Roter Mond von Maginisha ================================================================================ Kapitel 6: Kein Zutritt ----------------------- Avas melodische Stimme hielt Scott davon ab, mehr als drei Schritte in Richtung Tür zu machen. „Eine Flucht wird nicht notwendig sein“, informierte sie ihn mit einem nachsichtigen Lächeln. Im nächsten Moment krachten vor den Fenstern schimmernde Stahlwände nach unten. Trix fiel beinahe von ihrem Stuhl und auch Scotts Herz kam ein paar Schläge lang aus dem Takt, bevor er sich wieder fing. Wütend fuhr er zu dem Hologramm herum. „Sag mal, hast du sie noch alle? Wie wäre es mit einer Vorwarnung nächstes Mal?“   Ava blinzelte. „Rechnest du damit, öfter in so eine Situation zu kommen?“ „Was?“   Ava lächelte freundlich. „Du hast darum gebeten, dass ich dich beim nächsten Mal vorwarne, wenn ich einen Raum hermetisch gegen unerwünschte Eindringlinge abriegele. Deswegen wollte ich wissen, ob du damit rechnest, in Zukunft öfter in so eine Situation zu kommen. Wir könnten eine systematische Desensibilisierung in Erwägung ziehen.“ Scott starrte Ava einfach nur an, bis Trix auf einmal zu lachen begann. Sie kreischte regelrecht los und hielt sich den Bauch, während sie auf Scott zeigte und mit Tränen in den Augen verkündete: „Dein Gesicht! Die hat dich voll verarscht, Mann!“ Das winzige Zucken von Avas Mundwinkeln zeigte ihm, dass Trix recht hatte. Na toll! Ein Hologramm mit Sinn für Humor. „Haha, sehr komisch“, knurrte er. „Euch ist aber schon klar, dass da draußen eine Bande von Schlägern nur darauf wartet, hier reinzustürmen um … ja, was eigentlich?“ Er wandte sich an Kael.   „Das Ganze ergibt überhaupt keinen Sinn. Um was geht es hier wirklich?“   Kael blickte ihn aus großen Augen an. „Woher soll ich das wissen?“   Scott fühlte das Bedürfnis in sich aufkommen, den Jungen zu schlagen. Hart zu schlagen. „Weil du mir immer noch nicht alles erzählt hast. Ich weiß zwar nicht, warum sich Inberg irgendwelche Vorstadtganoven anheuert, um dich und deinen Vater in die Finger zu kriegen, aber es muss irgendwas verdammt Wichtiges sein. Also gibt es in meinen Augen nur zwei Möglichkeiten. Entweder Inberg bekommt, was er will, oder wir sorgen dafür, dass er aufhört danach zu suchen. Was ist dir lieber?“   Kael sah immer noch geschockt aus. Langsam schüttelte er den Kopf.   „Aber ich weiß es doch nicht.“   Scott drehte sich um und begann im Raum auf und ab zu laufen. Entweder das oder er würde etwas kaputtmachen. Etwas Wertvolles. Das viel Lärm machte, wenn es an der Wand zerschellte. Wie diese mit Sicherheit antike Vase da. Oder die hässliche Glasskulptur. Letztere wäre mit Sicherheit kein Verlust gewesen.   Trix, die immer noch am Schreibtisch saß, hatte die Stirn in Falten gelegt. Aus dem unteren Stockwerk hörte man undeutliches Rumoren und Schläge von Fäusten oder stumpfen Gegenständen gegen massiven Stahl. Margeras Männer hatten offenbar bemerkt, dass sie in eine Sackgasse geraten waren. Und instinktiv versuchten sie, das Problem durch Graben zu lösen. „Vielleicht versuchst du mal, dich zu erinnern, worum es bei dem Streit ging“, meinte Trix nachdenklich. „Ich denke mal, wenn wir mehr darüber wüssten, kommen wir der Sache eventuell etwas näher.“   Kael verzog den Mund. „Ich habe wirklich nicht viel gehört. Nur, dass Inberg von meinem Vater verlangt hat, ein Projekt nicht weiter zu verfolgen. Es hörte sich so an, als wenn es um das gleiche Projekt ging, bei dem damals meine Mutter ums Leben kam. Ganz sicher bin ich mir aber nicht.“ „Und hatte das Projekt einen Namen?“ „Mein Vater und Inberg nannten es immer nur 'Roter Mond'.“   Während Scott diese Eröffnung nur ein leises Schnauben entlockte, war Trix offenbar etwas eingefallen. Sie drehte den Stuhl zurück an die Computertastatur und tippte eifrig darauf herum. Als sie etwas fand, hellte sich ihr Gesicht auf.   „Bingo. Ich wusste doch, dass mir das bekannt vorkam. Hier auf der zweiten Festplatte ist ein Ordner, der mit den Initialen 'R.M.' benannt wurde. Ich wette, das hat etwas mit dem Projekt zu tun.“   Scott und Kael traten hinter Trix, die mit einem feierlichen Gesichtsausdruck den Mauszeiger über den genannten Ordner brachte. Als sie darauf klickte, öffnete sich eine Passwortabfrage. Trix fluchte. „Im Ernst jetzt? Man, das war so klar.“ Sie wandte sich an das Hologramm. „Ava, Liebes, kannst du mir da mal eben helfen?“   Ava sah sie freundlich an. „Welche Art von Beistand benötigst du?“ „Ich muss hier ganz dringend mal in diesen Ordner schauen und du kannst mir doch bestimmt das Passwort dafür verraten.“   Ava legte den Kopf ein wenig schief. „Aber diese Daten sind geheim. Ich kann sie dir nicht einfach zugänglich machen.“ „Tja, aber wenn wir nicht nachsehen, wird Kael möglicherweise etwas passieren. Das willst du doch nicht, oder? Außerdem wollen wir herausfinden, wo dein … wo Robert geblieben ist. Wenn du also so freundlich wärst?“   Ava überlegte einen Augenblick, dann nickte sie. „Nun gut. Diesen Teil der Daten kann ich euch wohl sehen lassen. Weil es die Situation erfordert.“   „Herrlich“, murmelte Scott. „Ein Hologramm mit einem Sinn für Humor und einem moralischen Kompass. Was kommt als Nächstes? Fängt sie an zu singen und zu tanzen?“   Trix schickte ihm einen bitterbösen Blick, bevor sie sich wieder dem Computermonitor zuwandte. Auf dem Bildschirm füllte sich das Passwortfeld von ganz alleine mit verschlüsselten Zeichen. Im nächsten Moment hatten sie freien Zugang.   Mit konzentrierter Miene klickte sich Trix durch die Datenverzeichnisse. Dabei schnalzte sie unzufrieden mit der Zunge.   „Das sind einfach nur sinnlose Aneinanderreihungen von … irgendwas. Kein erkennbarer Code oder so. Die reinste Datenmüllhalde.“ „Lass mich mal sehen.“   Kael schob sich neben sie und sah konzentriert auf den Bildschirm. Seine Augen irrten hin und her. Dabei wurde sein Gesicht immer undurchdringlicher. Als er sich schließlich erhob, wirkte es wie eine steinerne Maske.   „Und?“, fragte Scott ungeduldig. „Hast du was gefunden?“   Es dauerte einen Augenblick, bevor Kael antwortete. „Das sind Videodateien.“   „Was?“ Trix sah ungläubig auf die abgebildeten Zahlenkolonnen. „Aber das sind reine Datensätze. Nichts als Zahlen und Buchstaben.“   „Ja, aber wenn man sie entsprechend konvertiert, werden daraus Bilder. Und Worte.“ Scott hatte das Gefühl, dass da noch etwas war, das der Junge nicht aussprach, aber Trix kam ihm zuvor. „Ava? Kannst du die Datei abspielen?“ „Mit Vergnügen.“   Die Lichter im Raum verlöschten, nur Ava selbst war noch von einem schwachen, bläulichen Schein umgeben. Im nächsten Moment löste sich ihre Gestalt jedoch auf und wurde von einer neuen Ava ersetzt. Eine, auf die ein unbekannter Protagonist zurannte. Je näher sie kamen, desto größer wurde Ava, bis sie schließlich unendlich hoch vor ihnen aufragte. „Ah, da bist du ja mein Liebling. Komm, lass uns gehen. Daddy wartet.“   Ava beugte sich herunter und nahm jemanden auf den Arm. Jemanden mit sehr kleinen Armen und Händen, die er um ihren Hals legte und sie fest an sich drückte. Im nächsten Augenblick erlosch das Bild und die Lichter im Raum gingen wieder an. Scott wusste nicht, was er davon halten sollte. Als er jedoch Kael ansah, war dieser kalkweiß im Gesicht und sagte nur ein Wort: „Mama.“   Trix war die Erste, die ihre Sprache wiederfand. „Du meinst, das war deine Mutter? Aber wie …“   „Es ist eine meiner letzten Erinnerungen, die ich an sie habe“, flüsterte Kael tonlos. „Es war an dem Tag, an dem der Anschlag geschah. Sie hatte mich gerufen, weil wir zu meinem Vater gehen wollten, um ihn zu überraschen. Ich war so aufgeregt.“   Scott hörte, wie Kaels Stimme zitterte. Vermutlich machte sich der Junge irgendwelche Vorwürfe, dass es seine Schuld war oder wie auch immer. Also nichts, mit dem Scott sich befassen würde oder wollte. Seine Probleme wummerten vielmehr unten an die Tür und würden wohl früher oder später einen Weg finden, hier hereinzukommen. Notfalls mit einem Schweißbrenner. Aber selbst wenn nicht, saßen sie hier akut fest.   Mit nicht viel Hoffnung wandte Scott sich an Ava.   „Gibt es hier noch einen weiteren Ausgang?“ Ava lächelte freundlich. „Du bist nicht befugt, diese Information abzurufen.“ „Also gibt es einen.“ „Du bist nicht …“   Scott machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ja ja, erspar mir deinen Computermist. Sag mir lieber, wer befugt wäre.“ Ava warf einen Blick in Kaels Richtung. Der Junge beachtete sie nicht, daher rief Scott ihn an.   „Hey! Frag mal deine Ersatzmutter hier, wo ihr euren Notausgang versteckt habt.“   Kael erwachte mit einem Zucken aus seiner Starre. „Meine … was?“   Scott rollte mit den Augen. „Oh bitte. Ich kann doch nicht der Einzige sein, dem aufgefallen ist, dass Ava genau wie deine Mutter aussieht. Keine Ahnung, welches Schräubchen da bei deinem Vater locker ist, aber …“   „Scott!“ Trix funkelte ihn wütend an. „Mal ein bisschen mehr Feingefühl.“ „Feingefühl?“ Scott lachte bitter auf. „Dann erklär du mir doch mal wie ich mit Feingefühl Margeras Hunde vor der Tür wegbekomme. Oder verhindere, dass Inberg irgendwann mit dem großen Generalschlüssel ankommt und uns hier rausholt wie ein Kind ein Spielzeug aus einem Greifautomaten. Ich zumindest habe nicht vor hier zu sitzen und Däumchen zu drehen, bis das passiert.“ Scott sah, dass Ava anhob ihm zu widersprechen, aber er schnitt ihr einfach das Wort ab. „Und du komm mir jetzt nicht damit, dass da keine Gefahr besteht. Mag ja sein, dass du dich für unfehlbar hältst, aber Tatsache ist, dass Inberg den Jungen unter deinen alles sehenden Augen von hier fortgeschafft hat. Er ist also in der Lage, dich auszusperren. Und wenn er das kann, dann kann er auch hier reinkommen. Notfalls, indem er dir einfach den Stecker zieht, ebenso wie Dresner es getan hat. Deswegen werden wir dieses Spiel jetzt nach meinen Regeln spielen. Wenn es um Leute geht, die nicht gefunden werden wollen, bin hier immer noch ich der Experte.“ „Und wenn es darum geht, sich aus irgendwelchen Rattenfallen zu befreien, auch“, ergänzte Trix. Er warf ihr einen angesäuerten Blick zu. Sie grinste. „Ich versuche nur zu helfen.“ Ava schaute zu Kael. „Verspürst du ebenfalls das Verlangen, von hier wegzugehen?“ Die Art, wie sie die Frage stellte, gefiel Scott nicht. Er sah zwischen dem Hologramm und Kael hin und her. Da war ein kurzer Augenblick. Ein Aufblitzen einer Möglichkeit, doch sie verschwand sofort wieder, bevor er sie richtig erfassen konnte.   Vielleicht hab ich mir doch ein paar Gehirnzellen zu viel weggesoffen, dachte er, bevor er zu dem Jungen ging und ihn grob an der Schulter herumriss. „Hör mal, wenn du gerne bleiben willst, bis die einen Weg gefunden haben, dich aufzubringen: Viel Spaß! Aber Trix und ich gehören nicht hierher. Wenn die uns hier drinnen finden, war’s das. Dann sind wir reif für die Wiederverwertung, wenn dafür überhaupt genug von uns übrigbleibt.“   Kael sah ihn aus großen Augen an, bevor er langsam den Kopf schüttelte. „Nein. Das lasse ich nicht zu. Ihr … ihr habt mir geholfen. Es wäre nicht fair.“   Scott nickte zustimmend. „Da hast du verdammt recht, Kleiner.“   „Außerdem brauche ich dich noch.“   Scott blinzelte ungläubig. Hatte er sich gerade verhört? „Du … brauchst mich? Also ich find’s ja schmeichelhaft, dass du in mir so ne Art Ersatzvater zu sehen scheinst, aber …“   „Nein“, unterbrach Kael ihn. „Ich brauche dich, um meinen Vater aufzuspüren. Ich hatte gehofft, dass er hier ist, aber da sich das als unwahr herausgestellt hat, brauche ich jemanden, der mir hilft, ihn zu finden.“   Scott blinzelte noch einmal. Irgendwie hoffte er immer noch, sich verhört zu haben, aber sein Gehirn hatte anscheinend beschlossen, ihm diesbezüglich keinerlei Zweifel zuzubilligen. „Deinen Vater finden?“, wiederholte er. „Aber das ist … Wahnsinn. Ich weiß zwar nicht, wie und warum, aber er befindet sich mit Sicherheit in Inbergs Gewalt, wenn er überhaupt noch am Leben ist. Irgendwo dort, wo nicht einmal Ava ihn findet. Und da möchtest du, dass ausgerechnet ich mich auf die Suche mache?“   „Du hast gesagt, du bist der Beste darin.“ Für einen Augenblick war Scott sprachlos. Das kleine Aas schlug ihn doch tatsächlich mit seinen eigenen Waffen. Im nächsten Moment polterte er los. „Ja, da draußen bin ich der Beste. In Eden herrschen aber andere Regeln. Da bin ich ein Nichts, ein Niemand. Ich komme nicht mal bis zur Eingangstür, bevor mich irgendwelche Wachen ergreifen, zu Boden werfen und ins nächste Loch schmeißen.“   Ein kleines Lächeln erschien auf Kaels Gesicht. „Das passiert aber nur, wenn sie dich auch entdecken, oder?“ „Ja, sicher. Aber mit Hilfe von Ava …“   Scott stockte, als ihm klar wurde, was der Junge andeuten wollte. Er sah zu dem Hologramm hinüber. „Du meinst, mit Avas Hilfe könnte es gelingen?“   Kael zuckte mit den Schultern. „Sie wäre in der Lage, die Sensoren so zu manipulieren, dass wir nicht aufspürbar sind. Und sie könnte uns Zugang zu so ziemlich jedem Gebäude hier in der Stadt verschaffen.“   „Auch zur Bank? Dem Museum? Dem Park?“, fragte Trix interessiert nach. Als Scott sie daraufhin fragend ansah, grinste sie breit. „Was? Ich dachte, wenn ich mir so ein paar Blümchen unter die Jacke stecke, merkt das bestimmt keiner. Die bringen auf dem Schwarzmarkt garantiert ne Menge Geld. Ich mein: echte Pflanzen. Hallo?“   Scott schüttelte den Kopf und wandte sich wieder Kael zu.   „Okay. Sagen wir mal, es gelingt und wir kommen tatsächlich bis zu Inbergs Hauptquartier. Was versprichst du dir davon?“   Kaels Mund zuckte. „Ich … ich will es einfach verstehen. Ich will wissen, warum das alles passiert. Und ich will wissen, was mit meinem Vater geschehen ist.“   Das war es, was Kael sagte. Was Scott hörte, war jedoch etwas völlig anderes. „Du willst herausfinden, ob es deine Schuld war“, mutmaßte er. Der ertappte Ausdruck, der daraufhin auf Kaels Zügen erschien, sagte ihm, dass er recht hatte. Scott fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.   „Meinst du nicht, dass es besser wäre, das alles auf sich beruhen zu lassen? Du kannst Inberg nicht stoppen. Niemand kann das. Dein Vater, der sicherlich schlauer war als wir und verdammt viel mehr Geld und Einfluss hatte, hat es versucht und dafür mit seinem Leben bezahlt. Oder mit etwas Schlimmerem. Denkst du wirklich, dass ausgerechnet wir eine Chance haben, wo er gescheitert ist?“   Kael musterte ihn aufmerksam, bevor er antwortete. „Ich weiß es nicht“, sagte er ehrlich. „Aber ich weiß, dass ich es versuchen muss. Ich … ich bin irgendwie verantwortlich für das, was passiert ist. Dafür, dass mein Vater gestorben oder verschwunden ist. Ich fühle es.“   Kaels Blick durchbohrte Scott förmlich. Es lag etwas Aufrichtiges darin. Etwas Reines. Scott war versucht, es Naivität zu nennen, aber er wusste, dass es etwas anderes war. Etwas, dass er schon vor langer Zeit verloren hatte. Die Fähigkeit an etwas zu glauben.     Noch einmal tauchte ein anderes Gesicht vor Scotts innerem Auge auf. Dieses Mal stand das Bett, in dem es lag, nicht in einem Krankenhaus. An der Wand hingen Zeichnungen wie von einem Fünfjährigen, was sicherlich daran lag, dass sie genau das waren. Besagter Fünfjähriger war, obwohl er eigentlich schlafen sollte, noch hellwach und schnatterte auf Scott ein.   „Meinst du, der Weihnachtsmann kommt dieses Jahr? Meinst du, ich bekomme das Computerspiel, das ich mir gewünscht hatte? Und den Schock-Kontroller? Und den ferngesteuerten Roboterhund? Was meinst du, Scott? Sag doch mal!“   Und Scott hatte dagelegen und sich auf die Lippen gebissen, um nicht zu verraten, dass der Weihnachtsmann doch nur eine Erfindung war. Weil man das als großer Bruder eben so machte.     Scotts Blick fokussierte sich wieder auf Kael. Der Junge hatte im Grunde genommen nichts mit Charlie gemein. Bis auf diesen Ausdruck in den Augen.   Wenn ich ihn allein gehen lasse, werden sie ihn kriegen und dann werden sie ihn brechen, sowie sie es bisher mit jedem getan haben, der sich ihnen in den Weg stellt. Der Junge ist quasi schon tot, er weiß es nur noch nicht.   „Also schön“, knurrte Scott und wandte sich ab. „Ich helfe dir. Aber ich mache dich darauf aufmerksam, dass es absolut idiotisch ist. Wir werden den Rest unseres Lebens im Kittchen verbringen.“   Und bevor das passiert, jage ich mir selbst eine Kugel in den Kopf.   Kaels Mundwinkel hoben sich und auch Trix begann zu grinsen. Ein Ausdruck, der sich in Erschrecken verwandelte, als ein gewaltiger Schlag die Wände des Hauses erzittern ließ. Ein Bild fiel von der Wand und einige Bücher kippten um.   „Was … was war das?“, fragte Trix mit weit aufgerissenen Augen. Ava fühlte sich offenbar genötigt zu antworten.   „JG-3/M-Explosivgeschoss. Die vorhin genannten Subjekte haben damit versucht, die Tür aufzubrechen.“ „Und hatten sie Erfolg?“   Es krachte noch einmal.   „Minimalen“, gab Ava zur Auskunft. „Ich habe mir erlaubt, im Gegenzug eines ihrer Fahrzeuge zu eliminieren.“   „Elimi…“ „…nieren?“, echoten Scott und Trix gleichzeitig. „Wie das?“, fragte er hinterher, obwohl er die Antwort eigentlich schon kannte.   „Mit dem Hochenergielaser, der über dem Eingang angebracht ist. Ich habe damit den Motor explodieren lassen.“   Scott mochte sich irren, aber der Gesichtsausdruck des Hologramms wirkte äußerst zufrieden.   „Und …“, begann er vorsichtig, „du hast nicht zufällig auch etwas auf Lager, mit denen du die Bande außer Gefecht setzen könntest. Sagen wir mal für immer?“   Ava wandte sich ihm zu. Sie lächelte. „Das Töten eines Menschen verstieße gegen meine Programmierung. Ich könnte jedoch dafür sorgen, dass sie von der Tür verschwinden. Immerhin verfüge ich unter anderem über ein Active Denial System.“ „Aha“, machte Scott. „Und was ist dieses … Active Denial System?“   „Das ADS bewirkt mittels konzentrierter Mikrowellenbestrahlung eine kurzzeitige Erhitzung der Wassermoleküle in der Haut, was im Allgemeinen als sehr schmerzhaft empfunden wird. Experten haben bestätigt, dass es durch die geringe Eindringtiefe nicht zu bleibenden Organschäden kommt. Eine längerfristige Anwendung könnte jedoch zu Brandblasen führen.“ „Was bei einigen durchaus eine Verbesserung darstellen würde“, murmelte Scott und dachte dabei an Emiles Gesicht. „Na gut, du kannst sie also vertreiben. Und was dann?“ „Sie würden vermutlich außerhalb der Reichweite des ADS warten, bis ihr zu ihnen kommt, um euch dann gefangenzunehmen.“   Scott seufzte.   „Was uns wieder zu der Frage mit dem Notausgang bringt. Gibt es nun einen oder nicht?“   Kael, der einen Blick von Ava auffing, nickte leicht. „Sag es ihnen.“ „Es gibt einen Tunnel, der unterhalb des Hauses bis zum Gelände des alten Kraftwerks läuft. Leider kann ich euch bis dahin nicht folgen, denn meine Sensoren erstrecken sich nicht bis in dieses Gebiet. Wenn ihr dort hingeht, werdet ihr auf euch allein gestellt sein.“   Trix knetete ihre Unterlippe, während Scott den Mund zusammenpresste, bevor er schließlich aussprach, was sie alle dachten. „Wir machen es. Aber vorher werden wir uns ausrüsten.“ Wie sich herausstellte, verstanden sie alle darunter jedoch etwas Unterschiedliches.   „Das kannst du nicht mitnehmen.“   Trix sah auf die Sachen herab, die sie im Arm trug, und dann wieder zu Scott. „Warum nicht?“ „Weil sie dir nicht gehören. Und vor allem, was ist das?“ Scott wies auf etwas das aussah wie eine Badewanne, in der sich zwei nackte Männer Nase an Nase gegenüberstanden. Einer von ihnen hatte eine Halbglatze, der andere trug eine Badekappe. Am Rand der Wanne sah man noch einen Hocker mit einem Handtuch und einer Ente darauf.   Trix musterte ihr Fundstück. „Kunst?“, fragte sie vorsichtig. Scott schüttelte den Kopf. „Es ist vor allem schwer. Und hinderlich. Und absolut unhilfreich, wenn es darum geht, Margeras Männer auszuschalten.“   „Ich könnte es ihnen an den Kopf werfen“, schlug Trix vor, aber Scott blieb hart. „Das Ding bleibt hier, ebenso wie der andere Krempel. Du solltest dich doch um Vorräte kümmern. Kael ist auf der Suche nach Sauerstoff.“   Als der Junge um die Ecke kam, sah Scott ihn fragend an. Als Antwort bekam er ganze drei Sauerstoffkapseln gezeigt. Scott fluchte leise.   „Warum ist dieser Haushalt nur so unheimlich schlecht auf eine Flucht vorbereitet?“ Als es noch einmal vor der Haustür krachte, meinte Trix lapidar: „Weil die vermutlich eher mit einer Belagerung gerechnet haben. Im Grunde genommen müsste man diesen Ort bis an sein Lebensende nicht verlassen. Allein das Angebot des Replikators ist riesig. Das Ding macht richtige Lebensmittel. Kannst du dir das vorstellen? Etwas zu essen, das auch aussieht, als würde man es essen können. Und wollen. Die Dinger kannte ich bisher nur aus dem Fernsehen.“   Ich auch, lag es Scott auf der Zunge zu sagen, aber er hielt lieber die Klappe. Dieses Haus war ein Käfig. Ein goldener zwar mit allen möglichen Annehmlichkeiten, aber nichtsdestotrotz ein Käfig. Je länger er sich hier drinnen befand, desto nervöser wurde er. „Dann kümmere dich darum, uns ein paar Sachen zu besorgen, die wir leicht transportieren können. Wir wissen nicht, wie lange wir unterwegs sind.“   „Sandwiches?“, schlug Trix vor und Scott nickte abwesend. Er checkte die Füllstände ihrer Masken. Als er nach Kaels griff, stockte er kurz. Die Anzeige war immer noch im grünen Bereich. „Hast du die Kartusche gerade gewechselt?“, fragte er. Kael verneinte. Scott runzelte die Stirn. „Scheiße, dann ist das Ding kaputt. Pass also auf, falls dir schwindelig wird oder du das Gefühl hast, dich übergeben zu müssen.“ „Ist gut.“   Kael nahm seine Maske zurück und befestigte sie an seinem Gürtel. Ein Verhalten, dass er sich offenbar bei Scott abgeguckt hatte. Der kommentierte es nicht. Er war immer noch auf der Suche nach etwas, das sie zu ihrer Verteidigung benutzen konnten, aber Fehlanzeige. Das Höchste der Gefühle, das er gefunden hatte, war ein Paar antike Nunchakus, mit denen keiner von ihnen umgehen konnte. Anscheinend war Ava die Einzige, die hier durch die Gegend ballern durfte.   Vielleicht hätten sie mal ne Taschenversion von dem Ding erfinden sollen. 'Ava to Go' oder so.   Aber aller Galgenhumor half ihm nichts. Es wurde Zeit, dass sie aufbrachen.     Nachdem sie alles noch einmal überprüft hatten, fanden sie sich im Flur ein. Von draußen drangen undeutlich Stimmen und Geräusche von schwerem Gerät zu ihnen vor. Scott gab vor, sie zu ignorieren, und wandte sich an Ava. „Wir sind abmarschbereit. Wo geht es jetzt raus?“ „Folgt mir bitte.“   Zu Scotts Verwunderung ging Ava ein Stück weit die Treppe hinauf, wo sie auf dem zweiten Absatz stehenblieb und sich an Kael wandte. „Wenn du bitte den Van Gogh entfernen würdest?“ Ava wies auf ein Bild mit einem Mann in einem blauen Anzug, das im Treppenaufgang an der Wand hing. Der Mann hatte das Gesicht in den Händen vergraben und saß auf einem einfachen Stuhl an einem Kaminfeuer. Trix legte den Kopf schief. „Was soll das sein?“, fragte sie und versuchte die kleine Statue mit den Badewannen-Männern unauffällig hinter ihrem Rücken zu verbergen.   „Es handelt sich hierbei um Vincent van Goghs berühmtes Gemälde 'An der Schwelle zur Ewigkeit' aus dem Jahr 1890. Es war unter anderem namensgebend für eine Biographie des Künstlers, die im Jahre 2019 in Deutschland veröffentlicht wurde. Man konnte dabei …“   „Ja ja“, würgte Scott sie ab. Er nahm Kael das Bild aus der Hand und stellte es achtlos beiseite. „Es wird ja wohl kaum der echte Schinken sein und selbst wenn, wäre es zu groß, um es mitzunehmen. Also los, wie weiter.“   An der Stelle, an der zuvor der Van Gogh gehangen hatte, war jetzt ein Tastaturfeld zu sehen. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man eine haarfeine Linie daneben erkennen.   „Eine Tür“, schlussfolgerte Scott und sah Ava auffordernd an. „Wie geht sie auf?“   „Ihr müsst den richtigen Code eingeben, dann erhaltet ihr Zutritt zu einem Fahrstuhl, der euch in das geheime Tunnelsystem bringt.“ „Und wie lautet der richtige Code?“ „Diese Information ist mir nicht bekannt.“ Scott blinzelte ein paar Mal, bevor er in der Lage war zu reagieren. „Sag das nochmal“, schnarrte er. Ava lächelte freundlich.   „Ich sagte, dass ich den Code für diese Tür nicht kenne. Er ist nirgendwo verzeichnet. Robert muss ihn lediglich in seinem Gedächtnis aufbewahrt haben.“   Scott unterdrückte ein Stöhnen. „Das darf doch jetzt alles nicht wahr sein“, murmelte er. „Und wie kommen wir jetzt hier raus?“ „Ist doch ganz einfach“, meinte Trix und schob sich zwischen Scott und Kael nach vorn. „Wir machen das, was jeder Hacker macht, wenn er nicht weiter weiß. Wir raten.“   Scott ballte die Hand zur Faust, aber er beherrschte sich und zählte nur langsam bis zehn. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, er hätte Kael einfach Margeras Häschern überlassen. „Also schön“, knirschte er. „Und mit welchen Zahlen möchtest du anfangen?“   Trix blies die Backen auf.   „Keine Ahnung. Versuchen wir doch Kaels Geburtsdatum.“   Kael nannte eine Zahlenkombination – er war tatsächlich 17, so wie Scott vermutet hatte – und Trix gab diese über die Tastatur ein. Mit angehaltenem Atem warteten sie ab, aber nichts geschah. Als Nächstes versuchten sie das Geburtsdatum von Kaels Mutter und schließlich sogar das seines Vaters. Es half jedoch alles nichts. Das Einzige, was passierte, war, dass die Schalttafel einen fast schon gehässig klingenden Quäkton von sich gab und „Zugang verweigert“ in leuchtenden Buchstaben auf dem Bildschirm erschien. Scott knirschte mit den Zähnen. „So, und jetzt? Hast du noch irgendwelche Neffen, Nichten oder von der Familie verstoßene Onkel, deren Geburtsdatum wir benutzen könnten? Nur so als Idee?“     Kael sah das Zahlenfeld an der Wand an, Er betrachtete es, als hoffte er dort etwas zu sehen. Eine Antwort zu finden, die irgendwo in den Tiefen der Schaltkreise verborgen lag und die nur er herauslesen konnte. Dann trat er plötzlich vor, hob die Hand und gab eine achtstellige Zahlenkombination ein. Als er die Folge beendet hatte, ertönte ein zustimmendes 'Ping' und die Tür zum erwarteten Fahrstuhl öffnete sich.   „Wie … wie hast du das gemacht?“, fragte Trix verblüfft. „Welches Datum hast du benutzt?“   Kael schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich … ich habe einfach so intensiv darüber nachgedacht, dass ich die Antwort auf einmal wusste. Als ob sie mir jemand eingeflüstert hätte. Sie war auf einmal in meinem Kopf.“   In diesem Moment krachte es erneut und irgendwo im Haus fiel etwas mit großen Getöse zu Boden. Das gab für Scott den Ausschlag.   „Schnell“, sagte er und schubste Trix und Kael kurzerhand in die metallene Fahrstuhlkabine. „Ava, jetzt wäre vielleicht Zeit für ein bisschen Mikrowellenaction. Halt die Typen so lange vom Haus fern, bis du uns nicht mehr auf dem Schirm hast. Das sollte uns Zeit verschaffen, bis sie merken, dass wir ausgeflogen sind.“ „In Ordnung, Scott“, gab Ava wie immer lächelnd zurück. „Ich sehe euch auf der anderen Seite.“   Die Fahrstuhltüren begannen sich zu schließen. Ein letztes Mal hob Ava die Hand, um ihnen zum Abschied zu winken, dann wurde sie von den silbernen Stahlwänden verschluckt. Nahezu lautlos bewegte sich die Fahrstuhlkabine in die Tiefe.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)