Willkommen im Bittersweet von Lycc ================================================================================ Kapitel 7: Borretsch -------------------- Aiden spürte, wie ein regelmäßiger Atem seine Kopfhaut streifte und seine Haare im Rhythmus wippen ließ. Eine kleine Weile realisierte er gar nicht, wie nah er an Reel gekuschelt war, und so stieg ihm erst einige Minuten später das verräterische Rot in die Wangen. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er dicht mit Watte zugepackt und entsprechend gedämpft waren all seine Gedankengänge. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Alkohol und Gras zu mischen, aber nun hatte er den Salat. Geschlagen seufzte er einmal gegen Reels Brust, an der noch immer sein Kopf ruhte. Aiden konnte sich nach wie vor nicht so recht entscheiden, ob diese Situation jetzt unangenehm für ihn war, oder nicht. Auf der einen Seite lag er hier in den Armen eines anderen Typen, auf der anderen Seite, war das eben nicht irgendein Typ – sondern Reel – und ihre Beziehung zueinander war ja eh ein wenig... speziell. Dass ihn diese ganze Situation nicht so sehr störte wie sie es vermutlich sollte, schob Aiden also einfach auf die ohnehin schon starke Vertrautheit zwischen ihnen. Immerhin hatte Reel schon ein ums andere mal das zweifelhafte Vergnügen gehabt, ihn am absoluten Tiefpunkt zu erleben und sich mit seinem gestörten Selbstwertgefühl herumzuschlagen. Während Aiden noch seinen Gedanken nachhing, entließ der Schlaf allmählich auch Reel aus seinen Fängen. Verschlafen pustete er einmal durch Aidens Haare und richtete sich dann ein Stück weit auf, um erkennen zu können, ob der noch schlief. „Morgen“, begrüßte er ihn, als er keine geschlossenen sondern offene Augen vorfand. „Morgen“, nuschelte Aiden zurück und trauerte heimlich Reels Wärme hinterher, als der ihn aus seiner Umarmung entließ. „'Tschuldige. Die Macke werd ich wohl nicht mehr los. Du kannst mich ruhig aufwecken, wenn ich dich nachts festhalte.“ „Ich merk das immer erst beim Aufwachen“, winkte Aiden beschwichtigend ab und lächelte ihn offenherzig an. Reel strich sich fahrig die Haare auf die eine, unrasierte Kopfseite, auf die sie ordnungsgemäß gehörten, und streckte anschließend knackend seine Glieder, um sein Grinsen über Aidens Antwort zu kaschieren und irgendetwas anderes zu tun, als verlegen, wie ein verknalltes Schulmädchen, vor ihm zu sitzen. Wie schaffte es dieser kleine, unschuldige Schüler nur so mühelos einen polizeilich aktenkundigen Gelegenheitsdieb mit (gelinde gesagt) zweifelhaftem Lebenslauf derart aus der Fassung zu bringen? Sobald Aiden lächelte oder ihn einfach nur ansah, legte sich bei Reel einfach ein Schalter um und seine mühevoll aufgebaute Fassade bröckelte nicht nur, sondern fiel sofort und restlos in sich zusammen. Die beiden ließen den Tag entspannt angehen, räumten irgendwann die Überreste ihrer gestrigen kleinen Party auf und schauten noch ein paar Folgen einer Serie. Pünktlich zum sehr verspäteten Mittagessen stolperte Raven dann leicht verkatert zu ihnen in die Küche. „Heute Abend ins Nest?“, fragte sie beim Essen und sah abwartend zwischen Aiden und Reel hin und her. „Heute? Du? In deinem Zustand?“ „Pff. Du kennst mich doch. Gib mir noch 2 Stunden und ich bin wieder fit wie ein Turnschuh – zwar wie ein Montags-Fabrikat, aber trotzdem wie ein Turnschuh“, kam prompt die freche Antwort, gefolgt von einem herausfordernden Grinsen. „Was ist denn 'das Nest'?“, klinkt sich nun auch Aiden ins Gespräch ein. Reel setzte bereits zu einer Antwort an, doch Raven kam ihm zuvor. „Das 'Krähennest' ist ein Szene-Club hier in der Gegend, in den wir gerne gehen. Willst du auch mit?“ Aiden haderte ein wenig mit sich. Er war nie ein großartiger Club-Gänger gewesen, aber gekifft hatte er vor gestern Abend ja auch noch nie, also was soll´s? Vielleicht gefiel es ihm ja besser als er dachte und seine Mom behauptete doch immer: 'it´s not about the time, but the people you spend it with'. Und bei Reel und Raven war seine Zeit bisher immer in sehr guten Händen gewesen. Also nickte er bestätigend. „Ich hab zwar nicht viel Club-Erfahrung, aber das kann man ja ändern.“ „Richtige Einstellung“, lobte Raven feierlich und klopfte ihm auf die Schulter. „Genau das wollte ich hören. Aber bevor wir dahin gehen, brauchst du definitiv was anderes zum Anziehen. In deinen eigenen Klamotten fällst du da auf, wie eine Pastell-Lolita auf na Beerdigung.“ Etwas betreten sah Aiden an sich hinab, aber er trug immer noch eine Jogginghose und T-Shirt von Reel, was die ganze Aktion null und nichtig machte. „Keine Angst“, las Reel seine Gedanken. „Wir finden schon was Passendes für dich. Irgendwas aus meinem oder Ravens Schrank wird dir schon gefallen UND dir passen.“ „Au ja. Make-Over-Time! Du hast so schön schmale Hüften und weiche Gesichtszüge – aus dir könnte man den perfekten Fem-Boy machen.“ Ravens Augen leuchteten fast schon, während sie den armen Aiden geistig schon durch ihren gesamten Kleiderschrank zog. Das betreffende Anziehpüppchen sah indes hilfesuchend zu Reel hoch, der erfolglos versuchte sein Lachen zu unterdrücken. „Darf Aiden vielleicht auch mitreden, was er in der Öffentlichkeit trägt?“ Erschrocken fuhr Raven aus ihrer Tagträumerei. „Achso. Ja. Natürlich. Tut mir leid.“ Sie schenkte beiden ein entschuldigendes Lächeln. „Am wichtigsten ist natürlich, dass du dich darin wohlfühlst. Aber vielleicht lässt du mich dich ja trotzdem mal in ein bisschen was gewagteres stecken. Nur hier in der Wohnung. Nur so. Corvo hat nicht mal annähernd die Figur dazu und weder er noch Reel passen in meine Klamotten.“ Aiden hatte nicht das Herz, ihr ihre Bitte abzuschlagen, also willigte er seufzend ein. Eigentlich hatte er wenig Lust darauf, sich von ihr in Frauenkleider stecken zu lassen, aber Raven tat so viel für ihn und so konnte er sich zumindest ein kleines bisschen bei ihr revanchieren. Immerhin ließ sie ihn hier schlafen, band ihn in ihre Freizeitgestaltung mit ein und stellte ihm nie unangenehme Fragen, sondern akzeptiere einfach seine Anwesenheit und seinen emotionalen Zusammenbruch von Letztens. Und so fanden sich die Drei am Abend wieder in Ravens Zimmer zusammen. Sowohl Reel als auch Raven hatten sich bereits umgezogen. Nur Aiden trug nach wie vor die geliehenen Schlabber-Klamotten. Ravens am Rücken großflächig ausgeschnittenes Oberteil gab den Blick auf ihre Schultern und einen großen Teil ihrer Wirbelsäule frei, auf denen die Abbildung eines riesigen Raben prangte, der vollständig aus verschlungenen Bändern bestand und seine gespreizten Flügel auf ihren Schulterblättern ruhen ließ. Raben und Krähen schienen irgendwie ein Ding in ihrer Familie zu sein – na gut, die Zwillinge waren schließlich auch beide nach ebendiesen Tieren benannt. „Das hier steht dir bestimmt gut. Und das hier. Oh das ist einfach perfekt, du hast die gleiche Kleidergröße wie ich.“ Aidens Augen wurden mit jedem Kleidungsstück, das die übermotivierte Café-Besitzerin aus dem Schrank hervorzog, größer und so langsam bereute er seine Entscheidung fast. Bei der Hälfte der Klamotten wusste Aiden nicht mal, ob es Oberteile, Unterteile oder Accessoires waren, geschweige denn wie man sie tragen sollte. „Schwesterchen, überfordere ihn doch nicht gleich. Was simples reicht doch.“ „Nein! Die Gelegenheit muss ich nutzen. Außerdem müssen wir ausgleichen, dass du keine Tattoos oder Piercings hast. Sonst fällst du doch noch den falschen Leuten auf.“ Reel warf ihr reflexartig einen mahnenden Blick zu, doch der brünett gewellte Haarschopf verschwand schon wieder in den Untiefen ihrer Kommode und förderten das nächste schwarze Netz-Oberteil zutage. „Zieh das hier mal über.“ Unschlüssig starrte Aiden auf den schwarzen Stoff in seiner Hand – und das war verdammt wenig Stoff. „Die Hose zieh ich nicht an!“ Während Reel im Hintergrund erneut in unterdrücktem Gelächter versank, hielt Aiden dessen Schwester besagtes Kleidungsstück vor die Nase. Auf dem ersten Blick war nichts an ihr auszusetzen, bis einem auffiel, dass die Seiten vollkommen offen waren und nur alle 15 Zentimeter von einem breiten Riemen zusammengehalten wurden. Die smaragdgrünen Augen schauten ihn betreten und mitleiderregend an und bescherten Aiden prompt ein schlechtes Gewissen. „Pack deinen Hundeblick ein und gib ihm einfach die Bondagehose mit den Riemen an der Taille“, eilte Reel zu seiner Rettung und sofort verschwand das traurige Schmollen aus Ravens Gesicht. „Na gut.“ Zielsicher zog sie die Hose aus dem Stapel, der sich mittlerweile auf ihrem Bett türmte, und reichte sie Aiden. Diese Hose bedeckte tatsächlich Aidens gesamte untere Körperhälfte und sie passte ihm wie angegossen, wenngleich sie zu seinem Unmut low-rise geschnitten war. Mit seiner oberen Hälfte war er allerdings noch nicht so zufrieden. Raven hatte ihn tatsächlich in ein langärmliges, feinmaschiges Netzoberteil gesteckt und das dünne, locker-sitzende, kurzärmlige Kapuzenshirt, das er darüber tragen sollte, endete bereits auf Höhe von Aidens Bauchnabel, wie er leider erst beim Anziehen bemerkt hatte. Peinlich berührt versuchte er seine Blöße mit den Armen zu verdecken und ein zarter Rotton färbe seine Wangen. „Das ist viel zu kurz.“ „Nein, es ist genau richtig. Kein Angst, das Netz ist eher ein Lochschnitt als ein richtiges Gitter. Es verdeckt viel mehr von dir, als du glaubst. Guck doch selbst.“ Kurzerhand zog sie ihn vor ihren mannshohen Spiegel. „Wenn du obenrum auch noch lange Klamotten trägst, stirbst du einfach vor Wärme.“ Überrascht drehte Aiden sich vor dem Spiegel ein wenig hin und her. Er sah aus wie ein völlig anderer Mensch – Kleider machen eben doch Leute – aber das war nicht die einzige Überraschung. Er gefiel sich erstaunlich gut in dem ungewohnten Outfit und Raven hatte recht, was das Netz betraf. Ganz unmerklich schlich sich ein freudiges Schmunzeln auf seine Lippen, während er weiterhin stumm sein Spiegelbild bewunderte. Raven suchte inzwischen einige Accessoires zusammen, mit denen sie Aiden ausstatten konnte. Flink fand ein simples, schwarzes Halsband seinen Weg an Aidens Körper, gefolgt von einem Leberarmband mit silberner Feder-Applikation aus Reels Besitz. „Eigentlich würde ich ja noch ein paar Ketten hier und da anbringen“, sie deutete auf Ringe an Aidens Hose und Shirt, die wohl offensichtlich für genau diesen Zweck dort angebracht worden waren. „Aber die stören beim Tanzen und werden im Laufe des Abend irgendwie immer schwerer.“ „Ich glaube, Aiden ist auch so schon auffällig genug um unauffällig zu sein“, schaltete sich Reel endlich wieder ein und begutachtete den Aiden a la Raven, der hier vor ihm stand. Heimlich dankte er seiner Schwester mental für ihre Kleiderwahl, denn wenn er nicht eh schon hoffnungslos verknallt in den kleinen Schüler wäre, dann wäre es spätestens bei diesem Anblick um ihn geschehen gewesen. Und plötzlich wurde auch Ravens Idee von dem Fem-Boy-Outfit immer reizvoller in Reels Kopfkino. Als das Krähennest langsam in Sichtweite kam, wurde Aiden zunehmend flau im Magen. Irgendwie hatte er bisher erfolgreich verdrängt, dass er sich hier im verrufenen Teil der Stadt befand und der sein schlechtes Image nicht ohne Grund hatte. Wenn er all die finsteren Gestalten hier so sah, kam er sich in den geliehen Klamotten plötzlich so klein und unzulänglich vor – klassischer Fall vom Imposter-Syndrom. Und das traf es ziemlich gut. Immerhin spielte er hier in gewisser Weise eine Rolle und gab vor etwas anderes zu sein als der langweilige, ordinäre Durchschnittstyp aus dem Reihenhaus, als der er wohl oder übel geboren wurde. Doch nun war es zu spät für einen Rückzug. Während Aiden in Selbstmitleid und Grübelei versunken war, hatten sie den Eingang des Szene-Clubs bereits erreicht. Und erst jetzt stellte Aiden fest, dass Reel und Raven nicht das Ende der Schlange ansteuerten, sondern direkt zu den beiden bulligen Türstehern gingen. „Hey Mikey“, begrüßte die zierliche Raven den Bären von einem Mann freiheraus. „Raven, Reel. Is echt Zeit, dass ihr mal wieder hier auftaucht.“ Ein Grinsen, fast genauso breit wie seine massigen Schultern, breitete sich auf dem Gesicht des einen Türstehers aus, das jedoch sofort einem einschüchternden Blick mit hochgezogenen Augenbrauen wich, sobald er Aiden erspähte. Unverhohlen musterte er den schmalen, fremden Jungen zwischen seinen beiden Bekannten. „Der gehört zu Reel“, erklärte Raven knapp. „Beziehungsweise zu uns.“ Mikeys Miene entspannte sich wieder und er wandte sich schulterzuckend von ihm ab. „Dann soll´s mir egal sein.“ Ohne einen Ausweis vorzuzeigen oder Eintritt zu zahlen, zogen die Geschwister Aiden nicht nur an dem Türsteher, sondern auch an der Kasse hinter der Eingangstür vorbei. Die junge Frau hinter dem Tresen nickte Raven und Reel nur kurz zu, sah, dass Aiden wohl in ihrer Begleitung war, und verschwendete daher keinen weiteren Gedanken daran ihn abzukassieren. „Wir kennen hier ein paar Leute“, erklärte Raven grinsend über die Lautstärke der Musik hinweg, als sie Aidens irritierten Blick bemerkte. Der Eingangsbereich bildete das Nadelöhr des Clubs und entsprechend voll war es hier. Immer wieder wurde Aiden von anderen Feiernden weggestoßen oder angerempelt, bis Reel mit einer Hand seine Schulter umfasste und ihn ein Stück weit zu sich zog. Aiden bedankte sich betreten, aber seiner Stimme ging vollkommen im Lärm unter. Er durfte Reel in diesem unsäglichen Gewusel unter keinen Umständen aus den Augen verlieren, sonst käme er sich hier vermutlich noch verlorener vor als eh schon und würde im schlimmsten Fall vielleicht wirklich noch entführt werden. Endlich betraten die Drei die eigentlichen Räumlichkeiten des Clubs und Aiden klappte die Kinnlade runter. Von Außen hatte das Krähennest ja ziemlich runtergekommen gewirkt, aber in seinem Inneren überraschte es mit mehreren gut-ausgestatteten Floors, einigen clever platzierten Ruhe-Nischen und einer gesunden Anzahl strategisch günstig-gelegener Bars. Der Hauptteil hatte optisch einen starken Industrial-Flaire, während die privateren Nischen mit schweren, samtigen Stoffen und Vorhängen ausgekleidet waren, die den Krach wirksam dämpften und problemlos zum Sichtschutz umfunktioniert werden konnten. Einige Treppen nach Oben und Unten verrieten, dass es wohl noch mehr Etagen gab, aber dort wollten die Geschwister wohl nicht hin. Raven steuerte zielsicher eine der Bartheken an, ignorierte erneut alle Wartenden und bekam sofort und ohne Bezahlung ausgeschenkt, was sie haben wollte. Arbeitete hier auch jemand, den sie nicht kannte? Ehe sie es sich versahen, hatten sowohl Aiden als auch Reel irgendein alkoholisches Getränk in der Hand. Reel sah seine Schwester vielsagend an, doch die lachte nur und rief ihm etwas zu, das Aiden als „Entspann dich. Ein Drink wird dich schon nicht umbringen“ deutete. Ihm war schon am Vortag aufgefallen, dass Reel kaum bis gar keinen Alkohol trank. Woran das lag, konnte Aiden allerdings nicht sagen und so langsam dämmerte ihm, dass er generell ausgesprochen wenig über den Mann wusste, mit dem er sich jetzt schon mehrfach ein Bett geteilt hatte – eigentlich völlig absurd, wenn er so darüber nachdachte, und auch nicht ganz ungefährlich. Unvermittelt rempelte Aiden ein Typ mit giftgrünem Undercut an und verschüttete dabei eines Teil seines Biers auf den Boden. Erschrocken schaute Aiden zu dem viel größeren Mann hoch, der ihn wüten anschnauzte. Doch noch ehe Aiden etwas erwidern konnte, wanderten die Augen des unfreundlichen Clubgängers zu Reel und Raven hinter ihm, weiteten sich ein Stück weit und ohne ein weiteres Murren machte der Mann auf dem Absatz kehrt und zog sich zurück. Aiden sah ihm noch kurz verwirrt nach, während Reel ihn intuitiv ein Stück näher zog. „Lass dich hier drinnen bloß nie auf einen Streit ein. Und halt dein Glas immer mit der Hand zu, damit dir keiner was reinwerfen kann“, warte ihn Reel, und seine durchdringenden Augen ließen keinen Widerspruch zu. Also legte Aiden brav seine Hand auf seinen Drink und rückte freiwillig weiter zwischen ihn und Raven. Die beiden schien man hier zu respektieren, also sollte er wohl immer darauf achten, dass seine Zugehörigkeit zu ihnen für jeden ersichtlich war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)