen. Bloß am Rande nahm sie wahr, wie Mulciber den Kampf wieder aufnahm.

Die Sicherheitszauber waren uralt und tief mit den Metallen in der Decke verwoben. Koboldgearbeitet, genau wie die Lampen. Sicher. Vielleicht sogar unzerstörbar. Niemand, der nicht vom Ministerium befugt war, durfte – oder vielmehr konnte – das Flohportal überschreiten, ohne von einer ganzen Reihe an schmerzhaften Festsetzungszaubern getroffen zu werden. Ein Grund, warum die Entführer Mulciber gebraucht hatten, um das Portal zu aktivieren.

Nur in ihrer Verzweiflung war Minerva überhaupt erst auf die wahnwitzige Idee gekommen, diese aufwändigen Verzauberungen auflösen zu wollen. Das würde sie Mulciber gegenüber selbstverständlich niemals zugeben.

Ihre Zauberstabhand ausgestreckt, schloss sie die Augen und lauschte auf das leichte Singen der mächtigen Magie, die in einem konstanten Strom durch die Silberringe floss. Dem ersten Eindruck hielt der Bann stand. Keine Lücke, kein Anfang, kein Ende, um sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Also musste sie eine schaffen.

Obwohl sie die Augen nach wie vor geschlossen hatte, sah sie die rot leuchtenden, ineinandergesetzten Ringe der Bannkreise in der Dunkelheit hinter ihren Lidern schweben. Wenn sie die Form verändern konnte, wäre der Zauber angreifbar.

»Diffindo«, murmelte sie leise, auf die Überreste einer der explodierten Deckenlampen gerichtet. Knarzend löste sich das verbeulte Silbergestell, das einst den Glasschirm gehalten hatte, aus seiner Verankerung. Mit einem Wink ihres Zauberstabs fing sie es auf und ließ es in der Luft schweben. Sie brauchte es nicht sehen, um sich vorzustellen, welche Form das rußgeschwärzte Metall hatte. Oder welche Form es gleich annehmen würde.

»Deditio flecti.« In den letzten Jahren als Verwandlungslehrerin hatte sie diesen Spruch schon lange nicht mehr laut gewirkt, doch für das, was sie nun vorhatte, wollte sie ganz sicher gehen. Das Silber würde sich nur ungern ihrem Willen beugen, nachdem es von einem Kobold geschmiedet worden war. Deren Magie erfüllte das bearbeitete Metall und ließ es eigenwillig werden, insbesondere in unrechtmäßigem Besitz.

Der Widerstand des Silbers hallte in Minervas Kopf nach wie die vibrierenden Klänge der Musiksägen, die Hogwarts’ Geister so sehr liebten. Doch unter der Führung ihres Zauberstabs bogen sich die Streben ächzend, bis sie schließlich ein geflochtenes Halbrund formten. Den leichten Teil hatte sie geschafft.

Sie dirigierte das verbogene Metall hoch zu den rotglühenden Bannkreisen. Langsam, Stück für Stück bewegte es sich auf die Einlassungen in der Decke zu. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf einen losschrillenden Alarm, aber das leblose Objekt wurde von den Zaubern genauso wenig als Bedrohung erkannt, wie die Finsternisschote der Eindringlinge.

Eine kleine Schwingung jagte durch Minervas geschärfte Wahrnehmung, sobald das Silber den ersten Kreis berührte. Ihre Zauberstabhand kribbelte von dem Kontakt mit der alten Magie. Hunderte Ameisen schienen über ihre Haut zu huschen. Trotzdem ließ sie nicht von ihrem Schwebezauber ab, ehe auch das andere Ende der Metallschlaufe auf den zweiten Bannkreis traf.

Lautes Krachen füllte ihre Ohren, aber sie wagte nicht, den Blick zu heben. »Coniugo«, flüsterte sie. Aus den hunderten Ameisen wurden tausende, die von ihrem Arm in die Schultern und weiter in ihren Brustkorb wanderten. In einer ungestümen Wolke aus purer Energie zog ein Teil des mächtigen Zaubers durch ihren Körper, sobald sich die Überreste der Deckenlampe in die Bannkreise schmolzen und sie – auf Muggelart gesehen – kurzschlossen, mit ihr als Magiebrücke. Praktisch, was ein schottisches Mädchen auf dem Land alles lernen konnte, wenn des Nachbarn Traktor mal wieder nicht ansprang.

Ein paar widerspenstige Haare lösten sich aus ihrem straffen Dutt und schwebten wie elektrisiert vor ihrem Gesicht, nachdem sie ihren Kopf hob und die Lider öffnete. Leichtigkeit erfüllte sie. Fast hätte sie laut aufgelacht. Die zwei unüberwindbaren Zauberbanne waren durch das verbogene Silberband permanent miteinander verschmolzen und kollidierten an der Verbindungsstelle funkensprühend. Das rote Glühen des intakten Banns war einem schlammigen Grün-Braun gewichen und ein hohes Pfeifen, wie von einem Teekessel, rührte von dem Metall her.

Minerva blieb nicht viel Zeit. Zur Sicherheit warf sie einen kurzen Blick auf Mulciber und stellte erleichtert fest, dass er wie durch ein Wunder noch kämpfte. Wenn das hier erst durchgestanden war, musste sie ihm danken. Getragen von dem Kribbeln der Magie, das weiterhin durch ihren Körper glitt, erhob sie sich. Ihre Robe schwebte wie von unsichtbarem Wind bewegt um sie.

Nur am Rande ihrer Wahrnehmung sah sie jemanden aus der Finsterniswolke hervorbrechen und auf sie zueilen. Grimmig umschloss sie den Zauberstab fester und richtete ihn auf ihr Ziel. Mit überdeutlicher Stimme sprach sie den letzten Zauber. »Reducto!«

Sie hörte noch, wie jemand ihren Namen schrie, dann wirbelte die Welt in einer rasanten Folge von Farben, Geräuschen und Empfindungen an ihr vorbei. Unweigerlich kam ihr die Erinnerung an einen besonders hässlichen Sturz vom Besen aus fünfzig Metern Höhe. Freier Fall – und ein Aufprall, der die Luft aus ihren Lungen presste.

Aus weit aufgerissenen Augen starrte Minerva ungläubig an die Decke über sich, in der ein großes Loch prangte. Dröhnende Stille erfüllte ihre Ohren und die kribbelnden Ameisenfüße hatten sich in feuerheiße Schlangen verwandelt. Fast erwartete sie, dass bei ihrem überraschten Aufkeuchen Flammen aus ihrem Mund entweichen würden. Stattdessen rieselte nur Staub auf sie herab wie frischer Schnee. Für einen Augenblick wollte sie einfach nur liegenbleiben.

Aber schon hörte sie wieder ihren Namen. Es war nicht Mulciber, der so besorgt nach ihr rief. Mit kribbelnden Händen stützte sie sich auf. Dort, wo bis eben die schweren Bannkreise das Flohportal geschützt hatten, klaffte nur noch ein Loch und verbogenes Silber hing herab. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Der mächtige Schutzzauber war gebrochen und hatte in einem letzten Akt des Aufbegehrens eine Druckwelle durch die Flohzentrale geschickt, die alles und jeden umgerissen hatte.

»Minerva!« Ein schwankender Elphinstone kam in ihr Blickfeld, seinen Umhang hinter sich herwehend und mit gerötetem Gesicht.

Ganz ohne ihr Zutun machte ihr Herz einen erfreuten Hüpfer, froh, zu sehen, dass er unversehrt war. »Merlin sei dank«, seufzte sie. »Wie lange bist du schon hier?«

»Lang genug. Minerva ... was hast du nur getan?« Mit sorgenvollem Blick reichte ihr eine Hand, um ihr aufzuhelfen.

»Eine Alternativkarriere als Bannbrecherin in Betracht gezogen?« Vereinzelte Haarsträhnen schwebten immer noch um ihren Kopf und als sie seine Hand ergriff, spürte sie, wie ein Teil der uralten Bannmagie sich knisternd auf ihn entlud. Überrascht fuhr er zusammen, ohne jedoch loszulassen. Langsam verblasste das Brennen in ihren Gliedern wieder zu dem Ameisenkrabbeln und sie zuckte verlegen mit den Schultern.

»Ihr habt später noch genug Zeit, rumzuturteln«, fluchte Mulciber von weiter hinten. »Unsere Gegner berappeln sich und verdammt, ich hab heute noch was anderes vor!«

»Charmant wie immer, Mulciber.« Elphinstone warf Minerva einen prüfenden Blick zu. »Ich nehme an der arme Kerl, der da unter einem ... ohnmächtigen Riesen-Erkling begraben ist, hat es verdient? Und diese Dunkelheit hat etwas mit unseren Entführern zu tun?«

»Ziemlich genau«, erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. »Und eigentlich sollte der gebrochene Bann die Auroren auf den Plan rufen, damit wir sie endlich festsetzen können.«

»Ich fürchte, daraus wird nichts ...«, gab Elphinstone matt zurück. »Es sind noch andere Demonstranten durchgebrochen. Deshalb bin ich dir überhaupt schon gefolgt. Die Sicherheitszentrale ist nach allem, was ich gehört habe, komplett leergefegt.«

»Oh, ich wiederhole es wirklich ungern«, sprang Mulciber erneut dazwischen, »aber ihr solltet euch ernsthaft später wie zwei Teenager unter dem Einfluss von Liebestrank in die Augen starren. Ich rette euch jedenfalls nicht den Arsch, wenn der Junge euch deswegen gleich einen Fluch verpasst!«

Bei allen gesalzenen Erwiderungen, die Minerva dazu auf der Zunge lagen, musste sie zu ihrem Unglück einsehen, dass er zumindest in einer Sache recht hatte. Rowle regte sich wieder. Er lag längst nicht mehr dort, wo sie ihn zu Boden geschickt hatte, sondern hatte sich zu seinem Zauberstab gerobbt. Ihr unsanfter Sturzflug musste den Klammerfluch genug gelockert haben, dass er sich befreien konnte.

Auf dem Boden sitzend starrte er sie drei mit rotem Gesicht an. Der Zauberstab in seiner Hand zitterte, ob vor Wut oder Angst konnte sie nicht sagen. »Rowle! Ich bitte Sie, hören Sie auf mit dem Unsinn!«, rief sie in einem letzten verzweifelten Appell. »Lassen Sie es nicht so weit kommen!«

Der einst so bescheidene Schüler bleckte seine Zähne. »Sie verstehen es nicht!«

»Legen Sie den Zauberstab nieder und ich werde Ihnen zuhören, Rowle, das verspreche ich!«

Das höhnische Gelächter der Frau mit dem erklinghaften Kichern drang von weit hinten aus der Dunkelheit. »Los, Thorfinn! Beende es!«

Rowle ließ ebenfalls ein trockenes Lachen hören. »Das haben Sie nie! Auch nicht, als Sie mich nicht in Ihren UTZ-Kurs gelassen haben! Ich hätte Auror werden können! Aber nein, stattdessen haben Sie lieber ... Schlammblüter gelehrt!«

Mulciber hatte schon den Zauberstab erhoben, doch Minerva stieß seinen Arm grob beiseite und trat einige Schritte vor. Das hier war alleine ihr Kampf. »Dieses Wort will ich von Ihnen nicht hören«, konnte sie es nicht verkneifen, Rowle zu maßregeln. »Sie haben viele Fähigkeiten. Nicht jeder kann und muss ein verdammter Auror werden! Sie könnten so viel erreichen! Wollen Sie stattdessen so dringend in Askaban landen?«

»Das ist alles nur die Schuld der Schlammblüter!«, behauptete Rowle hysterisch. »Überall arbeiten nur verfluchte Schlammblüter! Dabei habe ich als Reinblüter Besseres verdient!« Sein Gesicht war inzwischen hochrot angelaufen, wie ein Erumpent kurz vor der Explosion.

Minervas Zauberstab zitterte in ihrer Hand. Nur eine Sekunde des Zögerns, die allen Unterschied machte.

Die wütende Frau schrie Rowle an, es zu tun. Diese Anweisung schien neue Entschlossenheit in den Jungen zu spülen. Er riss den Zauberstab höher. »Avada Kedavra!«, brüllte er, lauter, als nötig gewesen wäre.

Der Fluch schoss an Minerva vorbei auf Elphinstone zu und sie wollte nicht herausfinden, ob der unverzeihliche Spruch ernst gemeint war. Mit einem Satz sprang sie dazwischen und riss Elphinstone mit sich zu Boden. Noch im Fallen schleuderte sie ihrem ehemaligen Schüler einen Expelliarmuszauber entgegen, der allerdings unter Gelächter aus der Dunkelheit weit verfehlte.

Am Boden liegend kamen ihr die wild tanzenden Flammen des Flohportals ins Sichtfeld. Es war immer noch aktiviert; der Schutzbann zerstört. Ein Ausweg. In dem erneut aufkochenden Chaos herumirrender Flüche zog sie Elphinstone am Ärmel mit sich hoch. »Das Portal, lauft!«

Es waren nur wenige Meter zu dem grün erleuchteten Steinkreis. Links und rechts schossen Flüche vorbei, doch sie rannte weiter – bis der glatte Steinboden sie um ein Haar aus dem Gleichgewicht brachte. Elphinstone und Mulciber folgten ihr dicht auf den Fersen.

Sie hasste es, zu fliehen, aber wenigstens hatte sie den Verbindungsnachweis gerettet. Ihre Finger tasteten nach Elphinstones und schlossen sich fest um seine Hand, mit der anderen packte sie Mulciber am Ärmel. Ein letzter Blick durch den Raum voll schwindender Dunkelheit zeigte ihr Rowle, den nächsten Fluch bereits auf den Lippen. Bedauernd senkte sie die Augen und formte schnell das Bild des Ortes in Gedanken, an den das Flohportal sie bringen sollte. Nach Hause.

Schwindelgefühl erfasste sie und dann verschwand das Ministerium in einem grünen Flammenwirbel vor ihren Augen. Sie sah nur noch den unverzeihlichen Fluch, der aus Rowles Zauberspruch hervorbrach, auf sich zurasen, so grün wie das Flohfeuer. Dann waren sie verschwunden.

Aus dem Feuer

Zum zweiten Mal an jenem Tag tauchten Minerva und Elphinstone an einem anderen Ort, hunderte Meilen entfernt, wieder auf. Dieses Mal allerdings zusammen mit Alston Mulciber in einem engen und dunklen Kamin, der eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hatte.

Die grünen Flohpulverflammen erstarben um sie herum, doch was blieb, war ein eiserner Griff um Minervas Herz, unerbittlich wie eine Teufelsschlinge. Dieser Tag war ohne Frage an seinem Tiefpunkt angekommen. Angesichts des letzten unverzeihlichen Fluches, den Rowle ihnen entgegengeschickt hatte, jagte ein verspätetes Zittern durch sie wie ein eisiger Windstoß und ein feines Magieprickeln lief ihre Wirbelsäule entlang. Ihr Entkommen war knapp gewesen; zu knapp.

»Alles in Ordnung?«, wand Elphinstones Stimme sich aus der Dunkelheit zu ihrer linken. Seine Hand lag noch immer in ihrer, aber er machte keine Anstalten, sich zu lösen, obwohl die Enge des Kamins sie viel zu nah aneinander zwang.

Minerva brachte ein Nicken zustande. »Klar.« Dennoch wich sie seinem Blick aus. Mit jedem weiteren Atemzug schwand die Anspannung aus ihren Gliedern und das eben Geschehene erschien immer unwirklicher. Ohne Zweifel warteten die Taten Rowles noch in der Tiefe ihres Bewusstseins darauf, ihre vollständige Bedeutung zu entfalten und sie mit der traurigen Wirklichkeit zu konfrontieren. Für diesen Moment zwang sie die Gedanken jedoch mit Gewalt beiseite.

Zu ihrer anderen Seite riss Mulciber leise fluchend seinen Ärmelsaum aus ihrer Zauberstabhand, damit er sich an ihnen vorbei in den schemenhaften Raum hinter dem Kamin drängen konnte. »Das ist doch alles nicht zu fassen«, hörte sie ihn murren, während er sich grob die Asche von seinem Umhang klopfte und seine Ärmel mit Nachdruck runterzog.

Sie wollte ihm folgen, doch Elphinstone hielt sie sanft zurück, seine Hand nach wie vor in ihrer. »Minerva.« Er senkte seine Stimme, bis kein Wort mehr über den Kaminrost zu Mulciber drang. »Bitte sei ehrlich. Hat dich ... etwas getroffen?«

»Nein. Alles ist in Ordnung, wirklich.« Sie musste ein Niesen aufgrund des Aschenstaubs in dem dreckigen Kamin unterdrücken. Nach einer kurzen Pause, in der sie nur Mulciber hörte, der mit einem Zauber seinen Umhang reinigte, drehte sie sich doch zu Elphinstone. »Was ist mit dir? Hat dich jemand erwischt?« Die Sorge in ihrer Stimme konnte sie unmöglich verbergen.

In der Dunkelheit war gerade so auszumachen, wie er den Kopf schüttelte. »Nein. Ich hatte Glück, wenn man von einem kleinen Wabbelbeinfluch im Atrium absieht. Der Junge hingegen ... hat nicht sonderlich gut gezielt.«

Minerva spürte von neuem einen krötengroßen Kloß in ihrem Hals heranschwellen. Rowle hatte ihnen unverzeihliche Flüche hinterhergeschickt, als handle es sich um harmlose Kitzelflüche. Undenkbar, was geschehen wäre, hätte sie Elphinstone nicht zu Boden gestoßen. Sie ballte ihre Zauberstabhand zur Faust. »Immerhin habe ich unsere gesuchten Informationen gefunden.«

Selbst in der Düsternis konnte sie Elphinstones erleichtertes Lächeln erkennen. Trotzdem war sie sich der bleibenden Besorgnis in seinen hellen Augen nur allzu bewusst, genauso wie der bloß pergamentdünnen Luftschicht, die sie voneinander trennte. Mulcibers gehässige Worte kamen ihr erneut in den Sinn und mit einem Mal war ihr die Nähe unerträglich.

Bevor Elphinstone etwas erwidern konnte, schob sie sich über den Kaminrost in den lichtlosen Raum dahinter. Morsches Holz knarrte unter ihren Füßen und es brauchte einen Moment, bis ihre Augen sich an die Umgebung gewöhnt hatten.

Mulciber stand bereits mit verschränkten Armen da und schnalzte genervt mit der Zunge, während auch Elphinstone sich aus dem Kamin schälte. »Ich habe eine Menge Fragen«, kündigte er griesgrämig an.

»Oh, ich ebenfalls«, meldete sich Elphinstone von hinten. »Zunächst einmal – ist das etwa das Hinterzimmer vom Eberkopf? Was für eine nette Überraschung.« Er lachte auf. »Ich hätte erwartet, dass du das Drei Besen bevorzugst, Minerva.«

Sie schnaubte. »Der Laden ist hoffnungslos überfüllt und ich habe nicht vor, mehr Aufsehen zu erregen als nötig, wenn wir schon nicht direkt ins Schloss reisen können.« Steif klopfte sie sich den Aschenstaub vom Umhang. »Nichtsdestotrotz schlage ich vor, dass wir unsere Unterredung an einem vertrauenswürdigeren Ort fortsetzen.«

Das wiederum entlockte Mulciber ein neuerliches Zungenschnalzen. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit für irgendwelche Kindereien.« Er richtete den Zauberstab auf den einzigen Zugang, eine einfache Holztür, und wirbelte ihn im Kreis herum. Mit einem schmatzenden Geräusch verschmolzen Tür und Rahmen miteinander. »Das dürfte dieses Problem hinreichend lösen.« Mit einem weiteren Wink seines Zauberstabs entzündete er den Kamin, sodass sie nicht länger im Dunkel standen. »Und jetzt bin ich gespannt auf die Erklärung, was McGonagall in der Flohnetzwerkbehörde zu suchen hat. Komischerweise genau dann, wenn sich alles im Ausnahmezustand befindet. Ich erinnere mich schließlich noch gut an ihre Kündigung, neben all den Verwünschungen, dass sie nie mehr zurückkehren wird.«

Ergeben seufzte Minerva. Ihr Gegenüber schien nicht einmal ansatzweise dankbar, dass sie ihm gerade erst den Allerwertesten gerettet hatte. »Wenn das Ministerium seine Arbeit anständig machen würde, wäre ich sicherlich nicht dort aufgetaucht«, gab sie ebenso stur zurück. »Abgesehen davon stellt sich mir die Frage, warum du dich diesen ... Verbrechern gefügt hast. Ich meine mich zu erinnern, dass du sie Kinder geschimpft hast? Bist du mit dem Zauberstab in der falschen Hand aufgewacht oder warum hat sich der ach so großartige Mulciber von Kindern herumschubsen lassen?«

Elphinstone neben ihr ließ ein Stöhnen hören. »Hört auf damit, beide!«, verlangte er entschieden. »Uns gegenseitig Vorwürfe zu machen lenkt nur von dem wirklichen Problem ab, das wir alle haben.«

Mulciber lachte trocken auf. »Soll ich einfach ignorieren, dass deine Angebetete nicht nur die halbe Flohzentrale in Schutt und Asche gelegt hat, sondern auch noch vertrauliche Informationen entwendet hat?« Sein kalter Blick durchbohrte Minerva herablassend.

Er konnte unmöglich wissen, welches Pergament sich hastig gefaltet in ihrem Umhang verbarg, redete sie sich ein. Wie auch? Niemand außer dem Erklinghuhn hatte sie bei ihrem kleinen Vergehen beobachtet. Sie würde ihm nicht den Gefallen tun, auf seine Spekulationen hereinzufallen, also schwieg sie.

»Wie unpassend für eine Lehrerin. Dabei solltet ihr Vorbilder für die nachfolgenden Generationen sein. Aber das hat bei dem Jungen – wie hieß er noch gleich? Rowle? – ja auch wunderbar funktioniert, wie ich gesehen habe. Selbst seine Unverzeihlichen waren schlampig ausgeführt. Manchmal zweifle ich, ob ich meinen Sohn nächstes Jahr wirklich nach Hogwarts schicken sollte.«

Das war sogar für seine Verhältnisse niedrig gegriffen. Aufgebracht funkelte Minerva ihn an und stemmte die Fäuste in die Hüften, bereit, ihm ganz ohne Zauberstab Verwünschungen entgegenzuschleudern. Aber bevor sie auch nur den Mund aufmachen konnte, legte Elphinstone ihr beschwichtigend eine Hand auf den Oberarm, gefolgt von einem warnenden Seitenblick.

»Erinnere dich daran, dass wir alle auf derselben Seite stehen, Mulciber«, fuhr er seinen Kollegen an. »Minerva würde nichts tun, für das sie nicht meine volle Unterstützung erfährt.«

Mulcibers Augen huschten von Minerva zu Elphinstone und seine Lippen kräuselten sich zu einem süffisanten Lächeln. »Natürlich«, sagte er gedehnt. »Vermutlich ist alles, was ihr getan habt, vom Recht gedeckt? Niemand hat seine Befugnisse überschritten oder gar etwas ... Strafbares getan? Schließlich bist du, Urquart, immer der Erste, der predigt, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt.«

Das reichte Minerva. Unwirsch schüttelte sie Elphinstones Hand von ihrem Arm und stach ihren Finger auf Mulcibers Brust. »Das ist ausgerechnet deine größte Sorge? Ist es für dich nur ein Witz, dass wir eben erst einem Haufen Leute entkommen sind, die nicht einmal vor dem Einsatz unverzeihlicher Flüche zurückschrecken? Kommt es dir in den Sinn, dass einer von uns hätte sterben können?«

Mulciber blieb standhaft, doch das gehässige Lächeln wich einer kühlen Fassade. »Ich denke nicht«, gab er unbekümmert zurück. »Als wenn der Junge die geistige Reife besitzt, den Todesfluch zu wirken und auch wirklich zu meinen. Stümper werden den dunklen Künsten niemals gerechet. Vermutlich hätte es höchstens ein wenig gekitzelt, wenn er einen von uns getroffen hätte.«

»Ach ja? Ich für meinen Teil möchte das Risiko jedenfalls nicht eingehen!« Minervas Hand fing an, zu zittern, und sie ballte diese zur Faust. »Ein Erstklässler mitsamt Familie ist verschwunden und diese Leute haben damit zu tun, dessen bin ich mir sicher. Er ist nicht einfach weg – ich bin sicher, er ist entführt worden. Und die Ministerin hat den Fall an die Muggelpolizei abgegeben, weil ihre Aufmerksamkeit allein diesen irrsinnigen Demonstrationen gilt! Es ist mir herzlich egal, was du davon hältst, aber ich werde nicht zulassen, dass dem Jungen etwas passiert, nur weil das Ministerium vorne und hinten auseinanderfällt!«

Aufgebracht verschränkte sie die Arme und wandte sich von Mulciber ab. Vor Wut zitternd wich sie Elphinstones aus und starrte stattdessen in die Flammen, die im Kamin tanzten. Natürlich hatte sie alle ihre Prinzipien gebrochen, doch die Unversehrtheit eines unschuldigen Kindes wog mehr. Die Waagschalen von Recht und Ordnung waren schon vor langer Zeit in Schieflage geraten, weit bevor sie den ersten Schritt ins Ministerium gesetzt hatte. Ein Tanz nach den Regeln jenes zerbrochenen Systems zwang einen nur, das Ungleichgewicht zu erhalten.

»Also spielt ihr beide jetzt in eurer Freizeit Detektiv?«, fragte Mulciber in die dumpfe Stille hinein. »Habt ihr gehofft, in dem allgemeinen Chaos heute würde es nicht auffallen, wenn McGonagall sich im Ministerium herumtreibt?«

»Nein«, entgegnete Elphinstone kurzangebunden. »Es ist meine Berufspflicht als Beamter in der Strafverfolgung, ein magisches Verbrechen zu verfolgen, sobald ich Kenntnis davon erlange. Etwas, das ebenso für dich gilt, wenn ich daran erinnern darf. Wir haben nicht umsonst einen Eid abgelegt. Falls nötig vertrete ich alle meine Entscheidungen gerne vor der Ministerin, Mulciber.«

»Nun, dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken, wenn Jenkins das Flohportal entdeckt«, brummte der.

Er gab sich weiterhin aalglatt, doch an der schwindenden Lautstärke erkannte Minerva, dass er dem nichts entgegenzusetzen hatte. Letztlich waren beide Männer einander gleichgestellt und Elphinstone ihm keinerlei Rechenschaft schuldig. Jeder leitete seine eigene Abteilung nach bestem Wissen und Gewissen, abgesehen von größeren Fällen, die eine Zusammenarbeit erforderten.

»Also ist das der Grund, warum du nicht dabei geholfen hast, das Ministerium zu sichern, Urquart? Und ich dachte schon, du hättest deine Augen endlich für unsere Sache geöffnet.«

Minerva versteifte sich. Nach allem, was sie heute von Mulciber gehört hatte, wunderte es sie wenig, dass er der Reinblüterbewegung zugeneigt war. Trotzdem stach die Enttäuschung sie ins Herz. Er war so schmierig wie die gehörnten Wellhornschnecken, die im Zaubertrankunterricht Verwendung fanden, und dennoch hatte sie gehofft, dass er mehr Verstand bewies.

Anders als Minerva schlug Elphinstone immer noch einen durch und durch professionellen Ton an. »Unsere Sache? Es gibt nichts, das uns verbindet, wenn du diese Ausschreitungen wirklich gutheißt. Bei aller Liebe, aber so vertritt man keine sachliche Meinung.«

»Bedauerlich, dass ein paar Idioten dein Bild so trüben«, ließ Mulciber leise vernehmen. »Du erkennst nicht einmal, welche unschätzbaren Privilegien deine Familie dir vermacht hat, Urquart. Lass dich von ein paar Verrückten und ihrem fehlgeleiteten Vorgehen nicht blenden. Die Vorherrschaft der Magie ist der richtige Weg zu einem sichereren Leben. Das Ministerium wäre nicht derart hilflos, wenn es nach dieser Maxime geführt würde. Von jemand Fähigerem als Eugenia Jenkins.«

»Zum Glück glaubt längst nicht jeder, dass unsere Befähigung vom Blutstatus abhängt«, gab Elphinstone kühl zurück. »Im Gegenteil kenne ich viele Beispiele, die ein ganz anderes Bild zeigen.«

Mulciber schnaubte kurz. »Selbstverständlich. Aber sollten irgendwelche verschwundenen Muggel nicht unsere geringste Sorge sein? Sollten wir unsere Fähigkeiten nicht größeren Angelegenheiten widmen – der Schaffung eines funktionierenden Ministeriums beispielsweise?«

Minerva hob den Blick vom Kaminfeuer und wandte sich den beiden Männer zu, die einander unbewegt ansahen. »Also weißt du, dass es ein muggelgeborener Schüler ist, der entführt wurde«, stellte sie an Mulciber gewandt fest, ohne auf seine ideologischen Ausführungen einzugehen. Darüber könnten sie später genug streiten. »Was hast du noch von oder über die Entführer erfahren? Jede Information hilft, diese Situation schnell und effektiv zu beenden. Ganz in deinem Sinne.«

Er bedachte sie mit einem langen Blick. »Bedaure, aber – nichts.« Er hob seine Arme zu beiden Seiten. »Sie haben mich überwältigt, nicht ihre Pläne mit mir geteilt. Aus ihren Gesprächen konnte ich mir zumindest diese eine Sache zusammenreimen. Und bevor du fragst: Nein, ich habe niemanden von ihnen erkannt.«

Lügen. Was, wenn es Lügen waren, die er ihr erzählte? Das alles war viel zu bequem für ihn. Doch sie hatte keinerlei Beweis, nur ihr Bauchgefühl. Sie konnte ihm gar nichts und das wusste er. »Verstehe.« Entschlossen richtete sie sich auf. »Dann werden wir einen anderen Weg finden, um sie ausfindig zu machen.«

»Das bezweifle ich nicht«, gab Mulciber unbekümmert zurück und kehrte ihr den Rücken zu. Mit einem Schwung seines Zauberstabs lösten sich Tür und Rahmen voneinander. »Viel Erfolg dabei. Ich für meinen Teil werde mich nun wieder meinen Aufgaben im Ministerium widmen. Irgendwer muss den Laden ja am Laufen halten.«

Nur mit Mühe hielt Minerva eine gehässige Bemerkung zurück und zwang stattdessen ein schmales Lächeln auf ihre Lippen. »Ich würde es –«

Sie kam nicht dazu, den Satz zu vervollständigen, denn in diesem Moment flog die Tür zum Schankraum auf und der grimmige Wirt starrte seine drei unangekündigten Besucher unter buschigen Augenbrauen hervor finster an.

»Moin Aberforth«, grüßte Minerva knapp, bevor er ein Wort sagen konnte, »entschuldige den überraschenden Besuch. Ich bin dir etwas schuldig. Dein Kamin hat uns gerade vor einem Haufen durchgedrehter Zauberer gerettet. Lange Geschichte.«

Der Mann brummte etwas Unverständliches und musterte Elphinstone und Mulciber prüfend, dann verschwand er wieder hinter der Theke.

Minerva spürte die Blicke ihrer beiden ehemaligen Kollegen überrascht auf sich liegen. »Wir sollten gehen.« Ohne auf sie zu warten, stieß sie die Tür zum Schankraum auf.

»Nutzt du seinen Kamin öfter?«, fragte Elphinstone glucksend, als er zu ihr aufholte.

»Hin und wieder« beschied sie sich knapp.

Ganz wie sie erwartet hatte, war der Pub an einem Nachmittag unter der Woche recht leer. Die üblichen mysteriösen Geschöpfe saßen in den finsteren Ecken des Wirtshauses und widmeten sich ihren eigenen Geschäften. Den Neuankömmlingen schenkten sie bloß einen flüchtigen Blick.

Minerva durchmaß den Raum mit großen Schritten, die deutlich machten, dass sie nicht zu einem Plausch aufgelegt war und Elphinstone hatte Mühe, auf ihrer Höhe zu bleiben. Mulciber folgte hintendrein.

Aberforth nickte ihnen vom Tresen aus stumm hinterher, da waren sie schon an der Tür und traten hinaus in das stürmische Herbstwetter Schottlands. Der Wind trieb Blätter und Regen vor sich her und hielt die Bürger Hogsmeades von den Straßen fern, die sich leer vor ihnen erstreckten.

»Gut«, sagte Mulciber gedehnt, »dann trennen sich unsere Wege hier. Falls es euch beruhigt, werde ich die Auroren wissen lassen, was im Portalraum geschehen ist. Nicht, dass unsere kleinen Möchtegernentführer noch mehr Unheil anrichten, nicht wahr?«

»Danke, Mulciber«, entgegnete Elphinstone mit der unerschütterlichen Ruhe eines Beamten, der bereits in nahezu jeden Abgrund geblickt hatte.

Mulciber selber wartete keine weiteren Worte ab, sondern disapparierte mitten auf der Straße in einer geübten Drehung. Gedankenverloren starrte Minerva auf die nackten Pflastersteine. Wirklich freuen konnte sie sich angesichts dieser Entwicklung nicht. Mulciber war nicht annähernd angemessen erschüttert über den Fall und seine Unterstützung schien ihr bestenfalls zweifelhaft.

Langsam setzte sie sich in Bewegung. Fröstelnd schlug Elphinstone neben ihr den Kragen seines Umhangs hoch, während ihre Schritte sie ganz von alleine in Richtung Hogwarts’ trugen. Dort wartete eine heiße Tasse Tee auf sie und dann konnten sie in Ruhe besprechen, wie es weiterging.

Löwe und Schlange

Missmutig sah Minerva auf die regennassen Pflastersteine zu ihren Füßen. Selten hatte sie sich so wenig an der Pracht von Hogsmeade erfreut wie heute. Für gewöhnlich fühlte sie sich in dem kleinen Dorf, dessen Häuser vom Fundament bis zu den windschiefen Giebeldächern alleine von Magie zusammengehalten wurden, zuhause, mehr noch – geborgen. Doch den schwarzen Wolken in ihren Gedanken konnte sie nicht entfliehen, egal wohin ihre hastigen Schritte sie trieben. Eine Mischung wütender Sorge hielt sie fest im Griff und trübte die Sicht auf bunte Ladenfassaden und schmale Gassen mit ihrem imaginären Schleier.

»Irgendwie beruhigend, dass es hier aussieht, wie immer«, sinnierte Elphinstone zu ihrer Seite. »Egal wie lange mein letzter Besuch her ist, es fühlt sich jedes Mal an wie eine Heimkehr.« Sein Blick schweifte über die dichtgedrängten Häuser und darüber hinaus, zu dem großen Schloss, das entfernt auf den grünen Hügeln hinter dem Dorf ruhte. Er seufzte wehmütig und eine Spur Traurigkeit offenbarte sich in seinem Lächeln. »Damit ist es wohl offiziell – ich bin ein alter Besen, so wie ich der Nostalgie nachhänge.«

Für gewöhnlich hätte Minerva ihm widersprochen, vielleicht einen leichtherzigen Witz eingeflochten oder ihn mit einem Zwinkern daran erinnert, dass sie zu ihrem Glück rund ein Jahrzehnt trennte, doch in Folge dieses Vormittags hatte sie keinen Sinn für eine unbekümmerte Unterhaltung. All ihre Gedanken drehten sich einzig um die Spur zu Jonathan Alditch und was als Nächstes zu tun war. Getrieben von dem Drang, etwas zu unternehmen, zuckte sie nur mit den Schultern und lief weiter.

Eilig schloss Elphinstone zu ihr auf. »Weißt du, im Gegensatz zu Mulciber habe ich kein Problem damit, von dir gerettet zu werden. Also danke, Minerva, dass du mir das Leben gerettet hast – mal wieder.« Er lächelte versöhnlich. »Abgesehen davon bin ich froh, dass du dich augenscheinlich noch an meine Regel Nummer drei erinnerst. Rückzug vor Stolz. Es ist nie verkehrt, zu wissen, wann man unterlegen ist.«

Minerva lief es alleine bei der Erinnerung an Rowles versuchten Todesfluch kalt den Rücken hinab. »Du hättest das Gleiche für mich getan«, stellte sie nüchtern fest, denn daran zweifelte sie nicht. »Kein Grund also, mir zu danken. Ich habe nur von einem der Besten gelernt.«

»Manchmal habe ich nicht das Gefühl, dass du irgendetwas von mir hättest lernen können. Vor allem nicht, was Zauberei angeht.« Mit einem Funkeln in den Augen betrachtete er sie von der Seite. »Was auch immer du mit diesem Bannzauber angestellt hast, war unglaublich. Und mutig ... fast schon ein wenig zu sehr.« Aber die Anerkennung in seiner Stimme war unverhohlen. »Ich vergesse immer wieder, dass du eine waschechte Gryffindor bist.«

»Nicht jeder aus dem Hause Gryffindor hat mehr Glück als Verstand«, rutschte es Minerva unwirsch heraus. »Im Übrigen könnte ich dasselbe über dich sagen. Nicht gerade der typische Slytherin, was die verblendeten Reinheitsfantasien angeht.«

Seufzend fuhr Elphinstone sich mit der Hand durch das inzwischen äußerst unordentliche blonde Haar, wobei er einen Rest Aschenstaub darin verteilte. »Was das angeht –«

Doch Minerva war nicht bereit, ihre Unterhaltung in dieser Hinsicht fortzusetzen. »Schon gut. Du kannst nichts für dein Haus und ich nichts für meines. Ich weiß, dass du nicht ... so einer bist.« Damit setzte sie ihren Weg in Richtung Hogwarts schweigend fort.

Elphinstone hob an, etwas zu sagen, bevor er schlussendlich wortlos ausatmete und seine Aufmerksamkeit stattdessen den vollgestopften Schaufenstern mit magischen Kuriositäten widmete, die sie raschen Schrittes passierten. Hin und wieder ließ er sich zu einem neuerlichen ungezwungenen Kommentar hinreißen, wie bei einem auf den ersten Blick leer anmutenden Tarnumhangladen (»Fast so eine bescheidene Idee wie die unsichtbaren Bücher bei Flourish und Blotts«), aber Minerva reagierte bloß mit einem gelegentlichen Nicken. Im Kopf ging sie unterdessen all ihre Möglichkeiten durch, die Entführer dingfest zu machen.

Auf Hilfe aus dem Ministerium baute sie nicht, trotz neuer Erkenntnisse. Vielleicht wenn sie sich direkt an jemanden aus dem Aurorenbüro wenden würden ... Die Auroren waren deutlich handlungsfreudiger als die durchschnittlichen ministeriellen Schreibtischhelden. Dort hielt man sich nicht mit Formularen auf. Von Mulciber hingegen erhoffte sie nichts. Und im schlimmsten Fall ... würde sie noch einmal auf Albus zugehen. Wenn jemand einen gewissenhaften Blick auf die Geschehnisse in der magischen Gemeinschaft Großbritanniens hatte, dann er, ein geschätztes Mitglied des Zauberergamots.

»Oh, Madam Puddifoot hat in der Zwischenzeit offensichtlich ein Wunder vollbracht und noch mehr berüschte Dekorationen für ihr Café gefunden«, riss Elphinstones amüsierte Stimme sie unvermittelt wieder aus ihren kreisenden Gedanken. Er war wenige Meter hinter ihr stehen geblieben und sah durch die beschlagenen Fenster eines kleinen Lokals.

Minerva hatte nicht einmal bemerkt, dass ihre Schritte sie geradewegs an dem kreischend pinken Laden vorbeiführten – ein Wunder angesichts der kitschigen Fassade, die aus dem beschaulichen Dorf hervorstach wie ein Riese unter Hauselfen. Schon bereute sie, diesen Weg eingeschlagen zu haben, denn nun gesellten sich neue Empfindungen zu ihrer Sorge, die ihre Laune ebenso wenig besserten.

»Wenn das so weitergeht, wird der Laden in den nächsten Jahren von einer Lawine aus Glitzer, Rüschen und kitschigen kleinen Porzellanfiguren verschlungen, sobald auch nur ein Gast es wagt, zu niesen.« Elphinstone musterte kopfschüttelnd die mit Nippes übersäten Tischchen, die zu dieser Zeit leer blieben. »Aber egal wie hässlich es da drinnen aussieht, ich würde nicht nein sagen zu einem ihrer legendären Honigküchlein ...« Seine Worte verloren sich im Nichts, als er den finsteren Gesichtsausdruck bemerkte, mit dem Minerva Madam Puddifoots Café musterte.

Der manifestierte Albtraum in Form pinker Rüschengardinen und samtener Sessel rief Erinnerungen an mindestens eine Verabredung wach, die ihr selbst heute noch eine Gesichtsfarbe passend zu den hässlichen Fensterbehängen bescherten. Sie, Elphinstone und dieser unglückliche – abgelehnte – Heiratsantrag. Oder die neun nicht minder erfolgreicheren Anträge, die seither darauf gefolgt waren. Komplizierte Gefühle, die sie verdrängte. Daran konnte auch der wirklich vorzügliche Honigkuchen nichts ändern, der bloß ein unschuldiger Begleiter jener Fragen war.

Diese Erkenntnis schien Elphinstone gleichfalls zu dämmern, zumindest fiel sein Blick schuldbewusst auf die feuchten Pflastersteine und er räusperte sich verlegen. Für gewöhnlich waren sie beide besser darin, diese Vorstöße auf unbekanntes Territorium zu Gunsten ihrer Freundschaft zu ignorieren. Er stellte die Frage während ihrer Treffen mit augenzwinkernder Beiläufigkeit und sie lehnte höflich, aber peinlich berührt, ab. Nach dem dritten Vorfall dieser Art war daraus eine Routine erwachsen, die ihnen beiden bereits das ein oder andere Lachen entrungen hatte. Außerdem führte sie eine Strichliste.

»Minerva«, unternahm Elphinstone einen Versuch, sie zu beschwichtigen, »verzeih meine unbedachten Worte. Ich habe nicht vor, die gegenwärtige Lage zu ignorieren oder herunterzuspielen. Dennoch ... bitte rede mit mir. Du tust dir keinen Gefallen, wenn du alle Sorge tief innen drin verbirgst. Sonst explodiert dir irgendwann der Kessel.«

Sie warf einen langen Blick auf die rosa Fassade des Cafés und seufzte. »Lass uns einfach schnellstmöglich ins Schloss gehen. Der Junge und seine Familie brauchen Hilfe, das ist alles, was gerade zählt.«

Doch Elphinstone gab nicht auf, genauso wenig wie bei den Heiratsanträgen. »Regel Nummer fünf«, intonierte er im Brustton des jahrelang erprobten Abteilungsleiters, »hilf dir selbst, bevor du anderen helfen kannst. Nichts ist in Ordnung und dir geht es nicht gut. Bitte tu nicht so, als würde das nicht stimmen. Ich kann die Gewitterwolke über deinem Kopf förmlich sehen, Min.«

Minerva war bereits drauf und dran, sich wieder umzudrehen, etwas Unwirsches zu grummeln und weiterzumarschieren, doch der selten gebrauchte Spitzname ließ sie schlussendlich innehalten. Sie hatte es nicht gerne, wenn man ihr alberne Namen gab, aber aus seinem Mund hatte die Abkürzung etwas Sanftes. »Und was ist mit Nummer zwei von deinen Regeln?«, fragte sie tonlos. »Die Schutzbedürften genießen höchste Priorität. Der Junge ist elf. Und seine Eltern Muggel!«

»Das ist richtig«, gab Elphinstone rasch zu, »weshalb wir ihnen helfen werden. Aber es wird sie nicht retten, wenn wir kopflos losstürmen und uns dabei in Schwierigkeiten bringen. Regel Nummer sieben – gute Vorbereitung und sorgfältig aufbereitete Faktenlage sind elementar für den erfolgreichen Abschluss der Ermittlungen. Ich habe nur einen Bruchteil dessen mitbekommen, was am Flohportal geschehen ist. Aber ich sehe, dass es dich beschäftigt! Bevor das nicht geklärt ist, gehe ich nirgendwohin.«

Erschaudernd schlang Minerva die Arme enger um sich, gegen die Kälte, die ihre Zähne in sie grub. Nicht einmal ein Zauber hätte dieses Frösteln vertreiben können. Das Schlimmste war, dass er recht hatte. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, murmelte sie geschlagen. »Bei den Extremisten, die unser Ministerium gezielt unterwandert haben? Die einen erfahrenen Ministeriumszauberer überwältigt haben? Die alles daran gesetzt haben, ihre Spuren zu verwischen?« Einmal angefangen, platzten die Worte aus ihr hervor wie Springbohnen aus der Schote. »Oder Bei dem Jungen, dem gegenüber ich versagt habe? Der mit tödlichen Flüchen um sich geworfen hat, als würde es nichts bedeuten? Die Gefahr, in die ich uns alle gebracht habe?«

Es drängte sie, weiterzulaufen, schneller als ihre Sorgen sie einholen konnten. Nur Elphinstones sorgenvoller Blick hielt sie an Ort und Stelle. Mit bedächtigen Schritten näherte er sich ihr. »Ich schlage vor, du beginnst am Anfang, Min. Und ich höre zu.« Er bot ihr seinen Arm an und dankbar hakte sie sich bei ihm unter.

Während sie durch die Gassen von Hogsmeade wanderten und endlich Distanz zwischen sich und Madam Puddifoots Café brachten, schilderte sie ihm alles. Von ihrem kleinen Einbruch in Edwards’ Büro, dem Erklinghuhn über die ausgerissene Buchseite bis hin zu ihrem Plan, den Bannzauber am Flohportal zu zerstören. Besonders die Wiederholung Mulcibers gehässiger Aussagen trieb erneut ihren Puls in die Höhe, aber Elphinstone hörte alldem mit unerschütterlicher Ruhe zu.

»Wir können wohl davon ausgehen, dass dieser Überfall sorgfältig geplant war«, stimmte er ihr schließlich zu, nachdem sie geendet hatte. »Höchstwahrscheinlich sollte die Demonstration als Ablenkung fungieren. Wenn sie schon öfter dabei waren, wussten sie, wo die Sicherheitslinien geschwächt sind. Das war ihre Chance und die Erklinge haben den Rest erledigt.«

»Wenn uns das eins zeigt, dann, dass sie überhaupt keine Angst haben. So offen anzugreifen – das konnten sie nur wagen, weil sie sich ihrer Sache wirklich sicher sein müssen«, stieß Minerva bitter hervor. Ihre freie Hand ballte sich zur Faust. »Wenn sie ergriffen werden, dann landen sie allesamt in Askaban. Aber ich glaube nicht, dass sie so blöd sind, diese Gefahr zu verkennen. Sie müssen wirklich denken, dass sie dem entgehen können. Und Rowle erst ...« Von Neuem schnürte ihre Kehle sich schmerzhaft zu.

Elphinstone seufzte tief. »Der Junge hat den unverzeihlichsten aller Flüche eingesetzt. Er wird dafür büßen. Aber das ist keinesfalls dein Versagen. Das darfst du nicht einen Moment glauben. Du bist bloß seine ehemalige Verwandlungslehrerin, nicht seine Mutter. Auch wenn du nur das Beste für deine Schüler willst, du kannst sie nicht alle vor ihren schlechten Entscheidungen beschützen.«

Es war eine Wahrheit, die schmerzte. Minervas Schritte wurden kleiner, bis sie zum Stehen kam. »Es ist nur – wer hängt noch alles dieser gefährlichen Ideologie an? Du hast die Massen bei der Demonstration gesehen. Wem kann man noch trauen, wenn dieser Hass erst normalisiert wird? Mein Vater ist auch ein Muggel. Das macht ihn nicht zu einem minderwertigen Menschen.« Ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft in die Innenseite ihrer Faust, das hielt die Tränen fern. »Oder ... mich.«

»Min. Diese Fanatiker sprechen nicht für uns alle. Erinnere dich daran, was ich erst vorhin zu Mulciber gesagt habe. Mir wird der Blutstatus meiner Familie nie etwas bedeuten. Niemals. Ich werde nicht beiseitetreten und diesen Leuten das Ministerium überlassen. Und andere genauso wenig.«

Sie stand stocksteif da, doch ließ sie es geschehen, als er sie sanft in seine Arme schloss. In diesem Augenblick erfüllte sie Dankbarkeit, dass er sie davon abhielt, sich in Spiralen der Sorge zu verlieren. Erschöpft lehnte sie ihre Stirn gegen seine Schulter. Ein beruhigender Duft wilden Grüns empfing sie, würzig wie ein Garten, der nach einem langen Regentag in warmes Sonnenlicht getaucht wird.

»Es macht mir Angst, dass das vielleicht erst der Anfang ist«, hauchte sie. »Wer weiß, wozu diese Leute noch fähig sind?«

»Das wird die Zeit zeigen müssen. Ich kann nicht versprechen, dass alles gut wird. Aber wir werden etwas unternehmen. Dank unserer Spur haben wir die Möglichkeit, Schlimmeres zu verhindern. Eine Chance die Flamme zu ersticken, bevor daraus ein Brand wird.«

Wie zur Bestätigung raschelte das gestohlene Pergament in ihrem Umhang leise. »Ich will es hoffen, Phin.«

 

Den Rest des Weges zum Schloss legten sie schweigend zurück. Minerva schickte ihren Patronus voraus, um sie anzukündigen. Am Schultor mit den geflügelten Ebern angekommen, war es Pomona Sprout in ihrer grasfleckigen Kittelschürze, die sie erwartete. Die rundliche Lehrerin für Kräuterkunde hatte ein stets heiteres Gemüt, doch angesichts Minervas niedergeschlagener Miene, verlosch auch ihr Lächeln langsam.

»Minerva, wo kommst du denn her? Ich dachte, du bist heute länger weg. Albus meinte so etwas heute Morgen ...«

»Das dachte ich heute morgen auch noch, Mona. Aber das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir irgendwann anders, versprochen. Ist Albus da?«

»Nein, der musste heute früh eilig fort.« Pomona beäugte Elphinstone mit großen Augen, während sie sprach. »Irgendwas dringendes mit ... irgendwelchen hohen Tieren. Die Jahresversammlung langbärtiger alter Zauberer, was weiß ich. Stell mir lieber mal deinen Gast vor!«

Elphinstone legte ein charmantes Lächeln auf und reichte Pomona die Hand. »Ich bin mal so frei – Elphinstone Urquart. Leiter der dritten Kammer für magische Strafverfolgung am Zauberergamot, mit der Spezialisierung auf den Gebrauch schwarzer Magie und permanente Fluchschäden.«

Pomonas Strahlen kehrte mit voller Kraft auf ihr rotwangiges Gesicht zurück. »Oho! Sie sind der ehemalige Vorgesetzte von Minerva! Ich würde ja gerne sagen, dass ich schon einiges von Ihnen gehört habe, aber jemand«, und bei dieser Bemerkung strafte sie Minerva mit einem vorwurfsvollen Seitenblick, »gibt sich gerne bedeckt. Naja, aber das was ich gehört habe, war nur Gutes. Oh, ich bin im übrigen Pomona Sprout, Professorin für Kräuterkunde – Tschuldigung für die Erdflecken.«

Ihre Begrüßung ließ Elphinstone herzlich auflachen. »Ja, so kenne ich Minerva. Mir hat sie im Übrigen verschwiegen, dass ihre beste Freundin Kräuterkunde unterrichtet. Dabei war das mein Lieblingsfach!«

»Oh bitte nicht«, murmelte Minerva, den Blick zum grauen Himmel gerichtet. Rasch setzte sie sich in Bewegung Richtung Schlossportal, doch es war zu spät. Beide ihrer Freunde sahen einander mit diesem Begeisterungsfunkeln in den Augen an, das immer dann auftauchte, wenn nur eine fangzähnige Geranie müde mit den Blättern raschelte.

»Sie mögen Kräuterkunde?«, quiekte Mona begeistert, während sie sich beeilte, mit Minerva Schritt zu halten. »Lesen Sie zufällig das Botanica-Magi-Journal? Ich habe erst kürzlich einen Artikel darin geschrieben über die Aufzucht der Teufels-Welwitschia und mittlerweile hat mein UTZ-Kurs geholfen, die Pflanze bis auf vier Meter Umfang anwachsen zu lassen! Das dürfte britischer Rekord sein.«

»Natürlich habe ich das gelesen! Wirklich beeindruckend! Ich habe leider noch nie eine Teufels-Welwitschia gesehen, aber ihr Artikel hat mir sehr gefallen. Da wäre ich gerne noch mal UTZ-Schüler in ihrem Kurs. Nun ja, zumindest konnte ich für meinen UTZ damals in Eigenregie eine Teufelsschlinge zähmen, das war auch ein Abenteuer.«

Pomonas Augen wurden so rund, dass sie mit einer besonders großen Blase von Druhbels bestem Blaskaugummi mithalten konnten. »Oh, das ist mir bisher noch nicht gelungen! Sie müssen mir unbedingt ihre Geheimnisse verraten! Dafür zeige ich Ihnen auch gerne meine Welwitschia!«

»Sicher, Mona. Später wird er das bestimmt gerne tun.«

»Ah, ja, natürlich. Ihr habt sicher ... zu tun. Trotzdem, meine Einladung an Sie steht, Mr Urquart!«

»Das werde ich bei Zeiten nur zu gerne annehmen«, erwiderte Elphinstone fröhlich. »Ich glaube, die Gewächshäuser sind mir sogar noch lieber als ein Besuch in meinem alten Schlafsaal.«

»Das kenne ich nur zu gut.« Pomona lachte. »Deshalb wollte ich nie fort. Unsere Hufflepuff Räumlichkeiten sind gemütlich, aber nichts geht über Gewächshaus drei. Waren Sie zufällig auch in Hufflepuff?«

Womöglich täuschte sich Minerva, doch Elphinstones Lächeln schien eine Spur nachzulassen. »Ah, nein. Dafür bin ich wohl zu ehrgeizig und –«, er räusperte sich verlegen. »Ich war in Slytherin.«

Pomona überging diese Lücke, indem sie überrascht nach Luft schnappte. »Oho, aus dem Haus des Rivalen also!« Unter den hellbraunen Locken hervor zwinkerte sie ihm verschwörerisch zu.

»Ach Mona, erzähl doch nicht so einen Blödsinn.« Augenrollend schnaubte Minerva. »Wir sind erwachsen, da sind die Häuser wirklich egal.« Sie war sich sicher, dass ihre Kollegin sie trotzdem später, sobald sich Gelegenheit bot, darüber ausquetschen würde. Manches Mal kannte Pomonas Neugier schlicht keine Grenzen.

»Das sagt ausgerechnet diejenige, die beim letzten Quidditchspiel gegen Slytherin fast vor Wut geplatzt ist, weil Gryffindor verloren hat.«

Elphinstone konnte sein Kichern gerade noch in ein Husten verwandeln. »Zum Glück bin ich in Sachen Quidditch völlig unparteiisch. Die Faszination fliegender Bälle hat sich mir nie erschlossen.«

»Ist wahrscheinlich auch besser so für Ihre Gesundheit. In Sachen Quidditch ist Minerva nämlich ein absoluter Drache. Nach manchem Spiel gegen Slytherin fürchtet Horace Slughorn wirklich um sein Leben, glaube ich. Apropos Horace ...« Pomona wurde plötzlich ernst. »Deine Gryffindors halten im Übrigen auch nicht viel von dem Häuserfrieden, Minerva. Heute gab es mal wieder einen Vorfall vor einem der Zauberkunstklassenzimmer. Horace hat sich der Sache angenommen, aber du solltest vielleicht mal mit ihm reden, um zu sehen, wer jetzt wieder nachsitzen darf.«

Minerva seufzte. Auch das noch. »Danke für die Info, Mona.«

Dankenswerter erhob sich inzwischen das steinerne Schlossportal vor ihnen und damit das Ende des Weges. Pomona hob zum Abschied ihre Hand. »Nun, ich muss zurück zu meinen Pflanzen – und ähm, Schülern. Es war mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Mr Urquart. Denken Sie an die Abmachung! Und Minerva, ärgere den armen Mann nicht!« Summend wandte sie sich ab und lief in Richtung Gewächshäuser davon.

Endlich wieder alleine mit Elphinstone, atmete Minerva durch. »Um Horace kümmere ich mich später. Lass uns erst mal in mein Büro gehen, dann sehen wir weiter.«

Die ewige Feindschaft

Untätigkeit war für Minerva die schlimmste Strafe, schon seit jeher. Verletzt auf der Quidditch-Tribüne zu sitzen, dazu verdammt, dem eigenen Team beim Verlieren zuzusehen, hatte sich bereits zu ihrer Schulzeit als unerträglich erwiesen, aber wenigstens stand damals kein Leben auf dem Spiel, nur ihr Stolz. Stolz, der ihr im Moment nicht egaler hätte sein können.

Der Tag, den sie so hoffnungsvoll mit der Suche nach ihrem verschwundenen Erstklässler begonnen hatte, fand seinen Tiefpunkt nun dort, wo der ganze Schlamassel angefangen hatte – in der großen Halle von Hogwarts. Zu jener kaum zu ertragenden Untätigkeit verdammt, saß sie alleine am fast leeren Lehrertisch und starrte die Ausgabe des Abendpropheten vor sich an, als wolle sie mit purer Willenskraft ein Loch in die Seiten zu brennen.

Die Sonne hatte sich dem Horizont längst entgegen geneigt, doch der Himmel war eulenfrei geblieben, kein vertrautes Gesicht im Kaminfeuer erschienen. Niemand hatte sie von der Warterei erlöst. Und als dann endlich eine Eule aufgetaucht war, hatte sie bloß die abendliche Zeitung gebracht.

Seufzend schlug Minerva eben jenes elende Blatt zu. Auf die detaillierte Mitschrift von Mrs Blacks ‚flammender‘ Rede und unzähligen O-Tönen der Demonstranten konnte sie gut und gerne verzichten.

Neben ihr ließ sich Pomona am Tisch nieder, die geradewegs aus den Gewächshäusern zu kommen schien, der Erde an Stiefeln und Umhangsaum nach zu urteilen. »Wo hast du denn deinen Freund gelassen?«, fragte sie sichtlich enttäuscht, als sie Minerva den Teller mit Pasteten vor der Nase wegschnappte.

»Erstens ist er mein ehemaliger Vorgesetzter –«

»Ja ja, das sagtest du schon. Aber das eine schließt das andere ja nicht aus!«, entrüstete Mona sich. »Ehemalig, du sagst es ja selber!«

»– und Zweitens«, fuhr Minerva ungerührt fort, »war er nicht zum Vergnügen hier. Er ist zurück in London.«

Elphinstone war vor Stunden mit einer Dublette des gestohlenen Auszugs der Flohnetzwerkverbindungsnachweise in die Hauptstadt zurückgekehrt, um Edwards ausfindig zu machen, damit dieser die Verschlüsselung der Adresse auflöste und um zusätzliche Unterstützung einzufordern. Er hatte versprochen, sich umgehend zu melden, sobald er neue Informationen hatte. Minerva war nur schweren Herzens in Hogwarts zurückgeblieben. »Für alle Fälle«, wie Elphinstone gesagt hatte.

Was für ‚Fälle‘ er sich wohl vorstellen mochte, hatte sie in den vergangenen Stunden zu Genüge hinterfragt. Inzwischen hatte der Abendprophet ihr zumindest Gewissheit verschafft, wieso er sein Versprechen nicht einlösen konnte. ‚Großflächige Räumung des Ministeriums – Ministerin tritt in Verhandlung mit Reinblüterbewegung‘ hieß es da in riesigen schwarzen Lettern, gefolgt von einem Bild, das eine Horde wild durcheinanderstürzender Menschen zeigte, die allesamt vor einer Nebelwolke flüchteten.

Dass es sich um das Atrium des Ministeriums handelte, war nur an der goldenen Zauberstabspitze zu erkennen, die oben aus dem Nebel einen munteren Wasserstrahl hervor schickte. Der Rest des Brunnens der magischen Geschwister war komplett von der Wolke erstickenden Garottengases umhüllt. Eigentlich unsichtbar, war es laut dem Zeitungsartikel nur dank der umfassenden Schutzzauber im Atrium offenbart worden, bevor es ernsthafte Opfer fordern konnte.

Der ganze neun Seiten lange Artikel hatte Minerva detailliert informiert, dass das Ministerium heillos überfordert war – keine Neuigkeit –, nicht bekannt war, wer das Gas freigelassen hatte; dass St. Mungo voller verletzter Hexen und Zauberer war und die Ministerin sich zur Stunde immer noch Auseinandersetzungen mit den hartnäckigsten der Demonstranten lieferte.

Das magische London versank zusehends im Chaos und Minerva hoffte inständig, dass Elphinstone nicht erneut zwischen die Fronten geraten war. Das Ministerium konnte aufgrund des Garottengases jedenfalls nicht betreten werden und ein Großteil der Angestellten war entweder mit Vergiftungen in der Heilanstalt oder beteiligte sich daran, die verbliebenen Reinblüter in Schach zu halten, fern von den Augen neugieriger Muggel.

»Oh ... nun ich schätze, die brauchen jede Hilfe«, bemerkte Pomona mit einem Blick auf die allzu präsente Titelseite des Abendpropheten. Sie stach ihre Gabel in eine saftige Bratwurst und zog die Stirn kraus, während sie hinein biss. »Trotzdem schade. Ich hätte deinem Freund wirklich gerne die Ableger der namibischen Teufels-Welwitschia gezeigt. Endlich mal jemand, der das wertzuschätzen wüsste!«

Bevor sich Pomona weiter in Schwärmereien über ihre seltene Pflanze ergehen konnte, seufzte Minerva demonstrativ und nahm einen großen Schluck Kürbissaft. »Vermutlich ist es besser so, sonst hättest du Probleme, ihn heute Abend aus dem Gewächshaus zu bekommen.« Und sie weniger Sorgen um seinen Verbleib, aber diesen Gedanken verschwieg sie lieber.

Pomona schenkte ihrer Freundin einen tadelnden Blick. »Ich weiß wirklich nicht, was du gegen ein bisschen gesunde Begeisterung für Kräuterkunde hast.«

»Ich habe nichts dagegen, Mona, es ist nur –«

Der Rest ihres Satzes ging in einem wütenden Schmerzensschrei unter. Mit runden Augen sah Pomona sie an, das Würstchen immer noch aufgespießt vor dem Mund, dann schossen ihrer beider Blicke alarmiert zur Schülerschaft.

Lange suchen mussten sie das Unheil nicht. Am Tisch der Slytherins war eine Schülerin der fünften Klasse ausgesprungen und schrie, dass alle Köpfe sich zu ihr wandten. Minerva brauchte einen Moment, bis sie das Mädchen als Narzissa Black erkannte, denn Gesicht und Hände waren übersät von rot leuchtenden Furunkeln und von ihrer Nasenspitze tropfte giftgrüner Zaubertrank. Offenbar war er direkt vor ihr explodiert.

Wie die meisten Kinder waren auch die Hogwartsschüler nicht sonderlich gut darin, ihre Freude angesichts gelungener Streiche zu verbergen, egal was sie sich einbildeten. Es genügte, den Blick über die Haustische wandern zu lassen, um zwei heftig kichernde Gryffindor-Mädchen ausfindig zu machen, die ebenfalls im fünften Jahr waren.

Mit einer Miene finster wie das Gewitter vom Vorabend, erhob Minerva sich und stapfte auf ihren Haustisch zu. Alles war besser, als Löcher in den Abendpropheten zu starren und da Horace Slughorn beim Abendessen mit Abwesenheit glänzte, war es an ihr, sich dieses Streiches anzunehmen. »Miss Vaughn, Miss Elscrombe, bitte folgen Sie mir.«

Das eben noch triumphierende Grinsen erstarb auf den Gesichtern der Mädchen. »Aber Professor! Wir haben nicht –«, hoben sie beide gleichzeitig an.

»Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn ich einen Blick in Ihre Taschen werfe, nicht wahr?«

Minerva sah zu, wie die Gesichter der beiden einfroren. Kleinlaut schlug eine von ihnen den Deckel ihrer ledernen Umhängetasche auf und in der Tat lag obenauf eine kleine Phiole, in der ein Rest giftgrüner Furunkeltrank schimmerte.

»Wunderbar. Dann dürfen Sie Professor Slughorn und mir gleich erklären, warum Sie es für geeignet halten, seine Zaubertränke an einer Schülerin seines Hauses zu missbrauchen.« Entschlossen schnappte sie sich die zwei Missetäterinnen, ebenso wie die jüngste Black-Tochter, die erfolglos versuchte, unbemerkt aus der großen Halle zu fliehen. Mit hängenden Köpfen trotteten die drei Mädchen ihr hinterher in die Kerker, zum Büro des Zaubertrankmeisters.

 

Horace Slughorn sah aus, als hätte er die Tür am liebsten sofort wieder zugeschlagen. Kein Wunder, immerhin hatte er erst vor wenigen Stunden ein ernstes Gespräch mit Minerva über den Vorfall vom Vormittag geführt. Beim Anblick der drei Schülerinnen hinter ihr verlor sein gewaltiger Schnauzer an Spannung und das gutmütige Lächeln, das er stets zur Schau trug, wich mit einem Seufzen von seinen Zügen. »Bei Merlins Bart, was ist jetzt wieder passiert?«, brummte er anstelle einer Begrüßung. »Kann man nicht einen Abend in Ruhe den Unterricht vorbereiten?«

Drei Stimmen erhoben sich gleichzeitig und riefen wütend ihre Sicht der Dinge durcheinander. Minerva und Horace tauschten einen langen, leidvollen Blick, ehe Minerva die Schülerinnen mit einer Handbewegung zum Schweigen brachte und vor sich her in den Kerker schob.

Hinter Horace brodelte es in allerlei Kesseln verschiedener Größe, aus denen dicke Schwaden das Gewölbe vernebelten. Was immer er braute, es roch nach frischem Pergament, einem regenfeuchten Garten und irgendetwas anderem, das Minerva verdächtig bekannt vorkam. Misstrauisch musterte sie das Durcheinander blubbernder Tränke, ehe sie sich wieder den Schülerinnen zuwandte.

Der Zaubertrankmeister machte sich unterdessen daran, eilig ein Gegenmittel für seine Schülerin zusammenzustellen, nachdem er sich ihre leuchtenden Pusteln besehen hatte.

»Professor – Narzissa hat selber Schuld! Bitte, Sie wissen doch genau, aus was für einer Familie sie kommt«, meldete sich erneut eine der Gryffindors zu Wort. »Ständig sieht sie auf uns herab und macht sich über uns lustig!«

»Setzen Sie sich!«, forderte Minerva unwirsch und ließ mit einem Schlenker ihres Zauberstabs drei Stühle erscheinen. »Und zwar alle! Es ist völlig egal, ob Miss Black Sie persönlich als Troll beleidigt hat oder sonst etwas, es rechtfertigt jedenfalls noch lange nicht, ihr einen Furunkeltrank unterzu-«

»Aber Professor!«, rief die Kleinere der beiden Gryffindors laut dazwischen, »Narzissa – sie ... sie hat darüber gelacht, was heute im Ministerium passiert ist! Kein Wunder, immerhin war ihre ganze Familie dabei, nicht wahr?« Wütend funkelte sie Narzissa Black direkt an.

Minerva schluckte ihre sorgsam zurechtgelegte Schimpftirade herunter. Insgeheim hatte sie sich oft genug über Mitglieder der Familie Black aufgeregt, erst heute Morgen im Ministerium. Aber sie durfte die Slytherinschülerin nicht vorverurteilen, selbst wenn dies ihr Leben als Hauslehrerin der Gryffindors nicht einfacher gestaltete. Im Gegenteil. »Miss Vaughn, beruhigen Sie –«

»Ich wette deine missratene Schwester hat mit dem Garottengas und den Erklingen zu tun! Ihr seid doch alle gleich – gleich krank! Haltet euch für etwas besseres, würdet über Leichen gehen –«

Bevor Minerva einschreiten konnte, schoss Narzissa Black bereits zurück. »Mach dich nicht lächerlich, Vaughn«, zischte sie. »Was kümmert irgendwen hier Bella? Du bist doch nur neidisch, weil sie dir den Freund ausgespannt hat.« Steif ließ das Mädchen sich auf einen der Stühle sinken, das blonde Haar wie einen schützenden Vorhang vor ihrem durch Furunkel entstellten Gesicht.

Die Feindinnen starrten einander aus funkelnden Augen an und Horace rief hastig: »Aber, aber, meine Damen, ich bitte Sie, das ist doch nun wirklich nicht nötig! Sie sind doch alle clevere junge Frauen, bestimmt können Sie Ihre, äh, privaten Probleme auch anderweitig beilegen ...«

Seine Worte stießen auf taube Ohren. »Tu nicht so unschuldig, Narzissa! Du weißt genau, dass meine Mutter im Ministerium arbeitet und jetzt im St. Mungo ist! Ich habe gehört, wie ihr Schlangen euch vorhin in der Bibliothek darüber lustig gemacht habt! Du bist genauso sadistisch wie Bellatrix!« Die Stimme der Gryffindor überschlug sich fast, so schnell spie sie die Worte aus. »Wahrscheinlich glaubst du auch noch diesen ‚Magie-ist-Macht‘-Unsinn, den dieser Lord Was-auch-immer seit Neustem verbreitet! Deine Schwester tut das jedenfalls, wenn ich mir die Bilder aus der Zeitung so ansehe!«

Horace zuckte zusammen. »Nun ... aber«, hob er an, wurde allerdings sogleich übergangen.

»Deine Mutter könnte mir nicht egaler sein, Vaughn. Also lass du auch meine Familie da raus, klar?« Narzissa Black sah in Richtung Boden, als würde das Gesprochene sie nicht im Mindesten interessieren.

Schon klappte die Angesprochene den Mund wieder auf, doch Minerva schenkte ihr einen Blick, der einem Drachen den Feueratem gefrieren lassen konnte. »Das reicht, Sie beide! Miss Vaughn, Miss Elscrombe, ich bin maßlos enttäuscht von Ihnen. Von zwei Schülerinnen meines Hauses hätte ich mehr Beherrschung erwartet. Ich verstehe, dass die Ereignisse des heutigen Tages Sie berechtigterweise aufgewühlt haben, aber –«, an dieser Stelle sah sie zu Horace entstellter Schülerin, »das ist weder ein Grund noch eine Entschuldigung für Ihren Angriff auf Miss Black, ganz gleich, was sie von anderen Mitgliedern Ihrer Familie halten oder was diese angeblich getan haben. Damit machen Sie sich kein Stück besser. Nachsitzen, für Sie beide. Professor Slughorn kann sicherlich jede Hilfe beim Schrubben der Kessel nach dem Unterricht nächste Woche gebrauchen, nicht wahr?«

Dankbar nickte Horace beflissentlich. »In der Tat, das erscheint mir, ähm, angemessen.«

Mit hochroten Gesichtern starrten die Schülerinnen Minerva an, als hätten sie Säuredrops geschluckt, die sich just in diesem Moment durch ihre Zungen ätzten. Sie wusste genau, was den beiden gerade durch den Kopf ging – mit Sicherheit Dinge wie ‚Ungerechtigkeit‘ und ein paar wenig schmeichelhafte Gedanken, doch damit konnte sie leben.

Unter genervtem Seufzen, aber immerhin mit einigermaßen betretenen Mienen, verließen die beiden Gryffindors schließlich den Kerker und ließen Narzissa Black alleine zurück. Das Mädchen saß weiterhin kerzengerade auf ihrem Stuhl, den Blick stur auf den steinernen Boden geheftet.

Weit weniger entschieden als zuvor, betrachtete Minerva sie. Was auch immer Cygnus Blacks jüngste Tochter gesagt – oder nicht gesagt – haben mochte, es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass sie eindeutig das Opfer des Streichs war. Damit hätte die Angelegenheit für Minerva erledigt sein sollen. Wenn da nicht die leidige Sache mit den Ausschreitungen im Ministerium gewesen wäre. Sie fühlte sich verpflichtet, etwas zu sagen.

Horace hatte inzwischen das Gegenmittel fertig gebraut und unter seinem Einsatz verwandelte sich die Kraterlandschaft von Narzissa Blacks Gesicht binnen weniger Sekunden zurück in ihr hübsches, aber bleiches Selbst.

»Miss Black«, sagte Minerva mit einem leisen Seufzen, »ich hoffe Sie wissen, dass Sie eine Wahl haben. Lassen Sie sich nicht für das Verurteilen, was andere zu verantworten haben. Und schließen Sie sich nicht dem Hass anderer an, nur weil das bequem erscheint. Beides ist keine Lösung.«

Zunächst schienen ihre Worte das Mädchen gar nicht zu erreichen. Sie saß grazil auf der Stuhlkante und beobachtete reglos, wie Horace Slughorn die Anti-Furunkel-Tinktur auf ihre verunstalteten Hände tröpfelte. Aber dann hob sie langsam das Kinn und Minerva sah den Trotz in ihren Augen funkeln.

»Ich glaube nicht, dass das irgendeine Rolle spielt«, erklärte sie beinahe gleichgültig. »Ich bin weder Andromeda noch Bella. Wen interessiert schon, wer ich bin oder was ich will

»Na na, Miss Black, sei’n Sie nicht so hart zu sich selber«, brummte Horace gutmütig und verarztete die letzten Furunkel mit der violetten Tinktur. »Sie sind eine ziemlich begabte junge Hexe, wenn ich das so sagen darf. Ganz andere Talente als Ihre werten Schwestern.« Hilfesuchend glitt sein Blick zu Minerva, die allerdings ebenso mit den Worten zu kämpfen hatte, wie er.

Unglücklich rang sie ihre Hände. Durch ihre Erinnerung hallte wieder die heisere Stimme von Rowle, die gehässige Stimme der unbekannten Entführerin. Sie konnte vielleicht nicht alle beschützen, aber wollte dennoch nichts unversucht lassen. »Professor Slughorn hat recht, Miss Black. Sie gehören zu den Besten in meiner Verwandlungsklasse, ganz anders als ihre Schwestern einst. Und das ist nur ein Beispiel. Sie haben eine Wahl, die nur Sie treffen können, auch wenn Sie die im Moment nicht sehen mögen. Denken Sie immer daran.«

»Das sagen Sie, aber Sie wissen nichts über meine Familie. Ich will ganz sicher nicht in Großonkel Marius’ Muggelhaus flüchten müssen, weil meine Mutter meint, mich genauso vom Stammbaum zu entfernen, wenn ich die Erwartungen nicht erfülle. Das übernimmt schon Andromeda.«

Staub schien Minervas Mund zu füllen, als sie nach Worten suchte. »Miss Black ... Sie wissen, dass alle Lehrer hier jederzeit ein offenes Ohr für Sie haben, ja? Wenn Sie etwas belastet, können Sie sich an jeden wenden ...«

Narzissa Black sagte nichts weiter, sondern nickte nur. Das Kinn in die Luft gereckt, stolzierte sie aus dem Kerker und Minerva sah ihr mit einem beklommenen Gefühl nach.

»Vielleicht solltest du sie im Auge behalten, Horace. Nur für den Fall ...«

»Minerva, sie ist ein gute Schülerin, anständig und immer bemüht.«

»Ich weiß. Deswegen sage ich ja – nur für den Fall.« Endlich fiel ein Teil der Anspannung von Minerva ab und sie lehnte sich erschöpft gegen einen der Tische, die Augen geschlossen. Der wohlriechende Dampf und die Wärme wirkten ihr Übriges. Am liebsten wäre sie an Ort und Stelle in einen traumlosen Schlaf verfallen.

»Vorsichtig mit dem Amortentia«, gluckste Horace vergnügt. »Nich’, dass du mir den verschüttest, den brauche ich morgen noch für meine UTZ-Schüler.«

Überrascht zuckte Minerva zusammen und rückte von dem Tisch ab. Zaubertränke war nie ihr liebstes Fach gewesen – ein Grund mehr, höchsten Respekt vor jedem zu haben, der derart gemeingefährliche Tränke so nebenbei braute. Man konnte nie wissen, was ein solches Mittel in den falschen Händen bewirkte.

Angesichts ihres Unwohlseins schmunzelte Horace. »Keine Sorge, das ist nur eine schwache Version, zu Demonstrationszwecken. Mehr als den individuellen, betörenden Duft werden die Schüler davon nicht mitbekommen.« Er zwinkerte. »Dem – oder der – Besten winkt nur eine winzige Phiole Felix Felicis.«

»Das könnte ich auch gebrauchen«, murmelte Minerva mit skeptischem Blick auf die blubbernden Kessel. »Vielleicht hat dann ja das ganze Chaos ein Ende.«

Horace’ Lächeln schwand langsam. »Immer noch keine Neuigkeiten von unserem verschwundenen Schüler?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nur eine Spur und doch keine Auflösung in Sicht ... Du hast nicht zufällig einen Trank, der einen zu einem Genie macht, das jede Art von magischem Code lösen kann?« Natürlich meinte sie die Frage nicht ernst, aber es half, ihrem Frust Luft zu machen.

Der Trankmeister strich sich über den gewaltigen Schnurrbart. »Ich fürchte, mehr als den üblichen Gripsschärfungstrank kann ich nicht bieten.«

»Schon gut.« Sie winkte ab.

»Aber immerhin weiß ich aus sicherer Quelle, dass du jemanden kennst, der sich hervorragend mit Verzauberungen und allerhand verschlüsselten Mysterien auskennt«, raunte Horace ihr mit einem Zwinkern zu. »Schließlich kenne ich euch beide noch aus dem Slug-Club zu eurer Schulzeit. Ähnlich brillanter Geist wie du, wenn ich das sagen darf.«

Minervas Augen weiteten sich mit Erkenntnis. »Natürlich ... Robbie!« Fast hätte sie sich die Hand vor die Stirn geschlagen. Warum war sie da nicht selber drauf gekommen? »Horace ... ich danke dir! Die Idee ist Koboldgold wert!«

Magie ist Macht

Es gab Angenehmeres, als auf nüchternen Magen zu apparieren. Doch wenn die Zeit drängte, war Frühstück das Erste, das optional wurde. Mit dem Knoten, den Minerva im Bauch trug, hätte sie vermutlich ohnehin nichts heruntergebracht, nicht einmal ein trockenes Toastbrot. Zu groß war die Nervosität, die sich mit der Sorge verbündet und es sich in ihrem Inneren schmerzlich bequem gemacht hatte.

Die Straßen Mayfairs waren an diesem Morgen glücklicherweise nicht allzu bevölkert. Für Touristen war es zu früh und die wenigen vorbeieilenden Leute auf dem Weg zur Arbeit hatten nur knappe Blicke für sie übrig. Mit ihrem hochgeschlossenen dunklen Kleid passte Minerva ausnahmsweise zu der Kulisse georgianischer Stadthäuser, die sich lückenlos aneinanderdrängten, eine geschlossene Front eleganter Steinfassaden mit weißen Fenstern und kleinen stuckverzierten Erkern, hin und wieder durchbrochen von einem Balkon hinter schmiedeisernem Gitter.

Sie wirkte ähnlich aus der Zeit gefallen wie der Prunk vergangener Jahrhunderte, aber so mochte sie es. Was immer die Muggel in den jüngsten Jahren für modisch erachteten, sie blieb ihrem schlichten Stil treu. Nur auf ihren Umhang hatte sie bei diesem Ausflug nach London in weiser Voraussicht verzichtet. Das Stadtvolk war einiges an ausgefallenen Personen gewohnt, aber es gab Grenzen dessen, was man ihnen zumuten konnte.

Minervas Füße trugen sie zielstrebig zu einem vornehmen Haus am Ende der Straße, mehr hoch denn breit. Nichts unterschied es von den anderen Gebäuden in der Reihe; nichts wies auf die Anwesenheit eines zaubernden Bewohners hin. Die Vorhänge hinter den schmalen Fenstern waren zugezogen, doch das war ohne Bedeutung. Nichtsdestotrotz warf sie einen hoffnungsvollen Blick nach oben und vielleicht schlug ihr Herz einen Ticken zu schnell, als sie unter das kleine Vordach in den Hauseingang trat.

Eine knarzende alte Holztreppe brachte sie in den dritten Stock, direkt vor die Eingangstür der gesuchten Wohnung. Entschlossen klingelte Minerva – und Stille antwortete ihr. Mit angehaltenem Atem wartete sie einige Augenblicke, während ihre Hoffnungen langsam dahinschwanden. Sie wollte gerade erneut klingeln, mehr aus Verzweiflung, denn aus tatsächlicher Annahme, dass ihr noch jemand öffnen würde, da hörte sie Schritte.

»Merlin sei dank!«, war das Erste, das ihr über die Lippen kam, kaum dass Elphinstone die Tür öffnete. Erleichterung durchflutete sie bei seinem offenbar unversehrten Anblick.

»Minerva ...« Verwundert musterte er sie, ganz so, als würde an ihrer statt ein zweigehörntes Einhorn im Hausflur stehen. »Du ... hier?«

Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, anscheinend hatte er genauso wenig Schlaf gefunden wie sie, allerdings aus anderen Gründen. Sein Gesicht mutete ebenso zerknittert an wie sein Hemd, das immer noch jenes vom gestrigen Tag war; im hellblonden Haar erkannte sie Reste des Aschenstaubs von ihrem unfreiwilligen Ausflug und ein Bartschatten lag auf seinen Wangen. Dennoch schafften seine grauen Augen es, bei ihrem Anblick förmlich aufzuleuchten, die Spuren einer viel zu langen Nacht geschmälert.

»Tut mir leid, dass ich hier einfach so auftauche, aber ich musste mich vergewissern, dass du hier bist.« Verunsichert rang sie die Hände.

Er schüttelte den Kopf und schien sich langsam bewusst zu werden, wo sie standen und dass sie durchaus real war. »Oh, nicht doch – Bitte, komm herein.«

Sie folgte ihm in den Wohnbereich, der genauso gut eines von Pomonas Gewächshäusern hätte sein können. Ein buntes Durcheinander an magischen Pflanzen rankte fröhlich vor sich hin, in kleinen Fläschchen auf der Fensterbank, in flachen Schalen von der Decke herabhängend oder in großen Töpfen überall im Zimmer verteilt. Was nicht von Gewächsen in Beschlag genommen worden war, bot Platz für Bücher, eine Sammlung, die durchaus als kleine Bibliothek durchging. Eigenartigerweise drängte sich Minerva der Gedanke an Horace’ gestrigen Trank auf, der einen ähnlichen Duft von Natur und Pergament verströmt hatte.

Unschlüssig standen sie und Elphinstone einander gegenüber, sie die Arme schützend vor der Körpermitte verschränkt, er die Hände in die Hosentaschen versenkt. Etwas in ihr drängte danach, ihn zu umarmen, doch sie blieb stattdessen vor dem kalten Kamin stehen.

Trotz ihrer jahrelangen Freundschaft hatte es sich selten ergeben, dass sie ihn in seiner Londoner Wohnung besuchte. Das letzte Mal lag Jahre zurück und da hatte sie ihn nur abgeholt. Ihre Treffen beschränkten sich meist auf Hogsmeade, insbesondere ihren Stammtisch bei Madam Puddifoots. Plötzlich kam sie sich vor wie ein Eindringling in eine fremde Welt.

Auf dem Kaminsims befand sich eine Handvoll Bilder in silbernen Rahmen, offenbar Familienaufnahmen. Vier Kinder, aufgereiht wie die Orgelpfeifen und allesamt in Hogwartsuniformen, standen winkend an einem Seeufer. Das Lächeln des einzigen Jungen an dritter Stelle war unbestreitbar dasselbe wie das des erwachsenen Elphinstone. Er hatte einen Arm um die Kleinste seiner Schwestern geschlungen, die im Gegensatz zu ihm das Wappen mit dem Dachs auf ihrem Umhang trug. Der Anblick erinnerte Minerva an ihre eigenen jüngeren Brüder.

»Alles in Ordnung?« Besorgt musterte Elphinstone sie. »Ist irgendetwas passiert?«

Ertappt löste sie den Blick von dem Bild. »Das sollte ich wohl eher dich fragen«, entgegnete sie leise. »Ich habe mir Sorgen gemacht, nach allem, was ich aus der Zeitung erfahren musste. Das Schlimmste, womit ich mich gestern noch herumgeschlagen habe, waren zwei aufmüpfige Schülerinnen.«

»Es tut mir so leid, Min.« Seufzend senkte er den Blick, doch sie schüttelte rasch den Kopf.

»Entschuldige dich nicht. Es ist ... Chaos. Hauptsache bei dir ist alles in Ordnung.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Das ist es doch, oder?«

»Jetzt schon«, erwiderte er mit einem sanften Nicken. »Die verfluchten Ausschreitungen haben die ganze Nacht angehalten. Ich bin quasi gerade erst nach Hause gekommen.« Niedergeschlagen deutete er zum Wohnzimmertisch, der unter Bergen an Pergamentstapeln, alten Tintenfässern und roten Ministeriumsakten verschwand, worauf wiederum eine Schleiereule thronte. »Ich war gerade im Begriff, dir eine eilige Nachricht mit dem Wichtigsten zu schicken. Wenn ich nicht der Ministerin hätte behilflich sein müssen, hätte ich mich eher gemeldet. Aber so ... habe ich es überhaupt nicht geschafft, irgendetwas herauszufinden. Edwards ist spurlos verschwunden und überhaupt ist alles schrecklich schief gelaufen.«

Minerva schluckte. »Das habe ich befürchtet. Deshalb habe ich auch eine Idee für einen – sagen wir Alternativplan – wie wir trotzdem an die Adresse kommen. Also genau genommen war es Horace, der mich auf die Idee gebracht hat.«

»Der alte Sluggy?« Elphinstone legte die Stirn in Falten.

Der Spitzname entlockte Minerva ein Schmunzeln. »Ja, genau der. Dank ihm hab ich eine Idee, wie wir ohne Edwards’ Hilfe den Code lösen können – lösen lassen besser gesagt. Ich werde mich darum kümmern. Du solltest vermutlich lieber eine Runde Schlaf nachholen. Aber ich wollte dich wenigstens informieren.«

»Ach was«, winkte Elphinstone ab, »damit lasse ich dich keinesfalls alleine. Wofür gibt es einen kleinen Muntermachtrank? Wenn ich etwas von meinem alten Hauslehrer gelernt habe, dann das. Vermutlich hat er stets gewusst, dass ich das fürs Überleben im Ministerium tagtäglich brauchen werde. Er war schon immer gut darin, jedem seiner ‚Lieblingsschüler‘ ein paar nützliche Geheimnisse für den persönlichen Erfolg an die Hand zu geben.« Er lächelte schief. »Nun, jetzt ist es definitiv zu spät, diese Berufswahl zu bedauern.«

Schon lief er in die Küche, wo er geräuschvoll zwischen lauter Glasfläschchen kramte. Die kurze Unterbrechung kam Minerva gelegen, war sie doch unsicher, was sie andernfalls hätte erwidern sollen. Immerhin war ihr gut – sehr gut – bewusst, dass man mit der regelmäßigen Einnahme solcher Tränke vorsichtig sein musste, um keine Herzprobleme zu riskieren. Und der Gedanke, dass Elphinstone dieser Gefahr ausgesetzt sein könnte, stach sie unerwartet fest.

Als er schließlich zurückkehrte und ihr eine kleine Phiole voll dunkelblauer Flüssigkeit reichte, nahm sie diese dennoch dankbar entgegen. Im Gegensatz zu ihren eigenen, lausigen Trankbraukünsten, traute sie den seinen deutlich mehr und nach der durchwachten Nacht konnte sie einen Weckruf gebrauchen. In Maßen schadete es ja nicht.

»Sieh es so«, seufzte sie, »ohne deinen Einsatz wäre das Ministerium ein gutes Stück weit weniger gewissenhaft. Anders als manche deiner Kollegen bist du der Gerechtigkeit wenigstens ehrlich verschrieben.« Sie stürzte den Trank in einem Schluck hinab, der sie schüttelte. »Und ohne das Ministerium wären wir einander vielleicht nie begegnet. Das wäre doch irgendwo bedauerlich. Du musst zugeben, es war nicht die schlimmste Zeit, als ich dich regelmäßig vor Mulcibers unmotivierten Schriftsätzen bewahrt habe.«

Elphinstone brachte den Trank mit deutlich mehr Routine hinunter. »Oh, wer weiß, vielleicht wäre ich ohne das Ministerium ein Kollege von dir geworden? Der überaus charmante Professor für Kräuterkunde aus Slytherin und die scharfsinnige Verwandlungsprofessorin sowie Hauslehrerin von Gryffindor, das hätte Potential für eine geradezu verbotene Geschichte.«

Sie täuschte ein Husten vor, doch die leichte Röte in ihren Wangen konnte sie nicht verbergen. »Das klingt wie die Handlung eines sehr billigen Romans.«

»Hey, das hast du jetzt gesagt!« Er ließ ein leises Glucksen hören. »Dabei bin ich ein Mann mit Werten! Ich würde selbstverständlich erst um deine Hand anhalten, so ... Wie viel steht es noch gleich?«

»Zehn Mal«, sagte sie mit hochgezogener Augenbraue.

»Danke. Also so zehn Mal würde ich fragen. Vielleicht ja auch elf –«

»Überleg dir das besser gut. Das Jahr ist noch nicht um.«

Gespielt nachdenklich legte Elphinstone eine Hand ans Kinn. »Gibt es irgendwo ein ungeschriebenes Gesetz, dass ich die Frage nur einmal im Jahr stellen darf?«

»Ich kann auch dafür sorgen, dass es ein geschriebenes Gesetz wird.«

Sie sahen einander schmunzelnd an und schließlich brachen sie beide in Lachen aus. Es war albern, aber in diesem Moment erleichterte es Minerva, dass sie immer noch so unbeschwert darüber scherzen konnten. In all dem Chaos befreite es ihr Gewissen, dass sie einen wahren Freund in ihm hatte. Trotz zehn Mal »Nein« aus ihrem Mund.

Gähnend streckte Elphinstone sich. »Na gut, Min, dann erzähl mir mal von deinem Vorhaben, wie wir ohne Edwards an die Adresse kommen. Ich hoffe, wir brechen nur eine Handvoll Gesetze, andernfalls kann ich mir bald doch Gedanken um eine Alternativkarriere machen.«

 

Die Winkelgasse war deutlich belebter als das gediegene Mayfair. Entlang der bunten Einkaufsstraße drängten sich Hexen und Zauberer in Grüppchen zusammen und wann immer Gesprächsfetzen zu Minerva hinüber wehten, erkannte sie vor allem ein Thema – die Ausschreitungen des gestrigen Tages.

Sie sah zu Elphinstone an ihrer Seite, der zum Glück nicht in offizieller Ministeriumsrolle unterwegs war, sondern in privater Kleidung, inzwischen deutlich weniger verstaubt und zerknittert. Er schien ebenfalls beunruhigt, doch für sie zeigte er ein aufmunterndes Lächeln.

Voll, wie die Gasse war, musste Minerva das ein oder andere Mal dem Drang widerstehen, fluchend jemanden beiseitezuschieben. Wie viele der Flanierenden mochten wohl gar bei den Demonstrationen dabei gewesen sein und sich nun wieder unbescholten geben? Sie traute der plappernden Menge kaum.

So schnell es die geschäftige Gegend erlaubte, drängte sie sich gefolgt von Elphinstone auf ihr Ziel zu, den schneeweißen Bau von Gringotts. Dort würden sie Robbie treffen und hoffentlich bald schon die Adresse von Jonathan Alditchs Entführern in den Händen halten, davon war sie überzeugt.

Bereits von weitem zeichnete sich jedoch ab, dass der Platz vor der Bank mit Menschen übersät war und schlussendlich verdichtete sich das Gedränge nur Meter davor zu einem Knoten, der ein Durchkommen unmöglich werden ließ. Laute, aber unverständliche Stimmen drangen über die Köpfe der Menge zu ihnen vor.

Minerva war schon bereit, wieder ihren Zauberstab zu ziehen und ein paar abgemilderte Schockzauber zu verteilen, doch Elphinstone gelang es weitaus einfacher, sich einen Weg zu bahnen. Mit der angestammten Autorität eines Ministeriumsbeamten, die ihm auch ohne marineblaue Robe innewohnte, und einigen sehr klaren Worten drängte er sich durch die Ansammlung, sodass sie ihm nur folgen brauchte. Wenigstens hier wog seine Position noch etwas.

Auf dem Vorplatz der Bank eröffnete sich ihnen allerdings ein Schauspiel, das eine unangenehme Überraschung barg. Die weißen Marmorstufen wurden von einer Gruppe in Beschlag genommen, die allesamt in vornehme Roben gekleidet waren und einen hochmütigen Gesichtsausdruck zur Schau trugen. Minerva erkannte Druella Black, Mutter ihres neusten Sorgenkindes Narzissa, unter den Anwesenden, einen Stapel Flugblätter in den bleichen Händen.

Doch die Aufmerksamkeit gehörte nicht ihr, sondern einem hochgewachsenen Zauberer mit breiten Schultern und aschblondem Haar, der offenbar im Begriff war, eine Rede zu halten – zumindest versuchte er es. Unterhalb von ihm, auf dem Kopfsteinpflaster, hatte sich eine Hexe in ministeriumsblauer Robe aufgebaut, die Hände energisch in die Hüften gestemmt. Nicht irgendeine Hexe, wie Minerva feststellte, sondern eine alte Bekannte.

»Pippa?«, entkam es ihr leise und sie tauschte einen überraschten Blick mit Elphinstone, der sie ebenfalls erkannt hatte.

Margarete – Spitzname Pippa – Jansson, Aurorin zweiten Grades, stand vor dem Treppenaufgang und schimpfte wie der Unflätigste aller Gartengnome auf den Redner ein. Bei dieser Wortwahl gab es kein Vertun – es handelte sich bei der zierlichen rotblonden Hexe um ihre ehemalige Arbeitskollegin. Deren Ausdruck hatte schon immer ... Kreativität bewiesen. Neben all dem Gefluche verstand Minerva etwas von »keine Genehmigung« und »Befragung«.

Ernst nahm Pippas Gegenüber sie freilich nicht. Er rollte nur mit den Augen, ehe er sich zu einer Erwiderung herabließ. »Werte Aurorin, beschäftigen Sie sich lieber mit den wirklichen Problemen unserer magischen Gesellschaft«, höhnte er für alle Umstehenden deutlich hörbar. »Magie ist Macht und Sie verschwenden die Ihre im Augenblick auf Lächerlichkeiten.«

Der Tonfall gefiel Minerva überhaupt nicht. Es erinnerte viel zu sehr an die Stimmung bei der gestrigen Ausschreitung. Elphinstone schien ähnlich zu denken, denn er schob den Umhang vor seinem Zauberstab zurück.

»Mr Rosier, ich wiederhole mich nur ungerne«, entgegnete Pippa derweil gleichermaßen kühl, »aber es würde uns allen einiges ersparen, wenn Sie mir jetzt freiwillig folgen würden. Das ist Ihre letzte Warnung! Ansonsten sehe ich mich gezwungen, Sie wegen Widerstand gegen eine ministerielle Anordnung festzunehmen.« Beiläufig schwenkte sie den Zauberstab in ihrer linken Hand. »Glauben Sie nicht, dass ich zimperlich mit Ihrem aufgeblasenen Trollarsch sein werde!«

»Reizend.« Rosier zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Sehen Sie, meine Damen und Herren – das Ministerium droht uns Gewalt an, obwohl alles, was wir uns zuschulden haben kommen lassen, eine fehlende ‚Genehmigung‘ ist.«

»Wenn es nur das wäre«, schnappte Pippa zurück. »Mr Rosier, es besteht der dringende Verdacht, dass Sie gestern maßgeblich an den Ausschreitungen im Ministerium beteiligt waren. Und wie sich vermutlich alle hier Anwesenden vorstellen können, hat die Aufklärung dieses Vorfalls oberste Priorität! Ob Sie hier derweil versuchen, den neuesten Haarglättungstrank zu verkaufen, oder was auch immer Sie gerade anpreisen wollen, ist mir persönlich herzlich egal.«

Leises Murmeln ging durch die Zuschauermenge und die Ersten verließen den Platz mit gesenkten Köpfen. Im Gegensatz dazu drängte es Minerva geradewegs, ihren Zauberstab zu ziehen. Dank Elphinstones Wachmachertrank war jegliche Apathie wie weggeblasen und wenn überhaupt erzitterten ihre Finger vor Tatendrang.

Völlig ausdruckslos trat Druella Black ein paar Schritte vor und warf ein Flugblatt in Richtung Pippa herab. Die Aurorin schenkte ihm keine Beachtung, sondern ließ es zu Boden segeln wie ein welkes Blatt. Auf die Schnelle erkannte Minerva nur die plakative Überschrift – Magie ist Macht.

Rosier lächelte schmallippig. »Es gibt nichts zu verkaufen. Wenn überhaupt, dann liegt uns etwas daran, der magischen Gemeinschaft einen neuen Weg aufzuzeigen, zu ihrer wahren Größe zu finden.« Bei diesen Worten schenkte er dem Publikum einen bedeutsamen Blick.

»Hören Sie sich eigentlich selber reden? Mr Rosier, ich nehme sie hiermit fe-«

Schneller als irgendwer gucken konnte, glitt Rosier der Zauberstab in die Hand. Größtenteils verborgen von seinem weiten Umhangärmel, hielt er ihn locker auf Pippa unter ihm gerichtet. Einige der verbliebenen Umstehenden, denen die Bewegung nicht entgangen war, ließen ein kollektives Luftschnappen hören und wichen einen Schritt zurück.

Feiglinge, dachte Minerva erzürnt. Schon lag der Zauberstab auch in ihrer Hand. Doch Elphinstone umfasste diese sanft und zog sie wieder runter.

»Minerva, nicht.« Mit diesen Worten schob er sich vor sie, geradewegs in den Ring aus Zuschauern. »Gideon, ich denke das reicht.«

Kaum merklich ließ Rosier den Zauberstab ein Stück sinken. Sein Blick wanderte nur langsam zu Minervas Begleiter, genauso wie der Pippas. »Ah, was für eine Überraschung, Elphinstone. Eigentlich nicht dein Aufgabengebiet hier, nicht wahr? Oder schulst du jetzt zum Auroren um?«

Pippa sah Elphinstone ebenfalls verwirrt an, doch sie nutzte die Ablenkung, um ihren eigenen Zauberstab unbemerkt auf Rosier zu richten.

»Ich denke nicht, dass das etwas zur Sache tut.« Elphinstone trat noch ein paar Schritte auf die Treppen zu, ehe er innehielt. Die leeren Hände hielt er betont lässig vor sich. »Immerhin ist es ein Mitglied meiner Abteilung, mit dem du hier offensichtlich eine Auseinandersetzung hast.«

In diesem Moment sprach vollkommen der Leiter der dritten Kammer für Strafverfolgung am Zaubergamot aus ihm. Minerva erkannte es an der Art, wie bedacht er mit Rosier redete; ihm offen zeigte, dass er nicht bewaffnet war. Eine gewaltfreie Lösung ist stets vorzuziehen, das war oberster Grundsatz aller Ermittlungen. Es hinderte sie nicht daran, den eigenen Zauberstab fester zu packen. Dann übernahm sie eben seine Rückendeckung. Sie löste sich aus der rasch schwindenden Menge und brachte sich hinter Elphinstone in Position.

Das schmallippige Grinsen breitete sich auf den Zügen Rosiers aus. Sein Blick huschte kurz zu ihr und betont lässig schob er den Zauberstab fort. »Ah, bitte entschuldige diesen bedauerlichen Umstand, Elphinstone. Aber du verstehst sicherlich, wie wichtig unsere Botschaft ist. Als alter Freund

Eine weitere unangenehme Überraschung. Minerva wusste, dass die Reinblüter allesamt eine eingeschworene Gemeinschaft waren, in der jeder jeden kannte, aber sie vergaß ebenso gerne, dass auch Elphinstone in diese Kreise hineingeboren worden war; mit vielen dieser Menschen die Schule besucht hatte.

Der schob die Hände in die Hosentaschen und zuckte mit den Schultern. »Was für eine Botschaft?«, fragte er Rosier und beäugte das zu Boden gefallene Flugblatt. »Magie ist Macht? Nein, ich fürchte, ich verstehe nicht. Ich verstehe aber wohl, dass Miss Jansson Order hat, dich für eine Befragung ins Ministerium zu bringen. Ich frage mich nur, wieso du nicht einfach mitgehst, wenn du doch davon überzeugt bist, dass du dir nichts zuschulden hast kommen lassen?«

Rund um Minerva zerstreuten sich die letzten Umstehenden. Offenbar wollte niemand etwas von einer Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und Ministerium wissen. Nicht nach gestern. Das schien auch Rosier zu begreifen und sobald er sein Publikum schwinden sah, schritt er gemessen die Marmorstufen hinab. Pippa ignorierte er dabei gänzlich, sondern hielt stattdessen direkt auf Elphinstone zu.

Geschwind überbrückte Minerva die restliche Distanz zwischen ihnen und stellte sich hinter ihren Freund. Den Zauberstab wandte sie nicht von Rosier ab. Dieser beachtete sie jedoch kaum, als er sich zu Elphinstone herunter neigte, der einen ganzen Kopf kleiner war.

»Natürlich werde ich Miss Janssons freundlicher Anweisung nachkommen. Keine Sorge. Nur ein nett gemeinter Rat, so von Schwager zu Schwager – du solltest bedenken, was du in deiner Position zu verantworten hast. Denk daran, wo du stehst, Elphinstone.« Das Lächeln auf seinen Lippen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass in seinem Blick die Kälte von unzähligen Wintern lag.

»Das sollte wohl nicht deine Sorge sein, Gideon. Denk lieber an Elladora und deinen Sohn.«

Einen Augenblick schien Rosier eine Erwiderung ausspucken zu wollen, doch da näherte sich von hinten Pippa. Mit einem übertrieben falschen Lächeln auf den rotgeschminkten Lippen strahlte sie den Mann an. »Wunderbar, wieso nicht gleich so?«, fragte sie, der bissige Vorwurf unüberhörbar. »Danke, Elphinstone. Dabei hatte ich mich schon darauf gefreut, ihm ein paar Manieren beizubringen.« Sie zwinkerte.

»Übertreib es nicht, Margarete.«

»Würde ich niemals.« Sie grinste in Minervas Richtung. »Hey, lange nicht gesehen! Wenn’s euch nichts ausmacht, bringe ich den hier«, sie deutete auf Gideon Rosier, »erstmal zu Mulciber, damit er ihn befragen kann, aber wir sollten uns späterdringend unterhalten, ja? Ich hab da ... was Interessantes gehört. Kommt einfach im Tropfenden Kessel rum, okay?« Noch einmal zwinkerte sie, dann packte sie den Festgenommenen deutlich kräftiger am Oberarm, als man ihrer zierlichen Statur zutrauen könnte und mit einem Ploppen verschwanden die beiden.

Oben auf den Stufen zu Gringotts hatten Druella Black und ihre Begleiter indes das Geschehen reglos verfolgt. Ein schmales Lächeln lag auf den Lippen der Hexe und Minerva brauchte einen Moment, bis sie den Grund für die Freude ihrer einstigen Schulkameradin erkannte. Die Flugblätter mit den hässlichen Worten »Magie ist Macht« schwebten in der Luft über dem Platz, getragen von einem stummen Zauber Druellas. In einem Wirbel disapparierten sie und Rosiers Gefolgsleute. Keine Sekunde nachdem der Schwebezauber so gebrochen wurde, ergriff der Wind die Pergamente und trieb sie hinaus auf die Winkelgasse.

Minerva zögerte nicht. Während die Blätter wie Laub im Herbststurm durch die Luft tanzten, hob sie den Zauberstab. Einem einzigen Gedanken folgend wurden aus unzähligen schwarz bedruckten Flugblättern bunte Schmetterlinge, die hastig flatternd über die Dächer ins London der Muggel entschwanden.

Gefälligkeiten

Verloren, angesichts der gewaltigen Macht aus Marmor, Gold und der rechten Prise uralter Magie, standen Minerva und Elphinstone wenig später im Foyer von Gringotts. Um sie herum herrschte geschäftiger, aber dennoch diskreter Betrieb. In der Zauberbank waren die Kobolde die höchste Instanz, ein Umstand, den sie voll auskosteten. Allein ihre grimmigen Blicke von den Emporen herab verlangten den Bittstellern unter ihnen Respekt ab. So war es wenig verwunderlich, dass man sie beide warten ließ, zumal sie sich nicht angekündigt hatten.

Minervas Aufmerksamkeit war ohnehin gefangen von dem Pergament in ihren Händen. Wiederholt las sie die Worte, die sich ihr schon nach dem ersten Mal eingebrannt hatten. Zeilen so voll von kaum verhülltem Hass, dass es ihr unerklärlich war, wie überhaupt jemand diese Botschaft hatte verbreiten können. Sie bereute kein bisschen, dass sie sämtliche von Druella Blacks Flugblättern in Schmetterlinge verwandelt hatte. Nur dieses eine, das unbeachtet von Pippa zu Boden gesegelt war, hatte der Zauber nicht eingeschlossen.

Sie verstand nun besser, warum ihre beiden Gryffindor-Schülerinnen so wütend gewesen waren, obwohl sie ihren Zorn an der Falschen ausgelassen hatten. Immerhin konnte Narzissa nichts für ihre Familie, selbst wenn der Apfel meist nicht weit vom Stamm fiel, wie die Muggel sagten.

Der knappe Text auf dem Flugblatt erzählte von niederen Muggeln, die Magie missbrauchen würden und vom angeblich reinen Blut, das es zu bewahren galt. Doch nicht nur das – aus den altbekannten Forderungen hatten sich konkrete Pläne erwachsen die ‚Unterdrückung‘ der Reinblüter endgültig zu beenden. Nach der Macht zu greifen. Ganz ohne Bescheidenheit verkündete dieser Lord Voldemort, dessen Name so präsent über allem stand, den Anbruch eines neuen Zeitalters. Grausamkeiten gekleidet in den Deckmantel vollmundiger Versprechungen einer strahlenden Zukunft, die sie anderen rauben würden, wie Minerva befand.

»Völlig übergeschnappt«, murmelte sie zum wiederholten Male und fing bereits erneut an, das reißerische Pamphlet unterhalb der nicht minder drastischen Überschrift ‚Magie ist Macht‘ zu lesen, immer noch in der Hoffnung, einen Funken Verstand zwischen den Zeilen zu finden.

Weit kam sie nicht, bevor Elphinstone ihr das Pergament bestimmt entzog. Überrascht hob sie den Blick und sah, wie er den Zauberstab darauf richtete. Er schnippte einmal und in einer blauen Stichflamme verging das Flugblatt.

»Hey, das war ein Beweis!«

»Beweis für was? Dass mein Schwager ein größenwahnsinniger Trollarsch ist?« Elphinstone lehnte an einer polierten Marmorsäule und schob unter den strengen Blicken des Sicherheitskobolds den Zauberstab zurück in den Umhang. »Das wusste ich vorher schon, seit meine liebe Schwester ausgerechnet ihn heiraten musste. Glaubst du ernsthaft dieser ... Wisch würde irgendwas daran ändern, dass Mulciber ihn nach einem Klaps auf die Finger wieder gehen lässt? Ich kenne die beiden lange genug.«

Ihre leeren Hände ballten sich zu Fäusten. »Wunderbar. Lass mich raten, alles alte Schulfreunde, wie jedes Mal, wenn es um die üblichen Kreise geht.«

»Ja«, sagte er ruhig. »Mulciber und Rosier waren bereits zu meiner Schulzeit sehr gut befreundet. Mir gefällt das genauso wenig wie dir, das kannst du mir glauben, nicht zuletzt weil meine Schwester involviert ist. Aber es bringt unserem Fall nichts, sich in diese Sache hineinzusteigern.«

»Und deswegen sehen wir jetzt einfach weg?« Es war, als hätte sich die Asche des Flugblattes auf Minervas Zunge gelegt. »Das ist nicht länger irgendein Spinnkram, der in kleinen Kreisen die Runde macht! Ich meine ...« Sie gestikulierte hilflos in die Luft, wo das Pergament soeben ins Nichts verbrannt war, »die arbeiten an einer Welt, in der sie ihre ‚Macht‘ ausüben können. Was meinst du, wie sie das durchsetzen werden? Mit netten Worten?«

Elphinstone verschränkte die Arme. »Ich bin mir durchaus bewusst, woran diese Leute sind und wie sie im Ministerium versuchen, ihren Einfluss auszuüben. Die Existenz dieses hasserfüllten Flugblattes alleine wird ihnen diesen Weg auch nicht versperren. Dafür sind es zu viele, die ähnliche Interessen teilen, wie zum Beispiel Mulciber.«

Minerva tat es ihm gleich und kreuzte ihre Arme vor der Brust. Sie sann noch darüber nach, wie sie ihrer angestauten Wut auf alles – das System, die Reinblüter – Luft machen sollte, als ein kleiner Kobold mit schlohweißem Haar an sie herantrat.

»Miss, Mr McGonagall wäre jetzt bereit, Sie zu empfangen«, verkündete er. »Wenn Sie mir folgen würden.«

Wortlos schlossen die beiden sich dem Bankier an, der sie von der imposanten Eingangshalle fort in das enge Gewirr aus Gängen und Büros im hinteren Teil der Bank führte. Überall drängten sich Kobolde und Minerva erhaschte sogar einen Blick auf ganze Karren voller Edelsteine so groß wie Hühnereier, die von ihnen gewissenhaft begutachtet wurden.

Nur wenige menschliche Angestellte arbeiteten hinter den Kulissen von Gringotts und einer davon war Robert McGonagall jr, in dessen winziges Büro sie der Kobold nun führte. Minervas jüngster Bruder hatte unbestreitbare Ähnlichkeit mit seiner Schwester, angefangen bei der Lesebrille und den schwarzen Haaren, doch abgesehen davon hatten die Geschwister wenig gemein. Robbie liebte die Arithmantik und überhaupt alles, was mit Zahlen zu tun hatte, anstelle der praktischen Zauberei, die Minerva so viel Freude bereitete. Am liebsten verbrachte er seine Zeit mit komplexen Berechnungen oder dem Lösen von Rätseln hinter dem Schreibtisch, an welchem er auch jetzt vorzufinden war.

»Schwesterherz!« Überrascht hob Robbie den Blick von einem Abakus, auf dem die bunten Kugeln sich in schier schwindelerregender Geschwindigkeit von alleine verschoben. »Was beim alten Merlin treibt dich hierher? Müsstest du nicht in Hogwarts sein?«

»Hallo Robbie. Tut mir leid, dass ich so unangekündigt hier hineinplatze. Ich wünschte, wir hätten Zeit zu plaudern, aber ich muss dich um etwas bitten. Eine dringende Bitte.«

Robbie zog skeptisch die Augenbrauen zusammen und warf einen vorsichtigen Blick auf Elphinstone, der sich im Hintergrund hielt. »Wenn das so ist ...«, murmelte er und schwang den Zauberstab, damit sich die Tür zu seiner kleinen Bürozelle hinter dem davonwackelnden Kobold schloss. »Minerva, was ist los? Und wer ist überhaupt dein Begleiter?«

»Ah, natürlich, entschuldigen Sie«, sprang Elphinstone geschwind ein, »Elphinstone Urquart, aus der Abteilung für magische Strafverfolgung.«

Zu Minervas Überraschung ergriff Robbie seine ausgestreckte Hand nicht, sondern verschränkte die Arme vor der Brust. »Hören Sie, wenn es wieder wegen der Sache mit den Artefakten aus Verlies 232 ist, dann muss ich Sie enttäuschen, es wird auch nichts nützen, meine Schwester da mit hereinzuziehen! Wie ich Ihrem Kollegen schon sagte, wenden Sie sich an den vorsitzenden Kobold oder –«

»Robbie, Robbie, warte mal! Ich hab keine Ahnung, wovon du redest, aber nein, darum geht es nicht. Falls du dich erinnerst, das ist mein ehemaliger Vorgesetzter.« Minerva zog den inzwischen arg knittrigen Auszug aus dem Flohnetzwerkregister hervor. »Du musst uns – mir – helfen, eine Verschlüsselung zu knacken.«

Zusehends verwirrter starrte Robbie auf das gefaltete Pergament, dann zu Elphinstone und schließlich erneut zu ihr. »Sag mal Schwesterherz, habe ich irgendwas verpasst? Arbeitest du jetzt wieder im Ministerium?«

»Nein. Ein Schüler ist entführt worden und – ach, es ist eine lange Geschichte, für die wir keine Zeit haben. Jedenfalls ist Elphinstone mir noch einen Gefallen schuldig, deshalb ist er hier.«

»Nicht nur deswegen«, murmelte Elphinstone von hinten halblaut, doch Minerva überging das.

»Wir haben eine Spur zu den Entführern, nur ist die Adresse magisch verschlüsselt. Die Zeit drängt, Robbie. Bitte. Ich weiß, du kannst sowas, bei all den komischen Artefakten, die du jeden Tag analysierst.«

Was folgte, war ein irritiertes Kopfschütteln. »Entführung? Und ihr ermittelt jetzt auf eigene Faust, verstehe ich das richtig? Minerva, das ...« In Ermanglung weiterer Worte schüttelte Robbie nochmals den Kopf.

»Wenn du so willst, ja. Ich erkläre dir später alles, okay?«

Ihr Bruder stieß einen langgezogenen Seufzer aus. »Du und dein alter Vorgesetzter also, wirklich Schwesterherz?«, raunte er ihr mit gesenkter Stimme zu. »Hältst du das für eine kluge Idee? Ich meine ... hängst du nicht immer noch an diesem netten Muggel? Wie heißt er noch? Dougal?«

»Halt die Klappe Robbie.« Ungeduldig wedelte Minerva mit dem Pergament. Sie hätte ihrem Bruder gegenüber nie ihr Pech mit Heiratsanträgen erwähnen sollen, egal, wie unglücklich er gewesen war, als seine heutige Frau den ersten Antrag abgelehnt hatte. Inzwischen waren die beiden ja doch glücklich und sie durfte seine brüderlichen Sticheleien ertragen. »Hilfst du mir jetzt oder nicht?«

»Zeig her«, entgegnete Robbie und zog den Auszug aus ihren Fingern.

»Danke.«

»Dank mir noch nicht«, murmelte er, während er konzentriert die Zahlenfolge überflog. »Das zu brechen wird dauern ... das ist ...« Er ließ das Pergament sinken. »Bekomme ich Ärger mit dem Gesetz, wenn ich dir helfe?«

Unruhig trat Minerva von einem Bein auf das andere. »Robbie ...«

Aber ihr Bruder sah geradewegs an ihr vorbei zu Elphinstone. »Das ist eine ministeriumseigene Verschlüsselung«, stellte er fest. »Also?«

Elphinstone, der sich neugierig Roberts spärlicher Bürodekoration gewidmet hatte, während die Geschwister sich beharkten, hob die Schultern. »Nicht, wenn ich es verhindern kann. Aber ich beschönige nicht, dass wir uns hier am Rande der Legalität bewegen. Leider kann man sich auf die Funktion der ministeriellen Abläufe im Moment nicht verlassen, Mr McGonagall. Dementsprechend vertraue ich auf Minervas Vorschlag.«

»Robbie«, zischte Minerva und lehnte sich über den Abakus hinweg auf seinen Schreibtisch, »ein unschuldiger Elfjähriger ist von irgendwelchen Reinblut-Fanatikern entführt worden! Hast du dich mal umgeschaut, was überall um uns herum passiert?« Sie wünschte, das Faltblatt wäre noch da, um es ihm auf den Tisch zu klatschen. »Bitte hilf uns. Ich weiß nicht, wen wir sonst fragen könnten.«

Ihr Bruder seufzte. »Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwelche Leute auf dem Platz draußen stehen und ihre Botschaften in die Welt hinausschreien. Natürlich gefällt mir das nicht! Aber Schwesterherz, ich hoffe, du weißt, was du tust.«

Sie biss sich auf die Lippe. »Mach dir darum keine Gedanken. Ich passe schon auf.«

»Gut. Ich kann leider nichts versprechen. Es wird dauern, diesen Code zu knacken, das ist eine echte Herausforderung. Mit dem entsprechenden Schlüsselzauber wäre es im Handumdrehen erledigt, aber diesen Luxus haben wir natürlich nicht. Gib mir ... einen Tag. Mindestens.«

»Danke Robbie. Tausend Dank –«

Er lehnte sich vor und griff nach ihrem Handgelenk. »Pass auf dich auf, hörst du? Ich meine es ernst. Stürz dich nicht in irgendwas hinein, das zu groß für dich ist.«

»Du kennst mich.«

»Eben deswegen.«

 

Trübsinnig starrte Minerva in die Tiefen ihres Kürbissaftes. Auch wenn das Frühstück ausgefallen war, empfand sie keinen Appetit. Im Gegenteil, die Gerüche des Tropfenden Kessels sorgten eher dafür, dass sich ihr Magen weiter zusammenzog. Das Letzte, was sie jetzt wollte, war eine der berühmten Haussuppen.

»Ich muss gestehen, ich bin etwas neugierig.«

Sie hob den Kopf. Ihr gegenüber in der dunklen Nische des Pubs, wo sie auf Pippa warteten, saß Elphinstone und musterte die träge Vormittagskundschaft. Seine Finger trommelten einen beständigen Rhythmus auf die Tischplatte, ansonsten wirkte er völlig unbewegt. Seit dem Besuch bei Gringotts war er schweigsam, doch das war ihr recht. Ihre eigenen Gedanken waren laut genug.

»Was denn?«, fragte sie lustlos.

»Wer ist Dougal?«

Innerlich verfluchte sie Robbie für seine unbedachte Äußerung. Warum hatte er davon anfangen müssen? »Können wir von etwas anderem reden?«

Elphinstone hob die Augenbrauen, ohne sie anzusehen. »Tut mir leid. Ich dachte nur ... wenn es da jemanden gibt, Minerva, dann kannst du das ruhig sagen. Das verstehe ich. Du bist mir zu nichts verpflichtet, das weißt du hoffentlich.«

Oh, sie würde Robbie noch umbringen! Bisher hatte sie alles, was ihre unglückliche Liebe zu Dougal McGregor betraf, erfolgreich mit der Schachtel voller alter Briefe unter ihrem Bett vergraben, fern von anderen und insbesondere sich selbst.

»Mein Bruder erzählt nur Unsinn.« Sie ließ ihren Zeigefinger Kreise auf dem Rand ihres Glases beschreiben. »Das ... ist Vergangenheit. Wir waren mal verlobt, als wir jung und dumm waren, aber es sollte nicht sein.«

»Sag nicht, dass er dich verlassen hat.«

Sie umfasste das Glas fester. Insgeheim rührte diese Mischung aus Sorge und Empörung in seiner Stimme sie. »Nein. Ich bin gegangen. Ins Ministerium. Jetzt hat er eine glückliche Familie, damit ist das Thema erledigt. Robbie zieht mich nur gerne damit auf. Geschwister halt.«

Was immer Elphinstone von ihrer Antwort hielt, aus seinem Gesicht ließ es sich nicht lesen. Den Blick weiter in den Raum gerichtet, lachte er trocken auf. »Wer Geschwister hat, braucht keine Feinde mehr, nicht wahr?«

»Manchmal ja. Trotzdem liebe ich Robbie und Malcolm.«

»Ich weiß, was du meinst. Elladora, Egwynn und Eilean können jede auf ihre eigene Art unerträglich sein, aber am Ende verzeiht man ihnen ja doch wieder.«

Minerva hielt inne. Sie wusste eigentlich nicht viel über Elphinstones Familie. Das war selten eines ihrer Gesprächsthemen gewesen, obwohl sie das ein oder andere Mal von ihren Brüdern erzählt hatte und er im Gegenzug Erinnerungen an seine Schwestern geteilt hatte. Sie hoffte, nicht direkt den Zauberstab in die Wunde zu legen, doch nun war es an ihr, neugierig zu sein.

»Jetzt hab ich allerdings auch eine Frage. Wie kommt es, dass eine von ihnen ausgerechnet jemanden wie Rosier geheiratet hat?«

Das Trommeln seiner Finger hörte abrupt auf. Für einen Moment verharrten sie reglos in der Luft, dann schloss er seine Hand zur Faust. »Wenn ich das wüsste ... Elladora ist kein schlechter Mensch. Was sie an Gideon Rosier findet, keine Ahnung. Sein Geld wird es nicht sein, damit ist meine Familie ausreichend versorgt. Vermutlich ist es irgendetwas, das sich meinem Verstand entzieht. Vielleicht dachte sie auch, als Älteste müsse sie der Familie einen Gefallen tun und sich einen angesehenen Reinblüter suchen. Die Auswahl ist ja nicht gerade groß.«

»Hat sie das denn – deiner Familie einen Gefallen getan?«

»Wenn ich mir den Vorfall heute ansehe, dann auf jeden Fall nicht.«

Elphinstone löste den Blick vom Innenraum des Pubs und wandte sich ihr zu. Über den Tisch hinweg streckte er seine Hand nach ihr aus und zögerlich ergriff sie diese.

»Hör zu, es tut mir leid, wie das alles gelaufen ist. Aus meiner privilegierten Position kann ich nur erahnen, wie sich das für dich anfühlt. Aber ich verspreche dir, dass ich nicht wegsehen werde, Minerva. Selbst wenn es Leute betrifft, die mir nahestehen. Ich will besser sein als das.«

»Phin, du ...«, hob sie an, da vernahm sie das Geräusch klappernder Absätze, die sich ihrem Tisch näherten.

Als hätte sie sich verbrannt, zog sie die Hand zurück, gerade noch rechtzeitig, bevor sie Pippa Jansson sah, die mit einem Glas Goldlackwasser auf sie zuhielt. Die zierliche Aurorin war nicht alleine. Wie ein Schatten folgte ihr ausgerechnet Alston Mulciber. Dem war Minervas Bewegung offenbar nicht entgangen, denn ihm lag bereits wieder ein spöttisches Lächeln auf den Lippen.

Auch Elphinstone bemerkte die beiden und seine Miene verhärtete sich. Nur langsam wanderte seine Hand zurück zum Glas und er straffte die Schultern. »Was für eine Freude, dass du noch Besuch mitbringst«, begrüßte er Pippa steif.

Die ließ sich davon allerdings nicht abschrecken, sondern schenkte ihm ein breites Lächeln. »Oh wunderbar, es freut mich, dass ihr es einrichten konntet«, flötete sie gutgelaunt und schob sich neben Minerva auf die Sitzbank, sodass diese in eine Wolke aus Glockenblumenduft eingehüllt wurde. »Fast wie in alten Zeiten, als Team! Ist das nicht toll?«

Mulciber dagegen deutete nur ein Nicken an und ließ sich an der Stirnseite des Tisches nieder. »Bei Merlin, Margarete, noch etwas mehr gute Laune und man könnte meinen, du hättest einen ganzen Jahresvorrat Felix Felicis intus.«

Er sah ähnlich müde aus wie Elphinstone Stunden zuvor. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, die seine düstere Ausstrahlung verstärkten. Es freute Minerva, dass seine Nacht offenbar ebenfalls mies verlaufen war.

Pippa wedelte Mulcibers Bemerkung unwirsch fort. »Ja ja, Alston, nur weil du das Gemüt eines Trolls im Ballettröckchen hast, musst du nicht gleich unfreundlich werden. Wir haben eine Mission, nicht vergessen!«

»Ich wusste gar nicht, dass eine Aurorin jetzt meine Vorgesetzte ist«, erwiderte Mulciber unbekümmert. »Bis gestern meinte ich doch glatt, es wäre andersrum und wir Strafverfolger hätten das Sagen.«

»Du bist nicht mein Vorgesetzter, nur ein Weisungsbefugter, das ist ein Unterschied, frag Moody –«

Bevor Pippa weitere Spitzen verteilte, hob Elphinstone die Hand und räusperte sich. »Also schön, was ist der eigentliche Grund, weshalb du uns her bestellt hast? Ich nehme mal nicht an, dass wir euren Streitereien zuhören sollen.«

»Natürlich nicht.« Geschwind zückte Pippa ihren Zauberstab und beschrieb einen Kreis in der Luft über ihrem Tisch, ein paar leise Banne murmelnd. »Sicher ist sicher, auch wenn pikante Informationen sich immer noch am besten an belebten Orten austauschen lassen. Also: Alston hat mich gestern von dem Vorfall in der Flohzentrale informiert und ich hab mich mal dahintergeklemmt. Et voilà – meine Kollegen ersten Grades haben tatsächlich einen Kerl festnehmen können, der anscheinend in der Flohzentrale von einem riesenhaften Erkling zusammengeschlagen wurde. Von weiteren Eindringlingen fehlte zwar jede Spur, aber den armen Kerl haben sie zurückgelassen.«

Minervas Ohren nahmen ein dezentes Pink an, als sie an den grobschlächtigen Typen dachte, den sie gestern mit ihrem kleinen Zaubertrick äußerst unsanft ins Land der Träume befördert hatte. Selbst Mulciber sah amüsiert aus bei der Erinnerung daran.

»Jedenfalls konnte ich den ollen Moody bestechen, damit er mich zum Verhör zulässt. Zu Ausbildungszwecken und so, immerhin steht bald meine letzte Prüfung für den Aufstieg zum ersten Aurorengrad an. Und jetzt kommt’s!« Pippa schnippte mit den Fingern. »Der Typ war komplett obliviert. Der Zauber wurde ziemlich dreckig ausgeführt, wahrscheinlich in großer Hast – ein Wunder, dass er sich nicht auf den Umhang gesabbert hat!«

Enttäuscht sackten Minervas Schultern nach unten. »Das ist doch Drachenmist!«, fluchte sie leise.

»Oh hey Minnie, nicht so schnell mit der Enttäuschung!« Selbstzufrieden lehnte Pippa sich zurück und nahm einen Schluck Goldlackwasser. »Als wenn ich mich davon aufhalten lasse. Nachdem wir das Ministerium gestern Nacht gesichert hatten, habe ich mir erlaubt mit unserem Verhafteten einen kleinen Abstecher in Alstons Büro zu machen, bevor ich ihn in seine neue Arrestzelle gebracht habe.«

Elphinstone musterte die Aurorin mit gerunzelter Stirn. »Wird mir gefallen, in welche Richtung diese Geschichte geht?«

»Vermutlich nicht«, antwortete Mulciber und zuckte lapidar mit den Schultern. »Um eine sehr lange Geschichte abzukürzen – ich habe ihn um eine kleine, aber feine Erinnerung aus dem intakten Unterbewusstsein erleichtert. Ihr könnt mir später danken.«

Einen Augenblick herrschte allumfassendes Schweigen am Tisch. Sowohl Elphinstone als auch Minerva stierten ungläubig Mulciber an, der eine kleine Phiole aus dem Umhang zog, gefüllt mit einem blauen Schleier.

Minerva presste die Lippen fest aufeinander. Die Erinnerungen eines anderen gegen dessen Willen zu erlangen, war ohne Frage eine Grenzüberschreitung, die nicht umsonst unter Strafe stand, genauso wie Veritaserum. Vor allem, wenn dieser jemand sich nicht dagegen wehren konnte, dass ein Fremder gewaltsam in seinen Geist einbrach und sich nahm, was er wollte.

»Und was ist jetzt mit dem Mann?«, fragte sie entsetzt.

Pippa neben ihr runzelte die Stirn. »Er sitzt in der Arrestzelle und wartet darauf, dass sein Gedächtnis zurückkommt, was sonst? Wenn wir ihm erstmal den Prozess gemacht haben, landet er in Askaban. Zerstörung der Flohzentrale, das wird man ihm anlasten können.«

»Immer ruhig, McGonagall. Ich habe seinen Verstand schon nicht auseinandergepflückt. Meine Methoden der Legilimentik kennen mehr Raffinesse als das«, versicherte Mulciber ihr. »Er wird nicht einmal wissen, was ihm fehlt.«

Trotz seiner Worte blieb ein sauerer Nachgeschmack, den auch ein Schluck Kürbissaft nicht davontragen konnte. Minerva gingen viele Erwiderungen durch den Sinn, aber keine schaffte es über ihre Lippen. Das war alles, weswegen sie dem Ministerium den Rücken gekehrt hatte; die geballte Ungerechtigkeit eines Systems, das die Menschen eigentlich schützen sollte.

»Nun«, wandte Pippa sich strahlend in die Runde, »das ist großartig, nicht wahr?«

Doch Elphinstone ignorierte sie und drehte sich stattdessen zu Mulciber. »Warum? Gestern noch war die Sache dir egal und jetzt brichst du das Gesetz dafür? Für ein Muggelleben, wie du es ausgedrückt hast?«

»Nun, umsonst ist nichts im Leben, nicht wahr?« Mulciber schlug die Hände gegeneinander. »Ich bringe nur ungern unser ‚Traumpaar‘ auseinander, aber McGonagall wird es schon alleine schaffen, den Nutzen aus dieser Erinnerung zu ziehen, Urquart. Die Ordnung im Lande wird sich allerdings nicht von alleine wiederherstellen. Ich denke, es wäre nicht zu viel verlangt, dass ich im Gegenzug heute auf deine Unterstützung bauen kann, ein paar Fälle mit unschuldigen Demonstranten abzuschließen. Nicht, dass am Ende der Ministerin noch auffällt, dass du in deiner Arbeitszeit lieber Detektiv spielst.«

»So unschuldig wie Gideon Rosier es ist?« Elphinstone schlang die Hand so fest um sein Glas, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Pòg mo Thòin«, stieß er mit Nachdruck hervor.

Angesichts der gälischen Verwünschung lachte Minerva freudlos auf. Mulciber hingegen zog nur die Augenbrauen hoch, verstand er doch bloß, dass er gerade von einem Schotten beleidigt worden war, nicht wie. Er hatte es verdient, befand sie. Es war noch nett ausgedrückt, dass er sie mal Allerwertesten konnte.

»Na na, Urquart immerhin bist du derjenige, der mich so gerne an unsere Eidespflichten erinnert, was die Verteidigung von Recht und Ordnung angeht. Wir wollen doch fair bleiben, auch bei Gideon. Und bis eure Kontaktperson in Gringotts euch die Adresse nennen kann, habt ihr eh nichts weiter zu erledigen.«

Minerva war sicher, dass Mulciber sich innerlich selber applaudierte. Wie hatte er bloß erraten, was sie so früh morgens zur Bank verschlagen hatte? War Pippa schuld? Die Aurorin nippte entspannt an ihrem Goldlackwasser und schien gar nicht mitzubekommen, welche Androhungen ihr Vorgesetzter aussprach.

Sorge um Robbie ergriff Minerva. Doch der wissende Blick Mulcibers verriet ihr, dass alles leugnen ihn nicht schützen würde. Ihr Gegenüber wusste längst Bescheid. Sie waren genau dort, wo er sie haben wollte.

»Niemand wird über deinen Gesetzesübertritt reden, wenn du nicht über meinen redest«, erwiderte sie mit einem falschen Lächeln in seine Richtung. Dass sie sein Vergehen ungleich schlimmer fand, schluckte sie hinunter. Robbie zuliebe.

»Ich wusste, wir verstehen uns, McGonagall. Sehr schön. Urquart?«

»Wie du meinst, Mulciber. Aber erwarte nicht meinen Dank.«

Mit sachtem Schwung rollte Mulciber die Phiole über den Tisch zu Minerva. Das Glas war kalt unter ihren Fingern und obwohl der erste Eindruck leicht wirkte, wog das Wissen um den Inhalt schwer, als sie diese sorgsam verstaute. Die Erinnerung eines anderen zu sehen, wäre für gewöhnlich ein großer Vertrauensbeweis. Es gefiel ihr nicht im Mindesten, sich an diesem Verbrechen zu beteiligen. Hoffentlich würden sich wenigstens die Informationen dahinter lohnen.

Pippa lächelte ihr aufmunternd zu, sich offenbar keiner Schuld bewusst. »Ich hoffe, wir sehen uns bald mal wieder. Spätestens wenn ich meine Prüfung zum ersten Aurorengrad abgelegt habe, müssen wir alle feiern, ja?«

»Klar«, entgegnete Minerva schwach. Ihr Blick galt allerdings nur Elphinstone, dessen Grimasse ein Spiegelbild ihrer Gefühle war. »Wir sehen uns bald wieder.«

Er nickte kaum merklich.

Durch den Nebel

Das Büro des Schulleiters war vollkommen ruhig. Keine seiner goldenen Gerätschaften surrte oder zischte und die Porträts an den Wänden schützten tiefen Schlaf vor, als stünde die Welt in Abwesenheit von Albus Dumbledore still. Die einzigen Geräusche drangen vom weit entfernten Schulgelände hinauf, wo die Kinder ihre Mittagspause am großen See unter den letzten Strahlen einer müden Herbstsonne verbrachten.

Was hätte Minerva darum gegeben, ebenfalls dort draußen zu sein. Doch vor ihr lag das kalte Steinbecken des Denkariums, dessen runenverzierten Rand ihre Finger umklammerten. Wenn sie ganz ehrlich war, dann graute es ihr davor, weiterzumachen. Bedenken angesichts der Geschehnisse, die Mulcibers gestohlene Erinnerung bereithielt – welche Wahrheiten sie enthüllen könnte – erfüllten sie.

Sie sah hinab in die wirbelnden Gedankenfetzen, weder vollkommen Gas noch Flüssigkeit. Ihr wurde klar, dass sie nicht einmal wusste, wie der Zauberer hieß, in dessen Welt sie gleich treten würde. Nach dem Oblivierungszauber wusste er das wahrscheinlich selber nicht mehr. Das war von Anfang bis Ende falsch.

Hinter ihr trillerte Fawkes auf seiner Vogelstange leise, wie eine Aufforderung an sie, sich endlich der Erinnerung zu stellen. Der Phönix hatte sie seit dem Betreten des Büros genau betrachtet, als wüsste er, was sie da tat. Vermutlich lag die Wahrheit nicht so weit entfernt, immerhin war er kein gewöhnliches Tier. Solange der Schulleiter nicht da war, musste sie wohl auf die Weisheit seines Gefährten vertrauen. Wie schlimm konnte es schon werden?

Minerva holte ein letztes Mal tief Luft, dann tauchte sie in das Denkarium ab. Noch bevor ihre Füße den Halt wiedererlangten, bemerkte sie den Nebel. Dünne Schwaden, die sich zu allen Seiten erstreckten, durch die Grenzen des Raums brachen und die Szene wie ein ausgeblichenes Foto wirken ließen; farb- und kraftlos. Es wirkte kein bisschen wie das Stück überzeugender Realität, das die Erinnerungen sonst erschufen. Unter all diesen Eindrücken dauerte es einen Moment, ehe es ihr gelang, die Umgebung einzuordnen.

Sie befand sich innen, offenbar in einer Art Wohnzimmer. Zumindest legten die Sofas, der Kamin und ein klobiger Fernseher das nahe. Fernseher? Verwundert musterte Minerva die Muggeltechnologie, die sie selber nur aus dem elterlichen Haus kannte. Allem Anschein nach war das hier ein Muggelhaushalt, allerdings nicht jener der Alditchs.

Der Teppichboden unter Minervas Füßen schwankte gefährlich und Übelkeit kroch in ihr herauf. Eine Erinnerung wie diese hatte sie noch nie erlebt. Nicht, dass sie viel Zeit in der unveränderlichen Vergangenheit verbrachte, immerhin nannte sie kein Denkarium ihr eigen. Aber für gewöhnlich waren Erinnerung nicht so ... unbeständig wie diese. Lag das daran, wie gewaltsam Mulciber diesen Gedanken erlangt hatte, oder generell an dem Oblivierungszauber?

Stimmen drangen zu ihr vor, dumpf und träge, als steckte sie mit dem Kopf unter Wasser. Auf der Suche nach dem Ursprung schnellte sie herum und unweigerlich tastete ihre Hand sich zum Zauberstab. Im gleichen Atemzug hätte sie sich selber für diese Schreckhaftigkeit auslachen mögen.

Hinter ihr befanden sich zwei Zauberer in schlichten, dunklen Roben. Auch wenn der Nebel alles auszehrte, konnte sie Rowle und den namenlosen Inhaber dieser Erinnerung ausmachen. Letzterer hatte sich in einen Sessel gefläzt, die Füße auf einen kleinen Beistelltisch gelegt und drehte bedrohlich den Zauberstab durch seine dicken Finger.

»... So ein elender Trottel!«, schalt er Rowle. »Hast du eine Ahnung, wie schwer es war, diese Schoten zu besorgen und an der Grenzkontrolle vorbeizuschaffen? Wir können es uns nicht leisten, die Dinger überall zu verlieren! Ganz zu schweigen davon, dass unsere Kontaktperson überhaupt nicht begeistert sein wird, wenn jemand die Spur zu ihr zurückverfolgt!«

»Du hast doch selbst gesagt, die Muggelpolizei kümmert sich jetzt um den Vermisstenfall. Als wenn die irgendwas damit anfangen könnten! Im besten Fall explodiert sie denen unter den Fingern!«

»Was das Ministerium wiederum aufmerksam machen würde! Wenn du nicht vorsichtiger bist, Rowle, hat sich diese Sache bald für dich erledigt. Wir können niemanden gebrauchen, der nicht bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.«

Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Gesichtszüge verschwammen bei jeder Bewegung wie ein Spiegelbild auf bewegtem Wasser, doch Minerva war ziemlich sicher, dass er es nicht schlicht hinnahm, gerade gemaßregelt worden zu sein. Sie kannte diese steile Falten zwischen seinen Augenbrauen und die trotzige Stille.

»Kein Wort gleich über die verlorene Finsternisschote«, wies ihn der andere Zauberer an. »Am besten redest du überhaupt nicht, solange sie hier ist! Du bist bloß anwesend, weil du dich um den Zauber kümmern wirst, kapiert? Alles Weitere ist mir egal.«

»Wie du meinst.«

Rowle lehnte sich gegen ein Bücherregal, dessen Inhalt Minerva nach einem sorgsamen Blick als reine Muggelliteratur erkannte. Wo immer sie sich aufhielten, es sah nicht wie das Heim von Magiebegabten aus, noch dazu solchen, die sich gerne mit ihren Fähigkeiten brüsteten. Tarnung? Oder hatten sie etwa weitere Muggel überfallen? Aber selbst die Entführer wären kaum so dämlich, an einem Tatort zu bleiben ...

Hinter ihr erwachte knisternd das Kaminfeuer zum Leben. Eilig wandte Minerva sich von den Regalbrettern voller Abenteuergeschichten ab. Grüne Flohpulverflammen stieben aus den Holzscheiten und keine Sekunde später stieg eine blonde Hexe über den Kaminrost, einen Rest Asche von ihrem vornehmen Umhang schüttelnd. Ihr Haar war zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur aufgetürmt und behängt mit auffälligem Goldschmuck erschien sie wie das Musterbeispiel einer noblen Reinblüterin aus guter Familie, bis hinein in die Fingerspitzen, die in eleganten Drachenlederhandschuhen steckten.

Ihre fein geschnittene Züge verschwommen ähnlich wie Rowles stetig und doch erkannte Minerva etwas in ihnen wieder. Sie kniff die Lider zusammen und konzentrierte sich alleine auf die Frau. Irgendetwas an der Art, wie ihre hellen Augen wachsam den Raum untersuchten, war eigenartig vertraut.

Der Zauberer, dessen Erinnerung sie beiwohnte, erhob sich aus seinem Sessel und lief auf seine Besucherin zu. »Ah, Elladora meine Liebe. Schön, dass du hergefunden hast«, grüßte er sie und ergriff beinahe unterwürfig ihre Hand.

Der Name – das konnte unmöglich ein Zufall sein. Und jetzt begriff Minerva auch, welche Ähnlichkeit sie wiedererkannte. Jene zu dem Foto von Elphinstone und seinen Schwestern, das sie erst diesen Morgen gesehen hatte. Zu einem fröhlich lächelnden Mädchen, von dem sie jetzt wusste, dass es ausgerechnet Gideon Rosier geheiratet hatte. War das alles wirklich heute geschehen? Es kam ihr viel länger her vor.

Schützend schob Minerva die Hände vor ihren Bauch, doch sie ahnte, warum Mulciber explizit ihr diese Erinnerung gegeben hatte. Der elende ...! Eine Menge unschöner Flüche gingen ihr durch den Kopf. Aber all das verhinderte nicht, dass sich ihr Herz bei dem Gedanken an Elphinstone schmerzhaft zusammenzog. Wie viel wusste – oder ahnte – er?

Derweil lächelte die älteste Urquart-Schwester dem namenlosen Zauberer zu und beschwor damit nur weitere Ähnlichkeit zu ihrem jüngeren Bruder hinauf, die Minervas Herz fester in den Schraubstock nahm.

»Nettes Wohnzimmer, Caius. Etwa deine neue Unterkunft? Hat man dich mal wieder rausgeworfen?« Elladora warf einen vielsagenden Blick auf den Fernseher. »Oder hast du die Magie jetzt aufgegeben?«

»Nennen wir es eher ein Nebenprojekt«, lachte der Angesprochene. »Nur eine vorübergehende Bleibe für die Dauer eines ... ‚Experiments‘, bevor ich den elenden Muggelmief gar nicht mehr loswerde.«

»Ah, nun gut. Es interessiert mich ohnehin nicht, was du jetzt wieder anstellst. Nochmal weniger, wenn es mit Muggeln zu tun hat.« Mit spitzen Fingern ließ Elladora ihre Handtasche aufschnappen und beförderte ein längliches Päckchen aus braunem Papier zutage. »Hier ist deine letzte Lieferung, wie besprochen. Wenn du mir das nächste Mal eine Eule schickst, werde ich nicht länger reagieren, haben wir uns da verstanden?«

»Betrachte es einfach als einen kleinen Gefallen, so von Slytherin zu Slytherin. Du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst. Und du trägst zu Großem bei, das versichere ich dir –«

Der Rest seiner Worte ging in einer Art Erinnerungsschluckauf unter, als der ganze Raum plötzlich Wellen warf und der Boden einmal mehr heftig zu Minervas Füßen schwankte.

»Das ist mir herzlich egal, Caius. Ich habe genug riskiert, um dir diese Sachen zu besorgen.« Elladoras Stimme klang zusehends abgehackt, wie aus einem schlecht eingestellten Radio. »Was auch immer du ... ab sofort ohne meine Hilfe! Ich werde nicht das gesamte Unternehmen meiner Familie für dein ... aufs Spiel setzen. ... Elphinstone ... auch ... Grenzen.«

Entsetzt trat Minerva einige Schritte zurück; wollte Distanz zwischen sich und die Hexe bringen. Bis eben hatte sie wirklich angenommen, dass dieses Geschehen nur ein böser Zufall war, eine derbe Laune des Schicksals. Doch warum sollte Elladora seinen Namen hier erwähnen? Ihre Übelkeit hatte immer weniger mit der Unbeständigkeit der Erinnerung an sich zu tun.

»Du wirst es nicht bereuen, Ella. An den richtigen Stellen werde ich deine Mithilfe nicht unerwähnt lassen.« Der Zauberer namens Caius deutete spöttisch eine Verbeugung an. »Und dank deiner Melionwurz wird dein Geheimnis bei uns derweil sicher sein.«

Er schmiss das Päckchen hinüber zu Rowle, der es mit einer Hand fing und begierig musterte. Aus dem Augenwinkel warf der Junge einen kurzen Blick zu Elladora, dann riss er das Papier auseinander. Zum Vorschein kam ein trockenes bräunlich-lila verfärbtes Knäuel, das im ersten Eindruck wenig aufregend anmutete.

Minerva vermutete, dass Elphinstone ihr einen ganzen Vortrag über Nutzen und Gefahren des Krauts halten könnte, mit leuchtenden Augen. Der Gedanke brannte in ihren Eingeweiden. Offenbar war er in seiner Familie nicht alleine mit der Begeisterung für skurrile Gewächse. Sie glaubte schlichtweg nicht, dass er hiervon wusste, gar beteiligt war. Aber von sich weisen konnte sie den Verdacht dennoch nicht.

»Das wollte ich schon immer mal in den Händen halten«, murmelte Rowle indes und ein Glänzen trat in seine Augen. »Mit der Menge werde ich sicher einen netten kleinen Zauber hinbekommen, der uns einen ordentlichen Vorteil verschafft.«

»Verbrenn dir nicht die Finger, Kleiner. Das Zeug ist nicht umsonst klassifiziert. Selbst ich hätte es ohne Hilfe nicht über die Grenze bringen können. Besser, ihr verliert nicht noch einmal etwas von meinen Sachen an irgendwelchen Tatorten. Glaubt nicht, ich wüsste nichts davon.« Geringschätzig wandte Elladora sich ab und stöckelte zum Kamin hinüber. »Nun. Gideon wird sich bereits fragen, wo ich stecke. Wir erwarten noch ...«

Schon meldete sich das Rauschen wieder zurück. Stöhnend fasste Minerva sich an den Kopf. Es war, als würde sich ein glühend heißer Nagel direkt durch ihre Stirn bohren. Diese Erinnerung zehrte an sämtlichen Nerven. Nur Bruchstücke des Gesagten drangen zu ihr vor.

»... Versammlung, Nott ... und Rid-«

Minerva sah, wie Elladoras Lippen sich bewegten, aber offenbar versagte Caius’ Erinnerung an dieser Stelle endgültig. Und dennoch beschlich sie ein sehr hässliches Gefühl, von welchen Leuten die Rede war.

Bevor Elladora zurück in den Kamin trat, löste der Raum sich in Wohlgefallen auf und Minerva landete mit dem Hintern voran wieder im Büro des Schulleiters. Fluchend ließ sie den Hinterkopf auf den kühlen Boden fallen und starrte an die gewölbte Decke über sich. Ihre Gedanken wirbelten hektisch durcheinander und das nicht nur dank des stechenden Schmerzes hinter ihren Schläfen.

Fawkes krächzte leise. Mit raschelnden Federn landete der Phönix auf dem Rand des Denkariums, den Kopf schief gelegt. Seine schwarzen Knopfaugen musterten Minerva eindringlich und sie hob eine Hand, um Albus’ treuem Gefährten zu signalisieren, dass es sie wohlauf war.

»Na wunderbar, das ist ja prächtig gelaufen«, murmelte sie leise in die Stille, sowohl an sich als auch an den Phönix gerichtet.

Auf dem Boden liegend erstellte sie in Gedanken eine Liste, was nun zu erledigen war. Informationen über die Melionwurz sammeln und für welche Arten von Zaubern sie eingesetzt wurde. Zum Glück hatte sie Pomona, solange Elphinstone nicht in Frage kam.

Zur Befreiung von Jonathan Alditch war es wichtig, zu wissen, womit sie es zu tun bekommen würde. In der Hinsicht war Mulcibers ‚Geschenk‘ wenigstens hilfreich. Sobald Minerva wusste, was Rowle mit der Wurz anstellen konnte, kam der zweite Schritt. Die Suche nach einem Gegenmittel oder Zauber. Horace konnte hier vielleicht helfen.

Derweil würde sie die Erinnerung erneut besuchen und auf Details achten, die ihr beim ersten Mal entgangen waren. Selbst wenn der Schwindel ihren Kopf spalten würde. Und dann – schlussendlich musste sie Elphinstone mit ihren Ergebnissen konfrontieren. Irgendwie herausfinden, ob ihr Vertrauen in ihn ernsthaft fehlgeleitet war.

»Verfluchter Drachenmist!«, ließ sie ihrem Frust freien Lauf und schlug mit der flachen Hand auf den Steinboden unter sich.

Sie weigerte sich, daran zu glauben, dass Elphinstone von den Verstrickungen seiner Schwester wusste oder nur ahnte. Dafür kannte sie ihn doch viel zu lange ... Vielleicht hatte Elladora seinen Namen aus ganz anderen Gründen erwähnt, eventuell weil sie Angst hatte, er könne ihr auf die Schliche kommen? Aber wer sollte ihr verraten haben, dass Rowle eine der Finsternisschoten im Haus der Alditchs verloren hatte? Davon wussten nur Minerva und er.

Oberhalb von ihr pickte Fawkes mit dem Schnabel auf den Rand des Denkariums und stieß dann ein bestimmtes Krächzen aus. Wieder sah er sie aus diesen glänzenden Augen an, die von großer Intelligenz zeugten. Nur was wollte er ihr sagen?

Mit einem Seufzen stand Minerva auf und betrachtete unschlüssig die Erinnerung. Sie brachte es definitiv nicht fertig, sofort noch einmal in ihr abzutauchen. Vorerst verfrachtete sie die blauen Wirbel zurück in ihr kleines Glasfläschchen.

Fawkes indes ließ nicht locker, sondern hieb wieder mit dem Schnabel auf die steinernen Verzierungen des Beckens. Geistesabwesend strich sie über sein Federkleid, in Gedanken dabei, wie diese Situation am besten aufzulösen war. Konnte sie Mulciber überhaupt trauen, dass diese Erinnerung die Wahrheit sprach? Er war schließlich ein hervorragender Legilimentiker ... Und wie weit vertraute sie Elphinstone? Sie hatte da ein Bauchgefühl, doch die Ungewissheit blieb.

Zum dritten Mal klopfte Fawkes beharrlich gegen den Stein. Minerva beschlich das Gefühl, dass der Phönix sehr wohl wusste, was sie beschäftigte. Aber wie sollte das Denkarium ihr helfen? Außer ...

»Du hast recht«, murmelte sie. »Wenn ich mir etwas sicher sein kann, dann meinen eigenen Erfahrungen!«

Anscheinend befriedigt stupste Fawkes seinen Kopf gegen ihre Hand, ehe er zurück zu seiner Vogelstange flog.

Dank des Phönix war ihr etwas in den Sinn gekommen – eine lange zurückliegende Erinnerung. Ein Gedanke, der möglicherweise ihrem schlechten Bauchgefühl helfen würde, eine Entscheidung zu fällen, bevor sie sich in die Arbeit stürzte.

Ihr Blick fiel auf die große Standuhr in der Ecke. Es blieb genug Zeit. Ihr Vorhaben war definitiv besser, als sich in Zweifeln zu verlieren. Sie nahm einen tiefen Atemzug, dann legte sie ihren Zauberstab an die Schläfe und konzentrierte sich auf das, was sie sich zu sehen wünschte. Ein Ziehen erfüllte ihren Kopf, wie ein Gummiband, das immer straffer und straffer gespannt wurde, bis es endlich riss und der feine Gedankenfaden an der Spitze ihres Stabs hing.

Sorgfältig legte sie die Erinnerung in das steinerne Becken, wo sie sich zu einem gleichmäßigen saphirblauen Spiegel ausbreitete. Erneut berührte sie die Oberfläche des Denkariums und die Welt um sie herum kippte in die Vergangenheit.

Noch bevor Minerva die Augen aufschlug, hörte sie das Kratzen von Federn auf Pergament, die Töne eines kitschigen Weihnachtsliedes aus einem fernen Radio und das leise Klappern eines Löffels in einer Tasse. Es roch köstlich nach Honigkuchen und heißem Tee und vielleicht etwas zu viel von Galanthias magischem Wunderschneeder ewige Traumwinter seit 1874, jetzt mit verbessertem Minzduft. Ort und Zeitpunkt waren so vertraut, dass sie das Café bereits vor sich sah, ehe sich die saphirnen Wirbel aus Erinnerungsnebel endgültig lichteten.

Saphirblaue Wahrheiten


 

Denkarium – Hogsmeade, Dezember 1959

 

Draußen fiel leise der Schnee. Durch die beschlagenen Fenster des Cafés drang das weiche Licht einer Straßenlaterne hinein und warf lange Schatten auf den kleinen Tisch mit der Spitzentischdecke, von der allerdings nicht mehr viel zu sehen war. Bücher, Pergamentblätter, Teetassen und Tintenfässchen nahmen jeden Zentimeter des wackligen Möbelstücks ein.

Minerva hatte sich tief über eine Rolle Pergament gebeugt, die einige Fuß lang mit ihrer feinsäuberlichen Handschrift gefüllt war. In kleinen Schwüngen huschte ihre Feder von Zeile zu Zeile. Nur hin und wieder pausierte sie, las das eben Geschriebene erneut und strich etwas fort.

»Was klingt besser: ‚Der Äquivalenztheorie folgend bedürfte es einer Anpassung des vierten gamp’schen Transfigurationsgesetzes‘ oder ‚Die Anwendung der Äquivalenztheorie bedingt die Änderung des vierten gamp’schen Transfigurationsgesetzes‘?«

Das Kratzen der zweiten Feder ihr gegenüber hielt kurz inne. »Hm ... Letzteres. Klingt entschiedener, mehr wie die logisch zwingende Gesetzmäßigkeit, die es ist, wenn ich deiner Theorie folge«, erwiderte Elphinstone.

»Mhm, da hast du recht. Danke.«

Zufrieden notierte sie die Worte und für eine Weile versanken sie beide erneut in bequemes Schweigen; sie beschäftigt mit ihrem Artikel für die nächste Ausgabe von Verwandlung heute, er in seine Akten aus dem Ministerium versunken.

Trotz – oder gerade wegen? – ihrer Kündigung hatten diese gelegentlichen Treffen, bei denen sie neben Tee, Gebäck und einem lockeren Plausch ihren Beschäftigungen nachgingen, das Ende ihrer Arbeitsbeziehung überdauert. Nur der Ort war ein anderer, aus Florean Fortescues Eissalon war Madam Puddifoots Café geworden – wegen des guten Kuchens und der Ruhe im Vergleich zu den belebten Pubs.

Mitten im Absatz über die Reform des Transfigurationsgesetzes wurde Minerva jedoch von einem unterdrückten Fluch aus ihren Gedanken zu Verwandlungen gerissen. Zum ersten Mal seit einer kleinen Ewigkeit hob sie den Kopf von ihrem Artikel und sah Elphinstone an. Dieser hatte seine Feder fallengelassen, sich in seinem plüschigen Sessel zurückgelehnt und sah nachdenklich dem seichten Schneegestöber auf den Straßen von Hogsmeade zu.

Fragend legte Minerva den Kopf schief. »Schwierigkeiten?«

Statt eine Antwort zu geben, seufzte er tief. »Ich weiß es nicht. Entweder es ist nichts oder aber ...« Er schüttelte den Kopf. »Dieser Fall ist ... schwierig.«

Verwundert wanderte eine ihrer Augenbrauen in die Höhe. »Du kannst mich jederzeit um Rat fragen.«

»Ich fürchte, es wird dir nicht gefallen.« Er sah auf die Aktenblätter vor sich. »Und das nicht nur, weil Mulciber die Akte führt, jetzt wo er seine eigene Abteilung hat.«

»Was bringt dich zu der Annahme?«

Stumm reichte er ihr den schmalen Hefter, der nur wenige Blätter enthielt. Die Faktenlage war offenbar dürftig und ausweislich des Stempels auf dem Deckblatt ging es nur noch darum, das Verfahren formell abzuschließen. Das bedeutete selten etwas Gutes. Sie blätterte durch Mulcibers Aufzeichnungen.

Hepzibah Smith, das Opfer, war im Monat zuvor tot in ihrer Londoner Wohnung aufgefunden worden. Es gab nur eine Zeugenaussage. Die ihrer Hauselfe Hokey. Ein umfassendes Geständnis, dass diese ihrer Herrin den abendlichen Kakao wie immer zubereitet hatte, mit einer ordentlichen Prise Zucker – der, wie sich in der Küche des Opfers herausstellte, direkt neben einem Fläschchen extrem seltenen, unauffälligen und obendrein tödlichen Gifts stand. Die Elfe hatte laut Vernehmungsprotokoll unter Tränen zugegeben, in ihrer Hast das Falsche gegriffen zu haben. Sie war einfach schon zu alt, so die lapidare Begründung Mulcibers. Klar, geradlinig, kein Raum für Zweifel. Solange man Dienst nach Vorschrift tat.

Minerva musterte das angehängte Bild einer unglaublich dürren kleinen Hauselfe, die sich zitternd am Bildrand zusammengekrümmt hatte, das Gesicht in den knochigen Händen verborgen. Dann sah sie langsam zu Elphinstone. »Du denkst nicht, dass sie es getan hat.«

»Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber es gibt eine Ungereimtheit. Etwas, das Mulciber entweder nicht wusste – oder in seiner Unerfahrenheit nicht für bedeutsam hielt.« Er sah wieder hinaus auf die schneebedeckte Gasse. »Vor ein paar Tagen stand der Neffe dieser Dame plötzlich im Hauptbüro. Er empörte sich, dass ihn jemand bestohlen hätte. Ich verstand erst nicht, aber es stellte sich heraus, dass in Miss Smiths Erbe zwei Gegenstände fehlen. Wirklich traurig schien er nicht, mehr besorgt ob der seltenen Artefakte, die sich offenbar in Luft aufgelöst haben.«

»Denkst du, er war es? Um an das Erbe zu gelangen?«

»Nein. Im Gespräch fiel ein Name, von jemandem, der offenbar ein guter Bekannter von Miss Smith war, sie oft besuchte. Jemand, der ihr regelmäßig seltene Artefakte mit fragwürdiger Geschichte ab- oder verkaufte.« Sein Blick wandte sich erneut ihr zu. »Tom Riddle

Einen Augenblick war nichts außer dem kitschigen Weihnachtslied im Radio zu hören. Mit verschränkten Armen lehnte auch Minerva sich zurück. »Ach, sieh an, ein alter Bekannter.«

»Richtig.«

»Tja, er hat Glück, dass ich nicht mehr im Ministerium arbeite, sonst würde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass er dran ist. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass er bei dem Mord in Northumberland seine Finger im Spiel hatte. Und jetzt führt ausgerechnet Mulciber, der frisch ernannte Kammervorsitz, die Akte?« Sie schüttelte den Kopf. »So viel Glück kann eigentlich nur einer haben, der einen verfluchten Pakt mit dunklen Mächten geschlossen hat.«

»Ja, aber das ist nicht der Punkt, schließlich kann Mulciber alleine keine Anklage beschließen, zumindest noch. Für die nächsten sechs Monate habe ich eine Hand auf alles, was er bestimmt. Viel wichtiger: Riddle ist verschwunden.«

Scharf sog Minerva die Luft ein. »Verschwunden?«

»Seine Stelle bei Borgin & Burkes – du weißt schon, dieser zwielichtige Laden in der Nokturngasse – hat er gekündigt. Seine Wohnung steht leer. Niemand weiß, wo er hin ist. Als ... hätte es ihn nie gegeben.«

»Das ist ja beinahe so gut wie ein Schuldeingeständnis«, platzte es aus ihr hervor. »In der Vergangenheit hat er zumindest noch die Dreistigkeit besessen, vor dem Zaubergamot aufzutauchen und uns mit seiner Aussage zu beehren. Wie groß kann da bitte der Zufall sein, dass er ausgerechnet jetzt einfach verschwindet? Nachdem eine ... Bekannte von ihm verstirbt.« Sie schnaubte abfällig. »Zugegeben, ich hätte mehr von ihm erwartet, als so einen armseligen Diebstahl.«

Elphinstone schloss die Augen und strich sich über die Stirn. »Minerva, bitte. Es gibt keine Beweise, weder damals noch heute. Trotz aller Vermutungen und Verdächtigungen gilt immer noch die Unschuldsvermutung. In der Hinsicht hat Mulciber sicher nichts falsch gemacht.«

»Schön«, atmete sie geschlagen aus, »aber das ändert nichts daran, dass Riddle verflucht verdächtig ist!«

»Und verschwunden. Im Prinzip habe ich die letzten Tage damit verbracht, einem Phantom nachzujagen. Wo auch immer er hin ist, mit einfachen Mitteln ist er nicht zu finden.«

Minerva betrachtete Elphinstones zerfurchte Stirn und die dunklen Ringe unter seinen Augen, die einmal mehr davon zeugten, dass er zu viel arbeitete. »Und ohne handfeste Beweise gibt es keine Möglichkeit, ihn durch die Auroren suchen zu lassen«, schlussfolgerte sie leise. »Was wiederum bedeutet, dass er nicht gefunden wird. Die Hauselfe wird angeklagt, schuldig gesprochen und das war’s, Akte geschlossen.«

»Ich fürchte ja.«

Ihr Blick fiel noch einmal auf das Foto der zitternden Elfe. Das arme Ding war nicht mehr als ein Bauernopfer, das musste doch jedem klar sein! »Was ist mit dem großen Zaubergamot? Kannst du ihnen nicht darlegen, dass der Fall keinesfalls so eindeutig ist? Ich meine ... die Mitglieder können nicht so blind sein, eine arme Hauselfe einfach so zu verurteilen, wenn da noch so etwas Ungeklärtes im Raum steht! Kann man nicht irgendwie die verschwundenen Artefakte vorschieben?«

»Ich habe es schon versucht.« Elphinstones Stimme war so bitter wie der kalte Blättersatz am Boden einer Teetasse. »Ich habe alles versucht, bis hin zum Vorsitzenden der Abteilung für magische Strafverfolgung und dem Minister, aber ...« Er seufzte tief.

Langsam schlug Minerva die dunkelrote Akte zu. »Sie hat gestanden, ja ...« Einem Impuls folgend, warf sie die Mappe auf den Stapel mit den Übrigen, die er bereits abgearbeitet hatte. »Du brauchst keinen Rat von mir, nicht wahr? Weil es nichts mehr gibt, das du tun könntest, um eine Verurteilung abzuwenden. Sie ist ja ‚nur‘ eine Hauselfe. Wenn du es nicht absegnest, tut es ein anderer. Ganz zu schweigen davon, dass du deine Anstellung riskierst.«

Einen Augenblick lang sagte Elphinstone nichts, sah nur wieder hinaus auf die verschneite Gasse. Dann nickte er langsam. »Ich fürchte, ich bin am Ende meiner Möglichkeiten. Es ist nun mal nicht mein Fall, sondern Mulcibers. Das Gamot erwartet, dass ich als Dienstälterer der Anklage zustimme, solange kein triftiger Grund dagegen spricht. Den ich ihnen nicht liefern kann, abgesehen von ... persönlichen Verdächtigungen.«

»Ich mache dir keinen Vorwurf. Aber das ist genau das, weshalb ich gekündigt habe! Wenn ich könnte, dann ...!« Ihre flache Hand schlug auf den Tisch und klappernd hüpfte die Teetasse ein Stück zur Seite.

Alleine bei der Erinnerung an all die Ungerechtigkeiten, die sie in ihrer Zeit im Ministerium mitbekommen hatte, schwelte die Glut des Zornes wieder in ihr. Es war den allermeisten dort schlichtweg egal, wie die übrige magische – oder gar nichtmagische – Bevölkerung behandelt wurde.

Elphinstone streckte seine Hand durch das Chaos ihrer beider Arbeit zu ihr aus. »Danke, Minerva. Danke, dass du das sagst. Es nimmt die Schuld nicht von meinen Schultern und doch ... hilft es. Es tut mir so leid, dass ich diese Entscheidung treffen werde.« Sanft strich er über ihren Handrücken. »Danke, dass du mich nicht verurteilst. Ich weiß, wie sehr du das alles hasst.«

Sie wandte den Blick ab. »Ich verstehe dich. Mehr noch – ich vertraue dir. Du triffst diese Entscheidungen nicht leichtfertig. Ich bin nur so wütend auf das System! Vielleicht hätte ich nicht fortlaufen sollen, aber ... ich habe das nicht mehr ertragen.«

»Ich weiß.«

Einen Moment lang starrte sie reglos auf die eng beschriebenen Pergamentseiten vor sich, dann zog er seine Hand langsam zurück und sie stürzten sich jeder wieder in die eigene Arbeit, ein stilles Übereinkommen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Sie konnte das Café nun verlassen, denn sie hatte ihre Antwort, sowohl was Elphinstone anging als auch ihre Befürchtungen zu dem Namen, den Elladora vielleicht erwähnt hatte. Das wusste die gegenwärtige Minerva, die das Geschehen reglos verfolgte, ergriffen von den einzelnen Gefühlen und Gedanken, die sie damals durchlebt hatte. Obwohl sie bloß daneben stand, war sie wieder ihr jüngeres Ich. Nichts wirkte stärker, als die eigene Vergangenheit erneut zu durchleben.

Und doch verharrte sie in der Erinnerung, denn hier endete das Treffen nicht. Wann immer sie daran zurückdachte, ohne Denkarium, konnte sie die kommenden Worte mitsprechen und dennoch hielt sie jetzt etwas zurück, das warme Café zu verlassen. Vielleicht weil sie ganz sichergehen wollte.

Sie und Elphinstone waren die Letzten im Geschäft, der Tee kalt und ihr Aufsatz hatte einige Zeilen an Länge gewonnen. Aus dem zarten Schneefall war inzwischen ein dichtes Gestöber geworden, da legte Elphinstone seine Feder nieder und sah zu ihr hinüber, die immer noch ihre Arbeit gegenlas. Das sanfte Lächeln auf seinen Zügen war ihr nie zuvor aufgefallen.

»Minerva, ich habe lange nachgedacht«, räusperte er sich. »Seit du aus dem Ministerium fort bist, ist mir etwas klargeworden, und nach allem muss ich dir jetzt einfach die Frage stellen. Also, Minerva ...« Er holte tief Luft. »Würdest du meine Frau werden wollen?«

»Was?« Die Bemerkung war aus Minervas Mund, bevor sie auch nur eine Sekunde überlegt hatte. Sie strich ein Wort in ihrem Artikel durch und las den Absatz erneut. Was immer Elphinstone gesagt hatte, sie war zu unaufmerksam, in Gedanken noch bei Verwandlungen. Redete sie sich zumindest ein, bis heute.

»Nun, ähm – im Sinne von ‚Willst du mich heiraten, Minerva‘?«

Sie blinzelte mehrmals und starrte auf den Absatz vor ihr, dessen Bedeutung irgendwie abhandengekommen war. Nachdenklich tappte sie die Feder auf das Pergament, ehe sie langsam den Blick hob und Elphinstone fragend ansah.

»Oh entschuldige ... was?«, entkam es ihr nun schon zum zweiten Mal. Insgeheim verstand sie sehr wohl, was er gefragt hatte. Mit dem Warum sah es hingegen anders aus. Selbst Jahre später, obwohl sie wusste, was er antworten würde.

Elphinstones Ohren färbten sich einem Chamäleon gleich in zartem Rosa ein, passend zu der Tapete. Nach einem kleinen Räuspern wiederholte er sich erneut, nunmehr mit fester Stimme. »Ich fragte dich, ob ich dein Mann werden dürfte.«

Sie blinzelte, er nicht. Für einen Augenblick fürchtete sie, ihr könnte zum dritten Mal ein wenig geistreiches »Was?« über die Lippen kommen. Zum Glück schluckte sie das Wort gerade noch herunter und ersetzte es durch marginal würdevolleres Stammeln.

»Ich ... Warum? Ist es wegen deiner Familie? Ich meine – brauchen ... ähm, verlangen sie einen Erben oder so? Machen sie dir Druck?«

»Oh, nein. Nein, überhaupt nicht.« Rasch schüttelte Elphinstone den Kopf. »Meine Familie hat damit nichts zu tun. Kinder sind denen inzwischen herzlich egal, immerhin hatten sie neun Jahre Zeit, sich angesichts der Beziehung mit meinem ersten Freund daran zu gewöhnen, dass aus leiblichen Kindern vielleicht nie etwas wird. Und mit den Personen nach ihm, egal welchen Geschlechts, hat es nie annähernd lange gehalten, dass sowas überhaupt Thema geworden wäre. Nein, ums Erben oder den Status geht es wirklich nicht. Meine älteste Schwester wird irgendwann die familiären Plantagen übernehmen, denn für die geschäftlichen Aspekte des Anbaus von Trankzutaten habe ich kein Händchen, aller Liebe für Kräuterkünde zum Trotz. Deswegen würde ich ohnehin nie fragen, selbst wenn es so wäre.«

»Aber ... wieso dann?«

Seine Antwort kam rasant wie ein Klatscher. »Tut mir leid, dass die Frage so unerwartet ist. Ich kann nur für mich sprechen, aber – seit du gegangen bist, vermisse ich dich. Sehr. Mehr als ein – ehemaliger – Vorgesetzter sollte.« Er knibbelte an der Ecke eines Pergaments vor sich. »Du bist mehr für mich. Deshalb würde ich gerne mein Leben mit dir teilen. Alles davon, nicht bloß ein paar Treffen im Jahr. Sondern für immer.«

Die Worte erwischten Minerva auch genauso hart wie ein Klatscher und pressten zuverlässig die Luft aus ihren Lungen, nur mit dem Unterschied, dass keine ihrer Rippen gebrochen war. Ihr wurde so heiß, dass man auf ihren Wangen Spiegeleier hätte braten können.

»Oh ... danke«, brachte sie hervor und im selben Augenblick wusste sie, dass das eine beschissene Antwort war.

Um Fassung ringend schloss sie die Augen kurz. Sie hatte auf diese Frage bereits einmal ‚Ja‘ gesagt und es dann wieder zurückgenommen. Es hatte Dougal das Herz gebrochen, von ihr ganz zu schweigen. Diese Schmach konnte sie Elphinstone zumindest ersparen. Jegliche Gefühle von vornherein zu verraten war der einfachste Weg.

»Elphinstone, ich ... Bei Merlin, das –« Ein Seufzen entfuhr ihr. »Nein, Phin. Ich kann das nicht tun. Mir liegt wirklich viel an dir, aber – es gefällt mir, wie es jetzt ist. Ich schätze deine Freundschaft und diese Treffen sehr ... und genau deshalb finde ich, dass es so bleiben sollte.«

Sie starrte angestrengt auf einen Punkt oberhalb seiner Schulter und überlegte noch, wie sie diese Situation zusätzlich entschärfen konnte; ob sie doch von Dougal erzählen sollte, als er sie mit seiner Erwiderung überraschte.

»Natürlich, Minerva. Das ist in Ordnung. Ich verstehe deine Antwort. Um ehrlich zu sein, habe ich mit nichts anderem gerechnet. Die Worte wollten bloß unbedingt raus. Vermutlich hat all diese geschmacklose Deko hier einen schlechten Einfluss.« Ein amüsiertes Funkeln blitzte in seinen Augen auf. »Wenn du nichts dagegen hast, bin ich sehr gerne weiter ein guter Freund«, sagte er mit einem sanften Nicken und wandte sich wieder seinen Akten zu.

Als wäre nie etwas passiert. Als hätte er ihr keinen verfluchten Heiratsantrag gemacht. Erst jetzt begriff Minerva vollkommen, was seine Frage bedeutete – und seine bedingungslose Akzeptanz, jedes ‚Nein‘ von ihr mit einem Lächeln aufzunehmen, ohne sie je zu bedrängen oder sich in seinem Stolz gekränkt zu fühlen.

Langsam lösten die Schemen des Cafés sich vor ihr auf und alles, was zurückblieb, war ein feiner Duft von etwas zu viel magischem Wunderschnee.

 

»Die Vergangenheit kann ein mächtiger Lehrmeister sein.«

Minervas Herz setzte einen Schlag aus und ertappt, die Wangen ohnehin noch gerötet, fuhr sie herum, nur um Albus mitten im Raum vorzufinden. Er streichelte Fawkes’ rot-goldenes Gefieder und wenn er ihre Verlegenheit wahrnahm, so ignorierte er sie galant, indem er sie nicht direkt ansah.

Peinlich berührt, ihr Herz heftig galoppierend, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen das Denkarium. »Albus ... Verzeihung – ich habe mich selber reingelassen –«

Abwehrend hob er eine Hand. »Ich würde kaum eine Person zu meiner Stellvertreterin ernennen, wenn ich ihr nicht voll und ganz vertrauen würde. Abgesehen davon scheint es mir, dass ein Besuch in der Vergangenheit notwendig war.«

Seine blauen Augen hinter der Halbmondbrille funkelten, als er ihr zuzwinkerte. Er drängte nicht danach, was sie sich angesehen hatte, sondern setzte sich einfach an seinen Schreibtisch und wartete.

Erleichtert atmete sie aus. »Danke für dein Vertrauen.«

Mit einem raschen Evanesco-Zauber entfernte sie die Wirbel ihrer eigenen Vergangenheit aus dem Denkarium und schloss die Faust fest um die Phiole von Caius’ Erinnerung. Vertrauen, da war es wieder. Wie weit reichte ihr Vertrauen in das Saphirblau?

»Albus, ich brauche deinen Rat.« Sie stützte sich auf den Rand des leeren Beckens. »Ich habe eine Erinnerung von einem Bekannten zugespielt bekommen, die er einem der Entführer von Jonathan Alditch abgenommen hat. Allerdings macht sie die Sache nur komplizierter. Ich habe ehrlich gesagt meine Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt.«

Sie erzählte Albus in groben Zügen alles, angefangen von dem bescheidenen gestrigen Tag, bis hin zu ihrer Erinnerung. Letztlich kannte er ihre Lebensgeschichte – inklusive Dougal – so wie sie seine kannte. Vor ihm Geheimnisse zu haben, wäre überflüssig.

Die Schilderungen entlockten dem Schulleiter keine Regung. Albus hörte nur zu, seine langen Finger andächtig gegeneinander gelegt. Lediglich die Erwähnung von Tom Riddle schien seine strahlenden Augen für einen Moment zu verdunkeln. Aber vielleicht war es auch nur das Licht.

»Und zu welchem Schluss führt dich deine Erfahrung?«, fragte er schlicht, als sie geendet hatte.

Minerva straffte sich. »Ich traue Mulciber nicht. Er kann es sich nicht leisten, mich allzu offen zu belügen, nicht in seiner Position. Aber seine Unterstützung der Reinblüterbewegung ist mindestens fragwürdig. Vielleicht gefällt ihm, was die Entführer tun und da ist Elphinstone nur ein Ärgernis für ihn.«

Der Schulleiter nickte nachdenklich. »Womöglich verfolgt er eigene Motive. So wie du es schilderst, wäre es denkbar, dass die Erinnerung manipuliert wurde. Allerdings bringt eine oblivierte Person in der Regel instabile Gedanken hervor, daraus kann man also nichts schließen. Jedenfalls ist Mr Mulcibers Hilfe nicht etwa selbstlos, sondern gebunden an Forderungen. Das spricht selten für Aufrichtigkeit.«

»Ich bin froh, dass ich mit der Einschätzung nicht alleine bin«, erwiderte Minerva mit ehrlicher Erleichterung. »Elphinstone hingegen vertraue ich umso mehr. Es wäre einfach, ihn wegen Haus und Stand zu verurteilen, aber dafür kenne ich ihn zu lange.« Sie hob die Schultern. »Er ist nicht seine Schwester. Er liebt sie, wie ich meine Brüder liebe. Das alleine ist noch kein Verbrechen. Ich weigere mich, an bösen Willen zu glauben.«

»Außerdem hat er Gefühle für dich«, ergänzte Albus ruhig. »Du bist ihm wichtig. Die Macht der Liebe sollte man nie unterschätzen. Sie lässt uns hin und wieder sogar die eigenen Grenzen überschreiten.«

Verlegen sah sie auf die Phiole in ihren Fingern hinab. Die Röte wärmte bereits wieder ihre Wangen. Ihr war schmerzlich bewusst, woran – an wen – er bei diesen Worten dachte. »Es fragt sich nur, zu wem seine Liebe größer ist, wenn es darauf ankommt. Seiner Familie? Oder allem, wofür ich stehe?«

»Das eine muss das andere nicht ausschließen. Manchmal ist man gezwungen, eine Entscheidung zu treffen, aber ich traue Mr Urquart zu, dass er seine Werte weise vertritt. Ich kenne ihn vornehmlich aus dem Gamot, doch er ist mir zweifellos einer der sympathischeren Kammervorsitzenden. Zumal seine Arbeit durchaus sorgfältig ist, wie der Fall der bedauerlichen Miss Smith zeigt.«

»Deshalb – Wer wäre ich, ihm jetzt zu misstrauen, nur weil es Mulciber gefallen würde? Ich habe Elphinstone nicht umsonst mein Vertrauen geschenkt.«

»Und es ist nie verkehrt, sich in diesen Dingen selber zu vertrauen.« Aus blauen Augen musterte Albus sie eindringlich. »Dennoch denke ich, dass ich dir einen zusätzlichen Blickwinkel verschaffen kann, auf alle Verflechtungen, die sich offenbart haben. Was du daraus machst, liegt bei dir, Minerva.«

Er erhob sich aus seinem hoch aufragenden Lehnstuhl und trat bedächtig zu ihr ans Denkarium. Es war nicht das erste Mal, dass sie sah, wie er eine Erinnerung aus der Schläfe zog, aber der Anblick jagte ihr immer noch einen Schauer über den Rücken.

Unzeremoniell legte er den Gedanken in das Steinbecken und richtete die Hand darauf. »Bitte, nach dir.«

Erneut holte Minerva tief Luft und tauchte ab. Dieses Mal war der Ort ihres Auftauchens ebenso bekannt wie das Café zuvor. Der Innenhof mit dem Wyvernbrunnen war von herbstlichen Blättern übersät, als wäre sie nur eben nach draußen getreten, nicht Jahre in die Vergangenheit gereist.

Albus tauchte direkt hinter ihr auf – in doppelter Ausführung. Eine deutlich jüngere Version mit rötlichem Haar und kurzem Bart neben seinem heutigen ergrauten Selbst. Der Zeitpunkt musste vor ihrer eigenen Schulzeit liegen, denn so hatte sie ihren einstigen Verwandlungslehrer nicht in Erinnerung.

Ihnen gegenüber, auf einer Bank am Brunnen, saßen zwei Schüler, ausweislich ihrer Roben aus Slytherin und Ravenclaw, vermutlich im fünften Jahr. Minerva erkannte den Slytherin sofort, auch wenn er so viel jünger war. Das Foto auf seinem Kaminsims hatte Elphinstones Sommersprossen unterschlagen, aber sonst war es sein unverkennbares Abbild.

Den Jungen neben ihm kannte sie nicht. Er war dunkelhäutig, mit hübschen schwarzen Locken – und weinte unter heftigen Schluchzern. Unwillkürlich trat sie einige Schritte näher. Weinende Schüler kamen immer wieder vor – Heimweh, eine verhauene Prüfung, Liebeskummer – und jedes Mal wünschte sie, den Kindern die Last nehmen zu können.

»Archie«, flehte der junge Elphinstone an der Seite seines Mitschülers, »du kannst mir sagen, wer es war. Ich sorge dafür, dass es aufhört! Oder meine Schwester, sie ist Schulsprecherin!« Er sah auf, als Albus’ Erinnerungsgestalt sich durch den Innenhof näherte. »Sag es wenigstens Professor Dumbledore, bitte«, flüsterte er eindringlich. »Er kann auf jeden Fall etwas tun!«

Doch der Ravenclaw schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein. Dann bringen sie mich um.«

»Archie, was redest du da?«

»Ich bin ein elendes Schlammblut, sieh es doch ein, Elph. Ich bin es nicht wert.«

Der Schulleiter trat hinter Minerva. »Abgesehen vom Unterricht hatte ich nie viele Berührungspunkte mit deinem Freund«, erklärte er, »doch diese Szene hat sich mir eingeprägt.«

Nervös verschränkte sie die Hände vor dem Bauch. Der Junge namens Archie schien ernsthaft aufgewühlt. Das war kein schlichtes Heimweh, er hatte Angst. Nur wovor – vor wem?

»Mr Urquart, Mr Hastings, kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte der junge Albus indes die beiden Schüler.

»Nein, Sir«, stieß Archie sofort hervor.

»Doch!« Ungeachtet seines Freundes, der sich mit dem Umhangärmel die Tränen abtupfte, sprang Elphinstone auf. »Sir, er will es mir nicht sagen, aber irgendwer hat ihn nach dem Unterricht in den Gewächshäusern angegriffen. Ich kam erst später, aber ... ich glaube, es waren Slytherins.«

Der Junge auf der Bank hinter ihm lief dunkel an. »Lass das, Elph!«, zischte er. »Du weißt ja nicht, wovon du redest!«

Albus’ Augen schossen zwischen den beiden hin und her. »Mr Hastings, Sie können versichert sein, dass ich Angriffe unter den Schülern nicht toleriere. Wenn Sie möchten, können Sie sich mir jederzeit anvertrauen. Im Zweifelsfall spreche ich mit Ihrem Hauslehrer und überlege, was wir tun können, um Sie zu schützen.«

»Nein.« Archie schüttelte heftig den Kopf. »Es geht mir gut, Sir.«

Zu allem Überfluss tauchte jetzt aus einem Bogengang eine ganze Horde Schüler auf, offenbar auf dem Weg in die große Halle. Darunter befanden sich einige Slytherinschüler der höheren Jahrgänge. Lautes Geschwätz ergoss sich über den Innenhof.

Minerva bemerkte, dass Albus neben ihr die Menge sorgsam absuchte. Und dann sah sie die Clique. Fünf Slytherins, deren Schritte sich verlangsamten, als sie die kleine Dreiergruppe um den Brunnen erspähten.

Tom Riddle trug bereits viele Züge von dem Mann, dem sie Jahre später während den Ermittlungen zum Mord an einem Ministeriumsbeamten in Northumberland begegnen würde. Der desinteressierte, beobachtende Gesichtsausdruck war der Gleiche, nur war er jünger, weniger hart im Gesicht. Das Schulsprecherabzeichen glänzte an seiner Uniform.

Seinen Begleitern fehlte diese Selbstbeherrschung. Dem Größten von ihnen glitt ein hämisches Grinsen über die Züge und er stupste den beinahe ebenso hochgeschossenen dunkelhaarigen Jungen neben sich an, in Richtung des Brunnens nickend. Der Angestupste lachte nicht, zog aber die Augenbrauen kurz hoch.

»Das ist ...«

»Richtig. Alston Mulciber. Und Gideon Rosier kennst du ja ebenfalls. Ihnen folgen Everard Nott und Lewis Avery. Eine Gruppe, die man so schnell nicht vergisst. Horace würde sagen, sie sind allesamt dazu bestimmt, Großes zu erreichen. Nun, damit mag er gewissermaßen recht haben. Aber Großes muss nicht immer Gutes sein.«

Minervas Blick wanderte von den älteren Schülern zurück zu Elphinstone und seinem Ravenclaw-Freund. Dessen Gesicht war in einer furchtsamen Grimasse erstarrt. Wie vom Doxy gebissen sprang er auf, rannte in die andere Richtung davon und verschwand in einem Bogengang.

Betroffen sah der junge Elphinstone ihm hinterher. Aber der Schulsprecher hatte sich bereits von seinen Freunden gelöst und kam lässig zum Brunnen herübergeschlendert. Ihm folgte aus der Menge heraus eine blonde Slytherin, deren Bekanntschaft Minerva erst kurz zuvor gemacht hatte. Elladora war deutlich jünger, aber nicht minder elegant.

Elphinstone stand starr da und sah den beiden gefasst entgegen. Minerva entging nicht, dass er seine Hände zu Fäusten geballt hatte.

Riddle musterte seinen jüngeren Hauskameraden durchdringend, bevor er Albus direkt ansprach. »Gibt es ein Problem, Sir?« Die Höflichkeitsfloskel trug eine schneidende Schärfe.

»Das Gleiche könnte ich Sie fragen, Mr Riddle.«

Der ließ sich nichts anmerken. »Ich fragte mich nur, was ein Schüler meines Hauses wohl angestellt hat, dass es den armen Jungen aus Ravenclaw in die Flucht geschlagen hat.«

Hinter ihm baute sich jetzt Elladora auf, ihr Kinn ebenso stolz gereckt wie schon in der vorigen Erinnerung. »Tom, du willst doch nicht etwa andeuten, dass mein Bruder daran Schuld hat?«

»Nun, er ist nicht derjenige, der unter Tränen fortgelaufen ist. Rein logisch betrachtet, legt das eine gewisse Verantwortung nahe.«

Die Urquart-Geschwister tauschten einen stummen Blick aus und Minerva sah, wie Elphinstone sich aufrichtete. Er war höchstens fünfzehn, doch eine Andeutung des Zauberers, der er eines Tages werden würde, schimmerte bereits durch. Es war eigenartig, seine Vergangenheit zu erleben, aber sie war stolz auf ihn.

»Jemand hat Archie angegriffen. Hinter den Gewächshäusern. Aus unserem Haus.«

Elladoras Augen zuckten zu ihrem Schulsprecherpendant hinüber. »Weißt du wer?«

»Das wollte er nicht sagen.«

Tom Riddle zeigte die Andeutung eines Lächelns. Zumindest hoben sich seine Mundwinkel leicht. »Dann sollten wir wohl besser die Augen offenhalten, nicht wahr, Professor Dumbledore, Sir? Nicht, dass noch jemandem etwas zustößt.«

»Ganz recht, Mr Riddle.« Die blauen Augen des Lehrers bohrten sich fest in die seines Gegenübers und dieser starrte mindestens ebenso entschlossen zurück.

Die unangenehme Atmosphäre schienen Elladora und ihr Bruder ebenfalls zu bemerken. Schützend legte die Schulsprecherin eine Hand auf Elphinstones Oberarm. »Ich helfe euch beiden«, sagte sie leise zu ihm.

Dann brach der intensive Moment unvermittelt auf und Riddle kehrte zu seiner Freundesgruppe zurück, während Elladora mit Elphinstone in die Richtung davonging, in die sein Ravenclaw-Freund geflohen war.

Der Innenhof löste sich auf und Sekunden später waren Minerva und Albus wieder im Büro des Schulleiters. Ihr Kopf schwirrte stärker als nach der ersten Erinnerung.

»Oh Merlin ...« Sie nahm sich einen Moment, um durchzuatmen. »Bemerkenswert, wie oft ich im Zuge der Ermittlungen über diesen Personenkreis gestolpert bin«, murmelte sie, gegen die Schranktür des Denkariums gelehnt. »Warum wundert es mich nicht, dass es immer wieder die Reinblüter sind?«

»Der Hass, den sie schüren – du hast ihn am eigenen Leib erfahren, Minerva. Er breitet sich aus, das lässt sich nicht länger verbergen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Elladora Rosier von diesem Gedankengut durch ihre Verbindungen in jene Kreise vereinnahmt wurde.« Albus schritt in Gedanken auf und ab. »Möglicherweise handelt sie für Tom Riddle – oder Lord Voldemort, wie er sich meinen Informationen nach inzwischen nennen lässt. Das Flugblatt von dem du erzählt hast, dürfte aus seinem innersten Kreis stammen. Er konnte andere stets gut beeinflussen.«

»Ich weiß nicht ... ich kann es kaum glauben, wenn ich Elladora so sehe.«

Minerva dachte an das Flugblatt und schließlich die Entführer. Kinder hatte Mulciber sie genannt. Sie konnte es nicht greifen, doch das Gefühl, nur an der Wahrheit zu kratzen, blieb.

»Zumindest Mulciber war genauso ein Opfer der Entführer wie Elphinstone und ich.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn! Grundsätzlich passt das Motiv vielleicht – aber warum sollten solche Leute ausgerechnet einen Erstklässler entführen? Da fehlt etwas und bei Merlin, ich werde rausfinden, was!«

Wurzeln des Verrats

Von Albus’ Büro aus unternahm Minerva einen langen Spaziergang um den schwarzen See, der zumindest einige Gedanken geraderückte. Hier und jetzt war kaum die Zeit, sich Sorgen hinzugeben. Sie würde Jonathan Alditch befreien, so viel stand fest. Also nahm sie ihren Plan wieder in Angriff – mehr über die Melionwurz erfahren.

Pomona fand sie – wie erwartet – inmitten ihres Gewächshauses Nummer zwei, wo sie eine Reihe bunter Ohrenschützer mit dem Zauberstab feinsäuberlich zurück in eine große Kiste dirigierte.

»Minerva!« Überrascht sah ihre Freundin auf. Die letzten Paare besonders flauschiger pinker Ohrschützer kollidierten miteinander und plumpsten ungeordnet hinab. Pomona zuckte nur mit den Schultern und wandte sich ihr zu. »Wo ist der Drache los, dass du mich ausgerechnet in meinem Reich beehrst?«

»Hallo Mona.« Minerva machte einen Bogen um einen verdächtig zitternden Ginsterbusch, während sie zu ihr an den gewaltigen Holztisch in der Mitte des Gewächshauses trat. »Ich mach’s kurz – ich brauche Informationen über eine gewisse Pflanze. Manche Dinge erfährt man eben am Besten direkt vor Ort.«

»Oh, du kannst mich alles fragen«, sagte Pomona freudestrahlend und wischte einige Erdkrümel vom Tisch. Dann hielt sie einen Moment inne. »Sag ... ist es immer noch wegen der Sache mit dem verschwundenen Jungen?«

»Leider ja. Was weißt du über die Melionwurz, Mona?«

»Melionwurz?« Pomona blies die Wangen auf und seufzte. »Weiß Mr Urquart etwa nichts darüber oder warum fragst du ausgerechnet mich?«

Unglücklich schnippte Minerva ein paar verbliebene Dreckbrocken über den Arbeitstisch. »Ich habe ihn nicht gefragt. Abgesehen davon bist du hier die Professorin und damit meine erste Anlaufstelle.«

Ihre Freundin brauchte nichts sagen. Es reichte schon, zu sehen, wie sie die dunklen Augenbrauen zusammenzog und ihr Stirn sich in Furchen legte.

»Also, Melionwurz, Mona. Was macht dieses Kraut oder was immer es ist?«

Pomona holte tief Luft. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und bedeutete Minerva, ihr zu folgen. »Dann wollen wir mal ins Gewächshaus drei gehen. Da kann ich dir gleich noch den Ableger meiner Teufelswelwitschia für deinen Vorgesetzten – entschuldige: ehemaligen Vorgesetzten – mitgeben.«

Der Unterton in dieser Aussage entging Minerva nicht, doch sie ließ die Bemerkung unkommentiert. »Ich weiß nicht, ob ich das mit ins Ministerium nehmen sollte. Wenn die mich überhaupt noch reinlassen, nach der Sache mit dem Flohportal.«

»Ach, keine Sorge, das ist nichts Klassifiziertes. Anders als die Melionwurz! Beschwer dich also lieber nicht, dass ich dir zu viel erzähle! Das ist eine höchst vielschichtige Pflanze, die dir da untergekommen ist ...«

Nach dem Besuch in Gewächshaus drei – dem sie nicht schnell genug entfliehen konnte – führte Minerva der Weg in Horace’ Kerker und von da aus eulenwendend zurück zu Pomona, um sich zusätzliche Zaubertrankzutaten zu besorgen. Der Mond lugte schon über die Baumwipfel, als sie endlich die Bibliothek verließ, einen Stapel spezieller Bücher aus der verbotenen Abteilung unter dem Arm sowie eine reichlich gefüllte Tasche voller Grünzeug und weiteren unappetitlichen Zutaten, die Horace ihr gegeben hatte.

Im Feuerschein über die Bücher gebeugt, wünschte Minerva sich einen von Elphinstones Wachmachtränken herbei, aber letztlich trieb der Drang, dem Erstklässler schnellstmöglich zu helfen, sie auch so an. Die übelriechenden Dämpfe aus ihrem faltbaren Kessel, die ihr ganzes Büro verhüllten, taten ihr Übriges.

Die Nacht neigte sich bereits dem Ende, da schreckte sie ein harsches Klopfen auf. In sich versunken hatte sie darauf gewartet, dass der Trank die vorgeschriebene zartviolette Farbe annahm, und nun wäre ihr vor Schreck beinahe der Holzlöffel in den Sud gefallen. Wahrscheinlich hätte das alles ruiniert.

Grummelnd stapfte sie zum Fenster hinüber, um die hellbraune Eule hineinzulassen, deren gelbe Augen sie bereits vorwurfsvoll musterten. Im Gegensatz zu ihrer Artverwandten wenige Nächte zuvor, landete diese immerhin nicht auf ihrer Arbeit, sondern ließ sich auf einer Stuhllehne nieder.

Der Brief am Bein der Eule war denkbar kurz.

 

Schwesterherz,

 

Mama hat uns für Samstag zum Essen eingeladen, um neunzehn Uhr. Komm doch auch vorbei, sie würde sich freuen. Gerne in Begleitung, soll ich dir ausrichten.

Bis dahin bin ich hoffentlich mit dem Buch fertig, das du mir geliehen hast. Es ist länger, als ich dachte, entschuldige die Verzögerung.

 

Alles liebe

Robbie

 

Hastig kritzelte Minerva eine Antwort auf die Rückseite des Pergaments, speiste die Eule mit einem trockenen Keks ab und bat sie, gleich zurückzufliegen. Ihr Herz raste vor Aufregung. Wenn Robbie ihr übermorgen endlich die Adresse der Entführer gab, stand ihrem Plan wirklich nichts mehr im Weg. Und dann würde der ganze Spuk hoffentlich bald ein Ende haben.

 

Pünktlich um acht stand Minerva am nächsten Morgen mit einer vollgepackten Handtasche im Atrium des Zaubereiministeriums. Immerhin schien das Schicksal des Flohportals noch nicht mit ihr in Verbindung gebracht worden zu sein, denn man ließ sie anstandslos herein. Das musste sie Mulciber zugutehalten.

Jetzt nutzte es ihr überdies, eine ehemalige Angestellte zu sein. Den Zauberer am Sicherheitsschalter kannte sie noch und er unterzog ihre kleine Ledertasche, in der es unheilvoll klapperte, als sie den Riemen fester packte, nur einer oberflächlichen Musterung. Andernfalls hätte ihm der Tarnzauber auffallen können, der die magische Taschenerweiterung verbarg – und die Früchte ihrer nächtlichen Arbeit, die hier sicher nicht allzu gerne gesehen waren.

Der Sicherheitszauberer informierte sie, dass die heutigen Haftprüfungen unter Aufsicht von Elphinstone in Gerichtsraum drei stattfanden, und damit war sie frei, ihrer Wege zu gehen.

Das war viel zu einfach, dachte sie säuerlich, während ihre klappernden Absätze sie am Brunnen der magischen Geschwister vorbeitrugen. Nichts außer einer frisch postierten Riege Polizeibrigadisten in schnittigen Umhängen erinnerte an die Attacke der Reinblüterbewegung, dabei war es gerade einmal zwei Tage her. Bei den laschen Sicherheitsmaßnahmen wunderte es Minerva nicht, dass Demonstranten – und Erklinge – Zutritt erlangt hatten. Zum Glück für das Ministerium waren die kleinen Tränke in ihrer Tasche für die Entführer vorgesehen.

An den Fahrstühlen war nicht mehr viel los, die meisten Angestellten waren längst in ihren Büros. Rasch schlüpfte sie in eine ankommende Kabine. Den Knopf für die Etage mit der Flohnetzwerkzentrale hatte man mit rotem Zauberband überklebt. Offenbar waren doch nicht alle Spuren beseitigt, wenn das Stockwerk nicht betreten werden konnte. Sie wollte gerade die goldene Neun für die unterste Ebene drücken, da stellte sie fest, dass diese bereits leuchtete.

»Guten Morgen, McGonagall.« Mulciber stand hinter ihr im Fahrstuhl, einen dicken Stapel Akten sowie Zauberstab unter dem Arm, ein wölfisches Grinsen im Gesicht. »Einen schönen Abend gehabt?«

»Friss Mist, Mulciber.«

Sie war nicht bereit, weitere Worte mit ihm zu wechseln. Sein Auftritt in Albus’ Erinnerung hatte ihr Misstrauen endgültig bestärkt. Den Rücken zu ihm gewandt, starrte sie angestrengt in die Schwärze vor den Gittertüren, während der Fahrstuhl sich langsam wieder in Bewegung setzte.

»Oh, das trifft mich jetzt aber hart«, höhnte Mulciber zurück.

Über die Schulter schoss sie ihm einen funkensprühenden Blick zu. »Vielleicht sollte ich mich deutlicher ausdrücken – ich hätte nicht wenig Lust, dich in eine Nacktschnecke zu verwandeln und diese dann in einen Salzstreuer zu stecken, den ich mit einem Dauerklebefluch verschließe und anschließend in der Themse versenke.«

Zumindest war er schlau genug, zu wissen, dass sie durchaus in der Lage dazu war, was den Verwandlungsteil anbelangte. Trotzdem zuckten seine Mundwinkel wissend. Er schien dieses Zusammentreffen regelrecht zu genießen.

»Es tut mir ja so leid, falls du jetzt von der Realität enttäuscht bist.«

»Oh, tu nicht so unschuldig. Du bist genauso verdorben wie alle deine netten Schulfreunde – Rosier, Nott, Riddle ...«

Mulciber zuckte nur mit den Schultern. »Du willst doch nicht ehrlich diese Karte spielen. ‚Alle Slytherins sind schlechte Menschen‘ – das wird dir nicht gerecht. Nur weil ich die Schule mit gewissen Leuten besucht habe, kannst selbst du mich nicht verurteilen. Zumal dasselbe doch für deinen lieben Verehrer gilt. Ich interessiere mich lediglich für eine stärkere magische Gemeinschaft. Etwas, was durchaus auch in deinem Interesse liegt, McGonagall.«

»Nun, du vergisst, dass ich nach eurer Ansicht auch nur ein schmutziges Halbblut bin. Glaub nicht, dass du mich so von deinen hässlichen kleinen Weltherrschaftsträumen überzeugen kannst.«

»Ich muss dich von gar nichts überzeugen, immerhin hast du es auch so schon nicht in dir gehabt, einen Muggel zu heiraten«, spöttelte er mit erhobenen Augenbrauen. »Am Ende hast sogar du Angst, in einem unmagischen Haushalt gefangen zu sein und deine Fähigkeiten tagein, tagaus zu verbergen, so wie deine arme Mutter. Ich bin der Letzte, der dir einen Vorwurf macht. Ein solches Leben wäre an eine Hexe mit deinen Fähigkeiten zweifellos verschwendet.«

Die Gittertüren des Fahrstuhls glitten rasselnd auf, doch Minerva blieb wie festgehext stehen. Woher wusst er ...? Ihre unrühmlichen Gründe, Dougal zu verlassen, kannte nur Albus.

Mulciber tippte sich die Zauberstabspitze an die Stirn. »Deine Gedanken sind manchmal furchtbar laut, McGonagall.«

Der Fahrstuhl um sie herum schien zu schrumpfen und die Luft wurde dünn. Ihr war kalt, so kalt als stünde ein Dementor direkt hinter ihnen. Jegliche gepfefferte Beleidigungen, die ihr so einfielen, blieben ihr im Halse stecken. »Das kann nicht dein Ernst sein«, stammelte sie betroffen.

Freudlos lachte Mulciber auf. »Keine Sorge, es interessiert mich wirklich nicht, welchen Umgang du sonst so zu deinen Liebschaften pflegst. Wobei es unter diesen Umständen fast schon tragisch ist, wie treudoof Urquart dir hinterherläuft.«

Ohne ihr noch einen weiteren Blick zu widmen, marschierte er den langen Flur hinab. Minerva beeilte sich, aus dem Fahrstuhl zu springen, bevor er wieder hoch ins Atrium fuhr. Mit einem Knoten im Magen sah sie dem wehenden Umhang Mulcibers hinterher, der gerade um eine Ecke verschwand. Sie hätte ihn wirklich in eine Nacktschnecke verwandeln sollen. Wobei das noch nett gewesen wäre.

 

Der Gerichtssaal Nummer drei hatte sich in zehn Jahren kein Stück verändert. Trotz der vielen Fackeln an den Wänden blieb es düster und die harten Zuschauerbänke waren genauso unbequem wie immer. Weder Angeklagte noch Mitglieder des Gamot sollten sich in dem steinernen Rund wohlfühlen.

Entgegen Minervas Annahme war sie nicht die Einzige, die zur Haftüberprüfung aufgetaucht war. Neben ihr gab es eine weitere Zuschauerin, eine junge Hexe in einem auffällig schillernden Umhang, deren giftgrüne Schreibfeder von alleine über den Schreibblock in ihren Händen huschte. Sie warf Minerva einen kurzen Blick zu, ehe sie sich wieder ihrem Text widmete.

Minerva kam das recht, immerhin war sie bloß hier, um Elphinstone abzupassen. Sobald er an der Spitze der Verhandelnden den Gerichtssaal betrat, zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen, als wollte es mit einem Schrumpfkopf konkurrieren. Die tiefen Ringe unter seinen Augen waren jetzt noch dunkler und der steife Gang sowie der verspannte Kiefer sprachen davon, dass er in den letzten Stunden zu viel Zeit hier verbracht hatte.

Falls er überrascht war, sie hier zu sehen, ließ er es sich nicht anmerken. Routiniert schlug er die erste Akte auf, rief den Namen auf und widmete sich der Frage, welche vorübergehend inhaftierten Hexen und Zauberer das Ministerium auf freien Fuß setzen sollte. Er verlas unzählige Anklagepunkte nacheinander, die alle ein ähnliches Bild zeichneten: Demonstranten, die Beamte angegriffen hatten; die Vandalismus betrieben hatten oder unerlaubt in geschützte Bereiche vorgedrungen waren.

Es waren genug bekannte Namen unter den Hexen und Zauberern, die das Gamot an diesem Tag unbescholten ziehen ließ. Letztlich lag die Entscheidung dafür nicht allein bei Elphinstone als Ankläger, doch angesichts der dürftigen Faktenlage, die er nüchtern vortrug und anschließend mit einer Empfehlung für ein niederes Strafmaß beendete, folgte das Gericht ihm nur in wenigen Fällen. Selbst wenn sie jedem einzelnen Demonstranten den Prozess bereiten wollten, sie wären noch in Jahren damit beschäftigt, das wusste Minerva. Früher oder später zögen schließlich die langsamen Mühlen der Justiz weitere Aktenschließungen nach sich, um dringlicheren Angelegenheiten Platz zu lassen.

All die Jahre später wieder hier zu sitzen und Elphinstone bei der Arbeit zu beobachten, versetzte sie mehr in die Vergangenheit zurück als der kürzliche Besuch ihrer Erinnerung. Seit damals hatte sich vieles verändert, aber eines blieb – sie bewunderte die Fassung, mit der er sein Plädoyer führte; die Routine und Ruhe, die er ausstrahlte, wenn es darauf ankam.

Die Hexe neben Minerva schien das anders zu sehen, denn sie schüttelte im Laufe der Zeit immer wieder mit dem Kopf, woraufhin ihre Feder noch eifriger die Zeilen füllte. Neugierig versuchte Minerva, einen Blick auf die Worte zu erhaschen, doch schon blätterten sich die Seiten um. Ob sie für irgendeine Zeitung arbeitete? Sie war reichlich jung – wenn auch keine ihrer ehemaligen Schülerinnen –, vermutlich hatte man ihr deshalb diese unliebsame Tätigkeit zugeschoben, die sonst niemand gerne erledigte.

Ihr Blick blieb nicht unbemerkt, denn die blonde Hexe sah von ihrem Notizbuch auf und schenkte ihr ein zahnreiches Lächeln. Sie lehnte sich über die Bank hinweg zu ihr, eine Hand mit rot lackierten Fingernägeln auf Minervas Arm gelegt. »Meine Liebe, verzeihen Sie meine Neugier, aber – es ist nicht zufällig jemand Bekanntes von Ihnen unter den angeklagten Demonstranten?«, fragte sie in breitem amerikanischen Akzent.

»Sicher nicht«, schnaubte Minerva.

»Nicht?« Überrascht zuckten die aufgemalten Augenbrauen der Frau in die Höhe. »Was machen Sie dann hier?«

Minerva entging nicht, dass die Feder in ihrem eifrigen Kritzeln innehielt.

»Ich schaue zu«, entgegnete sie ausweichend.

Doch ihr Gegenüber lächelte nur breiter. »Keine Sorge, mir können Sie vertrauen. Rita Kimmkorn, Juniorreporterin vom Tagespropheten«, sagte sie mit stolzgeschwellter Brust und schüttelte Minerva erstaunlich fest die Hand. »Ich versichere Ihnen, ich habe nicht vor, die Unzulänglichkeiten unseres Ministeriums länger zu verschweigen! Mein Artikel wird eine Abrechnung mit allen Versäumnissen, die unsere reinblütigen Freunde aufgedeckt haben.«

»Oh ist das so?« Beinahe vergaß Minerva, zu flüstern. »Haben Sie mal genauer nachgesehen, was Ihre reinblütigen ‚Freunde‘ sich unter einer besseren Welt vorstellen? Vielleicht sollten Sie lieber darüber einen Artikel schreiben. Und nun, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss Kimmkorn, würde ich gerne das Verfahren verfolgen.«

Damit rutschte sie aus der Reichweite ihrer lackierten Fingernägel und wandte den Blick zurück in den Saal. Vom Block der Reporterin her hörte sie hektisches Federkratzen. Sie ahnte, dass sie diese Worte noch bereuen würde. Immerhin ließ die Hexe nun von ihr ab.

Es dauerte, bis Elphinstone endlich die letzte Akte zuschlug und die Verhandlungen vorläufig ein Ende fanden. Minerva wartete, bis der Gerichtssaal sich leerte, bevor sie sich erhob und ihm entgegenlief. Sie umklammerte den Riemen ihrer Tasche fester, als sie ihm gegenübertrat. All die Erlebnisse des gestrigen Tages überkamen sie erneut mit der Wucht eines Klatschers. Ihre Handflächen wurden rutschig vor Schweiß.

Doch der Drang, ihren Plan durchzuziehen, überwog. Bevor er auch nur ein Wort gesagt hatte, zog sie ihn in eine rasche Umarmung. Es war verrückt, aber sie hatte ihn innerhalb der wenigen Stunden, die ihr wie Monate vorkamen, wirklich vermisst. So sehr, dass sie am liebsten einen Moment länger verharrt hätte; länger als akzeptabel wäre.

»Wir müssen reden, alleine«, flüsterte sie, denn die Reporterin auf der Zuschauerbank veranstaltete ein ziemliches Aufheben darum, ihre Sachen zu packen.

»Mein Büro in zwanzig Minuten?«

Sie nickte kaum merklich, ehe sie sich von ihm löste.

»Bis gleich«, formte er mit den Lippen, dann verschwand er durch den separaten Eingang für die Mitglieder des Gamots.

An der Tür wartete unterdessen die blonde Reporterin. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war ähnlich hungrig wie das von Mulciber.

»Sparen Sie sich Ihre Fragen«, zischte Minerva ihr im Vorbeigehen zu.

Glücklicherweise folgte die Frau ihr den langen Flur zwischen den Gerichtssälen nicht und als sie sich an der Treppe umdrehte, war die Hexe einfach verschwunden. Es war ihr nur recht, wenn die neugierige Reporterin nicht mitbekam, wie sie mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock zu Elphinstones Büro fuhr.

Minerva war nicht darauf vorbereitet, was es bedeutete, ihrem alten Arbeitsplatz wieder so nahe zu sein. In zehn Jahren hatte sich erstaunlich wenig verändert. Die Teppiche waren immer noch von derselben unidentifizierbaren Farbe und die Büros links und rechts dieselben wie zu ihrer Zeit.

‚Ihre‘ Abteilung war ebenfalls genau so wie damals. Nur saßen neue Hexen und Zauberer an den Schreibtischen, die sie nicht kannte. Fast ein bisschen wehmütig musterte sie ihren alten Platz, bis die dort sitzende Frau ihren Blick bemerkte und sie misstrauisch anstarrte. Es kribbelte in Minervas Nacken und eilig ging sie weiter zu Elphinstones Büro.

Es überraschte sie, dass sie immer noch Zugang durch den Schutzzauber hatte, der es ausgewählten Personen erlaubte, den Raum trotz seiner Abwesenheit zu betreten. Eigentlich hätte er sie entfernen müssen infolge ihrer Kündigung.

Wenigstens in seinem Büro fand sie Veränderung vor, ein Umstand, der sie erleichterte – sie war nicht mehr dieselbe wie vor zehn Jahren und er ebenso wenig. Es waren Kleinigkeiten; ein anderer Teppich, die frische Aussicht auf schottische Berge durch das verzauberte Fenster, neue Bilder in den Silberrahmen. Aber auch Altbekanntes war dabei, wie die Tasse in Form eines Schnatzes, die er bei einem bürointernen Wichteln zufällig von ihr erhalten hatte.

Wie in seiner Wohnung hatten in dem kleinen Raum einige Pflanzen ihren Platz – allen voran die berühmt-berüchtigte Miss Cuddles. Das Monster von Teufelsschlinge in seinem riesigen Topf war gewachsen und offenbar nicht weniger anhänglich als bei ihrer letzten Begegnung. Mit einem bestimmten Schubs stieß Minerva eine dicke grüne Ranke von ihrer Schulter, die sich vorwitzig anschlich. Da es hier unten kein echtes Tageslicht gab, fühlte die Pflanze sich im gedämpften Licht des Büros eindeutig zu wohl.

Minerva zog ihre klimpernde Handtasche auf den Schoß und wartete im gemütlichen grünen Polstersessel vor dem Schreibtisch. Dem Linken, denn der Rechte hatte eine lose Feder und ein wackelndes Bein. Dort bat Elphinstone nur diejenigen Platz zu nehmen, die nicht länger als nötig verweilen sollten.

Allzu viel Geduld brauchte sie nicht, bevor er eintrat. Kaum war er durch die Tür, da legte er schon einen Imperturbatio-Zauber auf diese und verschloss sie anschließend zusätzlich mit einem Schlenker des Zauberstabs. Sicher war sicher.

Er lehnte sich gegen die Tür und nahm einen tiefen Atemzug mit geschlossenen Augen. »Tut mir leid, falls du warten musstest. Dieser Tage nutze ich lieber das alte Treppenhaus, anstatt mit irgendwem im Fahrstuhl eingesperrt zu sein. Nichts als Fragen, auf die ich keine Antworten habe.«

Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Ist wohl besser. Hast du die Blonde auf der Zuschauerbank gesehen? Tagesprophet«, seufzte sie. »Die hat schon versucht, mich auszufragen. Und ich glaube, aus ihrer Feder springt nichts Gutes.«

Elphinstone verzog das Gesicht. »Nun, daran muss ich mich wohl gewöhnen. Besser wird’s so schnell nicht mehr, fürchte ich. Nicht, wenn ich noch zwanzig solcher brisanter Akten auf dem Tisch habe. Egal. Min, was machst du hier?« Besorgt, aber trotzdem erfreut musterte er sie.

»Ich habe Neuigkeiten und einen Plan.«

Unter lautem Rumsen warf er seine Unterlagen auf den Schreibtisch und ließ sich dann dahinter fallen. »Wenigstens etwas Gutes.«

»Ich fürchte nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben viel mehr ein großes Problem.«

»Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß«, seufzte er, eine Hand an die Stirn gelegt. »Ich würde sagen, es sind sogar gleich mehrere Probleme. Aber wenn du einen Plan hast, dann gibt es eine Lösung, oder?«

Ähnlich laut wie zuvor seine Akten stellte sie die Handtasche auf seinem Schreibtisch ab. Die Handflächen zu beiden Seiten aufgestützt, lehnte sie sich vor und sah ihn eindringlich an. »Ich fürchte, das, was du noch nicht weißt, werde ich dir gleich erzählen und es wird keine angenehme Überraschung.«

Sie zog Pomonas feinsäuberlich verpacktes Päckchen aus den Tiefen des Ausdehnungszaubers hervor. Mit einem dumpfen Schlag landete es auf den Akten.

»Was ist das?«

»Mach es auf.«

Die Arme verschränkt, beobachtete sie, wie Elphinstone die obenliegende Melionwurz in Augenschein nahm. Fragend legte er den Kopf schief.

»Wozu das?«

»Weißt du, was das ist?«

Seine Stirn legte sich in Falten. »Sicher. Melionwurz.«

Gestikulierend bedeutete sie ihm, das näher auszuführen.

»Wächst in Südostasien. Handelsklasse C, nur unter strengen Einfuhrbedingungen zu bekommen und Bestandteil einiger potenter Tränke mit – sagen wir hässlichen Wirkungen. Oft verwendet in Schutzzaubern nicht ganz legaler Art, um unerwünschte Eindringlinge festzuhalten. Den Opfern solcher vermeintlichen Schutzmaßnahmen fehlen gerne mal ein paar Gliedmaßen. Man bekommt ja so einiges zu sehen bei den permanenten Fluchschäden, aber dieses Zeug gehört zu den schlimmeren Dingen. Andererseits ist die Wurz auch ein Bestandteil des Skele-Wachs, mit dem man Knochen nachwachsen lassen kann. So oder so – eine ziemlich langweilige Pflanze bei der Wirkung, wenn du mich fragst.«

Eine mustergültige Antwort, ganz wie Pomona sie ihr gegeben hatte. Zufrieden sank Minerva wieder in den Besuchersessel, während Elphinstone die Wurz vor sich ablegte und mit leuchtenden Augen den Setzling der Teufelswelwitschia entdeckte, der sich darunter verbarg.

»Ich habe die Erinnerung von Mulciber gesehen«, erklärte sie. »Der Unterschlupf der Entführer wird höchstwahrscheinlich mit einem solchen Zauber geschützt, da Rowle nicht nur Finsternisschoten, sondern auch dieses Kraut zugespielt bekommen hat.«

Nichts erweckte den Anschein, als würde ihre Aussage Elphinstone beunruhigen. Er sah zwar müde, aber entschlossen aus. »Also war die Erinnerung von Mulciber brauchbar?«, fragte er begierig. »Hast du noch etwas Nützliches erfahren? Womit – oder mit wem – werden wir es noch zu tun bekommen?«

Minerva nahm einen tiefen Atemzug, den Blick gedankenverloren auf die fangzähnige Geranie am Rand des Schreibtisches gerichtet, über deren Blätter ein glänzender schwarzer Käfer krabbelte.

»Jetzt kommen wir zu dem komplizierten Teil«, murmelte sie und lächelte ihn entschuldigend an. »Lass mich gleich eines sagen – ich vertraue dir. Ich vertraue dir, weil wir uns seit dreizehn Jahren kennen und ich dich zu meinen engsten Freunden zähle. Aber was denkst du, wo diese Mittel herkommen?«

Nachdenklich hob Elphinstone die Melionwurz wieder an und rollte das Knäuel über seine Handfläche. »Aus illegalem An-«, er unterbrach sich selber und starrte auf die unscheinbare Wurzel, als hätte sie ihn gebissen. »Oder ... nein ...«

»Deine Familie betreibt immer noch mehrere Plantagen mit magischen Pflanzen im Ausland, nicht wahr?«

Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Unter anderem im philippinischen Hochland«, murmelte er. »Und ... in Peru. Deshalb habe ich die Finsternisschote erkannt, weil ich weiß, dass sie dort testweise angebaut wurde.«

Sanft nickte Minerva ihm zu. »Und ich weiß noch, wie du mir einst erzählt hast, dass du mit dem Geschäft nichts zu tun hast. Aber das hier geht dich trotzdem an. Also gut ...«

Elphinstone hörte sich ihre Schilderungen der Erinnerung ruhig an. Nur an seinem Kiefer, der sich immer fester aufeinanderpresste und den Fingern, die zusehends die Melionwurz zerdrückten, erkannte sie seine innere Unruhe.

Als sie fertig war, schloss er für einen Moment die Lider und lehnte seinen Kopf zurück. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll. Oder wie. Bei Merlin ...«

Er schlug die Augen wieder auf. Sein Blick traf Minerva unvorbereitet. Wenn sie nicht längst davon überzeugt gewesen wäre, dass er nichts wusste, dann spätestens jetzt. Der Verrat stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Ich ...« Kopfschüttelnd starrte er hoch an die Decke. »Das hätte ich nie erwartet. Elladora hat mich sogar erwähnt?«

Minerva fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ja. Aber bei Merlins Unterhosen, ich bin mir nicht einmal sicher, dass die Erinnerung nicht manipuliert ist! Möglich wäre es Mulciber schließlich. Dafür bin ich mir allerdings sicher, dass du so etwas nie unterstützen würdest. Egal wie deine Familie ist.«

Ein freudloses Lachen entkam Elphinstone. »Meine Familie ist nicht so. Elladora offenbar schon. Sie soll das Unternehmen meiner Eltern für seltene Trank- und Heilzutaten übernehmen, nicht ruinieren, indem sie ihre Position ausnutzt und gefährliche Pflanzen an Verbrecher verteilt.« Er presste die Lippen fest aufeinander und starrte ins Leere. »Ich hätte mir nie träumen lassen, dass es eine dieser Finsternisschoten ist, die ich am Tatort finde. Ich kann nicht glauben, dass ich so blind war! Es ... es tut mir so leid.«

»Nein, mir tut es leid, dass du es so erfahren musst, Elphinstone.«

»Kann ... kann ich es sehen? Die Erinnerung?«

Sie zog die Phiole aus ihrer Tasche. »Natürlich. Soll ... ich mitkommen?«

Für einen Moment sah er unschlüssig auf die blauen Wirbel, dann wieder zu ihr. Er nickte, ehe er sein handliches kleines Denkarium aus dem Schrank holte.

Inzwischen war Minerva vorbereitet auf jeden Schluckauf in der Erinnerung, auch wenn sie ihr nach wie vor Kopfschmerzen bereiteten. Elphinstone hingegen sah aus, als würde er sich am liebsten in den Nebel übergeben, sobald sie in dem Muggelwohnzimmer standen. In einer stummen Einladung streckte sie ihre Hand aus und er griff danach. Die Finger verschränkt, fühlte sie, wie er zusammenzuckte, als seine Schwester den Kamin verließ.

»Ich hätte nie gedacht, dass sie uns mal so hintergehen würde«, flüsterte er leise.

Mitfühlend drückte sie seine Hand. »Wenigstens können wir das aufhalten. Du bist doch noch dabei, oder?«

Er senkte den Kopf, sodass ihm sein blondes Haar in die Stirn fiel, und sah auf ihre verbundenen Hände. »Natürlich. Ich kann das mit dem Jungen nicht zulassen.«

Sie schwiegen eine Weile, während die Erinnerung um sie herum weiterlief.

»Hey Phin ...«, durchbrach Minerva schließlich infolge einer spontanen Eingebung die Stille nach Elladoras Abreise, »hast du morgen Abend zufällig noch nichts vor? Ich hätte da eine Einladung fürs Abendessen um neunzehn Uhr. Und die Aussicht auf die Adresse unserer Entführer. Wenn wir das haben, könnten wir direkt weiter machen.«

»Klingt gut.«

»Oh, aber ich muss dich warnen – es ist bei meinen Eltern.«

Jetzt hob Elphinstone den Kopf, ein leichtes Schmunzeln um die Mundwinkel. »Dann werde ich definitiv da sein.«

Keine Minute später waren sie zurück auf festem Boden in seinem Büro, ihre Hände voneinander gelöst.

»Gut, dann enthülle ich dir mal Stufe eins des Planes.« Minerva zog die Trankphiolen aus ihrer Tasche und reihte sie vor Elphinstone auf. »Dank Monas und Horace’ Hilfe habe ich gestern einige Vorbereitungen getroffen. Ein paar Sachen benötigen noch Verfeinerung – das würde ich gerne dir überlassen. Ich habe eine Liste geschrieben, was wir noch gebrauchen können. Bis morgen Abend haben wir ja reichlich Zeit.«

Die Lippe zwischen die Zähne geschoben, musterte er ihre Ansammlung an mehr oder minder durchschlagskräftigen Tränken. Er nahm eine kleine Phiole mit dunkelblauer Füllung in die Finger und drehte sie nachdenklich hin und her. Seine Gedanken schienen noch in der Erinnerung zu verweilen. »Danke. Für dein Vertrauen in mich.« Mit einem verdächtigen Glänzen in den Augen sah er sie an. »Ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen sollst.«

Sie nickte. »Ich bin mir sicher, das werde ich nicht.«

»In Sachen Elladora –«

»Du kannst nichts tun. Nicht jetzt. Das weiß ich.«

»Leider. Wenn sie erfährt, dass wir von der Sache wissen, könnte sie die anderen warnen. Aber wenn das vorbei ist, dann werde ich sie nicht in Schutz nehmen.«

Er fuhr sich über das Gesicht und Minerva wandte betreten den Blick ab. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie er sich fühlte. Wenn ihr das Gleiche mit Robbie oder Malcolm passieren würde ... nicht auszudenken.

»Kann ich sonst noch etwas tun?«, fragte Elphinstone nach einer kleinen Pause.

»Vielleicht kannst du uns ein bisschen Ausrüstung besorgen? Alles, was das Ministerium so entbehren kann? Ein Unsichtbarkeitsumhang wäre praktisch.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann. Dann ... bis morgen Abend?«

Sie lächelte. »Ja. Ich hole dich ab. Und ... viel Erfolg noch. Pass auf die Reporterin auf.«

Ehemals

Das entfernte Rauschen des Meeres begrüßte Minerva, als sie und Elphinstone mit einem Knall auf einem Feld am Rande von Caithness apparierten. Zufrieden nahm sie einen tiefen Atemzug der salzigen Seeluft. Sie hatte ihrer Heimat lange keinen Besuch mehr abgestattet. Der Wind war eine Wohltat, nachdem sie den ganzen Vormittag zwischen staubigen Büchern verbracht hatte.

»Willkommen in Caithness«, sagte sie.

Aufmerksam wanderte Elphinstones Blick neben ihr über die ländliche Gegend im Licht der schwindenden Sonnenstrahlen. In seinem feinen – und muggelgerechten – Anzug nebst dunklem Wollmantel sah er ziemlich unpassend vor der Kulisse des Ackerlands aus. Das schien ihn aber wenig zu stören, so interessiert musterte er die Felder.

»Ah, ich fühle das Meer«, seufzte er, ohne Anstalten zu machen, ihr den Arm zu entziehen, nachdem er sich für das Seit-an-Seit-Apparieren bei ihr untergehakt hatte. »Mir gefällt’s. Kein bisschen wie London. Da verstehe ich doch glatt, wieso du es nie dort ausgehalten hast. Nichts geht über den guten alten schottischen Wind, vor allem wenn man Stunden am Schreibtisch verbracht hat.«

Sie schmunzelte. »Na komm. Wir haben leider nicht den ganzen Tag Zeit, mein Heimatdorf zu bewundern.«

Der Weg zum Haus ihrer Eltern war nicht weit. Sie lebten in einem kleinen Pfarrhaus nahe der Kirche, am Rande des Ortes. Nur wenige Leute waren zu dieser Zeit im Dorf unterwegs, was Minerva recht war, denn Elphinstone zog unweigerlich Blicke auf sich. Nicht nur aufgrund seiner vornehmen Kleidung, sondern einfach schon, weil ihn niemand hier kannte.

Bestimmt würde man im Dorf darüber tratschen, dass das seltsame Mädchen der McGonagalls einen solchen Mann mitgebracht hatte. Das war etwas an ihrer Heimat, was sie überhaupt nicht vermisste. Immerhin musste sie sich mit dem daraus resultierenden Klatsch nicht arrangieren – sollten die Leute doch schwätzen, was sie wollten, wenn sie erstmal wieder in Hogwarts war. Außer in den Briefen ihrer Mutter bekam sie von den Dorfgerüchten nicht mehr viel mit.

Unglücklicherweise war das Schicksal ihr jedoch an diesem Tag genauso wenig gewogen wie in der vorangegangenen Woche. Sie hatten gerade das Gemeindehaus passiert, da öffneten sich dessen Türen und gleich ein ganzes Grüppchen Dorfbewohner kam laut schwatzend heraus. Das war freilich nicht das Schlimmste daran.

»Minerva?«, erschallte es hinter ihnen.

Wenn es einen Zauber gegeben hätte, der den Boden sie verschlingen lassen würde – sie hätte ihn zu gerne benutzt. Stattdessen drehte sie sich mit gequältem Ausdruck zu dem Rufenden um.

»Hallo Dougal.«

Dougal McGregor sah so gut aus wie jeher, stellte Minerva mit einem Stich im Herzen fest. Seine dunkelbraunen Locken, die grünen Augen, das Lächeln. Groß gewachsen und durch die jahrelange Arbeit auf dem Hof seiner Familie kräftig, mit den Spuren sommerlicher Bräune am Leib. Ein zotteliger Hund trottete neben ihm her und an seiner Hand lief ein kleines Mädchen, ungefähr sechs Jahre alt.

Es fiel ihr schwer, den Blick von seiner Tochter zu lösen, die ihm unheimlich ähnelte. Das letzte Mal, als sie das Kind gesehen hatte, war es noch ein Baby gewesen – die sahen alle gleich aus.

»Was für eine Überraschung, dich hier zu sehen«, sagte Dougal strahlend, sich offenbar nicht bewusst, wie unangenehm die Situation für sie war. Er kam vor ihr und Elphinstone zum Stehen. »Ich habe schon gedacht, du kommst nicht mehr zurück – das sind jetzt bestimmt zwei Jahre, die wir uns nicht gesehen haben, oder?«

»Oh ja, das kann sein. Es ist nur ... viel zu tun auf der Arbeit.« Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern. »Ich war wirklich lange nicht hier.« Und sie hatte immerzu einen Bogen um seinen Hof gemacht, wenn sie hier war, aber das gestand sie ihm natürlich nicht.

»Solange du dich nicht von den Stadtleuten ärgern lässt – manchmal braucht man ja auch Urlaub, vor allem jemand wie du. Du hast schon immer zu viel gearbeitet.« Dougals Blick wanderte von ihr zu Elphinstone. »Überhaupt, wie unhöflich von mir! Ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt. Ist das dein Ehemann?«

Erst jetzt wurde Minerva bewusst, wie selbstverständlich sie bei Elphinstone untergehakt war. Sie brachte es nicht über sich, nun den Arm zurückzuziehen, auch wenn seine Berührung mit der Erkenntnis deutlich schwerer wog. Betreten warf sie ihm einen Seitenblick zu und sah, dass er sein professionelles Ministeriumslächeln zur Schau trug.

»Nein, bedauere«, sagte er zu Dougal, »ich bin bloß einer von diesen Stadtmenschen, der Minerva gerne mit einem ganzen Aktenstapel am Urlaub gehindert hat. Zumindest früher, bis sie einen besseren Vorgesetzten gefunden hat. Elphinstone Urquart.«

»Oh, gleich ins Fettnäpfchen getreten.« Dougal lächelte entschuldigend und streckte seine Hand aus. »Freut mich trotzdem. Dougal McGregor, ein alter Bekannter von Minerva.«

Elphinstone löste den Arm von Minervas und reichte Dougal seinerseits die Hand. »Tatsächlich habe ich den Namen schon mal gehört«, schmunzelte er. »Keine Sorge, nur Gutes. Freut mich, Sie persönlich kennenzulernen.«

»Da bin ich aber erleichtert«, lachte Dougal. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Nun gut, ich will euch auch gar nicht aufhalten, ihr seid sicher bei Minervas Eltern eingeladen! Auf jeden Fall schön, dich mal wieder gesehen zu haben, Minerva.« Leiser fügte er hinzu: »Und ich hoffe, es ist wirklich alles in Ordnung bei dir?«

Wie von alleine lächelte sie, obwohl sie lieber davongerannt wäre. »Ja klar. Bei euch hoffentlich auch?«

Er sah zu seiner Tochter hinab. »Ja. Kaum zu glauben, aber bald wird Mia schon sieben. Und Victoria ist wieder schwanger. Ende November soll es so weit sein. Also ... uns geht’s gut.«

»Das freut mich für euch. Richte Victoria Grüße aus, ja?«

»Mach ich. Also dann. Hoffentlich sehen wir uns bald mal wieder!« Dougal winkte zum Abschied und spazierte mit Tochter und Hund in die entgegengesetzte Richtung.

Minerva stieß einen langen Seufzer aus. Das hatte ihr wirklich noch gefehlt. Dagegen würde es ein Spazierflug sein, Elphinstone bei ihren Eltern vorzustellen, egal wie merkwürdig es sein mochte, den ehemaligen Vorgesetzten zum familiären Abendessen einzuladen.

Elphinstone hatte inzwischen die Hände in den Hosentaschen versenkt und sah im Gegensatz zu ihr unverhohlen Dougal hinterher, ein kleines Grinsen im Gesicht. »Tja, ich verstehe, dass du ihn fast geheiratet hättest. Ziemlich attraktiv, muss ich sagen. Außerdem scheint er ein anständiger Kerl zu sein, so wie er sich um dein Wohlergehen sorgt.«

Sie schluckte trocken. Ihr drängte sich wieder der Gedanke an Mulcibers gehässige Worte im Fahrstuhl auf. Hatte sie Dougal je aufrichtig geliebt, wenn sie ihn einfach so für eine Stelle in London verlassen hatte? Oder war die magische Welt ihre wahre Liebe?

»Jetzt ist es zu spät für Reue«, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu Elphinstone.

»Hey, das wollte ich damit nicht ausdrücken. Ich wollte nur sagen, dass ich deinen Zwiespalt verstehe.« Versöhnlich streckte er seinen Arm in ihre Richtung. »Auch wenn ich eher ein Katzen- als ein Hundemensch bin, macht er mir einen guten Eindruck. Und er hat einen netten Hintern.«

»Nicht dein Ernst.« Sie warf ihm einen strengen Blick zu, hakte sich aber wieder unter.

»Ach komm, erzähl mir nicht, das wäre dir nicht aufgefallen. Innere Werte schön und gut, aber man kann sich nebenbei an der netten Verpackung dieser erfreuen. Wenn die Muggel keine Umhänge tragen, muss man das ja bemerken.«

»Ich meinte eher die Katzensache. Aber erzähl mir gerne noch mehr davon, warum du meinem ehemaligen Verlobten auf das wohlgeformte Gesäß starrst.«

Elphinstone lachte und ließ sich von ihr in Richtung Elternhaus ziehen. In Minervas Kopf wiederholte sich derweil unablässig die kurze Begegnung mit Dougal, wie eine gesprungene Platte.

 

Die Familienkatze war die Erste, die sie begrüßte, kaum, dass die Tür einen Spalt breit auf war. Maunzend schlich sie um ihre Füße und rieb ihren Kopf an Minervas Bein.

»Eine Verwandte von dir?«, fragte Elphinstone, der sich gebückt hatte, um die Katze hinter den Ohren zu kraulen.

Damit erntete er ein Schnauben von Minerva – und ein Lachen von ihrem Vater, der im Türrahmen lehnte, eindeutig die ältere Ausgabe seines jüngsten Sohnes Robbie, allerdings mit grauem Haar.

»Eine gewisse Ähnlichkeit zu meiner Tochter lässt sich nicht bestreiten. Trotzdem glaube ich, dass das eine gewöhnliche Hauskatze ist. Wenn man einmal davon absieht, dass sie mich schon über dreißig Jahre lang als ihren persönlichen Dosenöffner betrachtet und damit erstaunlich lange lebt. Aber was ist schon normal in diesem Haushalt.«

»Tja, kommt auf die Definition von normal an, würde ich sagen.« Elphinstone lächelte höflich, während die Katze ihn aufmerksamkeitsheischend anstupste, um noch mehr Streicheleinheiten zu kassieren. »Als Zauberer dürfen Sie mich da wohl nicht fragen.«

Robert McGonagall schmunzelte. »Wohl wahr.«

»Hallo Dad.« Minerva umarmte ihn zur Begrüßung, ehe er Elphinstone ins Visier nehmen konnte. »Schön dich zu sehen. Das ist übrigens –«

»Dein ehemaliger Vorgesetzter.« Ihr Vater musterte sie mit einem wissenden Lächeln und doch nicht ohne Ernst hinter seiner runden Brille. »Robbie hat eine Eule geschickt und so etwas erwähnt.«

Minerva kniff die Augen zusammen. Wenn er ihren Eltern irgendeinen falschen Eindruck vermittelt hatte, würde sie ihren Bruder eigenhändig in eine Teekanne verwandeln. Ihr Vater verstand als Pastor wenig Spaß in dieser Hinsicht.

»Apropos, dein Bruder verspätet sich, wir sollen schon einmal ohne ihn anfangen. Er entschuldigt sich, aber er meinte, er habe dir versprochen, etwas zu regeln, also werden wir warten müssen.«

»Oh, na schön, dann ...« Sie überließ es Elphinstone, sich förmlich vorzustellen, immerhin hatte er darin Übung.

Im Wohnzimmer saß bereits ihr anderer Bruder Malcolm am Esstisch, der mit demselben schwarzen Haar wie seine Geschwister gesegnet war. Er hatte sich über irgendwelche Arbeitsunterlagen gebeugt und ihre Ankunft ging im allgemeinen Trubel vollkommen unter. Isobel McGonagall, eine große Hexe mit dunklen Locken, die von grauen Strähnen durchzogen wurden, herrschte ihren Sohn gerade an, endlich den Platz zu räumen und seine Töchter, dreijährige Zwillinge, jagten einander auf Spielzeugbesen um den Wohnzimmertisch.

Robert kam hinter Elphinstone herein. »Willkommen bei den McGonagalls, beachten Sie das Chaos einfach nicht. Vollkommen normal hier.«

Das entlockte Elphinstone ein kurzes Lachen. »Ich muss gestehen, ich habe es mir anders vorgestellt. Nun, die Wahrheit gefällt mir besser.«

»Passen Sie nur auf, wenn Sie das erste Mal eine der Kleinen mit dem Besen umfliegt, dann ändern Sie Ihre Meinung noch.« Etwas empört sah ihr Vater Minerva an. »Ehrlich, diese Besen zum Geburtstag hätten nicht sein müssen. Die beiden fliegen ungefähr genauso lebensmüde wie du.«

»Man muss den Nachwuchs frühzeitig fördern«, sagte Minerva achselzuckend. »Und Malcolm denkt ja nur an Bücher. Typisch Ravenclaw.«

Sie wandte sich ihrem Bruder zu, der von ihrer Ankunft immer noch keine Notiz genommen hatte. Schmunzelnd lehnte sie sich über den Tisch und schnappte ihm ein Pergament unter den Fingern weg. Das Blatt war kreuz und quer mit Zeichnungen einer neuen Produktreihe an faltbaren Kesseln übersät.

»Spannend«, sagte sie nicht ganz ohne Ironie.

»Die Tropfrate ist wichtig«, grummelte Malcolm anstelle einer Begrüßung. Selbst während des Aufräumens las er weiter, die Stirn gerunzelt.

»Wirklich, Malcolm, du arbeitest zu viel.«

»Das sagt die Richtige. Du wohnst auf deiner Arbeit!« Er sah gespielt anklagend von seinen Unterlagen auf.

»Und du würdest gerne auf deiner Arbeit wohnen, wenn ich mir deine Überstunden so ansehe. Ein Wunder, dass Lizzie dir heute die Zwillinge überlassen hat, wo du mit der Nase nur in den Pergamenten steckst.«

Malcolm gab sich nicht geschlagen. Er musterte Elphinstone und entgegnete schließlich trocken: »Du hast deinen Vorgesetzten mitgebracht zum Abendessen. Wenn du könntest, wärst du mit deiner Arbeit verheiratet, aber näher ran kommst du wohl nicht mehr – auß-«

»Ich sehe Albus Dumbledore nirgends, du etwa?«

Für einen Moment fürchtete Minerva, Elphinstone würde ein vorwitziger Kommentar entfliehen, aber dann bemerkte er ihren warnenden Blick und beschied sich auf ein verlegenes Hüsteln. Wenn ihr Vater von den zehn Heiratsanträgen wüsste, könnte sie gleich rausgehen und ihm helfen, sein Grab auszuheben.

Robert McGonagall betrachtete seine zankenden Kinder mit verschränkten Armen. Er seufzte leise. »Malcolm, benimm dich, sonst verscheuchst du noch unseren Gast, ihren ehemaligen Vorgesetzten.«

»Keine Sorge, ich habe drei Schwestern«, sagte Elphinstone leichthin. »Damit kenne ich mich bestens aus.«

Endlich wurde auch Minervas Mutter auf den Besuch aufmerksam. Strahlend schloss sie ihre Tochter in die Arme und zum dritten Mal an diesem Abend kam Elphinstone zu dem Vergnügen, sich vorzustellen. Isobel McGonagall hatte allerdings keine Zeit, lange Worte zu wechseln, denn in der Küche kochte irgendein Topf über und fluchend entschwand sie wieder.

Das Abendessen geriet schließlich zu einer lauten Angelegenheit, obwohl Robbie noch gar nicht aufgetaucht war. Dafür bekamen sich Malcolms Zwillinge in die Haare, weil sie beide jeweils versuchten, ihre Bohnen bei der anderen auf den Teller zu schmuggeln. Elphinstone schlug sich dennoch tapfer und schaffte es, Minervas Vater in eine angeregte Unterhaltung über magische Pflanzenzucht zu verwickeln, während Isobel den neusten Dorfklatsch an ihre Kinder verteilte.

Irgendwann beim Nachtisch hatte sich die Konversation endgültig verselbstständigt und Minerva Zeit, über einer Schale Himbeerkompott ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Nachdenklich betrachtete sie Elphinstone auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches, der angeregt von den Gefahren im Umgang mit Teufelsschlingen erzählte.

Er war überhaupt nicht wie Dougal, sinnierte sie. Die beiden nebeneinander gesehen zu haben, wollte ihr nicht aus dem Kopf. Nicht nur, dass einer Zauberer und der andere Muggel war, auch sonst hatten sie nichts gemein. Weder ihre Berufe, noch ihre Interessen waren ansatzweise vergleichbar. Ja selbst im Äußeren unterschieden sie sich grundlegend.

Was nicht bedeutete, dass Elphinstone nicht ebenfalls gut aussah, auch im Vergleich zu Dougal. Es begründete sich nur in anderen Dingen. Da war das Lächeln, das mit diesem kleinen Funkeln in seinem Blick anfing, ehe es sich über sein ganzes Gesicht erstreckte, in feinen Fältchen seine grauen Augen umgab und bei dem der linke Mundwinkel etwas höher wanderte als der rechte. Oder die Andeutungen seiner früheren Sommersprossen und die Art, wie ihm sein blondes Haar in die Stirn fiel. Und seine Stimme, die so sanft und zeitgleich so bestimmt war, nur um dann plötzlich diesen glucksenden Unterton zu bekommen, wenn er einen Witz erzählte. Manchmal machte sie das wahnsinnig, aber meist lockte er damit ihr eigenes Lächeln hervor.

Wie groß oder durchtrainiert jemand daherkam, das alles interessierte sie wenig. Es war so schon schwer genug, einen Mann zu finden, der sie überragte, wo sie dank ihrem Vater reichlich hochgewachsen war. Doch selbst wenn es rein auf die Körperlichkeiten ankommen würde, so gelangte sie zu dem Schluss, dass Elphinstone in Hemd und Anzugweste durchaus einen attraktiven Anblick bot. Insbesondere wenn er so wie jetzt den obersten Kragenknopf gelöst und die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte.

Peinlich berührt schob Minerva ihr Glas Elfenwein von sich. Merlin, was war nur los mit ihr? Würde sie ihm bald womöglich noch auf den – zum Glück von einem Umhang bedeckten – Hintern starren? Ausgerechnet hier ergründete sie, was ihr an Männern gefiel! Wann immer sie an die Begegnung mit Dougal dachte (also die ganze Zeit), kam sie nicht umhin, diesen unpassenden Vergleich zu ziehen.

Wenigstens schien Elphinstone ihre eingehende Betrachtung nicht aufzufallen, denn er redete weiter ausgelassen mit ihrem Vater über die Unterschiede zwischen gewöhnlichen und fangzähnigen Geranien. Sie konnte nicht verhindern, dass ein letzter Gedanke zu seiner Attraktivität durch ihren Kopf schoss – er war ein verflucht cleverer Zauberer. Mit ihm war es einfach, stundenlang über alle möglichen magischen (und nichtmagischen) Dinge zu reden. Sie hörte ihm gerne zu oder versank in einer theoretischen Unterhaltung. Sehr gerne. Selbst wenn es um Kräuterkunde ging.

Vorsichtig warf sie einen letzten Blick über den Tisch zu Elphinstone und schämte sich dann gleich wieder dafür, so von ihm zu denken. Er war ein guter Freund, womöglich der Beste, und sie hatten eine Mission, da spielte alles andere keine Rolle. Wenn sie nur nicht genau wüsste, wie er zu ihr stand ...

Malcolm an ihrer Seite stupste sie leicht in die Rippen. »Du starrst dem Armen gleich noch ein Loch mitten durch«, murmelte er so leise, dass nur sie ihn hörte. »Glaubst du, es ist eine gute Idee, dass ihr beide Detektiv spielt?«

Sie seufzte. »Wann hat Robbie dir das denn erzählt?«

Ihr Bruder zuckte mit den Schultern. »Er macht sich Sorgen, dass dir etwas passieren könnte, weißt du. Und ich bin geneigt, ihm recht zu geben.«

»Lass das mal meine Sorge sein. Und wehe, du sagst etwas zu Mum oder Dad. Das ist eine Sache, die sie nichts angeht.«

Er rollte mit den Augen und nahm einen Schluck aus seinem Weinglas. »Würde ich nie tun. Lass uns das nur nicht bereuen.«

»Überhaupt, wo steckt Robbie eigentlich? Hätte er nicht längst da sein sollen?«

»Er war noch nicht fertig mit seinen Berechnungen«, meinte Malcolm und sah zur Uhr hinüber. »Das war allerdings schon vor einer ganzen Weile.«

Zum zweiten Mal an diesem Tag schlich sich der ungebetene Gedanke an Mulciber ein. Er war der Einzige außer ihr und Elphinstone, der von Robbies Verwicklung wusste. Minerva schüttelte den Kopf. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass er so weit gehen würde, sich da einzumischen. Nicht, nachdem er ihr die Erinnerung gegeben hatte, egal was sie enthielt.

»Na, hoffentlich kommt er bald«, murmelte sie nur.

Um sie herum begann die Runde langsam, sich aufzulösen. Die Zwillinge wurden quengelig und verlangten nach Malcolms Aufmerksamkeit, während ihre Mutter sich daran machte, abzudecken. Pflichtschuldig eilte Minerva ihr zur Hilfe.

»Danke Schatz.« Ihre Mutter nahm ihr das Geschirr ab. Doch als Minerva sich wieder umdrehen wollte, schlang sie überraschend die Finger um ihr Handgelenk. Mit einem Ausdruck mütterlicher Besorgnis im Gesicht lehnte Isobel an der Küchentheke und deutete neben sich. »Schätzchen ... nur einen Moment, ja?«

Beunruhigt musterte Minerva ihre Mutter. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter ins Wohnzimmer, doch dort unterhielt Elphinstone bloß die Zwillinge – und gewissermaßen ihren Vater – mit kleinen Seifenblasentieren aus dem Zauberstab, während Malcolm schon wieder in seine Unterlagen versunken war.

»Was ist los?«

Ihre Mutter seufzte erneut und deutete mit einem Kopfnicken auf Elphinstone, der lachte, als es einem ihrer Enkelkinder gelang, ein Seifenblaseneinhorn zu fangen. »Schatz, ich wollte das Thema vor deinem Vater nicht anschneiden, aber ...« Isobel zog eine Ausgabe des Tagespropheten unter der Obstschale hervor. »Hast du den Artikel über das Ministerium heute gelesen?«

»Ich hab die Zeitung nicht einmal aufgeschlagen«, gab Minerva zu. »In letzter Zeit war es immer dasselbe, nur wenig von Substanz.«

»Nun, das hier sollte dich interessieren. Angesichts der Tatsache, dass du ihn zum Abendessen mitgebracht hast.«

Jetzt zog Minerva eine Augenbraue in die Höhe. »Was soll das heißen?«

Der Ausdruck ihrer Mutter gewann an Sanftheit. »Schatz, versteh mich nicht falsch – ich habe ihn heute Abend kennengelernt und er ist ein wirklich höflicher, gebildeter Zauberer. Ich meine – sieh nur, die Zwillinge lieben ihn. Er wirkt kein bisschen wie einer von diesen Typen, die zu viel von sich halten, weil sie das nötige Geld und die richtige Familiengeschichte haben. Nur ...« Sie schob Minerva die Zeitung zu. »Wenn das nicht wäre.«

Mit versteinerter Miene faltete Minerva den Tagespropheten auseinander. Nach den letzten Tagen hatte sie wenig Lust, Elphinstone erneut wegen irgendetwas misstrauen zu sollen, was jemand anderes ihr erzählte.

Lange brauchte sie das Unheil nicht suchen. Die Juniorreporterin hatte es aus dem unrühmlichen Mittelteil irgendwo zwischen Besenpflege und Anzeigen für gebrauchte Kessel hinausgeschafft – direkt auf die Titelseite.

»Diese miese kleine Kröte!«

»Minerva!« Ihre Mutter stemmte die Hände in die Hüfte.

»Oh nein, damit habe ich recht! Das ist ein einziger großer Haufen Drachenmist, dieser ganze Artikel!«

»Was soll das heißen?«

Wutschnaubend schaute Minerva zu ihrer Mutter, die ob ihres plötzlichen Zorns die Augen weit aufgerissen hatte. »Davon stimmt gar nichts«, stellte sie bestimmt klar. »Außer vielleicht die Schlagzeile, wenn auch in einem anderen Sinn. So viel weiß ich.«

Intrigen im Ministerium‘ titelte der Artikel ohne Verlegenheit. Die schnöden Fakten der gestrigen Haftprüfungen waren kaum eine Randnotiz in dem fantasievollen Lügengebilde, das die Reporterin sich aus der Feder gesogen hatte. Ansonsten war da von einer Verschwörung die Rede, von Verbrechen, die Elphinstone angeblich erfand, und vom charmanten Ministeriumszauberer Alston Mulciber – an dieser Stelle lachte Minerva beinahe laut auf – der versprach, die Ausschreitungen im Ministerium anständig aufzuklären.

»Mum, glaub mir, das hier«, sie stach anklagend mit dem Zeigefinger auf den Artikel, »ist eine bodenlose Frechheit. Ich war zufällig gestern, ähm, beruflich im Ministerium und ich war bei der Verhandlung. Diese miese Kröte von Reporterin kam nicht einmal in Elphinstones Nähe!«

Das Einzige, was sie nicht verstand, war, wie Rita Kimmkorn von der Sache mit Elladora und dem illegalen Grünzeug erfahren hatte. Es war vollkommen falsch wiedergegeben, aus dem Zusammenhang gerissen, aber sie erkannte Fakten wieder, die nur sie gestern mit Elphinstone besprochen hatte.

»Guck, hier werde ich sogar indirekt im Artikel erwähnt, als ‚Vertraute des Vorsitzenden der dritten Strafkammer, die seine Machenschaften offenbar unterstützt und im Verlauf der Haftprüfungen eine feindliche Haltung gegen Reinblüter zeigte‘. Ha, dass ich nicht lache! Nur weil ich gesagt habe, dass ich nichts von den Forderungen dieser Demonstranten halte!«

»Die meint dich?« Die Augen ihrer Mutter wurden noch größer. »Minerva, was ... Du arbeitest doch nicht mehr dort!«

»Nein, aber ich bin mit Elphinstone befreundet. Er hat mir einen Gefallen getan, ich habe ihm einen Gefallen getan. Das reicht offensichtlich für dieses Schmierblatt, um einen Haufen Lügen abzudrucken. Wenigstens hat diese Reporterin nicht meinen Namen rausgefunden. Sonst hätten die ersten Eltern sicherlich längst böse Eulen geschickt.«

Ihre Mutter legte ihr beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Schatz ... was ist denn los? Erst verhält Robbie sich so merkwürdig und jetzt auch noch du. Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?«

»Ach, mach dir keine Sorgen, Mum. Ich bin wahrscheinlich nur ... überarbeitet.« Minerva bemühte sich, ihre Anspannung zu verdrängen, indem sie flach die Hände auf die Küchentheke drückte. Der Artikel war ein Fiasko, seine Folgen kaum abzusehen. »Es gab einiges Chaos in der Schule in letzter Zeit, und ...«

Sie sah erneut zu Elphinstone, der mit einem Strahlen die Zwillinge bespaßte. Bunt schillernde Seifenblasen in Form diverser Tierwesen jagten einander um den Esstisch, gefolgt von den Mädchen auf ihren Spielzeugbesen. Er sah so richtig aus, wie er da zwischen ihrer Familie saß, als wäre er schon immer ein Teil davon, nicht einfach nur ihr ehemaliger Vorgesetzter, den sie unpassenderweise eingeladen hatte.

»Oh Minerva«, sagte ihre Mutter leise und drückte ihre Schulter. »Du magst ihn wirklich, hm?«

»Ich vertraue ihm, Mum. Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass er anständig ist? Dass er nicht, wie die Zeitung behauptet, ‚alles daran setzt, Unschuldige vor Gericht zu bringen, indem er ihnen Verbrechen gegen Muggel anhängt, um die Reinblutbewegung zu diskreditieren‘? Merlin, das ist so absurd.«

Isobel seufzte leise. »Natürlich glaube ich dir, Schatz. Du hast schließlich das Gespür dafür von deinem Vater geerbt. Aber worin auch immer ihr da offensichtlich verwickelt seid – bitte sei vorsichtig.«

Minerva nickte und ließ es zu, dass ihre Mutter sie in die Arme zog.

»Ich hab dich lieb, Schatz.«

»Ich dich auch Mum.«

In Minervas Gedanken braute sich ein Sturm zusammen. Robbie war nicht gekommen und nun sah alles danach aus, dass Elphinstone nicht nur ihr ehemaliger Vorgesetzter war, sondern bald auch ein ehemaliger Ministeriumsangestellter, zumindest bis diese Anschuldigungen geklärt waren. Die Ministerin würde nicht zusehen können, wenn solche Gerüchte die Runde machten. Ganz zu schweigen davon, dass Elladora Rosier nun gewarnt war.

Minerva verfluchte sich, dass sie Elphinstone da mit hineingezogen hatte. Andererseits wäre es vielleicht auch ohne ihre Einmischung so weit gekommen, nur auf anderem Wege. Wer wusste schon, was die Sterne vorsahen.

Als sie mit einem Gesichtsausdruck wie nach der Niederlage gegen Slytherin im Quidditch zurück ins Wohnzimmer ging, sah Elphinstone besorgt zu ihr auf. Obwohl die Zwillinge ihn drängten, weitere Seifenblasentiere herbeizuzaubern, senkte er den Zauberstab und trat zu ihr.

»Hey, alles in Ordnung?«, murmelte er leise. »Du siehst aus, als hättest du den blutigen Baron beim Kettenrasseln gesehen.«

Sie biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Nicht hier. Und ich mache ich mir Sorgen, weil Robbie immer noch nicht da ist. Das ist nicht seine Art. Wenn er etwas verspricht, dann hält er es auch.«

Elphinstone sah zu den Zwillingen, die das letzte Seifenblaseneinhorn jagten. »Dann sollten wir gehen und nachsehen, was ihn aufhält.«

 

Robbie und seine Frau Anne besaßen ein kleines Haus in Edinburgh, das in einem überwiegend von Zauberern und Hexen bewohnten Viertel lag. Feiner Regen schlug Minerva entgegen, die das Gartentor aufdrückte und mit gezücktem Zauberstab auf das Haus zuhielt. Direkt hinter ihr folgte Elphinstone. Alle Fenster des alten Gebäudes vor ihnen waren dunkel und kein Rauch kräuselte sich aus dem Schornstein. Natürlich konnte es sein, dass sie Robbie knapp verpasst hatten, aber nach all den Tiefschlägen der Woche fiel es Minerva schwer, daran zu glauben.

Der Knoten in ihrem Bauch zog sich noch enger, als sie feststellte, dass die Haustür nur angelehnt war. Sie tauschte einen besorgten Blick mit Elphinstone.

»Oh verflucht, das sieht nicht gut aus«, murmelte sie.

Vorsichtig, ohne die Türschwelle zu übertreten, leuchtete sie mit dem Zauberstab durch den Türspalt. Der Flur dahinter sah unberührt aus. Immerhin keine Spuren eines Kampfes.

»Für gewöhnlich wäre das ein Fall für die magische Polizeibrigade«, gab Elphinstone leise zu bedenken. »Aber ich glaube nicht, dass wir dafür Zeit haben.«

»Da gebe ich dir recht.« Minerva nahm einen tiefen Atemzug. »Ich verwandle mich und gehe rein.«

Elphinstone hielt ihr Handgelenk fest. »Warte.« Er richtete den Zauberstab auf den Eingang. »Homenum revelio.« Ein rotes Leuchten glomm an der Spitze des Stabs auf. Das Licht wurde intensiver, als er die Hand bewegte.

»Wollen wir hoffen, dass das Robbie und seine Frau sind. Kannst du bestimmen, wo sich die Personen befinden?«

»Erster Stock würde ich sagen.«

»Gut, dann gehe ich hoch. Die Treppe ist gleich links im Flur.«

Begeistert sah Elphinstone nicht aus, doch er löste seinen Griff. »Ich folge dir in ein paar Minuten, wenn ich nichts höre. Und wenn du um Hilfe schreist auch.«

Sie nickte und schon sank ihre Gestalt auf vier Pfoten zusammen. Mit gesenktem Kopf schob sie sich durch den Türspalt ins Haus. Die feinen Spuren von Magie kribbelten unsichtbar in der Luft. Es war in jüngster Vergangenheit gezaubert worden, und zwar eine ganze Menge.

Lautlos huschte sie an der Wand entlang auf die Treppe zu. Trotz ihrer geschärften Sinne war es totenstill, als befände sich außer ihr niemand im Haus. Ihre Pfoten berührten geräuschlos die mit Teppich bedeckten Treppenstufen. Im ersten Stock nahm die Präsenz von Magie zu. Minervas Schnurrhaare kribbelten unter den Einflüssen wie bei einer Begegnung mit der Steckdose (eine Erfahrung, die sie nicht wiederholen wollte). Sie musste dem Drang widerstehen, zu niesen.

Hier oben stand nur eine Tür offen. Die zu Robbies Arbeitszimmer. In den grauen Schatten erkannte sie eine umgestürzte Schreibtischlampe am Boden. Pergamente lagen verstreut drumherum. Obwohl es in ihrer Animagusform überflüssig war, hielt sie den Atem an, als sie in Richtung des Raumes schlich.

Da berührte ihre Pfote etwas Hartes, Rundes. Ihr sträubte sich vor Schreck das Fell. Die hastig ausgefahrenen Krallen verfehlten und der Gegenstand rollte über den Holzboden. Mit einem Klackern traf er gegen die Wand. Es war eine Kugel von Robbies magischem Abakus. Ehemaligen Abakus, denn die Bruchstücke davon verstreuten sich durch den Flur. Hier war etwas gehörig schiefgelaufen.

Fließende Grenzen

Minervas Pfoten trugen sie von ganz alleine in das Arbeitszimmer ihres Bruders. Hastig huschte sie über die losen Pergamentblätter. Weitere Abakuskugeln rollten davon, doch sie beachtete diese gar nicht. Mit dem ersten Geräusch im Flur hatte sie sich bereits gegenüber potentiellen Angreifern verraten. Oder war sie schon zu spät? Das Fell in ihrem Nacken stand ihr zu Berge und das Herz ihrer Animagusform raste. Wenn Robbie etwas passiert war, würde sie sich das nie verzeihen.

Ihr jüngster Bruder war schon immer ein chaotischer Mensch gewesen – in Gedanken stets bei dem nächsten Projekt, einem neuen Rätsel. Doch die Unordnung, die in seinem Arbeitszimmer herrschte, war nicht dem gewohnten kreativen Chaos, sondern blanker Zerstörungswut geschuldet. Es fiel nur wenig Licht durch die Fenster hinein, aber dank ihrer geschärften Nachtsicht erkannte Minerva mühelos, dass sie alleine zwischen zerfledderten Büchern und zerbrochenen Federn war. Irgendjemand hatte ganze Arbeit dabei geleistet, Robbies Reich auseinanderzunehmen.

Wut und Sorge stritten sich in Minervas Brust. Ihr entfuhr ein leiser Laut, halb Fauchen, halb wehklagendes Maunzen. Wenn hier niemand war, mussten sie in einem der anderen, verschlossenen Zimmer sein. Sie hoffte nur, dass Robbie und seine Frau sich mit ein paar ordentlichen Zaubersprüchen vor den Eindringlingen hatten schützen können. Vielleicht hielt die Angst sie in ihrem Versteck.

Binnen Sekunden verwandelte Minerva sich zurück. Dunkelheit umfing sie. Das hasste sie am meisten, den Verlust der nächtlichen Sehstärke. Eben noch hatte das Chaos klar umrissen vor ihr gelegen, nun musste sie mit dem dürftigen Mondlicht vorliebnehmen. Dafür hatte sie ihren Zauberstab, dessen geschmeidiges Holz ihr warm in der Hand lag; bereit, jedem, der sich ihr den Weg stellte, einen saftigen Schock zu verpassen.

Den Stab fest umschlossen stahl sie sich in den Flur zurück, den Atem angehalten. Sie lauschte auf ein Geräusch, doch da war nichts, außer dem leisen Knarzen der Dielen zu ihren Füßen. Als Zeichen für Elphinstone, der immer noch unten wartete, richtete sie den Zauberstab hinab in den Flur und schickte grüne Funken zu ihm.

Er schlich sich bemüht leise und doch laut im Vergleich zu ihr die Treppe hoch. Besorgnis stand ihm in die Augen geschrieben, die im gedämpften Licht seines Lumos-Zaubers schimmerten. Fragend legte er den Kopf schief und Minerva schüttelte den ihren. Sie wies auf die beiden verschlossenen Türen. Ein Schlaf- und ein Badezimmer, erinnerte sie von ihren vorigen Besuchen. Stumm nickte Elphinstone, bevor er sich an der Linken davon postierte, eine Hand auf den Türknauf gelegt, seinen Zauberstab in der anderen bereit.

Minerva tat es ihm gleich. Auf ein Nicken hin schwangen sie die Stäbe mit einem ungesagten Alohomora – falls verschlossen war. Alles blieb still, also drehte sie zögerlich den Knauf. Kein Widerstand. Elphinstone hingegen rüttelte erfolglos an seiner Tür.

»Expulso«, murmelte er, während Minerva hastig ihre Tür aufstieß und in den Raum dahinter leuchtete.

Im Flur krachte es, als das Schloss der zweiten Tür von der Wucht der Explosion aus dem Rahmen flog. Derweil sah sie sich einem unangetasteten Schlafzimmer gegenüber. Einzig das Fenster stand weit offen, die Gardine davor wölbte sich geisterhaft im Wind. Aus dem Badezimmer hörte sie das Zischen eines Zaubers, gefolgt von Poltern.

Fluchend riss sie sich von dem Anblick vor ihr los und stürzte mit hocherhobenem Zauberstab Elphinstone hinterher – und prallte direkt gegen ihn, da er einem Schockzauber auswich. Der rote Lichtstrahl schlug neben ihr in den Türrahmen ein. Elphinstone schubste sie mit dem Ellenbogen hinter sich. Über seine Schulter hinweg wirkte sie einen Protego-Zauber, der sie beide umschloss. Ein Kribbeln schoss durch ihren Unterarm, als ein weiterer Lichtblitz auf den Schild traf.

Hinter Elphinstones Rücken hervor sah sie sich in dem engen Raum nach ihrem Gegner um. Cremetöpfchen und Shampooflaschen lagen auf dem Boden verteilt. Inmitten dieses Chaos kauerte Anne, Robbies Ehefrau, in der Badewanne, ihren Zauberstab auf Elphinstone gerichtet. Sie hielt ein ledergebundenes Buch an ihre Brust gepresst. Ihre Wangen waren gerötet, die Augenbrauen energisch zusammengezogen. Doch sobald sie Minerva erblickte, weiteten sich ihre Augen mit Erleichterung.

»Minerva!«, rief sie erstickt aus. Der Zauberstab in ihrer Hand zitterte, aber sie senkte ihn erst, als Minerva sich an Elphinstone vorbei zu ihr drängte. In ihren langen Wimpern glitzerten Tränen und ihr kurzes rot-braunes Haar stand wirr vom Kopf ab. »Oh Merlin sei dank, du bist da!«

Minerva sank vor der Badewanne auf die Knie, eine Hand bestürzt auf die Schulter ihrer Schwägerin gelegt. »Anne, alles in Ordnung mit dir? Wo ist Robbie?«

Ein Zittern durchlief Anne. Ihre Finger klammerte sich so doll an das Buch, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Oh nein, sag nicht, dass sie ihn mitgenommen haben«, wisperte sie.

»Wer, Anne, wer?«

Der Blick ihrer Schwägerin huschte zwischen Minerva und Elphinstone hin und her. »Ich weiß es nicht!« Sie hickste. »Plötzlich standen sie da, in ihren dunklen Umhängen und haben Robbie angeschrien, mit den Zauberstäben gefuchtelt ... Ich weiß nicht, warum sie hier waren!«

Zusehends sank Minerva das Herz tiefer. »Phin?«, fragte sie mit dünner Stimme. »Das Schlafzimmer war leer, aber ...«

»Ich schaue, ob ich ihn woanders im Haus finde«, versicherte Elphinstone ihr umgehend. »Oder sonst irgendjemanden ... oder etwas.« Mit diesen Worten verschwand er aus dem Bad.

»Es tut mir so leid«, sagte Anne leise an Minerva gewandt. »Sie haben uns einfach überrascht ... eigentlich wollten wir schon gehen, da kamen sie plötzlich ins Haus. Ich war hier oben und hab nur von der Treppe aus ihre schwarzen Umhänge gesehen. Sie wollten etwas von Robbie, so viel habe ich gehört. Er sollte ihnen irgendetwas aushändigen ... Ich hab blind unsere wichtigsten Arbeiten geschnappt und mich hier eingeschlossen.«

»Das war sehr tapfer von dir.« Minerva drückte sie an der Schulter. Ihre Schwägerin war eine energische Person, aber keine Kämpferin. Merlin, sie schrieb und illustrierte magische Kinderbücher, da war es nicht verwunderlich, dass sie sich den Angreifern nicht entgegengestellt hatte. Ganz zu schweigen davon, dass sie ihr erstes Kind erwartete.

Anne nahm einen tiefen Atemzug. Ihre Schultern entspannten sich langsam. Sie lehnte sich in der Badewanne zurück, den Kopf gegen die Fliesen hinter ihr gelehnt. Nur das Buch hielt sie weiterhin vor ihrem Bauch umklammert, als hinge ihr Leben davon ab. Die Anzeichen ihrer weit vorangeschrittenen Schwangerschaft darunter waren nicht zu übersehen.

»Ich hätte nicht gehen sollen. Ich hätte bei ihm bleiben sollen. Wenn er weg ist ... ist das meine Schuld.«

»Nein.« Minerva schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin sicher ... Robbie wird sich nicht einfach so verschleppen lassen. Er ist mein Bruder. Er kann auf sich aufpassen. Außerdem bist du schwanger.«

»Aber sie waren zu dritt«, hauchte Anne. »Drei maskierte Eindringlinge. Und ich habe einfach das Wichtigste geschnappt und mich hier drin eingeschlossen, anstatt ihm beizustehen. Robbie hat nur gesagt ... Er sagte, es wäre wichtig, dass es nicht in die falschen Hände fällt.«

»Du hast das Richtige getan.« Die Worte kamen Minerva nicht leicht über die Lippen, auch wenn es die Wahrheit war. »Gib Robbie nicht auf.«

Ihre Schwägerin straffte die Schultern. »Ich hab die Adresse bei mir, wegen der du Robbie gefragt hast. Damit ihr den Jungen retten könnt.«

Langsam aber sicher zog sich eine unsichtbare Schlinge um Minervas Hals zu. In all der Sorge um ihren Bruder hatte sie den entführten Erstklässler beinahe vergessen. Trotzdem lächelte sie Anne zu. »Und Robbie. Wer auch immer euch überfallen hat, wir werden es herausfinden und alles wieder in Ordnung bringen. Das verspreche ich dir.«

Wie aufs Stichwort kam Elphinstone zurück in das Bad. Alleine. Seine Schultern hingen herab. »Ich habe niemanden finden können. Es tut mir leid, aber sie sind weg. Offenbar sind mehrere Personen durch das Schlafzimmerfenster geflohen. Auf dem Teppich sind Schuhabdrücke. Vermutlich sind sie im Garten disappariert, als wir gekommen sind.«

Anne schluckte, ehe sie sich ein tapferes Nicken abrang. »Kann mir jemand eine Hand reichen? Ich fürchte, mit dem Babybauch komme ich hier nicht so einfach wieder raus. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt reingekommen bin.«

Galant sprang Elphinstone ihr zu Hilfe und etwas umständlich kletterte sie aus der Badewanne heraus. Sie warf einen Blick auf das Chaos im Flur, das die Eindringlinge hinterlassen hatten. Geistesabwesend streichelte sie ihren Babybauch.

»Oh Robbie«, murmelte sie sorgenvoll.

Elphinstone tauschte einen nicht minder besorgten Blick über ihren Kopf hinweg mit Minerva. »Wir sollten sehen, dass wir die Schutzzauber des Hauses wieder in Gang bekommen. Und vielleicht kann eine Tasse Tee zur Beruhigung nicht schaden.«

Minerva nickte ihm zu. Ein paar Minuten später saßen sie mit Anne am Küchentisch und ließen sich von ihr in allen Einzelheiten die Konfrontation mit den Eindringlingen beschreiben. An viel erinnerte sie sich nicht, schließlich hatte sie sich im Badezimmer verborgen. Auf jeden Fall hatte Robbie sich geweigert, ihnen zu geben, wonach sie verlangt hatten, was die Zerstörung des Arbeitszimmers nach sich gezogen hatte. Zumindest seinen Zauberstab hatten sie auf dem Wohnzimmerteppich gefunden. Offenbar hatten die Angreifer ihn dort überwältigt.

»Wenn ich es recht verstanden habe, ging es um irgendein Artefakt, ich weiß auch nicht genau was ... aber das haben die Eindringlinge immer wieder erwähnt, ein Artefakt, das Robbie ihnen geben sollte. Ihre Anführerin, eine Hexe mit schrecklicher Lache, war furchtbar wütend, weil die anderen beiden es nicht im Arbeitszimmer gefunden haben. Und dann ... war es plötzlich still. Und kurz darauf – seid ihr gekommen.«

»Gringotts!«, rief Elphinstone unvermittelt aus. »Natürlich!«

Verwundert sah Minerva zu ihm auf. »Was hat das mit Gringotts zu tun?«

»Erinnerst du dich noch daran, wie Robbie mich angegangen hat, als ich mich ihm vorgestellt habe? Dein Bruder hat ziemlich darüber geschimpft, dass ich ihn nicht wegen der Artefakte in diesem einen Verlies belästigen solle, weil das offenbar einer meiner Kollegen getan hat.«

»Oh ...« Annes Mund stand weit offen. Sie schnippte mit den Fingern. »Vor ein paar Tagen hat Robbie erwähnt, dass zwei Zauberer aus dem Ministerium bei ihm waren! Er hat sich ziemlich aufgeregt, weil sie von ihm verlangt haben, dass er ihnen Zugriff auf ein Verlies gewährt. Die Inhaberin ist verstorben, wisst ihr, deshalb war es zur Auflösung vorgesehen. Wenn es keine Erben gibt, kommt das vor. Robbie meinte, das Verlies habe viele verfluchte Gegenstände enthalten, weshalb sie es nach und nach räumen mussten. Er hat die Entzauberung der Gegenstände übernommen. Deshalb hat es ihm auch nicht gepasst, dass das Ministerium ganz ohne Durchsuchungsbefehl aufgetaucht ist, also hat er sich verweigert. Vielleicht hängt das alles zusammen?«

»Deine Beschreibung von den Eindringlingen klingt jedenfalls sehr nach den Entführern, die wir suchen«, stellte Minerva fest. »Vor allem deren Anführerin. Ich glaube kaum, dass das ein Zufall ist. Ich bin überzeugt, diese Leute verbergen sich an der Adresse, die Robbie für uns dekodiert hat. Und wenn sie jetzt noch hinter einem Artefakt her sind, sollte uns das wohl interessieren. Vielleicht finden wir so beide, Robbie und die Entführer.«

»Was, wenn sie genau da sind? In der Bank?« Elphinstone warf einen Blick auf die Uhr über der Küchentür. »Es ist Samstag Nacht, Gringotts dürfte leer sein, abgesehen vom Sicherheitspersonal. Was, wenn die Entführer mit Robbie direkt dorthin sind, um sich zu holen, was sie wollen? Jetzt sind ihre Chancen besser, als unter der Woche, auch wenn es so oder so eine verzweifelte Tat ist.«

»Dann sollten wir los.« Minerva erhob sich und stürzte den letzten Schluck heißen Tees hinab.

»Ich will wenigstens versuchen, jemanden aus der Aurorenzentrale zu erreichen. Wir sollten nicht alleine da reinstolpern, vor allem wenn wir uns mindestens drei Leuten gegenübersehen.«

Der ungebetene Gedanke an den Tagespropheten mit seinem rufzerstörenden Artikel schlich sich bei Minerva ein. Sie war nicht sicher, ob sie noch auf Unterstützung zählen konnten. »Kannst du Pippa erreichen? Sie wird uns bestimmt helfen, egal welche Tages- oder Nachtzeit ist. Ich weiß nicht, ob wir sonst jemanden involvieren sollten ... immerhin ermitteln wir ohne offiziellen Auftrag.«

Elphinstone überlegte kurz, dann wandte er sich an Anne. »Ist euer Kamin ans Flohnetzwerk angeschlossen?«

»Natürlich.« Rasch nickte Anne und führte ihn ins Wohnzimmer, von wo aus er die Aurorin zweiter Klasse kontaktieren konnte.

Es dauerte nicht lange und die beiden kamen zurück, Elphinstones Haar ein wenig staubig. »Sie wird uns im Tropfenden Kessel treffen.«

»Wunderbar.« Minerva wandte sich zu Anne. »Ich bin mir sicher, wir werden Robbie finden. Mach dir nur keine Sorgen.«

Ihre Schwägerin nickte. »Ich weiß. Hier.« Sie reichte Minerva den Zauberstab ihres Bruders und einen Streifen Pergament, auf dem in Robbies krakeliger Handschrift eine Adresse in Leeds stand. »Das ist das Ergebnis von Robbies Nachforschungen. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber ... helft dem Jungen. Ich will ganz sicher nicht, dass mein Kind einmal in Angst aufwachsen muss, nur weil seine Mutter auch eine Muggelgeborene ist.«

 

Die Winkelgasse bei Nacht lag ausgestorben da. Höchstens ein paar dubiose Geschäfte in der Nokturngasse hatten so spät noch geöffnet und das nur dann, wenn man genau wusste, wo gesucht und wie oft an die richtige Tür geklopft werden musste.

Dafür, dass es nach zehn an einem Samstagabend war, hatte Pippa Jansson unverschämt gute Laune. Sie trug einen zartvioletten Umhang über einem silbernen Kleid und ihr intensives Make-up legte nahe, dass sie eigentlich hatte ausgehen wollen. Doch stattdessen drehte sie fröhlich den Zauberstab durch ihre Fingerspitzen. Mit großen Schritten hielt sie auf Gringotts zu, dessen schneeweiße Mauern im Mondschein leuchteten.

»Die letzten Wochen ist einfach überhaupt nichts Aufregendes passiert«, lamentierte sie, obwohl Minerva ihr nur halbherzig zuhörte. »Klar, die Aufstände – aber mal ehrlich, ich hätte lieber eine Verfolgungsjagd mit einem Haufen schwarzer Magier oder einen groß angelegten Zugriff auf ein illegales Tranklabor oder so. Die ganzen ollen Reinblüter mit ihrem Geschwätz sind unfassbar anstrengend. Von mir aus könnten wir die alle wegsperren und den Schlüssel verlieren.«

Nun, zumindest im letzten Teil stimmte Minerva ihr insgeheim zu, obwohl es freilich nicht so einfach war in der Realität. Selbst wenn sie sämtliche Demonstranten einsperren würden, wäre damit nur der Weg für ein erzürntes Aufbegehren der Fanatiker geebnet. Solche wie den selbsternannten Lord Voldemort – Tom Riddle, erinnerte sie sich grimmig –, der schon mit den Flugblättern genug Unheil verbreitet hatte. Er brauchte sicher nicht noch weitere Unterstützer.

»Ihr ahnt gar nicht, wie viel Lust ich habe, mal wieder ordentlich zu zaubern! Ein paar saftige Flüche an ein paar Leute zu verteilen, die es so richtig verdient haben!«

»Bremse dich, Margarete. Das hier ist eine verdeckte Mission. Je weniger Aufsehen wir erregen, desto besser.« Elphinstone klang, als würde er es bereits bereuen, sie kontaktiert zu haben.

»Schon klar«, erwiderte Pippa augenrollend. »Wie lange waren wir ein Team? Fast drei Jahre mit Minerva und nochmal mindestens genauso lange ohne sie. Du weißt, dass ich das kann.«

»Dann sei leise.«

Pippa hob eine Augenbraue und sah zu Minerva. »Man hat er gute Laune«, bemerkte sie grinsend.

Doch Minerva war nicht danach zu Mute, mit ihr zu scherzen. Sie machte sich ebenso Sorgen. Wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass Pippa eine fähige Aurorin war, ihr munteres Geplapper hätte sie verzweifeln lassen.

»Also, wie gehen wir jetzt vor?«, fragte Pippa, während sie auf den Vorplatz von Gringotts traten. Die Türen der Bank waren fest verschlossen – natürlich.

»Wir gehen zum Mitarbeitereingang«, erklärte Minerva. »Dank Robbie weiß ich, dass er immer offen ist, damit Leute wie er, die bis spät nachts arbeiten, noch kommen und gehen können. Da ist nur ein Nachtwächter postiert, den wir hoffentlich von unserem Anliegen überzeugen können.«

Elphinstone und Pippa folgten ihr um das Gebäude herum. Der zweite Eingang in die Bank hatte eine gute Tarnung, aber wenn man erst einmal wusste, wo er lag, war er nicht zu verfehlen. Die verborgene Tür befand sich zwischen zwei dekorativen Säulen, nur durch einen schlichten Goldknauf in Koboldhöhe gekennzeichnet. Minerva klopfte dreimal dagegen.

»Wer da?«, erklang von innen eine skeptische Stimme.

»Zaubereiministerium, magische Strafverfolgung«, erwiderte Elphinstone. »Einer Ihrer Angestellten ist heute Abend entführt worden und wir haben den Verdacht, dass es mit seiner Arbeit in dieser Bank zusammenhängt. Wir müssen umgehend sein Büro einsehen.«

Die Tür schwang auf und ein Kobold sah ihnen mürrisch entgegen. »Ausweise!« Er wedelte mit der offenen Hand in ihre Richtung.

Ohne mit der Wimper zu zucken, zog Elphinstone seinen Arbeitsausweis mitsamt der goldenen Marke, die ihn als Vorsitzenden einer Strafkammer auswies, aus seiner Manteltasche. Pippa holte ebenfalls ihren Aurorenausweis hervor.

»Hmh«, grummelte der Kobold. »Ich werde das überprüfen! Was ist mit der anderen?«

»Das ist eine unabhängige Angestellte«, log Elphinstone umgehend. »Ich verbürge mich für sie.«

»Ah ja, schön.« Der Nachtwächter hantierte mit einer kleinen Sonde herum, um die Ausweise auf ihre Legitimität zu überprüfen. Seine dunklen Augenbrauen senkten sich misstrauisch herab und sobald er sich zu ihnen zurückdrehte, sah er alles andere als zufrieden aus. »Der Ausweis ist ungültig!«, bellte er und klatschte Elphinstone die Marke zurück in die Hand.

»Bitte? Ich bin der Vorsitzende der dritten Strafkammer! Mein Ausweis ist mitnichten ungültig!«

Der Kobold reichte Pippa ungerührt ihren Ausweis zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie ist eine Aurorin und Sie, werter Herr, haben einen ungültigen Ausweis. Da gibt es kein Vertun! Gehen Sie jetzt und ersparen Sie mir den Ärger, den Sicherheitsdienst wegen Ihnen zu alarmieren.«

Verwirrt starrte Elphinstone auf die Marke mit der Waage. »Das verstehe ich nicht ... Ich habe den Ausweis erst vor ein paar Monaten verlängern lassen. Das muss ein Fehler sein!«

»Meine Sonde macht keine Fehler!« Resolut tappte der Kobold mit dem Fuß auf den Boden. »Offiziell vom Ministerium geeicht und geprüft.«

Elphinstone gefiel diese Antwort gar nicht. Er schob die Fäuste in die Hüften und nahm die Schultern zurück. »Nun, offensichtlich –«

»Phin?« Minerva legte zaghaft eine Hand auf seinen Oberarm. »Du hast nicht zufällig heute den Tagespropheten gelesen?«

»Ich – was ...?« Er betrachtete sie verärgert. »Nein, aber was soll das damit zu tun haben?«

»Oh hey, ich hab ihn auch nicht gelesen, aber jetzt bin ich neugierig.« Pippa hob die schmalen Augenbrauen. »Immerhin bin ich ziemlich sicher, dass er mein Arbeitskollege ist. Zumindest war er das gestern noch.«

Selbst der Kobold sah einigermaßen interessiert aus.

Minerva senkte die Stimme. »Na ja ... vielleicht steht auf der Titelseite ein Haufen nicht so erfreulicher Dinge über dich, Elphinstone. Wegen der Sache mit Elladora. Irgendwie muss diese verfluchte Reporterin von gestern das mitbekommen haben.« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich hab’s selber erst nach dem Abendessen von meiner Mutter erfahren. Ich könnte mir vorstellen, dass die Ministerin dich ... beurlaubt hat?« Das klang zumindest netter als ‚rausgeschmissen’ oder ‚gekündigt‘.

Elphinstone sackte in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem jemand die Luft ließ. Seine Schultern rutschten ein Stück herab und er starrte Minerva getroffen an. »Nein«, murmelte er. »Das ... wie?«

Sie schluckte, doch ein krötengroßer Kloß blockierte ihren Hals. »Es tut mir so leid. Ich weiß es wirklich nicht.«

»Wow, ich sollte wirklich mehr Zeitung lesen«, sagte Pippa leise. Sie drängelte sich an Minerva vorbei zu dem Kobold. »Schön und gut, dann übernehme ich halt die Verantwortung für die beiden. Und jetzt lassen Sie uns rein.«

»Wohl kaum.« Der Nachtwächter schob bereits mit der Zehenspitze die Tür zu. »Da könnte ja jeder kommen, der bloß in der Aurorenzentrale arbeitet! Kommen Sie wieder, wenn Sie einen offiziellen Durchsuchungsbefehl vom Gamot haben. Wir haben hier keinen Tag der offenen Tür.«

»Das ist doch nicht Ihr Ernst«, seufzte Pippa.

»Oh doch. Gringotts ist ein unabhängiges Institut, wie ich Sie erinnern darf. Hier kann nicht einfach jeder kommen und gehen wie er will!«

In ihrer aufbrodelnden Verzweiflung hätte Minerva den Kobold am liebsten an den Schultern gerüttelt. »Bitte, es geht um meinen Bruder, Robert, er arbeitet hier! Es kann sein, dass er jetzt, in diesem Moment, in der Bank ist und dazu gezwungen wird, ein Artefakt an schwarze Magier auszuhändigen!« Sie hasste es, zu betteln, aber einen anderen Weg sah sie nicht.

»Wenn jemand unerbeten eindringt, haben wir unsere eigenen Sicherheitsmaßnahmen«, versicherte der Kobold resolut. »Niemand kann Gringotts ausrauben! Schon gar nicht mit Hilfe eines Menschen.« Aus seinem Mund klang es wie eine Beleidigung.

»Dann sehen Sie wenigstens nach!«, rief Minerva. »Vielleicht schwebt er in diesem Moment in Gefahr. Ach was, ganz sicher tut er das! Bitte. Sie können uns doch nicht einfach ignorieren!«

»Sie verstehen wohl nicht ganz«, der Nachtwächter in seiner dunkelroten Uniform warf sich in die Brust, »es besteht gar nicht die Chance, dass mögliche Eindringlinge auch nur in unsere Bank gelangen. Vorher schlagen längst unsere Sicherheitszauber an.«

»Ach komm, Minnie, das bringt nichts.« Pippa schob sie wieder beiseite, den Zauberstab auf den Kobold gerichtet. »Imperio!«

»Pippa!«, riefen Elphinstone und Minerva zeitgleich. Aber es war zu spät – ein glasiger Ausdruck hatte sich auf die Augen des Wächters gelegt. Er hatte den Fluch genauso wenig kommen sehen, wie sie.

»Du wirst uns reinlassen und uns zum Büro von Robert McGonagall jr bringen, kapiert?«

Beflissentlich neigte der Kobold den Kopf. »Bitte folgen Sie mir!« Er drehte sich ohne Warten um und stiefelte davon.

»Also, kommt ihr jetzt oder starrt ihr mich weiter vorwurfsvoll an?« Den Zauberstab in der Hand wie einen Taktstock sah Pippa sie an.

»Du kannst nicht einfach –«

»Danke für den Hinweis, Elphinstone. Ich kann und ich werde, Diskussion beendet. Immerhin drängt die Zeit, nicht wahr?«

Minerva gefiel das genauso wenig wie Elphinstone, aber Robbie zuliebe packte sie seinen Arm und zog ihn mit sich hinter Pippa her. Er sah sie unergründlich an.

»Mulciber hat einen schlechten Einfluss auf dich, Pippa«, murrte er. »Es gibt andere Wege!«

»Ja ja, immer ist es Alstons Schuld. Schon mal daran gedacht, dass ihr einfach zu moralisch seid? Außerdem ist es Moody, der im Extremfall den Einsatz aller Zauber gutheißt. Auch die Unverzeihlichen.«

Grimmig starrte Elphinstone auf Pippas hüpfende Locken vor ihm, sagte aber nichts mehr. Dafür drückte er kurz Minervas Hand, ehe der Kobold direkt vor Robbies kleiner Bürozelle anhielt.

»Da wären wir!«, verkündete er salbungsvoll.

Das Büro war zwar chaotisch, aber nicht schlimmer als bei Minervas letztem Besuch hier. Offenbar war niemand hier gewesen. Sie unterdrückte einen Fluch.

»Vielleicht sind sie im Verlies?«, bot Pippa hoffnungsvoll an.

»Ja, hoffen wir es. Aber welches Verlies? Erinnerst du dich noch, Elphinstone?«

»Hmm ...« Er verzog nachdenklich das Gesicht. »Es fing mit einer Zwei an, da bin ich mir sicher. Steht eventuell eine Nummer auf irgendwelchen Unterlagen?«

»Zwei sagst du?« Minerva ließ den Blick über ein paar verstreute Pergamente auf dem Schreibtisch gleiten. »Hm, nein. Das sind größtenteils Kritzeleien.« Nicht zum ersten Mal verfluchte sie Robbie für seine Unordnung.

Pippa besah sich indes die Artefakte auf einem Schränkchen in der Ecke, die Elphinstone schon bei ihrem vorigen Besuch neugierig gemustert hatte. »Also hier bei diesem Amulett ist Zwei-Drei-Zwei auf dem Zettel vermerkt. Und ein Hinweis – verflucht, erwürgt seine Träger. Nett.«

»232? Ja, ich glaube, das passt.« Elphinstone wandte sich an den Kobold. »Na schön, bringen Sie uns zu diesem Verlies. Bitte.«

»Bedauere, aber ich habe keine Befugnis für die Verliese. Nur die zuständigen Kobolde dürfen die Loren fahren.«

»Immer wieder was Neues.« Pippa rollte mit den Augen. »Na los, worauf wartest du noch? Hopp, hopp, hol uns einen zuständigen Kobold! Erzähl Ihnen, dass ein paar nette – und befugte – Leute aus dem Ministerium da sind. Du hast uns ja schließlich mit deiner Sonde überprüft, nicht wahr?« Sie zwinkerte.

Unter dem Einfluss des Imperius-Fluches verbeugte sich der Kobold unterwürfig. »Natürlich, wie Sie wünschen.«

Er wackelte von dannen und ließ sie in Stille zurück. Angespannt trat Minerva von einem Bein auf das andere. Es dauerte eine Weile, bis der Kobold in Begleitung eines weiteren Bediensteten in roter Uniform zurückkehrte. Der Neuankömmling musterte sie hinter seinen kleinen Brillengläsern hervor skeptisch.

»Granduk sagt, Sie sind hier wegen Verlies 232?«

»Korrekt«, flötete Pippa beschwingt. »Also los, worauf warten wir noch?«

Der Kobold vor ihnen befingerte einen Schlüsselbund an seinem Gürtel, dann stierte er hinüber zu dem Nachtwächter, der mit einem weggetretenen Lächeln geradewegs ins Nichts starrte.

Pippa schnippte mit dem Zauberstab und Granduk erwachte aus seiner seligen Starre, doch der zweite Kobold schien weiterhin misstrauisch. Er beobachtete sie scharf, bis Pippa erwartungsvoll die Augenbrauen hob.

»Ich muss Sie einer erweiterten Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Für das Protokoll.«

»Ich verstehe, dass Sicherheit in Gringotts oberste Priorität hat«, sagte Elphinstone bestimmt freundlich, »doch die Überprüfung ist bereits erfolgt und mit jeder Minute, die verstreicht, erhöht sich die Chance, dass einem Ihrer Mitarbeiter ein unwiderrufliches Übel droht. Ich stehe Ihnen gerne Rede und Antwort, wenn wir bei dem Verlies waren, aber zuerst sollten wir einschreiten!«

Stur schüttelte der Kobold den Kopf. »Bedauere, Sir, aber das kann ich nicht zulassen.« Sein Blick wanderte erneut zu Granduk, der vielleicht etwas zu breit lächelte, gemessen an Koboldstandards.

Minerva klopfte nervös mit dem Zauberstab auf ihren Oberschenkel. Der Kobold war aufmerksam. Und nicht einmal Pippa würde es gelingen, zwei von ihnen mit dem Imperius-Fluch zu kontrollieren. Sie durften nicht riskieren, dass Granduk erwachte und Alarm schlug, während sie auf dem Weg zum Verlies waren. Und sie brauchten diesen zweiten Kobold, um Robbie zur Hilfe zu eilen. Ohne weitere Verzögerungen oder Überprüfungen.

»Das tut mir wirklich unheimlich leid«, murmelte sie leise. Es war die einzige Lösung, die ihr auf die Schnelle einfiel und ihr war jetzt schon bewusst, wie falsch es war. Die nächsten Worte waren bloß ein Wispern. »Imperio

Es war widerwärtig. Der Kobold wehrte sich; ein schrilles Kreischen, das nur in ihrem Kopf widerhallte. Ihm einen fremden Willen aufzuzwingen war, als ob sie ihn eigenhändig unter Wasser drückte, damit sein Widerstand erstarb. Sie zwang sich, es zu wollen, obwohl ihr alleine von dem Gedanken übel wurde.

»Du wirst uns zu Verlies 232 bringen!«, versuchte sie mit der größtmöglichen Strenge ihren Befehl zu formulieren. Aber es half nicht einmal, sich vorzustellen, sie würde einfach nur eine Arbeitsaufgabe im Unterricht stellen – ihre Stimme zitterte. Falsch, es war so falsch.

Der Kobold vor ihr blinzelte träge. Sein Mund öffnete und schloss sich ein paar Mal, ehe er sie ansah. »Bitte ... folgen Sie mir«, lallte er.

Sie hatte es tatsächlich geschafft, ihm den Willen zu rauben und damit jeglichen Stolz verraten. Elphinstones Blick begegnete ihrem und rasch sah sie fort. »Pippa, kannst du Granduk befehlen, wieder seinen Posten zu beziehen? Nicht, dass sein Verschwinden auffällt.«

»Klar.« Bei ihr brauchte es nur eine Bewegung des Zauberstabs und der Kobold verschwand aus dem Büro.

Steifen Schrittes schloss Minerva sich ihrer unfreiwilligen Marionette an. Der Kobold wankte leicht. Auch ihre Beine hätten am liebsten den Dienst versagt. Beiläufig streiften Elphinstones Finger ihren Handrücken, als er sich ihr anschloss, aber sie war nicht sicher, ob es nur ein Versehen war. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen, so sehr schämte sie sich.

Durch das Gewirr aus Gängen führte der Kobold sie bis zu einer der Loren, die einen in die Tiefen der Bank brachten. Ratternd und in übelkeiterregender Geschwindigkeit rasten sie über die Schienen ins finstere Höhlengewölbe hinab. Außer im Schein der kleinen Laterne an ihrem Wagen konnte man die Hand vor Augen nicht sehen. Doch als sie sich ihrem Ziel näherten, löste sich ein zweiter Lichtpunkt aus der Dunkelheit. Zunächst flackernd wie eine einzelne Kerze, aber mit jedem Meter, den sie näher kamen, wuchs der orange Lichtball weiter an, wie eine Sonne, auf die sie geradewegs zuhielten. Hitze schlug ihnen entgegen. Ihre Fahrt verlangsamte sich und in den leeren Augen des Koboldes neben Minerva spiegelten sich tanzende Flammen.

Verlies 232 brannte lichterloh.

Verlies Nr. 232

Die Flammenbrunst hatte das weit offenstehende Tor von Verlies Nr. 232 vollkommen verbogen. Gierig leckten Feuerzungen am nackten Stein drumherum und warfen ihr flackerndes Licht auf die vier Gestalten darin, deren Silhouetten sich dunkel vom orangenen Glühen abhoben. Noch hatten die Flammen nicht alles restlos verschlungen, aber sie arbeiteten sich gnadenlos auf das Grüppchen vor.

»Robbie!«, schrie Minerva auf. Krallen der Sorge schlugen tief in ihr Herz. Während ihre Lore an Fahrt verlor, je näher sie dem Ziel kamen, fiel ihr Blick auf den unbewegten Kobold im vorderen Sitz. Er stand noch immer unter der Kontrolle ihres Imperius, sonst hätte er wohl kaum so arglos auf das Flammenmeer geblickt. »Bitte«, richtete sie sich atemlos an ihn, »können Sie Hilfe holen? Alarm schlagen?«

Er blinzelte behäbig, den Blick unverwandt auf das Feuer gerichtet. Natürlich. Sie musste es ihm befehlen. Aber die Worte blieben in ihrer Kehle stecken, als wären es Glasscherben. Es war ohnehin zu spät. Vielleicht würde ihr Bruder diesen Abend nicht überleben. Ausgerechnet in Gringotts, dem angeblich sichersten Ort in Großbritannien, gleich nach Hogwarts.

Dieses Mal bildete Minerva sich nicht ein, dass Elphinstone ihre Zauberstabhand ergriff. Ganz leicht strich er über ihren Handrücken. Sie konnte nicht sagen, ob wegen des Fluches oder Robbie. Doch es war egal, denn die Entscheidung war gefallen. Sobald der Wagen weiter abbremste, schloss sie die Augen; löste die imaginären Fäden, die den Willen des Kobolds an ihren banden.

Für ein, zwei Wimpernschläge saß dieser wie erstarrt in der Lore. Dann riss er die Augen weit auf. Ein Schwall an Koboldflüchen drang aus ihm hervor.

Pippa drehte sich auf ihrem Platz um, die Augenbrauen missmutig zusammengezogen. Sie öffnete den Mund, wahrscheinlich um sich zu beschweren, doch Minerva kam ihr zuvor.

»Bitte«, wandte sie sich erneut dem Kobold zu, »gehen Sie zurück. Schlagen Sie Alarm! Es sind Eindringlinge in Verlies Nr. 232, das sehen Sie doch auch, nicht wahr?«

Er starrte sie an, als würde er am liebsten seine dünnen Finger um ihren Hals schlingen und ihr die Luft abschnüren. Was sie ihm nicht verübeln konnte, nach dem, was sie ihm angetan hatte.

»Sie ...!«, krächzte er.

»Meinetwegen können Sie mich später gefangen nehmen lassen, Hauptsache, Sie bringen sich in Sicherheit und sorgen dafür, dass hier eine ganze Brigade aus dem Ministerium auftaucht, hören Sie? In dem Verlies sind Leute, die nicht vor dem Einsatz schwarzer Magie zurückschrecken!«

Das war das Mindeste, was sie jetzt noch tun konnte. Sie hoffte nur, dass er keine Zeit verschwenden würde. Zumindest ruckte der Kobold knapp mit dem Kopf, auch wenn dem grimmig gemurmelte Worte in seiner Sprache folgten, die sie nicht verstand.

»Danke.« Bevor ihr Wagen vollständig vor dem Verlies zum Stehen kam, sprang Minerva auf den Steinboden davor, ihren Zauberstab parat. »Aguamenti!«

Ein Strahl Wasser schoss durch die Luft, nur um wirkungslos zu heißem Dampf zu verpuffen, sobald er auf das Feuer traf. Trotzdem hob sie ein weiteres Mal den Stab, um eine zweite Welle in das orange Inferno zu schicken. Neuerliche Dunstschwaden erfüllten die Höhle und vernebelten vorübergehend die Sicht auf das Verliesinnere.

»Das bringt nichts«, rief Pippa gedämpft hinter Minerva, »was immer da brennt, wird schwarzmagischen Ursprungs sein! All die verfluchten Gegenstände dort drin verstärken das Feuer nur.«

Die Absätze der Aurorin klapperten über den rauen Stein, als sie zu ihr aufholte. In ihrem knappen Ausgehoutfit wirkte sie vor dem brennenden Verlies völlig fehl am Platz. Aber ihr Griff an Minervas Arm war fest, ebenso wie ihre Stimme.

»Zauberstab runter! Wir müssen sehen, ob wir das Feuer irgendwie ersticken oder eingrenzen können. Und bei Merlins karierten Unterhosen, lenk keine Aufmerksamkeit auf uns! Wenn die Eindringlinge wollen, können sie problemlos Flüche durch das Feuer schicken.«

Blut rauschte Minerva in den Ohren, lauter als das Prasseln der Flammen. Das Atmen fiel so nah am Verlies schwer, denn jeder Luftzug war erfüllt von Rauch. Ihre Gedanken rasten, drängten sie, sich geradewegs durch das Feuer zu stürzen, um Robbie zu retten. Das Stimmchen der Vernunft war gefährlich leise geworden, aber noch hielt es sie an Pippas Seite.

»Was schlägst du vor?«

»Jedenfalls kein Wasser. Vielleicht –«

»Nun, es sieht nicht aus, als sollte das unsere größte Sorge sein«, wandte Elphinstone mit scharfer Stimme ein. Minerva hatte nicht einmal gehört, wie er an sie herangetreten war. Er wies auf die Eindringlinge in schwarzen Umhängen, die mit einem simplen Schlenker des Zauberstabs die Flammen vor sich teilten. Widerwillig ließ das Feuer sie passieren, niedergedrückt von einer unsichtbaren Macht.

Die Gestalten durchquerten das Verlies, als würde es nicht gerade von einer Feuersbrunst verschlungen. Alle, bis auf eine Person. Das wildtanzende Flammenlicht reichte, um zu erkennen, dass sie Robbie auf Knien hinter sich zurückließen, gefesselt von magischen Seilen.

Jegliche Vernunft war fortgeblasen. Minerva rannte los, Elphinstone und Pippa folgten dicht auf ihren Fersen. Noch im Laufen formulierte sie den Zauber, der die Fesseln durchtrennte. Robbie riss überrascht den Kopf hoch, als sich die Schnüre um seinen Oberkörper lösten und er sie auf der anderen Seite der Flammenwand erspähte. Augenblicklich sprang er auf, seinen Entführern hinterher.

Doch er blieb natürlich nicht der Einzige, der ihr Auftauchen bemerkte. Dunkle Kapuzen und Tücher mit Augenschlitzen verhüllten die Gesichter der Eindringlinge, die nun aus dem Feuer traten, aber Minerva war sicher, dass sie diesen Personen bereits im Ministerium begegnet war. Eine Befürchtung, die sich bestätigte, sobald die schmale Gestalt an der Spitze der Gruppe ihre Stimme erhob.

»Ach wie rührend, ein Rettungskommittee«, spöttelte die kalte Frauenstimme. Sie durchschnitt die Luft, als hätte sie einen Verstärkungszauber gewirkt. »Schade, dass wir bereits haben, was wir wollten. Jetzt bleibt uns kaum Zeit für ein richtiges Spielchen. Nun ja, extra für euch nehme ich mir trotzdem einen kleinen Moment.« Ohne sich umzudrehen, richtete sie ihren Zauberstab auf den Verlieseingang. Augenblicklich schlugen die Flammen wieder in die Höhe und drängten Robbie zurück.

»Nein!«, keuchte Minerva. Sie wagte einen Schritt vorwärts, aber ein fester Griff am Handgelenk hielt sie auf. Elphinstone.

»Nicht. Wir müssen mit Bedacht vorgehen, wenn wir ihn retten wollen. Das können wir nur gemeinsam

Pippa verlagerte ihren Stand. »Wir schalten sie aus, einen nach dem anderen«, bestimmte sie, ihren durchdringenden Blick auf Minerva gerichtet.

»Schon gut.« Es verlangte Minerva einiges ab, die Augen von ihrem Bruder zu wenden, nach dem die Flammen langten. Aber sie hatten ja recht.

»Liebster«, wandte die Hexe vor ihnen sich an den größeren ihrer Begleiter, wobei der Sarkasmus nur so aus ihrer Stimme tropfte, »haben wir noch genug Zeit für ein kleines ... Tänzchen?«

Der schmale Zauberer zog doch tatsächlich eine goldene Taschenuhr hervor. Minerva zögerte angesichts der Ablenkung nicht. Angestachelt von ihrer Wut vollführte sie eine peitschende Geste in Richtung der Hexe. Im hohen Bogen flog der Zauberstab ihrer Gegnerin aus der Hand. Klappernd verschwand er in der Dunkelheit. Der kleinere ihrer Gefolgsleute richtete selber den Stab auf Minerva, aber Pippa und Elphinstone schossen jeder einen Schockzauber auf ihn. Fluchend brachte der Zauberer sich mit mehr Glück denn Verstand aus der Gefahrenzone.

Derjenige mit der Taschenuhr zielte indes viel zu hoch mit seinem Fluch, den Blick immer noch auf das Ziffernblatt gerichtet. »Wir haben genau drei Minuten und fünfundzwanzig Sekunden, Liebste. Genug Zeit für uns.« Aus dem Kosenamen sprach auch bei ihm nur Sarkasmus, so giftig wie er ihn aussprach.

Erst als ein Grollen über ihnen erklang, begriff Minerva, dass er nie beabsichtigt hatte, sie zu treffen. Eine Reihe Stalaktiten löste sich knirschend von der fernen Decke. Spitz und tödlich wie Lanzen rasten sie herab.

Elphinstone beschwor mit einem hastigen »Protego totalum!« einen bläulich schimmernden Schutzkreis um sie herum, an dem die Geschosse abprallten. Ein weiterer Fluch aus Richtung der Gegner brachte die Barriere zum Vibrieren wie eine alte Kirchenglocke.

Das amüsierte und doch bedrohliche Zungenschnalzen der Anführerin hallte von allen Seiten wieder. Ungerührt nahm sie dem zweiten Mann ihren Zauberstab ab, den dieser zwischenzeitlich mit einem »Accio« zu sich gerufen hatte. In der anderen Hand hielt sie etwas, das auf die Distanz wie ein alter Schlüssel aussah. Sie winkte damit, als bereite ihr all dies unfassbares Vergnügen.

»Man sieht sich immer zwei Mal – das hätten wir dann wohl abgehakt. Bald heißt es endgültig Abschied nehmen, meine Lieben. Ein drittes Mal wird es nicht geben, dafür sorge ich. Oh, bevor ich es vergesse –«, sie warf Robbie einen Handkuss über die Flammen zu, »vielen Dank für deine großartige Hilfe, Robert. Es wird sicher jemand dafür sorgen, dass dein bedauerliches Opfer nicht vergessen wird.«

Nicht zum ersten Mal in dieser Woche nahm eine wahnwitzige wie verzweifelte Idee Gestalt in Minervas Kopf an. Sie warf zunächst Pippa, dann Elphinstone einen knappen Blick zu und reckte kaum merklich das Kinn in Richtung der Hexe, ehe sie mit dem Zauberstab auf die Gesteinsbrocken rund um den Schutzschild und schließlich zu Robbie wies. Ein kleines Lächeln umspielte Pippas Mundwinkel, als sie unmerklich nickte. Auch Elphinstone neigte zustimmend den Kopf.

»Nein.« Minerva schob sich vor ihre Begleiter, bis wenige Fingerbreit an die Grenze der Schutzbarriere. Der magische Schild ließ ihre Haarspitzen wie elektrisiert in der Luft tanzen. »Das hier endet jetzt!«

»Oho ...« Ihr Gegenüber klang hauptsächlich gelangweilt. »Ja, das hoffe ich doch!« Die Frau strich beinahe zärtlich über ihren Zauberstab.

Minerva richtete ihre ganze Konzentration darauf, sämtliche Bruchstücke der Stalaktiten um sie herum – mit Ausnahme des größten vor ihr – in einen Schwebezauber einzubeziehen. Ein tiefer Atemzug füllte ihre Lungen. Vor dem inneren Auge errichtete sie bereits ein Gebilde aus Steinbrocken. Wenig elegant, aber zweckmäßig. Den Zauberstab hinter ihrem Rücken verborgen, schickte sie die groben Trümmer auf ihre Reise.

Die Steine flogen in die Höhe und im selben Moment brach Elphinstone mit einer Handbewegung den Schutzkreis. Pippa und er hatten schnell begriffen. Zwei Schockzauber rasten auf die Anführerin zu, die sie bloß in letzter Sekunde mit einer schneidenden Bewegung konterte. Minerva duckte sich rasch hinter den großen Gesteinsbrocken vor ihr. Doch die Anhänger ihrer Gegnerin waren ebenfalls flink. Es war Elphinstones erneutem Protego zu verdanken, dass ihre Flüche in die Dunkelheit abgelenkt wurden.

Wie schon im Ministerium, kannten ihre Gegenspieler keine Grenzen. Ein erster Todesfluch sirrte nur haarscharf an Pippa vorbei durch die Luft, rasch gefolgt von weiteren.

»Ich würde mich sehr gerne noch länger mit euch vergnügen«, lachte die Anführerin eine Spur zu gut gelaunt, derweil ihr Zauberstab durch die Luft peitschte, »aber wir müssen wirklich gehen! Seht es mir nach, wenn ich das hier kurz und schmerzlos mache, ja?«

Weitere Gegenflüche brachten sie zum Schweigen und lenkten die Eindringlinge von den schwebenden Gesteinsbrocken, die über ihre Köpfe zogen, ab. Die Zähne fest zusammengepresst, löste Minerva den Blick vom Kampf und konzentrierte sich darauf, die Trümmer eine wackelige Brücke in das Verlies Nr. 232 formen zu lassen. Flammen leckten am unteren Teil der Konstruktion, aber sie hielt. Vorerst.

Während Flüche um sie her durch die Luft schossen, erklomm Robbie seine behelfsmäßige Fluchtmöglichkeit. Funken verkohlten den Saum seines Umhanges, als er sich immer höher kämpfte, über die Flammenbarrikade hinaus. Auf allen vieren hangelte er sich von Stein zu Stein, den Blick ängstlich auf das Feuer zu seinen Füßen gerichtet. Da passierte es – ein erster Gesteinsbrocken wackelte unter seinem Tritt. Erstarrt verharrte er, bis er sich erneut langsam vorwärts tastete, jeden weiteren Schritt mit Bedacht wählend.

Kalter Schweiß trat Minerva auf die Stirn. Ihr Kopf schien vor Anstrengung in denselben Flammen zu stehen wie das Verlies vor ihr. Nur noch ein bisschen, spornte sie sich an. Die Brücke musste halten, bis Robbie sicher auf der anderen Seite war, selbst wenn es sie all ihre Kraft kostete.

Trotzdem krachten hinter ihm weitere Brocken ins Inferno. Endlich löste er den Blick von der Gefahr und kroch schneller vorwärts. Von einem bröckelnden Stück zum Nächsten überwand er den höchsten Punkt. Auf der anderen Seite schlitterte er mehr herab, als dass er kletterte. Es war ein Rennen gegen die Zeit, doch er gewann. Den letzten Meter sprang Robbie, die Augen fest geschlossen. Hinter ihm fielen die Reste der Brücke polternd ins Flammenmeer. Aber anstatt innezuhalten, rannte er unbewaffnet auf die drei Eindringlinge zu, die sich weiterhin mit Elphinstone und Pippa duellierten. Plötzlich schien Robbies Mut keine Grenzen zu kennen, als wären die Entführer weniger gefährlich im Vergleich zu dem Feuer.

Aus ihrer Deckung heraus beobachtete Minerva fassungslos, wie er dem größeren Kerl – dem ‚Liebsten‘ – im Hintergrund todesmutig einen Ellenbogen zwischen die Schultern rammte. Sie traf den Zauberer, der unter dem Schlag einknickte, rasch mit einem Expelliarmus. Grinsend fing ihr Bruder dessen Zauberstab auf. Er bohrte die Spitze an den Hals des maskierten Mannes, die andere Hand schob er in seine Umhangtasche und zog offenbar das gestohlene Artefakt hervor. Auf die Entfernung erkannte Minerva nur, wie es silbern aufblitzte.

Jetzt schien auch die Anführerin begriffen zu haben, dass der Plan langsam ihrer Kontrolle entglitt. Mit einem grimmigen Aufschrei jagte sie Robbie den Avada Kedavra hinterher. Es war Elphinstones Gegenfluch, der den grünen Lichtstrahl noch in der Luft ablenkte. Der Augenblick reichte, damit Robbie geduckt in ihre Richtung flüchten konnte. Ein zweiter Fluch verfolgte ihn, traf aber nur auf Stein, der mit einem Knall in kleine Kiesel zerbarst. Ihr Bruder rannte weiter auf sie zu, das Artefakt fest an seine Brust gedrückt.

Gemeinsam mit Pippa und Elphinstone schoss Minerva Fluch um Fluch auf die Entführer hinter ihm ab. Deren Anführerin knurrte etwas in Richtung ihres kleineren Komplizen, während sie die Ablenkungszauber im Alleingang konterte. Augenblicklich setzte der Kerl Robbie nach. Er holte ihn schnell ein, den Zauberstab im Rennen auf seinen Rücken gerichtet. Robbie warf einen raschen Schockzauber über die Schulter, verfehlte allerdings bei Weitem. Minerva dagegen konnte nicht länger auf den Zauberer zielen, ohne Gefahr zu laufen, dabei ihren Bruder zu erwischen.

»Hol es!«, brüllte die Anführerin im Hintergrund wie eine wütende Drachenmutter. »Hol es zurück! Wir haben nur noch eine Minute!«

Ein Fluch seines Verfolgers ließ Robbie mit dem Gesicht voran zu Boden stürzen. In dem Augenblick, da Minerva wieder auf den Mann zielte, zerbarst etwas mit lautem Krachen im Verlies und verschlang nicht nur die nächsten Rufe ihrer Gegner. Binnen Sekunden schien die Luft in der Kammer restlos in Flammen aufzugehen. Ein gewaltiger Feuerball schoss aus dem Inneren des Verlieses hervor, direkt auf sie zu.

»Runter!«, rief Minerva.

Gerade rechtzeitig warfen Elphinstone und Pippa sich zu Boden. Sengende Hitze rollte über ihre Köpfe hinweg, eine unerbittliche Welle aus Feuer. Die verbrannte Luft in ihren Lungen brachte Minervas Augen zum Tränen. Hustend presste sie sich in den Schutz des Steinbrockens vor ihr. Auch Elphinstone und Pippa robbten sich dorthin vor.

Robbies Verfolger hatte sich ebenfalls auf den Boden gerettet. Er hielt jetzt dessen Fußgelenk umklammert, den Zauberstab auf seine Brust gerichtet. Der gestohlene Stab von Robbie hingegen lag einige Meter entfernt auf dem Stein. Verzweifelt trat Robbie nach dem Entführer, in dem Versuch, dorthin zu kriechen. Es knirschte unter seinem Fuß und er holte erneut aus. Aber nicht einmal ein gebrochener Zauberstab hielt den Mann auf. Er warf das gesplitterte Holz fort, zog sich hoch und schloss seine bloßen Finger um Robbies Kehle. Mit der anderen Hand riss er an dem Artefakt.

Im Hintergrund warteten die Anführerin und ihr hagerer Komplize, beide den Schlüssel – oder was immer es war – fest umschlungen. Die Hexe hielt den Zauberstab noch bereit, hatte aber aufgehört, mit wahllosen Flüchen um sich zu werfen. Stattdessen nutzte sie die Gelegenheit, den entwendeten Stab ihres Begleiters zu ihm fliegen zu lassen.

»Das ist doch nicht ... ein Portschlüssel?« Elphinstone stieß eine Reihe gälischer Verwünschungen aus. »Sie werden uns entkommen!«

Sowohl er als auch Pippa versuchten, die beiden mit einem Lähmfluch zu erwischen. Doch wie zuvor waren sie gut im Abwehren – zu gut.

Unschlüssig schwankte Minervas Blick zwischen dem Knäuel aus Robbie und dem Eindringling, die um das Artefakt kämpften, sowie den Flüchtenden. »Impedimenta!«, rief sie schließlich, auf die beiden Zauberer gerichtet.

Für einen Moment schien es, als seien die Männer in Zeitlupe versetzt. Wie durch zähen Sirup verlangsamten sich ihre Bewegungen, bis sie ganz einfroren. Der Entführer kniete über Robbie, das längliche Artefakt in der Faust. Die Hand ihres Bruders war ausgestreckt, nur Millimeter davon entfernt.

»Accio«, riefen Minerva und die Hexe am anderen Ende der Höhle beinahe zeitgleich.

Ein heftiges Reißen zog durch Minervas hocherhobenen Zauberstabarm. Der silberne Gegenstand ruckte in der Hand des Entführers nach links, dann nach rechts. Durch den Augenschlitz in seiner Verhüllung sah sie den verzweifelten Widerstand in seinem Blick, ihr nicht das Artefakt überlassen zu wollen. Doch unter dem Lähmzauber blieb ihm keine andere Wahl, als dem magischen Kräftemessen reglos zuzusehen.

Minerva presste die Zähne so fest aufeinander, dass es knirschte. Am Rande ihres Blickfelds bekam sie mit, wie Elphinstone und Pippa weitere Flüche auf die Gegenseite abfeuerten, die jedoch von dem dünnen Zauberer mit Gegenfeuer beantwortet wurden. Neuerlich ging ein Ruck durch ihren Arm. Nicht nur geistig, auch körperlich lehnte sie sich dagegen, die freie Hand gegen den Stein gedrückt. Das Artefakt rutschte durch die Finger des Entführers in Richtung der anderen Seite. Schon hielt er es nur noch zwischen Daumen und Zeigefinger. Wütend knurrte Minerva auf; arbeitete daran, es Stück für Stück zurückzuziehen.

Doch ein Lichtblitz, gefolgt von Elphinstones überraschtem Keuchen, das viel zu rasch erstarb, durchbrach ihre Konzentration. Sie wusste nicht, was ihn getroffen hatte, aber der Augenblick, als er an ihrer Seite zusammensackte, reichte, damit die gegnerische Hexe ihr die Kontrolle entriss.

Mit einem Aufschrei fiel Minerva zurück, sobald der Zug an ihrem Zauberstabarm von einem auf den anderen Herzschlag verschwand. Aufgefangen von Pippa an ihrer Seite, sah sie zu, wie das Artefakt durch die Finger des gelähmten Zauberers glitt – und geradewegs auf die Entführerin zuflog. Der Mann daneben griff es mühelos aus der Luft, ohne auch nur den vermutlichen Portschlüssel loszulassen. Mit einem boshaften Kichern richtete Minervas Gegnerin den Zauberstab auf ihren weiterhin verfluchten Komplizen.

»Avada Kedavra!«

Der unverzeihliche Fluch hallte in der urplötzlichen Schockstille zwischen den fernen Höhlenwänden wieder, wie von einem grausigen vielstimmigen Chor ausgerufen. Für den Bruchteil eines Herzschlags meinte Minerva, Furcht in den Augen hinter der Maskerade des Mannes über Robbie zu erkennen. Dann traf der grüne Blitz ihn mitten unterhalb der Schulterblätter und das Licht in ihnen verlosch. Ein dumpfer Schlag ertönte, als die Lähmung brach und der leblose Körper auf Stein schlug.

Pippa hatte ihren nächsten Zauber noch halb auf den Lippen, die rotglühende Zauberstabspitze erhoben, da ergriff ein starker Wind die beiden verbliebenen Eindringlinge; zerrte an ihren Umhängen und riss sie in einem Wirbel mit sich, an einen unbekannten Ort. Fort waren die Entführer – und mit ihnen das Artefakt.

Große Schwestern

»Phin?« Heiser von Hitze und Rauch drang Minervas Stimme durch die Stille, die nach der Flucht der Entführer zurückgeblieben war. »Nein ... Phin!« Sie entriss sich Pippas Armen und beugte sich über Elphinstones zusammengesunkene Gestalt, ein seltenes, stummes Gebet auf den Lippen. Er durfte nicht –

Raues Husten erklang. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, als er sich aufrichtete und er rieb sich die Brust, doch er schien unversehrt. »Mir geht’s gut«, sagte er matt. Wie zur Bestätigung seiner Worte berührte er ihre Schulter sacht. »War nur ein zurückgeschlagener Schockzauber.«

Erleichterung durchflutete Minerva mit angenehmer Kühle. Dankbar drückte sie seine Hand, bevor sogleich mit dem Knistern des Feuers im Hintergrund die nächste Sorge ihre Aufmerksamkeit beanspruchte. Ihr Blick fiel auf die Zauberer, die am Boden vor Verlies Nr. 232 lagen – einer tot, der andere gelähmt.

»Robbie!«

Alles um sie herum war vergessen. Sie rannte vorbei an dem gewaltigen Bruchstück des Stalaktiten, der ihr Deckung geboten hatte, auf ihren Bruder zu. Der lag wie versteinert da, erhobene Finger in die Leere gereckt. Ungeduldig nahm Minerva ihren Lähmzauber von ihm. Robbies Lider flatterten und langsam sank seine Hand auf die Brust.

»Robbie!« Ihre Stimme brach. »Oh Robbie!« Sie zog ihn in ihre Arme. Auf einmal war er wieder ihr vierjähriger Bruder, der in einen Fluss gefallen war und nicht schwimmen konnte, während sie elf war und ihm trotz der reißenden Strömung hinterher sprang. Damals wie heute hatte sie gefürchtet, ihn verloren zu haben. Niemals sonst war ihr Herz so von Furcht erfüllt gewesen.

Robbie hob mit einem kleinen Stöhnen die Arme. Seufzend tätschelte er ihre zitternden Schultern. »Schwesterherz ... erdrück mich nicht, ja?«

»Du bist so ein Idiot!«

»Ich mein ja nur, ich freu mich über mein Leben, immerhin hast du es mir gerade erst gerettet.«

»Ein riesengroßer Idiot!«, schluchzte sie. »Ein verfluchter, furchtbarer Idiot!«

»Ich hab dich auch lieb, Schwesterherz.« Er streichelte über ihren Rücken, derweil sie seinen angekokelten Umhang mit Tränen der Erleichterung durchnässte.

»Bitte sag, dass mit dir alles in Ordnung ist!«

»Ja.« Einen Arm um ihre Schultern geschlungen, zog er sich in eine sitzende Position. »Dein Zauber hat auf jeden Fall gesessen, aber ansonsten ...« Er streckte den Rücken durch, was ein leises Knacken nach sich zog. »Ansonsten sind da kaum Beschwerden, die ich nicht schon vorher gehabt hätte.«

»Gott sei dank«, murmelte Minerva. Sie lehnte sich zurück, um ihn zu betrachten.

Rußstreifen bedeckten Robbies Gesicht, sein sonst so ordentliches Haar stand wirr vom Kopf ab, die Brille hing schief auf seiner Nase und überhaupt sah er ein wenig ... angesengt aus. Doch unter all der Unordnung umspielte ein schwaches Lächeln seine Mundwinkel. Er würde in Ordnung kommen.

»Nicht etwa Merlin sei Dank?«, fragte er.

»Ach, was hat der heute schon für dich getan.«

Robbie grinste leicht. »Auch wieder wahr. Bei Gott besteht immerhin die Chance, dass unser Vater ein gutes Wort eingelegt hat.« Aber dann schlich sich der Ernst zurück auf seine Züge. »Wie geht es Anne? Ist sie in Ordnung?«

Minerva nickte rasch. »Elphinstone hat ihr einen Tee gemacht und ich die Schutzzauber repariert. Abgesehen von der Sorge um dich ist alles in Ordnung bei ihr.«

Dieselbe Erleichterung, die sie empfand, strahlte auch in seinen Augen auf. »Das ist gut. Wenn ihr und dem Kind was passiert wäre ...« Er schüttelte den Kopf. Sein Blick fiel auf den Leichnam des Entführers, der nur wenige Handbreit neben ihnen lag. Weit geöffnete blaue Augen starrten durch sie zu einem Ort jenseits ihrer Vorstellung. »Verdammt, das war knapp.«

Ein bitterer Geschmack legte sich an Minervas Gaumen. Hastig drehte sie den Kopf wieder Robbie zu. Es war nicht die erste Leiche, die sie sah, aber wohl der erste Mensch, der in ihrem Beisein umgebracht worden war. Nicht einfach nur gestorben – sondern wahrhaftig ermordet.

In der Zeit im Ministerium hatte sie hin und wieder die Rechtsmedizin aufsuchen müssen und wirklich hässliche Fluchwunden zu Gesicht bekommen. Manches waren Unfälle gewesen, andere durchaus Mord. Schön waren diese Besuche nicht, doch sie war damit immer zurechtgekommen. Das war ihre Arbeit, jemand musste diese Fälle ja vor das Zaubergamot bringen. Aber diese Sekunden, bevor der Fluch den Entführer getroffen hatte, würde sie nie vergessen. Der angsterfüllte Ausdruck in seinen Augen kurz vor dem Tod war schlimmer als jede entstellte und verdrehte Leiche im Keller von St. Mungo. Sie suchte Robbies Blick, der ebenso betroffen dreinsah.

»Das kommt schon wieder in Ordnung«, sagte er leise.

Gerade öffnete Minerva den Mund für eine Erwiderung, da erklang aus der Dunkelheit das Kreischen von Rädern auf Schienen. Gleich mehrere Loren rasten auf das Verlies zu und hielten schließlich mit quietschenden Reifen. Die Verstärkung aus dem Ministerium traf ein – natürlich zu spät.

Sie fluchte leise. Neben dem Kobold, den sie angegriffen hatte, zwängte sich ausgerechnet Alston Mulciber aus dem vordersten Wagen. Er trug einen Ausdruck im Gesicht, der besagte, dass ihn jemand mitten in der Nacht aus einem Nickerchen gerissen hatte und er diesem jemand gerne einen Fluch aufhalsen würde. Damit stand er dem Kobold, dessen Blick so eisig war, dass er den Brand eigenständig hätte löschen können, in nichts nach. Beide bellten Befehle an ihre jeweiligen Untergebenen, während sie das Chaos vor dem Verlies in sich aufnahmen.

Noch vor ihnen eilte allerdings ein Heiler in dem lindgrünen Umhang St. Mungos einher, eine zum Bersten gefüllte Ledertasche unter den Arm geklemmt. Flammen und Chaos schienen ihm gleich. Der dunkelhäutige Mann lief geradewegs zu Elphinstone, der noch immer neben Pippa an dem Gesteinsbrocken lehnte, doch dieser schickte ihn mit einer unwirschen Handbewegung direkt weiter zu Minerva und ihrem Bruder.

Robbie schnitt eine Grimasse, als der Heiler sich nach einem kurzen Spurt zu ihnen beugte. »Hey, alles gut«, versuchte er abzuwiegeln, »wirklich, niemanden von uns hat es so schlimm getroffen wie den da ...«

Der Blick des Zauberers huschte kurz zu dem Leichnam, ehe er ohne große Umschweife zwei Trankphiolen aus der Tasche zog und jedem von ihnen eine reichte. »Gut, trotzdem, nehmen Sie bitte das hier. Im Gegensatz zu den Toten kann ich Ihnen noch helfen. Das ist nur ein gewöhnlicher Stärkungstrank, kombiniert mit einem Antidot gegen Rauchvergiftungen. Sie werden es brauchen. Wurden Sie von Flüchen oder Zaubern jedweder Art getroffen?«

Minerva schüttelte den Kopf, aber Robbie blickte gen Decke und zählte leise. »Mindestens zweimal haben die mich mit einem Schockzauber getroffen, mit Incarcerus gefesselt, entwaffnet und einmal hat Impedimenta mich gelähmt. Außerdem hat ein Kerl versucht, mich zu erwürgen.« Ein Schatten legte sich auf seine Augen, als er sich über den Hals fuhr. »Ah und ... sie haben Gebrauch vom Cruciatus gemacht.«

Der Heiler ignorierte Minervas scharfes Lufteinziehen und murmelte stattdessen einen leisen Zauberspruch, ehe er Robbie befahl, sich aufzurichten, damit er seine Brust abhören konnte. »Wie lange waren Sie dem Cruciatus ausgesetzt, können Sie sich daran erinnern?«, fragte er ihn mit unaufgeregter Stimme.

»Hat sich angefühlt wie eine kleine Ewigkeit, aber ich vermute es war nicht mal eine Minute.«

»Das ist gut.« In den braunen Augen des Heilers lag ein weicher Ausdruck, als er Minerva zunickte. »In dieser kurzen Zeit richtet der Fluch keine bleibenden körperlichen Schäden an. Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen.«

Etwas an dem Mann Anfang vierzig kam ihr überraschend bekannt vor, auch wenn sie nicht sagen konnte, woher. Vermutlich gaukelte ihr Kopf ihr in all der Erleichterung nur Dinge vor, denn es war nicht zu leugnen, dass die bedachte Art des Heilers ihre wirbelnden Gedanken besänftigte. Selbst jetzt, wo das ganze Ausmaß der kurzzeitigen Entführung deutlich wurde, hatte sie nicht mehr so viel Angst, wie Minuten zuvor. Dankbar erwiderte sie sein Nicken.

Trotzdem zog sich ihr Herz bei dem Anblick von Robbies schuldbewusstem Gesichtsausdruck schmerzhaft zusammen. Sie hatte ihn vor allem Übel beschützen wollen – und versagt. Sie wollte – und konnte – sich nicht einmal ausmalen, welche Schmerzen er ertragen hatte.

Robbie fing ihren niedergeschlagenen Blick auf. »Es tut mir so leid, Minerva. Diese Leute wollten mich überzeugen, dass ich ihnen Zugang zum Verlies gewähre und – na ja, ich wollte eigentlich nicht. Aber sagen wir es so, sie hatten sehr überzeugende Argumente und ich ... verdammt, ich will wenigstens noch die Geburt meines Kindes erleben. Was hätte ich tun sollen?«

»Oh Robbie ...« Minerva wurde die Luft knapp. »Als wenn ich dir einen Vorwurf machen würde! Nach all dem –« Sie brach ab, denn nun kam Mulciber mit raumnehmenden Schritten geradewegs auf sie zu. Sein dunkelblauer Umhang bauschte sich hinter ihm auf und verlieh seinem Auftritt überflüssige Dramatik.

Nur der Heiler sah nicht auf, sondern wühlte in seiner Tasche. »Rein zur Vorsicht sollten Sie alle zwei Stunden je eine Tablette hiervon einnehmen«, sagte er an Robbie gewandt und zog eine Phiole mit kleinen hellblauen Kügelchen hervor, »damit sich Ihr vegetatives Nervensystem von den Nachwirkungen der Flüche erholt. So sind Sie auf der sicheren Seite.«

Selbst als Mulcibers Schatten auf sie fiel, ließ der Zauberer sich nicht beirren, sondern murmelte einige kleinere Heilzauber. Der Strafverfolger musterte ihn einen Moment, ehe er seinen durchdringenden Blick auf Minerva heftete. Ihr war bewusst, dass sie eine elende Erscheinung abgab, und so beschied sie sich auf ein finsteres Funkeln in seine Richtung.

»Schön, schön«, seufzte Mulciber leise, »ich hoffe, du hast eine gute Erklärung hierfür, McGonagall.«

»Definiere gut.«

Seine Augen verengten sich. »So überzeugend, dass das Gamot mir nicht auf die Finger haut, wenn ich euch gehen lasse. Ich habe wenig Lust, etwas zu erfinden. Und noch weniger Lust, euch festzunehmen. Der Papierkram, du weißt ...«

Die Spitze im Hinblick auf den jüngsten Artikel des Tagespropheten entging Minerva nicht. Anstatt ihm eine Antwort zu geben, leerte sie die Phiole mit dem Stärkungstrank. »Wenn du es wissen willst«, sagte sie schließlich, »ich bin hier, weil mein Bruder nicht zu einer Verabredung aufgetaucht ist. Stattdessen haben Elphinstone und ich seine panische Frau daheim gefunden, die uns von seiner Entführung berichtet hat. Ich habe nur getan, was nötig erschien, um ihn zu retten. Du siehst ja, was seine Entführer angerichtet haben. Ist das gut genug?«

»Für einen unverzeihlichen Fluch?«

»Müsstest du da nicht der Experte sein?« Sie dachte an Elphinstone und wollte Mulcibers Entgegnung gar nicht hören. Unglücklich sah sie dem Heiler zu, der eine Tinktur aus seiner Tasche gezogen hatte und damit ein paar oberflächliche Verbrennungen an Robbies Händen heilte. Fast wünschte sie, sich ebenfalls in den Schutz einer Heilbehandlung flüchten zu können.

»Nun –«

»Lass sie in Frieden, Alston«, zischte Pippa zu Minervas Überraschung, die sich mit Elphinstone im Schlepptau näherte. »Sie hat es getan, weil ich den Anfang gemacht habe. Wenn einer von den Kobolden was dagegen hat, dann sollen sie eine offizielle Beschwerde einlegen. Die Aurorenaufsicht wird sicher gerne beurteilen, ob das ein unverhältnismäßiger Einsatz von Magie war oder nicht. Aber ich sage jetzt schon, dass es auf die Feststellung von Gefahr im Verzug hinauslaufen wird und wir wissen alle, was das heißt.«

»Nämlich dass gar nichts passiert. Abgesehen von dem freundlichen Hinweis, dass es uns ja sehr leid tut, aber ...« Mulciber deutete mit einer Geste die imaginäre Erklärung an. »Schon klar. Ich darf den Kobolden beibringen, dass ihr berechtigter Zorn uns leider egal ist. So wird das nie etwas mit der Einheit unter allen magischen Wesen. Und ein weiteres Mal schaffe ich es, für alle Beteiligten der Böse zu sein.« Er warf einen Seitenblick zu Elphinstone, der ein leises Schnauben von sich gab. »Spar’s dir, Urquart. Hin und wieder habe ich doch so etwas wie ein Gewissen, auch wenn du es nicht glauben magst.«

Sein plötzliches Selbstmitleid berührte Pippa herzlich wenig. Sie wedelte nachlässig mit einer Hand. »Wir sollten lieber zusehen, dass irgendwer diesen Brand gelöscht bekommt. Das ist ja wie einer Sauna hier unten! Haben die Kobolde nicht irgendeinen ... Sicherheitszauber?«

Von Robbie drang ein heiseres Lachen. »Das war der Sicherheitszauber.«

Pippa schlug betont langsam die Lider nieder und riss dann die Augen weit auf. »Sehr sicher«, kommentierte sie sarkastisch. »Sie wären fast da drin verbrannt, wie Sie vielleicht bemerkt haben.«

»Nur weil meine Entführer den Schutzzauber manipuliert haben, bevor ich eine Chance hatte, ihn auszulösen und sie festzusetzen, nachdem ich ihnen gezwungenermaßen Zutritt gewährt habe. Für gewöhnlich soll ein verborgener Runenkreis Eindringlinge bei Betreten des Verlieses in einen Immobilis-Bann schließen. Ich weiß auch, wie man ihn manuell auslöst. Die reizende Anführerin hatte allerdings eine Phiole mit ... so etwas wie flüssigem Dämonsfeuer dabei. Bevor ich überhaupt handeln konnte, hat sie das Zeug auf den Bannkreis gegeben und ihn einfach – zerstört. Binnen Sekunden stand der ganze Kreis in Flammen. Nur ihnen selber hat das Feuer überhaupt nichts anhaben können. Ich weiß nicht, welchen Zauber sie genutzt haben, aber die Flammen haben sich einfach ihrem Willen gebeugt.«

»Die hatten das wirklich von vorne bis hinten durchgeplant?« Minerva starrte auf das brennende Verlies, vor dem inzwischen mehrere rot uniformierte Kobolde standen und das Feuer mit irgendeiner Apparatur bekämpften, die entfernt an einen muggelüblichen Feuerlöscher erinnerte. Hellgrüner Nebel hüllte das Inferno ein. Wo das Pulver die Flammen berührte, flackerten diese auf und schlugen fauchend zurück. Die übrigen Ministeriumszauberer diskutierten daneben lautstark, doch ihre diversen Zauber blieben wirkungslos.

»Scheint so«, gab Robbie matt zu. »Diese Leute wollten, dass ich da drinnen sterbe und man anschließend alles mir in die Schuhe schiebt. Und damit nicht auffällt, dass – oder eher was – verschwunden ist, haben sie einfach alles vernichtet. Aber dank dir, Schwesterherz, ist ihr Plan zumindest nicht ganz aufgegangen. Ich bin noch da.«

»Rührend«, kommentierte Mulciber und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Sein Blick fiel zurück auf Minerva. »Zusammenfassend fallen mir einige gute und weniger gute Gründe ein, für das, was du hier veranstaltet hast. Trotzdem habe ich Fragen, wenn ich mir die Leiche hier ansehe, die ihr alle so schön ignoriert.« Mulciber trat hinüber zu dem Toten und stupste pietätlos mit dem Fuß gegen den leblosen Körper, sodass er auf den Rücken rollte und sein starrer Blick sich endlich von Minerva löste. »Ist das auch dein Werk?«

Das bleierne Gewicht der Verantwortung auf ihrem Herzen drückte langsam zu. Es war ihre Schuld, dass die Entführerin ihren eigenen Komplizen getötet hatte. Wenn sie ihn nicht verzaubert hätte, wäre das vermutlich nie passiert. Dann hätte er ebenfalls fliehen können, anstatt zurückgelassen zu werden.

Indes flackerte Zorn in Elphinstones Blick auf und er setzte bereits zu einer Erwiderung an, doch Pippa kam ihm zuvor. »Mach dich nicht lächerlich, Alston. Den Kerl haben die Eindringlinge abgemurkst. Reicht ihnen offenbar nicht mehr, die Verlierer zu oblivieren, also machen sie gleich kurzen Prozess.«

Das entlockte Mulciber ein Zucken der Mundwinkel. »Vielleicht ist den bleihirnigen Billywigs ja aufgefallen, dass ihr gedächtnisloser Kollege uns trotzdem noch etwas verraten hat. Konsequent sind sie, das muss ich ihnen lassen.«

»So viel zu ‚diese Kinder könnten die unverzeihlichen Sprüche nie wirklich meinen‘«, erinnerte Minerva ihn bitter an seine Aussage nur Tage zuvor. »Unsere Miss Erklinglache hat nur einen Versuch gebraucht.«

Mulciber schnaubte. »Der Junge kann es auch nicht. Viel zu unbeherrscht. Aber sie ... sie ist ein anderes Kaliber. Trotzdem muss ich wohl eure Zauberstäbe überprüfen lassen, nur um auszuschließen, dass es nicht doch einer von euch war. Sicher ist sicher.«

Elphinstone verschränkte finster die Arme vor der Brust. »Das traust du uns nicht ernsthaft zu.«

»Oh, Menschen sind unberechenbar, wenn sie in die Ecke gedrängt werden«, erklärte Mulciber mit einem süffisanten Lächeln. »Auch wenn ich nicht glaube, dass du so reagieren würdest, nur weil die Ministerin einige unschöne Dinge erfahren hat und deine liebste Schwester inhaftiert wurde – ach, jetzt schau nicht so! Was hast du erwartet, was passiert, nachdem eure Verwicklungen publik wurden?«

Beinahe hörte Minerva Elphinstones Zähne knirschen. »Lass mich raten, ich darf dir höchstpersönlich danken, dass meine Schwester es bequem in einer Zelle im Ministerium hat.«

»Sicher.« Mulciber zuckte mit den Schultern. »Aber eigentlich ist mir gleich, ob du dankbar bist. Ich hätte es dir überlassen, der Sache ein Ende zu setzen, doch mit diesem unerfreulichen Artikel im Tagespropheten blieb mir kaum eine andere Wahl. Aber keine Sorge, sie schweigt, als wären ihre Lippen mit einem Dauerklebefluch versiegelt. Lange wird es ohnehin nicht anhalten. Die lieben Galleonen, du kennst es. Gideon muss nur den Geldbeutel klimpern lassen und ich bin sicher, sie ist bald wieder frei.«

Das waren allerdings wenig rosige Aussichten. Auch Elphinstone schien so zu denken, denn sein Gesicht gefror zu einer Grimasse aus Ärger und Besorgnis. Nun war er es, der Minervas Blick auswich. Natürlich machte er sich Sorgen, aber rein objektiv betrachtet war es für sie alle besser, wenn Elladora im Ministerium sicher in einer Zelle saß. Zumindest sie würde ihre Pläne nicht aktiv durchkreuzen.

»Tja, wie dem auch sei. Wen haben wir hier überhaupt?« Mulciber bückte sich und zog unzeremoniell das Tuch vom Gesicht des Toten zu seinen Füßen. »Hm ...« Enttäuscht zuckte er mit den Schultern. »Ihr kennt den Jungen nicht zufällig?«

Minerva wollte ihn nicht ansehen. Von der Wahrheit gab es keine Rückkehr. Was, wenn es einer ihrer Schüler war? Hatte sie ihn gekannt wie Rowle? Nur ihr Pflichtgefühl zwang sie, in das blasse Gesicht des Getöteten zu sehen. Er hatte hellbraunes Haar, das fiel ihr als Erstes auf. Das und die Sommersprossen. Sie schüttelte den Kopf. Obwohl er genau im richtigen Alter war, um einer ihrer ehemaligen Schüler zu sein, hatte sie ihn nie zuvor gesehen. Die Umstehenden betrachteten den Jungen ebenso ratlos.

»Wäre ja auch zu schön.« Endlich verschloss Mulciber die blauen Augen mit einer gelangweilten Geste. »Nimm den hier mit für die Autopsie«, wandte er sich an den Heiler. »Ich will das komplette Programm und zwar zackig. Die Kobolde starren mich jetzt schon voller Misstrauen an. Ein Toter in ihren heiligen Hallen, das macht sich gar nicht gut ... Wir können uns freuen, dass die Wölfe von der Presse gerade Schönheitsschlaf halten. Hiervon –«, er wies auf den Getöteten, »werden die nur über deine Leiche erfahren, verstanden?«

»Du musst mir nicht meine Arbeit erklären«, verkündete der Heiler in Seelenruhe und murmelte einen letzten Zauberspruch, der Robbies Brandblasen endgültig verheilen ließ. Er warf einen missmutigen Blick über die Schulter zu Elphinstone, der mit festzusammengepresstem Kiefer den Kobolden bei ihren Löscharbeiten zusah und wenig Interesse zu haben schien, Mulciber an eine freundliche Zusammenarbeit zu erinnern.

»Wundervoll. Nun, dann können wir hier zusammenpacken. Ich denke nicht, dass dieses Verlies bald gelöscht ist und wenn, wird nichts als Asche bleiben.« Mit einem Seufzen auf den Lippen erhob Mulciber sich. »Wenn wir den Frieden mit den Kobolden wenigstens oberflächlich wahren wollen, werdet ihr für eine Befragung mit ins Ministerium kommen müssen. Alle.«

Minerva tauschte einen unglücklichen Blick mit Elphinstone, ehe sie Robbie vom Boden aufhalf. »Pass auf«, murmelte sie in sicherem Abstand zu den anderen, »wenn das alles vorbei ist, komm nach Mayfair. Wir müssen jedes winzige Detail über das gestohlene Artefakt in Erfahrung bringen. Dem Ministerium – oder Mulciber – traue ich einfach nicht.« Sie reichte ihm zusammen mit seinem Zauberstab einen eilends heraufbeschworenen Pergamentstreifen, auf dem die Adresse von Elphinstones Wohnung stand.

Unauffällig schob Robbie das Papier in seinen Umhang. »Danke, Schwesterherz.«

Sie schlossen zum Rest auf, doch die waren ohnehin anderweitig beschäftigt. Der Heiler redete in gedämpfter Stimme auf Elphinstone ein, wobei er ihm eine Phiole Stärkungstrank in die Hand drückte, und Mulciber stierte ungeniert Pippa an, deren knappes Outfit einen fast vergessen ließ, dass sie eine Aurorin war.

»Ich habe zwar gehofft, dass wir einander heute Abend noch einmal begegnen – wenn auch nicht so. Nett, dass du dich für diesen Anlass so in Schale geschmissen hast«, kommentierte der Strafverfolger grinsend.

Die Aurorin versetzte ihm einen Schlag auf den Oberarm. »Bilde dir nichts darauf ein. Eigentlich hatte ich vor mit einer Freundin auszugehen, nicht dir deine Nachtschicht erträglicher zu machen.«

Ausgerechnet der sonst so unausstehliche Alston Mulciber lachte. »Mich dünkt, heute Abend bekommen die wenigsten, was sie wollen.«

 

Die Kobolde bedachten ihren Abgang mit feindseligen Blicken, aber die Löscharbeiten genossen Vorrang, denn keiner hielt sie auf. Schuldbewusst betrachtete Minerva das Opfer ihres Imperius-Fluches ein letztes Mal, als sie sich neben Elphinstone zurück in eine Lore quetschte. Es war zu einfach, jetzt zu gehen. Sie hasste sich selber dafür.

Im Atrium der Bank stand ein einzelner Kamin mit prasselnd grünem Flohfeuer bereit, durch den sie ins Ministerium gelangten. In der schummrigen Eingangshalle angekommen, endete Mulcibers ungewohnte Freundlichkeit wieder. Er ließ sie alle getrennt ihre Zeugenaussagen abgeben, wobei er es persönlich auf sich nahm, Robbie zu befragen.

Minerva selber fand sich einem nervösen Beamten gegenüber, der noch grün hinter den Ohren war. Ihre knappe Schilderung der Vorfälle in Gringotts schien ihm zu reichen, jedenfalls stellte er kaum Fragen. Sobald sie fertig waren, atmete er gar erleichtert auf. Auch Elphinstone und Pippa begegnete sie zügig nach der Überprüfung ihrer Zauberstäbe in der Nähe der Aurorenzentrale wieder.

»Ich habe nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber wir haben wohl Glück gehabt, dass es ausgerechnet Mulciber ist, der heute Nacht Bereitschaft hat«, seufzte Minerva leise, als sie zu ihnen trat. »Jemand anderes hätte uns vielleicht nicht so schnell gehen lassen.«

»Ja, auf eine verdrehte Art und Weise haben wir Glück.« Zum ersten Mal seit Stunden, so kam es Minerva vor, sah Elphinstone sie wieder direkt an. Ein Gewittersturm schien im Grau seiner Augen zu tanzen. »Wir haben zwar schon genug Zeit verloren, aber ... ich muss meine Schwester sehen. Solange es noch geht. Wenn ich ‚beurlaubt‘ bin, werde ich kaum eine Chance haben, sie in der Arrestzelle aufzusuchen. Und bis Mulciber Robbie gehen lässt, dauert es sicher.«

Der dicke Kloß in Minervas Hals war wieder da. Angestrengt schluckte sie. »Ich verstehe. Dann warte ich solange im Atrium.«

»Ehrlich gesagt habe ich gehofft, du würdest mitkommen. Immerhin geht dich das ebenfalls an.«

»Oh.« Verlegen drehte sie den Zauberstab zwischen den Fingern. »Ich meine – natürlich.«

Pippa betrachtete ungerührt ihre lackierten Nägel. »Dann beeilt euch. Wenn ich euch ungesehen reinbringen soll, haben wir nicht viel Zeit. Parkinson macht in ungefähr zehn Minuten eine kleine Kaffeepause, das nutze ich aus, um ihn abzulenken, während ihr reingeht und mit Elladora redet.« Sie stieß sich von der Wand ab und marschierte zielstrebig vor ihnen her.

Die Arrestzellen lagen hinter der Aurorenzentrale, in einem fensterlosen Flur. Besetzt waren die Zellen meist nur kurzfristig, sodass auch an diesem Abend bloß zwei belegt waren. Parkinson, der diensthabende Nachtwächter, hatte die simple Aufgabe, die magisch versiegelten Türen anzustarren. Kein Wunder, dass er hin und wieder einen Kaffee kochte, fand Minerva. Der Dienst schien sterbenslangweilig.

Pippa hatte Elphinstone ihre Aurorenmarke in die Hand gedrückt, die ihnen Zugang zu der Zelle verschaffen würde. Während sie den älteren Zauberer mit einem Gespräch in der Küche der Aurorenzentrale fesselte, standen er und Minerva nun vor Elladoras Unterbringung.

Elphinstone seufzte und drehte die goldene Marke zwischen den Fingern. »Danke, dass du dabei bist«, murmelte er leise. »Du musst nichts sagen, das erledige ich schon. Dennoch ist es gut, dem nicht alleine entgegenzutreten. Kaum zu glauben, dass ich das mal über meine Schwester sagen muss.«

Am liebsten hätte Minerva ihn in die Arme geschlossen. Aber da war eine unsichtbare Mauer, die sie zurückhielt. Vielleicht wollte er das nicht, nachdem er zugesehen hatte, wie rücksichtslos sie den Imperius einsetzte. »Das ist doch selbstverständlich«, sagte sie stattdessen schlicht.

»Trotzdem.« Er hob die Mundwinkel zur Andeutung eines Lächelns, bevor er die Aurorenmarke vor den blanken Türknopf hielt. Der Schutzzauber darauf leuchtete in einem satten Grün und geräuschlos schwang die Tür nach innen.

Minerva atmete tief durch. Hinter Elphinstone trat sie in die dunkle Zelle.

»Ella?«

Einen Moment hing Elphinstones Frage unbeantwortet in der Schwärze, dann flammte eine Lampe in der Ecke auf. Elladora Rosier sah kaum aus wie in der Erinnerung und doch war es unverkennbar sie. Der teure Schmuck fehlte, einzelne Haarsträhnen hatten sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst und ihr Gesicht war bleich. Lediglich der feine Umhang war ihr geblieben. Sie trug ihn mit der größten Würde, die ihr auf der Pritsche in einer Arrestzelle möglich war.

Die Zellentür schlug mit einem dumpfen Knall hinter Minerva zu. Was immer sie von der ältesten Urquart-Schwester erwartet hatte – es war nicht, dass diese sofort aufsprang und Elphinstone in eine Umarmung schloss. Doch die stolze Hexe schlang ihre Arme mindestens so fest um ihn, wie Minerva zuvor um ihren Bruder. Steif erwiderte Elphinstone die Begrüßung.

»Bei Merlin, was machst du hier?«, fragte Elladora ernst. »Geht es dir gut? Warum bist du voller Ruß?« Sie umfasste sein Gesicht mit bebenden Händen.

»Hallo, Ella. Entschuldige den späten Besuch, aber du kannst dir ja vorstellen, wie schwierig es ist, hier reinzukommen, wenn man alle seine Privilegien verspielt hat.« Er griff ihre Handgelenke und zog sie langsam von sich fort. »Erlaube mir eine Gegenfrage – wie soll es mir gut gehen, bei allem, was gerade passiert? Du bist verhaftet, da spare ich mir die Frage besser gleich.«

»Sag mir nur, ob dich jemand angegriffen hat. Bitte.« Elladora griff sich an den Hals, als taste sie nach der Kette, die sie sonst trug. »Hat dich jemand ... bedroht? Verletzt?«

Elphinstone fuhr sich durchs Haar, den Kopf schüttelnd. »Ja und nein. Ich habe ... ein paar deiner Bekannten verfolgt. Was hast du getan, Ella? Ich – wir – brauchen Antworten. Bitte.«

Nur langsam nahm Elladora den Blick von ihrem Bruder und erkannte Minerva, die wie ein Schatten hinter ihm stand.

»Minerva McGonagall«, stellte diese sich mit einem knappen Nicken vor.

»Ah, die ehemalige Auszubildende.« Elladoras Miene verhärtete sich. Sie hob das Kinn, die Arme vor der Brust verschränkt und starrte Elphinstone unergründlich an. »Verstehe. Du traust mir also nicht.«

»Es ist verdammt schwer, ohne Antworten.« Seinerseits kreuzte Elphinstone die Arme. »Hör zu, es geht nicht um dich oder mich, das Ministerium, ja nicht einmal um unsere Familie. Du hast einigen Menschen wehgetan mit den Entscheidungen, die du getroffen hast. Ich will wenigstens wissen, warum. Versuch nicht, es zu verneinen. Ich weiß, was ich in der Erinnerung dieses Kerls gesehen habe!«

Abrupt wandte Elladora ihnen den Rücken zu. Sie kehrte zurück zu der Pritsche, wo sie sich in trotziger Eleganz mit überschlagenen Beinen niederließ. »Sag mir – würdest du nicht alles tun, um die zu schützen, die dir wichtig sind?« Der vorsichtige Ton ihrer Stimme stand in starkem Kontrast zu ihrer Haltung.

»Gib nicht mir die Schuld, für das, was du getan hast!«

Zorn schwang in Elphinstones Worten mit. Minerva trat einen Schritt näher, eine Hand besorgt auf seine Schulter gelegt.

Elladora nahm einen tiefen Atemzug. »Das tue ich nicht.« Sie faltete die Hände auf den Knien. »Aber das ändert nichts daran, dass ich es auch für dich getan habe. Genauso wie für unsere Schwestern, Eltern ... nur für euch. Und weißt du was? Ich würde es wieder tun, auch wenn es nicht ganz gelaufen ist, wie erhofft. Es ist egal, was andere über mich denken, denn es hat funktioniert. Wenn diese Inhaftierung mein Preis ist, zahle ich ihn gerne.«

Das reichte Minerva. »Ist Ihnen überhaupt klar, wem Sie geholfen haben? Dass ein unschuldiger Elfjähriger wegen Ihnen leidet? Und nicht nur er, seine Familie ebenso! Wenn sie nicht längst ... tot sind.« Sie grub die Finger in Elphinstones Schulter. Er war das Einzige, was sie davon abhielt, seine Schwester in eine elende Kröte zu verwandeln. »Sind Ihnen Muggel wirklich so zuwider, dass Sie bereitwillig über ihre Leichen gehen?«

Elphinstone legte sanft eine Hand auf ihre. »Min ...«, murmelte er leise.

Ihr Blick flackerte von seiner Schwester zu ihm. »Ist doch wahr!«

Er nickte sacht. »Ich weiß. Aber ich muss das hier machen, nicht du.«

Widerwillig gab Minerva nach, nur die Hand nahm sie nicht von ihm.

Für einen Moment verharrte Elladora reglos, betrachtete sie beide bloß voll Bitterkeit, dann straffte sie die Schultern. »Ich weiß nichts von Elfjährigen oder irgendwelchen Muggeln, die wegen mir leiden mussten. Aber selbst wenn es so ist, bereue ich es nicht. Für dich, Elphinstone – für unsere Familie! – würde ich alles tun. Du musst mir bitte glauben, dass ich dich damit schütze, wenn ich schweige.«

Der bittere Geschmack in Minervas Kehle meldete sich zurück. Trotz ihrer Differenzen erkannte sie einen Teil von sich in Elladora wieder. Das war die Elladora aus Albus’ Erinnerung, die ihren kleinen Bruder liebte, beschützte. Minerva drückte Elphinstones Schulter. Obwohl es seine Schwester war und er sie nicht hergebeten hatte, um ihr ins Gewissen zu reden, konnte sie sich nicht zurückhalten.

»Ich verstehe Sie. Ich würde ebenfalls alles für meinen Bruder tun«, erzählte sie leise. »Heute habe ich es sogar getan. Ich habe einen unverzeihlichen Fluch benutzt, um sein Leben zu retten. Nur ...« Sie sah an die blanke Steinwand hinter Elladora. »Damit habe ich Unschuldige verletzt. Genauso wie Ihre Taten dazu beigetragen haben, dass eine ganze Familie entführt wurde. Im ersten Moment fühlt es sich vielleicht richtig an, bevor man merkt, welchen Schaden man anrichtet. Ich hatte Glück, denn im Endeffekt konnte ich meinen Bruder wirklich retten. Aber wenn ich die Möglichkeit bekomme, will ich diesen Fehler trotzdem gerne ... korrigieren. Mich zumindest bei denen, die ich verletzt habe, entschuldigen. Denn mein Bruder will sicher nicht, dass wegen ihm anderen Unrecht geschieht.«

Elphinstones Blick ruhte brennend auf ihr, das spürte Minerva, doch stattdessen sah sie zu Elladora, deren dunkelrot lackierte Fingernägel sich inzwischen in ihre Oberschenkel bohrten. Sie hatte die Kiefer fest zusammengepresst, als müsse sie sich daran hindern, ungewollt die Wahrheit preiszugeben.

»Diese Chance, den Schaden für Unschuldige zu begrenzen, bietet Ihr Bruder Ihnen gerade. Und ich glaube, Sie würden ihn viel mehr verletzen als jeder Fluch, wenn Sie diese Möglichkeit nicht ergreifen, sondern sich sehenden Auges für das Unrecht entscheiden.«

Einige Herzschläge lang blieb es still. Nur das leise Knistern der verzauberten Kristallleuchte an der Wand war zu hören. Schließlich nahm Elphinstone die Augen von Minerva und trat zu seiner Schwester. Vorsichtig setzte er sich neben ihr auf die Pritsche, eine Hand um ihre gelegt. »Minerva hat recht, Ella. Bitte, tu es für mich.«

Elladora gab einen Laut von sich, der zwischen Seufzen und genervtem Zungenschnalzen lag. »Elph ... versprich mir, dass du – ihr beide – mich bis zum Ende anhören werdet. Und zweitens – lasst nicht zu, dass Gideon mich aus der Haft freikauft.«

Betrogen

»Was?« Elphinstones verwunderter Ausruf hallte in der kleinen Arrestzelle wieder. »Ella, warum soll ich verhindern, dass dein Mann eine Kaution hinterlegt? Was hat Gideon dir angetan?«

»Warte, bis ich die Geschichte erzählt habe, Elph. Bitte.«

»Aber ich weiß nicht, wie ich dir diese Sicherheit geben soll, wenn ich aufgrund deiner Taten keine Macht mehr habe, dir zu helfen!« Er rieb sich die Stirn. »Ich will trotz allem, dass du in Sicherheit bist, nur ...«

»Du hast vielleicht nicht mehr die Möglichkeit, aber ich kenne jemanden, der genau das bewirken könnte«, warf Minerva bedacht ein. »Doch bevor ich Versprechen abgebe, will ich die ganze Geschichte hören. Meinetwegen auch ohne Fragen bis zum Ende.« Sie lehnte sich mit verschränkten Armen an die nackte Wand gegenüber von der Pritsche, auf der Elladora und Elphinstone saßen.

Die älteste Urquart-Schwester strich sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr, dann räusperte sie sich. »Offenbar weißt du bereits einiges über mich und vermutlich auch über meinen Mann, Gideon.« Sie sah Minerva aus grauen Augen an, die denen Elphinstones erschreckend ähnlich waren und doch einen Teil seiner Wärme vermissten. »Tut mir leid, aber angesichts der Situation können wir die Höflichkeitsformeln gleich sein lassen, denke ich.«

Minerva wedelte mit der Hand, um zu zeigen, dass ihr die Anrede egal war. »Tatsächlich durfte ich neulich erst bewundern, wie dein Mann seine Parolen verliest. Da habe ich einen gewissen Eindruck gewonnen. Abgesehen davon kenne ich deinen Bruder allerdings seit dreizehn Jahren und weiß, dass er davon nichts hält.« Sie dachte an Albus’ Erinnerung, in der Elladora nicht nur für Elphinstone, sondern auch dessen muggelgeborenen Ravenclaw-Freund eingetreten war. »Ich bin jedoch nicht sicher, auf welcher Seite du stehst. Ob ich dir trauen soll. Überzeuge mich.«

»Das ist fair.« Elladora drückte den Rücken durch wie eine Balletttänzerin. »Lasst mich einige Dinge klarstellen – alles hängt an meinem bescheidenen Entschluss, Gideon Rosier zu heiraten. Ohne ihn wäre ich wohl nie in diese Lage gekommen. Doch ich war neunzehn und unbedarft, als ich jene Entscheidung getroffen habe. Im Nachhinein wäre mancher Weg besser unbeschritten geblieben.« Geistesabwesend knibbelte Elladora mit den perfekt manikürten Fingernägeln an ihrer Strumpfhose. »Diese Ehe ist schon lange nicht mehr der Traum, den ich mir einst ausgemalt habe. Vermutlich war sie es nie. Ich bin nicht stolz darauf, aber in meiner Unzufriedenheit hatte ich hin und wieder Affären mit anderen Zauberern.«

Elphinstone sah mit großen Augen auf und Elladora senkte die Lider. Ihre Erzählung unterbrach sie dennoch nicht.

»Vor mehreren Monaten habe ich Gideon mit einem alten Bekannten betrogen. Das führt direkt zu meinen heutigen ‚Verfehlungen‘ – denn ich habe dem Falschen vertraut. Ihr seid meinem Zellennachbar Caius ja bereits begegnet, wie ich von Alston gehört habe. Ich gestehe, ich bin froh, dass Caius keine Erinnerungen mehr hat. Geschieht ihm recht. Er hat mich lange genug erpresst, nachdem ich unsere Affäre vor einigen Wochen beendet habe.« Sie lachte bitter auf. »Aus den Fängen einer Acromantula in die eines Drachen, könnte man sagen. Caius hat mir angedroht, dass er alles verrät, wenn ich ihm nicht helfe, an gewisse verbotene Pflanzenteile zu gelangen.«

Unweigerlich drängte sich Minerva das Bild des gehässigen Entführers zusammen mit der adretten Elladora auf. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, warum sie ausgerechnet mit einem wie ihm eine Affäre angefangen hatte. Die Hexe verzog den Mund, als sie Minervas Blick auffing.

»Wahrscheinlich wäre es mir egal gewesen, wenn ...«, Elladora holte tief Luft, die Hände vor dem Bauch verkrampft, »wenn Gideon nicht so rachsüchtig wäre. Er ist längst nicht mehr der Junge, in den ich mich im letzten Schuljahr verliebt habe. Die Flugblätter sind harmlos. Ich weiß, wie weit er wirklich gehen wird, um seinen Willen durchzusetzen – und wenn es diese Welt in Brand versetzt. Ich habe seine Gewaltbereitschaft oft genug erlebt.«

Noch immer hielt Elladora das Kinn hoch erhoben, doch ihre Augen schimmerten feucht. Sie hatte ihre Hände so fest ineinandergekrallt, dass ihre Fingernägel tiefe Abdrücke in der hellen Haut hinterließen. Elphinstone sagte nichts, sondern legte zögerlich einen Arm um ihre schmalen Schultern. Elladora blieb kerzengerade sitzen. Die Worte kamen ihr zusehends schneller über die Lippen, als wolle sie es nur zu Ende bringen.

»Gideon war schon seit jeher bedacht darauf, mich daran zu erinnern, dass ich ihm dankbar sein darf, weil er mich geheiratet hat. Schließlich gehören die Rosiers zu den unantastbaren Achtundzwanzig, nicht so wie unsere Familie. Das hat er mir immer vorgehalten, aber im letzten Jahr sind seine ... Drohungen gegenüber den Menschen, die mir etwas bedeuten, konkreter geworden. Lasst mich einfach nur sagen, dass die unverzeihlichen Flüche noch harmlos sind, gegen das, was er und einige andere bereit sind, für den Schutz ihrer Position zu tun.«

Von Elphinstone kam ein frustriertes Geräusch. »Dieser ...! Ich hätte ihn einsperren –«

Elladora schüttelte den Kopf und schnitt ihm damit die Worte ab. Sie zog den linken Ärmel ihres Umhangs zurück und rollte die Bluse darunter hoch. Verwundert musterte Minerva sie. In Gedanken stellte sie sich alles Mögliche vor – Verletzungen durch einen rachsüchtigen Ehemann schienen ihr nicht abwegig –, doch sobald Elladora ihren Unterarm vorstreckte, blickte sie auf ein Rätsel. Die dunkle Tätowierung hob sich deutlich von der blassen Haut ab. Schon das passte kein Stück zu der vornehmen Frau und noch weniger das Motiv. Totenschädel und Schlange hätten vielleicht einer düsteren Zeitgenossin gestanden, doch an Elladora wirkte es so fremd wie ein Riese zwischen Hauselfen.

Elphinstone umfasste ihren Unterarm und starrte das Tattoo an. »Was hast du getan, Elladora?« Er sah zu ihr auf, als befürchte er, dass die Schlange unter ihrer Haut zubeißen könnte.

»Mich von meinen Ambitionen leiten lassen. Aber anders als dich, hat mich das nur in eine schwierige Lage gebracht. Du kennst Gideons Freundeskreis, Elphinstone. Du weißt, was die Ritter der Walpurgis während unserer Schulzeit für eine Stärke hatten. Gegen ihre jetzige Macht verblasst das. Glaub mir. An Stelle der Walpurgisritter steht heute etwas viel Größeres.«

Minerva hatte sich bisher wie versprochen zurückgehalten, doch jetzt reichte es ihr, nichts zu verstehen. »Was hat das zu bedeuten? Dieses Symbol?«

Anstelle von Elladora antwortete Elphinstone. »Es bedeutet, dass Elladora einem gewissen, selbsternannten Lord – für mich immer noch Riddle – und seiner fanatischen Gruppierung die Treue geschworen hat, genauso wie Gideon. Auf Lebenszeit. Oder liege ich falsch?«

Seine Schwester entzog ihm den Arm und verbarg das grässliche Tattoo wieder unter ihrer Bluse. »Er hat recht. Ich habe nicht bloß Gideon geheiratet, ich bin ihm auch in seinen Überzeugungen gefolgt. Immerhin hat T- er uns Perspektiven gegeben, einen Glauben daran, diese Welt besser zu machen.«

»Indem sie sich über die Muggel erheben?«, rutschte es Minerva unwirsch heraus. »Hass und Hetze säen?«

»Nein, indem wir uns vor den Nichtmagischen und ihrem Zerstörungswillen schützen. Wir können uns nicht von der Angst, entdeckt zu werden, regieren lassen.«

Eine von Minervas Augenbrauen wanderte bereits Richtung Haaransatz, doch es war der Anblick von Elphinstone, der seinen Kopf in die Hände stützte und aus feuchten Augen gen Boden sah, der sie schweigen ließ. Die Überzeugungen seiner Schwester waren vorerst egal, solange sie zu ihren Informationen kamen. Es war schwer genug für ihn, ohne dass Minerva Vorwürfe äußerte.

»Ich wollte nicht nur zusehen, sondern ein Teil der Veränderung sein«, fuhr Elladora fort. »Allerdings habe ich unterschätzt, wie viel Aggression dieser Umbruch in manchen hervorruft. Ich habe neue Seiten an Gideon kennengelernt – habe ihn fürchten gelernt. Ich möchte lieber nicht ausführen, warum ich nicht riskieren kann, dass Gideon erfährt, wie ich ihn mit einem anderen Mann, noch dazu einem Halbblut, betrogen habe.«

»Ich glaube, ich möchte es ohnehin nicht wissen«, sagte Elphinstone heiser. »Ich habe schon zu Schulzeiten genug von dieser ... Bewegung gesehen.«

»Ja. Deshalb habe ich getan, was Caius verlangt hat. Auch wenn es wahrscheinlich weit vorher angefangen hat, dass er mich für den Zugang zu gewissen Kräutern ausgenutzt hat. Er hat mir immer von den Tränken erzählt, an denen er experimentiert. Während er mich mit Aufmerksamkeit überschüttet hat, habe ich ihm hier und da ein paar Dinge zugeschoben. Nachdem ich mich nicht mehr treffen wollte, hat er mich einfach mit unserer Affäre erpresst, um weiterhin zu bekommen, was er braucht. Am Ende war ich ihm wahrscheinlich immer egal.«

»Und was hat er alles verlangt?«, fragte Elphinstone tonlos.

»Eine Menge. Finsternisschoten, damit fing alles an. Aber schnell wurde es mehr, noch gefährlichere Materialien. Als ich schließlich genug hatte, drohte er, dass er dich mit hineinzieht. Nur noch eine Sache, schwor er mir, dann wäre meine ‚Schuld‘ beglichen. Ich bin nicht naiv. Ich wusste, dass er bis zum Hals im Drachenmist steckt. Aber ich habe mir gesagt – solange er nur wieder einem verrückten Experiment nachhängt, ist es egal. Hauptsache, er kann weder mich, noch dich oder jemand anderen aus der Familie verletzen. Auch wenn ich gerade jetzt wünschte, dass ich ihn doch in einen Nachttopf verwandelt hätte.«

Zitternd streckte sie ihre Hand vor sich aus und drehte den einsamen goldenen Ring an ihrem Zeigefinger. Schließlich stützte sie den Kopf seufzend gegen ihre Fingerknöchel. Von ihrer stolzen Haltung blieb kaum etwas nach. Trotzdem wusste Minerva, dass sie die Wahrheit aussprechen musste. Es würde Elladora nichts nützen, sie vor den Konsequenzen ihres Handelns zu schützen.

»Nun – das hat nicht funktioniert. Dieser Mann und seine Komplizen haben einen meiner muggelgeborenen Erstklässler samt Familie entführt. Dank der Ignoranz seitens der Ministerin hat Elphinstone sich der Sache unter der Hand mit mir angenommen. Wir sind den Entführern seit Tagen auf der Spur, bevor überhaupt jemand von deiner Verwicklung geahnt hat. Inzwischen haben wir uns zweimal mit diesen Leuten duelliert. Ich sage es nicht gerne, aber – dein Bruder ist sogar getroffen worden. Heute war es nur ein Schockzauber, aber ...« Die Worte hingen in Minervas Kehle fest, als wären sie mit Widerhaken besetzt. »Es hätte weitaus Schlimmeres sein können. Den Todesfluch nutzen sie oft genug.«

Langsam hob Elladora den Kopf und ihr Blick traf auf Minervas. Mindestens ebenso unglücklich wie ihr Gegenüber biss diese sich auf die Unterlippe. Konnte Elladora die Sorge um Elphinstone in ihrer Stimme spüren? Rasch sah Minerva wieder an die graue Wand.

»Elph, warum bist du nur so ... so schrecklich gutmütig und –«, Elladora stöhnte. »Warum kannst du die Dinge nie auf sich beruhen lassen? Das war schon mit Archie damals so. Denk doch einmal an dich! Ist das wirklich dein Leben wert? Ein Muggelgeborener?«

»Mag sein, dass es manchmal einen hohen Preis hat, Unrecht zu beseitigen, aber ich werde nicht zusehen, wenn so etwas passiert, Elladora. Hättest du einmal mit mir geredet –« Er streichelte über ihren Rücken, als sie erneut aufstöhnte. »Ich hätte nie zugelassen, dass diese Dinge passieren. Wir sind keine Kinder mehr, du musst mich nicht länger beschützen, wie damals vor den Kelpies. Ausnahmsweise hätte ich dir helfen können. Weißt du, mein Job ist – war – mehr als nur ein netter Titel. Ich hätte alles getan, um dir zu helfen. Es gibt immer einen anderen Weg, das habe ich dir oft genug gesagt.«

»Dafür ist es endgültig zu spät«, seufzte Elladora.

»Es ist allerdings nicht zu spät, jetzt deinem Bruder zu helfen, damit wir dieser Sache ein Ende bereiten können.« Minerva zog ihren Zauberstab und beschwor Pergament und Feder herauf. »Wir brauchen sämtliche Details über diesen Caius und seine Verbündeten; welche Mittel sie zur Verfügung haben – einfach alles, was du über sie weißt. Nur dann können wir uns vernünftig vorbereiten, um ihre Machenschaften ein für alle Male zu beenden. Damit rettest du Elphinstone, genauso wie unschuldige Leben.«

»Bitte, Elladora«, setzte Elphinstone nach. »Wenn das vorbei ist, finden wir für alles andere auch noch eine Lösung. Du hast immer noch eine Chance, dich für einen ... anderen Weg zu entscheiden.«

Elladora rieb sich über den linken Unterarm, doch als sie wieder aufsah, sprach Entschlossenheit aus ihrem Blick. »Ich fürchte, ich kann höchstens etwas zu den Gewächsen sagen, die ich für Caius beschafft habe, aber wenig zu seinen Plänen damit. Ich weiß nur, dass er in den letzten Monaten öfters das Haus gewechselt hat. Anfangs haben wir uns noch in seiner Wohnung zur Übergabe getroffen, doch zuletzt war es erst irgendein altes Herrenhaus und dann diese miefende Muggelbude. Er hat mir nur die Kaminadressen genannt, die ich nutzen soll.«

»Weißt du, wie viele außer ihm dort sind?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er hat acht gegeben, dass ich niemandem – abgesehen von diesem Jungen letztes Mal – begegne. Manchmal habe ich Stimmen im Nachbarzimmer gehört. Wenn ich schätzen müsste – dann vielleicht fünf? Sechs? Mindestens. Caius muss der Älteste sein, denn einmal hat er sich beschwert, dass er so einen Kindergarten nicht länger erträgt.«

»Gab es Schutzzauber, die du bemerkt hast? Ungewöhnliche Vorkehrungen?«

»Oh, Schutzzauber nutzt Caius reichlich. Schon seine eigene Wohnung war von einer Vielzahl geschützt. Der übliche Apparierschutz, den so gut wie jeder magische Haushalt hat, aber auch diverse seltene Grenzzauber, die auf menschliche – und tierische – Anwesenheit reagieren. Um sein Labor zu betreten, musste man den richtigen Trank getrunken haben, andernfalls wurde man in einem Immobilis-Bann gefangen. Außerdem hatte er einen Zauber auf die Eingangstür gelegt, der jegliche Äußerlichkeitszauber und oberflächliche Verwandlungen entfernt. Das habe ich bemerkt, als meine Kosmetikzauber sich einfach verabschiedet haben.«

Fleißig notierte Minerva die einzelnen Punkte. »Und die Gewächse? Wie viel und was hast du ihm mitgebracht?«

»Einen ganzes Säckchen voller Finsternisschoten, ebenso von den Blutblasenschoten. Von dem Feuerschlingenkraut habe ich drei Bündel mitgebracht. Abgesehen davon noch Blüten sowie Samen einer Tentacula und mehrere Tütchen mit pulverisierter Steppenalraune. Von der einen Melionwurz wisst ihr bereits. Das war die letzte Lieferung.«

»Das alles zusammen ergibt ... überhaupt gar nichts«, murmelte Elphinstone, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. »Das ist zumindest kein Trank, der mir geläufig ist.«

»Für mich ergibt es auch keine Sinn«, erwiderte Elladora. »Jedes für sich genommen ist eine wirkungsvolle Ingredienz, aber die Wirkweisen passen nicht zueinander. Deshalb habe ich angenommen, dass Caius mal wieder versucht, einen Trank zu erfinden, der ihm am Ende um die Ohren fliegt.«

»Nun, zumindest von den Finsternisschoten und dem Melionwurz wissen wir, dass sie als Ablenkung und Schutz eingesetzt werden«, gab Minerva zu bedenken.

Trotzdem sahen die Geschwister vor ihr keinen Deut schlauer aus. »Minerva, vielleicht ergibt alles mehr Sinn, wenn Robbie uns verrät, was die Entführer heute in Gringotts gestohlen haben. Auch wenn es jetzt noch mehr Rätsel aufwirft, sind wir einen Schritt weiter, würde ich sagen.« Elphinstone lächelte seiner Schwester schwach zu. »Du hast heute etwas wirklich Gutes getan, Ella. Danke für deine Ehrlichkeit.«

Doch Elladora sah nur auf ihre Schuhspitzen hinab. »Die Muggel sind mir egal. Ich tue das nur für dich, Elph. Bitte lass mich das nicht bereuen. Gideon – oder schlimmer noch, er – werden nicht so viel Nachsicht walten lassen, wenn diese Sache bekannt wird.«

»Was das angeht, werde ich Albus bitten, dass er beim Gamot eine Haftprüfung anregt. Wenn sie weitere Untersuchungen verordnen, haben wir eine Gnadenfrist, um zu überlegen, was ... aus dem anderen Problem wird.«

Minerva rollte das Pergament mit ihren Notizen zusammen, belegte es mit einem Schutzzauber und schob es in ihren Mantel. Elphinstone und seine Schwester sahen sie an, als wäre ihr unerwartet ein zweites Paar Arme gewachsen.

»Albus ... Dumbledore?«, fragte Elladora mit geweiteten Augen.

»Ja. Eine bessere Lösung fällt mir nicht ein. Seine Position im Gamot erlaubt es ihm immerhin, gewissen Einfluss auszuüben.«

»Du kennst ihn?«

»Ich würde ihn zu meinen engsten Freunden zählen. Abgesehen davon bin ich seine Stellvertreterin in der Schule.«

»Oh.« Tatsächlich mühten Elladoras Mundwinkel sich zu einem schmalen Lächeln hoch. »Das ... ist mehr, als ich mir erhofft habe. Danke.«

 

Für den Abschied ließ Minerva die beiden Geschwister alleine in der Zelle zurück. An diesem Abend hatte sie genug von Elladora Rosier gehört. Mindestens die Informationen zu den Schutzzaubern würden sich hilfreich erweisen können, wenn sie in den Angriff übergingen. Zusammen mit der Adresse hatten sie endlich, das Wichtigste beisammen.

Als Elphinstone schließlich den Weg zu ihr ins Atrium fand, hatte er so etwas wie grimmige Entschlossenheit im Gesicht. Über das leise Plätschern des Brunnens, das sonst im Stimmengewirr unterging, hörte sie schon von Weitem, wie er tief Luft holte. »Also, was ist unser nächster Schritt?«

»Zu dir? Ich habe Robbie gebeten, dort vorbeizusehen, sobald Mulciber ihn gehen lässt. Ich hoffe, das war in Ordnung. Aber nach Hogwarts kann ich ihn schlecht bitten.«

Er nickte. »Natürlich. Dann – bis gleich. Du kennst die Adresse ja.«

Nur ein Kamin war noch in Betrieb zu dieser späten Nachtstunde und mit einem grünen Auflodern verschwand Elphinstone darin. Erschöpft warf Minerva einen Blick auf die goldenen Statuen im Brunnen, allen voran den Kobold mit dem entrückten Gesichtsausdruck. Er sah drein wie ihr Opfer unter dem Imperius. Diese ganzen überschrittenen Grenzen mussten einfach zur Rettung des Jungen führen.

Dann trat auch sie in den schwarzen Kamin und kurz darauf nahm Elphinstones Wohnzimmer Gestalt vor ihr an. Er wartete hinter dem Kamingitter auf sie, befreit von dem rußigen Jackett und der Anzugweste, die er nachlässig über einen Sessel geworfen hatte. Sobald er sie erspähte, streckte er ihr eine helfende Hand entgegen und es zog in ihrer Brust, als sie danach griff.

Aus dem Nichts stieg die Vorstellung eines Lebens in ihr auf, wo er sie anschließend in seine Arme ziehen und zuhause willkommen heißen würde – geradezu absurd in Anbetracht der jüngsten Ereignisse. Mit einem irritierten Kopfschütteln angesichts ihrer wilden Fantasie trat Minerva zu ihm in den Raum.

Fragend legte Elphinstone den Kopf schief. Doch anstelle des glücklichen Lächelns in ihrer Vorstellung trug er eine steile Falte auf der Stirn. Seine Augen funkelten nicht und statt sanfter Willkommensworte seufzte er erneut kaum vernehmlich. »Hey, warum siehst du mich so an? Ist es ... wegen Elladora?«

Die weiche Sorge in seiner Stimme schnürte ihr die Luft ab. Verlegen sah sie an ihm vorbei und schüttelte erneut den Kopf. Sie konnte kaum erzählen, dass sein Anblick genügte, um ihre Gedanken auf verschlungene Pfade zu schicken, die dasselbe Gefühl auslösten wie ein Sturzflug auf dem Besen, die Fingerspitzen nur Millimeter vom goldenen Schnatz entfernt. Insbesondere, wenn der Imperius und Elladoras Geständnis als dunkle Wolke zwischen ihnen hingen, jetzt, wo sie alleine waren.

»Nein, es bleibt dabei – ich vertraue dir. Von deiner Schwester kann ich das nicht sagen, aber das muss ich auch nicht. Sie hat uns geholfen, das reicht.«

Die Andeutung eines traurigen Lächelns schlich sich auf seine Züge, doch ihre Hand hielt er weiter fest. Einen Augenblick schien er mit sich zu ringen, Worte zu finden, bevor er sie sanft zu sich zog. »Fühlst du dich wohl damit, wenn ich dich einfach eine Weile in den Armen halte?«, fragte er leise.

Stumm nickte sie. Den Kopf an seiner Schulter auszuruhen erschien nur allzu verlockend. Federleicht schloss Elphinstone sie in eine Umarmung, als hätte er Angst, dass zu viel Druck sie brechen könnte. Dabei war es nicht bloß in Ordnung, sondern ... schön. Seine Gegenwart war wunderbar warm. Kein bisschen wie der Brand in Gringotts, eher sacht, von der Sorte eines Kaminfeuers an einem kalten Winterabend.

Jetzt, wo der Kampf und alle Diskussionen vorbei waren, zitterten Minervas Glieder ohne Adrenalin und Aufregung. Sie fühlte sich ausgelaugt. Das Feuer in ihr war niedergebrannt, anders als jenes im Verlies Nr. 232. Sie lehnte kraftlos die Stirn gegen Elphinstones Schulter, ihre eigenen Hände hinter seinem Rücken verschränkt. »Ich bin so müde«, murmelte sie.

»Ich auch. Abgesehen davon ... wie fühlst du dich?«

»Furchtbar.« Da gab es nichts zu beschönigen. Ein Mann war gestorben und sie hatte einen Fluch gesprochen, der nicht umsonst unverzeihlich galt. Jetzt wusste sie auch, warum. »Wie ist es bei dir?«

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, was ich alles fühle. Verwirrung. Sorge. Verrat. Wut.« Er drückte sie mit jedem Wort fester an sich. »Von allem etwas. Und Angst. Angst, dass du dich doch von mir abwendest. Was keinen Sinn ergibt, wo ich dich gerade umarme, aber dennoch ...«

»Die Entscheidungen deiner Schwester haben keinen Einfluss darauf, wie ich dich sehe, Phin. Nie.«

»Es ist schön, dass du das sagst. Und trotzdem ist sie meine Schwester, die ich nicht einfach aus meinem Leben streichen kann; der ich vergeben möchte, auch wenn sie so harte Dinge sagt und noch viel schlimmere Entscheidungen trifft.«

»Mit meinen Brüdern würde es mir genauso gehen. Ich mache dir keinen Vorwurf. Nur eine Frage muss ich doch stellen, Phin – was sind die Walpurgisritter, von denen sie geredet hat?«

Elphinstone versteifte sich. »Das ist der erste Name, den Riddle seiner Gefolgschaft gegeben hat. Damals, in der Schulzeit. Elladora hat diese Gruppe stets bewundert, aber dass sie sich ihnen wirklich anschließt, hätte ich nie erwartet. Du hast das Mal auf ihrem Arm gesehen. Das ist keine Mitgliedschaft in einem Koboldsteinclub, die man jederzeit aufkündigen kann. Das ist eine Verpflichtung für alle Zeiten. Ich habe nur eine Ahnung, was Riddles Anhänger in seinem Namen tun, aber die dreht mir den Magen um.«

»Zumindest können wir wohl ausschließen, dass Elladora – oder gar Riddle selber – etwas mit der Entführung zu tun haben, nicht wahr? Wenn sie keine Ahnung von Caius’ Plänen hat, dann sind er und seine Komplizen vermutlich kein Teil ihres Kreises.«

»Vermutlich hast du recht. Andererseits hat Riddle es in der Vergangenheit immer geschafft, uns einen Schritt voraus zu sein. Ganz zu schweigen von den Dingen, die überall dort passiert sind, wo er und seine Freunde waren. Egal wie ich es drehe und wende, das schlechte Gefühl will nicht vergehen. Und dass Elladora das alles einfach billig in Kauf genommen hat –«

Ihm brach die Stimme und Minerva fühlte, wie seine Hände an ihrem Rücken zitterten. In Ermangelung von Worten, die seinen Schmerz vertreiben konnten, drückte sie ihn enger an sich. Er hatte diesen Verrat nicht verdient. Ihn so niedergeschlagen zu erleben, tat auch ihr weh. Umso schlimmer war die Befürchtung, dass sie ihn heute ebenfalls enttäuscht hatte.

Eine lange Zeit sagte keiner von ihnen ein Wort, nur Elphinstones Atem strich über Minervas Haar. Seine Anspannung schwand langsam und er lehnte den Kopf gegen ihren, während er mit der Hand sacht ihren Rücken streichelte. So unpassend es inmitten des Chaos erschien, sie wünschte sich, dass dieser Moment nie enden würde. In dieser Umarmung konnte sie sich einreden, dass wirklich alles wieder in Ordnung käme, solange sie nicht alleine waren. Das Einzige, was an ihren Kampf erinnerte, war der Geruch von Rauch, der die zarten Noten aus Pflanzengrün übertünchte, die Elphinstone sonst anhafteten.

Er machte keine Anstalten, seine Arme zurückzuziehen. Im Gegenteil, als er nach einer Weile wieder sprach, drückte er sie noch enger an sich, so fest wie nie zuvor. »Ich bewundere deine Stärke, weißt du das?« Er klang ungewohnt heiser. »Bei Merlin, es tut mir so leid, was du heute durchleben musstest. Ich weiß nicht, ob ich an deiner Stelle das Nötige hätte tun können, um deinen Bruder zu retten. Aber du gehst immer hoch erhobenen Kopfes voran.«

»Ich schäme mich einfach nur«, flüsterte sie. »Ich hätte diesen Fluch nicht können dürfen, egal für welchen Zweck. Das war keine Stärke, sondern Schwäche.«

»Es war falsch – und trotzdem richtig. Für mich ist es Stärke, sich das eingestehen zu können.«

In der Stille des Raumes waren seine Worte unendlich laut, obwohl er sie nur leise an ihrem Ohr murmelte. Die Vergebung darin ließ sie die Arme fester um ihn schlingen. Ihre Finger gruben sich haltsuchend in sein Hemd.

»Aber so bin ich nicht besser als unsere Gegner. Ausgerechnet ich mache deiner Schwester Vorhaltungen! Dabei hätte ich genauso auf dich hören sollen. Es gibt immer einen anderen Weg und Gewalt ist nie der Richtige.«

»Minerva ... ich weiß, dass ich das gesagt habe. In dem Moment habe ich es auch gemeint. Aber du – du hast es nicht freiwillig getan oder gar, um jemandem zu schaden. Nicht einmal, weil es dir egal war. Und das macht einen Unterschied. Glaub mir.«

Sie biss sich auf die Unterlippe. »Trotzdem habe ich mir geschworen, dass ich besser sein will als das. Ich hätte einen anderen Weg sehen oder zumindest danach suchen müssen.«

»Vielleicht hätte es einen Weg gegeben, das will ich nicht verneinen. Aber ich bewundere dich deshalb kein Stück weniger. Das sollst du wissen.«

»Phin ...« Sie schloss die Lider und ballte die Hände an seinem Rücken zusammen. »Danke.«

»Ist schon in Ordnung.« Seine Fingerspitzen beschrieben kleine Kreise zwischen ihren Schulterblättern. »Heute Abend ist alles außer Kontrolle geraten und ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wohin uns das noch führen wird ... Was mir zugegeben Angst macht. Aber dann denke ich an dich. Deine Stärke. Und dann weiß ich, dass auch ich mich dem stellen kann.« Der Druck seiner Hände verstärkte sich erneut sanft. »... dass wir, gemeinsam, das überwinden.«

Im letzten Teil klang eine unausgesprochene Frage – und Hoffnung – mit, die das Gefühl einer rasanten Schnatzverfolgung zurück in Minervas Brust und Bauch brachte. Es half nicht, als sie tief einatmete und unter dem Verbrannten die bekannte Mischung aus Pflanzengrün und Pergament erahnte. Auch Elphinstones klopfendes Herz an ihrem ließ die Worte nicht leichter wirken.

»Dabei ist es eigentlich umgekehrt«, seufzte sie leise. »Ich sehe dich und bin beeindruckt, wie entschlossen und bedacht du handelst. Mit welcher Ruhe du Elladoras Offenbarungen ertragen hast. Oder wie dein erster Gedanke stets dem Schutz anderer gilt – das bewundere ich an dir.«

Er hielt einen Moment inne, ehe seine Fingerspitzen mit ihren Kreisbewegungen fortfuhren. »Dann schaffen wir das erst recht. Du hast den Mut und ich ...«

»... die Besonnenheit?«, schlug sie vor.

»Gefällt mir.«

»Ich bin so froh, dass du heute Abend dabei warst, Phin. Ich weiß nicht, ob ich mir selber den Fluch vergeben kann, aber ich bin erleichtert, dass du mich dafür nicht ... hasst.«

»Als wenn ich das je könnte. Ich bin doch genauso froh, dass du mich nicht alleine gelassen hast mit Elladora.« Ein kleines Lächeln schwang in seiner Stimme mit. »Ich weiß, dass du eine verdammt gute, wundervolle Person bist. Wenn ich das nicht wüsste, hätte ich dir nie die Frage aller Fragen gestellt. Abgesehen davon hast du mich ganz ohne Magie verzaubert.«

Das entlockte ihr ein unfreiwilliges Schnauben. »Wirklich, Elphinstone? Das ist kitschig, selbst für deine Verhältnisse.«

Jetzt lachte er ganz offen. »Hey, dann funktioniert es wenigstens, wenn du dich wieder über mich aufregen kannst. So mag ich dich am liebsten.«

Sie versetzte ihm einen sanften Klaps auf den Oberarm. »Du bist unmöglich«, murmelte sie gegen seine Schulter.

»Unmöglich charmant?«

»Einfach nur unmöglich.«

Ihre Mundwinkel zuckten, als sie sich mit einem Seufzen langsam aus der Wärme seiner Umarmung löste, bevor der richtige Moment dafür verstrich. Es hinterließ ein Ziehen in ihrer Brust, ihn danach anzusehen, diese Mischung aus Sorge und Humor auf seinen Zügen. Wenn es nach dieser eigenwilligen Sehnsucht, die seit neuestem in ihrem Herzen lebte, gegangen wäre, hätte sie lieber in seinen Armen verweilt.

»Wir sollten wohl ein paar Vorbereitungen treffen«, sagte sie stattdessen. »Und Robbie kommt hoffentlich bald.«

Er nickte. »Aber zuerst will ich wenigstens meine Kündigung lesen.« Ein bemüht ironisches Lächeln im Gesicht wedelte er mit einem dicken, roten Umschlag. »Den muss wohl eine Eule in meiner Abwesenheit durch den Kamin eingeworfen haben.« Ein leises Seufzen strich über seine Lippen.

»Vielleicht braucht Pomona ja noch einen Assistenten? Du weißt schon, der gutaussehende Slytherin-Professor und die Hauslehrerin von Gryffindor ...«,versuchte sie ihn mit einem Lächeln aufzumuntern. Aber sie konnte nicht verbergen, dass ihren Worten die Leichtigkeit fehlte.

»Es ist schon komisch. Neulich noch war ich unzufrieden und jetzt ...« Elphinstone sah auf die Pergamentblätter hinab, die er aus dem Umschlag gezogen hatte. »Jetzt erinnere ich mich wieder daran, warum ich immer das Gefühl hatte, dass diese Arbeit meine Berufung ist. Warum ich das seit Jahren mache. Gemacht habe. Und das ist jetzt der Dank.«

»Wie schlimm ist es?«

»Eine Untersuchungskommission aus Mitgliedern des Gamots wird mich in zwei Wochen zu den Vorwürfen befragen, ehe sie eine endgültige Entscheidung treffen. Bis dahin bin ich vorübergehend dem Dienst enthoben.«

Er schloss kurz seine Lider. Dann trat er hinüber zum Kamin, wo nach dem Verlöschen des Flohpulvers ein gewöhnliches Feuer prasselte, und warf die Seiten hinein.

»Phin ... wir kriegen das wieder hin. Und wenn ich Albus höchstpersönlich darum bitten muss, ein gutes Wort für dich einzulegen!«

»Ist schon in Ordnung. Wenn es das ist, was aus dem Ministerium geworden ist, dann kann ich wohl froh sein. Nun hält mich wenigstens nichts mehr zurück, diese Sache mit dir anständig zu beenden.«

Minerva seufzte. »Aber dann lass mich wenigstens für dich aussagen, wenn es so weit ist. Wegen mir wirst du nicht deine Arbeit verlieren. Schließlich beginnt Veränderung immer im Inneren. Das Ministerium braucht dich. Auch wenn ich wirklich nichts dagegen hätte, wenn du mehr Zeit mit deinen Pflanzen verbringen könntest.«

Sein Blick war in die Flammen gerichtet, doch er nickte, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. »Eine Sache nach der anderen. Lass mich dir zeigen, was ich in der Zwischenzeit gebraut habe. Und was ich zum Glück vor meiner Beurlaubung aus dem Ministerium – sagen wir, ausgeliehen habe.«

Die siebte Regel

Ein abgegriffener Tarnumhang, eine Geheimnisaufspürsonde und ein Spickoskop waren Elphinstones stolze Ausbeute aus dem Vorratslager der magischen Strafverfolgung, die er in seiner letzten Amtshandlung an sich genommen hatte. Wie er daran gekommen war, wo doch sonst ein Zauberer genaustens darauf achtete, dass niemand ohne drei abgesegnete Formulare und seine Bewilligung auch nur eine Schreibfeder an sich nahm, wollte Minerva lieber nicht wissen.

Zu dieser Ausbeute gesellten sich die von ihr begonnen und weiterentwickelten Tränke, allen voran der Schutztrank gegen die schwarzmagische Wirkung eines Melionwurz-Bannes. Der Sud verlangte einiges an Raffinesse – und Zeit –, sodass er gegenwärtig noch in Elphinstones Arbeitszimmer vor sich hin köchelte. Die Fertigstellung würde einen weiteren Tag brauchen.

Ein leichterer Heiltrank hingegen war bereits fertig und in kleine Einwegphiolen gefüllt, die sich nach einmaliger Nutzung auflösen würden. Ein anderer Trank konnte die magische Aura der anwendenden Person unterdrücken, was gegen magiesensitive Entdeckungszauber schützte, und ein drittes Gebräu schärfte die Sinne. Zusammen mit dem Resistenztrank zum Schutz vor schwächeren Flüchen und Verzauberungen, den es noch zu brauen galt, ließ sich das sehen.

Gute Planung war nach Elphinstones siebter Regel essentiell und da stimmte Minerva ihm zu, gleichwohl ihre Ungeduld diese Vernunft stets zu bezwingen versuchte. Doch sie mussten schon genug andere Regeln brechen, allen voran die Dritte: Niemand arbeitet alleine. Abgeschnitten von der Unterstützung des Ministeriums, blieb ihnen nur die Möglichkeit, sich auf ihre eigenen Fähigkeiten zu verlassen. Das war genug des Risikos, selbst für eine Gryffindor.

Den letzten Schritt ihrer Vorbereitung – die Informationen zu dem entwendeten Artefakt – musste Robbie liefern. In der Zwischenzeit schrieb Minerva einen langen Brief an Albus, in dem sie ihn über ihr Vorhaben unterrichtete. Da ihr Bruder auch danach auf sich warten ließ, half sie anschließend Elphinstone, die Zutaten für den Resistenztrank zu präparieren. Unter steten Blicken auf die Uhr, deren Zeiger mit einem Lähmzauber versehen zu sein schienen, widmete sie sich dem Grünzeug. Mehr als einmal wies Elphinstone sie sanft darauf hin, das Messer anders zu halten oder die Blätter eines Sumpfkrautes nicht unter der Schneide zu zerdrücken, doch ihre Gedanken wanderten immer wieder fort zu ihrem Bruder. Und wenn sie nicht ihm galten, dann ertappte sie sich dabei, Elphinstone zu beobachten, wie er konzentriert in dem Kupferkessel rührte.

Die Dämpfe sorgten dafür, dass sich sein Haar wellte – ein weiterer Anblick, der auf ihrer kürzlich begonnenen Liste von Dingen landete, die das Schnatzjagdgefühl erweckten. Genauso wie die Präzision, mit der er ein Bündel Salbeiblätter zerkleinerte. Oder die kleine Konzentrationsfalte zwischen seinen Augenbrauen, wenn er die nächsten Schritte mit dem Rezept abglich.

Sie schüttelte den Kopf, um sich selber daran zu erinnern, dass sie gerade bedeutend dringlichere Probleme hatte. Zu ihrem Glück war er so in seine Tätigkeit versunken, dass er ihre Blicke nicht bemerkte, sonst hätte er sicher eine Anmerkung dazu gemacht. Aber diesen Moment hatte sie für sich und insgeheim genoss sie es, jene Seite an ihm noch einen Augenblick länger zu beobachten.

Als es gegen ein Uhr nachts endlich an der Tür läutete, warf sie die Schrumpelfeige, die sie gerade geschält hatte, erleichtert aufs Schneidebrett und rannte beinahe zur Wohnungstür. Sie riss die Tür auf und streckte die Arme aus, bereit Robbie um den Hals zu fallen –

»Oh«, stieß sie aus und fing sich gerade rechtzeitig am Türrahmen ab, bevor sie auf Tuchfühlung mit Mulciber gehen konnte. »Was machst du hier? Wo ist Robbie?«

Angesichts ihrer wenig begeisterten Begrüßung rollte der Strafverfolger mit den Augen. »Keine Sorge, ich habe deinen Bruder nicht gefressen.« Er trat einen Schritt zur Seite und neben einer freudestrahlenden Pippa schob sich ein zerknirschter Robbie in ihr Blickfeld.

In der Zwischenzeit musste er zuhause gewesen sein, denn seine verrußten Kleider hatte er durch frische ausgetauscht und sein Haar lag wieder ordentlich. »Sorry«, murmelte ihr Bruder, »aber irgendwie hat er geahnt, was ich vorhabe und dann bin ich die beiden nicht losgeworden.«

Über seine Schulter hinweg winkte Pippa, die mittlerweile ebenfalls umgezogen war. »Er hat’s versucht, aber man legt sich nicht mit einer Aurorin an. Sorry, Minnie.«

Minerva ignorierte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mulciber, hör auf, die Gedanken anderer zu lesen. Dass sich das nicht gehört, weißt du oder?«

»Oh bitte, als wenn ich es dem kleinen Robert jr nicht an der Nasenspitze ansehen konnte, dass er hinterher zu dir läuft und alles brühwarm weitererzählt. Ich verschwende meine Kraft nicht für solche Kinkerlitzchen.«

»Sehr rücksichtsvoll. Danke, dass ihr Robbie herbegleitet habt – gute Nacht und auf Wiedersehen.«

»Nicht ‚Auf Nimmerwiedersehen‘? Da bin ich aber erleichtert.« Mulciber hob einen Mundwinkel.

»Danke für den Verbesserungsvorschlag, den nehme ich gerne an.«

Minerva griff nach Robbies Ärmel und zog ihn in die Wohnung. Damit schien Mulciber gerechnet zu haben, denn er setzte einen Fuß auf die Türschwelle. Genervt funkelte sie ihn an und erneut rollte er mit den Augen.

»Ich bin hier, weil ich mit euch reden will. Immerhin weiß ich genau, dass ihr diesen Fall nicht ruhen lassen werdet und vielleicht«, er seufzte dramatisch, »können wir euch helfen. Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, Minerva.«

»Ich wusste gar nicht, dass wir jetzt beim Vornamen sind, Alston

Trotzdem trat sie keinen Schritt beiseite, um ihn und Pippa hereinzulassen. Dafür hörte sie Elphinstone hinter sich herankommen, gefolgt von einem leisen Seufzen, sobald er die ungebetenen Gäste erspähte.

»Lass sie rein, wenn sie unbedingt wollen«, brummte er. »Ich gebe euch fünf Minuten, uns davon zu überzeugen, wieso ihr hilfreich seid.«

»Danke, Elphinstone. Also schön, hört zu.« Mulciber trat mit großen Schritten ins Wohnzimmer und ließ sich geradewegs in einen Sessel fallen, als wäre er nicht bloß ein unerwünschter Besucher. »Ich –«

»Vorsichtig mit dem schwarzblättrigen Pfeilkraut hinter dir. Der Name kommt nicht von Ungefähr und sie mag keine Fremden«, sagte Elphinstone ungerührt. »Oh – und die Schlangenplatane daneben beißt.«

Sich ein Grinsen verkneifend beobachtete Minerva, wie Mulciber den Pflanzen einen langen Blick zuwarf und dann ein Stück im Sessel nach vorne rückte. Sie war ziemlich sicher, dass Elphinstone die Gefährlichkeit seiner Heimpflanzen ordentlich übertrieb – sie hatte er nie vor diesen Gewächsen gewarnt –, aber das wusste Mulciber ja nicht.

Auch Pippa schien es sich anders zu überlegen, denn statt auf dem Sofa Platz zu nehmen, schwenkte sie auf den Hocker vor dem Flügel um, dessen Korpus nur von gewöhnlichen Topfblumen bevölkert wurde.

»Kommen wir also dazu, warum wir euch helfen sollten«, hob Mulciber von Neuem an. »Ich weiß, dass ihr die Adresse der Entführer habt. Damit seid ihr mir unweigerlich einen Schritt voraus, denn der gute Edwards ist weiterhin unauffindbar. Dafür seid ihr alleine, obwohl ihr es mit einer größeren Gruppe zu tun habt. Beides keine guten Positionen. Warum also nicht zusammenschließen? Ich habe kein Problem damit, außerhalb meiner Zuständigkeit zu agieren, und ihr habt bereits einiges an hilfreicher Vorbereitung geleistet. Wenn wir die Sache richtig angehen, können wir die Entführer binnen kürzester Zeit dingfest setzen.«

»Meinst du das ernst?«, platzte es aus Minerva hervor.

»Ja. Der Vorfall in Gringotts hat mich davon überzeugt, dass deine Befürchtungen nicht so unangemessen sind, wie zunächst gedacht. Es ist besser, diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Gemeinsam mit Margarete können wir eine anständige Observation auf die Beine stellen, bis ich bei der Ministerin durchbringe, dass wir mit der geballten Macht der Aurorenzentrale zugreifen. Wie sagt ein gewisser Jemand immer?« Er warf sich in die Brust und intonierte mit Grabesstimme: »Regel sieben: Gute Vorbereitung ist elementar für den Fallabschluss!«

Elphinstone verdrehte die Augen. »Wenigstens hast du irgendwas von mir gelernt. Es klingt sogar ... vernünftig, was du vorschlägst.« Nachdenklich knetete er das Geschirrtuch, an dem er zuvor seine Hände abgetrocknet hatte. »Und du wirst uns vollumfänglich teilhaben lassen?«

»Ich weiß, dass ihr ohnehin nicht locker lassen würdet, von daher – noch einmal ja.« Mulciber wandte sich an Robbie, der an Minervas Seite stand. »Also los, erzähl ihnen alles über dieses dämliche Artefakt.«

»Ah ja ...« Robbie suchte sich den Platz am weitesten von Mulciber sowie den Pflanzen entfernt und zog ein knittriges Pergament aus der Umhangtasche. »Das Artefakt. Komplizierte Geschichte. Die verstorbene Inhaberin von Verlies Nr. 232 war eine Deutsche, die kurz vor Grindelwalds Fall nach Großbritannien geflüchtet ist. Bei der Öffnung des Verlieses haben wir festgestellt, dass sie seiner Bewegung wohl ziemlich nahegestanden hat. Dort lagern haufenweise Relikte des großen Zaubererkrieges aus den Vierzigern. Viele der Gegenstände konnten wir nach Deutschland zurückverfolgen. Fragwürdige, schwarzmagische Gegenstände.«

Pippa kommentierte das mit einem entrüsteten Schnauben. »Typisch! Und solche Leute sind der Grund, warum Familien wie meine an der Grenze beinahe abgewiesen wurden. Dabei wollten meine Eltern die Niederlande nicht einmal verlassen, bis der Krieg uns keine andere Wahl gelassen hat. Nicht alle Flüchtigen haben versucht, ihrer gerechten Strafe zu entkommen!«

»Natürlich nicht.« Verlegen räusperte Robbie sich. »Zum Glück habe ich alle Artefakte katalogisiert und einer der Kobolde hat Zeichnungen dazu angefertigt. Ich habe die Richtige eben raussuchen lassen.«

Er breitete das Pergament auf dem chaotischen Wohnzimmertisch aus. Minerva trat näher und erkannte die Darstellung eines länglichen Gegenstandes, der ein wenig wie die Spritzen anmutete, die in Muggelkrankenhäusern Anwendung fanden. Zumindest lief eine Seite des Artefakts spitz zu, während auf der anderen Seite ein Glaskolben angebracht war. Darunter befand sich eine Reihe Symbole, die sie nie zuvor gesehen hatte, rund um einen Edelstein angeordnet. In dem richtigen Museum hätte es als antikes Folterinstrument durchgehen können.

»Das hier haben die Eindringlinge gestohlen. Leider haben wir in Gringotts keine Ahnung, was genau das eigentlich ist, weshalb es erstmal im Verlies geblieben ist. Aber die Tatsache, dass daran getrocknetes Blut klebte, als wir es gefunden haben, spricht für sich.«

»Blut?«, echote Elphinstone, der sich inzwischen neben Minerva über das Pergament beugte. »Menschliches ...?«

Robbie nickte. »Eine meiner Kolleginnen aus der Auslandsabteilung meint, dass es sie an alte Ritualinstrumente erinnert, die sie in Ägypten gefunden hat. Artefakte, die bei schwarzmagischen Experimenten genutzt wurden. Es liegen zumindest einige ähnliche Verzauberungen darauf – keine Flüche.«

»Also soll seine Anwendung alleine nicht zwangsweise verletzen«, schlussfolgerte Minerva.

»Möglich.« Ihr Bruder wies auf die Symbole. »Das sind zwar keine uns bekannten Runen, aber nach unserer Überprüfung liegt der Verdacht nahe, dass das Gerät in erster Linie ein Untersuchungsgegenstand ist. Vermutlich verfärbt sich dieser Kristall hier in der Mitte, je nachdem, was das Ergebnis ist. Vielleicht kann man damit ... Zutaten überprüfen oder irgendwie behandeln, während man ein, ähm, Ritual vorbereitet.«

»Zutaten. Wie menschliches Blut?« Elphinstone sah skeptisch drein. »Ich meine – für wirklich mächtige Tränke gibt es ein paar Gründe, freiwillige Blutspenden zu nutzen, in geringer Menge, aber das ...« Er maß den gezeichneten Glasbehälter grob an seinem Daumen und pfiff durch die Zähne. »Das tut weh.«

»Und nicht zu knapp«, ergänzte Pippa, die ihm nun ebenfalls über die Schulter sah. »Nach einem Heilartefakt sieht es jedenfalls nicht aus.«

»Ich fürchte, ihr habt recht«, entgegnete Robbie. »Das getrocknete Blut darin ist laut der Analyse in St. Mungo dasselbe wie jenes aus der Probe zu einem ungeklärten Mordfall aus den späten Vierzigern.«

»Lass ja nicht das Beste an dieser Erkenntnis aus«, mahnte Mulciber ihn.

»Natürlich nicht.« Leiser setzte Robbie hinzu: »Es handelt sich um das Blut eines muggelgeborenen Opfers.«

Minerva nahm einen tiefen Atemzug und schloss kurz die Augen. Das war überhaupt nicht gut. Die Zeit lief ihnen davon! Sie wechselte einen Blick mit Elphinstone, der das Gleiche zu denken schien.

»Die Akte ist schon ziemlich eingestaubt gewesen«, mischte Mulciber sich dazwischen, »aber den armen Kerl hat man damals ordentlich zugerichtet. Es war wohl unmöglich, festzustellen, woran er gestorben ist. Jedenfalls ist ihm mehr als die Hälfte seines Blutes entnommen worden. Während er lebte. Ergo – ihr braucht jegliche Hilfe, um zu verhindern, dass sich diese Geschichte wiederholt.«

»Unsere Hilfe«, sprang Pippa ihm zur Seite.

Zu Minervas Überraschung nickte selbst Robbie beipflichtend. »Wir müssen etwas unternehmen, Schwesterherz.«

»Wir? Du gehst nach Hause zu deiner Frau!«

Seine Augen wurden schmal. »Ich bin zwar ein Schreibtischtäter, aber im Gegensatz zu Malcolm kann ich den Blick hin und wieder noch vom Pergament lösen. Vielleicht kann ich euch helfen! Immerhin haben die Idioten mich entführt, dafür will ich mich bei denen eh noch bedanken.«

»Ich riskiere nicht noch einmal, dass dir etwas passiert!«

»Ach, aber deinen Mr ‚ehemaliger Vorgesetzter‘ dürfen sie über den Haufen zaubern oder was?«, zischte Robbie leise.

»Das – Nein! Das ist was anderes! Du kannst nicht kämpfen.«

»Ich hab nicht gesagt, dass ich kämpfen will. Ich will helfen.«

Sie ballte schon die Fäuste, da legte Elphinstone ihr eine Hand auf die Schulter. »Er hat recht. Beide haben recht. Wir brauchen Hilfe. Wenn wir den Unterschlupf stürmen wollen, müssen wir bedacht vorgehen. Je mehr Leute davor und währenddessen dabei sind, auf deren Fähigkeiten wir uns verlassen können, desto einfacher. Dann muss niemand zu Schaden kommen.«

»Du wirst dich nicht in Gefahr bringen«, forderte Minerva mit erhobenem Zeigefinger von Robbie. »Denk an Anne und das Kind! Wenn die Sache zu heiß wird, hat dieses Mal dein Wohl Priorität, okay?«

Ihr Bruder seufzte, aber dann nickte er. »Natürlich.«

Unglücklich kreuzte sie die Arme vor dem Bauch und funkelte Mulciber an. »Schön, was stellst du dir vor?«

»Zunächst einmal das, was Elphinstone sagt. Wir müssen uns einen Überblick von dem Haus und den Gegebenheiten in der Umgebung verschaffen. In was für einer Gegend liegt es, wer sind die Nachbarn, wie kommen wir am besten in das Gebäude? Für eine großangelegte Observation haben wir zwar keine Zeit, aber ein paar Informationen sollten wir sammeln. Da lasse ich gerne euch den Vortritt. Verwandelt euch – ihr seid so ein reizendes Pärchen, es müsste euch liegen, ein gewöhnliches Muggelpaar zu spielen, das rein durch Zufall an dem Haus vorbeispaziert, vielleicht träumerisch davorsteht und überlegt, ob sie nicht auch so ein süßes Häuschen kaufen sollten ... Lasst euch was einfallen. Margarete und mein Assistent können sich mit euch abwechseln. Ihr müsst nur die Tagesschicht übernehmen, während sie im Ministerium arbeiten.«

Sein Tonfall gefiel Minerva nicht, doch das war ohnehin der erste Schritt ihres eigenen Planes, also nickte sie einfach.

»Abgesehen davon kümmere ich mich darum, dass das Haus den Anschluss an das Flohportal verliert und der Ortsteil mit Leuten aus der Patrouille besetzt wird, die notfalls eingreifen und etwaige Muggelbevölkerung evakuieren oder oblivieren können. Der Chef dort schuldet mir ohnehin noch einen Gefallen. Weiterhin versuche ich, bei der Ministerin höchstpersönlich den Einsatzbefehl für eine Abordnung der Auroren zu erwirken. Sobald wir die haben, schlagen wir zu. Ein – zwei Tage schätze ich, höchstens.«

In Mulcibers Worten klang es beinahe ... simpel. Als könne gar nichts mehr schiefgehen. »Und wenn die Entführer vorher versuchen, zu fliehen oder die Lage unser Eingreifen verlangt?«, gab Minerva ihren Zweifeln Raum.

»Dann werden wir gemeinsam hoffentlich stärker sein als eine Horde größenwahnsinniger Jungverbrecher. Trotzdem sollten wir in Kontakt bleiben, solange ihr das Haus observiert.«

»Nur wie? Eulen sind unpraktisch.«

»Hey«, meldete Pippa sich zu Wort, »das klingt vielleicht verrückt, aber was haltet ihr von einem guten alten Foemicus-Band?«

»Du meinst aber nicht diese magischen Freundschaftsbändchen, mit denen zu meiner Schulzeit alle möglichen Kinder rumgerannt sind, oder?« Minerva hob fragend eine Augenbraue.

»Genau die!«

Mulciber sah aus, als hätte er einen Bezoar im Ganzen verschluckt. »Was soll uns das nützen, Margarete?«

»Oh, die Bändchen sind praktischer als ihr Ruf. Überlegt mal – es ist möglich, mehrere Personen mit einem einzigen Zauber verbinden. Sobald eine Person im Bündnis an die Auflösungsphrase denkt, fällt ihr Band ab. Im gleichen Atemzug merken das alle anderen Tragenden. Wenn einer vor Ort in Schwierigkeiten gerät, können wir so schnell und notfalls über große Distanz agieren. Ganz ohne Eulenpost!«

»Die Idee ist nicht verkehrt«, sagte Elphinstone. »Ehrlich gesagt sogar ziemlich kreativ. Ich bin dabei.«

Begeistert klatschte Pippa in die Hände. »Wundervoll! Ich hab sogar Erfahrung in dem Zauber, davon habe ich in meiner Schulzeit viel Gebrauch gemacht. Man, das war immer ein Drama, wenn jemand sein Armband entfernt hat ...« Sie zückte den Zauberstab und sah strahlend in die Runde. »Worauf wartet ihr noch? Handgelenke hoch!«

Der Gedanke eines Freundschaftsbändchens mit Alston Mulciber war lachhaft, aber die Argumente dafür erstaunlich vernünftig. Also krempelte Minerva seufzend den Ärmel hoch und streckte Pippa ihr linkes Handgelenk entgegen, ebenso wie Elphinstone und Robbie.

»Alston?« Pippa deutete mit dem Zauberstab auf ihn und gestikulierte auffordernd.

»Ich werde aussehen wie ein Idiot«, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, aber dann zog er seinen Ärmel gerade weit genug zurück.

Mit einem zufriedenen Ausdruck streckte Pippa ihr eigenes Handgelenk in den Kreis, in der anderen Hand hielt sie den Zauberstab hoch und begann, die Beschwörung zu murmeln. Nacheinander richtete sie den Stab auf jeden Einzelnen, um sie in den Zauber einzubeziehen. Sobald die Magie eine Person erfasste, tauchte aus dem Nichts ein feiner Lichtfaden an ihrem Handgelenk auf, der für alle eine andere Farbe annahm. An Robbies Arm erstrahlte es in warmem Sommergelb, bei Elphinstone sah Minerva ein klares Blau und schließlich wand sich kribbelnd ein Band so grün wie die schottischen Highlands um sie. Mulciber und Pippa leuchteten in Rostrot und Violett auf.

Ein letztes Mal schwang Pippa ihren Zauberstab mit einem lauten »Ligate!«. Alle Lichtfäden schossen hoch, verbanden sich in der Luft miteinander und verflochten sich zu einem vielfarbigen Strang. Die bunten Lichter wanden sich zurück um Minervas eigenes Handgelenk. Als der Zauber schließlich verblasste, verblieb ein Armband aus gedrehten Stoffsträngen in allen ihren Farben, das weder Anfang noch Ende aufwies.

»Wenn ihr in Gefahr seid, müsst ihr einfach nur mit einem konzentrierten ‚Solve‘ daran denken, dass ihr den Zauber auflösen wollt, dann wird das Band verschwinden«, erklärte Pippa. »Bei jedem anderen von uns wird sich der Strang in eurer Farbe auflösen. Das löst ein Brennen oder Kribbeln aus, deshalb bekommt man es auf jeden Fall mit. Andernfalls hält das Armband ohnehin nur begrenzte Zeit. Spätestens in ein paar Tagen schwächelt der Zauber und wenn man ihn nicht auffrischt, ist er passé.«

Mulciber schob seinen Ärmel derartig ruckartig über das Band, dass man annehmen konnte, er hoffe, es würde verschwinden, solange er es nicht sah. »Gut. Dann machst du dich besser daran, eigene Vorbereitungen zu treffen, Margarete. Wenn du feiern gehen kannst, kannst du auch die Nacht arbeiten.«

Pippa zuckte ergeben mit den Schultern. »Wenn das vorbei ist, nehme ich mir eine ganze Woche frei. Ich mag meine Arbeit, aber nicht so gerne, dass ich mir meine Wochenenden versauen lasse.« Sie wandte sich an Minerva, die Hand ausgestreckt. »Ich brauche noch die Adresse, wenn ich euch morgen ablösen soll.«

Zögerlich vervielfältigte Minerva mit dem Geminio-Zauber den Pergamentstreifen. Sie gab ungern ihren größten Trumpf fort, gleichwohl sie wusste, dass sie Pippa – und Mulciber – vertrauen musste. Dem Jungen zuliebe.

»Falls ich heute Nacht etwas in der Aurorenzentrale höre«, Pippa hob ihr Handgelenk und schüttelte das Armband, »lass ich es euch wissen, großes Hexenehrenwort.«

Sie und Mulciber machten sich zum Gehen bereit, allerdings nicht ohne einen letzten, bissigen Kommentar des Strafverfolgers. »Und bei Merlins Barte ihr beiden, schlaft in dieser Nacht auch noch, ja? Vielleicht nicht unbedingt miteinander. Nicht dass es mich kümmern würde, aber eure Augenringe sind grauenerregend. In dem Zustand seid ihr nicht gerade von Nutzen.«

»Pass du lieber auf, dass dich die Blume hinter dir nicht beißt«, gab Elphinstone unbekümmert zurück. Ein diebisches Funkeln erhellte seine Augen, als Mulciber einen Ausfallschritt zur Seite unternahm, nur um zu bemerken, dass es sich bloß um einen Topf mit einer harmlosen Flitterblume handelte. »Gute Nacht«, wünschte Elphinstone seinen beiden ungebetenen Gästen in aller Höflichkeit.

Robbie erhob sich ebenfalls. »Ich sollte auch zurück zu Anne. Sie reißt mir den Kopf ab, wenn ich heute nicht mehr auftauche. Aber ihr sagt mir Bescheid morgen, wenn es etwas für mich zu tun gibt, versprochen?«

»Ich verspreche es.« Minerva seufzte und schloss ihn ihre Arme. »Pass auf dich auf, Bruderherz.«

Er nickte, drückte sie einmal kräftig an sich und dann war er ebenfalls verschwunden. Zurück blieb nur das nagende Gefühl, dass all die Vorbereitung wertvolle Zeit verschlang. Minerva hatte keinen blassen Schimmer, wie sie die Augen auch nur für eine Sekunde schließen sollte. Sie ließ sich auf die Lehne des Sessels sinken, den Mulciber kurz zuvor in Beschlag genommen hatte, und zog eine Haarnadel nach der anderen aus ihren sorgsam hochgesteckten Haaren. In wirren Wellen fielen sie ihr über die Schultern – ein befreiendes Gefühl. Den Kopf gegen eine Hand gestützt, sah sie hinüber zu Elphinstone. Sein weicher Blick erstickte ihre nächsten Worte im Keim. Täuschte sie sich oder waren seine Ohrenspitzen verdächtig rosa angelaufen?

»Wow«, murmelte er, »ich glaube, ich habe dich noch nie so ... mit offenen Haaren gesehen.«

Etwas verlegen betastete Minerva die Strähnen. »Du meinst wohl mit einem Nifflernest auf dem Kopf. Entschuldige den unschönen Anblick, aber ich bekomme langsam Kopfschmerzen.«

»Wofür entschuldigst du dich bitte? Du siehst wundervoll aus. Das tust du immer, aber so ... ganz besonders.« Er räusperte sich. »Dann will ich mich mal wieder dem Resistenztrank widmen. Bald muss ich die Schrumpelfeige zugeben, bevor er die kritische Phase erreicht.«

Einen Moment sah sie ihm mit Wangen nach, die heißer glühten als der Brand wenige Stunden zuvor, dann sprang sie auf und folgte ihm. »Warte, ich helfe dir. Irgendetwas Sinnvolles muss ich tun.«

 

Der Schlaf kam schließlich von ganz alleine über Minerva und forderte unerbittlich seinen Tribut. Sie konnte sich nicht daran erinnern, auf das Sofa in Elphinstones Arbeitszimmer gefallen zu sein, doch als sie mit aller Kraft ein Augenlid öffnete, lag sie darauf, eine Decke über sich gebreitet. In den frühen Sonnenstrahlen eines neuen Tages erstrahlte der Kupferkessel auf der Arbeitsplatte vor ihr. Weiße Dampfwölkchen stiegen davon auf, während ein selbstrührender Löffel seine Arbeit verrichtete. Der Resistenztrank war fertig.

Obwohl die Müdigkeit sie zurück in die Traumwelt ziehen wollte, zwang Minerva sich, auch das zweite Auge zu öffnen. Am Arbeitstisch erspähte sie Elphinstone, den Kopf auf die Unterarme gebettet. Er schlief tief und fest. Der Anblick landete umgehend auf ihrer Liste der Dinge, die das Schnatzjagdgefühl verstärkten. Am liebsten wollte sie ihn schlafen lassen, doch pflichtschuldig tappte sie zu ihm hinüber und legte eine Hand auf seine Schulter.

Verwundert blinzelte er gegen das Sonnenlicht an. Ihre Haare mussten noch wilder aussehen als zuvor, doch in seinen Augen erwachte ein Strahlen bei ihrem Anblick.

»Guten Morgen«, nuschelte er verschlafen. Mit einem Gähnen reckte er sich, das Gesicht verzogen, da es überall knackte. »Oh Merlin. Nach dieser Nacht fühle ich mich glatt zehn Jahre älter. Vielleicht sollte ich mich für unsere Observation heute einfach in einen Greis verwandeln, um nicht aufzufallen.«

»Mh, klingt verlockend«, gab Minerva zurück. »Meine Brüder ziehen mich ohnehin immer damit auf, dass ich so altmodisch bin. Da müsste ich mich vermutlich nicht mal verstellen.«

Elphinstone lachte. »Du bist sicher einiges, aber nicht altmodisch. Na schön, wollen wir mal schauen, was meine Verwandlungskünste so zustande bringen, bevor wir uns auf den Weg machen.«

Im Endeffekt verwandelten graue Haare, Altersflecken und biedere Muggelkleidung sie in das Ebenbild harmloser Senioren, die jedes Jahr im selben Kurort urlaubten und den Nachmittagstee zelebrierten wie eine eigene Religion. Minerva verzauberte ihre magisch vergrößerte Handtasche in ein passendes, gehäkeltes Ungetüm, in dem der Großteil ihrer Trankphiolen sowie Utensilien Platz fand.

Reichlich nervös hakte sie sich bei Elphinstone unter. Zu ihrem Glück kannte er die Adresse eines Ladens für magische Brettspiele in Leeds, zu dem sie aus dem Treppenhaus apparieren konnten. Von dort aus würden sie sich mit Muggelbussen zum Ziel durchschlagen. Ein letztes Mal kontrollierte Minerva, ob das Portemonnaie mit den Pfundmünzen, Pennies und Shillingen der Muggel an seinem Platz war, dann nickte sie Elphinstone zu.

»Auf geht’s.«

Hinter dem Vorhang

Minervas und Elphinstones Ziel lag in einer Gegend, die so durchschnittlich, so bürgerlich war, dass es fast schon auffällig erschien. Ordentliche Reihenhäuser, wie man sie zuhauf in britischen Städten antraf, mit kleinen Vorgärten – die diese Bezeichnung schwerlich verdienten –, säumten den Bürgersteig zur einen Seite. Dem gegenüber fand sich eine Auswahl sämtlicher Geschäfte, die der gewöhnliche Muggel regelmäßig frequentierte. Obst- und Gemüsehändler, Florist, Zeitungskiosk, Bäckerei, Elektronikgeschäft und ein kleines Café. Als hätte irgendwer jegliche Notwendig- und Nettigkeiten des Lebens auf diesen einen Straßenzug heruntergebrochen, um sie zum perfekten Modell des Muggellebens zu stilisieren.

Die Sonne versteckte sich in Leeds hinter grauen Wolken, sodass die gesamte Szenerie noch durchschnittlicher anmutete. Es war ein gewöhnlicher Vormittag in einer gewöhnlichen britischen Stadt voller gewöhnlicher Menschen. An der Bushaltestelle, wo Minerva und Elphinstone ausstiegen, drängten Männer und Frauen in uniformiertem Grau, das dem des Himmels in seiner Tristesse in nichts nachstand, an ihnen vorbei.

Ihre Seniorentarnung spielte den beiden bei dem Vorstoß auf unbekanntes Terrain in die Karten, denn so wunderte sich niemand, dass sie viel langsamer vorankamen und ihrer Umgebung nicht bloß einen flüchtigen Blick schenkten. Minerva gab vor, die Brille zu putzen, während Elphinstone die Gelegenheit nutzte und die Hausnummern auf der anderen Straßenseite zählte, um das richtige Haus auszumachen.

»Es ist das mit der grünen Tür und der Hecke«, informierte er sie.

Scheinbar beiläufig liefen sie ein paar Schritte und Minerva nahm die Häuserreihe selber in Augenschein. Hausnummer 42 unterschied sich im Äußeren kaum von den übrigen Häusern. Der Rasen war gemäht, ein glänzendes Auto stand in der Einfahrt und die zugezogenen Vorhänge waren geblümt. So weit, so gewöhnlich. Das auffälligste war wohl die Hecke, die das Grundstück umgab und hoch genug reichte, um die Sicht einzuschränken.

Sie beschieden sich zunächst darauf, vorgeblich die wenigen Läden, die am Sonntagvormittag geöffnet hatten, in Augenschein zu nehmen. Interesse an den Muggelgegenständen brauchte Elphinstone dabei nicht einmal heucheln. Begeistert stand er vor dem Zeitschriftenladen, eine Klatschzeitung nach der anderen durchblätternd. Er hielt Minerva diverse Artikel über Prominente oder Mitglieder der Königsfamilie unter die Nase, voller Amüsement angesichts der unbeweglichen Bilder nebst haarsträubenden Schlagzeilen.

»Man könnte meinen, diese Kimmkorn ist bei denen in die Lehre gegangen«, stellte er fest und verschlang mit den Augen einen Artikel über die Eskapaden von Prinzessin Margaret.

Minerva sah nur flüchtig zu ihm hinüber, bevor sie einen Taschenspiegel zückte und vorgab, ihren Lippenstift nachzuziehen. In Wirklichkeit beobachtete sie die Häuserreihe in ihrem Rücken. Es würde kaum möglich sein, sich dem Haus unbemerkt zu nähern. Vor allem die vielen Muggel rundum bereiteten ihr Kopfzerbrechen. Auf keinen Fall wollte sie Unschuldige in die Sache verwickeln, nur weil sie zufällig nebenan wohnten. Die Entführer hatten ihr Versteck clever gewählt, verborgen direkt unter den Augen aller. So schwer es Minerva auch fiel, fürs Erste waren sie darauf angewiesen, sich einen Überblick zu verschaffen. Zum Glück hatten sie eine Geheimnisaufspürsonde, die ihnen helfen würde.

Bevor der Inhaber des Zeitschriftenladens ungehalten wurde, weil Elphinstone sämtliche Magazine durchblätterte, tat Minerva ihm den Gefallen und kaufte ein paar davon – allen voran eines über Gartenpflege. Elphinstone sah trotz seiner Verkleidung so glücklich aus wie ein Vierjähriger am Weihnachtsmorgen. Mindestens das Funkeln in seinen Augen war von den äußerlichen Veränderungen unberührt und warf für Minerva ungewollt die Frage auf, ob sein Lächeln auch in zehn, zwanzig Jahren noch dasselbe sein würde. Ob es dann genauso an ihrem Herzen ziehen würde wie jetzt.

»Na komm«, sagte sie an Elphinstone gewandt, »wir müssen weiter, einkaufen.« Um die Tarnung aufrechtzuerhalten, hakte sie sich bei ihm unter und lächelte, als wäre ihre dringlichste Sorge heute, was es zum Mittagessen gab.

Der Gemüsehändler lag genau gegenüber vom Unterschlupf der Entführer. Während Minerva vorschützte, sich die besten Kartoffeln von der Auslage auszusuchen, glitten ihre Augen immer wieder hinüber zu dem Haus. Sie tauschte einen Blick mit Elphinstone, der vor ihr – mit dem Rücken zur Straße – stand und ein Einkaufsnetz offen hielt. Nur für ihn sichtbar ließ sie den Zauberstab im Ärmel ihres Mantels nach vorne rutschen. Die Spitze in ihrer Handfläche verborgen, murmelte sie:

»Specialis revelio invisibilis.«

Zugleich gab sie vor, eine besonders große Kartoffel zu greifen. Insgeheim richtete sie den Stab allerdings unter Elphinstones Arm hindurch in Richtung des Wohnhauses auf der anderen Straßenseite. Ein Ziehen in ihren Fingern informierte sie, dass wie erwartet mehrere Schutzzauber über dem Grundstück lagen. Sie schnitt eine Grimasse und schüttelte den Zauberstab zurück in den Ärmel.

Anstelle einer weiteren Kartoffel drückte Elphinstone ihr die kleine Geheimnisaufspürsonde des Ministeriums in die Handfläche. Dank eines ungesagten Zaubers verwandelte sie sich augenblicklich in eine erdige Knolle. Zumindest das Äußere, denn die wahre Substanz des kleinen Zauberwerks ließ Minerva unberührt.

Wenig später stand sie ein paar Pence ärmer mit dem Gemüsenetz wieder vor dem Laden, wo Elphinstone bereits wartete. Das ‚ulkige Muggelgeld‘ überließ er liebend gern ihr. Dafür unternahm er den nächsten Schritt in ihrem Plan. Weit kam Minerva nicht, bevor er mit einem verborgenen Schlenker des Zauberstabs das Netz aufreißen ließ.

Schon hüpften die frisch gekauften Kartoffeln neben der verwandelten Sonde über die einspurige Straße. Vielleicht etwas weiter, als es für gewöhnlich der Fall gewesen wäre, aber die Muggel schenkten dem Gemüse nur einen mitleidigen Blick, ehe sie ihres Weges eilten. Einen falschen Fluch auf den Lippen, jagten Minerva und Elphinstone ihrem vermeintlichen Mittagessen bis zur anderen Straßenseite hinterher.

Während sie die echten Kartoffeln aufsammelten, versetzte Minerva der Sonde einen Stups mit dem Zauberstab, der sie zielgerichtet durch die feinsäuberlich gestutzte Hecke – und damit den Schutzzauber – schickte. Den Atem angehalten, wartete sie. Würde gleich ein Katzenjammer die Entführer warnen? Die Sonde in einem magischen Feuerball vergehen? Oder ... war ihre Verwandlung unauffällig genug?

Mit bebenden Fingern verknotete sie das gerissene Gemüsenetz. Nichts passierte. Durch die lichten unteren Zweige der Hecke konnte sie die vermeintliche Kartoffel erkennen, die unscheinbar im Gras lag. Elphinstone gab ihr mit einem Zauber neuerlichen Schwung und sie rollte noch ein paar Meter weiter, näher an das Haus. Alles blieb ruhig. Nicht einmal die Vorhänge hinter den Fenstern erzitterten.

Zufrieden schulterte Minerva das notdürftig geflickte Netz, hakte sich erneut bei Elphinstone unter und kehrte dem Haus schweren Herzens den Rücken. Nicht mehr lange, dann könnten sie zur Tat schreiten.

 

Die kommenden Stunden verbrachten sie mit einem ausgedehnten Frühstück an einem klapprigen Tisch vor der Bäckerei, während sie abwechselnd das Haus und die Menschen um sie herum beobachteten. Minerva zerlegte den Bagel auf ihrem Teller in seine Einzelteile; unfähig, einen Bissen herunterzubringen. Sie nippte nur an ihrem Tee, der wenigstens den Magen wärmte.

Das Gegenstück zur Geheimnisaufspürsonde des Ministeriums lag getarnt als Taschenuhr zwischen ihr und Elphinstone auf dem Tisch. Deren Ziffernblatt würde rot aufleuchten und einen Pfeifton von sich geben, sobald die Sonde einen ungewöhnlichen Magieausbruch registrierte. Vorerst jedoch regte sich nichts bei Hausnr. 42. Auch das Taschenspickoskop, das Elphinstone immer wieder nervös in den Fingern drehte, zeigte nur ein konstant schwaches Glimmen.

Eine Menge Leute spazierten im Laufe des Vormittags an ihnen vorbei, aber so wie das Spickoskop schwieg, stach Minerva niemand ins Auge. Sie hielt nach auffälligen modischen Verfehlungen Ausschau – Zauberer dachten nicht selten, es sei eine gute Idee, moderne Schlaghosen mit Gehröcken zu kombinieren. Andererseits traute sie es der jüngeren Generation durchaus zu, nicht mehr so weltfremd zu agieren, selbst wenn sie Muggel hassten. Das zeichnete sich in der Schülerschaft der vergangenen Jahre zusehends ab. Letzten Endes war die Muggelmode deutlich praktischer als ausladende Umhänge und opulente Roben, gleichwohl sie sich darin wohlfühlte. Von Spitzhüten, die an jedem zweiten Türrahmen hängen blieben, ganz zu schweigen. In Hogwarts gehörten die Hüte nur pro forma zur Schuluniform – tragen tat sie kein Kind.

Nachdem nur noch Krümel auf ihren Tellern verblieben, war es an der Zeit, den Beobachtungsposten zu wechseln. Um nicht aufzufallen, mussten Minerva und Elphinstone in Bewegung bleiben. Daher liefen sie weiter zum Floristen, der sich ein Stück von ihrem Observationsobjekt entfernt befand.

Minerva beschäftigte sich eine Weile damit, nach den frischesten Schnittblumen Ausschau zu halten. Es näherte sich bereits dem Mittag und ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen lugten unter dem Grau der Wolken hervor, da straffte sich Elphinstone neben ihr.

»Jemand verlässt das Grundstück«, flüsterte er und täuschte vor, an einer weißen Rose zu schnuppern. »Ein Mann im dunkelgrauen Trenchcoat. Vielleicht Mitte zwanzig? Hellbraune Haare, schlank. Er kommt in diese Richtung.«

Unter dem Vorwand, Elphinstone eine besonders schöne dunkelrote Anemone zu zeigen, drehte Minerva sich um und warf selber einen Blick zu dem Mann. Tatsächlich fiel dieser neben den Muggeln überhaupt nicht auf. Zielstrebig kam er die Straße hinauf, ohne die andere Straßenseite zu beachten.

»Wir sollten herausfinden, was er vorhat«, sagte sie leise.

Zu ihrem Erstaunen wartete der Unbekannte brav an der Ampel eine Straßenkreuzung vor ihnen, sobald sie den Blumenladen mit ihrem Strauß verließ. Elphinstone betrachtete ihn mit dem Spickoskop in den Fingern. Das rote Glimmen war einen Hauch dunkler geworden und ein dezentes Fiepen ging davon aus, wie von einem Teekessel, der in großer Entfernung pfiff.

»Warum disappariert er nicht unbeobachtet oder nutzt den Kamin? Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Leute irgendetwas in der Muggelwelt zu erledigen haben.« Sie zog die Stirn kraus und hakte sich bei Elphinstone unter. Im gemächlichen Schritt näherten sie sich der Kreuzung.

»Erkennst du ihn wenigstens? Er sieht so jung aus, dass er einer deiner Schüler gewesen sein könnte.«

Sie musterte das Halbprofil des Mannes aus zusammengekniffenen Augen. Er war jung, da hatte Elphinstone recht. Doch so sehr sie sich auch anstrengte – die Erinnerung an einen ihrer Schüler wollte sich nicht einstellen. Enttäuscht schüttelte sie den Kopf.

Der Komplize der Entführer kreuzte vor ihnen die Straße und lief schnurstracks weiter. Sie folgten in einiger Entfernung. Hin und wieder blieben sie stehen und musterten die Auslagen eines Schaufensters, ehe sie die Verfolgung erneut aufnahmen. Doch der Mann drehte sich nicht einmal um.

Trotzdem zog Minerva Elphinstone zwei Mal in kleine Gassen voller Mülleimer, um mit einem Zauber Farbe und Form ihrer Kleidung sowie Frisuren zu ändern. Die hastig vollzogenen Verwandlungen waren bloß oberflächliche Täuschungen. Dem geübten Auge würde auffallen, dass sie den Senioren vom Vormittag erheblich glichen. Immerhin wurde sie die Blumen bei einem Straßenmusiker los und das Kartoffelnetz vergaß sie an einer Bushaltestelle, bei der sie sich kurz unterstellten. Minerva baute darauf, dass sie in der Menge der Muggel untergingen – und, dass der Entführer in seiner Arroganz keine Aufmerksamkeit für die Menschen in seinem Umfeld übrig hatte.

Unterwegs warf Elphinstone abwechselnd einen Blick auf die verzauberte Taschenuhr und das Spickoskop, doch beide regten sich nicht weiter. »Ich will hoffen, dass das keine schlechte Ablenkung ist«, grummelte er.

Für Zweifel an ihrer Entscheidung war es ohnehin zu spät, denn sie waren längst mehrere Blöcke von ihrem Ausgangspunkt entfernt. Dafür verlangsamten sich zumindest die Schritte ihrer Zielperson. Vor einem Pub – Der peitschende Hornschwanz – hielt der Mann inne. Sein Blick wanderte suchend die rot gestrichene Fassade entlang, dann zu einem Zettel, den er aus der Manteltasche zog. Ein kleiner Laut der Überraschung kam über seine Lippen, als er wieder zurück zum Gebäude sah. Mit offenem Mund musterte er das Haus, ehe er den Kopf schüttelte und in einen schmalen Durchgang neben dem Pub trat.

Gerade rechtzeitig realisierte Minerva, dass ihr Weg sie bis vor eine magische Gaststätte geführt hatte. Wäre sie ein gewöhnlicher Muggel, dürfte sie weder den Pub noch den Nebeneingang, an den der Entführer klopfte, bemerken. Also zog sie Elphinstone mit festem Druck auf den Arm daran vorbei, den Blick starr geradeaus gerichtet.

Auf der anderen Seite befand sich eine Zoohandlung, in deren Schaufenster sich Käfige und Terrarien stapelten. Der perfekte Vorwand, um innezuhalten. Minerva drückte sich an das Fenster. Direkt auf Augenhöhe wand sich eine gewaltige Schlange um einen Ast. Elphinstone verzog das Gesicht, als er das Tier bemerkte. Hastig sah er fort und fing stattdessen Minervas amüsierten Blick auf.

»Schlangen«, hauchte er, »ich mag keine Schlangen. Die sind so ... schuppig? Schlängelig? Einfach unheimlich.«

Wenn sie nicht einem gewissenlosen schwarzen Magier auf den Fersen wären, hätte Minerva gelacht. »Ausgerechnet du«, schmunzelte sie dennoch, ehe sie den Zauberstab wieder aus ihrem Ärmel in die Handfläche gleiten ließ. »Dabei sind manche deiner Pflanzen viel bedrohlicher.«

»Das würde ich so nicht behaupten ...«

Sie grinste und stupste ihn in die Seite. »Ich finde Dachse auch viel niedlicher«, erklärte sie zwinkernd und richtete den Zauberstab in Richtung Seitengasse. Ausculto, formte sie den Abhörzauber in Gedanken. Elphinstone tat es ihr gleich.

»Ich bin für das restliche Erumpenthornpulver hier«, erklang eine monotone Stimme, die vermutlich zu ihrer Zielperson gehörte. »Die Miss lässt sich entschuldigen, aber offenbar hat das ... dieses Kaminnetzwerk immer noch Verbindungsprobleme.«

»Du Idiot! Nicht so laut hier in der Gasse, ist das nicht offensichtlich?«, zischte eine zweite, tiefe Stimme. »Das sind Güter der Klasse eins, von denen wir hier reden!«

Der Zorn in den Worten seines Gegenübers schien den Entführer überhaupt nicht zu berühren. Ohne seine Stimmlage zu ändern, fuhr er fort: »Hier sind Ihre Münzen. Händigen Sie mir die Ware aus.«

Klimpern, leises Zählen, dann ein scharfes Zungenschnalzen.

»Hmm ... da fehlen fünf Galleonen. Das Zeug war ausgesprochen schwer zu bekommen.«

»Die Miss sagt, sie würde Ihren Laden gerne an die Strafpatrouille melden, wenn Sie nicht gehorchen. Oder wollen Sie, dass sie persönlich vorbeischaut?«

Obwohl in den Worten eine Drohung mitschwang, blieb der Mann vollkommen ruhig – nein, sogar gleichgültig. Minerva tauschte im Schaufensterglas einen Blick mit Elphinstone, der ebenso beunruhigt dreinsah. Auf den Typen aus dem Pub schienen die Worte jedenfalls zu wirken, denn sie hörten einiges Geraschel, gefolgt von einem neuerlichen Klimpern.

»Hier. Und richte deiner Miss aus, dass sie mich mal kann!«

»Dankeschön«, ließ der Entführer ungerührt verlauten, was mit einem unwirschen Schnauben beantwortet wurde.

»Scher dich bloß weg!« Dann fiel die Tür ins Schloss und Schritte näherten sich aus der Gasse.

Eilig schwenkte Minerva den Stab, um den Zauber zu beenden. Sie drehte sich mit dem Rücken zum Pub und musterte mit gespielter Begeisterung die Schlange. Hinter sich hörte sie, wie der Mann aus der Gasse trat. Ob er sie bemerkte, konnte sie nicht sagen, doch seine Schritte trugen ihn in die entgegengesetzte Richtung.

Sie erlaubte es sich, erleichtert auszuatmen. »Was war das denn?«

»Wenn ich das wüsste ... Um das Erumpenthornpulver sollten wir uns in jedem Fall Sorgen machen. Das Zeug ist explosiver als Mulciber.«

Minerva warf dem Mann einen Blick hinterher. Er ging davon, als würde ein unsichtbarer Faden ihn zurück zu seinem Versteck ziehen. Ihr Vater hätte sein Verhalten wohl mit den Worten ‚wie ferngesteuert‘ beschrieben. Was hatte der Unbekannte gesagt? Kaminnetzwerk. Nicht Flohnetzwerk. Sie dachte daran, wie brav er an der Ampel gewartet hatte. Oder wie erstaunt er den Pub angesehen hatte – als hätte sich dieser aus dem Nichts vor ihm aufgetan, nachdem er den Zettel gelesen hatte. Eine Reaktion wie ein ... Muggel. Dazu noch das Spickoskop, das kaum merklich auf ihn reagierte, obwohl es sie doch vor Feinden warnen sollte. Ihr fiel nur eine Erklärung ein.

»Denkst du auch ...?«, wandte sie sich an Elphinstone.

»Dass sie mit dem Erumpentpulver noch mehr flüssiges Dämonsfeuer herstellen werden, um ihre Spuren zu vernichten?«

»Ich meinte den Zustand des Mannes eben. Das Verhalten erinnert mich an den Kobold gestern. An den ... Imperius.«

»Oh. Ja, das wäre eine Möglichkeit.« Elphinstone seufzte leise. »Vielleicht ist er ein weiteres Opfer der Entführer. Irgendwo müssen die ja ein Haus mit Kamin herhaben, das bereits ans Flohnetzwerk angeschlossen war. In dieser Gegend fällt mir da eigentlich nur eine Möglichkeit ein: Muggelstämmige oder aber jemand aus der magischen Gemeinschaft, der jetzt mit Muggeln zusammen lebt.«

Bis zu diesem Moment hatte Minerva nicht daran geglaubt, dass es neben dem Jungen und seiner Familie noch andere Opfer geben könnte. Sie starrte die Schlange an und ihre Finger bohrten sich fester in Elphinstones Unterarm.

»Ich kann versuchen, in seinen Geist zu sehen. Vielleicht finden wir so heraus, was vor sich geht.«

»Bist du dir sicher, dass du dich dem aussetzen möchtest? Du weißt, dass wir nichts tun dürfen, was die Aufmerksamkeit der Entführer erregt. Egal, was du in seinen Gedanken siehst. Selbst wenn er das Opfer ist.«

»Natürlich. Ich tue das nicht gerne, das kannst du mir glauben. Aber nur so können wir uns sicher sein! Es ist eine einmalige Gelegenheit. Ich muss nur nah genug an ihn herankommen, um ihn unvorbereitet zu erwischen. Folg mir unter dem Tarnumhang, okay?« Sie zog den silbrig schimmernden Stoff aus der Häkeltasche und drückte ihn vor seine Brust. »Vertrau mir, Phin.«

Er legte die Hand auf ihre, als er nach dem Umhang griff und sah ihr fest in die Augen. »Das tue ich. Sei trotzdem vorsichtig.«

»Immer.«

Den Zauberstab in der Hand verborgen, wandte Minerva sich vom Schaufenster der Zoohandlung ab und folgte dem Mann. Sie wartete, bis Elphinstones unsichtbare Schritte hinter ihr erklangen, ehe sie schneller wurde. Weit vor ihr sprang die Fußgängerampel auf Grün, sodass sie ihre Hast nicht einmal spielen brauchte. Aus dem Eilschritt wurde ein Rennen und schließlich schaffte sie es gerade noch über die Straße. In vollem Lauf holte sie zu dem Verdächtigen auf. Anstatt abzubremsen, nahm sie Schwung mit dem Ellenbogen – und rammte ihn.

»Oh, entschuldigen Sie bitte!« Die Worte sprangen ihr übereifrig von den Lippen, kaum dass sie beide auf den Asphalt stürzten. »Das tut mir schrecklich leid! Ich habe sie gar nicht gesehen!«

Blassblaue Augen starrten an ihr vorbei in die Leere. »Kein ... Problem«, murmelte der Mann. Mit den Fingern betastete er seine Manteltasche.

»Haben Sie etwas verloren?« In einer vermeintlich besorgten Geste legte sie ihm die Hand auf die Schulter, während sie mit der anderen den Zauberstab auf ihn richtete.

»Ich – nein.« Endlich sah er sie direkt an. Der Blick schien aus der Tiefe eines nebelverhangenen Himmels zu kommen. »Alles in Ord-«

»Legilimens«, flüsterte Minerva, bevor der Blickkontakt brach.

Ihr Gegenüber schloss träge den Mund. Die befürchtete Flut an fremden Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen hingegen blieb aus. Es war, als hätte sie den Vorhang vor einem Fenster weggezogen, nur um festzustellen, dass direkt dahinter eine nackte Wand lag. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, die Mauer einzureißen. Im Gegensatz zu dem Kobold wehrte der Mann sich nicht gegen ihren Eingriff. Im Gegenteil, sie glitt durch seinen fragilen Widerstand wie eine Rasierklinge durch Butter. Jemand hatte ihn bereits gebrochen.

In ihrem Kopf stieg das Bild eines Raumes herauf. Das Wohnzimmer, in dem Elladora auf Caius getroffen war. Dieses Mal erfüllten es die Schemen von mehreren Leuten. Doch Minerva erkannte nur ein Gesicht; das einer knienden Frau, der Tränen über die Wangen liefen. Ein Gefühl der Zuneigung überschwemmte sie und zog ihr Herz zusammen. Sie verspürte den Drang, die Unbekannte zu beschützen, aber ihre Hände waren gefesselt. Die Emotionen überwältigten sie derart, dass es einen Moment dauerte, bis sie begriff, dass nicht sie es war, die diese Frau liebte – es war der Mann, dessen Gedanken sie las. Seine Gefühle schlugen in ihr wie ein zweites Herz.

»Ich bin eine Hexe«, hallte es in Minervas Kopf, »Ich war in Hogwarts! Bitte – verschont wenigstens Theo. Er kann doch nicht zaubern, wie soll er Magie gestohlen haben? Er weiß von nichts! Ich habe es ihm nie erzählt!«

Die harte Stimme der Anführerin unterband ihre Schreie. »Aber, aber, Schätzchen. Hast du so wenig Vertrauen in den dreckigen Muggel? Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du ihn zu deinem Mann gemacht hast. Nun, wenigstens habt ihr ein ausgezeichnetes Testobjekt für uns erschaffen.«

Die Hexe trat einige Schritte näher an ihr Opfer heran. In ihren langen Fingern drehte sie einen kleinen Dolch, bei dessen Anblick die Frau am Boden zurückzuckte.

»Ich vergieße nicht gerne magisches Blut, aber du lässt mir keine andere Wahl. Immerhin ist es für das Wohl unserer Gemeinschaft. Damit alle erkennen, was die Schlammblüter wirklich sind. Dreckige Diebe!«

In einer vermeintlich zärtlichen Geste beugte sich die Anführerin hinab und hob das Kinn ihrer Gefangenen an. Ihre Züge schälten sich aus den Schatten wie ein Dementor aus dem Nebel. Dieses Mal war es Minervas eigene Furcht, die sich mit dem Gewicht eines ausgewachsenen Drachens auf ihre Brust legte. Denn ausgerechnet diese Frau mit den schwarzen Locken blieb nicht länger eine grausame Unbekannte.

Bellatrix Black war schon in ihrer Schulzeit von vornehmer Schönheit gewesen, die ihr eine Aura des Unnahbaren verschafft hatte, ganz wie ihren Schwestern. Aber in ihren dunklen Augen gab es seit jeher einen Abgrund, der seinesgleichen suchte. Wo bereits vor Jahren Schatten gelauert hatten, regierte nun offener Hunger. Das Lächeln ihrer tiefrot geschminkten Lippen sprach von der Lust am Wimmern ihres Opfers, als sie den Dolch am Hals der Frau hinabwandern ließ. Ein Reißen erklang und die Klinge zerschnitt das Oberteil der Gefangenen.

»Was zierst du dich so, Schätzchen?«, säuselte sie. »Willst du deinem Mann nicht zeigen, was du wirklich bist? Hast du etwa Angst, dass er sich nicht freut, wenn er erkennt, dass du bist wie ich? Eine Hexe, die ihn mit einem Fingerschnippen töten könnte? Oder ... seinen Geist zu einer willenlosen Marionette verbiegen? Stell dir vor, er verstößt dich deswegen. Dabei ist er deiner gar nicht wert ... und du hast dich freiwillig für ihn ruiniert. Ein Jammer.«

Furcht und Bedauern rangen in den rotgeäderten Augen der knienden Frau. Ihr Blick bohrte sich geradewegs in Minervas Herz. »Theo ... es tut mir so leid. Bitte, verzeih mir. Ich liebe dich, das musst du mir glauben!«

Abrupt verschwamm der Anblick vor Minerva. Weitere Erinnerungen flogen wie Blätter in einem Herbststurm an ihr vorbei, nur eines blieb gleich – jede fokussierte die Frau. Sie stand in einer Küche und zeigte ein kleines schwarz-weißes Bild, dessen Sinn Minerva nicht verstand. Dann war sie in einem anderen Raum des Hauses und strich die Wände in einem zarten Frühlingsgrün. Sie sang ein Lied, während sie ein winziges Jäckchen häkelte. Die Erinnerungen erstrahlten voller Zuneigung, als wären sie in honiggoldenen Sonnenschein getaucht.

Langsam drängten jedoch dunkle Schatten in die Gedankenfetzen. Eben noch lächelte die Frau, da sah Minerva sie schreiend durch einen Flur stürzen, verfolgt von Flüchen. Schneller und schneller stürzten die Eindrücke auf sie ein. Maskierte Gestalten in Umhängen, die das Haus auseinandernahmen; wilde Schreie und ... Rot, das von der Spitze eines Dolches tropfte. Das Wort Blutsverräterin in den vorgewölbten Bauch der Frau geritzt.

Plötzlich wurde Minerva – oder eher der Mann, Theo – fortgerissen und durch einen Flur geschleppt, eine Treppe hinab in den Keller. Durch eine von mehreren Türen – da war ... ein Käfig? Sie erkannte weitere Personen. Ein Kind. Dunkle Locken und blanke Angst im Gesicht. Jonathan Alditch.

Dann richtete sich ein Zauberstab auf sie. Das Bild des Kellers schwand. Stattdessen klingelte ein mitleidloses Lachen in ihren Ohren, begleitet von ... Schmerz. Sie wanden sich auf dem Boden. Theo – nein, sie – stand in Flammen.

Erschrocken schloss und öffnete Minerva mehrmals die Lider. Sie starrte auf ihre zitternden Finger hinab. Da war kein Feuer, ebenso wenig wie sich der Mann vor ihr in Pein krümmte. Er stierte sie bloß aus diesen verflucht entrückten Augen an. Dann brach die Angst darin hervor. Er riss den Mund auf.

»Obliviate!«

Anstatt eines Schreis drang nur ein verwirrtes Gurgeln aus der Kehle des Muggels, dann blinzelte er ein paar Mal. Elphinstone hatte gerade noch rechtzeitig reagiert. Minervas Hände indes bebten und sie hatte Mühe, den Zauberstab zurück in ihren Ärmel zu schieben.

»Es ... tut mir leid«, stammelte sie. »Bitte – entschuldigen Sie den Zusammenstoß!«

»K-kein Problem«, wiederholte der Mann, erneut vollkommen vom Nebel verschlungen; die letzten Minuten vergessen.

Ein weiteres Mal vernahm Minerva Elphinstones körperlose Stimme, die leiser »Torpor« murmelte.

Der Zauber traf den Muggel Theo und er atmete auf, als sei ihm das Gewicht der ganzen Welt von den Schultern gefallen. Er stand auf, ohne sich auch nur den Dreck vom Mantel zu klopfen, und verschwand um die nächste Straßenecke.

Mit klopfendem Herzen taumelte Minerva in die entgegengesetzte Richtung, Hauptsache fort. Ein paar Meter weiter lehnte sie sich in einen Hauseingang, flach an das Mauerwerk gepresst. Vor ihr riss Elphinstone sich den Tarnumhang von den Schultern.

»Minerva! Was ist geschehen?« Er legte die Hände an ihre Wangen und suchte ihren Blick. »Du hast plötzlich geschrien!«

Von der sanften Berührung wurde das Gefühlschaos nur mehr, nicht weniger. Jetzt sah sie auf einmal ihn anstelle der fremden Frau in der Gewalt Bellatrix Blacks. Sie presste sich noch fester an die Hauswand und rang nach Luft.

»Sie haben ihn gefoltert«, japste sie. »Und seine Frau ... oh Gott! Der Junge, er ist auch da drin! Ich ... Da waren so viele Bilder auf einmal. Chaos. Blut. Schmerzen.« Es schüttelte sie. »Es war, als stünde ich mittendrin. Und dann sie. Cygnus‘ schreckliche Tochter! Bellatrix Black. Sie ist ihre Anführerin, ich habe gesehen, wie sie ...« Doch wovon sie Zeugin geworden war, konnte sie nicht in Worte fassen.

»Oh Min ... Atme durch. Wir bringen das in Ordnung, ja? Gemeinsam. Ich verspreche, dass ich nichts unversucht lassen werde, um diese Menschen zu retten.«

Elphinstones Daumen strich zaghaft über ihre Wange. Obwohl er unter all der Maskerade so anders aussah, war die Art, in der sich Sorgenfalten auf seinem Gesicht erstreckten, immer noch dieselbe vertraute – und liebgewonnene – Weise. Alles daran zog Minerva tiefer in die Berührung. Sacht lehnte sie die Stirn gegen seine. Sie tat wie geheißen und sog die Luft in ihre Lungen, bis der Geruch von regenfeuchtem Garten sie erfüllte. Mit geschlossenen Lidern verharrte sie. Ein warmes Flackern füllte ihre Brust und verdrängte die Furcht; den Schmerz der fremden Erinnerungen.

»Alles gut. Geht schon wieder besser. Es war nur so unerwartet ... intensiv.« Sie räusperte sich. »Bitte, mach dir keine Sorgen, Phin. Nicht um mich. Wenn, dann um die Menschen, die Blacks Tochter foltert.«

Er hielt inne. »Ich kann nicht. Ich werde mir immer Sorgen um dich machen. Aber vielleicht kann ich wenigstens etwas dein Gewissen beruhigen – ich habe mit Torpor einen Fluch auf den Mann gelegt, der ihm zumindest zeitweise sämtliches Empfindungsreichtum raubt. Ohne Gefühle kann er auch keine Schmerzen haben. Mehr konnte ich leider nicht tun.«

»Phin ... Danke.« Sie lehnte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. »Das hilft tatsächlich.« Hoffentlich überzeugend lächelte sie kurz.

Ein ähnlicher Ausdruck strich über seine Lippen und er trat einen Schritt zurück. Seine Hände verblieben noch einen Moment länger auf ihren Wangen, dann senkte er sie. »Okay. Bereit, zurückzugehen?«

Minerva verschränkte die Finger mit seinen. »So bereit wie du es bist.«

 

Bis am späten Nachmittag ein feiner Nieselregen einsetzte, geschah nichts weiter. In ihrer Animagusform unternahm Minerva einen ausgedehnten Spaziergang durch die Nachbargärten von Haus Nr. 42, während Elphinstone unter dem Tarnumhang an der Straße wartete. Doch bis auf einen schlafenden Igel hinter der Hecke fand sie nichts von Interesse. Wenigstens bedeutete dies, dass die schwarzmagischen Schutzbanne nur über dem Haus, nicht dem gesamten Grundstück lagen. Andernfalls hätte der Igel die Wahl seines Schlafplatzes längst bereut. Zumindest die regulären Schutzzauber gegen Eindringlinge und Apparieren umspannten aber alles. Durch ihre Katzenaugen nahm Minerva die Vorkehrungen als helles Flirren der Luft entlang der Hecke wahr.

Gegen Abend tauchte Pippa in Verkleidung einer Teenagerin auf, um sie abzulösen. Zwar blieb Minerva und Elphinstone noch das Sondengegenstück, das sie über magische Aktivitäten informieren würde – und natürlich das Foemicus-Band –, aber Minerva hasste es, unverrichteter Dinge zu gehen.

Von dem Brettspielladen aus, in dem sie und Elphinstone immerhin ein hübsches Schachset bewundern konnten, apparierten sie nach Edinburgh, zu Robbie. Dessen Tag war noch unspektakulärer verlaufen. Über das gestohlene Artefakt hatte er keine Neuigkeiten vorzuweisen und wie erwartet war im Verlies Nr. 232 infolge des Brandes nur Asche geblieben. Dafür hatte Anne Shortbread gebacken, dessen Duft Minervas Magen entgegen jeglicher Nervosität knurren ließ. Also blieben sie und Elphinstone eine Weile. Mit der Hilfe ihres Bruders zeichnete Minerva eine Karte des Hauses, basierend auf den Erinnerungsfetzen des Muggels Theo. Sie beschrieb, was sie gesehen hatte, und er übertrug die einzelnen Räume auf Pergament. Ausgehend von der Position der Fenster und anderen Faktoren bastelte Robbie daraus einen behelfsmäßigen Lageplan.

Die Nacht war bereits weit vorangeschritten, als sie ihre Diskussionen über mögliche Wege, in das Haus einzudringen und die Entführer zu überwältigen, beendeten. Minerva fertigte eine Kopie der Pergamente für Mulciber an – und eine für Albus, rein aus Vorsicht.

Zurück in Elphinstones Wohnung nutzten sie die Zeit, um letzte Handgriffe an dem Melionwurz-Schutztrank zu tätigen. Oder viel mehr kümmerte Elphinstone sich darum. Minerva beobachtete ihn bloß gedankenverloren. In der Stille der Nacht konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Ermittlungen ein Gefühl erweckten, welches sie lange aus ihrem Herzen verbannt hatte, unter unzähligen Schichten aus den alten Liebesbriefen Dougals, Schuldgefühlen und zehnmal ‚Nein‘ begraben. Sie sorgte sich, dass die spitzen Sprüche Robbies und Mulcibers doch einen Funken Wahrheit trugen. Weshalb sonst sehnte sich ein Teil von ihr – inmitten all des Chaos! – Elphinstones warme Hände auf den Wangen zurück?

Muggelmagie

Der nächste Observationstag brachte noch mehr Regen mit sich. Dicke Tropfen – von der Sorte, die einem zielstrebig im Nacken landete, und sich anfühlte wie die unheilvolle Berührung eines Dementors – fielen seit dem frühen Morgen vom Himmel. Liebend gerne hätte Minerva dagegen Magie eingesetzt, doch zur Tarnung (heute jünger und mit blonden Haaren) blieb ihr nur, sich ebenfalls unter einem Regenschirm zusammenzukauern. Das war zumindest besser als der Vormittag, den sie in Animagusgestalt verbracht hatte, bis man ihr Fell einem Wischmopp gleich hätte auswringen können. Dennoch zogen sich die Stunden so zäh wie des Honigtopfs beste Siruplollis.

Ihre Hoffnungen, dass Mulciber bald mit einer Abordnung Auroren kommen würde, schwanden mit dem Tageslicht dahin. Im Morgengrauen hatte er ihnen über das Flohnetzwerk berichtet, dass sich Reinblüter an der Westminsterbrücke mitten in London sammelten und das Ende ihrer angeblichen Unterdrückung gewaltsam einforderten. Mulcibers Beteuerungen zur Folge würden die vereinten Ministeriumskräfte zunächst den Aufstand unter Kontrolle bringen, ehe sie in Leeds eingriffen. Doch von der versprochenen Eule mit dem Befehl zur Ergreifung der Entführer fehlte seither jegliche Spur am grauen Himmel.

Wenigstens trug Minerva den fertigen Schutztrank gegen den Melionwurzbann bei sich. Jede Minute, die sie jetzt noch untätig verbrachten, empfand sie grob fahrlässig. Von dem Wunsch getrieben, endlich zuzuschlagen, drehte sie die ungewohnt langen Locken um ihren Zeigefinger und tastete immer wieder nach dem Zauberstab an ihrem Unterarm.

Elphinstone hatte seine Unruhe weit besser unter Kontrolle. Vermutlich trug die Euphorie über die Muggelerfindungen, die er bewundern durfte, dazu bei. Minerva ertappte ihn, wie seine Schritte immer kleiner wurden, bis er schließlich vor der Auslage des heute geöffneten Elektronikgeschäfts zum Stehen kam.

Ein einzelner Fernseher, dem Preisschild zufolge das neuste Farbmodell für 300£, thronte dort auf einem Podest und zeigte das Nachmittagsprogramm. Diese Geräte waren Minerva zwar nicht unbekannt, aber da ihre Eltern erst zur Übertragung der royalen Hochzeit von Prinzessin Margaret eines der Dinger angeschafft hatten, wusste sie nicht, was es sonst zu sehen gab.

Neugierig musterte sie neben Elphinstone die Szene. Gestalten in grünen, schuppenbesetzten Anzügen rannten durch die Gegend und lieferten sich ein Duell mit einem älteren Mann, der mit einem Metallstab herumwedelte, nicht unähnlich einem Zauberstab. Doch die Echsenwesen waren nichts gegen die vermeintliche Notrufzelle, in die der Herr flüchtete. Anstatt in ein karges Inneres stolperte er in einen riesigen Raum, der voller blinkender Flächen und Hebel war. Wenig später flog das blaue Holzhäuschen vor Sternennebel durch die Tiefen des Universums.

»Muggel im Weltall, Merlin bewahre uns«, murmelte Elphinstone. »Die Menschheit schafft es ja nicht einmal auf dieser Erde, sich nicht zu bekriegen.«

Minerva lachte auf. »Ich glaube, du willst gar nicht wissen, was die Muggel schon alles angestellt haben.«

Aber selbst sie beschlich ein eigenartiges Gefühl bei der Vorstellung. Die Sterne waren ihr stets so unerreichbar erschienen, ein Mysterium, in dem – eventuell – ihr Schicksal geschrieben stand. Zumindest wenn man den Zentauren glaubte. Doch es gab nichts, was die Muggel zurückhielt, den letzten Schleier des Unerklärlichen zu lüften.

»Sag mir nicht, dass es schon fliegende Notrufzellen gibt!«, rief Elphinstone ein wenig zu laut und sah sie aus großen Augen an.

Schnell schüttelte sie den Kopf. »Das nicht, aber riesige, fliegende ... Metallkonstrukte, die sie bis zum Mond bringen.«

»Ja klar – und ich fliege auf meinem Sauberwisch sechs da hoch und hole mir ein paar Mondfrösche, gleich nachher.«

Minerva schenkte ihm einen durchdringenden Blick, von der Sorte, die sie sonst für Kinder aufhob, denen mal wieder unkontrollierte Funken aus dem Zauberstab hervorschossen.

»Du hältst mich doch zum Troll, oder?« Der Blick von Elphinstone wanderte gen Himmel, an dem außer Regenwolken nichts zu erkennen war. »Ich meine ... der Mond?«

Fast schon mitleidig schüttelte Minerva erneut den Kopf. »Bereits letztes Jahr sind die Muggel auf dem Mond gelandet. Und da es Amerikaner waren, haben sie ihre Flagge dortgelassen. Wenn du nachher Mondfrösche sammelst, siehst du sie bestimmt.« Hätte ihr Vater ihr nicht einen Ausschnitt aus der Muggelpost geschickt, wäre sie vermutlich genauso verblüfft. Nach allem, was in seinem Brief gestanden hatte, glaubten es selbst einige der Nachbarn nicht.

»Plötzlich habe ich den Drang, öfter in eine Muggelzeitung zu schauen«, brummte Elphinstone, begleitet von leisem Lachen. »Mich beschleicht das Gefühl, dass es nichts gibt, was die Muggel aufhält ...«

Dem konnte Minerva nur zustimmen. Hexen oder Zauberer hatten es jedenfalls nicht zu einem Gerät gebracht, das Farbbilder im ganzen Land übertrug; geschweige denn auf den Mond. Sie liebte die magische Welt und wollte diese niemals missen, aber die meisten Annahmen der Reinblüter ihre Überlegenheit betreffend waren schlicht falsch. Wenn es für sie etwas zu fürchten gab, dann den unberechenbaren menschlichen Forschungsdrang. Wer wusste schon, wozu ihre Technik die Muggel in ein paar Jahren befähigen würde.

 

Da es nicht danach aussah, als würde der Regen bald nachlassen, entschieden Minerva und Elphinstone sich, Unterschlupf in dem Café zu suchen, das schräg gegenüber von ihrem Observationsobjekt lag. Voll des schauspielerischen Übermutes redete Elphinstone davon, dass es an der Zeit für ihr wöchentliches Teedate sei.

Insgeheim fragte Minerva sich, ob das die Ehe mit ihm wäre. Ein beschauliches Leben, in dem solche Unternehmungen dazugehörten. Gemeinsam alt werden und sich an der Schönheit des Alltags erfreuen. Immer wieder dieses Lächeln sehen ... Sie schüttelte die Vorstellung zusammen mit den Regentropfen ab und betrat das Café.

Die Scheiben des kleinen Ladens waren beschlagen vom Regen und der Wärme, die sich im Inneren staute. Aus einem Radio hinter dem Tresen dudelte eine beschwingte Melodie, die ganz anders war als die vor Liebestränken tropfenden Gesänge von Celestina Warbeck. Allein deshalb gefiel es Minerva besser.

Nur wenige Muggel waren in dem Laden und so ergatterten sie einen Tisch am Fenster, der ihnen einen verschwommenen Ausblick auf ihr Observationsobjekt gab. Von der gelangweilten Kellnerin bekamen sie eine Kanne Schwarztee nebst Milch und eine Etagere mit Scones gebracht. In dieser Hinsicht waren Zauberer und Muggel einander gleich – auch wenn Minerva Ingwerkekse bevorzugte.

Auf ihrem Tisch lag ein ganzer Stoß tagesaktueller Muggelzeitungen aus, von denen sie dankbar eine zur Tarnung aufnahm. Bereits die ersten Worte des Daily Mirrors verliehen ihren Gedanken Ausdruck – ‚Was zur Hölle geht vor sich?‘. Nicht nur die Zaubererwelt wurde von Krisen geplagt.

Offenbar war ein Passagierflugzeug von zwei mit Granaten bewaffneten Muggeln entführt worden. Man hatte am Londoner Flughafen notlanden müssen, wobei einer der Entführer im Kugelhagel der hinzugezogenen Polizei verstarb. Seine Begleiterin hingegen hatte der inländische Geheimdienst MI5 festgenommen.

Minerva verstand wenig von den politischen Verwicklungen, die zu dieser Tat geführt hatten. Dennoch hinterließ der Artikel einen schalen Nachgeschmack. Ganz ohne tödliche Flüche fanden die Muggel stets neue Möglichkeiten, einander zu gefährden. Auch in dieser Hinsicht unterschieden sie sich kaum von der magischen Gemeinschaft. Deprimiert blätterte sie ein paar Seiten weiter, aber die Neuigkeiten dort waren nicht besser. In Nordirland gärte der Hass genauso wie am anderen Ende der Welt. Wahrlich ein Montag der Extraklasse.

»Irgendwas Interessantes?«, fragte Elphinstone unbekümmert.

Wortlos schob Minerva ihm das Blatt zu. Mit unverhohlener Neugier überflog er Bilder und Artikel, doch schlussendlich blieb sein Blick an der Anzeige für einen Schnellkochtopf hängen, die er studierte, als sei es eine Abhandlung über seltene Pflanzen des Mittelmeerraumes.

Die schlechten Nachrichten standen allerdings nicht bloß in der Zeitung. Im Radio wurde Elvis Presleys ‚The Wonder of You‘ von einem Ansager unterbrochen. Minerva rührte seufzend Milch in ihren Tee, als das Wort Westminster fiel. Alarmiert horchte sie auf.

Der Sprecher erzählte, dass die Brücke unweit des Muggelparlaments seit dem frühen Vormittag aufgrund eines schweren Unfalls gesperrt sei und die Bevölkerung das Gebiet weiträumig meiden solle. Dahin war ihre Hoffnung, dass Mulciber mitsamt Auroren auftauchen würde. Nicht, solange reinblütige Aufständische alle zum Troll hielten.

Entmutigt versuchte Minerva, durch den Regen etwas vom Haus der Entführer auszumachen, doch in der einbrechenden Dunkelheit war es nicht mehr als ein Schemen. Auch die Geheimnisaufspürsonde regte sich nicht. Trotzdem musterte sie die vorbeiziehenden Passanten intensiv, in der Hoffnung, eine verräterische Bewegung oder einen ungewöhnlichen Umhang zu erspähen.

Mitten in ihre Betrachtung versunken, ließ ein Räuspern Minerva zusammenschrecken. Sie erwartete, dass Elphinstone etwas sagen wollte, stellte dann allerdings fest, dass einer der Gäste an ihren Tisch getreten war. Ein schmaler Herr mit Halbglatze in einem Tweedjackett, auf dem Regentropfen glänzten. Verwundert zog sie die Augenbrauen hoch, als er sich auf einen freien Stuhl setzte und ihr durch seinen Schnurrbart ein grimmiges Lächeln schenkte.

Unter dem Tisch rutschte ihr der Zauberstab in die Hand. Sie richtete ihn auf den ungebetenen Gast, doch ein stummer Aufspürzauber blieb wirkungslos. Er schien nur ein Muggel zu sein – oder ein geschickter Zauberer. Indes stupste Elphinstone das Taschenspickoskop neben seiner Teetasse an. Unverändertes Blassrot. Den Stab behielt Minerva dennoch in der Hand.

»Entschuldigen Sie, aber – kennen wir uns?«, fragte sie über ihre Tasse hinweg.

»Nun, noch kennen wir uns nicht«, erklärte der Unbekannte. Er sprach nur mit leiser Stimme, sodass Minerva sich anstrengen musste, ihn trotz des Radios zu verstehen. »Sie werden es mir nachsehen müssen, aber ich mag es nicht, wenn man sich in meine Ermittlungen einmischt. Meine Leute haben gesehen, wie Sie um unser Observationsobjekt herumgeschlichen sind. Also, welche Institution schickt Sie hierher?«

»Ah ... was?« Elphinstone starrte den Mann an, als hätte der ihm eröffnet, einen Spaziergang im Weltall zu planen. »Ich fürchte, ich verstehe nicht.«

Einer Eingebung folgend griff Minerva sich eine Papierserviette und schwang im Schutz der Tischplatte erneut den Zauberstab. Verdeckt von ihrer Hand verwandelte sich das dünne Papier in einen Ausweis, mitsamt Fotografie und Stempel. Ein weiterer Zauberstabschlenker und die Täuschung war vollkommen. Sie würde kein Risiko eingehen.

Derweil schnaubte der Fremde in Richtung Elphinstone gewandt. »Netter Versuch, aber mich können Sie nicht täuschen.« Er streckte seine Hand über den Tisch. »Hammond, Detective Superintendent und leitender Ermittler der Kriminalpolizei.«

»Ähm«, entkam es Elphinstone und er erwiderte den Gruß, ohne sich selber vorzustellen. Was hätte er auch sagen sollen – Zauberer?

Minerva reichte dem Detective ihrerseits die Hand, um ihn aus der unangenehmen Situation zu befreien. »Agentin McGregor und das ist mein Partner ...«

»Ah, Agent Hastings?«, sprang Elphinstone zögerlich ein.

»Ja, genau ...« Kurz hielt Minerva inne, ehe ihr einfiel, woher sie den Namen kannte. Der Ravenclaw aus Albus’ Erinnerung. »Mr Hammond, der MI5 schickt uns.«

Unaufgefordert schob sie die verzauberte Serviette über den Tisch. Der Mann öffnete den Mund, schloss ihn wieder, griff sich an den Schnurrbart und nickte schließlich. »Natürlich«, erwiderte er mit verklärter Stimme.

Zum Glück hatte Minerva die volle Aufmerksamkeit des vom Illusionszauber betroffenen Detective, denn so entging ihm, wie Elphinstones Augenbrauen in die Höhe wanderten. Noch mehr Glück war, dass sie eben erst den Zeitungsartikel über den Vorfall am Flughafen gelesen hatte.

»Also sind Sie hier, um den Fall zu übernehmen, ja?«, seufzte der Ermittler.

»Nun, Mr Hammond, wir haben Grund zu der Annahme, dass diese Angelegenheit gefährlich ist.«

»Wollen Sie mir etwa Unfähigkeit unterstellen?«

»Nein, nein – wir sind nur besorgt um Ihre Sicherheit.«

Der Mann hob die buschigen Augenbrauen. »Hören Sie, ich ermittle in dieser Sache seit geraumer Zeit. Meine Leute haben alles im Blick, Tag und Nacht. Und gestern tauchen Sie plötzlich auf. Ich meine – man muss es Ihnen lassen, schöne Verkleidungen. Beeindruckend. Aber Ihr Interesse an Haus Nr. 42 ist doch etwas auffällig. Ganz zu schweigen davon, dass Sie in allen möglichen Läden hier einkaufen waren. Was denken Sie, was wir hier tun? Däumchen drehen? In jedem Geschäft sitzen meine Leute. Winken Sie ruhig mal Carol, der Kellnerin.«

Perplex senkte Minerva den Zauberstab unter dem Tisch und räusperte sich. »Wir hatten keine Ahnung –«

Der buschige Schnurrbart zuckte, als der Detective in Gelächter ausbrach. »Man könnte meinen, der MI5 wäre besser informiert. Ich sage Ihnen etwas, Agentin McGregor: Wir haben den Parlamentssekretär Theo Winters lange überwacht, um mit seiner Hilfe diese Erpressungsaffäre unter Politikern aufzudecken. Bis Mr Winters vor zwei Tagen seinen kryptischen Hilferuf auf einem Einkaufszettel in der Auslage des Gemüsehandels hinterlassen hat. Auf dem wir zudem unbekannte Fingerabdrücke gefunden haben, die eine Verbindung zu einem Vermisstenfall aus Südengland aufzeigen. Seither haben wir uns akribisch darauf vorbereitet, Mr Winters und seine schwangere Frau aus der Hand dieser Verbrecher zu befreien. Egal, was der MI5 sagt – heute Nacht erfolgt der Zugriff. Das sind wir der Familie schuldig.«

Minerva klappte der Mund auf. Ihre Mischung aus Erfindungsgeist und Unwissenheit ließ diese Menschen geradewegs ihrem Verderben entgegenarbeiten. Weshalb hatte sie die Muggelpolizei nur derart unterschätzt? Sie hätte es besser wissen sollen!

»Also – warum glauben Sie, sich einmischen zu müssen?«, fuhr der Detective ungerührt fort. Er beugte sich vor, wobei sein Jackett den Blick auf die Schusswaffe in ihrem Schulterholster freigab. »Hat der Geheimdienst Ihnen ein paar nette technische Spielereien gegeben, dank derer Sie sich überlegen fühlen?«

Ein Blick zu Elphinstone zeigte Minerva, dass er ebenso entsetzt dreinsah wie bei ihrer Enthüllung der Mondlandung. Er starrte auf die Pistole und betastete den Ärmel, in dem sein Zauberstab steckte. Die Hand um ihren Stab geballt, fasste Minerva einen Entschluss, der hoffentlich alle Beteiligten schützen würde – auch wenn das Wie nicht jedem gefallen dürfte.

»Mr Hammond, persönlich gesprochen habe ich den höchsten Respekt für Ihre Arbeit. Doch angesichts der besonderen Lage denke ich, dass eine Zusammenarbeit in aller Sinne wäre. Mein oberstes Interesse gilt der Rettung Unschuldiger. Anderweitige Differenzen haben hierbei keinen Platz.«

Detective Hammond hielt einen Augenblick inne, dann kräuselte sich sein Schnurrbart unter einem Lächeln. »Weise Worte, Agentin McGregor. Ja, ich denke, eine Zusammenarbeit ließe sich arrangieren.«

 

Die Schaltzentrale der Polizei befand sich in einer leerstehenden Wohnung oberhalb der Ladenzeile. Bisher war Minerva der Überzeugung gewesen, dass sie die Muggelwelt kannte, doch die kleinen Monitore und anderen Gerätschaften voller Lämpchen, die Hammonds Leute aufgebaut hatten, erschienen nicht nur in Elphinstones untertellergroßen Augen wie ... Magie. Muggelmagie – der offenbar ein Duftgemisch aus heißem Plastik, Ozon und Kaffee eigen war.

Ein junger Mann hatte ihnen je einen Pappbecher mit der mitternachtsschwarzen Brühe gebracht, kaum dass Hammond sie seinen Leuten vorgestellt hatte. Inzwischen standen sie zu dritt um einen Tisch in der Raummitte herum, auf dem der Detective einen Bogen Papier entrollt hatte, der mit einem Lageplan der Häuserzeile gegenüber bedruckt war.

»Dank unserer Infrarotdetektoren konnten wir feststellen, dass sich neben der Familie Winters bis zu neun fremde Personen in dem Zielobjekt aufhalten«, erklärte Detective Hammond und stützte sich auf den Tisch. »Wobei öfters Personen das Haus verlassen, denn die Wärmesignaturen schwanken tagsüber. Wir verstehen allerdings nicht, wie. Gesehen haben wir nie jemanden, außer eben Mr Winters, den sie vermutlich nur haben gehen lassen, um den Anschein zu wahren – und für sie einzukaufen.«

»Haben Sie auch den Keller überwacht?«, wollte Minerva wissen.

Hammond runzelte die Stirn. »Keller? Davon höre ich zum ersten Mal.«

»Wir haben gehört, wie sich die Nachbarinnen darüber unterhalten haben, dass die Winters vor Kurzem eine Unterkellerung in Auftrag gegeben haben«, behauptete Elphinstone unerwartet. Er zuckte mit den Schultern. »War wohl ziemlich teuer, zumindest haben sie mir einen neidischen Eindruck gemacht, weil sie die Weihnachtsdekoration weiterhin auf dem Dachboden stapeln müssen.«

Minerva beeilte sich, zu nicken, als hörte sie diese Lüge nicht zum ersten Mal. »Nun, die Damen würden anders denken, wenn sie wüssten, dass Mrs Winters dort mit großer Wahrscheinlichkeit gefangen gehalten wird.« Sie stellte ihre Handtasche auf den Boden und kramte zwischen den Phiolen herum, bis sie Robbies Grundriss fand. »Auf Basis von allem, was wir wissen, haben wir diesen Plan angefertigt«, erklärte sie und breitete das Pergament neben dem bedruckten Papier aus.

»Verstehe.« Hammond streichelte seinen Schnurrbart. Skeptisch fuhr sein Blick über die spitzen Tintenlinien. »Wie sicher sind diese Informationen?«

»Der grobe Grundriss stimmt, davon bin ich überzeugt.«

»Nun, dann dürfte das unseren Plan erheblich erleichtern.« Der Detective schnaufte und leerte seinen Kaffee in einem Zug. »Wir hatten ehrlich gesagt damit zu kämpfen, dass unsere Technik wiederkehrenden Störungen unterworfen war. Aber zuletzt haben wir es geschafft, ein Paket mit verstecktem Mikrofon zuzustellen. Trotz der Interferenzen klang durch, dass die Erpresser einen großen Erfolg zu feiern haben. In ihren Worten wollen sie sich heute Abend Mr Winters Whiskysammlung vorknöpfen. Wenn sie dem Alkohol frönen, ist das unsere Gelegenheit, das Haus zu stürmen.«

Minerva warf einen Blick zu Elphinstone, der seinen Kaffeebecher so fest drückte, dass heiße Flüssigkeit über seine Finger tropfte. Er fluchte nicht einmal, sondern nickte ihr nur grimmig zu. An diese wertvolle Information wären sie ohne die Muggeltechnik nie gekommen.

»Nach unserem Zeitplan soll eine Einheit das Haus Punkt 22 Uhr stürmen.« Hammond zog Robbies Plan zu sich heran. »Mal sehen ...«

»Das Badezimmer«, sagte Elphinstone bestimmt und schüttelte die Kaffeetropfen von seiner Hand, bevor er auf einen Raum im vorderen Teil des Hauses tippte. »Das Zimmer ist weit weg vom Wohnzimmer, in dem sich die meisten Personen aufhalten werden. Von dort gelangt man direkt in den Flur, zur Kellertreppe.«

Vor Minervas geistigem Auge tat sich ein Plan auf. »Ja. Noch besser, wenn wir uns aufteilen«, bekräftigte sie mit einem Blick zu Elphinstone. »Durch die Gartentür gelangt man ins Wohnzimmer, ebenso wie durch die Küche. So können zwei Gruppen die Erpresser beschäftigen, sofern es nötig ist, während eine dritte Einheit die Gefangenen im Keller befreit. Egal, was hinten passiert – sie können durch die Haustür in Sicherheit gebracht werden.«

Detective Hammond nickte langsam. »Einverstanden. Wir riegeln die Straße weitgehend ab, dann können uns Scharfschützen von hier aus Deckung geben. Ich gehe davon aus, dass Sie beide mitkommen werden?«

»Sicher und wenn es sich einrichten lässt auch Kollegen von uns«, erwiderte Minerva, das Foemicus-Band an ihrem Handgelenk reibend.

»Dann werde ich meine Leute in Kenntnis setzen. Einsatzbesprechung um 20 Uhr, hier.«

»Oh, eine Bitte noch, Mr Hammond – dürften Agent Hastings und ich uns wohl Ihre Aufnahmen aus dem Haus der Winters anhören?«

Der Detective zuckte mit den Schultern. »Ich sag’s offen heraus – das Zeug ist größtenteils unbrauchbar. Ständiges Rauschen und wenn man etwas versteht, benutzen die Erpresser offensichtlich Codes, die fantasievoller sind als der Kram, den Tolkien geschrieben hat. Ehrlich, ich wüsste nicht, was es bringt. Aber wenn Sie wollen ...«

»Unbedingt.«

Da Detective Hammond seine Leute für den Einsatz vorbereitete, brachte einer seiner Männer Minerva und Elphinstone in ein Nebenzimmer. Er legte ihnen einen Stapel Tonbänder hin, ehe er wortlos entschwand und sie mit einem Abspielgerät voller mysteriöser Knöpfe alleine ließ.

Eine Weile starrte Elphinstone die Apparatur an, als erwarte er, dass sie zubiss, dann zückte er den Zauberstab und imperturbierte die Tür. Seufzend wandte er sich Minerva zu. »Was tun wir hier?«

»Das Richtige?« Minerva drückte wahllos Knöpfe an dem Gerät. »Jedes Fitzelchen Information über unsere Gegner ist Koboldgold wert. Und wir müssen diese Menschen davor bewahren, einen Fehler zu machen, der sie ihr Leben kosten wird.«

»Damit meinst du, dass wir ihnen Schlaftrank in den grässlichen Kaffee mischen und diesen Plan ohne sie in die Tat umsetzen, richtig?«

»Phin ...« Ihre Finger trommelten auf das Plastik, während Minerva ihn ansah. »Du siehst selber, welche Möglichkeiten sie haben. Vielleicht kann uns ihre Technik mehr helfen, als wir denken. Damit wird Blacks Bande nicht rechnen.«

»Schon ... aber wie ist das überhaupt möglich?« Elphinstone deutete auf den Stapel Tonbänder. »Wie kann das die Schutzzauber durchdringen, an denen wir uns fast die Zähne ausbeißen?«

»Es gibt Orte, an denen Technik grundsätzlich nicht funktioniert, wie Hogwarts oder die Winkelgasse. Ich nehme an, dort ist die magische Konzentration zu groß. Richtig erforscht wurde das nie. Aber ein einzelner magischer Haushalt dürfte etwas anderes sein.« Minerva drückte einen weiteren Knopf und lautes Quietschen erklang. Hastig hämmerte sie auf die Taste, um es zum Schweigen zu bringen. »Meine Eltern haben genug elektrische Geräte, die einwandfrei funktionieren. Das Rauschen, von dem Detective Hammond gesprochen hat, ist vermutlich auf die Schutzzauber zurückzuführen. Doch solche technischen Möglichkeiten wurden bei der Kreation dieser Banne schlicht nicht mitbedacht. Wenn du so willst, ist es der Zauber von Muggeltechnik, dass sie trotzdem funktioniert.«

Endlich fand sie den richtigen Knopf und setzte eine Aufnahme in Gang, die den Raum mit Bellatrix Blacks Erklinglache erfüllte. Detective Hammond hatte recht – die Tonspur war ähnlich in Mitleid gezogen wie Caius’ vernebelte Erinnerung. Abgehackte Wortfetzen ließen nur erahnen, was Black und ihre Gefolgsleute den Gefangenen antaten. Doch die paar verständlichen Worte reichten. Blutsverräter, Reinheit, Schlammblüter. Unwillkürlich schüttelte Minerva sich und stoppte das Band. Warum hatte sie im Verwandlungsunterricht nie bemerkt, wie grausam das Mädchen war?

Elphinstone ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. »Ich weiß, dass die Lage unser Eingreifen erfordert. Aber können wir diese Polizisten guten Gewissens da mithineinziehen? Wir haben keine Ahnung, was uns in dem Haus erwartet.« Sein Blick streifte ihre verwandelten Locken und er strich eine davon über ihre Schulter. »Ich will nicht, dass du dir am Ende Vorwürfe machst, Min.«

Die Geste löste ein Prickeln auf Minervas Kopfhaut aus, bei dessen unpassender Intensität sie fast wünschte, ihr Haar hochgesteckt zu haben. »Wir brauchen Unterstützung. Neun mögliche Entführer – selbst mit Mulcibers und Pippas Hilfe sind das zu viele für uns. Auf das Ministerium brauchen wir nicht warten, solange sie mit den Ausschreitungen in London beschäftigt sind.« Elphinstone öffnete den Mund, doch sie sprach schnell weiter. »Die Muggel haben eigene Waffen. Du siehst ja, wie effektiv manches gegen Magie ist. Hinterher kann die Patrouille sie immer noch oblivieren. Oder meinetwegen Mulciber. Aber wir müssen die Gefangenen retten, sonst könnte es bald zu spät sein. Der Junge ist elf, Phin. Elf

Mit einem Seufzen schloss Elphinstone die Augen. »Ich sage es nicht gerne, aber wir sollten zumindest mit Mulciber reden, bevor wir irgendetwas entscheiden.«

Das war wenigstens keine Ablehnung, also beschied Minerva sich darauf, ihm zuzunicken, ehe sie die Wiedergabe erneut startete. Elphinstone schwieg, doch ihre Hand ließ er nicht los.

»Wie lange noch?«, verlangte Rowle in der Aufnahme zu wissen. »Ich stinke schon wie eine dieser Ratten!«

»Geduld ist eine Tugend, die dir gut zu Gesicht stünde«, erwiderte eine Stimme, die Minerva dem Zauberer zuschrieb, den Bellatrix Black so süffisant als ‚Liebsten’ bezeichnet hatte. »Keine bedeutende Forschung hat über Nacht zur Blüte gefunden.«

Rauschen, Knarzen – vielleicht Schritte. Das folgende Kichern gehörte eindeutig Bellatrix Black.

»Und doch gelangt man nicht zu Ergebnissen, wenn man niemals begierig darauf ist, solche zu erzielen. Ich kann dich beruhigen, Thorfinn. Die kleine Blutsverräterin wird es nicht mehr aufhalten. Und wenn ich unseren Probanden selber holen muss, wir halten bald alles in den Händen. Sie ist stark genug, dass es überleben wird.«

Minerva sah den Dolch aus Theos Erinnerung vor sich aufblitzen. Instinktiv drückte sie Elphinstones Hand fester, als Blacks Komplize erneut sprach.

»Es wäre mir lieber, wenn es auf natürlichem Weg geschieht, Bella. Wir brauchen sie unversehrt. Der Zauber könnte einen geschwächten Körper auslaugen, bevor wir merken, ob er richtig wirkt. Ohne ihr vollmagisches Blut stünden wir wieder am Anfang.«

Gleichmütig wandte Rowle ein: »Ich habe noch Blutbildungstrank, der sie stärken wird, wie schon die Muggel.«

»Trotzdem warten wir noch ein wenig länger!«, zischte der andere Zauberer. »Wir dürfen es auf den letzten Schritten nicht übereilen, wenn wir Geschichte schreiben wollen.«

Danach folgte nur ein Knacken, als das Band zum Ende gelangte. Keine der nachfolgenden Aufnahmen brachte mehr Erkenntnisse über den Blutfluch. Doch Minervas Entschluss stand fest. Heute Nacht würden sie einschreiten.

 

»Nein. Ausgeschlossen.« Knisternde Funken und glühende Holzscheite verliehen Mulcibers Gesicht, das aus dem Kamin des Brettspielladens zu Minerva aufsah, einen besonders grimmigen Ausdruck.

»Also hast du eine bessere Idee, ja?«

»Nein! Aber das ist ...«

»Verzweifelt?«, schlug Elphinstone vor.

Mit in die Hüften gestemmten Händen starrte Minerva ihn an.

»Tut mir leid, aber es ist die Wahrheit.« Er hob hilflos die Schultern. »Ich meine –«

»Verschone mich!«, fauchte sie und wandte sich ab. »Ich werde jedenfalls nicht zusehen. Ihr beide wisst, wozu die Muggel fähig sind. Immerhin seid ihr alt genug, um euch an ihren verfluchten zweiten Weltkrieg zu erinnern. Ihr wisst vermutlich besser als ich, dass ein Muggel mit Pistole genauso effektiv ist wie ein Zauberer mit dem Todesfluch.«

»Du willst also ein paar Lämmer zur Schlachtbank führen?«, resümierte Mulciber aus dem Feuer.

»Ich werde Leben retten!«

»Und Muggel opfern, um ein paar Schlammblüter zu retten.«

Minerva ballte die Fäuste. »Wie kannst du nur – du widerwärtiger, wurmbefallener, wichtigtuerischer ...! Wenn man gar nichts tut, hat man schon verloren. Nur weil die Auroren das Muggelparlament schützen müssen, werde ich nicht aufgeben. Es ist ja nicht so, als wüssten die Polizisten nicht, dass ihr Einsatz gefährlich ist. Merlin, es ist auch für mich gefährlich. Aber das hält mich nicht auf!«

Elphinstone legte eine Hand auf ihre Schulter. Wütend wischte Minerva diese fort und trat einen demonstrativen Schritt zur Seite. Er seufzte leise.

»Es ist deine Entscheidung, Alston. Ich werde hingehen, wo Minerva ist«, erklärte Elphinstone geduldig. »Denn egal wie verzweifelt der Plan ist – es ist ein Plan. Jeder zusätzliche Zauberstab hilft.«

Mulciber bewies einmal mehr, dass Augenrollen seine Paradedisziplin war. »Ihr beide werdet noch mein Tod sein«, murmelte er. Mit einem Ploppen verschwand sein Kopf und die orangenen Flammen schlugen in grelles Grün um. Keine Sekunde später erhob sich Mulciber in voller Größe vor Minerva und Elphinstone, die Arme vor der Brust verschränkt. »Wehe, ich bereue das.«

Sein Augenlid zuckte, als Minerva ihm den Zauberstab unters Kinn bohrte. »Eine falsche Bewegung und du bist eine Nacktschnecke«, zischte sie. »Also halt besser still, während ich dich verwandle. So kannst du nicht rumlaufen.«

Er rollte zwar erneut mit den Augen, doch sie spürte, wie sein Adamsapfel unter ihrem Zauberstab hüpfte. Ungerührt drehte sie den Stab und Mulcibers dunkles Haar wurde heller, bis es orangerot schimmerte. Um das Bild abzurunden, verpasste sie ihm Locken. Mit der Frisur nebst Sommersprossen hätte er zur Weasley-Familie gehören können. Minerva war sicher, dass er es hassen würde.

Und tatsächlich – sobald Mulciber ihr Verwandlungswerk in der Spiegelung auf der Schaufensterscheibe bemerkte, griff er sich stöhnend an die neue Haarpracht. Ein letztes Schnippen ihres Zauberstabs verpasste ihm ein Paar Segelohren, die seine Eitelkeit zusätzlich quälen würden, ehe sie allen voran aus dem Laden stolzierte.

Zurück in der Muggelzentrale war es ein leichtes, den widerlichen Kaffee in einem unbeobachteten Moment mit dem Melionwurztrank zu versetzen. Vermutlich hob das den Geschmack der Plörre noch, denn die Polizisten kippten sie herunter, als sei es leckeres Goldlackwasser.

Damit sich die Tränke nicht gegenseitig beeinflussten, träufelte Minerva den Resistenztrank kurzerhand auf die Gebäckteilchen, die zu ihrer Einsatzbesprechung gereicht wurden. Es reichte gerade so, um alle Muggel zu schützen. Elphinstone, Mulciber und sie würden sich alleine auf ihren Zauberstab verlassen müssen. Aber im Ministerium oder Gringotts war es schließlich genauso gewesen – kein doppelter Boden, keine Tränke, nur ihre Fähigkeiten.

Zu ihrer Überraschung reichte Detective Hammond ihnen im Anschluss zur Besprechung allerdings schusssichere Westen sowie Funkgeräte. Mulciber murmelte etwas davon, lieber zu sterben, anstatt in so einem Aufzug gesehen zu werden, doch Minerva erkannte darin ihre Chance. Während um sie letzte Vorbereitungen getroffen wurden, zog sie beide Zauberer mit sich ins Nebenzimmer. In aller Kürze erläuterte sie ihnen, dass die Westen mit einem modifizierten Schildzauber eventuell nicht nur vor Kugeln, sondern auch Flüchen schützen könnten.

Die Zeit bis zum Einsatz blieb knapp bemessen, aber letztlich war es nichts anderes, als bis zum Abgabeschluss über einem Aufsatz für Verwandlung heute zu sitzen. Minerva steckte ihre Haarpracht hoch und schnappte sich einen Bogen Schreibmaschinenpapier, den sie zu dritt mit Verwandlungsmatrizen füllten.

Gleichwohl Mulciber ein grausiger Zaubertheoretiker war, stellte er doch seine List darin unter Beweis, ihren provisorischen Zauber über die Einheiten zu verteilen, bevor sie Position bezogen. Ob es funktionierte, würde sich zeigen.

Sie mussten die am besten geschützte – und einzige – Einsatztruppe aus magischen und nichtmagischen Menschen sein. Doch nicht einmal diese Gewissheit verhinderte, dass Minervas Hände furchtbar schwitzten, als sie den verbliebenen Trank einnahm, der ihre zaubersensitive Aura verbergen würde.

Auf dem Weg hinüber zur Haus Nr. 42 fasste Elphinstone sie sanft am Ellenbogen. Er brauchte nichts sagen, die Sorge in seinem Blick reichte. Am liebsten hätte Minerva ihn an Ort und Stelle in die Arme geschlossen und nicht wieder losgelassen. Stattdessen versuchte sie ein zuversichtliches Lächeln.

»Agent Mulciber nach hinten. Agent Hastings, dort rüber bitte, Sie gehen mit durch die Küche. Und Agentin McGregor, Sie kommen mit mir«, durchbrach Detective Hammond den Moment. Seine Männer bezogen bereits im Garten des Nachbarhauses Stellung.

Mulciber drehte sich mit verräterisch zuckenden Mundwinkeln um. Er wartete, bis Hammond voranging, dann murmelte er: »Ihr wollt mich doch verarschen. Das sind eure Decknamen? Die Nachnamen eurer Ex-Verlobten? Merlin, ist das traurig ...«

Elphinstones Griff an Minervas Arm versteifte sich. »Alston, es tut mir wirklich leid, dass du seit dem Tod deiner Ehefrau so einsam bist, aber das heißt nicht, dass wir deinen Frust ertragen müssen«, gab er frostig zurück. »Es ist acht Jahre her. Ernstgemeinter Rat – such dir Hilfe.«

Zum ersten Mal erlebte Minerva, dass Alston Mulciber keine Erwiderung auf den Lippen lag. Knirschend presste er die Kiefer aufeinander und verschwand in Richtung Garten. Sie war ebenso sprachlos, aber aus anderem Grund. Von Elphinstones früherer Verlobung hörte sie zum ersten Mal.

»Das war fies, nicht wahr?« Ein Seufzen entkam Elphinstone. »Merlin ... es tut mir jetzt schon leid. Das hätte ich nicht sagen sollen.«

Sie antwortete mit Achselzucken. »... er hat es wohl provoziert, schätze ich ... du weißt ja, wie er ist ...« Bevor sie noch über ihre Worte stolperte, wandte sie sich ab, um Hammond zu folgen.

»Es tut mir leid –«

»Wie gesagt, Mulciber überlebt das schon.«

»Das meine ich nicht.«

Zögerlich griff Elphinstone nach ihrem Unterarm. Er hielt sie nicht wirklich fest, doch die Berührung reichte, damit sie nicht weiterging, sondern sich noch einmal umdrehte.

»Ich wollte nur sagen, dass ... Was immer Mulciber hier gerade impliziert hat, er liegt falsch. Der Name war einfach nur der Erste, der mir in der Situation eingefallen ist. Immerhin hast du mir quasi die Muggelpistole auf die Brust gesetzt!«

»Ah, Phin ...« Beschwichtigend legte Minerva ihrerseits eine Hand auf seinen Arm. »Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich bin doch ebenso hoffnungslos.«

»Trotzdem. Ich weiß auch nicht, warum ich dir nie erzählt habe, dass ich mal fast geheiratet hätte.«

»Ist ja nicht so, als wenn ich irgendwie ein Anrecht auf diese Information hätte, so als deine ehemalige Auszubildende.«

»Nein, aber als Frau, der ich zehn Anträge gemacht habe. Ich will auch nur sagen ... das war vorher. Lange vorher. Die Beziehung mit Archie ist aus und vorbei, seit über 15 Jahren.« Ein schwerer Seufzer entwischte ihm. »Wir waren seit der Schulzeit ein Paar, unsere ganze Ausbildung über. Aber als du in meine Abteilung kamst, war es längst vorbei. Deshalb habe ich nie von ihm erzählt. Und abgesehen davon ... gehören meine Gefühle nicht mehr ihm.«

»Und selbst wenn doch, es geht mich nichts an. Immerhin bin ich die Frau, die zehnmal ‚Nein‘ gesagt hat.«

Dieses Gespräch war zu intim, zur falschen Zeit. Am liebsten hätte Minerva Mulciber nachträglich noch in eine Nacktschnecke verwandelt.

Elphinstone redete allerdings weiter, als wäre ein Stein ins Rollen gekommen, der nun ungebremst einen Hang hinab jagte. »Trotzdem, du verdienst die Wahrheit. Weil ich es so will. Vielleicht ist es sogar gut, wenn du es jetzt erfährst, bevor wir losziehen und weiß Merlin was passiert.«

Selbst im fahlen Mondlicht erkannte Minerva, dass seine Ohren pink leuchteten, als er sich auf die Unterlippe biss.

»Die Wahrheit ist, dass Archie mich nur ein paar Tage vor der Hochzeit verlassen hat. Wir hatten alles bereit – die Papiere, unsere Anzüge, die Ringe ... und dann war er plötzlich weg. Merlin, ich dachte bis zuletzt, dass er nur angespannt wäre, weil er als Muggelgeborener mit dem Hass einer Gesellschaft aufgewachsen ist, die zwei Männer im Gegensatz zur Zauberwelt nicht heiraten, geschweige denn einander lieben lässt. So wie seine Eltern, die nie akzeptiert haben, dass ihr Sohn nicht nur zaubern kann, sondern auch schwul ist. Dabei ... lag es einfach an mir. Daran, dass ich nach all der Zeit nicht mehr seine Gefühle wert war.«

Betreten presste Minerva ihre Lippen aufeinander. Diesen stillen Schmerz in Elphinstones Augen ertrug sie nicht. Zu sehr erinnerte er an ihre Schuld gegenüber Dougal.

»Manchmal ... frage ich mich, ob wir zu lange gewartet haben«, fuhr Elphinstone fort. Sein Blick huschte zu den Muggelpolizisten, die schon Stellung bezogen hatten, dann zurück zu ihr. »Ob wir uns ehrlicher um die Beziehung bemüht hätten, wenn wir bereits verheiratet gewesen wären.«

Sie drückte seine Hand. »Oh Phin ...«

»Schon gut. Ich weiß, dass es nutzlos ist, darüber nachzudenken. Es ist nur – was ich damit sagen will: Es tut mir leid, dass ich dich quasi dazu gezwungen habe, zehn Mal ‚Nein‘ zu mir zu sagen. Ich sollte mir wohl eingestehen, dass ich mich hinter dieser erwartbaren Ablehnung nur vor meiner Beziehungsangst verstecke.«

Minerva sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Aber du hast früher andere gedated, als wir noch zusammengearbeitet haben –«

»Und ich bin wieder verlassen worden.« Heiserkeit schlich in Elphinstones Stimme. »Jedes Mal. Meist hat es nicht mal ein halbes Jahr gehalten. Aber egal. Ich weiß jedenfalls, dass keine so stolze Frau wie du den erstbesten Heiratsantrag annimmt, den ihr irgendein Idiot macht. So fangen die wenigsten guten Beziehungen an. Und es tut mir ehrlich leid, dass ich versucht habe, rückwärts zu zaubern.«

Ihr typisches, amüsiertes wie empörtes Schnauben blieb Minerva auf halbem Wege stecken, doch ihre Mundwinkel zuckten verräterisch. »Nun, du warst nicht der erstbeste Idiot, eher der zweitbeste«, sagte sie schließlich.

Mit niedergeschlagenen Lidern brummte Elphinstone einigermaßen belustigt auf. »Dougal McGregor, hm?«

»Ja. Und wie es mit ihm geendet ist ... Es ist wohl gut für dich, dass ich nie ‚Ja‘ gesagt habe.« Sie spürte Elphinstones Daumen über ihren Handrücken kreisen. »Nun ... Die Dinge sind, wie sie sind – und das ist in Ordnung. Vielleicht sogar besser so. Ich bin dir nicht böse. So wie du Archie nicht länger liebst, liebe ich Dougal schließlich auch nicht mehr. Deckname hin oder her.«

Die Erkenntnis war ausgesprochen, bevor Minerva ihrer Bedeutung gewahr wurde. Aber es stimmte. Bei ihrer letzten Begegnung hatte Dougal McGregor zum ersten Mal kein Schnatzjagdgefühl mehr in ihr erweckt.

Sie gab dem Drang nach und schlang die Arme fest um Elphinstone. Nur für einen Moment wollte sie noch in seiner Wärme baden.

»Lass uns den Entführern gehörig in den Allerwertesten treten, ja?«

Dissonanz

Der Himmel über Leeds kannte kein Erbarmen. Ein neuerlicher Regenschauer durchnässte Muggel wie Magiebegabte beim Beziehen ihrer Positionen rund um Haus Nr. 42. Dank der Wolken erhellte nichts die Nachbargärten, abgesehen vom Schein ferner Straßenlaternen. Nur besonders aufmerksamen Augen konnte auffallen, dass die Schatten hinter der Hecke keine Büsche waren, sondern drei ungleiche Eingriffstruppen. Davon war Minerva überzeugt. Dennoch ertappte sie sich dabei, auf der Unterlippe zu kauen. So weit war es zuletzt vor ihrem lange vergangenen Endspiel gegen Slytherin im Quidditchcup gekommen – und das hatte mit gebrochenen Rippen sowie einer empfindlich hohen Niederlage geendet. Dass dieses Mal nicht bloß Stolz, sondern unschuldige Leben in Gefahr waren, ließ sie trotz aller Selbstermahnung Blut schmecken.

Detective Hammond musterte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen, als er ihr Seufzen vernahm. Nicht zum ersten Mal in den letzten Minuten fuhr sein Blick über Minervas Aufmachung, die sie deutlich von den Polizisten abhob. Die verzauberte Schutzweste verbarg sich unter ihrem geliebten grünen Umhang und die zurückverwandelten Haare trug sie jetzt wieder ordentlich hochgesteckt. Einzig die praktischen Jeanshosen entstammten noch der Muggelmode. Falls Elladora recht hatte – und daran zweifelte Minerva nicht – würden alle Verwandlungszauber von dem Schutzbann aufgehoben werden. Diesen schockierenden Anblick ersparte sie den Muggelpolizisten lieber, von daher trat sie nun als ihr gewöhnliches Selbst auf, bis hin zu dem Zauberstab, auf dessen Griff ihre Finger einen ungeduldigen Rhythmus trommelten.

Das Holz zog Hammonds Aufmerksamkeit an, doch sobald er bemerkte, dass Minerva seinen Blick erwiderte, sah er wieder durch die Hecke neben ihm. »Wo ist eigentlich Ihre Waffe?«, wollte der leitende Ermittler schließlich wissen.

»Direkt hier«, erklärte Minerva und drehte den Zauberstab durch ihre Finger. »Eine etwas andere Herangehensweise als Ihre Pistolen, aber ebenso effektiv. Was auch immer gleich dort drinnen geschieht – bleiben Sie bitte einfach hinter mir, in Ordnung?«

Die Problematik des Zauberstabeinsatzes hatte sie mit Elphinstone und Mulciber lange diskutiert, ohne eine Übereinkunft zu finden. Letztlich wären weder Erklärungsversuche noch Geheimniskrämerei hilfreich. Minerva hoffte schlicht, dass unter dem Adrenalinrausch des Einsatzes keine Zeit für Verwunderung blieb. Im Anschluss konnte Mulciber das tun, worin er am besten war – sämtliche Polizisten oblivieren.

Die buschigen Augenbrauen von Detective Hammond näherten sich einander bei der Betrachtung ihres Zauberstabs weiter an. »Verzeihen Sie, aber das sieht aus wie ... nun, ein Holzstab. Erzählen Sie mir jetzt nicht, dass es wie einer von James Bonds Kugelschreibern ist und Sie damit kleine Giftpfeile verschießen können.«

»Ah, lachen Sie nicht, aber ... so in der Art -«

»Ehrlich?« Hammonds Augenbrauen vollführten einen Tanz, als sie nun vor Erstaunen auseinander und die Stirn hinauf wanderten. »Ich hab das immer für Fantasiekram gehalten!«

Angesichts seiner beinahe kindlichen Aufregung lächelte Minerva schwach. »Jede Fantasie trägt einen Funken Wahrheit in sich. Es gibt keine Giftpfeile, aber ich kann damit jemanden betäuben oder ... töten. In jedem Fall ist mein Stab genauso zuverlässig wie Ihre Schusswaffe. Es könnte sein, dass unsere Gegner ebenfalls solche Waffen bei sich tragen. Davon dürfen Sie sich nicht irritieren lassen. Wenn jemand damit auf Sie feuert, ist das genauso gefährlich wie ein Pistolenschuss.«

»Na schön ...« Der Detective warf einen langen Blick auf den Zauberstab. »Das muss ich Ihnen wohl glauben. Danke.« Er trat beiseite, damit Minerva die Führung übernehmen konnte, und aktivierte knisternd sein Funkgerät. »An alle Einheiten – bereit?«

Über ihr eigenes Gerät, das an der Schutzweste steckte, hörte Minerva, wie die anderen Gruppen seine Frage bestätigten. Irgendwo bei ihnen waren Elphinstone und Mulciber. Diese Gewissheit beruhigte und besorgte sie gleichermaßen.

Hammond nickte ihr zu. »Wir gehen los. Die übrigen Einheiten folgen auf mein Signal, sobald wir drinnen sind.«

Mit einem tiefen Atemzug trat Minerva näher an die Hecke. Ihr letzter Gedanke, bevor sie den Bann übertrat, galt Elphinstone, dessen Gruppe zusammen mit Mulcibers die Entführer stellen würde. Bedrückt strich sie über den blauen Strang ihres Foemicus-Bandes. Elphinstone war ein fähiger Duellant. Sie konnte sich auf ihn verlassen. Und doch betete sie, dass ihm nichts geschehen würde. Gemeinsam mit den himmelwärtsgewandten Worten gab Minerva die Sorgen frei. Der Einsatz verlangte volle Aufmerksamkeit.

Bedacht schob sie ihren Zauberstab zwischen die Blätter der Hecke. Die andere Hand umschloss das Gegenstück zur Geheimnisaufspürsonde. Falls sich drinnen etwas regte – oder die Schutzzauber unvermittelt anschlugen – würde der Alarm sie hoffentlich rechtzeitig warnen. Doch kein Pfeifen schrillte durch die Nacht, als sie den ersten Bann überbrückte. Nein, Minerva fühlte nicht einmal das Kribbeln von Magie. Sie zwängte sich Stück für Stück durch die Äste, ohne, dass etwas geschah.

Ein paar Herzschläge lang verharrte sie reglos. Wartete auf das Zuschnappen einer Falle. Alles blieb ruhig. Erleichtert bedeutete sie Hammond und seinen drei Männern, ihr zu folgen. Geduckt huschten sie über das nasse Gras hinüber zu dem Haus Nr. 42. Hinter den geschlossenen Gardinen war kein Lichtschimmer zu erahnen. Wenigstens hatte Mulciber geschworen, die Verbindung zum Flohnetzwerk höchstpersönlich gekappt zu haben. Sonst wäre Minerva der Befürchtung erlegen, dass sie zu spät kamen.

Im Schutz der Hauswand tastete ihre Gruppe sich zum Einstiegspunkt voran. Das Badezimmerfenster war nicht das größte, dafür konnte man durch das Milchglas erahnen, dass der Raum dahinter leer war. Im Gegensatz zum ersten Schutzbann prickelte hier die Anwesenheit von dunkler Magie wie schäumendes Wasser an Minervas Nerven. Selbst die Muggelpolizisten rieben sich voll offenkundigem Unbehagen Arme und Nacken.

Zur Warnung hob Minerva eine Hand. Detective Hammond und die Polizisten blieben hinter ihr zurück. Sie zog einen eingewickelten Zitronenbonbon aus der Umhangtasche (irgendwie schaffte Albus‘ liebste Muggelsüßigkeiten es immer, dort drinnen zwischen einzelnen Knuts in Vergessenheit zu geraten) und warf ihn gegen das Fenster. Wie bei einem Stein, der über Wasser hüpfte, breiteten sich in Ringform violette Wellen auf dem Glas aus, als der Bonbon mit einem Klackern dagegen schlug. Außer dem Pochen ihres eigenen Herzens hörte Minerva nichts. Das Einwickelpapier des Bonbons war vollkommen unbeschädigt, also überbrückte sie die letzten Zentimeter zu dem Melionwurzbann. Zeit, Elphinstones Schutztrank einem Praxistest zu unterziehen.

Minerva presste ihre Fingerspitzen auf das kühle Glas. Einige Wimpernschläge lang glühte es erneut violett. Ihr war, dass der Regen kälter wurde, und in der Ferne hörte sie eine Dissonanz aus Fauchen und Zischen. Dann schnellte etwas gegen ihre Finger zurück, einem reißenden Gummiband gleich. Im selben Augenblick schwand das Glühen. Testweise legte sie die ganze, verschwitzte Handfläche an das Glas. Erneut passierte ... nichts.

Der zweite und weitaus gefährlichere Schutzbann war überwunden. Minerva merkte erst, dass sie die Luft angehalten hatte, als ihre Lungen schmerzend nach mehr verlangten. Um Fassung bemüht lehnte sie sich gegen die Hauswand. »Die Alarmanlage wird nicht anschlagen«, erklärte sie ihren Begleitern knapp.

Auf Hammonds Nicken hin machte sich einer der Polizisten mit einem Kreisschneider an dem Fenster zu schaffen. Nur ein leises Knirschen drang von dem Glas, während die Klinge mit jeder Umrundung tiefer hineinschnitt, bis der Mann ein handtellergroßes Stück aus der Scheibe hob. Flugs schob er den Arm durch das entstandene Loche und öffnete die Verriegelung von innen.

Minerva sah auf die Taschenuhr mit Verbindung zur Geheimnisaufspürsonde hinab. Das Ziffernblatt strahlte weiterhin weiß. Zum ersten Mal an diesem Tag hoffte sie nicht bloß, dass die ‚Muggelmagie‘ ihr großer Trumpf sein würde – sie war überzeugt davon. Solange sie keine Magie nutzten, blieben sie unbemerkt.

Den Männern voran stemmte sie den Fuß gegen die Steinmauer und zog sich am Fensterrahmen hoch. Wie gerne hätte sie sich jetzt in Katzengestalt bewegt. Die samtweichen Pfoten der Animagusform wären flüsterleise. Ihre menschlichen Bemühungen hingegen erschienen so laut, als würde klapperndes Blech an ihrem Umhang jede Bewegung verkünden. Im Bad landete Minerva auf dem – zum Glück geschlossenen – Klodeckel. Nur schemenhaft erkannte sie das Waschbecken und einen Medizinschrank vor sich. Den Zauberstabarm ausgestreckt, tastete sie sich in den verlassenen Raum vor. Gedämpfte Geräusche mischten sich in das Regenprasseln von draußen. Gelächter. Unter der feuchten Robe lief es ihr kalt den Rücken hinab.

Einmal mehr bedauerte Minerva die Abwesenheit ihrer geschärften Katzensinne. Sie verstand die Stimmen genauso wenig, wie sie sah, wohin sie trat. Endlich stießen ihre Finger auf Handtücher an einem Trockengitter. Sie arbeitete sich daran bis zur Tür vor, während hinter ihr Hammond und Begleiter durch das Fenster kletterten. Zaghaft legte Minerva die Fingerspitzen an den Türknauf. Auch hier jagte kein lähmender Blitz oder ein anderer Fluch durch ihre Nerven. Stattdessen drehte sie und mit einem Klicken öffnete sich das Schloss.

In ihrer Brust hämmerte das Herz wie bei der ersten Verwandlung in ihrer UTZ-Prüfung. Allerdings hatte ihr Schicksal damals allein in ihrer Hand gelegen und sie jeden Schritt auf dem Weg zum Animagus mit Sorgfalt befolgt. Jetzt hingegen rechnete sie fast damit, hinter der Tür von Bellatrix Black und ihrem blutigen Dolch überrascht zu werden. Sie warf einen weiteren Blick auf die Taschenuhr. Im Dunkeln war es schwer, auszumachen, ob die Farbe eventuell zu mattem Rosa wechselte.

»Das Küchenteam sollte ebenfalls einsteigen und sich bereithalten«, flüsterte sie an Detective Hammond gewandt.

Er nickte und verteilte den Befehl weiter. Aus seinem Funkgerät rauschte es leise, ehe er die verzerrte Bestätigung erhielt. Rasch verdeckte er den Lautsprecher mit den Fingern. Die Schutzzauber zeigten bereits Wirkung auf die Technik.

Ihre Zunge klebte Minerva trocken am Gaumen, als sie die Tür zurückzog. Niemand wartete, nur der dunkle Flur lag dahinter. In greifbarer Nähe erkannte sie die Kellertreppe. Obwohl sie zum ersten Mal hier war, kam das Haus ihr vertraut vor. Der Eindruck fremder Erinnerungen in ihrem Kopf verwirrte sie, erweckte irrationale Angst. In Gedanken sah sie wieder, wie Theo Winters diese Treppe hinabgezerrt wurde. Obwohl nur das Foemicus-Band über ihre Haut rieb, hatte sie das Gefühl, ebenfalls am Handgelenk gepackt zu werden.

Der verzierte Griff ihres Zauberstabs bohrte sich in Minervas Handfläche und brachte ihre Gedanken zu der Mission zurück. Am anderen Ende des Hausflurs – wo es ins Wohnzimmer ging – erhellte ein schmaler Lichtstreifen den Teppichboden. Stimmgewirr drang hinter der Tür hervor, hin und wieder unterbrochen von Lachen. Sie hörte Gläser klirren. Die Entführer feierten tatsächlich.

So leise wie menschenmöglich, schlich Minerva zur Kellertreppe. Am Fuß der Stufen befand sich ein kleiner Vorraum mit einer Eisentür. Erneut nahm sie den Zitronenbonbon und warf ihn. Wie eine Springbohne kam die Süßigkeit von dem dunkelgrün lackierten Metall zurückgehüpft. Die Tür war imperturbiert, aber nicht mit weiteren Schutzvorkehrungen belegt. Sie winkte und die Polizisten folgten ihr die Treppe hinab.

Bei der Tür angelangt verließ das Glück sie zum ersten Mal. Verschlossen. Ungeduldig rieb Minerva ihr Handgelenk, an dem sie immer noch einen phantomhaften Griff spürte. Der Mann, der schon den Kreisschneider eingesetzt hatte, zog jetzt einen Metallstift aus einer Gürteltasche. Er kniete sich vor das Schloss und stocherte darin herum, wie sie einst bei Dougal und einem versehentlich versperrten Scheunentor gesehen hatte. Sein Werkzeug war allerdings eine ihrer Haarnadeln gewesen. Gelegentlich stieß der Polizist missmutig die Luft aus oder seufzte leise, doch schließlich ertönte ein Klicken und er schob die Tür nach innen.

Mit gezückten Waffen traten sie in den Kellerraum. Schwärze wie aus dem Tintenfass begrüßte sie. Minerva kniff die Augen zusammen. Im Flur hatte sie gedacht, sich an die Dunkelheit gewöhnt zu haben. Ihr Handgelenk juckte vor Nervosität. Wo waren die Gefangenen? Das verfluchte Brennen auf der Haut vernebelte ihr Denken. Sie schob die Finger unter das Stoffband und kratzte, doch das half kein bisschen. Der Käfig musste links sein. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, aber mit jedem Schritt drückten die Schatten fester gegen ihre Augäpfel. Als hätte jemand den Keller aus der Existenz gerissen ... Blut von ihrem aufgekratzten Handgelenk benetzte ihre Fingerspitzen. Diesen Gedanken hatte sie bereits einmal gehabt!

»Runter!«, zischte sie.

Eine Finsternisschote! Natürlich! Kalter Beton empfing Minerva, die zu Boden stürzte. Keine Sekunde später schoss ein roter Lichtstrahl über sie hinweg. Die Entführer mussten sie beim Schlossknacken gehört haben und waren vorbereitet.

Neben Minerva rauschte Detective Hammonds Funkgerät. »Zugriff!«, bellte er hinein. »Angriff im Keller!«

Aus Minervas eigenem Gerät antwortete nur Knirschen und Knacken. Den Zauberstab fest umschlungen, kroch sie in Richtung von Hammonds Stimme. Die Taschenuhr hatte sie verloren, doch nicht einmal jetzt warnte sie der Alarm. In der Dunkelheit stieß ein Polizist leise Verwünschungen aus. Weitere Flüche kamen aus der Tiefe des Kellers und Minerva schuf eine Schutzbarriere, ein paar Fuß vor ihnen. Jemand riss einen Klettverschluss auf, dann flog etwas von hinten durch ihre Barriere und klirrte zu Boden. Es blitzte kurz, ehe in der Finsternis ein grelles Licht erblühte.

Minerva hob die linke Hand, um ihre Augen vor der plötzlichen Helligkeit abzuschirmen. Mit der Rechten zielte sie grob. Erst da bemerkte sie, was passiert war. An ihrem Foemicus-Band fehlte eine Farbe. Der rote Strang – Mulcibers Strang – war verschwunden. Das einzige Rot an ihrem Handgelenk stammte von ihren selbstverursachten Kratzern. Sie biss sich wieder auf die ebenso blutige Unterlippe, als sie ihren Blick davon losriss und der unmittelbaren Gefahr zuwandte.

Schwarze Nebelschwaden erfüllten den Keller. Mitten drin standen zwei der Entführer, Zauberstäbe gezückt. Unter erhobenen Armen hervor starrten sie wie Rehe auf der Landstraße in das elektrische Licht, das den ganzen Zauber ihrer Finsternisschote vertrieb. Im Hintergrund glänzten die Gitterstäbe des Käfigs, in dem sich die Gefangenen drängten. Die Polizisten zögerten nicht. Ein Knall, gefolgt von einem Schrei, ließ Minerva zusammenzucken – dann lag einer der Zauberer am Boden, sein Bein mit schmerzverzerrtem Gesicht umklammert.

»Waffe fallen lassen!«, donnerte Hammond, die Pistole auf den zweiten Zauberer gerichtet. »Wir haben das Gebäude umstellt, also seien Sie nicht naiv! Wenn Sie jetzt kooperieren, wird das Ihre Strafe mildern.«

Der am Boden liegende Mann hielt trotz des Sturzes noch den Zauberstab umklammert. Seine Hand zitterte, aber er zielte auf Hammond. Minerva kam ihm mit einem Schnippen ihres eigenen Stabs zuvor. Magische Seile fesselten seine Arme eng an den Oberkörper. Eine weitere Bewegung entwaffnete ihn.

Sein Partner knurrte wütend auf. Anstatt den Zauberstab fallen zu lassen, vollführte er eine peitschende Geste in Minervas Richtung. »Dreckige Verräterin!«

Hammond feuerte schneller, als Minerva einen passenden Gegenfluch dachte. Der gegnerische Zauberer rettete sich nur, weil die Kugel von seinem nächsten Fluch pulverisiert wurde. Auf Knien schleuderte Minerva ihm einen Schockzauber entgegen. Ihr Gegner wich einige Schritte zurück und attackierte erneut. Flüche explodierten um sie her wie buntes Feuerwerk. Sie sprang auf die Füße. Die Lippen fest aufeinandergepresst, jagte sie ihm Stupor um Stupor hinterher. Immer weiter rückte sie vor, gab ihm keine Pause. Trieb ihn in die Enge, bis er mit dem Rücken zur Wand stand. Hob den Zauberstab zum finalen Schlag – und schoss ins Leere.

Der Entführer hatte sich unter ihrem Angriff hindurch geduckt. Anstelle von ihr galt sein nächster Fluch den Polizisten, die ungeschützt hinter Minerva hockten und ihn mit den Waffen anvisierten. Einer der Männer stöhnte auf, als ihn der purpurne Blitz mitten in die Brust traf. Sein Finger krampfte sich um den Abzug der Pistole. Die abgefeuerte Kugel raste haarscharf an Minerva vorbei und streifte den Oberarm ihres Duellgegners. Zeitgleich sackten Muggel und Zauberer nach vorne.

Hammond stürzte zu seinem getroffenen Kollegen, während Minerva weitere Seile heraufbeschwor, die den zweiten Angreifer fesselten. Mit einem Tritt beförderte sie seinen Zauberstab zur Seite.

»Du kleine Schlampe -«

»Petrificus Totalus!« Minervas Zauberstabhand bebte vor Wut. Es hatte so gut angefangen und nun ...

Eines nach dem anderen. Ruhe und Besonnenheit, wie Elphinstone sagen würde. Panik half niemandem. Sie stellte sich vor, wie er die Hand auf ihre Schulter legte und sie daran erinnerte. Ebenso würde er predigen, sich zuerst um die Verdächtigen zu kümmern, damit keiner entkam oder schlimmer – verstarb. Minerva atmete tief ein und aus, bevor sie die oberflächliche Wunde des Zauberers zu ihren Füßen musterte und befand, dass er ruhig noch etwas leiden konnte. Rasch eilte sie zu seinem Komplizen weiter.

Dieser Mann gab bloß leises Stöhnen von sich. Auf dem Boden unter ihm hatte sich eine dunkle Pfütze angesammelt, die Minervas Magen einen Salto rückwärts beschreiben ließ. In seinem Oberschenkel, wo ihn die Kugel getroffen hatte, klaffte ein Loch. Sie war keine Heilerin, aber er würde schon überleben, solange er nicht ewig liegen blieb. Ein einfacher Gerinnungszauber stoppte zumindest die Blutung.

Sie hielt sich nicht weiter mit den Entführern auf, sondern kehrte zu Detective Hammond und den Polizisten zurück. Diese hatten sich um ihren getroffenen Kollegen versammelt, der in ihrer Mitte auf dem Boden lag. Das Gesicht des Mannes war kalkweiß und sein Atem flach, doch er lebte, bemühte sich sogar um ein Lächeln.

»Das war ziemlich beeindruckend, Agentin McGregor. Auch wenn ich gerne auf die Erfahrung mit dieser ... Stabwaffe verzichtet hätte. Fühlt sich an, als hätte sich ein Nilpferd auf meine Brust gesetzt.«

»Das wird schon wieder, Boyd.« Hammond tätschelte seine Schulter. »Zum Glück haben Sie ihre Weste an.«

»Ja, das bekommen wir hin«, pflichtete Minerva dem Detective bei. Sie hatte keine Ahnung, welcher Fluch den Armen getroffen hatte, aber es so aus, als wirkte ihre Verzauberung der Schutzweste tatsächlich. Unter anderen Umständen wäre sie stolz gewesen. »Nehmen Sie das hier Mr. Boyd, das wird helfen.«

Der Polizist betrachtete ihre Phiole voller Heiltrank argwöhnisch, ließ aber zu, dass Minerva ihm den Inhalt in den Mund träufelte. Er verzog das Gesicht über den bitteren Geschmack, doch die Farbe kehrte auf seine Züge zurück. »Danke. Sie haben etwas gut bei mir.«

»Und ich bei Ihnen.« Minerva versteckte die selbstauflösende Phiole in ihrer Faust und nickte Detective Hammond zu. »Wir sollten ihn und die Gefangenen besser schnell rausbringen. Hoffentlich ist der Weg oben frei. Ich fürchte, die anderen Gruppen könnten ebenfalls auf Schwierigkeiten gestoßen sein.«

»Gibt nur einen Weg, das herauszufinden.« Hammond bedeutete seinem Einbruchsexperten, sich dem Käfigschloss zu widmen.

Das behelfsmäßige Gefängnis in der Ecke war kaum hoch genug, dass jemand Erwachsenes darin stehen konnte. Bleiche Gesichter pressten sich in die Schatten hinter den Gitterstäben. Aber nur drei. Theo Winters und die Eltern von Jonathan Alditch.

Besorgt kniete Minerva sich neben den Polizisten vor den Käfig. »Wo ist Jonathan? Wo ist Mrs. Winters?«

Die drei Gefangenen betrachteten sie aus geweiteten Augen und drückten sich tiefer an die Wand in ihrem Rücken. Selbst als Minerva den Zauberstab in ihrem Ärmelaufschlag verbarg, stand ihnen die Angst davor noch in die Gesichter geschrieben.

»Bitte, wir sind hier, um Ihnen zu helfen«, flehte Minerva die Erwachsenen an. Sie wandte sich zu den Alditchs. »Erinnern Sie sich? Wir haben uns schon einmal getroffen. Ich tue Ihnen nichts. Versprochen.«

Doch ihre Worte bewirkten nur, dass Tränen in Mrs. Alditchs Augen aufwallten. Unwirsch drückte Minerva den Polizisten beiseite und tippte mit dem Zauberstab gegen das Schloss. Augenblicklich sprang es auf. Am liebsten hätte sie die verschreckten Menschen eigenhändig in die Freiheit gezogen. Jede Sekunde war kostbar – konnte bedeuten, dass ihre Hilfe zu spät kam.

Mit verschränkten Armen sah sie zu, wie Detective Hammond und der andere Polizist den geschwächten Muggeln auf die Beine halfen. Arm in Arm mit ihrem Mann stand Mrs. Alditch schließlich da und sah unter Tränen zu Minerva auf.

»Professor ... Sie sind es wirklich«, hauchte sie. »Oben. Unser Jonathan ist oben. Sie haben ihn heute Abend geholt ...« Sie vergrub das Gesicht an der Schulter ihres Ehemannes. »Helfen Sie ihm?«

Minerva nickte, die Kehle wie zugeschnürt. Ehe sie etwas sagen konnte, hafteten sich die blassen Augen von Theo Winters auf sie. Nicht so schrecklich leer wie beim letzten Mal, dafür von umso mehr Angst erfüllt.

»Sie ... Sie sind auch so ... aber Sie retten auch meine Emily?«

Wieder nickte Minerva. Ihre Kehle, ihre Augen, ihr Herz – alles brannte. »Ja. Wir sind hier, um sie zu befreien.«

Sie ballte die zitternden Finger ihrer linken Hand zu einer Faust vor der Brust. Nun, da sie ihren Blick beschämt von dem gebrochenen Mann senkte, bemerkte sie noch etwas anderes. Die losen Fäden aus Gelb, Lila und Blau, die von ihrem Handgelenk rutschten, gen Boden fielen und ... verschwanden. Das Foemicus-Band war fort. Restlos fort.

Jegliche winzige Erleichterung über den Sieg gegen die zwei Entführer verpuffte. Robbie und Pippa waren nicht einmal hier! Wie konnten sie in Gefahr sein? Und doch hatten sich alle Stränge aufgelöst. Elphinstone! Die Gefühle entglitten Minervas Kontrolle wie das Band von ihrem Handgelenk.

Sie starrte auf den blanken Beton zu ihren Füßen. Ihre Lippen pressten sich so fest aufeinander, dass kein Ton ihre Kehle verlassen konnte. Aber ihr Herz, das raste schlimmer als beim Einstieg in das Haus. Eine schwere Hand landete auf ihrer Schulter. Für einen wahnwitzigen Moment sah sie in der Hoffnung auf, dass es Elphinstone war.

»Agentin McGregor?« Hammond schob sich in ihr Blickfeld, die Augenbrauen erneut zu einem Strich zusammengezogen. »Alles in Ordnung?«

»Nein ...« Sie schluckte schwer. »Wir müssen schnell fort hier. Keine Zeit für Erklärungen. Bringen Sie die Gefangenen wie besprochen zur Vordertür raus und begeben sich in Sicherheit.«

Der Ermittler schüttelte sacht den Kopf. »Vergessen Sie’s. Das können meine Männer machen, aber ich komme mit Ihnen.« Er nickte seinen Leuten zu. »Ihr habt die Agentin gehört. Los!«

Minerva konnte nicht sagen, ob sie dankbar war, dass der Detective an ihrer Seite blieb. Immerhin hatten sie nur gemeinsam die zwei Zauberer überwältigt. Doch es brauchte nur eine magische Falle und alles würde vorbei sein. Trotzdem fand sie keine Widerworte, sondern folgte ihm stumm.

Eine Hand packte ihren Ärmelsaum. Theo Winters starrte sie an und gleichzeitig wieder nicht, als wäre sie durchscheinend wie ein Geist. »Bitte ... meine Emily«, hauchte er noch einmal. Hatte er ihre vorigen Worte bereits vergessen?

»Natürlich«, bekräftigte Minerva erneute. »Ich verspreche Ihnen, dass ich sie rette.«

Aber die Furcht, dass sie dieses Versprechen nicht halten konnte, fraß sich hartnäckig in ihrem Herzen fest, als sie neben Detective Hammond die Kellertreppe nach oben lief und die Schreie hörte. Der Kampf im Wohnzimmer war vorbei. Schüsse und Fluchzischen erstarben, dafür mischte sich in der eintretenden Stille Lachen mit Weinen. Sie wurden bereits erwartet.

Tödlicher Takt

»Immobilus!«

Eine unsichtbare Mauer, hart wie Stein, bremste Minervas Lauf aus. Bevor sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatte, gefror sie zu einer reglosen Statue. Bloß ihr Herz raste unaufhaltsam weiter, als könnte es sie aus purer Willenskraft die letzten Stufen überwinden lassen. Auch Detective Hammond neben ihr war mit einem Fuß in der Luft erstarrt.

Im Hausflur über ihnen lauerten zwei Hexen mit gezückten Zauberstäben – und in ihrer Mitte Bellatrix Blacks Komplize aus Gringotts. Ohne Maskerade. Rodolphus Lestrange – Ohnegleichen-UTZ in Verwandlung, Abschlussjahrgang 1966 – lächelte schmallippig, die Arme verschränkt. »Oh, ihr wollt schon gehen?«

Vornehme Kleider, arrogante Haltung – sowohl körperlich als auch vom Zauberstab – und seine ‚Liebste‘ Bellatrix Black ... Das Erkennen eines weiteren Schülers traf Minerva wie ein Klatscher in die Magengrube.

»Bedauerlich ...« Lestrange schnalzte mit der Zunge. »Und äußerst unhöflich. Es würde meiner Frau gar nicht gefallen, wenn ihr euch davonstehlt.«

In einer Geste gespielter Betrübnis wippte der Zauberstab in seiner Hand auf und ab, als er seufzend die Schultern hob. Seine Begleiterinnen hingegen hielten ihre Stäbe unverwandt auf die Gruppe gerichtet. Die Fingerknöchel der Hexe zu Minervas Linken traten weiß hervor, so fest umklammerte sie das Holz. Jemand im Hintergrund wimmerte leise.

Minervas Gedanken rasten. So schnell, dass nicht einmal ihr Herzschlag mithielt. Sie hatte ihren Zauberstab noch in der Hand, die Spitze zeigte neben die Entführer. Es musste für einen rettenden Zauber reichen – einen einzigen.

Oben am Treppenabsatz beschwor Lestrange Seile aus dem Nichts.

»Was ... was tun Sie da?« Hammonds Stimme zitterte, auch wenn er sich bemühte, die Selbstsicherheit zu vermitteln, die er bei ihrem ersten Treffen Minerva gegenüber gezeigt hatte. »Das Haus ist umstellt! Machen Sie keine Fehler! Noch kann alles glimpflich für Sie ausgehen ...«

»Nein. Ich kann euch Muggeln nicht gestatten, zu gehen. Noch dazu mit unseren Gästen

Die ersten Seile flogen an Minervas Kopf vorbei in Richtung der Entführten. Fieberhaft ging sie ihre Möglichkeiten durch. Konnte sie Lestrange nur durch Worte vor ihren Zauberstab locken? Wie schnell würden seine Komplizinnen reagieren? Sollte sie lieber alle drei angreifen? Womit?

Bevor sie auch nur einen vernünftigen Gedanken fassen konnte, kam ihr jemand anderes zuvor.

»Wovon reden Sie bitte?« Die Stimme des verletzten Mr. Brody einige Stufen weiter unten bebte. Vor unterdrückter Wut. Vor Angst. »Ich weiß nicht, was ein ‚Muggel‘ sein soll, aber Sie haben doch nicht mehr alle Latten am Zaun!«

Langsam hob Lestrange die Augenbrauen und hielt in der Beschwörung inne, dann lachte er. Leise. Samtweich. Ganz anders als Bellatrix Black. Und nicht minder bedrohlich. »Du, mein Lieber, bist ein Muggel. Das bedauernswerte Exemplar eines Menschen ohne jegliche magische Begabung. Es ist nicht deine Schuld, dass die Natur uns nicht gleich geschaffen hat, aber auch du musst erkennen, wer von uns mächtiger ist. Immerhin gehorcht dein Körper unserer Magie.«

Detective Hammond und Brody barsten gleichzeitig in Muggelflüche aus und Rodolphus Lestrange schnippte mit dem Zauberstab. Ihre nächsten Widerworte versiegten in einem Gurgeln.

»Ich weiß, das übersteigt euer Geistesvermögen, also nehme ich es euch nicht übel. Immerhin hat man euch Muggel nur benutzt. Nicht wahr – Professor McGonagall?« Zum ersten Mal sah Lestrange Minerva in die Augen.

Sie gönnte dem einstigen Slytherinschüler nicht ein einziges, wütendes Wort. Kaum zu glauben, dass sie vor nicht allzu langer Zeit noch seine Zauberstabhaltung korrigiert hatte! Mit zusammengekniffenen Lippen legte Minerva sämtliche Abscheu in ihren Blick. Egal, was Lestrange sagte – oder zu wissen glaubte – sie würde alles geben, das Leben dieser Muggel zu retten. Notfalls auch das Ihre.

»Ach kommen Sie«, spottete Lestrange in die Stille hinein und trat ein paar Schritte näher. Nicht in ihre Schusslinie. »Das war doch Ihr Plan.«

Zur Antwort knirschte Minerva nur mit den Zähnen. Aus dem Augenwinkel folgte sie ihrer Zauberstabspitze zu deren Ziel. Ein Fenster neben der Haustür. Davor geblümte Vorhänge, bodenlang.

»Die Muggel die Drecksarbeit erledigen lassen – damit kennen wir uns offensichtlich beide aus«, resümierte Lestrange weiter. »Den Nutzen für manche Aufgaben kann man den niederen Wesen nicht absprechen, das hat Ihr kleiner Angriff gezeigt. Auch wenn sie die lästige Angewohnheit haben, schlechte Entscheidung zu treffen, so wie unser lieber Theo ...«

Vielleicht ein Brandzauber, überlegte Minerva ... Nein. Es brauchte mehr, damit drei schwarze Magier die Kontrolle verloren. Die blauen Kornblumen auf dem Vorhangstoff schienen vor ihren Augen zu tanzen.

»Nun, Professor, Ihr Schweigen ist auch ein Statement ...«

Kornblumenblau. Minerva schluckte. So blau wie die Aura von Elphinstone ... der keine Schlangen mochte.

Einen Augenblick später regte sich der Vorhang. Ein Kräuseln durchlief die helle Baumwolle. Unbemerkt von den drei Entführern schlängelten sich die Stoffbahnen hinter ihnen in die Luft, bäumten sich auf wie hungrige Raubtiere. Die Hexe zur Linken bemerkte als Erste den Schatten und stieß noch ein Keuchen aus, dann schossen die stofflichen Ungetüme auf sie herab.

Lestrange hob den Zauberstabarm, der sofort umschlungen wurde. Die Stoffschlangen zwangen seine Stabspitze fort von Minerva, gen Decke. Funkenstiebend brannte Lestrange ein Loch in den belebten Vorhang, doch das hielt Minervas Zauber nicht auf. Binnen Sekunden schnürten die Schlangen Lestrange an seine Komplizinnen und umwickelte sie allesamt von Kopf bis Fuß.

Der Erstarrungszauber brach. Hammond stürzte überrascht vorneüber, doch Minerva gelang es, sich abzufangen und ihren Zauberstab auf Rodolphus Lestrange zu richten. Er war entwaffnet, bevor er einen weiteren Fluch loslassen konnte. Ebenso seine zwei Begleiterinnen. Wütend und zugleich machtlos strampelten die Gefangenen gegen den Stoff an. Einer Teufelsschlinge gleich zog sich der Vorhang fester und erstickte ihre Schreie in der geblümten Baumwolle.

Kurzerhand schickte Minerva alle drei Entführer in traumlosen Schlaf, ehe sie ihre Zauberstäbe aufsammelte. In der plötzlichen Stille hallte das Weinen und Rufen aus dem Wohnzimmer nach. Elphinstone! Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, trat Minerva einen Schritt auf die angelehnte Tür dorthin zu, dann noch einen ... Hinter ihr räusperte sich jemand.

Als Minerva einen Blick zu ihren vergessenen Begleitern warf, starrten diese sie allesamt aus weit aufgerissenen Augen an. Die Polizisten erfüllt von Furcht, die Entführungsopfer voller Hoffnung.

»Agentin ... Miss? McGregor ... McGonagall?« Detective Hammond rieb sich die Kehle. Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. »Diese Leute ... sind Sie ...«

»Tot? Nein. Bewusstlos.« Die leisen Worte kratzten in Minervas Hals. »Ich bin keine Mörderin.«

»Das ist ...«

»Verrückt? Unglaublich?« Hilflos hob Minerva die Schultern. Nach all den Jahren, die sie muggelgeborene Kinder über ihre magischen Begabungen aufgeklärt hatte, versagten ihr die Worte. »Ich habe keine Zeit für Erklärungen. Ich kann nur sagen ... das ist wirklich Magie.« Unter ihrem eisernen Griff knirschte das fremde Zauberstabholz. »Bitte ... ich muss weiter! Mein Freund, ihre Kollegen ... brauchen Hilfe.«

Sieben Paar Augen starrten ihr entgegen, als wäre sie ein Troll im Ballettrock. Schließlich war es ausgerechnet Brody, der sich flüsternd zu Wort meldete.

»Sie haben mir da unten das Leben gerettet – und jetzt schon wieder. Für’s Erste reicht mir das. Sie müssen nicht alleine gehen.« Er versuchte ein Lächeln.

»Seien Sie nicht närrisch –«

»Nein. Er hat recht.« Hammond nickte. »Vielleicht bin ich der Verrückte, aber ... ich gehe an seiner Stelle mit Ihnen. Wir lassen niemanden zurück.« Er warf Brody, der nach Luft schnappte, einen warnenden Blick zu. »Ich muss Miss, ähm, McGonagall, beipflichten. Seien Sie nicht leichtsinnig, Brody. Sie sind bereits verletzt. Begleiten Sie die Opfer in Sicherheit. Das ist ein Befehl.«

»Detective, keiner von Ihnen muss –«

»Keine Widerworte, Agentin! Ich meine ... Professorin? Wie dem auch sei, das ist meine Entscheidung. In vollem Bewusstsein der Gefahr. Ich werde genauso wenig wie Sie meine Kollegen hier zurücklassen!«

Überwältigt von diesem unverdienten Vertrauen, nickte Minerva Hammond zu. Anstatt weiter im Flüsterton zu diskutieren, richtete sie den Zauberstab auf die Haustür, um den Weg für die restlichen Polizisten freizumachen. Nichts rührte sich. Verschlossen. Auf magische Art. Genau wie das Fenster daneben. Mehrmals klopfte sie mit der Stabspitze auf den Türknauf. Alohomora. Ein Schmelzzauber am Türschloss. Geheimnisöffner. Alle ergebnislos.

»Nehmen Sie den Weg durch das Badezimmerfenster. Rasch!«

Das ließen die Alditchs sich nicht zweimal sagen. Den Polizisten voraus drängten sie durch die Tür, auf die Minerva wies. Theo Winters folgte ihnen dicht auf, doch bevor er im Bad verschwand, trat er noch einmal an Minerva heran und schlang die Arme um sie. Er drückte mit erstaunlich viel Kraft zu, den Kopf gegen ihre Schulter gedrückt. Erstarrt registrierte Minerva, wie seine Tränen ihren Umhang tränkten. Sie tätschelte dem Mann zwei, drei Mal den Rücken.

»Danke«, brachte er heiser hervor, ehe das Schluchzen die Oberhand gewann. Brody musste ihn sanft, aber bestimmt am Arm packen, damit er den anderen in das Bad folgte.

Minerva reichte dem Polizisten ihre restlichen Phiolen Heiltrank. »Falls noch jemand verletzt wird. Das heilten die meisten oberflächlichen Verletzungen im Handumdrehen.«

Einen Augenblick starrte Brody sie mit großen Augen an, dann umschloss er die Einwegphiolen in seiner Faust und nickte. »Viel Glück Ihnen.«

Detective Hammond wechselte ebenfalls ein paar letzte Worte mit seinen Männern, dann schloss er zu Minerva auf. »Ich bleibe hinter Ihnen, versuche, nicht getroffen zu werden und schieße wenn nötig. In Ordnung?«

Mit zugeschnürter Kehle nickte Minerva erneut. Sie wartete, bis sämtliche Muggel im Bad verschwunden waren, dann schlich sie die letzten Schritte zur Wohnzimmertür hinüber. Ihr Zauberstab bebte. Zum Glück sprach sie nur im Flüsterton, denn andernfalls hätte ihre Stimme die Nervosität dahinter verraten. »Sind Sie sicher, Detective?«

Hammond sah auf die Pistole hinab, die in seinen Händen ebenso zitterte. »Nein.« Sein Schnurrbart kräuselte sich über einem schwachen Lächeln. »Aber bereit.«

»Gut.« Minerva drückte den Rücken durch und sammelte all ihren Löwenmut. Einem Schwung ihres Zauberstabs folgend, glitt die Tür auf.

Dahinter wartete Chaos. Regale waren umgestürzt, Scherben bedeckten neben losen Buchseiten den Boden, aus Sesseln und Sofa platzte der Schaumstoff. Für einen Schlag setzte Minervas Herz aus. Sie sah dunkelrote Spritzer, einen herrenlosen Zauberstab ... Wo war Elphinstone?

Mit einem heißen Knoten im Bauch hob sie den Blick vom Boden. Inmitten der Zerstörung umringten sechs Personen in Zaubererumhängen den Kaminvorleger. Blut tränkte den Stoff zu ihren Füßen, ebenso wie die Lumpen darauf – Detective Hammond würgte leise. Erst da begriff Minerva. Das war kein Haufen Stofffetzen, sondern eine Frau, die dort lag und ihren Unterleib umklammerte. Es sah aus, als hätte ein wildes Tier sie zerfleischt. Minerva wurde kalt. Das war Mrs. Winters. Von ihr kam das Schluchzen.

Dahinter knieten in einer Reihe fünf Polizisten, die Arme auf den Rücken gebunden. Elphinstones und Mulcibers Begleiter. Die beiden Zauberer waren nicht zu sehen, genauso wenig wie Jonathan Alditch. Dafür hatte sich Rowle vor den gefesselten Muggeln aufgebaut, den Zauberstab hoch erhoben. »Avada Ke-«

»Stupor!« Minervas Fluch traf ihn mitten in den Rücken. Noch bevor sein Körper auf den Boden schlug, setzte sie nach. »Diffindo!« Die Seile fielen von den Polizisten ab.

»Rod-« Bellatrix Black – oder inzwischen Lestrange – fuhr zu Minerva herum, genauso wie sämtliche Paar Augen im Raum. »Dieser Idiot!« Ohne Umschweife riss Bellatrix den Zauberstab empor und stieß ihn messergleich vor.

Zusammen mit Hammond warf Minerva sich zur Seite. Der Türrahmen über ihnen machte mit seinem lauten Zischen einem Teekessel ernsthafte Konkurrenz. In dicken Tropfen schmolz das Holz, sodass sich ein faustgroßes Loch bildete. Was immer das für ein Fluch war – Minerva wollte die Flüssigkeit um keinen Preis berühren. Den Detective am Handgelenk gepackt, sprang sie vorwärts.

Von allen Seiten jagten schwarze Zauber auf sie zu. Hässliche Dinger, die einen schmerzhaften Tod versprachen. Wie eine Peitsche schwang Minerva den Zauberstab vor sich her, in einem verqueren Takt mit den Schüssen aus Hammonds Pistole. Angriff, Verteidigung. Angriff, Verteidigung ...

Weder für die Folgen ihrer Zauber noch die der Pistolenschüsse hatte sie Augen. Minerva suchte einzig Elphinstone. Jedes Aufblitzen blonden Haares ließ sie voller Hoffnung innehalten, nur damit die anschließende Enttäuschung sie umso härter traf.

Gemeinsam kämpften sie und Detective Hammond sich vor, Fluch um Gegenfluch. Minerva achtete nur auf Lichter, das Zischen des herannahenden Todes, harsche Zauberstabbewegungen. Personen, Möbel, der Raum; einfach alles verschwamm zu bunten Schlieren. Sie reagierte bloß noch. Bis ihr Fuß hängen blieb. An einem Körper. In dessen Brust ein blutiges Loch klaffte. Leere graue Augen, die durch sie sahen.

Braunes Haar. Immerhin nicht Elphinstone, flüsterte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Zum Glück nur einer der Entführer – ein harter Stoß traf sie in die Seite.

Mit einem Aufschrei stolperte Minerva hinter einen umgestürzten Sessel. Papier riss unter ihren Händen, Glas knirschte, stechender Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Wo sie eben gestanden hatte, leckten violette Fluchflammen an dem toten Zauberer. Binnen Sekunden blieb nichts als ein Häufchen Asche zurück.

Dankbar nickte Minerva Hammond zu, der neben ihr kniete. Die Erleichterung über seine Rettung dämpfte ihren Schmerz, doch sie bemerkte, wie sich zu den Blutflecken Fremder frische Tropfen gesellten. Tief in ihrer Handfläche steckte eine Glasscherbe. Während Hammond seinen befreiten Männern etwas zurief, biss sie die Zähne zusammen und zog den Splitter aus der Wunde. Ein rascher Heilzauber stoppte wenigstens die Blutung.

Der Schnitt brannte, doch Minerva packte den Zauberstab fester und feuerte aus der Deckung hervor weiter auf die Gestalten in dunklen Umhängen. Mit dieser Position kam ein neuer Blickwinkel. Endlich erkannte sie Elphinstone – zu den Füßen der Entführer. Reglos. Zauberstablos. Die Augen geschlossen.

Ein grüner Lichtblitz löste Minerva aus ihrer Starre. Sie duckte sich in den Schutz des Sessels zurück, den Zauberstab unverwandt auf Elphinstones Körper gerichtet.

»Rennervate!« Minervas Schrei übertönte das Gebrüll der Gegner, ihre wütenden Flüche und magielosen Verwünschungen. Unter dem Rauschen ihres Blutes blieb sogar das Schluchzen von Mrs. Winters still in Minervas Ohren.

Sie hatte nur Augen für Elphinstone. Seine Lider flatterten, die Finger zuckten. Ihr Herz vergaß den nächsten Schlag, als er den Kopf hob und sich umsah. Bevor er angegriffen wurde, schleuderte Minerva einen Explosionszauber in den Kamin. Der Feuerball schmolz dessen Schutzgitter und in einer gewaltigen grünen Flamme verbrannten die Flohpulverreste dahinter.

Asche und Staub hüllten das Wohnzimmer in ihren Schleier. Bellatrix hustete und fluchte wie ein tollwütiger Jarvey, dann riss irgendjemandes Zauber ein Loch in die dichte Wolke. Elphinstone lag nicht mehr auf dem Teppich. Erleichterung loderte in Minervas Brust auf wie die grüne Stichflamme im Kamin. Er hockte ein paar Schritte weiter hinter einem zerbrochenen Teetisch –

»Phin!«

Minerva schleuderte einen Fluch auf die nächste Hexe neben ihm. Sein Blick fuhr zu ihr herum. Selbst durch die Staubwolke sah sie seine Augen aufleuchten.

»Minerva!«

Auf allen vieren kam er in ihre Richtung, da bohrte sich aus dem Nichts ein Zauberstab an seine Schläfe. Er gefror mitten in der Bewegung.

»Es reicht!«, brüllte Bellatrix. Ihren Absatz drückte sie in Elphinstones Handrücken. »Legt alle die Waffen ab und kommt brav hierher oder ich töte euren Freund auf der Stelle!«

So schnell, wie der Kampfeslärm aufgekommen war, erstarb er auch. Nur das Schluchzen von Mrs. Winters blieb. Bellatrix packte Elphinstones Haare und bog seinen Kopf nach hinten. Er keuchte auf, als sich ihre Zauberstabspitze in seine Kehle grub. Den Blick hielt er allerdings unverwandt auf Minerva gerichtet. Seine Lippen formten lautlose Worte, doch Minerva verstand nicht – bis auf das kaum wahrnehmbare Kopfschütteln. Er murmelte irgendetwas Gälisches, von ... ergeben?

Ihre Hand am Zauberstab verkrampfte sich. Das durfte es nicht gewesen sein! Sie musste einen Weg finden, wie bei Rodolphus Lestrange. Eine List, ein geschickt platzierter Zauber ...

Detective Hammond senkte seine Pistole. »Uns bleibt wohl keine andere Wahl.«

»Hör auf den Muggel, McGonagall!«, höhnte Bellatrix. »Sonst wirst du sehen, welche Alternativen mir für den Todesfluch einfallen. Ich könnte dem lieben ‚Phin‘ zum Beispiel die Gehirnwindungen rösten –«

Klirr!

Ein greller Blitz erhellte die Umgebung, der Boden bebte. Bellatrix riss die Augen auf, ihr Zauberstab zuckte fort von Elphinstone – und ein Regen aus Glasscherben explodierte in den Raum. Minerva entwich ein Aufschrei. In einem Anfall von Ritterlichkeit warf sich Hammond über sie und schirmte sie von den Splittern ab.

»Das würde ich lassen!«, drang es durch den Scherbenregen. »Ich bin besonders nachtragend, wenn man Freunde von mir verletzt und ich mag diese Leute leider erstaunlich gerne.«

Minerva kannte diese Stimme. Samtschwer und aalglatt. Mulciber!

»Du ...!«, fauchte Bellatrix, offenbar genauso überrascht. Sie machte einen Schritt in seine Richtung und gab damit Elphinstones Hand wieder frei.

»Genau, ich. Schätze, deine ‚Wachen‘ haben da etwas übersehen, als sie den Muggelpolizisten im Garten eine Falle gestellt haben.«

Um die Ecke des Sessels herum sah Minerva, wie ihr so verhasster Ex-Kollege über die Scherben der zerstörten Terrassentür auf Bellatrix zuhielt. Und hinter ihm – folgten Pippa und Robbie!

Aber sein Foemicus-Band ... Mulciber hatte es doch als Erster gelöst! Minerva war wirklich überzeugt gewesen, dass sie ihn erwischt hatten. Dabei hatte er bloß Bellatrix getäuscht? Mit offenem Mund starrte sie die drei an. Pippa trug noch ihren Aurorenumhang, genauso wie an Robbies Brust das Wappen von Gringotts glänzte.

Ihr Bruder fing Minervas Blick auf. Er wies mit einem Kopfnicken in Richtung Flur, aber Minerva schüttelte entschieden den Kopf. Sie würde nicht fliehen, jetzt noch viel weniger. Stattdessen heftete sie die Augen auf Elphinstone und hob den Zauberstab, bereit, ihn gegen jegliche Angriffe zu verteidigen. Quälend langsam schob er sich zu ihr vor.

Bellatrix wandte sich mit einem kalten Lächeln an Mulciber. »Oh, ich hab dir viel eher zu danken. Dafür, dass du mir all deine Verbündeten auf dem Silbertablett servierst – ganz umsonst!« Ihre dunkelroten Lippen entblößten die Zähne dahinter. »Avada Kedavra!«

Zum ersten Mal senkte sich vollkommene Stille über den Raum. Minerva hörte nur, wie Detective Hammond neben ihr angestrengt atmete. Ihr gegenüber kauerte Elphinstone, bleich im Gesicht und doch unversehrt. Dafür war das stete Wimmern von Mrs. Winters erstorben. Mulcibers Gegenfluch verlosch nutzlos in der Luft zwischen ihm und Bellatrix.

»Nein ...«, hauchte Minerva, da schoss bereits ein weiterer Lichtblitz von Bellatrix auf Mulciber zu.

Der blinzelte nicht einmal. In einer schneidenden Geste wehrte er den Fluch ab. »Wie langweilig, dass der Todesfluch dein einziges Druckmittel bleibt. Damit jagst du mir keine Angst ein, auch wenn ich den Papierkram hasse.«

»Oh, hättest du lieber die sanfte Methode?« Bellatrix tippte den Zauberstab an ihr Kinn. »Man sagt mir nach, dass ich ein Händchen für den Cruciatus habe. Ich wollte schon immer wissen, wie lange es dauert, bis das Objekt stirbt.«

Elphinstone nutzte die Ablenkung und robbte endgültig zu Minerva hinter den Sessel. »Min –«

»Wo ist dein Zauberstab?«

»Sie hat ihn. Hat damit erst mein Foemicus-Band aufgelöst und mich dann geschockt.«

Flüche rasten an ihnen vorbei, als Bellatrix‘ Leute sich ihrem Befehl folgend auf Mulciber stürzten. Eine Menge hässlicher Verwünschungen lagen Minerva auf der Zunge, doch sie schwanden, sobald Elphinstone ihre Hand ergriff. Wenigstens er lebte, an diesen Gedanken klammerte sie sich. Mit einem Griff in die Umhangtasche zog sie Lestranges Zauberstab hervor und reichte ihn Elphinstone.

»Danke«, murmelte er. »Schon wieder hast du etwas gut bei mir.«

Sie musste dem Drang widerstehen, ihn in die Arme zu ziehen. Nicht jetzt, nicht hier. »Hoff lieber, dass ich den Gefallen nie einlöse.«

Er strich mit dem Daumen über ihren Handrücken. »Ich würde es wieder tun. Zusammen sind wir schließlich stärker.«

Und tatsächlich – mit der Unterstützung von Mulciber, Pippa und Robbie wendete sich das Blatt erneut. Die Entführer schlugen hart zurück, aber es gelang allen voran Mulciber, sie von den eingeschüchterten Polizisten zurückzudrängen. Mit einer Hand hielt er Bellatrix in Schach, mit der zweiten schob er den Arm eines verletzten Mannes über seine Schulter. Robbie und Pippa hatten sich neben ihm aufgebaut und schleuderten mit Schockzaubern um sich.

Von der anderen Seite nahmen Minerva und Elphinstone Bellatrix ebenfalls ins Visier. In letzter Sekunde beschwor diese einen Schutzkreis und wehrte ihre Zauber ab. Ein Knurren drang zwischen ihren perfekt geschminkten Lippen hervor, als sie herumwirbelte und Elphinstone an Minervas Seite erspähte.

»In Ordnung, vorwärts!«, kommandierte Mulciber und drückte einem anderen Muggelpolizisten den Arm seines Kollegen auf die Schultern. »Raus hier, in den Flur!« Er schleuderte einen Brandzauber mitten zwischen die Entführer. Violette Flammen flackerten auf und entzündeten die verstreuten Buchseiten in einem weiten Kreis um sie herum. Rauch erfüllte die Luft.

Entgegen aller Abneigung für Alston Mulciber musste Minerva ihm recht geben – es war Zeit, den Rückzug vor ihren eignen Stolz zu stellen. Sie zog an Elphinstones Hand und zerrte ihn mit sich zur Tür, an der anderen Seite Hammond.

»Die Tür«, keuchte der Detective, »sie ist doch verzaubert –«

Mulciber schloss zu ihnen auf. Er riss im Laufen den Zauberstab hoch. »Aus dem Weg!«

Hammond presste sich flach gegen die Tapete.

»Bombarda Maxima!«

Es schleuderte die Haustür – und ein gutes Stück der Wand – fort. Auf der Rasenfläche hinter dem Loch erkannte Minerva die flüchtenden Gefangenen und Polizisten, die von der Druckwelle ins Gras geschleudert wurden. Sie wartete, bis Robbie und Pippa mit den übrigen Muggeln in ihrer Mitte durchgelaufen waren, ehe sie folgte, Zauber über ihre Schulter zurückwerfend.

Direkt hinter ihnen rang Bellatrix Mulcibers Fluchflammen nieder, ihr Gesicht rot vor Wut. Minerva drückte Elphinstones Hand, fest entschlossen, ihn nicht wieder loszulassen. Sie rannten. Aus dem Augenwinkel sah sie noch die weggesprengten Reste ihres verzauberten Vorhangs und die drei bewusstlosen Entführer darunter, dann traf sie die Kälte der Nacht und sie waren draußen.

Nur wenige Schritte. Die Grundstücksgrenze war zum Greifen nahe. Dahinter konnten sie in Sicherheit apparieren –

Ein Schrei gellte durch die Dunkelheit. »Emily!«

Schon von Weitem erkannte Minerva Theo Winters, der sich den Polizisten entriss, die ihm vom Boden aufhalfen. Sie waren direkt vorm Gartentor, doch der Mann rannte in die falsche Richtung. Geradewegs auf sie zu.

»Wo ist Emily?« Er schoss an ihnen allen vorbei auf das Haus zu. »Em!«

»Mr. Winters! Nicht –« Hammond stöhnte auf.

Elphinstone schleuderte Theo Winters einen Stolperzauber hinterher, doch der löste bloß die Schnürsenkel seines linken Schuhs. Getrieben von der Liebe zu seiner Frau tat Theo Winters das Einzige, was ihm als unbewaffneter Muggel blieb – er warf sich vor die gezückten Zauberstäbe ihrer Verfolger. Arme ausgebreitet, die Brust hervorgestreckt. »Gebt mir Emily zurück!«

Schneller als Minerva oder Elphinstone reagieren konnten, hatte Detective Hammond sich umgedreht und sprintete ihm hinterher. Neben Bellatrix trat indes der wiedererweckte Rodolphus Lestrange auf den Rasen, Elphinstones Zauberstab in der Hand. Er fletschte die Zähne, plötzlich gar nicht mehr so vornehm.

»Ich bringe dich gerne zu deiner Frau!«

»Nein!« Hammond stieß Theo Winters grob zu Boden – und sich in das grüne Licht.

Keine magische Schutzweste der Welt konnte den Todesfluch aufhalten. Detective Superintendent Hammond war bereits tot, als sich Brodys Kugel in den Arm seines Mörders versenkte.

Weitere Flüche prallten gegen Minervas hastig hochgerissenen Schutzschild vor den beiden Männern. Nur eine Sekunde zu spät. Eine winzige Sekunde zu spät. Fassungslos starrte sie auf den reglosen Polizisten im Gras. Dann schrie sie.

»Stehen Sie auf, Winters! Laufen Sie, verfluchte Drachenscheiße! Worauf warten Sie?« Schweren Herzens ließ sie Elphinstones Hand los und rannte zu dem Muggel. Sie packte seinen Arm, warf ihn über ihre Schultern und zerrte daran. »Machen Sie schon!«

Der Mann lag halb begraben unter Hammonds leblosem Körper und starrte sie einfach nur an. Von hinten kam Robbie angelaufen, im Feuerschutz von Elphinstone. Minervas Bruder stupste Winters mit seinem Zauberstab an. Schlagartig schien dessen Arm nichts mehr zu wiegen. Robbie nahm ihn Minerva ab, warf seine Gliedmaßen über die Schulter wie einen Kartoffelsack und sprang auf.

»Komm«, rief er an Minerva gewandt, »schnell!«

Sie folgte ihm mit einem letzten Blick zurück. Rodolphus Lestrange kniete mit blutüberströmtem Arm im Gras und erlebte dem Gesicht nach zu urteilen den schlimmsten Tag seines Lebens. Bellatrix fauchte irgendwas, ehe sie ihn einfach zurückließ und ihnen nachsetzte.

Auf der anderen Seite erreichten Pippa und Mulciber die Grundstücksgrenze. In einem Knall verschwanden beide mit je zwei Muggeln an der Hand. Die restlichen Polizisten duckten sich in den Schutz der Hecke.

Bunte Flüche erhellten die rutschige Rasenfläche vor Minerva. Noch sechs Meter. Noch vier Meter. Noch – Elphinstone schrie auf. Sie sah sich hektisch nach ihm um. Warum nur hatte sie ihn losgelassen?

Eine dicke violette Ranke kam aus dem makellosen Gras geschossen und schlang sich um sein Bein. Er stürzte, während er mit dem fremden Zauberstab danach hieb. Doch nur ein paar Funken stieben daraus auf. Die schwarze Magie riss ihn rückwärts über den Rasen.

Lange genug hatte Minervas Verstand die Entscheidungen getroffen. In diesen wenigen Sekunden blieb ihm nicht einmal Zeit, die Situation zu analysieren. Als Minerva sich umdrehte und zurückrannte, war nur ihr Herz verantwortlich.

»Minerva!«, schallte ihr Robbies Schrei hinterher. Zu langsam.

Sie rannte, so schnell ihre Füße sie trugen. Sie würde Elphinstone nicht verlieren, nicht heute.

Niemand warf ihr Flüche entgegen. Die verbliebenen Entführer und sogar Rowle bauten sich abwartend hinter Bellatrix auf, die Elphinstone am Kragen hochriss. Nur Lestrange humpelte an ihre Seite. Blut lief seinen Ärmel hinab und tropfte von dem Zauberstab in seiner Faust – Elphinstones Zauberstab.

Voller Wut verwandelte Minerva die Regentropfen in Eissplitter. Sirrend rasten die Geschosse auf die beiden Mörder hinab ... und fielen als harmloses Wasser zu Boden. Bellatrix senkte den Zauberstab und drückte ihn Elphinstone wie einen Dolch an die Kehle. Wieder schüttelte er an Minerva gewandt den Kopf. Der Regen lief ihm wie Tränen über das Gesicht.

»Tu es, Thorfinn!«, befahl Bellatrix. »Dann bekommst du dein Spielobjekt.«

Der Junge murmelte eine Beschwörung. Ein Knall ertönte, dann noch einer und schließlich ein dritter. Plötzlich fehlte ... etwas. Minerva konnte das Gefühl nicht greifen, doch sie war sicher – der Apparierbann war fort. Sie warf sich mit ausgestreckter Hand auf Elphinstone zu. Es brauchte nur eine Sekunde!

Heißes Feuer explodierte in ihrer Mitte. Würgend krümmte Minerva sich im Gras zusammen, ihr Zauberstab fiel zu Boden. Sie war so nah dran gewesen ... und nun raubte ein Fluch in den Bauch ihr den Atem. Hinter sich hörte sie Rufe. Mulciber und Pippa waren wieder da.

Ein feiner Lackschuh landete auf Minervas Schulter. Unbarmherzig presste er sie tiefer in das feuchte Gras. Schmerz durchschoss sie, als Lestrange seinen Absatz unter ihr Schulterblatt drückte. Tränen füllten ihr Sichtfeld. Trotzdem hielt sie Elphinstones Blick unverwandt fest. Was immer jetzt mit ihnen geschah – sie waren wenigstens nicht alleine.

»Mulciber, vermutlich hast du recht – der Todesfluch ist doch etwas langweilig«, rief Bellatrix über sie hinweg. »Zum Glück fällt mir da ein Zweck ein, dem die beiden hier dienen können. Nicht ganz so schnell und schmerzlos, ich hoffe, das gefällt dir!«

Grobe Hände packten Minervas Arme und dann verschmolz die Welt um sie zu einem Schlauch, der sie zu erdrücken drohte. Als die Enge wich, war der Regen fort. Vor ihr ragte ein schmiedeisernes Tor empor, hinter dem ein steinernes Herrenhaus thronte.

Flammendes Crescendo

Einst musste das einsame Anwesen im Schein seiner Kronleuchter erblüht sein, doch jetzt versank es im Dunkel der Nacht, das sein Bestes tat, um die marode Eleganz zu verschleiern. Trotzdem erkannte Minerva Risse im Putz, Dellen im Parkett und Rost auf den dekorativen Schwertern entlang der Wände. Wo immer die Bande der Lestranges mit ihr und Elphinstone hin appariert war – es schien schon lange niemand mehr hier zu leben oder sich auch nur zu kümmern.

Die Hände mit Zauberseilen auf den Rücken gefesselt, trieben die Entführer sie vor sich her. Da es keiner für nötig gehalten hatte, ihnen die Augen zu verbinden, konnte das nur eines bedeuten – die Lestranges waren überzeugt, dass sie diesen Ort nicht lebend verlassen würden. Ein Grund mehr für Minerva, sich jedes Detail des Weges für ihre Flucht einzuprägen.

Die meisten Möbel waren unter staubigen weißen Laken verborgen und die Kerzenhalter leer. Nur hin und wieder fiel Mondlicht durch die hohen Fenster in die Gänge. Minerva kannte Häuser wie dieses. In den Hügeln um Caithness gab es ein ähnliches Gemäuer, das bloß von Mäusen bewohnt wurde. Unter den Dorfkindern war es eine beliebte Mutprobe, sich bis zum Dachgiebel zu schleichen und dort den Namen in die Holzbalken zu schnitzen. Ihr eigener Name stand so weit oben wie kein anderer – Magie zum Dank. Die Erinnerung ließ kurz Wärme in Minervas Brust aufglimmen, ehe eine Zauberstabspitze in ihr Kreuz stieß und sie vorwärts stolperte.

»Schneller, Miststück.«

Mit dem letzten Avada Kedavra hatten sich bei Rodolphus Lestrange die Höflichkeitsformen offenbar ebenso verabschiedet wie seine Moral. Minerva straffte die Schultern und schritt hoch erhobenen Hauptes weiter. Aus dem Augenwinkel fing sie Elphinstones Blick auf, eine Mischung aus Sorge und Trotz. Sie wagte es nicht, etwas zu sagen, nicht einmal auf Gälisch, aber sie hoffte, dass er ihren ungebrochenen Kampfgeist erkannte.

Vor ihnen schwang eine hölzerne Flügeltür von alleine auf und gab den Weg in einen geräumigen Salon frei. Wie im Herrenhaus von Caithness zierten Porträts die Wände. Deren Ölfarben schimmelten bereits und entstellten die Gesichter der streng dreinsehenden Menschen darauf. Samtumhänge raschelten, als sich ihre Träger in den Rahmen vorbeugten, um die Neuankömmlinge besser zu sehen. Der Rabe auf der Schulter eines Porträtierten krächzte. Durch Patina und Staub schimmerte überall im Zimmer ein doppelt geschwungenes L, die Buchstaben Rücken an Rücken. Also waren sie in einem Anwesen der Lestranges, sicher ein gutes Jahrhundert alt. Zweifelsohne ein unbedeutendes Landhaus in einem ganzen Reigen an ungenutzten Immobilien – für ein wichtiges Objekt war der Zahn der Zeit zu offensichtlich.

In einem gewaltigen offenen Kamin, dessen goldenes Gitter einen Raben mit ausgebreiteten Flügeln formte, brannte ein Feuer und davor saß ein schmaler Zauberer. Er wies ein ähnlich scharf geschnittenes Gesicht unter dunklem Haar auf wie Rodolphus Lestrange. Sein Bruder, Rabastan. Nur ein Annehmbar im ZAG in Verwandlung, flüsterte Minervas lästiges Lehrerinnengewissen.

»Na endlich! Was hat euch aufgehalten?« Rabastan erhob sich und zupfte seinen samtschwarzen Umhang am Revers grade. »Etwa die zwei? Und wo ist unsere liebe Emily? Will sie ihr Kind gar nicht sehen?«

Die Art wie er den Namen der toten Frau in den Mund nahm und dabei die weinerliche Stimme ihres Mannes nachahmte, trieb Minerva die Wut in den Bauch. Sie ballte die Hände zu Fäusten.

Hinter ihr knurrte Rodolphus etwas Unverständliches. Bellatrix hingegen lachte kurz und freudlos auf. »Kleine Planänderung, Bast. Die jammernde Verräterin ist tot, aber wir haben jetzt etwas Wertvolleres. Frisches Blut.«

Elphinstone stolperte unter einem Stoß ihres Zauberstabs auf die Knie. Geringschätzig ließ Rabastan den Blick erst über ihn, dann zu Minerva gleiten. »Eine Lehrerin und ...?«

»Urquart«, grollte Rodolphus leise. »Aus dem Ministerium.« Er versetzte Minerva einen Stoß, der sie neben Elphinstone auf den Boden beförderte.

Rabastan pfiff durch die Zähne. »Nett. Reines Blut also. Mit Tradition noch dazu.«

»Ich sag ja, dass er wertvoller ist.« Bellatrix beugte sich zu Elphinstone und hob sein Kinn mit dem Zeigefinger an. »Ein wahres Prachtexemplar, Generationen von Zauberern und Hexen in der Familie – und trotzdem ein offener Blutsverräter. Keine Verschwendung also.«

Elphinstone spannte die Schultern an. Er entzog sich Bellatrix‘ Griff so weit es ihm möglich war. Die Geste entlockte Bellatrix ein Zucken der Mundwinkel. Sie streckte sich wieder und klopfte ihre Hände ab, als hätte sie etwas Dreckiges berührt.

»Was die reizende Professor McGonagall angeht – nun, das ist Thorfinns Belohnung für die Arbeit an den Tränken und Bannen.« Mit klappernden Absätzen spazierte Bellatrix an Minerva vorbei. Den regennassen Umhang warf sie im Vorbeigehen zu einem der Sofas, bevor sie auf die Lehne eines Ledersessels sank und das Bild betrachtete, welches Minerva und Elphinstone ihr boten. »Glaub mir Bast, das war es wert, die anderen aufzugeben. Diese beiden werden mehr Unterhaltung zu bieten wissen als die Muggel.«

»Also sind sie alle weg, ja? Etwas Besseres habt ihr nicht hinbekommen?«

Minerva keuchte, als Rodolphus sie im Vorbeigehen gegen die Seite trat. »Das nächste Mal«, zischte er an seinen Bruder gewandt, »kannst du gerne gehen und dich von einem verfluchten, trollarschigen Muggel anschießen lassen!«

Rabastan senkte die Arme, trat einen kleinen Schritt in Richtung Rodolphus und schien es sich schlussendlich anders zu überlegen. Er bemühte sich um Haltung, doch mit den geweiteten Augen in seinem bleichen Gesicht sah er zum ersten Mal aus wie der gerade volljährige Junge, der er war.

Indes trampelte Rodolphus zu seiner Frau – ein Gedanke, der Minerva nach wie vor unendlich falsch erschien – und riss sich den Umhang vom Leib. Sein einst weißes Hemd darunter war von dunklem Blut verklebt, das aus seiner Schulterwunde sickerte. In seinem Gesicht zeichneten sich überdies immer noch die Spuren des verwandelten Vorhangs in Form roter Striemen ab.

Ein zufriedenes Schnauben konnte Minerva sich bei diesem Anblick nicht verkneifen. Das geschah ihm recht. Für alles, was er den Winters angetan hatte, hätte er sogar Schlimmeres verdient.

»Oh, wir finden das also witzig ...« Mit zusammengekniffenen Lippen musterte Rodolphus sie und drehte Elphinstones Zauberstab durch die Finger. »Mal sehen, wie lange noch.«

»Die Befriedigung können Sie mir nicht nehmen, Mr. Lestrange, egal mit welchen Flüchen Sie mich quälen. Und wenn ich das Gefühl mit ins Grab nehme.«

Bei diesen Worten löste Bellatrix die Augen von Minerva und warf ihrem Mann einen scharfen Blick zu. »Lass es dir eine Lehre sein, dich nicht noch einmal derart überwältigen zu lassen.« Ihr Zauberstab beschrieb einen harten Stoß erdwärts.

Fast erwartete Minerva, Rodolphus würde auf die Knie stürzen – stattdessen stöhnte Elphinstone neben ihr auf. Ein Keuchen entwich ihr, als sie sah, wie er sich vornüber krümmte.

»Phin ...« Ihre Worte waren bloß ein Flüstern, aber alles in ihr schrie. Sie wollte ihn in den Armen halten, Bellatrix den eigenen Zauberstab in ihr schwarzes Herz rammen ...

Elphinstone verkrampfte sich und sog scharf den Atem ein. »Nicht«, hauchte er an Minerva gewandt.

Sie sah nur seinen Rücken und die dahinter zusammengebunden Hände, aber seine Stimme reichte, damit sie die Vorstellung erfüllte, wie er sie andernfalls anschauen würde, ein beschwichtigendes Lächeln auf dem Gesicht. Ihre Finger zuckten voller Verlangen, ihn zu berühren. Ein Meter lag zwischen ihnen – ein unüberwindbarer Meter, solange sie gefesselt war. Blut benetzte ihre Zunge, als sie zu fest auf die Unterlippe biss.

Rodolphus lachte auf und Rabastan fiel mit ein. »Dacht ich’s mir doch.«

Auch auf Bellatrix‘ Gesicht zeichnete sich Befriedigung ab. »Zu süß. Der Anblick entschädigt doch ein wenig für alles, was wir heute ertragen mussten.« Mit diesen Worten stand sie auf und trat zu ihrem Mann, die Augen auf seine Schusswunde gerichtet. Sie schob die Ärmel ihrer hochgeschlossenen schwarzen Bluse zu den Ellenbogen hoch, als wäre sie eine Heilerin, obwohl sie mehr wirkte wie eine Schlachterin.

Der Anblick erinnerte Minerva an Elladoras finsteres Mal. Zu Bellatrix hätte es gepasst – ironisch, dass ihre bleiche Haut unberührt war. Nachdem sie leichtfertig getötet hatte, sogar ihren Verbündeten, war es blanker Hohn, wie sie die Kugel aus Rodolphus‘ Schulter zauberte und innerhalb weniger Handgriffe nur noch sein Hemd von der Verletzung zeugte, die Detective Hammonds Leben rächen sollte.

Seufzend sank Rodolphus in den Ledersessel und Bellatrix nahm wieder ihren Platz auf der Lehne ein. Dieses Mal ruhte eine Hand auf dem Knie ihres Mannes. »Nun, dieser kleine Moment reicht allerdings noch lange nicht, denkst du nicht auch – Liebster?«

Die beiden tauschten einen Blick, der zwar nicht von Liebe, aber einer verqueren Zuneigung sprach. Ein Blick, der es Minerva kalt den Rücken herablaufen ließ. Einer von ihnen war bereits gefährlich, doch gemeinsam ...

Scheinbar nachdenklich streckte Rodolphus sich und betastete seine Schulter. »Hmm ... mir fällt da noch eine schöne Bestrafung ein.« Er drückte Bellatrix Elphinstones Zauberstab in die Hand und zog dafür Minervas aus der Tasche seines Umhangs. »Liebste, warum sollte es Bluts- und Magieverrätern erlaubt sein, noch einen Zauberstab zu besitzen? Sollen sie doch leben wie die Muggel, die sie so lieben!«

Bellatrix strich andächtig über den blutbeschmierten Zauberstab in ihren Händen. »Oh, da stimme ich dir vollkommen zu. Ein Zauberstab sollte ein Privileg sein, das nicht jedem zuteilwird. Ich denke ohnehin nicht, dass unsere Gäste sie noch einmal benötigen werden.«

Minerva starrte beide an. Ihre Fingernägel gruben sich immer tiefer in ihre Handflächen. Sie würden doch nicht ...?

An ihrer Seite hob Elphinstone wieder den Kopf. »Was gewinnt ihr damit?« Seine Stimme klang gepresst. »Glaubt ihr, ihr werdet ewig damit davonkommen, Leute zu foltern – zu töten, wie es euch passt? Glaubt ihr, mit unseren Zauberstäben könnt ihr auch unseren Widerstand brechen? Glaubt ihr, wir werden die letzten sein, die euch zur Rechenschaft ziehen wollen?«

»Nenn mir einen Grund, weshalb mich das hier und jetzt aufhalten sollte.« Rodolphus hob die Augenbrauen und tauschte einen Blick mit seinen Mitverschwörern. »Richtig, es gibt keinen. Du bist alleine hier, an einem Ort, den dein Ministerium nicht einmal kennt. Hier schreiben wir die Gesetze.« Er packte Minervas Zauberstab zwischen beiden Händen, hielt ihn hoch – und brach ihn mit roher Gewalt entzwei.

Das trockene Splittern von Holz war nicht bloß ein harsches Knacken, das dumpf in Minervas Innerstem widerhallte. Da war mehr, als würde ein Teil ihrer Seele es dem Stab gleichtun und bersten. Etwas, von dem sie bisher nicht gemerkt hatte, dass es ihr innewohnte, entglitt ihrem Gefühl und die Leere schmerzte umso stärker. Sie hatte nicht erwartet, dass es so wehtun würde, ihren Zauberstab zu verlieren.

Erstarrt sah sie auf die Bruchstücke, die Rodolphus achtlos zu Boden warf, die Drachenherzfaser zerrissen, genau wie ihr eigenes Herz. Entfernt registrierte sie, dass Elphinstone sich nach ihr umsah. Wut erfüllte sie, ein hässlich heißes Gefühl, das verlangte, Rodolphus, Bellatrix – ihnen allen – das gehässige Grinsen vom Gesicht zu wischen. Wut, der sie nicht nachgeben konnte. Sie war gefesselt – wehrlos, eine Erkenntnis, die fast so schwer wog wie der Verlust.

Es war nicht nur ein Werkzeug, das der Junge sorglos zerbrochen hatte, der Stab war ein Teil von ihr gewesen – die Essenz all ihres magischen Könnens, die ihr seit Jahren so selbstverständlich erschienen war.

Bellatrix lachte laut auf, schrecklicher noch als das hämische Keckern eines Erklings. Ihre schmalen Finger wanden sich um Elphinstones Zauberstab und mit demselben scheußlichen Knacken zerbrach auch er. Elphinstone löste den Blick nicht von Minerva, doch in seinen Augen erkannte sie, dass er ihr Gefühl teilte. Das Grau seiner Iriden war auf einen Schlag viel dunkler, wie der Regenhimmel über Leeds.

Ein seliges Lächeln erhellte Bellatrix‘ Gesicht, während die Bruchstücke zu Boden fielen. »Jetzt dürft ihr am eigenen Leib die Macht der Magie erfahren.«

Auf ein Winken von ihr rissen die Zauberer im Hintergrund Minerva und Elphinstone auf die Beine. Rabastan trat vor und versenkte die Hände in den Taschen ihrer Umhänge. Er nahm ihnen alles ab, was sie noch bei sich trugen, von vereinzelten Shillingen über Elphinstones nutzlose Dienstmarke bis hin zu dem Vestigiator, den Minerva vollkommen vergessen hatte. Sogar den einsamen Zitronenbonbon fischte er mit den letzten Staubflusen hervor.

Sämtlichen Plunder ließ er mit einem Evanesco verschwinden, ebenso wie ihre Muggelschutzwesten, doch die Ministeriumsmarke und den Vestigiator gab er an Bellatrix weiter. Beides landete in ihrer Rocktasche und mit einem zufriedenen Lächeln wies sie die übrigen Zauberer an, Elphinstone und Minerva fortzubringen.

»Macht es ihnen bequem, ich werde mich zuerst unserem frisch geborenen Halbblut annehmen. Aber keine Sorge, Urquart – wir sehen uns bald genug wieder.«

Das Letzte, was Minerva sah, bevor sich doch eine Stoffbinde vor ihren Augen materialisierte, war Elphinstones stilles Bedauern. Erneut bohrte sich die Spitze eines Zauberstabs in ihren Rücken und sie wurde zurück in den Gang geschleift. Mit harschen Stichen der Stabspitzen lenkten ihre Entführer sie vor sich her. Links herum, rechts herum, immer wieder. Minerva versuchte, sich den Weg zu merken, doch ihre Gedanken glitten stets fort; zu Elphinstone, zu Robbie, zu Detective Hammond. Einzig das Zählen ihrer Schritte half, den rasenden Strom in ihrem Kopf zurückzudrängen.

256, 257, 258 – ihr Fuß verlor den Halt und sie trat ins Nichts. Die Schulter voran rammte sie eine Wand. Fast wäre sie ins Ungewisse vornübergestürzt, doch in letzter Sekunde gelang es ihr, sich auf den Hintern fallen zu lassen. Irgendwer lachte dreckig und packte sie grob am Kragen, damit sie wieder auf beiden Füßen stand.

»Los, runter mit euch!«

Eine Treppe also. Mit jeder Stufe tiefer wurde es zusehends kühler, ehe sie unten angelangten und begleitet von einem rostigen Quietschen eine Tür geöffnet wurde. Feuchte, muffige Luft schlug Minerva entgegen, als wäre der Keller ewig nicht mehr betreten worden. So uneben, wie sich der Boden anfühlte, stellte sie sich einen alten Gewölbekeller vor. Bei jedem Schritt entlockten ihre Absätze dem Stein ein harsches, widerhallendes Geräusch. Der Raum musste groß sein, gewaltig im Vergleich zum Keller der Winters.

Das Unangenehmste war jedoch die Kälte. Ein Schauer lief Minerva über den Rücken. Als nähme sie mitten im Winter ein Bad im schwarzen See. Es fehlten bloß Wind und Schneefall, um den eisigen Wintertag zu vervollständigen. Nur zweimal im Leben war ihr so kalt gewesen. Nach einem unfreiwilligen Zusammenstoß mit Sir Nicholas – und bei ihrem einzigen, berufsbedingten Besuch in Askaban vor vielen Jahren.

Ihr Atem stockte. Wohin brachten diese Leute sie nur? Würden sie und Elphinstone hier je herausfinden? Je weiter sie gingen, desto unwahrscheinlicher erschien es ihr. Das Haus war verwinkelt, voller Anwender schwarzer Magie und sie zauberstablos. Magielos.

Schon wieder führte man sie durch eine Tür. Die Kälte ließ nach, ein wenig zumindest. Etwas knarzte und dann stieß der Zauberer hinter Minerva seine Stabspitze grob zwischen ihre Schulterblätter, sodass sie vorwärts stolperte, bevor sie auf nackten Stein fiel. Im Stillen schossen ihr hunderte Verwünschungen durch den Kopf, während sie sich mit den gefesselten Händen mühsam in eine sitzende Position hochdrückte. Vor diesen Menschen würde sie nicht im Staub kriechen.

»Einen schönen Aufenthalt wünsche ich. Rowle wird es euch sicherlich bald angenehm machen.«

Wieder schallendes Gelächter. Ein unerwarteter Ruck durchlief die Seile um Minervas Handgelenke und schon lösten die Schnüre sich in Wohlgefallen auf. Gleichzeitig verschwand die Augenbinde, doch es blieb düster. Minerva erkannte gerade so eine Reihe metallener Streben vor sich. Dahinter entflohen dunkle Schatten durch eine schwere Tür, die klickend hinter ihnen ins Schloss fiel und noch mehr Helligkeit schluckte. Das einzige Licht in ihrem neuen Gefängnis kam von einer schwebenden Sphäre außerhalb der Gitterstäbe, die mattgelb glomm.

Klopfenden Herzens sah Minerva sich in der Zelle um. Da war Elphinstone – nicht weit von ihr kniete er auf dem Boden. »Phin!«

Er riss den Kopf hoch. Keine Sekunde später umfingen seine Arme sie. Das Gesicht in ihrem Haar vergraben, drückte er sie auf dem Stein kauernd eng an sich. Seine Hände strichen über ihre Schultern, ihren Rücken, ihren Nacken. Immer fester zog er sie an sich – oder sie ihn. Minerva konnte es nicht sagen und es spielte ohnehin keine Rolle. Sie presste die Stirn in seine Halsbeuge, versenkte die Finger im weichen Wollstoff seines Umhangs, sog seine Gegenwart in sich auf wie die Luft in ihre Lungen. Für einen Augenblick verharrten sie in drückender Stille, die sie nur mit ihrem zittrigen Atem füllten.

Erinnerungen eines viel zu langen Tages stürzten in Minervas Kopf durcheinander. Kämpfe, Angst, Schmerzen – Tod. Sie schluchzte trocken auf. Selbst jetzt erschien es ihr noch surreal, dass Mrs. Winters und Detective Hammond beide tot waren.

»Minerva«, flüsterte Elphinstone schließlich, »oh Minerva ...«

Das Beben seiner Schultern übertrug sich auf sie. Sie hörte, wie er um die Worte rang und verlor. Nur ein schweres Seufzen drang über seine Lippen. Er zog sich ein Stück zurück, weit genug, um sie anzusehen. Aber seine Hände blieben bei ihr. Sanft streichelte er ihre Wange. Erneut holte er tief Luft und nahm einen zweiten Anlauf, etwas zu sagen.

»Warum? Warum bist du nicht geflohen? Du hattest es doch fast geschafft. Ich wollte, dass wenigstens du entkommst!«

Energisch schüttelte sie den Kopf, die Lippen fest aufeinandergepresst. »Ich konnte dich nicht zurücklassen, Phin. Niemals.«

»Du hättest es trotzdem tun sollen.«

»Hättest du mich zurückgelassen?«

Er sah fort von ihr, durch die Gitterstäbe auf den magischen Lichtball. Bildete sie sich das ein oder schimmerten Tränen in seinen Augenwinkeln?

»Nein«, sagte er nach einer Pause. »Niemals.«

»Siehst du?« Minerva strich über seine Wange wie er zuvor bei ihr und er wandte den Kopf zurück. »Genauso konnte ich dich nicht zurücklassen. Ich hätte es mir nie verziehen, dich aufzugeben.«

Er stöhnte auf, die Stirn in Falten gelegt. »Aber weshalb? Min, jetzt bist du mit mir gefangen –«

»Liegt das nicht auf der Hand?« In der zittrigen Imitation eines Lächelns hob sie die Mundwinkel, während sie sich vorlehnte und ihre Stirn an seine lehnte. Trotz des schwachen Lichts hätte sie die verblassten Spuren seiner Sommersprossen zählen können. »Phin, ich –«

Es krachte. Die Tür flog auf und stieß gegen den Stein. Getroffen wie von dem Knall einer Explosion zuckte Minerva zurück. Elphinstones Wärme entschwand ihr viel zu schnell und Kälte fraß sich in ihre Brust vor.

»Oh, störe ich?« Rowle schlug die Tür zu, ehe er an die Gitterstäbe vortrat. Die Zaubersphäre schwebte direkt hinter ihm und ließ sein Gesicht im Schatten verschwinden. »Tut mir wirklich leid, eure rührselige Wiedervereinigung zu unterbrechen.«

Elphinstone senkte die Hände, die er immer noch in Minervas Richtung ausgestreckt hatte. Er hob das Kinn und die herabgesunkenen Schultern wieder. Fort war der verletzliche Ausdruck auf seinem Gesicht. »Was kommt jetzt?«, fragte er betont ruhig. »Ein wenig Folter, bevor ihr mich gegen meinen Willen für eure Experimente quält? Ein bisschen Spaß für dich?«

Minerva sah, wie Rowle seinen Zauberstab zärtlich zwischen den Fingern drehte.

»Es ist ganz einfach, Urquart. Du lernst Demut. Bewunderst die Macht der Magie. Und wenn wir fertig sind, bist du hoffentlich etwas ... bereitwilliger und ich – ja, ich hatte meinen Spaß.« Er straffte die Schulter und hob den Stab.

Die Hände zu Fäusten geballt, spannte Minerva sich an, bereit, Elphinstone notfalls aus der Ziellinie zu stoßen.

»Niemals«, stieß dieser zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Du kannst mir antun, was du willst, aber –«

»Tsss ...« Der ehemalige Ravenclaw wandte den Blick von Elphinstone ab und drehte sich zu Minerva. In den Schatten blitzten seine Zähne auf. »Ich freue mich schon darauf, Ihnen meine wahren Fähigkeiten zu demonstrieren, Professor.« Er legte all seine Verachtung in das letzte Wort. »Vielleicht werden Sie dann ja endlich einsehen, wie falsch Sie lagen.«

»Oh Rowle ... verstehen Sie doch, ich wollte Ihnen nie etw–«

»Crucio!«

 

Minerva hatte mit vielem gerechnet. Mit Flüchen und dunkler Magie, die sie quälen sollten – aber nicht mit diesem unverzeihlichen Zauber, der ihr ganzes Leben bloß eine düstere Erzählung gewesen war und zuletzt ein unvorstellbarer Schrecken, den Robbie durchlitten hatte. Für diese Schmerzen war sie nicht gewappnet. Wo eben lediglich ihr Stolz angekratzt war, loderten nun schwarze Flammen auf. Eine Hand an die Brust gepresst, beugte sie sich vorneüber und rang nach Atem. Ihr war, als blähe sich ein Kugelfisch in ihrer Lunge auf.

Etwas Warmes legte sich auf ihre Schulter und sie erkannte Elphinstone, der sich zu ihr herab beugte. Seine Augen schimmerten feucht im fernen Lichtschein. Zu seiner Beruhigung rang sie sich ein tapferes Nicken ab.

»Tun Sie das nicht, Rowle«, keuchte sie, »dieser Weg wird Ihnen bald viel mehr Schmerz bringen! Sie berauben sich selber Ihrer Zukunft!«

»Oh, ich bin sicher, dass in meiner Zukunft noch mehr Schmerz liegt – den ich anderen bereiten werde! Wissen Sie, ich hatte bisher noch nie Gelegenheit, den Cruciatus einmal richtig auszuprobieren. Aber jetzt ... Er gefällt mir, sehr sogar.«

Auf Elphinstone gestützt, hob Minerva den Blick wieder, um ihren ehemaligen Schüler anzusehen. Die erste Woge heißen Schmerzes ebbte langsam ab, sodass sie sich beinahe an die nadelscharfe Enge in ihrem Brustkorb gewöhnte.

»Was wird all dieser Schmerz an der Welt und dem angeblichen Unrecht, das Ihnen widerfahren ist, ändern?«

Ihr Foltermeister schlenkerte ungeduldig mit dem Zauberstab durch die Luft und bescherte ihr damit einen gänzlich schmerzfreien Atemzug. »Professor, Sie plappern doch sonst so schlau daher. Fällt Ihnen gar nichts dazu ein? Tun Sie sich den Gefallen und schlucken Ihre Worte wieder runter. Sie werden Ihren Atem noch brauchen.«

Der Druck von Elphinstones Hand an Minervas Schulter verstärkte sich. Sie sah, wie sein Kiefer sich verkrampfte und ein harter Ausdruck in seine Augen trat. »Du willst mich Demut lehren, Rowle? Dann sei kein Feigling und richte deinen Zauberstab gleich auf mich!«

Minerva schüttelte den Kopf. »Nein, Elphinstone«, zischte sie leise.

Doch er hörte nicht auf sie, sondern richtete sich neben ihr auf. »Du bist schwach, Rowle, rächst dich an den Falschen. Weißt du, wer deine Berufschancen wirklich ruiniert hat? Nicht Minerva, nicht dein fehlender UTZ, sondern ich, der nicht einmal darüber nachgedacht hat, dich einzustellen, ungeachtet deiner Noten. Ich habe lieber einen Muggelgeborenen eingestellt!« Er breitete die Arme aus. »Und ich würde es jederzeit wieder tun. Glaub ja nicht, dass du jemals einen Fuß in das Ministerium setzen wirst!«

In ihrer Verzweiflung zerrte Minerva an dem weiten Ärmel seines Umhangs. »Lass doch ... bitte«, flehte sie ihn an, aber er hatte sich in Rage geredet; schrie Rowle geradezu alle Gründe entgegen, warum dieser ihn hassen – foltern – sollte. Sie wusste, dass es Lügen waren. Um sie zu schützen. Dabei fürchtete sie sich mehr davor, ihn in Krämpfen daliegen zu sehen, denn selber gefoltert zu werden.

Rowles Augen verengten sich mit jedem Wort weiter zu Schlitzen. »Du bist eine Schande für alle reinblütigen Familien dieses Landes«, spie er Elphinstone verächtlich entgegen. Erregt wirbelte er den Zauberstab herum. »Aber keine Sorge, dein großer Moment wird noch kommen.« Sein Blick huschte zurück zu Minerva, deren Hand weiterhin in Elphinstones Umhang gekrallt war. »Offenbar ist der Zauber noch zu lasch. Verzeihen Sie, Professor. Beim zweiten Mal gelingt es sicher besser. Sie haben ja immer erzählt, dass Übung den Meister macht.« Den Zauberstab durch die Gitter gerichtet, rief er den Fluch erneut aus.

Dieses Mal waren es keine bloßen Flammen, sondern Lava, glühend heiße Lava, die von ihrem Bauch aus in Minerva explodierte. Ihre Hand rutschte kraftlos von Elphinstones Ärmel. Etwas tobte in ihrem Inneren, wollte ausbrechen, aber egal wie sehr sie sich verrenkte, der Schmerz schwoll nur weiter an.

Schwarze Flecken trübten ihr Sichtfeld und erinnerten sie daran, einen qualvollen Atemzug zu nehmen. Ihre Fingernägel rissen den Umhang auf und gruben sich haltsuchend durch den Stoff ihrer Bluse in die Haut darunter, als wollten sie sich zu dem Feuer in ihrem Inneren graben; es mit roher Gewalt aus ihrer Brust reißen.

Nur am Rande nahm sie wahr, dass Elphinstone wieder auf die Knie sackte, die Hände nach ihr ausgestreckt. Aber die Schmerzen waren zu stark. Sie wand sich verzweifelt wie ein Flubberwurm, der gleich im Zaubertrank landen sollte, und ihm gelang es nicht, sie schützend in die Arme zu ziehen. Auch seine leise geflüsterten Worte drangen nicht durch das Rauschen ihres eigenen Blutes.

Sie versuchte, jeglichen Schmerzensschrei zu unterdrücken, um Rowle wenigstens nicht diese Befriedigung zu verschaffen. Vielleicht würde er aufhören, wenn er sah, dass er sie nicht zum Betteln bringen konnte. Aber der Junge schnippte nur erneut mit seinem Zauberstab und schon zuckten ihre Glieder wieder unkontrolliert. In unmöglichen Verrenkungen auf den harten Boden gekauert, kämpfte ihr Körper darum, den Schmerzen zu entgehen, doch es gelang einfach nicht. Wie ein schrecklich schräges Lied steigerte sich die Qual nur, schwoll zu einem grässlichen Crescendo aus hunderten Musiksägen an und war noch lange nicht am Ende.

Mulciber war ein Narr. Rowles ganzes Wollen lag in diesem Fluch und Minerva hatte keine Zweifel mehr, dass er den Todesfluch genauso erfolgreich sprechen konnte. Der Junge war zu tief gefallen.

Als wolle der Schmerz sie für diesen Gedanken bestrafen, drückte er mit voller Kraft ihre Lungen zusammen und ließ sie trotz aufeinandergepresster Lippen leise wimmern. Durch einen Schleier aus ungeweinten Schmerzenstränen sah sie Elphinstone neben sich hocken. Sie versuchte, sich auf seinen verschwommenen Umriss zu konzentrieren und sich daran zu erinnern, wofür sie stark bleiben musste, doch sie schaffte es nicht. Alle Luft war fort aus ihrer Brust und das Gefühl, am Schmerz zu ersticken, wuchs in ihr heran. Ein neuerliches Wimmern, das nur entfernt wie sein Name klang, entrang sich ihrer Kehle.

»Minerva!«

In einem Duett mit den Schmerzen des Cruciatus quälte Elphinstones furchtsamer Aufschrei nun auch noch ihr Herz.

»Minerva ...!«

Die Pein in seinen Worten war ein Spiegelbild ihrer eigenen, eine Qual so tief wie kein Fluch auslösen konnte. Sie hasste, dass er über ihr Leid seine ganz persönliche Folter erfuhr. Egal wie beherrscht er hatte sein wollen, jetzt zerriss Angst seine Stimme – und die brach sie.

Durch das rasende Feuer in ihren Glieder spürte Minerva kaum, wie Elphinstone nach ihrer Hand griff, aber auf einmal waren seine warmen Finger zwischen ihren und allen Stolzes beraubt hielt sie sich daran fest wie eine Ertrinkende.

»Rowle, hör auf!«, rief Elphinstone, außer sich. »Ich bitte dich – du bringst sie um! Lass es sein! Ich habe meine Lektion gelernt, hörst du? Nehmt mein Blut, tut was immer ihr wollt, aber hör auf mit diesem Irrsinn!«

Dem Jungen schien der hilflose Zorn perverse Freude zu verschaffen, denn er setzte unerbittlich nach. »Crucio!«

Zu den Flammen gesellte sich ätzende Säure, die Minerva von innen zerfraß. Sie krümmte sich weiter zusammen, die Stirn gegen den unnachgiebigen Boden gepresst. Es gab kein Entkommen. Egal wie fest sie die Lippen aufeinanderpresste, sobald der erste Schrei sich seinen Weg gebahnt hatte, ließ es sich nicht länger aufhalten. Mit roher Gewalt brachen die Laute sich ihren Weg, ohne im entferntesten das Leid zu lindern. Viel mehr brannten sie sich durch ihren Hals wie ein giftiger Trank, bis ihre Kehle Blasen warf. Ihre Schreie waren keine Worte, nur lose Fetzen der Qual.

Der Stein unter ihr war einmal eisig gewesen. Aber in dieser neuen Welt aus Schmerzen existierte keine Kälte mehr. Nur Feuer, Feuer, Feuer. Ohne es zu wollen, bohrte sie die Fingernägel tief in Elphinstones Handrücken. Die einzige Konstante in diesem Konzert aus Pein.

»Dafür wirst du bezahlen«, brüllte Elphinstone an Rowle gewandt. Seine Stimme geriet zu einem tiefen Grollen, das Minerva noch nie von ihm gehört hatte. Nicht einmal in dreizehn Jahren hatte Elphinstone derart geschrien. »Eines Tages wirst du für all deine Taten in Askaban verrotten! Wenn ich nicht dafür sorge, dass dich die Auroren vorher in winzige Stücke reißen.«

Rowle entblößte seine Zähne. »So schnell überzeugt? Dabei wäre es doch wirklich langweilig, wenn ich jetzt schon aufhöre ...«

Sein Wille hinter dem Zauber schien stärker zu werden und Minervas nächster Schrei übertünchte seine Worte. Nur sein höhnisches Lachen war lauter.

»Dafür macht es viel zu viel Spaß! Schreit ruhig noch ein wenig lauter ihr beide. Bella soll es auch hören!«

Die nächste Welle aus Schmerz begrub Minerva unter sich und Tränen, heiß wie ewiges Feuer, rollten ihr über die Wangen. Es war einfach zu viel. Elphinstone forderte, fluchte, flehte, aber die Bedeutung seiner Worte erreichte sie nicht mehr. In ihren Ohren rauschte das Blut so laut wie tausend Wasserfälle, und ihre freie Hand kratzte am Stein, in dem sinnlosen Versuch, einen Ausweg zu finden. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, explodierten vielfarbige Lichter direkt in ihrem Kopf.

Die Kraft, sich zu wehren, floss stetig aus ihr hinaus, mit jeder Träne; jedem Schrei. Irgendwann lag sie nur noch da, die Wange auf den heißen Steinboden gepresst, ihre Knie an die Brust gezogen und rang um den nächsten Atemzug. Erst da beendete Rowle den Fluch. Der Schmerz aber blieb, ein stetes Pochen wie ein zweites Herz und dann wurde es schwarz um sie.

Mo Chridhe

Wachsendes Grün. Verdunstende Regentropfen. Zaghafte Sonnenstrahlen. Minerva roch feuchtes Gras; hörte Wasser von Blättern perlen. Da stand ein Fenster neben ihr offen. Sie musste nur den Kopf drehen und hinaussehen. Unter dem grauen Himmel erstreckte sich ein Garten, in dem alles querbeet wuchs – Springbohnen neben Hortensien, Sonnenblumen zwischen Alihotsi. Geborgenheit.

Etwas daran kam ihr schrecklich bekannt vor, aber ihr fiel nicht ein woher. Erinnerungen an dampfenden, pinken Zaubertrank und ... vor allem jemanden stiegen in ihr auf und verschwanden sogleich. Der Versuch, einen dieser Gedanken zu fassen, gestaltete sich so schwer wie Wasser mit den Händen zu schöpfen. Wieder und wieder entglitt ihr die Erkenntnis. Sie wollte nur in dem warmen Licht baden, die Geborgenheit genießen ... wenn da nicht dieses Ziepen an ihrem Bewusstsein wäre. Wie ein Ziehen an den Haaren, nur in ihrem Kopf.

Nach und nach vermischten sich andere Empfindungen mit dem Pflanzengeruch, angenehme wie unangenehme. Etwas Weiches an ihrer Wange. Der Geschmack von Eisen im Mund. Sanfte Wärme unter den Fingern. Kälte in den Beinen. Ihr Hinterkopf schien in Wolken gebettet und dennoch schmerzte jede Faser ihres Körpers bis in die Fingerspitzen hinein, schlimmer als nach einer Begegnung mit dem Quidditch-Torpfosten bei voller Besengeschwindigkeit. Ferne Schreie hallten durch ihre Erinnerung – ihre Schreie.

In der Dunkelheit ihres Bewusstseins traf Minerva der Gedanke an den Cruciatus-Fluch mit der Wucht eines wütenden Erumpents. Es wartete kein Garten voller Wärme und Geborgenheit in der Schwärze hinter ihren Lidern, sondern das Nichts riss an ihr, bereit, sie zu verschlingen ... Sie ertrug es nicht eine Sekunde länger, in der Zwischenwelt zu schweben. Entgegen der bleiernen Schwere zwang sie sich, die Augen ein Stück zu öffnen.

Was war da? Wo ... und wer? Der winzige Ausschnitt der Realität vor ihr war verschwommen, grau, bewegte sich kaum merklich ... Sie blinzelte. Einmal, zweimal. Ihr Blick traf auf dunklen Wollstoff.

»Minerva?«

Langsam wanderten ihre Augen den Umhang hinauf, bis sie ein helles Gesicht erkannte. Elphinstone. Anscheinend hielt er sie in den Armen, während ihr Oberkörper auf seinem Schoß ruhte. Das mussten seine Fingerspitzen sein, die in kleinen Kreisen über ihren Oberarm fuhren.

»Merlin sei Dank«, seufzte er. Seine Stimme kam ihr unter dem Dröhnen aus Pein unglaublich leise vor. »Bei den Gründern, ich hatte solche Angst, dass du nicht wieder aufwachst. Du warst bestimmt zwei Stunden ohne Bewusstsein.«

Sanfter Druck breitete sich auf ihrer Hand aus und sie stöhnte, als ein Schmerzblitz bis in ihre Schulter jagte. Rasch wollte Elphinstone die Finger fortziehen, doch sie hielt ihn trotz protestierender Muskeln fest.

Wie schon ihre Augen schienen auch Minervas Lippen mit einem Klebefluch versiegelt zu sein. Sie zwang sich, sie einen winzigen Spalt auseinanderzubringen. Bis auf ein Rinnsal Blut war ihr Mund staubtrocken, ihre Zunge ein pelziges Ungetüm darin.

»Mir ... geht’s gut«, hauchte sie kaum hörbar. Ihre Stimmbänder mussten eine Begegnung mit der Küchenreibe hinter sich haben, so zerfetzt klangen die wenigen Worte.

»Sag das nicht.« Elphinstone schüttelte den Kopf. »Ich war schließlich dabei. Und ich weiß, wie gefährlich dieser Fluch ist.«

Er löste vorsichtig seine Finger aus ihren, um eine Haarsträhne aus ihrer Stirn zu streichen. Auf seinem Handrücken prangten in Form blutiger Sichelmonde die Spuren von Fingernägeln. Ihrer Fingernägel, wie Minerva nach einer Sekunde der Irritation bewusst wurde. Sie schluckte schwer, eine Tat, die neuerliche Flammen ihre Kehle hinabschickte.

»Erwischt.« Irgendwie erinnerten sich ihre Muskeln daran, wie man die Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächelns hob. »Tut beschissener weh ... als ein Klatscher. Oder drei. Auf einmal.« Allein diese Worte schmerzten, als würde sie Glasscherben hochwürgen.

»Ich fürchte, da kann ich als ewiger Zuschauer nicht mitreden«, entgegnete Elphinstone mit einem kleinen Lächeln. »Vermutlich zu meinem Glück.«

Erst langsam, auf der Suche nach einer Antwort, für die ihr die Worte fehlten, dämmerte es Minerva. Er hatte nicht auf Englisch gesprochen, zumindest nicht ausschließlich. Genauso wenig wie sie. Im dumpfen Betäubungszustand war ihr nicht einmal aufgefallen, dass er Gälisch sprach, durchmischt mit einigen englischen Brocken, und sie hatte wie von alleine geantwortet. Obwohl sie seit Jahren kaum Gelegenheit bekam, mehr als ein paar gälische Flüche zu verwenden.

Ihr Erstaunen blieb nicht unbemerkt. »Mindestens einer von denen steht immer draußen vor der Tür, ich habe die Schritte gehört. Ich traue ihnen zu, hin und wieder mit einem Abhörzauber zu lauschen. Aber ich würd meinen Besen fressen, wenn auch nur einer von denen uns so versteht. Es hat seine Vorteile, noch eine zweite Sprache zu kennen, die am Aussterben ist.«

Mit einem Ziehen in den Wangen vertiefte sich Minervas Lächeln. »Clever. Ich hätte nie gedacht, dich mal so viel Gälisch sprechen zu hören.« Aus ihrer Kehle entrang sich ein trockenes Husten und sie stöhnte erneut auf, eine Hand an die Rippen gepresst. »Vermutlich wusste ich nicht einmal, dass du mehr als fluchen kannst. Verflucht, ich wusste nicht einmal, dass ich noch mehr außer fluchen kann.«

Die Fältchen um Elphinstones Augen gruben sich tiefer in seine Haut. »Schottischer Stolz bis zum bitteren Ende.«

»Lass uns nicht davon ausgehen, dass es das Ende ist, ja?«

»Natürlich nicht, entschuldige.«

Minerva nahm einen tiefen Atemzug, der tausende Nadeln in ihre Lunge jagte. »Was ist passiert nachdem ... ich weg war?«

Sie sah, wie Elphinstones Adamsapfel auf und ab hüpfte. »Nichts. Rowle hat sich einfach umgedreht und ist gegangen. Seitdem sitze ich hier mit dir im Arm.«

Für einen Moment musste Minerva die Augen schließen. Flirrende Lichter und dunkle Flecken schwebten durch ihr Blickfeld und blieben selbst in der Dunkelheit vor der Innenseite ihrer Lider. Sie wollte nichts lieber als schlafen. Aber solange sie nicht alles wusste, erlaubte sie es sich nicht.

»Phin, was ist im Haus der Winters passiert, bevor ich dazu kam?«

»Wir wurden überwältigt, ehe wir dem Plan folgen konnten. Draußen im Garten warteten Wachtposten unter Tarnumhängen, die Mulcibers Gruppe angegriffen haben. Als er sein Foemicus-Band aufgelöst hat, wollte ich ihm zur Hilfe eilen. Aber wir kamen zu spät, sie hatten seine Begleiter schon überwältigt. Mulciber muss gerade so entkommen sein ... Jedenfalls haben die Zauberer mich entwaffnet und ins Wohnzimmer geschleift. Nachdem ich auf Muggelart versucht habe, einen von ihnen zu überwältigen, kam ihre Anführerin –«

»Bellatrix. Nenn sie ruhig beim Namen.«

Kurz hielt Elphinstone darin inne, Kreise auf Minervas Oberarm zu beschreiben. »Ja. Bellatrix ist dazugekommen und hat den Foemicus-Zauber aufgelöst, um mich als Lockmittel zu benutzen. Sie wusste, dass irgendwo noch mehr von uns sein müssen und nachdem sie mich nicht zwingen konnte, hat sie einfach den ganzen Zauber beseitigt.« Aus den Kreisen wurden Schlaufen, die er gedankenverloren mit den Fingerspitzen zeichnete. »Einem der Polizisten gelang es noch, einen ihrer Komplizen zu erschießen, bevor sie mich geschockt hat.«

»Und Mrs. Winters? Was ... was haben sie ihr angetan?«

Elphinstone lehnte den Kopf zurück. Das Beben seiner Stimme reichte auch so, um zu merken, wie sehr ihn die Erinnerung anwiderte. »Ich war nicht dabei, aber ... sie haben das Kind geholt, wie Bellatrix es in der Polizeiaufnahme angedroht hat. Als wir aufgegriffen wurden, sind zwei Zauberer mit den Kindern geflohen.«

»Aber sie leben? Jonathan und das Baby? Du hast sie gesehen?«

»Ja, kurz. Nach allem, was ich aus den Gesprächen unserer Entführer schließen kann, sind die Kinder beide wichtig für dieses ... Experiment. Ich glaube nicht, dass Bellatrix ihnen etwas antun wird, zumindest nichts, das ihr Leben unmittelbar gefährdet.«

»Das ist gut. Dann können wir wenigstens sie noch retten.« Eine Träne löste sich aus Minervas Augenwinkel und tropfte in ihr Haar. »Wenn ich schon niemand anderen retten kann ...«

»Hey ...« Elphinstone fing die nächste Träne mit den Fingerspitzen auf. »Sag so etwas nicht. Du hast mich gerettet. Und die Alditchs, Mr. Winters. Sämtliche Polizisten. Du hast alles getan, was du konntest. Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich dafür bewundere?«

Minerva sog die Luft ein. »Aber Detective Hammond –«

»Hat etwas sehr Heldenhaftes getan. Aus freien Stücken. Wir werden ihn ehren, wenn es so weit ist. Jetzt müssen wir erstmal an uns denken, Min.«

»Gerade davor habe ich Angst.« Sie blinzelte gegen die Tränen an, doch sein Gesicht verschwamm unaufhaltsam vor ihren Augen.

»Ich doch auch. Aber wir schaffen es hier raus. Gemeinsam.«

Trotz des flüssigen Feuers, das bei jeder Bewegung neuerlich ihre Glieder in Brand setzte, tastete Minerva nach seiner Hand und schloss wieder die Finger darum. »Danke, Phin. Für ... so vieles.«

»Shhh, alles gut. Etwas anderes könnte ich nie tun.« Sacht legte er seine Lippen auf ihre Stirn, eine Berührung so flüchtig wie das Streifen einer Feder. »Dhutsa mo chridhe«, flüsterte er und hob ihre Hand an seine Brust, »tha mi a ’gèilleadh.«

Denn dir ergebe ich mein Herz.

Erneut stockte Minerva der Atem, allerdings nicht vor Pein dieses Mal. Etwas flackerte in ihrem chridhe, dem gälischen Herzen, auf. Als würde ein Schnatz ihre Fingerspitzen streifen und sie dazu herausfordern, ihn zu ergreifen. Ein warmes Gefühl, kein Vergleich zu dem Dämonenfeuer, das der Cruciatus entzündet hatte. Sanft wie die ersten Sonnenstrahlen nach einem Regentag.

So fest es ihr möglich war, drückte sie Elphinstones Hand und bemühte sich, erneut zu lächeln. Einen Wimpernschlag lang war der flammende Schmerz restlos vergessen. »Ich würde es genauso für dich tun. Nur, dass du es weißt. Du bist ebenso wichtig für mich.«

»Selbst wenn nicht, würde das nichts für mich ändern.«

Müde sanken ihre Lieder wieder nach unten, doch das Lächeln blieb. »Ich bin so froh, dass du hier bist, Phin.«

»Und ich bin ebenso froh, dass ich bei dir sein kann. Ruh dich aus, Min. Ich passe auf und wecke dich, falls etwas passiert.«

Ihre Wange an seinen Oberkörper gelehnt, atmete sie langsam ein und aus. Sie wollte immer noch nicht schlafen, aber der Kampf gegen den Fluch forderte erbarmungslos seinen Tribut. Umgeben von Elphinstones so vertrauter Wärme versank sie wieder in Schwärze.

 

Das Quietschen ihrer Zellentür riss Minerva Stunden später ein weiteres Mal aus der Dunkelheit zurück in die Arme von Elphinstone. Dieses Mal schälte sich die Realität schneller aus den Schatten vor ihren Augen. In der Zelle standen zwei Silhouetten, eine davon den Zauberstab auf sie gerichtet.

»Gut gemacht. Sieh dir an, wie er sie festhält. Begreifst du jetzt, warum sie zusammen in dieser Zelle sind?«

Bellatrix.

»Damit er zusehen kann?«

Und Rowle, natürlich.

»Das ist ja wohl offensichtlich. Nein, wovon ich rede, ist Hoffnung

Die größere Gestalt, vermutlich Rowle, zuckte mit den Schultern und schwenkte ihren Zauberstab auf und ab, anscheinend begierig darauf, ihn zu verwenden.

»Hoffnung, dass er sie retten kann«, fuhr Bellatrix fort. »Das wahre Vergnügen liegt darin, den Moment zu erkennen, in dem diese Hoffnung stirbt, wenn du sie wieder und wieder schreien lässt. Simples Zusehen kann eine ebenso mächtige Waffe sein wie die Unverzeihlichen, Thorfinn. Brich ihren Geist, nicht bloß ihren Widerstand.«

Minerva schluckte glassplitterscharfe Angst. Sie suchte Elphinstones Augen, doch er sah nicht zu ihr, sondern zu ihrer Kerkermeisterin. Auf ihrem Oberarm beschrieben seine Finger dieselben zarten Muster wie Stunden zuvor.

»Ihr könnt Minerva nicht anrühren.«

Mit einem Schnauben legte Rowles Schatten den Kopf schief. »Sonst was?«

»Sonst stirbt sie. Und dann ist euer Spaß – oder eure Lehrstunde – oder was auch immer – vorbei

Rowle lachte leise. »Hast doch nicht so viel gelernt, hm? Ich hab hier den Zauberstab –«

Bellatrix drückte seine erhobene Zauberstabhand nach unten. »Warum bist du da so sicher, Urquart?«

»Er hat den Cruciatus für fast eine Stunde angewandt. Sie hat infolgedessen das Bewusstsein verloren. Seitdem sind mehrere Stunden vergangen, in denen sie keine heilende Hilfe bekommen hat.« Elphinstone spuckte ihnen die Worte geradezu vor die Füße. »Es ist Fakt, dass jeder weitere Fluch sie umbringen kann, wenn sie nicht längst innere Blutungen oder Nervenschäden hat. Und das wollt ihr schließlich nicht, oder? Noch nicht.«

Stimmte das? War es eine Stunde gewesen? Nur? In Minervas Erinnerung schien Rowles Folter den halben Tag gedauert zu haben. Gleichzeitig konnte sie sich kaum vorstellen, dass sie überhaupt mehrere Minuten derartigen Schmerz ertragen hatte.

»An dir ist auch ein Heiler verloren gegangen, hm?« Erneut hob Rowle den Zauberstab.

»Nein, aber ich habe lange genug mit einem Heiler zusammengelebt und ihm bei seiner Examensvorbereitung geholfen«, erklärte Elphinstone. »Davon abgesehen hatte ich in meiner Karriere bereits einen Cruciatus-Fall auf dem Schreibtisch, der nicht gut ausgegangen ist.«

Jedes seiner Worte schnürte sich eng um Minervas Herz. Elphinstone sprach nüchtern, doch sie kannte ihn lange genug. Er zeigte seine Fassade des Strafverfolgers, die sonst dem Gamot vorbehalten war. Im Gerichtssaal zählten Fakten. Seine Arme indes drückten ihren Oberkörper immer fester an seine Brust und die Fingerspitzen hörten nicht damit auf, über ihre Schulter zu streichen.

»Es ist zu eurem Besten, wenn ihr sie nicht anrührt«, setzte er gefasst hinzu. »Sie muss erst heilen oder ihr verliert jegliches Druckmittel.«

Rowle ertränkte seine letzten Worte in Gelächter. »Das wünschst du dir, he? Glaubst du, du kannst mich hinhalten? Was planst du?«

Knall auf Knall durchbrachen Bellatrix‘ Absätze auf dem Steinboden seine bemühte Machtdemonstration. Die Anführerin des Trollballetts trat vor und schlug ihrem Adjutanten den Stab aus der Hand. »Er hat recht. Nutz einmal dein Billywighirn! Wenn du gierig wirst, bestraft dich der Tod mit einem nutzlosen Opfer. Eine Stunde – das ist definitiv zu lange. Du musst es sanft machen! Hast du denn gar nichts begriffen?«

Die Hände in die Hüften gestemmt, schalt Bellatrix Rowle, der wie ein Mondkalb vorm Berg dastand. Wenn das ihre Lehrmethoden waren, wunderte es Minerva kaum, dass Rowle offensichtlich nichts gelernt hatte. Beleidigungen lehrten niemanden. Schimpfen hingegen, das konnte Bellatrix.

»Es gibt so viele andere Zauber, die man zwischendurch einbringen kann, um die Behandlung zu strecken ... denk an Diffindo oder andere Trennzauber! Wird das wohl in deinen Schädel gehen?«

Unwirsch wandte Bellatrix ihm den Rücken zu und trat einen Schritt näher an Elphinstone. Ihr Blick huschte hinab und traf auf Minervas. Einen Moment war diese versucht, die Augen zu schließen, doch es war zu spät. Langsam hob ihre ehemalige Schülerin einen Mundwinkel.

»Thorfinn, du gehst jetzt hoch und holst einen großen Heiltrank für unsere Besucherin. Bring auch gleich einen Blutbildungstrank mit. Dann können wir die Lektion fortsetzen.«

Nur unter größtem Murren verschwand Rowle und ließ sie alleine.

»So einfach, wie Urquart uns das weismachen will, sind Sie nicht totzukriegen, nicht wahr, Professor McGonagall?« Kopfschüttelnd verschränkte Bellatrix die Hände hinter ihrem Rücken. »Sie waren schon in meiner Schulzeit schrecklich hartnäckig.«

Minerva fühlte, wie Elphinstones Blick zu ihr zuckte. Er keuchte leise auf und sie drückte seine Hand, ohne von Bellatrix fortzusehen. »Eine Katze landet eben immer auf ihren Füßen, Mrs. Lestrange.«

Jetzt hob Bellatrix auch den zweiten Mundwinkel zu einem Lächeln. »Und sieben Leben haben Sie ebenfalls, nehme ich an. Ihr Triumph sei Ihnen gegönnt. Der Junge braucht die Lektion. Erst einmal ist ohnehin Urquart an der Reihe.« Sie streckte eine Hand in seine Richtung aus, als wolle sie Elphinstone zu einem Tanz auffordern. »Wenn du mir die Ehre erweist?«

Er straffte die Schultern und nickte. Der Anblick seiner geröteten Augen schlang einen Knoten in Minervas Inneres. So schön sie ihn fand, in diesem Moment schmerzte es, ihn anzusehen. Sie drückte seine Hand fester, konnte aber nicht verhindern, dass er seine Finger langsam zurückzog und sie behutsam von seinem Schoß auf den Boden schob. Plötzlich war nur noch der kalte Stein unter ihr. Elphinstone schlüpfte aus dem Umhang und breitete ihn über ihr aus. Während er so vor ihr kniete, streichelte er ihre Wange, sodass Bellatrix hinter ihm es nicht sah.

»Mir wird nichts passieren«, flüsterte er auf Gälisch. »Nach dem Tod von Mrs. Winters brauchen sie ein anderes Reinblut, da werden sie mich nicht töten.«

Um Tapferkeit bemüht, nickte Minerva. Ohne seine Wärme drang die Kälte unbarmherzig auf sie ein und mit ihr kam die Schwärze zurück. Am Boden liegend musste sie tatenlos zusehen, wie er zu Bellatrix trat und diese seinen Unterarm packte.

Elphinstone gab keinen Laut von sich, als sie den linken Ärmel seines Hemdes mit einem Zauber zerschnitt. Er ließ es ebenso geschehen, dass sie sein Handgelenk ergriff, die Innenseite nach oben drehte und mit ihren dunkelroten Fingernägeln über die blasse Haut fuhr.

»Eine gewisse Schwäche scheint in deiner Familie zu liegen«, seufzte Bellatrix. »Dabei habe ich deine Schwester Elladora einst bewundert, wusstest du das?«

»Oh, Ella hat ihre Fehler«, erwiderte Elphinstone fest, »aber zum Glück keine solch gravierenden, dass der Verlust deiner Bewunderung eine Strafe wäre.«

Bellatrix überging die Bemerkung. »Sie und Gideon – mein Onkel mütterlicherseits – waren oft zu Besuch bei uns, als ich noch jünger war. Damals sah ich zu ihr auf. Eine Frau, die nicht bloß ihrem Mann folgt, sondern ihren Weg selber gestaltet. Dachte ich.« Ihr entkam ein Schnauben. »Sie hätte sein sollen, wie ich sein wollte. Doch stattdessen musste ich herausfinden, dass sie sich von Caius – ausgerechnet! – erpressen lässt. Und weshalb? Wegen fleischlichen Vergnügens. Unfassbar ... lästig. Und so unwichtig im Gefüge dieser Welt!«

Elphinstone schloss die Augen und atmete tief ein.

»Ich bewundere deine Schwester nicht länger«, setzte Bellatrix nach, »ich bedauere sie.«

»Niemand bedauert so sehr wie ich«, hauchte Elphinstone, noch immer ohne Bellatrix anzusehen. Die Worte richteten sich ohnehin nicht wirklich an sie. »Sie hätte so viel Besseres verdient.«

»Da hast du zum ersten Mal recht.« Tiefer und tiefer bohrte Bellatrix ihre Fingernägel in Elphinstones Unterarm. Seine freie Hand ballte sich zur Faust, aber er sah über ihren Kopf hinweg und schwieg. »Ich würde Rodolphus leiden lassen, wenn er mich derart behandelt. Der Tod wäre noch gnädig für ihn, wenn er jemals denkt, mich besitzen zu können. Zu seinem eigenen Glück ist er kein Narr. Er hat begriffen, dass wir unsere Stärke bündeln müssen, um das magische Blut zu erforschen. Und wenn wir unseren Erfolg erst den Menschen dort draußen präsentieren, wird nicht einmal Gideon Rosier länger auf uns herabblicken, bloß weil wir ‚jung‘ sind. Er wird uns genauso fürchten lernen wie die Muggel und Schlammblüter.«

»Also wollt ihr die Grausamkeiten der Walpurgisritter noch übertrumpfen?« Elphinstones Stimme bebte. »Ich glaube kaum, dass du Riddle in den Schatten stellen wirst. Dafür kenne ich seine Verbiegungen der Moral zu gut. Auch wenn er deinen Einsatz für die Reinblüter sicherlich zu schätzen wüsste.«

Bellatrix‘ Finger zuckten bei der Erwähnung Riddles. Sie zog Elphinstone ruckartig näher, bis ihr Atem seinen Nacken streifen musste. Selbst im Dunkel des Kellers meinte Minerva, begehrliches Interesse über ihr Gesicht flackern zu sehen. Ihre Erwiderung blieb allerdings aus, denn die Tür schlug ein weiteres Mal scheppernd gegen den Stein und Rowle trampelte in die Zelle. Als wäre nie etwas geschehen, ließ Bellatrix von Elphinstone ab.

Minerva bemerkte nur am Rande, wie Rowle eine Phiole in ihre Richtung rollte und sie gehässig aufforderte, den Rest selber zu erledigen. Der tiefrote Heiltrank schimmerte im Schein der Zaubersphäre vor ihr – gerade außer Reichweite. Erst nachdem Bellatrix Rowle anwies, ihr den Blutbildungstrank zu reichen, unternahm Minerva einen Anlauf, sich nach dem bauchigen Glas zu strecken, doch das Bild des Kellers kippte umgehend vor ihren Augen. Buntes Feuerwerk explodierte in ihrem Kopf und schmerzte beinahe so sehr wie Rowles Cruciatus. Stöhnend sank sie zurück und zog Elphinstones Umhang fester um ihre zitternden Gliedmaßen.

Zur Reglosigkeit verflucht sah Minerva zu, wie Bellatrix Elphinstone den zweiten Trank reichte und er diesen stoisch schluckte. Während er sich des schlechten Geschmacks wegen schüttelte, langte Bellatrix in ihren Umhang. Im Schein der Zaubersphäre blitzte es silbern. Ein Dolch. Der Dolch.

Minerva schmeckte Galle. Sie wollte nicht miterleben, was sie Elphinstone antun würde, nicht nach dem, was sie in Mr. Winters‘ Erinnerungen gesehen hatte. Dennoch war Fortsehen keine Option. Nicht einmal die Müdigkeit konnte sie in den imaginären Traumgarten zurückbringen.

Erneut streckte Bellatrix die Hand in Rowles Richtung aus. Seelenruhig zog er ein winziges Fläschchen aus der Tasche und gab einen Tropfen der Flüssigkeit, die wie hunderte Schlangen zischte, auf die Schneide ihres Dolchs. Dann stellte er sich neben sie, die Beine breit auseinander, den Zauberstab fest im Griff. Sein Blick schoss immer wieder zwischen Elphinstone und Minerva hin und her.

»Soll ich ihn festhalten, Bella?«

»Erst wenn es nötig wird. Er kooperiert schließlich, richtig?«

»Ich füge mich«, entgegnete Elphinstone. »Nimm mein Blut, wenn es dir so viel Freude bereitet. Aber ich sage dir gleich, dass es dieselbe rote Flüssigkeit ist wie bei allen anderen Menschen auch.«

Bellatrix sah zu, wie der zischende Gifttropfen die Schneide entlang auf die Dolchspitze zulief. »Es mag den Anschein erwecken, aber des Blutes wahre Macht verbirgt sich in dem, was unser Auge nicht zu sehen vermag. Das wissen sogar die Muggel mit ihrer Biologie und der stümperhaften Gentechnik.« Lächelnd drückte sie die Klinge in Elphinstones Haut.

Es klang wie reißendes Pergament, als sie der Länge nach Elphinstones Unterarm aufschnitt. Die Knöchel seiner rechten Hand traten weiß hervor, die Adern an seinem Hals pochten sichtlich, doch kein Laut entwich seinen Lippen. Nur Sekunden später tropfte Blut sein Handgelenk hinab, gehorchte einem Schwenk von Rowles Zauberstab und sammelte sich in einer leeren Phiole, die der frühere Ravenclaw aus seinem Umhang zog. Auf die Erste folgte eine zweite, eine dritte ... Elphinstones Stirn glänzte unter einem Film aus Schweiß.

Was immer Bellatrix für ein Gift auf die Klinge gegeben hatte, es musste die natürliche Blutgerinnung blockieren. Die Muggel in Minervas Heimatdorf hatten eine hässliche Redewendung – Bluten wie ein Schwein. Anders konnte sie es wahrlich nicht bezeichnen, so unaufhaltsam quoll das Rot aus der Wunde.

Endlich verkorkte Rowle die letzte Phiole. Bellatrix ließ dennoch nicht von Elphinstones Arm ab. Sie fuhr mit dem Zauberstab über den Schnitt, bis kein Blut mehr floss, aber ihr Griff um sein Handgelenk blieb beständig.

»Sehr schön. Du bist gar nicht so schwach, wie es den Anschein erweckt. Viel weniger Wehleid als bei unserer Emily.« Über die Schulter warf sie Minerva einen Blick zu. »Selbst McGonagall hält ihre Klappe. Nun – das war schließlich auch erst Schritt eins. Es hätte mich enttäuscht, wenn ihr euch nicht so zäh erweisen würdet, nachdem ihr so verbissen gekämpft habt.«

Sie legte Rowle den blutigen Dolch in die Hand und griff stattdessen – das Artefakt aus Gringotts. Minerva erkannte die markante silberne Spitze und den Glaskolben aus Robbies Zeichnung. Das hatte sie beinahe vergessen.

Also soll seine Anwendung alleine nicht zwangsweise verletzen. Ihre eigenen Worte an Robbie hallten ihr durch den Kopf. Selten wollte sie in ihrem Leben so sehr recht behalten wie dieses Mal. Doch sie stutzte. Entgegen ihrer Annahme, dass die Apparatur zur Blutentnahme gedacht war, befand sich in dem Kolben bereits etwas. Als Bellatrix das Artefakt anhob, sah Minerva die Flüssigkeit darin schwappen, dunkelrot wie ... Blut.

Es brannte, es schmerzte, aber Minerva stützte sich trotzdem auf den Unterarm. Sie schob sich an der feuchten Wand in ihrem Rücken hoch, bis sie wenigstens halbwegs aufrecht saß, eine Faust an ihre Brust gedrückt, in der das Herz raste. Bellatrix stieß die Spitze des Artefakts geradewegs unter Elphinstones Armbeuge. Keine erklärenden Worte, nicht einmal um sie zu verspotten.

Einen Augenblick schien Elphinstone nicht zu begreifen, wie ihm geschah, dann kroch die Pein wie ein Schatten über sein Gesicht. Er keuchte leise und ein Zittern ging durch seinen Körper. Auf ein Nicken Bellatrix‘ hin stellte Rowle sich hinter ihn und packte ihn unter den Achseln.

Bellatrix tippte das Artefakt mit dem Zauberstab an und wie Robbie prophezeit hatte, leuchtete der Kristall am Schaft auf. In dem Glaskolben wirbelte schwarzer Nebel hoch, der die Flüssigkeit darin verschlang – verwandelte?

Minerva presste die Hände an den Stein in ihrem Rücken. Zumindest etwas, das nicht nachgab, schwankte oder ihre Sinne anderweitig betrog. Sie drückte sich dagegen, um nicht wieder gen Boden zu rutschen. Ihren Blick hielt sie unverwandt auf Elphinstone gerichtet. Machtlos sah sie zu, wie sich ein Strudel in dem Glaskolben bildete und die verwandelte Flüssigkeit durch die Nadelspitze in seine Adern zog. Alle zuvor getrockneten Tränen strömten ihr wieder über die Wangen, als Elphinstone der erste Schmerzenslaut entwich. Er schrie nicht wie sie unter dem Cruciatus. Er keuchte, er stöhnte ...

»Bi làidir, Phin«, krächzte Minerva, »Tha mo chridhe leat.«

Sein Blick flackerte zu ihr, Schmerz gemischt mit ... diesem Ausdruck, den Minerva nicht in allen Begriffen dieser Welt hätte beschreiben können. Sie hoffte inständig, dass er in ihren Worten einen Teil der Stärke, die er ihr geliehen hatte, wiederfand, wenn sie schon nicht an seiner Seite sein konnte. Ihr Herz war es in jedem Fall.

Zumindest flackerte etwas in seinem Blick auf, als er die Lippen öffnete –

»Na na.« Bellatrix umfasste Elphinstones Kinn mit spitzen Fingern und drehte seinen Kopf fort von Minerva. »Wenn du ihr antwortest, dann so, dass ich es auch verstehe, klar?«

Elphinstone schloss die Augen, ohne etwas zu sagen. Seine Mundwinkel zitterten unaufhörlich und unter den Wimpern kämpften sich Schmerzenstränen ihren Weg frei. Minerva ballte die Hände zu Fäusten. Sie stellte sich vor, wie sie aufsprang, Bellatrix zu Boden schlug, dieses grässliche Artefakt zertrat – Rowle schnippte beiläufig mit dem Zauberstab. Nur einmal, den Bruchteil einer Sekunde. Schwarzes Feuer brannte sich durch sie. Erst nachdem der Widerhall ihres Schreis sie erreichte, begriff Minerva, was er getan hatte. Der Cruciatus, schon wieder. Ungesagt.

Sie zitterte so stark, dass sie weder den Stein fühlen, noch ihre Hände erneut zu Fäusten ballen konnte. Stattdessen sah sie mit an, wie die letzten Reste des verwandelten Blutes in Elphinstones Adern drangen und er mit gesenktem Kopf in Rowles Armen zusammensackte.

Bellatrix riss das Artefakt aus seinem Arm, sodass Blutstropfen den Boden sprenkelten. Sie wirkte zufrieden, als sie die ihr Werk musterte. Auf einen Fingerzeig ließ Rowle Elphinstone los, der schwankend rückwärts stolperte.

Den verletzten Arm an den Bauch gedrückt, hob er den Kopf. Sein Keuchen wurde von den Steinwänden mannigfach zurückgeworfen. »Was ... was jetzt?«, presste er hervor. »Was ist Schritt drei des Plans?«

»Oh, es ist noch etwas zu früh, dir das schon zu verraten.« Bellatrix lachte. »Aber wenn du gerne nachdenken möchtest – glaubst du, ohne die Magie in deinem Blut wird es immer noch so leicht sein, zu zaubern? Wenn doch jedes Blut gleich ist, dürfte es dir ja nichts ausmachen, wenn es nicht mehr ganz so rein ist.«

Sie drückte Rowle das blutverschmierte Artefakt in die Hände und spazierte zur Zellentür hinaus. Der Junge folgte ihr rasch und beide verschwanden aus dem Keller, ohne Minerva eines weiteren Blickes zu würdigen.

Elphinstone fiel auf die Knie, kaum dass sich die Tür geschlossen hatte. Einen Moment saß er vornübergebeugt da, die Arme um die Körpermitte geschlungen, dann hob er den Kopf. Sein Blick glitt zu Minerva, weiter zum Heiltrank und zurück. Sie bemühte sich, zu lächeln, aber die Tränen in ihren Augenwinkeln betrogen den Versuch.

»Oh Phin ... ich ... es tut mir so leid –«

»Nicht. Das ist nicht deine Schuld.« Die Worte wurden zusehends leiser und er räusperte sich. »Rowle ist ein geltungssüchtiger kleiner Gartengnom. Wenigstens konnte ich wirklich einen Heiltrank für dich rausschlagen.« Auf den Knien schob er sich mit der Phiole zu ihr. »Lass mich dir helfen.«

Er zog sie wieder an sich, wobei er nicht verbergen konnte, dass seine Hände furchtbar kalt waren. Mit der Wange an seiner Brust ruhend, spürte Minerva, wie flach sein Atem war, auch wenn er es mit einem Lächeln zu kaschieren versuchte. Der Heiltrank schwappte gefährlich in der Phiole hin und her, während er sich daran machte, sie zu öffnen. Misstrauisch beäugte er den Trank und schwenkte ihn, wie andere es vielleicht mit einem erlesenen Elfenwein täten.

»Dein Arm ...«, hob Minerva an.

»Nicht der Rede wert.« Die Augen geschlossen, roch Elphinstone an dem Heiltrank. »Trink lieber das hier, es scheint okay.«

»Nicht der Rede wert?« Minerva presste die Lippen zu dünnen Strichen zusammen. »Du brauchst auch Heilung! Was ... wenn das ein Fluch ist – oder schlimmer!«

»Wir haben uns wohl geirrt, was das Artefakt angeht«, seufzte Elphinstone. »Aber wir können davon ausgehen, dass sie es an Mrs. Winters ausprobiert haben. Die nicht gestorben wäre, wenn Bellatrix sie nicht getötet hätte. Also wird es mir auch gut gehen, Min.«

»Trotzdem! Du ... Wenigstens die Wunde muss doch heilen.«

Zur Antwort entwich Elphinstone nur ein gepresstes Stöhnen und er lehnte den Kopf gegen die Mauer hinter ihm. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, die nicht von dem schwachen Licht der Zaubersphäre herrührten. Mit all ihrer verbliebenen Kraft umschloss Minerva sein Handgelenk und zog den Arm so, dass sie einen besseren Blick auf die Verletzung hatte. Was sie sah, trieb ihr wieder die Scherbensplitter den Hals hinauf.

Ein tiefer Einstich prangte auf der Innenseite seines linken Unterarms, von Galleonengröße. Unnatürlich dunkles Blut quoll aus der Wunde, das in seiner Zähflüssigkeit an Honig erinnerte. Die letzten Tropfen grässlichen Muggelkaffees, die sie vor Stunden getrunken haben musste, rebellierten in ihrem Magen. Elphinstones Adern breiteten sich tintenschwarz unter der Haut aus wie die kahlen Äste eines Baumes vor dem Mond. Bis hoch zum aufgerollten Ärmel – wer wusste wohin noch. Vielleicht reichte die Spur längst bis zu seinem Herzen. Minerva legte die Fingerspitzen an seine Ellenbogenbeuge und obwohl sie ihn kaum berührte, zuckte er zusammen.

»Erzähl mir nicht, dass es nicht wehtut!« Ihre Stimme klang ungewollt anklagend. »Bitte sag mir, wie es dir geht. Bitte sag irgendetwas!«

»Ich bin in Ordnung, Min. Wirklich.« Er hob leicht die Mundwinkel. »Das ist nichts gegen den Cruciatus, glaub mir. Ja, es tut weh, aber ... das Schlimmste war wohl die Injektion. Jetzt brennt es nur noch fürchterlich im Arm und mir ist schwindelig. Du hingegen solltest die Wirkung des Cruciatus nicht auf die leichte Schulter nehmen. Auch wenn mir deine Sorge viel bedeutet – denk lieber an dich. Bitte. Ich weiß, wovon ich rede.«

»Von Archie?«

»Mhm. Du hast es also mitbekommen. Ja, er ist Heiler geworden.«

Minerva löste ihren Griff und richtete sich so weit in Elphinstones Umarmung auf, wie der Schmerz es ihr erlaubte. An ihn gelehnt, langte sie nach dem Heiltrank, der in seiner zitternden Hand überzuschwappen drohte. »Wir teilen den Trank«, beschied sie. »Denn in einem hat Bellatrix recht – ich bin verdammt hartnäckig! So leicht kriegt mich kein Fluch klein. Du brauchst ihn ebenso sehr wie ich. Falls es überhaupt ... dagegen hilft.«

»Ich kann dich nicht von deinem Vorhaben abbringen, stimmt’s?«

»Keine Chance.«

Sein brüchiges Lachen brachte die Wärme zurück in ihr Gefängnis. Er stützte sie, während sie die Phiole zur Hälfte leerte. Die ganze Zeit strichen seine Fingerspitzen in zarten Mustern über ihre Schultern, auch dann, als er seinen Anteil des Tranks zu sich nahm.

Eine weiche Decke breitete sich auf den Flammen des Schmerzes in Minervas Gliedern aus und sie rollte sich in Elphinstones Armen zusammen, deren Zittern nur langsam schwand, selbst nachdem sich die Wunden schlossen. Immerhin schlug sein Herz so kräftig wie Stunden zuvor. Zu diesem beruhigenden Gedanken überwältigte der Schlaf sie.

Löwenmut

Aller guten Dinge waren drei, zumindest wenn es nach den Muggeln ging. Minerva war das recht, denn die heilige Sieben, die von der magischen Gemeinschaft beschworen wurde, wäre ihr entschieden zu viel. Es reichte vollkommen, drei Mal in einem kalten Kellerverlies aufzuwachen, noch dazu mit dröhnendem Schädel und Feuer in den Gliedern.

Immerhin war ihr Kopf inzwischen klarer, auch wenn das bedeutete, dass sie sich in allen schrecklichen Einzelheiten an die Geschehnisse der letzten Stunden – oder mittlerweile eher Tages – erinnerte. In dem stetig gleichbleibenden Licht der Zaubersphäre war es unmöglich, die Tageszeit festzustellen. Unter dem Einfluss des Heiltranks schien Minerva zumindest eine Weile geschlafen zu haben, denn ihr Magen knurrte laut, kaum, dass sie die Augen aufgeschlagen hatte.

Mit Elphinstones Hilfe gelang es ihr, sich aufrecht hinzusetzen. Der Schmerz lauerte weiterhin in jeder Faser ihres Körpers und gestaltete die Bewegungen zu einem Kraftakt, aber das war nichts im Vergleich zu dem lähmenden Feuer Stunden zuvor. Obwohl es nicht länger nottat, zumindest nicht aufgrund ihrer Verfassung, lehnte Minerva den Kopf trotzdem an Elphinstones Schulter. Ihm schien das recht, denn er griff schlicht nach ihrer Hand und verschränkte seine Finger mit ihren.

»Hast du geschlafen?«, erkundigte sie sich leise in dem inzwischen nahezu gewohnten Mix aus Gälisch und Englisch.

»Ein wenig, hin und wieder. Nicht gerade bequem hier, ganz zu schweigen von der Angst, dass sie zurückkommen könnten.« Ein Schaudern durchlief Elphinstone und er rieb sich mit der freien Hand den Oberarm.

Das schlechte Gewissen biss Minerva umgehend. Sein Umhang diente ihr als Decke und in seinem Hemd hatte er der Kälte nichts entgegenzusetzen. Sie unternahm schon Anstalten, den Stoff von sich zu ziehen, doch Elphinstone wehrte sie mit erhobener Hand ab.

»Du brauchst das gerade mehr als ich«, murmelte er und befühlte ihre Stirn. »Der Cruciatus hat es an sich, dass der Körper für äußerliche Einflüsse anfälliger wird und somit Schwierigkeiten hat, seine gesunde Normaltemperatur zu halten. Ich will nichts riskieren.«

Minerva seufzte. »Bei all dieser Fürsorge könnte man wirklich meinen, dass an dir ein Heiler verloren gegangen ist.«

»Oh nein, dafür wäre ich nicht geeignet.« Elphinstone schnaubte, lächelte aber versöhnlich. »Ich kann dich einfach nicht leiden sehen. Wenn ich Heiler wäre, würde ich einen Haufen Kräuter auf meine Patienten werfen und hoffen, dass das Problem sich von alleine löst. Fluchwunden – an lebenden Personen – schlagen mir auf den Magen.«

Das entlockte Minerva ein raues Kichern. »Verstehe ich. Quidditch-Verletzungen gehen ja noch, aber Flüche ...« Sie hielt inne und zog sacht an ihrer Hand in seiner, sodass sie Elphinstones Unterarm sehen konnte. Der Schnitt wuchs bereits wieder zusammen, doch der Einstich vom Artefakt war nach wie vor ein dunkler Fleck, an dessen Rändern sich klebriges Blut abgesondert hatte. Wenigstens wirkte das Schwarz in den Adern nun bloß wie ein jahrzehntealtes Tattoo, so verblasst war es. »Tut es noch sehr weh?«

»Nein. Dank deiner Hartnäckigkeit geht es mir erstaunlich gut. Der Heiltrank hat trotz halber Portion ganze Arbeit geleistet. Was auch immer mit meiner Magie passiert sein soll, ich merke nichts.«

»Gut. Dann bleibt nur die Frage – ist irgendetwas passiert in der Zeit, die du wach warst? Ich fürchte, ich habe geschlafen wie ein Stein. In deinen Armen ist es einfach zu bequem.«

Elphinstone hob den rechten Mundwinkel und schüttelte den Kopf. »Nein, alles ruhig. Vor einer guten Stunde müsste Wachwechsel gewesen sein, ich habe die Schritte gehört. Und jetzt – horch mal.«

Sie lauschte in die Stille hinein ... und hätte fast aufgelacht. Ganz leise drang durch die Tür zum Vorraum des Kellers der unregelmäßige Klang menschlichen Schnarchens.

»Vermutlich ist es wieder Abend«, gluckste Elphinstone. »Die anderen schlafen wohl ebenfalls.«

»Mh, das ist gut. Wir können keine Lestranges gebrauchen, die hier rumlaufen, während wie einen Ausweg suchen.« Minerva streckte ihre Beine von sich und wippte mit den Füßen, um den Blutkreislauf wieder in Schwung zu bekommen. »Dass wir wegmüssen, steht wohl außer Frage. Denn in einem hat Rodolphus Lestrange recht – das Ministerium und Mulciber haben keine Ahnung, wo wir sind. Und ich werde nicht warten, bis sie es herausfinden.«

»So kenne ich dich.« Ein kleines Lachen vibrierte durch Elphinstone. »Schön, dich zurückzuhaben. Also, was schlägst du vor?«

»Wir brauchen Zauberstäbe«, überlegte Minerva laut. »Wenn wir die haben, steigen die Chancen, dass wir uns den Weg notfalls freikämpfen können. Wir müssen nur hinter die Grenze für den Apparierschutz – den Weg habe ich mir versucht zu merken; dann können wir die Auroren alarmieren, mit ihnen hierher zurück apparieren und den Lestranges das Handwerk legen ... aber zuerst brauchen wir natürlich einen Weg aus diesem Keller.«

»Richtig, dann will ich unsere Unterkunft mal einem genaueren Blick unterziehen. Bisher hatte ich dazu keinen Kopf, aber jetzt, wo du wach bist, kann ich mich diesen Gitterstäben widmen. Solange wir einigermaßen leise sind, wird unsere Schnarchnase da draußen wohl weiterträumen.«

»Ich helfe dir.«

»Du bist verletzt.« Wieder schüttelte Elphinstone den Kopf. »Schone lieber deine Kräfte, du wirst sie für die Flucht brauchen.«

»Größtenteils bin ich in meinem Stolz verletzt«, hielt Minerva dagegen. »Abgesehen davon ist dank dem Heiltrank nur leerer Schmerz zurückgeblieben. Und der ist nichts gegen den Cruciatus an sich. Oder eine ordentliche Quidditch-Verletzung.«

»Trotzdem –«

»Zu zweit sind wir stärker, schon vergessen? Und zwei Paar Augen sehen mehr als eines.«

Minerva drehte den Kopf, so weit es ihre Position zuließ, und sah Elphinstone herausfordernd an. In seinen hellen Augen schimmerte es verdächtig. Seine Ohren färbten sich rot und anstelle eine Antwort zu formen, drückte er die Lippen in einer flüchtigen Berührung gegen ihre Stirn.

»Oh Min, du machst Sachen mit mir«, murmelte er. »Du musst mich für einen ziemlichen Trottel halten, dass ich dich so verzweifelt beschützen will, obwohl du das auch wunderbar alleine hinbekommst. Aber irgendwie setzt mein Verstand aus, seit wir hier sind.«

Elphinstones warmer Atem strich bei jedem Wort federleicht über ihre Haut und in Minervas Brust schlug eine Flamme – der guten Art – empor. Der falsche Zeitpunkt, es war sowas von der falsche Zeitpunkt! Sie konnte jetzt nicht an diese Gefühle denken, nicht in diesem Kerker, dessen modriger Mief sie in die Lunge stach wie der Cruciatus selbst. Das Schöne verdiente es nicht, in ihrer Erinnerung von Schmerz überschattet zu werden. Rasch senkte sie die Lider und konzentrierte sich stattdessen auf ihrer beider verschlungene Hände.

»Mir geht es doch wie dir.« Sie schniefte wenig würdevoll. »Können wir uns darauf einigen, dass wir einander beschützen? Bitte.«

Es dauerte einige Herzschläge, bis Elphinstone mit belegter Stimme antwortete. »Natürlich. Wenn ich dir schon mein Herz ergebe, dann vertraue ich dir auch mein Leben an.« Er legte erneut die Lippen an ihre Stirn. »Dann wollen wir mal, was?«

Mit einem Kloß im Hals nickte Minerva, ehe sie ihre Hand langsam zurückzog und ihn freigab. Vorsichtig schlüpfte Elphinstone unter ihrem Arm heraus. Seine Knochen knackten hörbar, als er sich erhob.

Minerva schob sich mit der Wand im Rücken ebenfalls empor, Elphinstones Umhang eng an sich gedrückt. Sie ließ ihren Blick schweifen. Im gelblichen Schein der Zaubersphäre erkannte sie zum ersten Mal mehr von ihrem Gefängnis als nackten Stein. Ihr Teil des Raumes wurde an zwei Seiten von eisernen Gitterstäben begrenzt, die ihnen zumindest acht Schrittlängen Bewegungsspielraum in jede Richtung zugestanden. Doch die ausgetretenen Sandsteinplatten zu ihren Füßen waren vollkommen kahl. Nicht einmal eine Decke oder eine Möglichkeit zur Notdurft war in der Zelle vorhanden. Auch die steinernen Wände in ihrem Rücken und zur rechten waren makellos, sauber verfugt. Keine Chance, etwas aus losem Mörtel herauszubrechen. Im Raum hinter den Eisenstreben hingegen befand sich neben ihrer einzigen Lichtquelle eine Regalreihe voller Kessel, rostiger Gartengeräte und Kisten, die handgeschriebene Beschriftungen wie ‚Weihnachtsdekoration‘ trugen. Erschreckend normal.

Der ganz und gar nicht schwarzmagische Krempel weckte auch Elphinstones Interesse, denn er schritt in diese Richtung und schnippte misstrauisch gegen die Gitterstäbe, die sie von den Regalen trennten. Ein helles Pling antwortete ihm. Davon ermutigt, schloss er eine Hand um das Metall. Nichts geschah.

Daraus konnte Minerva zumindest schließen, dass kein gefährlicher Bann auf der Eingrenzung lag, wie es bei Verliesen aus der grauen Vorzeit oft der Fall war. So wie die Streben glänzten, musste die Zelle ohnehin nachträglich eingefügt worden sein, obschon ein Privatverlies für ein altes Herrenhaus keine Seltenheit gewesen wäre. Ein weiteres Indiz dafür, dass es höchstens ein zweitrangiges Ferienhaus war. An den Wänden zeichneten sich noch die Schatten ab, wo einst zusätzliche Regale gestanden haben mussten. Offenbar hatte Bellatrix etwas umdekoriert.

Die Freiräume zwischen den Gitterstäben zogen sich zwar von der Decke bis zum Boden, nur unterbrochen von drei Querstreben, allerdings waren diese Lücken so schmal, dass Minerva gerade einmal den Unterarm hindurchschieben konnte. Definitiv nicht genug, um an das Regal – und die Sachen darauf – zu gelangen. Frust machte sich in ihr breit.

»Schon irgendeine Idee?«

Elphinstone seufzte leise. »Ich wünschte. Aber leider haben die Lestranges das hier durchdacht.« Er wanderte am Gitter entlang und schob eine Schuhspitze zwischen die Streben. Mehr war ihm nicht möglich. »Als du noch geschlafen hast, habe ich mich in meiner Verzweiflung an einem stablosen Wärmezauber versucht, aber ... nichts. Entweder bin ich unfähig – oder es liegt ein Magiebann auf dieser Zelle, der die Entführer natürlich nicht einschließt.« Er stupste erneut das Metall an. Wieder antwortete ein helles Geräusch, das verzögert nachhallte. »Urteile du, aber ich vermute Letzteres, so wie es sich anhört. Da schwingt Magie mit. Zauber dieser Art nutzen sie auch in Askaban.«

Minerva ließ sich gegen die Wand zurücksinken. Er hatte recht, natürlich hatte er recht. Und selbst wenn es den Bann nicht gäbe – sie hatte seit ihren Kindertagen keine Magie ohne Zauberstab gewirkt und damals war es nie eine bewusste Entscheidung gewesen. Was bräuchte es für einen derartigen Zauber, abgesehen von ihrer offenkundigen Verzweiflung? Sie wusste es nicht.

Ihr Blick tastete dennoch jeden Spalt ab, auf der Suche nach einer winzigen Schwachstelle. Diese zu kennen wäre die halbe Miete. Aber die eisernen Gitterstäbe waren kräftig und nichts, was mit roher Gewalt überwunden werden konnte. Selbst das Vorhängeschloss an der Zellentür war massives Metall ... und einfachste Art, begriff sie. Sicher lag ein mächtiger Zauber darauf – aber sie hatten ja eh keine Magie zur Verfügung, um sich zu befreien. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

»Haarnadeln«, flüsterte sie und dankte Merlin, dass sie ihr Haar selten offen trug. Wer hätte gedacht, dass sich dieser Umstand ausgerechnet hier nützlich erweisen würde?

»Bitte was?« Verwundert sah Elphinstone sie an.

Zur Antwort griff sie sich nur ins Haar und zupfte eine lange Haarnadel heraus, die sie ihm strahlend entgegenhielt. »Das könnte unser Ticket hier raus sein.«

»Ich weiß, dass du ziemlich schlau bist, aber ich versteh es nicht, fürchte ich.«

Minerva zwinkerte. »Wart’s nur ab. Ich hoffe, ich bekomme das noch hin. Ist ein bisschen her. Aber wenn ich das hinbekomme, sei bereit – dann ist die Tür offen.«

Trotz der Gliederschmerzen legte sie Elphinstones Umhang ab, ehe sie zur Zellentür stakste, wo sie ihre dünne Haarnadel auseinanderbog. Sie kniete sich hinter das Schloss und schob ihre Hand mit dem behelfsmäßigen Werkzeug durch die Gitterstäbe.

»Wollen wir mal hoffen, dass die magiebegründete Überheblichkeit unserer Gastgeber genauso grenzenlos ist, wie es den Anschein macht.«

Allerdings erwies es sich nicht gerade einfach, die Nadel in das Schloss einzuführen. Sie hatte zwischen den Streben zu wenig Spielraum, ganz zu schweigen davon, dass ihr Ellenbogen nicht hindurchpasste. Minervas Glieder protestierten ächzend unter ihren Verrenkungen, während sie versuchte, an das Schlüsselloch zu gelangen. Sie biss sich auf die Unterlippe, um Elphinstone ja nicht zu verraten, wie sehr es schmerzte.

Öfters streifte die Haarnadel das Schloss, aber das reichte bei weitem nicht. Innerlich fluchend, lehnte Minerva sich erschöpft gegen die Gitterstäbe. Ihr Herz schlug viel zu schnell, die Nadel bebte in ihren Fingern und trotz der Kälte rannen ihr Schweißtropfen über die Stirn. Rowle hatte mit seinen Flüchen ganze Arbeit geleistet.

»Geht gleich wieder«, murmelte sie angesichts des besorgten Blicks von Elphinstone. »Es ist nur ... schwerer als gedacht.« Fast erwartete sie, ihren Atem in einer weißen Wolke aufsteigen zu sehen, so kalt war ihr, obwohl ihr Körper schwitzte.

Elphinstone ging neben ihr in die Hocke und legte den Handrücken auf ihre Stirn. »Du glühst förmlich, Min. Nicht, dass du dich überanstrengst.«

»Keine Sorge, ich bekomme das hin. Ich muss nur eine bessere Position finden. Wenn ich nur von außen ...«

Plötzlich kam ihr eine Idee. Warum hatte sie da nicht schon vorher dran gedacht? Es war einer ihrer größten Vorteile! Sie schloss die Haarnadel fest in ihre Faust. »Ich muss mich verwandeln.«

Die Stirn in Falten gelegt, senkte Elphinstone die Hand. Glücklich sah er nicht drein, aber er wusste genauso gut wie sie, dass er hier drin nicht viel bewirken konnte. »Meinst du, das funktioniert?«

Minerva maß grob mit der Hand den Spielraum zwischen den Gitterstäben. »Sollte. Wenn nicht – erhältst du die einmalige Erlaubnis, mir einen Tritt zu verpassen.« Entrüstet öffnete Elphinstone den Mund, doch sie sprach schnell weiter. »Wegen eines etwaigen Bannes mache ich mir weniger Sorgen. Die Verwandlung in die Animagusgestalt ist schließlich keine herkömmliche Magie und wird dementsprechend nicht von derartigen Schutzzaubern tangiert. Ich kann mir vorstellen, dass die Lestranges das nicht bedacht haben bei der Einrichtung ihres Gästequartiers.« Sie reichte Elphinstone die verbogene Haarnadel. »Wir sehen uns auf der anderen Seite.«

Er schenkte ihr einen unergründlichen Blick, bevor sie die Augen schloss und sich auf ihre Verwandlung konzentrierte. Dank ihrer Schmerzen ließ der Prozess auf sich warten, doch schlussendlich sank ihre Gestalt in sich zusammen und wenig später hatte sie Katzenform angenommen.

Ihre verbesserte Sicht zeigte nur Elphinstones unverkennbar blaue Aura neben einem leichten Flirren der Luft entlang der Zellwände – der Zauber, der gewöhnliche Magie unterbinden sollte. Sie streckte sich testweise, aber die Fluchschmerzen hatte sie natürlich mit in ihre Animagusform genommen.

Vorsichtig schob Minerva den Kopf durch die Gitterstäbe. Zu beiden Seiten rieben ihre Schnurrhaare am kalten Metall. Doch nichts hielt sie auf, keine unsichtbare Mauer oder unerklärliche Schmerzen. Es würde etwas ungemütlich werden, aber das war ein geringer Preis für die Freiheit. Erst die linke, dann die rechte Pfote, trat sie zwischen die Streben. Ihr Fell drückte sich ein, bis es platt an ihrem Katzenkörper lag und sie streckte sich lang, um so wenig Platz wie möglich einzunehmen. Zentimeter um Zentimeter arbeitete sie sich so vorwärts. Wie im Schraubstock pressten sich die Gitterstäbe eiskalt und unnachgiebig gegen ihre Rippen. Ihr Herz schlug fester. Nicht schreien! Das Nackenfell sträubte sich ihr ohne Zutun. Sie nahm einen tiefen Atemzug. Keine Schmerzen. Keine schwarzen Flammen im Brustkorb. Kein Rowle mit dem Cruciatus. Weiter. Elphinstone retten. Pfote vor Pfote, ein letztes Mal strecken – endlich folgte der Rest ihres Körpers durch die Metallstreben. Sie stand auf der anderen Seite der Zelle.

Erleichtert sank Minerva auf die Hinterpfoten und wickelte den Schwanz um sich. Einatmen, ausatmen. Das Fell in ihrem Nacken glättete sich wieder und schließlich fand sie genug Kraft, sich zurückzuverwandeln. »Siehst du? Ich hab’s dir gesagt«, murmelte sie an Elphinstone gewandt, der sie mit einem breiten Lächeln ansah.

»In der Tat.« Er reichte ihr die verbogene Haarnadel. »Zum Glück ist deine Animagusform so klein. Stell dir mal vor, du wärst ein ... Eisbär.«

Seine Erleichterung war ansteckend. Trotz der kurzzeitigen Panik schmunzelte sie. »In der Animaguslotterie habe ich vermutlich Glück gehabt. Als ich mich beim Amt registriert habe, war vor mir eine Hexe, die einen Elefanten erwischt hat. Den Aufruhr als sie sich bei der Feststellung ihrer Identifikationsmerkmale auf einen Schreibtisch gesetzt hat, werde ich nie vergessen.«

Elphinstone gluckste kaum hörbar. »Das hätte ich gerne gesehen.« Ihr gegenüber lehnte er sich an die Gitterstäbe und beobachte, wie sie das Schloss besah.

Aus ihrer jetzigen Position war es deutlich einfacher, die verbogene Haarnadel in das Schlüsselloch zu schieben. Sie musste ein wenig hin und her rütteln, bis sie den richtigen Winkel fand, aber ihr Instinkt hatte sie nicht getäuscht. Das Vorhängeschloss war rein technisch gesehen kein besonders ausgefeiltes. All seine Raffinesse lag in dem Zauber darauf – der dem Schließmechanismus herzlich egal war, denn der funktionierte weiterhin. Auf Muggelart. Mit der Zunge zwischen den Lippen gelang es Minerva, dem Schloss ein befreiendes Klicken zu entlocken.

»Und schon wieder können wir den Muggeln danken, dass sich ein Problem ganz ohne Magie lösen lässt.«

»Woher kannst du das bloß?« Elphinstone sah ehrlich erstaunt aus. »Ich meine – das ist doch auch unter Muggeln nicht ganz legal ...?«

»Dafür kannst du dich bei Dougal bedanken«, erklärte Minerva flüsternd und löste das Schloss mit bedachten Bewegungen von der Gittertür, um ja kein verdächtiges Klimpern hören zu lassen. »Er hat mich immer für die Menge an Haarnadeln in meiner Frisur belächelt, bis sein Vater uns aus Versehen im Heuschober eingeschlossen hat und sie ihm plötzlich gut zur Hand gingen.«

Elphinstones Augen wurden groß, dann schmunzelte er, wobei seine Ohren neuerlich erröteten. »So so. Ich hätte nicht erwartet, dass du ein Mädchen fürs Heu bist. Du steckst immer wieder voller Überraschungen.«

»Ich bin auf dem Land aufgewachsen, was hast du denn gedacht?«

Es dauerte ein paar Sekunden, dann traf Minerva die Scham angesichts ihrer unverblümten Enthüllung doch noch. Zum Glück besaß Elphinstone den Anstand, sich von ihr abzuwenden, indem er sich plötzlich sehr dafür interessierte, seinen Umhang aufzuheben und ordentlich über seinem Arm zu drapieren. In ihr Schweigen hinein hörten sie wieder das Schnarchen ihres Gefängniswärters.

»Ich denke nicht ... in dem Sinne an dich«, erklärte Elphinstone schließlich ernst. »Tut mir leid, falls mein Kommentar unsensibel war.«

»Ach quatsch. Ich hab doch davon angefangen.« Minerva schüttelte fahrig den Kopf. »Na ja, ist auch egal.« Anstatt sich weiter zu verhaspeln, zog sie lieber die Zellentür einen Spalt auf, sodass Elphinstone hindurch schlüpfen konnte.

»Danke. Hier –« Er legte den Wollumhang über ihre Schultern und ignorierte dabei ihren protestierenden Gesichtsausdruck. »Keine Widerrede. Nach all dem riskiere ich nicht, dass du dich erkältest.«

Etwas widerwillig schob Minerva ihre Arme in die lockeren Ärmel. Zum Glück war sie den entscheidenden Zentimeter größer als Elphinstone, so war ihr der Umhang bloß zu weit, wo er doch für seine breiten Schultern gemacht war. In jedem Fall half die zusätzliche Stoffschicht gegen das Zittern in ihren Gliedern. Vielleicht gerade deshalb, weil der vertraute Geruch das Glutnest in ihrer Brust schürte.

»Was jetzt?« Geschäftig krempelte Elphinstone den verbliebenen Ärmel seines Hemdes hoch. »Wie kommen wir an den Zauberstab von Mr. Schnarchnase?«

Minerva fasste die Regale ins Auge. »Ich sage es nicht gerne – aber wir brauchen etwas, das wir unserer Aufsicht über den Schädel ziehen können. Ein ordentlicher Schlag auf den Kopf schaltet selbst Trolle aus.«

Elphinstone ließ die Finger an den Regalbrettern voller magischer Alltagsutensilien aus dem vorigen Jahrhundert entlanggleiten, die nach Jahreszeiten und Festen organisiert vor sich hin staubten. »Irgendwelche Empfehlungen?«

»Hm ...« Mit einem Schulterzucken hob Minerva den Deckel von der Kiste, deren Aufschrift ‚Weihnachtsdekoration‘ verkündete. »Da ist eine Feenlichterkette, das wäre nützlich, um die Wache zu fesseln, wenn wir sie überwältigt haben ...«

Schlussendlich entschied sie sich als schlagkräftiges Argument für Hausmanns selbstkorrigierende Wasserwaage (Patent von 1874 ausstehend), die zumindest keinen bleibenden Schaden anrichten würde – hoffte sie. Das schwere Metallstück lag nicht so gut in der Hand wie das Treibholz beim Quidditch, mit dem sie sich im dritten Schuljahr ausprobiert hatte, würde aber dank genügend Wut im Bauch denselben Zweck erfüllen. Elphinstone schnappte sich eine rostfleckige Gartenschaufel und so bewaffnet schlichen sie zu der Tür, die in den Vorraum führte.

Ihr Vorhaben war erfüllt von dem gryffindor’schen Übermut, den Minerva für gewöhnlich immer von sich wies. Wenn es schiefging, würde Rowle – oder schlimmer, Bellatrix persönlich – es künftig nicht beim Cruciatus bewenden lassen. In der Hoffnung, diesen Schritt nicht zu bereuen, bezog Minerva Stellung neben der Tür und lauschte. Auf der anderen Seite holzte weiterhin jemand im Schlaf die Wälder bis nach Transsilvanien ab. Besser würde es nicht werden.

»Ich links, du rechts«, wandte sie sich an Elphinstone, eine Hand am eisernen Türring. »Auf drei?«

Er nickte, die Schaufel erhoben wie ein Gärtner auf Gnomenjagd.

»Eins, zwei – drei

Minerva öffnete die Tür und schlüpfte in den Vorraum dahinter. Nur wenige Schritte zu ihrer Linken saß die Wache auf einer umgedrehten Weinkiste, das Kinn auf die Brust gesunken. Tock, tock, tock rissen Minervas Absätze ihn endgültig aus dem Schlaf. Er grunzte – hob blinzelnd den Kopf – schon war sie über ihm, die Waffe im Anschlag.

»Runter!«

Hausmanns patentierte Wasserwaage sauste an dem Blondschopf des Zauberers vorbei, als Minerva sich nach unten fallen ließ. Keine Sekunde zu früh. Dank Elphinstones Warnung krachte der rote Lichtblitz nur in die Wand hinter ihr. Stein und Mörtel regneten auf sie herab.

Von der Treppe her drang Gelächter zu ihr. Der Fluchurheber holte erneut aus – Rowle? – doch sein Vergnügen versiegte rasch. Elphinstone schlug mit der Schaufel nach dem Jungen und Minerva wirbelte zu ihrem Gegner zurück.

Der war inzwischen aufgesprungen, aber seine Schläfrigkeit geriet ein weiteres Mal zu seinem Nachteil. Während er noch den Zauberstab aus der Hosentasche fummelte, krachte die Wasserwaage gegen seine Schläfe. Der Kerl stöhnte und Minerva riss ihr Knie hoch, genau in seinen Schritt.

Der Fluch auf seinen Lippen erstarb in einem überraschten Japsen. Trotzdem bewies er die Zähe eines Trolls, indem er sich auf den – wankenden – Beinen hielt. Sein Zauberstab schnellte messergleich auf Minerva zu. Rasch warf sie sich ein zweites Mal aus der Schussbahn, auf den Boden. Der Zauber traf dennoch, nur nicht sie. Sie hörte das Keuchen jemand anderes an ihrer Stelle. Hoffentlich sein Komplize, nicht Elphinstone.

Aus dem Liegen trat Minerva dem Zauberer vor sich gegen die Kniescheibe und er brach über ihr zusammen. Gerade rechtzeitig rollte sie sich beiseite, sodass er mit dem Gesicht voran unsanft auf die Sandsteinplatten traf. Ein hässliches Knirschen hallte durch den Raum, dann trat Stille ein.

»Oh oh ...«, hauchte Elphinstone aus Richtung der Treppe.

Bevor sie die Besorgnis in seiner Stimme begriff, tat Minervas Herz einen Satz. Er war nicht vom Fluch getroffen worden! Ein rascher Blick über die Schulter zeigte, dass sein Gegner – doch nicht Rowle – ebenfalls Begegnung mit dem Boden gemacht hatte. Elphinstone stand hinter ihm, den zerbrochenen Stiel seiner Schaufel in den Händen.

Davon ermuntert wandte Minerva sich wieder dem Zauberer vor ihr zu und drehte diesen auf den Rücken. Ihm lief Blut aus der Nase und seine Augen waren nach hinten gerollt, aber sein Puls blieb kräftig. Er würde es überstehen – genauso wie sie. Hoffentlich. Alles, was sie brauchte, war sein Zauberstab ... Minerva tastete den Boden ab –

»Min ... hinter dir!«

Die Wasserwaage in der rechten Hand fuhr sie herum. Der zweite Zauberer lag an derselben Stelle wie eben; er hatte auch keine Verstärkung von seinen Komplizen bekommen – und trotzdem waren sie nicht alleine im Keller.

Aus einem Quergang hervor schwebte eine verhüllte Gestalt, einige Handbreit über dem Boden, die knochigen Finger in Minervas Richtung ausgestreckt. Einmal mehr war ihr, als würde sie ein Bad im Schwarzen See nehmen. Ihre Kehle schnürte sich zu und die Wasserwaage rutschte aus ihrem Griff. Nicht, dass sie damit je etwas gegen einen Dementor hätte ausrichten können.

Wie war das möglich? Minerva hatte das Gefühl, ihr Kopf platzte. Die Dementoren dienten dem Ministerium. Warum nicht dieser? Er war kleiner. An die zwei Meter hoch, statt drei. War er hier ... geboren? Dementoren entstanden an Orten menschlichen Leids. Unfassbaren Leids.

Das Wesen holte rasselnd Luft und Minervas Gedanken wurden fortgewischt. Angelockt vom Widerstreit ihrer Gefühle glitt der Dementor auf sie zu. Die kurzzeitige Hoffnung – weg. Zurück blieb eine Menge hässlicher Erinnerungen. Ein missratener Schulaufsatz, ihre schluchzende Mutter, die den Zauberstab in der Sockenschublade versteckte; die Tränen in Dougals Augen, als sie ihre Verlobung auflöste und Elphinstones Schmerzenslaute.

Blind tastete Minerva nach dem Zauberstab ihres Gegners hinter sich. Endlich bekam sie etwas Hölzernes zu fassen. »Expecto patronum!«

Der Schrei hallte von den Wänden wider, doch ihm folgte keine silbrige Katze. Nur ein müdes Wölkchen puffte aus der Spitze des fremden Stabs. Minerva versuchte es erneut, aber – nichts. Nie zuvor hatte der Gedanke an ihre erste gelungene Animagusverwandlung sie im Stich gelassen. Nicht, dass sie je von einem Dementor angegriffen worden war ...

Elphinstone rief wie ein verzerrtes Echo denselben Zauber aus, gefolgt von einer Reihe nichtmagischer Flüche. Nicht mal silberne Schlieren wollten ihm mit seinem fremden Zauberstab gelingen.

Der rauchschwarze Umhang des Dementors war Minerva inzwischen so nahe, dass sie erste Schemen unter seiner Kapuze ausmachen konnte. Voller Panik hob sie den entwendeten Stab höher. Da sah sie es: Das Holz hatte einen feinen Riss, aus dem silbrige Stränge Einhornhaar quollen. Der Zauberstab hatte den Sturz seines Besitzers nicht überstanden. Egal wie gut Minerva zauberte – zerbrochen war zerbrochen.

»Expecto patronum«, rief sie dennoch flehentlich. Mehr helle Wölkchen pufften aus der Stabspitze wie aus den Erfindungen in Albus‘ Büro. Nutzlos. Minerva schob sich rückwärts über den Boden.

Wo war Elphinstone? Sie konnte ihn hinter dem Dementor nicht mehr erkennen. Ihr Blickfeld war nur noch von der überlebensgroßen Kreatur erfüllt; dem Umhang, der sich kräuselte wie Rauch – einem Schlund dahinter. Im Augenwinkel sah sie etwas durch die Luft hüpfen, eine Art fliegender Funken, dann beugte sich der Dementor hinab und die Farbe entschwand aus der Welt.

Alles war so grau, kalt ... Wie hatte sie je glauben können, dass ihre Flucht klappen würde? Unsichtbare Ketten wanden sich um Minervas Brustkorb. Der fremde Zauberstab in ihrer Hand zitterte, so lächerlich nutzlos und trotzdem konnte sie ihn nicht sinken lassen.

»Elphinstone!«

Die Verzweiflung zwang ihre Stimme in neue Höhen. Ein Kreischen antwortete ihr, beinahe wie der Ruf eines Greifvogels. Der Dementor würde ihre Seele aussaugen. Das war keiner von Askabans Wächtern, die sich nur an Verbrechern labten. Das war Bellatrix‘ Schöpfung. Minerva versuchte, ihren letzten geistigen Widerstand aufzubauen. Dachte an köstliche Ingwerkekse und ihre Familie, einen Besenrundflug über Hogwarts‘ Ländereien und Elphinstones warme Umarmung, nach der sein Umhang duftete; an die zarten gälischen Worte, die er ihr zugeflüstert hatte ...

Die knochigen Hände des Dementors zogen die Kapuze zurück. Aber statt einem gesichtslosen Kopf war da nur Rauch. Wie die unendliche Nacht aus der Finsternisschote brandete eine Nebelwoge unter dem Umhang hervor über Minerva. Krallen aus Schwärze langten nach ihr und sie presste sich flach auf den Boden. Ein einzelner, grausiger Schrei drang aus dem Herz der Dunkelheit, durch das sich eine silberne Klinge bohrte. Es klang, als würden Fingernägel zu dem Gesang einer Banshee über eine Tafel kratzen.

Und dann ... war alles vorbei. Nach Atem ringend lag Minerva auf dem Stein. Nebel und Dementor waren fort. Dafür sah sie den fliegenden Funken wieder am steinernen Gewölbehimmel über sich. Mit ausgebreiteten Schwingen landete Fawkes neben der Klingenspitze, die nur Zentimeter entfernt von Minervas Herzen in der Luft hing. Dahinter kniete Elphinstone, den Griff des Schwertes umklammert.

Ein, zwei Herzschläge lang starrten Minerva und Elphinstone einander mit aufgerissenen Augen an, dann warf er die Waffe zu Boden und riss sie an seine Brust. Fawkes konnte sich nur um Federbreite vor der Umarmung retten.

»A mhic an damnaidh!«, fluchte Elphinstone. »Thoir ifrinn iad! Droch fhuil orra!«

Das Lachen brach sich ohne Minervas Zutun frei. Sie drückte Elphinstone an sich und ließ es einfach geschehen. Erleichterung, Glück und Freude rasten prickelnd durch ihre Nerven, als hätte ihr Kollege Filius sie mit seinem stärksten Aufmunterungszauber getroffen. Elphinstone hingegen fluchte weiter, wünschte all das Schlechte über Bellatrix und ihre Gefolgschaft, aber die deftigen Schimpfworte waren ihr egal. Er hatte den Dementoren ... vernichtet?

»Alles gut, Phin«, hickste Minerva zwischen zwei Lachern, »mir geht es gut! Sag mir lieber, wo du das Schwert herhast und woher du wusstest, dass einen Dementor tötet!«

»Was ...? Oh, richtig. Das.« Elphinstone lockerte seine Umarmung etwas, sodass sie sah, wie er den Kopf schüttelte. »Das – das klingt jetzt verrückt, aber dieser Phönix ... Ich habe noch nie einen Phönix gesehen. Ist das ...?«

»Fawkes. Albus‘ Phönix.«

»Das – nun es erklärt einiges und nichts«, murmelte er. »Das Schwert muss eines von den Dingern sein, mit denen die Lestranges ihr Haus verziert haben. Auch wenn ich nicht wusste, dass es funktioniert, Fawkes schien es zu wissen. Vermutlich hat er das Schwert deshalb gebracht, auch wenn ich nicht verstehe, warum es in dem Hut war –«

»Hut?«

»Ah, der ... Sprechende Hut?« Über die Schulter deutete Elphinstone auf einen wohlbekannten, altersfleckigen Lederhut in der Mitte des Kellers. Fawkes segelte von Minervas Seite dorthin und sobald seine Krallen sich um die Krempe schlossen, verschwand der Hut in einem goldenen Funkenregen.

»A mhic an Merlin!«, entfuhr es Elphinstone. »Gut, dass du das gesehen hast. Ich schwöre es dir, das Schwert war irgendwie ... darin.«

Einen Moment lang fand Minerva keine Worte, dann stieß sie die Luft durch ihre Nase aus und grinste. »Ich weiß ja nicht, was du für gewöhnlich aus dem Hut zauberst, aber ich dachte immer, das macht man mit Kaninchen und nicht mit Schwertern.«

»Hm?« Verwirrt sah Elphinstone von ihr zur Waffe und zurück.

»Ach«, winkte Minerva ab, »vergiss was ich –« Der Rest des Satzes ging in ihrem Luftschnappen unter. Auf den zweiten Blick wurde ihr klar, dass dieses Schwert ganz sicher kein Dekorationsobjekt war. »Phin! Das ist Godric Gryffindors Schwert!«

»Ja – Was?«

»Ich erkenne es, aus Albus‘ Büro!«

»... Oh.« Einen Moment war nur Fawkes leises Federrascheln zu hören, dann pfiff Elphinstone durch die Zähne. »Kein Wunder, dass es den Dementor vernichtet hat.«

»Aber ...« Minerva starrte den rubinbesetzten Schwertgriff an. Ein weiteres Glucksen entfloh ihr. Jeder Gryffindor kannte die Legende. Das Schwert kam nur jenen in der Not zur Hilfe, die wahren Mutes waren. Echten Gryffindors. »Du bist ein Slytherin!«

»War. Und?«

»Nichts und. Aber wenn ich je an dir gezweifelt hätte, dann hast du gerade den Beweis erbracht, dass wahrer Mut mehr ist als ein Hogwartshaus.«

Elphinstone legte die Hände auf ihre Schultern und sah sie an, wobei sein Gesicht sich nicht entscheiden konnte, ob es Sorge oder Freude zeigen sollte. Seine Augen glänzten feucht und der rechte Mundwinkel war zur Andeutung seines typischen Grinsens erhoben. »Gut. Denn es ist mir ziemlich egal, wessen Schwert es ist, das dein Leben rettet. Verflucht, Minerva, es reicht mir einfach, zuzusehen, wie du beinahe stirbst! Das macht mein Herz nicht mit!«

»Frag mich mal, ich dachte schon, ich würde herausfinden, ob mein Vater recht hat mit dem Leben nach dem Tod. Oder als Geist zurückkehren wegen all der unkorrigierten Schüleraufsätze.«

Minervas Gesichtsmuskel schmerzten unter ihrem anhaltenden Lächeln, als hätte sie in den vergangen Stunden verlernt, wie es war, glücklich zu sein. Doch jetzt erinnerte sie sich besser denn je zuvor, was dieses Gefühl bedeutete. In all seinen Kleinigkeiten. Jedem beiläufigen Streifen von Fingerspitzen, jedem gestohlenen Blick, jedem geflüsterten Wort. Selbst, nein – besonders im Angesicht absoluter Schwärze.

»Oh Phin ... ich wusste doch, wir schaffen das. Gemeinsam.«

Sie schob Elphinstone eine verschwitzte Haarsträhne aus den Augen und fuhr über seine zerfurchte Stirn. Trotz all des Schweiß, Drecks und Bluts des Tages brachte er ihr Herz zum Hüpfen, auch ohne namhaftes Schwert und Heldentaten. Sie konnte sich nur wundern, die Erkenntnis nicht eher akzeptiert zu haben. Er lächelte, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Ob die Berührung dieser Lippen so sanft wäre, wie die Worte, die sie sprachen?

»Darf ich ...«, hob Elphinstone zeitgleich mit ihr an – Minerva schmunzelte und seine Worte wurden zu ihren, »... dich endlich küssen?«

Die gegenseitige Frage war Antwort genug, also schlang sie die Arme um seinen Nacken und zog ihn am Hemdkragen heran. Die Augen fest auf sie gerichtet, strich er mit den Fingerkuppen über ihre Wange zum Kinn hinab und hob es sacht an. Der Abstand zwischen ihnen schmolz auf Pergamentdünne zusammen, es brauchte nicht einmal besonders viel, ihn zu überwinden, und doch kam es Minerva vor, als würde sie sich von einer Klippe in tosende Fluten stürzen. In ihrem Leben hatte sie nie mehr Mut für eine so kleine Geste aufbringen müssen.

Sie legte die Lippen auf Elphinstones und er antwortete mit vorsichtigem Druck. Die Berührung war fest und doch wieder flüchtig wie der Schnatz, der sich nicht fangen ließ. Seine Hand vergrub sich halb in ihrem Haar, der Daumen strich über ihren Wangenknochen und prickelnde Wärme rann als glühend-kalter Schauer durch sie. Bevor sie das Gefühl ganz begriffen hatte, verflog der Moment bereits, ihre Lippen getrennt. Wonach schmeckte der Kuss? Minerva wusste es nicht. Sie wollte mehr, viel mehr, aber die Zeit drängte. Zuerst mussten sie überleben.

Phönixflamme

Die silbrige Katze saß auf der obersten Treppenstufe, die Augen unbeweglich in das Dunkel des Anwesens gerichtet. Wenn ihre Umrisse nicht immer wieder in einem bläulichen Pulsieren verschwimmen würden, wie Spiegelungen auf Wasser, dann hätte man sie für eine Statue halten können. Erst als das Schaben von Schuhsohlen auf den steinernen Stufen direkt hinter ihr angelangte, wandte das Tier seinen Kopf in Richtung der beiden Personen, die sich Hand in Hand näherten.

Minerva lächelte bei dem Anblick ihres Patronus. Sie konnte es wirklich noch, sogar mit einem fremden Zauberstab. Obwohl der Stab des zweiten Gefängniswächters in Elphinstones Händen einem beliebigen Stück Holz glich, gehorchte er ihr. Während sie und Elphinstone die bewusstlosen Zauberer mit den Feenlichterketten gefesselt hatten, war ihre überraschend klar umrissene Patronuskatze auf einen Schwenk damit vorausgelaufen, um nach ungebetenen Besuchern Ausschau zu halten. Ein Teil Minervas hatte bis eben befürchtet, dass ihre Zauberkraft auf diese Distanz zu schwach wäre und sie bloß kalte Luft am Ende der Treppe erwarten würde. Ihren Patronus quickfidel zu sehen, bevor sie den Zauber beendete, nahm reichlich Druck von ihrer Brust.

Der ‚geborgte‘ Zauberstab lag zwar bleiern in ihrem Griff, doch sobald sie einen Aufspürzauber wirkte, drehte er sich auf ihrer Handfläche und signalisierte durch seine rot leuchtende Spitze, in welcher Richtung und wie nah sich die Entführer befanden. Je öfter sie ihn nutzte, desto leichter fiel es. Im Keller hatte sie noch drei Anläufe gebraucht, bis sie das Schloss der Zelle so verzaubert hatte, dass an ihrer Stelle die beiden Wächter dort verwahrt wurden. Sie dankte dem Schicksal, dass es sich um keinen wehrhafteren Stab handelte. Vielleicht wog er sie in trügerischer Sicherheit, doch die Erleichterung, wieder zaubern zu können – wenn auch nicht ungesagt –, überwog im Moment.

Elphinstone trug indes Gryffindors Schwert, von dem Minerva hoffte, dass er es nicht erneut brauchen würde. Fawkes saß dazu passend auf seiner Schulter, was ihr Anlass gab, zumindest auf den Schutz durch Albus’ treuen Freund zu vertrauen. Für tiefschürfendere Gedanken angesichts aller Entwicklungen der letzten Stunde blieb keine Zeit. Minerva zog Elphinstone an der Hand hinter sich her, immer der roten Stabspitze nach. Dort befand sich der Weg in die Freiheit.

Sie schlichen durch dunkle Flure, vorbei an holzgetäfelten Wänden geziert von Gaslampen und – Minerva wäre beinahe das Herz stehen geblieben – den abgetrennten Köpfen diverser magischer Tierwesen. Elphinstone keuchte, als sie unter dem Haupt eines pferdeartigen Wesens entlang huschten, dessen seetangartige Mähne von Doxys zerfressen war. Das Geschöpf mit den leeren Augenhöhlen, deren Blick sie durch die fensterlose Schwärze verfolgte, war allerdings Minervas geringste Sorge. Nur wenige Schritte weiter hoben sich die Umrisse eines prunkvollen Bilderrahmens von der Wand ab.

Sie verharrte, nur die Zehenspitzen auf den Boden gesetzt, obwohl jeder Muskel ihres Körpers gegen die Anstrengung protestierte. Ein Gemälde alleine wäre kein Problem – doch dem Bildnis irgendeines Corvus Lestrange dem Soundsovielten gegenüber hing noch ein Porträt einer ruhenden Lestrange-Ahnin. Damit nicht genug: Zwischen den ausgestopften Köpfen von Mondkalb, Einhorn und Hippogreif schimmerten weitere Goldrahmen zu beiden Seiten des Ganges im Schein des Aufspürzaubers. Selbst wenn Minerva mit Elphinstone an einer Wand entlang kriechen würde, hätte die restliche Ahnengalerie ungehinderten Blick auf sie. Perfekt, um die Flüchtigen an ihre Nachkommen zu verraten.

Kurzentschlossen richtete Minerva den Zauberstab auf die Leinwand des Briefe schreibenden Corvus. Kaum, dass ihr flüsterleiser Confundus-Zauber das Gemälde traf, hob die dunkelhaarige Porträtierte auf der anderen Seite den Blick von dem Gedichtbüchlein, über dem sie vorgeblich eingeschlafen war. Sie lächelte, einen Finger an die Lippen gelegt und Minerva blieben sämtliche Verwünschungen im Halse stecken.

»Also seid ihr entkommen. Das ist gut, dann besteht noch Hoffnung.« Die junge Frau erhob sich von einer gemalten Chaiselounge und strich ihr violettes Kleid glatt. »Wir haben nicht viel Zeit. Folgt mir.«

Weder Minerva noch Elphinstone rührte sich vom Fleck. Sie starrten der jungen Hexe hinterher, die ins angrenzende Bild lief, ehe sie einen Blick tauschten. Es lag nur dieser Weg vor ihnen. Würden sie auf den letzten Metern verraten werden? Welchen Grund sollte ausgerechnet eine Porträtierte haben, ihnen zu helfen?

Von dem nächsten Gemälde in der Galerie winkte ihre selbsterkorene Helferin. »Nicht trödeln! Das Haus ist im Moment so gut wie verlassen, die meisten sind für die Nacht fort. Wir wollen nicht, dass sich das ändert.« Die Frau sprach in einem melodischen Akzent und gleichzeitig klang es, als erwarte sie Folgsamkeit. Sie tappte mit dem Gedichtband gegen den Rand des Bildes, in das sie gehuscht war, und fing sich einen finsteren Blick von dessen eigentlichem Motiv – einem beleibten Mann in Kniebundhosen – ein.

»Sehen wir so aus, als wären wir für eine Besichtigungstour hier?« Minerva schnaubte leise. »Mit Verlaub, aber warum sollte ich Ihnen folgen?«

»Wir mögen Abbilder der Familie Lestrange sein – aber das heißt nicht, dass wir Porträts gerne mitansehen, welche Schandtaten in unserem Haus vollbracht werden.« Die Porträtierte schwang ihr Kleidsäume und schritt weiter voran.

Elphinstone hob das Schwert, Minerva den Zauberstab und zögerlich folgten sie der Frau die Ahnengalerie entlang, immer in der Furcht, dass einer der – echten – Lestranges sich ihnen in den Weg stellen würde. Aber die übrigen Porträts verharrten stumm in den Rahmen und schienen kein Interesse daran zu haben, im Salon Alarm zu schlagen.

»Fünfzig Jahre lang herrschte hier Frieden und nun hat der Wahnsinn Einzug gehalten«, fuhr ihre porträtierte Führerin im eindringlichen Flüsterton fort. »Mit eurer Hilfe werden wir dieser Entweihung ein Ende setzen. Wir mögen nicht viel Macht besitzen, aber ihre Ignoranz werden die Träger unseres Namens büßen!«

Aus der Nähe fiel Minerva auf, dass sich die junge Frau nicht mehr im repräsentabelsten Zustand befand. Sie kaschierte es geschickt mit dem blauen Büchlein, doch auf Brusthöhe hatte sich Schimmel in Haut und Stoff gefressen, wie schon bei den Porträts im Salon.

»Sie kommen her, schänden das Haus, beflecken es mit Blut und den Schreien Unschuldiger –« Die Lestrange-Vorfahrin wurde mit jedem Wort schneller, bis eine Porträtbewohnerin auf dem Weg ihren Ärmel ergriff und ihr nachdrücklich ins Ohr flüsterte. Das Buch erneut vor die Brust geschlagen, wandte ihre Führerin sich zurück an Minerva. »Es dürfte euch interessieren, dass die ungezogene Göre gegenwärtig in ihrem Labor verweilt. Offenbar nähert sich das Ende von Phase zwei – es eilt!« Wieder war sie ins nächste Bild gehuscht, Minerva und Elphinstone dicht auf ihren Fersen.

»Was soll das alles heißen?«, warf Elphinstone vorwurfsvoll ein. »Wir haben keine Zeit für rätselhafte Andeutungen! Fakten, bitte.«

»Ihr Blutfluch – er wird bald unwiederbringlich gewunden sein. Bereits jetzt ist dein Blut und jenes der Kinder darin verbunden und was dann folgt, ist nur noch ein ... das Gör nennt es ‚Praxistest‘. Zwei Mal ist es bisher schief gegangen. Glaubt mir, das wollt ihr nicht. Genauso wenig wie ihren Erfolg. Euer Eingreifen ist unabdingbar. Jetzt

Elphinstone verkrampfte sich bis in die Fingerspitzen hinein. Er machte schon den Mund auf, bereit weitere Fragen über sein Schicksal zu stellen, doch ihre Führerin erhob barsch eine Hand.

»Still jetzt! Manchmal halten sie in den Gängen hinter der nächsten Ecke Wache. Ich gehe voraus und vergewissere mich.«

Sie waren an einer Kreuzung zweier Flure angelangt und nicht weit entfernt fiel Mondlicht durch ein Bogenfenster hinein. Ihre gemalte Begleiterin entschwand aus dem letzten Bild der Galerie und hinterließ die einsame Szenerie der Normandie auf der Leinwand. Minerva tauschte einen raschen Blick mit Elphinstone.

»Trauen wir ihr? Oder ... schleichen wir zu dem Fenster und verschwinden?«

Elphinstone starrte in Richtung der verlockenden Freiheit. Das ferne Licht brachte seine Augen zum Glänzen wie den Mond selber. »Fenster. Wir kommen sofort mit den Auroren zurück. Das muss reichen.«

Sie drückte bestätigend seine Hand. Das waren auch ihre Gedanken. Nach einem vorsichtigen Blick um die Ecke, hinter der nur ein weiterer leerer Flur wartete, stahlen sie sich bis zu dem Fenster, durch das Minerva die gewundene Auffahrt und in der Ferne das Eisentor erkannte. Vielleicht zwanzig, dreißig Meter Sprint.

Bereits bei dem Gedanken daran stach es Minerva in der Lunge. Ihr stand der Schweiß auf der Stirn, gleichwohl sie ihren desolaten Zustand im Angesicht der Flucht weitgehend zurückgedrängt hatte. Die Aussicht darauf, Bellatrix das Handwerk zu legen, mobilisierte ungeahnte Kraftreserven.

»Evanesco.« Minerva tippte das Glas mit der Zauberstabspitze an. Nichts geschah und sie schüttelte ihr Handgelenk aus, bevor sie die Geste für den Verschwindezauber erneut überdeutlich vollführte. Sie kam sich vor wie eine Erstklässlerin, die ihren ersten Zauber lernte. »E-va-nes-co.«

Dieses Mal vibrierte das Glas unter den Schwingungen eines grässlichen Klagelautes, der einem geradewegs ins Trommelfell stach. Elphinstones zuckte zusammen und Fawkes schwang sich mit einem Krächzen in die Luft. Aber das Fenster blieb, wo es war.

Minerva schnaubte. Sie packte den fremden Zauberstab so fest, dass sich sein kantiger Griff schmerzhaft in ihre Handfläche grub. Dann eben anders. »Expulso!«

Anstatt des Klirrens explodierenden Glases hörte Minerva ... ein vorwurfsvolles Zungenschnalzen, gefolgt von einem Seufzen. Ohne jemanden zu sehen, schnippte sie mit dem Zauberstab und wieder erglühte dessen Spitze im Blassrot eines Aufspürzaubers. Da war niemand –

»Warum habt ihr das getan? Die Fenster sind selbstverständlich gesichert!« Die körperlose Porträtstimme der jungen Miss Lestrange schwang dramatisch auf und ab, ohne dabei wirklich laut zu werden. Eine Reihe französischer Flüche spülte über Minerva und Elphinstone hinweg. »Schön, gleich wird jemand hier sein, das hat Alarm geschlagen. Lauft, in die andere Richtung! Eine andere Chance haben wir jetzt nicht mehr! Ich treffe euch in einem Gemälde im ersten Stock.«

Ihre Stimme verschwand, offenbar hatte sie das Bild der Normandie wieder verlassen. Dafür dröhnte es in der Ferne – als wäre die Flügeltür des großen Salons unter einem energischen Zauber gegen die Wände geschlagen. Die Spitze des fremden Zauberstabs in Minervas Griff glühte dunkelrot, ehe das Leuchten sich zu einem Blinken auswuchs. Fluchend zog Elphinstone an ihrer Hand. Mit einem letzten Blick auf die zum Greifen nahe und doch so weit entfernte Freiheit rannten sie, tiefer ins Haus der Lestranges.

Fawkes schien die Anweisungen ihrer Helferin genau verstanden zu haben, denn er segelte ihnen zielsicher voraus durch die verwinkelten Gänge. Minerva ließ Elphinstone nicht los, während sie dem Phönix hinterherliefen. Die Funkenspur Fawkes’ führte sie zu einer Treppe ins Obergeschoss. Ein weiterer Aufspürzauber zeigte Minerva in blassem Rot, dass sie sich von ihren Entführern entfernten – für den Moment.

Die rot-goldenen Schwanzfedern des Phönix’ verschwanden durch eine angelehnte Tür und einen Schildzauber auf den Lippen folgte Minerva ihm, Elphinstone hintendrein. Abgesehen von Staub, der im Mondlicht tanzte, erwartete sie nur ihre Porträtführerin. Von einem gewaltigen Landschaftsgemälde, das keine Bewohner – außer einen Schwarm Zugvögel und ein paar scheue Rehe – sein Eigen nannte, winkte die Frau. Ihre Arme vor der schimmelfleckigen Brust verschränkt, sah sie zu ihnen hinab.

»Verzeiht, dass ich mich nicht deutlicher ausgedrückt habe – es führt kein einfacher Weg aus diesem Haus hinaus. Ihr seid hier gefangen, ebenso wie ich. Alles, von den Fenster zu den Türen, ist mit Bannzaubern oder Flüchen geschützt. Wenn die meisten nicht fort wären, hätten sie euch längst erwischt.« Die junge Lestrange ließ die Seiten ihres kleinen Büchleins immer wieder durch ihre Fingerspitzen gleiten. »Der einzige Weg hinaus sind die Kamine. Wie jener im Labor. Ich werde euch helfen, also solltet ihr mir zu eurem Wohlbefinden vertrauen. Es ist schließlich nicht zu viel verlangt, dass ihr euch nicht alleine aus dem Staub macht, sondern die zwei unschuldigen Kinder mitnehmt?«

Entrüstet stemmte Minerva die Zauberstabhand in die Hüfte und holte tief Luft. Doch Elphinstone ließ ihr keine Gelegenheit, ihrem Unmut Platz zu verschaffen. Er strich über ihren Handrücken, ein kleines Kopfschütteln an sie gerichtet.

»Sicher, zu deren Rettung sind wir schließlich hier«, wandte er sich an die Porträtierte. »Also, was erwartet uns im Labor? Wir haben nur einen Zauberstab. Mit mehreren zaubernden Gegnern können wir es nicht aufnehmen. Wie sollen wir dort hinein- und lebendig hinauskommen?«

»Endlich die richtigen Fragen.«

Die Frau lächelte verhalten und blätterte wieder in ihrem Büchlein. Zu Minervas Überraschung drehte sie den Einband so herum, dass sie auf die Seiten sehen konnten. Nur, dass dort kein Text stand, sondern ein Grundriss auf eine Leerseite gezeichnet war. Mit dem Zeigefinger tippte die Porträtierte auf einen innenliegenden Raum.

»Hier liegt das Labor, in der dritten Etage. Wie ihr seht, gibt es zwei Zugänge. Einen durch die Tür im Hauptflur und einen, der nur über einen Geheimgang aus der Bibliothek erreicht werden kann. Davon wissen die Gören zwar – aber sie bewachen ihn nicht, weil sie davon keinem ihrer Untergebenen erzählt haben.«

»Den anderen schon? Wie viele Wachen?« Elphinstone war in seinem Element. Als wäre es eine Befragung vor dem Gamot und er dem entscheidenden Geständnis auf der Spur. »Und wie viele befinden sich jetzt gerade im Labor?«

»Meist lungert eine Person vor der Tür herum, während sie drinnen am ‚Arbeiten‘ sind. Und jetzt gerade sind nach Informationen der anderen Porträts nur das Paar und der blonde Junge im Labor. Einer schläft im Salon – oder zumindest tat er das, bevor euer Ausbruchsversuch einen Alarm ausgelöst hat.«

Bellatrix, Rodolphus und Rowle also. Eine wahrlich gefährliche Kombination, auch wenn Minerva nicht die Einzige mit Zauberstab wäre.

»Dann können wir sie in die Zange nehmen«, murmelte Elphinstone gedankenverloren. »Einer von uns überwältigt die Wache und lenkt die drei ab, dann kann die andere Person sie aus dem Geheimgang überraschen. Ja, so könnten wir eine echte Chance haben. Oder zumindest die größtmögliche Chance.«

Er klang rational, doch Minerva entging nicht, wie schwitzig seine Hand war. Wie sein Daumen unablässig Kreise auf ihrem Handrücken beschrieb. Wie er es vermied, sie anzusehen. Und sie hasste es, dass sie sich keine andere Möglichkeit vorstellen konnte. Das war keine gute Idee, sondern der schnellste Weg, auf einem Thestral gen Himmel zu reiten.

»Ich nehme die Tür. Ich habe den Zauberstab, ich kann sie beschäftigen. Aber du musst mir versprechen, dass du nicht auf mich warten wirst. Egal, was passiert. Du bringst dich und die Kinder umgehend in Sicherheit, verstanden?«

»Minerva –«

»Versprich es mir.«

»Min –«

»Versprich es!«

Elphinstone seufzte leise. »Tha mi a‘ gealltainn.«

»Gut.«

Die Porträtierte musterte sie interessiert, enthielt sich aber jeglichen Kommentars – wenn man einmal davon absah, dass sie den Rücken ihres Büchleins in die leere Handfläche schlug. »Die Zeit ist knapp. Ich kann euch nicht führen, es gibt keine Gemälde entlang des Weges. Aber ich kann eure Verfolger in die Irre führen, das sollte euch etwas Zeit verschaffen.«

Minerva beschied sich auf ein Nicken. Sie wollte es nur hinter sich bringen, bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, wie schlecht dieser Plan war. Sofern es nicht doch eine Falle war. Nur mit halbem Ohr hörte sie zu, als die Lestrange-Ahnin Elphinstone beschrieb, wie er in den Geheimgang gelangte. Ihr eigener Weg war denkbar einfach einzuprägen und sie nickte offenbar an den richtigen Stellen der Erklärung ihrer Helferin, denn diese schenkte ihr ein Lächeln, das wohl aufmunternd sein sollte.

»Gut. Dann los. Ich hoffe, wir sehen uns nicht wieder.«

Die Hexe verschwand seitlich aus dem Bildrahmen und Minerva blieb in plötzlichem Schweigen mit Elphinstone zurück. Einen Moment lang standen sie in der drückenden Stille und wagten es kaum, zu atmen. Erst Fawkes’ Federrascheln erinnerte sie, wie eilig sie es hatten. Ohne die Hände voneinander zu lösen, verließen sie das kleine Teezimmer, liefen bis zur nächsten Treppe und schlichen sich in den dritten Stock. Jede Stufe nahmen sie langsamer als die vorige, doch schließlich erreichten sie den letzten Absatz – und den Punkt, an dem ihre Wege sich trennten.

Minerva wollte etwas sagen, wusste aber nicht, wie. Sie umklammerte den Zauberstab. Das fremde Holz schaffte es nicht, sie von dem Wirbel aus Angst, Aufregung und Sehnsucht zu befreien.

»Phin ... Halt.« Ihre Finger zwischen seinen versteiften sich und zwangen ihn dazu, stehenzubleiben. »Ich –«

»Sag nichts. Bitte.« Elphinstone schüttelte den gesenkten Kopf.

Mit einem Seufzen im Herzen zog Minerva an seiner Hand, damit sie nicht länger zwei Armlängen – die ihr in diesem Moment wie Welten vorkamen – trennten. Dieser Bewegung folgte er sofort. Durch ein Oberlicht fiel das Mondlicht direkt auf ihn und aus der Nähe erkannte sie, dass das Fluchschwarz in die Adern an seinem Hals gezogen war. Sein Hemdkragen verbarg das Meiste, aber so wie er den Kopf nun schief legte, gab es kein Vertun. Der Heiltrank hatte den Fluch nicht aufgehalten.

Die tintenschwarzen Spuren verschwanden unter Minervas Zauberstabhand, bis sie sich fast einreden konnte, dass es nichts zu sagen gab – schon gar keinen Abschied. Ihre und Elphinstones Lippen trafen in einem kurzen, festen Kuss aufeinander. Dann gab Minerva seine Hand frei, ohne in Worte zu fassen, was er sowieso wusste.

»Pass gut auf ihn auf«, murmelte sie an Fawkes gewandt und umgehend landete der Phönix wieder auf Elphinstones Schulter. Er blinzelte ihr aus schwarzen Knopfaugen zu. Sie strich über sein warmes Federkleid und wandte sich ab, bevor der Kloß in ihrem Hals in Tränen aufbrach.

Alleine, nur mit dem fremden Zauberstab in der Hand, tat sie die ersten Schritte ins Ungewisse. Elphinstone sagte nichts, aber sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken brennen. Ein leiser Phönixschrei erinnerte ihn daran, dass er gehen musste und obwohl der schwere Teppich die Geräusche dämpfte, vernahm Minerva genau, wie er sich von ihr entfernte. Ihre linke Hand wurde kalt.

Sie hätte ihm nicht das Versprechen abringen sollen, sie zurückzulassen. Die Versicherung, dass er zu ihr zurückkehren würde, wäre viel beruhigender gewesen.

 

Vor der Flügeltür des Raumes, den Bellatrix zum Labor auserkoren hatte, wartete keine Wache auf Minerva. Nicht mehr – als sie in Animagusgestalt um die Ecke huschte, sah sie gerade noch zwei Umhangträger in Richtung des anderen Endes des Flurs verschwinden. Sie spitzte die Katzenohren.

»... ist besser, sie nicht zu stören. Weit können die Gefangenen nicht sein. Komm!«

Keiner der beiden Männer nahm mehr wahr, wie Minerva sich am Boden kauernd zurückverwandelte und den Zauberstab auf die Tür zu Bellatrix’ improvisiertem Labor richtete. Mit einem Abhörzauber lauschte sie auf das Geschehen dahinter. Vermutlich interferierten einige Zauberbanne, denn die Geräusche wurden immer wieder von Rauschen überlagert, als würde sie versuchen, einem Radiosender auf der falschen Frequenz zu hören. Doch Bellatrix’ markante Stimme schnitt selbst durch dieses Chaos.

»Ist mir egal, Rod! Sonst ... Dämonsfeuer ... muss mich konzentrieren!«

»... zu riskant, Bella, ... könnte unseren ganzen Fortschritt gefährden –«

Das Weinen eines Babys drang auch ohne Abhörzauber durch die Eichentüren und schnitt Rodolphus Lestrange das Wort ab.

»Stell es ruhig!«

Bellatrix klang längst nicht mehr so beherrscht wie bei ihrem Auftritt im Keller. Glas schepperte gegeneinander, gefolgt von weiteren, unklaren Geräuschen. Das Babygeschrei verstummte allerdings nicht. Die Chance konnte nur schlechter werden und Minerva ertrug es keine Sekunde länger, das Kind leiden zu wissen.

Ein gezielter Zauber schleuderte die Tür auf. Mit wehendem Umhang stürmte sie in den Raum, einen roten Lichtblitz vor sich herjagend. Bevor irgendwer begriffen hatte, was geschah, fiel Rodolphus einem gefällten Baum gleich zu Boden. Vom Gewicht seines Körpers begraben, splitterte eine Phiole und wie das Echo des berstenden Glases erklangen drei überraschte Schreie. Rowle, Bellatrix – und Jonathan Alditch.

Der Junge saß mit dem Baby der Winters im Arm auf einer Art Pritsche in der Mitte des Raumes. Aus tief in den Höhlen liegenden Augen starrte er Minerva an. Er war ausgemergelt im Vergleich zu ihrer Erinnerung; sein dreckiger Pullover schlackerte um die bebenden Schultern. Für einen Moment raubte der Anblick Minervas Atem. Dann versengte ein Fluch ihre freischwebenden Haarspitzen und der Geruch brachte ihre Aufmerksamkeit zurück zu Bellatrix.

In der Ecke, halb verborgen hinter einer Konstruktion aus Phiolen und Schläuchen, stand sie, den Zauberstab auf Minerva gerichtet. »Begeh jetzt keinen Fehler«, kam es in einem Zischeln von ihr. Langsam umrundete sie den Tisch mit ihrem Experiment und näherte sich den beiden Kindern. Von dem geschockten Rodolphus breitete sich eine goldgelb glänzende Pfütze aus, die sie immer wieder aus dem Augenwinkel anstarrte.

Jonathan schien zur Statue erstarrt, den Blick ebenfalls auf die Flüssigkeit gerichtet, die ihn von seiner Entführerin trennte. Nicht einmal das Baby weinte länger, sondern sah aus großen Augen umher.

Anstatt auf Bellatrix zu zielen, richtete Minerva den Zauberstab auf die Kinder und schloss sie mit einem geschrienen »Protego totalum« unter einem Schildzauber ein. Der verschüttete Trank berührte zischend die Außenseite des kreisrunden Schutzbannes, durchdrang ihn jedoch nicht. Von dem ursprünglichen Weg abgelenkt, kroch das Zeug geradewegs auf Bellatrix zu. Diese bleckte die Zähne, aber Minerva übersah nicht, dass ihr Zauberstab fort von ihr, gen Boden, zuckte. Im gleichen Atemzug zog Bellatrix ihren verfluchten Dolch hervor. Sie wog ihn in der Hand, abwechselnd mit der Spitze auf Minerva und die Kinder weisend.

»So dankst du mir also meine Nachsicht mit dir?« Bellatrix’ Zungenspitze fuhr über ihre perfekt weißen Zähne. »Dir liegt wohl nicht genug an deinem Leben, McGonagall. Für den Lerneffekt wird jemand anderes für deine Dreistigkeit bezahlen müssen, finde ich. Du als Professorin verstehst sicherlich –«

»Bella, es ist gleich so weit.« Unvermittelt durchbrach Rowle Bellatrix’ selbstgefälligen Sermon in aller Nüchternheit. »Die Tentaculasamen ...«

Der Junge stand verborgen in derselben Ecke voller seltsamer Gerätschaften wie Bellatrix zuvor, beide Hände an einem Kessel, in dem es heftig kochte. Ohne seine Einmischung hätte Minerva ihn nicht beachtet.

Dicke, fast schon schlammig anmutende Blasen platzten an der Oberfläche des Suds, den er mit langsamen Rührbewegungen kontrollierte. Der Dampf stieg in verschlungenen Spiralen auf und lieferte damit einen Hinweis auf die Komplexität des Trankes. Rowle löste weder Blick noch Zauberstab von seinem Werk.

Es sah nicht aus, als würde er Bellatrix zur Hilfe eilen wollen – oder können. Das war Minervas Chance! Sie packte ihren entliehenen Stab und konzentrierte sich alleine auf dessen bröckelnden Widerstand.

Den Ernst ihrer Lage erkannte Bellatrix ebenso. Im gleichen Augenblick, da Minerva den Kamin entzündete, erweckte sie Rodolphus mit einem Zauber wieder. Doch sie beide hatten die Rechnung ohne den Wandbehang hinter den Tischen gemacht, der urplötzlich zur Seite schwang – und Rabastan enthüllte. Der nicht alleine war.

Fawkes war ein goldener Blitz, der Rabastans Kopf umschwirrte und pausenlos mit Schnabel und Krallen nach ihm hackte. Rodolphus’ Bruder fluchte, während er den Zauberstab mal hierhin, mal dorthin schwang, aber nie traf. Funken stoben in sämtliche Richtungen, doch der Phönix war wendig wie ein Wiesel. Nicht einen Moment ließ er von seinen Attacken ab.

Minervas nächster Stupor blieb ihr im Halse stecken, sobald sie sah, auf wen Rabastan wirklich zielte. Elphinstone, der hinter ihm aus dem Geheimgang kam, schwang das Schwert Gryffindors auf die Beine des jüngsten Entführers gerichtet und dieser stolperte weiter in den Raum, bis er gegen einen der zahlreichen Tische voller Zaubertrankzutaten stieß.

»Merlin, schaff mir jemand das Vieh vom Hals!«, brüllte Rabastan. »Und den Kerl gleich mit!«

Einer seiner wahllosen Flüche wurde von der Schneide des Schwertes abgelenkt und schoss unter den Tischen durch auf Rowle zu. Der heulte vor Schmerz auf, als sein Hosenbein von violetten Flammen umschlungen wurde. Trotzdem ließ er nicht von dem dampfenden Kessel ab.

»Pass doch auf!«

Mehrere Zauber schossen kreuz und quer durch den Raum – zu Fawkes, zu Elphinstone, zu Minerva. Nur ein hastiger Protego verhinderte, dass der nächste Querschläger Minerva traf. Einem Gummiball gleich jagte der Fluch durch den Raum, bis er funkensprühend in die Decke einschlug. Es knackte, Risse durchzogen den Putz.

Minerva nutzte das Chaos, um das Feuer unter Rowles Trank zu verstärken. Und Bellatrix ... ihr Schockzauber traf Rabastan. Stocksteif sackte er geradewegs in die Arme seines Bruders, während seine Angreiferin den Dolch gegen Elphinstone richtete. Ihr Blick galt allerdings Fawkes, genauso wir ihr Zauberstab, aus dem ein grüner Blitz in seine Richtung schoss. Umgehend jagte der Phönix im Zickzack zur Decke hinauf, eine Funkenspur hinter sich herziehend.

Alles geschah binnen weniger Herzschläge. Minervas Zauber, der Flohpulver in den Kamin schweben ließ. Rowles hastige Flucht vor dem vulkanartig hochschießenden Zaubertrank. Bellatrix’ Dolchhieb. Elphinstones Schrei, dass Minerva verschwinden solle. Rodolphus’ Todesfluch, der Fawkes um ein Haar verfehlte. Fawkes’ todesmutiger Sturzflug in Minervas Schutzkreis. Jonathan und das Baby, die von seinen Flügeln umhüllt wurden. Die gewaltige Stichflamme, in der alle drei verschwanden. Goldene Funken, die durch die zurückgelassene Dunkelheit regneten. Das Zischen, als Phönixfeuer und verschüttete Flüssigkeit aufeinandertrafen.

»Nein!«

Der entsetzte – und wütende – Schrei Bellatrix’ traf Minerva bis ins Mark. Die Stichflamme brannte vor ihren Augen noch, die samtene Dunkelheit des Labors schien allumfassend schwarz und dennoch grell. Sie erkannte kaum etwas, hörte bloß Elphinstone wieder aufschreien. Keine Worte, nur Schmerzen. Sie zwang sich, die Augen offen zu halten, bis sie ihn sah, in Bellatrix’ Griff, das Schwert Gryffindors fort. Ihre Hand zitterte derart, dass ihr Fluch seine Peinigerin verfehlte. Trotzdem ließ Bellatrix Elphinstone los. Er fiel dumpf zu Boden und für einen Moment starrte Minerva bloß zu ihm – und er aus bleichem Gesicht zu ihr. Erst das Zischen eines Todesfluches, der ihr gewidmet war, schreckte sie auf. Mit einem Sprung zur Seite entging sie ihm, ehe sie ebenfalls fiel.

Hitze jagte über sie hinweg, der Zauberstab entglitt ihrem Griff. Schwer atmend schaute Minerva zu, wie er davonrollte. Ihr Gesicht glühte. Für einen Augenblick glaubte sie, dass die Spätfolgen des Cruciatus sie nun überwältigten. Dann sah sie die Flammen – die realen Flammen –, die mitten im Raum emporloderten. Rodolphus’ verschütteter Trank brannte lichterloh.

»Vergiss es Bella, das Feuer ist außer Kontrolle!«, vernahm sie Rodolphus’ Schrei. »Phönixflammen sind unberechenbar, die versauen alles. Weg hier!«

Bellatrix fauchte wie ein verwundetes Tier. Vor dem orangenen Hintergrund erkannte Minerva, wie Rowle zuerst in ihr Flohfeuer sprang, dicht gefolgt von Rodolphus mit dem geschockten Rabastan auf den Schultern. Hintendrein kam Bellatrix. Der Flammenschein hüpfte über die Klinge ihres Dolches, von der Blut tropfte. Sie stand bereits mit einem Bein im Kamin, als sie den Zauberstab noch einmal in den Raum richtete. Auf einen Tisch mit weiteren Phiolen goldenen Inhalts.

»Confringo!«

Glas splitterte, Bellatrix verschwand – und dann kam die Explosion.

Während die Welt um Minerva im Funkenregen niederging, war es ihr längst ergebenes Herz, das eine Entscheidung traf. Sie warf sich vorwärts, auf Elphinstone zu. Feuer verschlang die Luft, Stein und Holz barsten, sengende Hitze verbrannte sie, Trümmer fielen herab. Doch Minerva hatte lediglich Augen für Elphinstone, der eine Hand nach ihr ausstreckte.

Ein gewaltiger Windstoß raste durch den Raum; grelles Licht ertränkte den Flammenschein. Unter einem Schrei brach die Druckwelle aus Minerva hervor. Aber sie nahm kaum wahr, dass sämtliche Flammen in ihrem Umkreis niedergedrückt wurden. Leuchtwogen brandeten über ihr in die Höhe und bildeten eine Kuppel gleißenden Blaus. Feuerzungen leckten rundrum daran empor, wohingegen von oben Teile des Daches die Barriere bedrängten. Der puren Magie entfuhr ein schrilles Wehklagen.

Minerva ignorierte alles davon. Sie stürzte einige Armlängen vor Elphinstone zu Boden. Doch ihr Herz sang, denn er regte sich noch. Seine Lippen formten Worte!

Weitere Trümmer begruben den Schutzkreis – und Elphinstones Ruf – unter sich. Staub rieselte durch den ächzenden Magieschild, gefolgt von dem ersten geschwärzten Holzbalken. Damit war der Weg gebrochen. Ein Trümmerstück nach dem anderen schlug zwischen Minerva und Elphinstone ein. Sie konnte ihn nicht länger sehen. Die Arme um den Kopf geschlungen, kauerte Minerva sich zusammen, während die Magie um sie herum flackerte und das Dach endgültig nachgab. Bitte schütz wenigstens Phin, flehte sie innerlich, dann verschwand die Kuppel über ihr.

 

Schmerz. Das war das Erste – und Einzige – das Minerva wahrnahm, als es nicht länger knirschte und krachte. Das Haus der Lestranges hatte sie unter sich begraben. Von allen Seiten drückten die Trümmer auf sie, raubten ihr den Atem, hielten sie gefangen. Sie wollte rufen, doch sie brachte nur ein Husten hervor. Blutige Sprenkel trafen auf den Staub vor ihr.

Elphinstone! Sie musste ihn finden, sie mussten hier fort ... Hitze und Asche brannten in ihren Augen. Ebenso wie ihr ganzer Körper in Flammen zu stehen schien; von innen, von außen. Die Dielen unter ihr ächzten verdächtig. Neue Furcht flutete ihre Glieder wie Eiswasser. Sie mussten sofort weg.

Animagus! Sie konnte sich verwandeln. Das hatte sie heute schon einmal geschafft. Trotz der Schmerzen schloss sie die Augen und versuchte, zu vergessen, wo sie war; was sie fühlte. Einfacher gedacht denn getan. Die Pein stand der des Cruciatus’ in nichts nach. Minervas Glieder verformten und bogen sich, wie von Riesenhänden gezogen. Der Verwandlungsprozess, der vor Jahren zu ihrer zweiten Natur geworden war, streckte sich unendlich langsam und schmerzhaft, als wolle ihr Körper sie genau daran erinnern, wie unnatürlich ihre Gliedmaßen sich zu denen einer getigerten Katze krümmten.

Die Verwandlung im Keller hatte geschmerzt, doch diese trieb ihr die Tränen in die Augen, bis sie sich ein schmerzerfülltes Keuchen nicht länger verkneifen konnte. Etwas stimmte nicht und nur die Angst ließ sie weitermachen. Sie musste zu Elphinstone. Bevor es zu spät war.

Endlich, nach gefühlten Stunden, veränderte sich ihre Sicht. Ab da ging es schnell – ihre Glieder schrumpften auf einen Bruchteil ihrer vorigen Größe und zumindest ein Teil des Drucks auf ihr schwand. Mit zitternden Schnurrhaaren fand Minerva eine Lücke, durch die sie ihren Katzenkörper quetschen konnte.

Schwelende Glut und scharfer Gestank empfingen sie, sobald sie den Kopf an die Luft streckte. Ein weiteres Mal war sie dankbar für ihre Animagusform. Ihre Pfoten fanden zuverlässigen Halt auf den Trümmern. Hitze bohrte sich wie hunderte Glasscherben in ihre Fußballen, aber das war das geringste Übel. Witternd nahm sie die Spur von Gartengrün unter dem Brandgeruch auf und folgte ihrer Nase.

Sie fand ihn halb begraben von Holzbalken, das blonde Haar und einst weiße Hemd die einzigen hellen Flecken vor den rußgeschwärzten Haustrümmern. Ein winziges Lächeln strich über Elphinstones Gesicht, sobald er sie erkannte. Ohne zweiten Gedanken verwandelte Minerva sich zurück.

»Phin!« Ihre Stimme überschlug sich. »Oh Phin!«

»Min ... Nimm meine Hand. Ich bringe uns in Sicherheit.«

Er streckte die Finger nach ihr aus und die Erleichterung verschaffte Minerva zusätzliche Kräfte. Sie schob sich zu ihm vor, schmerzenden Zentimeter für Zentimeter. Wie eine Ertrinkende in stürmischer See umklammerte sie seine Hand. Die altbekannte Enge des Apparierens drängte in ihr hoch. In einem übelkeiterregenden Schluckauf entriss es sie der Häuserruine.

In Sicherheit.

Der Hüterin heilende Hände

Eine kleine Ewigkeit verging – dann lösten sich die unsichtbaren Taue, die Minervas Brust zusammendrückten. Nachtluft strömte in ihre Lungen, kühl und irgendwie ... erdig. Grün. Minerva entwich ein Keuchen. Mit den Knien voran schlug sie auf den Boden. Scharfkantige Kiesel bohrten sich in ihre Haut, aber das war in diesem Moment egal. Sie und Elphinstone waren dem Anwesen der Lestranges entkommen. Seine Hand lag in ihrer, eine beruhigende Gewissheit, dass sie nicht halluzinierte. Das allein zählte.

In einem tiefen Atemzug sog sie die Freiheit in sich. Von allen Seiten drangen Sinneseindrücke auf sie ein. Wasserplätschern. Abendbrise. Blätterrascheln. Moosduft. Ihre Sinne waren so gereizt, dass Minerva beinahe glaubte, die Sterne funkeln zu hören. Angesichts des samtblauen Nachthimmels musste sie einige Male blinzeln, ehe die tanzenden Phantomflammen vor ihren Augen verschwanden und sie überhaupt das Himmelszelt in all seiner Pracht erkannte.

Wohin war Elphinstone mit ihr appariert? Sie konnte nichts Bekanntes erkennen. Ein schneller Rundumblick zeigte lediglich, dass sie von Bäumen umgeben waren. Das glucksende Wasser war nirgends zu sehen. Dafür lag ein gutes Stück hinter ihnen eine breite Straße, die völlig ausgestorben schien. Nur ein einzelnes Straßenschild, dessen reflektierende Schrift im Mondschein schwach leuchtete, eröffnete ihr, wo sie gelandet waren. Loch Ness – Besucherparkplatz A 82 – noch 800 Yards.

»Elphin-«, japste Minerva kurzatmig auf, doch die nächste Silbe verschluckte sie direkt wieder, als sie Elphinstone ansah. Richtig ansah. Selbst im Schatten der Nacht bemerkte sie, dass jegliche Farbe aus seinem Gesicht entschwunden war.

Elphinstones Stirn glänzte schweißnass und es verlangte nicht viel Fantasie ihrerseits, um zu begreifen, was seine Kleider dunkel färbte. Der dünne Stoff seines Hemdes war bereits vollgesogen, sobald sie die Fingerspitzen an seine Brust legte. Die Berührung schien ihn aus seiner Benommenheit zu reißen. Durch zusammengebissene Zähne entwich ihm ein Stöhnen, während er sich mit der freien Hand an ihren Oberarm klammerte.

»Verflucht ... wenn ich –« Ein neuerlicher Schmerzlaut ersetzte die Worte und sein Griff wurde fester. »Wenn ich’s nicht besser wüsste ... würde ich denken, zersplintert zu sein.«

Vage ertastete Minerva einen Riss im Stoff seines Hemdes. Sie hatte gesehen, wie Bellatrix ihn angegriffen hatte, sie brauchte keine falsche Hoffnung schöpfen, dass es mit einem Einsatz des magischen Rettungskommandos und dem Zurückhexen eines verlorenen Körperteils getan wäre – »Sicher nicht zersplintert?«

Ein Seufzen kam über Elphinstones Lippen. Ihm war das Flehentliche in ihren Worten also nicht entgangen. »Noch, ah ... alles dran. War – war eine saubere Disapparation.«

Natürlich hatte Minerva das ebenfalls gefühlt – Elphinstone war ein routinierter Apparierer, da hatte sie in jüngeren Jahren schon heftigere Apparationen erlebt. Doch das bedeutete, dass er andere Verletzungen hatte.

Wie zur Bestätigung ihrer schlimmsten Ängste verließ die Kraft ihn und er sackte zusammen, geradewegs gegen sie. Mehr schlecht denn recht fing sie ihn ab. Das zusätzliche Gewicht drückte sie nach unten und am Rande ihrer Wahrnehmung protestierten ihre Knie angesichts dieser Begegnung mit dem Schotter, aber sie achtete nicht darauf. Blut durchnässte die zwei Umhänge auf ihren Schultern, bis hinab auf die Bluse darunter. Kälte kroch in ihre Glieder. Ausgerechnet jetzt hatte sie keine Ahnung, was sie tun sollte.

So oft, wie zu ihren Ministeriumszeiten mal eine Verhaftung oder Hausdurchsuchung schief gegangen war – nie hatte es Elphinstone derart schlimm erwischt. Nicht einmal annähernd, dafür sorgten die Auroren schon. Kein Zauber, den sie kannte, konnte das richten. Und selbst wenn, hätte sie keinen Zauberstab. Sie war machtlos.

»Wir müssen hier weg«, krächzte Minerva, ihre Stimme rauer als die eines erkälteten Gartengnoms, »ins St. Mungo ...«

»Nicht ins Hospital!« Elphinstones Kopf schwankte von links nach rechts. »Die Lestranges ... sollen nicht wissen – lass sie denken, dass wir tot sind.«

»Du stirbst gleich wirklich, wenn du keine Hilfe bekommst!«

»Nein, Min, das Anwesen ...« Er nahm einen tiefen Atemzug, der sich in ein Rasseln verwandelte. »Das Anwesen meiner Familie ist direkt ... hinter uns. Nur ein paar Schritte ... Eily weiß Rat.«

Sie starrte ihn an, als würden ihm Tentakel aus den Ohren wachsen. Alles, was sie im Nachtschwarz erkannte, waren ... Mit einem Mal schlug die Dunkelheit vor ihr Wellen. Eben befanden sich hinter Elphinstone nur Bäume und jetzt ...

Minerva blinzelte ungläubig. Wo sich Sekunden zuvor nur dichtes Laubwerk befunden hatte, erhob sich nun ein steinernes Gemäuer, das mehr Burg denn Haus war. Es schien direkt aus dem Boden gewachsen zu sein, mitsamt seiner zinnenbewehrten Mauer und einem breiten Turm.

»Fidelius ...« Elphinstone hob einen Mundwinkel, bevor ein neuerliches Keuchen das versuchte Lächeln von seinen Zügen wischte.

Einen derartig mächtigen Schutzbann hatte Minerva noch nie am eigenen Leib erlebt, aber jetzt war nicht die Zeit, das Werk der Magie zu bestaunen. Ihre Beine hatten die Konsistenz von Wackelpudding und sie schaffte es nur dank ihres eisernen Willens, sich selbst und Elphinstone von dem Schotterweg, auf dem sie gelandet waren, hochzustemmen. Mit letzter Kraft zog sie seinen Arm über ihre Schultern. Der erste Schritt erinnerte sie wieder daran, dass sie sich im Feuer verbrannt hatte. Die Kiefer aufeinandergepresst, ignorierte sie das Stechen und humpelte dem Anwesen von Elphinstones Familie entgegen.

Sie musste Elphinstone geradezu schleifen, denn seine Füße wollten ihn kaum tragen. Wenn sie nur einen Zauberstab hätte ... Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als begleitet von einem Chor aus Schmerzen jeden Millimeter zu erkämpfen. Stunden schienen zu vergehen, bevor sie endlich vor einer Holztür angelangten, durch die bequem ein Halbriese vom Schlag Hagrids gepasst hätte.

Der gewaltige bronzene Türklopfer hatte die Form desselben pferdeartigen Wesens, mit dessen Kopf die Lestranges ihr Haus geschmückt hatten. Sein Unterleib mündete in den geschwungenen Schwanz einer Seeschlange. Minerva dachte nicht lange nach, sondern packte das geschuppte Ende und ließ es mit einem lauten Knall auf das blanke Holz fallen. Das Geräusch hallte in der darauffolgenden Stille wider.

»Danke ... Minerva«, hauchte Elphinstone. Er rang sich ein Lächeln ab, das allerdings nicht die Schatten in seinen Augen vertreiben konnte. »Wieder stehe ich ... in deiner Schuld.«

»Lob nicht den Abend vor der letzten Eule«, entgegnete sie missmutig, während sie förmlich zusah, wie sich seine Kleidung bis zu den Schuhspitzen voll Blut sog. Ungeduldig ließ sie den Türklopfer wieder und wieder gegen das Holz schlagen.

»Du bist wundervoll«, murmelte Elphinstone. Seine Stimme wurde von Silbe zu Silbe leiser. »Einfach wundervoll ...« Dann fielen ihm die Augen zu und er verlor das Bewusstsein.

»Verflucht!« Minerva gab es auf, gegen die Tür zu hämmern. »Hallo? Ist da wer? Wir brauchen Hilfe! Bitte! Hallo?«

Gerade als sie ernsthaft überlegte, trotzdem zum St. Mungo zu apparieren, obwohl es sie in ihrer mangelnden Übung und emotionalen Verfassung hoffnungslos zersplintern könnte, schwang die Tür endlich auf. Licht ergoss sich über die Türschwelle und geblendet kniff Minerva die Augen zusammen. Sie sah gerade so einen gedrungenen Schatten, der einen Zauberstab hielt.

»Ist Ihnen bewusst, wie spät es ist?« In einem glockenhellen Singsang verschaffte ihr Gegenüber ihrer Entrüstung Raum. »Wer sind Sie überhaupt? Bei Merlins karierten Unterhosen, ich schwöre, ich hexe Ihre Pobacken hier und jetzt zusammen –« Die wütenden Worte versiegten abrupt.

»Mister Elphinstone!«, quiekte die unvergleichbar hohe Stimme einer Hauselfe in die Schockstille.

»Würgende Wasserspeier!«

Langsam gewöhnte Minerva sich an das grelle Licht. Sie erkannte eine kleine Frau mit blonden Locken, die einen Morgenmantel trug. Neben ihren Füßen – die kurioserweise in Gummistiefeln steckten – stand eine winzige Hauselfe und starrte den Besuch aus tennisballgroßen Augen ängstlich an.

Der verärgerte Ausdruck auf dem Gesicht der unbekannten Hexe wich Besorgnis. »Bei der achtäugigen Agrippa, was ist passiert?«, verlangte sie zu wissen. Gleichzeitig gestikulierte sie in Richtung der Hauselfe und das kleine Geschöpf trippelte geschwind in den dunklen Hausflur davon.

»Eine lange Geschichte«, erwiderte Minerva matt. »Eine Entführung, ein Fluch, ein Dolch – es ging alles so schnell ...«

Ihr Gegenüber wandte sich Elphinstone zu.

»Er hat eben das Bewusstsein verloren –«

»Das sehe ich. Überlass das mir.« Die Frau schwang ihren Zauberstab und Minerva fühlte Elphinstones Gewicht von ihren Schultern schwinden.

Wie eine Strohpuppe ließ die Unbekannte, die fast zwei Köpfe kleiner war, seinen Körper durch den Flur schweben, sodass Minerva nichts anderes übrig blieb, als ihr zu folgen. Mit einem Knall schloss sich die Holztür und an den steinernen Wänden zu beiden Seiten entzündeten sich Fackeln in ihren Halterungen.

Der Weg führte in einen runden Raum, der wohl ein Wohnzimmer war, wenn man von den Sofas, Bücherregalen und dem gewaltigen Kamin ausging. Wandteppiche voller Darstellungen heroisch gegen Drachen kämpfender Zauberer bedeckten die Wände und verliehen dem Raum trotz der Steinwände etwas Heimeliges.

»Ich nehme an, es hat einen Grund, dass Elphinstone hierher gekommen ist und nicht ins Hospital gegangen ist?«

»Ah, ja ... das –«

»Gut, verstehe. Keine weiteren Fragen.«

Tatenlos sah Minerva zu, wie ihre unfreiwillige Gastgeberin Elphinstone auf eines der dunkelroten Samtsofas beförderte und im Zauberstabumdrehen sein zerfetztes Hemd entfernte. Die Hexe sog scharf die Luft ein und Minerva richtete stur den Blick auf ihre eigenen – von Brandblasen übersäten – Hände. Da tauchte die Hauselfe wieder zu ihren Füßen auf, eine Ledertasche in den Armen, die beinahe so groß wie sie selber war.

»Danke, Newa. Haben wir noch Murtlap-Essenz? Ich vermute, die werden wir brauchen.«

»Natürlich, ich sehe sofort nach«, piepste die Elfe hilfsbereit und lief gleich wieder an Minerva vorbei.

»Und sag Lior Bescheid!«, rief die Frau ihrer Helferin hinterher. Ohne sich umzudrehen, redete sie weiter mit Minerva. »Keine Sorge, Darling, überlass das nur mir. Ich bin übrigens Eilean, Elphs Schwester. Man mag es mir nicht ansehen, aber ich kenne mich mit einer Vielzahl an Verletzungen aus. Ist nicht das erste Mal, dass ich meinen Bruder zusammenflicke. Auch wenn ... nun, bisher war er wenigstens immer wach.«

Minerva stand wie vom Donnervogel getroffen auf der Türschwelle und starrte auf den Rücken der kleinen Hexe, die die jüngste Urquart-Schwester sein musste. Die Locken passten zu dem Bild des Mädchens in der Hufflepuff-Uniform, das sie erst vor Kurzem in Elphinstones Wohnung gesehen hatte. Ihr rundliches Gesicht hatte kein Stück der jugendlichen Fröhlichkeit verloren. Ein wenig erinnerte die Frau sie an Pomona, auf die beste Art.

»Setz dich, Darling, setz dich«, befahl Eilean in einem geschäftsmäßigen Ton und deutete mit einer Hand auf die weiteren Sitzgelegenheiten, die sich um einen großen runden Eichentisch vor dem Kamin gruppierten. »Das wird eine Weile dauern.«

Ehe Minerva sich durchrang, näherten sich erneut Schritte. Die kleine Hauselfe kam mit einer großen Glasflasche in den Händen vorweg getrippelt, hinter ihr ein Mann, der sich gähnend seinen karierten Morgenmantel zuband.

»Knuddelmuff, was geht hier vor sich?«, murmelte er verschlafen und fuhr sich durch die unordentlichen rotblonden Locken. Sobald er Minerva erblickte, hielt er mit großen Augen inne. Sein Blick wanderte an ihren verstaubten, zerschlissenen und nicht zuletzt mit Blut bedeckten Kleidern herab. »Bei Merlins Bart!«

Eilean sah flüchtig über ihre Schulter. »Gut, dass du da bist, Schatz. Tu mir den Gefallen und geh rüber ins Gewächshaus und hol etwas von dem Diptam. Mein Bruder ist auf unserer Türschwelle aufgetaucht, ohnmächtig und blutüberströmt, zusammen mit – ähm ....«

»Minerva McGonagall«, soufflierte Minerva verlegen.

»Ooooh, du bist das also.« Elphinstones jüngere Schwester nickte, als würde das alle Fragen beantworten. »Nun, wie dem auch sei, ich brauche Diptam. Dringend. Hast du die Murtlap-Essenz, Newa?«

»Oh ja!« Die Hauselfe huschte geschwind an die Seite von Eilean und reichte ihr die braune Glasflasche. Die beiden tauschten ein paar leise Worte und schon lief die Elfe erneut fort.

Auch der Zauberer verschwand durch denselben Türbogen und Stille senkte sich über den Raum. Hin und wieder murmelte Eilean leise einen Zauberspruch, ansonsten vernahm Minerva nur das Rauschen ihres eigenen Bluts in den Ohren. Mit zittrigen Beinen wankte sie zu einem plüschigen Sofa, das sie an jene im Gryffindor-Gemeinschaftsraum erinnerte, und ließ sich darauf nieder.

»Darling«, sprach Eilean sie unvermittelt an, ohne den Kopf zu heben, »bist du auch verletzt? Irgendwelche Blessuren, die einen Trank oder Zauber benötigen?«

»Ich – ich weiß nicht.« All die Schmerzen der letzten Stunden waren zu Minervas neuem Normalzustand verschmolzen. Sie sah die Blasen an ihren Handballen, die verbrannte Haut und das Zittern ihrer Glieder, aber in ihrem Kopf schien ein Schalter umgelegt worden zu sein. Keines der Bilder wollte sich einer Empfindung zuordnen lassen. »Das kann warten.« Hauptsache, Elphinstone wurde versorgt. Das watteweiche Sofapolster war ihr Himmel genug.

»In Ordnung. Kipp mir nur nicht um.«

Das Knistern und Zischen diverser Zauber erklang, doch Minerva sah nicht hin. Sie wollte überhaupt nicht mehr sehen. Es fiel ihr bereits schwer, aufrecht zu sitzen. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen, um sich in einem traumlosen Schlaf zu verlieren. Wenn da nicht die nagende Sorge wäre, die ihre ohnehin überreizten Sinne weiter forderte. Sie kam sich vor wie der letzte Rest Marmelade, der unmöglich einen ganzen Scone bedecken konnte und doch in einer viel zu dünnen Schicht auf dem Gebäck verstrichen wurde, sodass kaum Geschmack aufkam. Fad und blass, ein Schatten ihrer Selbst.

Ihr Blick fing sich an Newa, die erneut auftauchte, eine große Schüssel dampfenden Wassers vor sich her dirigierend und einen Stoß Handtücher über dem Arm. Ohne Minerva zu beachten, eilte sie an Elphinstones Seite. Minerva sah nicht, was Hexe und Hauselfe taten, doch das war ihr nur recht. Es reichte, dass die Frotteetücher nicht weiß blieben, sondern sich in einem hellroten Knäuel am Boden sammelten, eines nach dem anderen.

Schließlich kehrte auch der Zauberer namens Lior mit einem ganzen Bündel langstieligen Diptams zurück. Die Pflanze mit den kleinen runden Blättern kannte Minerva aus Kräuterkunde, ebenso wie ihre heilenden Effekte. Auf ein Schnipsen der Elfe hin zerhackte sich das Kraut in der Luft, fiel in ein Schälchen – das eben garantiert noch nicht dagewesen war – und wurde von Geisterhand zu einer zähen Paste zerrieben. Bei anderer Gelegenheit hätte Minerva die Magie der Hauselfe bewundert.

»Reichen Sie mir mal Ihre Hände.«

Minerva zuckte zusammen. Waren gerade ihre Augen zugefallen? Vor ihr hockte mit einem Mal der reichlich verschlafen aussehende Zauberer, eine Phiole schlammgrünen Trankes und einen Wattebausch in den Händen. Er lächelte entschuldigend, während er die nach Moor riechende Flüssigkeit auf den Tupfer träufelte.

»Damit sind die Verbrennungen ruckzuck Geschichte, das können Sie mir glauben. Selbst die hässlichsten Verletzungen durch Feuerkrabben kann man damit heilen. Eine Eigenkreation meines Vaters, der hat sie auf Herz und Nieren getestet. Nur am Geruch könnte man noch arbeiten. Achtung, das brennt jetzt ein wenig.«

Reglos sah Minerva zu, wie die Brandblasen an ihren Händen unter der Behandlung schrumpften, bis ihre Haut vollkommen glatt und rosa glänzte. Da ihre Würde ohnehin im Anwesen der Lestranges zurückgeblieben war, ließ sie es zu, dass der fremde Mann auch den Rest ihrer Verbrennungen an Armen, Oberkörper und Füßen mit der Tinktur bestrich. Sie stellte ihm keine Fragen, sondern nahm stumm den Heiltrank an, den er ihr anschließend reichte. Und das Gebräu danach. Sie trank aus drei verschiedenen Phiolen, ohne das sich etwas an der dumpfen Leere in ihr änderte.

»Geht es?«, fragte der Mann ihr gegenüber besorgt.

Minerva sah auf, in das sommersprossige Gesicht des Fremden. Ihre Zunge weigerte sich, Worte zu bilden. Hilflos zuckte sie mit den Schultern. Hinter ihm sah sie Eilean und die Hauselfe durch die Gegend eilen und als sie zu dem Sofa blickte, war es leer, abgesehen von einem dunklen Fleck.

»Das kommt wieder in Ordnung. Meine Frau und Newa sind zuverlässige Heilerinnen. Sie haben ein paar Kniffe von den Besten ihres Faches gelernt. Das ist unerlässlich, wenn man sich tagtäglich mit magischen Tierwesen umgibt. Newa ist jetzt oben bei ihm, in seinem alten Zimmer. Wenn er aufwacht, wird sie Ihnen sicher Bescheid geben.« Das Lächeln auf den Zügen ihres Gegenübers war schüchtern, aber aufrichtig. Er tätschelte ihren Handrücken. »Meine Frau ist draußen, im Garten, wenn Sie mit ihr sprechen möchten. Sie kann das sicherlich besser erklären als ich.«

Da Minervas Augen sich beständig weigerten, endgültig zuzufallen und ihr den Rest des Tages zu ersparen, nickte sie.

»Oh – aber lassen Sie mich kurz Ihre Kleider etwas ...« Der Zauberer gestikulierte in Richtung des aufgetrockneten Blutes. »Etwas reinigen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Ein neuerliches Schulterzucken Minervas und schon hatte er seinen Zauberstab geschwungen. Einiges von dem Blut verschwand, ebenso wie Staub und Asche. Ein warmes Gefühl ging von den Stoffen aus. Minerva sah immer noch jämmerlich aus, aber für den Moment reichte es. Sie folgte Eileans Mann ins Freie, ihre beiden Umhänge gegen die Nachtfrische eng um sich gewickelt.

Es war beeindruckend. Bei einem gewöhnlichen Besuch hätte sie den Garten genau erkunden wollen. Selbst im Mondschein war ersichtlich, dass es kaum ein Stück unberührten Rasens gab. Überall blühte es, sodass Minerva sich unweigerlich vorstellte, wie es hier im Sommer vor Bienen und anderen Insekten summen musste. Auch ohne Sonnenlicht war der Garten wunderschön.

Angesichts unzähliger Pflanzen, die entlang des verwundenen Wegs aus lockeren Steinplatten wuchsen, verstand Minerva, warum Elphinstone so eine Vorliebe für Kräuterkunde entwickelt hatte. Viele der Gewächse waren magisch mit praktischem Nutzen, aber einen guten Teil konnte man auch in einem herkömmlichen Gartencenter für Muggel entdecken. Ihre würzigen Gerüche erfüllten die Luft mit Leben und erinnerten an Pomonas Gewächshäuser.

Erst zum See hin lichtete sich das dschungelartige Grün und ein flacher Grasstreifen kam in Sicht. Der Anblick der schier unendlichen Wasserfläche rief Minerva ins Gedächtnis, dass sie hier am Ufer von Schottlands berühmtesten Loch stand. Sie war zum ersten Mal hier und das unter diesen Umständen. Mit keinem Wort hatte Elphinstone erwähnt, wo genau er aufgewachsen war. Und selbst wenn, hätte sie es sich nicht so vorgestellt.

Nach wie vor schüchtern lächelte ihr Begleiter Minerva zu. »Da vorne ist Eily. Ich muss leider zurück ins Haus – ich glaube, es hat sich gerade ein weiterer Besucher eingefunden.« Er warf einen Blick auf etwas Kleines in seiner Hand, eine Münze oder dergleichen. »Entschuldigen Sie bitte.«

»Kein Problem.« Minerva erschrak über ihre Reibeisenstimme und setzte ein Lächeln hinzu. Eileans Mann drehte sich mit einem letzten verschämten Nicken um und verschwand zwischen den Pflanzen.

Insgeheim erleichtert, wandte Minerva sich dem gewaltigen Loch Ness zu. Ein kleiner Holzsteg ragte vom Garten der Urquarts in den See. Darauf stand Eilean, einen Eimer zu ihren gummistiefelbewehrten Füßen. Das wirklich aufregende an dem Anblick, der sich Minerva bot, war allerdings der lange, schuppige Hals des Tieres, den Eilean streichelte.

Sie hatte Pflege magischer Geschöpfe nie belegt und so schämte Minerva sich, dass sie erst jetzt erkannte, was doch so offensichtlich vor ihren Augen gelegen hatte. Ein Kelpie! Der ausgestopfte Kopf im Hause der Lestranges, dessen Anblick Elphinstone schockiert hatte, der Türklopfer dieses Anwesens – natürlich. Jedes Kind in Schottland wuchs mit der Legende der menschenfressenden Wasserdämonen auf. Und alle Hexen und Zauberer wussten, dass das berühmte Monster im Loch Ness ein Kelpie war. Dieser Kelpie.

Minerva schnappte nach Luft und wie auf ein Stichwort drehte Eilean sich um und lächelte ihr zu.

»Oh, Hallo!«, rief Elphinstones Schwester ihr von Weitem entgegen. »Ich hoffe, das Dickerchen hat dich nicht erschrocken? Er ist in letzter Zeit etwas angeschlagen, eine frühherbstliche Erkältung, deshalb bekommt er alle vier Stunden etwas Fressen zusammen mit seinem Erkältungstrank.« Sie beugte sich zu dem Eimer herab und holte ein blutiges Steak heraus. Ohne Zauberstab warf sie es hoch in die Luft. Wie auf Kommando streckte der Kelpie den Hals und verschlang das Fleisch in einem Happs. »Da ich seine Fütterung für Elphinstone unterbrechen musste, ist der Gute ein bisschen grantig. Aber keine Sorge, er ist ein ganz Lieber!«

Nicht überzeugt trat Minerva noch ein paar Schritte auf Eilean zu, blieb aber lieber am sicheren Ufer stehen. »Oh, ähm – gut. Wie geht es Elphinstone?«

Eilean lächelte sanft. »Er wird es überstehen. Das waren heftige Schnitt- und Stichwunden, in denen sich Gift gesammelt hat, das will ich nicht beschönigen – aber Newa und ich haben unser Bestes getan. Er ist in jedem Fall über den Berg und die Blutungen sind gestillt. Newa versorgt noch die letzten kleineren Verletzungen und dann warten wir, dass er aufwacht. Das Einzige, worauf ich mir keinen Reim machen kann sind diese ... schwarzen Adern. So etwas habe ich noch nie gesehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Verzeih mir die Neugier, aber – Darling, was ist passiert?«

»Ich – ich weiß es selber nicht –«

Minerva wurde die Verlegenheit ihres eigenen Gestammels erspart, denn Lior tauchte wieder auf – einen alten Bekannten im Schlepptau. Albus Dumbledore wirkte gleichzeitig fehl am Platz in diesem Garten und andererseits genau richtig, als würde er öfter hier stehen, um die Weite des Lochs bewundern. Er trug fliederfarbene Roben, bestickt mit silbernen Sternen, und die Augen hinter seiner Halbmondbrille funkelten hellwach. Der Anblick eines bekannten Gesichts erleichterte Minerva.

»Eilean, ich hoffe, du kannst mein unangekündigtes Auftauchen verzeihen«, sprach er ruhig und nicht ohne freundliches Lächeln, »Lior hat mich freundlicherweise informiert.«

»Oh, schon gut«, winkte Eilean ab, »ich habe ja schon irgendwie befürchtet, dass es keine Ministeriumssache ist, in die mein Bruder da hereingeraten ist. Sonst wäre er sicher nicht hier aufgeschlagen, sondern im St. Mungo.«

»Nein, dafür werde ich die Verantwortung übernehmen müssen.« Albus seufzte und trat ein paar Schritte näher an Minerva, bis er ihr behutsam eine Hand auf den Oberarm legte. »Genauso wie für einiges anderes. Es tut mir unendlich leid, dass ich die Gefährlichkeit dieser Situation unterschätzt habe. Für den Moment muss ich dich mit dieser Erklärung vertrösten. Ich kann dir nur meinen Dank aussprechen, dass du dich auch Minerva angenommen hast. Würde es dir und Lior Umstände bereiten, den beiden noch ein paar Tage Unterschlupf bei euch zu gewähren?«

Eilean hatte die Augenbrauen zusammengezogen und die Arme vor der Brust verschränkt, doch sie seufzte ergeben. »Natürlich nicht. Leuten in Not ist zu helfen, nach diesem Motto lebe ich.«

»Wunderbar, wunderbar.« Mit einem vorgeblich amüsierten Glucksen wies Albus auf den Kelpie, der sich unbemerkt von Eilean an den Eimer voller Fleisch angeschlichen hatte und drauf und dran war, sich selbst zu bedienen. »Sieht aus, als würde da jemand den Mangel an Aufmerksamkeit beklagen.«

Die Hände in die Hüften gestemmt, drehte Eilean sich zu dem unartigen Tierwesen um und hielt ihm in schnellem Gälisch eine Predigt.

Albus’ unheimlich blaue Augen bohrten sich derweil direkt in Minervas und er senkte die Stimme, bis nur sie die Worte vernehmen konnte. »Wie schlimm ist es?«

»Ich weiß es nicht.« Minervas Bemühungen, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken, brachten sie zum Zittern. »Wo sind die Kinder, Albus?«

»In Sicherheit. Fawkes hat sie direkt nach Hogwarts gebracht. Für die Nacht werden sie von Poppy versorgt. Ein Besuch im St. Mungo wird wohl unausweichlich sein, aber das wollte ich den armen geschundenen Seelen nicht mehr zumuten. Nicht heute Nacht.«

Erleichtert nickte Minerva. »Das ist gut.« Ihre Stimme bebte und sie schlang die Umhänge enger um ihren Oberkörper.

Albus entging nicht, wie schwer es ihr fiel, die Fassung zu wahren. Ganz leicht nahm er sie in die Arme, hüllte sie in die ausladenden Ärmel seiner Robe und erinnerte sie daran, dass er nicht bloß als Schulleiter hier war, sondern auch als Freund. Für den Moment fühlte sie sich beschützt von der Welt, weit fort von Eilean und Lior, die nur wenige Meter neben ihnen standen und doch außerhalb dieses Schutzes aus fliederfarbenem Satin. Umarmungen von Albus waren eine gewisse Seltenheit – kein bisschen wie Elphinstones fester Halt und trotzdem beruhigend.

In schnellen, flüsterleisen Sätzen klärte Minerva ihn auf, was seit ihrem letzten Schreiben an ihn geschehen war. Albus wog den Kopf hin und her, unterbrach ihre Erzählungen aber nicht. Von außerhalb seiner Umarmung war zu hören, wie Eilean mit dem Kelpie schimpfte und dieser schnaubend antwortete.

Als sie geendet hatte, stellte Minerva endlich die Frage, die sie schon seit Stunden beschäftigte und deren Beantwortung sie hoffentlich etwas ablenken würde. »Wie hat Fawkes uns gefunden?«

»Oh, das ist weiser Voraussicht geschuldet, wenn ich das so sagen darf«, erklärte Albus. »Der Vestigiator enthält eine Prise seines Phönixfederstaubes. Die besondere Magie der Phönixe und ihre Fähigkeit zum Ortswechsel muss ich dir ja nicht erklären. Für ihn war es aufgrund der Verbindung ein leichtes, die Erfindung unter den Schutzzaubern aufzuspüren. Ich hatte gehofft, dass er und das Schwert dir so zur Hilfe eilen können, nachdem Robert mir von eurer Entführung berichtete. Und offenbar lag ich nicht falsch.«

»Oh.« Nach all den Jahren hätte Minerva daran gewöhnt sein müssen, dass Albus immer einen Plan in der Hinterhand hielt, und trotzdem erwischte seine Voraussicht sie kalt. »Du – du weißt nicht zufällig, was mit den Kindern geschehen ist? Was das ist, was ihnen angetan wurde?«

Albus schüttelte den Kopf. »Blutflüche sind ein komplexes Thema und ich fürchte, keine meiner zahlreichen Expertisen. Also gehe ich richtig in der Annahme, dass Elphinstone Beeinträchtigungen davongetragen hat?«

Minerva nickte, die Augen fest zusammengekniffen. Es war nicht so, dass sie vor Albus nicht weinen könnte, aber jetzt die Fassung zu verlieren, würde niemandem helfen.

»Nun, dann sei beruhigt. Poppy hat mir versichert, dass der Fluch nicht vollständig aktiv ist. In St. Mungo sollte man allen dreien helfen können. Für den Moment handelt es sich nur um eine Verunreinigung in ihrem Blutkreislauf.«

»Das hoffe ich. Er ... er konnte nämlich nicht zaubern.« Minerva schniefte. »Elphinstone hat einen Dementor abgewehrt – nur mit dem Schwert!«

Albus legte den Kopf schief. »So?«

»Ja. Ich dachte immer ... ich dachte, es käme nur Gryffindors zur Hilfe. Und dann hatte er es plötzlich. Er ist so ein wunderbarer Mensch und ich hätte ihn fast umgebracht!« Sie war froh, dass sie Eilean in diesem Augenblick nicht sehen konnte.

»Aber, aber, Minerva. Das hättest du nicht. Er hat sich aus eigenem Willen entschieden – für dich, für das Gute. Sieht ganz so aus, als hätte Elphinstone Urquart wahren Gryffindormut bewiesen.« Hinter den Halbmondgläsern zwinkerte Albus wohlwollend. »Etwas, das sich nicht nach dem Hogwartshaus bemisst, würde ich behaupten, sondern viel mehr nach dem, was in uns steckt. Ich denke, das Schwert eilt denen zur Hilfe, die echte Größe beweisen, egal wer sie sind oder woher sie kommen. Du solltest nicht an seinen Entscheidungen zweifeln.«

Minerva seufzte. In Albus’ Gegenwart war es geradezu unmöglich, weiter den Kopf zu verlieren oder sich in Angst hineinzusteigern. Stattdessen nickte sie noch einmal und versuchte sich an einem kleinen Lächeln. »Aber was wird jetzt geschehen? Die Lestranges sind entkommen ...«

»Du brauchst einen neuen Zauberstab, genauso wie Elphinstone. Ich schicke Garrick eine Eule, damit er Bescheid weiß.«

»Und die Schule –«

Albus drückte beschwichtigend ihre Schultern. »Wird in deiner Abwesenheit nicht untergehen. Deinen Unterricht kann Professor Admanthus noch eine Weile übernehmen, während du hier wieder zu Kräften kommst. Morgen begleitet Poppy die Kinder zunächst ins St. Mungo, derweil ich eine Unterredung mit der geschätzten Ministerin suche. Es liegt mir fern, zu früh auf den falschen Besen zu setzen, aber vielleicht wird Eugenia endlich die richtigen Maßnahmen ergreifen. Dann kannst du bald zurückkehren und alles wird seinen geordneten Gang gehen. Schließlich hast du bereits genug getan, Minerva.«

Das sah sie nicht so – ganz und gar nicht –, doch für den Moment ergab sie sich mit einem Nicken. Während sie leeren Blickes auf den See hinaus starrte, tauschte Albus einige Worte mit Eilean und Lior, ehe er sich höflich verabschiedete und in die Dunkelheit verschwand.

Das Schmatzen des Kelpies riss Minerva aus dem seltsamen Schwebezustand absoluter Leere. Sie wandte sich zurück an Eilean. »Danke für ... alles. Es tut mir leid, dass ich dir solche Umstände bereite –«

»Ach Quatsch«, entgegnete diese energisch, »das ist doch Doxymist! Natürlich habe ich das getan. Du musst dich weder entschuldigen, noch bedanken. Ich würde es auch so tun, ganz ohne Albus’ Einmischung. Pate meines Mannes hin oder her, Elphinstones Freunden helfe ich gerne.«

»Trotzdem ... Elphinstone hat mich in den Fidelius eingeweiht ...«

»Das ist das ein Hippogreif, den ich mit meinem Bruder zu rupfen habe.« Eilean zuckte mit den Schultern, ohne zu merken, dass der Kelpie hinter ihr sich schon wieder dem Eimer näherte. »Außerdem – wenn Elphinstone dir vertraut, tue ich das genauso. Ganz abgesehen davon, dass er über die Jahre hinweg unendlich viel von dir erzählt hat und ich schon immer neugierig war, dich kennenzulernen.« Kurz bevor der Kelpie ein Steak erbeutete, versetzte Eilean ihm mit dem Zauberstab einen Stupser.

»Aber der Fidelius-Bann liegt ja wohl nicht aus Spaß über eurem Anwesen.«

»Da hast du recht. Wir leben gezwungenermaßen unter dem Fidelius, wegen Nessie hier.« Eilean krauelte den Kelpie zwischen den Nüstern. »Der Bann deckt einen Teil des Sees ab, in dem er unbehelligt leben kann. Da der Urquart-Clan seit Jahrhunderten am Ufer des Loch Ness residiert, ist uns die Aufgabe zugefallen, ihn zu behüten und von allen gewöhnlichen Menschen fernzuhalten. Das Ministerium kann nicht riskieren, dass er frei umher schwimmt und ein paar Muggel anknabbert. Also, wenn ich mich ganz förmlich vorstellen darf: Eilean Scamander, Hüterin von Loch Ness.«

Ohne viel Federlesen schnappe Eilean sich das letzte Steak, warf es Nessie zu und stapfte dann Minerva voraus zurück ins Haus. Dort nahm Minerva erneut den Platz auf dem Samtsofa ein, während die Kelpiehüterin in der Küche verschwand. Doch es dauerte nicht lange, bis Newa, die Hauselfe, mit einem dampfenden Becher vor ihr auftauchte.

»Newas berühmte heiße Schokolade!«, verkündete die Elfe mit stolzgeschwellter Brust. »Trinken Sie!«

»Danke ... aber – ich kann nicht –«

»Oh, das ist eine heilerische Anweisung, Ma’am! Der Schlafsirup darin wird Ihnen helfen. Ruhe ist die beste Medizin.« Newas Ohren zuckten in die Höhe und sie tätschelte Minervas Hand. »Newa hat außerdem gute Neuigkeiten von Mister Elphinstone!«

Die heiße Schokolade in Minervas Becher schwappte auf ihre ohnehin dreckige Hose. »Er ist wieder wach?«

Anstelle von Newa antwortete Eilean ihr, die just in diesem Moment im Türrahmen auftauchte. »In der Tat. Ich war eben oben und er ist wieder bei Bewusstsein. Wenn mich nicht alles täuscht, hat er nach dir gefragt.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als Minerva aufsprang und mehr von ihrem Getränk verschüttete. »Vorher solltest du allerdings deine Schokolade trinken, sonst lässt dich die oberste Heilerelfe nicht gehen.«

»Ganz richtig!« Newa schnipste und die Flüssigkeit kehrte in den Becher zurück.

 

In ihrem gesamten Leben hatte Minerva noch nie derart hastig heiße Schokolade hinuntergestürzt. Ihre Zunge dankte es ihr nicht, aber immerhin zitterten ihre Glieder nicht länger, während sie Eilean zu Elphinstones einstigem Zimmer folgte.

Newa hatte es sich nicht nehmen lassen, ihr zusätzlich eine Dusche zu befehlen und ihr anschließend einen Schlafanzug nebst Morgenmantel aufgedrängt. So war die Absurdität der Situation komplett: Minerva mit von der Feuchtigkeit lockigen Haaren, in dem Kinderzimmer ihres früheren Vorgesetzten, plüschige Hausschuhe an den Füßen, die aussahen wie zwei explodierte Knuddelmuffs. Und es war ihr egal, verflucht egal.

Als sie alleine das Zimmer betrat, stand die Zeit für sie still. Elphinstone lag auf einem Himmelbett, das genauso in Hogwarts hätte stehen können, und war bleich wie die weißen Laken. Sein Atem ging flach, die Augen hatte er geschlossen. Etwas in ihr drängte Minerva, auf dem Absatz kehrtzumachen und das Zimmer hinter sich zu lassen. Sie ertrug es kaum, ihn so zu sehen, obwohl da kein Blut mehr war. Gleichzeitig musste sie sich vergewissern, dass es ihm gut ging. Dass er lebte.

Ihre Knuddelmuff-Hausschuhe quiekten leise, als sie näher an das Bett herantrat. Was sollte sie tun – oder gar sagen? War er eingeschlafen, weil Newa sie aufgehalten hatte? Die Gefühle in Minerva stritten sich laut wie zänkische Wichtel. Unsicher blieb sie stehen, den Blick auf alles, nur nicht ihn, gerichtet.

Der Besuch in seinem früheren Zimmer war eine Zeitreise in das Leben eines Jungen, den sie so nie gekannt hatte. Da gab es bekannte Elemente – seine Liebe für Pflanzenkunde etwa zeigte sich in zahlreichen Büchern zu dem Thema –, aber auch Neues, wie die Auszeichnungen in Schachturnieren, zu entdecken. Gezeichnete Bilder von dem Helden eines Comics, der mit seinem treuen Haustierdrachen gegen Schwarzmagier kämpfte, zierten gleich mehrere Wände.

Über dem Bett hingegen prangte ein grünes Banner mit dem Wappen Slytherins neben Fotografien lachender Teenager. Am Ufer des Schwarzen Sees, vor den Weihnachtsbäumen in der großen Halle und auf einem Sofa im Slytherin-Gemeinschaftsraum, der einen Ausblick auf die Unterwasserwelt bot. Sie erkannte Archie auf einigen, Arm in Arm mit Elphinstone – einander küssend. Es waren fraglos Dokumente einer glücklichen Zeit.

Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass es nicht eine Fotografie von ihr und Elphinstone gemeinsam gab. Es existierte nur eine Aufnahme aus dem Ministerium, die ihr damaliges Team zeigte. Sonst hatte sich nie die Gelegenheit ergeben. Außer ihren Erinnerungen wäre nichts geblieben, wenn diese Nacht einen anderen Verlauf genommen hätte.

Minerva verschlang die Hände vor dem Bauch. Nicht, dass sie annähernd so etwas wären wie er und Archie einst. Und doch ... der Gedanke, nicht eine handfeste Erinnerung an jemanden zu haben, der ihr so viel bedeutete, traf sie tief.

Keine Fotos, auf denen Elphinstone lächelnd den Arm um sie legte und immer wieder in ihre Richtung sah, anstatt in die Kamera. All ihre Treffen in Madam Puddifoots Café, jeder ausgedehnte Spaziergang durch Hogsmeade, jedes Quidditchspiel, zu dem er sie trotz seiner Abneigung für den Sport begleitet hatte – all das wäre unwiederbringlich in den Tiefen ihrer Erinnerung verloren. In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher als einen winzig kleinen Beweis ihrer Beziehung, der alles überstehen würde. Und wenn es nur ein einzelnes Bild wäre, das sie immer daran erinnerte, dass er ein Teil ihres Lebens gewesen war.

»Minerva?«

Ertappt schreckte sie zusammen. In Gedanken verloren war ihr nicht aufgefallen, dass Elphinstone die Augen geöffnet hatte. Seine Stimme klang rau, vom Schmerz gepresst und trotzdem so verflucht sanft. Bevor die zänkischen Wichtel in ihr wieder laut werden konnten, war sie an seiner Seite.

»Phin!« Ihre Finger wanden sich um seine, die er nach ihr ausstreckte. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«

»Nicht doch.« Er versuchte es mit einem Lächeln, doch die Verletzung verlangte ihren Tribut. Angestrengt atmend schloss er wieder die Lider. »Alles wird gut«, seufzte er leise. »Setz dich.«

Sobald er es einmal gesagt hatte, versagten Minervas Beine ihr den Dienst. Sie sank neben ihm auf das Bett, ohne ihn loszulassen. »Oh Merlin, ich bin so froh, dass du es geschafft hast.«

»Wir. Wir haben es geschafft.« Elphinstone zog seine Hand zurück und legte sie an ihre Wange. Sein Daumen fuhr ihren Wangenknochen entlang. »Danke für’s Leben retten, Minerva. Ich sagte doch – du bist wunderbar.«

Sie richtete den Blick zur Seite aus einem dunklen Fenster, obwohl sie nichts außer erdrückender Schwärze erkennen konnte. Am Rande ihres Sichtfelds brannten die Tränen in ihren Augen, denen sie nicht bereit war, freien Lauf zu lassen.

»Ich hab doch gar nichts getan. Ich konnte gar nichts tun.« Ihre Hände verkrampften sich. »Das waren alles deine Schwester und die Elfe.«

»Nichts getan?« Er schüttelte den Kopf. »Ohne dich hätte ich es nie aus diesem Haus geschafft.«

»Ohne mich wärst du gar nicht in dieser Lage!«

»Lieber so, als anders. Min ...« Sein Gesicht verzog sich angesichts seiner Anstrengungen, sie besser anzusehen. »Ich würde es immer wieder tun.«

Sie presste eine flache Hand gegen ihren Bauch. »Ich hatte schreckliche Angst, dich zu verlieren. Das will ich nie wieder erleben!«

Kaum merklich seufze Elphinstone. Seine Lider klappten ein ums andere Mal zu. Trotzdem strich er unablässig über ihre Wange. »Alles wird gut«, murmelte er mühevoll. »Ich versprech’s dir. Ich lasse dich nicht zurück.«

Voller Sehnsucht nach seiner Nähe drückte Minerva die Finger auf seine Hand an ihrer Wange, die langsam gen Bettdecke glitt. »Ich will es hoffen, Phin.« Sie schluckte gegen die aufsteigende Unschärfe in ihrer Sicht an und hauchte schließlich die größte Sorge hinaus, die ihre letzten Stunden bestimmt hatte. »Ich will dich nicht missen. Wer macht mir denn sonst unpassende Heiratsanträge? Wer unterstützt mich bei jedem Aufsatz für Verwandlung heute? Wer bringt mich zum Lachen, wenn alles so verflucht grau aussieht? Wer umarmt mich, wenn ich es mir am meisten wünsche?« Sie schluchzte leise. »Das alles kann niemand so wie du.«

Die kleinen Lachfalten um seine Augen vertieften sich, obwohl seine Lider wieder geschlossen waren. »Damit würde ich nie ... freiwillig aufhören ...«

Die ersten Tränen liefen ihre Wangen hinab und fielen auf die Decke über seiner Brust. »Ich will es hoffen, Phin ...«

»Nicht«, nuschelte er. »Keine Tränen ...«

»Du bist jede Einzelne davon wert, Elphinstone. Jede Einzelne.«

Er brummte etwas und seine Finger in ihren zuckten kaum merklich. Auch ihre zweite Hand landete auf seiner an ihrer Wange. Sie streichelte über seinen Handrücken, seinen Unterarm und spürte genau, wie die Schwerkraft mit jedem Atemzug gegen seine Kraft gewann.

»Du bedeutest mir alles«, flüsterte sie weiter. »Dhutsa mo chridhe tha mi a ’gèilleadh.«

Ob die Worte ihn überhaupt erreichten, konnte sie nicht sagen. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig und bis auf die Andeutung eines Lächelns waren seine Züge vollkommen entspannt. Sie drückte seine Hand ein letztes Mal, ehe sie diese auf der Decke ablegte. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, erhob sie sich. Er regte sich nicht, selbst dann nicht, als sie sacht seine Stirn küsste.

Auf dem Weg zur Tür hörte sie bloß, wie er einige unverständliche Geräusche von sich gab, vom Schlaftrank verschleiert. Dennoch war sie sicher, ihren Namen gehört zu haben.

Totgesagte leben länger

Der Morgen kündigte sich mit einem Streif roten Lichts an, als Minerva erwachte. Für einen Augenblick sah sie hinauf an die hell verputzte Decke und wähnte sich beinahe zurück in ihrem hogwart’schen Turmzimmer. Das steinerne Gemäuer, wenngleich kalt, gab ihr dasselbe warme Gefühl. Wären nur die Bettbezüge nicht andere, die Gerüche nicht unbekannt, die leisen Geräusche nicht fremd.

Erinnerungen an den gestrigen Tag – vornehmlich die letzten Stunden – krochen aus den Tiefen ihres schläfrigen Bewusstseins wieder empor, kaum dass sie sich umsah; bereit die eisige Flamme der Furcht erneut zu entzünden. Die Zähne fest aufeinandergebissen, hielt sie den ungebetenen Gedanken ihren mentalen Schild entgegen. Sie hatte sich nie als große Okklumentikerin bewiesen, doch jetzt war nicht die Zeit, aufzugeben.

»Ein Drache am Morgen ist kein Grund, den Kopf hängen zu lassen«, hatte ihre Mutter schon vor vielen Jahren gepredigt. »Nur wer nach vorne blickt, kann den Drachen besiegen!«

Damals, im Alter von zwölf, hatte Minerva ihr erstes Quidditchspiel verloren (gegen Slytherin, ausgerechnet!) und war davon überzeugt gewesen, dass ihre Karriere als Sucherin, von der sie einst geträumt hatte, nun ganz sicher ruiniert war.

Ferner könnte sie diesen Sorgen inzwischen nicht sein. Die Erkenntnis zwickte sie im Herzen. In all den Jahren seither hatte nicht nur sie sich verändert – auch die Welt war eine andere geworden. Sie wusste nicht mal, wann sie zuletzt auf einem Besen gesessen hatte und das war eine echte Schande.

Minerva seufzte und setzte sich auf. »Dann wollen wir den Drachen mal besiegen.«

Ihre Glieder pochten dumpf, doch die Tinkturen und Tränke vom Vorabend hatten wahre Wunder vollbracht. Die imaginären Messer, welche bei jedem Atemzug in ihre Lungen stachen, waren kleiner geworden; die Gliederschmerzen zu Muskelkater verklungen. Zurück blieben vor allem eine Menge ungebetener Gedanken.

Im Sitzen machte Minerva vor dem Fenster ihres Gästezimmers die ungeheure Weite des Loch Ness aus. Frühe Strahlen der Morgensonne kitzelten gerade so die Wellen des großen Sees. Dahinter lagen die grünen Hügel der Highlands, ein Anblick, der ihr Herz kräftiger schlagen ließ. Die schottische Landschaft war so friedlich, dass es schwer begreiflich schien, wie die Verbrechen der vergangenen Tage in der gleichen Welt geschehen waren.

Auf den Ländereien – das Wort Garten wurde dem ausladenden Grün bei näherer Betrachtung nicht gerecht – erkannte Minerva die blonde Gestalt Eileans, die einen großen Eimer in Richtung des Wassers schleppte. Nessie der Kelpie reckte erwartungsfreudig den Kopf aus dem See und schüttelte seine Seetangmähne. Eine Szene wie aus dem Bilderbuch. Gerne hätte Minerva Elphinstones Elternhaus bei einer freudigeren Gelegenheit kennengelernt, um es wirklich zu genießen.

So aber wanderten ihre Gedanken direkt weiter zu Elphinstone selber. Ob er schon wach war? Ging es ihm besser? Wenngleich das Anwesen noch in den Grauschleiern der schwindenden Nacht lag und alle, die keinen kränkelnden Kelpie zu füttern hatten, vermutlich gut daran taten, zu schlafen, hielt es Minerva nicht länger im Bett. Mit einem letzten Blick auf die Highlands wandte sie sich ab.

Newa schien in der Nacht ihre besudelten und zerschlissenen Kleider geflickt haben, denn diese lagen akkurat gefaltet auf einem Stuhl am Bettende. Die Stoffe verströmten einen frischen Duft, nach Wiese und kalter Seeluft.

Dankbar, nicht in Morgenmantel mitsamt Knuddelmuff-Hausschuhen durch das Anwesen geistern zu müssen, schlüpfte Minerva hinein. Am liebsten wäre ihr gänzlich andere Kleidung gewesen, die nie das Verlies der Lestranges von innen gesehen hatten. Dabei handelte es sich bei dem grünen Umhang um ihren Liebling. Ehemaligen Liebling zumindest. Jetzt hafteten Erinnerungen an den Fasern, von denen sie nicht wusste, ob sie je schwinden würden.

Die Flure außerhalb Minervas Gästezimmer lag in völliger Stille da und sie begegnete niemandem bei ihrer Suche nach dem richtigen Weg ins Erdgeschoss. Wie in Hogwarts gab es auch in dieser kleinen Burg Gänge, die im Nichts endeten oder Treppen, die überallhin – nur nicht zum Ziel – führten. Als Minerva schließlich dem Geruch frischen Tees folgte, landete sie nicht in dem ihr bekannten Wohnbereich, sondern in einer Küche.

Die ersten Sonnenstrahlen hatten derweil den taufrischen Rasen und das Anwesen darauf erreicht, sodass die blank polierten Pfannen und Töpfe, die von der Decke hinab hingen, in ihrem Licht glänzten. Und noch etwas anderes erstrahlte in der rustikalen Küche. Minervas Herz hüpfte wie ein übermütiges Mondkalb. Ein hellblonder Haarschopf!

Sie lief die letzten Treppenstufen hinab in den achteckigen Raum. Ihre Schüler würde sie dafür schelten, doch in ihrer Ungeduld nahm sie immer zwei Stufen auf einmal. Da stand Elphinstone, an einen Tresen gelehnt, als hätte es die gestrigen Verletzungen nie gegeben. Er trug einen dunkelblauen Wollpullover und helle Stoffhosen statt seines geliebten Anzugs, doch ansonsten sah er aus wie zuvor. Gut.

Ein Laut zwischen Schluchzen und Freude entfloh Minerva, bevor sie die Fingerknöchel vor den Mund presste. Elphinstone drehte sich um, eine Teetasse in den Händen, Erstaunen in den Augen. Einige Wimpernschläge lang betrachteten sie einander bloß, als würden sie sich zum ersten Mal seit Jahren wieder begegnen. Untersuchten sorgsam das Gesicht des Gegenübers auf der Suche nach allem, das sich verändert hatte, obwohl nur ein paar Stunden vergangen waren.

Plötzlich wurden Minervas Beine wieder Wackelpudding. Im Dunkel war es einfach gewesen, Worten wie Tränen freien Lauf zu lassen. Ihr Inneres offenzulegen. Ihn zu küssen. Doch jetzt beschien die Morgensonne ihr Treffen und alle eingerissenen Mauern wuchsen im Tageslicht neu empor.

»Elphinstone ...«, hauchte sie schließlich in die Stille, die Unterarme vor dem Bauch gekreuzt. »Wie ... wie geht es dir?«

Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus, ungeachtet des verdächtigen Glanzes in seinen Augen. »Minerva.« Er stellte die dampfende Tasse in seinem Griff ab. Unbeholfen kam er hinter dem Tresen auf sie zu. »Ich bin in Ordnung. Spätestens jetzt, wo ich sicher bin, dass du wirklich hier bist. In Sicherheit.«

Ebenso zögerlich unternahm Minerva einige Schritte auf ihn zu. »Was ist mit deinen Wunden? Was ist ...« Sie gestikulierte hölzern. »... Mit dem Fluch?«

Elphinstone legte seinen Kopf schief und seufzte leise, aber das Lächeln verschwand nicht. Stattdessen vertieften sich die Fältchen um seine Augen. Aufmunternd streckte er ihr eine Hand entgegen. »Min, bitte komm her. Du kannst dich gerne selber davon überzeugen, dass ich nicht gleich wieder in Ohnmacht falle, wenn du mir nicht glaubst.«

Ihre Lippen aufeinandergepresst, ergriff Minerva diese Einladung. Elphinstones Finger in ihren waren warm, aber das war nichts im Vergleich zu dem Strahlen auf seinem Gesicht, gegen das selbst die Morgensonne verblasste. Sogar das Fluchschwarz, das unverändert seinen Hals empor kroch, wirkte ... fahler.

Der Kloß in ihrer Kehle war wieder da und wollte in Tränen aufbrechen. Doch bevor die ersten Tropfen sich ihren Weg bahnten, zog Elphinstone sie näher heran; lehnte sacht seine Stirn gegen ihre.

»Nicht doch. Um mich musst du nicht weinen.«

»Ich weine nicht.« Minerva bohrte die Fingernägel ihrer freien Hand in deren Innenfläche und drückte das Kreuz durch. Trotzdem konnte sie ein kleines Schniefen nicht zurückhalten.

Elphinstone kommentierte diesen offensichtlichen Widerspruch nicht. Er schob ihr bloß eine Haarsträhne hinters Ohr, da sie in Ermanglung von Haarnadeln nur ein fingergekämmtes Vogelnest zur Schau trug. Dann ergriff er ihre andere Hand ebenfalls und drückte sie beide.

»Glaub mir, wenn meine Verfassung es zulassen würde – ich würde dich umarmen«, erklärte er, während seine Daumen Kreise auf ihren Handrücken beschrieben. »Ich würde dich so fest drücken, wie ich kann und ich würde nicht versprechen, dass ich dich so schnell wieder loslasse. Aber leider bin ich eben nur in Ordnung, also haben meine Wunden auch noch ein Wort mitzureden. Mit der Betonung auf ‚noch‘

Minerva gelang es, die Lippen fester zusammenzupressen und gleichzeitig zu lächeln. »Schon gut. Ich bin auch so froh genug, dass du nicht länger so bleich wie die Laken daliegst.«

»Oh, das bin ich auch. An gestern Abend kann ich mich nur dunkel erinnern.« Die Kreise von Elphinstones Daumen folgten denselben Mustern, die er in den letzten Tagen schon auf ihren Schultern und Rücken gezeichnet hatte. »Genauso froh bin ich im Übrigen, dass du nicht mehr so blass und kalt bist. Wie geht es dir, Min?«

»Alles bestens«, entgegnete sie hastig. »Mir geht es gut. Alle haben sich wunderbar gekümmert, ich hatte Heiltränke, einen Schlaftrank – ich bin ok.«

Einen Moment schwieg Elphinstone, dann lehnte er sich ein Stück zurück und suchte ihren Blick. »Sieh mir in die Augen und sag das noch einmal«, bat er, ganz leise.

»... Phin – ich ... es ...« Sie biss auf ihre Unterlippe.

»Schon gut.« Er schüttelte den Kopf. »Ich sehe doch, dass es nicht stimmt, egal ob all deine Brandblasen verheilt sind oder nicht. Es ist in Ordnung, nicht in Ordnung zu sein. Wirklich. Du musst nicht so tun, als wäre nichts passiert. Ich werde das auch nicht einfach vergessen. Die Wunden sind das eine, das heilt. Aber die Erinnerungen ... damit werde ich für immer leben. Du kannst also ruhig ehrlich mit mir sein. Ich bin immer für dich da, das weißt du hoffentlich.«

Minervas Brust wurde eng, die Farbe schwand aus der Welt und Elphinstone ließ ihre Hand nicht los. Er zeichnete Kreis um Kreis auf ihren Handrücken, bis sie es sich erlaubte, die brennenden Tränen für sich selber zu weinen – und darüber hinaus.

Es war nicht in Ordnung und das war in Ordnung. Sie war nicht die Einzige, für die kein Stein mehr auf den anderen passte; deren Welt sich in den letzten Tagen unwiederbringlich verändert hatte. Sie war nicht alleine. Ihre Fingerspitzen nahmen das Kreismuster auf und übertrugen es auf Elphinstones Handrücken. Zu mehr Reaktion sah sie sich nicht imstande.

»Ein Schritt nach dem anderen«, murmelte er und drückte die Lippen auf ihre Stirn. »Ich weiß doch, wie stark du bist. Es braucht genug Mut, um seiner Selbst Willen zu weinen.«

Seine Stimme klang so kratzig, wie sich Minervas Hals anfühlte. Verlegen blinzelte sie gegen die Tränen in ihren Wimpern an. »Ach, wem ist hier denn das Schwert von Gryffindor vor lauter Mut zur Hilfe geeilt?«, versuchte sie ihn mit einem Lächeln aufzuziehen.

»Ich glaube nicht, dass das ein Wettbewerb ist. Außerdem ging es um dein Leben.« Aber Elphinstone schmunzelte ebenso.

Minerva seufzte leise und in den zerbrechlichen Moment hinein ... knurrte ausgerechnet ihr Magen. Schlagartig kehrte die Verlegenheit zurück.

Doch Elphinstones Strahlen verlor nicht an Kraft. Im Gegenteil, nachdem er ein letztes Mal ihre Hände drückte, wandte er sich mit einem Zwinkern ab und hielt ihr kurz darauf eine Tasse wie seine eigene entgegen. »Hier ist ihr Frühstückstee, Ma’am – Earl Grey, kein Zucker, wenig Milch.«

Verblüfft sah Minerva auf das gepunktete Porzellan, aus dem sich Dampf empor kringelte, ehe sie die Finger darum schlang und sich dankbar daran klammerte. »Dass du dir gemerkt hast, wie ich meinen Tee trinke ...« Sie pustete auf das heiße Getränk und nahm einen Schluck. Wohlige Wärme breitete sich von der Kehle in ihrem Körper aus. »Genau richtig. Danke.«

»Tja, unzählige Teepausen im Ministerium hinterlassen eben ihre Spuren.« Elphinstone zwinkerte und schob eine Blechdose über den Tresen zu ihr. »Und hier kommen die Hauptdarsteller: Die Ingwerkekse – altes Familienrezept.«

Minerva senkte die Tasse. Mit offenem Mund musterte sie die Kekse. Selbstzufrieden gluckste Elphinstone.

»Oberste Schreibtischschublade, ganz hinten. Ich weiß noch, dass du sie bevorzugt in deinen Tee stippst. Diese Kekse schmecken vielleicht nicht wie die vom Bäcker am Embankment, aber meine Ma ist auch keine üble Bäckerin, behaupte ich mal.«

Schon breitete sich Wärme auf Minervas Wangen aus – oder viel eher Hitze. Dass Elphinstone ihr Keksversteck auf der Arbeit (und ihre schlechte Angewohnheit mit dem Einstippen) gekannt hatte, war ihr nicht bewusst gewesen. Ihr Magen grummelte angesichts des verführerischen Dufts der Plätzchen erneut. Sie konnte nicht widerstehen, einen zu schnappen und im Tee zu versenken. Die Krümel zergingen so fein auf der Zunge, dass sie genießerisch die Augen schloss.

»Oh, die sind gut, besser als die aus London«, seufzte sie zufrieden, ehe sie den Ingwer mit einem Schluck Tee hinunterspülte. »Besser als alle Kekse, die ich je gegessen habe, um ehrlich zu sein.«

»Ich werd’s meiner Ma ausrichten, wenn sie von ihrer Geschäftsreise wiederkommt. Sie freut sich immer, wenn jemand ihr Gebäck nicht nur isst, sondern auch zu loben weiß. Ich zitiere – wir Kinder sind ein undankbarer, verfressener Haufen.« Mit einem Zucken der Mundwinkel schüttelte Elphinstone den Kopf und seufzte. »Ein Keks wird die Welt vielleicht nicht verändern, aber er macht sie doch erträglicher«, resümierte er. »Diese Familienweisheit gibt es gratis zum Zuckerschock.«

Minerva lachte belegt auf und verlor prompt ein Stück des Gebäcks in ihrer Teetasse. Aber den sämigen Rest aus Tee, Milch und Krümeln mochte sie ohnehin am liebsten. Mit einem zweiten Keks lehnte sie sich neben Elphinstone an die Theke. Gemeinsam scherzten sie lose über ihre Teevorlieben – Elphinstone benutzte ihrer Meinung nach zu viel Milch – und es war ... wie immer. Oder mehr ...

Behutsam legte Elphinstone seinen Arm um Minervas Taille und ihr Lächeln spiegelte sich im Schwarztee, als sie einen Schluck nahm. In diesem Moment war es einfach, den gestrigen Tag zu vergessen.

Sie wandte den Kopf zu ihm, nur um direkt vom Funkeln seiner grauen Augen gefangen zu werden. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, einen wortlosen Austausch zu führen. Röte färbte Elphinstones Ohrenspitzen und für einige Wimpernschläge sahen sie einander nur an. Minerva presste die Teetasse fester an ihren Bauch, aus Angst, etwas zu verschütten. Sie traute ihren Händen nicht länger, in seiner Gegenwart standhaft zu bleiben.

»Gu-u-uten Morgen!«

Eileans fröhlicher Ruf nebst Eimerscheppern ließ Minerva zurückschrecken. Die Hitze glühte auf ihren Wangen, als würde sie sich darum bewerben, das Frühstücksei dort zu braten. Elphinstones Arm glitt ebenso ertappt von ihrer Taille.

»Stimmt was nicht?« Mit spitzen Fingern schnappte Eilean sich einen Ingwerkeks und musterte sie beide, den Kopf schiefgelegt. »Ihr könnt ruhig weitermachen, ist ja nicht so, als hätte ich meinen Bruder noch nie knutschen sehen oder so«, mümmelte sie zwischen zwei Bissen und hob vielsagend die Augenbrauen.

»Danke für dieses großzügige Angebot.« Elphinstone schloss die Finger wieder um seine eigene Teetasse, über die er Minerva einen entschuldigenden Blick zuwarf.

»Oh ... sag nicht, dass ich hier etwas Besonderes gestört habe! Ich meine –« Eilean deutet zwischen Minerva und Elphinstone hin und her, »das mit euch ist doch schon lange ein Ding!«

Minerva musterte ihre Schuhspitzen. Das schwarze Leder glänzte. Offenbar hatte Newa die alten Teile nicht nur repariert, sondern auch eingefettet. Sie war der Hauselfe wirklich Dank schuldig.

»Eily, es gibt kein ‚Ding‘.«

»Oh, bitte sag mir nicht, dass ich hier einen ersten Kuss verhindert habe!«

»Nicht ganz.«

»Oh ... Merlin«. Mit einem Mal schien Eilean sehr interessiert daran, lautstark in der Spüle zu ramentern. »Ich bin davon ausgegangen – Ihr beide ... Ich meine, ihr seht euch an wie – wie ein altes Ehepaar! Sie hat sich an dich geklammert – du dich an sie ... Na ja, ich dachte halt –« Spülwasser spritzte in alle Richtungen und sie brach ab. »Entschuldigt.«

»Ah, schon gut«, wiegelte Minerva ab.

»Aber du magst ihn doch, oder?«

Minerva sah zu Elphinstone und rasch wieder fort. »Natürlich, wir sind schließlich nicht umsonst befreundet –«

»Ah, gut, gut.« Eilean verhexte die Spülbürste, Nessies Futtereimer zu putzen. »Ich freue mich, wenn es so eine tolle Hexe gibt, die ihn mag.« Sie zwinkerte und wandte sich anschließend zu Elphinstone. »Verscheuch sie bloß nicht!«

Er schenkte ihr nur ein Augenrollen. Stille senkte sich über die Küche, abgesehen von dem Schrubben in der Spüle. Einen Augenblick lang stand Eilean da und sah den kleinen Seifenblasen aus Scheuermittel dabei zu, wie sie in den Sonnenstrahlen tanzten. Dann huschte ein grimmiger Ausdruck über ihr Gesicht. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.

Die Arme vor der Brust überkreuzt, wirbelte sie erneut herum. »Überhaupt!«, fauchte sie an Elphinstone gewandt, als hätte sie seine Anwesenheit erst jetzt richtig realisiert. »Du! Du – weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Ach, was ich mir immer noch für Sorgen mache! Elladora verhaftet, du beurlaubt – glaub nicht, dass ich die Zeitung nicht gelesen habe – und du meldest dich nicht einmal!«

»Eily ...«, hob er an, doch diese unterband seine Worte mit einer wegwerfenden Geste.

»Komm mir nicht so! Du ...!« Ihre Knöchel am Zauberstab traten weiß hervor, als sie ihn anklagend auf ihren Bruder richtete. »Du erzählst mir jetzt besser, was hier los ist, wenn Albus Dumbledore – ausgerechnet! – sich schon in Schweigen kleidet! Erst sehen wir dich wochenlang – ach was, monatelang – nicht und dann tauchst du hier mitten in der Nacht auf, schwer verletzt! Ganz zu schweigen davon, dass deine Begleiterin aussieht, als hätte sie dem Grimm gegenübergestanden!« Eilean funkelte Elphinstone an wie ein Drache, dem das Ei gestohlen worden war.

Minerva verzog das Gesicht und hob an Elphinstone gewandt die Schultern, denn sein Blick war sorgenvoll von seiner Schwester zu ihr gewandert. »Albus war in der Nacht kurz hier«, klärte sie ihn auf. »Um sich zu vergewissern, dass wir in Sicherheit sind, nachdem Fawkes nur die Kinder zurückgebracht hat.«

Verständnisvoll nickte er und ging mit beschwichtigend ausgestreckten Händen auf Eilean zu. »Eily, ganz ruhig –«

»Nein! Was glaubst du, was das für ein Gefühl ist?« Scheppernd hüpfte Nessies Frühstückseimer auf einen Wink von Eileans Zauberstab aus der Spüle, um sich von einem Handtuch abtrocknen zu lassen. »Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugetan!«

»Gutes Stichwort – willst du den Rest des Hauses mit deinem Geschrei aus dem wohlverdienten Schlaf reißen?«

»Ha, schön wär’s! Lior ist schon vor einer Stunde mit den Kindern zu seinem Vater geflohen. Den Nifflernachwuchs besuchen. Newt ist wahrscheinlich der einzige Mensch auf dieser Welt, der letzte Nacht noch beschissener geschlafen hat als ich! Und das nur, weil er eine Horde hungriger Fellbabys zu Hause hat! Und ich wette, wenn Lior und die Kinder nach Hause kommen, haben sie alle einen neuen besten Freund, um mir auch noch den letzten seidenen Nerv zu rauben. Also nein, Elph, ich werde dich nicht so einfach vom Haken lassen!«

»Eily, bitte, du machst aus einer Florfliege einen Drachen«, appellierte Elphinstone erneut, doch das waren die denkbar schlechtesten Worte für diese Situation. Da hätte er gleich ein Erumpent kitzeln können, das Resultat wäre unverändert geblieben.

»Pah!«

Eilean wedelte mit ihrer Zauberstabhand und ein lauter Knall hallte zwischen den Steinwänden wieder. Elphinstone zuckte zusammen und griff sich grimassierend an die Brust, wo vor gar nicht allzu langer Zeit tiefe Schnitte geprangt hatten. Minerva trat besorgt hinter ihn, aber er schüttelte nur knapp den Kopf.

»Ich habe meinen ganzen Vorrat an Murtlap-Essenz und einen halben Strauch Diptam gebraucht, um deine Blutungen zu stillen, und soll mich beruhigen? Weißt du, wie viel Angst du mir gemacht hast? Das war kein Schockzauber, der dich so zugerichtet hat, das ist sicher.«

»Eily, bitte leg den Zauberstab weg, sonst fehlen mir bald noch ein paar Gliedmaßen.«

»Das geschähe dir recht!«, fauchte Eilean, steckte aber den Stab in die Tasche ihres Morgenmantels. Die kleine Hexe wandte sich um und stampfte laut wie ein Riese zum Küchentisch neben ihnen, wo sie eine Ausgabe des Tagespropheten aufhob. »Ich verlange, zu wissen, worin du – und Ella – euch habt verwickeln lassen! Es ist mir egal, welche verfluchten Ministeriumsregeln dagegen sprechen – du bist mein Bruder, du bist hier aufgetaucht und hast meine Hilfe in Anspruch genommen, also habe ich ein Recht, zu erfahren, was bei Merlins löchrigen alten Unterhosen los ist!«

Sie pfefferte die Zeitung in Richtung Elphinstone, vor dem sie mit der Titelseite nach oben zu liegen kam. Minerva erkannte das übergroße Bild einer Häuserruine in einer bekannten wie langweiligen Muggelnachbarschaft, aus der dunkle Rauchwolken drangen. Darüber prangte in schwarzen Lettern die provokante Überschrift ‚Muggelversagen, Magieverbrechen oder doch Muggelverbrechen? Mehrere Tote nach Explosion in Leeds‘.

Dem ersten Impuls folgend zuckte Minerva vor der Zeitung zurück, als handle es sich um einen bissigen Crup. Rauch kratzte direkt wieder in ihrem Rachen und ihre frischverheilte Haut juckte. Sie presste die Hände so fest gegen ihre warme Teetasse, dass sie fürchtete, das Porzellan könnte springen. Zum Glück wusste sie dank Albus’ gestrigem Besuch, dass Robbie in Sicherheit war. Wenigstens das.

»Ein ganzes Haus in die Luft geflogen? In einer Muggelnachbarschaft? Verletzte? Tote?« Eileans Stimme hatte inzwischen das Niveau einer heulenden Banshee erreicht. »Und das schon vor zwei Tagen! Was ist passiert?«

Im selben Atemzug langten Minerva und Elphinstone nach der Zeitung. Das dünne Papier riss beinahe unter ihren Fingern, so heftig schlugen sie die Seiten auseinander. Kopf an Kopf überflogen sie den Artikel, der einmal mehr das Werk von Rita Kimmkorn war.

Muggel sprechen von Gasexplosion ... Fünf Leichen geborgen, darunter zwei Muggelpolizisten und drei Reinblüter ... Gerettete nicht zurechnungsfähig ... St. Mungo hält Gedächtnismanipulation für wahrscheinlich ... Schwer verletzter Beamter des Ministeriums ermittelte ohne Auftrag ... Mögliche Verbindung zu dem Fall um die Urquart-Familie (wir berichteten) ... Beschuldigte spurlos verschwunden ... Deckt die Abteilung für magische Strafverfolgung Muggelverbrechen an ehrwürdigen Mitgliedern unserer Gesellschaft?

Empört und gleichzeitig besorgt schnappte Minerva nach Luft. Selbst unschuldige Nachbarn waren in der Explosion, die sicher das Werk der Lestranges war, verletzt worden. Es war nur unfassbarem Glück zu verdanken, dass keine weiteren Todesopfer zu beklagen waren. Offenbar war das Fluchfeuer nur Sekunden nach der Disapparation ihrer Entführer hochgegangen und hatte nicht nur ihre flüchtenden Verbündeten, sondern auch die umstehenden Häuser getroffen.

Und einmal mehr hatte Rita Kimmkorn es mit der Halbwahrheit auf die Titelseite geschafft. Die freche Kröte von Journalistin hatte sogar das einzige Foto ihres alten Ermittlungsteams ausgegraben – nur um sie wie Verbrecher hinzustellen!

Ein Ruck ging durch die Seite, dann riss der Prophet mitten durch die Aufnahme von schwelenden Trümmern entzwei. Die Hälfte des Blattes verschwand knisternd in Elphinstones Hand, die er zur Faust ballte.

»Das darf doch nicht wahr sein ...« Er stöhnte leise. Ob vor Schmerz oder Frust konnte Minerva nicht sagen. »Wenigstens leben die anderen noch, aber ... das ist verrückt. Warum glaubt niemand Mulciber? Kann mir doch keiner erzählen, dass eine Explosion auch gleich sein Gedächtnis auf dem Gewissen hat!« Kopfschüttelnd knüllte er das halbierte Zeitungsblatt zu einer winzigen Kugel. »Egal was Kimmkorn schreibt, das Ministerium kann ihr doch nicht Glauben schenken und einfach abwarten – das ... es gibt handfeste Beweise!«

Eilean stand noch immer mit den Händen in der Hüfte am anderen Ende des Tisches, doch ihre erstaunlich dunklen Augenbrauen drifteten zusehends auseinander. Der Blick aus ihren grau-blauen Augen, die mindestens so streng wie Elladoras funkelten, gewann an Sanftheit.

»Ihr wusstet das nicht ...?«

»Das letzte Mal, als ich das Haus gesehen habe, stand es noch.« Elphinstone räusperte sich, doch das Belegte verschwand nicht aus seiner Stimme. »Die Explosion, der wir nur knapp entkommen sind, war eine andere. Wenn auch von den gleichen Leuten ausgelöst, an deren Existenz hier offenbar keiner glaubt. Obwohl sie sogar uns entführt haben. Hierbei –« Er wies auf die übrige Titelseite – »handelt es sich auf jeden Fall nicht um ein ‚Muggelverbrechen‘.«

»Also warst du wirklich da ... und – Oh Merlin, Elph, wo bist du nur reingeraten?« Eilean drückte die Fingerknöchel auf den Küchentisch und sah auf die abgenutzte Tischplatte hinab. »Und was hat Ella damit zu tun?«

»Ah ... Eilean, das sollte ich besser erklären, immerhin habe ich Elphinstone um seinen Einsatz gebeten«, wandte Minerva ein. »Ohne mich –«

Aber weiter kam sie nicht, denn Eilean schüttelte entschieden das Haupt. »Darling, mein Bruder kann selbst die Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Ich bin mir sicher, so sehr hast nicht einmal du ihm den Kopf verdreht.«

»Eilean, es reicht!«

Sowohl Minerva als auch Eilean wirbelten zu Elphinstone herum, dessen Stimme lauter als die vorige Zauberstabfehlzündung durch die Küche hallte.

»Tu dir selber den Gefallen und halt die Luft an. Dann erklären wir alles. Und zwar erst dann.«

Diesen Ton kannte Minerva. Den verdiente man sich, wenn man mit dem Kopf durch die Wand wollte und dabei ein Verfahren gefährdete. Sie fühlte sich daran erinnert, wie sie zum ersten Mal erfahren hatte, warum er einen derart hohen Posten im Ministerium bekleidete.

Eileans Wangen glühten vor unterdrückter Aufregung, aber sie bedeutete ihrem Bruder mit einem knappen Nicken, fortzufahren.

»Danke.« Elphinstone verschränkte die Arme vor der Brust – oder versuchte es zumindest –, verzog dann allerdings das Gesicht und entschied sich stattdessen dafür, sich auf die Lehne eines Küchenstuhls zu stützen. »Die ganze Angelegenheit fängt mit einem verschwundenen Hogwartsschüler an. Und sie wird lang, also setzt du dich vielleicht lieber.«

Während Elphinstone die gesamte Geschichte von Jonathan Alditchs Entführung darlegte, sprach Eilean kaum. Auch die Ausführungen zu Elladoras Verwicklungen ließ sie mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen. Nur ihre Finger gruben sich mit jedem Wort tiefer in ihre Oberarme. Am Ende der Erzählung schob sie mit einem ruckartigen Schaben ihren Stuhl zurück, schnappte sich den – leeren – Fleischeimer und erklärte, Nessie erneut füttern zu müssen.

»Sie meint das nicht so«, seufzte Elphinstone in die unerwartete, neuerliche Stille. »Auch wenn sie ihr Herz auf der Zunge trägt, gibt es doch Dinge, über die Eilean erstaunlich schwer reden kann. Wir sollten ihr ein wenig Zeit lassen.«

Nach dem ganzen Geschrei war Minerva das recht. »Schon gut. Nur – was tun wir jetzt? Haben wir einen Plan?« Einfach nur rumsitzen und warten, dass das Schicksal sich ihnen zuwandte, brachte sie nicht über sich.

Elphinstone straffte sich sichtlich. Der Ministeriumsbeamte in ihm übernahm einmal mehr die Führung. Immer professionell, um keine Antwort verlegen. »Nun, wir sind quasi tot oder nicht? Zumindest glauben das die Lestranges und sogar in der Zeitung wird von unserem Verschwinden berichtet. Also, was tun Tote?«

»Nicht viel für gewöhnlich.«

»Totgesagte leben länger.« Elphinstone zwinkerte. »Wir brauchen neue Zauberstäbe und dann bringen wir die Wahrheit ans Licht. Aber zuallererst sollten wir ins St. Mungo gehen. In Verwandlung, versteht sich. Ich will, dass du diese Essenzen für Fluchopfer bekommst, die auch Robbie bekommen hat. Sicher ist sicher. Und wenn wir schon da sind, finden wir vielleicht auch heraus, wie es den anderen geht und was den Gefangenen angetan wurde. Oder ob sich dieser Fluch aufheben lässt.«

Seine Zuversicht brachte das Lächeln auf Minervas Züge zurück. »Das klingt gut, wenn wir nicht unbedingt mit Flohpulver reisen. Das ... reizt mich gerade nicht sonderlich.« Im Gegenteil – der Gedanke an eine Reise durch Flammen brannte auf ihrer neugewachsenen Haut. »Was hältst du von einem kleinen Ausflug? Gibt es hier irgendwo Besen?«

Zweiter Anlauf

Ein Kehrflieger 4Max war nicht gerade der Porsche unter den Flugbesen (nicht einmal unter den Familienbesen), doch die schottische Weite dahinziehen zu sehen war allemal herrlich. Aus Rücksicht auf Elphinstone flog Minerva ohnehin nur im Tempo einer müden Wellhornschnecke. Er saß in dem Beifliegersitz hinter ihr, der gestützt von einem Stabilisierungszauber zur Seite des Besens baumelte, sodass er es ziemlich bequem hatte. Aber sicher war sicher.

Ein paar Meilen unterhalb von Loch Ness hatte sich grüne Farbe in sein Gesicht geschlichen und kurz vor Glasgow waren ihm die lockeren Sprüche über kuriose Wolkenformationen versiegt. Zwar beanstandete er ihre Flugkünste mit keinem Wort, doch Minerva musste nicht hellsehen, um zu bemerken, dass seine Verletzungen zusätzlich zur Höhenangst an ihm zehrten. Also drosselte sie das grundsätzlich langsame Tempo des scamander’schen Familienbesen weiter und genoss die Aussicht umso mehr.

Der schottische Himmel belohnte ihre Umsicht mit einer steifen Brise, die sämtliche ungebetene Gedanken aus ihrem Kopf pustete. Elphinstone, der dann und wann nach ihrer Hand am Besenstil tastete, um ihren Handrücken mit beruhigenden (und recht verschwitzten) Kreisen zu versehen, tat sein Übriges für das Gefühl aus grenzenloser Freiheit gemischt mit Geborgenheit.

Dieser Ausflug war etwas ganz anderes, als in halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Highlands zu jagen und Haarnadelkurven zu vollführen, bei denen der Magen nicht hinterherkam. Auf seine Art war dieser Besenflug allerdings nicht minder aufregend, Minervas Inneres schlingerte gar – wann immer Elphinstone seine Wange an ihre Schulter lehnte.

Als sie schließlich auf Höhe der schottisch-englischen Grenze niederging, den Besen mit einem Zauber versteckte und das letzte Stück nach London Seit-an-Seit mit Elphinstone apparierte, empfand sie glatt Vorfreude auf den Besuch in Ollivanders Zauberstabladen.

Solange sie einander hatten, würde alles gut werden. Sie würden wie der Phönix der Asche entsteigen und diese Sache zu Ende bringen, immerhin waren sie auch dem Lestrange-Anwesen entkommen. Zuversicht keimte in ihrer Brust auf, wie die ersten Sprösslinge im Frühling aus der winterharten Erde auftauchten. Wenn da nicht zuerst der Pflichtbesuch im St. Mungo anstünde.

Minerva konnte sich nicht an ihren letzten Besuch in dem Hospital erinnern und das war gut so. Egal ob Muggelkrankenhaus oder magische Heileinrichtung – beides zeichnete sich durch stechenden Geruch und gedrückte Stimmung aus. Wenn möglich setzte sie keinen Fuß an diese Orte. Sie besuchte ja nicht einmal den Krankenflügel in Hogwarts gerne, erinnerte er sie doch an das unrühmliche Ende ihrer Quidditchkarriere mitsamt gebrochenen Rippen.

Kaum, dass sie sich im Foyer des St. Mungo materialisiert hatten, erfüllte auch schon das unnachahmliche Gemisch aus Heilkräutern und Desinfektionszaubern Minervas Lungen. Genau wie jedes Krankenhaus bemühte St. Mungo sich, eine freundliche Atmosphäre auszustrahlen, aber der traurige Gummibaum, der Neuankömmlinge im Apparierbereich empfing, entlockte sowohl ihr als auch Elphinstone ein Seufzen.

Dank diverser Verwandlungszauber hatten sie beide eine unscheinbare Gestalt angenommen und der Empfangszauberer widmete ihnen keinen zweiten Blick, sobald klar wurde, dass es sich nicht um einen Notfall handelte. Statt sie am Tresen anzumelden, führte Elphinstone Minerva zielstrebig an den wandelnden Zauberunfällen im Wartezimmer vorbei ins Treppenhaus.

Vier Treppen kämpften sie sich empor, bis sie in einem langen Flur landeten, in dem diverse Untersuchungszimmer untergebracht waren. Die Beschriftung neben den Flügeltüren informierte Minerva, dass sie sich in der Aufnahme für Fluchschäden befanden. Weiter hinten zweigten Türen zu den spezialisierten Stationen ab. Allein beim Anblick der schlichten Aufschrift ‚Langzeitstation für Fluchgeschädigte‘ verknotete sich etwas in Minervas Magen.

Obwohl es hier ebenfalls einen Wartebereich gab, geziert von einer weiteren Pflanze mit schlappen Blättern, nahm Elphinstone nicht Platz, sondern drückte eine Tür auf, deren Schild eindeutig verkündete, dass Unbefugte keinen Zutritt hatten.

Minerva konnte den Raum nicht einsehen, aber sie bekam wohl mit, dass eine entrüstete Frauenstimme ihn zurechtwies – oder weisen wollte –, doch er unterbrach sie schlicht, stellte sich als Mr. Grant vor und erkundigte sich nach ihrem Kollegen, bei dem er einen Termin hätte und der schon fünf Minuten zu spät sei.

Im Bruchteil einer Sekunde schlug der Ton der Heilerin in honigsüße Freundlichkeit um, in dem sie ihm versicherte, sich umgehend zu kümmern. Mit einem zufriedenen Lächeln schloss Elphinstone die Tür wieder und nahm erneut Minervas Hand, wobei er ihren fragenden Blick überging. Er brachte sie in ein Behandlungszimmer, unter dessen Decke mehrere Zaubersphären schwebten, die kaltes, weißes Licht verströmten.

Überhaupt war alles sehr ... weiß. Der Boden, die Wände, der Vorhang, die gepolsterte Untersuchungsliege – selbst die Töpfe der Blumen auf der Fensterbank. Wobei diese Exemplare deutlich besser gepflegt anmuteten als ihre traurigen Vettern draußen. Trotzdem runzelte Elphinstone bei ihrem Anblick die Stirn. Mit einem leisen »Tsss« streichelte er die Blätter eines blütenlosen Gewächses, das zur Antwort seine Triebe schüttelte.

Erschrocken über so viele Grenzübertretungen, war Minerva drauf und dran, ihn zurechtzuweisen, da flog die gerade geschlossene Tür wieder auf.

Limonengrün – das war ihr erster Eindruck. Eine Farbe, die nur den wenigsten Menschen stand, ob nun in der Heilerzunft oder nicht. Der Umhang in eben jenem Grün bauschte sich ballonartig hinter dem Mann auf, der in den Raum gestürzt kam, als erwarte er, jemand tödlich verletzten vorzufinden.

»Oh Gott Elph, was –« Der dunkelhäutige Zauberer blieb wie von der Ganzkörperklammer getroffen stehen. Er sah von Elphinstone zu Minerva und es war offenbar, dass er nicht mit diesem Anblick gerechnet hatte.

Dafür erkannte Minerva ihn wieder. Es war derselbe Heiler, der sich nach dem Brand in Gringotts um Robbie gekümmert hatte. Sie starrte ihn an, denn die nächste Erkenntnis traf sie ebenso unvermittelt wie ihre Anwesenheit ihn.

»Oh Gott ...«, echote sie. Nicht »Oh Merlin«. Das konnte nur bedeuten – sie unterdrückte ein Lachen. Eigentlich war es so offensichtlich, die ganze Zeit schon, und trotzdem setzte sich das Bild erst jetzt vor ihren Augen zusammen, als sie Elphinstone ansah, der immer noch die Topfpflanze ... kraulte.

»Reg dich nicht auf Archie, ich bin’s wirklich. Ist die Tür richtig zu?«

Der Heiler ließ sich gegen eben jene zurücksinken, sodass sie deutlich hörbar ins Schloss klickte. Mit den Fingerspitzen massierte er seine Schläfen, dann seufzte er. Jedes Wort überdeutlich betonend sagte er: »Was zur Hölle?«

In einer fließenden Bewegung verschwammen Elphinstones Züge und schließlich gaben die Verwandlungszauber den Blick auf sein wahres Gesicht frei. Ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Nette Begrüßung, Arch. Ich freue mich auch, dich zu sehen.«

»Na hör mal ...« Ohne die Finger von der Stirn zu nehmen, stieß der Heiler sich von der Tür ab und ging einige – zögerliche – Schritte auf Elphinstone zu. Er sah ihn an, als fürchte er, dass er sich vor seinen Augen in Wohlgefallen auflösen könnte. »Was soll ich denn denken, wenn du plötzlich hier auftauchst – ausgerechnet unter diesem Namen, auf diesem Weg! Und nach allem, was in der Zeitung steht ... Ich meine, Mr Grant wird wohl nicht so wie früher auf ein Techtelmechtel in der Mittagspause aus sein –«

»Nein, das ist Mr Grant selbstverständlich nicht«, fiel Elphinstone seinem einstigen Verlobten sanft, aber nachdrücklich, ins Wort. »Es handelt sich um einen Notfall und du hinterlässt gerade bestimmt einen wunderbaren ersten Eindruck bei Minerva. Was soll sie nur von uns denken?«

Das »Na, eigentlich kennen wir uns ja schon« konnte Minerva sich nicht verkneifen. Mit einem entschuldigenden Lächeln ließ sie ebenfalls ihre richtigen Gesichtszüge durch die kosmetischen Verwandlungszauber blitzen. Irgendwie verstand sie ja, dass Elphinstones früherer Lebenspartner ob dieses Überfalls keine Freudensprünge machte – weiter überdachte sie den Austausch der beiden lieber nicht.

»Minerva McGonagall. Schön, Sie einmal richtig kennenzulernen, ohne brennendes Verlies im Hintergrund. Und die Heilung meines Bruders hat jedenfalls einen guten Eindruck hinterlassen.«

Der Heiler senkte seine Schultern, ebenfalls ein verlegenes Lächeln im Gesicht. »Oh, ähm – Archibald Hastings.« Offenbar nervös, wischte er die Hände an seinem Umhang ab. »Wobe ich – also wenn es Ihnen – dir? – nichts ausmacht, die Höflichkeitsformen auch ruhen lassen würde. Irgendwie hat Elph mir in den letzten Jahren so viel von dir erzählt ... da habe ich fast das Gefühl, dich schon zu kennen.«

An seinen Wangen, die sich dunkel färbten, konnte Minerva ablesen, dass eine ihrer Augenbrauen himmelwärts gewandert war und wohl ihre Überraschung (oder eher Irritation?) verriet. In dem folgenschweren Schweigen warf sie Elphinstone einen Blick zu, doch der sah ausschließlich auf die Pflanzenerde, die er zwischen den Fingern zerrieb. Immerhin waren seine Ohren anständig rot.

»Also ...«, sagte der Heiler und sah unsicher hin und her, »nenn mich ruhig Archie, das tun die Meisten ...«

Minerva zwang ein Lächeln empor. »Gerne ... Archie. Wenigstens etwas hat Elphinstone mir schließlich auch von dir erzählt.« Sie hielt es nicht für die richtige Gelegenheit, von ihrem Ausflug in Albus’ Erinnerung zu berichten, aber zumindest begriff sie das Gefühl, ihr Gegenüber ebenfalls schon zu kennen.

»Wunderbar, wunderbar ...«

Archie ergriff Minervas ausgestreckte Hand und überraschte sie mit einem derart kräftigen Händedruck, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte. Ein Schmerzblitz jagte durch ihren Arm. Der verlegene Ausdruck auf Archies Gesicht wuchs. Obwohl er einen Kopf größer war als sie, schrumpfte er förmlich in sich zusammen.

»Oh nein – Verzeihung! Da gehen meine guten Manieren dahin ...« Betreten fuhr Archie sich über die kurzen, lockigen Haare. »Ich hoffe, ich habe nicht allzu fest zugepackt?«

»Halb so schlimm.« Mit einem nachsichtigen Lächeln schüttelte sie den Kopf. »Man kann einem den Cruciatus schließlich nicht an der Nasenspitze ansehen – und eigentlich geht es ja auch, es ziept nur hin und wieder ...«

Zum zweiten Mal am Tag kassierte der gänzlich unbeteiligte Elphinstone einen bösen Seitenblick, dieses Mal von Archie. »Hättest du das nicht direkt sagen können?«

Von neuer Vorsicht erfüllt besah Archie Minerva wie ein rohes Ei. Sie winkte ab, ein weiteres »Halb so schlimm« auf den Lippen, doch Elphinstone kam ihr zuvor.

»Ich habe dir gesagt, dass es ein Notfall ist, Archie. Und wenn du nicht drauf und dran wärst, das hier für uns alle unangenehmer zu machen als nötig, hätte ich dir auch sofort gesagt, was dieser Notfall ist. Denn im Gegensatz zu Minerva mache ich mir gewisse Sorgen um ihren Zustand.«

Archie nestelte mit tiefdunklen Wangen an einem Knopf seines Umhangs, auf dem das St. Mungo-Wappen aus gekreuztem Zauberstab und Knochen eingeprägt war, dann richtete er sich wieder zu voller Größe auf. Als er hochsah, hatte der Heiler in ihm die Führung übernommen.

»Cruciatus also? Gut, dann muss ich für eine erste Anamnese wissen, wann das passiert ist, wie oft und wie lange. Ungefähr.«

»Sie war dem Fluch bis gestern mehrfach nacheinander ausgesetzt – drei Mal müsste es gewesen sein – und das über längere Zeit ...« Die Qual in Elphinstones Gesichtsausdruck wuchs und sein Blick flackerte zwischen Minerva sowie der Pflanze, deren pelzige Blätter er liebevoll mit Daumen und Zeigefinger rieb, hin und her. »Ich weiß nicht wie lange, ob eine halbe Stunde oder doch eher zwei ... Es hat sich angefühlt wie eine Ewigkeit.«

Die Verbitterung in seinen Worten schlang einen Knoten in Minervas Hals. Alles in ihr schrie danach, ihn in die Arme zu nehmen; ihn festzuhalten und daran zu erinnern, dass es in Ordnung kommen würde.

Archies sanfte Berührung an ihrer Schulter löste ihre kurzzeitige Starre. »Kannst du mir die Auswirkungen des Fluchs beschreiben? Welche Art von Schmerz empfindest du jetzt noch?«

»Ich – alos ich bin ohnmächtig geworden.« Sämtliche klugen, wortgewandten Erwiderungen waren auf einen Schlag aus Minervas Kopf verschwunden. Da pochte nur wieder der Schmerz wie ein zweites Herz und ließ keine Worte durchdringen.

»Okay. Das reicht erstmal. Lass mich sehen, wie ich dir helfen kann.«

Archies Hand blieb auf Minervas Schulter. Er nahm sie nicht fort, sondern führte sie zu der Liege unweit von Elphinstone und setzte sie dort mit sachter Bestimmung ab. Auf einen Schlenker seines Zauberstabs, den er aus dem limonengrünen Umhang zog, flog eine Phiole herbei. Darin rasselten die kleinen blauen Kugeln, die er auch schon Robbie verschrieben hatte.

Etwas verlegen ließ Minerva sich von Archie mit Diagnosezaubern untersuchen, während Elphinstone in voller Breite die Geschehnisse seit ihrer letzten Begegnung in Gringotts wiedergab. Inzwischen hatte er darin eine gewisse Routine.

Ihr erster Eindruck von Archie erwies sich als berechtigt – seine angenehm tiefe Stimme in Kombination mit den gemächlichen Bewegungen strahlte eine Ruhe aus, die sich trotz der neuerlichen Schilderung ihrer Entführung auf sie übertrug. Dabei hätte es durchaus komisch sein können, vom früheren Verlobten ihres ehemaligen Chefs untersucht zu werden. Aber in diesen Maßstäben konnte sie wirklich nicht mehr denken.

Hin und wieder bat Archie sie, ein- und auszuatmen oder den Schmerz zu beschreiben, ansonsten lauschte er stumm. Nur die Falten auf seiner Stirn gruben sich mit jedem Satz Elphinstones tiefer, bis er glatt zehn Jahre älter aussah. Insbesondere Minervas Einwurf zu Elphinstones eigenen Verletzungen, die dieser elegant überspielte, verdunkelte seine Züge.

Wenigstens kam Archie zu dem Schluss, dass Minervas Körper sich ebenso tapfer wie ihr Geist gegen den Cruciatus gewehrt hatte und die Schmerzen bei regelmäßiger Einnahme der Anti-Fluch-Essenzen in den nächsten Tagen gänzlich verschwinden würden. Eine bleibende Nervenempfindlichkeit war nicht auszuschließen, aber das wäre behandelbar.

Elphinstone, der inzwischen sämtliche toten Blätter der Topfpflanzen entfernt und in einem Nebensatz einen seltenen Wolllausbefall festgestellt hatte, erstrahlte bei dieser Diagnose. Ohne den Pflanzen einen weiteren Blick zu widmen, trat er zu Minerva an die Liege. Neben ihr stehend war er ausnahmsweise größer, sodass er mühelos seine Lippen auf ihren Scheitel drücken konnte.

»Den Gründern sei dank.«

Er legte etwas unbeholfen die Arme um sie und sie sog seinen inzwischen wohlbekannten Geruch tief ein. Mit gesenkten Lidern genoss sie jede Sekunde, während er an Archie gewandt seine Erzählung mit ihrer Flucht an den Loch Ness beendete.

»Gott ... ich weiß nicht, was ich sagen soll«, hauchte Archie in die folgende Stille hinein. In seinen Händen klirrten die übriggebliebenen Essenzen gegen die Glaswände der Phiole. Seine Stimme blieb ruhig, nur die Finger zitterten. »Das erinnert mich so sehr an das fünfte Schuljahr. Nur schlimmer, viel schlimmer.«

Minerva ahnte, woran er dachte. An Riddle und seine Spießgesellen.

»Ich fürchte, damit hast du recht.« Elphinstone nahm einen Atemzug, der sich anhörte wie das erste Luftschnappen eines Ertrinkenden. »Und es fängt gerade erst an.«

Die beiden Männer sahen einander lange an, ein wortloser Austausch, der von ihrem jahrelangen Band zeugte. Schließlich streckte Archie fragend eine Hand aus. Elphinstone ergriff sie ohne Zögern – aber Minerva hielt er trotzdem weiter fest. Mindestens ebenso liebevoll wie eben die Pflanzenblätter, drückte er Archies Finger und ihre Schulter.

»Arch, du weißt, dass ich ... Ich kann es nicht zulassen, dass so etwas passiert. Lass die Zeitung schreiben, was sie wollen, aber ich – wir – werden das zu Ende bringen. Das sind wir denen, die sich nicht wehren können, schuldig.«

»Ich weiß. Ich kenne dich doch. Und das habe ich immer an dir geliebt.« Archie straffte sich. »Vielleicht kann ich euch ja helfen. Immerhin behandeln wir einige Patienten, die in diese Explosion verwickelt waren. Und – na ja, die Leichen der Toten liegen unten in der Rechtsmedizin. Eigentlich kümmert sich eine der älteren Kolleginnen darum, aber ... ich kann ihr ja meine Unterstützung anbieten. So viel wie Rose flucht, ist sie wahrscheinlich dankbar über jede Hilfe. Dann kann ich Ausschau nach diesem Fluch halten.«

»Das wäre wirklich großartig«, sprudelte es erleichtert aus Minerva hervor. »Am besten du gehst gleich auf Albus oder Poppy zu, wenn sie mit den Kindern herkommen – sag ihnen ruhig, dass du das mit mir besprochen hast. Nicht, dass sie womöglich noch in die falschen Hände geraten ...«

Ein warmes Funkeln erhellte Archies Augen, als er ihr zunickte. »Abgesehen davon sollte es wohl nicht schaden, wenn ich ein paar Nachforschungen anstelle. Gerade bezüglich der Sache mit den manipulierten Gedächtnissen ... Wenn es sein muss, rede ich meinetwegen sogar mit Mulciber. Sollte der mich nicht nerven, dann müssen wir uns ganz offiziell Sorgen machen.«

Das entlockte Elphinstone ein Glucksen. »Das würdest du dir antun?«

Archie stimmte mit einem leisen Lachen zu. »Verrückt, ich weiß, aber ja, das würde ich tun. Im Interesse der Allgemeinheit. Und ihr könnt eure Tarnung schließlich nicht einfach so auffliegen lassen, so viel verstehe ich.«

Elphinstone drückte Archies Hand erneut, ehe er sich sanft zurückzog. »Danke. Du hast was gut bei mir. Wirklich, danke –«

»Oh, freu dich nicht zu früh. Zu dir kommen wir noch.« Archie musterte seinen Ex eindringlich. »Nichts gegen Eilean, aber ich will mir diese Fluchwunden mit eigenen Augen ansehen. Ganz abgesehen von diesen schwarzen Spuren. Ich muss dich wohl nicht daran erinnern, dass das mein Spezialgebiet ist? Wenn ich etwas unternehmen soll, brauche ich einen Anhaltspunkt.«

Schon schienen die Topfpflanzen wieder in Elphinstones Interesse zu steigen. Zumindest verrenkte er den Kopf in ihre Richtung. Doch Archie nickte unbarmherzig zu dem Vorhang hinter ihnen.

»Bitte einmal den Oberkörper freimachen.«

»Das hast du auch schon einmal netter gesagt.«

»Und netter gemeint.«

Nicht ohne tiefes Seufzen kam Elphinstone Archies Aufforderung nach. Obwohl der weiße Vorhang erstaunlich blickdicht war – vermutlich dank Magie – wandte Minerva sich mit hochrotem Kopf ab. Sie rutschte von der Liege und stellte sich vor den Medizinschrank. Um Ablenkung bemüht las sie die Etiketten der Glasfläschchen darin und versuchte, daraus bekannte Zaubertränke abzuleiten.

Eine willkommene Beschäftigung, denn hinter sich hörte sie genau, wie Archie die Luft einsog. Wenn ein Heiler das tat, musste es ein schlechtes Zeichen sein. Sie wusste es einfach. Und ihr reichte schon der Anblick von Elphinstones schwarz hervortretenden Adern.

»Verdammt Elph ...«

»Guck nicht so. Bitte. Das wird schon ...«

War das nicht, was Heiler sagen sollten? Jedenfalls nicht die Patienten. Archies nächste Worte verstand sie nicht mehr, dafür senkte er die Stimme zu sehr. Doch sie sah die Trankzutaten, welche er per Aufrufezauber zu sich schweben ließ.

Salbei, Nieswurz, Diptam ... Minerva scheiterte daran, nicht auf das Geschehen hinter dem Vorhang zu achten. Sie bekam genau mit, wie Archie das ein oder andere unbeschriftete Döschen herbeirief, woraufhin ein scharfes Zischen gefolgt von einem leisen »Au« Elphinstones zu hören war. Allein dadurch kam ihr diese Behandlung noch länger vor als die Folter im Lestrange-Anwesen.

Sobald Archie endlich fertig war und Elphinstones Kleider wieder an ihrem Platz waren, wollte sie sich am liebsten gar nicht umdrehen. Die Angst, was sie aus ihren Gesichtern lesen könnte, war zu groß. Doch natürlich tat sie es trotzdem – und biss sich prompt auf die Lippe.

Archie hatte Elphinstone in eine kräftige Umarmung gezogen. Was immer er mit den Heilmitteln bewirkt hatte, es musste geholfen haben. Noch am Morgen hatte Elphinstone sie schließlich nicht in die Arme schließen können. Und vielleicht genau deswegen war Minervas Mund schrecklich trocken beim Anblick dieser Geste. Trotz fünfzehn Jahren Trennung sahen die beiden so ... vertraut aus.

Eifersucht war der Situation vollkommen unangemessen und dennoch schwelte die hässliche Andeutung dieses Gefühls in ihr. Archie hatte jedes Recht, sich genauso Sorgen um Elphinstone zu machen. Außerdem sah sie ja selber, was Elphinstone in ihm gesehen haben musste; diese Sanftheit und den Charme. Also schluckte sie die irrationale Emotion hinunter und konzentrierte sich stattdessen auf die Wärme, die von dieser freundschaftlichen Geste ausging.

»Pass bitte auf dich auf«, murmelte Archie leise, doch laut genug, dass Minerva es gerade so verstand. »Wirklich Elph, ich möchte nicht so bald zu deiner Beerdigung eingeladen sein. Lieber wäre ich erstmal Gast auf deiner Hochzeit.«

Ein unbestimmter Laut kam von Elphinstone. »Ich gebe nicht unbedingt gutes Heiratsmaterial ab, das weißt du selber am Besten. Aber ist ja auch egal. Ich geb mir trotzdem Mühe, immerhin hänge ich auch so an meinem Leben. Außerdem habe ich Minerva, die ist richtig gut darin, mir den Hintern zu retten.« Zögerlich schob er sich aus Archies Armen und warf einen raschen Blick zu ihr, bevor er seinem ehemaligen Verlobten auf die Schulter klopfte. »Danke. Wir sehen uns ja? Du schreibst uns, wenn du etwas herausgefunden hast?«

»Sicher. Und bis dahin – keine potentiell tödlichen Duelle, okay?«

»Nur ein Besuch bei Ollivanders, Arch. Das wird ja wohl noch drin sein?«

»Gerade so.«

 

Dieses Mal apparierte Elphinstone und bevor die Farbwirbel sich vollständig aufgelöst hatten, erkannte Minerva bereits, dass sie nicht in der Winkelgasse gelandet waren. Sie roch frittierten Fisch und hörte das Kreischen von Möwen. Mit einem verwirrten Blinzeln begriff sie, dass sie in einem muggelgeschützten Apparierbereich nahe der Tower Bridge standen.

»Phin –«

Weiter kam sie in ihrer Frage nicht. Er zog sie von den markierten Steinen ein paar Schritte ins regnerische Muggellondon – und in seine Arme. Im Gegensatz zum Morgen begnügte er sich nicht mit halben Sachen. Seine Umarmung war zwar vorsichtig, aber das reichte, um selbst den Besenflug verblassen zu lassen.

»Das wollte ich die ganze Zeit schon machen«, seufzte Elphinstone leise in ihr Haar. »Ich bin ja doch froh, dass Archie so ein hartnäckiger Heiler ist. Dich gar nicht festhalten zu können war ... schlimm.«

Minervas Lippen spannten sich zu einem Lächeln, das in ihren Wangen zog. Vorsichtig legte sie die Hände um seine Taille. »Wie viel besser ist es denn?«

Umgehend drückte er sie fester an sich. »So viel. Vielleicht nicht die Welt, aber es fühlt sich für mich gerade so an.«

Sie vergrub das glückliche Strahlen am Kragen seines Mantels und schlang die Arme ihrerseits etwas enger. Außer ihnen waren kaum Menschen entlang der Themse unterwegs, nur ein paar fotowütige Touristen mit sperrigen Kameras, die sich nicht einmal vom berühmten englischen Regen abhalten ließen. Niemand interessierte sich dafür, dass Minerva ihre Verwandlungszauber nicht mehr sonderlich unter Kontrolle hatte oder dass Elphinstone zusammenhanglose Dinge auf Gälisch flüsterte.

»Kommst du wirklich wieder in Ordnung?«

»Wenn Archie dafür verantwortlich ist ... ja. Vielleicht noch nicht morgen, aber bald. Er wird einen Weg finden.«

Erleichtert drückte Minerva ihn ein winziges bisschen fester. »Zum Glück –«

»Ähem – entschuldigen Sie?«

So viel zum allgemeinen Desinteresse. Minerva zuckte derart zusammen, dass Elphinstone keuchte, doch vor ihnen stand nur ein junges Mädchen, vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Ihr Haar war unter einem Kopftuch festgesteckt und mit einem schüchternen Lächeln streckte sie Minerva ein glänzendes Papier entgegen, das direkt aus ihrer klobigen Kamera zu kommen schien.

»Ich will nicht unhöflich sein, aber Sie beide sind auf dem Foto drauf, das ich von der Brücke geschossen habe – da dachte ich, Sie wollen es vielleicht haben?«

Überrumpelt musterte Minerva das kleine, quadratische Bild, auf dem verwaschen die Tower Bridge zu sehen war und davor sie und Elphinstone. Nicht, dass man das wirklich erkennen konnte, sie waren im Prinzip nur ein einziger dunkler Fleck aus umeinander geschlungenen Armen mit blonden und schwarzen Haaren. Aber das reichte, damit sich eine dicke Kröte in ihrem Hals breitmachte.

»Oh ...« Minerva blinzelte, da sie nicht wusste, ob es noch Regentropfen oder schon Tränen waren, die sich in ihren Wimpern verfingen. »Nun, das ist Ihr Foto –«

»Ach nein, ich mache hier nur Promotionsaufnahmen, da kann ich so ein Bild tatsächlich nicht gebrauchen«, wiegelte das Mädchen ab. »Wissen Sie, das hier ist eine Sofortbildkamera, die gibt es noch gar nicht auf dem Markt! Mein Vater hat sie erfunden, aber damit wir auch die Investoren überzeugen können, brauchen wir ein paar schlichte Aufnahmen. Nur hab ich Sie da nicht stehen sehen ... und bevor wir den Ausdruck entsorgen ...«

»Also dann ...« Überrumpelt nahm Minerva das kleine quadratische Papier entgegen. »Ich danke vielmals!«

»Nicht der Rede wert! Vielleicht denken Sie ja dran, wenn Sie die Kamera irgendwann im Laden sehen.« Das fremde Mädchen lächelte fröhlich und spazierte von dannen, um eine neue Aufnahme zu machen, sich der Tatsache völlig unbewusst, dass sie Minerva gerade einen innigen Wunsch erfüllt hatte.

Elphinstone verrenkte sich den Hals, um einen letzten Blick auf die merkwürdige Kamera zu bekommen und Minerva reichte ihm zur Ablenkung das Foto, das er prompt schüttelte. Als erwarte er, dass es dadurch in Bewegung geraten würde.

»Erst die Mondlandung und jetzt kleine Sofortbilder?« Er stieß einen Pfiff aus. »Schade nur, dass es sich nicht bewegt.«

»Damit man die Regentropfen fallen sieht? Ich glaube nicht, dass wir uns viel bewegen würden, wenn es ein magisches Bild wäre. So oder so, für mich ist es perfekt.« Minerva schnappte ihm das Foto wieder aus den Fingern. »Sag mir lieber, warum wir an der Themse sind. Hat Ollivanders hier seit Neustem eine Filiale zwischen den Fish ’n’ Chips-Buden?«

»Nicht ganz«. Elphinstone lächelte breit. »Aber Fish ’n’ Chips ist ein gutes Stichwort. Hast du Hunger?«

 

Ein paar Minuten später saßen sie mit zwei Tüten Fish ’n’ Chips inklusive Erbsenpüree und einem großzügigen Schuss Malzessig auf einer Bank am Flussufer. Das Essen war gnadenlos überteuert, doch Elphinstone hatte tatsächlich eine passende Pfundnote zutage gefördert, mit der er einigermaßen routiniert bezahlt hatte.

»Entschuldige bitte den kleinen Ausflug, aber ...« Er seufzte, während er seine Pommes durch das Erbsenpüree zog. »Ich muss den Kopf freibekommen. Das Hospital hat einfach so eine Atmosphäre, da kribbelt es mir am ganzen Körper. Wusstest du, dass ich auf der Suche nach der Filiale dieser Bäckerei, in der du immer deine Kekse gekauft hast, über diese Fish ’n’ Chips-Bude gestolpert bin?«

Erstaunt sah sie auf. »Du hast die Bäckerei gesucht?«

»Gesucht und nie gefunden. Ich glaube mittlerweile, dass die dicht gemacht haben. Ich wollte dir eigentlich mal deren Kekse mitbringen, aber ja ... daraus ist nie etwas geworden. Dafür komme ich inzwischen gerne in der Mittagspause her, wenn ich das Ministerium nicht mehr sehen kann.«

»Das hast du nie erzählt.«

»Genauso wenig wie von Archie, mh? Ich habe unsere Unterhaltung aus Leeds noch nicht vergessen.« Elphinstone nahm einen winzigen Bissen seiner Pommes. »Ich weiß nicht mal, warum ich das nie getan habe. Es wäre so einfach gewesen. Ich meine – du hast gesehen, wir sind immer noch sowas wie ... befreundet. Es könnte wirklich schlimmer sein, ich passe sogar mal auf sein Adoptivkind auf. Sein Mann ist nett, wir verstehen uns wunderbar, aber ...«

»Ach ... ich nehme dir das nicht übel, Phin. Tut mir leid, falls es so rüberkam. Das wollte ich nicht. Ich war nur ... überrascht, dass du ihm von mir erzählt hast. Und ich gebe zu, es war mir ein bisschen unangenehm.«

»Gerade deshalb wäre es nur fair, hätte ich umgekehrt auch von ihm erzählt.« Elphinstone ließ den Kopf hängen. »Oh Merlin, es ist so lächerlich, dass ich mich vor dir geschämt habe, nur weil er mich quasi vor dem Altar hat stehen lassen. Ich meine ... wie erzählt man so etwas, ohne dass es klingt als wäre man das Problem? Vor allem, wenn man dann noch meint, es mit den Heiratsanträgen zu übertreiben ... Manchmal wundere ich mich doch, wie nachsichtig du mit mir bist. Das ist wirklich schäbiges Verhalten meinerseits.« Gepresst lachte Elphinstone auf. »Wahrscheinlich bin ich das Problem.«

»Hey, hey, hey – du bist kein Problem! Schon gar nicht für mich. Ich fände es eher unheimlich, wenn du noch ... selbstloser wärst.«

Elphinstone warf ihr einen Blick zu, dann färbten seine Ohren sich einmal mehr pink. »Oh Min ... trotzdem wünschte ich, dass ich dir von Archie erzählt hätte, bevor der Portschlüssel abgeflogen war.«

»Es ist nie zu spät. Jetzt kenne ich ihn ja sogar. Wenn das kein Anlass ist, weiß ich auch nicht. Außerdem ...« Schon knabberte Minerva wieder an ihrer Unterlippe. Das war ein Verhalten, das sie sich gar nicht erst angewöhnen durfte. »Ich will ehrlich sein – Albus hat mir letzte Woche eine seiner Erinnerungen gezeigt. Mit dir und Archie darin. Das habe ich dir bisher auch nicht erzählt, also ...«

»Oh.« Das Stück Fisch auf halbem Weg zum Mund, hielt Elphinstone inne. »Eine Erinnerung ... etwa ... die Sache mit Riddle?«

»Genau.«

»Verstehe ...«

»Es war, nachdem ich die Erinnerung von diesem Caius gesehen hatte. Albus wollte es mir nur wegen dir und Elladora zeigen, aber ja ... so habe ich Archie das erste Mal gesehen. Das war so nicht richtig, aber Albus hat darüber wahrscheinlich gar nicht nachgedacht. Manchmal ist sein Kopf so voller überlebensgroßer Dinge von weltgeschichtlicher Bedeutung, dass er gar nicht über solch vorgeblich kleine Sachen nachdenkt.«

Elphinstone schob sich den Fischhappen in den Mund und kaute sorgfältig, eher er sprach. »Ich werde dir das nicht nachtragen. Du hast schließlich nicht entschieden, in solchen Erinnerungen zu wühlen. Und abgesehen davon habe ich genauso ungeplant von deinem Dougal erfahren.« Er schüttelte langsam den Kopf, lächelte allerdings. »Alles ein bisschen durcheinander, aber das macht den Zauber aus, schätze ich.«

»Gibt es denn eine richtige Reihenfolge für so etwas? Also abgesehen davon, dass man nicht mit dem Heiratsantrag anfängt.« Minerva schmunzelte angesichts des Rots, das sich in Elphinstones Wangen vorwagte, und stupste ihn sacht an. »Aber wir sind schließlich auch sonst kein Durchschitt, von daher ...«

Mit einem Seufzen sah Elphinstone in seine Fish ’n’ Chips-Tüte. »Ich wollte doch nur nicht wieder all die Jahre warten und dann ... Das war dämlich, zehn Mal dämlich.«

»Ich verzeihe dir.«

Etwas ungläubig schüttelte Elphinstone den Kopf, doch er lächelte wieder. Zufrieden spießte Minerva ein besonders großes Stück Kabeljau aus ihrer Zeitungspapiertüte auf. Dahinter kam eine fettgedruckte Titelzeile zum Vorschein. Irgendwas mit einer Sperrung der Tower Bridge. Sie musste nicht lesen, um zu wissen, worum es ging. Die Reinblüter waren hier letzte Woche marschiert, auch wenn die Muggel das nicht wussten.

Viel eher interessierten sie die Fetzen des Artikels daneben über eine fortgesetzte Serie an (versuchten) Entführungen. Da war von einer jungen Familie und ihrer zehnjährigen Tochter in London die Rede ...

Minerva schnappte nach Luft. Die Muggel waren nur entkommen, weil die Täter angeblich von einem plötzlichen Lichtblitz verscheucht worden waren – rasch schaufelte sie mit ihrer kleinen Holzgabel weitere Pommes und Fischstücke beiseite. Doch der Rest des Artikels fehlte.

»Phin – passt deine Zeitungsseite zu meiner?«

»Was?« Mit vollem Mund starrte er sie an.

»Hier ist ein Bericht über eine versuchte Entführung drauf, aber da fehlt was. Doch so wie es sich liest, könnte das mit Magie zu tun haben – und somit mit den Lestranges.«

Im Eiltempo leerten sie ihre Tüten und kratzten das Erbsenpüree mit besonders großer Sorgfalt von dem Zeitungspapier. Trotzdem war die Tinte an einigen Stellen verschmiert. Aber es reichte, um zu erkennen, dass ihre auseinandergerollten Papierstücke in der Tat eine Seite ergaben.

Der Artikel über die beinahe entführte Familie war frisch vom gestern Abend und ob der dürftigen Informationslage nicht sehr lang. Doch spätestens bei der Erwähnung einer schwarzhaarigen Frau mit markanter Stimme als Übeltäterin war klar, dass es um die Lestranges ging.

»Sie sind also auch hier.« Minerva knüllte die fettigen Papiere zusammen und warf sie in einen Mülleimer. »Und sie versuchen weiter, ihr Experiment durchzuziehen. Aber nicht mit mir!«

Elphinstone seufzte. »Pause vorbei. Lass uns Zauberstäbe kaufen gehen. Je eher, desto besser.«

 

Beim Betreten des schummrigen Ladens in der Winkelgasse schlug Minervas Herz wieder so doll wie bei ihrem letzten – und einzigen – Besuch vor zwanzig Jahren. Sie mochte erwachsen geworden sein, doch die Aufregung angesichts des Zauberstabkaufs hatte sich kein Deut verändert, ebenso wenig wie das Ladengeschäft. Elphinstones Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ging es ihm ähnlich.

Staubige Schachteln türmten sich in den Regalen zu beiden Seiten und gaben Minerva das Gefühl, jederzeit von einer Lawine aus Zauberstäben erwischt werden zu können. Da half es auch nichts, dass sie nicht mehr die kleine Elfjährige war, die aufgeregt mit dem Taufarmband an ihrem Handgelenk spielte.

Da das Innere des Geschäfts höher denn breiter ausgelegt war, reichte selbst ein Halbriese nicht bis an die obersten Regalbretter. Ollivanders war von dem verkratzten Parkett bis zu den schwebenden Zaubersphären unter der fernen Decke von einer derart unveränderlichen, altertümlichen Magie durchzogen, dass selbst die mächtigsten Zauberer und Hexen zwischen den Zauberstäben von Ehrfurcht gepackt wurden.

Elphinstone hatte nicht einmal die kleine Silberglocke auf dem Tresen geläutet, da kam Garrick Ollivander aus dem Hinterzimmer herangeglitten. Der Mann hatte etwas Geisthaftes an sich. Das hatte schon die junge Minerva gedacht und heute bestätigte sich diese Annahme nur. Aus wässrig blauen Augen musterte der Zauberstabmacher sie, dann schlug er den Spitzenaufschlag seines Ärmels zurück, griff einen Karton aus einem Regal hinter sich und platzierte diesen mit spitzen Fingern auf dem Tresen vor ihnen.

»Ah ja, Miss McGonagall und Mr Urquart«, urteilte er beunruhigend treffsicher, trotz ihrer Vorkehrungen, möglichst wenig wie sie selbst auszusehen. »Bedauerliche Geschichte. Albus hat mir von Ihrem Kommen berichtet. Wirklich sehr tragisch, von dem Verlust zweier meiner treuen Zauberstäbe zu erfahren ...« Mr Ollivander seufzte tief. »Ich erinnere mich noch gut an Sie beide und die Stäbe, die Sie zu ihrem Träger erwählten. Beide sehr treu, mit einer Veranlagung zu komplizierter Magie und doch sehr unterschiedlich in ihrer Ausgestaltung. Nun, wohl an – auch meine Arbeit ist nicht unfehlbar, geschweige denn für die Ewigkeit. Gelegentlich müssen wir Abschied von Altem nehmen, um uns weiterzuentwickeln.«

Während Mr Ollivander sprach, strich er mit den Händen über die Pappschachteln in den Regalen. Staubflocken wirbelten auf und tanzten in den wenigen Sonnenstrahlen, die sich durch das Schaufenster hereinverirrten. Weder Minerva noch Elphinstone wagten es, ein Wort zu sprechen. Sie zuckten lediglich zusammen, als ein verzaubertes Maßband auf sie zuflog. Es schlang sich um ihre ineinander verschränkten Hände und schien sich keinen Deut daran zu stören, von ihnen beiden gleichzeitig Maß zu nehmen.

Schließlich zog Mr Ollivander eine weitere Schachtel hervor und setzte sie neben der Ersten auf den Holztresen. Mit einem Schwung seines eigenen Zauberstabs lüpften sich die Deckel und enthüllen den auf Samt gebetteten Inhalt. »Bitte, versuchen Sie es.«

Minervas Mund war staubtrocken, als sie mit beiden Händen den Zauberstab ergriff, auf den Ollivander deutete. Würde es klappen? Hoffentlich! Nur mit welchem Spruch ...

»Einfach schwingen«, sagte Mr Ollivander sanftmütig, »machen Sie Ihren Geist frei und lassen die Magie entscheiden.«

Neben Minerva hielt auch Elphinstone seinen potentiellen neuen Zauberstab in der Hand. Gemeinsam hoben sie die Stäbe und vollführten einen zögerlichen ersten Schwung. Ein Luftstoß raste aus Minervas Versuchsobjekt zur Decke hinauf, sodass die Zaubersphären durcheinandergewirbelt wurden. Noch bevor sie ihren Blick von der Unordnung zurückwandte, hatte Elphinstone seinen Stab bereits zurück in die Schachtel gelegt. Doch Minerva entging nicht, dass das kindliche Funkeln aus seinen Augen entschwunden war.

»Nein, nicht ganz«, murmelte Mr Ollivander, mehr zu sich, als zu ihnen. »Lieber ein anderer Kern, ja ...«

Doch auch die zweite Auswahl war nicht die Richtige. Geschweige denn die Dritte. Minerva brachte noch mehrere kleine Unfälle zustande, die ihr vor lauter Scham über das vermeintliche Unvermögen die Röte ins Gesicht trieben. Das war allerdings harmlos im Vergleich zu Elphinstone, der erst dem dritten Zauberstab überhaupt ein müdes Puffen entlockte.

Als Mr Ollivander die nächsten Schachteln vor ihnen ausbreitete, zog er nur die Augenbrauen zusammen und vollführte mit dem Stab einen schnellen Kreis auf Hüfthöhe. Ein Stapel Rechnungen neben der Kasse flatterte müde an den Ecken. Rasch legte Elphinstone auch dieses Stück beiseite.

Am liebsten hätte Minerva ihren nächsten Zauberstab gar nicht ausprobiert, gleichwohl er ihr in seiner Ausgestaltung gefiel. Dunkles, beinahe schwarzes Holz formte den Hauptteil des Stabs, wohingegen der Griff tiefbraun war. In das kugelförmige Ende war ein durchsichtiger Kristall eingearbeitet, in dem sich das Licht brach. Viel eleganter als ihr erster Zauberstab und länger obendrein. Er lag ganz anders in der Hand – kräftiger, weniger biegsam. Und doch schien das warme Holz in ihren Griff hinein zu schmelzen, sich anzupassen.

»Drachenherzfaser, wie Ihr letzter Stab, aber von einer anderen Spezies. Dazu Tanne, ein relativ frisches Holz. Bestens geeignet für Verwandlungen, wenn ich das sagen darf. Doch ein sehr wankelmütiges Stück, das bereits viele potentielle Träger ... abgelehnt hat.«

Unter den durchdringenden Augen Mr Ollivanders versuchte Minerva, sich die Sorge um Elphinstone nicht anmerken zu lassen. Ihre Gedanken waren derart von dem möglichen Verlust seiner Zauberfertigkeiten abgelenkt, dass der goldene Funkenschauer, den sie mit ihrer Geste beschwor, sie mehr überraschte als den Zauberstabmeister. Wie der Dampf aus der Teetasse am Morgen wand das Funkenband sich durch die Luft und strich knapp an Elphinstones Haarspitzen vorüber.

»Hervorragend, ja, wenn ich das so sagen darf – eine exzellente Wahl.« Mr Ollivander lächelte nicht, aber seine Stimme vibrierte mit Zufriedenheit, als er Minerva zunickte. »Nun, das gibt mir eine Idee. Wo habe ich ... Hier – nein ...«

Entschuldigend schenkte Minerva Elphinstone ein kleines Lächeln. Er schaffte es nicht, sie mit seiner Erwiderung zu täuschen. Während Mr Ollivander durch die Regalreihen streifte, sah Minerva schuldbewusst auf ihren neuen Zauberstab hinab, der sie erwählt hatte. Sie wagte es nicht, ihn weiter auszuprobieren, obwohl die Neugierde in ihr brannte.

Endlich kehrte Mr Ollivander zurück. Mit einem aufmunternden Lächeln sah er Elphinstone an und überreichte ihm persönlich den Zauberstab, den er gesucht hatte. »Erle, ein trickreiches Holz, noch dazu eines meiner frühsten Experimente mit unterschiedlichen Kernen. Heute verwende ich ungern pflanzliche Kerne, aber ich denke, einen Versuch ist es wert, nachdem Ihre Begleiterin von einem ebenso wählerischen Stab ausgesucht wurde.«

Elphinstone nickte knapp, doch an seinen abgehackten Bewegungen erkannte Minerva, dass er sich weit hinter die Fassade des Beamten zurückgezogen hatte. Sie trat an seine Seite und schob ihre Finger wieder zwischen seine, während er mit der anderen den Zauberstab schwang.

Ein helles Licht brach aus der Stabspitze hervor, wie silbrig-weißer Mondschein. Unglauben stand Elphinstone ins Gesicht geschrieben. Er beschrieb einige Wirbel mit der Hand, denen das Zauberlicht artig folgte. Kleine Funken sprühten hie und da auf. Jetzt lächelte Mr Ollivander doch.

»Ah, sehen Sie? Für jeden Zauberstab findet sich ein Besitzer. Es lohnt sich immer wieder, auch Risiken einzugehen und abseits ausgetretener Pfade zu wandeln.«

»Sind Sie ... sicher?« Elphinstone zog eine Schlaufe mit dem Zauberstab durch die Luft und verfolgte die Spur aus Licht mit den Augen.

»Der Zauberstab ist sicher«, entgegnete Mr Ollivander ungerührt. »Er singt in ihrer Aura.«

Minerva hob ihren eigenen Zauberstab und erneut stieben die warmen Funken aus ihm empor. Die Lichter verbanden sich miteinander. Der ganze Laden füllte sich mit dem Lichtspiel, dessen Schatten an Decke und Wänden wie von Wasser gebrochen anmuteten. Ein zögerliches Lächeln zupfte an Elphinstones Mundwinkeln.

»Ich kann zaubern«, flüsterte er, als wäre er ein Elfjähriger, der zum ersten Mal hier stand.

Die Erleichterung, dass Bellatrix’ Experiment seine Magie nicht vernichtet hatte, breitete sich zusammen mit dem strahlenden Licht in Minerva aus. Ihr inneres Pflänzchen der Zuversicht trieb erste Blüten und sie drückte Elphinstones Hand, bis sein Lächeln zu voller Größe heranwuchs.

»Die Lestranges werden es noch bereuen, uns mit neuen Zauberstäben zusammengeführt zu haben.«

Böse Zungen

Mit einem Zauberstab im Ärmel sah die Winkelgasse gleich anders aus. Die Sonne schien kräftiger auf die Einkaufsstraße hinab, die Passanten lachten fröhlicher und Minerva fühlte sich endlich wieder wie ein Teil dieser Welt, anstelle einer bloßen Beobachterin. Die Anwesenheit des Stabes an ihrem Unterarm beruhigte sie – dabei hatte sie nur Minuten zuvor angenommen, dass ihr das Ausmaß des Verlustes längst bewusst gewesen war.

Anstatt den Blick auf die Pflastersteine gesenkt zu halten, wie noch auf dem Hinweg, besah sie nun die bunte Auslage der Geschäfte und überlegte, ob sie einen Abstecher zu Madam Malkins machen sollte. Ein frischer Umhang, dem nicht der Mief des Lestrange-Verlieses anhaftete, reizte sie sehr.

Ihr neugefundenes Interesse für die Winkelgasse ließ sich allerdings nicht gegen Elphinstones aufwiegen. Mit einem breiten Strahlen legte er einen Arm um ihre Schultern, während er ausführlich über die Preise in Halliburtons Herbologiehimmel herzog, den sie gerade passierten.

»Sieben Sickel für ein bisschen Substrat aus den Wäldern Transsilvaniens – da hat sich doch jemand bei den Preisen verschrieben! So wertvoll kann das bisschen Thestralkot darin gar nicht sein.«

Er gluckste leise und Minerva konnte nicht widerstehen, ihrerseits den Arm um seine Taille zu schlingen. »Auf einer Skala von T wie Troll bis O wie Ohnegleichen – wie sehr willst du diese besondere Erde für Miss Cuddles kaufen?«

»Ganz klar Troll, so einer muss man nämlich sein, um sieben Sickel dafür auszugeben.«

Minerva bohrte die Finger spielerisch in seine Seite und sah ihn mit ihrem besten ‚Minus zehn Hauspunkte‘-Blick an.

»Okay, okay ... ein solides E – wie ‚Elphinstone hat zu viel Geld‘ – ist es vielleicht doch. Aber auch nur das, ich habe ja nicht komplett den Verstand verloren.«

Schmunzelnd beschrieb Minerva eine Kehrtwende und dirigierte ihn zurück zu dem winzigen Laden, den man schon von Weitem riechen konnte. Als wenn das nicht reichen würde, war die Fassade in tiefem Dunkelgrün gestrichen worden, auf dem sich goldene Ranken wanden. Sprichwörtlich, denn die Malereien veränderten wie Schlangen immer wieder ihre Form.

Bei näherer Betrachtung handelte es sich bei dem Herbologiehimmel um einen schönen Laden – zumindest so lange, bis eine Pflanze nach Minervas Umhang schnappte. Warum das blütenlose Kraut ausgerechnet vampirartige Fangzähne sein Eigen nannte, konnte auch Elphinstone nicht erklären.

Minerva brachte sich und ihre Kleider vor hungrigen Mäulern in Sicherheit, indem sie Interesse an den Sukkulenten im Schaufenster vortäuschte, die deutlich friedlicher erschienen. In Wirklichkeit beobachtete sie allerdings das geschäftige Treiben in der Winkelgasse, während Elphinstone sich im hinteren Teil des Ladens in ein Verkaufsgespräch verwickeln ließ. Durch die Schaufensterscheibe – oder viel eher das kleine Glasstück, das nicht von den gigantischen Blättern einer Rankenpflanze in Beschlag genommen wurde – hatte Minerva perfekten Ausblick auf die zaubernde Kundschaft, ohne allzu offenbar zu starren.

Für einen Wochentag herrschte erstaunlich viel Verkehr in der magischen Einkaufsmeile. Da wurden riesige Tüten von Qualität für Quidditch vor sich hergetragen oder mitten auf dem Pflaster geschwätzt, als hätten die Leute alle Zeit der Welt und keine unerledigte Arbeit, die ihnen im Nacken saß ...

Minerva hielt die Luft an. Es handelte sich nicht um irgendeine Hexe, die dort in feinstem Zwirn stand und den Passanten mit ihren Gesprächspartnerinnen den Weg blockierte. Dieses blonde Haar, die sorgfältige Hochsteckfrisur, der elegante Umhang – das alles kannte sie. Es war Elladora Rosier.

Damit nicht genug: An ihrer Seite stand Druella Black, die Hand auf den Unterarm von Elphinstones ältester Schwester gelegt, ein schmales Lächeln im Gesicht. Die anderen zwei Hexen kannte Minerva nicht, allein ihre farbenfrohen Wollumhänge verrieten allerdings, dass sie eher nicht zum engeren Freundeskreis der beiden Reinblüterinnen – ganz standesgemäß in gedecktem Grau – gehörten. Dafür sahen sie einfach zu gewöhnlich aus.

Von weiter hinten im Dschungel des Herbologiehimmels hörte Minerva den Ladenbesitzer einen Vortrag über seine unterschiedlichen Erden halten, den Elphinstone mit zahlreichen Nachfragen durchbrach. Ohne sich umzudrehen, sah sie das altbekannte Strahlen auf Elphinstones Gesicht vor sich, allen Verwandlungszaubern darauf zum Trotz, während er stolzerfüllt von Miss Cuddles hohen Ansprüchen erzählte, denen das Substrat gerecht werden müsste.

Sie bräuchte sich nur räuspern, kurz seinen Namen sagen – vielleicht würde es bereits reichen, ihn anzusehen, damit er herkam und seine Schwester entdeckte. Und dann würde das Lächeln verschwinden. Obwohl Minervas Mund bereitwillig aufklappte, kam kein Ton heraus. So mussten sich die Raben fühlen, an denen ihre Schülerinnen und Schüler den Silencio-Zauber übten.

Egoistisch, sie war nichts als egoistisch, weil sie Elphinstones glückliche fünf Minuten nicht teilen wollte. Welches Recht hatte sie denn, ihm die Neuigkeit über die Haftentlassung seine Schwester zu verschweigen? Und doch tat sie genau das.

Schon ihr Ausflug an die Themse war viel zu schnell zu Ende gewesen. Nein, die Realität holte sie selbst auf Pumps rasch genug ein, das bewies das Paar Drachenlederschuhe an Elladoras Füßen. Also starrte Minerva reglos weiter auf die Straße hinaus und überließ Elphinstone seinen Preisverhandlungen.

Elladora hielt sich so gerade wie schon in der Arrestzelle, den Rücken durchgedrückt, das Kinn erhoben. Nichts an ihr erinnerte an die kurzzeitige Inhaftierung und Minerva kannte sie definitiv nicht lange genug, um beurteilen zu können, was sie eventuell hinter ihrer Fassade verbarg. Sie bemerkte allerdings, dass Elladora sich nicht regte, als Druella lachte und den anderen Hexen ein Pergament aus ihrer Handtasche reichte.

Wo Druella mit weitrechenden Gesten erzählte, stand Elladora steif wie ein Reisigbesen da, die Hände ineinander verschlungen, und trug nur das ein oder andere Nicken bei. Die fremden Hexen hingen ohnehin mehr an Druellas Lippen. Besonders die Größere von ihnen hatte ganz rote Wangen bekommen und kicherte immer wieder, woraufhin ihr ein mildes Lächeln zuteilwurde.

Sobald Druella die Hand hob, um sich von den beiden Gesprächspartnerinnen zu verabschieden, ging Elladora schnellen Schrittes die Gasse empor, aus Minervas Blickfeld. Eilig schloss Druella sich ihr an, die Lippen urplötzlich zu einem schmalen Strich gepresst.

Die anderen Hexen verharrten noch einen Moment, tuschelnd die Köpfe über Druellas Pergament zusammengesteckt. Eine hob die Schultern und machte eine wegwerfende Geste, doch die Größere schob das Blatt in ihr Einkaufsnetz. Ihr Blick zuckte noch einmal dorthin, wo Druella und Elladora verschwunden waren, dann folgte sie ihrer Freundin in die entgegengesetzte Richtung.

Einen Augenblick starrte Minerva nur auf das leere Kopfsteinpflaster. Fast kam es ihr vor wie ein schlechter Traum, dass Elladora dort gestanden hatte. Sie hatte nicht mal bemerkt, dass sie im Laufe der Beobachtung ihre Arme immer enger um den Oberkörper geschlungen hatte. Erst als sie nun geistesabwesend über eines der großen Blätter vor dem Fenster strich, wurde ihr bewusst, wie feucht und zerknittert der Umhangstoff unter ihren Fingern war.

Die Winkelgasse lag erneut friedlich vor ihr und Elphinstone diskutierte weiterhin über die Wirkung von Thestralexkrementen als Düngemittel. Wäre sie an seiner Seite geblieben, hätte sie nie mitbekommen, dass Druella nach wie vor ihr Unwesen trieb. Oder dass ihr Versuch, Elladora im Schutz des Ministeriums zu halten, fehlgeschlagen war. Aber die Welt wäre natürlich trotzdem nicht in Ordnung. Das würde sie so schnell nicht wieder sein.

 

Letztlich ließ Elphinstone sich nicht bloß um sieben Sickel, sondern gleich zwei schlappe Galleone erleichtern, weil er an irgendeinem Wundermittel für Wolllausbefall nicht vorbeikam. Irgendwer müsse ja Archies Topfpflanzen retten, murmelte er, sobald der Verkäufer ihm den Preis nannte.

Das zufriedene Lächeln auf Elphinstones Gesicht sorgte dafür, dass sich alles in Minervas Brust zusammenzog, als sie den Herbologiehimmel verließen. Voller Stolz klärte er sie über die unterschiedlichen Erden auf, zum ersten Mal seit langem wirklich unbefangen. Doch sie konnte nur daran denken, wie sie ihm am besten von Elladora berichten sollte.

Elphinstone war gerade dabei, seine Errungenschaften in die Manteltasche zu stopfen, da blieb Minerva ein zweites Mal innerhalb kurzer Zeit der Atem stocken. Keine zehn Meter entfernt kam ein anderer Bekannter das Kopfsteinpflaster hinaufgeschlendert.

Natürlich war Gideon Rosier nicht weit, wenn Elladora und Druella hier waren. In seiner ledernen Aktentasche trug er vermutlich genauso die Pamphlete für seinen Kult bei sich und lauerte nur darauf, diese arglosen Passanten unterzujubeln.

Minerva hatte ihren neuerworbenen Zauberstab schon zur Hälfte aus dem Ärmel gezogen, als sie erinnerte, dass Rosier sie gar nicht erkennen konnte. Erst vor dem Betreten der Winkelgasse hatte sie ihre Verwandlungszauber aufgefrischt. Mitsamt einer hellbraunen Kurzhaarfrisur und Sommersprossen sah sie mehr wie Robbies Frau Anne aus, während Elphinstones Haar deutlich dunkler und vor allem lockiger war. Sogar die Fluchspuren waren unter einer Schicht von Eileans Make-up verschwunden, nachdem sie sich nicht durch Magie verbergen ließen.

Trotzdem konnte Minerva das Gefühl nicht abschütteln, dass Rosier sie geradewegs anstarrte. Sie sah zu Elphinstone, der mit dem Rücken zu seinem Schwager stand, seine Hand in einer stummen Einladung nach ihr ausgestreckt.

»Min? Alles gut?«

Für einen Sekundenbruchteil überlegte sie ernstlich, ihn an sich zu ziehen und zu küssen, bis Rosier an ihnen vorbei wäre. Die Versuchung, sich in den verwirrenden Gefühlen Elphinstone gegenüber zu verlieren, war groß. Aber dann gewann ihre Beherrschung die Oberhand, sodass sie sich bloß bei ihm unterhakte.

»Rosier auf zwölf Uhr, hinter dir«, flüsterte sie.

Zum Glück besaß Elphinstone die Geistesgegenwart, sich nicht prompt umzudrehen. Er sah nur zu den Schaufensterscheiben neben ihnen, um einen Blick auf seinen Schwager zu erhaschen. »Der hat wohl auch nichts besseres zu tun, seit er Ella los ist ...«

»Ah Phin ...« Minerva kniff die Lippen zusammen und drückte seinen Arm fester. »Er ist nicht der Einzige, der hier ist. Als du eingekauft hast, habe ich Druella gesehen ... in Begleitung von Elladora.«

Etwas Dunkles glitt durch Elphinstones Augen. Zum Glück schaffte er es, seine Stimme trotz der Überraschung flach zu halten. »Ella ist ... frei?«

Minervas Herz brach ein Stück mehr. »Sieht so aus, als wären Galleonen ausnahmsweise stärker als Albus’ Argumente. Es tut mir so leid –«

»Nein. Du kannst nichts dafür. Aber lass uns nicht hier darüber reden.«

Das Lächeln schmolz von Elphinstones Zügen, doch er schlug wieder seinen Plauderton an, in dem er sie fragte, wohin sie als Nächstes wolle. Wie bei einem gewöhnlichen Paar, das alltägliche Einkäufe erledigte. Der Zauber eines unbeschwerten Tages war jedoch fort.

Sie gingen einige langsame Schritte, betrachteten die Schaufenster und warteten darauf, dass Rosier sie endlich überholte. Den Gefallen tat er ihnen allerdings nicht. Er näherte sich, bis er knapp zwei Meter hinter ihnen lief, aber da blieb er. Hartnäckig. Geschlagene zehn Minuten blätterte Minerva durch die Mängelexemplare vor Flourish & Blotts, während derer Rosier seinerseits die Angebote in der Magischen Menagiere nebenan studierte.

Nervös schlug Minerva ein von Doxys angeknabbertes Exemplar von Im Zauberbann der Saphiraugen – wer dachte sich bloß solche Schundtitel aus? – zu. »Bin ich wirklich nicht zu erkennen?«

Elphinstone drückte ihre Schulter. »Natürlich nicht. Da würde ich mir eher Sorgen machen, dass meine Verwandlungen nicht so stark sind. Wenn ich nicht aus jahrelanger Erfahrung wüsste, dass das deine kritische Stirnfalte ist, würde ich nie auf die Idee kommen, dass du vor mir stehst. Du weißt, dass du eine Meisterin deines Faches bist.«

Minerva seufzte, doch sie konnte nichts gegen das kleine Zucken ihrer Mundwinkel tun. »Danke. Aber deine Verwandlungen sind genauso gut. So gut, dass es etwas unheimlich ist, dich länger anzusehen.«

Sie wandte sich wieder den Büchern zu. In der Reflexion der Schaufensterscheibe dahinter sah sie Rosier, der abwechselnd sie und die zwei Zauberer auf der Bank vor einer Apotheke beobachtete. Sonst eilten nur zielgerichtete Passanten vorbei.

»Meinst du, er hält immer noch Ausschau nach neuen Rekruten für seine Sache? Ich habe vorhin durchs Fenster gesehen, wie Druella irgendeiner Hexe ein Pergament zugesteckt hat ...«

»Hmm ...« Elphinstone wiegte nachdenklich den Kopf. »Möglich, dass er und seine Spießgesellen sich jetzt darauf verlegt haben, die Leute direkt anzusprechen, nachdem das Ministerium – oder eher Mulciber – ihn offiziell abgemahnt hat. Wäre interessant zu wissen, was die neue Strategie ist. Vor allem, wenn er Ella da mit reinzieht ...«

Ausnahmsweise war es Elphinstone, der sich auf die Lippe biss. Minervas Herz fühlte sich an, als wäre das imaginäre Pflaster, das alle Risse darin zusammenhielt, ruckartig abgezogen worden.

»Ich helfe dir, sie da rauszuholen. Das ist ein Versprechen.«

Einen Moment sagte Elphinstone nichts, schluckte nur und sah auf den lädierten Einband eines Mängelexemplars hinab. »Vielleicht kriegen wir es ja hin, dass er uns anspricht. Ich will mich zwar wirklich nicht bei ihm anbiedern, aber wir sind ja gerade nicht wir selbst.« Er räusperte sich. »Es tut mir jetzt schon leid, was ich gleich sagen werde.«

Mit diesen Worten schnappte er den Schundroman aus ihrer Hand und blätterte zur Rückseite, wo ein bewegtes Porträt der Autorin prangte. Auf seinem Gesicht breitete sich ein grimmiges Lächeln aus.

»Unfassbar!«, verkündete er einen Tick zu laut. »Bald verkaufen die hier nur noch Bücher, die von Muggelstämmigen geschrieben sind! Dabei können die nicht einmal vernünftig schreiben. Hör dir das nur an: Edward hat Lyra verzaubert – obwohl er ein Muggel ist. Ein Blick aus diesen saphirblauen Augen und sie ist ihm verfallen.« Elphinstone schnaubte und warf das Buch dramatisch auf den Grabbeltisch. »Schund! Besser, das fliegt endgültig aus dem Sortiment, sonst geht unsere Gesellschaft noch den Bach hinunter.«

Minerva biss sich auf die Innenseite der Wange, um ein zittriges Auflachen zu unterdrücken. Wenn sie Elphinstone nicht so gut kennen würde, hätte die Überzeugung, mit der er den Choleriker gab, sie erschreckt. Er packte sie gar an der Hand und zog sie von der Auslage weg, in einem fort darüber meckernd, dass sie diesen Laden besser meiden sollten.

Das schien Rosier den nötigen Schubs zu verpassen, denn er löste sich von den Körben voller Eulenkekse vor der Menagerie und folgte ihnen erneut. Sie bummelten noch ein wenig durch die Gasse, ehe sie an einem kleinen Zeitungsstand Halt machten. Die aktuellen Schlagzeilen lieferten Elphinstone genügend Munition, ein paar weitere bedenkliche Aussagen anzubringen.

Es dauerte keine fünf Minuten, da hatte Rosier sich ebenfalls an die von bunten Titelseiten gepflasterte Hausfassade angeschlichen. Er hatte echtes Talent darin, sich wie zufällig neben Elphinstone zu stellen und die Fachzeitschriften zu studieren. Natürlich griff er zu derselben Ausgabe wie sein Schwager.

»Wirklich eine Schande, dass selbst Verwandlung Heute schon Artikel von Muggelstämmigen abdruckt«, murmelte Rosier halblaut, ohne Minerva oder Elphinstone eines Blickes zu würdigen. »Das ist doch wirklich ein Verrat am hohen Standard.«

Wie ein Niffler auf Gold sprang Elphinstone darauf an. »Mein Reden! Die haben einfach nicht dieselben Fähigkeiten, das liegt in der Natur der Sache, dass ihr magisches Potential kleiner ist. So jemand kann doch niemanden lehren!«

Erst jetzt hob Rosier den Kopf. Ein schmieriges Lächeln zierte seine Lippen. Am liebsten hätte Minerva ihren neuen Zauberstab an ihm ausprobiert. Ihn in einen Regenwurm verwandelt. Seine Zunge verknotet. Stattdessen lachte sie ebenso affektiert wie Druella.

»Ein Glück haben wir keine Kinder in Hogwarts! Dort zählt reines Blut auch immer weniger, unter Schülern wie Lehrern. Eine Schande. Aber was will man von Dumbledore auch erwarten, der alte Narr ist schließlich ein richtiger Muggelliebhaber.«

Es war ein Wunder, dass Minerva nicht über ihre eigenen Worte stolperte. Doch Rosier schien von ihrem inneren Ekel nichts zu merken. Vielmehr nickte er ihr bekräftigend zu.

»Wenigstens gibt es noch verständige Hexen und Zauberer, die vernünftig denken, so wie Sie. Wissen Sie was? Ich bewundere Ihren Mut, diese Gedanken auszusprechen. Zum Glück werden es jeden Tag mehr, die diese Ansichten teilen. Das Ministerium verschleiert gerne, wie das Volk wirklich denkt, und stellt es so hin, als wäre die Mehrheit pro Muggel eingestellt – aber wir wissen doch alle, dass das nicht die Wahrheit ist.«

»Ist das so?« Elphinstone zog die Stirn kraus. »Ich habe das Gefühl, man darf gar nichts mehr sagen. All die Proteste, die verboten wurden – sogar inhaftiert wurden einige! Darauf kann ich verzichten ...«

»Oh nein, nein, glauben Sie mir – Sie sind nicht alleine! Ganz davon ab, dass all diese Verhaftungen nicht vom Recht gedeckt sind, das sieht man daran, wie viele das Ministerium umgehend auf freien Fuß setzen musste. Die wissen genau, dass sie keine Handhabe haben. Also, falls es Sie interessiert, einmal die richtigen Leute kennenzulernen, hätte ich da vielleicht etwas für Sie.«

»Richtige Leute ...?«

»Diejenigen, denen auch etwas am Fortbestand unseres magischen – reinen! – Blutes gelegen ist. Die im Gegensatz zum Ministerium wirklich etwas bewegen können. Wenn Sie sich trauen ...«

An Minervas Rücken ballte Elphinstone eine Hand zur Faust, während er Rosier ein quälend falsches Lächeln schenkte. »Reden Sie von etwas Illegalem?«

»Mitnichten. Das Ministerium kann einen nicht dafür verhaften, sich eine Rede anzuhören. Und mehr müssen Sie ja gar nicht tun. Sie können einfach kommen und sich informieren lassen. Ganz unverbindlich. Wenn es Ihnen nicht gefällt, können Sie gehen.«

»Eine Rede? Von wem?«

In Rosiers Augen lag ein frohlockender Ausdruck. Er wusste, dass er den sprichwörtlichen Süßwasserplimpy an der Angel hatte. Schon beförderte er ein Pergament zutage. »Lord Voldemort wird allen Interessierten seine Vision für ein stärkeres magisches Großbritannien zeigen. Der Rest steht hier.«

Mit erhobenen Augenbrauen griff Elphinstone nach dem Blatt, doch Rosier ließ noch nicht los.

»Allerdings sollten Sie ... nicht den Falschen von diesem Treffen erzählen. Bewahren Sie es lieber wie ein Geheimnis. Sie wollen doch nicht, dass Verräter des Ministeriums unter den Gästen sind. Das könnte sonst unangenehm für Sie werden.«

Elphinstones Lachen war so ehrlich, dass Minerva nicht anders konnte und mit einfiel. Rosier hatte wirklich keine Ahnung, mit wem er redete.

»Würde uns im Traum nicht einfallen.«

»Gut, gut, das habe ich auch nicht erwartet.« Rosier nickte ihnen erneut zu. »Dann sehen wir uns hoffentlich bald.«

Ein ekelhafter Geschmack nach abgestandenem Zaubertrank huschte über Minervas Zunge und zusammen mit einer Verabschiedung schluckte sie ihn hinunter. Sobald Rosier außer Reichweite war, stieß sie erleichtert die Luft aus.

»Ich wünschte nicht. Das war schon unangenehm genug.«

»Mindestens«, seufzte Elphinstone. »Und falls wir versuchen, jemandem von dem Treffen zu erzählen – auf dem Pergament liegt ein Zungenfesselfluch. Das mit dem ‚unangenehm‘ meinte der Arsch also wirklich ernst.«

Er reichte ihr mit spitzen Fingern das Pergament, als wäre es genauso fangzähnig wie das Kraut im Herbologiehimmel. Darauf befanden sich kaum Informationen. Nur ein Datum in zwei Tagen und eine Flohadresse unter dem Zeichen des Totenschädels mit Schlangenzunge.

Ein eisiger Schauer rann Minerva über den Rücken. Alles daran schien ihr ‚Falle‘ zu schreien, doch Rosier hatte sie schließlich nicht erkannt. Sie müssten nur ihre Tarnung erhalten ...

»Wir gehen dahin, ja? Für deine Schwester.« Minerva räusperte sich. »Irgendetwas müssen wir tun. Das ist genauso wichtig wie alles andere.«

Unglücklich sah Elphinstone die Winkelgasse entlang. Minerva ahnte, dass er hoffte, wenigstens einen Blick auf Elladora erhaschen zu können. Mit Robbie empfand sie schließlich ebenso, aber diesem ging es in den Mauern von Gringotts mit großer Wahrscheinlichkeit besser als Elladora, eingekesselt zwischen ihrem jähzornigen Ehemann und dessen berechnender Schwester.

»Ich fürchte, ich sehe keinen anderen Weg«, murmelte Elphinstone. »Inzwischen sind wir ja echte Profis darin, auf die Schnelle einen riskanten Plan zu entwickeln ... und dieses Mal ist es persönlich.«

Vom (un)reinen Erbe

Der nächste Morgen kam mit feinem Nieselregen einher. Die Eule, die pünktlich zum Frühstück ans Küchenfenster des Urquart-Anwesens klopfte, schüttelte ihr nasses Gefieder, sodass es spritzte, bevor sie ihr Bein mit Archies Brief ausstreckte. Das limonengrüne Wappen St. Mungos war ein unverkennbarer Farbfleck.

Schmunzelnd verfolgte Minerva, wie Elphinstone den Vogel leise, aber liebevoll schalt. Ein Eulenkeks und Schnabelkraulen brachten das Tier davon ab, seinem Unmut ein weiteres Mal Luft zu machen, und mit einem Schwung von Elphinstones Zauberstab verschwanden die Wassertropfen, die bis auf den Tisch zu ihrer Teetasse gespritzt waren.

Eine einfache Geste, doch dass er Erfolg dabei hatte, wärmte ihr Herz. Den gestrigen Abend hatten sie beide stundenlang unter Eileans Aufsicht damit verbracht, ihre neuen Zauberstäbe auszuprobieren. Auf Anraten Ollivanders sollten sie durch simple Zauberkunst eine Verbindung zu ihrem Werkzeug aufbauen. Offenbar war es die eine Sache, im Alter von Elf einen Stab zu erhalten, mit dem man gemeinsam lernte und aufwuchs, aber eine ganz andere, Jahrzehnte später mit einem neuen Kern zusammenzuarbeiten.

In der Folge waren Minervas erste Zauber deutlich über das Ziel hinausgeschossen, als würde der Zauberstab sich besonders fleißig erweisen wollen. Aus der harmlosen Fontäne, die sie heraufzubeschwören gedacht hatte, war eine zehn Meter hohe Wassersäule erwachsen, die den armen Nessie zu Tode erschreckt hatte. Doch mit etwas gutem Zureden – sich selbst oder dem Stab, da war sie unsicher – hatte es zusehends mehr Spaß bereitet. Nach ein paar Übungsrunden waren ihr die Zauber geradezu federleicht aus der Hand geflogen. Selten hatte es sich derart befreiend angefühlt, den Zauberstab zu schwingen und Magie zu erschaffen.

Keine Duellzauber; keine Angriffs- oder Verteidigungsflüche. Nur pure Wunder. Schwebezauber und Verwandlungen, heraufbeschworene Windströme und erblühende Pflanzen. Schöne, reine Magie, die niemanden verletzte.

Minerva wusste, dass sie sich diese Ignoranz nicht leisten konnte. Sie brauchte Flüche und Gegenflüche; musste gewidmet sein für das, was die Lestranges – und andere – ihr entgegensetzen würden. Die Situation im Land machte es unabkömmlich. Aber sie hatte es gestern nicht über sich gebracht, dem Zauberstab nur Stunden nach dem Kennenlernen solch finstere Magie zu entlocken. Geschweige denn, ihn zur Übung gegen Eilean oder gar Elphinstone zu erheben. Letzterer hatte ohnehin mehr zu kämpfen als sie.

Die Bemühungen, seine Magie zu kontrollieren, hatten Elphinstone im Gegensatz zu ihr Schweißperlen auf die Stirn getrieben. Seine daraus resultierende Verzweiflung hatte ihn wiederum zu immer energischeren Bewegungen verleitet, die natürlich nicht das gewünschte Ergebnis brachten. Und jeder Erfolg ihrerseits hatte seinen Frust weiter angeheizt, bis nichts von der Freude über den neuen Zauberstab verblieben war.

Erst nachdem Eilean dazu übergegangen war, Nessie in sicherem Abstand sein Abendbrot zu servieren, hatte Elphinstone sich überreden lassen, es unter Minervas Anleitung auf die Schulbuchart zu versuchen. Damit waren ihm zumindest substanzielle Zauber gelungen, gleichwohl es denen an der Finesse fehlte, zu der er sonst imstande war – wie Minerva nur zu gut wusste. Das Schlimmste war, dass sie keine Erklärung dafür hatte, warum es ihm nicht gelang. Er befolgte ihre Anweisungen peinlich genau und trotzdem schien ... etwas zu fehlen.

Ausgerechnet in dieser Situation hatte Minerva sich ein ums andere Mal dabei ertappt, wie sie Elphinstone angesehen hatte, einen einzigen Gedanken im Kopf: Wie gerne sie ihn wieder küssen wollte. Die Spiegelung bunter Zauberfunken in seinen Augen hatte ihr Herz schneller schlagen lassen – und das nicht bloß vor Freude, weil ihm dieser Zauber gelungen war. Das, was sie ablenkte, waren letztlich Eileans Nähe und die schwarzen Fluchspuren, die unaufhaltsam Elphinstones Hals emporkrochen.

Dennoch war sie mehr als einmal versucht gewesen, das Gespräch zu beginnen. Das Ungesagte zwischen ihnen musste früher oder später besprochen werden, dessen war sie bewusst – und trotzdem fand sie nicht die Überwindung, den lauen Frühherbstabend damit zu stören. Mit Worten, die sie nicht einmal zu Ende gedacht, geschweige denn gefunden hatte. Was sollte sie Elphinstone sagen?

Er war schon so lange ihr Freund. Ihr bester Freund. Und gleichzeitig besetzte er einen Platz in ihrem Herzen, den man mit jenem Pomonas nicht ansatzweise vergleichen konnte.

Damit war er nicht der Erste, aber gegenwärtig der Einzige. Dougal hatte sie bereits verloren. Dem hatte sie sich versprochen – und ihr Wort gebrochen. Ihn verletzt. Von sich gestoßen. Die letzte Brücke zu diesem wundervollen Menschen für immer zerstört. Ein weiteres Mal konnte sie einen solchen Verlust nicht ertragen.

Ohnehin verdiente sie keine Lie-

Heißer Tee tropfte über ihre Finger. Erstarrt blinzelte Minerva, bis sie wieder die Tischplatte vor sich fokussierte, mitsamt dem Porzellantässchen auf seinem passend geblümten Unterteller. Durch das Muster schottischer Disteln zog sich ein feiner Riss, aus dem beständig Tropfen quollen und über ihre Hand rannen.

Ein paar Sekunden zu lang sah sie dabei zu, wie die Teetropfen eine heiße, rote Spur auf ihren Fingern hinterließen. Erst dann zog sie diese langsam von dem gesprungenen Porzellan zurück. Elphinstone las noch Archies Brief und bekam nicht mit, dass sie die Tasse mit einem wortlosen Reparo wieder zusammensetzte. Zum Glück.

Dass Minerva ihre Magie so wenig unter Kontrolle hatte, war ebenso neu wie der Krieg von Herz und Kopf. Und sie mochte es kein Stück. Sicher, der blaue Schutzschild im Anwesen der Lestranges hatte Elphinstone – und ihr – das Leben gerettet, aber Teetassen zerspringen lassen? Das war ... überzogen. Kitschig, dramatisch, larmoyant.

Und doch war sie eine Frau, die Liebesbriefe unter ihrem Bett aufbewahrte, Jahr für Jahr Tränen um den Mann vergoss, den sie verstoßen hatte, und die seit Ewigkeiten über die Heiratsanträge ihres besten Freundes scherzte, anstatt deren Bedeutung zu hinterfragen. Sie war eine hoffnungslose Selbstbetrügerin. Und endlos dankbar für Elphinstone, der ihren inneren Kampf einfach durchbrach.

»Minerva? Archie bittet uns, heute gegen zwölf ins Hospital zu kommen. Dann ist Pause und die Angestellten sind mit dem Mittagessen beschäftigt. Er muss uns dringend etwas zeigen. Wir sollen uns einfach wieder in die gleichen Rollen verwandeln wie gestern, schreibt er.«

Minerva trocknete ihre Finger beiläufig an einer Serviette. »Klingt gut. Sollen wir bis dahin noch weiter üben?«

»Ah ... dein Unterricht in allen Ehren, aber ich würde lieber in Ruhe mit Eilean sprechen. Das hätte ich gestern schon tun sollen. Sie verdient es, dass ich wenigstens einmal vernünftig mit ihr über Ella und alles andere spreche, bevor es die große Runde macht.«

Gerade so unterdrückte Minerva ein Seufzen. Natürlich hatte Elphinstone recht, auch wenn sie es sich anders wünschte. Doch Elladora war höchstoffiziell wieder frei. Es stand zwischen den diversen Ankündigungen im Innenteil des Tagespropheten, dass das Gamot ihre Ingewahrsamnahme nicht länger aufrechterhalten konnte. Entgegen allen Bemühungen von Albus Dumbledore.

Dessen Eule kam keine fünf Minuten, nachdem Elphinstone Archies Vogel mit ihrer Zusage zurückgeschickt hatte. Wie immer hatte Albus sich kurz gefasst. Er bedankte sich bei Minerva für die Informationen zu den Umtrieben der Lestranges und versicherte ihr, dass er einige alte Bekannte aktiviert hatte, welche die Bewachung aller muggelgeborenen Kinder außerhalb Hogwarts übernehmen würden.

Ein paar Zweifel hatte Minerva, ob Dädalus Diggel die beste Wahl dafür war, ahnungslose Muggelfamilien zu beschützen, aber wenn Albus diesem vertraute, würde sie ihm wohl oder übel glauben, dass der exzentrische kleine Zauberer diese Aufgabe ernst nahm.

Von dem anstehenden Treffen mit Riddles Anhängern hatte sie Albus in ihrem Brief leider nicht berichten können, sodass es hier keine guten Neuigkeiten gab. Sie hatte sich den Kopf über diverse Formulierungen zerbrochen, die den Zungenverschluckfluch umgehen könnten, doch am Ende aufgeben müssen. Der Fluch war wasserdicht, wie sich spätestens gezeigt hatte, als ihre Feder das Pergament mit Tintenflecken verschandelte, weil ihre Hand bereits bei dem Gedanken an die Worte so sehr ins Zittern geriet.

Es würde reichen müssen, wenn sie und Elphinstone alleine bei dem Treffen aufkreuzten. Dass Albus überhaupt so schnell Leute gefunden hatte, um die muggelgeborenen Kinder im Land zu schützen, war immerhin ein Anfang.

 

Angesichts des Nieselregens und der doch eher knapp bemessenen Zeit stand für heute kein Flug nach London in Aussicht. Fürs Apparieren war es eine zu kräftezehrende Strecke und so blieb Flohpulver als vernünftigstes Reisemittel.

Nur ein paar Sekunden, dachte Minerva angestrengt. Ein paar Sekunden Enge, ein wenig kitzelnde grüne Flammen und dann wären sie im St. Mungo. Sie hatte diese Art Reise schon hundert Mal angetreten, ohne darüber nachzudenken.

Der offene Kamin im Wohnzimmer des Urquart-Anwesens war sogar ein besonders prächtiges Exemplar – kein schmaler Stadtkamin, sondern eine ausladende, mittelalterliche Variante. Genug Platz für zwei oder auch vier Erwachsene nebeneinander. Und trotzdem verklumpte das Flohpulver bei diesem Anblick in ihrer schwitzigen Handfläche.

Enge und grüne Flammen. Für ein paar Sekunden. Es war nicht das glitzernde Pulver in ihrer Hand, das juckte. Sondern die unzähligen verheilten Brandblasen. Egal wie sehr sie es auch versuchte, Minerva konnte den Gedanken an ihr Nahtoderlebnis im Anwesen der Lestranges nicht verdrängen.

»Gemeinsam?« Elphinstone trat an ihre Seite und richtete den Kragen eines Umhanges, den Lior ihm geliehen hatte.

»Bitte.«

»Sieh mich an, nicht die Flammen, okay?«

Elphinstones Finger schoben sich zwischen ihre und am liebsten hätte sie gar nichts mehr gesehen. Da lag so viel in seinem Blick, dass sie sich dafür hasste, immerzu an ihren Worten zu verzweifeln. Auch jetzt wieder. Es gab genug, was sie sagen sollte, doch sie schwieg und versuchte zu ignorieren, wie erst auf Elphinstones zweiten Zauberstabschwenk orangene Flammen im Kamin vor ihr aufloderten.

»Wir können das«, murmelte er leise und ergriff ihre Hand mit dem Flohpulver. Strich über ihre Fingerrücken, bis sich ihre eiserne Umklammerung endlich löste und das Pulver seinen Weg ins Feuer fand.

Und sie sagte immer noch nichts, als er sie hinter sich in die grünen Flammen zog, seine Arme um ihre Taille schlang und die Adresse des St. Mungo aufsagte. Ohne die Augen von ihr zu lösen. Sie lehnte die Wange an seine Schulter und hasste es, dass alles nach Asche stank, genauso wie sie sie seine Anwesenheit liebte. Die Flammen loderten auf – zusammen mit der Versuchung, einen erneuten Kuss hier zu wagen, in diesem Wirbel aus Magie, der sie an einen anderen Ort zog, und in dem niemand außer ihnen beiden existierte.

So rasch, wie der Gedanke gekommen war, versank er auch in dem Strudel vorbeiziehender Kaminfeuer. Alles, was Minervas Lippen streifte, war wildes Flohfeuer. Nur ein Blinzeln später sah sie das Foyer des Hospitals vor sich. Stimmengewirr drang aus dem Wartebereich an ihre Ohren. Egal, was eben gewesen war, diese Gelegenheit gehörte der Vergangenheit an. Ein Knistern erinnerte sie an das Feuer zu ihren Füßen und so schnell es ging, stolperte sie aus dem engen Ankunftskamin.

Elphinstone folgte ihr dicht auf und beseitigte mit einem Auffrischungszauber die gröbsten Aschespuren auf ihren Kleidern. Wie selbstverständlich ergriff er anschließend wieder ihre Hand, auf deren Rücken sein Daumen erneut beruhigende Kreise beschrieb. Falls er bemerkt hatte, wie sie sich im Feuer nach ihm gestreckt hatte, so zeigte er es nicht.

Archie wartete bereits neben dem Empfang auf sie. Bei ihrem Anblick setzte er sich umgehend in Bewegung. »Hier entlang«, raunte er ihnen ohne Begrüßung zu. »Das Zeitfenster ist nicht gerade groß und ich würde Überraschungen gerne vermeiden.«

Anstatt nach oben führte er sie durch eine verriegelte Tür in ein zweites Treppenhaus, das dem Personal vorbehalten war. Im Gegensatz zum öffentlichen Bereich gab es hier eine Kellertreppe, die Archie ansteuerte.

»Ihr wart beide schon hier, oder?«, fragte er leise.

Stumm nickten sowohl Minerva als auch Elphinstone.

Die Gelegenheiten, bei denen Minerva diese Treppe hinabgestiegen war, konnte sie an einer Hand abzählen. Drei Mal in ihrer Funktion der Nachwuchsstrafverfolgerin, jedes Mal mit einem Knoten im Bauch. Die Rechtsmedizin im Keller war der eine Ort des Hospitals, den sie noch weniger leiden konnte als die Krankenstationen.

Elphinstone musste diesen Weg viel öfter genommen haben und trotzdem wurde seine Hand in ihrer schwitzig. Irgendwo war es beruhigend, dass er sich in all den Jahren nicht hieran gewöhnt hatte. Archies Gelassenheit erschien zwar stark, aber nicht erstrebenswert für Minerva.

Schon nach der ersten Treppenwindung wurde die Luft irgendwie ... süßlich und schwer von den unzähligen Desinfektionszaubern. Kühlzauber hielten die Temperatur in den unteren Stockwerken beständig niedrig, sodass Minerva ein Schauer über den Rücken lief, je tiefer sie kamen. Die Erinnerung an den Keller der Lestranges machte den Weg nur schlimmer.

»Ich weiß nicht, welchen meiner Kollegen ich in dieser Sache trauen kann«, erklärte Archie, während er sie durch das verwinkelte Treppenhaus führte, »deswegen müssen wir das hier unbeobachtet machen. Ich habe mich nämlich auf der Notfallstation umgesehen und es hat tatsächlich jemand Mulcibers Gedächtnis gelöscht. Und nicht nur seines. Sämtliche Muggel, die ihr gerettet habt – nichts. Sie erinnern sich an überhaupt nichts. Da war jemand ganz gründlich.«

»Bist du dir sicher?« Elphinstone tastete nach dem Zauberstab in seinem Umhang. »Kann Mulciber dich nicht irgendwie ... getäuscht haben? Du weißt, dass er ein Experte für Gedächtniszauber ist.«

»Dann müsste er sich selber obliviiert haben. Und für derart abgebrüht halte ich ihn dann doch nicht. Nein, da hat jemand anderes seine Finger im Spiel. Womöglich jemand unter den Heilern, die vom Ministerium vor Ort geschickt wurden. So oder so, wir müssen uns beeilen.«

Sie erreichten den Flur am Ende der Treppe, ein langgestreckter, hellgrün gefliester Schlauch, gesäumt von schweren Eisentüren. Der Geruch war überwältigend. Am liebsten hätte Minerva einen Kopfblasenzauber angewendet. Sie musste die Augen nicht einmal schließen, damit Bilder der letzten Tage in ihr aufstiegen.

Von einem leichten Schwindel erfasst hielt sie inne und drückte die Finger an ihre Stirn. Elphinstone bemerkte ihr Unwohlsein und blieb ebenfalls stehen. Er brauchte nichts sagen, sie wusste, dass er an das Gleiche dachte.

Archie war bereits einige Schritte weiter den Flur hinab, wobei Zaubersphären unter der Decke aufflammten, doch Elphinstone zog Minerva in seine Arme und drückte seine Lippen auf ihren Haaransatz.

»Wenn das hier vorbei ist, gönnen wir uns einen ganzen Honigkuchen bei Madam Puddifoots. Oder nein, am besten zwei.«

In einem Kichern brach sich Minervas Anspannung Bahn. »Hattest du nicht vor ein paar Tagen noch Angst, die Dekoration in dem Laden könnte zeitnah jemanden umbringen?«

»Ach, der Kuchen ist es wert.«

Minerva verbarg ihr Lächeln in Elphinstones Umhang. Entgegen aller Gewohnheit schluckte sie den bissigen Kommentar dazu, ob sie beim Genuss des Honigkuchens einen elften Heiratsantrag zu befürchten hätte, hinunter.

Als sie sich schweren Herzens aus der Umarmung löste, stellte sie fest, dass Archie stehen geblieben war und sie musterte. Ihre Hand immer noch in Elphinstones, holte sie rasch auf, doch Archie ging nicht weiter.

»Ich hoffe, ihr könnt mir die Indiskretion nachsehen, aber ... seid ihr eigentlich ... na ja, ein Paar?«

Zumindest besaß Archie die Verlegenheit, unmittelbar nach der Frage fortzusehen.

Elphinstone drückte derweil Minervas Hand fester. Sein Blick zuckte zu ihr, als käme es alleine auf sie an. Und einmal mehr verschanzte sie sich hinter feigem Schweigen. Nur die Röte in ihren Wangen sprach für sie.

»So würde ich das nicht ausdrücken, nein«, murmelte Elphinstone schließlich an seine Schuhspitzen gewandt.

Diese Antwort kam zögerlich und trotzdem zu schnell für Minervas Geschmack.

»Okay, ähm – ich wollte euch auch gar nicht in eine unangenehme Situation bringen. Entschuldigt.« Archie ging gesenkten Kopfes einige Schritte weiter, wo er sich vor einer der Eisentüren postierte. »Ich wollte nur sichergehen, dass ich heute keine falschen Annahmen treffe«, erklärte er und zog eine goldene Marke aus seinem Umhang, die er in den Schlitz steckte, der anstelle eines Türknaufs im Eisen prangte.

»Da bist du der Erste.« Eine Grimasse in Form eines Lächelns zeichnete sich auf Elphinstones Gesicht ab. »Gerade Eilean hat sich mächtig in die Teufelsschlingen gesetzt mit ihren ... Annahmen.«

Minerva wich seinem Seitenblick aus und gab ein unbestimmtes Seufzen von sich. Es stimmte, die ständige Einmischung nervte – ganz ab davon, dass sie ihr nicht half, das Gefühlschaos zu sortieren. Aber das hier, dieses traurige »Nein«, war nicht minder unangenehm.

Archie brummte mitleidig. »Für die Wenigsten ist es vorstellbar, dass auch zu einer Freundschaft Zuneigung und Intimität gehören können. Deshalb die Nachfrage, irgendwie muss ich meinen unhöflichen Eindruck von gestern ja revidieren. Manchmal geht das am besten über ehrliche Fragen. Und ehrliche Antworten.«

Er lächelte Minerva zu, die es mit einem müden Zucken der Mundwinkel quittierte. Obwohl Archie nur nett sein wollte, reizte diese ganze Unterhaltung sie.

Erst als Elphinstone auf ihre Hände hinabsah, merkte sie, dass sie drauf und dran war, seine zu zerquetschen wie überreifes Obst. Und trotzdem zog er sie nicht zurück, sondern antwortete mit sanften Daumenkreisen.

»Tja, diese Leute wissen nicht, was ihnen im Leben fehlt«, sagte Elphinstone leise, einen Kreis auf ihren Handrücken malend. Vielleicht war es auch ein verkapptes Herz.

Damit schien für Archie alles geklärt, denn die verlegene Dunkelheit schwand aus seinem Gesicht und er drückte den Zauberstab gegen die Tür vor ihm. Mit einem Klicken schwang sie auf und schon offenbarte sich ihnen der größte Obduktionssaal der Rechtsmedizin. Minervas Gedanken über komplizierte Gefühle rückten in weite Ferne.

Beschienen von einer grellweißen Zaubersphäre schwebte mitten im Raum eine Bahre, über die ein blassgrünes Laken gebreitet war. Selbst wenn Minerva nicht gewusst hätte, dass hier Obduktionen durchgeführt wurden – die Formen eines menschlichen Körpers zeichneten sich deutlich unter dem Sichtschutz ab.

Archies leises Räuspern hallte in dem kahlen Raum wider, kaum dass er die Tür hinter ihnen verschlossen hatte. Er trat mit einem Seufzen neben den aufgebahrten Körper und sah für einen Augenblick geradewegs in das gnadenlose magische Licht unter der Decke, das keine Schatten entstehen ließ. Dann suchte sein Blick Elphinstones.

»Das hier ist die Leiche von Mrs Emily Winters.« Wieder ein kleines Seufzen, gefolgt von einer Grimasse. Archie befeuchtete seine Lippen, bevor er weitersprach. »Ihr wisst ja, wie sie zu Tode gekommen ist. Die anschließende Explosion hat ihr Übriges getan. Dementsprechend ... kein schöner Anblick. Aber –«

Die Knöchel an Archies Fingern traten hell hervor, als er sie auf die Kante der Bahre stützte. Einen Sekundenbruchteil lang fürchtete Minerva, er könnte das Laken wegziehen, doch er starrte bloß auf den verhüllten Brustkorb und schien um die richtigen Worte zu ringen.

»Ich fürchte, Mrs Winters ist der Schlüssel zu dem Ganzen, sonst hätte ich euch nicht hergebracht. Sie ist die Einzige, der wie Elphinstone der Ursprungsfluch – oder zumindest etwas, das ich dafür halte – injiziert wurde. Die Kinder habe ich selber untersucht und bei ihnen sieht es ganz anders aus. Sie sind ... gesund. Was immer bei ihnen versucht wurde, hat nicht zur Vollendung gereicht. Aber Mrs Winters ... sie hat dieselben Fluchspuren wie Elph. Tintenschwarz.«

Ein tiefer Atemzug hob Archies Brust und er stieß sich von der Bahre ab. Er lüpfte nur eine Seite des Tuches, gerade genug, um eine geschwärzte Hand zu enthüllen. Wie ein Stück Kohle, das mit menschlicher Haut verschmolzen war.

Minerva zuckte und Elphinstones Finger zwischen ihren spiegelten die Geste. Sie hörte, wie er schluckte, aber er wandte den Blick nicht ab – genauso wenig wie sie.

»Der Blutfluch hat sich gegen Mrs Winters Zellen gerichtet«, erklärte Archie in demselben beruhigenden wie sachlichen Tonfall, den er Minerva bereits als Patientin gezeigt hatte. »Obwohl das Ergebnis nicht wie erhofft eingetreten ist, dürften Muggelgeborene an sich nie das primäre Ziel des Fluches gewesen sein. Sondern von Anfang an gewisse Reinblüter. Die Kinder waren mehr ... eine Art Kontrollgruppe, schätze ich. Eine Brücke, um den eigentlichen Fluch zu nähren.«

Archie drehte das Handgelenk der Toten so, dass Minerva die Innenseite ihres Unterarms erkannte. Zwischen dem Schwarz verkohlter Haut hoben sich dieselben Spuren ab, die auch Elphinstone zeichneten – nur viel komplexer. Es war, als müsse Minerva ein Bild aus Scherben zusammensetzen, wie auf den Buntglasfenstern in Kirchen.

Eine Schlange wand sich über den Arm der Frau – oder eher in ihrem Arm. Das Fluchschwarz hatte sich unter ihrer Haut ausgedehnt wie ein Ballon, in hunderten feinsten Verästelungen und schien sie im wahrsten Sinne des Wortes in seinem Würgegriff zu haben. Gehabt zu haben. Immerhin war sie tot.

Minerva schluckte gegen den Würgereiz an und das Geräusch hallte Filibusters Feuerwerksknallern gleich im Obduktionssaal wider. »W-was ist das? Was bedeutet das?«

»Ich kann nur Vermutungen auf Basis der Sachlage anstellen«, sagte Archie leise, doch mit der Bestimmung eines Wissenschaftlers. »Der Fluch ist ziemlich unsauber gewunden, das erschwert die Beurteilung. Von der Wirkung ausgehend lässt sich schwer sagen, was das tatsächlich angestrebte Ziel war – aber unter Beachtung eurer Schilderungen vermute ich, dass er Reinblüter treffen soll, die Nachkommen mit ... mit Muggeln zeugen. Oder sich zumindest nicht ihrem Ruf als ... ‚würdig‘ erwiesen haben.«

»Blutsverräter«, flüsterte Elphinstone bitter, ein Echo von Bellatrix’ Worten aus der jüngsten Vergangenheit. »Hexen und Zauberer wie ich, die nichts dazu beitragen, ihre ach so feine reinblütige ‚Überlegenheit‘ aufrechtzuerhalten. Ich wusste es. Deswegen kann ich nicht mehr vernünftig zaubern, nicht wahr? Sie sind so überzeugt davon, dass Muggel irgendwie Magie von uns stehlen können – das haben sie versucht als Waffe gegen mich zu nutzen, richtig?«

»Phin, nicht –« Jetzt lag es an Minerva, beruhigende Kreise auf seinen Handrücken zu zeichnen, einen Arm um ihn gelegt. Aber egal wie oft sie schluckte, die Blockade in ihrem Hals schwand nicht. Sie wandte sich an Archie. »So differenziert kann doch kein Blutsfluch wirken, oder?«

»Schwerlich. Ich habe einige Blutflüche in meinem Studium kennengelernt und die meisten verlaufen sehr geradlinig als vererbliche Nervenkrankheit, die meist zum Tod führt. Doch dieser Fluch ist anders; nichts was ich je zuvor gesehen habe. Grundsätzlich hat er sich ebenso in Mrs Winters Stammzellen ausgebreitet wie andere Flüche auch – und sich somit auf ihr ungeborenes Kind übertragen. Bei dem übrigens keine Schäden festgestellt werden konnten durch die behandelnden Heilerinnen. Und damit hören die Gemeinsamkeiten zu gewöhnlichen Blutflüchen auf. Dieser Fluch hat wie ein Tumor sämtliche Zellen in Mrs Winters Körper befallen und schleichend verändert. Und ja, ich fürchte, Elph hat recht – die Mutation betrifft das, was man gemeinhin als Mrs Winters Magie bezeichnen würde.«

Ein verzweifeltes Auflachen Elphinstones durchschnitt die eingetretene Stille. Er legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit der freien Hand übers Gesicht. Im Schein der Zaubersphäre sah Minerva es verdächtig auf seinen Wangen glänzen.

»Also hat der Fluch versucht, ihr sämtliche Magie zu – zu entreißen und sie dabei ... verstümmelt?« Minervas Worte an Archie waren ein Flehen, ihr doch zu widersprechen.

Genau wie bei Minerva galt auch Archies Blick zunächst Elphinstone. Der Heiler schlang die Arme um seinen eigenen Oberkörper, während er sich bedächtig von einer Seite zu anderen wiegte.

»Grob gesagt ... ja; aber dieses Ausmaß wird eher unabsichtlich herbeigeführt worden sein. Das dürfte darauf zurückzuführen sein, dass der Fluch aus dem Blut mehrerer Personen mit unterschiedlichem Blutstatus gewoben wurde. Vermutlich sollte dem Fluch auf diese Art ‚beigebracht‘ werden, die Magie zu reduzieren, sodass sie keinesfalls an nicht-reinblütige Nachkommen weitergegeben wird. Ich finde für dieses Ziel keinen besseren Ausdruck als ... magische Kastration.«

Die Worte schienen in riesigen, schwarzen Lettern mitten im Raum zu hängen und die Luft zu verdrängen. Elphinstone atmete hörbar gegen die Tränen an und Minerva schlang hilflos ihren zweiten Arm um ihn. Sie strich in Kreisen über seinen Rücken und hoffte, dass es ihm ebenso half wie ihr sonst.

»Misslungene, magische Kastration«, setzte Archie weicher hinzu, den Blick auf die Bahre gesenkt. »Der Fluch funktioniert nicht, wie er erdacht ist, weil er auf irrigen Annahmen über magisches ‚Blut‘ beruht. Wobei der Begriff ‚Blut‘ schon falsch gewählt ist in diesem Kontext, denn letztlich geht es gar nicht um Blut, sondern um Gene. Die Forschung in der magischen Genetik steckt noch in den Kinderschuhen, aber wenn wir Heiler etwas aus der klassischen Schulmedizin gelernt haben und die Fähigkeit zur Ausübung von Magie wirklich durch eine spontane Genmutation abgebildet wird, dann hat dieser Fluch, der in erster Linie ‚weniger‘ magische Kinder verhindern soll, sich auf unvorhergesehen Art gegen seine Trägerin gewandt. Das ist reichlich theoretisch und klingt schrecklich, ich weiß – aber habt noch einen Moment Geduld. Ich will nur, dass ihr versteht

Archie zückte seinen Zauberstab und zeichnete in bunten Leuchtspuren kleine Kreise und Hexagone in die Luft. »Wenn ich davon ausgehe, dass magische Begabung mit der vorgeblichen Reinheit des Blutes zusammenhängt, muss ich annehmen, dass es ein gewisses Magielevel gibt, das in einer reinblütigen Person vorherrscht. Alles darunter sind dann Halbblüter, Muggelstämmige, Squibs oder gleich Muggel, in absteigender Reihenfolge.«

Die bunten Leuchtbilder wurden mit Prozentzahlen versehen und sortierten sich alleine in der Luft vor Minerva und Elphinstone. Violette Farbe umschloss die kleinen Punkte, welche die Magiepartikel darstellen sollten – der Fluch.

»Als ideologisch verblendeter Zauberer will ich natürlich, dass mein Fluch an dieses gedachte Magiepotential anknüpft und entsprechend die Entstehung einer vermeintlich schwächere Generation verhindert.«

Die unteren Hexagone färbten sich blutrot. Was das bedeutete, musste Archie nicht aussprechen.

»Diese genetische Variation namens Magie ist aber viel einfacher gestrickt – ein Ein- oder Ausschalter, wenn man so will. Magie oder keine Magie, ohne jedwede Abstufungen. Man hat die Genmutation – hier Magiefähigkeit – oder eben nicht. Der Versuch, diesen Fluch an irgendwelche fiktiven Level von Magie zu knüpfen und daraus seine Wirkung abzuleiten ist schlicht unmöglich. Also wird er zu einem unberechenbaren Blindgänger.«

Neben dem falschen Schaubild zeichnete Archie ein weiteres, das zwei DNA-Stränge zeigte, zwischen denen er einige gelbe Markierungen einfügte, um die Unterschiede hervorzuheben.

»Es ist nach aktuellem Wissensstand höchstwahrscheinlich, dass zwei Mutationen zusammentreffen müssen, um vollen Zugriff auf Magie zu gewähren. Das würde das Auftreten von Squibs mit geringen magischen Fähigkeiten wie auch die allgemein kleine magische Population erklären. Es ist einfach verdammt selten, dass ausgerechnet diese beiden Mutationen spontan zusammen auftreten, sofern sie nicht durch mindestens einen Elternteil vererbt werden. Aber abgesehen davon haben alle mit dieser Mutationskombination das gleiche Potential, Magie zu wirken. Ein Fluch, der versucht, irgendwelche Bedingungen an den Magiegehalt im ‚Blut‘ zu knüpfen, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Er kann nur an vorhandene Zellen mit Magie anknüpfen und das trifft die Fluchträger unmittelbar. Dadurch wird deren Magiefähigkeit nicht bloß angegriffen, sie wird ausradiert.«

Mit einem tiefen Atemzug durchbrach Archie seinen Vortrag, der Minervas Kopf zum Schwirren brachte. Der Heiler wischte seine Schaubilder mit dem Zauberstab fort und wandte sich wieder der Toten vor ihnen zu.

»Auf diese rein ideologische Idee des Blutes zu setzen ist wissenschaftlich schlichtweg fehlgeleitet. Diese strikte Einteilung von Menschen in Kategorien, die letztlich nur von anderen Menschen definiert sind, immerzu gerechtfertigt durch eine völlig falsche Interpretation der ‚Natur‘ der Sache, ist einer der größten Feinde von Forschung. Anstatt menschliche Vielfalt zu akzeptieren, beschneidet man mit solchen Einordnungen den eigenen Horizont – und verletzt schlimmstenfalls die Schutzlosen. Kurzum – mit Wissenschaft hat diese Ideologie nichts zu tun. Das sind menschenverachtende Experimente, die eine vorgefertigte Meinung ‚beweisen‘ sollen, nichts weiter. Dass es nicht funktioniert, weil schon die zugrundeliegenden Annahmen falsch sind, wird munter ignoriert. Wenn sie dann doch, rein durch Zufall, ein ‚richtiges‘ Ergebnis erzielen, fühlen sich solche Leute auch noch bestätigt, ohne zu begreifen, dass Korrelation nicht gleich Kausalität ist.«

Ein winziges Beben schüttelte Archies Schultern und er rieb sich mit geschlossenen Augen die Stirn, während er erneut Luft holte. Minerva nutzte die Pause, um Elphinstone fester an sich zu drücken. Keiner sagte etwas, solange Archies passionierte Rede nachhallte.

»Anstatt vor allem das gemeinsame, halb-magische Kind mit einem Muggel zu verhindern«, fuhr Archie ruhiger fort, »oder diesem zumindest die Fähigkeit zur Magieausübung zu rauben, hat der Fluch nicht ‚bloß‘ die Magiefähigkeit seiner Trägerin ‚verunreinigt‘, wie es seiner Erfinderin offenbar vorschwebte, sondern seinen vermeintlichen Feind in Emily Winters magischem Zellgut gesucht. Er hat ihren Körper in einen ausweglosen Krieg mit sich selbst geführt.«

»Und das passiert mit mir auch.«

»Nein.« Minerva wandte das Gesicht zu Elphinstone, an dessen Hals nach wie vor das Fluchschwarz prangte, verborgen unter einer Schicht aus Eileans Make-up. Ihre Finger krallten sich in den Stoff seines Umhangs. »Es gibt immer einen Weg, es muss einfach ...!«

Elphinstone rieb sich mit einem Stöhnen die rotgeäderten Augen. »Minerva ...«

»Nein Elph, sie hat recht«, wandte Archie leise aber fest ein. »Das wird nicht passieren. Weil wir es verhindern können. Deshalb habe ich euch beide schließlich herbestellt. Ich würde es dir niemals so zeigen, wenn es keinen Ausweg gäbe.« Er trommelte mit den Fingern einen unbeständigen Rhythmus auf die metallene Bahre neben sich.

Elphinstone betastete die Seite seines Halses und verschmierte damit den Abdeckstift über den Fluchspuren. Immer wieder hüpfte sein Adamsapfel auf und ab, doch das Unbehagen schwand nicht aus seinen Augen. Er räusperte sich, ohne seine Stimme wiederzufinden.

»Dir wird nicht dasselbe passieren, Elph, das verspreche ich.« Archie wies auf den Arm der Toten, der wie ein groteskes Mahnmal in Richtung Minerva und Elphinstone zeigte. »Durch meine Untersuchung weiß ich jetzt, wie der Fluch die körpereigenen Zellen befällt und abtötet – und mit Minervas Hilfe können wir das hier und heute bei dir verhindern. Noch lässt sich der Fluch bekämpfen, bevor er zu viel Schaden angerichtet hat. Schließlich konnte Bellatrix ihn nie durch weitere Behandlungen verankern, dank deiner Flucht. Du solltest vorerst nicht zaubern, um dem Fluch keine Angriffsfläche zu bieten, aber wir kriegen das hin!«

»Schön, nicht zu zaubern kriege ich hin, das funktioniert im Moment ohnehin mehr schlecht als recht.«

»Wenn wir den Fluch erstmal zerstört haben, wird das alles kein Problem mehr sein. Das verspreche ich bei meiner Ehre als Heiler. Das Einzige, was ich dir nicht versprechen kann, ist, dass du danach noch eigene Kinder haben kannst –«

Elphinstone unterbrach Archies hastige Rede mit einem gequälten Laut. »Ist doch egal. Das habe ich nie angestrebt und das weißt du auch. Tu was immer nötig ist, wenn es mich vor ihrem Schicksal bewahrt.«

»Ich will nur, dass du dir bewusst bist, dass das hier keine Routinebehandlung ist. Ich weiß nicht, welche Nebenwirkungen das von mir ersonnene Verfahren im Detail haben wird. Leider fehlt uns die Zeit, um alle Möglichkeiten abzuwägen. Bei einem Fluch dieser Art ist es jedenfalls wahrscheinlich, dass die Reproduktionsfähigkeit beeinträchtigt wird, gerade bei männlichen Trägern.«

Unwillkürlich schlang Minerva die Arme fester um Elphinstone. Dieses Thema überforderte sie, als wäre da nicht länger nur diese Mauer aus unausgesprochenen Dingen zwischen ihr und Elphinstone, sondern diese zusätzlich mit Dornen gespickt. Doch er sollte wissen, dass sie da war. Bis zum bitteren Ende, falls nötig.

»Wenn es nur das ist ...« Elphinstone verzog die Stirn, als hätte er starke Kopfschmerzen. »Dann lasse ich das Schicksal gerne die Entscheidung für mich treffen. Was bleibt mir auch anderes übrig?«

Archie hob die Schultern, erste Risse in seiner professionellen Fassade. »Du solltest es nur wissen«, seufzte er und presste die Lippen aufeinander. »Es ist immerhin keine Lappalie.«

Er erweckte Minerva den Anschein, dass er Elphinstone gerne in den Arm genommen hätte, wenn sie ihn nicht in Beschlag nehmen würde. Doch so stand er nur da und sah betreten auf die Bahre, bis er seinen Zauberstab aus dem Umhang zog.

»Gut, dann ...« Sein Blick traf Minervas. »Das beste Mittel gegen Gift ist ein anderes Gift. Normalerweise wäre das hier eine Behandlung für mehrere Heiler, aber so wie die Dinge stehen, würde ich dich bitten, mir zu assistieren. Ich muss einen Teil des Fluches aus Mrs Winters Körper isolieren, um daraus den Gegenfluch zu weben, der Elph heilt.«

»Sag mir, was ich tun soll, und ich werde es tun.« Minerva sah Elphinstone an. »Solange das für dich in Ordnung ist?«

»Natürlich.« Elphinstone lehnte seine Stirn gegen ihre und seufzte leise. Als er weitersprach, flüsterte er, sodass nur sie ihn hörte. »Wem sollte ich sonst mein Leben anvertrauen, wenn nicht dir? Niemand rettet mein Leben so schön wie du. Und Merlin verdamme mich, ich weiß, dass du es wieder einmal schaffen wirst.«

Fluchschwarz

Der Schauer, der Minervas Rücken hinunterlief, hatte sicher nichts mit den Kühlzaubern oder Gerüchen des Todes zu tun, die in der rechtsmedizinischen Abteilung des St. Mungo-Hospitals vorherrschten. Es waren Elphinstones Worte, die sie wie eine geisterhafte Berührung streiften und dabei Gänsehaut hinterließen.

Niemand rettet mein Leben so schön wie du. Und Merlin verdamme mich, ich weiß, dass du es wieder einmal schaffen wirst.

Sein Vertrauen in sie war jedes Mal aufs Neue bestärkend – und beängstigend in seiner Absolutheit. Manchmal fragte sie sich, wodurch sie seine Bewunderung verdient hatte, doch heute blieb kein Raum für Zweifel.

Minerva lehnte sich vor und streifte ihrerseits Elphinstones Wange mit den Lippen; ein bisschen zu kurz, als dass man es einen wirklichen Kuss nennen konnte, aber genug, um ein paar ungesagte Worte aufzuwiegen. »Du weißt gar nicht, wie viel mir dein Vertrauen bedeutet. Danke, Phin.«

Elphinstone lächelte – nicht mit dem Mund, sondern durch seine Augen, die von innen heraus leuchteten. Mit dem Fingerrücken fuhr er über Minervas Wangenknochen und einen Wimpernschlag lang hing die Welt wieder in dem Zwischenraum aus Zeit und Ort fest, der sich bereits am Vormittag bei ihrer Reise durch das Flohfeuer aufgetan hatte. Das Prickeln von Flohfunken überzog Minerva und ein Nicken von Elphinstone reichte, damit sie wusste, dass genug Gedanken unausgesprochen, aber nicht unerkannt blieben.

Doch erneut zerplatzte die Blase um sie beide wie Druhbels bester Blaskaugummi. Zurück in die Wirklichkeit – den großen Obduktionssaal des St. Mungo-Hospitals und die Realität grausiger Fluchexperimente.

Einen Kloß im Hals drückte Minerva Elphinstone an sich, ehe sie wie Archie ihren Zauberstab zog. An den Heiler gewandt fuhr sie mit erhobener Stimme fort: »Schieß los – Was muss ich tun, um dir behilflich zu sein?«

Archie räusperte sich, ein gequältes kleines Lächeln im Gesicht. »Folgendes ... erschreck dich bitte nicht – ich werde gleich Mrs Winters Arm aufschneiden.«

Etwas blockierte in Minervas Kehle, aber sie schluckte tapfer dagegen an und nickte. »Okay.«

»Dir ist der Extraktionszauber geläufig, mit dem man Flüssigkeiten aus diversen organischen Materialien gewinnen kann?«

»Wie beim Trankmischen, wenn man den letzten Saft aus einer Schrumpelfeige gewinnen will?«

»Richtig. Genau der. Wenn ich den ersten Schnitt gesetzt habe, würde ich dich bitten, den Zauber auf Mrs Winters Fluchspuren zu konzentrieren. Aber ich muss dich warnen – die Magie dahinter wird sich wahrscheinlich wehren.«

Den Zauberstab in beiden Händen umfasst, nickte Minerva erneut. Wie von einem Klebefluch betroffen starrte sie auf Mrs Winters entstellten Arm, über den Archie sich mit einem winzigen Messer beugte. Geübt setzte er die Klinge an und drückte sie so tief in das Fleisch, wie es keinem lebenden Menschen zuzumuten wäre.

Natürlich blutete die Tote nicht länger, doch in Minervas Magen rumorte es trotzdem. Einzig der Zauberstab gab ihr Halt; half ihr, die Gedanken zu fokussieren. Rasch sprach sie den Extraktionszauber.

Ein Ruck riss ihre Stabspitze vorwärts – als würde sie sich wieder mit Bellatrix im magischen Tauziehen messen. Doch Minerva gab nicht nach. Im Gegenteil, sie presste die Zähne aufeinander und stemmte sich mit Körper und Willen gleichermaßen gegen den Zug an. Dieses Mal durfte ihr der Zauber nicht entgleiten!

Derweil erweiterte Archie den Schnitt mit ruhiger Hand. Die ersten Spuren Fluchschwarz quollen in Form dickflüssiger Tinte über Mrs Winters verbrannte Haut und Minervas Zauberstab erzitterte unter ihrem Griff. Von Sekunde zu Sekunde rutschte der Stab weiter durch ihre schweißnassen Finger.

Die dunkle Magie erwehrte sich jeglicher Kontrolle, mal im Gefühl fließenden Wassers, das stetig ihren Händen entglitt, dann wieder als wilde Macht, die sie bedrängte; zu unterwerfen versuchte.

Zwischen Minervas Zähnen schien Sand zu kleben und die Zunge drückte sich ihr wie Schleifpapier gegen den Gaumen. Ein paar vereinzelte Schweißtropfen fanden den Weg ihren Nacken hinab, sobald die schwarze Fluchmasse das Handgelenk der Toten erreichte. Doch der Zug an Minervas Nerven wuchs noch, anstatt nachzugeben.

Archie, der inzwischen das Messer beiseitegelegt hatte, hob nun seinerseits den Zauberstab und sprang ihr zur Seite.

Ein, zwei Herzschläge lang veränderte sich nichts, dann stolperte Minerva rückwärts, als der Gegenzug sich halbierte. Sie landete mit dem Rücken an Elphinstones Brust und reflexhaft schloss dieser seine Arme um ihre Taille, bis sie wieder fest auf beiden Beinen stand. Den Zauber unterbrach Minerva allerdings keine Sekunde. Nicht einmal dann, als sich die Schnatzflügel in ihrer Mitte regten.

Unter ihren und Archies vereinten Anstrengungen erhob sich schließlich eine ölige schwarze Spur in die Luft, wie ein sich windendes Tier. Die Schlieren zuckten unbeherrscht, als suchten sie nach einem Ausweg aus dem Zauber, der sie herausforderte. Minerva kam sich vor wie eine Schlangenbeschwörerin, während sie dem Fluch dabei zusah, wie er Zentimeter für Zentimeter ins Zauberlicht gezogen wurde. Alleine hätte sie es nie geschafft.

An ihrer Seite zückte Archie eine Phiole und sie dirigierte das Fluchschwarz geradewegs durch die Öffnung in das bauchige Glas. Sobald Archie den Korken in das Gefäß gedrückt hatte, verschwand der Zug an ihrem Arm ganz und sie erlaubte es sich, erleichtert auszuatmen.

Eine Hand immer noch an ihrer Seite, trat Elphinstone zwischen sie und Archie, einen misstrauischen Blick auf die Masse in der Phiole gerichtet.

Voller Abscheu sah er zu, wie das Fluchschwarz, das sich zu einem festen Ball gerollt hatte, mit hellem Klirren von innen gegen sein Gefängnis schlug. Wieder und wieder sauste die Fluchkugel im Kreis. Ping. Ping. Ping. Das Ding erinnerte Minerva an die verirrten Wespen, die manchmal im Spätsommer an das Fenster ihres Büros schlugen. Sogar das verärgerte Summen zwischendurch passte.

»Gut, das war Schritt eins.« Archie streckte sich, wobei seine Glieder knackten. »Leichter wird es leider nicht.«

»Und ich hatte schon Hoffnung ...« Minerva bemühte sich um ein schwaches Lächeln. Die Anstrengungen der Extraktion machten sich bemerkbar, indem sie den Cruciatus-Muskelkater in ihren Gliedern wieder erweckten.

»Schwarze Magie hat es leider in sich. Ich habe alle Zutaten dabei, um den Gegenfluch zu weben, aber dann müssen wir diesen Elph auch noch verabreichen. Dafür wirst du allerdings weniger deine Zauberkünste brauchen.«

»Sondern?«

Der Blick, mit dem Archie Minerva bedachte, hatte etwas überraschend Sanftes. »Elph wird jemanden brauchen, der ihm Stärke leiht. Und ich glaube, für diese Rolle bist du genau die Richtige.«

Hitze loderte in Minervas Brust auf, doch dann lächelte Archie und reichte ihr die bebende Phiole voller Fluchschwarz. Er wühlte in einer Innentasche seines Heilerumhangs, aus der er schließlich ein geschrumpftes Lederetui zog. Auf einen Zauberstabschlenker hin nahm die Tasche ursprüngliche Größe an. Darin klimperten weitere Glasfläschchen gegeneinander, angefüllt mit Flüssigkeiten, Pflanzenstielen und anderen, rätselhaften Substanzen.

»Könntest du vielleicht ... einen Tisch –«

Mühelos zeichnete Minerva den entsprechenden Umriss in die Luft. In einer Purpurwolke materialisierte sich ein prächtiger Holztisch vor Archie, lang genug, dass sie nebeneinander daran arbeiten konnten. Auf Archies Anweisungen hin half sie ihm, die einzelnen Bestandteile vorzubereiten. Und obwohl Archie den Kopf schüttelte, gesellte sich auch Elphinstone zu ihnen.

»Ich bin vielleicht verflucht, aber nicht pflegebedürftig«, murrte er, als Archie ihm die Spulenwurzeln entwenden wollte, die er angefangen hatte kleinzuschneiden. »Also lass mich nicht nutzlos rumstehen. Schlimm genug, dass ich nicht zaubern darf.«

Zu dritt kamen sie zum Glück schnell voran, was nicht zuletzt Elphinstones Händchen für Zaubertrankzutaten zu verdanken war, sodass Archie bald eine weitere Phiole hielt, deren Inhalt von milchigem Weiß war.

»Jetzt fehlt nur noch der Fluch darin.«

Die Zunge zwischen die Lippen geklemmt, entkorkte Archie das nach wie vor vibrierende Gefäß mit der schwarzen Fluchkugel und auf sein Nicken hin übernahm Minerva mit dem Zauberstab wieder die Kontrolle. Widerwillig und nicht ohne heftiges Zucken löste sich die Masse in dem frisch gebrauten Gegenmittel.

Es zischte, dann quoll Dampf über den Glasrand. Binnen Sekunden verschwand die ganze Arbeitsfläche unter dichtem Nebel. Archie murmelte einige Worte, die Minerva nicht verstand, und so schnell, wie er gekommen war, versiegte der Spuk. Die Schwaden lichteten sich, um die Phiole mitsamt ihrem verwandelten Inhalt freizugeben.

Aus dem Trank war eine hellgelbe Substanz geworden, die in trägen Kreisen ihre Runden in dem Glas zog. Hin und wieder zerfaserte die Masse leicht, dann aber verdichtete sie sich erneut. Ganz wie dem eigentlichen Fluch schien ihr ein Eigenleben inne – das allerdings deutlich friedlicher anmutete. Von wütendem Summen keine Anzeichen.

Ein Seufzen entwich Archie. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab, den Kopf gesenkt. »Dem Himmel sei dank, es hat funktioniert.«

»Hast du etwa an dir gezweifelt?« Elphinstone sagte es so dahin, doch als Archie hochschreckte und ihn aus großen Augen ansah, lächelte er beruhigend. »Ich habe nämlich nie an dir gezweifelt.«

Die Falten auf Archies Stirn glätteten sich. »Nein, ich hatte keine Zweifel. Eher Angst, dass ich etwas übersehen haben könnte. Man weiß ja nie, welche Fehler man gemacht haben könnte, egal wie sicher man sich fühlt. Also schön ...« Er wandte sich wieder Minerva zu. »Jetzt kommt die zweite Herausforderung. Bereit?«

»Sicher.«

»Elph?«

»Immer doch.«

»Gut.« Archie schickte den Arbeitstisch zurück ins Nichts, aus dem Minerva ihn beschworen hatte. »Ich werde dir gleich den Gegenfluch spritzen, Elph. Es wird wehtun, wenn die beiden Flüche aufeinandertreffen, das will ich nicht beschönigen. Der Fluch in deinen Zellen wird sich gegen den Eindringling wehren. Minerva? Du solltest ihn am besten ablenken. Ich übernehme den Rest.« Was genau Archie mit Rest meinte, ließ er offen.

Elphinstone seufzte leise. »Schreib das nächste Mal besser gleich in deinen Brief, dass ich vor dem Besuch mein Testament machen sollte.«

»Du wirst nicht sterben«, sagte Archie stoisch. Er beschwor einen Stuhl herauf, der im Gegensatz zu Minervas opulentem Tisch ein reichlich spartanisches Möbelstück mit steiler Lehne war. »Und jetzt setz dich.«

Mit einem weiteren Seufzen tat Elphinstone, wie ihm geheißen, während Minerva vor ihm in die Hocke ging. Ergeben streckte er Archie seinen Arm hin – denselben, in dem Bellatrix ihm den Fluch injiziert hatte. Seine andere Hand erfasste Minerva zwischen ihren.

Sie sah nur aus dem Augenwinkel, wie Archie den Inhalt der Phiole in einer gewöhnlichen Spritze aufzog. Das Herz drängte ihr gegen die Rippen und sie konzentrierte sich vollkommen auf Elphinstone.

»Erinnerst du dich daran, was du mir heute Mittag gesagt hast? Wir schaffen das, gemeinsam. Genauso wie im Ministerium, in Gringotts, im Keller oder im Labor. Also sieh einfach mich an, ja?«

Ein schwaches Lächeln zog Elphinstones Mundwinkel in die Höhe. »Aye-aye, Professor.«

»Fünfzig Punkte an Slytherin, für außerordentlichen Mut«, murmelte Minerva halblaut und drückte Elphinstones Handrücken an ihre Lippen.

»So einfach kommt man bei dir an Hauspunkte?«

»Und mindestens ebenso schnell kann man sie verlieren, wenn man frech wird.«

Die Fältchen um Elphinstones Augen vertieften sich, aber gleichzeitig keuchte er leise auf, als Archie die Spritze unterhalb seiner Ellenbogenbeuge ansetzte. Dort, wo erst vor kurzem Bellatrix ein blutiges Mal mit ihrem Injektor hinterlassen hatte, drang nun der Gegenfluch in seine Adern. Elphinstones Lider flatterten und er presste die Kiefer aufeinander.

»Sieh mich an«, flüsterte Minerva wieder. Ihre Hände schwitzte fürchterlich, aber sie drückte Elphinstones trotzdem fester.

Archie murmelte einen leisen Zauberspruch und die Einstichstelle verheilte. Nur ein einsames Rinnsal schwarzen Blutes erinnerte daran. Doch der Kampf war ohnehin längst tief in Elphinstones Inneres gezogen. Seine Adern traten noch dunkler hervor, als er mühsam einen Schmerzenslaut zurückhielt.

»Du schaffst das.« Minerva ertappte sich dabei, wie sie immer wieder diese Plattitüde herunterbetete. »Du schaffst das. Du schaffst das.« Wie eine kaputte Schallplatte. »Wir stehen das durch. Gemeinsam. Hörst du? Ich bin bei dir.«

Nun entkam Elphinstone doch der erste Schrei. Seine Brust wölbte sich vor und zeitgleich mit dem Laut bäumte er sich im Sitzen auf, ehe er abrupt zusammensackte. Ein Zittern durchlief seine Schultern, dann wiederholte sich das Grauen.

So musste er sich gefühlt haben, als Rowle sie gefoltert hatte, begriff Minerva. Hilflos. Verängstigt. Wütend. Voller Hass auf jene, die ihnen das angetan hatten. Die es anderen antaten und wieder antun würden.

»Bi làidir, Phin«, flehte sie. »Das werden wir die Lestranges bezahlen lassen!«

Eine Hand landete auf ihrer Schulter. Archie. Er sah sie nicht an, sondern hatte den Blick auf Elphinstone gerichtet, der sich inzwischen genauso wand wie zuvor das isolierte Fluchschwarz. Doch seine Worte galten ihr.

»Ich weiß, dass es schlimm aussieht, aber das wird. Ich werde ihm etwas Krampflösendes geben, das sollte es leichter machen. Traust du dir zu, einen mittleren Schockzauber anzuwenden? Dann kann er sich nicht selber verletzen, während ich ihm den Trank injiziere.«

Minerva nickte automatisch, bevor Archie überhaupt zu Ende gesprochen hatte. Sie vertraute ihm, dass er alles Richtige tat, aber das half nur bedingt gegen den Zorn in ihr. Etwas zu tun würde dieses nagende Gefühl in ihr zumindest ein wenig besänftigen.

Sanft legte sie die Zauberstabspitze an Elphinstones Schläfe und murmelte eine stärkere Variante des Zaubers, mit dem sie sich nur Tage zuvor einen Weg durch die Demonstranten im Ministerium gebahnt hatte. Elphinstone sackte auf dem Stuhl zurück, doch sein Brustkorb hob und senkte sich weiterhin heftig. Obwohl er sich kaum mehr bewegen können sollte, zuckten seine Finger in Minervas Griff. Der Fluch in ihm kämpfte mit harten Bandagen.

Archie beeilte sich, eine Kanüle in den frisch verheilten Unterarm zu schieben, um Elphinstone einen tiefgrünen Trank zu verabreichen. Ein paar Minuten verflogen, in denen nur Elphinstones angestrengter Atem und das Rascheln seiner Kleider unter den unkontrollierten Bewegungen den Raum erfüllten, dann wurde es leiser, immer leiser – bis es totenstill war.

In der unvermittelten Geräuscharmut hörte man das Gluckern in den Wasserrohren, das statische Summen der Energie in den Zaubersphären und in weiter Ferne sogar Schritte; Erinnerungen an die Hektik des Hospitalbetriebs, die sich von nichts durchbrechen ließ.

Elphinstones Hand in Minervas regte sich wieder. Er drückte zu, dieses Mal ohne loszulassen oder zu zucken. »Hey«, murmelte er, die Lider halb geöffnet.

Minerva senkte die Zauberstabhand und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Es kratzte in ihrer Kehle, wie nach dem verfluchten Brand im Anwesen der Lestranges. »Hey Phin.«

Etwas raschelte. Archie hatte sich vorgebeugt und den Kragen von Elphinstones Hemd zur Seite gezogen. Mit dem Daumen verwischte er die restlichen Spuren von Eileans Make-up. Darunter war ... nichts. Nur der blaue Schatten einer Ader, die heftig pochte.

Ein Lachen brach sich aus Minerva frei. Ihr Zauberstab traf klappernd auf den Boden, als sie die Hand in Elphinstones Nacken legte und ihn näher heranzog. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit kniete sie auf unbequemen Untergrund, ihr Schmerz eine ferne Erinnerung, während das Adrenalin in ihr abflaute. Nur dass dieses Mal keine böse Überraschung auf sie wartete.

Vor Erleichterung hätte Minerva eine Acromantula umarmen können. Elphinstone ging es gut! Dieser Gedanke reichte, um sie endlich klar denken zu lassen. Mehr noch, eine ganze Sturmflut der Erkenntnis überschwemmte sie.

Sie hatte ihr Herz schon vor langer Zeit verloren. Entgegen allen Schwüren an sie selbst. Sie hatte es bloß nicht bemerkt. Und statt Vernunft walten zu lassen, wuchsen ihre Gefühle mit jeder flüchtigen Berührung und jedem Wort weiter.

Sie war in Elphinstone verliebt.

Ein Umstand, der ihr Angst bereitete. Auf keinen Fall wollte sie ihn verlieren. Egal ob an den Tod oder ihre eigenen Unzulänglichkeiten. Aber viel mehr wollte sie von ihm festgehalten und nie wieder losgelassen werden.

»Habe ich dir je gesagt, wie wundervoll du bist?« Elphinstone hatte den Kopf an ihre Schulter gelegt und die Worte kitzelten sie am Hals.

»Neulich erst.« Minerva lachte erneut auf, obwohl ihr Tränen in die Augen stiegen. »Aber da hast du ja auch an akuter Blutarmut gelitten.«

»Dann sage ich es dir jetzt noch einmal. Du bist wundervoll, Minerva McGonagall. Einfach ... wundervoll.«

Da war es wieder. Ein Stück mehr von ihr verloren an seine Worte. Wie die Sandsteinklippen hoch über dem Meer, die der steten Berührung des Wassers jedes Jahr weiter zum Opfer fielen. Da sich die Gefühle nicht länger verkennen ließen, war es allerdings an der Zeit, eine andere Sorte Vernunft walten zu lassen. Minerva musste – und wollte – endlich mit Elphinstone darüber sprechen. Es brauchte nur den richtigen, perfekten Moment. Ohne jemand Dritten dabei.

Sie rieb einige verirrte Tränen aus ihren Augenwinkeln, während unter ihren Fingerspitzen der letzte Rest Anspannung aus Elphinstones Schultern wich. Zunächst seufzte er nur leise, dann richtete er sich vorsichtig auf. Ein paar Mal blinzelte er und langsam verzog sich der Nebel in seinen grauen Augen. Besorgt wanderte sein Blick zu Archie.

»Es ist vorbei, oder?«

Archie, der inzwischen neben Minerva hockte, nickte. »Der Fluch ist gebrochen. Du hast es geschafft.«

»Merlin sei dank kenne ich anscheinend nur großartige Menschen.« Über Minervas Kopf hinweg lächelte Elphinstone seinen früheren Verlobten an. »Danke, Arch. Sieht aus, als hättest du ein paar Mal extra Babysitten gewonnen.«

»Einen ganzen Monat, mindestens«, schmunzelte Archie. »Aber das ist nicht alles – ich habe auch noch etwas, das euch freuen dürfte.« Er hob eine winzige Phiole hoch, in der es kaum hörbar summte, nicht lauter als ein Moskito. Ein einziger Tropfen Fluchschwarz irrte in dem gläsernen Gefängnis umher. »Der unumstößliche Beweis für die Experimente der Lestranges an dir, für die Nachwelt konserviert. Daraus werden alle Heiler dieselben Erkenntnisse ziehen können wie ich. Ein wasserdichter Beweis vor dem Gamot – und für die verfehlte Ideologie der Lestranges.«

»Das ... das ist, was in mir war?« Elphinstone starrte auf die winzige Phiole und lief grünlich an, passend zu den Fliesen.

»Ich dachte mir, du hättest nichts dagegen, wenn ich ein paar Tropfen Blut auffange, um einen Beweis sicherzustellen, wenn wir schon den Fluch und damit jeden Beweis in Mrs Winters vernichtet haben.« Das Lächeln auf Archies Zügen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie müde er aussah.

»Arch du ... du bist ein Genie!« Der Glanz kehrte in Elphinstones Augen zurück. »Das ist der Nagel zum Sarg der Lestranges! Diesen Beweis kann das Ministerium nicht ignorieren.«

»Aber bevor wir ihnen den Prozess machen, müssen wir sie erst einmal finden«, erinnerte Minerva ihn mit einem Seufzen. Sie wandte sich an Archie. »Verwahr das besser gut. Am besten nicht im Hospital. Nicht, dass es noch den Falschen in die Hände gerä-«

Flapp.

Minerva zuckte zusammen. »Was –«

Erneut erklang das klatschende Geräusch. Flapp, flapp. Leise, aber verräterisch genug in der Stille. Draußen auf dem Gang war jemand. Es hörte sich an wie ... Schlappen, die auf den Fliesenboden schlugen.

Blind tastete Minerva nach ihrem Zauberstab, während Archie die Phiole in seinem Umhangärmel verschwinden ließ.

»Hier, trinke das«, flüsterte er heiser und drückte Elphinstone ein selbstauflösendes Röhrchen mit dunkelblauem Stärkungstrank in die Hand. »Und dann frischt eure Verwandlungen auf. Gott, ich hoffe, es ist nicht der Leiter der Rechtsmedizin!«

Auf leisen Sohlen stahl Archie sich zu der Bahre mit Mrs Winters Körper und zog das Tuch zurück über ihren malträtierten Arm.

Minerva schlug das Herz bis in den Hals. Obwohl Verwandlungen ihre zweite Natur waren, hatte ihre aktuelle Verkleidung die Aufregung des Tages kaum überlebt, wie ein Blick in den Taschenspiegel ihr zeigte. Mit fahrigen Bewegungen richtete sie das Wichtigste wieder her – ihre Frisur, die Form ihrer Wangenknochen, die ablenkenden Sommersprossen. Man musste sie schon kennen, um die billigen Tricks zu bemerken.

Anschließend vollzog sie dasselbe für Elphinstone, der zwar seinen Zauberstab gezückt hatte, aber trotzdem unschlüssig dreinsah. Während sie sein Haar wachsen ließ, ertönte noch drei Mal das verräterische Geräusch im Flur, bis es kurz vor der Tür zu ihrer Kühlkammer Halt machte.

»Ihr seid Verwandte der Toten, ja?«, flüsterte Archie ihnen zu und rückte gleichzeitig seinen verknitterten Umhang zurecht. »Ich habe euch Abschied nehmen lassen, deshalb sind wir hier.«

»Klar.« Sowohl Minerva als auch Elphinstone nickten geflissentlich.

Seufzend erhob Elphinstone sich und Minerva schlang den Arm um seine Taille, sodass sie ihn unauffällig stützte. Archies heraufbeschworener Stuhl löste sich hinter ihrem Rücken in purpurnen Nebel auf.

Ihnen voraus schritt Archie zur Tür. Das Kinn hocherhoben, riss er sie auf – und stieß gleich darauf ein überraschtes Zischen aus.

Im Flur stand nicht etwa ein Heiler, sondern Alston Mulciber. In einem hellblauen Hospitalhemd und hastig übergeworfenem Bademantel.

»Mr Mulciber«, fauchte Archie, »Sie haben hier nichts zu suchen!«

Er machte einen großen Schritt auf Mulciber zu, den Zauberstab mit einem Mal wieder in der Hand. Doch Mulciber wich nicht zurück. Er klammerte sich an einen Infusionsständer, von dem eine Phiole mit dunkelblauem Trank baumelte, und trat langsam näher. Sein Blick galt allerdings keineswegs dem Heiler vor ihm. Aus blutunterlaufenen Augen starrte er direkt über Archies Schulter zu Minerva.

»Mr Mulciber, dieser Trakt ist für Patienten strikt tabu! Ich möchte, dass Sie sich umgehend auf Ihre Station zurückbegeben.«

Mulciber lachte leise. Anders als sonst klang es nicht samten und bedrohlich, sondern heiser – und genervt. »Lass das Schmierentheater gut sein, Archibald. Wir wissen beide, was hier los ist. Du kannst dich bei mir bedanken, dass deine Kollegin nicht hier ist und ihr stattdessen siedend heiß eingefallen ist, dass sie noch eine Akte in ihrem Büro suchen muss. Also geh mir aus dem Weg.«

Archie bewegte sich keinen Zentimeter. »Wenn du nicht freiwillig gehst, muss ich eben dafür sorgen«, knurrte er.

Aber nicht einmal diese Drohung kitzelte eine Regung aus Mulciber hervor. Er legte bloß den Kopf schief und sah immer wieder zwischen Minerva und Elphinstone hin und her. »Wusste ich’s doch«, murmelte er schließlich, während er Archies erhobenen Zauberstabarm zur Seite schob. »Ihr seid wirklich im Empfangsbereich an mir vorbeimarschiert. Nette Verwandlung. Bisschen schlampig, dabei dachte ich immer, ich wäre schlecht in Verwandlungen.«

Minerva verzog das Gesicht. »Solltest du nicht auf einer Station liegen?«

»Ah ja, das ... den ganzen Tag in einem Bett liegen war noch nie etwas für mich, wie du vielleicht verstehen kannst. Da unternimmt man gerne mal einen Ausflug zum Kiosk, für die neuste Zeitung ... Und auch wenn ihr euch sicher Mühe mit eurer Tarnung gegeben habt – es gibt nicht viele Leute, die ständig in Kaminen miteinander turteln und dabei so sehr den Blick für ihre Umwelt vergessen. Mir fällt sowas auf.«

Der Drang, Mulciber einen Schockzauber auf den Leib zu jagen, wuchs. Allem Anschein nicht nur in Minerva, denn Archies Miene verfinsterte sich zusehends.

»Jedenfalls habe ich mir nicht umsonst die Mühe gemacht, euch bis in den Keller zu verfolgen«, fuhr Mulciber ungerührt fort. »Wir haben etwas zu bereden.«

Er machte Anstalten, sich an Archie vorbeizudrücken, was dieser mit einem Ausfallschritt zu verhindern wusste. Erneut hob Archie die Zauberstabhand, während er mit der anderen den rollenden Infusionsständer festhielt.

»Mulciber, ich schwöre dir –«

»Lass gut sein.« Minerva seufzte. Früher oder später müsste sie sich eh mit diesem wandelnden Ärgernis auseinandersetzen. »Raus damit. Was willst du, Mulciber?«

»Ich sehe, wir verstehen uns noch ... Minerva.« Das Grinsen Mulcibers enthüllte seine Zähne, die im Licht der Zaubersphäre unnatürlich weiß glänzten. »Fangen wir doch mit einer einfachen Frage an. Wohin sind meine Erinnerungen an unseren Einsatz verschwunden, hm?«

Schritt für Schritt wagte Mulciber sich an Archie vorbei in den Obduktionssaal, den Blick unverwandt auf Minerva gerichtet. Die Müdigkeit auf seinen Zügen war dieselbe, die sie empfand. Selbst im gnadenlosen Schein der Zaubersphäre an der Decke verschwanden die Schatten unter Mulcibers Augen nicht. Das harte Licht enthüllte jede Unebenheit auf seinem Gesicht, mehrere verheilende Narbe und einen Bartschatten. Doch die Augenringe schienen jegliche Helligkeit zu schlucken.

»Warum erinnere ich mich nicht, Minerva? Ich weiß noch, dass wir in diesem Haus waren und alles schiefging, aber die Details sind ... verschwommen. Ich weiß nicht einmal, wie ich mir diese Verbrennungen zugezogen habe!« Mulciber zog den Kragen seines Bademantels zur Seite und enthüllte rote Hautflecken, die frisch verheilt waren. »Warum?«

»Das würden wir alle gerne wissen«, erwiderte Elphinstone kalt. »Schon praktisch, nicht? Da tust du einmal etwas Gutes in deinem Leben und dann vergisst du es. Glaub mir, diese Erinnerung wäre die eine, die ich dir nicht nehmen würde.«

»Oh, dich habe ich aber nicht gefragt«, hielt Mulciber dagegen. »Verzeih mir, aber umsonst warst auch du nicht in Slytherin. Du willst vielleicht nicht wahrhaben, dass du einen überzeugenden Lügner abgibst, aber ich bevorzuge es trotzdem, die Antwort von Minerva zu hören.«

»Nun ... schön, Alston.« Minerva reckte das Kinn. »Zunächst einmal würde ich dir gerne sagen, was für ein unerträglicher Widerling du bist – aber das weißt du eh und ich will dich nicht langweilen.«

Mulcibers Lachen war kratzig und müde. In seinem Bademantel gab er nicht gerade die übliche, imposante Figur ab, ebenso mangelte es an den gewohnten Widerworten.

»Nein Alston, wir wissen nicht, was passiert ist. Immerhin wurden wir vor der Explosion entführt. Und gelten jetzt als tot, aber das nur nebenbei.« In knappen Worten schilderte Minerva, was sie seit dem unglücklichen Ende ihrer Befreiungsaktion erlebt hatten. Die Details des Fluches und ihrer Folter sparte sie aus – es reichte schon, die Fakten dieser entwürdigen Behandlung mit Mulciber zu teilen.

»Mh, langsam bekomme ich eine Vorstellung davon, warum ausgerechnet Albus Dumbledore ein Gast an meinem Krankenbett war und weshalb er so viele Fragen gestellt hat«, resümierte Mulciber schließlich. Direkt vor Minerva kam er zum Stehen und warf über ihre Schulter einen Blick auf den verhüllten Körper Mrs Winters’. In seinen dunklen Augen lag nicht halb so viel Amüsement, wie er mit seinen Worten Glauben machen wollte.

Archie stand noch im Türrahmen, den Zauberstab nutzlos in der gesenkten Hand. »Das sollten wir wirklich nicht jetzt und hier besprechen –«

»Oh Archibald, hast du mich beim ersten Mal nicht verstanden? Hier wird niemand herkommen. Dafür habe ich schon gesorgt.«

Protestierend öffnete Archie den Mund, was Mulciber ein Augenrollen entlockte.

»Komm schon, willst du mich jetzt wirklich fragen, was ich deinen werten Kolleginnen und Kollegen angetan habe?« Mulciber schnalzte mit der Zunge. »Sie sind schlichtweg anders beschäftigt. Nur ein kleiner Ablenkungszauber. Ich möchte doch immer noch meinen, dass ich kein Monster bin. Auch wenn Dumbledore ziemlich überzeugt davon scheint, dass ich ein Monsterfreund bin. Sonst hätte er mich wohl kaum darüber ausgefragt, was ein gewisser selbsternannter Lord und seine Gefolgschaft so vorhaben.«

Mit einem lauten Knall fiel die Tür zum Obduktionssaal hinter Archie ins Schloss. Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte er sich gegen das Eisen. Jegliche Sanftheit war aus seinen Zügen gewichen und von einer harten Falte zwischen den Augenbrauen ersetzt worden.

»Willst du etwa behaupten, dass das nicht stimmt? Du hast dich doch nie zurückgehalten in seiner Gegenwart. Oh, ich habe noch nicht vergessen, dass du dabei warst, als Avery mir auf seine Anweisung hinter den Gewächshäusern aufgelauert hat. Oder was ihr getan habt.«

Archies Zauberstab zuckte in seiner Hand und Elphinstone warf ihm einen besorgten Blick zu. Doch Archie hatte seine Augen fest auf Mulcibers Hinterkopf fixiert.

»Manchmal stelle ich mir zu gerne vor, welche Genugtuung es wäre, wenn es einer von euch wäre, die hier unten liegen. Stattdessen habe ich eine unschuldige Frau auf dem Tisch, die nichts anderes getan hat, als einen Muggel zu lieben. Und es ist mir verdammt egal, ob du persönlich nichts mit ihrem Tod zu tun hast. Es sind deine Ansichten, deine früheren Taten, die den Weg für Leute geebnet haben, die so etwas tun!« Jeder Schritt Archies knallte wie ein Pistolenschuss, als er sich Mulciber näherte, bis er hinter dessen Schulter stand. »Soll ich dir die Früchte deiner ach so gelobten Ideologie zeigen?«

Mulciber sah auf den grün gefliesten Boden hinab. »Oh, ich habe schon genug gesehen. Mehr als du dir vorstellen kannst. Abgesehen davon war ich da, um das Leben dieser Frau zu retten. Genauso wie Minerva oder Elphinstone. Daran erinnere ich mich.«

Schon hob Archie wieder die Stimme, doch Elphinstone wand sich aus Minervas stützendem Arm und zog ihn an der Schulter ein paar Schritte zurück. »Tu das nicht«, murmelte er leise.

Die nächsten Worte konnte Minerva nicht verstehen, aber sie sah, dass Archie tief durchatmete. Das Misstrauen in seinen Augen verschwand allerdings nicht, genauso wenig wie der feste Griff um den Zauberstab. Elphinstone drückte Archies Hand, wie er es sonst mit Minervas tat und sie schluckte gegen die Eifersucht an, die ihre Kehle hinaufkroch.

Ihr Blick begegnete Mulcibers. Ausnahmsweise lag kein Hohn oder schlecht verborgener Spott darin. »Ich habe nie behauptet, ein guter Mensch zu sein«, sagte er leise – und seufzte doch tatsächlich. »Aber hiermit habe ich nichts zu tun. Alles, was ich will, ist die Sache zu einem Ende zu bringen.«

»Nun, dann solltest du dich nützlich machen«, stellte Minerva fest.

Sie konnte sich nur vorstellen, was Archie Schreckliches unter Riddles Anhängern durchgemacht hatte, aber es war nicht von der Hand zu weisen, dass Mulcibers Unterstützung ebenso wertvoll war. Und während sie so über seine vorigen Worte nachdachte, kam ihr auch schon eine Idee.

»Lies meine Gedanken!«

Einen Moment starrte Mulciber sie genauso entsetzt an wie Elphinstone und Archie im Hintergrund. Alle drei schienen zu glauben, dass sie den Verstand verloren hatte.

»... Pardon?« In seinem ganzen Leben hatte Mulciber vermutlich noch nie so verwirrt ausgesehen. Der Bademantel half nicht. »Was möchtest du?«

Minerva rollte mit den Augen. »Du sollst deine Legilimentik auf mich anwenden! Ich will, dass du etwas siehst

»Nein, nein Minerva, so scharf bin ich nicht darauf, zu wissen, wie es sich anfühlt, Elphinstone zu knutschen – oder das auch nur zu sehen!«

»Oh, ich bitte dich, wenn es mir darum ginge, müsste ich dich nicht in meine Gedanken lassen.« Die Hände in die Hüfte gestemmt schnaubte Minerva. »Mach einfach einmal, worum ich dich bitte. Ich weiß doch, dass dir das Rumwühlen in anderer Leute Gedanken gefällt! Oder gilt das nur, solange du es heimlich tust?«

»Du musst zugeben, dass es seinen Reiz hat.« Noch bevor Minerva damit fertig war, empört Luft zu holen, verdrehte Mulciber seinerseits die Augen. Erneut seufzte er. »Na schön, ich weiß zwar nicht, welchem Zweck das hier dienen soll, aber bitte. Zeig mir, was so wichtig sein soll.«

Elphinstone sah aus, als würden ihm eine ganze Menge Widerworte auf der Zunge liegen, doch Minerva lächelte ihn zuversichtlich an. Er würde bald verstehen.

Mulciber angelte seinen Zauberstab aus einer Tasche des Bademantels und mit geschlossenen Augen konzentrierte Minerva sich fest auf das, was sie ihm zeigen wollte. Die Winkelgasse, sonnenbeschienen. Das Grün von Halliburtons Herbologiehimmel, der vorbeieilende Menschenstrom ...

»Bereit?«

Sie nickte.

Brennende Neuigkeiten

Mulciber sprach den Legilimens-Zauber nicht aus. Minerva wusste einfach, dass er da war. In ihrem Kopf. Ihr Herz beschleunigte seinen Schlag und für einen Moment sprangen ihre Gedanken wild durcheinander, einem Daumenkino gleich, bei dem jedes Bild ein grundlegend anderes war, ehe sie auf das Kopfsteinpflaster in der Winkelgasse zurückfanden.

Sorgsam durch die Seiten ihres geistigen Daumenkinos blätternd, ging sie den gestrigen Nachmittag erneut durch. Elladoras plötzliches Auftauchen, die Begegnung mit Rosier. Ihre Lügen und die Einladung zu der Rede Lord Voldemorts, mitsamt Flohadresse und Zungenfesselfluch.

Für ein paar Sekunden hatte Minerva das Gefühl, dass ihre Zunge anschwoll, doch nichts weiter geschah. Da waren nur ihre Gedanken und ihr Gast, der alles mit ansah. Erst als Mulciber sich aus ihren Erinnerungen löste, spürte sie das Stechen hinter den Schläfen, das seine Einmischung mit sich gebracht hatte. Er war wirklich ein beängstigend guter Legilimentiker.

Rasch schlug sie die Augen auf und suchte seinen Blick, um sich zu vergewissern, dass er nicht mehr gesehen hatte. Doch vor Überraschung verschwanden ihre Augenbrauen beinahe im Haaransatz. Sie hatte mit vielem gerechnet, nur nicht mit diesem Anblick.

Mulciber sah geradewegs durch sie, Pupillen erweitert, Lippen leicht geöffnet. Als hätte ihn der vorhin herbeigesehnte Schockzauber getroffen. Ausnahmsweise schien er derjenige zu sein, den die Legilimentik umgehauen hatte.

Verflucht, Alston Mulcibers Finger am Zauberstab zitterten!

»Alston? Hast du ... es gesehen?«

Die Augen beharrlich auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet, fuhr Mulciber sich durchs dunkle Haar. Im Schein der Zaubersphäre glänzten erste graue Strähnen darin. »Sie ...«

»Sie ...?«

Mulciber zuckte beim Klang ihrer Stimme zusammen. Ein paar Mal blinzelte er heftig, dann schwand das Zittern seiner Zauberstabhand, als hätte er einen Knopf umgelegt. Er sah Minerva an und räusperte sich. »Du meinst ... die Begegnung mit Rosier?«

Minerva nickte vage. Sie wollte kein Risiko eingehen, doch noch den Fluch auszulösen.

»Ja. Ich habe alles gesehen. Inklusive der Adresse.« Trotz des abwesenden Ausdrucks zog Mulciber seine Mundwinkel in die Höhe. »Verflucht clever von dir.«

Da begriff auch Elphinstone. Ein triumphierendes Lächeln trat auf seine Züge. »Dann bist du nicht ... von etwas gehindert, dein Wissen zu teilen?«

»Nein. Ich kann Archibald hier und jetzt mitteilen, dass Lord Voldemort morgen Abend eine Rede über seine Pläne für die Zukunft Großbritanniens halten wird. In einem Anwesen in Südengland. Nur für geladene Gäste, die mit einem Zungenfesselfluch belegt sind, um unerwünschte Besucher zu verhindern.«

Nun wurden Archies Augen ebenfalls groß. Er starrte Minerva an wie die achtäugige Agrippa. Endlich sank die Spitze seines Zauberstabs, den er bis eben auf Mulciber gerichtet hatte, gen Boden.

Mit einem aufgesetzten Lächeln wandte Minerva sich an Mulciber. »Du wirst Elphinstone und mir also den Rücken freihalten?«

»Sicher ... Wenn mich jemand aus diesem Hospital entlässt.«

Mulciber sah zu Elphinstone hinüber. Wieder fuhr er sich durchs Haar, immer noch ... verwundert? Betroffen? Minerva konnte nicht einschätzen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Aber zusammen mit seinem üblichen feinen Zwirn schien Mulciber auch einen Teil seiner gewohnten Selbstsicherheit abgelegt zu haben.

Sie war noch in die Betrachtung ihres früheren Kollegen vertieft, als in der Luft vor ihr ein goldener Lichtfleck auftauchte. Einfach so, mitten im Raum zwischen ihnen. Verwundert blinzelte Minerva, doch der Fleck blieb. Er hüpfte auf und ab, wie ein Funken ... War es das grelle Licht der Zaubersphäre, das ihr Tricks spielte? Oder war sie schlicht übermüdet und sah Dinge, die gar nicht existierten? Minerva rieb sich die Augen.

Der strahlende Punkt war nach wie vor da. Nicht nur das – er wuchs rasant an. Sein Flackern wurde stärker und stärker .... bis das goldene Licht mit einem Mal ein Loch in die Luft schlug. Erschrocken stolperte Minerva rückwärts. Kaltes Metall drückte sich in ihren Rücken. Die Bahre – stumm riss sie den Mund auf, einen Warnruf auf den Lippen.

Zu spät.

Gut anderthalb Meter über dem Boden loderte eine Stichflamme auf, bestimmt zwanzig, dreißig Zentimeter hoch. Noch während die drei Männer auf der anderen Seite überrascht zurückwichen, verglühte das spontane Feuer wieder. Vollkommen geräuschlos fiel die Flamme in schwarze Ascheflöckchen zusammen, die gen Boden segelten.

»Was zur –« Entsetzt zog Elphinstone Archie mit sich weiter Richtung Tür. »Woher kommt das?«

Genau wie Minerva starrte er zur Decke, in die Ecken des Raumes – aber da war nichts. Nur geschlossene Kühlfächer und eine tote Mrs Winters.

Einzig Mulciber, behindert durch seinen Infusionsständer, wich nicht weiter zurück. Er beugte sich mit knackenden Knochen zum Boden hinab und hob etwas auf. Ein Wölkchen Aschenstaub stieb von dem Gegenstand auf, den er sacht schüttelte.

»Hm, interessant ... Das ist dann wohl für dich.« Ein schmallippiges Lächeln im Gesicht streckte er Minerva die offene Hand entgegen. Darin lag eine rot-goldene Feder.

»Eine Phönixfeder!«

Die Angst vor dem Feuer vergessen, stürzte Minerva sich darauf. Fawkes’ Schwanzfeder war noch warm, als sie danach griff. Fast meinte sie, den Geruch von Zitronendrops wahrzunehmen. Mit zitternder Hand drehte sie die Feder. Da stand etwas geschrieben! In hellem Funkengold glühten einige Worte in der unverkennbaren Handschrift von Albus Dumbledore auf der Innenseite der Phönixfeder.

Lestranges nahe Observationsobjekt in Derbyshire gesichtet. Dädalus Diggel benötigt sofortige Unterstützung.

Darunter eine Adresse.

»Wir müssen los!« An Mulciber vorbei rauschte Minerva zur Tür, die Feder fest in ihrer Faust umschlossen. »Es droht ein weiterer Überfall!«

Schritte folgten ihr in den Flur. Sie brauchte sich nicht umdrehen, damit sie Elphinstones Gang erkannte.

»Wo?«

»Cokeworth. Im Norden, in Derbyshire.«

Inzwischen rannte Minerva fast. Elphinstone schloss an ihre Seite auf.

»Wartet.«

Das war Mulciber. Das Quietschen seines Infusionsständers folgte ihnen, viel zu langsam, als dass er sie je einholen könnte. Minerva beschleunigte ihre Schritte und nahm die ersten Treppenstufen.

»Später, Alston, später!«

»Nein, jetzt! Ihr wollt, dass ich mich nützlich mache? Dann komme ich mit.«

Über die Schulter hinweg warf Minerva einen Blick zurück. Mulciber war auf halber Höhe des Flurs und zog sich die Infusionskanüle aus dem Arm. Hinter ihm stand Archie, die Arme verschränkt.

»Sicher, dass du nicht eher ein Hindernis bist?«, spottete er. »Immerhin trägst du noch deinen Bademantel.«

Selbst auf die Entfernung sah Minerva, wie Mulciber die Zähne zusammenpresste. Er zog den Zauberstab und verschwand in einem purpurnen Wirbel, aus dem er in nachtschwarzem Umhang wieder auftauchte. Mitsamt gestärktem Kragen und polierten Manschettenknöpfen.

»Oh Archibald ...« Mulciber schüttelte den Kopf. »Dich kann man ja so leicht täuschen. Ich bin vielleicht über vierzig, aber sicher nicht gebrechlich. Trotzdem danke für den großartigen Aufenthalt hier. Eine wunderbare Abwechslung, wenn man sich keinen Urlaub leisten kann.«

Schon tat es Minerva wieder leid, überhaupt nett zu Mulciber gewesen zu sein. Elphinstone sah das offenbar ähnlich, denn er bedachte seinen Kollegen mit einem Blick, der auch Drachen das Fürchten lehren würde, bevor er Archie ansah und entschuldigend die Schultern hob.

»Ah und Archibald – danke, dass du meine Entlassungspapiere unterschreibst!« Mulciber schenkte Archie ein dünnes Lächeln, hob die Hand und hielt auf die Treppe zu. Es hätte nur noch gefehlt, dass er eine fröhliche Melodie summte.

»Ich sag ja, du bist ein Arsch«, zischte Minerva, als er den Fuß auf die erste Stufe setzte.

»Ich weiß, ich weiß. Aber lieber ein Arsch, der euch hilft, als euer Arsch, der auf Grundeis geht.« Mit einem selbstgefälligen Lächeln sprang er an ihnen vorbei die Stufen hinauf. »Also, worauf wartet ihr?«

 

Cokeworth erwies sich als gänzlich unzauberhaftes Städtchen. Die Zahl magischer Geschäfte belief sich auf exakt zwei: Eine Apotheke und ein Krimskramsgeschäft voller verbeulter Kessel, angelaufener Messingwaagen und anderem Tand. Letzterer Laden war darüber hinaus die einzige öffentliche Flohpulveradresse im Umkreis einiger Meilen. Wenn man von dem verstaubten Kamin ausgehen konnte, lebten ohnehin kaum magisch Begabte in der Gegend.

Minerva beschlich das Gefühl, dass immer noch Spinnweben in ihren Haaren hingen, als sie den Muggelbus zwei Stationen später in der Straße verließen, die auf Albus’ Notiz stand. Ohne bekanntes Ziel war Apparieren ausgeschlossen und sie somit auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen gewesen – ein Umstand, der sie vor Ungeduld mit dem Fuß hatte wippen lassen, bis sich endlich die Türen geöffnet und sie in die Muggelwelt entlassen hatten.

In der von Rosenbüschen gesäumten Straße sah auf den ersten Blick nichts nach der Unheil verkündenden Anwesenheit schwarzer Magie aus. Am blauen Himmel trieben Schäfchenwolken vorbei und in einem Vorgarten wässerte ein Mann seine Blumen. Aus der Ferne drang Kinderlachen heran. Wenn nicht plötzlich eine Bananenschale, die unter dem Mülleimer im Wartehäuschen lag, einem scheuen Tier gleich aufgeschreckt und auf allen vieren – sofern man hierbei davon sprechen konnte – über den Asphalt gehüpft wäre, hätte Minerva nicht angenommen, dass hier Unerhörtes vorging. So jedoch war klar, dass ihre Ankunft erwartet wurde.

Zu dritt folgten Minerva, Elphinstone und Mulciber der verzauberten Schale, die sich wie ein Krake über den Gehweg bewegte und dabei ein gutes Stück Zauberkunst offenbarte. An Wohnhäusern mit gepflegten Vorgärten vorbei eilte der Unrat die Straße hinab, bis die Umzäunung eines kleinen Parks mit Spielplatz in Sicht kam. Mit ihrem Stielende deutete die Bananenschale ein, zwei, drei Mal hintereinander auf das schmiedeeiserne Parktor.

Die fröhlichen Geräusche spielender Kinder waren jetzt ganz nah und erinnerten Minerva schmerzhaft an Hogwarts. Egal ob Muggel oder magisch begabt, in diesen Dingen waren sie alle gleich. Wenigstens bestand, solange gelacht wurde, noch die Hoffnung, dass die Lestranges nicht zugeschlagen hatten.

Minerva hielt inne. »Wir sollten nicht alle drei durch’s Tor hineinspazieren«, flüsterte sie ihren Begleitern zu. »Geht ihr nur, ich such mir einen anderen Weg.«

Elphinstone langte nach ihrem Handgelenk, doch sie bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln und entzog sich ihm. Sie wollte ihn genauso wenig zurücklassen, aber immerhin würde Mulciber bei ihm sein.

»Minerva –«

»Keine Sorge Elphinstone, ich bin vorsichtig. Ich will nur, dass sie uns diesmal nicht entwischen.«

Nonchalant hob Mulciber die Schultern. »Ich würde sagen, du beeilst dich besser.« Er warf Elphinstone einen durchdringenden Blick zu. »Bevor noch jemand etwas ... Unüberlegtes tut.«

Mehr Bestätigung brauchte Minerva nicht. Manchmal gereichte es zum Segen, dass Mulciber so direkt war.

Rasch eilte sie auf die Hecke zu und als sie sicher war, dass kein Muggel weit und breit sie beobachtete, sank sie auf vier pelzigen Pfoten dem Boden entgegen.

Mit einem Satz hüpfte sie auf die kniehohe Mauer und drückte sie an den schmiedeeisernen Zaunelementen, die daraus emporragten, vorbei. Aus Katzensicht fand sie schnell eine Stelle, an der die Hecke hinter dem Zaun licht war und genug Platz für sie bot. Geduckt schlich sie ein paar Meter durch das Gestrüpp, dem ein trockener Sommer anzumerken war.

Auf der Rasenfläche zur anderen Seite ihres Verstecks erkannte Minerva eine verwitterte alte Holzschaukel, auf der sie zwei Mädchen ausmachte, die für das kreischende Gelächter verantwortlich waren. Die beiden strampelten eifrig mit den Beinen und schienen sich in einem Wettstreit zu befinden, wer von ihnen höher schaukeln konnte.

»Guck mal wie hoch ich bin«, schrie die Rothaarige der beiden. Jauchzend streckte sie die Füße in den Himmel – und trotzdem schwang die Schaukel sie noch ein paar Zentimeter höher. Entgegen allen physikalischen Möglichkeiten.

»Ich krieg dich gleich!«, rief ihre Freundin – oder Schwester? – verbissen zurück. Doch was sie auch tat, sie flog nie so hoch. Die Bewegungen des Mädchens wurden immer ruppiger, wodurch ihr Schwung erst recht ausgebremst wurde. »Warte doch mal!«

Aber die andere wartete nicht. Stattdessen schwang sie sich ein letztes Mal höher und löste dann die Hände von den Seilen ihres Schaukelbretts. »Guck Tunia, ich kann fliegen!«

Um ein Schnurrhaar vergaß Minerva, dass sie ihre Animagusform angenommen hatte. Ein ersticktes Miauen war die Folge, als sie den »Vorsicht!«-Schrei in ihrer Kehle abwürgte.

Dafür brüllte das blonde Mädchen umso lauter. »Lily! Ich hab gesagt, du sollst das nicht mehr tun! Was, wenn du dich verletzt ...«

Die wagemutige Springerin landete allerdings wie eine Primaballerina auf ihren Zehenspitzen, die Arme in die Luft gereckt. Sie lachte und schien die Angst ihrer Begleiterin gar nicht zu bemerken.

Wenn Minerva vorher noch Zweifel gehabt hätte, dass hier Magie am Werk war, wurden diese nun durch das sachte Flackern einer gelblichen Aura verdrängt. Das Mädchen – Lily – war das muggelstämmige Kind, das Dädalus Diggel bewacht hatte. Von ihm selber fehlte indes jede Spur. Genauso wenig konnte Minerva ein Anzeichen für die Anwesenheit der Lestranges erhaschen.

Trockenes Gras pikste in ihre Pfoten, als sie aus dem Schutz der Hecke in Richtung Schaukel huschte. An einer Reihe kümmerlicher Büsche hielt sie schnuppernd inne. Wie eine gewöhnliche Hauskatze gab sie vor, auf der Jagd nach einer Maus zu sein, während sie in Wirklichkeit die Augen über alle Winkel des Parks gleiten ließ.

Da, am Stamm einer dicken Eiche, lehnte jemand! Die Ohren gespitzt, pirschte Minerva näher. Doch sie wurde enttäuscht – es war nur ein Junge, der im Schatten des Baumes stand und eindeutig zu den Mädchen hinübersah. In die Gestalt eines gerade mal Zehnjährigen in verwaschenen Klamotten würden sich wohl weder Bellatrix noch Rodolphus verwandeln. Oder?

Misstrauisch legte Minerva den Kopf schief. Warum allerdings sollte der Junge so verstohlen zu den Mädchen, die sich inzwischen lauthals zankten, hinübersehen? Das war nicht unbedingt das gewöhnliche Verhalten in diesem Alter.

Ganz in ihre Überlegungen vertieft, wurde Minerva vom heimlichen Beobachter erspäht. Ein schüchternes Lächeln schlich sich auf seine Züge und der Junge beugte sich hinunter, eine Hand in ihre Richtung ausgestreckt.

Oh wie sie es hasste! In ihrer Animagusform mit wenig geistreichen Lockrufen bedacht oder gar gestreichelt zu werden, war Minerva zuwider. Doch einen besseren Vorwand, sich dem merkwürdigen Kind zu nähern, gab es nicht. Misstrauisch hielt sie auf die zaghaft vorgestreckten Finger zu und gab sich ihrerseits ganz wie eine scheue Katze. Die Schnurrhaare voraus, wittere sie.

Ein feines Kitzeln der Magie ging von dem Jungen aus. Genauso unbeholfen wie bei dem rothaarigen Mädchen. Höchstens eine Spur ausgeprägter ... akzeptierter. Zudem roch er kein wenig nach Verlies, Feuer oder Zaubertranksubstanzen. Obwohl ... ein bisschen Diptam vielleicht. Ja, ihm haftete der Geruch magischer Wundheilsalbe an. Abgesehen davon war er tatsächlich nur ein Kind, so fern Minerva das beurteilen konnte. Ein weiteres, magiebegabtes Kind.

Mit einem Lächeln streichelte der kleine Zauberer über ihr dichtes Nackenfell und unwillkürlich stellten die Haare sich auf, doch Minerva hielt der Tarnung zuliebe still.

»Wo kommst du denn her?«, murmelte der Junge halblaut. »Dich hab ich hier noch nie gesehen. Bist du vielleicht die neue Katze der Castlemans? Du hast gar kein Halsband ...« Während er sprach, huschten seine Augen immer wieder zwischen Minerva und den beiden Mädchen hin und her.

Sie folgte seinem Blick und erkannte weiter hinten Elphinstone und Mulciber, die durch das Tor den Park betraten. Schon an der Körperhaltung konnte sie erkennen, dass beide Männer sich gestritten hatten.

Ein Zucken der Finger in ihrem Nackenfell schreckte Minerva aus ihrer Beobachtung auf. Vorwurfsvoll maunzend wandte sie sich zurück zu dem Jungen.

»Oh ...«, hauchte dieser, »entschuldige, ich würde dich gerne besser kennenlernen, aber – ich muss los. Das verstehst du nicht, aber diese Männer sind böse

Minerva stockte. Was hatte er da gesagt? Ein furchtbarer Verdacht beschlich sie.

Der Junge war bereits einige Schritte über den Rasen in Richtung eines zweiten Ein- und Ausgangs verschwunden, als Minerva sich berappelte und ihm folgte. Der Vollständigkeit halber ließ sie ein anklagendes Maunzen hören, das nach weiteren Streicheleinheiten zu verlangen schien. Extra laut, damit Elphinstone und Mulciber hoffentlich mitbekamen, wohin sie verschwand.

Sie erntete einen mitleidigen Blick von ihrem neugewonnen Freund. »Na schön, du kannst mitkommen. Aber nur, bis ich nach Hause muss. Mein Vater ... mag keine Katzen. Oder überhaupt Tiere.«

Auf den Fersen des Jungen folgte Minerva ihm auf eine andere Straße, die nicht weniger normal aussah als die Erste. Weit musste sie dem kleinen Zauberer nicht folgen, bis er vor einem Kiosk an der nächsten Straßenecke hielt. Schon durch die Glasscheiben erkannte Minerva einen Schemen, der ihr nur allzu vertraut war.

Bellatrix Lestrange stand vor dem Zeitschriftenregal und blätterte mit angewiderter Miene in einem selbsternannten ‚Frauenmagazin‘. Hinter ihr lauerte Rodolphus, der seinen Zauberstab einem käsebleichen Dädalus Diggel – gut zu erkennen an dem ausgefallenen Spitzhut – ins Rückgrat bohrte. Über der Ladentheke lag vornübergebeugt ein Muggel. Ob bewusstlos oder tot war schwer zu sagen.

Bestürzt sah Minerva von unten zu ihrem Begleiter hoch. Der Junge hatte seine Hände zu festentschlossenen Fäusten geballt. Wusste er, was er da tat? Nein, unmöglich, beschloss sie. Kein Zehnjähriger würde wissentlich die Lestranges unterstützen.

Sie schlich um den Ständer eines Korbs mit Sonderangeboten herum und versteckte sich vor den Blicken der beiden Entführer. Derweil öffnete der Junge die Glastür, sodass ein Glöckchen bimmelte.

»Da sind noch mehr Männer gekommen, wie ihr gesagt habt«, wisperte er aufgeregt. »Schnell, sonst tun sie –«

»Keine Sorge.« Bellatrix lächelte regelrecht sanftmütig. »Wir beschützen deine Freundin. Überlass das uns, du warst heldenhaft genug.«

Ein magieerfülltes Knistern folgte auf ihre Worte – dann stürzte der Junge direkt vor Minervas Augen gen Boden. Reglos.

Im Bruchteil einer Sekunde traf Minerva eine Entscheidung. Noch während sie sich zurückverwandelte, sprang sie aus ihrem Versteck hervor. Einen Arm streckte sie nach dem Jungen aus, mit dem anderen riss sie ihren Zauberstab aus dem Umhang.

»Das reicht!«

Ihr Entwaffnungszauber traf Rodolphus mitten auf die Stirn, direkt über Dädalus Diggels’ Hutspitze. Grunzend stolperte Rodolphus in das Regal hinter ihm und ging in einem Regen aus Scherben und Marmelade zu Boden.

Bellatrix hob den Zauberstabarm, ihre Augen wild aufgerissen, da hatte Dädalus bereits den Stab ihres Ehemannes aufgefangen und setzte ihr mit einem Schockzauber nach. Fluchend sprang Bellatrix beiseite. Den Blick löste sie trotzdem nicht von Minerva.

»Du!«, fauchte sie wie eine Harpyie. »Von allen Freunden Dumbledores habe ich dich am wenigsten erwartet. Die Animagusform kommt wohl mit sieben Leben, was? Nun, dann werde ich sie dir alle nehmen, eins nach dem anderen!«

Ein grüner Lichtblitz jagte nur Millimeter über Minerva hinweg und sorgte dafür, dass ihre Haare sich elektrisch aufluden. Erst da begriff sie, welchen Fehler sie gemacht hatte. Doch für Reue war keine Zeit.

Schützend warf sie sich über den geschockten Jungen und nahm Bellatrix erneut ins Visier. »Ich enttäusche ungern, aber ich gebe nicht auf, solange ich eine Rechnung offen habe!«

»Hahaha!« Bellatrix’ schwenkte den Zauberstab wie einen Taktstock durch die Luft, zu ihrer ganz eigenen Melodie des Chaos. »Oh meine Liebe, haben wir nicht alle offene Rechnungen? Und für dich und deine muggelliebenden Freunde ist jetzt Zeit, meinen Preis zu bezahlen!«

Ihre beiden nächsten Flüche trafen in der Luft aufeinander. Es knallte, dann regnete ein Funkenschauer in dem kleinen Kiosk nieder. Einen Augenblick sah Minerva nichts außer Sternen, inmitten derer Dädalus Merlins Unterhosen verwünschte. Schließlich hörte sie ein Klatschen von Haut auf Haut. Rodolphus stieß einen heiseren Fluch aus, Bellatrix knurrte und Dädalus keuchte.

»Minerva!«

Mulciber. Im Laufschritt eilte er die Straße hinab auf sie zu, den Zauberstab gezogen. Er atmete schwer, einen dünnen Schweißfilm auf der Stirn.

Mit dem Kinn voran wies Minerva auf den Laden, in dem Rodolphus Dädalus mit bloßer Körpergewalt zu Boden rang. Gleichzeitig mühte sie sich, den Jungen aus der Schusslinie zu ziehen.

Ein verzerrtes Lächeln glitt über Mulcibers Züge, als er Bellatrix und ihren Mann erspähte. »Incar-«

Bellatrix schmetterte seinen Fesselzauber ab. »Beschützt etwa niemand die Gören? Was für eine Schande, dabei lagen sie unserem kleinen Freund hier doch so am Herzen ... zumindest die eine.«

Ein Knurren brach zeitgleich mit einem weiteren Zauber aus Mulciber hervor und Bellatrix sprang kichernd zur Seite. Der rote Lichtblitz versengte stattdessen ein Plakat, das für diverse Eissorten warb.

Minerva nutzte die Ablenkung und zielte auf Bellatrix’ Füße. Die Marmelade aus den zerbrochenen Gläsern am Boden verwandelte sich in Kleber, der die Schnürstiefel ihrer Gegnerin an Ort und Stelle fesselte. Das stellte Bellatrix selber fest, als sie Mulcibers nächstem Fluch nicht erneut ausweichen konnte. Gerade rechtzeitig schuf sie einen Schutzschild – der Sekunden später wie eine Seifenblase unter Mulcibers und Minervas kombinierten Zaubern platzte.

Trotzdem lachte Bellatrix wieder. »Ach, ich genieße dieses Tänzchen wirklich – zu schade, dass wir längst haben, was wir brauchen.« Urplötzlich zog sie drei längliche Glasphiolen voller roter Flüssigkeit aus ihrer Tasche und wackelte damit zwischen den Fingern.

Minerva keuchte. »Wie –«

»Ach, sie waren sehr zuvorkommend, die Kleinen. Es hat nur einen Verwechslungszauber gebraucht, damit der Junge die Schwestern hergeführt hat und alle drei ihre Ärmelchen freiwillig hochgekrempelt haben.« Bellatrix zwinkerte und wehrte Mulcibers nächsten Angriff auf die Phiolen mit einer schneidenden Bewegung ab. »Vielleicht tröstet es dich ja, dass du uns wirklich eine große Hilfe warst, sodass wir nicht länger auf die Begleitung unserer Spender angewiesen si-«

»Incendio!«, bellte Minerva dazwischen. Sie hatte genug gehört. Dieses Mal würden die Lestranges ihre gerechte Strafe erhalten!

Mit einem Knistern fraßen sich Flammen aus der klebrigen Marmelade am Boden empor und schlossen Bellatrix ein. Doch anstatt in Panik zu verfallen, kicherte sie. Als wäre das Feuer nur ein angenehmes Kitzeln.

»So nachtragend ...« Mit einem Zungenschnalzen schüttelte Bellatrix den Kopf. »Nun, dank deines Freundes haben wir jedenfalls genug Erkenntnisse gesammelt. Es ist alles bereit, um die wirklich wichtigen Leute schon bald von unserem Fluch zu überzeugen. Und das ist so viel wichtiger, als du oder dieser Kampf ... Bedauere.«

Mit einem kleinen Knicks packte Bellatrix Rodolphus an der Schulter, zerrte ihn über die Flammen hinweg von Dädalus und gemeinsam verschwanden sie in einem Knall, der auf der menschenleeren Straße widerhallte. Nur ihr schwarzes Paar Stiefel blieb in der brennenden Marmeladenkleberpfütze zurück.

Angewidert von ihrer eigenen Magie, löschte Minerva den Brandzauber mit einer harschen Bewegung, bevor sie auf dem Bordstein zusammensank.

»Trollkacke!« Mulciber trat gegen einen der Verkaufsständer vor der Kiosktür und fluchte noch heftiger, als er feststellte, dass der Ständer mit Beton beschwert war.

Im Kiosk rappelte Dädalus Diggel sich derweil vom Boden auf.

»Die Kinder!«, rief er aus, doch Mulciber schüttelte sofort den Kopf.

»Denen passiert schon nichts. Urquart ist bei ihnen geblieben. Wollte wohl nicht den strahlenden Ritter für Minerva spielen. Angeblich liegt es an seinem neuen Zauberstab.«

»Ah ... in Ordnung. Schätze ich.« Dädalus sah verwirrt zu Minerva, ehe er mit einem Seufzen seinen verknitterten Spitzhut hochhob, der ihm im Kampf vom Kopf gefallen war. Marmelade klebte an dem purpurnen Samt. »Es tut mir leid ...«, murmelte er geknickt in Minervas Richtung. »Ich konnte sie alleine nicht aufhalten. Ich meine – ich hab sie gesehen und wusste, dass ich besser Alarm schlage. Aber kaum hatte ich diese Phönixfeder verbrannt, die Albus mir für den Notfall gegeben hat, da haben sie mich überwältigt. Zum Glück habe ich vorher die Bananenschale verzaubert ...«

Noch einmal stieß Dädalus einen tiefen Seufzer aus, ehe er nach seinem Zauberstab suchte. Mulciber drängte sich an ihm vorbei in den Laden, wobei er fast auf seine Finger trat. Ohne mit der Wimper zu zucken, stupste er den Kioskinhaber mit seiner Stabspitze an.

»Was ist mit dem Jungen?«, richtete Minerva sich an Dädalus. »Haben die Lestranges ihm noch irgendetwas getan ...«

Rasch schüttelte der kleine Zauberer den Kopf. »Nein, nein. Sie sind im Park über ihn gestolpert. Offenbar haben sie ihm erzählt, dass sie von der Aurorenzentrale sind und danach war es wohl ein leichtes, ihm einen Verwechslungszauber aufzuhalsen. So habe ich das jedenfalls ihren Gesprächen entnommen.« Ein Schlürfen kam von Dädalus’ Zauberstab, mit dem er die Marmeladenspritzer von seinem Hut entfernte. »Der Junge hat die Mädchen zu den beiden gebracht, nachdem sie mich überwältigt hatten, und zack, haben sie ihr Blut genommen. Oh, ich konnte nichts tun! Sie haben die Armen benutzt wie billiges Werkzeug ...«

Mulciber schnaubte abfällig. »Kinder benutzen, viel tiefer kann man auch nicht sinken.«

Da gab Minerva ihm sogar recht. »Aber weshalb sind sie nicht geflohen, wenn sie längst das Blut hatten? Warum haben sie es riskiert, von uns aufgegriffen zu werden? Das ...«

»... ist unfassbar dumm«, ergänzte Mulciber ihre Worte. »Oder arrogant.«

»Nun ... ja.« Dädalus knetete die Krempe seines Spitzhutes. »Liegt das nicht eng beieinander? Ich fürchte jedenfalls, ihr habt ihnen genau gegeben, was sie wollten. Herausfinden, wen ich alarmiert habe. Den Feind begreifen, so hat es die Verrückte formuliert.«

Betroffen sah Minerva auf ihre Hände hinab. Warum nur hatte sie sich derart hinreißen lassen? Dabei hatte sie sich über den blinden Mut der Gryffindors immer erhaben gefühlt ...

»Oh, wie ich diese Gören hasse!« Verwünschungen ausstoßend, drängte Mulciber sich erneut an Dädalus vorbei und bespritzte dessen frischgesäuberten Hut wieder mit Marmelade. Minervas vorwurfsvollen Blick ignorierte er, als er sich zu ihr und dem Jungen kniete.

»Wir sollten –«, hob sie an, da richtete er den Zauberstab bereits auf die Schläfe des Kindes.

»Obliviate.«

»Mulciber!«

»Was, Minerva?«

»Du kannst doch nicht einfach seine Erinnerungen löschen! Er ist ein Zauberer! Wir sollten mit ihm reden, sehen was er uns erzählt –«

»Oh, glaub mir, es ist besser, wenn er einfach vergisst«, brummte Mulciber unwirsch. »Genauso wie der Muggel da drin. Dann ist das hier nie geschehen, verstanden? Wir können keine Fragen des Ministeriums gebrauchen, warum wir hier eigenmächtig handeln. Sonst kommt man noch auf die Idee, uns in eine Zelle zu stecken.«

Die Hände zu Fäusten geballt ließ Minerva zu, dass Mulciber ihr den reglosen Jungen entzog und ihn zu dem Muggel in den Laden trug, wo er ihn auf einem Stuhl neben dem Tresen absetzte. Anschließend machte er sich gemeinsam mit Dädalus daran, die Verwüstungsspuren von Flüchen und Zaubern zu tilgen.

Minerva schloss sich ihnen an, doch ihre Lippen blieben zu einem harten Strich gepresst. Nicht nur hatte sie den Lestranges verraten, dass sie keinesfalls tot war, die beiden waren erneut entkommen. Und obwohl sie dieses Mal keine Kinder entführt hatten, setzten sie ihre Fluchexperimente fort.

 

Den Rest des Tages saß Minerva starr wie eine Statue auf der Vorgartenmauer des Muggelhaushaltes, in dem Lily Evans zuhause war. Sie sah zu, wie die Familie einen gemütlichen Abend mit Brettspielen verbrachte, der nur dann und wann von einem Streit über unfaires Würfelglück unterbrochen wurde. Es ging den Kindern zweifelsohne gut – sie hatten nicht einmal Wunden von der Begegnung mit den Lestranges davongetragen – und dennoch traute Minerva der Ruhe nicht.

Sie rechnete ständig mit dem erneuten Auftauchen Bellatrix’, mit einem Todesfluch aus dem Gebüsch oder einer Explosion in dem Einfamilienhaus vor ihr. Jede Minute, dachte sie und wartete, die Muskeln zum Sprung bereit. Vergebens.

Die Lichter im Haus waren längst aus, als Elphinstone erschien, sich neben ihr auf der Mauer niederließ und herzhaft gähnte. »Ich weiß, du willst es nicht hören, aber wir sollten gehen. Morgen Abend ist die Veranstaltung von Riddle und seinen selbsternannten Rittern. Es nützt uns nichts, müde und abgeschlagen zu sein.«

Einen Moment lang sah Minerva Elphinstone starr aus ihren Katzenaugen an, dann nahm sie mit einem Seufzen wieder ihre richtige Gestalt an. »Sie kommen nicht zurück, oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Sie werden längst in einem anderen Labor stehen und ihren hässlichen Fluch neu winden. Wenn sie wirklich auf Riddles Veranstaltung damit auftauchen wollen, werden sie heute alle Hände voll zu tun haben.« Einen Moment hielt er inne, dann zog er zwei kleine Phiolen aus der Innentasche seines Umhangs. »Mulciber und ich haben ein paar Muggelhaare und Vielsafttrank für morgen besorgt –«

»Vielsafttrank?«, fiel sie ihm ins Wort. »Aber der ist illegal – außer ihr habt ihn bei der Aufsicht beantragt ...«

»Richtig und – nein. Wir haben keinen Antrag gestellt.«

Minerva hob die Augenbrauen, öffnete den Mund, doch Elphinstone schüttelte nur den Kopf. Er ließ die Schultern hängen und sie traute sich nicht, die Frage zu stellen.

»Ich möchte dir wirklich nicht sagen müssen, woher wir den Trank haben, aber ich bin nicht stolz darauf«, erklärte er leise und trotzdem mit fester Stimme. »Jedenfalls haben wir ihn und bei Merlin, wir werden ihn nutzen. Du weißt genau wie ich, dass es ebenso viele gute Gründe für eine Regel gibt, wie dafür, diese zu brechen. Recht ist schließlich nicht Moral.«

Sie hätte entgegnen können, dass das nicht alle so sahen, verdrängte die Grundsatzdiskussion allerdings zugunsten des konkreten Problems. »Aber warum ausgerechnet Vielsafttrank? Bisher haben unsere Verwandlungen uns doch gute Dienste geleistet.«

»Nun, mit Vielsafttrank sind wir auf der sicheren Seite, falls es Zauberdetektoren oder gar Banne gibt. Darauf werden sie nicht anschlagen, auf gewisse Verwandlungszauber hingegen schon. Und wir können es uns nicht leisten, dass wir im schlimmsten Fall unser Gesicht verlieren – bildlich gesprochen.«

Damit hatte Elphinstone recht. Dennoch konnte Minerva nicht von ihren Bedenken lassen. »Aber was ist mit Rosier? Er wird sich nicht erinnern, diese Version von uns eingeladen zu haben. Ist das nicht ebenso riskant?«

»Ich baue darauf, dass Gideon sich nicht im Detail an sämtliche Hexen und Zauberer erinnert, die er eingeladen hat. Da werden vermutlich mehr Menschen sein, als uns lieb ist.« Seufzend sah Elphinstone auf die Phiolen mit den Muggelhaaren in seinen Händen hinab. »Solange wir wie respektable Reinblüter aussehen, gehen wir hoffentlich in der Menge unter und können uns ungestört umsehen.«

Minerva schlang die Arme um den Unterleib. Ohne ihr wärmendes Katzenfell fror sie. Vielleicht war es aber auch nur die Kälte im Inneren. »Und was, wenn die Lestranges uns durchschauen? Sie wissen dank mir immerhin, dass wir nicht tot sind, sondern ihnen weiter auf den Fersen.«

»Ich weiß, Min, aber weshalb sollten sie? Wir haben eine Einladung, neue Zauberstäbe ... ich wüsste nicht, weshalb irgendwer bei dieser Tarnung Verdacht schöpfen sollte.«

Seufzend sah Minerva auf zum Himmel, an dem die Sterne funkelten. Einerseits hätte sie sofort die Augen schließen und einschlafen können, andererseits wollte sie sich keinen Zentimeter von dieser kalten Mauer fortbewegen. Am allerliebsten aber wollte sie Elphinstone Glauben schenken.

Er blickte sie ernst an. »Wir schaffen das schon, Min. Erstmal müssen wir ja nur Informationen sammeln. Rein und wieder raus, mehr nicht.«

»Und wenn die Lestranges ihren Fluch all den Fanatikern vorführen wollen? Das kann ich nicht zulassen!«

»Ich weiß.« Mit einem tiefen Seufzen schob Elphinstone ihr eine Haarsträhne hinters Ohr, die ihre Augen verdeckt hatte. »Wenn die Situation es zulässt, werden wir einschreiten. Immerhin haben wir dank Archie die Beweise auf unserer Seite. Ich habe nur eine Bedingung.«

»Die da wäre?«

»Du wirst nicht dein eigenes Leben dafür gefährden, sie aufzuhalten.«

Minerva ertrug den eindringlichen Blick, mit dem Elphinstone sie bedachte, kaum. »Regel Nummer vier«, murmelte sie an ihre Schuhspitzen gerichtet. »Rückzug vor Stolz. Ich weiß.« Damit hatte immerhin alles angefangen, bei ihrem ersten Kampf gegen Bellatrix im Ministerium. Da hatte sie dem Grundsatz noch folgen können.

Zu ihrer Überraschung schüttelte Elphinstone jedoch den Kopf. »Daran habe ich ehrlich gesagt nicht gedacht. Ich will dich einfach nicht verlieren. Purer Egoismus.«

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Es brauchte nur eine Sekunde, um es wieder in den Takt zu bringen, doch der Stolperer hallte auch danach in Minerva fort. Sie vergrub die Finger fester in ihrem Umhang. »Dann muss dasselbe für dich gelten.«

Elphinstone saß einen Augenblick reglos da, ehe er ihre Hand ergriff und einen Kuss auf die Fingerknöchel hauchte. »Das ist wohl nur fair.«

Daran anschließend stand er auf und vertrieb Minervas Gedanken darüber, dass dieser Moment in all seiner Imperfektion doch die perfekte Vorlage war.

»Na komm, lass uns nach Hause gehen«, bat er. »Albus hat Emmeline Vance Bescheid gegeben. Sie wird heute Nacht hier Wache halten, für den Fall der Fälle.« Er zog sacht an ihrer Hand. »Bitte, Min.«

Ein kleines Lächeln auf den Lippen, ließ Minerva sich von Elphinstone hochziehen und forttragen, an den – äußerst perfekten – Loch Ness.

Fallendes Herz, fliegender Schnatz

In Anbetracht der zu erwartenden Ereignisse des morgigen Tages wäre es vernünftig gewesen, schlafen zu gehen. Sehr vernünftig. Doch als Minerva Hand in Hand mit Elphinstone am Loch Ness landete, wusste sie, dass weder er noch sie jetzt Ruhe finden würden.

So war es immer. Je müder sie sich fühlte; je mehr ihr der Tag abverlangt hatte, desto mehr Zeit brauchte sie, die Entspannung wieder zuzulassen. Egal ob am Abend nach einem Quidditchspiel oder einer wichtigen Prüfung, Minerva hatte schon unzählige Male alleine an einem Fenster gesessen und die Stille Hogwarts’ genossen, während die Nacht voranschritt. Da würden sie ihre Gedanken besonders heute, wo ein Ereignis das nächste gejagt hatte, noch lange wachhalten.

Als ob Elphinstone es ahnte, geleitete er sie nicht zu ihrem Gästezimmer, sondern in die Küche, die nur vom Mondlicht beschienen wurde. Auf ein Schnippen seines Zauberstabs hin flogen zwei Tassen aus einem Schrank herbei und stellten sich mit einem sachten ‚Klack‘ auf die Anrichte neben ihnen.

Elphinstone atmete aus. Plötzlich fasste seine Hand in Minervas sich viel weicher an, obwohl er sie nach wie vor fest drückte. Die Anspannung, die sie beide schon zu lange bestimmt hatte, fiel in großen Brocken von ihm ab.

»Earl Grey?«, erkundigte er sich leise, während er mit einem weiteren Zauber die Ingwerkeksdose herbeirief. »Oder doch lieber heiße Schokolade?«

»Dem Schlaf zuliebe die Schokolade.« Minerva fing die schottenkarogemusterte Blechdose aus der Luft und täuschte gar nicht erst Zurückhaltung vor, sondern schnappte sich gleich zwei Kekse auf einmal.

Die Bewegung entlockte Elphinstone ein Zucken der Mundwinkel. Sobald er sah, wie sie noch einen Dritten nahm, wuchs es sich zu einem Grinsen aus. »Kommt sofort. Insofern neben all den Keksen noch Platz bleibt.«

»Aber sicher. Kekse sind schließlich etwas ganz anderes.«

»Stimmt, hätte ich mir auch denken können.«

Elphinstone gluckste und ließ mit der Begeisterung eines Elfjährigen, der die ersten Zaubersprüche übte, Zucker, Milch, Sahne, Zimt, Schokolade und sogar ein Päckchen Mini-Zuckermäuse herbeifliegen. Wie schon die Tassen landeten die einzelnen Behälter punktgenau auf dem Tresen. Zufrieden strahlte Elphinstone sein Werk an, dann hob er einem Dirigenten gleich beide Hände und sorgte mit reichlich dramatischem Gestus dafür, dass die Zutaten in einen Topf auf dem Herd sprangen.

Zum Glück stand er für die kleine Showeinlage mit dem Rücken zu Minerva, denn andernfalls hätte er gesehen, wie sie die Augenwinkel mit dem Umhangsaum abtupfte und sich darüber gesorgt. Dabei war sie schlichtweg erleichtert. Einen besseren Beweis, dass der Blutfluch wirklich besiegt war, hätte er nicht liefern können.

Es dauerte nicht lange, bis ein herrlicher Duft die Küche erfüllte und Elphinstone Minerva einen der beiden Becher reichte – mitsamt gewaltiger Sahnehaube, garniert von den winzigen Zuckermäusen. Die heiße Schokolade schmeckte ungleich köstlicher als jene in der ersten Nacht hier. Auch wenn daran nur die äußeren Umstände schuld waren – immerhin fürchtete Minerva dieses Mal nicht, dass Elphinstone sterben würde –, verbrannte sie sich dafür gerne die Zunge.

»Hast du Lust auf einen kleinen Mitternachtsspaziergang?«, fragte Elphinstone in ihre genießerische Stille hinein. »Es gibt da einen Ort, den ich dir gerne zeigen würde. Wenn du magst. Es ist zwar dunkel, aber das Geheimnis eines schönen Gartens ist, dass er bei jeder Tageszeit etwas zu bieten hat. Und ich behaupte einfach mal, dass mein Garten diese Voraussetzungen erfüllt.«

»Dein Garten?« Überrascht hob Minerva den Blick von ihrem vierten Keks, der sich in der heißen Schokolade auflöste. »Nicht eher der deiner Eltern oder Schwester?«

Elphinstone schmunzelte. »Auf dem Papier vielleicht. Aber in der Realität hat keiner von denen die Muße, sich um einen hübschen Garten zu bemühen. Meine Eltern haben ausschließlich Interesse an den ollen Nutzpflanzen auf ihren Plantagen und Eilean an allem, was sich verfüttern oder zum Heilen nutzen lässt. Aber für Schönheit hat hier niemand ein Auge. Dementsprechend ist der Garten mein Reich. Als Ausgleich für meine viel zu kleine Wohnung in London darf ich mich hier austoben.«

»Oh.« Gedanklich suchte Minerva nach dem Hinweis darauf, dass sie das eigentlich wissen müsste. War sie so eine schlechte Freundin, dass sie das vergessen hatte? »Ich hab irgendwie angenommen, dass du deinen grünen Daumen von deinen Eltern hast und die genauso verrückt sind wie du.«

»Ah – nur bedingt. Es hat schon seinen Grund, warum Ella das Unternehmen übernehmen wird und nicht ich. Dafür wäre ich nämlich überhaupt nicht geeignet. Ich bin bloß der komische Sohn, der seine Zeit mit ‚nutzlosen‘ Pflanzen verschwendet.« Die darauffolgenden Worte flüsterte Elphinstone, als wären sie etwas Unanständiges: »Sogar mit Muggelzüchtungen.«

»Himmel, jetzt fühle ich mich wie die schlechteste Freundin aller Zeiten.« Betreten senkte Minerva ihren angebissenen Keks. »Ich hatte keine Ahnung ... Dabei dachte ich immer, ich wüsste alles Wichtige von dir.«

»Du nimmst das jetzt nicht wirklich so ernst, oder? Denn wenn doch –«, Elphinstone stupste die Keksdose über den Küchentresen weiter in ihre Richtung, »dann muss ich dir sagen, dass du definitiv noch einen Keks brauchst. Es ist nur ein Garten, Minerva. Nicht etwa ein Ehemann, den ich jahrelang vor dir versteckt habe.«

Und schon dachte Minerva wieder an Archie. Sie seufzte.

»Ich weiß, vielleicht hätte ich eher erwähnen sollen, wer Archie ist. Andererseits wusste ich genauso wenig von einem gewissen Herrn mit knackigem Hintern. Wollen wir uns wirklich an der Vergangenheit aufhängen? Immerhin war das, bevor wir uns überhaupt kannten. Jetzt sind wir hier und in diesem Moment gibt es niemanden, der mir näher ist als du, das kannst du mir glauben.«

»Trotzdem ...« Minerva wies mit dem Keks aus dem Fenster. »Warum haben wir nie darüber gesprochen? Das ist doch wichtig!«

Ihre offene Entrüstung brachte Elphinstone zum Lachen. »Weil du dem Thema ‚Grünzeug‘ erstaunlich gut ausweichst.« Er zwinkerte versöhnlich. »Ich weiß ja, wie du zu Kräuterkunde stehst, da wollte ich unsere kostbaren Treffen nicht mit solchen Themen verschwenden.«

Die Hitze der heißen Schokolade zog direkt weiter in Minervas Wangen. »Oh Phin. Das tut mir leid ... ich – Merlin, denk jetzt bitte nicht, dass ich mich nicht für deine Hobbys interessiere –«

»Ach Min.« Elphinstone schüttelte den Kopf, weiterhin lachend. »Nur keine Schuldgefühle. In Sachen Quidditch kenne ich sicher auch nicht jedes Detail aus deinem Leben. Man muss sich eben noch etwas für die Zukunft aufheben, nicht, dass man sich plötzlich nichts mehr zu sagen hat. Wobei ich ohnehin nicht erwarte, dass das mit dir je der Fall sein wird.«

Jetzt erst recht verlegen pustete Minerva auf ihre heiße Schokolade. »Trotzdem«, wiederholte sie sich, »das ist nicht unbedingt eine Kleinigkeit über die man nie redet, weil sie so unwichtig ist. Ich meine – wie groß ist der Garten? Das sind ein paar Hektar! Das ... dieser Garten, das ist ein Teil von dir. Quasi ein Lebenwerk! Natürlich will ich davon mehr wissen. Oder sehen.«

Mit einem Funkeln in den Augen reichte Elphinstone ihr die Hand. »Ihr Wunsch sei mir Befehl, Ma’am. Zum Glück weiß ich genau, wo man hier seine Ruhe hat vor anstrengenden Schwestern und Seeungeheuern.«

 

Elphinstone lotste Minerva über gewundene Wege mitten ins Grün der Pflanzen hinein. Es war wie ein Tritt in ein anderes Universum. Vom Hauptweg aus betrachtet war der Garten bereits wunderschön gewesen, doch erst mittendrin enthüllte sich seine volle Pracht.

Handtellergroße Nachtfalter in schillernden Farben tanzten mit Leuchtkäfern um die Wette, während im Dickicht die Grillen musizierten. Und das war nichts gegen die Blüten einiger Blumen, die im Mondlicht von innen heraus leuchteten. Obwohl tiefste Nacht herrschte, erstrahlte der Garten in reinster Farbenpracht.

Von Ehrfurcht erfüllt, umklammerte Minerva ihre Tasse mit beiden Händen. Die Pfade, über die Elphinstone sie führte, ergaben für sie wenig Sinn, doch er schlängelte sich routiniert zwischen den Gewächsen hindurch, sodass sie ihm nur folgen brauchte. Manche Pflanzen zogen sogar ihre Triebe zurück und wieder andere neigten ihre Blütenkelche, sobald sie an ihnen vorbeikamen.

Ein paar Mal hielt Elphinstone inne und ließ die Hand über einzelne Blätter gleiten oder richtete eine geknickte Blüte. Selbst für die giftigen Blumen hatte er einen wohlwollenden Blick übrig. In die Beobachtung dieser besonderen Gartenpflege versunken, fiel Minerva ein paar Schritte zurück und sah dabei zu, wie Elphinstone liebevoll mit einem Gewächs sprach, das offenbar an Schneckenbefall litt.

Nach allem, was sie heute erlebt hatten, kehrten bei diesem Anblick die Tränen in ihre Augen zurück. Wieder war ein Teil ihres Herzens an ihn verloren und sie glücklich darüber, ihn kennen zu dürfen. Ihre Welt ohne Elphinstone wollte sie sich nicht einmal vorstellen.

Er schien ihren Blick auf sich zu spüren, denn er drehte sich um und lächelte, als er ihr geradewegs in die Augen sah. »Entschuldige, ich hab mich ablenken lassen.«

Eine dicke Kröte im Hals, schüttelte Minerva den Kopf. »Schon gut. Ich mag es, dich in deinem Element zu sehen. Nach allem ... Es ist einfach schön, mit dir hier zu sein. Zu sehen, dass es dir gut geht.«

Nicht nur ihre Stimme zitterte bei diesen Worten, auch durch Elphinstones Hände ging ein kleines Beben. Sie sah es daran, wie die heiße Schokolade in seinem Becher schwappte.

»Ach das ...« Wenn sie nicht alles täuschte, errötete Elphinstone gerade. »Ich habe dich nicht hergebracht, damit du mich ansehen musst. Es gibt viel bessere Dinge zu sehen. Komm, es ist nicht mehr weit.«

Er führte Minerva ein paar Meter tiefer in das Grüngeflecht, bis sich hinter einer mannshohen Staude Schlafbohnen die Pflanzen lichteten und einer kleinen Grasfläche wichen, auf der eine einsame Holzbank wartete. Das Erste, was Minerva über die Lippen kam, war ein leises »Wow«.

Ihr war, als würde die nächtliche Brise sämtliche Schrecken des Tages mit sich forttragen. Über ihnen spannte sich der Nachthimmel in all seiner Pracht, dutzende Lichtsprenkel ferner Sterne auf der tintenblauen Unendlichkeit des Universums und darunter der Ausblick auf Loch Ness – eingerahmt von unzähligen Blättern und Blüten.

»Willkommen an meinem Lieblingsort«, sagte Elphinstone leise, auf die verwitterte Bank deutend. »Vielleicht nichts Besonderes im Vergleich zu Hogwarts, aber hier kommt nie jemand her außer mir. Der beste Ort, um einen nicht ganz so legalen Teufelsschlingenableger über die Sommerferien zu verstecken, wie ich herausgefunden habe.«

Die Wärme in seiner Stimme lockte ein Lächeln auf Minervas Gesicht. »Ich hoffe nur, es schleicht sich keine ausgewachsene Teufelsschlinge an mich heran. Ansonsten ist es hier nämlich wunderschön.«

Amüsiert schüttelte Elphinstone den Kopf. »Oh, keine Sorge, Miss Cuddles hat hier keine Schwestern. Solange du den Schlafbohnenstrauch nicht mit deiner heißen Schokolade begießt, sind die Pflanzen hier friedlich.«

»Das ist gut, meine Schokolade teile ich nämlich nicht.« Minervas Lächeln vertiefte sich und sie nahm auf der Holzbank Platz. Für den Augenblick verschlug ihr die Aussicht auf das ruhige Wasser alle weiteren Worte.

Damit war sie offenbar nicht alleine, denn Elphinstone erwiderte nichts, sondern nahm neben ihr Platz, ebenfalls in den Anblick des schier grenzenlosen Loch Ness vertieft. Im Sitzen streifte sein Bein ihres, da die Bank kaum genug Fläche für zwei bot, doch das störte Minerva längst nicht mehr. Im Gegenteil – sie suchte bewusst nach seiner freien Hand und genoss das Gefühl eines Sturzflugs auf ihrem Nimbus 1001, kurz bevor sie den Besen hochriss.

Sie lehnte sich gegen Elphinstone und sog die Wärme auf, die selbst in dieser frischen Nacht von ihm ausging. Sein Geruch schien sie die ganze Zeit über umgeben zu haben, da jeder Windhauch den Duft des Gartens mit sich trug, doch direkt neben ihm bemerkte sie, dass noch mehr dazugehörte, was sie mit Worten allein nicht beschreiben konnte. Wenn Geborgenheit ein Geruch war, dann diese Kombination aus etwas wie Gartengrün, warmer Wolle und frischen Keksen.

Nach allem, was geschehen war, kam Minerva dieses Idyll – und dass sie es genießen durfte – unwirklich vor. Fast schon verboten, wo erst kurz zuvor Menschen gestorben waren.

Diesen Stimmungsumschwung schien Elphinstone zu bemerken, denn er drückte ihre Hand kräftiger. Eine ganze Weile saßen sie einfach nur so da, die Finger fest ineinander verschränkt, den Blick auf den See gerichtet, während die heiße Schokolade in ihren Bechern zusehends abkühlte.

Schließlich war es Elphinstone, der das Schweigen brach. »Danke, Minerva. Danke, dass du mir wieder einmal das Leben gerettet hast. Ich wusste, ich kann auf dich vertrauen.« Seine Mundwinkel hoben sich verschmitzt. »Du bist wundervoll, das sage ich dir gerne noch einmal, im Vollbesitz meiner körperlichen und geistigen Kräfte.«

Die Worte hätten sie eigentlich gefreut, aber Minerva war kein bisschen nach Leichtigkeit zu Mute. »Das war das Mindeste! Immerhin habe ich dich überhaupt erst in diese Sache hineingezogen. Ich hätte alles getan –«

»Minerva, bitte hör auf, dich zu verteidigen.« Elphinstone versetzte ihr einen Stupser mit der Schulter, der ihn allerdings das Gesicht verziehen ließ, als offenbar eine der Wunden auf seinem Oberkörper protestierte. »Und guck nicht so. Für dich hätte ich es auch mit einem Drachen aufgenommen. Vermutlich wäre mir das sogar lieber gewesen. Abgesehen davon – Unkraut vergeht nicht, wie die Muggel sagen würden.«

Irritiert über die letzte Bemerkung sah Minerva von ihrer Tasse auf, in deren Tiefen sie zuletzt gestarrt hatte.

»Stand in dem Gartenmagazin, das du mir gekauft hast.« Elphinstone gluckste.

»Phin, du hättest sterben können – mehrfach!« Sie schnaubte, heftiger als beabsichtigt. »Darüber scherzt man nicht! Was wenn ...«

Er drückte ihre Hand so fest, dass sie die restlichen Worte herunterschluckte. »Minerva. Ich meine es ernst. Hör auf damit. Du machst es nur schlimmer für dich. Lass uns nach vorne schauen, nicht zurück. Erinner dich an das Versprechen, was wir uns gegeben haben.«

Sie seufzte und ließ die Schokoladenreste in ihrem Becher kreisen. Ihr war bewusst, dass sie dieses Versprechen jederzeit brechen würde, solange es sein Leben retten würde. Und wenn sie so dachte, dann er vermutlich ebenfalls.

»Verdammt, du bist sturer als ein Niffler, der Gold wittert!« Elphinstone stellte seine Tasse klappernd auf dem Stein unter der Bank ab und umfasste Minervas Hand jetzt mit seinen beiden. Den Kopf in den Nacken gelegt, sah er zu den Sternen auf. »Nichts hiervon ist deine Schuld, hörst du? Es war die richtige Entscheidung, die Lestranges zu verfolgen. Auch wenn ich dachte, ich würde dich in diesem Keller verlieren – ich bin verflucht glücklich, dass du dein Leben riskiert hast, um meines zu retten. Also hör auf, dich zu entschuldigen. Es gibt nichts zu vergeben. Du bist einfach nur mutig und unfassbar selbstlos, Minerva. Und genau deswegen würde ich auch noch hundert Mal um deine Hand anhalten, selbst wenn ich nie etwas anderes als ein ‚Nein‘ kassiere.«

Der Wind wurde schlagartig kälter und Minerva fröstelte. Schnell nahm sie den letzten Schluck ihrer heißen Schokolade, um das Gesicht hinter der Tasse zu verbergen. Ihre Gedanken schossen hin und her wie lauter goldene Schnätze, unmöglich zu greifen.

Würde er es tatsächlich wagen? Und was würde sie dann sagen, im vollen Wissen um ihre Gefühle?

Aus dem Augenwinkel nahm sie Elphinstones wehmütiges Lächeln wahr. »Keine Sorge, ich frage nicht.« Er holte tief Luft. »Aber da ist etwas anderes, was ich dir sagen möchte. Sagen muss.«

Seine Stimme wurde so leise und sanft, dass die Gänsehaut Minerva eisig den Rücken hinab jagte. Elphinstone drückte ihre Hand fester und sah sie mit einer Wärme an, die es ihr unmöglich machte, fortzusehen.

»Es ist so ...« Sein Blick senkte sich auf ihren Handrücken, über den seine Daumen unablässig strichen. »Mir ist klar geworden, dass ich meinen neugewonnen Mut nicht bloß nutzen sollte, um Dementoren zu töten, sondern dass ich dir auch etwas gestehen muss.«

Sie konnte sich nicht bewegen. Alles an ihr war eingefroren – bis auf ihr rasendes, entflammtes Herz. Sie sah Elphinstone bloß an, der langsam wieder den Kopf hob und sie mit einem schiefen Lächeln ansah.

»Ich liebe dich, Minerva. Hoffnungslos.«

Ihr Herz fiel. Durch ihren Magen und immer tiefer ... und gleichzeitig schwoll das Flämmchen darin an wie unter einem Ausdehnungszauber. Die leere Tasse rutschte aus ihrem Griff, als sie diese beiseitestellen wollte, doch sie hörte das Porzellan kaum auf den Stein schlagen.

Elphinstone schien ebenso wenig Notiz davon zu nehmen. Er blinzelte nicht einmal, sondern schob ihr mit einer Hand eine lose Haarsträhne hinters Ohr und verharrte einen Moment dort. Minerva spürte seinen Puls an ihrer Wange pochen, im Gleichtakt mit den Schnatzflügeln, die sie erfüllten.

»Ich liebe dich«, hauchte er erneut. »So sehr.«

Zehn Heiratsanträge und dennoch hatte Elphinstone ihr nie so direkt seine Liebe gestanden. Verständnis, Zuneigung, Bewunderung – davon hatte er oft gesprochen. Auf viele Arten hatte er beschrieben, was er für sie empfand; warum er das Leben mit ihr zu teilen wünschte. Und ja, irgendwo hatte sie immer gewusst, dass er wirklich verliebt war. Aber die Realität seiner Gefühle in diesen drei Worten zu hören, war anders. Atemraubend.

»Du liebst mich?« Minerva wollte diese platte Frage nicht stellen, doch manchmal war der Mund schneller. Als befürchtete sie, dass das alles nur ein Missverständnis war.

Für einen Moment senkte Elphinstone die Lider, doch das sanfte Lächeln wich nicht von seinen Zügen. »Falls die zehn äußerst ernstgemeinten Heiratsanträge und alles seitdem nicht Hinweis genug waren – ja, ich liebe dich, Minerva. Und ich glaube nicht, dass ich damit aufhören kann. Das hat die vergangenen Jahre schon nicht geklappt. Du bedeutest mir einfach zu viel.«

Sie versuchte, tief einzuatmen, doch es geriet zu einem hektischen Luftschnappen. Die Worte, die sie sich für den perfekten Moment zurechtgelegt hatte, waren mit einem Mal vollkommen durcheinander, als hätte jemand sie einer Packung Bertie Botts Bohnen gleich durchgeschüttelt. Voller Wucht hatte Elphinstones Geständnis sie direkt vom Besen geschlagen und nicht zum ersten Mal fragte Minerva sich, womit sie einen Mann wie ihn verdient hatte.

»Ich erwarte keine Antwort«, fuhr Elphinstone mit festerer Stimme fort und holte sie damit zurück in die Realität. »Habe ich nie. Ich wollte nur endlich ehrlich mit dir sein. Es endlich gesagt haben.«

Alles im Garten schien stillzustehen, genau wie in dem Raum zwischen Zeit und Ort, der sich bei einer Flohpulverreise auftat. Nur länger als ein paar Sekunden.

»Oh Phin ... Ich –« Weiß plötzlich nicht mehr, ob meine Worte überhaupt noch reichen. »Das – Du ...«

Minerva schluckte, doch mit jedem Mal wuchs die Kröte in ihrem Hals, anstatt zu verschwinden. Elphinstone liebte sie. Was hatte er gesagt? Hoffnungslos. Diese Worte hatten Gewicht, so viel Bedeutung ...

Ihre Hand fand von ganz alleine den Weg an seine Wange und sie strich darüber, wie ihre Finger es sich so oft in den letzten Tagen herbeigesehnt hatten. Von dort wanderte sie bis zu seinen Lippen, doch traute sich nicht weiter. Das Ziehen in Minervas Brust wollte allerdings, dass sie nachgab – und herausfand, wonach Geborgenheit schmeckte.

Zuletzt waren sie einander im Anwesen der Lestranges so nah gewesen. Minerva erinnerte sich an ihre Überlegung, ob Elphinstones Lippen wohl so weich waren, wie die Worte, die sie sprachen, und den ersten Kuss, der in seiner Kürze keine Antwort darauf gegeben hatte.

Vor lauter Hilflosigkeit lachte sie gepresst auf. »Es tut mir leid Phin, in mir ist gerade alles so – so aufgewühlt...«

»Alles gut«, erwiderte er in einem Murmeln. »Wie gesagt, du musst nichts darauf erwidern.«

»Denkst du, ich würde das einfach ... ignorieren?« Minerva schniefte leise. »Als wenn ich das könnte. Als wenn ich das wollte. Immerhin habe ich dich ebenso sehr geküsst wie du mich. Weißt du eigentlich, wie viele Gedanken ich mir gemacht habe? Wie oft ich mir herbeigesehnt habe, es noch einmal zu tun? Wie viele Worte ich mir für so einen Moment zurechtgelegt habe?« Sie brachte erneut ein zittriges Lachen hervor. »Erst klaust du mir mein Herz und jetzt die Sprache.«

Elphinstone drehte sich auf der Bank weiter zu ihr, sodass sie einander vernünftig gegenüber waren und nicht länger unbeholfen nebeneinander dasaßen. Seine Augen schimmerten im blassen Licht des Mondes, als er zaghaft lächelte. »Meine Worte können heute Abend für uns beide reichen«, raunte er. »Nicht alles muss ausgesprochen werden, um verstanden zu werden. Und das hier ist mehr, als ich mir je vorzustellen gewagt hätte, so viel ist sicher.«

»Oh Phin ...« Langsam begannen Minervas Mundwinkel zu schmerzen, ob des eigenartig zitternden Lächelns, das sich auf ihren Lippen breitgemacht hatte.

Sie streichelte seine Wange und er bewegte den Kopf ein Stück, bis er einen Kuss in ihre Handfläche hauchen konnte. Dort, wo er sie berührte, prickelte es wie Zauberbrause durch ihren Arm bis in die Brust hinein.

»Sofern du das möchtest, darfst du mich übrigens jederzeit wieder küssen«, flüsterte Elphinstone und sein warmer Atem jagte dem Brausegefühl kalte Schauer hinterher. »Ich würde das nämlich gerne wiederholen, ohne Todesangst im Nacken.« Er drückte seine Lippen ein zweites Mal gegen ihre Hand, wobei er den Blick nicht von ihr löste.

Beinahe hätte Minerva gekeucht. Arbeitete ihr Herz überhaupt noch normal? Oder war sein Schlag so schnell geworden, dass es nunmehr unsichtbar flatterte wie die Schnatzflügel in ihrem Bauch?

»Und was passiert, wenn ich dich ... richtig küsse?«

Elphinstone lehnte sich ein winziges Stück vor, bis die ersten seiner Haarspitzen ihre Stirn streiften. Seine Fingerspitzen berührten ihren Nacken so leicht, als wären sie die Flügel eines besonders neckischen Schnatzes und auf den Lippen unter ihren Fingern bebte sein Atem. »Dann würde mein Herz einen Schlag aussetzen. Bevor ich den Kuss erwidere.«

»Und was wird aus unserer Freundschaft?« Obwohl Minerva nur leise sprach, hatte sie das Gefühl, jedes Lebewesen im Universum müsste sie hören. »Was bedeutet es dafür, wenn wir diesen Schritt wagen? Was, wenn wir einen Fehler machen?«

»Ist es wegen Dougal?«

Sie nickte. »Es ist lächerlich, aber es fühlt sich immer noch an, als würde ich ihn betrügen. Weil ich alles mit ihm hatte und ihn dann verlassen habe. Nur, weil er kein Zauberer ist. Das sagt doch eine Menge über mich aus ... sogar Mulciber hat das erkannt und –«

»Nun, auf Mulciber zu hören ist immer eine schlechte Idee. Ich meine – bin ich nur dein Freund, weil ich zaubern kann? Hätte es für dich etwas geändert, wenn der Fluch Erfolg gehabt hätte und meine magischen Fähigkeiten für immer verschwunden wären?«

Minerva sah ins Leere, bevor sie antwortete. »Nein. Du – du bist ein wundervoller Mensch und deshalb berührst du mein Herz. Wegen all der Dinge, die du getan und gesagt hast – und meinetwegen auch gezaubert. Bloß nicht alleine deshalb. Aber Dougal ist auch ... Er war alles, was ich wollte, und ich – ich war so egoistisch, ihn zu verlassen. Ich habe alles zwischen uns zerstört, weil es mir in Wahrheit nur um mich ging. Und ich habe Angst, dass ich unsere Freundschaft – dich – genauso verlieren könnte.« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich will doch nicht ohne dich sein.«

»Minerva ...« Elphinstone streichelte ihren Nacken, während er nach Worten suchte. »Es ist nicht deine Schuld, dass wir in einer Welt leben, die das Zusammenleben mit Muggeln derart straft. So sollte es nicht sein. Du und Dougal, ihr hättet es verdient gehabt, zusammen glücklich zu sein. Aber leider ist es nicht so und die Erde hat sich trotzdem weiter gedreht. Dougal hat neues Glück gefunden. Und ...« Er holte tief Luft. »Es ist keine Schande, Gefühle für mehrere Menschen in deinem Herzen zu tragen. Ich tue das auch. Jeder Beziehung, die ich mal hatte, gehört ein kleiner Teil von mir. Du wirst Archie nie ersetzen und ich würde mir niemals anmaßen, Dougals Platz einnehmen zu wollen. Keine Liebe ist wie die davor. Keine wie die Erste. Aber jede neue Chance ist die Gelegenheit, etwas Wunderbares zu erschaffen. Nicht schöner, nicht besser, sondern anders.«

Vor einiger Zeit hätte Minerva es sich nicht vorstellen können, Elphinstone bei diesen Worten in die Augen zu sehen und jede Silbe in seinem warmen Atem auf ihrer Haut zu spüren. Sie hätte sich vor der Nähe, der Intimität des Moments gefürchtet. Auch jetzt war ihr, als würde Elphinstone direkt in ihr Innerstes blicken. Jeder Satz fing eine ihrer Sorgen ein und offenbarte ihr, wie gut er sie inzwischen kannte. Doch anstatt sich zu schämen, war sie einfach nur ... erleichtert.

»Bitte denk nicht, dass ich dich zu irgendetwas überreden will«, fuhr Elphinstone fort. »Letztlich bedeutet ein Kuss nur das, was du ihm zugestehst. Wenn wir uns jetzt küssen, kann es alles bedeuten, muss es aber nicht. Egal, wofür du dich entscheidest – es muss sich nicht alles zwischen uns ändern und schon gar nicht von heute auf morgen. Nur so viel, wie du willst, wann du es willst.«

»Und wenn ich möchte, dass sich die Dinge zwischen uns verändern – bleibst du trotzdem mein bester Freund?«

»Ich verspreche dir sogar, immer dein Freund zu bleiben. So lange du es möchtest, will ich derjenige sein, der dich bei deinen Aufsätzen unterstützt, mit dir Zauberschach spielt, dich zum Lachen bringt und dich festhält, wenn du es brauchst. Und ... wenn du es wirklich möchtest, bin ich auch derjenige, der dir unpassende Heiratsanträge macht, von denen wir beide wissen, dass du sie nicht annehmen wirst.«

Elphinstone schob ihr wieder eine Locke aus dem Gesicht. Die Berührung sorgte dafür, dass Minerva erschauderte. Sie kam zu dem Schluss, dass sie es mochte, wenn er ihr Haar auf diese Art berührte. Als würde er den Gedanken aus ihrem Blick lesen, strich er weitere Strähnen zurück, ehe er beide Hände auf ihre Wangen legte.

»Ich liebe dich auch als meine beste Freundin, Min. Und ich werde nie, niemals, erwarten oder gar darauf bestehen, dass daraus mehr wird. Auch nicht, wenn du mich küsst. Ich liebe dich, nicht die Idee, dass du in irgendeiner Form mir gehören könntest. Das wirst du nie. Egal ob als meine beste Freundin, Vertraute oder gar Ehefrau – ich bin immer an erster Stelle dein Freund.«

Einmal mehr fehlte Minerva die Sprache. Sie drückte die Stirn an Elphinstones, die Lider geschlossen, und wünschte, er könnte in diesem Moment wahrlich ihre Gedanken lesen. »Du sagst immer, ich wäre wunderbar, dabei bist du derjenige. Deine Worte sind einfach immer so ... so richtig. Ich kann nicht einmal beschreiben, wie richtig.«

Elphinstone schlug seinerseits die Augenlider nieder und so aus der Nähe war Minerva sicher, dass seine Wangen sich pink färbten. »Das ist doch nichts ...« Er räusperte sich. »Mir ist einfach nur wichtig, dass es sich für dich richtig anfühlt. Du sollst wissen, dass es deine Entscheidung ist – deine allein.«

»Du tust es schon wieder.«

Mit einem Lächeln atmete Minerva tief ein, um ihrer Antwort die benötigte Zeit zum Reifen zu geben. Kühle Nachtluft erfüllte sie und zusammen mit dieser drängten sich ihr unzählige Kleinigkeiten ins Bewusstsein, die ihre Sinne bis eben zurückgehalten hatten.

Wie groß Elphinstones Hände waren, die ihr Gesicht mühelos umfassten. Wie leicht seine Berührungen waren, obwohl er die Stärke hätte, sie viel dringlicher an sich zu ziehen. Wie zärtlich seine Fingerspitzen über ihre Haut strichen. Wie ernst er sie ansah – wie aufrichtig. All das sorgte dafür, dass sie sich vorkam wie in die weichste und wärmste Decke gehüllt.

»Es fühlt sich richtig an«, flüsterte sie schließlich. »In mir ist vielleicht einiges durcheinander, aber eines weiß ich sicher – ich will das hier, Phin. Uns.«

Seine Lippen formten ein Echo ihres letzten Wortes, das seine Augen zum Strahlen brachte. »Uns ... das klingt schön.«

Minerva lächelte und nicht einmal das riskanteste Flugmanöver hätte ihr Inneres derart zum Kribbeln gebracht wie die schlichte Tatsache, dass ihre Hand den Weg in Elphinstones Nacken fand und ihn die letzten Millimeter zu sich heranzog.

Zögerlich legte sie ihre Lippen auf seine; so unbeholfen, dass sie selber fast glaubte, nie zuvor geküsst zu haben. Richtig geküsst. Gewissermaßen stimmte das sogar, denn so wie jetzt – im Garten einer Burg am Loch Ness, in den Armen des Mannes, mit dem sie durch die Hölle gegangen war – hatte es sich noch nie angefühlt.

Wärme. Hunderte gefangene Schnätze. Die gemeinsame Bewegung ihrer Lippen. Zaghaft erwiderter Druck. Das Streifen von Elphinstones Haarspitzen an ihrer Stirn. Donnernder Herzschlag im Wechsel mit seichtem Wellenschlag. Der Geschmack eines Lächelns wie schmelzendes Eis im Sonnenschein.

Die Empfindungen erfüllten Minerva bunten Zauberfunken gleich, die urplötzlich in ihrer Brust erglühten. Sie schmiegte sich enger an Elphinstone und Instinkte so alt wie die Magie leiteten sie dazu, ihre Hand im Haar über seinem Nacken zu vergraben; die Lippen leicht geöffnet. Elphinstones Finger fanden ebenso den Weg zu ihren Locken und das Glutnest in Minervas Brust loderte auf, als er ihre Frisur restlos durcheinanderbrachte.

Dieser Kuss war nicht, wie sie es sich je vorgestellt hatte – oder wie die Erinnerung an ihrer beider ersten (und zweiten) Kuss ihr weismachen wollte – sondern ... mehr. Nicht bloß das kurze, nahezu verschämte Aufeinanderdrücken eines Mundes auf den anderen, aus dem man sich womöglich mit stärkerer Sehnsucht löste.

Wie die Wellen des Sees vor ihnen küssten Minerva und Elphinstone einander mal intensiver, dann wieder hielten sie einen Herzschlag lang inne und badeten allein in dem zarten Streifen ihres Atems. Und endlich hatte Minerva Gewissheit – sanfter als jegliche seiner Worte war nur die Berührung von Elphinstones Lippen.

Selbst nachdem sie sich lösten, verharrten sie nicht weit auseinander. Minerva lehnte sich nur ein Stück zurück, sodass sie Elphinstones Wärme noch spürte, ihn aber richtig ansehen konnte.

Er betrachtete sie unter feinen Wimpern hindurch, die so hell waren, dass sie im Mondlicht silbrig glänzten. Von den Sommersprossen über die Lachfältchen bis hin zu dem rechten Mundwinkel, der wieder höher gewandert war als der linke, sah er wunderschön aus. Der Anblick brannte ein Lächeln auf ihr Gesicht.

»Eigentlich wollte ich dir nur die Aussicht zeigen«, wisperte Elphinstone, die Finger unter ihr Kinn gelegt. »Entschuldige, dass du jetzt gar nichts davon hast.« Er zog sie erneut für einen kurzen Kuss heran und nur allzu bereitwillig ließ Minerva sich hineinfallen.

»Oh, ich habe eine wundervolle Aussicht«, sagte sie, als er sich zurückzog. »Aber dein Garten ist auch schön.«

Ein paar Sekunden starrte Elphinstone sie an, dann schlug er mit einem Schnauben die Lider nieder. Doch das Lächeln auf seinem Gesicht wurde kräftiger. »Und ich dachte immer, Kitsch liegt dir nicht. Ich habe da eine Minerva im Ohr, die sich mit verschränkten Armen über die Paare bei Madam Puddifoots auslässt.«

»Manchmal muss man eben eine Ausnahme machen. Dieser ganze Moment ist schließlich unermesslich kitschig, da kommt es darauf auch nicht mehr an. Außerdem ist es die Wahrheit. Ich sehe dich gerne an.«

»Wenn das so ist ...« Verlegen verklang Elphinstones Stimme und er biss sich auf die Unterlippe, während er offenbar auf einer Erwiderung herumüberlegte.

Schmunzelnd lehnte Minerva ihre Stirn wieder gegen seine und genoss das Gefühl der Ungezwungenheit. Es vertrieb die letzten Zweifel aus ihren Gedanken; befreite sie von dem Phantom enger Taue, die sich um ihren Oberkörper geschlungen und sie zu erdrücken gedroht hatten.

»Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen, aber mir fällt überhaupt nichts Kitschiges als Erwiderung ein«, sagte Elphinstone nach einer Weile mit einem kleinen Seufzen. »Jetzt hast du mir alle Worte geraubt. Na ja, vielleicht später.«

»Lass mich nicht zu lange warten, ich bin gespannt.«

»Du kennst mich. Ich bin ein hoffnungsloser Fall, früher oder später überkommt es mich. Im schlimmsten Fall mache ich dir einen Heiratsantrag.«

Über diese Feststellung mussten sie nach einem Moment der Überlegung beide lachen. Elphinstone legte die Arme um Minerva und sie den Kopf an seine Schulter, wie so oft zuvor, aber doch mit einem neuen Gefühl. Sie traute sich gar, die Beine über seine Knie zu drapieren und ihm so noch ein wenig näher zu kommen.

Der bloße Gedanke an den Kuss erfüllte sie weiterhin mit dem Schnatzjagdgefühl und gleichzeitig war da eine Ruhe in ihrem Kopf, die sie seit Tagen nicht verspürt hatte. Frieden.

Minerva schloss die Augen und atmete tief ein. Sie würde die Erinnerung an diesen Moment brauchen.

Maskerade

»Bereit?«

Eileans Stimme überschlug sich vor Freude geradezu. Sie stand auf halber Treppe, ein Stück vornübergebeugt und hielt Ausschau nach Elphinstone, der unten im Wohnzimmer wartete.

Die ganze Angelegenheit war absolut albern in Minervas Augen, aber Eilean hatte es sich nicht nehmen lassen, ihre Verwandlung mittels Vielsafttrank zur großen Überraschung aufzubauschen. Die kurzerhand selbsternannte Expertin für den »grässlich-hässlichen Modestil der Hexe von gestern« hatte Minerva nicht nur mit ihrer Schminke geholfen, sondern ihr auch diverse Kleider zusammengesucht, die sie in eine respektable Reinblüterin verwandelten. In Anbetracht ihres fertigen Werkes gebar sie sich nunmehr äußerst stolz.

»Es wird dich umhauen, Elph!«, frohlockte Eilean und winkte Minerva näher heran.

Diese gab sich Mühe, ein Augenrollen zu unterdrücken. In den vergangenen Stunden hatte sie genug von Eileans überdramatischer, lauter Art erlebt. Während ihr Haar unter der Zuhilfenahme diverser magischer Mittel in eine Betonfrisur à la Elladora verwandelt worden war, hatte Eilean sie mit der Strenge eines Alston Mulciber ausgefragt. Über ihre Zeit in der Strafverfolgungsabteilung, das Leben in Hogwarts, ihre Familie und das Verhältnis zu Elphinstone. Vor allem über das Verhältnis zu Elphinstone.

Vermutlich hatte Eilean diesen Staatsakt überhaupt nur als Vorwand für die Befragung ersonnen, nachdem sie Minerva und Elphinstone des Morgens im Wohnzimmer vorgefunden hatte – tief schlafend. Laut eigener Aussage hatte sie »noch nie etwas derart Niedliches gesehen« wie Minerva, die auf dem Sofa lag, den Umhang Elphinstones als Decke über sich, ihre Hand fest in eben dessen.

»Euer Anstand bringt mich um«, hatte Eilean verkündet und somit dafür gesorgt, dass Elphinstone vor Schreck gegen den Wohnzimmertisch gestoßen war, da er – erfüllt von diesem potentiell tödlichen Anstand – aufrecht an dem Sofa lehnend eingeschlafen war.

Der Blick, mit dem er seine Schwester daraufhin bedacht hatte, stand jenem Elladoras in nichts nach, was die Kälte darin anging. Es war eine unangenehme kleine Grundsatzdiskussion der beiden Geschwister aufgekommen, in der Sätze gefallen waren wie »Du bist genauso empfindlich wie deine blöden Flitterblumen« und »Es wäre nett, wenn du einfach mal die Klappe hältst«, gefolgt von »Entschuldige, dass ich mich für dein Leben interessiere« und schließlich »Es gibt Niffler, die haben mehr Beherrschung als du!«.

Immerhin hatte Minerva auf diesem Weg herausgefunden, dass die Mauer zwischen ihr und Elphinstone endgültig fort war. Sämtliche selbstauferlegten Grenzen, die ihr vorher Kopfschmerzen bereitet hatten, waren eingerissen und kamen im Morgengrauen nicht zurück. Anstatt sich ertappt zu fühlen, hatte sie Elphinstones Hand erneut ergriffen und damit vor allem Eilean aus dem Takt gebracht.

Es hatte Minerva durchaus vergnügt, den Rädern hinter Eileans Stirn beim Rattern zuzusehen, als Elphinstone nüchtern erklärt hatte, dass es ihnen nicht eilig war, irgendjemandes Erwartungen an ihre Beziehung zu erfüllen. Genug, damit es Eileans folgendes Verhör wert gewesen war.

Besser war nur die Gewissheit, die sie angesichts von Elphinstones Lächeln erfüllt hatte. Er war wirklich noch ihr bester Freund – alles Weitere konnten sie bei Zeiten herausfinden. Gemeinsam. Bis dahin genoss Minerva dasselbe Kribbeln wie in der Nacht, das keine Zelle unberührt ließ, und atmete das tiefe Vertrauensgefühl ein, das von Elphinstone ausging wie Frühlingssonnenstrahlen. Alles war offengelegt und bei Merlin, es fühlte sich gut an.

Auf einmal verstand sie die verliebten Teenager, die in den Schlossecken hockten und mit einem Dauerklebefluch aneinandergehext schienen, erschreckend gut. Elphinstone erneut zu küssen, sobald Eilean den Abgang gemacht hatte, war jedenfalls lange nicht genug gewesen.

Wenn ihnen doch nicht bereits der nächste Einsatz bevorstünde – noch dazu in fremder Haut, die eine ganz andere Art von Hürde darstellte als Minervas Bedenken zuvor.

Eilean bekümmerte all das wenig, was sich daran zeigte, dass sie die Treppe wieder ein Stück heraufkam und Minerva energisch heranwinkte. »Na los, komm schon«, rief sie ungeduldig, »zeig Elph unser Werk!«

Minerva schenkte ihr ein schmales Lächeln, bevor sie an ihr vorbei ins Wohnzimmer hinabstieg. Die Absätze ihrer geliehenen Pumps klapperten unerträglich laut auf den Steinstufen und einmal unten angekommen, wäre sie am liebsten direkt in den Kamin gestiegen. Davor wartete allerdings Elphinstone, der genau wie sie nicht wiederzuerkennen war.

Anstatt seiner warmen grauen Augen musterte sie ein blau-grünes Paar in einem glatten Gesicht, das wirkte, als hätte es nie ein Lächeln hervorgebracht. Die feinen Fältchen, die sonst immerzu an Elphinstones Strahlen erinnerten, fehlten, ebenso wie die verblassten Sommersprossen. Das dunkelblonde Haar, das streng gescheitelt auf seinem Kopf ruhte, tat sein Übriges.

»Oh Merlin«, murmelte eine fremde Stimme, die erstaunlich tief war für den schlanken Körper, dem sie entstammte. »Das ist wirklich ... verflucht, Eily, was hast du nur getan?«

»Es ist perfekt, nicht wahr?« Eilean, die hinter Minerva den Raum betreten hatte, warf sich in einen Sessel und strahlte wie ein Kind, das im Süßwarenladen freigelassen worden war. »Hach Merlin, so wie ihr ausseht bekomme ich direkt Angst, dass ihr gleich etwas vom Ausschuss für die Beurteilung der Gefährlichkeit von Tierwesen faselt und mir das Leben schwer macht.«

Ein hohes, schnaubendes Geräusch ertönte. Es brauchte einen Moment, bis Minerva begriff, dass es von Elphinstone kam und ein Lachen war.

Damit nicht genug – sie musste, zum ersten Mal in ihrem Leben, den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufzusehen. Die Spenderin ihres vorübergehenden Körpers war deutlich kleiner als Minerva, sodass jetzt gut fünfzehn Zentimeter Unterschied zwischen ihr und Elphinstone bestanden.

»Ich hasse es«, murmelte sie und warf einen bösen Blick auf Elphinstones schwarzen Umhang, unter dem er die zauberertypische Variante eines Anzugs trug – ein dunkles Hemd, darüber eine reich verzierte Weste, die am besten im 19. Jahrhundert geblieben wäre, und Hosen mit einer Bügelfalte, an der man sich hätte schneiden können. Sie vermisste seine 50er-Jahre Anzüge und bunten Krawatten jetzt schon.

»Ich bin auch alles andere als zufrieden«, gab Elphinstone zurück und zog eine Grimasse.

Immerhin etwas, das Minerva wiedererkannte. Und je länger sie ihn ansah, desto mehr fiel ihr auf, wie etwa die Art, auf die er seine Hände in die Hüfte stützte.

»Min, ich würde dir ja gerne sagen, dass du gut aussiehst, aber verdammt ...« Elphinstone trat einen Schritt rückwärts und musterte Minerva von den Drachenlederpumps bis zur auftoupierten, hellbraunen Haarpracht. »Ich hab das Gefühl, du bist geradewegs dem Titelblatt der Hexenwoche entsprungen, als Geschäftshexe des Jahres oder so. Das ist unheimlich. Absolut unheimlich.«

»Jackpot«, kam es aus Eileans Richtung, doch sie beide ignorierten ihr selbstgefälliges Kichern.

Vorsichtig umrundete Elphinstone Minerva, wie eine skeptische Katze, die sich nicht zwischen Streicheleinheiten oder Flucht entscheiden konnte. Zusehends nervöser zupfte Minerva an dem schweren Collier, das Eilean ihr aufgezwungen hatte, ganz gleich wie unpraktisch das Gewicht war.

»Sag mal«, hob Elphinstone schließlich an, »ist das ... ein Kostüm meiner Mutter?«

»Eilean hat es größer gehext.« Entschuldigend verzog Minerva das Gesicht und strich den engen, grauen Rock glatt. Mrs Urquart musste eine winzige Person sein, denn die Kleidung hätte im Originalzustand nicht einmal Pippa gepasst und die war nun wirklich zierlich.

»Oh Merlin.« Elphinstone schüttelte den Kopf. »An Ma sah es in meiner Erinnerung nie so ... streng aus. Da hast du wirklich ganze Arbeit geleistet, Eily.«

»Stets zu Diensten.« Grinsend verbeugte Eilean sich, bevor sie pfeifend den Raum verließ.

Minerva war ziemlich sicher, dass es sich bei der Melodie um Celestina Warbecks aktuellen Hit Du hast mein Herz verflucht handelte. Wenigstens war sie so stark geschminkt, dass jegliche Röte keine Chance gegen die Schichten nobler Blässe hatte.

»Oh, ich hasse es wirklich«, gestand Elphinstone unumwunden, kaum, dass seine Schwester aus dem Raum war. »Du siehst großartig aus – auf eine furchterregende Art und Weise. Wie so eine richtige Vorzeigereinblüterin. Merlin, ich sehne mich jetzt schon nach dem Moment, wenn du wieder du bist.«

»Und ich erst.« Minerva kämpfte gegen den Drang an, die Arme vor der Brust zu verschränken – das war in dem engen Kostüm mitsamt Umhang nämlich gar nicht so einfach. »Ganz abgesehen davon, dass dein Anblick auch nur schwer zu ertragen ist. Ich will diesem Mann, in dessen Körper du steckst, ja nicht zu nahe treten, aber dieser Aufzug aus dem letzten Jahrhundert tut nichts für ihn.«

»Zum Glück wird er das nie erfahren, da er ein Muggel ist.« Die fremden Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das es dennoch vollbrachte, elphinstonehaft zu sein.

»Trotzdem, dieser Umhang ist fast so grässlich wie die Heilerumhänge des St. Mungo.«

Elphinstone, der gerade das Kästchen mit Flohpulver vom Kaminsims nahm, hielt inne. »Was hast du denn gegen die?«

»Sie sind limonengrün. Das ist eine furchtbare Farbe. Ich meine – sieh dir Archie an. Dieses Grün steht einfach niemandem.«

Erneut füllte Elphinstones fremdgewordenes Lachen das Wohnzimmer. »Oh je, lass ihn das bloß nicht hören! Er hatte schon immer eine angeborene Skepsis gegenüber Umhängen – wenn er das hört, kündigt er lieber seinen Job und wird Muggelarzt, anstatt noch einmal einen Umhang zu tragen.«

»Ach, es gibt durchaus attraktive Umhänge«, brummte Minerva. »Das ist wahrscheinlich das einzig Positive, was man über die Abteilung für Strafverfolgung sagen kann. Die dunkelblauen Umhänge dort sehen schon edel aus – und sie sind deutlich vorteilhafter geschnitten.«

»Okay ...?« Elphinstone hob eine Augenbraue. »Erzähl mir mehr darüber, was du an meiner Berufsbekleidung nett findest.«

»Das konkrete Wort war attraktiv.« Starr sah Minerva geradeaus, doch sie fühlte, wie Elphinstones Augen auf ihr lagen, während sie beide zeitgleich erröteten.

Einen Moment herrschte Schweigen, dann gluckste Elphinstone leise. Er löste den Blick nicht von ihr, sondern betrachtete sie mit einem breiten Grinsen, fast genauso breit wie Eileans Süßwarenladen-Strahlen.

»Du magst also schöne Umhänge«, stellte Elphinstone fest. Seine fremde Stimme vibrierte voll unterdrückten Vergnügens. »Auch mit Spitzhüten dazu?«

Minerva schnaubte. »Du hast kein Hutgesicht. Und nein, nicht mit Spitzhüten.«

»Aha. Uuuund ... was hältst du von schönen, spitzenbesetzten Rüschenhemden?«

»Du machst dich über mich lustig.«

»Würde ich niemals tun!«

Versöhnlich streckte Elphinstone eine Hand nach ihr aus und Minerva ließ sich von ihm in Richtung Kamin ziehen. Anstatt das Flohpulver endlich hinein zu streuen, sah Elphinstone sie allerdings mit einem vorwitzigen Ausdruck an, der auf seinem wahren Gesicht sicherlich charmant gewirkt hätte.

»Ich versuche nur zu ergründen, womit man dich so beeindrucken kann, Min. Für, äh ... nicht näher bezeichnete zukünftige Gelegenheiten.«

Schmunzelnd stupste Minerva Elphinstone an die Brust. »Hiermit.«

»Mit ... einem grässlichen alten Hemd, das eigentlich ein zweites Leben als Putzlappen führen sollte?«

Diesmal konnte Minerva das Augenrollen nicht zurückhalten. »Natürlich nicht. Ich meine deine inneren Werte. Aber Hemden sind auch gut, nur nicht dieses. Ich mag deine normalen Hemden und Anzüge. Aber du weißt selber, dass du darin gut aussiehst, immerhin trägst du sie ständig.«

Sie erwartete fast, Dampf aus Elphinstones Ohren kommen zu sehen, so rot lief er an. Das Flohpulver in seiner Handfläche hatte er längst vergessen und ein paar Flocken segelten unbeachtet zu Boden.

»Du ... du meinst das ernst?«, stammelte er mit großen Augen.

Es musste der Gryffindormut sein, der Minerva zu einem kühnen Schmunzeln veranlasste. »Falls es gestern noch nicht deutlich geworden ist – ja, ich finde dich attraktiv. Ziemlich sogar und das nicht nur vom Inneren her. Egal ob mit oder ohne Umhang.«

Elphinstones Blick fiel auf das Pulver in seiner Handfläche. »Verflucht«, sagte er, »ich halte es immer für unmöglich, mich noch weiter in dich zu verlieben und dann passiert genau das.«

Nun doch verlegen sah Minerva zu ihren frisch lackierten Fingernägeln herab, die auf dem Verschluss ihrer Handtasche auf und ab trippelten. »Also ... gehen wir?«, fragte sie vorsichtig.

Nicht, dass sie es wirklich wollte, aber Aufschieben brachte nichts. In diesem fremden Körper würde sie den Teufel tun und Elphinstone küssen, wie sie es andernfalls sicher getan hätte.

Ihm schien es ähnlich zu ergehen, zumindest hielt er einen Moment inne, ehe er das Flohpulver in die Flammen streute. »Leider ja. Aber diese Unterhaltung merke ich mir.«

Zum zweiten Mal rollte Minerva die Augen – allerdings mit einem Lächeln. »Tu das. Nur sag Archie nichts von dem Umhang.«

 

Eine Reise durch die Flammen später verblasste Minervas gute Laune wie das Grün der Blätter im Herbst. Nicht einmal das Flohfeuer konnte den kalten Schauer, der ihr über den Rücken jagte, aufhalten. Und das, obwohl sie goldener Lichtschein und fröhliches Stimmengewirr empfingen.

Vor ihr und Elphinstone lag eine geräumige Eingangshalle, die wie jene im Anwesen der Lestranges den Prunk vergangener Zeiten verkörperte. Anstelle von Staub lag jedoch ein floraler Geruch in der Luft und anstatt rostiger Schwerter oder schimmeliger Porträts waren die Wände mit bodentiefen Fenstern versehen, die den Blick auf die untergehende Sonne über dem Meer freigaben.

Direkt hinter dem Kaminrost erwartete sie ein Mann in dunklem Umhang, eine Geheimnisaufspürsonde in den Händen. Wortlos fuhr er sie damit von Scheitel bis Sohle ab. Asche sammelte sich juckend auf Minervas Haut, aber dann leuchtete die Spitze der Sonde grün auf und mit einem Nicken ging der Kerl beiseite. An seine Stelle trat ein Hauself, dessen Rücken so gebeugt war, dass seine Nase fast den Fliesenboden berührte.

»Bitte verlassen Sie den Kamin zügig, werte Ma’am, werter Herr«, schnarrte er. In den Händen hielt der Elf ein Silbertablett mit Getränken, das er ihnen entgegenstreckte, kaum dass sie über den Rost gestiegen waren. »Und bitte genießen Sie die Annehmlichkeiten des Hauses, Ma’am, Sir!«

Beschämt wollte Minerva ablehnen, da hatte Elphinstone bereits zwei Gläser geschnappt und reichte ihr eines davon. Anstatt dem armen Elfen auch nur ein Wort des Dankes hinzuwerfen, drückte er sie mit einer Hand am Rücken in den Raum hinein.

»Nicht«, murmelte er ihr ins Ohr, als sie ein paar Schritte zwischen sich und den Kamin gebracht hatten. »Denk dran, wer wir sind.«

Mit einem Blick in ihr Glas – Goldlackwasser – seufzte Minerva. Eine Katze zu mimen fiel ihr deutlich leichter als diese Scharade. Überhaupt – wessen Gesellschaft musste sie sich anpassen? Wer gab Riddle diese Bühne im eigenen Hause?

Anzeichen dafür, wer in diesem Anwesen residierte, erkannte sie keine. Ein Stück weit hatte sie gehofft, dass ein riesiges Wappen an einer Wand prangen würde, um sie zweifelsfrei zu informieren, welche Familie sich für so eine Veranstaltung hergab. Aber es wirkte, als seien sämtliche Hinweise feinsäuberlich versteckt worden. Der helle Fliesenboden war derart blank geputzt, dass sich die Lichter darin spiegelten, und die wenigen Bilder an den Wänden zeigten ausnahmslos Landschaften. Von der morbiden Atmosphäre eines verfallenden Herrenhauses – oder gar Schwarzmagierverstecks – war dieses Anwesen weit entfernt.

Überwältigt von so viel Prunk, wanderte Minervas Blick durch die Gegend und schließlich wie magisch angezogen zur Decke. Dort hing ein ausladender Kronleuchter, dessen Arme geformt waren wie Nixen – obwohl, nein, sie sah genauer hin – das waren eher Meerjungfrauen, wie sie in Muggelmärchen vorkamen, und keine Nixen wie jene, die im Schwarzen See lebten. Doch damit nicht genug: Jede der Märchenfiguren hielt eine Glühlampe empor, die einer Kerze nachempfunden war.

Minerva sog Luft durch ihre Zähne. Sie packte Elphinstones Ärmel und zupfte daran, damit er sich zu ihr herunterbeugte. »Ein Muggelhaus?«, zischte sie. »Du siehst es doch auch, oder?«

Er folgte ihrem Blick, begleitet von einem kleinen Schnauben. »Oder jemand hat die Vorzüge der Muggeltechnik entdeckt.«

»Wer’s glaubt ...« Prüfend musterte Minerva die Menschenmenge direkt unter dem eindeutig elektrischen Lüster.

Eine ganze Schar Hexen und Zauberer drängte sich dort, und nicht einer schien zu bemerken, dass über ihnen keine Zaubersphären leuchteten. Im Gegenteil, es wurde gelacht, einander kennengelernt und reichlich Goldlackwasser getrunken. Unter anderen Umständen hätte das hier ein Opernfoyer während der Pause sein können – wären da nicht die unverhohlen geringschätzigen Kommentare über ‚Schlammblüter‘ an Minervas Ohren gedrungen. Wobei ... wenn sie recht überlegte, passte sogar das in die magische Oper von Bath.

Es war gut, dass Eilean so viel Zeit in ihre und Elphinstones Aufmachung investiert hatte, denn die meisten Anwesenden waren ähnlich vornehm gekleidet, mit Ausnahme eines Grüppchens aus bürgerlich anmutenden Hexen und Zauberern. Teurer Schmuck funkelte überall, wohin Minerva sah. Ein ganz besonders dickes Collier ruhte um Walburga Blacks noch viel kräftigeren Hals.

Abgesehen von ihr erspähte Minerva wenig Bekannte. Ein paar Gesichter waren ihr aus der Schulzeit geläufig, aber mit niemandem davon hatte sie je freundschaftliche Beziehungen gepflegt. Dafür erkannte sie durchaus Leute, die sie nicht leiden konnte – allen voran die Juniorenreporterin des Tagespropheten.

Rita Kimmkorn stach in ihrem geschmacklosen lila Satinumhang aus der Menge hervor wie eine Riesin unter Hauselfen. Ihr fehlte es an Eleganz, aber das hinderte sie nicht daran, sich lautstark in Gespräche einzumischen, ihre giftgrüne Schreibfeder im Anschlag.

Damit war sie die Einzige der anderen, die sich in den Kreis der Reichen und Reinsten vorgewagt hatte. Oder war es vielleicht umgekehrt und sie wurde als Einzige dort geduldet?

Die weniger feinen Hexen und Zauberer hatten sich jedenfalls in stummer Solidarität eine Ecke erobert, aus der sie nervös das Geschehen beobachteten. Unter ihnen erkannte Minerva auch die Dame im grünen Wollumhang wieder, die erst am vorgestrigen Tag von Druella und Elladora rekrutiert worden war. Die beiden Frauen konnte sie allerdings nirgends erspähen, genauso wenig wie Gideon Rosier.

Damit waren sie nicht die Einzigen, die Minerva vermisste. Sie hatte so fest mit den Lestranges gerechnet, dass ihr Fehlen sie kein bisschen beruhigte. Elphinstone schien ebenfalls auf der Suche nach ihnen, denn seine Schritte wurden immer kleiner, je näher sie ‚ihren‘ Leuten kamen.

»Na, wenn das nicht meine beiden Lieblingsgäste sind«, rief plötzlich jemand von der Seite. »Wurde auch Zeit, dass ihr euch blicken lasst, ich habe um ein Haar angefangen, euch zu vermissen ...«

Erschrocken wirbelte Minerva herum. Neben ihr stand ein breitschultriger Kerl, der sein langes, schwarzes Haar in einem Zopf trug und damit die Narbe auf seiner Wange prominent betonte. Der Unbekannte prostete ihr mit einem Glas zu, als wären sie alte Freunde.

Zu ihrer Überraschung erwiderte Elphinstone die Geste, ein Lächeln im Gesicht. »Unsere Konkurrenz ist ja auch nicht besonders berauschend, wenn ich mich so umsehe«, sagte er süffisant.

»Wie wahr, wie wahr ...« Das Narbengesicht bleckte die Zähne und beugte sich ein Stück zu Minerva. »Schicker Aufzug im Übrigen. Würde die Kinder im Schloss sicher noch mehr das Fürchten lehren als so schon.« Der Kerl zwinkerte, als er den Rand seines Glases gegen ihres stieß.

Das helle Klirren wirkte wie ein Weckruf. Minerva zwang ein damenhaftes Lächeln auf ihr Gesicht, bevor sie sich zu ihrem neuen Bekannten vorlehnte, eine Hand scheinbar vertrauensselig auf dessen Unterarm gelegt. »Fick dich, Mulciber«, hauchte sie und nahm einen Schluck ihres Goldlackwassers.

»Ich wusste gar nicht, dass wir deinen Anstand schon zu Grabe getragen haben«, entgegnete der verwandelte Mulciber und lachte trocken auf. »Ich dachte, das steht für heute auf dem Plan. Wenn das der werte Schulleiter wüsste ... minus zwanzig Punkte für Gryffindor. Mindestens.«

Für eine gepfefferte Erwiderung blieb keine Zeit, denn mit einem Knall öffnete sich auf der Galerie im ersten Stock eine Tür und Druella trat heraus. Sie trug ein weinrotes Kleid, das sie noch blasser wirken ließ als ohnehin schon, und verkündete mit magisch verstärkter Stimme, dass sich alle hinauf in den Saal begeben sollten, die Veranstaltung würde in Kürze beginnen.

Das falsche Lächeln schmolz von Minervas Lippen. Bewegung kam in die Menge und es trug sie zwischen den Männern die Treppe hinauf. Oben angelangt wurden sie erneut untersucht. Gleich aus mehreren Handtaschen konfiszierten Riddles Anhänger kleine Zaubertrankphiolen und sogar Handcremes. Zum Glück hatte Mulciber ihren Notfallvielsafttrank laut Elphinstone unten deponiert, verborgen von den Blättern einer Zimmerpflanze, deren Namen Minerva sich nicht merken konnte.

Nach der Untersuchung wurden allen Gästen die Zauberstäbe abgenommen. Diese Behandlung rief einigen Unmut auf den Plan, der von den Türwächtern mit Achselzucken und dem Angebot, umgehend die Rückreise anzutreten, beantwortet wurde. Nach intensiven Diskussionen gehorchte selbst Walburga – aber nur aus gutem Willen, wie ihre durchdringende Stimme jeden wissen ließ.

Einer zur Zeit durften die Gäste schließlich über die Türschwelle treten, bei der man sich offenbar an ähnlichen Bannen bedient hatte wie Bellatrix’ Gruppe in Leeds. Zumindest verloren ein paar der Anwesenden urplötzlich ihre Haarfarbe oder offenbarten ihr wahres Alter auf andere Art.

Minerva grub die Fingernägel ins Drachenleder ihrer Handtasche, als sie an der Reihe war. Sie meinte ein Flimmern in der Luft vor sich zu erkennen, doch vielleicht war das auch nur Einbildung. Jetzt lag es nicht mehr an ihr, ob alles gut laufen würde. Den Atem angehalten, ging sie Elphinstone und Mulciber voraus.

Der Zauberbann glitt wie Wasser über sie. Einige Sekunden war sie komplett von seiner unsichtbaren Präsenz umhüllt, dann verschwand der kühle Hauch. Es kitzelte bloß in Minervas Nacken – ein paar Haarsträhnen hatten sich aus dem Kosmetikzauber gelöst, mit dem Eilean sie gebändigt hatte. An ihrer Gestalt jedoch hatte sich nichts geändert.

Erleichtert atmete Minerva aus. Wenn das hier vorbei war, würde sie Mulciber tatsächlich für seine Voraussicht mit dem Vielsafttrank danken.

Hinter dem Bannschutz erwartete sie ein großer Salon, dessen Wände von Bücherregalen geziert wurden. An der Stirnseite des Raumes befand sich eine Erhöhung, auf der Druella, Gideon Rosier und weitere Anhänger ihrer Gruppe warteten. Mit derart vielen Sympathisanten Riddles hatte sie nicht gerechnet. Noch dazu allesamt Menschen mit bedeutenden Nachnamen, die ranghohe Ämter bekleideten, teils im Zaubergamot dienten – Nott beispielsweise oder Avery ...

Elphinstone, der ebenfalls unbeschadet den Bann durchschritten hatte, trat hinter sie und reckte den Kopf, doch Elladora war weiterhin nirgends zu sehen.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Druella und wies auf eine Vielzahl Polsterstühle, die jeweils in Grüppchen um kleine Beistelltische arrangiert waren. Magische Flämmchen brannten in den Öllampen darauf und beschienen den Einband der Büchlein, die daneben auslagen.

Zielstrebig sicherte Mulciber ihnen einen Tisch ganz hinten, mit dem Rücken zur Wand, während der Großteil der Gäste nach vorne strömte, um möglichst nah bei der Bühne zu sitzen. Vom Ende des Raumes bot sich Minerva und ihren Begleitern dafür ein hervorragender Blick auf die Anwesenden, genauso wie auf beide Ein- und Ausgänge. Selbst die Fensterfront hatten sie von ihrem Platz im Visier.

Draußen verschwand die Sonne inzwischen hinter dem Meer und ließ den Raum im Grau der heraufsteigenden Nacht zurück. In diesem schummrigen Licht erinnerte das Anwesen Minerva schon eher an jenes der Lestranges. Um die ungebetenen Gedanken zu verscheuchen, besah sie sich das schmale Büchlein, das auch auf ihrem Tisch auslag.

Eine Gemeinschaft, eine Vision – von der wahren Macht unserer Magie, prangte in silbernen Lettern auf dem Einband. Mit spitzen Fingern blätterte Minerva durch die Seiten. Die Schrift war klein, die Sprache hochgestochen und der Inhalt ebenso schwarz wie die Tinte, in der er gedruckt war.

Ein starkes Großbritannien bedarf einer gesamtheitlichen, magischen Führung, hieß es da unter anderem. Die Muggel sind weder fähig, noch willens, dieses Land angemessen zu regieren. Mit welchem Recht begründen sie also, dass wir unser Leben in ihrem Schatten führen, stets in Angst vor einer Verletzung des Geheimhaltungsabkommens? Mit welchem Recht begründen wir unseren Kindern gegenüber, dass sie ihre Fähigkeiten verbergen müssen? Mit welchem Recht begründen wir uns selber, dass die niederen Muggelstämmigen ein Recht auf unsere Magie haben?

So ging es eine ganze Weile, bis die Einleitung zu einem Schluss kam:

Es gibt nur eine Konklusion, wie das vorliegende Werk beweisen wird: Die Muggel bedürfen zum Wohle aller der Führung durch jene, die ihnen gemäß der Natur überlegen sind – Hexen und Zauberer. Es liegt in der Verantwortung der Reinsten und Stärksten, unser Erbe und Land zu beschützen, ehe der Muggel die Magie derart verwässert hat, dass sie diese Welt für immer verlässt.

Das Schlucken fiel Minerva schwer. Auf den weiteren Seiten waren Bilder, von aufgeschnittenen Gehirnen. Echten, menschlichen Gehirnen, die aufzeigen sollten, wie unzureichend die Gedächtnisleistung der Muggel war. Oder wie die Überschrift des Abschnittes es formulierte – Die verkümmerte Natur des Muggels.

Eine Hand legte sich auf ihre und zog sie von dem Papier weg. Wortlos drückte Elphinstone ihre Finger. Sein Blick flehte sie an, das Werk nicht weiter durchzublättern, doch die kochende Wut in Minervas Eingeweiden zwang sie dazu, es wieder aufzuschlagen. Die Wirklichkeit mit eigenen Augen zu erblicken.

Ein Schleier aus Wut und Tränen trübte ihren Blick. Das war Irrsinn! Wie konnte irgendwer glauben, dass Muggel niedere Menschen waren? Sie müssten nur ihren Vater kennenlernen – er konnte Reden halten wie kein Zweiter. Er war klug, witzig und liebevoll, aber ohne Chance, sich zu verteidigen.

Oder erst jüngst Detective Hammond und seine Männer von der Polizei! Selbst im Angesicht schwarzer Magie hatten Mut und der Sinn für Gerechtigkeit sie nicht verlassen. Die Selbstlosigkeit Hammonds bewies doch genau das Gegenteil – wahre Größe.

Minerva ballte die Hand zur Faust. »Abscheu-«

Mulciber zog ihr das Buch unter den Fingern weg. »Wie reizend, dass es sogar eine kostenfreie Begleitlektüre gibt«, sagte er, sodass der Rest ihres Fluches in seinen Worten unterging. »Sehr umfangreich – und oh, sieh nur, da ist ein ganzer Abschnitt, der sich mit Reformen für Hogwarts beschäftigt. Mehr Stellen für Lehrpersonal, höheres Budget für Unterrichtsmaterialien ... das klingt doch wunderbar vernünftig.« Er warf Minerva einen scharfen Blick zu und blätterte weiter durch die Seiten. Das Gesicht hinter dem Einband verborgen, setzte er im Flüsterton hinzu: »Reiß dich zusammen.«

Sie wandte den Blick ab und drückte Elphinstones Finger, die erneut den Weg zwischen ihre gefunden hatten. Mulciber hatte ja recht, aber sie verabscheute ihn trotzdem dafür. Überall um sie her lachten die Gäste, tauschten sich rege über das Buch aus, nickten gar anerkennend ... Die Luft vibrierte voller Vorfreude auf die Rede Riddles und ihr war speiübel.

Lange musste sie allerdings nicht aushalten, denn Druella vorne erhob unter einem Sonorus-Zauber erneut die Stimme. »Vielen Dank für Ihr zahlreiches Erscheinen heute Abend. Wir sind uns der unbequemen Art unserer besonderen Vorkehrungen bewusst und sind hocherfreut, dass Sie alle die Notwendigkeit solcher Maßnahmen begreifen. Wir leben in unruhigen Zeiten, daher benötigen wir alle eine Absicherung, damit dieses Treffen erfolgreich stattfinden kann.«

Walburga Black schnaubte und murmelte etwas von »der eigenen Verwandtschaft misstrauen, lächerlich«, was Druella mit einem gezierten Lächeln überging.

»Im Folgenden möchte ich Sie eindringlich bitten, während der gesamten Veranstaltung an Ihrem Platz zu bleiben und von Zwischenrufen sowie Störungen aller Art abzusehen. Es wird noch gesondert Raum für Ihre Fragen geben, seien Sie unbesorgt. Nun aber wollen wir recht herzlich unseren Redner des heutigen Abends begrüßen!«

Druella trat zur Seite und wies auf eine schmale Tür zwischen zwei Regalen hinter der Empore. Ihr Pathos rief einiges verstecktes Kichern hervor, doch davon ließ sie sich nicht beirren. Wenn möglich, reckte sie ihr Kinn nur noch höher.

»Er hat ungeahnte Tiefen der Magie studiert, ferne Länder auf der Suche nach ihren Geheimnissen bereist, hat die seltensten Wunder ergründet und in den letzten Jahren mehrere Artikel über die Ursprünge der Magie geschrieben. Seinen umfangreichen Forschungsbericht finden Sie bereits als kleine Aufmerksamkeit vor sich – denn wir alle sind der Meinung, dass bahnbrechende Erkenntnisse nicht nur im kleinen Kreis an magischen Universitäten geteilt gehören, sondern dass Sie alle ein Anrecht auf diese Informationen haben. Begrüßen Sie also mit mir den Begründer unserer Organisation und Vorreiter einer neuen, magischen Welt – den hochgeschätzten Lord Voldemort!«

Vorne klatschte jemand in die Hände und zögerlich folgte der Rest des Raumes. Trotzdem hörte Minerva genau, wie eine Hexe am Nebentisch ihren Begleiter fragte, woher dieser Lord Voldemort überhaupt kam und weshalb sie noch nie von ihm gehört hatte, wenn er doch so viel erreicht hatte.

Am liebsten hätte Minerva ihr gesagt, dass Tom Riddle sicher kein Lord, sondern nur ein völlig durchschnittliches Würstchen war, das in einem Antiquitätenladen zweifelhaften Rufes gearbeitet hatte und maximal an Größenwahnsinn litt. Der bloße Gedanke zerfiel allerdings zu Staub, als er – tatsächlich und wahrhaftig – auf die Bühne trat.

Sie hatte sich getäuscht. Riddle war vielleicht kein echter Lord, aber auch nicht länger der Mann, den Elphinstone und sie 13 Jahre zuvor erfolglos des Mordes verdächtigt hatten. Und selbst damals war er, so ungern sie es zugab, gefährlich gewesen; allen anderen einen Schritt voraus – sonst säße er heute in Askaban ein.

Nein, dieser Tom Riddle vorne auf der Bühne war nurmehr eine Maske, dem Monster im Menschen mehr schlecht denn recht übergestülpt.

»Autsch«, fluchte Elphinstone leise.

Minervas Fingernägel bohrten sich in seinen Handrücken, während sie das Wesen in Riddles Haut anstarrte. Seit dem Ende der 50er-Jahre hatte sie den Mann nicht mehr gesehen und hätte sie dank Albus nicht gewusst, dass er hinter Lord Voldemort steckte, wäre sie nie auf den Gedanken gekommen.

Seine Erscheinung war beinahe überzeugend menschlich – wenn nicht an der ein oder anderen Stelle etwas gänzlich Fremdartiges durchgeblitzt hätte. Sie sah es nur aus dem Augenwinkel und sobald sie genauer hinsah, war es fort. Und doch ... es wirkte, als würde Riddles Maske Falten werfen, einen Riss offenbaren ...

Minerva nahm nur am Rande wahr, wie Elphinstone sich ihrem eisernen Griff entwand, denn Riddle trat vorne an die Kante der Empore, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, und betrachtete die Zuschauer. Aus tiefroten Augen.

Trog das Licht sie? Sie blinzelte. Einmal. Zweimal. Doch ihre Sinne spielten ihr keinen Streich. Riddle hatte Iriden wie Rubine. Kalt und hart. Unmenschlich.

Niemand sprach. Selbst das letzte Rascheln war versiegt – nicht mal Walburga Black fächelte sich länger mit ihrem Büchlein Luft zu. Elphinstones Daumen, der den Weg auf Minervas Handrücken gefunden hatte, strich in Kreisen darüber, doch seine Bewegungen waren fester – angespannter – als üblich. Einzig Mulciber saß noch zurückgelehnt da. Er hob an Minerva gewandt eine Augenbraue, ehe er seine Aufmerksamkeit Riddle zuwandte.

Wobei Minerva nicht zu sagen vermochte, ob in diesem Mann auf der Bühne auch nur eine Spur von Tom Riddle verblieben war. Seine Haut schien bleich wie die eines transsilvanischen Vampirs und derart dünn, dass selbst aus der letzten Reihe jedes kleine Äderchen darunter zu erkennen war. Seine tiefgrüne, fast schon schwarze Robe bildete einen harten Kontrast zu dem wächsernen Äußeren. Im Keller des St. Mungo hätte er in die Reihen der Verstorbenen gepasst und trotzdem wirkte er nicht kränklich.

Einst hatte man dem heutigen Lord Voldemort neben seinem Charme gutes Aussehen zuschreiben müssen, doch nun glich seine Erscheinung einem Raubtier. Je länger man ihn ansah, desto unwirklicher erschien er. Und dennoch hatte er immer noch – oder erst recht? – etwas an sich, das die Leute voller Ehrfurcht zu ihm aufsehen ließ.

»Ich danke dir für deine kleine Vorstellung, Druella.«

Mit einer sachten Geste wies Voldemort auf die Stühle hinter sich und Druella nahm hastig neben ihrem Bruder Gideon Platz. Voldemort indes verharrte einen Moment, als zählte er die Anwesenden, bevor er die Stimme erhob, ganz ohne Zauber.

»Und ich danke natürlich Ihnen, die meiner Einladung so zahlreich gefolgt sind.«

Die Worte verklangen in angespanntem Schweigen. Für einen Augenblick schien Voldemort beinahe zu lächeln. Zumindest flackerte etwas in seinen Glutaugen auf.

»Sie mögen es mir nachsehen, aber ich sehe die vielen Fragen in Ihren Gesichtern geschrieben. Wozu sind wir hier – noch dazu unter diesen Vorkehrungen? Weshalb Sie und nicht Ihre Nachbarn, Freunde, Familie? Nun, die Antwort ist einfach. Unsere Gesellschaft ist entzweit. Schon viel zu lange beherrschen Streitigkeiten die magische Gemeinschaft. Sie kennen es aus dem Tagespropheten, die immergleichen Debatten über Riesenverfolgung, die Aufnahme der Kobolde in den britischen Magierat oder das Curriculum in Hogwarts. Sicher hat ein jeder von Ihnen unzählige Diskussionen ausgefochten, nur um sich alleine vorzufinden, ausgelacht und beschimpft.«

Einige der Anwesenden erlaubten sich ein zustimmendes Seufzen, das Voldemort mit einem knappen Nicken quittierte.

»Genau deshalb sind Sie hier. Sie mögen vielleicht denken, dass Sie und Ihren Sitznachbarn nicht viel eint, doch Ihr aller Blick gilt dem größeren Ganzen, davon haben sich meine treuen Unterstützer selber überzeugen können, bevor sie mit der Einladung zu dem heutigen Abend an Sie herangetreten sind. Sie alle lassen sich nicht blenden von unserem Ministerium und seinen unfähigen Marionetten. Sie haben unser wahres Problem erkannt und verlangen zu recht nach einer Lösung. Und deshalb bin ich hier. Um Ihnen die Lösung anzubieten.«

Die ersten Blicke wurden im Publikum getauscht, zwischen wohlhabenden wie einfachen Hexen und Zauberern. Walburga fächelte sich wieder Luft zu und vereinzeltes Rascheln brachte das Leben zurück in den Raum. Einzig Minerva hatte das Gefühl, mit jedem Wort Lord Voldemorts weiter zu versteinern. Ihre Schultern schmerzten angesichts ihrer steifen Haltung, während hinter ihrer Stirn eine wütende Banshee sang.

Voldemort fuhr in ruhiger, sachlicher Stimme damit fort, über die Spaltung der Gesellschaft, sowie die angeblichen Gründe dafür, zu referieren. Er sprach unterstützt von raumgreifenden Gesten und legte immer wieder kleine Pausen ein, wie auch Minervas Vater es während seiner Predigten zu tun pflegte.

An der Oberfläche klang es nicht einmal verkehrt, dieser Traum von einer magischen Gemeinschaft, die zusammenhielt. In der das Ministerium funktionierte, weil es weniger, aber dafür klare Gesetze gab. Eine Welt, in der es für jeden eine Aufgabe gab, ausgewählt nach persönlichen Stärken.

Viele im Publikum sahen Voldemort verträumt an, während dieser ihnen in knappen Worten das Paradies auf Erden herbeiredete. Sie schienen geistig bereits durch die Welt seiner Träume zu wandeln, denn bisher hatte Voldemort es unerwähnt gelassen, zu welchem Preis seine Pläne kamen.

»So, wie unsere Gesellschaft im Moment strukturiert ist, werden wir diesen Zustand allerdings niemals erreichen«, beendete Voldemort schließlich ihre Träumerei. »Was aber tun?« Sein Blick wanderte von einer Seite zur anderen über alle Anwesenden.

Auf den Stühlen wurde unruhig umhergerutscht. Wie in der Schule gab es jene, die sich kleiner machten, als fürchteten sie, aufgerufen zu werden, während andere leise tuschelten oder sich aufrichteten, bereit ihre Meinung mit der Welt zu teilen. Voldemort aber gab niemandem die Bühne, sondern sprach ungerührt weiter.

»Meiner Ansicht nach gibt es drei eklatante Missstände, die momentan jede Besserung des Zustands verhindern. Das wären zum einen die ewigen Auseinandersetzungen mit den übrigen, magischen Wesen, die keinen Zauberstab führen. Zum zweiten die steten Bemühungen seitens der Regierung und Ministerin, uns mit Verboten und Reglements angesichts von Nichtigkeiten zu überziehen – und drittens, der wohl gewichtigste Grund: Die Macht des gemeinen Muggels über uns.«

Manche Zuhörer nickten bestärkend, doch wieder andere sahen kritisch drein. Mit dieser Wirkung schien Voldemort allerdings gerechnet zu haben, denn er ließ seine Aussage einen Moment nachhallen, ehe er seine Arme ausbreitete und weitersprach.

»Lassen Sie mich eines vorweg klarstellen, damit wir alle die Angelegenheit mit demselben Grundverständnis betrachten – das Streben nach Macht ist Kern jeglicher weltlicher Existenz. Ja, Sie mögen es sich nicht eingestehen wollen, aber wenn wir nichts bedeuten wollten, wären wir von Gleichgültigkeit beseelt. Wir würden dahinvegetieren und einem frühen Tod entgegensehen. Doch es gibt viele Formen der Macht und manch einer mag sich mit wenig zufriedengeben, wie beispielsweise der Bestimmungsmacht über die eigene Familie oder bloß dem eigenen Leben. Aber in unserer aller Gesamtheit ergibt sich ein Streben nach mehr

Das klang schon eher nach dem, wovor Minerva sich gefürchtet hatte. Das war der Lord Voldemort, dessen Flugblätter in der Winkelgasse verteilt worden waren. Nur hinterließen seine geschriebenen Worte nicht halb so viel Eindruck wie diese Rede, vorgetragen mit wohlklingender Stimme und dieser Andeutung eines Lächelns, das keines war, aber doch so wirkte.

»Wir halten also fest«, erklärte Voldemort, »eine jede Lebensform sehnt sich danach, eine andere zu übertrumpfen. Selbst der Feuersalamander frisst die Eier der Aschwinderin. Doch allen voran in diesem Bestreben steht der gemeine Muggel. Er führt nicht einen Kampf, sondern hunderte. Wo er hingeht, triumphiert er über die Natur. Er nimmt sich, was ihm beliebt, und wenn er damit fertig ist, wendet er sich gegen seinen Nächsten. Alleine zu diesem Zweck erschafft der Muggel die gefährlichsten Waffen. Ich denke, die meisten hier Anwesenden sind alt genug, sich an die Verheerungen des Zweiten – oder gar des Ersten – Weltkriegs zu erinnern?«

Betreten sah Minerva auf die Stuhllehne vor sich. Der Zweite Weltkrieg hatte ihre ganze Kindheit in Caithness bestimmt, war sie doch mitten in ihn hineingeboren worden. So etwas sollte sich freilich nicht wiederholen, aber hatte es überhaupt je aufgehört? Die Muggelwelt kannte auch jetzt, Jahre danach, keinen Frieden. Ein Blick in die Tageszeitung hatte es bestätigt. Terror in London, Unruhe in Irland. Ganz zu schweigen vom Rest der Welt.

Sie sah zu Elphinstone, der diese zerrissene Kindheit noch besser kannte als sie. Doch er hatte die Stirn in Falten gelegt und schien nicht an die Einschränkungen durch Rationierungen oder Bombardierungen zu denken.

»In der gleichen Zeit hat Grindelwald überall sonst die magische Welt in Brand gesteckt«, sagte er, ohne sich Mühe zu geben, die Stimme zu senken. »Da können wir uns wirklich nicht rühmen, besser zu sein.«

Druella hinter Voldemort zog die Augenbrauen zusammen, als einige Köpfe sich Elphinstone zuwandten. Das Getuschel schwoll wieder an. Doch Voldemort selber neigte fast schon demütig das Haupt.

»Ganz recht, Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund. Grindelwald hat die magische Welt ebenso in den Krieg geführt. Doch warum? Eben weil sie entzweit ist. Er hat einen Riss gesehen und anstatt ihn zu heilen, hat er ihn genutzt, um sich selber Macht zu veschaffen. Ungeachtet der Tatsache, dass er damit diese Wunde nur vergrößert hat. Er hat Familien auseinandergerissen in seinem Bestreben, Macht über die magische Welt zu erlangen. Denn sein größter Fehler war es, über seinesgleichen herrschen zu wollen.«

Elphinstone starrte Voldemort an. Er presste die Kiefer fest aufeinander, die Hand um Minervas verkrampft. Seine Stimme erhob er trotzdem wieder. »Und über wen wollen Sie herrschen?«

Das Rot in Voldemorts Augen glomm einen Moment auf. »Wer sagt, dass ich herrschen werde? Das haben Sie mir in den Mund gelegt. Sollten es wenn schon nicht eher wir sein, die herrschen?«

Weitere Widerworte brodelten in Elphinstone, das fühlte Minerva an der Hitze seiner Hand auf ihrer, doch Mulcibers Zungenschnalzen schien ihn zur Besinnung zu rufen. In den vorderen Reihen wurde Voldemort derweil fleißig zugenickt und langsam schwand seine Aufmerksamkeit von Elphinstone.

»Für mein Empfinden sollte überhaupt niemand herrschen«, murmelte Elphinstone dennoch trotzig.

Mulciber sah nicht von Voldemort fort, zog aber eine Augenbraue hoch. »Anarchisch geht das Land zu Grunde.«

»Findest du das etwa gut?«

»Das reicht!« Minerva sah böse zwischen ihren Begleitern hin und her. »Wir sind nicht hier, um das zu diskutieren!«

Elphinstone seufzte und wandte sich mit starrem Blick zu Voldemort, der sich wieder auf seine Rede besann.

»Um zum gemeinen Muggel zurückzukehren – wir wären Narren, würden wir glauben, dass sie uns eines Tages nicht gefährlich werden. Nichts ist gefährlicher als der Machtdurst des einfachen Menschen. In blindem Herrscherdrang erfindet er Bomben, die ganze Städte in Sekunden ausradieren können. Dagegen ist Grindelwalds Krieg, mit allem Verlaub, weit weniger verheerend gewesen. Verschließen wir nicht länger unsere Augen vor der Wahrheit. Wir und die Muggel leben nicht in getrennten Welten, auch wenn es so wirken mag. Wir teilen uns diese Welt und wenn sie zugrunde geht, dann wir mit ihr.«

Die Unruhe im Saal schwoll langsam aber sicher an. Doch Voldemort hatte seine Zuhörerschaft nicht verloren, nicht im Mindesten. Einige der Anwesenden tauschten geflüsterte Geschichten aus, wie ihre Stadthäuser bei der Bombardierung Londons zerstört worden waren und wie unheimlich die Angriffe gewirkt hatten – wie Drachen, gegen die ein einzelner Mensch selbst mit Magie wehrlos war.

Jetzt war Minerva ganz sicher, dass Voldemort lächelte. Er schritt über die Bühne und sog stumm die Unterhaltungen in sich auf, bevor er eine Hand erhob. Die Stille kehrte mit voller Macht zurück.

»Nun habe ich eine ganz einfache Frage an Sie – wollen wir darauf warten, dass die Muggel uns enttarnen und zu ihrem jüngsten Feind brandmarken? Wollen wir dem Moment entgegensehen, in dem sie uns einen nach dem anderen ausradieren? Oder gar einen Weg finden, unsere Magie gegen uns zu wenden?«

»Und wie sollen die Muggel das anrichten?«, rief Walburga lautstark dazwischen. »Wir leben schließlich im Verborgenen, wie Sie erst eingangs kritisiert haben.« Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und starrte Voldemort an.

»Fällt Ihnen da gar keine Möglichkeit ein?« Voldemort zog eine dünne Augenbraue in die Höhe. »Immerhin sind Sie doch eine Vorreiterin der Proteste im Ministerium, wenn ich mich recht entsinne. Geben Sie nicht regelmäßig Ihre Meinung über Muggel dort preis? Dann müssen Sie doch einiges über sie wissen.«

Walburga schnaufte. »Ich weiß, dass sie dreckige Schlammblüter hervorbringen, die nicht einmal richtig zaubern können, das reicht mir. Wertloser Abschaum, mehr sind sie nicht!«

Jemand räusperte sich. »Wenn ich dürfte – ich habe da nicht nur eine Vorstellung, sondern ich weiß aus erster Hand, wozu Muggel fähig sind. Und wie sie sich unserer Magie bedienen.« In der zweiten Reihe stand eine schmale Hexe auf. »Ich könnte es Ihnen sogar ... zeigen.«

Minerva hielt die Luft an. Zeitgleich zückten Druella und ihre Sitznachbarn die Zauberstäbe.

»Oh, bitte«, höhnte die Unbekannte, »das wird nicht nötig sein – Mutter

Der Stab in Druellas Hand bebte. »Was – Wie ...?«

Zur Antwort kicherte die Hexe. Und obwohl es nicht ihre Stimme war, das Geräusch erkannte Minerva trotzdem. Elphinstone an ihrer Seite versteifte sich ebenso. Niemand lachte wie Bellatrix Lestrange.

»Ich weiß nicht, Mutter. Vielsafttrank vielleicht?«

»Unglaublich, werte Schwägerin«, zischte Walburga Druella zu. Und lauter fügte sie an: »Damit habe ich nichts zu tun!«

Voldemort widmete den beiden Frauen keinen Blick. Minerva bekam nicht einmal mit, wie er den Zauberstab zog, da richtete er ihn schon auf Bellatrix. Doch deren Kichern verklang selbst dann nicht, als sein Zauber sie traf und ihre Verwandlung dahinschwand, bis ihr wieder schwere, dunkle Locken über den Rücken fielen.

Die Menge holte gemeinsam mit Druella Luft, als diese ihre älteste Tochter anstarrte. Einige Sekunden lang konnte man dabei zusehen, wie Druellas Fassade splitterte – dann ging sie zum Angriff über.

»Du hast nicht hier zu sein!« Druella sprang auf und streckte eine Hand nach Bellatrix aus. In der anderen zitterte ihr Zauberstab. »Komm. Sofort.«

Minerva sah Bellatrix nur von hinten, doch der Widerstand in ihrer Stimme war eindeutig.

»Hast das wirklich du zu entscheiden? Ich bin volljährig und weiß, was ich tue. Es ist Schande genug, dass deine eigene Tochter sich unter falscher Identität einschleichen muss, damit sie die Chance hat, Teil bedeutender, gesellschaftlicher Veränderung zu sein!« Bellatrix wandte den Kopf von ihrer Mutter zu Voldemort. »Abgesehen davon richtet sich mein Angebot an jemand anderen. Es wäre mir neu, dass du für ihn sprichst.«

Entrüstet straffte Druella die Schultern. »Bellatrix, du kommst jetzt sofo-«

»Setz dich, Druella.« Voldemort erhob nicht einmal die Stimme. Er hatte den Zauberstab inzwischen wieder gesenkt und musterte interessiert Bellatrix, wie sie mit vorgerecktem Kinn ihrer Mutter die Stirn bot. »Und du –« Er wies auf Bellatrix. »Wenn du schon die Unverfrorenheit besitzt, diese Veranstaltung zu stören, werden wir alle darüber urteilen, ob deine Einmischung gerechtfertigt ist. Also, Miss –«

»Mrs Lestrange bitte.«

»Also dann, beeindrucke uns mit der Antwort auf die Frage, wie die Muggel sich unserer Magie bemächtigen, Mrs Lestrange.«

»Mit Freuden.« Bellatrix ahmte Voldemorts Haltung nach und verschränkte ebenfalls die Hände hinter dem Rücken. »Wie ich ausführen wollte, bevor ich so unhöflich unterbrochen wurde – die Muggel bemächtigen sich der Magie, indem sie diese von wahren Reinblütern stehlen. Nichts anderes sind Schlammblüter und ihre Angehörigen: Diebe. Die Blutforschung lässt keinen anderen Schluss zu. Leider kann unser von Magie erfülltes Blut missbraucht werden, um gänzlich unbegabten Muggeln gewisse Fähigkeiten zu verleihen.«

Voldemort sah von Bellatrix in sein Publikum, zu Walburga Black, die in ihrem Sitz schrumpfte. »Da hören Sie es, meine Damen und Herren. Unsere Gesellschaft wird in den letzten Jahren geradezu von Schlammblütern überschwemmt. Sollen wir es hinnehmen, dass plötzlich allen Ortes magisch begabte Kinder in Muggelfamilien geboren werden? Diese Kinder sind in sich doch schon ein Bruch des angeblich so hochgelobten Geheimhaltungsabkommens. Sie tragen das Wissen um unsere Welt in die Welt der Muggel, dabei sind sie nicht einmal vollwertige Hexen und Zauberer. Ganz zu schweigen von den fragwürdigen Quellen ihrer magischen Fähigkeiten, über die wenigstens Mrs Lestrange mir gut informiert scheint.«

Druella verzog das Gesicht, ihren Zauberstab in beiden Händen umklammert. Sie sah aus, als wünschte sie, dass Bellatrix sich infolge dieses kleinen Triumphs wieder setzen würde, doch den Gefallen tat sie ihr nicht.

»Oh, ich bin mehr als bloß gut informiert«, erwiderte Bellatrix, nach wie vor an Voldemort gewandt. Sie ballte die Hände am Rücken zu Fäusten. »Immerhin habe ich das Muggelblut selber erforscht. Über Monate hinweg, in mehreren Versuchsreihen, mit diversen Probanden. Bis in den letzten Bestandteil habe ich es aufgeschlüsselt. Und nicht nur das – ich habe die Möglichkeit gefunden, diese Weitergabe von Magie an Muggelabkömmlinge künftig zu vermeiden. Durch Blut und alte Magie.«

Ein Flackern ging durch Voldemorts Glutaugen. Für einen Augenblick sahen alle stumm zu ihm auf, wie er den Kopf langsam zurück zu Bellatrix drehte und sie mit etwas musterte, das Minerva nur als Gier beschreiben konnte. Doch der Moment verflog, so schnell, wie er gekommen war.

»Ein äußerst interessantes wie gewagtes Versprechen«, sagte Voldemort, keine Regung in seiner glatten Stimme. »In jedem Fall weiß ich das Feuer für die richtige Sache zu schätzen. Das, meine Damen und Herren, ist der Einsatz, der unsere Gesellschaft voranbringen wird.«

Er sah hinüber zu Druella, deren Gesicht bleich geworden war. Sie hatte die Lippen zu einem Strich zusammengekniffen, hielt aber seinem Blick stand.

»Ich denke, wir können es Mrs Lestrange ausnahmsweise vergeben, dass sie uns mit ihrer Verwandlung betrogen hat. Immerhin scheint es ganz so, als hätte sie uns einiges zu erzählen.«

Bellatrix’ Fäuste entspannten sich wieder. Sie drückte ihre Schultern ein Stück weiter zurück und Minerva wusste auch ohne ihr Gesicht zu sehen, dass sie unfassbar stolz auf sich sein musste.

»Lassen Sie mich dennoch meine Rede zu Ende bringen«, fuhr Voldemort wieder an sein Publikum gewandt fort. »Eben aufgrund dieser bereits existenten Gefahren sage ich, dass wir uns zusammenschließen müssen, bevor es zu spät ist. Die magische Gemeinschaft muss eine starke Einheit bilden, damit wir diesen Funken des Muggelaufbegehrens im Kern ersticken können, bevor er sich zu einer Flamme auswächst, die unsere ganze Welt in Brand setzt.« Er trat einen Schritt näher an die Kante vor und breitete seine Arme aus. »Lasst uns Retter dieser Welt sein.«

Applaus brandete auf. Minerva schloss die Augen und sank tief in ihrem Stuhl zurück. Es durfte einfach nicht wahr sein. Die Leute konnten nicht so blind sein, dieser Rhetorik zu verfallen! Doch der Beifall hielt an, bis Voldemort ihn mit einem Räuspern unterband.

»Wenn Sie, werte Damen und Herren, Teil der Lösung sein wollen, dann kehren Sie nach der nun folgenden Pause zurück und Sie sollen es nicht bereuen. Vielleicht sollten wir uns einmal ansehen, was Mrs Lestrange bereits vorzuweisen hat. Ich für meinen Teil hätte jedenfalls nichts gegen eine kleine Demonstration dieses Konzepts, von dem sie sprach. Wenn meine Worte Sie allerdings nicht überzeugen konnten, steht es Ihnen natürlich frei, gleich die Heimreise anzutreten.«

Schein oder Sein

»Bellatrix’ Zusammenschluss mit ihm können wir nicht zulassen«, hauchte Minerva. »Wir können einfach nicht.«

Doch niemand hörte sie, dafür sorgte das aufgeregte Getuschel der Menge, als alle Gäste in Richtung Ausgang strömten. Und die Geräuschkulisse schwoll immer weiter an, wie das Rascheln einer Finsternisschote kurz vor der Explosion. Sie verschlang die Worte einfach, die Minerva wieder und wieder vor sich her murmelte, den gesamten Weg vom Salon bis hinab in die Empfangshalle des fremden Anwesens.

Dort waren inzwischen die Vorhänge an den Fenstern zugezogen worden und nur der Deckenleuchter erhellte noch die Halle. Im elektrischen Lichtschein glänzten die von Hauselfen getragenen Silbertabletts, auf denen Canapés angerichtet waren.

Allein der Anblick drehte Minerva den Magen um. Sie hatte die Bilder aus Voldemorts Manifest nicht vergessen – und würde es vermutlich nie. Als wäre das nicht genug, flirrten auch noch Lichter am Rande ihres Sichtfelds entlang und verhöhnten sie damit, immer dann weiterzufliegen, wenn sie den Kopf bewegte.

Für einen Moment fürchtete sie, eine weitere Nachricht von Albus könnte sich in einer spontanen Flamme manifestieren, aber dieses Mal waren die tanzenden Flecken wohl ihrer Anspannung geschuldet. Womöglich auch dem schwindenden Effekt des Vielsafttranks. Bald bräuchte sie wieder einen Schluck. Vorerst hielt sie den Kopf jedoch oben und verschaffte sich einen Überblick.

Neben dem Kamin hatten sich gleich mehrere von Voldemorts Männern mit gezückten Zauberstäben postiert, die den ersten Abreisewilligen ihre Sachen aushändigten, bevor sie diese eigenhändig bis an die Flohpulverflammen heranführten und ihr Verschwinden überwachten. Viele waren es allerdings nicht, die auf den zweiten Part der Veranstaltung verzichten wollten.

Die meisten Gäste fanden sich in Grüppchen zusammen und diskutierten angeregt, teils gar hitzig. Die Trennung von wohlhabenden Reinblütern und Mittelstand, die noch vor zwei Stunden bestanden hatte, war passé. Jetzt mischten sich Umhänge sowie Meinungen aller Art bunt durcheinander. Über dem ganzen Spektakel lag der Klang verzauberter Instrumente, deren sanftes Spiel in harschem Kontrast zu Minervas Stimmung stand.

»Wir müssen etwas unternehmen«, flüsterte sie an ihre Begleiter gewandt.

Mulciber, der dicht hinter ihr ging, schnalzte leise mit der Zunge. »Was hast du vor? Deinen Hals riskieren?« Er drängte sich an den Umstehenden vorbei und trat ihr in den Weg. »Hör zu, du kannst Lestrange nicht hier konfrontieren, wo sie auch noch Rückhalt hat. Das wäre äußerst unklug.«

»Das ist mir auch klar, Alston. Aber du verstehst nicht – etwas muss ich tun. Müssen wir tun.«

Minerva sah sich zu Elphinstone um. Er stand direkt hinter ihr, den Blick misstrauisch auf die übrigen Gäste gerichtet. Eine steile Falte zeichnete seine Stirn.

»Wir sind die Einzigen, die Schlimmeres verhindern können«, pflichtete er Minerva im Flüsterton bei. »Dieser Fluch – ach was, das ganze Gedankengut! – darf sich nicht verbreiten.«

»Und ich dachte, du bist hauptsächlich hier, um Elladora zu helfen«, gab Mulciber kalt zurück. »Hast du sie etwa schon vergessen?«

Elphinstone presste die Lippen zusammen, seine Augenbrauen ein wütender Strich. »Du ... Glaubst du wirklich, ich würde meine eigene Schwester vergessen?« Er schluckte die Wut in seiner Stimme angestrengt hinunter. »Sie ist nicht hier! Oder siehst du sie etwa? Was soll ich deiner Meinung nach also sonst tun? Wenn wir diese Leute aufhalten, wird sie das immerhin auch schützen!«

»Oh Merlin ...« Mulciber rollte mit den Augen und drängte sie ein paar Schritte weiter an den Rand, weg von der Menge und ihren Ohren. »Schön, was ist euer Plan? Auf die Bühne springen und Lestrange festnehmen? Ihr erinnert euch hoffentlich, dass wir auf eigene Faust hier sind, nicht als Ermittler des Ministeriums!«

»Schon klar.« Darum bemüht, ihre verlorene Körpergröße auszugleichen, streckte Minerva die Beine durch und funkelte Mulciber mit verschränkten Armen an. Da war wieder einer der tanzenden Goldfunken vor ihren Augen und sie widerstand nur mit Mühe dem Drang, danach zu schlagen. »Was wäre denn deine Lösung, Alston?«

»Der englische Gentleman – Abwarten und Tee trinken. Auf den Moment warten, in dem die Gegenseite einen Fehler begeht und diesen ausnutzen.«

»Nein.« Minerva schüttelte den Kopf. Mulciber, die umherschwirrenden Lichter und das Gelächter der Menschen im Hintergrund nagten allesamt an ihren Nerven. »Ich sitze nicht da und sehe zu, wie Bellatrix den Leuten ihren Fluch als Lösung verkauft. Ich gebe zu, wir sollten nichts überstürzen, aber mit dem, was wir jetzt wissen, können wir nicht weiter zusehen. Das wäre verantwortungslos.«

»Denkst du, irgendwer würde zulassen, dass Lestrange vor all diesen Leuten jemanden auf der Bühne ...« Seufzend fuhr Mulciber sich mit dem Finger über die Kehle. »Denn das wäre Irrsinn und das wissen diese Leute auch. Voldemort mag wenige Grenzen kennen, aber er weiß, wann es sich lohnt, diese einzuhalten.«

Elphinstone schnaubte leise. »Ich hab schon wieder ganz vergessen, dass ihr dicke Kumpel wart. Wahrscheinlich willst du gar nichts gegen ihn unternehmen, hm? So wie damals, nach der Sache in Northumberland oder bei dem Mord an Hepzibah Smith ...«

Mulcibers Augen verengten sich. »Und ich hatte schon angenommen, du wärst für meine Hilfe ausnahmsweise mal dankbar. Gut, weißt du was – wenn ihr euch unbedingt umbringen wollt, dann nur zu. Aber ohne mich.«

»Wir hatten ja noch gar keine Gelegenheit, über einen Plan zu reden«, gab Elphinstone gepresst zurück. »Es sagt niemand, dass wir alleine die Bühne stürmen sollten. Nur, dass wir etwas tun müssen. Wie zum Beispiel das Ministerium zu involvieren. Eine Abordnung Auroren hätte ganz andere Chancen als wir alleine.«

»Nein.« Die Hände erhoben, schüttelte Mulciber den Kopf. »Das ist nichtmal ein halber Plan. Glaubst du nicht, dass hier Vorkehrungen für das Auftauchen des Ministeriums getroffen wurden?«

»Aber niemand rechnet damit, dass wir die Flohadresse haben«, hielt Minerva dagegen. »Wir sind ihnen gegenüber im Vorteil!«

»Es tut mir leid, aber das ist naiv gedacht. Zumal der Kamin hier überwacht wird, wie du vielleicht bemerkt hast.« Mulciber gestikulierte in Richtung der Zauberer vor der Wandöffnung.

»Wie du willst. Dann genieß doch die Häppchen.«

Mit einem Schnauben schob Minerva sich an Mulciber vorbei und stolperte beinahe über einen Hauself, der ein Tablett mit eben solchen Canapés trug. Das arme Geschöpf duckte sich hastig weg, als es ihre vor Wut zu geballten Fäuste sah. Doch ausnahmsweise war es ihr nur recht, dass man ihr aus dem Weg wich.

Alle, bis auf einer. Elphinstone holte mit seinen dank dem Vielsafttrank deutlich längeren Beinen mühelos zu ihr auf und legte eine Hand an ihren Rücken.

»Wir sollten keine Zeit verschwenden«, flüsterte er ihr auf Gälisch zu. »Wenn wir sofort ins Ministerium reisen, dürfte es noch reichen.«

Sie nickte. »Ja. Lass uns gehen.«

Doch bis zu den Zauberern vor dem Kamin kamen sie nicht mehr. Auf klappernden Absätzen trat ihnen Rita Kimmkorn in den Weg, ihre giftgrüne Schreibfeder wie einen Dolch vor sich gestreckt.

Die Juniorenreporterin des Tagespropheten strahlte mit den Glühbirnen des Deckenleuchters um die Wette. Sie presste ein überquellendes Notizbuch an ihre Brust und den geröteten Wangen nach war sie in Hochstimmung. Wahrscheinlich hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie eine solche Geschichte ausfindig gemacht. Minerva wollte gar nicht wissen, welcher Artikel sich just in diesem Moment unter ihrem Lockenhaar zusammenbraute.

»Oh, wollen Sie etwa schon gehen?«, rief Kimmkorn Elphinstone und ihr scharf entgegen. »Ich hoffe doch, Sie haben Ihren Interviewtermin mit mir nicht vergessen!«

»Bedauere, Sie müssen uns verwechseln«, brummte Elphinstone, während er Minerva an der Reporterin vorbeigeleitete – oder es zumindest versuchte.

Kimmkorn spiegelte seine Schritte mit Leichtigkeit. »Ich denke nicht, dass ich hier einem Irrtum aufsitze.« Sie sah streng drein, bevor sie einen kirschroten Mundwinkel hob und näher herantrat, sodass ihre Federspitze Elphinstone in die Brust stach. Mit gesenkter Stimme setzte sie hinzu: »Ich erinnere mich noch gut an sie, Mr Urquart.«

Elphinstone stockte, seine Hand an Minervas Rücken verkrampft. Trotzdem gab er sein Schauspiel nicht auf, sondern schüttelte augenrollend den Kopf. »Dann muss ich mein Gedächtnis verloren haben, denn ich erinnere mich nicht an einen Ur-irgendwas. Ich bin, ähem ... Gregor McDougal - und jetzt würden meine Begleiterin und ich gerne abreisen.«

Elphinstone machte Anstalten, Kimmkorn mit dem Ellenbogen beiseitezuschieben, doch die Reporterin hielt überraschend fest dagegen. Ihre Lippen hinter der Feder verborgen, rückte sie näher an ihn heran.

»Elladora schickt mich«, wisperte sie, so leise, dass Minerva es fast nicht hörte. »Sie braucht Ihre Hilfe. Sofort.«

»W-was ...?« Elphinstone senkte den Arm. »Woher –«

»Ich hatte vor kurzem ein sehr erhellendes Gespräch mit Mrs Rosier«, erklärte Kimmkorn hastig, »aber jetzt ist nicht die Zeit, um weitere Fragen zu beantworten. Es eilt.« Deutlich lauter und fröhlicher fuhr sie fort: »Bitte, folgen Sie mir doch, damit wir ein ruhiges Plätzchen für unser Interview finden!«

Minervas Blick traf Elphinstones. Sie sah die Gefühle in seinen Augen miteinanderringen. Furcht und Entschlossenheit, Wut und Vorsicht. Er sah hinüber zum Kamin, ihren Zauberstäben, die dort auf sie warteten, und dann zu Kimmkorn, die ungeduldig ihre Feder schwenkte.

Stumm nickte Minerva. Ihre Hand glitt in Elphinstones und sie ging den ersten Schritt in Richtung Kimmkorn, die sich einer Tür zur Seite zuwandte.

»Min«, hob Elphinstone an, doch sie schüttelte den Kopf, in Gedanken bei Robbie, den sie schließlich auch nicht in Gringotts zurückgelassen hatten.

»Deine Schwester ist wichtiger. Lass uns sehen, was wir für sie tun können. Danach können wir immer noch einen Weg finden, Bellatrix Lestrange aufzuhalten. Notfalls improvisieren wir eben doch, wie Mulciber es gesagt hat.«

»Ohne Zauberstab?«, versuchte Elphinstone es wieder. »Noch kannst wenigstens du gehen und Hilfe holen –«

»Nein.« Minerva versteifte sich. »Nein, nein, nein, Elphinstone. Ich lasse dich nicht alleine damit! Außerdem haben wir schon ganz andere Dinge ohne Magie geschafft. Und Elladora wird sich das gut überlegt haben, wenn sie dieses Biest zu uns schickt.« Sie warf einen Blick zu Kimmkorn, die ungeduldig winkte.

Elphinstone sah sie ebenfalls an, dann Minerva und schließlich wieder weg. Er atmete tief ein, doch seine Haltung verriet seine Entscheidung lange, bevor es seine Worte taten.

»Minerva ... danke. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich –«

»Schon in Ordnung.« Ein schmales Lächeln zog an ihren Lippen. »Du hast bereits dasselbe für mich getan.«

In seinen Augen flackerte etwas auf, doch dann beschleunigte er stumm seinen Gang und jetzt war Minerva diejenige, die sich anstrengen musste, um Schritt zu halten.

 

Rita Kimmkorn führte sie geradewegs fort von der Empfangshalle, als wäre das hier ihr Anwesen. Ihre schmalen Absätze klapperten lautstark über die Fliesen, sodass Minerva befürchtete, sie könnte damit Voldemorts Anhänger auf den Plan rufen. Doch es stellte sich ihnen niemand in den Weg. Die Flure schienen ausgestorben, obwohl auch hier alles ordentlich und gepflegt war.

Auf kleinen Beistelltischen standen Vasen voller Herbstblumen – nichtmagische Gewächse, wie Elphinstone Minerva auf ihre Frage hin bestätigte. Das passte zu dem Fehlen jeglicher, sich bewegender Gemälde. Auf den wenigen Landschaftsbildern waren selbst die Vögel im Flug erstarrt.

Von all dem nahm Kimmkorn keine Notiz. Sie wandte nicht einmal den Kopf nach dem altmodischen Wählscheibentelefon um, das in einer Nische an der Wand hing. Minerva allerdings konnte ob dieser skurrilen Kombination aus Reinblutelite und Muggelhaushalt nicht länger an sich halten.

»Wo sind wir hier überhaupt?«, zischte sie Kimmkorn zu. »Das ist doch ein Anwesen von Muggeln, oder nicht?«

Sie bekam keine Antwort.

»Miss Kimmkorn?«

»Elladora wird Ihnen alle Ihre Fragen beantworten.«

»Geht es ihr denn wenigstens gut?«, mischte Elphinstone sich ein. »Warum ist sie nicht selber gekommen? Und wie haben Sie meine Schwester überhaupt getroffen?«

Kimmkorn ging schneller. »Das ist eine längere Geschichte. Aber wir sind gleich da, dann wird sich alles aufklären.«

Elphinstone warf Minerva einen besorgten Blick zu, den sie nur erwidern konnte. Trotzdem folgten sie Kimmkorn eine gewundene Treppe hinauf in den ersten Stock und von dort aus zu einer Tür am Ende des Flures. Dreimal klopfte Kimmkorn gegen das Holz, ehe sie eintrat.

Dahinter lag ein Schlafzimmer, das in Dunkelheit versank. Minerva erkannte nur die Schemen eines großen Himmelbetts. Für mehr reichte der schmale Streifen Mondlichts, der unter den Vorhängen durchschien, nicht aus.

»Ella?«, fragte Elphinstone leise. »Ich bin’s –«

Er zuckte zusammen. Urplötzlich flammte ein Licht in der Finsternis auf, kaum mehr als Kerzenschein. Doch es enthüllte nicht Elladora. Der Blondschopf, der zu dem entzündeten Zauberstab gehörte, war Rowles.

Sein Zauber traf Elphinstone, bevor Minerva auch nur den Mund geöffnet hatte. Wie ein gefällter Baum stürzte Elphinstone zu Boden – und sie folgte ihm sogleich. Sie sah nicht mal, aus welcher Richtung der Lichtblitz kam, der ihr galt. Von einer auf die andere Sekunde war bloß kratziger Teppich unter ihrer Wange.

»Ich habe doch gesagt, dass die Kleine uns nützen wird«, hörte sie einen Mann – nicht Rowle – sagen. Einen Moment begriff Minerva nicht, aber dann schnaubte der Sprechende und seine ganze Stimme veränderte sich. »Pathetisch. Bella hatte recht, sie lassen sich mit ihrer Hoffnung viel zu leicht ködern.«

Rodolphus Lestrange.

Eine Eisenfaust schloss sich um Minervas Herz. Sie versuchte, etwas zu erkennen, doch vom Boden aus sah sie nur Elphinstones Hosenbeine. Ihre Glieder indes verweigerten ihr jeden Dienst. Nicht einmal den Kopf konnte sie bewegen. Die Ganzkörperklammer war perfekt.

»Na, dann wollen wir mal«, sagte Rowle. Er unterdrückte ein Glucksen, während es offenbar seine Schritte waren, die näherkamen. »Du da, geh aus dem Weg! Setz dich hin und stör nicht!«

Rita Kimmkorn sprach kein Wort, doch Minerva ging davon aus, dass es sich bei der Angesprochenen um sie handelte. Bei allen Animositäten, so hatte sie die Reporterin wirklich nicht eingeschätzt. Was mochte sie nur zu diesem Verrat bewegt haben?

»Lumos Solem.«

Auf einen Schlag flutete gleißendes Licht das Zimmer und nahm Minerva auch noch die letzte Sicht. Wie gerne hätte sie die Lider zugekniffen – doch die Ganzkörperklammer ließ sie nicht einmal das bewerkstelligen. Mit tränenden Augen lag sie am Boden und versuchte, alleine anhand der Geräusche zu erkennen, was die beiden Männer taten.

Kleider raschelten. Jemand bückte sich. Dann wurde etwas Großes, Schweres über den Teppich gezogen.

»Tsss, hat er sich etwa einen Muggel ausgesucht für seine Verwandlung? Wie überaus passend für einen Blutsverräter.«

Rodolphus Lestrange murmelte einen Zauberspruch. Einen ziemlich langen und komplizierten. Minerva schnappte nur Fetzen auf. Denudo ... Secretum ... Reverti ... Facies – das war eindeutig eine Verwandlungsformel.

»Auch keine Verbesserung«, kicherte Rowle. »Schade eigentlich, dass man Bellas Andenken so gar nicht sieht. Sie hätte ihn im Gesicht treffen sollen.«

Eine erzwungene Rückverwandlung.

»Aber hey – er hat wirklich keine Fluchmale. Bella hatte recht, die Veränderung des Mischungsverhältnisses hat den Fluch erheblich verbessert.«

»Hm.« Rodolphus klang weniger enthusiastisch als sein Kumpan.

Ohne überflüssige Worte zu verlieren, kam er auf Minerva zu. Wieder murmelte er den Zauberspruch. Denselben, den Voldemort bei Bellatrix verwendet haben musste, allerdings ungesagt. Mit einem einzigen Handschlenker. Nur ein weiteres Indiz dafür, dass Voldemort gefährlicher war als beide Lestranges zusammen.

Dasselbe grässliche Gefühl wie bei Einnahme des Vielsafttranks überkam Minerva. Von innen fraßen sich Flammen durch ihren Körper, die Haare zogen sich kribbelnd in ihre Kopfhaut zurück und Riesenhände zerrten jeden Zentimeter von ihr in die Länge.

Ein Reißen ertönte – der Rock ihres Kostüms platzte entlang der Naht auf. An ihren Wangen hingegen quollen Minerva die Schulterpolster des Blazers entgegen, die ihrer neuen alten Größe nicht gewachsen waren.

»Unglaublich, wie hartnäckig eine einzige Lehrerin sein kann«, fluchte Rodolphus, der sie auf den Rücken drehte.

Endlich sah Minerva wieder etwas, doch was es war, gefiel ihr nicht im Mindesten.

Rowle grinste ihr neben Rodolphus entgegen, seinen Zauberstab zwischen den schmalen Fingern drehend. So liebevoll, wie er das dunkle Holz ansah, und dann wieder sie, war klar, wohin seine Gedanken wanderten.

Ihre Kehle mochte Minerva nicht länger gehorchen, doch in ihren Augen loderten Flammen, als sie den Blick ihres ehemaligen Schülers suchte.

»Oh werte Professor McGonagall, es tut mir so leid, wenn Ihnen mein Cruciatus kein guter Lehrer war«, säuselte Rowle. »Aber Sie legen ja immer so viel Wert auf zweite Chancen, da werden Sie mir die sicherlich gewähren, nicht wahr?«

»Schluss mit den Spielereien!« Rodolphus stieß ihm einen Ellenbogen in die Seite und Rowle verschwand aus Minervas Blickfeld. »Ich muss mich darauf verlassen können, dass die beiden noch leben, wenn ich mit Rosier zurückkehre, klar? Ich will, dass du sie einfach nur bewachst, hast du das verstanden? Du kannst sie später noch benutzen, wie immer es dir beliebt.«

Rowle gab ein theatralisches Seufzen von sich.

»Hast du mich verstanden, Thorfinn?« Der Blick aus Rodolphus’ Augen war eisig. »Rosier grillt uns beide, wenn er sie nicht höchstpersönlich verhören kann. Dann können wir uns das hier alles abschminken. Und bei Merlin, ich werde es nicht ausbaden, wenn du Bellas ganze Arbeit ruinierst!«

»Schon klar, schon klar. Ich wollte doch nur die Angst in ihren Augen sehen.« Wieder lachte Rowle leise.

»Dann kann ich dich hier alleine lassen?«

»Klar. Ich werde unseren beiden Hübschen kein Haar krümmen.«

»Gut.«

Rodolphus sah wieder zu Minerva hinab. Auf seinem jungen Gesicht war keine Regung zu erkennen, nicht einmal Freude. Er presste die Lippen fester aufeinander und wirkte offenbar einen Zauber, denn Minerva fühlte, wie etwas Kühles über ihre Hand- und Fußgelenke strich.

Fesseln?

Der Verdacht bestätigte sich, nachdem Rodolphus sie bis zu dem Pfosten des Himmelbetts zog, wo er den Klammerfluch gegen einen Silencio-Zauber tauschte, bevor er sie mit dem Oberkörper an das Holz lehnte. Die silbernen Seile, die er hinaufbeschworen hatte, schnürten Minerva an den Bettpfosten, sodass sie im Endeffekt wieder genauso bewegungsunfähig war wie zuvor – nur dass sie nun ihre ebenfalls gefesselten Beine und einen Teil des Zimmers sah. Und Elphinstone!

Rowle hatte ihn spiegelbildlich zu ihr an den gegenüberliegenden Pfosten gelehnt. Als der Junge ihren Blick bemerkte, zwinkerte er. Mit einer lässigen Geste schlug er Elphinstones Umhang ein Stück zurück. Darunter sah Minerva einen feucht glänzenden Fleck, der sein Hemd dunkler färbte.

»Ups«, meinte Rowle feixend, »da hat sich wohl beim Sturz eine Wunde wieder geöffnet. Was für eine Schande, dass ihr nicht wusstet, mit welchem Gift Bella ihren Dolch behandelt. Sonst müsste er jetzt nicht so leiden.«

Oh, die Flammen in Minerva loderten immer höher.

»Aber keine Sorge, Professor, er wird daran schon nicht sterben. Was Rosier hingegen mit ihm anstellt, nun – dafür möchte ich nicht garantieren.«

Zauberseile schlangen sich auch um Elphinstones Oberkörper und schnürten die Wunde ein. Ihm kam kein Laut über die Lippen, doch Minerva sah genau, wie der letzte Rest Farbe aus seinem Gesicht wich.

Rodolphus beobachtete die Szene mit gerunzelter Stirn. Schließlich schnalzte er leise, woraufhin Rowle augenrollend von Elphinstone zurücktrat. Einem Schlenker von Rodolphus’ Zauberstab folgend lockerten sich die Seile etwas – doch nicht viel.

»Ein bisschen Blut dürfte Rosier gefallen.«

Mit diesen Worten schlüpfte Rodolphus zur Tür hinaus und ließ sie alleine mit Rowle. Und natürlich Rita Kimmkorn, die Minerva beinahe vergessen hatte.

Die junge Reporterin saß kerzengerade in einem Sessel neben der Tür, die Hände auf den Knien und sah zum Baldachin des Himmelbettes. Das grelle Licht der Zaubersphäre unter der Decke glänzte in ihren Augen, denen ein seltsam ... leerer Ausdruck inne war. Sie schien überhaupt nicht zu registrieren, was um sie her passiert war.

Rowle widmete Kimmkorn ebenso wenig Aufmerksamkeit wie sie ihm. Sein Zauberstab zuckte nur einmal in Richtung des Fensters und schon stand sie auf, um sich davor zu stellen. Demütig senkte sie den Kopf, während Rowle Platz in dem Sessel nahm.

Trotzdem – oder gerade deswegen? – konnte Minerva nicht aufhören, Kimmkorn anzustarren. Die herabhängenden Arme, die schlaffen Mundwinkel ... so hatte sie die Hexe nicht kennengelernt.

»Oh, machen Sie sich jetzt auch noch Sorgen um die da?« Rowle lachte leise auf. »Da würde ich keine Bedenken haben. Das kleine Vögelchen wird schon belohnt werden für ihre so bereitwilligen, wenn auch unfreiwilligen Dienste.«

Grinsend beschrieb er einen Kreis mit dem Zauberstab und prompt drehte Rita Kimmkorn sich auf der Stelle, als wäre sie die Tänzerin in einer Spieluhr.

»Hach ja ...« Mit schiefgelegtem Kopf musterte Rowle das Schauspiel. »Jetzt können Sie nicht mehr sagen, dass ich unfähig bin. Der Imperius ist schließlich die hohe Kunst dunkler Magie. Kann nicht jeder einen anderen Geist unterwerfen.«

Eine ungebetene Erinnerung stieg in Minerva herauf und sie drückte ihre Lippen fester aufeinander. Wenn Rowle nur wüsste, was sie in Gringotts getan hatte ...

Der Junge nahm jedoch keine Notiz von ihrem missbilligenden Blick. Er lehnte sich nur weiter in seinem Sessel zurück und befreite Rita Kimmkorn aus ihrem erzwungenen Tanz.

»Aber wissen Sie, Professor – auf Dauer wird es doch ziemlich langweilig, die Leute nur zu kontrollieren. Es fehlt einfach der ... Biss an der Sache. Der Kampf, der Widerstand –« Ein ähnlich wildes Flackern wie bei Voldemort, nur viel unbeherrschter, drängte in Rowles Augen hinauf. Er leckte sich die Lippen. »Anders als bei Ihnen. Sie brennen förmlich vor Stolz. Das zu brechen ist es, was wirklich Spaß macht.«

Minerva hob ihr Kinn ein Stück höher, die Hände hinter dem Rücken zu Fäusten geballt. Egal wie sehr Rowle sie verhöhnte – nachgeben wäre schlimmer, als ihm den Kampf zu bieten, den er wollte.

Sie beobachtete den Jungen dabei, wie er in seine Tasche langte und etwas Kleines, Goldenes hervorzog. Lässig drehte er das Ding zwischen den Fingerspitzen, warf es hoch; fing es wieder. Und von vorne.

»Ich muss gestehen, Ihre Widerworte fehlen mir jetzt schon. Aber nicht mehr lange ...« Seufzend lehnte Rowle den Kopf gegen die Sessellehne. Ein ums andere Mal fing er seine kleine Goldkugel aus der Luft, die Augen fest auf ihre Flugbahn gerichtet.

Mit den Fingerspitzen tastete Minerva nach den Seilen um ihre Handgelenke. Stück für Stück schob sie einen Finger unter das dicke Tau. Vielleicht konnte sie ihre Fesseln irgendwie lockern. Sie brauchte nur etwas, das ihr half, eine Idee gab ... Möglichst unauffällig nahm sie das Zimmer in Augenschein.

Neben dem Bett gab es eine Kommode, einen kleinen Beistelltisch und einen zweiten Sessel. Außerdem einen großen Kleiderschrank, vor dem nun Rita Kimmkorn stand. Der Boden war mit dickem Teppich bedeckt, die Bettlaken ordentlich gemacht. Nichts davon lieferte Minerva eine Idee, wie sie sich befreien könnte. Egal, ob Rowle anwesend war oder nicht.

Vorsichtig lugte sie zu Elphinstone hinüber. Der hatte den Kopf gegen den Bettpfosten gelehnt, die Lider halb geschlossen. Wenigstens hatte sich der Blutfleck auf seinem Hemd nicht vergrößert.

Als er ihren Blick bemerkte, hob er einen Mundwinkel zum typischen Grinsen. Selbst ohne Worte wusste Minerva, was er ihr sagen wollte, und sie erwiderte die Geste; ganz automatisch. Sie musste einfach daran glauben, dass auch dieses Mal alles gut werden würde.

Klong.

Rowle stöhnte leise auf. Minerva fuhr herum und sah, dass ihm sein Spielzeug heruntergefallen war. Die Kugel rollte geradewegs an ihr vorbei unter das Bett. Sie bemerkte nur noch, wie das Gold im Dunkel verschwand.

»Verdammtes Mistding«, fluchte Rowle leise.

Sein Blick glitt zu Rita Kimmkorn, dann zurück zu der Stelle, wo die Kugel verschwunden war. Einen Moment lang schien er versucht. Minerva sah, wie seine Finger zum Zauberstab zuckten – doch schlussendlich erhob er sich selber und kam herüber.

»Wir wollen ja nicht, dass es jemand kaputt macht oder benutzt«, zischelte er leise und in hoher, verstellter Stimme. »Dabei hat sie nur Schiss, weil sie nicht versteht, wie das Scheißteil funktioniert und warum es sich nicht herbeizaubern lässt.«

Mit einem Ächzen, das kaum zu einem gerade volljährigen Jungen passte, kniete Rowle sich vor das Bett und tastete nach seinem Spielzeug. Was er schließlich hervorzog, ließ Minerva zusammenzucken.

Das war nicht irgendeine Kugel. Es war Albus’ Vestigiator. Den Bellatrix ihr im Lestrange-Anwesen abgenommen hatte.

Rowle registrierte ihre Bewegung aus dem Augenwinkel. Sofort war das Grinsen zurück auf seinem Gesicht. »Erkennen Sie wieder, was?« Er hielt ihr den Vestigiator direkt vor die Nase. »Ist schon praktisch das Teil, wenn man erstmal weiß, wie es funktioniert. Also echt, vielen Dank, dass ihr uns etwas gegeben habt, das uns eure Anwesenheit trotz Verwandlung verraten hat! Unser kleines Vögelchen musste der Leuchtspur nur folgen – und tadaaa!«

Klatschend schlug Rowle seine Hände um den Vestigiator zusammen, sodass Minerva erneut zusammenzuckte. Ein Anblick, der den Jungen noch lauter lachen ließ. Doch ehe Minerva sich überhaupt von dem Schock erholt hatte, schrak sie bereits ein drittes Mal zurück.

Etwas Hölzernes knallte gegen die Wand, laut wie ein Donnerschlag. Die Zimmertür, begriff Minerva, sie stand offen ... Ein greller Blitz schoss hindurch. Zauber oder Fluch – irgendwas traf Rowle in den Rücken, bevor seine Hand den Zauberstab erreicht hatte. Mit einem leisen Gurgeln sackte er vor Minervas Füßen zusammen. Im gleichen Atemzug verlosch seine Zaubersphäre.

Rita Kimmkorn stieß einen spitzen Schrei aus und schon galt ein zweiter Zauber ihr. So schnell, dass Minerva nur hörte, wie ihr Körper auf den Boden traf.

Im Türrahmen stand eine schmale Gestalt, den Zauberstab vor sich gestreckt. Erneut brach helles Licht aus ihrer Stabspitze hervor. Doch diesmal sammelte es sich bloß in einer Kugel unter der Decke.

Und im Schein der Zaubersphäre erkannte Minerva ... Elladora.

Ihr hellblaues Satinkleid in Kombination mit den offenen, blonden Haaren sah geradezu engelhaft aus, doch in Elladoras Gesicht war blanker Zorn geschrieben. Die Spitze ihres Stabs zielte in sämtliche Zimmerecken, während ihr Blick folgte.

Erst, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand sonst da war, schloss Elladora die Tür und eilte an Elphinstones Seite.

»Finite Incantatem!«, fauchte sie. Die Seile waren nicht vollständig von Elphinstone abgefallen, da zog sie ihn bereits in die Arme. »Oh Elph! Bei Merlin, es tut mir so leid! Geht es dir gut? Haben sie dir etwas getan? Ich schwöre dir, ich bringe sie alle eigenhändig um –«

»Ella, Ella ... alles gut, du erdrückst mich ja noch!«

Elphinstone keuchte leise auf und schob seine Schwester auf Armlänge von sich, ein Strahlen im Gesicht. Ihr Blick hingegen fiel auf sein feuchtes Hemd.

»Umbringen werde ich sie –«

»Sag das nicht.« Elphinstone schüttelte matt den Kopf und umarmte sie seinerseits. »Bitte, Ella. Es wird alles wieder gut.«

Ein Schluchzen verließ Elladoras Kehle, doch ihre Wangen blieben trocken. »Deine Zuversicht will ich haben ... Du hast ja keine Ahnung, wie schlimm es steht!« Sie umfasste Elphinstones Hände und drückte sie fest. »Dennoch, ich muss dich um etwas bitten –«

»Ah, Ella?« Elphinstone sah zu Minerva herüber, die nach wie vor stocksteif an den Pfosten gefesselt war. »Könntest du erst ...?«

»Oh, ja ... Verzeih.« Ohne Minerva überhaupt anzusehen, wirkte Elladora den Finite-Zauber erneut.

Erleichtert sackte Minerva nach vorne, als die magischen Seile auch von ihr abfielen. In Windeseile entriss sie Rowle Vestigiator und Zauberstab. Keine Sekunde später war er derjenige, der gefesselt dalag.

»Hör zu, Elph«, flehte Elladora indes, »uns bleibt nicht viel Zeit. Ich habe den jungen Lestrange auf dem Weg hierher erwischt und in eine Besenkammer gesperrt, aber früher oder später wird Gideon misstrauisch werden. Bitte, du musst mir zuhören!«

»Ella ...« Elphinstone sah besorgt zwischen ihr und Minerva hin und her. »Was ist hier los? Wieso bist du hier? Was ist mir dir passiert –«

»Dasselbe könnte ich dich fragen!« Mit einem gequälten Laut grub Elladora ihre Finger in Elphinstones Schultern. »Hast du eine Ahnung, wie gefährlich es war, heute hierherzukommen? Woher weißt du überhaupt hiervon?«

»Winkelgasse«, stammelte Elphinstone, »wir waren in der Winkelgasse ...«

»Oh verflucht.« Elladora seufzte tief. »Nun, ich kann es nicht mehr ändern. Vermutlich ist es Schicksal, dass ihr hier seid. Ich habe etwas, wovon das Ministerium dringend erfahren muss.«

Sie griff in ihren Ausschnitt und zog ein winziges Glasröhrchen hervor, in dem blaue Fäden durcheinanderwirbelten. Elphinstone formte bereits Widerworte, doch Elladora drückte ihm die Erinnerungsphiole in die Handfläche und schloss seine Finger darüber.

»Ich will das niemandem außer dir anvertrauen, Elph. Am besten, die Ministerin sieht es mit eigenen Augen. Überzeug sie. Du kannst das.«

Besorgt sah Elphinstone zu ihr auf. »Was zeigt die Erinnerung darin?«

»Ich kann es nicht sagen. Bitte, Elph, vertrau mir!«

»Natürlich tue ich das!« Ein schiefes Lächeln strich über Elphinstones Gesicht. »Du bist schließlich meine Schwester!«

»Aber ich habe Fehler gemacht. Und jetzt sind wir alle in großer Gefahr. Oh Elph, es tut mir so leid ...«

Elladora senkte den Kopf und Minerva sah, wie ihre Schultern bebten. Dann holte sie tief Luft, ehe sie wieder voller Entschlossenheit aufsah. Ihre Augen glänzten wie blanker Stahl, als sie Minerva anschaute.

»Ich kann nur einen von euch hier rausbringen. Ich habe einen Einwegportschlüssel geschaffen, nachdem ich von Gideon gehört habe, dass Elph hier ist, aber der hält natürlich nur eine Person aus. Ich wusste nicht, dass ihr zu zweit seid, und jetzt ist die Zeit zu knapp, um etwas am Plan zu ändern.«

»Dann reise ich durch den Kamin zurück«, bot Minerva an. »Ich kann mich per Zauber verwandeln, das müsste reichen –«

»Nein. Unten löschen sie die Erinnerungen aller, die abreisen. Ganz abgesehen davon wird aufgzeichnet, wohin die Leute reisen. Wenn du ins Ministerium reist, war alles umsonst.«

Ausgerechnet jetzt sah Minerva einen triumphierenden Mulciber vor sich ... Mulciber! Wo war er? Mit ihm gemeinsam konnte sie vielleicht doch noch etwas bewirken.

»Dann brauche ich den Vielsafttrank, den unser Bekannter versteckt hat. Irgendwo in einer Pflanze, ein ...«

»Ficus Benjamina Exotica«, ergänzte Elphinstone leise. »Eine Birkenfeige. Da hat Mulciber die Phiole versteckt.«

Elladora zog die Augenbrauen zusammen. »Alston ist auch hier ...?«

»Wir waren zu dritt, aber wir haben uns getrennt ... lange Geschichte.«

Einen Moment sah Elladora geradewegs durch Minerva hindurch, dann besann sie sich mit einem Kopfschütteln wieder. »Gut, ich werde versuchen, den Vielsafttrank zu finden, während Elph ins Ministerium reist. Vielleicht kann ich ja dann glauben, dass alles wieder gut wird.«

Sie griff in eine Falte ihres Kleids und zog Elphinstones Zauberstab hervor. »Hier. Entschuldige, ich habe leider nur einen Zauberstab geholt. Ist das überhaupt deiner? Ich habe versucht ihn aufzurufen, aber es kam nur dieser hier ...«

»Das ist der Richtige. Die Lestranges haben meinen alten zerbrochen.«

»Oh ...« Elladora schluckte. »Gut, dann ... sprich mit niemandem außer der Ministerin, klar? Anderen ist nicht zu trauen.«

»Ella ...« Immer noch verwirrt sah Elphinstone sie mit offenem Mund an.

»Bitte, Elph«, flehte Elladora wieder. »Ich kann es einfach nicht erklären. Ich kann nicht, verstehst du? Es ist eine wichtige Erinnerung und sie muss das Ministerium rechtzeitig erreichen, mehr kann ich nicht sagen. Ich darf hier nicht weg, sonst fällt das ganze Kartenhaus in sich zusammen.«

Langsam nickte Elphinstone, auch wenn er kein Stück beruhigt aussah. Schließlich glitt sein Blick weiter zu Minerva. »Min –«

»Sag jetzt bloß nichts«, wiegelte diese ab. »Ich komme schon klar. Immerhin habe ich den hier.« Sie wedelte mit Rowles Zauberstab.

Wenig überzeugt sah Elphinstone darauf. Doch er bohrte nicht weiter nach. Stattdessen fragte er: »Und was ist mit der reizenden Miss Kimmkorn?«

Elladora warf einen finsteren Blick auf die reglose Reporterin. »Ich werde sie und den Jungen hier sichern, genau wie Lestrange –«

»Das meinte ich nicht. Sie ist schließlich keine von denen.« Elphinstone drückte Elladoras Zauberstabhand sanft. »Ella, diese Leute haben sie auch nur benutzt – der Imperiusfluch, du verstehst?«

»Mh. Nun, woher sollte ich das wissen, bei allem, was die miese Kröte verzapft hat? Zumal sie Informationen hatte, die ich niemandem je freiwillig erzählt hätte ...«

»Shhh, Ella, ich weiß. Sie hat eine Menge Mist geschrieben. Aber vielleicht kann sie diesmal etwas für uns tun. Denn auch wenn sie eine miese Reporterin ist, ist sie immer noch eine Reporterin. Vertrau du auch mir, ja?«

»Schön.« Missgelaunt schnippte Elladora mit dem Stab.

Aus Rita Kimmkorns Richtung kam ein leises Stöhnen, dann setzte die junge Hexe sich abrupt auf. Ihre auftoupierten Locken standen wirr vom Kopf ab und die knallroten Lippen formten ein großes O. Auf allen vieren krabbelte sie rückwärts.

»Ich wollte nicht ... Ich –«

»Halten Sie die Luft an.« Elphinstone stand auf und ging zu ihr hinüber, seine Stimme mit einem Mal viel fester als eben.

Kimmkorn starrte ängstlich zu ihm hoch.

»Ihnen ist klar, was mit Ihnen passiert ist, oder?«

Ein paar Mal öffnete Kimmkorn den Mund, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann nickte sie schlicht. »Imperius.«

»Richtig.« Die Hände in die Hüften gestemmt, schlug Elphinstone einen etwas freundlicheren Ton an. »Ich werfe Ihnen das nicht vor, Miss Kimmkorn. Auch wenn ich wahrscheinlich einigen Grund hätte, Sie nicht leiden zu können.«

Endlich schloss Kimmkorn den Mund. Sie tastete nach ihrem Block und der Feder und presste sie fest an ihre Brust. »Ich habe nur berichtet, was die Öffentlichkeit interessiert! Sie haben ein Anrecht, alles zu erfahren –«

»Lügen«, zischte Minerva. »Lügen haben Sie berichtet!«

Elphinstone hob eine Hand in ihre Richtung. »Nun, Miss Kimmkorn, wie auch immer Sie Ihre Art der Berichterstattung schimpfen wollen, wir sind uns bestimmt einig, dass Sie über die heutigen Vorgänge besser die Wahrheit berichten sollten. Sonst könnte ich mal überlegen, welche Geschichten es so über Sie zu erzählen gibt. Immerhin haben Sie da ... ein kleines Geheimnis.«

Langsam ging er vor Kimmkorn in die Hocke. Diese drückte ihre Notizen enger an die Brust. Ihr Rouge auf den bleichen Wangen schien inzwischen doppelt so grell.

»Niemand muss Ihr Geheimnis erfahren, Miss Kimmkorn«, fuhr Elphinstone ungerührt fort. »Solange Sie über diese Veranstaltung hier die Wahrheit und nichts als die Wahrheit berichten. Das können Sie doch, nicht?« Er deutete auf den Block in ihren verkrampften Händen. »Wenn Sie eine vernünftige Reporterin sind, dann haben Sie Ihre Schreibutensilien ja sicher mit einem Gemineo-Zauber belegt, der ihren Zustand auf ein zweites Pergament in Ihrer Redaktion spiegelt. Richtig?«

Hastig nickte Kimmkorn.

»Wunderbar. Dann schreiben Sie da alles drauf, so wie es passiert. Keine Vermutungen, Theorien oder sonstige Einwürfe Ihrerseits. Sie schreiben einfach nur die Wahrheit. Sodass jeder erfährt, was heute geschehen ist, inklusive dem Geschehen in genau diesem Zimmer, und allem, was womöglich noch geschehen wird. Sie werden sich wie eine Zecke an diese Leute haften und denen all ihre dreckigen Geheimnisse entlocken, verstanden? Sie werden die ungeschönte Wahrheit über Lord Voldemort und seine Leute schreiben. Denn das ist es, was die Öffentlichkeit wirklich erfahren muss. Nicht, dass anderen dasselbe passiert wie Ihnen.«

Inzwischen schneeweiß im Gesicht, nickte Kimmkorn erneut. »Etwas anderes hatte ich nie vor, auch wenn man mich eingeladen hat. Aber ich bin nicht käuflich!«

»Natürlich nicht. Und Sie wollen sich natürlich genauso wenig von diesen Leuten für ihre Propaganda benutzen lassen. Vor allem nach dem, was man Ihnen angetan hat.« Elphinstone lächelte ihr zu und klang von einer auf die andere Sekunde wieder ganz wie sonst. »Dann sollten Sie sich lieber beeilen, Miss Kimmkorn. Nicht, dass man Sie noch vermisst unten. Bestimmt haben Sie noch ein paar Interviews zu führen?«

Mit zitternden Fingern strich Kimmkorn durch ihre Haare. In ihren Augen lauerte weiterhin die Furcht, doch als sie aufstand, kam Minerva nicht umhin, ihre gekonnte Fassade zu bewundern.

»Natürlich, Mr Urquart«, sagte Kimmkorn, nun wieder in ihrem üblichen Singsang. Schon zierte ein breites Lächeln ihre roten Lippen. »Und ich werde sehr gerne auch noch ein Interview mit Ihnen und Mrs Rosier auf die Liste setzen, wenn ich hier fertig bin.«

Fast konnte man meinen, es wäre eine Drohung. Doch Rita Kimmkorn zwinkerte bloß und verschwand zur Tür hinaus.

Es gelang Minerva nur ein paar Sekunden, die Frage, die in ihr brannte, zurückzuhalten. »Woher weißt du von ihrem Geheimnis, Phin? Weißt du etwa, wie sie uns in deinem Büro belauschen konnte?«

»Oh, nein«, gestand Elphinstone sofort. »Das weiß ich leider nicht.«

Seine Schultern sackten nach unten. Er rieb sich die Stirn und Minerva sah genau, dass auch seine Finger zitterten. Trotzdem lächelte er wieder, als er ihren Blick auffing.

»Ich habe wirklich keine Ahnung, was Rita Kimmkorns Geheimnis ist. Aber eins haben mich die Jahre als Strafverfolger gelehrt – Leute wie sie haben immer ein Geheimnis. Der Rest ist einfach nur ... ein Bluff.«

Ungläubig schnaubte Minerva. Selbst Elladora hob überrascht eine Augenbraue.

»Du bist unfassbar!«, fluchte Minerva schließlich.

Das veranlasste Elladora zu einem trockenen Lacher. »Eine einzige Lüge ist ein kleiner Preis für die Wahrheit.«

»Aber – verdammt, ich habe das gerade wirklich geglaubt!«, stieß Minerva dennoch hervor.

Elphinstone hob entschuldigend die Schultern. »Das ist gut, dann tut Rita Kimmkorn das erst recht. Und was immer es ist, sie wird nicht wollen, dass jemand ihr Geheimnis erfährt. Vielleicht erreicht so mit ihrer Hilfe die Wahrheit über die Machenschaften Voldemorts und seiner Anhänger möglichst viele Menschen da draußen. Selbst wenn wir ... scheitern.«

Minerva ballte die Hände zusammen. »Denk nicht einmal daran, Phin!«

Er legte seinen Kopf schief. Für einen Moment sahen sie einander bloß an; ein stummer Austausch. Elphinstones Augen schimmerten hell und doch so warm im Licht der Zaubersphäre, dass Minerva sich direkt an den Loch Ness zurückversetzt fühlte. Unweigerlich schlug ihr Herz schneller. Sie hatte Angst vor dem, was jetzt kommen würde. Wollte es nicht aussprechen –

»Es wird Zeit.« Erbarmungslos durchbrach Elladora die plötzliche Stille. »Du musst gehen, Elph.« Ohne große Gesten erhob sie sich und zog einen winzigen Wachsklumpen hervor, den sie mit einem Zauberstabschwung in seine Ursprungsform zurückverwandelte. Behutsam platzierte sie die Kerze auf dem Bett. »Wenn ich den Portschlüssel aktiviere, hast du 20 Sekunden bis zur Abreise. Er bringt dich direkt bis nach London, drei Straßen vom Ministerium entfernt. Danach ist er nutzlos.«

»Okay.«

Elphinstone stand auf und Minerva tat es ihm gleich. Unschlüssig betrachteten sie den Portschlüssel, der dort auf dem weißen Laken thronte. Bevor ihnen überhaupt ein Wort über die Lippen kam, suchten ihre Hände einander.

Schon brannten Minervas Augenwinkel, als sie die sanfte Berührung von Elphinstones Fingern spürte. Wieder zeichnete er diese Kreise auf ihren Handrücken, die sich längst tief in ihr Inneres eingeprägt hatten. Eine Versicherung, dass alles gut werden würde. Aber für gewöhnlich auch eine, dass er bei ihr war.

Zaghaft lächelnd umfasste Elphinstone mit der freien Hand ihre Wange. »Denk an unser Versprechen, ja?«, flüsterte er, als wären sie ganz alleine. Er drückte seine Stirn sacht an ihre. »Ich will, dass wir uns wiedersehen.«

Minerva schluckte gegen den aufsteigenden Knoten im Hals an. »Gleiches gilt für dich. Ich habe dich schließlich vor kurzem erst gerettet, das soll nicht umsonst gewesen sein.«

Elphinstones schiefes Lächeln blitzte wieder auf und wie schon in der Nacht zuvor sog sie den Anblick in sich auf. Sie füllte ihr Herz mit der Erinnerung an einfach jede kleine Sommersprosse in seinem Gesicht. Für all die schlechten Zeiten, die ihnen jetzt vielleicht bevorstanden.

Er erwiderte diesen Blick mindestens ebenso intensiv, bis er seine Lider senkte und sie fast schon zu vorsichtig küsste. Jedenfalls kam es Minerva so vor, als wäre die Berührung nur der Hauch eines Schnatzflügelschlags. Doch es war ihr egal, dass Elladora neben ihnen stand oder wie ungünstig dieser Moment war.

Energisch zog sie Elphinstone näher heran, damit mehr blieb als ein flüchtiger Eindruck. Er schmeckte entfernt nach dem Goldlackwasser, das sie getrunken hatten und das scharf in ihrer Kehle brannte, doch sie wollte sich trotzdem kaum lösen. Und nur der Vernunft zuliebe tat sie es letztlich.

Hinter feuchten Wimpern hervor sah Elphinstone sie für eine kleine Unendlichkeit an. »Ich liebe dich«, hauchte er schließlich auf ihre Lippen. »Und bei den Gründern, ich möchte dir das noch viel öfter sagen können. Also sei bitte vorsichtig, ja?«

Der Knoten in Minervas Hals wuchs auf Quaffelgröße an. Gerade so brachte sie ein tapferes Nicken zustande. »Natürlich. Immerhin ...« Sie schluckte. »Immerhin will ich es auch noch öfter hören.«

Von allen weiteren Worten verlassen, riss sie ihn ungeachtet des Blutflecks auf seinem Hemd in die Arme und drückte ihn, so fest sie konnte. Vergrub ihr Gesicht ein letztes Mal an seiner Schulter. Atmete den Duft aus Pflanzen, Wolle und Geborgenheit ein. Als wäre seine Liebe etwas, das sie auf diesem Weg festhalten konnte. Ihn jetzt alleine gehen zu lassen, tat unendlich stärker weh, hatte sie doch inzwischen viel mehr zu verlieren.

»Tha mo chridhe leat«, flüsterte sie mit rauer Stimme in den winzigen Spalt zwischen ihren Körpern, in dem die Welt nur ihnen beiden gehörte.

Erst dann trat sie drei Schritte zurück, auch wenn es eine Meile zu sein schien. Stück für Stück glitt ihre Hand aus Elphinstones. Schon lagen nur noch ihre Fingerspitzen aufeinander, streckten sich in letzter Verzweiflung, und plötzlich war da nur mehr kalte Luft.

Genau wie Minerva nahm Elphinstone einen tiefen Atemzug. Er sah auf ihre immer noch ausgestreckten Finger, bevor er rückwärts zum Bett ging und sich vor den Portschlüssel stellte.

»Es kann losgehen«, murmelte er an Elladora gewandt, als wäre gerade rein gar nichts geschehen.

Doch den Schein konnte nicht einmal Elladora wahren. Ein eigenartiger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, begleitet von einem feuchten Schimmer ihrer Augen, die sie überall hin richtete, nur nicht zu Minerva.

Ein paar Sekunden lang rang Elladora stumm die Hände vor ihrem Bauch, dann stürzte sie vorwärts und schlang die Arme um Elphinstone. »Oh Elph ...« Sie schluchzte leise auf. »Es tut mir so leid, dass ich dich da mit hineinziehe. Ich hab dich doch so lieb. Und Ma, Pa, Wynn, Eily – sag ihnen das, ja? Sag ihnen, dass es mir leidtut und ich sie lieb habe.«

»Du sagst ihnen das selber! Wir bekommen das alles wieder hin –« Elphinstone packte Elladora fest an beiden Schultern und sah ihr in die Augen. »Es wird alles gut, Ella. Ich hab dich doch auch lieb. Und mit meiner Hilfe wirst du wieder nach Hause kommen, ja?«

Mit einem schwachen Seufzen zog Elladora seine Hände von sich. »Ich hoffe wirklich, dass du diesen Optimismus nie verlierst.« Sie drückte einen Kuss auf Elphinstones Stirn. »Ich habe dich so lieb, kleiner Bruder.«

Bevor er etwas erwidern konnte, schwang sie den Zauberstab. Die Kerze schien von innen heraus zu glühen und ein kaum wahrnehmbares Summen erfüllte den Raum.

»Ella ...«

»Du musst gehen. Jetzt.«

Unglücklich sah Elphinstone seine Schwester an, doch schließlich legte er seine Hand auf das Wachs. Nacheinander sah er Elladora und Minerva ein letztes Mal an.

»Dann ... bis später.«

Aus den tiefsten Reserven ihrer Zuversicht fand ein Lächeln den Weg auf Minervas Lippen. »Bis später«, flüsterte sie, als der Portschlüssel Elphinstone in einem Wirbel davontrug.

Scherbenspiel

Die Stille war unerträglich. Oder war es eher die Ungewissheit?

Minerva hätte die Wände hochgehen können. Da saß sie nun, in diesem dunklen Raum eines fremden Anwesens, alleine, ohne ihren eigenen Zauberstab, nur mit Rowles bewaffnet – und schlimmer noch: Ohne Antworten.

Eine Viertelstunde war vergangen, seit Elladora sie in das kleine Badezimmer gebracht hatte, das sich unter dem Dachgiebel befand. Obwohl ... vermutlich war es inzwischen eher eine halbe Stunde. Immerhin hatte Minerva es nicht nur geschafft, ihr gerissenen Kleider mittels Magie zu flicken, sondern diese auch so verzaubert, dass sie nicht mehr ganz so entsetzlich kurz und eng waren. Was lange genug gedauert hatte, angesichts ihres mangelnden Talents für Haushaltszauber.

Wo blieb Elladora? Ihre letzten Worte zu Minerva waren bloß gewesen, dass dieser Raum das sicherste Versteck sei. Dann hatte sie sich davongemacht, um den Vielsafttrank aus der Eingangshalle zu holen.

Mittlerweile war Minerva mehr als nur ein bisschen nervös. Was hielt Elladora auf?

Sie musste sich dringend zurückverwandeln, sonst wäre sie für den Rest von Voldemorts Veranstaltung hier gefangen, wenn nicht länger. Und sie würde es sicher nicht Mulciber alleine überlassen, diesem Irrsinn ein Ende zu setzen.

Gäbe es doch nur eine Möglichkeit, ihm eine Nachricht zu schicken ... Frustriert schlug sie die Tür des Badezimmerschrankes zu, den sie nach etwas Hilfreichem durchsucht hatte. Außer Haarbürsten, braunen Medizinfläschchen und stapelweise Handtüchern befand sich allerdings nichts darin.

Mit einem Seufzen drehte sie den kalten Wasserhahn zum nunmehr dritten Mal auf und sah zu, wie das Wasser über ihre Handgelenke rann. Wenigstens für den Moment half es gegen die Schwellung, die Rodolphus Lestranges Fesseln verursacht hatten. Ihre Gedanken allerdings ließen sich auch von dem gleichmäßigen Rauschen nicht beruhigen.

In einer unablässigen Schlaufe stiegen die Ereignisse der letzten Tage vor ihrem geistigen Auge auf. Rubeus Hagrid, der ihr von dem verschwundenen Jonathan Alditch erzählte. Die Finsternisschote, die Elphinstone im Kinderzimmer des Jungen fand. Der Protest im Ministerium. Der erste Kampf gegen Bellatrix Lestrange und ihre Anhänger, gefolgt von ihrer Flucht durch das Flohportal. Die kurzzeitige Furcht, Elphinstone könne sie verraten haben. Robbies Entführung, die im brennenden Verlies Nr. 232 gipfelte. Die Stürmung des Hauses in Leeds. Elphinstones und ihre eigene Entführung. Die Folter. Der Fluch. Schmerzen. Angst.

Und schließlich Elphinstone, der mit dem Portschlüssel ins Ungewisse verschwand.

Salzige Tropfen landeten im Waschbecken. Wie kleine Perlen rollten sie über die angelaufene Keramik, bis sie von dem Wasserstrahl erfasst wurden und in einem Strudel durch den Abfluss entschwanden.

Minerva rieb sich die Augen. Ihre Hände waren durch das eisige Wasser so kalt geworden, dass sie die Berührung kaum wahrnahm. Es kam ihr vor, als würde eine Fremde ihre Tränen fortspülen. Dabei waren es ihre steifen Finger, die den Wasserhahn abstellten, und ihr Mund, der den Zauberspruch formte, der alle Spuren ihrer Anwesenheit tilgte. Aber es war nur ein kleiner Teil von ihr, der diese Bewegungen kontrollierte. Wie eine Rüstung umhüllte der Kern aus Stolz, Überzeugung und Hoffnung sie.

Von ganz alleine schuf sich eine Fassade, die alles andere überdeckte. Minerva sah dieser neuen Version von ihr durch den Badezimmerspiegel entgegen und entdeckte auf ihren Zügen nichts von dem, was sie wirklich empfand. Nur in dem dunklen Braun ihrer Augen lauerte ein Hinweis darauf, auf diesen verletzlichen Teil, der sich nach Elphinstones Hand in ihrer sehnte. Doch sonst kündete alles an ihr von Entschlossenheit.

Diese andere Minerva im Spiegel blickte mit vorgerecktem Kinn zurück, die Schultern gestrafft, und sagte ihr, dass sie funktionieren würde, weil sie gottverdammt noch einmal funktionieren musste. Und wie durch ein Wunder gelang es ihr tatsächlich, die Gedanken an Elphinstone hintanzustellen.

In diesem Augenblick blieb leider nur Mulciber, der ihr helfen konnte. Sie brauchte einen Weg, auf dem sie ihn schnell und gefahrlos erreichte. Jetzt wäre so eine Phönixfeder furchtbar praktisch, doch natürlich hatte sie nichts dergleichen zur Hand. Geschweige denn eine andere Kontaktmöglichkeit, egal zu wem. Oder ...?

Siedend heiß fiel es ihr ein. Das hier war ein Muggelhaushalt!

Sie umklammerte Rowles Zauberstab in ihrer Tasche. Auf dem Weg hatte sie doch sogar ein Telefon gesehen! Damit konnte sie zwar nicht Mulciber erreichen, aber ihre Eltern. Oder einen ihrer Brüder. Irgendwer würde schon abheben und dann könnten sie vielleicht, irgendwie, Hilfe von außerhalb organisieren. Alles war besser, als hier herumzusitzen.

Den fremden Zauberstab erhoben, schlich Minerva hinaus auf den Flur. Kein Geräusch außer ihres eigenen Atems drang zu ihr vor. Das war schon einmal ein gutes Zeichen. Auf Zehenspitzen traute sie sich weiter vor.

Die Treppe nach unten war nicht fern und tatsächlich erreichte sie diese ohne Zwischenfall. Erleichtert und doch mit pochendem Herzen kauerte sie sich hinter das Geländer, um einen Blick in den Stock darunter zu werfen.

Im Mondschein von draußen erspähte sie den Flur, den Rita Kimmkorn Elphinstone und sie vorhin erst entlanggeführt hatte. Er lag vollkommen verlassen da. Wenn das so blieb, musste sie nur zwei Treppen ins Erdgeschoss überwinden, wo das Telefon an der Wand hing.

Kurzentschlossen steckte sie den Zauberstab weg und verwandelte sich in ihre Animagusform. Die leisen Pfoten waren ein Risiko, falls sie jemandem auf zwei Beinen begegnete – aber eines, das es wert war.

Immer entlang des Geländers eilte sie die Treppe hinab. Sie traute sich nicht, innezuhalten, nicht einmal dann, als sie entfernte Geräusche hörte, die mit jeder Stufe lauter wurden. Was ihren menschlichen Ohren verborgen geblieben war, fand erst durch das feine Katzengehör den Weg zu ihr. Energische Gespräche, Gelächter, Schritte ... Aber das nahm sie als gutes Zeichen, dann dauerte die Pause wenigstens noch an.

Vielleicht könnte sie es im Anschluss an ihr Telefonat doch wagen, sich mit gewöhnlichen Zaubern zu verwandeln und selber in die Empfangshalle zurückschleichen. Wie viele Topfpflanzen konnten schon für das Versteck des Vielsafttranks in Frage kommen? Oder sie fand gleich Mulciber, dann wäre die Suche hinfällig.

Ja, eigentlich war das keine schlechte Idee, beschloss sie, nachdem sie endlich das Erdgeschoss erreicht hatte. Beschwingt von dieser Aussicht schlich sie weiter an der Wand entlang, bis sie die Nische erkannte, in der das Telefon hing. Auf allen vieren zusammengekauert verwandelte sie sich zurück.

Wie ihr ein erster Blick zeigte, war das Wandtelefon recht alt, mit einem verschnörkelten Metallhörer – vermutlich aus den späten 40ern oder noch früher. Ein ähnliches Teil hing im Hinterzimmer der Kirche, der ihr Vater vorstand. Als Kind hatte sie das Ding immer fasziniert, vor allem sein durchdringendes Klingeln. Zumindest bis es aus Altersschwäche kaputtgegangen war. Sie hoffte inständig, dass das Gerät vor ihr nicht das gleiche Schicksal ereilt hatte.

Dass sie überhaupt ein Telefon benutzt hatte, war lange her, doch Minerva erinnerte sich einigermaßen an die Bedienweise. Sie klemmte sich den Hörer zwischen Kopf und Schulter, während sie überlegte, welches die richtige Rufnummer war. Der Vorteil von Eulenpost war, dass man sich so etwas nicht merken musste.

Nach einiger Überlegung legte sie den Zeigefinger auf die erste Ziffer und drehte die Wählscheibe bis zum Anschlag. Es klickte und mit einem Surren glitt die Scheibe zurück in ihre Ausgangsposition. So verkehrt schien ihre Technik also nicht zu sein. Zuversichtlicher wählte Minerva erneut. Noch einige Male ertönte das Klicken, dann lauschte sie gespannt.

Stille.

Sie presste den Hörer fester ans Ohr. Doch das änderte überhaupt nichts. So hörte sie höchstens ihr eigenes Blut – und in der Ferne das Gelächter von Voldemorts Gästen.

Womöglich hatte sie es doch nicht richtig gemacht? Sie drückte den Telefonhörer zurück auf die Gabel, zählte rückwärts bis zehn und hob erneut ab. Wieder war nichts zu hören, also wählte sie. Klick, surr, klick, surr, klick, surr ...

Stille.

Mit zusammengepressten Lippen unterdrückte sie einen Fluch. Dann würde sie eben Robbies Anschluss ausprobieren. Regelrecht routiniert wiederholte sie den Vorgang mit neuen Ziffern. Doch auch diesmal ohne Erfolg. Wenig besser sah es mit Malcolms Rufnummer aus.

Der Apparat klirrte leise, als Minerva den Hörer erneut aufhängte. Eine Hand zur Faust geballt, musste sie dem Drang widerstehen, dem Teil einen Schlag zu verpassen. Nie zuvor hatte die Muggeltechnik sie im Stich gelassen, warum ausgerechnet jetzt?

»Komm schon«, murmelte sie. »Bitte ...«

Dieses Mal versuchte sie, die Wählscheibe in die entgegengesetzte Richtung zu drehen. Aber auch das funktionierte nicht. Sie zog an den Kabeln und hoffte, irgendwie zu erkennen, ob eines von ihnen einen Wackelkontakt hatte oder nicht vernünftig steckte. Aufgeben kam nicht in Frage, doch ein kleiner Teil von ihr wusste bereits, dass sie hier mit ihrem Wissen am Ende war.

Trotzdem drückte sie den Hörer erneut ans Ohr und lauschte dem Rauschen ihres Blutes in der Stille. Nur, dass da keine Stille mehr war. Etwas raschelte. Nicht am anderen Ende der Leitung, sondern hinter ihr.

»Umdrehen.«

Der Telefonhörer schien in Minervas Hand festgefroren. Sie klammerte sich daran fest, als könnte er sie jetzt noch retten. Warum nur hatte sie Rowles Zauberstab weggesteckt? Ihr Blick zuckte zu dem Ende des Stabs, das aus ihrem lädierten Rock ragte.

»Muss ich erst bis drei zählen?«

Sie kannte diese Stimme. Und etwas sagte ihr, dass sie Gideon Rosier besser nicht verärgerte. Die Hände weiterhin am Hörer, drehte sie sich langsam um.

Rosiers Zauberstab zeigte geradewegs auf ihre Brust und ein spöttisches Grinsen zierte das Gesicht seines Besitzers. »Sehr schön. Sieh mal einer an, da begegnen wir uns also doch. Wie ... interessant.«

In diesem Moment hätte Rowles Zauberstab genauso gut meilenweit weg sein können. Es machte keinen Unterschied, denn Minerva würde es nie schaffen, ihn rechtzeitig zu ziehen und Rosier zu überwältigen. Das bewies ihr Gegenüber spätestens dann, als er mit seinem Stab schnippte und ihr der Telefonhörer aus der Hand flog. Scheppernd schlug er an die Wand, wo er in seine Einzelteile zerplatzte.

»Das funktioniert eh nicht mehr, seit wir hier sind«, sagte Rosier mit einem Achselzucken. »Die Technik hat eben keine Chance gegen Magie. Wen wollten Sie damit überhaupt anrufen? Doch nicht etwa die Muggelpolizei?« Er lachte selbstgefällig auf.

Minerva schürzte die Lippen. Sie fühlte geradezu, wie sich ihre Fassade verhärtete, bis sie mehr einer Panzerung glich. »Fragen Sie doch mal die Lestranges danach, wie fähig die nichtmagischen Polizisten so waren, die in ihr Versteck eingedrungen sind«, spie sie ihrem Gegenüber entgegen. »Dann überdenken Sie Ihren Hochmut vielleicht noch.«

Rosier ob die Augenbrauen. »Sicher doch. Ich meine, gehört zu haben, dass einer dieser tapferen Helden dabei getötet wurde? Wirklich überaus fähig.« Er schüttelte kaum merklich den Kopf. »Nun, aber für diese fruchtlose Unterhaltung sind wir nicht hier.«

»Richtig. Wenn Sie mich also vorbei lassen würden ...« Minerva nickte in Richtung der nahegelegenen Empfangshalle. »Ich würde den zweiten Teil wirklich ungern verpassen.«

»Oh ... Aber natürlich nicht. Wir wissen schließlich beide, dass Sie keine gewöhnliche Besucherin sind.«

Erneut schnippte Rosier mit dem Zauberstab und der von Rowle flog direkt aus Minervas Rocktasche in seine Hand. Mäßig interessiert drehte er den Stab hin und her, bevor er ihn in seinem Umhang verschwinden ließ. Dann trat er näher an die Nische heran.

Instinktiv wich Minerva zurück - doch schon drückte sich der Telefonapparat in ihren Rücken. Rosier indes kam weiter auf sie zu, bis seine breiten Schultern die Wandnische völlig verdeckten. Die Spitze seines Zauberstabs bohrte sich unter ihr Schlüsselbein.

»Wo ist Elphinstone, hm?«

Minerva konnte das Zucken ihrer Mundwinkel nicht verhindern. Immerhin hatte sie die Gewissheit, dass Elphinstone weit, weit weg war.

»So ... ist er etwa entwischt?« Rosier kniff die Augen zusammen. »Sonst wären Sie jetzt kaum so mutig, was? Blöd nur, dass das für ihn alles schlimmer machen wird ... er hätte Sie nicht zurücklassen dürfen.«

Der Zauberstab stach tiefer in Minervas Brust, doch sie presste die Lippen nur fester aufeinander. Aus ihrem Mund würde Rosier weder Bettelei noch Verrat hören.

»Ach komm, sind Sie nicht enttäuscht, dass er ohne Sie abgehauen ist? Lassen Sie mich raten – meine nutzlose Frau hat ihn dazu gebracht?« Mit einem kleinen Seufzen betrachtete Rosier sie. Schließlich schüttelte er den Kopf, als sie weiterhin schwieg. »Elladora hatte noch nie Rückgrat. Da wundert es mich nicht, dass sie Sie einfach im Stich lässt. Wahrscheinlich hat sie Ihnen noch große Versprechungen gemacht ... aber leider ist die Wahrheit, dass sie sich nur für sich selbst interessiert. Glauben Sie mir, das weiß niemand besser als ich.«

Minerva schluckte. Inzwischen war Rosier ihr so nahe, dass sie sein Aftershave riechen konnte, genauso wie die Schärfe von Feuerwhisky gepaart mit Zigarrenrauch. Ein Brennen kroch ihre Kehle empor und erinnerte sie ausgerechnet an ihre Übelkeit beim Anblick der Bilder in Voldemorts Manifest.

Sie ballte die Fäuste. Nicht aufgeben, schrie der stolze Teil in ihr. Denk an dein Versprechen! Und tatsächlich erkannte sie einen letzten Ausweg, ganz ohne Magie oder Zauberstab. Es brauchte nur Mut ... und Kraft.

Mit angehaltenem Atem wartete sie darauf, dass Rosier noch etwas näher kam. Dann packte sie sein Revers und riss ihn vorwärts. Gleichzeitig stieß sie ihr Knie empor, so fest sie konnte – geradewegs in seine Körpermitte.

Rosiers Jaulen hallte von den Wänden wieder. Brüllend krümmte er sich zusammen, sodass sie mit dem Ellenbogen nach seinem Kopf ausholen konnte –

Schmerz.

Da war nur Schmerz, der durch ihre Lunge schnitt wie ein Messer durch Butter. Schon war sie diejenige, die sich krümmte. Aus dem Nichts hörte sie Elphinstone ihren Namen schreien, Rowles höhnisches Gelächter von den Wänden eines Kerkers widerhallen ...

Eine Hand packte ihre Haare und zog ihren Kopf zurück. Aus dem Augenwinkel erkannte Minerva Rosiers Zauberstab, der sich in ihren Hals drückte. Doch spüren tat sie nichts außer dem schwarzen Fluchfeuer, das durch ihr Inneres raste.

Rosier presste sie mit dem ganzen Körper gegen die Wand. »Weißt du, ich hatte nie vor, dich entkommen zu lassen. Aber jetzt bin ich mir sicher, dass du eine wirklich besondere Behandlung verdienst.«

Er drückte seinen Unterarm gegen ihre Kehle, während er den Zauberstab weiter zu ihrer Schläfe führte. Bunte Lichter explodierten vor ihren Augen und die Welt schien im selben Moment unfassbar laut wie leise. Ihr Herzschlag schrie sie an, sich zu wehren, irgendetwas zu tun – und gleichzeitig fehlte ihr die Luft, um überhaupt an Flucht zu denken, geschweige denn etwas anderes außer Blutrauschen zu hören.

Einer ihrer Halswirbel knackte laut, doch in ihrem Kopf klang selbst das dumpf. Nach Atem ringend zwang sie die Lippen auseinander – aber Rosiers Druck schwand nicht. Im Gegenteil, er presste sich näher und lachte ihr stumm entgegen. Ihre eiserne Fassade drohte, ein kaltes Grab zu werden.

»Du gehörst jetzt mir«, zischte Rosier direkt in ihr Ohr, die Speicheltröpfchen zu seinen Worten ätzende Nadeln auf ihrer Haut. »Imperio!«

Der Schrei, der eben noch Minervas Kehle emporgestiegen war, verschwand im Nichts. Was blieb, war wieder diese Stille. Allumfassende Stille.

 

All ihre Sinne verstummten. Kein Laut, kein Gedanke, kein Gefühl drang mehr zu ihr vor. Wovor hatte sie eben Angst gehabt? Es gab nichts zu befürchten. Alles war weiß und friedlich. Wie eine große Wolke ...

 

Nein! Nein!

Die watteweiche Idylle zerriss unter den Schreien aus Minervas Inneren.

Sie wollte das nicht zulassen! Sie durfte es nicht zulassen!

Es gab keine Wolken, die sie umhüllten. Sie war am Grund eines endlosen Sees, schwarzes Wasser über ihr. Es zog sie an ihren Füßen in die Tiefe, aber sie wehrte sich; die Luft in ihren Lungen wurde weniger ... sie würde sterben ... sie konnte nicht ... sie durfte nicht ... kämpfen ... sie musste ... kämpfen ...

 

Sie musste Gideon folgen. Es war wichtig, dass sie hier wegkamen und Elladora fanden. Gideon war schon aus der Nische getreten und warf ihr einen auffordernden Blick zu. Rasch zog sie ihren Umhang zurecht, der von ihren Schultern gerutscht war. Warum saß er überhaupt so schlecht?

Sie wusste es nicht mehr. Aber eine Stimme flüsterte ihr, dass es ohnehin nicht wichtig war.

 

Er hatte sie angegriffen. Der Gedanke leuchtete unvermittelt im Dunkel vor Minerva auf. Zeigte ihr den Weg an die Wasseroberfläche.

Sie war so weit unten, so tief in seinem Griff ... aber sie musste sich wehren, sie war stärker als das – sie wollte ihm nicht folgen!

Und doch bewegten ihre Füße sich im Gleichtakt mit Rosiers, während der Rest ihres Körpers es zuließen, dass er eine Hand – mit dem verborgenen Zauberstab darin – auf ihren Rücken legte.

Das Licht flackerte, verschwand. Schon glitt die Erkenntnis durch ihre Finger, verließ die Kraft sie ...

 

Gideon öffnete die Tür zur Eingangshalle für sie. Dahinter drängten sich nach wie vor die Menschen und zwischen ihnen Hauselfen mit derweil reichlich geleerten Canapé-Tabletts. Aufmerksam wie die Elfen waren, erspähte eines der Biester sie sofort, kaum dass sie ein paar Schritte in den Saal gewagt hatten. Der kleine Kriecher wieselte umgehend auf sie zu, nur um mit piepsiger Stimme zu fragen, ob Mr Rosier oder seine Lordschaft noch etwas wünschten.

Dem war nicht so, das wusste sie. Also trat sie dem Elf in den Weg und sagte ihm, dass er sich fortscheren sollte, wenn er nicht demnächst dem Dunklen Lord ‚assistieren‘ wolle.

Das Geschöpf zuckte zusammen, sodass die Häppchen auf seinem Tablett gefährlich ins Schwanken gerieten. Fast schon auf den Knien wich er vor ihr zurück – doch sie ließ es sich nicht nehmen, eines der Lachsröllchen vor dem Abgang zu bewahren. Erst dann winkte sie den unglückseligen Elf endgültig fort.

Sie hatte den ganzen Abend nichts gegessen, da konnte sie nicht widerstehen. Außerdem sahen bereits einige Gäste zu Gideon, ihr und dem Hauself hinüber. Da war es wichtig, dass sie den Eindruck wahrte.

Wenn sie nur wüsste, welchen Eindruck ... Der passende Gedanke dazu umschwirrte sie wie eine Motte das Licht, nur fassen konnte sie ihn nicht.

Sie biss in das Lachsröllchen.

 

Minervas Magen zog sich ruckartig zusammen. Auf einmal schmeckte sie Magensäure – und erinnerte sich. Die angeblich niedere Natur des Muggels, ein Blutfluch in der Öffentlichkeit und all die Opfer auf dem Weg hierher.

Sie wollte nicht essen! Sie musste fort von hier, von Rosier! Er kontrollierte sie nur, aber das war nicht sie –

Etwas Hartes bohrte sich in ihren Rücken und schob sie vorwärts. Jeder Schritt war einer barfuß auf Glasscherben. Ungehörte Schreie füllten ihren Kopf, doch ihre Lippen öffneten sich nur einen winzigen Spaltbreit und es riss das Seufzen endgültig von ihnen, als Rosier etwas murmelte.

Sie verstand nicht, denn Wasser füllte ihre Ohren. Aber es zählte nicht, alles war egal, alles verloren ... es war besser, wenn sie sich fallen ließ.

 

Was starrte diese blonde Schnepfe nur so?

Sie hob das Kinn höher und wandte demonstrativ den Kopf ab. Am besten, sie sah überhaupt niemanden unter den Gästen an. Nicht, dass jemand – so wie diese unsägliche Reporterin zum Beispiel – es wagen würde, Gideon und sie aufzuhalten. Sie hatten es schließlich eilig. Noch konnten sie verhindern, dass Elladora alles ruinierte.

Aber das ging nicht hier zwischen den Leuten, denen es galt, sie und ihre ganze Bewegung als Opfer des Ministeriums zu verkaufen. Immerhin waren gerade die reichen Reinblüter wichtig, sollten sie doch dem Dunklen Lord und seinen Anhängern mindestens finanzielle Unterstützung bieten. Unbedachte Aktionen, wie zu offene Gewalt ihrerseits, würden nur Leute vertreiben. Nein, um das Problem namens Elladora zu lösen, mussten sie zunächst dorthin, wo der Dunkle Lord und seine Anhänger residierten. In die Räume hinter der Bibliothek, wo Lord Voldemort seine Rede gehalten hatte.

Zielstrebig folgte sie Gideon zu der Treppe ins Obergeschoss. Doch plötzlich drängte sich ihr jemand in den Weg. Irgendein vernarbter Kerl, der aussah wie die Karikatur eines Bösewichts. Erst dachte sie an ein Versehen – bis der Mann einen Arm nach ihr ausstreckte und ihr irgendwas entgegen zischte ...

Im letzten Moment wich sie, flink wie ein Schnatz, zur Seite aus. Doch ihr linker Absatz mochte die Bewegung nicht. Er knickte unter ihr weg und beinahe landete sie in der Topfpflanze, die genau neben dem Aufgang stand. Nur mit Glück fing Gideon sie gerade so ab.

Ihr lag schon ein garstiger Fluch für den Fremden auf den Lippen, da streiften ihre Fingerspitzen die Blätter des Grünzeugs neben ihr. Aus weiter Ferne hörte sie eine Stimme ...

 

Ficus Benjamina Exotica. Die Birkenfeige.

Was bedeutete das?

Es drängte Minerva, nicht an der Pflanze vorbeizugehen. Das hier war eine Chance – doch ihre Füße bewegten sich zu schnell. Inzwischen waren sie den fremden Antrieb gewohnt und reagierten auf jeden kleinen Schwenker von Rosiers Zauberstab. Was immer er dachte, ihr Körper folgte.

Aber Minerva war noch da und kämpfte, obwohl sie nicht mehr wusste, was mit der Pflanze war. Oder woher sie ihren botanischen Namen kannte. Oder weshalb ihr das Narbengesicht so interessiert hinterher sah.

 

Endlich durchquerten sie die Bibliothek. Langsam verebbte der brennende Drang in ihr, so schnell wie möglich zu laufen. Sie näherten sich der Sicherheit, dem Ziel von Gideons und ihrem Vorhaben. Bald würde alles sich fügen.

Gideon trat vor ihr in die Räume, die der Dunkle Lord für seine zentralen Anhänger vereinnahmt hatte. Sie folgte ihm dicht auf den Fersen. Hinter der Tür begrüßte sie ein gemütliches, von Zaubersphären beschienenes Zimmer. Mehrere Männer lungerten auf Polstersesseln herum, in leise Gespräche oder Partien von Zauberschach vertieft. Doch bei ihrem Anblick hoben sie alle die Köpfe.

»Na, Gid?« Ein Kerl mit wettergegerbtem Gesicht hob sein Whiskyglas in ihrer beider Richtung. Er grinste so breit, dass die Kronen auf seinen Zähnen zu sehen waren. »Hast du dir etwa eine Bewunderin da unten eingefangen?«

Neugierige Blicke von allen Seiten untersuchten sie von Scheitel bis Sohle. Ein paar Augenbrauen wanderten in die Höhe, jemand kicherte leise und wieder ein anderer legte die Stirn in Falten.

»Ach Everard«, gab Gideon in Begleitung eines kleinen Seufzens von sich, »du denkst hoffentlich nicht wirklich, ich hätte mich auf so etwas eingelassen. Noch dazu heute. Nein, das ist ein ganz besonderer Ehrengast.«

Anstatt ihre Anwesenheit weiter zu erklären, wandte er sich erwartungsvoll zu ihr, eine Augenbraue gehoben. Mit der Zauberstabhand beschrieb er eine auffordernde Geste – dabei war das gar nicht nötig. Sie wusste, was er von ihr erwartete.

»Minerva McGonagall«, stellte sie sich gleichmütig vor, »Professorin für Verwandlung an der Hogwartsschule für Hexerei und Zauberei.«

»Und ...?«, soufflierte Gideon.

»Ich werde tun, was immer Gideon verlangt. Alles für den Triumph des Dunklen Lords.« Einem spontanen Impuls folgend, knickste sie, um den Anwesenden die Ernsthaftigkeit ihrer Worte zu unterstreichen.

Der Kerl namens Everard schmunzelte und prostete ihr mit seinem Whisky zu. »Dann wohl willkommen, Kleine.« Sein Blick wanderte zurück zu Gideon. »Nun, du kannst dein Spielzeug nennen, wie du willst, aber wir wissen trotzdem alle, dass du eigentlich nur Ella wahnsinnig machen willst, Gid. Treib es nicht zu weit mit der da. Du weißt, dass er keine Geduld dafür hat. Sonst nimmt er die Sache selber in die Hand und das wirst du wohl kaum wollen.«

»Danke für deine Besorgnis, aber ich habe das schon im Griff. Er wird zufrieden sein, da bin ich mir sicher.« Gideon trommelte ungeduldig mit dem Zauberstab gegen seinen Oberschenkel. »Und jetzt muss ich weiter.«

»Dann mal viel Spaß.« Everard grinste und zeigte eine reichlich suggestive Geste, als Gideon sie in Richtung Ausgang drängte. Hinter ihm pfiffen die anderen Männer.

 

Erst krümmte Minerva den kleinen Finger, dann den Ringfinger. Zitternd gelang es ihr, auch den Mittelfinger an ihre Handfläche zu drücken. Doch mit jedem weiteren Glied, das ihre Faust formte, schlug ihr Herz schneller. Es hämmerte gegen ihre Rippen, bis schwarze Flecken vor ihren Augen tanzten und die Spannung in ihrer Hand wieder nachließ.

Dabei war es doch so einfach. Sie musste nur auf die Stimme hören, die ihr den Weg wies. Auf ihre eigene Stimme, die sie drängte, Rosier zu helfen. Nichts war wichtiger als das ...

Die Wolken der Verheißungen waren schwarz und dicht, aber sie langten nach ihr. Rosiers Wille war schlicht zu mächtig. Egal wie sehr sie die Kommentare, das Gelächter der Männer verabscheute – immer wieder zog sein Imperius sie unter Wasser.

Es war so bequem, nicht darüber nachzudenken, was nun geschehen würde. Wenn sie nachgab, hatte nichts Bedeutung. Und dann ließ der Schmerz nach. Wurde der Grund vom See weniger schwarz. Vielleicht trugen sie doch schneeweiße Wolken in die Sicherheit ...

 

»Sehr witzig«, brummte Gideon an Everard gewandt, begleitet von einem Augenrollen. Trotzdem hielt er einen Moment inne. »Ach ja, falls er nach mir schickt – nutzt das Mal, um mich zu rufen, ja? Ich will sonst nicht gestört werden. Ihr denkt euch ja eh schon euren Teil.«

»Klare Sache«, erwiderte Everard. »Aber sag mal, du willst schon dabei sein, wenn er sich mit Druellas Göre beschäftigt, nicht? Ich mein, das verspricht echt lustig zu werden. Ich wette ja, sie hat das alles nur erfunden, weil sie sauer ist, dass ihre Mami sie am liebsten Daheim einsperren würde. Also will sie sich ein bisschen interessant machen.«

Gideon legte den Kopf schief. »Dir ist klar, dass du von meiner Nichte redest?«

Everard schnitt eine Grimasse und nahm hastig einen Schluck Whisky. »Nichts für ungut, Gid, aber die Kleine ist schon echt ...« Er tippte sich gegen die Stirn.

»Das werden wir ja noch sehen.« Ein Lächeln zog an Gideons Lippen. »Ich wette jedenfalls, dass es keine fünf Minuten braucht, bis sie ihn überzeugt hat. Immerhin habe ich in ihre Ausbildung investiert. Also ja, natürlich werde ich da sein. Bis dahin bin ich sicher mit allem anderen fertig.« Mit diesen Worten winkte er noch einmal in den Raum, bevor er sich wieder in Bewegung setzte.

Sie beeilte sich, ihm zu folgen. Dieses Mal folgten ihnen keine anzüglichen Kommentare.

Von dem kleinen Zwischenzimmer gelangten sie in einen Gang, von dem zu beiden Seiten je drei Türen abgingen. Zuversichtlich öffnete sie die letzte zu ihrer Linken. Sie wusste einfach, dass es die Richtige war.

Das Zimmer dahinter war weitgehend leer, nur ein Flügel in der Mitte unterstrich den Luxus der Platzverschwendung. Beleuchtet wurde das Ganze von dem Mond, der voll über dem Meer hintern den Fenstern stand. Eine schöne Aussicht, aber sie nahm sich keine Zeit, diese zu bewundern. Sie hatte nur Augen für die zwei Gestalten vor der Fensterfront.

Elladora lehnte an einem Fensterrahmen, ihre Hände vor dem Bauch ineinandergeschlungen. Ihr gegenüber befand sich Druella und beide diskutierten leise, doch hitzig miteinander.

Sollte sie das nicht freuen? Eine Stimme in ihr sagte, dass dem so sei. Die Feindin war in Gideons Falle, das musste ihr gefallen. Aber sie konnte nicht. Das hier war falsch, dieses Gefühl erstickte sie geradezu.

Falsch, falsch –

Das Wolkenrauschen in ihren Ohren nahm zu. Einzelne Fetzen der Unterhaltung zwischen den Freundinnen drangen zu ihr vor – irgendetwas von „Familienehre“ und der „letzten Chance zur Umkehr“. Doch sobald ihre Absätze die ersten Laute auf dem Fliesenboden machten, verstummte das Gespräch. Die Frauen drehten sich überrascht um.

 

Minervas Fingernägel gruben sich in ihre Handfläche. Auf einmal war da Schmerz, der sie zusammenzucken ließ. Willkommener Schmerz.

Sie war fast zurück an der Oberfläche. Es fehlte nicht mehr viel ... Ein ums andere Mal kämpfte sie sich nach oben, bevor eine Welle sie wieder herunterdrückte. Doch der Geschmack von Freiheit lag in der Luft. Geräusche, Gerüche, Gefühle – alles drängte zurück in ihre Wahrnehmung. Und die Erinnerung, die Gedanken an das, was wirklich war.

Immer fester drückte Minerva die Fingernägel in ihre Haut. Sie durfte jetzt nicht wieder die Kontrolle verlieren, aber sich genauso wenig verraten.

In ihrem inneren Kampf gefangen, stand sie erstarrt da und verfolgte, wie Druella – den Zauberstab in der Hand – lächelnd Rosier und ihr entgegenkam. Elladora hingegen bewegte sich kein Stück. Nicht einmal nach ihrem Stab tastete sie.

»Gideon?«, fragte sie mit bebender Stimme. »Was hat das zu bedeut-«

Unvermittelt weiteten Elladoras Augen sich, als sie Minerva sah. Ein paar Sekunden lang starrte sie scheinbar ins Nichts, den Mund halb geöffnet. Dann sanken ihre Schultern genauso wie die Mundwinkel herab.

Minervas Faust zitterte, so heftig drückte sie die Finger zusammen. Hoffentlich sah Elladora den Widerstand in ihren Augen. Sie musste einfach! Gemeinsam hatten sie eine Chance – wieder wurde Minerva die Luft knapp und sie schluckte krampfhaft gegen den unsichtbaren Druck auf ihrem Hals an.

Für eine gefühlte Ewigkeit starrte Elladora sie nur an, dann wechselte plötzlich ihr ganzer Ausdruck. Mit einem harten Funkeln in den Augen hielt sie auf Rosier zu. »Was bringst du die hierher?«, fauchte sie. »Ist das wieder eines von deinen kranken Spielchen?« An Druella gewandt setzte sie hinzu: »Großartige Leistung, dass du deinem Bruder auch noch hilfst! Dafür sind Freundinnen da, hm?«

»Ella, beruhige dich«, hob Druella an, doch ihre Worte versiegten angesichts von Elladoras Miene.

Diese musterte mit kalten Augen den Zauberstab, den Druella mehr schlecht denn recht in den Falten ihres Kleides verbarg und schließlich den in Rosiers Hand, der ganz offen auf sie zeigte. Dann schlang sie die Arme um ihren Oberkörper, als müsste sie ein Frösteln unterdrücken.

»Elende Verräterin«, zischte sie Druella entgegen. »Und ich dachte noch, es sei dir wenigstens ernst mit deiner Sorge um Bella.« Ihr entrang sich ein trockenes, trauriges Lachen. »Ich dachte sogar, ich könnte dir vielleicht noch helfen! Aber du hast mich nur benutzt, nicht wahr? Ihr beide habt von Anfang an geplant, mich hier festzuhalten. Das war alles nur ein Vorwand, um mich von unten wegzulocken.« Anklagend zeigte sie zwischen den Rosier-Geschwistern hin und her.

Offensichtlich schuldbewusst presste Druella ihre Lippen mit jedem Wort Elladoras weiter zusammen. Rosier jedoch legte eine Hand auf ihre Schulter, während er seine Frau mit einem breiten Lächeln bedachte.

»Gib nicht meiner Schwester die Schuld, dass man dich überhaupt an die Leine legen muss wie einen tollwütigen Crup. Das hast du allein dir zuzuschreiben. Du glaubst doch nicht, es würde unbemerkt an mir vorbeigehen, wenn du dich hinter meinem Rücken verschwörst? Nicht nur das, hinter unser aller Rücken! Ich habe deine Vergehen lange genug ertragen, aber wenn du dich jetzt noch gegen den Dunklen Lord und unsere Pläne wendest, dann ist es mit meiner Geduld vorbei!«

Erneut lachte Elladora freudlos auf. »Hörst du dir eigentlich selber zu? Was soll ich dann vorhaben, so ganz alleine? Ich bin einfach nur angepisst, dass ihr mich umherschubst, wie es euch beliebt, kannst du dir das vorstellen?«

Druella versteckte den Zauberstab hinter ihrem Rücken und wich zusehends in den Schutz ihres älteren Bruders zurück, den Blick auf ihre Schuhspitzen gerichtet.

Bei diesem Anblick schnalzte Elladora mit der Zunge, warf sich ihre Haare über die Schulter und stolzierte zum Flügel hinüber. Es klang, als würde jeder ihrer Schritte versuchen, den Fliesenboden zu durchbrechen.

Unweigerlich fragte Minerva sich, ob sie sich in dieser Frau getäuscht hatte. Elladora schien mit einem Mal wieder so selbstsicher, nun, da sie sich gegen das schwarz lackierte Holz lehnte ... wie eine Königin, die Hof hielt. Was wenn Gid-, nein – Rosier recht hatte und sie nur ihren eigenen Hintern retten wollte?

Die Zweifel waren laut, doch halt, das waren wieder seine Gedanken, die versuchten, sie unter Wasser zu ziehen. Sie musste Elladora vertrauen!

Minerva atmete tief ein, obwohl neue Glasscherben ihre Lungen erfüllten. Rosiers Pech, dass sie schon Schlimmeres in den letzten Tagen durchgestanden hatte. Sie würde ihm nicht gehorchen!

Zum Glück schien Rosier seine schwindende Kontrolle gar nicht zu bemerken. Er grinste weiterhin Elladora an, während er mit dem Kopf zu Minerva nickte. »Nun, wenn du so rein gar nichts planst oder getan hast, dann kennst du sicherlich auch nicht diese Frau, die heute unsere Versammlung infiltriert hat und kläglich daran gescheitert ist, uns zu verraten?«

»Sei nicht so einfältig, Gideon. Natürlich kenne ich sie.« Elladora hob das Kinn. »Du weißt genauso gut wie ich, dass diese Lehrerin mit meinem Bruder zusammen an der Sache mit Caius dran war. Und du weißt auch, dass ich ihren Fragen in meiner Zelle nicht davonlaufen konnte. Aber ist das jetzt mein Problem, wenn sie sich hierher verirrt?«

Mit einem Achselzucken sah Rosier seine Frau an. »Kommt drauf an … Wolltest du sie etwa nicht an mir vorbei schmuggeln? Hast du etwa nicht versucht, ihr und deinem missratenen Bruder zu helfen? Dein Bruder zumindest ist nicht hier. Nicht mehr, sollte ich wohl sagen. Dabei hat der junge Rodolphus Lestrange mir bei seinem komischen kleinen Aufspürer geschworen, dass er hier wäre und er ihn zu mir bringen würde ...«

»Dann hat dich dein neuer Freund wohl belogen. Würde mich ja nicht wundern. Das sind schließlich noch Kinder, die meinen, ein Anrecht auf einen Platz in unseren Kreisen zu haben! Vermutlich haben sie eine ganze Menge Lügen erfunden, nur um heute dabei sein zu können. Was meinst du, was T- ... ich meine, er von all den Lügen halten wird, wenn ihr ihn seine Zeit daran verschwenden lasst? Vielleicht solltest du darüber lieber mal mit deiner Schwester reden.«

Elladora funkelte Druella an, die inzwischen fast bis zur Tür zurückgewichen war und ertappt ihre Schultern hochzog.

»Ella, ich –«

»Ach, schweig einfach«, schnappte Elladora zurück. »Ich habe genug von all diesen Lügen und Ausflüchten!«

»Witzig, dass ausgerechnet du das sagst.« Rosier schob sich vor seine Schwester und nahm Elladora so den Blick auf sie. »Wo du doch die größte Lügnerin dieser Familie bist.«

Er trat einige Schritte auf seine Frau zu, sodass er wiederum nicht sehen konnte, wie Minerva in seinem Rücken auch die zweite Faust ballte. Elladora allerdings sah es, bevor sie die Augen fest auf ihren Mann heftete, der mit dem Zauberstab in der Hand in ihre Richtung gestikulierte.

»Weißt du, Ella, Darling, dir fehlt einfach die richtige Demut für unsere Sache. Und damit meine ich nicht einmal, dass du ihn immer noch Tom nennen willst.«

»So?« Elladora wandte den Blick nicht ab, doch ihre Hand tastete sich langsam zu der Tasche in ihrem Kleid vor. »Dann hilf mir auf die Sprünge, indem du mir erzählst, was ich alles falsch mache.«

»Ah ...« Druella hatte die Tür erreicht. »I-ich sollte gehen«, stieß sie hastig hervor. »Ich muss nach Bella sehen, nicht dass sie ...«

»Natürlich, Druella. Geh nur.« Rosiers Mundwinkel zuckten. »Ich habe schließlich ausreichend Unterstützung hier.«

Er stieß seinen Zauberstab hart gen Boden. Beinahe hätte Minerva laut gekeucht. Zurück war der eiserne Griff der Finsternis an ihren Fußgelenken. Schon schlug ihr das Wasser wieder ins Gesicht, säuselten fremde Stimmen in ihr Ohr ...

Er wollte, dass sie lächelte und vortrat. Nur das. Das war gerade so in Ordnung. Sie konnte das, ohne die Kontrolle gänzlich abzugeben ...

 

Ihre Schuhe klapperten auf dem glatten Fliesenboden, als sie neben Gideon trat, ihre Hände artig vor dem Körper gefaltet, das gewünschte Lächeln auf den zittrigen Lippen.

»Was immer du wünschst, Gideon«, hörte sie sich sagen.

 

Die wenigen Worte brannten wie billigster Feuerwhisky in Minervas Kehle. Es kostete sie alle Kraft, die Hände nicht wieder zu Fäusten zu ballen. Doch es musste ohne funktionieren. Rosier sollte glauben, dass er sie steuerte. Je länger sich dieses Versteckspiel zog, desto größer die Chance, ihn vollkommen abzuschütteln, in einem Moment der Unachtsamkeit.

»Das wirst du noch bereuen«, flüsterte Elladora indes – ob an Druella oder doch eher ihren Mann gerichtet, blieb unklar.

Druella entgegnete nichts mehr. Minerva hörte bloß die Tür hinter ihr ins Schloss fallen. Dann senkte sich Stille über den Raum.

»Und was jetzt?« Elladora drückte sich mit dem Rücken gegen den Flügel. Inzwischen hatte sie eine Hand in die Tasche geschoben und hielt wahrscheinlich den Zauberstab umklammert. Doch ihre Stimme zitterte trotzdem verräterisch.

Rosier sah auf seinen eigenen Stab hinab, als müsse er erst überlegen, wohin er mit dieser Show wollte. »Ich weiß nicht ... sagst du mir freiwillig, was du mit deinem Bruder ausgeheckt hast? Und vor allem, wo ich ihn finde?«

Mit einem Seufzen senkte Elladora die Lider. »Was, wenn nicht?«

»Willst du das wirklich herausfinden? Es muss doch nicht so sein. Sag es einfach. Ich werde es sowieso herausfinden, aber das wird seinen Preis haben. Und den wirst dann nicht du zahlen.«

Minerva riss ihren Blick von Elladoras versteinerter Miene fort. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit! Sie brauchte dringend einen Zauberstab. Der Stab von Rowle, den Rosier ihr abgenommen hatte, steckte immer noch in dessen Umhangtasche. Vielleicht könnte sie, wenn sie etwas näher herantrat, unbemerkt – und schnell! – hineinlangen, Rosier schocken ...

Als würde er diesen Gedanken ahnen, drehte Rosier sich plötzlich zu ihr und trat zwei Schritte zurück. Er betrachtete sie mit neuer Intensität, so kalt und gierig, dass Minerva sich fühlte, als stünde sie völlig entkleidet da.

In ihrem Kopf formte sich ein Bild – Sie riss die Augen auf.

Nein! Das war nicht ihr Wille!

Ihre Hände bebten. Vor Abscheu. Und unter dem Drang, dem fremden Verlangen Folge zu leisten ...

Rosier runzelte die Stirn. »Nun komm schon –«

Die Tür, die sich eben erst geschlossen hatte, flog ruckartig auf.

Wütend fuhr Rosier herum. »Was denn jetzt noch, Druella?«

Doch es war nicht seine Schwester, die mit langen Schritten den Raum betrat.

Minerva klappte der Mund auf.

Vor ihnen stand Mulciber, die Hände in den Hosentaschen, ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen.

Stille

»Oh, jetzt bin ich aber enttäuscht ...«

Mulcibers laute Worte trafen auf umso intensivere Stille. Einige Herzschläge lang hörte man nicht einmal Atemzüge. Alle drei starrten Minerva, Elladora und selbst Rosier den Eindringling an, unerwartet im Schrecken vereint.

Was tat er hier? Eine große Hand legte sich aus dem Nichts um Minervas Magen und drückte langsam zu. Etwas stimmte an dieser Situation nicht. Nur was?

Sie suchte Mulcibers Blick, doch dieser wich ihr gekonnt aus, indem er sich auf der Stelle drehte und den nahezu leeren Raum in Augenschein nahm. Für den Flügel hinter Elladora hatte er eine erhobene Augenbraue übrig, das war es auch schon. Letztlich wandte er sich Rosier zu und schickte ein Seufzen in das anhaltende Schweigen.

»Komme ich wirklich so ungelegen? Ich meine – man hat mir drüben allerlei wilde Versprechungen gemacht, was dieses kleine ... Tête-à-Tête angeht, aber hier wird sich doch tatsächlich nur unterhalten. Da hatte ich mir nach all den Andeutungen ehrlich mehr versprochen, Gid ...«

Minerva sah dabei zu, wie Mulciber durch das Zimmer spazierte und Rosier einen Klopfer auf die Schulter versetzte. Es brauchte einige weitere Wimpernschläge, bis sie endlich begriff, was so falsch an diesem Bild – an Alston Mulciber – war.

Es war das Aussehen. Mulciber sah wieder aus wie immer. Nicht wie das Narbengesicht, in das der Vielsafttrank ihn verwandelt hatte. Doch sie verstand nicht, wieso. Sie waren schließlich nicht umsonst in Tarnung angereist ...

Auf Rosiers Zügen wich die Irritation dafür plötzlich einem breiten Grinsen. »Al, mit dir habe ich gar nicht gerechnet«, rief er aus und scheuchte die letzte Verwunderung kopfschüttelnd fort. »Everard meinte, Rookwood und du, ihr würdet euch bedeckt halten müssen ...«

»Tja, Überraschung!« Mit einem zufriedenen Grinsen breitete Mulciber die Arme zu beiden Seiten aus wie ein Straßenkünstler nach der Aufführung, der auf ein paar Pfundnoten – oder Sickel – aus war.

Nicht nur trat er in seiner eigenen Haut auf – er verhielt sich auch genau so, selbstsicher und spöttisch wie eh und je. Er war kein unerwünschter Eindringling wie sie, begriff Minerva. Nein, Mulciber war in dieser Gesellschaft zuhause. Er gehörte dazu.

Weshalb dann bloß das Schauspiel zusammen mit Elphinstone und ihr? Wenn das hier eine Falle war, warum hatte er sie nicht eher auffliegen lassen? Sie versuchte, schneller zu denken, einen Grund zu finden, aber ... nichts.

»Ich dachte mir, so kurz vor’m Ziel kann man mal eine kleine Ausnahme machen«, fuhr Mulciber derweil mit einem Achselzucken fort, gänzlich unberührt von der gegenwärtigen Anspannung. »Kann mir ja nicht immer das Beste entgehen lassen! Wenigstens einmal muss ich bei so einer Veranstaltung einfach den versteckten Wichtel geben und mich ein bisschen umsehen. Ich sollte schließlich auch wissen, mit wem wir es so zu tun haben, findet ihr nicht?« Während er sprach, sah er langsam von Rosier zu Elladora.

Die befand sich genau wie Minerva immer noch in Schockstarre und fixierte Mulciber mit schmalen Augen. Doch sobald sie seinen Blick auffing, zupfte an ihren Lippen ein kleines Lächeln. »Nun, zumindest ich gebe dir recht, Alston«, sagte sie tonlos, aber es war eindeutig, dass ihre Schultern ein Stück herabsanken.

Noch etwas, auf das Minerva sich keinen Reim machen konnte, ebenso wenig wie auf Mulcibers Reaktion. Dessen überzogenes Strahlen flackerte nämlich und für den Bruchteil einer Sekunde sah das Lächeln, was übrig blieb, gar echt aus. Lange währte der Eindruck jedoch nicht, bevor er sich abwandte und stattdessen mit dem Daumen in ihre Richtung wies.

»Eine Frage drängt sich mir allerdings auf, Gid. Was wird das hier nun für eine Privatvorstellung? Und vor allem: Warum mit der? Hab ich was verpasst? Ich wollte Everard ja nicht glauben, als er mir von McGonagall erzählte ...«

Zur Antwort gab Rosier ein unterdrücktes Schnauben von sich, das seine kurzzeitige Freude direkt vertrieb. »Eine kleine, aber bitter nötige Lektion wird das. Eine, mit der du – bei allem Respekt – nichts zu tun hast.«

»Ist ja gut, entspann dich, alter Freund.« Abwehrend hob Mulciber beide Hände. »Ich frag doch nur, immerhin sind McGonagall und ich alte Feinde. Da muss ich den Anblick einfach genießen, wenn du ihren Willen wirklich gebrochen hast. Sorry Gid, gönn mir die Minute.«

»Meinetwegen, aber dann mach gleich zwei draus«, erwiderte Rosier gedehnt. Seine Mundwinkel zuckten ganz und gar nicht humorvoll. »Soll sich ja auch lohnen für dich, wo du dich heute schon mal zum Fußvolk bequemt hast. Alles für unsere wertvollen Unterstützer im Ministerium et ceterea, et cetera ...«

Mulciber lachte nur und schlenderte langsam in Minervas Richtung, wobei er es kunstvoll vermied, sie anzusehen. Obwohl sie seinen Blick inzwischen offensiv suchte, machte er keine Anstalten, ihr ins Gesicht zu sehen. Dafür musterte er alles andere an ihr – das ramponierte Kostüm; die bebenden Finger, die am liebsten wieder eine Faust ballen wollten ...

»Endlich mal keine Widerworte aus Minerva McGonagalls Mund! Dass ich das noch erleben darf ...« Mulciber schob die Hände zurück in seine Hosentaschen, während Rosier mit verschränkten Armen wartete. »Nachdem ich jahrelang darunter leiden durfte, mit dieser kleinen Mistkatze zusammenzuarbeiten, ist das hier ein Anblick, der mein Herz höher schlagen lässt. Sie unter dem Imperius, das ist wirklich ... genial! Ich schulde dir einen Feuerwhisky, Gid.«

Rosier verdrehte die Augen, grinste dabei allerdings. »Die Leiden des Alston Mulciber – ich sag’s dir, eines Tages schreibe ich ein Buch darüber.«

»Oh, ich bitte darum«, gab Mulciber umgehend zurück. »Soll ich dir mein Tagebuch geben, damit du Originalzitate benutzen kannst?«

»Sehr witzig.« Mit einem Kopfschütteln vertrieb Rosier das Grinsen abermals von seinen Lippen. »Hör zu Al, wenn ich hier fertig bin, kannst du mit McGonagall machen, was du willst, ja? Ich werd auch nicht danach fragen, wenn sie anschließend ... verschwindet

»Sowas traust du mir zu?« Die gespielte Empörung auf Mulcibers Zügen wich sogleich wieder Provokation. »Na, okay, vielleicht hast du ja recht. Weil sie es ist, mache ich vielleicht noch eine Ausnahme.«

Am liebsten wäre Minerva zurückgewichen, als Mulciber die letzten Zentimeter zwischen ihnen überbrückte und zwei Finger unter ihr Kinn legte. Seine Berührung war ungewöhnlich kalt, ja brannte geradezu auf ihrer Haut. Er schob ihren Kopf ein Stück nach hinten und zwang sie somit, zu ihm aufzusehen. Allein die Furcht vor den Konsequenzen möglichen Widerstandes hielt sie an ihrem Platz.

Wenigstens konnte Mulciber so nicht länger ihrem Blick ausweichen. Nicht, dass es etwas geändert hätte – in seinem Gesicht war keine Regung und erst recht keine Reue zu erkennen. Weder Mitleid noch Hohn spiegelten sich in seinen dunklen Augen, nur das ferne Mondlicht von draußen.

»Oh McGonagall ... wer von uns triumphiert nun, hm?« Er seufzte kaum merklich.

Aus dem Augenwinkel beäugte er indes Elladora, die ihrerseits zwischen ihm und Rosier hin- und hersah. Sie presste sich mit dem Rücken gegen den Flügel, ihre rechte Hand in den Falten ihres Kleides verborgen. Für einen lächerlich hoffnungsvollen Moment erwartete Minerva, sie würde gleich den Zauberstab ziehen und ihr zur Hilfe eilen.

Doch nichts dergleichen geschah. Dafür schien sich plötzlich ein enges Gummiband um ihren Schädel zu spannen. Sie sah zu Mulciber zurück. Las er etwa ihre Gedanken? Grimmig formte sie ein möglichst eindeutiges »Fick dich!« in ihrem Kopf, nur für den Fall. Und prompt bekam sie ihre Antwort.

Es konnte unmöglich Zufall sein, dass Mulcibers Mundwinkel zuckten, kaum dass sie den Gedanken beendet hatte. Im Gegenteil, ihr Zorn schien ihn anzuspornen. Nur sein Unvermögen, ihr wenigstens ein paar Sekunden länger in die Augen zu schauen, verriet den Hauch eines Gewissen. Aber in ihrem Geist gab es für ihn ohnehin viel mehr zu sehen.

Ohne ihr Zutun erinnerte Minerva wieder, wie Rosier ihr den Zauberstab Rowles abgenommen hatte und obwohl sie die Zähne zusammenpresste, drängte sich ihre Verabschiedung von Elphinstone zurück in den Vordergrund. Das Gefühl seiner Finger, die aus ihren glitten, das Brennen von Goldlackwasser auf ihren Lippen nach dem letzten Kuss und schließlich der Wirbel, in dem Elphinstone mit dem Portschlüssel verschwunden war.

Und dann, als ihre Finger schon erwartungsvoll zuckten, um endlich die Faust zu bilden, die Mulciber in den Magen treffen könnte – stolperte sie beinahe vorwärts. Der Legilimentikdruck war weg, der Schleier vergangener Erlebnisse vor ihrem geistigen Auge nicht.

Mulciber hatte sich von ihr gelöst und wieder Rosier zugewandt, doch seine Stimme war auf einmal in ihrem Kopf. Sie behauptete, dass es einen Ausweg gäbe. Das war keine ihrer Erinnerungen, auch wenn sie die Arrestzelle im Ministerium wiedererkannte, deren Bild zu den Worten gehörte. Genauso wie die trotzige Elladora darin, die vorwurfsvoll fragte: »Was willst du tun? Es ist zu spät, für alles! Er ist nicht der Einzige, der in Gewalt die Lösung sieht!«

»Ich finde einen Weg«, beschwor Mulcibers körperlose Stimme in Minervas Gedanken, während der echte Mulciber keine Armlänge entfernt dastand und mit Rosier über ihren vermeintlich willenlosen Zustand scherzte.

»Wir finden einen Weg.« Die Worte hallten völlig selbstverständlich durch ihren Kopf, als wären sie ihr wohlbekannt. »Ich habe dafür gesorgt, dass Gideon gehen kann, anstatt für die Sache mit den Flugblättern belangt zu werden. Er hat keinen Grund, mir zu misstrauen. Ich bin schließlich immer noch sein Kumpel – zumindest wird er das denken. Und der Rest genauso. Merlin, ich habe deinen Bruder sicher nicht umsonst überzeugt, die Entlassungen für gewisse Demonstranten schnellstmöglich durchzuwinken! Es darf jetzt einfach niemandem der Zauberstab ausrutschen. Belohnt werden nur die Geduldigen.«

Die erinnerte Elladora seufzte. »Ich hoffe so sehr, dass du recht behältst, Al ...«

Durch den verblassenden Schleier von Mulcibers Erinnerung sah Minerva bestürzt zu, wie er sich nunmehr der realen Elladora näherte. Was hatte das zu bedeuten? War ihm überhaupt bewusst, dass er sie in seine Gedanken gelassen hatte? Oder hatte er es gar gewollt? Hatte sie sich womöglich doppelt in ihm getäuscht?

»Nur eines verstehe ich nicht«, sagte der gegenwärtige Mulciber leichthin über die Schulter zu Rosier, »was hat Elladora mit McGonagalls wohlverdientem Imperius-Problem zu tun? Was für eine Art Lektion soll das werden?«

Rosier hielt die Arme weiterhin verschränkt, doch sein nervös auf und ab wippender Zauberstab in der rechten Hand verriet die Ungeduld hinter seiner Fassade. »Ach Al ... Was denkst du denn, was deine liebe Ex-Kollegin hier treibt? Glaubst du etwa, sie war eingeladen?«

»Muss ich ja, nach all euren Sicherheitsvorkehrungen. Ich wäre ja selber kaum reingekommen. Um ein Haar hätte ich eine Geheimnissonde im Allerwertesten gehabt!«

Das kommentierte Rosier mit einem Schnauben. »Nun, vielleicht sollte Ella etwas dazu sagen, wie McGonagall herkam? Ich denke, sie kann diese Geschichte noch schöner erzählen als ich. Und dann wirst du schon verstehen.«

Mulciber sah Elladora genau wie Rosier an, wenn auch besorgt, anstatt begierig. Elladora schrumpfte unter den Blicken förmlich zusammen. Ihre eben noch entspannten Schultern wanderten wieder in die Höhe.

»Als wenn ich wüsste, woher McGonagall kam!«, stieß sie gepresst hervor. »Zum letzten Mal – ich habe nichts damit zu tun, auch wenn du es dir wünscht, Gideon.«

»Lüg mich nicht an!«

Selbst Mulciber zuckte bei dem plötzlichen Schrei Rosiers zusammen.

»Ich weiß, dass sie gemeinsam mit deinem Bruder herkam, auf dein Geheiß –«

»Ach«, warf Mulciber rasch ein, »der kleine Elphinstone?«

Minerva hielt die Luft an; spannte all ihre Muskeln. Tu es nicht, flehte sie in Gedanken, gleichwohl sie nicht einmal wusste, ob er sie hörte. Das würde Elladora dir nie verzeihen!

Mulciber ließ sich nichts anmerken, sondern sprach einfach weiter. »Es würde mich wundern, wenn Elphinstone hier war. Den habe ich bei Dienstschluss schließlich noch dabei gesehen, wie er seine letzten Akten im Archiv zurückgegeben hat. Jetzt wo er suspendiert ist, muss er ja all seine Unterlagen ans Ministerium herausgeben ... geschieht ihm recht.« Er lachte erneut auf, aber es klang dünn, wie eine Saite kurz vor dem Zerreißen.

Offenbar überzeugte die Lüge Rosier ebenso wenig wie Minerva, denn er schüttelte seufzend den Kopf. »Erfindest du jetzt schon Ausreden in Elphinstones Namen? Du enttäuschst mich. Dabei habe ich dich einst für klug gehalten. Und für einen echten Freund. Aber in letzter Zeit zeigst du genau wie meine werte Frau dein wahres Gesicht, nicht?«

Fast bewunderte Minerva, wie schamlos Mulciber einen unschuldigen Ausdruck aufsetzte und Rosier gegenüber mit den Achseln zuckte.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte er gleichmütig. »Obwohl – lass mich raten! Geht es um die Sache mit den Flugblättern? Dir ist doch wohl klar, dass ich dir da zumindest ein bisschen auf die Finger hauen musste, ja?«

»Natürlich; um den Anschein zu wahren ...« Rosier gab ein leises Schnalzen von sich. »Fast hättest du mich überzeugt, Alston. Fast. Aber nein, das meine ich nicht. Was ist mit deinen letzten Ausflügen? Glaubst du, ich weiß nichts davon?«

»Ausflüge?« Dieses Mal schien Mulcibers Ahnungslosigkeit echt.

»Tja, klingt, als hättest du da etwas Wichtiges ... vergessen?« Mit einem tiefen Atemzug, der ihn und sein breites Kreuz förmlich wachsen ließ, trat Rosier ein paar Schritte näher. »Vielleicht so etwas wie die Tatsache, dass du mit Elphinstone und McGonagall dort draußen rumgeturnt bist und deine eigenen Ermittlungen angestellt hast?«

»Gideon ...« Im Gegensatz zu sonst fehlte Mulcibers typischem, herablassenden Schnauben die Leichtfertigkeit; das dazugehörige Grinsen. Jetzt waren seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben und eisige Kälte lag auf seinen Zügen. »Sag nicht, dass du es warst, der mich obliviert hat.«

»Ach komm, gib jetzt nicht den Schockierten«, entgegnete Rosier unbekümmert. »Natürlich war ich es. Weißt du eigentlich, wie schwierig das mit den Heilern vor Ort war? Um die musste ich mich auch noch kümmern, von den lästigen Muggeln ganz zu schweigen!«

Gefangen in der Rolle der Beobachterin vergaß Minerva angesichts dieser Wendung beinahe ihren Widerstand gegen den Imperius. Erst in letzter Sekunde riss sie sich mit einem Blinzeln aus der gefährlichen Lethargie.

Mulciber indes wich keinen Schritt vor Rosier zurück, doch hinter all seinem Sarkasmus hörte sie den ersten Anflug von Besorgnis heraus.

»Warum, Gideon? Weil es deine Nichte war, die mich zweimal fast umgebracht hätte? Kann ich ja nicht ahnen!« Missbilligend schüttelte Mulciber den Kopf. »Abgesehen davon hatte sie es nicht anders verdient. Entschuldige bitte, aber ich bin doch etwas angefressen, nachdem ich in der Flohzentrale mit unverzeihlichen Flüchen beschossen wurde, von dem Fiasko in Gringotts ganz zu schweigen. Ja, ich gebe es zu, da kam mir McGonagalls privater Rachefeldzug wirklich gelegen! Ich hänge schließlich auch – man möchte es kaum glauben – an meinem beschissenen kleinen Leben!«

Rosier reagierte seinerseits nur mit einem Augenrollen auf die Vorwürfe. »Oh, immer dieses armselige ‚Warum Gideon ...‘«, äffte er Mulciber nach. »Sieh den Tatsachen ins Auge – du bist eben nicht der Einzige, der unzufrieden mit der Gesamtsituation ist. Du bist nur ein schlechter Verlierer, wenn es nicht nach deiner Laune geht.«

Für einen Augenblick fiel wieder Schweigen über den Raum, dann sah Minerva etwas Dunkles, eine hastige Bewegung – doch Mulciber zog nur die Hände aus den Hosentaschen und streckte Rosier die leeren Handflächen anklagend entgegen.

»Und du denkst, für ein paar Machtspielchen wäre es in Ordnung, mein Gedächtnis zu löschen? Anstatt einmal mit mir zu sprechen? Nach allem, was ich für dich als Freund getan habe?«

»Manchmal sind halt kleine Opfer notwendig. Du hättest es ja nie erfahren, wenn du dich nicht unbedingt einmischen müsstest. Und sag jetzt nicht, du hättest so etwas noch nie getan.« Spöttisch zog Rosier die Augenbrauen hoch. »Außerdem glaubst du doch nicht, meine Nichte und ihr Mann hätten all diese Dinge von alleine geschafft? Du weißt genauso gut wie ich, dass sie noch halbe Kinder sind. Aber nur weil meine Schwester der Meinung ist, eine Frau sollte keine Ambitionen haben, heißt das nicht, dass ich Bellas Potential ebenso verkenne. Betrachte meine Taten einfach als Investition in die nächste Generation. Das Thema liegt dir doch am Herzen.«

Die folgende Stille war so umfassend, dass Minerva in weiter Ferne das leise Zusammenspiel von Musik und Gesprächen hören konnte. Dazwischen mischte sich nur Elladoras flacher Atem und – wenn man ganz genau lauschte – das Knirschen von Mulcibers fest zusammengebissenen Zähnen.

Jede Faser ihres Körpers zum Zerreißen gespannt, die Muskeln bereit ihr Gedankengefängnis zu sprengen, wartete Minerva darauf, dass Mulciber den Zauberstab zog, Rosier einen Fluch entgegenschleuderte, der Beginn eines Kampfes ... Doch es folgte kein plötzlicher Lichtblitz, kein wütender Schrei.

Natürlich nicht. Mulciber hatte genau wie sie seinen Stab beim Einlass abgeben müssen. Somit war er ebenfalls unbewaffnet. Das würde immerhin erklären, weshalb er es Rosier bloß gleichtat und die Arme vor der Brust verschränkte.

»Also war das alles von Anfang an dein Plan? Du hast Bellatrix und ihren Mann ... inspiriert?«, fragte er heiser.

Glucksend ahmte Rosier Mulcibers bühnenreife Geste mit den ausgebreiteten Armen nach. »Bravo, du hast es erfasst. Ja, ich habe insgeheim etwas nachgeholfen. Wenn ihr Fluch hält, was er verspricht, dann werden das Ministerium und all seine Anhänger schon bald die wahre Macht des Walpurgis begreifen! Unsere Macht! Das, wovon wir seit der dritten Klasse immer geträumt haben, Al!«

»Bist du wirklich so verblendet?« Kaum merklich verzog Mulciber das Gesicht. »Ist dir nicht klar, dass du damit in erster Linie die Aufmerksamkeit des Aurorenbüros riskierst? Was meinst du, wie er dir danken wird, wenn du alles in Gefahr bringst, was wir über die letzten Jahre aufgebaut haben?«

»Hah, das Aurorenbüro! Sollen sie nur kommen.« Rosier schnaubte verächtlich. »Im Gegensatz zu dir bin ich nicht so naiv, zu glauben, dass sich die Welt einfach so, von heute auf morgen, zu unseren Gunsten ändern wird. Und wenn es einen Krieg dafür braucht, dann werde ich ihn führen. In jedem Fall können wir alle fähigen Zauberstäbe auf unserer Seite gebrauchen. Es wird höchste Zeit, den inneren Kreis zu erweitern.«

»Das ist Irrsinn«, hauchte Mulciber, augenscheinlich genauso fassungslos wie Minerva. »Bellatrix ist nicht im Mindesten dafür geeignet, eine von uns zu werden –«

»Das entscheidest ja wohl kaum du.«

»Aber auch nicht du!« Alle Köpfe flogen herum, als Elladora sich plötzlich mit bebender Stimme einmischte. Bis eben hatte sie nur am Flügel gelehnt und das Geschehen reglos verfolgt, doch nun trat sie ein paar energische Schritte vor. »Wie kannst du Druella – deine eigene Schwester! – so hintergehen? Ihre Tochter für deine Kriegslust zu benutzen –«

»Du hast hier überhaupt nichts zu sagen«, würgte Rosier sie ab. Sein Zorn schraubte die Lautstärke langsam aber sicher in neue Höhen. »Und vor allem solltest du nicht von Moral oder Anstand sprechen. Wer von uns hat sich denn mit Caius eingelassen, hm? Das warst du! Du hast das alles erst möglich gemacht, du lügende, dreckige Schlampe!«

Je lauter Rosier wurde, desto mehr Kontrolle sickerte in Minervas Glieder zurück. Minuten zuvor hatte es sie jede Anstrengung gekostet, sich überhaupt bei Bewusstsein zu halten, doch inzwischen brauchte es nur einen kurzen Gedankenbefehl und ihr Körper gehorchte. Diese Chance konnte sie nicht verstreichen lassen!

Unbemerkt von Rosier, dessen Stimme sich im Wettstreit mit Elladoras immer höher schaukelte, schob sie sich ein paar winzige Testschritte zur Seite. Ihr war, als ginge sie durch zähen, hüfthohen Matsch und jedes Mal, wenn sie auftrat, schienen ihre Füße am Boden festzukleben. Aber sie schaffte es, Rowles Zauberstab in Rosiers Tasche immer vor Augen.

»Ich wusste doch die ganze Zeit, dass du mit Caius schläfst!«, schrie Rosier Elladora derweil weiter an. »Immerhin war er Bella gegenüber sehr freigibig mit den Dingen, die er gegen dich in der Hand hat! Du kannst froh sein, dass du noch so nützlich für meine Sache warst, sonst hätte ich das hier schon viel eher beendet! Du bist nur eine –«

Weiter kam er nicht, denn Mulciber durchschnitt seine Tirade mit einem Schlag gegen den Flügel, der die Mechanik darin lautstark klirren und scheppern ließ. »Das reicht, Gideon!«, rief er so durchdringend, dass es auch Stahlseile hätte durchtrennen können.

Kurzzeitig fürchtete Minerva, Putz würde von der Decke regeln. Schwer atmend standen sich beide Männer gegenüber und trugen ein stummes Kräftemessen allein über ihre Blicke aus. Immerhin brachte sie diese Ablenkung noch zwei wacklige Schritte näher an Rosier heran ...

»Das hört jetzt auf«, verlangte Mulciber leise und doch in fester Stimmlage von Rosier. »Ich begreife nicht, was aus dir geworden ist, aber lass es dir von einem Freund sagen – es ist Schluss. Lass Elladora in Frieden. Wenn er hiervon erfährt, wirst du es bereuen. Er mag es nicht, wenn man hinter seinem Rücken agiert, das solltest du eigentlich wissen.«

Wie erwartet schüttelte Rosier nur den Kopf. »Oh Alston ... du bist so ein Idiot. Weißt du, du hättest einfach die Finger von der ganzen Sache lassen sollen. Es wäre so einfach für dich gewesen! Aber ich will mal nicht so sein, der guten alten Zeiten wegen. Geh jetzt und du kannst sogar noch McGonagall haben, wenn ich hier fertig bin. Das ist mein letztes Angebot an dich.«

Einen Augenblick lang stand Mulciber reglos da – dann schob er sich ein Stück weiter nach links, vor Elladora. »Das werde ich nicht tun.«

Wieder schüttelte Rosier mit dem Kopf, während er den Zauberstab in der Hand hin und her rollte. »Da gebe ich dir eine Chance, einfach davonzukommen, und du ergreifst sie nicht, Al ... Wirklich?«

»Wirklich. Ich werde das hier nicht zulassen. Und wenn es unsere Freundschaft kostet.«

»Al, nicht –«, versuchte Elladora zu intervenieren, doch ein warnender Blick von Mulciber brachte sie zum Verstummen.

»Ach, wie rührselig ...«, höhnte Rosier bei diesem Anblick. »Ist es Mitleid oder warum fühlst du dich mit einem Mal zum strahlenden Ritter berufen, Alston?«

Mulciber zwang seine Arme aus ihrer Verschränkung und straffte seine Schultern. »Weder noch. Im Gegensatz zu dir habe ich einfach ein Fünkchen klaren Verstandes. Du vergisst, dass ich Ella genauso lange kenne wie dich. Und bei allem was mir heilig ist, ich werde nicht zulassen, dass du sie in deinem blinden Zorn verletzt, nur weil sie nicht nach deiner – ziemlich mies gespielten – Geige tanzt.«

»So? Das denkst du also?« Rosier schlenkerte bedrohlich seinen Zauberstab umher. »Steckt ihr etwa unter einer Decke? Wollt ihr uns gemeinsam an ihren Bruder und das Ministerium ausliefern? Ist es das?«

Kalter Schweiß rann Minerva den Rücken hinab, als sie zwei weitere Schritte in Richtung Rosier tat. Sie konnte kaum über seine Worte und ihre Bedeutung nachdenken. Sie wusste bloß, dass sie und Rosier nur noch eine Armlänge trennte. Wenn sie sich nach vorne stürzen, ihn packen würde – dann könnte sie eventuell den Zauberstab ergreifen ...

»Erhofft ihr euch vielleicht Amnestie vom Ministerium, weil ihr zu feige für den Kampf seid?«, tobte Rosier ungeachtet ihrer Bewegungen weiter und lockerte seine Kontrolle damit erst recht. »Hast du vielleicht auch noch mit Elladora geschlafen, Alston? Hast du vielleicht gedacht, du könntest dich mit ihr über den Tod deiner ach so geliebten Maybell hinwegtrösten, ja?«

»Hör auf Gideon!« Elladora stieß einen sprachlosen Mulciber mit dem Ellenbogen beiseite und zog die Hand aus der Kleidtasche, ihren Zauberstab fest im Griff. »Bitte, hör auf! Alston hat nichts dergleichen getan. Auch wenn ich wünschte, ich hätte mich damals in ihn verliebt! Er ist jedenfalls der bessere Mann!«

Rosier schlug sie durch eine harsche Handbewegung zurück und einer von Elladoras Absätzen brach unter ihrer strauchelnden Hacke weg. Mit einem dumpfen Schlag stolperte sie rückwärts gegen den Flügel und brachte damit die Tasten erneut zum Klimpern.

»Tja, dann wünschte ich, ich hätte mir ein Beispiel an Alston genommen und dich genauso vergiftet, wie er es mit seiner Maybell getan hat!«, brüllte Rosier zurück.

Mulciber wurde aschfahl, die Hände zu Fäusten geballt. »Das stimmt nicht und du weißt es! May war krank!«

»Ach ja? Nun, Ella ist genauso krank! Geisteskrank! Sie versucht, alles kaputt zu machen. Aber wartet nur ab, sie wird den heutigen Tag schon bald bereuen!«

»Das reicht!«, fauchte Elladora, die sich trotz gebrochenen Absatzes wieder aufrichtete. Sie hob den Zauberstab und richtete ihn auf ihren Mann. »Weißt du was – egal was du mir antust, ich werde nichts bereuen. Aber ich schenke dir vorher noch die Wahrheit, damit du genau weißt, was ich dir angetan habe.« Sie bleckte ihre Zähne. »Ich habe Elphinstone zwar nicht hergebracht, aber ich habe ihm zur Flucht verholfen. Mit meinen Erinnerungen an das ach so große Vermächtnis der einstigen Walpurgisritter. Bald wird das ganze Land von den Todessern wissen!«

Minerva keuchte. Sengende Hitze durchströmte ihre Brust. Sie verstand die Bedeutung von Elladoras Worten nicht, aber das war egal. Die Wellen fremden Zornes in ihr genügten, um zu begreifen, dass sie einen unfassbaren Verrat begangen hatte.

Die Augen glühten förmlich in Rosiers zornbleichem Gesicht, als er unbeherrscht aufschrie. »Ich wusste es! Mal sehen, wie lange du noch große Töne spuckst, wenn ich dich von der Freundin deines Bruders foltern lasse! Oder sollte ich sie lieber gleich deinen lieben Alston foltern lassen? Ja, ich denke, das wäre nett!«

»Das wirst du nicht!«, brüllte Elladora. Ein dunkler Blitz schoss knapp an Rosiers linkem Ohr vorbei. »Krümm auch nur einem von ihnen ein Haar und du wirst es bereuen!«

Rosier zischte wie eine wütende Schlange, als sie ihm einen zweiten Fluch hinterherjagte, den er gerade so parieren konnte. Mit einer schneidenden Bewegung schleuderte er ebenso pure, schwarze Magie zurück – und noch während der Zauber sich in knisternde, verbrannt riechende Energie entlud, brach Minerva frei.

Sie warf sich mit der Schulter voran gegen Rosier. Überrascht von dem plötzlichen Stoß stolperte er zurück. Im gleichen Atemzug hörte sie, wie seine Magie sich in den Flügel hinter Elladora und Mulciber fraß. Begleitet von schrecklich dissonanten Lauten aus brechendem Holz und reißenden Klaviersaiten schlug Minerva zu Boden, Rosier direkt vor ihr.

Rowles Zauberstab rollte aus seiner Tasche und von ihnen fort, über den glatten Marmorboden. Mit ausgestreckter Hand rutschte Minerva hinterher, streckte die Finger –

Ein eiserner Griff umschlang ihren Hals. Ohne dass sie jemand berührte.

 

Sie durfte sich nicht bewegen. Egal wie sehr es sie verlangte. Die zitternden Finger mitten in der Luft, hielt sie inne. Sie musste stark sein!

Wie Fingernägel auf einer Tafel kratzte der Drang, sich den Zauberstab zu schnappen, an ihren Nerven, ließ ihr die Haare zu Berge stehen – aber sie durfte nicht, das war wichtig. Gideon forderte es von ihr –

 

Nein, nicht Gideon. Rosier. Und sie wollte das nicht! Es war nur der Imperius, der ihr das einredete. Der Imperius, der verdammte Imperius-Fluch und sie würde sich ihm nicht unterwerfen, niemals, nie wieder; nicht Zentimeter vom Zauberstab und damit der Rettung entfernt!

Minerva streckte die Finger weiter, aber Rosiers Interesse galt ihr schon gar nicht mehr. Er sah geradewegs über sie hinweg, schwang erneut den Stab – und dann hörte sie Mulcibers Schrei.

»Ella!«

Diese Laute glichen nichts, was Minerva je gehört hatte. Nicht von Alston Mulciber. Das war nicht seine Stimme, die plötzlich brach, so voller ... Schmerz.

Ein letztes Mal warf Minerva sich gegen den Imperius, ignorierte das brennende Stechen in ihrer Brust, griff nach dem Zauberstab, zwang ihre Finger, sich um das Holz zu schließen, rappelte sich auf, wirbelte herum ...

Sie sah nur Elladora am Boden, das Gesicht unfassbar bleich, Mulciber auf den Knien neben ihr. Dann geschah alles rückwärts. Oder zumindest sah Minerva zuerst Rosier auf die Fliesen schlagen, ehe ihr das grüne Licht auffiel – und lange, bevor die Beschwörungsformel dazu sich in ihr Bewusstsein brannte. Leere Augen durchbohrten sie schon, da bemerkte sie erst Mulcibers ausgestreckten Arm, den Zauberstab von Elladora fest im Griff.

»Avada Kedavra.«

Er hatte nicht einmal seine Stimme erhoben. Nach all dem Geschrei war der Tod unheimlich leise gekommen, nur begleitet von einem kleinen Knistern, als sich die statische Energie des Fluches entladen hatte.

Ein paar Sekunden stand Minerva einfach nur da, dann begriffen ihre Glieder die Freiheit vom Imperius. Prompt war es, als hätte jemand die Fäden durchgeschnitten, die sie festhielten. Die Hand mit Rowles Zauberstab sackte gen Boden und zog den Rest von ihr nach sich.

Mit dem knirschenden Aufprall ihrer Kniescheiben begriff Minerva endgültig. Gideon Rosier war tot. Ermordet von Alston Mulciber.

»Ella ... nein ...«

Jemand holt rasselnd Luft.

»Nein, nein – verfluchte Drachenscheiß! Nein!«

Minerva hörte ihren eigenen Atem so laut, als wolle er die heiseren Worte von Mulciber und die röchelnden Luftzüge von Elladora übertünchen. Aber nichts in der Welt konnte die Wahrheit vertreiben.

Nicht weit von ihr hockte Alston Mulciber, Elladoras Oberkörper in seinem Schoß, ihren Kopf an seine Brust gebettet. »Ella ... Warum musstest du das tun? Ich wollte dir doch helfen! Es sollte doch nicht ... nicht so enden!«

»Aber ... es musste ... enden ...«

Enden. Minervas schmerzender Kopf sackte in ihre Hände hinab. Rowles Zauberstab ließ sie nicht los, dabei war er jetzt so nutzlos, vollkommen nutzlos ... Sie wandte den Blick von Elladora ab, deren Hautton binnen Sekunden von aschgrau zu violett wechselte.

Rosier lag nur eine Armeslänge von ihr entfernt. Seine leeren Augen sahen geradewegs durch sie – und doch konnte sie sich nicht dazu bringen, stattdessen wieder zu der anderen Tragödie in diesem Raum zu schauen. Sie hörte Mulcibers Tränen, da musste sie diese nicht sehen.

Die Zeit schien sich dahin zu quälen wie eine altersschwache Schnecke. Stundenlang, so kam es Minerva vor, saß sie da und ertrug den Blick des toten Gideon Rosier. In Wirklichkeit waren es eher Sekunden, vielleicht eine Minute – höchstens.

Sie sollte aufstehen. Doch was dann?

Elladora starb. Der zerstörte Flügel hinter ihr bewies die Letalität von Rosiers schwarzer Magie. Was konnte sie jetzt noch ausrichten?

Etwa Rosiers Mörder zur Rede stellen?

Oder ihm doch eher helfen?

Sie regte sich nicht.

Konnte es nicht.

Ihre Glieder waren so schwer; wie der Körper einer Fremden. Die Verbindung zwischen Kopf und dem Rest funktionierte nicht länger, die Nerven hatte noch gar nicht verstanden, dass Rosier keine Befehle mehr geben würde. Und ausgerechnet jetzt, wo sie die Wolken aus Gleichgültigkeit am meisten gebraucht hätte, waren sie fort.

»... Minerva ...«

Die Stimme war eigentlich viel zu schwach, um ihren Atem zu übertönen. Doch vielleicht schaffte sie es gerade deswegen, zu ihr vorzudringen. Dieser Schmerz darin, das leise Flehen, die Sanftheit gingen tiefer ins Mark als jeder von Rosiers Schreien.

Blut lief aus Elladoras Nase und tropfte lautlos zu Boden, als Minerva die Kraft fand, aufzusehen. Nicht nur das – auch an ihren Lippen klebte das Rot, in ihren Augenwinkeln glänzte es ...

»Bitte ...«, wisperte sie und brachte damit mehr zähes, verklumptes Blut zum Vorschein.

Wenn Minerva ihren Magen noch gespürt hätte, wäre ihr wohl schlecht geworden. So allerdings fühlte sie sich einfach nur ... leer. Da, wo alles hätte sein müssen, war bloß ein schwarzes Loch, das jede Emotion in sich aufsog.

Auf den Knien schob sie sich zu Elladora, die Augen fest auf sie geheftet. »Es ... es ... es tut mir so leid«, murmelte sie fahrig. »Ich ...«

Elladora senkte die Lider ein Stück und fast sah es aus, als wolle sie lächeln. »Nicht ... ist egal. Ich will nur ...« Ihre Worte brachen in einem Husten ab.

Nur am Rande nahm Minerva wahr, dass Mulciber, der auch noch da war – natürlich –, seine Arme fester um Elladora schlang, ihr sogar eine verklebte Haarsträhne aus der Stirn strich.

»Mein Bruder«, hauchte Elladora schließlich, sobald der Husten sich gelegt hatte. »Du ... du bist ... für ihn da, oder ...?«

Minerva blinzelte gegen die Tränen an. »Ich hatte ihm versprochen, dich zu beschützen und jetzt –«

Nun lächelte Elladora wirklich, wenn auch kaum merklich. »Jetzt entbinde ich dich von deinem ... Versprechen. Sei einfach ... bei ihm, ja ...?«

»Ich kann mir nichts anderes vorstellen«, presste Minerva hervor. »Ich liebe ihn doch. Ich liebe ihn so sehr. Und ich habe ihm das noch nie gesagt ...«

»Dann ... versprich einer Sterbenden –«

»Sag so etwas nicht!«, schnitt Mulciber Elladora unvermittelt das Wort ab. »Gib nicht auf ...«

»Oh Al.« Sachte schüttelte Elladora den Kopf. »Hat ... keinen Zweck. Ich wusste, welchen Preis ich zahle. Also ... Minerva – sei ehrlich mit meinem kleinen Bruder, in Ordnung?«

Minerva konnte nichts mehr sagen, nur nicken. Zu mächtig war der Kloß in ihrem Hals.

»Dann ... ist gut. Und du – Al ...«

»Was?« Mulciber setzte einen sarkastischen Ton auf, doch seine Stimme zitterte viel zu sehr, als dass man ihm die Unbekümmertheit abnehmen konnte. »Soll ich Elphinstone etwa auch sagen, dass ich ihn liebe?«

»Nur, wenn du es auch meinst. Nein ... was ich will, ist, dass du ... nicht aufgibst, ja?«

»Du weißt ja nicht, was du von mir verlangst«, murmelte Mulciber.

»Sag es.«

»Schon gut, schon gut – Ich werde unsere Sache nicht aufgeben, Ella.«

»... gut.«

Elladora entließ einen tiefen Atemzug aus ihrer Brust und schien noch im gleichen Moment zu schrumpfen. Mit einem Mal wirkte sie nicht länger wie die unnahbare, stolze Hexe, die Minerva in Caius’ Erinnerung kennengelernt hatte, sondern jünger, verletzlicher. Gerade das himmelblaue Kleid und die blonden Locken verstärkten den Eindruck zusätzlich.

Mulciber fuhr mit einem zitternden Finger über ihre Wange. »Ella ...«

»Sei nicht ... traurig, Al. Gerechtigkeit hat ... gesiegt.«

»Nein ...« Mulciber schüttelte den Kopf. »Nein, Ella, Gerechtigkeit, wäre, wenn du nicht sterben würdest –«

»Quatsch.« Elladora schloss ihre Augen. Ihr Atem wurde rauer und die Worte kamen immer unverständlicher durch. »Ich habe es ... nicht anders verdient. Ich war nie ... besonders gut zu anderen. Nicht einmal ... zu meinem Sohn. Ich kenne Evan ja kaum noch, seit er in Hogwarts ist.« Ein Blutstropfen rollte über die Wange in ihr Haar – vielleicht war es auch eine Träne. »Aber ... immerhin habe ich die Gewissheit, dass er alleine klarkommen wird. Nein, Al, jetzt zählt nur noch ... dass Gideon vor mir gegangen ist. Also ... danke.«

Fassungslos sah Mulciber sie an. Dann, nach einer kleinen Ewigkeit, entkam ihm ein knappes, ersticktes Lachen. »Ella«, stieß er hervor, »bitte ... versprich mir wenigstens, dass du ihm das Jenseits zur Hölle machen wirst.«

Doch von Elladora kam keine Antwort mehr, außer eines abgehackten Hustens, das vielleicht ein versuchtes Lachen war. Ein paar Mal holte sie noch tief Luft, aber selbst als Mulcibers Tränen unaufhaltsam auf ihr Haar fielen, öffnete sie nicht wieder die Augen oder den Mund.

Mulciber nahm ihre Hand und hielt sie an sein Gesicht. »Das kannst du mir doch nicht wirklich antun«, murmelte er immer wieder, nahezu in einem Wettstreit mit ihren schwindenden Atemzügen. »Verflucht, ich habe es doch nicht wirklich verdient, meine älteste Freundin zu überleben!«

Elladora seufzte noch einmal, bevor es schlagartig ruhig wurde. Dann rutschte ihre Hand aus Mulcibers und fiel geräuschlos zu Boden.

In diesem Moment begriff Minerva, warum man von Totenstille sprach. Keine Stille war je so vollkommen wie die ersten Sekunden nach Elladoras letztem Atemzug. Der Tod lag wie eine schwere Decke über dem Raum, als wären alle Geräusche mit ihr gestorben. Selbst Mulcibers Tränen fielen lautlos.

Eine ganze Weile saßen sie so da, Mulciber mit Elladora auf dem Schoß und Minerva zwischen ihr und Rosier, die Arme um ihren Oberkörper geschlungen. Erst nach einer halben Ewigkeit, in der Mulciber Elladora hin und her wiegte wie ein kleines Kind, bettete er sie schließlich sanft auf den Boden, als würde er sie schlafen legen. Er drückte ihr den Zauberstab zurück in die Hand, sodass sie neben der Leiche ihres Mannes aussah wie Mörderin und Opfer zugleich.

Mit einem Seufzen strich Mulciber über ihre Locken, dann stand er auf. Minerva tat es ihm gleich, ohne zu wissen warum. Sie hatte keine Ahnung, wie sie jetzt handeln sollte. Wohin sie gehen sollte.

Zögerlich hob sie den Blick von Elladoras bleichem Gesicht, nur um Mulciber direkt in seines zu sehen. Einen Moment lang starrte sie in seine rotgeäderten Augen und es war, als blickte sie einen Fremden an. Diesen Mann mit den Tränenspuren auf den Wangen kannte sie nicht.

»Minerva ...«

Aber den Mörder kannte sie. Ein Knoten ballte sich in ihrem Magen. Sie spürte das raue Holz von Rowles Zauberstab unter ihren Fingern und erinnerte sich endlich, dass sie frei war; frei zu zaubern – ihre Wut explodierte in heiße Tränen. Sie loderten auf ihren Wangen, wie all die unzähligen Feuer, die ihren Weg hierher gesäumt hatten; brannten sich in ihre Haut, bis sie eine einzige Flamme war.

»Kein Stück näher!«, schrie sie und richtete den fremden Stab direkt auf Mulcibers Brust. Zwischen ihnen war so wenig Luft, dass sie ihn beinahe stach. »Nur eine falsche Bewegung und du bereust es! Ich meine es ernst!«

»Ich würde ja Angst vor deinen Fähigkeiten haben«, antwortete es ihr leise, »aber ich weiß, dass du besser bist als das. Nicht einmal deine Wut ist stärker als deine Moral. Das ist schließlich so bewundernswert nervig an dir.«

»Du hast ja keine Ahnung! Bald wird Elphinstone zurücksein, zusammen mit den Auroren! Und dann, dann –«

»Er wird nicht kommen.«

»Natürlich! Elladoras Erinnerungen werden sie überzeugen, es kann nicht mehr lange dauern!«

Sie stieß den Zauberstab vorwärts und Mulciber wich nicht einmal zurück, sondern seufzte nur leise.

»Nein, du verstehst nicht. Er kann nicht.«

»Was redest du da? Es muss nur jemand seine Gedanken lesen, dann wissen sie die Flohadresse! So wie du es bei mir getan hast!«

»Ich wünschte, es wäre so.« Aus Mulcibers nächstem Seufzer wurde ein freudloses kleines Auflachen. »Ich habe dich angelogen, Minerva. Ich habe gar nichts in deinen Gedanken gelesen. Alles, was deine Erinnerung mir gezeigt hat, war Ella. Ella in der Winkelgasse.«

Rowles Zauberstab zitterte so sehr in Minervas Hand, dass es ihr schwerfiel, weiter auf Mulciber zu zielen. »Nein! Ich glaube dir nicht –«

»Weil ich jetzt noch Grund hätte, dich anzulügen? Sieh mich an. Du hast das Schlimmste an mir längst gesehen.«

»Deswegen! Du ... du hast nicht gezögert ... ihn, deinen ... deinen Freund umzubringen! Er war ein Arsch, aber das –«

»Ich bin eben auch ein Arsch, das wirst du doch nie müde zu betonen.«

Fassungslos starrte sie Mulciber an. »Wie kannst du jetzt immer noch so sein?«

Geradezu hilflos zuckte er mit den Schultern, während er kaum merklich einen Mundwinkel hochzog. »Was soll ich sonst tun? Der Sarkasmus ist seit Jahren das Einzige, was mich überhaupt lebendig hält. Außerdem wird nichts Ella zurückbringen. Verflucht, nichts wird die Tatsache ändern, dass ich Gideon getötet habe!« Ihm entfuhr ein Geräusch zwischen Würgen und Lachen. »Freu dich doch einfach, dass ich so schrecklich bin, wie du immer angenommen hast.«

Minerva schüttelte den Kopf so heftig, dass Rowles Zauberstab ebenso wippte. »Nicht, wenn ich gehofft hatte, dass du eigentlich ein Freund bist!«

»Freund ...« Mulciber rollte das Wort über die Zunge wie etwas, an dessen Geschmack er zweifelte. »Ich war noch nie wirklich irgendjemandes Freund. Wenn ich ein echter Freund wäre, hätte ich Ella schon im Ministerium gerettet. Dann hätte ich dich und Elphinstone gar nicht hierhergelassen, anstatt euch vorzuspielen, dass ich von nichts weiß.«

Die Stille kehrte zurück und selbst Minervas leises »Aber ... weshalb hast du es nicht einfach getan?« konnte sie nicht aufbrechen.

»Ist es nicht offensichtlich?« All seinen Stolzes beraubt, rieb Mulciber sich den linken Unterarm. »Elphinstone hatte recht mit allem, was er heute über mich gesagt hat.«

»Sprich es aus«, flüsterte Minerva. Von Neuem spannte sie ihren Zauberstabarm an und hob ihn höher, nachdem er zwischenzeitlich bedenklich herabgesunken war.

»Ich war seit der Schulzeit einer von Voldemorts ersten Walpurgisrittern«, sagte Mulciber. »Verdammt, ich war immer derjenige, der seinen Mist unter den Teppich kehren durfte!«

Eine alte und doch wieder aufgefrischte Erinnerung aus dem Denkarium durchzuckte Minerva. »Du hast ... damals, in den 50ern – du hast dafür gesorgt, dass er der Strafverfolgung entkommt! In Northumberland; bei dem Mord an Hepzibah Smith!«

»Ja«, seufzte Mulciber schlicht. »Das war meine Aufgabe. Und heute ...« Endlich sah er ihr geradewegs in die Augen. »Heute bin ich sein Todesser.«

Dem Zauberstab in Minervas Hand entkam roter Funkenregen, der kleine Löcher in Mulcibers Umhang sengte.

»So nennt er die treusten seiner Anhänger seit kurzem«, setzte Mulciber überflüssigerweise hinzu. »Weil Ritter offenbar nicht kriegerisch genug sind.«

Ein frisches Beben schüttelte Minervas Schultern und mehr glutheiße Tränen verschleierten ihr Blickfeld. »Ich werde kämpfen!«, stieß sie hervor. »Gegen dich, gegen deine Kumpel, gegen Voldemort – gegen euch alle, wenn es sein muss!«

Mit einem erstickten Lachen Mulcibers als Erwiderung rechnete sie allerdings nicht. Während sie noch überlegte, welchen Zauber sie anwenden sollte, schüttelte er den Kopf. »Das wäre in meinem Fall überflüssig, immerhin bin ich unbewaffnet. Nicht, dass ich andernfalls vorhätte, mich zu wehren.«

Kalte Finger schlangen sich um ihre Hand und schoben Rowles Zauberstab erstaunlich sanft zur Seite.

»Lass mich lo-«

Minerva stolperte über ihre eigene Zunge, als Mulcibers Arme sich plötzlich um ihre Schultern legten. Er umarmte sie. Wie ein Kokon hüllte er sie in seine Kühle ein und hielt sie fest, obwohl sie den Zauberstab nach wie vor fluchbereit umklammerte.

Warum? Wollte er sich trösten oder tatsächlich sie?

Einen Moment lang sprach keiner von ihnen ein Wort. Sie standen einfach nur da, in der ungewohnten Nähe erstarrt. Minerva hörte Mulcibers wilden Herzschlag; jeden einzelnen, angestrengten Atemzug. Sie fühlte das Zittern in seinen Schultern und die Tränen auf ihrem Umhang, unfähig zu begreifen, dass er derselbe Mulciber war, mit dem sie sich immer gestritten hatte. Der so unausstehlich war und sie trotzdem gerettet hatte. Der ein Mörder, ein Todesser war.

»Ich ... Es tut mir so, so leid«, flüsterte Mulciber schließlich. »Auch wenn du mir nicht glauben wirst – ich wollte euch wirklich beschützen. Mindestens vor euch selber.«

»Du hast uns belogen!« Nun war es an Minerva, dem verzweifelten Lachen, das in ihr gärte, nachzugeben. »Natürlich glaube ich dir nicht! Nie wieder!«

»Das erwarte ich auch nicht«, entgegnete Mulciber immer noch flüsternd. »Aber ich biete dir dennoch meine Hilfe an. Die Zeit läuft uns davon.« Er schluckte deutlich vernehmbar. »Bitte, Minerva. Ich meine das ernst. Wir beide wollen Bellatrix Lestrange aufhalten. Dazu brauchen wir einander. Und verflucht, ich will sicher nicht Elladoras Geisterzorn auf mich laden, wenn Elphinstone nie aus deinem Mund hört, dass du ihn liebst.«

»Alston ...«

Minerva verstand ihn nicht. Auf welcher Seite stand er wirklich? Warum rettete er sie, wenn er eigentlich der Feind war?

In diesem Augenblick wünschte sie sich schmerzlichst Elphinstones Umarmung an Mulcibers Stelle herbei. Sie vermisste seine Wärme, das Lächeln, die schier endlose Stärke, die dahinter ruhte – und ausgerechnet Mulciber war ihre einzige Chance darauf. Ein Schluchzen verließ ihre Kehle, als die Wut langsam in Trauer verlosch.

»Was können wir denn jetzt noch tun?«, presste sie mühsam hervor.

»Ich habe einen Plan«, murmelte Mulciber, »aber der funktioniert nicht mit Tränen.« Er schluckte schwer, bevor er tief durchatmete, und Minerva war nicht sicher, ob er mit dieser Ermahnung sie oder doch sich selber meinte.

»Ich weiß, dass ich eine Menge von dir verlangen werde, aber ... kannst du noch einmal so tun, als wärst du unter dem Einfluss des Imperius? Unter meinem Imperius?«

Katabasis

Mit 14 Jahren hatte Minerva zum ersten Mal die Geschichte von Aeneas’ Abstieg in die Unterwelt gelesen. Rückblickend war diese Erzählung voller Monster und Widrigkeiten sogar der Höhepunkt ihres Interesses an antiken Epen gewesen. Die Düsternis darin hatte damals eine geradezu morbide Faszination auf sie ausgeübt – allen voran das Reich der Toten mit seinen vielen verschiedenen Ebenen.

Was hatten sie all das menschliche Elend und der Mut fasziniert, wie oft hatte sie das Mittagessen angesichts der Schilderungen gebrochener Helden und tragischer Liebe vergessen ... Hals über Kopf war sie in dem Epos aufgegangen und hatte sich nicht selten als Figur darin vorgestellt. Immer dann war es ihr möglich erschienen, dass sie ihrem großen Namen nicht nur gerecht werden, sondern ihn selber prägen könnte – wie eine richtige Heldin.

Eine Begeisterung, die vermutlich einige junge Menschen durchmachten, und die sich mit dem Beginn des nächsten Schuljahres gelegt hatte. Die Bücher waren ein Vermächtnis ihrer Urgroßmutter mütterlicherseits gewesen, die sie zwar viel zu kurz gekannt, mit der sie aber immerhin den Namen der römischen Kriegsgöttin geteilt hatte und der sie durch die Seiten noch einmal nahekam. Zumindest bis das Interesse an Quidditch wieder überhandgenommen hatte.

Eigentlich waren jene Sommertage im hohen Gras hinter der Dorfkirche schon lange aus Minervas Bewusstsein entschwunden gewesen, verdrängt von den Sorgen des Erwachsenenlebens. Doch ausgerechnet jetzt sah sie jedes Wort auf dem vergilbenden Pergament wieder vor sich, als stünden sie auf den Wänden entlang ihres Weges geschrieben und wollten sie warnen. Sogar der Sonnenbrand schien erneut in ihrem Nacken zu stechen.

Tatsächlich war es bloß Mulcibers besorgter Blick, den sie auf sich spürte. Einen Abstieg hingegen legten sie wirklich hin. Von den oberen Stockwerken hinab in den Keller des Muggelanwesens. Geradewegs zu Voldemort höchstpersönlich. Zumindest hatte Mulciber von dem Kerl namens Everard in Erfahrung gebracht, dass er dorthin gegangen war. Er und Bellatrix Lestrange.

Allein das genügte, um Minerva davon zu überzeugen, dass sie gerade ihre ganz eigene Katabasis erlebte, wie ihre Bücher den (bewussten) Abstieg des Helden in die Unterwelt genannt hatten. Ein Ausflug in schwarze Untiefen, die Abgründe der Menschlichkeit, würde es in jedem Fall werden. War es eigentlich längst, seit sie gemeinsam mit Elphinstone in den Kamin gestiegen war.

Und es ging nur tiefer. Zum ersten Mal konnte Minerva wirklich nachvollziehen, warum den Helden in ihren Geschichten das Herz eng gewesen war. Der bloße Gedanke an das, was sie erwartete, schnürte ihre Brust ein.

Dabei entpuppte sich der Keller dieses Anwesens längst nicht so kalt wie jener der Lestranges. Es gab keine Spur eines Dementoren und anstatt von Dunkelheit begrüßten sie Leuchtstoffröhren unter der Decke. Die Wände waren nicht mit Folterwerkzeug verziert, sondern ordentlich verputzt und im ersten Kellergewölbe voller Weinregale lag ein dicker Teppich im Mittelgang. Nicht einmal Staub oder Spinnweben sah Minerva.

Der einzige Hinweis auf die Besetzung durch Voldemort und seine Gefolgschaft war der junge Mann im schlichten schwarzen Umhang, der mit gezogenem Zauberstab vor einer Tür stand. Damit war er der Letzte in einer langen Reihe an Voldemorts niederen Dienern (Mulcibers Aussage, nicht Minervas), die sie hatten passieren müssen. Genau wie bei allen vor ihm weiteten sich seine Augen, als er sie sah. Trotzdem warf er sich pflichtbewusst in die Brust und trat ihnen entgegen.

»Mr Mulciber! Was für eine Überraschung ... Sie hier – ähem, es tut mir leid, eigentlich heißt es, dass niemand den Dunklen Lord stören darf –«

Mulciber zuckte wie sonst auch mit den Schultern, keinen Deut beeindruckt. »Das heißt es immer, Amon«, sagte er kühl. »Für Leute wie dich, die sich ihr Mal erst noch verdienen. Aber ich muss etwas mit ihm besprechen, also sei so gut, ja?« Er wedelte auffordernd mit der Hand.

»Ah, mein Name ist Ambrose, Sir ...« Der Junge leckte sich nervös die Lippen. »Und es tut mir wirklich leid, Mr Mulciber, es ist nur, also ... Druella Black musste ich bereits fortschicken und gegen Sie will ich erst recht nicht den Zauberstab erheben, denn ich habe wirklich allerstrengste Anweisungen –«

»Sicher hast du das. Jede Anweisung hier ist streng. Aber nicht so streng wie ich, wenn ich betonen muss, dass mein Anliegen sehr dringend ist. Immerhin bin ich keine bloße Mitläuferin wie die gute Druella.«

Minerva sah, wie Ambrose schluckte. Seine Augen huschten immer wieder nervös zwischen den Regalen und Mulciber hin und her. Schlussendlich trat er mit einem ruckartigen Nicken beiseite. »Selbstverständlich müssen Sie das nicht betonen, Mr Mulciber. Ich hätte Sie nicht mit Mrs Black vergleichen dürfen.«

»Na also.«

Ohne ein Wort des Danks rauschte Mulciber an dem Jungen vorbei, Minerva dicht auf seinen Fersen, den Blick gesenkt. In ihrer Umhangtasche umklammerte sie Rowles Zauberstab fester. Nur für den Fall.

Beruhigender als der Stab in ihrer Hand war nur die Gewissheit, dass ihr eigener Zauberstab endlich wieder in ihrem Rockbund steckte. Wohl verdeckt, damit man ihn ihr nicht sofort abnehmen konnte. Mulciber sollte ihn nicht umsonst von seinen Todesser-Kollegen zurückgeholt haben. Das war ihr Ticket hier raus, falls der (zugegeben dürftige) Plan versagte. Und wenn sie schon die Unterwelt betrat, dann mit der besten Waffe in der Hinterhand. So viel hatten die Geschichten sie gelehrt.

Ein Stück weit bewunderte sie Mulciber, der offenbar keinerlei Drang empfand, sich an seine einzige Verteidigung zu klammern. Zumindest kontrollierte er ihn gut, denn als er durch die Verbindungstür ging, zog er beide – leeren – Hände aus den Hosentaschen. Er sagte nichts zu ihr, doch sein warnender Schulterblick machte deutlich, dass er gleich dasselbe von ihr erwartete.

Mit geschlossenen Augen atmete Minerva tief ein, bevor sie hinter ihm die Schwelle übertrat. Es roch nach Holz und ... Sie schluckte bittere Galle hinunter. Blut.

Ihre Lider flogen panisch hoch. Aber es erwartete sie kein Folterkeller. Stattdessen öffnete sich vor Mulciber und ihr ein noch viel größeres Gewölbe im Vergleich zum Vorraum. Das elektrische Licht brannte hier ebenfalls, wurde allerdings von den deckenhohen Regalen zu beiden Seiten gedämpft.

Auf den Holzbrettern stapelten sich feinsäuberlich aufgereiht Konservendosen, Marmeladengläser, Kartoffelsäcke ... und weiter hinten schienen Möbel gelagert zu sein. Zumindest meinte Minerva, das zwischen den Regalreihen hindurch zu erkennen. Doch Voldemort oder Bellatrix konnte sie nicht sehen. Lediglich ein leises Wimmern in den Schatten verriet jemandes Anwesenheit.

Minerva tauschte einen nervösen Blick mit Mulciber. Der biss sich kaum merklich auf die Unterlippe. »Denk an das, was ich dir gesagt habe«, zischte er leise. »Und sieh ihm unter keinen Umständen in die Augen.«

Ein letztes Mal die Hände zu Fäusten geballt, nickte Minerva. Dann atmete sie langsam aus und zwang somit die Anspannung aus ihrem Körper. Entgegen aller Vernunft sackten ihre Schultern nach unten. Wenigstens war die Erinnerung an die Wirkung des Imperius-Fluches derart präsent, dass sie sich die watteweiche Gleichgültigkeit hinreichend vorstellen konnte. Der Rest hing jetzt von Mulcibers Schauspielleistung ab.

Offenbar fing er diesen Gedanken auf, denn er schenkte ihr ein gezwungenes kleines Lächeln, ehe er sich wieder umdrehte und die ersten Schritte ins Ungewisse tat. Wie zufällig stieß er nebenbei mit dem Ellenbogen gegen eines der Regale, was die Konserven klappernd gegeneinanderstoßen ließ.

»Ambrose?«

Das war Voldemorts Stimme. Diese Kälte in einem einzigen Wort hätte Minerva unter tausenden wiedererkannt. Selbst jetzt klang er vollkommen ruhig und brachte dennoch ihre Handflächen zum Schwitzen.

»Was habe ich dir über Störungen gesagt, mein Junge?«

»Ambrose ist nicht hier«, rief Mulciber zurück. »Aber keine Sorge, er hat sich an seine Anweisungen gehalten. Ein ganz braves Kerlchen. Fehlt nur noch, dass ihm irgendwer ‚Sitz‘ und ‚Platz‘ beibringt.«

Jemand sog scharf die Luft ein. Das konnte nur Bellatrix sein. Und tatsächlich, als Minerva hinter Mulciber um die letzte Regalreihe bog, stand die älteste Black-Schwester neben Voldemort, ihre Augen weit aufgerissen, den Zauberstab festumklammert, in der anderen Hand ihren Silberdolch.

»Du ...!«, stieß sie hervor. »Und McGonagall – was ...«

Bellatrix’ Zauberstabarm war schon auf halbem Weg irgendeinen mit Sicherheit hässlichen Fluch zu schleudern, da schnippte Voldemort einmal und der Stab flog aus ihrer Hand in seine. Ohne Bellatrix’ überraschtes Zucken zu beachten, trat er langsam vor sie. Sein Blick lag fest auf Mulciber, aber es war unmöglich zu sagen, was hinter den rötlich glühenden Augen vor sich ging.

Aus der Nähe betrachtet, sah Voldemort noch unwirklicher aus. Gerade so, als stünde er bereits mit einem Bein im Reich der Toten. Egal wie verzweifelt Minerva sich in Erinnerung rief, dass er einst nur Tom Riddle gewesen war – ihr Herz schrumpfte ängstlich zusammen, sobald die wächserne Haut um seine Lippen sich spannte.

»Alston«, sagte er schließlich erstaunlich ... wohlwollend. »Dein Kommen war nicht geplant. Noch dazu in Begleitung.«

»Ich weiß. Ich habe unsere Abmachung selbstredend nicht vergessen. Aber in diesem Fall ist das Risiko angemessen, würde ich sagen.«

Auch wenn die Situation denkbar fürchterlich war, empfand Minerva doch etwas Befriedigung angesichts von Bellatrix’ Gesicht, das jegliche Farbe verlor, als sie langsam begriff, wie sehr sie sich in Mulciber getäuscht hatte.

»Was hat das zu bedeuten?«, fauchte sie herrisch, bevor sie sich an Voldemort wandte. »Dieser Mann da ist schuld, dass ich meinen ersten erfolgreichen Versuchsaufbau verloren habe, erinnert Ihr euch? Er arbeitet für das Ministerium!«

»Natürlich tut er das.« Voldemorts Augen blitzten hellrot auf und Minerva sah schnell fort, als er seine Mundwinkel kräuselte. »Nur ein Narr verlässt sich ausschließlich auf Gesetzesbrecher und Wilde, wenn er eine Revolution plant. Genau deshalb zählt Alston zu meinen ältesten und wichtigsten Freunden

Bei diesen Worten grinste Mulciber Bellatrix direkt an. »Wiedersehen bereitet Freude, nicht wahr, Mrs Lestrange? Vor allem wenn man zuvor noch versucht hat, jemanden erfolglos umzubringen ...«

Minerva beschlich der leise Verdacht, dass Mulcibers nächstes Kichern echt war. Verdenken konnte sie es ihm jedenfalls nicht. Ausnahmsweise.

Derweil krochen rote Flecken Bellatrix’ Hals hinauf. Dennoch senkte sie nicht das Haupt, sondern reckte das Kinn empor, eine Hand in die Hüfte gestemmt. »Aber sie!« Anklagend richtete sich die Dolchspitze auf Minerva. »Sie –«

»Steht selbstredend unter meinem Imperius. Ich bin schließlich kein Anfänger.« Mulciber lachte erneut und drehte seinen Zeigefinger auffordernd im Kreis.

Wie schon unter Rosiers Einfluss zeigte Minerva einen albernen Knicks. »Minerva McGonagall, Verwandlungsprofessorin und Alston Mulciber treu ergeben«, trug sie ihre Vorstellung tonlos vor, ganz wie beim ersten Mal.

Im Gegensatz zu seinen Handlangern hatte Voldemort nur einen kalten Blick für diese Demonstration ihres angeblichen Gehorsams übrig. Er schien die Wirkung von Mulcibers Imperius wie erwartet nicht in Frage zu stellen. Aber immerhin sah Bellatrix wunderbar schockiert aus.

»Ich hatte natürlich die ganze Zeit mein Auge auf die werte Minerva«, erklärte Mulciber Voldemort mit einem Zwinkern. »Nicht, dass sie etwas Dummes anstellt und beispielsweise eine geschützte Veranstaltung aufmischt. So wie unsere werte Mrs Lestrange hier.«

Voldemorts Augen schmälerten sich ein Stück weit. »Du erwartest hoffentlich keine Nachfragen von mir, bevor du dich endlich erklärst, Alston?«

Es war Minerva unbegreiflich, woher Mulciber den Mut nahm, angesichts dieser Ermahnung mit den Augen zu rollen. War es Wahnsinn oder ging diese ‚Freundschaft‘ zu Voldemort aus Schultagen womöglich tiefer?

»Aber nicht doch«, erwiderte Mulciber im Plauderton, »heute ist schließlich nicht der Tag an dem die Kobolde plötzlich beschlossen haben, Gold zu verschenken.«

»Dann wirst du verstehen, dass ich nicht warte. Mrs Lestrange hat mir bereits einen guten Grund geliefert, warum sie unsere Gastgeber für eine kleine Demonstration treffen sollte.«

Erst bei diesen Worten drängte sich jenes unterdrückte Schluchzen, das Minerva schon beim Betreten des Gewölbes gehört hatte, wieder in ihre Wahrnehmung. Voldemorts raumfüllende Präsenz und Bellatrix’ Geschrei hatten sie erfolgreich von der Handvoll Menschen abgelenkt, die in der hintersten Ecke des Kellers zusammengetrieben waren. Dabei schloss sie sogar eine rötlich schimmernde Barriere unter einer Art Kuppel ein, wie Minerva sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Mulciber gab einen kleinen Laut von sich, als wolle er etwas sagen, doch er starrte genau wie Minerva nur mit zerfurchter Stirn auf die Gruppe. Allesamt waren die Personen mit einem magischen Seil aneinandergefesselt, vom ältesten Mann, der sicher an den 90 Jahren kratzte, bis hin zu den Jüngsten, die fast noch Kinder waren. In einem Kreis saßen sie auf dem nackten Betonboden, einige kreidebleich und mit Tränenspuren auf den Wangen, andere zornesrot. Offenbar hatten die Volljährigen unter ihnen gekämpft, denn kaum einer war frei von Schrammen, Platzwunden oder Schnitten. Damit war klar, woher der intensive Blutgeruch rührte.

Es kostete Minerva alle Überwindungskraft, sich weiter teilnahmslos zu geben; ja gar wegzusehen. Sie erinnerte sich wieder, wie gönnerhaft Everard Mulciber gesagt hatte, wessen Anwesen Voldemort besetzte. Trotzdem konnte sie es kaum glauben. Doch die Chance bestand, dass nicht alle Gefangenen ihr fremd waren, auch wenn sie aufgrund der Verletzungen niemanden auf Anhieb erkannte.

Der Gedanke reichte, um inmitten all der Beklommenheit Minervas Wut neu zu entfachen. Nur die Aufmerksamkeit Voldemorts sorgte dafür, dass sie ihre Rolle des teilnahmslosen Imperius-Opfers nicht verließ. Nicht einmal dann, als er mit raschelnden Roben nähertrat und ungeduldig Bellatrix’ Zauberstab in seine freie Handfläche schnellen ließ.

Mulciber löste allerdings nicht die Augen von dem magischen Gefängnis. Seine Hand strich verdächtig über die Manteltasche mit dem Zauberstab darin, doch er machte keine Anstalten, Voldemort Antworten zu liefern.

Vorsichtig streckte Minerva einen Fuß zur Seite aus und stupste ihn leicht an. Kaum merklich zuckte Mulciber zusammen, dann räusperte er sich und fand in seine Haltung zurück. Für einen Moment erlaubte Minerva es sich, erleichtert die Lider zu senken. Sie traute sich unter Voldemorts Aufmerksamkeit nicht länger, Mulciber direkt anzusehen, aber zumindest seine Stimme klang fest, als er endlich sprach.

»Nun, mein Grund für die Störung ist tatsächlich Mrs Lestrange und dieses ... Vorhaben hier.« Unwirsch gestikulierte Mulciber neben Minerva in Richtung der Gefangenen. »Ich bin wirklich nur ungern der Überbringer schlechter Nachrichten, aber ich habe ihre Machenschaften lange genug verfolgt, um die Fehler darin zu sehen, die sich dir noch entziehen.«

Ein Stück weit erwartete Minerva, dass Voldemort Mulciber für diese Worte maßregeln würde, doch ein kurzer Blick zeigte ihr, dass sich nichts an seiner Haltung verändert hatte. Nur eine seiner Augenbrauen war in die Höhe gewandert. Dafür verkrampften sich Bellatrix’ Finger derart um den Griff ihres Dolches, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Mrs Lestrange hat mich unlängst bei unserer kleinen Unterredung oben ins Bild gesetzt«, sagte Voldemort gedehnt. »Vor allem über die Schwierigkeiten, die du ihr bereitet hast. Was ich natürlich nicht anders erwartet hätte. Dennoch komme ich nicht umhin, es bedauerlich zu finden, dass du dich nicht bereits nach dem ersten Zwischenfall an mich gewandt hast, um mich von diesem versteckten Potential zu informieren. Wir wissen doch beide aus unseren gemeinsamen Jahren der Forschung vom Wert solcher Experimentierbereitschaft, ganz zu schweigen von der Macht dieses Wissensdurstes.«

»Und doch legst du genauso viel Wert darauf, dass neue Anwärter stets bestens getestet sind, bevor deine Zeit an sie verschwendet wird«, meinte Mulciber ebenso ruhig. »Nichts anderes war mein Ansinnen. Noch einen braven kleinen Crup wie Mr Ambrose draußen brauchen wir schließlich nicht.«

Wie aufs Stichwort grollte Bellatrix leise und verschränkte die Arme. Voldemort jedoch bedeutete Mulciber, fortzufahren.

Gespielt seufzte dieser auf. »Letztlich muss ich, so schwer es mir fällt, Minerva hier danken, denn durch ihren gryffindor’schen Mut hat sie mir einiges an Arbeit erspart. Es ist bedauerlich – aber nach einer reiflichen Prüfung von Mrs Lestranges Blutfluch komme ich zu dem Schluss, dass er nicht mehr als eine Täuschung ist. Oder sollte ich es eher Enttäuschung nennen?«

»Ach ja, Mr Mulciber?« Bellatrix sprach die Anrede voller Hohn aus. Sie fing sich einen scharfen Blick Voldemorts ein, aber selbst jetzt erwies sie sich unnachgiebig. »Du glaubst ernsthaft, meine Forschung besser zu kennen als ich? Du hast doch nur versucht, diese mit McGonagall zusammen zu zerstören, so weit ich mich erinnere. Also, was soll das Ganze hier wirklich? Hast du vielleicht Angst, deinen Platz zu verlieren?«

»Ich glaube kaum, dass du eine Ahnung hast, wo mein Platz überhaupt ist«, entgegnete Mulciber lapidar. »Abgesehen davon kann ich nur erneut sagen – heute ist nicht der Tag, an dem die Kobolde plötzlich Gold verschenken. Somit habe ich auch keine Angst, irgendetwas an dich zu verlieren. Mein Interesse gilt alleine unserer Bewegung und deren Schutz.«

»So so, edler Walpurgisritter.« Bellatrix bleckte die Zähne zu einem kleinen Lächeln. »Du tust deinem Herren allerdings einen ziemlich schlechten Dienst, indem du mich unterschätzt. Aber weißt du – dass ich begabt bin, muss mir zum Glück niemand sagen, schon gar nicht einer wie du. Ich habe es trotz all deiner Bemühungen hierhin geschafft und bei Merlin, ich werde es noch weiter schaffen. Also los, was sind deine Thesen, weshalb mein Fluch nicht funktioniert? Lass mich sie widerlegen, ein für alle Mal.«

»Dazu kommen wir gleich, keine Sorge. Zuerst einmal hätte ich aber gerne, dass du eine Frage beantwortest. Entschuldige, Berufskrankheit.« Mulciber verfiel in einen Duktus, den Minerva bestens von Elphinstone kannte – den Ton des Strafverfolgers beim Verhör vor dem Gamot. »Mrs Lestrange, gehe ich recht in der Annahme, dass es Ziel des Fluches ist, Verräter des reinen Blutes zu bestrafen, indem ihnen jegliche Möglichkeit genommen wird, ihre magische Blutlinie weiterzuführen?«

»Immerhin das hast du verstanden, Mulciber«, sagte Bellatrix zufrieden. »Ja, der Fluch verhindert, dass auch nur ein einziger Blutsverräter in Zukunft seine Magie mit den Muggeln oder anderen Magiedieben teilt. Und wer trotzdem das reine Blut mischt, der wird fürchterlich bestraft.«

Minerva vernahm ein ersticktes Keuchen. Vorsichtig riskierte sie einen Blick zu den Gefangenen. Eine junge Frau – fast noch ein Mädchen – hatte den Kopf hochgerissen und starrte Bellatrix an, die stolz den Rücken durchstreckte. Zorn und Entschlossenheit brannten auf ihren Zügen, trotz einiger hässlicher Schrammen. Ein Ausdruck, den Minerva erst vor wenigen Tagen in einem sehr ähnlichen Paar Augen gesehen hatte. Genauso hatte Narzissa Black nach dem Zwischenfall mit dem Furunkeltrank dreingesehen.

Schon hatte Minerva wieder Everards Stimme im Ohr, der Mulciber verkündete, dass dieses Anwesen einem gewissen Marius Black gehörte. Dem »elenden Squib-Abschaum, der meint, anderen missratenen Reinblutgören Unterschlupf in seinem Muggelheim bieten zu müssen«, wie Everard ihn bezeichnet hatte. »Der Kerl hält sich wohl für eine Art Messias, der sie alle vor ihrer gerechten Strafe retten wird«, hatte er mit einem Schnauben gesagt. »Wahrscheinlich hat Druella sein Heim deshalb dem Dunklen Lord ... empfohlen. Irgendwie musste sie sich ja dafür rächen, dass der Kerl eine ihrer Töchter darin unterstützt hat, ein Schlammblut heiraten zu wollen. Wer weiß, vielleicht hat er ihr diese Billywigs überhaupt erst ins Ohr gepflanzt. Die Blacks hätten den Nichtsnutz wohl besser nicht nur vom Stammbaum ausbrennen sollen.«

Kälte glitt durch Minervas Glieder, als Andromeda Black ihren Blick auffing und hastig wegsah. Sie hatte doch damit gerechnet, hier unten einen Abgrund vorzufinden. Und dennoch ... irgendwie hatte Minerva bis zuletzt gehofft, dass die zweitälteste Black-Schwester im Bunde nicht hier war.

Angestrengt schluckte sie, schmeckte aber nur Staub. Bellatrix indes drehte sich nicht einmal zu den Gefangenen um; hatte das Geräusch vielleicht gar nicht wahrgenommen. Oder es kümmerte sie nicht. Sie fixierte jedenfalls weiter Mulciber, die Spitze ihres Dolches nun auf ihn gerichtet.

»Mein Fluch ist die perfekte Versicherung unserer Reinheit, mein Beitrag für eine bessere Welt. Wenn er erst zur Vollendung gereift ist und von allen gewöhnlichen Hexen und Zauberern getragen wird, sodass er bei Verbindungen mit Muggeln nur auslösen muss, brauchen wir uns um unsere Zukunft deutlich weniger sorgen.«

»Also soll er letztlich unbedenklich sein, solange man keine falschen Entscheidungen trifft, nicht wahr?«, hakte Mulciber nach. »Eine schlummernde Bedrohung, die gleichzeitig absolute Kontrolle über die Bevölkerungsentwicklung verspricht.«

Bellatrix lächelte schmal. »Richtig.«

Mulciber legte eine Hand auf Minervas Schulter. »Danke für die Antwort, Mrs Lestrange. Dann präsentiere ich hiermit meinen Gegenbeweis.« Er zeigte eine Geste wie ein Muggelzauberer, der einen gelungenen Trick enthüllte. »Minerva wird euch gerne erzählen, wie gut Mrs Lestranges Blutfluch tatsächlich funktioniert. Immerhin durfte sie die Wirkung aus erster Hand erleben.«

Eine steile Falte zeichnete sich zwischen Bellatrix’ Augenbrauen ab. »Das ist doch irgendein dreckiges Spiel –«

Voldemort, der sich bis eben zurückgehalten hatte, erhob eine Hand. Anders als seine gewöhnliche Zuhörerschaft ließ Bellatrix sich davon jedoch nicht beeindrucken. Mit einem Knurren schleuderte sie ihren Dolch auf das Regal neben Mulciber, wo sich das Silber sirrend ins Holz bohrte und steckenblieb.

»Wenn das hier vorbei ist, sollten wir den Fluch vielleicht zuerst an dir ausprobieren«, zischte sie. »Damit du begreifst, wie gut er funktioniert.«

Voldemort legte seinen Kopf zur Seite und für einen Augenblick sah es aus, als würde er sich diesen Vorschlag ernstlich überlegen. Doch dann schnippte er nur mit Bellatrix’ Zauberstab. Obwohl nichts geschah – zumindest nichts für Minerva Ersichtliches – erbleichte Bellatrix und wich einen Schritt zurück.

»Nur weil ich geneigt bin, mich mit deinen Ideen auseinanderzusetzen, heißt das nicht, dass ich blinden Zorn toleriere, Mrs Lestrange«, sagte Voldemort ungerührt. »Diese Emotion trübt nur unsere Fähigkeiten, anstatt uns voranzubringen. Und deshalb werden wir jetzt zuhören.«

»Da bin ich aber erleichtert«, erwiderte Mulciber höhnisch. »Nun denn – die Wahrheit bitte, Minerva.« Er drückte ihre Schulter sanft, dann gab er ihr für Voldemort sichtbar einen deutlich härteren Stoß in den Rücken und sie taumelte einen Schritt vorwärts. »Erzähl uns, was nach deiner Flucht aus Mrs Lestranges Labor mit dem Fluch passiert ist.«

Minerva schluckte. Sie dachte an Wolken und daran, so fest auf einen Punkt zu starren, dass alle Farben und Formen zu einem einzigen Brei verschwammen. Nur nicht ihn ansehen. »Der Fluch hat sich bei meinem Begleiter immer weiter ausgebreitet«, begann sie tonlos. »Und je weiter er fortschritt, desto schlechter ging es ihm.«

Zum Glück brauchte sie nur einen Teil der Wahrheit erzählen. Über alles, was im St. Mungo geschehen war und Archies Erklärungen dazu. Sie hatte keine Ahnung, ob Voldemort Mulcibers Gedanken prüfte, während sie sprach, aber sie hoffte einfach, dass Mulciber mit seiner Prophezeiung diesbezüglich richtig lag – und dass seine Okklumentik stark genug war, Voldemort den Rest der Wahrheit zu verschweigen. Solange sie sprach, rührte er sich jedenfalls nicht. Doch sein Blick ruhte so aufmerksam auf ihr, wie sie es sonst nur von Albus kannte.

Bellatrix hingegen wippte auf ihren Hacken vor und zurück, die Finger nervös um die Glieder ihrer Silberkette geschlungen. Mit jedem Wort Minervas wickelte sie die Kette enger. Aber ihre Lippen blieben wie von Voldemort befohlen fest aufeinandergepresst.

Als Minerva ihre Schilderung von Elphinstones Beinahetod schließlich beendete, zog Mulciber eine Phiole aus der Tasche, in der ein schwarzes Licht kreiste. Triumphierend schüttelte er sie. »Und hier sehen wir die traurigen Überreste eines nicht funktionierenden Fluches. Quod erat demonstrandum – wie zu beweisen war.«

Minerva flüchtete sich rasch wieder an Mulcibers Seite und beobachtete das Flackern in Voldemorts Augen. Seine bleichen Züge verhärteten sich derart, dass sie für einen Moment das Gefühl hatte, einen belebten Totenschädel vor sich zu sehen anstatt Blut und Fleisch eines lebendigen Menschen. Langsam drehte er sich zu Bellatrix.

»Das kann nicht sein«, hauchte diese in die angespannte Stille. »Ich habe alle Parameter genaustens geprüft. Es muss an dem Subjekt liegen – womöglich ist Urquart nicht so reinen Blutes, wie angenommen ... oder eines der Subjekte war das Problem ... Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, denn ich habe anderes, besseres Blut für den finalen Fluch verwendet. Das Blut zweier Schwestern ist der perfekte Träger; zwei Seiten derselben Münze ... Diese Verbindung ist unfehlbar.«

Voldemort wog Bellatrix’ Zauberstab in der Hand, ein neuerliches rotes Glühen in seinen Augen. »Zwei interessante Behauptungen, die einander hier gegenüberstehen. Ich sehe die Wahrheit hinter Alstons Vortrag, aber nach wie vor erkenne ich ein gewisses Potential in deinem Blutfluch.«

Besorgt drückte Minerva die Hand auf ihren Umhang, in dessen Tasche sie Rowles Zauberstab spürte. Sie wollte ihn nicht einsetzen müssen ...

Mulciber neben ihr straffte die Schultern. »Herr«, sagte er leise, »denkt daran, dass nicht zu viel reines Blut an Experimente verschwendet werden sollte. Diese Dinge sind es nicht wert, ein paar Verräter zu opfern. Anders nutzen sie uns besser. Als Druckmittel vor dem Ministerium –«

»Oh, ich habe keinesfalls vor, sie alle zu benutzen«, unterbrach Voldemort ihn mit trügerisch sanfter Stimme. »Eine wird für meine Zwecke reichen.«

Minervas Fingerspitzen streiften das Holz von Rowles Zauberstab. Langsam, Millimeter für Millimeter, umschloss sie den Griff mit der Hand. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Mulciber ebenfalls nach seinem Stab tastete.

»Erinnere dich an das, was mit Maybell geschehen ist«, presste er an Voldemort gerichtet zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor.

Bei der Erwähnung von Mulcibers verstorbener Ehefrau zuckte Minerva zusammen. Sie hatte er während der Erläuterung seines Vorhabens mit keinem Wort erwähnt. Dafür erinnerte Minerva sich an Rosiers Vorwurf, Mulciber habe ihren Tod verursacht. Und so, wie Voldemort nun den Mund verzog, schien die Geschichte sogar weitaus prekärer zu sein.

»Willst du wirklich noch einmal mit diesen Mächten spielen?«, fragte Mulciber mit heiserer Stimme. »Das ist kein Spaziergang im Park. Im schlimmsten Fall riskierst du mehr als nur das Leben eines Verräters. Zuerst sollten wir den Fluch studieren, bevor wir ihn einsetzen. Wir beide, ein Labor – wie früher.«

Zum ersten Mal nahm Minerva so etwas wie offenen Ärger in Voldemorts Haltung wahr. Seine Hand fasste Bellatrix’ Zauberstab fester, anstatt ihn wie bisher lose zwischen den Fingern zu drehen, und alle falsche Freundlichkeit schmolz von seinen Zügen. Dieses Mal gewann das Monster gegen die Maske.

»Ich spiele nicht länger, Alston. Und du tätest gut daran, Maybell endlich zu vergessen. Sonst stehst du der Zukunft nur im Wege.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, drehte er sich zu Bellatrix um, die ihrem Austausch mit gerunzelter Stirn gefolgt war. »Du wirst deine Chance erhalten, dich meinem Mal würdig zu erweisen. Nicht als Ritterin, sondern als Todesserin.«

Damit kehrte Voldemort ihnen den Rücken und zeichnete mit erhobenem Zauberstab eine Öffnung in die Zauberbarriere, durch die er hindurchtrat. Noch bevor er den Stab auf eine der Personen richtete, wusste Minerva, dass es Andromeda sein würde. Und Andromeda schien es genauso zu wissen. Trotzig setzte sie sich auf, das Kinn emporgereckt wie ihre Schwester. Sobald die magischen Fesseln von ihr abfielen, schritt sie hocherhobenen Kopfes vor Voldemort aus ihrem Gefängnis auf Bellatrix zu.

Minerva drückte Rowles Zauberstab so fest, dass es schmerzte. Zwar schüttelte Mulciber ganz sacht den Kopf, doch das war ihr egal. Sie würde nicht zusehen, wie diese Sache weiter außer Kontrolle geriet. Notfalls würde sie es auch ohne ihn schaffen.

Zunächst war es allerdings mehrere Herzschläge lang totenstill im Kellergewölbe. Bellatrix umklammerte wieder die Glieder ihrer Halskette, während sie Andromeda musterte, die sich freiwillig vor ihr postierte. Dann rümpfte sie die Nase.

»Habe ich dir nicht gesagt, dass du zuhause bleiben sollst, Meda? Das hast du nun davon.«

Andromeda lachte heiser auf. Minerva kannte sie als ehemalige Slytherin nur aus dem Verwandlungsunterricht, in dem sie stets ruhig und fleißig gewesen war – doch selbst ihr fiel auf, dass Andromedas Stimme um Jahre gealtert schien.

»Kein Fünkchen Mitleid, was?«, krächzte sie. »Na los, dann verfluch mich halt. Bring mich um. Aber glaub nicht, dass du damit irgendwas ändern wirst. Es wird immer Menschen wie uns geben, die sich dem hier nicht beugen werden.«

Mit einem leisen »Pah«, wandte Bellatrix sich von ihrer Schwester ab und sah stattdessen wieder Voldemort an – als erwartete sie eine Befreiung aus dieser Lage. Aber Voldemort hielt nur ihren Zauberstab auf Andromeda gerichtet, einen nahezu amüsierten Zug um die Mundwinkel.

»Wenn du wirklich an deinen Fluch glaubst, führe ihn an ihr aus.«

Bellatrix’ Blick huschte zurück zu Andromeda, die stumm ihre Fäuste ballte, dann zu Mulciber und der Phiole in seiner Hand. Ihre Halskette war inzwischen so eng um den Zeigefinger gewickelt, dass sie tief in die weiße Haut einschnitt.

Einem spontanen Einfall folgend, stupste Minerva Mulciber erneut an und deutete dann auf das Fluchschwarz in der Phiole. Sie sah, wie er die Stirn in Falten legte, und tappte zweimal mit dem Fuß auf den Betonboden. Da verstand auch er.

Wortlos streckte er die Hand mit dem Röhrchen aus und öffnete sie. Es klirrte, als das Glas am Boden zerschellte, dann zertrat Mulciber den Rest davon knirschend mit seinem Absatz. »Kein Weg zurück«, sagte er kalt. »Wenn ich recht habe, sollst du auch keinen Weg haben, sie zu retten, so wie Urquart gerettet wurde.«

Bellatrix starrte auf die zähe Flüssigkeit, die unter Mulcibers feinem Lackschuh hervor sickerte. Ganz langsam löste sie die Finger von ihrer Kette und streckte die Hand in ihre Tasche. Da war es wieder, das magische Folterinstrument, mit dem sie Elphinstone den Fluch verabreicht hatte. Bellatrix ballte die Faust darum, doch ihre Augen verharrten weiterhin auf dem zerstörten Zauber.

»Meda –«

Was immer Bellatrix sagen wollte, es ging in einem lauten Scheppern, gefolgt von einem Schrei unter.

»Lord Voldemort, Sir – das Ministerium ...!« Der junge Ambrose kam um die Regalreihen her auf sie zugelaufen, das Gesicht gerötet. Sein Blick flackerte verwirrt über die Szene, ehe ihm wieder einzufallen schien, weshalb er hereingeplatzt war. »Ah, es tut mir wirklich leid aber – da oben ist ein Vogel für Sie, mit einem offiziellen Ministeriumsheuler ...«

Minerva erstarrte. Sie glaubte, sich verhört zu haben, doch Ambrose stand die Panik ganz eindeutig ins Gesicht geschrieben.

»Mein Herr«, haspelte der junge Anwärter weiter, »Ich dachte, darum wollen Sie sich sicher selber kümmern? Immerhin ist er an Sie adressiert ... Und das Vieh lässt sich nicht einfangen ...«

»Das Ministerium?« Voldemort schrie nicht, aber seine Stimme hallte plötzlich von allen Wänden wider. »Woher weiß das Ministerium, wo wir sind?«

Ambrose warf einen verzweifelten Blick zu Mulciber, der ihn allerdings nicht einmal ansah, sondern nur den Kopf schüttelte, während er Bellatrix und Andromeda im Auge behielt, die einander kalt anfunkelten.

»Herr, ich weiß es nicht!«, stieß Ambrose flehentlich hervor. »Aber es ist ein verfluchter Phönix, der die Nachricht dabei hat!«

Voldemort erbleichte, sofern das überhaupt möglich war, und Minerva hätte am liebsten laut aufgelacht. Es versetzte ihrem flatternden Herzen nicht mal einen Dämpfer, dass Voldemort ein Zischen ausstieß, das mehr wie eine Klapperschlange klang denn nach einem Menschen.

»Dumbledore!«, grollte er und rauschte mit sich aufbauschender Robe an Minerva und dem Rest vorbei. »Alston, sieh zu, dass du hiermit fertig wirst! Ich will dich oben bei den anderen haben.«

Schon verschwand er um die nächste Ecke und Ambrose folgte ihm wie der brave Crup, mit dem Mulciber ihn verglichen hatte. Minerva konnte sich das grimmige Lächeln nicht länger verkneifen. Somit war es nur noch Bellatrix, die ihnen gegenüberstand. Unbewaffnet.

Doch bevor sie oder Mulciber Bellatrix nur mit dem kleinen Finger zucken konnten, hatte Andromeda sich schon auf sie gestürzt und hielt ihr den eigenen Dolch entgegen. »Du warst wirklich bereit, das zu tun, nicht? Du hättest mich getötet! Deine eigene Schwester!«

Bellatrix fixierte den Dolch in Andromedas Hand. »Meda –«

»Du hast kein Recht, mich so zu nennen! Nicht mehr. Wir sind keine Schwestern mehr, Bella!«

Ein Schatten glitt durch Bellatrix’ Augen und rasch zückte Minerva den Zauberstab, ehe sie es sich anders überlegen konnte. »Stupor!«

Ihre Erwiderung stumm auf den Lippen, sackte Bellatrix nach hinten weg und Andromeda wirbelte zu Minerva herum. »Professor ...?«

»Alles gut, Miss Black. Jetzt kann Ihnen nichts mehr passieren.«

»Aber Sie ...« Andromedas Blick glitt zu Mulciber, der lässig beide Hände hob.

»Ich habe Minerva versprochen, dass alle gehen können.«

»Was –«

»Ich kann Ihnen nicht alles erklären, Miss Black«, sagte Minerva und streckte Andromeda Rowles Zauberstab entgegen. »Nehmen Sie den. Bringen Sie die anderen in Sicherheit. Sie kennen doch einen Weg hier raus?«

Verwundert blinzelte Andromeda. »Ich – ja, es gibt einen Zugang vom Weinkeller in die Küche, von da kommt man in den Garten ... aber – was ist mit Ihnen? Und Bella ...«

Erneut wedelte Minerva auffordernd mit dem Zauberstab. »Nehmen Sie schon! Ihrer Schwester wird nichts passieren, das verspreche ich Ihnen! Sie wird höchstens ihre gerechte Strafe erhalten, wenn das Gamot von ihren Umtrieben erfährt.«

»Aber Sie haben den letzten Beweis für ihre Experimente doch gerade vor meinen Augen zerstört ...«

Mulciber kicherte leise. »Natürlich nicht. Eigentlich war das nur ein bisschen ... Vielsafttrank. Minerva hat ganze Arbeit geleistet mit ihrer Verwandlung. Der echte Beweis ist hübsch in Sicherheit, weit, weit weg von hier.«

»Und jetzt nutzen Sie die Ablenkung und laufen, Miss Black!«, drängte Minerva. »Sonst wird es bald sehr ungemütlich. Hier ist heute schon genug Furchtbares passiert.«

Endlich kam Bewegung in Andromeda. Sie warf Bellatrix’ Dolch zu Boden, schnappte sich den Zauberstab und mit einem letzten, entschuldigenden Lächeln wandte Minerva sich von ihr ab. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Mulciber selber den Stab auf Andromeda und die Gefangenen richtete.

»Was tust du da?«

Er seufzte. »Glaubst du, ich kann zulassen, dass die sich alle an mich erinnern?« Mit einem neuerlichen Seufzen schüttelte er den Kopf, bevor er weit ausholte und »Obliviate« rief.

Ein empörter Schrei drängte über Minervas Lippen, doch Mulciber packte sie nur am Handgelenk und zog sie mit sich in Richtung Ausgang. »Die werden schon klarkommen. Lass uns lieber sehen, was Elphinstone jetzt wieder verbrochen hat. Auf die Idee, Dumbledores verfluchten Phönix zu benutzen, kann ja nur er kommen.«

Egal wie Minerva es auch drehte und wendete – so hatte sie sich die Heldenreise einst nicht vorgestellt. Wie sehr wünschte sie, dass es nur die Träume einer unschuldigen 14-jährigen geblieben wären ... Doch Umkehren kam nicht infrage. Also folgte sie Mulciber ins dunkle Treppenhaus, ohne einen Blick zurück.

Ein Funke fliegt

Schon von weitem hörte Minerva kreischendes Geigenspiel, jeglicher Harmonie beraubt. Dann mischte sich aufgeregtes Geflüster darunter und schließlich krächzte ein Phönix. Nicht irgendein Phönix – es war wirklich Fawkes, dessen Rufe den Weg direkt in ihr Herz fanden. Das wusste sie einfach, noch bevor sie an der Seite von Mulciber in die Eingangshalle stürmte.

Keine Sekunde zu früh. Rund um Voldemort hatte sich bereits ein Ring aus Gästen und Anhängern gleichermaßen gebildet, die alle beobachteten, wie er sich langsam Fawkes näherte, der auf dem Kronleuchter saß. Ein paar Stufen erhöht auf der Treppe erkannte Minerva sogar Rodolphus Lestrange, dem das Haar wirr abstand und damit die Verwirrung auf seinen Zügen unterstrich.

Mit dem Ellenbogen stieß sie Mulciber in die Seite, der bei Lestranges Anblick leise aufstöhnte. »Drachenmist!«, zischte er. »Warum habe ich nicht dran gedacht, dass Ellas Fluch nach ihrem ... also dass ihr Fluch bricht, wenn sie ihn nicht mehr ...«

»Egal. Hauptsache, er redet mit keinem – vor allem nicht mit Voldemort!«

»Na, wie gut, dass gerade alle nur Augen für unseren Hauptdarsteller hier haben.« Mulciber linste wieder zu Fawkes hinüber, der Voldemort nicht einen Zentimeter entgegenkam.

Unter den Anwesenden traute sich niemand, die Stimme zu erheben, doch alle wussten, dass der Phönix keine guten Nachrichten brachte. Der Briefumschlag in seinen Krallen war genauso rot wie sein Gefieder – oder Voldemorts zornfunkelnde Augen.

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, sah eben jener in die Höhe. »Was für ein nutzloser Postbote – Eulen wissen wenigstens, dass sie einem die Post direkt überreichen müssen«, höhnte er in Fawkes’ Richtung.

Ungerührt blinzelte der Phönix zurück. Sein neuerliches Krächzen erinnerte Minerva an Albus’ amüsiertes Lachen, wenn ihm wieder jemand zu Weihnachten ein Paar besonders hässlicher Wollsocken geschenkt hatte.

Voldemort schien ähnlich zu denken, denn seine Augen verengten sich gefährlich. »Nun, wir können das auch anders lösen ...«

Er hob Bellatrix’ Zauberstab. Ein Fluch zischte auf den Kronleuchter zu – und Scherben regneten auf die Anwesenden nieder, als eine der Glühbirnen zerplatzte. Fawkes hingegen landete auf einem anderen Arm des Leuchters, unversehrt. Der Brief in seinen Krallen rauchte und pochte dafür unheilvoll.

Das Getuschel ringsum schwoll gemeinsam mit dem zunehmenden Umfang des Umschlags an. Auch Voldemort schien zu begreifen, was das Pulsieren bedeutete, denn sein nächster Fluch zielte auf das rote Papier anstelle des Phönix. Doch Fawkes wich erneut aus, ehe er in einer eleganten Spirale durch den Raum flog.

»Das reicht«, rief Voldemort an seine Anhänger gewandt, »das Ministerium spielt nicht mit uns. Erledigt das Federvieh!«

Auf einen Schlag wurden sicher zwanzig Zauberstäbe gezogen. Selbst Mulciber schwang äußerst halbherzig den Stab und Minerva folgte seinem Beispiel mit einem milden Schockzauber. Wirkungslos verpuffte er unter der Decke, zusammen mit unzähligen anderen. Aber der Strom an bunten Lichtern riss nicht ab. Immer wieder feuerten Voldemorts Anhänger auf Fawkes. Der Gestank verbrannter Luft trieb Minerva Tränen in die Augen – und inmitten des Chaos eine Idee in ihren Kopf.

Sie wartete, bis Fawkes eine weitere Runde über ihnen beschrieb, wobei er mit knappen Flügelschlägen jedem Unheil auswich. Dann, kurz nachdem er sie passierte, schleuderte sie einen zweiten, deutlich stärkeren Schockzauber in den Raum. Nur, dass sie ein bisschen zu niedrig zielte. Ein wenig mehr in Richtung Treppe. Direkt auf Rodolphus Lestrange.

Der sah den Zauber nicht kommen und als er die Augen vom Phönix unter der Decke löste, klappte er längst zusammen wie ein Schweizer Taschenmesser. Unbemerkt von den Umstehenden rutschte er seitlich über das Geländer, geradewegs hinter den Ficus daneben.

Nicht einmal Mulciber bemerkte Minervas ‚Ausrutscher‘. Sein Blick klebte an Voldemort, der nach wie vor im Epizentrum der Aufregung stand und eine starre Miene zur Schau trug. Gerade hob er wieder den Zauberstab, da schoss Fawkes mitten auf ihn zu. Hoch oben in der Luft öffnete der Phönix die Krallen, der Briefumschlag fiel ... und Voldemorts Fluch riss eine Schneise in die Stichflamme, mit der Fawkes verschwand.

Knall.

Gut vier Meter über dem Boden explodierte der Umschlag, dass es zusätzlich zu den letzten Flüchen Funken regnete. Eine lange Rolle dunkelvioletten Pergaments breitete sich vor allen Augen aus und offenbarte das goldene Siegel der Strafverfolgungsabteilung zuoberst.

»Elphinstone hat es wirklich getan«, stöhnte Mulciber leise und lachte auf, irgendwo zwischen echter Begeisterung und Verzweiflung. »Ein verdammter Haftbefehl per Heuler ...«

Das war allerdings nicht alles. Noch während Mulciber sprach, formte sich aus den roten Papierschnipseln eine vage weibliche Gestalt, die ebenso in der Luft schwebte wie das Pergament hinter ihr.

»Bei Merlin ...« Mulciber riss die Augen auf. »Das ist aber nicht ganz Ministeriumstandard«, hauchte er.

Doch selbst angesichts dieses Spektakels konnte Minerva den Blick kaum von dem hochoffiziellen Briefpapier abwenden, auf dem sich zwischen allerlei Standardfloskeln die nüchtern formulierten Vorwürfe gegen Voldemort und seine Bewegung ausbreiteten. In Elphinstones Handschrift, die sie aus so vielen Briefen kannte. Der Hoffnungsfunken in ihrer Brust erwärmte sich bei dem Anblick unweigerlich.

Mulciber beugte sich zu ihr und wies mit dem Zauberstab auf die Papiergestalt, deren Züge langsam deutlicher wurden. »So was habe ich noch nie gesehen. Ist das irgendein wilder Trick, den Elphinstone von dir hat?«

»Schön wär’s.« Minerva schüttelte den Kopf. »Ich kenne auch nur die normalen Knall- und Schreieffekte der Ministeriumsheuler ... Aber so wie das da aussieht, war dieser Auftritt nicht alleine Elphinstones Idee.«

Die Gestalt erreichte inzwischen knapp zweieinhalb Meter Größe und ihre Locken aus Papierkringeln streiften fast den Kronleuchter. Das runde Gesicht der Papierhexe wurde von harten, leblosen Augen aus den Überresten des Wachssiegels dominiert, aber selbst in dieser Form erkannte man, dass ihr Vorbild von müden Falten und schweren Tränensäcken gezeichnet war.

Nur durch ihre schiere Größe überlagerte die Gestalt Voldemorts Aura der Macht – zumindest ein Stück weit. Immerhin musste er genau wie alle anderen den Kopf in den Nacken legen, um zu dem menschgewordenen Heuler hinaufzuschauen.

Mit einem Papierrascheln öffnete das Abbild von Zaubereiministerin Eugenia Jenkins den Mund. »Dies ist eine offizielle Verkündung im Namen des britischen Zaubereiministeriums«, dröhnte es in Jenkins’ magisch verstärkter Stimme durch die Eingangshalle. »Sie werden hiermit informiert, dass Ihre vorliegende Versammlung gemäß dem Eilbeschluss 1970/203.Z2, ausgestellt vom Zaubergamot am heutigen 11. September, als verbotene Vereinigung gemäß der Verordnung 29 zur magischen Staatssicherheit gilt.«

Getuschel breitete sich im Saal aus. Manche Gäste sahen unsicher drein oder wichen ein paar Schritte zurück, als könnten die Schatten sie vor den Konsequenzen ihrer Entscheidungen schützen, wieder andere jedoch schüttelten nur den Kopf. »Unmöglich«, rief eine Frau vor Minerva, »wir haben doch nur über die Wahrheit geredet – wofür halten die im Ministerium sich?«

»Ich weiß nicht ... aber man hat uns doch gesagt, dass es hier sicher wäre«, entgegnete ihre Begleiterin nervös. »Angeblich nur ein Vortrag ... Mit dem Ministerium will ich nichts zu tun haben!«

Voldemort selber sog die Unruhe aufmerksam ein. Sein Blick galt längst nicht mehr der Papiergestalt Eugenia Jenkins, sondern denen, die nicht zu seiner festen Anhängerschaft gehörten. »Ich bitte Sie«, verkündete er ruhig, »lassen wir Mrs Jenkins wenigstens aussprechen, bevor wir unserem Unmut Ausdruck verleihen. Immerhin können wir uns geehrt fühlen, dass sie nur für uns den Aufwand dieses überaus ... kreativen Auftritts auf sich genommen hat.«

Vereinzelte Lacher erklangen, erstarben aber eben so schnell wieder, als die Papiergestalt weitersprach. Während zuvor die Fensterscheiben unter Jenkins’ Stimme erzittert waren, schwand dieser Eindruck nun allerdings.

»Trotz dieser Verkündung wünsche ich Ihnen einen guten Abend, meine Damen und Herren«, sagte sie und es wurde deutlich, dass diese Worte nicht Teil des offiziellen Protokolls waren. »Ich wende mich heute zwar in meiner Funktion als Zaubereiministerin an Sie, aber auch als gewöhnliche Hexe – oder wie einige von Ihnen es ausdrücken würden: Halbblut.«

Minerva tauschte einen besorgten Blick mit Mulciber. Ohne sich abzusprechen, traten sie langsam von dem Ring um Voldemort zurück.

»Mir liegt nicht nur als Ministerin viel an einem guten Auskommen zwischen uns allen, unabhängig des Status«, fuhr Eugenia Jenkins’ Avatar in völliger Ignoranz des Murrens am Boden fort. »Gerade weil wir so eine kleine Gesellschaft sind, müssen wir zusammenhalten. Doch leider wurde ich darüber informiert, dass Sie heute Abend einer Veranstaltung beiwohnen, die nicht bloß dem Zweck dient, Ihrem Unmut im Rahmen des Gesetzes Ausdruck zu verleihen.«

Ein kleines Seufzen Eugenia Jenkins’ ging im Rascheln der Papierschnipsel unter, als ihre magische Gestalt die Schultern straffte. »Sie wissen es vielleicht noch nicht, doch der Mann und seine Anhänger, zu denen Sie in diesem Moment aufsehen, haben bereits zahlreiche Verbrechen gegen die magische Ordnung begangen. Und sie planen noch ein Weiteres, viel Größeres – mit Ihnen als Werkzeug.«

Der Kreis um Voldemort geriet in Bewegung, als einige Gäste nach ihren Zauberstäben tasteten – nur um sich daran zu erinnern, dass sie diese abgegeben hatten. Mit einem schmalen Lächeln verbarg Voldemort Bellatrix’ Stab in seiner Robe.

»Dem Gamot liegen Beweise vor, dass die Vereinigung um Lord Voldemort plant, am 31. Oktober zur Feier der Wintersonnenwende, bei der viele von Ihnen zu Gast sein werden, in das Zaubereiministerium einzudringen – und dabei die aktuelle Regierung im Rahmen eines Staatsstreichs zu entmachten. Alle von mir berufenen Abteilungsleiter sollen an diesem Tag mit mir sterben.«

Mulciber sog an Minervas Seite zischend die Luft ein und murmelte etwas, das nach »Oh Ella, du hast es wirklich getan« klang, aber das Raunen der Menge übertünchte seine Worte. Derweil sah Minerva, wie der Zorn erste Risse in Voldemorts Maske aufbrach. Das Zucken seiner Mundwinkel war dieses Mal kein Versuch, ein wohlwollendes Lächeln heraufzubeschwören.

Eugenia Jenkins war allerdings noch nicht fertig. »Ich appelliere an Sie – wählen Sie den Pfad des Rechts. Ich bin sicher, dass wir gemeinsam eine Lösung für Ihre Unzufriedenheit finden können. Ohne eine Eskalation. Lösen Sie diese Versammlung umgehend auf. Ein Zuwiderhandeln verstößt gegen den Eilbeschluss des Zaubergamots und wird mit strafrechtlichen Konsequenzen geahndet. Eine umfangreiche Liste Ihrer Namen liegt uns vor und falls nötig, werden Auroren in der kommenden Stunde Ihre Wohnsitze aufsuchen.«

Die letzten Worte gingen nahtlos in Voldemorts kaltem Lachen auf. Wie zuvor auf der Bühne breitete er wieder seine Arme aus und wandte sich an sein Publikum, das zwischen Schock und Unmut schwankte.

»So viel Aufwand seitens des Ministerium, nur um Sie einzuschüchtern«, rief er. »Finden Sie das rechtmäßig? Sich bedrohen zu lassen, weil Sie mir zuhören? Selbst wenn ich nicht dem – ungerechten! – Recht dieses Ministeriums folge, macht das Sie nicht zu Mitschuldigen. Nein, sehen wir es als das, was es ist – Jenkins’ Versuch, Ihre Meinung mit Furcht zu unterdrücken! Wollen Sie sich wirklich ihrer Vorstellung von Recht beugen?«

Aber es war noch nicht vorbei. Parallel zu Voldemorts Gegenrede veränderten die Papierschnipsel hinter ihm ihre Form. Die ungefähren Züge Jenkins’ wichen denen einer Person, die Minerva selbst in diesem roten Zerrbild sofort wiedererkannte.

»Im Folgenden erlässt die Abteilung für magische Strafverfolgung, vertreten durch Elphinstone Urquart, dringenden Haftbefehl wegen Mordes und schwerer Fluchschädigung in mehreren Fällen gegen diese Anwesenden: Thorfinn Rowle, Bellatrix und Rodolphus Lestrange, sowie T–«

Grünes Licht traf mit einem Knall auf die Papiergestalt und abrupt brach Elphinstones Stimme. Minerva starrte auf die Überreste des Heulers, die angesengt von Voldemorts Fluch zu Boden segelten. Das violette Pergament mit der schriftlichen Fassung des Haftbefehls hatte ebenfalls ein Loch, genau dort, wo der Name Tom Riddle gestanden haben musste, aber es schwebte noch in der Luft.

»Lesen Sie sich gerne die Anschuldigungen gegen mich und einige meiner geschätzten Gäste durch«, verkündete Voldemort. »Und dann denken Sie darüber nach, ob der Kampf zur Rettung unserer magischen Gesellschaft wirklich derart kriminell ist – oder ob gewisse Opfer nicht gebracht werden müssen, um uns vor Schlimmerem zu schützen. Denn in einem stimme ich Mrs Jenkins zu: Wir müssen zusammenhalten.«

Ein Zittern arbeitete sich durch Minervas Glieder, als ein paar Ascheflöckchen von dem Heuler auf ihrem Umhang landeten. Sie bemerkte erst, dass Mulciber ihre Zauberstabhand umfasst hielt, nachdem er sie sacht daran zurückzog.

»Das ist nur Papier«, flüsterte er, auch wenn ihr das längst klar war. Es fühlte sich bloß nicht so an.

»Das ist alles andere als ‚nur‘ Papier – schau dich um!«

Gleich mehrere Leute applaudierten Voldemort und schnell schlossen sich ihnen weitere Gäste an. »Das ist nicht länger unser Ministerium«, schrie jemand und zustimmend stießen andere die Fäuste in die Luft.

»Gut gemeint ...«, murmelte Mulciber – »... ist immer noch schlecht gemacht«, beendete Minerva seinen Satz. »Der Heuler hat uns vielleicht Zeit gekauft, aber ich fürchte, die werden wir teuer bezahlen müssen.«

Wie um ihre Worte zu bestätigen, hob Voldemort erneut die Arme und befahl der Menge Ruhe. »Meine werten Damen und Herren, ich verstehe Ihre Aufregung nur zu gut, ebenso wie Ihre Sorgen. Lassen Sie mich Ihnen versichern, dass Sie hier in Sicherheit sind. Dafür übernehme ich persönlich die Verantwortung. Wenn Sie sich mir anschließen, stehen Sie und Ihre Familien unter unserem Schutz.« Er wies auf einige seiner Anhänger neben sich. »Und von ein wenig Funken werden Sie sich doch nicht einschüchtern lassen?«

Auf einen Wink mit dem Zauberstab ging die Pergamentrolle hinter ihm in Flammen auf. Dann schritt Voldemort durch die Menge, die sich bereitwillig teilte, und erklomm die Treppe. »Jenkins und ihre Marionetten sind Narren. Aber nicht mehr lange. Wir sind mehr. Wäre es denn wirklich falsch, wenn wir uns von diesem Ministerium befreien?«

Die Menge tobte. Wieder reckten sich Fäuste empor und Menschen, die eben noch zurückgewichen waren, drängten sich in einem Halbkreis vor der Treppe. Schlimmer konnte es bei einem Konzert von Celestina Warbeck auch nicht zugehen, nur gab es da wenigstens fröhliche Musik.

Während alle gebannt zu Voldemort aufsahen, zog Mulciber Minerva in die entgegengesetzte Richtung, zum Kamin. Davor wartete niemand mehr und bevor sie auch nur zu einem halb empörten, halb besorgten »Wohin willst du?« ansetzen konnte, hatte Mulciber bereits ein Flohfeuer entzündet.

»Wir müssen weg. Das hier bringt nichts mehr, sieh es ein.«

»Schon ...« Minerva warf einen Blick zurück. Keiner beachtete sie. Allerdings war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand Rodolphus Lestrange entdecken würde, jetzt wo sich alle um die Treppe drängten. Sie seufzte. »Aber bist du dir si-«

»So sicher, wie ich noch nie war. Hier können wir nichts mehr aufhalten. Aber woanders.«

Mulciber hielt ihre rechte Hand weiterhin eisern umklammert und zog derart auffordern daran, dass sie keinen anderen Weg sah, sondern ihm in den Kamin folgte. Sie bekam nicht einmal mit, welche Adresse er ausrief, so schnell riss es sie fort. Doch die Rufe, die den Sturz von Eugenia Jenkins forderten, verfolgten sie noch lange danach. Bis der Kaminstaub sich wieder legte.

 

Überrascht blinzelte Minerva. Sie hatte mit dem Ministerium gerechnet, nicht mit einem ... Wohnzimmer. »Wo sind wir?«, fragte sie mit belegter Stimme.

»In Brighton«, erwiderte Mulciber. »Genauer gesagt in meiner Wohnung.«

»Deine – Warum?«

»Sicher ist sicher. Wollt’s vermeiden, durch den Sprung ins Ministerium irgendeinen Alarm auszulösen. Außerdem ... gibt es hier etwas, das wir brauchen werden.«

Mit diesen Worten gab Mulciber endlich ihre Hand frei, doch er bewegte sich nicht, als hätte er plötzlich jede Energie verloren. Unschlüssig blieb Minerva neben ihm stehen, obwohl die Überreste des Flohpulvers auf ihrer Haut juckten und ihr Herz sie anschrie, etwas zu tun; nicht herumzustehen ... Dennoch musterte sie einen Moment lang sprachlos den Ausschnitt von Mulcibers Zuhause, der sich ihr im Schein einer von Zauberhand entzündeten Stehlampe offenbarte.

Sie wusste nicht, womit sie gerechnet hätte, wenn ihr das Ziel bekannt gewesen wäre. Ein großer, leerer Raum, kalt und unwohnlich? Voller Familieninsignien, die für längst vergangene Zeiten standen? Schwarzmagische Artefakte oder Waffen wie im Lestrange-Anwesen an den Wänden?

Was immer es gewesen wäre – es hätte jedenfalls nicht die Gestalt dieses kleinen, geradezu chaotischen Wohnzimmers angenommen, das voller deckenhoher Bücherregale und mit einem erschreckend großen Sammelsurium an Farben ausgestattet war. Anstatt gähnender Leere winkten von überall Hinweise, dass Alston Mulciber keinesfalls so ein aalglatter Typ war, wie er nach außen vorgab.

Da er selber sich nicht regte, unternahm Minerva den ersten Versuch, der Enge im Kamin zu entkommen. Dieses Exemplar war viel zu schmal für zwei Erwachsene und inzwischen brannte das verkohlte Flohpulver wie der Cruciatus auf ihrer Haut, ganz zu schweigen von der Unruhe in ihrem Inneren. Ungelenk stolperte sie über das Kamingitter und als wäre das nicht genug, stieß sie sich im gleichen Augenblick den Kopf am Kaminsims.

»Autsch –«

»Vorsichtig!«, zischte Mulciber hinter ihr.

Erst begriff Minerva nicht, weshalb er so ungehalten klang – immerhin war es ihr Kopf, der jetzt schmerzte –, doch da drehte sie sich um und entdeckte die Bilder. Hiergegen erschien Elphinstones Kaminsims geradezu unpersönlich. Große und kleine Rahmen drängten sich auf dem Überstand aneinander, manche oval, andere eckig ... Es war ein richtiges Gewimmel an lächelnden, winkenden, sogar tanzenden Personen.

Fluchend kletterte Mulciber hinter ihr ins Freie, nur um sogleich einen besorgten Blick auf die Bilderrahmen zu werfen. Aber so doll, dass einer herunterfiel, hatte Minerva sich den Kopf nicht gestoßen und sobald Mulciber ihre erhobene Augenbraue bemerkte, wandte er sich rasch ab. Dafür betrachtete sie die Schwarz-Weiß-Fotografien nun umso genauer, die Unruhe zumindest für den Augenblick von Neugier verdrängt.

Die meisten Bilder waren schon ganz verblichen an den Rändern und es brauchte einen Moment, bis Minerva begriff, dass es Gideon Rosier war, dessen jugendliches Abbild ihr gleich vom ersten Foto entgegenlachte. Er stand neben Mulciber, einen Arm über seine Schultern gelegt und beide stützen sich auf ihre Rennbesen. Und das war nicht alles – es gab Aufnahmen in Schuluniform, bei der Verleihung des UTZ ... Oft waren noch andere Jungen dabei, aber Rosier war eine stete Konstante in diesen Bildern, über sämtliche Jahre hinweg.

Das war es allerdings nicht, woran Minervas Aufmerksamkeit sich schlussendlich fing, denn ein viel größerer Teil der Fotografien zeigte eine zierliche Frau mit hüftlangen Haaren, herzförmigen Gesicht und dezenten Sommersprossen um die Nase. Auf den wenigsten Bildern mit ihr war Mulciber selber zu sehen, doch wann immer er da war, stand sie neben ihm, oftmals eine Hand in seiner.

»Das ist Maybell, oder?«, fragte Minerva leise.

Bei dieser Erwähnung zuckte Mulciber zusammen. »Natürlich ist sie das«, murmelte er unwirsch.

Selbstverständlich war es für Minerva allerdings nicht, schließlich hatte sie Mulcibers Frau nie kennengelernt, obwohl sie erst zwei Jahre nach ihrem Fortgang aus dem Ministerium gestorben war. Zu keinem Silvesterball oder Empfang hatte Maybell ihren Mann begleitet und der einzige persönliche Gegenstand auf Mulcibers Schreibtisch war stets seine Kaffeetasse – schwarz – gewesen.

Aber hier war Maybell Mulciber gleich zigfach vertreten – in ihrem spitzenbesetzten Hochzeitskleid, am Ufer eines Sees sitzend, mit einem Säugling in den Armen. Und alle Bilder hatten eines gemeinsam: Sie strahlte wie der glücklichste Mensch auf Erden.

Noch etwas, das Minerva nicht erwartet hatte, auch wenn sie sich für diesen Gedanken umgehend schelten wollte. Natürlich waren nicht alle Frauen in reinblütigen Kreisen so streng wie Druella oder Elladora. Das waren nur wieder ihre Vorurteile, die Mulciber keine liebevolle Beziehung zutrauten. Dabei war offensichtlich, dass Maybell ihren Mann angehimmelt hatte. Genauso wie er sie. Minerva hatte Mulciber nie richtig strahlen sehen, doch auf dem Bild mit Maybell und ihrem gemeinsamen Sohn sah er wirklich, wirklich glücklich aus.

Er hatte den rechten Arm um die Schultern seiner Frau gelegt, während der Zeigefinger seiner anderen Hand fest von dem Säugling umklammert wurde. Beide strahlten Maybell und Mulciber ihr Kind an, die Köpfe eng aneinandergelehnt und völlig in den Moment versunken. Nur hin und wieder drückte Vergangenheits-Mulciber Maybell einen Kuss auf die Wange.

Eigentlich eine normale Szene, ein Bild wie es wahrscheinlich auch von ihren Eltern existierte, doch Minerva wurde das Gefühl nicht los, dass sie mit dem Tritt aus dem Kamin eine Grenze überschritten hatte. Sie sollte nicht hier sein; diese Wahrheiten von Mulciber, dem frischgebackenen Mörder, nicht sehen.

Trotzdem konnte sie sich eine Frage angesichts der Situation nicht verkneifen. »Wo ist dein Sohn? Ist er –«

»Aiden wohnt nicht hier. Du musst dir also keine Gedanken machen, wir sind alleine. Es sei denn, du glaubst, ich würde ... dir deshalb irgendwas antun.«

Fast hätte Minerva Mulcibers schlechte Angewohnheit des Gedankenlesens vergessen. Aber nur fast.

»Alston ... ich meinte doch nicht –« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Es tut mir leid. Ich – du hast mich hergebracht. Das ist ...«

»Merkwürdig. Ich weiß. Hatte auch nicht vor, heute eine Wohnungsbesichtigung zu machen.«

Minerva riss sich von den Bildern los und sah Mulciber an, der sich auf die Kante eines geblümten Sessels fallen ließ, den Kopf in die Hände gestützt. »Hör zu –«

»Ich weiß«, seufzte er. »Wir müssen weiter, die Welt retten ...«

»Das wollte ich nicht sagen. Selbst wenn es stimmt.«

»Ich brauche nur einen Moment. Ich –« Stöhnend drückte Mulciber die Hände auf die Augen. »Verfluchter Drachenmist!«

Obwohl Minervas Puls nach wie vor raste, da weder Kopf noch Körper begriffen hatten, dass sie nicht länger im Feindesgebiet war, trat sie zu Mulciber und legte eine Hand auf seine Schulter. Zumindest für ein paar Minuten würde sie sich zur Pause zwingen, die sie ebenso brauchte. »Alston ... rede mit mir. Bitte. Ich will nur ... verstehen. Ich verspreche auch, dass ich einfach nur zuhören werde. Ohne Unterbrechungen.«

Er lachte trocken auf, aber der Laut versiegte rasch. »Was soll ich denn sagen? Die ganze Scheiße ist einfach außer Kontrolle geraten! Als wenn du mir glauben wirst, dass ich das ... diese Art Aufstand nie wollte. Nicht so.«

»Oh, wenn du willst, kannst du durchaus sehr überzeugend argumentieren. Ich muss nur daran denken, wie du Elphinstone neulich erpresst hast.«

»Nett von dir.« Mulciber seufzte leise, aber wenigstens hob er den Kopf wieder. »Ich weiß, was jetzt passieren wird und das ...« Sein Blick ging an Minerva vorbei, irgendwo in die Ferne. »Es macht mir Angst. Ich wusste immer, dass er das Ministerium notfalls auch gewaltsam stürzen will, aber ich dachte wirklich, dass es nie so weit kommen würde. Zumindest haben Ella und ich bis zuletzt geglaubt, dass wir es verhindern können.«

»Ich muss ehrlich sagen – ich verstehe nicht, weshalb ihr beide euch Voldemort überhaupt angeschlossen habt«, erwiderte Minerva.

»Hah«, schnaubte Mulciber, »du bist vielleicht zu moralisch, um an der gegebenen Ordnung zu zweifeln, aber ich glaube halt daran, dass man die Menschen manchmal zu ihrem Glück führen muss. Und du musst zugeben, dass das Ministerium eine Katastrophe ist. Das muss sich ändern.«

Minerva zog die Augenbrauen zusammen. »Aber nicht so. Der Tod unschuldiger Menschen, magisch wie Muggel, ist definitiv die größere Katastrophe. Denk dran, was Elladora heute geopfert hat. Du hast dank ihr eine zweite Wahl. Nutz sie für das Richtige. Ich sehe doch, dass es in dir steckt.« Ihr Blick glitt zurück zu dem Bild der glücklichen kleinen Familie Mulciber.

Eine harte Linie grub sich um Mulcibers Mundwinkel ein. »Ich habe nie behauptet, dass ich in dieser Hinsicht nicht deiner Meinung wäre. Und zum Glück weiß ich genau, wie Voldemorts Vorgehen aussehen wird.«

»Dann hilf mir – uns allen –, seinen Aufstieg zu verhindern.«

»Aufstieg? Der liegt längst hinter uns. Das hier ist das große Finale, Minerva.«

Erneut versenkte Mulciber das Gesicht in den Händen und steif ließ Minerva sich auf einer Kante des Wohnzimmertisches vor ihm nieder. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte – aber letztlich hatte sie ihm ja versprochen zu schweigen. Also sah sie auf ihre Hände hinab und wartete.

»Gideon hatte recht«, stieß Mulciber schließlich hervor, ohne den Kopf zu heben. Seine Stimme wurde durch die Handflächen gedämpft. »Ich bin auch nicht besser als er. Weißt du, warum es mir so verdammt leichtfiel, das Flohportal für die Lestrange-Bande zu aktivieren?«

Minerva schüttelte den Kopf, obwohl er das nicht sehen konnte.

»Weil ich schon lange vorher dasselbe gemacht habe wie sie. Ich habe ihm schon vor Jahren heimlich Zugang zu gewissen nicht-öffentlichen Kaminen im Ministerium verschafft. Was meinst du, warum Abteilungsleiter Edwards so eine lahme Schnecke ist? Ich hab es einmal zu gut mit den Gedächtniszaubern gemeint. Und es war mir egal. Ist es im Prinzip immer noch. Hauptsache, ich habe Voldemort einen Weg eröffnet, das Ministerium zu stürmen – zumindest theoretisch. Das habe ich mir immer gesagt. Es ist alles nur theoretisch, nur für den Fall ... Aber heute, heute wird er es wahr machen. Bevor das Ministerium sich vorbereiten kann. Er hat die Leute ohnehin dort, wo er sie braucht.«

Mulciber atmete tief aus, ehe er die Hände sinken ließ. Einen Moment lang saßen sie beide einfach nur da und lauschten in die Stille der Wohnung hinein. Eine Uhr tickte leise, ein Holzscheit im Kamin knackte und ein Fenster klapperte unter einer Windböe. Gerade war Minerva kurz davor, ihr versprochenes Schweigen wieder zu brechen, da sprach Mulciber doch weiter.

»Ich habe den Plan hier. Für die Infiltration des Ministeriums. Wer von wo reinkommt, welche Sicherheitsmaßnahmen wie ausgeschaltet werden und wie wir ... mit möglichst wenig Aufwand die wichtigsten Stellen unter unsere Kontrolle bringen. Feinsäuberlich aufgeschrieben, bis hin zum Tod der Ministerin. Der Rest ... die Menschen sind ohnehin nur Ablenkung.«

Er richtete sich auf und straffte die Schultern. Schon verschwand die kurzzeitige Verletzlichkeit wieder hinter seiner Fassade, als er Minervas zusammengepresste Lippen mit einem Zucken der Mundwinkel bedachte. »Ordnung muss sein«, ergänzte er.

»Na, das erleichtert mich aber, dass Voldemort trotz allem ein Bürokrat ist.« Minerva rieb sich die Schläfen. »Also wirklich – das könnte unsere Rettung sein.«

Ein Kribbeln breitete sich in ihren Fußsohlen aus und sie konnte sich nicht zurückhalten, sie musste aufstehen. Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen, während Mulciber erneut zu den Bildern von Maybell sah. Minerva war kurz davor, eine weitere, neugierige Frage zu stellen, da stand Mulciber auf.

»Dann wollen wir mal«, sagte er leise.

Er geleitete sie durch einen engen Flur, dessen Wände ebenfalls voller Bilder waren. Die ganze Wohnung schien nicht sonderlich groß zu sein – Minerva zählte zwar fünf Zimmer, von denen allerdings keines wirklich geräumig sein konnte, sofern nicht versteckte Vergrößerungszauber im Spiel waren. Die Tür, die Mulciber schließlich mit einer Geste seines Zauberstabs öffnete, führte in ein Arbeitszimmer.

Eine altmodische Nähmaschine stand direkt vor dem Fenster und es gab einen Schrank, hinter dessen halbgeöffneten Türen ganze Stoffbahnen hervorquollen. Von einem Schreibtisch, mit dem Minerva viel eher gerechnet hatte, fehlte allerdings jede Spur. Stattdessen lagen winzig kleine Mützen, Strampler und Söckchen ordentlich gefaltet auf der Ablage, neben einem Korb mit Strickgarn und Nadeln. Trotz aller Überraschungen ging Minerva nicht davon aus, dass Mulciber in seiner Freizeit Babybekleidung strickte, zumal sein Sohn diesem Alter längst entwachsen war.

»Eigentlich war das hier Mays Nähzimmer«, erklärte Mulciber da auch schon. »Ich habe es nie ... Seit sie tot ist, habe ich die Sachen nicht angerührt. Aber lieber bewahre ich Wichtiges hier auf, anstatt im Wohnzimmer. Hier würde keiner danach suchen.«

Die harten Linien um seinen Mund gruben sich wieder in seine Haut und er wandte sich ab, um mit dem Zauberstab einige Banne zu lösen, die er offenbar über die Schubladen einer Kommode gelegt hatte. Verlegen sah Minerva weg, doch egal wohin sie schaute, drängten sich ihr neue Fragen auf.

Was beispielsweise hatte es mit den drei winzigen Phiolen auf sich, die umrahmt von Kerzen auf einem Regalbrett standen, eine jede davon erfüllt von einem pulsierenden, hellen Licht? Etwas Derartiges hatte sie noch nie gesehen.

Minerva schlang die Arme um ihren Oberkörper. Die Ungewissheit fraß sie auf, sie musste einfach fragen. »Alston«, hob sie vorsichtig an, »du musst nicht antworten, aber ... weshalb ist Maybell gestorben? Hat es ... etwas mit Voldemort zu tun?«

Ein kleiner Knall ertönte und Minerva drehte sich gerade noch rechtzeitig um, damit sie sah, wie ein Rauchwölkchen aus Mulcibers Zauberstab puffte. Er schüttelte es fort, als wäre nichts passiert, doch die Falten auf seinem Gesicht gruben sich tiefer.

»Schon gut, vergiss –«

»Ja.« Mulciber sah stur geradeaus, während er die vorangegangene Rune zur Lösung des Zauberbannes erneut in die Luft zeichnete. »May würde vielleicht noch leben, wenn sie mich nie kennengelernt hätte – und ich ihm nicht vertraut hätte. Dann wäre sie nie als ... Forschungsobjekt geendet.« Ein Schatten senkte sich über seine Augen. »Auch wenn er das nie so genannt hätte.«

»W-was hat er getan?«

»Er? Ich habe es getan. Er hat mir nur gesagt, was ich tun muss. Wie.« Mit geschlossenen Lidern zeichnete Mulciber die nächste Rune, aber seine bebende Stimme verriet bereits genug. »Ich habe Blutmagie auf May angewandt. Ich wollte ihr damit helfen. Uns. Es sollte nur zu unserem Besten sein.«

»Aber ... warum?«, kam es Minerva kaum hörbar über die Lippen. »Diese Art Magie ist nicht umsonst verboten!«

»Wir ... Drei Mal wurde May schwanger. Und drei Mal ... haben wir unser Kind verloren.« Mulciber wedelte mit dem Zauberstab in Richtung der drei leuchtenden Phiolen und ein paar tiefrote Funken fielen auf den Teppich. »Das ist alles, was uns von ihnen geblieben ist. Ein Teil ihrer Magie, konserviert als immerwährendes Licht. Sternenglanz nennen die Heiler es. Ein sehr netter Weg zu sagen, dass es sich nicht lohnt, einen Grabstein zu kaufen, weil keines dieser Kinder je seinen ersten Atemzug tun durfte.«

Minerva erstarrte, eine Hand auf ihr Brustbein gepresst. Auf einmal war ihr, als würden die Wände des kleinen Nähzimmers immer näher kommen. Sie bereute ihre Neugier, doch in Mulciber schien ein Damm gebrochen. Er sprach weiter, schneller uns schneller.

»Die Heiler wussten nicht, woran es lag, dass Mays Körper die Schwangerschaften nicht lange genug ... behalten konnte. Wir haben alle Ratschläge befolgt, May hat hunderte Tränke geschluckt, aber es hat nichts genutzt. Dabei wollte sie es so sehr. Sie hat all diese Sachen gestrickt, für jedes Kind von Neuem, und jedes Mal ...« Mulcibers Stimme brach. »Es war furchtbar, sie leiden zu sehen. Lieber wollte ich kein Kind, als immer wieder dieses Gefühl zu durchleben. Und dann kam er. Frisch von einer Forschungsreise durch den Osten und hat mir von wilder Magie erzählt. Von einer Chance für jemanden wie May, über die Natur zu triumphieren und endlich Mutter zu werden.«

Eine Träne rollte Mulcibers Wange hinab, aber selbst jetzt war Minerva unfähig, sich zu regen. Dabei wollte sie ihn trösten, zumindest irgendetwas tun, um diese Gefühle zu lindern. Sie wusste nur nicht wie.

»Ich habe sein Angebot zunächst abgelehnt«, fuhr Mulciber mit erstickter Stimme fort. »May sollte damit nichts zu tun haben. Sie ... wusste nie die ganze Wahrheit über mich. Und das war gut so. Aber irgendwann ... bin ich schwach geworden. Es lief sogar gut; zu gut. May ist tatsächlich erneut schwanger geworden und schließlich ist Aiden zur Welt gekommen, gesund und kräftig.«

Besorgt drückte Minerva die Hand fester auf ihre Brust. Das ‚Aber‘ in Mulcibers Worten stand förmlich in der Luft geschrieben.

»Wir waren so glücklich. Bis die Probleme angefangen haben. Sechs Wochen nach der Geburt hat May das erste Mal Blut gehustet. Und dann ging es ihr rasant schlechter. Manche Symptome konnten die Heiler eindämmen, aber ... die Magie brachte sie langsam um, jeden Tag ein wenig mehr. Eine unvorhersehbare Komplikation, so hat er es genannt.« Alston lachte kratzig auf. »Aber er war ehrgeizig. Wollte unbedingt eine Lösung finden. Tagelang haben wir uns eingeschlossen und versucht, zu begreifen, was wir falsch gemacht haben. Vergeblich. Am Ende hat May zwei Jahre lang gekämpft und trotzdem verloren.«

»Oh Gott ...« Minerva griff sich an den Hals, doch der Kloß wollte nicht weichen. »Ich hatte keine Ahnung –«

»Natürlich nicht. Ich gehe schließlich nicht damit hausieren, dass ich meine Frau mit schwarzer Magie umgebracht habe. Für einen Erben. Für ein Kind, das schon von Geburt an dem Dunklen Lord verpflichtet ist. Weil er nie etwas ohne Hintergedanken tut. Was meinst du, warum ihm Lestranges Fluch so gefällt? Er würde diese Sache zu gerne noch vertiefen.«

Für einen Augenblick fürchtete Minerva, Alston könne den Zauberstab gegen sich selber richten, so bitter wurde seine Stimme. Doch er stieß ihn nur an die oberste Schublade der Kommode und mit einem Klicken sprang sie auf. Heraus zog er ein ordentlich gefaltetes Pergament.

»Jetzt weißt du Bescheid«, stellte er heiser fest. »Und bitte, tu mir den Gefallen – verschone mich mit deinem Mitleid. Wir haben Besseres zu tun. Das hier sind meine Unterlagen. Vom Wohnzimmerkamin haben wir direkten Anschluss in mein Büro, das dürfte uns einen Vorteil verschaffen. Von dort hast du es nicht weit, um das Aurorenbüro zu informieren.«

Überfordert blinzelte Minerva. »... Aber – was ist mit dir?«

»Jeder muss seine Rolle spielen. Und ich ... ich werde versuchen, das Beste daraus zu machen.« Alston rieb sich den linken Unterarm. »Ich beunruhige dich nur ungern, aber ... er ruft uns zusammen.«

»Doch nicht etwa ... mit dem Mal?«

Er nickte. »Ich fürchte, es ist so weit.« Ähnlich ungeduldig, wie sie Andromeda Black Rowles Zauberstab entgegengestreckt hatte, hielt er ihr das Pergament entgegen. »Gehen wir.«

 

Der Weg ins Ministerium kam Minerva vor wie ein Fiebertraum. Nicht nur eine ganze Reihe an Kaminen wirbelte dank des Flohpulvers an ihr vorbei, sondern bereits der Weg durch Alstons Wohnung war eigenartig verschwommen. Sie sah nur noch ihr Ziel vor sich. Die Aurorenzentrale. Elphinstone. Immer wieder Elphinstone.

Ihre Augen hatten keine Chance, sich an die Dunkelheit in Alstons Büro zu gewöhnen, so schnell verließen sie beide es, nachdem die direkte Kaminverbindung sie dort ausspuckte. Erst draußen auf dem Flur hielten sie wieder inne, eine Armlänge zwischen sich und in entgegengesetzte Richtungen gewandt.

»Also ... viel Erfolg«, sagte Alston leise.

Minerva schluckte. Dann, bevor sie es sich anders überlegen konnte, drehte sie sich noch einmal um und schlang die Arme um ihn. »Danke. Für alles. Das meine ich wirklich so. Was immer heute noch passiert – Elphinstone und ich sind deine Freunde. Vergiss das bitte nicht.«

Die letzte Linie

Das nächtliche Ministerium war still, beinahe so still wie nach den Ausschreitungen im Atrium nur wenige Tage zuvor. Zu still. Minerva entsann sich gut, wie ihr Vater schon vor Jahren geklagt hatte, dass Hexen und Zauberern nichts heilig war – nicht einmal der Sonntag. Was stimmte. Wie viele schummrige Stunden hatte sie in ihrer Zeit hier mit endlosen Pergamentrollen, literweise schwarzem Tee und Miss Cuddles Annäherungsversuchen verbracht?

Und mit Elphinstone. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Zwischen Notfalldiensten und Vorbereitungen für Gamotssitzungen hatte sich ihre Freundschaft überhaupt erst entsponnen. Eines Nachts war ihr eine Bemerkung über das hübsche marmorne Schachbrett in seinem Büro entschlüpft und wie sehr sie einen würdigen Gegner in London vermisste. Zur Antwort hatte Elphinstone sie mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen aufgefordert, ihre eigenen Figuren zu holen.

Irgendwo zwischen Brust und Bauch loderten Flammen alter Scham in Minerva auf. Nicht einmal vierzig Züge hatte Elphinstone gebraucht, ihr den Wunsch nach einer Herausforderung zu erfüllen, indem er sie gnadenlos matt setzte. Auf dem Schachbrett bewies sich ihr zum ersten Mal der Slytherin in ihm. Doch von da an waren diese Schichten schnell zu ihren liebsten geworden, denn nichts befeuerte ihre Entschlossenheit mehr als der Triumph in den Augen ihres Gegenübers.

Stundenlang hatten sie sich in jenen Nächten gegenseitig ausgespielt – und waren ganz nebenbei ins Plaudern gekommen. Anfangs vor allem über die geteilte Sehnsucht nach ihrer fernen Heimat, doch irgendwann waren die Gespräche persönlicher geworden. Und vielleicht, gestand Minerva sich ein, hatte sie Elphinstone schon damals etwas zu gerne gemocht für einen bloßen Vorgesetzten.

Aber das war im Moment nicht der Punkt, sondern dass sie nie alleine im Ministerium gewesen war. Irgendwer arbeitete immer, egal in welcher Abteilung; egal an welchem Wochentag. Selbst wenn es inzwischen weit nach Mitternacht und somit schon Samstag war, sollten mindestens einige Memos wie Motten durch die Flure schweben. Doch die Deckenlampen waren auf ein Minimum gedimmt, alle Büros entlang ihres Weges verwaist und abgesehen von ihrem eigenen Atem hörte Minerva nicht einmal das Husten eines Doxy. Selbst in ihrer Animagusform nicht, das hatte sie ausprobiert, bevor sie sich für zwei Beine und einen gezückten Zauberstab entschieden hatte.

Es kam ihr vor, als wäre es Wochen – wenn nicht gar Monate – her, dass sie auf vier Pfoten durch ebenso beunruhigende Stille geschlichen war, um in die Flohnetzwerkzentrale einzubrechen. Wie naiv sie doch an die Sache herangegangen war ... Und wie viel seither geschehen war. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass aus der Suche nach dem verschwundenen Jonathan plötzlich ein Kampf um das Zaubereiministerium werden würde. Doch hier stand sie erneut, ihre Sorgen größer als je zuvor, das Schweigen schwer auf ihren Schultern.

Für einige Sekunden horchte sie in die Dunkelheit, bevor sie auf bloßen Strümpfen weiter den Gang entlanglief, der von den Büros der Strafverfolger gesäumt wurde. Ihre Schuhe war sie gleich nach ein paar Schritten losgeworden, da diese dem noblen Stil einer Reinblüterin alle Ehre machten und sie bloß behinderten. Auch den Umhang hatte sie an einem Schirmständer zurückgelassen. Nur das Pergament mit Voldemorts Plänen war kurzerhand im Ausschnitt ihres Blazers gelandet, damit sie die Hände frei hatte.

Während sie sich vorarbeitete, zielte sie mit dem Zauberstab in die Schatten. Für alle Fälle. Doch niemand erwartete sie, weder Freund noch Feind. Nicht hier und nicht hinter der nächsten Ecke. Auch nicht in Elphinstones Büro. Bis auf Miss Cuddles, die sich freudig um ihren Unterarm schlang, war der Raum leer.

Ein Seufzen erfüllte Minervas Brust, aber sie erlaubte sich nicht, innezuhalten. Stattdessen tätschelte sie die Teufelsschlinge kurz und kehrte auf dem Absatz um. Zum Glück war das Aurorenbüro nicht weit. Selbst wenn die Welt unterging – wenigstens das musste besetzt sein. So sahen es die Regeln vor: Mindestens ein Strafverfolger nebst Unterstützung sowie ein Dreiergespann Auroren hatten rund um die Uhr im Ministerium auf Abruf bereitzustehen. Also war Elphinstone sicherlich bei den Unglücklichen, die heute Nachtschicht schoben.

Alleine die Aussicht beflügelte Minervas Schritte. Die Gewissheit ihrer Liebe füreinander war das Licht in der Dunkelheit der letzten Tage gewesen und es leitete sie auch jetzt. Einem Schnatz gleich schoss sie durch das offene Gemeinschaftsbüro, in dem sie einst gearbeitet hatte. Den Weg kannte sie auswendig, sodass sie nur innehielt, um alle paar Meter einen Homenum-Revelio-Zauber vorauszuschicken. Auf weitere Überraschungen verzichtete sie liebend gerne.

Dreimal verkündete das weiße Licht ihres Zauberstabs, dass sie alleine war, und zweimal behielt es recht. Erst beim dritten Mal überraschten sie Stimmen, gerade als sie in den Verbindungskorridor von der Strafverfolgungsabteilung zur Aurorenzentrale einbog. Zu spät begriff sie ihren Fehler. Es waren keine Menschen, die dort leise zischend miteinander sprachen. Die harsch anmutenden Worte waren unverkennbar Koboldgack.

Instinktiv drückte Minerva sich gegen eine Wand. Was taten Kobolde hier? Ausgerechnet in der gegenwärtigen Situation? Die ließen sich schließlich auch sonst nicht blicken, so wenig hielten sie von der menschlichen Zauberregierung! Der einzige Kobold im Ministerium war aus Gold und zierte den Brunnen der magischen Geschwister im Atrium.

Doch die Sprecher – mindestens drei an der Zahl – hörten sich äußerst echt an; mehr noch, sie klangen aufgebracht. So viel begriff Minerva, auch wenn sie mangels Sprachkenntnissen nicht verstand, worüber sie sprachen. Es bestand zumindest die Möglichkeit, dass es nur ums Wetter ging. Eines war jedoch klar: Sie näherten sich rasch ihrer Position.

Verstecken war auf offenem Flur keine erfolgversprechende Option, also sah sie sich nach einer Chance um, eventuelle Angriffe abzuwehren. Vielleicht konnte sie den abgenutzten Teppich verwandeln ... Entschlossen straffte sie die Schultern und hob den Zauberstab. Gerade rechtzeitig, denn schon traten die Kobolde um die Ecke. Es waren sogar vier und allesamt trugen sie die Uniform von Gringotts.

Bevor einer von ihnen Minerva im Halbdunkel entdeckte, wirkte sie einen Lichtzauber und trat vor. »Guten Abend«, sagte sie nachdrücklich, damit ja keine Zweifel an ihrer Intention aufkamen.

Die Kobolde blieben auf der Stelle stehen, ihre Augen misstrauisch zusammengekniffen. Dem Vordersten entfuhr ein scharf gezischtes Wort, das selbst für Koboldgack unfreundlich klang. Sicher ein Schimpfwort, denn genau in diesem Moment erkannte Minerva ihrerseits das faltige Gesicht hinter der Drahtbrille wieder. Es war derselbe Kobold, den sie auf ihrem Weg zu Robbies Rettung mit dem Imperius belegt hatte. Und direkt neben ihm war der Nachtwächter Granduk, den Pippa verflucht hatte.

»Aha!«, rief Minervas Imperius-Opfer anklagend aus. »Deshalb findet man also den lieben langen Tag keine Zeit, uns Gehör zu schenken. Einmal mehr bevorzugt man die Aussage eines Menschen! Wahrscheinlich durfte sie längst ihre Verteidigung vortragen, während man uns sagt, dass der zuständige Ansprechpartner gerade verhindert sei!«

»Ich habe es dir gesagt, Arrnd.« Die schmalen Lippen Granduks verzogen sich, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Zauberer und Hexen sind sich selber immer noch am nächsten. Als wenn es sie interessiert, wenn die Ihren schwarze Magie gegen uns einsetzen. Es war ein Fehler, auch nur einen Menschen auszubil-«

»Ja ja, Menschen sind Monster, besonders die magisch Begabten«, schnappte Minerva dazwischen. »Ich weiß! Und genau deswegen haben wir jetzt keine Zeit für diese Auseinandersetzung! Wo ist das Nachtpersonal? Die Auroren?«

»Oh, sieh einer an, du willst uns also mal wieder herumkommandieren!« Langsam entblößte Granduk eine Reihe nadelscharfer Zähne. »Erheiternd. Wenn Recht und Ordnung uns nicht schützen, warum vertrauen deinesgleichen eigentlich darauf, dass wir uns trotzdem an eure Maßstäbe halten?«

Ruckartig senkte Minerva den Zauberstab. »Drohungen? Wirklich? Und ich dachte, ihr wollt eure moralische Überlegenheit zelebrieren.« Sie schüttelte den Kopf. »Noch mehr Gewalt wird unsere Völker nie zusammenbringen. Und wo wir beim Thema Gewalt sind – schon bald werden wir alle es bereuen, hier rumzustehen und eine gemütliche Teestunde abzuhalten –«

»Warum sollte dem so sein?« Der Kobold namens Arrnd legte den Kopf schief.

Minerva konnte unmöglich sagen, was hinter seinen dunklen Augen vorging. Es half auch kein Stück, dass beim Sprechen seine rasiermesserscharfen Zähne im Schein ihres Lichtzaubers aufblitzten. Sie setzte zu einer Erklärung an, wurde allerdings von einem leisen »Tss« gleich wieder unterbrochen.

Scheinbar gelangweilt hob Granduk eine Hand und betrachtete seine langen Finger. Der Nachtwächter rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Du forderst keine Gewalt mehr – aber sag, was wird es uns Kobolden denn bringen, weiter das Haupt untenzuhalten, hm? Ach ich weiß – nichts. Absolut nichts.«

Abwehrend hob Minerva die Hände. Sie schüttelte den Kopf, doch in ihrem Mund herrschte Dürre. Egal wie berechtigt Granduks Frust sein mochte – ihr blieb keine Zeit! Bei dem Gedanken zog ein Kribbeln durch ihren Arm, angefangen vom Zauberstab und durch die Fingerspitzen auf dem Holz. Es wäre so einfach ... die Magie flüsterte ihr Mut zu, sie könnte es erneut schaffen; nur ein Schwung und ihre Sorgen würden verschwinden. Die Situation rechtfertigte es doch!

Unter dem starren Blick der Kobolde atmete Minerva tief durch und drehte den Stab so, dass er nicht länger auf die Vier zielte. »Ich weiß, dass nichts meinen Einsatz des Imperius-Fluches entschuldigen kann. So viel habe ich heute am eigenen Leib erfahren. Einen fremden Willen aufgezwungen zu bekommen ist so ... so ...« Ihr fielen hundert Worte ein, von denen trotzdem keines zu ihren Erfahrungen passte. Rosiers Kontrolle war nicht einfach nur widerwärtig, schmerzhaft, zerreißend, fürchterlich, verletzend gewesen –

»Pah!« Einer der unbekannten Kobolde stieß ein Lachen aus. »Entschuldige, dass sich unser Mitleid in Grenzen hält.«

»Ein Glück, dass ich mich bereits ausreichend selbst bemitleide«, erwiderte sie und für eine Sekunde war ihr, als würde sie Alston in der Ferne lachen hören. »Selbstverständlich wollte ich nicht auf Mitgefühl hinaus!«, fügte sie an. »Es geht mir viel mehr darum, dass ich nicht eure Feindin sein muss oder gar sein will. Stattdessen sollten wir uns gemeinsam gegen jene wenden, die uns überhaupt erst in diese Situation gezwungen haben. Oder wollt ihr euch etwa als Figuren auf dem Schachbrett dieser schwarzen Zauberer nutzen lassen – ganz freiwillig?«

Die Kobolde tauschten Blicke und leise gemurmelte Worte, bevor sie Minerva wieder finster ansahen. »Weshalb sollten wir irgendeinem Menschen in die Hände spielen?«, verlangte Arrnd schließlich zu wissen.

»Weil in den nächsten Minuten jene schwarzen Zauberer, die unter anderem auch in Gringotts eingebrochen sind, hier einfallen und das Ministerium unter ihre Kontrolle bringen werden, wenn ihr mich davon abhaltet, die Ministerin und alle anderen zu warnen!«

»Alle paar Jahrzehnte wieder dieselben Probleme, was?«

Täuschte Minerva sich oder glomm bei diesen Worten etwas Amüsiertes in Granduks tiefschwarzen Augen auf? Sie streckte das Kinn vor und verscheuchte den Gedanken. »Leider erweisen sich gewisse Teile der Menschheit als unfähig, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Die Frage ist doch, ob ihr dabei zusehen wollt, wie alte Zeiten zurückkehren. Denn wenn diese Zauberer bekommen, was sie wollen, wird einmal mehr nur noch reines, magisches Blut zählen.«

Arrnd stieß ein kleines Pfeifgeräusch aus, das vielleicht die Koboldversion eines Seufzens war. »Lord Voldemort und seine Anhänger schrecken also vor nichts zurück?« Er nickte langsam, ohne ihre Antwort abzuwarten. »In der Bank hat man schon lange spekuliert, ob es wohl einen Umbruch geben wird. Immerhin haben seine Leute unsere Eingangsstufen schon vor Monaten zu ihrer Bühne auserkoren. Aber ich gestehe, wir waren geneigt anzunehmen, dass es vor allem eine politische Schlammschlacht geben wird, mit der wir nichts zu tun haben wollten.« Er tauschte einen Blick mit seinen Begleitern.

Die zwei noch namenlosen Kobolde wiegten ebenfalls nachdenklich die Köpfe, doch Granduk schnalzte leise mit der Zunge. »Tja ...«, sagte er, »ich sehe das Problem ehrlich gesagt nicht. Auch in unseren Adern fließt reines, magisches Blut.« Er richtete einen gebogenen Fingernagel auf Minerva. »Womöglich reiner als das deine, behaupte ich. Und zumindest erwähnte Lord Voldemort etwas von Zauberstabprivilegien für alle Geschöpfe der edlen Magie ... im Gegensatz zu deiner Ministerin.«

Sie schnaubte. »Oh, ich bin mir sogar sicher, dass euer Blut magischer ist als meines. Mein Vater ist nämlich ein Muggel. Und ich würde sogar wetten, dass Lord Voldemort«, verächtlich spuckte sie den falschen Adelstitel aus, »euch alles verspricht, wonach ihr euch sehnt. Ich will nicht lügen – er wird euch diese Dinge auch geben. Eine Zeit lang. Solange könnt ihr euch daran weiden, wie sich Hexen und Zauberer gegenseitig zerfleischen. Und dann? Wem werden sich dieser Möchtegern-Lord und seine Anhänger zuwenden, wenn alles vorbei ist? Den Werwölfen? Gut. Und dann? Riesen? Trolle? Es gibt eh nicht mehr viele von denen. Also was dann? Zentauren? Wassermenschen? Veelas? Falsch. Über kurz oder lang wird es alle Zauberwesen treffen. Wieder und wieder und wieder. Und irgendwann wird keiner außer euch mehr übrig sein. Ratet mal, wer dann als größte Gefahr für die neue Zauberelite gilt. Am Ende verlieren alle – bis auf ihn.«

Wie gebannt sah Minerva auf Granduks dünne Finger, die dieser nachdenklich bewegte. Ein Funke hüpfte zwischen den langen Fingernägeln hin und her, doch vorerst blieb es dabei. Sie wandte die Aufmerksamkeit zu Arrnd und den beiden anderen Kobolden, die sich im Hintergrund hielten. Alle drei musterten diese sie unter zusammengezogenen Augenbrauen hervor.

»Ich verdiene euer Vertrauen nicht, das ist klar. Aber wollt ihr das wirklich? Euch von einem Zauberer abhängig machen für das bisschen, was er euch verspricht? Oder wollt ihr lieber alleine und dafür aufrechten Kopfes für eure Gleichberechtigung eintreten?« Mit einem ungeduldigen Kopfschütteln musterte sie ihr einstiges Fluchopfer. »Ich bitte dich erneut Arrnd – hilf mir und du hilfst der ganzen magischen Welt. Es wird nicht vergessen, auf welcher Seite die Kobolde standen, als es darauf ankam. Dafür sorge ich persönlich.«

Doch es war nicht Arrnd, der ihr antwortete. »Worte! Nichts als Worte!«, höhnte Granduk und seine Augen verdunkelten sich. Der nächste Funke, der über seine Finger sprang, war rot. »Worte haben noch nie einen Zauberer gebunden!« Er schüttelte Arrnds Hand von seinem Unterarm. »Wenn wir uns weigern, greifst du uns ja doch wieder an. Warum also nicht gleich? Wir wissen doch, wie es um deine Künste mit dem Imperius bestellt ist! Nur keine falsche Scheu, den Stab hältst du ja noch in der Hand!«

Minerva starrte auf die tanzende Koboldmagie. Da war wieder diese Verlockung, dem grantigen Nachtwächter zuvorzukommen ...

»Nein.« Demonstrativ senkte sie die Spitze ihres Zauberstabs und hielt ihn an zwei Fingern zur Seite. »Ich habe dazugelernt. Die Unschuldigen werde ich nicht noch einmal verfluchen. Aber ich werde auch nicht zulassen, dass andere wegen solchen Starrsinns leiden – oder sterben. Entscheide dich jetzt, aber mach mich nicht verantwortlich für die Folgen deiner Entscheidung.«

Ein zweiter und schließlich dritter Funke blitzten zwischen Granduks Fingernägeln auf. Ihr rotes Glimmen spiegelte sich in seinen schwarzen Augen, er verzog die Lippen –

»Nicht!«, herrschte Arrnd, gefolgt von einem Schwall Koboldgack. Im selben Atemzug sprang er vor und umklammerte Granduks erhobenen Arm.

Es fiel Minerva unendlich schwer, nicht ihren Zauberstab zu erheben. Noch nicht.

»Sie mag eine Striǰnicá sein, aber es liegt Wahrheit in ihren Worten –«

Arrnds Beschwichtigung kam zu spät. Granduk schnippte und die roten Funken zwischen seinen Fingern verbanden sich zu einer Art gleißendem Speer. Begleitet von dem Zischen eines ganzen Schwarms wütender Billywigs raste das Ding durch die Luft – auf Minerva zu.

Sie hatte Koboldmagie nie zuvor in Aktion gesehen, doch die aufgerissenen Augen Arrnds sprachen Bände. Anstatt ihre Gedanken an den Protego zu verschwenden, warf sie sich mit einem Hechtsprung zur Seite. Den Zauberstab an die Brust gedrückt, traf sie unsanft auf den abgetretenen Teppich. Doch der brennende Kontakt mit den rauen Fasern war genauso egal wie das Loch, welches sie in ihre Strumpfhose riss. Auf einem Knie, beide Hände am Boden, beobachtete sie, wie das Lichtgeschoss am Ende des Flurs in die Wand einschlug. Einen Augenblick geschah nichts, dann zogen sich hunderte Sprünge durch den Putz und in einem lauten Krachen verwandelten sich Stein und Holz in weißen Staub.

Die Kobolde riefen wild durcheinander, auf Englisch wie Koboldgack. »Gŏrpák!« schallte es von links und »Willst du etwa im Arbeitslager enden?« von rechts. Mittendrin stand Granduk und verwob noch mehr pure Magie zwischen den Fingern. »Ihr Źbabcéks!«, fauchte er, »ich werde mir nur nehmen, was uns nach Koboldrecht zusteht!«

Voller Zorn bemerkte er gar nicht, dass seine Füße plötzlich tiefer in den Boden sackten. Grimmige Zufriedenheit breitete sich in Minerva aus. Oh, was war sie dankbar, dass Granduk ihr die Wahl abgenommen und zuerst angegriffen hatte.

»Da wirst du auf einen anderen Tag warten müssen!«, rief sie und zielte auf den Morast, in den sie den Teppich zu seinen Füßen verwandelt hatte.

Während die übrigen Kobolde eigene Beschwörungen murmelten, um ihren wütenden Kollegen zurückzuhalten, schoss ein kräftiger Tentakel – zu Ehren von Miss Cuddles – aus dem Sumpfboden hervor.

»Arrnd, du Verräter!«, brüllte Granduk und Minerva wischte den Zauberstab nach links.

Watsch. Die heraufbeschworene Ranke klatschte dem Kobold ins Gesicht, sodass der Rest seiner Rede zu einem dumpfen »Mppfff!« verklang. Seine Finger zuckten zwar noch, doch die purpurnen Magiefäden dazwischen verblassten, je fester sich die falsche Teufelsschlinge um ihn wickelte.

Minerva sah Arrnd an und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Das entlockte ihm einen kehligen Laut, bei dem er seine Zahnreihen entblößte. Wohl die Koboldversion eines Lachens –

»Impedimenta!«

Der plötzliche Ruf ließ alle Köpfe herumfahren und gerade rechtzeitig riss Minerva doch noch einen Protego-Zauber empor. Der blassblaue Magieschild vibrierte unter der Wucht des Einschlags. Auf der anderen Seite der Barriere hob die Angreiferin erneut den Zauberstab.

»Nicht, Pippa!«

»Was soll das heißen?« Die Aurorin trat aus dem Quergang zu ihrer Zentrale, den Stab angriffsbereit auf Arrnd gerichtet, dessen Hände vor Magie glühten. Sie trug nur ein spitzenbesetztes Nachthemd unter dem offenen Ministeriumsumhang und pinke Lockenwickler zierten ihre Haare. »Bei Merlin, Minerva!«, fluchte sie. »Dir ist klar, dass der hier gerade im Begriff war, dir irgendwas aufzuhalsen?«

»Nein, denn du liegst falsch.« Minerva richtete sich auf, den Blick fest auf Arrnd gehaftet, wie sie es sonst im Unterricht bei einem besonders aufmüpfigen Schüler tun würde, der seinem Sitznachbarn echte Hasenohren verpasst hatte. »Richtig?«

Der Kobold zog eine Augenbraue hoch, gefolgt von seinen Mundwinkeln. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, neigte er den Kopf in ihre Richtung, dann in Pippas. »Mein Stolz verbietet es mir zu eurem Glück, derart niedere Mittel zu erwägen.«

Pippa verengte die Augen. »Dass ich nicht lache«, erwiderte sie lapidar. »Dein Kollege hat es doch auch getan – ich sollte euch alle wieder verhex-«

»Senk den Zauberstab«, unterbrach Minerva sie, den eigenen Stab auf ihre einstige Kollegin gerichtet. »Und sag mir lieber, wo Phin ist!«

»Ah wer ...?« Mit gekräuselter Stirn musterte Pippa sie, während ihre Hand langsam gen Boden sank. »Oh! Elphinstone meinst du! Er ist nicht mehr hier –«

»Was? Wo ist er?«

Die Verwirrung auf Pippas Zügen verstärkte sich. »Na in der Winkelgasse! Er hat mir selber die Nachricht geschickt. Ich dachte, darum geht es hier. Ich meine, die kleinen Biester –« Ihr Zauberstab ruckte wieder in Richtung Arrnd. »Deswegen sind die doch hier, nicht? Um sich zu beschweren, wie es vor ihrer geliebten Bank aussieht.«

»Oh nein ...« Minerva unterdrückte einen Fluch. Das war nicht Teil des Plans gewesen, in den Alston sie eingeweiht hatte. »Sag mir nicht, dass alle aus der Strafverfolgung in der Winkelgasse sind. Bitte.«

»Die Reinblüter rotten sich dort zusammen! Läden werden überfallen, jemand greift vor dem Tropfenden Kessel willkürlich Muggel an ... Natürlich sind alle da!« Pippa bedachte sie mit einem kleinen Kopfschütteln. »Ich bin auch nur auf der Durchreise dahin. Wenn euer Lärm nicht gewesen wäre –«

»Du kannst da nicht hin!«, rief Minerva. »Das ist nur Ablenkung! Ihr eigentliches Ziel heute Nacht ist die Übernahme des Ministeriums!«

»Oh bei Merlins hässlichstem Liebestöter, wovon redest du da?« Pippa betrachtete Minervas bestrumpfte Füße mit erhobenen Augenbrauen. »Was ist überhaupt mit dir passiert? Wo warst du?«

»Das ist eine zu lange Geschichte. Wichtig ist nur, dass wir im Ministerium bleiben und die Kamine verschließen. Sofort.«

Sowohl Pippa als auch die Gringottswärter rund um Arrnd starrten sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Aber die Winkelgasse brennt!«, sagte Pippa noch einmal verzweifelt und fing sich damit das besorgte Zischen dreier Kobolde ein. Selbst Granduk gab unter seinem Teufelsschlingen-Knebel ein panisches »Hrmpf« von sich.

Minerva rieb sich die Stirn, eine Hand auf das knisternde Pergament in ihrem Ausschnitt gepresst. »Das wird das Ministerium auch bald, Pippa, glaub mir. Wo ist die Ministerin?«

»Mrs Jenkins ist in ihrem Büro, so weit ich weiß. Sie hat einige ihrer Abteilungsleiter versammelt, um eine Notfallsitzung abzuhalten, wegen irgendwelcher Dinge, die mit Elphinstones Schwester zu tun haben – ich habe es ehrlich gesagt nicht verstanden ...« Einen Wimpernschlag lang schwieg Pippa, dann riss sie die Augen auf. »Oh. Sie sind ... alleine. Oh. Oh. Drachenmist!«

»Dann lass uns beten, dass wir schnell genug sind.« Mit einem Schlenker ihres Zauberstabs löste Minerva die heraufbeschworene Teufelsschlinge auf. Sie sah, wie Granduk prüfend seine Gliedmaßen betastete, die Finger dehnte und streckte – »Geh«, sagte sie. »Tu, was du für dein Volk tun musst, und ich werde es ebenso halten.« Sie sah Arrnd und die anderen an, deren Namen sie noch immer nicht kannte. »Ihr alle, los!«

Granduk hob die Hand und sie zuckte unwillkürlich zusammen, doch der Kobold legte nur den Kopf schief und sah geradewegs an ihr vorbei. »Das bedeutet nicht, dass irgendetwas vergessen oder gar vergeben ist«, schnarrte er, dann schnippte er und war verschwunden, obwohl es Apparierbanne gab.

Einer seiner Kollegen sah kurz auf den Fleck Teppich, der bis eben Morast gewesen war, dann zuckte er mit den Schultern. »Einer muss ja auf ihn acht geben.« Noch ein Schnippen und er verschwand ebenfalls.

Arrnd allerdings blieb. »Fliehen?«, sagte er und schüttelte im gleichen Atemzug den Kopf. »Nicht, wenn wir auch hier noch etwas für unser Volk tun können. Es gibt hunderte Kobolde in Gringotts, aber nur noch zwei hier.«

»Also schön. Hier lang!«

 

Der erste und oberste Stock mit der Ministeriumszentrale war längst nicht so verlassen wie das Stockwerk der Strafverfolgung darunter. Hier schwirrten tatsächlich Memos um die Lampen und ein paar versprengte Angestellte sortierten hektisch riesige Aktenstapel. Als Minerva und ihr Gefolge die Treppe empor stürmten, quiekten einige von ihnen erschrocken auf, doch Pippa hielt ihre Aurorenmarke in die Luft, bevor irgendjemand etwas sagen konnte.

»Wir haben einen Code Aschwinderin!«, rief sie mit magisch verstärkter Stimme. »Lassen Sie liegen, was immer Sie gerade tun; ich wiederhole, Code Aschwinderin ist eingetreten!«

Kollektives Keuchen. Einige der Anwesenden tauschten fragende Blicke, offenbar unsicher, was sie mit dieser Information anfangen sollten – und aus dem Büro der Ministerin, dessen Flügeltüren weit offenstanden, drang ein herzhafter Fluch, der sogar Pippa zusammenfahren ließ. Keine Sekunde später stand Eugenia Jenkins höchstpersönlich im Vorraum, Hände in die Hüften gestemmt. Hinter ihr folgten – in einigem Abstand – die Leiter der Ministeriumsabteilungen sowie eine Hauselfe in cremefarbener Toga.

Die Zaubereiministerin war eine kleine Hexe, aber das tat ihrer Erscheinung keinen Abbruch. Alles an ihr sprach von Schlichtheit, Effizienz – und Wut. Mehr noch als bei ihrem Abbild aus dem Heuler traten die müden Schatten auf ihrer braunen Haut zutage und konnten doch das Feuer in ihren Augen nicht dämpfen.

»Miss Jansson – Minerva!« Irritiert sprang ihr Blick zu den beiden Kobolden. »Werte Vertreter von Gringotts ... Was hat dieser Auftritt zu bedeuten? Code Aschwinderin – das ... Eindringlinge im Ministerium? Jetzt? Es hieß, dass der Umsturz am Tag der Wintersonnenwende stattfinden solle ... Und dann erreichten uns die Nachrichten aus der Winkelgasse –«

»Nun, Pläne ändern sich, auch wenn Elladora das nicht ahnen konnte, als sie Elphinstone mit ihrer Erinnerung losschickte«, erwiderte Minerva barsch. Sie brachte es nicht über sich, zu sagen, dass Elladora inzwischen mit dem Leben für ihre Tat bezahlt hatte. »Und damit guten Abend, Eugenia. Du erinnerst dich noch an unseren Briefwechsel neulich?«

»Ja?« Die Ministerin verschränkte die Arme.

»Du kannst von Glück sprechen, dass ich die Entführung nicht der Muggelpolizei überlassen habe. Sonst wären Elphinstone und ich wohl nie rechtzeitig über diese Verschwörung gestolpert. Aber so haben wir einen entscheidenden Vorteil – wir wissen, wo genau unsere Feinde zuschlagen werden.«

Ein Raunen glitt durch die Menge und Eugenia schluckte sichtbar. Doch Minerva überging das, indem sie so knapp wie möglich die Bedrohung durch Voldemort schilderte. Das Gemurmel wuchs noch an, als sie schlussendlich Alstons Pergament aus dem Blazer zog und auf einen vollgestellten Schreibtisch klatschte.

»Woher stammen diese Informationen?«, fragte jemand halblaut.

»Und was ist das für ein Pergament?«

»Stammt das etwa direkt von den Aufständigen?«

»Aber wie?«

Alle reckten den Kopf, um einen Blick auf die Infiltrationspläne zu erhaschen, die Minerva nun neben leeren Teetassen und alten Federkielen entfaltete. Auch Pippa und die Kobolde näherten sich neugierig. Selbst die Ministeriumselfe riss die tennisballgroßen Augen auf.

Für einen Wimpernschlag hielt Minerva mitten in der Bewegung inne, dann stupste sie die Handschrift auf dem Pergament mit dem Zauberstab an. Sie wusste nicht weshalb, doch bevor sie darüber nachdenken konnte, verwandelten sich Alstons gedrängte Notizen bereits in ordentliche Druckbuchstaben. Als wollte sie lediglich ein paar Staubkörner fortwischen, fuhr sie erneut über die Tinte und sah auch die letzten Hinweise auf den Urheber verblassen.

»Gemineo«, sagte sie schließlich laut. Anstatt zahlreiche Dupliken hervorzubringen, glühte das Pergament allerdings bloß rot auf. Sie stöhnte und sah zu den Umstehenden auf. »Na kommen Sie schon näher ran! Sie müssen das hier sehen.«

Pippa ließ sich das nicht zweimal sagen. Mit einem leisen Pfeifen sog sie die Luft zwischen den Zähnen ein, angesichts der detaillierten Zeichnungen von Ministeriumsfluren und kompromittierten Kaminen. »Da kennt sich aber jemand verdammt gut aus.«

»Zu gut«, fluchte Eugenia und warf einen besorgten Blick in die Runde, als suche sie den Verräter.

»Ja«, erwiderte Minerva. »Es ... gibt Maulwürfe im Ministerium. Aber das ist jetzt egal. Wichtiger ist, dass wir den Eindringlingen zuvorkommen.«

»Richtig.« Trotz ihrer geringen Körpergröße schien Pippa über Minerva hinauszuwachsen, sobald sie einmal die Schultern straffte und sich nach einem Blickaustausch mit der Ministerin an die übrigen Angestellten wandte. »Haben Sie gehört? Wir sind die letzte Verteidigungslinie! Die magische Bevölkerung braucht Ihre Hilfe.« Sie lächelte den umstehenden Büroangestellten aufmunternd zu. »Also nutzen wir unsere Panik, um uns zu beeilen und die Kamine zu verschließen!«

Eugenia nickte bestätigend. »Wir gehen alle gemeinsam, Ebene für Ebene«, beschied sie. »Die erfahreneren Kollegen zuerst, die Jüngeren in der Nachhut. Miss Jansson und –« Sie warf Minerva einen Blick zu, den diese mit einem ungeduldigen Schlenker ihres Zauberstabs quittierte – »Professor McGonagall übernehmen zusammen mit mir die Führung.«

»Aber ... was ist, wenn diese ... wenn sie von hinten angreifen?«, rief ein jüngerer Angestellter aufgebracht. »Ich bin doch kein Auror! Ich habe nicht mal einen ZAG in Verteidigung gegen die dunklen Künste –«

»Einer von uns geht gerne mit Ihnen«, erklärte Arrnd grimmig und wies auf sich und seinen Kollegen.

»Und mit Koboldmagie will man sich schließlich nicht anlegen.« Minerva nickte dem Zauberer zu, der sichtlich schwitzte. »Sie schaffen das, Mr Llewyn. Immerhin erinnere ich Sie als äußersten kreativen Ravenclaw. Da fällt Ihnen bestimmt etwas ein, wie Sie sich notfalls Ihr Talent für Verwandlungen oder Zauberkunst zunutze machen können.«

Vom Hals aufwärts kroch ihrem ehemaligen Schüler die Röte ins Gesicht. »Oh Merlin, Sie erinnern sich ...« Sein Blick zuckte zu den Kobolden und dann streckte er sich plötzlich, als sei er wieder ein Vertrauensschüler, der auf Patrouille geschickt wurde. »Verlassen Sie sich auf mich!«

Obwohl Mr Llewyn bei Weitem der Jüngste seiner Kollegen war, folgten diese nach einer Schrecksekunde seinem Beispiel und zückten ebenfalls die Stäbe, gefolgt von den Abteilungsleitern hinter der Ministerin. In einer Reihe standen sie da, ältere Hexen in feinen Kostümen und zitternde Auszubildende, die noch Akten umklammerten, genauso wie Zauberer, die schon seit Jahren nichts außer Dokumentenstapeln verzauberten. Und mit einem Blick auf die die beiden Kobolde ballte sogar Eugenias Elfengehilfin entschlossen die knochigen Fäuste.

Für einen Moment schloss die Zaubereiministerin die Augen und ein schweres Seufzen schien auf ihren Lippen zu liegen, doch dann versiegelte sie auf einen Schwenk des Zauberstabs die Türen ihres Büros. »Ich danke Ihnen für die Unterstützung. Aber bitte bleiben Sie hinter mir. Diese Leute wollen mich mich, also werden sie sich mir als Erstes stellen müssen.« Mit diesen Worten schnappte sie sich Alstons Pergament und marschierte voran ins Ungewisse.

Koboldgambit

»Signum.«

Ein letztes Mal schwang Minerva den Zauberstab im Kreis, bevor sie ihn ruckartig gen Boden stieß. Die Luft vor ihr glühte rot auf, als die soeben gezeichnete Siegelrune mit dem Kamingitter verschmolz. Ein Knirschen – ähnlich dem von Stein auf Stein – bestätigte, dass ihre Arbeit getan war.

Sie atmete aus und ihre Schultern sanken ein Stück herab. Doch sie hielt nicht an, um ihr Werk länger zu betrachten. Mit wenigen Schritten war sie aus dem Büro zurück auf dem Gang. »Wie viele noch?«, fragte sie Eugenia Jenkins, die ihrerseits gerade den gigantischen Kamin der Tierwesenbehörde versiegelte.

»Auf dieser Ebene? Nur noch Miss Janssons.«

Die Ministerin seufzte und trat einen Schritt von der überlebensgroßen Wandöffnung zurück, die wie ein aufgerissenes Drachenmaul vor ihnen lauerte. Irgendwann in früheren Zeiten waren tatsächlich Drachen und andere, gefährliche Tierwesen hier durch in ihre neu eingerichteten Reservate geschleust worden. Heute erinnerten nur noch tiefe Scharten im Stein daran.

»Testest du meinen Zauber?« Eugenia sah Minerva nicht direkt an, doch ihr Tonfall machte deutlich, dass sie ihrer eigenen Kraft nicht traute.

An der Versiegelung gab es allerdings nichts zu beanstanden. Ein einfacher Incendio-Zauber, der sofort zu Rauch verpuffte, bewies, dass sich im Kamin kein Feuer mehr entzünden ließ und somit niemand von außen hineinflohen konnte. Trotzdem löste Eugenia nur langsam den Blick von der Feuerstelle.

»Stell dir nur vor, sie würden wirklich hier durchkommen«, murmelte sie und rang ihre Hände. »Da passen doch mindestens zwanzig Mann auf einmal rein. Das sind fast mehr, als wir Leute zählen. Und ich Idiotin habe wirklich geglaubt, mit diesen Reinblütern verhandeln zu können. Und jetzt bin ich Schuld an so viel ... Leid.« Blinzelnd starrte sie auf die rußbefleckte Innenseite des steinernen Kaminschlunds. »Ich – ich habe mich noch nie so ... so geschämt, seit ich Ministerin geworden bin.«

»Nun ...« Minerva sah auf ihren Zauberstab hinab, den sie immer wieder ungeduldig in ihre eigene Handfläche stach. »Albus würde sagen, dass es für jeden Fehler auch die Möglichkeit gibt, ihn durch Taten zu sühnen, solange man nur aufrichtig bereut. Nichts anderes tust du gerade.«

Ein Zittern bewegte Eugenias Lippen. »Und trotzdem habe ich Angst.« Sie starrte zu den in Stein gemeißelten Drachen hinauf, die den Kamin rahmten, und Minerva meinte, ihre Wimpern glitzern zu sehen. »Ich bin so feige, ich will um keinen Preis ... sterben«, hauchte die Ministerin leise. »Auch wenn es wohl einfacher – und heldenhafter – wäre, als mit den Folgen dieses Tages – ach was, meines ganzen Handelns in den letzten Monaten! – zu leben. Alles in mir schreit danach, in einen Kamin zu springen und zu verschwinden. Wenn du und die anderen nicht wären ...«

Einen Moment lang starrte Minerva sie stumm an, ehe sie zum Glück ihrer – möglicherweise sehr direkten – Antwort entbunden wurde, denn Pippa trat gefolgt von Arrnd in die Tierwesenbehörde. Es dauerte keine zehn Sekunden, da fing auch Eugenia sich wieder. Mit einem letzten, bebenden Atemzug wandte sie dem wohl größten Kamin Londons den Rücken zu.

»Fertig?«, fragte sie energisch.

Pippa nickte und so eilten sie wieder zur Treppe, einen Stock hinab. Schnelle Aufspürzauber zeigten, dass die Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit sicher war, abgesehen von ein paar versprengten Diplomaten, die sie schleunigst nach Hause schickten.

»Gut«, seufzte Eugenia erleichtert. »Arrnd? Geben Sie bitte wieder den anderen Bescheid. Sie sollen die Treppe hinten in der Sportabteilung nutzen.«

»Natürlich.« Der Kobold trat zwei Schritte zurück. In einem Knall disapparierte er zur Nachhut.

Derweil rückte Minervas Gruppe vor und wirkte die ersten Siegelzauber. Da Arrnd und sein Kollege als Einzige innerhalb der Schutzzauber des Ministeriums apparieren konnten, hatten sie dieses Wechselspiel vorgeschlagen – »um die Eindringlinge nicht ahnen zu lassen, dass hinter der nächsten Ecke noch viel mehr von uns warten.«

Im Prinzip erinnerte es Minerva an ein Gambit im Schach. Sie war in der Gruppe der Figuren, die vorweg gingen und sich opferten, damit der Rest den Feind von einer besseren Stellung aus überwältigen konnte. Auch wenn sie hoffte, dass dieses Opfer niemandes Leben sein würde ...

Immerhin kamen sie auf diese Art erstaunlich zügig vorwärts. Geradezu einfach. Einige der jüngeren Angestellten trauten sich angesichts der Erfolge sogar, wieder leise miteinander zu reden. Ab und an schwebten ihre Stimmfetzen durch die Gänge zu Minerva. Offenbar unterhielten sich die Auszubildenden mit Arrnd, denn manchmal hörte sie das Keckern, das sie als Koboldgelächter identifiziert hatte.

Sie konnte es ihnen nicht verübeln. Auch bei ihr hatte sich irgendwo zwischen der Vergissmich-Zentrale und dem Hauptbüro des Unfallumkehrkommandos Routine eingestellt. Ihr Zauberstab bewegte sich mittlerweile wie von alleine und jede Rune war ein Sieg gegen die Furcht, dass sie es nicht schaffen könnten.

Dafür bedeutete allerdings jedes noch so verräterische Knarzen ein Eisbad für ihr Herz. Ganz besonders, wenn die Luft neben ihr sich ruckartig ausdehnte und Arrnd mit einem Knall wieder an ihrer Seite landete – so wie jetzt.

Sie konnte nicht verhindern, dass sie mit dem Zauberstab genau zwischen seine Augenbrauen zielte. Schuldbewusst – und mit rasendem Puls – senkte sie die Hand wieder. »Alles in Ordnung?«

Arrnds Mundwinkel zuckten leicht. »Kein Grund zur Besorgnis. Wir sind da hinten bloß fertig, deshalb bin ich zurückgesprungen.«

»Schon?«

Der Kobold verengte die Augen.

»Ich meine ... Danke. Ehrlich.« Unter Anspannung und Sorge rang Minerva ein Lächeln empor, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte. »Wollen wir hoffen, dass der Rest auch schon durch ist, dann haben wir vielleicht eine echte Cha-«

Weiter kam sie nicht. Der überraschte Aufschrei jemand anderes riss ihr die Worte von den Lippen. Er kam vom Ende des Flurs. Vom nächsten Kamin.

»Pippa?«, schrie sie besorgt. »Pippa!« Ihre eben noch gesenkte Zauberstabhand schnellte wieder empor.

»Stupor!«, hörte sie Pippa in diesem Moment auch schon brüllen. Darauf folgten andere, undeutliche Rufe – und das unmissverständliche Zischen von Flüchen.

Ein Knall erschütterte die Wände und Minerva rannte. Sie war dankbar, ihre unbequemen Schuhe rechtzeitig losgeworden zu sein. Auf bloßen Strümpfen rutschte sie um die nächste Ecke, Arrnd dicht auf ihren Fersen. Bevor sie im Raum war, glühte ihr Zauberstab bereits rot auf, ein ungesagter Klammerfluch schoss hervor – und gerade so lenkte sie ihn in die Zimmerecke. Scherben und Erde ergossen sich über den Teppich, als der Fluch statt eines Menschen auf den Übertopf eines Gummibaums traf.

»Aufhören! Stopp, Pippa, stopp!«, rief Minerva ihrer früheren Kollegin zu, die den Zauberstab wild tanzen ließ. Die beiden Personen auf der anderen Seite ihres Stabes schwitzten sichtlich. »Das sind keine von Voldemorts Anhängern!«

»Woher willst du das wissen? Sie kommen aus dem Kamin!«

Ein spitzes Quieken ertönte, als Dädalus Diggel Reißaus vor den grünen Flohflammen nahm, die versuchten, ihn in den Hintern zu beißen. »Glauben Sie mir, gnädige Dame, ich wünschte gerade, ich wäre weit weg von diesem Höllenkamin!«

Pippa stockte. Lange genug, damit Minerva ihre Hand erfassen und gen Boden drücken konnte.

»Es ist in Ordnung, das versichere ich euch.« Sie nickte erst Pippa, dann Arrnd zu. Dädalus’ seltsamen kleinen Tanz, mit dem dieser sich bemühte, seinen kokelnden Umhang zu löschen, ließ sie dabei nicht aus den Augen. »Darf ich vorstellen – das sind gute Freunde von Albus. Dädalus Diggel und Emmeline Vance. Sie haben Elphinstone und mir bereits vor ein paar Tagen geholfen.«

Stolz streckte Dädalus die Brust vor, obwohl sein Gesäß immer noch qualmte. »Und wir sind auch jetzt wieder da, um zu helfen!«

Emmeline nickte so beflissentlich, dass die Fransen des Seidenschals über ihren Schultern hin- und herschwangen. »Wir haben beide eine Phönixfeder von Albus geschickt bekommen – aber sie sind direkt in unseren Händen zu Asche zerfallen! Ich konnte nur noch lesen, dass es ums Ministerium geht ... Und dabei war Fawkes’ Brandtag noch lange nicht gekommen!«

Minerva sog die Luft durch ihre Zähne ein. »Dann hat Voldemort ihn doch noch mit seinem Fluch erwischt ...« Mit einem Seufzen stach sie ihren Zauberstab erneut in die Handfläche, dass es schmerzte.

Emmeline tauschte einen Blick mit Dädalus. »Aber er wird wieder auferstehen«, verkündete sie und klopfte sich mit dem Stab in der Faust auf die Brust. »Genauso wie wir nicht aufgeben! Widerstand bis zur letzten Flamme –«

Es knisterte. Erst leise, dann immer lauter. Wie Feuerwerk kurz vor der Explosion.

»Erwartet ihr noch weitere Freunde?«, knurrte Arrnd.

Hinter ihm sprangen grüne Funken in bester Flohmanier über die Holzscheite im Kamin.

»... Nein!«

Aus den hüpfenden Punkten wuchsen tiefgrüne Feuerzungen empor.

»Nun, dann lasst uns dafür sorgen, dass das nicht unsere letzte Flamme wird!«

Im selben Atemzug krümmte Arrnd die Finger zu einer Beschwörung. Bevor Minerva überhaupt den Stab erhoben hatte, traf seine Magie schon auf die erste vom Feuer verhüllte Gestalt. Gleichzeitig erwischte auch Emmelines Schockzauber ihr Ziel.

Roter Schimmer überzog die Gliedmaßen des maskierten Zauberers, der aus den Flammen stolperte. Für einen Moment sah es so aus, als würde dieser sich durch Sirup bewegen – dann schleuderte es ihn wie von einem unsichtbaren Seil gezogen rückwärts. Geradewegs in seinen Kumpanen. In einem Knäuel aus schwarzem Umhangstoff gingen sie zu Boden.

»Huch«, meinte Emmeline mit trockenen Lachen, »das habe ich nicht erwartet.«

Arrnd grinste, dass seine Ohren zuckten. »Ich auch nicht. Aber es ist gut.«

Doch die Hand des zweiten Angreifers krümmte sich. Minerva sah die Spitze seines Zauberstabs unter dem Gewirr aus Armen und Beinen aufglühen.

»Petrificus totalus!«

Das Leuchten verlosch, als die Glieder des Mannes sich versteiften und scheinbar magnetisiert an seine Seite schnappten.

»Besser ist es nur, wenn auch beide bewusstlos sind«, kommentierte Minerva ihren Zauber.

Eigentlich wollte sie den anderen zulächeln, doch das Gefühl verging ihr beim Anblick ihres zitternden Zauberstabarmes. Sie konnte ihn einfach nicht mehr senken. Ihre Muskeln standen viel zu sehr unter Strom. Genauso hatte es sich angefühlt, als sie aus Versehen einen elektrisierten Viehzaun auf Dougals Hof berührt hatte. Und selbst nach dem Verlöschen der Flohflammen schwand das stetige Pulsieren in ihren Nerven nicht.

Ohne sich um die bewusstlosen Männer zu scheren, zeichnete sie die Siegelrune in die Luft. Wie all die Male zuvor sank der Bann in den Stein und nahm die letzte Glut mit sich. Die Anhänger Voldemorts blieben natürlich trotzdem.

Für einen Moment erfüllte Schweigen das Büro. Zum Glück, denn es enthüllte die schweren Schritte, die sich von fern näherten.

Ein erneuter Schlenker ihres Zauberstabs rief Minerva die Waffen ihrer Gegner herbei. Die anderen wirbelten bereits zur Tür herum, während sie die Stäbe in ihrem Rockbund versteckte.

»Das ist doch alles große Scheiße!«, fluchte Pippa leise.

Sie konnte ihr nur recht geben. Gerade rechtzeitig wandte sie sich vom Kamin ab, damit sie sah, wie Eugenia um die Ecke bog. Allerdings nicht alleine. Dädalus blieb ein erleichtertes Luftschnappen im Halse stecken, das auch für sie sprach.

Hinter der Ministerin gingen zwei Fremde – wie ihre bewusstlosen Freunde im Kamin in schwarze Kapuzenumhänge gehüllt. Und maskiert. Kunstvoll verschlungenes Silber legte ihnen ein surreales, unmenschliches Gesicht auf.

Pippa knirschte mit den Zähnen. »Ach, leckt mich do-«

Ihre Worte wurden zusammen mit der Luft von einem Knall zerrissen. Dädalus schrie auf und der Strom in ihren Glieder zwang Minervas Arme über ihren Kopf. Erst einige herzschlaggefüllte Sekunden später richtete sie den Stab auf die Angreifer. Doch keiner von denen hatte gezaubert. Im Gegenteil, sie waren genauso zusammengeschreckt, Zauberstäbe erhoben.

Arrnd war verschwunden. Disappariert.

Die Zähne fest zusammengepresst, unterdrückte Minerva einen Fluch.

Eugenias Geiselnehmer indes überwanden ihren Schock und damit die letzten Meter zwischen ihnen, sodass sie das Fehlen einer Mundöffnung in ihren Masken bemerkte. Gerade mal winzige, vergitterte Schlitze, die den Eindruck zusammengenähter Lippen erweckten, ließen neben den Sehschlitzen etwas von dem Menschen darunter durchblicken. Doch selbst ihre Augen schienen von einem kalten, metallenen Schleier belegt und die Münder formten unnatürlich harte Striche.

Die Zauberstäbe der Fremden wiesen zielsicher auf Eugenias Oberkörper, genau zwischen ihre Schulterblätter. Deren Unterlippe bebte, als sie Minervas Blick begegnete. »Es tut mir so leid ...«

»Ja ja, Klappe!« Der größere Kerl verpasste ihr mit dem Stab einen Stoß in den Rücken. Auch wenn seine Stimme durch die Maske blechern klang, konnte Minerva das Grinsen darin hören.

»Ihr seht«, wandte sich sein Kumpan an ihre Gruppe, »wir haben eure wertvolle Ministerin. Also seid besser brav, ja?«

»Davon träumst du wohl«, entgegneten Minerva, Pippa und Emmeline unisono.

Dädalus unterstrich ihre Worte mit einem leisen Knurren.

»An eurer Stelle wäre ich lieber ruhig«, fuhr ihr Gegenüber ungerührt fort. »Es reicht ja schon, dass ihr offenbar gewarnt worden seid. Sagt uns doch lieber, von wem, anstatt hier große Sprüche zu schwingen, hm? Das wird euch gut bekommen.«

Am liebsten hätte Minerva die Arme verschränkt. So aber schwenkte sie den Zauberstabarm nur in Richtung des Kerls, der Eugenia erneut mit seinem Stab pikste. »Das wäre dann wohl ich«, sagte sie.

»Mach dich nicht lächerlich.« Der Größere der beiden lachte. »Du bist nicht der Ursprung dieses Widerstands. Also, wer hat dich gewarnt? Doch nicht etw-«

»Niemand.«

»Tsss. Letzte Chance für die Wahrheit, sonst bringen wir Mrs Jenkins ihr hübsches Köpfchen ein bisschen durcheinander ...« Langsam legte der andere Mann die Spitze seines Zauberstabs an Eugenias Schläfe und fuhr darüber.

Minerva stieß Pippa den Ellenbogen in die Seite, das Kinn auf den größeren Zauberer gerichtet. Sie wartete nicht auf eine Reaktion.

»Expelliarmus!«, brüllte sie – »Flipendo!«, rief Pippa.

Wie schon bei der Zusammenwirkung von Emmelines und Arrnds Magie hob es den Kerl von den Füßen, bevor es auch ihn kopfüber gegen die nächste Wand schleuderte. Sein Zauberstab fiel zu Boden.

Ehe sein Komplize reagieren konnte, vollzogen Emmeline und Dädalus das Gleiche mit ihm. Dieses Mal fing Eugenia den entwaffneten Stab auf. Ohne Zögern jagte sie dem Kerl einen Schockzauber hinterher.

Das erste Opfer richtete sich dafür knurrend wieder auf. Den Zauberstab hatte der Mann ebenfalls zurück in der Hand.

»Confringo!«

»Protgeo!«

Tiefrote Flammen leckten an Minervas Schildzauber. Kostbare Zeit, die der Angreifer nutzte, um seinen Kumpel wiederzuerwecken.

Kaum, dass der Feuerball den Protego geschluckt hatte, sirrte auch schon der nächste Fluch heran. Gezielt hatte der Zauberer auf Eugenia, doch Dädalus stieß sie beiseite. Statt eines Gegenfluchs kam ihm nur ein Keuchen über die Lippen. Dann sackte er auf die Knie.

»Finite«, fauchte Emmeline in seine Richtung, während Minerva gemeinsam mit Pippa dem Angreifer nachsetzte.

Den Kleinen erwischten sie mit einem doppelten Beinklammerfluch, bevor sie ihn schockten, doch der Große wehrte sich verbissen. Selbst durch die Maske hörte man sein Keuchen und das Zähneknirschen.

»Diffindo! Impedimenta! Confundus!« Anscheinend wahllos überzog er sie mit Flüchen.

Immer wieder traf die Magie knallend auf Schilde und Wände. So laut, dass Minerva Arrnds Rückkehr erst bemerkte, als es nicht länger ihr Gegenzauber war, der einen hässlichen Würgefluch abfing. Stattdessen stand urplötzlich Mr Llewyn vor ihr und hüllte sie in den Schutz blassblauen Lichts.

»Sie ...?«

Der Junge hielt Arrnds Schulter fest umklammert.

»Er wollte unbedingt mit«, knurrte der Kobold, ohne sich umzudrehen. »Dabei wollte ich seine Gruppe nur warnen.« Er fing Minervas Blick auf. »Du dachtest doch nicht etwa, dass ich verschwinde, Hexe? Für diese Art des Danks habe ich mich nicht von einem Jüngling mit gezogenem Zauberstab zu einem Seit-an-Seit-Sprung nötigen lassen.«

»Mr Llewyn ...!«, rief Minerva empört und warf im gleichen Atemzug einen Schockzauber über dessen Schulter.

Er reagierte jedoch nicht auf ihren Ausruf. Gemeinsam mit Arrnd schleuderte er seinerseits einen Ball glühender Magie auf den Angreifer. Kurz sah es so aus, als hätten sie gar nichts bewirkt – dann ertönte ein helles Klirren, das an Gläser erinnerte, die zum Prosit aneinanderschlugen. Die silberne Maske des Fremden zerbrach noch auf seinem Gesicht in hunderte Einzelteile, fein wie Sandkörner.

Mit aufgerissenem Mund stand der Mann da. Ebenso wie Minerva, der ein Keuchen entkam, nun da sie den jungen Ambrose aus dem Keller wiedererkannte. Lange währte der geteilte Schock allerdings nicht. Schon drehten Ambrose’ Augen sich in den Hinterkopf und er brach zusammen.

»Der wird so schnell nicht mehr aufstehen«, verkündete Arrnd ungerührt. »Und jetzt hurtig voran! Noch ist die letzte Flamme schließlich nicht verloschen!«

 

Den nächsten Anhängern Voldemorts begegneten sie im sechsten Stock, der Abteilung für magisches Transportwesen. Hin und her gerissen zwischen der gebotenen Hast und Vorsicht, schlichen sie dort von Schatten zu Schatten. Immer wieder hielt Minerva den Atem an, um auf verdächtige Geräusche zu lauschen. Schließlich konnten die Eindringlinge inzwischen überall sein.

Immerhin bis zur sternförmigen Kreuzung zwischen den verschiedenen Unterabteilungen kamen sie unbescholten. Auch die Fahrstühle schienen unbenutzt, einer davon wartete sogar auf dieser Ebene. Gelbe Zauberbänder mit Warnhinweisen sperrten den Flur in Richtung Flohportal über eine Woche nach Minervas Kampf dort noch immer ab. Aber das hatte nichts zu heißen.

Nervös tauschte sie einen Blick mit den anderen. Niemand sprach, doch sie wusste, dass alle das Gleiche dachten. Es könnte eine Falle sein, genauso wie ihre Aufspürzauber, die nicht ausschlugen.

In stiller Übereinkunft griffen sie die Zauberstäbe fester und stahlen sich in den Schutz des Wartebereichs vor der Portschlüsselaufsicht. Dort drängten sich Sitzbänke, Topfpflanzen und Drehständer voller Informationsbroschüren auf engstem Raum aneinander, sodass sie von den Seiten schwerer zu erkennen waren.

Auch Mr Llewyn folgte ihnen weiterhin, da er sich standhaft weigerte, zur Nachhut zurückzukehren. »Ich habe einen Kobold gezwungen, mich beim Apparieren mitzunehmen, damit ich helfen kann, also werden Sie mich jetzt auch nicht los!«, zischte er auf Minervas vorwurfsvollen Blick hin.

Darauf fiel ihr keine Erwiderung ein – außer einem allgemeinen Ratschlag. »Schön. Tun Sie bloß nichts, was ein Gryffindor täte.«

»A-aber Sie, Professor, sind doch selber –«

Sie hob den Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln. »Ich weiß. Deshalb sage ich Ihnen das ja. Immerhin kenne ich den Preis für Übermut ziemlich gut.«

Die Stirn gerunzelt, hielt Llewyn kurz inne, bevor er nickte. »Gut.« Ohne ein weiteres Wort färbte er durch Drehen des Zauberstabs seine Kleider in demselben Muster wie die Polster auf den Sitzbänken. Einem Chamäleon gleich verschmolz er mit den Schatten.

Minerva suchte sich einen Pappaufsteller aus, der für neue Portschlüsselverbindungen in die Südsee warb. Im Schutze einer grinsenden Hexe, die zwischen Nixen durch türkises Wasser tauchte, sah sie auf Alstons Karte. Nur drei Wege blieben den Eindringlingen noch. Einer davon im Gemeinschaftsbüro der Flohnetzwerkaufsicht. Diese Laune des Schicksals ließ sie beinahe seufzen.

Gerade wollte sie ihren Begleitern anbieten, in Animagusform dorthin zu schleichen, während sie weiterzogen, da polterte es in der ganz anderen Richtung. Weiter hinten auf dieser Seite des Stockwerks. Wump, wump, wump – dumpfe Schläge aus dem Dunkel des Ministeriums echoten ihren Herzschlag.

Dann schlug Holz auf Stein, als eine Tür gewaltvoll aufflog.

»Bah, ich hasse Portschlüssel«, fluchte eine Frauenstimme in der Ferne. »Der Kamin wäre mir deutlich lieber gewesen.«

»Sei lieber froh, dass niemand daran gedacht hat, den letzten, eingehenden Portschlüssel umzuleiten. Oder willst du so dringend im Flohnetzwerk feststecken?«

»Na, Thomp- äh, ich meine die anderen, sind offenbar doch durchgekommen.«

»Und dennoch ist das kein Anlass, sorglos zu sein! Die Übernahme hat gerade erst begonnen. Mit dem Portschlüsselbüro alleine haben wir noch gar nichts gewonnen. Das sind ja nur zwei Hexen im Nachtdienst.«

»Leise jetzt!«, zischte eine dritte Stimme.

Eugenia hinter den Informationsbroschüren über Reisekrankheiten schloss die Lider für einen Augenblick. Minerva erschien sie wie jemand, der ein Stoßgebet zum Himmel schickte. Oder eher eine Entschuldigung an jene armen Hexen, für deren Rettung sie zu spät kamen ...

Den Schritten nach zu urteilen waren es gleich mehrere Personen, die sich ihnen näherten. Vier, vielleicht auch fünf oder gar sechs. Und nicht nur das – der goldene Fahrstuhl sank mit einem Mal rasselnd in die Tiefe. Herbeigerufen von weiteren Eindringlingen?

Jetzt war es Minerva, die ihre Augen gen Himmel wandte, in der Hoffnung, der Gott ihres Vaters würde auch sie erhören. Womöglich tat er das sogar – oder es war ein schlichter Zufall. In jedem Fall erkannte sie etwas Bekanntes wieder. Etwas ziemlich Hässliches.

»Arrnd«, zischte sie, so leise sie konnte, »ist Koboldsilber eigentlich magisch?«

Der Ficus zu ihrer Linken raschelte. »Natürlich!«, drang es aus dem Blattwerk.

»Gut. Wahrscheinlich einfach für dich zu verzaubern?«

»Verdammt richtig, Hexe.«

»Minerva, wenn es dir nichts ausmacht.« Ein grimmiges Lächeln schlich sich auf ihre Züge. Sie lehnte sich vor und teilte ihre Idee mit dem Ficus.

Der grollte leise. »Daraus lässt sich was machen – Minerva.«

»Perfekt. Auf mein Zeichen.« Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen wandte sie sich als nächstes Pippa zu. »Bereit, unsere Gäste zu begrüßen?«

»Schon immer.«

»Dann folg mir.« Geduckt stahl Minerva sich aus ihrem Versteck. Jetzt kam ihr die schwache Nachtbeleuchtung zu Gute, denn die Schatten würden sie noch ein wenig länger vor den Eindringlingen verbergen.

Diese hatten offenbar ihrerseits einen Aufspürzauber angewandt. Zumindest kam an der Wand gegenüber der nächsten Flurbiegung ein rot pulsierendes Licht näher, dicht gefolgt von Geflüster. Sie brauchte keinen Abhörzauber, um zu wissen, dass die Angreifer überlegten, wie sie ihre Gruppe am Besten überwältigen konnten.

Stumm wies sie mit der Stabspitze auf eine angelehnte Bürotür. Selbst im Halbdunkel glänzte das Messingschild mit der Aufschrift ‚Zentrale für kontinentalübergreifende Reiseroutenüberwachung‘ daran.

In wenigen Schritten erreichten Pippa und sie den Raum. Vier kleine Schreibtische drängten sich darin aneinander. Allesamt ächzten sie unter der Last von Akten.

»Perfekt.« Minerva richtete sich auf und schickte eine strahlende Lichtkugel hoch zur Deckenlampe.

Pippa kniff die Augen zusammen. »Was bitte ist dein Plan?«

»Sie ablenken, damit die anderen zuschlagen können. Schon mal etwas von Gambits im Schach gehört? In den ersten Zügen opfert man einige Figuren, um den Gegner aus der Reserve zu locken, und dann setzt man ihn matt. Also los, tun wir so, als würden wir hier arbeiten.«

»Aber –«

Auf einen Schlenker von Minervas Zauberstab hin verwandelte sich Pippas Aurorenumhang in einen Bademantel, passend zu ihrem Nachthemd.

»Jetzt siehst du aus wie eine, die von einem Notfall aus ihrer wohlverdienten Nachtruhe gerissen wurde. Na los, schnapp dir eine Akte.«

Nach wie vor skeptisch folgte Pippa der Anweisung. Mit einem dramatischen Seufzen warf sie sich auf einen Schreibtischstuhl, legte die Füße hoch und murrte extra laut: »Immer diese unfähigen Kollegen, die es nicht mal hinkriegen, ein Formblatt richtig auszufüllen – schau dir nur an, was Belinda hier wieder gerissen hat! Ich schwöre dir, eines Tages ...«

Minerva unterdrückte ein amüsiertes Schnauben. Dann machte sie sich daran, ein paar Pergamentstapel so zu verhexen, dass sie sich selbst ordneten. Nichts ließ einen geschäftiger wirken als umherschwebende Dokumente, so viel hatte sie im Ministerium gelernt.

Abschließend verpasste sie sich noch eine übergroße Hornbrille, indem sie einen Federhalter verwandelte. Ob das von ihrer wahren Identität ablenken konnte, würde sie gleich erfahren, denn die ersten Schritte erreichten ihr Büro.

»Hier!«, rief jemand triumphierend.

Schon stieß man die Tür wieder auf. Dahinter tauchte eine breitschultrige Gestalt auf, den Zauberstab vorgestreckt wie ein Messer. »Arbeit und Stäbe niederlegen!«, bellte er.

»Hoppla, wer sind Sie denn?« Pippa schaffte es, ihrer Stimme gleichzeitig ein erschrockenes und doch entrüstetes Kieksen zu geben.

»Eure Retter«, verkündete der Mann, dessen Gesicht von einer Maske mit schwarzen Akzenten verborgen wurde. »Wir befreien euch von eurer unfähigen, korrupten Führung.«

Ihr vorwurfsvolles »Bitte?« brauchte Pippa nicht spielen.

»Ab heute steht das Ministerium unter neuer Kontrolle«, verkündete aus dem Hintergrund die Frau, welche sich über den Portschlüssel beschwert hatte. »Sie brauchen nichts befürchten, solange Sie uns jetzt Ihren Zauberstab aushändigen und Treue zum neuen Ministerium schwören.«

»Ich glaube, ich spinne!« Pippa warf Minerva einen intensiven Blick zu. »Hörst du das Midge? Wir können doch nicht einfach irgendwelchen Maskenmännern unseren Stab geben –«

Die beiden vordersten Eindringlinge traten beiseite, sodass sie deren vier Begleiter sehen konnten, die sich dicht hinter ihnen aufgestellt hatten. Alle mit dem Rücken zum versteckten Rest ihres Teams.

Minerva streckte zitternd die Hand mit dem Zauberstab vor. Dieser Teil ergab sich von alleine, wo doch das ganze Adrenalin immer noch wie Strom durch ihr Blut jagte.

»Bitte ... tun Sie mir nichts«, stammelte sie hoffentlich überzeugend, während sie sich dem Frontmann näherte. »Und Caroline auch nicht, sie meint es nicht so ...«

Pippa schnaubte. »Ich will wissen, was hier los ist! Vorher mache ich gar nichts!«

Im Hintergrund sah Minerva derweil Dädalus und Emmeline aus ihrer Deckung zielen. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.

Nur ein bisschen noch ... Direkt vor dem fremden Zauberer hielt sie inne. Auffordernd langte dieser nach ihrem Stab –

»Jetzt, Arrnd!«

Sie riss den Zauberstabarm empor und zielte auf die Deckenlampen im Flur. Einer nach dem anderen explodierten ihre gläsernen Lampenschirme.

Arrnd antwortete seinerseits mit einem Wirbel aus Magie. Durch den Hagel aus Glasscherben schossen glänzende Fangarme von der Decke auf die Anhänger Voldemorts herab. Noch während diese herumwirbelten, packten sie bereits die ersten Silberstränge.

Die Frau unter ihnen schrie laut auf, sobald sich das Metall auf ihrer Haut ausbreitete. »Macht das runter von mir! Hilfe! Nehmt das weg!«

Doch das Koboldsilber schnürte sich dank der Flüche ihrer Gefährten nur fester, verschmolz mit ihrer Maske und umhüllte sein Opfer, bis es zu einer grotesken Statue gefror. So mussten durch Medusa versteinerte Menschen aussehen, schoss es Minerva durch den Kopf. Nur dass diese Frau noch mit den Überresten der koboldgefertigten Lampenfassung hoch oben an der Decke verbunden war. Es wirkte, als hätte sie ein Lichtstrahl gefangen.

Der Kerl vor ihr hatte mehr Erfolg. Er schaffte es mit einer Rolle unter dem verhängnisvollen Silber hinweg. Sein Trennzauber zerschnitt den Fangarm und dieser regnete in einer Pfütze flüssigen Metalls zu Boden.

Knurrend schleuderte der Zauberer einen zweiten Fluch in Richtung Minerva. Sie sah einen grellen Blitz auf sich zurasen – dann schnipste Arrnd. Aus der Silberpfütze zu ihren Füßen wuchs ein Schild. Die schwarze Magie zerplatzte daran in hunderte purpurne Lichtscherben, dass es wilde Schatten auf die Wände malte.

Der Anblick brachte sie auf einen Gedanken. Mit dem Zauberstab beschrieb sie einen großen Kreis über ihrem Kopf. Und tatsächlich, die Fluchscherben reagierten auf ihren Luftwirbel. Wie Blätter im Wind stiegen sie immer höher, formten sich neu. Bildeten eine schwarz-violette Gewitterwolke. Bis sie den Arm wieder hinabstieß.

Ihre Gegner rissen gerade so einen Schutzkreis empor. Die erste Welle umgekehrter Magie glitt daran ab, doch schließlich stieß sie geradewegs hindurch. Fluchend schlugen die Zauberer auf die Löcher, die sich daraufhin in ihre Roben fraßen.

Emmeline und Dädalus zur anderen Seite gönnten ihnen jedoch keine Ruhe. Abwechselnd setzten sie mit Schockzaubern nach. Auch Llewyn warf sich in das Getümmel, indem er kleine Vögel heraufbeschwor, die sich auf die Köpfe ihrer Gegner stürzten.

Ein paar glückselige Sekunden lang glaubte Minerva wirklich, dass sie es wieder schaffen konnten. Zwei Angreifer waren inzwischen von Arrnds verzaubertem Koboldsilber eingefangen, einen anderen hatte Emmeline geschockt. Und einem Vierten entriss Pippa gerade den Zauberstab. Aber sie hatte die Rechnung ohne den Kamin in der Flohnetzwerkzentrale gemacht.

Von dort mussten die Männer kommen, die mit einem Mal an den Fahrstühlen vorbei auf sie zustürmten. Gleich fünf an der Zahl. Auch sie in schwarzen Umhängen.

»Glisseo!«, brüllte der Vorderste.

Im gleichen Moment verlor Minerva die Bodenhaftung. Die Schulter voran schlug sie auf den Teppich – der sich in eine spiegelglatte Schräge verwandelt hatte. Ihr Zauberstab kullerte zusammen mit der falschen Brille fort, geradewegs auf die Neuankömmlinge zu.

Während sie noch versuchte, sich mit den Füßen gegen Boden und Schwerkraft zu stemmen, traf Pippa hinter ihr ein Fluch. Die Aurorin rutschte in ihren Rücken wie ein nasser Sack Flubberwürmer. Das reichte, damit auch sie wegglitt.

Es ging alles so schnell, dass sie nicht einmal sah, wie den anderen geschah. Sie hörte nur ihre Schreie und noch mehr Flüche. Dann riss die Rutschpartie so plötzlich ab, wie sie begonnen hatte. Schwarze Lackschuhe schoben sich in Minervas Sichtfeld.

»Na sieh mal einer an, wen wir hier haben.« Jemand lachte. So heftig, dass den Kerl ein Hustenanfall überkam. Das bemitleidenswerte Geräusch zeugte von einem starken Raucher.

Everard Nott. Trotz Maske sah Minerva sein hässliches Gesicht und das goldzahnreiche Grinsen vor sich.

»Da konnte unser Freund sein kleines Spielzeug wohl nicht an der Leine halten.« Nott drückte ihre Hände mit dem Fuß hinter dem Rücken zusammen. Sofort schlangen sich Zauberseile um ihre Gelenke.

»Nicht mein Pech, wenn ihr mich unterschätzt«, knurrte sie.

»Ich begehe diesen Fehler nicht«, säuselte Nott. »Ich habe kein Interesse an einer ollen Schabracke wie dir. Du kannst dich gleich vor ihm verantworten.« Er hob seine Stimme. »Genauso wie ihr alle! Lord Voldemort wartet bereits darauf, euch der gerechten Strafe zuzuführen.«

»Hah«, machte Pippa, die zwar atemlos, aber ansonsten wohlauf klang, »eher schiebe ich dir deinen Zauberstab dahin, wo die Sonne nicht scheint!«

»Silencio!«

Behandschuhte Hände griffen Minerva und zogen sie unsanft auf die Beine.

Endlich wieder auf festem Grund erkannte sie, dass all ihre Begleiter sich in der gleichen Lage befanden: Die Handgelenke gefesselt, ihr Zauberstab verloren. Sogar Arrnd hatten die Männer überwältigt. Seine Hände steckten in etwas, das wie zu groß geratene Fäustlinge aussah. Vermutlich sollte es ihn davon abhalten, auch nur einen Finger zu krümmen. Dafür hatte er es immerhin noch geschafft, einen dritten Zauberer mit seinem Silberfluch zu erwischen.

Minerva erschauderte es beim Anblick des Kerls, der gerade auf ein Knie fiel, den Mund weit geöffnet, sein Zauberstab auf die Stelle gerichtet, an der sie und Pippa kurz zuvor gestanden hatten.

»Und was passiert mit denen?«, fragte jemand Nott.

»Keine Ahnung. Kümmern wir uns später drum. Tot sind sie ja nicht. Wenn Gringotts erst uns gehört, wird das schon irgendein anderer Kobold auflösen. Und jetzt vorwärts, wir haben keine Zeit zu verlieren. Der Dunkle Lord wartet!«

Nott führte sie in Richtung Fahrstühle. Kaum dass die Kabinen erschienen, teilten die Männer sie auf – zwei von ihnen quetschten sich mit Minerva, Arrnd und Mr Llewyn in den ersten vergitterten Kasten, der Rest begleitete Eugenia, Pippa, Dädalus und Emmeline.

In einem von Muggeln gebauten Fahrstuhl wäre nun wohl fröhliche Musik erklungen. So kannte Minerva es zumindest aus dem Einkaufszentrum, das sie gelegentlich mit ihrer Mutter besucht hatte. Hier allerdings konnte sie nur Mr Llewyns neugewonnen Mut anhand seiner klappernden Zähne wanken hören.

Ihre beiden Bewacher lehnten sich an die Gitterwand und schickten abwechselnd Zauberfunken zur Fahrstuhldecke empor, als sei das ein spannendes Spiel.

»Man, wenn ich gewusst hätte, dass das hier so öde wird, wäre ich doch in die Winkelgasse gegangen«, seufzte einer von ihnen. »Da haben bestimmt alle ihren Spaß beim Ausräumen der Läden ... und ich wollte schon so lange einen von diesen neuen Komet-Besen, aber die kosten ja viel zu viel. Das wär heute meine Chance gewesen, einen mitgehen zu lassen ...«

»Wenn wir hier fertig sind, kannste eh alles haben, was du willst«, erwiderte sein Kumpel.

»Was würdest du denn nehmen – den neuen Komet oder doch lieber nen Sauberwisch?«

Zwischen den Männern entwickelte sich ein Gespräch über die neusten Rennbesen, bei dem Minerva sich auf die Innenseite ihrer Wange beißen musste. Natürlich war der neue Komet um Längen besser als der Sauberwisch, dessen unkontrollierter Linksdrall sich in der aktuellen Produktionsreihe fortsetzte!

Aber diese Unwissenheit war auch ein Segen, denn so bemerkten die Männer nicht, wie sie sich näher an Llewyn hinter ihr heranschob. »Noch ist nichts verloren«, raunte sie ihm aus dem Mundwinkel zu.

»A-aber ... wir bräuchten schon einen Helden, um hier noch rauszukommen«, flüsterte der Junge zurück.

»Den Sie nicht spielen werden.«

Wie zur Bestätigung klapperten Llewyns Zähne etwas doller. Doch als Gryffindor wusste Minerva – der größte Mut entstand durch noch größere Angst.

Ein leises Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, auch wenn Llewyn es nicht sehen konnte. »Keine Sorge, gemeinsam können wir uns retten.«

»... Wie?«

»Drehen Sie sich um.«

Er leistete ihren Worten Folge. Derweil stritten die beiden Anhänger Voldemorts leidenschaftlich über den besseren Reisigschnitt bei Komet- und Sauberwisch-Besen. Arrnd hob nur eine Augenbraue, ehe er sich mit einem forschen Räuspern in das Gespräch der Männer einmischte und versuchte, sie von der Existenz eines geheimen Koboldbesens zu überzeugen, der angeblich Borsten aus unzerstörbaren, handgesponnenen Silberfäden hatte.

»Gut. Strecken Sie die Hände aus«, wies Minerva Llewyn an.

Vorsichtig tastete sie nach den Zauberstäben in ihrem Rockbund. Sie durfte bloß keine großen Bewegungen machen. Aus dem Augenwinkel behielt sie die Stockwerkanzeige im Blick, während sie unter ihre Bluse griff. Es dauerte, doch schließlich hatte sie einen Stab befreit. Llewyns Fesseln in spröde Gummibänder zu verwandeln war dagegen ein Klacks.

Der Junge schnappte nach Luft und sie drückte ihm den Zauberstab in die Hand. Ein paar Herzschläge später lockerten sich ihre Fesseln ebenfalls. Trotzdem zerriss sie diese nicht, sondern stupste den Stab an, damit er in Llewyns Ärmel verschwand.

»Sehen Sie? Noch ist nichts verloren«, wisperte sie.

In diesem Moment ging ein Ruck durch den Fahrstuhl. »Neunter Stock – Mysteriumsabteilung und die Gerichtssäle«, verkündete die magische Ansage gleich doppelt, da neben ihnen die zweite Kabine mit Nott ankam.

Überrascht sah Minerva in die Dunkelheit vor den Gittern. Sie hatte erwartet, dass Voldemort sie im Atrium empfangen würde. Was wollte er hier unten?

»Los, vorwärts!«

Ihre beiden Bewacher hatten die Besen offenbar wieder verdrängt und trieben sie nun die Treppe in den zehnten Stock hinab. Das konnte nur eines heißen – sie gingen geradewegs in den großen Gamotssaal.

Nicht einmal in ihrer kurzen Karriere hatte Minerva dort einer Verhandlung beigewohnt. Sie erinnerte sich nicht mal, ob überhaupt zu ihren Lebzeiten in diesem Saal verhandelt worden war. Immerhin war dieser Raum den allerschlimmsten, schwärzesten, verfluchtesten Verbrechen vorbehalten. Er öffnete nur dann seine Türen, wenn es das volle Gamot mit allen 236 Mitgliedern brauchte.

Und jetzt.

Direkt vor ihnen führte Nott Eugenia und die anderen durch die gewaltigen Flügeltüren. Der Schein greller Zaubersphären ergoss sich aus dem Inneren, sodass es Minerva blendete. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, sich zu orientieren.

Im Namen der Magie

Zuerst drangen die Geräusche auf Minerva ein. Es war laut im Gamotssaal. Sehr laut. Fast wie in der Großen Halle zur Mittagszeit. Doch den Gesprächsfetzen fehlte jede Leichtigkeit. Die Freude in den vielen Stimmen war zu schrill, irgendwie ... voller Disharmonie. Und dann schälten sich die Schatten aus dem Licht.

Man erwartete sie. Unzählige Menschen drängten sich auf den erhöhten Plätzen des Gamots, die meisten in feiner Abendgarderobe. Alles Leute, neben denen sie erst vor kurzem gesessen hatte. Da war Walburga Black, ein triumphierendes Grinsen im Gesicht, und Druella, deren Augen gehetzt umher huschten ...

»Schon irgendwelche Pläne?«, zischte Arrnd Minerva aus dem Mundwinkel zu.

Sie wünschte, dem wäre so – doch all ihre Gedanken an Flucht erstickten bei dem Anblick, der sich ihr inmitten der Menge bot.

Wo sonst der Platz des Verhandlungsvorsitzenden war, stand Voldemort. Um ihn scharten sich wie die Motten seine vermummten Anhänger – aber auch Rita Kimmkorn, die leichenblass auf dem Sitz der Schriftführerin saß, ihre giftgrüne Feder der einzige Farbfleck in einer See aus Schwarz. Sie zitterte mit ihrem Schreibutensil um die Wette.

Doch Voldemort schien das nicht im Mindesten zu kümmern. Er breitete seine Arme aus, als würde er sie alle in seinem Reich willkommen heißen – als wäre er der König, der sie zur Audienz empfing. »Ahhh ... Mrs Jenkins!«, rief er. »Endlich stehen wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber.«

In dramatischem Gestus legte er eine flache Hand an die Brust und deutete doch tatsächlich eine Verbeugung an. Seine Augen, diese unheimlich roten Glutnester, löste er allerdings keine Sekunde von der Gruppe um Minerva. Für einen vergessenen Herzschlag lang glaubte sie gar, dass er nur sie anstarrte.

Erst Arrnds Ellenbogen in ihren Rippen riss sie aus der Trance. »Schau dir das an«, murmelte der Kobold, den Kopf gen Boden gesenkt.

Sie folgte seinem Blick, sah aber nur schwarzen Stein, blank poliert von den Füßen unzähliger Generationen vor ihnen. Abgesehen von ein paar Rissen in den Blöcken erkannte sie nichts Außergewöhnliches.

Arrnd hingegen summte leise. Er wirkte geradezu vergnügt, wie er so den Kopf von einer Seite zur anderen wiegte, eine sanfte Melodie auf den Lippen. »Spürst du die uralte Macht hier unten? Das Archaische? Es ruft nach uns ...«

Was immer er meinte, Voldemort ließ ihr keine Zeit, darüber nachzudenken. Auf sein Schnipsen hin schlugen die Türen des Gerichtssaals hinter ihnen zu. Das dumpfe Dröhnen des letzten Auswegs, der sich verschloss, hallte durch das steinerne Rund wie Kirchglocken bei einer Beerdigung.

»Ich finde es erfreulich, dass Sie, Mrs Jenkins, und Ihre Begleiter, mir derart entgegenkommen«, sagte Voldemort in die folgende Stille.

Pippa schnaubte durch die Nase und rempelte ihren Geiselnehmer an, wofür sie einen Fauststoß in die Magengrube kassierte. Sie verzog das Gesicht, ließ sich aber sonst nichts anmerken.

Voldemort betrachtete sie mit mäßigem Interesse, bevor er zu Eugenia zurücksah. »Das erspart uns einige Unannehmlichkeiten. Ich bin sicher, das werden Sie auch bals erkennen. Wollen Sie noch, dass ich mich förmlich vorstelle, oder können wir das in Anbetracht der Situation als erledigt betrachten?«

Eugenia streckte das Kinn vor. Minerva meinte, ihren Kiefer knacken zu hören. Nur über ihre Lippen kam kein Laut.

»Wohlan, ich begrüße es, wenn wir uns nicht mit falschen Worten der Höflichkeit aufhalten«, erwiderte Voldemort ihr Schweigen. »Dann können wir zu den wichtigen Dingen voranschreiten, Mrs Jenkins – Ihrem Verfahren.«

Nun klappte Eugenia doch der Mund auf. Aber es war bloß zu hören, wie sie scharf die Luft einsog, ebenso wie Dädalus.

»Sie dachten hoffentlich nicht, dass Sie einfach so von Ihrer Verantwortung entbunden werden?« Fast schon schmunzelnd schüttelte Voldemort den Kopf. »Ich bitte Sie, wir sind doch keine ... Gesetzlosen. Nicht so wie die wilden Muggel, deren Schutz Sie sich verschrieben haben. Natürlich werde ich der geschätzten Ministerin unserer Gemeinschaft nicht einfach den Todesfluch auferlegen. Wir wollen doch, dass alles mit Recht zugeht.«

Minerva konnte sich ein Schnauben nicht verkneifen.

Der Laut schien etwas in Eugenia wachzurufen, denn sie schüttelte sachte den Kopf. »Sie können sich das Recht drehen, wie Sie wollen, ‚Lord‘ Voldemort, aber Sie werden trotzdem immer wissen, dass Gewalt seine einzige Grundlage ist.«

»Nun, ich würde sagen, dass wir die Auslegung des Rechts jenen überlassen, denen es dienen soll. Dafür habe ich schließlich eine Auswahl freier Bürgerinnen und Bürger in dieses Gericht berufen, anstatt der gekauften Richterinnen und Richter, die Sie hier beschäftigen.« Voldemort drehte sich zu den Leuten auf den Rängen um und deutete auch in ihre Richtung eine Art Verbeugung an. »Wie heißt der Urteilsspruch so schön? Gebunden durch Magie, gesprochen im Namen des Volkes!«

Im Saal brach ein Gewitter los. Die Bänke erzitterten unter dem Fußstampfen und Klatschen der Menge. Pfiffe hallten von den Steinwänden wider, zusammen mit Rufen. »Nieder mit der Verräterin Jenkins! Freiheit von der Schlammblüterdiktatur! Das Volk wird richten!«

»Das Volk?«, heischte Emmeline aufgebracht. »Ihr seid doch nur ein paar Spinner!«

»Mit genug Macht, dich solche Worte bereuen zu lassen«, knurrte Arrnd, ohne den Blick zu heben. Er senkte die Stimme zu einem Wispern und fügte an Minerva gerichtet hinzu: »Dafür haben wir andere Mächte direkt zu unseren Füßen. Und ich wette, daran denkt niemand ...«

Seine Augen schossen von links nach rechts und wieder zurück, dass Minerva beinahe schwindelig wurde beim Versuch, ihm zu folgen.

Beinahe.

Sie biss wieder auf die Innenseite ihrer Wange. Während das Publikum Emmelines Worte verhöhnte, erkannte sie, was Arrnd längst begriffen hatte.

Die feinen Linien, die sich rundrum über den Stein zogen, waren keineswegs willkürlich. Aus den verschmutzten Rinnen formten sich Symbole in Überlebensgröße. Runen? Aber welche?

Obwohl sie den UTZ-Kurs darin belegt hatte, kamen ihr die Zeichen nur vage bekannt vor. Dort, wo sie keine Schwünge erwartete, waren plötzlich zusätzliche Serifen, an anderen Stellen Linien durchbrochen. Vielleicht sprachen die Runen von Schutz. Oder Trennung. Wahrheit?

Die Zeichen hatte von allem etwas.

Nur eines schien Minerva eindeutig: die langgezogene, in sich selbst gedrehte Acht, welche direkt an ihren Füßen vorbeiführte. Die eine Schlaufe des Symbols umschloss die kettenbewehrte Anklagebank nur wenige Schritte entfernt, die andere dagegen erstreckte sich rund um die vordere Empore, auf der Voldemort Stellung bezogen hatten.

Im Prinzip formte die geschlossene Linie eine gigantische Sanduhr. Eine Reihe kleiner, zehnzackiger Sterne säumte die Brücke zwischen den beiden großen Ovalen, genau dort, wo ein gewaltiger Ring aus Gold Gamotssitze und den offenen Saal voneinander trennte. Das war keine herkömmliche Rune, aber gerade deshalb gab es für Minerva nur eine Erklärung – es musste sich um eine Verbindung handeln, die das Gleichgewicht von Gericht und Angeklagtem versinnbildlichte.

Die Bedeutung jener Wechselwirkung war die erste Regel, welche Elphinstone ihr einst beigebracht hatte: Macht verlangte noch größere Verantwortung. Wenn sie der Gerechtigkeit dienen wollten, mussten sie den Respekt gegenüber allen Menschen wahren. Ungeachtet derer Taten. Durch die Einlassungen im Boden schien dieser – heute höchstens bei der Vereidigung gebrauchte – Schwur der Strafverfolgung wahrlich in Stein gemeißelt zu sein.

Minerva wollte gerade Arrnd nach seiner Meinung zu dieser Entdeckung fragen, da hob Voldemort eine bleiche Hand und auf einen Schlag schwoll der Tumult im Saal ab. Mit einem zufriedenen Funkeln in den Glutaugen wandte er sich wieder Eugenia zu.

»Sie sehen, ich bemühe mich wirklich, Ihnen Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen. Sogar eine unabhängige Protokollantin ist anwesend.« Er deutete auf Rita Kimmkorn. Diese zuckte zusammen, hob aber nicht den Blick von ihrer Feder. Voldemort kümmerte das freilich nicht, er sprach schon weiter. »Weder entscheide ich persönlich Ihr Schicksal, Mrs Jenkins, noch klage ich Sie an. Selbstverständlich übernimmt das ein vereidigter Strafverfolger.«

Minerva biss sich fester in die Wange, um nicht überrascht aufzustöhnen. Mit Voldemorts letztem Wort fiel die Galleone bei ihr. Das war also Alstons Rolle in diesem Trollballett!

Doch er war nicht hier. Oder? Sie nahm die maskierten Typen in Augenschein. Es war schwer zu sagen, ob er sich unter denen befand. Groß genug erschien ihr keiner. Und irgendwo, tief in ihrem hoffnungsvollen Herzen, glaubte sie an seine Aufrichtigkeit. Selbst wenn die Vernunft sie eine Idiotin schalt.

Voldemort indes schien keinerlei Zweifel an der Durchführung seines Plans zu hegen. Er nahm auf dem vordersten Sitz Platz und bedeutete seinen Anhängern sowie Bewunderern, es ihm gleichzutun. Fast schon beiläufig hob er den Zauberstab, den er bis eben gar nicht in der Hand gehalten hatte.

Eugenias Fesseln fielen von ihren Handgelenken.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz«, sagte er und wies auf den Anklagestuhl in der Mitte des Raumes, dessen Ketten bedrohlich rasselten.

Llewyn machte einen Schritt vorwärts und erweckte den Anschein, sich Eugenia in den Weg stellen zu wollen, doch sie schüttelte zeitgleich mit Minerva den Kopf. Der Junge senkte das Haupt und ließ sie passieren, auch wenn er genauso wie Dädalus und Emmeline mit den Zähnen knirschte.

Stille dehnte sich aus, als Eugenia alleine vortrat. Mit angehaltenem Atem verfolgten die Zuschauer jeden ihrer Schritte zum Schafott. Weniger Aufmerksamkeit wurde dagegen Minerva und ihren Begleiter zuteil. Trotzdem zerrten Notts Spießgesellen sie ebenfalls in die Mitte des Saals, geradewegs in den Runenkreis. In einer Reihe zwang man sie hinter dem Kettenstuhl auf die Knie, zwei Wachen zu jeder Seite.

»Was jetzt?«, zischte Arrnd Minerva aus dem Mundwinkel zu.

Llewyn neben ihm sah sie ebenso erwartungsvoll an.

Ehrlich zuckte sie mit den Schultern. Vielleicht – hoffentlich – hatte Alston einen guten Plan. Solange er überhaupt hier aufschlug. Denn egal, wie sie es drehte und wendete, sie sah keine Möglichkeit für sich und Llewyn, mit nur zwei Zauberstäben anzugreifen und zu gewinnen. Noch nicht.

Wenn sie hingegen die Magie der Runen zu ihrem Vorteil erwecken könnte ... Den Kopf erhoben, zog sie hinter dem Rücken ihre Handgelenke auseinander. Das einst dicke Tau darum riss sofort, ehe es sich in Wohlgefallen auflöste.

Ihr Herz schlug Minerva bis zum Hals, als Voldemorts Blick über sie glitt. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, den seine roten Augen sie streiften, doch sie hatte das Gefühl, ihr Befreiungsversuch stünde ihr auf der Stirn geschrieben. Dann aber klatschte er nur in die Hände.

»Das Volk gegen Eugenia Jenkins, lasst uns beginnen!«

Kaum dass seine Worte verklangen, schien die Zeit ohne Vorwarnung schneller zu laufen. Es war, als hätte Voldemort einen Lähmfluch gebrochen und nun wurden all die in Schockstarre verbrachten Sekunden in einen einzigen Wimpernschlag gepresst.

Eugenia wurde von den schlangengleichen Ketten des Anklagestuhls umwickelt.

Emmeline rammte dem abgelenkten Nott ihren Ellenbogen in die Magengrube.

Llewyn erschrak so, dass rote Funken aus seinem Zauberstab schossen.

Dädalus schlug einem zweiten Mann seine Faust in die Kniekehlen.

Pippa wand sich ganz ohne Einsatz von Magie aus ihren Fesseln.

Arrnd pustete Llewyns Zauberfunken aus seinem Gesicht.

Eines der Glutteilchen landete auf der großen Rune.

Die Stelle erstrahlte wie unter Strom gesetzt ...

Minerva zückte ihren Zauberstab –

Elphinstone betrat den Saal.

.

.

.

Sie schnappte nach Luft.

Elphinstone war da!

Er humpelte durch die Tür oben auf der Empore! Er bezog den Posten des Strafverfolgers! Direkt oberhalb von Voldemort trat er an die Balustrade!

Es gab kein Vertun, das war tatsächlich Elphinstone. Von dem verrußten, flachsblonden Haar bis hinunter zum angesengten Umhangsaum. Minerva kannte nur einen Mann, der gleichzeitig so sanft und dabei so resolut auftreten konnte.

Auf seiner Brust blühte immer noch ein Blutfleck, Unterarme und Gesicht waren mit frischen Kratzern und Schnitten versehen, doch der Kampfeswille in seinen Augen war ungebrochen.

»Nein«, donnerte er, »in diesem Gerichtssaal wird keine Willkür geübt!« Auf einen Schwenk seines Zauberstabs hin fielen die Ketten um Eugenias Gelenke zu Boden.

Das Herz in Minervas Brust brüllte wie der Löwe Gryffindors.

Triumphierend.

Ängstlich.

Entschlossen.

Elphinstone war zu ihr zurückgekehrt!

Aber selbst wenn sie wirklich geschrien hätte, der Ruf wäre im Klang von zig aufgeregten Stimmen untergegangen. Und im Stöhnen Notts, auf dessen Schultern Pippa inzwischen kniete und ihn mit reiner Körperkraft niederrang. Wenig besser erging es Emmelines und Dädalus’ Opfern.

Minerva suchte Elphinstones Blick. Es vergingen höchstens ein paar Herzschläge, die sie einander ansahen, doch diese dehnten sich in schiere Unendlichkeit. Als wisse die Zeit, dass sie vielleicht nie mehr haben würden, aber alles brauchten.

In Elphinstones Augen sah Minerva das Bedauern hunderter Momente, die einst hätten sein können; die Sehnsucht hunderter Augenblicke, die werden könnten. Und die Bereitschaft, alles im Namen der Gerechtigkeit zu opfern.

Auf einen Schlag löste sich der Nebel in ihren Gedanken. »Mr Llewyn«, schrie sie, »Zeit, Ihren inneren Gryffindor zu befreien!«

Das ließ sich der Junge nicht zweimal sagen. Während sie dem verzweifelt kämpfenden Nott einen Schockzauber in den Hintern jagte, erwischte er dessen Kumpan. Sofort entrissen Emmeline und Dädalus den Männern ihre Zauberstäbe. Keinen Wimpernschlag später lagen auch die anderen zwei reglos am Boden – und sämtliche Stäbe wieder in den richtigen Händen. Zuletzt lösten sie Arrnds Fesseln.

Niemand unternahm Anstalten, sie aufzuhalten. Nicht mal ein müder Gegenfluch störte sie. Dabei waren entlang der Gamotssitze genug Zauberstäbe gezogen worden. Doch dort oben versuchte man einzig, den Störenfried zu erhaschen. Sämtliche Blicke galten der eigenen Mitte. Allen voran Voldemorts.

Die Glut in dessen Augen schlug Funken, als er Elphinstone eine Reihe über sich ausmachte. Ein Zischen drang zwischen seinen zusammengekniffenen Lippen hervor. Minerva wusste nicht, ob es ein Fluch oder schlicht Wut war – und zum Glück fand sie es nicht mehr heraus. Denn hinter Elphinstone ergoss sich weitere Unterstützung in den Gerichtssaal.

Die Ministeriumsbeamten aus der Nachhut stürmten einer nach dem anderen aus der Tür, die sonst Gamotsmitgliedern vorbehalten war. Und damit nicht genug, auf ihre Fersen folgten Auroren, Polizeibrigadisten, Zivilisten, Ladeninhaber aus der Winkelgasse – Kobolde. Angeführt von Granduk und seinen zwei Kollegen drängten sie sich in einer Welle der Magie vorwärts.

»Habt ihr das geahnt?«, rief Minerva Emmeline und Dädalus zu – die umgehend den Kopf schüttelten.

»Es trifft sich aber gut mit dem verzweifelten Plan, uns den Weg freizukämpfen!«, antwortete Emmeline. Sie hob den Zauberstab wie ein Schwert in die Luft und stürmte vor.

Zuckende Lichter erfüllten den Saal. Rot und Violett blitzte es von den schwarzen Steinwänden wider, als wäre ein Höllengewitter über die Eindringlinge gekommen. Schon fielen die Männer zu beiden Seiten von Elphinstone auf die Knie. Erst überzog glühende Koboldmagie ihre Glieder, dann setzten die menschlichen Unterstützter mit Flüchen nach. Ihre verschiedenen Zaubereien kollidierten in Funkenschauern, die Emmeline und Minervas restliche Begleiter noch mit eigener Magie anheizten.

Reihum sackten Voldemorts Anhänger zusammen oder wurden wie Puppen durch die Luft gewirbelt. Mehr als einer riss einen Kameraden mit sich, bevor sie unsanft zu Boden stürzten.

»Letzte Chance«, verkündete Elphinstone an Voldemort gewandt. Er stützte sich mit beiden Händen auf das Pult vor sich und sah hinab wie zu dem Flubberwurm, dem eine Zukunft im Zaubertrank angedacht war. »Ergeben Sie sich, andernfalls werden wir unseren Haftbefehl gegen Sie mit allen Mitteln des magischen Rechts vollstrecken.«

Selbst über den Kampflärm drang Voldemorts kaltes, hohes Lachen. Er streckte die Arme zu beiden Seiten aus. Seine Robe bauschte sich im Wirbel der vielen Flüche auf. »Oh, bedauere, aber – nein.« Mit einem einzigen Hieb des Zauberstabs befreite er seine Anhänger von Koboldmagie wie Verzauberungen. »Wenn das Ministerium einen Kampf fordert, soll es ihn bekommen!«

»Aber wollen das auch Ihre Unterstützer?«

Eugenia zitterte am ganzen Leib, doch sie stand wieder auf eigenen Füßen. Das Kinn vorgereckt sah sie zu Walburga Black und all den übrigen Partygästen empor, die sich an ihre Zauberstäbe klammerten. Die Meisten waren so weit zurückgewichen, wie es ihnen die Sitzreihen erlaubten.

»Wollen Sie kämpfen und sich eine Zelle in Askaban sichern oder sind Sie vernünftig und gehen jetzt?«

Erneut schien die Zeit nur durch ein paar Worte einzufrieren. Niemand regte sich. Maskierte wie Zuschauer, Angreifer wie Verteidiger hielten inne, den Blick auf die Ministerin gerichtet.

»Wenn Sie heute den Zauberstab erheben, verlieren Sie alles. Ihren guten Ruf. Ihr Anwesen. Ihre Reichtümer. Ihre Freiheit. Das garantiere ich Ihnen. Nur wenn Sie gehen, können Sie das retten. Ich werde die heutigen Geschehnisse nicht vergessen, aber ich werde vergessen, dass Sie hier waren.«

In der folgenden Stille hallte Voldemorts Lachen noch harscher von den Steinwänden wider. Minerva erinnerte die kalten Finger des nahenden Todes entlang ihres Rückgrats, als der Dementor im Anwesen der Lestranges sich auf sie gestürzt hatte. Genau so klang dieser Laut.

»Wunderbar gesprochen«, rief Voldemort und bedachte Eugenia mit einem einzelnen Klatschen. Den oberen Rängen zugewandt ergänzte er: »Und wissen Sie was? Ich stimme zu. Gehen Sie. Ich werde Ihnen nicht nachtragen, dass Sie diesen offensichtlichen Lügen Mrs Jenkins’ Glauben schenken. Sie sind schließlich keine Kämpfer. Dafür brauche ich Sie nicht.«

Nach wie vor eingefroren standen die Hexen und Zauberer da, Blicke auf ihre Umhangsäume gerichtet. Dann öffneten sich unter leisem Ächzen die Flügeltüren des Gerichtssaals und brachen den Bann. Bevor der Weg ganz frei war, raffte Druella Black ihre Röcke. Ohne einen Blick zu Minerva oder den anderen stürmte sie an ihnen vorbei.

Das Klappern ihrer Absätze auf dem Stein riss auch den Rest aus der Starre. Zuerst schloss sich ihr Rita Kimmkorn an, doch mehr und mehr folgten. Manche ebenso hastig, andere – wie Walburga Black – gemessenen Schrittes. Als gäbe es noch ein letztes Quäntchen Würde zu wahren. Ihre Blicke, die alleine dem Ausgang galten, sprachen jedoch Bände.

Voldemort verfolgte ihren Abgang reglos, Hände hinter dem Rücken verschränkt. Zurück blieb nur eine Handvoll seiner Gäste, denen er eine kleine Verneigung schenkte. Ebenso wie Elphinstone und der Masse an kampfbereiten Personen rund um ihn. »So denn. Lassen wir Magie diesen Fall entscheiden.«

Seine Worte waren kaum verklungen, da brach die wahre Hölle los. Flüche schossen von allen Seiten quer, Koboldmagie brannte sich durch die Luft. Der Geruch angesengter Haare füllte den Saal, sodass Minerva zusammen mit den Erinnerungen an Bellatrix’ Dämonsfeuer Galle die Kehle emporstieg.

Sie durfte sich nicht von der Angst überwältigen lassen, nicht jetzt ...

Rufe verwoben sich mit den ersten Schmerzschreien.

Voldemorts Todesser wurden ihrem Namen gerecht. Nicht nur grüne Todesflüche zersprengten die Menge. Confringo, Crucio und dunklere, unbekannte Flüche schlugen eine tiefe Schneise durch die Unterstützer – ebenso wie Wunden in ihre Körper. Die ersten Kämpfenden stürzten. Reglose Personen rollten die Steintreppen herab, andere wurden von ihnen mitgerissen.

Inmitten dieses Chaos stand Voldemort. An ihm bewegte sich nichts außer seiner dunklen Robe, die um seine schlanke Gestalt flatterte wie eine vom Sturm zerrissene Flagge.

Obwohl Pippa Minervas Oberarm ergriff; gar daran zerrte, sah diese nicht fort. Im Gegenteil, sie packte den Zauberstab fester und machte einen Schritt vorwärts. Hier gab es nur einen Gegner für sie.

Als hätte Voldemort ihren Gedanken gespürt, nahm er einen tiefen Atemzug. Erst dann hob er selber den Stab. Im Gegensatz zu seinen Anhängern wählte er sein Ziel mit Bedacht. Scheinbar in Zeitlupe zielte er. Auf einen flachsblonden Haarschopf.

Weiter ließ Minerva es nicht kommen. »Impedimenta!«

Dass Voldemort ihren Zauber in letzter Sekunde abwehrte, bewies leider nur, was sie befürchtet hatte – er war ein mächtiger Gegner. Sie presste die Kiefer zusammen, als er zu ihr herumfuhr.

»In Northumberland hatte ich nicht die Chance, es zu beenden«, fauchte sie ihm entgegen, »aber das ändert sich jetzt!«

Noch während sie sprach, konterte sie Voldemorts ersten Fluch.

»Sie sind wahrlich hartnäckig«, erwiderte ihr Gegenspieler und hob seine Augenbrauen. »Wohlan – das gefällt mir. So geben Sie wenigstens eine interessante Gegnerin ab!«

»Dann wird Ihnen das hier bestimmt auch gefallen!« Minerva jagte ihm den nächsten Zauber auf die Brust.

Den er natürlich abwehrte. Doch ihr Blick galt ohnehin nicht länger ihm. Sondern Elphinstone. Er stand alleine zwischen den Todessern und kämpfte, als hielte er wieder das Schwert Gryffindors in den Händen. Mit einer Handbewegung stieß er drei von ihnen zurück.

Ihr Herz hüpfte. Da gab es noch eine Sache, die sie loswerden musste. Bevor alles endete.

»Tha mo chridhe leat«, rief sie ihm über den Schlachtenlärm zu.

Überrascht registrierte sie, dass die Spitze ihres Zauberstabs gleißend hell aufglühte. Aus dem Augenwinkel sah sie blaues Licht darauf reagieren. Voldemorts Abwehrzauber gegen einen Fluch, den sie gar nicht wand. Aber das war ihr egal. Sie konzentrierte sich alleine auf Elphinstone, der bei ihrem Ruf herumwirbelte. Auf seine Augen, die selbst über diese Distanz warm und vertraut funkelten. Das Lächeln ergriff ganz automatisch Besitz von ihr.

»Phin – Tha mo ghion ort!«

Ihre Liebeserklärung provozierte gleich zwei Reaktionen: Zum einen riss Elphinstone die Augen auf – zum anderen schwang Voldemort erneut den Zauberstab.

Minerva hätte am liebsten stundenlang zugesehen, wie die Röte in Elphinstones Wangen schoss; sein Herz sichtlich schneller und schneller schlug oder seine Lippen sich zu einer sprachlosen Erwiderung teilten – doch sie ließ seinen Blick los, riss den Stab hoch ...

Nur damit Voldemort erneut hinter einem Protegoschild verschwand.

In einer anderen Situation hätte sie gelacht. Stattdessen schoss ein Kribbeln durch ihren Zauberstabarm. Das Gefühl erinnerte sie an Ameisen mit glühenden Füßchen, tausende davon. Und es ließ nicht nach, im Gegenteil. Ihr Stab bebte vor unterdrückter Magie, die das Holz von innen heraus zum Glimmen brachte. Was immer das für ein Zauber war, den ihr gälischer Liebesschwur erschuf – sie schleuderte diesen geradewegs auf Voldemort.

Dieses Mal beschwor er keinen Schild. Zumindest nicht rechtzeitig. Einen Muggelfluch auf den Lippen wirbelte er zur Seite. Trotzdem traf der Zauber seinen Umhang. Wo er einschlug, breiteten sich weiß glühende Ranken über den Stoff aus. Ihre kleinen Blätter zerschnitten die Wolle und überall entlang des magischen Gewächses explodierten winzige Knospen in leuchtende Blumen. Daraus drang Pollenstaub so dicht wie Themsenebel im Spätherbst.

Voldemorts wutverzerrtes Gesicht verschwand in der Wolke. Rasch riskierte Minerva noch einen Blick zu Elphinstone. Neue Todesser nahmen ihn ins Visier. Links und rechts konterte er ihre Flüche, doch ein tiefes Lächeln zierte dabei seine Züge. Er riss einen Schild empor, so kraftvoll, dass es seine Gegner einige Meter zurückschleuderte.

Dieses Mal folgte sie dem eindeutig triumphierenden Löwenschrei ihres Herzens. »Incarcerus!«, brüllte sie, den Stab mitten auf die Wolke magischen Pollenstaubs gerichtet.

Für einen Augenblick sah es so aus, als hätte sie Voldemort erwischt. Doch dann verzog sich der dichte Nebel und enthüllte einen nunmehr umhanglosen sowie ungefesselten Voldemort.

Unter seinem nächsten Fluch musste Minerva sich hindurch ducken. Sie wusste einfach, dass er jeden Schutzzauber durchdringen würde. Alleine der Luftzug warf sie zu Boden und presste die Luft aus ihren Lungen.

Kalter Stein schmiegte sich gegen ihre Wange. Für einen Sekundenbruchteil lockte es sie, liegenzubleiben. Doch sie stemmte sich wieder hoch, bereit weiterzukämpfen –

Halt! Ihre Finger strichen über eine Vertiefung. Die Rune!

Anstatt aufzustehen, konterte sie Voldemorts nächsten Fluch im Knien. Ihr Entwaffnungszauber traf seine schwarze Magie mitten in der Luft. Funken regneten auf sie herab. Wie schon unter Llewyns Zauberfunken glommen die Linien zu ihren Füßen auf. Ganz kurz. Hätte sie geblinzelt, wäre es nicht aufgefallen.

»Arrnd«, rief sie über ihre Schulter, »wir brauchen Funken, Feuer – eine Flamme!«

»Mhh«, grollte der Kobold. Er sah sich vier Todessern gegenüber, die er zusammen mit Llewyn und Emmeline auf Trab hielt. Trotzdem fand er die Zeit, ihr einen Blick zuzuwerfen. »Ein bisschen magisches Feuer wird allerdings nicht viel nutzen. Wenn sich diese alte Magie verhält wie koboldgearbeitetes Metall, braucht es schon Drachenfeuer, um sie zu beeindrucken.«

»Haben wir aber nicht – Reducto!« Minerva löste ein Dutzend Vögel mit rasiermesserscharfen Schnäbel in Nichts auf, die Voldemort aus dunkler Magie beschworen hatte.

Wenn nur Fawkes hier wäre ...

»Phönix!« Sie japste auf.

Ohne wirklich hinzusehen, lenkte sie Voldemort durch einen Schockzauber ab. Mit der linken Hand griff sie in die Tasche ihres Rocks. Angenehm kühl streifte der Vestigiator ihre Finger. Sie ballte die Faust darum.

»Drachen sind doch im Prinzip auch nur Dinosaurier, nicht wahr? Und Hühner stammen direkt von den Dinosauriern ab – also sind Phönixe auch irgendwo Drachen.«

Arrnd gab ein Geräusch zwischen Glucksen und Schnauben von sich. »Was hast du vor?«

»Etwas ziemlich Gryffindorhaftes. Wünsch mir Glück.«

Minerva drückte die Faust um den Vestigiator zusammen. Zu ihrer Linken duellierten sich Pippa, Dädalus und Eugenia mit den Angreifern. Allesamt bluteten sie aus verschiedenen Wunden. Zur anderen Seite kämpfte Llewyn mit zusammengebissenen Zähnen. Sein rechter Arm hing schlaff herab – gelähmt, verflucht, sie wusste es nicht. Emmeline schützte ihn, so gut sie konnte, doch der Schweiß stand auch ihr auf der Stirn.

Zu Elphinstone sah sie lieber nicht erneut. Es musste so oder so enden.

Sie tippte den Vestigiator mit der Zauberstabspitze an. »Separare!«

Das Gold knirschte leise ... doch nichts geschah. Um ein Haar erwischte sie Voldemorts nächster Angriff. Gerade rechtzeitig rollte Minerva zur Seite. Wo sie eben gekniet hatte, stieg stinkender Dampf vom Stein auf. Schnatzgroße Löcher fraßen sich vor ihren Augen in den Boden. Die restliche Säure verteilte sich in den eingearbeiteten Runen.

Minerva dachte nicht weiter nach, sondern warf den Vestigiator in die ätzende Flüssigkeit. Es zischte. Tatsächlich verformte das Metall sich langsam, schmolz in sich zusammen wie Eis im Sommer. Darunter kam ein Kern aus Glas zum Vorschein – und darin wiederum funkelte in allen Farben der Sonne Fawkes’ Phönixstaub. Nur barst das Behältnis nicht.

»Verflucht –« Sie sprang auf. »Geht zurück und lenkt ihn ab!«, rief sie Arrnd zu, während sie den Zauberstab gen Decke streckte. Sie hatte keine Ahnung, was sie eigentlich tat, aber ihr Plan funktionierte besser.

Arrnd – und Llewyn – folgten ihren Worten und nahmen Voldemort von beiden Seiten in die Zange. Koboldmagie und Zauberspruch verbanden sich zu einer gewaltigen Explosion.

Jetzt oder nie. Minerva streckte sich, der Zauberstab eine Verlängerung ihres hocherhobenen Armes. Alle Luft in ihren Lungen entlud sich in einem einzigen, langen Schrei.

»Fulgeo!«

Der heraufbeschworene Blitz füllte ihre Ohren mit seinem Knistern. Er raste geradewegs auf ihre emporgereckte Hand zu und bevor die pure Magie ihre Finger erreichte, schoss bereits Hitze durch jeden Nerv darin. Ihre Haare lösten sich aus dem Knoten im Nacken. Wie von einem geisterhaften Wind bewegt, wehten sie um ihr Gesicht. Doch all diese Gefühle schwanden ins Nichts, sobald Zauberstab und Blitz sich trafen.

Plötzlich bebten sämtliche Zellen ihres Körpers vor Energie. Bis in die Haarspitzen hinein fühlte sie jede Faser, jeden Muskelstrang überdeutlich. Alle Empfindungen, zu denen die menschlichen Sinne fähig waren, entdeckte sie neu.

Prickeln raste über ihre Haut wie sprudelndes Wasser. Auf ihrer Zunge lag der Geschmack von Kupfer – als hätte sie an einem Zaubertrankkessel geleckt. Widerwärtig. Das Schlimmste aber war ihr Kopf, der von Summen erfüllt wurde.

Auch nur einen Gedanken aus der Vielzahl an Eindrücken herauszufiltern, war wie Wasser mit den Händen zu schöpfen. Aussichtslos. Ein Keuchen kam über ihre Lippen. In ihren Ohren klang es nach Donnergrollen.

Mit aller Kraft senkte Minerva den Arm und lenkte die Blitzenergie auf den Boden. Im gleichen Atemzug zertrat sie die Überreste des Vestigiators. Knirschend zerbarst das Kristallglas. Die Scherben bohrten sich in ihre nackte Fußsohle und ein scharfes Stechen raste herauf in ihre Mitte. Der Schmerz verwob sich mit all der anderen Pein dort zu einer heißen Kugel.

Aber nichts davon zählte. Sie hatte es geschafft – der Blitz verschlang den Phönixstaub.

Direkt vor ihren Augen verbrannte die Luft in einer gewaltigen, goldenen Stichflamme. Bis unter die weit entfernte Decke schlug das Feuer aus. Es versengte Minervas Haarspitzen und riss im gleichen Moment den Angstschrei von ihren Lippen. Unerbittlich breitete der Brand sich aus. Von dort, wo sie den Blitz beschworen hatte, rasten die Flammen die ganze, verschlungene Rune entlang.

Nur Herzschläge später umschloss sie eine goldene Feuermauer. Alleine stand Minerva in der unteren Schlaufe des Sanduhrsymbols. Von außerhalb hörte sie die gedämpften Schreie ihrer Begleiter, aber all das spielte hier drinnen keine Rolle mehr. Es zählten nur noch Voldemort, der sich oberhalb von ihr ebenfalls als Einziger in diesem brennenden Gefängnis wiederfand.

Selbst durch das gold-orange Flackern sah Minerva den Zorn in seinen Augen, der von innen brannte.

»Was hast du getan?«

Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Ahnung. Trotzdem hob sie das Kinn. »Du wolltest doch, dass die Magie ihr Urteil fällt. Also lass es uns nach ihren Regeln austragen!«

»Das war ein Fehler!«

Voldemorts wächserne Züge schmolzen im Flammenschein endgültig. Da war keine Menschlichkeit mehr in seinem Gesicht, als er seinen Zauberstab wieder hob. Er schien direkt dem Dämonsfeuer entsprungen.

»Avada Kedavra –«

Dröhnen erfüllte den Saal. Minerva blinzelte. Der Todesfluch war einfach verschwunden, bevor er auch nur Gestalt angenommen hatte. Bloß ein Funkenschauer erinnerte an den grünen Blitz. Dafür schlugen die goldenen Flammen in Voldemorts Richtung aus.

»Scheint, als wenn die Magie keine fiesen Tricks mag«, brüllte Minerva. »Wie schade aber auch, dass wir uns hier auf einem Grund der Gerechtigkeit befinden!«

Das Feuer um sie her war zwar warm und rief hässliche Erinnerungen an ihre Haut wach, die Blasen warf, doch gleichzeitig erfüllte es sie mit einem wohligen Gefühl. Sie wusste einfach, dass sie sicher war. Ganz im Gegensatz zu Voldemort offenbar. Der wich vor dem brennenden Ring im Boden zurück und seine Flüche waren nurmehr wüste Ausrufe.

Dennoch hielt ihn das nicht davon ab, erneut den Zauberstab zu erheben. Anstatt ihn gegen sie zu wenden, beschrieb er einen Kreis in der Luft. Über seinem Kopf bildete sich ein Wirbel, der langsam zu Boden sank. Stück für Stück sog der Strom die Flammen ein. Wie zuvor stand Voldemort im Auge eines Sturms, nur dass es dieses Mal Feuer war, das um ihn kreiste.

»Das hier –« Er sah Minerva geradewegs an – »ist erst der Anfang eures Endes.«

Mit diesen Worten warf er etwas Glitzerndes in den entflammten Malstrom.

Verwirrt sah Minerva ihn an. Dann färbte sich das Gold grün. Sie formte noch einen Fluch, doch Voldemort war bereits in das Feuer getreten. An seiner Stelle blieb nur schwaches Glimmen. Er war einfach ... verschwunden. Davon gefloht wie ein ...

»Feigling!«, brüllte sie.

Als Abschied schwebten allerdings nur seine letzten Worte durch den Gerichtssaal: »Ihr werdet mich fürchten lernen.«

Bevor Minerva erfasst hatte, was geschah, vergrößerte sich der flohgrüne Flammenwirbel. Er traf auf den äußeren Kreis aus Phönixfeuer. Für einen Moment rangen die verschiedenfarbigen Flammen miteinander. Grün umschlang schlangengleich das Gold, das nicht nachgeben wollte – aber das war ohnehin egal. Die ersten Todesser liefen bereits darauf zu und streckten sich nach dem Flohgrün.

Sie sollten in ihrer Hoffnung recht behalten. Unter lautem Rauschen verschwanden sie genauso wie ihr Anführer. Daraufhin gab es kein Halten mehr. Wo eben noch Kämpfe gefochten wurden, rannte man nun. Binnen Sekunden waren Voldemorts Anhänger fort. Ein paar todesmutige Auroren stürzten ihnen hinterher, Pippa an ihrer Spitze – doch mit dem letzten, verschwundenen Todesser erstarb auch das zweifarbige Phönixfeuer.

Die Kälte dahinter traf Minerva unvorbereitet. Sie holte tief Luft und hörte trotzdem nur Donnergrollen. Plötzlich war wieder so viel Schmerz in ihren Gliedern. Wie nach dem Cruciatus ... und er wuchs.

Wo war Elphinstone ...?

Da waren so viele Leute auf den Rängen oben ... Verwirrung in den Gesichtern, erhobene Zauberstäbe, die langsam herabsanken ... Und da, das Lächeln, das sie so liebte! Elphinstone war staubig und verschwitzt, sein Hemd angesengt, aber er stand. Redete, bewegte sich, sah sie, winkte ...

Endlich sank ihr Zauberstabarm nach unten. Es war vorbei ... Ihr Blick glitt durch das Chaos am Boden. Eugenia stützte sich keuchend auf Dädalus, eine Hand an ihre Seite gepresst. Arrnd kniete neben Emmeline. Gemeinsam mit jemand Unbekanntem murmelte er einige Heilzauber. Einzig Llewyn lief auf sie zu. Er rief etwas, das sie unter dem Dröhnen ihres eigenen Atems nicht verstand. Sie sah nur, dass ein Lachen auf seinen Lippen lag.

Und dann ging weit über ihm, auf der Empore, ein Licht auf. Ein bisschen wie der Mond ... nur so eigenartig violett ... Verwundert sah Minerva zu dem Fleck, der immer heller wurde, schneller wuchs ...

Das war ein Zauber – nein, ein Fluch!

Gleich vier Auroren stürzten sich auf den Urheber im Festumhang. Doch das nützte alles nichts. Der grelle Lichtblitz kam auf sie zu und Llewyn trat ihm nichtsahnend direkt in den Weg.

Minerva stieß den Zauberstab vorwärts.

Mit aufgerissenen Augen fiel der Junge vornüber. Geschockt, nicht getroffen.

Erleichtert atmete sie aus. Sie merkte nicht einmal, wie der fremde Fluch stattdessen sie traf, obwohl sie ihn aus dem Augenwinkel kommen sah, ein Gespinst aus lauter kleinen Lichtfäden, die ihre Brust umschlangen ...

Selbst als sie um Atem rang und neuerliches Donnergrollen aus ihrer Kehle entschlüpfte, war ihr ganz leicht zu Mute ...

Ihre Beine gaben nach wie Streichhölzer. Eigentlich hätte der Boden hart sein müssen, sie erinnerte schließlich, dass er aus Stein war – nur erschien er in diesem Moment watteweich. Und dann zog eine unsichtbare Macht ihre Augenlider herab ... Aber das war in Ordnung, flüsterte ihr eine leise Stimme zu. Sie hatte es geschafft.

Alle ihre Begleiter lebten.

Ein letzter Atemzug hallte wie Gewitter in ihren Ohren wider, bevor die Lichter unter der Decke zu immer fernerem Sternenfunkeln schwanden und was blieb, war

.

.

.

Dunkelheit.

.

.

.

Laute Dunkelheit.

.

.

.

Schreie.

Fluchzischen.

Das Knallen gescheiterter Disapparationen.

Noch mehr Schreie der unglücklichen Zersplinterten.

Schuhquietschen und Getrampel; raschelnde Roben und das Klappern entwaffneter Zauberstäbe, als die zurückgebliebenen Gäste Voldemorts überwältigt wurden.

Aber vor allem ...

»Minerva!«

Ein Schrei, der die Dunkelheit zurückdrängte. Nicht jene vor ihren Lidern, doch die in ihrer Brust, welche sich mit Zähnen und eisigen Klauen in sie grub und nach dem Flämmchen ihres Lebens langte ...

»Minerva!«

Etwas, an das sie sich klammern konnte. Hoffnung, die half Atemzug um Atemzug zu nehmen. Noch ein bisschen länger tapfer zu sein ...

»MINERVA!«

Elphinstone.

Der Einzige, aus dessen Mund ihr Name so herzzerreißend klang.

»Nein! Min –«

Ein Paar Hände umfasste ihre Wangen. Bebende Finger strichen darüber, ehe sie den Weg unter ihre Schultern und Hinterkopf fanden. Sacht wurde sie angehoben.

Schon lag sie in der Umarmung des Mannes, der sie so sehr liebte, dass es schmerzte. Den sie ebenso unfassbar liebte. Und dem sie dies noch viel öfter sagen wollte. Die wichtigsten Erkenntnisse kamen einfach immer im falschen Augenblick.

»Kopf runter!«, brüllte plötzlich eine zweite, tiefere Stimme. Auch diese kannte sie so gut ...

Alston war also doch gekommen. Nur woher? Wann ...

»Protego!«, bellte er und sie schmeckte das Aufeinanderprallen von Magie förmlich. »Elphinstone, was ist mit ihr?«

»Ich – ich ... ich weiß nicht ...«

Sie schaffte es nicht, die Augen zu öffnen oder einen Finger zu rühren, obwohl sie Elphinstone ansehen wollte, ihm sagen wollte, dass alles gut werden würde; dass sie ihm dankbar war. Sie wollte seine Hand festhalten und lächeln, aber ihr Körper gehorchte nicht.

»Oh, nein, nein ... Minerva, bitte ...« Elphinstone strich erneut über ihre Wange. Seine Stimme verlor zusehends an Kraft, jetzt wo er sie hielt. Mehr noch, sie zitterte mindestens ebenso sehr wie seine Arme, während um sie her die Flüche zischten.

Wie aus weiter Ferne hörte sie Alston gegen die letzten verbliebenen Gäste von Voldemort kämpfen. Aber das war nicht, was zählte. Es gab nur noch Elphinstones Stimme für sie.

»Nein, Min, bitte ...« Ein raues Schluchzen entwich ihm. Der schottische Akzent, der sonst eher die Hintergrundmelodie in seinen Worten bildete, schlug mit voller Macht durch. »Bleib. Bleib bei mir. Hörst du mich? Damnaich! Ich brauche dich! Ohne dich bin ich doch hoffnungslos verloren.«

Seine Stirn berührte ihre, als er sich über ihr zusammenkrümmte und sie in seiner Verzweiflung eng an sich presste. Tränen benetzten ihr Gesicht.

»Ich liebe dich doch so sehr ... Und du hast gerufen, dass du mich liebst ... Das – Ich ... oh Minerva ...«

Es war verrückt, dass sie sich mit jedem seiner Worte stärker fühlte. Vielleicht hatte Albus recht, wenn er erzählte, dass Liebe die merkwürdigsten Dinge bewerkstelligte.

Der Versuch, Elphinstones Namen wenigstens zu flüstern, gelang trotzdem nicht. Nur ein raues Husten kam über ihre Lippen. Immerhin ließ ihn das innehalten.

»Oh Merlin, du lebst«, hauchte er. »Oh Minerva! Ich dachte schon, ich hätte dich verloren!«

Sie wurde höher gehoben und ihr Kopf rutschte an seine Brust. Er hielt sie immer noch so fest, als könne sie gleich zerfallen, aber es war ihr recht. In der Hinsicht traute sie ihrem Körper nicht.

»Keine Sorge, ich krieg dich hier heil raus.« Elphinstone lachte zittrig auf. »Du solltest sehen, wie Mulciber gerade kämpft. Der wischt den Boden mit diesen lächerlichen Idioten. Braucht meine Hilfe gar nicht. Nicht, dass ich dich je loslassen könnte.«

Seine Stimme verdrehte die englischen Worte zusehends mehr und der Klang ihrer Heimat hatte Minerva noch nie derart glücklich gemacht. Sie hustete erneut, worauf Elphinstone mit weiteren Brocken Gälisch reagierte.

»Fuirich«, flehte er sie an zu bleiben. »Ich bin bei dir, hörst du mich? Bald wird alles gut. Und wenn ich dich durch ganz London zu Archie trage, damit er dich heilt.« Schon wieder entkam ihm ein Lachen. »A Riochd, ich weiß selber nicht, was ich gerade sage. Ich liebe dich einfach so. Tut mir leid, ich kann nicht aufhören, es zu erwähnen. Verflucht, ich habe noch nie so Angst gehabt. Vermutlich habe ich immer noch wahnsinnig viel Angst, dass dein Mut heute dein Leben fordert. Oh Min ... Wusstest du, dass Teufelsschlingen sich ans Sonnenlicht anpassen können, wenn sie ihm nur lange genug ausgesetzt sind? Sie können über Jahre hinweg eine gewisse Toleranz aufbauen. Allerdings verlieren sie dabei ihre bemerkenswerten Selbstheilungsfähigkeiten –«

»Hoch mit ihr, Elphinstone!«, unterbrach Alston seinen Sermon. »Die Heiler kommen sicher im Atrium an. Je eher du sie hier wegbringst, desto besser!«

»Ich – ja!«

Ein Ruck ging durch Minerva und sie stöhnte.

»Es tut mir so leid«, flüsterte Elphinstone. »Aber bald wird es besser gehen. Bleib einfach bei mir ja? Mal sehen, was kann ich dir noch erzählen ... Oh! Wusstest du, dass die Blüten der Springbohne giftig sind? Aus ihnen kann man herrliche Farben gewinnen, aber man muss höllisch aufpassen, egal wie schön sie aussehen. Dafür wirkt das Pfeilkraut sehr gefährlich, ist es aber gar nicht. Einmal im Jahr blüht es, genau zur Sonnenwende. Wunderhübsche Blüten. Das würde ich dir gerne mal zeigen. Ich weiß, du hast nichts übrig für Pflanzen, aber ... vielleicht würde es dir ja doch gefallen.«

Minerva nahm sich fest vor, ihm später zu sagen, dass sie alles über Blumen und andere Gewächse hören wollte, solange er sie ihr zeigte. Dafür verzieh sie ihm sogar das leichte Schaukeln, als er sie die Treppen ins Atrium empor trug. Gleichwohl ihr Blitze vor der Innenseite der Augenlider explodierten und der Feuerball aus ihrem Magen sich in Form brennender Säure ihre Kehle hinauf fraß.

»Wenn es dich glücklich macht, würde ich aber auch auf einem Besen mit dir fliegen«, sprach Elphinstone weiter. »Ich kenne da nämlich ein Kraut, das soll gegen Höhenangst helfen und ich hatte noch nie die Chance, es auszuprobieren. Dabei wäre das die Gelegenheit. Aber dazu musst du jetzt tapfer bleiben, okay?«

»Mh«, murmelte sie kraftlos in sein Selbstgespräch hineine. Zu mehr reichte es nicht.

Doch er hörte es und drückte sie fester. »Taing dhan Àigh! Den Gründern sei Dank! Wir sind auch schon fast da. Nur noch eine Treppe. Und glaub mir, ich habe noch genug Pflanzenfakten für den ganzen Weg bis ins St. Mungo. Hoffentlich hasst du mich nicht dafür. Aber egal. Hauptsache, du bleibst wach. Konzentriere dich einfach auf meine Stimme, ja? Also, lass mich nachdenken ... wusstest du, dass auch die Muggel Diptam kennen und nutzen? Sie nennen es nur anders!«

Elphinstones zusammenhanglose Geschichten über Pflanzen und Kräuter trugen sie den ganzen Weg hindurch. Es half, dass Minerva tatsächlich kaum etwas davon wusste. Sie klammerte sich an seine Stimme, als würde es später einen Test geben, den sie bestehen müsste.

Selbst nachdem Archie und seine Kollegen sie übernahmen, brach er nicht ab – und sie hörte zu. Ihr war egal, welche Zauber die Heiler auf sie wirkten, denn nichts half so sehr wie die Geschichte eines mutigen – und reichlich dämlichen – Zauberers, der einst eine ganze Venemosa Tentacula verzehrt hatte, sodass seine Haut sich für immer pink färbte.

Erst als ihr jemand einen Trank einflößte, der langsam all ihre Glieder betäubte, verlor sich Elphinstones Stimme im Nebel. Was allerdings bis zuletzt blieb, war das Gefühl von seiner Hand auf ihrer.

Süße Träume

So laut wie ihr Einschlafen gewesen war, so leise gestalte sich Minervas Erwachen. Endlich war es still. Unendlich still. Kein Gewitter in ihren Ohren. Nicht einmal das entfernteste Donnern. Im Gegenteil, ihr Atem war so ruhig, dass sie fürchtete, er wäre gar nicht da. Erst als sie die Nasenspitze kräuselte, spürte sie die Luft hindurchstreichen. Also lebte sie wirklich noch.

Ein eigenartiger Gedanke. Normalerweise war es selbstverständlich, aufzuwachen, die Augen aufzuschlagen und – wenn auch widerwillig – aufzustehen. Morgens beschäftigten sie höchstens die Aufgaben des anstehenden Tages, nicht ihr körperlicher Zustand.

Jetzt hingegen nahm sie jeden Sinn in voller Intensität wahr, wie nie zuvor. Dabei umhüllte sie nichts außer angenehmer Wärme. Obwohl ... ein weiches Gewicht drückte auf ihre Brust. Ein bisschen wie früher, wenn die Familienkatze ausgerechnet auf ihrem Bauch einschlafen wollte. Nur das Schnurren fehlte.

Die Erinnerungen an längst vergangene Winterabende im Haus ihrer Eltern erfüllten Minerva mit Zufriedenheit. Sie kam sich vor wie auf eine Wolke gebettet, all das Leid und die Sorgen vergessen. Selbst wenn sie versuchte, daran zu denken, was ihr zuletzt widerfahren war, spülte es die Gedanken gleich wieder fort.

Letztlich war es auch egal, denn jetzt ging es ihr gut. Sie hatte keine Schmerzen, keine Angst. Es warteten keine Schatten mehr darauf, sie zu verschlingen. Alles war gut, das flüsterte ihr sogar die imaginäre Katze zu.

Trotzdem ließ sie nur zögerlich weitere Empfindungen von jenseits der Dunkelheit ihrer Lider in ihr Bewusstsein vor. Die plötzliche Kollision zweier Welten sollte ihr nicht schon wieder dieses zerbrechliche Glück rauben. Nicht wie im Keller der Lestranges ...

Warum dachte sie das? Was war damit gemeint ... Bevor sie tiefer in die Erinnerung eintauchte, trug es die Fragen auch schon in einer Welle neuer Gedankenfetzen fort. Es spielte keine Rolle. Viel wichtiger war doch, dass etwas auf ihre Hand drückte. Im Gegensatz zu dem Gewicht auf ihrer Brust aber eindeutig lebendig.

Das konnte nichts Schlechtes sein. Schlechte Dinge waren stachelig, hart und brennend, nicht weich oder warm. So viel wusste sie.

Mutiger streckte sie ihre Sinne bis in die Fingerspitzen. Es brauchte einen Moment der Überredung, ihren Nerven ein kaum merkliches Zucken zu entlocken. Aber es schien zu reichen, denn sofort antwortete ihr sanfter Druck. Fremde Finger, begriff sie. Und sie schlangen sich fester um ihre. Zogen sie zurück in die Realität. Das Gefühl, zwischen Himmel und Erde zu schweben, schwand zusehends – aber dafür erfüllte eine andere, viel bessere Leichtigkeit Minervas Herz.

Sie wusste einfach, zu wem diese Berührung gehörte. Da spielte es keine Rolle, dass ihre Lider einmal mehr mit einem Dauerklebefluch versiegelt schienen. Die sanften Kreisbewegungen auf ihrem Handrücken verband sie inzwischen so untrennbar mit Elphinstone wie den Anblick einer Pflanze.

Ihr Herz glühte bei dem Gefühl seines Namens in ihrem Kopf für einen Schlag auf, als sei es eine Kohle im Kaminfeuer, das frisch angefacht wurde. Die Funken, die es in ihren ganzen Körper schickte, brachten genug Kraft mit sich, dass sie es schaffte, die Augen wenigstens einen Spaltbreit zu öffnen.

Sie konnte nur durch ihre Wimpern blinzeln, doch sofort flutete gedämpftes Licht ihre Dunkelheit. Lange Schatten versteckten den Raum vor ihr, nicht aber den goldenen Schimmer auf dem Haar der Person an ihrem Bett. Der Anblick genügte, damit das Phönixfeuer in ihr wieder lichterloh brannte.

Bevor er ihr entkam, schloss sie ihren ganz privaten Schnatz fest in die Faust. Selbst wenn es in Wahrheit beim Zucken ihrer Finger in seiner Hand blieb – das Gefühl war gleich. Die schönste Mischung aus Freude und Erleichterung, die es auf der ganzen Welt gab.

Elphinstone hob den Kopf. Für einen Moment schien er ähnlich mit den Lidern zu kämpfen wie sie, aber dann riss er die Augen weit auf. Sie hörte ihn tief Luft holen. Sagen tat er trotzdem nichts. Sein Gesicht ging einfach nur in jenem Strahlen auf, mit dem er bereits das Gartenmagazin bedacht hatte, das sie ihm in der letzten Woche (erst?) geschenkt hatte. Und gleichzeitig lag so viel Sorge in seinem Ausdruck ...

Er beugte sich über die Bettkante und rutschte damit näher in ihr Blickfeld. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, Bartstoppeln zierten sein Kinn und der Kragen des Hemdes – nach wie vor jenes, das Eilean für ihre Verkleidung ausgewählt hatte – war völlig zerknittert. Verdreckt. Angesengt. Und trotzdem war der Anblick schlicht wunderbar.

Mit aller Macht schluckte Minerva gegen die Enge in ihrem Hals an. Nicht nur eine Kröte, gleich eine ganze Sippe schien den Platz dort einzunehmen. »... Phin ...«, murmelte sie schließlich unter Aufbringung sämtlicher Kraft. Zu mehr reichte es einfach nicht.

Seine Fingerspitzen strichen über ihre Wange. »Oh Minerva – oh Merlin sei Dank«, flüsterte er mit einer Stimme, die klang, als hätte er sie seit Tagen nicht benutzt. »Ich bin so froh ... Ich hatte solch verrückte Angst, dass du nie wieder aufwachst ...«

Sie fühlte ihre Lippen verräterisch zittern und Elphinstone lächelte. Zwar müde, aber doch besänftigend.

»Keine Sorge. Jetzt wird alles gut.« Er räusperte sich gegen die Heiserkeit an. »Wir haben es geschafft, Min! Voldemort und seine Leute haben das Ministerium nicht in ihre Hände bekommen. Im Gegenteil, die Auroren konnten sogar die ersten Todesser festnehmen. Erinnerst du dich an die Zauberer, die du zusammen mit dem Kobold aufgehalten hast? Die gehen nirgendwo mehr hin außer nach Askaban. Und die Auroren sind jetzt gerade dabei, den Rest von ihnen auch noch zu jagen. Ich weiß nicht wie, aber du hast es geschafft, dieser ... Vereinigung rund um Riddle einen dicken, fetten Strich durch den Plan zu machen.«

Fragen schossen schneller als jeder Schnatz durch Minervas Gedanken, doch im Gegensatz zu Elphinstones Hand konnte sie keinen einzigen davon ergreifen. In ihrem Kopf schwebte zu viel Watte, sodass sie Mühe hatte, die Aussage überhaupt zu begreifen. Alles, was schlussendlich über ihre Lippen kam, war ein leises Wimmern.

»Du musst nicht mehr kämpfen, Min«, ergänzte Elphinstone sofort. »Versprochen. Auch wenn Voldemort und die Lestranges auf der Flucht sind, haben wir jetzt hundert Auroren an unserer Seite, die ihnen keinen ruhigen Moment lassen werden, bis sie in Askaban sitzen.« Er unterstrich seine Worte mit einem bekräftigenden Nicken. »Es ist noch nicht mal drei Stunden her, dass der Kampf im Ministerium geendet ist, aber Eugenia Jenkins hat sofort den Notstand ausgerufen. Außerdem ist Dumbledore kurz hier gewesen. Er hat nicht viel verraten, nur dass er seine eigenen Leute mobilisiert. So wie Emmeline und Dädalus, weißt du? Ich bin mir sicher, wenn du das nächste Mal aufwachst, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Wir sind nicht länger alleine.«

Das Lächeln grub sich tiefer in sein Gesicht und er fuhr mit dem Daumen über ihre Schläfe. Das entlockte ihr wiederum ein Seufzen. Selbst diese leichte Berührung fühlte sich so unglaublich gut an – genau wie seine Worte. Aller Watte zum Trotz begriff sie, dass diese Hoffnung bedeuteten.

»Also werd’ einfach wieder gesund, ja?«, bat Elphinstone sie sanft. »Du musst noch viel schlafen, damit die Tränke wirken und deinen Körper regenerieren können. Sowieso ist es ein Wunder, dass du bei so einem starken Schlaftrank überhaupt schon aufwachst. Zumindest hat Archie mich vorgewarnt, dass es so sein wird. Auch wenn es vor lauter Sorge schwerfällt, vertraue ich ihm da. Aber egal wie lange es am Ende dauert, ich werde an deiner Seite warten und aufpassen.«

Er griff wieder nach ihrer Hand. Behutsam hob er sie und drückte einen Kuss auf die Fingerspitzen. Ganz leicht, aber mehr als genug. Minervas Lider kämpften zwar darum, sich zu schließen, doch die Berührung schenkte ihr ein paar letzte Sekunden Bewusstsein.

Sie merkte noch, wie Elphinstone seine Wange mit einem leichten Schniefen gegen ihre Hand drückte. Seine Lippen zitterten nun doch zu sehr, um das Lächeln weiter aufrechtzuerhalten. Aber seine Augen, die leuchteten nach wie vor voller Wärme.

»Ich bin so stolz auf dich«, hörte sie ihn noch raunen, dann erstreckten sich die Schatten wieder zu einer schweren Decke aus Schlaf.
 

Es schien kaum Zeit vergangen zu sein, als ihr diese Decke plötzlich ruckartig entzogen wurde. Anstatt langsamen Erwachens war Minervas Bewusstsein von einer auf die andere Sekunde einfach wieder ... da. Aktiv, ein summender Bienenstock der Gedanken.

Sie schlug die Augen auf.

Mühelos. Als wäre nie etwas passiert.

Das Licht war immer noch – oder wieder? – gedämpft, aber dieses Mal fand sie sich beängstigend schnell zurecht. Ein dunkler Schatten saß neben ihrem Bett. Ohne ihre Hand zu halten, ohne goldenen Schimmer auf den Haaren.

»Gut, du bist wach.«

Alston Mulciber musterte sie aus tief umschatteten Augen. Auch wenn er mit seinen schwarzen Anzügen, dem grimmigen Ausdruck und den stets missgünstigen Sprüchen schon immer eine dunkle Aura um sich getragen hatte, lag nun eine ganz neue Schwere in seinem Blick. Er hatte den Zauberstab auf seinen Knien abgelegt und schob eine winzige, zur Hälfte geleerte Phiole in seine Umhangtasche.

Minerva schmeckte Salz auf ihren Lippen und darunter ... etwas Bitteres. Aller Wärme unter ihrer Bettdecke zum Trotz prickelte es ihr kalt den Nacken hinab. So sehr, wie Elphinstones Augen im Schein der einzelnen Zaubersphäre gefunkelt hatten, schluckten Alstons noch das letzte Licht. An diesem Eindruck änderte es auch nichts, dass er im Gegensatz zu Elphinstone einen sauberen Anzug unter seiner mitternachtsblauen Amtsrobe trug oder frisch rasiert war, dem scharfen Geruch nach Aftershave zu urteilen.

Einen Moment lang starrte sie ihn nur an, während die Gedanken und Erinnerungen in ihrem Kopf kreisten. War das eine Illusion? Träumte sie wirres Zeug, hervorgerufen von den vielen Tränken, mit denen man sie vollgepumpt hatte? War es in Wirklichkeit der Schlaftrank, dessen Nachgeschmack ihr auf der Zunge lag, und nicht was immer Alston benutzt hatte, um sie aufzuwecken?

Doch dann seufzte Alston verhalten und das war ein so unerwartetes Geräusch, dass es unmöglich ihrer Fantasie entspringen konnte.

»Ich weiß, ich bin nicht derjenige, den du sehen willst«, sagte er leise, »und es tut mir, auch wenn du es wahrscheinlich nicht glauben wirst, aufrichtig leid, dein erster Anblick zu sein.«

»Ich ... habe Phin ... bereits gesehen«, murmelte sie, einfach nur um sich selber daran zu erinnern, dass es wahr war. »Kurz ... er war da ... weiß nicht, wann ...«

Ihr Körper schien ihr nur geringfügig besser zu gehorchen als bei ihrem letzten Erwachen. Sie war nicht einmal sicher, ob die Worte verständlich über ihre Lippen kamen oder nicht bloß durch ihren Kopf hallten. Sie schluckte und befreite damit ein Husten von ganz tief unten. Wenigstens entledigte sie das von einem Teil der Krötenfamilie im Hals.

»... Wo ist er jetzt?«

»Keine Sorge. Ihm geht es gut. Also den Umständen entsprechend. Er sitzt immerhin die ganze Zeit an deiner Seite, hält deine Hand und weigert sich, irgendwas anderes zu tun. Nicht mal umziehen wollte der Idiot sich. Somit geht es ihm in Wirklichkeit beschissen, aber das würde er nie zugeben.« Ein eigenartiges Lächeln strich über Alstons Gesicht, nur um gleich wieder zu verschwinden. »Er ist gerade nebenan, im Heilerzimmer, bei Archibald. Ich habe ihn zu einer Zwangspause verdonnert.«

»Du hast ihn ... verzaubert.« Minerva wünschte, sie könnte irgendetwas anderes tun, als in diesem Krankenbett zu liegen und Alston unter zusammengezogenen Augenbrauen hervor anzustarren.

Er erwiderte ihren Blick mit einem Schulterzucken. »Du kennst mich. Und du kennst ihn. Natürlich habe ich Elphinstone einen kleinen Verwirrungszauber aufgehalst, damit er dieses Zimmer verlässt und sich wenigstens einen Kaffee und eine Umarmung holt. Aber das ist zu seinem Besten, findest du nicht?«

Ein unidentifizierbares Geräusch entwich Minerva, irgendwo zwischen Zustimmung und Empörung. »Warum ... bist du hier?«

»Direkt zum Ziel, das lobe ich mir.« Alston straffte seine Schultern. »Es tut mir wirklich furchtbar leid, aber es gibt da ein paar Erinnerungen, um die ich dich erleichtern muss.«

Minerva blinzelte. Einmal. Noch einmal. Ein drittes Mal. Doch Alston sagte nichts weiter – und natürlich löste er erst recht nicht diesen Scherz auf.

»Was ...?«, hauchte sie schließlich.

»Oh, sieh mich nicht an als wäre ich die Eule und du die Maus. Das macht es nur unnötig schwer für beide von uns. Du hast doch hoffentlich nicht gedacht, dass ich dich einfach mit dem Wissen um all meine Privatbelange ziehen lasse?«

»Ich habe gedacht ... Ich habe gehofft ... du hättest doch so etwas wie ein ... Gewissen.« Die aufkochende Wut brannte Minervas Worten den Weg durch ihren Hals besser frei als jeder Feuerwhisky. »Du hast Elladora geschworen –«

»Für unsere Sache zu kämpfen. Aber ganz sicher nicht, dir keine Erinnerungen abzuknüpfen. Vergiss nicht – Ella ist kein bisschen wie Elphinstone. Ich denke nicht, dass sie etwas gegen deinen Gedächtnisverlust hätte. Immerhin hast du dein Versprechen ihr gegenüber schon eingelöst, wenn ich Elphinstone recht verstanden habe.«

»Also soll ich ... das Beste an dir vergessen?«

»Das Beste?« Alston stieß einen heiseren Lacher aus. »Eher das Schlimmste.«

»Du hast ... mir geholfen«, stöhnte Minerva leise. »Eigentlich ... wollte ich dir danken. Für den Vielsafttrank. Für meine Befreiung. Für deine Ehrlichkeit. Ohne dich ... wäre ich tot.« Ihr Mund schien von einem pelzigen Geschöpf anstelle einer Zunge bewohnt, doch sie zwang die Worte voller Trotz hervor. »Verflucht, ich bin dir wirklich dankbar. Warum willst du dir das nehmen?«

»Weil du mich verraten würdest. Also muss ich dich zuerst verraten.«

»Aber du ... du ... Nein. Das ... kannst du nicht wirklich ...« Minerva wollte nach Alstons Zauberstab greifen, ihn wegschleudern, doch ihre Finger auf dem weißen Laken zuckten nur müde. Die ganzen Betäubungstränke hielten sie fest in ihrem Griff – und das wusste er, begriff sie mit einem Blick in seine tiefdunklen Augen. »Nein! Du ... Tu das nicht!«

»Was? Dir die Erinnerungen daran nehmen, wer ich wirklich bin? An das, was ich getan habe? Damit ich zum Dank kein unbescholtenes Leben mehr führen kann? Deine Chancen stehen verdammt schlecht, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Du weißt doch, dass ich ein egoistisches Arschloch bin. Immer schon gewesen, seit dem elften November 1926. Frag meinen Vater – ach warte, den hat genau das schon in ein frühes Grab gebracht.«

In der folgenden Stille klang Minervas krampfhaftes Schlucken doppelt so laut. »Was ... Alston –«

»Herzinfarkt. Der Mann hatte einfach nur einen Herzinfarkt. Aber glaub mir, wenn Tote reden könnten, würde er mir und meinen Lebensentscheidungen die Schuld daran geben.«

Mit einem Seufzen schloss Minerva kurz die Lider. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie den Kopf schütteln oder schimpfen sollte. »Du ...«

»Ich weiß. Ich habe es doch mit Absicht so formuliert. Schlechter als jetzt kannst du eh nicht von mir denken, also macht es keinen Unterschied, ob du mich noch für einen Vatermörder hältst. Vielleicht würde ich mir manchmal auch wünschen, es tatsächlich getan zu haben.«

»Warum ... willst du nur so sehr gehasst werden?«

»Jeder braucht ein Hobby, hm? Und sorry, Gartenarbeit ist nur was für die Geduldigen.«

»Du könntest Koboldstein spielen. Gegenspielern Stinksaft ins Gesicht spritzen klingt perfekt für dich.«

»Du würdest doch nur wollen, dass ich gegen dich verliere.«

Die Muskeln in Minervas Wangen zuckten verdächtig. Trotzdem seufzte sie wieder. »Vielleicht. Aber vor allem ... will ich dich nicht an diesen ... Irrsinn verlieren.«

»Also wenn ich nicht wüsste, wie du für Elphinstone empfindest ...«

»Du lenkst ab.« Obgleich Alston ihren Blick nicht erwiderte, starrte Minerva ihn unverwandt an. »Ich meine es ernst. Ich will ... dass wir Freunde bleiben.«

»Dafür ist es längst zu spät.«

»Es ist nie zu sp-«

»Einer von den hundert weisen Glückskekssprüche des großen Albus Dumbledore? Ach komm, Minerva, das kannst du besser. Du magst zwar Idealistin sein, aber du bist trotzdem auch Realistin. Du hast gesehen, was ich getan habe. Wozu ich fähig bin. Ich weiß, dass du das nicht einfach vergessen kannst.« Endlich sah Alston sie doch wieder an. Harsche Linien gruben sich um seinen Mund in die Haut, als er seinen Zauberstab ergriff und sich mit dessen Spitze gegen die Brust tippte. »Deine Moral verlangt, dass ich angemessen bestraft werde. Du magst jetzt noch nicht dran denken, aber glaub mir, wenn du erstmal hier raus bist, wirst du nicht damit leben können, mich auf freiem Fuß zu wissen. Mörder verdienen kein Happy End, das begreife sogar ich.«

»Sag mir wenigstens, dass du nach allem nicht ... zu ihm zurückkehren wirst.«

»Habe ich denn eine andere Wahl?«

Das »Immer« brannte Minerva auf der Zunge wie ein Säuredrops und ebenso unwillig schluckte sie es herunter. »Du hättest jede Strafe verdient, wenn du das wirklich ernst meinst«, sagte sie stattdessen spitz.

»Wenigstens bist du ehrlich.«

»Und du hast offenbar schon vergessen, was dein alter Schulfreund alleine heute getan hat.«

»Ich habe lediglich eine Abwägung vorgenommen, was für mich das Beste ist, mehr nicht. Ich habe mich schließlich nicht umsonst im Hintergrund gehalten, bis du ihn zurückgeschlagen hattest.«

Minerva schürzte die Lippen. »Vielleicht hätten wir ihn festgenommen, wenn du mit uns gekämpft hättest.«

»Nein. Ich kenne meine Grenzen. Und Tom bin ich nicht gewachsen.« Alston tippte sich an die Schläfe. »Ich bin gut in diesen Dingen, nicht in wildem Zauberstabgefuchtel.«

»Gegen Bellatrix hast du auch gekämpft.«

»Sie steht ja auch gerade erst am Anfang, was ihre Fähigkeiten angeht. Sie mag unberechenbar wirken, aber manchmal ist gerade dieser Wahnsinn doch sehr berechenbar.«

»Die Auroren werden sie trotzdem nicht kriegen, oder? Genauso wenig wie den Rest von euch ...«

»Dich könnte man nicht mal belügen, wenn man wollte.« Die Schläfe nach wie vor gegen die Fingerspitzen gestützt, zog Alston eine Grimasse. »Merlin, das habe ich vom ersten Tag an dir gehasst.«

»Also?«

»Natürlich sind Vorkehrungen getroffen worden. Sichere Häuser, Fidelius-Zauber, das volle Programm. Die Lestranges sind längst an so einem Ort. Tom würde es nie so formulieren, doch Bellatrix hat ihn beeindruckt. Mit ihrem Wissen, ihrem Fleiß und vor allem ihrer Überzeugung – das sind genau die Dinge, die er in seinen Anhängern sucht. Keine Gefahr für ihn, aber gefährlich genug, um ihm zu dienen. Ihre Aufnahme ist nur noch eine Formalität. Auch wenn du mir glauben kannst, dass ich entschieden dagegen argumentiere. Also nein, so einfach wird es nicht sein, egal was Elphinstone glaubt.«

»Und du wirst mich jetzt all das einfach vergessen lassen und dann ... zusehen? Wie wir untergehen? Dann könntest du mich auch gleich hier und jetzt töten.«

»Als wenn ich daran ein Interesse hätte. Nein, Minerva, ich halte mir bloß alle Wege offen. Wenn du deine Erinnerungen an den letzten Abend erst los bist, bleibe ich auf meinem Posten im Ministerium und bin frei, zu tun, was ich für das Beste ersinne. Wozu immerhin gehört, ein wachsames Auge auf die Lestranges zu haben.«

Wenn sie gekonnt hätte, wäre Minerva aufgesprungen, hätte mit den Armen gewedelt, Alston an den Schultern gerüttelt – alles, damit er wieder zur Besinnung kam ... »Genau deshalb kannst du doch nicht weitermachen wie vorher!«

»Wenn du noch mehr schreist, muss ich dich schocken.«

»Alston!«

»Minerva.«

»Bitte sag nicht, dass du wirklich aus reinem Eigennutz ein ... ein Todesser bleiben willst.« Das hässliche Unwort kam nur als Wispern über ihre Lippen. »Das willst du doch auch nicht. Du könntest noch ... umdrehen. Selbst wenn all deine schlechten Taten rauskommen, kann ich bezeugen, was du getan hast, um das Ministerium zu retten. Um Elladora zu retten. Da steckt Gutes in dir!«

»Angenommen du tätest das. Was dann? Hast du eine Ahnung, was da draußen gerade los ist? Was mit mir passieren würde, wenn Tom das erfährt?« Alston schüttelte den Kopf. »Glaubst du, ich kann Jahrzehnte meines Lebens wegwerfen? Um mich anschließend am besten noch von Albus Dumbledore für seine Pläne instrumentalisieren zu lassen?«

»Das –«

»Ich werde dir die Worte sparen, Minerva. Die Antwort ist nein. Ich weiß, du zählst Dumbledore zu deinen guten Freunden –«

»Den Besten.«

»Besten Freunden, meinetwegen. Aber ... selbst du kennst nicht alle Seiten an ihm. Du weißt nicht, wie es ist, schon als Kind von diesem Mann alleine mit Blicken regelrecht seziert zu werden. Ständig befragt, hinterfragt, verurteilt und beobachtet zu werden. Weil er genau weiß, dass du schreckliches Potential hast. Und trotzdem nichts tut. Dir keine Hand reicht, weil du es nicht wert bist in seinen Augen. Du bist ja nur der Sprössling einer reichen, alten Dynastie und kein edles Halbblut, das offen für seinen Einfluss ist. Du bist verloren, du weißt es nur noch nicht.«

»Aber deshalb muss es doch nicht so enden! Niemand verlangst, dass du Albus’ bester Freund wirst! Was ist mit Elphinstone? Mit Pippa und allen anderen im Ministerium? Sind sie es für dich nicht wert, das Richtige zu tun –«

»Das ist es ja, Minerva. Ich tue das Richtige. Für mich. Aber noch viel mehr für meinen Jungen. Und das ist alles, was am Ende zählt. Tut mir leid, aber das ist die Wahrheit.«

»Wie soll es deinem Sohn denn helfen, diesen Wahnsinn nicht zu beenden? Noch ist es nicht zu spät –«

»Er wird leben. Tom wird ihn nicht anrühren, solange er einen Nutzen in mir sieht. Und das wird mir erlauben, einen Weg zu finden, diese Scheiße zu überstehen. Glaub mir, ich wünschte, wir hätten heute einen Sieg errungen, aber das war nacktes Überleben. Darauf kann ich mich in Zukunft nicht verlassen. Ab hier sind es wieder Aiden und ich, alleine.«

»Aber –«

»Lass mich raten.« Alston senkte seine Stimme zu einem müden Flehen. »Aber wir könnten dir helfen, Aiden zu beschützen! Richtig?«

»Natürlich –«

»Ich weiß, dass du für die Kinder in Hogwarts alles tun würdest. In der Hinsicht hast du Albus Dumbledore einiges voraus, würde ich meinen. Das hast du in den letzten Tagen eindrucksvoll bewiesen. Aber ... ich weiß auch, dass alles Wollen manchmal nicht reicht. Nicht, wenn Blut und alte Magie im Spiel sind.« Alston presste seine Lippen so fest aufeinander, dass sie förmlich verschwanden. »Du kannst Aiden nicht vor dem einzigen Grund beschützen, weshalb er überhaupt geboren wurde. Ich wünschte, du könntest es. Dann müsste ich nicht so schrecklich Angst haben, das Beste in meinem Leben zu verlieren.«

Ein neuer Kloß schwoll in Minervas Hals heran und nahm ihr den Atem. Tränen drückten von innen gegen ihre Augäpfel, dass es schmerzte. »Alston ...«

Er sah auf den Zauberstab in seiner Hand hinab, der sichtlich zitterte. »Ich liebe Aiden«, stieß er gepresst hervor. »Bevor du fragst, ja, mehr als mein eigenes, jämmerliches Leben. Ich habe keine Angst vor meinem Tod. Nicht mehr. Ich habe drei Kinder verloren, ich werde nicht auch noch ihn opfern. Wenn es Aiden rettet, küsse ich meinetwegen auch einen Dementor. Oder bleibe eben ein unfassbar egoistisches Todesser-Arschloch. Das ist schließlich meine leichteste Übung.«

Alston zwinkerte, aber für Minerva sah es mehr aus, als wenn er gegen Tränen ankämpfte. Sie zwang ihren Willen die Nerven bis in ihre Hand hinab. Gerade so streckten sich die Finger über das Laken in seine Richtung – und er rutschte im Stuhl zur Seite, gefühlte Meilen aus ihrer Reichweite.

»Mach es nicht unnötig schwer«, murrte er.

»Soll ich es denn einfach geschehen lassen?« Aufgebracht reckte Minerva das Kinn vor. Die einzige körperliche Regung, die ihr noch blieb.

»Wäre eine Maßnahme.«

»Dann mach doch! Fluch meine Erinnerungen weg! Aber erwarte nicht, dass ich sie dir einfach überlasse, wenn du mich so hinterhältig an meinem Krankenbett überwältigst!«

Alston rieb sich mit den Fingerspitzen seiner freien Hand die Stirn. »Das würdest du mehr bereuen als ich. Ist schließlich dein Kopf, der dann möglicherweise einen irreparablen Schaden erleidet. Bei allen Animositäten würde ich das doch bedauerlich finden, eine Hexe wie dich um ihren Verstand zu bringen.«

Er senkte das Haupt, ohne Anstalten zu machen, den Zauberstab zu erheben. Ein paar dunkle Strähnen fielen aus dem sorgsam zurückgelegten Haar in sein Gesicht. In diesem Moment sah er einfach nur so müde aus, wie Minerva sich fühlte. Ihr Herz wurde schwer.

So furchtbar das Ergebnis war, sie konnte diese Liebe, die Alston zu seiner Entscheidung führte, trotzdem nachvollziehen. Sie musste nur an ihre Familie oder Elphinstone denken, um das schreckliche Potential zu erkennen, das auch in ihr lauerte. Ein Imperius zur Rettung ihres Bruders war nur die Spitze eines Eisbergs.

Gleichzeitig mit diesem Gedanken wuchs eine grimmige Idee in ihr empor. Wenn Alston mit allen Mitteln kämpfte, dann sie ebenso. »Nimm meine Erinnerungen an den letzten Abend«, sagte sie mit kratziger Stimme. »Aber vorher, vorher schwörst du mir etwas. Heb deinen Zauberstab und schwör mir, dass du Elphinstone nichts tun wirst. Egal, was Voldemort von dir verlangt. Schwör mir einfach nur, dass du ihn vor deinesgleichen schützen wirst. Dass du ihn nie verraten wirst. Wenn du es nicht für mich tust, dann wenigstens für Elladora.«

Ein paar Herzschläge lang herrschte Stille. Alston starrte scheinbar ins Nichts am Kopfende ihres Bettes. Minerva wagte es nicht, sich zu regen.

»Du willst, dass ich dir gegenüber einen kindischen Zauberschwur ablege? So richtig mit feierlichem Zauberstabgefuchtel? Obwohl das höchstens was für Elfjährige ist, die sich versprechen, für immer beste Freunde zu bleiben? Und man höchstens sehr hässlichen Ausschlag bekommt, wenn man das Versprechen bricht?«

»Welche Möglichkeit bleibt mir sonst? Wir hatten immerhin ein Foemicus-Band, also passt das doch. Und bei deiner Eitelkeit steht die Chance gut, dass dir der Ausschlag das wirklich nicht wert ist.«

Alston schürzte seine Lippen. »Hm.« Dann ergriff er ihre Hand und drehte sie so, dass sie mit der Innenfläche nach oben in seiner lag.

»Was tust du da?«

»Dir gegenüber einen unbrechbaren Schwur ablegen.«

»Aber wir haben keine –«

»Dritte Person, ich weiß. Deshalb schwöre ich es dir bei meinem Blut. Hält sowieso besser, als wenn jemand Drittes den Schwur bindet. Besonders im Vergleich zu dem Kinderkram, der dir vorschwebt.«

»Das ...« Minerva starrte auf ihre Hand, über die Alston nun seinen Zauberstab zog, vom Ringfinger bis zum Ende der Lebenslinie. Ein feiner, roter Strich zeichnete sich ab, kaum mehr als ein Haarriss. Der Schnitt tat nicht einmal weh. »Das ist ... lebensgefährlich!«

»Du redest mit dem Mann, der seine Frau durch Blutmagie zum Tod verurteilt hat. Glaubst du, ich weiß nicht, welches Risiko ich eingehe, wenn ich einen unbrechbaren Schwur in Blut binde? Und ich möchte noch einmal betonen, dass ich dieses Risiko eingehe. Wenn ich einen Fehler mache, sterbe ich. Nicht du. Und da ich genug Grund habe, noch ein wenig länger zu leben, kannst du davon ausgehen, dass ich mir meiner Sache sehr sicher bin.«

»Alston ...«

»Ach komm, sieh mich nicht so an, als würdest du das Risiko bedauern.«

Erneut legte er den Zauberstab über seine Knie, damit er den linken Arm aus der Ministeriumsrobe winden konnte. Dann löst er mit wenigen Handgriffen seinen Manschettenknopf und rollte schließlich den Hemdsärmel hoch.

Minerva hielt die Luft an. Plötzlich erinnerte sie sich, wie Alston sich geweigert hatte, seinen Ärmel für das Anlegen des Foemicus-Bandes hochzukrempeln. Sie hatte sich damals nichts dabei gedacht – umso schwerer traf die Erkenntnis nun.

Die Innenseite von Alstons Unterarm war nicht weiß, sondern tiefrot und schrumpelig wie feuchtgewordenes Pergament. Aber nicht nur das, gleich mehrere dunkle Narben zogen sich quer durch die Täler einst verbrannter Haut. Zwischen all dem fiel die schwarze Schlange, die sich unterhalb des Ellenbogens als tattoähnliches Mal um seinen Arm wand und ihren eigenen Schwanz verschlang, kaum auf.

Sie wollte wirklich nicht starren, doch Minerva gelang es nicht, den Blick zu lösen. Sollte sie etwas sagen? Nur was? Sie wusste ja nicht einmal, woher diese Verletzungen stammten; womöglich war es gar nicht, was sie befürchtete ...

Alston sagte kein Wort, sondern legte den Zauberstab an seine linke Hand und fügte sich denselben Schnitt zu wie ihr. Bevor sie protestieren konnte, ergriff er mit der Rechten ihren Unterarm und drückte ihre aufgeschnittene Handfläche auf seine. Von dort zog er sie in einer graden Linie nach oben, bis er sie mitten auf der alten Verbrennung ablegte.

Minerva zuckte zusammen und gleich darauf erneut, denn nun schloss Alston die Finger seiner linken Hand fest um ihren Unterarm. Wie man das bei einem unbrechbaren Schwur eben tat – nicht, dass sie je einen abgelegt hätte. Aber so stand es in den Büchern, wenn man einmal von der Spur aus Blut absah, die sie einander auf die Haut gemalt hatten ...

Direkt unter ihren Fingerspitzen prangte die Schlange, die ganz anders aussah als Elladoras Dunkles Mal, aber nicht minder unheimlich. Trotz der schlecht verheilten Haut darüber waren ihre Konturen scharf umrissen, mehr noch, das Tier schien sich kaum merklich zu bewegen. Am liebsten hätte Minerva die Hand weggezogen.

»Keine Sorge, wir sind gleich fertig.« Alston bedachte sie mit einem unergründlichen Blick, aber wenigstens gelang es ihr so wieder, von dem Mal wegzusehen.

»Warum ... ist das nicht derselbe Totenkopf wie bei Elladora?«

»Weil selbst Tom mit Elf noch ein bisschen Kind war. Das hier war ursprünglich ein anderer Zauber, ein anderes Versprechen. Ich bin eben nicht irgendein Walpurgisritter. Ich bin der Erste.« Er sah auf ihre Finger an seinem Arm hinab, die ihn allein dank ihres eisernen Willens kaum berührten. »Und bevor dich die Frage in den Wahnsinn treibt – das war ein fehlgeleiteter Fluch, der mich so entstellt hat. Da mein Vater ein feiger Mann war, hat das nie ein Heiler zu Gesicht bekommen, dementsprechend sieht es auch aus. Für die anderen Narben gibt es weder ruhmreiche noch rührselige Erklärungen.«

Minerva kam gerade einmal dazu, Luft zu holen, da schüttelte Alston schon den Kopf und drückte ihre Hand fester auf seine vernarbte Haut.

»Keine Zeit für Mitleid. Du wirst es eh vergessen.«

Um seine Worte zu unterstreichen, tippte er mit dem Zauberstab in der freien Hand auf die Stelle, an der ihre beiden Handgelenke übereinanderlagen, und murmelte eine leise Beschwörung. Jetzt stellte sich doch ein Brennen in dem Schnitt auf Minervas Handfläche ein.

Alston nickte ihr zu. »Sag, was genau ich dir schwören soll. Denk dran – ein falsches Wort und der Zauber ist nutzlos.«

Sie schluckte. Dann drückte sie die Lider zusammen und beschwor Elphinstone vor ihr inneres Auge. Sie musste das hier tun, so schwer es ihr auch fiel. Für ihn.

»Alston Mulciber, schwöre mir, dass du Elphinstone Urquart weder körperliches noch seelisches Leid antun wirst«, hob sie an und mit fester Stimme erwiderte er ihre Worte. Ein gold-oranges Band schoss aus seinem Zauberstab um ihre Handgelenke. Es brannte leicht.

»Schwöre mir, dass du ihn weder angreifen, verletzen noch töten wirst«, fuhr sie fort, »egal was man in deiner Position als Todesser von dir verlangt.« Auch diesen Schwur wiederholte er und ein zweites Band aus flüssigem Feuer schlang sich um sie. Zu dem Brennen gesellte sich ein Pochen. »Schwöre mir, dass du alles daran setzen wirst, jeden Plan, der ihn in Gefahr bringt und von dem du Kenntnis erhältst, zu vereiteln.«

»Ich schwöre dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um jeden Plan in meiner Kenntnis zu vereiteln, der Elphinstone Urquart in Gefahr bringt.« Das dritte und finale Goldband schnürte ihre Unterarme endgültig aneinander. »Das schwöre ich, Alston Mulciber, dir, Minerva McGonagall, bei meinem Leben.«

Die Bänder aus purer Magie glühten mit Alstons letztem Wort auf und Minerva zischte leise auf, als nicht mehr nur der Schnitt, sondern ihr ganzer Arm von innen heraus brannte. Doch kaum verhallte der Laut, war es auch schon vorbei. Einzig drei feine, fast unsichtbare Linien – oder eher Narben – verblieben an ihrem Handgelenk, wo der Zauber sie gebunden hatte.

Alston zog seine Hand zurück, sodass nur etwas verschmiertes Blut an seine Berührung erinnerte – und das verschwand auf einen Schwung seines Zauberstabs hin sofort. Ebenso verheilte ihre Handfläche binnen eines Wimpernschlags.

»Alston ...?«

»Ja?«

»Ich hoffe, wir stehen eines Tages wieder auf derselben Seite.«

Er hob seinen Zauberstab und drückte ihn fest an ihre Schläfe. Aber wenn sie sich nicht sehr täuschte, dann lächelte er tatsächlich.

»Süße Träume, Minerva.«

Wunden werden Narben

Im blassen Morgenlicht sahen all die Blumen und Genesungskarten auf Minervas Nachtschränkchen grau aus. Von überall blinkten ihr sich bewegende, flirrende, glitzernde Schriftzüge entgegen. Mal spannte sich ein Regenbogen über die Karte, dann wieder drehten sich Kleeblätter um die eigene Achse. ‚Gute Besserung‘ schrie ihr das Durcheinander förmlich zu. Las man es nur oft genug, musste es ja wahr werden.

Ein Seufzen rang sich aus ihrer Brust. Sie wusste nicht, was sie fühlte, weder körperlich noch seelisch. Eine Weile starrte sie nur die herabhängenden Köpfe der Sonnenblumen an, die jemand genau in die Mitte ihres Nachttischs gestellt hatte. Die Ränder der Blütenblätter waren bereits dunkel verfärbt und rollten sich von außen auf. Sie wollte gar nicht wissen, wie lange die armen Dinger da schon standen und vor sich hindarbten.

Von Elphinstone konnten sie nicht stammen. Er würde seine geliebten Pflanzen nie zu so einem traurigen Ende verurteilen – und genauso wenig würde er zusehen, wie der Strauß von jemand anderem verwelkte. Entweder die Blumen wachten lange genug an ihrem Bett, dass er nichts mehr hatte retten können ... oder er war zu lange fort. Dass er hiergewesen war, daran bestand kein Zweifel, auch wenn die Erinnerung schemenhaft blieb. Jetzt war er jedenfalls weg und ein einzelnes, vertrocknetes Blättchen fiel kaum hörbar in das Meer an Genesungskarten.

Minerva rollte sich auf den Rücken. So hatte sie sich ihr Erwachen nicht vorgestellt. Ein ziemlich egoistischer Teil von ihr hatte gehofft, dass Elphinstone da sein würde. Dass er ihr helfen würde, zu begreifen, was überhaupt geschehen war. Und was sie außerhalb des St. Mungo-Hospitals erwartete ...

Auf dem Stuhl neben ihrem Bett lag allerdings nur ein tartangemusterter Schal auf einem zerlesenen Abendpropheten, offensichtlich vergessen. Der Stoff war aus smaragdgrünen und dunkelblauen Fasern gewoben, die sich zu einem gleichmäßigen Bild aus Karos verschlangen, nur durchbrochen von zwei überkreuzten weißen Streifen. Er musste einfach zu Elphinstone gehören, zumindest kannte sie sonst niemanden, der einen Anlass hätte, echten Tartan zu tragen.

Mit eigenartig schwerem Herzen riss Minerva ihren Blick los und sah stattdessen an die hässliche Hospitaldecke, so weiß wie nackt. Es brachte alles nichts, sie musste sich dem Drachen – in diesem Fall dem Morgen – erneut allein stellen. Wie so oft zuvor. Den Atem angehalten, schlug sie die warme Bettdecke ein Stück zurück und setzte sich auf.

Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Anstatt wieder aufs Kissen zu sinken, senkte sie den Kopf zwischen ihre angezogenen Knie. Ihr Atem war laut in den eigenen Ohren, doch nach ein paar Minuten fing er sich langsam. Mit vom Schweiß klammen Händen strich sie ihre Haare in den Nacken, bevor sie ein zweites Mal aufsah.

Es stand außer Frage, dass sie allzu bald nirgends hingehen würde. Jedenfalls nicht alleine. Das hinderte sie allerdings nicht daran, das Beste aus ihrer Lage zu machen. An die Decke starren würde sie erst, wenn sie so alt und senil war, dass sie ihren Namen nicht mehr kannte.

Vorsichtig streckte sie sich nach dem Abendpropheten. Gerade so bekam sie das Papier mit den Fingerspitzen zu fassen. Immerhin reichte das, um die Zeitung – und damit den Schal obenauf – heranzuziehen. Ohne nachzudenken, vergrub Minerva ihr Gesicht in dem weichen Stoff.

Eindeutig Elphinstones. Sie lächelte matt angesichts des Duftgemisches aus Pflanzengrün, Pergament und einem Hauch von Ingwerkeksen. Der Schal roch genau wie der Amortentia in Horace’ Keller, begriff sie. Vielleicht sogar ein bisschen besser. Sie schlang ihn um ihre Schultern, obgleich sie nicht fror. Dann schüttelte sie die Zeitung auseinander. Dicke, schwarze Lettern sprangen ihr entgegen.

 

Inhaftierter Angreifer tot – Verantwortliche ratlos

 

15.09.70 | London | Der am vergangenen Samstag im Zaubereiministerium festgesetzte Ambrose Pyrites (26) wurde in den frühen Morgenstunden des heutigen Tages tot in seiner Untersuchungszelle aufgefunden. Gegenwärtig dauern die Untersuchungen an, doch ein Sprecher des St. Mungo-Hospitals bestätigte, dass es sich bei der Todesursache aller Wahrscheinlichkeit nach um den Todesfluch handelt. Unklar ist, wie der oder die Täter/-in sich Zugang zu seiner mehrfach gesicherten Zelle verschaffen konnte.

 

Minervas Blick wanderte von den Buchstaben zu dem Bild neben dem Artikel, das einen jungen Mann zeigte. Seine Augen schienen geradewegs in ihre zu starren, beinahe anklagend. Aber das war lächerlich. Sie kannte den Kerl nicht einmal. Wenn sie ihn überhaupt gesehen hatte, dann höchstens ganz kurz, im Ministerium – verborgen unter einer silbernen Maske und mit dem Willen, sie zu töten.

Wie ein nasser Hund schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken zu verjagen. Auf der Suche nach weiteren Informationen überflog sie den restlichen Artikel. Das meiste waren Randfakten über Ambrose Pyrites – was er studiert hatte, die üblichen Aussagen der Nachbarn, die nichts von seinen gefährlichen Umtrieben geahnt hatten. Interessant war nur, dass er offenbar im Tausch für Strafmilderung versprochen hatte, ein umfangreiches Geständnis abzulegen. Der Tagesprophet hielt sich ausnahmsweise zurück, aber für Minerva war klar, dass genau dieser Umstand den jungen Mann in den Tod getrieben hatte. Irgendwer hatte dafür gesorgt, dass er nicht plaudern konnte, auf dem einfachsten und endgültigsten Weg. Jemand aus der Strafverfolgung ...?

Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, gleich die Zeitung aufzuschlagen. Besser sie hätte die Karten auf ihrem Nachtschränkchen gelesen, so wie diese mit der gezeichneten Tigerkatze drauf, die einen albernen Partyhut trug – wer schickte sowas überhaupt?

Mit erhobenen Brauen schlug sie das Pappkärtchen auf. Du magst sieben Leben haben, aber ich hoffe, deine Heldentat hat keines verbraucht. A. M. Mehr stand nicht auf der gelben Innenseite. Schnaubend klappte Minerva die Karte wieder zu und musterte die Katze, die ihrer Animagusform verdächtig ähnlich sah.

Sie überlegte gerade, ob es sich bei dem Exemplar ursprünglich um eine Geburtstagskarte handelte, die Mulciber zweckentfremdet hatte, da schreckte ein Klopfen an der Tür sie auf. Ihr blieb nicht mal Gelegenheit, hereinzubitten, da stand Archibald Hastings schon im Raum. Er trug einen reichlich zerknitterten Heilerumhang und sah mindestens genauso verknautscht im Gesicht aus. Hinter vorgehaltener Hand verbarg er ein Gähnen.

»Warum wundert es mich nicht, dass du keine zehn Minuten nach deinem Erwachen schon liest?«

»Woher weißt du, wie lange ich wach bin?«

»Im Heilerzimmer gibt es sensorische Zauber für unsere Komapatienten.«

»... oh.« Minerva sah wieder auf Alstons verdächtig selbst zusammengehext aussehende Karte hinab. »So schlimm steht es um mich?«

»Ich will nicht lügen, das war kein leichter Fluch, mit dem man dich ausgeknockt hat. Aber es sieht aus, als bräuchten wir uns jetzt weniger Gedanken zu machen. Wenn du dich schon wieder aufsetzen kannst, hast du die Behandlung wohl ziemlich gut vertragen.«

Ein kleines Lächeln auf den Lippen trat Archie näher, sodass sie die dunklen Flecken auf seinem Gesicht und die roten Ränder in seinen Augen erkannte.

»Wo ... ist Elphinstone?«, fragte sie zögerlich. »Er war doch hier ... oder? Ich habe mir das nicht eingebildet?«

Das Lächeln glitt direkt wieder von Archies Zügen, als er leise seufzte. »Ja ... er war hier. Bis vor zwei Stunden ...«

»Und wo ist er jetzt?« Minerva richtete sich weiter auf, damit sie näher an Archie heranrücken konnte. »Ist alles in Ordnung?«

»Oh Gott, ich bin wahrscheinlich nicht die beste Person, um dir das zu sagen ...« Archie senkte den Blick auf seine Hände, die sich ineinander verschlangen, bevor er doch wieder zu ihr sah. »Er ist auf der Beerdigung.«

»Beerdigung ...? Wessen –«

»Du weißt es nicht?«

Aus großen Augen starrte Minerva Archie an. »Was? Was weiß ich nicht?«

»... Elladora ist tot.«

Ihr Herzschlag stoppte. »Nein ... wie ...?«

Archies Adamsapfel hüpfte abwärts. »Genau weiß es niemand. Ein bisschen haben wir wohl gehofft, du wüsstest etwas dazu ... Immerhin bist du zuletzt bei ihr geblieben ...« Seine Stimme verlor sich im Nichts.

Obwohl Minerva sich bemühte, ihren Atem ruhig zu halten, schaffte sie es nicht, Archie zu täuschen. Das erkannte sie in seinem Blick.

»Hör zu, Elphinstone geht es den Umständen entsprechend gut –«

»Oh bitte«, erwiderte sie erstickt, »erzähl mir keine Lügen, nur um mich zu beruhigen. Das ist ...« Sie schniefte leise. »Es ist furchtbar. Wie soll es ihm da schon gehen?«

»Ich weiß. Aber auch das geht vorüber. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Bitte –« Archies Schultern sanken herab. »Ich wollte nicht, dass du dir Vorwürfe machst ...«

Doch zu spät. Minerva presste ihre Fingerspitzen gegen die Stirn. Helfen tat es kein Stück. Da stiegen nicht plötzlich Bilder aus dem Nebel ihrer Erinnerungen empor, nur weil sie es wollte. Gleich, wie sehr sie sich konzentrierte, sie wusste bloß, wie Elphinstone mit dem Portschlüssel aus dem fremden Anwesen entkommen war. Elladora war mit ihr zurückgeblieben, aber alles danach war ... weg. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ins Ministerium gelangt war und selbst das, was dort passiert war, lag unter einem eigenartigen Schleier.

»Ich habe nicht ... ich weiß nicht, was geschehen ist«, flüsterte sie. »Aber ich würde nie –«

»Das hat auch niemand behauptet.« Die Matratze gab unter Archie nach, der sich vorsichtig auf die Bettkante setzte. Nun waren sie auf einer Höhe und Minerva erkannte die unverfälschte Anteilnahme in seinen Augen. »Weder ich noch Elphinstone würden jemals glauben, dass irgendetwas davon deine Schuld ist.«

»Aber warum erinnere ich mich nicht?«

»Es kann gut sein, dass dein Erinnerungsvermögen unter dem Fluch gelitten hat, der dich zuletzt getroffen hat. Schwarze Magie hat es an sich, dass sie teils unkontrollierbare Auswirkungen auf die Psyche hat. Jeder Mensch reagiert da anders drauf. Es kann sein, dass die Erinnerung wieder zurückkehrt – muss aber nicht. Wichtig ist vor allem, dass du dir keinen Druck machst. Glaub mir, alle wissen, dass du dir nichts hiervon ausgesucht hast. Vor allem Elphinstone. Wenn heute nicht die Beerdigung wäre, dann hätte er dich nie verlassen. So sehr liebt er dich.«

Trotz der Ruhe in Archies Stimme konnte Minerva nicht anders, als eine Grimasse zu ziehen. »Dennoch ...« Sie verschlang die Hände in ihrem Schoß zu einem festen Knoten. »Was ... was ist denn mit Elladora passiert?«

In leisen Worten erzählte Archie ihr, wie die Auroren noch in der Nacht des Überfalls auf das Ministerium ihre Leiche neben der ihres Mannes entdeckt hatten. Die Lage schien eindeutig, obgleich niemand erklären konnte, wie es dazu gekommen war, dass die Eheleute einander umgebracht hatten. Nun suchten Minervas Augen doch wieder die blanke Decke. Blinzelnd kämpfte sie darum, die Tränen zurückzuhalten.

Sie hatte Elladora kaum gekannt, geschweige denn gemocht, und trotzdem schmerzte ihr Herz bei der Vorstellung, wie unfassbar Elphinstones Trauer sein musste. Gefangen von diesen Gedanken, ließ sie es über sich ergehen, dass Archie sie eingehend untersuchte. Selbst die Erleichterung darüber, dass ihre Heilung anscheinend ausgezeichnet verlief, konnte das Ziehen in ihrer Brust nicht übertrumpfen.

Das schien auch Archie zu merken, denn sobald er fertig war, ging er nicht, sondern bedachte sie mit einem sachten Schulterdrücker. »Nicht alles ist schlecht«, sagte er. »Es gibt da noch jemanden, der hier ist und sich sehr darüber freuen wird, dich zu sehen. Und ich glaube, dir wird es ebenso gehen.«

Verwundert sah Minerva auf, doch Archie nickte ihr bloß verschwörerisch zu, ehe er verschwand. Sie bedachte die Zeitung in ihrem Schoß mit einem grimmigen Blick und entschied, in der Zwischenzeit lieber ihre Genesungskarten zu lesen – auch wenn vermutlich keine Alston Mulcibers Kuriosum übertreffen würde.

Weit kam sie allerdings nicht, bevor es erneut klopfte. Ein wohlbekannter Kopf schob sich durch den Spalt. »Hey ... Ich hab gehört, hier ist jemand aus dem Dornröschenschlaf erwacht?«

»Robbie!« Vor Überraschung zerriss Minerva fast Pomonas mit echtem Glücksklee bewachsene Karte.

»Shhh«, machte ihr Bruder leise. »Ist ja gut, ich freue mich auch, dich zu sehen, Schwesterherz. Aber nicht so laut ...« Ein breites Grinsen im Gesicht stieß er die Zimmertür mit der Schulter auf.

»Oh mein Gott ...« Ertappt schlug Minerva sich die Pappkarte vor den Mund.

Robbie war nicht alleine. In seinen Armen hielt er ein winziges Deckenbündel, mitsamt hellgelbem Mützchen. Kaum sichtbar zwischen dem vielen Stoff war ein verknautschtes kleines Gesicht.

»Oh mein Gott«, hauchte Minerva erneut, dieses Mal deutlich leiser. Ihr Blick wanderte zurück zu ihrem Bruder und sein Grinsen wuchs noch.

»Darf ich vorstellen? Das ist Prudence.«

Ein erstickter Laut bahnte sich unter Pomonas Karte ins Freie, als Robbie nähertrat und Minerva einen besseren Blick auf das Baby in seinen Armen erhaschte. Die Kleine schlief tief und fest, nur ihr Näschen kräuselte sich ganz leicht.

»Oh Robbie ... das ist – du bist Vater geworden?«

Ihr Bruder strahlte mehr als an allen Weihnachten zusammen. »Jap, das ist deine Nichte.«

»Oh Himmel ... meinen Glückwunsch! Sie ist wirklich ... perfekt.«

Mit einem unterdrückten Glucksen nahm Robbie auf Elphinstones Stuhl Platz. »Vor allem eine Überraschung ist sie. Und wahrscheinlich eine kleine Lebensretterin, weil sie genau dann auf die Welt wollte, als diese Irren die Winkelgasse überfallen haben. Wer weiß, wo ich sonst gewesen wäre ...« Behutsam rückte er die Mütze auf dem Kopf seiner Tochter gerade. »Als wenn sie es geahnt hätte.«

»Aber ... ist es denn okay? Ich meine ... Anne war doch noch gar nicht so weit?«

»Sie ist fünf Wochen zu früh gekommen«, erwiderte Robbie, »aber Prue ist eine echte Kämpferin – wie ihre Tante übrigens. Also nur keine Sorge, ihr geht es blendend. Und Anne so weit auch.«

»Das freut mich. Ehrlich ...« Verlegen wischte Minerva sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Hier.« Robbie nahm behutsam einen Arm von Prudence und zog ein längliches Päckchen aus seiner Hosentasche. »Ist grad alles ein bisschen viel, aber wenn mir das hier während 27 Stunden langen Wehen geholfen hat, nicht die Nerven zu verlieren, hilft es dir vielleicht auch ein wenig.«

Mit einem dumpfen Plop landete das in rotes Einwickelpapier gepackte Etwas in Minervas Schoß. Fast hätte sie aufgelacht, als sie feststellte, dass ihr ein Comicpinguin entgegen winkte.

»Ein Schokoriegel?«

»Du weißt doch, Penguin-Biskuits sind die Besten auf der Welt!«, entgegnete Robbie mit derselben Überzeugung, die er schon im Kindesalter gehabt hatte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht passte hingegen nicht zu den Worten, dafür lag zu viel Sorge in seinen Augen. »Vergiss ja nicht, den Witz hintendrauf zu lesen, bevor du ihn isst.«

»Würd mir im Traum nicht einfallen.« Zumindest einmal kurz hoben sich Minervas Mundwinkel, als sie daran zurückdachte, wie mühevoll Robbie ihr im Alter von sechs Jahren jeden Witz auf dem Einwickelpapier seiner Lieblingssüßigkeit vorgetragen hatte, um das Lesen zu üben. Ihre Kenntnisse von Pinguinwitzen waren wahrscheinlich genug für ein ganzes Leben. Trotzdem drehte sie den Riegel um. »Warum sprechen Pinguine nicht miteinander?«, las sie vor.

»Hm ...« Nachdenklich legte Robbie die Stirn in Falten, ehe er Prudence ansah, als könnte sie ihm die Antwort verraten.

Mit einem Fingernagel hob Minerva die Lasche, um die Auflösung zu lesen. »Sie haben Angst, das Eis zu brechen.«

Robbie kicherte leise und obwohl der Witz unfassbar flach daherkam, stimmte sie mit ein. Zumindest bis ihr Bauch knurrte und sie den Schokoriegel von seiner Verpackung befreite. Nach so langer Zeit ohne Essen schmeckte die Kombination aus dezenter Süße und knusprigem Biskuit besser als jedes Festmahl in Hogwarts.

»Danke«, murmelte sie um einen Bissen herum.

»Für dich immer, Schwesterherz.« Einen Moment lang sah Robbie ihr nur beim Essen zu, bevor er fragend den Kopf schief legte. »Also ... Wie steht es bei dir? Ist es sehr schlimm? Ich meine ... ich habe wohl einen gewissen Erinnerungsverlust, aber ich weiß noch, dass wir zuletzt bei diesem Haus in Leeds waren und dann ... dann warst du weg. Und jetzt ist so viel passiert ...«

Die unangenehme Erinnerung an ihre eigene Verfassung ließ den letzten Bissen beinahe in Minervas Hals steckenbleiben. »Ach ...« Sie knibbelte an dem Einwickelpapier mit dem Pinguin drauf. »Archie – also Heiler Hastings – meint, das wird schon wieder. Er hat mir zwar noch sehr viel Bettruhe verordnet, aber er hat auch angedeutet, dass ich bald gehen kann, wenn ich verspreche, brav zu sein.«

»Das hat er mir auch gesagt. Ich meine eher deinen Geist. Wie fühlst du dich wirklich?«

Minervas Schultern sanken herab. Sie traute sich nicht, Robbie anzusehen. Stattdessen heftete sie den Blick fest auf die kleine Prudence, die von all den Schrecken der Welt nichts ahnte. Ein warmes Flackern keimte in ihrer Brust auf und sie zog Elphinstones Schal enger um sich.

»Ich weiß es nicht. Momentan ist es erstaunlich ruhig in mir, obwohl alles so ... furchtbar ist. Aber wer weiß, ob das so bleibt ...« Ihre Finger gruben sich tiefer in den Schal. Jetzt schaute sie Robbie doch wieder an. »Ich habe ein bisschen Angst, was passiert, wenn es nichts mehr gibt, um mich abzulenken. Keine Zeitungen, keine Grußkarten, kein Besuch ... Da sind mir geprellte Rippen und dergleichen lieber, das kenne ich wenigstens vom Quidditch. Und ich weiß, wie viele Tage sowas dauert, um zu verheilen.«

Ein paar Herzschläge lang sagte keiner von ihnen was. Dann sah Robbie wieder auf Prudence in seinen Armen hinab, die ihre Umwelt gar nicht beachtete. »Das ist jetzt ein furchtbar uneleganter Themenwechsel passend zum Thema Ablenkung, aber ... du möchtest doch sicher mal deine Nichte halten? Und ihr erzählen, was für eine tolle Tante du sein wirst?«

Der Knoten in Minervas Hals wuchs. Trotzdem nickte sie. Natürlich wollte sie. Und dennoch hielt sie den Atem an, sobald Robbie ihr das winzige Bündel in die Arme legte. Die Angst, das Mädchen könne all ihren Schmerz irgendwie spüren, flammte in ihr auf – nur um gleich darauf erstickt zu werden, als Prudence’ kleine Finger sich erstaunlich fest um ihren eigenen Zeigefinger schlangen.

Warmes Flackern flutete Minervas ganzes Herz, genau wie die ersten Strahlen der Morgensonne das Zimmer. »Oh ... hey Prue ...« Das Lächeln auf ihren Lippen wuchs so groß wie lange nicht mehr. »Ich hoffe ja, du magst Quiddich ...«, murmelte sie der Kleinen zu. Im Hintergrund stöhnte Robbie. »... denn dein erster Besen ist quasi schon gekauft. Und es ist der beste Kinderbesen, den die Welt je gesehen hat.«

Zur Antwort schmatzte Prudence leise. Ihre Finger packten Minervas noch etwas fester und diese konnte nicht anders, sie musste ein Lachen unterdrücken.

»Scheint, als könne sie es gar nicht erwarten.«

»Dafür kann ich umso länger auf den Tag warten, an dem sie mir davonfliegt«, murrte Robbie – auch er mit einem Grinsen im Gesicht.

Minerva schmunzelte. Archie hatte recht. Es war nicht alles schlecht. Der Anblick von Prudence’ gerunzeltem Näschen erinnerte sie daran, warum der Kampf jede ihrer Narben wert gewesen war. Kein Gut war so kostbar wie die Zukunft eines Kindes.

 

In den folgenden Stunden verbreitete sich die Nachricht von ihrem Erwachen so schnell wie das Phönixfeuer im Gamotssaal. Nachdem Robbie zu Anne zurückkehrte, standen ihre Eltern bereits auf der Schwelle – krank vor Sorge und in seltener Einigkeit, was ihr Geschimpfe über das Ministerium anging. Etwas verspätet und doch ohne seine üblichen Arbeitsunterlagen oder sonstige Ablenkungen fand sogar Malcolm den Weg zu ihnen.

Sobald sie weiterzogen, um der kleinen Prue ebenfalls einen Besuch abzustatten, drängten Pomona und Filius herein. Sie brachten Minerva ein paar nagelneue Bücher und unterhielten sie mit amüsanten Anekdoten aus den letzten Schultagen (sehr zu ihrer Freude hatte Slytherins aktueller Hüter sich eine Sperre für das nächste Hausspiel eingefangen, weil er eines der Zauberkunstklassenzimmer geflutet hatte).

Auf sie folgte wiederum Albus, der ihr reumütig vorgetragenes Ende seines Vestigiators mit einem sachten »Manch Großartiges ist eben nicht für die Ewigkeit bestimmt« abwiegelte und viel zu schnell wieder verschwand, auf der Suche nach alten Freunden und deren Gefallen, die es einzufordern galt. Minerva war nicht sicher, was er plante, bedrängte ihn allerdings genauso wenig, sie einzuweihen. Wenn die Zeit reif war, das sagte er selber, würde sich alles fügen.

Auch Pippa kam, in Begleitung von Martin Llewyn – und dem wohl größten Korb voller magischer Süßigkeiten, den sie je gesehen hatte. »Der komische Brei, den sie hier servieren, ist einer Heldin schließlich nicht angemessen« meinte Pippa dazu nur. Zu guter Letzt besuchten sie Emmeline und Dädalus, die ein Schachspiel mitbrachten, dessen Figuren Minerva gleich mehrfach zum Sieg führte.

Auf diese Weise verflog die Zeit nur so. Es war längst später Nachmittag, als der Strom an Besuchern mit dem Ende der Besuchszeit versiegte. Alleine blieb Minerva trotzdem nicht, denn nun war es wieder Archie, der hereinkam, um nach ihr zu sehen. Er brachte einen großen Trank mit, bei dem sie lieber nicht fragte, was er alles enthielt. Hauptsache er half bei ihrer schnellen Entlassung aus dem Hospital.

»Sag mal ...«, wandte sie sich an Archie, der ihren Rücken erneut mit dem Zauberstab abhorchte, »sind Jonathan Alditch und seine Familie eigentlich noch hier?«

Er brummte leise. »Ja. Wir haben sie in ein eigenes Zimmer mit dem anderen Muggeln-Herren gebracht, auch wenn das sonst nicht unsere Art ist. Aber der Kontakt scheint ihnen zu helfen, also geben wir ihnen die Zeit, bis klar wird, wie es mit ihnen weitergeht. Da sie alle mit einem Angehörigen der Zaubergesellschaft zusammenleben – oder ... zumindest lebten, ist es eigentlich nicht vorgesehen, sie zu oblivieren, aber im zuständigen Amt diskutiert man es wohl trotzdem. Aufgrund ‚besonderer‘ Umstände für ihr Seelenheil. Eine Kopie ihrer Erinnerungen hat man schließlich schon zur Akte genommen.«

Minerva zuckte zusammen und Archie mit ihr.

»Bitte gerade sitzen bleiben –«

»Entschuldige. Aber das ist doch ... das ist ein Unding! Nach allem, was diese Menschen durchgemacht haben, kann man doch nicht einfach ihre Erinnerungen nehmen und denken, damit ist die Sache erledigt!«

»Das musst du mir nicht sagen. Wenn ich daran denke, dass mir als Muggelgeborenem dasselbe hätte passieren können ...« Archie schüttelte den Kopf. »Manchmal bin ich so dankbar, dass ich in diese Welt flüchten konnte, weil ich mich hier nicht verstellen muss und lieben darf, wen ich will – und dann geschieht so etwas und erinnert mich daran, dass ich trotzdem ein Bürger zweiter Klasse bin.«

Stöhnend warf Minerva den Kopf in den Nacken. »Das ist sowas von zum Kotzen!«

Zu ihrer Überraschung gluckste Archie. »Das hat Elph auch immer gesagt.«

»Es ist aber auch wahr. Du bist kein Mensch zweiter Klasse, genauso wenig wie die Alditchs oder die Winters!« Die Müdigkeit, die sich angesichts des vielen – und lauten – Besuchs in ihre Glieder geschlichen hatte, war schlagartig verschwunden. »Kannst du mich zu ihnen bringen, Archie?«

Er seufzte. »Können schon ...«

»Aber du weißt nicht, ob du es solltest?«

»Du bist gerade mal einen halben Tag wieder bei Bewusstsein.«

»Die Welt wird nicht darauf warten, dass es mir besser geht.«

Archie zog eine Grimasse, doch nachdem sie ihn mit ihrem besten Lehrerinnenblick bedachte, gab er nach – unter der Voraussetzung, dass er in der Nähe blieb. Ihr war es gleich. Mehr noch, es erleichterte sie, dass Archie sie stützte, denn ihre Knie waren weicher als die Gummischlangen in Pippas Süßigkeitenkorb.

Das Zimmer der Alditchs war zum Glück nicht weit entfernt. Doch der Weg reichte, damit Minerva der Schweiß auf die Stirn trat. Nervös wischte sie die Hände an ihrem Morgenmantel ab, den Pomona ihr aus Hogwarts mitgebracht hatte. Wie würden die Alditchs auf sie reagieren? Besonders wenn man bedachte, wie ihre letzte Begegnung verlaufen war ...

»Noch können wir umdrehen«, bot Archie an.

»Nein.« Sie nahm einen tiefen Atemzug, in dem Versuch, ihre Kurzatmigkeit in den Griff zu bekommen. »Ich muss das machen. Das bin ich diesen Menschen schuldig.«

»Also gut.« Archie nickte und klopfte gegen die Tür. Anstatt eine Antwort abzuwarten, öffnete er sie mit dem Zauberstab. Offenbar kannten die Alditchs ihn schon, denn er richtete ein paar lockere Worte an sie, ehe er beiseitetrat, um Minerva ebenfalls hereinzulassen.

Das Zimmer war nicht besonders groß, das fiel ihr zuerst auf. Nur ein bisschen geräumiger als ihr eigenes und ebenso schlicht. Gleich mehrere Betten drängten sich darin aneinander, ein buntes Durcheinander aus Kissen, Zeitschriften und Kuscheltieren darauf verteilt. Im Hintersten saß Mr Winters, den Blick aus dem Fenster gerichtet. Er sah als Einziger nicht herüber. Seine Reaktion bestand lediglich darin, das Baby auf seinem Schoß fester in die Arme zu schließen. Der Anblick erinnerte Minerva an Robbie. Schon fiel ihr das Schlucken schwerer.

»Guten Tag ...«, sagte sie lahm. Ihr Kopf schien mit einem Mal genauso weiß und leer wie die Zimmerwand. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht ...« Eine Hand in Archies limonengrünen Heilerumhang gekrallt, riss sie den Blick von Mr Winters hageren Schultern los und suchte stattdessen die Alditchs.

Die Mutter saß in einem der Besucherstühle neben Mr Winters und strickte an einem winzigen Babyjäckchen, der Vater lag in dem Bett ganz vorne an der Tür und löste ein Kreuzworträtsel. Jonathan dagegen hatte Platz an einem kleinen Tisch in der Mitte gefunden, ein Blatt Papier vor ihm, Buntstifte überall verstreut.

»Professor McGonagall!« Die Augen des Jungen wurden groß wie Blasen von Druhbels bestem Blaskaugummi und dann ... lächelte er.

Jemand schien die unsichtbaren Schnüre um Minervas Hals enger zu ziehen. »Hallo Jonathan«, brachte sie gerade so hervor. Ihre Knie wollten am liebsten nachgeben.

Das schien Archie zu bemerken, denn er verstärkte seinen Griff um ihren Arm. Kaum merklich nickte er zu dem Stuhl gegenüber von Jonathan.

Minerva straffte sich und beschwor ihr höflichstes Lächeln herauf. »Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte sie den Jungen.

Den Blick schon wieder zu dem Bild vor ihm gewandt, nickte er. Erleichtert löste sie sich von Archies Arm. Es war sicher nicht ihr elegantester Gang, doch sie schaffte es zu dem Stuhl, ohne ihre Würde komplett zu verraten. »Danke«, sagte sie, sowohl an Jonathan als auch Archie gerichtet.

Letzterer quittierte das Wort mit einem Kopfrucken. »Falls etwas ist, ich werde im Heilerzimmer nebenan warten.« Mit einem langen Blick auf die Alditchs verschwand er und ließ sie in Schweigen zurück.

Das Klacken der Tür schien Minerva viel zu laut. Sie ahnte, dass alle sie erwartungsvoll ansahen – außer Mr Winters natürlich –, dabei wusste sie kaum, was sie von sich selber erwartete. Sie holte tief Luft.

»Sind Sie hier, um mich nach Hogwarts zu holen?« Jonathan legte einen gelben Buntstift zurück in sein Federmäppchen und schaute zu ihr auf.

»Ah ...« Vorsichtig blickte sie zu Jonathans Eltern, die einander ihrerseits ansahen, Augenbrauen zusammengezogen, die Stirn in Falten. »Nein«, seufzte sie. »Nein, ich fürchte das ... geht nicht so einfach. Ich bin selber nur als Patientin hier, weißt du?«

Jonathan nickte ernst. »Okay ...«, murmelte er langsam, während er nach einem roten Buntstift griff. »Also hat die böse Hexe Ihnen auch wehgetan.«

Die Formulierung erinnerte Minerva an alte Märchen, wie ihr Vater sie ihr als ganz kleines Mädchen vorgelesen hatte. Nur, dass in denen immer das Gute gewonnen hatte ...

»Ja«, entgegnete sie trotzdem. »Leider hat sie das. Aber das Wichtigste ist, dass sie jetzt niemanden mehr hat, dem sie wehtun kann.«

»Hat man die Irre denn gefangen genommen?«, mischte Mr Alditch sich ein.

Wenn möglich, drückte Minerva ihren Rücken noch weiter durch, als sie den Kopf schüttelte.

»Wird man es überhaupt versuchen? Ich habe die Zeitung gelesen und es gibt noch eine ganze Menge mehr –«

Das scharfe »Shhh« seiner Frau brachte Mr Alditch zum Verstummen.

»Natürlich«, sagte Minerva mit einem Seitenblick auf Jonathan, der scheinbar seelenruhig seinen Buntstift über das Papier strich. »Die besten Auroren des Landes – also so etwas wie Spezialeinheiten der Polizei – jagen sie in diesem Moment.«

»Und trotzdem musste uns eine Lehrerin retten.« Mr Alditch schlug sein Rätselbuch zu. »Also kein Vorwurf an Sie, aber in welcher Welt kämpft denn bitte das Lehrpersonal gegen irre Verbrecher? Was kommt als Nächstes? Soll vielleicht gleich ein Elfjähriger ihre Welt retten?«

Minerva hasste es, ihm insgeheim recht geben zu müssen. Es hätte nie so weit kommen dürfen. Jonathan jedoch hob nur den Kopf und sah sie mit einer grimmigen Entschlossenheit an, die sie entsetzte.

»Ich möchte jedenfalls eines Tages auch so zaubern können wie Sie«, sagte er mit fester Stimme. »Dann brauchen sich meine Eltern nie mehr vor bösen Hexen fürchten.«

»Ach Jonathan, Schatz ...« Mrs Alditch legte das Strickzeug in ihrem Schoß ab. »Du sollst nicht so denken, darüber haben wir doch gesprochen.«

»Aber ihr könnt ja nicht zaubern!« Mit einem Knacken brach die Spitze von Jonathans Buntstift ab. »Und vielleicht kann ich es ja auch gar nicht ...« Seine Unterlippe bebte. »Die böse Hexe hat schließlich immer gesagt, dass ich gar nicht wirklich ein Zauberer bin und ... dass ich die Magie wieder zurückgeben muss ...«

»Das ist Unsinn«, rief Minerva, heftiger als beabsichtigt. »Deine Magie gehört dir und das kann dir niemand nehmen. Du bist mit ihr geboren, genauso wie ich und alle anderen magischen Menschen. Egal, was sie dir erzählen wollen. Und ich bin mir sicher, dass du großartig zaubern kannst, wenn du es erst lernst.«

Nun wieder hoffnungsvoller richtete Jonathan sich auf. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, die kein Elfjähriger haben sollte, doch gleichzeitig war das Funkeln kindlicher Begeisterung in seinem Ausdruck noch nicht erloschen. »Können Sie mir den Zauber mit den laufenden Eierbechern beibringen?«, fragte er unvermittelt. »Sie wissen schon, das, was Sie damals bei uns zuhause vorgeführt haben ...«

Seufzend senkte Minerva den Blick. »Ich fürchte nein. Dieser Zauber gehört nicht zu meinem Fach, ich habe ihn selber nur gelernt.«

»Was kann ich denn bei Ihnen lernen?«

»Verwandlungen aller Art.« Ein dünnes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie erneut zu Jonathans Eltern sah, ehe sie den Zauberstab zog. Sie hatte den Eindruck, dass Mr Winters zuckte, doch sobald sie noch einmal hinsah, starrte er wie zuvor unverwandt aus dem Fenster. Vorsichtig legte sie die Stabspitze auf Jonathans Bild.

Auf einen Gedanken hin flossen die Farben seines Kunstwerks auseinander, bis sie das ganze Papier bedeckten. Dieses blieb nicht glatt, sondern wand sich in die Höhe. Wie der Phönix aus der Asche erhob sich Jonathans Zeichnung zu Leben – im wahrsten Sinne des Wortes, denn als der Vogel vor ihr mit den Federn raschelte, erkannte Minerva, dass er Fawkes gemalt haben musste. Ihr Zauberspruch hatte ihn in ein richtiges Tier verwandelt.

Jonathan klaffte der Mund auf. »Ist das –?«

Rasch schüttelte sie den Kopf. »Er sieht aus wie sein Vorbild, aber es ist trotzdem kein echter Phönix. So viel Macht hat kein Zauber. Mit Verwandlungen kann man zwar die Beschaffenheit eines Objekts oder Lebewesens ändern und das teils dauerhaft, aber nicht mehr aus seiner wahren Substanz machen. In Wirklichkeit ist dieser Phönix auf molekularer Basis immer noch Papier.«

»Wow.«

Ehrfürchtig sah Jonathan zu dem falschen Fawkes auf, der mit ausgebreiteten Schwingen um die Zaubersphäre unter der Decke kreiste. Sogar Mr Winters hatte den Blick vom Fenster gelöst. Im Gegensatz zu Jonathan presste er allerdings die Lippen fester zusammen und beugte schützend den Oberkörper über das Kind in seinen Armen. Minerva schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln, das ihn hastig wegsehen ließ. Auf ein Schnippen ihres Stabs verwandelte der Phönix sich zurück in ein Blatt Papier.

»Können Sie mir das beibringen?« Aufgeregt rutschte Jonathan hin und her. Zu Minervas Überraschung zog er einen schlichten Zauberstab aus dem Ärmel seines Pullovers. »Das ist so krass ...«

»Eines Tages würde ich dir das sehr gerne lehren.« Sie konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Nach allem, was Jonathan erlebt hatte, war es nicht selbstverständlich, dass sein Enthusiasmus für die magische Welt derart ungebrochen war.

Doch Jonathan schnaubte nur leise. »Ich meine aber jetzt

Seine Mutter hüstelte und nun war es ein echtes Lachen, das Minerva hinter vorgehaltener Hand verbarg. Wenn bloß all ihre Schüler so wissbegierig wären ...

»Nein, auch das geht nicht, Jonathan«, erklärte sie geduldig. »Das ist fortgeschrittene Magie. Bevor man daran auch nur denken kann, muss man erstmal den eigenen Zauberstab kennenlernen. In Hogwarts fangen wir daher mit etwas ganz Einfachem an –«

»Das habe ich dann ja schon verpasst, oder?« Die Begeisterung in Jonathans Augen flackerte gefährlich.

»Keine Sorge, das kannst du alles noch nachholen. So schnell lernen die anderen Kinder auch nicht.« Einer spontanen Eingebung folgend, wies Minerva auf seinen Zauberstab. »Das ist deiner?«

»Mhh. Die böse Hexe hat gesagt ich muss ihn mitnehmen ... aber sie wollte immer nur, dass ich irgendwelche komischen Worte vorlese und dann ... ist nix passiert – also manchmal schon, aber das waren nur so ein paar Funken wie im Laden, als wir ihn gekauft haben ... Und dann hat sie gelacht und mir wieder Blut abgenommen.«

Bei der Vorstellung von Bellatrix, die Jonathan wie ein Versuchskaninchen benutzte, lief es Minerva kalt den Rücken hinab. Die äußerliche Verfassung des Jungen ließ zu schnell vergessen, welchen Grauen er ausgesetzt gewesen war. Eilig sprach sie weiter, um ihre Gedanken von dem Abgrund fortzulocken. »Was hältst du dann davon, wenn ich dir zeige, wie du Licht heraufbeschwörst? Das ist zwar keine Verwandlung, aber dann brauchst du nie wieder eine Taschenlampe.«

Jonathans Mundwinkel hoben sich schüchtern. Er warf einen Blick zu seinen Eltern, die unisono seufzten und doch nickten. Mit Argusaugen verfolgten sie, wie Minerva ein leeres Blatt Papier nahm und in großen Lettern den Zauberspruch darauf schrieb.

»L-U-M-O-S«, las Jonathan leise.

»Richtig. Das ist die Beschwörungsformel, die wir gleich benutzen werden. Üb sie ruhig ein paar Mal, denn die richtige Aussprache ist wichtig.«

Wie so viele Erstklässler vor ihm nahm sich Jonathan der Aufgabe mit ordentlich Motivation an. Er würde bestimmt großartig nach Ravenclaw passen. Obwohl Minerva auch ein wenig Gryffindor in ihm erkannte ... fast wie bei ihr einst.

»Wie geht es weiter?«, fragte Jonathan schließlich begierig.

»Nun brauchen wir noch eine Zauberstabbewegung. Diese verbindet Wort und Willen zu zielgerichteter Magie.« Sie hob ihre Hand und vollführte einen kleinen Kreis mit dem Zauberstab. »Gesehen?« Zur Anschauung wiederholte sie die Geste. »Einmal im Uhrzeigersinn drehen. Jetzt du.«

Artig hob Jonathan den Stab und imitierte ihre Bewegung.

»Das war schon sehr gut. Aber die Drehung muss noch mehr aus dem Handgelenk erfolgen. Probier es ruhig noch einmal langsamer. Es geht schließlich nicht darum, besonders schnell zu sein.«

Sie ließ ihn die richtige Zaubergeste ein paar Mal üben, bevor sie ihm den Zettel mit der Formel wieder vorlegte. »Jetzt müssen wir beides kombinieren. Wichtig ist, dass wir es zeitgleich tun. Während du den Zauberstab schwingst, musst du den Spruch sagen.«

Auch diesen Schritt führte sie wieder vor. Als bei ihm trotz korrekter Ausführung nichts geschah, runzelte Jonathan die Stirn. »Da ist kein Licht!«, beschwerte er sich.

»Richtig, denn uns fehlt noch ein ganz wichtiges Element. Wir müssen fest an das denken, was wir herbeizaubern wollen. Jeder Zauber, ganz gleich wie klein, braucht unsere Führung. Einfach nur einen Zauberspruch zu verwenden, ohne zu wissen, was er bewirkt, kann sogar gefährlich sein, da man nie weiß, was für Magie man unabsichtlich entfesselt. Also stell dir bitte einmal vor, dass die Spitze deines Zauberstabs ganz hell leuchtet.«

Jonathan kniff seine Augen zusammen.

»Bereit, es noch einmal zu probieren? Dann auf drei – eins, zwei, drei! Lumos!«

Weiches Licht spiegelte sich in Jonathans geweiteten Pupillen. »Mama! Papa! Guckt mal!« Den erhobenen Zauberstab in der Hand wirbelte er zu ihnen herum. »Ich kann es wirklich!«

Alle Erwachsenen im Raum sahen ihm dabei zu, wie er aufsprang und sich lachend im Kreis drehte. Diese Freude schien auch seine Eltern zu besänftigen, denn sie lächelten vorsichtig.

»Das ist wirklich wunderbar, Jona, Schätzchen«, sagte seine Mutter. »Warum gehst du nicht und suchst deine Lieblingsheilerin? Ich bin sicher, sie will deine neuen Zauberkünste auch mal sehen, hm?«

Flink wie der Schnatz jagte Jonathan zur Tür hinaus. Im gleichen Augenblick heftete Mrs Alditch einen deutlich ernsteren Blick auf Minerva. Dann seufzte sie tief.

»Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, Professor. Für unsere Rettung und überhaupt alles, was Sie getan haben ... auch wenn meine Erinnerung etwas verschwommen ist ...«

»Das müssen Sie nicht sein.« Minerva schob ihren Zauberstab wieder in die Tasche. »Es war das Mindeste, was ich für Sie tun konnte. Wenn überhaupt, dann bereue ich, Sie nicht viel früher gerettet zu haben ...« Ihr Blick glitt zu Mr Winters. Erschrocken stellte sie fest, dass er sie jetzt offen ansah, kaum verhüllten Schmerz in den Augen.

»Sie brauchen sich ganz sicher keine Vorwürfe machen.« Mrs Alditch schüttelte sanft den Kopf. »Nicht wahr, Theo?«

Mr Winters nickte nur.

»Sie haben immerhin um mehr als unsere Kinder gekämpft, nicht wahr?«, fuhr Mrs Alditch unbeirrt fort. »Ich habe jede dieser Zeitungen mit den bewegten Bildern gelesen ...« Sie senkte die Stimme. »Da stand so viel Schreckliches drin, auch wenn ich das Meiste nicht verstanden habe ...«

Minerva rang die Hände im Schoß. »Es ist viel passiert. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Sie meine ganze Geschichte hören wollen –«

»Ich würde sogar darum bitten.«

Bekräftigend nickte Mr Alditch. »Wir wollen wenigstens wissen, warum das alles passiert ist. Warum es uns passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich nachts je wieder ruhig schlafen werde, aber ich will zumindest verstehen.«

»Gut ...« Vorsichtig sah Minerva zu Mr Winters hinüber. Dieser schaute erneut aus dem Fenster.

»Theo möchte es auch hören«, ergänzte Mrs Alditch bestimmt.

Eine kleine Grimasse verzog Minervas Züge, doch sie erzählte trotzdem ihre Geschichte. Von dem ersten September in Hogwarts bis zu der unangenehmen Lücke ihrer Erinnerungen, die sie zwischen geschickt gewählten Worten zu kaschieren versuchte. Natürlich sparte sie dabei an Details. Die Gesichter der Alditchs waren schon entsetzt genug. Nur Mr Winters bewahrte sich seinen teilnahmslosen Ausdruck. Als sie schließlich geendet hatte, saßen sie einen Moment lang einfach nur da und starrten sie an.

»Das ist so ...« Mrs Alditch schüttelte den Kopf.

»... unfassbar?«, soufflierte ihr Mann.

»Ja.« Mit einem neuerlichen Seufzen strich Mrs Alditch über das halbfertige Strickjäckchen auf ihrem Schoß. »Es tut mir wirklich sehr leid, Professor McGonagall, aber ...«

»Sie wollen nicht, dass Jonathan weiter in diese Welt verstrickt wird.« Minerva hatte es geahnt. Sie konnte ihnen ja nicht mal einen Vorwurf machen.

»Das ist es nicht ... Dieser Zauber, den Sie Jona beigebracht haben – er ist so ... schön, aber ...« Mrs Alditch schluckte hörbar. »Die Gesellschaft hier, die ... die anderen Zaubermenschen ... wie sollen wir neben denen existieren ...«

»Was meine Frau sagen will – wir werden nicht hier bleiben. In England, meine ich.« Mr Alditchs Stimme war ruhig, aber dass er an der Haut um seine Fingernägel knibbelte, bewies seine innere Unruhe. »Wir haben die letzten Tage ausführlich mit Theo darüber gesprochen und ... nun, seine Frau hat – hatte Verwandte in den Staaten. Auch Zauberer wie sich herausgestellt hat, aber anständige Menschen. Sie würden uns helfen, dort drüben noch einmal von vorne anzufangen. Mit vernünftigen Schutzzaubern. Weit weg von allem, was immer hier gerade passiert.«

»Dort drüben gibt es ja auch eine Schule«, nahm Mrs Alditch das Gespräch wieder auf. »Ilvermorny, hab ich mir sagen lassen. Sie soll ziemlich gut sein und Jonathan könnte schon zum Oktober dort anfangen. Ich will nicht, dass er geht, aber ... ich erinnere mich noch gut, wie Sie uns erzählt haben, dass er lernen muss, seine Magie zu beherrschen ...«

Angesichts des mächtigen Kloßes in ihrem Hals schlang Minerva die Arme um ihren Unterleib. »Das stimmt, es wäre fahrlässig, wenn Jonathan nicht lernen würde, mit Magie umzugehen. Sie könnte andernfalls unkontrolliert explodieren ...«

»Deshalb Ilvermorny. Wirklich, es tut mir sehr leid, nach allem, was Sie für uns getan haben. Aber hier ... wie sollen wir uns hier je sicher fühlen? Das hier ist meine Heimat, aber ich kann nur noch daran denken, dass ich weg will.« Mrs Alditch hickste leise. »Und mein Jona ... er weint nachts so viel. Hat Albträume. Ich will doch nur, dass er sich wieder sicher fühlen kann!«

Das Bild von Jonathan Alditch in Gryffindor-Roben verblasste vor Minervas geistigem Auge. Sie presste ihre Füße so fest auf den Boden, dass es in ihren Waden zog. »Dann sollten Sie bald gehen«, sagte sie entschieden. »Informieren Sie niemandem, wohin Sie wollen. Auch nicht hier im Hospital. Ich will Ihnen keine Angst machen, aber Sie sollten keine Zeit verschwenden. Ich werde sehen, was ich tun kann, um Ihre Abreise zu erleichtern. Mindestens Heiler Hastings wird sie unterstützen und sonst ... schreibe ich der Ministerin. Immerhin schuldet sie mir noch einen Gefallen.« Mit diesen Worten erhob sie sich. Die Welt um sie schwankte leicht, aber ihr Stolz hielt sie aufrecht. »Es tut mir sehr leid, dass es so weit kommen musste. Ich wünsche Ihnen trotzdem von Herzen alles Gute. Ihnen allen.«

Schweigen verfolgte ihren Abgang. Sie war schon fast an der Tür, da meldete sich doch noch eine Stimme.

»Danke«, flüsterte Mr Winters kaum vernehmlich.

Als Minerva sich umdrehte, lächelte er schwach, den Blick nach wie vor fest auf das schlafende Baby in seinen Armen gerichtet.

»Danke, dass Sie immer weiter kämpfen. Das macht es einfacher, darauf zu vertrauen, dass es noch eine Zukunft gibt.«

Am liebsten hätte Minerva ihn gefragt, was sie sonst tun sollte. Aufgeben? Ihre Heimat, ihren Glauben an das Gute? An Gerechtigkeit? Aber letztlich beschied sie sich auf ein sanftes Nicken. »Denken Sie an den Phönix, Mr Winters. Selbst aus Asche wächst Hoffnung. Den besten Beweis dafür halten Sie gerade in Ihren Armen.«

 

Die Lichter des Tages waren längst am fernen Horizont verschwunden und Nachtruhe hatte sich über das Hospital gesenkt, als es ein letztes Mal an Minervas Tür klopfte. Ein ganz leises, gar zögerliches Geräusch, doch ihr Herz beantwortete es umgehend mit eigenem Pochen. Vergessen war die Zeile des Buches, das sie gerade las. Noch bevor Elphinstone das Zimmer betrat, warf sie es auf die Bettdecke und befreite ihre Füße von selbiger.

Sie war nicht so schnell, wie sie gerne gewesen wäre. Schlimmer sogar, in ihrer Hast verfing sie sich im weißen Bettbezug. Ungeduldig zerrte sie daran, ohne den Blick von ihrem hereinkommenden Besuch zu lösen – was sie nur weiter in die Decke verstrickte. Immerhin gab ihr dies Gelegenheit, Elphinstones Verfassung in Augenschein zu nehmen.

Er sah müde aus. Die Arme hingen ihm schlaff an den Schultern herab und sein schwarzer Mantel über Hemd und Kilt ließ ihn wirken wie das Opfer eines Letifolds, der seiner Beute langsam die Lebenskraft entzog. Unter anderen Umständen hätte Minerva diesen traditionellen Aufzug entsprechend würdigen wollen, jetzt hingegen flatterte ihr Magen nur schwach.

Weiter kamen ihre Gedanken nicht, da begegneten sich ihre Blicke auch schon. Umgehend richtete Elphinstone sich auf.

»Minerva –«

»Phin!«

Endlich war sie die Decke los. Kälte jagte durch ihre Füße, als sie den Boden fanden. Aber es war egal, so egal. Genau wie der Schwindel, die weichen Knie ...

Sie ging nicht, sie lief und stolperte und streckte die Finger nach Elphinstone, bevor sie auch nur in seiner Nähe war. Und er kam ihr ebenso entgegen, fiel geradewegs in ihre Arme. Oder sie in die seinen. Am Ende wusste sie nur, dass sie ihn festhielt wie Miss Cuddles höchstpersönlich.

Unter ihren Händen erschütterte ein Schluchzen seine Schultern. Sie hörte ihn angestrengt dagegen atmen, doch es nützte nichts. Tränen bahnten sich den Weg auf ihr Haar. Anstatt irgendwelche Worte zu finden, presste Elphinstone sie so fest an ihn, dass sie seinen Herzschlag über ihrem spürte.

Keinen Moment länger wollten ihre Beine Minerva tragen. Wie Gräser im Wind knickten sie ein. Doch ihr Fall endete weich, da Elphinstone vor ihr die Kraft verließ. Er sank zu Boden und sie landete halb auf seinem Schoß, ihre Arme immer noch umeinandergeschlungen. Unvermittelt fühlte sie sich in das Kellerverlies der Lestranges zurückversetzt ...

Halt suchend grub sie ihre Finger fester in Elphinstones schwarzen Mantel. Er roch nach kalter Seeluft, Weihrauch und dem Salz fremder Tränen. Nach Tod und Trauer. Am liebsten hätte Minerva ihn von seinen Schultern gerissen.

»Es tut mir so leid um Elladora«, würgte sie hervor, darum bemüht, das Zittern ihres Körpers wenigstens aus den Worten fernzuhalten. »Oh Phin, es tut mir so, so, so leid ...«

»Nicht.« Elphinstones Stimme blieb eigenartig tonlos, als würde sie aus großer Ferne kommen.

»Ich wünschte nur ... Ich hatte dir doch versprochen, aufzupassen – und jetzt erinnere ich mich nicht mal –«

»Nicht«, wiederholte er. »Es ist nicht deine Schuld. Es tut nur so weh ...« Das Schluchzen überwältigte die Worte. »Ich kann nicht glauben, dass sie fort ist ...«

»Oh Phin ...« Minerva bewegte ihre Hände in Kreisen über seine Schulter. Sie hasste es, dass ihr Herz ausgerechnet in dieser Situation vor Freude sprang, als er sie enger heranzog, obwohl kein Pergament mehr zwischen sie passte, und sie liebte es, dass er keinen Zweifel an den Gefühlen für sie ließ. »Es tut mir trotzdem so, so leid ...«, flüsterte sie erstickt.

Elphinstone erwiderte nichts, sondern vergrub sein Gesicht nur tiefer in ihrem offenen Haar. Er schluchzte und hickste, solange bis die Tränen auf ihrem Morgenmantel und dem Schal darüber bereits wieder trockneten. Und als er schließlich keine einzige mehr übrig hatte, war sie es, die für ihn weinte.

Minerva wusste nicht, wie lange sie so dasaßen. Doch Zeit war ohnehin bedeutungslos geworden. Es wartete niemand auf Rettung durch sie. Sie mussten nicht kämpfen, nicht fliehen. Zum ersten Mal seit Tagen – nein, Wochen – konnte sie die Welt um sie her vergessen. Selbst als ihre eigenen Tränen auf den Wangen verdunsteten, hob sie den Kopf nicht von Elphinstones Schulter.

Wenn nicht irgendwann ihr Magen leise gegluckert hätte, wäre wahrscheinlich die gesamte Nacht verstrichen, ehe sie sich regten. So allerdings durchbrach das Geräusch ihre einträgliche Stille. Elphinstone holte tief Luft.

»Hunger?«, murmelte er fragend, seine Stimme ganz verschnupft, so wie Minerva es nie gehört hatte.

Sie schüttelte, immer noch an seine Schulter gelehnt, den Kopf. »Du?«

»Mh, nein.«

Vorsichtig streckte er sein linkes Bein aus und verlagerte ihr Gewicht weiter auf das rechte. Aber selbst so wurde ihr schmerzlich bewusst, dass der kostbare Moment, in dem sämtliche körperlichen Empfindungen ausgeschaltet waren, der Vergangenheit angehörte. Der Linoleumboden unter ihnen war kalt und hart, die Wand in Elphinstones Rücken sicherlich alles andere als weich und sie bemerkte, dass sich der Sporran über seinem Kilt in ihren Oberschenkel bohrte.

Seufzend rückte sie ein Stück von ihm ab. Obwohl sie sein Gesicht in den letzten Tagen oft genug studiert hatte, kostete es sie einige Überwindung, ihn jetzt unter ihren eigenen, tränenverklebten Wimpern hervor anzusehen.

Die Wärme seiner grauen Iriden ertrank beinahe in dem glasigen Schleier aus Tränen, der sich über seine Augen gelegt hatte, und die roten Äderchen darin waren allesamt geplatzt. Wenn ihr Herz nicht längst hundertfach gebrochen gewesen wäre, spätestens bei diesem Anblick hätte sie es in Scherben vom Boden auflesen müssen. Diesen Blick hatte sie nie an ihm sehen wollen.

»Aufstehen ...?«, fragte sie leise.

Für einen Moment sah Elphinstone sie einfach nur an – oder vielleicht auch durch sie hindurch. Dann schloss er seufzend seine Lider. »Bitte. Ich brauche frische Luft. Hier drin ...« Sie spürte ihn schlucken. »Ich war schon viel zu lange hier drinnen.«

»Okay.« Mit den Fingerspitzen strich sie die Tränenspuren von seinen Wangen. »Lass uns gehen. Ich fürchte nur, dass du mich stützen musst. Ich bin lahm wie ein Feuersalamander bei Schnee.«

Trotz geschlossener Lider lächelte er schwach. »Und wenn ich dich tragen müsste, ich würde es tun. Meinetwegen auch bis ans Ende der Welt.«

Das entlockte ihr ein kleines, aber amüsiertes Schnauben. Sie schob die Haare aus Elphinstones Stirn und drückte sacht einen Kuss darauf. »Der Innenhof reicht fürs Erste auch.«

 

Draußen fuhr ein frischer Herbstwind durch den kleinen Park, der sich zwischen den vier im Quadrat angeordneten Gebäudeflügeln des St. Mungo-Hospitals erstreckte. Im Gegensatz zur Kälte des Fußbodens oder der Trauer in ihrem Herzen war Minerva diese Kühle jedoch willkommen. Sie blies die letzten, geisterhaften Tränen aus ihren Augen und ließ Elphinstones Berührung umso wärmer wirken.

Eigentlich war es nicht erwünscht, dass Patienten bei Nacht durch die Grünanlagen wanderten, darauf hatte sie ein überfreundliches kleines Metallschild am Eingang hingewiesen. Doch selten war Minerva eine Regel derart egal gewesen – und sie vermutete, dass es Elphinstone ähnlich ging.

Nur einige gelbliche Zaubersphären in den Gebüschen beschienen ihr auserkorenes Plätzchen, eine Holzbank unter einer Trauerweide. Vor ihnen standen die von Emmeline mitgebrachten Schachfiguren auf einem der zahllosen, bereitstehenden Tische mit integriertem Schachbrett. Die schwarz und weißen Kästchen waren vom Wetter gezeichnet, doch der wenig vornehme Untergrund war nicht, was den Unmut der Figuren erregte.

»Werden wir heute auch noch mal vernünftig bewegt?«, schimpfte die weiße Dame. »Das sind doch alles keine vorausschauenden Züge!«

»Du glaubst wirklich noch, dass wir hier eine richtige Partie spielen?« Ein schwarzer Bauer lachte. »Die achten doch gar nicht wirklich auf uns. Guck, ich könnte hier einfach diagonal auf das nächste Feld –«

»Das lässt du schön bleiben!«, ermahnte Minerva ihre Figur. Natürlich hatte diese irgendwo recht – ihr Blick galt nicht einmal jetzt ihr. Aber das musste sie ja nicht zugeben. »Du bewegst dich nach ... D6.«

»Das eröffnet da vorne doch bloß die Falle eines en passant!«

Anstatt darauf einzugehen, kuschelte Minerva sich enger an Elphinstone. Die Schachfiguren murrten lauter, aber in ihren Ohren verklang es zu Hintergrundrauschen, wie der Wind in den Blättern der Weide. »Es freut mich, dass Eugenia dich ohne Anhörung wieder auf deinen Posten beruft«, sagte sie, die Augen unverwandt auf Elphinstone gerichtet, der ihr gerade die besseren Nachrichten der vergangenen Tage schilderte.

»Aber erst übernächste Woche«, erwiderte er, die Stimme immer noch heiser vor Trauer. »Ich habe darum gebeten, nicht sofort wieder in den Dienst zu müssen. Ausnahmsweise habe ich nichts dagegen, wenn Mulciber sich darum kümmert, die Scherben zusammenzufegen.«

»Mhhh. Eine Pause hast du dir auch mehr als nur verdient ...«

»Nicht bloß ich.« Elphinstone nahm ihre Finger zwischen seine und drückte sie sanft. Ohne dem Schachbrett einen Blick zu schenken, ließ er einen Bauern ziehen, der laut stampfend seinen neuen Posten bezog, da er trotz der Möglichkeit keine schwarze Figur schlagen durfte. »Du auch. Vor allem du.«

Minerva seufzte leise. »Kannst du glauben, dass ich noch nicht einmal darüber nachgedacht habe, wann ich wieder nach Hogwarts zurückkehre? Ich habe heute an alles gedacht, aber nicht an meinen Unterrichtsplan. Am allermeisten wollte ich einfach nur dich wiedersehen. So richtig. Und nicht am anderen Ende eines verfluchten Gerichtssaals voller ... Faschisten.«

»Merlin ... wenn das mal kein Liebesbeweis ist.« Elphinstone hob den rechten Mundwinkel zu seinem schelmischen Lächeln – nur damit es gleich darauf von einem betretenen Biss auf seine Lippe verdrängt wurde. »Ich meine, also – das war jetzt nur so dahergesagt, weil dein Unterricht halt dein Leben ist –«

»Es stimmt.« Minerva unterband sein selbstzweifelndes Gestammel mit festem Druck auf seine Hand. »Ich liebe dich wirklich. Du kannst dir sicher sein, dass ich jedes Wort meinte, was ich im Gamotssaal gesagt habe. Denn das habe ich nicht vergessen. Ich liebe dich, Elphinstone Urquart. Wie hast du zu mir gesagt? Hoffnungslos.«

Verdächtiger Glanz stieg in Elphinstones Augen auf. »Hoffnungslos?«, echote er – selber reichlich hoffnungslos für ihr Empfinden.

»Es ist nur die Wahrheit. Weißt du, wonach Amortentia für mich riecht?« Sie lehnte sich vor und hob ein Ende des Schals, den sie nicht eine Sekunde abgelegt hatte (und der von Elphinstone mit keinem Wort bedacht worden war, obwohl er eindeutig dasselbe Tartanmuster trug wie sein Kilt). Sie hielt die Fransen vor sein Gesicht. »Hiernach riecht der mächtigste Liebestrank, den die Welt kennt, für mich. Nach dir. Nicht nach Wald und Wiesen und etwas Undefinierbarem. Sondern nach deinen Pflanzen, deinen Pergamenten, Ingwerkeksen, frischem schottischen Wind und sogar ganz versteckt nach den Spuren deines Rasierwassers. Ich weiß das, weil ich es erst neulich in Horace’ Klassenzimmer gerochen habe. Und trotzdem nicht begriffen habe, bis es fast zu spät war! Wenn das nicht der Inbegriff von hoffnungslos ist ...«

Für ein paar Herzschläge sah Elphinstone sie mit leicht offenstehenden Lippen an. In seine Sprachlosigkeit hinein hörte man nur das genervte Seufzen einer Schachfigur. »Ich hab mal ein Fläschchen Amortentia unter den Beweismitteln in einem Verfahren gehabt«, sagte er schließlich langsam. »Muss so ‘63 gewesen sein. Und als ich alleine in der Asservatenkammer stand ... hat es mich überkommen. Ich hab das Ding entkorkt und dran gerochen. Ich wollte einfach wissen, ob es für meine Gefühle keine Rettung mehr gibt.« Er schüttelte über sich selber den Kopf. »Damals, im Zaubertrankunterricht, hat Sluggys Anschauungsexemplar einfach nach Wildblumen, warmen Scones und dem Ledereinband neuer Bücher gerochen. Das war schön, aber nicht sehr spezifisch. Und dann ...«

Minerva legte die Rückseite ihrer Finger an seine Wange, die so heiß glühte, wie sie im schwachen Lichtschein aussah. Mit einem Schmunzeln strich sie über Elphinstones Wangenknochen, ihre Augen fest auf seine gerichtet. Sie wollte diese Worte hören, auch wenn es sie amüsierte, wie er sich auf einmal wand.

»Und dann ...?«

Elphinstone seufzte leise. »Und dann stand ich da, mit meinen Akten unterm Arm und es roch nach Blumen. Aber nach denen in deinem Parfüm. Es roch nach Gebäck, aber es waren Ingwerkekse. Und die Bücher waren nicht länger neu, sondern sie rochen wie die alten Schinken, die du immer aus der Bibliothek mit zu unseren Treffen gebracht hast. Und da war mir klar, dass ich ein hoffnungsloser Idiot bin. Ich hab mich so sehr geschämt, also habe ich die Phiole mit einem Dauerklebefluch verschlossen und mir geschworen, für das Gesetz zur stärkeren Reglementierung von Liebestränken und deren Missbrauch zu stimmen.«

Das Schmunzeln auf Minervas Gesicht wuchs über ihre Wangen hinaus. »Und genau weil du so bist, habe ich mich in dich verliebt.«

»Du liebst mich ...«, murmelte er, mehr zu sich selbst als an sie gewandt und nach wie vor reichlich fassungslos.

»Ja!«, bekräftigte Minerva. »Ich habe nur furchtbar lange gebraucht, diesen Gedanken zuzulassen. Ich habe noch nie solche Gefühle empfunden wie für dich, Phin. Deshalb wusste ich selbst am Loch Ness kaum, was ich dir sagen sollte, obwohl es alles längst in meinem Herzen war. Diese Liebe ... sie kam nicht plötzlich, wie bei Dougal, sie ... ist in jedem Gedanken an dich gewachsen und hat ihre Wurzeln tief in mir vergraben, wo ich sie lange Zeit nicht bemerkt habe. Aber jetzt ...« Sie drückte seine Hand an ihre Brust. »... blüht sie hier.«

»Du liebst mich wirklich ...« Elphinstone legte die andere Hand, die sie nicht in Beschlag nahm, an ihre Wange. »Und ich liebe dich auch.« Er hielt kurz inne. Ohne Vorwarnung löste sich plötzlich wieder eine Träne aus seinem Augenwinkel. »Auch ... ich darf wirklich auch sagen?«

»Immer.« Wie er einst bei ihr, hauchte sie einen Kuss in seine Handfläche und beobachtete das Funkeln, das bei ihrer Berührung in seine Augen zurückkehrte. Zaghaft streckte sie sich ihm entgegen. »Ich ... will deine Grenzen nicht übertreten, immerhin trauerst du und ich weiß nicht, ob es jetzt richtig wäre, aber ... ich würde dich gerne küssen.«

»Das ist okay. Ich will dich schließlich ebenso küssen.« Elphinstones Hand wanderte in ihren Nacken und er zog sie näher. Den Mund zusammengepresst, blinzelte er die Tränen fort, die ihm in den Wimpern hingen. »Ich will die Hoffnung spüren, die du mir gibst.«

Sie lächelte und bevor er noch etwas anderes sagen konnte, streifte sie seine Lippen mit ihren. »Ich liebe dich – auch.«

Freiheit ist fragil

Zusammen mit dem kühlen Herbstwind ergriff Minerva auf dem Friedhof von Leeds ein Gefühl der Freiheit. Nicht jene absolute, glückselige Empfindung, die sie bei einem Besenflug erfüllte, aber zumindest ... die Last eines schweren Umhangs, die von ihren Schultern glitt. Ein Tau um ihre Brust, das so lange ihr Herz eingeschnürt hatte, dass sein plötzliches Auflösen doppelt so befreiend wirkte. Es war eine sanfte Freiheit, die weder ihren Magen kribbeln ließ, noch den Eindruck erweckte, dass sie jeden Moment davonschweben könnte. Und doch war es Freiheit. Ein lang gehaltener Atemzug, der sich endlich entlud.

Abgesehen von ihrem Aufseufzen war die Luft still, nur erfüllt vom fernen Rascheln der ersten fallenden Blätter. Nicht ganz verwelkt, trug es sie bereits von den Bäumen. Im goldenen Septembersonnenschein wirbelten sie an Minerva vorbei, in Richtung Stadt. Gerahmt von Blättertanz, blauem Himmel und taunassem Gras mutete Leeds am Fuße des Hügels noch mehr wie eine Bilderbuchstadt an als bei ihrem letzten Besuch.

Kleine, perfekte Häuser, deren Dächer im Licht glänzten, bunte Autos, die wie Perlen auf Schnüren durch die Straßen glitten ... Nichts erinnerte an den kurzen, aber heftigen Kampf, der Detective Superintendent Gareth Hammond vor bald zwei Wochen das Leben gekostet und Minerva somit nach ihrer Entlassung aus dem Hospital auf diesen Friedhof geführt hatte.

Erneut nahm sie einen tiefen Atemzug, nur um sich zu überzeugen, dass die Enge in ihrer Brust nicht zurückkehren würde. Ein bisschen befürchtete sie doch, dass alleine der Gedanke an den Tod des mutigen Mannes, dessen Grab zu ihren Füßen lag, sie wieder mit Trauer beschweren würde. Aber der Frieden wuchs nur, als mehr frische Luft ihre Lungen füllte und das Blatt mit Jonathan Alditchs Phönixbild in der Innentasche ihres Umhangs knisterte.

»Schön haben Sie es hier, Detective«, sagte sie leise in den Wind hinein. »Immer einen wachsamen Blick auf Ihre Stadt ... Ihr Kollege Brody hat erzählt, dass dies Ihr Wunsch war.«

Der Gedanke an den jungen Polizisten und dessen Ahnungslosigkeit, mit wem er sprach, als sie ihn heute Morgen an seiner Dienststelle aufgesucht hatte, presste ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Der stete Erinnerungsraub an wehrlosen Menschen war einfach ungerecht, egal ob man ihn im Namen des Gesetzes beging oder aus reinem Eigennutz – und in diesem Fall galt leider beides.

»Ich hoffe, Sie können vergeben, dass so viele vergessen mussten, Detective«, fuhr Minerva mit einem schweren Schlucken fort. »Glauben Sie mir, wenn es meine Wahl gewesen wäre, dann hätte ich Ihren Untergebenen die Wahrheit gelassen, anstatt sie die Lüge von einem Schusswechsel leben zu lassen. Aber so bleibt auch mir nur, die Wahrheit so fest zu halten wie möglich ... nicht, dass ich noch einen Teil davon verliere. Es geht leider viel zu schnell, wenn Magie im Spiel ist.«

Sie löste den Blick von Leeds’ Dächermeer und kniete sich vor den frischen Erdhügel, unter dem der Muggelpolizist seine letzte Ruhe gefunden hatte. Noch war das Grab nicht abgesunken, sodass es keinen Grabstein gab. Nur ein hölzernes Kreuz informierte über Namen und Lebensdaten. Es brauchte allerdings gar nicht erst den in Stein gemeißelten Nachruf, um zu begreifen, dass Gareth Hammond vielen Menschen in bester Erinnerung bleiben würde. Das zeigten die unzähligen Kränze, Grablichter und Andenken, die sich vor Minerva türmten.

So traurig es war, dass Bruder und Schwester, Kinder und Enkelkinder, Freunde und Kollegen um den Detective trauerten, so sehr spendete es auch Hoffnung, die Verbundenheit in ihrer Trauer zu erkennen. Seine Entschlossenheit mochte Gareth Hammond das Leben gekostet haben, doch in den Hinterbliebenen würde sie als Inspiration weiter wirken.

Minerva sah zu beiden Seiten, ob ja kein Muggel den Kiespfad herabkam, dann zog sie den Zauberstab. Einen Augenblick verharrte sie, unschlüssig, was ihre Magie Detective Hammond überhaupt hinterlassen könnte, das er nicht längst hatte. Dann beschrieb sie einen weiten Kreis über der Grabstelle. Zum leisen Rauschen aus Wind und fallenden Herbstblättern gesellte sich das Rascheln von Kränzen und Blumengestecken, die mit einem Mal wieder an Kraft gewannen. Eben noch verwelkende Schönheit erblühte erneut. Sogar das ewige Licht in seinem Glas leuchtete heller. Und das würde es, bis Minerva selber verlosch.

»Ich danke Ihnen, Detective. Auch im Namen von Theo Winters. Ich bin mir sicher, er wird die zweite Chance aufs Leben, die Sie ihm gegeben haben, bestens nutzen. Vielleicht haben Sie ja von irgendwo ein Auge auf ihn und seine Tochter. Ich weiß es nicht, aber mein Vater glaubt daran, also ... möchte ich daran glauben, dass er richtig liegt.«

Sie hatte lange nicht mehr gebetet, doch jetzt erschien es ihr nur angemessen, Detective Hammond, der immerhin auf einem anglikanischen Friedhof begraben war, ein letztes Mal auf diese Art zu würdigen. Jedes einzelne, stumme Wort hallte in ihrem Inneren wider und gleichzeitig spürte sie, wie die Verse ihre Trauer mit sich nahmen, Stück für Stück. Schließlich endete sie mit einem leisen »Amen« und leerem Herzen.

Als sie aufstand, waren auch die restlichen Funken voller Vorwürfe und Schuldgefühle entflogen. Sie würde nie freiwillig vergessen, welches Opfer Gareth Hammond für sie erbracht hatte. Aber der Himmel mochte ihr beistehen, er würde eine gute Erinnerung sein.

Den Blick wieder zur Stadt hinter dem Grab erhoben, trat sie ein paar Schritte zurück. An Elphinstones Seite. Automatisch glitt ihre Hand in seine. Er sagte nichts – und das war in Ordnung. Er brauchte es nicht. Einen Moment lang verharrten sie, dann setzten sie sich in Bewegung. Über schmale Pfade führte ihr Weg sie zum Friedhofstor und im Schutz der steinernen Mauer disapparierten sie.

Lange dauerte es nicht, da nahmen sie viele Meilen weiter nördlich auf einem ausgetretenen Erdpfad erneut Gestalt an. Mitten in den Highlands war die Freiheit im Gegensatz zu Leeds nicht bloß in Minervas Herz zu verspüren. Nein, hier empfing diese sie beide mit grüner Weite bis zum Horizont und darüber hinaus; mit ungezähmtem schottischen Wind und dem verheißungsvollen Glitzern von Loch Ness in der Tiefe.

Dennoch drückte Minerva für einen Augenblick die Lider fest zusammen, um den Frieden in ihrem Inneren festzuhalten. Egal wie viele Gebete sie sprach, das nagende, namenlose Gefühl, was sie beim Gedanken an Elladora überkam, war nicht so leicht zu besänftigen.

Neben ihr versteifte Elphinstone sich ebenso. »Es ist nicht weit«, murmelte er. »Nur ein Stück den Hügel hinauf ... Geht es noch? Wir können sonst auch später wiederkommen, wenn du eine Pause brauchst. Immerhin bist du erst heute aus dem Hospital entlassen worden ...«

»Alles in Ordnung.« Sie drückte seine Hand. »Wir müssen ja nicht rennen.«

Zustimmend brummte er und gemächlich setzten sie sich erneut in Bewegung. Wenn sie nicht auf dem Weg wären, ein weiteres Grab zu besuchen, hätte es ein wirklich idyllischer Spaziergang sein können. Mit den Highlands im Rücken wirkte Elphinstone im Kilt tausend Mal passender, viel eher wie er selbst, als vor einigen Tagen im St. Mungo-Hospital. Mehr sogar – wie eine intimere Version von sich. Als wäre der stets professionelle Strafverfolger im Urlaub. In die Farben seines Clans gehüllt war Elphinstone so verletzlich wie stolz. Dass Minerva den Anblick wieder nicht genießen konnte, war eine Schande. Doch vorerst galt ihr Blick dem kleinen Friedhof, der hinter der nächsten Wegbiegung am Hang des Berges lag.

Es handelte sich um einen rein magischen Ort, wie die mit Tierwesen verzierten Grabstätten zeigten. Anstatt von Engeln zierten Einhörner und Phönixe die teils jahrhundertealten Gräber. Seltener gab es auch Darstellungen von Thestralen. Runen und andere, rituelle Schutzzeichen waren hingegen allgegenwärtig, genauso wie gälische Segenssprüche. Abgesehen davon waren die Bestattungsriten sehr ähnlich zu jenen der Muggel. Besonders die Blumen, welche an den jüngeren Grabsteinen niedergelegt waren. Lilien, ihr Weiß ein heller Fleck an diesem Ort der Trauer.

Schon von Weitem erkannte Minerva das letzte Grab in der Reihe aus vornehmlich urquart’schen Ruhestätten. Nicht bloß aufgrund des frischen Kranzes mit schwarzen Schleifen – sondern weil eine bekannte Gestalt davorstand, das aschblonde Haupt gesenkt.

»Was macht denn Druella Black hier?«, entfuhr es ihr. Im gleichen Atemzug ballte sie eine Hand zur Faust. »Dass die sich überhaupt hertraut!«

Sie musterte Elphinstone aus dem Augenwinkel. Anders als sie seufzte er jedoch nur leise, trotz gerunzelter Stirn und verkrampfter Schultern.

»Ella und sie kannten einander immerhin sehr lange ...«

»Und trotzdem hat sie auf Seiten derer gestanden, die dir deine Schwester entrissen haben –«

»Bitte, Minerva. Lass ihr die Trauer, ja?«

»Wenn sie denn überhaupt echt ist!«

Elphinstone strich über ihren Handrücken. »Du musst nicht für mich wütend sein. Das kann ich schon selber, aber fürs Erste möchte ich Druella nicht verurteilen. Dass sie hier ist, wird schon einen Grund haben.«

Minerva schluckte ihre Widerworte zusammen mit dem Ärger hinunter, obwohl sie als glühende Kohlen in ihrem Bauch rumorten. Grimmig packte sie Elphinstones Hand fester und folgte ihm den Pfad hinab, an teils jahrhundertealten Grabstätten vorbei.

Druella bemerkte sie erst, als nur noch zwei Gräber zwischen ihnen lagen. Und selbst dann hob sie ihren Kopf bloß langsam. Ihre Lippen formten ein stummes »Oh« bei ihrem Anblick. Minerva begriff nicht, wie Elphinstone so ruhig bleiben konnte, dass seine Begrüßung geradezu ... freundlich klang.

»Hallo Druella. Wie schön, dass du deinen Weg hierhergefunden hast. Das würde Ella bestimmt freuen.«

Ein schmales Lächeln quälte sich über die Lippen der zierlichen Hexe. Hinter dem dicken Fellkragen ihres Umhangs (sicher die unfreiwillige Gabe eines viel zu seltenen Tierwesens) wirkte sie geradezu verloren. »Nun, ich wäre gerne schon zur eigentlichen Beerdigung gekommen, doch mein Portschlüssel aus Paris ist gerade erst gelandet ...«

»Also hat man Gideon dort beigesetzt?«

Druella war ohnehin schon so bleich, dass es Voldemort Konkurrenz machte, doch ihr Gesicht verlor bei diesen Worten noch an Farbe. Sie nickte hastig. »In der Familiengruft«, murmelte sie. »So will es die Tradition.«

Elphinstone schob das Kinn vor. »Nun, was für ein Glück, dass Ella nicht ebenfalls bis in alle Ewigkeit die Dunkelheit Pariser Katakomben ertragen muss. Ich hab gehört, dort wimmelt es nur so von Ratten.«

Tränen füllten Druellas Augen, das sah Minerva, obwohl die ach so noble Reinblüterin natürlich geziemend den Kopf abwandte und gegen jede menschliche Regung ankämpfte. Sie ballte die Hand wieder zur Faust, in der Hoffnung, dass der Schmerz ihrer Fingernägel im eigenen Fleisch sie daran hindern würde, ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Elphinstone zuliebe.

»Hier ist es wirklich schöner«, hauchte Druella zu ihrer Überraschung plötzlich. »Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass meine Ewigkeit eines Tages auch so ... friedlich wird.«

»Pfff.« Minerva schnaubte.

Das lockte Druellas Aufmerksamkeit zu ihr. Zumindest für einen Sekundenbruchteil sah diese sie an, dann verschränkte sie die Hände vor ihrem Unterleib, als plagten sie furchtbare Krämpfe. »Ich bitte nicht um Vergebung«, sagte sie brüsk und doch mit brüchiger Stimme. »Aber ich werde trotzdem sagen, dass ich dieses Ende nicht gewünscht habe. Für keinen von uns.«

»Und trotzdem haben Sie es zugelassen!«

Elphinstone zog an Minervas Hand, doch sie konnte – und wollte – die Worte nicht länger zurückhalten. Alleine die Art, wie Druella ihrem Blick auswich, war pure Glut in ihrem Bauch. Erinnerungsfetzen jeder Begegnung mit der verhassten Hexe brodelten herauf, nur um sie damit zu quälen, dass mitten in ihrem Kopf ein schwarzes Loch klaffte.

»Ich weiß vielleicht nicht mehr, was in diesem Anwesen geschehen ist«, zischte sie Druella entgegen, »aber eines weiß ich – Sie waren da an jenem Abend! Sie waren da und sind Voldemort bis ins Ministerium gefolgt, also tun Sie nicht so, als würden Sie irgendetwas bereuen –«

Druella drückte die Schultern zurück. »Ich habe meine Beteiligung mit keinem Wort geleugnet. Ja, ich war da. Gibt mir nicht gerade dieser Umstand genug Recht auf Reue? Wer hätte mehr Grund zu bereuen als ich?«

»Also wollen Sie uns erzählen, dass Sie sich jetzt einfach so von Voldemort abwenden? Obwohl Sie so überzeugt von seinen Plänen waren, dass Sie keine Skrupel hatten, das Ministerium an seiner Seite zu überfallen?«

»Keine Skrupel ...« Der Wind riss ein hartes Lachen von Druellas Lippen. »Natürlich. Warum sollten Sie auch begreifen, wie viel mehr hinter diesem einen Moment in meinem Leben steht.«

»Sie könnten es uns erklären«, schlug Minerva mindestens ebenso barsch vor. »Vielleicht würden wir Sie sogar verstehen?«

»Meine Zeit ist zu kostbar, nur um Ihre Meinung von mir zu ändern.«

Minerva kniff die Augen zusammen. »Wenn das so ist ... Sie sollten sich meiner Meinung nach glücklich schätzen, überhaupt hier stehen zu dürfen – in Freiheit. Vergessen Sie Ihr Glück nicht.«

»Das glauben auch nur Sie.«

»Also geben Sie zu, dass Sie nicht denken, für Ihre Taten bestraft zu gehören?«

»Sie geben sich wirklich Mühe, mich zu missverstehen.« In Druellas Gesicht zuckten die Muskeln, als würde Strom hindurchfließen. »Ich meinte die Freiheit, von der sie sprechen. Von der habe ich mich schon lange verabschiedet. Und wenn ich daran denke, wo Sie stehen – werden Sie das bald ebenso tun müssen.«

Dieses Mal kam Elphinstone Minervas Zorn zuvor. »Ist das eine Drohung?«, fragte er, die Stimme ganz leise.

»Eine Warnung.«

Entgegen jedem Instinkt reckte Minerva das Kinn. »Vor Ihnen?«

»Machen Sie sich nicht lächerlich. Sie wissen vor wem«, spie Druella ihr zu.

»Dann werden Sie konkreter«, verlangte Elphinstone im fordernden Tonfall eines Strafverfolgers beim Verhör. »Was wissen Sie?«

»Nicht genug.«

Abermals konnte Minerva das Schnauben nicht unterdrücken. »Und für diese vagen Worte sollen wir Ihnen wahrscheinlich noch dankbar sein?«

Druella hob die Schultern. »Sie sollen bloß nicht denken, dass ein vereitelter Plan alles zum Einsturz bringt. Aber falls es Sie glücklich macht: Mein Zauberstab wird keine Seite mehr in diesem Kampf wählen. Ich weiß es besser als das.«

»Feige, Sie sind einfach nur feige

Wieder übte Elphinstone mahnenden Druck auf Minervas Hand aus. Trotzdem schritt er nicht ein, sondern musterte Druella nur mit zerfurchter Stirn. Die glättete derweil ihren Ausdruck, bis sie fast so eine überzeugende Maske wie jene Voldemorts zeigte.

»Ich habe letzte Woche nicht bloß einen Bruder verloren«, ergänzte sie kühl. »Also erzählen Sie mir nichts über Gefühle. Sie haben keine Ahnung. Nicht die Geringste!«

Ein Wirbel in Minervas Nacken knackte leise, als sie sich trotzig straffte – und schließlich doch schwieg. Sie konnte Druellas Ausdruck nicht deuten, aber sie erinnerte sich mit einem Mal, wessen Mutter sie war.

Ein paar Herzschläge lang taxierten sie einander, dann rang Druella sich ein künstliches Lächeln ab. »Hauptsache, Sie lassen Narzissa nicht den Preis zahlen. Das wäre alles, worum ich wirklich bitten möchte.«

»Und das ist zu Ihrem Glück alles, worum Sie nicht erst bitten müssen.«

Druella nickte bloß, bevor sie das Haupt Elphinstone zuwandte. »Mein aufrichtiges Beileid, Mr Urquart.« Mit diesen Worten drehte sie sich auf der Stelle. Der Knall ihrer Disapparation hallte noch lange nach ihrem Verschwinden durch die Weite.

Unter tiefem Seufzen sackten Elphinstones Schultern herab. Ein kleiner Teil von Minerva flüsterte ihr zu, sich für den Ausbruch zu entschuldigen, aber ein viel größerer bereute kein Wort. Zu ihrer Überraschung sprach Elphinstone sie ohnehin nicht darauf an. Stattdessen trat er wie in Trance an Elladoras Grab. Er schob ein schiefliegendes Gesteck zurecht, zupfte ein welkes Blättchen fort, sorgte dafür, dass die mit Trauerbekundungen bestickten Schleifen glatt auf der Erde lagen ...

Der Anblick löschte jegliche Wut besser als ein Eimer Eiswasser. Nun doch besorgt hockte sie sich neben ihn. »Bist du mir böse?«

Sein Haar fiel ihm vor die Augen, als er den Kopf senkte. »... nein. Ich habe selber nicht damit gerechnet, dass sich irgendwer von den Rosiers hier blicken lassen würde. Auch wenn sie natürlich keine Rosier mehr ist, zumindest auf dem Papier.« Er schniefte leise. »Es war gelogen, als ich sagte, dass ich Druella nicht verurteilen will. Ich hasse sie. Sie und den Rest der Rosiers. Ich weiß, wie falsch das ist, aber ... Ella hat so viel gelitten wegen jener Familie, ohne dass es einer von uns bemerkt hat. Und jetzt lassen sie nicht mal ihren eigenen Sohn zu ihrer Beerdigung!«

»Oh Phin ...«

»Ich wette, um seinen Vater sollte Evan weinen! Obwohl ... wahrscheinlich geziemt sich das in diesen Kreisen auch nicht. Irgendsolchen Schwachsinn reden ihm Gideons Eltern jetzt bestimmt ein, nun wo sie das Sorgerecht ganz offiziell innehaben.«

Minerva schluckte. »Besteht denn keine Chance, das anzufechten ...?«

»Angeblich hat Ella kein eigenes Testament hinterlegt. Dafür hat Gideon sich in seinem sehr klar ausgedrückt. Und leider ist es wasserdicht. Der Bastard hat sich auf diesen Fall vorbereitet!« Elphinstone drückte die Fäuste in das Gras neben seinen Knien. »Es macht mich wahnsinnig, dass wir nichts tun können. Schlimmer noch, Evan hat sich sogar für die Rosiers entschieden! Dabei sind wir genauso seine Familie!« Die Erde vor ihm färbte sich dunkel unter seinen Tränen. »Sag mir, warum fühlt es sich an, als hätten wir den Jungen mit Ella beerdigt? Warum kann ich ein fremdes Kind retten, aber nicht meinen eigenen Neffen?«

Der Frieden in Minervas Brust schmerzte, während ihr Blick auf der Suche nach einer echten, aufrichtigen Antwort über die Highlands glitt. Dass sie diesen Schmerz nicht mit Elphinstone teilen konnte, stach wie der Dolch des Verrats in ihrem Herzen – aber selbst das änderte nichts an dem Gefühl von Freiheit, das jedem ihrer Atemzüge innewohnte.

»Ich wünschte, ich hätte eine Antwort für dich«, sagte sie nach einigen Momenten des Zögerns. »Ich wünschte, ich könnte dir sagen, warum das Leben manchmal so ungerecht ist. Wirklich.« Sie blinzelte ihre eigenen Mitleidstränen fort. »Leider weiß ich, dass nicht mal mein Vater eine zufriedenstellende Antwort kennt. Er sagt immer nur, dass ohne den Schmerz das Licht des Lebens nichts wert wäre. Aber das ist natürlich keine Antwort, wie man sie hören möchte.«

»Nicht wirklich.« Elphinstone legte den Kopf in den Nacken, was seine Tränen allerdings nicht aufhielt. »In mir ist so viel unterschiedlicher Schmerz gerade ... es ist schwer, ihn zu akzeptieren. Vor allem, wenn er sich immer wieder mit Freude abwechselt. Ich weiß einfach nicht, was ich fühlen soll. Da hilft es nicht, dass ich manche Gefühle nicht einmal begreife.«

»Wie meinst du das?« Sorgenvoll sah Minerva ihn an, doch sein Blick galt immer noch dem Himmel voller Schäfchenwolken.

»Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, ohne dass es völlig falsch klingt.«

Etwas in Minervas Magen rollte sich zusammen. »Dann werde ich mir größte Mühe geben, es nicht so zu verstehen«, sagte sie trotzdem.

»Falls das überhaupt möglich ist ...«

»Bitte schließ mich nicht aus. Was immer es ist, ich möchte davon wissen. Immerhin bin ich nach wie vor deine Freundin. Beste Freundin.«

Elphinstone nahm einen tiefen Atemzug, der von dem Grund seiner tränengetränkten Seele zu kommen schien. »Du hast ja recht. Wo fange ich an ...« Er räusperte sich. »Ende letzter Woche, als ich von Elladoras Tod erfahren habe, war ich einfach nur voller Trauer. Du warst im Tränkekoma und ich war alleine, aber wenigstens warst du in Sicherheit. Das hat schon gereicht, um nicht völlig den Halt zu verlieren. Aber seitdem ist da noch ... ein anderer Schmerz hinzugekommen und heute ... heute zerreißt er mich fast. Obwohl ich so glücklich bin, dich an meiner Seite zu haben.«

»... Schmerz? Es hat doch nicht mit deinen Wunden zu tun?«

»Nein, nein, keine Sorge, die verheilen.«

»Aber ... was ist es dann für ein Schmerz? Was ist los?«

»Wie gesagt, ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich es überhaupt sagen soll, egal ob richtig oder falsch ausgedrückt. Ich verstehe mich ja selber kaum.«

Das zusammengerollte Etwas in Minervas Bauchgegend zog sich fester. Auch sie nahm einen tiefen Atemzug, um sich an die Freiheit in ihrer Brust zu erinnern. »Vielleicht findest du die Worte dafür, wenn du ... einfach drauflos sprichst?«, schlug sie vor. »Ich habe in den letzten Tagen gemerkt, dass es manchmal hilft, mehr auf das Herz als den Kopf zu hören. Alle perfekten Worte nutzen schließlich nichts, wenn sie nicht von dort kommen.«

Ein verstohlenes Lächeln schlich sich bei dem Blick zur Burg der Urquarts – und deren wunderschönem Garten, von hier aus bloß ein Punkt im weiten Grün – auf ihre Lippen. Ihr glücklicher Ausdruck schwand allerdings sofort, als sie sah, wie Elphinstone sich in die Wange biss.

»Vermutlich hast du recht«, erwiderte er steif und zog die Nase hoch. Das Taschentuch, welches sie ihm reichte, knetete er geistesabwesend in den Händen. »Also ... bevor ich am Mittwochabend nach der Beerdigung zu dir gekommen bin, habe ich mit Archie gesprochen. Wegen der Sache mit meiner Fluchbehandlung und ...« Sein Adamsapfel bebte. »... der Unfruchtbarkeit. Während du im Koma lagst, hat er einige Tests durchgeführt und ... das Ergebnis ist da. Ums kurz zu machen: Er hatte recht mit seiner Befürchtung.«

Dornen. Seine Worte waren wie Dornen, die eine unsichtbare Mauer emporwuchsen, die Minerva erst vor Kurzem eingerissen hatte. Vorsichtig legte sie eine Hand zwischen Elphinstones Schulterblätter.

»Ich werde wohl nie eigene Kinder zeugen können«, fügte er hinzu. »Mein ... Erbgut ist zum überwiegenden Teil defekt. Archie sagt, es wäre nicht unmöglich, aber so gut wie.«

Unfreiwillig zuckten die Muskeln um Minervas Mund. Bevor sich eine Grimasse auf ihr Gesicht legen konnte, verlagerte sie das hässliche Gefühl in ihrem Inneren in den Oberschenkel, indem sie die Fingernägel der freien Hand in ihn vergrub. »Jetzt weiß ich ehrlich gesagt nicht so recht, wie ich darauf antworten soll ...«

»Ich weiß schon«, seufzte Elphinstone. »Ich wüsste es an deiner Stelle auch nicht. Es ist so ... beschissen, diese ganze Situation! Das ist kein Thema, über das wir an diesem Punkt nachdenken sollten. Wir sind doch gerade erst ... ein Paar. Und schon wieder stelle ich die Reihenfolge auf den Kopf. Als wären die Heiratsanträge nicht schlimm genug.«

Bei diesen Worten konnte Minerva nicht anders, sie schlang ihre Arme so fest um ihn, wie es ihr möglich war. »Aber deshalb werde ich nicht vor dem Thema fliehen!«, flüsterte sie eindringlich in sein Ohr. »Egal wie schwer es ist, diese Last gehört jetzt uns. Solange wir offen miteinander sind, werden wir einen Weg finden, sie zu tragen, irgendwie ...«

Wieder schniefte er und das Taschentuch verschwand in seiner Faust. »Wenn ich denn wenigstens wüsste, warum ich mich so furchtbar fühle! Ich ...« Behindert von ihren Armen schüttelte er unmerklich den Kopf. »Ich war mir immer so sicher, dass ich keine Kinder will, dass ich auch ohne glücklich bin – ich meine, sieh mich an, ich bin nicht mehr der Jüngste. Wenn ich gewollt hätte, dann ... aber ich wollte nie! Das war einer der Gründe, warum Archie mich überhaupt erst verlassen hat. Nicht einmal ihm zuliebe wollte ich das. Und jetzt ... kann ich es nicht mehr haben und ...«

Minerva presste ihre Lippen so fest aufeinander, dass unmöglich ein Laut entweichen konnte – und doch hörte sie sich wimmern. Selbst als sie sich auf die Zunge biss, konnte sie nicht verhindern, dass ihr ein ersticktes Geräusch entfloh.

»Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, welche Zukunft ich verloren habe«, murmelte Elphinstone gegen ihren Oberarm. »Obwohl sie nie existieren sollte, hat sie plötzlich ein Gesicht bekommen.«

Die zitternden Lippen in seinem Haar verborgen, drückte Minerva ihn noch fester. »Ich kann nicht sagen, dass ich dieses Gefühl wirklich verstehe, aber ... ich bin mir sicher, es würde mir an deiner Stelle ähnlich gehen. Die Freiheit dieser Entscheidung genommen zu bekommen ist nicht weniger schlimm als jede andere Gewalttat.«

»Aber ich habe die Entscheidung doch eigentlich schon vor langer Zeit getroffen, das ist es ja. Ich habe Archie vor mehr als 15 Jahren gesagt, dass ich mir nicht vorstellen kann, ein Vater zu sein, adoptiertes Kind oder nicht. Sollte es mir nicht egal sein, meine ... Fortpflanzungsmöglichkeit zu verlieren? Ich dachte, es würde mir egal sein. Mittwoch war es mir egal.«

»Nun ... es war trotzdem immer dein gutes Recht, diese Meinung eines Tages ändern zu können. Es ist schließlich nichts in Stein gemeißelt, nur weil man sich einmal entschieden hat. Ich dachte eine gewisse Zeit lang, dass ich auf jeden Fall Kinder haben werde, sogar mehr als eines ... und jetzt bin ich glücklich ohne.«

Sie musste nicht hinsehen, um zu bemerken, wie Elphinstone die Kiefer aufeinanderpresste. »Oh Merlin, es tut mir so leid«, wisperte er. »Es tut mir so, so leid, dass ich mir in den letzten Tagen immer wieder vorgestellt habe, wie es wäre, ein Kind mit dir zu –« Seine Worte machten abrupt dem Wind Platz.

»Phin?« Minerva lehnte sich auf der Suche nach seinem Blick zurück, obwohl ihr Magen plötzlich ein einziger Knoten war. Doch er wich ihr aus.

»Ich weiß, dass du – bitte, versteh das nicht falsch!«, sagte er hastig. »Ich will nicht ... das soll keine Erwartung an dich sein oder irgendwie ... Keinesfalls! Ich respektiere deine Meinung – und du bist mir wichtiger als all das –«

»Das weiß ich doch.« Sie legte beide Hände an seine Wangen und sah fest in diese wunderbaren, grauen Augen, die sie zu lieben gelernt hatte. »In all den Jahren, die wir uns kennen, hast du mich nie anders als mit dem höchsten Respekt behandelt.«

»Und trotzdem habe ich dich mit deiner Nichte gesehen und ...« Elphinstone senkte die Lider. »Dich mit Prudence zu sehen war furchtbar. Es hat all diese Bilder in meinem Kopf heraufbeschworen – ich weiß, das ist so falsch! Ich will das zwischen uns nicht kaputt machen –«

»Tust du auch nicht. Ich gebe zu, es fühlt sich ... überwältigend an, von unserer Zukunft zu sprechen. In den letzten Tagen habe ich höchstens die nächste Stunde geplant und plötzlich geht es um ein ganzes Leben? So weit kann ich gerade nicht denken. Was nicht heißt, dass es nie so sein wird. Aber egal, was ich im Moment empfinde – ich kann damit leben, dass diese Vorstellung einen Platz in deinem Kopf hat. Vorstellungen alleine tun schließlich niemandem weh.«

»Dann kannst du mehr als ich gerade. Ich bin abwechselnd unglaublich traurig und ... fast schon angewidert von mir selber. So will ich nicht von dir denken.« Elphinstone zog die Augenbrauen zu einem wütenden Strich zusammen. Mit der geballten Faust hieb er auf den Boden ein. »Wenn es sich nur nicht anfühlen würde, als müsste ich zusätzlich zu allem, was ich verloren habe, auch noch einen Teil von mir beerdigen! Ich meine ... selbst wenn sich irgendwann bestätigt, dass ich wirklich keine leiblichen Kinder möchte – ich habe Angst, dass es sich nie wieder wie meine Entscheidung anfühlen wird. Da wird immer das Wissen bleiben, dass eigentlich das Schicksal für mich entschieden hat.«

Minerva umfasste seine Faust, bis er das unbenutzte Taschentuch darin freigab und stattdessen seine Finger mit ihren verflocht. »Es ist in Ordnung, dass du wütend darüber bist. Aber sei nicht wütend auf dich. Sei wütend auf Bellatrix Lestrange, die dir das angetan hat.« Sie hob ihre verschränkten Hände an die Lippen und drückte einen Kuss auf seine Fingerspitzen. »Du hast nichts falsch gemacht. Im Gegensatz, ich bin wirklich froh, dass du mit mir darüber sprichst. Vielleicht gibt es jetzt keine Lösung, um dieses Gefühl erträglicher zu machen, aber ... wenn die Zeit so weit ist, wird es immer noch Entscheidungen geben, die wir treffen können.«

Für einen Moment wanderten Elphinstones Mundwinkel nach oben, dann zog die Schwerkraft sie hinab, bevor er sie entgegen der Anstrengung erneut hob – und schließlich verharrten sie irgendwo in einem Ausdruck zwischen Freude und Trauer. »Da ist es wieder, dieses grenzenlose Glück, das alles andere ertränkt.«

»Siehst du? Das ist das Licht im Schmerz.«

Anstatt eine Antwort zu geben, nickte Elphinstone bloß. Sein Blick glitt fort von ihr, zurück in die Highlands und vielleicht zu der Freiheit, die sie empfand. Sie hoffte es jedenfalls. Diesen Gefühlsritt auf einem tollwütigen Besen würden sie in den nächsten Tagen – und Wochen – wahrscheinlich noch zu Genüge erleben, da zählte jeder Moment der Freude doppelt.

Sobald klar wurde, dass Elphinstone wirklich nichts mehr sagen würde, zog sie Jonathans Bild aus ihrem Umhang. Sie hatte den Jungen nach ihrer kleinen Unterrichtseinheit nicht wiedergesehen. Als Archie am Freitagmorgen das aufgerollte Papier vor der Tür ihres Krankenzimmers entdeckt hatte, waren die Alditchs längst fortgewesen. Hoffentlich auf in ein besseres Leben – wie sie es auch Elladora wünschen würde.

Anstatt ihr Grab mit einem weiteren Trauergesteck zu beschweren, steckte Minerva das Papier zwischen die Blumen. Einen Moment lang betrachtete sie den Phönix darauf, der geradewegs gen Himmel zu streben schien. Dann schob sie ihre Hand zurück in Elphinstones. »Wenn ich an Druellas Worte denke, fürchte ich, dass unser Glaube an die Zukunft jetzt wichtiger ist denn je«, sagte sie leise. »Egal wie schwer es fällt – wenn wir nicht mehr an das Licht glauben, kann es gar nicht scheinen.«

»Mhhh.« Er lehnte sich an ihre Schulter, einen Arm um ihre Taille gelegt.

Eine ganze Weile saßen sie so da, den Blick auf die Highlands gerichtet, ihre Lungen voller Freiheit. Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten, als Elphinstone sich streckte und Minerva mit einem Kuss auf die Wange überraschte.

»Lass uns gehen«, schlug er leise, aber gefasst vor. »Es gibt so viel, das wir mit unserer freien Zeit anfangen können. Ich muss noch eine ganze, lange Woche nicht ins Ministerium, du nicht in die Schule ... Ich will jede Sekunde davon wertschätzen. Selbst wenn wir die langweiligsten Dinge tun. Einkaufen, Schach spielen, lesen ...«

Sein plötzlicher Tatendrang lockte das Lächeln zurück auf ihre Lippen. »Es wäre wundervoll, zur Abwechslung mal etwas ganz ... Gewöhnliches und Unspektakuläres zu erleben.« Sie musterte den Saum ihrer grünen Robe, der inzwischen reichlich ausgefranst war. »Ich könnte zum Beispiel wirklich einen neuen Umhang gebrauchen. Der hier stinkt immer noch nach ... na, du weißt schon. Keller. Verbrannt.«

»Dann komm.« Elphinstone erhob sich, eine Hand einladend ausgestreckt. Sein grün-blauer Kilt bewegte sich leicht im Wind und jetzt endlich nahm sich Minerva den Moment, ihn einfach anzusehen; den Anblick vor der Weite Schottlands wirklich zu genießen. Im Vergleich hierzu verblasste die Wirkung des mitternachtsblauen Ministeriumsumhangs glatt.

Ein Grübchen zeichnete sich auf Elphinstones Wange ab. »Du starrst«, stellte er fest, aber es klang kein bisschen vorwurfsvoll.

»Tha thu bòidheach, mo ghraidh«, entgegnete sie und griff nach seiner Hand.

Schwungvoll zog Elphinstone sie an ihn. »Nun, du bist schöner, Springböhnchen.«

»Den letzten Teil habe ich jetzt ausnahmsweise nicht gehört.«

»Oh nein, soll ich es noch mal wiederholen?«

»Untersteh dich!«

Sein Lachen bahnte sich von tief unten den Weg empor, dass es sie in seinen Armen am ganzen Körper schüttelte. »Du bist besonders hinreißend, wenn du dich ärgerst«, gluckste Elphinstone noch, dann ergriff sie auch schon der Disappartionsschwindel.

Zwischen Heute und Morgen

Minerva hätte gerne gesagt, dass es ihr nichts ausmachte, die Veränderungen in der Winkelgasse zu bemerken. Eine ganze Woche war sie im St. Mungo geblieben, die Hälfte der Zeit ohne Bewusstsein. Aber selbst nach ihrem Erwachen hatte sich alles so ... fern von ihr angefühlt.

Geschützt von den Mauern des Hospitals war jede Nachricht über mysteriöse Tode, neue Unruhen – diesmal seitens der Squibs – oder Eilerlasse des Ministeriums letztlich nur Druckerschwärze auf Papier gewesen. Doch die sonst so beliebte Einkaufsstraße im Herzen Londons war der erste handfeste Beweis für die Auswirkungen von Lord Voldemorts Angriff auf die magische Ordnung.

Trotz ihres inneren Friedens wirkte es für Minerva, als hätte man ihr eine Brille mit beschlagenen Gläsern aufgesetzt, die alle Farben dämpfte. Wo sie auch hinsah, sprangen sie Spuren der Ausschreitungen vor einer Woche an. Stellenweise waren Schaufensterscheiben notdürftig mit Zauberband geflickt, während manch bunte Fassade unter schwarzen Rußspuren verschwand. Läden, vor denen sonst immer randvolle Warenkörbe gestanden hatten, beschränkten sich nun auf den Verkauf über die Theke. Und wo einst Werbeplakate für zaubrische Theateraufführungen, Duelliervereinigungen oder die neusten Wundertränke geprangt hatten, hingen offizielle Fahndungsplakate.

Selbst das sonst so unantastbare Gringotts schien verändert. Auf den Treppen standen zum ersten Mal seit Minervas Gedenken Wächterkobolde, ihre glänzenden Krummsäbel sicher mehr als leere Drohungen.

Auf ihrem Weg zu Madam Malkins’ Umhanggeschäft ließ Elphinstone einige Kommentare über den Kampf in der Winkelgasse fallen – zum Beispiel erwähnt er die Gruppe von Randalierern, die der Inhaber des Kesselladens in seinem größten Familienkessel (für 12 Personen) eingesperrt hatte. Oder jene, die von einem ganzen Schwarm fliegender (und bissiger) Bücher aus Flourish & Blotts vertrieben worden waren. Besonders stolz war er auf seinen Einfall, die mit Vampirzähnen ausgestatteten Gewächse aus dem Herbologiehimmel zu nutzen, um eine Straßensperre zu errichten. Gleich mehrere Angreifer hatte er darin eingefangen (und so entdeckt, dass der Biss dieser Pflanze einen vorübergehend Wurzeln schlagen ließ – im wahrsten Sinne des Wortes).

Aber nicht alle Erzählungen muteten derart lustig an. Auf dem Vorplatz der Bank hatte das erste Mal ein Feuerknaller Elphinstones Umhang in Brand gesteckt und anschließend hätte ihn beinahe eine Horde verfluchter Klatscher von Qualität für Quidditch außer Gefecht gesetzt. Über die angespannten Minuten, die er zusammen mit den Kobolden Gringotts’ Eingangshalle verteidigt hatte, wollte Minerva am liebsten gar nichts hören. Sie war einfach froh, dass Granduk gerade im rechten Moment aufgetaucht war.

Wenn er nicht gewesen wäre ... womöglich hätte Elphinstone dann weitere Verletzungen erlitten. Gefährlichere. Irgendwer hatte laut seinen Schilderungen angefangen, kleine Phiolen voller ätzender Tränke in die Menge zu werfen, just als der Kobold aus dem Nichts erschienen war. Die Flucht davor hinter einen der Bankschalter hatte sie beide unfreiwillig zusammengeführt – und so dafür gesorgt, dass Elphinstone hörte, wie Granduk seinen Kollegen vom Überfall auf das Ministerium berichtete. Einmal mehr erfüllte Minerva Dankbarkeit, dass sich alles – wie von Zauberhand – zu ihren Gunsten gefügt hatte.

Wenigstens gab es aus Madam Malkins’ Geschäft keine unerfreulichen Geschichten zu berichten. Im Gegenteil, hier schien die Horde überhaupt nicht gewütet zu haben. Die Roben hingen ordentlich aufgereiht entlang der Wände, keine Falte in Sicht. Das einzig Ungewöhnliche war die Leere an einem Samstagvormittag, aber das galt für die ganze Winkelgasse. Dementsprechend motiviert stürzte sich die Verkäuferin auch sogleich auf Minerva.

Binnen Minuten stand sie mit nicht weniger als sieben Umhängen auf einem Podest mitten im Raum. Vielleicht hätte es sogar Spaß gemacht, sie alle anzuprobieren – wenn in der Reflexion des Spiegels vor ihr nicht die zerstörte Apotheke auf der anderen Straßenseite so präsent gewesen wäre. Ein Fluch hatte ein riesiges Loch in das einst malvenfarbene Dach gesprengt und man sah immer noch die Spuren der Leuchtfarbe, mit denen »Squibs enteignen!« auf das Türschild geschmiert worden war.

Als Elphinstone vorschlug, sie solle eine Nacht über ihre Anschaffung schlafen, ergriff Minerva die Chance zur Flucht liebend gerne. Kaum draußen auf dem Pflaster, in dessen Ritzen immer noch vereinzelte Scherben glitzerten, brauchten sie nicht ein Wort wechseln. Sie wollten fort, so viel stand fest. Es überraschte Minerva nur, dass Elphinstone einmal im Tropfenden Kessel angelangt keinen der Reisekamine ansteuerte, sondern die Tür. In die Muggelwelt.

Plötzlich standen sie am Rande einer vielbefahrenen Straße, er in schottischer Tracht, sie in ihrem Umhang. Ein paar neugierige Blicke wurden ihnen zuteil, aber dann hasteten die Menschen schon weiter. Das war der Vorteil an den Muggeln. Sie waren immerzu so beschäftigt, dass keine Zeit für Fragen blieb. Einen Augenblick lang besah Elphinstone sich seinerseits das Chaos, bevor er sie bestimmt nach links zog.

»Ähem ... was machen wir hier, Phin?«

»Einen Einkaufsbummel, was denn sonst? Wir wollten Zerstreuung, wir bekommen Zerstreuung!«

Mit erhobenen Augenbrauen besah Minerva die Geschäfte entlang der Muggelstraße. Eines für Handtücher aller Größen und Farben, eines für überteuerte Küchengeräte mit exakt einem Nutzen, eines für ulkige Teekannen in unhandlichen Formen –

»Guck mal! Ein ganzes Geschäft nur für Regenschirme!« Elphinstone strahlte wie zuletzt bei ihrer Observation in Leeds, als er näher an das besagte Schaufenster pirschte. »Schon praktisch, wie klein die Muggel solche Dinge bekommen«, brummte er, den Blick auf einen Drehständer mit Taschenknirpsen gerichtet. Dann erspähte er die Teekannen nebenan, von denen eine doch tatsächlich aussah wie eine Telefonzelle. »Ooooh ...«

Bevor Minerva etwas sagen konnte, hatte er sie dorthingezogen. Aber das war in Ordnung, genau wie die Musterung der Passanten. Auf dieser Seite des Tropfenden Kessels erinnerte immerhin nichts an die furchtbaren Wochen, die hinter ihnen lagen. Allein das war genug, um sich auf einer belebten Straße mitten in London frei wie in den Highlands zu fühlen.

Lächelnd hakte sie sich bei Elphinstone ein, der jeden Laden voller Interesse unter die Lupe nahm. Es war schön, dass sie ihm mit ihrem Wissen über die Muggelwelt zur Seite stehen konnte – und beim Bezahlen, wenn er mal wieder mit den vielen Münzen durcheinanderkam. (Nicht, dass das noch häufig geschah. Er lernte schnell und mit Begeisterung.)

Erst nachdem sie ein Fachgeschäft für Elektrogeräte erreichten, war ihr Latein am Ende. Von überall flimmerte und brummte es. Der Geruch in der Luft erinnerte an Detective Hammonds Muggelmagie. Ein bisschen roch der Elektrosmog nach verbrannter Zauberenergie, aber der Duft – oder eher Gestank – des kalten Kaffees dazu fehlte.

Inmitten dieser technischen Wunder fühlte Minerva sich ausgerechnet an ihren ersten Besuch in der Winkelgasse erinnert. Die Muggelgeräte verzauberten sie ebenso wie damals der Anblick eines Besenfachgeschäfts. Im Alter von elf Jahren hatte sie mit großen Augen beobachtet, wie in Qualität für Quidditch die Bremszauber an einem Sauberwisch erneuert wurden, dieses Mal erstaunte sie der geöffnete Fernsehapparat, an dem der Verkäufer hinter der Ladentheke schraubte. Es war ihr unbegreiflich, wie all die Bauteile funktionierten, doch genau diese Wissenslücke reizte sie. Nur ihre Würde verhinderte, dass sie jeden Knopf an den Ausstellungsstücken derart unverhohlen ausprobierte wie Elphinstone.

»Was meinst du«, fragte dieser halblaut, »verträgt sich so ein Fernseher mit Magie?« Er bog eine lange Antenne zur Seite, die umgehend wieder in Position schnappte.

Sie starrte ihn mit verschränkten Armen an. »Das Ding kostet 500 Pfund! Das sind ... viele Galleonen. Willst du es nicht lieber beim Angucken belassen?«

Erneut ließ Elphinstone die Antenne schnalzen. »Nun, wenn mich die letzten Wochen eines gelehrt haben, dann, dass wir magisch Begabten diese Welt nicht unterschätzen sollten. Welch besseren Weg gibt es, sie im Auge zu behalten, als so eine kleine Flimmerkiste? Da bekommt man jeden Tag neue Nachrichten frei Haus geliefert. Ich hab mich informiert.«

»Dir ist das ernst!«

»Natürlich.« Elphinstone wackelte stärker an der Antenne des Anschauungsmodells, sodass der Bildschirm im Sekundentakt zwischen einem Film und schwarz-weißem Ameisengewirr hin und her wechselte. »Tatsächlich überlege ich schon seit Leeds darauf herum. Ich will nicht dieser Reinblüter sein, der komplett in seiner eigenen Welt lebt. Ich dachte, ich wäre schon anders, aber ... neben dir fühle ich mich ziemlich unbeholfen.«

»Du musst das nicht für mich tun –«

»Tue ich auch nicht. Ich tue es für mich. Weil ich besser sein möchte. Und weil ich wirklich gerne noch mal diese Sendung mit der Notrufzelle sehen würde. Also, glaubst du, das verträgt sich mit der Magie in meiner Wohnung?«

Sie wusste es nicht. Von daher gab es nur eine Option – einen Feldversuch. Zum Glück lag dem Gerät eine Bedienungsanleitung bei, wie der Verkäufer mehrmals betonte. Dabei warf er ihnen Blicke zu, die besagten, dass er Zweifel daran hatte, ob das ausreichte. Aber natürlich kam es nicht in Frage, den Installationsservice in Anspruch zu nehmen, egal wie lebhaft der Mann dieses Angebot bewarb.

Einmal in Elphinstones Wohnung angelangt, stellte sich allerdings heraus, dass jene Anleitung, dick wie eine Enzyklopädie, eine Menge Begriffe voraussetzte, mit denen sich Minerva noch nie herumgeschlagen hatte. Und überhaupt lagen dem Kasten reichlich viele Kabel bei, die alle seltsame Enden hatten ...

Dass es ihnen nach einigen Anläufen tatsächlich gelang, das Ding an den Strom anzuschließen (den es in Elphinstones überwiegend nicht-magischem Wohnhaus zum Glück gab) grenzte an ein Wunder, erfüllte sie dank diverser, kreativer Zauberkniffe jedoch ebenso mit Stolz.

Beinahe so andächtig wie Elphinstone saß sie nun auf dem Parkett und sah einem gezeichneten, pinken Panther dabei zu, wie er eine Art weißen Cartoon-Mann ärgerte. Immer wieder übertrumpfte das Tier den Menschen mit einer absurden Aktion nach der anderen. Aber das war nicht alles. Auf den übrigen Sendern gab es viel mehr zu entdecken. Sport, Nachrichten, Filme voller Fantasie ... Mit einem Klick auf die Fernbedienung – die fast wie ein kleiner Zauberstab war – eröffneten sich immer neue Welten.

Eine ganze Weile hockten sie so vor dem Schemel, auf dem der Fernseher neben Bücherregalen und Kamin thronte. Erst als sich der Protest ihrer Knie nicht mehr ignorieren ließ, zogen sie vom harten Boden auf die bequeme Couch um. In eine Decke gewickelt, Tee und Kekse neben sich, versanken sie ganz in der Faszination der Muggelfantasie.

Besonders eindrücklich war eine Serie über die Abenteuer eines Raumschiffs und seiner Besatzung, die – so der Einleitungstext – in Galaxien vordrangen, welche nie ein Mensch zuvor gesehen hatte. Das Erforschen neuer Planeten gestaltete sich keineswegs ungefährlich und doch schafften die Crewmitglieder es immer wieder, Probleme friedlich zu lösen.

»Glaubst du, die Muggel werden es eines Tages wirklich so weit bringen? Oder ... wir?«, fragte Elphinstone am Ende einer Folge leise.

Minerva zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, wenn wir zusammenarbeiten würden ...«

Zustimmend brummte er. »Nun, aber das steht im Moment wohl außer Frage. Schade eigentlich. Ich wüsste gerne, welche Geheimnisse das Universum so bereithält.«

Die Sonne war schließlich lange untergegangen, da wünschte ihnen die Nachrichtensprecherin eine gute Nacht und bat sie, auch morgen wieder einzuschalten. Darauf folgte nicht etwa das nächste Programm, sondern ein anhaltender, durchdringender Piepton, der nicht verschwinden wollte. Anstatt eines Bildes gab es nur noch komische bunte Kästchen zu sehen.

»Das ist dann wohl ein Zeichen«, meinte Elphinstone. Gähnend streckte er sich, sodass Minervas gemütliche Position in Schieflage geriet.

Unsicher richtete sie sich auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie mit dem Kopf fast auf seinem Schoß gelegen hatte. Vermutlich wäre sie ohnehin bald eingeschlafen, hätte es nicht dieses unsanfte Ende gegeben.

»Bei Merlin, es ist schon zehn ...«, stellte Elphinstone mit Blick zur Uhr fest. »Wo ist die Zeit nur hin? Haben wir wirklich den ganzen Tag vertrödelt?«

Sie verbarg die warmen Wangen in der Decke über ihren Schultern, während sie sich daran machte, ihre derangierte Frisur zu richten. »Ich finde Zeit mit dir nicht verschwendet.«

»Oh Merlin bewahre, ich doch auch nicht! Aber jetzt hast du keinen neuen Umhang bekommen.«

»Halb so schlimm, das kann man nachholen.«

»Oh und wie! Das schwöre ich dir bei Salazar Slyth- oder meinetwegen auch Godric Gryffindor. Ich lasse es mir nicht nehmen, dein Shoppingbegleiter zu sein. Also, soll ich dir die Couch im Arbeitszimmer in ein Bett verwandeln? Oder machst du das lieber selber?«

»Ah ...« Eine Haarnadel zwischen die Zähne geklemmt, hielt Minerva inne. »Du willst ... dass ich bleibe?«

»... ja? Es ist spät. Wo wolltest du denn heute sonst noch hin?«

Die Wärme in ihren Wangen wandelte sich in Hitze. »Nun, also –« Etwas zu fest stach sie die Nadel zurück in ihr Haar. »Das ist wohl mein Fehler. Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, als Archie heute Morgen sagte, ich könne gehen. Aber bei meinen Eltern wäre ich natürlich jederzeit willkommen ...«

»Alles klar. Dann bringe ich dich gerne hin. Du solltest dich schließlich nicht mit dem Apparieren überanstrengen.«

Schon war Elphinstone aufgestanden und langte nach seinem Umhang, der über der Lehne eines Sessels hing. Minerva gab ihre Frisur auf und ergriff stattdessen seinen Hemdsärmel.

»Nein.« Vehement schüttelte sie den Kopf, dass es die eben erst gerichtete Haarnadel wieder lockerte. »Wenn ich darf, dann ... nehme ich lieber die verwandelte Couch.«

 

Eben jene improvisierte Schlafstätte geriet durch Elphinstones Zauber sehr bequem, fast so wie ihr Bett in Hogwarts. Zusammen mit ihrem liebsten Nachthemd, das Minerva noch vom Aufenthalt im St. Mungo bei sich trug, fühlte es sich beinahe wie zuhause an, sobald sie einmal darin lag. Und doch reichte es nicht, sie einschlafen zu lassen.

Immer wieder fielen ihr die Augen zu, nur damit ein plötzlicher Gedanke, ein Bild, ein Geruch, eine Erinnerung in ihr aufflammte und alles zunichtemachte. Die Eindrücke blieben nie länger als ein paar Sekunden, zu schnell fort, um sie zu greifen. Aber genug, damit der Schlaf vor ihr entfloh. Eine gefühlte Ewigkeit starrte sie in die Dunkelheit des Arbeitszimmers – und diese zurück. Sie vermisste die Schlaftränke aus dem Hospital so sehr, wie sie diese hasste.

Wenn es denn wenigstens Angst gewesen wäre, die sie wachhielt. Ein Albtraum, aus dem man verschwitzt aufwachte, aber im Mondlicht erkannte, dass alles gut war. Dann hätte sie immerhin weinen können. Oder schreien. Vielleicht auch beides. Stattdessen drehten sich ihre Gedanken in wilden Schlaufen umeinander, ein endloser Reigen aus Fragen.

Was würde sie als Nächstes tun? Konnte sie das Schlimmste überhaupt noch abwenden? Wie würde sie es ertragen, weiterzukämpfen? Würde sie Elphinstone wieder in Gefahr bringen? Und vor allem – könnte sie damit leben, ihn zu riskieren?

Ihre Überlegungen legten eine neue Schleife ein. Ob Elphinstone wohl schon schlief? Erging es ihm besser? Oder plagten ihn womöglich ganz andere Bedenken? Lag er ebenfalls wach?

Die vergangenen Nächte im St. Mungo hatte er immerhin ständig an ihrem Bett gesessen. War das Letzte und Erste gewesen, was sie am Tag gesehen hatte. Sie war verwöhnt von dieser Nähe; all jenen Momenten, in denen der Alltag mit sämtlichen Verpflichtungen nur wie eine ferne Regenwolke am Horizont gewirkt hatte.

Doch für immer konnte sie nicht so tun, als lebe sie ein Abenteuer; jeder Tag unberechenbar und sie ein Spielball des Geschehens, mit Elphinstone als einziger Konstante im Sturm der Ereignisse. Bald musste sie zurück in die Schule. Irgendwie weiter ihr altes Leben führen ...

Aber nicht jetzt.

Sie hielt es nicht mehr aus. Im Schein ihres Zauberstabs schlich sie zurück ins Wohnzimmer. Aus Richtung des Schlafzimmers war kein Geräusch zu hören, weder Schnarchen noch unruhiges Umherwälzen. Falls das Licht an war, so drang jedenfalls nicht die geringste Spur davon unter dem Türschlitz hervor. Minervas Schultern sanken herab. Sie hoffte inständig, dass Elphinstone im Gegensatz zu ihr Ruhe gefunden hatte.

Seine neuerworbene Teekanne in Form eines Wählscheibentelefons stand noch halbvoll auf dem Couchtisch, sodass es nur einen kleinen Wärmezauber brauchte, damit sie zumindest ein dampfendes Getränk hatte. Mit angezogenen Knien sank sie auf das Sofa vor den Erkerfenstern, ihren Blick ins dunkle Mayfair gerichtet.

Leichter Regen hatte irgendwann in den letzten Stunden eingesetzt. Sein beständiges Klopfen gegen das Fensterbrett verhieß etwas Tröstliches, genau wie die Aussicht auf das gewöhnliche Muggellondon.

Selbst so spät nachts trotzten die ein oder anderen Stadtbewohner dem Wetter. Minerva sah einen alten Mann seinen Hund ausführen, eine junge Frau mit ihren Pumps unter dem Arm den Pfützen ausweichen und ein Liebespaar Küsse im Schutz ihres Regenschirms austauschen.

Zu jedem davon entspannte sich ganz automatisch eine Geschichte in ihrem Kopf. Sie überlegte, wohin die Menschen wohl gingen – welche Sorgen sie umtrieben. Womöglich eine schwere Krankheit, die sie nicht sah. Oder ein tragischer Verlust, gut verborgen unter einem Lächeln.

Es wäre eine Illusion gewesen, anzunehmen, dass die Muggel ein simpleres Leben führten, nur weil sie frei von dem Wissen um die Unruhen der magischen Welt waren. Auch wenn Minerva es ihnen gewünscht hätte. Wenigstens irgendwer verdiente Leichtigkeit.

Nach einer ganzen Weile der Beobachtungen war ihr Tee leer, nur ihre Gedanken nicht. In Ermanglung einer Beschäftigung für ihre Hände schrank sie in ihre Animagusform zusammen. Manchmal war das Nichtstun einfacher zu ertragen, wenn man klein war und sich fester zusammenrollen konnte als ein Niffler, der seine Beute festhielt. Genauso war es auch diesmal. Erleichtert seufzte sie – nur dass es in Form eines Maunzens aus ihrer Kehle schlüpfte.

Den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet, beobachtete sie eine einsame Ratte, die über den Gehweg huschte. Mit ihrer menschlichen Sicht wäre ihr der kleine Nager kaum aufgefallen. Jetzt hingegen konnte sie beinahe die Schnurrhaare des Tiers zittern sehen.

Tief in ihr drinnen regte sich der animalische Kern ihres Animagus. Erst waren es nur ihre Ohren, die sich wachsam aufrichteten, dann zuckte ihre Schwanzspitze. Ein sorgsam in ihren Verstand gekleideter Instinkt spannte jeden Muskel ihrer Tierform an.

Normalerweise schlug das Animagusherz im Einklang mit Minervas. Über die Jahre hinweg hatte sie gelernt, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Formen ihres Seins zu finden. Ohne den wilden Stolz der Katze, der schon immer in ihr geschlummert hatte und der trotzdem erst durch die Verwandlung richtig erwacht war, würde sie nicht die Gleiche sein. Aber jetzt überwältigte sie der Jagddrang in ihrer Brust nahezu. Dabei wollte der Animagus sie nur schützen, von den anderen Gedanken fortlocken ...

Ihre Krallen versanken in der Rückenlehne des Sofas. Ein Brummen erfüllte die Luft. Es dauerte einen Moment, bis Minerva es als ihren eigenen Laut identifizierte. Irgendetwas zwischen Miauen und warnendem Grollen. Vielleicht auch ein leises Schluchzen, für das es keine katzenhafte Entsprechung gab.

Mit aller Macht drückte sie den Kopf unter ihre Pfoten und schlang den Schwanz so fest um ihren Körper, dass er sie an der Nasenspitze kitzelte. Zum ersten Mal seit Jahren konnte sie deutlich spüren, wie zwei Herzen in ihrer Brust schlugen. Lauter als der Regen und trotzdem eigenartig beruhigend.

»Minerva ...?«

Ihre Ohren reckten sich wieder. Leise Schritte kamen näher, sie hörte das Tappen blanker Haut auf Parkett.

»Was ... machst du hier?«

Müde blinzelte sie ins Dunkel.

Elphinstone – in einen Flanellpyjama gekleidet – kniete sich vor das Sofa, auf einer Höhe mit ihrem Kopf. Er hielt eine Hand ausgestreckt, berührte sie allerdings nicht. »Alles in Ordnung?«

Die Sorge in seiner Stimme klang dank ihrer feinen Katzensinne womöglich noch lauter. Sie stieß einen unbestimmten Ton aus. Das zweite Herz raste weiterhin in ihrer Brust, doppelt so schnell wie ihr eigenes. Alleine bei dem Gedanken an eine Rückverwandlung ächzten ihre Muskeln.

»Ich nehme das mal als nein«, sagte Elphinstone sanft. Er senkte die Hand und lehnte sich gegen das Sofa. »Ist es okay, wenn ich hierbleibe?«

Sie nickte.

»Hattest du einen Albtraum?«

Sie bewegte den Kopf zu beiden Seiten.

»Das ist ... gut, schätze ich?«

Wieder entschlüpfte ihr ein Maunzen.

»Ich kann auch nicht schlafen«, erwiderte Elphinstone. »Irgendwas hält mich wach. Vermutlich hat sich mein Körper noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass er sich wieder ausruhen kann. Oder die vielen Wachmachtränke die Woche über sind schuld.« Sein Blick glitt an ihr vorbei zum Fenster. »Nach allem, was wir erlebt haben, ist es wirklich schwer, sich daran zu erinnern, dass nicht das ganze Leben so ein Ausnahmezustand ist.«

Ein tiefes Seufzen erzitterte Minervas Schnurrhaare. In ihren Katzenohren wirkte Elphinstones Stimme noch beruhigender als ohnehin. Ihm zuzuhören glich einem heißen Bad voller Lavendelschaum. Schon vergaß sie den Animagusherzschlag ...

»Macht die Tierform es für dich erträglicher?«, fragte er leise.

Am liebsten hätte sie mit den Schultern gezuckt. Aber es gab Grenzen ihrer veränderten Physiologie. Ersatzweise schwenkte sie den Schwanz von links nach rechts.

»Mhhh.« Elphinstone bemerkte ihren Teebecher und schenkte sich selber ein. Schweigend nahm er ein paar Schlucke. »Weißt du, ich habe mich immer gefragt, welches Tier wohl in mir schlummert. Meinst du, es stimmt, dass der Patronus meist ein Abdruck desselben Wesens ist? Wenn ja, dann ...« Er gluckste leise. »Weiß ich auch nicht, ob ich das wollen würde. Aber wenn ich ehrlich bin, hätte ich sowieso zu viel Angst vor dieser Verwandlung. Da kann so viel schiefgehen ... Ich bin immer wieder beeindruckt, dass du das schon mit 17 gemeistert hast.«

Minerva richtete sich langsam auf. Trotz ihrer Verkrampfung war die Bewegung elegant wie immer. Mit einem Satz hüpfte sie von der Sofalehne zurück auf die Sitzfläche. Es brauchte den gewohnten Wimpernschlag, dann saß sie wieder im Nachthemd da. »Du könntest der Erste sein, der als Animagus eine Pflanze anstatt eines Tieres hat«, schlug sie mit kratziger Stimme vor.

»Oh Merlin. So besonders bin ich ganz sicher nicht!« Aber Elphinstone lachte, als er vorsichtig die Hand streckte und über ihr Haar strich.

»Dein Zauberstab sagt etwas anderes. Wie viele Menschen kennst du, die einen pflanzlichen Kern haben?«

»Na, das war ja ganz offenbar ein Exemplar von der Resterampe, von daher wundert es mich nicht, dass dieses Konzept nicht sonderlich weit verbreitet ist. Und wenn ich dich daran erinnern darf – mein Patronus ist keine Pflanze.«

»Weiß ich doch, weiß ich doch.« Sie zog ihn zu sich auf die Couch. »Aber für mich bist du besonders.«

»Ach Min, du verstehst es wirklich, mein Herz verrückt zu machen.« Er schob eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie wunderschön du mit offenen Locken bist?«

»Nicht in genau diesen Worten.«

»Dann sage ich es dir jetzt. Du bist wunderschön. Ich schätze mich wirklich sehr glücklich, dass ich dich so sehen darf.« Sanft küsste er sie auf die Stirn. »Ich hoffe, es war nicht zu viel verlangt, dass ich dir angeboten habe, die Nacht hier zu verbringen? Ich will nicht, dass die Situation dich belastet.«

Dankbar für dieses Verständnis seufzte sie. »Es ist einfach nur schwer, einzuschlafen. So ganz ohne Tränke. Ich will nicht abhängig werden, aber es war definitiv einfacher im Hospital. Jetzt sind meine Gedanken so ... laut.«

»Ein bisschen konnte man das hören ...« Elphinstones Augen funkelten im Licht der fernen Straßenlaternen, als er sie anlächelte. »Zum Glück, wenn ich das sagen darf. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du still leidest, wenn ich doch ganz in der Nähe bin.«

Verlegenheit schnürte ihre Brust ein. Anstatt dem Gefühl die Oberhand zu lassen, heftete Minerva ihren Blick auf ihn. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken. Die Verwandlung hat mich nur ein wenig ...«

»Überwältigt?«

»Nicht direkt ... Der Drang, mich in den Animagus zurückzuziehen, war einfach stärker, als ich angenommen hatte. In einem Katzenkopf ist immerhin viel weniger Platz für Sorgen.«

»Mhhhh.« Erneut brummte Elphinstone verständig. »Nun, ich fände es furchtbar, wenn du dich hier bloß quälst. Falls du denkst, woanders besser zur Ruhe zu kommen, verstehe ich das.«

»Woanders als bei dir?« Sie rieb die Wange an seiner Handfläche. »Du bist derjenige, in dessen Nähe ich mich in den letzten Wochen immer sicher gefühlt habe. Egal, was das Schicksal uns entgegengeworfen hat. In deinen Armen war der einzige Ort, an dem ich selbst in einem gottverdammten Verlies Schlaf gefunden habe. Also nein, ich will nicht noch weiter weg von dir.«

Elphinstone legte den Kopf schief, während sein Daumen der Kurve ihres Wangenknochens folgte. Unweigerlich lief ein Schauer von ihren Haarspitzen über ihr Rückgrat hinab, bis in ihre Körpermitte.

»Ich will auch nicht alleine sein«, gestand er. »Es reicht schon, dass uns in dieser Nacht zwei Wände und so viel leere Luft trennen. Auch wenn das natürlich nicht sein müsste, wenn wir beide es nicht wollen ...«

Er sah auf die grün gemusterten Sofapolster. Offenbar verlegen knibbelte er mit den Zähnen an seiner Unterlippe, bevor er sich aufrichtete, sein Blick entschlossen. Unweigerlich hielt Minerva den Atem an.

»Lass es mich klar ausdrücken«, sagte Elphinstone, »ich hege keine sexuelle Absicht. Ich schlage das hier nicht vor, weil ich insgeheim darauf hoffe, mit dir zu schlafen oder dergleichen. Dafür bin ich noch lange nicht bereit. Schon gar nicht mit all den komischen Gefühlen in meiner Brust. Ich würde einfach nur gerne neben dir schlafen. Wenn es dir nicht zu unangenehm ist, in meinem Bett zu liegen, versteht sich.«

»Danke.« Minerva sank nach vorne, Stirn an Stirn mit ihm. »Danke, dass du so ehrlich bist. Das macht es so viel leichter.« Sie hätte bis eben nicht sagen können, ob sie unterbewusst daran gedacht hatte, wohin ein Moment wie dieser führen könnte, doch jetzt war sie einfach nur erleichtert. »Ich bin nicht einmal so weit, darüber nachzudenken. Es ist viel zu lange her, dass ich überhaupt geliebt habe ...« Sie schlang die Arme um Elphinstones Schultern, zu müde für ein Lächeln. »Aber mit diesem Wissen ... nein, das wäre mir nicht unangenehm. Denke ich.«

»Dann ... versuchen wir es? Du kannst dich natürlich jederzeit umentscheiden. Ich bin dir nicht böse, wenn es doch zu viel auf einmal ist. Und wenn es ganz arg kommt, bringe ich dich natürlich zu deinen Eltern.«

»Das klingt nach einem Plan«, murmelte sie.

»Gut.«

Elphinstone nahm die Hand von ihrer Wange und legte den Arm um ihre Schultern. Den anderen schob er unter ihre Knie. Schon hob er sie hoch, wie im Ministerium auch. Er gab sich große Mühe, standhaft zu bleiben. Trotzdem fühlte sie, wie er einen Moment schwankte, als er sie beide vom Sofa in die Höhe stemmte.

»Ich habe zwei wunderbar verheilte Füße, weißt du –«

»Shhh. Ich will mich doch nur noch einmal wie dein Held fühlen. Auch wenn du mich gar nicht brauchst, weil du deine eigene Heldin bist.«

Sichtlich beschämt hob er einen Mundwinkel, während er ein Ächzen unterdrückte. Sie fing einen äußerst halbherzigen Protest an, doch ein Kuss versiegelte die Worte und mit leisem Seufzen gab sie ihm vollends nach.

So viel Minerva auch davon hielt, auf eigenen Beinen zu stehen, gefiel es ihr ebenso, sich bei vollem Bewusstsein von Elphinstone auf Händen tragen zu lassen. Obwohl die Situation geradezu nach einer Szene aus einem Buch sehr ... schmuddeliger Natur schrie, fühlte sie nichts außer Wärme. Vertrauen. Geborgenheit.

Das änderte sich auch nicht, als er sie über die Türschwelle trug. Oder als er sie sanft auf der Kante eines Himmelbettes absetzte. Im Gegenteil, das Gefühl wuchs nur, da er zwei Schritte zurücktrat, sodass sie Zeit hatte, sich in dem kleinen Raum umzusehen.

Eine einsame Zaubersphäre hing unter der Decke und verbreitete schwaches Licht, kaum so hell wie eine herabgebrannte Kerze. Der Boden war mit dickem, cremefarbenen Teppich ausgelegt, die rechte Wand von einem dunklen Eichenschrank in Beschlag genommen. Zur Linken fanden sich eine weitere Tür und eine altmodische Spiegelkommode, über der viele gerahmte Bilder hingen.

Direkt hinter dem Bett war das einzige Fenster im Raum. Der Ausblick ging auf eine Gasse gesäumt von Gaslaternen, deren Licht sich hundertfach im Regen brach, wie auf einem impressionistischen Gemälde. Ein Stück weit tauchte das Farbenspiel auch die Bettwäsche und Wände in seine Muster ein.

Die Hauptdarsteller waren allerdings einmal mehr die unzähligen Pflanzen. Grüne Ranken voller handtellergroßer Blätter schlangen sich die vier Bettpfosten empor, bis hinauf zum Baldachin. Geschützt von einer dünnen, durchscheinenden Schicht Seide konnte Minerva sehen, dass sich die Kletterpflanzen an der Decke in geflochtenen Körben sammelten und wieder daraus herabhingen, eine Art grüne Wolke.

»Keine Sorge, hier gibt es nur gänzlich unmagische Gewächse«, sagte Elphinstone. Er setzte sich im gebührlichen Abstand neben sie. »Nichts, was sich plötzlich bewegt oder ein überraschendes Eigenleben führt. Und natürlich nichts Giftiges.«

»Daran habe ich ehrlich gesagt auch gar nicht gedacht.« Minerva streckte ihre Hand über die Bettdecke zu seiner. »Es ist sehr gemütlich. Sehr du. Ich liebe es.«

»Und es ist wirklich okay für dich?«

Sie nickte.

Elphinstones Schultern sackten ein gutes Stück herab. »Das ist schön. Möchtest du noch was lesen oder so?« Er deutete zu seinem vollgestapelten Nachttisch, dessen Bücherturm bedrohliche Schieflage hatte. »Irgendwo unter der gesammelten botanischen Geschichte des arabischen Raums verstecken sich ein paar nette Romane ...«

»Danke, aber ich denke nicht. Ich will einfach nur die Augen zu machen. Müde bin ich schließlich genug. Wenn es dir nichts ausmacht ... würde ich am liebsten einfach nur festgehalten werden.«

»Natürlich.« Ein kleines, aber umso tieferes Lächeln zeichnete sich in den Fältchen um Elphinstones Augen ab. Er rutschte an das Kopfende und schlug einladend die Decke zurück. »Komm her.«

Das musste er nicht zweimal sagen. Minerva glitt an seine Seite und rollte sich erneut wie ein Kätzchen zusammen, ihren Kopf an seine Brust gelegt. Sofort schlang er sie in seine Arme. In Animagusform hätte sie womöglich geschnurrt.

Durch Elphinstones Flanellpyjama roch sie den Duft von grüner Heilsalbe und Mullbinden. Nur zur Sicherheit spähte sie noch einmal seinen Hals empor, ob auch ja keine Fluchspuren mehr da waren. Aber natürlich war da nur unberührte Haut. Beruhigt senkte sie die Lider.

Elphinstone verkleinerte derweil die Zaubersphäre. Wie ein Glühwürmchen schwebte sie zu seinem Nachttisch herab, wo sie ganz erlosch. Übrig blieben nur die Regenlichter.

Minerva erinnerten sie an die Buntglasfenster in der Kirche ihres Vaters. Oder so manchen Flur Hogwarts, der ebenfalls von diesen geziert wurde. Doch egal an welchem Ort, der Anblick von warmem Gold-orange, das sich ins Mitternachtsblau mischte, erfüllte sie immer mit Geborgenheit. Es war mehr als nur Licht. Lebendige Vergangenheit, unzählige schöne Momente gebunden in ein Gefühl.

Aus kaum geöffneten Augen verfolgte sie die weichen Schattenspiele im Zimmer. Selten war sie sich so jung und zeitgleich so alt vorgekommen. In diesem Augenblick hing alles in der Schwebe. Die Leichtigkeit ihrer Jugend war endgültig verloren, aber genauso wenig war sie bereits die Person, zu der die Zukunft sie bestimmte. Hier und jetzt schien jeder Weg offen.

Nur eines wusste sie sicher – wenn sie eine Erinnerung niemals per Magie aus ihrem Kopf ziehen wollte, nicht einmal für das Wiedererleben im Denkarium, dann diese. Das Gefühl, zum ersten Mal in Frieden in Elphinstones Armen zu liegen, konnte nie wieder so stark sein wie jetzt.

Sie blinzelte zu ihm hinauf. »Willst du es dir nicht auch bequemer machen? Du sitzt noch halb.«

»Ah ... entschuldige. Ich bin es inzwischen so gewohnt, wachzubleiben und aufzupassen ...«

»Schon gut.« Beruhigend strich sie über seine Schulter. »Es tut mir leid, dass ich es dir so schwergemacht habe. Dass du wirklich eine ganze Woche an meinem Krankenbett gesessen hast ...«

»Ich konnte nichts anderes tun. Selbst wenn ich gewollt hätte –«

»Du sollst dich auch gar nicht rechtfertigen. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass es mir nicht die Welt bedeutet. Aber jetzt ist das vorbei.«

»Ja ...« Elphinstone fuhr gedankenverloren über ihr Haar.

Die Müdigkeit überrollte Minerva inzwischen in Wogen und das sanfte Kribbeln auf ihrer Kopfhaut durch seine Berührung tat sein Übriges. Doch der Ausdruck in Elphinstones Antwort war genug, dass sie sich dem Schlaf noch nicht ergab. »Du wolltest neben mir einschlafen, also leg dich gefälligst hin«, sagte sie, so streng ihre schwere Zunge es zuließ.

»Oh Min, du kannst wirklich furchteinflößend sein.« Er seufzte leicht. Ein gutes Seufzen, denn er schloss sie im selben Atemzug fester in die Arme und drückte seine zum Lächeln gestreckten Lippen auf ihren Scheitel. Dann rutschte er endlich auf das Kopfkissen hinunter.

Mit einem glücklichen kleinen Geräusch kuschelte sie sich enger an seine Seite. »Zu deinem Glück, würde ich sagen.«

»Oh, definitiv. Falls ich je gedacht habe, ich könnte mich nicht noch mehr in dich verlieben, dann war ich ein echter Idiot.« Elphinstone unterstrich seine Worte mit einem müden Glucksen. »Danke, dass ich dich an meiner Seite haben darf in diesen verwirrenden Zeiten.«

Sanft umfasste sie seine Wange mit der Hand. Ihr Herz war so erfüllt, dass es beim Anblick von seinem aus Licht und Schatten umschmeichelten Lächeln vor Liebe schmerzte. Anstatt etwas zu sagen, streichelte sie einfach seine warme Haut. Sie war ziemlich sicher, dass sich Sex nicht so intim angefühlt hätte, wie der Blick, den sie teilten, oder das Gefühl von Elphinstones Fingerkuppen, die federleicht über ihre Seite kreisten.

 

Genau wie die Regenlichter das Schlafzimmer mit ihren bunten Fragmenten erhellt hatten, wurden auch die kommenden Tage von vielen kleinen Momenten erfüllt, die vor Glück schimmerten. Wie das Mosaik aus Edelsteinen in einem Kaleidoskop setzte sich die Woche, die Minerva bei Elphinstone verbrachte, aus lauter Erlebnissen zusammen, die jedes für sich bereits strahlten. Doch gemeinsam betrachtet ergaben sie ein viel schöneres Bild.

Zum einen war da das Frühstück direkt am nächsten Morgen, das Elphinstone tatsächlich ans Bett servierte. Noch nie hatte Minerva derartiger Dekadenz gefrönt. Für gewöhnlich beschied sie sich auf Tee und Marmeladentoast, zu mehr reichte ihre Zeit gar nicht. An diesem Tag fuhr Elphinstone allerdings das volle Programm auf, von Baked Beans bis hin zu Würstchen – und sogar Pfannkuchen zum ‚Nachtisch‘, wenn man das bei der ersten Mahlzeit des Tages denn so nennen durfte.

»Man könnte meinen, du willst mich beeindrucken«, schmunzelte sie, sobald das vollbeladene Tablett erstmal wacklig auf dem Bett stand.

»Hm, nein, dann würde ich noch viel mehr übertreiben. Aber ich war so weise, keinen Heiratsantrag mit deinen Bohnen zu buchstabieren.«

»Sehr löblich.«

»Abgesehen davon haben wir beide uns diesen Alltagsluxus einfach verdient.«

Dem konnte Minerva nur zustimmen. Und einmal zurück in den Genuss der kleinen Freuden des Lebens gekommen, blieb es nicht bei einem ausschweifenden Frühstück, zu dem sie sich überreden ließ.

Ein weiterer Ausflug in die Winkelgasse kam zwar nicht infrage, dafür besuchten sie an einem sonnigen Vormittag den Drachenschwanzboulevard in Edinburgh. Fast noch verwinkelter als sein Londoner Pendant und mit hochpreisigen Shops übersät, begab Minerva sich trotz der Nähe zu Hogwarts nur selten dorthin. Aber wenn, dann mit einem konkreten Ziel. Umso schöner war es, an der Seite von Elphinstone einmal ganz ungehemmt dort entlang zu bummeln.

Er kannte jede Abkürzung zwischen den hohen, eng stehenden Häusern, genauso wie die interessantesten Hinterhöfe mit kleinen Cafés und Kuriositätenläden. Ob es nun ein winziger Buchladen war, in dem die Regale kreisförmig um eine Wendeltreppe angeordnet waren, oder ein Besengeschäft, das einen magisch vergrößerten Gewölbekeller für Testflüge hatte – Elphinstone wusste genau, womit er sie überraschen und vor allem begeistern konnte. Mehr als einmal entlockten ihr die herrlichen Dinge ein sehnsüchtiges Seufzen, gepaart mit dem Griff zu ihrer stetig weniger klimpernden Börse.

Ganz besonders tat es ihr schließlich eine dunkelgrüne Robe an. Der Samt war schwer und weich, perfekt für die kühlen Herbstwinde, die bei ihrer Rückkehr über Hogwarts’ Ländereien fegen würden. Feine goldene Fäden durchwirkten den Stoff mit Triskelen und anderen, bedeutenden magischen Symbolen, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Aus der Ferne fielen die Muster nicht einmal auf, sondern wirkten eher wie ein Spiel des Lichts.

Im Vergleich dazu sah ihre momentane Gewandung fast schon schäbig aus. Trotzdem war die Robe viel zu edel für ihr Empfinden. Etwas so Teures wollte zu einem besonderen Anlass getragen werden, nicht in einem Klassenzimmer voller Teenager. Egal wie schön das Kleidungsstück war, für diesen Kauf fand Minerva keine Rechtfertigung.

Als sie sich zum wiederholten Male bedauernd vor dem Spiegel drehte, stand Elphinstone mit einem Seufzen auf. Er hatte schon mehrfach betont, dass die Robe wie für sie gemacht war und sie diese bitte kaufen sollte, aber nun hatte offenbar selbst er das Maß voll. Beschämt warf Minerva ihrer Reflexion einen letzten, langen Blick zu, bevor sie nach ihrem alten Exemplar griff.

Sie hatte den Stoff noch nicht zurück über die Schultern gezogen, da trat Elphinstone hinter sie und hielt den Kragen fest.

»Zieh wieder die andere Robe an«, sagte er sanft.

»Aber –«

»Ich habe sie gerade gekauft. Und da sie reduziert war, habe ich auch kein Umtauschrecht. Entweder ziehst du sie an oder ich muss es.«

»Reduziert? Was redest du da, ich habe das Preisschild doch gesehen –«

»Ich habe den Verkäufer um glatte fünf Knuts heruntergehandelt.«

Die Robe immer noch auf halb acht, stemmte Minerva ihre Fäuste in die Hüfte. »Bei Merlins löchrigsten Unterhosen, ich fass es nicht! Das hast du nur getan –«

»Damit du dich nicht gegen dieses Geschenk wehren kannst, korrekt.«

»Du ... du Slytherin!«

Elphinstone hob eine Augenbraue. »Oh nein, jetzt bin ich aber getroffen!«, rief er ein bisschen zu laut und griff sich dramatisch an die Brust. »Du hast mein dunkles Geheimnis herausgefunden ... wie sollen wir uns jetzt nur jemals lieben können –«

Sie boxte ihn sacht gegen den Oberarm. »Du bist sowas von unmöglich!«

»Betrachte es einfach als verfrühtes Geburtstagsgeschenk, der Oktober ist schließlich nicht mehr lange hin.«

»Aber ich kann das wirklich nicht annehmen ...«

»Doch. Du verdienst es, eine Robe zu tragen, in der du dich nicht nur schön, sondern auch wohl fühlst. Dann ist sie eben teuer und edel. Na und? Trag sie jeden Tag! Trag sie beim Korrigieren von Hausarbeiten, trag sie bei einem Spaziergang, trag sie an einem faulen Tag auf der Couch – aber bewahr sie dir nicht für irgendwelche besonderen Momente auf, die vielleicht nie kommen. Du hast selber gemerkt, wie wertvoll es ist, die schönen Dinge zu genießen, solange man kann.«

Dagegen konnte Minerva nichts sagen. Sie hatte zu viel von dem Licht in der Dunkelheit gepredigt, als dass sie diese Wahrheit von sich weisen könnte. Also ergab sie sich dem Sehnen ihres Herzens und zog die Robe wieder an. Und nachdem sie in Elphinstones Wohnung zurückkehrten, legte sie diese wie angeraten selbst zum Fernsehen nicht ab.

Einen kleinen Herzinfarkt bekam sie nur, als Prudence bei einem Besuch wenige Tage später ein Bäuerchen mitten auf den Samt machte. Robbie entfernte das Malheur jedoch sofort und mit leidensgeprüfter Miene. Sein Reinigungszauber war inzwischen so routiniert, dass nicht einmal ein dunkler Schatten zurückblieb.

Den viel größeren Sieg errang allerdings Elphinstone, der Prudence scheinbar selbstverständlich in den Arm nahm und leise auf sie einredete, während er sie hin und her wiegte. Bei ihrer letzten Begegnung hatte sich noch ein gefährlicher Glanz in seine Augen geschlichen, bevor er mit zitternden Händen die Kleine an Anne weitergereicht hatte. Jetzt hingegen schien er ganz wie der patente Patenonkel, zu dem Robbie ihn schon seit Anfang der Woche erklären wollte.

»Du hast mir zusammen mit meiner Schwester das Leben gerettet! Wem sollten wir denn sonst im Notfall unsere Tochter anvertrauen wollen? Wir wissen immerhin, dass Minerva und du alles für sie tun würdet«, waren dessen Argumente für die Ernennung gewesen.

Sämtliche Versuche Elphinstones, abzuwiegeln und darauf hinzuweisen, dass Robbie und Anne doch sicher andere Freunde hatten, die sie schon länger kannten und denen die Rolle viel eher zustünde, waren auf taube Ohren gefallen.

»Dass Minerva Patentante wird, ist vorherbestimmt, und zu ihr passt nun mal niemand besser als du. Abgesehen davon ist es ja nicht so, als wenn wir vorhätten, beide gleich morgen den Löffel abzugeben. Betrachte es mehr als nette Geste, dass ich dir im schlimmsten Fall das Leben meiner Tochter anvertrauen würde.«

Schlussendlich hatte Minerva ihren Bruder mit einem Zeigefinger zwischen die Rippen zum Schweigen bringen müssen, denn der gefährliche Glanz in Elphinstones Augen war zusehends ins Schwimmen geraten. Natürlich hatte er behauptet, sich geehrt zu fühlen, doch nach allem, was ihm widerfahren war, ahnte sie, dass es nur ein kleiner Teil der Wahrheit war.

Auch dieses Mal hatte sie Sorge gehabt, dass Robbie ihn unfreiwillig verletzen könnte. Doch als er das Thema erneut ansprach, seufzte Elphinstone zwar, lächelte dann jedoch.

»Bereit bin ich dafür nicht – und ich bin auch immer noch der Meinung, dass es mir nicht zusteht! – aber wie könnte ich zu Prue schon nein sagen?« Er sah zu der Kleinen, die inzwischen in Annes Armen schlief. Ein bisschen Glanz kehrte in seine Augen zurück, doch als Minerva besorgt nach seiner Hand griff, drückte er sie kräftig. »Versprecht mir einfach nur, dass ihr nicht gleich morgen entscheidet, Drachen zähmen zu wollen oder sonst was Riskantes zu unternehmen, ja?«, wandte er sich an Robbie.

Der grinste. »Nichts leichter als das. Im Gegensatz zu meiner lieben Schwester bin ich schließlich kein Gryffindor – und Anne auch keine Slytherin. Wenn hier irgendwer was versprechen muss, dann sind das Minerva und du.«

Als wollten sie Robbie das Gegenteil beweisen, blieb das Riskanteste, was sie beide in dieser Woche unternahmen, jedoch eine besonders hitzige Partie Schach (bei der sich immerhin eine Figur am Ende wehklagend vom Brett stürzte). Abgesehen davon durchlebten sie eine so normale Zeit, dass selbst Muggel es wohl langweilig genannt hätten. Für Minerva hingegen war es schon aufregend, sich abends wie selbstverständlich in dasselbe Bett zu legen wie Elphinstone.

Sie liebte es, auf der Bettkante zu sitzen, ihr Haar zu bürsten und durch die Tür zum angrenzenden Badezimmer Elphinstone dabei zu beobachten, wie er Zähne putzte. Der Moment an sich war so gewöhnlich, dass genau deshalb ihr Herz schneller mit den Schnatzflügeln schlug. Sie konnte es kaum erwarten, die Normalität hunderter Tage daraus zu machen.

Doch die Zukunft erwies längst nicht so berechenbar und schon gar nicht kontrollierbar. Es war bereits Sonntag Abend und somit verblieben ohnehin nur wenige Stunden sorgloser Zweisamkeit, als das kleine Glöckchen an Elphinstones Kaminsims läutete.

»Ein Besucher? Um diese Zeit?«

Verwirrt angelte Elphinstone nach seinem Zauberstab neben der Fernbedienung. Sie lagen gerade auf dem Sofa und ließen sich mit einer weiteren Folge des dimensionsreisenden Doktors berieseln. Der Kamin war schon für die Nacht versiegelt, doch auf einen Stabschlenker hin ging das Feuer wieder an. Keine Sekunde später färbte es sich grün.

Das Fernsehbild verschwamm gleichzeitig mit den Flammen. Rasch schnappte Minerva ihren eigenen Stab. Sie stand gerade auf, da spuckte das Flohnetzwerk auch schon die unangenehme Überraschung aus. Direkt neben dem Fernseher landete Mulciber – die Augen fest geschlossen.

»Ich weiß, ich störe –«, rief er, abwehrend beide Hände gehoben.

Minerva verschränkte die Arme. Ihr Inneres brodelte bei seinem Anblick plötzlich wie ein Kessel kurz vor dem großen Knall. »Endlich erkennst du es auch«, erwiderte sie kühl.

Mulciber hob ein Augenlid. »– aber aus gutem Grund.« Er musterte ihre neue Robe gepaart mit einem Paar gold-rot geringelter Wollsocken, die Albus gestrickt hatte, dann Elphinstone mit der Sofadecke über den Schultern. Ein tiefes Seufzen füllte das Wohnzimmer, als er sich in übertriebener Erleichterung die Hand mitsamt Zauberstab auf die Brust schlug. »Oh Merlin sei gedankt, ich erwische euch nicht in flagranti! Ehrlich, das war mein schlimmster Albtraum.«

»Und warum gehst du das Risiko dann ein und tauchst unangekündigt auf?«, grummelte Elphinstone.

»Ich lebe eben stets am Limit.« Entgegen dem Spott in seinen Worten grinste Mulciber allerdings nicht. Stattdessen legte er die Stirn in Falten, während er mit spitzen Fingern Flohpulverreste von dem goldenen Strafverfolgerabzeichen an seiner Brust wischte. »Abgesehen davon bin ich in dienstlichen Belangen hier.«

»Nun, ich bin nicht im Dienst.«

»Ist mir bekannt. Aber besondere Umstände verlangen besondere Maßnahmen. Ich brauche deine Unterstützung.«

Jetzt runzelte auch Elphinstone die Stirn. »Seit wann bittest du mich um sowas?«

Mulciber verdrehte die Augen. »Wäre es dir lieber, wenn ich Crouch frage?«

»Kommt drauf an, worum es geht.«

»Eine Tatortbegehung. Wahrscheinlich auch die Befragung des Tatverdächtigen. Du weißt, dass ich dafür einen zweiten Strafverfolger brauche. Und etwas sagt mir, dass ein Anschlag von Voldemorts Leuten mitten in London Grund genug für dich ist, deinen Arsch zu bewegen.«

»Was?«, stieß Minerva hervor, ehe Elphinstone überhaupt reagieren konnte. Binnen zwei großen Schritten überbrückte sie die Distanz zu Mulciber, obwohl eine unverständliche Stimme in ihr danach schrie, Abstand zu halten. »Was ist passiert? Wo?«

Für ein paar kaum enden wollende Sekunden starrte er ihr geradewegs in die Augen, keine Regung auf den von Müdigkeit verhärteten Gesichtszügen. »Dazu wollte ich gerade kommen«, sagte er schließlich mit einer Sanftheit, die entweder bedrohlich oder unerwartet echt war. »Danke für die wertvolle Unterbrechung.« Sein Mundwinkel zuckte kurz, konnte sich aber nicht für sein übliches Grinsen entscheiden. »Ich weiß auch noch nicht alle Details. Die Strafpatrouille hat nur ein eiliges Memo geschickt, dass Voldemorts Gefolgsleute einen beliebten gemischt-magischen Pub in Kensington überfallen haben. Den ‚Glückskessel‘, vielleicht schon mal gehört? Angeblich ein Lieblingsladen der Ministerin. Erste Etage magischer Service, unten für Muggel.«

Noch während Mulciber sprach, sprintete Elphinstone zur Garderobe und warf sich seinen Ministeriumsumhang über. »Weiß man, was uns erwartet?«

»Was immer Dämonsfeuer und Flüche übrig gelassen haben ...«

»Opfer?«

»Schätzungsweise mehrere.«

Minervas Mitte zog sich schmerzhaft zusammen, als sie sah, wie Elphinstone in seine Schuhe schlüpfte, obwohl er unter seinem Umhang immer noch Stoffhosen und einen zu groß geratenen Wollpullover trug. »Ich komme mit«, sagte sie kurzentschlossen. An Mulciber gewandt fügte sie hinzu: »Versuch mich aufzuhalten und du bereust es.«

»Sehe ich aus wie ein Idiot? Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest.« Nun entblößte er doch die Zähne in einem humorlosen Grinsen. »Wir können eine kostenlose Arbeitskraft vor Ort gut gebrauchen.«

Elphinstone ergriff Minervas Hand. »Dann nichts wie los!«

 

In Kensington schneite es. Zumindest glaubte Minerva das für eine selige, ahnungslose Herzschlagsekunde. Dann berührten die ersten trockenen Flocken ihre Haut.

Asche.

Es schneite Asche.

Instinktiv schlug sie die Hand vor den Mund. Elphinstone an ihrer Seite tat das Gleiche. Selbst Mulciber verbarg die untere Gesichtshälfte hinter seinem Umhangärmel.

Der Aschenschnee war allerdings nicht das Schlimmste. Anstatt flackernder Flammen oder fernem Mondlicht badete die Szenerie vor ihnen in bleichem, grünen Schein. Wie der fahle Atem eines Inferius waberte die verfärbte Luft durch die Ruinen des Glückskessels. Im Kontrast dazu drückte die tiefschwarze Nacht ringsum noch schwerer.

Minerva kämpfte gegen ein Würgen an, als sie den Kopf in den Nacken legte und der Nebelspur gen Himmel folgte. Kein einziger Stern erhellte das Firmament. Alles, was sie sah, war der Totenkopf. Unendlich dunkle Augenhöhlen, aus denen die gesamte Finsternis des Universums sie anstarrte. Darunter ein weit aufgerissener Mund, dem sich eine Schlange entwand.

Instinktiv wich sie einen Schritt zurück. Mit je einer Hand packte sie Elphinstone und Mulciber. Beide folgten ihrer Bewegung, ohne den Blick vom Dunklen Mal zu lösen.

»Verdammt!«, fluchte Mulciber leise. »Das ist schlimmer, als gedacht ...«

Und wie recht er hatte. Dort, wo einst der Pub gestanden hatte, klaffte ein Gerippe aus geschwärzten Holzbalken. Wenn das Metallschild mit dem grünen Kessel drauf nicht mahnend aus dem letzten, intakten Stück Fassade geragt hätte, wäre es unmöglich gewesen, den Ort wiederzuerkennen.

Vermutlich nur durch ein Wunder – und Magie – hielt die Treppe in die oberen Stockwerke, auch wenn von diesen jede Spur fehlte. Genau wie die Dachschindeln hatte es Parkett und Steine im Umkreis von mehreren Metern auf der Straße verteilt.

Hinter den letzten Trümmern drängten sich Menschen aneinander. Muggel, Hexen, Zauberer – es spielte keine Rolle. Ihre Gesichter waren alle gleich käsebleich und sie zitterten gemeinsam.

»Wo kam dieser Blitz her?«

»Hat der Auror den Verrückten erwischt?«

»Sind diese Leute gerade aus dem Nichts aufgetaucht?«

»Bitte, halten Sie still, ich kann das heilen!«

»Hat denn noch niemand die Feuerwehr gerufen?«

Mulciber knirschte mit den Zähnen. »Warum sind die verfluchten Vergissmichs noch nicht hier?«

»Die Frage ist eher, warum ausgerechnet du so schnell warst«, knurrte eine Stimme aus dem Dunkel. »Noch vor den Heilern braucht niemand einen Blutsauger aus der Strafverfolgung!«

Minerva wirbelte mit erhobenem Zauberstab herum. Gesprochen hatte ein kräftiger Mann im Ledermantel, dessen sandfarbene Haare ihm in wilden Wellen über die Schultern fielen. Blut rann aus einem tiefen Schnitt quer durch sein Gesicht und tropfte von seinem Kinn – doch er grinste, als er die zersplitterte Treppe des Pubs hinab auf sie zu humpelte.

»Alastor!«, rief Elphinstone. Er drängte sich an Mulciber vorbei. »Was ist passiert? Bist du schwer verletzt?«

»Hah.« Der gestandene Auror ersten Grades, den Minerva noch von früher kannte, spuckte Blut auf den Boden. Dann fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund. »Das bisschen! Und wenn der Irre mir die Zauberstabhand abgehackt hätte, er hätt trotzdem gekriegt, was er verdient.«

»Du meinst doch nicht etwa –«

»Sorry Jungs, aber es gibt Papierkram.« Alastor Moody zog einen Flachmann aus seinem Mantel. Seufzend nahm er einen tiefen Schluck, der ihn schüttelte. »Ahhh, diese Stärkungstränke schmecken einfach wie Gartenerde.« Erneut spuckte er auf den Boden. Erst dann sah er wieder zu Elphinstone. »Der Bastard konnt sich nicht von meinem Confringo-Zauber fernhalten. Hat ein ordentliches Feuerwerk aus ihm gemacht.«

Mulcibers linkes Augenlid zuckte. »Gibt es wenigstens eine Leiche?«, fragte er scharf.

»Ne halbe.«

Selten hatte Minerva so viel Sympathie für das gefährliche Funkeln in Mulcibers Augen empfunden. »Das ist nicht witzig«, sagte er so leise, dass es ihr einen Schauer den Rücken hinab jagte.

»Da sind wir uns einig«, knurrte Moody zurück. »Aber wart ab, bis du gesehen hast, was er mit den Menschen da drin gemacht hat. Muggel, Squib, Zauberer – alles scheißegal. Sie mussten alle sterben. Und wofür?« Er stieß eine Faust in die Luft, Richtung Dunkles Mal. »Für ein beschissenes Statement! Weißt du, was ich sage? Sie alle verdienen den Tod! Jeder einzelne beschissene Bastard, der meint, über dem Leben anderer zu stehen.«

»Alastor ...« Elphinstone schüttelte sanft den Kopf. »Das hier ist weder der Ort noch die Zeit für solche Verkündungen. Wir müssen jetzt besonnen bleiben –«

»Besonnen, eh?« Moody schnaufte. »Sag das unserem Kollegen aus der Patrouille, den seine Familie jetzt nie wiedersieht. Falls ihr dachtet, mein Gesicht sieht schlimm aus – den armen Tropf hat’s mitten in die Brust erwischt. War sofort tot.«

Mit einem Mal schien die Erdanziehungskraft so stark, dass Minervas Arme kraftlos nach unten sackten. »Oh Gott ...«

»Der kann jetzt auch nicht mehr helfen.« Obwohl am anderen Ende der Straße die ersten Heiler und Vergissmichs auftauchten, wandte Moody sich wieder der Häuserruine zu. Ihnen voraus humpelte er erneut die Treppe hinauf. Im ehemaligen Schankraum angekommen, wies er mit dem Daumen auf riesige, blutrote Lettern, die sich über die Reste der Wand verteilten.

 

LORD VOLDEMORT WIRD GROBRITANNIEN BEFREIEN

 

Grimmig quittierte Moody, wie Minerva ihre Robe enger um sich zog. In weiter Ferne meinte sie, die Würfel des Schicksals fallen zu hören. Mit dieser Woche neigte sich mehr als nur Elphinstones und ihre gemeinsame Zeit zu einem jähen Ende. Neue Wege drängten darauf, beschritten zu werden – ob es ihr gefiel oder nicht.

Moody nickte ihr zu. »Wir können uns nur noch selber helfen.«

Feuer zu Asche

Das Ministeriumsfoyer glänzte, als hätte es nie auch nur eine schmutzige Schuhsohle oder Staubflocke gesehen. Von allen Seiten spiegelten sich die Anwesenden in den auf Hochglanz polierten schwarzen Fliesen. Doch obwohl sie dicht an dicht den Brunnen der magischen Geschwister umringten, wirkten sie angesichts all dieser blanken Düsternis nur eines – verloren.

Die Decke war so unendlich weit entfernt, dass Minerva sich ins Weltall versetzt vorkam. Ihr war auch genauso kalt, wie es dort zwischen den Sternen sein musste. Fast erwartete sie, ihre Finger unter Eiskristallen verschwinden zu sehen. Immerhin zeigte das Muggelfernsehen den Weltraumtod so. Aber das war natürlich albern.

Das Eis in ihren Gliedern stammte von der Müdigkeit einer durchwachten Nacht. Zuerst hatte sie im Glückskessel geholfen, Verwundete zu beruhigen, Tote zu identifizieren sowie Magiespuren des Angriffs aufzuzeichnen, und schließlich hatte sie einmal zurück im Büro ungefragt Elphinstone und Mulciber bei deren Protokoll unterstützt.

Das Atrium des Zaubereiministeriums hatte sich derweil selbstverständlich kein Stück verändert. Nur alles andere.

Zu ihrer Linken raschelte es. Ertappt schreckte Minerva aus den dunklen Gedanken auf, die der Innengestaltung des Gebäudes an diesem Morgen kein bisschen nachstanden.

»Zitronenbonbon?«

Albus streckte ihr ein Papiertütchen entgegen, in dem sie einen dicken Klumpen seiner Lieblingssüßigkeit ausmachte. Der schale Geschmack in ihrem Mund schrie ja, die brodelnde Säure in ihrem Magen nein. Und ihre Lippen bildeten einen festen Strich, während sich ihre Nasenflügel aufblähten.

»Schon gut.« Die Tüte verschwand wieder in den Tiefen von Albus’ ausladender bordeauxroter Robe. Dafür legte er eine Hand auf ihre Schulter. »Der Sinn für Genuss wird wiederkehren, auch wenn es im Moment unmöglich erscheint. Und vielleicht ist es bisweilen sogar weise, die Bitterkeit des Lebens zu kosten, anstatt sie zu verdrängen ...« Er seufzte leise.

Seine Augen mochten auf den unentwegt sprudelnden Brunnen gerichtet sein, doch Minerva sah, dass sein Blick einer anderen Dimension galt. Einer Erinnerung; einem Geist, der auf einmal erschreckend präsent schien. Sie hatte es nie gehört und trotzdem konnte sie sich zum ersten Mal das kalte Lachen vorstellen, das Albus laut eigenen Erzählungen seit Jahren verfolgte.

Sie drückte die Hand auf ihrer Schulter kurz und schon blinzelte er sich zurück in die Wirklichkeit. »Du weißt, was gleich passieren wird, nicht?«, murmelte sie. »Es ist eigentlich längst egal, was Eugenia sagt.«

»Egal ist ein mächtiges Wort. Ich denke, es ist allem zum Trotz wichtig, wie unsere werte Zaubereiministerin es verkündet.«

»Und doch wird nichts weitere Tote verhindern.«

»Da magst du recht haben. Worte sind mächtig, aber wirkungslos bei jenen, die ihre Ohren mit Schreien füllen. Diesen Kampf haben wir bereits verloren.«

Ein knochiger Dementorenfinger glitt Minervas Rückgrat bei dieser Aussage hinab. Sie dachte an die vom Fluchfeuer entstellte Leiche des Todessers, der den Glückskessel in einen Blutkessel verwandelt hatte. An den wilden Wahn, für immer vom Tod auf sein viel zu junges Gesicht gebannt. An Mulcibers kaum verborgenes Würgen, Moodys gehässige Fassade (die nicht über seine zitternden Finger am Flachmann hinwegtäuschte) und Elphinstones nüchterne Frage, ob sie in dem Toten einen Schüler wiedererkannte ...

Minerva schluckte und schluckte und schluckte und wurde den Geschmack von Asche vermischt mit Eisen dennoch nicht los. Elf Jahre lag ihre Rückkehr nach Hogwarts als Lehrerin zurück. Aber sie wusste noch genau, wie angespannt ihre Hände während der Sortierungszeremonie ineinander verschlungen gewesen waren. Voller Aufregung – und Vorfreude – hatte sie verfolgt, wie die ersten Kinder, denen sie die Grundlagen der Verwandlungsmagie beibringen sollte, ihre Häuser fanden. Selwyn, Adam war ein Slytherin geworden und später ihr UTZ-Schüler. Ein beeindruckend guter Treiber noch dazu. Sie hatte ihm zusammen mit Filius das Empfehlungsschreiben für die magische Akademie in Bath ausgestellt.

Wieder schluckte sie. Bevor sie Albus doch nach einem Bonbon fragen konnte, schepperte es weiter vorne im Atrium allerdings. Die Türen eines goldenen Fahrstuhls glitten auf. Hinaus kam Eugenia Jenkins, gefolgt von einem rotwangigen Martin Llewyn. Aus den anderen Kabinen ergossen sich die Leiter der Ministeriumsabteilungen und weitere, hochrangige Verantwortliche. Sogar eine Handvoll Kobolde war unter ihnen. Wie eine Kolonie aus Ameisen folgten sie alle der Zaubereiministerin auf ihrem Weg zu einem Podest direkt unterhalb des Brunnens.

Die Schar an Reportern verschiedenster Zeitungen, vom lokalen Käseblatt bis hin zum Tagespropheten, schoss eifrig Bilder der Prozession. Minerva konnte Elphinstone und Mulciber in dem Pulk ausmachen, beide scheinbar unbewegt, doch mit ganz unterschiedlichem Ausdruck in den Augen. Wo Mulciber eiserne Härte ausstrahlte, raubte die Resignation in Elphinstones Blick ihr beinahe den Atem.

Eugenia selbst hielt das Kinn stolz emporgereckt, jeder Schritt und jede Geste genau bemessen. Ihr blassoranger Umhang war simpel und trotzdem würdevoll, ihr schwarzes Lockenhaar zu einem schlichten Knoten geschlungen. Bis auf ein wenig Lippenstift war sie ungeschminkt. Ein Umstand, der die Erschöpfung in ihrem Gesicht betonte. Ihre magisch verstärkte Stimme hingegen erhob sich klar und wach, als sie ans Rednerpult trat.

»Es fühlt sich ironisch an, doch – ich wünsche Ihnen aufrichtig einen guten Morgen, werte Anwesende. Denn das ist etwas, was wir alle mehr denn je brauchen werden.«

Einen Augenblick lang sah Eugenia einfach nur in die Menge. Hunderte standen in stiller Erwartung da, obwohl es gerade erst kurz nach halb sechs war. Minerva begriff nicht, woher so viele wussten, dass sich genau hier und jetzt das Schicksal Großbritanniens entschied. Aber sie waren da und Eugenia schenkte ihnen allen einen durchdringenden Blick, bevor sie weitersprach.

»Verehrte magische Gemeinschaft, ich richte mich heute an Sie, um die Angriffe der jüngeren Vergangenheit zu adressieren. Des Weiteren möchte ich Ihnen unmissverständliche Klarheit über die Position des Ministeriums verschaffen. Insbesondere die Werte unserer Gesellschaft betreffend. Zu allererst möchte ich mich jedoch bei Ihnen für das bisherige Fehlen einer derart eindeutigen Linie entschuldigen. Wir, das Ministerium, und ich, als Zaubereiministerin, hätten eher agieren müssen. Wir hätten die Situation im Lande eher erkennen müssen. Umso wichtiger ist es nun, dass wir keine Zweifel daran aufkommen lassen, wofür das Ministerium – und schlussendlich das magische Großbritannien – steht.«

Die Müdigkeit auf Eugenias Zügen schien zu schmelzen. Egal wie tief die Schatten unter ihren Augen reichten, letztlich war es diese Ehrlichkeit, welche alles überstrahlte. Verschwunden war die Frau, die mit tränenverschleiertem Blick von Flucht fabuliert hatte.

Minerva erahnte bloß, was es Eugenia kosten musste, derart beherrscht dazustehen. Ihre Rückendeckung aus Ministeriumsbeamten war höchstens ein Symbol, solange ein Verräter mit ihr dort oben stand. Wenn sie doch nur wüsste, woher das Pergament stammte, von dem die Ministerin ihr erzählt hatte – und das seither verschwunden war, genauso wie all ihre Erinnerungen an dessen Existenz ...

»Die Unruhen der vergangenen Monate, Wochen und letztlich Tage haben unserer magischen Gemeinschaft erheblichen Schaden zugefügt«, fuhr Eugenia indes mit fester Stimme fort und wischte die Gedanken an Verlorenes damit in weite Ferne. »Sie haben einer Bewegung unter der Führung von Lord Voldemort Aufwind verschafft, die von sich selber als ‚Todessern’ sprechen. Bereits dieser martialische Name überlässt wenig der Fantasie. Und sollten dennoch Zweifel bestanden haben, so haben eben jene Todesser uns ihr wahres Ansinnen enthüllt, indem sie nicht nur vor zwei Wochen das Ministerium überfielen, sondern in einem Akt der Vergeltung für diesen gescheiterten Putsch gestern Abend unschuldige Menschen im Glückskessel in Kensington ermordeten.«

»Verzeihung, Mrs Jenkins«, rief ein Journalist in die winzige Pause hinein, die Eugenia brauchte, um Luft zu holen, »aber steht denn schon fest, wie viele Hexen und Zauberer unter den Opfern sind?«

Die Ministerin betrachtete erst ihn, dann die übrigen Reporter mit ihren rauchenden Kameras und gezückten Federkielen streng. »Es ist unerheblich, wie viele Hexen, Zauberer, Squibs oder Muggel unter den Opfern sind«, sagte sie schließlich, lauter als zuvor. »In dieser Nacht sind ausschließlich Menschen gestorben. 23 Leben wurden ausgelöscht, weil sie angeblich der Vorstellung einer reinblütigen magischen Welt entgegenstanden. Und ein weiteres Leben ist verloren, weil der Angreifer unsere Einheiten zu verzweifelten Mitteln zwang.«

Fröstelnd vergrub Minerva die Hände in den Ärmeln ihrer Robe. Sie wünschte, Mulciber hätte sie nicht an den Tatort gerufen. Sie wünschte, es wäre Albus gewesen, der ihr im Dunkel der Nacht eine eilige Eule geschickt hätte, nicht umgekehrt. Sie wünschte, Eugenias Worte wären nicht mit Bildern unterlegt. Und dennoch war sie dankbar, dass die Ministerin so klar sprach.

»Leider müssen wir uns der Realität stellen, werte Gemeinschaft. Dieser Anschlag war mehr als blinder Zorn. Es ging gezielt darum, die Anführer der Squib-Interessenbewegung zu treffen, die dort im geschützten Rahmen mit Vertretern meiner Regierung verhandelt haben. Aber nicht nur das – es ging ebenso darum, im Zuge dessen möglichst viele unschuldige Besucher des Pubs zu töten. Magisch wie Muggel. Menschen, die sich bloß zur falschen Zeit an diesem Ort aufhielten. Sonst hätte der Angreifer nach dem Auftauchen eines Auroren die Flucht ergriffen. Sein Ziel war zu diesem Zeitpunkt bereits erfüllt. Doch er tat es nicht. Stattdessen demonstrierte er uns, zu welcher Verheerung die Todesser fähig sind. Zu was sie für die Durchsetzung ihrer Pläne bereit sind. Dieser Anschlag ist ein Anschlag auf unser ganzes Land, unser Volk – unseren Frieden

Das bis eben allgegenwärtige Surren und Puffen der magischen Kameras schwand, so sehr hingen selbst die Reporter an Eugenias Lippen. Nur die verzauberten Federn bewegten sich nach wie vor in unmenschlicher Hast, um jedes Wort für die Ewigkeit auf Pergament zu bannen.

»Lassen Sie mich eines in aller Deutlichkeit sagen: Das Zaubereiministerium verurteilt diese Tat aufs Schärfste. In unserer Mitte darf niemals Platz für derartigen Hass sein. Es bestehen keine Zweifel: Wir werden uns dieser Drohung nicht beugen. Vielmehr appelliere ich in aller Dringlichkeit an Sie – wir müssen gemeinschaftlich, Hand in Hand, dafür sorgen, dass wir diesen Mächten keinen Platz lassen.«

Eugenias Blick wanderte über die Menge, bis er Albus fand. Minerva kam sich vor, als stünde sie direkt neben dem Lichtkegel eines Scheinwerfers, so viele Augenpaare folgten der Ministerin.

»Nur vereint sind wir stark«, appellierte diese. Trotz des Meeres aus Zuhörern schien es, dass sie nur zu Albus sprach. »Ich weiß, dass das Ministerium Sie in der Vergangenheit mehr als einmal enttäuscht hat. Das können wir nicht mehr ungeschehen machen. Gerade deshalb bitte ich Sie, in aller Demut: Helfen Sie uns, neues Vertrauen zu schaffen. Arbeiten Sie mit uns, stehen Sie an unserer Seite, anstatt es den Todessern gleichzutun und Ihren eigenen Wegen zu folgen. Lassen Sie uns neue Einigkeit finden, dann gewinnen wir unsere Kämpfe gemeinsam.«

Bis eben in Reglosigkeit vereint, tauschten die Umstehenden nun zaghafte Blicke. Manche sogen grimmig die Luft ein und strafften die Schultern wie Minerva, andere nickten ihren Nachbarn reserviert zu, so wie Albus der Ministerin.

»Ich bin immer offen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, werte Eugenia«, sagte er so laut, dass es im ganzen Atrium widerhallte, selbst ohne magische Stimmverstärkung. »Für unser aller Wohl sollten wir das sogar, anstatt uns davon ablenken zu lassen, wer dem anderen zu dienen hat.«

Eugenia leckte sich die Lippen. Ihre Lider flatterten, doch dann nickte sie. »Richtig, es geht um unser aller Wohl. Da haben Eitelkeit und Stolz keinen Platz. Im Gegenteil, auch diese müssen wir überwinden.«

Ein paar Sekunden sahen Albus und Eugenia sich starr an, ehe Albus ein Lächeln zeigte, das er normalerweise für die Erstklässler reservierte. »Besser hätte ich es nicht sagen können.«

Nicht nur die Ministerin, auch die meisten Umstehenden schienen sich zu entspannen. Entschlossener als zuvor tuschelten diese leise miteinander oder umklammerten ihre Zauberstäbe fester. Aber da war genauso Angst in einigen umherhuschenden Augen, bleiche Gesichter und zitternde Hände. Die Einheit der magischen Gesellschaft wankte, noch während Eugenia Jenkins sie heraufbeschwor.

»Lassen Sie mich Ihnen einen Rat geben«, fuhr sie ungerührt dessen fort und löste ihre Augen von Albus, »betrachten Sie Ihren Blutstatus, wie immer er sein mag, nicht als Garant für Sicherheit. Jeder kann in diesen Zeiten zum Ziel werden. Das beweist die letzte Nacht. Deshalb müssen wir uns gegenseitig schützen. In meinem Ministerium arbeiten genug fähige Hexen und Zauberer, die diese Stärke bereits bewiesen haben, als sie die Bedrohung durch Lord Voldemort vor zwei Wochen zurückschlugen. Und was wir einmal geschafft haben, werden wir wieder vollbringen. Wieder und wieder, so oft es sein muss. Denn im Gegensatz zu den Feinden unserer Verfassung wissen wir, dass unsere Fähigkeiten alleine durch unseren Willen limitiert sind, nicht durch unser Blut.«

Kollektives Einatmen folgte den Worten. Albus drückte sacht Minervas Schulter, doch sie nahm die Berührung kaum wahr. Genau wie alle anderen hielt sie den Atem an, als Eugenia Jenkins Voldemort nachahmte und ihre Arme zu beiden Seiten ausstreckte. Die Augen der Ministerin wanderten von rechts nach links, bevor sie verkündete, worauf längst alle gebangt hatten.

»Ich bedauere es zutiefst, diese Worte sprechen zu müssen, werte magische Gemeinschaft, doch mit dem heutigen Montag, dem 28. September 1970, verhänge ich in meiner Funktion als britischer Zaubereiministerin den nationalen Kriegsstand

Minerva senkte die Lider. Da war keine Furcht in ihr. Nur Leere. Sie hatte es gewusst, seit sie das Dunkle Mal am Himmel gesehen hatte. Das Leben zerbrach unter ihren Händen und sie fand sich zur Salzsäule erstarrt.

»Die Verfolgung von Lord Voldemort und seinen Todessern hat ab sofort höchste Staatspriorität«, ergänzte Eugenia ihre Bekanntmachung. »Ich kann diesen Umstand nicht beschönigen. Was kommt, wird Opfer fordern. Auf beiden Seiten. Daher appelliere ich noch einmal an Sie – schützen Sie, was Ihnen lieb ist. Stehen Sie einander bei. Wir können das überstehen, wenn wir als Gemeinschaft stark bleiben. Lassen Sie uns nie vergessen, was uns alle verbindet: Unsere Menschlichkeit.«

Ein einzelner Zauberer weit hinten hob seine Hände zum Applaus. Zunächst zögerlich breitete sich der Beifall durch die Reihen der Anwesenden aus, doch schließlich schwappte er unaufhaltsam wie eine Flutwelle durch das Atrium.

Auf dem Podest nahm Eugenia Jenkins einen tiefen Atemzug. »Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Aufmerksamkeit – für Ihr Verständnis.«

Sie neigte leicht den Kopf und wandte sich an die Reporter, deren Hände bereits zahlreich in die Luft gewandert waren. Hagelgleich prasselten ihre Fragen auf die Ministerin ein.

»Was bedeutet der Kriegsstand für Auroren und Strafverfolgung? Welche Mittel stehen den Beamten jetzt zur Verfügung, um die Bedrohung schnellstmöglich zu beseitigen? Womöglich strafbewährte Flüche? Wird der Todesfluch legal sein?«

»Nein.« Entschieden schüttelte Eugenia den Kopf. »Der Gebrauch schwarzer Magie ist nach wie vor keine Option. Auch weiterhin müssen sich alle Angestellten vor einem Ausschuss verantworten, sollte bei ihnen Gebrauch derartiger Magie festgestellt werden. Der Einsatz des Imperius-Fluchs ist nur in engen Grenzen zu vertreten, wie zuvor. Die Verwendung des Todesfluchs hingegen ist indiskutabel. Wir wollen diesen Krieg nicht mit den Mitteln der Gegenseite gewinnen, sondern unser Recht, vor allem aber auch unsere Moral bewahren.«

Das entlockte Albus ein Zucken. Es war nur eine winzig kleine Regung – womöglich wäre sie Minerva entgangen, wenn nicht seine Hand auf ihrer Schulter gelegen hätte. Doch so sah sie ihn an und bemerkte, wie sich etwas in seinem Blick verhärtete, mehr als zuvor bei dem kleinen Kräftemessen mit der Ministerin. Aus dem sanften Wasserblau seiner Augen wurde kalter Saphir, scharf genug sich daran zu schneiden. Sie verkniff sich ihre Frage lieber.

Eugenia schien ebenfalls unglücklich über die gemischten Reaktionen des Publikums, denn sie schlang die Hände auf ihrem Rednerpult fest ineinander, während sie so etwas wie einen beruhigenden Ausdruck auf ihr Gesicht zwang. »Nichtsdestotrotz ergeben sich natürlich zahlreiche Notverordnungen, die nun in Kraft treten. Verkürzte Voraussetzungen für Verdachtsfestnahmen, verstärkte Handlungsprärogative der Auroren bei der aktiven Verfolgung, zusätzliche Befugnisse für unsere Strafverfolger, herabgesetzte Voraussetzungen für ein Urteil im Eilverfahren vor dem Gamot – Sie sehen also, wir gewinnen enorm an Handlungsfähigkeit, ganz ohne sämtliche unserer Prinzipien zu verraten.«

»Reicht das denn? Wie gehen wir sicher, dass keine Anhänger Lord Voldemorts das Ministerium unterwandert haben? Irgendwer muss ja geholfen haben, den Angriff vor zwei Wochen überhaupt möglich zu machen!«

Jetzt schluckte Eugenia zum ersten Mal sichtbar. Minerva spannte sich gemeinsam mit ihr an.

»Nun«, sagte die Ministerin barsch, »wir haben in der Zwischenzeit Maßnahmen ergriffen, um das Personal zu überprüfen. Ich kann Ihnen garantieren, dass alle, die heute hinter mir stehen, mit diversen Erkennungszaubern auf das Dunkle Mal überprüft, sowie unter der Zuhilfenahme von Veritaserum zu ihrer Gesinnung befragt wurden – freiwillig. Und ich versichere Ihnen, wir haben keinen Spion auf Führungsebene gefunden.«

Irritiert schüttelte Minerva den Kopf. »Das kann nicht sein«, zischte sie Albus mit unterdrückter Stimme zu.

Der legte sein Haupt nachdenklich schief. »Oh, von der Unwahrheit dieser Aussage bin ich überzeugt. Die Frage ist nur, wie es möglich war, die Ministerin derart zu täuschen. Natürlich kann man Veritaserum mit genügend Training widerstehen, aber wie verbirgt man ein so mächtiges Fluchmal auf dem Unterarm, wie es offenbar alle von Toms Anhängern tragen?«

Auf der Suche nach einer Antwort sah Minerva in seine Augen, die sie über den Rand seiner Halbmondbrille hinweg anfunkelten. Die Härte darin war Wissbegierde gewichen.

»Schätze, das müssen wir herausfinden ... wenn es das Ministerium nicht tut.«

Albus erwiderte nichts, doch sie erkannte die Zustimmung in seinem Blick.

Eugenia war allerdings gar nicht fertig mit der Beantwortung ihrer Frage. »Das restliche Personal wird noch heute in einem ähnlichen Verfahren geprüft«, erklärte sie, »das von unseren erfahrenen Strafverfolgern Alston Mulciber und Bartemius Crouch überwacht wird.«

In Albus’ Augen erlosch das Funkeln wieder. »Nun, das ist bedauerlich ...«

Fragend zog Minerva eine Augenbraue hoch.

»Mrs Jenkins strengt sich wirklich an, aber angesichts all dieser Entscheidungen komme ich einfach nicht zu dem Schluss, dass dem Ministerium mein uneingeschränktes Vertrauen zusteht. Oder empfindest du das anders?«

»Ich ...« Minerva sah der Ministerin zu, wie sie Mulciber aufs Podium zitierte, damit er die Fragen über das Verfahren beantworten konnte, ohne dabei kritische Details zu verraten. Ein Seufzen hing in ihrer Brust fest, als hätte sie eine heiße Kartoffel im Ganzen verschluckt. Auch ein Räuspern brachte keine Linderung. »Mit Vernunft betrachtet hast du wahrscheinlich recht«, gab sie schließlich zu. »Aber mein Herz ... will hoffen.«

»Vielleicht bist du einmal mehr weiser als ich.« Ähnlich gelassen wie Arrnd im Gerichtssaal wippte Albus auf den Füßen vor und zurück. Es fehlte nur noch das leise Summen auf den Lippen.

Derweil gab Mulciber vorne den Reportern höchstens einsilbige Antworten. Schließlich wurde es einem der Zauberer zu bunt. Während seine Kollegin noch weitere Nachfragen formulierte, brüllte er – magisch verstärkt – dazwischen. »Und was ist mit den Kobolden? Warum sind die überhaupt hier? Hat auch jemand deren Gesinnung überprüft? Ich habe gehört, Lord Voldemort hat ihnen die tollsten Versprechungen gemacht!«

Raunen ging durch das Atrium. Vereinzelt reckte man die Hälse nach der kleinen Gruppe neben dem Brunnen.

Statt Eugenia oder Mulciber antwortete direkt ein Kobold mit schlohweißem Haar dem Reporter. »Mag sein, dass Lord Voldemort Dinge versprochen hat, die manchem von uns gefielen«, schnarrte er mit funkelnden Augen. »Aber dann wurden wir ebenso Opfer eines Angriffs wie ihr. Niemand schändet ungestraft Gringotts! Wir haben dem Ministerium unsere Unterstützung zugesagt – es sei denn, es möchte noch jemand unseren Stolz in Frage stellen?«

Der junge Mann senkte den Zauberstab von seiner Kehle. Plötzlich ganz blass, schüttelte er den Kopf.

»Weise.« Der Koboldsprecher bleckte seine spitzen Zähne. »Dann werden wir diesen Krieg ausnahmsweise an eurer Seite austragen.«

Falls irgendjemand Zweifel gehabt hatte, einem historischen Moment beizuwohnen, spätestens jetzt mussten diese fortgewischt sein. Kobolde und Menschen in einem Krieg vereint, das hatte es nie zuvor gegeben.

Minerva dachte an Arrnd, der sie tatsächlich kurz vor der Entlassung im St. Mungo besucht hatte. Mehr als ein paar Worte hatten sie nicht gewechselt, doch das war genug gewesen. Wenn ein Kobold einem sagte, dass er deinen Mut bewunderte, glich das einem Ritterschlag. Aber selbst das reichte nicht, um jetzt die Leere in ihrem Inneren zu füllen.

Ein Krieg mit Verbündeten blieb ein Krieg.

 

Als wüsste die Magie von der Schwere des bevorstehenden Tages, schien beim Frühstück in der Großen Halle von Hogwarts wenig später eine kräftige, gold-orangene Herbstsonne von der Decke – obwohl die Ländereien von Wind und Regen heimgesucht wurden. Minerva fühlte sich wie auf einer einsamen Insel mitten im Auge eines Sturms. In all ihren Jahren hier hatte das Schloss nie solchen Eigensinn bewiesen. Sie wusste nicht, ob es tröstlich oder unheimlich war.

Den Kindern schien es jedenfalls zu helfen. Nach dem anfänglichen Schock über Albus’ morgendliche Ansprache – und die damit einhergehende Verkündung des Krieges – schafften sie es immerhin noch, ein wenig Lärm zu machen. Nicht so mächtig wie sonst, wenn sie lachten, sich gegenseitig ärgerten oder versuchten, die Hausaufgaben von jemandem zu kopieren ... aber zumindest ihre Stimmen blieben kräftig. Immer wieder hörte Minerva diesen einen, nahezu magischen Satz:

»Hogwarts ist der sicherste Ort auf Erden.«

Eine Aussage, die sie in jeder ihrer Unterrichtsstunden bekräftigte. »Sie sind hier in Sicherheit. Professor Dumbledore wird nicht zulassen, dass Ihnen etwas passiert. Ich weiß, die Situation ist beängstigend. Zögern Sie daher nicht, eine Lehrkraft anzusprechen, wenn Sie das Gefühl haben, Hilfe zu brauchen. Unser aller Tür steht Ihnen selbstverständlich jederzeit offen.«

Egal ob Erstklässler oder UTZ-Schüler vor ihr saßen, ein ums andere Mal wiederholte sie diese Worte, bis sie sich beinahe in ihrem Mund verknoteten. Sie wünschte, es gäbe mehr zu sagen. Irgendwas tatsächlich Tröstliches. Stattdessen lehnte sie nur an ihrem Pult und stellte sich den besorgten Fragen der Kinder. So hatte sie sich ihre Rückkehr in das Schloss – ihr Zuhause – wahrlich nicht vorgestellt.

Kein einziger Zauberstab wurde geschwungen, keine Hausaufgabe verteilt. Nicht ein müder Hauspunkt gewonnen oder verloren. Dafür sprach sie immer wieder davon, warum Voldemort nach der Macht strebte. Weshalb er falschlag. Wie er zurückgeschlagen worden war (auch wenn sie ihre Rolle dabei lieber untertrieb). Was nun auf sie wartete. Welche Folgen der Krieg für Hogwarts hatte.

Sie konnte nur hoffen, dass irgendwas davon ihren Schülern half. Selber war sie höchstens ausgelaugt, als am Ende des Tages die Tür hinter dem letzten Gryffindor zufiel. Da kam ihr Albus gerade recht, der fragte, ob sie nicht Elphinstone für ein Treffen mit ihm und einigen seiner Bekannten an diesem Abend gewinnen könnte. Natürlich sollte es ein weiteres Mal um den Krieg gehen, doch Minerva war jeder Vorwand recht, Elphinstone derart bald wiederzusehen. Selten hatte sie sich so gefreut, ihr Klassenzimmer und ganz Hogwarts wieder zu verlassen.

Das Abendessen zuvor schmeckte nach nichts, obwohl es ihre liebsten Röstkartoffeln gab. Angestrengt schlang sie ein paar Bissen herunter, ein Auge immer auf den Haustischen. Doch heute gab es keine explodierenden Furunkeltränke oder andere Häuserrivalitäten. Noch bevor alle Trödler auf dem Weg in ihre Schlafsäle waren, sprang sie auf und entschuldigte sich bei ihren Kollegen, die tapfer ausharrten. Pomona schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln, aber da war sie schon durch die Türen geschlüpft.

Der Weg hinunter nach Hogsmeade zog sich wie Endlostoffee. Gleichzeitig kam es Minerva so vor, dass sie nur einmal blinzelte, ehe sie im Hinterzimmer des Eberkopfs stand und den Kamin bestieg. Und ein weiteres Blinzeln später landete sie im Tropfenden Kessel.

Der Lärm erschlug sie fast. Ein riesiger Pulk an Hexen und Zauberern war um die Tische in der Mitte versammelt. Alle sprachen sie über den Krieg, Voldemort, Todesser ... Eilends trat Minerva in den Hinterhof und disapparierte nach Mayfair.

Eigentlich peilte sie den Eingang von Elphinstones Wohnhaus an, wenn der direkte Sprung in seinen Kamin schon nicht in Frage kam. Auf ein unfreiwilliges (und unangenehmes) Festhängen im Flohnetzwerk konnte sie nämlich gut verzichten, falls er noch unterwegs war. Doch bevor das Engegefühl des Apparierens schwand, wusste sie schon, dass sie mit etwas zu wenig Elan und zu viel Müdigkeit in die Bewegung gegangen war. Anstatt auf den Sims vor Elphinstones Haustür brachte ihr Fehltritt sie zwei Häuser weiter.

Zum Glück war es bereits dunkel, sodass niemand sie sah – besonders nicht ihre Verwandlung in Katzengestalt. Auf allen vieren huschte sie durch den Nieselregen davon.

Sie hoffe inständig, dass Elphinstone überhaupt nach Hause kommen und nicht im Büro übernachten würde. Wer wusste schließlich, welche Ausmaße das Chaos im Ministerium inzwischen angenommen hatte? Bei ihrem Abschied hatte er zwar versprochen, dass er sich nicht gleich wieder übernehmen würde (und den Wachmachtränken abzuschwören), aber das war vor der Rede der Ministerin gewesen. Bevor der Krieg Gewissheit geworden war.

Nur die Energie, welche ihr die vorangegangene Woche verliehen hatte, trug Minerva jetzt noch über das kalte Pflaster. Sie wollte am liebsten zurück in das Bett unter dem Pflanzenbaldachin, in Elphinstones Arme –

Abrupt stoppte sie, eine Pfote in der Luft. Selbst durch den dichten Regen erkannte sie das Pulsieren einer menschlichen Aura vor dem Eingang zu Elphinstones Wohnhaus. Jemand wartete – und es war nicht ihr herbeigesehntes Himmelblau, das sie sah. Trotzdem kannte sie diesen Lichtschimmer.

Fünf, sechs Herzschläge lang stand Minerva einfach nur da und starrte auf den gelben Fleck in der dunklen Regennacht. Dagegen wirkten die entfernten Straßenlaternen in ihrer Katzensicht schwach, vom Mond ganz zu schweigen. Ihr Atem beschleunigte sich.

Nein, es gab kein Vertun. Die Aura war von zartem Zitronengelb an den Rändern, in ihrer Mitte hingegen leuchtete sie mit einem sommerlichen Rapsfeld um die Wette. Genau wie in ihrer Erinnerung. Wie sehr die fröhliche Farbe doch zu ihrem Besitzer passte, auch nach all den Jahren ...

Aber das konnte nicht sein! Er konnte nicht hier sein –

Plötzlich zog sich die Aura ruckartig zusammen, als hätte sie Schluckauf. Für einen Moment strahlte sie hell wie eine Glühbirne kurz vor dem Durchbrennen, dann verlor sie ebenso schnell wieder an Leuchtkraft. Ohne einen weiteren Gedanken an das Unmögliche zu verschwenden, verwandelte Minerva sich zurück.

»... Dougal?«

Die Gestalt im Hauseingang wirbelte zu ihr herum. Sie brauchte keine katzenhafte Nachtsicht, um die Überraschung auf dem Gesicht zu erkennen, das sich für immer in ihre Erinnerungen gebrannt hatte. Er war es wirklich.

»Oh ...« Auf der Suche nach Halt fanden Minervas Finger nur ihr Schlüsselbein und gruben sich tief in die Haut darüber. »Was ...«

»Minerva. Du bist hier ...? Ich habe dich gar nicht kommen sehen ...«

Ihre Füße hatten sich nicht entschieden, ob sie auf ihn zustürmen sollten oder mit dem Boden verwachsen wollten, da nahm Dougal ihr schon die Entscheidung ab. In wenigen großen Schritten stand er vor ihr, nah genug, dass sie sein Aftershave roch. Und etwas anderes in seinem Atem, geradezu Übelkeit erregend süßlich –

»Du bist hier«, murmelte Dougal noch einmal, eindringlicher. Schon streckte er seine Finger nach ihrem Kinn aus, hob es leicht an ...

»Ah – stopp, Dougal ...«

Regen lief Minerva in die Augen. Trotzdem wollte sie nicht blinzeln. Erstarrt presste sie die Hand fester an ihre Brust. Das hier war nicht richtig.

Dougal war pitschnass. Sein für gewöhnlich lockiges Haar klebte ihm flach an den Schläfen. Aber all das schien ihm egal, denn er ... lächelte. So wie früher. Als sie noch ...

Minerva schüttelte den Kopf. »Wie lange stehst du bitte schon im Regen?«

»Ich ... keine Ahnung –«

Ein grässliches Gefühl schlug seine Klauen in ihr Herz. »Weißt du überhaupt, wo du bist?«

Offensichtlich verwirrt legte Dougal die Stirn in Falten. Kurz, nur für einen Sekundenbruchteil, glitt sein Blick an ihr vorbei. »London ...«

»Und hier? Diese Straße? Dieses Haus?«

»Ist egal. Ich bin dort, wo ich sein muss. Und jetzt bist du sogar bei mir.« Auf einmal packte Dougal ihre Oberarme.

»Lass mich los«, hauchte Minerva. »Bitte ...« Ihre Stimme vibrierte in einem Ton, den sie lange nicht mehr so intensiv bei sich wahrgenommen hatte. Angst.

»Wieso denn?« Dougal starrte sie unbewegt an. »Freust du dich nicht, mich zu sehen? Du hast mich doch auch vermisst, das weiß ich genau!«

Sie presste die Lippen aufeinander. Hätte sie seine Aura nicht gesehen, sie würde nicht glauben, dass er wirklich vor ihr stand.

Ungeachtet ihrer ausbleibenden Antwort strahlte Dougal sie unvermittelt wieder an. »Es ist alles gut, Minnie. Ich bin hier, weil ich dieses Mal um dich kämpfen werde. Ich liebe dich schließlich immer noch!«

Ihr Atem setzte für einen Herzschlag aus. Dann entkam ihr ein Geräusch zwischen Schnauben und Schniefen. »Nein.« Erneut schüttelte sie den Kopf. »Tust du nicht. Du liebst deine Frau. Deine Tochter. Euer zweites Kind, das noch nicht einmal geboren ist!«

Die Leere in Dougals Augen bei Erwähnung seiner Familie erschauderte sie bis ins Mark. Das war nicht er, der handelte. Jemand hatte ihm das hier angetan. Magie hatte ihn so verdreht. Nur welche? Die Puzzleteile passten nicht zusammen. Was sollte es bringen, ihm wieder Gefühle für sie einzupflanzen? Und weshalb war er dann in Mayfair?

Es half nichts, irgendwie musste sie mehr herausfinden. »Wie bist du hergekommen?«, fragte sie nachdrücklich, auch wenn sie ihn am liebsten geschüttelt hätte. Doch sie brachte es nicht über sich, ihn ihrerseits anzufassen.

Kaum merklich zuckten die Muskeln in Dougals Gesicht. »Ich ...«, sagte er gedehnt. Sein Blick ging geradewegs durch sie.

Das erinnerte sie an den Imperius-Fluch, wenn er an seine Grenzen stieß. Oder mit einer unerwarteten Situation konfrontiert wurde ...

Nur für einen winzigen Augenblick sah sie den Regentropfen zu, die sich in Dougals langen Wimpern fingen. Wie damals seine Tränen, als sie –

»Warum bist du hier?«, bohrte sie erneut nach.

»Das – das ... kann ich dir nicht sagen.«

»Du musst!«

»Wieso?« Dougal legte seinen Kopf schief. »Reicht es nicht, dass ich dich liebe? Wir können wieder zusammen sein! Ich werde alles andere dafür tun!«

Endlich fand Minerva die Überwindung, seine Hände von sich zu schieben. Zumindest versuchte sie es, denn sein Griff war eisern. Sie musste ihn an den Gelenken packen und ihre Daumen gegen die Schlagader drücken, ehe er losließ. Jeder andere hätte sich über den Schmerz beschwert, doch Dougal blinzelte nicht einmal.

»Wenn du mich liebst, musst du mir die Wahrheit sagen«, beschwor sie ihn. »Sonst ... wird mir etwas Schlimmes passieren. Bitte. Hilf mir!«

»Aber ...« Auf einmal keuchte Dougal, als hätte er mit Verspätung ihren Kniff gespürt. Er verzog die Lippen. »Nein – ich kann nicht ... ich darf ... nicht ...« Zwei Finger an die Stirn gedrückt, stolperte er einen Schritt rückwärts. »Tu mir das nicht an ... lass uns einfach glücklich sein ...«

Mit zitternder Hand tastete Minerva nach ihrem Zauberstab. Dougal bemerkte gar nicht, wie sie ihn im Aufschlag ihres Jackenärmels verbarg. Besorgt sah sie über ihre Schulter, ob sich womöglich von hinten ein Angreifer näherte, der nur auf diesen Moment ihrer Schwäche gewartet hatte. Doch da war niemand, ihr Aufspürzauber bestätigte es. Nicht, dass sie dies erleichterte. Im Gegenteil, nun stiegen mehr Fragen in ihr auf.

Sie wandte sich wieder dem wimmernden Dougal zu. »Du willst von mir geliebt werden?«, fragte sie in einer Strenge, für die sie sich im gleichen Atemzug hasste. Überhaupt hasste sie die Frage. »Schön. Das geht nur, wenn du mir sagst, warum du hier bist! Wenn du das tust, wird alles gut. Ich verspreche es dir!«

»Minerva ... bitte ...«

Ein Ausdruck trat in Dougals Augen, den sie nie wieder hatte sehen wollen. Tränen sammelten sich, seine Lippen zitterten, er schüttelte sachte den Kopf – es fehlte nur der Brillantring, den sie in seine Hand legte. Ich werde dich nicht heiraten. Aber immer nur dich lieben ...

»Tu es, Dougal. Für mich. Es ist ganz einfach.«

»Nein ...« Seine Brust hob und senkte sich heftig. »Nein! Bitte verlang das nicht, es muss doch einen anderen Weg geben ...«

Es kostete Minerva alle Kraft, dieses Mal nicht von ihm fortzugehen, sondern die Hände an seine Wangen zu legen. Viel zu oft hatte sie sich danach verzehrt, es noch einmal tun zu dürfen. Und jetzt ... erfüllte bittere Asche ihren Mund bei dem Gefühl seiner Haut unter ihren Fingerspitzen.

»Ich wünschte«, flüsterte sie. »Aber du musst es mir sagen. Bitte!«

Er wand sich wie ein Flubberwurm vor dem Zaubertrank. Schweiß trat auf sein Gesicht und als er keuchte, roch sie wieder diese klebrige Süße in seinem Atem. Was, wenn ...

In einem spontanen Impuls drückte sie ihre Stirn an seine. Sie konnte die winzigen, goldenen Sprenkel in seinen braunen Augen erkennen und jeder davon trug eine gut verdrängte Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit. Kitzelndes Gras unter ihren Fußsohlen und seine Küsse in ihrem Nacken. Ein unendlicher Sommer im Schatten einer großen Eiche, der Geschmack von Erdbeeren auf ihren Lippen, seine Wärme auf ihrer Haut – und das Ende auf einem ungepflügten Acker, ihr Verrat an dieser Liebe.

»Es tut mir so leid, dass ich damals einfach gegangen bin«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Aber ich weiß, dass du stark bist. Du hast es überwunden. Und du bist auch jetzt stark! Kämpf gegen das Verbot, Dougal. Bitte! Sieh mich an! Ich weiß, dass du da drin bist. Dein wahres Ich, das mich nicht länger liebt!«

Seine Lider flatterten schmetterlingsgleich. »Es ... tut weh ...«

»Ich weiß. Oh, ich weiß.« Ein trauriges Lächeln zupfte an ihren Lippen. »Aber es hört auf, wenn du es geschafft hast. Stell es dir vor wie ein Pflaster, das du abreißen musst. Je schneller, desto eher ist der Schmerz vorbei.«

Dougal schluckte schwer, bevor er kaum merklich nickte.

»So ist es gut.« Ihr Zauberstab bohrte sie tief in Minervas Handfläche, während sie seine Wangen fester umfasste. »Und jetzt denk an deine Familie! Denk an deine Tochter! Sie braucht dich. Sie braucht dich mehr als ich. Sie ist noch so klein ...«

Die Verwirrung in Dougals Augen flackerte, dann verlosch sie wie eine Kerze ohne Sauerstoff. »Mia ...«, stöhnte er gequält.

»Genau! Ihr Name ist Mia. Sie ist sechs Jahre alt und dein ganzer Stolz.«

»Ja ...«

»Siehst du sie vor dir?«

»Ich ... ja ...«

»Dann lass sie nicht los. Halt sie fest. Sie braucht ihren Vater!«

»Aber ich ... ich weiß nicht warum, aber ich will dich –«

»Minerva! Ich bin gerade erst angeko- ... Was ist hier los?«

Beim Klang dieser dritten Stimme ging ein Ruck durch Dougals gesamten Körper. Er riss die Lider weit auf. Im selben Moment stieß er Minerva von sich.

Sie landete mit dem Hintern voraus am Boden. »Dougal –«

Etwas Silbernes blitzte im Laternenschein auf. Ein Messer – nein, ein Dolch.

»Dougal!«

»Ich bringe es zu Ende.« Seine Stimme war plötzlich viel dunkler. Schwer. Wie eine Decke, die selbst Feuer erstickte. »Das Flüstern sagt, ich muss es tun!«

»Es lügt!«

»Niemals.« Schwere Atemstöße schüttelten Dougal, als wäre er zehn Runden um den Schwarzen See gerannt. »Es ist das beste für dich. Für uns! Damit wir zusammen sein können –«

Er wirbelte zum Hauseingang herum – in dem Elphinstone stand, die Augen überrascht aufgerissen.

»Nein!« Minerva war egal, ob die Muggel aus den Fenstern guckten. Ob sie sahen, wie sie noch am Boden den Zauberstab hob. Ihr war alles egal.

»Stupor!«

Doch Dougal bewegte sich zu schnell. Der Zauber traf nur die Hausmauer direkt über seiner Schulter. Stein spritzte durch den Regen.

»Au!« Erneut fuhr Dougal herum. »Warum?« Er fuchtelte mit dem Dolch umher. »Du kannst ihn doch nicht wirklich mehr lieben als mich!«

Wie gebannt sah sie auf die Klinge in seiner Faust. Auf die Runen im Silber, den schwarzen Griff ... Ihr Zauberstab bebte. Sie kannte diese Waffe. Und bevor sie es sich besser überlegen konnte, drückte sie sich vom Gehweg hoch und stürzte vorwärts. Mit beiden Händen packte sie das kalte Metall.

»Dougal –« Ihre Worte erstarben in einem Keuchen. »Ahhh ...«

»Nein – Minerva!«

Sie wusste nicht, wer geschrien hatte. Aber auch das war egal. Selbst als Dougal den Dolch fortziehen wollte, ließ sie nicht los. Sie packte die Klinge nur fester.

»Sieh nur ... was du getan hast ...«, stieß sie hervor. Entgegen jeglicher Vernunft drückte sie ihre Hände um das beißende Silber zusammen. »Ist es wirklich das, was du willst, Dougal?« Der Dolch zitterte und mit aller Kraft zog sie ihn hoch, bis er kaum Millimeter von ihrer Brust entfernt war. »Dann töte mich zuerst.«

Binnen Sekundenbruchteilen glitten tausende Gefühle über Dougals Gesicht. Wut. Verwirrung. Überraschung, Entsetzen – Panik. »Oh Gott –« Ehe er den Satz beenden konnte, erschlafften all seine Muskeln.

Minerva schrie, als die Klinge dem Gewicht seines Körpers gen Boden folgte und ihrem Griff entrissen wurde. Schwer atmend starrte sie auf ihre Hände. Wie Regentropfen perlte das Rot von ihnen auf den reglosen Dougal ...

»Minerva!«

Dieses Mal war es eindeutig Elphinstone, der nach ihr rief. Sie sah in den leeren Hauseingang – und fand ihn schließlich kniend neben Dougal. Er hielt dessen Oberkörper in beiden Armen, den Zauberstab immer noch in der Hand.

»Bist du wahnsinnig?«

Ihr Mund klappte auf. Kein Ton kam heraus. Dafür verschwamm die Sicht vor ihren Augen. Ihr Blut wurde zu einer farblosen Schliere, das Laternenlicht verblasste zusehends ... Sie wankte leicht. Als sie schon dachte, sie würde es Dougal gleichtun, legte sich etwas Warmes um ihre Schultern.

»Ist ja gut«, murmelte Elphinstone. »Ich halte dich. Gib mir deine Hände –«

Magie strich kribbelnd von ihren Fingerspitzen bis hoch zu ihrem Unterarm. Der schreckliche Schmerz schwand zu einem Pochen, bevor sie ihn überhaupt richtig realisiert hatte. Nur das Blut blieb.

»Phin –«

»Mir geht es gut. Nicht ein Kratzer.«

Sie blinzelte gegen den Schock an. »Wir müssen weg von hier«, sagte sie heiser. »Hogwarts – Albus wollte, dass ich dich informiere ... deshalb bin ich hier, er will ein Treffen abhalten – Aber wir müssen Dougal helfen!«

»Dann nehmen wir ihn mit«, entschied Elphinstone kurzerhand. Er hörte nicht auf ihren Protest, sondern bückte sich erneut zu dem Bewusstlosen. Nach einem gemurmelten Schwebezauber schob er sich Dougals Arm über die Schultern, während er sie an seine andere Seite zog.

Das Letzte, was Minerva von Mayfair sah, war ihr Blut, das sich am Rinnstein sammelte. Dann drückte der enge Schlauch des Apparierens alle Gedanken fort. Nur einer begleitete sich durch die Leere von Raum und Zeit – wie passend, dass es ein regengrauer Montag war, an dem die Welt in Aschenstaub zerfiel.

Asche zu Feuer

Poppy Pomfreys beste Heilsalbe roch wie das Innenleben von Pomonas Gewächshaus Nummer vier. Anders als in echt stach der Diptam allerdings besonders aus ihrer Mischung hervor. Der frische, grüne Duft erinnerte Minerva daran, dass diese Pflanze laut Elphinstone auch in Dougals magiefreier Welt existierte. Sie glaubte dennoch nicht, dass dieser Umstand den unfreiwilligen Patienten in Hogwarts’ Krankenflügel aufmunterte. Ihr war es jedenfalls kein Trost, wenn sie ihre bandagierten Hände so ansah.

Der Schmerz in ihren Handflächen war dank der Bemühungen ihrer Kollegin nur eine ferne Erinnerung – aber ein gehässiger kleiner Teil von ihr wünschte ihn zurück. Vielleicht hätte sie dann keine Energie mehr gehabt, darüber nachzudenken, weshalb das Leben sie derart strafte und ausgerechnet Dougal gewaltsam in den Zauberkrieg stürzte. Statt solcher Erleichterung blieb ihr jedoch nur die Gewissheit, dass sie am Ende ein weiteres Mal alleine mit der Wahrheit zurückbleiben würde. Egal, in welche Geheimnisse Albus ihn einweihte: Dougal musste wieder vergessen.

Seufzend wechselte Minerva den Zauberstab zwischen ihren Händen. Es kostete sie einige Anstrengung, die steifen Finger darum zur Faust zu ballen, während sie die anderen prüfend streckte. Von der See trieb es derart eisige Herbstwinde durch Caithness, dass auch das letzte Kontrollgefühl in ihren Gliedern erstickte. Sie konnte nicht länger sagen, ob ihre Verletzungen schmerzten oder nur die Kälte.

»Salvio Hexia«, führte sie ungeachtet dessen ihre Beschwörungen fort. »Protego horribilis ...« Mit der linken Hand zu zaubern fühlte sich überraschenderweise nicht so falsch an, wie befürchtet. Trotzdem wechselte sie lieber zurück, bevor sie ihren Schutzkreis vollendete.

Die Luft vor ihr flirrte kurz in zartem Blau, dann war der Blick auf das steinerne Cottage dahinter wieder frei. Niemand im Dorf, nicht mal ein Bewohner des Hauses, würde auf die Idee kommen, dass hier fortan Magie wirkte. Dougals Familie merkte ja selbst jetzt nicht, dass Minerva geschützt von einem Desillusionierungszauber durch ihren Garten schlich. Die kleine Mia McGregor saß im hell erleuchteten Wohnzimmer und las seelenruhig in einem Bilderbuch, während ihre Mutter in der Küche mit Elphinstone und Moody sprach – beide in muggelgerechte Mäntel mitsamt Polizeimarke gehüllt, die Minervas Verwandlungswerk waren.

Dass es den McGregors offensichtlich gut ging, hätte sie erleichtern sollen. Immerhin hatten ihre Taten somit Dougals Leben nicht endgültig in Scherben geschlagen. Doch die Furcht, dass dieses Unheil immer noch hereinbrechen könnte, erwies sich stärker.

Minerva schob sich an Wacholderbüschen vorbei näher auf das Haus zu. Vor der Terrasse, die von einem Kräutergarten begrenzt wurde, hielt sie inne. Erneut dehnte sie die Finger, ehe sie abermals ihren Zauberstab hob und einen weiteren Ring aus Schutzzaubern aufnahm. Anstelle der generellen Abwehrzauber gegen Eindringlinge und Böses, die an den äußeren Grenzen des Hofs begannen, widmete sie sich nun filigraneren Bannen. Zuerst zog sie eine Fremdenlinie, die es niemandem ohne Einladung erlauben würde, das Haus zu betreten. Sie konnte nur hoffen, dass die McGregors auch ihre erwünschten Gäste immer höflich hereinbaten, sonst würden sie demnächst einige Verwirrung erleben – aber lieber so, als es den Todessern leicht zu machen.

Hin und wieder blieb die Modifikation ihrer Zauber jedoch unerlässlich, um den Muggeln gerecht zu werden. Schließlich wäre es fatal, wenn die McGregors ihr eigenes Haus nicht mehr fanden, weil ein Muggelabwehrzauber darauf lag. In die meisten gängigen Beschwörungsketten waren diese allerdings fest eingewoben. Häufig reichte es, ein Wort wegzulassen, gelegentlich erforderte die Veränderung hingegen mehr Restrukturierung.

Auch wenn Minerva ihren Zauberfertigkeiten allgemein vertraute, warf sie doch immer wieder einen Blick auf die Ratschläge, welche Albus ihr flink notiert hatte, bevor sie nach Caithness gereist war. Da er als Schulleiter tiefen Einblick in die Geheimnisse von Hogwarts’ ureigener Schutzmagie hatte, waren ihm einige Kniffe eingefallen, die Voldemorts Anhängern hoffentlich gänzlich unbekannt sein würden. Und falls nicht, belegte sie kurzerhand die Büsche rund um das Haus mit einem von ihr ausgedachten Verwandlungszauber.

Zufrieden beobachtete sie, wie die Gewächse ihre Triebe schüttelten und jene frisch zu Fangarmen mutierten Äste, auf denen nun fingerlange Dornen wuchsen, unter dem gewöhnlichen Blattwerk versteckten. Mit einem schmalen Lächeln tätschelte sie die Pflanzenkronen. »Fresst mir nur nicht Dougals Hühner.«

Als sie den Blick wieder hob, sah sie Emmeline über das feuchte Gras auf sie zukommen. Oder viel eher ihren Kopf durch die Luft schweben, denn sie trug noch einen Tarnumhang.

»Wir sind da hinten durch«, verkündete sie und tauschte den Umhang im Laufen gegen einen oberflächlichen Desillusionierungszauber. »Bei der Kirche haben wir ein paar Banne weglassen müssen, damit die Messe wie gehabt stattfinden kann, aber dafür ist deine Mutter auf die grandiose Idee gekommen, eine dieser, äh ... Heiligenfiguren mit einem Aufspürzauber zu belegen. Wenn eine gefährliche magische Substanz in die Kirche gelangt – wie zum Beispiel eine Phiole Dämonsfeuer –, läuft ihr Heiligenschein schwarz an.«

»Damit war mein Vater einverstanden?«

Emmeline zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass sie ihn gefragt hat. Sie meinte jedenfalls, das wäre schon okay.«

Ein »Das hat sie aber nicht zu entscheiden« lag Minerva auf der Zunge, doch sie schluckte es hinunter. Lieber wusste sie ihren Vater geschützt, als dass seine Kirche unangetastet blieb. Wenn es einen Gott gab, würde er ihr diese Ketzerei sicherlich verzeihen. »Danke«, sagte sie also schlicht.

»Dafür sind Freunde da.« Stolz reckte Emmeline den Kopf und warf sich ihren Tarnumhang mit Schwung über die Schulter. »Und in diesen Zeiten müssen wir alle Freunde sein. Dann sind wir nicht verloren.«

Minerva dehnte die Finger am Zauberstab. Sie wusste nicht, woher Emmeline diese Zuversicht nahm – andererseits waren es auch nicht ihre geliebten Menschen, die heute Abend zur Zielscheibe geworden waren.

Obwohl sie nichts antwortete, gab Emmeline ihrem Oberarm einen sachten Knuff. »Das Dorf ist in Sicherheit. Vom Strand bis zum letzten Rübenfeld haben Dädalus und ich alles durchkämmt. Keine Todesser, keine außergewöhnlichen Magiespuren, keine verschwundenen Muggel.«

»Aber es war jemand hier.«

»Ja. Mehrere Muggel haben von einem schwarzgekleideten Herrn erzählt, den sie nie zuvor gesehen haben. Angeblich soll er vorgegeben haben, ein Stück Land erwerben zu wollen. War ein paar Tage hier und hat sich überall rumgetrieben.«

Minerva schnappte nach Luft, doch Emmeline schnitt ihr mit einem Kopfschütteln die Worte ab.

»Er ist definitiv nicht mehr hier. Dädalus hat Spuren einer Disapparation oben auf einem der Felder gefunden, vielleicht 12 Stunden alt. Wahrscheinlich hat der Kerl bei der Gelegenheit Dougal mit nach London genommen.«

»Das ... klingt plausibel«, zwang Minerva sich zu sagen.

Emmelines zahnreiches Lächeln strahlte im Mondlicht, als diese ihr bekräftigend auf die Schulter klopfte. »Ganz recht. Dädalus und ich sind vielleicht keine ausgebildeten Auroren oder sowas, aber wir haben unsere Tricks. Und sollte der Kerl jemals zurückkommen, dann kann er keinen Fuß mehr vor den anderen setzen, so viele Schutzzauber haben wir gewirkt. Caithness ist jetzt wahrscheinlich das sicherste Muggeldorf der ganzen Welt. Vor allem, wenn ich deine Banne so ansehe ...« Lässig schnippte Emmeline mit dem Zauberstab gegen die unsichtbare Barriere und entlockte ihr so ein glockenhelles Summen. »Das ist verdammt solide. Damit könntest du dich selbstständig machen! Weißt du eigentlich, wie viele Zauberer nicht einmal einen gescheiten Muggelabwehrkreis ziehen können?«

»Du hast ja recht.« Mit einem tiefen Atemzug schob Minerva die Schultern zurück. Ihre Augen wanderten gen Sternenhimmel, bei dessen Anblick sie sich erstmals bewusst fragte, ob das ferne Funkeln womöglich doch etwas über ihr aller Schicksal verriet. Sie wusste es nicht; wollte es auch nicht glauben, aber letztlich war es ohnehin egal. Sie musste den vor ihr liegenden Weg so oder so selber beschreiten und konnte höchstens darauf vertrauen, dass ihr das Licht den rechten Weg weisen würde.

»Schätze, Moody und Urquart sind da drinnen auch fertig«, bemerkte Emmeline leise.

Minerva folgte ihrem Nicken in Richtung Haus. Tatsächlich, die Deckenlampe in der Küche war verloschen und kurz darauf hörte man die Haustür ins Schloss fallen. Rasch spürte sie ein letztes Mal ihrem frisch gezogenen Schutzkreis nach, dann folgte sie Emmeline zur Straße, an der Elphinstone und Moody bereits warteten.

»Also ...?«, fragte sie, noch im selben Moment, da sie ihren Desillusionierungszauber abschüttelte.

Moody grollte wie ein Graphorn. »Verflucht, war das ne zähe Befragung!«

Mahnend sah Elphinstone ihn an. »Lieber so, als mit der Tür ins Haus zu fallen und am Ende einen Obliviate bemühen zu müssen.«

Dankbar schenkte Minerva ihm ein Lächeln, für das ihr eigentlich die Kraft fehlte. Moody hingegen schnaubte nur.

»Hat sich eh schon jemand anderes am Kopf der Guten zu schaffen gemacht. Paar Erinnerungen verschleiert, den Rest glattgebügelt ... Bin ein bisschen aus der Übung, was diese Gedankenzauberei angeht, also hab ich kein klares Bild bekommen.« Spiegelbildlich zu Minerva dehnte er die knotigen Finger am Zauberstab. »Aber weder ihr, noch ihrer Tochter wurde irgendeine Form von Gewalt angetan. Auch nichts, was sie vergessen hätt.«

Ganz langsam, wie Blasen, die in einem kochenden Kessel aufstiegen, breitete sich endlich eine gewisse Erleichterung in Minerva aus.

»Wir haben auch das Haus durchsucht und keine versteckten magischen Flüche oder dergleichen entdeckt«, fügte Elphinstone deutlich sanfter an. »Dougals Entführer war offenbar nicht darauf aus, hier Verheerung anzurichten. Seiner Frau gegenüber hat er sich als jemand ausgegeben, der eines ihrer abgelegenen Felder pachten will, so viel konnte ich mit ein paar geschickten Fragen rausfinden. Deshalb ist Dougal überhaupt alleine mit ihm gewesen, für eine Besichtigung.«

»Das ist dann wohl derselbe Mann, von dem du erzählt hast, Emmeline«, stellte Minerva fest. Sie drehte ihren Zauberstab durch die steifen Finger. Ihr neuerliches Seufzen fühlte sich nach der schier endlosen Fortsetzung desselben Geräusches an, das ihr schon seit Wochen immer wieder aus der Kehle schlüpfte. »Dann können wir hier wohl nichts weiter ausrichten ... Vorerst.«

»Richtig, vorerst.« Elphinstone streckte seine Hand nach ihrer und ließ seine Finger über ihren Handrücken gleiten, sodass er sie festhielt, ohne auf die – eigentlich ja verheilten – Schnitte zu drücken. »Apparieren wir zurück?«

»Besser is’ das«, grummelte Moody, »ich brauch ne vernünftige Tasse Tee.«

»Da schließe ich mich an.« Emmeline warf sich den Tarnumhang um. »Ich hol noch Dädalus, dann sehen wir uns gleich!«

 

Zurück in Hogwarts fanden sie alle sich in Albus’ kreisrundem Büro wieder. Inzwischen bevölkerten es weitere Gäste, die bei ihrer ersten Ankunft noch nicht dagewesen waren. Einen rundgesichtigen Mann mit schütterem, weißen Haar erkannte Minerva als Elphias Doge. Er hatte Albus schon öfter besucht, immerhin waren sie Schulfreunde. Ein zweiter, deutlich jüngerer Zauberer – mehr in ihrem Alter – stellte sich hingegen als Edgar Bones vor. Sein Handschlag war derart kräftig, dass sie ein scharfes Zischen nicht vermeiden konnte.

»Oh nein, entschuldigen Sie bitte, Miss – Professor! Schlechte Angewohnheit, ich arbeite in der Gebäudemagie und na ja ... manchmal ist es einfacher, die hartnäckigen Fälle direkt anzupacken. Erst neulich musste ich mit dem Vorschlaghammer eine Wand einreißen, die Opfer eines arg missglückten Raumausdehnungszaubers war –« Er unterbrach sich selber. »Aber das interessiert jetzt natürlich nicht. Albus hat uns grob über die Geschehnisse informiert ...«

»Schon gut Mr Bones, fragil bin ich nun ernsthaft nicht. Und ich habe schon Quaffel gefangen, die mehr gezwiebelt haben.« Minerva rang sich ein schmales, aber hoffentlich besänftigendes Lächeln ab.

Ihr war augenblicklich alles gleichgültig – was wirklich zählte, war Elphinstone, der einen halben Schritt hinter ihr stand, seine Hand an ihrem unteren Rücken. Die Wärme seiner Berührung erinnerte sie daran, dass er zum Glück (und wie durch ein Wunder) nicht verletzt war. Zumindest nicht körperlich.

Vor der Weiterreise nach Caithness hatte sie noch versucht, ihn zum Bleiben in Hogwarts zu überreden, aus Angst, dass sie im Dorf in einen Hinterhalt geraten könnten. Natürlich war er zu stolz gewesen. Stattdessen hatte er zu ihrem Ärger – und auf Albus’ Anraten – Moody dazu verdonnert, seinen Leibwächter zu spielen.

Genau der schnalzte jetzt seinen Zauberstab gegen Albus’ Schreibtisch, dass es knallte. Augenblicklich kehrte Ruhe unter den tuschelnden Anwesenden ein.

»Danke, Alastor.«

Alle Köpfe einschließlich Minervas flogen zur Tür herum. Im Rahmen stand Albus, ein müdes Lächeln im Gesicht. Die Augen hinter seiner Halbmondbrille funkelten im Licht, anstatt harte Saphire zu sein. Das musste ein gutes Zeichen sein –

Er nickte ihr zu. »Erfreuliche Neuigkeiten – Mr McGregor ist wieder sein perfektes Muggelselbst. Ein bisschen durchgerüttelt und leider erinnert er sich an nichts Nennenswertes, aber davon abgesehen sind alle Sachen in seinem Kopf wieder am rechten Platz.«

Minerva erwiderte Albus’ Geste, bemüht, sich ihre wild durcheinanderstürzenden Gefühle nicht anmerken zu lassen. Es reichte schon, dass sie den mitleidigen Blick Edgar Bones’ auf sich spürte.

»Was war es denn schlussendlich, das Dougal so übel mitgespielt hat, wissen wir wenigstens das?«, fragte Elphinstone an ihrer Stelle, während er verstohlen mit den Fingerspitzen ihren Nacken streichelte.

»Ganz wie befürchtet der Imperius-Fluch«, sagte Albus und ging zu seinem Schreibtisch, wo er sich neben Moody gegen die Tischplatte lehnte. »Allerdings beeinflusst durch einen Liebestrank. Eine unschöne Mischung, die weder mir noch Poppy je untergekommen ist. Insbesondere da es sich nicht um einen dieser halbgaren Tränke gehandelt haben dürfte, die zu meinem Betrüben immer noch freiverkäuflich sind.«

»Dann war es ... Amortentia?«

»Horace befürchtet es. Zumindest hat das erste Gegenmittel nicht angeschlagen, was er üblicherweise für die ein oder anderen übermütigen Schülerexperimente aufbewahrt. Poppy und er mussten den Trank zunächst noch verfeinern. Der Imperius hingegen war zum Glück schon durch großen Schock oder Ähnliches gebrochen, als ihr hier eingetroffen seid.«

Minerva erschauderte bei dem Gedanken an Dougals entsetzten Ausdruck, kurz bevor Elphinstones Zauber ihn geschockt hatte. Also war ihr beherzter Griff in die Klinge wenigstens zu etwas gut gewesen.

Emmeline ihr gegenüber rümpfte die Nase. »Imperius und Amortentia. Zwei so mächtige Dinge, die beide Einfluss auf die Psyche nehmen – da ist doch klar, dass es zu unvorhergesehenen Wechselwirkungen kommt. Und dann auch noch angewandt bei einem Muggel, bewaffnet mit einem Dolch! Was für ein Stümper hat bloß diesen Plan ausgeheckt? Man kann doch nicht wirklich davon ausgehen, so ein Mitglied der Strafverfolgung aus dem Weg zu räumen!«

»Ich würde nicht von einem Stümper, sondern viel eher einem Forscher sprechen«, erwiderte Albus ruhig. »Ich vermute, dass es kaum um den konkreten Erfolg Mr McGregors ging. Vielmehr wollte man diese Wechselwirkung erproben – und wahrscheinlich hat man die widerstreitenden Gefühle Mr McGregors dabei genossen.« Er sah zu Minerva. »Genauso wie deinen Schmerz.«

Sie schnaubte. »Das würde zu den Lestranges passen. Immerhin ist Dougals Waffe definitiv Bellatrix’ Dolch gewesen. Den würde ich überall wiedererkennen. Auch wenn ich nicht begreife, woher sie und Rodolphus wissen sollten ... Ich meine, nur du, Albus, und Phin wissen von ...« Um Worte verlegen, ballte sie ihre Faust, bevor sie die Finger wieder streckte. Da durchzuckte es sie, wie der Wundschmerz ihre Handfläche. »Nein, wartet, das stimmt nicht! Mulciber weiß es noch.«

Elphinstone hinter ihr versteifte sich.

»Unfreiwillig«, ergänzt sie rasch. »Er war in meinen Gedanken, als wir vor knapp drei Wochen zusammen im Fahrstuhl standen. Er ... hat mich damit aufgezogen.«

»Dieser ...« Sie hörte Elphinstone geräuschvoll ein- und ausatmen. Gleichzeitig nahm er die sanften Kreisbewegungen in ihrem Nacken wieder auf. »Nun, Mulciber ist menschlich gesehen ein Arsch, ohne Frage, aber ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass er hiermit etwas zu tun hat. Er hat uns schließlich bei den Ermittlungen geholfen und sogar im Ministerium gekämpft. Außerdem war ich persönlich dabei, als er überprüft wurde. Seine Unterarme sind so blütenweiß wie seine Hemden und die Aussage war tadellos.«

Nun war es an Albus, sich zu straffen. Der Ausdruck in seinen Augen verhärtete sich merklich, sodass sie dem Saphir vom Morgen wieder nahekamen. »Dennoch wissen wir ebenso, dass Mr Mulciber dem jungen Voldemort in seiner Schulzeit nahe war. Sehr nahe. Eine Nähe, die über einen geteilten Schlafsaal und gemeinsame Unterrichtsstunden weit hinausging. Und Gideon Rosier, dem es ganz ähnlich erging, ist als Todesser gestorben.«

In Gedanken bei der Erinnerung, die Albus ihr gezeigt hatte, nickte Minerva langsam. Doch Elphinstone gab nicht bei.

»Das Ansinnen Rosiers« – er spuckte den Namen verächtlich aus – »sagt nichts über Mulciber aus.«

»Natürlich nicht.« Albus neigte den Kopf. »Allerdings lassen sich gewisse Muster nicht von der Hand weisen. Und in diesen Zeiten ist Vorsicht wichtiger denn je.«

Zustimmend schlug Moody den Zauberstab in seine freie Handfläche.

Elphinstone hingegen hielt erneut inne. »Ich habe Mulciber ausgebildet«, sagte er, wobei er jede Silbe deutlich betonte. »Bei all seinen Fehlern, ich habe keinem grausamen Mann zu seinem Posten verholfen!«

»Grausam vielleicht nicht, aber selbstsüchtig«, brummte Moody in die aufkommende Stille. »Das ist oft schlimmer. Für einen Knut würde er dich wahrscheinlich mit Kusshand verkaufen.«

Minerva hörte Elphinstone leise seufzen. Am liebsten hätte sie ihn auf der Stelle gedrückt, auch wenn sie hinsichtlich Mulciber gespaltener Meinung war.

»Nun, vielleicht kann ich einen anderen Gedanken anbringen?«, warf in diesem Moment Dädalus ein. »Von Minervas ... Bekanntschaft mit Mr McGregor könnten die Lestranges schließlich auch direkt in Caithness erfahren haben, nicht? Irgendwer hat sich ja definitiv bei den Muggeln umgehört, so ein junger, dunkelhaariger Kerl – das könnte Rodolphus gewesen sein.«

Albus strich bedächtig seinen Bart. »In der Tat, das erscheint mir entgegen allen persönlichen Verdächtigungen wie die plausible Erklärung. Man müsste nur deine Biografie in einer alten Ausgabe Verwandlung heute gelesen haben, um darauf zu kommen, wo du geboren bist, Minerva. Der Rest wäre dann, in Ermanglung eines besseren Wortes, Fleißarbeit.«

An diese Erklärung hatte sie selber noch nicht gedacht, doch nun lag sie so offensichtlich vor ihr, dass sie beinahe laut gelacht hätte. Natürlich rächte sich der Stolz auf ihre Forschungen ausgerechnet so – an den beiden Menschen, die sie dafür zurückgelassen hatte. Oder in Elphinstones Fall zumindest fast zurückgelassen hätte.

»Außerdem ist da noch etwas anderes ...«, fuhr Albus fort. Begleitet von einem Seufzen zog er ein Pergament aus seinem Umhang. »Das hier trug Mr McGregor bei sich. Du solltest es lieber selbst lesen.«

Die Seite schwebte durch die Luft zu ihr. Mit zitternden Fingern griff sie danach. In weitschweifender, altmodischer Handschrift standen genau drei Zeilen darauf:

Betrachtet dies als Anfang. Hiernach gilt – ein geliebtes Leben wird der Tod nehmen, für jeden treuen Diener, der mir entrissen wird. Handelt weise oder seht eure Welt erstickt in Asche.

Schon wieder hielten Elphinstones Fingerspitzen mitten in der Bewegung inne. »Ist das ...?«

»... Voldemorts Handschrift?«

Alle sahen sie zu Albus, der sacht nickte. »Nach unzähligen Aufsätzen in Verwandlung, die ich korrigieren durfte, möchte ich meinen, dass sie das ist.«

Begehrlich streckte Moody die Hand in Richtung des Pergaments aus. »Möglicherweise sind da Spuren dran!«, knurrte er – doch Albus schüttelte noch im selben Moment den Kopf.

»Dafür war Tom seit jeher zu schlau.«

Minerva empfand nicht wenig Lust, das Pergament in Flammen aufgehen zu lassen. Oder es zumindest zu zerknüllen ...

»Was steht denn nun drauf?«, fragte Emmeline in forschem Tonfall.

Stumm reichte Minerva den Schrieb weiter. Während die anderen tuschelnd ihre Köpfe zusammendrängten, lehnte sie sich stärker gegen Elphinstones Seite. »Es tut mir so leid ...«, hauchte sie. »Du hättest schon wieder sterben können – nur wegen mir!«

»Nicht wegen dir.« Er schüttelte den Kopf. »Wegen Voldemort. Er alleine ist schuld.«

Von seinem Schreibtisch aus schenkte Albus ihr einen durchdringenden Blick, der das Gleiche zu sagen schien.

»Voldemort und seine Todesser wollen dich damit nur verletzen«, fuhr Elphinstone leise fort. »Uns verletzen. Er will, dass wir Angst vor ihm haben.«

Sie unterdrückte ein Schniefen. »Und es funktioniert. Ich kann dich nicht verlieren. Nicht so. Dann bin ich halt schwach, es ist mir egal. Ich habe Angst um dich!«

Er malte ein Herz in ihren Nacken. »Lass uns später darüber sprechen, ja? Wenn wir alleine sind.«

Sie zuckte unbestimmt mit den Schultern, doch er ließ sich nicht beirren, sondern drückte einen knappen Kuss auf ihre Wange.

Derweil waren die anderen mit ihrem Studium des Pergaments fertig. Betreten senkte Emmeline das Blatt.

»Dabei geht es nicht nur um die beiden – er meint uns alle, nicht wahr?« Ihre Stimme klang nach wie vor fest, doch der Tonfall hatte sich verschoben.

»Davon können wir wohl ausgehen«, erwiderte Albus. Er legte seine Hände Fingerspitze für Fingerspitze aneinander, während er um seinen Schreibtisch herumging und durch das runde Dachfenster dahinter in die Nacht hinaussah. »Ich gebe es nicht gerne zu, doch er ist unserem Treffen heute Abend zuvorgekommen. Ich verstehe es, wenn das euer aller Bereitschaft hindert –«

»Niemals!«, platzte es aus Emmeline hervor. Sie knallte Voldemorts Warnung auf die Tischplatte. »Und wenn die Planeten sich andersrum drehen, ich ergebe mich dem Mistkerl nicht! Mein Widerstand brennt bis zur letzten Flamme!«

Von überall kam Zustimmung.

»Wir müssen etwas tun! Alleine der heutige Abend beweist das doch! Das Ministerium kann der Lage unmöglich alleine Herr werden«, meldete sich überraschend wortgewaltig Edgar Bones zu Wort. »Verzeiht« – er warf einen Blick zu Elphinstone und Moody – »aber es ist nur die Wahrheit. Sie beide haben heute Abend nicht einmal in Ihrer offiziellen Rolle gehandelt, sondern nach Ihrem eigentlichen Feierabend. Und das ganz sicher nicht so, wie es das Protokoll vorsieht, oder?«

Elphinstone verlagerte sein Gewicht. Minerva spürte genau, wie er die Brust raus schob und die Schultern zurückzog. Es war ein Leichtes, sich den Ausdruck in seinem Gesicht vorzustellen.

»Das mag sein«, sagte er, »aber es handelte sich schließlich auch um einen sehr persönlichen Notfall. In sämtlichen anderen Angelegenheiten bin ich mir sicher, dass meine Kolleginnen und Kollegen – genau wie ich – alles tun würden –«

»Was die Ministerin erlaubt.« Moody trommelte kopfschüttelnd mit dem Zauberstab in seine Handfläche. »Für die Befragung von einer Muggelfrau hätten wir erstmal einen Beschluss erwirken müssen, selbst unter Jenkins’ neuem Kriegsrecht. Bis dahin wären wahrscheinlich die letzten Spuren unwiederbringlich verloren gewesen. Von den Schutzzaubern, die Emmeline und Dädalus über ein Muggeldorf gezogen haben, ganz zu schweigen.«

»Dennoch wäre es falsch, dem Ministerium Handlungsunfähigkeit vorzuwerfen! Wir können eine Menge bewegen, wir müssen nur zuerst den rechten Weg finden, der Bedrohung durch Voldemort möglichst effektiv zu begegnen«, hielt Elphinstone dagegen.

»Daran zweifelt niemand«, mischte sich nun auch noch Elphias Doge ein, der klang wie ein pfeifender Teekessel. »Aber es ist ebenso Fakt, dass unter euch Beamten mindestens ein Spion steckt. Egal, was eure wunderbaren Tests angeblich ergeben haben und wie viel Ihr von einem wie Alston Mulciber haltet! Wir können uns nicht alleine auf die Strafverfolgung verlassen, sonst hat Voldemort leichtes Spiel, wenn er alle Züge gegen ihn schon vorher erfährt!«

Minervas Blick glitt zu Albus. Es kam ihr verdächtig vor, dass er kein Wort sagte, wo er sonst nie um Meinung verlegen war und noch weniger an Machtwörtern sparte. Sofort erkannte sie, weshalb – er stand neben Fawkes’ leerer Vogelstange und ließ die Asche darunter durch seine Finger rieseln. Ungewöhnlich deutliche Denkfalten zierten seine Stirn.

Als würde er ihre Beobachtung spüren, hob er den Kopf und sah sie geradewegs an. In Momenten wie diesen hätte es sie nicht gewundert, plötzlich seine Stimme in ihren Gedanken zu hören, so intensiv war sein Blick. Grimmige Entschlossenheit ergriff sie.

»Wenn wir jetzt in Uneinigkeit zergehen, hat Voldemort schon gewonnen!«, rief sie, ungeachtet der Tatsache, dass sie Elphinstone, der gerade zu einer Erwiderung an Doge anhob, damit das Wort abschnitt. Das Kinn vorgeschoben, löste sie sich von ihm – aber nicht, ohne seine Hand vorher einmal zu drücken. »Was zählt, ist, dass wir alle diesen Krieg gewinnen wollen. Müssen! Also sollten wir ihn auch an beiden Fronten führen. In Namen der Gerechtigkeit und im Namen dessen, was notwendig ist!«

Albus’ Mundwinkel zuckten empor.

Ermutigt verschränkte sie die Arme hinter ihrem Rücken und musterte das Menschenknäuel rund um Edgar Bones durchdringend. »Wir haben dank Albus’ sorgfältiger Auswahl die einmalige Gelegenheit, uns im Kreis von Menschen zu befinden, denen wir bedingungslos vertrauen können. Es mag sein, dass es im Ministerium einen Verräter gibt, doch das heißt nicht, dass wir mit Rücksicht auf dieses Wissen nicht von beiden Seiten an Voldemorts Sturz arbeiten können – Hand in Hand.«

»Schön gesprochen, Minerva«, sagte Albus. »Und ich möchte doch zustimmen. Wir brauchen das Ministerium. Genauso wie es uns brauchen wird, auch wenn es das noch nicht glauben mag.«

»Uns?«, platzte es aus Emmeline hervor. »Was sind wir denn überhaupt?«

»Ahhh ...« Albus zwinkerte. »Davon hätte ich heute eigentlich sprechen wollen, bevor Voldemort uns so unhöflich davon abgebracht hat. Aber vielleicht ist dieser letzte Test auch nicht verkehrt, um zu sehen, wo wir wirklich stehen.«

»Immer hinter dir, Albus«, fiepte Doge kurzatmig und fing sich damit begeistertes Nicken der anderen ein.

Minerva sah zu Elphinstone, der eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen trug. Auch er nickte, nur bedächtiger.

»Das Engagement rührt mich«, gab Albus zu, »aber nicht ich bin es, hinter dem irgendjemand stehen sollte. Wir sehen doch an Voldemort, wie gefährlich es ist, wenn alle sich dem Wahn eines Einzelnen anschließen.« Erneut ließ er Phönixasche durch die langen Finger rieseln.

Unerwartet lächelte Elphinstone. »Ich würde vorschlagen, uns hinter einem gemeinsamen Zweck zu vereinen. Den haben wir ja ohne Frage. Wie Emmeline es so schön sagte – Widerstand bis zur letzten Flamme. Egal wofür jeder Einzelne von uns brennt oder an welchem Ort wir unser Licht scheinen lassen, zusammen können wir das Feuer am Leben halten.«

Andächtige Stille senkte sich. Dann nieste jemand. Zumindest klang es so, nur ungewöhnlich hoch für einen Menschen. Und das war nicht alles – die Asche in dem Schälchen unter Fawkes’ Stange glühte plötzlich auf, als wäre sie frisch gefallen.

»Ah, was für ein passender Zeitpunkt ...« Albus pustete sacht ein paar Glutnester beiseite. Erst jetzt erkannte Minerva Fawkes – oder zumindest das, was von dem Phönix nach Voldemorts Todesfluch gegenwärtig übrig war. Dichter, oranger Flaum durchzogen von spärlichen dunkelroten Federn bedeckte das kaum zwei Wochen alte Küken, welches nun auf die ausgestreckte Hand seines Begleiters hüpfte. Erneut nieste Fawkes.

Dieses Mal sah Minerva die goldenen Funken aus seinem Schnabel stieben. Knisternd glitten sie über das magere Gefieder des Phönix und vor ihren Augen ... fing Fawkes Feuer.

Mit einem Krächzen breitete er seine hageren Flügel aus, schlug einmal kräftig – und noch reichlich wacklig erhob er sich, getragen von einem Flammenschweif, in die Lüfte. Es war nicht derselbe Anblick wie das mühelose Gleiten eines ausgewachsenen Phönix, doch das machte den Moment nur imposanter. Minerva starrte Fawkes mit offenem Mund an. Wer erlebte schon den ersten Flug eines gerade wiedergeborenen Phönix?

»Mir scheint, als würde Fawkes Ihnen zustimmen, Mr Urquart«, meinte Albus vergnügt. »Und das will einiges heißen, schließlich ist er viel weiser, als ich mir je anmaßen würde von mir zu behaupten.« Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, beobachtete er Fawkes’ schlingernden Anflug auf seine Vogelstange – von welcher der Phönix prompt abrutschte und einer Fledermaus gleich kopfüber herabhing. Schmunzelnd stupste Albus ihn wieder nach oben. »Und ich stimme zu – wenn Voldemort Asche sät, dürfen wir uns nicht verstecken. Angst ist der erste Schritt zu einem Leben in Gefangenschaft.«

Minerva spürte die Mahnung in seinen Worten. Schlimmer noch, sie wusste, dass er recht hatte. Besser gesagt: ihr Kopf wusste es. Er wollte kämpfen. Nur ihr Herz schien niemand informiert zu haben. Denn das verkrampfte sich beim bloßen Gedanken an den Preis, den ihr Widerstand haben könnte. Sie hatte alles zu gewinnen – aber auch alles zu verlieren.

Von diesem Ringen in ihrem Inneren bekam Albus allerdings nichts mit. Er wandte sich nun wieder an die gesamte Runde. »Wir sollten überlegen, wie genau unser weiteres Vorgehen strukturiert wird. Aber um endlich die Frage zu klären, wer wir sein sollten – was haltet ihr vom Orden des Phönix?«

 

Das Ende dieser – wohl historischen – Versammlung ließ Zuversicht, Entschlossenheit, Angst und Nervosität alle auf einmal in Minerva durcheinanderstürzen. Unter den Verbänden schwitzten ihre Hände inzwischen fürchterlich und immer wieder ertappte sie sich auf dem Weg zum Krankenflügel dabei, an der juckenden Mullbinde zu kratzen. Sie konnte es nicht erwarten, dass Poppy sie endlich davon befreite. Die Konfrontation mit Dougal hingegen ...

Sie seufzte. Es war fies, aber ein ganz ungryffindorhafter Teil von ihr (den sie niemals ans Tageslicht lassen würde) wollte am liebsten darauf verzichten.

»Ich bin sicher, es wird alles halb so schlimm«, murmelte Elphinstone an ihrer Seite. Er blieb stehen und sah die hohen Türen des Krankenflügels vor ihnen empor. »Die Überwindung ist das Schwerste. So ging es mir zumindest, als ich das erste Mal nach der Trennung so richtig ehrlich mit Archie gesprochen habe. Aber danach – ich denke, danach wird alles leichter. Immerhin ist es auch eine Chance, einmal offen mit Dougal sprechen zu können, oder?«

»Schon ...« Ihre Mundwinkel vollführten einen eigenartig zittrigen Tanz zwischen Lächeln und Traurigkeit. »Wenn ich nur wüsste, was ich ihm überhaupt sagen will. Nach allem, was mein Verhalten für ihn bedeutet hat ...«

Elphinstone lächelte sanft. »Du wirst die richtigen Worte finden, das weiß ich.«

»Und du ...?«

»Ich werde hier warten und versuchen, die richtigen Worte für dich zu finden. Immerhin haben wir auch ... eine Menge zu besprechen.«

Minerva verschlang die Hände vor ihrem rebellierenden Unterleib. »Kann ich dich wenigstens noch einmal umarmen, bevor ich reingehe?«

»Natürlich. Da musst du doch nicht fragen.«

Einladend breitete Elphinstone seine Arme aus und sie schob die ihren unter seinen Umhang, weil diese zusätzliche Schicht Stoff ihr schon zu viel Distanz war. Lieber vergrub sie die Finger in seinem Hemd, während sie seine Stärke einatmete.

»Dir ist bewusst, dass du mein Schnatzfang bist?«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Er gluckste leise. »Dein ... Schnatz? Etwa weil ich klein, blond und rund bin?«

»Nein«, erwiderte sie ernst. »Ich meine – dass ich dich liebe, das weißt du?«

Für einen Moment regte Elphinstone sich nicht. Selbst sein Herzschlag schien ausgesetzt zu haben. Schließlich aber nickte er und weit hinten aus der Kehle entschlüpfte ihm ein Geräusch, das an den verschnupften Nessie erinnerte.

»Dann ist ja gut.«

»Ist es wirklich«, sagte er mit belegter Stimme. »Manchmal will mir mein Unterbewusstsein etwas anderes einreden, aber dann ...« Er vergrub sein Gesicht tief in ihrem Haar, sodass sein Atem über ihren Hals darunter strich und Gänsehaut auslöste. »... denke ich daran, wie du mein Herz mit deinem Feuer entflammst und ich komme mir einfältig vor, weil ich je gezweifelt habe.«

Anstatt zu antworten, drückte sie ihn einfach fester. Mit den Fingerspitzen malte sie ein Herz in die Mitte seiner Schulterblätter und genoss die Stille zwischen ihnen, die pure Gewissheit war. Doch allem Verlangen nach seiner Umarmung zum Trotz war es bald an der Zeit, sich zu lösen. Ein letzter Blick zurück bestärkte sie, bevor sie die Tür zum Krankenflügel aufdrückte und hindurchtrat.

Sofort schlug ihr Poppys Stimme entgegen – freundlich, aber gewohnt resolut. »Ich versichere Ihnen, es ist völlig unbedenkliche Schokolade, Mr McGregor.«

»Ah, nun ... ich glaube, das tut trotzdem nicht not –«

Es gab einen überraschten Schrei und aus dem Nichts sprang ein dunkelbrauner Schatten geradewegs auf Minerva zu. Geistesgegenwärtig zog sie den Zauberstab. »Arresto Momentum!«

Der Übeltäter blieb mitten in der Luft hängen, alle viere von sich gestreckt. Aus großen, nicht-sehenden Augen starrte der bis zur Reglosigkeit verlangsamte Schokofrosch sie geradezu vorwurfsvoll an. Im Hintergrund seufzte Poppy.

»Darum sagte ich, packen Sie gut zu. Die Frösche schaffen nämlich nur einen richtigen Sprung, bevor die Magie verfliegt – aber der bringt sie verflixt weit. Ah, nun gut, man kann ihn jetzt ohnehin besser essen. Und das sollten sie, Mr McGregor! Ihr Kreislauf braucht etwas Zucker, um nach dem Fluchschock wieder in Schwung zu kommen.«

»Danke, aber ich verzichte«, hauchte ein ungewohnt blasser Dougal.

Er saß auf der Kante eines Bettes in der ersten Reihe, die unverkennbare fünfeckige Schokofroschschachtel in den Händen. So wie Minervas Zauberstab zitterte, bebte auch die mit goldenen Verzierungen geschmückte Pappe.

»Minerva ...«

»Hallo Dougal.« Plötzlich beschämt wegen ihres Zaubers, schnappte Minerva den Schokofrosch mit bloßen Händen aus der Luft und reichte ihn – immer noch in der Bewegung gefangen – der verdutzten Poppy. »Ich glaube, ich finde schon etwas anderes für ihn«, sagte sie leiser an die Heilerin gewandt. »Etwas Nicht-magisches.«

Poppy schnalzte mit der Zunge, aber ein Lächeln schimmerte in ihren blauen Augen. »Das wäre gut, denn er weigert sich standhaft, einen Stärkungstrank zu nehmen.« Mit diesen Worten spazierte sie in ihr Büro und schloss auf einen Stabschlenker hin die Tür.

Das erwartungsvolle Schweigen wog in Abwesenheit von ihr nur schwerer auf Minervas Schultern. Ein paar Augenblicke lang sah sie Dougal einfach nur an. Sein wahrscheinlich selbstgestrickter Pullover aus Schurwolle, die Arbeitshosen und natürlich die Gummistiefel wirkten schlicht falsch vor der Kulisse deckenhoher Buntglasfenster, die allesamt magische Szenen zeigten. Ganz zu schweigen von der Schokofroschkarte, die er nun in die Hand nahm.

»Morgana«, las er leise vor. Er schüttelte den Kopf. »Morgana ...« Unvermittelt schreckte er wieder hoch, als hätte er zwischenzeitlich vergessen, dass Minerva dastand wie ein begossener Crup.

»Gibt es von dir auch so eine Karte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber von Albus – also Professor Dumbledore.«

»Ah.« Dougal nickte, als würde das alles erklären. Doch seine Stirn voller Falten verriet ihn. »Pionierin der Magie ...«, murmelte er, während er mit den Fingern über die Sammelkarte von Morgana strich. Dann gab er einen Laut von sich, der nach einem kaputten Quietschspielzeug für Kniesel klang. »Himmel, Minerva ... ich wusste immer, dass an dir etwas ganz und gar außergewöhnlich ist. Aber ich bin ehrlich – ich dachte eher, es lag an meiner Liebe zu dir, als an ...« Vage gestikulierte er durch den Krankenflügel. »... sowas hier.«

Verlegen sah sie auf ihren Zauberstab hinab. »Ich bin nicht ...« Sie fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Schläfen und hob noch einmal neu an. »Es tut mir sehr leid, dass du es so erfahren musst.«

Zu ihrer Überraschung lächelte Dougal. Schwach, aber erkennbar. Mit einer Hand klopfte er neben sich auf das Bett. »Lass uns reden.«

»Dougal ...«, hörte Minerva sich selber wie durch dicke Watte sagen, »es ist in Ordnung, wenn du mir Vorwürfe machst. Wirklich, du musst nicht so tun, als wäre das hier alles in bester Ordnung. Ich weiß, dass es das nicht ist.«

»Weißt du das wirklich?« Erneut tappte Dougal auf die Matratze neben sich.

»Ich kenne dich doch –«

Dougal seufzte sanft. »Kanntest. Minerva, wir kannten uns. Aber du bist nicht mehr das Mädchen, was ich einst heiraten wollte – oder warst es viel eher nie – und ich ... ich bin auch nicht mehr der Junge von einst. Etwas, das du mir zum Glück in Erinnerung gerufen hast. Ich bin jetzt ein Vater, führe meinen eigenen Hof ...« Er legte die Stirn in zusätzliche Falten und winkte zögerlich der bewegten Illustration von Morgana auf seiner Schokofroschkarte. »Ich meine – hättest du es für möglich gehalten, dass ich mal anfange, Ölmalerei für mich zu entdecken?«

»Du ... malst?«

»Jap.« Regelrecht konzentriert kippte Dougal Morganas Karte auf den Kopf. Ein Schmunzeln zupfte an seinen Lippen. »Wenn ich sehe, wie die Gute mit den Augen rollt, wünschte ich fast, meine Bilder könnten sich auch bewegen. Aber gut, meist male ich eh nur Landschaften. Felder bei Sonnenaufgang oder so, der ganz allgemeine Dorfkitsch halt. Nichts, was diese Magie wert wäre, schätze ich.«

Sprachlos beobachtete Minerva ihn dabei, wie er auf alle erdenkliche Arten versuchte, Morgana weitere Reaktionen zu entlocken. Und bevor sie ihren Kopf davon überzeugt hatte, trugen ihre Schritte sie bereits die letzten Meter zum Bett. Den Rücken gerader durchgedrückt als den Stiel eines nagelneuen Sauberwischs, setzte sie sich in einigem Abstand neben ihn.

In einer Tasche ihres Rocks fand sie einen (etwas angeschmolzenen) Penguin-Riegel, den Robbie ihr bei einem der letzten Besuche gegeben hatte. Stumm schob sie ihn zu Dougal. Anstatt sich auf die Schokolade zu stürzen, griff er allerdings nach ihrer Hand. Behutsam nahm er sie in die seine und strich über die Rückseite ihrer Finger.

»Habe ich dich sehr schlimm verletzt?«

»Du hast mich gar nicht verletzt. Und nein, es ist nicht sehr schlimm. Die Klinge war zwar vergiftet, aber das meiste Gift hat der Regen weggewaschen. Also ist es schon verheilt.« Zum Beweis zog Minerva den Verband ein Stück zurück. Von ihren Wunden war nur das zarte Rosa frischer Haut übrig.

»Wow«, hauchte Dougal. »Wenn man mich nicht längst von der Existenz der Magie überzeugt hätte, dann wäre ich es spätestens jetzt.« Fragend hielt er seine leere Handfläche neben ihre und machte leise »Mh?«.

Einen Herzschlag lang erstarrte Minerva genau wie der Schokofrosch unter ihrem Lähmzauber. Doch dann schüttelte sie die Sorgen aus ihrem Kopf und legte ihre Hand in Dougals. Im Vergleich zu früher war seine Haut rauer, das fiel ihr gleich auf. Neue, kleine Narben erhoben sich an seinen Fingern und trotzdem war die Berührung genauso vertraut wie sein Lächeln.

»Wie kannst du nur so ruhig bleiben?«, fragte sie fast flüsternd.

Dougal zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Eure äh ... Ärztin sagt, das wäre der Schock. Wahrscheinlich würde das Verarbeiten erst sehr viel später einsetzen – aber so lange habe ich natürlich nicht. Mr Dumbledore hat mir erzählt, dass ihr einen Zauber habt, der einen vergessen lässt. Und dass er den bei mir benutzen muss, wenn es keinen Ärger geben soll.«

Die Erinnerung daran, dass Dougal sie erneut mit der Wahrheit alleine lassen würde, stach Minerva schlimmer als der Biss der Dolchklinge. »Du hättest aber mehr verdient, schon vor Jahren ...«

»Da will ich nicht widersprechen. Vielleicht hätte es mir ja gefallen, normale Magie kennenzulernen. Aber ich will ehrlich sein – ich finde es dennoch gut so, wie es vorher war. Ich mag mein langweiliges Leben. Und ... damit das so bleibt, habe ich nichts dagegen, zu vergessen. Nicht nachdem ich heute ...« Er schluckte hörbar. »Ich will mich nicht daran erinnern müssen, wie es sich anfühlt, einen anderen Menschen umbringen zu wollen.«

»Das warst doch nicht du!«

»Es fühlte sich aber so an. Fühlt es sich immer noch!« Dougal schlug die Hand mit Morganas Schokofroschkarte an seine Brust. »Hier drin pulsiert immer noch die Erinnerung an den Hass gegenüber einem Menschen, den ich nicht mal wirklich kenne! Warum sollte sich irgendwer an so etwas erinnern wollen?«

»Ich ...« Hilflos rang Minerva nach Worten. Sie wusste schließlich weder, wie sich ein Liebestrank noch der Imperius anfühlte ... Wobei – ausgerechnet jetzt drängte sich ihr wieder der leere Blick auf Arrnds Gesicht in den Kopf. Für den sie verantwortlich gewesen war. »Es tut mir so leid«, würgte sie hervor. »Ich verstehe, dass du das vergessen willst, wirklich ...«

Angesichts ihres Gestammels gewann Dougals Ausdruck wieder an Sanftheit. »Du kannst doch auch nichts dafür. Mr Dumbledore hat das wirklich sehr nett erklärt mit diesem ... Inperi-irgendwas-Fluch und den Leuten, die dahinterstecken. Trotzdem ... das war einfach viel zu real. Wie könnte ich meiner Tochter noch in die Augen sehen, wenn ich weiß, dass ich das in mir trage?« In seinem Blick schwammen Tränen, als er sie ansah. »Außerdem will ich genauso wenig wissen, dass ich ein wehrloser, dummer Bauer bin.«

»Du bist mehr als das!«

»Aber ich kann nicht zaubern. Und sei ehrlich – das ist der Grund, weshalb du mich damals nicht heiraten konntest, oder? Wir ... gehören in zwei verschiedene Welten. Das sehe ich jetzt.«

Sie saß da und sah einen Augenblick ins Nichts. Erst langsam, dann kräftiger rieb sie Dougals Handrücken mit dem Daumen. »Ich hatte Angst«, wisperte sie in die Leere des Krankenflügels. »Genau wie jetzt. Nicht um mich, um dich. Wegen deiner Liebe und dem, was sie dir antun könnte. Ich wollte dir dieses Leben im Geheimen nicht aufbürden. Ich wollte dich nicht verändern. Ich wollte dich lieben, so wie du bist – weil du auch ohne Magie vollkommen bist! Aber ... ich konnte mich selber ohne Magie nicht lieben.«

Ganz sacht drückte Dougal ihre Hand zurück. »Ich ... verstehe das. Denke ich. Du brauchst jemanden, der auch dich liebt, wie du bist, voller Magie und Wunder. Der dich versteht. An dessen Seite du über dich hinauswachsen kannst.«

Minerva lächelte schwach. Ein wenig fühlten sich die Worte nach den kitzelnden Morgenstrahlen der Sonne an. »An der Zeit mit dir bin ich auch gewachsen«, erwiderte sie bestimmt. »Du hast mir gezeigt, worin wahre Liebe besteht. Und das ist eines der schönsten Geschenke, die du mir hättest machen können. Das ersetzt keine Magie der Welt.«

Sie konnte dabei zusehen, wie sich die erste Träne aus Dougals Augen löste und über seine Wange rollte. Es war, als sähe sie in einen Spiegel. Weinend schauten sie sich an, bis das viele Salz endlich die morschen Seile zerfraß, die sie zurückhielten, und sie einander in die Arme zogen.

Auch Dougal roch nach Pflanzengrün, Natur, der schottischen Weite. Vertraut und dennoch völlig anders als Elphinstone. Da war der Duft von Farben an seiner Kleidung und ein starker Tiergeruch, der sie irritierte. Trotzdem half es, sich von ihm hin und her wiegen zu lassen, während ihre Tränen in seinem Pullover versickerten.

»Du bedeutest mir immer noch eine Menge«, flüsterte sie in die kratzigen Fasern hinein. »Das wird sich auch nie ändern.«

Dougal nahm einen tiefen Atemzug. »Aber liebst du nicht den Mann, den ich ...« Er biss die Zähne zusammen und sie spürte, wie sich jeder Muskel in seinem Körper verhärtete.

»Sehr sogar«, erwiderte sie sanft. Über seine Schulter hinweg blinzelte sie zu einem der bodentiefen Fenster, gegen das der Regen schlug. »Tatsächlich hast du mich bei unserem letzten Treffen erst darauf gestoßen, dass Elphinstone mehr für mich ist. Allerdings ... nicht so viel, dass er alleine meine ganze Welt bestimmt. Wie wichtig das ist, habe ich auch durch dich gelernt. Vielleicht habe ich es sogar jetzt erst richtig begriffen.«

Dougals ganzer Körper erzitterte wie unter einem Stromstoß. »Bei Gott, ich wollte doch nicht – bitte sag mir nicht, dass mein Verhalten zu Streit geführt hat!«

»Nein, überhaupt nicht.« Sie lächelte traurig, obwohl Dougal es kaum spüren durfte. »Ich meine einfach nur ... egal wie sehr ich Elphinstone liebe, es wird immer andere Dinge in meinem Leben geben, die nicht minder wichtig sind. Auch wenn du und ich kein Paar mehr sind und nie wieder sein werden – ich werde alles tun, um dich und deine Familie zu beschützen. Das verspreche ich dir. Selbst wenn du vergisst, ich werde es nicht.«

»Minerva ...«

Sie zog sich vorsichtig zurück, damit sie ihn wieder ansehen konnte. Beim Anblick seiner tränenverschleierten braunen Augen, in denen vor kurzer Zeit noch fremder Wahnsinn geherrscht hatte, pochte der winzige Funken Entschlossenheit in ihrer Brust plötzlich umso stärker. »Ganz Caithness steht unter meinem Schutz. Und ich werde nicht ruhen, bis unsere Welt den Hass besiegt hat.«

 

Das letzte Mal war Minerva diejenige gewesen, die Dougal ihren Rücken zugewandt hatte und gegangen war. Vermutlich war es also nur fair, dass sie nun ihm hinterherblickte. Ganz still stand sie, bis er und Albus zu Schemen in der Nacht geschrumpft waren. Erst dann drehte sie den Kopf und sah Elphinstone an, der neben ihr vor dem großen Schlossportal wartete.

»Also sind wir uns einig?«, fragte er leise.

Sie lehnte sich an ihn. »... wir kämpfen bis zum bitteren Ende?«

»Haben wir denn eine andere Wahl?«

»Das kommt wohl darauf an, wie man es sieht.«

Elphinstone schlang die Arme um ihre Hüften und legte das Kinn auf ihrer Schulter ab. »Mit deinem unerschütterlichen Sinn für Gerechtigkeit natürlich. Du hast mir gezeigt, wie wichtig es ist, diesen Mächten die Stirn zu bieten. Niemals aufzugeben und alles zu tun, um denen in Not zu helfen. Selbst wenn es ein verschlungener und bisweilen dunkler Weg ist.« Er stupste ihre Wange mit seiner Nasenspitze an. »Ich wäre doch nicht der Mann, den du liebst, wenn ich mich jetzt ausschließlich im Gamotssaal verstecke.«

»Aber du hast recht, wenn du sagst, dass du dorthin gehörst. Du kannst dort eine Menge bewegen. Im Namen der Gerechtigkeit. Wenn du Albus’ Orden beitrittst ...« Sie legte ihre Hände auf Elphinstones. »Ich bin mir nicht sicher, dass das der Ministerin gefallen würde.«

»Oh, ich bin sicher, das würde es nicht. Weshalb ich auch nicht denke, dass ich wirklich ein offizielles Mitglied sein sollte. Ich weiß, dass Professor Dumbledore ein unfassbar mächtiger und weiser Mann ist – verflucht, ich war noch Schüler, als er Grindelwald bezwungen hat! Ich erinnere mich, wie beeindruckend das damals war. Aber mein Vertrauen liegt zuallererst bei dir. Und ich stimme dir zu, wir müssen diesen Krieg an allen Fronten führen. Schon alleine deshalb will ich mein Bestes geben, den Orden vom Ministerium aus zu unterstützen. Es gibt gar keinen anderen Weg. Gerade weil ich dich so, so, so sehr liebe. So unendlich ...«

»Du sagst das, als wäre es vorbei.«

Elphinstone drückte sie fest genug an sich, dass sie ernstliche Zweifel an der Existenz eines nächsten Tages bekam. »Es gibt kein Ende für meine Gefühle«, flüsterte er ihr direkt ins Ohr, obwohl sie doch alleine waren. »Niemals. Meine Liebe zu dir hält den Hoffnungsfunken schließlich am Leben. Und deine Liebe entzündet seine Flamme. Der bloße Traum von uns ist genug, um jede Nacht zum Tag zu machen.«

»Aber ...«

»Du weißt selber, welche Macht unsere Gefühle haben. Im Guten wie im Schlechten. Und was es bedeutet, wenn wir uns ihnen offen hingeben. Noch dazu wenn wir weiterhin gegen ... na, du weißt schon wen arbeiten wollen. Ich will dein Leben genauso wenig riskieren wie du meines. Oder das von Dougal, unseren Familien ...«

Sie schloss die Lider. »Ich wollte doch nur, dass ich es nicht sagen muss.«

»Dann tu es nicht. Ich will schließlich genauso wenig hören, dass wir unsere gemeinsame Zeit einem Krieg an zwei Fronten opfern werden.«

»Aber nicht unsere Liebe.« Minerva wandte den Kopf, bis sie ihm in die grauen Augen sah. Er hatte recht, die Hoffnung brannte darin genau wie in ihrem Herzen. Heiß genug, dass es schmerzte, und gleichzeitig wunderbar wärmend. Feuer war eine schrecklich schöne Sache, befand sie. »Wenn ich diesen Schnatz einmal gefangen habe«, wisperte sie, »kann ich es wieder tun. Ich war immer eine bessere Sucherin als Jägerin. Und bei Merlin, ich werde dich so oft auffangen, wie ich muss.« Damit küsste sie ihn – so lang, dass sie hoffte, es könnte auch nur ansatzweise all die Küsse ausgleichen, die der Krieg ihnen rauben würde.

Herz, Kopf und Krieg


 

Caithness, Dezember 1970

 

Es war bereits nach Mitternacht. Dicke Schneeflocken, allesamt groß wie goldene Schnätze, fielen aus der sternlosen Dunkelheit herab. Und es sah nicht danach aus, als würden die gefrorenen Tränen des Himmels bald versiegen. Dabei waren die Highlands schon vor Tagen unter einer weißen Decke verschwunden. Nicht ein Stück winterbraunes Gras konnte man noch sehen.

Doch wirklich mächtig war die Stille, die der Schnee brachte. Jede einzelne Flocke trug sie in sich. Ganz Caithness war inzwischen von einer Ruhe ergriffen, deren Wirkung an einen gewaltigen Silencio-Zauber erinnerte. Niemand sprach laut, keine Hunde bellten auf den Straßen, der Wind rauschte nicht länger durch die kahlen Bäume und sogar die Kirchglocken schlugen leiser als sonst. Nur das Meer am Rande des Dorfes flüsterte so lockend wie eh und je. Aber selbst dessen Wellen schrumpften mit jeder Flocke.

Die größte Stille herrschte allerdings an einem ganz anderen Ort. Mitten in Minervas Innerem schien ebenfalls Schnee zu fallen, der alle unerwünschten Überlegungen dämpfte. Anstatt hunderten Sorgen, die sie wie hysterische Flitterfeen piesackten, kreisten heute nur ein paar träge Gedanken durch ihren Kopf.

Wie sehr sie die beißende Kälte genoss. Wie lebendig sie sich fühlte, wenn sie ihren Atem in Wolken aufsteigen sah. Wie schön das Knirschen des Schnees unter ihren Gummistiefeln klang, während sie alleine über die verlassenen Felder abseits des Dorfes ging. Wie tröstlich die Magie für sie sang, wenn sie ihre Schutzzauber kontrollierte.

Alles war in bester Ordnung. Zumindest an diesem Abend zeigte sich die Welt von ihrer heilen Seite. Sie hatte Dougal auf dem Weg zur Kirche gesehen, seinen neugeborenen Sohn in einem Tragetuch vor der Brust, Mia an der Hand und völlig ahnungslos über den Zauberstab in ihrer Manteltasche. Er hatte gelacht, ihr gewunken und sich abgewandt. Und sie? Hatte sich gefreut, dass Vergessen so schrecklich leicht war.

Nur ein, vielleicht auch zweimal hatte sich ihr Herz anschließend zusammengezogen, als hätte sie sich eine Nadel in den Finger gestochen. Aber das war schon in Ordnung. Ein Leben ohne diese Sehnsucht konnte sie sich längst nicht mehr vorstellen. Sie schlug ebenso in ihrer Brust wie das Animagusherz. Und heute war Weihnachten. An welchem Tag durfte das Bedauern mit dem Glück tanzen, wenn nicht diesem?

Wichtig war nur, dass sie nicht bereute. Weder die Opfer zum Schutz der Muggelwelt noch jene für ihre geliebte magische Welt. Mitunter schmerzten ihre Entscheidungen zwar sehr, aber das änderte nichts. Kein Stück. Egal wie viel Kraft es teils kostete, Muggelzeitungen nach Hinweisen auf ein Gewaltverbrechen der Todesser zu durchforsten oder andere Tätigkeiten für Albus zu verrichten. Sie war eine Hexe, mit Leib und Seele. Für ihre Welt würde sie sterben.

Natürlich vermisste sie Elphinstone trotzdem. Ganz fürchterlich sogar. Mehr als je zuvor. Viel zu lange hatte sie ihn nicht gesehen. Nicht einmal zu ihrem Geburtstag am vierten Oktober, den sie sonst so regelmäßig bei Madam Puddifoots nachgefeiert hatten. Und das, obwohl ihr letzter Abend in Hogwarts kein Abschied gewesen sein sollte. Doch das Leben gab sich alle Mühe, ihn dazu zu machen. Anstatt eines Treffens war ihr nur ein Brief aus London vergönnt worden, dessen Gewicht sich mit der Last des Krieges auf ihren Schultern maß.

Seite um Seite hatte Elphinstone mit Worten gefüllt, die alle nur eines aussagten: wie sehr er sie liebte. Er hatte über eine Vielzahl an Dingen geschrieben, bei denen er an sie denken musste, und von Momenten, die er gerne mit ihr geteilt hätte. Nur nicht von den Kämpfen. Ob es um ein neues Keksrezept ging oder den Setzling von Pomonas Teufelswelwitschia, der prächtig gedieht – alles war harmlos, aber voller Bezug zu ihr, sodass sein schlichtes »Mo ghaol ort« am Ende gar nicht nötig gewesen wäre. Trotzdem hatte sie das Pergament nach dem Lesen dieser Zeile wie einst Dougals Briefe an ihre Brust gedrückt und bitterlich geweint.

Damit aber nicht genug, denn den vielen eng beschriebenen Seiten hatte noch ein Päckchen beigelegen, bei dem sie sich erst zwei Tage später zum Öffnen überwinden konnte. Entgegengefallen waren ihr schwarze Schachfiguren – und zwar nur diese. Wunderschöne Steinarbeiten, die sie vor einer gefühlten Ewigkeit in dem kleinen Brettspielladen in Leeds bewundert hatte. Inzwischen hatte sie das wahnsinnig teure Set mitsamt marmornem Schachbrett wieder vergessen. Anders als Elphinstone offenbar.

Ich hoffe, du kannst mir nachsehen, dass dieses ‚Geschenk‘ nur die Hälfte eines Ganzen ist, hatte er auf die Notiz dazu geschrieben. Aber so, wie ich darauf warte, wieder mit dir vereint zu sein, werden die weißen Figuren immer bei mir auf ihre Gegenspieler warten.

PS: Ich weiß, ich hatte behauptet, der Umhang wäre dein Geburtstagsgeschenk. Das war gelogen und weißt du was? Es tut mir nicht einmal leid.

Schon bei den ersten Worten dieser Notiz waren die Tränen zurück in Minervas Augen gekrochen und hatten sie mit fiesen Stichen gepiesackt. Manchmal kam es ihr schlicht unfassbar vor, dass dieser Mann – der doch eigentlich nur ihr Vorgesetzter hatte sein sollen – den Grund für ihr Herz lieferte, immer noch mehr Zerrissenheit zu ertragen.

Allein die Erinnerung an ihn war genug, dass die Tränen auch jetzt wieder gegen ihre Augäpfel drückten. Gleichzeitig wurde ihr ganz warm in der Brust. Sie musste schlucken, damit sie sich erneut auf den Zauberstab in ihrer Hand besann. Es galt schließlich, die letzten Banngrenzen zu kontrollieren, bevor sie morgen nach Hogwarts zurückkehrte.

Mit inzwischen geübten Bewegungen zeichnete sie ein Muster in die Luft. Sogleich hob sich eine schwach glimmende Barriere vom Boden empor. An einigen Stellen verblasste ihr Licht bereits, aber sie war intakt. Zusammen mit der Schneekälte füllte Erleichterung Minervas Lungen.

»Protego sisto«, hauchte sie, denn lauter zu sprechen hätte sich in dieser Nacht nach einem Sakrileg angefühlt.

Wie zur Bekräftigung ihres Zaubers läuteten in der Ferne die Kirchglocken. Das Geräusch schwebte nur leise heran, als käme es aus drei Dörfern Entfernung. Seine Bedeutung blieb dennoch unverkennbar. Die Mitternachtsmesse war vorbei.

Minerva seufzte. Wenn sie vor ihren Eltern zuhause sein wollte, musste sie sich beeilen. Auf keinen Fall sollten diese sich sorgen. Besonders nicht ihr Vater. Rasch machte sie sich auf den Weg zum letzten Punkt ihrer Route.

Auch hier war alles in bester Ordnung. Sie griff erneut zum Zauberstab und verstärkte den Bannschutz. Eines war diesmal allerdings anders – der feine blaue Lichtschein kam nicht alleine von der Resonanz ihrer Magie. Nein, über ihr glimmerte es ebenfalls. Verwundert legte sie den Kopf in den Nacken.

Zusammen mit den weißen Flöckchen trudelte ein winziges Licht aus der Finsternis zu ihr herab – nicht in einer geraden Bahn, sondern in einer Spirale, genauso unstet wie der Schnee. Mal wogte es nach rechts, dann wieder driftete es ein Stück in die andere Richtung. Doch es gewann zusehends an Stärke. Wärme.

Ehe Minerva das Gefühl ganz verarbeitet hatte, zeichneten sich die Konturen eines Tieres vor dem Nachthimmel ab. Klein, besonders im Vergleich zu den umhertanzenden Flocken, mit durchscheinenden Flügeln. Lautlos sauste es durch die Luft und beschrieb – anders als die Eiskristalle, die sich nun auf ihrem Haar niederließen – einen Kreis um sie. Der Schnee schmolz nicht, aber er fühlte sich plötzlich nach warmen Wassertropfen an.

Ganz hinten in Minervas Kehle stieg ein Lachen empor, während sie der runden Hummel hinterher sah. Ein paar Schritte vor ihr wartete der Patronus, stand einen Moment still in der Luft. Dann flog er in sanften Schlangenlinien weiter. Richtung Meer. In einigen Metern Entfernung hielt er erneut. Auch wenn sie das kleine Insekt kaum noch erkennen konnte, schien es ihr geradezu fordernd auf und ab zu hüpfen.

Sie schlug sich eine Hand vor den Mund, als wollte sie das Lachen und Grinsen in sich halten – dabei gab es keinen Grund dafür. Es war nur so lange her, dass ihr Herz genauso aufgeregt wie die Hummel gehüpft war ...

Die Wärme des Patronus, der zurückkam und eine weitere Schlaufe um sie zog, taute sie aus ihrer Reglosigkeit auf. Sie zögerte nicht länger, sondern lief dem strahlenden Geschöpf hinterher. Das erwies sich jedoch nicht gerade einfach. Immer wieder musste die Hummel innehalten, weil sie sich durch eine besonders hohe Schneewehe kämpfte. Als sie endlich den hartgefrorenen Sandweg hinunter zum Strand erreichte, waren die Socken in ihren Stiefeln klitschnass.

Anstatt sich darum zu kümmern, folgte sie dem Patronus in Richtung Wasser. Zumindest hörte sie dieses, denn sehen konnte sie es nicht, so schwarz drückte die Nacht fernab der Häuser. Zum Glück warf die Hummel mehr Licht, als so einem kleinen Geschöpf physikalisch möglich sein sollte. Andernfalls hätte sie weder ihren Weg über den unebenen Grund gefunden noch die Gestalt erkannt, auf die der Schutzgeist nun zuschoss.

»Phin!«

Selbst über die Distanz hinweg bemerkte sie, wie sein Lächeln im Patronusschein aufblühte. Einen Moment lang stand sie bloß da und sog den Anblick von ihm mit der Hummel an seiner Schulter in sich auf. Es war einerseits sehr falsch, ihn in Anzug, feinen Schuhen und Umhang an diesem verschneiten Strand stehen zu sehen, und andererseits sehr perfekt.

Seinerseits musterte Elphinstone sie ebenfalls mit einem Funkeln in den Augen. Interessiert besah er sich ihre funktionale Muggelkleidung aus Steppjacke, alten Jeans und Gummistiefeln, die ganz dem ländlichen Caithness angepasst war. Derart bäuerlich hatte er sie auch noch nie gesehen, wurde ihr klar. Sonst trug sie schließlich meist elegante Kleider oder Blusen kombiniert mit Röcken, wenn nicht gar richtige Roben – selbst im Einsatz.

»Dieser Aufzug steht dir«, sagte er amüsiert, ehe sie ganz bei ihm war.

Zu der ohnehin schon vorhandenen Wärme des Patronus gesellte sich verlegene Röte in ihren Wangen. »Merlin, ich hätte nie gedacht, dass ich das mal vermisse«, brachte sie zusammen mit einem Lachen hervor.

Sie schüttelte sacht den Kopf. Ein Stück weit konnte sie nicht glauben, dass er wirklich vor ihr stand. Fiel es ihr deshalb so schwer, die letzten Schritte zu gehen? Weil sie Angst hatte, dass er nur ein Trugbild war, das sich unter ihren Fingern auflösen würde?

»Was machst du hier?«, stolperte es ihr letztlich aus dem Mund.

»Dich sehen.« Elphinstone streckte seine Hand aus.

Fast in Zeitlupe griff sie danach. Seine Wärme traf auf ihre und es war echt. So echt. Obwohl es nur ihre Finger waren, die sich miteinander verwoben, raste ihr Herz.

»Du bist wirklich hier«, flüsterte sie.

Elphinstone nickte. »Ich bin wirklich hier.«

Damit war der Bann gebrochen. Sie warf sich an ihn und verschlang die Finger in seinem feinen Haar, das sich zu ihrer Erleichterung immer noch nach Seide anfühlte. »Du hättest Bescheid sagen können!«

Er lachte leise, aber presste sie ebenso fest an sich. Sein Hummel-Patronus zog derweil enge Kreise um sie. »Sag bloß, dass du keine Überraschungen magst.«

»Das kommt ganz auf ihre Art an«, erwiderte sie, wobei sie das Grinsen nicht unterdrücken konnte. »Wir wissen ja beide, dass du ein ... sagen wir besonderes Talent in diesen Dingen hast.«

»Oh, jetzt wo du es sagst –« Er deutete einen Ausfallschritt rückwärts an.

»Phin!«

Glucksend zog Elphinstone sie wieder fester an sich und drückte seine Wange gegen ihre, sodass sie fühlte, wie sich sein Strahlen vertiefte. »Keine Sorge, so eine Überraschung hatte ich nicht im Sinn.«

Sie kicherte, albern wie ein Schulmädchen. »Dann ist ja gut.«

»Aber ...«, fuhr er mit bemüht ernstem Ton fort, »ich bin ein anständiger Zauberer, vergiss das nicht. Irgendwann führen unsere Wege schon wieder zu Madam Puddifoots. Und dann ... garantiere ich für nichts.«

Das Seufzen, was Minerva ausstieß, war nicht halb so resignierend, wie sie vorspielte. »Da bin ich aber erleichtert. Ich kann es immerhin kaum fassen, dass ich dieses Jahr unbescholten davonkomme. Das muss ein Rekord sein.«

»Ist es. Letztes Jahr war es im Juli so weit ...«

»Wow. Das ist ...«

»Ewig her?«

»Gefühlt ein ganzes Leben.«

Elphinstone seufzte ebenfalls, aber bei ihm klang es schon ernster. »Soll ich doch noch einmal, der guten alten Zeiten wegen ...?«

»Untersteh dich.« Früher hätte Minerva diese Worte voller Entrüstung hervorgebracht, doch jetzt waren sie nur ein leises Flüstern. »Ich meine ... ist dir klar, dass ich nicht mehr einfach so ‚Nein‘ sagen kann?«

»Aber auch nicht ‚Ja‘.«

»Ich wünschte, es wäre so einfach.«

Leise brummend streichelte Elphinstone über ihren Nacken. »Ist schon okay. Wir sind nicht an diesem Punkt, das weiß ich doch. Ich werde nicht fragen, also musst du nicht antworten.«

»Aber –«

»Shhh. Genug davon.« Er schüttelte sacht den Kopf. »Kommen wir zu meiner echten Überraschung, ja?«

Das Lächeln grub sich wieder tiefer um ihre Mundwinkel. »Die da wäre?«

»Nun, kann ich dich vielleicht für einen weihnachtlichen Ingwerkeks begeistern?«

Elphinstone löste sich behutsam aus ihrer Umarmung. Aus einer magisch vergrößerten Innentasche seines Umhangs kramte er eine runde Dose mit Tartanmuster hervor, in der es verheißungsvoll klapperte. »Zur Weihnachtszeit backt meine Mutter immer wie vom Doxy gebissen«, erklärte er. »Eigentlich ja Mince Pies und so, aber ich musste nur deine Vorliebe für gewisse Kekse erwähnen und ta-da ...« Er hob den Deckel und enthüllte die vorzügliche Kombination aus Zucker, einer Menge Butter und Ingwer.

»Oh Phin ...« Minerva strahlte ihn an. Zumindest für einen Moment, bis sie sein Gesicht zum ersten Mal an diesem Abend richtig ansah, nun da er nicht bloß aus der Ferne vom Licht seines Patronus beschienen wurde oder ihre Gefühle alle anderen Sinne verschlangen. Schock trieb ihr ein Keuchen über die Lippen. Trotz der Wärme, die von der kleinen Hummel ausging, stieg ihr Atem in weißen Wolken auf.

»Minerva ...«

»Du bist verletzt!« Sie starrte die roten Striemen auf seiner Wange an. Auf grässliche Art hoben sie sich von den dunklen Ringen unter seinen Augen ab.

Elphinstone wandte den Blick ab, aber das zeigte ihr nur deutlicher den tiefen Kratzer, der sich über seinen anderen Wangenknochen zog. »Das heilt schon wieder«, brummte er und hob einen Mundwinkel. »Du weißt doch, Unkraut vergeht nicht. Das hier ist auch nicht schlimmer als ein Hieb von nem Bowtruckle. So wie damals in Cheltenham, weißt du noch?«

»Damals hat ein Trank gereicht, um deine Wunden innerhalb von Stunden heilen zu lassen!« Ihre Finger bebten, als sie diese ausstreckte, um sein Kinn anzuheben. Vorsichtig drehte sie seinen Kopf, damit er sie wieder ansah. Ihr Herz krampfte sich zusammen, während sie über die unversehrte Haut neben den Wunden strich. »Was ist passiert?«

Er biss sich auf die Unterlippe.

»Du kannst mich nicht außen vor lassen, Elphinstone! Es reicht schon, dass du in deinen Briefen alles Schreckliche verschweigst. Aber glaub mir, es macht nichts einfacher für mich, wenn ich ahne, dass es dir nicht gut geht und doch nichts weiß.«

Ihr strenger Tonfall ließ seine Wangen zucken. »Ich sehe, du hast gut in deine Rolle als Lehrerin zurückgefunden.«

Sie zog eine Augenbraue hoch.

»Okay, okay, du hast ja recht.« Seine Schultern sackten ein Stück herunter. Mit den Fingerspitzen tastete er nach dem größten Kratzer. »Das war erst heute Vormittag«, erzählte er leise. »Die Zentrale hat einen anonymen Tipp bekommen, dass Rabastan Lestrange Weihnachten bei einer Schulfreundin aufgetaucht ist, also ... wollten die Auroren das Anwesen stürmen. Ich wurde eigentlich erst dazu gerufen, als der Zugriff durch war, aber – es war eine Falle. Seine Verbündeten sind uns in den Rücken gefallen.«

»Oh Gott ...« Minerva fühlte, dass ihre Sicht an den Rändern langsam unscharf wurde, doch Elphinstone lächelte sie weiterhin tapfer an.

»Alle haben überlebt«, flüsterte er zurück. »Die Todesser konnten fliehen, aber wir haben es alle rausgeschafft. Also – ein Keks?«

»Du holst auch immer dann Kekse hervor, wenn gerade alles in Aufruhr ist«, murmelte sie. »Willst du, dass ich sie eines Tages hasse?«

»Mitnichten.« Er nahm sich ein Plätzchen und wedelte damit. »Kekse machen schließlich alles besser, das wissen wir doch. Alsooo ...«

Natürlich konnte sie der Keksdose und ihrem verführerischen Duft nicht widerstehen. Zu präsent war die Erinnerung an das wunderbare urquart’sche Familienrezept. Und sobald sie einmal zugebissen hatte, besänftigte die Mischung aus zuckriger Süße und der scharfen Ingwernote tatsächlich ihre Nerven.

Elphinstone quittierte ihren verzückten Gesichtsausdruck wie schon am Loch Ness mit einem Zwinkern. »Ich hab’s doch gesagt. Kekse sind einfach magisch.« Er schnappte ihre Hand und zog sie mit sich zu einem angespülten Baumstamm. Behutsam und dennoch bestimmt drückte er ihr die erstaunlich schwere Dose auf den Schoß.

Ein leiser Verdacht beschlich sie. Lag ein versteckter Ausdehnungszauber auf dem Behälter? Sie schob ein paar Kekse zur Seite und fand ... keinen Boden. Zumindest nicht da, wo er von außen betrachtet sein müsste.

»Phin, wenn ich so viel Kekse essen soll, wie schlecht sind dann die Nachrichten, die du mir noch bringst?«

»Bei Merlins Bart, so meine ich das auch wieder nicht! Ich dachte nur ... es wäre nett, wenn du länger etwas davon hast. Wer weiß schließlich, wann wir uns das nächste Mal sehen ... unter welchen Umständen.«

Es musste dem Patronus zu verdanken sein, dass Minerva angesichts dieser Worte trotzdem schwach lächeln konnte. Die kleine Hummel, die weiterhin durch die Schneeflocken tollte, erfüllte sie schlicht mit einer Zufriedenheit, die nicht mal Ingwerkekse übertrafen.

Sie zog ihren eigenen Zauberstab. Neugierig sah Elphinstone sie an, da sprang auch schon ihre getigerte Katze daraus hervor. Federleicht glitt diese durch die Luft und jagte der hüpfenden Hummel hinterher.

Die kleinen Lachfältchen um Elphinstones Augen, die sie so liebte, traten im friedlichen blauen Licht der Patroni hervor. Wortlos legte er einen Arm um ihre Taille, während sie ihren Kopf auf seine Schulter bettete.

»Verrate es nicht Albus, aber das ist das beste Weihnachtsgeschenk dieses Jahr«, sagte sie leise.

»Hat er dir etwa keine Socken mehr gestrickt?«

»Doch. Mit Phönixmotiv.«

»Aber das ist doch wunderbar! Hast du schon welche in gelb mit Zitronenbonbons oder wäre das eine Idee für nächstes Jahr?«

»Bring ihn bloß nicht auf dumme Gedanken.«

»Würde mir nie einfallen.« Neckisch küsste Elphinstone sie auf die Nasenspitze.

Ein Kribbeln glitt durch Minervas Inneres und für einen Moment leuchtete ihre Patronus-Katze in besonders hellem Licht. »Also, welche Neuigkeiten bringst du noch?«, fragte sie bestärkt von der Wärme, die über sie strich. Bereiter als jetzt würde sie für die bittere Wahrheit nicht mehr werden.

Elphinstone schnitt eine Grimasse. »Du hast wahrscheinlich schon gehört, dass die Todesser sich derzeit vor allem auf Hausbesuche konzentrieren?«

»Um reinblütige Familien von Voldemorts Krieg zu überzeugen, notfalls mit Gewalt? Ja. Wir hatten bereits einen Fall, wo Albus und ich einen Schüler informieren mussten, dass seine Familie ... Besuch hatte.«

Mit zusammengezogenen Augenbrauen biss Elphinstone geräuschvoll in seinen Keks. »Genau das meine ich. Waren es zufällig die Fawleys?«

Sie nickte, ohne den Kopf von seiner Schulter zu heben. »Joseph Fawley. Dritte Klasse und wir mussten ihm sagen, dass die Todesser seine kleine Schwester ...«

Ein leises Stöhnen kam von Elphinstone. »Verflucht, das tut mir so leid –«

»Dir geht es doch auch nicht besser damit. Wie viele Fälle hast du davon in den letzten Wochen gesehen?«

»... zu viele. Das St. Mungo hat einen Höchststand an Opfern von Folterflüchen. Immerhin, das heißt wenigstens, dass die Leute nicht tot sind.«

»Und ... was ist mit deiner Familie?« Vorsichtig linste Minerva von unten zu ihm herauf.

»Vor zwei Wochen standen laut Eilean das erste Mal Todesser an den Grundstücksgrenzen. Offenbar ist es in diesem Fall Glück, dass Elladora sich mit Gideon so isoliert hat. Wer weiß, wen sie sonst in unseren Fidelius eingeweiht hätte. Immerhin war sie auch Geheimniswahrerin.« Er presste seine Lippen zusammen. Der Lichtschein seiner Patronus-Hummel flackerte merklich. »Natürlich hat Eilean trotzdem Angst. Es reicht ja schon, dass man mich als Blutsverräter gebrandmarkt und zum Abschuss freigegeben hat. Ich kann mich wenigstens wehren.«

Minerva strich zaghaft über seine Wange. Am liebsten hätte sie seine Bitterkeit einfach fortgewischt, aber ihr war klar, dass sie das nicht konnte. Höchstens ein bisschen Linderung verteilen. »Wogegen wehren?«, fragte sie und selbst ihr fiel auf, dass ihre Stimme dünn klang.

»Ach ...« Elphinstones Finger spielten anscheinend gedankenverloren mit dem Saum ihrer Steppjacke. »Es ist an der Tagesordnung, dass ich Briefe gefüllt mit Bubotublereiter ins Büro geschickt bekomme. Zumindest an den guten Tagen. An den Schlechten sind es verfluchte Büroklammern oder anderer Nippes. Die Leute sind nicht einmal Todesser, sie glauben einfach nur an das, was Voldemort ihnen erzählt.«

»Du öffnest diese Post doch nicht?«

Er lachte matt auf. »Nein, keine Sorge. Nach dem ersten Vorfall dieser Art haben wir Sicherheitsmaßnahmen eingeführt. Es ist einfach nur ... nervig. Und manchmal kurios, wenn die Leute tatsächlich noch einen richtigen Brief beilegen, den sie mit ‚freundlichen Grüßen‘ beendet haben.«

»Okay.« Nun zumindest ein bisschen erleichtert, zeichnete Minerva die Spuren seiner Grübchen auf den Wangen nach. Wieder glitt ein warmer Schauer durch sie, der allerdings nichts mit den Patroni zu tun hatte, welche zu beiden Seiten von ihnen wachten. »Ich bin ehrlich froh, dass du noch lachen kannst«, gestand sie. »Manchmal fürchte ich nämlich, dass ich es verlerne.«

»So schlimm?«

»Es tut weh, zu sehen, was der Krieg den Kindern antut. Und nicht nur das ...« Sie nahm sich noch einen Keks, damit sie etwas hatte, woran sie sich festhalten konnte. »Vorletzte Woche ist eine Siebtklässlerin in einem verlassenen Korridor angegriffen worden. Mit einem so schwarzen Fluch, dass er nicht mal aus der verbotenen Abteilung stammen kann. Fast schon überflüssig zu sagen, dass sie muggelgeboren ist, oder? Sie hatte kurz zuvor einen Praktikumsplatz in der Zaubereizentralverwaltung angeboten bekommen. Den kann sie jetzt erstmal nicht ausüben, da sie vorübergehend sämtliche Sinne verloren hat.«

»Oh Merlin ...« Für einen Augenblick schien Elphinstone sprachlos. »Habt ihr die Übeltäter wenigstens gefunden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nur Verdächtigungen anstellen. In manchen Schülern sehe ich zu viel von ihren Eltern, aber ... ich darf mich nicht davon leiten lassen. Ich muss ihnen allen eine faire Chance bieten. Auch wenn es manchmal schwerfällt, wenn ich Druellas Jüngste sehe. Wie sie mit dem Malfoy-Spross liebäugelt seit Neustem ... Der äußert auch gerne mal kritische Gedanken. Nicht so, dass ich Anlass hätte, etwas gegen ihn zu unternehmen, aber doch genug, dass bei mir die Warnglocken läuten.«

»Mhh ...« Nachdenklich brummte Elphinstone auf, den Blick gen Meer gerichtet. »Ich glaube, ich kann mir nicht mal vorstellen, wie schwierig das sein muss. Ich bin wenigstens mit Erwachsenen konfrontiert, die ihre schlechten Entscheidungen selber zu verantworten haben.«

Minerva seufzte, dass es eine dicke Atemwolke gab. »Und selbst bei denen frage ich mich, ob diese Tendenzen nicht in Hogwarts hätten erkannt werden können. Immerhin ... waren die Lestranges einst auch nur meine Schüler. Ich weiß, dass ich nicht alleine die Verantwortung trage, aber –« Das Gefühl, ein Stück Keks wäre ihr im Hals hängengeblieben, überwältigte sie.

»Du hast Angst, dass es wieder passiert?«, soufflierte Elphinstone sanft.

Sie zuckte mit den Schultern. »Eigentlich ist es keine Angst mehr. Ich weiß, dass es so sein wird. Ich habe mehr Angst davor, wer es sein wird.«

Bevor er antwortete, küsste Elphinstone sie auf die Stirn. »Wahrscheinlich hast du recht. Aber du glaubst bis zuletzt an das Gute in den Kindern. Und ich wette, das wird einen Unterschied machen.« Er legte seine Hand über ihre und löste die Hälften des zerbröckelten Kekses daraus. Offenbar hatte sie diesen zerdrückt, ohne es überhaupt zu bemerken.

»Manchmal würde ich mir deinen Optimismus wünschen«, murmelte sie betreten.

Elphinstone zog ihren Handrücken an seine Lippen und drückte einen weiteren Kuss darauf. »Behaupte nicht, du wärst eine Pessimistin. Denn das stimmt ja nun wirklich nicht.«

»Aber ich bin auch nicht so ... unfassbar überzeugt von den guten Dingen.«

Sie spürte, wie sich sein Mund zu einem breiten Lächeln verzog. »Das bin ich doch nur, weil es dich betrifft. Glaubst du, ich kann mir selber so gut zureden?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bewundere dich, also kann ich für dich stark sein. Und umgekehrt bist du doch genauso stark für mich, wenn ich es nicht sein kann. Deshalb habe ich auch einen Vorschlag. Oder vielmehr eine Bitte.«

»... okay?« Von der plötzlichen Verschiebung in seinem Tonfall aufgeschreckt, richtete Minerva sich gerade auf.

»Du weißt, dass ich dir mein Leben anvertrauen würde – es wäre ja nicht das erste Mal«, sagte Elphinstone.

»Richtig ...«

»Gut. Denn ich brauche jemanden, der etwas für mich erledigt. Und bevor ich Professor Dumbledore direkt darauf anspreche, wollte ich selber mit dir darüber sprechen. Es kann nämlich durchaus sein, dass sich diese Tätigkeit nicht unbedingt mit seinen Plänen für dich vereinbaren lässt ...«

Verwirrt legte Minerva die Stirn in Falten. »Wovon redest du?«

»Es gibt vielleicht einen Weg, wie wir indirekt doch zusammen kämpfen können, wenn wir sonst schon auf eine gemeinsame Zukunft verzichten müssen.« Elphinstone sah wieder zum flüsternden Meer, dann zurück zu ihr. Ein leichter Wind spielte mit seinem Haar und ließ ihn geradezu verwegen aussehen. »Ich habe vor, das Ministeriumsprotokoll zu brechen. Normalerweise verteilen wir die Einsätze zum Zugriff auf ein gemeldetes Todesserversteck innerhalb der Aurorenzentrale an zufällig wechselnde Teams ... aber es ist in letzter Zeit zu häufig vorgekommen, dass unsere Leute überrascht wurden. Also habe ich ein paar kritische Informationen aus Elladoras Nachlass einfach mal ... nicht weitergereicht.«

Minerva fuhr sich mit der Zungenspitze über die spröden Lippen. »Und jetzt ...?«

»Würde ich dich gerne fragen, ob du für mich an diesen Orten spionieren könntest. Ich will nicht, dass eine Abordnung Auroren dort auftaucht, die ein Einsatzprotokoll schreiben und deren Beauftragung in einem internen Memorandum erwähnt wird. Ich will, dass niemand weiß, ob überhaupt jemand vor Ort war. Weder Ministerium noch Todesser. Und wer würde sich da besser eignen als ein Animagus?«

»Ein unregistrierter Animagus«, entschlüpfte es ihr ohne Nachdenken.

Elphinstone schlug schmunzelnd die Lider nieder. »Ich weiß, aber so einen hat weder die eine noch die andere Seite gerade im Angebot. Abgesehen davon weißt du selber, dass es genug getigerte Katzen gibt, sodass eine mit ganz besonderer Fellzeichnung gar nicht so sehr auffällt.«

Sie warf einen Blick zu ihrem Patronus, der ein perfektes Spiegelbild ihrer Animagusform darstellte. Natürlich hatte Elphinstone recht, sie war praktisch dafür geschaffen, ungesehen durch die Nacht zu schleichen. Aber ging es hier wirklich nur darum?

»Außerdem ...«, fuhr er zögerlicher fort, »würde es mir eine Menge bedeuten, wenn ich weiß, dass du diejenige bist, die mir den Rücken freihält. Dann hätte ich gleich weniger Angst, im nächsten Einsatz zu sterben –«

Das letzte Wort wirkte wie ein Tropfen zu viel Gürteltiergalle in einem Gripsschärfungstrank. Was bis eben gut verborgen in Minerva gegärt hatte, brodelte jetzt gefährlich nah am Kesselrand. »Wartest du wirklich noch auf meine Antwort?« Sie schob die Keksdose mit einer Hand auf den gefrorenen Sand hinter sich, damit sie Elphinstones lädierte Wangen umfassen konnte. »Du kennst meine Antwort längst. Ich liebe dich!«

Sie fühlte, wie zusammen mit seinem amüsierten Glucksen eine Gänsehaut über seine Haut kroch, obwohl die kombinierte Patronus-Wärme längst die Schneekälte übertrumpfte.

»Das weiß ich doch. Aber was ich noch sagen wollte – vielleicht würde uns das ja Gelegenheit geben, einander doch hin und wieder zusehen. Wie zwei Geheimagenten in diesen Bond-Filmen. Falls du die kennst. Das wäre doch besser als unsere letzten Wochen, nicht wahr ...? Nicht zu viel Risiko ...«

»Natürlich wäre das besser!« Sie sprang auf, weil Sitzen ihr mit einem Mal unzumutbar vorkam. Wie ein gefangenes Tier stapfte sie von rechts nach links über den gefrorenen Sand und zurück. »Gib mir die Adresse, ich gehe gleich heute hin –«

»Aber doch nicht jetzt.« Elphinstone stand ebenfalls auf und nahm sie wieder in die Arme. »Noch bin ich doch hier. Noch können wir diesen Moment genießen.«

Ein kleines Lachen brach hinten in ihrer Kehle und wurde zu einem trockenen Schluchzen. »Es tut mir leid ...«

»Was? Dass du so voller Tatendrang bist?«

»Dass es mir so schwerfällt, diesen Moment zu bewahren.« Sie schniefte leise. Es lag nicht an der vergessenen Kälte, dass ihre Nase plötzlich tropfte. »Es tut bloß so weh, dich wieder dazuhaben – und dann daran zu denken, was dir alles passieren könnte. Ich will es nicht, aber es nicht zu tun fühlt sich an, als wolle ich mein Herz vom Schlagen abhalten. Ich kann gerade nur noch daran denken, dass Krieg unsere Zukunft ist. Dabei hatte ich es für einen Moment wirklich verdrängt.«

Ihre Stimme schwankte. Nur am Rande ihrer Aufmerksamkeit bemerkte Minerva, wie ein kleines, blauschimmerndes Etwas lautlos auf ihre Schulter flog. Aber nichts konnte verhindern, dass sie für ein paar Sekunden vom Bedauern überrollt wurde wie von einer unerwarteten Brandungswelle.

»Verflucht, ich kann gefühlt immer noch an einer Hand abzählen, wie oft ich dich so richtig geküsst habe!«, stieß sie hervor. »Das ist entschieden zu wenig, egal wie lang jeder einzelne Moment davon war!«

»Darf ich dann wenigstens versuchen, mir diesen Augenblick vom Krieg zurück zu stehlen?«

Elphinstones warmer Atem strich beim Sprechen über ihre Lippen. Mehr brauchte es nicht, damit sein Anblick vor ihren Augen verschwamm. Schon tropften die ersten, heißen Tränen von ihrem Kinn in den Schal darunter.

»Bitte ...«

Er schob die Hand in ihren Nacken und zog sie zu sich. Obwohl es nicht ihr erster Kuss war, fühlte es sich nach all den Wochen wieder so an. Das lag nicht zuletzt an dem Tränensalz, das sich auf ihren Lippen vermischte und einen neuen Geschmack brachte. Nein, sie nahm auch alles erneut so intensiv wahr – seine Hand, die durch ihr Haar fuhr; ihr Herzschlag ganz eng an seinem, so beständig wie der Schneefall.

Ihn zu küssen war Sommerregen mitten im Winter.

»Besser?«, murmelte er in rauer Stimme, ohne sich auch nur ein winziges bisschen von ihr zu lösen.

Sie fuhr mit den Fingernägeln über das schmale Stück nackter Haut in seinem Nacken zwischen Haaren und Schal und genoss es, ihn erschaudern zu fühlen. »Ein wenig«, erwiderte sie. »Jetzt bräuchte ich immerhin zwei Hände.«

Sie blinzelte ihn unter trägen Lidern hindurch an und erkannte, dass er sie bereits ansah, die grauen Augen so aufgewühlt wie der von Schneewolken verhangene Himmel bei Tag.

»Dann ist ja noch Luft nach oben«, meinte er, begleitet von einem heiseren Lachen. »Das ist gut, so habe ich den besten Grund, die kommenden Kämpfe zu überleben.«

Seine Brust hob und senkte sich heftig, als er einen Schritt zurücktrat und der Luft zwischen ihnen somit Raum gab. Der Abschied nahte heran.

Minerva strich sich die angetrockneten Tränen von den Wangen. »Du kannst auf mich zählen, Phin. Ich werde deine Spionin sein.«

»Danke. Und lass dir eines gesagt sein: Was immer uns erwartet – ich bin einfach nur glücklich, dass ich mein Herz an dich verlieren durfte. Mit niemandem außer dir könnte ich diesen Kampf führen.« Er lächelte und gleichzeitig mit seinem Strahlen leuchtete auch die kleine Patronus-Hummel kräftig auf. »Bitte Madam Puddifoot schon mal, uns den schönen Tisch am Fenster freizuhalten, ja?«

Die Worte hatten sie nicht mal ganz erreicht, da drehte er sich bereits auf der Stelle. Sie sah ihn noch zwinkern, dann gab es einen Knall und Elphinstone war verschwunden. Seine Patronus-Hummel surrte ein letztes Mal um sie, bevor auch ihre Konturen vor dem Nachthimmel verblassten.

Zurück blieb ein Berg Ingwerkekse – und eine Wärme, die nur Liebe erschuf. Sie beruhigte Minervas Herz, ihren Kopf; den Krieg beider in ihrem Inneren. Auf dem Weg zum Haus ihrer Eltern schmolz sie vielleicht nicht den Schnee unter ihren Füßen, aber wohl die Sorgen auf ihren Schultern.

Sie würde niemals alleine sein.

 
 

F I N I T E
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
A/N zu den Zaubersprüchen: Deditio flecti ist ein von mir ersonnener (Verwandlungs-)Zauber, der genauso wie viele originale Zaubersprüche aus „Möchtegern“-Latein (will heißen - höchstwahrscheinlich falsch gebeugt) gebildet ist. Mein Lateinunterricht liegt einfach zu lange zurück. Zur Bedeutung:
Deditio – ein Akt der Unterwerfung
flecti – von flectere – sich beugen
Ich fand die Bedeutung recht passend für einen Zauberspruch, der letztlich eine gewaltsame und dauerhafte Änderung an der Beschaffenheit eines Objekts bewirkt, die meiner Vorstellung nach nicht durch einen einfachen Gegenzauber aufgehoben werden kann (z.b. hat Reparo keine Auswirkung, da der Gegenstand nicht »kaputt« in dem Sinne ist).
Coniugo heißt hingegen schlicht »verbinden« und tut auch genau das – eine Veschmelzung zweier Gegenständen herstellen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wen der genaue Wortlaut interessiert – Elphinstone hat »Kiss my ass/Küss meinen Arsch« zu Mulciber gesagt. Im Text habe ich es zwar der Einfachheit halber nur Gälisch genannt, aber wenn man ganz korrekt sein will, ist die Sprache Scots Gaelic, also schottisches Gälisch, es gibt daneben noch irisches Gälisch. Ein Hoch auf Beleidigungen, die nicht jeder versteht! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
„Mo Chridhe“ ist – Überraschung – scots-gaelic und heißt „Mein Herz“. „Dhutsa mo chridhe tha mi a ’gèilleadh“ habe ich auf Basis des Englischen übersetzt, dort heißt es so viel wie „To you my heart I surrender“, was ein Zeile aus dem Lied „My heart I surrender“ von der Band I Prevail ist. Das Lied begleitet mich beim Schreiben dieser FF bereits sehr lange und ist so etwas wie Elphinstones inoffizieller Themesong, weshalb ich es hier verewigen wollte. Die deutsche Übersetzung „[Denn] Dir ergebe ich mein Herz“ habe ich wiederum etwas freier gewählt, da eine wörtliche Wiedergabe mehr schlecht denn recht funktioniert.
„Bi làidir“ heißt „Stay strong/Bleib stark“ und „tha mo chridhe leat“ bedeutet „My heart is with you/Mein Herz ist bei dir“. Alle Angaben ohne Gewähr, da ich kein scots-gaelic spreche und mir das alles zusammengoogeln muss, aber ich habe es nach bestem Wissen und Gewissen mit verschiedenen Vokabelseiten überprüft. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heute gibt es wieder einen Exkurs in schottisch-gälische Flüche – ich hoffe, es ist euch noch nicht zu viel geflucht:
„A mhic an damnaidh“ heißt so viel wie „O son of the damned/Oh Sohn des Verdammten“ (und bei „A mhic an Merlin“ heißt es dann „Sohn des Merlin“) „Thoir ifrinn iad“ bedeutet „Bring them to hell/Zur Hölle mit ihnen“ und „Droch fhuil orra“ wird wörtlich zu „May bad blood be on them“, verwünscht also jemanden im übertragenen Sinne mit schlechtem Blut – eine Redewendung, die sich eher schlecht ins Deutsche übertragen lässt. Das Ganze ist gesponsert von den schönen (und teils archaischen) Flüchen und Verwünschungen aus dem Büchlein „The Naughty Little Book of Gaelic“ von Michael Newton, damit Elphinstone und Minerva auch künftig noch zünftiger fluchen können. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe eine kleine Sidestory/Vorgeschichte zu dieser Geschichte hochgeladen – in „Reverti“ gibt es einen Einblick in Minervas letztes Treffen mit Dougal und, sobald ich den zweiten Teil des Twoshots hochlade, auch in ihr erstes Treffen mit einem gewissen Pflanzenliebhaber. Wer allerdings den Inhalt des Pottermore-Artikels zu Minerva noch nicht kennt, sollte mit dem Lesen noch warten, denn in dieser Hinsicht enthält die Geschichte einen kleinen Spoiler.
Ich würde mich freuen, wenn ihr auch dort vorbeischaut! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
„Tha mo ghion ort“ heißt natürlich nicht weniger als „I love you with all my heart/Ich liebe dich von ganzem Herzen“ und ist damit eine Steigerung des eher zurückhaltenden „Mo ghaol ort“, das üblicherweise „Ich liebe dich“ heißt. Wir machen hier ja keine halben Sachen ;)
„Damnaich“ ist ein herzhafter Fluch (eng. „damn“), „ Fuirich“ heißt „Bleib“ (oder auch „Lebe“; eng. „Live/Stay“), „ A Riochd“ heißt so viel wie „Um Himmelswillen“ (eng. „Oh good heavens“) und „Taing dhan Àigh“ kann man mit „Gottseidank“ übersetzen (eng. „thanks goodness/god“) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Diese Geschichte mag vorbei sein, doch der Krieg fängt gerade erst an.
Minervas & Elphinstones Geschichte geht weiter in Aschenstaub!
Ich würde mich sehr freuen, falls ihr dort vorbeischaut :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (14)
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Von:  Hojiko
2022-02-27T21:08:35+00:00 27.02.2022 22:08
Ahhhh! So viele neue Kapitel und keine Zeit, zu lesen und zu kommentieren!
Das muss ich jetzt dringend nachholen.
Ich weiß gar nicht, wo ich da beginnen soll. Vielleicht mit der Figurenkonstellation und der Entwicklung der Charaktere. Ich finds echt cool, dass Minerva, Elphinstone, Pippa und Mulciber wieder ein Team sind. Du hast ja schon mal gesagt, dass Mulciber dir als Figur Spaß macht und ich finde, das merkt man auch. Das gibt der Story Schwung. Und auch, dass Robbie eine größere Rolle spielt, passt wunderbar.
Minervas Gefühle für ihren "ehemaligen Vorgesetzten" erwachen/verstärken sich. Das stellst du wunderbar dar. Macht wirklich großen Spaß zu lesen.
Zur Handlung: Ich merke, es spitzt sich zu. Elladora ist eine Todesserin, hat Pflanzen letztlich wohl für Voldemord herangeschafft. Die schreckliche Geschichte mit Jonathans Eltern, das geheimnisvolle Artefakt aus dem Gringotts-Verlies, die Oberservation des Hauses.
Und schließlich der Umstand, dass die Muggel-Polizei dem Fall umfangreich nachgeht. Detective Hammond scheint ja recht unbeeindruckt von Minerva und Elphinstone zu sein. Bin gespannt, ob er davon erfährt, dass sie zaubern können. Auch bei Harry Potter finden sich ja hin und wieder Hinweise, dass die Muggel- und Zauberer-Behörden in engen Grenzen zusammenarbeiten (z.B. dass Shaklebold den Muggel-Premierminister beschützt; die Muggel müssen ja auch von Voldemord wissen).
Am liebsten würde ich natürlich auf jedes deiner kleinen Details eingehen, aber ich fürchte, dass würde die Kommentarfunktion sprengen XD.
Ich freue mich wie immer auf das nächste Kapitel und bin schwer gespannt!

Zu guter Letzt: Ich mag den indirekten Gastauftritt von Doctor Who. Very British. :)

Bis bald
Hojiko
Antwort von:  Coronet
09.03.2022 18:38
Hey :)

Ach, keine Sorge, ich freue mich einfach, dass du jetzt mal wieder Zeit gefunden hast. Gibt ja keinen Zwang zu kommentieren, auch wenn ich mich natürlich sehr freue!
Das stimmt, Mulcibers gehässige Art macht mir immer wieder Spaß, auch wenn er manchmal wirklich gemein wird. Auf jeden Fall schön, dass dir dieses unfreiwillige Team gefällt :)
Und ich bin auch erleichtert, dass dir die Liebesgeschichte als Beiwerk immer noch gefällt, bzw. du Minervas aufkeimende Gefühle nachvollziehen kannst. Der "ehemalige Vorgesetzte" muss da bald mal was unternehmen, finde ich ;)
Mit Detective Hammond geht es jetzt im neusten Kapitel weiter, da werden zumindest ein paar Fragen aufgegriffen. Eine Zusammenarbeit finde ich auch grundsätzlich nicht verkehrt (immerhin geht dieser Fall auch beide Seiten an, da auch Muggel involviert sind), aber mal sehen, was dabei herauskommt.
Ich freue mich über deine lieben Worte zu den letzten Kapiteln - vielen Dank für deinen Kommentar und dass du die Geschichte immer noch verfolgst!

Doctor Who als eine der urbritischsten Serien musste ich einfach einbringen, genauso wie Earl Grey und Scones :D

Noch einmal vielen Dank und liebe Grüße
Coro
Von:  Hojiko
2022-01-17T21:34:53+00:00 17.01.2022 22:34
Ah! Bellatrix und Rudolphus Lestrange würde ich stark vermuten! Wer sonst könnte so kaltblütig und verrückt sein wie Bellatrix? Es ist ja nichts Neues, dass sie und ihr Mann nicht gerade durch innige romantische Gefühle miteinander verbunden sind. Dass sie sich ironisch gegenseitig als Liebste*r bezeichnen, finde ich da sehr passend. Man hat sie in den Büchern nie zusammen erlebt. Aber man kann sich jetzt gut vorstellen, wie schrecklich sie sind.
Und natürlich ist Bellatrix eine große Muggelhasserin. Insoweit passend, dass sie an dem Verschwinden des Jungen beteiligt ist.
Krass, wie sie einfach ihren Komplizen umbringt.
Sehr spannend geschrieben und auch wenn die beiden jetzt nicht völlig unerwartet aufgetaucht sind, fand ich es doch nicht vorhersehbar in diesem Kontext. Echt super.
Hoffentlich werden die Kobolde Minerva vergeben XD
Ich bin schon gespannt!

Liebe Grüße
Hojiko
Antwort von:  Coronet
19.01.2022 20:48
Hey,

oh, über Vermutungen freue ich mich immer - auch wenn ich hier natürlich noch nichts preisgebe, was die Identität der Entführer angeht ;)
Aber deine Ausführungen dazu finde ich auf jeden Fall nicht schlecht!
Es freut mich auf jeden Fall, dass Spannung und Überraschung bei diesem Kapitel dabei waren. Ich hoffe, dass mir noch mehr spannende Wendungen gelingen, denn bis zum Finale dauert es noch ein wenig.
Vielen Dank auf jeden Fall, dass du weiterhin dabei bist und mich mit deinen Kommentaren beglückst, da freue ich mich jedes Mal riesig drüber!

Liebe Grüße
Coro
Von:  Hojiko
2022-01-03T10:43:10+00:00 03.01.2022 11:43
Ein tolles neues Kapitel zum neuen Jahr! :)

Die Begegnung mit Dougal musste ja eintreten, so oft, wie der Charakter von dir schon angeteasert wurde. Mir hat es gut gefallen, dass er einfach ein ganz normaler, netter Mann ist, der freundlich auf sie und ihren Begleiter reagiert. Man fühlt mit Minerva mit, die sich so schrecklich unwohl fühlt! Jemanden wiederzusehen, den man einmal sehr gern hatte, ist nie leicht und du hast dieses toll eingefangen.
Wie sie beim Essen Dougal und Elphinstone vergleicht, war schön zu lesen. Die Art, wie sie sich immer wieder ermahnt, nicht so von ihrem "ehemaligen Vorgesetzten" zu denken oder ihn mit Dougal zu vergleichen, passt perfekt zu ihrem Charakter. Auch, dass das Attraktivste an Elphinstone für sie sein Intellekt ist, finde ich sehr passend. Und dass sie sich zugleich ein wenig dafür schämt, sich auch körperlich zu ihm hingezogen zu fühlen. Das ist insgesamt gemessen an ihrer langjährigen Freundschaft nachvollziehbar und realistisch. Ich hatte ja schon mal geschrieben, dass mir das langesame Romantik-Thempo gut gefällt.
Minervas Bruder Malcolm hat mit seinen Kesseln was von Percy Weasley, bestimmt keine zufällige Ähnlichkeit ;). Ich mag, wie unterschiedlich du die Charaktere darstellst und wie viel Zeit und Mühe du dir gibst, ihnen individuelle Eigenschaften zu verleihen.

Sehr spannend finde ich jetzt die Verbindung zu Robbie, dem ja anscheinend etwas zugestoßen ist. Das Risiko, das er für seine Schwester eingegangen ist, könnte die Todesser auf seine Fährte gesetzt haben. Und die sind nicht gerade zimperlich. Hoffen wir, dass Elladora Rosier nicht darin verwickelt es, das würde eine enorme Belastung für Elphinstone und seine Beziehung zu Minerva bedeuten.

Hat mir wirklich gut gefallen!

Liebe Grüße und einen guten Start ins neue Jahr
Hojiko

Antwort von:  Coronet
07.01.2022 17:28
Hey,

da hast du ganz recht, Dougal konnte ich einfach nicht außen vor lassen. Ich mag ihn, selbst wenn das mit Minerva nicht sein sollte. Er beschäftigt Minerva ja doch auch immer noch, da muss sie erst ihren Frieden finden. Zumindest einen ersten Schritt dazu hat sie jetzt getan, so wie sich ihr Blick auf Elphinstone ganz unfreiwillig verschoben hat.
Es freut mich sehr, dass diese Entwicklungen dir gefallen und auch nicht zu überstürzt wirken! Ich bin selber ein großer Fan von Slowburn-Geschichten, das wirkt sich sicher öfter auf mein Schreiben aus.
Da ist auf jeden Fall eine gewisse Ähnlichkeit zu sehen, auch wenn Malcolm sich eher für die Tropfrate interessiert, weil er auf Seiten der Kesselhersteller steht ;) Aber Percy hat mich ganz eindeutig zu diesem Beruf für Malcolm inspiriert! Dass die ganzen Nebencharaktere dir auch gefallen, freut mich ebenfalls - hin und wieder fürchte ich doch, dass ich ein bisschen zu viele Charaktere einführe, aber ich kann mir einfach nicht helfen, in einer Geschichte dieser Länge brauche ich einfach noch ein paar interessante Nebencharaktere, die hoffentlich auch ihren Teil zur Geschichte beitragen. So wie jetzt Robbie :)

Mit der Verbindung zu Robbie geht es jetzt im nächsten Kapitel, das ich gerade hochgeladen habe, weiter, aber deine Überlegungen gefallen mir schon mal! Mal sehen, wer und was da passiert ist ...

Vielen Dank für deine netten Worte, ich habe mich wieder sehr über deinen Kommentar gefreut!

Ganz liebe Grüße
Coro
Von:  Hojiko
2021-11-27T22:01:18+00:00 27.11.2021 23:01
Hach, das war ja mal ein herzzerreißendes Kapitel. So schön.
Aber der Reihe nach:
Nachdem sich ja in letzten Kapitel bereits dunkle Wolken zusammengebaut haben aufgrund der von Mulciber unter zweifelhaften Umständen erworbenen Erinnerung, war dieses Kapitel eine fantastische Fortsetzung. Mir haben die Denkarium-Szenen in den Büchern immer so gut gefallen, vor allem in Band sechs. Toll, hier eine besonders lange zu lesen. Die Querverbindung zu Riddle und dem Mord an Hephzibah Smith finde ich sehr gut. Es hat zwar immer den Anschein gemacht, dass sich Tom Riddle gut zu verstellen vermochte, aber ich muss sagen, ich finde deine Idee sehr passend, dass er häufiger vor Gericht war - und sich wieder herauslavieren konnte.
Minerva und Elphinstone sind eigentlich richtige Zeitzeugen in Bezug auf Voldemort, da passt das alles sehr gut zusammen. Ich muss an dieser Stelle nochmal bewundern, wie plausibel deine Geschichte sich in die Harry Potter Handlung (oder die Zeit davor) einfügt. Das macht alles super viel Sinn und ich denke nie: na, das hätte man sich jetzt aber sparen können.
Auch Dumbeldores Auftritt könnte genauso im Buch vorkommen. Generell wirken Minerva und Dumbledore so authentisch, wie das fiktiven Romanfiguren möglich ist :)
Und du gibst dir viel Mühe, dem Leser/der Leserin Elphinstone besonders sympathisch zu machen. Er ist Reinblüter und war in Slytherin, aber er ist ein sehr moralischer Charakter. Das zeigte sich jetzt in der Geschichte mit der armen Elfe und auch im Denkarium, als er dem Ravenclaw-Jungen zur Seite steht. Er ist einfach mit Tom Riddle zur Schule gegangen!
Und letzterer ist kalt und arrogant, ganz schrecklich.
Natürlich kann ich den Heiratsantrag nicht unkommentiert lassen. Es hat sich ja schon abgezeichnet, dass er noch eine Rolle spielen würde.
Die Art und Weise war sehr interessant. So rational. Nicht direkt unromantisch, aber zumindest ungewöhnlich. Bisher hatte es ja anscheinend eigentlich keinerlei romantische Avancen gegeben, da ist ein Heiratsantrag schon eine Nummer für sich. Andererseits war es ja auch das Jahr 1959 und die Zaubererwelt scheint im großen und ganzen konservativer als die Muggelwelt zu sein. Minervas Reaktion war irgendwie lustig und traurig zugleich. Finde es aber gut, dass sie jetzt keine hochemotionale Reaktion gezeigt hat, das hätte nicht zu ihrem Charakter gepasst. Schön war aber, dass du ihre innere Gefühlswelt dargestellt hast, ihren Zwiespalt.
Mal abwarten, wie die nächsten Anträge verlaufen. Einen weiteren hatten wir ja ein paar Kapitel vorher. Und irgendwann, dass weiß ich ja schon, wird es klappen. Bin gespannt, wie das gelingt!

So, das war ein wirklich langer Kommentar. Ich freue mich sehr auf das nächste Kapitel und die Entscheidungen, die Minerva jetzt trifft. Denn die zweifelhafte Erinnerung liegt ihr noch immer schwer in Magen, obwohl sie weiß, dass es darin um Voldemort ging....

Liebe Grüße!

Antwort von:  Coronet
01.12.2021 23:26
Hey,

schon deine ersten Worte zaubern mir ein Grinsen ins Gesicht. Das Kapitel liegt mir ganz besonders am Herzen, denn die Szene habe ich schon vor langer Zeit geschrieben (und gefühlt 1.000 Mal überarbeitet, bis zur finalen Veröffentlichung). Da freut es mich besonders, wenn es dir gefällt :)
Das Denkarium ist in dieser Hinsicht auch einfach super praktisch, um nochmal Vergangenes (wieder) zu erleben, ohne, dass es einfach nur irgendwer nacherzählt, das finde ich besonders toll daran. Geschichte zum Anfassen sozusagen. Und den ersten Heiratsantrag konnte ich einfach nicht unterschlagen!
Oh, ich denke definitiv auch, dass er sich gut darstellen konnte (die meisten hielten ja viel von ihm, dachten gar, er könnte Zaubereiminister werden). Aber hin und wieder war es (zumindest in meiner Vorstellung) dann doch soweit, dass ihm da was auf die Füße gefallen ist. Man hat ihm allerdings nie etwas nachweisen können, was sicher auch mit den Sympathien, die er im Ministerium genoss, zusammenhängt.
Danke sehr, es freut mich wirklich, dass ich es hier offenbar schaffe, allzu große Logiklücken zu umschiffen! Da habe ich auch echt immer großen Respekt und gucke lieber einmal zu viel ins Wiki, bevor ich irgendwas erfinde oder reinschreibe. Gar nicht so einfach, weil es ja nicht meine Welt ist. Ich gebe mir auf jeden Fall Mühe und freue mich über deine Worte hier besonders, auch zu den Figuren an sich!
Ich muss gestehen, Elphinstone ist mir auch einfach sehr ans Herz gewachsen. Wenn Lesende in ihm das sehen können, was ich mir vorstelle (oder sich gar gemeinsam mit Minerva ein bisschen verlieben), dann bin ich glücklich :D Diese ganzen Slytherin-Klischees bin ich nämlich langsam leid. Er hat durchaus einige Slytherin typische Eigenschaften (allen voran sei der Ehrgeiz erwähnt), spielt sie dann aber doch ganz anders aus als z.B. ein Tom Riddle.
"Rational" - ja, das ist eine gute Beschreibung. Die beiden haben sich (bis zum aktuellen Zeitpunkt) nicht einmal geküsst oder so. Also mit dem Antrag hat Elphinstone sich definitiv aus dem Fenster gelehnt. Aber zu dem Thema wird auch noch ein bisschen was kommen, so viel kann ich schon mal versprechen ;)
Oh, da bin ich auch schon gespannt, wie die weitere Entwicklung der Beziehung ankommt! Da muss ich immer aufpassen, nicht zu viel zu verraten in den Antworten. Zumindest einen Schritt weiter vorwärts geht es bald ...

Ganz lieben Dank für deinen super ausführlichen Kommentar, der hat mir wirklich außerordentlich den Tag versüßt! Das neue Kapitel habe ich eben schon hochgeladen, ich hoffe, dass es dir wieder gefällt und wünsche ganz viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße :D
Von:  Hojiko
2021-11-11T21:15:55+00:00 11.11.2021 22:15
So, nach längerer Pause habe ich die letzten drei Kapitel in einem spannenden Rutsch gelesen. Nach wie vor extrem gute Unterhaltung. All die Feinheiten, die du gekonnt einbaust, überraschen mich immer wieder, zum Beispiel die berühmten Haussuppen im Tropfenden Kessel :))
Richtig cool finde ich den Auftritt von Minervas Bruder, kurz aber bringt die Handlung definitiv voran. Auch der Einblick in Elphinstones Familie hat mir gut gefallen, die Verbindung zu Rosier ist sehr passend.
Sehr schön fand ich auch die Stelle, als Minerva versucht, zwischen den Zeilen des Flugblatts Verstand zu finden. In Anbetracht von bestimmten Afd-Strömungen, Querdenkern etc. ist das leider nicht nur ein Fantasie-Thema, sondern nur allzu real. Finde es richtig gut, wie du den Fanatismus der Reinblüter rüberbringst.
Und gut dass Mulciber zurück ist! Er ist ein fieser Kerl, aber das gibt der Gruppe etwas mehr Pepp. Mal gespannt, auf welcher Seite Pippa steht.
Freue mich, bald weiterzulesen!

LG Hojiko
Antwort von:  Coronet
17.11.2021 18:38
Hey,

es freut mich sehr, wieder von dir zu lesen!
Die kleine Anspielung auf den Harry Podcast konnte ich mir einfach nicht verkneifen - da freut es mich, wenn solche Details Lesenden wie dir auffallen :D
Auch wenn es ein leidiges Thema ist, die ganzen realen Bewegungen von solchen selbsternannten "Widerständlern" sind immer wieder eine passende "Inspiration" (auch wenn das etwas falsch klingt) für so manches, was die Reinblüter hier tun.
Da bist du die Erste, die sich über die Rückkehr von Mulciber freut, abgesehen von mir. Ich schreibe ihn tatsächlich gerade deshalb gerne, vor allem seine kleinen Bosheiten. Von Pippa gibt's auf jeden Fall auch noch mehr zu sehen bald :)
Leider war ich die Tage krank, deshalb hat es etwas gedauert zum neuen Kapitel, aber ich habe es so eben hochgeladen. Ich hoffe, es gefällt dir!

Ganz lieben Dank für deinen ausführlichen Kommentar zu den Kapiteln, das weiß ich sehr zu schätzen!

Liebe Grüße
Coro
Von:  Hojiko
2021-09-24T13:22:45+00:00 24.09.2021 15:22
Ja, dieses Kapital war echt schön. Ein wenig Entspannung nach der Aufregung der letzten beiden Kapitel☺️
Nachdem ich das mit Heiratsanträgen gelesen habe, musste ich mal kurz Pottermore befragen und jetzt weiß ich glaube ich, wohin die Reise geht!
Echt gut. Ich finde, du kriegst die Romantik gut eingebaut. Minervas Gedanken und die Umarmung sind viel effektvoller, als es z. B. ein Kuss wäre (zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls). Man merkt, dass du den beiden Raum geben willst.

Außerdem muss ich sagen, dass die Geschichte eine ganz hohe sprachliche Qualität aufweist. Das ist besser als in vieln Romanen und vor allem so abwechslungsreich. Dickes Lob an dieser Stelle!

Ich freue mich jedenfalls, dass du so fleißig weiterschreibst und freue mich schon auf das nächste Kapitel!

Liebe Grüße

Antwort von:  Coronet
26.09.2021 15:12
Hey,

das ist schön zu lesen! Ich dachte auch, dass ein wenig Ruhe nach dem Kampf etc. nicht schaden würde, bevor die Action langsam wieder zurückkommt.

Haha, das kam wohl etwas sehr überraschend (okay, sollte es auch). Ich hoffe, die Recherche hat dir jetzt nicht die Spannung verdorben. Aber gut, es bleibt ja noch die Frage, wie der Weg zum Ziel sich gestaltet :)
Dankeschön, das freut mich. Und es freut mich auch, dass du das so siehst, denn ich muss dir da zustimmen - an dem Punkt für einen Kuss sind die beiden einfach noch nicht. Die Beziehung der beiden wird auf jeden Fall ein slow burn bleiben, denn gerade Minerva interpretiere ich eher zurückhaltend.

Ganz lieben Dank für die netten Worte zu meinem Schreibstil - darüber freue ich mich ganz besonders! Dieses Feedback erhellt auf jeden Fall mein Wochenende :)

Es ist immer mit das Schönste, wenn Lesende schreiben, dass sie sich auf das nächste Kapitel freuen. Das befeuert auf jeden Fall noch zusätzlich die Motivation, weiterzuschreiben. Das Ende ist im Übrigen sogar schon geschrieben, ebenso wie einige Kapitel zwischendurch. Hin und wieder muss ich noch ran, aber ich bin mal optimistisch, dass ich die weiteren Kapitel einigermaßen regelmäßig veröffentlichen kann, wenn mir nichts dazwischenkommt.

Liebe Grüße!
Von:  Hojiko
2021-09-14T05:12:25+00:00 14.09.2021 07:12
Tolles Kapitel. Die Geschichte entwickelt sich stetig weiter und Minerva hat noch einige Rätsel zu lösen, wie es aussieht. Finde es cool, dass du auch hier wieder echte Orte aus Harry Potter eingebaut hast. Der Eberkopf passt da ja super, schließlich dient er auch später dem Kampf gegen die Fieslinge.
Mulciber ist ganz der überhebliche Reinblüter und Rassist.
Trotzdem wird er von dir nicht als Trottel oder eindimensionaler Fiesling dargestellt, sondern zunächst als Beamter, der Minerva nicht smphatisch ist und dessen Ansichten sie nicht teilt. Finde ich gut.
Mir gefällt auch dieser ganz zart romantische Moment zwischen Minverva und Elphinstone. Das ist super eingebaut, vor allen Dingen passt es auf diese Weise gut zur Situation. Ich bin gespannt ob und wenn wohin dass noch führt.
Ich freue mich schon auf das nächste Kapitel!

Liebe Grüße
Hojiko
Antwort von:  Hojiko
14.09.2021 07:13
Da ist ein s zu viel. *das
Antwort von:  Coronet
22.09.2021 15:39
Hey,

es freut mich, dass dir die Geschichte weiterhin gefällt! Ein wenig was ist auf jeden Fall noch geplant, bevor dieser Fall zu den Akten wandert :)
Danke für die lieben Worte zu Mulciber als Charakter, es erleichtert mich, wenn er nicht als plumper Fiesling daherkommt, denn ich habe zumindest den Anspruch an mich selber, dass die Antagonisten nicht nur stumpfe Todesser ohne Gewissen etc. sind. Manchmal bin ich mir aber nicht sicher, wie gut das gelingt.
Und wenn dir dann noch die romantischen Untertöne gefallen, umso besser, das Pairing liegt mir nämlich doch sehr am Herzen und ich will ihnen gerecht werden. Im neuen Kapitel gibt es dazu auch noch ein wenig mehr - ich hoffe auch das Kapitel kann wieder überzeugen.
Vielen Dank für deine lieben Worte, deine Kommentare sind stets eine neue Quelle für Motivation, weiterzuschreiben!

Liebe Grüße :)
Von:  Hojiko
2021-08-18T20:11:01+00:00 18.08.2021 22:11
Hey,

Habe mich wieder sehr über das neue Kapitel gefreut!
Ich finde es toll, wie du Nebencharaktere gekonnt integriert hast. Rowle passt da super in die Handlung, ohne, dass deine Geschichte irgendwie die Konstellation der Charaktere oder die Handlung in Harry Potter verändern würde. Und dein Schreibstil ist wirklich abwechslungsreich und schön zu lesen.
Bin gespannt, was Minerva jetzt macht und ob mit Mulciber zusammen zu arbeiten eine gute Idee war... Obwohl sie faktisch dazu gezwungen war.
Und natürlich bleibt abzuwarten, wer die Frau ist, deren Stimme schon zu hören war :)))
Antwort von:  Coronet
21.08.2021 14:56
Hey,

das freut mich wirklich sehr zu lesen!
Ich bemühe mich auf jeden Fall, den Kanon der Bücher (und, so weit es Sinn ergibt bzw. JKR sich nicht mal wieder selbst widerspricht, von Pottermore/Fantastische Tierwesen) zu berücksichtigen und mit meiner FF höchstens zu ergänzen, nicht zu verändern. Da passen die vielen Todesser, von denen man kaum mehr als den Namen weiß, ganz gut ins Konzept :D
Ja, die Sache mit Mulciber ist wirklich fraglich. Leiden kann sie ihn ja zumindest nicht wirklich ... die Zeit wird es zeigen müssen ;)

Vielen Dank, dass du hier so fleißig weiterliest und Kommentare schreibst, das motiviert mich wirklich sehr!
Ganz liebe Grüße :)
Von:  Hojiko
2021-08-04T06:58:22+00:00 04.08.2021 08:58
Wieder ein sehr gutes Kapitel. Finde es super, wie du magische Dinge wie die Laktitzschnapper einbaust und die vielen Details rund um das Flohnetzwerk. Dadurch wirkt es insgesamt sehr authentisch.
Ich finde auch, daß Elphinstone und McGonagall ein gutes Protagonistengespann darstellenhat wieder richtig Spaß gemacht, zu lesen. Wirklich spannend

Liebe Grüße
Hojiko
Antwort von:  Coronet
05.08.2021 15:01
Hey,

es freut mich, dass dir diese kleinen Details auffallen! Die Welt von Harry Potter bietet da ja zum Glück viele Vorlagen, aus denen ich mir was zurecht basteln kann :D
Schön, dass dir die beiden gefallen! In den kommenden Kapiteln kommt das hoffentlich noch mehr zur Geltung und es gibt auch noch das ein oder andere aus ihrer beider Vergangenheit zu erfahren.
Vielen Dank für die lieben Worte, darüber freue ich mich sehr <3

Liebe Grüße :)
Antwort von:  Hojiko
05.08.2021 22:06
Stimmt. Die magische Welt von Harry Potter ist wirklich ein unerschöpflicher Quell für Material und Inspiration.
Freu mich auf jeden Fall immer, was Gutes zu lesen. Bin weiterhin gespannt
😊
Von:  Hojiko
2021-07-19T20:31:59+00:00 19.07.2021 22:31
Richtig gut! Macht wirklich Spaß zu lesen. Ich finde, du triffst die Charaktere wirklich super und es ist trotzdem eine eigene, echt spannende Geschichte. Und dein Stil liest sich wirklich angenehm. Ich bin schon gespannt, was als nächstes passiert....
Antwort von:  Coronet
22.07.2021 00:56
Hey,

es freut mich sehr, zu hören, dass dir auch die weiteren Kapitel gefallen!
Wenn alles gut läuft kann ich Montag hoffentlich wieder das nächste Kapitel hochladen :D
Vielen lieben Dank fürs Lesen und auch Kommentieren!

Liebe Grüße :)


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