Stichflamme von Coronet (Der Aufstieg des Phönix) ================================================================================ Kapitel 2: Auf Samtpfoten ------------------------- Die Turmuhr hatte schon längst zwei Uhr geschlagen, als Minerva an dem steinernen Wasserspeier vorbei die Treppe zum Büro des Schulleiters empor huschte. Ihren schottengemusterten Morgenmantel gegen die nächtliche Kälte eng um sich gewickelt, klopfte sie entschlossen an die schwere Tür und trat noch im gleichen Atemzug ein. Es war spät in der Nacht – natürlich war Albus Dumbledore wach. Er pflegte oft zu sagen, dass sein Verstand besser funktionierte, wenn der Trubel des Tages fern lag. In der Hinsicht waren sie beide verschieden. Minerva blieb nur solange wach, um die unzähligen Aufsätze der Kinder sorgfältig zu bewerten. Hatte sie einmal keine turmhohen Pergamentstapel zu korrigieren, saß sie am liebsten mit einer Dose Ingwerkekse und einem spannenden Buch am Kamin – und döste des Öfteren vor Mitternacht ein. Unter den Kindern mochte man sich erzählen, dass sie keinen Spaß kannte, aber da lagen sie falsch. Es bekam bloß niemand mit, wie sie in den Ferien mit ihrem Besen über die Ländereien jagte oder eben eine spannende Geschichte las. Im Büro des Schulleiters hingegen sirrten die unzähligen goldenen Apparaturen, deren Zweck sogar für manch einen Zauberkundigen schleierhaft war, im Dunkel der Nacht stets auf Hochtouren, auch dieses Mal. Albus selber saß wie erwartet hinter seinem Schreibtisch und befand sich in einem Zwiegespräch mit den vielen Porträts vergangener Schulleiter und Leiterinnen, die aufgeregt durch ihre Rahmen liefen. Doch das Geschnatter der Porträtierten erstarb augenblicklich, sobald Minerva den Fuß über die Türschwelle setzte. Hunderte Augen musterten sie mit unverhohlenem Interesse, ehe einige von ihnen nur allzu hastig vorgaben, in tiefen Schlaf zu verfallen. Es war immer dasselbe. »Ah, Minerva«, grüßte Albus sie mit einem warmen Lächeln. Er verschloss den schweren Wälzer, aus dem er bis eben gelesen hatte. »Was verschafft mir die Ehre?« Sie straffte ihre Schultern und wand sich ihren Weg zwischen den vielen storchenbeinigen Tischen hindurch zu seinem Schreibtisch. »Leider nichts Erfreuliches. Ich habe soeben Post vom Ministerium erhalten.« Sie zog den Pergamentbogen aus ihrer Manteltasche und reichte ihn weiter. »Ich muss wohl nicht sagen, dass es nichts als enttäuschende Neuigkeiten sind.« Es brauchte nicht lange, bis Albus den Brief überflogen hatte. Mit jedem Satz, den er las, schwand das amüsierte Funkeln in den graublauen Augen hinter seiner Halbmondbrille. Nachdem er fertig war, legte er das Blatt sorgsam vor sich ab und verschränkte seine langen Finger. »Ganz und gar nicht erfreulich«, stimmte er ihr zu. »Das Ministerium neigt wieder einmal dazu, seine Kurzsichtigkeit unter Beweis zu stellen.« Wie, um diese Feststellung zu unterstreichen, stieß Albus’ Phönix Fawkes einen leisen Ruf aus. Minerva hatte ihn zwischen all den magischen Apparaturen in dem Raum glatt übersehen. Das legendenumwobene Tier saß auf seiner Vogelstange neben dem Schreibtisch und betrachtete sie mit deutlich mehr Wohlwollen als der Waldkauz vorhin. Sie lächelte bei dem Anblick flüchtig, ehe sie sich auf das Gespräch zurückbesann. »Richtig. Wenn die Ministerin glaubt, dass ich zusehen werde, wie sie diesen Fall ignoriert, nur weil die reinblütigen Demonstranten sie zum Troll halten, dann hat sie auf den falschen Rennbesen gesetzt. Wenn sie nichts unternimmt, dann finde ich eben einen anderen Weg.« Entschlossen stemmte sie ihre Hände in die Hüften. »Ich habe Elphinstone Urquart darum gebeten, Nachforschungen für mich anzustellen. Er arbeitet schließlich immer noch in der Abteilung für magische Strafverfolgung. Vielleicht kann er etwas herausfinden.« Albus nickte langsam. »Ja, deinen alten Freund zu informieren, war auf jeden Fall eine richtige Entscheidung. Ich bin sicher, dass er deiner Bitte nachkommen wird. Aber ich habe das Gefühl, das war noch nicht alles, nicht wahr?« Seine Augen legten sich durchdringen auf Minerva und sie fühlte sich einmal mehr, als würde er bis in ihr Innerstes blicken. Früher war es ihr unangenehm gewesen, doch mit der Zeit gewöhnte man sich daran. Dennoch brach sie den Blickkontakt ab und musterte stattdessen Fawkes, der sorgsam sein rot-goldenes Gefieder putzte. »Es fällt mir zugegeben schwer, in dieser Sache nicht selber etwas zu unternehmen ...« Sie traute sich nicht, weiterzusprechen. Albus sollte nicht annehmen, dass sie ihre Pflichten als Professorin auf die leichte Schulter nahm. Doch er lächelte ihr nur ermunternd zu. »Nun, wir dürfen nicht vergessen, dass wahrscheinlich auch Mr Urquart alle Hände voll zu tun hat, mit den unzähligen Ausschreitungen in unserem Land. Selbst wenn er gute Absichten hat, kann es sein, dass es alsbald zu spät ist. Er ist sicher ein fähiger Zauberer, aber alleine sind wir allzu oft auf unser Glück angewiesen.« Minervas Herz unternahm einen zaghaften Hüpfer. Albus schien genau zu verstehen, wonach es sie drängte. »Das Beste dürfte es sein, wenn ihn jemand unterstützt. Ich bedauere, mich nicht sofort selber darum kümmern zu können, doch das Zaubergamot erfordert meine unabdingliche Aufmerksamkeit dieser Tage. Aber das bindet dir nicht die Hände. Ich denke, ich finde einen würdigen Ersatz für deine Verwandlungsstunden.« Er zwinkerte ihr zu. »Natürlich sollte es nicht zu sehr auffallen, aber wer hat schon je einer streunenden Katze Aufmerksamkeit geschenkt? Nicht nur Muggel neigen dazu, gewisse Erscheinungen zu unterschätzen.« Diese Worte brachten ihr Herz endgültig zum Flattern. Das Vertrauen von Albus bedeutete ihr viel. Nicht nur, weil er ein Zauberer ohnegleichen war, sondern vor allem, da er nie leichtfertig jemandem vertraute. Entschlossen reckte sie das Kinn. »Dabei sollten sie es besser wissen.« Sie konnte nicht verhindern, dass sich ein kleines Lächeln auf ihre strengen Züge legte, trotz des Ernsts der Lage. Ihre Animagusgestalt hatte sich schon oft genug als Trumpf erwiesen. Das Funkeln kehrte in Albus’ Augen zurück. »Ihre Schwäche, unser Vorteil.« Er erhob sich vom Tisch und strich Fawkes beiläufig über das Gefieder, bevor er zu einem dunklen Wandschrank schritt. »Und ein weiterer Vorteil unserer Seite ist«, er kramte geräuschvoll im Schrankinneren umher, »dass wir uns zu helfen wissen, wann immer uns die Spur fehlt. Ah, hier ist es ja.« Mit einem kleinen goldenen Gegenstand, kaum größer als ein Schnatz, drehte er sich zu Minerva um. »Lass mich dir für diesen Zweck meinen Vestigiator anvertrauen.« Verdutzt nahm sie die Kugel entgegen. Rundrum waren in zarten Linien Runen eingraviert und in der Mitte davon glänzte unter Kristallglas ein einzelner, geschliffener Rubin. Sie konnte mehrere Zeiger erkennen, die sie an Kompassnadeln erinnerten, allerdings schienen sie wahllos in alle Himmelsrichtungen zu weisen. Es musste sich bei diesem Objekt um eine von Albus’ zahlreichen, kuriosen Erfindungen handeln. Genie und Wahnsinn lagen dicht beisammen. »Ein schlichter Aufspürzauber sollte genügen, um ihn zu aktiveren«, erklärte Albus schmunzelnd. »Dieses Gerät dürfte in der Lage sein, kleinste Spuren kürzlich vergangener magischer Präsenz aufzuspüren und – in einem gewissen Radius – zu verfolgen. Selbst dann, wenn wir kein festes Ziel vor Augen haben.« »Verstehe.« Minerva nickte nachdenklich. »Dann erlaubt der Vestigiator mir mehr zu sehen, als ein herkömmlicher Aufspürzauber, der ein Bezugsobjekt braucht, um seine Wirkung zu entfalten. Aber vermutlich kann ich nicht erkennen, wessen oder welche Spuren das Gerät registriert?« Albus nickte anerkennend, wie er es schon früher getan hatte, als er noch ihr Lehrer in Verwandlung gewesen war. »Richtig. Und da ich bescheidenerweise zugeben muss, dieses kleine Ding selber erfunden zu haben, werden wohl weder das Ministerium noch Mr Urquart, etwas Ähnliches besitzen. Mit eurer beider Talent und meiner Erfindung solltet ihr bestens gerüstet sein.« Minerva umschloss den wertvollen Aufspürer genauso fest in der Faust, wie den Schnatz am Ende eines kräftezehrenden Quidditchspiels. »Ich werde mich noch vor dem Morgengrauen aufmachen. Wollen wir hoffen, dass ich bis zur Mittagspause einen neuen Erstklässler gefunden habe.« Sie war schon an der Tür, als Albus sich leise räusperte. »Minerva – halte deine Hoffnungen realistisch. Es sind stürmische Zeiten, in denen wir leben. Manchmal ist es besser, wenn wir uns nicht von überschwänglicher Hoffnung irreleiten lassen. Wenn sie verlischt, erscheint die Nacht ungleich dunkler.«   Zusammen mit dem ersten Sonnenstrahl apparierte Minerva schließlich nach einer viel zu kurzen Nacht ans Ende einer ländlichen Straße. Salzige Seeluft begrüßte sie und rief Erinnerungen an ihren Heimatort Caithness wach. Das Meer war eines der wenigen Dinge, die sie in Hogwarts wirklich vermisste. Sie nahm sich jedoch keine Zeit, die Natur zu bewundern. In einer fließenden Bewegung sank ihre Gestalt in sich zusammen, kaum, dass ihre Füße auf dem Asphalt Halt gewonnen hat. Verschwunden war die große Frau im dunkelgrünen Umhang. An ihrer statt saß eine getigerte Katze auf der Straße und ließ den Blick wachsam von Haus zu Haus gleiten. Gestern Nacht hatte es keine Eule mehr durch das tosende Gewitter geschafft, das über dem Schloss niedergegangen war, folglich wusste sie nicht, ob Elphinstone ihren Brief erhalten hatte oder ob er kommen würde. Sie wollte lieber Vorsicht walten lassen und sich möglichst unauffällig einen Eindruck verschaffen. Branscombe war ein kleines Dorf von kaum fünfhundert Seelen. Selbst durch die kurzsichtigen Augen ihrer Animagusgestalt erkannte Minerva die wilden Brombeerhecken zu ihrer Rechten und die Häuserreihe zu ihrer Linken. So früh morgens lag die überschaubare Ortschaft in schläfriger Ruhe da. Lautlos wie es nur eine Katze konnte, schlich sie über die Straße und auf die Häuser zu. Niemand, der sie sah, würde ihr einen zweiten Blick schenken. Hausnummer sieben war ein alleinstehendes Cottage, mit windschiefen Fensterläden und einem Reetdach. Die Katzengestalt trübte zwar Minervas Fernsicht, doch sie erkannte die Umrisse des gepflegten Gartens, in dem allerlei Blumen und Kräuter wuchsen. Von einem anderen Zauberbegabten war keine Spur zu sehen. Ihre schmächtige Animagusgestalt wurde nun erneut zu ihrem Vorteil, da sie sich mühelos zwischen den Eisenstäben des Gartentors hindurchschieben konnte. Wie eine gewöhnliche Katze auf der Jagd schlich sie geduckt über den Kiesweg, der zu dem Haus der Familie Alditch führte. In dem hohen Gras neben ihr raschelte es. Mit zitternden Schnurrhaaren verharrte Minerva, bis sie dank ihrer geschärften Wahrnehmung eine aufgeschreckte Maus davonrennen sah. Misstrauisch atmete sie tief ein, um die Witterung des Tiers zu überprüfen. Sie nahm nichts außer dem Geruch nach Nagetier wahr. In Situationen wie diesen war sie unendlich dankbar, dass das Schicksal ihr eine derart praktische Animagusgestalt geben hatte. Nicht auszudenken, wie lästig es wäre, in der Gestalt eines Bären gefangen zu sein. Zwar konnte sie kaum zehn Meter weit sehen, dafür aber ausgezeichnet bei Nacht und ihr Geruchssinn übertraf jeglichen menschlichen Sinn. Während sie noch im Zaubereiministerium gearbeitet hatte, war das bereits mehr als einmal von Nutzen gewesen. Sie richtete sich wieder auf und trabte zu dem Haus hinüber. Nichts erweckte den Anschein, dass hier etwas Ungewöhnliches geschehen war. Es sah genauso aus wie bei ihrem letzten Besuch. Einzig die Fensterläden, die sperrangelweit offenstanden, wirkten so früh am Morgen eigenartig, wo doch alle anderen Häuser in tiefem Schlaf mit verschlossenen Läden dalagen. In einem langen Satz sprang Minerva auf den schmalen Sims vor dem Fenster und presste ihre Katzennase gegen das kühle Fensterglas. Aus den Schatten der Morgendämmerung lösten sich die Konturen der altmodischen Küchenzeile, ganz ähnlich der, die es in ihrem Elternhaus gab und in der sie das Porzellan vor wenigen Wochen zum Tanzen gebracht hatte. Wären die Äpfel in der Obstschüssel auf der Anrichte nicht schrumplig, es hätte vollkommen gewöhnlich ausgesehen. Aber Minerva gab nicht auf. Sie strich weiter um das Haus herum, auf der Suche nach etwas Ungewöhnlichem, einem Anhaltspunkt. Doch nicht einmal mit dem geschärften Geruchssinn einer Katze konnte sie mehr als wachsende Kräuter riechen. Nicht der Hauch von Magie schien in der Luft zu liegen. Aus stechend grünen Augen musterte sie das Haus. Genau das war falsch. Es müssten die typischen chaotischen Spuren unkontrollierter Zauberei zu finden sein, die jedes magisch begabte Kind hinterließ. Der Hauch unkontrollierbarer Impulse, die Spielzeuge zum Leben erweckten oder kratzige Wollpullover schrumpfen ließen, fehlte völlig. Irgendjemand hatte aufgeräumt und war dabei zu gründlich gewesen. Nachdem sie sich sorgfältig vergewissert hatte, dass niemand sie beobachtete, verließ Minerva ihre Animagusgestalt. Binnen Sekunden wurde aus der gewöhnlichen Hauskatze wieder eine junge Hexe mit schwarzem Haar. Ein schlichtes »Alohomora« genügte und sie schlüpfte durch die Haustür. Mit dem Zauberstab in der Hand schlich sie vorsichtig über die knarzenden Dielen. Der Dicke der Staubschicht nach zu urteilen, war seit Tagen niemand mehr hier gewesen. Minervas schwarze Schnallenschuhe wirbelten Wollmäuse auf, aber abgesehen davon lag das Haus völlig erstarrt da. Da sie selber einen Muggel zum Vater hatte, schenkte sie den Geräten, die andere Hexen und Zauberer in Staunen versetzten, keinen zweiten Blick. Stattdessen erklomm sie die Treppe in den nächsten Stock. Das Kinderzimmer war einfach auszumachen, obwohl sie es bei ihrem ersten Besuch nicht betreten hatte. Schon an der Tür hing ein offensichtlich selbstgemaltes Schild, das es als Jonathans auswies. Sie stupste die Tür auf. Auch hier bot sich das gleiche Bild wie im Rest des Hauses. Spielzeugdinosaurier standen feinsäuberlich aufgereiht auf dem Fenstersims. Die Bettdecke war ordentlich gefaltet und ein Stapel brandneuer Zauberbücher lag auf dem Nachttisch. Aus dem obersten, Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind, baumelte ein Lesezeichen. Auf einem Bügel am Kleiderschrank hing zudem ein schlichter Hogwartsumhang, noch ganz ohne Hauswappen. Der Anblick versetzte Minerva einen Stich ins Herz. Wer glaubte, dass Jonathan Alditch freiwillig auf Hogwarts verzichtete, der versuchte auch, Hippogreife von hinten aufzuzäumen. Sie zog Albus’ Vestigiator aus Umhangtasche. Es konnte nicht schaden, ihn schonmal auszuprobieren. Hoffentlich enttäuschte sie sein Genie nicht. Gerade hatte sie den Zauberstab auf das goldene Gerät gerichtet, da ließ sie ein Knall von draußen zusammenfahren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)