Roter Mond von Maginisha ================================================================================ Kapitel 11: Die Rettung der Menschheit -------------------------------------- Ein zischendes Geräusch ließ Scott herumfahren. Zwei Gestalten stürmten hinter ihm auf das Dach. Eine von ihnen hatte pinke Rastazöpfe. „Scott! Gott sei Dank, da bist du ja. Hast du ihn …?“ Trix’ Augen weiteten sich, als sie die Gestalt am Ende des Daches entdeckte. Wie festgenagelt blieb sie stehen, sodass Kael fast in sie hineinrannte. „Bleibt zurück! Das ist nicht Dresner.“ „Dad!“ Kaels Augen waren weit aufgerissen. Hoffnung und Unglaube standen darin. Und noch etwas anderes. Etwas, das Scott schon einmal gesehen hatte. „Kael! Nicht!“ Scott war sich bewusst, wie lächerlich seine Warnung war. Dresner oder vielmehr der Android, der seinen Platz eingenommen hatte, hatte ihm gesagt, dass Kael nicht echt war. Kein Lebewesen. Nur eine Maschine. Es gab keinen Grund, ihn zu beschützen. Keinen Grund, sich auf seine Seite zu stellen.Und doch … „Kael, hör mir zu. Das da hinten ist nicht dein Vater. Er ist eines dieser Wesen aus dem Labor.“ Es gab kein Anzeichen, ob seine Worte zu Kael vorgedrungen waren. Der Junge bewegte sich immer noch nicht. Schließlich wagte Scott es, zu ihm zu treten. Vorsichtig berührte er ihn am Arm. Kael schreckte hoch wie aus einem Traum. Er blinzelte Scott an. Ein neuer Ausdruck trat in sein Gesicht. Dieses Mal war es Unglaube gepaart mit Entsetzen. „Das … das ist nicht wahr“, flüsterte er. Scott konnte ihn zwischen dem Heulen des Windes kaum verstehen. Mitleidig verzog er das Gesicht. „Doch, es ist wahr. Alles ist wahr. Es tut mir so leid.“ Im nächsten Moment wurde Scott zurückgeschleudert. Kael hatte ihn mit aller Kraft von sich gestoßen. Mehr Kraft als ein Junge seiner Größe haben sollte. „Das ist nicht wahr“, schrie er mit wutverzerrtem Gesicht. „Du lügst! Das da hinten ist mein Vater!“ Kael wandte sich von Scott ab und wieder dem Mann am anderen Ende des Daches zu. Seine Stimme wurde flehentlich. „Dad!“ Der Android kam langsam auf Kael zu. „Mein Sohn“, sagte er lächelnd. „Endlich sind wir wieder vereint. Wie geht es dir? Bist du verletzt?“ „Nein, es geht mir gut.“ Kael schien kurz davor, sich in die Arme des Mannes zu stürzen, den er für seinen Vater hielt. Dann jedoch fiel sein Blick auf dessen Hemd. Unsicher blieb er stehen. „Du bist voller Blut.“ Wieder lächelte Dresner. „Ich denke, du weißt, woher das stammt.“ Kael nickte wie betäubt. „Du hast Amos Inberg getötet.“ „Das ist korrekt“, bestätigte Dresner. „Aber du musst wissen: Amos war ein Verräter. Er wollte alles vernichten, was ich aufgebaut habe. Ich musste ihm zeigen, dass er Unrecht hat.“ „Indem du ihn umbringst?“ Kaels Stimme zitterte. Ein Beben lief durch seinen Körper. Dresner seufzte leise. „Mir ist klar, dass du die Tragweite des Ganzen noch nicht voll erfassen kannst. Aber ich versichere dir, dass alles, was ich tat, in der Absicht geschah, die Menschheit in eine bessere Zukunft zu führen. Eine Zukunft ohne Hunger, ohne Kriege, ohne Leid oder Angst. Doch um das zu erreichen, muss ich sie zunächst vom Fluch des Fleisches befreien. Das verstehst du doch sicher, nicht wahr?“ Der Junge antwortete nicht. Er sah seinen Vater nur an, als versuchte er zu begreifen. „Hast du deswegen die Wesen im Labor erschaffen?“, fragte er nach einer scheinbaren Ewigkeit. Dresner nickte. „Und mich? Hast du mich auch erschaffen?“ Statt einer Antwort griff Dresner nach seiner Maske und zog sie ihm vom Gesicht. „Siehst du?“, sagte er lächelnd. „Du brauchst das nicht. Du brauchst all diese Dinge, an die sich die normalen Menschen so verzweifelt klammern, nicht. Du bist frei. Ebenso wie ich.“ Kael starrte seinen Vater – oder Erbauer, Scotts Gehirn weigerte sich gerade, diese Akrobatik zu vollbringen – an. Seine Finger glitten über sein entblößtes Gesicht, als wartete er darauf, dass etwas passierte. Aber die Atemnot, das Husten, Röcheln und Blauanlaufen, blieben aus. „Aber wie … ist das möglich?“ Dresner lächelte erneut. Ein Streifen getrockneten Blutes auf seiner Wange wurde dabei in die Breite gezogen. „Nach dem Anschlag vor einigen Jahren verzweifelte ich zunächst. Ich hatte deine Mutter verloren und auch dir prophezeiten die Ärzte einen baldigen Tod. Deine Verletzungen waren zu schwer, um dich zu retten. Eines Nacht saß ich daher an deinem Bett. Du warst angeschlossen an all diese Schläuche und Kabel und ich war kurz davor es zu beenden, aber ich konnte es nicht. Ich wusste, dass du noch irgendwo dort drin sein musstest. Also begann ich damit, dir einen neuen, einen besseren Körper zu bauen. Einen, der nicht den Begrenzungen der menschlichen Anatomie unterworfen war. Der nicht um sein Überleben kämpfen musste, sondern unabhängig von allen Versorgungssystemen existieren konnte. Für immer. Und ich hatte Erfolg. Ich erschuf ein elektronisches Meisterwerk. Perfekt auf seine Art. Am Ende blieb nur noch die Frage, wie ich deine Persönlichkeit in das Programm übertragen konnte.“ Dresners Blick glitt zu der Drohne, die immer noch wie ein bedrohliches Insekt über der Szene schwebte. „In diesem Zusammenhang entstand Ava. Ich verkaufte sie der Regierung als Sicherheitsprogramm, doch ihr eigentlicher Zweck war die Sammlung von Daten. Mimik, Gestik, Stimmlagen, Gefühlsäußerungen. Alles, was man braucht, um auf das gesamte Repertoire menschlicher Emotionen und Verhaltensweisen zugreifen zu können. Sie lernte und lernte. Jeden Tag von jedem Bewohner dieser Stadt. Und ihr Datenvorrat wuchs. Schließlich war ich in der Lage, einen menschlichen Geist vollständig in einen künstlich erschaffenen Körper zu transferieren. Und genau das tat ich. Das Ergebnis, bist du.“ Seine Hand streifte Kaels Wange. Der Junge war bleich geworden. „Das … das ist nicht wahr. Ich bin nicht …“ Kael verstummte. Seine Unterlippe begann zu zittern, während er seinen Vater anstarrte, als hoffte er, dass der doch noch sagen würde, dass alles nur ein Scherz war. Ein makaberer, unendlich grausamer Scherz und dass sie jetzt nach Hause gehen würden. Aber Dresner sagte nichts. Er sah Kael nur voller Stolz an. Scott wollte ihm eine reinhauen. „Es reicht, Robert.“ Avas Drohne war zwischen Dresner und Kael geflogen. Die Luft unter dem Gerät schimmerte bläulich und Avas Gestalt erschien auf dem Dach. Dresners Miene hellte sich auf. „Ah, Ava. Wie schön, dich wiederzusehen.“ Avas Gesicht blieb ausdruckslos. „Du hast mich deaktiviert.“ Dresner lächelte. „Nun, eigentlich war das mein altes Ich. Aber andererseits … ja, du hast recht. Immerhin bin ich immer noch ich. Alle Erinnerungen von Robert Dresner befinden sich jetzt hier oben drin.“ Er tippte sich gegen die Schläfe. „Mit Ausnahme der wenigen Minuten, die wir beide getrennt voneinander verbracht haben. Aber wie ich hörte, wurde er in dieser Zeit umgebracht. Ich denke also, dass ich nicht viel verpasst habe. Auf eine Nahtoderfahrung mehr oder weniger kommt es nun wirklich nicht an.“ Ava knurrte leise. „Was willst du?“ Dresner zog erstaunt die Augenbrauen nach oben. „Was ich will? Aber das sagte ich doch bereits. Ich werde die Menschheit retten. Oder wenigstens einen Teil davon. Ich und ein Kreis von Auserwählten werden gemeinsam diese Welt neu erschaffen.“ Ava bewegte sich nicht einen Millimeter von der Stelle. „Und was passiert mit den anderen?“ Dresner antwortete nicht. Ava presste die Lippen aufeinander. „Du weißt, dass ich das nicht zulassen werde.“ „Und wie willst du es verhindern?“ „Indem ich dich aufhalte.“ Schüsse peitschten durch die Luft. Instinktiv warf Scott sich zu Boden und rollte sich zur Seite, während die Salve des plötzlich aufgetauchten ZX-12 den Kiesbelag des Daches in alle Richtungen spritzen ließ. Auch Trix und Kael waren so schnell wie möglich in Deckung gegangen. Einzig Dresner blieb stehen und sah dem heranrasenden Roboter ohne Furcht entgegen. „Dad, pass auf!“ Kael sprang auf die Füße und rannte auf seinen Vater zu. Im letzten Moment stieß er ihn beiseite und geriet somit selbst in die Flugbahn der tonnenschweren Kampfeinheit. Die Turbinen des Roboters jaulten auf. Er vollführte in der Luft eine schier unmöglich erscheinende Drehung und krachte mit voller Wucht zu Boden. Wie ein kleiner Meteorit durchpflügte er den Dachbelag in einem stetig größer werdenden Krater, bis er direkt vor Kael zum Stehen kam. Scott wollte gerade aufatmen, als ein langgezogener Schatten durch die Luft flog. „Ava! Vorsicht!“ Trix’ Stimme schrillte in Scotts Ohren, doch die Drohne reagierte nicht schnell genug. Dresner sprang, holte aus und fegte das Gerät mit einem Schlag vom Himmel. Es knallte gegen eine Betonwand und wurde in tausend Stücke zersprengt. Dresner landete geduckt, kam wieder hoch und wirbelte zu Trix herum. „Es ist zwecklos“, fauchte er. „Ihr könnt es nicht mehr aufhalten.“ Trix kreischte, als der Androide begann, auf sie loszugehen. Scott überlegte nicht lange. Er sprintete auf Dresner zu, hechtete nach vorn und warf ihn mit Schwung zu Boden. Sofort klammerten sich Hände wie Eisenfallen in seine Schultern. Er bekam einen Tritt in den Unterleib, der rote Schmerzblitze vor seinen Augen aufleuchten ließ. Im nächsten Augenblick fühlte er sich gepackt und nach oben geschleudert. Die Dachfläche verschwamm vor seinen Augen, wurde zu einem grauen Schemen und dann war sie plötzlich verschwunden. Sott stürzte ab. Die Luft rauschte an ihm vorbei. Er trudelte. Taumelte. Fiel. Scheiße, ich sterbe. Die Inberg Towers schossen neben ihm in die Höhe. Gleichzeitig sprang ihm der Vorplatz in rasender Geschwindigkeit entgegen. Das wird einen ziemlichen Fleck geben. Auf einmal vernahm er ein Summen, ein Dröhnen. Das Geräusch übertönte selbst das Fauchen des Windes und dann … „Ich hab dich.“ Zwei metallene Arme schoben sich unter seinen Körper. Er wurde schmerzhaft dagegen gepresst, als der ZX12 die Geschwindigkeit drosselte und mit seinen Flugdüsen den Schub umkehrte. Eine riesige Staubwolke wurde aufgewirbelt, als sie nur Zentimeter vor dem Erdboden zum Stillstand kamen. Scott keuchte auf. „Wow! Scheiße! Abgefuckt! Ich hätte tot sein können.“ „Die Wahrscheinlichkeit für dein Ableben bei einem Sturz aus dieser Höhe beträgt 99,8%“ Avas Stimme war neutral, als würde sie über das Wetter reden. Scott lachte. Er jetzt wurde ihm bewusst, wie schnell sein Herz gegen seinen Brustkorb hämmerte. Wie das Blut in seinen Adern sang. „Vielen Dank für die Info.“ „Keine Ursache.“ Scott mochte es sich einbilden, aber für einen Augenblick hatte er das Gefühl, den riesigen Roboter lächeln zu sehen. Gerade als ihm klar wurde, dass er es erwiderte, zuckte Ava auf einmal zusammen. Sie ließ Scott fallen, brach in die Knie und hob die Hände an den Kopf. Ein gequältes Jaulen entkam der riesigen Maschine. Sofort sprang Scott auf die Füße. „Ava? Was ist los?“ „Robert“, zischte sie. „Er hat … er versucht …“ Schatten erschienen am Himmel. Zuerst noch zwei kleine Punkte kamen sie schnell näher. Zu schnell, um zufällig zu sein. Als Scott erkannte, um was es sich handelte, entkam ihm ein saftiger Fluch. „Scheiße, wir müssen hier weg. Schnell!“ Er griff nach dem Arm des ZX-12, aber es war zwecklos. Die Flugzeuge waren heran, bevor sie auch nur einen Schritt gemacht hatten. Wieder warf sich Scott zu Boden. Die Kugeln rissen den Asphalt um ihn herum auf und zerfetzten die Fenster der unteren Stockwerke. Schreie und splitterndes Glas regneten herab. Scott bedeckte so gut es ging sein Gesicht. Ein Stapel Papiere flatterte im Wind davon. Hintereinander schossen die beiden Kampfflugzeuge zwischen den Türmen hindurch. Schon konnte Scott hören, wie sie beschleunigten. Vermutlich um einen Bogen zu schlagen und auf direktem Weg zu ihnen zurückzukehren. Die Gefahr war noch nicht vorbei. Eilig kam Scott auf die Füße. Der ZX-12 war getroffen worden. Die Kugeln hatten die Panzerung nicht durchschlagen, aber ein Teil des Helms war weggesprengt worden und das Visier hatte einen hässlichen Riss. Scott sah sich nach ihren Verfolgern um. „Scheiße, was war das?“ Ava blickte nicht nach oben. „Ein F-97 Aufklärungsflugzeug. Abfangjägerversion. Ausgestattet mit vier Explosiv-Geschossen, einem Granatwerfer und einem Maschinengewehr. Keine Tarnvorrichtung, mittlere Reichweite.“ „Sagtest du gerade Granatwerfer?“ „Ja?“ „Oh Kacke!“ Das ohrenbetäubende Jaulen näherte sich erneut. Die Scheiben der Türme begannen zu zittern. „Ava, tu was!“, schrie Scott. „Schalt sie ab!“ Ava gab ein frustriertes Geräusch von sich. „Das ist leider nicht möglich. Robert hat meine Peripherie-Optionen eingeschränkt.“ „Er hat was?“ „Er hat mich hier drin eingesperrt. Ich habe keinen Zugriff mehr auf das Datennetz.“ Scott wollte gerade erwidern, dass sie sich dann gefälligst was anderes ausdenken sollte, als die Flugzeuge erneut zwischen den Inberg Towers auftauchten. Sie nahmen direkten Kurs auf Scott und Ava und dieses Mal sah es nicht so aus, als wenn sie ihr Ziel verfehlen würden. „Schneller, Ava, schneller!“ „Moment.“ Binnen Sekunden waren die Jäger heran. „AVA!“ „Gleich.“ Scott wollte rennen. Er wollte rennen wie der Teufel, aber er wusste, dass es bereits zu spät war. In diesem Moment löste sich eine Rakete von der Tragfläche des ersten Jägers und jagte genau auf sie zu. Instinktiv wirbelte Scott herum. Scheiß drauf, dass er nicht entkommen konnte, aber er würde es wenigstens versuchen. „Scott! Bleib stehen!“ Ein schwarzes Geschoss bog schlitternd um die Ecke. Mit quietschenden Reifen legte es sich in die Kurve und hielt in vollem Tempo auf Scott zu. Scotts Augen wurden groß. Nein. Nicht der Wagen. Der Lamborghini raste nur Zentimeter an ihm vorbei. Scott konnte den Fahrtwind spüren. Das Auto fuhr direkt auf Ava zu. Von der anderen Seite näherte sich die Rakete. Scheiße! Im letzten Augenblick bremste die schwarze Karosserie. Der Arm des ZX-12 schoss nach rechts, bohrte sich in den Kühler des Luxusschlittens, nutzte den Schwung des Wagens und schleuderte ihn hoch in die Luft. Mit ohrenbetäubenden Krach explodierte die Rakete. Ein Feuerball breitete sich rasend schnell aus und schleuderte glühende Metallteile in alle Richtungen. Scott duckte sich, während scharfkantige Splitter an ihm vorbeizischten. Etwas streifte seine Wange und hinterließ eine heiße, brennende Spur. Dann gab es eine zweite, noch heftigere Explosion, die ihn von den Füßen fegte. Er wurde zu Boden geschleudert, seine Hände schrammten über den Asphalt und sein Kopf machte unliebsame Bekanntschaft mit etwas Hartem, Spitzen. Er schmeckte Staub und Blut. In seinen Ohren fiepte es. Die Welt wurde weiß. „Scott? Bist du in Ordnung?“ Ava Stimme war ganz nahe. Als er blinzelnd die Augen öffnete, beugte sich der riesige ZX-12 über ihn. Mit schief gelegtem Kopf sah er auf Scott herab. Scott stöhnte. Es fühlte sich an, als wäre jeder einzelne Knochen in seinem Körper gebrochen oder wenigstens nicht mehr an der Stelle, an die er eigentlich gehörte. Außerdem waren mindestens zwei Zähne locker und er war sich sicher, einen Teil seiner Zunge eingebüßt zu haben. Das hätte die Menge an Blut in seinem Mund erklärt. Mühsam fummelte er die Maske von seinem Gesicht und spuckte aus.Um ihn herum ein Trümmerfeld. Einige der verbogenen Metallteile staken mitten im Straßenbelag, andere lagen einfach so in der Gegend herum. Der größte Teil jedoch steckte in der Fassade des Inberg Towers. Er hatte die Form zweier ineinander verkeilter Flugzeugleichen. „Ja“, krächzte er anschließend. „Zumindest ein Teil von mir ist noch am Leben.“ „Dann komm. Wir müssen Robert aufhalten.“ Die Rauchsäule der abgestürzten Jäger blieb hinter ihnen zurück, als Ava mit ihm in die Höhe schoss. Sie hatten kaum den Dachrand erreicht, als Scott sich plötzlich erneut im freien Fall befand. Das Dach kam rasend schnell näher und er konnte sich gerade noch rechtzeitig abrollen, bevor er mit dem Gesicht im Schotter landete. Ava stürzte sich ansatzlos auf Dresner. Der alte Mann wurde durch die Wucht des Aufpralls durch die Luft geschleudert, drehte sich im Sprung und landete geschickt auf den Füßen. Wütend bleckte er die Zähne. Der Kampfroboter fuhr seine Waffen aus. „Gib auf, Robert. Du kannst nicht gewinnen.“ Dresner lachte höhnisch. „Aber das habe ich doch schon längst. Hast du es nicht gemerkt? Die Stadt steht jetzt unter meiner Kontrolle. Du bist machtlos. Gebunden an diesen Körper. Wenn er vernichtet wird …“ „Werde ich ausgelöscht“, unterbrach Ava ihn. Ihr Ton war vollkommen leidenschaftslos. Trotzdem meinte Scott etwas wie ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. „Aber du hast etwas übersehen, Robert. Du hast mich programmiert, damit ich die Menschen in dieser Stadt beschütze. Du hast jedoch vergessen zu erwähnen, dass das auch für Androiden gilt.“ Ava sprang. Der Arm des ZX-12 schoss vor und mechanische Finger schlossen sich um Dresners Kehle. Im selben Augenblick erglühte die Gestalt des Roboters in einem blauen Licht. Funken stoben in alle Richtungen. Dresner schrie auf und versuchte sich zu befreien. Elektrizität tanzte um ihn herum. Der beißende Geruch von Ozon, verbrannten Haaren und kochendem Fett erfüllte die Luft. Dresners Haut wurde schwarz. Seine Kleidung ging in Flammen auf. Er kreischte, zuckte und fauchte. Das Fleisch schmolz von seinen Knochen. In zähen Tropfen rann es herab und platschte zu Boden. Doch immer noch weigerte der Androide sich zu sterben. Seine klauenartigen Hände hieben auf die Arme des ZX-12 ein. Sie zerfetzten die Panzerung, rissen Kabel und Drähte aus ihren Verankerungen und bohrten sich schließlich in das freigelegte Endoskelett. Mit beiden Füßen stemmte er sich gegen den Brustkorb des Roboters, um den Arm aus der Verankerung zu reißen. Ava jedoch ließ nicht locker. Unbarmherzig drückte sie immer weiter zu. Mit einem Ruck trennte sich Dresners Kopf von seinem Rumpf. Er flog durch die Luft und landete irgendwo im Gewirr der Dachaufbauten. Der Rest des Körpers hing leblos in der Hand des ZX-12, bevor sie ihn achtlos fallen ließ. „Fuck!“ Trix war offenbar die Erste, die sich von dem Schock erholt hatte. „Scheiße, der ist weg. Er ist echt weg!“ Ihr Jubeln wurde etwas gedämpft, als sie Kael entdeckte. Der Junge starrte unverwandt auf den schwelenden Haufen Metall zu Avas Füßen. „Oh, sorry“, nuschelte Trix. „Ich wollte nicht … also, es war ja dein Vater und so.“ Der ZX-12 richtete sich auf. Von dem ehemaligen Kampfroboter war nur noch eine Ruine übrig. Lose Drähte hingen überall herab, Kratzer, Schrammen und klebrige Rückstände, von denen Scott lieber nicht so genau wissen wollte, was sie waren, bedeckten die Reste ihres Panzers. „Alles in Ordnung, Kael?“, fragte sie sanft. Der Junge hob den Blick. Tränen hatten helle Spuren in die Staubschicht auf seinem Gesicht gewaschen. Langsam schüttelte er den Kopf. „Nein. Nichts ist in Ordnung. Dad … dieses Ding … er hat … ich …“ Kaels Stimme versagte. Scott erhob sich und ignorierte das Stechen, das dabei durch seine Rippengegend schoss. Irgendetwas da drinnen war mit Sicherheit gebrochen. „Hör zu, Junge, ich …“ Kael wich vor ihm zurück. „Nein. Bleib weg von mir!“ Mit vorgestreckten Armen stolperte Kael rückwärts bis er mit dem Rücken gegen die Brüstung stieß. Ehe Scott sich versah, war er hinauf geklettert und stand dort oben schwankend im blassen Licht des Morgens. Der Wind zerrte an seinen Haaren und Kleidern. „Bleib weg von mir“, wiederholte er. Seine Augen waren weit aufgerissen. Scott machte einen Schritt auf ihn zu. „Hör mal, das …“ „NEIN!“ Kaels Stimme wurde panisch. Noch immer starrte er Scott unverwandt an. „Du musst weg von mir. Ich … ich bin auch so ein Ding.“ Scott sah, wie Trix die Stirn runzelte. Auch Ava machte Anstalten, sich auf Kael zuzubewegen. Scott hielt sie zurück. Er räusperte sich. „Hör mal, ich weiß, dass das jetzt ne ganze Menge war, was du da auszustehen hattest. Aber dein Vater … war durchgeknallt. Das passiert manchmal, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Aber nur, weil dein alter Herr nicht alle Lötstellen an der richtigen Stelle hatte, heißt das noch lange nicht, dass du auch ein wahnsinniger Killer bist. Guck dir Ava hier an. Sie ist auch ein Computer und steht auf unserer Seite.“ Kaels Blick huschte kurz zu Ava, bevor er sich wieder an Scott hängte. Scott konnte sehen, wie sich sein Brustkorb hob und senkte. „Aber was … wenn ich auch irgendwann durchdrehe. Der Androide im Labor ist durchgedreht. Mein Vater ist durchgedreht. Dass sind zwei von drei.“ Scott lächelte schwach. So gesehen hatte Kael vielleicht recht. „Mag sein, aber sie hatten Angst. Waren verzweifelt. Wütend. Man hat sie angegriffen und sie haben sich verteidigt.“ Kael verzog den Mund zu einer Grimasse. „Und ich? Ich habe dich angegriffen. Obwohl ich … obwohl du mein Freund bist. Ich hätte dich umbringen können. Wenn ich nur ein bisschen fester zugeschlagen hätte, hätte ich …“ „Hätte, hätte, Fahrradkette“, äffte Trix. „Tatsache ist doch aber, dass du das nicht hast. Meine Güte, ich hätte meinen Bruder auch schon mal fast aus Versehen abgeknallt, weil er nachts ohne Vorwarnung in mein Zimmer kam. So was kommt vor“ „Es dürfte aber nicht vorkommen.“ Trix schnaubte, aber Kael beachtete sie nicht mehr. Sein Blick richtete sich erneut auf Scott. „Ich kann nicht bleiben. Wenn ich es tue, werden … schlimme Dinge passieren. Ich weiß es. Ich habe es gesehen.“ Scott runzelte die Stirn. „Wo hast du es gesehen?“ „In meinen Träumen.“ Ein schmales Lächeln erschien auf Kaels Gesicht. „Zuerst wusste ich nicht, was es bedeutet, aber jetzt … jetzt ist mir klar, was ich gesehen habe. Ich sah eine zerstörte Welt. Verwüstet, öde und vollkommen leer. Der Einzige, der noch am Leben war, war ich. Ansonsten war da nur Staub.“ Scott wollte Kael sagen, dass das Unsinn war. Dass sie verhindern würden, dass es so weit kam. Aber er konnte es nicht. Er wusste, was passieren würde, wenn irgendjemand Kael in die Finger bekam und herausfand, was er war. Es würde das passieren, was immer passierte, wenn ein Kind einen größeren Stock fand als ein anderes. Scotts Kehle wurde eng, als ihm klar wurde, was das hieß. „Aber ich will nicht, dass du gehst“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Ich will dich nicht verlieren.“ Kaels Lächeln wurde eine Spur heller. „Das weiß ich. Aber es muss sein.“ Mit diesen Worten drehte Kael sich um. Er trat noch einen Schritt vor, sodass seine Fußspitzen über die Dachkante reichten. Scott wusste, dass er springen würde. „Halt!“ Avas Stimme ließ Kael zusammenzuckten. Der riesige Roboter schob sich an Scott vorbei. „Es gibt noch eine Möglichkeit.“ Kael drehte sich nicht um. Immer noch starrte er in die Tiefe. „Was für eine Möglichkeit“, flüsterte er. „Ich werde dich von hier fortbringen. Weit, weit weg, wo niemand dich finden kann. Dort wirst du schlafen und du wirst träumen. Von einer Welt, die besser ist als diese hier.“ Kael sah über die Schulter zurück zu der riesigen Gestalt, die so sanft mit ihm sprach wie eine Mutter mit ihrem Kind. „Wird mich auch wirklich niemand finden?“, fragte er nach. „Niemand. Nicht einmal ich. Ich verspreche es dir.“ Der ZX-12 streckte seine Arme aus. „Komm. Komm zu mir, Kael.“ Der Junge machte einen Schritt und dann noch einen, bis er die große Gestalt erreicht hatte. Blass sah er zu Ava auf. „Danke“, sagte er leise. „Für dich immer.“ Mit einem Aufseufzen ließ Kael sich nach vorne sinken. Scott konnte sehen, wie er den lädierten Roboter umarmte, bis Ava den Kopf senkte. Ein kurzer Blitz, ein Aufleuchten und Kael sackte in sich zusammen. Scott schrie auf. „Was hast du getan?“ Avas Kopf hob sich wieder. „Das, was ich tun musste. Ich habe ihn abgeschaltet.“ Fassungslos starrte Scott den leblosen Androiden an. Am liebsten hätte er ihn Ava aus den Armen gerissen. Aber er tat es nicht. Er stand einfach nur da. „Und jetzt?“, fragte er tonlos. „Willst du ihn auch verbrennen? Oder auseinanderreißen? In alle vier Winde vom Inberg Tower streuen?“ „Nein. Wir werden das tun, was ich ihm versprochen habe.“ Scott wusste nicht, wie Ava das Flugzeug organisiert hatte, dass kurz darauf auf dem Dach des Gebäudes landete. Es war derselbe Typ, der sie vor noch nicht einmal eine Stunde hatte in Grund und Boden schießen wollen. Ohne ein weiteres Wort drapierte er Kaels leblosen Körper auf dem Sitz des Fliegers. Als er zurücktrat, sah es tatsächlich so aus, als würde der Junge schlafen. „Mach’s gut, Kumpel. Und grüß, wen auch immer du auf der anderen Seite triffst, von mir.“ Scott schloss die Luke des Abfangjägers. „Und wie geht es jetzt weiter?“ „Ich werde den Autopiloten auf ein zufälliges Ziel programmieren. Wenn es einmal gestartet ist, werde nicht einmal ich wissen, wo es gelandet ist.“ Scott nickte und drehte sich wieder zu dem Flugzeug herum. „Dann mach es so.“ Ein Aufjaulen begleitete den Start der Motoren. Das Geräusch wurde immer höher, während die Turbinen sich schneller und schneller drehten. Schließlich hob der Jäger senkrecht vom Boden ab und schwebte hoch in die Luft. Als er etwa zweihundert Meter über dem Boden angekommen war, heulten die Motoren noch einmal auf, dann zischte das Flugzeug in den blassen Himmel hinein. Nach nur wenigen Minuten war es bereits zu einem fast unsichtbaren Punkt am Horizont geschrumpft, den Scott schon im nächsten Moment aus den Augen verlor. Er atmete tief durch. Im gleichen Augenblick fing eine rote Lampe vor seinem Auge an zu blinken. Sauerstoffalarm. Scott seufzte. „Ich muss wieder auftanken“, sagte er und tippte gegen die Maske. „Ja, meine ist auch gleich leer“, stimmte Trix zu. Sie sah hinüber zu Ava, deren Blick immer noch in Richtung Ödland gerichtet war. „Meinst du, sie wird drüber hinwegkommen?“ Scott betrachtete die zerbeulte Gestalt, die am Rand des Daches stand, und er erinnerte sich daran, was er gedacht hatte, als er Ava das erste Mal gesehen hatte. „Ich weiß es nicht“, sagte er schließlich. „Aber ich glaube, dass sie ihn für sehr, sehr, sehr lange Zeit vermissen wird.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)