Demon Girls & Boys von RukaHimenoshi ================================================================================ Kapitel 88: Zwischen Akzeptanz und Verdrängung ---------------------------------------------- Zwischen Akzeptanz und Verdrängung       Verärgert schnappte sich Ariane ihre Jacke und verließ das Häuptlingsanwesen, um sich auf den Weg zu Ituhas Bar zu machen. Dort hatten inzwischen die jüngeren der Gruppe ihre Herberge und auch Arianes Schwester verbrachte den Großteil ihrer Zeit dort. Seufzend schaute sie in den kalten grauen Herbsthimmel und wünschte sich den Sommer zurück. Und zwar nicht nur, weil sie Sonnenschein und Wärme viel lieber hatte, als Schnee und kalter Wind. Auch die Ausstrahlung dieser Jahreszeit, diese Unbeschwertheit, vermisste sie. Und sich die Zeit mit Schlittschuhlaufen zu versüßen war momentan auch alles andere als eine gute, sinnvolle Idee. Noch während Ariane ihren Weg fortsetzte, hörte sie hinter sich jemanden ihren Namen rufen. „Ist was?“ Verwirrt drehte sie sich um, als Carsten bereits zu ihr aufgeholt hatte. „Nein, also… Eigentlich…“ Verlegen fuhr er sich über den Nacken als wüsste er selbst nicht, warum er ihr gefolgt war. Schließlich seufzte er. „Es tut mir leid. Ich weiß, dass diese Diskussionen eigentlich unnötig sind, aber irgendwie…“ Ariane schüttelte den Kopf. „Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen.“ Seinem Blick nach zu urteilen schien Carsten dennoch nicht wirklich überzeugt von seiner Unschuld. Sie wies in die Richtung, in die sie eigentlich gerade gehen wollte. „Möchtest du mitkommen?“ Tatsächlich nahm er die Einladung mit einem verunsicherten Nicken an. Während sie ihren Weg fortsetzten, erklärte Ariane betrübt: „Dich trifft wirklich keine Schuld. Nicht direkt, zumindest. Ich bin vorhin einfach ausgerastet, weil es mich so frustriert, dass du und Eagle… Dass ihr euch nun deswegen ständig streitet.“ Carsten lachte auf. „Wir streiten uns doch dauernd.“ „Nicht so. Ich verstehe ja, dass bei eurem Temperament Diskussionen gerne in einem Streit enden. Passiert mir und meiner Schwester immerhin auch gelegentlich. Aber… Ihr führt kaum mehr ein normales Gespräch.“ Bedrückt senkte Carsten den Kopf. „Du hast ja recht, aber… Ich kann doch nicht einfach tatenlos mitansehen, wie er alles in ein schlechtes Licht rückt, was Jack macht. Wie er jede Gelegenheit nutzt, um irgendetwas Abfälliges über ihn zu äußern oder ihn zu beleidigen…“ „Na ja, aber es ergibt schon Sinn, warum er das macht.“, nahm Ariane Eagle in Schutz. „Und auch bei Janine… Es… Jack war halt in viele Dinge verwickelt, die uns Schaden zugefügt haben. Natürlich fällt es da schwer ihm zu vertrauen. Das kannst selbst du nicht abstreiten.“ „Nein, natürlich nicht…“ Ariane merkte, wie Carsten die Hände zu Fäusten ballte. „Aber… Aber er hatte doch seine Gründe…“ „Gründe, die so viele Morde rechtfertigen?“ „Was hätte er denn anderes machen sollen?!“, fragte Carsten verzweifelt. „Du hast doch gehört, was er erzählt hat. Du hast gesehen, wie er nach sechs Jahren immer noch darunter leidet! Es… Wenn so viel zusammenkommt… Wenn das Leben so von Gewalt und Leid geprägt ist und einem am Ende die einzige Stütze genommen wird… Was… was würdest du dann machen?“ Zitternd wandte Carsten den Blick ab, dennoch entging es Ariane nicht, wie er gegen die Tränen ankämpfen musste. Sanft berührte sie seinen Arm, wusste aber nicht wirklich, was sie darauf erwidern sollte. Sie verstand beide Standpunkte, den von Carsten, aber auch den von Eagle. Und es war unsagbar schwierig, die beiden gegeneinander abzuwägen. Sich für eine Seite entscheiden zu müssen und der anderen Seite dadurch automatisch zu widersprechen. Irritiert betrachtete Ariane die braun-graue Herbstlandschaft. Sie waren wohl von ihrem ursprünglichen Weg abgekommen und befanden sich nun am Rande Kariberas bei dem rauschenden Fluss. Ariane schaute sich um und entdeckte neben einem Baum eine Holzbank für Spaziergänger, wenige Meter entfernt. Da sie nun ohnehin nicht mehr auf dem Weg zur Bar waren, entschied sie sich eine kleine Pause zu machen. Ariane ging zur Holzbank rüber, setzte sich und klopfte auf die Bretter, um Carsten aufzufordern sich zu ihr zu gesellen. Dieser schien entweder immer noch zu aufgebracht oder zu verunsichert, um sich vom Fleck bewegen zu können. Ariane seufzte. Wie sollte sie ihn denn auch unter solchen Bedingungen besser kennenlernen können? Carsten folgte mit seinem Blick dem Flusslauf in die Ferne. Er schien sich wirklich alles andere als wohl in seiner Haut zu fühlen… War das nun wegen der Schüchternheit oder wegen der Sache mit Jack? Schließlich atmete er tief durch und Ariane fiel das Zittern in seiner Stimme auf als er fragte: „Weißt… also… was weißt du so über… dort?“ Dort? Überrascht betrachtete Ariane ihn. „Das FESJ?“ Direkt zuckte Carsten zusammen als habe man ihn geschlagen. Doch bevor sie sich erschrocken entschuldigen konnte, nickte er als Antwort. „Eigentlich…“ Nervös strich sich Ariane einige Strähnen ihres Ponys aus der Stirn. Sollte sie ihn einfach so direkt mit Lissis Vermutung konfrontieren? Und das, obwohl er alleine beim Namen der Schule schon so reagierte? „… Ehrlich gesagt… Weiß ich nichts. Nur Vermutungen.“ Carsten erwiderte ihren Blick, er war deutlich im Zwiespalt. Hin und her gerissen zwischen dem Versuch alles zu erklären und dem Schmerz, den diese Erinnerungen auszulösen schienen. Ein Schmerz, bei dem man fast schon denken konnte, dass er sich sogar körperlich bei ihm bemerkbar machte. Betreten schaute Ariane auf das gelb-braune Laub. „Du… Du hast uns ja so gut wie nie etwas davon erzählt…“ „Stimmt…“, erwiderte er lediglich und schaute erneut in die Ferne. In den tristen, grauen Himmel. „Es sieht genauso aus wie dort…“ „Hm?“ „Der Himmel, die Wolken… Der Wald und das Wasser… Alles wirkt grau, leer und trostlos. Und kalt.“ Arianes Griff um die Holzbretter der Bank wurde angespannter. Bei Carstens gebrochener Stimme wollte sie eigentlich zu ihm rüber gehen, in der Hoffnung, ihm irgendwie Trost spenden zu können. Aber irgendwie… Sie hatte den Eindruck, als bräuchte er gerade diesen Abstand. Diesen Abstand zu alles und jedem, so wie… wie damals. „Ich… hielt es immer für eine ziemlich strenge Schule.“, erzählte Ariane ihm von ihren eigenen Vorstellungen. „So wie früher, als unsere Großeltern noch zur Schule gegangen sind und wo Schüler mit dem Rohrstock geschlagen wurden und so… Und wo Mobbing an der Tagesordnung steht…“ Bedrückt atmete Carsten aus und setzte sich im Schneidersitz auf die kalte, teils mit Laub bedeckte Wiese. „… Ich glaube, das dachte auch der Rest die ganze Zeit…“, ergänzte sie verunsichert. „… Dachte?“ Ariane biss sich auf die Unterlippe. Sie schaffte es trotzdem nicht, ihn damit zu konfrontieren. Mit der Frage, die in ihrem Herzen brannte. Stimmt Lissis Vermutung? Haben sie dich dort gefoltert? Die Angst war zu groß. Gerade jetzt, wo Carsten schon so stark unter den Folgen der Schwarzmagie litt, wo er schon Halluzinationen von vergangenen Ereignissen hatte… Sie hatte Angst, mit dieser Frage irgendetwas zu triggern. Ihn schon wieder in so einem verzweifelten Zustand erleben zu müssen. Sie spürte einen Windhauch und merkte, wie Carsten die Hand ausgestreckt hatte und mit seiner Magie das Wasser in kleinen Spiralen tanzen ließ. Fast so, als wolle er sich damit ablenken. „Es… Es gibt da einen Spruch. Etwas, was die Schüler von dort immer und immer wieder sagen. Eigentlich ist es das erste, was ein Neuankömmling von ihnen zu hören bekommt.“ Ariane schwieg, wartete, bis Carsten von selbst weitersprach. Sie wollte ihn zu nichts drängen. Schon gar nicht jetzt, wo er endlich mal von sich aus darüber redete. Tatsächlich atmete Carsten tief durch und sagte: „Es gibt zwei Wege hier raus zu kommen. Entweder als Verbrecher, oder als Toter.“ Mit einem Schlag schien Arianes Herz stillzustehen. Zeitgleich fielen die Wasserspiralen in sich zusammen. „Als… Wie… wie meinst du…“ „Ich weiß nicht wie sich die Schule in den Medien so präsentiert, aber… Die Dunkelziffer der Selbstmordrate ist dort extrem hoch.“ Schaudernd rieb sich Ariane die Oberarme. Selbstmordrate?! „A-aber… Aber du bist nichts von beidem! Und du bist rausgekommen!“, widersprach sie ihm verzweifelt. „Nur wegen Benni…“ Carsten winkelte die Beine an und schaute weiter in die Ferne, in das triste Grau, was ihn so an damals erinnerte. „Wenn er nicht gewesen wäre… Ich weiß nicht, ob ich ein Jahr lang durchgehalten hätte.“ Ariane schluckte schwer und trotzdem wurde sie das beklemmende Gefühl in der Kehle nicht los. Sie brachte kaum mehr als ein Flüstern zustande. „War… es wirklich so schlimm?“ Carsten antwortete nicht. Er saß einfach nur weiter da und so langsam bekam Ariane die Sorge, dass die Schwarzmagie ihn schon wieder in die Vergangenheit zerren würde. Dass er schon wieder kurz davor war irgendeine Situation erneut durchleben zu müssen. Vorsichtig richtete sie sich auf und ging zu ihm rüber, um sich neben ihn in das feuchte Laub zu setzen. Die nassen Blätter fühlten sich alles andere als angenehm an, doch viel unwohler war ihr, als sie Carstens leeren Blick sah. Der Spruch der Schüler des FESJ hallte immer noch nach. Es gibt zwei Wege hier raus zu kommen… Vorsichtig legte sie eine Hand auf seinen Rücken. „Und trotzdem hast du dadurch das Gegenteil bewiesen.“, meinte sie schließlich. „Dass es auch einen anderen Weg gibt, da raus zu kommen. Nicht nur… nicht nur diese beiden.“ „… Manchmal bin ich mir da nicht ganz sicher.“ Eine imaginäre Kraft zerquetschte Arianes Herz. „Jetzt sag doch sowas nicht!“ Wieder erwiderte Carsten nichts darauf und so langsam musste sie gegen die Tränen ankämpfen. „Das… das ist sicher wegen der schwarzen Magie. Die verstärkt das alles, die negativen Emotionen, die Erinnerungen, …“ „… Ich weiß nicht…“ Vorsichtig lehnte sich Ariane gegen ihn. Sie hatte keine Ahnung, was sie ansonsten machen konnte. Was sie sonst darauf erwidern könnte. Gerade da diese Erzählung von Konrad vor wenigen Tagen noch so präsent war. Und diese Gewissheit, dass jemand mit einer schwachen mentalen Gesundheit viel anfälliger für die Folgen der schwarzen Magie war. Verzweifelt suchte Ariane nach einer Lösung. Nach irgendeinem Weg, Carsten helfen zu können. Aber wie? Die einzige Idee die sie hatte war eine Therapie und so entschieden, fast schon panisch, wie Carsten sich immer gegen diesen Vorschlag zur Wehr setzte… Andererseits… Warum suchten sie an sich immer direkt nach einer Lösung? War nicht eigentlich der beste Weg einfach nur für ihn da zu sein und zuzuhören? Ariane merkte wie sich Carstens Körper anspannte und sie fragte sich, ob ihm diese Nähe gerade doch etwas zu unangenehm war. „Der Rohrstock…“, setzte Carsten an. „… Diese Strafe gab es zwar auch, aber… ziemlich selten.“ Nun verspannte sich auch Ariane. Kam er wirklich von sich aus auf dieses Thema zu sprechen? Auf die Strafen?! Lissis Vermutung, was sich da in Wahrheit abspielte?!? „… Stattdessen?“, fragte sie zögernd. Sie merkte, wie Carstens Ausdruck leicht verlegen wurde. „V-versteh das jetzt bitte nicht falsch…“ „Hm?“ Noch während sie sich fragte, was sie falsch verstehen könnte, begann Carsten das schwarze Hemd aufzuknöpfen, was er noch wegen der Trauerfeier von heute Vormittag trug. Ohne es zu wollen kam ihr der Gedanke auf, dass schwarz eigentlich sehr gut an Carsten aussah. Wobei ihr das rote T-Shirt von neulich trotzdem viel besser gefallen hatte. Ähm… Was? „Tschuldigung.“ Beschämt wandte Ariane den Blick ab als sie merkte, wie offensichtlich sie Carstens Oberkörper betrachtet hatte. Aber sie musste sich eigestehen, dass sie seine schlanke Figur und die trotzdem definierte Muskulatur ziemlich attraktiv fand. Dennoch wirkte er zurzeit auch besorgniserregend mager und Ariane fragte sich, wie viel er eigentlich aß. „… Schon okay…“, nuschelte Carsten schüchtern und drehte sich so, dass sie seinen Rücken sehen konnte. „Ich… ich weiß auch nicht, warum ich das gerade mache…“ Immer noch irritiert schaute Ariane nun doch wieder zu ihm. Carsten war so angespannt und saß so gekrümmt da, dass man meinen könnte irgendetwas bereitete ihm tatsächlich körperliche Schmerzen. So langsam realisierte Ariane, dass es ihm schon lange nicht mehr darum ging Jack in Schutz zu nehmen. Er wollte reden. Nach all der Zeit wollte er sich endlich mal jemandem anvertrauen. Erzählen, nein, sogar zeigen, was er tagtäglich mit sich herumtragen musste. Carsten atmete tief durch als würde er gleich von einer Klippe in eiskaltes Wasser springen. Dann, ohne jegliches weiteres Zutun, begann sich plötzlich etwas auf seinem Rücken zu verändern. Es bildeten sich Furchen, seltsam aussehende Unebenheiten und alsbald musste Ariane schaudernd feststellen, dass das nicht Teil des Zaubers war, was sie da sah. Das war ein Teil von Carsten selbst. Sie hatte nach Lissis Andeutung nicht mehr die Gelegenheit gehabt herauszufinden, wie Jacks Oberkörper tatsächlich aussah. Aber wenn er auch nur annähernd so wie Carstens war… Diese Erkenntnis, dieser Schock, trieb Ariane Tränen in die Augen, die sie nicht mehr unterdrücken konnte. Ihr Herz wurde schwer, fühlte sich wie zusammengepresst an. „Was haben sie mit dir gemacht?“, fragte sie schwach, fast schon schluchzend. Vorsichtig berührte sie einen der Striemen im unteren Rückenbereich, der heller war als Carstens sonstiges Hautbild. Diese seltsame Erhebung fühlte sich eigenartig an, um nicht zu sagen gruselig. Ihre Finger zitterten, als sie den Narben weiter nach oben folgte, zu der schockierendsten, unheimlichsten von allen. Im Vergleich dazu schienen die Verbrennungen von dem Ritual neulich nur noch halb so wild. Irgendetwas kreisförmiges, etwa auf Höhe der Schulterblätter, hatte einen großen Teil seines oberen Rückens so zerstört, sodass die Hautschicht absolut uneben und immer noch leicht gerötet war. Nun wurde sich Ariane erst wirklich bewusst, was das FESJ eigentlich für eine Anstalt war. Nichts, noch nicht einmal Carstens gequälte Erzählungen, waren im Stande gewesen ihr das zu zeigen. Zu verdeutlichen, wie grausam es dort vor sich ging. Wie viel Leid war mit diesen Narben verbunden? Wie viele Qualen hatte er dort täglich durchleben müssen? Schluchzend wischte sich Ariane eine Träne von der Wange. „Warum?“ „… Weil ich irgendetwas falsch gemacht habe.“, antwortete Carsten nur. Seine Stimme war schwach, emotionslos… tot. „So ein Blödsinn!“, entfuhr es Ariane. „Es gibt nichts, was man falsch machen kann, um so etwas zu rechtfertigen!“ „Anscheinend schon.“ „Aber… aber…“ Erneut wischte sich Ariane über die Augen. Diese Ungerechtigkeit zerbrach ihr das Herz. Warum auch noch ausgerechnet Carsten?! Sie wünschte so etwas niemandem, niemals! Doch Carsten von allen am wenigsten. Er tat so viel für andere, opferte sich regelrecht für sie auf. Er war eigentlich schon zu hilfsbereit, zu selbstlos. Wie konnte man ihm, ausgerechnet ihm so etwas antun? Ohne darüber nachzudenken legte sie die Arme um ihn. Lehnte sich gegen seinen Rücken, als hoffte sie damit irgendwie diese Narben, das ganze Leid verschwinden zu lassen. Es einfach auszulöschen. Eine Weile schwiegen sie, während Ariane versuchte diese Situation zu verarbeiten. All die Zeit hatte sie gewollt, dass Carsten endlich mal redete. Dass er sich ihr und den anderen endlich anvertrauen würde. Doch nun, wo er es getan hatte… Nun verstand sie, warum es ihm so schwerfiel. Weshalb er so verzweifelt versuchte all das zu verdrängen, einfach zu vergessen. Als wäre es nicht schon genug, dass seine Familie, besonders Eagle und sein Vater, nahezu sein ganzes Leben lang Carstens bloße Existenz nicht hatten wahrhaben wollen. Als hätte es nicht schon gereicht, dass er durch seine Schüchternheit noch nicht einmal in der Schule zurechtgekommen war. Nein, jetzt auch noch das! Als hätte er seelisch und körperlich nicht schon genug gelitten! Immer noch schluchzend fiel Ariane auf, wie fest ihr Griff um Carsten war. Betroffen fragte sie sich, ob sie ihm damit nicht eigentlich gerade auch wehtat und ob er deswegen nun schon wieder Schmerzen hatte. Oder ob sie wegen der Narben… Ariane lockerte den Griff und wollte die Umarmung lösen, als Carsten eines ihrer Handgelenke plötzlich festhielt. „Nicht loslassen…“, bat er sie zitternd, kurz vorm Zerbrechen. „Geh nicht weg…“ Schweren Herzens lehnte sie sich wieder gegen ihn. „Tu ich nicht.“ Sie spürte das Vibrieren seines Körpers, das Beben seiner Schultern, als Carsten seinen Griff um ihre Hand noch mehr verstärkte. Hin und hergerissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den inneren Qualen und der verzweifelten Sehnsucht nach Zuneigung. Das Rauschen des Flusses wandelte sich in das bedrohliche Knistern von Feuer. Ariane bildete sich ein zu sehen, wie dieses Etwas Carstens Rücken verbrannte. Sie glaubte ihn schreien zu hören, ein stummer Schrei, der umso lauter in ihrem Kopf hallte. Ein Schmerzensschrei und doch auch gleichzeitig ein Hilferuf. Wie kam es, dass sie ihn bis heute nicht gehört hatte? Ihn nach all der Zeit jetzt erst wahrnahm? Ariane verstärkte ihren Griff nochmal mehr. Jetzt hörte sie ihn. Jetzt würde sie das nicht länger einfach so zulassen. Nach einer Weile merkte sie, wie sich eine Gänsehaut auf Carstens Armen abzeichnete. Was nicht überraschend war, bei den 12°. „… Ist dir nicht kalt?“, fragte sie vorsichtig. Carsten zögerte deutlich, doch schließlich ließ er ihre Hand los und streifte sich das Hemd wieder über die Schultern, begleitet von einer schwachen, absolut verschämten Entschuldigung. Ariane schüttelte den Kopf. „Kein Grund sich zu entschuldigen. Ehrlich gesagt… bin ich froh, dass du endlich mal mit jemandem geredet hast.“ Carsten schwieg. Vorsichtig legte sie ihre Hand wieder auf seinen Rücken, wo sie selbst durch den Stoff die Unebenheiten der Brandnarbe zu spüren glaubte. „Versteck sie nicht schon wieder. Du kannst nicht ewig vor deiner Vergangenheit weglaufen.“ „Was soll ich denn sonst tun?“, fragte er matt. „Kämpfen.“, schlug Ariane vor. „Wehr dich dagegen, was sie mit dir macht. Du hast schon genug deswegen leiden müssen…“ Freudlos lachte Carsten auf. „Ich kann mich nicht wehren… Konnte ich nie.“ „Also ich finde schon.“ Sie zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. „Und sag mir nicht, dass du dich bei Frau Reklöv vor kurzem nicht gewehrt hast.“ Er seufzte bedrückt, als würde auch das ihn nicht sonderlich überzeugen. Ariane strich Carsten einige Strähnen seiner kinnlangen Haare aus dem Gesicht. „Und selbst wenn… Zusammen ist man eh viel stärker, nicht wahr?“ Zwar erwiderte er ihren Blick nicht, doch gerade aus der Nähe wurde Ariane bewusst, wie magisch seine lila Augen eigentlich waren. Es war fast so, als würde sie sie heute zum ersten Mal sehen. An sich… Hatte sie sich sein Gesicht eigentlich jemals richtig angeschaut? Die lila Augen umrahmt von schwarzen Wimpern, hohe Wangenknochen, eine gerade, leicht stupsige Nase mit den quer verlaufenden Narben vom Schwarzen Löwen, das schmale Kinn, die Lippen… Er war schon hübsch. Aber dieser trübe Ausdruck, immer noch gejagt von den Geistern der Vergangenheit… Ariane atmete tief durch und versuchte irgendwie diese Wand, die die Schüchternheit vor ihr aufbaute, zum Einsturz zu bringen. Stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Wenn Carsten schon bei etwas über seinen Schatten gesprungen war, was ihn seit einer gefühlten Ewigkeit bereits quälte… Ihren unsagbar lauten Herzschlag ignorierend beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange. Es war nur ein kurzer Moment, höchstens eine Sekunde. Und doch… Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie spürte die Hitze in ihr Gesicht aufsteigen, als sie verlegen auflachte. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht so überrumpeln.“ Der plötzliche Kuss schien Carsten in eine Art Schockstarre gebracht zu haben, was aber eigentlich ganz putzig war. Schließlich druckste er: „Schon okay… also…“ Mitleidig lächelte sie ihn an. „Aber nun hast du zumindest nicht mehr diesen traurigen Gesichtsausdruck.“ Verlegen wich er ihrem Blick aus, doch bevor er schon wieder so einen traurigen Ausdruck in den Augen bekommen konnte, strich Ariane ihm mit einem Finger über die Stelle, die sie zuvor unter dem Aufwand all ihrer Willenskraft geküsst hatte. „Aber den nächsten Schritt wirst du machen müssen. Mehr traue ich mich nicht.“ Ihr Kommentar ließ Carsten tatsächlich schwach auflachen, aber irgendwie klang er auch… erleichtert? „Müssen wir wirklich diskutieren, wer von uns beiden schüchterner ist?“ Auch Ariane atmete auf. Endlich kehrte sein Humor wieder zurück. Schulterzuckend meinte sie: „Das oder der Verlierer bei Schere, Stein, Papier.“ Tatsächlich half dieser alberne Kommentar Carsten, wieder zu sich selbst zu finden. Zumindest für diesen Moment, wo er ihr belustigt und auch leicht herausfordernd die geschlossene Hand hinhielt. Leicht amüsiert ließ sich Ariane darauf ein, auch wenn sie wusste, dass sie niemals jetzt schon den ‚nächsten Schritt‘ würde machen können, sollte sie verlieren. Die Sache hatte sich aber schnell geklärt. Papier-Papier Stein-Stein Papier-Papier Schere-Schere Stein-Stein Als sie nach dem sechsten Versuch wieder beide Papier gewählt hatten, konnten weder Ariane noch Carsten an sich halten und mussten loslachen. „Das wird ja nie was.“, seufzte Ariane. Die Situation war aber zu lustig, um wirklich frustriert zu sein. „Zwei hoffnungslose Fälle. Vielleicht haben uns Öznur und Lissi ja deshalb relativ in Ruhe gelassen.“, bemerkte Carsten amüsiert. „Schlimmer als Laura und Benni also? Oh Mann, das will was heißen.“ Wieder mussten sie beide lachen als sie realisierten, wie dämlich ihre Situation eigentlich war. Und dennoch war auch die Verlegenheit deutlich spürbar. Dieses komische Gefühl etwas machen zu wollen und doch nichts machen zu können, was absolut peinlich und beschämend war, und doch auch irgendwie… schön? Aber ja, so seltsam es klang. Obwohl Ariane diese Situation ziemlich unangenehm war, fühlte sie sich zeitgleich auch wohl in Carstens Gegenwart. Wenn er doch nur nicht so schüchtern wäre… Carsten senkte den Blick und klang ziemlich verunsichert, als er fragte: „Glaubst du wirklich, dass ich das kann?“ „Was?“ „… Kämpfen. Mich zur Wehr setzen.“ „Das tust du doch schon.“ Lächelnd legte sie ihre Hand wieder auf seinen Rücken, über die Stelle, wo sich diese grauenhafte Narbe befand. Die eine Stelle, die Carstens ganzes Leid der letzten sechs Jahre in dieser Anstalt repräsentierte. „Und du hast mehr als genug Leute um dich herum, die dir bei diesem Kampf helfen wollen. Du musst es nur zulassen.“ Carsten seufzte und überwand sich erneut dazu, ihr in die Augen zu schauen.  „Danke…“ Arianes Herzschlag beschleunigte sich, als er über ihre Wange strich. Was hatte er- „Was macht ihr hier?“, hörte sie eine vertraute tiefe Stimme hinter sich fragen. Erschrocken zuckten sie beide zusammen und schauten auf. Eagle kam auf sie zu, den Arm um Öznur gelegt, die ziemlich fertig wirkte. Sofort waren Ariane und Carsten auf den Beinen. „Ist etwas passiert?“ So langsam schien Eagle zu bemerken, dass er ein ziemlich blödes Timing hatte. Sein Blick fiel auf Carstens immer noch aufgeknöpftes Hemd, was er natürlich sofort falsch verstand. „Oh sorry, ich wollte euch nicht stören.“ „A-ach was, es ist nicht so, wie du denkst.“ Mit hochroten Wangen friemelte Carsten die Knöpfe durch die Knopflöcher. „Klingt umso verdächtiger.“, meinte Eagle leicht amüsiert, seufzte jedoch und wurde direkt wieder ernst. „Aber vielleicht könntet ihr wirklich helfen… Ich glaube nicht, dass Öznur jetzt den Teleport auf die Reihe bekommt.“ Besorgt nickte Carsten nur, während Ariane noch einmal fragte: „Was ist denn passiert?“ „Von der Coeur-Academy abgesehen gab es in den letzten Tagen wohl einige ‚Naturkatastrophen‘.“, erklärte Eagle und warf einen zerknirschten Blick auf seine schluchzende Freundin, die noch nicht einmal realisiert zu haben schien, dass Carsten und Ariane auch da waren. „Die letzte war vor kurzem erst. Ein Erdrutsch in Monde. Eben hat eine ihrer Schwestern angerufen…“ „Gibt… ist…“, stammelte Ariane, während sie und Carsten zu ihnen rüber gingen, um sich teleportieren zu können. Ist jemand gestorben? Eagle seufzte. „Keine Ahnung, Öznur bringt keinen vollständigen Satz raus.“ Ariane schluckte schwer, als sie Carsten ihre Hand gab und mit der anderen Öznurs Arm nahm, um den Kreis zu vervollständigen. Ohne weitere Fragen zu stellen teleportierte Carsten sie zu Öznurs Heimatdorf in der Bergregion Monde.   Höhenangst hatte Ariane zwar keine, aber so ganz schwindelfrei war sie bei solchen Größenordnungen auch nun wieder nicht. Und der Anblick machte die ganze Sache nicht gerade besser. Das Dorf hatte ziemlich steile Straßen und die Häuser reihten sich nebeneinander auf und sahen mit ihren Flachdächern fast schon wie eine riesige Treppe aus. Öznurs Familie wohnte am Dorfrand, wobei Rand auch wirklich meinte, dass sich dahinter überhaupt kein Dorf mehr befinden konnte. Denn es war eines der letzten Häuser, hinter deren abgezäunten Gärten die Klippe endete und der Berg steil abwärts ging. War. Ariane stockte der Atem, als sie die steinige Lawine sah, die mehrere Häuser unter sich begraben hatte. Instinktiv verstärkte sie ihren Griff um Öznurs Arm und Carstens Hand. Die Feuerwehr war bereits anwesend, ebenso viele Rettungssanitäter, die leicht erschraken als die vier aus dem Nichts auftauchten. Eagle entschuldigte sich knapp und fragte direkt, wo sich gerade die Familie Albayrak aufhielt. Der Blick eines Feuerwehrmannes fiel auf Öznur. Anschließend wies er auf eine Gruppe, wo sich mehrere dunkelhäutige Leute und auch ein paar Sanitäter befanden. Ariane versuchte das beklemmende Gefühl so gut es ging zu ignorieren, als sie auf diese Menge zugingen. Dennoch merkte sie, wie sich ihre Hand noch stärker an Carstens klammerte, als Öznur sich schließlich aus Eagles Griff wand und zu ihren Eltern rannte. Auch die Anspannung und Betroffenheit der beiden Brüder war deutlich zu spüren, während sie beobachteten, wie Öznur unter Tränen ihren Eltern um den Hals fiel, sich mit ihnen unterhielt und dabei vor Verzweiflung fast schon schrie. Einer der anderen dunkelhäutigen Anwesenden kam auf Eagle zu. Erst jetzt fiel Ariane auf, dass seine Hautfarbe einen anderen Teint hatte als die von Öznurs Familie. Und die langen schwarzen Haare und der muskulöse, hochgewachsene Körper ließen stark vermuten, dass es ein Indigoner war. Er verneigte sich und Ariane meinte, das indigonische Wort für ‚Häuptling‘ erkannt zu haben, als er Eagle die Situation schilderte. Fragend schaute sie zu Carsten. „Der Erdrutsch kam wohl ziemlich plötzlich.“, übersetzte dieser. „Sie konnten den Großteil der Familie rechtzeitig in Sicherheit bringen, aber eine ihrer großen Schwestern…“ Arianes Herz setzte aus. Was ist mir ihr?! Carstens Blick fiel erneut auf die Gruppe, wo Öznur inzwischen tränenüberströmt auf dem Boden kniete, die kleine und eine große Schwester an sich gedrückt. Als Ariane erkannte, dass hinter den Sanitätern eine Person auf dem Boden lag, wurde ihr direkt übel. Nein, bitte nicht… Carsten verstärkte kurz den Händedruck und ließ sie los. „Keine Sorge, sie schafft es.“ Etwas erleichterter aber gleichzeitig auch verwirrt beobachtete Ariane, wie Carsten sich die Haare mit dem Haargummi vom Handgelenk zurückband. Eigentlich waren sie dafür noch zu kurz, sodass die vorderen Strähnen ihm immer noch ins Gesicht fallen konnten. Aber es war wohl die Macht der Gewohnheit. Sie folgte ihm mit etwas Abstand und schaute zu, wie einer der Sanitäter Carsten irgendwie davon abhalten wollte der Gruppe und insbesondere der Verletzten zu nahe zu kommen. So langsam erkannte Ariane ein Muster, wann Carsten seine Schüchternheit immer abzulegen schien. Und es war eigentlich auch logisch. Wenn er in seine Arzt-Rolle schlüpfte konnte er sich so etwas wie Schüchternheit, Zurückhaltung und Unsicherheit einfach nicht erlauben. Und so erklärte er dieser fremden Person ruhig und bestimmt, dass er ein Sanitäter der Coeur-Academy sei und schon viel Erfahrung mit Heil-Magie habe. Das überzeugte wohl. Ariane fiel ein Stein vom Herzen als sie sah, dass Öznurs Schwester tatsächlich noch bei Bewusstsein war und sogar auf Carstens Fragen antworten konnte. Kurz darauf hielt Carsten eine Hand über ihr Bein. Offensichtlich war dort die schlimmste Verletzung. Ein farbenfrohes Leuchten ging von seiner Handfläche aus als er einen Heilzauber sprach. Ariane war erstaunt, wie sanft und mächtig zugleich doch so ein Zauber wirken konnte. Oder hatte sie es einfach nur vergessen? In der letzten Zeit brachte sie Carsten nur noch mit schwarzer Magie in Verbindung. Düster und bedrohlich und so unheimlich, dass Ariane das Gefühl hatte von innen zu erfrieren. Doch dieser Zauber war das absolute Gegenteil. Hell, klar und lebensfroh, dass sich Arianes Herz alleine bei dem Anblick mit Wärme und Liebe füllte. Irgendwie war sie davon so gerührt, dass ihr automatisch die Tränen kamen. Sie hörte Eagle neben sich seufzen. „Und der Depp behauptet schwarze Magie sei die mächtigere Magieform.“ Ariane erwiderte seinen Blick, der genau die Gefühle zeigte, die auch sie spürte. Er grinste herausfordernd. „Will ich eigentlich wissen, was ihr da getrieben habt?“ „E-es ist nicht so wie du denkst.“, antwortete Ariane genauso wie Carsten zuvor und wandte sich verlegen ab, was Eagle auflachen ließ. Seufzend betrachtete sie wieder das farbenfrohe Leuchten, was alle Umstehenden in seinen Bann zu ziehen vermochte. Obwohl ihre Erinnerungen zu der grauenhaften Brandnarbe abdrifteten, die sich direkt unter Carstens schwarzem Hemd befand, musste sie Lächeln. „Er schafft das. Er ist stärker als er glaubt.“ „Was?“ Belustigt stemmte sie die Hände in die Hüften. „So langsam verstehe ich, wie Benni das immer bei ihm gemacht hat. Man muss ihn nur ein paar mal daran erinnern, dass es sich lohnt zu kämpfen. Nicht zwingen, nur erinnern.“ Eagles Verwirrung amüsierte sie noch mehr. „Hab mal etwas mehr Vertrauen in deinen kleinen Bruder.“ Eagle schnaubte, wohl nicht ganz überzeugt. „Bei der ganzen Geheimniskrämerei?“ Er wies mit dem Kopf auf ein benachbartes Haus. Oder zumindest auf die Überreste dessen… „Glaube, die Feuerwehrleute würden die Hilfe von Kampfkünstlern dankbar entgegennehmen.“ Mit einem unwohlen Gefühl im Magen nickte Ariane und folgte Eagle zu den Trümmern, die eine Gruppe Feuerwehrleute erfolglos versuchte zu beseitigen. Ein paar Indigoner halfen ihnen bereits dabei, doch es waren einfach viel zu viele. Betreten fragte sich Ariane, wie viele Menschen wohl weniger Glück gehabt hatten als Öznurs Schwester… Eagle schien mit den Gedanken immer noch bei seinem kleinen Bruder. Mit gedämpfter Stimme fragte er: „Hat er mit dir geredet?“ Dieses Mal war es ein beklemmendes Gefühl, welches sich in ihrer Brust ausbreitete als sie an Carstens gequälte Erzählung und an seine gebrochene Stimme dachte. Die Narben auf seinem Rücken, wie sie sich anfühlten, das Zittern seines zerbrechlich wirkenden Körpers… Schließlich atmete sie tief durch und nickte. „Gib ihm Zeit. Zwing ihn nicht dazu, sich damit auseinanderzusetzen. Es ist… es ist viel und…“ Fröstelnd rieb sie sich den Arm und half dabei, einen schweren Stein aus dem Weg zu räumen, auf der Suche nach weiteren Überlebenden. Sie erwiderte Eagles kritischen und doch auch verunsicherten Blick und fügte hinzu: „Das beste was wir für ihn tun können ist einfach für ihn da zu sein. Und… hör auf, Jack ständig vor Carstens Augen fertig machen zu wollen.“ Mit einem Schnauben wandte sich Eagle ab und wollte sich an den nächsten, größeren Stein wenden, als Ariane ihn am Arm packte. „Denk dran, dass beide im FESJ waren. Selbst wenn sie grundverschieden sind, ist es doch klar, dass sich Carsten zum Teil mit Jack identifiziert. Und dass er seine Taten deswegen auch viel besser nachvollziehen kann, als es uns jemals möglich ist.“ Die Art wie Eagle die Zähne zusammenbiss verriet, wie wenig er von dieser Aussage hielt. Seufzend stemmte Ariane einen weiteren Trümmerbrocken zur Seite, der wohl eigentlich so schwer war, dass die in voller Montur bekleideten Feuerwehrleute mit aufgeklappten Mündern das Mädchen mit Hotpants und Strumpfhose beobachteten. „… Es gibt zwei Wege da raus zu kommen. Entweder als Verbrecher, oder als Toter.“, murmelte sie, eher zu sich selbst. Es fiel ihr immer noch unsagbar schwer, diesen Spruch zu verdauen. Oder gar zu akzeptieren, dass er so etwas wie das Lebensmotto der Schüler des FESJ war. Erst als sie Eagles absolut verwirrtes und herzzerreißendes „Was?“ hörte, merkte sie, dass sie das nicht nur gedacht hatte. Ariane schluckte schwer. „Anscheinend sagen die Schüler das dort immer. Und Carsten… er meinte, dass er nur wegen Benni eine Ausnahme ist. Ansonsten…“ Sie hörte ein knacksendes Geräusch und merkte, wie ein Stein durch Eagles festen, angespannten Griff Risse bekam. Seine Stimme zitterte so sehr, dass Ariane glaubte er stünde kurz davor loszuweinen, als er fragte: „Willst du damit sagen, ich hätte ihn damals fast in den Tod getrieben?“ Ariane überlegte, was wohl besser wäre. Eine schonende oder eine direkte Antwort? Doch bevor sie sich mit sich selbst einig werden konnte, rief ein Feuerwehrmann von weiter hinten: „Hey ihr beiden, kommt schnell rüber und packt mit an!“ Schnell richtete sich Ariane auf, in der Hoffnung, dass dort doch noch ein Überlebender gefunden wurde. Sie merkte Eagles Zögern, offensichtlich stand er immer noch unter dem Schock jener Erkenntnis. Und auch, wenn er ihr inzwischen sehr sympathisch geworden ist… Sie konnte ihn nicht von seiner Schuld freisprechen. Und sie wollte es auch gar nicht. „Verstehst du so langsam, was ich meine? Warum er Zeit braucht? Und Zuneigung, statt Ratschläge oder blöde Kommentare über denjenigen, der garantiert ein ähnliches Schicksal dort erdulden musste?“ Langsam nickte er und folgte Ariane zu dem Ort, wo der Feuerwehrmann mit einem Spürhund stand, der wohl irgendetwas oder -jemanden gefunden hatte. Während Ariane und Eagle mit einem weiteren Indigoner einen ganz schön schweren Trümmerklotz anpackten meinte Eagle schließlich: „Wenn es Carsten hilft, dann… versuche ich mich zusammenzureißen. Irgendwie.“ Aufmunternd lächelte sie ihn an. „Und wie ihm das helfen wird.“ Gemeinsam hoben sie den riesigen Stein an. Ariane unterdrückte ein Aufschreien, als sie erkannte, dass darunter tatsächlich jemand lag. Dieses Bild würde sich noch für eine lange Zeit in ihre Erinnerung brennen und sie würde noch häufig aus Träumen deshalb hochschrecken. Ein Körper, so verrenkt, dass es eher wie eine groteske Marionette wirkte. Der Hinterkopf schien von Trümmern getroffen worden zu sein und Ariane wusste nicht, ob es Einbildung war oder ob sie unter dem ganzen Blut wirklich das- „Sieh nicht hin.“, wies Eagle sie an. Ihr Magen verkrampfte sich, Übelkeit stieg in Ariane auf. Doch sie schaffte es nicht den Blick abzuwenden. Sosehr sie auch wollte, sie konnte nicht wegschauen. „Ariane!“ Eagle packte sie mit einer Hand an der Schulter, bis Ariane es endlich schaffte, gezwungen seinen Blick zu erwidern. „Nicht hinschauen.“, wiederholte er sich. Ihre Hände begannen zu zittern und die Übelkeit bekam sie auch nicht wirklich in den Griff. Sie versuchte sich auf Eagles bernsteinfarbene Augen zu fokussieren, um bloß nicht wieder nach unten zu schauen. Und dennoch wurde sie dieses grauenerregende Bild nicht los. Derweil hatten wohl die Feuerwehrmänner diesen Mann aus den Trümmern geborgen, zumindest hörte sie Carstens Stimme von weiter entfernt. „Habt ihr jemanden gefunden?“ Der Feuerwehrmann von vorhin meinte irgendwas von wegen sie könnten den Stein wieder runterlassen, doch Ariane war ohnehin gar nicht mehr dazu in der Lage dieses Gewicht halten zu können. Kraftlos sackte sie auf dem Trümmerhaufen zusammen und beobachtete immer noch gelähmt, wie sich Carsten zu diesem… Körper kniete, während einer der Sanitäter ihn fragte: „Können Sie etwas für ihn tun?“ Doch wie erwartet schüttelte Carsten nur betrübt den Kopf. Erneut spürte sie, wie Eagle ihre Schulter packte. „Geht‘s?“ Ariane versuchte die Übelkeit herunterzuschlucken, doch ohne Erfolg. Auch auf Eagles Frage konnte sie nicht reagieren. „Komm, wir bringen dich hier weg.“ Er stützte sie etwas an einem Arm und am Rücken und half ihr auf die Beine. Doch bevor sie von dort verschwinden konnten, riss eine panische Stimme aus der Menschenmenge ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Papa?! Papa!!!“ Eine junge Frau kam auf die tote Person zu gerannt, die braunen Haare wirr und die Schminke verlaufen durch die Tränen. Sie fiel auf die Knie, schluchzend und schreiend und doch nicht dazu in der Lage zu realisieren, dass ihr Vater nicht mehr bei ihr war. Eagle stieß einen Fluch aus. „Ist das nicht Rebecca?“ „Wer?“ „Lauras früheres Kindermädchen.“ Erschrocken zwang sich Ariane dazu genauer hinzuschauen und tatsächlich, sie meinte die junge Frau wiederzuerkennen, die sie damals in Yami zum ersten Mal getroffen hatte. Ihre Beine zitterten immer noch stark und würde Eagle sie nicht stützen, wäre sie direkt wieder zusammengesackt. Es war schon schlimm genug, dass so etwas passiert war. Aber wenn man dann auch noch Bezug zu so einer Person hatte… Ariane musste sich daran erinnern zu atmen. Doch bei dieser staubigen Luft fiel das so schwer… Es war wie als würden die aufgewirbelten Erdkörnchen verhindern, dass der Sauerstoff in ihre Lungen gelangen konnte. Anstelle dessen hatte sie ekliges, kratziges Gefühl in der Kehle. Befangen beobachteten sie und Eagle, wie Carsten eine Hand auf Rebeccas Schulter legte. „Es tut mir leid…“ Schniefend wischte sie sich über die Augen und erkannte schließlich den jungen Heil-Magier. „… Carsten?“ Carstens Mundwinkel formten sich zu einem Lächeln, doch der traurige Blick in seinen Augen war selbst von Arianes Standpunkt aus sichtbar. Rebecca schluchzte erneut und krümmte sich über den Leichnam ihres Vaters. „Wieso? Wieso?!?“ Immer noch nicht in der Lage zu atmen wandte sich Ariane von diesem herzzerreißenden Bild ab. Die Vorstellung, dass das ihr eigener Vater hätte sein können… „D-denkst du das war… Mars?“, fragte sie schwach. Eagle blickte nach oben in die Richtung, aus der die Steine sich gelöst hatten. Anschließend schaute er zu Öznurs Familie und den Trümmern, vor denen sie nun standen und die einst ihr Zuhause waren. „Ziemlich sicher…“ „Es ist eure Schuld…“ Irritiert beobachteten sie, wie Rebecca aufsprang und zurück stolperte. „Das ist alles eure Schuld!“ Einer der Sanitäter versuchte sie zu beruhigen und wollte eine Decke über ihre Schultern legen. „Es ist alles gut junge Dame, setzen Sie sich. Sie stehen unter Schock und brauchen-“ „Nichts ist mit mir!“, schrie Rebecca aufgebracht und zeigte in Öznurs Richtung, die inzwischen auch mitbekommen hatte, was ihrem Nachbarn widerfahren war. „Das ist wegen euch! Das passiert alles nur wegen euch, nicht wahr?!“ Ein unruhiges Raunen breitete sich bei den Beobachtern aus, doch weder Öznur oder Carsten, noch Eagle oder Ariane wussten etwas darauf zu erwidern. Wie zu Stein erstarrt blieb ihnen keine andere Wahl, als Rebeccas Anschuldigungen über sich ergehen zu lassen. „Das ist wie bei der Dämonenverfolgung damals! Immer sind es die Unschuldigen die leiden müssen! Die, die nichts für all das können! Mein Vater ist doch nur wegen euch gestorben! Nur, weil im Haus nebenan die Besitzerin des Roten Fuchses wohnt!!!“ Nicht in der Lage die Situation verstehen zu können, starrten Carsten, Eagle und Ariane Lauras ehemaliges Kindermädchen an. Das Raunen wurde lauter, aufgebrachter. Öznur stolperte einen Schritt zurück und doch hinderten Angst und Schrecken sie daran, irgendetwas machen zu können. Sich irgendwie zu verteidigen. Eagle fluchte. „Verdammte Scheiße, wir müssen hier weg.“ Er gab dem Indigoner neben ihm einige Anweisungen in seiner Muttersprache und rief anschließend Carstens Namen, damit dieser endlich aus seiner Schockstarre erwachte. Ebenso wie Ariane, die erst wieder laufen konnte als Eagle sie am Arm mit sich zu Öznur zog. Am Rande bekam Ariane mit, wie Carsten viel zu gutherzig war und trotzdem noch versuchte Rebecca zu beruhigen. „Rebecca, du weißt, dass das nicht stimmt. Denk an Laura und-“ „Sie ist genauso! Ihr seid alle so! Ihr verkriecht euch und lasst uns darunter leiden! Die, die sich am wenigsten wehren können!“ „Das sind nicht wir, das ist ein Wesen, was jedem Leid zufügen möchte, ein-“ „Ein Dämon! Ein Monster, genauso wie der ganze Rest von euch!!!“ Ariane zuckte zusammen als habe man sie geschlagen. Aus den umstehenden Menschenmengen kamen Rufe. Worte die vor Hass und Verachtung nur so trieften. Dämon. Monster. Teufel. Manche schrien sie sollten verschwinden, anderen war dies nicht genug. Ariane hatte bisher nie solche Erfahrungen machen müssen. Da sie ihre Identität als Dämonenbesitzerin vor allen geheim gehalten hatte, war sie noch nie so mit dieser Angst konfrontiert worden. Mit diesem Hass. Bei dem Stimmengewirr wurde ihr schwindelig. Die lauten Rufe bereiteten ihr Kopfschmerzen. Ariane hielt sich die Ohren zu, hoffte, dass es aufhörte. Und doch konnte sie sie hören. Öznur schluchzte. „Wir sind nicht…“ „Nein, aber die werden noch lange brauchen, um das verstehen zu können.“, erwiderte Eagle zerknirscht und rief Carsten irgendetwas Indigonisches zu. Kurz darauf spürte Ariane eine Hand auf ihrem Rücken, als Carsten seinen großen Bruder fragte: „Und jetzt?“ „Erstmal weg hier.“ „A-aber…“ Öznur war immer noch zu aufgelöst, um einen Satz zustande zu bringen. „Meine Familie… Unser Haus…“ Eagle ließ Ariane los, um einen Arm über Öznurs Schultern zu legen als wolle er sie damit vor den hasserfüllten Rufen ihrer Nachbarn und der anderen Dorfbewohner beschützen. „Lass das meine Sorge sein.“, meinte er nur und schob sie regelrecht zurück zu ihrer Familie, die immer noch bei der verletzten großen Schwester war und nichts anderes machen konnte als das Geschehen entsetzt zu beobachten. „Geht’s?“, hörte Ariane Carsten besorgt neben sich fragen. Sie nickte bedrückt und ließ endlich von ihren Ohren ab. Doch ihr entging nicht, dass auch Carsten unter den hasserfüllten Kommentaren litt. „Dir?“ Verbissen blickte er zurück, erwiderte aber nichts darauf. „Carsten, wie viele Leute kannst du gleichzeitig teleportieren?“, fragte Eagle seinen kleinen Bruder. „Zehn.“ „Okay, passt genau.“ Eagle forderte Öznurs Eltern und Schwestern dazu auf zu ihnen zu kommen und einen Kreis zu bilden. Einer der Indigoner half der verwundeten Schwester. Als Ariane realisierte was Eagle vorhatte, gab sie schnell ihm und Carsten ihre Hand, damit Carsten sie zurück nach Indigo teleportieren konnte. Weg von diesem ganzen Hass… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)