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Demon Girls & Boys

von

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Mut zum Opfern

   Mut zum Opfern

 

 

 

Mühsam öffnete Susanne ihre Augen. Sie war völlig erschöpft und ihre Lunge fühlte sich an als bestünde sie aus unsagbar schweren Backsteinen. Während ihre Sinne zu ihr zurückkehrten, begann sie, sich vorsichtig aufzurichten.

„Susanne, wie geht es dir?“, hörte sie gedämpft, wie Janine sie fragte und ihr beim Aufsetzen half.

Susanne hustete, in der Hoffnung, das Wasser würde dadurch ihre Lunge wieder verlassen. „Es ging mir zwar schon besser, aber den Umständen entsprechend gut, denke ich.“

Sie schaute sich um. Ihr Untersatz schwankte leicht, was daran lag, dass sie sich zusammen mit dem Rest auf einem Rettungsboot befand. Scheinbar waren es Benni und Laura gewesen, die sie und die anderen aus dem Wasser gefischt hatten.

Susanne warf den beiden ein dankbares Lächeln zu, als ihr verwundert die besorgniserregende Stille auffiel. Erneut blickte sie in die Runde.

Tatsächlich waren inzwischen alle bei Bewusstsein, doch niemand sagte auch nur ein Wort. Sie warfen sich nur bedrückte Blicke zu oder sahen hinaus auf das Meer, als würden sie noch irgendetwas oder irgendwen erwarten.

Und Susanne wusste sofort, wer noch fehlte.

Wer für diese unheimliche Stille verantwortlich war.

„Wo ist Lissi?“, fragte sie Janine, mit einer unwohlen Ahnung, dass sie die Antwort gar nicht hören wollte.

Diese schüttelte mitleidig den Kopf.

Bitte nicht…

Die Sorge wandelte sich rasend schnell in Angst. Hilfesuchend warf Susanne einen Blick auf Benni. Er saß bei Carsten und Laura und beobachtete schweigend, wie sich sein bester Freund um die völlig aufgelöste Laura kümmerte. Susanne war zwar daran interessiert, was wohl passiert war, doch Laura saß immerhin lebend im Rettungsboot. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die sich vermutlich noch irgendwo auf dem Meeresgrund befand. Schlimmstenfalls sogar begraben von den Trümmern des untergegangenen Tempels.

Dennoch tröstete sie sich mit der Tatsache, dass Benni nichts unternahm, um ihr zu helfen. Das müsste zumindest bedeuten, dass sich Lissi nicht in Lebensgefahr befand!

„Es ist schon seltsam…“, sinnierte Anne plötzlich, „Immerhin scheint Lissi die einzige zu sein, die es nicht rausgeschafft hat.“

„Ich geh um ehrlich zu sein davon aus, dass es sogar sie war, die uns gerettet hat.“, meinte Ariane und seufzte bedrückt.

Anne schüttelte den Kopf und gab ihr schlangenartiges Zischen von sich. „Woher willst du das wissen?“

„Und woher willst du wissen, dass Lissi es nicht war?“, konterte Susanne und ärgerte sich insgeheim über Annes fehlendes Vertrauen. „Immerhin ist sie die einzige von uns, die fehlt. Vielleicht ist ihr ja irgendetwas zugestoßen, als sie uns gerettet hat oder sie befindet sich wieder im zerstörten Tempel, weil sie ihre Prüfung tatsächlich bestanden hat.“

Susanne hoffte natürlich zweiteres, doch jede Minute, die verstrich, ließ ihre Hoffnung immer weiter sinken.

Schließlich hielten ihre Nerven es nicht mehr aus. Hilfesuchend wandte sie sich an den einzigen, der noch am ehesten wissen könnte, wie es um Lissi stand. An Benni. „Kannst du denn nichts machen?!“

Wie sonst auch die Ruhe in Person, schüttelte Benni den Kopf. „Das ist nicht von Nöten.“

Kurz darauf tauchte Lissi einige Meter entfernt vom Rettungsboot auf, erblickte sofort den Rest der Gruppe und winkte ihnen lachend zu, ehe sie zu ihnen schwamm.

Susanne fiel ein Stein vom Herzen und nachdem Carsten und Ariane Lissi in das Innere des Bootes geholfen hatten, konnte sie nicht an sich halten und fiel ihrer Schwester überglücklich in die Arme. „Dir geht es gut, so ein Glück!“

„Klar geht es mir gut Susi, was hast du denn anderes erwartet?“, erwiderte Lissi zufrieden, doch Susanne merkte, dass auch sie erleichtert war alles hinter sich zu haben.

„Du hast doch tatsächlich die Prüfung bestanden, hätte ich nicht erwartet. Glückwunsch.“, meinte Anne und klang sogar verhältnismäßig freundlich.

Susanne musterte ihre Schwester nun genauer.

Sie hatte wie Öznur Ohren auf dem Kopf bekommen, nur dass ihre schwarz und die eines Wolfes waren, sowie der schwarze Wolfsschwanz. Ihre blau-grünen Augen gingen nach innen in ein reines Meeresblau über und endeten schließlich in der schlitzartigen Dämonenpupille.

Lissi warf Anne ihr unbeschwertes Lächeln zu, als hätte sie den größten Teil des Inhaltes überhört. „Überrascht?“

„Ja.“, antwortete Anne wahrheitsgemäß.

„Okay Leute, es reicht. Lissi, versteck jetzt endlich deine wahre Gestalt, damit wir zurück aufs Schiff können.“, schritt Öznur schlichtend ein, bevor es zu irgendwelchen überflüssigen Reibereien kam.

Lissi seufzte. „Ach Özi-dösi, ist das wirklich nötig? Ich hab meine Dämoninnenform gerade erst bekommen! Ich will sie nicht gleich wieder verstecken müssen.“

„Ja, ist es und jetzt hör auf zu meckern.“, zischte Anne gereizt.

So machten sie sich kurz darauf endlich auf den Weg zurück zum Schiff, das erfreulicher Weise noch gewartet hatte.

Die Fahrt nach Kara verging angenehm ruhig, so wie die erste Etappe bis zur Schrein-Insel. Nicht zuletzt wieder aus dem Grund, weil sich die ‚Raufbolde‘ ihrer Gruppe problemlos aus dem Weg gehen konnten und sich erst wieder bei ihrer Ankunft in dem Hafen von Kara gegenüberstehen mussten.

Inzwischen war die Sonne bereits dabei hinter den Hochhäusern ihrer Heimatstadt zu verschwinden, daher schlug Carsten vor: „Wir sollten uns ein Nachtlager suchen und erst morgen zu deinem Schrein gehen. Wäre das okay?“

Susanne nickte als Antwort. Sie hatte kein Problem damit, noch etwas auf ihre Prüfung zu warten und nach dem heutigen Stress auf der Insel konnte sie den Schlaf gut gebrauchen.

„Wohnt ihr nicht in Kara?“, erkundigte sich Anne und wieder nickte Susanne.

„Aber wir können doch nicht einfach so unangekündigt reinplatzen und das ganze Haus belagern.“, widersprach Janine.

Susanne lächelte ihre Zimmerkameradin aufmunternd an. „Du musst dir keine Sorgen um den Platz machen. Unser Vater ist der Bürgermeister von Kara und entsprechend leben wir auch etwas wohlhabender.“, erklärte sie und hoffte, nicht wie eine Angeberin zu klingen. Nur weil die Eltern einen hohen Rang hatten, hieß das noch lange nicht, dass sie das Recht dazu hatte, sich überheblich oder eingebildet zu verhalten, wie diese Lisa Rapuko, die wohl nur Wert auf den sozialen Status legte.

„Ach Süße, muss das wirklich sein? Ich hab keine Lust.“, trällerte Lissi.

Anne winkte ab. „Ja, das muss sein, also fang nicht schon wieder an zu nerven.“

„Ähm nein, also… Das muss nicht sein… Ich meine, wir…“ Susanne wusste nicht so recht, wie sie die anderen nun doch noch umstimmen könnte, die ihr einen verwirrten Blick zuwarfen.

„Wieso nicht?“, fragte Öznur irritiert.

Susanne seufzte und suchte nach Worten, die die Situation erklären könnten. Natürlich wusste sie, dass Lissi ihren Eltern am liebsten aus dem Weg ging. Immerhin dachten diese nur Schlechtes von ihr.

Susanne fühlte sich deswegen miserabel. Sie wurde den Gedanken einfach nicht los, dass auch sie einen Teil zu Lissis Unglück beigetragen hatte. Schon alleine durch ihre Existenz.

„Wir haben kein besonders gutes Verhältnis zu unseren Eltern…“, meinte sie schließlich.

Öznur seufzte. „Da kann man nichts machen… Fällt euch eine andere Möglichkeit ein?“

„Wie wär’s mit Zelten?“, schlug Ariane begeistert vor.

Susanne überlegte kurz. „Am Strand südlich von hier gibt es einen Campingplatz. Dort kann man soweit ich weiß auch Zelte ausleihen.“

„Au ja! Campen wir!!!“, rief Ariane begeistert und schaute fragend in die Gruppe, um herauszufinden, wer von dieser Idee genauso begeistert war wie sie selbst.

So wirklich dagegen schien keiner zu sein, immerhin war es für Ende März schon sehr warm außen. Dennoch sah sie, dass Öznur und Anne doch lieber in einem warmen und kuscheligen Bett schlafen wollten, auch wenn sie sich nicht beschwerten.

So war die Sache für Ariane auch schnell entschieden. „Also auf zum Campingplatz!“

Da der Campingplatz nicht so weit entfernt war, kamen sie zu dem Entschluss, einfach an der Küste entlang zu spazieren und etwa eine Stunde später erreichten sie ihr Ziel.

Nachdem sich Eagle um die Anmeldung für eine Nacht gekümmert hatte, standen sie auch schon vor dem nächsten Problem: Der Zeltaufteilung.

Eigentlich wäre das nicht weiter schwierig, denn sie hatten vier Zelte, in welche immer maximal drei Leute passten. Das Problem bestand eher darin, dass sie gezwungener Maßen Eagle zu Benni und Carsten in das Zelt stecken mussten. Zwar beschwerten sie sich nicht, aber es war mehr als deutlich, dass besonders Eagle davon überhaupt nicht begeistert war.

Immerhin zeigte er sich als Gentleman, indem er den Mädchen beim Aufbauen ihrer Zelte half, von denen eigentlich nur Ariane und Anne alleine zurechtgekommen wären.

„Hey Carsten, kannst du das Zelt nicht auch wie in Harry Potter so verzaubern, dass es innen viel größer ist, als es von außen zu sein scheint?“, fragte Öznur plötzlich

Carsten lachte überrascht auf. „Wie kommst du denn auf die Idee?“

„Keine Ahnung, einfach so. Vielleicht, weil wir dann mehr Platz hätten?“, erwiderte Öznur sarkastisch.

„Oh ja, das wär toll!!! Super Idee, Özi-dösi!“, rief Lissi begeistert.

Lächelnd schüttelte Carsten den Kopf. „Im Prinzip müsste es gehen.“

„Mach schon, mach schon, mach schon!!!“, drängten Lissi und Öznur, was allerdings nicht gerade hilfreich war, wenn man sich gerade auf einen Zauberspruch konzentrieren wollte.

Schließlich wandte sich Carsten einem der Zelte zu und sprach mehrere Sätze auf dryadisch.

Als er geendet hatte, schauten Öznur und Lissi ihn immer noch erwartungsvoll an. „Und?“

„Geht rein und schaut nach, ob es funktioniert hat.“, meinte Carsten schmunzelnd.

Die beiden verschwanden im Zelt, kamen allerdings kurz darauf wieder rausgeschossen und fielen Carsten mit solcher Wucht um den Hals, dass sie ihn zu Boden warfen.

„Es hat funktioniert! Das ist der Wahnsinn, wie in Harry Potter!“, rief Öznur begeistert.

Folglich musste Carsten diesen Zauber an jedem Zelt anwenden.

„Wirkt dieser Zauber eigentlich auch nur bis Mitternacht, so wie die Kostüme, die du mal für Laura und Ninie gezaubert hattest? Ich wär nur gerne vorgewarnt, wenn ich morgen aufwache und plötzlich total an Anne und unsere Koffer gequetscht bin.“, erkundigte sich Öznur misstrauisch.

Carsten schüttelte lachend den Kopf. „Nein, erst wenn ihr das Zelt zusammenbaut verfliegt die Wirkung. Wenn ihr es also schafft, es nicht zum Einsturz zu bringen, passiert euch nichts.“

Ariane winkte ab. „Wird schon nicht passieren. Machst du jetzt was zu essen?“

„Was wollt ihr denn sonst noch von mir?“, fragte Carsten stöhnend.

Natürlich konnte sich Lissi ihren Kommentar nicht verkneifen. „Einen Kuss?“

Schmollend verschränkte Ariane die Arme vor der Brust. „Auf dem Schiff haben wir nichts gegessen… Ich hab Hunger!“

Seufzend gab sich Carsten geschlagen. „Na gut, mal sehen, was sich machen lässt.“

„Und der Kuss???“ Lissi ließ nicht locker.

„Nein!“ So genervt Carstens Stimme auch klang, seine Wangen bekamen trotzdem einen rot-stich.

Eagle lachte amüsiert auf. „Komm schon, etwas Erfahrung bei den Frauen würde dir guttun. Sehr begehrt bist du ja sonst nicht gerade.“

Carsten wollte irgendetwas erwidern, doch er hielt in der Bewegung inne und als ihm nichts einfiel meinte er nur: „Ich geh einkaufen.“ und verließ den Campingplatz.

Anne machte sich gar nicht erst die Mühe, ihr Kichern zu verkneifen. „Sehr schlagfertig.“

„Halt die Klappe!!!“, brüllte Laura sie an.

Susanne erschrak und sogar Anne hörte auf zu lachen.

Doch ihr schenkte sie keine Beachtung, stattdessen wandte sie sich an Eagle. „Warum musst du immer so gemein zu Carsten sein? Was hat er dir getan?!?“

Eagle verdrehte die Augen. „Komm schon, das war doch nicht gemein.“

Laura ballte die Hände zu Fäusten und funkelte ihn wütend an. „Und wie gemein das war! Du hast ihn richtig verletzt!!!“

Genervt stöhnte Eagle auf. „Das war nur ein kleiner Scherz.“

„Ein kleiner Scherz?!?“

„Komm, Laura. Lass es einfach gut sein, ja?“ Sanft schob Öznur Laura zur Seite. „Aber Eagle, tu uns doch einen Gefallen und halte dich mit deinen ‚Scherzen‘ etwas zurück. Wir können es nicht gebrauchen, wenn sie der Auslöser eines Streites werden.“

Seufzend gab Eagle schließlich nach.

 

~*~

 

Bedrückt musterte Laura, wie Carsten das Abendessen über dem Lagerfeuer zubereitete, das sie vor kurzem erst geschürt hatten. Er war besorgniserregend ruhig geworden, seit er vom Einkaufen zurückgekommen war.

Und das war allein Eagles schuld!

Den Gesprächen beim Essen hörte Laura nur mit halbem Ohr zu. Meistens ging es um die Dämonenformprüfungen und da konnte sie sowieso nicht wirklich mitreden, da sie ihre Prüfung leider noch vor sich hatte.

„Eagle, worum ging es eigentlich bei deiner Prüfung?“, erkundigte sich Öznur neugierig.

Der Angesprochene kratzte sich am Hinterkopf und schien leicht verlegen. „Ich musste keine Prüfung absolvieren.“

„Was?!? Echt nicht? Wir müssen uns hier abrackern, um die Prüfung zu bestehen und du hast deine Dämonenform einfach geschenkt bekommen? So ganz fair ist das ja nicht gerade.“, beschwerte sich Anne empört.

Eagle schnaubte bedrückt und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. „So ganz ‚geschenkt‘ kann man das auch nun wieder nicht nennen. Ich war noch nicht mal zwei Jahre alt und wenige Stunden zuvor war meine Mutter gestorben.“ Noch ehe irgendjemand dazu kam, sein Beileid auszusprechen, wandte sich Eagle vorwurfsvoll an Carsten. „Warum zum Teufel noch mal ist kein Fleisch in der Suppe?!? Das ist widerlich!“

Der Funken Mitleid, den Laura vor kurzem noch für ihn empfunden hatte, war schon wieder verflogen.

„Ganz einfach aus dem Grund, weil Benni sonst gar nichts essen würde.“, erklärte Carsten und klang beeindruckend ruhig dabei. „Abgesehen davon isst du sowieso zu viel Fleisch.“

Eagle schnaubte und holte sich eine Zigarette aus der Jackentasche. „Deiner Meinung nach ist sowieso alles, was ich mache ungesund.“

„Du kannst auch nicht gerade behaupten, dass Rauchen gesund sei.“, erwiderte Susanne, doch Eagle zündete einfach seine Zigarette an.

Ariane zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Solange Carsten kocht ist es eigentlich egal, was er macht. Lecker schmeckt es trotzdem immer.“

Bei Arianes Lob errötete Carsten. „Ähm… danke…“ Verlegen richtete er seinen Blick auf den Boden, was ihn mal wieder total putzig wirken ließ.

Eigentlich war es ein schöner Abend, den sie zusammen am Lagerfeuer verbrachten. Obwohl Eagle, Öznur und Lissi, als die Sonne komplett verschwunden war und den Sternen den Himmel überließ, sich ein Wetttrinken lieferten. Als Carsten es schließlich mit Arianes Hilfe geschafft hatte, ihnen den Alkohol wegzunehmen, waren sie zwar nicht komplett betrunken aber doch sehr stark angeheitert.

Daher nahmen sie auch keine Notiz davon, dass Laura und Ariane kurz vor einem Nervenzusammenbruch standen, als sie sich nicht mehr mit Alkohol, sondern mit Gruselgeschichten bekämpften, bei denen Anne begeistert mitmachte.

So konnte Laura sogar nach vier Stunden, nachdem sich alle in die Zelte verkrochen hatten, noch nicht einschlafen.

Sie spürte, wie jemand ihren Arm pikste.

„Laura? Bist du noch wach?“, hörte sie Ariane kleinlaut fragen.

„Ja…“, gab Laura als träge Antwort von sich.

Ariane kam mit ihrem Schlafsack zu ihr rüber gekrochen und kuschelte sich an ihren Arm, als wäre er ein Schmuseteddy. „Eagle und Anne waren so gemein… Wegen deren Geschichten kann ich nicht einschlafen.“

„Ich auch nicht…“, meinte Laura. Eagles und Annes Geschichten waren natürlich die gruseligsten gewesen und jetzt rechnete Laura die ganze Zeit damit, dass jede Sekunde der ‚Tick-Tack-Mörder‘ zu ihnen ins Zelt kam und ihnen nach und nach die Gliedmaßen abhackte, während er freudig ‚tick-tack, tick-tack‘ sang.

Allein der Gedanke daran ließ sie erneuet schaudern. Sie hatte sich sowieso noch nicht von dem Angriff dieser Meerjungfrau erholt. Ach nein, die menschenfressenden Meerjungfrauen hießen ja Nixen, wie sie kurz darauf von Carsten erfahren hatte. Immerhin hatte das ihre Vorstellung von Ariel gerettet…

Ein knacksender Ast ließ Laura und Ariane gleichzeitig hochschrecken.

„Das ist der Tick-Tack-Mörder!“, wisperte sie Laura verängstigt ins Ohr.

„Oder die Nixe, die wie in Ariel Beine bekommen hat und immer noch Hunger hat.“, erwiderte Laura panisch.

Die beiden Mädchen steigerten sich nur noch mehr in diese Horror-Situation, als das Mondlicht einen Schatten auf eine Zeltseite warf.

„S-Siehst du das?“, fragte Ariane, immer noch im Flüsterton. Doch die Panik war nicht zu überhören.

 

~*~

 

Da er erneut von diesem Traum schweißgebadet aus dem Schlaf gerissen wurde und sich erneut an nichts erinnern konnte, bis auf diese zwei nicht sehr ermutigenden Worte, hatte Benni beschlossen, das Zelt zu verlassen und unter dem leicht bewölkten Sternenhimmel einen Spaziergang zu machen.

Zwar hatte er versucht, Chip zu überzeugen, dass er sich lieber schlafen legen solle, doch er wusste selbst, dass dieses Eichhörnchen ihm so oder so folgen würde. Daher lag Chip nun friedlich schlummernd auf seiner Schulter, während Benni am Strand entlangging und aufs Meer hinausblickte, dessen Horizont sich mit dem schwarzen Himmel zu vereinen schien.

Er schloss die Augen und versuchte, sein beruhigendes Umfeld auf sich wirken zu lassen. Doch die wirren Gedanken in seinem Kopf ließen ihm keine Ruhe. Oft genug hatte er versucht, sich an diesen Traum zu erinnern, allerdings immer ohne Erfolg.

Nachdem er zwei Stunden lang unterwegs gewesen war, beschloss Benni zurückzukehren, in der Hoffnung, die restliche Stunde vor der Morgendämmerung noch traumlos schlafen zu können.

Wieder auf dem Zeltplatz angekommen, wachte Chip gähnend auf und sprang auf einen Baum, um sich auf einem Ast niederzulassen. Doch der Ast war zu schmal, als dass er in der Lage wäre, Chips Gewicht tragen zu können. So brach er ab und fiel mit Chip Richtung Erde. Den Ast nicht beachtend fing Benni das Eichhörnchen wie gewohnt auf. Eine Geste, die ihm bereits in Fleisch und Blut übergegangen war.

Ein aufgebrachtes Flüstern aus Lauras und Arianes Zelt ließ seine Aufmerksamkeit darauf richten.

Benni wusste, dass Laura und wohl auch Ariane sehr schreckhaft waren und ebenfalls, dass sie auf die Erzählungen von Eagle und Anne sehr panisch reagiert hatten. Ebenso kannte er den Inhalt ihrer momentanen leisen Unterhaltung.

Folglich ahnte er bereits, was nun geschehen würde…

 

~*~

 

Laura hörte Ariane tief durchatmen. „Okay… Wir sind doch Dämonenbesitzer. Wir müssten eigentlich in der Lage sein, ihn zu bezwingen… Also schnappen wir ihn uns.“

„Nur, wenn du zuerst gehst…“ Vorsichtig schob Laura Ariane Richtung Eingang.

„Hast du sie noch alle?! Nie im Leben!!!“ Nun war es Ariane, die Laura am Arm packte und weiter zum Eingang zerrte.

„Nein!“, schrie Laura.

„Doch!“

„Ich bin viel schwächer als du! Der hätte mich in Sekunden überwältigt!“, widersprach sie panisch.

„Ach was, ich werde dir Rückendeckung geben.“

„Na und?!? Der steht dann vor mir!“

„Jetzt geh schon!“ Ariane stieß Laura nur ganz leicht nach vorne, doch allein das reichte schon aus, dass sie stolperte und zusammen mit Ariane, die sie am Arm festgehalten hatte, gegen die Zeltwand fiel.

Erschrocken schrie Laura auf.

Einen Moment verlor sie vollkommen die Orientierung, während das Zelt über ihnen einstürzte und sie auf einmal vom Zelt, den Schlafsäcken und Koffern fast erschlagen wurden.

Kaum wusste Laura wieder, wo sich der Boden und das Ende des Zeltes befanden, stolperte sie auf allen Vieren mit Ariane im Schlepptau raus.

Zur selben Zeit kamen die anderen aus ihren Zelten gestürmt.

„Laura, Ariane?!? Was ist los?!?!?“, rief Carsten besorgt.

Während Laura noch ganz atemlos war, berichtete Ariane aufgebracht: „Da war der Tick-Tack-Mörder! Wir haben ihn gesehen!“

Ihr Blick fiel auf Benni, der abseits von den anderen stand. „Du musst ihn doch auch gesehen haben! Vor ein paar Sekunden stand er noch da, wo du eben stehst!!! Los, du musst ihn fangen! Der ist ein ganz schlimmer Verbrecher!!!!!“

Einige Sekunden lang herrschte absolute Stille, so dass man nur das Zirpen der Grillen hören konnte. Kurz darauf brachen alle Beobachter in ein lautes Gelächter aus. Alle außer Benni, der den Kopf schüttelte und auf Japanisch „Ihr habt sie doch nicht mehr alle.“ murmelte.

Laura und Ariane schauten die anderen verwirrt an. „Warum lacht ihr denn?“

Als sich Carsten so halbwegs beruhigt hatte, meinte er schließlich belustigt: „Keine Sorge. Ich glaube, euch wird der ‚Tick-Tack-Mörder‘ nichts antun. Eigentlich ist der ein ganz Lieber.“

Ariane runzelte die Stirn. „Woher willst du das wissen?“

Die restlichen Gruppenmitglieder tauschten kurz einen Blick aus. Wobei den meisten von ihnen dennoch entging, wie Benni Carsten einen vorwurfsvollen ‚Ich bin nicht lieb‘-Blick zuwarf, welchen Carsten mit einem amüsierten Schulterzucken erwiderte.

„Lassen wir sie im Unklaren.“, schlug Anne vor.

Öznur nickte. „Vielleicht kommen sie irgendwann von selbst dahinter.“

Zwar ärgerte sich Laura darüber, dass die anderen daraus so ein Geheimnis machten. Aber es schien ja nicht wirklich ernst gewesen zu sein, also war sie immerhin etwas beruhigt. Obwohl sie vorerst wohl auf Zelten verzichten würde…

 

~*~

 

Nach dem Aufstehen räumten sie ihre Sachen zusammen und bauten die Zelte ab, damit Eagle sie wieder zurück zum Zelt-Verleih bringen konnte.

Immerhin war Susanne nicht so müde wie Laura und Ariane oder gar Benni. Sie hatte doch recht gut und tief schlafen können, trotz ihrer bevorstehenden Prüfung und Lauras und Arianes nächtlichem Auftritt. Susanne musste lächeln, als sie an ihre völlig aufgebrachten Gesichter zurückdachte.

Als Eagle mit den Zelten verschwunden war, ging sie zu Carsten rüber, der die Karte von Damon studierte und vermutlich nach einer sowohl kräfte- als auch geldbeutelschonenden Möglichkeit suchte, um zum Schrein einige Kilometer westlich von hier zu kommen.

„Ich vermute, laufen wäre zu viel verlangt.“, meinte er, als sich Susanne neben ihn auf die Wiese setzte.

„Wir haben ziemlich gute und verhältnismäßig günstige Zugverbindungen.“, schlug sie vor.

Carsten nickte. „Das wäre wohl der beste Weg. Selbst wenn es möglich wäre, würde ich euch am liebsten nicht teleportieren…“

Susanne verstand, worauf er hinaus wollte. Sie fand es rührend, wie viel Rücksicht er auf Laura nahm und konnte nicht anders, als sich über Eagles Verhalten gegenüber seinem kleinen Bruder zu ärgern. Auch wenn sie nur Halbbrüder waren, war das noch lange kein Grund, sich so bösartig zu verhalten!

Als die Gruppe wieder vollständig war berichtete Susanne ihnen von ihrer Idee den Zug zu nehmen und dass sie bei zwei Gruppenkarten sehr viel Geld würden sparen könnten.

Ihre Hauptsorge bei diesem Thema war natürlich Janine, aber auch wenn sich diese sträubte, bestand der Rest der Gruppe darauf, ihren Anteil von gerade mal zwei ‚Geld‘, der Währung in Damon, komplett zu übernehmen.

Die Fahrt zum Schrein des Pinken Bärs war wie die Fahrt zur Schrein-Insel sehr beruhigend. Während Laura und Ariane versuchten, etwas Schlaf nachzuholen, den sie aufgrund der Gruselgeschichten nicht wirklich hatten, nutzten Öznur, Eagle und Anne die Gelegenheit, sich über den Nervenzusammenbruch der beiden lustig zu machen. Benni und Carsten lasen und Lissi beschäftigte sich mit ihrem Aussehen und dem Beobachten von anderen Mitreisenden, darunter natürlich insbesondere attraktive junge Menschen. Janine saß neben Susanne und betrachtete wortlos die an ihnen vorbei rauschende Landschaft außerhalb des Zuges.

„Danke, dass ihr mir das Zugticket gekauft habt…“, meinte sie plötzlich.

Susanne schaute sie erst verwundert an, dann wandelte sich ihre Verwunderung in ein Lächeln. „Nichts zu danken. Das ist doch das mindeste, was wir für dich machen können.“

Zwar erwiderte Janine nichts, doch Susanne konnte ihre widersprüchlichen Gefühle spüren. Da waren auf der einen Seite Dank und Freude, dass sie ihr helfen wollten und geholfen hatten und auf der anderen Seite Trauer und Ärger, dass sie sich helfen lassen musste, um dabei bleiben zu können. Susanne konnte ihre Gefühle, auch die negativen, nur zu gut verstehen. Doch sie wusste nicht, wie sie Janine aufheitern könnte. Ihr fielen einfach keine Worte des Trostes ein…

So saßen sie den Rest der Fahrt schweigend da, nicht wissend, was sie sagen sollten.

Der Zug hielt an einem kleineren Dorf, wo sie ihn verließen. Von hier aus waren es nur noch zwanzig Minuten zu Fuß, bis sie den Schrein erreichten. Die ländliche Umgebung war wunderschön und Susanne kam der Gedanke, dass es eigentlich auch ganz nett wäre mal die Erfahrung zu machen, wie es war, wenn man wie Öznur in einem Dorf lebte. Schließlich kamen sie an einen kleinen Wald kamen und fanden kurz darauf auf den Schrein.

Finden war hier auch der richtige Begriff.

Dieser Tempel sah eher wie eine Höhle in einer kleinen Steinklippe aus und hatte keinerlei Ähnlichkeit zu denen der anderen Dämonenbesitzer. Nur das Eingangsportal, eine runde, hölzerne Tür, ließ erahnen, dass es sich um genau den Ort handelte, den sie suchten.

Anne runzelte die Stirn. „Dieser Schrein sieht ganz anders aus als die, die wir bisher gesehen haben.“

„Wie eine Bärenhöhle mit Tür?“, vermutete Ariane sarkastisch.

Öznur lachte. „Na los, Susi, mach auf! Ich will wissen, ob die auch eingerichtet ist. Mit so süßen Holzmöbeln und Porzellan-Service und so weiter.“

Trotz ihrer Nervosität konnte sich Susanne ein Lächeln nicht verkneifen und öffnete die Holztür in der Hoffnung, es würde sie tatsächlich ein gemütlich eingerichtetes Zimmer erwarten.

Leider war dem nicht so.

Es handelte sich wirklich eher um eine dunkle, steinige Bärenhöhle, wie Susanne leicht enttäuscht feststellen musste, als sie eintrat.

Kaum war sie im Inneren der Höhle, fiel die Tür auch schon wieder laut krachend in die Angeln und hüllte sie in völlige Dunkelheit. Erschrocken drehte sich Susanne um und erzeugte mit ihrer Magie ein schwach rosa leuchtendes Licht.

Offensichtlich hatte ihr niemand folgen können. Oder eher dürfen.

Susanne empfand darüber sowohl Freude als auch Angst.

Sie freute sich, dass keiner wegen ihr in Gefahr kommen würde, so wie es bei Janines und Lissis Prüfung der Fall gewesen war.

Doch nun war sie allein und das machte ihr Angst.

Außerdem stand es nicht hundertprozentig fest, dass die anderen tatsächlich außer Gefahr waren. Immerhin war Laura auch nur wegen der untergehenden Insel in das Rettungsboot gestiegen und von der Nixe angegriffen worden, wie Carsten ihr im Nachhinein berichtet hatte.

Susanne versuchte nicht daran zu denken, was den anderen eventuell passieren könnte. Sie war hier, um ihre Prüfung für die Dämonenform zu absolvieren. Würde sie wegen ihrer Sorge um die anderen durchfallen, würden nicht nur sie in großer Gefahr schweben. Susanne atmete tief durch. „Na gut, ich bin bereit.“

Als hätte sie direkt mit jemandem gesprochen, tauchte am Ende der Bärenhöhle eine weitere runde Holztür auf. Mit zitternden Knien ging Susanne auf diese Holztür zu. Sie wollte nicht wissen, was sich dahinter befand, in der Angst, es wäre etwas, was sie nicht würde sehen wollen. Doch wenn sie die Prüfung bestehen wollte, musste sie sich dem stellen, was hinter dieser Tür lauerte.

Auch ihre Hände zitterten, als sie die Klinke runterdrückte und die Tür nach außen aufschwang. Strahlendes Licht blendete Susanne und im ersten Moment konnte sie gar nichts sehen. Als sich ihre Augen wieder an das Licht gewöhnt hatten, schaute sie sich staunend um.

Sie befand sich in einem kleinen Dorf, das keine Betonstraßen oder sonstige fortschrittlicheren Ausstattungen hatte. Der Boden bestand komplett aus Gras bis auf leicht gräuliche Kieswege, die den Straßenverlauf zeichneten. Die Häuser waren allesamt aus Holz mit Strohdächern und die Bewohner trugen schlichte Kleidung aus Leinen.

Susanne fühlte sich, als habe man sie zweihundert Jahre in die Vergangenheit versetzt. In die Zeit vor dem magischen Krieg, wo alles noch so friedlich und unbeschwert wirkte.

Ihr Blick fiel auf einen kleinen Jungen, etwa fünf Jahre alt mit pechschwarzen Haaren, der auf einem Stein einige Meter vor ihr saß und sich mit irgendeiner Handarbeit beschäftigte. Was genau er tat konnte Susanne nicht erkennen, da er ihr den Rücken zugekehrt hatte.

„Entschuldigung? Kannst du mir sagen, wo ich hier bin?“, fragte sie den kleinen Jungen.

Dieser drehte sich verwundert zu ihr um und musterte Susanne mit seinen bernsteinbraunen Augen. Diese und seine Haare bildeten einen starken Kontrast zu seiner nahezu weißen Haut.

Seine Verwunderung wandelte sich rasch in ein höfliches Lächeln. „Das hier ist Waldbach.“, antwortete er knapp.

Zwar hielt er sich mit Fragen zurück, doch Susanne merkte, dass er wissen wollte, was sie hier machte. Sie würde ihm gerne eine Erklärung liefern, aber so genau wusste sie das ja noch nicht einmal selbst.

Sie hätte erwartet, dass der Dämon sie gegen irgendeinen starken Widersacher hätte kämpfen lassen, da sich Gewalt mit ihrem eigentlich pazifistischen Charakter widersprach. Doch nun stand sie hier in einem friedlichen kleinen Dorf und unterhielt sich mit einem freundlichen Kind.

„Wie heißt du?“, fragte sie den Jungen, in der Hoffnung, dadurch irgendwie mehr über ihre Prüfung zu erfahren.

Der Junge zuckte mit den Achseln. „Manchmal einfach nur Junge oder Kleiner. Hin und wieder werde ich aber auch Waldläufer, Bengel, Rotzlöffel oder Monster genannt.“

Susanne schaute ihn verwirrt an. „Ich meinte deinen Namen. Mein Name ist Susanne. Du müsstest doch auch einen haben.“

Der Junge überlegte, schüttelte aber schließlich den Kopf.

Susanne seufzte. Er schien ihr nicht wirklich weiter helfen zu können, wenn er noch nicht einmal seinen eigenen Namen wusste.

Doch vielleicht war ja genau das ein Teil ihrer Prüfung?

„Wo sind denn deine Eltern?“, fragte sie weiter.

Wieder zuckte der Junge mit den Achseln. „Weiß ich nicht.“

„Und wo wohnst du?“

Immerhin bekam sie darauf eine Antwort. Der Junge zeigte nach Westen. „Gaaaaanz weit da hinten, in einem Wald.“

„Aber wenn du so weit weg wohnst, warum bist du dann hier?“

„Mir war langweilig, also bin ich spazieren gegangen.“, antwortete er.

Langsam dämmerte es Susanne. Vielleicht hat er sich verlaufen und weiß nicht mehr, wie er zurückkommt?

Sie schlug dem Jungen vor, ihn nach Hause zu begleiten, welcher begeistert einwilligte. Auf dem Weg durch das Dorf merkte sie, wie die Bewohner ihnen misstrauische, dem Jungen sogar argwöhnische Blicke zuwarfen, als wären sie Fremde, die Unheil zu verkünden schienen.

Susanne war froh, als das Dorf endlich hinter ihnen lag und vor ihnen die Natur ihre ganze Schönheit entfaltete.

Die Betonung auf das ‚ganz weit‘ vom Jungen musste Susanne tatsächlich ernst nehmen, als sich bereits die Dunkelheit über ihnen ausbreitete. Sie befanden sich zwar in einem Wald, aber laut dem Jungen schien das nicht der richtige zu sein.

Zu ihrem Pech war sie zwar jemand, der viel über die Natur gelesen hatte und theoretisch in der Lage war, die giftigen von den ungiftigen Beeren zu unterscheiden, doch in der Praxis war das alles viel komplizierter, als sie anfangs gedacht hatte.

So war sie nun zwar hungrig, aber nicht in der Lage, herauszufinden, ob dieser Beerenstrauch, den sie nun vor sich hatte, giftig war, oder nicht.

„Oh lecker!“, rief der Junge begeistert, pflückte sich ein paar der Beeren und schüttete sie sich regelrecht in den Mund.

„Warte, die könnten-“ Susanne wollte ihn aufhalten, doch er warf ihr nur einen fragenden Blick zu, pflückte noch eine Handvoll Beeren und bot sie ihr an. „Möchtest du auch welche?“

„Du kannst doch nicht einfach so irgendwelche Beeren pflücken! Die könnten giftig sein!“, wies sie ihn besorgt zurecht. Was war, wenn diese Beeren tatsächlich eine giftige Sorte waren?!? Würde sie ihn mit ihrer Energie heilen können? Doch für Gift war eigentlich Janines Energie zuständig…

Der Junge schüttelte den Kopf. „Johannisbeeren sind doch nicht giftig.“

Susanne schlug sich beschämt die Hände ins Gesicht und ließ sich auf einen umgestürzten Baumstamm nieder. Johannisbeeren! Warum hatte sie das nicht erkannt?!?

Der Junge legte den Kopf schief und beobachtete sie weiterhin. „Möchtest du nun welche?“

Sie atmete erleichtert aus und nickte lächelnd.

Während sie den Jungen beobachtete, wie er selbst in den unmöglichsten Winkeln irgendwelche essbaren Beeren oder Pilze fand, fing sich Susanne langsam an zu wundern, wer er eigentlich war.

Natürlich gab es sehr intelligente Kinder, doch dieser Junge schien bereits in seinem Alter jeden Baum, jede Blume und jeden Busch beim Namen nennen zu können. Wusste, welche ihrer Früchte essbar waren und von welchen er lieber die Finger lassen sollte. Er schien sogar die speziellen Heilwirkungen der Kräuter zu kennen und konnte blitzschnell mit einem Feuerstein ein Feuer für ihr Nachtlager schüren.

„Hast du dich wirklich verirrt?“, fragte Susanne den Jungen, der gerade dabei war, einen kleinen Holzklotz mit seinem Messer zu bearbeiten, während sie am gemütlich flackernden Feuer saßen.

Der Junge blickte von seiner Schnitzerei auf. „Ja.“

„Aber du scheinst doch ganz genau zu wissen, wo du wohnst.“

„Weiß ich auch.“, erwiderte der Junge.

Susanne seufzte. Hatte der Kleine sie etwa nur an der Nase herum geführt? „Aber warum soll ich dich dann begleiten?“

Die bernsteinbraunen Augen des Jungen schauten sie traurig funkelnd an. „Du hast doch gesagt, du bringst mich nach Hause.“

Susanne nickte lächelnd. „Ja, das hab ich wohl.“

Auch wenn sie nicht wusste, wie das ihrer Prüfung weiterhalf, entschloss sie sich, den Jungen wieder zurück nach Hause zu bringen. Das traurige Funkeln in seinen Augen, was man getrost als Hundeblick bezeichnen konnte, hatte sie an Carsten erinnert und sie hatte das Gefühl, für diesen Jungen verantwortlich zu sein.

Dafür beeindruckte er Susanne während ihrer inzwischen dreitägigen Reise immer mehr mit seinen Naturkenntnissen. Den Namen Waldläufer hatte er von den Dorfbewohnern berechtigt bekommen.

Doch die Bezeichnungen Rotzlöffel oder gar Monster passten dafür umso weniger zu ihm. Susanne fragte sich, warum die Bewohner aus Waldbach ihn mit solcher Abscheu betrachtet hatten. Er war eigentlich ganz lieb und höflich und ganz und gar nicht frech, auch wenn er ziemlich sarkastisch sein konnte.

Am Abend des dritten Tages entschloss sich Susanne, ihn darauf anzusprechen. Auch wenn  er gerade mal fünf Jahre alt war, konnte er sich schon sehr erwachsen mit ihr unterhalten.

Er saß gerade wieder an seiner kleinen Holzfigur, die bereits Form angenommen hatte, als Suanne ihn fragte: „Warum kennst du deinen Namen eigentlich nicht?“

„Weil man mir keinen Namen gegeben hat.“, antwortete der Junge knapp. Schließlich schaute er von seiner Schnitzerei auf. „Willst du mir nicht einen Namen geben?“

„Ähm-“ Susannes Wangen färbten sich leicht rötlich, während sie den bittenden Blick des Jungen sah.

Sie hatte das Gefühl, nicht die Richtige dafür zu sein. Schließlich war das doch die Aufgabe der Eltern! … Aber wenn er keine hatte…

Natürlich schossen ihr zuerst Carsten, Crow und Eagle durch den Kopf, weil der Junge sie an die Brüder erinnerte. Doch er brauchte einen Namen, der seinen starken und zugleich liebenswerten Charakter widerspiegelte.

Während Susanne überlegte, beobachtete sie den Jungen, in der Hoffnung, dadurch eine Idee zu bekommen. Recht spontan kam sie auf den Namen ‚Naoki‘. Ki bedeutete auf Japanisch Baum, was sie an seine Vorliebe für das Schnitzen erinnerte und Nao hieß so viel wie aufrecht, direkt oder auch Ehrlichkeit.

Susanne fand, dass der Name sehr gut zu ihm passte.

„Wie findest du Naoki?“, schlug sie ihm schließlich zögernd vor. Zwar dachte sie, dass der Name gut zu dem Jungen passen würde, aber sie wollte, dass auch ihm sein zukünftiger Name gefiel.

Der Junge schaute sie überrascht an und in seinen leuchtend braun-orangenen Augen konnte sie regelrecht seine Freude funkeln sehen. „Der ist toll!“

Susanne lachte verlegen auf, doch sie freute sich ungemein darüber, einen schönen Namen für den Jungen gefunden zu haben. „Dann heißt du ab sofort Naoki, wenn es dir Recht ist.“

Der Junge kicherte und kam zu ihr rüber, um ihr die kleine Holzfigur in die Hand zu drücken, mit der er offensichtlich fertig war. „Das schenk ich dir. Als Dankeschön.“

„Danke.“ Susanne lächelte Naoki freundlich an und musterte die Figur, an der er seit ihrer ersten Begegnung gearbeitet hatte.

Es war ein sehr kleines Eichhörnchen und Susanne musste überrascht feststellen, dass es wirklich professionell aussah. Es sah einem echten Eichhörnchen zum Verwechseln ähnlich, von der Größe abgesehen und war sehr detailliert gefertigt.

Und erneut musste sich Susanne fragen, ob Naoki wirklich so alt war, wie er schien.

„Das ist wunderschön…“, meinte sie schließlich.

Zwar erwiderte Naoki nichts, doch Susanne sah, wie sehr er sich über das Kompliment freute, denn seine sonst so blassen Wangen bekamen einen rötlichen Hauch.

Als sie am nächsten Tag ihre Reise fortsetzten, kamen sie an einen breiten Fluss, dessen klares Blau mit dem wolkenlosen Himmel konkurrierte.

Susanne bemerkte, dass Naoki leicht verwirrt schien. „Komisch. Als ich herkam war hier noch der Fährmann.“

„Der Fährmann?“, fragte sie verwundert nach.

Naoki nickte. „Der Fährmann ist ein alter Opa, der als einziger in der Lage ist, ein Boot über diesen Fluss zu steuern. Zwar hatten auch schon andere versucht, ohne ihn auf die andere Seite zu kommen, doch sie alle sind bei diesem Versuch untergegangen oder wurden vom Wasserfall in die Tiefe gerissen und wurden nie mehr gesehen.“

Seufzend schaute sich Susanne nach besagtem Fährmann um, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Stattdessen sah sie am anderen Ufer einen kleinen Wald, dessen dichte Bäume sie nur erahnen ließen, was sich dort befand. Ein weiterer Eingang zum Schrein.

Susanne konnte ihn nicht sehen, doch sie spürte, dass er dort war.

„Vielleicht ist er in seinem Haus…“, überlegte Naoki, während sich Susanne weiter umschaute und sie am Ufer eine ältere Frau auf sie zukommen sah.

„Bitte, bitte helfen Sie mir!“, rief die Frau ihnen schon von weitem entgegen.

Überrascht beobachteten Susanne und Naoki, wie die Frau sie erreichte, atemlos nach Luft schnappte und schließlich zu erklären begann: „Mein Mann liegt im Sterben. Ich bitte Sie, können Sie nicht irgendetwas tun?“

Weil sie Mitleid mit der verzweifelten Frau hatte und das ungute Gefühl besaß, dass es sich bei besagtem Mann vermutlich um den Fährmann handelte, willigte Susanne ein, mal nachzusehen, ob sie irgendetwas würde ausrichten können.

Die Frau führte sie eilig zu einer kleinen Hütte, die aus einem einzigen Zimmer bestand. In einem Strohbett lag ein alter Mann, von den Qualen seiner Krankheit gezeichnet. Als Susanne und Naoki eintraten, öffnete er mühsam seine Augen, um die Besucher zu betrachten.

„Jii-chan, geht es dir nicht gut?“, fragte Naoki besorgt und kniete sich vor das Bett des alten Mannes.

Dieser hob mühsam die Hand und verwuschelte Naokis schwarzen Haarschopf. „Na hallo, Kleiner.“

„Ich heiße Naoki.“, stellte er sich stolz vor.

Die schmalen Lippen des Mannes formten sich zu einem schwachen Lächeln. „Hallo, Naoki. Du willst zurück, oder?“

Naoki nickte.

Der alte Mann seufzte, dass in einem schmerzhaften Husten endete. Als es sich gebessert hatte meinte er: „Es tut mir leid…“

Traurig schaute Naoki Susanne an. „Du besitzt doch die Heil-Energie, oder? Kannst du ihm nicht helfen?“

„Woher-“ Erschrocken musterte sie den kleinen Jungen. Sie hatte nie ein Wort über ihre Energie, oder Energie im Allgemeinen geäußert. Also woher wusste er das?

Andererseits befand sie sich ja auch in einer fiktiven Welt des Pinken Bärs, die er extra für ihre Prüfung erschaffen hatte. Da sollte sie sich eigentlich nicht wundern.

„Ich kann es versuchen…“

Naoki machte ihr etwas Platz, damit Susanne den alten Mann besser mustern konnte. Sie wusste nicht genau, wie sie ihre Energie einsetzen sollte, immerhin hatte sie bisher nur kleine Wunden und keine Krankheiten geheilt.

Schließlich legte sie ihre Hand auf die Brust des alten Mannes. Sie spürte einen schwachen Herzschlag, der vermutlich sehr bald ganz stoppen würde.

Sie schickte über ihre Hand die Heilenergie in den Körper des Mannes, doch ein mächtiger Schwächeanfall sorgte dafür, dass sich Susanne keuchend von ihm abwandte.

Schwer atmend kniete sie sich vor das Bett des alten Mannes auf den Boden und rief sich die Worte von Eufelia-Sensei in Erinnerung, als diese ihnen bei ihrem Besuch die sogenannte Energierangtabelle erklärt hatte. Die Beherrscher der Lebenskräfte müssen unter dem Einsetzen ihrer Energie selbst einen Preis zahlen.

In etwa so war das auch bei Konrads Prüfung gewesen. Er konnte kein Blut zu sich nehmen, musste aber den Leuten mit seiner Energie helfen. Das hieß vermutlich so viel wie, dass er ihnen indirekt von seinem eigenen Blut gegeben hatte…

Susanne schauderte. Hieß das, dass sie so viel Energie abgeben musste, dass der Mann genug zum Leben hatte?

„Wenn ich ihn heile würde das meinen Tod bedeuten…“, murmelte sie betroffen vor sich hin.

Naoki schaute sie verwirrt und traurig zugleich an. „Wieso denn?“

„Weil ich nicht einfach so aus heiterem Himmel heilen kann. Wenn er nicht sterben soll, muss ein anderer seine Stelle einnehmen…“

Naoki runzelte die Stirn. „Deine Heil-Energie ist ganz schön doof, weißt du das?“

Trotz der gegenwärtigen Situation musste Susanne lächeln. „Ja, da hast du anscheinend Recht.“

Verbissen suchte sie nach einer anderen Möglichkeit, wie sie auf das andere Ufer kommen würden. Es konnte doch nicht nur der alte Mann dazu in der Lage sein, sie über den Fluss zu bringen…

Auch Naoki schien nach einer Alternative zu suchen, aber einer anderen als Susanne. „Du kannst auch die Lebensenergie eines anderen für deine Heilung nehmen, oder?“

Susanne nickte. „Ich denke schon.“

Er atmete tief durch. „Nimm meine.“

„Was?!?!?“ Vor Schreck wäre ihr beinahe das Herz stehen geblieben.

Entschlossen erwiderte Naoki ihren Blick. „Nimm meine Lebensenergie.“

„Über so was scherzt man nicht!“

Naoki schüttelte den Kopf. „Ich scherze nicht.“

„Aber-“

„Du willst doch auf die andere Seite, oder?“

„Weil du gesagt hast, du wohnst dort und ich dir versprochen habe, dich nach Hause zu bringen.“, gab Susanne ihm Recht.

Naoki nickte langsam. „Ja ich wohne dort, wo du hin willst. In diesem Schrein. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich dort zu Hause bin.“

Langsam dämmerte es Susanne.

„Es gibt nichts auf dieser Welt, was mich hier halten könnte… Ich habe keine Eltern und die Menschen betrachten mich immer als ein Monster oder Kind des Teufels.“ Er schaute Susanne mit abgrundtief traurigen Augen an. „Hier werde ich nie ein Zuhause finden.“

Fassungslos starrte sie Naoki an. Sie sollte sein Leben für das eines alten Mannes opfern? Ihn, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte?!?

Tränen stahlen sich aus ihren Augen, als Susanne bestimmt den Kopf schüttelte. „Das kann ich nicht…“

„Du musst es können.“, widersprach Naoki ihr bestimmt.

„Nein!“, schrie sie ihn an. „Ich kann dich nicht töten! Du bist ein Kind, das noch gar nicht richtig gelebt hat! Und abgesehen davon bist du für mich inzwischen wie ein kleiner Bruder, ich kann dich nicht töten! Ich töte keine Freunde!!!“

„Du musst.“

Schluchzend drückte Susanne den sturen Jungen an sich. „Bist du dein Leben jetzt schon so leid, dass du lieber sterben würdest?“

Sie spürte Naokis Nicken.

„Aber hast du denn gar keine Angst vor dem Tod?!?“

Naoki schaffte es, Susanne etwas von sich wegzuschieben, dass sie seinen ruhigen Blick sehen konnte. „Doch habe ich. Aber wenn du dabei bist, nicht so große.“

Für den Bruchteil eines Herzschlags zog Susanne es in Erwägung, ihn tatsächlich zu erlösen. Doch kaum hatte dieser Gedanke ihren Kopf schon wieder verlassen, hasste sie sich selbst dafür. „Ich kann das nicht!!!“

„Dir bleibt keine andere Wahl, wenn du die Prüfung bestehen willst.“, murmelte er.

Geschockt schaute Susanne ihn an. Das war ihre Prüfung?!? Sie sollte ein kleines Kind opfern, um zurück in den Schrein zu kommen?!?

„Schön, wenn das die Prüfung ist, werde ich halt nicht bestehen!!!“, schrie sie bestimmt.

Nun sammelten sich auch in Naokis Augen Tränen. „Willst du das wirklich? Ziehst du ein einziges kleines Kind der ganzen Welt vor?!“

„Nein, aber…“

Sein Gesicht verschwamm hinter ihren Tränen. Sie hatte sich erhofft, mit ihrer Energie und der Dämonenform ihren Freunden helfen zu können. Nicht einen ihrer Freunde töten zu müssen! Und zusammen mit Naoki hatte sie das Gefühl, auch Eagle und Carsten zu töten.

Susanne wischte sich die Tränen aus den Augen. Dieser ruhige und zugleich traurige Blick, mit dem Naoki sie musterte erinnerte Susanne allerdings an keinen der beiden Jungs.

Er erinnerte sie an jemanden, doch sie war zu verstört, um herauszufinden an wen.

Naoki seufzte. „Wenn du jetzt nicht handelst, ist es so oder so zu spät. Du hast deine Prüfung nicht bestanden und die Wahrscheinlichkeit, dass deine Welt zerstört wird, wird umso höher.“

Wieder rannen die Tränen über Susannes Wangen. Sie wusste, dass er Recht hatte. Aber sie brachte es trotzdem nicht übers Herz!

„Bitte. Ich will nicht schuld daran sein, dass wegen mir eine ganze Welt zerstört wird.“

Susanne schluchzte und drückte seinen kleinen, so zerbrechlich wirkenden Körper wieder an sich. „Ich doch auch nicht… Aber…“

„Susanne, bitte!“, schrie Naoki.

Sie atmete tief durch. Sie wusste, dass sie sich dafür ewig hassen würde… Aber Naoki schien tatsächlich zu wollen, dass sie ihn für das Wohl Damons opferte.

Zitternd schloss Susanne die Augen und legte eine Hand auf die Brust des alten Mannes. Erneut spürte sie seinen schwachen Herzschlag. Die andere legte sie über Naokis Herz. Es schlug kräftig und würde noch nahezu ein Jahrhundert so schlagen können.

Und sie war diejenige, die diesen Herzschlag anhalten würde…

Sie fühlte, wie Naoki seine beiden kleinen Hände auf ihre legte. Sie waren kälter als ihre, doch immer noch nicht so kalt wie der Tod. Wie sie sich bald anfühlen würden.

Ehe sie dazu kam, ihre Hände zurück zu ziehen, fing sie an, aus Naokis Körper Energie zu schöpfen, die sie über ihren Körper an den alten Mann weitergab.

Es waren höchstens zehn Sekunden, doch für Susanne fühlte sich das wie eine Ewigkeit an, bis sie merkte, wie Naoki in die Knie sackte, während der alte Mann begann, sich vorsichtig aufzurichten. Sofort ließ Susanne von ihm ab und wandte sich ganz an Naoki, den sie behutsam in den Arm nahm.

Sein Gesicht war schneeweiß und seine Lippen blau. Dennoch lächelte er.

Er zitterte am ganzen Körper, als er seine gesamte Kraft zu nutzen schien, um sich etwas aufzurichten. Er flüsterte ein schwaches „Danke“ und hauchte ihr einen leichten Kuss auf die Wange, als ihn die Kraft verließ und er zurück in Susannes Arm fiel.

Kaum spürte sie, dass sich sein Körper nicht mehr regte, sich nie mehr regen würde, stieß sie ihren ganzen Schmerz in einem einzigen Schrei aus.

Sie hatte ihm einen Namen, eine Identität gegeben und sein Leben genommen.

Sie war es, die ihn umgebracht hatte.

Susanne wusste nicht, wie lange sie sich an Naokis leblosen Körper geklammert und geweint hatte, bis sich eine Hand auf ihre Schulter legte.

„Wir sollten ihm eine würdevolle Bestattung geben, findest du nicht?“, hörte sie die sanfte Stimme des alten Mannes.

Naoki immer noch nicht loslassend, nickte Susanne. Das war das mindeste, was sie für ihn tun konnte.

Zusammen mit seiner Frau überquerte der Fährmann mit Susanne und Naoki den Fluss, bis sie etwa in der Mitte angekommen waren. Die Frau hatte in kurzer Zeit ein kleines Floß gebaut, auf das sie Naokis Körper legten, zusammen mit mehreren farbenfrohen Blumen und ein paar Johannisbeeren, die Susanne zuvor eigentlich als Proviant mitgenommen hatte.

Während sie beobachtete, wie die Strömung Naokis Floß auf den Wasserfall am Horizont hintrieb, holte sie das kleine Eichhörnchen aus ihrer Tasche, dass er ihr am letzten Abend geschenkt hatte und fing erneut an zu schluchzen.

Auf der anderen Seite des Flusses schlugen der Fährmann und seine Frau vor, sie zu begleiten, doch Susanne lehnte betrübt ab.

Sie wollte jetzt einfach nur alleine sein.

Leider hatte sie in bereits wenigen Minuten das kleine Wäldchen erreicht und mit ihm den weiteren Eingang zum Schrein des Pinken Bärs.

Ohne weiter nachzudenken öffnete Susanne die runde Holztür und trat in ein kleines Zimmer mit gemütlichen, dunklen Holzmöbeln und einem kleinen Strohbett.

Erneut liefen die Tränen über Susannes Wangen und sie lief sofort auf die gegenüberliegende Tür zu.

Sie hielt es hier nicht mehr aus!

Ob sie die Prüfung nun bestanden hatte oder nicht war ihr egal! Sie wollte einfach nur noch zu den anderen! Sie brauchte die Mädchen und Carsten, die sich ihren Schmerz anhören würden und die in der Lage wären, ihr jedenfalls einen kleinen Teil davon abzunehmen.

Doch als sie die zweite Tür passiert hatte, befand sie sich keinesfalls wieder in dem kleinen Wäldchen bei den anderen.

Dieser Raum, falls das überhaupt ein Raum war, war stockfinster und Susanne verlor jegliche Orientierung.

„Wie schön, dass du endlich gekommen bist.“, hörte sie eine tiefe, gemütlich klingende Stimme hinter sich sagen.

Zögernd drehte sich Susanne um. Vor ihr stand ein gewaltiger Bär, etwa so groß wie ein Hochhaus und sein pinker Körper bestand aus pulsierender Energie.

Susanne wich seinen rosa Augen beschämt aus, die sie so lieb anschauten.

„Was hast du?“, fragte der Bär fürsorglich.

„Das fragst du noch?!? Ich habe eben gerade ein kleines Kind getötet, nur um deine Prüfung zu bestehen!“ Susanne wusste, dass sie diesen mächtigen Dämon eigentlich mit Respekt behandeln sollte, doch sie hielt es nicht mehr aus. Dieser Dämon hatte sie dazu gezwungen ein fünfjähriges Kind zu opfern!

Der Pinke Bär seufzte bedrückt. „Es war das Schicksal des Jungen, sich zu opfern um dir und somit der gesamten Welt zu dienen. Außerdem ist er nichts weiter als eine von mir erschaffene Puppe, die genau diese Aufgabe erfüllen sollte.“

„Nein ist er nicht! Naoki hatte auch Gefühle und er hätte eine Zukunft gehabt!“, widersprach Susanne ihm.

„Das sagst du nur, weil er dich so an den Jungen, der vor dem Schrein wartet, erinnert hat.“

Verwirrt musterte sie ihn. Ja, Naoki hatte sie an Carsten erinnert. Aber auch an Eagle, also welchen der beiden hatte er nun gemeint?

Als sie merkte, dass ihr wieder die Tränen in die Augen schossen, wandte sie sich beschämt ab. „Nein, Naoki war ein eigener Charakter.“

Doch der Dämon schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn vollkommen an diesen Jungen angepasst. Gerade aus dem Grund, dass es dir somit schwerer fällt ihn zu opfern.“

Nun konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie wusste nicht, an welchen Charakter er Naoki nun angepasst hatte. Doch alleine das Wissen, sie hätte eigentlich einen Jungen getötet, der sogar in der realen Welt mit ihr befreundet war, verstärkte ihre Schuldgefühle immens.

„Bitte sei still…“, murmelte Susanne.

Der Bär warf ihr einen verwirrten Blick zu.

„Bitte sag nichts mehr darüber! Ich halte das nicht aus! Ich habe ein kleines Kind getötet, ganz gleich, ob es nun ein lebender Mensch oder eine Puppe war! Und noch schlimmer, dieses Kind ist anscheinend auch noch Carsten oder Eagle in seiner Kindheit gewesen!!!“

Sie merkte, wie der Bär irgendetwas erwidern wollte, doch er seufzte lediglich. Während sich die pinke, strahlende Energie verformte und vor ihr nicht mehr der riesige Bär, sondern ein durchschnittlich großer Mann mit leicht zerzausten pinken Haaren stand, der sie aber immer noch durch die lieben rosa Augen anschaute.

Sanft nahm er Susannes Gesicht zwischen die Hände, sodass sie nicht mehr in der Lage war, ihre Tränen vor ihm zu verbergen.

„Ich gebe zu, dass deine Prüfung wohl die schwierigste war und dass du nun vermutlich einen monatelangen Groll gegen mich hegen wirst. Doch glaube mir, es ist besser so. Du wirst in der kommenden Schlacht nicht in der Lage sein, jeden zu retten, der dir wichtig ist. Du musst lernen Abschied nehmen zu können. Wo das Leben ist, ist auch der Tod, sowie das Licht nicht ohne die Finsternis existieren kann. Kleine Kratzer lassen sich zwar so heilen, als wäre nichts gewesen, doch größere Verletzungen fordern ihren Tribut. Ich bitte dich, das immer im Hinterkopf zu behalten. Gerade die Heilungs-Energie hat die Macht, über das Leben anderer zu herrschen und zu richten. Also treffe deine Entscheidungen mit Bedacht und denke auch an das Wohl und das Leiden anderer. Denn nicht nur dich würde der Verlust eines geliebten Menschen plagen.“

Schluchzend senkte Susanne den Kopf. War es Laura so ähnlich ergangen, als sie ihre Geschwister verloren hatte und nichts ausrichten konnte, um sie zu retten? Doch Susanne hätte Naoki retten können! Sie hätte ihn nicht für den alten Mann opfern müssen und hatte es dennoch getan, weil er nicht wollte, dass sie durchfallen würde und so die gesamte Welt leiden müsste.

Der Pinke Bär in menschlicher Gestalt beugte sich zu Susanne hinunter und gab ihr einen schwachen Kuss auf die Wange, wie Naoki es zuvor getan hatte. Nur, dass dieser Kuss erfüllt von einer unbeschreiblichen Macht war, die nun auch auf Susanne überzugehen schien.

Immer noch ihr Gesicht zwischen den Händen haltend lächelte er sie mitleidig an. „Nun geh zu deinen Freunden. Sie werden es eher verstehen, den Teil in dir zu retten, der unter dem Tod des Jungen leidet, als ich.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Regina_Regenbogen
2020-08-10T21:05:55+00:00 10.08.2020 23:05
Oh wow, Susanne hatte wirklich die bisher schwerste Prüfung. Das war wirklich hart.

Arianes und Lauras Angst vor dem Tick-tack-Mörder war ja goldig. :D
Und gut, dass Laura Eagle mal die Meinung gesagt hat!
Antwort von:  RukaHimenoshi
12.08.2020 16:18
Das war auch richtig schwierig auf Papier zu bekommen. Selbst wenn diese Person ja eigentlich nicht real war, ist es immer noch ein Kind. :/

Haha, die zwei. Und Benni steht daneben und denkt sich nur "Wtf..." X'D
Hehe, dachte ich mir doch, dass dir das gefällt. ;)


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