Roter Mond von Maginisha ================================================================================ Kapitel 10: Eine bessere Welt ----------------------------- Je näher sie den zwei in sich gedrehten Doppeltürmen kamen, desto mehr wuchs Scotts Unbehagen. Dieses Gebäude repräsentierte alles, was er hasste. Macht, Einfluss und Geld. Viel Geld. Unendlich viel Geld. Wenn Inberg gewollt hätte, hätte er vermutlich die ganze Stadt kaufen können und nicht einmal ein Loch in der Portokasse gehabt. Und es war ihm egal. Vielleicht war es das, was Scott so abstieß. Die Gleichgültigkeit, perfekt repräsentiert durch die makellosen, glatt polierten Oberflächen der riesigen Fensterfronten. Zu perfekt, um ihnen beizukommen. „Und … was wollen wir hier?“, wollte Trix wissen. Auch sie sah mit gerunzelter Stirn zu den in warmem Gelb erstrahlenden Mahnmalen von Luxus und Reichtum empor. „Amos Inberg hat seine privaten Räume in einem der Türme. Der Bereich ist zugangsgesichert und verfügt außerdem über eine Abschirmung, die es ihm ermöglicht, dort drinnen ungesehen alles zu tun, wonach es ihm beliebt.“ „Du meinst, er hat dich ausgesperrt“, bemerkte Scott grinsend. Ava warf ihm einen eindeutigen Blick zu, der sein Grinsen nur noch breiter werden ließ. „Alle Ein- und Ausgänge in diesen Bereich werden registriert. In den Aufzeichnungen gibt es eine Unregelmäßigkeit.“ „Eine Unregelmäßigkeit?“ Trix stellte mal wieder ihre Dackelfalten zur Schau. „Was denn für eine Unregelmäßigkeit?“ „Vor einigen Tagen wurde ein Eingang registriert, wie mir eine kurze Durchsicht der Datenbanken eröffnete. Jedoch wurde seit dem kein zusätzlicher Ausgang mehr verzeichnet. Bis heute.“ „Und weiter?“ „Die Person, die den Bereich verlassen hat, kann nicht gescannt werden.“ Scott brauchte einen Augenblick, bis er verstand, was Ava damit sagen wollte. Es gab also noch jemanden, der die gleiche Eigenschaft hatte wie Kael. Aber wer? Scotts Gedanken pulsierten. Er versuchte, das Puzzle zusammenzusetzen. Die Teile waren da, dessen war er sich sicher, aber er kam einfach nicht darauf, was für ein Bild sie ergaben. „Wir müssen da rein“, stellte er fest. Die Lösung, da war er sich sicher, lag irgendwo da oben. „Genau das sagte ich bereits“, erwiderte Ava verschnupft. „Ich werde euch begleiten.“ „Ich denke, du kannst da nicht rein.“ „Es gibt auch dafür Mittel und Wege.“ Statt sich weiter zu erklären, steuerte Ava den Wagen in eine der Seitenstraßen. Scott hätte erwartet, dass auch hier das Leben pulsierte, aber die Straße war wie ausgestorben. Auf seine Frage hin, lächelte Ava. „Es gab eine Umleitung“, informierte sie ihn fast schon fröhlich. „Der ganze Bereich muss aufgrund eines technischen Fehlers des Verkehrsleitsystems weiträumig umfahren werden.“ Scotts Mundwinkel zuckten, aber noch bevor er etwas erwidern konnte, erlosch Avas Bildschirm. Dafür senkte sich ein Schatten über den Wagen. Ein Truppentransporter, ähnlich dem, mit dem sie in die Stadt gekommen waren, hielt neben dem Wagen. Die Türen öffneten sich, aber der Transporter war leer. „Was soll das?“, murrte Scott, aber Kael hatte bereits die Tür geöffnet und war ausgestiegen. Scott folgte ihm und auch Trix kletterte von der nicht vorhandenen Rückbank aus nach draußen. Als sie dort angekommen war, hielt Kael gerade ein dunkelblaue Stück Stoff nach oben. „Uniformen?“, sagte er verblüfft. „Und was sollen wir damit?“ „Vermutlich anziehen.“ Scott wollte gerade etwas darauf erwidern, als ein nur allzu bekanntes Objekt auf ihn zugeschwebt war. Es war eine der Überwachungsdrohnen, doch sie war größer als die, die Scott kannte. Warum das so war, erkannte er, als die Drohne ein Stück neben ihm in Kopfhöhe schweben blieb und einen bläulichen Lichtkegel unter sich warf; in ihm ein Abbild von Ava. „Los, zieht euch um. Wir gehen rein.“ Ein kleiner Teil von Scott wollte dagegen aufbegehren, sich von einer Frau, noch dazu noch nicht mal von einer echten, herumkommandieren zu lassen, aber der sehr viel größere Teil von ihm wusste, dass sie recht hatte. Also schälte er sich ebenso wie die beiden anderen aus seinen Klamotten und stieg in einen der dunkelblauen Overalls. Eine passende Schirmmütze zog er sich tief ins Gesicht und streifte obendrein eine der kugelsicheren Westen über. Damit wirkte er mit Sicherheit überzeugender, als die beiden anderen. Kaels Uniform war ein Stück zu groß und Trix bekam ihre Haare nicht gebändigt. Irgendwann schmiss sie die Mütze frustriert beiseite. „Der Scheiß passt nicht. Muss ohne gehen.“ Ava verzog keine Miene. „Dann los. Beeilt euch. Der Fleck bewegt sich.“ Sie schaltete die Projektion aus und flog voran. Scott, Trix und Kael folgten ihr. Niemand beachtete sie, als sie die große Halle betraten. Der ID-Scanner am Eingang hatte keinen Alarm geben und so begrüßten sie lediglich ein paar weitere Wachleute, deren Uniformen haargenau so aussahen wie die, die sie trugen. Scotts Schritte hallten über den glatt polierten Marmor. „Seht niemandem in die Augen“, erinnerte er die anderen leise. „Und bewegt euch, als würdet ihr hierher gehören. Nur nicht umsehen. Einfach weitergehen.“ Sie passierten den Empfangstresen und gingen auf die Aufzüge zu. Um sie herum glänzte, blitzte und blinkte es. Edelste Steine, Chrom und Glas bildeten auch hier drinnen eine eindrucksvolle Atmosphäre, in der man das Geld nahezu riechen konnte. Trix stieß einen leisen Pfiff aus. „Wow. Allein mit den Türklinke der Klos könntest du bei uns einen Monat lang gut leben. Inklusive Pay-TV.“ „Denk nicht mal dran“, zischte Scott zurück und beschleunigte seine Schritte ein wenig, um sich zwischen Trix und die goldglänzenden Klinken zu setzen. Sicher war sicher. Nach nervenaufreibenden Minuten erreichten sie endlich die Ecke mit den sechs glänzenden Fahrstuhltüren. Genau in dem Moment, in dem sie dort angelangten, öffnete sich eine von ihnen und zwei Geschäftsleute passierten die Gruppe. Sie trugen keine Masken und Scott wurde sich bewusst, dass vermutlich der gesamte Turm mit atembarer Luft gefüllt war. Was für eine Verschwendung. Mit grimmiger Miene betrat er die Kabine. „Welches Stockwerk?“, wollte Trix wissen und sah die Drohne fragend an. „Unser Flüchtiger befindet sich mittlerweile auf Höhe des 119. Stockwerks. Inbergs private Räume befinden sich in Etage 115.“ Scott überlegte nicht lange. „Bring uns zuerst zu Inberg.“ Trix zog die Nase kraus. „Bist du sicher?“ „Es wäre logischer, zuerst den Flüchtigen festzusetzen“, wandte auch Ava ein. „Sollte Inberg seine Räumlichkeiten verlassen, würde ich es mitbekommen. Scott war sich nicht sicher, ob das wirklich der Fall war oder ob Inbergs technische Spielereien inzwischen nicht in der Lage waren, Ava auszutricksen. Dass er das konnte, hatte er immerhin schon bewiesen. Außerdem sagte ihm sein Gefühl, dass sie zuerst in dessen Wohnung nachsehen sollten. „Nein“, sagte er bestimmt. „Wer immer dort oben ist, kann irgendwann nicht weiter. Wenn Inberg aber noch dort ist, wird er uns durch die Lappen gehen. Wir sollten ihn daher zuerst suchen und danach die restlichen Stockwerke Stück für Stück durchkämmen. Auf diese Weise bekommen wir sie beide.“ Keiner der anderen Anwesenden erhob Einsprüche dagegen und so drückte Scott den Fahrstuhlknopf für den 115. Stock. Nicht einmal eine Minute später öffneten sie sich bereits wieder und entließen sie in einen Gang mit weichen Teppichböden und geschmackvollen Bildern. Ein Ort, an dem einen der Luxus förmlich ansprang, und wenn es nur daran lag, dass alles hier auf seltsame Weise „echt“ wirkte. Keine billigen Kopien, sondern reine, pure Realität zum Anfassen. Etwas, dass Trix auch sofort tat, kaum dass sie einen Fuß in den Flur gesetzt hatte. „Boah, seht euch das an! Ist das Holz?“ Sie strich bewundernd über die Armlehne eines Sessels, bevor sie sich hineinfallen ließ und genießend die Augen schloss. „Okay, hiermit ist es offiziell. In diesem Stuhl möchte ich beerdigt werden.“ „Du wirst nicht beerdigt. Nur wiederverwertet.“ „Ach, du verstehst aber auch überhaupt keinen Spaß.“ Trix schoss einen wütenden Blick auf Scott ab, erhob sich aber wieder, nur um mit bewundernden Lauten über die Tapeten zu streichen, den Teppichboden und dann … „Okay, das ist aber genau wie zu Hause“, meinte sie und wies auf einen dunklen Fleck auf dem Boden. Als Scott nähertrat, entdeckte er einen eindeutigen Abdruck. „Es handelt sich um Blut“, erklärte Ava leidenschaftslos, nachdem sie den Fleck gescannt hatte. „Blut in Form eines Schuhabdrucks Größe 9 ½. Die Blutgruppe stimmt mit der von Amos Inberg überein.“ Plötzlich hatte Scott es eilig, zur Tür am Ende des Ganges zu kommen.   „Verschlossen“, stellte er fest. Eine einzelne Kameralinse auf Kopfhöhe grinste ihn höhnisch an. Es war offensichtlich, dass nur Inberg selbst Zutritt zu diesen Räumen hatte. Inberg oder jemand, der eines seiner Augen hatte.   „Wir könnten klingeln“, schlug Trix vor. Scott würdigte diesen Einwurf keines Kommentars. Er wandte sich an die Drohne. „Kannst du uns öffnen?“   Das kleine Gerät schwebte für einen Augenblick unbeweglich in der Luft, bevor es frustriert piepste. „Tut mir leid, das System ist unabhängig. Ich komme nicht so schnell durch die Firewall.“ „Ich könnte es probieren.“   Alle Augen – und Kameras – richteten sich auf Kael. Er zog leicht die Schultern noch. „Ich könnte versuchen, mit ihm zu reden.“   Scott brauchte nicht lange, um sich zu entscheiden. „Dann los. Zeig mal, was du kannst, Tiger.“   Kael warf ihm einen unsicheren Blick zu, bevor er zu der Tür ging und direkt in die Kamera schaute. Scott vermochte nicht zu sagen, wie lange die stumme Zwiesprache dauerte, aber nach einigen Minuten blinkte eine kleine, grüne Lampe über der Tür auf und sie glitt lautlos zur Seite. Kael sah sich zu ihnen um. „Es ist offen“, sagte er überflüssigerweise. Scott sah ihn an und … nickte, bevor er an Kael vorbei in Inbergs private Räume vordrang. Die Wohnung war in klaren, kalten Linien eingerichtet. Glas, Chrom und verschiedene Grautöne von leichtem Silber bis hin zu dunklem Anthrazit beherrschten die Szenerie. Auf den fast schon schwarz wirkenden Fliesen war es schwerer, die Spuren zu erkennen, aber auch hier gab es blutige Fußabdrücke. Sie kamen von einer Tür an der anderen Seite des Wohnzimmers. „Bleibt hinter mir“, sagte er und zog das Messer aus seinem Stiefel. Was immer hinter dieser Tür war, er wollte ihm nicht mit leeren Händen begegnen. Vorsichtig und immer auf einen Angriff gefasst, huschte Scott durch das Wohnzimmer und drückte sich lauschend neben der hellen Schiebetür an die Wand. Er wartete, bis die anderen ebenfalls in Deckung gegangen waren, bevor er den Knopf auf dem Bedienfeld betätigte. Mit einem sanften Zischen öffnete sich die Tür und sofort roch Scott, was er bereits befürchtet hatte. Der Raum stank nach Blut, Schweiß und Exkrementen. Zu hören war jedoch nichts. Scott atmete noch einmal tief ein, bevor er sich, das Messer voran, den Raum betrat. Das Erste, was er sah, war der blutbesudelte, weiße Teppichboden. Rote Schlieren zierten den Stoff und erweckten den Eindruck, dass hier jemand gerade eine Schlachtung vorgenommen hatte. Ein Blick auf das Bett offenbarte ihm, dass der Eindruck nicht täuschte. Das, was dort inmitten der blutgetränkten Laken lag, war nichts für schwache Nerven. „Kael, du solltest lieber … draußen bleiben.“ Der Blick des Jungen war starr auf das Bett gerichtet. „Oh Scheiße“, kommentierte jetzt auchTrix die Szene, die sich ihnen bot. „Was haben sie denn mit dem angestellt?“ Neben ihr flimmerte die Luft und Avas bläuliche Gestalt erschien. „Die Behandlung, der Amos Inberg unterzogen wurde, ähnelt einigen antiquierten Foltermethoden. Da wäre zum Beispiel das chinesische Lingchi, bei den dem Opfer zunächst Teile der Brust und des Oberschenkels entfernt wurden. Es folgten die Arme und Beine und abschließend der Kopf. Das in England gebräuchliche Hängen, Ausweiden und Vierteilen scheint ebenfalls Anwendung gefunden zu haben, wobei dafür die Anzahl der Körperteile nicht ganz den Vorgaben entspricht. Nicht zuletzt erinnert die Öffnung des Torsos an das bereits in einem sehr frühen Werk der deutschen Geschichte beschriebene Ausdärmen. Alle drei wurden in der Regel als Strafe für Hochverrat verhängt. “ Das nüchterne Urteil und die Sachlichkeit, mit der Ava das Ganze vortrug, brachten Scott wieder ein wenig zurück auf den Boden der Tatsachen. Das hier war ein Mord, wie er ihn schon zu Dutzenden gesehen hatte. Nur, weil es dieses Mal einen Reichen erwischt hatte und noch dazu in seinem eigenen Bett, war dies kein Grund, sich ins Hemd zu machen. Er hoffte zudem, dass Amos Inberg nicht viel von der Prozedur gespürt hatte, obwohl ihm irgendetwas sagte, dass das nicht der Fall gewesen war. Vielleicht das zu einer entsetzten Grimasse verzerrte Gesicht, auf dem man immer noch das Grauen sehen konnte, dass diese Mensch in seinen letzten Augenblicken empfunden haben musste. Im Zimmer gab es außer den Fußabdrücken keinen weiteren Hinweis auf den Täter. Lediglich das nachlässig zur Seite geworfene Tranchiermesser, das seinen Platz wohl eigentlich im Messerblock der edlen Designerküche hatte, die an das Wohnzimmer angrenzte, zeugte davon, dass derjenige diese Schweinerei auch noch mit eigenen Händen angerichtet haben musste. Wer immer es gewesen war, musste somit voller Blut sein. Und Scott hatte so eine Ahnung, wer es sein würde. „Am besten trennen wir uns. Ava und ich werden mit dem Aufzug nach oben fahren; ihr nehmt die Treppe. Wenn ihr dem Typen begegnet, versucht ihn aufzuhalten, aber bringt euch nicht in Gefahr.“ Trix zog einen Flunsch. „Warum muss ich laufen?“, nörgelte sie. „Und was soll das eigentlich heißen 'nicht in Gefahr bringen'? Der Typ ist total irre. Am besten machen wir, dass wir von hier wegkommen. Am Ende hängen sie uns diese Scheiße noch an.“ Scott musste zugeben, dass das das Vernünftigste war, was er in den letzten 24 Stunden gehört hatte. Und doch … „Ich kann nicht gehen“, sagte er. Trix rümpfte die Nase. „Warum nicht? Ist doch ganz einfach. Wir wischen deine Fingerabdrücke vom Türöffner und verduften wieder.“ Scott lächelte schwach. „Trotzdem. Es geht nicht, Trix. Aber wenn du gehen willst …“ Sie blies die Backen auf. Er konnte sehen, wie sie mit sich rang. Wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre, er hätte gewusst, wie er sich entschieden hätte. Aber Trix war nicht er. „Ach, ich weiß nicht“, meinte sie schließlich. „Ist ein langer Weg bis nach Hause. Und was mache ich dann da? Auf dem Sofa sitzen und Däumchen drehen, während ihr die Welt rettet. Nä. Ich meine, das hier ist real. So richtig real, verstehst du, was ich meine?“   Scott nickte. Er wusste nur zu gut, was sie meinte.   Trix grinste breit und nickte mit dem Kopf in Kaels Richtung.   „Na komm, wir nehmen die Treppe.“ Mit Kael im Schlepptau setzte Trix sich in Bewegung und rollte hoheitsvoll in Richtung Tür. Auf dem Weg machte sie noch schnell einen Abstecher in die Küche. Scott hörte sie in den Schubladen herumwühlen. Er war sich sicher, dass sie Inberg um mindestens drei Löffel und vier Gabeln erleichterte.   Als sie endlich weg war, atmete Scott hörbar aus. Ava, die neben ihm „stand“, musterte ihn besorgt. „Ist mit dir alles in Ordnung? Deine Vitalwerte zeigen einen erhöhten Stresslevel.“ Scott lachte leicht. „Tja, weißt du, das passiert bei Menschen, die mit größeren Mengen von Blut konfrontiert werden. Da kommt unserer innerer Höhlenmensch zum Vorschein. Kampf oder Flucht. Du verstehst?“ „Und du hast dich für Kampf entschieden.“ Scott seufzte. „Sieht so aus, oder?“ „Warum?“ Scott sah Ava fragend an. „Wie meinst du das?“ „Nun, die Verletzung von Amos Inberg lassen darauf schließen, dass der Täter äußerst brutal und gleichzeitig präzise vorgegangen ist. Wenn ich die Schnittfolge richtig analysiert habe, hat er den größtmöglichen Schaden mit der längstmöglichen Bewusstseinsdauer verbunden. Es steht also zu befürchten, dass er auch vor weiteren Morden nicht zurückschrecken wird. Sollte dich das nicht eher zur Flucht antreiben.“ Scott verzog den Mund zu einem freudlosen Lächeln. „Tja, sollte man meinen, oder? Aber die Sache ist, dass ich noch nie besonders gut darin war, mich rauszuhalten. Erbmasse meiner Mutter vermute ich. Sie starb bei einem Aufstand gegen die Polizeigewalt.“ Ava machte ein bedauerndes Gesicht. „Ich habe die Berichte gesehen. Auch die Todesanzeige deines Bruders war darunter. Es hieß, er starb an Sauerstoffmangel. Wie kam es dazu?“ Scott unterdrückte den Wunsch, Ava zu sagen, dass sie das nichts anging. Wer wusste schon, ob er irgendwann die Gelegenheit bekam, die Geschichte noch einmal jemandem zu erzählen. „Mein Bruder starb … durch einen Unfall. Ich und er, wir haben gespielt. Ein leerstehendes Gebäude. Das war natürlich verboten, aber wir haben uns nicht darum gekümmert. Irgendwann ist der Boden unter uns weggebrochen. Ich konnte mich noch festhalten, aber mein Bruder Charlie rutschte in die Tiefe, schlug mit dem Kopf auf und verlor das Bewusstsein. Ich lief los, um Hilfe zu holen. Leider hatte ich dabei nicht gemerkt, dass bei dem Sturz seine Maske kaputtgegangen war. Als wir zurückkamen und ihn fanden, war sein Gehirn bereits irreparabel geschädigt worden. Er ist nicht wieder aufgewacht.“ Ava musterte Scott. „Ich verstehe“, sagte sie mitfühlend. Fast erwartete Scott, dass sie noch mehr sagte, aber zum Glück begann in diesem Moment die Warnleuchte seiner Sauerstoffversorgung zu blinken. Mit mehr Umstand, als eigentlich notwendig gewesen wäre, zog er die letzte der kleinen Kapseln hervor. „Tja, ich würde sagen, entweder das klappt oder ich werde rausfinden, ob es wirklich ein Leben nach der Wiederverwertung gibt.“ Der Aufzug brachte Scott die letzten Stockwerke bis zum Dach. Als sich die Tür der Luftschleuse öffnete, wehte ihm ein frischer Wind entgegen. Es war dunkel, aber am Himmel waren bereits die ersten Anzeichen des Sonnenaufgangs sichtbar. Ein schmaler Streifen, der wohl eigentlich hätte orange sein müssen, aber im Dunst der Stadt eher graugrünlich erschien. Nicht einmal Sonnenaufgänge sind noch das, was sie mal waren. Mit diesem Gedanken betrat Scott die Dachterrasse. Er brauchte nicht lange, um die Gestalt am Rand des Daches auszumachen. Der Mann, dessen Hemd auch auf die Entfernung hin als an den Ärmeln dunkel verfärbt zu erkennen war, stand an der Balustrade und sah auf die Stadt hinunter. Als Scott näherkam, erkannte er, dass es sich um einen älteren Mann mit schütteren, weißen Haaren handelte. Die Brille fehlte. Trotzdem erkannte Scott sein Gegenüber sofort. „Robert Dresner?“, fragte er. Der Mann drehte sich zu ihm herum. „Ja, der bin ich.“ Er musterte Scott von oben bis unten. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Mein Name ist Scott McKenzie. Ich bin im Auftrag ihres Sohnes hier.“ Die Erwähnung von Kael löste offenbar eine Reaktion aus. Dresner begann zu lächeln. Scott konnte es klar erkennen, denn er trug keine Maske. Keine Maske? Aber wir sind draußen. Was bedeutet das? Was geht hier vor? „Das trifft sich hervorragend“, sagte der Mann, der behauptete Robert Dresner zu sein. „Ich nehme an, Sie wissen, wo ich ihn finden kann?“ Scott nickte langsam. „Ich kann Sie zu ihm führen. Aber zuerst sollten wir uns unterhalten.“ Der Mann machte einen Schritt vom Rand des Daches weg und Scott war sofort in Alarmbereitschaft. Als Dresner das sah, lächelte er. „Oh keine Sorge. Ich habe nicht vor, Sie zu verletzen.“ „Ach nein?“ „Nein. Warum sollte ich?“ „Ich weiß nicht. Vielleicht, weil sie ein armer Irrer sind, der Leute mit ihrem eigenen Steakmesser aufschlitzt?“ Dresners Lächeln wurde ein wenig schmaler. „Ich nehme an, dass Sie von Amos sprechen. Nun, in dem Fall lag die Sache ein wenig anders. Amos und ich hatten eine … rege Diskussion bezüglich einer philosophischen Frage, infolge derer er unglücklicherweise verstorben ist.“ Scott lachte bitter auf. „Unglücklicherweise verstorben? Sie haben ihn abgeschlachtet.“ „Ja, das könnte man so sehen, aber sein Tod war nicht der eigentliche Sinn der Übung. Der bestand darin herauszufinden, wie viele Teile seines Körpers wir entfernen können, bevor er seine Menschlichkeit verliert. Und wissen Sie was? Er bestand bis zum Schluss darauf, dass nur er ein Mensch wäre, wohingegen ich …“ Dresner sprach nicht weiter. Er lächelte nur mit ausgestrecktem Arm. Scott betrachtete die Gliedmaße, die die eines älteren Mannes war. Im Grunde viel zu schwach, um jemanden wie Amos Inberg, der mindestens 20 Jahre jünger und um einiges größer war, derart zuzurichten. Es sei denn … Scott lief es kalt den Rücken hinunter. „Du bist auch so ein Ding“, flüsterte er. „Wie die aus dem Labor. Du bist nicht echt.“ Die Augenbrauen seines Gegenüber näherten sich einander an. „Wie meinen?“ Scott wich unwillkürlich einen Schritt zurück, bevor er sich wieder fing. Wenn das stimmte, konnte ihm dieses Ding den Kopf mit bloßen Händen von den Schultern reißen. Das Ding, das jetzt erneut lächelte und einen Schritt auf ihn zukam. Unwillkürlich wich Scott noch einmal zurück. „Aber natürlich bin ich echt. So echt, wie man nur sein kann. Auch wenn es körperliche Unterschiede zu einem auf biologischem Weg erzeugten Menschen gibt, sehe ich mich doch als vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft. Immerhin bin ich immer noch ich.“ „Und wer bist du?“ Das Wesen sah Scott missbilligend an. „Robert Dresner. Das hatten wir doch schon geklärt.“ „Nein, das stimmt nicht. Dresner ist tot. Kael hat mit eigenen Augen gesehen, wie er von Amos Inberg erschossen wurde.“ Für einen Augenblick war das Heulen des Windes alles, was zu hören war. Dann seufzte der Das Wesen. „Das war es also, was Amos vor mir zu verheimlichen versucht hat. Dass er mich ermordet hat. Wie ironisch. Er hat damit einmal mehr den Beweis geliefert, dass 'Roter Mond' ein Erfolg ist.“ Das Wesen drehte sich zur Brüstung um und sah wieder auf die Stadt hinab. In dem Gewirr der Wolkenkratzer mit ihren Lichtern, Hologrammen und unendlichen Vergnügungen herrschte immer noch tiefste Nacht. Als hätte der ankommende Tag dort unten keinerlei Befugnisse. „Sehen Sie es sich an, Mr. McKenzie. Ist es nicht ein Bild des Jammers. Nichts davon ist echt, um einmal die Vokabel zu benutzen, die Sie gerade eben verwandt haben. Alles nur Lug und Betrug … eine Illusion. Die meisten heute noch lebenden Menschen verbringen durchschnittlich 82 % ihrer Wachzeit innerhalb der virtuellen Realität. Sie sind wie die Ratten, die sich mit dem Sinken des Schiffs abgefunden haben, statt um ihr Überleben zu kämpfen. Dabei gäbe es eine Möglichkeit, diesen Planeten zu retten. “ Er drehte sich wieder zu Scott herum. Auf seinem Gesicht lag ein verzückter Ausdruck. „Wäre das nicht wundervoll?“ Scott wagte nicht zu widersprechen. Seiner Erfahrung nach war das die beste Methode, mit Irren umzugehen. Die einzige Frage, die jetzt blieb, war, wie man ihn aufhielt. „Und wie …“ , begann er, um das Gespräch am Laufen zu halten, „wie würden Sie die Welt retten wollen?“ Auf Dresners Gesicht erschien ein mildes Lächeln. „Sind Sie mit der Legende des Blutmondes vertraut, Mr. McKenzie?“ Scott blinzelte überrascht. „Ähm … irgendwas mit Hexen und dem siebten Sohn eines siebten Sohnes?“ Dresner lachte. „Ja, diese Geschichte gibt es auch. Aber eine der älteren Sagen erklärt die rote Färbung des Mondes damit, dass der Wolf Hati, ein Sohn des berühmten Fenriswolfes, diesen über den Himmel jagt. An dem Tag, an dem er ihn erwischt und zerreißt, färbt das Blut des Mondes den Himmel rot. Dies ist der Tag der Götterdämmerung, an dem die alte Welt untergehen und aus ihrer Asche eine neue entstehen wird.“ Scott schluckte. „Und Sie wollen … den Mond rot färben?“ Dresner zog eine Grimasse. „Oh, natürlich nicht. Das ist doch nur eine Metapher. Aber die Bedeutung. Das ist es, worauf es ankommt. Der rote Mond ist der Vorbote der Erschaffung einer neuen Welt.“ Scotts Brustkorb wurde eng. Fast glaubte er, dass sein Sauerstoffvorrat bereits zur Neige ging, doch die Anzeige befand sich noch im oberen Bereich. Es herrschte keine Gefahr. „Und wer“, fragte er und versuchte den bitteren Geschmack zu ignorieren, der sich in seinem Mund gesammelt hatte, „wer wird dann in dieser neuen Welt leben?“ Dresner sah ihn verständnislos an. „Na auch wir. Nur in besseren, haltbareren Körpern. Körpern, die weder Nahrung noch Schlaf und vor allem keinen Sauerstoff mehr benötigen. Wir werden ewig leben und die Erde wieder zu dem machen, was sie einst war. Einem Paradies auf Erden.“ Scott musste zugeben, dass es verlockend klang. Oder geklungen hätte, wenn er nicht gesehen hätte, zu was diese Wesen imstande waren. Er glaubte nicht eine Sekunde an eine friedliche Zukunft, wenn diese von diesen Mordmaschinen beherrscht wurde. Eher würden sie die ganze Welt mit Blut, Gewalt und Terror überziehen. Scott schluckte wieder. Der Geschmack hielt sich hartnäckig. „Ich glaube nicht, dass das funktionieren wird. Die Menschen … sie werden das nicht wollen.“ Dresners Lächeln wurde warm, beinahe zärtlich. „Aber dafür habe ich doch Kael erschaffen. Er wird ihnen zeigen, dass es möglich ist.“ In diese Moment erkannte Scott, was ihn die ganze Zeit gestört hatte. „Zwei leere Tanks“, murmelte er. „Ich hätte es wissen müssen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)