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Kapitel 6

Wenn man etwa eine halbe Stunde aus der Stadt fährt, kann man schon von Weitem das Meer sehen. Den hellen, sauberen Strand, die Promenade mit einer Meile voller Läden und den leuchtenden Hafen – Das alles kann man sehen, selbst jetzt in der Nacht. Denn überall brennen Lichter.

Wir halten auf dem Besucherparkplatz. Wenn ich aussteige, muss ich direkt an meiner Krawatte zuppeln. Ich verziehe das Gesicht, wenn ich an mir heruntersehe. Weil das Jackett schwer und steif wie Beton ist, komme ich mir jetzt endgültig wie ein lebloses Objekt vor, mit dem man nur spielen kann. Im Großen und Ganzen komme ich mir einfach komplett bescheuert vor.

»Warum mussten wir das neu kaufen?«, frage ich Adrian, der zu mir tritt und das Auto mit einem Knopfdruck auf seinem Schlüssel sichert.

»Der Boss wollte es so«, entgegnet mir Adrian ruhig.

Aber ich keife: »Und wenn der Boss will, dass ihr von einer Brücke springt, dann macht ihr das auch, oder was?«

»Selbstverständlich«, meint Adrian. Ich bin mir nicht sicher, ob seine hochgezogenen Augenbrauen abschätzig oder belustigt wirken sollen. Ich schlage mir jedenfalls die Hand vor den Kopf.

Weil die Promenade hier beginnt, müssen wir ein Stück zu Fuß gehen. Dabei kommen wir an vielen verschlossenen Läden vorbei. Ich riskiere einen Blick hinein, was ich dann doch schnell bereue. Hier gibt es keine Badelatschen oder Bernsteinschmuck zu kaufen. Da sind Kleider und Hüte ausgestellt, deren Preis ich gar nicht auszusprechen wage. Und die eine Sonnenbrille… alleine für dieses teure Stück würde ich Leibwächter engagieren.

»Kann es sein, dass hier meistens nur Leute hinkommen, die – wie soll ich’s sagen? – am Ertrinken in ihrem eigenen Geld sind?«, frage ich und fummele weiter an dieser blöden Krawatte, die einfach viel zu eng sitzt. Nachdem wir im Einkaufszentrum zu Mittag gegessen haben, wurde der ganze Nachmittag damit verbracht, mir diesen peinlichen Anzug zu kaufen. 

»Das ist der Yacht-Hafen, Mr Carter. Hier wird meistens mit höheren Summen gehandelt«, erklärt Adrian.

»Ach verdammt!«, jammere ich, weil der Knoten meines Schlips so fest sitzt, das ich ihn nicht aufbekomme. »Das bin einfach nicht ich! Meinen letzten Anzug hatte ich an, als wir in der Schule ein Theaterstück aufführen sollten. Muss ich das denn wirklich tragen?«

Elliots Hände verschwanden in seinen Hosentaschen. Auch meine beiden Begleiter trugen förmliche Kleidung. Ein schmales Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Der Boss wird nichts dagegen haben, wenn du alles ausziehst und nichts trägst.«

Ich laufe rot an, presse meine Zähne aufeinander und schaue dann beschämt nach unten. Dann bin ich ganz still, weil es nichts bringt, mit denen zu diskutieren.

Am Ende der Promenade steht ein beleuchteter Springbrunnen, der selbst um diese Uhrzeit noch eingeschaltet ist. Nach rechts würde es eine weiteren Einkaufsmeile entlanggehen. Links hingegen ist der Yacht-Hafen erbaut. Wenn mein Blick hinunter zu den Stegen gleitet, weiten sich meine Augen.

Natürlich kein Segelboot mit Fähnchen, was habe ich mir gedacht?, schießt es mir durch den Kopf, während ich hart schluckend zu dem kleinen Kreuzfahrtschiff sehe, zumindest kommt es mir wie ein solches vor. Auf dem gigantischen Teil haben sicherlich über zweihundert Gäste Platz. Und natürlich glänzt das perfekt verarbeitete Material blankgeleckt.

Ich reibe meine Hände an der Hose, wenn wir die Stufen zum Hafen hinuntergehen. Wir laufen den Holzsteg entlang und schon stehen wir vor dem teuren Luxusschiff.

»Mr Carter«, sagt Adrian und deutet mir an, zuerst auf die Yacht zu gehen. Ich habe mir eingebildet, es würde schaukeln, wenn ich es betrete, aber das Ding ist viel zu schwer, als dass mein Gewicht etwas ausmachen würde. Meine beiden Aufpasser folgen mir, wenn ich durch die Tür ins Innere der Yacht trete. Dann atme ich tief durch.

Der Raum ist gefüllt mit Menschen. Im gedämmten Licht der Kronleuchter stehen Frauen und Männer am gedeckten Buffet oder schaukeln im Takt der leichten Jazz-Musik. Jetzt weiß ich auch, warum dieser Anzug nötig ist. Das hier ist keine Party in Bikinis, mit Mutproben oder Komasaufen – Ich bin auf einer Gala.

 »Möchten Sie etwas trinken, Mr Carter?«, fragt Adrian.

Ich schüttele wie in Trance den Kopf. Das ist schon wieder so verdammt übertrieben!, denke ich angestrengt nach. Gleichzeitig färben sich meine Wangen rot. Ich lebe in einer Sozialwohnung und esse täglich Fertignudeln. Hier gehöre ich nicht her. Tut Victor das vielleicht, weil er mir um jeden Preis beweisen will, wie jämmerlich meine Leben ist?

Seufzend beuge ich mich zu Adrian und flüstere: »Sind hier alle Verbrecher…?«

»Die meisten gehören zur Familie«, antwortet mir stattdessen Elliot und bekommt einen strafenden Blick von Adrian.

»Zu… deiner Familie?«, frage ich verwirrt.

Elliot verdreht die Augen. Dann spricht er trotz Adrians empörten Ausdruck weiter: »Nicht meine leibliche Familie, du Dummkopf. Der Lassini Clan ist meine Familie. Brüder im Blut, verstehst du’s endlich?«

»Das reicht jetzt«, raunt Adrian dunkel und packt Elliot am Arm, der herausfordernd die Augenbrauen hochzieht. »Der Boss verlangt Diskretion.«

Mir sticht ein brünetter Mann ins Auge. Aus einer Gruppe von Leuten schlendert er mit seinem Glas Champagner herüber. Unsere Blicke treffen sich. Obwohl er lächelt, schleicht ein kalter Schauer über meinen Rücken. Wenn er vor uns stehenbleibt, bemerken auch meine beiden Aufpasser ihn und wenden sich um.

»Wen haben wir denn da? Die beiden Turteltäubchen vom Dienst«, sagt er mit rauer, aber heller Stimme. Über seinen schmalen Augen heben sich die breiten, dunklen Augenbrauen.

»Ich geb’ dir gleich Turteltäubchen!«, brüllt Elliot und macht einen harten Schritt auf den Neuankömmling zu. Adrian greif erneut nach seinem Arm, diesmal um ihn festzuhalten. Ein paar der umgebenden Gäste blicken zu uns und fangen mit tuscheln an.

Der unbekannte Mann lacht herzhaft. »Köstlich. Ich mache doch nur Spaß, mein Verehrtester. Dass man dich aber auch immer so schnell auf die Palme bringen kann. Köstlich, einfach köstlich!« Er nippt an seinem Glas. Dann legen sich seine blauen, kalten Augen auf mich. »Und hier haben wir...? Ein neues Mitglied? Was musstest du tun, um jetzt schon hierher eingeladen zu werden?«

»Das geht dicht nichts an Hektor«, meint Adrian mit gewohnt gelassener Mine. Aber ich kann erkennen, dass er die Nase rümpft. »Geh doch bitte die anderen mit deinem Charme belustigen, ja? Tust du uns den Gefallen?«

»Verstehe. Jetzt weiß ich es.« Der abschätzige Blick dieses Hektors gleitet über uns. Dann nimmt er nochmal einen Schluck vom Champagner, bevor er sich mit einem Nicken löst und zu seinen vorherigen Gesprächspartnern zurückkehrt.

»Wer war das?«, frage ich, wenn ich Hektor nachsehe.

»Ich werde schauen, wo ich den Boss finde. Wartet hier«, entscheidet Adrian, ohne mir zu antworten, und verschwindet in der Menge. Ich stöhne genervt und schüttle den Kopf.

»Und ich werde schauen, wo es Alkohol gibt, um mich zu betrinken. Warte hier. Und versuch erst gar nicht abzuhauen«, entscheidet als nächstes Elliot. Er lässt seine Hände in den Taschen verschwinden und stampft dann ebenfalls davon, Richtung Buffet. 

Mein Mund öffnet sich vollkommen überrumpelt, aber heraus kommt nur ein schweres Seufzen. Ich lasse die Schultern hängen. Dafür spähe ich nach hinten zum Ausgang.   Egal, ob sie mich schon zwei mal eingefangen haben, wenn ich nicht versuchen würde, von hier wegzukommen, hätte ich aufgegeben. Deshalb bewege ich mich langsam rückwärts, einen Schritt nach dem anderen. Wenn ich mit meinem Kopf zur Musik zu nicken beginne, versuche ich so unauffällig wie möglich zu wirken.

»Uff«, keuche ich, wenn plötzlich etwas in meinem Rücken auftaucht. Oder eher, wenn ich in jemanden hinlaufe, wie ich feststelle, wenn ich mich umdrehe. 

»Wohin des Weges?«, fragt Hektor, der vor wenigen Sekunden noch mit uns gesprochen hat. Dann lächelte er freundlich.

»Ich?« Meine Überrumpelung muss ich nicht spielen. Ich öffne meine Lippen, um sie gleich danach aufeinanderzupressen, weil ich keine Ahnung habe, was ich erwidern soll. Dann kommt mir eine Idee. Ich klatschte in die Hände und versuche mich an einem Lächeln. »Haha, ich hab’s mit der Blase. Gerade wollte ich zur Toilette.« 

»Aber hier gehts nach draußen.«

»Hahaha«, lache ich gezwungen, was sich wie das Fehlprogramm eines Roboters anhört. »Mit dem Orientierungssinn hab ich’s auch. Haha.«

Das kauft der mir niemals ab, schießt es mir durch den Kopf. Adrian und Elliot tun mir nichts, aber das hier sind alles unbekannte Verbrecher… Boss hin oder her, die schrecken doch vor nichts zurück. 

Hektor verengt die Augen, während er geduldig von seinem Glas trinkt. »Wir können Verräter gar nicht leiden, weißt du. Und gerade auf blutige Anfänger haben wir ein Auge. Sie kommen manchmal auf dumme Ideen.«

»Ah…«, kommt es überfordert zwischen meinen Lippen hervor. »Haha, ja… Wie gut, dass heute Abend keine Verräter anwesend sind, nicht?«

Mit einem Mal wird Hektors ganze Mimik dunkler. Seine Finger um das zarte Champagnerglas verkrampfen sich. 

Ich reibe meine feuchten Hände aneinander. Dann probiere ich nochmal ein Lächeln aufzusetzen, bevor ich in eine unbestimmte Richtung deute. »Ach, äh… Tut mir wirklich leid, aber ich habe vergessen, dass mich, äh… der Boss schon sucht. Also…«, nutze ich einfach Victor aus, um mich ganz schnell zu verduften. 

Obwohl dieses Argument wohl gezogen hat, spüre ich stechende Blicke in meinem Rücken, weshalb ich mich durch die Leute quetsche. Und irgendwann komme ich an einer Tür an, durch die ich einfach trete, um Abstand zu gewinnen. Ich sehe mich im schmalen Gang um, dessen Treppe nach oben führt. Vorsichtig laufe ich hoch und schiebe die Tür am oberen Ende auf. Dann weiten sich meine Augen.

Ich muss das Deck erreicht haben. Ein metallisches Geländer umrundet das Schiff. Auf den glänzenden Holzdielen spiegelt sich der zunehmende Mond und der sternklare Himmel. Und wenn ich meinen Kopf nach rechts wende, streckt sich eine atemberaubende Skyline der Stadt am Ufer. Die Lichter der Wolkenkratzer vermischen sich mit denen der Autos und des Jahrmarktes. Sie malen Bilder in den Nachthimmel.

Wie wunderschön, ist der einzige Gedanke, der im Moment in mir verharrt. Benommen trete ich gänzlich nach draußen, bevor ich mich langsam im Kreis drehe, um den Ausblick in mir aufzunehmen. Dann bleibt mein Blick an einer Person hängen.

»Victor…«, hauche ich. Er dreht sich vom Geländer weg und sieht mich fragend an, wenn er mich erkennt. Mit kurzen Schritten gehe ich zu ihm. Seine Augen treffen auf meine. Sie fesseln mich, sodass ich nicht anders kann, als den Blickkontakt zu halten. Ich lehne mich ans Geländer. Victor tut es mir gleich.

»Was machst du hier draußen? Du solltest doch bei deinen Gästen sein«, meine ich mit leiser Stimme. Irgendwie beschleunigt sich mein Puls.

»Ich denke nach«, antwortet er. Der raue Klang schickt einen Schauer über meinen Rücken, wie bei Hektor. Und trotzdem ganz anders.

»Worüber?«

»Heute so wissbegierig?« Er lächelt leicht. Wieder kommt dieser Schauer, der meine Nackenhaare aufstellt. Mir wird bewusst, dass der Moment genauso abläuft, wie unsere erste Begegnung. Das schimmernde Wasser, die sternklare Nacht, dieses unbekannte Klopfen meines Herzens…

Ich beiße auf meine Lippe, wende mich ab und sehe lieber zur Skyline. »Du scheinst alles zu besitzen. Sogar dieser unglaubliche Anblick gehört dir.«

Victor raunt: »Von allem und jedem den ich besitze, ist nur das Beste und Schönste dabei.«

Meine Gedanken beginnen zu rasen. Dann kann ich kein Schmunzeln verkneifen. »War das jetzt ein abgedrehtes Kompliment?«

»Kommt darauf an, ob du mir gehörst.« Victors grüne Augen liegen unnachgiebig auf mir. Er will mich unter Druck setzen. Gerade so viel, damit ich seinen Wünschen entspreche. Er will mich besitzen. Er muss es.

»Nein, ich gehöre ganz allein mir«, lässt meine Antwort nicht lange auf sich warten. Obwohl Victor sich über die Lippen leckt und seine Augen zu glitzern beginnen, wirkt es auf mich, als würde er sich zwingen, nicht aus dem Schema auszubrechen – nicht nachzugeben, nicht weiterzumachen, mit den Neckereien.

»Bist du endlich zu einem Entschluss gekommen?«, fragt er stattdessen kalt und dreht sich zum Geländer. Ich atme tief durch. Dann beginne ich erneut an meiner Krawatte zu morkeln, bis ich endlich den Knoten aufbekomme. Ich schmiss das lästige Stück Stoff auf eine freie Liege hinter mir. Gleich darauf öffnet ich auch die Knöpfe meines Jacketts. Ich unterdrücke ein Knurren, woher es auch kommen mag.

»Die Meisten gingen liebevoller mit den teuren Sachen um, die ich ihnen schenkte«, kommentiert Victor mein bockiges Verhalten.

»Tja, die zehntausend Dollar kannst du jetzt einer Hilfsorganisation spenden. Dann darfst du dir auch mal eine gute Tat auf dein Konto verbuchen. «, sage ich schrill.

»Du hast nichts ausgegeben?«

»200 Dollar für mein Handy, das deine Schläger zerstört haben. Ansonsten nicht, nein«, antworte ich und wage, Victor wieder in die Augen zu sehen. Aber anstatt Wut darin zu finden, kann ich nicht deuten, was in ihnen vorging. Etwas ruhiger meine ich nachträglich. »Du kannst meinen Körper nicht kaufen. Wir kennen uns nicht. Vielleicht hast du ein paar Informationen über mich sammeln lassen, aber was weißt du schon über mich als Persönlichkeit?«

Ich sehe, wie sich sein Mund leicht öffnet. Bestimmt will er sowas sagen, wie, dass ich ihm eh gehöre und nicht selbst entscheiden kann, was mit mir passiert. Doch tatsächlich meint er: »Dann erzähle mir etwas über dich.«

Einen Moment blinzle ich verwundert, habe ich doch nicht mit so einer ganz normalen Erwiderung gerechnet. »Was denn genau?«, frage ich, obwohl ich mich innerlich frage, warum ich mich darauf überhaupt einlasse.

Victor schnalzt mit der Zunge. Seine Augen suchen das Wasser ab. Das ist nichts für ihn, das spüre ich. Aber er reißt sich wohl zusammen. »Du lebst alleine in einer Zweizimmerwohnung. Das Haus ist sanierungsbedürftig, die Nachbarschaft auf staatliche Hilfe angewiesen. Und die Arbeit als Reinigungskraft bringt nicht viel Geld. Wie ist es soweit gekommen?«

Er nimmt kein Blatt vor den Mund, schießt es mir durch den Kopf, bevor ich seufze. Ich verschränke die Arme auf dem Geländer, um mein Kinn abzulegen.

»Heute noch?«, drängt Victor.

Ich schüttele verständnislos den Kopf. »Wenn du etwas von jemandem möchtest, dann musste du höflich und geduldig sein.«

»Na schön, und wie lange?«

»So lange ich eben brauche!«, knurre ich. Wenn Victor die Augen verdreht, beiße ich mir auf die Lippe. Anscheinend bekommt dieser Mann nicht nur was auch immer er will.  sondern auch sofort, wenn er mit dem Finger schnippt. 

Doch diesmal wartet er, starrt zu den sanften Wellen. Und ich lasse ihn warten, länger als nötig. Mit jeder Minute, die verstreicht, muss ich mich stärker davon abhalten, zu lachen.

Wie geduldig er sein kann, wenn er doch will, denke ich nach, wenn zehn Minuten vergangen sind, in denen ich Victor einfach habe zappeln lassen. Ich mustere ihn heimlich von der Seite, seine große Statur, das kantige Gesicht. So einattraktiver Mann… Warum muss er ausgerechnet ein Verbrecher sein? Kann er nicht der süße Kollege aus dem Büro sein? Dann würde ich…

Plötzlich bebt das gesamte Schiff. Erschrocken taumele ich einen Schritt nach hinten. Ich kneife die Augen zusammen, will mich am Geländer festhalten. Doch die Bewegung reißt mich zurück und ehe ich mich versehe… fängt mich etwas Weiches ab. Blinzelnd schlage ich die Lider auf, sehe hoch in Victors grüne Augen. Seine Hände stützen mich an meinen Schultern, sodass ich nicht nach hinten kippe.

»Das Schiff hat abgelegt«, erklärt Victor mit dunkler Stimme. Die Wärme seines Körpers hinter mir spüre ich selbst durch den dicken Stoff meines Jacketts. Gänsehaut überkommt mich.

Auf einmal wird mir bewusst, wie peinlich ich gerade aussehen muss. Also reiße ich mich von meiner perplexen Starre los, trete wieder ans Geländer und drehe mein Gesicht soweit zur Seite, dass Victor nicht erkennen kann, wie knallrot ich werde.

»Wo waren wir stehengeblieben?«, frage ich mit hoher Stimme, die eigentlich gefasst klingen sollte. Ich räuspere mich.

»Dass du mich seit zehn Minuten ignorierst«, sagt Victor, kommt ebenfalls wieder heran. Damit er mich auch ja nicht erkennen kann, hebe ich jetzt meine Hand zum Gesicht, auf die ich mich stütze.

»Achso ja«, meine ich, räuspere mich abermals. Das Schiff bewegt sich vom Steg und fährt langsam auf das offene Meer zu. Um mich von der Scham abzulenken, beginne ich endlich zu erzählen. »Es, naja… Es fing alles damit an, dass ich von zu Hause abgehauen bin. Meine Eltern und ich hatten kein schlechtes Verhältnis, aber auch kein inniges. Man sagte sich halt morgen und aß zusammen, aber wir gingen nicht zusammen raus oder feierten irgendwie groß mit der Familie. Bis dahin war auch alles eigentlich in Ordnung, aber meine Eltern liebten sich nicht mehr. Sie ließen sich scheiden. Für mich war das eine schlimme Zeit. Ich habe nicht verstanden, warum sie sich auf einmal den ganzen Tag nur anbrüllten. So viele Vasen habe ich noch nie zu Bruch gehen sehen. Sie hassten sich förmlich und gingen sich richtig an die Gurgel. Das habe ich nicht mehr ausgehalten. Also bin ich weg da.«

Warum erzähle ich ihm das?, denke ich nach, kralle mich in das kalte Geländer. Der Wind wurde kälter, je mehr wir aufs offene Meer steuern. Bestimmt interessiert ihn das eh nicht. Mit seinen Milliarden von Dollar geht ihm das so am Arsch vorbei. Ich bin ein Idiot… 

»Willst du mich weitere zehn Minuten warten lassen, bis du weitererzählst?« Victor zieht die Augenbrauen abschätzig nach oben.

Verblüfft, dass mir dieser Mafia-Boss anscheinend doch zugehört hat, schüttelte ich den Kopf und meine: »Es gab da diesen Freund. Der hatte eine Bar und meinte, dass es echt mega geil wäre, die Schule zu schmeißen und bei ihm zu jobben. Also hab ich’s gemacht. Da war ich gerade sechzehn. Das hielt kein halbes Jahr. Dann hatte er sich entschieden, dass ich ihm zu langsam arbeite und schmiss mich raus. Und da stand ich, mit nichts, außer den Sachen am Körper, ohne Unterkunft, ohne Familie, ohne Freunde… Zurück zu meinen Eltern konnte ich nicht, dazu hatte ich nicht den Mut und wo anders arbeiten ging genauso wenig. Denn dann wären nur die Ämter aufmerksam geworden und hätten mich zurück zu meinen Eltern gebracht. Also schlief ich nachts in verlassenen Badehäusern, tagsüber hielt ich mich in Büchereien auf, weil das schön warm war, und zwischendurch versuchte ich mir ein wenig Essen von den Leuten zu schnurren. Mehr als ein Jahr war ich obdachlos. Irgendwann lies mich Courtney auf. Sie ließ mich eine Zeit lang bei ihr wohnen und verschaffte mir Arbeit im Hotel. Tja und da wären wir dann…«

Ich drehe mich zu Victor. Er sieht mich direkt an, sodass ich schlucken muss. Auf einmal löst er sich vom Geländer und tritt näher zu mir, sodass er plötzlich vor mir steht. Er lehnt sich vor, stützt die Arme neben meinen Körper ab und beugt sich herunter. 

Ich stutze. Mit einem Mal fängt mein Herz wieder zu rasen er. Victors bittereres Parfüm kann ich jetzt riechen. Seine Wärme kann ich jetzt noch stärker wahrnehmen, weil er mich fast mit den Beinen berührt.

»Ich will dich küssen«, raunt er dunkel. Seine Augen verengen sich. Seine starke Brust hebt und senkt sich intensiver.

»Weil dich anmacht, wie schlecht es mir ging?«, frage ich zynisch und verziehe den Mund angewidert.

»Weil es mich kochend vor Wut macht, dass so etwas Kostbares wie du nicht auf Seidentüchern getragen wurde.«

Kurz lasse ich meine Deckung außer Acht, lasse meine Augen zu großen, runden Murmeln werden und meine Schultern sich entspannen. Aber dann wird mir bewusst, dass Victor sich nicht um mich als Person sorgt, sondern um irgendeinen geldlichen Wert. »Für dich bin ich lediglich ein Objekt, leblos, zum Spielen da.«

Victor kommt noch näher. Beinahe berühren sich unsere Lippen. Meine Hände schwitzen. Obwohl der kalte Zug an meine Haut schlägt, ist mir unsagbar heiß. Mein Herz rast schneller und schneller.

»Ich werde dir zeigen, dass du kein Objekt bist, indem ich dich etwas fühlen lasse, das nur lebendige Wesen fühlen können«, raunt Victor dunkel, sexy. Mein zuckender Körper schreit danach zu erfahren, wie er das anstellen würde. Mein Verstand kommt kaum mehr dagegen an.

Plötzlich überwindet Victor den letzten Abstand zwischen uns und küsst mich. Meine Arme schnellen hoch, krallen sich in sein Jackett. Flattrig schließen sich meine Augen. Das Herz scheint mir aus der Brust zu springen. Ich verstehe nicht, was gerade passiert, spüre nur die rauen, aber weichen Lippen auf meinen. 

Das fühlt sich neu an. Es kribbelt überall in mir. Das fühlt sich so unfassbar aufregend an.

Victor löst sich von mir. Ich stöhne sofort, nachdem ich wieder Luft bekomme. Unser Kuss hat Ewig gewährt, kommt es mir vor. Aber jetzt sehe ich wie in Zeitlupe in Victors glasige Augen.

»Kein Objekt«, stellt Victor mit einem siegreichen Lächeln fest.

Meine Finger krallen sich weiterhin in sein Jackett und ich versuche einen klaren Gedanken zu fassen. Aber alles in mir schreit und kreischt. Ich bin so verwirrt.

»Du siehst aus, als wäre das der beste Kuss gewesen, den du jemals gehabt hast«, stellt Victor fest und streichelt sanft mit dem Handrücken über meine Wange.

Meine Lippe zittert. Ganz leise wispere ich: »Das war mein allererster Kuss…«


Nachwort zu diesem Kapitel:
Willkommen zurück! ^^

Ich hoffe, euch hat dieses Kapitel gefallen! Wenn ja, würde ich ich riesig freuen, wenn ihr auf FanFiktion.de vorbeischaut! Da habe ich meine anderen Geschichten hochgeladen und die Kapitel kommen meistens etwas früher!

Übrigens lade ich heute sowohl hier als auch auf FanFiktion.de ein paar Weihnachtsgrüße hoch. Und darin hat sich auch eine kleine Bonus-Szene versteckt, passend zu Weihnachten! Also nicht verpassen! ;)


Liebe Grüße


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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Arya-Gendry
2020-12-22T19:24:02+00:00 22.12.2020 20:24
Hi^^
Nun gibt es also kein entkommen mehr aber, das gab es ja vorher auch nicht. Es wird nicht immer einfach für denn kleinen werden und er wird wohl noch ein paar versuchen unternehmen um zu fliehen mal sehen wie weit er denn kommt.
Schöne Weihnachten. ;)
Lg.
Antwort von:  Farbenmaedchen
23.12.2020 11:47
Dankeschön für deinen Kommentar! ^^

Nein, Jesse wird nicht lockerlassen. Ganz egal, welche Wände sich auch vor ihm aufbauen, er wird immer versuchen, sie zu durchbrechen.

Ich wünsche dir schöne Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Liebe Grüße


Farbenmaedchen


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