Dunkle Nächte von Traumfaengero_- (Wenn das Schicksal zuschlägt...) ================================================================================ Kapitel 6: Ausgeliefert! ------------------------ Kapitel 6 Ausgeliefert! Er schwieg und beobachtete mit Vergnügen, das sich langsam ausbreitende Entsetzen auf Joeys Gesicht. Dieser wich einige Schritte zurück und starrte völlig entgeistert den brünetten Firmenführer an. „Ich bin doch nicht wahnsinnig!“ Er musste direkt nach Luft schnappen, während sich seine braunen Augen erschrocken weiteten. „Erstens; liefere ich mich dir ganz sicher nicht auch noch freiwillig aus und zweitens; weiß jeder, dass dieser Job die absolute HÖLLE ist. Nein danke, ich verzichte freiwillig!“ Seine Stimme war deutlich von aufgewühlten Gefühlen geprägt und der Klang seiner Worte ließ keinen Zweifel daran zurück, dass er genau so empfand. Mokuba hatte das Gespräch ängstlich, aber interessiert mit verfolgt, obwohl er dabei ein unangenehmes Gefühl im Magen verspürte. Allerdings war er über Joeys Reaktion doch sehr überrascht. Er hätte nicht mit einer solchen Antwort gerechnet, selbst in Anbetracht der Lage, dass Seto dieses Angebot gemacht hatte. Sicher war dieser Job schwer, immerhin brachte er eine ganze Menge Verantwortung mit sich, aber als die Hölle hätte er ihn nicht beschrieben. Davon einmal abgesehen, dass es einem zusätzliche Qualifikationen brachte. Wer bei seinem großen Bruder bestand, der konnte in jedem Unternehmen seiner Wahl arbeiten. Der Brünette schien damit jedoch gerechnet zu haben, denn er verzog keine Miene. „Hm, ich habe geahnt, dass du zu feige sein würdest, dich dieser Aufgabe zu stellen.“ Er wand sich von dem Blonden ab und griff nach seinem Becher. Mit einem kühlen Lächeln schaute er kurz zu Mokuba hinüber, den er bisher völlig ignoriert hatte. Ohne noch einmal aufzuschauen schritt er zum nahegelegenen Spülbecken und schüttete den heißen Kaffee weg. Er drehte den Wasserhahn auf und schwenkte den Becher aus. Mit einem Seitenblick zu Joey sagte er. „Das Zeug kann ja jetzt keiner mehr trinken.“ Den Rest des Satzes sparte er sich, denn an dessen Gesichtsausdruck konnte er Joeys Verstehen deutlich erkennen. „Auf diese billige Tour falle ich ganz bestimmt nicht rein. Denk dir was Besseres aus. Außerdem bin ich nicht feige, sondern nur überlebenswillig! Und ich wollte auch nicht für den Rest meines Lebens zum Psychiater rennen.“ Große Worte, die Joey da von sich gab. Seine Stimme klang selbstsicher, dennoch hoffte er inständig, dass Kaiba es nicht weiter auf diese Art versuchen würde. Joey glaubte noch immer ein guter Lügner zu sein, was wiederum hieß, dass er sehr wohl auf diese „billige Tour“ hereinfallen würde. Doch Kaiba stellte den Becher einfach nur auf die Abtropffläche, bevor er sich zu dem 19-Jährigen umdrehte und sich an die Spüle lehnte. Obwohl gut drei Meter und der Esstisch zwischen ihnen lagen, war sein Blick so intensiv, dass er sich regelrecht in die braunen Augen Joeys bohrte. So verstrichen Sekunden, bevor der Brünette wieder etwas sagte. „Du bist also doch einfach nur zu feige. Meinem Wissen nach musste noch keiner meiner Sekretäre zum Psychiater. Aber wenn du der Meinung bist, dem Ganzen nicht gewachsen zu sein, tut es mir wirklich leid. Ich hätte nicht gedacht, dass du so rückratlos bist.“ Sein Lächeln wurde gefährlich. „Da hat ja sogar deine Schwester mehr Mut und das kleine Ding ist schon erbärmlich genug. Wie steht es dann nur um dich?“ Ein belustigtes Lachen entfloh leise seiner Kehle, während er zufrieden die aufkeimende Wut in Joeys Blick erkannte. Er war auf dem richtigen Weg. „Aber was erwarte ich schon von jemanden, der sich immer wieder aufs Neue von Ivanow verprügeln lässt. Wird es nicht langsam langweilig? Ich meine, es ist doch sowieso immer schon vorher klar, dass du keine Chance hast. Hm, wahrscheinlich wärst du genauso chancenlos aufgeschmissen, wenn du ein paar Akten alphabetisch ordnen solltest. War ja nie so deine Stärke, nicht wahr Joseph Jay Wheeler?“ Ob es Tala oder seine Schwester war, blieb unklar, doch diese Beleidigungen hatten seinen Geduldsfaden reißen lassen. Gedankenlos holte der Blonde aus, während er auf sein Gegenüber zustürmte und zu schlug. Doch der Abstand zwischen ihnen war so groß, dass der Angriff leicht zu durchschauen war. Noch bevor seine Faust ihr Ziel erreichte, packte ihn Seto am Handgelenk. „Du bist zu langsam, Kötter! Wenn du dich immer so anstellst, kann ich verstehen, warum nur du jedes Mal die Prügel kassierst.“ Das Lächeln auf seinen Lippen zeugte von der tiefen Bosheit, die in jedem seiner Worte lag. Ohne zu zögern, stoppte er auch noch Joeys zweiten Angriff. „Ich sagte doch, dass du zu langsam bist! Warum versuchst du es eigentlich immer wieder, Versager?“ Mokuba sprang auf, von einer Woge der Entrüstung und des Zornes getrieben. Jetzt reichte es dem Kleinen und seine Wut verdrängte die Angst und die Unsicherheit. „HÖRT AUF! Ihr benehmt euch ja wie kleine Kinder!“ Schimpfte er mit lauter Stimme und rannte um den Tisch herum. Der 17-Jährige, der nun bei weitem nicht mehr so klein war, quetschte sich zwischen die beiden und drückte sie mit aller Kraft auseinander. Er stellte sich mit in die Hüften gestemmten Händen so, dass er beide sehen konnte. „Spinnt ihr jetzt ganz? Die Kleinsten aus meiner Schule prügeln sich schon immer auf dem Schulhof, da braucht ihr das hier nicht auch noch zu machen. Könnt ihr euch nicht einmal im Leben nicht streiten, wenn ihr euch begegnet?“ Wütend schaute er von einem zum andern, die Wangen mit einem Anflug kräftiger Farbe versehen. Regelrecht perplex starrten die beiden jungen Männer den Schwarzhaarigen an und waren nicht in der Lage zu reagieren oder etwas zu erwidern. Keiner von ihnen hatte mit Mokuba gerechnet und besonders sein großer Bruder nicht. Erstaunt erkannte der 17-Jährige die Überraschung, die fast schon in Entsetzten umschlug. „Hallo? Alles gut bei euch beiden? Sind jetzt die letzten Gehirnzellen auch noch außer Betrieb?“ Doch auch jetzt bekam er keine Antwort, denn die beiden schienen sich jetzt erst zu sammeln. Ein Schlucken war von Joey zu hören. Diese Situation war ihm unangenehm und peinlich. Genervt und in Gedanken fluchend stapfte Mokuba zu seinem Platz zurück und ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen. „Warum hatte ich nur diese wahnwitzige Idee, am Wochenende zurück nach Hause zu kommen?“ Beleidigt griff er nach seinem Becher und lehnte sich zurück. Seufzend richtete sich Mokuba wieder auf und griff nach seinen Stäbchen. Zielsicher pickte er aus einer der Gemüseschüsseln etwas Paprika und frische Karotten heraus, die er auf seinen Teller legte. „Hier Lalapee, damit wenigstens du nicht umsonst hier bist.“ Er hatte den Becher auf die Tischkante gestellt und griff in die Tasche seines Pullovers. Ein stilles Lächeln legte sich auf seine Lippen, als der wuschelige Kopf der Hamsterdame zum Vorschein kam und sie schnupperte. „Kannst auch etwas Sellerie haben, wenn dir das lieber ist.“ Gab er fürsorglich von sich. Seto sog scharf die Luft ein, als er erkannte, mit wem sich sein kleiner Bruder unterhielt. Hatte er da einen Hamster in seiner Bauchtasche versteckt? Was sollte das denn nun schon wieder? „Seit wann schleppst du so einen Flohzirkus mit dir herum?“ Die herablassende Art war deutlich in seiner Stimme zu hören, doch Mokuba interessierte sich nicht weiter dafür. Er setzte Lalapee auf den Tisch, wo sie genüsslich anfing, an einem Stück Paprika zu knabbern. Mokubas braune Augen ruhten freundlich auf dem cremefarbenen Fellknäuel. „Tja, Lalapee, was soll ich ihm dazu nur sagen?“ Mokuba nahm einen großen Schluck von seinem Kakao und wusste genau, dass er seinen Bruder damit provozierte. „Ich meine, mein großer Bruder wirft so lange mit Beleidigungen um sich, bis alle wütend auf ihn sind. Selbst auf dir hackt er herum und du kannst wirklich nichts dafür.“ Die Hamsterdame schaute kurz auf, nur um ihn verständnislos mit ihren schwarzen Knopfaugen anzublinzeln. „Wenn du schon nicht weißt, was ich dazu sagen soll, dann halte ich es doch lieber, wie mein vorbildlicher, großer Bruder und übe mich in absoluter Ignoranz.“ Er stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch auf und schaute dem kleinen Hamster beim Fressen zu. Er wusste genau, dass es im Prinzip sehr einfach war, seinen Bruder aus der Fassung zu drehen, als wäre er eine Glühbirne. Man musste einfach nur das Gleiche tun, was er normalerweise tat. Ignorieren war dabei Setos Lieblingsstrafe. Wurde er ignoriert, war es nur eine Frage der Zeit, bis diese Lampe platzte – und die hatte gerade ihren Kontakt verloren. Joey bemerkte, wie sich der Brünette auf die Unterlippe biss. Es schien ihn wirklich zu wurmen, so eindeutig von seinem kleinen Bruder vorgeführt zu werden. So seufzte der Blonde und setzte sich auf den Stuhl neben Mokuba. „Und wie lange willst du uns ignorieren, Moki?“ Sein Blick huschte zu dem Kleineren hinüber, in der Hoffnung, eine Antwort zu erhalten. Doch es war vergebens, denn Mokuba schien ihn völlig in seine Taktik zu integrieren und ihm das gleiche Schicksal anzugedenken, welches auch Seto traf. Eine Erweiterung fand Mokuba jedoch. Er nutzt nun verstärkt indirekte Angriffe gegen seinen Bruder. „Ich frage mich nur, warum wir hier Stühle haben, wenn sich sowieso niemand setzen will.“ Dabei nahm er gelassen einen Schluck aus seinem Becher. Die eisblauen Augen starrten Mokuba an, Wut brannte langsam in den Adern des Firmenführers und er ballte seine Hände zu Fäusten. Wie groß sein Zorn war, zeigte sich daran, dass er nicht bemerkte, wie sich seine eigenen Nägel schmerzhaft ins Fleisch drückten. Aber warum regte ihn das Ganze so auf? Kurz schien er sich neu zu ordnen und atmete konzentriert durch. Das war doch nur die dumme Provokation eines Teenagers! Angespannt setzte er sich wieder auf seinen Platz und öffnete den Laptop. Er würde sich sicher nicht auf dieses dämliche Spiel einlassen. Er hatte noch Arbeit vor sich. Ein ganzer Artikel, den er lesen musste. Es war eine detaillierte Aufstellung des Grundaufbaues eines neuen Spieles, welches seine Firma für Ishizu Ishtar entwickelte. Bei dem Versuch, sich auf den Text zu konzentrieren, verschwammen die Reihen und die Buchstaben tanzten über den Bildschirm. Er konnte Mokubas Lächeln direkt vor sich sehen. Wie er da saß, heimlich zu seinem Bruder hinüber spähte und innerlich seine Siegesparty feierte. Die kleine Hamsterdame quietschte vor Freude, als sie über den ganzen Tisch raste und zum Schluss wieder auf Mokubas Schoß sprang. Sie schien eine besondere Verbindung zu dem Schwarzhaarigen zu haben, denn auf alle seine Worte und Bewegungen reagierte sie, als hätte sie ihn verstanden. „Um wie viel wetten wir, dass er gerade vergeblich versucht, sich auf seinen Text zu konzentrieren?“ Der 17-Jährige konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken, als er das tiefe Knurren des Brünetten hörte. Auch Lalapee quiekte vergnügt, während sie langsam den blaulila Pullover erklomm. Sie war ganz offensichtlich auch dieser Meinung. Joey seufzte und griff nach einer leeren Schüssel, um sich etwas Reis aufzutun. Wenn er schon hier war, konnte er auch etwas essen. Mürrisch begann er auch von den anderen Dingen etwas auf den Reis zu laden, Gemüse, ein wenig kalten Fisch. „Was ist hier eigentlich los? Ihr zwei wart mal unzertrennlich. Aber heute würdet ihr es wohl nicht mal bemerken, wenn Pegasus einen von euch entführen würde.“ Es war beinahe flapsig dahingeworfen, doch Joey meinte diese Frage ernst. Der Blonde schaute auf und überrascht stellte er fest, dass zwei ernste Augenpaare auf ihn gerichtet waren. „Wir haben uns auseinander gelebt. Jeder hat halt sein eigenes Leben.“ Seto war der erste, der wieder sprach und schob nun seinen Laptop zur Seite, um den 19-Jährigen besser in den Blick zu nehmen. Er wirkte abweisend und verschränkte die Arme vor der Brust. Dennoch schien er endlich auch dazu bereit, halbwegs vernünftig über irgendetwas zu sprechen und nicht nur zu beleidigen. „Tja, Joey, ich bin nicht mehr der kleine Junge von damals. Ich weiß dass die Welt nicht unter geht, nur weil ich meinen großen Bruder einmal ne Woche nicht zu Gesicht bekommen habe.“ Erklärte Mokuba plötzlich und wich dem Blick des Blonden nicht aus, doch hatte Joey den Eindruck, etwas Trauriges in ihm zu sehen. „Wie Seto gesagt hat, wir leben unser eigenes Leben.“ Joey schüttelte nur den Kopf und überlegte, ob er noch etwas Sojasoße dazu nehmen sollte. Das war zwar nicht die feine japanische Art, aber er entschied sich dafür. So landete in seiner Schüssel auch noch davon ein großer Schluck. „Nein, ihr lebt nicht nur euer eigenes Leben, früher war jeder von euch ein Teil des anderen Lebens, aber heute lebt ihr an einander vorbei.“ Er stopfte sich etwas Reis und Gemüse in den Mund und senkte den Blick auf sein Essen. Keiner der beiden anderen sagte etwas, ihre ernsten Blicke waren nur fragend und abwartend auf ihn gerichtet. Langsam schluckte er seinen Bissen herunter und unsicher sprach er weiter. „Als Serenity noch bei unserer Mutter gelebt hatte, verging kaum ein Tag, an dem ich nicht an sie gedacht habe, und jetzt, wo wir zusammen wohnen, ist diese Bindung noch enger geworden. Klar, sie erzählt mir nicht kleinlich, mit wem sie, was gemacht hat, aber, wenn sie ein Problem hat, kommt sie zu mir.“ Vorsichtig warf er einen Blick zu Mokuba. „Ich will ja nichts Falsches sagen, aber irgendetwas geht hier schief!“ Der Schwarzhaarige schien innerlich eisern zu werden, bei diesen Worten. So als ob er zwar ihre Bedeutung verstand, es aber nicht wahr haben wollte. Ganz im Gegensatz zu seinem Bruder. „Wie schön, dass du das auch gemerkt hast! Aber ich bin nicht der pubertierende Hitzkopf hier, der die Türen knallt.“ In seinen blauen Augen herrschte die Kälte vor, eine Kälte, die jedes Gefühl erfrieren ließ. „Manchmal gibt es Dinge, die man besser nicht weiß, Wheeler, und diese Angelegenheit gehört eindeutig dazu.“ In einer schon fast würdevollen Bewegung erhob er sich und schloss seinen schwarzen Laptop. „Und manchmal gibt es Dinge, die einen einfach nichts angehen. Zu welchen diese Angelegenheit auch zählt.“ Mit festen Schritten wand er sich der großen Tür zu, um die Küche zu verlassen. Während dieser Worte hatte Mokuba den Kopf gesenkt. Er brauchte sich nichts vorzumachen, diese Worte hatten ihm sehr weh getan. Noch mehr weh getan, als all die Ignoranz, mit der ihn sein Bruder strafte. Dieser Schmerz, der ihm langsam die Kehle zuschnürte, ihm die Luft nahm und seinen Blick langsam verschleierte, es tat so weh. Er verstand sich doch selbst so oft nicht, begriff nicht, warum er von jetzt auf gleich wütend wurde. Mit einem Ruck stand Joey auf, er stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab und mit wütendem Blick starrte er auf seine Schüssel. „Für dich ist es also okay, einfach damit weiter zu leben, einfach nicht hinzusehen, wenn du andere verletzt? Wenn andere, die dir einmal lieb und teuer waren, verletzt werden? Kennst du eigentlich den Schmerz, den Schmerz, den man empfindet, wenn man sich mit dem Gedanken abfinden muss, einfach ignoriert zu werden? Wenn man nach Hause kommt und die Person, die einem wichtiger war als das eigene Leben, einen nicht mal wahr nimmt?“ Sein Herz raste, warum hatte er das gesagt? Ihm ging einfach dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf, wie Mokuba zittern und verängstigt dort auf dem Boden gesessen hatte, ausgeliefert und verraten. Es war als würde sich in ihm etwas zusammenziehen, das wichtiger war, als alle Vernunft. „VERDAMMT, DU HAST DOCH KEINE AHNUNG, WIE DAS IST! DU VERLETZT EINFACH NUR, IMMER UND IMMER WIEDER!“ Mokuba erstarrte und nun konnte er die Tränen nicht länger zurück halten. „Joey… hör auf… sei bitte still…“ Seine Worte erstickten in Schmerz und Tränen, nicht auf die Hamsterdame achtend, die sich liebevoll mit sorgendem Blick an ihn kuschelte. Der Brünette schwieg, doch seine rechte Hand verkrampfte sich um die Plastikverdeckung des Computers. Seine Stimme war nichts weiter als ein Flüstern, das gerade noch über Mokubas Schluchzen hinweg zuhören war. „Ja, ich habe keine Ahnung, wie es ist, so erbärmlich zu sein. Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, was in diesem Haus geschieht? Glaubst du etwa, dass ich auch nur einmal weggesehen habe, wenn ich voller Absicht jemanden verletzt habe?“ Langsam drehte er sich um und schritt auf den Tisch zu. Noch bevor einer der beiden etwas sagen konnte hatte Seto zugepackt. Mit einer einzigen Bewegung riss er Joey herum und drückte ihn gegen die Tischkante. In seinen blauen Augen lag etwas Unbeschreibliches. Etwas, dass den Blonden wie Espenlaub zittern ließ. „Glaubst du etwa, dass dich das etwas anginge?“ Seine Finger vergruben sich schmerzhaft in Joeys Schulter und mit aller Gewalt musste er sich beherrschen, nicht übergriffig zu werden. Die Zornesröte hatte sich auf Setos Wangen gelegt und vor Wut bebte sein ganzer Körper. „Erinnere mich daran, dich das nächste Mal einfach liegen zu lassen! Ganz gleich, ob die Kälte der Nacht dich umbringt!“ Das wütende Zittern seiner flüsternden Stimme war für Mokuba nicht mehr zu hören. Dieser saß in Tränen versunken auf seinem Stuhl und sein Verstand verarbeitete die Aussage, dass sein eigener Bruder jede dieser Beleidigungen und Bestrafungen absichtlich und bewusst gemacht hatte. Das war ihm immer klar gewesen, aber es zu hören, war etwas anderes. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er einen Schmerz, als würde ihm sein Herz grausam aus der Brust gerissen. Erschrocken schluckte Joey und kniff kurz die Augen zusammen. Der Brünette hatte ihn mit diesem Angriff überrascht und die Finger bohrten sich schmerzhaft in seine Schulter. Doch da war etwas in ihm, dass ihn einfach nicht mehr los ließ, etwas, dass ihn nicht aufgeben ließ. Irgendwo in diesem Eiskloz musste doch noch etwas von dem Kaiba stecken, der seinen kleinen Bruder liebte. Verbissen versuchte er die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen, einen einfachen Weg zu finden, doch er konnte nicht sagen, wie es weiter gehen würde. Wenn er jetzt versuchte, gegen diese Kälte vorzugehen und ein liebendes Herz dahinter zu finden, wusste er nicht, wie Kaiba reagierte. Der grausame Griff des 22-Jährigen verriet ihm nur eines, dieser würde keine Rücksicht auf Mokuba nehmen. „Mokuba, geh!“ Joey schaute nicht auf, als er diese beiden Worte aussprach. Er unterdrückte den Schmerz in seinem Herzen. Er achtete nicht auf den verwirrten Blick des 17-Jährigen und wiederholte monoton seinen Willen. Nein, es war keine Bitte, ausnahmsweise nicht, heute war es ein Befehl. Noch immer spürte er die Hand auf seiner Schulter, noch immer war da diese Kälte in den eisblauen Augen, die alles andere zu verschlingen schien. Mit gesenktem Kopf und zitternden Knien stand der Kleine auf. Er drückte das fiepende Fellknäuel fest an sich, ohne dem Hamster dabei wehzutun. Er wollte aufschauen, wollte fragen, doch da war etwas, dass ihm Angst einjagte. In diesem Haus hatte sich etwas geändert. Es war, als würde immer noch der ruhelose Geist ihres Stiefvaters herumirren und in ihren Herzen Schmerz und Kälte säen. Mehr noch, als würde er selbst ein so gutes und starkes Herz wie Joeys in ein vertrübtes Schicksal stürzen. Erst als er sicher war, dass Mokuba die Tür hinter sich geschlossen hatte, wagte er den Blick in die Augen des Brünetten, dessen Nägel sich gnadenlos in seine Schulter gebohrt hatten. „Merkst du es nicht? Oder ist es dir egal?“ Fragte Joey mit bebender Stimme. Er selbst war aufgewühlt und aufgebracht. Es dauerte eine Weile, bis sich der feste Griff lockerte und der Blonde innerlich seufzend seine Schulter sinken ließ. Der Blick der Eisaugen hatte sich verändert. Diese eisblauen Augen schauten ihn nun ohne jegliche Regung an, so als ob sie seit Tagen nur noch Regen beobachten würden. Nein, es war kein Regen, was war die Gewissheit um einen alten Schmerz. „Warum, Kaiba? Was ist geschehen?“ Doch noch bevor er ein weiteres Wort aussprechen konnte, hatte der Brünette ausgeholt und zugeschlagen. Das schallende Geräusch hallte von den kachelbesetzten Wänden wider und mit einem dumpfen Aufschlag fiel der Blonde zu Boden. Entsetzten und Unglaube lag in seinem Blick, als er versuchte, das eben Geschehene zu verstehen. Ganz automatisch legte er eine Hand auf seine schmerzende Wange und starrte ins Nichts der weißen Kacheln. Behutsam deponierte Kaiba seinen Laptop auf dem Küchentisch neben Joeys Teller und richtete sich zu voller Größe auf. Sein Blick ruhte schnell wieder auf dem Blonden und tief aus seinem Inneren stieg ein Gefühl auf, das er so lange versucht hatte zu unterdrücken. Warum hatte er nach dem gefragt, was hier geschah? Wie konnte sich dieser kleine miese Kötter anmaßen, auch nur über so etwas nachzudenken, geschweige denn es anzusprechen? Er kannte diese Szene. Aber damals war es anders gewesen, damals war er es gewesen, der eine Antwort wollte. Damals hatte er von Gozaburo Antworten gefordert. Schweigend trat Seto einen Schritt auf den am Bodenliegenden zu, den er mit seinen völlig leeren eisblauen Augen fixierte. ‚NEIN! Du darfst es nicht tun!’ Mit verzweifelter Stimme schrie der brünette Junge seine letzte Hoffnung heraus. Er breitete seine Arme aus und rutschte auf dem weißen Boden ein Stück weiter nach vorne. Er war vielleicht 11 oder 12 Jahre alt, die kindlichen Gesichtszüge waren ihm so bekannt. ‚Nein, ich flehe dich an, tu es nicht!’ Das Herz des Kindes raste und seine Brust hob und senkte sich viel zu schnell. Kaiba konnte die pure Angst in den blauen, klaren Augen des Jungen erkennen, vor denen die hellbraunen Haare in Strähnen herab hingen. Der Kleine zitterte am ganzen Körper und Tränen verschmierten seine roten Wangen. Das helle Hemd war von seinen schlanken Schultern gezerrt und gab unzählige Narben und verheilende Wunden frei. Doch auch einige frische Blutergüsse waren auf dem mageren Körper zu sehen. Seto konnte sich noch an jede erinnern. An jeden Übergriff Gozaburos, jeden einzelnen Schlag. „Du fragst mich warum?“ Ein leises Lachen entkam seiner Kehle, doch es klang tief und eher wie ein altes Echo. „Ich bitte dich, Wheeler, ich kenne dein Geheimnis, das Geheimnis deiner Angst.“ Er achtete nicht auf die flehentlichen Gesten des Kindes vor ihm. Es war nur eine Erinnerung. Nur eine dumme, längst vergangene Erinnerung. Ein Abbild dessen, was er einst einmal gewesen war. Schwach und hilflos. Jetzt war er das nicht mehr. Jetzt wollte sein Verstand nur eine alte Erinnerung ins Leben zurück rufen. Gnadenlos ignorierte er dies und griff durch dieses Trugbild hindurch. Er packte Joey am Kragen und zog ihn ein Stück zu sich heran. „Sag mir, hat er dich nur geschlagen oder ist er weiter gegangen?“ In seiner Stimme lag so viel Hohn, in seinem Blick so viel Verachtung. Wenn man sein Herz wirklich an den Teufel verkaufen konnte, dann hatte es sein Stiefvater getan. Wie töricht, aber dieses Problem würde Seto niemals haben. Kälte erfasste ihn, erfüllte seine Seele und jedes Gefühl schien darin zu ertrinken. Das diabolische Lächeln auf seinen Lippen ließ nichts von den kläglichen Erinnerungen erahnen, dem Trugbild seiner selbst. Es blieb nur diese gefühllose Kälte in ihm. Nein, ihm würde der Teufel nie ein Angebot dieser Art machen, denn die Rothaut wusste etwas, was dieser flohverlauste Kötter vor ihm noch nicht begriffen hatte. „Ich habe kein Herz mehr, Wheeler!“ Diese Worte kamen ihm über die Lippen, als wären sie aus purem Gift. Die Erinnerung, die noch verzweifelt versucht hatte, zu retten, was zu retten wäre, zersplitterte unter diesem ausgesprochenen Glaubenssatz. Damals war es anders gewesen und doch waren es dieselben Worte, die er nun sagte. Er wiederholte die Worte Gozaburo, die dieser ihm damals gesagt hatte. „Wann wirst du es endlich verstehen? Es ist völlig egal, wie sehr du dich auch anstrengst, alle deine Versuche, annähernd so gut zu werden wie ich, sind absolut überflüssig.“ Ein tiefes höhnisches Lachen erklang aus seiner Kehle und erfüllte den ganzen Raum. Mit ausgesprochener Freude beobachtete er die Angst und die Verwirrung, welche sich in seinem Opfer breit machten und die warmen, honigbraunen Augen mit einem unbeschreiblichen Schleier überzogen. „Du zitterst wie ein kleines Kaninchen! Also hatte ich doch Recht, du hast zu wenig Rückgrat.“ Doch da war noch etwas anderes, das ihm durch den Kopf ging. Etwas, dass ihn völlig von seinem Stiefvater unterschied. Es war ein alter Schwur, den er genau diesem gegenüber abgelegt hatte. Der Schwur, sein Schicksal selbst zu bestimmen! Ohne Hast beugte er sich vor, Joey noch immer fest gepackt und ließ sich jeden Gedanken in Luft auf lösen. Es war nur für einen Augenblick, etwas, was aus Trotz und Starrsinn zu einem unfreiwilligen Beschluss geworden war. Unerwartet zog er den Blonden noch ein Stück näher an sich heran und legte seine schmalen Lippen auf dessen. Es war für ihn nichts weiter als ein Spiel. Sein Stiefvater hatte es nie gekonnt; spielen! Vorsichtig stabilisierte er seinen Stand, in dem er sein rechtes Knie auf den Boden stellte. So saß er in der Hocke mitten in der Küche und mit einem Lächeln bohrten sich seine eisblauen Augen in die Joeys. Der Blonde war viel zu überrascht, um sich gegen irgendetwas zu wehren und so war es für ihn ein Leichtes, sich mit seiner Zungen einen Weg zwischen dessen warmen Lippen zu bahnen. Fisch und Sojasoße, danach schmeckte der Blonde. Er konnte genau spüren, wie der 19-Jährige langsam nach Luft rang, doch er hatte noch nicht vor, schon von ihm abzulassen. Genüsslich erkundete er jeden Winkel und stupste Joeys Zunge dabei immer wieder an, ohne auch nur ein einziges Mal seinen Blick zu senken oder zu zwinkern. Erst als sein Sauerstoffmangel immer erheblicher wurde, regte sich wieder Leben in dem Blonden. Der Überlebenswille war stärker, als der Schock und instinktiv hob er seine Hände. Noch bevor in seinen Gedanken die Angst gänzlich explodierte, stieß er Seto von sich. „NEIN!“ Keuchend und mit geröteten Wangen presste er sich die Hände vor den Mund. Plötzlich wurde er von einer Woge des Entsetzens gepackt. Sie schnürte ihm die Kehle zu und erfüllte ihn vollständig mit einer lähmenden Angst. Hatte der Kerl ihn gerade wirklich geküsst? Was sollte der Scheiß? Warum hatte Kaiba das getan? Und warum hatte er gesagt, dass er kein Herz mehr besitzen würde? Was verdammt noch mal ging hier ab? Er schaffte es nicht einmal, den Mut dazu zusammen zu bekommen, um aufzuschauen. Mit gesenktem Kopf saß der auf dem warmen Küchenboden und hörte den dröhnenden Rhythmus seines Herzschlages in den Ohren. Ein leises Lachen drang über die Stille und Seto setzte sich wieder in eine angenehmere Position. Er konnte genau sehen, was jetzt ihn dem 19-Jährigen vor sich ging. Und am liebsten hätte er laut los gelacht. „Für mich ist es nur ein Spiel! Hast du das immer noch nicht verstanden?“ Er lauschte eine Weile den unregelmäßigen Atemzügen des anderen, der langsam seine Hände wieder sinken ließ. „Dann werde ich es dir wohl erklären müssen.“ Er lehnte sich vor und ohne zu zögern hob er Joeys Kinn an, sodass dieser ihm in die Augen schauen musste. „Ich könnte dich hier auf der Stelle vernaschen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Es würde mir nichts bedeuten, dir hingegen würde es ein Leben zerstören.“ Er beugte sich noch ein Stück weiter nach vorne und flüsterte. „Ein Leben, das du gerade erst zu leben beginnst!“ Die Kälte, die Setos Gefühle unterdrückte, die seine Handlungen bestimmte, blieb und ließ ihn ebenso herzlos und kalt erscheinen, wie einst sein Stiefvater gewesen war. Was auch immer in Joey vorging, es war zu gewaltig, um es mit Worten beschreiben zu können. Angst und Entsetzen waren nur die Grundtöne, doch die Worte des Brünetten hallten unablässig in ihm wider, ohne dass er ihren Sinn ganz verstand. Das Rauschen seines eigenen Blutes dröhnte in seinen Ohren und der rasende Herzschlag schien den ganzen Raum zu erfüllen. Noch bevor Joey darüber nachgedacht hatte, entfloh seinen Lippen eine absurde Frage. „Würdest du es auch tun?“ Seto blinzelte überrascht. Damit hatte er nun nicht gerechnet, doch diese Frage gefiel ihm, besonders die Antwort darauf. Kurz schloss er die Augen und stieß die Luft aus, nur um dann dem 19-Jährigen mit einem diabolischen Lächeln tief in die Augen zu sehen. Er würde diese Frage gerne beantworten, aber diesmal ohne Worte. Dieses Spiel gefiel ihm unerwartet gut und es entschädigte ihn für die Wut, die er noch eben über Joeys Einmischung empfunden hatte. Die Wut, die ebenfalls von der inneren Kälte verschlungen worden war. „Du bist immer noch rot wie ein kleines Schulmädchen!“ Neckte der Brünette frech. Mit einer kräftigen Bewegung drückte er den Blonden mit dem Rücken auf den warmen Küchenfußboden. Seto achtete nicht auf den erschrockenen Schrei, sondern beugte sich mit selbstgefälligem Lächeln über sein Opfer. „Wheeler, du wolltest doch eine Antwort auf diese prekäre Frage haben, nicht wahr?“ Ja, wenn er die Wut unterdrückte und die Kälte seine Seele erfasste, dann konnte er auf eine Art spielen, wie kein anderer. Yami Moto mochte zwar immer noch der „König der Spiele“ sein, aber in diesem einen Spiel würde er chancenlos verlieren. Der Pharao spielte nicht mit dem Leben, der Seele und dem Herzen eines Menschen, Seto tat es mit größter Freude. Langsam schob er den dunkelroten Pullover in die Höhe und legte somit den gut gebräunten Bauch des Blonden frei. Er würde diesem Kerl mit Vergnügen zeigen, wie weit er ging! Plötzlich regte sich in Joey etwas und er drückte sich vom Boden ab. Seine Arme legten sich um den Hals des Brünetten und er zog sich weiter nach oben. Der Blonde verbarg sein Gesicht geschickt vor dem jungen Mann und versuchte das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücke. Seine Worte waren mehr ein Flüstern. „Dann beweise es mir! Beweise mir, dass du kein Herz hast!“ Schnell löste er sich wieder und drückte ihn wütend von sich. Mit funkelnden Augen starrte er in das Gesicht des jungen Firmenbesitzers. „Ich nehme dein Angebot an. Ich, Joseph Jay Wheeler, werde für die nächsten drei Monate dein privater Sekretär sein!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)