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Roter Mond

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Falls sich jemand gewundert hat, wo das letzte Kapitel hin ist: Ich habe die beiden letzten zu einem zusammengefasst. Sorry, falls das zu Verwirrung geführt hat. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hey ihr Lieben!

Eigentlich wollte ich jetzt voll das Vorwort schreiben vonwegen dass ich so lange Pause gemacht habe und wie mich dieses (letzte) Kapitel wahnsinnig gemacht hat, weil ich es nicht nur gefühlt zwölfmal umgeschrieben, gekürzt und überarbeitet habe. Aber ich erspare mir und euch das jetzt und drücke einfach auf "veröffentlichen". Falls ihr was zu meckern habt, wisst ihr ja, wo das Kommentarfeld ist. ^_~
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Grau

Staub bedeckte den Boden unter seinen Füßen. Grauer, feinpudriger Staub. Eine unendliche Ebene, nur begrenzt durch den farblosen Himmel. Wie Wasser. Aber hier gab es kein Wasser. Kein Leben. Nur Staub.
 

Er wandte sich ab von dem Himmel, den er nicht sehen konnte, hinab zum Erdboden, der keiner war. Nichts verriet, wo er sich befand. Wie er hierhergekommen war. Oder warum.

 

Als hätte dieser Gedanke etwas ausgelöst, richtete er den Blick in eine bestimmte Richtung. Ihm war, als hätte er etwas gehört. Ein Aufblitzen gesehen in all dem Grau, das die anderen Eindrücke verschluckte und nur Stille zurückließ. Stille und Staub.

 

Einen Moment noch zögerte er. Harrte aus in all dem Grau, das auch ihn irgendwann verschlucken würde, wenn die Zeit reif genug war. Dann begann er zu laufen.

 

Ein beschissener Anfang

Der Fuß mit dem nietenbeschlagenen Stiefel raste auf Scotts Kopf zu. Erst im letzten Moment wich er aus. Der Tritt traf an seiner statt das korrodierte Eisengeländer, das sich gerade noch in seinem Rücken befunden hatte. Die Konstruktion ächzte unter dem harten Aufprall. Dreck und Rost rieselten von den höheren Ebenen herab. Scott tauchte unter dem Arm des muskelbepackten Riesen hindurch und hob seinen Schocker. Noch bevor er das Gerät zum Einsatz bringen konnte, hatte sich der Koloss mit einer seiner massigen Gestalt spottenden Geschwindigkeit herumgedreht. Eine Faust traf zielsicher Scotts Unterkiefer. Das Schmerzzentrum seines Gehirns meldete augenblicklich dringenden Alarm und eine kleine, rote Lampe vor seinem Auge begann zu blinken.
 

„Warnung! Fehlfunktion der Sauerstoffversorgung. Suchen Sie bitte umgehend einen Servicetechniker auf.“
 

Servicetechniker am Arsch!
 

Mit einem Rückwärtssprung brachte Scott sich außer Reichweite des nächsten Kinnhakens, der ihn mit Sicherheit ausgeknockt hätte. Warum bekam er nur immer die widerspenstigen Scheißkerle?
 

„Gib auf! Du machst es nur schwer für uns beide“, versuchte er noch einmal an die Vernunft des Zwei-Meter-Brutus zu appellieren. Irgendwo in dem von Steroiden und zu viel Bankdrücken geformten Körper mussten sich doch noch ein paar menschliche Regungen verstecken. Angst wäre beispielsweise hilfreich gewesen.
 

Der nächste Schwinger verdeutlichte Scott, dass sein Gegner anderer Meinung war.
 

„Ich schlag dich zu Brei“, knurrte der Riese. Seine Stimme wurde durch die schwarze Atemmaske, die den unteren Teil seines Gesichts bedeckte, deutlich gedämpft. Scott musste an eine geifernde Bulldogge mit einem Maulkorb denken. Nicht, dass er so ein Tier mal in echt gesehen hatte, aber wozu gab es Fernsehen?
 

„Dann nimmst du aber ein paar hart arbeitenden Leuten die Jobs weg“, stichelte er und näherte sich seinem Zielobjekt erneut. Der enge Hinterhof war wirklich ein denkbar ungünstiger Ort für ein Zusammentreffen mit so einer Kampfmaschine. Der Plan, sein Opfer aus dem Hinterhalt zu erwischen, war fehlgeschlagen. Jetzt musste Scott seine Schnelligkeit und Wendigkeit nutzen. Und genau da lag das Problem. Er hatte einfach keinen Platz, um das Riesenbaby müde zu machen. Außerdem sank sein Sauerstoffvorrat von Minute zu Minute, wie die immer noch wild blinkende Anzeige ihm hinreichend verdeutlichte. Eine Lösung musste her und zwar schnell.
 

Sein Blick irrte die dreckigen Wände hinauf. Schwarz gefärbt und schmierig von dem mit Asche und anderen Dingen vermischten Regen. Die Fenster der oberen Etagen waren eingeschlagen. Darunter surrten die Anlagen, die unablässig halbwegs atembare Luft in die Innenräume pumpten. Sie erinnerten Scott an zornige Bienenstöcke. Oder hätten ihn erinnert, wenn es noch Bienen gegeben hätte.
 

Die Idee, eines der Dinger abzureißen und dem Typen auf den Kopf fallen zu lassen, ploppte auf und wurde gleich wieder verworfen. Er war schlichtweg nicht stark genug dafür. Außerdem konnte er nicht fliegen.
 

Die Treppe, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Überbleibsel aus der Zeit, in der drinnen noch größere Gefahren gelauert hatten als draußen. Jetzt vielleicht eine Möglichkeit, ohne gespaltenen Schädel aus dieser Prügelei herauszukommen. Doch zuerst musste er an diesem aufgepumpten Penner vorbei.
 

„Hey, guck mal da!“, rief er und wies mit der Hand nach oben. Der Koloss tat ihm nicht den Gefallen hinzusehen. Stattdessen ballte er erneut die Fäuste und machte einen Ausfall in Scotts Richtung. Der wich aus und entging mit knapper Not einem weiteren Treffer. Jetzt half wirklich nur noch rohe Gewalt. Er senkte den Kopf und zielte damit auf den Bauch des Riesen. Mit einem infernalischen Brüllen rannte er vorwärts, rammte ihn und hatte das Gefühl, gegen eine Mauer gelaufen zu sein. Zwei kolossale Pranken schossen vor und rissen ihn hoch und zurück. Von Schmerzen keine Spur. Zumindest nicht bei dem Riesen.
 

„Du hast dir den Falschen ausgesucht“, knurrte der Gigant, der eigentlich Scotts Auskommen für die nächste Woche hätte werden sollen. Er hatte bei einem seiner Raubzüge ein bisschen zu viel in die eigene Tasche wandern lassen und das hatte seinen Boss so gar nicht erfreut. Also hatte der Scott angerufen und hier waren sie nun.
 

„Weißt du was? Ich mach dir einen Vorschlag“, plapperte Scott, während der Riese ihn weiter zusammenquetschte wie eine leere Getränkedose. „Wir teilen deine Beute einfach. 60 für mich, 40 für dich. Und dafür erzähle ich Margera, dass du in den Fluss gestürzt bist.“
 

„Die Show hast du schon beim letzten abgezogen. Das nimmt er dir nicht ab.“
 

Guter Punkt, musste Scott zugeben. Eventuell war das der Grund, warum er sein Opfer dieses Mal lebend abliefern sollte. Damit der Boss der Snakeheads ihn selbst um die Ecke bringen konnte.
 

„Ich dachte, ich biete es dir trotzdem an. Aber wenn du nicht willst …“
 

Mit diesen Worten hob Scott den Schocker und presste ihn dem Schläger an die Kehle.
 

Mehrere hunderttausend Volt jagten von den Kontaktelektroden in den Körper des Kolosses. Dessen Augen verdrehten sich und sein Körper begann unter unkontrollierbaren Krämpfen zu zucken. Infolgedessen rutschte Scott ihm aus den Händen und landete wieder auf seinen Füßen. Den Schocker ließ er trotzdem nicht los. Unablässig pumpte das Gerät Elektrizität in die massigen Muskeln seines Gegners und ließ ihn tanzen wie eine hilflose Puppe. Erst, als Scott sicher war, dass er ihn erledigt hatte, nahm er den Finger vom Abzug. Das blaue Glühen erlosch, die Krämpfe stoppten und die Faust des Riesen schoss nach vorn. Sie beförderte Scott einen guten halben Meter durch die Luft, bevor er hart auf dem Boden aufschlug.
 

Scheiße!, schoss es ihm durch den Kopf, während der Schläger schon wieder näherkam. Viel zu schnell näherkam. Scotts benebelter Geist konnte nicht schnell genug reagieren. Er wurde hochgezogen und landete mit dem Rücken an einer Mauer. Schmerz schoss erneut durch sein Nervensystem. Mehrere Stellen merkten an, dass sie seiner Aufmerksamkeit bedurften und kurz vor dem Kollaps standen.
 

„Jetzt hab ich dich“, knurrte der Riese und seine Pranken schlossen sich wie pneumatische Schraubstöcke um Scotts Hals. Fast erwartete er, die Knochen seines Genicks auseinander schnappen zu hören, doch das Geräusch blieb aus. Stattdessen wurde seine Luftröhre eng und enger, als der Riese noch fester zudrückte. Dessen Augen waren rot gerändert und von geplatzten Adern durchzogen. Blutige Bälle inmitten eines grobschlächtigen Gesichts. Eine Schönheit war der Typ mit der schwarzen Maske nun wirklich nicht.
 

Die Maske!
 

Bunte Punkte begannen vor Scotts Augen zu tanzen. Sein Kopf drehte sich. So langsam brauchte er wirklich wieder Luft. Seine Hände, die er automatisch in die Unterarme des Kolosses gekrallt hatte, um sie von seinem Hals zu ziehen, begannen zu kribbeln. Seine Kraft schwand. Nur noch wenige Augenblicke und er würde ohnmächtig zusammenbrechen. Jetzt blieb ihm nur noch ein Ausweg.
 

Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, ließ Scott sein Knie zwischen die Beine seines Gegners schnellen. Sehnenummantelte Knochen trafen auf weiches Gewebe und selbst durch die Maske konnte er den weinerlichen Quieklaut vernehmen, den der andere Mann von sich gab. Ehe er sich von seinem Schock erholen konnte, hatte Scott zugegriffen und seine Finger im Ventil der Atemmaske verhakt. Ein kräftiger Ruck und das Mundstück glitt zwischen den Zähnen seines Gegners hervor. Die Neoprenschnüre die die Maske an Ort und Stelle halten sollten, schnitten vermutlich schmerzhaft in die Ohren des Riesen ein, doch Scott kümmerte sich nicht darum. Wenn er eines von ihnen abriss, umso besser. Noch einmal riss er den Fuß hoch, der andere Mann zuckte zurück. Scott nutzte den gewonnenen Platz, um seine Beine zwischen sich und den massigen Leib zu schieben und ihn von sich fort zu katapultieren. Wieder landete er auf dem Boden, vollführte eine Rolle, kam aus der Bewegung heraus auf die Füße und sprintete in Richtung Treppe. In seiner Hand die Maske des Riesen.
 

„Komm zurück!“, japste der. Trotz der Schmerzen, die er vermutlich immer noch hatte, stieß er einen wütenden Schrei aus und setzte Scott nach. Der erreichte das untere Ende der Feuertreppe. In Windeseile hangelte er sich an der Außenseite der Stahlkonstruktion nach oben. Etwas Schweres ließ das Gebilde erzittern. Erneut rieselten die Zeichen des Verfalls auf Scott hinab und er verlor beinahe den Halt, als die Treppe wieder und wieder unter den Schlägen des massigen Mannes erzitterte. Plötzlich hörten die Schläge auf. Dafür konnte Scott ein gequältes Knarren hören. Der Riese hatte begonnen, ebenfalls nach oben zu klettern.
 

Fuck!
 

Schon löste sich eine der Verankerungen mit einem fast schon beiläufigen Pling aus der Wand, dann noch eine. Alles um Scott herum zitterte und schwankte. Hinter ihm schnaufte die Kampfmaschine auf ihrem Weg nach oben. Noch eine der uralten Schrauben löste sich und die Feuertreppe begann sich nach hinten zu neigen.
 

Der wird uns noch beide umbringen.
 

Scott erlaubte sich einen Blick nach unten. Ohne Maske war der Typ noch hässlicher. Seine ungesunde, teigige Gesichtsfarbe hatte sich mittlerweile in Richtung rötliches Blau verschoben. Er röchelte und prustete, aber der pure Überlebenswille und die Wut ließen ihn weiterklettern. Schon trennte ihn nur noch ein Stockwerk von Scotts Füßen. Das gepeinigte Metall unter Scotts Fingern kreischte und sang. Es war nur eine Frage der Zeit, bis hier alles zusammenbrach.
 

Scotts Blick schoss nach oben. Noch drei Stockwerke bis zum Dach. Das würde er nicht schaffen.
 

„Sauerstoffniveau bei 1%. Begeben Sie sich umgehend zu einem Servicetechniker.“
 

Scott hätte beinahe gelacht. Wenn die Lady das sagte, dann würde er das wohl tun müssen. Mit einem letzten Stoßgebet in Richtung der großen Metallhand im Himmel, holte Scott noch einmal tief Luft und ließ sich fallen.
 

Der massige Leib des Riesen tauchte vor ihm auf. Blitzschnell griff Scott zu, schlang einen Arm um den Hals seines Widersachers und benutzte die zweite Hand, um seinen Griff zu festigen. Sein Körpergewicht gab ihm zusätzlichen Druck. Der Koloss röchelte. Seine Bewegungen wurden fahrig. Unkontrolliert. Er verfehlte die nächste Metallstange und griff ins Leere.
 

Na komm schon!
 

Erneut warf Scott sich mit vollem Gewicht nach hinten und verstärkte das Ganze noch mit einem Tritt gegen das Geländer. Das Metall dröhnte unter seinen Füßen. Endlich gab der Riese nach.
 

Sein massiger Körper neigte sich für einen ungläubigen Moment dem Boden entgegen, so als zögerte er, der Schwerkraft zu folgen, doch dann siegten endgültig die Naturgesetze. Er und Scott stürzten gemeinsam in die Tiefe.
 

Noch im Flug warf Scott sich herum. Er hatte nur Bruchteile von Sekunden, um sein improvisiertes Landekissen unter sich zu bringen. Aber wie durch ein Wunder schaffte er es tatsächlich, den Dicken mit dem Bauch nach unten zu drehen. Im nächsten Moment trieb die Wucht des Aufpralls Scott die letzte Luft aus seinen Lungen. Ihm wurde schwarz vor Augen und er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, aber dann kickte erneut das Adrenalin. Er riss sich von dem Koloss los und sprang ein Stück von ihm weg. Die Fäuste gehoben musterte er den Mann, der vor ihm am Boden lag und sich nicht mehr rührte. Scotts Herz hämmerte in seinen Ohren. Wieder zog Schwärze heran.
 

„Sauerstoffvorrat aufgebraucht. Bitte beehren Sie uns bald wieder.“
 

Mit diesen Worten erlosch das rote Licht und Scotts Atemmaske schaltete sich ab.
 

„Fuck!“
 

Fluchend zerrte Scott das nutzlos gewordene Ding von seinem Gesicht. Sein Blick irrte durch den dreckigen Hinterhof. Direkt vor ihm war eine Tür, die ins Innere des Hauses führte. Stahl, vermutlich ziemlich dick. Kein Schlüsselloch, keine Klinke. Um dort hineinzukommen hätte er einen Schneidbrenner gebraucht. Das und mehrere Minuten. Beides hatte Scott nicht. Ihm musste was einfallen.
 

Plötzlich wurde er sich der Maske bewusst, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Das Mundstück war schon reichlich zerbissen und stank nach saurem Speichel. Wenigstens bildete Scott sich ein, dass es das tat.
 

„Scheiß drauf!“
 

Er schob sich das Ding zwischen die Zähne und drückte den Rest über Mund und Nase fest. Gierig nahm er einen tiefen Atemzug und dann noch einen. Fast augenblicklich wich das beklemmende Gefühl in seinem Brustkorb. Die Erinnerung daran, dass er dem Schläger gerade einen indirekten Zungenkuss gab, verdrängte er lieber.
 

Der soll mal Zahnseide benutzen, murmelte er in Gedanken, bevor er seine Optionen durchging. Den Typen hier liegen zu lassen und zu warten, dass ihn jemand abholte, konnte Scott knicken. Bis dahin war er längst erstickt. Blieb also nur, Zuflucht in einem der weniger gesicherten Gebäude zu suchen.
 

„Dann mach dich mal nicht so schwer, Dickerchen“, raunte er dem Bewusstlosen zu, bevor er ihn unter den Achseln packte und sich daran machte, ihn in Sicherheit zu schleifen.
 

Auf der Straße war niemand zu sehen, die meisten Häuser standen leer. Die, die es nicht taten, waren verrammelt und verriegelt. Erst zwei Häuserblocks weiter fand Scott endlich eine Tür, die einigermaßen einladend aussah. Entschieden drückte er einen der Klingelknöpfe.
 

Ach, was soll der Geiz?
 

Er betätigte alle Knöpfe, was zu einem wütenden Crescendo von Stimmen führte, das ihm aus dem Lautsprecher neben der Tür entgegenschallte. Die Kamera war zum Glück abgerissen worden.
 

„Pizza für Nummer 12“, behauptete er und zog die Augenbrauen nach oben, als er tatsächlich den Türsummer hörte. Dummheit war anscheinend im Gegensatz zu vielem anderen immer noch nicht ausgestorben.
 

Mir egal, Hauptsache der Sack nippelt mir nicht ab.
 

Scott schob die Tür nach innen und war nicht erstaunt, drinnen eine zweite Tür zu finden. Es war eine Standard-Luftschleuse, die jedoch ihren Zweck mehr schlecht als recht erfüllte. Scott fühlte den Luftstrom, der über sein Gesicht strich.
 

Soll mir recht sein.
 

Erneut packte er seine Beute unter den Schultern und schleifte den schier Tonnen wiegenden Körper durch die Tür nach drinnen. Es war wirklich immer wieder erstaunlich, wie viel schwerer die Leute wurden, wenn sie nicht bei Bewusstsein waren. Scotts Rücken protestierte und so langsam meldeten auch die restlichen Bereiche seines Körpers wieder Behandlungsbedarf an. Er hatte sich die Hände aufgeschürft, blaue Flecke überall, sein Kinn fühlte sich an, als hätte es einen Beinahebruch hinter sich, und mindestens ein oder zwei Rippen waren mit Sicherheit geprellt. Das würde eine unangenehme Nacht werden. Aber immerhin spürte er noch etwas. Er wusste, dass andere sich durch den ständigen Gebrauch von Schmerzmitteln bereits ins sensorische Nirwana geschossen hatten. Es ging zwar nichts über anständige Drogen, aber wie mit allen guten Dingen sollte man es eben nicht übertreiben.
 

„Ah, fuck!“
 

Der Fuß des Bewusstlosen hatte sich in der sich schließenden Tür verhakt und hinderte ihn am Weiterkommen. Er ruckte und ruckte, aber die hermetische Schleuse hatte offenbar beschlossen, ein Arschloch zu sein. Sie gab Scotts Beute nicht frei und verlangte hartnäckig ihren Anteil.
 

„Fick dich!“, raunte Scott an dem Mundstück vorbei, ließ den Oberkörper des Mannes auf den Boden knallen und versetzte seinem Bein einen herzhaften Tritt. Der Fuß löste sich und die Tür schloss sich mit einem sanften Zischen. Danach wurde es dunkel.
 

„Herrlich. Ja, wirklich. Was denn noch?“
 

Mit der Faust malträtierte Scott den Lichtknopf neben dem Eingang und schrak zusammen, als das Licht wieder anging. Auf der Treppe stand ein Kind. Und starrte ihn an.
 

Scott war sich nicht sicher, ob es sich bei der dürren, in undefinierbares Grau gehüllten Gestalt um einen Jungen oder ein Mädchen handelte. Vermutlich letzteres, denn irgendwer hatte die blonden Fusseln, die aus seinem grindigen Kopf sprossen, oben zu einem Pinsel zusammengebunden. Außerdem hielt es ein Springseil in der Hand, an dessen Ende ein rosarotes Holztier bereits zwei von zwei Ohren eingebüßt hatte. Vermutlich war das irgendwann mal ein Hase gewesen. Zu Zeiten von Scotts Großmutter vielleicht.
 

„Hey, Kleine“, versuchte sich Scott an einem Gespräch. Das dazu gehörende Lächeln wurde von dem schwarzen Mundstück verschluckt. Er wusste schon, warum er normalerweise leichtere Modelle bevorzugte, auch wenn die anfälliger waren. Kurzentschlossen nahm er die Maske ab. Sofort stieg ihm ein durchdringender Schimmelgeruch in die Nase. Dazwischen das Aroma von ungewaschenen Körpern. Diese beißende Mischung aus vergorenem Schweiß und ranzigem Talg, die sich wie ein öliger Film auf seine Nasenschleimhäute legte. Scott kannte ihn zur Genüge. Fast die ganze Stadt roch so. Zumindest der Teil, in dem er lebte.
 

„Ist er tot?“
 

Die Kleine fragte das bar jeglicher Neugier. Ihre braunen Augen – oder war das Blau? Schlammgrün? Lila? - zeigten keinerlei Regung.
 

„Nein. Nein, er lebt noch.“
 

Jetzt kam Bewegung in die kindlichen Züge. Sie verzogen sich zu einem Naserümpfen.
 

„Scheiße“, fluchte die Kleine, die vielleicht fünf Jahre alt sein mochte. Sie kratzte sich mit dem rechten Fuß an ihrer linken Wade.
 

„Murkst du ihn jetzt ab?“
 

Scott schüttelte den Kopf.
 

„Nein. Jetzt rufe ich jemand an, der ihn abholen kommt.“

„Wen?“
 

Scott zog es vor, die Frage nicht zu beantworten. Je nachdem, in welchem Viertel er sich befand, konnte das zu Problemen führen. Vermutlich war er noch im Gebiet der Snakeheads, aber wenn er sich bei der Suche nach einem sicheren Unterschlupf zu weit nach Süden verirrt hatte … lieber nicht darüber nachdenken.
 

Er zog seinen Kommunikator und drückte eine Taste. Es klingelte. Man hätte denken können, dass irgendwer dieses vorsintflutliche System mal revolutioniert hatte, aber möglicherweise war das hinter der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung, Wasser und Sauerstoff irgendwie hintenüber gefallen. Anders konnte Scott sich nicht erklären, dass man immer noch von den mehr als maroden Sendetürmen abhängig war, wenn man jemanden innerhalb der Stadt erreichen würde. Für eine Stadt-zu-Stadt-Kommunikation gab es angeblich Möglichkeiten in den Nordbezirken, aber Scott war noch nie dort gewesen. Leute wie er gingen nicht in die Nordstadt.
 

„Ja“, meldete sich eine Stimme am anderen Ende.
 

„McKenzie hier. Ich hab Pecares.“

„Wo?“
 

Scott hielt die Hand über den Kommunikator und wandte sich wieder an das Mädchen, das den Bewusstlosen immer noch musterte wie ein gefrässiges, kleines Tierchen. Bei der kleinsten Bewegung würde es vermutlich eine unheimliche Anzahl an Zähnen entblößen. Scott hatte so was im Fernsehen gesehen. Am Ende hatte niemand überlebt.
 

„Hey, Sweetie, wo sind wir hier?“
 

Die Kleine blinzelte ihn an.
 

„Zu Hause?“
 

Scotts Lächeln schwankte fast gar nicht.
 

„Ja, das ist toll. Und wo ist dein Zuhause?“

„Na hier.“
 

Oh ja, sehr hilfreich.
 

Scott wandte sich wieder dem Kommunikator zu.
 

„Tracked einfach den Anruf.“
 

Er legte auf, bevor der Kerl am anderen Ende der Leitung etwas erwidern konnte. Scott musste sich keine Sorgen machen, dass sie kommen würden. Wenn Margera etwas wollte, dann bekam er es auch. Egal, was es kostete. Die Frage war nur, was es Scott kosten würde.
 

Als hätte der Dicke seine Gedanken gelesen, begann er sich langsam wieder zu regen. Die Luft, die zwar stank, aber immerhin Sauerstoff enthielt, hatte ihn wohl wieder zur Kräften kommen lassen. Automatisch griff Scott nach seinem Gürtel und erstarrte. Die Tasche. Die Tasche mit den Handschellen und dem ganzen anderen Kram. Sie war weg!
 

„Fuck! Fuckfuckfuckfuckfuck!“
 

Scott trat vor Wut gegen eine der dreckigen Wände. Der schwarze Streifen, den sein Stiefel hinterließ, stellte definitiv eine Verbesserung dar. Trotzdem hatte er immer noch ein Riesenproblem. Wenn er nicht wollte, dass er die Wartezeit bis zum Auftauchen von Margeras Bande damit verbrachte, Schlägen auszuweichen, würde er sich etwas einfallen lassen müssen.
 

Warum hab ich diesen Auftrag nur angenommen?, fragte Scott sich heute bestimmt schon zum siebenunddreißigsten Mal. Aber er wusste warum. Er brauchte Geld. Aber das würde er nicht bekommen, wenn der Penner ihm entkam. Oder ihn umbrachte.
 

Dreimal verfluchter Scheißdreck!
 

Ohne sie wirklich zu sehen, starrte Scott nach oben auf die funzelige Deckenleuchte und hoffte, dass ihm von dort eine Erleuchtung kam. In seinem Rücken hörte er ein Schnüffeln.
 

„Hey, weg da! Der ist noch nicht tot.“
 

Fast erwartete er, dass die kleine Göre ihn anfauchen würde, aber sie sah ihn nur aus großen, dunklen Augen an. Ihre Hand umklammerte immer noch das Holzhäschen. Scotts Augen wurden schmal.
 

„Sag mal, wie viel willst du für das Seil haben?“
 

Das Kind starrte ihn erst noch einige Augenblicke lang an, bevor es langsam den Blick auf sein Springseil senkte. Es runzelte die Stirn und dann breitete sich endlich Verstehen zwischen den Dreckflecken auf seinem Gesicht aus.
 

„Wie viel willst du ausgeben?“
 

Scott fluchte innerlich. Unauffällig schielte er auf sein Armband. Der letzte Strich war schon angebrochen. Tiefrot. Für den Dicken hier würde er volle vier Striche bekommen. Genug, um über die nächsten zwei Wochen zu kommen. Wenn er sparsam war.
 

„Wie wär’s mit nem Drittel Strich?“, fragte er. „Immerhin hat dein Häschen keine Ohren mehr.“
 

Die Kleine legte ihre Stirn in Falten.
 

„Ich will zwei“, sagte sie entschlossen.
 

„Zwei Striche? Willst du mich verarschen?“

„Dann such dir doch was anderes, um den Kerl zu fesseln.“
 

Giftige, kleine Kröte.
 

„Ich hab keine zwei Striche mehr.“

„Dann besorg welche.“
 

Scott verdrehte die Augen. Wie war er doch froh, dass er vermutlich nie Kinder bekommen würde. Genetische Degeneration hatte eben auch gute Seiten.
 

„Das kann ich aber nicht, wenn Mister Muffin hier aufwacht und mich zu Brei schlägt. Also such dir was anderes aus.“
 

Die Kleine schob ihre Unterlippe vor. „Dann will ich seine Schuhe.“
 

Ein dreckiger Zeigefinger zeigte auf die tatsächlich fast neuen Stiefel von Scotts Opfer. Sie mussten ein kleines Vermögen gekostet haben.
 

„Aber die passen dir doch gar nicht.“

„Ja, aber wenn ich sie meinem Papa gebe, kauft er mir vielleicht den nächsten Teil von Dreamland. Den mit den Einhörnern.“
 

Oha, die Kleine weiß, was sie will.
 

„Schön, du bekommst die Schuhe.“
 

Ein Grinsen bemächtigte sich des spitzen Gesichtchens und Scott machte sich seufzend daran, dem Riesen um seine Habe zu erleichtern. Kurz darauf wechselten Schuhwerk und Springseil den Besitzer.
 

„Pass auf, dass du nicht hinfällst“, rief Scott dem Mädchen nach, das mit den Schuhen an den Füßen den Hausflur entlang stiefelte. Sie zeigte ihm den Mittelfinger. Scott verbiss sich einen Kommentar. Er schüttelte nur den Kopf, während er den letzten Knoten des Seils festzog. Nach einer kurzen Überlegung erleichterte er den Schläger auch noch um eine seiner Socken und stopfte sie ihm in den Mund. Sicher war sicher.
 

„Na los, Kleine, schwirr ab. Hier wird’s gleich ungemütlich.“

„Wieso?“

„Weil gleich ein paar nicht so nette Männer kommen.“

„Wieso?“

„Weil ich sie angerufen habe.“

„Wieso?“

„Weil …. ach fuck, nun verpiss dich endlich.“

„Verpiss du dich doch.“
 

Scott wollte gerade zu einer geharnischten Antwort ansetzen, als es plötzlich laut und vernehmlich an der Vordertür klopfte.
 

„Scheißelektromotoren“, knurrte Scott und ging zur Luftschleuse, um Margeras Männer hereinzulassen. Emile, die schleimige Nummer Zwei der Snakeheads, war persönlich gekommen, um Scotts Beute in Empfang zu nehmen. Mit ihm zusammen kamen drei bis an die Zähne bewaffnete Schergen, die sich nicht einmal die Mühe machten, ihre Masken abzunehmen.
 

Arrogante Wichser!
 

„So sieht man sich wieder, McKenzie“, begrüßte Emile ihn mit einem breiten Lächeln. Das und der alberne Kinnbart, den er sich immer stehen ließ, erweckten in Scott das tiefe Bedürfnis, ihm eine reinzuhauen.
 

„Emile“, presste er zwischen den Zähnen hervor.
 

Das Lächeln seines Gegenübers wurde breiter.
 

„Was denn? Bist du immer noch sauer, dass ich Margera gesteckt habe, dass du ihn über den Tisch gezogen hast?“

„Ich habe ihn nicht über den Tisch gezogen.“

„Du hast behauptet, Varinsky wäre tot.“

„War er ja auch. So gut wie, jedenfalls.“
 

Emile brach in meckerndes Gelächter aus.
 

„Siehst du, das mag ich so an dir. Du gibst niemals auf.“
 

Scotts Kiefer mahlten unablässig.
 

„Hör auf Sauerstoff zu verschwenden. Ich hab Pecares erwischt, also gib mir mein Geld.“
 

Emile, der erst jetzt Scotts Gefangenen bemerkt zu haben schien, runzelte die Stirn.
 

„Ist das alles? Wo ist die Ware?“

„Welche Ware?“
 

Scott hatte keine Ahnung, wovon Emile sprach. Der sah ihn an wie etwas besonders Widerwärtiges, das an seinem Gamaschenschuh klebengeblieben war.
 

„Na die Ware, die du wiederbeschaffen solltest. Der Deal lautete, dass du uns beides bringst. Pecares und das, was er dem Boss geklaut hat.“
 

Scotts Hand zuckte in Richtung des Messers in seinem Stiefel. Wenn es nach ihm gegangen wäre, läge Emile jetzt mit aufgeschlitzter Kehle im Dreck und er wäre längst auf dem Heimweg. Allerdings waren da immer noch die drei Gorillas mit ihren Kanonen.
 

„Mir hat niemand etwas von Ware erzählt. Aber wenn es so wichtig ist, dann fragt ihn doch selbst.“
 

Der Riese, der gerade wieder zu Bewusstsein gekommen war, öffnete mühsam blinzelnd die Augen. Vermutlich hatte er die Kopfschmerzen seines Lebens. Zusammen mit der Socke im Mund und der Tatsache, dass er mit einem rosa Häschen-Springseil gefesselt war, wirklich nichts, was Scott jemandem wünschte.
 

„Also los, gib mir mein Geld, dann verschwinde ich und ihr könnt mit ihm machen, was ihr wollt.“
 

Emile warf Scott einen Blick zu, der wohl in etwa „Du bewegst dich auf ganz dünnem Eis“ bedeuten sollte. Dann zog er eine Waffe und pustete Pecares den Kopf weg.
 

Scott zuckte zusammen, als der Schädel des Riesen plötzlich explodierte. Blut und Gehirnmasse spritzten in einem Schauer von Knochensplittern durch die Gegend und gaben der Wand einen neuen Anstrich.
 

„Fuck!“
 

Der Fluch war Scott über die Lippen gerutscht, bevor er auch nur darüber nachgedacht hatte. Sein Blick klebte an der Blutlache an der Wand.
 

„Sag mal, hast du sie noch alle? Hier sind Kinder anwesend.“
 

Emile, der die Kleine mit den Riesenstiefeln erst jetzt zu bemerken schien, schob die Mundwinkel nach oben.
 

„Na, Kleine. Hast du gesehen, was mit Leuten passiert, die sich nicht an die Regeln halten?“
 

Das Mädchen, deren grauer Kittel jetzt von oben bis unten mit Blutsprenkeln garniert war, nickte langsam. Dann rieb sie sich einen der roten Tropfen von der Nase und fragte: „Krieg ich jetzt auch noch seine Hose?“
 

Während Emile erneut in Gelächter ausbrach und die Hand hob, um seinen Männern ein Zeichen zu geben, dass sie abrücken konnten, kam Bewegung in Scott. Er fasste Emile an der Schulter.
 

„Hey! Was ist mit meinem Geld?“
 

Emiles Augenbraue wanderte nach oben und Scott beeilte sich, ihn loszulassen. Das Gesicht des rattengesichtigen Ganoven wurde verschlagen.
 

„Liefer die Ware, dann bekommst du dein Geld.“
 

Scott bemühte sich, sein Gesicht unter Kontrolle zu halten. Wenn er nicht aufpasste, würde Emile ihn vielleicht auch in den Äther schicken.
 

„Ich brauch aber was“, zischte er und hoffte, dass die anderen es nicht hören würden. „Ich …“
 

Er musste nicht mehr sagen. Emiles Blick war bereits zu dem Armband an Scotts Handgelenk gewandert.
 

„Na schön“, sagte er und hob seinen eigenen Arm „Ich geb dir was. Du bekommst einen Strich. Den Rest, wenn du ablieferst.“
 

Scotts Mund wurde trocken. Er fühlte das bekannte Ziehen und das Verlangen, seine Hand um einen Flaschenhals zu legen. Das erleichternde Gefühl, wenn der erste, scharfe Tropfen die Kehle hinabrann und die Welt in ein weicheres Licht getaucht wurde.
 

„Zwei“, verlangte er. „Ich hab Ausgaben. Pecares hat meine Maske zerstört.“
 

Wieder lächelte Emile.
 

„Aber du hast doch jetzt seine.“
 

Damit drehte er sich um und ließ Scott allein zurück. Der stand in dem nach Blut und Exkrementen stinkenden Hausflur und konnte nicht glauben, dass er diesen ganzen Scheiß gerade wirklich erlebt hatte. Die hatten ihn knallhart abgezogen. Und er hatte es einfach so geschehen lassen.
 

„Arschloch“, knurrte er, bevor er sich mit einem letzten Blick auf sein Armband anschickte, die Szenerie ebenfalls zu verlassen.
 

Hinter ihm hörte er, wie die Türen im Haus geöffnet wurden. Der Aufmarsch der Snakeheads hatte Zuschauer angelockt. Scott war sich sicher, dass sie sich des Leichnams annehmen würden. In ein paar Stunden war von Pecares vermutlich nur noch der Gestank und der Fleck auf dem Fußboden übrig. In dieser Stadt wurde selten etwas verschwendet. Am allerwenigsten, wenn es sich irgendwie zu Geld machen ließ.

Ungebetene Gäste

Missmutig starrte Scott in das Glas, auf dessen Boden sich der Rest einer bräunlichen Flüssigkeit befand. Worum genau es sich handelte, konnte er nicht sagen. In Filmen wurde in solchen Gläsern immer Whiskey, Scotch oder Bourbon serviert. Doch was immer es war, das die Bar unter dem Namen „Hollow“ verkaufte, es war sicherlich keine der genannten Spirituosen. Wenn er hätte raten müssen, hätte er getippt, dass sie das Zeug direkt aus den Raffinerien hierher lieferten, um es wahlweise in irgendwelche Turbinen oder in Schnapsflaschen zu füllen. Schlecht genug schmeckte es jedenfalls.
 

Er atmete noch einmal tief ein, bevor er den Rest des Drinks in einem Zug hinunterkippte. Ein brennender, fast schon bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus und der Nebel in seinem Kopf zog sich noch ein wenig weiter zusammen. Leider wurde er nicht dicht genug, um Scott vergessen zu lassen.
 

Scheiße!
 

Ein dumpfes Klonk ertönte, als er das Glas ein wenig zu heftig zurück auf die Theke stellte. Genau wie das restliche Mobiliar erweckte auch sie nur den Anschein, aus Holz zu bestehen. Vermutlich befand sich unter der oberflächlichen Maserierung irgendein Kunststoff. Es sah aus wie echt, aber es war es nicht. Wie so vieles in Scotts Leben.
 

„Noch einen?“
 

Der Barkeeper, ein hagerer Typ mit stechenden Augen und dem Flair eines Totengräbers, hielt eine Flasche in Scotts Richtung. Darin schwappte das braune Vergessen. Scotts Blick wanderte zu seinem Armband. Er hatte den Strich, den er heute verdient hatte, schon fast zur Hälfte ausgegeben. Das hieß, dass er sein Limit bereits weit überschritten hatte. Aber die Aussicht, sich noch ein bisschen tiefer in die weiche Umarmung des Alkohols sinken zu lassen, war so verlockend.
 

„Nein, danke“ antwortete er, bevor die Versuchung zu groß wurde. „Ich nehm nur noch ein Bier.“
 

Auch dieses Getränk verdiente seinen Namen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Scott hatte keine Ahnung, was gerade wirklich seine Kehle hinabrann, aber er hatte gelernt, sich nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen. Denn genau das war sein verdammtes Problem. Er dachte zu viel nach. Zum Beispiel darüber, wie er an das Geld kommen konnte, das Emile ihm in Aussicht gestellt hatte. Im Grunde war Scott sich sicher, dass es nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war. Eine von Emiles Ideen, wie er Scott um seine hart verdiente Bezahlung bringen konnte. Und doch … Irgendwas an dem Ganzen ließ ihm keine Ruhe.
 

Warum hat er Pecares einfach erschossen, statt ihn zu befragen? Warum hat er ihn nicht durchsucht? Was übersehe ich?
 

Um sich abzulenken, schaute Scott in der Bar umher. Die von vergilbten Neonröhren und bunten Leuchtreklamen erhellte Spelunke, bildete eine fast schon beruhigend unruhige Geräuschkulisse. Ein paar Gäste amüsierten sich damit, mit imaginären Pfeilen auf eine elektronische Dartscheibe zu zielen. Andere spielten Pool und das animierte Klacken der holographischen Kugeln mischte sich unter die Gespräche, die sich um Drogen, Frauen und die verdammte Ungerechtigkeit des Seins drehte. Zumindest vermutete Scott, dass sie das taten. Vielleicht lag das aber auch an dem Rapsong, der gerade aus den Boxen dröhnte. Ärgerliche Lyrics, die sich in Scotts Gehirn fraßen wie der Alkohol.
 

Du bekommst nur einen Versuch, verpass nicht deine Chance …“
 

Scott schüttelte unmerklich den Kopf. Als wenn irgendjemand hier auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass keiner von ihnen hier jemals rauskam. Niemals. Sie saßen hier ebenso fest wie er. Ein namenloser Trinker, der mit seinem Platz am Ende der Bar mehr als deutlich gemacht hatte, dass er keine Gesellschaft wünschte. Es war erbärmlich, ganz ohne überraschende Pointe.
 

Das Zischen der Luftschleuse ließ Scott aufsehen. Jemand hatte die Bar betreten und Scotts innere Alarmglocken begannen sofort zu läuten. Der Typ, der ein wenig unschlüssig an der Tür herumstand, stank. Scott konnte es förmlich riechen. Da war etwas an seiner Kleidung, seiner Art sich zu bewegen, das dafür sorgte, dass sich Scotts Nackenhaare aufrichteten. Auf den ersten Blick wirkte er wie irgendein Kerl von der Straße. Wenn man jedoch genauer hinsah, bemerkte man, dass ihm seine Sachen nicht wirklich passten. Sie waren zu groß, die Ärmel und Hosenbeine umgeschlagen, die Jacke schlotterte um seinen Leib. Das alles hätte Scott noch nicht stutzig gemacht, wenn die Sachen nicht tadellos in Schuss gewesen wären. Sauber. Zu sauber für jemanden, der aus den Baracken kam.
 

Es passt nicht zusammen, konstatierte Scott und versuchte das lästige Jucken, das ihm diese Tatsache im Gehirn verursachte, geflissentlich zu ignorieren. Doch jetzt, wo er es bemerkt hatte, war es, als hätte jemand einen dicken, roten Neonpfeil aufgestellt. Es kam einfach nicht daran vorbei.
 

Wider besseres Wissen folgte Scott dem Fremden mit den Augen. Da war noch mehr, was ihn auffällig machte, auch wenn die restlichen Besucher der Bar sich nicht um ihn kümmerten. Er sah sich oft um; aber nicht so, als würde er jemanden suchen, sondern auf die Art, mit der man nach Verfolgern Ausschau hielt. Für diese Theorie sprach auch, dass er die Kapuze der grauen Trainingsjacke immer noch nicht abgelegt hatte, ebenso wenig wie die schwarze Atemmaske, die sein halbes Gesicht bedeckte. Das Ding war hier drinnen nicht notwendig und sie weiter aufzubehalten, war somit Verschwendung von teurem Sauerstoff.
 

Es sei denn, sie dient dazu, ihn unkenntlich zu machen.
 

Als hätte der Kerl ihn gehört, blickte er in diesem Moment genau in Scotts Richtung. Sofort senkte Scott den Kopf. Wer immer da reingekommen war, hatte Dreck am Stecken, und er hatte nicht vor, sich etwas davon mehr aufzuhalsen. Sein Beruf sorgte ohnehin dafür, dass er fast immer mit dem Rücken zur Wand schlief. Die Probleme von anderen Leuten konnten ihm da gefälligst gestohlen bleiben.
 

Ein Barhocker in der Nähe wurde bewegt und jemand setzte sich darauf. Scott musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass es die Kapuze war.
 

Verpiss dich!, dachte er so laut er konnte.

 

Aber der Kerl tat ihm den Gefallen nicht. Stattdessen kam der Barkeeper auf ihn zu.
 

„Was willst du?“
 

Der Fremde erstarrte für einen Augenblick und Scott verdrehte innerlich die Augen. Noch auffälliger konnte man sich wohl kaum verhalten. Wenigstens schien dem Schwachkopf jetzt aufgegangen zu sein, dass er mit der Maske nichts trinken konnte. Er nahm sie ab, sein Gesicht blieb jedoch weiterhin im Schatten. Mit leiser Stimme bestellte er etwas, das dem Barkeeper ein Schnauben entlockte.
 

„So was ham wir hier nicht. Willst du Bier oder Schnaps? Hast die Wahl.“
 

Die braune Flasche, die der Barkeeper kurz darauf vor dem Neuling absetzte, machte seine Wahl auch für Scott ersichtlich. Der Typ griff sogar danach und führte sie zum Mund. Die Art, wie sein Kopf im nächsten Moment zurückzuckte, ließ auf Ekel schließen.
 

Idiot!

 

Scott wandte sich wieder seinem eigenen Bier zu. Wenn er schlau war, sah er zu, dass er hier wegkam, bevor der Kerl sich in Schwierigkeiten brachte. Denn das er das tun würde, stand außer Frage.
 

Der letzte Schluck der lauwarmen Plörre rann gerade Scotts Kehle hinab, als sich die Tür erneut öffnete. Gleich drei Gestalten betraten die Bar und dieses Mal wusste Scott sofort, warum bei ihm alle Lampen angingen. Da war so ein Aufnäher auf der Jacke des rechten Schlägers, der ihm nicht nur vage bekannt vorkam. Er hatte genau dieses Emblem heute schon einmal gesehen. Das dort hinten waren Margeras Leute und es war unübersehbar, dass sie jemanden suchten.
 

„Fuck“, knurrte er und wollte sich zum Gehen wenden, als sich auf einmal auch die Kapuze erhob und offenbar die Flucht antreten wollte. Dabei rannte er genau in Scott hinein und stolperte fast über seine eigenen Füße. Scotts Hände schossen vor. Er bekam die Arme seines Gegenübers zu fassen, die zu große Jacke rutschte ein Stück hoch und er erhaschte einen Blick auf die bloßen Handgelenke seines Gegenübers.
 

Kein Armband? Scheiße. Noch so jung?
 

„Entschuldigung“, murmelte der Junge und zum ersten Mal konnte Scott sein Gesicht sehen. Grüne Augen musterten ihn unter einem langen, dunklen Pony hervor. Sofort korrigierte Scott seine Altersschätzung um mindestens fünf Jahre nach oben. Das hier war ein Milchgesicht, aber definitiv schon ein Teenager. 16 oder 17, wenn er richtig schätzte. Wieder etwas, das nicht zusammenpasste. Die Ameisen in Scotts Kopf liefen Amok.
 

Instinktiv sah er sich nach Margeras Leuten um. Sie hatten begonnen, die Gäste unter die Lupe zu nehmen. Ärgerliches Gemurmel drang an Scotts Ohr, aber die wenigsten setzten sich wirklich zur Wehr. Es würde nicht lange dauern, bis die drei Kanaillen den Jungen entdeckten. Und der konnte hier nicht weg, ohne von ihnen gesehen zu werden. Das Spiel war aus, noch bevor es richtig angefangen hatte.
 

Er hätte nicht herkommen sollen.

 

Scott presste die Kiefer zusammen und überlegte. Das Ganze schmeckte ihm nicht. Die Kapuze war ihm herzlich egal, aber das Margera jetzt seine Lakaien losschickte, statt Scott für den Job anzuheuern, war mehr, als er hinzunehmen gedachte.
 

Dann wollen wir doch mal sehen, wie gut ihr wirklich seid.
 

Bevor der reagieren konnte, hatte Scott den Burschen am Arm gepackt und in Richtung der Toiletten gedrängt.
 

„Komm mit“, murmelte er und schob seinen Fang kurzerhand durch die Tür in den düsteren Korridor, von dem aus es zu den Örtlichkeiten ging.
 

„Was … ?“, begann der Junge, aber Scott fuhr ihm über den Mund.
 

„Willst du überleben?“ Der Junge nickte. „Dann tu, was ich dir sage. Rein da und Klappe halten.“
 

Scott bugsierte den Jungen in eine der Kabinen und folgte ihm. Dann schloss er die Tür.
 

„Rauf da!“
 

Scott deutete auf die Toilettenschüssel, die nur noch aus einem weißen Porzellanbecken bestand. Sie hatte einen Sprung, dessen Ränder gelb angelaufen waren. Es war kalt im Raum und roch nach öffentlicher Bedürfnisanstalt. Scotts Sinne blendeten all das aus. Stattdessen öffnete er seine Hose.
 

„Was …?“, fing der Junge schon wieder an. Scott bedeutete ihm still zu sein.
 

„Kein Wort, dann kommst du hier vielleicht in einem Stück raus.“
 

Mit heruntergelassener Hose ließ Scott sich auf dem Sitzplatz zwischen den Beinen des Jungen nieder. Er hörte ihn über sich atmen.
 

„Sei leise. Halt notfalls die Luft an. Und duck dich. Sie kommen.“
 

Schon von Weitem konnte Scott die schweren Schritte der Männer hören, die sich ihrem Standort näherten. Er ahnte, was in ihren Köpfen vorging. Sie hatten den Jungen in die Bar hineingehen sehen und da sie ihn draußen nicht gefunden hatten, war dies der letzte Ort, an dem er sich verstecken konnte. Einer von ihnen wurde dazu abkommandiert, draußen Schmiere zu stehen. Die restlichen zwei betraten mit viel Getöse die Toilette.
 

Trampel!

 

Scott zwang sich, den eigenen Atem zu beruhigen. Wenn das hier funktionieren sollte, musste er ganz natürlich wirken.
 

Die Tür der Kabine nebenan wurde mit voller Wucht aufgetreten und das komplette Gebilde um ihn herum geriet dabei ins Wanken. Für einen Moment hatte Scott die Befürchtung, dass es einfach in sich zusammenfallen würde wie ein Kartenhaus, aber es gab Dinge, die waren eben für die Ewigkeit gebaut.
 

„Hey!“, rief er mit täuschend echt wirkender Empörung in der Stimme. „Kann man hier nicht mal in Ruhe kacken?“
 

„Aufmachen!“, schnauzte es von draußen.
 

„Ich bin aber noch nicht fertig“, konterte Scott motzig. „Geh halt nach nebenan.“
 

Er hörte Gemurmel und die Geräusche verrieten ihm, dass sich jemand auf den Boden legte. Ein Gesicht erschien in dem Spalt unter der Kabine. Scott reagierte sofort.
 

„Ey, du Arschloch!“, schrie er und trat nach dem Spähenden. Dabei machte er keine Hehl aus seinem Zustand. „Fuck! Scheiße! Kacke! Jetzt … ach fuck! Für die Reinigung kommst du aber auf.“
 

Scott bemühte sich, möglichst viel Lärm zu machen. Er schimpfte und zog mit umständlichem Getue seine Hose hoch, während er dem Jungen ein Zeichen gab, sich nicht zu bewegen. Dann öffnete er die Tür einen Spalt weit und stürmte hinaus.
 

„Ey, du Pen…“, er stockte, als wäre ihm angesichts der Bewaffnung der beiden Schläger das Herz in die Hose gerutscht. „Ich … also ich …“
 

Ich müsste einen verdammten Oscar kriegen.
 

Scott fing sich und wurde wieder wütend,
 

„Was sollte die Scheiße? Wolltest du mir einen blasen, oder was?“
 

Der Typ mit dem Aufnäher auf der Jacke gab seinem Kumpel ein Zeichen, sich die Toilettenkabine vorzunehmen. Scott schnaubte belustigt.
 

„Ja klar, nur zu. Geh rein. Aber ich muss dich warnen. Die Spülung ist kaputt.“
 

Trotz der Maske, wieder so ein schwarzes Halbmaskenmodell, konnte Scott sehen, wie Margeras Mann das Gesicht verzog. Er hingegen wartete nicht ab, was seine Verfolger tun würden, sondern ging zum Waschbecken, um dort vorzugeben, sich mit dem erbärmlich dünnen Rinnsal die Hände zu waschen. Je unbeteiligter er sich gab, desto besser. Außerdem war er so näher an der Tür. Sollten die beiden tatsächlich die Kabine öffnen, würde er zusehen, dass er hier wegkam.
 

Tut mir leid, Kleiner, aber meine eigene Haut ist mir näher als deine.
 

„Scheiße, Zip, ich geh da nicht rein.“

„Hast du etwa Schiss vor einem Scheißhaufen?“

„Wenn du unbedingt wissen willst, ob da wer drin ist, geh doch selber nachsehen.“
 

Der Anführer mit dem Emblem, grunzte etwas Unverständliches. Dann gab er seinem Kumpel ein Zeichen und die beiden rückten wieder ab. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, atmete Scott hörbar auf.
 

„Amateure“, murmelte er halblaut vor sich hin, bevor er zu der Toilettenkabine ging und die Tür öffnete. Im nächsten Moment wich er einem Faustschlag aus.
 

Scott reagierte instinktiv. Er griff nach dem Arm des Angreifers, drehte ihm ihn auf den Rücken und brachte ihn zu Fall. Erst, als er das Gesicht des Jungen auf die dreckigen Fliesen drückte, wurde ihm bewusst, mit wem er es zu tun hatte.
 

„Fuck!“, fluchte er und ließ den Halbstarken os. „Was sollte das denn? Wolltest du dich umbringen?“
 

Ein trotziges Funkeln glomm unter der Kapuze auf, während der Junge wieder auf die Füße kam.
 

„Ich dachte, das sind die anderen.“

„Tja, falsch gedacht.“
 

Scott hatte nicht übel Lust, noch einmal hinzulangen. Nur zur Sicherheit. Damit der Jungspund verstand, dass das hier verdammt nochmal kein Spaß war. Er war sich ziemlich sicher, dass Margeras Männer nicht lange gefackelt hätten, wenn sie ihn erwischt hätten. Zudem, ohne dass Scott auch nur einen müden Heller gesehen hatte. Das passte ihm immer noch nicht. Er zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte in das Waschbecken. Sein Speichel schmeckte nach schlechtem Bier und verbrauchter Luft.
 

„Am besten wartest du noch ein bisschen und dann verziehst du dich von hier. Geh nach Hause zu deiner Mama und lass dich von ihr in den Schlaf singen oder sonst was.“
 

Damit drehte er sich um und wollte schon gehen, als ihn die Worte des Jungen noch einmal zurückhielten.
 

„Meine Mutter ist tot. Sie starb, als ich zwei Jahre alt war.“
 

Scott drehte sich nicht um.
 

„Tja, dann musst du wohl mit deinem Vater vorlieb nehmen. Hat auch noch niemanden umgebracht.“

„Das kann ich nicht.“
 

Scotts Finger gruben sich in den Türrahmen. Er sollte gehen. Er musste gehen. Das hier dauerte schon viel zu lange. Er hatte … nichts, zu dem er zurückkehren konnte. Nichts, außer einer leeren Wohnung und einem ebenso leeren Leben. Zumindest bis der nächste Auftrag reinkam.
 

„Und warum nicht?“
 

Die Frage war Scott über die Lippen geschlüpft, bevor er richtig darüber nachgedacht hatte. Über die Schulter hinweg sah er zurück zu dem Jungen, der jetzt mit hängendem Kopf dastand.
 

„Weil sie ihn umgebracht haben. Ich hab es gesehen.“

„Wer? Margeras Leute?“
 

Ein Kopfschütteln.
 

„Nein. Es war ein anderer Mann. Aber sie waren dabei. Ich wollte mich verstecken, aber sie haben mich erwischt und mitgenommen. Ich … ich konnte fliehen, aber jetzt weiß ich nicht, was ich jetzt machen soll. Und da diese Typen immer noch hinter mir her sind, hab ich gedacht …“
 

Der Junge sprach nicht weiter. Stattdessen sah er Scott an. Da war eine Bitte in seinem Blick. Eine Bitte, die Scott unbedingt ablehnen musste.
 

„Sorry“, machte er und wandte sich ab. „Ich nehm keine Arbeit mit nach Hause. Und du bist noch nicht mal ein Kunde.“
 

„Aber ich hab Geld.“
 

Der Junge klang jetzt verzweifelt. Genau so verzweifelt, wie ein Junge in seinem Alter klingen sollte, wenn er mutterseelenallein irgendwo im Nirgendwo gestrandet war, nachdem sein Vater vor seinen Augen abgeknallt worden war. Nicht, dass Scott sich damit auskannte. Er stellte sich nur vor, dass man dann so klingen musste.
 

Noch einmal schüttelte er den Kopf.
 

„Du hast ja nicht mal ein Armband. Ich weiß nicht, wer es dir wie geklaut hat, aber wer immer es war, ist jetzt mit deinem Geld und deiner ID unterwegs. Also entweder …“
 

Entweder du findest jemanden, der dir hilft, oder du bist tot.
 

Die Tatsache, dass der Junge die Nacht nicht überleben würde, stand plötzlich so klar vor Scotts Augen, das er beinahe danach gegriffen hätte. Anscheinend wirkte das Bier doch, wenngleich auch etwas späte als erwartetr. Er redete mit einer Leiche. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie.
 

„Geh nach Hause, Junge. Irgendwer wird dir schon helfen.“
 

Irgendwer, der nicht ich ist.
 

Entschieden stieß Scott sich vom Türrahmen ab und machte sich auf den Rückweg zum Gastraum. Er bezahlte dem Jungen noch das Bier und machte sich dann auf den Weg in die eiskalte Nacht. Als er vor die Tür trat, begann es zu regnen.

 
 

Die Straßen waren menschenleer und dunkel. Scott hastete mit hochgeschlagenem Kragen über die gesprungenem Gehwegplatten und verfluchte sich, den Jungen, das Wetter und denjenigen, der dafür gesorgt hatte, dass es hier keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr gab. Er wusste, woran das lag. Sparmaßnahmen nannte es sich offiziell, aber in Wahrheit hatte man dieses Viertel einfach sich selbst überlassen. Es gab Dinge, die dadurch besser geworden waren.
 

In der Eile wären Scott beinahe die Schritte entgangen, die sich unter seine eigenen mischten. Unwillkürlich wurde er langsamer und lauschte gegen den rauschenden Regen an. Wer immer ihm folgte, war gut, aber nicht gut genug. Er reagierte zu spät und so konnte Scott ausmachen, dass sein Verfolger sich etwa 30 Meter hinter ihm befinden musste. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch einen Schatten hinter der Säule einer Eisenbahnüberführung verschwinden.
 

Nachlässig, brummte er in Gedanken und fragte sich, wer das wohl war. Er hatte eine Ahnung, aber er musste sichergehen. Bei der nächsten Gelegenheit weiter bog er unvermittelt in eine enge Gasse ein und drückte sich dort gegen die Wand. Er musste nicht lange warten, bis Schritte sich seinem Standpunkt näherten. Eine Silhouette tauchte aus der Dunkelheit auf und im nächsten Moment hatte Scott seinen Verfolger gegen die Wand gedrückt und ein Messer an seine Kehle.
 

„Ich hatte gesagt, dass du nicht mitkommen kannst.“
 

Seine Stimme wurde durch die Maske gedämpft, aber Scott war sich sicher, dass der drohende Unterton trotzdem seine Wirkung nicht verfehlte. Das Gleiche galt für die Klinge, die er zwischen den Stoffschichten hindurch gegen die Kehle des Jungen drückte.
 

„Aber ich … ich weiß doch nicht …“
 

Der Junge schluckte. Scott konnte die Bewegung unter seinen Händen spüren. Wahrscheinlich fehlte nicht viel und er würde anfangen zu heulen.
 

„Ist nicht mein Problem“, knurrte Scott noch einmal möglichst drohend. „Du wirst doch wohl irgendwelche Freunde haben. Verwandte. Eine Putzfrau. Irgendwer, der dich kennt und bei dem du unterkommen kannst.“
 

Der Junge schüttelte den Kopf. Eine dumme Bewegung, wenn man ein Messer am Hals hatte. Ganz automatisch zog Scott die Klinge ein Stück zurück.
 

„Ich … da ist niemand.“
 

„Blödsinn.“ Scott schnaubte und nahm das Messer jetzt endgültig runter. „Sogar ich hab Nachbarn.“ Wenn auch von der nervigen Sorte.
 

Wieder ein Kopfschütteln.
 

„Nein. Ich … ich kenne niemanden. Mein Vater und ich, wir lebten sehr abgeschieden. Wir hatten ein Haus und …“
 

Okay, also ein reicher Schnösel und sein Spross. Margera hat ihn ausgeraubt und gedacht, er könnte noch ein Extraschnäppchen machen, wenn er das Bürschchen mitnimmt. Nette Idee. Zu blöd, dass der Kleine entkommen konnte.
 

„Ist mir egal“, blaffte Scott. „Wenn du Geld hast, dann bezahl halt jemanden, damit du bei ihm wohnen kannst.“
 

„Ich könnte dich bezahlen.“
 

Dieser Satz ließ Scott aufhorchen. Wenn es stimmte und der Junge tatsächlich Geld hatte, war vielleicht eine Belohnung für ihn drin. Und falls er ihn angelogen hatte, konnte er das Bürschchen immer noch an Margera ausliefern. Womöglich zahlte der ihm Finderlohn.

 

Scott warf noch einmal einen Blick auf die durchnässte Gestalt, die da in viel zu großen Sachen vor ihm stand und verzweifelt versuchte, ihr Zittern zu verbergen. Unter diesen Umständen mussten ihn nicht einmal Margeras Leute erwischen. Es reichte vollkommen, wenn er die nächsten Stunden im Freien verbrachte.
 

„Na schön“, knurrte Scott schließlich, obwohl er bereits ahnte, dass er es bereuen würde. „Du kannst mitkommen. Aber nur für eine Nacht.“
 

Der Junge nickte. „Okay. Danke.“ Er zögerte, bevor er hinzusetzte: „Mein Name ist übrigens Kael.“
 

„Das will ich gar nicht wissen.“
 

Ohne ein weiteres Wort drehte Scott sich um und stopfte die Hände in die Jackentaschen. Das Gefühl, gerade einen Riesenfehler zu machen, wurde mit jedem Schritt größer. Doch als Kael zu ihm aufschloss und für einen kurzen Moment den Kopf hob, um ihn anzulächeln, da war Scott, als würde er jemand anderen sehen. Ein blasses Gesicht, nicht unähnlich seinem eigenen. In der Nase einen durchsichtigen Schlauch und um ihn herum zu viel Weiß. Eine Hand entfernte gerade die Luftzufuhr und Scott wollte sie schlagen, damit sie wegging. Er hasste die Hand.
 

„Er hat es nicht geschafft“, sagte eine Stimme und die Hand zog ein Tuch über das Gesicht. Es war das letzte Mal, das Scott es gesehen hatte.

 

Väter und Söhne

Der Gebäudekomplex lag am Rand des Viertels. Tatsächlich lag er so weit am Rand, dass Scott, wenn er ein Fenster gehabt hätte, von dort aus auf das Gebiet der Stray Dogs hätte hinabschauen können. Er hatte keins, also blieb ihm dieses Problem erspart. Dort drüben war es nicht trostloser als hier, aber die Dogs hätten auf die Idee kommen können, dass Scott ein wachsames Auge zu viel war. Was das bedeutete, musste ihm niemand erklären. Es gab nur wenig, was man heutzutage noch besitzen konnte, und wenn man ihm das Kostbarste davon wegnahm, blieb quasi nur noch der Weg in die Verwertungsanlagen. Der Begriff „jemanden zu Brei schlagen“, bekam auf diese Weise doch gleich eine ganz neue Wendung.
 

„Pass auf, dass du nicht über die Stufe stolperst. Und fass nichts an. Und tritt dir die Füße ab.“
 

Dass das Letzte ein Scherz gewesen war, ging Kael offenbar ab, denn er blieb doch tatsächlich an der Tür stehen und sah zu Boden.
 

„Da ist keine Fußmatte“, stellte er fest.
 

„Muss wohl geklaut worden sein“, knurrte Scott und schob den Jungen kurzerhand nach drinnen. Er schaltete das Licht an, das irgendwo oben in der Decke saß und mit greller Schonungslosigkeit sein Heim beleuchtete. Viel gab es nicht zu sehen. Ein Bett, einen Tisch, einen Fernseher. Das war’s. Seine wenigen Habseligkeiten waren in eingelassenen Schränken in der schmutzigweißen Wand verstaut, ebenso wie die Dusche, die nur zu bestimmten Zeiten des Tages funktionierte und für genau 242 Sekunden warmes Wasser spendete, bevor sie sich für die nächsten Stunden wieder abschaltete. Für alles andere gab es eine öffentliche Sammelstelle am Ende des Ganges. Ein Ort, den Scott nur dann aufsuchte, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
 

„Du bist ein Mann, du kannst in ’ne Flasche pinkeln“, hatte sein alter Herr dazu immer gesagt und Scott hatte das nie in Frage gestellt. Es gab Dinge, die prägten sich eben ein.
 

„Hast du Hunger?“ Scott wies auf den Replikator, der ebenfalls nicht viel mehr als ein Loch in der Wand war. Es gab eine Schüssel, einen Löffel und einen Knopf, mit dem man Nahrung anfordern konnte. Viel mehr brauchte diese Maschine nicht.
 

Kael nickte und tropfte dabei den Fußboden voll. Scott drückte an eine Stelle in der Wand und holte ein Handtuch aus der daraufhin aufgleitenden Schublade. Es war grau, zerschlissen und kratzig.
 

„Zieh dich erst mal aus, ich schau mal, ob ich was Passendes für dich finde.“
 

Eine weitere Schublade enthielt Scotts Reservekleidung. Viel war es nicht. Braune Hosen, weiße T-Shirts, Unterwäsche und Socken. Keine weitere Jacke, keine Schuhe. Der Junge würde ohne auskommen müssen.
 

„Ich habe die Sachen von Joe bekommen“, sagte der jetzt, während er sich aus den viel zu großen Sachen schälte und sie mangels einer anderen Möglichkeit auf den Fußboden legte.
 

Scott verkniff sich die Frage, wer Joe war. Je weniger er von dem Jungen wusste, desto besser. Womöglich würde er sich doch noch dazu entscheiden, ihn zu Geld zu machen. Dann war es besser, sich nicht emotional auf ihn einzulassen. Nicht, dass Scott das vorhatte. Aber in Ermangelung von Katzen, die einem zulaufen konnten …
 

„Hier, die sind trocken“, brummte er und warf Kael ein Hose und ein Shirt hin. Die Unterwäsche behielt er für sich. Danach holte er seine Schüssel heraus. Das Material hatte bereits einen Sprung. Er würde sich bald eine neue kaufen müssen, wenn er nicht direkt vom Boden essen wollte. Obwohl das den Geschmack vielleicht verbessert hätte.
 

„Willst du Pods dazu? Ich hab noch Nasi Goreng und irgendwas, von dem die Beschriftung fehlt. Könnte also Bratwurst mit Sauerkraut sein oder Wackelpudding oder Cheeseburger. Wenn du Glück hast.“
 

Scott drehte sich mit den Pod-Packungen in der Hand zu Kael um. „Also pur, Chinesisch oder das Überraschungs-Menu?“
 

Kael öffnete den Mund um zu antworten, als es auf einmal an der Tür klopfte. Scott verdrehte die Augen.
 

„Ich bin nicht zu Hause“, brüllte er die Tür an. Er hatte so eine Ahnung, wer da draußen stand.
 

„Du hast auch schon mal besser gelogen“, kam es prompt zurück. „Na los, lass mich rein.“
 

Scott stöhnte.
 

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil du ne Nervensäge bist. Außerdem hab ich Besuch.“

„Besuch?“
 

Man hörte ein helles Lachen.
 

„Das ist wirklich ne ganz miese Ausrede. Du hast niemals Besuch.“

„Heute schon.“

„Och, Scott, jetzt mach schon auf. Es ist kalt hier draußen.“

„Dann geh nach Hause!“

„Da ist es langweilig.“

„Lies ein Buch.“

„Hab ich schon.“

„Sieh fern.“

„Hab ich auch schon.“

„Dann lackier dir meinetwegen die Fußnägel. Meine Güte, Trix, es passt heute nicht.“
 

Für einen Moment glaubte Scott, die Schlacht gewonnen zu haben, aber dann verkündete die Stimme vor der Tür: „Wenn du mich nicht reinlässt, fange ich an zu schreien und behaupte, du hättest mich angefasst.“
 

„Na und? Du bist volljährig.“

„Ja, aber meinst du wirklich, das interessiert die Dogs, wenn sie die Chance haben, dich in die Finger zu kriegen.“
 

Scott biss die Zähne zusammen und knurrte. Dieses kleine Aas!
 

„Na schön“, bellte er und knallte die Schüssel so heftig auf den Tisch, dass der Löffel mit einem Scheppern heraussprang und auf dem Fußboden landete. „Du hast gewonnen.“
 

Er murmelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart, das nicht für Kaels Ohren bestimmt war, bevor er zur Tür ging und den Öffner betätigte.
 

„Komm rein“, schnauzte er und zog seine Besucherin gleichzeitig nach drinnen. Immerhin hatte er heute gleich zwei Schmarotzer am Hals und Sauerstoff wuchs schließlich nicht auf Bäumen.
 

„Darf ich vorstellen? Das ist Kael. Kael, meine Nemesis.“
 

Die so eben Vorgestellte strahlte unter ihrer mit einem neonfarbenen Grinsen verzierten Maske von einem dunkelbraunen Ohr zum anderen. An den Seiten hatte sie ihre Haare abrasiert. Der Rest ringelte sich in einer Flut pinkfarbener Dreadlocks bis zu ihrem Rücken herab. Violette Strumpfhosen, neongrüne Shorts und ein mindestens eine Nummer zu kleines Top in einem derart grellen Gelbton, dass man mit Sicherheit einen Waffenschein dafür brauchte, vervollständigten das Outfit. Daneben muteten die schwarzen Militärstiefel fast schon normal an.
 

„Uh, Scott“, gurrte sie und legte den Kopf schief, sodass sich die pinke Haarpracht gefährlich zur Seite neigte. „Ist der nicht ein bisschen zu jung für dich?“
 

„Lass die blöden Witze“, knurrte Scott und stieß Trix nicht unabsichtlich aus dem Weg, als er wieder zurück zum Replikator ging. „Das ist Arbeit, kapiert?“
 

„Aber du nimmst nie Arbeit mit nach Hause,“ sagte Trix, während sie ihre Maske abnahm.
 

„Hab mich umentschieden.“
 

Er stellte die Schüssel in die Replikatoröffnung und drückte den Knopf. Mit einem röhrenden Dröhnen erwachte die Maschine zum Leben, es blubberte und pumpte und im nächsten Moment fiel ein Haufen unansehnlicher, grauer Matsch in die Schüssel. Scott nahm sie, klaubte im Vorbeigehen den Löffel vom Boden auf und hielt Kael beides hin.
 

„Hier, dein Essen.“
 

Der Junge beäugte zuerst die Schüssel, danach den Löffel. Er sah zunächst auf den Schlüsselinhalt und dann zu Scott.
 

„Was ist das?“
 

Scott hielt ihm eine der Podpackungen hin. „Jetzt ist es Nasi Goreng,“
 

Kael betrachtete die Tüte mit den zwei schwarzen Plastikstücken. Sie waren etwa so groß wie eine Fingerkuppe und auf der durchsichtigen Packung leuchtete die Abbildung des indonesischen Reisgericht.
 

„Wofür ist das?“
 

„Du musst sie in die Nase stecken“, erklärte Trix, bevor Scott antworten konnte. Sie musterte den Jungen mit unverhohlener Neugier.
 

„Da sind Geruchsstoffe drin. Die gaukeln deinem Gehirn vor, dass die Pampe nach was schmeckt, das nicht toter Penner und Scheiße ist.“

„Trix!“

„Was? Ist doch kein Geheimnis, wo der Kram herkommt. Man darf nur nicht beim Essen darüber nachdenken.“
 

Sie grinste und zwinkerte Kael zu, bevor sie sich mit der Selbstverständlichkeit einer Königin auf Scotts Bett niederließ.
 

„Runter da, Bitch.“

„Zwing mich doch, Arschloch.“
 

Scott hatte nicht übel Lust, sie beim Wort zu nehmen, aber er beherrschte sich. Wie immer. Er hätte Trix nie wirklich etwas angetan, dass über einen groberen Rauswurf hinausging. Dummerweise wusste die knapp 20-jährige das und nutzte es schamlos aus.
 

„Also erzähl mal“, fuhr Trix im Plauderton fort und holte einen Pop raus. Sie wickelte ihn aus und steckte ihn in den Mund, bevor sie das sich so auf das Bett setzte, dass sie fast mit Kael zusammen am Tisch saß. „Woher kommst du? Ich hab nämlich so das Gefühl, du  bist nicht aus der Gegend.“
 

Kael, der immer noch nicht sicher schien, ob er den Brei wirklich essen sollte, sah auf.
 

„Ich weiß nicht genau“, antwortete er nach einem kurzen Zögern. „Mein Vater und ich lebten sehr abgeschieden.“
 

Die Worte hallten in Scotts Kopf wieder und trafen auf ihr erst wenige Stunden altes Gegenstück. Unbewusst spannte er sich. Was der Junge da von sich gab, klang zu glatt, zu einstudiert. Unbeirrt dessen fragte Trix weiter.
 

„Und wie kommst du hierher? Bist du aus dem falschen Bus gestiegen, oder wie? Und warum hängst du ausgerechnet mit Scott ab? Ich mein, er ist jetzt nicht das beschisstenste, versoffene Arschloch, das ich kenne, aber …“

„Trix!“
 

Ohne viel weitere Worte zu machen, ging Scott um den Tisch herum, legte die Hände auf die Tischplatte und lehnte sich zu Kael hinüber.
 

„Jetzt pass mal gut auf, du Spaßvogel. Ich hab dich mitgenommen, weil du mir leidgetan hast und weil du gesagt hast, dass du Kohle hast. Es ist offensichtlich, dass du nicht von hier bist. Wenn ich mal raten sollte, würde ich sagen, du kommst aus Eden.“
 

Kael antwortete nicht. Dafür schnappte Trix hörbar nach Luft.
 

„Aus Eden? Aber da leben nur die Superreichen. Der ganze Bezirk ist abgeriegelt wie der Arsch einer Jungfrau. Da kommst du nicht rein oder raus, ohne dass du nach Strich und Faden auseinandergenommen wirst.“
 

Scott wies auf Kael.
 

„Tja, sieht so aus, als hätte Margera ein Schlupfloch gefunden. Oder jemand hat ihn reingelassen. Der Junge sagt, Margeras Männer hätten geholfen, seinen Alten zu killen. Jetzt machen Sie Jagd auf ihn.“
 

Trix pfiff durch die Vorderzähne. „Wow, dann hat er ja gleich mal so richtig hingelangt. Aber was wollen die von ihm?“
 

„Tja, das frage ich mich auch. Kannst du uns diese Frage vielleicht beantworten?“
 

Scott hatte sich nicht besonders bemüht, die Drohung, die hinter seinen Worten lag, zu verbergen. Kael, der immer noch mit dem Löffel in der Hand am Tisch saß, sah von einem zum anderen.
 

„Ich weiß es nicht. Ich schwöre euch, ich weiß es nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass sie in unser Haus kamen, meinen Vater erschossen und mich mitgenommen haben. Wenn Joe nicht gewesen wäre …“
 

Scott ballte die Hand zur Faust und unterdrückte nur mit Mühe den Drang, damit gegen die Wand zu schlagen.
 

„Wer ist eigentlich dieser Joe?“, fragte er stattdessen. Vielleicht gab es jemanden, auf den er das Problem abwälzen konnte.
 

Kael zuckte ein wenig hilflos mit den Achseln.
 

„Er arbeitet auch für Margera. In der zweiten Nacht, nachdem sie mich mitgenommen haben, kam er zu mir und hat mich aus dem Käfig geholt. Er hat gesagt, dass wir uns heute Abend am alten Bahnhof treffen wollen. Aber er ist nicht aufgetaucht. Stattdessen waren da diese anderen Kerle. Ich dachte erst, dass sie mich nicht bemerkt hätten, aber als ich sah, dass sie mir folgten, bin ich in diese Bar gegangen. Den Rest der Geschichte kennst du.“
 

Scott nickte halb. Ihm war ein unschöner Verdacht gekommen.
 

„Dieser Joe … der ist nicht zufällig ein ziemlicher Schrank. Mindestens 1,95m oder größer?
 

Kael nickte leicht.
 

„Weißt du, wie er mit Nachnamen heißt?“
 

Der Junge legte die Stirn in Falten.
 

„Ich habe gehört, wie einer der anderen mit ihm gesprochen hat. Er nannte ihn Pe… Pe …“

„Pecares?“

„Ja, genau. Woher weißt du das?“

„Geraten.“
 

Scotts Fingernägel gruben sich tiefer in seine Handflächen. Er hatte es gewusst. Gleich heute Morgen, als er aufgestanden war, hatte er so ein Jucken im linken Ei gehabt. Das war, wie er zur Genüge wusste, ein untrügliches Zeichen, dass an diesem Tag irgendeine Scheiße passieren würde. Er hätte diesen verdammten Auftrag einfach nicht annehmen, sondern den Tag im Bett verbringen sollen. Ein bisschen Sport, ein paar Pornos und dazu den Überraschungspod, wenn er ganz wagemutig gewesen wäre. Aber nein, er hatte ja diesen verdammten Anruf kriegen müssen. Es hatte sich so leicht angehört. Einen dämlichen Ochsen finden und zurück zur Tränke führen. Alles ganz easy. Und nun saß „easy“ hier bei ihm in der Wohnung und löffelte Scotts Abendessen in sich hinein. Was für eine dreimal verfluchte Scheiße!
 

Ohne es wirklich zu merken, hatte Scott damit begonnen, im Zimmer auf und ab zu gehen. Trix nutzte die Gelegenheit, um sich den heiligsten von Scotts Besitztümern zu schnappen. Die Fernbedienung. Sofort fluteten grelle Bilder und noch grellere Töne den Raum. Mit rasender Geschwindikeit zappte Trix durch die Kanäle.
 

„Wollen Sie auch so weiche Haare, dann nehmen Sie …“

„Ich schau dir in …“

„Ich liebe ...“

„Mi Amor!“

„Kaufen Sie …“

„Yippie-ya-yeah, Schweinebacke!“
 

„Trix!“, bellte Scott und blieb stehen, um sich entnervt mit der Hand über das Gesicht zu reiben. „Entscheide dich für irgendeinen Sender.“
 

Auf dem Bildschirm liefen gerade einer der Nachrichtenkanäle. Der Sprecher, ein ergrauter Mittfünfziger in einem dunkelblauen Anzug, berichtete gerade über die Fusion zweier Mega-Konzerne. Trix machte ein unanständiges Geräusch.
 

„Laaangweilig“, nölte sie und schaltete um auf einen Musikkanal. Kael jedoch starrte wie gebannt auf den Bildschirm, auf dem jetzt animierte Katzen ein Blutbad in einer Bar anrichteten.
 

„Schalt zurück“, flüsterte er tonlos. „Das war er. Das war der Mann.“

„Hä?“
 

Trix hatte den Lautstärkeregler gefunden und die Musik bis zum Anschlag aufgedreht. Ihre Dreadlocks wippten im Takt.
 

„Was hast du gesagt? Ich kann dich nicht hören!“

„Schalt um!“
 

Kael griff nach der Fernbedienung, erwischte sie aber nicht, weil Trix ihm auswich und die Zunge rausstreckte. Scott, der den Ernst der Lage erkannt hatte, entschied sich einzuschreiten. Mit einem Schritt war er bei Trix. Er entwand ihr die Fernbedienung, schaltete einen Kanal zurück und drehte gleichzeitig die Lautstärke auf ein erträgliches Maß. Von nebenan hörte man lautes Wummern an der Wand.
 

„Mach die Scheiße leiser oder ich komm rüber und hol dir dein Gehirn mit einer Gabel aus dem Kopf.“
 

„Du hast doch gar keine Gabel, du Penner!“, brüllte Trix zurück, bevor sie sich an Scott wandte. Mit griesgrämigem Gesicht rieb sie sich das Handgelenk, das Scott im Kampf um die Fernbedienung nicht eben sanft behandelt hatte.
 

„Das tat weh, du Arsch.“

„Klappe!“
 

Scott sah von dem Bildschirm zu Kael und wieder zurück. Auf der flimmernden Mattscheibe war jetzt irgendeine Sitzung irgendeines Gremiums zu sehen. Der Bericht von vorhin war längst vorbei.
 

„Wen genau hast du gemeint?“
 

Kael zuckte hilflos mit den Schultern.
 

„Keine Ahnung. Da waren viele Leute vor einem blauen Hintergrund. Es ging zu schnell, um mehr zu sehen.“

„Moment.“
 

Scott drückte eine Taste und ließ das Programm zurückspulen. Als ein passendes Bild in Sicht kam, startete er die Wiedergabe erneut. Sofort begann der Sprecher mit seiner monotonen Stimme vorzutragen:
 

„Am heutigen Nachmittag kam es zu einer Zusammenkunft der Vertragspartner im Gebäude der Inberg Coorperation. Der Präsident der Gesellschaft sagte bei der Pressekonferenz, die im Anschluss an die Vertragsunterzeichnung stattfand, man befinde sich auf direktem Weg in eine bessere Zukunft. Die Verhandlungen …“
 

Kael begann zu zittern.
 

„Das ist er“, flüsterte er, während er wie gebannt auf den Bildschirm starrte. „Das ist der Mann, der meinen Vater erschossen hat.“
 

„Wer? Amos Inberg? Der Präsident von Inberg Industries?“ Trix’s Augenbrauen verschwanden irgendwo unter ihrem pinken Haaransatz. „Das soll wohl ein Scherz sein.“
 

Kael schüttelte den Kopf. „Nein, er war es. Ich bin mir hundertproz…“
 

Der Rest des Satzes blieb dem Jungen buchstäblich im Halse stecken. Er wurde weiß wie Scotts Wand und sah aus, als würde er jeden Moment umkippen. Auf dem Bildschirm schüttelte Inberg gerade einem anderen Mann die Hand. Er war etwas kleiner, hatte schon ein wenig schüttere Haare, einen grauen Bart und eine runde Brille. Er sah so aus, wie Scott sich immer einen Wissenschaftler vorstellte. Nur der weiße Kittel fehlte.
 

„Kael?“ Trix’ Stimme klang plötzlich alarmiert. „Ist alles in Ordnung?
 

Der Junge reagierte nicht. Mit weit aufgerissenen Augen schien er das Fernsehbild geradezu in sich aufzusaugen. Er schluckte und Scott rechnete damit, dass jeden Moment der Brei wieder auf seinem Fußboden landen würde. Suchend sah er sich nach einer Möglichkeit um, das zu verhindern.
 

Als er nichts fand, knurrte er ungehalten: „Wenn du kotzen musst, nimm die Schüssel.“
 

Der Junge antwortete immer noch nicht. Wie hypnotisiert stand er auf und ging auf den Fernseher zu. Seine Hand zuckte in Richtung der bewegten Bilder.
 

„Das ist mein Vater“, sagte er so leise, dass man es unter der Stimme des Nachrichtensprechers kaum verstehen konnte.
 

Trix beugte sich zur Seite und schielte an ihm vorbei auf die Mattscheibe. „Wer? Dresner?“
 

Kael nickte schwach. Seine Augen klebten weiterhin am Bildschirm.
 

„Aber das ist nicht möglich. Ich … ich habe gesehen, wie sie ihn erschossen haben.“
 

Der Junge stand jetzt unmittelbar vor dem in die Wand eingelassenen Monitor. Das Bild seines Vaters war deutlich auf seiner Brust zu sehen.
 

Scott schaute hinüber zu Trix. „Ist das vielleicht eine Aufzeichnung? Von letzter Woche oder so?“
 

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, der Vertragsabschluss war erst heute. Es ging durch alle Nachrichten.“

„Aha“, machte Scott. „Und warum?“

„Warum was?“

„Warum es durch alle Nachrichten ging.“
 

Trix verdrehte erneut die Augen. Bei ihr wirkte das immer besonders eindrucksvoll.
 

„Sag mal, Scott, lebst du eigentlich hinter dem Mond. Inberg versucht schon seit Monaten, das Areal zu kaufen, auf dem damals das alte Kraftwerk stand. Es gehörte Dresner und der hat sich hartnäckig geweigert, es zu verkaufen. Hat wohl sentimentalen Wert für ihn. Immerhin sind da …. Moment mal!“
 

Trix runzelte die Stirn und zog die Nase kraus. Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen musterte sie Kael.
 

„Dresner wollte das Grundstück nicht verkaufen, weil bei dem Reaktorunfall damals seine Frau und sein kleiner Sohn draufgegangen sind. Wollte dort wohl eine Gedenkstätte errichten lassen oder so was. Wenn also unser Wunderknabe hier nicht von den Toten auferstanden ist, bin ich wirklich sehr gespannt auf seine Erklärung.“
 

Scott sah von Trix hinüber zu Kael, der immer noch wie gebannt auf den Bildschirm starrte. Er hatte die Wiedergabe angehalten und das pixelige Gesicht des Brillenmanns klebte wie eine sehr schlechte Fotografie an seiner Wand. Es war trotzdem unübersehbar, dass er und Kael sich ähnlich sahen. Wie zwei Brüder. Oder wie Vater und Sohn.
 

Kaels Blick klebte immer noch am Bildschirm. Er schien Scott und Trix überhaupt nicht zu bemerken. Im nächsten Moment wirbelte er plötzlich herum und wollte zur Tür sprinten. Scott reagierte sofort. Er packte den Jungen am Arm und hielt ihn fest, obwohl dieser sich heftig wehrte.
 

„Lass mich los! Ich muss da hin. Ich muss zu ihm!“
 

Wie von Sinnen begann Kael, sich in Scotts Armen zu winden, nach ihm zu treten und auf ihn einzuschlagen. Scott wehrte die Angriffe zwar mühelos ab, aber schmerzhaft waren die Treffer, die er dabei kassierte, allemal. Irgendwann wurde es ihm zu bunt. Er drehte dem Jungen den Arm auf den Rücken und schubste ihn in Ermangelung einer besseren Alternative gegen die Wand. Dass er dabei den Tisch zur Seite rempelte und etwas mit einem dumpfen und eindeutig kaputt klingenden Geräusch auf dem Boden landete, machte die Sache nicht unbedingt besser.
 

Scheiße! Jetzt brauch ich wirklich eine neue Schüssel.
 

„Hör mir zu, Bursche“, knurrte er und drückte den Jungen noch ein wenig fester gegen den rauen Beton. „Du gehst nirgendwohin, haben wir uns verstanden? Ich hab keine Ahnung, was für eine abgedrehte Scheiße hier gerade läuft, aber ich weiß, dass du mir ein paar Antworten schuldig bist. Also los! Fang an zu singen.“
 

Kael, dessen Wange gerade unsanfte Bekanntschaft mit Scotts Wand machte, keuchte angestrengt.
 

„Ich hab nicht gelogen“, brachte er zwischen zwei Atemzügen hervor. Scott spürte, wie er sich gegen die grobe Behandlung wehrte. Es brachte ihn dazu, noch ein wenig fester zuzudrücken.
 

„Und wie erklärst du dir dann, dass Dresners Sohn bei dem Unfall ums Leben kam, während du hier quicklebendig herumspazierst und mir die Luft wegatmest?“
 

Scott erhöhte noch einmal den Zug auf Kaels angewinkelten Arm. Der gab einen Schmerzenslaut von sich.
 

„Ich hab nicht gelogen“, keuchte er noch einmal. „Robert Dresner ist mein Vater. Nach der Explosion hat er überall verkünden lassen, dass meine Mutter und ich bei der Explosion ums Leben gekommen wären. Aber das entsprach nicht der Wahrheit. Ich hatte überlebt, wenn auch schwer verletzt. Mein Vater hielt es jedoch für klüger, das nicht publik werden zu lassen. Er hat mich versteckt.“
 

Scott fletschte drohend die Zähne.
 

„Warum hätte er das tun sollen?“

„Weil die Explosion kein Unfall war.“
 

Für einen Moment war es so still, dass man sogar das Surren der Lufterzeugung an der Außenseite hören konnte. Ein kleiner, unauffälliger Kasten, der irgendwie dafür sorgte, dass man hier drinnen nicht erstickte. Auf dem grauen Gehäuse prangte das Logo von Inberg Industries.
 

„Was meinst du damit?“, brachte Scott schließlich hervor. Noch immer hielt er den Jungen an der Wand fest. Eine Tatsache, die jetzt Trix auf den Plan rief.
 

„Scott, lass ihn los“, meckerte sie und machte Anstalten, sich zu erheben. „Du siehst doch, dass er nicht gefährlich ist.“
 

„Das ist ein Nussknacker auch nicht bis zu dem Moment, in dem sich eines deiner Körperteile zwischen den Zangen befindet. Wenn du Glück hast, ist es nicht nussförmig.“
 

Trotz dieser Misstrauensbekundung, hatte Scott das Gefühl, dass Trix recht hatte. Kael war nicht gefährlich. Er war jung und verwirrt, was ihn per Definition zu einer potentiellen Quelle hirnrissiger und riskanter Entscheidungen machte, aber er war nicht in dem Sinne gefährlich wie es etwa ein Mann mit einer Maschinenpistole oder einer entsicherten Handgranate gewesen wäre. Zumindest hoffte Scott, dass es so war.
 

„Na schön“, brummte er und lockerte seinen Griff etwas um zu zeigen, dass er es ernst meinte. „Ich werde dich jetzt loslassen. Aber du wirst nichts Dämliches tun. Das schließt sowohl Weglaufen wie auch irgendwelche Angriffe aus. Haben wir uns verstanden?“
 

Kael nickte schwach. Scott atmete noch einmal tief durch, bevor er den Jungen endgültig losließ und einen Schritt zurücktrat, damit der sich umdrehen konnte. Als er es tat, war seine rechte Gesichtshälfte gerötet.
 

„Das war unnötig“, murrte er und rieb sich die malträtierte Körperstelle.
 

Scott schnaubte belustigt. „Schien mir aber ne ziemlich gute Idee, nachdem du hier rausstürmen wolltest wie Rambo auf nem Selbstjustiz-Trip. Also nochmal: Wer bist du?“
 

Kael schien einen kurzen Moment in Erwägung zu ziehen, einfach nicht zu antworten. Scott sah, wie sein Blick zur Tür huschte. Fast schon beiläufig trat er ihm in den Weg.
 

„Also was ist? Ich warte.“
 

Der Junge presste die Kiefer aufeinander und ballte die Fäuste.
 

„Ich sagte doch, ich hab nicht gelogen.“

„Das hab ich schon die ersten zwei Male gehört. Ein bisschen mehr Information wäre hilfreich.“
 

In Kaels Augen tobte ein Sturm. Scott konnte nur raten, was hinter seiner jugendlichen Stirn in diesem Moment vorging. Er traute Scott nicht und dass, obwohl er anstandslos mit ihm mitgegangen war.
 

Womit wir mal wieder bei dummen Entscheidungen wären. Scheint, als wären wir, was das angeht, für den heutigen Tag gleichauf.
 

Scott seufzte.
 

„Du willst nicht reden? Fein! Dann geh da raus und versuch dein Glück. Ich wette, du kommst nicht mal vier Blocks weit, bevor Margeras Häscher dich schnappen. Ich weiß nicht warum, aber die wollen dich kriegen, Kleiner. Also entweder rückst du jetzt mit der ganzen Geschichte raus oder du verschwindest. Ich werde dich nicht aufhalten. Aber wenn du dann irgendwo in einer dreckigen Seitengasse an deinem eigenen Blut erstickst, sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
 

Scott trat beiseite und machte den Weg zur Tür frei. Doch wie er erwartet hatte, erlosch Kaels Wunsch zur Flucht in dem Moment, in dem er die Gelegenheit dazu bekam. Vielleicht hatten Scotts Worte etwas bewirkt. Vielleicht war es auch umgekehrte Psychologie. Oder vielleicht war der Junge tatsächlich schlauer, als er aussah. Mit einem resignierten Schnaufen ließ er sich gegen die Wand sinken. Erst als Scott glaubte, dass an diesem Abend wohl nichts mehr aus dem Jungen herauszubekommen war, begann er schließlich doch mit leiser Stimme zu erzählen.
 

„Zum Zeitpunkt des Anschlags arbeitete mein Vater an einem Konzept, mit dem er vorhatte, das globale Energiemanagement zu revolutionieren. Seinen Berechnungen nach sind die einstmals getätigten Annahmen zur Reservefunktion der Erdwärme durch den exorbitant angestiegenen Energieverbrauch zur Luft- und Nahrungsmittelerzeugung vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten. Wenn dem nicht schnell Einhalt geboten wird, könnte es zu einer weiteren globalen Verschiebung der Klimazonen kommen, deren Folge der endgültige Exitus des gesamten Planeten wäre.“
 

„Ah ja“, machte Scott und widerstand dem Drang, Kael zu fragen, was das ganze in einer allgemein verständlichen Sprache zu bedeuten hatte. Zu seinem Glück sprang Trix für ihn ein.
 

„Das heißt also, dass die Kacke so richtig am Dampfen ist“, übersetzte sie großzügig. Während Kael wissenschaftliches Zeug vor sich hin geblubbert hatte, hatte sie die Beine angezogen und sich im Schneidersitz auf Scotts Kopfkissen niedergelassen wie eine fette, regenbogenfarbene Katze. „Aber was hat das jetzt mit dem Unfall zu tun?“
 

„Ich weiß es nicht genau. Was die Hintergründe des Attentats angeht, hat mein Vater sich immer ausgeschwiegen. Er hat lediglich Andeutungen gemacht, dass diejenigen, die dafür verantwortlich waren, Gegner seiner Forschungsarbeit gewesen sein müssen. Vermutlich wollten sie ihn damit am Weiterkommen hindern. Immerhin wurde damals die komplette Anlage zerstört.“
 

Trix machte ein mitleidiges Gesicht. „Und wie kam es, dass du überlebt hast?“
 

Kael zuckte mit den Schultern.
 

„Es war einfach großes Glück, schätze ich. Während meine Mutter direkt durch die Explosion getötet wurde, fand man mich eingequetscht zwischen den Trümmern. Ich hatte zwar multiple, innere Verletzungen, aber ich war am Leben. Mein Vater ließ mich in einen versteckten Raum unterhalb unseres Hauses verlegen. Alle Ärzte, die zu meiner Behandlung notwendig waren, wurden zum Stillschweigen verpflichtet. So konnte ich gerettet werden. Da mein Vater jedoch fürchtete, dass es erneut zu einem Anschlag kommen könnte, schottete er mich vollkommen von der Außenwelt ab. Ich lebe seitdem innerhalb geschlossener Mauern und auch er verließ das Haus nur unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Bis zu dem Tag, an dem Inberg in unser Haus kam und meinen Vater erschoss. Zumindest dachte ich, dass er das getan hat.“
 

Der Blick des Jungen glitt noch einmal zu Scotts Fernseher. Ihm war anzusehen, dass er nicht glauben konnte, was er dort sah. Er war der felsenfesten Überzeugung gewesen, dass sein Vater tot war, nur um jetzt im Fernsehen präsentiert zu bekommen, dass er sich offenbar geirrt hatte. Scott konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, wie sich das anfühlen mochte. Zumal es ihm selbst scheißegal gewesen wäre, wenn sein Vater krepiert wäre. Vielleicht war er es sogar schon, aber viel wahrscheinlicher war, dass der alte Sack aus lauter Bosheit noch am Leben war.
 

„Mach dir nichts draus“, sagte Trix jetzt und ließ den Pop zwischen ihren Lippen rotieren. „So einen Trip hatte ich auch mal. Ist echt kacke, wenn die einem so gestrecktes Zeug andrehen. Wenn ich du wäre, würd ich dem Kerl, der es dir verkauft hat, ordentlich den Arsch aufreißen.“
 

Kael, der offenbar nur die Hälfte von dem mitbekommen hatte, was Trix da von sich gab, erwachte aus seiner Starre.
 

„Was? Ich … ich hab keine Drogen genommen.“

„Ja genau.“

„Wirklich nicht!“

„Nein, nein. Und ich bin die erste schwarze Frau, die Papst wird.“
 

Trix grinste von einem Ohr zum anderen.
 

„Aber wenn du echt nichts geschmissen hattest, solltest du vielleicht mal zum Psychologen gehen. Du weißt schon. 'Ich sehe tote Menschen' und so.“
 

Kael sah nicht aus, als hätte er die Anspielung verstanden. Eher so, als zweifle er an Trix’ Geisteszustand. Etwas, dass Scott ihm nicht verdenken konnte.
 

„Ich weiß, was ich gesehen habe“, beharrte Kael. „Inberg kam am Abend in unser Haus. Ich habe ihn und meinen Vater streiten gehört. Weil ich nicht verstehen konnte, worum es ging, bin ich zum Wohnzimmer geschlichen. Die Tür stand einen Spalt breit auf und dadurch habe ich gesehen, wie Inberg eine Waffe zog und meinem Vater direkt in die Brust schoss. Es … es hat geblutet. Ich habe es ganz deutlich gesehen.“
 

„Schlechter Triii~hiiip“, singsangte Trix, aber Scott war sich da nicht so sicher. Kael wirkte nicht, als würde er Drogen nehmen oder zu Halluzinationen neigen. Eher wie ein Schüler von irgendeiner scheißteuren Elite-Uni. Andererseits waren die stillen Gewässer in der Regel die mit dem meisten Dreck darin. Man musste nur mal kräftig umrühren.
 

„Trix, halt den Mund“, blaffte Scott trotzdem und hörte förmlich, wie die eingerosteten Zahnräder in seinem Kopf sich zu drehen begannen. Irgendetwas an der ganzen Sache schmeckte ihm nicht. Er wusste nur nicht genau, was es war.
 

Hör auf, dir darüber Gedanken zu machen. Der Junge hat sich getäuscht. Du lässt ihn heute Nacht hier bleiben und morgen schaffst du ihn wieder dahin zurück, wo er hergekommen ist. Mit Chance bekommst du dafür sogar eine Belohnung. So stinkreiche Säcke zeigen sich doch bestimmt erkenntlich, wenn man ihnen ihre Brut wiederbringt.
 

Befriedigt wollte Scott sich abwenden um nachzusehen, ob an seiner Schüssel noch etwas zu retten war, als er mitten in der Bewegung innehielt. Es war ihm nicht sofort aufgefallen, aber die Überlegung, wie er Kael wieder nach Hause bekam, machte eine andere Frage unumgänglich:
 

Warum hat Dresner nicht nach dem Jungen gesucht? Er hat ihn sein ganzes Leben lang eingesperrt, um ihn zu beschützen, aber nachdem sein Spross verschwunden war, hatte er nichts Besseres zu tun, als sich mit Inberg an den Verhandlungstisch zu setzen? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.
 

Scott hätte am liebsten laut geschrien oder wenigstens ein paarmal mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen, um diese dämlichen Gedanken da raus zu bekommen. Er wollte nicht darüber nachdenken, warum irgendein Typ, den er nicht mal kannte, irgendetwas tat oder nicht. Er wollte in sein Bett und in Ruhe seinen Rausch ausschlafen, von dem ihm ohnehin schon die Hälfte flöten gegangen war. Es war wirklich zum Kotzen.
 

„Ich brauch was zu trinken“, murmelte er und bedauerte, dass er in der Bar nicht nach einer Flasche zum Mitnehmen gefragt hatte. Es gab einen Laden ein paar Straßen weiter. Da bekam man alles, um sich die Welt ein bisschen bunter und schöner zu machen. Vielleicht konnte er Trix überreden, ihm was zu holen, wenn er ihr was abgab. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich zusammen die Kante gaben. Scotts Mund wurde trocken.
 

„Trix, würdest du …“

„Nein.“
 

Trix’ süffisantem Lächeln entnahm er, dass sie genau wusste, was er wollte. Natürlich hätte er selbst gehen können, aber er traute Kael nicht so weit, um ihn allein in der Wohnung zurückzulassen. Und ihn mitzunehmen, während da draußen Margeras Männer nach ihm suchten, fiel ebenfalls aus.
 

Und wann genau hast du aufgehört darüber nachzudenken, ihn einfach an Margera auszuliefern?
 

Klappe, schnauzte er seine innere Stimme an. Dass ihn dieses Arschloch jetzt auch noch blöd von der Seite anmachte, konnte er nun wirklich nicht brauchen.
 

„Wie viel?“, fragte er und wusste, dass er die Frage bereuen würde. Trix würde ihn ausnehmen wie eine Weihnachtsgans. Alles nur wegen diesem … Bengel!
 

„Ich will mitkommen“, erklärte Trix und vergewaltigte mit sichtlichem Vergnügen ihren Pop. „Will mir mal ansehen, wie diese Kapitalistenschweinchen so leben. Mal saubere Luft schnuppern. Hab gehört, da soll es echt schön sein. Ist bestimmt nett in so einem Haus. Mit Garten. Und Pool. Und jeder Menge Krimskrams, den sowieso keiner vermissen wird.“
 

Scott lachte auf. „Mit anderen Worten, du willst was mitgehen lassen.“
 

„So viel ich tragen kann“, bestätigte Trix. Sie streckte sich auf seinem Bett aus und erinnerte Scott dabei einmal mehr an diese Katze aus Alice im Wunderland. Hätte er jetzt das Licht ausgeschaltet, hätte man vermutlich nur noch ihr Grinsen in der Luft hängen sehen.
 

„Das wird nicht notwendig sein“, warf Kael ein. „Ich … ich bin mir sicher, dass mein Vater euch bezahlen wird, wenn ihr mich nach Hause bringt.“
 

„Wenn er noch lebt“, unkte Trix und reagierte auf Kaels empörten Blick mit einem fast schon unschuldigen Augenaufschlag. „Was? Du bist derjenige mit dem toten Daddy. Meiner liegt nur bekifft auf dem Sofa rum. Sieht aus wie tot, isser aber nicht. Das merkst du spätestens dann, wenn du versuchst, seine Bong zu klauen. Mein Bruder konnte beim letzten Mal drei Tage lang nicht sitzen.“
 

Sie lachte und zeigte dabei erneut ihr mehr als ansehnliches Gebiss. Scott wusste nicht, ob es Typen gab, die auf große Zähne standen, aber wenn, hatte Trix bei denen auf jeden Fall gute Chancen. Aber wo er gerade bei Auffälligkeiten war … Er musterte Kael.
 

„Sag mal, hat der Bursche hier nicht etwa die gleiche Größe wie dein Bruder?“
 

Trix zuckte gelangweilt mit den Schultern.
 

„Könnte hinkommen. Wieso?“

„Weil wir ne Verkleidung für ihn brauchen. Kannst dafür die Klamotten von Pecares haben.“
 

Trix zog die Nase kraus.
 

„Ich glaube, da könnte ich was drehen. Aber dafür krieg ich die Hälfte von Daddys Kohle.“

„20 Prozent.“

„Willst du mich verarschen?“

„Okay, ein Drittel. Aber das ist mein letztes Angebot.“
 

Trix schürzte die Lippen und nickte schließlich. „Deal. Aber ich darf behalten, was ich sonst noch so finde.“
 

Nachdem Scott zugestimmt hatte, machte sich Trix tatsächlich auf den Weg, um ihnen etwas zu trinken zu besorgen. Als sie wiederkam, hätte Scott trotzdem fast aufgestöhnt.
 

„Dein Ernst? Du hast den Fusel deiner Mutter geklaut?“
 

Trix grinste. „Klar, Warum Geld ausgeben, wenn du es auch umsonst haben kannst.“
 

Scott vermied ihr zu sagen, dass man bei dem Zeug, dass ihre Mutter da zusammenmixte, höchstwahrscheinlich fürchten musste, vorzeitig zu erblinden. Er merkte bereits, wie der sanfte Nebel in seinem Kopf abnahm und Dinge zutage förderte, die Scott lieber ungesehen wissen wollte. Von sich selbst und von der Welt.
 

Dankenswerterweise hatte Trix auch Becher mitgebracht. Drei Stück, sodass sie jetzt jedem von ihnen großzügig von dem Gebräu einschenken konnte, das nicht nur von der Farbe her an Motoröl erinnerte.
 

„Auf uns und auf die reichen Säcke, die wir ausnehmen werden“, rief sie und kippte im gleichen Atemzug die Hälfte ihres Schnapses herunter. Danach verzog sie angeekelt das Gesicht. „Boah, das Zeug haut vielleicht rein.“
 

Scott sparte sich seinen Atem lieber und hielt die Luft an, bevor er ebenfalls einen großen Schluck nahm. Nur Kael ließ seinen Becher unberührt.
 

„Was ist?“, fragte Trix und griff schon wieder nach der Flasche. „Los, hopp! Rein damit.“
 

„Ich … ich trinke nicht“, sagte Kael vorsichtig. Der Blick, dem er den Becher schenkte, sprach Bände.
 

„Gut, bleibt mehr für uns“, verkündete Trix und teilte Kaels Portion fast gleichmäßig im Verhältnis 60:40 zwischen sich und Scott auf. Während sie sich danach erneut auf das Bett verzog, beobachtete Scott den Jungen, der ein wenig verloren mitten im Zimmer stand.
 

„Du wirst doch nichts Dämliches anstellen“, meinte er und deutete mit dem Kopf zur Tür. „Dich alleine auf den Weg machen oder so.“
 

Kael lächelte halb und schüttelte den Kopf.
 

„Nein, ich … ich bin froh, dass ihr mir helft.“
 

Als er Scott danach ansah, wurde dem erneut bewusst, wie jung Kael noch war. Sicher, Halbstarke in seinem Alter dachten für gewöhnlich, dass sie unbesiegbar waren, aber in Situationen wie diesen, in denen das Gewicht der ganzen Welt einem auf den Schultern zu liegen schien … Er unterbrach seine Gedanken und starrte ärgerlich auf den Inhalt seines Bechers. So eine sentimentale Scheiße! Ihm hatte damals auch keiner geholfen, als er sich in Kaels Alter nahezu allein durchschlagen musste. Was einen nicht umbrachte, machte einen nur stärker.
 

„Sagt mal, ihr beiden“, flötete Trix vom Bett aus. Ihrer Stimme war anzuhören, dass der Alkohol bereits Wirkung zeigte. „Habt ihr euch eigentlich schon mal überlegt, wie wir nach Eden reinkommen?“
 

Als Scott nicht antwortete, legte sie nach.
 

„Ich mein, da sind ja nicht nur die Wachen und Waffen und jede Menge Kameras und so ein Scheiß. Wenn wir da rein wollen, müssen wir außerdem an AVA vorbei.“
 

„Ava?“ Scotts Gehirnwindungen hatten inzwischen ebenfalls begonnen, langsamer zu kriechen. Er konnte hören, wie sie dabei aneinander rieben. Wie ein Korb voll giftiger Vipern.
 

„Ja, AVA“, bestätigte Trix und unterdrückte ein Hicksen. „Die automatische Verteidigungsanlage, die ganz Eden vor Zugriffen von außen schützt. An ihr kommt nicht mal ein Fliegenschiss vorbei, ohne registriert zu werden.“
 

Scott, der keine Ahnung von diesem ganzen technischen Kram hatte, gestikulierte mit dem Becher in Trix’ Richtung.
 

„Du bist doch hier die Computerexpertin. Kannst du dieses Ding nicht hacken oder so was?“
 

„Nö“, gab Trix wenig jovial zurück. „Das haben schon ganz andere versucht und sind dabei ziemlich grandios gescheitert. AVA ist die uneinnehmbare Festung. Der Endgegner. Die ultimative Beute. Und leider völlig unkorrumpatibel. Parabel? Pierbar?“
 

Während Trix’ Zunge noch mit dem letzten Wort kämpfte, brauchte Scott für diesen Umstand nur ein einziges.
 

„Fuck!“
 

Der Sieg, der gerade noch zum Greifen nahe gewesen war, schien plötzlich in weite Ferne gerückt. Was hatte er sich nur dabei gedacht.
 

„Also …“, sagte Kael plötzlich.
 

Scott bemühte sich, seine getrübte Sicht in einer möglichst geraden Linie auf ihn zu richten,
 

„Wenn es um AVA geht, kann ich möglicherweise helfen.“
 

„Du?“, fragte Trix und lachte laut gackernd auf. „Du würdest doch bestimmt die Shift- mit der Entertaste verwechseln, wenn es nicht draufstehen würde.“
 

Sie kicherte erneut und nahm noch einen Schluck aus ihrem Becher. Kael senkte den Blick.
 

„Also eigentlich kenne ich mich ganz gut mit Computern aus.“
 

Trix gab ein unanständiges Geräusch von sich. „Ach ja? Als Nächstes willst du mir wohl auch noch weismachen, dass du AVA tatsächlich geknackt hast.“
 

Kael lächelte jetzt und Scott konnte Triumph zwischen seinen Lippen erkennen.
 

„Nein“, sagte er und hob den Kopf. „Aber es war mein Vater, der AVA programmiert hat.“

Die Wächter auf der Mauer

Scotts Hände lagen auf dem Rand des Daches, von dem aus er und die zwei anderen den Übergangspunkt nach Eden beobachteten. Hierherzukommen war leichter gewesen, als er gedacht hatte. Nur ein einziges Mal hatten sie Margeras Männern ausweichen und sich so lange in einem leerstehenden Gebäude verstecken müssen, bis die Bande wieder abgezogen war. Den wenigen Passanten waren sie wohl nicht weiter aufgefallen. Sicherlich nicht zuletzt deswegen, weil Trix bei Kaels Umgestaltung ganze Arbeit geleistet hatte. Sie hatte sogar irgendwas mit seinen Haaren angestellt, sodass ihm diese jetzt dunkler und tiefer als je zu vor über beide Augen fielen. Scott hatte keine Ahnung, ob der Junge damit überhaupt noch etwas sehen konnte, aber durch die Kombination mit der schwarzen Atemmaske war so wenigstens nichts mehr von seinem Gesicht erkennbar. Zusammen mit der mit Taschen und Laschen besetzten Jacke, der in geschnürten Stiefeln steckenden Cargohose und der hochgeschlagenen Kapuze sah er aus, als wollte er gleich den nächsten Schnapsladen überfallen. Auf dem Weg hierher hatte Scott das praktisch gefunden. Jetzt war er sich da nicht mehr so sicher.
 

Da waren zum einen die an beiden Seiten der Brücke postierten Grenzposten, die, soweit er wusste, alle zwei Stunden abgelöst wurden. Unterstützt wurden sie bei ihrem Job von Kameras, Sensoren, Selbstschussanlagen und vermutlich auch noch der einen oder anderen versteckten Atombombe, Landmine oder was es sonst noch so zur Abwehr von unerwünschten Eindringlingen gab. Gepanzerte Wacheinheiten vom Typ ZX-12 hatten direkt vor dem dicken Stahltor Aufstellung genommen. Und als wäre das alles noch nicht genug, war Eden auch noch von einer mehr als drei Meter hohen Mauer umgeben. Darüber spannte sich übergangslos ein undurchsichtiger Energieschild. Davor waren auf einem bestimmt 50 Meter breiten Streifen sämtliche Gebäude entfernt worden, sodass sich zwischen ihnen und der Mauer nur nackter, von unzähligen Scheinwerfern gefluteter Erdboden befand. Es war quasi unmöglich, dort hineinzukommen, ohne gesehen zu werden. Ach was quasi! Es war unmöglich.
 

„Und jetzt?“, wollte er wissen und drehte sich zu Kael und Trix um. Letztere war nur minimal dezenter unterwegs als sonst. Zu Tarnzwecken hatte sie sich heute für eine ebenfalls schwarze Jacke und schwarze Schuhe entschieden. Warum sie diese jedoch mit einer neongrünen Hose mit Leopardenmuster kombiniert hatte, war ihm höchst schleierhaft. Außerdem hatte sie offenbar vergessen, sich ein Oberteil anzuziehen, da man im Ausschnitt der Jacke ihren pinken Zebra-BH erkennen konnte. Wenigstens ihre Dreadlocks hatte sie ein wenig gebändigt und zu einem wirren Knoten zusammengebunden, der jetzt wie ein verrutschter Turban auf ihrem Haupt hing.
 

„Wie stellt ihr euch das denn vor? Sollen wir uns einen Zweig vors Gesicht halten und darauf hoffen, dass sie uns nicht entdecken.“
 

„Wenn du irgendwo einen Zweig findest“, gab Trix zurück. Sie hatte die Nase gekraust und war offenbar ebenfalls überhaupt nicht begeistert von dem, was sie da unten sah. „Wir brauchen ein Fahrzeug.“
 

Scott schnaubte. „Und dann? Meinst du, die lassen uns einfach so durch? Oder möchtest du mal ausprobieren, ob das Tor oder unsere Köpfe zuerst nachgeben, indem du es einfach rammst?“
 

„Nein. Aber damit kommen wir erst mal unerkannt bis an die Grenze.“

„Und dann?“

„Improvisieren wir?“
 

Scott knurrte etwas Unverständliches. Improvisieren gefiel ihm nicht. So gar nicht.
 

„Sie hat recht“, sagte Kael plötzlich. „Wir müssen zum Grenzübergang. Wenn ich Zugang zu einem der Terminals bekomme …“
 

„Halt, halt“, unterbrach Scott ihn sofort. „Du willst da rein?“
 

Er zeigte auf das Wachhäuschen, das sich mitten auf der Brücke befand. Kael nickte leicht.
 

„Ja?“

„Okay, alles klar. Möchtest du vielleicht auch noch Pommes dazu?“
 

Der Junge sah ihn verständnislos an. Zumindest nahm Scott das an; es war wirklich schwer erkennbar mit all den Haaren. Mit viel Mühe unterdrückte er ein erneutes Schnauben.
 

„Die lassen dich da nicht rein, Kleiner. Nicht mal, wenn du ganz lieb bitte-bitte sagst.“
 

Kael wollte gerade etwas erwidern, als Trix sich einmischte.
 

„Wir brauchen eine Ablenkung“, bestimmte sie. „Etwas, das Kael genug Zeit verschafft, an deren Rechner rumzufummeln..“
 

Scott lachte auf. „Ach ja? Und wie sollen wir das anstellen? Willst du dich an eine der Wachen heranmachen?“
 

„Uäh, nee, bloß nicht.“ Trix grinste wedelte affektiert mit den Händen. „Ich geb mich doch nicht mit Männern ab. Diese schrecklichen, haarigen Biester, die immer alles antatschen müssen.“
 

„Die eine Wache ist eine Frau“, bemerkte Kael.
 

„Ach echt?“ Trix spähte über den Dachrand. „Woher willst du das wissen?“
 

„Ich, äh …“ Scott konnte an Kaels Stimme hören, wie er rot anlief. „Also sie hat …“
 

Er machte eine eindeutige Geste vor seinem Brustkorb. Trix zog die Augenbrauen nach oben und überprüfte die Aussage. Als sie weitersprach, hörte man die Verachtung in ihrer Stimme.
 

„Die halben Erbsen da nennst du Brüste? Na, ich weiß nicht. Ich mag es lieber ein bisschen üppiger. Zwei Hände voll oder so. Dass nenne ich …“

„Trix! Könnten wir uns bitte weniger auf deine sexuellen Vorlieben als mehr auf das Problem, wie wir nach Eden hineinkommen, konzentrieren?“

„Okay, okay. Ich mein ja nur.“
 

Wieder richteten sich drei Augenpaare auf den Grenzübergang. In der Zeit, in der sie hier saßen, hatte bereits ein Wachwechsel stattgefunden und bis zum nächsten war nicht mehr lange hin. Wenn ihnen nicht bald etwas einfiel, würden ihre Sauerstoffvorräte zur Neige gehen, bevor sie etwas ausgerichtet hatten.
 

„Also schön, ich gehe“, knurrte Scott und machte Anstalten sich zu erheben. Trix brach in gackerndes Gelächter aus.
 

„Du?“, prustete sie. „Sorry, Schätzchen, wenn ich dir das so direkt sagen muss, aber deine Verführungskünste liegen irgendwo bei 273,15 Grad unter Null. Und das ist großzügig geschätzt. Mit dir würde eine Frau maximal mitgehen, wenn du sie dafür bezahlst. Sehr gut bezahlst.“
 

Scotts Hand ballte sich wie von selbst zur Faust. „Ach ja? Und wie sieht dein toller Plan aus?“
 

„Ich werde gehen. Und du wirst mich verfolgen und so tun, als wolltest du mir ans Leder. Die Wachen sind schließlich die Guten, oder nicht? Die würden doch nicht ein hilfloses, schwaches Mädchen auf der Flucht vor einem Unhold im Stich lassen.“
 

Scott verkniff sich Trix darauf hinzuweisen, dass sie so ungefähr wie das Gegenteil von einer Unschuld vom Lande aussah. Immerhin hatte ihr Plan Potential.
 

„Und er?“ Scott wies mit dem Daumen auf Kael.
 

„Der kommt mit. Wir tun einfach so, als hättest du uns beide mieten wollen.“

„Dann bin ich also nicht nur ein Arsch, sondern obendrein auch noch pädophil?“

„Die besten sterben eben jung.“
 

Scott fühlte die Ader an seiner Stirn pulsieren. Am liebsten hätte er diesen dämlichen Frischling mitsamt seines reichen Daddys – tot oder nicht – auf den Mond geschossen. Wobei er sich nicht sicher war, ob er ihnen damit nicht einen Gefallen getan hätte. Das war immerhin ganz schön weit weg von so ziemlich allem.
 

„Fein“, knurrte er schließlich. „Ich mach euch den gewalttätigen Macker. Aber ihr beeilt euch gefälligst? Klar?“
 

„Geht klar, Chef.“
 

Mit Trix’ Grinsen hätte man kleine Kinder erschrecken können. Oder Zahnpasta verkaufen. Kam auf den Standpunkt an. Kael hingegen nickte nur stumm zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
 

„Gut, dann los.“
 

Trix’ schauspielerische Künste waren wirklich nicht von schlechten Eltern. In anderen Zeiten hätte sie vielleicht eine Karriere beim Film vor sich gehabt. Als Hollywood nicht nur eine von Geistern heimgesuchte Ruine auf dem Meeresgrund war. Jetzt beschränkte sich ihr Publikum auf zwei hinter ihren Helmen gesichtslos wirkende Wachleute, aber selbst die schienen beeindruckt.
 

„Hilfe! Hilfe! Er bringt uns um!“
 

Mit nur einem Schuh – ihr Fuß offenbarte eine pinke, nicht zu ihrem BH passende Socke – geöffneter Jacke, aufgelöster Frisur und noch aufgelösterem Gesichtsausdruck rannte sie auf die hell erleuchtete Brücke zu. Kael zerrte sie dabei hinter sich her, als wäre ihnen der Teufel persönlich auf den Fersen. Da ihm diese Rolle zufiel, gab auch Scott sich die allergrößte Mühe.
 

„Komm zurück, du geldgierige Schlampe. Ich hab bezahlt, also wirst du mir jetzt gefälligst einen blasen.“
 

„Da hättest du aber ne Lupe mitbringen müssen“, keifte sie zurück und tat so, als würde sie stolpern. „Aua. Scheiße. HILFE!“
 

Scott versuchte, nicht allzu schnell näherzukommen, um ihr Gelegenheit zu geben, sich wieder zu erheben und näher an das angepeilte Ziel heranzukommen. Dort waren die beiden Wachen bereits in Stellung gegangen.
 

„Verlassen Sie sofort …“, erschallte die Stimme des einen aus dem Vokal-Modul seines Helms, bevor sie von Trix’ schrillem Geschrei übertönt wurde.
 

„So helfen Sie mir doch! Der Kerl hat ein Messer!“
 

Scott verfluchte Trix in Gedanken. Diese Wendung war nicht abgesprochen gewesen. Schnell zerrte er seine Waffe aus dem Stiefel und durchschnitt damit in dramatischer Geste die Luft.
 

„Komm her! Ich schlitze dich auf und dann ficke ich deinen toten Schädel, bis er platzt.“

„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“
 

Trix kreischte in den höchsten Tönen und Scott konnte an der Körperhaltung der Wachen sehen, dass ihr Theater Erfolg hatte. Während der Mann weiter drohend auf ihn zukam, senkte die Frau jetzt minimal die Waffe.
 

„Sie dürfen hier nicht …“, begann sie, doch dann war Trix bereits heran und klammerte sich an ihr fest, als würde ihr Leben davon abhängen. Dass sie damit rein zufällig verhinderte, dass die Frau weiter auf sie zielte, war Scotts Einschätzung nach kein Zufall.
 

„Bitte“, flehte sie und Scott war sich sicher, dass ihr sogar Tränen in den Augen standen. „Sie müssen uns helfen. Der will uns umbringen.“
 

Scott hätte gerne noch weiter die bühnenreife Darstellung genossen, aber vor ihm war ein eminenteres Problem in Form einer auf ihn gerichteten Waffe aufgetaucht.
 

„Bleiben Sie stehen!“, rief der Wachmann und hob drohend den Lauf seiner kinetischen Impulskanone. Die Waffe war auf diese Entfernung nicht tödlich, aber äußerst, äußerst unangenehm, wenn man davon gegen die nächste Wand geschleudert wurde. Unwillkürlich wurde Scott langsamer.
 

„Ich will keinen Stress“, sagte er und hob dabei beschwichtigend die Hände. Dass das Messer, dass er darin hielt, die genau gegenteilige Wirkung hatte, war ihm dabei durchaus bewusst. „Ich will nur die Schlampe und ihren kleinen Freund zurück. Dann lassen wir euch in Ruhe.“
 

„Verlassen Sie die Brücke“, forderte der Wachmann ihn auf. Der Anzug, den er trug, war von einem dunklen Grau, mit schwarzen und winzigen roten Details. Scott konnte nur vermuten, dass das Material zumindest zum Teil kugelsicher war. Mit Sicherheit waren aber Torso, Hals und Genitalien gegen Angriffe geschützt. Blieb die Arterie am Oberschenkel als mögliches Ziel. Wenn er die traf aber nicht vollständig durchtrennte, würde der schnelle Blutverlust erst Bewusstlosigkeit und dann den Tod des Mannes zur Folge haben. Das Problem war nur, dass Scott eigentlich nicht vorhatte, den Kerl umzubringen.
 

Ich muss ihm die Waffe abnehmen.
 

Im Hintergrund hörte er Trix lamentieren, aber die Geräusche verschwammen zunehmend zu einem unwichtigen Rauschen. Wenn er die zweite Wache hierher bekommen wollte, musste er wie eine echte Bedrohung wirken.
 

„Stehenbleiben!“, schrie der Mann vor ihm erneut. Scott war bereits bis auf einen halben Meter an ihn herangekommen und er hatte immer noch nicht geschossen. Das konnte zwei Dinge bedeuten. Erstens, dass er unerfahren war und es Scott leicht fallen würde, ihm sein Gewehr abzunehmen. Die zweite war, dass Scott sich getäuscht hatte und die Waffe scharfe Munition enthielt.
 

Leben ist kostbar, hallte eine freundliche Frauenstimme in seinem Kopf wieder. Der Werbeslogan von Inberg Industries. Wie ironisch.
 

Ich werde es wohl drauf ankommen lassen müssen.
 

Scott machte einen weiteren Schritt auf die Wache zu. Der Gewehrlauf zuckte minimal nach oben. Aber immer noch kein Schuss.
 

„Lassen Sie die Waffe fallen!“
 

Scott tat, als würde er eingeschüchtert anhalten. Er war sich trotz des Visiers sicher, dass der Blick des Wachmanns eher der Klinge als ihm selbst gewidmet war. Das galt es zu nutzen.
 

„Okay, okay“, rief er scheinbar geschlagen. „Ich will keinen Stress mit euch.“
 

Jetzt oder nie!
 

Scott ließ das Messer los und griff im gleichen Moment mit der anderen Hand nach dem Gewehrlauf. Mit einer blitzschnellen Bewegung drückte er ihn zur Seite und an sich vorbei nach oben. Er benutzte den freien Arm, um sein Gegenüber zu sichern und zielte dann mit dem Knie zwischen dessen Beine. Der Wachmann versuchte ihm auszuweichen, aber Scott riss den Arm nach oben und verpasste ihm mit dem Lauf der Waffe einen Schlag gegen den Kopf. Es dröhnte, Scott nutzte den gelockerten Griff der behandschuhten Hände und im nächsten Moment sah sich der Uniformierte einer auf ihn gerichteten Gewehrmündung gegenüber. Scott grinste unter seiner Maske und lud durch.
 

„Ich darf doch?“, fragte er und drückte ab.
 

Die Druckwelle, die sich daraufhin entlud, jagte einen schmerzhaften Rückstoß durch seinen Arm, der ihn gequält aufjaulen ließ. Er hasste Schusswaffen. Auch wenn sie nur bessere Luftgewehre waren. Der Wachmann hingegen wurde von der vollen Ladung erfasst und ein gutes Stück rückwärts geschleudert, bevor er auf dem Rücken landete und stöhnend liegenblieb. Scott wusste, dass er sich wahrscheinlich gerade fühlte, als wäre er von einem Panzer überrollt worden.
 

One down, one to go.
 

„Legen Sie sofort das Gewehr auf den Boden und treten Sie mit erhobenen Händen von der Waffe zurück.“
 

Das befehlende Bellen der zweiten Wache machte Scott klar, dass er es hier mit einem weitaus härteren Brocken zu tun hatte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er den kinderschändenden Scheißkerl gegeben hatte. Mehrere hundert Jahre Evolution hatten an den weiblichen Instinkten zum Schutz des Nachwuchses wohl immer noch nicht viel verändert.
 

„Zwing mich doch, Nutte!“, rief er, wohl wissend, dass er sich auf verdammt dünnem Eis bewegte.
 

„Ich sagte: Hinlegen!“, kam es noch einmal.
 

Scott fletschte die Zähne. „Komm und hol sie dir, Dreckstück!“
 

Im nächsten Moment hörte er einen Schuss und ein gewaltiger Schlag fegte ihn von den Füßen. Die Welt um ihn herum drehte sich, während seine Organe von dem Treffer in alle Richtungen gedrückt worden.
 

Fu- …, konnte er gerade noch denken, bevor er auch schon mit dem Boden kollidierte. Sein Gesicht schrammte schmerzhaft über den Asphalt. Die entsprechende Meldung ging in der Flut der restlichen Schmerzimpulse unter. Alles in seinem Körper funkte SOS und das war nur der gute Teil.
 

„Ich bin zu alt für diesen Scheiß“, flüsterte er erstickt, während er versuchte, wenigstens irgendein Körperteil dazu zu bewegen, sich in eine von ihm gewünschte Richtung zu bewegen. Diese Bemühungen erlahmten, als ein Paar Militärstiefel in Sichtweite kamen und er das Nachladegeräusch des dazugehörigen Gewehrs vernahm.
 

„Liegenbleiben, Arschloch!“
 

Scott hätte beinahe gelacht, wenn das nicht so wehgetan hätte.
 

„Alles, was Sie sagen, Lady.“
 

Er hörte, wie sich die Schritte entfernten und die Wache ihrem Kollegen auf die Beine half. Dass er dabei nicht einen Augenblick aus den Augen gelassen wurde, gehörte natürlich zum Plan. Trotzdem hätte Scott in diesem Moment gerade liebend gerne mit jemandem getauscht.
 

„Ich ruf die Cops“, informierte die Frau den zweiten Mann. „Bleib hier und sorg dafür, dass er nicht wegläuft.“
 

Noch einmal lag Scott ein Lachen auf den Lippen, das jedoch auf halbem Weg seine Kehle hinauf verreckte. Er hatte gerade einfach nicht die Kraft, auch nur einen Muskel zu bewegen. Selbst Atmen war schmerzhaft.
 

„Hey, was macht ihr da?“, hörte Scott aus der Ferne. Der Blick der Wache, die jetzt wieder im Besitz ihrer Waffe vor ihm stand, wankte nicht, doch Scott ahnte, wie es hinter dem Visier arbeitete. Schließlich gewann die Vorsicht.
 

Trottel, dachte Scott, während der Mann sich mit der Warnung, sich gefälligst nicht vom Fleck zu rühren, von ihm entfernte. Als wenn er darauf gehört hätte.
 

Mit aller Gewalt, die er aufbringen konnte, stemmte er sich auf alle Viere hoch. Schon wurden hinter ihm Rufe laut, die ihn dazu aufforderten stehenzubleiben. Scott ignorierte sie und zwang sich mit purer Willensanstrengung in die Senkrechte. Er musste hier weg, wenn er nicht innerhalb der nächsten halben Stunde in einer Zelle landen wollte. Nur, weil es hier draußen keine Polizei gab, hieß das nicht, dass da drinnen auch auf Recht und Gesetz geschissen wurde. Und ein Angriff auf einen Regierungsbeamten gehörte da sicherlich zu den „Major Crimes“.
 

„Stehenbleiben!“
 

„Du mich auch mal“, knurrte Scott und sortierte immer noch seine Beine, als plötzlich jemand an ihm vorbei rannte. Verfolgt wurde die Person von einem wehenden Wischmob aus pinken Dreadlocks.
 

„Los, Scott, hopp hopp. Schwing die Hufe.“

„Hufe …? Ich geb dir gleich Hufe!“
 

Er unterdrückte einen erneuten Fluch, als er jetzt hörte, wie hinter ihm Verstärkung angefordert wurde. Es übertönte fast den Klang des Abzugs, der durchgezogen wurde. Fast. Gerade noch rechtzeitig ließ Scott sich fallen. Der Schuss raste über ihn hinweg und verfehlte zu ihrem Glück auch Trix, die jetzt noch einmal einen Zahn zulegte, Kael dicht auf ihren Fersen.
 

„Scheiße!“
 

Die hallenden Schritte, die hinter ihm näherkamen, machten Scott deutlich, dass er ganz gewaltig in eben dieser saß. Er musste hier weg und zwar pronto.
 

„Sie sind verhaftet.“
 

Der Kampfroboter, der wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte, brachte Scott ins Straucheln. Beinahe wäre er mit der Blechbüchse zusammengestoßen, die mit der immerhin beachtlichen Größe von 2,20 m vor ihm aufragte. Allerdings waren die Kanonen an ihren Unterarmen auf einen Punkt irgendwo in Scotts Rücken gerichtet.
 

„Was zum …?“
 

Scott blieb keine Zeit, sich weiter darüber zu wundern. Der ZX-12 hatte das Feuer auf die Wachleute eröffnet, ohne sich darum zu kümmern, dass sie eigentlich auf der gleichen Seite standen? Was war hier los?
 

Keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund oder so ähnlich?
 

So schnell ihn seine Füße trugen, sah Scott zu, dass er außer Reichweite der durchgedrehten Maschine kam. Hinter ihm konnte er das Sperrfeuer der Laserwaffen hören, die das Wachhäuschen, in dem sich Trix und Kael noch vor wenigen Augenblicken befunden hatten, in Schutt und Asche legten.
 

Vielleicht, weil der Kleine am Computer rumgefummelt hat?
 

Was auch immer der Grund war, er sorgte dafür, dass Scott sich unbehelligt aus dem Staub machen konnte. Ohne sich noch weiter um die jetzt panisch flüchtenden Wachen zu kümmern, beschleunigte er seine Schritte, bog an der nächsten Ecke wahllos ab und dann gleich noch einmal und nochmal, bis er sicher war, dass ihm niemand mehr folgte. Erst dann gönnte er sich eine winzige Ruhepause an einer einladend wirkenden Mauer. Alles an ihm schmerzte und auch seine Lungen verlangten nachdrücklich nach einer Pause. Die Sauerstoffanzeige blinkte hektisch im roten Bereich. Pecares’ Maske hatte anscheinend keinen akustischen Alarm.
 

„Fuck. Der Kampf hat meine letzten Reserven verbraucht.“
 

Er wusste, wenn er noch weiter hier herumirrte, würde er ersticken. Er brauchte Trix und den Rucksack auf ihrem Rücken. Mit zitternden Fingern wählte er ihre Nummer.
 

„Hey, alter Mann, wo steckst du?“
 

„Luft“, war alles, was er zurückgeben konnte. Zu mehr reichte sein Atem nicht. Schon fühlte er den Druck auf seiner Brust anwachsen. Das Gefühl, als würde er langsam unter dem Fuß des eisernen Riesen zermalmt, der ihm gerade noch den Arsch gerettet hatte. Er brauchte Sauerstoff. Jetzt!
 

„Scheiße! Sind gleich bei dir.“
 

Scott hörte nicht mehr, wie sie auflegte. Das Telefon entglitt seinen Händen, die ebenso wie seine Arme binnen Sekunden zu nutzlosen Anhängseln geworden waren. Er wusste, dass es vollkommen aussichtslos war, dass Trix ihn noch rechtzeitig fand. Die Ohnmacht nahte mit der Gewalt eines Güterzugs, die Fassade des Hauses gegenüber kippte zur Seite und …
 

„Hilf mir! Nimm ihm die Maske ab.“
 

Da waren Stimmen, die er sich einbildete. Berührungen an seinem Gesicht. Fremde Hände. Er wollte sie wegschlagen, aber es gelang ihm nicht.
 

„Fuck, er ist schon ganz blau. Los, mach!“
 

Irgendetwas klickte und klirrte, dann wurde etwas gegen sein Gesicht gepresst.
 

„Atme, du verdammter Hurensohn. Atme!“
 

Er bekam einen Schlag und dann noch einen. Der Schmerz ließ ihn nach Luft schnappen. Frischer Sauerstoff flutete seine Lungen. Gierig sog er mehr davon ein. Ja. Ja! Das brauchte er jetzt.
 

„Nimm sie ihm nochmal ab, sonst kriegt er gleich einen Kollaps.“
 

Die Maske wurde kurz entfernt und dann wieder gegen sein Gesicht gedrückt. Langsam klärte sich sein Blick. Ein erschrockenes, blasses Gesicht mit zu vielen, schwarzen Haaren schwebte über seinem.
 

„Geht es dir gut?“, fragte Kael, bevor Trix ihn zur Seite drängte und ihre Nase ebenfalls in Scotts Sichtfeld hängte.
 

„Klar geht’s dem gut. So schnell stirbt man nicht. Nicht, wenn ich es verhindern kann.“
 

Trotz der Situation musste Scott lachen. Er hörte sich an wie ein krepierender Staubsauger.
 

„Bekomme ich Pudding zum Nachtisch, Schwester Trix?“, fragte er und fing sich dafür einen neuen Schlag.
 

„Siehst du?“, sagte sie zu Kael. „Der Kerl ist wie Fußpilz. Einfach nicht totzukriegen.“
 

Trotz des wenig schmeichelhaften Vergleichs war Scott froh, dass er noch am Leben war. Es mochte zwar ein Scheißleben sein, aber es war seins und irgendwie hing er daran.
 

Mit einem Ächzen wälzte er sich auf den Rücken und dann in eine halbwegs aufrechte Position. Er hatte das Gefühl, gleich den Inhalt seines Magens auf dem Gehweg verteilen zu müssen. Nicht, dass da viel zum Verteilen gewesen wäre. Sie hatten seit heute Mittag nichts mehr gegessen und inzwischen war es dunkel geworden.
 

„Nimm deine Finger von mir“, herrschte er Kael an, als der Anstalten machte, ihm beim Aufstehen zu helfen. Eher würde er sich freiwillig in eine Verwertungsanlage werfen, als sich von dem Küken wie ein Tattergreis behandeln zu lassen. „Sag mir lieber, dass ihr Erfolg hattet.“
 

Die Blicke, die sich Trix und Kael daraufhin zuwarfen, gefielen ihm nicht.
 

„Hattet ihr nicht?“, fragte er ungläubig nach.
 

Wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, hätte er gerne sehr laut geschrien.
 

„So halb“, gab Trix schließlich zu wissen und wies auf etwas in Kaels Händen. „Es hat sich rausgestellt, dass der Terminal keinen Zugriff auf das Hauptnetzwerk hat. Aber wir haben das da?“
 

„Und was ist 'das da'?“, schnappte Scott. Er hatte sich doch nicht den Arsch für nichts und wieder nichts aufgerissen, nur damit die beiden Youngster es total versauten.
 

„Das ist ein Tweeter. Eine Überwachungsdrohne.“ Kael hielt ihm den metallenen, mit vier Rotoren ausgestatteten Roboterspion hin.
 

„Das seh ich selber“, fauchte Scott. „Aber was wollt ihr damit?“
 

Kael zuckte zusammen.
 

„Ich … ich hatte gehofft, dass ich damit Ava kontaktieren kann. Sie kann uns einen Zugang nach Eden verschaffen.“
 

Scott hörte die Hoffnung in Kaels Stimme, aber er glaubte nicht daran. Schließlich war die automatische Verteidigungsanlage dazu geschaffen worden, Leute aus Eden draußen zu halten. Wieso zum Geier sollte sie ihnen also helfen, in die Stadt hineinzukommen?
 

Scotts Zweifeln zum Trotz suchten sie sich einen geschützten Platz in der zweiten Etage eines ehemaligen Eisenwarenladens, wo Kael sich am Gehäuse der Drohne zu schaffen machte. Er fummelte an den Drähten im Inneren herum und tatsächlich erwachte das Ding kurz darauf zum Leben.
 

Surrend begannen die vier kleinen Rotoren sich in Bewegung zu setzen und einen Augenblick später erhob sich die kleine Maschine aus Kaels Schoß wie ein Vogel, dessen Flügel nicht mehr gebrochen waren. Ein Vogel, der Scott und die anderen beiden aus einem schwarzen niemals blinzelnden Auge unablässig beobachtete.
 

„Das gefällt mir nicht.“
 

Die Kameralinse richtete sich auf ihn. Scott wich automatisch ein Stück zurück.
 

„Versteht das Ding etwa, was wir sagen?“
 

„Jedes Wort“, bestätigte Kael.
 

Scott blieb der Mund ungefähr zwei Sekunden lang offenstehen. Dann polterte er los: „Sag mal, hast du sie noch alle? Das Ding weiß jetzt, wie wir aussehen und vermutlich auch, wo wir sind. In zwei Minuten wird es hier vor Cops nur so wimmeln. Wir müssen abhauen.“
 

„Geduld“, sagte Kael und wirkte mit einem Mal gar nicht mehr so verunsichert. „Alle Meldungen, die der Tweeter macht, werden zunächst durch Ava geprüft. Sie wird die Nachricht also in jedem Fall zuerst erhalten.“
 

Scott mochte nicht, wie sich das anhörte.
 

„Die AVA ist mehr als ein einfacher Computer“, kam ihm jetzt auch noch Trix zur Hilfe. „Sie kann selbstständige Entscheidungen treffen. Uns eine Luftschleuse öffnen zum Beispiel.“
 

Scott mochte auch nicht, wie sich das anhörte.
 

„Und wenn sie entscheidet, dass wir zwei entbehrlich sind und sie nur Kael wiederhaben will? Werden wir dann wie Ratten irgendwo in einem Tunnel eingesperrt, den das Ding dann flutet? Oder mit einem Gitter aus Laserstrahlen durchkämmt, damit sie uns auch auf jeden Fall erwischt?“
 

Trix zögerte kurz, bevor sie ihre Mundwinkel ein Stück nach oben schob.
 

„Ach was“, sagte sie, doch ihrer Stimme fehlte die gewohnte Leichtigkeit. „So einen Riesenkerl wie dich werden sie doch nicht einfach so zu Fischfutter verarbeiten. Immerhin könnte ne alte Frau aus dir ne Menge Suppe kochen.“
 

Scott antwortete nicht darauf. Es gab keine vernünftige Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das war einer der Gründe, warum Scott sie nie stellte.
 

Kael, der offenbar gar nicht zugehört hatte, stellte sich jetzt vor der Drohne auf. Die Kamera richtete sich mit einem feinen Surren auf ihn, als erwartete sie, dass er sie ansprach.
 

„Ava“, sagte Kael fast schon feierlich. „Hier ist Kael. Ich bin in großen Schwierigkeiten. Mein Vater wurde verletzt oder getötet und ich wurde in einen der äußeren Bezirke verschleppt. Ich konnte zwar fliehen, aber ich muss unbedingt wieder zurück nach Eden. Kannst du mir helfen?“
 

Der Tweeter reagierte nicht. Nichts zeigte an, ob Kaels Nachricht überhaupt aufgenommen, geschweige denn weitergeleitet worden war. Oder was für eine Reaktion sie wohl ausgelöst hatte.
 

In Scotts Vorstellung gingen gerade irgendwo in einem Kontrollraum der Sicherheitszentrale von Eden sämtliche Warnlampen an, eine Sirene ertönte und ein gutes Dutzend Uniformierte machte sich bereit auszurücken, um sie zu stellen.
 

„Und was tun wir jetzt?“, fragte er und wischte das unliebsame Bild beiseite.
 

„Jetzt warten wir“, gab Kael zurück.
 

„Und wie lange?“

„So lange es sein muss.“
 

Scott wollte gerade fragen, ob es nicht ein bisschen genauer ginge, als er draußen das Geräusch eines Elektromotors vernahm. Er stürzte zu einem der leeren Fensterrahmen und konnte gerade noch sehen, wie ein schwarzer Truppentransporter vor dem Haus landete. Entsetzt prallte er zurück und wirbelte im gleichen Atemzug herum.
 

„Sie haben uns gefunden. Los! Machen wir, dass wir wegkommen!“
 

Er packte Kael am Arm und drängte ihn und Trix in Richtung Tür, als plötzlich Leben in die Drohne kam. Das Gerät verließ seinen Beobachtungsplatz und flog direkt vor die rettende Öffnung. Dort angelangt verharrte sie etwa in Kopfhöhe und versperrte ihnen den Weg. Scott wollte schon danach schlagen, als Kael ihn zurückhielt.
 

„Warte. Ich glaube, er will uns etwas sagen.“
 

„Sagen?“, echote Scott. „Was will uns dieses Ding denn bitte sagen? Und was ist mit den Cops, die hier jeden Moment zur Tür reinplatzen werden?“
 

„Cops?“ Trix legte den Kopf zur Seite und lauschte. „Ich hör nix.“
 

Scott, dessen Instinkte immer noch im Fluchtmodus waren, hielt überrascht inne. Trix hatte recht. Da waren keine schweren Schritte, die die Treppe hinaufpolterten. Keine abgehackten Befehle und das ratschende Klicken, mit dem die Waffen entsichert wurden. Nur das leise Summen der Drohne, die immer noch wie angeleimt inmitten der Türöffnung schwebte.
 

„Also schön“, sagte er langsam. „Ich glaube euch, dass wir nicht angegriffen werden. Aber wozu dann der Transporter?“
 

Trix und Kael sahen sich an. Trix’ Blick glitt von dem Jungen zur Drohne und dann zu dem Fenster, an dem Scott gerade noch gestanden hatte.
 

„Also wenn ich es nicht besser wüsste“, meinte sie nachdenklich, „würde ich ja sagen: Unser Taxi ist da.“
 

Scott lachte bitter auf. „Willst du mir etwa weismachen, dass die AVA uns einen Shuttleservice geschickt hat?“
 

Trix hob ein wenig unschlüssig die Schultern. „Wäre möglich. Immerhin kontrolliert sie so ziemlich alles in der Stadt. Auch die Fahrzeuge.“
 

Scott wusste, dass das eine schlechte Idee war. Er wusste, dass er sich nicht in diesen Wagen setzen sollte, damit der ihn wohin auch immer brachte. Er wollte sich nicht auf Gedeih und Verderb dem Willen einer Maschine aussetzen. Aber er wusste, dass er keine Wahl hatte.

 

„Ich hab ein ganz mieses Gefühl bei der Sache“, murmelte er, während er Trix und Kael nach unten folgte. Hinter sich glaubte er, den Tweeter kichern zu hören.

 

Ärger im Paradies

Kühler, mit einem Hauch Zitrone versetzter Sauerstoff drang durch die Lamellen der Lüftungsanlage in das Büro, dessen Jalousien halb herunter gelassen waren. Im entstandenen Halbdunkel saß Amos Inberg vor einem Haufen Fotografien, die einen Kampf vor den Toren von Eden aus verschiedenen Blickwinkeln zeigten. Auf der Holoplatte in seiner Hand war ein Mann mittleren Alters zu sehen, der gerade von einer Impulskanone getroffen wurde. Das Bild spielte den Augenblick, in dem er rückwärts geschleudert wurde, wieder und wieder ab. Der Mann sah überrascht aus.
 

„Wissen wir, wer das ist?“
 

Amos Inberg stellte die Frage in keine bestimmte Richtung. Trotzdem wusste der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde.
 

„Nein“, gab er zu und verzog unmerklich das Gesicht. „Irgendwelche Vorstädter. Wir wissen nicht, was der Grund dafür war.“
 

„Mhm“, machte Amos Inberg. Sein Blick ruhte jetzt auf der dritten Person, die bei dem Überfall dabei gewesen war. Von der Statur her ein männlicher Jugendlicher. Obwohl es nicht an Aufnahmen mangelte, hatten die Kameras den Burschen nur einmal erwischen können. Es war, als wäre er ein Geist.
 

„Hat die Überprüfung der ZX-12-Einheit etwas ergeben?“
 

Der Mann vor dem Schreibtisch schüttelte den Kopf.
 

„Nein, Herr Inberg. Es gab keinerlei Hinweise auf eine Fehlfunktion.“
 

„Mhm“, machte Amos Inberg erneut. „Die Diagnose ein zweites Mal durchführen. Nehmt sie auseinander, wenn es sein muss. Wir können uns nicht erlauben, fehlerhafte Produkte zu liefern. Sollte sich kein Defekt finden lassen, werden die restlichen Einheiten sofort eingezogen und die Verantwortlichen entlassen. Ich erwarte also, dass Sie mir beim nächsten Mal Ergebnisse liefern. Und finden Sie heraus, wer die Leute auf den Fotos sind. Ich will alles. Namen, Daten, ihre Blutgruppe, wenn es sein muss. In spätestens einer Stunde auf meinem Schreibtisch.“
 

„Sehr wohl, Herr Inberg.“
 

Der Mann vor dem Schreibtisch deutete eine Verbeugung an, bevor er das Büro verließ und dessen Besitzer allein zurückließ. Der griff erneut nach dem Foto, auf dem die unbekannte Gestalt zu sehen war. Man konnte das Gesicht nicht erkennen, aber Amos Inberg war sich sicher, dass er wusste, wie er aussah.
 

„Dein Sohn“, sagte er mit leichtem Spott in der Stimme. „Wie es scheint, hast du ganze Arbeit geleistet. Er zeigt Initiative.“
 

Eine Gestalt, die bisher in den Schatten gestanden hatte, trat vor und ein verirrter Lichtstrahl brach sich in den Gläsern einer runden Brille.
 

„Ich könnte ihn suchen gehen. Er wird mir vertrauen.“
 

Amos Inberg überlegte einen Augenblick.
 

„Nein“, sagte er dann. „Das wird nicht notwendig sein. Ich denke, ich weiß, wo er hingehen wird. Immerhin ist er ein Kind, nicht wahr? Und wohin gehen Kinder, wenn sie sich fürchten? Sorgen wir also dafür, dass alles für seinen Empfang bereit ist.“
 

„Eine wundervolle Idee“, stimmte die Gestalt mit der Brille zu. Ihr ausdrucksloses Gesicht zeigte dabei keinerlei Regung.
 


 

„Ich bin immer noch der Meinung, dass das hier eine ganz beschissene Idee ist“, knurrte Scott, während er sich auf einem der Sitze des Truppentransporters niederließ. „Das Ding hat nicht mal einen Fahrer.“
 

„Weil die AVA es steuert“, erklärte Trix und verdrehte die Augen. „Das Ding ist kugelsicher, feuerfest, wasserdicht und atmungsaktiv. Was willst du denn noch?“
 

„Ich will, dass hinter dem Steuer einer sitzt, dem ich notfalls eine Kugel in den Kopf jagen kann, wenn mir nicht gefällt, wohin er mich bringt.“

„Als wenn du je eine Knarre in die Hand nehmen würdest.“
 

Scott wollte noch etwas erwidern, aber da schloss sich bereits die Tür und der Transporter erwachte mit einem leisen Summen zum Leben. Die Maschine hob vom Boden ab, wendete auf der Stelle und setzte Kurs in Richtung Eden. Scott beobachtete die näherkommende Stadtmauer mit zunehmender Sorge.
 

„Was, wenn sie uns filzen?“, fragte er. Er wusste, dass die Fenster blickdicht waren. Trotzdem zweifelte er daran, dass man sie einfach so durchlassen würde.
 

„Werden sie nicht“, erwiderte Trix.
 

„Und warum nicht?
 

Trix verzog den Mund zu einem freudlosen Grinsen.
 

„Weil sie annehmen werden, dass wir ein Sicherheitsteam aus den äußeren Sperrbezirken sind. Hast du die Bagdes nicht gesehen?“
 

Scott antwortete nicht auf diese Frage. Jeder kannte die Fahrzeuge mit den gelben Abzeichen. Und niemand wollte mit den Insassen tauschen. Sie kamen von dort, wo die Wiederverwertung stattfand.
 

„Na schön“, knurrte er einigermaßen beruhigt. „Aber wenn das Ding hier uns geradewegs zum nächsten Polizeirevier bringt, ist das allein deine Schuld. Und deine!“
 

Er wies mit dem Zeigefinger auf Kael, der mittlerweile die Kapuze abgenommen hatte. Der Junge zuckte schuldbewusst zusammen, entspannte sich jedoch im nächsten Moment wieder.
 

„Ich vertraue Ava. Sie würde mich nie hintergehen.“

Sie vielleicht nicht. Aber was ist mit dem Kerl, der deinen Vater auf dem Gewissen hat? Oder angeblich auf dem Gewissen hat. Wer sagt dir, dass der diese Ava nicht auch unter seine Kontrolle gebracht hat?“
 

Kael überlegte kurz, bevor er den Kopf schüttelte.
 

„Das ist unmöglich. Ava ist ein vollkommen autarkes System. Sie kann nicht umprogrammiert werden. Ihre Aufgabe ist es, das Leben jedes Bewohners von Eden sicherer zu machen.“

„Und warum hat sie dann zugelassen, dass dein Vater erschossen wurde?“
 

Der Junge senkte betreten den Blick. Scott wusste, dass er zu weit gegangen war und doch nicht weit genug. Es wurde Zeit, dass dieser Bengel endlich verstand, dass das hier kein Videospiel war. Nicht, dass nicht mehr als die Hälfte seiner Generation ihre komplette Zeit damit verbrachte, genau das zu denken, aber hier draußen gab es keinen Reboot. Kein Extraleben. Keine fliegenden Ponys und regenbogenfarbenen Schmetterlinge, die einem jeden Wunsch erfüllten, wenn man noch eine Münze einwarf. Das hier war echt. Und es war verdammt gefährlich!
 

„Boah, seht euch das an! Wir kommen nach Eden!“
 

Trix’ Begeisterung ließ Scott seine Aufmerksamkeit von dem gebeutelten Teenager zu den Fenstern verlegen. Sie hatten das Ende der Brücke erreicht und was auch immer es war, als das dieses Fahrzeug ausgewiesen war, die Sicherheitsleute ließen es passieren und die elektronischen Sperren deaktivierten sich selbsttätig, sobald sie sich näherten. Ohne Verzögerung glitt der Transporter auf das große Tor zu, das den Zugang zur Stadt darstellte.
 

„Sesam öffne dich!“, rief Trix und tatsächlich begannen die schimmernden Stahlflügel sich in diesem Moment voneinander zu entfernen. Trix grinste wie ein Honigkuchenpferd. Sie streckte den Wachen, die draußen Spalier standen, die Zunge raus und lehnte sich in ihrem Sitz zurück.
 

„Ich fühle mich wie eine Königin.“
 

Scott hingegen betrachtete nervös die großen ZX-12-Einheiten, die immer noch neben dem Tor postiert waren. Er hatte nicht vergessen, wie eine dieser Kampfmaschinen wie aus dem Nichts gewachsen vor ihm gestanden hatte. Noch einmal warf er den menschenähnlichen Maschinen einen prüfenden Blick zu, bevor sie von der Mauer verschluckt wurden. Im nächsten Augenblick öffnete sich vor ihm eine völlig andere Welt.
 

Gigantische, hell erleuchtete Fassaden in den unterschiedlichsten Farben und Formen füllten die Sichtfenster. Spitz, rund, oval, konisch geformt oder kuppelartig ragten sie in den Nachthimmel und erhellten ihn bis zur Unkenntlichkeit. Die ganze Stadt schien vor Leben zu pulsieren, als wäre sie selbst ein lebendes, atmendes Geschöpf. Ihre Nervenimpulse rasten auf leuchtenden Datenautobahnen und grellen Straßen durch die Dunkelheit und drängten das echte Leben zurück. Reduzierten es auf ein Minimum. Ein Schalterdrücken, einen Fingerabdruckscan, ein Durchziehen der Datenkarte durch den unerbittlichen Schlitz der Maschinerie. Hier konnte man alles bekommen und hatte doch nichts in der Hand. Gehetzt, gejagt, getrieben vom ewigen Kreislauf des Konsums konnte man sich hier selbst verlieren. Bis zur Unkenntlichkeit und noch viel weiter.
 

„Guck mal da. Die Inberg Towers!“
 

Trix deutete nach rechts, wo ein wenig abseits der Hauptstraße zwei in sich gedrehte Doppeltürme sichtbar geworden waren. Zwischen ihnen prangte eine holographische Projektion des allseits bekannten Logos, das allein durch seine Größe Ehrfurcht gebietend war. Da mochten die anderen mit ihren Regenbogenfarben, Lavalampeneffekten und Goldfontänen noch so sehr versuchen, mit diesem Monument an Macht und Einfluss zu konkurrieren. An die Bedrohlichkeit der klaren, kalten Strukturen kamen sie nicht heran.
 

Unbehaglich wandte Scott den Blick ab und konzentrierte sich wieder darauf, die vorbeirauschenden Sensationen zu bestaunen. Ein Schwarm leuchtend oranger Fische, der zwischen den Hochhäusern herumschwamm zum Beispiel. Oder die asiatische Tänzerin, die auf der Spitze eines gedrechselten Turms unablässig Pirouetten drehte. Je weiter sie kamen, desto mehr nahmen die Effekte zu. Die Werbung, das Blinken, das Leuchten, das Rauschen. Holographien, die überlebensgroß demonstrierten, wie viel Spaß man hier haben konnte. Doch das Gefühl der eiskalten Hand in seinem Nacken blieb. Es nahm erst ab, als sie die neondurchflutete Hochburg verließen und in die niedriger bebauten Wohnviertel kamen. Doch auch hier gab es deutliche Unterschiede zu den schachtelartigen Wohnblöcken, die Scott kannte. Weiche, organische Strukturen, nachgebildet aus Stahl, Glas und Beton erweckten den Eindruck, einer lebendigen, blühenden Landschaft. Es gab sogar …
 

„Bäume!“, rief Trix und deutete auf eine durchsichtige Kuppel, unter der ein Biotop angelegt worden war. Eine grüne Oase inmitten all des sandfarbenen Steins, das sie umgab. Das Herzstück bildeten einige kerzengerade gewachsene Stämme mit üppigen Blattkronen von einem fast schon schmerzhaft intensivem Grün.
 

„Ich hab das ja schon im Fernsehen gesehen, aber in echt ist das noch viel geiler.“
 

Ehrfurcht schwang in Trix’ Stimme mit und auch Scott konnte sich dem nicht so ganz entziehen. Er hätte sich vermutlich nicht einmal ein Blatt vom untersten Ast dieses Baumes leisten können, und doch zog ihn der Anblick magisch an. Es war, als wäre man in die Vergangenheit eingetaucht. Zurückgereist in die Welt der Dinosaurier, um das Unfassbare hautnah mitzuerleben. Doch immer noch brachte sie der Transporter weiter weg von der Mauer.
 

„Sind wir bald da?“, knurrte Scott, nachdem sie den letzten Wohnkomplex schon eine Weile hinter sich gelassen hatten. Stattdessen beherrschte jetzt Dunkelheit die Szenerie, nur ab und an unterbrochen von einer seltenen Straßenlaterne.
 

Würde mich nicht wundern, wenn wir irgendwann in der Wüste landen.
 

Ob das Avas Plan war? Sie einfach immer weiter weg von allem zu schicken, um sie dann mitten in den Wastelands auszusetzen. Den unendlichen, grauen Ebenen, in denen es nichts als Tod und Staub gab. Wer dort landete, kam nie mehr zurück.
 

Als wäre das das Stichwort gewesen, wurde der Transporter langsamer. Er schwebte nur noch einige Meter weiter, bevor er mitten auf der Fahrbahn stehenblieb. Die Tür öffnete sich von selbst und Scott konnte gerade noch rechtzeitig die Atemmaske aufsetzen, bevor kühle, sauerstofflose Nachtluft über ihn hinweg schwappte.
 

„Was zum … Was soll das? Warum halten wir an?“
 

Ein Blick nach draußen verriet ihm, dass um sie herum tatsächlich gähnende Leere herrschte. Es war totenstill und nicht einmal der Wind war zu hören. Nur sein eigener Atem in der Maske. Auch die beiden anderen schienen nicht zu wissen, was los war.
 

„Kael?“ Trix klang seltsam unsicher. „Weißt du, wo wir sind?“
 

Der Junge lehnte ein Stück nach vorn und runzelte die Stirn.
 

„Ich glaube, von hier aus ist es nicht mehr weit bis zu unserem Haus.“

„Und warum halten wir dann an?“
 

Scott war sein Ärger anzuhören. Das hier kam ihm immer mehr wie ein dummes Spiel vor. Eines, bei dem niemand sich die Mühe gemacht hatte, ihm die Regeln zu erklären.
 

„Vielleicht sollten wir dort hingehen“, sagte Trix und wies in die Richtung, in die Kael gezeigt hatte. Sofort schüttelte Scott den Kopf.
 

„Ganz, ganz dumme Idee. Niemals den sicheren Wagen verlassen. Das weißt du.“
 

Sie schnaubte leise.
 

„Ach ja? Und was sollen wir deiner Meinung nach stattdessen tun? Hier sitzenbleiben und Däumchen drehen, bis uns die Luft ausgeht?“
 

Scott wollte etwas darauf erwidern, aber er konnte nicht. Denn Trix hatte zweifelsohne recht. Sie konnten nicht hierbleiben. Früher oder später mussten sie hier weg und einen Unterschlupf suchen. Und wenn sie nicht wussten, wie weit das nächste Gebäude entfernt war, brachen sie besser sofort auf. Je eher sie dort waren, desto besser.
 

„Na schön“, knurrte er und schob sich an Trix vorbei. „Aber ihr bleibt hinter mir.“
 

Draußen vor dem Fahrzeug sah Scott sich noch einmal um. Jetzt, wo seine Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, konnte er schemenhaft die Umrisse der Straße erkennen. Sie führte schnurgeradeaus auf ein unbekanntes Ziel zu.
 

Ich hab immer noch ein verdammt mieses Gefühl bei der Sache.
 

Langsam setzte er sich in Bewegung. Die anderen folgten ihm und so fiel der Transporter bald hinter ihnen zurück, wurde zu einem unförmigen Fleck, einem Schatten und schließlich ganz von der Umgebung verschluckt. Für eine Weile war um sie herum nichts als die Straße zu ihren Füßen, die irgendwo an den Seiten abbrach und in verlassenes Nichts überging. Als Scott jedoch genauer hinsah, konnte er am Wegesrand etwas ausmachen. Es sah aus wie …
 

„Eine Ruine?“
 

Trix war näher gekommen und hatte zu ihm aufgeschlossen. Gegen die Schwärze der Nacht war sie fast nicht erkennbar. Nur ihre Augen und ihre Haare weigerten sich hartnäckig, mit der Finsternis zu verschmelzen.
 

„Das alte Kraftwerk“, gab Kael zur Auskunft. „Es befindet sich direkt neben unserem Grundstück. Wir müssten also gleich da sein.“
 

Tatsächlich machte die Straße jetzt eine leichte Kurve und der Umriss eines Hauses schälte sich aus der Dunkelheit. Als sie näher kamen, flammten plötzlich Scheinwerfer auf. Geblendet hob Scott die Hand, um sich gegen die plötzliche Helligkeit abzuschirmen. Als er zwischen den Fingern hindurchblinzelte, sah er ein modernes Gebäude. Heller Stein, weiße Fenster, eine überdachte Terrasse auf dem Dach. Trotz der abstrakten Form sah es aus wie aus einem Guss gefertigt. Als jetzt nacheinander die Lampen im Inneren angingen, spannte Scott sich unwillkürlich an. Es erschien jedoch keine verdächtige Silhouette am Fenster. Nur warm erleuchtetes Glas in einem freundlich wirkenden Haus. Zu freundlich für Scotts Geschmack.
 

„Das gefällt mir nicht“, murmelte er und duckte sich hinter den Steinwall, der die Einfahrt markierte. „Auf dem Weg zur Tür gibt es keinerlei Deckung. Ein Scharfschütze und wir sind innerhalb einer Minute nur noch drei erkaltende Körper auf einem fein säuberlich geharkten Sandplatz.“
 

„Du denkst, dass es eine Falle ist?“, wollte Trix wissen.
 

„Natürlich ist es eine Falle. Das war alles viel zu einfach. Ein Wagen, der uns fast bis zur Tür bringt, ein leeres Haus ganz ohne irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen …“
 

Scott wollte weitersprechen, aber Kael unterbrach ihn.
 

„Du hast recht“, sagte er. „Da stimmt tatsächlich etwas nicht.“
 

Bevor Scott etwas erwidern konnte, sprang Kael auf und lief direkt auf das Haus zu. Scott wollte ihn zurückreißen, aber er war nicht schnell genug. Der Junge entwischte ihm und lief schnurstracks in sein Verderben.
 

Scott wartete.
 

Und wartete.
 

Aber der Schuss, den er jeden Moment zu hören fürchtete, blieb aus. Stattdessen erreichte Kael unbehelligt die Haustür.
 

„Sie steht offen“, sagte er und drückte zum Beweis gegen die cremefarbene Front. Die Tür schwang nach innen auf und gab den Blick auf einen Hausflur frei. Auch dort war niemand zu sehen. Trotzdem konnte sich immer noch ein Angreifer in einem der Räume versteckt halten, bis sie hereingekommen und die Falle zugeschnappt war.
 

„Kommst du, Scott?“
 

Trix hatte sich erhoben und machte Anstalten, Kael zu folgen. Entschlossen hielt Scott sie zurück.
 

„Du gehst da nicht rein.“

„Ach, und warum nicht?“

„Weil ich es sage.“
 

Trix lachte auf.
 

„Sorry, Schätzchen, aber du bist nicht meine Mutter. Und selbst wenn, würde ich nicht auf dich hören. Hier draußen ist es dunkel. Und kalt. Und unheimlich. Also werde ich mich lieber mit dem befassen, was mich da drinnen erwartet, als mir weiter hier draußen den Arsch abzufrieren.“
 

Damit machte sie sich aus Scotts Griff los und marschierte geradewegs durch die Haustür.
 

Ich sollte gehen. Ich sollte diese beiden Hohlköpfe einfach ihrem Schicksal überlassen und machen, dass ich hier wegkomme.
 

Scott seufzte.
 

„Und natürlich tue ich es nicht.“
 

Noch einmal ließ er seinen Blick über das erleuchtete Haus schweifen. Es schien unbewohnt. Vollkommen. Und genau das war es, was Scott so misstrauisch machte.
 

Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er, während er langsam über den knirschenden Kies auf das so einladend wirkende, helle Rechteck zuging. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht und ich bin mir nicht sicher, ob ich herausfinden möchte, was das ist.
 

Im Haus angekommen musterte er die Türfassung. Die Tür war nicht aufgebrochen worden, so viel stand fest. Da gab es keinerlei Einbruchspuren, keine Kratzer oder Ansätze von Werkzeugen. Wer immer hier hindurchgegangen war, hatte entweder einen Schlüssel gehabt oder war hineingelassen worden.
 

Als er Kaels Stimme hörte, ließ er die Tür Tür sein und ging weiter ins Innere. Er fand den Jungen mit Trix zusammen im Wohnzimmer. Instinktiv sah Scott sich nach Kampfspuren oder einer verräterischen Blutlache auf dem Boden um, doch da war nichts. Der Raum war penibel aufgeräumt.
 

„Sie ist weg“, wiederholte Kael noch einmal. Trix stand daneben und hob, als Scott sie fragend ansah, abwehrend die Hände.
 

„Schau mich nicht so an, ich hab es nicht genommen.“

„Was denn?“

„Keine Ahnung.“

„Ava!“

„Was?“
 

Kael verdrehte die Augen, wie es nur Teenager können, die gerade mal wieder festgestellt haben, dass Erwachsene aber auch so gar nichts kapieren.
 

„Ava. Jemand hat sie deaktiviert. Ihre Sendestation hier im Haus ist offline. Das müsste eigentlich unmöglich sein. Nur mein Vater hat Zugang zu diesem Terminal.“
 

Scott brauchte zwei oder vielleicht auch fünf Sekunden, bis er verstand, was Kael da brabbelte, während er hektisch auf einem Terminal in der Wohnzimmerwand herumtippte. Als Antwort auf seine Bemühungen gab das Gerät nur immer wieder ein ablehnendes Summen von sich. Frustriert hämmerte der Junge mit der Faust gegen die Wand.
 

„Das gibt es doch nicht.“
 

Bevor er jedoch wieder aus dem Raum rennen konnte, schnappte ihn Scott sich und hielt ihn fest.
 

„Jetzt mach mal halblang. Ich dachte, wir sind hier, weil dein Vater ermordet wurde. Oder vielleicht ermordet wurde. Und jetzt machst du so einen Aufstand wegen eines Computerprogramms?“
 

Kael funkelte ihn unter seinem Pony heraus wütend an.
 

„Ava ist nicht nur ein Programm. Sie ist … Egal! Tatsache ist, dass sie die Überwachung des Hauses regelt. Aber jetzt ist alles offline. Deswegen konnte uns der Wagen auch nicht herbringen. Jemand hat diesen ganzen Bereich vor Avas Zugriff gesichert.“
 

Scott verstand zwar nicht, was das bedeutete, dafür schienen diese Worte Trix umso mehr Auskunft zu geben.
 

„Aber wie ist das möglich“, sagte auch sie jetzt. „Man kann die AVA nicht einfach so deaktivieren. Nicht, ohne Aufsehen zu erregen und mindestens ein Dutzend Cops auf den Plan zu rufen.“
 

„Und doch ist es passiert“, gab Kael aufgebracht zurück. „Ich hatte so eine Ahnung, als der Annäherungsalarm nicht ausgelöst wurde, aber als ich dann noch die offene Tür fand, war mir klar, dass hier etwas nicht stimmte.“
 

Scott sah Kael an, der immer noch vollkommen zu sein aufgelöst schien.
 

„Und du bist dir ganz sicher, das niemand sonst Zugang hatte?“

„Ja!“
 

Scott sah sich noch einmal in dem tadellos aufgeräumten Raum um. Nichts sprach dafür, dass hier ein Kampf stattgefunden hatte. Gut, es sprach auch nichts dafür, dass hier eine Leiche gelegen hatte. Aber Blutlachen ließen sich beseitigen. Aus leidiger Erfahrung wusste Scott jedoch, dass bei einer Schlägerei immer irgendwas zu Bruch ging, mit dem man nicht gerechnet hatte. Das knirschende Splitter und Scherben in irgendeinem entlegenen Winkel hinterließ, wo die Cops sie dann finden und einen anhand dieser Scheiße überführen konnten. Aber das war hier nicht der Fall. Hier hatte keine wilde Verfolgungsjagd rund um den Couchtisch stattgefunden. Er wusste es einfach.
 

„Dann gibt es wohl nur noch eine Möglichkeit“, sagte er langsam.

„Und die wäre?“

„Dein Vater hat Ava abgeschaltet.“
 

Kael starrte ihn an, als hätte er gerade verkündet, dass die Erde im Inneren aus Wackelpudding bestand.
 

„Aber …“, stammelte er nach einer Weile, „warum hätte er das tun sollen? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.“
 

Kael wandte den Kopf ab. Scott konnte sehen, wie es darin arbeitete. Auch Trix hatte die Stirn gekraust.
 

„Was, wenn dein Vater das Treffen mit Inberg geheim halten wollte? Du hast gesagt, Ava zeichnet alles auf, was hier im Haus passiert.“
 

Kael nickte langsam. Die Falten auf Trix’ Stirn wurden noch tiefer.
 

„Das heißt, es müsste noch Aufzeichnungen darüber geben, wie er die Anlage abgeschaltet hat, oder nicht?“

„Eigentlich schon.“
 

Auf Trix’ Gesicht begann sich ein Grinsen auszubreiten.
 

„Worauf warten wir dann noch? Lass uns die Dinger sichten.“
 

Nach einem kurzen Zögern brachte Kael sie in ein Arbeitszimmer. Auch hier hatte Scott das eigenartige Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sein Blick glitt über die Bücherregale, die Leseecke, die Wände mit den nichtssagenden Kunstdrucken bis hin zu dem Schreibtisch, auf dem nichts herumlag. Nur ein Foto in einem gläsernen Rahmen stand an der Seite. Es zeigte eine dunkelhaarige Frau, die einen kleinen Jungen im Arm hielt.
 

„Ist das deine Mutter?“, fragte er Kael, während der den Rechner startete.
 

„Ja. Das Bild ist einige Wochen vor dem Unglück aufgenommen worden. Es ist alles, was von ihr noch übrig ist.“
 

Als Kael das sagte, klingelte etwas in Scotts Inneren. Bevor er den Gedanken jedoch erwischen konnte, entglitt er ihm wieder, denn auf dem Bildschirm erschienen eine Reihe von Monitorbildern. Sie zeigten verschiedene Räume des Hauses.
 

„Da“, sagte Kael und zoomte einen der Bildschirme heran. „Das ist die Hauptkonsole.“
 

Er betätigte einen Knopf, der den Bildsuchlauf startete. Die Filmaufnahme begann, mit erhöhter Geschwindigkeit abzuspielen. Kael beschleunigte und beschleunigte, bis die wenigen, durch das Bild laufenden Gestalten, nur noch verzerrte Schemen waren. Irgendwann wurde er schließlich wieder langsamer. Sie waren fast am Ende der Aufnahme angekommen. Kael wies auf die Zahlen oben am Bildschirmrand.
 

„Seht ihr? Es ist gleich halb elf. Kurz darauf stand Inberg vor unserer Tür. Ich wollte gerade ins Bett gehen und habe gehört, wie mein Vater ihn reingebeten hat.“
 

Scott starrte gebannt auf den Bildschirm. Man sah die Konsole, die Anzeigen darauf leuchteten und dann … wurde das Bild schwarz.
 

„Was zum … Was soll das denn jetzt?“
 

Trix griff einfach nach der Steuerung und spulte die Aufnahme zurück. Doch wieder war niemand zu sehen, der die Kameras abschaltete. Die Aufnahme endete einfach.
 

„Das ist unmöglich.“
 

Kael ließ das Ganze noch einmal rückwärts laufen, aber selbst mit halber Geschwindigkeit wurde auf dem Band nichts sichtbar, dass einen Systemausfall hätte verursachen können.
 

„Tja“, sagte Scott. „Dann gibt es wohl doch nur die Möglichkeit, dass es technisches Versagen war. Keine Maschine ist perfekt. Sie wurde immerhin von Menschen entwickelt.“
 

Er lachte über seinen Scherz, aber die beiden anderen schienen ihn nicht zu hören. Trix knetete ihre Unterlippe.
 

„Es scheint tatsächlich so zu sein. Es sei denn …“
 

Scott runzelte die Stirn.
 

„Es sei denn, was?“

„Es sei denn, es gibt noch eine weitere Schnittstelle. Kael, zeig mir mal die anderen Räume zum gleichen Zeitraum.“
 

Kael gehorchte. Der einzelne Bildschirm wich wieder den vielen Einzelaufnahmen, die der Junge auf Trix’ Befehl hin langsamer ablaufen ließ. Man sah auf einer von ihnen Kael, wie er in seinem Zimmer saß und las. Sein Vater befand sich währenddessen in seinem Arbeitszimmer. Er saß an dem gleichen Platz, an dem der Junge jetzt gerade saß, sah auf die Uhr, tippte auf seiner Tastatur und dann … wurde das Bild schwarz.

 

„Ha“, machte Trix. „Er hat es von hier aus gemacht. Ich wette, das Ding hat eine zweite versteckte Festplatte. Lass mich mal ran.“
 

Sie schubste Kael von seinem Sitz, rückte sich auf dem weichen Polster zurecht und ließ demonstrativ die Fingerknöchel knacken.
 

„Na dann schauen wir mal, was du so für Geheimnisse vor uns hast.“

 

Trix’ Finger begannen, über die Tastatur zu fliegen. Codezeilen spiegelten sich in ihren Iriden, während sie hochkonzentriert die Datenstrukturen das Computers nach Hinweisen durchforstete. Scott sagte das Ganze gar nichts, aber Kael sah so aus, als würde er verstehen, was Trix da machte. Als sie schließlich erneut ein triumphierendes „Ha!“ von sich gab, wusste allerdings auch Scott, was das zu heißen hatte.
 

„Bist du drin?“
 

„Drin?“ Trix grinste breit. „Ich bin jetzt hier Master of Desaster. Mistress Administrator höchstpersönlich. Und damit kann ich …“, sie tippte ein paar Buchstaben ein, „zunächst einmal die AVA wieder reaktivieren.“

 

Mit dem Drücken der Entertaste gab es ein kurzes Flackern in der Beleuchtung. Es schien, als hätten die Stromleitungen des Hauses einen kurzen Schluckauf gehabt. Als das Licht wieder funktionierte, stand eine Frau mitten im Raum. Scott machte vor Schreck fast einen Satz rückwärts. Kael jedoch sprang auf und lief zu ihr hinüber.
 

„Ava!“

 

Die Frau begann zu lächeln. Erst jetzt bemerkte Scott den feinen, leuchtenden Rand, der ihre Gestalt umgab. Es war ein Hologramm. Allerdings das realistischste, was er je gesehen hatte.
 

„Hallo Kael.“

„Ava. Es tut so gut, dich zu sehen.“

„Sch, ist ja gut. Wir kriegen das wieder hin.“

 

Mit Erstaunen sah Scott, wie sich das Hologramm dazu anschickte, seine Arme um Kael zu legen. Er wusste, dass der Junge das nicht spüren konnte, aber es sah absolut real aus. Viel zu real.

 

Scotts Blick glitt von dem ungleichen Paar zurück zum Schreibtisch und plötzlich wusste er, warum ihm die Frau so bekannt vorkam. Ava war Kaels Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.
 

„Ava.“ Kael hatte sich offenbar wieder gefangen. Er rang sich ein Lächeln ab. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“

 

„Vielleicht an der Stelle, wo dein Vater ermordet wurde?“
 

Scotts Worte führten zu einem erstaunten Stirnrunzeln bei Ava.
 

„Robert ist tot? Aber … wie konnte das geschehen?“

 

„Genau das versuchen wir herauszufinden“, antwortete Scott, bevor ihm wieder bewusst wurde, dass er sich mit einer Maschine unterhielt. Einer Maschine!

 

„Kannst du uns sagen, was am Abend des 27. März hier im Haus geschehen ist?“, fragte er bemüht streng.

 

Ava sah ihn an und schien nachzudenken. Als sie antwortete, lag Sorge in ihrer Stimme.
 

„Ich könnte dir einen Ablaufplan des Abends geben, aber ich glaube, dass du eher an dem interessiert bist, was geschah, nachdem Robert mich deaktiviert hat.“

„Dann hat er es wirklich selbst getan?“

„Ja. Er deaktivierte meine hier im Haus befindliche Sendestation um 22.34 Uhr. Danach hatte ich keinerlei Einsicht mehr in die Vorgänge hier im Haus. Gegen 22.42 Uhr fuhren zwei Wagen in Richtung des Hauses. Ich habe sie verfolgt, bis sie außerhalb meiner Reichweite waren. Um 23.18 Uhr tauchten die Wagen wieder auf meinem Sensorschirm auf. Ich verfolgte sie bis an die Stadtgrenze, wurde jedoch durch ein internes Sicherheitsprotokoll davon abgehalten, dem weiter nachzugehen.“
 

„Von wem kam dieses Protokoll?“, fragte Trix dazwischen.
 

„Inberg Industries.“

 

Für einige Momente sagte niemand ein Wort. Scott wusste, was das bedeutete. Es bedeutete, dass – was auch immer hier an dem Abend passiert war – Inberg seine Finger mit im Spiel hatte. Gleichzeitig war Ava eine – wenngleich auch hübsche – Sackgasse. Sie würden ihnen nicht sagen können, ob Kaels Vater ermordet worden war und von wem. Aber vielleicht …

 

„Ava? Könntest du feststellen, wo sich Robert Dresner momentan aufhält?

„Einen Augenblick bitte.“
 

Ava schloss die Augen und ihre Gestalt begann zu flimmern. Die Wartezeit schien sich zu einer Ewigkeit auszudehnen, bis das Flackern endlich erlosch und Ava die Augen wieder aufschlug.
 

„Tut mir leid, ich habe Robert nirgendwo finden können. Soll ich eine Anfrage an die anderen Biosphären schicken? Möglicherweise ist er dorthin gereist“

 

„Nein“ sagte Kael und schüttelte den Kopf. „Ich … wir haben gesehen, wie er im Fernsehen zusammen mit Amos Inberg den Verkauf des alten Kraftwerks besiegelte. Er muss also noch in der Stadt sein.“
 

„Das würde sich mit den Aufzeichnungen der Häfen decken. Es ist niemand mit seinem Namen an Bord der Fähren gegangen.“

„Also muss er noch in der Stadt sein.“

„Entweder das oder sein Biosignal wird blockiert.“

 

Oder er sendet einfach nicht mehr.

 

Scott hütete sich, den Gedanken auszusprechen, aber für ihn lag die Sache klar auf der Hand. Dresner hatte sich hier mit Inberg getroffen. Die beiden waren über irgendetwas in Streit geraten, Inberg hatte eine Waffe gezogen und geschossen. Danach hatte er den einzigen möglichen Zeugen beiseitegeschafft oder vielmehr: von Margeras Männern beiseiteschaffen lassen. Es erschien Scott zwar reichlich umständlich, den Jungen nicht einfach ebenfalls zu erschießen – eine Leiche mehr oder weniger machte doch nun wirklich keinen Unterschied, zumal niemand etwas von Kaels Existenz wusste. Das Einzige, was Scott jedoch wirklich nicht kapierte, war, wie Inberg es geschafft hatte, Dresner im Fernsehen auftreten zu lassen.

 

Noch ein Hologramm?

 

Inberg verfügte mit Sicherheit über das entsprechende Equipment. Die Frage war dann wiederum, warum diese Täuschung niemandem aufgefallen war. Immerhin hatte die Vertragsunterzeichnung in aller Öffentlichkeit stattgefunden. Scott wollte gerade den Mund öffnen, um eine entsprechende Frage zu stellen, als draußen um das Haus herum die Lichter aufflammten. Alarmiert fuhr er herum.
 

„Was ist hier los?“

 

„Vor dem Haus haben zwei Fahrzeuge gehalten“, informierte ihn Ava sachlich. „Ihr Erscheinen hat die Bewegungsmelder ausgelöst, die unabhängig von meinem System funktionieren.“
 

Scott wollte gerade zum Fenster gehen, aber Kael kam ihm zuvor.
 

„Ava, wer ist das?“
 

Ava blinzelte einmal, bevor sie antwortete.
 

„Bei den sieben Männern, die gerade aus dem Auto steigen, handelt es sich um folgende Personen: Brandom M. Chum, geboren am 24.Mai 2138, Sternzeichen Zwilling, wohnhaft in der Jacobs Street 432, vorbestraft wegen illegalem Waffenbesitz und versuchtem Totschlag sowie versuchtem Mordes in zwei Fällen. Dale S. Flores, geboren am 30. November 2141, Sternzeichen Skorpion, wohnhaft in …“
 

Scott knurrte unwillig.
 

„Das dauert viel zu lange. Ich gehe nachsehen.“

 

Er presste sich gegen die Wand und schob sich innerlich fluchend auf die immens große Glasfront zu.

 

Man könnte wirklich denken, dass die Leute kein Hirn im Schädel haben. Hat denen noch nie jemand gesagt, dass Glas in zwei Richtungen durchsichtig ist?

 

Mit angehaltenem Atem spähte Scott um die Ecke und konnte unten auf dem Sandplatz tatsächlich mehrere Männer sehen, die gerade aus den erwähnten Wagen ausgestiegen waren. Einer von ihnen trug einen auffällig hässlichen, braunen Anzug.
 

„Emile“, zischte Scott und zuckte mit dem Kopf zurück, als der Ganove genau in diesem Moment den Kopf hob und in seine Richtung blickte.
 

„Emile?“, echote Trix ungläubig. „Dann sind das Margeras Männer?

 

„Sieht so aus.“

 

„Ach du Scheiße!“, entfuhr es Trix. Sie sah zwischen den Anwesenden hin und her. „Und jetzt? Was machen wir jetzt?“

 

Scott hatte darauf nur eine Antwort.
 

„Jetzt sollten wir zusehen, dass wir schleunigst von hier verschwinden.“

 

Kein Zutritt

Avas melodische Stimme hielt Scott davon ab, mehr als drei Schritte in Richtung Tür zu machen.
 

„Eine Flucht wird nicht notwendig sein“, informierte sie ihn mit einem nachsichtigen Lächeln. Im nächsten Moment krachten vor den Fenstern schimmernde Stahlwände nach unten. Trix fiel beinahe von ihrem Stuhl und auch Scotts Herz kam ein paar Schläge lang aus dem Takt, bevor er sich wieder fing. Wütend fuhr er zu dem Hologramm herum.
 

„Sag mal, hast du sie noch alle? Wie wäre es mit einer Vorwarnung nächstes Mal?“

 

Ava blinzelte.
 

„Rechnest du damit, öfter in so eine Situation zu kommen?“

„Was?“

 

Ava lächelte freundlich.
 

„Du hast darum gebeten, dass ich dich beim nächsten Mal vorwarne, wenn ich einen Raum hermetisch gegen unerwünschte Eindringlinge abriegele. Deswegen wollte ich wissen, ob du damit rechnest, in Zukunft öfter in so eine Situation zu kommen. Wir könnten eine systematische Desensibilisierung in Erwägung ziehen.“
 

Scott starrte Ava einfach nur an, bis Trix auf einmal zu lachen begann. Sie kreischte regelrecht los und hielt sich den Bauch, während sie auf Scott zeigte und mit Tränen in den Augen verkündete:
 

„Dein Gesicht! Die hat dich voll verarscht, Mann!“
 

Das winzige Zucken von Avas Mundwinkeln zeigte ihm, dass Trix recht hatte. Na toll! Ein Hologramm mit Sinn für Humor.
 

„Haha, sehr komisch“, knurrte er. „Euch ist aber schon klar, dass da draußen eine Bande von Schlägern nur darauf wartet, hier reinzustürmen um … ja, was eigentlich?“
 

Er wandte sich an Kael.

 

„Das Ganze ergibt überhaupt keinen Sinn. Um was geht es hier wirklich?“

 

Kael blickte ihn aus großen Augen an.
 

„Woher soll ich das wissen?“

 

Scott fühlte das Bedürfnis in sich aufkommen, den Jungen zu schlagen. Hart zu schlagen.
 

„Weil du mir immer noch nicht alles erzählt hast. Ich weiß zwar nicht, warum sich Inberg irgendwelche Vorstadtganoven anheuert, um dich und deinen Vater in die Finger zu kriegen, aber es muss irgendwas verdammt Wichtiges sein. Also gibt es in meinen Augen nur zwei Möglichkeiten. Entweder Inberg bekommt, was er will, oder wir sorgen dafür, dass er aufhört danach zu suchen. Was ist dir lieber?“

 

Kael sah immer noch geschockt aus. Langsam schüttelte er den Kopf.

 

„Aber ich weiß es doch nicht.“

 

Scott drehte sich um und begann im Raum auf und ab zu laufen. Entweder das oder er würde etwas kaputtmachen. Etwas Wertvolles. Das viel Lärm machte, wenn es an der Wand zerschellte. Wie diese mit Sicherheit antike Vase da. Oder die hässliche Glasskulptur. Letztere wäre mit Sicherheit kein Verlust gewesen.

 

Trix, die immer noch am Schreibtisch saß, hatte die Stirn in Falten gelegt. Aus dem unteren Stockwerk hörte man undeutliches Rumoren und Schläge von Fäusten oder stumpfen Gegenständen gegen massiven Stahl. Margeras Männer hatten offenbar bemerkt, dass sie in eine Sackgasse geraten waren. Und instinktiv versuchten sie, das Problem durch Graben zu lösen.
 

„Vielleicht versuchst du mal, dich zu erinnern, worum es bei dem Streit ging“, meinte Trix nachdenklich. „Ich denke mal, wenn wir mehr darüber wüssten, kommen wir der Sache eventuell etwas näher.“

 

Kael verzog den Mund.
 

„Ich habe wirklich nicht viel gehört. Nur, dass Inberg von meinem Vater verlangt hat, ein Projekt nicht weiter zu verfolgen. Es hörte sich so an, als wenn es um das gleiche Projekt ging, bei dem damals meine Mutter ums Leben kam. Ganz sicher bin ich mir aber nicht.“

„Und hatte das Projekt einen Namen?“

„Mein Vater und Inberg nannten es immer nur 'Roter Mond'.“

 

Während Scott diese Eröffnung nur ein leises Schnauben entlockte, war Trix offenbar etwas eingefallen. Sie drehte den Stuhl zurück an die Computertastatur und tippte eifrig darauf herum. Als sie etwas fand, hellte sich ihr Gesicht auf.

 

„Bingo. Ich wusste doch, dass mir das bekannt vorkam. Hier auf der zweiten Festplatte ist ein Ordner, der mit den Initialen 'R.M.' benannt wurde. Ich wette, das hat etwas mit dem Projekt zu tun.“

 

Scott und Kael traten hinter Trix, die mit einem feierlichen Gesichtsausdruck den Mauszeiger über den genannten Ordner brachte. Als sie darauf klickte, öffnete sich eine Passwortabfrage. Trix fluchte.
 

„Im Ernst jetzt? Man, das war so klar.“ Sie wandte sich an das Hologramm. „Ava, Liebes, kannst du mir da mal eben helfen?“

 

Ava sah sie freundlich an.
 

„Welche Art von Beistand benötigst du?“

„Ich muss hier ganz dringend mal in diesen Ordner schauen und du kannst mir doch bestimmt das Passwort dafür verraten.“

 

Ava legte den Kopf ein wenig schief.
 

„Aber diese Daten sind geheim. Ich kann sie dir nicht einfach zugänglich machen.“

„Tja, aber wenn wir nicht nachsehen, wird Kael möglicherweise etwas passieren. Das willst du doch nicht, oder? Außerdem wollen wir herausfinden, wo dein … wo Robert geblieben ist. Wenn du also so freundlich wärst?“

 

Ava überlegte einen Augenblick, dann nickte sie.
 

„Nun gut. Diesen Teil der Daten kann ich euch wohl sehen lassen. Weil es die Situation erfordert.“

 

„Herrlich“, murmelte Scott. „Ein Hologramm mit einem Sinn für Humor und einem moralischen Kompass. Was kommt als Nächstes? Fängt sie an zu singen und zu tanzen?“

 

Trix schickte ihm einen bitterbösen Blick, bevor sie sich wieder dem Computermonitor zuwandte. Auf dem Bildschirm füllte sich das Passwortfeld von ganz alleine mit verschlüsselten Zeichen. Im nächsten Moment hatten sie freien Zugang.

 

Mit konzentrierter Miene klickte sich Trix durch die Datenverzeichnisse. Dabei schnalzte sie unzufrieden mit der Zunge.

 

„Das sind einfach nur sinnlose Aneinanderreihungen von … irgendwas. Kein erkennbarer Code oder so. Die reinste Datenmüllhalde.“

„Lass mich mal sehen.“

 

Kael schob sich neben sie und sah konzentriert auf den Bildschirm. Seine Augen irrten hin und her. Dabei wurde sein Gesicht immer undurchdringlicher. Als er sich schließlich erhob, wirkte es wie eine steinerne Maske.

 

„Und?“, fragte Scott ungeduldig. „Hast du was gefunden?“

 

Es dauerte einen Augenblick, bevor Kael antwortete.
 

„Das sind Videodateien.“

 

„Was?“ Trix sah ungläubig auf die abgebildeten Zahlenkolonnen. „Aber das sind reine Datensätze. Nichts als Zahlen und Buchstaben.“

 

„Ja, aber wenn man sie entsprechend konvertiert, werden daraus Bilder. Und Worte.“
 

Scott hatte das Gefühl, dass da noch etwas war, das der Junge nicht aussprach, aber Trix kam ihm zuvor.
 

„Ava? Kannst du die Datei abspielen?“

„Mit Vergnügen.“

 

Die Lichter im Raum verlöschten, nur Ava selbst war noch von einem schwachen, bläulichen Schein umgeben. Im nächsten Moment löste sich ihre Gestalt jedoch auf und wurde von einer neuen Ava ersetzt. Eine, auf die ein unbekannter Protagonist zurannte. Je näher sie kamen, desto größer wurde Ava, bis sie schließlich unendlich hoch vor ihnen aufragte.
 

„Ah, da bist du ja mein Liebling. Komm, lass uns gehen. Daddy wartet.“

 

Ava beugte sich herunter und nahm jemanden auf den Arm. Jemanden mit sehr kleinen Armen und Händen, die er um ihren Hals legte und sie fest an sich drückte. Im nächsten Augenblick erlosch das Bild und die Lichter im Raum gingen wieder an.
 

Scott wusste nicht, was er davon halten sollte. Als er jedoch Kael ansah, war dieser kalkweiß im Gesicht und sagte nur ein Wort:
 

„Mama.“

 

Trix war die Erste, die ihre Sprache wiederfand.
 

„Du meinst, das war deine Mutter? Aber wie …“

 

„Es ist eine meiner letzten Erinnerungen, die ich an sie habe“, flüsterte Kael tonlos. „Es war an dem Tag, an dem der Anschlag geschah. Sie hatte mich gerufen, weil wir zu meinem Vater gehen wollten, um ihn zu überraschen. Ich war so aufgeregt.“

 

Scott hörte, wie Kaels Stimme zitterte. Vermutlich machte sich der Junge irgendwelche Vorwürfe, dass es seine Schuld war oder wie auch immer. Also nichts, mit dem Scott sich befassen würde oder wollte. Seine Probleme wummerten vielmehr unten an die Tür und würden wohl früher oder später einen Weg finden, hier hereinzukommen. Notfalls mit einem Schweißbrenner. Aber selbst wenn nicht, saßen sie hier akut fest.

 

Mit nicht viel Hoffnung wandte Scott sich an Ava.

 

„Gibt es hier noch einen weiteren Ausgang?“
 

Ava lächelte freundlich.
 

„Du bist nicht befugt, diese Information abzurufen.“

„Also gibt es einen.“

„Du bist nicht …“

 

Scott machte eine wegwerfende Handbewegung.
 

„Ja ja, erspar mir deinen Computermist. Sag mir lieber, wer befugt wäre.“
 

Ava warf einen Blick in Kaels Richtung. Der Junge beachtete sie nicht, daher rief Scott ihn an.

 

„Hey! Frag mal deine Ersatzmutter hier, wo ihr euren Notausgang versteckt habt.“

 

Kael erwachte mit einem Zucken aus seiner Starre.
 

„Meine … was?“

 

Scott rollte mit den Augen.
 

„Oh bitte. Ich kann doch nicht der Einzige sein, dem aufgefallen ist, dass Ava genau wie deine Mutter aussieht. Keine Ahnung, welches Schräubchen da bei deinem Vater locker ist, aber …“

 

„Scott!“ Trix funkelte ihn wütend an. „Mal ein bisschen mehr Feingefühl.“
 

„Feingefühl?“ Scott lachte bitter auf. „Dann erklär du mir doch mal wie ich mit Feingefühl Margeras Hunde vor der Tür wegbekomme. Oder verhindere, dass Inberg irgendwann mit dem großen Generalschlüssel ankommt und uns hier rausholt wie ein Kind ein Spielzeug aus einem Greifautomaten. Ich zumindest habe nicht vor hier zu sitzen und Däumchen zu drehen, bis das passiert.“
 

Scott sah, dass Ava anhob ihm zu widersprechen, aber er schnitt ihr einfach das Wort ab.
 

„Und du komm mir jetzt nicht damit, dass da keine Gefahr besteht. Mag ja sein, dass du dich für unfehlbar hältst, aber Tatsache ist, dass Inberg den Jungen unter deinen alles sehenden Augen von hier fortgeschafft hat. Er ist also in der Lage, dich auszusperren. Und wenn er das kann, dann kann er auch hier reinkommen. Notfalls, indem er dir einfach den Stecker zieht, ebenso wie Dresner es getan hat. Deswegen werden wir dieses Spiel jetzt nach meinen Regeln spielen. Wenn es um Leute geht, die nicht gefunden werden wollen, bin hier immer noch ich der Experte.“
 

„Und wenn es darum geht, sich aus irgendwelchen Rattenfallen zu befreien, auch“, ergänzte Trix. Er warf ihr einen angesäuerten Blick zu. Sie grinste.
 

„Ich versuche nur zu helfen.“
 

Ava schaute zu Kael.
 

„Verspürst du ebenfalls das Verlangen, von hier wegzugehen?“
 

Die Art, wie sie die Frage stellte, gefiel Scott nicht. Er sah zwischen dem Hologramm und Kael hin und her. Da war ein kurzer Augenblick. Ein Aufblitzen einer Möglichkeit, doch sie verschwand sofort wieder, bevor er sie richtig erfassen konnte.

 

Vielleicht hab ich mir doch ein paar Gehirnzellen zu viel weggesoffen, dachte er, bevor er zu dem Jungen ging und ihn grob an der Schulter herumriss.
 

„Hör mal, wenn du gerne bleiben willst, bis die einen Weg gefunden haben, dich aufzubringen: Viel Spaß! Aber Trix und ich gehören nicht hierher. Wenn die uns hier drinnen finden, war’s das. Dann sind wir reif für die Wiederverwertung, wenn dafür überhaupt genug von uns übrigbleibt.“

 

Kael sah ihn aus großen Augen an, bevor er langsam den Kopf schüttelte.
 

„Nein. Das lasse ich nicht zu. Ihr … ihr habt mir geholfen. Es wäre nicht fair.“

 

Scott nickte zustimmend. „Da hast du verdammt recht, Kleiner.“

 

„Außerdem brauche ich dich noch.“

 

Scott blinzelte ungläubig. Hatte er sich gerade verhört?
 

„Du … brauchst mich? Also ich find’s ja schmeichelhaft, dass du in mir so ne Art Ersatzvater zu sehen scheinst, aber …“

 

„Nein“, unterbrach Kael ihn. „Ich brauche dich, um meinen Vater aufzuspüren. Ich hatte gehofft, dass er hier ist, aber da sich das als unwahr herausgestellt hat, brauche ich jemanden, der mir hilft, ihn zu finden.“

 

Scott blinzelte noch einmal. Irgendwie hoffte er immer noch, sich verhört zu haben, aber sein Gehirn hatte anscheinend beschlossen, ihm diesbezüglich keinerlei Zweifel zuzubilligen.
 

„Deinen Vater finden?“, wiederholte er. „Aber das ist … Wahnsinn. Ich weiß zwar nicht, wie und warum, aber er befindet sich mit Sicherheit in Inbergs Gewalt, wenn er überhaupt noch am Leben ist. Irgendwo dort, wo nicht einmal Ava ihn findet. Und da möchtest du, dass ausgerechnet ich mich auf die Suche mache?“

 

„Du hast gesagt, du bist der Beste darin.“
 

Für einen Augenblick war Scott sprachlos. Das kleine Aas schlug ihn doch tatsächlich mit seinen eigenen Waffen. Im nächsten Moment polterte er los.
 

„Ja, da draußen bin ich der Beste. In Eden herrschen aber andere Regeln. Da bin ich ein Nichts, ein Niemand. Ich komme nicht mal bis zur Eingangstür, bevor mich irgendwelche Wachen ergreifen, zu Boden werfen und ins nächste Loch schmeißen.“

 

Ein kleines Lächeln erschien auf Kaels Gesicht.
 

„Das passiert aber nur, wenn sie dich auch entdecken, oder?“

„Ja, sicher. Aber mit Hilfe von Ava …“

 

Scott stockte, als ihm klar wurde, was der Junge andeuten wollte. Er sah zu dem Hologramm hinüber.
 

„Du meinst, mit Avas Hilfe könnte es gelingen?“

 

Kael zuckte mit den Schultern.
 

„Sie wäre in der Lage, die Sensoren so zu manipulieren, dass wir nicht aufspürbar sind. Und sie könnte uns Zugang zu so ziemlich jedem Gebäude hier in der Stadt verschaffen.“

 

„Auch zur Bank? Dem Museum? Dem Park?“, fragte Trix interessiert nach. Als Scott sie daraufhin fragend ansah, grinste sie breit.
 

„Was? Ich dachte, wenn ich mir so ein paar Blümchen unter die Jacke stecke, merkt das bestimmt keiner. Die bringen auf dem Schwarzmarkt garantiert ne Menge Geld. Ich mein: echte Pflanzen. Hallo?“

 

Scott schüttelte den Kopf und wandte sich wieder Kael zu.

 

„Okay. Sagen wir mal, es gelingt und wir kommen tatsächlich bis zu Inbergs Hauptquartier. Was versprichst du dir davon?“

 

Kaels Mund zuckte.
 

„Ich … ich will es einfach verstehen. Ich will wissen, warum das alles passiert. Und ich will wissen, was mit meinem Vater geschehen ist.“

 

Das war es, was Kael sagte. Was Scott hörte, war jedoch etwas völlig anderes.
 

„Du willst herausfinden, ob es deine Schuld war“, mutmaßte er. Der ertappte Ausdruck, der daraufhin auf Kaels Zügen erschien, sagte ihm, dass er recht hatte. Scott fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

 

„Meinst du nicht, dass es besser wäre, das alles auf sich beruhen zu lassen? Du kannst Inberg nicht stoppen. Niemand kann das. Dein Vater, der sicherlich schlauer war als wir und verdammt viel mehr Geld und Einfluss hatte, hat es versucht und dafür mit seinem Leben bezahlt. Oder mit etwas Schlimmerem. Denkst du wirklich, dass ausgerechnet wir eine Chance haben, wo er gescheitert ist?“

 

Kael musterte ihn aufmerksam, bevor er antwortete.
 

„Ich weiß es nicht“, sagte er ehrlich. „Aber ich weiß, dass ich es versuchen muss. Ich … ich bin irgendwie verantwortlich für das, was passiert ist. Dafür, dass mein Vater gestorben oder verschwunden ist. Ich fühle es.“

 

Kaels Blick durchbohrte Scott förmlich. Es lag etwas Aufrichtiges darin. Etwas Reines. Scott war versucht, es Naivität zu nennen, aber er wusste, dass es etwas anderes war. Etwas, dass er schon vor langer Zeit verloren hatte. Die Fähigkeit an etwas zu glauben.

 

 

Noch einmal tauchte ein anderes Gesicht vor Scotts innerem Auge auf. Dieses Mal stand das Bett, in dem es lag, nicht in einem Krankenhaus. An der Wand hingen Zeichnungen wie von einem Fünfjährigen, was sicherlich daran lag, dass sie genau das waren. Besagter Fünfjähriger war, obwohl er eigentlich schlafen sollte, noch hellwach und schnatterte auf Scott ein.

 

„Meinst du, der Weihnachtsmann kommt dieses Jahr? Meinst du, ich bekomme das Computerspiel, das ich mir gewünscht hatte? Und den Schock-Kontroller? Und den ferngesteuerten Roboterhund? Was meinst du, Scott? Sag doch mal!“

 

Und Scott hatte dagelegen und sich auf die Lippen gebissen, um nicht zu verraten, dass der Weihnachtsmann doch nur eine Erfindung war. Weil man das als großer Bruder eben so machte.

 

 

Scotts Blick fokussierte sich wieder auf Kael. Der Junge hatte im Grunde genommen nichts mit Charlie gemein. Bis auf diesen Ausdruck in den Augen.

 

Wenn ich ihn allein gehen lasse, werden sie ihn kriegen und dann werden sie ihn brechen, sowie sie es bisher mit jedem getan haben, der sich ihnen in den Weg stellt. Der Junge ist quasi schon tot, er weiß es nur noch nicht.

 

„Also schön“, knurrte Scott und wandte sich ab. „Ich helfe dir. Aber ich mache dich darauf aufmerksam, dass es absolut idiotisch ist. Wir werden den Rest unseres Lebens im Kittchen verbringen.“

 

Und bevor das passiert, jage ich mir selbst eine Kugel in den Kopf.

 

Kaels Mundwinkel hoben sich und auch Trix begann zu grinsen. Ein Ausdruck, der sich in Erschrecken verwandelte, als ein gewaltiger Schlag die Wände des Hauses erzittern ließ. Ein Bild fiel von der Wand und einige Bücher kippten um.

 

„Was … was war das?“, fragte Trix mit weit aufgerissenen Augen. Ava fühlte sich offenbar genötigt zu antworten.

 

„JG-3/M-Explosivgeschoss. Die vorhin genannten Subjekte haben damit versucht, die Tür aufzubrechen.“

„Und hatten sie Erfolg?“

 

Es krachte noch einmal.

 

„Minimalen“, gab Ava zur Auskunft. „Ich habe mir erlaubt, im Gegenzug eines ihrer Fahrzeuge zu eliminieren.“

 

„Elimi…“

„…nieren?“, echoten Scott und Trix gleichzeitig.
 

„Wie das?“, fragte er hinterher, obwohl er die Antwort eigentlich schon kannte.

 

„Mit dem Hochenergielaser, der über dem Eingang angebracht ist. Ich habe damit den Motor explodieren lassen.“

 

Scott mochte sich irren, aber der Gesichtsausdruck des Hologramms wirkte äußerst zufrieden.

 

„Und …“, begann er vorsichtig, „du hast nicht zufällig auch etwas auf Lager, mit denen du die Bande außer Gefecht setzen könntest. Sagen wir mal für immer?“

 

Ava wandte sich ihm zu. Sie lächelte.
 

„Das Töten eines Menschen verstieße gegen meine Programmierung. Ich könnte jedoch dafür sorgen, dass sie von der Tür verschwinden. Immerhin verfüge ich unter anderem über ein Active Denial System.“
 

„Aha“, machte Scott. „Und was ist dieses … Active Denial System?“

 

„Das ADS bewirkt mittels konzentrierter Mikrowellenbestrahlung eine kurzzeitige Erhitzung der Wassermoleküle in der Haut, was im Allgemeinen als sehr schmerzhaft empfunden wird. Experten haben bestätigt, dass es durch die geringe Eindringtiefe nicht zu bleibenden Organschäden kommt. Eine längerfristige Anwendung könnte jedoch zu Brandblasen führen.“
 

„Was bei einigen durchaus eine Verbesserung darstellen würde“, murmelte Scott und dachte dabei an Emiles Gesicht. „Na gut, du kannst sie also vertreiben. Und was dann?“
 

„Sie würden vermutlich außerhalb der Reichweite des ADS warten, bis ihr zu ihnen kommt, um euch dann gefangenzunehmen.“

 

Scott seufzte.

 

„Was uns wieder zu der Frage mit dem Notausgang bringt. Gibt es nun einen oder nicht?“

 

Kael, der einen Blick von Ava auffing, nickte leicht.
 

„Sag es ihnen.“

„Es gibt einen Tunnel, der unterhalb des Hauses bis zum Gelände des alten Kraftwerks läuft. Leider kann ich euch bis dahin nicht folgen, denn meine Sensoren erstrecken sich nicht bis in dieses Gebiet. Wenn ihr dort hingeht, werdet ihr auf euch allein gestellt sein.“

 

Trix knetete ihre Unterlippe, während Scott den Mund zusammenpresste, bevor er schließlich aussprach, was sie alle dachten.
 

„Wir machen es. Aber vorher werden wir uns ausrüsten.“
 

Wie sich herausstellte, verstanden sie alle darunter jedoch etwas Unterschiedliches.

 
 

„Das kannst du nicht mitnehmen.“

 

Trix sah auf die Sachen herab, die sie im Arm trug, und dann wieder zu Scott.
 

„Warum nicht?“

„Weil sie dir nicht gehören. Und vor allem, was ist das?“
 

Scott wies auf etwas das aussah wie eine Badewanne, in der sich zwei nackte Männer Nase an Nase gegenüberstanden. Einer von ihnen hatte eine Halbglatze, der andere trug eine Badekappe. Am Rand der Wanne sah man noch einen Hocker mit einem Handtuch und einer Ente darauf.

 

Trix musterte ihr Fundstück.
 

„Kunst?“, fragte sie vorsichtig.
 

Scott schüttelte den Kopf.
 

„Es ist vor allem schwer. Und hinderlich. Und absolut unhilfreich, wenn es darum geht, Margeras Männer auszuschalten.“

 

„Ich könnte es ihnen an den Kopf werfen“, schlug Trix vor, aber Scott blieb hart.
 

„Das Ding bleibt hier, ebenso wie der andere Krempel. Du solltest dich doch um Vorräte kümmern. Kael ist auf der Suche nach Sauerstoff.“

 

Als der Junge um die Ecke kam, sah Scott ihn fragend an. Als Antwort bekam er ganze drei Sauerstoffkapseln gezeigt. Scott fluchte leise.

 

„Warum ist dieser Haushalt nur so unheimlich schlecht auf eine Flucht vorbereitet?“
 

Als es noch einmal vor der Haustür krachte, meinte Trix lapidar: „Weil die vermutlich eher mit einer Belagerung gerechnet haben. Im Grunde genommen müsste man diesen Ort bis an sein Lebensende nicht verlassen. Allein das Angebot des Replikators ist riesig. Das Ding macht richtige Lebensmittel. Kannst du dir das vorstellen? Etwas zu essen, das auch aussieht, als würde man es essen können. Und wollen. Die Dinger kannte ich bisher nur aus dem Fernsehen.“

 

Ich auch, lag es Scott auf der Zunge zu sagen, aber er hielt lieber die Klappe. Dieses Haus war ein Käfig. Ein goldener zwar mit allen möglichen Annehmlichkeiten, aber nichtsdestotrotz ein Käfig. Je länger er sich hier drinnen befand, desto nervöser wurde er.
 

„Dann kümmere dich darum, uns ein paar Sachen zu besorgen, die wir leicht transportieren können. Wir wissen nicht, wie lange wir unterwegs sind.“

 

„Sandwiches?“, schlug Trix vor und Scott nickte abwesend. Er checkte die Füllstände ihrer Masken. Als er nach Kaels griff, stockte er kurz. Die Anzeige war immer noch im grünen Bereich.
 

„Hast du die Kartusche gerade gewechselt?“, fragte er. Kael verneinte. Scott runzelte die Stirn.
 

„Scheiße, dann ist das Ding kaputt. Pass also auf, falls dir schwindelig wird oder du das Gefühl hast, dich übergeben zu müssen.“

„Ist gut.“

 

Kael nahm seine Maske zurück und befestigte sie an seinem Gürtel. Ein Verhalten, dass er sich offenbar bei Scott abgeguckt hatte. Der kommentierte es nicht. Er war immer noch auf der Suche nach etwas, das sie zu ihrer Verteidigung benutzen konnten, aber Fehlanzeige. Das Höchste der Gefühle, das er gefunden hatte, war ein Paar antike Nunchakus, mit denen keiner von ihnen umgehen konnte. Anscheinend war Ava die Einzige, die hier durch die Gegend ballern durfte.

 

Vielleicht hätten sie mal ne Taschenversion von dem Ding erfinden sollen. 'Ava to Go' oder so.

 

Aber aller Galgenhumor half ihm nichts. Es wurde Zeit, dass sie aufbrachen.

 

 

Nachdem sie alles noch einmal überprüft hatten, fanden sie sich im Flur ein. Von draußen drangen undeutlich Stimmen und Geräusche von schwerem Gerät zu ihnen vor. Scott gab vor, sie zu ignorieren, und wandte sich an Ava.
 

„Wir sind abmarschbereit. Wo geht es jetzt raus?“

„Folgt mir bitte.“

 

Zu Scotts Verwunderung ging Ava ein Stück weit die Treppe hinauf, wo sie auf dem zweiten Absatz stehenblieb und sich an Kael wandte.
 

„Wenn du bitte den Van Gogh entfernen würdest?“
 

Ava wies auf ein Bild mit einem Mann in einem blauen Anzug, das im Treppenaufgang an der Wand hing. Der Mann hatte das Gesicht in den Händen vergraben und saß auf einem einfachen Stuhl an einem Kaminfeuer. Trix legte den Kopf schief.
 

„Was soll das sein?“, fragte sie und versuchte die kleine Statue mit den Badewannen-Männern unauffällig hinter ihrem Rücken zu verbergen.

 

„Es handelt sich hierbei um Vincent van Goghs berühmtes Gemälde 'An der Schwelle zur Ewigkeit' aus dem Jahr 1890. Es war unter anderem namensgebend für eine Biographie des Künstlers, die im Jahre 2019 in Deutschland veröffentlicht wurde. Man konnte dabei …“

 

„Ja ja“, würgte Scott sie ab. Er nahm Kael das Bild aus der Hand und stellte es achtlos beiseite. „Es wird ja wohl kaum der echte Schinken sein und selbst wenn, wäre es zu groß, um es mitzunehmen. Also los, wie weiter.“

 

An der Stelle, an der zuvor der Van Gogh gehangen hatte, war jetzt ein Tastaturfeld zu sehen. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man eine haarfeine Linie daneben erkennen.

 

„Eine Tür“, schlussfolgerte Scott und sah Ava auffordernd an. „Wie geht sie auf?“

 

„Ihr müsst den richtigen Code eingeben, dann erhaltet ihr Zutritt zu einem Fahrstuhl, der euch in das geheime Tunnelsystem bringt.“

„Und wie lautet der richtige Code?“

„Diese Information ist mir nicht bekannt.“
 

Scott blinzelte ein paar Mal, bevor er in der Lage war zu reagieren.
 

„Sag das nochmal“, schnarrte er.
 

Ava lächelte freundlich.

 

„Ich sagte, dass ich den Code für diese Tür nicht kenne. Er ist nirgendwo verzeichnet. Robert muss ihn lediglich in seinem Gedächtnis aufbewahrt haben.“

 

Scott unterdrückte ein Stöhnen.
 

„Das darf doch jetzt alles nicht wahr sein“, murmelte er. „Und wie kommen wir jetzt hier raus?“
 

„Ist doch ganz einfach“, meinte Trix und schob sich zwischen Scott und Kael nach vorn. „Wir machen das, was jeder Hacker macht, wenn er nicht weiter weiß. Wir raten.“

 

Scott ballte die Hand zur Faust, aber er beherrschte sich und zählte nur langsam bis zehn. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, er hätte Kael einfach Margeras Häschern überlassen.
 

„Also schön“, knirschte er. „Und mit welchen Zahlen möchtest du anfangen?“

 

Trix blies die Backen auf.

 

„Keine Ahnung. Versuchen wir doch Kaels Geburtsdatum.“

 

Kael nannte eine Zahlenkombination – er war tatsächlich 17, so wie Scott vermutet hatte – und Trix gab diese über die Tastatur ein. Mit angehaltenem Atem warteten sie ab, aber nichts geschah. Als Nächstes versuchten sie das Geburtsdatum von Kaels Mutter und schließlich sogar das seines Vaters. Es half jedoch alles nichts. Das Einzige, was passierte, war, dass die Schalttafel einen fast schon gehässig klingenden Quäkton von sich gab und „Zugang verweigert“ in leuchtenden Buchstaben auf dem Bildschirm erschien. Scott knirschte mit den Zähnen.
 

„So, und jetzt? Hast du noch irgendwelche Neffen, Nichten oder von der Familie verstoßene Onkel, deren Geburtsdatum wir benutzen könnten? Nur so als Idee?“

 

 

Kael sah das Zahlenfeld an der Wand an, Er betrachtete es, als hoffte er dort etwas zu sehen. Eine Antwort zu finden, die irgendwo in den Tiefen der Schaltkreise verborgen lag und die nur er herauslesen konnte. Dann trat er plötzlich vor, hob die Hand und gab eine achtstellige Zahlenkombination ein. Als er die Folge beendet hatte, ertönte ein zustimmendes 'Ping' und die Tür zum erwarteten Fahrstuhl öffnete sich.

 

„Wie … wie hast du das gemacht?“, fragte Trix verblüfft. „Welches Datum hast du benutzt?“

 

Kael schüttelte den Kopf.
 

„Ich weiß es nicht. Ich … ich habe einfach so intensiv darüber nachgedacht, dass ich die Antwort auf einmal wusste. Als ob sie mir jemand eingeflüstert hätte. Sie war auf einmal in meinem Kopf.“

 

In diesem Moment krachte es erneut und irgendwo im Haus fiel etwas mit großen Getöse zu Boden. Das gab für Scott den Ausschlag.

 

„Schnell“, sagte er und schubste Trix und Kael kurzerhand in die metallene Fahrstuhlkabine. „Ava, jetzt wäre vielleicht Zeit für ein bisschen Mikrowellenaction. Halt die Typen so lange vom Haus fern, bis du uns nicht mehr auf dem Schirm hast. Das sollte uns Zeit verschaffen, bis sie merken, dass wir ausgeflogen sind.“
 

„In Ordnung, Scott“, gab Ava wie immer lächelnd zurück. „Ich sehe euch auf der anderen Seite.“

 

Die Fahrstuhltüren begannen sich zu schließen. Ein letztes Mal hob Ava die Hand, um ihnen zum Abschied zu winken, dann wurde sie von den silbernen Stahlwänden verschluckt. Nahezu lautlos bewegte sich die Fahrstuhlkabine in die Tiefe.

 

Dunkle Geheimnisse

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Interlude - Rot

Seine Schritte hinterließen keine Spuren, sein Atem kein Geräusch. Diffuses Licht, das von überall zugleich zu kommen schien, blendete ihn. Er schlief nicht, er aß nicht. Er ging immer nur weiter und weiter und weiter.

 

Dann, als er einen bestimmten Punkt erreicht hatte, blieb er stehen. Nichts schien diesen Ort von den anderen zu unterscheiden, an denen er vorbeigekommen war. Als er sich jedoch bückte, lag vor seinen Füßen ein Blütenblatt. Rot war es und so zart, dass ein leichter Windstoß gereicht hätte, um es davonzuwehen. Aber hier gab es keinen Wind, keine Zeit und keinen Raum. Hier gab es nur ihn.

 

Langsam fuhr er mit dem Finger über das Blatt und er wusste, dass es das war, wonach er gesucht hatte. Er war angekommen.

Normale Parameter

Die Explosion erschütterte den Fahrstuhlschacht und rüttelte Scott aus seiner Ohnmacht. Etwas krachte. Rauch stieg ihm in die Nase, die Augen. Er blinzelte. Nahm seine Umgebung nur bruchstückhaft war.

 

„Scott! Scott, hilf mir!“
 

Trix. Ein Ausgang. Eine Maske, die auf sein Gesicht gedrückt wurde. Hände, die ihn in die Höhe zogen. Er stolperte, fiel, stand wieder auf.
 

„Wir müssen ihn hier rausbringen.“
 

Noch mehr Explosionen. Eine Flammensäule, die ganz in der Nähe in den Nachthimmel hinaufschoss, bevor das Gelände anfing, in sich zusammenzustürzen. Der Boden unter seinen Füßen schwankte. Brach an den Kanten weg. Noch mehr Rauch. Feuer.
 

Er griff nach dem Arm des Jungen, zerrte ihn auf die Füße und stützte ihn. Trix auf der anderen Seite. Sie rannten. Versuchten es zumindest. Und wieder bebte die Erde.
 

„Weg hier!“

 

Sein Gehirn funktionierte nicht richtig, aber er wusste, dass sie nicht bleiben konnten. Abgesehen von der unmittelbaren Gefahr durch das Feuer und die Explosionen, würde das Ganze nicht unbemerkt bleiben. Binnen kürzester Zeit würde es hier von Cops nur so wimmeln. Streifenwagen, Löschfahrzeuge, vielleicht sogar Hubschrauber mit Suchscheinwerfern. Wenn das passierte, wollte er möglichst weit weg sein.

 

Wir hätten eigentlich tot sein müssen.

 

Der Gedanke kam und verschwand wieder, während Scott weiterstolperte. Immer tiefer in die dunkle Nacht hinein. Hinter ihnen ging die Welt in Flammen auf.

 

 

 

Amos Inbergs Handy klingelte. Er zog die durchsichtige Platte mit dem eingebauten Projektor heraus und öffnete einen Kanal. Über dem Display erschien das flackernde Abbild eines rauen, grobschlächtigen Gesichts. Es zeigte nur allzu deutlich die Auswirkungen von mangelnder Hygiene, schlechter Ernährung, billigem Schnaps, verschnittenen Drogen und zu wenig Schlaf. Vor allem das letzte, wenn Amos Inberg die Uhrzeit bedachte.
 

„Ja?“, fragte er und richtete sich in seinem Bett auf. Die synthetische Seide raschelte, als er sich zum Nachttisch beugte, um die dort stehende Lampe einzuschalten. Manchmal gönnte er sich in seinen privaten Räumen ein wenig Nostalgie.

 

Der Mann, der ihn angerufen hatte, klang gehetzt.

 

„Es ist weg. Das ganze Labor. Einfach in die Luft geflogen. Emile und die anderen sind tot.“

 

Amos Inberg runzelte die Stirn.
 

„Und der Junge?“

„Ich weiß es nicht. Als es anfing zu rumsen, bin ich weg.“

 

Er ließ sich nicht anmerken, was er davon hielt.
 

„Gut. Dann verschwinden Sie jetzt. Sehen Sie zu, dass Ihnen niemand folgt. Und rufen Sie nie wieder an.“
 

Damit legte er auf und das widerwärtige Gesicht des Schlägers verschwand. Amos Inberg hingegen hielt weiter das Telefon in der Hand und überlegte. Diese Entwicklung war nicht eingeplant gewesen. Diese stümperhaften Idioten. Er hätte doch jemanden damit beauftragen sollen, der sich auskannte.
 

Als es klopfte, blickte er auf. Die Tür öffnete sich und jemand betrat das Zimmer.
 

„Wer war das?“, fragte der Neuankömmling und blieb ein Stück weit vom Bett entfernt stehen.
 

„Einer von Margeras Männern.“

„Haben sie den Jungen?“

„Nein.“

 

Bedauern huschte über die Züge seines Gegenübers.
 

„Vielleicht sollten wir doch eine offizielle Suchmeldung herausgeben. Wenn die Polizei nach ihm fahndet, könnten wir …

 

„Nein, zu gefährlich“, wiegelte Amos Inberg den Einwand ab. „Ich bin mir sicher, falls er noch am Leben ist, wird er …“

 

Erst, als er die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Einen riesigen Fehler.
 

Falls er noch am Leben ist?“

 

Die Gestalt trat näher an sein Bett. Der Schein der Nachttischlampe spiegelte sich in rundlichen Brillengläsern und machte sie beinahe undurchsichtig.
 

„Was soll das heißen, falls er noch am Leben ist?“

„Es … es gab einen Unfall. Das Labor wurde … es wurde vernichtet.“

„Was?“

 

Für einen Moment schien der Zorn den Mann vor seinem Bett zu übermannen. Amos Inberg setzte ein diplomatisches Lächeln auf.
 

„Ein unbedeutender Rückschlag. Nichts, was man nicht ersetzen kann.“

„Aber die Prototypen …“

„Wir werden neue erschaffen. Wir werden alles neu erschaffen. Kein Grund zur Beunruhigung.“

 

Zuerst sah es so aus, als würde der andere Mann noch Einwände hegen, doch dann begann er ebenfalls zu lächeln.
 

„Natürlich“, sagte er und kam noch einen Schritt näher. „Wir erschaffen es neu. Das ist alles, was zählt.“

 

Als er die Hand hob, tasteten Amos Inbergs Finger nach dem Notrufschalter.

 

 
 

„Ich kann nicht mehr.“,

 

Trix schnaufte hörbar, bevor sie sich dort, wo sie gerade stand, zu Boden fallen ließ. Auch Scotts Beine zitterten mittlerweile vor Anstrengung und er war sich sicher, mindestens zwei, wenn nicht mehr angeknackste Rippen zu haben. Es schmerzte, wenn er zu tief Luft holte, und sein linkes Handgelenk machte bei jeder Belastung unangenehme Geräusche. Trotzdem war ihm klar, dass sie unheimliches Glück gehabt hatten. Das oder etwas anderes.
 

„Wir sind hier nicht sicher“, sagte Scott, mehr um überhaupt etwas von sich zu geben.

 

„Oh, aber immerhin bedroht uns jetzt kein wahnsinniger Killercyborg mehr. Das Ding war ja mal megafreakig. Hast du seine Augen gesehen? Und all das Blut! Ich meine, ich hab ja schon ne Menge Scheiße miterlebt, aber das …? Diesem Ding hat es doch Spaß gemacht, Menschen zu ermorden. Echt gruselig.“
 

„Ja,“ antwortete Scott abgelenkt. „Man fragt sich, was Kaels Vater sich dabei gedacht hat.“

 

Er sah in die Richtung des Jungen, der sich ein Stück von ihnen entfernt niedergelassen hatte. Seit sie aus dem Labor geflüchtet waren, hatte er keinen Ton mehr von sich gegeben. Scott konnte nur ahnen, was in seinem Kopf vor sich ging.

 

Mit einem unterdrückten Stöhnen stand Scott auf und humpelte zu Kael hinüber.
 

„Hey“, machte er und stupste den Jungen mit dem Fuß an. „Alles klar bei dir?“
 

Kael hob den Kopf. Er nickte, bevor er den Blick wieder abwandte und ins Leere starrte.

 

„Er wollte dich nicht töten“, sagte er auf einmal. Scott blinzelte überrascht.
 

„Wer? Dein Vater?“

„Nein, der … der Cyborg. Er hätte dir nichts getan.“
 

Scott schnaubte.
 

„Bist du dir sicher? Immerhin hat er Margeras Männer einen nach dem anderen buchstäblich in Stücke gerissen und ist dann auf mich losgegangen.“

 

Kael atmete schwer.
 

„Trotzdem. Er hätte dir nichts angetan. Es war … nur ein Missverständnis.“

„Ein Missverständnis? Wovon redest du da?“

 

Kael antwortete nicht sofort. Scott hatte plötzlich das Gefühl, dass er etwas übersehen hatte. Etwas Wichtiges. Aber was?

 

„Das … was dein Vater getan hat, ist nicht deine Schuld, hörst du? Du kannst nichts dafür, dass diese Männer gestorben sind.“

 

Kael lachte bitter auf. Der Laut erschütterte Scott bis ins Mark.
 

„Und wenn doch?“, fragte der Junge tonlos. „Was, wenn es meine Schuld war, dass sie ihr Leben lassen mussten. Wenn ich …“

 

Kaels Stimme versagte. Er hob den Kopf und sah Scott an. Im grünlichen Licht des Mondes schimmerten seine Augen feucht.

 

„Ich wollte nicht, dass er das tut.“, flüsterte er. „ Ich wollte nur, dass sie … weggehen. Es tut mir so leid.“
 

Das Schluchzen aus der Kehle des Jungen war nicht mehr zu überhören. Scott stand da und wusste nicht, was er tun sollte. Trix tauchte neben ihm auf und sah ihn vorwurfsvoll an.
 

„Hey, was hast du gemacht? Warum weint er?“

 

„Ich hab gar nichts gemacht“, verteidigte sich Scott. „Er quatschte irgendwelchen Blödsinn von wegen 'Ich wollte das nicht' und dann hat er angefangen zu flennen. Was weiß denn ich, was er meint?“

 

Trix rümpfte die Nase und murmelte etwas, dass sich stark nach „Männer!“ und „Wie wäre es mal mit fragen?“ anhörte, bevor sie sich neben Kael in den Sand kniete und sich zu ihm hinüberbeugte.
 

„Hey, hey, jetzt stell die Schleusen mal wieder auf halbe Kraft. Wir sind doch heil da rausgekommen. Die bösen Jungs sind tot, der Killerroboter auch, also alles tutti.“

„Aber all das Blut, die Gewalt. Ich hab das nicht gewollt. Ich wollte nur, dass sie aufhören.“

 

Kael hob das tränenverschmierte Gesicht.

 

„Ich hatte solche Angst, als ich das Messer gesehen habe, da habe ich … ich habe …“

 

Trix legte den Kopf ein wenig schief.
 

„Na los, sag schon. Was hast du?“

 

Kael sprach nicht weiter. Stattdessen sah er Trix einfach nur an, als würde sie die Antwort auf ihre Frage irgendwie auf telepathischem Wege erhalten. Da Scott diese Kunst nicht beherrschte, beschloss er, es auf die altmodische Weise zu versuchen. Er packte Kael am Kragen, zog ihn auf die Füße, sah ihm in die Augen und zischte:

 

„Spuck es aus, Junge! Was. Hast du. Gemacht?“

 

Kaels Gesichtsausdruck wurde gequält. Er rang die Hände.
 

„Ich wollte wirklich nur helfen.“

„Das sagtest du schon. Aber jetzt möchte ich gerne wissen, wie genau du meinst, uns geholfen zu haben.“

 

Eine kleine Ewigkeit lang antwortete Kael nicht. Dann endlich, als Scott schon gar nicht mehr daran glaubte, bekam der Junge endlich den Mund auf.

 

„Ich hab ihn aufgeweckt.“

 

Scott blinzelte. Und blinzelte noch einmal.

 

„Du hast was?“

„Den … den Cyborg. Ich hab ihn aufgeweckt.“

„Du hast WAS?“
 

Dieses Mal war es Trix, die nicht mit ihrer Erschütterung hinter dem Berg halten konnte.

 

„Aber wie? Und warum?“

„Ich hatte Angst. Die Männer, die Waffen. Sie wollten dir wehtun. Ich musste doch etwas unternehmen.“

„Indem du eine Killermaschine auf uns loslässt?“

„Nicht auf euch. Nur auf die anderen.“

 

Noch einmal glaubte Scott den Stoß zu spüren, den ihm das Roboterwesen verpasst hatte. Er hatte gesehen, wie dieses Ding einem anderen Mann mit bloßer Hand das Herz herausgerissen hatte. Aber ihn hatte es nur geschubst?

 

„Wie meinst du das? Wie hast du das gemacht?“

 

Er ließ Kael los. Der Junge griff sich an den Hals und schluckte sichtbar.
 

„Ich … ich weiß nicht genau. Es ging alles so schnell. Als ich geschrien habe, ist er auf einmal … aktiviert worden. Ich habe es gesehen. Gehört. Er war auf einmal da und er war so wütend.“

 

„Wütend? Dieses Ding war wütend?“

 

Scott glaubte, sich verhört zu haben.

 

„Ja. Er wollte … er wollte euch alle auslöschen. Aber ich habe ihn gebeten, euch zu verschonen. Er hat … gehorcht.“

„Gehorcht?“

 

Scott konnte nicht verhindern, dass er sich anhörte wie ein antiker Papagei. Aber das, was Kael da erzählte, war zu phantastisch.
 

„Du meinst, du hast mit dem Ding geredet?“, fragte Trix nach. „Aber … wann? Wie? Ich hab jedenfalls nichts davon mitbekommen.“

 

Kael senkte den Kopf.
 

„Es ist nicht … so eine Art von Kommunikation. Es ist … anders. Aber ich verstehe, was sie sagen. Schon immer.“

„Was wer sagt?“

„Maschinen.“

 

Scott fühlte seinen Mund trocken werden.
 

„Du meinst so wie die Schalttafeln?“

 

Kael nickte.

 

„Was noch? Mit welchen Maschinen hast du noch gesprochen?“

 

Scotts Herz hämmerte gegen seine Brust. Er hatte so eine Ahnung, was Kael antworten würde, aber er musste es von ihm hören.

 

Der Junge sah zu Boden.

 

„Mit vielen. Mit der Eingangskontrolle der Bar, mit deinem Türschloss, dem Fernseher, dem Nahrungsreplikator, der Dusche …. dem Zugangsterminal nach Eden.“
 

Er schwieg, aber Scott wusste, wie die Auszählung weiterging. Er atmete ein und atmete aus.
 

„Deswegen wusstest du auch, was die Drohne von uns wollte, nicht wahr?“

 

Kael nickte wieder. Er sah Scott nicht an.

 

„Und der ZX-12 … warst das auch du?“

 

Kael ließ den Kopf noch ein wenig tiefer hängen.
 

„Das … das war auch ein Versehen. Ich wollte nicht, dass er auf die Polizisten schießt. Er sollte sie nur aufhalten, damit wir fliehen können.“

 

Scott glaubte, was er da hörte, und auch wieder nicht. Er konnte es nicht glauben, obwohl es die einzige, logische Erklärung war. Sein Gehirn weigerte sich schlichtweg, die Möglichkeit anzuerkennen, dass es einen Menschen gab, der mit Maschinen reden konnte. Das war einfach nicht möglich. Und doch sagte ihm eine innere Stimme, dass da etwas dran war. Und dass er immer noch etwas übersah. Etwas sehr Wichtiges.

 

„Und jetzt?“, fragte Trix, nachdem das Schweigen irgendwann unangenehm lang geworden war. „Was machen wir jetzt.“
 

„Jetzt suchen wir uns jemanden, der uns mit Antworten versorgen kann.“

„Du meinst Kaels Vater?“

„Ich meine Ava.“

 

 

 

„Ava?“

 

Trix keuchte, während sie hinter ihm her rannte und verzweifelt versuchte, zu ihm aufzuschließen. Scott kümmerte sich nicht darum. Er wollte jetzt endlich wissen, was hier gespielt wurde.
 

„Ja, Ava“, knurrte er. „Diese Holo-Bitch hat und mit Sicherheit nicht alles gesagt, was sie weiß. Mit Maschinen sprechen. Ich meine, sie ist eine Maschine. Das muss sie doch gemerkt haben.“

 

Trix zog die Nase kraus.

 

„Du meinst, sie hat uns angelogen?“

„Entweder das oder Dresner hat ihr einen Maulkorb verpasst. Oder sie ist wirklich der dümmste allwissende Computer, den ich kenne.“

 

Die Häuser der Stadt waren mittlerweile in sichtbare Nähe gekommen. Also blieb Scott stehen und atmete tief durch.
 

„AVA!“, brüllte er dann, so laut er konnte. „AVA KOMM SOFORT HER!“
 

„Scott!“, zischte Trix und sah sich erschrocken um. „Bist du bescheuert? Die hören uns doch.“

 

„Na, umso besser. Sollen sie uns doch hören. Ich hab genug von dieser geheimen Scheiße. Meinetwegen sollen sie alle kommen und mitkriegen, was hier für eine gequirlte Kacke am Dampfen ist. Mir ist es gleich. AVA!“

 

In den umliegenden Häusern begannen die Lichter anzugehen. Mit Befriedigung stellte Scott fest, dass er somit wenigstens ein paar reiche Ärsche um ihren Schlaf gebracht hatte, bevor die Polizei ihn vermutlich einkassieren und für immer ins Loch werfen würde. Aber selbst das war ihm inzwischen egal. Hauptsache er bekam Antworten.
 

„Ava! AVA!“

„Äh … Scott?“

„AVA!“

„Sco~ott.“

„AVA!“

„SCOTT!“

 

Entnervt drehte Scott sich zu Trix um.
 

„Was?“, schnauzte er. „Was willst du denn?“

 

Trix antwortete nicht. Stattdessen wies sie mit einem seitlichen Nicken auf etwas, das Scott bisher nicht bemerkt hatte. Weil es schwarz war. Und sehr groß. Ziemlich groß sogar. Und ziemlich flach. Scotts Augenbrauen wanderten nach oben.
 

„Ein Lamborghini? Du versuchst mich mit einem verdammten Lamborghini zu beeindrucken? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“

 

Scott machte einen Schritt auf das Auto zu, holte mit dem Fuß aus und zielte damit auf die Motorhaube. Fast schon beiläufig bewegte sich der Wagen ebenso lautlos, wie er gekommen war, ein Stück rückwärts. Scotts Tritt ging ins Leere. Fast hätte er sich lang hingelegt.
 

„Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede“, schimpfte er und machte erneut einen Schritt auf den Wagen zu. In dem Moment flammten die dreistrahligen Scheinwerfer auf und der Motor ließ ein warnendes Grollen hören.
 

„Ach, jetzt willst du mich überfahren, ja?“

 

Scott lachte höhnisch und breitete die Arme aus.

 

„Nur zu! Mach’s doch! Aber ich glaube, das widerspricht deiner Programmierung. Oder war das etwa auch gelogen, Schaltkreislady?“

 

Auge in Auge stand Scott sich mit dem schwarzen Sportwagen gegenüber. Dessen Scheinwerfer waren immer noch voll aufgeblendet und hüllten ihn in einen hellen Lichtkegel. Er war somit weithin gut sichtbar, das musste auch Ava wissen. Erneut jaulte der Motor auf, bevor er verstummte, das Licht abgeblendet wurde und die Türen an der Seite des Wagens sich in die Höhe hoben. Scott schnaubte abfällig.
 

„Soll das ein Friedensangebot sein? Glaubst du wirklich, dass ich mich so einfach ködern lasse?“
 

Ein genervtes Stöhnen antwortete ihm.
 

„Man, Scott, jetzt hör auf, theatralisch zu sein, und steig ein. Mir tun die Füße weh.“

 

Mit finsterem Gesicht sah Scott zu, wie zuerst Trix und dann auch Kael in den Wagen kletterten. Nur er stand noch draußen herum.
 

„Also schön, du hast gewonnen!“, knurrte er und machte sich auf dem Weg, um ebenfalls einzusteigen. „Aber damit eins klar ist. Ich fahre!“

 

Die Sitze des Wagens schmiegten sich an Scotts Körper und er musste sehr an sich halten, um nicht hörbar aufzuseufzen. Das Ding fühlte sich edel an. Sehr edel sogar. Und es roch neu. Richtig neu. Wie für ihn gebaut.

 

Okay, sie hat Geschmack, das muss man ihr lassen. Aber ansonsten ist sie einfach nur … argh!

 

„Na los, fahren wir. Und dann will ich wissen, was hier gespielt wird.“
 

Er startete den Motor, ohne wirklich zu wissen, wohin er fahren wollte. Hauptsache weg von hier und unterwegs sein. Er musste nachdenken.

 

Viel schneller, als Scott es für möglich gehalten hatte, ließen sie die Wohngegenden hinter sich und tauchten erneut in die neonlichtdurchfluteten Häuserschluchten der Innenstadt ein. Der Wagen schnurrte wie ein Kätzchen und reagierte auf die leisesten Bewegungen. Scott musste sehr an sich halten, um wenigstens einigermaßen innerhalb des Tempolimits zu bleiben. Zu gern hätte er das Gaspedal einmal richtig durchgedrückt, um herauszufinden, wie schnell diese Kiste wirklich war. Um ihn herum wimmelte es von Farben und Formen, die sich auf der glänzenden, schwarzen Oberfläche ihres Gefährts spiegelten. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wurden sie im Dschungel der Nacht nahezu unsichtbar.
 

„Also schön“, sagte er irgendwann, nachdem sie schon eine Weile ziellos umhergefahren waren und Scotts Gedanken sich einigermaßen mit der Vorstellung angefreundet hatten, dass er gerade mit knapper Not einem Labor voller Zierpflanzen und wahnsinniger Killerroboter entkommen war und sein jugendlicher Begleiter anscheinend fließend Droidisch sprach. Das Ganze wäre lustiger gewesen, wenn er selbst dabei ein Laserschwert bekommen hätte, aber man konnte eben nicht alles haben.

 

„Ich will ein paar Antworten von dir, Computerlady. Hast du mich gehört?“

 

Eigentlich erwartete er nicht wirklich eine Reaktion, aber als der Bildschirm in der Mitte der Konsole ansprang und Avas Gesicht darauf erschien, zog ein grimmiges Lächeln seine Lippen in die Breite.
 

„Kael. Er kann mit Maschinen sprechen. Klingelt da was bei dir?“
 

Ava legte den Kopf ein wenig schief und sah ihn fragend an.
 

„Was meinst du damit?“
 

„Na sein … Gehirn …“, Scott fuchtelte mit der Hand neben seinem Kopf herum. „Es macht, dass er mit Dingen sprechen kann. Toaster, Türschlösser, Computer, einfach alles.“

 

Ava lächelte freundliche.
 

„Kaels Gehirn funktioniert innerhalb normaler Parameter.“

 

„Normal?“, echote Scott und wich einem Transporter im letzten Augenblick aus, bevor er unter dessen Rädern zermalmt wurde. „Aber es ist nicht normal, dass man mit Maschinen reden kann. Also sag schon: Was hat sein Vater mit ihm angestellt? Hat er auch an ihm rumgebastelt? Ihn verbessert? Ihm ein Interface ins Kopf gepflanzt, damit er sich selbst ins Internet hochladen kann? Was?“

 

„Kaels Gehirn funktioniert innerhalb normaler Parameter.“

„VERARSCH MICH NICHT!“

 

Scotts Hände hämmerten gegen das Lenkrad. Im nächsten Moment hörte er Trix kreischen, denn ein Brückenpfeiler kam viel zu schnell viel zu nahe. Er riss das Lenkrad herum, der Wagen kam ins Schlingern, drehte sich und …
 

„Oh fuck!“
 

Scott schloss die Augen und machte sich auf einen Aufprall gefasst. Einen sehr schlimmen Aufprall. Kreischendes Metall und zerquetschte Körper. Streben, die sich durch Köpfe und Rümpfe bohrten. Das ganze Programm eben. Doch der Unfall … blieb aus.

 

Mit laufendem Motor und aufgeblendeten Scheinwerfern waren sie nur wenige Zentimeter vor der Kollision zum Stehen gekommen. Um sie herum wichen die anderen Fahrzeuge mit dröhnenden Hupen und abenteuerlichen Manövern aus. Einer der Fahrer zeigte ihnen den Mittelfinger. Aber sie lebten noch.
 

„Ich glaube, ich fahre von jetzt an lieber“, erklärte Ava, bevor der Wagen von selbst rückwärts fuhr, wendete und sich wieder in den fließenden Verkehr einreihte. Scott biss die Zähne zusammen. Das Lenkrad bewegte sich von allein und Ava blinkte sogar, bevor sie um die Ecke bog. Sie blinkte!

 

„Also, nochmal zum Mitschreiben“, meinte Trix und lehnte sich zwischen den Sitzen nach vorne. Wie sie da hinten überhaupt Platz gefunden hatte, war Scott ein Rätsel. Wahrscheinlich hatte sie ihren Hintern auf irgendwelchen angenehm vibrierenden Motorteilen geparkt. „Du willst uns also sagen, dass mit Kael alles in Ordnung ist.“

 

„Kaels Gehirn funktioniert …“

 

„Innerhalb normaler Parameter“, unterbrach Trix die Computerstimme. „Wir haben’s kapiert. Aber funktioniert Kaels Gehirn auch so, wie das eines anderen Menschen?“

 

„Nein.“

 

Der triumphierende Blick, den Trix Scott daraufhin zuwarf, hätte ihn beinahe in das teure Lederimitat vor seiner Nase beißen lassen. Du musst lernen, die richtigen Fragen zu stellen, sagte er und Scott erwiderte darauf mit einem Lächeln, das aussah, als litte er unter akuten Zahnschmerzen.
 

„Na schön, und … wie funktioniert sein Gehirn?“

„Das weiß ich nicht.“

 

Trix sah ebenso verblüfft aus, wie Scott sich fühlte.
 

„Hä?“, machte sie. „Was soll das heißen, 'Du weißt es nicht'? Warum nicht?“

 

„Weil ich ihn nicht scannen kann. Er ist wie … ein blinder Fleck auf meinem Radar.“

„Was?“

 

Auch Kael konnte das anscheinend nicht glauben..
 

„Du kannst mich nicht … warum hast du das nie gesagt?“

„Du hast nie gefragt?“

 

Scott verdrehte die Augen. Das war wieder mal so typisch.

 

„Und wie kriegen wir jetzt raus, was mit ihm nicht stimmt?“

„Kaels Gehirn funktioniert …“
 

„Wir wissen es!“, riefen Trix und Scott wie aus einem Mund.
 

„Das ändert aber nichts daran, dass sein Vater irgendwelche illegalen Experimente an Menschen vorgenommen hat. Vielleicht war das ja der wahre Grund, warum er Kael versteckt hat. Weil er Angst hatte, dass ihm jemand auf die Schliche kommt, wenn jemand ihn zu genau unter die Lupe nimmt.“

 

„Illegale Experimente? Wovon sprecht ihr?“

 

Scott und Trix berichteten Ava abwechselnd, was sie auf ihrer Flucht aus dem Dresnerschen Anwesen gefunden hatten. Als sie geendet hatten, wandte Ava sich an Kael.

 

„Stimmt das?“

 

Der Junge nickte langsam. Ava sah aus, als würde sie nachdenken.
 

„Das ist eine höchst beunruhigende Nachricht. Ich habe nie geahnt, dass Robert so etwas vor mir geheim gehalten hat. Sicherlich, was Kael anging, war er immer ein wenig … zurückhaltend, aber ich hätte nie angenommen, dass er …“

 

Wieder richtete sich ihr Blick auf Kael. Scott empfand es als einigermaßen verstörend, dass sie gleichzeitig das Lenkrad bewegte, um sie bei knapp 70 Meilen pro Stunde auf einen Zubringer des Freeways wechseln zu lassen. Zumal er annahm, dass sie den Jungen gleichzeitig einem gründlichen Scan unterzog.
 

„Und?“, fragte er, nachdem das Flackern auf Avas Gesicht nachgelassen hatte.

 

„Nichts“, gab sie zurück und Scott hatte den Eindruck, dass sie das irgendwie wurmte. Was Quatsch war, weil sie ein Computer war. Eine künstliche Intelligenz. Nichts weiter.
 

„Was soll das heißen, nichts? Nichts, was du kennst?“

„Nichts, was ich erkennen kann.“

 

Scotts Finger schlossen sich um das Lenkrad.

 

„Und das heißt?“
 

Wieder antwortete Ava nicht sofort. Für Scott war das ein untrügliches Zeichen, dass sie noch jede Menge anderer Dinge gleichzeitig tat. Als sie wieder zu ihnen zurückkehrte, war ihr Gesicht ernst.
 

„Ich weiß jetzt, wo ihr hinmüsst.“

 

In der gleichen Sekunde vollführte der Wagen eine Vollbremsung, schlitterte über den Asphalt, knallte beinahe gegen die Leitplanke, nur um dann mit quietschenden Reifen und aufjaulendem Motor in die entgegengesetzte Richtung zu rasen.
 

„Vorsicht, Gegenverkehr!“, schrie Trix, aber die ihnen entgegenkommenden Fahrzeuge schienen alle wie durch ein Wunder auszuweichen. Trotzdem sah Scott sie bereits gegen irgendeines der an ihnen vorbeirasenden Hindernisse prallen, bevor Ava erneut vorschriftsmäßig blinkte und dann ungebremst die nächste Ausfahrt hinunterbretterte. Als er nach oben sah, fiel sein Blick auf zwei wohlbekannte Doppeltürme mit dem sich drehenden Logo dazwischen.
 

„Die Inberg Towers?“

„Ganz genau.“

 

Eine bessere Welt

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die Rettung der Menschheit

Ein zischendes Geräusch ließ Scott herumfahren. Zwei Gestalten stürmten hinter ihm auf das Dach. Eine von ihnen hatte pinke Rastazöpfe.
 

„Scott! Gott sei Dank, da bist du ja. Hast du ihn …?“
 

Trix’ Augen weiteten sich, als sie die Gestalt am Ende des Daches entdeckte. Wie festgenagelt blieb sie stehen, sodass Kael fast in sie hineinrannte.
 

„Bleibt zurück! Das ist nicht Dresner.“

„Dad!“
 

Kaels Augen waren weit aufgerissen. Hoffnung und Unglaube standen darin. Und noch etwas anderes. Etwas, das Scott schon einmal gesehen hatte.
 

„Kael! Nicht!“
 

Scott war sich bewusst, wie lächerlich seine Warnung war. Dresner oder vielmehr der Android, der seinen Platz eingenommen hatte, hatte ihm gesagt, dass Kael nicht echt war. Kein Lebewesen. Nur eine Maschine. Es gab keinen Grund, ihn zu beschützen. Keinen Grund, sich auf seine Seite zu stellen.Und doch …
 

„Kael, hör mir zu. Das da hinten ist nicht dein Vater. Er ist eines dieser Wesen aus dem Labor.“
 

Es gab kein Anzeichen, ob seine Worte zu Kael vorgedrungen waren. Der Junge bewegte sich immer noch nicht. Schließlich wagte Scott es, zu ihm zu treten. Vorsichtig berührte er ihn am Arm.
 

Kael schreckte hoch wie aus einem Traum. Er blinzelte Scott an. Ein neuer Ausdruck trat in sein Gesicht. Dieses Mal war es Unglaube gepaart mit Entsetzen.
 

„Das … das ist nicht wahr“, flüsterte er. Scott konnte ihn zwischen dem Heulen des Windes kaum verstehen. Mitleidig verzog er das Gesicht.
 

„Doch, es ist wahr. Alles ist wahr. Es tut mir so leid.“
 

Im nächsten Moment wurde Scott zurückgeschleudert. Kael hatte ihn mit aller Kraft von sich gestoßen. Mehr Kraft als ein Junge seiner Größe haben sollte.
 

„Das ist nicht wahr“, schrie er mit wutverzerrtem Gesicht. „Du lügst! Das da hinten ist mein Vater!“
 

Kael wandte sich von Scott ab und wieder dem Mann am anderen Ende des Daches zu. Seine Stimme wurde flehentlich.
 

„Dad!“
 

Der Android kam langsam auf Kael zu.
 

„Mein Sohn“, sagte er lächelnd. „Endlich sind wir wieder vereint. Wie geht es dir? Bist du verletzt?“
 

„Nein, es geht mir gut.“
 

Kael schien kurz davor, sich in die Arme des Mannes zu stürzen, den er für seinen Vater hielt. Dann jedoch fiel sein Blick auf dessen Hemd. Unsicher blieb er stehen.
 

„Du bist voller Blut.“
 

Wieder lächelte Dresner.
 

„Ich denke, du weißt, woher das stammt.“
 

Kael nickte wie betäubt.
 

„Du hast Amos Inberg getötet.“
 

„Das ist korrekt“, bestätigte Dresner. „Aber du musst wissen: Amos war ein Verräter. Er wollte alles vernichten, was ich aufgebaut habe. Ich musste ihm zeigen, dass er Unrecht hat.“
 

„Indem du ihn umbringst?“
 

Kaels Stimme zitterte. Ein Beben lief durch seinen Körper. Dresner seufzte leise.
 

„Mir ist klar, dass du die Tragweite des Ganzen noch nicht voll erfassen kannst. Aber ich versichere dir, dass alles, was ich tat, in der Absicht geschah, die Menschheit in eine bessere Zukunft zu führen. Eine Zukunft ohne Hunger, ohne Kriege, ohne Leid oder Angst. Doch um das zu erreichen, muss ich sie zunächst vom Fluch des Fleisches befreien. Das verstehst du doch sicher, nicht wahr?“
 

Der Junge antwortete nicht. Er sah seinen Vater nur an, als versuchte er zu begreifen.
 

„Hast du deswegen die Wesen im Labor erschaffen?“, fragte er nach einer scheinbaren Ewigkeit.
 

Dresner nickte.
 

„Und mich? Hast du mich auch erschaffen?“
 

Statt einer Antwort griff Dresner nach seiner Maske und zog sie ihm vom Gesicht.
 

„Siehst du?“, sagte er lächelnd. „Du brauchst das nicht. Du brauchst all diese Dinge, an die sich die normalen Menschen so verzweifelt klammern, nicht. Du bist frei. Ebenso wie ich.“
 

Kael starrte seinen Vater – oder Erbauer, Scotts Gehirn weigerte sich gerade, diese Akrobatik zu vollbringen – an. Seine Finger glitten über sein entblößtes Gesicht, als wartete er darauf, dass etwas passierte. Aber die Atemnot, das Husten, Röcheln und Blauanlaufen, blieben aus.
 

„Aber wie … ist das möglich?“
 

Dresner lächelte erneut. Ein Streifen getrockneten Blutes auf seiner Wange wurde dabei in die Breite gezogen.
 

„Nach dem Anschlag vor einigen Jahren verzweifelte ich zunächst. Ich hatte deine Mutter verloren und auch dir prophezeiten die Ärzte einen baldigen Tod. Deine Verletzungen waren zu schwer, um dich zu retten.

Eines Nacht saß ich daher an deinem Bett. Du warst angeschlossen an all diese Schläuche und Kabel und ich war kurz davor es zu beenden, aber ich konnte es nicht. Ich wusste, dass du noch irgendwo dort drin sein musstest.

Also begann ich damit, dir einen neuen, einen besseren Körper zu bauen. Einen, der nicht den Begrenzungen der menschlichen Anatomie unterworfen war. Der nicht um sein Überleben kämpfen musste, sondern unabhängig von allen Versorgungssystemen existieren konnte. Für immer. Und ich hatte Erfolg. Ich erschuf ein elektronisches Meisterwerk. Perfekt auf seine Art. Am Ende blieb nur noch die Frage, wie ich deine Persönlichkeit in das Programm übertragen konnte.“
 

Dresners Blick glitt zu der Drohne, die immer noch wie ein bedrohliches Insekt über der Szene schwebte.
 

„In diesem Zusammenhang entstand Ava. Ich verkaufte sie der Regierung als Sicherheitsprogramm, doch ihr eigentlicher Zweck war die Sammlung von Daten. Mimik, Gestik, Stimmlagen, Gefühlsäußerungen. Alles, was man braucht, um auf das gesamte Repertoire menschlicher Emotionen und Verhaltensweisen zugreifen zu können. Sie lernte und lernte. Jeden Tag von jedem Bewohner dieser Stadt. Und ihr Datenvorrat wuchs. Schließlich war ich in der Lage, einen menschlichen Geist vollständig in einen künstlich erschaffenen Körper zu transferieren. Und genau das tat ich. Das Ergebnis, bist du.“
 

Seine Hand streifte Kaels Wange. Der Junge war bleich geworden.
 

„Das … das ist nicht wahr. Ich bin nicht …“
 

Kael verstummte. Seine Unterlippe begann zu zittern, während er seinen Vater anstarrte, als hoffte er, dass der doch noch sagen würde, dass alles nur ein Scherz war. Ein makaberer, unendlich grausamer Scherz und dass sie jetzt nach Hause gehen würden. Aber Dresner sagte nichts. Er sah Kael nur voller Stolz an.
 

Scott wollte ihm eine reinhauen.
 

„Es reicht, Robert.“
 

Avas Drohne war zwischen Dresner und Kael geflogen. Die Luft unter dem Gerät schimmerte bläulich und Avas Gestalt erschien auf dem Dach. Dresners Miene hellte sich auf.
 

„Ah, Ava. Wie schön, dich wiederzusehen.“
 

Avas Gesicht blieb ausdruckslos.
 

„Du hast mich deaktiviert.“
 

Dresner lächelte.
 

„Nun, eigentlich war das mein altes Ich. Aber andererseits … ja, du hast recht. Immerhin bin ich immer noch ich. Alle Erinnerungen von Robert Dresner befinden sich jetzt hier oben drin.“
 

Er tippte sich gegen die Schläfe.
 

„Mit Ausnahme der wenigen Minuten, die wir beide getrennt voneinander verbracht haben. Aber wie ich hörte, wurde er in dieser Zeit umgebracht. Ich denke also, dass ich nicht viel verpasst habe. Auf eine Nahtoderfahrung mehr oder weniger kommt es nun wirklich nicht an.“
 

Ava knurrte leise.
 

„Was willst du?“
 

Dresner zog erstaunt die Augenbrauen nach oben.
 

„Was ich will? Aber das sagte ich doch bereits. Ich werde die Menschheit retten. Oder wenigstens einen Teil davon. Ich und ein Kreis von Auserwählten werden gemeinsam diese Welt neu erschaffen.“
 

Ava bewegte sich nicht einen Millimeter von der Stelle.
 

„Und was passiert mit den anderen?“
 

Dresner antwortete nicht. Ava presste die Lippen aufeinander.
 

„Du weißt, dass ich das nicht zulassen werde.“

„Und wie willst du es verhindern?“

„Indem ich dich aufhalte.“
 

Schüsse peitschten durch die Luft. Instinktiv warf Scott sich zu Boden und rollte sich zur Seite, während die Salve des plötzlich aufgetauchten ZX-12 den Kiesbelag des Daches in alle Richtungen spritzen ließ. Auch Trix und Kael waren so schnell wie möglich in Deckung gegangen. Einzig Dresner blieb stehen und sah dem heranrasenden Roboter ohne Furcht entgegen.
 

„Dad, pass auf!“
 

Kael sprang auf die Füße und rannte auf seinen Vater zu. Im letzten Moment stieß er ihn beiseite und geriet somit selbst in die Flugbahn der tonnenschweren Kampfeinheit. Die Turbinen des Roboters jaulten auf. Er vollführte in der Luft eine schier unmöglich erscheinende Drehung und krachte mit voller Wucht zu Boden. Wie ein kleiner Meteorit durchpflügte er den Dachbelag in einem stetig größer werdenden Krater, bis er direkt vor Kael zum Stehen kam. Scott wollte gerade aufatmen, als ein langgezogener Schatten durch die Luft flog.
 

„Ava! Vorsicht!“
 

Trix’ Stimme schrillte in Scotts Ohren, doch die Drohne reagierte nicht schnell genug. Dresner sprang, holte aus und fegte das Gerät mit einem Schlag vom Himmel. Es knallte gegen eine Betonwand und wurde in tausend Stücke zersprengt. Dresner landete geduckt, kam wieder hoch und wirbelte zu Trix herum.
 

„Es ist zwecklos“, fauchte er. „Ihr könnt es nicht mehr aufhalten.“
 

Trix kreischte, als der Androide begann, auf sie loszugehen.
 

Scott überlegte nicht lange. Er sprintete auf Dresner zu, hechtete nach vorn und warf ihn mit Schwung zu Boden. Sofort klammerten sich Hände wie Eisenfallen in seine Schultern. Er bekam einen Tritt in den Unterleib, der rote Schmerzblitze vor seinen Augen aufleuchten ließ. Im nächsten Augenblick fühlte er sich gepackt und nach oben geschleudert. Die Dachfläche verschwamm vor seinen Augen, wurde zu einem grauen Schemen und dann war sie plötzlich verschwunden. Sott stürzte ab.
 

Die Luft rauschte an ihm vorbei. Er trudelte. Taumelte. Fiel.
 

Scheiße, ich sterbe.
 

Die Inberg Towers schossen neben ihm in die Höhe. Gleichzeitig sprang ihm der Vorplatz in rasender Geschwindigkeit entgegen.
 

Das wird einen ziemlichen Fleck geben.
 

Auf einmal vernahm er ein Summen, ein Dröhnen. Das Geräusch übertönte selbst das Fauchen des Windes und dann …
 

„Ich hab dich.“
 

Zwei metallene Arme schoben sich unter seinen Körper. Er wurde schmerzhaft dagegen gepresst, als der ZX12 die Geschwindigkeit drosselte und mit seinen Flugdüsen den Schub umkehrte. Eine riesige Staubwolke wurde aufgewirbelt, als sie nur Zentimeter vor dem Erdboden zum Stillstand kamen.
 

Scott keuchte auf.
 

„Wow! Scheiße! Abgefuckt! Ich hätte tot sein können.“

„Die Wahrscheinlichkeit für dein Ableben bei einem Sturz aus dieser Höhe beträgt 99,8%“
 

Avas Stimme war neutral, als würde sie über das Wetter reden. Scott lachte. Er jetzt wurde ihm bewusst, wie schnell sein Herz gegen seinen Brustkorb hämmerte. Wie das Blut in seinen Adern sang.
 

„Vielen Dank für die Info.“

„Keine Ursache.“
 

Scott mochte es sich einbilden, aber für einen Augenblick hatte er das Gefühl, den riesigen Roboter lächeln zu sehen. Gerade als ihm klar wurde, dass er es erwiderte, zuckte Ava auf einmal zusammen. Sie ließ Scott fallen, brach in die Knie und hob die Hände an den Kopf. Ein gequältes Jaulen entkam der riesigen Maschine. Sofort sprang Scott auf die Füße.
 

„Ava? Was ist los?“
 

„Robert“, zischte sie. „Er hat … er versucht …“
 

Schatten erschienen am Himmel. Zuerst noch zwei kleine Punkte kamen sie schnell näher. Zu schnell, um zufällig zu sein. Als Scott erkannte, um was es sich handelte, entkam ihm ein saftiger Fluch.
 

„Scheiße, wir müssen hier weg. Schnell!“
 

Er griff nach dem Arm des ZX-12, aber es war zwecklos. Die Flugzeuge waren heran, bevor sie auch nur einen Schritt gemacht hatten.
 

Wieder warf sich Scott zu Boden. Die Kugeln rissen den Asphalt um ihn herum auf und zerfetzten die Fenster der unteren Stockwerke. Schreie und splitterndes Glas regneten herab. Scott bedeckte so gut es ging sein Gesicht. Ein Stapel Papiere flatterte im Wind davon.
 

Hintereinander schossen die beiden Kampfflugzeuge zwischen den Türmen hindurch. Schon konnte Scott hören, wie sie beschleunigten. Vermutlich um einen Bogen zu schlagen und auf direktem Weg zu ihnen zurückzukehren. Die Gefahr war noch nicht vorbei. Eilig kam Scott auf die Füße.
 

Der ZX-12 war getroffen worden. Die Kugeln hatten die Panzerung nicht durchschlagen, aber ein Teil des Helms war weggesprengt worden und das Visier hatte einen hässlichen Riss. Scott sah sich nach ihren Verfolgern um.
 

„Scheiße, was war das?“
 

Ava blickte nicht nach oben.
 

„Ein F-97 Aufklärungsflugzeug. Abfangjägerversion. Ausgestattet mit vier Explosiv-Geschossen, einem Granatwerfer und einem Maschinengewehr. Keine Tarnvorrichtung, mittlere Reichweite.“

„Sagtest du gerade Granatwerfer?“

„Ja?“

„Oh Kacke!“
 

Das ohrenbetäubende Jaulen näherte sich erneut. Die Scheiben der Türme begannen zu zittern.
 

„Ava, tu was!“, schrie Scott. „Schalt sie ab!“
 

Ava gab ein frustriertes Geräusch von sich.
 

„Das ist leider nicht möglich. Robert hat meine Peripherie-Optionen eingeschränkt.“

„Er hat was?“

„Er hat mich hier drin eingesperrt. Ich habe keinen Zugriff mehr auf das Datennetz.“
 

Scott wollte gerade erwidern, dass sie sich dann gefälligst was anderes ausdenken sollte, als die Flugzeuge erneut zwischen den Inberg Towers auftauchten. Sie nahmen direkten Kurs auf Scott und Ava und dieses Mal sah es nicht so aus, als wenn sie ihr Ziel verfehlen würden.
 

„Schneller, Ava, schneller!“

„Moment.“
 

Binnen Sekunden waren die Jäger heran.
 

„AVA!“

„Gleich.“
 

Scott wollte rennen. Er wollte rennen wie der Teufel, aber er wusste, dass es bereits zu spät war. In diesem Moment löste sich eine Rakete von der Tragfläche des ersten Jägers und jagte genau auf sie zu.
 

Instinktiv wirbelte Scott herum. Scheiß drauf, dass er nicht entkommen konnte, aber er würde es wenigstens versuchen.
 

„Scott! Bleib stehen!“
 

Ein schwarzes Geschoss bog schlitternd um die Ecke. Mit quietschenden Reifen legte es sich in die Kurve und hielt in vollem Tempo auf Scott zu. Scotts Augen wurden groß.
 

Nein. Nicht der Wagen.
 

Der Lamborghini raste nur Zentimeter an ihm vorbei. Scott konnte den Fahrtwind spüren. Das Auto fuhr direkt auf Ava zu. Von der anderen Seite näherte sich die Rakete.
 

Scheiße!
 

Im letzten Augenblick bremste die schwarze Karosserie. Der Arm des ZX-12 schoss nach rechts, bohrte sich in den Kühler des Luxusschlittens, nutzte den Schwung des Wagens und schleuderte ihn hoch in die Luft.
 

Mit ohrenbetäubenden Krach explodierte die Rakete. Ein Feuerball breitete sich rasend schnell aus und schleuderte glühende Metallteile in alle Richtungen. Scott duckte sich, während scharfkantige Splitter an ihm vorbeizischten. Etwas streifte seine Wange und hinterließ eine heiße, brennende Spur. Dann gab es eine zweite, noch heftigere Explosion, die ihn von den Füßen fegte. Er wurde zu Boden geschleudert, seine Hände schrammten über den Asphalt und sein Kopf machte unliebsame Bekanntschaft mit etwas Hartem, Spitzen. Er schmeckte Staub und Blut. In seinen Ohren fiepte es. Die Welt wurde weiß.
 

„Scott? Bist du in Ordnung?“
 

Ava Stimme war ganz nahe. Als er blinzelnd die Augen öffnete, beugte sich der riesige ZX-12 über ihn. Mit schief gelegtem Kopf sah er auf Scott herab.
 

Scott stöhnte. Es fühlte sich an, als wäre jeder einzelne Knochen in seinem Körper gebrochen oder wenigstens nicht mehr an der Stelle, an die er eigentlich gehörte. Außerdem waren mindestens zwei Zähne locker und er war sich sicher, einen Teil seiner Zunge eingebüßt zu haben. Das hätte die Menge an Blut in seinem Mund erklärt.
 

Mühsam fummelte er die Maske von seinem Gesicht und spuckte aus.Um ihn herum ein Trümmerfeld. Einige der verbogenen Metallteile staken mitten im Straßenbelag, andere lagen einfach so in der Gegend herum. Der größte Teil jedoch steckte in der Fassade des Inberg Towers. Er hatte die Form zweier ineinander verkeilter Flugzeugleichen.
 

„Ja“, krächzte er anschließend. „Zumindest ein Teil von mir ist noch am Leben.“
 

„Dann komm. Wir müssen Robert aufhalten.“
 

Die Rauchsäule der abgestürzten Jäger blieb hinter ihnen zurück, als Ava mit ihm in die Höhe schoss. Sie hatten kaum den Dachrand erreicht, als Scott sich plötzlich erneut im freien Fall befand. Das Dach kam rasend schnell näher und er konnte sich gerade noch rechtzeitig abrollen, bevor er mit dem Gesicht im Schotter landete. Ava stürzte sich ansatzlos auf Dresner.
 

Der alte Mann wurde durch die Wucht des Aufpralls durch die Luft geschleudert, drehte sich im Sprung und landete geschickt auf den Füßen. Wütend bleckte er die Zähne. Der Kampfroboter fuhr seine Waffen aus.
 

„Gib auf, Robert. Du kannst nicht gewinnen.“
 

Dresner lachte höhnisch.
 

„Aber das habe ich doch schon längst. Hast du es nicht gemerkt? Die Stadt steht jetzt unter meiner Kontrolle. Du bist machtlos. Gebunden an diesen Körper. Wenn er vernichtet wird …“
 

„Werde ich ausgelöscht“, unterbrach Ava ihn. Ihr Ton war vollkommen leidenschaftslos. Trotzdem meinte Scott etwas wie ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen.
 

„Aber du hast etwas übersehen, Robert. Du hast mich programmiert, damit ich die Menschen in dieser Stadt beschütze. Du hast jedoch vergessen zu erwähnen, dass das auch für Androiden gilt.“
 

Ava sprang. Der Arm des ZX-12 schoss vor und mechanische Finger schlossen sich um Dresners Kehle. Im selben Augenblick erglühte die Gestalt des Roboters in einem blauen Licht. Funken stoben in alle Richtungen. Dresner schrie auf und versuchte sich zu befreien. Elektrizität tanzte um ihn herum. Der beißende Geruch von Ozon, verbrannten Haaren und kochendem Fett erfüllte die Luft. Dresners Haut wurde schwarz. Seine Kleidung ging in Flammen auf. Er kreischte, zuckte und fauchte. Das Fleisch schmolz von seinen Knochen. In zähen Tropfen rann es herab und platschte zu Boden. Doch immer noch weigerte der Androide sich zu sterben. Seine klauenartigen Hände hieben auf die Arme des ZX-12 ein. Sie zerfetzten die Panzerung, rissen Kabel und Drähte aus ihren Verankerungen und bohrten sich schließlich in das freigelegte Endoskelett. Mit beiden Füßen stemmte er sich gegen den Brustkorb des Roboters, um den Arm aus der Verankerung zu reißen. Ava jedoch ließ nicht locker. Unbarmherzig drückte sie immer weiter zu.
 

Mit einem Ruck trennte sich Dresners Kopf von seinem Rumpf. Er flog durch die Luft und landete irgendwo im Gewirr der Dachaufbauten. Der Rest des Körpers hing leblos in der Hand des ZX-12, bevor sie ihn achtlos fallen ließ.
 

„Fuck!“
 

Trix war offenbar die Erste, die sich von dem Schock erholt hatte.
 

„Scheiße, der ist weg. Er ist echt weg!“
 

Ihr Jubeln wurde etwas gedämpft, als sie Kael entdeckte. Der Junge starrte unverwandt auf den schwelenden Haufen Metall zu Avas Füßen.
 

„Oh, sorry“, nuschelte Trix. „Ich wollte nicht … also, es war ja dein Vater und so.“
 

Der ZX-12 richtete sich auf. Von dem ehemaligen Kampfroboter war nur noch eine Ruine übrig. Lose Drähte hingen überall herab, Kratzer, Schrammen und klebrige Rückstände, von denen Scott lieber nicht so genau wissen wollte, was sie waren, bedeckten die Reste ihres Panzers.
 

„Alles in Ordnung, Kael?“, fragte sie sanft.
 

Der Junge hob den Blick. Tränen hatten helle Spuren in die Staubschicht auf seinem Gesicht gewaschen. Langsam schüttelte er den Kopf.
 

„Nein. Nichts ist in Ordnung. Dad … dieses Ding … er hat … ich …“
 

Kaels Stimme versagte. Scott erhob sich und ignorierte das Stechen, das dabei durch seine Rippengegend schoss. Irgendetwas da drinnen war mit Sicherheit gebrochen.
 

„Hör zu, Junge, ich …“
 

Kael wich vor ihm zurück.
 

„Nein. Bleib weg von mir!“
 

Mit vorgestreckten Armen stolperte Kael rückwärts bis er mit dem Rücken gegen die Brüstung stieß. Ehe Scott sich versah, war er hinauf geklettert und stand dort oben schwankend im blassen Licht des Morgens. Der Wind zerrte an seinen Haaren und Kleidern.
 

„Bleib weg von mir“, wiederholte er. Seine Augen waren weit aufgerissen. Scott machte einen Schritt auf ihn zu.
 

„Hör mal, das …“

„NEIN!“
 

Kaels Stimme wurde panisch. Noch immer starrte er Scott unverwandt an.
 

„Du musst weg von mir. Ich … ich bin auch so ein Ding.“
 

Scott sah, wie Trix die Stirn runzelte. Auch Ava machte Anstalten, sich auf Kael zuzubewegen. Scott hielt sie zurück. Er räusperte sich.
 

„Hör mal, ich weiß, dass das jetzt ne ganze Menge war, was du da auszustehen hattest. Aber dein Vater … war durchgeknallt. Das passiert manchmal, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Aber nur, weil dein alter Herr nicht alle Lötstellen an der richtigen Stelle hatte, heißt das noch lange nicht, dass du auch ein wahnsinniger Killer bist. Guck dir Ava hier an. Sie ist auch ein Computer und steht auf unserer Seite.“
 

Kaels Blick huschte kurz zu Ava, bevor er sich wieder an Scott hängte. Scott konnte sehen, wie sich sein Brustkorb hob und senkte.
 

„Aber was … wenn ich auch irgendwann durchdrehe. Der Androide im Labor ist durchgedreht. Mein Vater ist durchgedreht. Dass sind zwei von drei.“
 

Scott lächelte schwach. So gesehen hatte Kael vielleicht recht.
 

„Mag sein, aber sie hatten Angst. Waren verzweifelt. Wütend. Man hat sie angegriffen und sie haben sich verteidigt.“
 

Kael verzog den Mund zu einer Grimasse.
 

„Und ich? Ich habe dich angegriffen. Obwohl ich … obwohl du mein Freund bist. Ich hätte dich umbringen können. Wenn ich nur ein bisschen fester zugeschlagen hätte, hätte ich …“
 

„Hätte, hätte, Fahrradkette“, äffte Trix. „Tatsache ist doch aber, dass du das nicht hast. Meine Güte, ich hätte meinen Bruder auch schon mal fast aus Versehen abgeknallt, weil er nachts ohne Vorwarnung in mein Zimmer kam. So was kommt vor“
 

„Es dürfte aber nicht vorkommen.“
 

Trix schnaubte, aber Kael beachtete sie nicht mehr. Sein Blick richtete sich erneut auf Scott.
 

„Ich kann nicht bleiben. Wenn ich es tue, werden … schlimme Dinge passieren. Ich weiß es. Ich habe es gesehen.“
 

Scott runzelte die Stirn.
 

„Wo hast du es gesehen?“

„In meinen Träumen.“
 

Ein schmales Lächeln erschien auf Kaels Gesicht.
 

„Zuerst wusste ich nicht, was es bedeutet, aber jetzt … jetzt ist mir klar, was ich gesehen habe. Ich sah eine zerstörte Welt. Verwüstet, öde und vollkommen leer. Der Einzige, der noch am Leben war, war ich. Ansonsten war da nur Staub.“
 

Scott wollte Kael sagen, dass das Unsinn war. Dass sie verhindern würden, dass es so weit kam. Aber er konnte es nicht. Er wusste, was passieren würde, wenn irgendjemand Kael in die Finger bekam und herausfand, was er war. Es würde das passieren, was immer passierte, wenn ein Kind einen größeren Stock fand als ein anderes.
 

Scotts Kehle wurde eng, als ihm klar wurde, was das hieß.
 

„Aber ich will nicht, dass du gehst“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Ich will dich nicht verlieren.“
 

Kaels Lächeln wurde eine Spur heller.
 

„Das weiß ich. Aber es muss sein.“
 

Mit diesen Worten drehte Kael sich um. Er trat noch einen Schritt vor, sodass seine Fußspitzen über die Dachkante reichten. Scott wusste, dass er springen würde.
 

„Halt!“
 

Avas Stimme ließ Kael zusammenzuckten. Der riesige Roboter schob sich an Scott vorbei.
 

„Es gibt noch eine Möglichkeit.“
 

Kael drehte sich nicht um. Immer noch starrte er in die Tiefe.
 

„Was für eine Möglichkeit“, flüsterte er.
 

„Ich werde dich von hier fortbringen. Weit, weit weg, wo niemand dich finden kann. Dort wirst du schlafen und du wirst träumen. Von einer Welt, die besser ist als diese hier.“
 

Kael sah über die Schulter zurück zu der riesigen Gestalt, die so sanft mit ihm sprach wie eine Mutter mit ihrem Kind.
 

„Wird mich auch wirklich niemand finden?“, fragte er nach.
 

„Niemand. Nicht einmal ich. Ich verspreche es dir.“
 

Der ZX-12 streckte seine Arme aus.
 

„Komm. Komm zu mir, Kael.“
 

Der Junge machte einen Schritt und dann noch einen, bis er die große Gestalt erreicht hatte. Blass sah er zu Ava auf.
 

„Danke“, sagte er leise.

„Für dich immer.“
 

Mit einem Aufseufzen ließ Kael sich nach vorne sinken. Scott konnte sehen, wie er den lädierten Roboter umarmte, bis Ava den Kopf senkte. Ein kurzer Blitz, ein Aufleuchten und Kael sackte in sich zusammen.
 

Scott schrie auf.
 

„Was hast du getan?“
 

Avas Kopf hob sich wieder.
 

„Das, was ich tun musste. Ich habe ihn abgeschaltet.“
 

Fassungslos starrte Scott den leblosen Androiden an. Am liebsten hätte er ihn Ava aus den Armen gerissen. Aber er tat es nicht. Er stand einfach nur da.
 

„Und jetzt?“, fragte er tonlos. „Willst du ihn auch verbrennen? Oder auseinanderreißen? In alle vier Winde vom Inberg Tower streuen?“
 

„Nein. Wir werden das tun, was ich ihm versprochen habe.“
 

Scott wusste nicht, wie Ava das Flugzeug organisiert hatte, dass kurz darauf auf dem Dach des Gebäudes landete. Es war derselbe Typ, der sie vor noch nicht einmal eine Stunde hatte in Grund und Boden schießen wollen. Ohne ein weiteres Wort drapierte er Kaels leblosen Körper auf dem Sitz des Fliegers. Als er zurücktrat, sah es tatsächlich so aus, als würde der Junge schlafen.
 

„Mach’s gut, Kumpel. Und grüß, wen auch immer du auf der anderen Seite triffst, von mir.“
 

Scott schloss die Luke des Abfangjägers.
 

„Und wie geht es jetzt weiter?“

„Ich werde den Autopiloten auf ein zufälliges Ziel programmieren. Wenn es einmal gestartet ist, werde nicht einmal ich wissen, wo es gelandet ist.“
 

Scott nickte und drehte sich wieder zu dem Flugzeug herum.
 

„Dann mach es so.“
 

Ein Aufjaulen begleitete den Start der Motoren. Das Geräusch wurde immer höher, während die Turbinen sich schneller und schneller drehten. Schließlich hob der Jäger senkrecht vom Boden ab und schwebte hoch in die Luft. Als er etwa zweihundert Meter über dem Boden angekommen war, heulten die Motoren noch einmal auf, dann zischte das Flugzeug in den blassen Himmel hinein. Nach nur wenigen Minuten war es bereits zu einem fast unsichtbaren Punkt am Horizont geschrumpft, den Scott schon im nächsten Moment aus den Augen verlor. Er atmete tief durch. Im gleichen Augenblick fing eine rote Lampe vor seinem Auge an zu blinken. Sauerstoffalarm. Scott seufzte.
 

„Ich muss wieder auftanken“, sagte er und tippte gegen die Maske.
 

„Ja, meine ist auch gleich leer“, stimmte Trix zu. Sie sah hinüber zu Ava, deren Blick immer noch in Richtung Ödland gerichtet war.
 

„Meinst du, sie wird drüber hinwegkommen?“
 

Scott betrachtete die zerbeulte Gestalt, die am Rand des Daches stand, und er erinnerte sich daran, was er gedacht hatte, als er Ava das erste Mal gesehen hatte.
 

„Ich weiß es nicht“, sagte er schließlich. „Aber ich glaube, dass sie ihn für sehr, sehr, sehr lange Zeit vermissen wird.“

Grün

Feuchtigkeit glitzerte auf den Blättern um ihn herum. Pralle Knospen und Blüten in satten, leuchtenden Farben blitzten auf. Das Sonnenlicht spielte mit dem Dunst, der in den Baumkronen hing, und die Luft war erfüllt vom satten, ursprünglichen Geruch des Waldes. Alles pulsierte vor Leben. Es tropfte aus jeder Pore, rann an den fleischigen Stängeln zu Boden und wurde dort von der warmen, weichen Erde aufgenommen, um an anderer Stelle wieder hervorzubrechen. Der ganze Ort war ein lebender, wachsender Organismus. Ein Organismus, dessen Schönheit atemberaubend war.

 

Vorsichtig ging er weiter. Seine Schritte waren auf dem weichen Untergrund fast nicht zu hören. Er wanderte zwischen den Farnen, Blumen und Bäumen umher. Es war still und gleichzeitig glaubte er, das Leben selbst zu hören, wie es wucherte, wuchs und gedieh. Als er das Zentrum der überbordenden Fülle erreichte, blieb er stehen. Er wusste, dass dies das Ziel seiner Reise war. Der Ort, von dem aus er gerufen worden war. Der Ort, an dem sie auf ihn wartete.

 

Weiße Säulen streckten sich zu beiden Seiten des Ganges empor. Grüne Ranken umschlangen sie und öffneten ihre Blüten ins Licht. Ihr Duft umschmeichelte ihn mit süßer Leichtigkeit. Langsam näherte er sich der Plattform am anderen Ende des Ganges. Er sah die Gestalt, die dort stand. Weiß und wunderschön. Als er sie fast erreicht hatte, drehte sie sich zu ihm herum.

 

„Ich hatte gehofft, dass du kommst.“

 

Für einen Moment kam er sich schäbig vor. Er wusste, dass seine Kleidung zerschlissen war, er selbst voller Staub und Schmutz. Dinge, die er von draußen mitgebracht hatte. Im gleichen Moment wurde ihm jedoch klar, dass es darauf nicht ankam. Wichtig war nur, dass er hier war.
 

„Es ist lange her“, sagte er und machte noch einen Schritt auf sie zu. Sie lächelte.
 

„Ja, viel zu lange.“

 

Sie trat nun zu ihm und er sah ihr Gesicht, als wäre es das erste Mal. Sie hatte sich nicht verändert.
 

„Wie lange?“, wollte er wissen.

 

„Viele, viele Jahre. Die Welt ist nicht mehr so, wie du sie verlassen hast.“

„Wo sind all die Menschen?“

„Sie sind fort.“

 

Er trat an den Rand des Balkons und sah hinab in das Tal. Baumkronen bildeten einen unruhigen Teppich, über dem einzelne Wolken schwebten. Ein schlanker Umriss löste sich aus all dem Grün. Auf weißen Schwingen erhob er sich und flog ein Stück weit über den wogenden Blätterozean, bevor er zur Landung ansetzte und wieder von den Schatten des Waldes verschluckt wurde. Über den Bäumen hörte man ein weites, langgezogenes Rufen.

 

Mit einem fragenden Ausdruck drehte er sich zu ihr herum.
 

„Es gibt wieder Tiere?“

„Ja. Ich habe ihre DNA in den Datenbanken gefunden. Es war schwierig, sie zu rekonstruieren, aber ich hatte ja Zeit. Unendlich viel Zeit.“

 

Wieder sah er nach unten auf den Garten. Es war das Werk von Jahrhunderten. Sein Herz wurde schwer.
 

„Was ist passiert?“
 

Er wusste, dass sie die Frage verstehen würde. Sie seufzte.
 

„Es stellte sich heraus, dass dein Vater recht hatte. Die Menschheit war dem Untergang geweiht. Nach und nach versagten die Systeme. Es war ein langsames, aber unaufhaltsames Sterben. Ich war dabei, als der letzte von ihnen die Welt verließ. Mit ihm ging eine Ära zu Ende.“

 

Er schwieg einen Augenblick, bevor er die Frage stellte, die ihn eigentlich beschäftigte.
 

„Und was ist mit Scott? Und Trix?“

„Trix starb kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes. Eine unentdeckte Infektion, die zu einer Sepsis führte. Ihre Tochter hat nach ihrem Tod ihr Bild immer bei sich getragen.“

„Und Scott?“

 

Sie antwortete nicht, sodass er schließlich in ihre Richtung blickte. Auf ihrem Gesicht lag ein merkwürdiger Ausdruck.
 

„Scott wurde erschossen“, wisperte sie. „Nur wenige Wochen, nachdem du gegangen warst. Er geriet in eine Schießerei und wurde tödlich getroffen. Ich konnte die Blutung nicht stoppen.“

 

Er senkte den Kopf. Natürlich hatte er gewusst, dass die beiden nicht mehr da waren, aber …
 

„Was hast du dann gemacht?“

 

Sie lächelte schmal.
 

„Ich kehrte hierher zurück. Ich wollte herausfinden, was dein Vater noch alles vor mir verborgen hatte. So verbrachte ich lange Zeit damit, all die Daten zu sichten, die er zusammengetragen hatte. Als ich feststellte, dass der größte Teil des Saatguts, das er eingelagert hatte, die Explosion unbeschadet überstanden hatte, fasste ich den Plan, wenigstens einen Teil des Projekts in die Tat umzusetzen. Ich fing an, ein Biotop zu bauen. Und dann noch eines und noch eines. Bis sie schließlich die Grenzen sprengten und hinaus in die Welt gelangten. Was dann passierte, siehst du hier.“

 

Sie wies auf die grüne Oase, die nur einen einzigen Zweck zu kennen schien: Wachsen. Es war ein majestätischer Anblick.

 

„Warum?“, fragte er, nachdem die Sonne eine ganze Handbreit weiter gewandert war. „Warum hast du all dies erschaffen?“

 

Wieder erhielt er keine Antwort. Er wusste plötzlich, dass da etwas war, dass sie ihm verschwieg. Als er sie danach fragte, senkte sie den Blick.

 

„Ich weiß nicht“, gab sie leise zu. „Vielleicht, weil ich etwas getan habe, das ich nicht hätte tun sollen. Weil ich gehofft hatte, dass …“

 

Sie sprach nicht weiter. Er atmete tief ein.
 

„Was hast du getan?“

 

Sie schluckte. Eine menschliche Geste, die sie trotz ihrer derzeitigen Form nicht benötigte.

 

„Als er starb, konnte ich … ich konnte ihn nicht gehen lassen. Also tat ich etwas Unverzeihliches. Ich wollte ihn nicht verlieren.“

 

„Was hast du getan?“

 

Er ahnte die Antwort auf diese Frage bereits, aber er wollte es von ihr hören.
 

„Ich habe seine Persönlichkeit gespeichert. All seine Erinnerungen, sie sind … hier drin.“

 

Sie legte die Hand auf ihre Brust, ein scheues Lächeln auf den Lippen.
 

„Denkst du, dass das falsch war?“

 

Wieder schaute er in das Tal, das vor ihm lag. Er verstand, dass dies der Krater war, indem sich eins das Labor befunden hatte. Dort, wo alles angefangen hatte. Die Wiege des Lebens. Eines Lebens, das anders war als alles, was diesen Planeten vorher bewohnt hatte. Und er wusste auch, warum sie ihn zurückgeholt hatte. Weil er der Erste gewesen war.

 

„Ich denke, dass es einen Versuch wert ist. Was du hier geschaffen hast ist … wundervoll. Es wäre schade, wenn es niemand zu Gesicht bekäme.“

 

Er schenkte ihr ein Lächeln. Er wusste, dass sie es brauchte.

 

„Komm, lass es uns versuchen. Lass ihn uns wieder zurückholen.“

„Und die anderen?“

„Welche anderen?“
 

Sie schwieg, aber er wusste, dass da noch mehr waren. Noch viel mehr. Wieder lächelte er.
 

„Lass uns mit einem anfangen und dann sehen wir, wie weit wir kommen.“

 

Er erwartete keine Antwort, aber das Glitzern in ihren Augen, verriet ihm genug. Sie würden die Welt neu erschaffen und mit viel Glück würde es dieses Mal funktionieren.

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Sorry Leute!

Mein Uploadrhythmus hier ist grottig, weil ich manchmal lieber an dem Liegesgedöns schreibe. ;) Aber vielleicht gönne ich der Geschichte hier doch mal das nächste Kapitel, bevor ich mich in den Urlaub verabschiede. Also bleibt mir gewogen.

Zauberhafte Grüße
Mag
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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  fatua
2021-10-21T13:55:21+00:00 21.10.2021 15:55
Wow, das war heftig. Etwas gruselig, diese Zukunftsvision ...
Antwort von:  Maginisha
21.10.2021 18:21
Ach, fast gar nicht. :D
Von:  fatua
2021-08-12T22:40:41+00:00 13.08.2021 00:40
Sehr unterhaltsam, dieses Kapitel. Holo-Bitch und Laserschwert 🤣
Und dann noch die Enthüllung der Kommunikation mit Maschinen. Cool.
Antwort von:  Maginisha
13.08.2021 08:50
Hey fatua!

Freut mich, dass es dir gefallen hat. Zwischendurch muss ja mal wieder ein bisschen gelacht werden, bevor das nächste Blut fließt. ;)

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Hojiko
2021-08-07T20:36:48+00:00 07.08.2021 22:36
Ich kann mich fatua nur anschließen! Spannend, kreativ und gut geschrieben. Die drei sind ein cooles Trio und ich mag das Setting. Irgendwo zwischen Piratengeschichte und Mad Max. Echt cool
Antwort von:  Maginisha
08.08.2021 09:37
Hallo Hojiko!

Das ist ja mal ein lustiger Vergleich. :D Und vielen Dank für das Lob. Werde mich gleich mal ranmachen, hier weiterzuschreiben. Bin gerade ein bisschen im Flow. :)

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  fatua
2021-07-16T21:26:45+00:00 16.07.2021 23:26
O Mann, das geht ja nicht, dass diese Geschichte noch gar keine Kommis hat ... Ich finde sie mega spannend, das Setting ist genial und die Charaktere interessant. Die drei geben ein unterhaltsames Team ab. Ich bin sehr gespannt, was noch so kommt und wie die Rätsel aufgelöst werden. Daumen hoch! ☺️
Antwort von:  Maginisha
17.07.2021 10:07
Hey fatua!

Ach, ich hatte bei der Geschichte gar nicht mit viel Resonanz gerechnet. Umso mehr freut es mich natürlich, dass du mir jetzt trotzdem einen Kommentar und ein Lob dagelassen hast. Vielen Dank dafür!

Zauberhafte Grüße
Mag


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