Roter Mond von Maginisha ================================================================================ Kapitel 7: Dunkle Geheimnisse ----------------------------- Die Fahrstuhltüren öffneten sich und ein helles Rechteck fiel auf nackten Betonboden. Scott trat einen Schritt vor und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, aber es war zwecklos. Da draußen gab es nur Schwärze. Schwärze, in der alles lauern konnte. „Ein Gang“, stellte Trix fest, nachdem auch sie sich ein Stück nach vorn gewagt hatte. Ihr Gesichtsausdruck machte deutlich, dass sie nicht allzu scharf darauf war, die vermeintliche Sicherheit der beleuchteten Kabine zu verlassen. Scott konnte es ihr nicht verdenken. Trotzdem konnten sie nicht hierbleiben. „Wir sollten unsere Masken aufsetzen. Wer weiß, ob es hier unten Sauerstoff gibt.“   Sie taten, was er gesagt hatte. Als das Silikon der Maske gegen sein Gesicht gepresst wurde, fühlte Scott sich eigenartig erleichtert. So als wäre immerhin eine von hundert möglichen Gefahren dadurch gebannt. Mit einem tiefen Atemzug trat er aus dem Aufzug. Im gleichen Augenblick erwachte eine Neonröhre über ihm zu flackerndem Leben. Es folgte eine weitere und noch eine, die sich in einer schier unendlich erscheinenden Reihe fortsetzten, bis der Tunnel einen leichten Bogen beschrieb und sich so ihren Blicken entzog. Wenn sie wissen wollten, was sie dort hinten erwartete, würden sie nachsehen müssen. „Na los, gehen wir. Wer weiß, wie lange Ava Margeras Männer aufhalten kann.“   Das Geräusch ihrer Füße und ihre durch die Masken schwerfällig klingenden Atemzüge hallten von den Wänden nieder. Das verzerrte Echo ließ Scott alle paar Meter zurückblicken, ob sich nicht doch fremde Schritte unter ihre eigenen mischten. Ob nicht doch jemand aus einer geheimen Nische getreten war, um ihnen zu folgen. Aber da war nichts. Nur die leere Fahrstuhlkabine, die mehr und mehr hinter ihnen zurückfiel, bis sie schließlich aus ihrem Sichtfeld verschwand. „Und du wusstest echt nichts hiervon?“, fragte Trix unterdessen Kael, der schweigend neben ihnen her trottete. Der Junge schüttelte den Kopf.   „Ich hatte keine Ahnung. Ich … also … ich hatte einen Verdacht. Manchmal, wenn ich nachts wach wurde und nach meinem Vater rief, antwortete er nicht. Wenn ich ihn am nächsten Morgen danach fragte, behauptete er immer, er habe geschlafen und mich deswegen nicht gehört. Aber ich habe nachgesehen. Er lag nicht im Schlafzimmer und war auch sonst nirgends zu finden. Wäre er jedoch durch die Haustür gegangen, hätte ich das Licht sehen müssen. Er musste also irgendwo im Haus sein. Nur wo, habe ich nie herausfinden können.“   „Tja, du darfst eben alles essen, aber nicht alles wissen“, frotzelte Trix und grinste. „Aber das ist trotzdem gut zu hören.“ „Warum?“ „Weil wir dann vermutlich nicht allzu lange bis zum Ende des Tunnels brauchen sollten.“   Kaum hatte sie das ausgesprochen gab die nächste Tunnelbiegung den Blick auf den versprochenen Ausgang frei. Es gab da nur ein Problem … „Noch eine Sicherheitstür?“ Trix stöhnte hörbar auf. „Das ist doch jetzt nicht sein Ernst.“ „Es wäre fahrlässig gewesen, diese Seite des Tunnels nicht zu sichern“, erwiderte Kael. Er trat an die Schalttafel, die der am Eingang aufs Haar glich, und legte die Hand auf die Tasten. Danach schloss er die Augen. „Was machst du da?“, wollte Scott wissen. „Psst“, zischte Trix neben ihm. „Er macht wieder sein Ding.“   Scott lag auf der Zunge zu fragen, was dieses Ding wohl sein mochte, aber noch bevor er dazu kam, hatte Kael bereits eine Zahlenfolge eingegeben. Eine grüne Lampe leuchtete auf, es gab einen leisen Summton und die Sicherheitstür fuhr zur Seite, um ihnen erneut Zugang zu einer Fahrstuhlkabine zu gewähren. Scott verkniff sich ein Aufatmen. „Na los, rein mit euch“, wies er die beiden anderen an und sah noch einmal in den Gang zurück. Hätte er nicht genau gewusst, dass sie die ganze Zeit geradeaus gegangen waren, hätte er vermutet, dass sie gleich wieder im Hausflur der Dresners stehen würden.   Die Kabinentür schloss sich und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Nach kürzester Zeit kam er allerdings bereits wieder zum Stillstand. Scotts Hand zuckte in Richtung seines Dolches. „Was ist los? Warum halten wir an?“ „Weil wir da sind?“, vermutete Trix und wies auf die metallene Wand, an der es nur zwei Knöpfe gab. Einen für „rauf“ und einen für „runter“. Es war daher unmöglich, dass Trix sich im Stockwerk vertan hatte. Trotzdem war sich Scott zu hundert Prozent sicher, dass diese Fahrt weitaus kürzer als ihre erste gewesen war. Sie mussten sich folglich noch unter der Oberfläche befinden. Eine Tatsache, die Scott ganz und gar nicht behagte. Mit der Hand am Griff der Taschenlampe, die er in einer Küchenschublade gefunden hatte, wagte er es, den Knopf zum Öffnen der Aufzugtür zu drücken. Die stählernen Flügel glitten auseinander und enthüllten etwas völlig Unerwartetes. „Was zum … ?“, entwich es Scott, bevor es ihm die Sprache verschlug. Trix hingegen hatte diese Probleme nicht.   „Heilige Scheiße! Das ist ja ein Labor. Ein ganzes Labor!“ Sie trat aus dem Fahrstuhl und fand sich im Inneren einer Luftschleuse wieder. Von dort aus konnte man wie aus einem Aquarium heraus in den Raum sehen, der von einer Vielzahl von Monitoren und Anzeigen erhellt wurde. Die meisten von ihnen befanden sich auf einer Art halbhohen Brücke, zu der eine Metallleiter hinaufführte. Daneben gab es mehrere große Tanks. Zwei von ihnen waren leer, den Inhalt der anderen konnte Scott nicht erkennen. Es sah fast aus wie …   „Wow, seht mal! Pflanzen!“   Tatsächlich waren im rechten Flügel des Labors unzählige Container aufgebaut. Es gab sie in allen möglichen Größen, innen mit künstlichem Sonnenlicht ausgestattet, das die darin enthaltenen Botanikschätze auch hier am Leben hielt. Scott hätte kaum eine Handvoll der Gewächse benennen können, aber er sah, dass allein die Anzahl der verschiedenen Arten die hundert weit übersteigen musste. Bäume, Blumen, Büsche, Gräser. Allesamt aufgereiht und mit Namensschildern versehen. Eine Bibliothek der Grünpflanzen.   „Das muss ein Vermögen wert sein“, murmelte er und trat zu Kael und Trix in die Luftschleuse. Die Fahrstuhltüren schlossen sich hinter ihnen und Scott hörte das charakteristische Geräusch, mit dem der Druckausgleich hergestellt wurde. Gleich darauf öffnete sich die Luke vor ihnen und entließ sie in den Laborbereich. Trix war sofort auf dem Weg zu den bepflanzten Containern und presste ihre Nase gegen das Glas, nachdem sie die Maske abgenommen hatte. Scott tat es ihr gleich und war erfreut, atembare Luft vorzufinden. Kael hingegen stand ein wenig verloren inmitten der ganzen Gerätschaften. Endlich nahm auch er seine Maske ab. „Das ist … unglaublich“, sagte er langsam. „Das alles hier ist … unglaublich.“   „Unfassbar, meinst du wohl“, half ihm Scott auf die Sprünge. „Sieht so aus, als hätte dein alter Herr dir eine ganze Menge Geheimnisse vor dir gehabt.“   Kael nickte stumm. Er trat zu einer Schalttafel und tippte darauf herum. Je länger er das tat, desto finsterer wurde sein Gesicht. „Das hier sind fast alles nur Biodaten. Sauerstofferzeugung und -verbrauch, Temperatur und Feuchtigkeitswerte. Offenbar die Steuerung für die Biotope. Daneben Wachstumskurven und Perepheriemesswerte.“ Er rief ein anderes Verzeichnis auf und seine Augenbrauen hoben sich leicht. „Laut dieser Liste sind allein hier im Labor die Anlagen für 120.000 verschiedene Arten gelagert. Die meisten als Saatgut, andere, die sich speziell zur Luftreinigung eignen, sind in den Containern herangezogen worden. Dabei wurde ihr Wachstum so beschleunigt, dass es in einem Bruchteil der in der Natur benötigten Zeit stattfinden konnte. Das ist …“ „Fantastisch?“, meinte Trix mit entrücktem Gesichtsausdruck. „Wenn die Dinger so schnell wachsen, kann man sie bestimmt massenhaft züchten. Und verkaufen. Das könnte uns so was von reich machen.“ Scott musste zugeben, dass sich das im ersten Moment gut anhörte. Im zweiten jedoch …   Sein Blick fiel auf einen Behälter, in dem die dort wachsende Pflanze bereits zwei Drittel des vorhandenen Luftraums ausfüllte. Irgendein Klettergewächs, das sich selbst an den glatten Wänden ihres Glaszylinders emporgerankt und begonnen hatte, gegen den Deckel zu wachsen. Es wirkte beinahe so, als versuche sie, aus dem Gefäß zu entkommen. Der Gedanke gefiel Scott nicht. „Und was ist das da drüben?“, wollte Trix wissen und wies auf die Tanks. „Sieht fast aus wie Aquarien. Ob er hier auch Fische hat?“ Scott musterte die großen, zylinderförmigen Gebilde, die mit irgendeiner Art von Flüssigkeit gefüllt waren. Unter Umständen hätte man darin wohl tatsächlich Fische züchten können. Allerdings wären die Behälter dann mit Sicherheit erleuchtet gewesen. Luftblasen, Wasserpflanzen, Korallen. Alles, was eben in so eine bunte Unterwasserwelt gehörte. Das, was sich in den Tanks befand, war jedoch viel zu groß, um ein einfacher Aquariumsfisch zu sein. Es sah viel mehr aus wie ein …   „Fuck! Fuckfuckfuckfuckfuck!“   Trix war von dem dunklen Glascontainer zurückgeprallt. Mit zitternden Fingern wies sie auf das Ding, das bisher nicht mehr als ein grober Umriss war.   „Da drin ist ein Mensch“, quietschte sie. „Ein Mensch?“, fragte Kael ungläubig. Er drückte ein paar Knöpfe und im nächsten Moment erfüllte ein blaues Glühen den Tank. „Was … ist das?“, entwich es jetzt auch Scott, denn es stimmte zwar, dass das Wesen, das sich in dem Tank befand, irgendwann mal ein Mensch gewesen sein musste. Was es jedoch jetzt war, vermochte Scott nicht zu sagen.   „Wofür sind all diese … Drähte?“, wollte Trix wissen und trat jetzt wieder näher. In ihren Augäpfeln spiegelte sich der blaue Schein des Tanks. „Da stecken ungefähr achttausend Kabel in seinem Hinterkopf. Und siehst du da unten? Das halbe Bein wurde durch eine metallene Prothese ersetzt. Der Arm auch. Das Ding sieht aus wie ein Terminator.“ Trix ging, ohne sich weiter an dem ersten Tank aufzuhalten, zum zweiten. Sie aktivierte die Beleuchtung und fand auch hier wieder einen Menschen, dem Teile seines Körpers entfernt und durch künstliche Gliedmaßen ersetzt worden waren. Dieses Mal sah man den halb offenen Schädel, die Servosteuerung des linken Auges, sowie diverse Gliedmaßen, deren Streben durch Öffnungen in der Haut sichtbar waren. Im dritten Container war quasi nur noch ein metallenes Skelett übrig, über dessen Körper hier und da einige Hautreste gespannt waren. Der Rest war vollkommen nackt und hing an diversen Kabeln, die irgendwo in der Decke des Containers verschwanden. „Das ist … das ist der absolute Wahnsinn! Die haben mehr und mehr Teile ersetzt, bis am Ende gar nichts mehr übrig war.“ Trix schüttelte den Kopf. „Wer macht so etwas? Und wozu?“   Scott lachte bitter auf. „Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, zu genau dem Zweck, zu dem so etwas immer gemacht wird. Erinnerst du dich an diese Doku, die wir gesehen haben? Wie sie versucht haben, Soldaten mit Hilfe von Implantaten nachtsichtfähig zu machen? Die armen Schweine sind alle elendig verreckt. Ihre Sehnerven waren bis auf einen Stummel verbrannt und die Schmerzen haben sie wahnsinnig gemacht.“   Trix verzog angewidert das Gesicht. „Uh, ja, ich erinnere mich. Das war echt krass. Und wie die geschrien haben. Der eine hat sich die Implantate mit bloßen Händen wieder herausgerissen. Weißt du noch? Da waren zwei riesige Löcher in seinem Schädel.“   Scott sah noch einmal zu den Gestalten, die wie Marionetten in den Tanks aufgereiht waren. „Hoffen wir mal, dass die hier bessere Drogen bekommen haben“, murmelte er, bevor er sich abwandte und zu Kael hinüberblickte. Der Junge stand immer noch vollkommen regungslos vor dem ersten Tank.   „Komm“, sagte Scott und griff nach seinem Arm. „Suchen wir einen Ausgang.“ „Nein.“ Mit ungeahnter Kraft entwand sich Kael Scotts Griff und trat noch näher an die Glasscheibe. „Wir können sie nicht hier lassen.“ Scott lachte auf. „Und was sonst? Willst du die etwa mitnehmen? Selbst wenn das funktionieren würde, glaube ich nicht, dass da noch irgendwas zu retten ist. Sie sind tot. Reif für die Wiederverwertung. Zumindest wenn man den ganzen technischen Kram wieder entfernt. Das ist nichts als gut konservierte Biomasse.“   „Das glaube ich nicht“, widersprach Kael. „Irgendetwas ist dort drinnen noch. Etwas … Lebendiges.“   Scott musterte die makabere Puppe in all ihrer Pracht. Er konnte verstehen, dass der Junge das Ding für lebendig hielt. Obwohl das Gewebe im Wasser schwamm, war es nicht aufgedunsen und Scott glaubte sogar, die winzigen Härchen erkennen zu können, die auf der Hautoberfläche wuchsen. Jede einzelne Pore. Alles war originalgetreu erhalten worden, als wäre es gerade erst gewachsen. Alles in allem war das hier ein Kunstwerk. „Hör zu, Kleiner …“, begann Scott, aber Kael unterbrach ihn.   „Egal was du sagst. Mein Vater hat nichts Unrechtes getan.“ Scott unterdrückte ein Schnauben. „Und weil das so ist, hat er dieses Labor vor aller Welt geheim gehalten? Sieh dich doch mal um. Wir befinden uns unter der Erde. In einem Bereich, auf den nicht einmal Ava Zugriff hat. Glaubst du wirklich, dein Daddy hat das getan, weil er hier ganz harmlose Versuche mit ein paar hübschen Blümchen macht? Er schlitzt Menschen auf, Kleiner. Und nachdem er sie in ihre Einzelteile zerlegt hat, ersetzt er ihre Körper nach und nach mit Cybernetik-Komponenten. Das ist verdammt heißer Scheiß, verstehst du das? Wenn irgendwer davon Wind bekommen hätte, wäre dein Vater tot.“   Er stockte, als ihm klar wurde, was er da gerade gesagt hatte. Auch Trix schien eins und eins zusammengezählt zu haben. „Inberg weiß hiervon“, platzte sie heraus. „Er weiß es und er will es haben. Deswegen war er auch bei Kaels Vater.“   „Aber Dresner war nicht kooperativ“, vervollständigte Scott. „Er hat sich geweigert, Inberg seine Forschungsergebnisse auszuhändigen. Und dann …“   Er deutete mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole an, die er auf Kael abfeuerte. Der Junge sah nicht überzeugt aus.   „Aber … was hat er davon? Wenn er meinen Vater umgebracht hat, bekommt er das Labor nie.“   Scott lächelte bitter. „Tja, wie es aussieht, hat dein Vater das Attentat wohl überlebt. Und da kommst du ins Spiel.“   Er schüttelte leicht den Kopf. „Jetzt verstehe ich auch, warum er Margera angeheuert hat. Er wollte dich aus Avas Reichweite bringen, damit er deinen Vater erpressen kann. Eine einzelne Person in der Vorstadt aufzuspüren zu wollen gleicht einer Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen.“   Trix, die sich gegen das Geländer gelehnt hatte, legte die Stirn in Falten. „Aber wenn das so ist, dann wäre es doch absolut schwachsinnig, mit Kael zu Inberg zu gehen. Das Sicherste wäre vermutlich, ihn weit weg zu bringen, damit Inberg keine Handhabe mehr gegen seinen Vater hat.“ „Ja, das klingt im ersten Moment logisch. Aber was ist, wenn er schon weiß, wo sich das Labor befindet? Erinnerst du dich? Inberg hat das Gelände hier gekauft. Es würde mich nicht wundern, wenn hier bald hier auftaucht, um …“ Scott unterbrach sich, als er ein Geräusch vernahm. Es klang wie das Anlaufen eines großen Motors, gefolgt von einem beständigen Summen.   „Was ist das?“, flüsterte Trix. Ihre Augen waren ebenso wie Scotts und Kaels in Richtung der Decke gerichtet. In Scotts Wahrnehmung kam das Summen von dort. „Ein Fahrstuhl“, rief er. „Und zwar nicht der, mit dem wir hergekommen sind. Los, versteckt euch!“   Trix reagierte sofort und verschwand irgendwo zwischen den Pflanzcontainern. Kael jedoch stand wie festgenagelt vor der Wand, an der Scott jetzt die Tore eines gewaltigen Frachtaufzugs ausmachen konnte. Er fluchte, machte auf dem Absatz kehrt und griff nach Kaels Arm. Gerade noch rechtzeitig zog er den Jungen hinter einer der Laborbänke in Deckung. „Sucht sie!“, bellte gleich darauf eine näselnde Stimme. Scott presste die Kiefer aufeinander.   Das ist Emile mit dem Rest der Bande. Aber wie sind sie hierhergekommen? Und warum?   Schritte kamen näher und unterbrachen Scotts Überlegungen. Hier unten mochten sie eine Weile sicher sein, aber …   „Schaut auch unter die Tische. Vielleicht haben sie sich da verkrochen.“   Scott wünschte Emile mitsamt seinem hässlichen Anzug zum Mond. Oder vielleicht zur Venus. Das war weiter weg.   In dem Augenblick tauchten ein paar Stiefel vor Scotts Nase auf. Er legte die Finger an die Lippen und schickte Kael einen warnenden Blick. Der nickte leicht und drückte sich noch enger an die Rückwand des Tisches. Als Margeras Scherge sich bückte, katapultierte Scott sich nach vorn. Er erwischte die Beine des Gangsters und brachte ihn zu Fall. Ein kurzes Gerangel und der Kerl war seine Waffe los. Scott zögerte nicht, sprang mit dem Gewehr in der Hand auf und feuerte.   Schüsse durchsiebten die Luft. Irgendetwas ging zu Bruch und jemand schrie. Dann wurde das Feuer erwidert. Scott warf sich hinter die nächste Bank und entging nur um Haaresbreite den heranrasenden Kugeln. Dafür zerbarst ein ganzes Bataillon Glaskolben, die in einem Regal über ihm gestanden hatten, in einem Schauer von scharfkantigen Splittern. Scott spürte ein Brennen und gleich darauf rann ein Blutsfaden seine Wange hinab. „Aufhören!“, schrie Emile zwischen all dem Chaos. „Hört auf hier so rumzuballern. Wir brauchen den Jungen lebend.“   „Na was für ein Zufall“, höhnte Scott und lud seine Waffe durch. „Wir euch nicht.“   Damit schnellte er hinter seiner Deckung hervor und feuerte erneut. Er traf nicht, aber als er sich wieder duckte, hatte er immerhin einen Überblick über die Anzahl seiner Gegner bekommen.   Das da hinten waren nur vier. Wo sind die anderen drei? Wenn er Glück hatte, war einer von ihnen oben beim Wagen geblieben. Blieben noch mindestens zwei und das waren für Scotts Geschmack mindestens zwei zu viel. Zum Glück hatten sie Trix noch nicht … Ein spitzer Schrei ließ ihn zusammenzucken. Okay, sie haben Trix doch gefunden.   „Lass mich los, du Scheißkerl! Ich tret dir in die Eier, dass deine Familie noch über zwei Generationen hinweg unfruchtbar wird. Du Arsch! Aua! NIMM DEINE DRECKIGEN FINGER VON MIR!“   Scott hörte einen Schlag und Trix Schimpftirade ging in ein unartikuliertes Gurgeln über. Er packte den Lauf seines Gewehrs fester. „Sieh an“, gurrte Emile und Scott sah sein höhnisches Grinsen nahezu vor sich. „Du hast also deine kleine Freundin mitgebracht. Wie schön für uns. Ich würde sagen, dann haben wir etwas, was du haben willst, und du etwas, was wir haben wollen. Also was sagst du, McKenzie? Wollen wir tauschen?“ „Niemals!“, rief Scott.   Er sprang auf, gab ein paar Schüsse ab und ging schnell wieder in Deckung, bevor Margeras Bande auch nur auf ihn anlegen konnte. Dass er dabei ein ganzes Stück weit über ihre Köpfe gezielt hatte, hatte hoffentlich niemand bemerkt. Immerhin wusste er jetzt, dass sie Trix tatsächlich gefangen genommen hatten. Einer der Schläger hatte sie im Schwitzkasten und drückte die Mündung seiner Waffe gegen ihre Schläfe. Dabei hielt er Trix wie ein Schild vor sich. Selbst wenn Scott so gut hätte schießen können, wie es die Situation erforderte, hätte er nie im Leben verhindern können, dass Trix ebenfalls etwas passierte. Sie saßen in der Falle. „Wie schade“, höhnte Emile. „Aber weißt du, weil ich heute einen guten Tag habe, werde ich dir ein wenig entgegenkommen. Also, Scotti, was hältst du von einer Anzahlung? Sagen wir … einen Finger? Oder zwei? Ach, was soll der Geiz. Wir schneiden ihr lieber gleich die ganze Hand ab. Als Zeichen unseres guten Willens.“ „Stopp!“ Kael war mit erhobenen Händen aufgesprungen. „Ich ergebe mich, aber tut ihr nicht weh.“   Scott fletschte die Zähne. Dieser dreimal verdammte Idiot! „Setz dich wieder hin!“, zischte er, aber Emile hatte Kael längst entdeckt. Er lachte höhnisch. „Sieh an. Ist wohl doch noch einer von euch zur Vernunft gekommen. So ist es brav. Komm schön hier rüber, dann passiert der Schlampe nichts.“   „Nenn sie nicht so.“ Kael reckte das Kinn und straffte die Schultern. „Ich habe keine Angst vor dir.“   Wieder lachte Emile.   „Oh, das solltest du aber. Und glaub mir, ich kann das arrangieren.“   Scott hörte ein Fingerschnippsen.   „Los. Schnappt euch den Grünschnabel.“   Scott zog sich hastig zurück, als mehrere Stiefelpaare in seine Richtung gelaufen kamen. Hilflos musste er zusehen, wie Margeras Männer Kael in die Knie zwangen und ihm die Arme brutal auf den Rücken drehten. Handschellen klickten und im nächsten Moment war der Junge vollkommen gebunden. Zwei breite, schwarze Gurte überkreuzten sich über seiner Brust und wurden am Rücken wieder zusammengeführt, wo sie seine Hände fest mit dem Körper verbanden. Scott erwartete fast, dass sie ihn auch noch knebelten und ihm die Augen verbanden, aber das blieb aus. Stattdessen meldete sich Emile wieder zu Wort. „Sehr schön, sehr schön. Das hätten wir also.“ Durch einen Spalt zwischen den Laborbänken konnte Scott sehen, wie er sich umdrehte und in Richtung Fahrstuhl schlenderte. Als er dort angekommen war, blieb er noch einmal stehen, drehte sich um und verkündete mit süffisantem Lächeln: „Ach ja, und was ich ganz vergessen hatte: Tötet die Überflüssigen.“   „Nein!“ Kael bäumte sich in seinen Fesseln auf und Emiles Helfer hatten sichtbar Mühe, ihn zu halten. „Du hast versprochen, sie gehen zu lassen.“   Emiles Grinsen wurde breiter. „Habe ich das? Ich kann mich nicht erinnern.“ Er nickte einem der Gorillas zu. „Na los. Fackelt notfalls das Labor ab. Wir haben alles, was wir brauchen.“ „NEIN!“   Erneut schrie Kael, doch dieses Mal hatte Scott das Gefühl, als würde das Geräusch nicht enden. Eine unsichtbare Welle rollte über ihn hinweg. Ein Impuls, der die Glasscheiben der Pflanzcontainer in Schwingungen versetzte und schließlich reißen ließ. Das Licht flackerte und der Boden schien zu wanken. Emiles boshaftes Lächeln geriet ins Wanken. „Stopft ihm doch endlich das Maul!“, herrschte er seine Komplizen an. In dem Moment jedoch, als der Mann, der Trix als Schutzschild benutzt hatte, seine Faust hob, wurde er von einem dumpfen Krachen abgelenkt. Irritiert sah er sich nach der Quelle des Geräuschs um. Auch Scott blickte in diese Richtung und erstarrte. Auf einem der Glascontainer prangte ein großer Riss. Ursache des Risses war jedoch nicht Kaels Schrei. Vielmehr hatte etwas von innen das Glas gerammt. Etwas, dass sich jetzt bewegte und erneut zum Schlag ausholte. „Scheiße!“   Wer genau gerufen hatte, konnte Scott im Nachhinein nicht mehr sagen. Sicher war jedoch, dass in nächsten Moment die Hölle losbrach. Der Container zerbarst mit einem gewaltigen Knall, die blaue Flüssigkeit aus dem Inneren ergoss sich in einem Schwall auf dem Boden und das Wesen in seinem Inneren stieß ein unmenschliches Brüllen aus.   „Erschießt es!“, schrie Emile. „Erschießt es. Schnell!“   Ein Kugelhagel zerfetzte die Luft. Das Ding auf der Plattform brüllte erneut, als es getroffen wurde, aber es fiel nicht. Stattdessen traf einer der Querschläger die Beleuchtungseinheit über dem Tank. In einem Funkenregen stand die halb metallene Gestalt da und Scott konnte sehen, wie sie nach hinten griff und sich die Kabel aus dem Kopf riss. Danach wandte sie sich um, visierte einen der Männer an, die immer noch wie wild um sich schossen, ging in die Knie und sprang. Im flackernden Licht des kaputten Oberlichts flog ein Schatten durch die Luft und landete genau an der Stelle, an der der Mann stand. Eine metallene Faust schnellte vor und raste ohne nennenswerten Widerstand durch seinen Brustkorb. Der überraschte Schütze hatte nicht einmal mehr Zeit, einen letzten Schrei von sich zu geben. Das Maschinenwesen hob ihn hoch und knurrte ihn an, bevor es seinen durchlöcherten Körper einfach von seinem Arm schüttelte wie eine lästige Fliege. Im nächsten Moment wankte es unter einer brüllenden Maschinengewehrsalve. „Der Kopf! Zielt auf den Kopf!“, schrie Emile. „Los, Dale, schlag ihm das Ding herunter!“   Einer der Männer – offenbar Dale – hob eine Machete, und ließ sie durch die Luft kreisen. Die anderen feuerten immer noch auf das Wesen, das jetzt sein halb zerfetztes Gesicht mit einem seiner Arme zu schützen versuchte. Das mechanische Auge hing bereits nutzlos herab und eines seiner Beine verlor Flüssigkeit aus einer zerrissenen Leitung. Als Dale jedoch zum Schlag ausholte, schnellte der mechanische Arm nach oben und die Klinge fraß sich kreischend in das schwarze Metall. Auge in Auge standen sich Mensch und Maschine gegenüber. „Ich töte dich!“, rief Dale und ruckte an seiner Waffe. „Nein“, erwiderte das Wesen, in seinem Gesicht ein metallenes Grinsen. „Ich töte dich.“   Damit schoss seine Faust vor und zertrümmerte Dales Kehlkopf. Um Atem ringend stolperte er rückwärts. Griff sich an den Hals. Sein Gesicht wurde zunächst rot, dann blau, während das Maschinenwesen den Kopf schief legte und mit einer fast schon beiläufig wirkenden Bewegung die Machete aus seinem Arm zog. Es wirbelte sie einmal herum, so wie Dale es getan hatte, bevor es Dales Schädel mit einem sauberen Schlag von seinem Hals trennte. Die beiden Teile fielen getrennt voneinander zu Boden, während sich das Wesen langsam zu seinen restlichen Gegner umdrehte. In seinem verbliebenen Auge stand pure Mordlust.   Wir müssen hier raus!   Der Gedanke jagte durch Scotts Kopf und verdrängte all das Grauen, dass sich gerade vor seinen Augen abspielte. Was immer dieses Ding war, es hatte offenbar beschlossen, jedes lebendige Wesen in seiner Reichweite auszulöschen. Ihre einzige Möglichkeit war, rechtzeitig an die Oberfläche zu kommen.   Scott warf die Waffe von sich und stürzte zu der Stelle, an der Margeras Scherge Kael zu Boden gestoßen hatte. Der Junge hatte sich dabei den Kopf gestoßen. An seiner Schläfe klebte Blut. „Scheiße!“, fluchte Scott halblaut. „Hey! Hey, Kleiner! Kannst du mich hören? Wir müssen hier weg.“ Keine Antwort. Scott zögerte nicht. Er schob die Arme unter Kaels leblosem Körper hindurch, holte einmal tief Luft und stemmte sich in die Höhe. Nur am Rande bekam er mit, wie einem von Margeras Männern der Schädel mit bloßen Händen zerquetscht wurde, während ein anderer schreiend am Boden saß und das Blut anstarrte, das aus den Stümpfen seiner Arme hervorschoss. Er zählte auch nicht die Schüsse, die das Wesen aus dem Maschinengewehr in den letzten Körper entlud, bis dieser vollkommen zerfetzt am Boden lag und nur noch zuckte und hüpfte, weil Projektil um Projektil in ihn hineingepumpt wurden. Alles, was er sah, war der Fahrstuhl, dessen hell erleuchtete Kabine ihm wie der Himmel auf Erden erschien. In mehreren Pflanzentanks war Feuer ausgebrochen und Scott bildete sich ein, Gas zu riechen. Aber selbst wenn nicht, lagerten hier mit Sicherheit genug Chemikalien, um sie alle mitsamt dem Gebäude bis in die Stratosphäre zu jagen. „Trix!“, brüllte Scott. „Trix, komm her!“   „Bin schon da.“   Trix kam in langen Schritten auf ihn zugehetzt. Ihr eines Auge war zugeschwollen und sie hatte einen blutigen Schnitt an der Lippe. Ansonsten schien sie unverletzt zu sein. „Wir müssen zum Fahrstuhl“, rief Scott über das immer noch andauernde Lärmen des Gewehrs hinweg. „Wenn es fertig gespielt hat, wird es sich nach was Neuem umsehen.“   Sie hatten den rettenden Fahrstuhl fast erreicht, als Emile sich ihnen in den Weg stellte. Auch er hatte einige Kratzer im Gesicht und sein ohnehin schon hässlicher Anzug wies deutliche Kampfspuren auf. Die Pistole in seiner Hand war jedoch in einwandfreiem Zustand. „Stehenbleiben!“, keuchte er und hielt sich die Seite. Der Stoff war an der Stelle etwas dunkler gefärbt und Scott spekulierte, dass ihn dort eine fehlgeleitete Kugel getroffen hatte. „Ihr geht nirgendwo hin.“ „Emile!“ Scott konnte es einfach nicht glauben. „Jetzt ist keine Zeit für dumme Spielchen. Wir klären das, wenn wir draußen sind.“ Emile fletschte die Zähne und zeigte mit der Waffe auf Kael. „Gib mir den Jungen“, verlangte er.   „Nein.“ Scott wollte noch mehr sagen, Emile irgendwie zur Vernunft bringen, aber was immer er hatte sagen wollen, ging in einem tonlosen Klicken und dem sich daran anschließenden wütenden Gebrüll unter. Das Monster hatte offenbar keine Munition mehr. „Los, raus hier!“, rief Scott und wollte sich an Emile vorbei drängen. Der hob warnend die Waffe. „Noch ein Schritt und du bist …“   Ein Schatten flog an Scott vorbei und landete genau auf Emile. Ein Schuss löste sich aus dessen Pistole und durchschlug den Brustkorb des Maschinenwesens, ohne nennbare Wirkung zu zeigen. Es brüllte und griff nach Emiles Hand. Mit einer fast schon beiläufigen Bewegung brach es ihm das Handgelenk. Scott konnte das trockene Knacken der Knochen hören. Emiles Pistole fiel zu Boden. „Nein, lass mich los! Nein!“ Emiles Schreie gingen in ein schmerzerfülltes Heulen über, als das Wesen sich den nächsten Knochen in seinem Arm vornahm. Und dann noch einen. Und noch einen. Dabei hatte Scott den Eindruck, es lachen zu hören. „Schnell. Solange es abgelenkt ist.“   Trix und Scott hasteten die letzten paar Schritte bis zum Fahrstuhl. Als sie die Kabine erreichten, hämmerte Trix sofort auf den Knopf, der sie nach oben bringen würde. „Komm schon! Komm schon!“, feuerte sie die Fahrstuhltür an. Scott ließ derweil Kael zu Boden gleiten. Der Junge war immer noch bewusstlos.   Ein markerschütternder Schrei, der plötzlich verstummte, war das Letzte, was Scott von Emile hörte. Warum genau das Schreien aufgehört hatte, wollte er sich lieber nicht vorstellen. Die schweren Schritte jedoch, die sich der Fahrstuhlkabine näherten, ließen nicht viel Spielraum für Interpretationen.   „Es kommt! Es kommt hierher!“, kreischte Trix in den höchsten Tönen.   Tatsächlich tauchte das Wesen jetzt im Lichtschein der sich schließenden Fahrstuhltür auf. Es war über und über mit Blut besudelt. Die organischen Teile seines Körpers waren vollkommen zerfetzt und nässten aus unzähligen Wunden, Kabel hingen lose an ihm herab und es humpelte auf einem Bein. Leider machte es das nicht merkbar langsamer. Oder wenigstens nicht langsam genug. „Geht! Ich halte es auf“, rief Scott und sprang wieder aus der Kabine. Er hörte Trix schreien. Ein dumpfes Grollen gefolgt von einem lauten Knall erschütterte das Labor. Von irgendwo links konnte Scott eine Flammensäule auf sich zurasen sehen. Das grelle Licht spiegelte sich in dem glänzenden Gerippe, das mit großen Sprüngen auf ihn zugerannt kam.   Ein Schlag traf seinen Brustkorb. Scott wurde von den Füßen gehoben, flog rückwärts und krachte mit dem Rücken gegen die Rückwand des Fahrstuhls. Alle Luft wurde aus seinen Lungen gepresst und ein harter Schlag verwandelte seinen Kopf in einen riesigen Gong. Trix kreischte neben ihm auf. Schleier durchzogen sein Blickfeld und er konnte keinen einzigen Muskel rühren. Nicht atmen. Sich nicht bewegen.   Nur nicht aufgeben.   Mit letzter Kraft versuchte Scott sich nach oben zu kämpfen. Die Türen des Fahrstuhls schlossen sich, doch durch den Spalt konnte er erkennen, wie die Flammen das Maschinenwesen einhüllten. Es schrie. Fast so, wie ein Mensch schreien würde, während die Flammen ihm das restliche Fleisch von den Knochen brannten. Dabei bohrten seine Augen sich ins Scotts, so als wollte es ihn allein für sein Elend verantwortlich machen. Dann endlich schlossen sich die Türen und die Dunkelheit, die bereits am Rande von Scotts Bewusstsein gelauert hatte, gewann endgültig die Oberhand.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)