Demon Girls & Boys von RukaHimenoshi ================================================================================ Kapitel 95: Narben ------------------ Narben       Es war ein eigenartiges Gefühl. Erleichterung und Freude breitete sich in Laura aus, während sie die Reaktionen dieser ganzen Leute beobachtete. Diese Ausgelassenheit, diese Freiheit, … Obwohl das strahlende Blau des Himmels noch immer hinter der dichten Wolkendecke schlummerte, war ihr als käme die Sonne raus. So sehr strahlten die Gesichter dieser jungen Männer, so sehr konnte man spüren, wie das Licht zu ihnen zurückkehrte. Freudentränen stahlen sich aus Lauras Augen und doch war sie zur selben Zeit auch verwirrt. Waren das nicht eigentlich alles Verbrecher gewesen? Jugendliche, die irgendwas Schlimmes gemacht hatten, weshalb sie in dieser Anstalt gelandet waren? Sie dachte, Carsten wäre die einzige Ausnahme. Aber bei diesem Anblick begann sie daran zu zweifeln. Bei wie vielen davon handelte es sich tatsächlich um Verbrecher? Wie viele sind zu Unrecht dort eingesperrt worden? Und spielte das überhaupt eine Rolle? Sie hatte vorhin erst die ganzen Narben auf Jacks Oberkörper gesehen. Und trotzdem, obwohl sie wusste was er in seiner Zeit bei Mars alles getan hatte, hatte es sich falsch angefühlt. Hatte sich ihr Herz zusammengepresst. Niemand wünschte jemandem solche Qualen. Lauras Blick fiel auf Carsten, der auf dem Boden kniete und sich immer und immer wieder Tränen aus den Augen wischen musste. Und trotzdem lachte er. Er hatte schon lange nicht mehr so sorglos gewirkt. Es schien eine Ewigkeit her, dass seine lila Augen dieses Strahlen hatten. Obwohl er diese Gemäuer vor acht Monaten bereits verlassen hatte, schien er jetzt erst wahrhaftig frei zu sein. Wie als wäre sein Herz all die Zeit noch in der Steinmauer gefangen gewesen. Gefangen in den erdrückenden, kalten Wänden. Von denen nun keine einzige mehr stand. Nicht ein Pfeiler hatte den Einsturz überlebt, alles war dem Grund und Boden gleich gemacht worden. War vollkommen zerstört. „Was bei den Dämonen…“ Anders schien Eagle die Situation nicht beschreiben zu können. Es war der einzige Weg, wie er seine Verwirrung in Worte zu fassen vermochte. Lissi schaute kurz zu ihm und ging anschließend zu dem Rest der Gruppe, der sich inzwischen um Carsten versammelt hatte und ebenso sprachlos schien. Laura folgte ihr und nach einigem Zögern auch Eagle. Vorsichtig kniete sich Laura neben ihren besten Freund und berührte sanft seinen Arm. Sie musste ihn nicht fragen, wie es ihm ging. Er musste nicht antworten. Dieser eine Blick, den sie austauschten, reichte schon aus. Ein Stein fiel ihr vom Herzen, beinahe als hatte diese gewaltige, kalte Mauer auch sie im innersten eingesperrt. Als wäre auch sie nun endlich frei. Erleichtert und schluchzend legte Laura die Arme um Carsten, drückte ihn so fest an sich, dass sie ihn damit eigentlich zerquetschen müsste. Lachend erwiderte Carsten diese feste Umarmung. Kurz schaute sie zu Ariane, die sich ebenfalls lächelnd die Tränen von der Wange wischte. „Aaaaaw, kommt her ihr Süßen!“ Plötzlich legte Lissi die Arme um die Schultern der beiden Mädchen, umarmte sie alle gleichzeitig. Diese stürmische Aktion überraschte Ariane so sehr, dass sie ungebremst auf Carsten fiel, was nun auch den Rest auflachen ließ. Laura hatte den Eindruck fast erdrückt zu werden, während die anderen dieses Umarmungsknäuel vergrößerten und Öznur selbst Anne und Eagle dazu zog, sodass sie aufpassen musste, dass Carsten nicht zu sehr unter ihnen allen begraben wurde und noch irgendwie an Sauerstoff kam. Glücklicherweise hielten sich zumindest Florian, Konrad und Jannik zurück, denn Laura wusste nicht, ob sie überhaupt noch eine Fliege würde aushalten können. Während sie um Luft und Gleichgewicht kämpfte, konnte sie aus einem schmalen Spalt zwischen dieser Masse hindurch beobachten wie Herr Bôss zu Jack ging, welcher immer noch vor den Überresten des FESJ stand. Bedrückt bemerkte Laura, dass das orangene Leuchten der Adern kaum nachgelassen hatte. Und selbst aus ihrer Entfernung konnte sie seinen leeren Blick erkennen. Auch dem Rest schien dies nach und nach aufzufallen und allmählich richtete sich jedermanns Aufmerksamkeit auf den Besitzer des Orangenen Skorpions, den man wahrlich als Herrscher der Erde bezeichnen konnte. Denn so groß, so gewaltig wie dieses Areal war, welches er zum Einsturz gebracht hatte, war es wie ein Wunder, dass er überhaupt noch am Leben war. Oder gar immer noch auf beiden Beinen stehen konnte. Besonders wenn man im Hinterkopf hatte, dass die Verletzungen nach wie vor nur langsam verheilten. Insgeheim rechnete eigentlich jeder damit, dass Jack das Bewusstsein verlieren würde als Herr Bôss ihn mit gedämpfter Stimme fragte, ob alles in Ordnung sei. Doch nichts geschah. Weder bekam der Direktor eine Antwort auf seine Frage, noch brach Jack zusammen. Er reagierte überhaupt nicht. „Wir sollten ihn besser zum Krankenhaus zurückbringen.“, meinte Susanne, während sich Lissi bereits aus dem Knäuel befreit hatte und zu Jack und dem Direktor ging. Gerührt bemerkte Laura, wie Johannes schon bei den beiden stand und den ‚Zocker-Onkel‘ fragte, ob es ihm nicht gut ginge. Allmählich bekam sie genug Platz, um wieder normal atmen und sich aufrichten zu können. Und auch Carsten ließ sich von ihr auf die Beine ziehen. Trotz ihrer Sorge um Jack beobachtete Laura belustigt, wie Carsten schließlich Ariane hoch half, die durch Lissis Überfall und die Kuschelrunde noch mehr erdrückt worden ist als Laura oder gar Carsten selbst. Bei dem scheuen Lächeln der beiden musste sie sich arg zusammenreißen, nicht plötzlich los zu quietschen. Gleichzeitig ärgerte sie sich, dass dieser Moment zwischen ihnen gezwungener Maßen in aller Öffentlichkeit stattfand. Denn Laura war sich ziemlich sicher, dass es zumindest einen von beiden geben würde, der die Schüchternheit und Zurückhaltung überwunden hätte, wenn sie unter sich gewesen wären. … Ach Mann! „Sag mal Ray, was zum Henker machst du eigentlich hier?“, fragte Eagle plötzlich den Indigoner, welcher vor kurzem nur dank Susanne dem Tod entronnen war. Schaudernd erinnerte sich Laura, ihn unter anderem bei Eagles Geburtstag gesehen zu haben. Ray seufzte. „Nach den Prüfungen wollte ich doch meine Großmutter besuchen, da sie seit dem Tod meines Großvaters ganz alleine lebt.“ „… Ach stimmt, die wohnt in Tahi.“, erinnerte sich Eagle. Verbissen klopfte er seinem Kumpel auf die Schulter. „Immerhin bist du mit dem Leben davongekommen.“ Ray lachte auf. „War ja klar, dass dir nichts Liebevolleres einfällt.“ Dafür wurde er von Öznur umarmt. „Ich bin echt froh, dass es dir gut geht.“ Laura merkte, wie er das Zittern seiner Stimme nicht ganz verbergen konnte als er erwiderte: „Wem sagst du das…“ Rays Blick fiel auf Susanne und Anne. „Danke euch.“ Susanne lächelte sanft und selbst Annes Nicken wirkte weniger kalt und distanziert im Vergleich zu sonst. „Aber echt, das war richtig gutes Teamwork!“, bemerkte Öznur begeistert. „Woher wusstest du was Susi vorhat, Anne?“ Anne fuhr sich durch die Haare und wirkte ungewohnt verunsichert. „Na ja, das ist doch eigentlich logisch. Wenn ausgerechnet Susanne mitten ins Massaker rennt, dann nicht ohne Grund. Also…“ Susanne kicherte. „Trotzdem, du hast wirklich schnell reagiert. Danke.“ Laura fragte sich, ob es Einbildung war oder ob Annes dunkle Haut tatsächlich noch einen dunkleren Ton annahm, als Susanne ihr das für sie typische, liebevolle Lächeln zuwarf. „Ist doch nichts dabei.“ Anne zuckte gleichgültig mit den Schultern und Laura kam zu dem Entschluss, dass es wohl doch nur ein Schatten war. Als würde irgendetwas oder -jemand Anne in Verlegenheit bringen können. Herr Bôss informierte den Rest der Versammlung telefonisch was geschehen war und wenig später kamen auch schon der König von Ivory sowie weitere Vertreter der Regionen an. Sie staunten nicht schlecht bei dem Anblick der sich ihnen bot. O-Too-Sama warf einen Blick auf Jack, den Laura nicht ganz deuten konnte. „Ihr solltet euch ausruhen.“ Der König von Ivory nickte. „Das ist eine gute Idee. Wir kümmern uns um alles weitere hier, seid unbesorgt.“ Dem stimmten auch die Vertreterin von Lumière und derjenige von Cor zu. „Dann sehen wir uns nachher.“, meinte Eagle an ihre Gruppe gewandt, woraufhin Öznur die Hände in die Hüften stemmte. „Was heißt hier ‚nachher‘?! Du kommst schön mit, mein Lieber!“ „Aber-“ „Nichts aber!“, widersprach seine Freundin ihm empört. „Wir sind dir gefolgt, weil wir gerade auf keinen Fall zu weit weg voneinander sein sollten!“ „Falls du es vergessen hast: Ich bin der Häuptling.“, erinnerte Eagle sie verärgert an seine Pflichten. „Und meine Region ist eben gerade aus heiterem Himmel angegriffen worden! Weißt du, wie viele von meinem Volk dadurch gerade ihr Leben lassen mussten?! Ich muss hierbleiben und klären, wie es jetzt weiter geht!“ „Und trotzdem ist das gefährlich!“, widersprach Öznur verzweifelt. Tränen bildeten sich in ihren Augen, was Eagle jedoch nur noch wütender werden ließ. Bevor er aber etwas sagen, oder eher brüllen, konnte, meinte Ray plötzlich irgendwas auf Indigonisch. Daraufhin erwiderte das Stammesoberhaupt noch was. Nun entstand zwischen den dreien eine Diskussion, die der Großteil von ihnen jedoch überhaupt nicht mitverfolgen konnte. Laura schaute fragend zu Carsten aber statt ihnen die Situation zu schildern, meinte er nur: „Eagle, bitte…“ Kurz erwiderte Eagle den Blick seines kleinen Bruders und gab sich schließlich seufzend geschlagen. „Na gut.“ Er betrachtete Ray und das Stammesoberhaupt. „Ich verlass‘ mich auf euch.“ Auf die irritierten Blicke hin erklärte er: „Die beiden kümmern sich um alles. Ray spielt den Dolmetscher.“ Öznur atmete hörbar auf und auch Laura kam nicht drum herum erleichtert zu sein, dass Eagle mit ihnen mitkommen würde. Tatsächlich fühlte sie sich inzwischen deutlich sicherer, wenn ihre Gruppe zusammenblieb.   Somit waren es auch ausnahmslos alle, die Herr Bôss und Jack zurück zu Kariberas Krankenhaus begleiteten. Obwohl letzterer sichtlich einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte, während der Rest gerade ihn am aller wenigsten vorhatte alleine zu lassen. Nach dem Vorfall vorhin… Wer weiß, was sonst passieren könnte. „Ich brauche keine Aufpasser.“, meinte Jack nur, der genervte Ton verlor sich jedoch völlig bei seiner erschöpften Stimme. Laura war immer noch überrascht und auch beeindruckt, dass er sogar nach der Teleportation weiterhin auf beiden Beinen stehen konnte. Sie selbst wäre schon längst zusammengebrochen. „Valentin, wir sind keine Aufpasser. Ruhe dich einfach etwas aus, in Ordnung?“, meinte Herr Bôss beschwichtigend. Mit einem Seufzen ließ sich Jack auf dem Bettrand nieder, wirkte aber nicht so als würde er sich ausruhen wollen. Mitfühlend betrachtete Laura den gesenkten Blick. Vermutlich war es die Angst vor den Träumen, die ihn vom Schlafen abhielt. Die Angst vor den Bildern, die sich vor seinem inneren Auge abspielen würden. Denen er nicht entkommen konnte… „Wirklich Jack, du brauchst den Schlaf.“, mischte sich auch Susanne ein, woraufhin er jedoch keine Reaktion zeigte. „Jack…“, setzte Carsten an, wusste aber nicht was er sagen sollte. Kurz schaute Jack auf. Als er die Sorge und Zuneigung in Carstens Augen sah, huschte ein bedrücktes Lächeln über seine Lippen. „Andernfalls lasst ihr mich ja eh nicht in Ruhe, oder?“ Betreten schaute Carsten auf den Boden, während sich Jack von Biker Boots, Lederjacke und Hemd trennte, um sich in Jeans und T-Shirt auf das Bett zu legen. Er schien deutlich erschöpfter als er es sich anmerken lassen wollte. Ein betretenes Schweigen entstand, während der Rest beobachtete, wie Jack zur Decke hochschaute. Das Orange der Äderchen stach immer noch deutlich hervor und hielt die Erinnerungen an die vorigen Geschehnisse wach. Rief ihnen erneut ins Gedächtnis, was all das ausgelöst hatte. … Und auch wer. Wer ist das gewesen? Dieser Mann, dessen Anblick allein einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, bei dessen Stimme sich Laura direkt hatte verstecken wollen. Irgendwo verstecken, egal wo. Hauptsache er würde sie niemals finden. Alleine diese Erinnerung ließ Laura schaudern. Mit einem genervten Stöhnen drehte sich Jack auf die rechte Seite. „Ernsthaft, so werde ich erst recht nicht einschlafen können, wenn ihr mich alle anstarrt.“ „Soll… ich dir Tabletten holen?“, bot Carsten zögernd an. „Bringt doch eh nichts…“, murmelte er, so erschöpft, dass man ihn kaum verstehen konnte. Mitfühlend überlegte Laura, ob es nicht irgendeinen Weg gab, diese Albträume von ihm fernzuhalten. Irgendetwas, um ihm den Schlaf zu ermöglichen, den er so dringend brauchte. Es war doch eindeutig! Man konnte doch sehen, wie die Angst ihn wachhielt, obwohl sein Körper um Ruhe bettelte! Laura schaute hilfesuchend zu Carsten. Es gab doch unter Garantie einen Zauber. Wenn nicht einmal Magie helfen konnte, was dann? Sie merkte, wie Carsten bedrückt den Blick senkte. Fast so, als befände er sich im Zwiespalt zwischen… Zwischen was? Plötzlich trat Kito ans Bett und sprach das aus, was jeder sich dachte: „Du hast Furcht vor bösen Träumen.“ Jack lachte schwach. „Wie kommst du denn auf so eine Idee?“ Sie schien seine Ironie nicht herausgehört zu haben, zumindest antwortete sie ernst: „Du zitterst und dein Herz schlägt schnell. Und Eagle sprach du bist ein Sorgenkind.“ „… Was du nicht sagst.“, erwiderte Jack stumpf. Kito lächelte ihn freundlich an. „Soll ich helfen?“ „Kein Gutenachtkuss.“ Laura unterdrückte ein Kichern bei Jacks bestimmtem Tonfall. Nach Lissis Versuch und da er vorhin auch noch von Risa überrumpelt worden ist, war diese Sorge sogar irgendwie berechtigt. Aber so erschöpft und kratzig wie seine Stimme klang… Da kam selbst der für ihn typische Sarkasmus kaum durch. Kito schüttelte den Kopf und Jacks Erleichterung war so deutlich sichtbar, dass der Großteil von ihnen jetzt doch auflachen musste. Für einen Moment vergaßen sie sogar, in was für einem besorgniserregenden Zustand er sich eigentlich gerade befand, als Kito süß unschuldig meinte: „Ein Gutenachtlied.“ Und Jack trocken „Das wird ja immer besser.“ erwiderte. Laura versuchte ihr Lachen einzudämmen, während Kito ihn besorgt anschaute. „Aber du hast doch Furcht vor den bösen Träumen.“ Jack schien irgendetwas erwidern zu wollen, hielt beim Einatmen jedoch inne. Schließlich schloss er seufzend die Augen. Fast so, als würde er der Erschöpfung endlich nachgeben. Einer Müdigkeit, die schon seit Jahren auf ihm lastete. „Mach was du willst…“ „.… Und was willst du?“ Laura kam nicht drum herum zu denken, dass Kitos Frage tiefgründiger war als man erwarten würde. Für jemanden, der sein Leben lang eigentlich immer nur unterdrückt oder kontrolliert worden ist, der sich in den Händen von irgendwelchen abscheulichen Autoritäten oder überirdischen Mächten befunden hatte… Gab es da überhaupt mal jemanden, der ihn nach seinem Willen gefragt hatte? Tatsächlich kam diese Frage so unerwartet, dass sie Jack sogar ein bisschen ins Straucheln zu bringen schien. ‚Was willst du?‘ War es so schwer, darauf eine Antwort zu finden? Schließlich seufzte er. „Ruhe… Ich will einfach nur Ruhe.“ Vorsichtig streckte Kito die kleine, bräunlich gefärbte Hand aus. „Also soll ich?“ Man merkte, wie Jack schon wieder zu ‚Mach was du willst‘ ansetzen wollte. Doch schließlich vergrub er sein Gesicht etwas im Kissen und meinte schwach: „Von mir aus.“ Kito lächelte nur und begann zu singen. Sie hatte eine schöne zarte Stimme, bei der man das Kindliche noch deutlich heraushören konnte und doch wirkte sie zugleich erwachsen. Die Melodie war sanft und beruhigend. Sie war in solcher Harmonie mit den dryadischen Worten, dass Laura selbst eine Müdigkeit überkam und sie sich gegen Carsten lehnte. Sie glaubte schwache Wellen in dem Raum schimmern zu sehen, doch es könnte genauso gut die einlullende Wirkung sein, die dieses Lied auf sie hatte. Noch während die letzten Töne verklangen, schloss Laura die Augen. Als jemand sie sanft an der Schulter berührte, blickte sie irritiert auf und blinzelte schlaftrunken, woraufhin Carsten sich belustigt abwandte. Auch Lauras Blick fiel auf das Bett. Dem ruhigen, gleichmäßigen Atmen nach zu urteilen, hatte das Schlaflied tatsächlich gewirkt. „Das war Illusionsmagie, nicht wahr?“, fragte Carsten gedämpft, woraufhin Kito nickte. Florian hob anerkennend die Augenbrauen. „Wirklich beeindruckend.“ „Wieso? Was hat es damit auf sich?“, fragte Ariane irritiert, aber dennoch leise. „Illusionsmagie wird als eine der kompliziertesten Formen der Magie angesehen.“, erklärte Susanne, „Da sie auf den Geist wirkt und nicht auf etwas Körperliches.“ „Aber das ist ja der Wahnsinn!“, staunte Öznur und schaute Carsten empört an. „Warum hast du uns sowas nicht auch beigebracht?!“ „Weil sie sehr schwer zu kontrollieren ist.“, antwortete dieser verbissen und deutete an, etwas leiser zu sein. „Eufelia hatte dich damals Illusionsmagie gelehrt, nehme ich an.“, vermutete Konrad. Carsten nickte, doch so, wie er den Blick gesenkt hatte… „Ich… nur ein bisschen. Irgendwann hatte ich mich dem Unterricht verweigert.“ Irritiert betrachtete Laura ihren besten Freund. Carsten hatte sich dem Unterricht verweigert? Er hatte sich gegen Eufelia-Sensei gestellt? Einer respektablen Autoritätsperson?! „Ich will so etwas nicht können.“, meinte er schließlich. „Ich will nicht die Macht über den Geist von anderen Leuten haben…“ „Klingt so als hättest du keine guten Erfahrungen damit gemacht.“, stellte Eagle fest. Laura merkte, wie sich sein Kiefer anspannte, als Carsten meinte: „Nicht wirklich… Ich… Ihr wisst ja: Bei den Zaubersprüchen der Dryaden hängt viel vom Klang der Stimme ab. Eine kraftvolle, laute Stimme ermöglicht gewaltige Angriffszauber, während sie für Heilzauber freundlich und zuneigungsvoll sein sollte.“ Er wies auf Kito. „Deswegen erzielen Lieder so eine große Wirkung, da ihre Melodie den Zauber unterstützt.“ Bedrückt fuhr sich Carsten über die drei Narben auf seiner Nase. „In einem Trainingskampf hatte ich mal einen Illusions-Zauber testen wollen…“ Lauras Herz blieb stehen. In einem Trainingskampf… gegen Benni? „Du hast ihn genauso ausgesprochen wie einen normalen Angriffszauber, nicht wahr?“, hakte Florian nach. „Ja…“ Carstens Körper verspannte sich merklich. Diese Erfahrung schien immer noch schmerzhafte Spuren in ihm hinterlassen zu haben. „Ich…“ Er schluckte schwer. „Ich habe Benni noch nie so schreien hören…“ „… Was?“, fragte Laura, jegliche Luft war ihren Lungen entwichen. Einatmen schien eine unmögliche Zumutung zu sein. „Aber wie… was…“ „Aber es ist alles gut ausgegangen, nicht wahr?“, vergewisserte sich Ariane hastig. „Eufelia-Sensei war zum Glück in der Nähe und konnte sofort reagieren, aber… Auch, wenn Benni sich schnell erholt hatte und kurz darauf wieder ganz der Alte war… Dieser Moment… zu sehen wie…“ Zitternd atmete er aus. „Ich kann das nicht beschreiben…“ „Musst du nicht…“ Bedrückt senkte Laura den Blick, ebenso der Rest. Das, was Carsten nicht in Worte fassen konnte, war eben dieses Grauen, was sie bei ihm selbst vor kurzem erst wieder hatten mitansehen müssen. Gefangen in einer anderen Realität. Szenarien, die einem im Geist quälten. Schmerzen, die über die Grenzen der Psyche hinausgingen. All dies, so schwer nachvollziehbar, nicht fassbar und gefühlt genauso unbesiegbar. „Carsten…“, setzte Laura an, doch er schüttelte den Kopf. „Wir sollten rausgehen, Jack braucht Ruhe.“ „Nicht nur er…“, hörte sie Ariane seufzen, doch Carsten hatte sich bereits mit einem dankbaren Lächeln an Kito gewandt. „Vielen Dank, du hast ihm damit mehr geholfen als du ahnst.“ Kito erwiderte das Lächeln wissend. Zeitgleich drehte sich Jack etwas im Bett und gab einen schwachen Laut von sich. Laura kicherte in sich hinein. Dieser ruhige, friedliche Ausdruck beim Schlafen erinnerte sie an Benni und sie kam nicht drum herum zu realisieren, dass Jack eigentlich ein ganz Süßer war. Erleichtert stellte sie fest, dass allmählich auch das Orange in den Adern verblasste. Erstaunlich, was für eine Wirkung Schlaf doch haben konnte. „Los, komm.“, meinte Carsten, doch es war nicht Laura, die er damit aus den Gedanken holte und Richtung Tür schob. Janine warf einen Blick zurück über die Schulter. „Diese Narben an seinem rechten Unterarm…“ Narben? Verwirrt schaute Laura genauer hin. Direkt verstand sie, was Janine meinte. Waren das… Hatte er… Betreten biss sie sich auf die Unterlippe. Anne seufzte. „Der Typ ist total hinüber.“ Lissi zuckte mit den Schultern, doch ihre Stimme klang deutlich weniger entspannt als die Geste. „Er meinte ja, wir wollen gar nicht wissen, wie er versucht hat mit alldem fertig zu werden.“ „… Weißt du es? Was da vorgefallen ist?“, fragte Janine zögernd, während sie das Zimmer verließen. Schaudernd verschränkte Laura die Arme vor der Brust, als sie schon wieder an diesen unheimlichen Mann erinnert wurde. Lissi wiederum warf Janine einen leicht herausfordernden Blick zu. „Dafür, dass du ihn so zu hassen scheinst, machst du dir aber ziemlich viele Sorgen.“ … Stimmt. Irritiert betrachtete Laura Janine, die auf Lissis Aussage jedoch nichts zu antworten wusste.  Kopfschüttelnd ließ Lissi das Thema ruhen und meinte auf die ursprüngliche Frage hin: „Eigentlich will ich es gar nicht wissen.“ Betrübt merkte Laura, dass sie damit im Prinzip Jacks Worte verwendet hatte, als sie ihn selbst heute früh auf das FESJ angesprochen hatten. Das war ganz sicher kein Zufall. Inzwischen waren sie in dem Café angekommen und setzten sich schweigend an einen großen Tisch in die Ecke. „Es ist so leer hier…“, stellte Susanne schaudernd fest. Bis auf ihre Gruppe war keine andere Person anwesend. Eagle verschränkte die Arme vor der Brust. „Haben vermutlich jetzt alle Hände voll zu tun…“ Laura fiel auf, wie Carsten einen Blick auf die Tür warf. Sein großer Bruder ebenso, der verbissen meinte: „Du bleibst sitzen.“ „Aber-“ „Zwing uns nicht dich an den Stuhl zu fesseln.“, unterbrach Eagle ihn und erstickte die kommende Diskussion direkt im Keim. Und wieder brach Schweigen aus. Wieder kam diese unheimliche Stille hoch. Diese bedrückte Atmosphäre… Die sich in keiner Weise besserte, als Susanne zögernd fragte: „Sag mal, Lissi… Als du Jack vorhin beruhigt hast, warum… Warum bist du da so auf Abstand geblieben?“ Sofort wusste Laura, was Susanne damit meinte. Also hatte nicht nur sie das eigenartig gefunden. Dass Lissi so lange für die Antwort brauchte gefiel ihr ganz und gar nicht. Und der ungewohnt bedrückte Blick noch viel weniger, als sie schließlich sagte: „Weil er ziemlich viel Wert auf seinen persönlichen Freiraum legt.“ Diese Aussage verwirrte Laura noch mehr. Besonders als Anne meinte: „Er hat ganz schöne Berührungsängste, kann das sein?“ „Ey jetzt ernsthaft, was wollt ihr damit sagen?!“, fragte Öznur entsetzt. „Könnt ihr euch das nicht denken?“ Lissi schaute in die Runde, doch als keine Reaktion kam, wandte sie sich an Herr Bôss. „Dieses Schweigegelübde das Sie leisten mussten… Das war bei einer Gerichtsverhandlung, nicht wahr?“ Gerichtsverhandlung? Etwa… Etwa von diesem… Mann? Herr Bôss erwiderte Lissis Blick, wissend, dass sie es wusste. Und obwohl er nicht darauf antwortete, obwohl noch nicht einmal ein Nicken von ihm kam, sagte irgendetwas in seinen Augen, dass sie recht hatte. „Er war davor im FESJ. Ein Lehrer? Oder… was Größeres?“, hakte sie nach. Schaudernd verschränkte Laura die Arme vor der Brust. Worauf lief das hinaus? Dieses Mal bekam Lissi eine Antwort. Seufzend senkte Herr Bôss den Blick. „Der Direktor.“ Bei seinen Worten fiel ihnen alles aus dem Gesicht. „Dieser Typ?!“, fragte Ariane entsetzt. „Jetzt mal im Ernst, ich versteh kein Wort!“, rief Öznur verzweifelt aus. „Wovon redet ihr?!“ So langsam realisierte Laura es. Sie wusste, was Jack mit seiner Aussage gemeint hatte. Und ja, sie wollte es gar nicht wissen. Ohne etwas dagegen machen zu können kamen ihr die Tränen. Carstens Blick nach zu urteilen verstand auch er, was Lissi damit sagen wollte. Und so wie sich Janine über die Augen wischte und Susanne sanft Annes Arm berührte, die ungewohnt empathisch wirkte, schien allmählich auch der Rest zu begreifen. Eagle legte die Stirn in Falten. „Du willst uns jetzt nicht ernsthaft sagen, dass er dort damals vergewaltigt worden ist, oder?“ Zitternd atmete Lissi aus. „Wenn die Schulaufsicht einschreitet, obwohl sie in dieser speziellen Einrichtung so gut wie nichts zu melden hat? Das klingt mir immer mehr nach organisiertem Kindesmissbrauch.“ Eine unbeschreibliche Schwere breitete sich in ihnen aus. Es war unmöglich sie in Worte zu fassen, diese Starre. Fast schon apathisch saßen sie da, eingenommen vom Gefühl zu Stein erstarrt zu sein. Obwohl Laura sie gehört hatte, obwohl sie wusste, dass dies die Wahrheit war, weigerte sich irgendetwas in ihr das zu verstehen. Zu akzeptieren, dass etwas derartiges tatsächlich passiert sein könnte. Und doch… insgeheim… Lissi biss die Zähne zusammen. „Können Sie bitte sagen, dass ich mich irre? Dass ich zu viel in all das hineininterpretiere?!“ Laura wusste nicht, wann sie Lissi jemals hatte weinen sehen. Wann ihre Stimme so verzweifelt klang, wie bei diesem einen Wort: „Bitte!“ Nicht nur in Lissis Augen lag dieses Flehen. Somit war es Herr Bôss unmöglich all den entsetzten Blicken Stand zu halten, als er schließlich antwortete: „Ich wünschte, ich könnte es.“ Also hatte sie recht. Sie hatte mit allem recht. Laura schluchzte. „Wieso? Wie kann ein Mensch sowas machen?!“ „Das werden wir wohl nie verstehen können…“, meinte Anne nur verbissen. Nach einigem Zögern fragte Konrad: „Wann war das?“ Herr Bôss fuhr sich durch die langen, rosaroten Haare und seufzte. „Ihr wisst, dass ich nicht darüber reden darf.“ „So ganz stimmt das nicht.“, warf Florian nachdenklich ein, „Da Terra nicht zur Damonischen-Allianz gehört, hat das neue Gesetz dort keine Wirkung. Wir werden von dieser Region nach wie vor nicht als normale Bewohner Damons anerkannt, also…“ „Also gibt es nichts, was vertraglich eine Verschwiegenheit uns gegenüber rechtfertigen würde.“, beendete Susanne seine Gedanken. „Stimmt…“ Der Direktor nickte, doch so wie er den Blick abwandte, schien es ihm trotzdem schwer zu fallen sie in all das einzuweihen. Darüber zu reden, was einst vorgefallen war. Was nur zu verständlich war, wenn es wirklich… Wenn dort… „Herr Bôss, bitte. Ich muss es wissen. Wann war dieser Prozess? Bis wann war dieser… Mensch dort der Direktor?!“ Konrads Stimme hatte etwas ungewohnt Drängendes und auch Lauras Angst wuchs. Sie warf einen besorgten Seitenblick auf Carsten. Ihr blieb die Luft weg, als die Frage in ihrem Kopf Form annahm. Hatte Carsten das noch miterlebt?! Ist das noch etwas, was er uns all die Zeit verschwiegen hat?!? Herr Bôss merkte, wie nicht nur in Laura die Panik bei dieser Befürchtung hochkam. Daher meinte er schließlich beschwichtigend: „Das war vor zehn Jahren.“ Ein Aufatmen. Nur Carsten selbst ballte die bebenden Hände zu Fäusten, als würde er erst jetzt realisieren, was beinahe ihm selbst widerfahren wäre. Sanft legte Ariane ihre Hand auf seinen Rücken, um ihn zu beruhigen. Doch Carsten bekam dies gar nicht mit. Stattdessen meinte er zitternd: „Der Vorfall mit den Kampfkünstlern liegt zwölf Jahre zurück…“ Laura war als wäre sie vom Blitz erschlagen worden. Er war mit den Gedanken gar nicht bei sich selbst gewesen, sondern… „Leon Lenz hatte Benni damals verbannt, obwohl es eigentlich geläufig war, dass in solchen Fällen…“ Kopfschüttelnd verscheuchte Konrad den Rest der Gedanken. Die sich dafür in ihren Köpfen fortsetzten. Die Todesstrafe, das FESJ, … Es hätte keinen Unterschied gemacht. Wenn O-Too-Sama Benni damals nicht verbannt hätte, dann… Hätte ihn dann dasselbe Schicksal erwartet, wie das, was Jack hatte ertragen müssen?! Frierend verschränkte Laura die Arme vor der Brust. „Und dadurch hatten Sie in dieser Zeit Jack kennengelernt, nicht wahr?“, vergewisserte sich Anne, kam zum ursprünglichen Thema zurück. Herr Bôss nickte und warf einen prüfenden Blick in den Raum, doch bis auf ihre Gruppe war immer noch niemand anwesend. „Es kann gut sein, dass auch Leon Lenz Gerüchte erreicht hatten, wer weiß.“, begann er schließlich zu erzählen. „Wir in der Schulaufsicht hatten damals einen Tipp von der Polizei bekommen. Es gab wohl einige Prozesse, wo die Täter im Verhör haben durchblicken lassen, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend mehrfach missbraucht worden sind. Als die Polizisten dem genauer nachgegangen sind, haben sie festgestellt, dass ein signifikant hoher Anteil dieser Täter einst das FESJ besucht hatte…“ Jannik schluckte schwer. „Und Sie sind hin, um das zu überprüfen?“ Bedrückt nickte er. „Ich werde es nie vergessen, erstmals durch dieses eiserne Tor gegangen zu sein. Direkt herrschte eine gedrückte Atmosphäre. Das Atmen fiel schwer und am ersten Tag war mir so elend, dass ich den Eindruck hatte krank zu werden, bis ich realisierte, dass es an diesem Ort lag.“ Er seufzte. „Man hat sofort gemerkt, dass diese Anstalt eine lange Geschichte hat, bei der es fast ausschließlich um Gewalt geht. Eine Geschichte, die von Tag zu Tag länger wurde.“ Zitternd versank Laura etwas tiefer in dem hellen Polster der Bank, auf der sie saß und hatte die gewaltige, graue Steinmauer vor Augen. Kein Wunder, dass man sich dort krank fühlte… Sie meinte es sehen zu können, die leblosen Gesichter der Jungs mit ihren grauen Uniformen, während Herr Bôss die Erzählung fortsetzte: „Es war eindeutig, was den Schülern dort angetan wird. Und doch… Es schien wie als hätte man den Kindern eine Gehirnwäsche unterzogen. Ich hatte mit vielen von ihnen gesprochen. … Zumindest hatte ich es versucht. Aber immer hatte ich den Eindruck gegen eine Wand zu reden. Manche stritten alle meine Fragen ab, andere brachten überhaupt kein Wort über die Lippen. Es war vollkommen gleich, was ich versuchte. Vorsichtig oder über den direkten Weg… Niemanden konnte ich damit erreichen. Es war hoffnungslos…“ Laura senkte den Blick. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Arzt betrat das Café. Schweigen breitete sich aus, lediglich die Kaffeemaschine arbeitete, während sie versuchten Herr Bôss‘ Worte zu verarbeiten. Kaum war der Arzt mit seinem Kaffee wieder davongeeilt, fragte Ariane gedämpft: „Aber schließlich ist es doch zu dem Prozess gekommen, also wie…?“ Traurig lächelte der Direktor. „Weil es am Ende einen gab, der geredet hat.“ Lauras Herz quetschte sich zusammen, als sie die Andeutung verstand. Und noch mehr, als Lissi seinen Namen aussprach. „Jack.“ Herr Bôss nickte. „Ich… Ehrlich gesagt hatte ich schon aufgegeben. Ich war gerade mal fünf Tage da und hielt es bereits nicht mehr aus. Fünf Tage lang keinen einzigen Schritt weiter gekommen zu sein… Und gleichzeitig die Gewissheit zu haben, dass alle Befürchtungen der Wahrheit entsprechen… Es ging einfach nicht mehr. Dieser Ort macht einen krank, anders kann man es nicht sagen. Ab dem vierten Tag habe ich kein Essen mehr zu mir nehmen können, ohne mich wenig später zu übergeben.“ Sein Blick fiel auf Carsten. „Ich bewundere jeden, der das eine so lange Zeit aushalten konnte.“ Mit einem mulmigen Gefühl im Magen betrachtete Laura ihren besten Freund, doch Carsten stierte lediglich auf seine zitternden Fäuste. Wenn schon sie diese Übelkeit spürte… Vorsichtig beugte sie sich über den Tisch, um Carstens Hände in ihre eigenen zu nehmen. Selbst ohne Schwarzmagie wäre dieses Thema für ihn schon belastend genug. Das dachte sich wohl auch Ariane, die ein bisschen näher an ihn rückte und dabei fast nebensächlich Körperkontakt herstellte, während Herr Bôss weiterredete. „Nach einem Telefonat mit meiner Frau musste ich einsehen, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich konnte meine eigene Gesundheit nicht noch länger aufs Spiel setzen aber gleichzeitig… Gleichzeitig war da dieser Selbsthass. Das Gefühl nichts wert zu sein, wenn ich die Jungs weiterhin einfach so ihrem Schicksal überlasse. Und während ich dastand und diese trostlosen, grauen Bauten betrachtete, hin und her gerissen zwischen dem drängenden Wunsch zu helfen und der Befürchtung daran selbst zugrunde zu gehen…“ Er seufzte bedrückt, dennoch formte sich auf seinen Lippen ein Lächeln. Wenn auch ein trauriges. „Da wurde ich dann von einem der Knirpse angesprochen. Wie er hieß wusste ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht. Wenn man die Schüler dort nach ihrem Namen fragt, antworten sie mit der Nummer, die man ihnen gegeben hat und die sie auf einer Erkennungsmarke um den Hals tragen. Fast schon wie Hunde…“   „Gehen Sie schon wieder?“ Überrascht wandte sich Herr Bôss der kindlichen Stimme zu. Sie gehörte einem Jungen, der zu zierlich war, um tatsächlich zehn Jahre alt sein zu können. Das strubbelige rotbraune Haar fiel ihm etwas in die Augen, die trotz ihrer schönen grünen Farbe denselben leeren Blick hatten wie der seiner Mitschüler. Herr Bôss schaute auf die Ziffern des Metallplättchens. 3629 Zahlen hatte er sich noch nie gut merken können, Gesichter dafür aber umso besser. Und dieses Gesicht hatte er definitiv schon einmal gesehen. Der Junge war ziemlich hübsch und hatte irgendetwas an sich, weshalb er aus der Menge herausstach. Irgendetwas Außergewöhnliches, Besonderes. Und gleichzeitig auch stark und unbeugsam. Vielleicht war es deshalb, dass Herr Bôss bei seiner Befragung besonders viel Hoffnung in ihn gesetzt hatte. Er war unter Garantie eines der Opfer dieser widerwärtigen Bande. Und doch schien er einen felsenfesten Willen zu haben. Stark genug, um reden zu können. Um zu berichten, was hier in Wahrheit vor sich ging. Aber seine Hoffnungen sind enttäuscht worden. Während Herr Bôss den Blick dieser grasgrünen Augen erwiderte, fiel ihm auf, dass er dem Jungen noch eine Antwort schuldig war. Mit einem bedrückten Lächeln ging er vor ihm in die Hocke. „Na ja, es gibt nichts, was ich noch tun könnte.“ „Können… Sie nicht noch ein bisschen länger bleiben?“ Bei dem traurigen, flehenden Blick des Jungen brach ihm das Herz. Er konnte doch nicht einfach so aufgeben! Andererseits… bei der Befragung hatte er kein Wort gesagt. Wenn er Herr Bôss nun von sich aus ansprach… Vielleicht… „Warum soll ich denn bleiben?“, fragte er. Vorsichtig, um ihn nicht direkt einzuschüchtern. Die grünen Augen des Jungen richteten sich auf den Boden. „Weil… Seit Sie hier sind… tun die uns nicht mehr weh.“ Er hatte ihn! Er redete! Herr Bôss musste sich zusammenreißen, weiterhin vorsichtig zu bleiben. Ihn nicht zu sehr in Bedrängnis zu setzen. „Und ansonsten tun sie euch weh?“ Der Junge ballte die Hände zu Fäusten und überwand sich schließlich zu einem Nicken. Herr Bôss atmete tief durch. „Und deshalb bin ich hier. Ich versuche dafür zu sorgen, dass sie damit aufhören euch so schlimme Dinge anzutun. Aber…“ „… Dafür brauchen Sie Zeugenaussagen.“ Er war etwas verwirrt, als er direkt so ein Wort verwendete. Doch im Grunde genommen hatte er ja recht. Der Junge warf einen verunsicherten Blick hinter sich. Als Herr Bôss aufblickte erkannte er ihn. Den Mann mittleren Alters, hochgewachsen und muskulös. Sehr wahrscheinlich ein Kampfkünstler. Er stand am Fenster und beobachtete sie. Der Blick hatte etwas Bedrohliches, Einschüchterndes und machte mehr als deutlich, weshalb keines dieser Kinder es wagte, eine Aussage zu tätigen. Wer weiß, was er gedroht hatte ihnen anzutun. Da wurde Herr Bôss klar, dass er den Jungen erst einmal hier rausholen musste. Innerhalb dieser erdrückenden Steingemäuer würde er es nicht schaffen darüber zu reden. Vielleicht mit Hilfe der Polizei? Herr Bôss lächelte. „Ich kenne da jemanden, der helfen könnte. Aber zuallererst: Wie heißt du eigentlich?“ Der Junge hielt die Kette mit der Nummer hoch, doch Herr Bôss schüttelte den Kopf. „Nicht diese dämliche Zahl. Ich meine deinen Namen. Deinen richtigen Namen.“ „Ach so…“ Es tat im Herzen weh mitansehen zu müssen, wie der Junge einen Moment überlegte. Fast so, als müsse er sich erst einmal wieder an seinen wahren Namen erinnern. „Valentin.“ Herr Bôss lächelte. „Freut mich dich kennenzulernen, Valentin.“ Tatsächlich schaffte er es über einen aufwändigen Sonderantrag und mit Hilfe der Polizei, Valentin zumindest außerhalb dieser Gemäuer befragen zu können. Herr Bôss konnte sich kaum das Grinsen zu verkneifen, als er beobachtete, wie der Junge das grün-weiße Polizeiauto erblickte, welches sie zur Dienststelle bringen sollte. Der leere, trostlose Blick war mit einem Schlag verschwunden, ersetzt durch ein begeistertes Leuchten, während er mit kindlicher Neugier den Wagen bis ins kleinste Detail betrachtete. Die diensthabende Polizistin konnte das Lachen nicht unterdrücken, während sie dem Kleinen die Tür aufhielt, der aber viel zu fasziniert von ihrer Uniform war, um auch nur auf die Idee zu kommen, auf den Hintersitz zu steigen. Während Herr Bôss diesen kleinen Jungen immer weiter beobachtete, wie er sich erst im Polizeiauto und anschließend in der Dienststelle umschaute, wurde ihm immer schmerzhafter bewusst, dass er vollkommen zu Unrecht in dieser Anstalt eingesperrt war. Je mehr Valentins grüne Augen strahlten, umso größer wurde die Angst vor der Befragung. Vor dem, was er ihm gleich erzählen würde. Herr Bôss zwang sich zu einem Lächeln und setzte sich Valentin gegenüber, der begeistert einen der Kekse nahm, die in einer Glasschale auf dem Tisch zwischen ihnen lagen. „Magst du die Polizei?“, fragte er den Jungen schließlich, als dieser den ersten Heißhunger gestillt hatte. Valentin nickte. „Polizisten sind toll! Sie jagen Leute, die Böses getan haben und beschützen die Unschuldigen!“ Herr Bôss lachte auf. Da hatte er sich ja genau den richtigen Ort für die Befragung ausgesucht. „Willst du später selbst einmal Polizist werden?“ Das euphorische Leuchten in den Augen erlosch plötzlich. Stattdessen trübte sich sein Blick, während Valentin den Keks in seinen Händen betrachtete. Und schließlich den Kopf schüttelte. „Ich kann nicht…“ „Wieso denn nicht?“ „Weil…“ Seine jungenhafte Stimme brach ein bisschen, als er sich zur Antwort durchrang: „Ich will jemanden wiedersehen, deshalb darf ich nicht sterben…“ Diese Aussage verwirrte Herr Bôss umso mehr. Insbesondere, als Valentin ergänzte: „Und darum muss ich zu jemandem werden, den die Polizisten einsperren wollen. Zu einem Verbrecher.“ Eine eisige Kälte fuhr durch seinen gesamten Körper, als er die Endgültigkeit in der Stimme dieses Jungen hörte. Den hoffnungslosen Ton als habe er sich mit seinem Schicksal schon längst abgefunden. Herr Bôss zwang sich zu einem Lächeln. „Was redest du denn da, Valentin? Du musst doch nicht zu einem Verbrecher werden, nur, weil du jemanden wiedersehen möchtest.“ „Doch.“, war das Einzige, was er dazu sagte. „… Und warum?“ „Weil ich nicht sterben will.“ Valentin merkte, dass seine Aussage Herr Bôss‘ Verwirrung in keiner Weise minderte. Als Erklärung hob er die Kette mit seiner Erkennungsmarke. „Es gibt zwei Wege hier raus zu kommen. Entweder als Verbrecher oder als Toter.“, meinte er mit solcher Ruhe und Bestimmtheit, dass Herr Bôss einen Moment lang brauchte, um sich der eigentlichen Bedeutung dieser Worte bewusst werden zu können. Entsetzt betrachtete er den Jungen, der mit den Schultern zuckend ergänzte: „Und da ich nicht sterben will, bleibt mir nur noch dieser eine Weg.“ Langsam, wie gelähmt schüttelte er den Kopf. „Nein Valentin, das redest du dir nur ein.“ „Jeder sagt das.“ „… Jeder?“ „Alle Schüler. Und die Lehrer und Aufseher… Denen ist das egal.“ „Inwiefern?“   „Valentin erzählte so einiges über die Umstände, unter denen die Jungs in dieser Anstalt leben mussten und erst zu dem Zeitpunkt wurde mir bewusst, wie machtlos wir eigentlich sind…“ Seufzend schüttelte Herr Bôss den Kopf. „Entschuldigt, ich bin abgeschweift.“ Irritiert blinzelte Laura. Ihr war, als hätte sie sich in einem Traum befunden. Als hätte sie das Gespräch zwischen Herr Bôss und Valentin tatsächlich mitverfolgt. Sie schaute sich um und merkte, wie auch der Rest leicht perplex war, bis sich Jannik zu der ursprünglichen Frage überwand: „Und am Ende hatte er wirklich eine Aussage gemacht?“ Herr Bôss nickte. Ein deprimierter Blick trübte seine Gesichtszüge, als er antwortete: „Wenn ein… Wenn ein Zehnjähriger einem erzählt, was man ihm alles angetan hat… Da…“ Bedrückt schüttelte er den Kopf, als versuchte er irgendwie diese schmerzhaften Erinnerungen zu vertreiben. „Ihr wisst ja, Kinder können manchmal ziemlich direkt sein.“ Schaudernd drückte Laura Carstens Hand, die genauso schweißnass war wie ihre eigene. Und dennoch fror sie am ganzen Körper. Wieder tauchte das Bild dieses ekelhaften Mannes vor ihren Augen auf. Und jetzt, da sie wusste wer das war, wurde ihr umso schauriger bewusst, wem Jack in dem Moment gegenübergestanden hatte. Wem er da in die Augen geblickt hatte… „Sie meinten das wären mehrere gewesen…“, setzte Susanne an. „Ja, aber… Gegen die anderen Lehrer und Aufseher konnte Valentin nicht aussagen.“ Auf die Verwirrung hin ergänzte er: „Ihr wisst doch, dass Dämonenverbundene immer eine besondere Ausstrahlung haben. Es ist schwer in Worte zu fassen, aber auf alle Fälle stecht ihr immer positiv aus der Masse heraus, jeder auf seine Art. Nur… positiv aufzufallen kann auch manchmal ein Fluch sein.“ Anne verschränkte die Arme vor der Brust. „Zum Beispiel, wenn man in der Anstalt eines Kinderschänders landet.“ Laura schüttelte sich bei dieser direkten Aussage, die von Herr Bôss auch noch mit einem verbissenen Nicken bestätigt wurde. „Für den damaligen Direktor war Valentin folglich so etwas wie… sein Privatbesitz. Nur er durfte sich an ihm vergreifen.“ Das machte es trotzdem nicht besser… „… Und die anderen?“, fragte Eagle nach einer Weile. „Valentin hat uns die Namen genannt. Sowohl von den weiteren Tätern, als auch von Schülern, die aussagen konnten. Der Rest verlief überraschend einfach. Ich glaube, die Jungs hatten lediglich jemanden gebraucht, der den ersten Schritt macht. Um zu sehen, dass ihnen nichts passieren würde, wenn sie redeten. Und als Vermittler hat Valentin sicherlich auch einen großen Beitrag dazu leisten können.“ „Und am Ende wurden alle verurteilt?“, fragte Ariane hoffnungsvoll. „Ja. Die meisten haben eine Freiheitsstrafe von drei bis zehn Jahren bekommen. Der Direktor 15 Jahre.“ „Also sind inzwischen alle wieder draußen…“, stellte Laura schaudernd fest. Lissi biss die Zähne zusammen. „Sogar der Direktor.“ „Und wie lange wurde… war das… bei Jack?“, erkundigte sich Öznur. „Wollen wir das wirklich wissen?“, meinte Ariane trüb. Herr Bôss seufzte. „Um die vier bis fünf Jahre… Beinahe täglich.“ Schniefend wischte sich Laura über die Augen. So lange? So… häufig?! Janine schaute auf den Tisch, kämpfte wie Laura gegen die Tränen an als sie fragte: „Denken Sie, … dass er sich damals dessen bewusst war? Was das alles überhaupt zu bedeuten hat?“ Herr Bôss schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht… Vielleicht ein bisschen. Doch für ihn schien es eine Strafe wie jede andere auch zu sein. Nur, dass er bei den anderen Bestrafungen zumindest den Grund kannte. Aber hier…“ „Also wie, als würde man ihn dafür bestrafen, dass er überhaupt existiert…“, stellte Laura bedrückt fest, einige Tränen tropften auf das helle Holz. Sie hatte sich schon so häufig gedacht, dass Jack extrem viel hatte ertragen müssen. Aber… Dass er durch so viel durch musste… Schluchzend rieb sie sich erneut über die Augen, doch die Flut an Tränen wollte nicht stoppen. „Warum hat ihn da niemand rausgeholt?! Dann wäre all das nie passiert! Er wäre nie bei Mars gelandet, hätte nicht diese ganzen Leute umgebracht… Und vielleicht wäre seine Mutter sogar noch am Leben!“ Herr Bôss Antlitz war nur undeutlich zu sehen, als sie verzweifelt schrie: „Warum?!“ Der Direktor wandte den Blick ab. „Das habe ich mich auch schon häufig genug gefragt…“ „Gab es denn keinen Weg?“, erkundigte sich Konrad bedrückt. „Immerhin hatte er doch sogar einen essenziellen Beitrag zur Klärung des Falles geleistet.“ „Es gibt drei. Der einfachste ist der Schulabschluss, aber… den macht man wie in jeder anderen Region erst mit 18. Der zweite Weg ist eine spezielle Prüfung, die alle acht Jahre stattfindet. Jedoch behandelt diese Themen aus allen Jahrgängen. Je näher du also dem Abschluss bist, desto wahrscheinlicher ist es, dass du die höchste Punktzahl erzielst.“ Herr Bôss wies auf Carsten. „Dass jemand diese als Bester besteht, der nicht aus dem Abschlussjahrgang ist, ist somit eine große Ausnahme.“ Laura entging nicht, wie auch Eagle bei dieser Aussage gegen seine Gefühle ankämpfen musste. „Und der dritte?“, fragte Öznur, während sie Eagles Hand nahm. „Wenn der Antragsteller den Aufnahmeantrag zurücknimmt.“, antwortete Herr Bôss. „Nachdem all das vorbei war hatte ich versucht, Kontakt zu Valentins Eltern aufzunehmen. Ich wusste, dass es sein Vater war, der ihn auf das FESJ geschickt hatte. Daher hoffte ich, ihn in einem Gespräch dazu bewegen zu können, den Antrag zurückzuziehen.“ Anne schnaubte. „Mit einem normalen Gespräch wären Sie bei dem wohl nicht weit gekommen. Oder meinten Sie ein ‚Gespräch‘.“ Lächelnd schüttelte Herr Bôss den Kopf. „Mir war durchaus bewusst, dass ich überzeugende Argumente brauchte. Ich… Valentin hatte mich an meine Tochter erinnert. Jetzt im Nachhinein… Vielleicht hatte ich es mir nur eingebildet, da beide Dämonenbesitzer waren und sie deshalb eine ähnliche Ausstrahlung hatten. Aber die rötlichen Haare, die Sommersprossen und besonders diese grünen Augen…“ Herr Bôss lachte auf. „Und noch dazu sind beide unglaublich stur und können rotzfrech sein. Aber sie haben das Herz am rechten Fleck und können so viel Gutes tun, wenn man ihnen nur die Möglichkeit dazu gibt…“ „Sie wollten ihn adoptieren…“ Lauras Herz wurde noch schwerer als es ohnehin schon war. Herr Bôss nickte betrübt. „Vielleicht war es auch einfach nur ein egoistischer Wunsch, zumindest für ihn ein guter Vater sein zu können, wenn ich schon bei dem eigenen Kind versagt habe… Wer weiß das schon. Aber letztlich hatte ich auch dabei versagt. Selbst über Polizei und Jugendamt konnte ich die Eltern nicht ausfindig machen, dem Datenschutz sei Dank. Die in der Akte angegebene Adresse war natürlich eine falsche, ebenso die Namen. Und auch, wenn ich von Valentin den eigentlichen Nachnamen erfahren konnte…“ Er seufzte. „Im Anbetracht der Dämonenverfolgung ergibt es schon Sinn, dass der Vater alle Fäden gezogen hat, um unauffindbar zu bleiben.“ Ariane runzelte die Stirn. „Aber Jack konnte sich doch garantiert noch an seine-“ Herr Bôss schüttelte den Kopf. „Er hatte bei seiner Aussage schon lange genug überlegen müssen, ob der Nachname wirklich wie angegeben Müller lautet. Die Adresse zu prüfen war ein Ding der Unmöglichkeit.“ „Da wird einem ja die ganze Identität geklaut…“, stellte Susanne zitternd fest. „Und was hielt deine Frau davon?“, erkundigte sich Florian. „Nun ja, du weißt ja, dass sie noch ziemlich lange unter den Folgen der Dämonenverfolgung gelitten hat. Da war sie natürlich nicht so erfreut, dass ich einen Jungen aufnehmen wollte, bei dem psychische Krankheiten durch diese traumatisierenden Erlebnisse garantiert sind. Doch sie meinte, solange es mir hilft mit mir selbst ins Reine zu kommen… Aber nach einem erfolglosen Jahr lang Suchen war sie der Meinung, dass ich endlich damit abschließen solle.“ Bedrückt senkte Laura den Blick. Sie konnte verstehen, warum Frau Bôss ihn dazu gedrängt hatte. Aber… Was, wenn er Jacks Eltern doch noch gefunden hätte? Was, wenn all das irgendwie doch noch gut ausgegangen wäre? „Weiß Jack, dass Sie vorhatten ihn zu adoptieren?“, fragte Carsten. „Nein, ich kam erst im Nachhinein zu diesem Entschluss. Es… hatte sich einfach falsch angefühlt, ihn an diesem Ort zurückzulassen. Aber so konnte ich es zumindest vermeiden, falsche Versprechen zu machen.“ Susanne schob sich eine schwarze Strähne hinters Ohr. „Ich nehme an, dann ist es Ihnen auch lieber, wenn er erst gar nichts davon erfährt.“ Herr Bôss nickte. „Aber Valentin Bôss klingt ziemlich cool.“, stellte Lissi fest, vermutlich ein Versuch, die Stimmung irgendwie noch aufzulockern. „Und Jack Bôss erst! Kann man mit zwanzig noch adoptiert werden?“ Der Direktor lachte auf. „Ich glaube nicht, dass er das will.“ Fragend legte Lissi den Kopf schief. „Wieso nicht? Sie haben doch jetzt schon total das Vater-Sohn-Verhältnis.“ Oh ja, da musste Laura ihr sofort recht geben. Schon allein, wenn sie an die Szene heute Morgen in Ituhas Bar dachte. Kichernd erinnerte sie sich daran, wie verschlafen Jack noch war, dass er sogar Hemd und T-Shirt linksherum getragen hatte. Auch Herr Bôss musste bei dieser Erinnerung lachen, schüttelte jedoch schließlich den Kopf. „Es geht mir nicht darum, ob Valentin einen Vater braucht oder nicht. Sondern eher… Schon damals, als Benni gezwungen war zu Mars zu gehen, hatte ich die Hoffnung, dass er Valentin da rausholen könnte. Dass er ihn irgendwie… in dieser Dunkelheit erreichen würde, in der er all die Zeit gefangen war.“ Er blickte in die Runde. „Ich glaube, inzwischen hat Valentin realisiert, dass er nicht alleine kämpfen kann.“ Ein schwaches Lächeln stahl sich von Carstens Lippen. „Das muss er auch gar nicht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)