Willkommen im Bittersweet von Lycc ================================================================================ Kapitel 3: Ingwer ----------------- Es war Samstag und Reel polierte gedankenverloren einige Teelöffel. Von draußen trommelte der Regen unablässig gegen die Fensterscheiben und der übliche Andrang von Schülern blieb am Wochenende auch aus, also waren er und Raven mit nur drei Gästen allein im Café. „Trauerst du deinem kleinen Schwarm nach? Soll ich dich in Zukunft nur noch für Schichten unter der Woche einteilen, damit du was hast, worauf du dich beim Arbeiten freuen und was du anschmachten kannst?“ „Ach, sein doch still“, knurrte Reel ertappt und boxte seiner Schwester spielerisch in die Seite. „Naw. Du wirst ja sogar ein bisschen rot.“ Plötzlich unterbrach das Öffnen der Ladentür das Gespräch der Geschwister und eine völlig durchnässte und bemitleidenswerte Gestalt trat ein, schlurfte wortlos zu dem kleinen Tischchen in der Ecke und ließ sich dort schwer auf einen Stuhl fallen. Reel und Raven tauschten kurz besorgte Blicke miteinander, dann eilte Reel zu ihrem neuen Gast, der krampfhaft aus dem Fenster starrte um so sein Gesicht vor den Besuchern und Mitarbeitern im Café zu verbergen. „Aiden?“ Vorsichtig berührte Reel seine Schulter und erhielt keine wirkliche Reaktion. „Wenn du hier so sitzen bleibst, wirst du noch krank. Komm mit nach hinten. Ich hab noch ein paar trockene Sachen im Büro.“ Widerstandslos ließ Aiden sich von ihm hinter den Tresen und dann ins Hinterzimmer führen, während die unverhohlenen Blicke der drei anderen Gäste auf ihnen klebten. Verloren stand der tropfend-nasse Aiden neben Reel, der gerade das Zahlenschloss seines Spinds öffnete, als sich plötzlich ein Kopf mit brünettem Flechtzopf durch die Tür schob und Aiden ein Stück hellblau-karierten Stoffs hinhielt. „Ist zwar nur ein Geschirrtuch, aber es ist frisch gewaschen.“ Abwesend nahm Aiden das Tuch entgegen und trocknete sich das Gesicht ab. Erneut tauschten Reel und Raven kurze Blicke, dann verschwand sie wieder in den Hauptraum. „Willst du drüber reden?“, fragte Reel vorsichtig, während er Aiden dabei zusah, wie er seine Haare trockenrubbelte, doch der schüttelte nur geistesabwesend den Kopf. „Auch okay. Meine Sachen sind dir bestimmt etwas groß, aber immerhin trocken. Häng deine nassen Klamotten einfach irgendwo über die Heizung. Du kannst hier im Büro bleiben, wenn du willst. Ich bin gleich wieder da.“ Aiden nahm die Information mit einem schwachen Nicken zur Kenntnis. Seine Augen waren rot und geschwollen und seine ganze Mimik wirkte abwesend, leer und verweint. Es brach Reel das Herz, ihn so zu sehen, und sein Blut kochte aus Wut darüber, dass er ihm nicht helfen konnte. Fünf Minuten später kam Reel mit einer Tasse dampfend heißen Tees zurück und stellte sie vor Aiden auf den Tisch. Der hatte sich im Büro auf einen der unbequemen Holzstühle gesetzt, die Knie angewinkelt und an den Körper gezogen, und die Arme um die Beine geschlungen. „Ist wirklich alles etwas sehr groß an dir“, versuchte Reel ihn ein wenig abzulenken und legte beschwichtigend eine Hand auf Aidens Schulter. „Du zitterst ja.“ Eilig holte er noch seine Jacke aus dem Spind und legte sie Aiden um die Schultern. „Kann ich dir irgendwie helfen?“ Wieder schüttelte Aiden den Kopf und ließ Reel ratlos seufzen. „Wenn irgendwas ist, oder du irgendwas brauchst, sag mir Bescheid. Ich bin gleich nebenan.“ Es widerstrebte Reel, ihn jetzt einfach allein zu lassen, aber Aiden wollte nicht reden und Reel wusste auch nicht, was er tun sollte. Außerdem hatte er vorne seinen Job zu erledigen, also ging er erst mal wieder in den Hauptraum, drehte beim Verlassen des Büros allerdings die Heizung etwas höher. „Was ist denn mit ihm?“, fragte Raven besorgt und warf einen unauffälligen Blick über Reels Schulter ins Büro. „Keine Ahnung. Er will nicht drüber sprechen.“ „Tut mir echt mega leid, dass ich dich damit jetzt alleinlasse, aber ich muss mich wirklich auf den Weg machen.“ „Ist schon okay. Heute ist ja nicht viel los.“ „Du kannst gerne früher zumachen, wenn du willst. Wir sehen uns zuhause.“ Mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange verabschiedete sie sich von Reel, holte eilig ihre Tasche aus dem Büro und verließ dann mit schlechtem Gewissen das Café. Reel schmiss den Laden allein und sah immer wieder mal nach Aiden, der im Hinterzimmer so langsam wieder zur Ruhe kam und warm wurde. „Ich räume jetzt noch auf. Offiziell ist das Café schon geschlossen, du kannst also mit nach Vorn kommen, wenn du willst.“ Aidens Miene war ausdruckslos und er knabberte abwesend an seiner Unterlippe. Mit einem besorgten Seufzen ging Reel neben ihm in die Knie und versuchte ihm ins Gesicht zu sehen. „Du willst nicht nachhause, oder?“ Allein schon die Erwähnung von 'zuhause' ließ Aidens Augen wieder nass werden. „Kannst du irgendwo anders hin?“ Den Tränen nah schüttelte Aiden den Kopf und Reel ertrug diesen Anblick einfach nicht mehr. Zaghaft legte er eine Hand an seine Wange und zog den kleinen Schüler behutsam in seine Arme. „Wenn du willst, kannst du bei mir schlafen. Ich kann dich hier ja schlecht einfach alleine stehen lassen.“ Dankbar vergrub Aiden sein Gesicht an Reels schützender Brust und schluckte seine Tränen runter. „Wirklich?“ „Natürlich wirklich. Wenn ich das sage, dann meine ich´s auch so.“ Aiden löste sich aus seinen Armen und Reel strich ihm einmal aufmunternd durch die nassen Haare. „Keine Ahnung, warum du nicht nachhause willst, aber es geht mich auch nichts an. Wenn du´s nicht sagen willst, werd ich nicht nachfragen. Lass mich nur schnell das Café für morgen vorbereiten und dann können wir los.“ Der Regen hatte inzwischen aufgehört und der Himmel klarte zunehmend auf. Eilig hatte Reel das Nötigste aufgeräumt, Aidens noch immer nasse Kleidung in seinen Rucksack gepackt und reichte ihm nun einen waldgrünen Helm, an dessen Seite ein Raben-Sticker klebte. „Der gehört Raven. Wenn wir zusammen Schluss haben, nehm´ ich sie immer mit. Es wird sie nicht stören, wenn du ihn dir ausleihst.“ Etwas unsicher betrachtete Aiden den Motorradhelm in seinen Händen. Ihm wurde erst jetzt so richtig bewusst, worauf er sich hier einließ. Er kannte Reel doch überhaupt nicht und keine Menschenseele wusste, wo er war. Sein Handy hatte er auch nicht dabei und wie er seine Eltern kannte, würden die sein Verschwinden erst bemerken, wenn am Montag die Schule bei ihnen anrief und nach Aidens Verbleib fragte. Aber was waren seine Alternativen? Straßenbahnen fuhren um diese Uhrzeit keine mehr und Reel gab sich wirklich alle Mühe ihm zu helfen. Der junge Barista sah zwar abschreckend aus, mit seinem schwarzen Sidecut, den übermäßig gepiercten Ohren, seinen vielen Tattoos und dem etwas eigenwilligen Kleidungsstil, aber das waren alles nur Äußerlichkeiten und abgesehen von diesen gab es nichts, was Reel in ein vertrauensunwürdiges Licht rückte. „Alles okay?“ Erschrocken fuhr Aiden aus seinen Gedanken hoch. Reels hellgraue Augen betrachteten ihn besorgt und schienen seine Zweifel zu erraten. „Willst du doch lieber woanders hin? Bahnen fahren glaub ich keine mehr, aber ich kann dich auch woanders hinfahren, wenn du willst.“ Entschieden schüttelte Aiden den Kopf. Wo sollte er hinwollen? Nachhause zu seinen sich dauerhaft streitenden Eltern, die nie mit ihm zufrieden waren und ihn gegen ein Kind eintauschen würden, das ihre Erwartungen erfüllte, wenn das legal wäre? Nein, ganz sicher nicht! Bemüht selbstbewusst schüttelte Aiden den Kopf, setzte sich den Helm auf und kämpfte kurz mit dessen ungewohntem Gewicht. „Warte. Ich helf´ dir.“ Geschickt nahm Reel ihm den Verschluss aus der Hand und schloss ihn gewissenhaft. „Bist du schon mal auf einem Motorrad mitgefahren?“ „Nein“, klang es gedämpft aus dem Helm, während Aiden das besagte Vehikel neben sich betrachtete. Es parkte in der kleinen Gasse hinter dem Café und war, soweit Aiden das mit seiner minimalen Kenntnis beurteilen konnte, Marke Eigenbau. „Okay. Also, du müsstest den aufsetzten, weil du hinten sitzt.“ Reel reichte ihm seinen Rucksack und Aiden tat wie ihm geheißen. Reel stieg indes auf sein Motorrad, klappte den Ständer ein und setzte seinen eigenen Helm auf. „Und jetzt steigst du einfach hinter mir auf und hältst dich an mir fest.“ Unbeholfen kletterte Aiden hinter Reel auf den Sattel. Das Ganze war viel allerdings schwieriger, als er immer gedacht hatte. Der Helm war unerwartet schwer, der Rucksack veränderte seinen Schwerpunkt und das Motorrad war hoch und ausgesprochen wackelig – schließlich hielt Reel es mit nur einem Bein vom Kippen ab. Durch die Form des Sattels dicht an Reels Rücken gedrückt, befand Aiden sich irgendwann endlich am richtigen Platz. „Nicht so zaghaft. Du musst dich richtig festhalten, sonst stürzt du mir noch ab.“ Etwas unsicher schlang er die Arme um Reels Taille und krallte sich in dem weißen Hemd fest. Reel musste seine Arbeitskleidung anbehalten, da Aiden noch immer seine anderen Sachen – einschließlich seiner Jacke – trug. „Bereit?“ „Ja“, rief Aiden möglichst deutlich, um trotz des Helms vernünftig zu verstehen zu sein und im nächsten Moment heulte der Motor unter ihnen auch schon auf. Instinktiv verstärkte Aiden seinen Griff um Reels Taille, als das Motorrad sich in Bewegung setzte und zunehmend an Fahrt aufnahm. Adrenalin pumpte durch seine Adern und zauberte ihm ein vergnügtes Grinsen ins Gesicht, dass ihn für den Moment seinen Trübsinn vergessen ließ. Es langsam verstand er, warum jeder Zweite in seiner Klasse ein Motorrad hatte oder haben wollte – es machte verdammt viel Spaß. Als Reel sein Motorrad parkte und Aiden abstieg, musste der kurz um sein Gleichgewicht kämpfen. „Alles okay?“ „Ja, hab nur etwas weiche Knie.“ Reel musste unwillkürlich lachen und freute sich über Aidens leichtherzigen Tonfall. „Das ist ganz normal. Geht Vielen nach der ersten Fahrt so.“ Unbeholfen kämpfte Aiden sich aus seinem Helm. Warum sah das bei Reel nur so viel leichter und eleganter aus? Endlich von dem schweren Helm befreit blickte Aiden sich ein wenig um und für einen kurzen Moment fürchtete er, doch die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Sie standen im dreckigen Hinterhof eines alten Wohnblocks in einem ziemlich heruntergekommenen Stadtviertel. Ein paar Meter neben ihnen türmten sich alte Fahrradreifen und Pappkartons auf, die Hauswände wurden von Graffitis dominiert und unter Aidens Schuhen knirschten Glasscherben. „Nicht unbedingt was du gewohnt bist, was?“, erriet Reel sofort seine Gedanken und versuchte seine Sorgen scherzhaft etwas zu zerstreuen. „Keine Angst, ich hab nicht vor dich umzubringen.“ Sie stiegen drei Treppen hinauf, bis Reel endlich vor einer der Wohnungstüren stehen blieb, seinen Schlüsselbund zückte und aufschloss. Im Inneren begrüßte sie ein zwar etwas unordentlicher aber gepflegter Flur, den Aiden nach dem katastrophalen Hinterhof so gar nicht erwartet hatte. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich heute Besuch bekomme, hätte ich aufgeräumt“, gab Reel sichtlich verlegen zu und schob eilig einige Schuhe zusammen, die kreuz und quer im Flur verteilt standen. „Schon okay. Das stört mich nicht“, beschwichtigte Aiden und lächelte in beruhigend an. „Na da hab ich ja nochmal Glück gehabt. Da drüben ist das Bad. Da kannst du deine nassen Sachen über die Heizung hängen. Kannst auch duschen gehen, wenn du willst. Handtücher sind im Schrank unter dem Waschbecken und frische Sachen kannst du dir aus meinem Schrank nehmen. Mein Zimmer ist das hinten links. Bedien dich einfach. Ich mach noch schnell was zu essen. Du hast doch bestimmt auch Hunger, oder?“ Aiden nickte. Er war ein wenig überrumpelt von so viel Input und davon, dass Reel ihn hier einfach frei walten und schalten ließ. Immerhin kannte er Aiden doch kaum. „Gemüsepfanne mit Nudeln? Oder gibt’s da irgendwas, was du nicht magst?“ „Ich bin allergisch gegen Tomaten.“ „Ist notiert. Wenn irgendwas ist, dann frag einfach.“ „Danke.“ Aidens kleinlauter Tonfall ließ Reel sich wieder etwas besorgt zu ihm umdrehen. „Kein Ding. Wie gesagt: nimm dir einfach was du brauchst und wenn was ist, dann frag mich einfach.“ Während Reel in die Küche verschwand, öffnete Aiden neugierig die Tür zu dessen Zimmer und wurde von einem ähnlichen Bild wie schon im Flug begrüßt. Sein Zimmer war zwar unordentlich, aber gepflegt und sauber. Die Wände wurden gesäumt von Zeichnungen, Skizzen und einigen abgegriffenen Fotos. Von dem hohen Kleiderschrank platzte an einigen Stellen bereits die Farbe ab und die restliche Fläche wurde von bunten Stickern und weiteren Zeichnungen verdeckt. Reels Bett war ungemacht und einige Kleidungsstücke lagen gedankenlos darauf verstreut. Eine Wand wurde komplett von einem hohen Regal vereinnahmt, das komplett zugestellt war, mit Büchern, die unordentlich und unsortiert mal aufrecht standen, mal quer lagen und teilweise übereinandergestapelt waren. Aiden war sich nicht sicher, was er erwartet hatte, aber eine derartige Büchersammlung war es ganz bestimmt nicht gewesen. Auf dem Weg zum Kleiderschrank blieb sein Blick auf dem Schreibtisch hängen, auf dem Blöcke, Notizbücher, Bleistifte und einiges an Zeichenutensilien herumlagen, die Aiden nicht zuordnen konnte. Die Zeichnungen an den Wänden stammten also größtenteils von Reel, wie er fasziniert feststellte. Als er nun endlich in den Kleiderschrank lugte, empfing ihn eine Unmenge an schwarzem Stoff. 95% von Reels Klamotten schienen in dieser Farbe zu sein und der Rest war entweder weiß, grau oder rot – mehr Farben gab es in seiner Welt augenscheinlich nicht. Etwas unsicher suchte er nach einer simplen Jogginghose und einem T-Shirt ohne großartigem Schnickschnack dran und wurde nach einigen erfolglosen Versuchen endlich fündig. Mit diesen unterm Arm verließ er Reels Zimmer wieder und verschwand ins Bad. Als Aiden nach dem Duschen wieder in die Küche kam, rührte Reel grade in einer Pfanne herum und trug inzwischen ebenfalls andere Sachen. Seine vergleichsweise unbequemen Arbeitsklamotten hatte er in die Wäsche geschmissen und gegen ein T-Shirt und eine Haremshose eingetauscht – selbstverständlich beides in Schwarz. „Ayayay, du hängst ja wirklich wie ein Schluck Wasser in meinen Klamotten“, stellte Reel mit einem Blick auf Aiden belustigt fest. „Nimm mal bitte drei Teller aus dem Schrank da. Ganz oben.“ „Drei?“, fragte er verwirrt, aber leistete der Bitte Folge. „Ja, Raven müsste eigentlich jeden Moment nachhause kommen.“ „Die aus dem Café?“ „Genau. Ihr gehört das Zimmer gleich neben der Wohnungstür.“ Und wie auf Stichwort schwang selbige auf und ein Rufen drang in die Küche. „Ich rieche Mohrrüben, Paprika uuuuuund Nudeln.“ „Hundert Punkte“, kam prompt Reels Antwort und nur Sekunden später steckte Raven ihren Kopf in die Küche. „Ich sterbe vor Hunger. Hast du- Huch.“ Überrascht sah sie Aiden an. „Hallo“, grüßte der verlegen und schaute unschuldig mit den drei Tellern in der Hand zu ihr rüber. „Aiden schläft heute hier.“ „Alles klar“, nahm Raven diese Tatsache vergnügt und ohne weitere Umschweife einfach hin, während sie Besteck aus einem Schubfach hervorkramte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)