Zum Inhalt der Seite

Roter Mond

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Ein beschissener Anfang

Der Fuß mit dem nietenbeschlagenen Stiefel raste auf Scotts Kopf zu. Erst im letzten Moment wich er aus. Der Tritt traf an seiner statt das korrodierte Eisengeländer, das sich gerade noch in seinem Rücken befunden hatte. Die Konstruktion ächzte unter dem harten Aufprall. Dreck und Rost rieselten von den höheren Ebenen herab. Scott tauchte unter dem Arm des muskelbepackten Riesen hindurch und hob seinen Schocker. Noch bevor er das Gerät zum Einsatz bringen konnte, hatte sich der Koloss mit einer seiner massigen Gestalt spottenden Geschwindigkeit herumgedreht. Eine Faust traf zielsicher Scotts Unterkiefer. Das Schmerzzentrum seines Gehirns meldete augenblicklich dringenden Alarm und eine kleine, rote Lampe vor seinem Auge begann zu blinken.
 

„Warnung! Fehlfunktion der Sauerstoffversorgung. Suchen Sie bitte umgehend einen Servicetechniker auf.“
 

Servicetechniker am Arsch!
 

Mit einem Rückwärtssprung brachte Scott sich außer Reichweite des nächsten Kinnhakens, der ihn mit Sicherheit ausgeknockt hätte. Warum bekam er nur immer die widerspenstigen Scheißkerle?
 

„Gib auf! Du machst es nur schwer für uns beide“, versuchte er noch einmal an die Vernunft des Zwei-Meter-Brutus zu appellieren. Irgendwo in dem von Steroiden und zu viel Bankdrücken geformten Körper mussten sich doch noch ein paar menschliche Regungen verstecken. Angst wäre beispielsweise hilfreich gewesen.
 

Der nächste Schwinger verdeutlichte Scott, dass sein Gegner anderer Meinung war.
 

„Ich schlag dich zu Brei“, knurrte der Riese. Seine Stimme wurde durch die schwarze Atemmaske, die den unteren Teil seines Gesichts bedeckte, deutlich gedämpft. Scott musste an eine geifernde Bulldogge mit einem Maulkorb denken. Nicht, dass er so ein Tier mal in echt gesehen hatte, aber wozu gab es Fernsehen?
 

„Dann nimmst du aber ein paar hart arbeitenden Leuten die Jobs weg“, stichelte er und näherte sich seinem Zielobjekt erneut. Der enge Hinterhof war wirklich ein denkbar ungünstiger Ort für ein Zusammentreffen mit so einer Kampfmaschine. Der Plan, sein Opfer aus dem Hinterhalt zu erwischen, war fehlgeschlagen. Jetzt musste Scott seine Schnelligkeit und Wendigkeit nutzen. Und genau da lag das Problem. Er hatte einfach keinen Platz, um das Riesenbaby müde zu machen. Außerdem sank sein Sauerstoffvorrat von Minute zu Minute, wie die immer noch wild blinkende Anzeige ihm hinreichend verdeutlichte. Eine Lösung musste her und zwar schnell.
 

Sein Blick irrte die dreckigen Wände hinauf. Schwarz gefärbt und schmierig von dem mit Asche und anderen Dingen vermischten Regen. Die Fenster der oberen Etagen waren eingeschlagen. Darunter surrten die Anlagen, die unablässig halbwegs atembare Luft in die Innenräume pumpten. Sie erinnerten Scott an zornige Bienenstöcke. Oder hätten ihn erinnert, wenn es noch Bienen gegeben hätte.
 

Die Idee, eines der Dinger abzureißen und dem Typen auf den Kopf fallen zu lassen, ploppte auf und wurde gleich wieder verworfen. Er war schlichtweg nicht stark genug dafür. Außerdem konnte er nicht fliegen.
 

Die Treppe, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Überbleibsel aus der Zeit, in der drinnen noch größere Gefahren gelauert hatten als draußen. Jetzt vielleicht eine Möglichkeit, ohne gespaltenen Schädel aus dieser Prügelei herauszukommen. Doch zuerst musste er an diesem aufgepumpten Penner vorbei.
 

„Hey, guck mal da!“, rief er und wies mit der Hand nach oben. Der Koloss tat ihm nicht den Gefallen hinzusehen. Stattdessen ballte er erneut die Fäuste und machte einen Ausfall in Scotts Richtung. Der wich aus und entging mit knapper Not einem weiteren Treffer. Jetzt half wirklich nur noch rohe Gewalt. Er senkte den Kopf und zielte damit auf den Bauch des Riesen. Mit einem infernalischen Brüllen rannte er vorwärts, rammte ihn und hatte das Gefühl, gegen eine Mauer gelaufen zu sein. Zwei kolossale Pranken schossen vor und rissen ihn hoch und zurück. Von Schmerzen keine Spur. Zumindest nicht bei dem Riesen.
 

„Du hast dir den Falschen ausgesucht“, knurrte der Gigant, der eigentlich Scotts Auskommen für die nächste Woche hätte werden sollen. Er hatte bei einem seiner Raubzüge ein bisschen zu viel in die eigene Tasche wandern lassen und das hatte seinen Boss so gar nicht erfreut. Also hatte der Scott angerufen und hier waren sie nun.
 

„Weißt du was? Ich mach dir einen Vorschlag“, plapperte Scott, während der Riese ihn weiter zusammenquetschte wie eine leere Getränkedose. „Wir teilen deine Beute einfach. 60 für mich, 40 für dich. Und dafür erzähle ich Margera, dass du in den Fluss gestürzt bist.“
 

„Die Show hast du schon beim letzten abgezogen. Das nimmt er dir nicht ab.“
 

Guter Punkt, musste Scott zugeben. Eventuell war das der Grund, warum er sein Opfer dieses Mal lebend abliefern sollte. Damit der Boss der Snakeheads ihn selbst um die Ecke bringen konnte.
 

„Ich dachte, ich biete es dir trotzdem an. Aber wenn du nicht willst …“
 

Mit diesen Worten hob Scott den Schocker und presste ihn dem Schläger an die Kehle.
 

Mehrere hunderttausend Volt jagten von den Kontaktelektroden in den Körper des Kolosses. Dessen Augen verdrehten sich und sein Körper begann unter unkontrollierbaren Krämpfen zu zucken. Infolgedessen rutschte Scott ihm aus den Händen und landete wieder auf seinen Füßen. Den Schocker ließ er trotzdem nicht los. Unablässig pumpte das Gerät Elektrizität in die massigen Muskeln seines Gegners und ließ ihn tanzen wie eine hilflose Puppe. Erst, als Scott sicher war, dass er ihn erledigt hatte, nahm er den Finger vom Abzug. Das blaue Glühen erlosch, die Krämpfe stoppten und die Faust des Riesen schoss nach vorn. Sie beförderte Scott einen guten halben Meter durch die Luft, bevor er hart auf dem Boden aufschlug.
 

Scheiße!, schoss es ihm durch den Kopf, während der Schläger schon wieder näherkam. Viel zu schnell näherkam. Scotts benebelter Geist konnte nicht schnell genug reagieren. Er wurde hochgezogen und landete mit dem Rücken an einer Mauer. Schmerz schoss erneut durch sein Nervensystem. Mehrere Stellen merkten an, dass sie seiner Aufmerksamkeit bedurften und kurz vor dem Kollaps standen.
 

„Jetzt hab ich dich“, knurrte der Riese und seine Pranken schlossen sich wie pneumatische Schraubstöcke um Scotts Hals. Fast erwartete er, die Knochen seines Genicks auseinander schnappen zu hören, doch das Geräusch blieb aus. Stattdessen wurde seine Luftröhre eng und enger, als der Riese noch fester zudrückte. Dessen Augen waren rot gerändert und von geplatzten Adern durchzogen. Blutige Bälle inmitten eines grobschlächtigen Gesichts. Eine Schönheit war der Typ mit der schwarzen Maske nun wirklich nicht.
 

Die Maske!
 

Bunte Punkte begannen vor Scotts Augen zu tanzen. Sein Kopf drehte sich. So langsam brauchte er wirklich wieder Luft. Seine Hände, die er automatisch in die Unterarme des Kolosses gekrallt hatte, um sie von seinem Hals zu ziehen, begannen zu kribbeln. Seine Kraft schwand. Nur noch wenige Augenblicke und er würde ohnmächtig zusammenbrechen. Jetzt blieb ihm nur noch ein Ausweg.
 

Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, ließ Scott sein Knie zwischen die Beine seines Gegners schnellen. Sehnenummantelte Knochen trafen auf weiches Gewebe und selbst durch die Maske konnte er den weinerlichen Quieklaut vernehmen, den der andere Mann von sich gab. Ehe er sich von seinem Schock erholen konnte, hatte Scott zugegriffen und seine Finger im Ventil der Atemmaske verhakt. Ein kräftiger Ruck und das Mundstück glitt zwischen den Zähnen seines Gegners hervor. Die Neoprenschnüre die die Maske an Ort und Stelle halten sollten, schnitten vermutlich schmerzhaft in die Ohren des Riesen ein, doch Scott kümmerte sich nicht darum. Wenn er eines von ihnen abriss, umso besser. Noch einmal riss er den Fuß hoch, der andere Mann zuckte zurück. Scott nutzte den gewonnenen Platz, um seine Beine zwischen sich und den massigen Leib zu schieben und ihn von sich fort zu katapultieren. Wieder landete er auf dem Boden, vollführte eine Rolle, kam aus der Bewegung heraus auf die Füße und sprintete in Richtung Treppe. In seiner Hand die Maske des Riesen.
 

„Komm zurück!“, japste der. Trotz der Schmerzen, die er vermutlich immer noch hatte, stieß er einen wütenden Schrei aus und setzte Scott nach. Der erreichte das untere Ende der Feuertreppe. In Windeseile hangelte er sich an der Außenseite der Stahlkonstruktion nach oben. Etwas Schweres ließ das Gebilde erzittern. Erneut rieselten die Zeichen des Verfalls auf Scott hinab und er verlor beinahe den Halt, als die Treppe wieder und wieder unter den Schlägen des massigen Mannes erzitterte. Plötzlich hörten die Schläge auf. Dafür konnte Scott ein gequältes Knarren hören. Der Riese hatte begonnen, ebenfalls nach oben zu klettern.
 

Fuck!
 

Schon löste sich eine der Verankerungen mit einem fast schon beiläufigen Pling aus der Wand, dann noch eine. Alles um Scott herum zitterte und schwankte. Hinter ihm schnaufte die Kampfmaschine auf ihrem Weg nach oben. Noch eine der uralten Schrauben löste sich und die Feuertreppe begann sich nach hinten zu neigen.
 

Der wird uns noch beide umbringen.
 

Scott erlaubte sich einen Blick nach unten. Ohne Maske war der Typ noch hässlicher. Seine ungesunde, teigige Gesichtsfarbe hatte sich mittlerweile in Richtung rötliches Blau verschoben. Er röchelte und prustete, aber der pure Überlebenswille und die Wut ließen ihn weiterklettern. Schon trennte ihn nur noch ein Stockwerk von Scotts Füßen. Das gepeinigte Metall unter Scotts Fingern kreischte und sang. Es war nur eine Frage der Zeit, bis hier alles zusammenbrach.
 

Scotts Blick schoss nach oben. Noch drei Stockwerke bis zum Dach. Das würde er nicht schaffen.
 

„Sauerstoffniveau bei 1%. Begeben Sie sich umgehend zu einem Servicetechniker.“
 

Scott hätte beinahe gelacht. Wenn die Lady das sagte, dann würde er das wohl tun müssen. Mit einem letzten Stoßgebet in Richtung der großen Metallhand im Himmel, holte Scott noch einmal tief Luft und ließ sich fallen.
 

Der massige Leib des Riesen tauchte vor ihm auf. Blitzschnell griff Scott zu, schlang einen Arm um den Hals seines Widersachers und benutzte die zweite Hand, um seinen Griff zu festigen. Sein Körpergewicht gab ihm zusätzlichen Druck. Der Koloss röchelte. Seine Bewegungen wurden fahrig. Unkontrolliert. Er verfehlte die nächste Metallstange und griff ins Leere.
 

Na komm schon!
 

Erneut warf Scott sich mit vollem Gewicht nach hinten und verstärkte das Ganze noch mit einem Tritt gegen das Geländer. Das Metall dröhnte unter seinen Füßen. Endlich gab der Riese nach.
 

Sein massiger Körper neigte sich für einen ungläubigen Moment dem Boden entgegen, so als zögerte er, der Schwerkraft zu folgen, doch dann siegten endgültig die Naturgesetze. Er und Scott stürzten gemeinsam in die Tiefe.
 

Noch im Flug warf Scott sich herum. Er hatte nur Bruchteile von Sekunden, um sein improvisiertes Landekissen unter sich zu bringen. Aber wie durch ein Wunder schaffte er es tatsächlich, den Dicken mit dem Bauch nach unten zu drehen. Im nächsten Moment trieb die Wucht des Aufpralls Scott die letzte Luft aus seinen Lungen. Ihm wurde schwarz vor Augen und er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, aber dann kickte erneut das Adrenalin. Er riss sich von dem Koloss los und sprang ein Stück von ihm weg. Die Fäuste gehoben musterte er den Mann, der vor ihm am Boden lag und sich nicht mehr rührte. Scotts Herz hämmerte in seinen Ohren. Wieder zog Schwärze heran.
 

„Sauerstoffvorrat aufgebraucht. Bitte beehren Sie uns bald wieder.“
 

Mit diesen Worten erlosch das rote Licht und Scotts Atemmaske schaltete sich ab.
 

„Fuck!“
 

Fluchend zerrte Scott das nutzlos gewordene Ding von seinem Gesicht. Sein Blick irrte durch den dreckigen Hinterhof. Direkt vor ihm war eine Tür, die ins Innere des Hauses führte. Stahl, vermutlich ziemlich dick. Kein Schlüsselloch, keine Klinke. Um dort hineinzukommen hätte er einen Schneidbrenner gebraucht. Das und mehrere Minuten. Beides hatte Scott nicht. Ihm musste was einfallen.
 

Plötzlich wurde er sich der Maske bewusst, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Das Mundstück war schon reichlich zerbissen und stank nach saurem Speichel. Wenigstens bildete Scott sich ein, dass es das tat.
 

„Scheiß drauf!“
 

Er schob sich das Ding zwischen die Zähne und drückte den Rest über Mund und Nase fest. Gierig nahm er einen tiefen Atemzug und dann noch einen. Fast augenblicklich wich das beklemmende Gefühl in seinem Brustkorb. Die Erinnerung daran, dass er dem Schläger gerade einen indirekten Zungenkuss gab, verdrängte er lieber.
 

Der soll mal Zahnseide benutzen, murmelte er in Gedanken, bevor er seine Optionen durchging. Den Typen hier liegen zu lassen und zu warten, dass ihn jemand abholte, konnte Scott knicken. Bis dahin war er längst erstickt. Blieb also nur, Zuflucht in einem der weniger gesicherten Gebäude zu suchen.
 

„Dann mach dich mal nicht so schwer, Dickerchen“, raunte er dem Bewusstlosen zu, bevor er ihn unter den Achseln packte und sich daran machte, ihn in Sicherheit zu schleifen.
 

Auf der Straße war niemand zu sehen, die meisten Häuser standen leer. Die, die es nicht taten, waren verrammelt und verriegelt. Erst zwei Häuserblocks weiter fand Scott endlich eine Tür, die einigermaßen einladend aussah. Entschieden drückte er einen der Klingelknöpfe.
 

Ach, was soll der Geiz?
 

Er betätigte alle Knöpfe, was zu einem wütenden Crescendo von Stimmen führte, das ihm aus dem Lautsprecher neben der Tür entgegenschallte. Die Kamera war zum Glück abgerissen worden.
 

„Pizza für Nummer 12“, behauptete er und zog die Augenbrauen nach oben, als er tatsächlich den Türsummer hörte. Dummheit war anscheinend im Gegensatz zu vielem anderen immer noch nicht ausgestorben.
 

Mir egal, Hauptsache der Sack nippelt mir nicht ab.
 

Scott schob die Tür nach innen und war nicht erstaunt, drinnen eine zweite Tür zu finden. Es war eine Standard-Luftschleuse, die jedoch ihren Zweck mehr schlecht als recht erfüllte. Scott fühlte den Luftstrom, der über sein Gesicht strich.
 

Soll mir recht sein.
 

Erneut packte er seine Beute unter den Schultern und schleifte den schier Tonnen wiegenden Körper durch die Tür nach drinnen. Es war wirklich immer wieder erstaunlich, wie viel schwerer die Leute wurden, wenn sie nicht bei Bewusstsein waren. Scotts Rücken protestierte und so langsam meldeten auch die restlichen Bereiche seines Körpers wieder Behandlungsbedarf an. Er hatte sich die Hände aufgeschürft, blaue Flecke überall, sein Kinn fühlte sich an, als hätte es einen Beinahebruch hinter sich, und mindestens ein oder zwei Rippen waren mit Sicherheit geprellt. Das würde eine unangenehme Nacht werden. Aber immerhin spürte er noch etwas. Er wusste, dass andere sich durch den ständigen Gebrauch von Schmerzmitteln bereits ins sensorische Nirwana geschossen hatten. Es ging zwar nichts über anständige Drogen, aber wie mit allen guten Dingen sollte man es eben nicht übertreiben.
 

„Ah, fuck!“
 

Der Fuß des Bewusstlosen hatte sich in der sich schließenden Tür verhakt und hinderte ihn am Weiterkommen. Er ruckte und ruckte, aber die hermetische Schleuse hatte offenbar beschlossen, ein Arschloch zu sein. Sie gab Scotts Beute nicht frei und verlangte hartnäckig ihren Anteil.
 

„Fick dich!“, raunte Scott an dem Mundstück vorbei, ließ den Oberkörper des Mannes auf den Boden knallen und versetzte seinem Bein einen herzhaften Tritt. Der Fuß löste sich und die Tür schloss sich mit einem sanften Zischen. Danach wurde es dunkel.
 

„Herrlich. Ja, wirklich. Was denn noch?“
 

Mit der Faust malträtierte Scott den Lichtknopf neben dem Eingang und schrak zusammen, als das Licht wieder anging. Auf der Treppe stand ein Kind. Und starrte ihn an.
 

Scott war sich nicht sicher, ob es sich bei der dürren, in undefinierbares Grau gehüllten Gestalt um einen Jungen oder ein Mädchen handelte. Vermutlich letzteres, denn irgendwer hatte die blonden Fusseln, die aus seinem grindigen Kopf sprossen, oben zu einem Pinsel zusammengebunden. Außerdem hielt es ein Springseil in der Hand, an dessen Ende ein rosarotes Holztier bereits zwei von zwei Ohren eingebüßt hatte. Vermutlich war das irgendwann mal ein Hase gewesen. Zu Zeiten von Scotts Großmutter vielleicht.
 

„Hey, Kleine“, versuchte sich Scott an einem Gespräch. Das dazu gehörende Lächeln wurde von dem schwarzen Mundstück verschluckt. Er wusste schon, warum er normalerweise leichtere Modelle bevorzugte, auch wenn die anfälliger waren. Kurzentschlossen nahm er die Maske ab. Sofort stieg ihm ein durchdringender Schimmelgeruch in die Nase. Dazwischen das Aroma von ungewaschenen Körpern. Diese beißende Mischung aus vergorenem Schweiß und ranzigem Talg, die sich wie ein öliger Film auf seine Nasenschleimhäute legte. Scott kannte ihn zur Genüge. Fast die ganze Stadt roch so. Zumindest der Teil, in dem er lebte.
 

„Ist er tot?“
 

Die Kleine fragte das bar jeglicher Neugier. Ihre braunen Augen – oder war das Blau? Schlammgrün? Lila? - zeigten keinerlei Regung.
 

„Nein. Nein, er lebt noch.“
 

Jetzt kam Bewegung in die kindlichen Züge. Sie verzogen sich zu einem Naserümpfen.
 

„Scheiße“, fluchte die Kleine, die vielleicht fünf Jahre alt sein mochte. Sie kratzte sich mit dem rechten Fuß an ihrer linken Wade.
 

„Murkst du ihn jetzt ab?“
 

Scott schüttelte den Kopf.
 

„Nein. Jetzt rufe ich jemand an, der ihn abholen kommt.“

„Wen?“
 

Scott zog es vor, die Frage nicht zu beantworten. Je nachdem, in welchem Viertel er sich befand, konnte das zu Problemen führen. Vermutlich war er noch im Gebiet der Snakeheads, aber wenn er sich bei der Suche nach einem sicheren Unterschlupf zu weit nach Süden verirrt hatte … lieber nicht darüber nachdenken.
 

Er zog seinen Kommunikator und drückte eine Taste. Es klingelte. Man hätte denken können, dass irgendwer dieses vorsintflutliche System mal revolutioniert hatte, aber möglicherweise war das hinter der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung, Wasser und Sauerstoff irgendwie hintenüber gefallen. Anders konnte Scott sich nicht erklären, dass man immer noch von den mehr als maroden Sendetürmen abhängig war, wenn man jemanden innerhalb der Stadt erreichen würde. Für eine Stadt-zu-Stadt-Kommunikation gab es angeblich Möglichkeiten in den Nordbezirken, aber Scott war noch nie dort gewesen. Leute wie er gingen nicht in die Nordstadt.
 

„Ja“, meldete sich eine Stimme am anderen Ende.
 

„McKenzie hier. Ich hab Pecares.“

„Wo?“
 

Scott hielt die Hand über den Kommunikator und wandte sich wieder an das Mädchen, das den Bewusstlosen immer noch musterte wie ein gefrässiges, kleines Tierchen. Bei der kleinsten Bewegung würde es vermutlich eine unheimliche Anzahl an Zähnen entblößen. Scott hatte so was im Fernsehen gesehen. Am Ende hatte niemand überlebt.
 

„Hey, Sweetie, wo sind wir hier?“
 

Die Kleine blinzelte ihn an.
 

„Zu Hause?“
 

Scotts Lächeln schwankte fast gar nicht.
 

„Ja, das ist toll. Und wo ist dein Zuhause?“

„Na hier.“
 

Oh ja, sehr hilfreich.
 

Scott wandte sich wieder dem Kommunikator zu.
 

„Tracked einfach den Anruf.“
 

Er legte auf, bevor der Kerl am anderen Ende der Leitung etwas erwidern konnte. Scott musste sich keine Sorgen machen, dass sie kommen würden. Wenn Margera etwas wollte, dann bekam er es auch. Egal, was es kostete. Die Frage war nur, was es Scott kosten würde.
 

Als hätte der Dicke seine Gedanken gelesen, begann er sich langsam wieder zu regen. Die Luft, die zwar stank, aber immerhin Sauerstoff enthielt, hatte ihn wohl wieder zur Kräften kommen lassen. Automatisch griff Scott nach seinem Gürtel und erstarrte. Die Tasche. Die Tasche mit den Handschellen und dem ganzen anderen Kram. Sie war weg!
 

„Fuck! Fuckfuckfuckfuckfuck!“
 

Scott trat vor Wut gegen eine der dreckigen Wände. Der schwarze Streifen, den sein Stiefel hinterließ, stellte definitiv eine Verbesserung dar. Trotzdem hatte er immer noch ein Riesenproblem. Wenn er nicht wollte, dass er die Wartezeit bis zum Auftauchen von Margeras Bande damit verbrachte, Schlägen auszuweichen, würde er sich etwas einfallen lassen müssen.
 

Warum hab ich diesen Auftrag nur angenommen?, fragte Scott sich heute bestimmt schon zum siebenunddreißigsten Mal. Aber er wusste warum. Er brauchte Geld. Aber das würde er nicht bekommen, wenn der Penner ihm entkam. Oder ihn umbrachte.
 

Dreimal verfluchter Scheißdreck!
 

Ohne sie wirklich zu sehen, starrte Scott nach oben auf die funzelige Deckenleuchte und hoffte, dass ihm von dort eine Erleuchtung kam. In seinem Rücken hörte er ein Schnüffeln.
 

„Hey, weg da! Der ist noch nicht tot.“
 

Fast erwartete er, dass die kleine Göre ihn anfauchen würde, aber sie sah ihn nur aus großen, dunklen Augen an. Ihre Hand umklammerte immer noch das Holzhäschen. Scotts Augen wurden schmal.
 

„Sag mal, wie viel willst du für das Seil haben?“
 

Das Kind starrte ihn erst noch einige Augenblicke lang an, bevor es langsam den Blick auf sein Springseil senkte. Es runzelte die Stirn und dann breitete sich endlich Verstehen zwischen den Dreckflecken auf seinem Gesicht aus.
 

„Wie viel willst du ausgeben?“
 

Scott fluchte innerlich. Unauffällig schielte er auf sein Armband. Der letzte Strich war schon angebrochen. Tiefrot. Für den Dicken hier würde er volle vier Striche bekommen. Genug, um über die nächsten zwei Wochen zu kommen. Wenn er sparsam war.
 

„Wie wär’s mit nem Drittel Strich?“, fragte er. „Immerhin hat dein Häschen keine Ohren mehr.“
 

Die Kleine legte ihre Stirn in Falten.
 

„Ich will zwei“, sagte sie entschlossen.
 

„Zwei Striche? Willst du mich verarschen?“

„Dann such dir doch was anderes, um den Kerl zu fesseln.“
 

Giftige, kleine Kröte.
 

„Ich hab keine zwei Striche mehr.“

„Dann besorg welche.“
 

Scott verdrehte die Augen. Wie war er doch froh, dass er vermutlich nie Kinder bekommen würde. Genetische Degeneration hatte eben auch gute Seiten.
 

„Das kann ich aber nicht, wenn Mister Muffin hier aufwacht und mich zu Brei schlägt. Also such dir was anderes aus.“
 

Die Kleine schob ihre Unterlippe vor. „Dann will ich seine Schuhe.“
 

Ein dreckiger Zeigefinger zeigte auf die tatsächlich fast neuen Stiefel von Scotts Opfer. Sie mussten ein kleines Vermögen gekostet haben.
 

„Aber die passen dir doch gar nicht.“

„Ja, aber wenn ich sie meinem Papa gebe, kauft er mir vielleicht den nächsten Teil von Dreamland. Den mit den Einhörnern.“
 

Oha, die Kleine weiß, was sie will.
 

„Schön, du bekommst die Schuhe.“
 

Ein Grinsen bemächtigte sich des spitzen Gesichtchens und Scott machte sich seufzend daran, dem Riesen um seine Habe zu erleichtern. Kurz darauf wechselten Schuhwerk und Springseil den Besitzer.
 

„Pass auf, dass du nicht hinfällst“, rief Scott dem Mädchen nach, das mit den Schuhen an den Füßen den Hausflur entlang stiefelte. Sie zeigte ihm den Mittelfinger. Scott verbiss sich einen Kommentar. Er schüttelte nur den Kopf, während er den letzten Knoten des Seils festzog. Nach einer kurzen Überlegung erleichterte er den Schläger auch noch um eine seiner Socken und stopfte sie ihm in den Mund. Sicher war sicher.
 

„Na los, Kleine, schwirr ab. Hier wird’s gleich ungemütlich.“

„Wieso?“

„Weil gleich ein paar nicht so nette Männer kommen.“

„Wieso?“

„Weil ich sie angerufen habe.“

„Wieso?“

„Weil …. ach fuck, nun verpiss dich endlich.“

„Verpiss du dich doch.“
 

Scott wollte gerade zu einer geharnischten Antwort ansetzen, als es plötzlich laut und vernehmlich an der Vordertür klopfte.
 

„Scheißelektromotoren“, knurrte Scott und ging zur Luftschleuse, um Margeras Männer hereinzulassen. Emile, die schleimige Nummer Zwei der Snakeheads, war persönlich gekommen, um Scotts Beute in Empfang zu nehmen. Mit ihm zusammen kamen drei bis an die Zähne bewaffnete Schergen, die sich nicht einmal die Mühe machten, ihre Masken abzunehmen.
 

Arrogante Wichser!
 

„So sieht man sich wieder, McKenzie“, begrüßte Emile ihn mit einem breiten Lächeln. Das und der alberne Kinnbart, den er sich immer stehen ließ, erweckten in Scott das tiefe Bedürfnis, ihm eine reinzuhauen.
 

„Emile“, presste er zwischen den Zähnen hervor.
 

Das Lächeln seines Gegenübers wurde breiter.
 

„Was denn? Bist du immer noch sauer, dass ich Margera gesteckt habe, dass du ihn über den Tisch gezogen hast?“

„Ich habe ihn nicht über den Tisch gezogen.“

„Du hast behauptet, Varinsky wäre tot.“

„War er ja auch. So gut wie, jedenfalls.“
 

Emile brach in meckerndes Gelächter aus.
 

„Siehst du, das mag ich so an dir. Du gibst niemals auf.“
 

Scotts Kiefer mahlten unablässig.
 

„Hör auf Sauerstoff zu verschwenden. Ich hab Pecares erwischt, also gib mir mein Geld.“
 

Emile, der erst jetzt Scotts Gefangenen bemerkt zu haben schien, runzelte die Stirn.
 

„Ist das alles? Wo ist die Ware?“

„Welche Ware?“
 

Scott hatte keine Ahnung, wovon Emile sprach. Der sah ihn an wie etwas besonders Widerwärtiges, das an seinem Gamaschenschuh klebengeblieben war.
 

„Na die Ware, die du wiederbeschaffen solltest. Der Deal lautete, dass du uns beides bringst. Pecares und das, was er dem Boss geklaut hat.“
 

Scotts Hand zuckte in Richtung des Messers in seinem Stiefel. Wenn es nach ihm gegangen wäre, läge Emile jetzt mit aufgeschlitzter Kehle im Dreck und er wäre längst auf dem Heimweg. Allerdings waren da immer noch die drei Gorillas mit ihren Kanonen.
 

„Mir hat niemand etwas von Ware erzählt. Aber wenn es so wichtig ist, dann fragt ihn doch selbst.“
 

Der Riese, der gerade wieder zu Bewusstsein gekommen war, öffnete mühsam blinzelnd die Augen. Vermutlich hatte er die Kopfschmerzen seines Lebens. Zusammen mit der Socke im Mund und der Tatsache, dass er mit einem rosa Häschen-Springseil gefesselt war, wirklich nichts, was Scott jemandem wünschte.
 

„Also los, gib mir mein Geld, dann verschwinde ich und ihr könnt mit ihm machen, was ihr wollt.“
 

Emile warf Scott einen Blick zu, der wohl in etwa „Du bewegst dich auf ganz dünnem Eis“ bedeuten sollte. Dann zog er eine Waffe und pustete Pecares den Kopf weg.
 

Scott zuckte zusammen, als der Schädel des Riesen plötzlich explodierte. Blut und Gehirnmasse spritzten in einem Schauer von Knochensplittern durch die Gegend und gaben der Wand einen neuen Anstrich.
 

„Fuck!“
 

Der Fluch war Scott über die Lippen gerutscht, bevor er auch nur darüber nachgedacht hatte. Sein Blick klebte an der Blutlache an der Wand.
 

„Sag mal, hast du sie noch alle? Hier sind Kinder anwesend.“
 

Emile, der die Kleine mit den Riesenstiefeln erst jetzt zu bemerken schien, schob die Mundwinkel nach oben.
 

„Na, Kleine. Hast du gesehen, was mit Leuten passiert, die sich nicht an die Regeln halten?“
 

Das Mädchen, deren grauer Kittel jetzt von oben bis unten mit Blutsprenkeln garniert war, nickte langsam. Dann rieb sie sich einen der roten Tropfen von der Nase und fragte: „Krieg ich jetzt auch noch seine Hose?“
 

Während Emile erneut in Gelächter ausbrach und die Hand hob, um seinen Männern ein Zeichen zu geben, dass sie abrücken konnten, kam Bewegung in Scott. Er fasste Emile an der Schulter.
 

„Hey! Was ist mit meinem Geld?“
 

Emiles Augenbraue wanderte nach oben und Scott beeilte sich, ihn loszulassen. Das Gesicht des rattengesichtigen Ganoven wurde verschlagen.
 

„Liefer die Ware, dann bekommst du dein Geld.“
 

Scott bemühte sich, sein Gesicht unter Kontrolle zu halten. Wenn er nicht aufpasste, würde Emile ihn vielleicht auch in den Äther schicken.
 

„Ich brauch aber was“, zischte er und hoffte, dass die anderen es nicht hören würden. „Ich …“
 

Er musste nicht mehr sagen. Emiles Blick war bereits zu dem Armband an Scotts Handgelenk gewandert.
 

„Na schön“, sagte er und hob seinen eigenen Arm „Ich geb dir was. Du bekommst einen Strich. Den Rest, wenn du ablieferst.“
 

Scotts Mund wurde trocken. Er fühlte das bekannte Ziehen und das Verlangen, seine Hand um einen Flaschenhals zu legen. Das erleichternde Gefühl, wenn der erste, scharfe Tropfen die Kehle hinabrann und die Welt in ein weicheres Licht getaucht wurde.
 

„Zwei“, verlangte er. „Ich hab Ausgaben. Pecares hat meine Maske zerstört.“
 

Wieder lächelte Emile.
 

„Aber du hast doch jetzt seine.“
 

Damit drehte er sich um und ließ Scott allein zurück. Der stand in dem nach Blut und Exkrementen stinkenden Hausflur und konnte nicht glauben, dass er diesen ganzen Scheiß gerade wirklich erlebt hatte. Die hatten ihn knallhart abgezogen. Und er hatte es einfach so geschehen lassen.
 

„Arschloch“, knurrte er, bevor er sich mit einem letzten Blick auf sein Armband anschickte, die Szenerie ebenfalls zu verlassen.
 

Hinter ihm hörte er, wie die Türen im Haus geöffnet wurden. Der Aufmarsch der Snakeheads hatte Zuschauer angelockt. Scott war sich sicher, dass sie sich des Leichnams annehmen würden. In ein paar Stunden war von Pecares vermutlich nur noch der Gestank und der Fleck auf dem Fußboden übrig. In dieser Stadt wurde selten etwas verschwendet. Am allerwenigsten, wenn es sich irgendwie zu Geld machen ließ.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück