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Dunkle Nächte

Wenn das Schicksal zuschlägt...
von

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Kleiner Zwischenfall vorm Frühstück

Kapitel 4

Kleiner Zwischenfall vor dem Frühstück
 

Es dauerte eine Weile, bis der Brünette sich wieder gefangen hatte. Seufzend fuhr er sich durch die leicht schweißfeuchten Haare und schaute auf die Uhr neben seinem Bett. Was hatte Mokuba sich dabei eigentlich gedacht? Anscheinend war er zu oft mit Noah und Wheeler zusammen! Irritiert registrierte er, dass Mokuba ihn seit langer Zeit wieder Onii-chan genannt hatte. Er war sich nicht sicher, wann sein Bruder das letzte Mal diese Bezeichnung genutzt hatte. Vielleicht war Wheelers Einfluss doch nicht gänzlich unnütz.

Ungnädig warf er einen Blick auf seinen Wecker. Es war 10:08 Uhr, wie hatte er es geschafft so lange zu schlafen? Wann hatte er in den letzten Monaten überhaupt so lange geschlafen? Mit einem Seufzen rieb er sich über die Augen und schlug die Decke zurück. Seltsamerweise hatte er heute Morgen kein Zeitgefühl. Müde setzte er sich auf die Bettkante und ließ seine Gedanken schweifen. Was in drei Teufelsnamen war mit ihm los? So viel hatte er gestern nicht mehr gearbeitet und getrunken schon gar nicht. Gut, die Aktion seines Sekretärs war niederschmetternd und der Streit mit ihr über diese Inkompetenz in Person war nicht gerade hilfreich. Hatte er etwas geträumt? Er konnte sich zumindest nicht erinnern. Warum also schlief er heute bis in die Puppen?
 

Der Gedanke an den versäumten Termin in Osaka ließ ihn leise stöhnen. Er wusste noch immer nicht, wie er das alles verarbeiten sollte. Seine Mitarbeiter saßen an der Schadensanalyse und um ehrlich zu sein, wollte er die erst gar nicht sehen. Schon jetzt war ihm klar, dass es sich um einen Riesenverlust handeln musste. Bisher war nur sicher, dass eine andere Firma den Zuschlag erhalten hatte und der Vertrag mit der Kaiba Corporation nicht zustande kam. Vielleicht war es so besser. Was hätte er auch sagen sollen? ‚Es tut mir leid, aber erst als mein Sekretär ihren Brief mit meinem Kaffee übergoss, fiel mir unser Termin wieder ein!‘ Er könnte sich auch gleich selbst als Vollidioten darstellen und mit einer Clownsmütze auf dem Kopf durch die Straßen rennen. Das war einfach zu lächerlich!

Sein Kopf dröhnte leicht und langsam begann er zu frieren. Mürrisch ließ er seinen Blick durch das Schlafzimmer schweifen. Dabei blieb er an einigen Bildern an der Wand hängen, die alle nur ein Motiv hatten. Den weißen Drachen mit eiskaltem Blick.

Eigentlich war es nur ein Bilderrahmen in dem auf 90x60 Zentimetern die Kohlezeichnung des Weißen war. Warum hatte er sie noch gleich hier hinein gehängt?

Die scharf gezeichneten Augen strotzten nur so vor Stolz und Übermut und in jedem seiner Züge war Überheblichkeit und Egoismus zu erkennen. Der Drache mit seinem weißen Schuppenkleid war nicht größer als 35 Zentimeter und doch wirkte er mächtig in diesem Augenblick, in dem er dem Feuer aus Eis entstieg.

‚Er ist wie du, Kaiba! Egal was auch immer geschehen wird, selbst wenn er zu Boden geht, verliert er doch nie seinen Starrsinn. Miss Ishtar erzählte einmal, dass selbst im alten Ägypten diese Eigenschaft des Weißen Drachens mit eiskaltem Blick gefürchtete wurde.‘

Leicht fröstelte der Brünette, als er an die Worte des Zeichners dachte.

‚Stolz, eigensinnig und bis ins Letzte berechnend. Kein Feuer kann ihn verbrennen und nach jeder Niederlage steigt er wie ein Phönix nur noch überzeugter aus den Bruchstücken des Kampfes.‘
 

Schweigend erhob er sich von seinem Bett und trat auf das Bild zu. Der schwarze Rahmen war nicht besonders breit und um die Zeichnung aus Kohle tummelten sich Bilder und Skizzen von ganz unterschiedlichen Personen aus seinem Leben. Er konnte sich noch genau an seinen 20. Geburtstag erinnern. An diesem Tag hatte ihm Crawford Pegasus dieses Bild mit einer Grußkarte, die mittlerweile im Flammen aufgegangen war, zugeschickt. Eigentlich wollte er dieses Werk gar nicht haben und es am liebsten nebst Karte in den Kamin schmeißen - ohne Bilderrahmen und Glas versteht sich. Leider verlor er gegen seinen kleinen Bruder Mokuba, der das Bild ohne zu zögern gerettet hatte.

Nur wenige Tage später bekam er es wieder, doch nun hatte der Kleine noch weitere Zeichnungen und Skizzen um den Drachen herum angeordnet. Unter dem großen Fensterglas prangten zwei Zeichnungen von Seto selbst, die eine mit Bleistift die andere mit Tinte gezeichnet. Auch sie zeigten den weißen Drachen. Mokuba hatte ebenso ein Bild von sich dazu gelebt. Es war die alte Karte, die er vor Jahren einmal für seinen Bruder gezeichnet hatte, noch bevor Seto die drei Weißen besaß. Bis heute fragte sich der Brünette, wie er an dieses Bild herangekommen war.

Auch eine Bekannte von ihm hatte eine Zeichnung von den Drachen angefertigt, die um Crawfords Kohlebild prangten. Jedes einzelne Bild war etwas Besonderes für sich. Immer das gleiche Motiv und doch jedes Mal so unterschiedlich, wie es nur sein konnte.
 

Seufzend fuhr Seto sich mit der Hand durch die Haare und entschied, mit dem Träumen für heute aufzuhören. Es gab immerhin noch genug auszubaden und zu richten. Da brauchte er erst gar nicht mit dem Trödeln beginnen. Sein Blick fiel auf das Bett und ihm wurde schlagartig bewusst, warum er überhaupt diese Bild betrachtet hatte.

Innerlich stöhnte er auf, warum geschah eigentlich ihm so etwas? Er war eben noch bei all seinen Problemen gewesen, von denen Crawford das geringste war und Wheeler jetzt gerade das größte! Warum musste er sich jetzt unbedingt wieder an die gestrige Nacht erinnern? Warum hatte er den Köter gleich noch auf der Straße aufgesammelt? Ach ja, er wusste es selbst nicht! Der Gedanke, dass es sonst keine Alternative gab und er den Kerl nicht erfrieren lassen konnte, galt auch nur zur Beruhigung seiner gewissenlosen Seite.

Der Brünette war über seinen eigenen Zynismus überrascht, doch in Anbetracht der Lage, dass er sich gestern Nacht wirklich Wheeler aufgehalst hatte, war er durchaus angebracht. Seine Gedanken schweiften einen halben Tag zurück, an die Stelle, an der er gestern den Blonden aufgelesen hatte. Innerlich sah er die leeren braunen Augen, die Schnittwunde auf der Wange und die Körperhaltung, die eine völlige Aufgabe zeigte.
 

„Bonkotsu!“ Was sollte man denn sonst dazu sagen? Als Mann sollte dieser Schwächling seine Grenzen kennen, doch diese schien der Köter in erschreckender Konstanz zu ignorieren. Nicht zu seinen Gunsten, wie Seto leidvoll feststellen konnte, denn nun war er mit dem kläglichen Rest dieser Existenz konfrontiert. Ab wann war es vertretbar, dieses Häuflein Elend aus der Villa zu werfen? Mokuba würde sicher Einspruch erheben, wenn er Wheeler ohne Frühstück aus dem Hause vertrieb. Reichte es nicht, dass er in seiner unendlichen Güte extra den Arzt hatte kommen lassen? Wie lange musste er diesem Bonkotsu noch Obdach bieten? Wurde er von jemandem vermisst? Hatte der Köter ein Herrchen, welches sich um ihn sorgte? War da nicht diese nervende Schwester? Nicht das diese nachher vor der Tür stand, immerhin war dies kein Tierheim für verlorene Hunde! Na toll, bis gestern musste er sich nur um seine eigenen Probleme kümmern und höchstens noch um Mokuba! Aber nein, jetzt fand er sich in der widersinnigen Situation wieder, dass er sich Gedanken über solche Nebensächlichkeiten machte!
 

Ohne noch weiter darauf zu achten, erhob er sich vom Bett, schritt auf die zweite Tür in seinem Zimmer zu und öffnete diese. Dahinter wurde das große Badezimmer sichtbar, welches vollständig mit weißem Marmor ausgelegt war. In Gedanken immer noch abwesend schloss er die Tür und mit derselben Handbewegung ließ er den leichten Stoff von seinen Schultern zu Boden gleiten. Genauso achtlos landete seine Hose auf dem warmen Marmor. Der Brünette zog die gläserne Tür der Dusche auf, doch während er eintrat, gab er ihr lediglich einen achtlosen Stoß und überging, ob sie sich gänzlich hinter ihm schloss. Er drehte ohne zu zögern das kalte Wasser auf und zuckte darunter zusammen. Scharf sog er die Luft ein, als er den Schauer spürte, der durch seinen ganzen Körper lief.

Die Müdigkeit wich nur langsam von ihm, doch die Kälte war das beste Mittel dafür. Er fuhr sich mit den Händen durch seine braunen Strähnen und schloss die Augen. Das Wasser lief über seine helle Haut und ließ alle anderen Empfindungen verblassen. Die Anspannung, die schon die ganze Zeit auf ihm lastete, verflüchtigte sich wie die zahllosen kleinen Tropfen, die auf sein Gesicht prasselten und über die nicht makellose Haut rannen.

Langsam drehte Seto das Wasser wieder aus und öffnete seine blauen Augen. Der verschlafene Blick war längst aus ihnen gewichen, doch etwas anderes war in ihnen zurückgeblieben, dass schon fast unwirklich erschien. In diesen Momenten brauchte er niemandem etwas vorzuspielen. Jetzt konnte er entgegen sämtlicher Prinzipien auch einmal Schwäche zeigen. Bei diesem Gedanken fielen ihm gleich dutzende Erinnerungen ein, die er lieber für immer vergessen würde. Manchmal war er einer gewissen Person doch ähnlicher, als er es je zugeben würde.

Ohne es bewusst wahrzunehmen, drehte er den Wasserhahn erneut auf. Wieder schloss er seine Augen und legte den Kopf in den Nacken. Nun prasselte das Wasser ungehindert auf sein Gesicht, doch er spürte mittlerweile nicht einmal mehr die Kälte. Wheeler, es gab mehr, was sie gemeinsam hatten, mehr als ihm lieb war. Wie konnte dieser Naivling eigentlich glauben, dass er der Einzige auf dieser Welt wäre, der es in seiner Vergangenheit schwer gehabt hatte? Noch heute wurde ihm bei diesem Gedanken schlecht, wie der Blonde winselnd und verängstigt auf dem Boden hockte und sich zusammenkauerte. Erbärmlich, mehr fiel ihm dazu nicht ein.

Glaubte er wirklich, er war der Einzige? Wütend schlug er mit der Hand gegen die Wand. Ruckartig hatte er seinen Augen wieder geöffnet und starrte auf seine zitternde rechte Faust. Erbärmlich war noch zu gut für diesen Straßenköter! Es gab immer Dinge, die man nie vergessen konnte. Auch wenn man versuchte, seine Vergangenheit vollständig hinter sich zu bringen. Das hatte er am eigenen Leib erfahren und nun lebte er damit.
 


 

„Was macht Kanei-san? Geht es ihm gut?“ Joey hätte am liebsten laut aufgeschrien, als sich die spitze Nadel in seinen Arm bohrte. „Ja noch, aber wenn Sie seinen Azubi halb verstümmeln, wird sich das schnell ändern!“ Maulte der Blonde wehleidig und sah aus seinen honigbraunen Augen vorwurfsvoll auf. Der Arzt konnte über diesen zynischen Humor nur lachen. „Ich bitte Sie, das ist nichts weiter als eine kleine Spritze. Ihre Oberarme und Ellenbogen sind mit Blutergüssen übersät. Da kann ich selbst mit all meiner Erfahrung keine Schmerzfreiheit garantieren.“

Joey biss die Zähne zusammen und nuschelte etwas Unverständliches. Ja, besonders sein rechter Arm sah sehr übel aus. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie dieser dämliche Kerl ihm diesen auf den Rücken gedreht hatte und ihn vor Tala in die Knie zwang. Für ihn wirkte es so, als zöge der Arzt die Spritze ohne Acht wieder heraus und diesmal schrie der Blonde kurz auf. Den kleinen Wattebausch, den Sakurai gleich auf den Arm gepresst hatte, hielt er nicht sonderlich stark fest. Nun schien doch eine gewisse Besorgnis in den Augen des Mannes zu liegen und er richtete sich zu voller Größe auf. „Ich werde Ihnen auch wegen ihrer Rippe ein Schmerzmittel verschreiben. Sie sollten es gleich zum Frühstück einnehmen.“ Riet der Arzt und löste die Nadel der Spritze ab, die er nun extra verstaute, um dann alles andere wieder in seine große Tasche einzuräumen.
 

„Ja, es geht ihm gut, besser als mir!“ Sauer starrte der Blonde den Arzt an. Seine Wangen glühten schon fast rot und aus seinem Blick war jegliche Freundlichkeit verschwunden. Sein Arm schien ihm schwer, dick und schmerzte schrecklich. Er wollte gerade dazu ansetzen, noch etwas zu den Tabletten zu erwidern, als ein Räuspern ihn aufschauen ließ.

„Anscheinend bist du immer noch am Leben, Wheeler!“ Ein hämisches Lächeln lag auf Setos schmalen Lippen, als er den Blonden betrachtete. „Ich hatte schon gehofft, dass es anders wäre.“ Setzte er provokant hinzu. Seine Haare waren noch leicht feucht und wirkten so ein wenig verstrubbelt. Doch genau das ließ seine Erscheinung etwas lockerer wirken. Denn die schwarze enganliegende Hose mit dem breiten Gürtel und das dunkelblaue Hemd mit festem Kragen brachten den ernsten Gesichtsausdruck auf unheimliche Weise zur Geltung.

Joey spürte, wie er leicht zu zittern begann. Irgendetwas ließ ihn erschauern, wenn er diese eiskalten, blauen Augen sah. Er vergaß alles um sich herum, es war jedes Mal das Gleiche. Doch heute schien noch etwas anderes an diesem Blick so unheilvoll zu sein. Dieses dunkle Blau, welches der Firmenführer trug, es war dasselbe Blau der Kleider des Priesters in seinem Traum und es war derselbe Mann! Zum Glück konnte er das Entgleisen seiner Gesichtszüge gerade noch verhindern und spie dem Brünetten so entgegen. „Ja, das bin ich und das werde ich auch noch eine ganze Weile sein. Dir muss ich ja auch immer wieder über den Weg laufen, weil man dich leider nicht los wird!“ Konterte Joey, ohne seine Unsicherheit zu verraten.

Überrascht blinzelte der Blonde, als er erkannte, dass Seto nur noch unverfrorener lächelte. „Welch intelligente Feststellung, Wheeler. Mich wird man nicht los. Das haben sich schon ganz andere gewünscht. Aber wie du siehst, hat es ihnen nicht viel gebracht.“ Joey schluckte, was sollte denn dieser kalte Ton und dieser noch kältere Blick? Der Brünette zwinkerte ihm zu, während er sich umdrehte. „Wer sich mit mir anlegt, legt sich mit dem Teufel an! Also sei vorsichtig mit deinen Wünschen, Wheeler!“
 

„Was...?“ Völlig überfordert starrte der 21-Jährige in die Richtung, in die der leibhaftige Seto Kaiba gerade verschwunden war. Das war doch echt nur ein Traum... oder? Konnte ihn nicht endlich jemand wecken? Wieso wollte er lieber nicht genauer über diese Worte nachdenken? Da war wieder dieses Gefühl, welches ihn innerlich erschaudern ließ. Es war dasselbe, welches er in dieser Nacht in seinem Traum gehabt hatte. Toll, für wie viel Goldmünzen hatte ihn dieser Scheißkerl noch gleich gekauft?

Doktor Sakurai seufzte still. Manchmal bereute er es wirklich, damals nicht gleich die Stadt verlassen zu haben, als Gozaburo Kaiba vor 17 Jahren zu ihm gekommen war. Immerhin hatten das ja schon genug andere Ärzte vor ihm getan, aber er musste ja dessen Hausarzt werden...

„Sie dürfen jetzt wieder aufstehen. Aber passen Sie auf, dass Sie nichts Schweres heben und tragen oder sonst eine Arbeit verrichten, bei der Sie ihre Arme und somit Ihre Brustmuskulatur besonders anstrengen. Sonst könnte Ihre Wunde wieder aufreißen und das wäre höchst unangenehm. Zusätzlich kann der Druck die angebrochene Rippe überbelasten und den Bruch verschlimmern. Auch ihren Rücken sollten Sie schonen.“

Seine tiefe Stimme riss den Blonden wieder aus seiner Trance und ließ ihn überrascht aufblicken. „Wie bitte? Ich habe nicht ganz zugehört.“ Seine honigbraunen Augen schauten verwirrt drein. Seufzend wiederholte der Arzt seine Worte und nahm aus seiner Tasche ein kleines Fläschchen in dem weiße, runde Tabletten lagen. Dieses stellte er auf den kleinen Nachtschrank und schloss seinen Arztkoffer wieder. „Dies ist ein leichtes Schmerzmittel. Nehmen Sie gleich eine mit ausreichend Wasser und heute Abend wieder eine, aber nicht auf leeren Magen. Wenn Sie über den Tag hin stärkere Schmerzen verspüren, nehmen Sie noch eine halbe zusätzlich, jedoch keinesfalls mehr. Sollte sich der Zustand dann nicht bessern, melden Sie sich umgehend bei mir. Sonst nehmen Sie je eine Tablette am Morgen und je eine abends, bis die Packung aufgebraucht ist. Kommen Sie in sieben Tagen wieder zu mir, ich möchte mir ihre Wunde noch einmal ansehen und ein Röntgenbild von ihrer Rippe machen. Bis dahin werden Sie wohl alleine zurechtkommen. Es ist ja nicht das erste Mal in Ihrem Leben, dass Sie so eine Verletzung haben. Nicht wahr?“
 

Immer noch leicht abwesend nickte er und blickte zur Tür zurück. „Kennen Sie ihn schon lange, Sakurai-hakase?“ Joey wusste selbst nicht, warum er das plötzlich wissen wollte. Überrascht zog der Angesprochene eine Augenbraue hoch. Was sollte denn das werden? „Ich habe vor 17 Jahren angefangen, für Kaiba Gozaburo zu arbeiten, wenn man das so sagen darf. Ich kenne Kaiba-san, seit er von ihm adoptiert wurde. Aber mehr werde ich dazu nicht sagen, denn ich bewahre über alle meine Patienten Stillschweigen.“ Mit einem leisen -Klick- rastete die Verriegelung der Tasche ein und verschloss sie damit. „Ich für meinen Teil werde nun die Küche aufsuchen und Margerite-chans Einladung auf einen kleinen Plausch und einen guten Tee annehmen.“ Seine ernsten Augen musterten den Blonden noch einmal. „Sie sollten auch kommen, denn Margerite-chan wird sicher ein Frühstück angerichtet haben, Wheeler-kun.“
 


 

Mokuba wippte gelangweilt mit dem Stuhl nach vorne. Er saß verkehrt herum darauf und ließ beide Beine herunter baumeln. Seine Arme hatte er überkreuzt auf die Lehne gelegt und sein Kinn darauf abgestützt.

Mittlerweile hatte er seine Kleider wieder geordnet, Gürtel und Hemd geschlossen und die Krawatte abgelegt. „Marga-chan, wann ist der Reis endlich fertig?“ In seinem Blick lag etwas, das nur schwer zu deuten war.

Die alte Köchin trug nun eine große weiße Schürze und hatte ein großes weißes Tuch um den Kopf gebunden. Sie stand mit dem Rücken zu dem relativ großen Eichenholztisch, der sich im hinteren Teil der Küche befand und ihn fast ganz einnahm. Er war höher als normale Tische, weil er oft auch als Arbeitsfläche genutzt wurde. „Gleich.“ Sie war leicht genervt von dieser Frage, denn sie wurde ihr nun schon zum dritten Mal gestellt.

Die Küche war riesig. Ihre Ausmaße waren längst nicht mehr normal und trotz ihrer Größe glänzte sie wie kein anderer Raum im ganzen Haus. An den Wänden zogen sich die Arbeitsflächen, der eine oder andere Herd, die verschiedensten Öfen und so manches Waschbecken entlang. In der Mitte waren zusätzliche Arbeitsflächen und große Herdplatten. Unzählige Schränke und Schubladen waren überall unter den mächtigen Flächen verborgen. Hier konnte eine gesamte Gesellschaft von über fünfzig Personen bekocht werden.

Obwohl die meisten Geräte, Flächen und Schränke aus purem Edelstahl waren, entstand keine sterile Atmosphäre, die durch die gigantischen, schneeweißen Kacheln des Fußbodens noch verstärkt werden würde.
 

„Marga-chan? Ist der Reis jetzt fertig?“ Seine dunkelblauen Augen schauten fragend hinüber, denn er konnte den Geruch des Frühstückes bereits riechen. Obwohl er heute bereits etwas gegessen hatte, verspürte der schwarzhaarige Junge eindeutig ein schreckliches Loch in seinem Magen.

Erstaunlich schnell drehte sich die alte Dame um und funkelte Mokuba wütend an. Drohend hob sie ihren Holzkochlöffel und sprach mit recht lauter Stimme. „Wenn du noch einmal danach fragst, schmeiße ich dich aus meiner Küche raus. Du gehst mir eindeutig zu viel auf die Nerven.“

Überrascht kippte er mitsamt Stuhl wieder zurück und hob den Kopf. Ein Grinsen lag auf seinen Lippen, als er verschmitzt schnüffelte. „Marga-chan, ich glaube, JETZT ist der Reis gut.“

Augenblicklich drehte sich die Köchin wieder um und sorgte für den Rest des Essens. Mokuba hatte einfach hier in der Küche gedeckt. Er hatte heute Morgen keine Lust darauf, irgendwo in einem der Speisesäle zu essen. Außerdem hatte er sich hier schon oft genug durchgefuttert. Sollte Seto doch von seinem hohen Ross herunterkommen und auch hier essen. Woanders gab es eben nichts. Zumindest in diesem Haus. Ja, er konnte die Stimme seines Bruders schon hören. ‚Erst schmeißt du dich in mein Bett, als wärest du noch vier Jahre alt und jetzt soll ich hier essen? Warum haben wir zwei Speisesäle und drei Kaminzimmer?‘ Oh, warum musste Seto nur so starrsinnig sein? Konnte er sich nicht einmal mit dem zufrieden geben, was für andere Menschen eine Freude wäre?
 

„Kannst du dich nicht wie jeder anständige Mensch auf den Stuhl setzen, Mokuba?“ Der Brünette trat ein und schaute mit einem leicht unterkühlten Blick zu seinem kleinen Bruder hinüber. Da war er also, der Mann, über den sich Mokuba innerlich schon aufgeregt hatte und natürlich gab es gleich eine Rüge! Nein, es kam kein ‚Schön, dass wir endlich mal wieder zusammen frühstücken können.‘, nein, gleich wieder einen Tadel!

„Nein, kann ich nicht!“ Plötzlich wurde Mokuba laut. Er bemerkte selbst nicht, wie die Wut in ihm aufstieg und er sich zornig zu seinem Bruder umdrehte. „Es ist immer noch meine Sache, wie ich auf meinem Stuhl sitze. Nicht mal von DIR lass ich mir da was sagen. Hast du das verstanden?“ Seine Stimme war immer gewaltiger geworden, bis sie schließlich einen Tonfall angenommen hatte, in dem man die unterdrückte Wut deutlich hörte.

Damit hatte der Brünette nicht gerechnet und ohne es zu wollen glomm kurz Verständnislosigkeit in seinen Augen auf. Er hatte doch nur einen ganz normalen Satz ausgesprochen. Er hatte doch nichts weiter getan, als eine Tatsache offenzulegen. Gab es da etwas, das er nicht mitbekommen hatte? „Meinst du akustisch oder sinngemäß?“ Fragte er ruhig, denn von dem 17-Jährigen würde er sich sicher nicht noch einmal aus der Fassung bringen lassen. Was war denn geschehen, vorhin war er doch noch so gut gelaunt?
 

Jetzt platzte Mokuba der Kragen und er sprang auf. „Wenn du's akustisch nicht verstanden hast, kannst du es sinngemäß erst recht nicht verstehen!“ Schon fast hasserfüllt ballte er beide Hände zu Fäusten. „Aber ich kann es ja später deinem Sekretär schriftlich geben, vielleicht besteht dann ja noch ne Chance, dass du es liest!“ Ohne weiter auf seinen großen Bruder zu achten, schritt er auf die Tür zu. „Ich sag Noah Bescheid und schaue nach Joey.“ Mit diesen Worten schloss er die Tür hinter sich.

Margerite verstand überhaupt nichts mehr. Verständnislos stand sie mit ihrem Reislöffel in der Hand da und starrte den Brünetten an. „Was ist denn jetzt in ihn gefahren? Habe ich etwas nicht mitbekommen?“ So etwas hatte sie bisher noch nie erlebt. In all ihren Jahren, in den sie Mokuba nun schon kannte, hatte er sich nie so gehen lassen. Sie wusste, dass er hin und wieder in den letzten zwei Jahren mit seinem Bruder stritt, dass er auch Türen knallte, wenn ihm etwas nicht passte. Aber noch nie war er von jetzt auf gleich in die Luft gegangen.

Seto schüttelte nur den Kopf, er wusste selbst nicht, was er davon halten sollte. Einerseits empfand er es als typisch für den Kleinen, auch wenn er nicht wusste, wann sich Mokuba das Herumschreien angewöhnt hatte. Andererseits hatte er aber auch bewiesen, dass er durch und durch ein Kaiba war. Er hatte einmalig gekontert und zum Schluss entgegen aller Voraussetzungen die Tür nicht hinter sich zugeknallt. Seufzend setzte er sich an den Tisch und stützte sein Kinn in die rechte Hand. Irgendetwas geschah hier, ohne dass er es bemerkte. Irgendetwas geschah mit Mokuba, ohne dass er es begreifen konnte. Müde schloss er die Augen und brummte nur ein ‚Danke.‘, als er die Tasse Kaffee vor sich roch. In seiner Firma schien es drunter und drüber zu gehen, hier in der Familie schien schon lange nichts mehr zu stimmen und jeden Tag entwickelte sich Mokuba weiter in eine Richtung, die er nicht verstand.
 


 

Am ganzen Leib zitternd stand Mokuba vor der geschlossenen Küchentür. Sein Herz raste wie nach einem Dauerlauf und er atmete ungewohnt schwer. Warum hatte er das getan? Vorhin noch hatte er so mit Seto gelacht und jetzt schrie er ihn an? Er konnte die Wut immer noch überdeutlich spüren, die seinen ganzen Körper zum Beben brachte. Es war ganz plötzlich geschehen, ohne dass er noch etwas dagegen tun konnte. Seine Wangen färbten sich rot und sein Blick wurde immer verschwommener. Egal was er sich auch einredete, die Tränen konnte er nicht mehr unterdrücken. Warum? Warum nur?

Eigentlich schämte er sich für diese schäbige Tat, aber um sich das so einfach einzugestehen, war er zu stolz. Es war klar, dass Seto nicht die ganze Schuld an dem eben Geschehenen trug. Seine jugendlichen Gefühle waren chaotisch, wirr. Woher die Wut kam, wusste er nicht. War sein Bruder wirklich daran schuld? Oder redete er sich das ein, weil es leichter war? Immerhin hatte sein Bruder ihm nur gesagt, dass er sich anders hinsetzen sollte. Ja, so wie er ihm alles sagte. Jeden Schritt seines Lebens hatte der jetzt 22-Jährige bestimmt. Es war erstaunlich, dass er sich seine Kleidung noch selbst aussuchen konnte. Aber war das jetzt wirklich noch so? Er musste an die E-Mail denken, die er seinem Bruder gestern geschickt hatte und wo er sich wirklich befand.
 

Mokuba setzte sich langsam in Bewegung und betrat den großen Eingangsbereich. Sein Blick fiel auf die schier unendlich hohe Treppe und entmutigt stieg er die ersten paar Stufen empor. Wenn es etwas gab, dass er in letzter Zeit nicht mehr verstand, dann war er es selbst. Immer noch aufgewühlt wischte er die Tränen fort, die sich nun langsam ihren Weg über seine Wangen bahnten. Er hätte länger bei Aiko bleiben sollen, hier hätte es eh keiner bemerkt. Seto fragte ja auch seit langem nicht mehr, was er tat. Er hasste seinen Bruder nicht dafür, denn auf gewisse Weise war es ja genau das, was er wollte. Aber er konnte einfach nicht begreifen, was geschehen war. Sie hatten sich so extrem auseinander gelebt und jeder konnte ohne den anderen zurechtkommen.

Früher hätte er nie geglaubt, dass so etwas möglich wäre. Langsam ließ die Wut darüber nach und die Gedanken des 17-Jährigen wurden klarer. Dabei schritt er die Treppe hoch und wand sich dem rechten Gang zu. Hier hatten er und Noah ihre Zimmer. Sie kamen mit wenig zurecht, Mokuba hatte sein eigenes Zimmer mit integriertem Bad und ein Gästezimmer unter Beschlag genommen. Noah hatte Schlaf- und Arbeitszimmer voneinander getrennt und besaß noch einen privaten Raum, den er grundsätzlich verschlossen hielt. Seto hingegen hatte ein Arbeits- und Schlafzimmer, einen Meditationsraum, ein kleines Minidojo, ein Archiv, eine Art Werkstatt, in der er die technischen Aspekte seiner Arbeit auslebte und im Keller war ein Teil zu einem privaten Serverraum umgebaut worden. Kurzum, sie brauchten zusammen deutlich weniger Platz als Seto. Deprimiert erinnerte sich der Kleine noch an etwas anderes. Früher hatte er alle Zimmer von seinem großen Bruder gekannt. Heute sah das etwas anders aus. Er war froh darüber, wenigstens die Hälfte von ihnen zu kennen.
 

Seufzend schaute er sich den Gang genauer an. Eigentlich achtete er nicht mehr darauf, wo er hier entlang ging. Er kannte, bis auf die eben genannten Ausnahmen, jeden Winkel dieses Hauses. Seto hatte es zwar innen komplett neu einrichten lassen, aber gebaut hatte es ihr Stiefvater. In den Augen des Brünetten war dieses Haus wie eine Siegestrophäe. In Gedanken versunken fuhr Mokuba mit der flachen Hand über die hellblaue Tapete. Er hatte wirklich nichts ausgelassen. Kein Parkett, keine Tapete, kein Bild und nichts, was in irgendeiner Weise von Kaiba Gozaburo stammte. Er war schon fast wie eine Besessenheit gewesen, alles zu vernichten. Oh ja, vernichten war das richtige Wort dafür.

„Mokuba? Was machst du denn hier?“ Erstaunt darüber, den Kleinen heute noch einmal zu sehen, trat er aus der halb geöffneten Tür heraus. Das helle Licht des Zimmers fiel auf den Flur und hüllte den Älteren in eine schemenhafte Aura ein. „Noah?“ Erschrocken fuhr der Schwarzhaarige in sich zusammen und blinzelte ins einfallende Licht. Er musste schlagartig an ihr Treffen am Morgen denken. Ungewollt stieg die Hitze wieder in ihm auf und die leichte Verlegenheit schlug in ein ganz anderes Gefühl um. Gut, es war nur Noah, er sollte sich zusammenreißen. So räusperte sich der junge Mann, damit seine Stimme fester klang. „Dämliche Frage, ich hab hier auch meine Zimmer. Aber eigentlich suche ich dich.“ Kurz schwieg er. Er spürte schon wieder, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. „Marga-chan hat noch einmal ein Frühstück gemacht und ich wollte fragen, ob du auch Hunger hast.“ Diesmal war seine Stimme ruhiger gewesen. Er musste unbedingt lernen, sich zu beherrschen.
 

Ein ungesehenes Lächeln umspielte Noahs Mundwinkel. Wie er es doch liebte, den Kleinen in Verlegenheit zu bringen. Dabei war es so einfach, dass es schon fast wieder lächerlich war. „Danke, aber ich habe eher auf etwas anderes Hunger!“ Seine Worte wurden von einem merkwürdig provozierenden Ton unterstrichen. Er konnte genau sehen, wie Mokubas Blick leicht entsetzter wurde, hatte er diesen Ton doch längst verstanden. „Tja, dann musst du dir aber einen anderen suchen. Ich für meinen Teil habe KEINEN Hunger darauf. Also, lass mich endlich in Ruhe. Ich habe dir oft genug gesagt, dass mir deine Spielchen auf die Nerven gehen!“ Mit diesen Worten drehte er sich wieder um und wollte gehen. Nein, auf die Nerven gehen war das falsche Wort, er verstand sie nicht. Er wusste nicht einmal, ob Noah auf Männer stand. Selbst wenn er das tat, sie waren Stiefbrüder, damit waren sie doch eine Familie und Mokuba stand sicher nicht auf Männer!

Blitzschnell griff Noah nach dessen Handgelenk und zog den Schwarzhaarigen zurück. „Hej, Moki, warte doch. Was ist denn nun schon wieder geschehen? Ich sehe doch, dass du geweint hast.“ Erschrocken zuckte der Schwarzhaarige zusammen, als er den festen Griff um sein Handgelenk spürte. War er so einfach zu durchschauen? Er sah ihn mit großen Augen an und drehte den Kopf verlegen zur Seite. Sein Herz begann wild zu schlagen, die verwirrten Gefühle schäumten auf. Er wollte nicht darüber sprechen und schon gar nicht jetzt! „Lass mich los!“ Er konnte die Unsicherheit und seine Verletzlichkeit nicht aus seiner Stimme verbannen. Der weinerliche Unterton in dieser zeigte dem Älteren, dass er Recht hatte. Unerwartet zog Noah den Jüngeren an sich und lächelte. „Ich kann dich gerne auf andere Gedanken bringen. So wie ich dich und Seto kenne, habt ihr euch wieder gestritten. Er hat dir etwas vorgeworfen, was dir nicht gepasst hat. So ist es doch immer zwischen euch beiden.“ Doch Mokuba drehte den Kopf zur Schulter, er wollte ihn jetzt nicht ansehen. Es war ein sonderbares Gefühl, so nahe bei ihm zu stehen, die Wärme seiner Hand zu spüren, die ihn noch immer festhielt. Gleichzeitig fühlte er sich schwach, der aufkommenden Verzweiflung nicht gewachsen, die in seiner Brust anschwoll. Scham und Schuld mischten sich in die Erinnerungen, die Noah weckte. Es war so schwer, die aufkommenden Tränen wieder zu unterdrücken und gleichzeitig versuchte er sich nicht zu fragen, auf welche Art ihn Noah auf andere Gedanken bringen wollte.
 

Sanft griff dieser nach dem Kinn Mokubas und drehte dessen Gesicht zu ihm. Ein böses, wissendes Lächeln lag auf den Lippen des 22-Jährigen. „Ach komm, ich kenne euch beide. Was war es? Sollst du nicht immer die Türen knallen, nicht immer so schreien oder war es doch eher eine unwichtige Nebensächlichkeit?“ In Noahs Augen funkelte etwas auf, dass Mokuba einen Schauer über den Rücken jagte. „Außerdem muss ich mich noch für heute Morgen bedanken. Ich hätte nicht gedacht, dass du so stark bist. Oder war es doch eher die Kraft der Verzweiflung?“

Der 17-Jährige spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Ängstlich versuchte er, sich aus dem festen Griff zu befreien und wusste doch, dass er kaum eine Chance hatte. „Noah, du bist unmöglich. Lass mich endlich in Ruhe. Außerdem geht es dich nichts an, worüber ich mich mit Seto gestritten habe.“ Warum musste er auch unbedingt hierher kommen? Für diese Aktionen hasste er seinen großen Bruder wirklich. Aber das Schlimmste an all dem war, dass Noah ihm oft genug aus der Patsche geholfen hatte. Wie oft hatte er sich schon bei ihm ausgeheult, weil Seto ihn wie das Letzte behandelt hatte oder weil er wieder einmal von seinen Mitschülern gedemütigt worden war.

Plötzlich drückte ihn der nur um zehn Zentimeter Größere gegen die Wand. Er hatte mitbekommen, dass Mokuba abwesend wirkte. Als dieser die harte Wand im Rücken spürte, kehrte er ruckartig in die Gegenwart zurück. „Worüber zerbrichst du dir jetzt schon wieder den Kopf?“ Lächelnd schaute er tief in die leicht verschwommenen Augen seines Opfers. Die Tränen konnte Mokuba kaum noch zurückhalten. „DARÜBER, WARUM DU SO EIN IDIOT SEIN MUSST!“ Schrie Mokuba einfach seine Gedanken heraus, ohne über die Folgen nachzudenken. Nun zog sich ein wirklich teuflisches Lächeln über Noahs Lippen.
 

Joey gähnte ausgiebig. Was für ein Morgen, konnte jetzt eigentlich noch etwas schief gehen? „Oh ja, ne Menge!“ Trotz dieser Erkenntnis setzte sich der Blonde lächelnd auf die Bettkante. Aber Kaibas Worte verstand er immer noch nicht ganz. Was bedeutete es, wenn man sich mit dem leibhaftigen Teufel anlegte? Was tat Kaiba, wenn er anderen wie "der Leibhaftige" nachjagte? Und was würde der Kerl mit ihm anstellen, wenn er sich daneben benahm? Würde der Kerl übergriffig werden? Würde er sein gesamtes Leben versauen und dafür sorgen, dass er seine Wohung verlor? Seinen Ausbildungsplatz verlöre? Oder würde der Mann ihn um die... um die Ecke bringen?

Erschrocken schüttelte er den Kopf. Nie im Leben! Wahrscheinlich tat Kaiba all das nur, damit alle anderen glaubten, er wäre der große, böse Mann und in Wahrheit steckte rein gar nichts hinter diesen Worten! Langsam fing der ganze Raum an sich zu drehen und überrascht von diesem Schwindelanfall kniff er die Augen zusammen. Er sollte an andere Dinge denken. An gestern zum Beispiel. Was hatte er denn gestern getan? Ach ja, Tala! „Nein!“ Das Kopfschütteln ließ er diesmal lieber sein. „Nicht auch noch an den!“ Zischte er wütend. Vorsichtig öffnete er eines seiner honigbraunen Augen und schaute sich bedächtig im Raum um, nur um sicher zu gehen, dass er alleine war. Er machte sich echt vor sich selbst lächerlich.

Da der Bondschopf nun sicher war, dass ihn niemand bei diesen peinlichen Selbstgesprächen beobachtet hatte, griff er nach seinen Sachen, die feinsäuberlich neben dem Bett zusammengelegt waren. Während er die zerschlissene Jeans aufschlug, dachte er an seinen komischen Traum. Vielleicht hatte er auch nur eine abgedrehte Phantasie. Immerhin hatte Tala ihm damit gedroht, dass er ihm die Zunge herausschneiden würde. Solche Aussagen konnten sichere auch Albträume heraufbeschwören. Vorsichtig schlüpfte er in die Hose, seine Brust spannte leicht und der rechte Arm fühlte sich von der Spritze noch seltsam taub an.
 

Den dunkelroten Pullover zog er wie gewohnt über, auch wenn er dabei sehr vorsichtig und langsam sein musste. Das Heben der Arme und das Anspannen der Brustmuskulatur war unerwartet schmerzhaft. Erst jetzt bemerkte er den zarten Duft, der von seinen Sachen ausging. Sie mussten alle frisch gewaschen worden sein. Noch immer irritiert hielt er den Saum des Pullovers fest. Gestern hatte er ihn nicht an. Da trug er ein einfaches, weißes Shirt. Das wusste er noch, weil er erst draußen feststellte, dass er zu kalt angezogen war. Das hier konnte also nicht seiner sein. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, dass er überhaupt einen roten Rollkragenpullover besaß. Mit einem Schulterzucken schob er das Ganze zu den vielen Nebensächlichkeiten, die in diesem Hause wie selbstverständlich geschahen und doch von ,normal sterblichen Menschen‘ überhaupt nicht nachzuvollziehen waren. Er griff schon nach dem schwarzen Gürtel, als er verbissen bemerkte, dass sein Schlüsselbund auf dem Nachtschrank neben dem Bett lag. Mit einer schnellen Handbewegung schnappte er danach und stopfte ihn zurück in die Hosentasche. Auch seine abgegriffene Brieftasche wurde an ihren eigentlichen Ort befördert. Das Schulterzucken sollte er sich jedoch für die nächste Zeit abgewöhnen. Er spürte den Schmerz im Rücken und auf der Brust.

Nachdem er seine Socken angezogen hatte, was heute am schwierigsten erschien, ließ er erneut seinen Blick suchend durch das Zimmer schweifen. Wo war denn nur...? Unsicher stand er auf und schaute noch einmal zu dem kleinen Nachtschränkchen. Vielleicht war es heruntergefallen? Vorsichtig ließ er sich auf die Knie sinken und suchte mit seiner rechten Hand den Boden unter dem Bett ab. Nein, hier war es auch nicht, aber wo dann?

Wütende verengten sich seine Augen, nein, DAS konnte Kaiba nicht getan haben. Vieles, aber nicht DAS! Unsicher erhob er sich wieder und schaute sich noch einmal um. Vielleicht sollte er sich doch nicht so sicher sein. Dem Brünetten konnte man allerhand zutrauen.
 

Dann fiel sein Blick auf etwas Ungewöhnliches, das im Regal lag. Verwundert trat er vor das Bücherregal und nahm den weißen Briefumschlag heraus. Wheeler stand in reichlich verschnörkelter Schrift auf dem weißen Papier. Das konnte nur einer geschrieben haben.

Joey konnte fühlen, dass sich etwas Hartes, Kleines in dem Brief befand. Wütend riss er den Umschlag auf und schüttete den Inhalt auf seine Hand. Eine einfache silberne Kette mit einem runden Medaillon und eine kleine Karte kamen zum Vorschein. Erleichtert drückte er die Kette mit dem kleinen Anhänger an sein Herz. Dieser Mistkerl, musste er das tun?

Unsicher warf er einen Blick auf die Karte, die er nun in der anderen Hand hielt.

,Wirklich süß, Familie Köter!‘

Wütend zerknüllte er die kleine Karte und schaute auf. Kaiba! Was fiel diesem Großkotz eigentlich ein? Das würde er ihm noch heimzahlen. Diese Aktion schrie förmlich nach Rache. Ein Grummeln unterbrach seine Rachegedanken und ließ den Blonden verlegen lächeln. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal gegessen? Er sollte erst einmal dieses Problem lösen und sich dann seiner Rache widmen. Es würde ihm schon das Passende einfallen, da war er sich sicher. Ohne weiter darüber nachzudenken, schlüpfte er in die Hausschuhe, die vor dem Bett standen und stürmte zur Tür heraus. Nur kurz hielt er inne, dann nahm er den nächstbesten Gang. Er hatte sowieso keine Ahnung, wo er war, daher verließ er sich ausschließlich auf sein Bauchgefühl. Irgendwann würde er schon jemanden finden, den er nach dem richtigen Weg fragen könnte. Er irrte die vielen Gänge entlang, ohne müde zu werden. Wenn er in einem Geduld hatte, dann war es dieses seltsame Spiel.
 

Während er die Gänge entlang schlenderte, legte er sich die Kette um und ließ sie unter dem Pullover verschwinden. Es war schon verrückt, aber wenn er sich das so überlegte, gab es wirklich Schlimmeres, als hier entlang zu irren. Überrascht horchte er auf. War da nicht eben eine Stimme zu hören gewesen? Na, dann konnte ihm derjenige sicher helfen, die Küche zu finden. Neugierig beschleunigte er seine Schritte und bog um die nächste Ecke.

Angewurzelt blieb er stehen und versuchte das Bild vor ihm zu begreifen. Das war niemand vom Hauspersonal. Er blinzelte. Das konnte jetzt nicht wahr sein. „Mokuba...?“ Die schwarzen schulterlangen Haare waren völlig verstrubbelt. Seine Wangen waren gerötet und in seinen Augenwinkeln sammelten sich die ersten Tränen. Das weiße Hemd war gänzlich aufgeknöpft und aus dem Saum er Hose gezogen. .

Noah hatte sich über seinen kleinen Bruder gebeugt und drückte ihn an die Wand. Mit der einen Hand war er unter dem weißen Hemd verschwunden und zog es noch weiter über die Schulter.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Yui_du_Ma
2021-11-19T21:36:04+00:00 19.11.2021 22:36
Was ist denn da bitte los?
Oh je,...
Mal sehen was da weiter passiert.
Antwort von:  Traumfaengero_-
19.11.2021 23:08
Kann ich mich damit rausreden, dass ich damals noch nicht einmal volljährig war? O.o
Von:  RayDark
2006-04-03T17:45:14+00:00 03.04.2006 19:45
Wieso sind hier eigentlich noch keine Kommentare?
Echt super geschrieben! Wie immer!!!!^^
Mach schnell weiter!!!
Von:  RayDark
2006-04-02T19:47:18+00:00 02.04.2006 21:47
Ich habe gerade keine Zeit ALLES zu lesen.
Bis jetzt find ich es gut, aber ich lese morgen auf jeden Fall weiter!!!


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